Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung
Betr.: Gaza, Bankraub, DEIN SPIEGEL
uf einem Trmmerberg
in Beit Hanun, im Nordosten des Gaza-Streifens, trafen Julia Amalia Heyer und
Juliane von Mittelstaedt zwei
junge Mnner, die Shne der
Familie Wahdan. Zwei Wochen zuvor hatten israelische
Militrs den Straenzug bombardieren lassen; jetzt suchMittelstaedt, Heyer in Dschabalia
ten die zwei Palstinenser
hier nach den Leichen ihrer
Angehrigen. Und so erfuhren die SPIEGEL-Redakteurinnen von einer Tragdie:
wie acht Menschen der Familie Wahdan eine Woche lang in ihrem Haus eingeschlossen waren, weil israelische Soldaten das Gebude besetzt hatten; wie die
Wahdans zurckblieben, als die Soldaten abzogen; wie dann der Bombenangriff
kam, ohne Warnung. Die Soldaten hatten zuvor die Mobiltelefone der Familie
beschlagnahmt, nur die lteste Tochter, Zeinab, hatte ihr Handy verstecken knnen. Jeden Tag konnte sie telefonieren, oft auch chatten und so konnten Heyer
und Mittelstaedt detailliert die letzten Tage der Eingeschlossenen rekonstruieren,
Aussagen berprfen. Sie sprachen mit Menschenrechtlern, Politikern, RotkreuzMitarbeitern und mit jenem Obersten der israelischen Armee, der die Kmpfe
in dem Stadtviertel befehligt hatte. Aus allem ergibt sich ein schrecklicher Verdacht: Die Armee hat, als sie das Viertel zerstrte, den Tod dieser Familie in
Kauf genommen, sagt Heyer.
Seite 82
s war ein Verbrechen, wie es noch keines gegeben hatte, der schillerndste
Cyber-Bankraub in der Kriminalgeschichte: Hacker waren in das Computersystem eines IT-Unternehmens im indischen Bangalore eingedrungen, sie hatten
Daten von zwlf Kreditkarten gestohlen, von einer Bank aus Oman. Die Daten
kopierten sie auf Blankokarten, mit denen zogen Hunderte Laufburschen
konzertiert los: In einer einzigen Nacht im Februar 2013 erbeuteten sie in
24 Lndern insgesamt 40 Millionen Dollar ein epochales Verbrechen, so der
Staatsanwalt Murat Ayilmaz. Aber noch in der Tatnacht wurden in Deutschland
zwei Helfershelfer gefasst; in Dsseldorf kamen sie vor Gericht. SPIEGEL-ONLINERedakteur Jrg Diehl verfolgte das Verfahren vor dem Landgericht, Saal 120.
Wer plant einen solch khnen Coup? Wie wird er in die Tat umgesetzt? Diehl
ging diesen Fragen ber ein Jahr lang nach; er stie auf eine weltweit operierende
Cyber-Bande. Die faszinierendste Figur fr Diehl war der mutmaliche Drahtzieher ein Mann, der sich im Netz Predator nannte und das Leben eines
Playboys fhrte.
Seite 36
FOTO: ALESSIO ROMENZI / DER SPIEGEL
enn Kindern zum ersten Mal klar wird, dass die
Salami auf ihrer Pizza von einem Tier stammt,
wenn sie begreifen, dass Wrste und Schnitzel nicht
auf Bumen wachsen, dann mgen viele von ihnen
pltzlich kein Fleisch mehr. Und sie stellen unbequeme Fragen: Wie wurden die Tiere gehalten? Knnen
wir nicht auf Fleisch verzichten? DEIN SPIEGEL, das
Nachrichten-Magazin fr Kinder, klrt auf: Mssen
Vegetarier wirklich mit Mangelerscheinungen rechnen? Auerdem im Heft: Kinder aus Israel und Palstina erzhlen von ihrem Alltag im Kriegsgebiet. Das
Heft erscheint an diesem Dienstag.
DER SPIEGEL 34 / 2014
Flchtlingskind im Nordirak
Im Bann
der Islamisten
Terrorismus Die Gruppe Islamischer Staat rollt den Nahen
Osten auf, Zehntausende sind
auf der Flucht, und die Welt
fragt sich, wie die mrderische
Organisation so gro werden
konnte. Auch Deutschland
erwgt nun Waffenlieferungen
ins Krisengebiet. Aber lassen
sich die Islamisten noch stoppen? Seiten 18, 72, 77
Raumfahrt Angekndigt ist ein
weltweites TV-Spektakel: Das
Projekt Mars One sucht
Kolonisten, die im Jahr 2024
zum Wstenplaneten aufbrechen sollen. Kleine Einschrnkung: Einen Rckflug wird es
nicht geben. Dennoch kmpfen
demnchst 704 Freiwillige
um ein Ticket fr die Himmelfahrtsmission. Seite 102
Teilen
statt Kaufen
Internet Das Privatauto als
Taxi, die eigene Wohnung als
Hotelzimmer: Die Share-Economy verspricht ressourcenschonenden Konsum ohne
Reue. Doch hinter dem angeblichen Gegenentwurf zum Kapitalismus verbirgt sich ein knallhartes Geschftsmodell mit
gewieften Protagonisten wie
dem deutschen WunderCarChef Gunnar Froh. Seite 58
6
Titelbild: Montage DER SPIEGEL, Fotos: Reuters, AFP, DPA, Ullstein, Vario Images
Tragdie in Gaza
Nahost Eine Woche lang sind acht Menschen Frauen, Kinder
und ein alter Mann in ihrem Haus im Gaza-Streifen eingeschlossen. Sie knnen nicht fliehen, niemand kann ihnen helfen. Eine
Stunde vor der Feuerpause werden sie bei einem israelischen
Luftangriff gettet. Dabei musste die Armee wissen, dass sich in
dem Haus Zivilisten befanden. Seite 82
FOTOS: YOUSSEF BOUDLAL / REUTERS (O.); NASA / AP (M.); THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL (L.U.); POLARIS / STUDIO X (R.)
Ein Dorf
auf dem Mars
In diesem Heft
Titel
42 Nothilfe Nahe der Ham-
burger Reeperbahn sorgt eine
Nonne fr Obdachlose
Kmpfer vom Islamischen
46 Datenschutz Sind Kameras
Staat bedrohen die Welt
am Armaturenbrett ntzliche
und bauen ihr Kalifat im
Beweismittel oder verbotene
Irak und in Syrien aus.
Werkzeuge der berwachung?
Wie knnen die Extremisten
gestoppt werden?
47 Restitution Kolumbiani77 Jesiden SPIEGEL-Reporter sche Dorfbewohner verlangen
Skulpturen vom EthnologiChristoph Reuter ber
das Drama am Berg Sindschar schen Museum Berlin zurck
FOTOS: VALERIY MELNIKOV / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); PIXXMIXX / PIXATHLON (M.); PHILIPP HORAK / PICTURE ALLIANCE / APA / DPA (U.)
72 Der Staat des Bsen Die
Deutschland
Gesellschaft
12 Leitartikel Kriterien
48 Sechserpack: Friedlicher
96 Fuball SPIEGEL-Gesprch
mit Nationalspieler Christoph
Kramer ber seinen
K. o. im WM-Finale und sein
350 Seiten langes Tagebuch
99 Stars Der Amerikaner
Floyd Mayweather Jr.
ist die grte Geldmaschine
des Boxens
Wissenschaft
100 Das Schweigen der
Mathematikerin /
Gesundheitsexperte Karl
Lauterbach ber
Protest
mit
Obst
/
fr das deutsche Engagement
seinen Verzicht auf Salz
Wie gefhrlich ist Chili?
in der Welt
102
Raumfahrt Wie realistisch
49
Eine
Meldung
und
ihre
14 Parteifreunde protestieren
ist es, den Wstenplaneten
gegen Merkels Rentenpolitik / Geschichte Ein 100-jhriger
Mars zu besiedeln?
Bettler schenkt der bulgaKrankenkassen-Chefs
rischen
Kirche
ein
Vermgen
106 Seuchen Warum die
drohen Gehaltseinbuen /
Biowaffen-Furcht der
Ehemalige wollen Odenwald- 50 Amok Tdliche Gefahr
Amerikaner im Kampf gegen
durch Mnner,
schule bernehmen /
Ebola helfen knnte
die Frauen hassen
Kolumne: Im Zweifel links
109 Denkmalpflege Die
55 Homestory Warum ein
18 Regierung Wie die IrakSPIEGEL-Reporter mehr wusste magische Kraft
Krise zur Kraftprobe
der Hochdruckreiniger
als die New Yorker Polizei
zwischen Kanzlerin Merkel
und Verteidigungsministerin
Kultur
von der Leyen wurde
Wirtschaft
21 Flchtlinge Eine jesidische 57 Russland-Sanktionen
110 Hinreiendes SpaFamilie musste sieben Monate wirken / Gabriel
guerilla-Theater aus Japan /
auf Visa fr Deutschland
London lsst Denkmler
trifft Google-Chefaufseher
warten
reden / Kolumne: Zur Lage
58 Share-Economy Die
der Welt
22 Spionage Wie der BND
konomie des Teilens und
amerikanische Auenminister ihre Schattenseiten
112 Kunst SPIEGELabhrte
Gesprch mit dem Leipziger
65 Interview DGB-Chef
Gerd Harry Lybke ber seine
24 Migration Das geplante
Reiner Hoffmann ber die
Vergangenheit als illegaler
Paket im Kampf gegen
Risiken der Share-Economy
Galerist in der DDR
Sozialmissbrauch ist eine
66 Karstadt Ein neuer
Mogelpackung
118
Kino Philip Seymour
Retter fr den angeschlagenen
Hoffmans letzte groe Rolle
25 Union Baden-WrttemWarenhauskonzern
in A Man Most Wanted
bergs Exministerprsident
69 Freihandel Das Abkommen
Erwin Teufel rechnet mit
122
Essay Die Moskauer
mit Kanada liefert
der Politik seiner Partei ab
den TTIP-Gegnern Munition Schriftstellerin Ljudmila
Ulitzkaja und ihr Leiden an
27 Sachsen Warum die
Russland
AfD nahe der Ostgrenze so
Ausland
erfolgreich ist
126
Schauspieler Der Tod
70 Neue Restriktionen
des Komikers Robin Williams
28 NSA-Ausschuss Massenhaft gegen Uiguren in China /
geschwrzte Akten erzrnen Parteifreunde kritisieren
127 Literaturkritik Der
die Parlamentarier
erste Roman des Startenors
den trkischen Wahlsieger
Rolando Villazn
30 FDP Wurde Walter Scheel Erdoan
durch einen Trick entmndigt? 80 Ukraine Bericht aus dem
Medien
umkmpften Donezk
32 Beziehungen Immer mehr
Frauen entscheiden sich auch 82 Nahost Wie Israels Armee 129 Kein Platz fr Karen
ohne Partner fr ein Kind
Miosga / Computerspieleine Palstinenser-Familie
Turniere faszinieren Millionen
bombardierte Rekonstruk35 Arbeit Der Staat soll
Arbeitnehmer vor Chef-Mails tion einer Tragdie
130 TV-Filme Warum das
in der Freizeit schtzen
deutsche Fernsehen
88 Italien Blender oder
die Macht so de inszeniert
Hoffnungstrger wie
36 Kriminalitt Wie Fahnder
ernsthaft sind die Reformen
den mutmalichen Drahtvon Matteo Renzi?
zieher eines spektakulren
Cyber-Bankraubs in Frankfurt 94 Global Village Warum
am Main aufsprten
Araber so gern in Zell am See 8
Briefe
38 Bildung SPIEGEL-Gesprch Ferien machen
125 Bestseller
mit dem Inklusionskritiker
134 Impressum, Leserservice
Sport
Bernd Ahrbeck ber
135 Nachrufe
die bestmgliche Frderung
136 Personalien
95 Neue Starttechnik
behinderter Kinder
fr Schwimmer / Schachgro- 138 Hohlspiegel / Rckspiegel
41 Haustiere Zoos rgern sich meister Arkadij Naiditsch
ber das Aussetzen von Kat- erklrt, wie er Weltmeister
Wegweiser fr Informanten:
www.spiegel.de/briefkasten
zen, Echsen und Schildkrten Magnus Carlsen besiegte
Farbige Seitenzahlen markieren die Themen von der Titelseite.
Ljudmila Ulitzkaja,
Schriftstellerin, gehrt zu
den wichtigsten Autorinnen
Russlands. In einem Essay
beschreibt sie, warum sie sich
jetzt schmt: Unser Volk
hat die moralische Orientierung verloren. Seite 122
Christoph Kramer,
Nationalspieler, fhrt seit
seiner Jugend ein Tagebuch.
Im SPIEGEL-Gesprch erzhlt
der Weltmeister, was er ber
seinen K. o. im Finale von
Rio schreiben wird. Seite 96
Ren Benko,
sterreichischer Immobilieninvestor, bernimmt Karstadt,
der Milliardr Nicolas
Berggruen zieht sich zurck.
Gerettet ist der marode
Warenhauskonzern aber
noch lange nicht. Seite 66
DER SPIEGEL 34 / 2014
Briefe
Die Biochemie der Liebe wissenschaftlich zu entschlsseln ist interessant.
Aber dieser Allmachbarkeitswahn nervt. Mein Gehirn mchte das lieber
selber machen. Vielleicht unvollkommen, aber medikamentenunabhngig.
Kirstin Brehm, Stuttgart
Gaukelei der Experten
Nr. 33/2014 Liebe auf Rezept Ewig frisch verliebt:
Wie neue Medikamente unsere Gefhle steuern
Nchtern betrachtet scheint mir die Abhngigkeit von gefhlsregulierenden Pillen
allemal besser als die Abhngigkeit von
einem egomanischen Monster, um dessen
Gunst man sich selbsterniedrigend und
wrdelos abstrampelt dabei das Ganze
noch als Liebe deklariert. Besser noch
wre eine selbstregulierende Hirnchemie
zwecks Bodenhaftung, um nicht die Kassen von Profiteuren zu fllen, deren Charakter nicht minder monstrs ist.
Hans Scholz, Bad Neuenahr-Ahrweiler (Rhld.-Pf.)
Die Kartierung des Menschen verbindet
sich mit einem Heilsversprechen, das Ihre
Protagonisten nicht einlsen knnen: Liebe ist sehr viel mehr als ein steuerbares
Gefhl. Die Sorge um einen anderen Menschen, das echte Interesse am anderen
das ist doch wohl mehr eine Frage des Bewusstseins als der Biochemie. Liebe ist oft
harte Arbeit. Vor allem aber ist sie erhaben
ber den Grenwahn und die Gaukelei
der Experten, wo immer sie mit unserer
Angst Geschfte machen wollen.
Andr Beler, Bremen
Die tatschlichen und potenziellen Gefahren beim Einsatz von Hormonen wie Oxytocin sind sehr viel grer als beschrieben,
denn sie verndern den Mechanismus der
eigenen Wahrnehmung und Urteilsbildung
auf der denkbar tiefsten Ebene. Selbst
wenn man sich des Einsatzes eines solchen
Liebeshormons bewusst ist, wird das sich
anschlieende Erleben angenehmer codiert und als ein wieder erstrebenswerter
Zustand erinnert, bis hin zu einem ausgeprgten Suchtverhalten.
Thomas Schustek, Obergnzburg (Bayern)
Sie reden von Liebe, meinen aber Sex,
Lust, Trieb, Hormone. Liebe ist vielfltig.
Sie ist Zuneigung, Verbundenheit, Wertschtzung, Verantwortung. Es ist die unbegrenzte, bedingungslose, nicht nachlassende und ohne Rezept und Pillen auskommende Eltern-, Geschwister-, Selbstliebe
und Paarliebe jenseits der Sexualitt. Aber
auch die Liebe zum Beruf, zur Kunst, zum
Hobby, zur Heimat kann gemeint sein.
Sex setzt keine Liebe voraus. Liebe aber
auch keinen Sex. Platonische Beziehungen
kommen in einer dekadent bersexualisierten Gesellschaft wohl nicht vor.
Karl-Heinz Best, Ginsheim-Gustavsburg (Hessen)
DER SPIEGEL 34 / 2014
Die uralte Frage nach der Henne und dem
Ei stellt sich auch hier: Lst der erste Blick,
das Lcheln, das Wort, das sie tauschen,
die Hormontrpfchen aus, die die Liebesempfindungen im Gehirn koordinieren?
Oder ist es umgekehrt? Ist es die Biochemie, die das hervorbringt? Nur ein tumber
Tor entscheidet sich dafr. Und der wird
dann auch Pillen erfinden, um die Liebe
zu befeuern oder zu optimieren.
Dr. Thomas Krau, Schnackenburg (Nieders.)
Schon Goethes Mephisto wusste, als er
Faust den Verjngungstrunk verabreichen
lie: Du siehst, mit diesem Trank im Leibe / Bald Helenen in jedem Weibe. Lustig
endet das Ganze bekanntermaen nicht.
Friedhelm Baumgrtner, Wiesbaden
Willkommen in einer noch besseren und
schneren Welt dank der Pharmaindustrie.
Abstruse Diskussion?
Nr. 32/2014 Minister Heiko Maas will den MordParagrafen reformieren
Von 1872 bis 1941 wurde ohne Ausnahme
mit dem Tode bestraft, wer einen anderen
mit berlegung ttete. Warum er das
tat, auf welche Art, war ohne Bedeutung.
Weil es bis 1933 keine verminderte Schuldfhigkeit gab, war selbst auf diesem Weg
keine Vermeidung der Todesstrafe mglich. Die Neufassung des Paragrafen 211
Strafgesetzbuch jetzt mit Inhalt zu versehen, war auf jeden Fall besser, zumal sie
nicht von den Nazis stammte, sondern
wohl teils auf Entwrfe des Schweizer
Strafrechtlers Carl Stooss zurckging.
Wenn man an den 211 einen minder schweren Fall mit zeitiger Freiheitsstrafe anfgen
wrde, wre das gengend nderung.
Dr. Eberhard Foth, Waldbronn, Richter am BGH a. D.
Veronika Engel, Oranienburg (Brandenb.)
Gesundheit ist keine Ware
Nr. 32/2014 Wie rzte im Klinikum Bayreuth unter
Druck des Managements gerieten
In diesem Klinikum liegt einiges im Argen.
Meine Schwester befand sich 2011 dort auf
einer Station. Es lagen benutzte Spritzen
und Verpackungen sowie jede Menge
Schmutz auf den Bden der Flure, und das
Personal agierte lustlos und unengagiert.
Meine Schwester berichtete mir von einer
alten Frau, die eines Nachts starke Schmerzen bekam. Beide klingelten mehrere Male
vergeblich, bis meine Schwester beschloss,
Hilfe zu holen. Dreimal ging sie und musste recht massiv werden, bevor sich eine
der Schwestern, die sich in aller Ruhe unterhielten, bequemte, endlich zu kommen.
Die alte Dame wurde nicht behandelt, sodass ihr Martyrium bis zur Visite am Morgen weiterging. Ich beschwerte mich spter
bei der Klinikleitung und schrieb auch, erfolglos, an das Gesundheitsamt und an die
Bayerische Staatskanzlei.
Michael Schn, Neustadt (Bayern)
Gesundheit ist keine Ware, und Krankenhuser sind keine Warenhuser, mit denen
man Profite erwirtschaften soll. In unserem
solidarisch organisierten Gesundheitssystem ist das von den Mitgliedern eingezahlte Geld dazu da, das Gesundheitssystem
fr die Gesamtbevlkerung zu finanzieren.
Von Kliniken erwirtschaftete berschsse
gehren den Krankenkassenmitgliedern
und nicht privaten Profiteuren.
Thomas Pap, Cottbus, Facharzt
Es ist offensichtlich, dass man ohne nderung der Paragrafen 211 und 212 den ttenden Rocker zu lebenslanger Freiheitsstrafe, den verzweifelten Ehemann aber,
der seine leidende Frau erstickt hat, viel
milder htte bestrafen knnen. Das Grundproblem liegt im Fehlen von gengend Fallbeispielen, wie sie das englische Recht zur
Verfgung stellt. Da wir das Przedenzrecht nicht bernehmen wollen, gilt es, an
den bestehenden Gesetzen zu feilen.
Gebhart Mller-Knig, Moisburg (Nieders.)
Wie verfahren denn unsere demokratischen Nachbarlnder? Hier knnte man
doch wichtige Vergleiche ziehen, schauen,
ob es dort auch Strafrechtsreformen gab,
die eben nicht unter einer Gewaltherrschaft, wie bei uns 1941, stattfanden.
Dr. Uwe Zeller, Stuttgart
Eine strafrechtliche Norm aus einer politischen oder anderen Laune heraus umformulieren zu wollen ist gefhrlich. Diese
Vorschriften sollten niemals Gegenstand
solcher abstrusen Diskussionen sein. Gesetze sind extra abstrakt formuliert, damit
sie eine Vielzahl von Fllen erfassen.
Dirk Stassen, Trier
Es macht durchaus Sinn, zwischen fahrlssiger Ttung, Totschlag und Mord zu unterscheiden. Wobei es fr alle diese Taten
dieselbe Mindeststrafe geben sollte, denn
dass ein Mensch durch Verschulden anderer zu Tode kommt, ist nicht ungeshnt
hinnehmbar.
Michael Heitmeier, Herrenberg (Bad.-Wrtt.)
Briefe
SPIEGEL GESCHICHTE
SONNTAG, 24. 8., 22.00 23.00 UHR | SKY
Martin Luther King Der Marsch
auf Washington
Der Marsch auf Washington im August 1963 gilt nicht nur wegen der
berhmten Ich habe einen TraumRede von Martin Luther King als
eine der Sternstunden der amerikanischen Brgerrechtsbewegung.
Mehr als eine viertel Million Teilnehmer setzten ein friedliches Zeichen
fr Freiheit und Gleichberechtigung.
TERRA X
SONNTAG, 24. 8., 19.30 20.15 UHR | ZDF
Zeitreise Die Welt im Jahr 1000
Das Jahr 1000: Dass in China Kaifeng, die grte Stadt der Welt, entsteht, davon wei in Europa Kaiser
Heinrich II. nichts. Auch auf anderen Kontinenten erblhen glanzvolle Kulturen. SPIEGEL TV reist mit
dem Berliner Archologen Matthias
Wemhoff zurck in das Jahr 1000.
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 24. 8., 22.25 23.30 UHR | RTL
Gewinner und Verlierer
Wenn die Schullaufbahn zum
Wettrennen wird
Wie vom Hammer getroffen
Nr. 32/2014 Die Soziologin Eva Illouz ber fehlendes
Mitleid, Angst und Radikalisierung in Israel
Illouz ruhige, in jedem Satz nachsprende
und berlegende Weise einer Reflexion
ber das Empfinden und Verhalten des eigenen Volkes ist wohltuend und berhrt
mich.
Prof. Anita Ldke, Kln
lassen uns hilflos erscheinen. Unser Sozialstaat wird von vielen begrt, Integrationswilligkeit ist nicht immer erkennbar.
Hans-Achim Teichert, Gtzenhain (Hessen)
Der Kommentar trifft den braunen Nagel
auf den Kopf, leider lsst er das kleine siLand auer Acht. Auch dort toben die
Rechten im blauen Deckmntelchen namens FP. Der Operettenstaat hat bald
nix mehr zu tanzen.
Was Eva Illouz in ihrer durchaus nachvollziehbaren Analyse der israelischen Psyche
als kognitive Dissonanz beschreibt, ist gerade dies nicht. Kognitive Dissonanz als
kollektives Unbehagen und damit als Basis
fr Einsicht und Vernderungsmglichkeiten wre dringend geboten, damit die
Menschen in Israel nicht in eine ber Generationen entstandene perfide Falle geraten: Sie fgen Leid zu, weil sie selbst
gelitten haben.
Sylvia Drr, Innsbruck
Dr. Klaus Neumann, Mnchen, Psychologe
Prof. Dr. Johannes Heinrichs, Duisburg
Illouz Aussagen haben mich wie ein Hammer getroffen. Eine bedauernswerte Gesellschaft, wenn nicht die vielen Toten,
Demtigungen und die Landnahme von
den Palstinensern wren. Also weiterhin
htscheln? Nein, Sanktionen, Sanktionen,
sonst vernichtet Israel nicht nur weiter die
Palstinenser, sondern auch sich selbst.
Inge Mertes, Wentorf bei Hamburg
Nix mehr zu tanzen
Nr. 32/2014 Schriftsteller Lars Brandt fordert einen
Knstlerprotest gegen Europas Faschisten
Sein Vater, Willy Brandt, htte das Problem nchtern und przise benannt und
keinen Schaum vor dem Mund gehabt.
Dr. Berndt Seite, Schwerin, Ministerprsident a. D.
Man kann Brandt nur zustimmen. 20 bis
25 Prozent fr Le Pen und Co. in Frankreich klingen wie neue Drohglocken fr
die nchste Katastrophe in Europa. Wir
mssen reagieren, bevor es zu spt ist.
Gresz, Internatsschler Clemens
Patrick Leray, Balaruc-Le-Vieux (Frankreich)
Lewin leidet weil er an seiner alten Klasse gemobbt wurde, besucht
er eine Web-Schule. Mabel kmpft
weil ihre Eltern das Studium nicht
finanzieren knnen, ist sie auf Stipendien angewiesen. Jason hofft
weil er frher Mist gebaut hat,
macht er seinen Abschluss im Gefngnis. Und Johanna freut sich
weil ihre Eltern gespart haben, lebt
sie jetzt im Elite-Internat Salem.
SPIEGEL-TV-Moderatorin Maria
Gresz und ihre Kollegin Julia Kriwitz mit einer Schwerpunktsendung
ber ein Bildungssystem, das keine
Chancengleichheit produziert.
Kmmern wir uns um die Gegenwart, jeder mit den Mitteln, die seine sind! Dieser
Satz von Brandt hat mich elektrisiert; genau
das habe ich mit meinen gestalterischen
Mitteln in den letzten 30 Jahren getan.
Prof. Holger Matthies, Hamburg, Grafikdesigner
Bei dieser schngeistig-wortgewaltigen Abhandlung vermisse ich konkrete Fakten,
die zum Erstarken der Rechten fhren. Islamistische Gruppen drohen mit Anschlgen in Deutschland, verletzte Ehrgefhle
fhren zu Morden an Angehrigen, und
Richter bercksichtigen dies bei der Strafzumessung. Unsere Humanitt wird als
Schwche begriffen, und unsere Gesetze
10
DER SPIEGEL 34 / 2014
Etwas Wichtiges fehlt in diesem schnen
Artikel: Europa wird nicht durch mehr
oder weniger abgehobene Knstler allein
vor dem neuen Faschismus gerettet, sondern durch ein nicht nationalistisches Eintreten fr die Kultureinheiten namens Nationen, in diesem Sinne durch Volks-Kultur. Das vermisst man seit Jahrzehnten auf
linker Seite, besonders in Deutschland.
Ab geht die Post
Nr. 32/2014 Kolumne von Claudia Voigt
Ob das Tragen von Shorts zumindest aus
dem Blickwinkel des Mannes wirklich
ein Kollateralschaden der Gleichberechtigung ist, sei dahingestellt. Ganz sicher aber
ist die in den USA beliebte Kombination
aus Shorts und Cowboystiefeln der definitive Abgesang an Geschmack und Weiblichkeit.
Michael J. Blay, Langenselbold (Hessen)
Auf einer Reise nach Odessa erging es mir
genau umgekehrt: berwiegend elegant
und sehr feminin gekleidete Frauen, hufig
Model-Mae, angetan mit High Heels.
Schlabberlook mit Birkenstockschuhen ist
die Ausnahme was soll man nun davon
halten, von wegen Kollateralschaden?
Brigitte v. Wilcken, Berlin
Es gibt wohl nichts Entspannteres als den
Floridian Style: Shorts, Shirts, Flip-Flops,
gute Uhr, und ab geht die Post. An den
Strand genauso wie ins Restaurant, ohne
sich umziehen zu mssen.
Christiane Oselka, Dsseldorf
An Voigt sind wohl die letzten Jahre Frauenlssigkeit, Coolness und Selbstverstndlichkeit unbemerkt vorbeigezogen. Warum
sollten Frauen keine Shorts tragen?
Georgia Metzger, Karlsruhe
Die Redaktion behlt sich vor, Leserbriefe gekrzt und auch elektronisch zu verffentlichen.
[email protected]
In einer Teilauflage befindet sich im Mittelbund
ein zwlfseitiger Beihefter der Firma Peek &
Cloppenburg.
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
Kriterien fr die deutsche Auenpolitik
s sieht nach Hals ber Kopf aus. Im Rekordtempo schickte die Bundesregierung die Luftwaffe mit Hilfsgtern
zu den Kurden im Irak. In der Not ist Tempo manchmal
richtig. Aber jeder Auslandseinsatz der Bundeswehr schafft
ein Beispiel fr weitere Flle. Damit steckt in der Eilentscheidung etwas Grundstzliches, ein Schritt hin zu grerer Verantwortung der Deutschen in der Welt.
Darber muss in der ffentlichkeit grndlich diskutiert
werden. In der Auenpolitik kann es keine Automatismen
geben, keine starren Kriterien, weil jeder Konflikt seine eigene
Logik hat und neu bedacht werden sollte. Dabei knnen ein
paar grundstzliche berlegungen hilfreich sein. Hier sind
sieben Leitlinien fr die Auslandseinstze der Bundeswehr:
Erstens: Unsere Vergangenheit sollte uns vorsichtig machen,
Hilfsgter fr den Nordirak
aber nicht unsere Gegenwart
blockieren. Die Bundeswehr ist
Militr ohne Militarismus. Anders als befrchtet haben sich
Kriegskultur und Grenwahn
im vereinten Deutschland nicht
entwickelt. Die Politik ist mit
Kampfeinstzen bislang skrupuls umgegangen und wird dies
wohl auch weiter tun. Deshalb
ist es richtig, dass Deutschland
seiner Verantwortung fr das
Geschehen in der Welt gerecht
werden soll.
Zweitens: Es gibt in Kriegen
keine Haltung ohne Schuld.
Wer militrisch eingreift, wird
Schuld auf sich laden, weil Soldaten im Kampf tten und gettet werden. Wer aber passiv
zusieht, berlsst andere ihrem
schrecklichen Schicksal. Die
fundamentalistischen Gegner militrischer Interventionen
knnen sich daher ihre Selbstgerechtigkeit sparen.
Drittens: Wer handelt, wird frustriert, sollte das aber aushalten knnen. Die Bilanz des Eingreifens ist nicht gut. Irak,
Afghanistan, Libyen die Kriege dort gehen immer weiter.
Wo sie durch Intervention beendet wurden, zum Beispiel auf
dem Balkan, waren und sind dauerhafte Truppenprsenz und
massive Hilfszahlungen ntig. Mit Waffen und Soldaten lsst
sich nun mal keine Welt schaffen, die leuchtet. Aber am
schlimmsten waren und sind die Zustnde dort, wo angesichts
eines groen Mordens niemand eingegriffen hat: in Ruanda,
in Syrien.
Viertens: Menschlichkeit ist ein Faktor der Auenpolitik,
sollte jedoch nicht entscheidend sein. Wir leben in einer Bilderwelt, und Bilder von Menschen in Not wirken stark auf
unser Gewissen ein, lassen aber auch den Verstand in den
Hintergrund treten. Emotionen knnen einen Impuls fr die
Debatte geben, wie im Fall der hilflosen Jesiden, sie muss
12
DER SPIEGEL 34 / 2014
aber khl gefhrt werden, was heien kann, dass Deutschland
sich mitunter gegen eine humanitre Intervention entscheidet,
auch wenn das bitter ist.
Fnftens: Im deutschen Interesse ist eine mglichst stabile
Welt. Das klingt banal, bedeutet aber den Abschied von
missionarischen Ideen. Wenn deutsche Waffen oder Soldaten
in Konflikten eingesetzt werden, dann mit dem Ziel, die
Lage zu stabilisieren und Menschen in Not zu helfen, nicht
fr eine Demokratisierung oder fr Frauenrechte. Und dabei
knnen nur die westlich orientierten Krfte Partner der
Deutschen sein.
Sechstens: Bei Konflikten in der Welt gibt es fast immer
die Erwartung, dass die Amerikaner die militrischen Dinge
schon regeln werden. Tatschlich sind die Amerikaner jedes
Mal strker gefordert. Sie wollen Weltmacht und Weltpolizist
sein, die Deutschen nicht. Aber
eine reine Schonhaltung verbietet sich. Es sollte gelten: grozgig sein mit Logistik und
Hilfsgtern, vorsichtig mit Waffenlieferungen, weil Waffen in
falsche Hnde geraten knnen;
offen fr Militreinstze, wenn
unsere Partner uns wirklich
brauchen und ihre Interessen
weitgehend mit unseren bereinstimmen.
Siebtens: Deutschland tritt
auf der Weltbhne nur als Partner anderer auf. Wir machen
keine Alleingnge. Ein Mandat
der Vereinten Nationen ist dabei die beste Form der Legitimation fr militrische Kampfeinstze, weshalb sich Deutschland darum bemhen sollte. Die USA bleiben ein wichtiger
Partner, nicht nur durch die Nato. Unsere nchsten aber
sind die Lnder in der Europischen Union. Auenpolitisch
und militrisch sollte die EU verstrkt gemeinsam handeln,
um die Abhngigkeit von der Weltmacht Amerika zu
verringern.
Gemessen an diesen Leitlinien passiert derzeit das Richtige
im kurdischen Teil des Irak. Die Bundesregierung schickt
Hilfsgter, die keine Waffen sind. Fr alles andere sollte es
ein Mandat der Uno geben.
Die oberste Devise der Bundesrepublik fr grere Verantwortung in der Welt heit: Friedlichkeit. Von Deutschland
darf nie mehr eine Aggression ausgehen. Aber auch der
Friedliche muss manchmal unfriedlich werden, um Kriege
zu beenden oder einzudmmen. Sonst gewinnen die Unfriedlichen die Oberhand ber die Welt. Das darf nicht passieren. Auch darin liegt eine deutsche Verpflichtung aus der
Vergangenheit.
FOTO: AXEL HEIMKEN / AP / DPA
Mehr Verantwortung in der Welt die Regierung tut das Richtige im Irak.
Umwelt
Gefhrliche
Holzfen
14
DER SPIEGEL 34 / 2014
Konjunktur
Widerstand gegen Merkels Rentenplne
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
stt mit dem Versprechen, die Ostrenten
dem Westniveau anzugleichen, auf Widerstand in ihrer eigenen Partei. Es muss irgendwann Schluss damit sein, mit dem Fllhorn bers Land zu ziehen, sagte der
wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsbundestagsfraktion Joachim Pfeiffer (CDU).
Wir mssen unsere Versprechen fr neue
Leistungen endlich wieder an den wirtschaftlichen Realitten orientieren. Auch
fhrende SPD-Politiker fordern angesichts
des leicht schrumpfenden Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2014 eine strkere Betonung der Wirtschaftspolitik, ohne
dabei die Rentenpolitik zu kritisieren. Der
Turbo-Abi
G8 = G9
Schler, die ihr Abitur nach
acht Jahren Gymnasialzeit
ablegen, sind in der Schule
genauso erfolgreich wie G9Gymnasiasten. Die Vermutung, ihre Leistungen litten
unter einer verkrzten Schulzeit, lsst sich nicht belegen.
Zu diesem Schluss kommt
der Bildungsmonitor 2014
im Auftrag der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft, der am
Dienstag in Berlin vorgestellt
wird. Es knnten weder eindeutig positive noch negative
Effekte festgestellt werden,
heit es darin. Die Leistungsvergleiche zwischen beiden Gruppen sind spektakulr unspektakulr, sagt Axel
Plnnecke vom Institut der
Erfolg der letzten Jahre darf kein Ruhekissen sein, so Niedersachsens Ministerprsident Stephan Weil. Wir mssen den
Grundlagen unserer Wirtschaft wieder wesentlich mehr Aufmerksamkeit widmen.
Untersttzung erhlt er von Wolfgang Tiefensee, dem wirtschaftspolitischen Sprecher
der SPD-Bundestagsfraktion. Der Rckgang der Wirtschaftsleistung ist ein Warnsignal. Der CSU-Mittelstandsexperte Hans
Michelbach beklagt Versumnisse bei den
Koalitionsverhandlungen. Jetzt rcht sich,
dass im Koalitionsvertrag weder Investitionsanreize noch die Beseitigung der kalten
Progression im Steuerrecht vereinbart wurden. So kann es nicht weitergehen. gor, mp
Ehrenamt. Ein Problem
deutschen Wirtschaft Kln,
ist das offenbar nicht: Beide
das die Untersuchung durchSchlergruppen seien im
fhrte. Die Forscher hatten
22 Bildungsstudien zur Schul- Durchschnitt gleich zufrieden mit ihrem Leben,
zeitverkrzung ausgewertet.
meinen die Forscher. him, lgr
Sie rumen allerdings ein:
Eine umfassende wissenschaftliche Evaluation der
Odenwaldschule
Wirksamkeit der G8-Reform
auf die Bildungsergebnisse
Mgliche bernahme
fehlt bislang. Verglichen
wurden auerdem die LeEhemalige Schler der Odenbenszufriedenheit sowie das
waldschule bereiten sich auf
auerschulische Engagement
eine mgliche bernahme
beider Schlergruppen. Einer des finanziell angeschlagenen
der Hauptvorwrfe der G8und mit internen Macht- und
Gegner lautet, die Kinder ht- Richtungskmpfen beschftigten keine Freizeit mehr. Das
ten Internats vor. Es gebe
Ergebnis: Obwohl sie tatsch- konkrete berlegungen, die
lich weniger Zeit zur freien
Einrichtung in eine gemeinVerfgung haben als G9ntzige GmbH zu berfhren,
Gymnasiasten, betreiben die
heit es in einem Rundbrief
G8-Schler mehr bildungsan Mitglieder der Altschlerorientierte Freizeitaktivitvereinigung und des Frderten wie Sport, Musik und
kreises der Odenwaldschule.
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FOTOS: STEFAN BONESS / IPON (O.); GABY WOJCIECH / VISUM (U.)
Private Holzfen und -kamine
erhhen die Feinstaubbelastung in Deutschland erheblich. Dies geht aus Datenstzen einzelner Bundeslnder
hervor, die das Umweltbundesamt (UBA) in Dessau
aufgearbeitet hat. Nach den
Berechnungen der Experten
liegen die Emissionen aller
Kleinfeuerungsanlagen teilweise ber den Gesamtemissionen aus dem Straenverkehr. Sie tragen damit im
Herbst und Winter mageblich zur berschreitung der
Grenzwerte bei. In Deutschland werden derzeit ber
14 Millionen kleine fen und
700 000 Kesselfen fr Wohnanlagen betrieben. Nach den
Modellrechnungen des UBA
ist insbesondere Sddeutschland vom Staub der Verbrennungsanlagen betroffen, dort
sind es vor allem die Wohlstandsregionen um Mnchen
und Stuttgart. Auch das
Rhein-Main-Gebiet weist
hohe Belastungen aus. Gesetzlich darf der Grenzwert
von 50 Mikrogramm an nicht
mehr als 35 Tagen pro Jahr
berschritten werden. In
Stuttgart, Reutlingen, Tbingen, aber auch in Gelsenkirchen und Aachen lag die
Zahl der Staubtage im vergangenen Jahr deutlich darber. UBA-Prsidentin Maria
Krautzberger: Zu viele Holzfen und -kamine sind Staubschleudern. In Kommunen
mit hoher Feinstaubbelastung
sollten darum nur noch Anlagen betrieben werden drfen,
die den neuesten Emissionsstandards entsprechen. red
Deutschland
Die Autoren schlagen vor, Gesellschafteranteile ab 5000 bis
25 000 Euro oder auch hher zu kaufen. Bislang wird
die Schule von einem Trgerverein verwaltet, der sich jedoch ber eine Neuausrichtung heillos zerstritten und
zuletzt sowohl den Schulleiter
als auch die Internatsleiterin
entlassen hat. Die Odenwaldschule war frher besonders
bei wohlhabenden und prominenten Familien beliebt. Vor
gut vier Jahren wurde bekannt, dass es dort jahrzehntelang zu massenhaftem Kindesmissbrauch durch Lehrer
und einen Schulleiter gekommen war. mab
Bayern
Justiz verklagt
Hubert Haderthauer
Der Freistaat Bayern wird
Klage gegen den Ingolstdter
Landgerichtsarzt und Ehemann von Staatsministerin
Christine Haderthauer, Hubert Haderthauer, einreichen.
Grund sind angeblich zu Unrecht kassierte Honorare des
Arztes. Haderthauer hatte als
Landgerichtsarzt Laborleistungen fr Drogenscreenings
gegenber der Justiz abgerechnet. Allein von 2005 bis
2009 soll er dafr rund 118 000
Euro bekommen haben. Die
Drogentests dienten grtenteils der Kontrolle von Bewhrungsauflagen. 2012 waren
dem Justizministerium Zweifel gekommen, ob Haderthauer diese Leistungen berechnen durfte. Das Ministerium
beauftragte den Prsidenten
des Oberlandesgerichts Mnchen mit internen Ermittlungen. Es kam auch die Frage
auf, ob Haderthauer die
Qualifikation fr die Laborleistungen besitzt. Der Freistaat forderte schlielich mit
einem im Juli 2014 zugestellten Mahnbescheid zunchst
13 360 Euro fr das Jahr 2003
zurck. Die Forderung erwies
sich jedoch als verjhrt. Das
Justizministerium wies jetzt
das Gericht an, Ansprche
gegen Haderthauer fr 2004
und 2005 gerichtlich geltend
zu machen. Ein Anwalt wurde bereits beauftragt, Klage
zu erheben. Gegenber dem
SPIEGEL wollte sich Haderthauer nicht uern. cnm
FOTO: MICHAEL UKAS / ACTION PRESS; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL
Erst so
In Deutschland ist der Export
von Waffen in Spannungsgebiete verboten. Darber wollen Sie sich einfach hinwegsetzen?
Das ist kein Verbot, sondern
eine Richtlinie, an die sich
die Bundesregierungen bedauerlicherweise selten halten. Deutschland liefert Waffen nach Nahost. Und nach
Saudi-Arabien, das mit deutschen Waffen in einem Nachbarland einmarschiert ist.
... dann so
Und jetzt, nach Ihrem Willen,
nach Kurdistan?
Sie sind heftig kritisiert worden, weil Sie sich fr Waffenlieferungen nach Kurdistan
ausgesprochen haben, und
zwar nicht nur von den Linken in Ihrer Partei, sondern
auch von Realpolitikern. Wie
ist das heute frh? Sind Sie
trotzdem noch fr die Waffenlieferungen?
In dieser Notsituation ist das
erforderlich, um greres Unheil zu verhindern.
Nein, nein. Ich habe das ja
relativiert. Es ist auch ein
bisschen ein Missverstndnis.
(Linken-Fraktionschef Gregor
Gysi am 12. 8. 2014 in einem
Interview der tageszeitung)
(Gysi am 14. 8. 2014 in einem
Interview des Deutschlandfunks)
Jakob Augstein Im Zweifel links
Mehr Willy wagen
Sanktionen allein sind noch
keine Politik, hat Auenminister Frank-Walter Steinmeier gesagt. Die Sanktionen haben wir. Dann wre es jetzt
Zeit fr die Politik. Im Umgang mit Putins Russland
muss Deutschland von vorn
anfangen. Wir wissen schon:
Das liegt Angela Merkel
nicht. Sie mag es nicht, sich
Ziele zu setzen. Bei Merkelverstehern heit die Lieblingsstrategie der Kanzlerin
Auf Sicht fahren. Aber das gengt jetzt nicht mehr.
Stattdessen: auf die Karte gucken und den Kompass dazunehmen! Angela Merkel muss mehr Willy wagen.
Die Geschichte der wechselseitigen Enttuschungen
zwischen Russland und dem Westen reicht lang zurck.
Die grte Selbsttuschung des Westens war es zu glauben, dass die Russen so werden wollen wie wir. Als Zar
Peter der Groe auf dem Sterbebett lag, soll er gebetet
haben: Herr, wenn du ber mich zu Gericht sitzen wirst,
so vergiss nicht, mit welchem Land ich es zu tun hatte.
Der Westen sollte daran denken, wenn er ber Putin zu
Gericht sitzt.
Egon Bahr hat neulich gesagt: Putin wird nie ein lupenreiner Demokrat werden und seine Kinder und Enkel
auch nicht. Es wird hoffentlich eine ,Demokratie
la russe geben. So wie es ja auch eine Demokratie nach
amerikanischem Vorbild und nach britischem Vorbild
gibt. Mehr knnen wir Russland nicht abverlangen.
Die EU sollte den Russen jetzt ein Angebot machen,
um die Krise beizulegen. Die Lsung liegt darin, dass sich
Russland aus der Ostukraine heraushlt, whrend die
Krim russisch bleibt. Den Unterschied zwischen einer
Anerkennung de jure und de facto kennen wir aus den
Beziehungen zur DDR. Und schlielich: Die Ukraine tritt
nicht der Nato bei. Das verletzt nicht ihr Selbstbestimmungsrecht, denn es gibt keinen Anspruch auf Mitgliedschaft. Mit der westlichen Orientierung des Landes hat
das nichts zu tun, siehe Finnland oder sterreich.
Im US-Magazin Foreign Affairs stehen einige weitreichende berlegungen fr eine neue Russlandpolitik des
Westens. Dazu gehren ein Marshallplan fr die Staaten
der frheren UdSSR, ein gemeinsamer ost-westlicher
Wirtschaftsraum und eine Ablsung der Nato durch eine
Nord-Allianz, der neben Russland auch Japan angehren
knnte. Darunter sind khne Ideen, wie die Autoren selber schreiben, aber immerhin Ideen.
Man sollte brigens davon ausgehen, dass die USA heute ebenso mit Misstrauen auf Vernderungen reagieren
wrden wie damals. Als Brandt sich 1973 einer Operation
unterzog, unterhielten sich Richard Nixon und Henry Kissinger ber ihn:
Kissinger: Leider wird er uns erhalten bleiben, ja.
Nixon: Er ist ein Trottel. Kissinger: Er ist ein Trottel. Nixon: Er ist ein Trottel Kissinger: Und er
ist gefhrlich. Nixon: Tja, leider ist er gefhrlich.
An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nchste Woche ist
Jan Fleischhauer an der Reihe, danach Juli Zeh.
DER SPIEGEL 34 / 2014
15
Deutschland
Offene Tren
Mollath
Kommentar
Zu gut, um wahr zu sein
Medien stilisierten einen prgelnden Ehemann
zum edlen Kmpfer fr die Gerechtigkeit.
Aus der forensischen Psychiatrie trat im letzten Jahr eine
Lichtgestalt, ihr Name: Gustl Mollath. Die Story, die der
brave Nrnberger erzhlte, klang gut. Zu gut, um sie kaputtzurecherchieren. Ein ehrlicher Brger landet als unschuldiges Opfer einer Intrige seiner Frau in der Psychiatrie. Dort wird er mundtot gemacht, um zu verhindern,
dass er gigantische Schwarzgeldverschiebungen aufdeckt.
Monatelang jagten investigative Spitzenkrfte zum Beispiel von Sddeutscher Zeitung und Report Mainz dieser
Verschwrung nach. Sie fhrte in den Sumpf eines Nrnberger Handballvereins und von dort bis hinauf in hchste
Kreise, wo sich Banker, Politiker, Anwlte, ein halbes Dutzend Psychiater und ebenso viele Richter und Staatsanwlte gegen Mollath verschworen hatten, um Steuerhinterziehungen in Milliardenhhe vertuschen zu knnen.
Das Irre war: Die Geschichte wurde geglaubt. Ein Buch
beschrieb Mollath raunend als Mann, der zu viel wusste.
Eine TV-Dokumentation erklrte all seine Behauptungen
fr wahr (Ich war Millionr). In Talkshows schwadronierte er von angeblicher Psychiatriefolter und schweren
Straftaten seiner Exfrau. Sie wurde zur Hexe gemacht,
whrend sich sein Fall in den Kommentarspalten zum
grten Justiz- und Psychiatrieskandal aller Zeiten auswuchs, passend zum bayerischen Landtagswahlkampf.
Es gibt ein untrgliches Zeichen medialer Skandalisierung: Abweichende Einschtzungen werden nur noch niedergemacht, Fakten ignoriert. Dieser Punkt war erreicht,
als ffentlicher Druck einen Untersuchungsausschuss
erzwang, doch dessen Ergebnisse keine Verschwrung,
kein Schwarzgeld in den Medien keine Resonanz fanden.
Mollath war ein Pleitier und gewaltttig, er lebte vom
Geld seiner Frau und schwrzte sie bei ihrem Arbeitgeber
an, als sie ihn verlie. Diese Informationen lagen schon
frher vor. Aber in Zeiten des Mollath-Hypes versanken
sie wie Kiesel in Haferschleim. Erst im justiziellen Faktencheck durch das Regensburger Landgericht wurde aus
dem Mann, der zu viel wusste, wieder der Mann, der
seine Frau trat, biss und wrgte, womglich im Wahn.
Es stimmt: Mollath sa viel zu lange in forensischen
Einrichtungen. Es stimmt aber auch, dass diese ihre
Patienten nicht lnger behalten als ntig. Htte er mit den
Psychiatern geredet, er wre wohl bald wieder drauen
gewesen.
Beate Lakotta
16
DER SPIEGEL 34 / 2014
Vertraulich tagende Ausschsse des Bundestags knnten
bald der Vergangenheit angehren. Grund ist ein Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts vom 31. Juli.
Ein Redakteur des Berliner
Tagesspiegel hatte geklagt,
weil er die Herausgabe von
Wortprotokollen des Innenausschusses ber den Fall Sebastian Edathy (SPD) erzwingen wollte. Die Richter wiesen die Klage zwar zurck;
allerdings befanden sie, dass
nicht ffentliche Ausschsse
grundstzlich mehr Informationen preisgeben sollten.
Denkbar sei eine wahrheitsgeme und vollstndige
Zusammenfassung dieser Verhandlungen, insbesondere
ihres wesentlichen Inhalts,
heit es in der Begrndung.
Die Opposition fhlt sich gestrkt: Wir wollen mehr
Transparenz und ffentlichkeit im Bundestag. Dazu gehrt auch die ffentlichkeit
von Ausschusssitzungen,
sagte die Parlamentarische
Geschftsfhrerin der Grnen, Britta Haelmann. Ihre
Linken-Kollegin Petra Sitte
fordert eine nderung der
Geschftsordnung. ffentliche Sitzungen mssen die
Regel sein. Nicht ffentliche
Sitzungen mssen als Ausnahme begrndet und beschlossen werden. Bislang
finden die meisten Sitzungen
hinter verschlossenen Tren
statt. Der Gerichtsbeschluss
wird derzeit von Juristen des
Bundestags geprft. amz
Kitapltze
Viele Widersprche
Der Rechtsanspruch auf einen gut erreichbaren und
qualitativ hochwertigen Kitaplatz steht fr viele Eltern
ein- bis unter dreijhriger
Kinder nur auf dem Papier:
Die Wissenschaftlichen
Dienste des Bundestags haben die Rechtslage auf Anfrage der Linkspartei zusammengefasst und mehrere juristische Unklarheiten und
Widersprche identifiziert.
Streitig ist beispielsweise, in
welchem zeitlichen Umfang
Kinder betreut werden mssen. Ganztagespltze seien
nicht gemeint, Rechtsprechung und Literatur schwankten zwischen vier und sechs
Stunden pro Tag, heit es
in dem Papier der Experten.
Auch bei der Entfernung von
der Kita zum Wohnort gebe
es sehr unterschiedliche Auffassungen. Mehrere Gerichte
haben bereits dazu geurteilt,
mal wurden 5, mal 15 Kilometer Wegstrecke fr vertretbar erklrt. Das sei eine Zumutung, kritisiert die kinderpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, Diana Golze.
Sie fordert ein Kitaqualittsgesetz, das die rechtlichen
Unschrfen ausrumt und die
Betreuungssituation verbessert. akm
Ban Ki
Moon
Klima
Uno-Generalsekretr
sauer auf Merkel
Uno-Generalsekretr Ban Ki
Moon ist verstimmt ber
Bundeskanzlerin Angela Merkel. Grund ist Merkels Absage fr den lange geplanten
Klimagipfel, der am 23. September in New York stattfinden soll. Schon vor Monaten
hatte das Kanzleramt terminliche Grnde dafr angegeben. Ban Ki Moon hatte daraufhin noch einmal in Berlin
nachhaken lassen. Als die
Antwort erneut negativ ausfiel, sagte er verrgert seine
ursprnglich geplante Teilnahme am Petersberger Klimadialog Mitte Juli in Berlin
ab. Fr die Gipfelkonferenz
im September haben sich unter anderen US-Prsident Barack Obama und Frankreichs
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FOTOS: DANIEL KARMANN / DPA (O.); SPENCER PLATT / GETTY IMAGES (U.)
Bundestag
Staatsprsident Franois Hollande angekndigt. Das Treffen gilt als wichtige Etappe
auf dem Weg zu einem neuen
Klimavertrag, der im kommenden Jahr in Paris verabschiedet werden soll. Merkel
wird in New York von Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) vertreten. An
der eigentlichen Gipfelkonferenz von Ban Ki Moon darf
die Ministerin allerdings nicht
teilnehmen. red
Bundesregierung
Sichere neue Netze
Die Bundesregierung will in
den kommenden drei Jahren
mindestens 250 Millionen
Euro investieren, um eine abhrsichere Behrdenkommunikation nachhaltig und auf
alle Zeiten zu gewhrleisten.
So steht es in einem internen
Hintergrundpapier des Bundesinnenministeriums. In
dem Schreiben rumt die Regierung ein, keine ausreichende Kontrolle mehr ber die
wichtigsten Kommunikationsplattformen des Bundes zu
haben: Neben dem 1997 installierten Regierungsnetz
gebe es derzeit rund 40 weitere Netze in Deutschland,
ber welche die Behrden
Daten und Informationen
austauschen. Die meisten von
ihnen befinden sich in privater Hand. Die schiere Menge der Netze hat zu einer
Unbersichtlichkeit und zu
einer Komplexitt gefhrt,
welche die Beherrschbarkeit
und damit Sicherheit infrage
stellt, heit es in dem Ministeriumspapier. Seit Beginn
der NSA-Affre steht die Befrchtung im Raum, dass auslndische Geheimdienste
auch die Bundesnetze anzapfen knnten. Um dem entgegenzuwirken, will die Regierung auf die Leerrohrinfrastruktur eines Privatunternehmens zurckgreifen.
Dieses hat bereits eine Rohrtrasse ringfrmig durch
Deutschland verlegt. Die darin befindlichen Glasfaserkabel sind angeblich weitgehend vor uerer Beschdigung und unbefugtem Zugriff
geschtzt. Durch den Erwerb, heit es intern, knne
der Bund wieder die unmittelbare Kontrolle ber seine
gesamte Kommunikation erlangen. js, mba, gud
Krankenkassen
Weniger Geld fr
Vorstnde
Den Chefs mehrerer gesetzlicher Krankenkassen drohen
empfindliche Gehaltseinbuen. Das Bundesversicherungsamt (BVA) verlangt,
dass sich die Kassen einer
neuen Richtlinie fr Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen
unterwerfen. Danach sollen
Prmien und Altersvorsorge
gedeckelt, Dienstwagen bei
der Vergtung strker bercksichtigt werden. Bestandsgarantien, die einige altgediente
Krankenkassenchefs fr ihre
nchste Vertragsverlngerung
bereits ausgehandelt haben,
hlt das Amt fr unwirksam.
Der Vorstand der Bosch BKK
hat einer geforderten Gehaltskrzung bereits zugestimmt.
Andere Kassenchefs knnten
sich wehren, etwa auch Ingo
Kailuweit von der Ersatzkrankenkasse KKH, dessen Vertragsverlngerung demnchst
ansteht. neu
Jahresbezge von Krankenkassen-Vorstandsvorsitzenden
2013, in Euro
TK
288848
Jens Baas
Barmer GEK
282813
Christoph Straub
DAK Gesundheit
246625
Herbert Rebscher
AOK Plus
246390
Rainer Striebel
AOK Bayern
241132
Helmut Platzer
KKH
232153
Ingo Kailuweit
AOK Nordost
224234
Frank Michalak
AOK Baden-Wrttemb. 223500
Christopher Hermann
SBK
220000
Hans Unterhuber
AOK Hessen
Fritz Mller
218800
Die Augenzeugin
Wir sind hereingefallen
Sandra Brandenburg, 36, aus Wesel wollte mit ihrer Familie
Urlaub auf Sylt machen und dort ihren Geburtstag feiern.
Im Internet buchte sie eine Ferienwohnung und stellte drei
Tage vor Reisebeginn fest, dass diese gar nicht existiert.
Es sollte unser erster Sylt-Urlaub werden, wir hatten zwei
Reisefhrer besorgt und Plne gemacht: Ich wollte mir
die Sansibar und Kampen ansehen, mein Mann in List
Austern probieren. Und mit unserem 14 Monate alten
Sohn Toni htten wir viel am Strand gebuddelt. Mitte Juli
habe ich auf dem Internetportal FeWo-direkt eine Ferienwohlung gesucht und bin auf das Angebot eines Dennis
Meyer gestoen. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, so
kurzfristig noch etwas zu finden, aber Herr Meyer bot unter www.traum-wohnung.org unter anderem das Schwalbennest 2 in Westerland an: drei Zimmer, Garten, Terrasse, kein Schickimicki. Es klang perfekt. Herr Meyer
hat sofort auf meine Anfrage reagiert, wir haben mehrere
E-Mails ausgetauscht, und nach der Buchung schrieb er
noch, dass in der Wohnung Mehrkornbrtchen und Nordseekrabben auf uns warten wrden. Als Ankunftstermin
war der 9. August abgemacht, im Vorfeld mussten wir
75 Prozent der Mietsumme auf ein Konto der Postbank
berweisen: 588,75 Euro. Drei Tage vor Urlaubsbeginn
funktionierte weder die Homepage noch der Mailaccount
von Herrn Meyer. Ich dachte erst an ein Problem seines
Servers, aber dann habe ich die Herkunft seiner Internetadresse berprft sie war in Kuala Lumpur registriert.
Da war mir klar: Das sieht nicht gut aus, wir packen besser noch nicht. Stattdessen hat mein Mann in dem Hotel
angerufen, das in derselben Strae liegt, die Herr Meyer
uns genannt hatte. Ein Mitarbeiter hat fr uns bei der angegebenen Adresse geklingelt, und der Hausbesitzer besttigte unsere Befrchtung: Eine Ferienwohnung gibt
es dort nicht. Wir sind auf einen Betrger hereingefallen.
Mein Mann hat am nchsten Morgen Anzeige erstattet,
und ich grndete bei Facebook eine Gruppe fr Betrugsopfer. Wir reisen viel und buchen unsere Flge und Hotels immer selbst, bisher sind wir damit nie auf die Nase
geflogen. Die Website des Betrgers war professionell
gemacht, knftig werde ich besser recherchieren, wer hinter solchen Angeboten steckt. Ein Ehepaar auf Sylt hat
von unserer Geschichte gehrt und uns fr das kommende Jahr eine Woche Urlaub in seiner Ferienwohnung
spendiert. Dann wollen wir es mit der Insel noch einmal
versuchen.
Aufgezeichnet von Anna-Lena Roth
DER SPIEGEL 34 / 2014
17
Think Big
Regierung In einem atemlosen Hin und Her
ringt Verteidigungsministerin Ursula von
der Leyen der Kanzlerin eine Kursnderung ab:
Deutschland erwgt Waffenlieferungen in das
nordirakische Kriegsgebiet. Es ist ein holpriger
Start in die neue deutsche Auenpolitik.
Ministerin von der Leyen
18
DER SPIEGEL 34 / 2014
Deutschland
FOTO: AXEL HEIMKEN / DPA
m Montagmorgen vergangener Woche sitzt Ursula von der Leyen im
Fond ihrer Limousine auf der Autobahn zwischen Hannover und Berlin. Es
ist der erste Tag nach ihrem Urlaub. Noch
im Auto lsst sich die Verteidigungsministerin telefonisch ber die neuen Entwicklungen im Irak unterrichten.
Sie sind dramatisch. Da sind die Bilder
Zehntausender Menschen in sengender
Hitze, ohne Wasser, ohne Essen, in stndiger Gefahr, von der Terrortruppe des Islamischen Staats (IS) niedergemetzelt zu
werden. Die Amerikaner fliegen Luftangriffe, ihre mit verzweifelten Menschen
berladenen Helikopter werden vom Boden aus beschossen. In Berlin werden die
Forderungen lauter, Waffen an die bedrngten Kurden zu liefern.
Was tut Deutschland, um ein Massaker
der Dschihadisten an den Flchtlingen, die
zur Religionsgruppe der Jesiden gehren,
zu verhindern?
Die Analysen, die der Ministerin aus
dem Krisenstab vorgetragen werden, sind
vorsichtig formuliert. Von diplomatischen
Bemhungen ist die Rede. Von humanitrer Hilfe. Und davon, dass man dafr sorgen msse, dass die ihr Ziel auch erreicht.
Von der Leyen ist irritiert. Das knne
doch nicht alles sein, murmelt sie spter
ihren Vertrauten zu. Sie ahnt auch, dass
mit der Krise im Irak ihre eigene Glaubwrdigkeit auf dem Spiel steht. Gleichgltigkeit ist fr Deutschland keine Option mit diesen Worten hatte sie auf der
Mnchner Sicherheitskonferenz Ende Januar eine neue, engagiertere deutsche Sicherheitspolitik angekndigt. Wann, wenn
nicht jetzt, sollte sie diese Ankndigung
auf der ganz groen Bhne einlsen die
sie ja durchaus liebt?
Gegen Mittag ruft von der Leyen im
Bendlerblock ihre engsten Berater zusammen und lsst sie wissen: Von nun an werde man die Krise im Irak in einem neuen
Mastab angehen. Ein Vlkermord msse
um jeden Preis verhindert werden, auch
mit deutscher Hilfe. Mit Kleinmanahmen
sei es nicht mehr getan, so die Ministerin.
Es msse gro gedacht werden.
Think Big das groe Rad, das war bisher nicht die Maxime deutscher Auenund Sicherheitspolitik. Schon gar nicht
unter der vorsichtig agierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Gegenteil.
Wenn es um Einstze in internationalen
Krisengebieten geht, kann es immer sein,
dass sich Deutschland hinten anstellt.
Waffenlieferungen in Kriegsgebiete waren
ausgeschlossen. Doch in der vergangenen
Woche lie sich die Kanzlerin in einem
bemerkenswerten Gerangel mit ihrer
Verteidigungsministerin von einer Wende
berzeugen, die der erste Schritt zu einer
vernderten Rolle Deutschlands werden
knnte.
Schon Anfang des Jahres hatte von der
Leyen gemeinsam mit Bundesprsident
Joachim Gauck und Auenminister FrankWalter Steinmeier mehr deutsches Engagement in den Krisenregionen dieser Welt
gefordert. Notfalls auch mit militrischen
Mitteln. Merkel wollte sich damals weder
von ihren Ministern noch vom Bundesprsidenten eine auenpolitische Grundsatzdebatte aufzwingen lassen. Auenpolitik
ist ein Bereich, wo ausfhrlich geredet
wird, Vernderungen sich aber langsam
vollziehen, hie es damals im Kanzleramt.
Es sei gut, dass diskutiert werde, daraus
ergben sich aber keine konkreten Folgen.
Im Ernstfall, so gab man zu verstehen, entscheide immer noch die Kanzlerin.
Nun ist der Ernstfall eingetreten. Und
von der Leyen hat sich frs Erste durchgesetzt. Was sich zwischen Montag und Mittwoch in Berlin abspielte, war durchaus
auch eine Kraftprobe zwischen der Kanzlerin und jener Frau, die derzeit als ihre
aussichtsreichste Nachfolgerin gehandelt
wird. Vor allem aber knnte es ein Schritt
zum Kurswechsel in einer Grundsatzfrage
deutscher Auenpolitik sein: Wann, unter
welchen Bedingungen und wie soll sich
Deutschland an Militreinstzen im Ausland beteiligen? Und: Kann es unter bestimmten Bedingungen richtig sein, Waffen auch in Krisengebiete zu liefern, in ein
Land, in dem ein Brgerkrieg tobt und niemand wissen kann, in wessen Hnde die
Waffen am Ende gelangen werden?
Ausgerechnet in der Auenpolitik, jenem Feld, wo Merkel unangefochten die
Richtlinien der deutschen Politik bestimmt,
trieben von der Leyen und Auenminister
Steinmeier die Kanzlerin vor sich her. Das
Kanzleramt bewegte sich innerhalb von
drei Tagen von einem strikten Nein zu
deutschen Waffenlieferungen an die bedrngten Kurden zu einem Gut mglich.
Die deutsche Debatte hat damit eine
neue Qualitt, aber gerade fr von der Leyen hat sie auch eine neue Fallhhe. Um
den in einer Kette von Medienauftritten
geschrten Erwartungen zu entsprechen,
wird sie womglich mehr als Medikamente
liefern mssen oder als Maulheldin dastehen. Das ist ihr in der Vergangenheit
auch schon passiert.
Einstweilen schafft Deutschland Lebensmittel und Sanittsgter in den Irak, am
Freitag flogen die ersten Transportmaschinen der Bundeswehr Hilfsgter Richtung
Arbil. Das ist nicht ungewhnlich in solchen Krisen. Anders, dass die Ministerin
auch auf dem Rollfeld ein Interview gab.
Zu etwa der Zeit am Montagmorgen, als
Ursula von der Leyen beschliet, das groe
Rad zu drehen, verkndet Merkels Sprecher Steffen Seibert vor der versammelten
Hauptstadtpresse noch das Gegenteil. Die
Bundesregierung fhle sich dem Prinzip
verpflichtet, keine Waffen in Kriegs- und
DER SPIEGEL 34 / 2014
19
Kampfgebiete zu liefern, sagt er. Zuvor
hatte Merkel zum ersten Mal nach ihrem
dreiwchigen Urlaub wieder die Morgenlage im Kanzleramt geleitet.
Beim Koalitionspartner, in der Fhrung
der SPD, legt sich Auenminister Steinmeier schon frh auf eine Linie fest, die
Seiberts uerungen klar entgegensteht.
Am Montagmorgen hat Parteichef Sigmar
Gabriel eine Prsidiumsschalte angesetzt
und extra auch den Auenminister, der
nicht Mitglied des Gremiums ist, dazugebeten. Steinmeier hat schon aus seinem
Urlaub heraus deutlich gemacht, dass
Deutschland mehr als humanitre Hilfe
leisten msse. Wir mssen sehen, was wir
darber hinaus tun knnen. Nun fordert
er, alle Hilfsmglichkeiten ohne Tabu zu
prfen. Das schloss nach seinem Verstndnis auch die Lieferung von Waffen ein.
Damit stehen die beiden in dieser Frage
wichtigsten Minister gegen Kanzlerin Merkel. Sie wollen im Irak ein deutlich strkeres deutsches Engagement als die Regierungschefin. Mehr noch: Die Rivalitt
treibt die beiden Spitzenminister von der
Leyen und Steinmeier die Woche ber in
einen berbietungswettbewerb, immer
weiter reichen die Forderungen. Selbst Linken-Fraktionschef Gregor Gysi und fhrende Grne fordern, dass Deutschland einem Genozid an den Jesiden nicht tatenlos
zusehen drfe. Zudem wchst der Druck
durch das Vorpreschen anderer EU-Staaten, die einseitig Waffenlieferungen zumindest ankndigen.
Das alles strkt die Position auch der
Verteidigungsministerin. Noch am Montag
telefoniert von der Leyen mit der Kanzlerin. Es ist wohl der entscheidende Moment
in diesem Tauziehen. Hlt Merkel an der
Minimalposition fest, die ihr Sprecher am
Morgen verkndet hat, wird es fr von der
Leyen schwierig. Dann wre klar, dass die
neue deutsche Verantwortung in der Welt
bestenfalls fr Sonntagsreden taugt, nicht
aber fr den Ernstfall. Doch es kommt anders. Am Ende steht Merkels Kurswechsel.
Die Kanzlerin lsst von der Leyen freie
Hand fr ihre ambitionierten Plne, die
auch Steinmeier teilt.
Think Big nichts knnte besser als diese zwei Worte beschreiben, wie unterschiedlich die beiden starken CDU-Frauen
auf die Politik blicken. Hier die Kanzlerin,
zgerlich, abwartend, reagierend mit ihrer
ausgeprgten Abneigung gegen groe Konzepte und langfristige Strategien. Da die
Ministerin, die sich in jedem Ressort zielsicher genau jene Fragen sucht, die maxi-
Kanzlerin Merkel
Zgerlich, abwartend, reagierend
male ffentliche Wirkung versprechen. Immer geht es dabei um Grundstze, Konzepte, den ganz groen Wurf. Wo Merkel
herunterdimmt, dreht von der Leyen auf.
Wo Merkel darauf bedacht ist, keine Erwartungen zu wecken, um sich nicht unter
Zugzwang zu setzen, schrt von der Leyen
mit Ankndigungen bewusst die Erwartungen um diese dann als Hebel zu nutzen, ihre Plne durchzubringen.
Doch nicht nur im Politikstil, auch in
der Sache liegen die Kanzlerin und ihre
Ministerin weit auseinander. Merkel sieht
Einstze der Bundeswehr im Ausland
grundstzlich skeptisch. Guido Westerwelles Politik der militrischen Zurckhaltung
wurde von ihr nie infrage gestellt. In Libyen, dem einzigen greren, risikoreichen
Einsatz, ber den sie whrend ihrer Kanzlerschaft zu entscheiden hatte, hielt sich
Deutschland heraus. Wer vom Ende her
denkt, dem sind Militreinstze mit ihren
unkalkulierbaren Folgen suspekt. Und
Merkel wei, wie unpopulr Interventionen bei den Deutschen sind.
Von der Leyen dagegen ist davon berzeugt, dass die bisherige zurckhaltende
Linie der deutschen Sicherheitspolitik
falsch ist. Hinzu kommt, dass sie sich als
Verteidigungsministerin nur profilieren
kann, wenn sie etwas tut. In der Ukraine,
wo der Westen ein militrisches Vorgehen
ausgeschlossen hat, musste sie monatelang
zusehen, wie Auenminister Steinmeier
Schlagzeilen machte, whrend sie sich
kaum ffentlich uerte, weil sie frchtete,
als Kriegstreiberin kritisiert zu werden.
Kein Wunder, dass sie angesichts der Lage
im Irak ihre Stunde gekommen sieht.
Nach dem Telefonat mit Merkel spricht
sich von der Leyen mit Kanzlerberater
UMFRAGE Waffenlieferungen in das irakische Krisengebiet
71 %
der Befragten lehnen
Waffenlieferungen in das
irakische Krisengebiet
grundstzlich ab.
Emnid-Umfrage im Auftrag von N24 vom 13. August; 1000 Befragte
20
DER SPIEGEL 34 / 2014
19 %
nden,
dass auch Deutschland
Waffen liefern sollte.
% meinen,
nur die Amerikaner
sollten Waffen liefern.
Christoph Heusgen ber das weitere Vorgehen ab. Am Dienstagmorgen telefoniert
sie mit Steinmeier. Beide sind sich schnell
einig, dass die Vorsicht nun ein Ende haben msse. Nun solle gehandelt werden.
Es ist das Gesprch, nach dem der Begriff
der nicht letalen Waffen in die Debatte
eingefhrt wird. Seitdem macht die Regierung einen Unterschied, der in den Richtlinien fr Rstungsexporte gar nicht relevant ist: Sie unterscheidet zwischen tdlichen und nicht tdlichen Waffen.
Doch das Auswrtige Amt macht deutlich, dass es auch die Lieferung tdlicher
Waffen durch die Rstungsexportrichtlinien gedeckt sieht. Wie ein Sprecher am
Mittwoch erlutert, erlauben die Politischen Grundstze der Bundesregierung
Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, wenn
im Einzelfall besondere auen- oder sicherheitspolitische Interessen dafr sprechen. Mit anderen Worten: Der politische
Wille muss da sein. Er schliee nicht aus,
sagte Steinmeier, dass wir gegebenenfalls,
wenn die Bedrohungslage so anhlt, auch
Waffen liefern mssen.
Bei der Kabinettssitzung am Mittwoch
wird die neue Linie nicht mehr grundstzlich infrage gestellt. Die Skeptiker bleiben
in der Minderheit. Vielleicht muss man
auch einmal ber seinen Schatten springen, fasst ein Minister die Gemtslage
am Tisch spter zusammen.
Auch Vizekanzler und SPD-Parteichef
Gabriel trgt die Linie mit. Dabei stellt ihn
die Frage der Waffenlieferungen vor ein
besonderes Dilemma. Schlielich hat der
Wirtschaftsminister sich eine restriktive
Exportpolitik fr Rstungsgter auf die
Fahnen geschrieben. Da passen deutsche
Gewehre fr kmpfende Kurden nicht ins
Bild. Wir stehen zu unseren Grundstzen:
Wir wollen keine Waffenlieferungen in
Krisengebiete, sagt Gabriel. Aber wir
knnen auch nicht zusehen, wie bis an die
Zhne bewaffnete Fanatiker Tausende unschuldige Menschen umbringen und deren
Verteidiger keine wirksamen Mittel zum
Schutz haben. Es sei ein Dilemma, aber
am Ende drfen wir bei einem Vlkermord vor unseren Augen nicht tatenlos
zuschauen.
Bei der Debatte gehe es nicht um klassische Rstungsexporte, so Gabriel. Im aktuellen Fall, so Gabriel, bitte ein Staat oder
Teilstaat um die Lieferung von Rstungsgtern, um sich gegen eine marodierende
Mordbande verteidigen zu knnen. Doch
der SPD-Vorsitzende tut sich schwer mit
Lieferungen: Wre die Region nicht jahrzehntelang aus Ost und West mit allen
denkbaren Waffen ausgestattet worden,
htten die Terroristen des IS nie an die
Waffen kommen knnen, die jetzt im Irak
zu dieser Katastrophe gefhrt haben.
In der Union ist die Zustimmung zum
neuen Kurs noch brchig. Entwicklungshil-
FOTO: HENNING SCHACHT
Deutschland
feminister Gerd Mller oder der Vorsitzende des Auswrtigen Ausschusses Norbert
Rttgen lehnen Waffenlieferungen an die
Kurden ab, andere, wie die Chefin der
CSU-Landesgruppe im Bundestag Gerda
Hasselfeldt, wollen darber nachdenken.
Ihr fr Auenpolitik zustndiger Parteivize,
Bundesagrarminister Christian Schmidt,
sieht Deutschland im Irak in der Pflicht:
Wir mssen registrieren, dass die Frage
deutscher Verantwortung in der Welt heute
keine abstrakte Diskussion mehr ist. Im
Extremfall sollten auch Schutzausrstung,
Defensiv- und Abwehrwaffen geliefert werden, beispielsweise leicht bedienbares Material wie die Panzerabwehrrakete Milan.
Sich zurcklehnen und hinterher die unschuldigen Toten zhlen das ist keine Option, so Schmidt.
CDU-Vizechefin Julia Klckner macht
sich ebenfalls fr Waffenlieferungen stark,
trotz aller ethischen Bedenken, wie sie
sagt: Wer Waffenlieferungen grundstzlich ausschliet, wird beim Kirchentag
zwar mit viel Applaus bedacht, als Politiker kann man aber nicht nur auf den Ap-
Schleppende Hilfe
Wie Behrden die Aufnahme
jesidischer Flchtlinge verzgern.
FOTO: OLIVER KRATO / DER SPIEGEL
afi Hassans Kinder wrden lieber
Kika gucken. Denn das Programm,
das im Wohnzimmer der Jesidenfamilie
in Bielefeld-Heepen gerade luft, macht
ihnen Angst. Rudaw TV, ein kurdischer
Sender. Er bringt den Krieg per Satellit
nach Nordrhein-Westfalen.
Voller Sorge blicken Rafi Hassan, 36,
und seine Frau Afaf, 30, auf den Bildschirm. Sie sehen erschpfte jesidische
Flchtlinge, mit Staub auf den Kleidern
und Trnen in den Augen. Tagelang waren sie im Sindschar-Gebirge im Norden
Iraks eingeschlossen. Gerade noch konnten sie der islamistischen IS-Miliz entkommen. Diese hlt die Jesiden fr Teufelsanbeter, die den Tod verdienen.
Auch Rafi Hassans Vater, Mutter und
Geschwister sind im Nordirak auf der
Flucht vor den Kmpfern des IS. Zunchst harrten sie in der Nhe des Mossul-Stausees aus. Als es dort zu unsicher
wurde, suchten sie wie Zehntausende andere Flchtlinge in der Stadt Zakho Zuflucht, berichtet die Familie. Dabei knnten die Jesiden lngst in Deutschland bei
ihren Angehrigen sein htten die Behrden sich nicht so viel Zeit gelassen.
Vorigen Herbst waren Rafi Hassans Eltern und vier seiner Geschwister vor dem
plaus und den ruhigen Schlaf schielen
Verantwortung heit auch Abwgen, das
Schlimmere verhindern.
Im Bendlerblock erarbeiten seit Montag
die wichtigsten Militrs und Beamten rund
um Drei-Sterne-General Markus Kneip einen Plan, was in den Nordirak geflogen
werden knnte. Auch mithilfe von BNDLeuten im Kurdengebiet hatte Kneip bald
eine Liste beisammen: Gepanzerte Fahrzeuge knne man liefern, auch Bundeswehr-Unimogs aus den Bestnden. Ebenso
Minensuchgerte, Helme, Splitterschutzwesten oder Sanittsmaterial.
Doch inzwischen hat sich die Lage im
Sindschar-Gebirge etwas entspannt. Die unmittelbare Gefahr eines Genozids, die die
deutsche Debatte anheizte, scheint vorerst
gebannt. Umso mehr wird der Irak jetzt
zum Testfall fr Deutschlands internationales Engagement und fr die Glaubwrdigkeit Ursula von der Leyens. Sie wird zeigen mssen, dass ihre Ankndigungspolitik
nicht nur der eigenen PR diente.
Mit Decken und Medikamenten wird sich
der Konflikt nicht lsen, das zerfallende
Krieg in Syrien in den Irak geflchtet.
Im Januar beantragten sie im Generalkonsulat in Erbil Visa fr Deutschland.
Der Familie war zugesagt worden, ber
ein Sonderprogramm zur deutschen Verwandtschaft in Nordrhein-Westfalen ziehen zu knnen; die lebt dort seit mehr
als zehn Jahren. Die Auslnderbehrde
in Bielefeld hatte schon zugestimmt.
Doch dann tat sich lange: nichts.
In dramatischen Appellen fordern in
diesen Tagen Politiker eine rasche Aufnahme von jesidischen Flchtlingen in
Deutschland. Man solle den um ihr Leben rennenden Menschen zumindest
vorbergehend Zuflucht gewhren, sagte
der Vorsitzende des Auswrtigen Ausschusses, Norbert Rttgen (CDU).
Eine nennenswerte Anzahl verfolgte
Jesiden aufzunehmen: Auch das wre ein
Zeichen, dass Deutschland weltweit
mehr Verantwortung bernehmen will.
Doch der Fall der Hassans zeigt, wie
schwerfllig die deutsche Brokratie sein
kann. Die Jesidenfamilie wartet seit
Jeside Rafi Hassan, Ehefrau Afaf
mit Handyfoto des Vaters
Land sich nicht stabilisieren lassen. Deshalb
dreht von der Leyen weiter auf und spricht
von Blauhelmsoldaten fr den Irak. Wenn
der Uno-Sicherheitsrat ber eine internationale Mission berate, werde Deutschland
das untersttzen, heit es in Regierungskreisen. Aber auch mit Soldaten?
Bei den irakischen Kurden hat die deutsche Debatte groe Hoffnungen geweckt.
Wir brauchen so schnell wie mglich moderne Sturmgewehre wie das deutsche G36
und panzerbrechende Waffen, so Oberst
Hasar Ismail, Berater des kurdischen
Peshmerga-Ministers Mustafa Kadir. Der
will sogar noch mehr, weil die Islamisten
auch Hunderte gepanzerte HumveeFahrzeuge der irakischen Armee erbeutet
htten. Ohne die schnelle Lieferung panzerbrechender Waffen htten seine Kmpfer keine Chance.
Christiane Hoffmann, Horand Knaup, Peter Mller,
Ralf Neukirch, Gordon Repinski
Lesen Sie weiter zum Thema
Seite 72: Vom Aufstieg der Terror-Miliz
Islamischer Staat im Irak und in Syrien
mehr als sieben Monaten darauf, nach
Deutschland auszureisen. Offenbar kein
Einzelfall: Vor Kurzem rumte die Bundesregierung ein, dass von 10 000 SyrienFlchtlingen, denen schon 2013 eine Aufnahme versprochen worden war, bisher
nur etwa 6000 hier angekommen sind.
Die Angehrigen der Hassans in Bielefeld hakten immer wieder bei den
mtern nach. Mehrmals besttigte die
Auslnderbehrde dem deutschen Generalkonsulat in Erbil, dass aus ihrer Sicht
alles geklrt sei. Doch dort verzgerte
sich das Verfahren: Familienbcher mussten berprft und fr drei der sechs Angehrigen Ersatzpsse ausgestellt werden. Auch das Bundesamt fr Migration
und Flchtlinge in Nrnberg muss in solchen Fllen zustimmen.
All das kann sicher einige Wochen dauern. Aber ein halbes Jahr?
Whrend die Jesidenfamilie auf ihre
Visa wartete, spitzte sich die Lage im
Irak zu. Im Juni rief die IS-Miliz ihr Kalifat aus, inzwischen warnen die Vereinten Nationen vor einem Genozid.
In den Fall der Hassans kam erst vorige
Woche Bewegung nachdem der SPIEGEL
bei den Behrden nachgefragt hatte.
Pltzlich ging alles ganz schnell. Das
Problem beim Informationsfluss sei geklrt, hie es, die Familie knne ihre Visa
abholen. Die hofft nun, so schnell wie
mglich nach Deutschland fliegen zu knnen. Wir sind nur noch erschpft, sagte
Rafi Hassans Vater am Freitag per Handy
aus dem Irak.
Wolf Wiedmann-Schmidt
DER SPIEGEL 34 / 2014
21
Beifang
im Netz
Spionage Der BND hrte
Gesprche von US-Auenministern ab und hat den NatoBndnispartner Trkei im Visier.
itte Juli war die Bundesregierung
einigermaen stolz auf sich. Erstmals seit Langem hatte sie in der
nicht enden wollenden Spionageaffre
rasch, einmtig und hart reagiert: Ein USSpion im Bundesnachrichtendienst war
enttarnt, der oberste CIA-Reprsentant
aus dem Land geschickt und Washington
damit demonstriert worden, dass man sich
auf Dauer doch nicht alles gefallen lsst.
Ein Hauch von Offensivgeist wehte pltzlich durch das Berliner Regierungsviertel.
Von Dauer war der nicht. Vier Wochen
spter befindet sich Angela Merkels Mannschaft wieder in der Defensive.
Seit am Freitag der vergangenen Woche
durch einen Bericht der Sddeutschen Zeitung bekannt wurde, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) wenn auch wohl nur
zufllig ein Gesprch der damaligen USAuenministerin Hillary Clinton abgehrt
hat, klingt das Diktum von Kanzlerin Merkel etwas schal: Aussphen unter Freunden, das geht gar nicht.
Nach SPIEGEL-Informationen betrifft die
Affre zudem nicht nur Clinton. Im ver-
gangenen Jahr traf es auch Clintons Nach- das Papier demnach nicht, wie es heit.
folger John Kerry, als dieser im Nahen Os- Aber der Mann, der den Job erledigen sollten zwischen Israelis, Palstinensern und te, war ausgerechnet Markus R., beschfarabischen Staaten vermittelte. Immerhin: tigt in der Abteilung Auslandsbeziehungen
Der Mitschnitt mindestens eines Kerry- und vor Kurzem enttarnt als mutmaliGesprchs wurde vom BND offenbar un- cher Agent im Dienst der Amerikaner.
R. dachte gar nicht daran, das Transkript
verzglich und weisungsgem vernichtet.
Dass das Gleiche nicht auch mit dem sofort zu beseitigen. Er packte offenbar
Clinton-Gesprch passierte, ist ein weite- eine Kopie zu den anderen 217 zum Teil
res Kuriosum der an Merkwrdigkeiten hoch brisanten BND-Dokumenten, die er
nicht eben armen NSA-Affre (siehe Seite seinen Auftraggebern lieferte und die deut28). Es mussten dafr mehrere fr den sche Ermittler Anfang Juli bei einer DurchBND unglckliche Zuflle zusammenkom- suchung von R.s Wohnung auf einem USBStick entdeckten.
men.
Die Amerikaner drehten nun den Spie
Der Dienst fngt seit Jahren von seinem
Horchposten im bayerischen Bad Aibling um und bezichtigen die Deutschen in inaus Satelliten-Telefongesprche im Nahen ternen Gesprchen der Bigotterie. In deutOsten ab, um Erkenntnisse ber die isla- schen Sicherheitskreisen heit es zwar,
mistische Terrorszene zu erlangen. Dum- befreundete Lnder waren und sind fr
merweise, heit es nun in Sicherheitskrei- uns kein Aufklrungsziel. Auch verweist
sen, seien in der Vergangenheit mehrfach man dort darauf, dass die Beifnge seit
US-Amtstrger, als sie im Flugzeug ber Mitte vergangenen Jahres auf Anweisung
Satellit telefonierten, ins Raster des BND des Kanzleramts nicht einmal mehr der
geraten. Es handle sich um eine Art unbe- BND-Leitung vorgelegt, sondern prompt
vernichtet werden. Aber fr die ohnehin
absichtigten Beifang.
Im Jahr 2012 landete so auch Hillary ramponierten Beziehungen zu den USA
Clinton im Netz des BND. Die damalige bedeutet der Fall einen weiteren TiefAuenministerin telefonierte mit dem ehe- schlag.
Entsprechend frustriert zeigten sich am
maligen Uno-Generalsekretr Kofi Annan.
Er war seit Ende Februar 2012 als Sonder- Freitag hohe Regierungsmitglieder. Man
gesandter der Vereinten Nationen und der habe, hie es in Berlin, einen umfassenden
Arabischen Liga fr Syrien im Einsatz. An- Sachstandsbericht vom Bundesnachrichnan kam gerade von Verhandlungsgespr- tendienst angefordert. Und darin wird es
chen aus Syrien und wollte Clinton auf nach Lage der Dinge nicht nur um die Abhrpanne gehen sondern auch um ein
den neuesten Stand bringen.
In der BND-Zentrale wurde, wie es da- weiteres, wohl noch heikleres Thema.
Unter den vom BND-Maulwurf Markus
mals blich war, eine mehrseitige Abschrift
des Telefonats gefertigt und an die Behr- R. entwendeten Dokumenten befindet sich
denleitung weitergereicht. Diese ordnete nmlich ein zweites brisantes Papier: das
wie blich an, dass die Mitschrift zu ver- sogenannte Auftragsprofil, mit dem die
nichten sei. Bis ins Kanzleramt gelangte Bundesregierung alle vier Jahre die Arbeitsschwerpunkte des BND festlegt. Das
aktuell gltige stammt aus dem Jahr 2009
und wurde wegen der NSA-Affre bislang
noch nicht erneuert. Das soll erst in den
kommenden Monaten geschehen.
Im also noch aktuellen Auftragsprofil
steht nach SPIEGEL-Informationen die Trkei. Sie ist damit offiziell Aufklrungsziel
des BND. Dass der deutsche Geheimdienst
den Nato-Bndnispartner auf Gehei der
Bundesregierung ins Visier genommen
hat, knnte die jngsten Versuche der deutschen Regierung torpedieren, die Spannungen zwischen Berlin und Ankara zu lsen.
Denn nun droht eine wtende Antwort
der Trken. Und in Berlin grbelt man,
wie man den brskierten Partner besnftigen knnte, der in der gegenwrtigen Irakkrise eine so wichtige Rolle spielt. In der
Bundesregierung heit es, man werde
schnell auf die Regierung in Ankara zugehen. Auch in diesem Fall gilt: Es knnte
noch dauern, bevor die Koalition wieder
in die Offensive kommt.
Gesprchspartner Annan, Clinton 2012: Telefonat aus dem Flugzeug
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DER SPIEGEL 34 / 2014
Nikolaus Blome, Hubert Gude, Sven Rbel,
Jrg Schindler, Fidelius Schmid
FOTO: XINHUA / ACTION PRESS
Deutschland
Harte
Haltung
Migration Die Regierung
will die Armutszuwanderung
aus der EU eindmmen.
Doch der CSU gehen die
Plne nicht weit genug.
etzt soll es also Elisabeta Dano richten.
Ausgerechnet die arbeitslose Rumnin,
die mit ihrem kleinen Sohn Florin in
Leipzig wohnt, ist die letzte Hoffnung
der CSU. Eine Frau, die so ziemlich alle
Voraussetzungen erfllt, um im derben
Sprachgebrauch mancher Christsozialer
als Sozialschmarotzerin zu gelten. Um das
Thema Sozialmissbrauch auf die Agenda
zu setzen, hatten die Parteioberen Anfang
des Jahres den Slogan Wer betrgt, der
fliegt erfunden.
Dano lebt seit Jahren in Deutschland
und ist arbeitslos. Sie kann nicht einmal
nachweisen, dass sie sich ernsthaft um eine
Stelle bemht htte. Das Jobcenter Leipzig
hatte deshalb ihren Antrag auf Hartz IV
abgelehnt. Dano legte Klage dagegen ein.
Doch wie das Jobcenter kam auch das
Sozialgericht Leipzig zu dem Schluss, dass
Dano nicht wirklich Arbeit suchte. Deshalb sei es rechtens, ihr als EU-Auslnderin
keine staatliche Sttze zu zahlen. Weil
aber umstritten ist, ob die restriktive
deutsche Gesetzgebung mit dem EU-Recht
vereinbar ist, liegt der Fall seit vergangenem Sommer beim Europischen Gerichtshof (EuGH).
24
DER SPIEGEL 34 / 2014
Fr die CSU ist das die Chance. Sollte
das Gericht in Luxemburg die harte
deutsche Haltung besttigen, wollen die
Bayern eine Debatte erffnen, die ein Bericht der Bundesregierung in Sachen Arbeitsmigration vergangene Woche beenden
sollte: Wann kann Deutschland EU-Auslndern Sozialhilfe und andere Sozialleistungen wie beispielsweise das Kindergeld
verweigern?
Kanzlerin Angela Merkel hatte im Februar eine Staatssekretrsrunde einsetzen
lassen, um die Gemter zu beruhigen, die
die CSU aufgeheizt hatte. Das ist Merkel
erst einmal gelungen.
Allerdings zeigt sich jetzt auch: Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe unter der Federfhrung von Bundesinnenminister Thomas de Maizire (CDU) und Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) tragen nicht
viel dazu bei, die realen Probleme zu lsen. Am ehesten helfen noch jene 275 Millionen Euro vom Bund fr Kommunen, die
besonders von Armutszuwanderung betroffen sind.
Die Hardliner in der Union feiern es als
groen Erfolg, dass EU-Brger in Deutschland hchstens sechs Monate nach einer
Arbeitsstelle fahnden drfen. Wer dann
nichts hat, muss wieder gehen. Auerdem
soll es eine bis zu fnfjhrige Einreisesperre fr Auslnder geben, die sich Sozialleistungen erschleichen.
Das klingt erst einmal markig. Allein:
hnliche Sanktionen stehen bereits heute
im Gesetzblatt. Schon jetzt haben EUAuslnder, die zur Arbeitssuche eingereist
sind, nicht zwangslufig Anspruch auf
Hartz IV. Und inaktive EU-Brger wie
Dano drfen schon nach geltendem Recht
nach drei Monaten ausgewiesen werden,
wenn sie sich nicht selbst finanzieren knnen. Die Mglichkeiten werden jedoch
von den Behrden kaum genutzt. Wer will
in einem Europa der offenen Grenzen
auch kontrollieren, dass ausgewiesene
Auslnder am nchsten Tag nicht wieder
einreisen?
Dazu kommt, dass die Politik auf einer
extrem drftigen Faktenlage operiert.
Missbrauch gibt es, aber ist er auch ein
Massenphnomen mit Milliardenschaden?
Zwar ist die Zahl der Hartz-IV-Empfnger unter Bulgaren und Rumnen in jngster Zeit extrem gestiegen, im April dieses
Jahres lag sie um 66 Prozent hher als ein
Jahr zuvor. Schaut man allerdings genauer
hin, sieht die Sache schon anders aus: In
Deutschland lebten im Frhjahr rund
58 700 Rumnen und Bulgaren, die auf
staatliche Sttze angewiesen waren nur
knapp ein Prozent aller Empfnger und
weniger als im Durchschnitt der auslndischen Bevlkerung.
Gleichzeitig ist die Zahl der Rumnen
und Bulgaren, die in Deutschland arbeiten, um 76 Prozent auf 240 000 gestiegen
die meisten zahlen in die Sozialkassen ein.
Es sind Zahlen, die sich kaum dazu eignen, eine politische Debatte um einen
angeblichen massenhaften Sozialbetrug
anzuheizen.
Die CSU liebugelt dennoch damit. Sie
wrde am liebsten die Verabschiedung des
neuen Gesetzespakets verschieben und die
Luxemburger Entscheidung zum Fall Dano
abwarten. Lsst das Gericht die restriktive
Hartz-IV-Vergabe durchgehen, wre dies
Rckenwind fr die Forderung nach weiteren Verschrfungen der Gesetze.
Dabei schaut die CSU vor allem auf das
Kindergeld. Die Partei besteht auf einer
dreimonatigen Wartezeit, bevor es das
zum ersten Mal gibt. Derzeit steht in dem
Abschlussbericht lediglich ein entsprechender Prfauftrag.
Auerdem will die CSU erreichen, dass
EU-Auslnder, die zwar in Deutschland arbeiten, aber ihre Kinder im Heimatland
lassen, deutlich weniger Kindergeld erhalten. Das Niveau der Zahlungen soll sich
am Herkunftsland orientieren. Geplant ist
zudem, dass Eltern, die nur kurz in
Deutschland arbeiten, berhaupt kein Kindergeld erhalten sollen.
Es ist nicht einzusehen, warum jemand,
der nur wenige Wochen in Deutschland
arbeitet, Anspruch auf Kindergeld haben
soll, sagt Agrarminister Christian
Schmidt, der fr die CSU die Verhandlungen leitet. Die Prfauftrge im Bericht
verstehen wir so, dass die Erkenntnisse
der beim EuGH anhngigen Rechtssachen
auch im Gesetzgebungsverfahren noch bercksichtigt werden sollten. Die Debatte
beginnt also von vorn.
Markus Dettmer, Peter Mller
FOTO: HC PLAMBECK / LAIF
Minister Nahles, de Maizire
Drftige Faktenlage
Dafr sind wir
nicht gewhlt
Union Exministerprsident
Erwin Teufel hadert mit der
Groen Koalition. Er will
das alte Profil der CDU zurck
und respektiert die AfD.
FOTO: CIRA MORO / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Teufel, die Union hat die
Wahl gewonnen, in der Regierung erkennt
man ihre Handschrift aber kaum. Ist der
Preis fr die Groe Koalition zu hoch?
Teufel: Die CDU sollte an einigen fr die
Brger wichtigen Stellen unverwechselbarer sein. Die soziale Marktwirtschaft ist
unser Markenkern. Aber was nutzt das,
wenn wir uns nur noch in Sonntagsreden
dazu bekennen, in der Praxis davon aber
nichts zu sehen ist? Politik beginnt mit
dem Betrachten der Wirklichkeit. Die
Wirklichkeit ist: Die Rentenbezugsdauer
hat sich seit 1960 verdoppelt. Die Geburtenzahl hat sich seit 1964 halbiert. Die Hlfte der Beitragszahler wird die wachsende
Zahl der Rentner und die zunehmende
Rentenbezugsdauer nicht mehr bezahlen
knnen. Die von Arbeitsminister Franz
Mntefering durchgesetzte Rente mit 67
war eine groe Leistung. Ich habe auch
volles Verstndnis, wenn Arbeitsunfhige
frher in Rente gehen. Aber eine Rente
mit 63 nach 45 Beitragsjahren fr einen arbeitsfhigen Menschen ist unverantwortlich. Dafr sind wir nicht gewhlt.
SPIEGEL: Die Kanzlerin sagt, in Koalitionen
seien Kompromisse eben unvermeidlich.
Teufel: Niemand ist verpflichtet, das, was
er als unsinnig erkennt, umzusetzen auch
nicht im Wege des Kompromisses. Ich htte mir gewnscht, dass wir der SPD an anderen Stellen entgegengekommen wren
als ausgerechnet bei der Rente mit 63.
SPIEGEL: Bei der Mtterrente macht die
Union selbst Politik auf Kosten knftiger
Generationen.
Teufel: Kinder sind das Wichtigste, was wir
haben. Die Anerkennung der Erziehungsleistung der Mutter ist eine wichtige familienpolitische Leistung.
SPIEGEL: Andererseits hat die Union davon
profitiert, dass sie sich unter Angela Merkel vom konservativen Familienbegriff
gelst hat. Die steuerliche Gleichstellung
gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit der Ehe etwa war berfllig.
Teufel, 74, war von 1991 bis 2005 baden-wrttembergischer Ministerprsident und gilt als
einer der letzten prominenten Konservativen in der CDU. Schon vor drei Jahren hatte er mit
seiner Kritik am Profil der Partei eine heftige Kursdebatte ausgelst. Jetzt legt er nach. Wie
Fraktionsvize Michael Fuchs (SPIEGEL 33/2014) gehen ihm die Kompromisse in der Groen
Koalition zu weit.
Teufel: Ich habe nichts gegen solche Randgruppen. Sie gehren zu unserer Gesellschaft. Aber Bund, Lnder und Gemeinden
mssen die Familie frdern. Familie ist, wo
Kinder und spter Enkelkinder sind. Das
sollte der Kern unserer Familienpolitik sein.
Ich mache die Erfahrung, dass Familien mit
einem Normaleinkommen an den Rand des
Existenzminimums geraten, wenn das dritte Kind kommt. Es geht am Monatsende
null auf null auf. Fr den auergewhnlichen Fall ist keine Reserve da. Der auergewhnliche Fall ist bereits, wenn die
Waschmaschine kaputtgeht oder zwei Kinder gleichzeitig ins Schullandheim gehen
sollen und dafr 200 Euro fllig werden.
Eltern melden dann ihre Kinder krank. Um
diese Menschen muss sich die CDU kmmern, wenn sie Volkspartei bleiben will.
SPIEGEL: Vor der Sommerpause verabschiedete auch Ihre Partei eine Reform des
Staatsbrgerschaftsrechts, der Doppelpass
wird erleichtert. Was halten Sie davon?
Teufel: Ich bin gegen eine doppelte Staatsbrgerschaft. Wer volljhrig ist, muss sich
entscheiden. Wir zwingen niemanden,
Deutscher zu werden. Wenn er aber Deutscher werden will, dann muss er auch bereit sein, auf die andere Staatsbrgerschaft
zu verzichten. Wir haben ja gerade bei der
Europawahl erlebt, was fr ein Unsinn die
doppelte Staatsbrgerschaft ist. Da haben
viele Leute doppelt abgestimmt, darunter
sogar Spitzenjournalisten.
SPIEGEL: Mit der AfD haben Konservative,
denen die ganze Merkel-CDU nicht passt,
jetzt eine Alternative. Beim Staatsbrgerschaftsrecht etwa vertritt die AfD die gleiche Position wie die CDU frher.
Teufel: Soll ich die AfD dafr kritisieren,
dass sie in einem Punkt genau die Haltung
vertritt, die ich auch als richtig empfinde
und die meine Partei noch bis vor Kurzem
selbst vertreten hat? Nein, natrlich kommen die Whler der AfD teilweise von
CDU, CSU und FDP. Das sehen Sie ja
schon am Personal. Der AfD-Vertreter aus
Baden-Wrttemberg, der eben ins Europische Parlament gewhlt wurde, war vor
zwei Jahren noch Mitglied der CDU, aktiv
in einem Ortsverband.
SPIEGEL: Wie gefhrlich ist die AfD fr die
CDU?
Teufel: Man kann die AfD heute noch gar
nicht bewerten. Jeder von uns in der Union
kennt einige AfD-Politiker und hat zu
einzelnen gute Beziehungen. Die Politiker
an der Spitze der AfD sind angesehene
Hochschullehrer und ehemalige Verbandschefs. An diesen Menschen habe ich nichts
auszusetzen. Und ich siedele die AfD derzeit auch nicht am rechten Rand an.
SPIEGEL: Einzelne CDU-Politiker knnen
sich sogar eine Koalition mit der AfD vorstellen. Sie auch?
Teufel: Ich mchte jetzt erst mal sehen, was
die AfD im Europischen Parlament zuDER SPIEGEL 34 / 2014
25
Deutschland
stande bringt: Wie sieht ihre Politik im Alltag aus? Und wenn sie dann in einen Landtag einziehen sollte, mchte ich sehen: Entwickelt sich die AfD zu einem Rechtsausleger im Parteiensystem, oder bleibt sie
eine konservative Kraft? Wie bei allen neuen Rechtsparteien schleichen sich auch bei
der AfD Leute ein, die die Parteifhrung
da gar nicht will. Mal sehen, wie sie dieses
Problem lst. Dann erst kann man die Frage, ob die Union mit der AfD koalieren
kann, beantworten. Das reicht in zwei,
drei Jahren, wenn die nchste Bundestagswahl ansteht.
SPIEGEL: Wie soll die Union mit einer Partei
koalieren, die bei der Rettung des Euro einen ganz anderen Kurs fordert?
Teufel: Die meisten Mitglieder der AfD haben keine feindliche Haltung zu Europa,
sondern zur Euro-Rettungspolitik. Dafr
gibt es eine ganze Menge guter Grnde.
Ich halte es fr die grte Selbstverstndlichkeit, dass nicht nur jeder Brger Vertrge einhalten muss, sondern auch jede
Regierung. Vertragsbruch ist im Fall der
Eurokrise besonders schlimm, weil die Stabilittskriterien der Ersatz fr die politische Union waren, die nicht zustande kam.
SPIEGEL: Andererseits hat die Sparpolitik in
Sdeuropa zu einer Jugendarbeitslosigkeit
gefhrt, die ohne staatliche Investitionen
kaum in den Griff zu bekommen ist.
Teufel: Ich bin ganz sicher, dass man sich
nicht dauerhaft ungestraft in Dimensionen
verschulden kann, wie dies Italien oder
Frankreich tun. Auf Dauer wird auch die
Niedrigzinspolitik der EZB nicht dazu fhren, dass sich diese Lnder weiterhin auf
dem Kapitalmarkt refinanzieren knnen.
Stattdessen sollten Frankreich, Portugal,
Italien, Spanien, all diese Lnder, Reformen vorantreiben, zum Beispiel indem sie
ihre berbesetzten ffentlichen Verwaltungen reduzieren.
SPIEGEL: Das Problem mit dieser Argumentation ist doch, dass sie die politische Realitt nicht beachtet. Auch in Deutschland
htten Parteien wie die AfD weit mehr Zulauf, wenn es eine Jugendarbeitslosigkeit
von 50 Prozent gbe wie in Spanien.
Teufel: Wenn Lnder wie Frankreich oder
Spanien auf lange Zeit Jugendarbeitslosigkeit in dieser Dimension haben, stellt sich
die Systemfrage, das stimmt. Die Erfolge
des Front national in Frankreich sind bengstigend. Deswegen muss Europa diese
Lnder untersttzen, aber man muss es
richtig machen! Man knnte Geld aus EUTpfen nehmen, um diese Lnder beim
Ausbau eines dualen Ausbildungssystems
nach deutschem Vorbild zu untersttzen.
Und man sollte Existenzgrndungen frdern. Letztlich bleibt den Lndern aber
nicht erspart, eigene Reformen durchzufhren, um die Wettbewerbsfhigkeit ihrer
Unternehmen wieder zu erreichen.
Interview: Peter Mller
26
DER SPIEGEL 34 / 2014
Dauerhaftes
Missbehagen
Sachsen Bei der Landtagswahl
hat die AfD gute Chancen, erstmals in ein Lnderparlament
einzuziehen. Sie profitiert von
wankelmtigen Protestwhlern.
FOTO: NIKOLAI SCHMIDT/ DER SPIEGEL
an wei alles ber Drrhennersdorf. Die Gemeinde in der schsischen Lausitz liegt 396 Meter ber
dem Meeresspiegel, hat kaum mehr als
tausend Einwohner. Sechs davon sind
Nichtdeutsche. Es gibt hier 15 Menschen
mit Migrationshintergrund, das Durchschnittsalter liegt bei 48 Jahren. Seit der
Wende haben die Drrhennersdorfer denselben Brgermeister, er ist parteilos und
wurde zuletzt mit 76,1 Prozent der Stimmen wiedergewhlt.
ber das Rtsel von Drrhennersdorf
wei man wenig. Es begann bei der
Bundestagswahl 2013. Auf Anhieb wurde
die gerade gegrndete Alternative fr
Deutschland (AfD) hier zur zweitstrksten
Kraft: mit 15,6 Prozent. Zur Europawahl
in diesem Jahr legte die Truppe der Eurokritiker noch einmal zu: 26,8 Prozent. Ein
deutschlandweit einmaliger Rekordwert,
der die Partei euphorisierte.
Der Ort im Dreilndereck zwischen
Tschechien, Polen und Deutschland gilt nun
als eine Art Keimzelle der Alternative, die
sich in Sachsen anschickt, erstmals in einen
Landtag einzuziehen. Zur Europawahl
stimmten bereits 10,1 Prozent der Sachsen
fr die AfD, in Wahlumfragen liegt die Partei von Bernd Lucke derzeit stabil zwischen
sechs und acht Prozent. Die Alternative
knnte FDP und NPD aus dem Parlament
drngen und nebenbei eine absolute Mehrheit der CDU an der Elbe verhindern.
Dass Drrhennersdorf zur AfD-Hochburg wurde, hat mit einem besonders umtriebigen Einwohner zu tun. Birco Randt,
49, empfngt im Hinterzimmer eines Reisebros in der Kreisstadt Lbau, er klagt
ber die vielen Krisenherde der Welt, dann
schiebt er AfD-Flyer ber den Tisch. Darauf steht: Lieber Geld fr deutsche Straen als fr Banken in Sdeuropa!,
Schluss mit diesem Euro. Randt hat die
Dinger einst fr zehn Euro im Internet bei
der AfD bestellt und in Drrhennersdorf
verteilt. Nicht als Parteimitglied, sondern
einfach so.
Er habe, sagt Randt, die Partei im Internet verfolgt und fr ihre schlauen Leute
wie Professor Lucke und Doktor Henkel
bewundert. Er fand ihre Thesen einleuch-
AfD-Anhnger Randt in Drrhennersdorf: Wahlkampf auf eigene Faust
tend und betrieb auf eigene Faust Wahlkampf. Vor allem Nichtwhler habe er im
Ort angesprochen. Viele htten seine Flyer
dankbar mitgenommen. Manche habe er
spter im Wahllokal wiedergetroffen.
Laut aktuellen Studien haben AfD-Whler Affinitt zu rechtsextremen Positionen.
Nach Erhebungen der Universitt Leipzig
neigt die Hlfte der AfD-Whler zu Auslnderfeindlichkeit, jeder siebte ist Antisemit und etwa jeder zehnte verharmlost
den Nationalsozialismus.
Randt weist dagegen jede Nhe zum
Rechtsextremismus von sich, er sei berhaupt kein Parteignger, nicht mal zu Zeiten der DDR, als er Agraringenieur fr
Pflanzen- und Tierproduktion war. Die ersten Jahre nach der Wende habe er noch
CDU gewhlt, dann nichts mehr. Die
NPD kam fr mich nicht infrage, sagt der
Reisekaufmann. Er sei fr Zuwanderung,
aber nicht in die Sozialsysteme.
Drrhennersdorf ist kein Hort fr
Rechtsextreme. 2009 whlten 4,2 Prozent
die NPD, 2013 waren es 3,8 Prozent. Erst
ein Blick auf die anderen Parteien zeigt,
was sich in der Gemeinde tatschlich verschoben hat: Die FDP verlor 14,3 Prozentpunkte, die Linke fast 10.
Der Dresdner Politikwissenschaftler
Werner Patzelt sagt, dass die Whler der
AfD ein allgemeines Missbehagen mit unserem politischen System befallen habe.
Sie wrden Systemkritik und Systemskepsis zum Ausdruck bringen. Tatschlich haben die Drrhennersdorfer Whler seit der
Wende mal die NPD, mal die PDS und die
Linke und mal die FDP mit berdurchschnittlich vielen Stimmen bedacht. Aber
ihrem Missbehagen konnte keine Partei
abhelfen, die wankelmtigen Protestwhler versuchen es bei jeder Wahl woanders,
jetzt eben bei der AfD.
Wer nach den Grnden des allgemeinen Missbehagens sucht, erfhrt von Br-
germeister Albrecht Gubsch, dass die Menschen abwanderten. Frher wohnten drei
Generationen auf einem Hof, heute sind
es oft nur noch zwei Leute, sagt er. Die
Lhne in der Region seien zu niedrig, erste
Huser stnden leer. Grenzkriminalitt
verstre die Menschen zustzlich.
Birco Randt erzhlt von Autodiebsthlen und Einbrchen in Werksttten. Hier
bei uns wird die Polizei eingespart, und in
Berlin interessiert das niemanden. Die
Brger fhlen sich alleingelassen und Kriminellen ausgeliefert, auch wenn die Statistik das nicht hergibt.
Die zustndige Polizeidirektion Grlitz hat 2013 insgesamt 30 Straftaten in
Drrhennersdorf registriert, nur 4 davon
waren Einbrche. Vor sechs Jahren waren es noch 20. Aber die AfD nimmt die
Sorgen der Menschen auf, wie einst die
Kmmerer der PDS. Es ist wohl kein
Wunder, dass die sechs besten schsischen
Wahlergebnisse der Alternative bei der
Europawahl im Grenzgebiet zustande
kamen.
Randt hat schon wieder neue Flyer. In
den Papieren fordert die Direktkandidatin
fr den Drrhennersdorfer Wahlkreis die
Einfhrung permanenter Personenkontrollen an den deutschen Auengrenzen, dazu
den Slogan: Kriminelle bekmpfen, Opfer
schtzen.
Parteimitglied ist Randt noch immer
nicht, aber er wird wieder Nichtwhler ansprechen und der Jugend im Ort, der Partygeneration, wie er sie nennt, Fragen
nach ihrer Zukunft stellen. Randt wird
Flyer verteilen und Plakate an Laternen
hngen. Er hofft, dass die AfD im hundert
Kilometer entfernten Dresden alles zum
Guten wendet. Ob es wirklich so wird,
wei ich natrlich auch nicht.
Wenn nicht, zieht die Protestkarawane
bei der nchsten Wahl eben weiter.
Steffen Winter
DER SPIEGEL 34 / 2014
27
Deutschland
Die Parlamentarier, die die Sphaktivitten der NSA auf deutschem Boden aufklren sollen, werden derzeit hufig mit
Dokumenten konfrontiert, die an unpersnliche Kondolenzschreiben erinnern: ein
paar formelhafte Worte, umgeben von
sehr viel Schwarz. Ausschussmitglieder klagen, in den mehr als 800 Ordnern, die die
Geheimdienste Wichtige
Regierung bislang an das Gremium gelieZeugen werden nicht gehrt,
fert habe, finde sich kaum ein interessanter
Satz. Die Inhalte seien entweder banal
viele Akten geschwrzt
oder geschwrzt.
wie sollen Parlamentarier die
Nach dem Gezerre um die vorerst geNSA-Affre aufklren?
platzte Befragung des Whistleblowers Edward Snowden, der mit seinen Dokumenelbst der Ablauf des Damenpro- ten das Ausma der US-Lauschangriffe fgramms ist offenbar ein Staatsgeheim- fentlich machte, behindert der nchste
nis, jedenfalls sind die Punkte mit di- Konflikt die Arbeit des Ausschusses.
Die Opposition droht wegen der Schwrckem Filzschreiber bermalt. Nur das Wort
Sektempfang ist noch lesbar, der Rest der zungen mit einer Klage vor dem BunTagesordnung fr den dreitgigen Besuch desverfassungsgericht. Auch Vertreter der
des damaligen NSA-Chefs Michael Hayden Regierungsfraktionen sind erbost: Die
im November 1999 in Deutschland besteht Stellen, an denen seitenweise geschwrzt
wurde, mssen offengelegt werden, forberwiegend aus schwarzen Balken.
Hayden sprach damals ber eine engere dert der Ausschussvorsitzende Patrick
Kooperation der deutschen und amerika- Sensburg (CDU). Die Bundesregierung
nischen Geheimdienste und versicherte, msse die Grnde fr die vielen schwarzen
die USA betrieben in Deutschland keine Balken in jedem Einzelfall erklren.
Weitrumig geschwrzt sind etwa zwei
Wirtschaftsspionage. Doch den Unterlagen
Ordner aus dem Bundesamt fr Verfasist das nicht zu entnehmen.
Sabotage
in Berlin
sungsschutz. Sie knnten theoretisch
Licht ins Dunkel um das berwachungsprogramm Prism bringen, mit dem die
NSA-Enthllungen im Juni 2013 ihren Anfang nahmen.
Dass die ffentlichkeit mehr ber das
Sphprogramm erfhrt, an dem Unterlagen von Snowden zufolge auch Internetkonzerne wie Microsoft, Google, Facebook und Apple beteiligt sind, erscheint
angesichts der Schwarzmalerei unwahrscheinlich. Von einer Sabotage der Aufklrungsarbeit spricht die Linken-Obfrau,
Martina Renner.
Nach knapp fnf Monaten Ausschussarbeit ist den Parlamentariern schmerzlich
bewusst, welch gewaltige Schwierigkeiten
sie berwinden mssen, um die NSAAffre der Aufklrung nherbringen zu
knnen. Daran, die Hintergrnde fr den
Lauschangriff auf das Kanzlerhandy rekonstruieren zu knnen, glauben die meisten
Ausschussmitglieder selbst nicht mehr.
Schlsselfiguren wie Snowden oder seinen Vertrauten Glenn Greenwald werden
die Parlamentarier nach derzeitigem Stand
nicht befragen knnen, andere Hauptpersonen sitzen in den USA und die Bundesregierung mauert. Sie frchtet, dass
jedes vertrauliche Dokument, das an die
FOTO: SOEREN STACHE / DPA
Aktionskunst an der US-Botschaft: Mister Spoc soll in Amerika Vertrauen aufbauen
ffentlichkeit gelangt, die angespannten heimdienstverbund, der eng kooperiert.
Beziehungen zwischen den Geheimdiens- Fritsche will ihnen die Arbeit des Untersuchungsausschusses erklren, etwa dass
ten weiter verschlechtern knnte.
Vertrauen aufbauen soll jetzt Mister streng geheimes Material in der GeheimSpoc, wie er im Ausschuss halb anerken- schutzstelle des Bundestags gelagert wird
nend, halb spttisch genannt wird. Hinter und nur dort eingesehen werden kann.
Mister Spoc wird als Bittsteller unterdem Krzel verbirgt sich der Single Point
of Contact, so sein offizieller Titel, Klaus- wegs sein, denn bei Informationen, die aus
Dieter Fritsche. Der Staatssekretr im dem Ausland stammen, bestimmen die
Kanzleramt ist nun alleiniger Ansprech- Partnerdienste, was die Ausschussmitgliepartner der auslndischen Geheimdienste. der ungeschwrzt lesen knnen.
Nicht nur durch auslndische Dienste
Er soll ber neue Leitlinien fr die Zusammenarbeit der Dienste verhandeln gesperrtes Material wird fr den Ausschuss
und die Freigabe von NSA-Dokumenten geschwrzt: Tabu ist zudem, was den
Kernbereich exekutiver Eigenverantworbewirken.
Am 26. August wird er zu einer Rund- tung betrifft. Mit diesem Einwand verreise starten, zu den Auslandsdiensten der weigert die Bundesregierung unter andeUSA, Kanadas, Australiens und Neusee- rem Protokolle ber Gesprche bei Staatslands. Zusammen mit Grobritannien, wo besuchen. Namen werden mit Hinweis auf
Fritsche bereits war, bilden sie die Five die Persnlichkeitsrechte geschwrzt, anEyes jenen angloamerikanischen Ge- dere Inhalte mit Verweis auf Quellen-
schutz oder Methodenschutz oder
auch, weil der Bezug zum Untersuchungsthema angeblich fehlt. Da wird voll durchgebremst, rgert sich Grnen-Obmann
Konstantin von Notz.
Mit der Aufregung der Linken und Grnen im Ausschuss knnte die Regierung
noch gut leben. Schwerer wiegt, dass auch
die Mitglieder von Union und SPD sich in
der letzten Sitzung vor der Sommerpause
Anfang Juli ber die Schwrzungen emprten. Daraufhin signalisierte das Kanzleramt, seine Praxis zu berprfen.
Der Ausschuss will jetzt Beispiele fr
besonders unsinnige und nicht zu rechtfertigende Schwrzungen sammeln, um die
Regierung zum Umdenken zu bringen.
Falls das nicht gelingt, droht eine weitere
juristische Auseinandersetzung, mit der
geklrt werden muss, ob die Bundesregierung oder das Parlament den Verfahrensgang in diesem Ausschuss bestimmen,
sagt Linken-Politikerin Renner.
Das knnte dazu fhren, dass auch dieser Streit vor dem Bundesverfassungsgericht landet. Die Karlsruher Richter mssen vermutlich ebenfalls entscheiden, ob
Edward Snowden doch in Deutschland als
Zeuge gehrt werden kann.
Hubert Gude, Jrg Schindler
Deutschland
Einfach so in
der Mappe
FDP Der bizarre Streit um Walter
Scheel geht vor Gericht: Hat
seine Ehefrau bei der Vollmacht
zur Entmndigung des Altbundesprsidenten getrickst?
30
DER SPIEGEL 34 / 2014
Ehemaliger Bundesprsident Scheel, Gattin Barbara: Zahlreiche Eskapaden
Bett oder Ruhigstellen mit Medikamenten.
In einem handschriftlichen Zusatz sei zudem festgelegt, dass dafr keine Genehmigung des Betreuungsgerichts notwendig
sein solle. Die ist aber gesetzlich vorgeschrieben.
Fraglich ist, ob Scheel sich ber die Tragweite seiner Unterschrift im Klaren war.
Nach Darstellung seines Broleiters Christoph Hppel, der im Antrag als Zeuge angefhrt wird, wies Barbara Scheel Hppel
an, das Schreiben in die allgemeine Unterschriftenmappe zu legen, die Scheel regelmig vorgelegt werde. Darin befinden
sich blicherweise Glckwunschschreiben
und andere Post.
Hppel bezweifelt, dass Scheel deswegen und wegen seiner auch damals schon
fortschreitenden Demenz in der Lage gewesen sei zu erfassen, was er da unterschrieb. Barbara Scheel nennt das Unsinn.
Die Vollmacht wurde zur rechten Zeit erteilt, sagt sie. Wann und wie ihr Mann
unterschrieben habe, wisse sie nicht.
Das Amtsgericht hat inzwischen einen
Gutachter beauftragt. Er soll klren, ob
Scheel eine solche Vollmacht berhaupt
noch erteilen konnte. Damit kommt das
Gericht auch einem Wunsch Cornelia
Scheels nach. Sie beklagt in ihrem Antrag,
das Verhalten Barbara Scheels lasse auf
eine Nichteignung ihrer Person als Bevollmchtigte auf ganzer Linie schlieen.
Tatschlich gab es in den letzten Monaten zahlreiche Berichte ber Eskapaden
der Gattin des Altprsidenten. Dazu zhlten Streitereien mit der Leitung des Parkstifts St. Ulrich in Bad Krozingen, in dem
Walter Scheel seit mehr als zwei Jahren
lebt (SPIEGEL 27/2014). Frau Scheel hatte
sich wiederholt ber das Personal des
Heims beschwert. Sie beklagte, dass zu
viele Auslnder in der Pflege eingesetzt
seien. Die Heimleitung hatte schon im
Frhjahr das Bundesprsidialamt in Berlin
um Hilfe gebeten, weil die Auftritte seiner
Frau eine vernnftige Pflege Scheels unmglich machten.
Es ist nicht der einzige Vorwurf.
Barbara Scheel arbeite zudem konsequent darauf hin, ihren Mann von seinen
Kindern und alten Freunden zu isolieren,
heit es im Antrag der Tochter. Sie berichtet von einem Treffen mit ihrem Vater vor
rund sechs Wochen. Dabei hat sie ihren
Wagen nach eigenen Angaben auf dem
Personalparkplatz abstellen mssen, damit
Barbara Scheel sie nicht bemerkte. Dann
sei ihr bedeutet worden, dass die Luft nun
fr zwei Stunden rein sei. Ihr Vater habe
sie erkannt und sich ber den Besuch sehr
gefreut, berichtet die Tochter.
Barbara Scheel bestreitet, eine Art Kontaktsperre verhngt zu haben. Cornelia
knne wie ihre Geschwister Scheel jederzeit besuchen, auch wenn sie nicht seine
leibliche Tochter sei. Alte Freunde Scheels
wie der frhere FDP-Bundestagsabgeordnete Manfred Vohrer besttigten im Gesprch allerdings die Vorhaltungen der Kinder. Barbara Scheel versuche, auch ihn von
ihrem Mann fernzuhalten, sagt er.
Setzen sich die Kinder des Altbundesprsidenten durch, wrde das Gericht einen Kontrollbetreuer einsetzen. Der knnte versuchen, sich mit Barbara Scheel zu
einigen. Falls das misslingt, was wahrscheinlich scheint, knnte er die Vollmacht widerrufen, die Scheel seiner Frau
erteilt hat. Dann htte Barbara Scheel die
Macht ber ihren Ehemann verloren.
Ralf Neukirch
FOTO: PATRICK SEEGER / PICTURE ALLIANCE / DPA
arbara Scheel hat in den vergangenen Monaten einiges von dem verspielt, was ihr wichtig ist. Das Bro
ihres Ehemanns, des frheren Bundesprsidenten Walter Scheel, ist wegen ihres
Verhaltens von Bad Krozingen nach Berlin verlegt worden. Den Dienstwagen hat
das Prsidialamt ihr entzogen. Aber nun
droht ihr ein viel grerer Verlust: Sie
muss frchten, die Verfgungsgewalt ber
das Leben ihres demenzkranken Ehemanns zu verlieren.
Walter Scheels Tochter Cornelia hat, untersttzt von ihren drei Geschwistern, bei
Gericht einen Antrag auf Einrichtung
einer Kontrollbetreuung gestellt. Die vier
Kinder des frheren Bundesprsidenten
wollen erreichen, dass Barbara Scheel
nicht mehr alle Entscheidungen fr ihren
Mann allein treffen kann. Es sei zu befrchten, dass Barbara Scheel dem Wohl ihres
Vaters in erheblicher Weise schade, heit
es in dem Schreiben des Klner Anwalts
Robert Lorenz an das Amtsgericht Staufen
im Breisgau.
Barbara Scheel sagt am Telefon, sie wisse nichts von diesem Antrag. Cornelia knne sie gern anrufen, wenn es etwas zu besprechen gebe.
Der Konflikt zwischen Frau und Kindern dreht sich um die Frage, ob Barbara
Scheel ihrem Mann einen guten Lebensabend ermglicht oder ob der Altbundesprsident Opfer eines absolutistischen
Machtanspruches der Bevollmchtigten
ber ihren Ehemann geworden ist, wie
es in dem Antrag an das Gericht heit. Im
Zentrum der Auseinandersetzung steht
eine umfassende Vorsorgevollmacht, die
Scheel vor drei Jahren zugunsten seiner
Frau unterschrieben hatte.
Tochter Cornelia Scheel wirft Barbara
Scheel vor, sich diese Vollmacht erschlichen zu haben. Tatschlich erscheinen die
Umstnde, glaubt man der Darstellung
im Antrag, ziemlich fragwrdig. So hat
Scheel den Angaben zufolge auf einem
Vollmachtsformular aus dem Internet
seiner Frau smtliche mglichen Entscheidungsbefugnisse erteilt. Dazu gehre
auch die Unterbringung mit freiheitsentziehender Wirkung, das Festbinden am
Kitakinder in Berlin
Der entsorgte Vater
enn Nadja* in diesen Tagen zu
Bett geht, dann sperrt sie die
Wohnungstre nicht zu. Sie achtet darauf, dass immer ein aufgeladenes
Handy neben ihr liegt. Im Geldbeutel hat
sie so viel Bares, dass es fr eine Taxifahrt
ins Krankenhaus reicht. Nadja, 40, ist im
neunten Monat schwanger, durch eine Samenspende. Einen Partner hat sie nicht.
Man muss unheimlich viel beachten,
wenn man allein ist, sagt sie, aber mir
fehlt nichts.
Nadja ffnet ihren Laptop und ruft eine
Seite im Internet auf. Europische Samenbank steht da. Sie klickt auf den Begriff
Spenderliste. Alphabetisch geordnet erscheinen Namen: Albert, Benni, Cesar.
Da ist meiner, ruft sie irgendwann. Ein
kaukasisch-skandinavischer Typ, Augen* Alle Namen von Familienmitgliedern von der Redaktion gendert.
32
DER SPIEGEL 34 / 2014
farbe Blau, 179 cm, Zahnarzt. Klickt Nadja
auf seinen Namen, kann sie das Sperma
dieses Mannes zum Einkaufswagen hinzufgen. Das kostet 295 Euro. Man geht
wirklich shoppen, sagt sie, am Anfang
hat mich das auch irritiert.
In ein paar Tagen wird Nadja eine Single-Mutter mit Kind sein, freiwillig alleinerziehend. Sie gehrt dann zu einer Gruppe von Frauen, deren Lebensmodell nicht
neu ist, aber offenbar immer populrer
wird. Diese Frauen verabschieden sich von
der Idee einer traditionellen Familie. Sie
bekommen ihre Kinder allein. Biologische
Vter finden sie im Internet oder im Bekanntenkreis. Den Nachwuchs ziehen sie
mit Freunden, Verwandten und Gleichgesinnten gro.
Wir stellen einen echten Kulturwandel
fest, sagt die New Yorker Psychotherapeutin Jane Mattes, die bereits 1981 in den
USA den Verein Single Mothers by Choice
gegrndet hat. Frher war der Schritt zur
Single-Mom definitiv zweite Wahl, sagt
Mattes, jetzt wird er zu einer selbstverstndlichen Mglichkeit. Inzwischen unterhlt ihr Verein lokale Gruppen in mehr
als 30 amerikanischen Stdten, ber ein
Internetforum tauschen sich weltweit Mitglieder aus. Ich brauche keinen Typen.
Wir leben im Jahr 2014!, verkndete krzlich die amerikanische Sngerin Katy Perry, 29, im Interview mit dem Magazin Rolling Stone. In ein paar Jahren werde sie
Mutter, ob mit oder ohne Partner.
Das Phnomen nimmt auch in Deutschland zu da sind sich Soziologen, Kulturwissenschaftler und Reproduktionsmediziner einig. Ein Viertel meiner Kundinnen
sind inzwischen Single-Frauen, sagt der
Arzt Michael Poluda, Betreiber eines Zentrums fr Fortpflanzungsmedizin in Mnchen. Seine typischen Kundinnen seien gut
ausgebildete, beruflich erfolgreiche Gro-
FOTO: ANDREAS RENTZ / GETTY IMAGES
Beziehungen Immer mehr Frauen entscheiden sich dafr, ohne festen Partner ein Kind zu
bekommen. Ist der Verzicht auf eine traditionelle Familie ein Akt der Befreiung?
FOTO: THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Deutschland
stdterinnen. Aber sie sind lngst nicht
mehr die Einzigen.
Warum aber entscheiden sich viele Frauen dafr, ohne festen Partner ein Kind auf
die Welt zu bringen? Und wohin fhrt sie
dieser Schritt? Was bedeutet es fr eine
Gesellschaft, wenn die klassische Familie
nur noch eine Option unter vielen ist?
Kathrin ist 46 Jahre alt und Mutter von
Mirko, einem siebenjhrigen Jungen mit
dunklen Locken und einer Leidenschaft
fr Fuball. Wenn man allein ist, organisiert man sich eben. Kathrin hat sich ein
Netzwerk aus Freunden geschaffen, ihre
Grofamilie.
Ein grner Innenhof in Berlin-Kreuzberg, auf dem Grill liegen Bio-Steaks und
Rote-Bete-Scheiben. Mirko jagt mit einer
Horde Kinder ber einen Spielplatz. Um
einen Tisch sitzen die Erwachsenen: Patchwork-Eltern, ein junges Paar und Kathrin.
Das Paar wohnt mit seinen beiden Kindern im selben Haus. Die drei Erwachsenen passen gegenseitig auf ihre Kinder auf.
Per Babyphone hrt Kathrin der kleinen
Tochter der beiden von ihrer Wohnung
aus beim Schlafen zu. Sie kochen gemeinsam, fahren in die Toskana und bauen Kartoffeln in Kathrins Schrebergarten an.
Irgendwann habe ich gemerkt, Karriere
ist nicht alles, erzhlt Kathrin. Sie hatte
ihre beruflichen Ziele erreicht, war fest angestellte Art-Direktorin in einer Agentur.
Ich habe mich gefragt: Was kommt jetzt?
Sie dachte an Familiengrndung. Doch in
Berlin fand sich unter all den potenziellen
Partnern kein passender Mann. Die wenigsten wollten sich fest binden. Der Witwer mit Reihenhaus im Grnen sei schlielich auch nicht ihr Fall gewesen. Mehrere
Beziehungen gingen auseinander. Nach ihrem 35. Geburtstag htten die Mnner geradezu panisch auf sie reagiert. Die glauben, man will ihnen gleich ein Kind anhngen.
In Kathrins Kche hngt das Foto eines
dunkelhaarigen Mannes mit freundlichem
Lachen. Sie hat ihn im Urlaub in Sri Lanka kennengelernt, ein Hotelangestellter.
Eine echte Liebesgeschichte, sagt sie. Seine Familie allerdings bestand auf einer arrangierten Ehe mit einer Einheimischen.
Wieder in Berlin, schlug Kathrin ihm
schlielich per E-Mail vor, ihre Liebe anders zu manifestieren. Ob er sich vorstellen
knnte, ihr ein Kind zu machen? Zwei Wochen spter kam die Antwort: Wann
kommst Du?
Und dann habe sie eines Morgens am
Pool in Sri Lanka gesessen, einen Kaffee
in der Hand, habe auf das Meer geblickt
und einfach gewusst, dass sie jetzt schwanger war. Sie nennt das ihr Abschiedsgeschenk.
Die israelische Soziologin Eva Illouz erforscht Liebesbeziehungen in Zeiten des
Kapitalismus. Frher habe man von Mn-
nern erwartet, dass sie heiraten und Nachkommen in die Welt setzen. Dieser Druck
sei mit der Auflsung patriarchaler Strukturen weggefallen. Heute mache es Sinn,
ein hedonistischer Single zu sein, sagt Illouz. Mnner haben scheinbar unbegrenzt
Zeit und knnen aus einem greren Pool
jngerer Partnerinnen whlen. Also halten
sie sich lange alle Mglichkeiten offen. Familiengrndung und die damit verbundenen Pflichten werden nach hinten verschoben.
Der gesellschaftliche Druck, Kinder zu
bekommen, lastet auf den Frauen. In Beziehungen zu Mnnern haben sie deshalb
guter Vater sein knnte. Ob er ihr selbst
gefiel, war Nebensache. Irgendwann
habe ich gemerkt, dass ich damit weder
mir noch meinem Gegenber gerecht wurde. Sie dachte daran, ob sie nicht einen
schwulen Bekannten bitten knnte, ihr
ein Kind zu machen. Doch den Gedanken
verwarf sie schnell. Ich wollte mich nicht
stndig mit einem Dritten auseinandersetzen. Schlielich entschied sie sich fr
eine Samenbank.
Nadja sagt, sie sei ganz froh, dass sie
Kinderkriegen und Romantik getrennt
habe. Es gebe keine Beziehung, die an der
Herausforderung eines gemeinsamen Kin-
Mit 37 ng sie an, Mnner regelrecht zu casten.
Schlielich entschied sie sich fr eine Samenbank.
schlechtere Karten sofern sie sich das traditionelle Modell wnschen.
Wenn das biologische Fenster sich langsam schliet, stellen sie fest, dass sie romantische Liebe, Sexualitt und Fortpflanzung nicht mehr mit ein und demselben
Mann umsetzen knnen. Wirtschaftlich
unabhngige Frauen trennen dann diese
Dimensionen, sagt Illouz. Sie sieht darin
einen Akt der Befreiung. Die Soziologin
glaubt, dass die klassische Familie sich weiter auflsen wird. An ihre Stelle wrden
ganz unterschiedliche, individuell ausgehandelte Lebensmodelle mit Kind treten.
Nadja sitzt in ihrem Lieblingscaf. Ihr
Bauch spannt unter ihrem Ringelshirt. Sie
hat dunkle Locken und sieht jnger aus,
als sie ist. Ich hatte eigentlich nie Probleme, Mnner kennenzulernen, erzhlt sie.
Sogar jetzt in der Schwangerschaft werde
sie noch oft angesprochen. Bis zu ihrem
30. Lebensjahr sei sie immer in einer festen
Beziehung gewesen. Danach habe sie viel
nachholen wollen, Party machen, mit
Freundinnen um die Welt reisen. Sie studierte internationales Management. Lange
Zeit dachte sie gar nicht an Familie.
Mit 37 fing sie an, Mnner regelrecht
zu casten. Bei ihren Verabredungen interessierte sie nur noch, ob der Mann ein
Werdende Mutter Nadja
Man geht wirklich shoppen
des scheitern knnte. Verlieben kann ich
mich spter immer noch.
Die meisten Landesrztekammern erlauben Reproduktionsmedizinern nur, Ehepaaren und festgefgten Hetero-Partnerschaften den Kinderwunsch zu erfllen.
Gesetzlich gibt es weitere Einschrnkungen: So muss etwa das Kind die Mglichkeit haben, mit 18 Jahren den Namen seines biologischen Vaters zu erfahren. Mit
der Behandlung von Single-Frauen bewegen sich rzte in einer Grauzone.
Ich mache das aus Gerechtigkeitsgrnden, sagt der Berliner Frauenarzt Matthias Bloechle, bei dem sich auch Nadja behandeln lie. Die Frauen htten den gleichen Anspruch auf moderne Fortpflanzungsmedizin wie Paare, die sich ja oft
wieder trennen wrden. Auch Single-Frauen msse die Mglichkeit offenstehen,
mglichst ohne gesundheitliche Risiken
schwanger zu werden. Es sei verantwortungslos, ihnen einen One-Night-Stand
oder eine Verabredung mit einem Fremden aus dem Internet zuzumuten.
Auch ohne Hilfe von rzten knnen
Frauen ohne festen Partner Mutter werden.
Die moderne Reproduktionsmedizin erleichtert es ihnen, indem sie Sexualitt und
Fortpflanzung vllig entkoppelt. Kinderkriegen sei heute keine leibliche Tatsache mehr, sondern eine kulturelle Methode, sagt der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard.
Doch warum wollen Frauen ohne Partner
Kinder groziehen? Schlielich erfordert
das auch Opfer. Die Soziologin Illouz
glaubt, dass die biologische Verbindung mit
dem eigenen Kind die letzte sichere Beziehung der Gegenwart sei. Alle anderen
Bindungen, das entspreche dem allgemeinen Erfahrungshorizont, knnten zerbrechen. Auch Mnner htten deshalb eine
Sehnsucht nach biologischen Nachkommen.
Nur sei es fr sie schwieriger, einen Kinderwunsch auerhalb einer Partnerschaft umzusetzen. Sie mssten quasi einen Bauch
mieten und sich in eine komplizierte verDER SPIEGEL 34 / 2014
33
tragliche Lage begeben, so Illouz. Es gibt
noch keine etablierten Modelle dafr.
Dora, 45, Lehrerin aus Bonn, lebt in einem solchen Modell. Fr sie kam eine Samenspende nicht infrage. Ich wollte einen
Vater, der fr das Kind in irgendeiner
Weise prsent ist. ber das deutsche Internetforum SFMK, Single Frauen mit
Kinderwunsch lernte sie einen Geschftsmann aus Sddeutschland kennen. Thomas, 40 Jahre, verheiratet, kinderlos mit
Kinderwunsch. Ehefrau gibt mich frei, so
stand es da.
Sie tauschten Telefonnummern aus und
trafen sich auf halber Wegstrecke in Frankfurt. Thomas holte sie vom Bahnhof ab.
Die Situation, sagt Dora, sei surreal gewesen. Sie schlenderten gemeinsam durch die
Stadt. Warum er berhaupt ein Kind wolle,
Container in einer Londoner Samenbank
Ein archaischer Wunsch
fragte Dora. Ein archaischer Wunsch,
sagte Thomas. Seine damalige Frau konnte
ihm diesen nicht erfllen.
Als Thomas Frau im Ausland war, besuchte sie ihn in seinem Haus, blieb eine
Woche. Zusammen gingen sie zu einer
Anwltin, setzten einen Vertrag ber die
Unterhaltszahlungen auf. Getragen von
gegenseitigem Respekt erfllten sie sich
ihren jeweiligen Kinderwunsch. Eine ehehnliche Gemeinschaft habe zu keinem
Zeitpunkt bestanden, so lieen sie es
schriftlich festhalten.
Heute ist der gemeinsame Sohn sieben
Jahre alt. Seinen Vater sieht er alle zwei
Monate. Sie telefonieren regelmig. Gerade machen sie gemeinsam Urlaub. Dora
34
DER SPIEGEL 34 / 2014
und Thomas haben neue Partner. Thomas
hat neben einer Adoptivtochter mit seiner
Exfrau ein weiteres leibliches Kind mit seiner neuen Freundin. Doras jetziger Freund
ist ebenfalls Vater. Das ist alles unheimlich kompliziert, sagt sie, allein einen
Urlaub zu planen ist eine Katastrophe.
Auch die Hlfte ihrer Freunde lebe nicht
mehr in der Konstellation, in der sie einst
Eltern wurden. Manchmal trauere sie der
heilen Familienwelt hinterher, sagt Dora.
Da sei oft so eine Fremdheit zwischen ihrem Sohn und seinem Vater. Sie nennt es
das Groeltern-Syndrom. Man sehe sich
selten und habe sich wenig zu sagen. Neulich habe ihr Sohn sie gefragt, ob Vater
und Mutter normalerweise zusammenleben. Das habe sie schade gefunden. Ich
mchte ihm ja vermitteln, dass es lebenslange Partnerschaften gibt, nicht dass Beziehungen alle fnf Jahre zerbrseln.
Welche Auswirkungen das weitgehende
Fehlen von Vtern auf Kinder hat, das ist
noch nicht hinreichend erforscht. Shne
und Tchter von Single-Mttern lassen sich
nicht einfach mit Scheidungskindern vergleichen, die nicht selten durch die Trennung der Eltern traumatisiert sind. Studien
mit gleichgeschlechtlichen Paaren zeigen:
Dem Kind geht es gut, wenn es stabile
Bezugspersonen hat. Deren Geschlecht
scheint nicht ausschlaggebend zu sein.
Kinder einer Single-Mutter haben allerdings oft nur eine feste Bezugsperson. Ein
Netzwerk von Freunden verndert sich.
Auch Kathrins Kreuzberger Grofamilie
hat sich inzwischen aufgelst, weil das junge Paar in eine grere Wohnung umgezogen ist. Zwar lebt es nur ein paar Straen weiter. Trotzdem ist das nicht das Gleiche. Kathrins Sohn fragt oft nach seinem
Vater: Warum ist er nicht hier? Warum
kmmert er sich nicht um mich? An anderen Kindern wrde er mitbekommen,
wie toll Papas seien. Kathrin plant zu
Weihnachten eine Reise nach Sri Lanka.
Das Modell der freiwilligen Single-Mutter hat die altbekannte Kehrseite: Die Erziehung von Kindern ist wieder weitgehend Frauensache. Es besteht die Gefahr,
dass die Mtter eben wirklich allein bleiben, mit der doppelten Arbeitsbelastung,
dem finanziellen Risiko. Statt die Idee des
frsorglichen Vaters zu strken, leisten Single-Mtter auch dem ungebundenen Mann
Vorschub, der ohne jegliche Verpflichtung
Kinder in die Welt setzen kann.
Nadja sitzt auf ihrem Bett, neben dem
Kopfkissen ist ein Babykorb befestigt. An
einer Wand steht eine Kommode voller
Babyklamotten, darauf eine Wickelablage,
Windeln, Kuscheltiere, Puder. Sicher werden viele schlaflose Nchte kommen, sagt
sie. Im Moment freue sie sich aber einfach
auf ihr Baby. Ich gehe das sehr naiv an.
Aber wer wrde sonst schon Kinder bekommen?
Nicola Ab
FOTO: BULLSPRESS / NEWS INTERNATIONAL
Deutschland
Nacht-MailVerbot
Arbeit Ein Gesetz soll verhindern, dass Arbeitnehmer
noch sptabends ihre Nachrichten checken. Ausgerechnet
Ministerin Nahles zgert.
KARIKATUR: KLAUS STUTTMANN / LAIF
ndrea Nahles, Spitzname Speedy, ist eine fleiige Ministerin.
Nach sechs Monaten hatte sie vom
Mindestlohn bis zur Mtterrente mehr Gesetze auf den Weg gebracht als die meisten
anderen Minister der Groen Koalition.
Nur ein Wink des Kanzleramtes hat dafr
gesorgt, dass Nahles in der Sommerpause
ihren Tatendrang zgelte.
Die knapp tausend Mitarbeiter des Arbeitsministeriums zahlen fr den Gestaltungswillen der Chefin einen hohen Preis.
Im Haus hufen sich Beschwerden, die
Work-Life-Balance habe gelitten; es ist die
Rede von Leistungsverdichtung, mehr
Arbeit und sehr vielen berstunden.
Bis sptabends herrsche reger E-Mail-Verkehr. Selbst am Wochenende komme man
kaum noch zur Ruhe. Dabei hatten der
Personalrat und Nahles Amtsvorgngerin
Ursula von der Leyen (CDU) doch erst im
vergangenen Jahr einen Kodex ausgehandelt, wonach die Beamten und Angestellten nur in begrndeten Ausnahmefllen
in der Freizeit gestrt werden drften, um
eine Selbstausbeutung der Beschftigten
zu vermeiden.
Dienstherrin Nahles ist unversehens ins
Zentrum einer Debatte geraten, die Mil-
lionen Arbeitnehmer beschftigt, wenn sie Beispiel zwischen 14 Uhr am Freitag und
am Badestrand oder beim Wandern in den Montag frh um sechs niemand in seiner
Bergen auf ihr Smartphone sehen. Laut Wochenendruhe gestrt werden. Fr Noteiner Umfrage muss jeder vierte Deutsche flle gibt es einen Bereitschaftsdienst. So
nach Feierabend fr den Chef erreichbar sollten es alle halten, sagt Bumler.
sein. Viele gehen auch im Urlaub ran,
Arbeitsministerin Nahles hingegen, eine
wenn die Firma anruft; es knnte ja wich- Umbenennung in Arbeits- und Freizeitmitig sein.
nisterin ist vorerst nicht geplant, steht dem
Doch was sind begrndete Ausnahme- Plan fr eine Anti-Stress-Verordnung bisflle? Wo verluft die Trennlinie zwi- lang eher skeptisch gegenber. Sie hlt es
schen Engagement und Selbstausbeutung? offenbar nicht nur fr einen Nachteil, dass
Oder bringt es die neue Arbeitswelt nicht die modernen Kommunikationsmittel zu
mit sich, dass die Grenze zwischen Arbeit einer flexibleren Arbeitswelt beitragen.
und Freizeit verschwimmt?
Auch will sie erst einmal untersuchen lasGlaubt man den Gewerkschaften und sen, ob wirklich der Stress zunimmt oder
ihren Gefolgsleuten bei der Union, hat sich nur die Stresstoleranz sinkt. Ihre eigenen
die stndige Erreichbarkeit zu einem Pro- Leute sind bis dahin gut beraten, sich in
blem ausgeweitet, gegen das nur noch ihrer Anwesenheit nicht stndig ber
gesetzliche Verbote helfen. Man muss die Stress zu beklagen. Nahles, mit MinisMenschen auch vor sich selbst schtzen, terjob, Parteiamt und Mutterschaft gut
sagt Christian Bumler, Vizechef des CDU- ausgelastet, jammert ja auch nicht.
Arbeitnehmerflgels CDA. Wir mssen
Doch der Druck auf die Ministerin
hier Grenzen setzen, sonst werden die wchst. Wenn der Koalitionspartner SPD
Leute krank.
mitzieht, sehe ich gute Chancen, die Plne
Als Blaupause empfiehlt die CDA den fr eine Anti-Stress-Verordnung zgig
Entwurf einer Anti-Stress-Verordnung der umzusetzen, sagt Bumler. Auch die GeIG Metall. Das 80 Seiten starke Papier ch- werkschaften in den traditionellen Brantet den Dauereinsatz moderner Kommu- chen treiben das Thema voran. Der Autonikationsmittel und fordert eine Art Nacht- konzern Daimler richtet seinen BeschfMail-Verbot: Der Chef soll auerhalb der tigten in diesem Sommer auf Wunsch ein
normalen Arbeitszeit mglichst nichts Killerprogramm fr das E-Mail-Konto ein.
mehr schicken, der Beschftigte soll nichts Smtliche Nachrichten, die whrend der
mehr lesen. Fr die Ausgestaltung des Ver- Urlaubszeit eingehen, werden automatisch
bots soll die Bundesregierung einen neuen mit einer Abwesenheitsnotiz beantwortet
Ausschuss Psychische Belastung bei der und dann ber Nacht gelscht. Wer aus
Arbeit mit 15 Mitgliedern ins Leben rufen. den Ferien zurck an den Arbeitsplatz
Chefs, die ihre Mitarbeiter mutwillig unter kommt, hat den Schreibtisch leer.
Einen solchen E-Mail-Killer htten die
Stress setzen, wrden sich knftig sogar
Beschftigten des Arbeitsministeriums sistrafbar machen.
CDA-Vize Bumler schlgt auerdem cher auch gern. So aber gingen vergangene
vor, die Ruhezeiten per Rechtsverordnung Woche mehrere dringende Nachrichten
mglichst genau festzulegen. Am Schffen- der Leitungsebene ein, Betreff: Vorbereigericht Villingen-Schwenningen, wo er als tung einer mglichen Anti-Stress-RichtVorsitzender Richter arbeitet, darf zum linie.
Alexander Neubacher
DER SPIEGEL 34 / 2014
35
Fahndungsbilder der Automatenplnderer in Deutschland
Reif fr Hollywood
m Ende wurde dem Technikgenie
die Technik zum Verhngnis. Der
weltweit Gesuchte hatte im schicken
Frankfurter Hotel Jumeirah eingecheckt, er
war zum Weihnachtsshopping in die Stadt
am Main gereist. Um 22.32 Uhr am 18. Dezember vorigen Jahres buchte er sich, vermutlich mit seinem Laptop oder seinem
handgefertigten Handy, in das kostenlose
WLAN des Hotels ein. Als er versuchte, darber seine E-Mails abzurufen, lste er bei
den US-Behrden einen Alarm aus. Das
Bundeskriminalamt (BKA) identifizierte die
IP-Adresse des Jumeirah und damit den
Ort, an dem der Mann sich befand.
41 Minuten nachdem sich der Gesuchte
eingeloggt hatte, schickte das BKA eine
E-Mail an den Frankfurter Kriminaldauerdienst und bat hflichst um die Festnahme des Mannes. Eine gute Stunde spter
glitten fnf rtliche Kommissare im Fahrstuhl in den 17. Stock des Hotels. In Zimmer 1706 stellten sie den Flchtigen, nach
dem der Secret Service weltweit gefahndet
hatte: Ercan Findikoglu alias Predator.
Er gilt als genialer Hacker und als Drahtzieher des grten Cyber-Bankraubs aller
Zeiten.
Der Trke mit Schlafzimmerblick, Kinnbart und einem Hang zu teuren Autos und
36
DER SPIEGEL 34 / 2014
russischen Frauen soll Kopf einer Bande
sein, die in einer Februarnacht 2013 einen
Hollywood-reifen Coup hinlegte. In 24
Lndern erbeutete die Truppe mithilfe von
manipulierten Kreditkarten fast 40 Millionen Dollar. Hunderte Laufburschen zogen
damals weltweit gleichzeitig los, um Geldautomaten von Deutschland bis Japan zu
plndern.
Die Tter waren zuvor in das Computersystem eines IT-Unternehmens eingedrungen, das Abrechnungsdaten von
Kreditkarten verwaltet. Der Dsseldorfer
Staatsanwalt Murat Ayilmaz, der die Ermittlungen in Deutschland leitet, nannte
den Coup einen der am besten organisierten und durchgefhrten Bankraube
aller Zeiten.
Der Fall zeigt, wie sehr die digitale Revolution auch das Verbrechen erfasst hat.
Nur noch Tlpel berfallen eine Sparkasse
mit Strumpfmaske und Gaspistole, das
Entdeckungsrisiko ist hoch und die Beute
klein. Moderne Banden attackieren Geldhuser, indem sie mit ihren Laptops
Schwachstellen in der Informationstechnik
des weltweiten Finanzsystems aufspren.
Dabei machen sie sich zunutze, dass Daten
zur Abwicklung von Bankgeschften rund
um den Globus geschickt werden. Wie ge-
nau die neuen Bankruber arbeiten, haben
Ermittler anhand dieses Cyber-Betrugs
rekonstruieren knnen.
Der Mega-Coup begann im Januar 2013
im indischen Bangalore. Die Stadt mit achteinhalb Millionen Einwohnern ist das Zentrum der indischen IT-Branche. Auch die
US-amerikanische Firma enStage, die den
Zahlungsverkehr fr Banken in aller Welt
abwickelt, hat hier eine Niederlassung. Die
US-Ermittler sind berzeugt, dass eine verschworene Truppe um Ercan Findikoglu
eine Schwachstelle des enStage-Systems
nutzte und sich Zugang zu deren Server
verschaffte. Die Saboteure installierten
sogleich mehrere Programme, die ihnen
dauerhaften Zutritt ermglichten. Wie die
Ermittler spter herausfanden, benutzten
sie dafr Computer mit IP-Adressen in Marokko, Deutschland und Russland. Ob die
Angreifer tatschlich dort saen oder diese
Daten manipuliert hatten, um ihren Aufenthaltsort zu verschleiern, konnten die
Fahnder nicht klren.
Nachdem sie den Zugang zu enStage
gelegt hatten, durchforsteten die Bankruber die Daten von Kreditkarten. Es
erleichterte ihre Arbeit erheblich, dass
die Firma einige PIN-Nummern der Karten unverschlsselt auf dem Server abge-
FOTOS: POLIZEI / DPA
Kriminalitt Es schien das perfekte moderne Verbrechen zu sein: Weltweit erbeuteten Hacker
40 Millionen Dollar in einer Nacht. Nun wurde der mutmaliche Drahtzieher in Frankfurt gefasst.
FOTOS: SPIEGEL ONLINE (O.); REUTERS (U.)
Deutschland
legt hatte. Die Hacker whlten schlielich
Karten der Bank Muscat in Oman. Dann
erhhten sie deren maximale Abhebesummen ins Unendliche und kopierten die
Daten. Als ihnen dies geglckt war, wussten sie: Ihr Vorhaben wrde klappen. Ein
Kronzeuge erzhlte spter dem Secret
Service, dass sie es uneingeschrnkte
Operation nannten weil Geld flieen
wrde, ohne Ende.
Nun musste alles ganz schnell gehen, damit enStage keine Mglichkeit hatte, den
Eingriff zu bemerken und zu korrigieren.
Die Ermittler glauben, dass Findikoglu
im sogenannten Darknet einer dunklen
Ecke des Internets, in der es leichtfllt,
anonym zu bleiben mit einer Art Ausschreibung nach Mitstreitern in der ganzen
Welt suchte. Die fand er offenbar innerhalb kurzer Zeit, sie bernahmen die weitere Ausfhrung in einem globalen Franchisesystem.
Die Kpfe der lokalen Gruppen besorgten sich in mehr als 20 Lndern Blankokarten mit Magnetstreifen, wie sie etwa in
Hotels als Schlssel verwendet werden.
Diese bespielten sie mit den gestohlenen
Daten der Kreditkarten aus Oman.
Die geflschten Kopien gaben sie dann
an Hunderte Kleinkriminelle weiter, die
damit nach genauem Plan an die Bankautomaten zogen. In Japan etwa bettigten sich Rumnen als sogenannte Cashing
Crews, in den USA waren es Mnner aus
der Dominikanischen Republik, und in
Deutschland schlug eine Zelle zu, die sich
in den Niederlanden gebildet hatte. Offenbar rekrutierten sich diese Gruppen aus
lokalen Netzwerken von Verbrechern, ein
Hollnder ist Mitglied eines rtlichen
Rockerklubs.
Einige dieser Laufburschen wurden gefasst, fast alle schwiegen und nahmen dafr auch hhere Strafen in Kauf. Das Landgericht Dsseldorf verurteilte einen Tischler und seine Mutter im vergangenen Jahr
zu jeweils mehr als vier Jahren Gefngnis.
Ein Lkw-Fahrer aus Den Haag war einer
der wenigen, die aussagten. Der 47-Jhrige
erzhlte, er sei in einem Blumenladen in
seiner Nachbarschaft, der als Treffpunkt
des Milieus gilt, von zwei Mnnern gefragt
worden, ob er schnelles Geld verdienen
wolle. Dann sei er eines Nachts mit einer
Frau, ihr Name sei Miranda gewesen,
nach Bremen gefahren. Vorher habe der
lokale Anfhrer Jeroen S. die beiden mit
einem Prepaid-Handy, der kopierten Kreditkarte und Adressen von Geldautomaten
ausgestattet, die sie ansteuern sollten.
Man habe ihm versprochen, er drfe ein
Viertel der Beute behalten, berichtete der
Lkw-Fahrer. Doch am Ende habe er gar
kein Geld gesehen, bald darauf sei er festgenommen worden.
Jeroen S., der mutmaliche Kopf der
niederlndischen Untergruppierung, die
allein in Deutschland 1,8 Millionen Euro
erbeutet hat, sitzt ebenfalls in Haft. Der
38-jhrige Niederlnder ist unter anderem
wegen Krperverletzung polizeibekannt
und gilt als ehemaliger Hooligan. Ihm gehrt wohl auch der Blumenladen, in dem
der Lkw-Fahrer angesprochen wurde. S.
soll nicht nur ihm die manipulierten Karten gegeben haben, sondern auch anderen
Teams, die dann an Automaten in Deutschland Geld abhoben: in Dsseldorf, Frankfurt, Dortmund, Mannheim, Koblenz,
Hamburg, Duisburg und Essen.
Hinter der gesamten Operation aber, davon ist der Secret Service berzeugt, steckt
eine kleine Clique um den Hacker Findikoglu. Ermittlungsbehrden beschreiben
seine technischen Fhigkeiten als auerordentlich. Dabei pflegt er nicht den Lebensstil eines Nerds, sondern eher den
eines Playboys. Der Meisterhacker verfgte wohl in der Trkei ber mehrere Villen und Wohnungen, unter anderem im
Istanbuler Nobelviertel Niantai. Auerdem ist er gern mit verschiedenen Gelndewagen, Limousinen und teuren Motorrdern unterwegs.
Hacker Findikoglu, Komplizen in New York
Bargeld ohne Ende
Als die Beamten ihn in Frankfurt festnahmen, fanden sie 14 000 Euro in bar, eine
Luxusuhr von Hublot, ein Handy der Edelmarke Vertu fr mehrere Tausend Euro
und einen geflschten russischen Fhrerschein.
Nach berzeugung der US-Ermittler
gab es fr den Hacker auch keinen Grund,
sparsam zu sein. Demnach knackte Findikoglu mit seinen Komplizen schon 2011
und 2012 die Systeme von IT-Unternehmen, die Bankgeschfte abwickelten. Damals soll die Bande etwa Kreditkarten des
Amerikanischen Roten Kreuzes manipuliert haben, ausgestellt von der US-Bank
JPMorgan Chase. Die Organisation wollte
sie nutzen, um bei Katastrophen schnell
Hilfsgter kaufen zu knnen.
Stattdessen hob die Hackerbande Geld
ab, insgesamt rund 19 Millionen US-Dollar,
von denen Findikoglu nach Recherchen
der Fahnder mehr als die Hlfte bekommen haben soll. Er selbst gab kurz nach
seiner Festnahme gegenber deutschen
Behrden an, er sei in der Trkei wegen
Hackings schon einmal zu 22 Jahren Haft
verurteilt worden. Hinter Gitter aber musste er nur kurz. Beamte vermuten, dass er
sich freigekauft haben knnte.
Auf die Spur Findikoglus war der Secret
Service mittels eines Kronzeugen gekommen. Der Mann lieferte wertvolle Informationen, womglich auch zu den elektronischen Gerten, die dem Hacker in
Frankfurt zum Verhngnis wurden. Zurzeit sitzt der Trke in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main I. Freikommen
wird er wohl so schnell nicht. Sowohl die
USA als auch die Trkei haben Auslieferungsersuchen gestellt.
Findikoglus Anwalt Oliver Wallasch will
zu den Vorwrfen der Ermittler nicht Stellung nehmen. Er vertrete seinen Mandanten nur im Auslieferungsverfahren. Das
Frankfurter Oberlandesgericht hat eine
berstellung des Trken in die Vereinigten Staaten bereits gestattet. Doch dagegen wehrt sich Wallasch mit einem Eilantrag an das Bundesverfassungsgericht.
Er argumentiert, seinem Mandanten drohe in Amerika eine Hchststrafe von fast
250 Jahren, unter anderem wegen Bankbetrugs, Geldwsche und Verschwrung
zum Zugriff auf Computer. Das sei unangemessen hoch, verstoe gegen die Menschenwrde und stehe in einem deutlichen Missverhltnis zu der in Deutschland
denkbaren maximalen Haftzeit von 15
Jahren. Notfalls will der Anwalt vor den
Europischen Gerichtshof fr Menschenrechte ziehen.
Doch egal, wie das Verfahren ausgeht:
Ercan Findikoglu muss damit rechnen, angeklagt zu werden. Dabei hat sich der Hacker auf seinen rechten Unterarm ttowieren lassen: Nur Gott kann mich richten.
Es knnte anders kommen.
Jrg Diehl
DER SPIEGEL 34 / 2014
37
Deutschland
Am Rand zu stehen ist schrecklich
Ahrbeck, 64, lehrt Verhaltensgestrtenpda-
gogik an der Humboldt-Universitt Berlin. Er
forscht seit Jahren zum Umgang mit Behinderungen, vor wenigen Wochen hat er ein Buch
ber Sinn und Unsinn der Inklusion verffentlicht (Inklusion. Eine Kritik. Kohlhammer Verlag, Stuttgart; 160 Seiten; 22,99 Euro).
SPIEGEL: Herr Ahrbeck, wenn Sie Vater eines Sohnes mit Downsyndrom wren, auf
welche Art von Schule wrden Sie Ihr
Kind schicken?
Ahrbeck: Das kme auf das Alter des Kindes an. Ich halte es fr sehr gut vertretbar,
dass geistig behinderte Kinder mit nicht
behinderten gemeinsam eine Grundschule
besuchen. In den weiterfhrenden Schulen
wird es schwierig, wenn das Kind dort dem
Unterricht nicht folgen kann. Da besteht
die Gefahr, dass es emotional und sozial
auen vor bleibt und vereinsamt.
SPIEGEL: Viel Aufmerksamkeit hat der Fall
des elfjhrigen Henri aus dem baden-wrttembergischen Walldorf gefunden, der
trotz Downsyndrom ein Gymnasium besuchen soll. Die Mutter wnscht sich, dass
ihr Sohn mit seinen Freunden aus der
Grundschule zusammenbleiben kann.
Liegt sie damit falsch?
Ahrbeck: Ich halte das Ansinnen fr ziemlich
abwegig. Die zentrale Funktion von Schule
ist ja nicht der Erhalt von Freundschaften,
das ist ein sehr persnliches Motiv. Schule
ist vor allem dazu da, dass Kinder etwas
lernen und sich weiterentwickeln. Wenn
man die Sicht von Henris Mutter auf die
Spitze treibt, dann drfte in Zukunft jeder
junge Mensch aufs Gymnasium gehen,
wenn er sich dort wohler zu fhlen glaubt.
SPIEGEL: In vielen Bundeslndern zhlt bei
der Schulentscheidung heute schon der El-
38
DER SPIEGEL 34 / 2014
ternwille und nicht mehr die Empfehlung
der Lehrer. Warum soll das nicht auch fr
behinderte Kinder gelten?
Ahrbeck: Es kommt doch darauf an, dass
ein Kind schulisch Anschluss findet. Dafr
haben wir in Deutschland ein differenziertes Schulsystem, zu dem auch spezielle
Schulen fr Kinder mit Frderbedarf gehren. Dieses System sollte nicht leichtfertig aufgegeben werden. Viele Schler
knnten eine Regelschule besuchen, davon
bin ich fest berzeugt. Aber einige sind in
speziellen Schulen oder Klassen besser aufgehoben. Nehmen Sie ein Grundschulkind
mit einer massiven Sprachbehinderung.
Sprachstrungen sind kein Schicksal, sie
lassen sich relativ gut beheben. Aber das
gelingt nur dort, wo eine gezielte Hilfestellung durch erfahrene Lehrkrfte erfolgt.
SPIEGEL: Im bestehenden System schaffen
drei Viertel der Sonderschler keinen
Hauptschulabschluss. Spricht das nicht
sehr gegen die Frderschulen?
Ahrbeck: Unter diesen Schlern sind viele
Kinder mit kognitiven Beeintrchtigungen,
fr die es sehr schwierig bis unmglich ist,
einen Hauptschulabschluss zu schaffen.
Das wird sich auf einer Regelschule nicht
automatisch ndern, es sei denn, die Schule trickst bei den Zeugnissen.
SPIEGEL: Die Inklusionsbefrworter verweisen auf Studien, die belegen, dass behinderte Kinder mehr lernen, wenn sie gemeinsam mit nicht behinderten Kindern
unterrichtet werden.
Ahrbeck: Es kommt sehr darauf an, von
welcher Art von Behinderung wir reden.
Ein Kind im Rollstuhl wird dem Unterricht
mit der ntigen Intelligenz mhelos folgen
knnen. Ein Kind mit Downsyndrom hingegen wird in der Regel kaum etwas davon
haben, wenn es mit Nichtbehinderten lernt.
Das Ergebnis des bislang grten Schulversuchs in Hamburg zu lern-, sprach- und
verhaltensgestrten Kindern war ernchternd: Die inklusiv unterrichteten Schler
erreichten nach der vierten Klasse keinen
Anschluss an das sonstige Lernniveau. Dafr hatte die allgemeine Leistung deutlich
gelitten.
SPIEGEL: Toleranz muss eingebt werden.
Das setzt voraus, dass diejenigen, die anders sind, anders aussehen oder sich anders verhalten, nicht aus dem Gesichtsfeld
verschwinden.
Ahrbeck: Die Schule soll zu Toleranz beitragen und auf das Leben in der Demokratie vorbereiten. Aber eine wichtige Frage ist doch: Wie fhlen sich Kinder im
Klassenverbund, wenn sie nirgendwo mithalten knnen? In einer Gemeinschaftsschule immer am Rande zu stehen ist
schrecklich, das kann ich ihnen als Psychologe aus meiner Arbeit versichern.
SPIEGEL: Die Befrworter einer radikalen
Inklusion wrden Ihnen entgegenhalten,
dass gemeinsames Lernen fr beide Seiten
gewinnbringend ist, nicht nur fr das behinderte Kind. Vielfalt bereichert, heit
dazu der Satz, der so etwas wie die Losung
der Bewegung ist.
Ahrbeck: Der Satz wird gern benutzt. Leider ist er furchtbar naiv, weil dabei nicht
mehr zwischen Erwnschtem und Unerwnschtem unterschieden wird. Es gibt
Formen von Vielfalt, die eine Schulklasse
eben nicht bereichern, zum Beispiel, wenn
ein Kind permanent gewaltttig gegen seine Mitschler wird. Oder wenn es so stark
die Aufmerksamkeit des Lehrers beansprucht, dass kein geregelter Unterricht
mehr mglich ist.
SPIEGEL: Leistungsanspruch und gemeinsames Lernen lassen sich nicht miteinander
vereinbaren?
Ahrbeck: Im Ideal schon, in der Schulpraxis
wird es ab einem gewissen Alter sehr
schwierig. Ich kann mir jedenfalls nicht
vorstellen, wie ein Kind in der siebten Klasse, das noch nicht einmal die Grundrechenarten beherrscht, die anderen im Mathematikunterricht untersttzen soll.
SPIEGEL: Man knnte die Anforderungen
an der individuellen Leistungsfhigkeit
ausrichten.
Ahrbeck: Natrlich soll sich der Lehrer didaktisch auf den einzelnen Schler oder
die einzelne Schlerin einstellen. Aber
das funktioniert nur, wenn die Schler einen einigermaen hnlichen Leistungsstand haben. Es ist vllig illusorisch zu
glauben, ein Lehrer knne fr jeden Schler einen eigenen, auf ihn zugeschnittenen
Lehrplan entwickeln. Das kann zu einer
berforderung fr alle Beteiligten fhren.
Dass Schweden im Verlauf der Pisa-Studien so abgestrzt ist, fhrt die eingesetzte
Regierungskommission auch auf die bermige Individualisierung im Unterricht
zurck.
SPIEGEL: Die Integration behinderter Kinder war den Vereinten Nationen immerhin
so wichtig, dass sie ein Recht daraus gemacht haben. Die entsprechende Konvention hat Deutschland 2009 ratifiziert, nun
wird sie umgesetzt.
Ahrbeck: Das ist zweifellos begrenswert.
Die Uno-Behindertenrechtskonvention
FOTOS: WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL (2, L. + R.); UWE ANSPACH / DPA (M.O.)
SPIEGEL-Gesprch Der Erziehungswissenschaftler und Inklusionskritiker Bernd Ahrbeck ber die
Scheu, behinderte Menschen behindert zu nennen, und die emanzipative Kraft des Leistungsprinzips
Downsyndrom-Kind Henri: Es kommt darauf an, dass ein Kind schulisch Anschluss findet
verpflichtet die Unterzeichner dazu, Behinderte im Leben und in ihrer Entwicklung zu strken. Dazu gehrt auch das
Recht auf Bildung und Schulbesuch. Von
der Schule fr alle steht in der Konvention
nichts.
SPIEGEL: Ziel sei die vollstndige Integration, heit es. Dafr solle der Staat ein
Umfeld schaffen, das die bestmgliche
schulische und soziale Entwicklung gestattet.
Ahrbeck: Nicht fr jeden ist das Gleiche
gleich gut. Gerade Kinder mit emotionalen
und sozialen Problemen, die in der Schule
grte Schwierigkeiten haben, brauchen
kleine Gruppen, eine berschaubare Umgebung und enge persnliche Beziehungen. An anderer Stelle der Konvention
steht, niemand drfe wegen spezieller
Manahmen, die er bentigt, diskriminiert
werden. Da ist zum Beispiel die Gebrdensprache genannt. Wie sollen denn gehr-
lose Kinder in Gebrdensprache kommunizieren, wenn sie nicht andere Kinder haben, die Gebrdensprache knnen? Das
heit, sie brauchen einen Ort, an dem sie
mit Gleichaltrigen, die hnliche Probleme
haben, zusammenkommen. Das wird nicht
die Schule um die Ecke sein.
SPIEGEL: Warum interpretieren dann viele
Bildungspolitiker die Uno-Konvention als
Votum gegen die Frderschule?
Ahrbeck: Weil sie hoffen, ber diesen Hebel
doch noch ihre Idee von der Einheitsschule
durchsetzen zu knnen. Schule ist dazu
da, Talente zu entfalten und zu Leistung
zu ermutigen. Dabei ist es notwendig, Unterschiede zuzulassen, auch institutionell.
Wenn der Aufstieg durch Leistung nicht
mglich ist, entscheiden andere, viel problematischere Faktoren ber das Fortkom* Jan Fleischhauer und Jan Friedmann in Ahrbecks Bro
an der Humboldt-Universitt in Berlin.
men Geld zum Beispiel oder Beziehungen. Ich frage Sie: Welche Chancen hat
dann noch ein Migrantenkind, dessen Mutter gerade mal lesen und schreiben kann,
den Begrenzungen seiner Herkunft zu entfliehen? Wer das Leistungsprinzip aufgibt,
nimmt vielen Menschen, die nicht so rosig
gebettet sind, eines der mchtigsten Werkzeuge zur Emanzipation.
SPIEGEL: Dass heit, auch fr behinderte
Menschen sollte der von Ihnen gepriesenen Leistungsethos gelten?
Ahrbeck: Selbstverstndlich soll ein blinder
Schler, der begabt ist, sich bemhen, das
Abitur zu machen, sei es inklusiv oder auf
einem Spezialgymnasium. Das Gleiche gilt
fr Kinder mit sprachlichen Beeintrchtigungen. Fr andere Schler sind die Ziele
niedriger zu hngen, aber auch sie sollten
sich auf ihrem Niveau anstrengen. Wenn
alle per Beschluss gleich gut sind, ist die
Leistung eines jeden entwertet.
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Ahrbeck: Behutsam vorzugehen und die
Probleme ehrlich zu benennen, statt sie
auszublenden. Wer Zweifel anmeldet und
widerspricht, gert schnell in den Verdacht,
ein Inklusionsfeind zu sein. Die Inklusion
wird die Welt nicht kindlicher machen. Die
Lebenswirklichkeit setzt irgendwann ein,
auch fr das Kind mit Downsyndrom.
SPIEGEL: Wo wird denn Wirklichkeit ausgeblendet?
Ahrbeck: Wir sind inzwischen so weit, dass
sonderpdagogischer Frderbedarf nicht
mehr przise diagnostiziert und benannt
wird, weil das Kind angeblich unter einer
inhumanen Etikettierung leidet. Da heit
es dann nicht mehr: Der Junge hat eine
Verhaltensstrung, sondern: Er ist eben
ein bisschen anders. Oder auch: Der
Junge ist verhaltensoriginell. So verschwinden die Fachbegriffe meiner Profession, was die Qualitt der Arbeit enorm
beeintrchtigt. Neulich fragte mich jemand in einem Radiointerview, ob man
behinderte Menschen noch behindert nennen drfe.
SPIEGEL: Und was war Ihre Antwort?
Ahrbeck: Unbedingt. Ich rede im Rahmen
meines Fachgebiets auch von Krankheit
und Psychopathologie. Wenn ein Kind
blind ist oder gehrlos, ist das noch leicht
Ahrbeck, SPIEGEL-Redakteure*
Was fr ein Bild haben wir im Kopf?
DER SPIEGEL 34 / 2014
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Deutschland
zu erkennen. Aber es gibt Kinder, deren
Beeintrchtigungen auf den ersten Blick
weniger auffallen, die schwer lernen oder
massive Probleme in der emotional-sozialen Entwicklung haben. Auch sie brauchen
eine klare Diagnostik.
SPIEGEL: Stigmatisierung beginnt mit Sprache. Ein anderer Satz der berzeugten Inklusionsanhnger lautet: Du bist nicht behindert, du wirst dazu gemacht.
Ahrbeck: Behinderung ist nicht nur ein soziales Konstrukt. Der fundamentale Irrtum
in der Inklusionsdebatte ist die Annahme,
dass mit dem Hinweis auf einen Unterschied zwischen Menschen zwangslufig
ein Werturteil verbunden sei. Wenn ich
eine Lernbeeintrchtigung erkenne und
beschreibe, heit das doch nicht, dass ich
mich ber jemanden erhebe.
SPIEGEL: Man knnte, wie manche Inklusionsbefrworter, auch zu dem Schluss kommen, dass Behinderung einfach eine Form
des Andersseins ist, so wie das Geschlecht
oder die sexuelle Orientierung.
Ahrbeck: Wir mssen aufpassen, dass wir
Behinderung nicht banalisieren. Manche
Beeintrchtigungen sind fr die Betroffenen sehr belastend. Der Germanist und
Philosoph Andreas Kuhlmann, ein sehr
musisch veranlagter Mensch, sagte ber
sich, er htte wahnsinnig gern Musik gemacht. Ein Instrument zu spielen war ihm
aber aufgrund einer starken Spastik verwehrt. So jemandem nahezulegen, sein Zustand lasse sich als Teil einer begrenswerten Vielfalt auffassen, drfte ihm wenig
helfen. Ich frage mich, was man Menschen
eigentlich antut, wenn man sie nicht mehr
mit den Begriffen bezeichnen darf, von denen sie genau wissen, dass sie ihrer Realitt
entsprechen.
SPIEGEL: Das erklrte Ziel der Inklusionsbewegung ist es, Behinderung nicht mehr
als Behinderung wahrzunehmen. Ist das
so falsch?
Ahrbeck: Natrlich sollten behinderte und
nicht behinderte Kinder einen ganz normalen Umgang miteinander haben. Andererseits finde ich es beklemmend, dass es
heute offenbar als erschreckend gilt, wenn
Behinderte einfach unter sich bleiben so,
als ob es ihnen untereinander nicht gut gehen knnte. Da muss man sich doch fragen,
was fr ein Bild wir im Kopf haben. Ist
Behinderung so schrecklich, dass wir sie
nur noch vereinzelt ertragen? Manchmal
beschleicht mich der Verdacht, dass es in
der ganzen Debatte in Wahrheit weniger
um die Behinderten, sondern eher um die
Befindlichkeiten der Nichtbehinderten
geht. Wenn Behinderung nicht mehr als
solche wahrgenommen wird, muss man
sich auch keine Gedanken mehr machen,
welche schmerzliche Lebenseinschrnkung
damit verbunden sein kann.
SPIEGEL: Herr Ahrbeck, wir danken Ihnen
fr dieses Gesprch.
40
DER SPIEGEL 34 / 2014
Fette Beute
Haustiere Katzenbabys im
Elefantengehege, Chinchillas
auf der Besuchertoilette:
In der Ferienzeit setzen Urlauber
ihre Lieblinge in Zoos aus.
FOTOS: PAPILIORAMA
s war ein Moment des Schreckens,
als die Mitarbeiter des Tropenhauses drei Leopardgeckos in der
14 Meter hohen Kuppel entdeckten. Die
Echsen saen dort ungestrt, weit und
breit kein Feind in Sicht dafr aber fette
Beute.
Mehr als 70 Schmetterlingsarten leben
in dem glsernen Gebude. Sie sind die
Hauptattraktion des Papilioramas in der
Schweizer Stadt Kerzers. Umgerechnet
15 Euro zahlen Zoobesucher, um die rund
tausend Exemplare zu bestaunen, die von
den Geckos nun gefressen werden.
Unbekannte haben die Echsen illegal in
das Tropenhaus geschmuggelt und dort
ausgesetzt. Das ist nicht schwer, die
Geckos passen ja problemlos in die Jackentasche oder einen Rucksack, sagt Papiliorama-Mitarbeiterin Daniela Barilli. Offensichtlich hatte da jemand keine Lust mehr
auf seine Haustiere.
Regelmig mssen die Tropenexperten
zu spter Stunde auf die Jagd gehen, um
die nachtaktiven Echsen einzufangen.
Acht Geckos konnten bereits an private
Interessenten abgegeben werden, zwei
Jungtiere harren derzeit in einem eigenen
Terrarium aus. Wie viele Gecko-Eier noch
in der feuchten Erde liegen, kann niemand
sagen sie sind nur millimetergro.
Verantwortungslose Tierhalter wie die
ehemaligen Gecko-Besitzer bescheren Tropenhusern, Zoos und botanischen Grten
immer wieder rger, in der Ferienzeit werden diese Einrichtungen allzu oft mit Tierheimen verwechselt. Echsen, Schlangen,
Kaimane, Ktzchen was den Leuten
nicht mehr genehm ist, landet in Kartons
vor den Tren, in Auffangstationen oder
gleich illegal inmitten der Zootiere.
Die Besitzer haben keine Lust mehr auf
ihre Haustiere, sind berfordert oder wollen endlich wieder einen langen Urlaub
machen. Einige glauben gar, sie tten Zoos
und Tieren damit einen Gefallen. Tatschlich aber schleppen die Findlinge hufig
Krankheiten ein oder fressen die schutzlosen Zootiere auf. Mit groem Aufwand
mssen die Tierpfleger die ungebetenen
Gste wieder einfangen und fr sie neue
Besitzer suchen.
Viel rger bereitete etwa dem botanischen Garten in Berlin-Dahlem jene einen
Meter lange Kornnatter, die Unbekannte
Anfang August nach einem Besuch zurck-
Tropenhaus im schweizerischen Kerzers, Leopardgecko: Nchtliche Jagd auf die Jger
gelassen hatten. Wenig erfreut waren auch
die Tierpfleger im Osnabrcker Zoo, als
sie mal wieder einen Leguan aus der
Hecke keschern mussten.
Man kann nur den Kopf schtteln, sagt
Jochen Reiter, wissenschaftlicher Leiter
des Duisburger Zoos. Aus einer Laune
heraus legten sich manche Leute exotische
Tiere zu und unterschtzten, wie schwierig
die artgerechte Haltung sei. Reiter: Es ist
kaum zu glauben, was Lieschen Mller zu
Hause so alles im Kfig hlt.
Die Tiere sind leicht erhltlich. Zoohndler verkaufen Geckos, Schlangen oder
Krokodile bers Internet. Eine Vogelspinne gibt es ab elf Euro zuzglich Versandkosten, sogar katzengroe Nasenbren
sind im Angebot. Bei uns kommen die
Tiere teilweise in einem trostlosen Zustand
an, sagt Zoologe Reiter. Manchmal fnden sie Schildkrten mit aufgeweichtem
Panzer, deformierten Gliedern und triefender Nase. Wir erkennen sofort, dass
die Besitzer nicht einmal wussten, was
sie den Tieren fttern drfen und was
nicht.
Eine tierrztliche Untersuchung ist nicht
nur zum Wohle der Neuzugnge ntig,
sondern auch zum Schutz der brigen
Tiere. Keiner will, dass sich ein solches Unglck wie im Schweriner Zoo wiederholt.
Dort hatte jemand seine Steppenschildkrte an der Eingangskontrolle vorbeigeschleust und das Tier im Terrarium ausgesetzt. Daneben hatte er einen Zettel gelegt.
Ich heie Rafaella, stand darauf, auerdem einige Angaben zum Lieblingsfutter
sowie die Information, dass der Partner
des Reptils krzlich verstorben sei. Was
nicht auf dem Zettel stand: Rafaella hatte
Salmonellen und wenig spter waren
auch viele der anderen Terrariumbewohner infiziert.
Es sind jedoch nicht nur exotische Reptilien, die bei den Tierpflegern landen. Im
Naturzoo Rheine fanden die Mitarbeiter
auf der Besuchertoilette ein paar Chinchillas, eine wuschelige Nagetierart. Im Osnabrcker Zoo wurden sieben Katzenbabys
entdeckt die meisten davon im Elefantengehege. Und auch Jochen Reiter rettete
einmal einen ganzen Wurf Meerschweinchen aus der prallen Hitze. Jemand hatte
eine Kiste mit den Tieren vor dem Zootor
abgestellt. So etwas ist kriminell, sagt
der Zoologe.
Reiter hat in seinem Berufsleben schon
viel erlebt. Dem Duisburger Zoo werden
nicht nur jede Menge Tiere aufgedrngt,
sondern gelegentlich auch welche geklaut
etwa jene zwei Waldschildkrten, die
spurlos aus dem Affenhaus verschwanden.
Allerdings hatte der Zoo Glck: Die Diebe
hatten schon nach ein paar Tagen genug
von Trolli und Wolli und gaben sie
bei einer Auffangstation fr Reptilien auerhalb Duisburgs wieder ab. Katrin Elger
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Deutschland
Die Nonne von der Alimaus
amburg, um 11 Uhr. Zum spten
Frhstck kommen an diesem
Montag die unterschiedlichsten
Gste: Torsten Whler, der im Park nebenan schlft, sich bereits einen Liter Weiwein reingeschttet hat. Raducanu Viorel,
der mit seiner hochschwangeren Frau und
seiner zweieinhalbjhrigen Tochter in einem schrottreifen Campingbus haust, ohne
Strom und ohne Wasser. Ana Maria Yolda,
die ihren sechs Wochen alten Sugling in
einer Tragetasche mitschleppt und andere
Mtter um Windeln anfleht.
Willkommen im Speisesaal der Alimaus,
dem Treffpunkt fr alle, denen es in Hamburg dreckig geht. Das rote Holzhaus mit
den blauen Fensterlden und den Blumenstauden drum herum steht mitten in Altona, eine Oase im Grostadtdschungel, neben der S-Bahn-Station am Nobistor. Die
Reeperbahn mit ihren Theatern, Bordellen
und Nepplden liegt nur 200 Meter entfernt, zum Hafen, wo die Kreuzfahrtschiffe
festmachen, ist es auch nicht weit.
Das Haus mit der putzigen Bezeichnung,
benannt nach dem Kosenamen einer frh
verstorbenen Tochter der Grnderin, ist
Der dachte, ich wre tot, berichtet
Roy. Weil alle Zeugnisse seiner Lebensgeschichte vernichtet sind, die Jazzbcher,
die Erinnerungsfotos, die alten Instrumente, erzhlt er beim Essen stndig Anekdoten aus seiner Vergangenheit.
Auch Torsten Whler hat seine Wohnung verloren. Seit sie abgebrannt ist
sein Mitbewohner schlief mit der Zigarette
ein , pennt der 52-Jhrige, der mindestens
zehn Jahre lter aussieht, auf Parkbnken
und in Hauseingngen. Morgens, wenn er
seinen Rausch ausgeschlafen hat, setzt er
seine St.-Pauli-Kappe auf und schleppt sich
zu Aldi, um den ersten Literkarton Weiwein zu kaufen. Den hau ich mir vor dem
Frhstck rein, sagt der Hartz-IV-Empfnger, wenn ich gut drauf bin, schaff ich
vier Kartons am Tag.
Im Rausch vergisst er nach und nach
seine Kindheit in mehreren Heimen, seine
Knastaufenthalte, seine drei gescheiterten
Ehen und den Umstand, dass er schon
zwei Herzinfarkte hatte und seit ein paar
Monaten mit einem Bypass herumluft.
Ohne die regelmigen Mahlzeiten im
Holzhaus, glaubt er, wre ich schon tot.
Aus alten Lieferwagen klettern 30 abgekmpfte Mnner
in verschwitzten Unterhemden und T-Shirts.
fr seine Besucher oft der einzige Fixpunkt
in ihrem Dasein. Und fr viele geht es
schlicht ums berleben.
Rund 500 Menschen werden hier jeden
Tag kostenlos verkstigt und teilweise auch
eingekleidet, mehr als in jeder anderen
Einrichtung der Hansestadt. Rund 150 Freiwillige, darunter viele sozial engagierte
Jugendliche, Rentner, Hausfrauen, kaufen
ein, kochen, servieren, putzen. Der Hilfsverein St. Ansgar, der keinerlei ffentliche
Gelder erhlt, finanziert sich ausschlielich
aus Spenden.
Roy, der Jazzer, kommt dreimal pro
Woche. Mehr als 35 Jahre lang spielte er in
Kapellen die Trompete, lebte drei Jahre im
Mekka des Jazz, in New Orleans, musizierte als einziger Weier in schwarzen Bands.
Heute ist er bergewichtig und krank, die
Schachtel mit den Herztabletten ragt aus
seiner Hemdtasche. Seine Rente, meist war
er nicht versichert, liegt unter hundert Euro,
dazu bekommt er Sttze. Als er krzlich
fr mehrere Wochen in die Klinik musste
und keiner wusste, wo er war, lie der Verwalter seines Eineinhalb-Zimmer-Apartments kurzerhand die Tr aufbrechen und
die Einrichtung auf den Mll karren.
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DER SPIEGEL 34 / 2014
Seit 1993 gibt es die Alimaus. Bis 1999
diente ein ausrangierter Zirkuswagen als
Zufluchtsort, es gab Kaffee, Kuchen und
Hilfestellung beim berleben auf der Strae. Besucher wie Roy und Torsten Whler
waren damals in der berzahl: Trinker,
Junkies, Obdachlose aus ganz Deutschland, dazu Punks und Strichjungen.
Inzwischen bevlkern den Speisesaal
mehrheitlich Hilfesuchende aus vielen
anderen Regionen, darunter vereinzelte
Flchtlinge aus dem Nahen Osten und aus
Afrika. Vor allem aber Arbeitsuchende
und mittellose Familien aus Osteuropa.
Montag, 14 Uhr. Vor der Alimaus fahren
ein Dutzend Autos mit bulgarischen Kennzeichen vor. Aus alten Lieferwagen und
gebrauchten Pkw klettern rund 30 abgekmpft wirkende Mnner in verschwitzten
Unterhemden und T-Shirts, packen Plastiktten, Mllscke und alte Koffer mit ihren Habseligkeiten aus, auch ein paar Matratzen. Mehr als 20 Stunden waren die
Mnner unterwegs, in Hamburg suchen sie
Arbeit, egal welcher Art. Arbeit, die sie
in ihrer Heimat nicht mehr finden.
Die Mnner wissen, dass es hier kostenlos zu essen und zu trinken gibt. Und sie
wissen auch, dass hier montags diverse
Kleinunternehmer aufkreuzen, meist Trken, aber auch einige Deutsche, die billige
Arbeitskrfte fr Baustellen suchen.
Schwarz, versteht sich.
Mehr als drei Euro pro Stunde sind nicht
drin, auf diesem Markt gibt es keinen
Mindestlohn. Nach vier Wochen wollen
die Bulgaren zurck, dann werden sie von
der nchsten Karawane aus ihrem Dorf
abgelst. Wer nicht viel Geld mitbringen
kann, traut sich kaum heim. Andere haben
nicht mal Geld fr den nchsten Tag.
Ich besitze noch 1,50 Euro, sagt Raducanu Viorel aus Rumnien, wir knnen
keine Milch fr die Kleine kaufen. Der
47-jhrige Mann, klein, kurz geschnittene
Haare, dstere Miene, deutet auf Ariane,
seine zweieinhalbjhrige Tochter mit dem
dunklem Lockenkopf, die umherspringt,
dabei stndig auf den Fahrradweg luft,
heute schon fast berfahren wurde. Die
hochschwangere Mutter, eine zierliche
Frau mit verhrmten Zgen und einem riesigen Bauch, kann sich nicht mehr schnell
genug bewegen, das Kind nicht stndig
festhalten. Aber die Tochter den ganzen
Tag einsperren, das will sie auch nicht.
Als Unterkunft dient der Familie seit
Wochen ein ausrangierter, vergammelter
Campingbus, der auf einem Parkplatz direkt vor der Alimaus steht und nicht mehr
fahrtchtig ist. Die Nummernschilder sind
abmontiert, in den Reifen ist kaum noch
Luft, auf der Karosserie liegt eine Staubschicht. Sobald die Sonne scheint, wird es
im Innern unertrglich stickig.
Der bulgarische Vorbesitzer habe ihm
die Karre verkauft, erzhlt Raducanu Viorel, fr 200 Euro, Raducanus letztes Geld.
Trotzdem sei er froh, dass seine schwangere Frau und seine Tochter ein Dach ber
dem Kopf htten. Aber fr wie lange?
Polizisten, die den abgemeldeten Wagen
kontrollierten, drohten schon mehrfach
mit dem Abschleppdienst, klebten gelbe
Warnzettel an die Windschutzscheibe. Das
Ehepaar lebt deshalb in stndiger Angst.
Nehmt doch das Kind gleich mit, emprte
sich der Familienvater bei der letzten Kontrolle. Er kann nicht verstehen, dass die Einhaltung der Verkehrsgesetze wichtiger sein
soll als das Schicksal seiner Angehrigen.
In Ploieti, einer Industriestadt nrdlich
von Bukarest, malochte er jahrelang in
einer Raffinerie, bevor er entlassen wurde.
Landsleute htten ihm von tollen Arbeitsmglichkeiten in Deutschland vorgeschwrmt. Doch ohne Deutschkenntnisse
FOTOS: JRG MLLER / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
Nothilfe Mitten in Hamburg-Altona sichern Freiwillige das berleben von Obdachlosen. Die Einrichtung
ist auch Rettungsanker fr Gestrandete aus Osteuropa. Eine 77-Jhrige leitet das Haus. Von Bruno Schrep
Schwester Clemensa beim Vaterunser: Einkehr tut allen gut
Alimaus-Gebude in Hamburg-Altona: Oase im Grostadtdschungel
Obdachloser Whler: Ohne die regelmigen Mahlzeiten wre ich schon tot
Viorel kann nur wenige Brocken und
ohne Beziehungen gibt es kaum Chancen.
Manchmal putzt der Rumne an einer Ampelkreuzung die Frontscheiben von Autos,
das wirft, wenn es gut luft, ein paar Euro
ab. Den Aufenthalt in Deutschland hatte
er sich ganz anders vorgestellt. Und staatliche Untersttzung? Ich wei nicht, wo
ich die beantragen soll, sagt Viorel.
Obwohl die Familie auf die Lebensmittel
in der Alimaus angewiesen ist, kommt es
zu Konflikten, Viorel legt sich fter mit
den Helfern an. Verbittert ber seine Situation, fhlt er sich schnell bervorteilt
und zurckgesetzt, diskutiert mit Hnden
und Fen. Warum gibt es kein Obst fr
seine Tochter? Wieso bekommt seine Frau
keine Schwangerschaftsklamotten?
Schwester Clemensa, die mit brgerlichem Namen Agnes Mller heit, tritt
dazwischen. Sie holt ein paar pfel fr die
Kleine, beruhigt den Vater, sorgt dafr,
dass die werdende Mutter nochmals in der
Kleiderkammer stbern kann. Die Schwester, die das Haus mithilfe von drei weiteren
Nonnen leitet, strahlt Autoritt aus.
77 Jahre ist sie alt, klein, schmchtig,
unerschtterlich. Seit sie vor mehr als 50
Jahren in den Franziskanerorden eintrat, ist
sie stndig mit Elend konfrontiert: In
Heimen betreute sie misshandelte und verlassene Kinder, in Wrmestuben kmmerte
sie sich um verwahrloste Alkoholiker, in
Obdachlosenunterknften versorgte sie gescheiterte Berber. Seit fnf Jahren bemht
sie sich tglich um die Mittellosen und Ausgehungerten im reichen Hamburg. Ich gehe
dorthin, wohin man mich schickt, sagt sie.
Die Nonne, die mitten auf dem Kiez
wohnt, hat es sich lngst abgewhnt, ber
andere zu urteilen. Jemand trinkt, jemand
spritzt Heroin, jemand klaut na und?
Die Realitt ist, wie sie ist, sagt sie. Ich
kann sie nicht ndern. Aber ich kann das
Schicksal der Leute erleichtern.
Wenn sie sptabends ber die Reeperbahn zu ihrer Wohnung radelt, trifft sie
manchmal auf alte Bekannte: Trsteher
von Rotlichtschuppen, die mittags noch in
der Alimaus gegessen haben, laden sie zu
einem Drink ein. Ich freue mich, aber bisher habe ich immer abgelehnt, sagt sie.
Im Umgang mit aggressiven oder alkoholisierten Besuchern behlt die Nonne
ebenso Ruhe und bersicht wie bei Massenandrang. Das war im Frhjahr besonders ntig, die Schlangen vor dem Speisesaal wurden tglich lnger. Grund: die Ankunft obdachloser Familien mit Kindern
aus Osteuropa, die auf den Parkwiesen
gegenber Zelte aufschlugen und, weil sie
ausgehungert waren, keine Mahlzeit versumten. Erst haben die Mnner gegessen,
dann die Frauen, beobachtete Schwester
Clemensa, es gab stndig Unruhe.
Die Neuankmmlinge zofften sich mit
anderen Gsten und dem Personal, meist
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Deutschland
ging es nur um kleine Vorteile, um die keine Zigaretten, keine Tiere. Niemand
Gre von Portionen, um die besten Plt- muss seine Bedrftigkeit nachweisen wie
ze. Es sind Menschen, die stndig ums in anderen Einrichtungen.
Eine Gruppe Afrikaner hat sich einen
berleben kmpfen mssen, zeigt die
Schwester Verstndnis, die fhlen sich eigenen Tisch gesichert, auch mehrere
ganz schnell mies behandelt oder ver- Rumnen wollen unter sich bleiben, scheuchen einen lteren Mann im Bademantel
achtet.
Nachts versuchten jngere weibliche und an Krcken mit barschen Gesten weg,
Familienmitglieder, auf dem Straenstrich auch seine Begleiterin, eine ngstlich wirGeld zu verdienen, am Tag wurden die kende Frau mit Kopftuch, wird fortgeKinder zum Betteln geschickt. Als Bewoh- schickt. Ein deutscher Obdachloser, der
ner der angrenzenden Hochhuser gegen heftig zittert, packt sich mit steifen Fingern
Lrm, Dreck und Gestank protestierten, fnf belegte Brote in den Rucksack, guckt
als die Stimmung kippte, Anrainer und sich dabei mehrfach um, eigentlich ist nur
Camper aufeinander losgingen, lie das eines erlaubt.
Als Ana Maria Yolda zum Essen kommt,
Bezirksamt Hamburg-Altona den Zeltplatz mithilfe der Polizei rumen; die zum zweiten Mal an diesem Tag, drckt
Reisenden gingen schlielich freiwillig. das Personal ein Auge zu, auch zum zweiDoch inzwischen lagern im Park wieder ten Mal. Eigentlich sollen Kinder nicht in
den Speisesaal, wegen der vielen rauen
Familien mit kleinen Kindern.
Montag, 15.30 Uhr. Schwester Clemensa Gesellen, der manchmal rden Atmosphbetet wie vor jeder Mittagsmahlzeit ein re. Doch die Frau mit den rtlich gefrbten
Vaterunser, im Saal wird es ganz still. Haaren und dem traurigen GesichtsausAlle stehen auf: die Muslime, die Christen, druck hat ihren sechs Wochen alten Sugauch die Verbitterten, die lngst aufgehrt ling dabei, wer will da auf Vorschriften
haben, an irgendeinen Gott zu glauben. pochen? Das Kind, ein Junge, schlft.
Die Rumnin ist gerade mal 23, hat aber
Eine Minute Einkehr tut allen gut, findet
neben dem Baby noch einen vierjhrigen
die Schwester.
Ihren eigenen Glauben habe die tgliche Sohn und eine zweijhrige Tochter. Keiner
Konfrontation mit der Not nicht erscht- der drei Vter kmmert sich, Ana Maria
tert, versichert sie, Gott sei fr sie immer muss sich allein durchschlagen, irgendwie.
gegenwrtig. Allerdings: An manchen Kinder sind wichtig, Mnner nicht, sagt
Tagen sprt man seine Gegenwart weniger sie. Und versucht, sich das Notwendigste
zum berleben zu besorgen: Kein Geld,
als an anderen.
Auf den Holztischen, dekoriert mit Blu- keine Arbeit, drei Kinder, bitte.
Seit 20 Monaten lebt sie in Deutschland,
men, stehen Teller mit belegten Broten,
zum Mitnehmen. Als Hauptgericht gibt es ohne Einkommen, ohne festen Wohnsitz,
wahlweise Spinatauflauf mit Fleisch oder ohne Krankenversicherung. Das Baby ist
alternativ, fr Vegetarier, Nudeln mit To- in Hamburg zur Welt gekommen, nach
matensoe, zum Nachtisch Obstsalat. An einer Risikoschwangerschaft per Kaiserder Wand hngt eingerahmt ein optimisti- schnitt. Zur Geburt reiste noch Ana Marias
Mutter aus Rumnien an.
scher Spruch: Alles wird gut.
Die Stadt hat die Familie befristet in
Kommen kann jeder, der sich an die wenigen Regeln hlt: kein Alkoholkonsum, einem Billighotel am Stadtrand unterge44
DER SPIEGEL 34 / 2014
bracht, fnf Personen auf ein paar Quadratmetern. Zwischen dem Mobiliar, bestehend aus einem groen Bett und einer
Babywippe, stapeln sich Kleider, Koffer,
Plastiktten, Essensvorrte. Wenn Ana
Maria mit dem Baby in die Stadt fhrt,
bleibt die Mutter, die kein Wort Deutsch
spricht, mit ihren beiden Enkeln allein im
Hotel, schaltet den Fernseher ein.
Versuche der Familie, in Hamburg
dauerhaft Untersttzung zu beziehen, sind
gescheitert: Ana Maria Yolda kann nicht
nachweisen, dass sie nach Deutschland eingereist ist, um zu arbeiten. Eine Einwanderung direkt in die deutschen Sozialsysteme soll es jedoch nicht geben es ist
schon strittig, ob jemand, der ausschlielich zur Arbeitssuche kommt, hier
Hartz IV beziehen soll. Im Herbst will
der Europische Gerichtshof darber entscheiden.
Abseits aller juristischen Feinheiten
steht fest: Ana Maria und ihre Familie
brauchen Kleidung, Geld fr Lebensmittel, Wohnraum, Frsorge fr die Kinder.
Ihr Schicksal wirft unbequeme Fragen
auf: etwa die, ob die deutsche Gesellschaft bereit ist, Menschen zu helfen, die
dafr erst mal keinen Gegenwert bieten
knnen.
Im Fall von Ana Maria Yolda und ihren
Kindern muss diese Frage womglich nicht
mehr beantwortet werden. Ihre Bekannten
haben seit Tagen nichts mehr von ihr
gehrt. Ob die Familie zurck nach Rumnien gereist oder in einer anderen deutschen Grostadt untergetaucht ist, wei
niemand. Im Speisesaal der Alimaus wurde die junge Frau nicht mehr gesehen.
Video: Der Hilfsverein
St. Ansgar e.V.
spiegel.de/app342014alimaus
oder in der App DER SPIEGEL
FOTOS: BRUNO SCHREP / DER SPIEGEL (L.); JRG MLLER / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL (R.)
Mutter Yolda mit Baby, Familie Viorel im Campingbus: Ich besitze noch 1,50 Euro
Deutschland
Schlicht
bersehen
Datenschutz Ist es generell
verboten, andere Verkehrsteilnehmer zu filmen? Experten
zweifeln an zwei aktuellen
Gerichtsentscheiden.
as Versprechen war vollmundig.
Ihr unbestechliches Beweisvideo
fr alle Flle, so warb ein OnlineElektronikhndler im Frhjahr in der
ADAC-Motorwelt und verkndete: Keine
Chance fr Drngler und Raser.
Im Angebot waren Autokameras, sogenannte Dashcams: kleine Wunderwerke
fr die Windschutzscheibe, teils mit GPS,
zwei Objektiven und Nachtsichtfhigkeit.
Fr seine Mitglieder hatte der ADAC sogar
Rabatt ausgehandelt. Doch bald darauf
wurde die Aktion wieder beendet: Nach
Gesprchen mit Verbraucherschtzern im
Haus sei klar geworden, heit es bei der
ADAC-Motorwelt, dass das Werbeversprechen so nicht haltbar war.
In der Tat.
Vergangene Woche erschreckten zwei
Gerichtsentscheide alle, die mit Videokameras im Straenverkehr vorsorglich Beweise sammeln wollen fr den Fall, dass
es kracht. Zuerst urteilte das Verwaltungsgericht Ansbach, nach dem Bundesdatenschutzgesetz sei es unzulssig, im Straen46
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verkehr Videoaufnahmen anzufertigen,
um sie an die Polizei weiterzugeben. Dann
lehnte das Amtsgericht Mnchen per Beschluss eine Verwertung und Verwendung solcher Aufnahmen in einem Schadensersatzprozess ab.
Die Verunsicherung unter den Dashcam-Fans ist nun gro. 90 000 Autokameras wurden laut dem Marktforschungsunternehmen GfK von Juli 2013 bis Juni 2014
hierzulande verkauft, viermal so viele wie
in den zwlf Monaten zuvor. Auch Radler
nutzen hnliche Gerte, um Fehler rabiater Autofahrer zu dokumentieren. Doch
knnen die Kameras im Kampf um die
Schuld bei Unfllen wirklich helfen oder
sind sie nur ein Spielzeug fr Urlaubsaufnahmen von landschaftlich schnen
Strecken?
Im Ansbacher Fall hatte ein Rechtsanwalt immer wieder Autofahrer angezeigt
und der Polizei Aufnahmen vorgelegt.
Doch der Dumme war am Ende der Anwalt: Die Polizei wandte sich an das Bayerische Landesamt fr Datenschutzaufsicht,
und das untersagte ihm seine Filmerei. Fr
den Wiederholungsfall drohte es ihm gar
ein Zwangsgeld von 3500 Euro an; nur
wegen eines Formfehlers hob das Verwaltungsgericht den Bescheid auf.
Im Mnchner Fall hatte der Fahrer eines
Honda Civic, als er von einem Parkplatz
auf den Frankfurter Ring bog, einen Pkw
gerammt. Hatte der Honda-Fahrer das andere Auto schlicht bersehen? Oder war
dessen Fahrer pltzlich und ohne zu blinken von der linken auf die freie rechte
Spur gewechselt? Videoaufnahmen, die
der Honda-Fahrer vorlegen wollte, htten
vermutlich Aufschluss geben knnen.
Doch der Richter sah das Recht auf informationelle Selbstbestimmung anderer
Verkehrsteilnehmer verletzt und lehnte
diese Beweisfhrung ab.
Die Rechtslage ist allerdings keineswegs
so eindeutig, wie die beiden Entscheide
vermuten lassen. Auf derselben Linie wie
die beiden Gerichte liegen zwar die Datenschtzer der Bundeslnder. Sie beschlossen schon im Februar, dass die Videoberwachung aus Fahrzeugen in aller
Regel unzulssig sei. Jeder Einzelne habe
ein Recht darauf, sich in der ffentlichkeit
frei zu bewegen, ohne ungewollt und anlasslos zum Objekt einer Videoberwachung gemacht zu werden. Das Interesse
eines Autofahrers an einem Beweis sei
nicht gewichtiger als diese schutzwrdigen Interessen.
Doch namhafte Experten sind anderer
Auffassung. Die pauschale Ablehnung sei
eine unausgewogene Schwarz-Wei-Malerei, sagt der Prsident des Deutschen
Verkehrsgerichtstages, der ehemalige Generalbundesanwalt Kay Nehm. Wegen
technischer Entwicklungen wie Anti-Blockier-Systemen und neuen Werkstoffen
gebe es weniger Spuren, um Unflle zu rekonstruieren. Videoaufnahmen seien daher hilfreich. Nehm fordert Klarheit: Nach
den beiden Gerichtsentscheiden msse
der Gesetzgeber ran.
Nehm hlt es fr nicht ausgeschlossen,
dass ein Strafgericht solche Aufnahmen
heranzieht, insbesondere bei schwereren
Delikten sei das mglich. Der Essener Anwalt und Datenschutzexperte Thomas Balzer sieht sogar vor Zivilgerichten Chancen
fr Dashcam-Nutzer. Bei einem schweren
Verkehrsunfall knne er sich kaum vorstellen, dass ein Richter die Augen vor solchen Beweisen verschliet. Wenn immer
nur wenige Minuten aufgezeichnet und
nur im Fall eines Crashs dauerhaft gespeichert wrden, wren die Bedenken
kleiner erst recht, so Balzer, wenn die
Speicherung beim Hersteller erfolgt, und
der Nutzer keinen direkten Zugriff htte.
In manchen Lndern sind die Kameras
erlaubt, in anderen nicht. An sich legal
sind sie etwa in Dnemark, Grobritannien, Italien und Frankreich. Datenschutzbedenken gibt es dagegen unter anderem
in Belgien und der Schweiz; in sterreich
ist der Einsatz der Kameras sogar verboten, bis zu 10 000 Euro Bugeld knnen
die Behrden verhngen.
Damit muss in Deutschland derzeit niemand ernsthaft rechnen. Wer filmen wolle,
meint Experte Balzer, mge dies erst einmal weiter tun er knne darauf hoffen,
dass andere Gerichte anders entscheiden.
Nur: Zum Hilfssheriff aufschwingen sollte
man sich nicht. Jonas Gerding, Dietmar Hipp
FOTO: STEFAN WORRING / KSTA
Radfahrer mit Videokamera
Fehler dokumentieren
Deutschland
gen in den Besitz des damaligen Museums
fr Vlkerkunde ber.
Inzwischen tauchen Figuren aus San
Agustn auf einer Roten Liste gefhrdeter
kolumbianischer Kulturgter auf, die der
Internationale Museumsrat Icom erstellt
hat. Kunstgegenstnde dieser Art seien in
der Regel illegal exportiert und verkauft
Restitution Kolumbianische
worden, warnt die Organisation.
Dorfbewohner verlangen antike
Berliner wrden auch nicht wollen,
dass ein Teil des Brandenburger Tors abSkulpturen vom Ethnologischen
getrennt und in ein Museum in New York
Museum Berlin zurck. Das will
geschickt wird, damit die Leute dort sich
einen Przedenzfall verhindern.
davon inspirieren lassen knnen, sagt Dellenback, der als Hobbyarchologe in San
Agustn die Geschichte der Monolithen ern die massiven Steinblcke, 13 bis 106
forscht und Parzinger in Berlin zur RckZentimeter hoch, sind frhliche Gesichgabe der Figuren aufgefordert hat. Das
ter und Furcht einflende Grimassen
Umfeld mache einen Groteil ihrer Magie
geschlagen. Sie zeigen Frauen, Mnner
aus: Die Figuren gehrten dorthin, wo sie
und Tiere, teils mit Kopfschmuck und
von Bergen umgeben sind, wo Vgel sinWerkzeugen. Einst standen sie auf kolumgen, Schmetterlinge fliegen und der Fluss
bianischer Erde, entlang des Ro Magdalerauscht all das zusammen ist unser indina, im Westen des Landes: 35 Skulpturen,
genes Erbe.
1200 bis 2000 Jahre alt, geschaffen von
In seiner Antwort wies Parzinger die
den damaligen Einwohnern Kolumbiens.
Forderung zurck. Die Statuen seien mit
Heute befinden sie sich im Ethnologischen
Genehmigung der jeweiligen GrundbeMuseum Berlin.
sitzer ausgegraben worden. Zudem handle
Die Arbeiten sollen in wenigen Jahren
es sich nicht um einzigartige, wesentliche
von ihrem Standort im Villenviertel DahWerke, die den archologischen Nachlem ins neu errichtete Stadtschloss im Berweis fr die Kultur von San Agustn erliner Zentrum umziehen das Museum ist
brchten, schreibt er. Whrend verals Publikumsmagnet im knftigen
schiedener Ausstellungen etwa
Humboldt-Forum vorgesehen.
in Kln 1962 und Bad Godesberg
Doch es formiert sich Widerstand
1986 seien die Skulpturen gezeigt
gegen den Verbleib der rtselhaften
worden, und zwar unter der SchirmFratzen an der Spree. Vor Kurzem
herrschaft der kolumbianischen
startete Kolumbiens bekannteste
Botschaft. Eine Grundlage fr eine
Zeitung El Tiempo eine Initiative
regelgerechte Rckfhrung existiert
auf change.org, einer Plattform fr
schwerlich, beachtet man die verOnlinepetitionen. 2500 Menschen
gangene Zeit und die Tatsache,
schlossen sich dort bislang der Fordass die kolumbianische Regierung
derung an, die Skulpturen in ihre
offensichtlich ber den Verbleib
Heimat zurckzuholen. Vor allem
der Skulpturen in Berlin informiert
in San Agustn, dem Herkunftsort
war, ohne konkret deren Rckfhder Kunstwerke, ist der rger gro:
rung von der deutschen Regierung
Warum sollte Deutschland ein Muzu fordern.
seum haben, das vollgestopft ist mit
Tatschlich konnten Dellenback
Gegenstnden, die aus Kolumbien
und seine Mitstreiter den kolumbiagestohlen wurden?, fragt David
nischen Staat bislang nicht fr ihr
Dellenback, ein US-Amerikaner,
Anliegen gewinnen. Im vorigen Jahr
der seit 40 Jahren in dem Dorf nahe
wurde Konrad Preuss, der vermeintden Anden lebt und sich fr eine
liche Skulpturendieb, in Bogot soRestitution einsetzt.
gar in der Ausstellung der Pioniere
Diebesgut oder Forschungsgegender Archologie gewrdigt. Anlass
stand, gestohlen oder rechtmig
war das Jubilum seiner Ankunft
erworben mit dieser Frage musste
vor 100 Jahren in Kolumbien. Skulpsich inzwischen auch Hermann Parturen aus dem Archologiepark von
zinger beschftigen, er ist Prsident
San Agustn gab es jedoch nicht zu
der Stiftung Preuischer Kulturbesehen: Als die Statuen verpackt und
sitz und damit Hausherr des Ethnoreisefertig bereitlagen, kochte der
logischen Museums. Jedes EntgegenProtest der Bevlkerung hoch. Die
kommen im Skulpturenstreit wre
Einwohner stellten sich in den Weg
fr ihn riskant: Sein Museum ist
und verhinderten den Abtransport
wie viele andere Sammlungen in
aus Angst, auch diese Skulpturen
Europa gut gefllt mit Kunstwrden nie nach San Agustn zurckkehren.
* Im Ethnologischen Museum Berlin.
Kolumbianische Statue*: Gestohlen oder erworben?
Karoline Kuhla
Rtselhafte
Fratzen
FOTO: AKG
werken aus Sdamerika, Afrika und Asien.
Lange haben die ehemaligen europischen
Kolonien dies hingenommen, nun fordern
Lnder wie Mexiko oder Peru ihre alten
Schtze zurck. Parzinger will fr seine
Stiftung keinen Przedenzfall schaffen.
Ursprnglich standen die Figuren vor
Erdgrbern kolumbianischer Ureinwohner.
Um das achte Jahrhundert verschwand diese indigene Bevlkerung aus jenem Teil
Kolumbiens, rund 700 Jahre bevor die Europer die Region erreichten. Welche spirituelle Bedeutung den Skulpturen zukommt, ist deshalb nicht genau bekannt.
Immerhin ein Drittel der bekannten 600
Figuren ist heute im archologischen Park
von San Agustn, der seit 1995 zum UnescoWeltkulturerbe gehrt, in ihrer ursprnglichen Umgebung zu besichtigen.
Dass sich einige von ihnen in Berlin befinden, geht auf den deutschen Ethnologen
Konrad Theodor Preuss zurck. Er war
1913 nach Kolumbien gereist, um die Monolithen zu dokumentieren. Offizielle Genehmigungen seien damals nicht blich gewesen, erklrt das Ethnologische Museum,
allerdings sprach Preuss in Bogot mit dem
kolumbianischen Prsidenten ber sein
Vorhaben. Dann reiste er fr seine Grabungen nach San Agustn. Bis 1922 wurden
35 Skulpturen nach Berlin geliefert, sie gin-
DER SPIEGEL 34 / 2014
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Sechserpack Im November 1989 zeigte das Satiremagazin Titanic auf seinem Titel eine Frau, die eine Salatgurke in die
Luft hielt, und schrieb dazu: Zonen-Gabi im Glck: Meine erste Banane. Nun halten russische Brger Obst in die Kamera,
um gegen den Sanktionskrieg in Europa zu demonstrieren es knnte ja ihr letztes sein.
Ernhrung
Wie gefhrlich
ist Chili fr
den Menschen,
Herr Kiapidis?
Der reizt die Nervenenden,
die fr das Empfinden von
Hitze und Schmerz in unserem Gehirn zustndig sind.
Der Krper reagiert bei bermigem Chiligenuss mit
Theo Kiapidis, 34, Barbesitzer
aus Lindau, ist Weltmeister im
Chilischoten-Essen.
SPIEGEL: Herr Kiapidis, jngst
hat der Moderator Stefan
Mross mehrere Chilisoen
genascht und einen Schwcheanfall erlitten. Wie htte
er das verhindern knnen?
Kiapidis: Nach dem Essen von
Chilis helfen fetthaltige Substanzen wie Milch.
SPIEGEL: Mross hat Milch
getrunken, er brach trotzdem
zusammen.
Kiapidis: Der Stoff, der Chilis
scharf macht, heit Capsaicin.
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DER SPIEGEL 34 / 2014
Mross
einer Art Abwehrreaktion.
Er khlt sich ab, man schwitzt
stark. Da kann es auch zu
Kreislaufproblemen kommen.
SPIEGEL: Mayonnaise soll ein
gutes Gegenmittel sein.
Kiapidis: Ist gut, weil fettig.
SPIEGEL: Was ist mit trockenem Brot?
Kiapidis: Es hilft, sich ein Stck
Brotkrume auf die Zunge zu
legen, das saugt den Speichel
mit dem Capsaicin auf. Auch
Bier und Wodka helfen erstaunlich gut, gerade wenn
der Magen Probleme macht.
SPIEGEL: Sie haben mal bei einem Wettbewerb 438 Gramm
einer Mischung aus Thaichilis
und Habaneros gegessen.
Wie ist Ihnen diese Mahlzeit
bekommen?
Kiapidis: Ich habe in der Nacht
Magenkrmpfe und Durchfall
bekommen. Anderen Teilneh-
mern ging es schlechter. Der
damalige Europameister im
Chiliessen lag bewusstlos hinter der Bhne.
SPIEGEL: Sehr heftig soll
Bubblegum-Chili sein.
Kiapidis: Die Schrfe einer
Schote wird in Scoville gemessen. Tabasco hat 2500 bis
5000, Bubblegum-Chili etwa
200-mal so viel. Der brennt
schon gut. Ich finde, er zeichnet sich vor allem durch sein
einzigartiges Aroma aus.
SPIEGEL: Sie sind Weltmeister.
Kann man es trainieren, Chili
besser zu ertragen?
Kiapidis: Eine Zeit lang habe
ich mir jeden Morgen die
Zunge mit 20 Tropfen Chilisoe eingerieben. Das mache
ich nicht mehr. Ich glaube,
entweder man steckt die
Schrfe weg, oder man klappt
zusammen. twu
FOTOS: @DENISKARAGODIN / EYEEM.COM (1); @FRIDHELM / EYEEM.COM (2); @AANUFRIEV / EYEEM.COM (3); @LPODKORYTOVA / EYEEM.COM (4); @IRISHEN87 / EYEEM.COM (5); @CHOURIQUE / EYEEM.COM (6); HOFO / T&T (U.)
Gesellschaft
Dobrew hat kein Telefon. Wenn er in die Stadt will, zur
Arbeit, dann sagt er dem Nachbarn Bescheid, der wiederum
Sneschana Serafimowa anruft. Sie hat einen Mercedes, damit
fhrt sie Dobrew in die Stadt, die Lehne des Beifahrersitzes zurckgelegt, weil Dobrews Rcken krumm ist. Einmal im Monat
bringt der Postbote seine Rente vorbei, 184 Lewa, 94 Euro. Was
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum
Dobrew zum Leben braucht, schenken ihm die Menschen im
ein Bettler der bulgarischen
Dorf, manchmal ist es so viel, dass er mit seiner Rente die Spendensummen aufrunden kann.
Kirche ein Vermgen schenkt
Lngst gibt es einen Wikipedia-Eintrag ber Dobrew, eine
Website (betrieben von einem 28-jhrigen Informatiker) und eieistens kommt er am spten Vormittag, gegen elf. Er nen Eintrag bei Facebook, der ber 200 000 Menschen gefllt.
trgt auch im Sommer einen dicken Mantel, auf dem Dobrews demonstrative Anspruchslosigkeit beeindruckt viele
Kopf eine flache Mtze, an den Fen zarvuli, den wei- ein Umstand, der wiederum Dobrew beeindruckt: Je weniger
chen Schuh der bulgarischen Bauern: Dobri Dimitrow Dobrew, er fr sich will, desto mehr bekommt er; je weniger er sagt,
desto grer wird die Zahl seiner BewunBulgariens bekanntester Bettler, den sie
derer; je mehr er von sich absieht, desto
Engel nennen oder Pilger Gottes.
legendenhafter wird sein Leben. MitunMit kleinen Schritten geht er die Stuter stecken Menschen ihm Zettel zu, mit
fen zur Alexander-Newski-Kathedrale hider Bitte, fr einen Ehepartner zu beten
nauf, der grten und bekanntesten Kiroder fr ein Kind.
che Sofias. Im Vorraum, dort, wo Ikonen,
Whrend des Kommunismus, heit es,
Opferkerzen und CDs mit Chormusik verhabe er rger mit der Polizei bekommen,
kauft werden, stellt er einen Plastikbecher
angeblich weil er sich weigerte, sich zu
auf den Boden, dann hockt er sich auf
rasieren. Einmal habe ihm ein Fernsehdie Steinplatten wie ein Wartender.
team einen 20-Lewa-Schein in die Hand
Dobrew ist im Juli 100 Jahre alt gegedrckt, zum Dank fr eine Art Interworden; geboren wurde er 1914, ein paar
view, er habe den Schein zerrissen, erWochen bevor die Schsse von Sarajevo
zhlt man sich ein nrrischer Weiser
den Ersten Weltkrieg auslsten. Er sitzt
oder ein weiser Narr, je nachdem. Von
leicht gekrmmt, seine weien Haare
ihm strahle eine Klte aus, sagen die Leuund sein langer weier Bart leuchten im
te im Dorf, gleichzeitig eine Helligkeit.
Halbdunkel. Er murmelt eher, als dass
Er hat Licht um sich, das versichert
er spricht; seine Worte sind auch fr BulSneschana Serafimowa.
garen schwer zu verstehen. Gott prft
Sicher ist: Dobrew hat vier Kinder,
uns, sagt er. Wer betet, wird gerettet. Fazwei Shne und zwei Tchter, die lteste
milie ist nichts. Gott ist alles.
wurde 1934 geboren, die Jngste 1940.
Alle Besucher der Kathedrale mssen
Seine Frau starb vor vielen Jahren. Er
an ihm vorbei, seine wachen Augen folist schwerhrig, seit im Zweiten Weltgen jedem, der die Kathedrale betritt.
krieg eine Bombe neben ihm explodierte.
Mitunter erhebt er sich und geht auf die
Um 1955 herum, heit es, habe er seiMenschen zu, ein Blick, ein gemurmelter
ne Familie verlassen, nachdem seine
Halbsatz, so fllt sich der Becher. Am
Frau ihn mit einem anderen Mann beAbend wird er die Mnzen zu einer der
trogen habe. Dobrew zog damals jahreIkonenverkuferinnen bringen, sie wird
Dobrew
lang von Kloster zu Kloster, arbeitete,
das Geld zhlen und es ihm am nchsten
kmmerte sich ums Vieh. Vielleicht ist
Tag in Scheine tauschen. Dobrew hat ein
das die ganze Geschichte: dass einer Gott
Konto bei der Bank, ab und an lsst er
seine ganze Liebe schenkt, weil Gott ihn,
sich ins Nachbardorf fahren, um eine
anders als die Menschen, nicht enttuberweisung auf den Weg zu bringen.
schen kann.
Und er spendet das an ihn Gespendete: Mal 10 000 Lewa, etwa 5000 Euro, fr
Drei Jahre ist es her, da lie sich
die Kirche seines Heimatdorfes, einmal
Dobrew von einem Fernsehteam beVon der Website hotnewsblog.net
berreichte er dem Bischof der Newskifragen.
Kathedrale in Sofia einen Scheck ber 37 500 Lewa, etwa 19 000
Was fr ihn die grte Snde sei, wollte der Reporter wissen.
Euro die Gabe machte Dobrew zum grten privaten Einzel- Dobrew fing an, die Zehn Gebote aufzuzhlen. Als der Reporter
spender in der Geschichte der Kathedrale.
seine Frage wiederholte, sagte er: Ehebruch. Er zerstrt die
Er bettle nicht, sagt Dobrew, er sammle Almosen. Mit diesem Familie, alles.
Geld baue ich Kirchen und Klster.
Als sich vor Kurzem das Gercht verbreitete, der Vatikan beDobrew braucht wenig, sagt Sneschana Serafimowa, eine ehe- reite schon die Heiligsprechung Dobrews vor, jubelten Tausende,
malige Meiereibesitzerin, die ab und an nach ihm sieht. Angeb- ohne darber nachzudenken, ob der Bettler wohl wirklich der
lich lebt er von einer Scheibe Brot und einer Tomate am Tag. In erste Mensch sein knnte, der zu Lebzeiten heiliggesprochen
Bailowo, einem Dorf stlich von Sofia, bewohnt er seit Jahren wird. Aber sogar der Papst, hie es, habe Dobrew auf dessen
ein einfaches Steinhaus hinter der Kirche. Das Haus hat zwei Facebook-Seite gratuliert.
Rume, an den Wnden hngen Heiligenbilder, in der Ecke lieDie Meldung war falsch, wie sich bald herausstellte. Aber es
gen eine Matte und eine Wolldecke. Die Geschichten ber den gab kaum jemanden in Bulgarien, der an ihr gezweifelt hatte.
Bettler klingen selbst wie Heiligengeschichten.
Hauke Goos
Heiliger Bimbam
FOTO: KARL-HEINZ RAACH / LAIF
DER SPIEGEL 34 / 2014
49
Mnnlich,ledig, lebensgefhrlich
Amok Der Mann, der im Mai in Santa Barbara sechs Menschen ttete, gehrte einer obskuren
Gemeinde an: Sogenannte Incels leben unfreiwillig als Single, und manche entwickeln
einen Hass auf Frauen, der tdlich enden kann. Wer sind diese Mnner? Von Takis Wrger
arijan sagt, es gebe Menschen in
seiner Gemeinschaft, die den
Sommer hassen. Im Sommer mssen sie mehr von den Frauen sehen, ihre
Haut, ihre nackten Knie, die enge Kleidung an ihren Brsten. Marijan sagt, er
schaue sich Frauen nicht an, und er versuche, Orte zu meiden, an denen er nackte
50
DER SPIEGEL 34 / 2014
weibliche Haut sehen muss. Er sagt: Wenn
du hungrig bist, aber nicht essen kannst,
gehst du nicht in eine Strae voll mit
Kuchen.
Marijan, 26, aus Zagreb wnscht sich
eine Freundin, und weil er keine findet,
erlebt er sein Leben als Qual. Er ist einsam,
aber in seiner Einsamkeit ist er nicht allein.
Seine Gemeinschaft trifft sich im Internet.
Er gehrt zu einer Gruppe Menschen, die
sich Incel nennen, das ist die Abkrzung
fr den englischen Ausdruck involuntary
celibacy, auf Deutsch bedeutet das unfreiwillige Enthaltsamkeit. Marijan besucht Foren, in denen sich eine eigene Kultur der Einsamkeit entwickelt hat. Die
ILLUSTRATION: TIMO ZETT FR DEN SPIEGEL
Gesellschaft
Menschen, die sich dort sammeln, sind fast
immer Mnner, ein paar Hundert insgesamt. Wie viele es genau sind, lsst sich
schwer schtzen, es sind Englnder, Deutsche, Niederlnder, Australier und vor allem US-Amerikaner.
Einer von ihnen schrieb im vergangenen
Jahr in ein Internetforum: Eines Tages
werden die Incels ihre wahre Strke und
Anzahl begreifen und das bedrckende,
feministische System strzen. Stell dir eine
Welt vor, in der FRAUEN DICH FRCHTEN. Der Autor dieser Zeilen war der
Student Elliot Rodger.
Am 23. Mai dieses Jahres nahm Rodger,
22, aus Santa Barbara, Kalifornien, ein Video von sich selbst auf. Er stellte die Kamera auf das Armaturenbrett seines BMW
und blieb hinter dem Lenkrad sitzen.
Er sagte: Dies ist mein letztes Video.
Morgen ist der Tag der Vergeltung. Der
Tag, an dem ich meine Vergeltung an der
Menschheit erleben werde. An euch allen.
In den vergangenen acht Jahren meines
Lebens, seit ich in die Pubertt gekommen
bin, war ich gezwungen, eine Existenz in
Einsamkeit zu erdulden, eine Existenz voller Zurckweisung und unerfllter Begehren. Alles nur deshalb, weil Frauen sich
nie zu mir hingezogen fhlten. In den vergangenen Jahren bin ich in Einsamkeit
verrottet.
Ab und zu lachte Rodger in die Kamera,
ein hbscher junger Mann mit schwarzen
Haaren und weien Zhnen. Durch die Fenster seines Autos konnte man Palmen sehen.
Kurze Zeit spter ttete er drei Mitstudenten in seiner Wohnung. Forensiker un-
tersuchen, womit er ttete. Die Wunden
der Leichen sind nicht eindeutig. Die Polizei sicherte Spuren auf zwei Macheten, einem Messer und einem Hammer.
Als die Mnner tot waren, lud Rodger
seine Sig Sauer P226 und seine Glock 34,
zwei halbautomatische Pistolen, und fuhr
in die Nachbargemeinde Isla Vista. Er
klopfte an das Haus einer Studentenverbindung fr Frauen. Niemand ffnete ihm.
Ein paar Schritte weiter erschoss er zwei
Studentinnen. Er ging in einen Imbiss und
erschoss einen Kunden. Dann stieg er in
sein Auto, fuhr durch die Stadt und schoss
auf Passanten, dabei verletzte er 13 Menschen. Er rammte mit seinem BMW einen
Fahrradfahrer, knallte gegen einen parkenden Kombi und ttete sich selbst mit einem
Schuss in den Kopf.
Rodger hinterlie ein paar selbst gedrehte Videos und ein 137 Seiten langes Manifest. Darin stehen Stze wie: Frauen sind
wie eine Pest. Sie sind wie Tiere, komplett
kontrolliert durch ihre ursprnglichen, verdorbenen Gefhle und Triebe.
Viele Mnner, die Amok laufen, haben,
wie Rodger, ein krankes Verhltnis zu
Frauen. Eric Harris, einer der Jungen, die
1999 an der Columbine High School in
den USA 13 Menschen und sich selbst gettet hatten, schrieb in seinem Tagebuch:
Vielleicht muss ich nur Sex haben. Vielleicht wrde das die Scheie ndern.
Und sein Komplize Dylan Klebold schrieb:
Ich wei nicht, was ich mit Menschen
(vor allem Frauen) falsch mache es ist,
als wrden sie mich hassen und mir Angst
machen.
Beim Amoklauf von Winnenden im
Jahr 2009 ttete Tim Kretschmer in seiner
ehemaligen Schule acht Schlerinnen, drei
Lehrerinnen und einen mnnlichen Schler. Im selben Jahr erschoss der US-Amerikaner George Sodini in einem Fitnessstudio drei Frauen und verwundete neun
weitere, bevor er sich selbst das Leben
nahm. Vorher hatte er in seinem Blog geschrieben: Frauen mgen mich einfach
nicht. Es gibt 30 Millionen begehrenswerte
Frauen in den Vereinigten Staaten (schtze
ich) und ich finde keine!
Diese Amoklufer hinterlassen Fragen:
Wieso mussten Menschen sterben? Besteht
ein Zusammenhang zwischen den Morden
und der Einsamkeit der Tter? Was hat
diese Gemeinschaft der Incel aus dem Internet mit den Morden zu tun?
Rodger kann keine Antworten mehr geben, und knnte er, wrden sie kaum eindeutig ausfallen. Aber es gibt Menschen,
die ein paar seiner Gedanken verstehen.
Weil sie seine Wut auf Frauen teilen und
seine Einsamkeit. Einer von ihnen ist Marijan.
Marijan heit in Wirklichkeit anders.
Man kann ihn ber seinen Blog, thatincel
blogger.wordpress.com erreichen. Nach ein
DER SPIEGEL 34 / 2014
51
paar E-Mails stimmte er einem Treffen
zu, in Zagreb, Kroatien, seiner Heimatstadt. Vor einer Pizzeria nahe der Kathedrale wartet ein gut aussehender junger
Mann, gro, mit tiefschwarzen Haaren und
einem Dreitagebart, er trgt ein weies,
weites T-Shirt und eine Dreiviertelhose.
Zur Begrung schaut er einem nicht in
die Augen.
Als er an einem Tisch sitzt, hinten, in
einer stillen Ecke des Restaurants, sagt er:
Ich werde schlecht aussehen in dem Artikel, aber was habe ich zu verlieren?
Er sagt, er sei wtend gewesen nach
Rodgers Amoklauf. Die ganze Welt habe
mal wieder nur ber schrfere Waffengesetze geredet. Aber niemand habe darber
nachgedacht, ob es noch andere Grnde
gegeben haben knnte. Niemand habe an
Incel gedacht.
Marijan redet viel und lang. Er lsst wenige Fragen zu. Es ist weniger ein Gesprch, eher eine Aneinanderreihung von
Vortrgen, die er mit groer Przision hlt.
Satz um Satz, Vortrag um Vortrag fhrt er
den Zuhrer tiefer hinein in seine Welt,
tiefer hinein in die Finsternis, in der es
kein Glck zu geben scheint, nur unermesslichen Hass.
Auszge aus Vortrag eins, Thema:
Frauen.
Frauen sind einfach designte Roboter mit
dem Wunsch, sich fortzupflanzen. Junge
Frauen in den vergangenen Generationen
hatten immer Hilfe von ihrer Gromutter.
Sie hat bei der Suche nach einem Mann
geholfen. Sie hat gesagt: Das ist ein guter
Typ, er wird fr dich sorgen. Diese Gromutter wurde durch das Magazin Cosmopolitan ersetzt. Heute wollen Frauen nach
oben heiraten. Sie wollen ihren Stand
verbessern. Ich wrde nicht sagen, dass
wir Incels Frauen hassen. Aber wenn du
50-mal zurckgewiesen wurdest, dann
entwickelst du negative Gefhle, das ist
normal.
Auszge aus Vortrag zwei, Thema: Verfhrer.
Frauen knnen mittlerweile fr sich selbst
sorgen, deswegen haben ihre Prferenzen
von Ernhrern zu Verfhrern gewechselt.
Eine Minderheit von Mnnern hat Sex mit
einer Mehrheit von Frauen. Die erfolgreichen Mnner sind die Bad Boys. Wenn du
heute eine Frau haben willst, musst du ein
Bad Boy sein und deine Moral verlieren.
Auszge aus Vortrag drei, Thema: eine
bessere Welt.
Ich wnsche mir eine Gesellschaft, in der
eine Gruppe von Mnnern kooperiert und
sich total vertraut. Jeder Mann bekommt
eine Frau. Die Frauen werden gerecht verteilt. Es gibt Monogamie und Jungfrauenehe. Wenn ein Mann sexuelle Vielfalt will,
geht er zu einer Prostituierten. Feministinnen wrden in dieser Gesellschaft zu Prostituierten werden. Wenn ein Mann ver52
DER SPIEGEL 34 / 2014
sucht, eine andere Frau zu verfhren, wird
er sofort gettet.
Marijan und andere Incels treffen sich
in verschiedenen Foren im Internet. Das
Forum, das Elliot Rodger nutzte, ist mittlerweile geschlossen. Ein anderes, relativ
moderates Forum heit love-shy.com. Die
Mitglieder sprechen dort ber Themen wie
Anmachsprche, plastische Chirurgie und
sonstige Wege aus ihrer Verzweiflung.
Die Nutzer des Forums haben einen
Diskussionsraum ber Elliot Rodger angelegt. Auf der ersten Seite schreibt ein Moderator, dass er die Tat verurteile und dass
Rodger nicht die Gedanken von loveshy.com widerspiegele. Der Moderator
kndigt an, dass alle Beitrge gelscht werden, in denen Forumsmitglieder die Tat
glorifizieren.
Auf einer der spteren Seiten schreibt
ein User: Ich denke ber Elliot Rodger ...
warum hat er nicht einfach eine Schlampe
mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt?
Ein anderer User schreibt: Mir wurde
immer beigebracht, Frauen zu respektieren und nicht sexuell aggressiv zu sein.
Das war ein Eimer voller Scheie. Alles,
was sie wirklich wollen, ist ein Muskelmann, der ihnen in den Arsch fickt, statt
Liebe zu machen mit einer echten Person
mit echten Gefhlen.
Auf einer der letzten Seiten schreibt
ein User ber Rodger: Er ist ein Mrtyrer,
im echten Wortsinn, das muss man ihm
lassen.
In dem Forum nennt sich Marijan Dante Alighieri, wie der mittelalterliche Dichter. Dantes Gttliche Komdie beginnt
ILLUSTRATION: TIMO ZETT FR DEN SPIEGEL
Gesellschaft
Er gab zu Protokoll, dass er niemanden
mit den Worten: Auf halbem Weg des
Menschenlebens fand / Ich mich in einen tten wolle. Die Polizisten nahmen ihn
finstern Wald verschlagen, / Weil ich vom trotzdem fest und steckten ihn wegen des
Verdachts auf Morddrohung in Unterrechten Weg mich abgewandt.
Am Morgen nach dem ersten Treffen suchungshaft. Nach einem Monat sprach
trgt Marijan die gleiche Kleidung wie am ein Richter Marijan frei, weil er niemanTag davor. Er sagt, er habe schlecht ge- dem direkt gedroht hatte. Der Richter sagschlafen, weil das Gesprch ihn aufgewhlt te, so erzhlt es Marijan: Vielleicht triffst
habe. In einem Caf bestellt er einen Scho- du ja eine andere Frau drauen vor dem
koladenkuchen und erzhlt seine Ge- Gericht.
Es folgten zwei Jahre ohne einen Kuss.
schichte.
Marijan ist in einer brgerlichen Familie Als Marijan 24 Jahre alt war, schrieb er in
aufgewachsen, er hat einen Bruder, die ein Internetforum, dass er eine mnnliche
Eltern waren Angestellte. In der Schule Jungfrau sei und nach einer Frau suche,
hatte er viele Jahre kaum Kontakt zu Md- die ihn erlsen wrde. Eine Kroatin melchen. Als er anfing, sich fr Mdchen zu dete sich bei ihm, besuchte ihn in Zagreb,
interessieren, waren sie ihm fremd ge- schlief mit ihm und sagte dann, dass er erworden. Er hatte Angst vor ihnen. Mein brmlich sei, so erzhlt er es.
Er schlief danach noch mit drei weiteren
Gehirn hat sich nicht normal entwickelt,
Frauen. Eine davon war verrckt und
sagt Marijan.
Er sei love-shy, liebesschchtern. Der eine totale Schlampe, sagt Marijan. Als
amerikanische Psychologieprofessor Brian ihn eine andere verlie, blieb er monateGilmartin erfand diesen Ausdruck im Jahr lang im Bett liegen, sagt er. Er dachte ber
1987. Die Mnner, die darunter leiden, klagen ber ihre vollstndige Unfhigkeit,
eine romantische Beziehung einzugehen.
Manche Mnner berichten von Panikattacken, wenn sie mit Frauen allein sind, man- Selbstmord nach und verbrachte fnf Tage
che bekommen Schweiausbrche, andere in einer Psychiatrie.
Spter machte er einen Abschluss in Mitknnen sich kaum mehr bewegen, wenn
sie an ein Date denken, zu dem sie gern telalterlicher Geschichte an der Zagreber
Universitt. Aber arbeiten wollte er nie,
gehen wrden.
Marijan entwickelte eine krankhafte weil er, wie er sagt, keine Steuern fr
Angst vor Frauen, die sich mischte mit ei- Schlampen zahlen will.
Heute sagt er, dass er nicht mehr zu
nem stetig wachsenden Verlangen nach eiDates gehe, weil er die Enttuschung nie
ner Beziehung mit einer Frau.
Er sagt: Meine Standards sind sehr wieder spren wolle. Seit einem Jahr ist
niedrig, solange die Frau nicht dick oder er allein.
Die meisten Amoklufer senden vor der
unhygienisch ist. Und ich habe Probleme
Tat Signale aus, die im Rckblick als Warmit schlechten Zhnen.
Mit 19 lernte er ber einen SMS-Chat nungen gedeutet werden mssten. Anspieein Mdchen kennen. Sie war 16 und sagte lungen, Drohungen, Videos im Internet.
Marijan, dass sie mit ihm schlafen wolle. Manche Amoklufer kleben in den SchulSie zeigte ihm, wie sie gern geksst werden toiletten Zettel an die Wand, auf denen
wollte. Das Mdchen wurde Marijans steht: Morgen seid ihr tot. Manche MnFreundin. Er war fr einen Moment zu- ner gehen vor ihrer Tat in schwarzer Kleidung und Ledermantel aus dem Haus. Elfrieden.
Dann fuhr sie ber den Sommer ans liot Rodger schrieb seine Fantasien in
Meer auf eine Insel. Vor dem Abschied Blogs.
Marijan sagt: Es gibt eine Menge gewurde Marijan wtend, weil er sie nicht
gehen lassen wollte, und sagte ihr, dass brochener Menschen, die darauf warten
sie vielleicht nur Freunde bleiben sollten. zu sterben. Und er sagt: I dont know
Das Mdchen fuhr trotzdem. Marijan when I will snap. Das englische Wort
schickte ihr viele SMS und Gedichte, die snap hat mehrere Bedeutungen. Es kann
er selbst geschrieben hatte. Als sie zurck- zerbrechen, zuschnappen oder durchknalkam, sagte sie ihm, dass sie ihn nicht mehr len bedeuten. Marijan sagt: Ich glaube,
dass Incel dazu fhren kann, Menschen zu
mochte.
Marijan konnte drei Tage lang nicht wei- erschieen oder mit einer Bombe zu tnen. Dann weinte er nur noch, ging mona- ten. Er lchelt, es scheint so, als wrde
telang nicht zur Universitt und stopfte er den Moment genieen.
Psychologen und Psychiater, die sich mit
sich mit Schokolade voll. Es wurde nicht
besser, sagt Marijan. Nach einem Jahr fand Amoklufen befassen, versuchen zu erkler ein Incel-Forum im Internet und schrieb ren, warum Mnner Frauen tten, aber
dort, dass er sich und das Mdchen erschie- Frauen fast nie Mnner. Testosteron sei
en werde. Der Betreiber des Forums ein Grund, sagen die Forscher, und ein Rolschaltete Interpol ein. Marijan bekam eine lenverstndnis sei schuld, aus dem folge,
dass Mnner auf Konflikte eher mit AnVorladung der kroatischen Polizei.
griff reagieren und Frauen eher mit Rckzug. Am Ende fehlt eine befriedigende
Erklrung.
Das FBI, die amerikanische Bundespolizei, schreibt in einem Bericht ber
Amoklufe an Schulen, dass die Tter hufig Ungerechtigkeitensammler seien. Sie
gehen durchs Leben und klauben alles auf,
was ihnen nicht passt. Jeder dumme
Spruch von einem Mitschler bleibt hngen, jeder Rempler, jede Abfuhr eines
Mdchens findet seinen Platz in der Sammlung, bis man irgendwann denkt, die ganze
Gesellschaft sei gegen einen.
Viele Amoklufer spielen auch gern
Spiele am Computer, in denen es darum
geht, Menschen den Kopf vom Hals zu
schieen. Und viele leiden unter einer narzisstischen Strung.
Aber daraus lsst sich keine Formel ableiten, die lauten knnte: Einsamkeit +
Computerspiel + Narzissmus = Amoklauf.
Es gibt viele einsame, selbstverliebte Com-
Heute sagt er, dass er nicht mehr zu Dates gehe,
weil er die Enttuschung nie wieder spren wolle.
puterspieler, die nie einen Menschen erschieen werden.
In das Leben eines Amoklufers findet
etwas seinen Weg, das Psychiater und Psychologen nicht erklren knnen. Das Bse
ist manchmal grer als eine einfache Erklrung.
Der Attentter, der 1981 versuchte, den
US-Prsidenten Ronald Reagan zu erschieen, sagte bei einer Vernehmung: Du
weit ein paar Dinge ber mich, Schatz,
zum Beispiel, dass ich von Fantasie besessen bin, aber warum verstehst du nicht,
dass Fantasie in meiner Welt Wirklichkeit
wird?
Ein anderer Amoklufer aus den USA
hrte Stimmen, die ihm sagten: Du musst
alle tten. Du musst alle auf der Welt tten.
Auf Wikipedia steht: Als Auslser eines Amoklaufs gelten eine fortgeschrittene
psychosoziale Entwurzelung des Tters,
der Verlust beruflicher Integration durch
Arbeitslosigkeit, Rckstufung oder Versetzung, zunehmend erfahrene Krnkungen
sowie Partnerschaftskonflikte.
Nach allem, was Marijan ber sich erzhlt, hat er kaum Freunde, keine Arbeit,
keinen Partner, und er erlebt sein Leben
als eine Krnkung, die mit jedem Tag grer wird. Wer lange genug sucht, findet
die Schablone, die auf ihn passt.
Das letzte Treffen mit Marijan findet
abends in einem Restaurant statt, wieder
an einem Tisch abseits der anderen Gste.
Es ist ein warmer Abend, aber Marijan
setzt sich innen ins Lokal, dorthin, wo
sonst niemand sitzt.
Er sagt, er wnsche sich, dass Frauen
das Wahlrecht weggenommen werde. Dann
DER SPIEGEL 34 / 2014
53
Zeit mit Frauen verbrachte. Er sah glcklich aus und sagte, wahrscheinlich sei es
eine gute Idee, wenn die Incel-Foren von
Psychiatern betreut wrden, damit die
Nutzer professionelle Hilfe finden. Einer
hofft darauf, endlich, mit Mitte zwanzig,
eine Frau zu kssen. Ein paar dieser
Mnner wirkten verloren. Niemand
wirkte gefhrlich. Und am Ende wurde
klar, dass es die Gemeinschaft der Incels
nicht gibt. Es gibt nur einzelne einsame
Mnner.
Viele Mnner aus der Gemeinschaft der
Incels finden schlicht keinen Partner und
suchen Hilfe im Internet. Fr sie sind die
Die Gesellschaft der Einsamen trifft sich im Internet.
Die Mnner haben ihre eigene Kultur entwickelt.
immer geht es um ihn selbst. Er sagt: Ich
habe angefangen, Frauen als die Scheie
zu sehen, die sie sind. Ein wenig spter
sagt er: Ich mag keine Menschen.
Diese Geschichte sollte die Gemeinschaft der Incels erklren, und die Recherche fhrte zu unterschiedlichen Mnnern,
die sich Incel nennen. Einer trumt davon,
eine Farm zu finden, wo Incels zusammenleben. Die Farmbewohner knnten willige
Frauen aus Mexiko importieren und unter
sich aufteilen. Einer sa mit strahlenden
Augen in einer deutschen Kleinstadt und
erzhlte davon, wie er seine Furcht vor
Frauen berwand, indem er einfach mehr
54
DER SPIEGEL 34 / 2014
Foren vielleicht die Rettung. Fr andere
Mnner bieten die Foren die Gelegenheit,
ihren Hass in einer Gruppe zu kultivieren.
Vor 20 Jahren wren solche Menschen mit
ihren bsen Gedanken allein in ihrer Hhle geblieben.
Wahrscheinlich ist ein Mensch schwer
zu lieben, wenn er voller Hass steckt.
Wenn er den Gedanken in sich trgt, mglichst viele Menschen um sich herum und
schlielich sich selbst tten zu wollen. Der
potenzielle Amoklufer wird zum Incel.
Und nicht der Incel zum Amoklufer.
Elliot Rodger war Mitte zwanzig, als er
starb, er hatte mehrere Therapeuten be-
sucht, er war in der Schule gemobbt worden, er hatte seinen eigenen Blog im Internet. Marijan ist Mitte zwanzig, er hat
mehrere Therapeuten besucht, er wurde
in der Schule gemobbt, er schreibt seinen
eigenen Blog im Internet. Der eine wurde
zum Massenmrder. Der andere trifft sich
mit einem Journalisten und isst Schokoladenkuchen.
Rodger hinterlie uns mit der Frage:
Wieso mussten sechs Menschen sterben?
Es gibt keine logische Erklrung.
Sein 137 Seiten langes Manifest, das er
schrieb, bevor er zum Mrder wurde, endet damit, wie er davon schwrmt, Menschen zu tten. Es soll die Strafe dafr sein,
dass er keine Frau findet, die ihn liebt.
Rodger hat das Werk Meine verdrehte
Welt genannt. Er schreibt darin, dass er
zurckschlagen werde und jeden bestrafen
wolle. Der letzte Satz des Manuskripts lautet: Endlich kann ich der Welt meinen
wahren Wert zeigen. Und im Satz zuvor
schreibt Elliot Rodger, 22, ein junger Mann
aus Kalifornien, der sein Leben noch vor
sich hatte: Und es wird schn sein.
Marijan schrieb vor Kurzem einen neuen Eintrag in sein Blog. Er analysiert darin,
warum er einsam ist: Ich verstehe endlich
die Tiefe des Wahnsinns und des Sexismus
in unserer Gesellschaft. All der Verrat, das
ganze herzlose und grauenhafte Verhalten
von Frauen wurden als mein Fehler gesehen. Das ist Hass.
ILLUSTRATION: TIMO ZETT FR DEN SPIEGEL
erzhlt er, dass er einmal versucht habe,
sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen, aber eineinhalb Tage spter wieder
aufgewacht sei.
In seinen Augen leuchtet jedes Mal das
Vergngen, wenn er auf das Thema Amoklauf zu sprechen kommt. Dann entlsst er
das Bse aus seinen Gedanken in die Welt.
Er sagt: Ich will Unzufriedenheit stiften.
Ich will Menschen bse machen. Ich denke
nicht, dass ich Menschen tten werde.
Nach einem Moment der Stille sagt er: Ich
will ein wenig Panik verbreiten.
Er hlt wieder hnliche Vortrge wie am
ersten Tag, immer geht es um Frauen, und
Gesellschaft
Besuch aus Berlin
Homestory Wie ich durch eine Kunstaktion
in New York begriff, dass es
auf der Welt keine Sicherheit geben kann
ls Mischa Leinkauf vor ein paar Wochen auf meiner
Couch in Brooklyn sa und von seinem Plan erzhlte,
sprte ich den Zauber noch nicht. Ich war gerade von
der Fuballweltmeisterschaft aus Brasilien zurckgekommen
und mde, es war hei in New York, und Leinkauf erzhlte,
dass er zusammen mit seinem Freund und Kollegen Matthias
Wermke in einer der nchsten Nchte auf die Brooklyn Bridge
klettern werde, um dort die beiden amerikanischen Fahnen
herunterzuholen und zwei weie Fahnen zu hissen. Ich schaute
aus dem Fenster. Man kann ein Stck der Brcke sehen, wenn
man aus meinem Wohnzimmer schaut.
Er wollte wissen, wie die Amerikaner reagieren wrden.
Ich dachte gleich an den 11. September, natrlich. Damals,
als der erste Turm zusammenfiel, stand ich auf der Brcke und
war davon berzeugt, dass die Welt untergeht. Ich habe mich
sehr verletzlich gefhlt auf der Brcke. Ich
sagte das nicht, weil es inzwischen banal
klingt. Es ist benutzt worden, um Wahlen zu
gewinnen, Kriege zu beginnen und Diskussionen zu beenden.
Ich sagte: Es kommt auf den Kontext an.
Was willst du denn mit der Aktion zeigen?
Was wrdest du denn erzhlen, wenn sie dich
erwischen?
Mischa Leinkauf erzhlte vom Erbauer der
Brcke, Johann August Rbling. Der kam
aus Mhlhausen und wrde demnchst seinen 145. Todestag haben. Der 145. Todestag
eines Thringer Brckenbauers ist natrlich
ein seltsames Jubilum fr eine Kunstaktion in New York. Es
schien eher so, dass sie nach irgendeinem Tag gesucht hatten,
einem Anlass. Sie sind Knstler, Filmemacher. Sie machen solche Sachen auf der ganzen Welt, sie klettern auf Hochhuser
und Schornsteine.
Es geht ihnen um die Freiheit des ffentlichen Raums.
Mischa Leinkauf sagte, Rbling sei nach Amerika gegangen,
weil er dort seine ehrgeizigen Plne verwirklichen konnte.
Amerika habe ihm mehr Freiheiten geboten als seine deutsche
Heimat. Heute sei es eher umgekehrt.
Ich sagte, dass es die Amerikaner stren knnte, wenn ausgerechnet Deutsche ihnen eine Art Lektion erteilen wollen.
Ausgerechnet die verdammten Deutschen hissen jetzt weie
Fahnen.
Mischa nickte. Wir redeten darber, wie sich die Nachricht
verbreiten knnte. Ich dachte, dass die New York Times vielleicht ein Foto der weien Fahnen drucken wrde. Als Illustration. An einem schnen Sommertag. Es war ja berall Krieg.
Eine weie Fahne war immer gut. Mischa sagte, es sei eine
weie amerikanische Fahne, aus zwei verschiedenen Stoffen
genht, mit Streifen und Sternen, nur eben alles in Wei.
Ich erinnerte daran, dass den Amerikanern ihre Fahne wichtiger sei als den Deutschen ihre. Ich fhlte mich, als ritte ich
mit den Konfderierten oder betrte den Mond. Mischa Leinkauf sagte, sie htten sich erkundigt, sie wrden die Fahnen
vorschriftsmig zusammenfalten.
Dann stiegen wir aufs Dach und sahen auf die Stadt. Von
unserem Dach aus sieht man eine der beiden Fahnen; die, die
Brooklyn nher ist.
Ist es gefhrlich, da hochzuklettern?
N, sagte Mischa. Wir waren schon mal oben.
Ich besuche dich im Gefngnis, sagte ich.
Mischa lchelte.
Wir sahen in den hellblauen New Yorker Sommerhimmel.
Ich wnschte ihnen Glck, obwohl ich die Idee immer noch
nicht hundertprozentig verstand. Aber so ist das mit der Aktionskunst. Sie wird erst in der Aktion zur Kunst.
Ich flog mit meiner Familie in den Urlaub und erlebte
den 145. Todestag des Thringischen Brckenbauers Johann
August Rbling in Kalifornien. Wir erfuhren in Los Angeles,
dass alles geklappt hatte. Auf Nachrichtenportalen der ganzen
Welt sah man zwei weie Fahnen in einem wolkenlosen
New Yorker Morgenhimmel flattern. Die Bilder waren von
einer atemberaubenden Schnheit. Die sozialen Netzwerke
staunten zunchst und spekulierten dann ber die Botschaft.
Es gab keine Festnahmen, keine Verdchtigen, ein paar New
Yorker Fahrradaktivisten bekannten sich zu der Aktion.
Nur wenige New Yorker dachten an den Weltfrieden oder
Terror, manche fragten sich: Hatte Manhattan vor den Hipstern
aus Brooklyn kapituliert, oder ergab sich das alternative Brooklyn mit den weien Fahnen den Geldscken vom anderen
Ufer des East River?
Es war schn zu beobachten, wie gelassen
die Stadt auf die Fahnen reagierte. Mit wie
viel Humor. Nur der Brgermeister von
Brooklyn war verstimmt. Er sagte, er verstehe keinen Spa, wenn es um eines der wichtigsten Wahrzeichen der Stadt gehe, und setzte 5000 Dollar seines Geldes als Kopfgeld aus.
Das ist nicht viel in New York. Fr 5000 Dollar pro Monat bekommt man in Manhattan
kaum noch eine Zweizimmerwohnung. Und
natrlich musste die Polizei reagieren. Die
Brooklyn Bridge knnte Ziel eines terroristischen Anschlags sein, sie wird rund um die
Uhr bewacht. Auf beiden Ufern stehen stndig Polizeiautos. Die Polizisten hatten nichts gesehen. Sie
brauchten bis zum Mittag, um die Fahnen herunterzuholen
und sie durch vorschriftsmige amerikanische zu ersetzen.
Die beiden groen New Yorker Boulevardzeitungen druckten
Fotos der weien Fahnen auf der Titelseite. Es war die Nachricht des Tages.
Der Polizeichef, der gerade vom neuen Brgermeister Bill
de Blasio aus Kalifornien nach New York geholt worden war,
versprach baldige Aufklrung. De Blasio selbst war im Sommerurlaub in Italien, wo er dabei beobachtet wurde, wie er
eine Pizza mit Messer und Gabel a. Ein anderer Skandal.
Die New Yorker Polizei ging inzwischen davon aus, dass es
sich eher um eine Kunstaktion handelte als um einen politischen Kommentar. Man fand Metallfolien, mit denen die Tter
die Scheinwerfer, die die Fahnen in der Nacht anstrahlen, abgedeckt hatten, um in Ruhe arbeiten zu knnen. Es waren Folien, wie sie in Pizzafen verwendet werden, hie es. Die Fahnen wurden als white washed beschrieben. Weigewaschen.
Auf einer New Yorker Nachrichtenseite erklrte jemand, die
Aktion erinnere an den 45. Jahrestag der amerikanischen
Mondlandung. Vor genau 45 Jahren hatte Neil Armstrong als
erster Mensch den Mond betreten und eine amerikanische Fahne gepflanzt. Die Fahne dort oben sei durch die Sonnenstrahlung inzwischen auch wei.
Wir fuhren durch die kalifornische Wste. Mein Sohn erklrte aus dem Fond unseres Mietwagens, die Aktion erinnere
Es knnte die
Amerikaner stren,
wenn jetzt
ausgerechnet die
verdammten
Deutschen weie
Fahnen hissen.
DER SPIEGEL 34 / 2014
55
ihn an Batman. Jemand gab im Schutze der Nacht eine geheimnisvolle Botschaft an die Welt. Ein Held, der unerkannt
bleiben wollte.
Aber was war die Botschaft?
Wahrscheinlich muss das jeder fr sich selbst entscheiden.
Ich fr meinen Teil begann sie am nchsten Morgen in einem
Motel in Palm Springs zu begreifen, in dem regelmig Marilyn
Monroe bernachtet hatte. Der Mann, der das Frhstck servierte, sah aus wie Montgomery Clift. In der Los Angeles Times
waren die weien Fahnen von Mischa Leinkauf und Matthias
Wermke der Aufmacher im Politikteil. Ein sechsspaltiges Foto.
Auf der Website der New York Times las ich, dass ein Polizeichef New Yorks auf die Brcke geklettert war, um sich, gewissermaen vor Ort, ein Bild zu machen. Es gab Fotos, wie der
Mann auf die Metallfolien, mit denen die Aktionsknstler die
Scheinwerfer abgedeckt hatten, schaute wie ein Schwein ins
Uhrwerk. Es hie, die Tter mssten ausgebildete Kletterer
sein, wahrscheinlich, um die Leistung des New Yorker Polizeichefs aufzuwerten, der es ja auch bis ganz nach oben geschafft
hatte. Ich las das in Palm Springs und dachte daran, wie mir
Mischa gesagt hatte, man knne auf den Brckenkabeln laufen
wie auf einem Brgersteig.
Am nchsten Tag, inzwischen waren wir in Las Vegas, verkndete die New Yorker Polizei, es handle sich um sechs junge
Leute mit Skateboards. Sie kenne deren Spitznamen und werde
diese Spur weiterverfolgen. Sie hatten jetzt zwlf Polizeieinheiten von anderen Fllen abgezogen, um Mischa Leinkauf
und Matthias Wermke zu finden, die gerade in ein Flugzeug
stiegen, das sie zurck nach Deutschland brachte.
Inzwischen war ich froh, dass ich nicht in New York war,
um der Polizei zuschauen zu mssen wie Laborratten. Es sind
ja anstndige Burschen. Aber es war doch faszinierend zu beobachten, wie sie versuchten, die Illusion der Sicherheit aufrechtzuerhalten. Sie wussten offensichtlich gar nichts, taten
aber so, als htten sie die Sache unter Kontrolle. Sie machen
das jetzt seit vielen Jahren. Sie stehen im Nebel und winken.
Die Hunderte Gertschaften, die die New Yorker Polizisten
am Grtel mit sich herumtragen, sollen signalisieren, dass sie
auf alles vorbereitet sind. Manchmal, an einem Nachmittag,
fahren aus irgendeinem Grund Dutzende Polizeiwagen mit rotierenden Blinkleuchten durch New York, es gibt keinen
Anlass, aber sie sind da. Das heit das wohl. Es hat
alles mit der Verletzlichkeit zu tun, die ich auf der
Brooklyn Bridge fhlte. Sie wollen die Angst vertreiben. Aber das geht nicht. Ein Teil der Bedrckung, die man empfindet, wenn man das gerade erffnete Museum am Ground Zero
betritt, hat mit den Sicherheitskontrollen
am Eingang zu tun. Jede Bank auf
dem Gedenkplatz dort drauen
wird von einer Kamera bewacht.
Der Sicherheitswahn hat sich
von New York aus auf Amerika
ausgebreitet und von da in die
Welt wie ein Virus. All die
Schleusen, die Detektoren und
Kameras sollen uns einreden,
wir seien sicher. Auf Inlandflgen in
Amerika stellen die Flugbegleiterinnen ihren Kaffeewagen quer vor die
Cockpittr, wenn der Pilot aufs
Klo geht, um uns einzureden:
Hier kann nichts passieren. Den
Kaffeewagen. Das fhrt eigentlich
nur dazu, dass man sich unsicher
fhlt, wenn man auf einem Flug56
DER SPIEGEL 34 / 2014
hafen irgendwo auf der Welt seinen Laptop nicht auspacken
muss, und die Detektoren nicht mal dann klingeln, wenn man
die Hosentaschen voller Mnzen hat.
Neulich sa ich in einem Flugzeug ber Brasilien, dessen
Cockpit die ganze Zeit offen stand; in der Tr hing, in einer Art
Schaukelsitz, eine junge Frau, die beim Kapitn hospitierte. Vielleicht war es auch die Freundin des Kapitns. Sie schienen sich
gut zu verstehen. Ich war erst irritiert, aber nach einer Weile
fand ich es beruhigend. Genau wie die Tatsache, dass zwei junge
Mnner unbeobachtet auf die Brooklyn Bridge klettern, Fahnen
austauschen und anschlieend spurlos verschwinden knnen.
Das war das Schne an diesem Kunstwerk, das Verschwinden.
Die Geisterhand. Wie der groe Entfesselungsartist Houdini haben sich die Berliner Knstler aus der berwachung befreit.
Vor ein paar Tagen habe ich mit Mischa Leinkauf telefoniert,
der inzwischen wieder in Berlin war. Er bereitete eine Verffentlichung vor. In New York wurden inzwischen die Bauarbeiter verdchtigt, die mit der Renovierung der Brooklyn
Bridge beschftigt waren. Die Ermittler versuchten herauszufinden, wer von ihnen sich abfllig ber Prsident Obama geuert haben knnte. Interessanter Ansatz. Ein MarihuanaAktivist aus Kalifornien bekannte sich zu der Aktion. Die Meldung klang, als sei sie unter Drogeneinfluss entstanden. Die
Polizisten, die die Brcke in der Nacht bewachen sollten, als
sich Johann Rblings Todestag zum 145. Mal jhrte, gerieten
unter Druck. Whrend die Sondereinheiten der New Yorker
Polizei selbstbewusst im Trben fischten, nahmen die Berliner
Installationsknstler Kontakt zur New York Times auf.
Ich stand vorm Flughafen in Albuquerque, New Mexico,
machte das Handy aus und ging zum Check-in fr meinen Flug
nach Los Angeles. Ich zog die Schuhe aus, legte den Laptop
und den Kulturbeutel in Plastikschalen, aber in der Hose war
noch ein U-Bahn-Ticket aus San Francisco. Es klingelte. Ich
musste aus der Reihe treten.
Es ist nur das U-Bahn-Ticket, sagte ich.
Sir, sagte der Beamte, beruhigen Sie sich.
Ich bin ruhig, sagte ich.
Sir, sagte der Beamte, ich sage es nicht noch mal.
Dann kam jemand mit diesen Sensoren, die berprfen
sollen, ob ich Bombenpulver an den Hnden trage. Es gab
keinen Zusammenhang zwischen dem U-Bahn-Ticket in
meiner Hose und einer Bombe. Es bedeutet alles nichts
mehr. Die kreisenden, geisterhaften Polizeiautos
am Times Square. Der Sicherheitswahn hat sich
verselbstndigt. Er befriedigt Bedrfnisse, die er
selbst geschaffen hat. Aber ich widersprach nicht
mehr. Ich lie es ber mich ergehen und sammelte
all die Sprays, Cremes, Computer, Nagelscheren, Grtel, Uhren, Telefone, Schuhe, die
den Weltfrieden gefhrden knnen,
aus den Plastikschalen zusammen.
Am Ende der Sicherheitsschleusen sa ein alter Mann
auf einer Bank und versuchte,
sich die Schuhe zuzubinden. Es
waren weie Turnschuhe, die
alte Amerikaner gern tragen. Hinter ihm an der Wand hing hinter
Glas eine amerikanische Fahne, in die
die Namen aller Opfer des 11.
September eingestickt waren. Wir
werden niemals vergessen, stand
ber der Fahne. Der alte Mann
erreichte seine Schnrsenkel kaum
noch.
Alexander Osang
ILLUSTRATION: THILO ROTHACKER FR DEN SPIEGEL
Gesellschaft
Wirtschaft
Russische lplattform in der Arktis
Russland-Sanktionen
Die Waffe zeigt Wirkung
Russische Unternehmen spren die Folgen der Sanktionen,
die von der Europischen Union und den USA gegen das
Land verhngt wurden. Betroffen ist beispielsweise die lindustrie, die besonders bei der Frderung in der Arktis auf
auslndische Technologie angewiesen ist. Nun liefern die
USA keine Frdertechnik mehr an Gazprom Burenie, ein Unternehmen, das Arkadij Rotenberg gehrt einst Judopartner von Staatschef Wladimir Putin und inzwischen mehrfacher Milliardr. Mittelfristig knnte die lfrderung Russ-
Handelskammern
FOTOS: ANDREI PRONIN / AP (O.); ANDREA ARTZ / DER SPIEGEL (U.)
Mehrheit fr Zwang
Die Verfassungsbeschwerde
des Bundesverbands fr freie
Kammern (bffk) gegen die
Zwangsmitgliedschaft von
Unternehmen bei Industrieund Handelskammern stt
in Wirtschaft und Politik auf
groe Ablehnung. Das zeigen Anfragen des Bundesverfassungsgerichts bei staatlichen Stellen und Wirtschaftsverbnden. Von 17 Stellungnahmen, die in Karlsruhe
eingingen, sprechen sich 14
dafr aus, die Beschwerde
abzuweisen. Darunter waren
die Voten der Bundesregierung, etlicher Landesregierungen und der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbnde. Die
Befrworter der Zwangsmitgliedschaft argumentieren,
dass sich die Selbstverwaltung der Wirtschaft in den
Kammern bewhrt habe,
etwa bei der Organisation
der Lehrlingsausbildung.
bernehme der Staat deren
Aufgaben, wrde es fr die
Wirtschaft teurer und ineffi-
zienter. Nur zwei Stellungnahmen zeigen Verstndnis
fr das Anliegen. Der DGB
mahnt an, dass in den Kammern auch die Arbeitnehmer
vertreten sein sollten. Der
Bundesverband mittelstndischer Wirtschaft will die Aufgaben der Selbstverwaltung
trennen von denen der politischen Interessenvertretung,
die die Kammern ebenfalls
fr die Wirtschaft wahrnehmen. Uneingeschrnkt befrwortet wird die Beschwerde
nur in einer Stellungnahme
der des bffk. rei
Internet
Gabriel trifft
Google-Chairman
Bundeswirtschaftsminister
Sigmar Gabriel trifft im Oktober bei einer Veranstaltung
im eigenen Haus auf GoogleVerwaltungsratschef Eric
Schmidt. Beobachter erwarten sich von der Begegnung
Antworten darauf, wie ernst
es der SPD-Chef mit seiner
Behauptung meint, den
amerikanischen Technologie-
lands um bis zu zehn Prozent zurckgehen, sagt Nikolai
Gratschow vom Innovationszentrum Skolkowo bei Moskau.
Neben den Handelsbeschrnkungen zeigen auch die Finanzsanktionen Wirkung. So gewhren die EU und die USA russischen Banken, die mehrheitlich in Staatsbesitz sind, keine
Darlehen mehr, die eine Laufzeit von mehr als 90 Tagen
haben. Die Geldinstitute sind stark abhngig vom westlichen
Kapitalmarkt. Drei russische Finanzinstitute haben den Kreml
deshalb schon um Untersttzung gebeten. Nach Informationen der EU-Kommission steht Russland zudem infolge der
Sanktionen von den rund 465 Milliarden Dollar an Devisenreserven nur noch rund die Hlfte zur Verfgung. mas, csc
BMW
rger mit Promis
Schmidt
konzern notfalls entflechten
zu wollen. Es solle eine
offene Debatte werden, heit
es im Ministerium. Von
Gabriels Seite aber werde es
kein Google-Bashing
geben. In dieser Woche stellt
die Bundesregierung ihre
digitale Agenda vor. Wirtschaftsminister Gabriel hatte
noch kurz vor deren Fertigstellung Google-kritische
Passagen darin einflieen lassen. Unter anderem werden
Manahmen gegen nichteuropische Internetfirmen
in Aussicht gestellt, die ihre
marktbeherrschende Stellung ausnutzten. gt
Das Geschftsgebaren eines
BMW-Managers sorgt fr
rger mit rund 200 prominenten Kunden. Schauspieler,
Sportler und rzte hatten
Autos ber die BMW Bank
zu offiziellen Konditionen
gekauft oder geleast. In
einem zweiten Vertrag sicherte der Manager ihnen zu,
einen Teil des Preises zurckzuzahlen. Bei Leasing-Raten
fr einen 7er-BMW von ber
1000 Euro im Monat betrug
die Rckerstattung rund 500
Euro. Der Manager zahlte
von seinem Privatkonto
warum, ist unklar. Mittlerweile soll er in psychiatrischer Behandlung sein. Die
Kunden hatten geglaubt, er
handle im Auftrag von
BMW, und fordern nun die
versprochenen Zahlungen.
Der Autohersteller will die
privaten Abmachungen des
Mitarbeiters jedoch nicht
einhalten. Um die Prominenten aber nicht zu verrgern,
verhandelt er mit ihnen ber
niedrigere Rabatte. haw
DER SPIEGEL 34 / 2014
57
Die wollen wir alle
kennenlernen.
Gunnar Froh, WunderCar
Als die Finanzkrise
kam, begannen die
Menschen nach
Alternativen zu suchen.
Der Kandidat
ist Uber, und der
Gegner ist ein
Arschloch
namens Taxi.
Nathan Blecharczyk, Airbnb
Travis Kalanick, Uber
58
DER SPIEGEL 34 / 2014
Wirtschaft
Kalifornischer Kapitalismus
Share-Economy Tauschen und Teilen statt Kaufen soll ein Gegenentwurf
zum Konsumwahn der westlichen Welt werden. Doch aus dem Traum vom
nachhaltigen Wirtschaften ist ein knallhartes Geschftsmodell geworden.
FOTOS: THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL (O.); NATAN DVIR / POLARIS / LAIF (U.L.); NICK WILSON / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS (U.R.)
unnar Froh muss wegen des Geldes verboten. Sie wollen den alten Kapitalisnicht mehr arbeiten. Dafr arbeitet mus schtzen vor einer Herausforderung
er aber ganz schn viel. Man kann der ganz neuen Art.
auch sagen, er arbeitet sich ab.
Der alte Kapitalismus heit etwas verErst an der mchtigen Hotelbranche, die staubt Dienstleistungssektor, der neue
ihm einst das Leben schwer machte oder Share-Economy. Der Grundgedanke daer ihr je nach Sichtweise. Nun liegt Froh bei ist, dass sich Privatleute Gter teilen,
im Clinch mit den deutschen Taxiunter- um einerseits nachhaltiger zu wirtschaften,
nehmern. In beiden Fllen geht es um die andererseits damit auch noch Geld zu verFrage, ob er darf, was er tut. Und wer am dienen. Es profitieren, so das Versprechen
Ende davon profitiert: die ganze Gesell- des neuen Kapitalismus, gleich mehrere:
schaft oder vor allem er persnlich.
derjenige, der seinen Besitz teilt; das UnFroh war einige Jahre lang Deutschland- ternehmen, das vermittelt und im besten
Chef der Internetvermittlungsplattform Fall die Umwelt, deren Ressourcen geAirbnb, ber die man sich auf Reisen in schont werden.
Privatunterknften statt in Hotels einmieWarum sollte man sich ein Auto anschaften kann. Den Hoteliers passt die neue fen, wenn man per App binnen Minuten
Konkurrenz nicht, whrend seiner Zeit bei eine preisgnstige Mitfahrgelegenheit orAirbnb hatte Froh dauernd mit Anwlten dern kann? Warum sollten immer neue
des Fachverbands Dehoga zu tun. Das Un- Hotelkltze in die Stdte gepflanzt werternehmen wurde dennoch erfolgreich, den, wenn es viel ungenutzten Wohnraum
Froh besa Airbnb-Anteile, von denen er in beliebten Ballungszentren gibt? Warum
vor einem Jahr ein paar verkaufte.
sich dauernd neue Gegenstnde anschafMit dem Geld und mithilfe fremder In- fen, wenn man sie sich auch leihen kann?
vestoren grndete der 31-Jhrige im verDie Aktivierung von so viel totem Kagangenen Herbst in Hamburg WunderCar, pital, glaubt der US-Wissenschaftler Daeine Art Mitfahrgelegenheit in Privatautos niel Rothschild, erlaube eine enorme Deinnerhalb der Stadt. ber eine App kn- mokratisierung des kommerziellen Lebens.
nen Fahrgste und von WunderCar lizen- Im 19. und 20. Jahrhundert war es Kern
zierte Autofahrer zueinanderfinden. Vom der Wirtschaft, gro zu sein und grer
Fahrpreis, den Passagier und Fahrer unter zu werden: groe Fabriken, groe Untersich ausmachen, bekommt Froh 20 Prozent nehmen, multinationale Ausrichtung. Heute sehen wir das Gegenteil, so Rothschild.
als Provision. Ganz automatisch.
Das Bro von WunderCar liegt in einem Zurck zur Tauschwirtschaft? Das Ende
Loft in der HafenCity. Wie es sich fr ein des Konsums?
Das nicht, sagt Harald Heinrichs, ProStart-up gehrt, ist die Atmosphre lssig.
Brohund Michel tobt um die Arbeitsplt- fessor fr Nachhaltigkeit und Politik an
ze, im Besprechungszimmer Western ste- der Leuphana Universitt Lneburg, aber
hen schwere Ledersessel, auf einem Bock der Konsum wandelt sich. Noch sei dieser
ist ein Pferdesattel drapiert, an den Wn- Wandel ein Nischenthema, von der Masse
den hngen historische Suchplakate von nicht wirklich wahrgenommen, aber er sei
Billy the Kid. Reward: Dead or alive.
nicht mehr aufzuhalten. Heinrichs verIm Raum gegenber hngen auch Pla- gleicht die Entwicklung mit der Energiekate, jedoch nicht mit Billy the Kid darauf, wende. Vor 30 Jahren hat auch niemand
zu sehen sind die Mitglieder des Verkehrs- die Diskussionen um den Atomausstieg
ausschusses der Hamburger Brgerschaft. ernst genommen. Heute ist das Common
Die wollen wir alle kennenlernen, sagt Sense. Es soll wohl eine Warnung an die
Froh. Immerhin: Er will sie lebendig.
etablierte Wirtschaft sein, den Trend nicht
Der Jungunternehmer ist auf das Wohl- als bergangsphnomen abzutun, sie
wollen der Politiker angewiesen: Von ih- knnte sonst spter feststellen, dass ihr
nen hngt ab, ob sein Geschftsmodell auf- pltzlich die Geschftsgrundlage abhangeht oder nicht.
dengekommen ist.
Denn die Taxifahrer und ihre LobbyWeltweit wurden in den vergangenen
verbnde haben die Politik aufgefordert Jahren Hunderte Unternehmen gegrndet,
zu handeln am liebsten wre es ihnen, die auf dem Gedanken des Teilens basieren.
dieser ganze neumodische Kram wrde Am Anfang standen nicht immer legale
Musiktauschdienste wie Napster oder Kazaa. Dann kamen altruistische Angebote
wie Couchsurfing oder Kleiderkreisel dazu.
Inzwischen beherrschen viele kommerzielle Anbieter den Markt Airbnb und Uber,
das amerikanische Vorbild fr WunderCar,
sind nur die prominentesten.
Yahoo-Chefin Marissa Mayer nannte die
Share-Economy beim diesjhrigen World
Economic Forum in Davos einen der grten Trends des Jahres. Internetvordenker
Jeremy Rifkin prophezeit sogar ein Ende
des vorherrschenden Kapitalismus. Aus
der industriell geprgten Gesellschaft erwachse eine globale, gemeinschaftlich orientierte. In ihr sei Teilen mehr wert als Besitzen, ihre Brger seien ber nationale
Grenzen hinweg politisch aktiv, und das
Streben nach Lebensqualitt stehe ber
dem nach Reichtum.
Wer den Jngern des kollektivierten
Konsums lauscht, den beschleicht das Gefhl, die postmoderne Gesellschaft sei auf
dem Weg zur Abkehr vom Mammon und
zum Ende des Privateigentums. Davon ist
die neue Bewegung allerdings weit entfernt, tatschlich ist sie eine zutiefst kapitalistische Angelegenheit: ohne Haben
kein Teilen. Wer nichts besitzt, ist von der
Share-Economy ausgeschlossen. Denn wer
nicht anbieten kann, was andere wollen,
der kann nicht tauschen. Auch der Kokonsument bleibt in erster Linie Konsument.
Zugleich ist das, was unter dem kuscheligen Begriff Teilen die Welt erobert, in
Wahrheit ein knallhartes Geschftsmodell
mit aggressiven Marktteilnehmern und
enormen Profitmargen. Gesetzliche Regeln, die den zum Teil rabiaten Wettbewerb mit etablierten Unternehmen steuern, gibt es bislang kaum oder sie werden
schlicht missachtet.
Die klassischen Branchen rebellieren
oder kooperieren. So fhrt Volkswagen
derzeit Gesprche mit WunderCar-Grnder Froh ber eine mgliche Beteiligung
an dem Start-up. Der Autokonzern will
schlicht den Kontakt zum Nutzer seiner
Produkte nicht verlieren.
Niemand sollte die Kraft der Bewegung
unterschtzen. Die neuen Technologien und
Plattformen ermglichen Geschftsmodelle,
die alte Wertschpfungsketten zerstren
knnen. 2001 wurde die Internetenzyklopdie Wikipedia einer der Vorreiter der Share-Economy gegrndet. Heute
DER SPIEGEL 34 / 2014
59
Hanno Baethe, Zaki Omar, private Vermieter
sind Lexika mit einer jahrhundertealten
Tradition wie der Brockhaus Geschichte.
Die Angreifer
Das Aushngeschild der Teil-konomie ist
Airbnb. Das Unternehmen aus San Francisco sieht sich als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung. Als die Finanzkrise kam,
begannen die Menschen nach Alternativen
zu suchen, sagt Nathan Blecharczyk, Mitgrnder und Technologiechef von Airbnb.
Wir waren so eine Alternative.
Inzwischen ist die Plattform, die privaten Wohnraum vermittelt, jedoch ein Tourismusriese mit ber 800 000 Unterkunftsangeboten in 190 Lndern. Zum Vergleich:
Die Hilton-Gruppe, zweitgrter Hotelkonzern der Welt, verfgt weltweit ber
680 000 Zimmer in 4100 Hotels.
Und Blecharczyk ist mit 30 Jahren zumindest auf dem Papier Milliardr.
Vom Start-up zum globalen Phnomen:
So schnell sind bislang nur Facebook und
Twitter aufgestiegen. Airbnb selbst zhlt
sich inzwischen zur Elite der Internetgiganten. Im ersten Jahr nach Grndung
2009 vermittelte Airbnb 21 000 bernachtungen, 2011 war es fast eine Million. Inzwischen zhlt das Unternehmen eine Million bernachtungen pro Monat. Jedes
Mal kassiert Airbnb dabei ordentlich Kommissionen vom Mietpreis: drei Prozent
vom Vermieter, sechs bis zwlf Prozent
vom Reisenden.
Ist ein verndertes Konsumverhalten am
Ende tatschlich eine der bleibenden Hinterlassenschaften der Finanzkrise? Ein ech60
DER SPIEGEL 34 / 2014
ter Kulturwandel, ausgelst durch die
schwere globale Rezession? Oder ist das
alles Augenwischerei, Airbnb lngst nur
ein erfolgreiches Tourismusgeschftsmodell unter vielen?
Der schlaksige Airbnb-Grnder ist ein
umgnglicher Typ, freundlich und unaufgeregt. Er trgt ein kariertes Hemd, Jeans
und Turnschuhe, gerade ist er aus Schweden zurckgekommen von anonymen
Testbernachtungen. Er antwortet mit einer Statistik: 40 bis 50 Prozent der AirbnbVermieter htten keinen Vollzeitjob, sondern seien Selbststndige, Arbeitslose,
Knstler, Studenten. Fr die seien Untervermietungen hier und da ein willkommener Nebenverdienst. Und nicht einmal den
Hotels nehme man etwas weg. Denn die
Teil-konomie habe dafr gesorgt, dass
sich mehr Menschen das Reisen leisten
knnten, dass der Kuchen also grer werde. Airbnb-Touristen htten allein 2012
100 Millionen Dollar nach Berlin gebracht.
Man merkt dem Airbnb-Grnder an,
wie gebt er in solcher berzeugungsrhetorik ist. Tatsache ist, dass die grundlegende Vernderung von Konsumgewohnheiten nicht nur zufllige Begleiterscheinung, sondern Ziel aller digitalen
Technologien ist. Wie viele andere erfolgreiche Internetunternehmen setzt Airbnb
letztlich darauf, etablierte Geschftsmodelle zu sprengen und durch eigene, effizientere Angebote zu ersetzen.
Das junge Unternehmen hat sich viele
Feinde gemacht, mitunter zu Recht. Vor
allem in touristisch attraktiven Stdten
Die Teiler
Im Kosmos des Airbnb-Imperiums ist Familie Baethe aus dem Berliner Stadtteil
Prenzlauer Berg nur ein kleines Teilchen,
aber sie ist typisch fr das, was den Erfolg
des Unternehmens ausmacht. In ihrem Kiez
steigen die Wohnungsmieten seit Jahren,
der Bezirk im Osten der Stadt ist so teuer
wie nie zuvor. Vor zwlf Jahren, als die
Wohnungen hier noch deutlich gnstiger
waren, kauften Zaki Omar und Hanno
Baethe ein Apartment auf der Kollwitzstrae. Heute leben die beiden Mediengestalter
mit ihrer achtjhrigen Tochter Suraya in
der grozgigen Wohnung, laufen barfu
ber das dunkle Parkett und trinken Kaffee
aus groen Tassen. Seit eineinhalb Jahren
vermieten sie ein Zimmer ihres Apartments
ber das Onlineportal Airbnb. Drei- oder
viermal im Monat kommen Gste aus Peking, New York oder Adelaide fr ein paar
Tage, um sich die Stadt anzuschauen. Knapp
50 Euro verlangen die beiden fr eine
Nacht, so bleiben uns Partygste erspart,
die nur zum Feiern herkommen, erklrt
Baethe. Ihnen gefllt, dass ihre Tochter Umgang mit Reisegsten aus der ganzen Welt
bekommt, da lernt sie viel, sagt Omar.
Doch auch das Geld ist ein Anreiz, der
die eigene Wohnung zur Schlafsttte fr
Fremde werden lsst: Die beiden arbeiten
an einem Videoprojekt, mit dem sie ber
die Herkunft von Kleidung informieren
wollen. Das funktioniert bis jetzt aber
FOTOS: THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Wir haben regelmig Gste,
deshalb knnen wir uns
auf die Einnahmen verlassen.
kann der Erfolg des bernachtungsmarktplatzes zum Problem werden.
Immer mehr Eigentmer finden Gefallen daran, ihre Wohnungen nur noch als
private Hotelrume anzubieten, statt sie
dauerhaft zu vermieten, weil es so lukrativ
ist. Doch gerade in beliebten Stdten verschlimmert das die angespannte Lage auf
dem Wohnungsmarkt. In Berlin, New York
oder San Francisco herrscht in manchen
Mietshusern ein Durchgangsverkehr wie
im Hotel zum Verdruss der Nachbarn.
Es werden viele berechtigte Fragen
gestellt, sagt Blecharczyk. Wir mssen
sicherlich Leitlinien und kluge Regeln entwickeln, gemeinsam Lsungen suchen.
Er ist sich jedoch sicher, dass der Aufstieg
von Airbnb und vergleichbaren Geschftsmodellen nicht mehr aufzuhalten ist: Millionen Kunden haben gesprochen. Die
Menschen wollen das.
Airbnb stehe sogar erst ganz am Anfang. Die Wachstumskurve sei so steil wie
nie zuvor, und man wolle weitere Bereiche
fr sich erschlieen, betont Blecharczyk.
Essen, Transport und all die anderen Services rund ums Reisen werden knftig fr
uns eine Rolle spielen, kndigt er an.
Nicht nur bernachtungen, sondern der
gesamte Tourismus sei der Markt fr das
Unternehmen. Es gehe nicht um Milliarden, sondern um Billionen Dollar.
Wirtschaft
noch nicht wirtschaftlich, erklrt der 67jhrige Baethe. Ein regelmiges Einkommen werfe das Projekt nicht ab. Daher
brauche man das Geld aus der Vermietung.
Wir haben regelmig Gste, deshalb
knnen wir uns auf die Einnahmen durch
Airbnb verlassen, sagt Omar.
Doch es gibt in der hart umkmpften
Tourismusbranche durch die massenhafte
Vermietung von Privatwohnungen ber
Airbnb auch Verlierer: Hoteliers und Hostel-Betreiber klagen ber Umsatzrckgnge und unfairen Wettbewerb.
Olaf Juhl ist Geschftsfhrer der Baxpax-Hostels, an drei Standorten in der
Hauptstadt bietet er 500 Betten fr Touristen an. Der Staat macht uns so viele
Vorschriften, von Brandschutz bis Hygiene, erklrt Juhl. Diese Auflagen zu erfllen sei teuer. Da sie aber nicht fr private
Vermieter gelten, mssen sie nicht zahlen. Zwar steigt die Zahl der Touristen in
Berlin seit Jahren, allein in den BaxpaxHostels bernachteten 2013 knapp 35 000
Urlauber. Doch werde dieser positive
Effekt durch den Erfolg der Privatvermietung deutlich gemindert: Unserem Unternehmen geht dadurch jhrlich eine
Summe von 150 000 Euro verloren.
Neue Gastlichkeit
Vergleich von Airbnb mit dem
internationalen Hotelkonzern Hilton
Schein und Sein
Mglich geworden ist der Angriff dieser
neuen Wirtschaftswelt nur, weil sie aus der
alten Welt mit Geld geradezu berschttet
wird. Die Protagonisten der Teil-konomie
werden mittlerweile astronomisch hoch bewertet, Airbnb mit 10, Uber sogar mit 17
Milliarden Dollar. Das franzsische Carsharing-Unternehmen blablacar.com sammelte Ende des vergangenen Monats bei
einer neuen Finanzierungsrunde sagenhafte 100 Millionen Dollar bei Investoren ein.
Die neuen Geschftsmodelle aus dem
Valley locken nicht nur mit groen Gewinnversprechen, sondern auch mit einem
eigenen philosophischen berbau: Es soll
nicht nur ums Geldverdienen, sondern
auch ums Weltverbessern gehen.
Seit ihren Anfangstagen hat die kalifornische Technologiebewegung stets auch
die Nhe zu linken idealistischen Strmungen gesucht. Mit der Zeit hat sich fr diese
Vermischung von ursprnglich linksliberalen Werten und knallharten kapitalistischen Beweggrnden der Begriff von der
kalifornischen Ideologie eingebrgert.
So ist es nur folgerichtig, dass auch die
Share-Economy ihre eigene ideologische
Propagandatruppe hat. Sie wurde vergan-
Hostel-Geschftsfhrer Juhl
Der Staat macht uns so viele Vorschriften
genes Jahr gegrndet und heit peers.org.
Schon das .org im Namen der Webadresse
soll symbolisieren, dass es sich nicht um
ein kommerzielles Unternehmen handle,
sondern um eine Graswurzelorganisation. Nur: Finanziert und getragen wird
Peers von mehreren Dutzend Unternehmen, die ihr Geld mit Formen des Teilens
verdienen. Die Graswurzelbewegung ist
letztlich eine Industrielobby.
Wolfgang Ullrich ist Professor fr Kunstwissenschaft und Medienphilosophie in
Die Ausbreitung von Airbnb-Unterknften
im Stadtgebiet Hamburg
kein Angebot
2011
2012
56
Objekte
dichtes Angebot
895
Zimmer/Unterknfte
> 800 000
680000
Mitarbeiter weltweit
152000
700
2013
2014
1615
2160
Unternehmenswert
23,9 Mrd. $
10 Mrd. $
Analystenschtzungen
Marktkapitalisierung
Quelle: Airbnb
DER SPIEGEL 34 / 2014
61
Wirtschaft
Karlsruhe. Der Wissenschaftler beschftigt
sich auch mit der Konsumkultur und hat
Konzerne wie Volkswagen, Red Bull oder
Swarovski beraten. Hinter dem Begriff
Share-Economy verbergen sich mehrere
Trends, sagt der Kulturforscher. Die Hinwendung zu einem nachhaltigeren Lebensstil sei dabei nur einer und im Zweifel
ist er nicht der magebliche. Vor allem
bietet die Share-Economy die Mglichkeit,
Konsumieren vom Besitzen zu entkoppeln, sagt Ullrich, und damit den Konsum beschleunigt voranzutreiben.
Teilen statt Haben ist die Befreiung des
Genusses von der Last des Eigentums. Wer
nicht mehr lange auf die Prada-Tasche fr
2000 Euro sparen muss, sondern sich diese
gegen ein paar Euro fr die eine Nacht der
Gala leiht, hat mehr Geld frei fr den Konsum. Niemand bentigt mehr einen berquellenden und daher teuer gefllten Kleiderschrank, um fr jeden Anlass richtig
gekleidet zu sein. Wer Stilsicherheit, Flexibilitt und Souvernitt, die Imagefaktoren des modernen Menschen, beweisen
will, braucht nur noch eine App Identittswechsel auf Fingerdruck. In unserer
pluralen Welt knnen wir nicht mehr mit
einem Outfit durchkommen, und 500 kann
sich kaum einer leisten, sagt Ullrich.
Alt gegen Neu
Wie schnell ein Unternehmen der ShareEconomy zum Liebling der Investoren aufsteigen und zum Schrecken anderer werden kann, zeigt Uber. 2009 ursprnglich
als Luxuslimousinen-Service gegrndet,
verzeichnete das Start-up 2013 einen Umsatz von 213 Millionen Dollar. Gerade
pumpten Kapitalgeber wie Google und
Goldman Sachs 1,2 Milliarden Dollar in
die Firma, die inzwischen weit mehr wert
ist als etwa die Autoverleihgiganten Hertz
oder Avis, die Millionen Kunden und riesige Flotten kommandieren.
Die Investoren begeistert, dass Uber in
kurzer Zeit zu einem globalen Phnomen
geworden ist. Noch 2010 war der Dienst in
gerade einmal drei Stdten prsent. Inzwischen sind es ber 160 Stdte in 43 Ln62
DER SPIEGEL 34 / 2014
lichen Mittel gegen die Plattform nutzen,
einem mglichen juristischen Erfolg blickt
Mller trotzdem ohnmchtig entgegen:
Wie man eine App in letzter Konsequenz
stilllegen kann, wei ich auch nicht.
So lange versucht es die Branche erst
mal mit rustikalem Widerstand. Der Hamburger Taxifahrer Clemens Grn stellte
krzlich gemeinsam mit Kollegen einen
Lkw vor die WunderCar-Zentrale, von
dessen Laderampe aus er die Newcomer
einen Tag lang mit Protesten bers Megafon traktierte.
Die Taxiunternehmer halten Firmen wie
WunderCar oder Uber fr rechtswidrig,
weil die Unternehmen die zahlreichen
Auflagen der Branche schlicht ignorierten.
Kaum ein anderes Gewerbe ist so streng
reguliert wie das der Taxibetriebe. Fahrzeuge mssen in vielen Bundeslndern per
Verordnung in einer normierten Farbe lackiert sein, im Fachjargon Hellelfenbein
genannt; seitlich mssen Taxen mindestens
zwei Tren haben aber nur rechts.
Die etablierten Taxiunternehmer werfen
den Hobbytaxifahrern vor, dass sie keinen
Taxischein besitzen und ihre Autos nicht
ausreichend versichert sind. Wir haben
keine Angst vor Konkurrenz, aber es mssen die gleichen Regeln gelten, sagt Verbandsprsident Mller, alles andere ist
Wettbewerbsverzerrung.
Uber beruft sich darauf, Auftrge nur
zu vermitteln. Fr die Einhaltung der Gesetze seien die Fahrer verantwortlich, nicht
die Plattform. Ein Argument, das auch
andere Sharing-Anbieter anfhren.
Regeln. Welche Regeln?
Wer seine Wohnung regelmig bei
Airbnb anbietet, ist kein Vermieter, sondern eher ein Hotelier. Deshalb braucht
er genauso einen Gewerbeschein wie jemand, der mit Uber andere Menschen
durch die Stadt kutschiert.
Aber reicht das aus? Der Versuch, die
Anbieter der Zukunft mit den Mitteln der
Vergangenheit zu regulieren, stt in keinem anderen Bereich so sehr an Grenzen
wie im Steuerrecht. Die Frage, was bei all
den Geschften der Share-Economy fr
den Staat brig bleibt, wird immer hufiger
mit nichts beantwortet. Das Steuerrecht
ist fr eine Zeit gemacht, in der Produkte
ber die Ladentheke gingen und eine
Dienstleistung tatschlich von Menschen
erbracht wurde. Mit einem rein digitalen
Geschftsmodell ohne echte Menschen und
ohne echte Dinge ist es berfordert.
So muss ein Deutscher, der seine Wohnung ber Airbnb anbietet, zwar Provision
an das US-Unternehmen zahlen, die er
hier steuerlich geltend machen kann. Die
Firma versteuert ihren Gewinn aber in den
USA obwohl die Leistung hier erbracht
wurde. Und ob der Vermieter seine Einnahmen tatschlich beim Finanzamt de-
FOTO: THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Taxifahrer Grn
Protest per Megafon
dern, darunter auch Hamburg, Berlin und
Frankfurt am Main. Jeden Monat kommt
derzeit rund ein halbes Dutzend weiterer
Stdte hinzu. Uber sei kein normales Technologieunternehmen, betont Travis Kalanick, Grnder und Chef von Uber. Wir
verndern, wie Stdte funktionieren.
Kalanick ist eine umstrittene Figur im
Silicon Valley. Er gilt als aggressiv, eitel
und streitbar. Viele Menschen, die ihn gut
kennen, beschreiben ihn als intellektuell
brillant, aber kaum einer verliert ein gutes
Wort ber seinen Charakter.
Kalanick hat in letzter Zeit wiederholt
klargemacht, dass er die Zukunft des Unternehmens weniger als wirtschaftliche
Herausforderung, sondern als politischen
Kampf betrachtet. Wir sind in einer politischen Kampagne, der Kandidat ist Uber,
und der Gegner ist ein Arschloch namens
Taxi. So sagte es Kalanick vor wenigen
Wochen ffentlich auf einer Konferenz.
Aus der Sicht Ubers blockieren die alteingessene Taxiindustrie und ihre politischen
Untersttzer nur den Weg fr eine bessere
Transportstruktur in Grostdten. Das
System stinkt, sagt Kalanick. Es fhlt
sich an wie in der Dritten Welt.
Das Unternehmen richtet sich offensichtlich darauf ein, in den kommenden Jahren
weltweit einen langen Kampf mit Gesetzgebern und Regulatoren zu fhren. Es rstet entsprechend auf. Vor Kurzem hat Uber
den stellvertretenden Chef der New Yorker
Taxibehrde abgeworben und zum Cheflobbyisten gemacht. Die ffentlichkeitsarbeit bernahm vor Monaten ein ehemaliger Wahlkampfstratege Hillary Clintons.
In Deutschland gehen die Behrden in
Hamburg und Berlin gegen den Dienst
juristisch vor, das Unternehmen wehrt
sich. Die Lobbyisten der Branchen, deren
Geschftsmodelle Uber und Co. attackieren, reagieren hilflos bis eingeschchtert
auf die neue Konkurrenz aus dem Netz.
Der Berliner Taxiunternehmer Richard
Leipold hat im April eine einstweilige Verfgung gegen Uber erwirkt, die es der Plattform untersagt, Fahrten an Mietwagenunternehmer oder -fahrer zu vermitteln.
Das Urteil bleibt jedoch voraussichtlich
ohne Konsequenzen, weil Leipold auf Anraten seiner Anwltin darauf verzichtet, es
vollstrecken zu lassen, aus Angst vor Rckforderungen Ubers, falls eine hhere Instanz
das Urteil zuknftig aufheben sollte. Ich
habe keine Lust, meine Altersvorsorge zu
riskieren, sagt er. Leipolds Bedenken sind
nicht unbegrndet: In ihrer Klageerwiderung droht eine Uber-Anwltin unverhohlen
mit ruinsen Schadensersatzforderungen,
sollte Leipold seine Ansprche verfolgen.
Auch dem Deutschen Taxi- und Mietwagenverband ist die Angst vor Uber anzumerken. Wir legen uns mit einem mchtigen Gegner an, sagt Prsident Michael
Mller. Der Verband will zwar alle recht-
de Briefe und Mails gehen monatlich bei
Khne ein, gespickt mit Hinweisen ber
Wohnungen, die an Touristen vermietet
werden.
Die andere Seite der Moral
FOTO: EVELYN HOCKSTEIN / POLARIS / LAIF
Was als idealistischer Gedanke startete,
endet mitunter in einer besonders
gut getarnten Form der Ausbeutung.
klariert, ist zumindest fraglich. Viele Brger verdienen sich einfach etwas dazu.
Und die Entwicklung steht erst am Anfang. Sofern Firmen ihren Sitz in ein Steuerparadies wie Antigua verlegen wrden,
bliebe fr keine Steuerbehrde der Welt
etwas brig. In der Share-Economy knnte
so ein Milliardenmarkt entstehen, der fr
alle Beteiligten nach dem Prinzip brutto
fr netto funktioniert. Den Staaten brchen dann allerdings Steuereinnahmen
weg, zum Schaden der Brger.
Wenn wir es nicht schaffen, die Firmen
und die Nutzer ordentlich zu besteuern,
brauchen wir uns angesichts der dynamischen Entwicklung ber viele andere
Themen bald keine Gedanken mehr zu machen, heit es im Finanzministerium. Allerdings gestehen die Experten von Behrdenchef Wolfgang Schuble ein: Wir haben
das Problem zwar auf dem Schirm, sind aber
erst dabei, uns Lsungen zu berlegen.
Weil Suchmaschinen wie Xpider, die fr
die Finanzmter etwa bei Ebay nach Webschwarzhndlern fahnden, an viele bei den
Anbietern gespeicherten Daten nicht
herankommen, versuchen es die Steuerbehrden nun erst einmal auf traditionellem Weg. Derzeit berlegen Bund und
Lnder, welche Firmen der Share-Economy sie sich genauer angucken wollen.
Dann knnten einige Unternehmen Post
aus Deutschland bekommen. Airbnb etwa
msste alle Personen nennen, die schon
einmal eine Wohnung ber den Anbieter
vermietet haben. Natrlich klingt es nicht
zeitgem, so etwas national zu regeln,
heit es im Finanzministerium, aber es
gibt nun mal kein Weltsteuerrecht.
Das Problem ist allerdings, dass selbst
ein nationales Gesetz nur dann wirksam
ist, wenn der Staat es auch durchsetzen
kann. Was banal klingt, stellt Torsten Khne vor groe Probleme. Der CDU-Politiker
ist Bezirksstadtrat von Berlin-Pankow
und damit auch fr den bei Touristen beliebten Stadtteil Prenzlauer Berg zustndig,
in dem wahrscheinlich ber tausend Ferienwohnungen existieren, unter anderem
die von Zaki Omar und Hanno Baethe.
Weil das Geschft im Prenzlauer Berg
dank Onlinevermittlern stark gewachsen
ist, hat der Berliner Senat im Frhjahr die
Umwidmung von Wohnraum in Ferienwohnungen ohne Genehmigung verboten.
Auch alle bereits bestehenden Apartments
fr Touristen mssen gemeldet werden.
So weit die Theorie. Gerade einmal 900
entsprechende Antrge sind bei Khnes
Behrde bislang eingegangen allein bei
Airbnb werden jedoch weit mehr Wohnungen angeboten. Natrlich knnten Khnes
Mitarbeiter alle Anbieter berprfen, ob
sie ihre Ferienwohnung gemeldet haben
und einen Gewerbeschein besitzen.
Allerdings hat Khne fr diese Aufgabe
bestenfalls vier Stellen und die sind derzeit noch nicht einmal besetzt. Wir haben
berhaupt keine Chance, die Einhaltung
der Gesetze flchendeckend zu berprfen, sagt er. Bis wir mit der Kontrolle
anfangen, gibt es zig neue Anbieter. Und
so sind Nachbarn bislang die wirksamste
Hilfe, um Verste aufzudecken. Dutzen-
Die Share-Economy verstrkt die
schlimmsten Exzesse des vorherrschenden
konomischen Modells: Sie ist Neoliberalismus auf Steroiden. Evgeny Morozov
gehrt zu den kritischen Denkern des Internetzeitalters, und dies war seine Antwort auf eine Frage, die er in seinem Aufsatz Die Share-Economy untergrbt die
Rechte der Arbeitnehmer in der Financial Times stellte: Warum sollte man die
Share-Economy frchten?
Die Moguln des Silicon Valley wrden
eine Wohlfhlutopie verkaufen, die den
Regeln des Marktes folge, aber mit dem
altruistischen Anspruch von Open-Software-Projekten. Doch tatschlich wrden
viele Geschftsmodelle der Share-Economy das Modell der Vollzeitbeschftigung
weiter zerstren, Arbeitnehmerrechte untergraben, und sie seien ein Anschlag
auf die Gewerkschaften. Sie verwandeln
Arbeitnehmer in permanent erreichbare,
selbstangestellte Unternehmer, die wie
Marken denken mssen, sagt Morozov.
Vor moderner Sklaverei warnt auch
Reiner Hoffmann. Dieses Modell darf keine Zukunft haben, sagt der Vorsitzende
des Deutschen Gewerkschaftsbundes (siehe Interview Seite 65).
Die Share-Economy funktioniert oft nur
deswegen, weil Leute, die nicht genug verdienen, ihre Gter teilen. Die Unternehmen, die den Marktplatz bereitstellen, profitieren vom Schwarmbesitz, der Schwarmintelligenz, der Schwarmfreizeit sie kassieren, ohne selbst gro zu investieren. Die
Unternehmen haben keine Verantwortung
fr ihre Crowd, und sie wollen auch gar
keine. Was als idealistischer Gedanke startete, endet mitunter in einer besonders gut
getarnten Form der Ausbeutung.
Normalerweise fhrt Karman Ebil* den
Reisebus eines Berliner Unternehmens
durch Deutschland. Vor ein paar Wochen
erzhlte ihm ein Freund von Uber. Er knne mit seinem eigenen Auto gegen Bezahlung Gste fahren, wann es ihm passe.
Seit einigen Wochen ist Ebil nun bei
Uber registriert, an seinen freien Tagen
kurvt er regelmig mit seinem VW Golf
durch Berlin und wartet darauf, dass sein
Smartphone den nchsten Gast anzeigt,
den er abholen kann. Fr den Job als Busfahrer werde ich nicht gut bezahlt, natrlich kann ich das Geld von Uber gut gebrauchen, erklrt Ebil. Laut Vereinbarung
mit Uber erhlt er 80 Prozent der Fahrtkosten. Ein Fnftel der Ertrge gehen demnach direkt an den Uber-Konzern. Nur
* Name von der Redaktion gendert.
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63
Wirtschaft
wenige Unternehmen fahren eine hnliche
Traumrendite ein.
Die Probleme der Politik
Call a Bike
t
t
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i l
WunderCar
Mitfahrgelegenheiten
E s
s e
Soziales Netzwerk zum
gemeinsamen Essen
oder Teilen von Essen
Taxi-App fr private
t e r k n f t e
U n
64
DER SPIEGEL 34 / 2014
M o d e
Vermittlung berzhliger
Fahrten
Fahrradvermietung
Die Traditionsbranchen stemmen sich
Lebensmittel
in Grostdten
gegen die neue Konkurrenz und begehen dabei Fehler. So wie die Taxifahrer, die Mitte Juni in ganz Europa
Vermietung von Gemsegrten in Stadtnhe
protestierten und fr ihre hrtesten
Privates Carsharing
Konkurrenten Werbung machten.
Buchung und Vermietung
Hunderttausende hrten so erstSecond-Handvon Privatunterknften
Kleiderverkauf
mals von Uber.
Teilen
Zwar gelang es den Taxifahrern,
statt Haben
An- und Verkauf
Politiker fr ihr Anliegen zu sensiVermittlung privater
hochwertiger
Unternehmen
bilisieren. Ob diese die gewnschbernachtungsDamen- und
der
Share
ten Schlsse ziehen, ist aber fragmglichkeiten
Kinderkleidung
Economy
lich. Natrlich mssen wir uns Gedanken darber machen, wie wir
faire Spielregeln fr alle Anbieter
Kleidung tauschen,
Brse zum Austausch
leihen, verschenken
definieren, sagt der netzpolitische
von Schlafpltzen
Sprecher der SPD-BundestagsfrakSoziales Finanznetzwerk zum
tion Lars Klingbeil. Aber Gesetze,
Tauschbrse fr Bcher,
Leihen, Teilen, Vorstrecken
Filme und Spiele
die digitale Geschftsmodelle zerstund Sammeln von Geld
ren, darf es nicht geben. CDU-Kollege
Thomas Jarzombek sieht das genauso:
Wir sollten auf keinen Fall alles wegreguOnline-Flohmarkt
lieren, um die traditionellen Branchen zu
Onlineportal fr den
schtzen. Die meisten jungen Firmen bieVergleich von Ratenten viel mehr Chancen als Risiken.
Netzwerk zum Auskrediten
n
und Verleihen von
Christopher Kampshoff will die ChanG
e
Gegenstnden
e l
und Gesellcen nutzen. Der 37-jhrige Bankkaufmann Modelle
a r schaft nicht die
hat jahrelang in der Finanzbranche ge- wie seines
d
W Verlierer sind. Desarbeitet, etwa bei JP Morgan in London. anwendbar seien.
halb msse die ordnungsVor anderthalb Jahren grndete er eine Viele Regeln dienen
geme Versteuerung der EinFirma in der Share-Economy. Der Starn- doch auch dazu, den Markt zu
berger entwickelte die App Lendstar, ber beschrnken. Wir wollen mehr Spielraum. nahmen sichergestellt werden. Und wir
die Privatleute Kleinkredite vergeben knNoch luft die Politik der Entwicklung mssen dringend die Haftungs- bezienen. Lendstar selbst bezeichnet sich als in der digitalen konomie meist hinterher, hungsweise Versicherungsfragen klren,
Euer soziales Finanznetzwerk, teure Dis- ein entsprechender Ausschuss im Bundes- sagt sie. Es msse klar sein, wer zahle,
pokredite sollen ber die App umgangen tag wurde erst im Frhjahr gegrndet. Da wenn es zu Unfllen komme.
werden.
war das Internet lngst volljhrig.
In Hamburg hat der Staat bereits gesproNach der Anmeldung muss man eine
Bisher haben sich nur wenige Gedanken chen. Anfang Juni untersagte die Behrde
Gruppe erstellen und kann sich dann mit darber gemacht, welche Folgen die schum- fr Wirtschaft, Verkehr und Innovationen
Freunden verbinden. In der Gruppe kann petersche Kraft des Netzes fr den Gesetz- WunderCar-Grnder Froh, geschftsman beispielsweise Geld leihen und ver- geber hat; auch in der Regierung. Wir haben mige Befrderung zu vermitteln, da
leihen. Wer kurzfristig 500 Euro braucht, bei dem Thema noch nicht einmal an der seine Fahrer keinen Personenbefrderungskann sich von 50 Freunden je zehn Euro Oberflche gekratzt, sagt ein Regierungs- schein besitzen. Bei Zuwiderhandlung
leihen oder von zehn jeweils 50 je nach- mitglied. Und Nachhaltigkeits-Professor droht ein Zwangsgeld. Froh reagierte, indem, wie gro die Zahlungsbereitschaft Heinrichs meint: Die Politik hat das Thema dem er den Fahrern rt, offiziell maximal
ist. Lendstar spricht von zehn Millionen bislang weitgehend verpennt. Sie reagiere die Betriebskosten fr die Fahrt in RechMenschen in Deutschland, die regelmig nur, statt den Prozess mitzugestalten.
nung zu stellen und alles darber hinaus
einen solchen Dispo in Anspruch nehmen.
Die ehemalige Justizministerin Brigitte als Trinkgeld zu deklarieren. Dann sei es
Die Idee war, fr die Verleiher nur Mini- Zypries ist so etwas wie das Digital-Gewis- nicht gewerblich und damit rechtskonform.
zinsen zu nehmen, um so eine Konkurrenz sen von Bundeswirtschaftsminister Sigmar
Froh ist selbst bei WunderCar regiszur klassischen Bank zu sein. Doch kaum Gabriel. Als parlamentarische Staatssekre- triert allerdings nur als potenzieller Fahrging Lendstar an den Markt, kam Post von trin ist sie fr alles rund ums Internet gast. Seine Dienste als Fahrer kann er nicht
der Finanzdienstleistungsaufsicht Bafin: So zustndig. Vor Kurzem war sie mit deut- anbieten, da die WunderCar-Regularien
gehe das nicht. Wenn die Teilnehmer Zin- schen Grndern in Kalifornien und vieles vorschreiben, dass das Auto mindestens
sen erheben wrden, egal wie niedrig, von dem, was sie bei Airbnb und Co. ge- drei Tren und vier Sitze aufweisen muss.
brauche jeder einzelne eine Banklizenz. sehen hat, macht ihr Sorge: Im Silicon Froh fhrt einen zu engen Porsche.
Kampshoff selbst bentige eine Kreditmak- Valley herrscht eine Goldgrberstimmung,
Sven Bll, Markus Dettmer, Paul Middelhoff,
Ann-Kathrin Nezik, Thomas Schulz, Janko Tietz
lerlizenz, zudem mssten sich alle an das und die Share-Economy wird nur positiv
Zahlungsdienstaufsichtsgesetz halten.
gesehen. Die sozialen Folgen werden ausAnimation:
Mit derartigen Geschossen tritt man geblendet.
Vernetztes Teilen
schnell eine gute Idee tot, sagt Kampshoff.
Sie wnscht sich deshalb eine Debatte
Er sei nicht generell gegen Regeln, aber er ber die gesellschaftlichen Auswirkungen
spiegel.de/app342014shareeconomy
glaube nicht, dass alle bisherigen Regeln auf der neuen Plattformen und will, dass Staat
oder in der App DER SPIEGEL
Moderne Sklaverei
Interview DGB-Chef Reiner Hoffmann, 59, ber die Risiken der Share-Economy fr Arbeitnehmer
FOTO: MARC-STEFFEN UNGER
SPIEGEL: Herr Hoffmann, haben Sie
schon mal ber eine digitale Tauschbrse eine Wohnung oder eine Mitfahrgelegenheit gemietet?
Hoffmann: Ich habe mir das eine oder andere Portal zwar schon mal angeschaut,
aber noch nie eines genutzt.
SPIEGEL: Werden Sie es irgendwann tun?
Hoffmann: Im Leben nicht.
SPIEGEL: Warum?
Hoffmann: Sie mssen sich anschauen,
unter welchen Konditionen dort neue
Geschftsmodelle angeboten werden.
Als Studenten haben wir gern die Mitfahrzentralen genutzt, um gnstig von
Dsseldorf nach Berlin zu kommen. Das
hat jeder gemacht. Aber wenn daraus
ein Geschftsmodell gemacht wird, das
sich allen Regeln entzieht, ist das etwas
anderes. Bei vielen Taxi-Apps gibt es
zum Beispiel keinen Personenbefrderungsschein, keinen Gewerbeschein, keine Sozialversicherung. Das hat mit
Selbsthilfe nichts mehr zu tun. Dieses
Modell darf keine Zukunft haben.
SPIEGEL: Aber was spricht denn dagegen,
dass Brger ihre Gter teilen, um nachhaltiger zu wirtschaften?
Hoffmann: Nichts, wenn es wirklich ums
Teilen ginge. Nehmen Sie die Apps zur
Immobilienvermietung. Allein in Berlin
gibt es bereits mehr als 6000 Wohnungen, die nicht mehr auf dem normalen
Mietmarkt erscheinen. Die werden ausschlielich ber diese Apps kurzfristig angeboten, weil es einen hheren
Profit fr die Besitzer abwirft. Das ist
der pure Kommerz auf der Grundlage
neuer elektronischer Vermarktungsmglichkeiten.
SPIEGEL: Viele Menschen bieten ber diese Apps zeitweise Zimmer an, damit sie
sich ihre teurer werdenden Wohnungen
etwa in Berlin noch leisten knnen.
Hoffmann: Wenn sie sich auf diese Weise
gelegentlich etwas hinzuverdienen, habe
ich nichts dagegen. Ein Student macht
in einer anderen Stadt ein Praktikum
und findet ber das Netz eine gnstige
Wohngelegenheit super. Aber man
muss schon genau hinschauen. Bei vielen dieser Angebote auf den Plattformen
geht es eher darum, dass vor allem die
Vermittler dauerhaft schnelles Geld bei
Umgehung aller Vorschriften verdienen.
Das sind nicht neue Modelle der sozialen
konomie, sondern neue Formen der
Ausbeutung. Und das geht mit den Gewerkschaften gar nicht.
SPIEGEL: Die neuen Taxi-Apps zum Beispiel sind nichts anderes als elektroni-
sche Varianten herkmmlicher Mitfahrzentralen. Was ist daran asozial?
Hoffmann: Wir waren gerade dabei, fr
das Taxigewerbe halbwegs vernnftige
Arbeitsbedingungen zu vereinbaren und
zum Beispiel einen Mindestlohn auszuhandeln. Nun drngt der Taxidienst
Uber auf den Markt, zu dessen Geschftsprinzipien es gehrt, solche Regeln zu
umgehen und 20 Prozent Anteil von jeder vermittelten Fahrt einzustreichen.
Wir reden hier nicht ber ein gemeinntziges Internetprojekt, sondern ber
ein kalifornisches Unternehmen, an dem
die Investmentbank Goldman-Sachs und
Gewerkschafter Hoffmann
Uber? Nicht so
der Internetkonzern Google beteiligt
sind. Denen geht es nur um eines: so
viel Geld zu verdienen wie mglich.
SPIEGEL: Es gibt auch Plattformen, die
Haushaltshilfen vermitteln. Dadurch
kann eine Person mehrere Kurzzeitjobs
zu einer Vollzeitstelle bndeln. Was halten Sie davon?
Hoffmann: Meine Haushaltshilfe kommt
von der Diakonie. Dafr zahle ich einen
ordentlichen Preis, dafr erhalten die
Mitarbeiter ordentliche Lhne und haben klar geregelte Arbeitsbedingungen.
Auf den elektronischen Plattformen
dagegen entstehen neue Formen der oftmals prekren Solo-Selbststndigkeit.
Die Hilfen arbeiten auf Abruf, im Zweifelsfall in einem Set von Leuten, an die
die Botschaft rausgeht: am Dienstag, 18
bis 20 Uhr, Haushaltsreinigung. Wer hat
Zeit, wer bietet an und das zum gnstigsten Preis. Das ist doch moderne Sklaverei.
SPIEGEL: Und was ist Ihre Lsung? Wollen Sie die Digitalisierung stoppen?
Hoffmann: Nein, wir wollen die neue
Technik natrlich nutzen. Fr die Gewerkschaften resultieren daraus Gestaltungschancen, aber auch Risiken. Wir
mssen den klaren Blick behalten und
differenzieren: Fr uns kommt es darauf
an, den Wert der Arbeit zu erhalten. Die
Politik muss dafr sorgen, dass Kndigungsschutz, Mindestlhne, Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregeln auch fr
die neuen digitalen Angebote gelten.
SPIEGEL: Welche Arbeitnehmerrechte sehen Sie gefhrdet?
Hoffmann: Es geht um eine Vielzahl von
Fragen, zum Beispiel bei den Taxi-Apps:
Wie sieht es mit dem Arbeits- und Gesundheitsschutz aus? Wer haftet bei einem Unfall? Wie ist die Sozialversicherungspflicht geregelt? Wo bleibt die Arbeitnehmervertretung? Diese Ideologie
des Netzes, wonach ohne Regulierung
angeblich alles einfacher wird, geht mir
auf den Senkel. Die Finanzkrise, die
schlimmste Wirtschaftskrise seit vielen
Jahrzehnten, war doch nicht Ausfluss
berbordender Vorschriften das genaue Gegenteil hat die Welt 2008 an den
Rand der Katastrophe gefhrt.
SPIEGEL: Sie versuchen, die Regeln der
Industriegesellschaft auf die neue Welt
der digitalen konomie zu bertragen.
Haben Sie keine Angst, dass Sie
Deutschland so von der internationalen
Entwicklung abkoppeln?
Hoffmann: Die Gewerkschaften sind keine Maschinenstrmer, und wir kmpfen
auch nicht fr den Heizer auf der E-Lok.
Die Digitalisierung macht es mglich,
Arbeit und Leben besser miteinander zu
verbinden. Gerade deswegen mssen
wir uns aber auch um die Risiken kmmern
SPIEGEL: und jeder fhrt weiter in seinem eigenen Auto.
Hoffmann: Warum? Ich finde Carsharing
prima. Ich habe gar kein Auto mehr. In
meiner Heimatstadt kann ich mir das
Auto von meinem Nachbarn ausleihen.
Das heit, das nchste Auto ist gerade
500 Meter entfernt. Neue Formen der
Mobilitt, welche Belastungen hat der
Individualverkehr fr die Umwelt, Ausbau der Infrastruktur darber sollten
wir diskutieren. Aber Uber? Nicht so,
wie es jetzt organisiert wird.
Interview: Markus Dettmer, Michael Sauga
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Der Nchste, bitte!
Karstadt Der sterreichische Immobilieninvestor Ren Benko bernimmt die marode
Warenhauskette, das Unternehmen aber ist noch lange nicht gerettet.
m Ende hat er es dann doch nicht
geschafft. So gern wre Nicolas
Berggruen gesichtswahrend aus der
Karstadt-Nummer herausgekommen, htte
sich so prsentiert, wie er sich selbst und
sein Umfeld ihn sieht: als grozgigen Investor, der alles getan hat, am Ende aber
doch scheiterte.
Mit der bergabe des kompletten Karstadt-Konzerns an die Signa-Gruppe des
sterreichischen Immobilieninvestors Ren
Benko mache er den Weg frei fr einen
Neuanfang, lie er vergangene Woche
verlauten, auerdem habe er mit dem Karstadt-Investment nur geringfgig Geld
verdient. Um dann in einem Interview mit
der Bild-Zeitung schon fast weinerlich hinterherzuschieben, Karstadt sei auch mit
Blick auf meinen Ruf in Deutschland kein
gutes Geschft gewesen.
Der Abgang des vor vier Jahren noch
als guter Investor und Philanthrop gefeierten Karstadt-Retters ist nichts anderes als die komplette Kapitulation vor
der Realitt der deutschen Warenhauswelt:
Berggruen gibt die Warenhuser, die Luxushuser und die Sportfilialen, ja selbst
seine Anteile an den schon Benko gehrenden Immobilien auf und das alles,
ohne einen Cent dafr zu bekommen.
Und wieder verabschiedet sich ein Karstadt-Besitzer in schwierigen Zeiten und
berlsst den Warenhauskonzern sich
selbst beziehungsweise dem nchsten
Eigentmer.
Ren Benko besitzt seit vergangenem
Herbst bereits 75,1 Prozent des Alsterhauses in Hamburg, des KaDeWe in Berlin
und des Oberpollingers in Mnchen sowie
die 28 Sporthuser des Konzerns. Die komplette bernahme sei angesichts der aktuellen Lage die logische Konsequenz, hie
es vergangene Woche bei Signa, man setze
jetzt auf Ruhe, um eine tragfhige Sanierungsstrategie hinzukriegen.
Tatschlich steht der traditionelle Warenhauskonzern wieder kurz vor der Pleite, selbst die optimistischen Schtzungen
des Managements zeigen nicht, wie man
das Geschft langfristig rentabel fhren
knnte. Die Liquiditt ist so gut wie aufgebraucht, selbst fr die Sanierung, also
die Schlieung von Filialen und den Abbau
von Arbeitspltzen, fehlt dem Konzern
das Geld. Sptestens als Anfang Juli die
letzte Karstadt-Chefin, die Schwedin EvaLotta Sjstedt, nach nur fnf Monaten ihren Job hinschmiss, war klar: Ob es berhaupt mit Karstadt weitergeht, ist fraglich.
Dass es aber auf keinen Fall mit Berggruen weitergeht, ist sicher.
Sein Nachfolger scheint ihm auf den
ersten Blick verblffend hnlich: von eher
kleinem Wuchs, auf Fotos gern mit Promis
und langbeinigen Frauen zu sehen, gleichzeitig medienscheu und geschftstchtig.
Was treibt diesen Mann, sich mit Karstadt
eine der wohl schwierigsten Unternehmenssanierungen anzutun, die sich in
Deutschland derzeit finden lsst?
Der Aufstieg
Benko hat sich aus einfachen Verhltnissen hochgearbeitet. Geboren ist der
37-Jhrige in Innsbruck, sein Vater war
Angestellter bei der Stadt, seine Mutter
Kindergrtnerin. Schon whrend der
Schulzeit jobbte er bei einem Projektentwickler, von dem er die ersten Tricks
und Kniffe lernte und der sein Interesse
an Immobilien weckte. Mit knapp 18 Jahren brach Benko zum Entsetzen seiner
Eltern die Schule ab, zog von zu Hause
aus und machte sich schlielich Ende 1999
selbststndig. Seine ersten Objekte waren
zwei Dachbden in Wien, die er billig
erwarb, zu Luxusapartments ausbaute
und nach dem Umbau teuer verkaufen
konnte.
Bald darauf lernte er seinen ersten Frderer kennen: den fast 30 Jahre lteren
Karl Kovarik, den reichen Erben eines
Tankstellenimperiums, dessen Schwager
eine von Benkos Dachwohnungen gekauft
hatte. Kovarik investierte rund 25 Millionen Euro in Benkos Firma ffnete ihm
aber vor allem die Tren zu den oberen
Kreisen der sterreichischen Wirtschaftsund Bankenwelt sowie der Politik.
Der pensionierte Tiroler Volksbankdirektor Helmut Holzmann sorgte damals
dafr, dass eine Riege lterer Herren sich
des jungen Emporkmmlings annahm und
dezent die eine oder andere Schwche
ausglich vor allem, wenn es um das Auftreten des damaligen Mittzwanzigers ging.
Er hat es immer verstanden, die unterschiedlichsten Leute fr sich zu begeistern
und sich ein Netzwerk illustrer Persnlichkeiten zu schaffen, sagt einer, der ihn
lange kennt.
Genauso liest sich auch die Liste der
engsten Freunde und Berater, die Benko
an den verschiedenen Schalthebeln der
Signa Holding untergebracht oder
als Investoren gewonnen hat: der
ehemalige sterreichische Kanzler Alfred Gusenbauer; Peter
Hakamp, frherer Chef der
Bremer Landesbank; der Immobilienexperte Rainer de
Backere; Karl Samstag,
ehemaliger Vorstandschef
der Bank Austria; Susan-
Benko
66
DER SPIEGEL 34 / 2014
Wirtschaft
Berggruen
Die Frauen sind etwas jnger, die Rcke
etwas krzer, kommentiert das ein Geschftsfreund trocken. Da helfe es auch
nichts, dass er seine langjhrige ModelFreundin inzwischen geheiratet habe, mit
der er zwei seiner drei Kinder hat.
Bei Benko gibt es keinen Unterschied
zwischen Privat- und Geschftsperson.
Benko lebt seine Firma zu 100 Prozent,
da werden Geschftspartner zu engen
Freunden und enge Freunde zu Geschftspartnern oder Teilhabern, sagt einer, der
ihn lange kennt. Der Investor tue nichts,
bei dem er seine geschftlichen Interessen
nicht im Blick habe.
Das Geschft
ne Riess, Ex-FP-Politikerin und Vizekanzlerin, heute Chefin des sterreichischen Finanzdienstleisters Wstenrot.
Dazu kommen erfahrene Wirtschaftsleute
wie der Unternehmensberater Roland Berger; Ex-Porsche-Chef Wendelin Wiedeking
oder Torsten Toeller, der Grnder der
Fressnapf-Kette.
FOTOS: PHILIPP HORAK / PICTURE ALLIANCE / APA / DPA (L.); GOETZ SCHLESER / AGENTUR FOCUS (R.)
Der Mensch
Ich gebe offen zu, dass ich ihm anfangs
sehr skeptisch gegenbergetreten bin, erzhlt ein alter Haudegen aus der Wirtschaft. Benko sei so jung, habe dieses etwas unserise Auftreten. Was mir aber
imponiert hat: Ich hatte vom ersten Moment an den Eindruck, dass er genau wei,
wovon er redet. Benko sei in allen Details
bewandert, den konomischen, technischen und gesellschaftlichen, habe sehr
konkrete Zahlenkenntnisse. Wenn Sie mit
dem ber den 2. Stock des KaDeWe reden,
dann kennt er die Quadratmeterzahl und
erzhlt Ihnen etwas ber die Platzverschwendung dort.
Benko sei nicht der Typ, der in einen
Raum komme und ihn ausflle. Der geht
nicht auf die Leute zu, ist kein Schulterklopfer, sagt ein langjhriger Berater.
Dass er die Menschen trotzdem sofort fr
sich einnehme, liege an der Tiroler Skilehrer-Sympathie, man mge ihn irgendwie einfach gleich.
Einmal im Jahr ldt der Netzwerker Geschftspartner und Freunde zum Tiroler
Traubensaftfest Trggelen ins noble Palais Harrach ein, wo sich neben den Promis
aus Wirtschaft und Gesellschaft auch Tina
Turner oder DJ tzi tummeln. Es gibt
Einladungen ins Privathaus am Gardasee,
auf die Jacht, kleine Aufmerksamkeiten,
erzhlt ein Freund.
Da blitzt sie dann auf, die schillernde
Seite des jungenhaften Millionrs, die ab
und zu ins Unserise zu kippen scheint.
Benkos bisheriges Meisterstck, die Perle
in seinem Portfolio, ist das Goldene Quartier in Wien: ein Areal von insgesamt
21 700 Quadratmetern im Herzen der Altstadt, bestehend aus einem Luxushotel,
noblen Boutiquen mit meterhohen Schaufenstern und millionenteuren Penthousewohnungen mit Blick ber die Wiener
Altstadt.
Aus dem etwas vernachlssigten Stadtteil mit teils sanierungsbedrftigen Jugendstilhusern hat der Unternehmer innerhalb
weniger Jahre eine der begehrtesten Einkaufsmeilen der Stadt gemacht, er hat die
Straenbahn stilllegen lassen und dafr
gesorgt, dass die Fugngerzone verlngert wird. Wo einst die Lnderbank-Zentrale ihren Sitz hatte, residiert jetzt die
Nobelherberge Park Hyatt mit 143 Zimmern. Und im Tuchlaubenhof oder der Bognergasse drngeln sich arabische und russische Kunden bei Louis Vuitton, Emporio
Armani oder Valentino.
All das kriegen Sie nur hin, wenn Sie
eine Vision haben, gut rechnen knnen,
gengend Geld haben und ausreichend
Freunde in der Verwaltung, die dafr
sorgen, dass Sie ohne Probleme die notwendigen Genehmigungen fr den Umbau
eigentlich denkmalgeschtzter Huser
kriegen, sagt ein Kenner.
Neue Kpfe, altes Leid
Dass Benko es mit seiner Signa Holding
inzwischen geschafft hat, statt einzelner
Dachbden solche Projekte mit einem Investitionsvolumen von rund 500 Millionen
Euro zu verwirklichen, liegt vor allem an
dem griechischen Reeder George Economou. Den lernte Benko bei einem Abendessen der HSH Nordbank in Athen kennen, wo der Tiroler sein Konzept erklrte,
so berzeugend, dass es auch Nichtimmobilienexperten verstanden, wie Economou spter begeistert erzhlte. Der
Grieche kaufte sich kurze Zeit spter erst
in die Objekte des Goldenen Quartiers
ein, danach stieg er bei Benkos Kaufhaus
Tyrol in Innsbruck ein und bernahm
schlielich, von der ffentlichkeit nahezu
unbemerkt, im Jahr 2009 50 Prozent von
Benkos Signa Holding, unter deren Dach
Benkos gesamtes Immobiliengeschft gebndelt ist.
Knapp 15 Jahre nach ihrer Grndung
verwaltet die Signa-Gruppe ein Immobilienvermgen von ber sechs Milliarden
Euro und ist sterreichs grter privater
Immobilienbesitzer. Herzstck und mageblicher Geschftsbereich der Holding ist
die Signa Prime Selection. Hier werden
die Eigenimmobilien der Gruppe entwickelt und gehalten, bislang eben auch die
Karstadt-Immobilien und die Anteile am
operativen Geschft der Premium- und
Sporthuser. Neben der Signa Holding ist
die Zrcher Falcon Private Bank mit ber
20 Prozent beteiligt, die dem Staatsfonds
von Abu Dhabi gehrt. Auerdem haben
die deutschen Wirtschaftsgren Wiedeking und Berger, der sterreichische BauTycoon Hans Peter Haselsteiner und Ernst
Tanner, Chef von Lindt & Sprngli, hier
investiert.
Doch auch das scheinbar ungebremste
Wachstum der Signa Holding wirft Fragen
auf. Nach Ansicht eines Branchenkenners
operiert das Unternehmen mit extrem viel
Fremdkapital und ist entsprechend anfllig, wenn die Zinsen steigen oder die
Konjunktur schwchelt. Schon jetzt sorge
Vorstandschefs bei Karstadt
Umsatz
in Mrd. Euro
Karstadt-bernahme
durch Nicolas Berggruen
7,5
Miguel Mllenbach und
Kai-Uwe Weitz
Insolvenzantrag
Wolfgang Urban
Karstadt-bernahme
durch die Signa-Gruppe
Eva-Lotta Sjstedt
Karl-Gerhard Eick
Einstieg der
Signa-Gruppe
Christoph Achenbach
Thomas Middelhoff
Andrew Jennings
2,6
Schtzung
2000
Quelle: Bundesanzeiger
2005
07/08*
09/10
12/13
* 2007 Rumpfgeschftsjahr; ab 2007/08 Geschftsjahr vom 1. Okt. bis 30. Sept.
DER SPIEGEL 34 / 2014
67
die Ukraine-Krise dafr, dass die russischen Kunden ausfielen, die Umstze brchen deshalb im Rekordtempo ein. Wenn
diese Entwicklung anhielte und die Ladenmieter aufgben, dann geriete die gesamte
Kalkulation ins Rutschen.
Die Schattenseiten
Auch deshalb scheint Benko bei der Wahl
seiner Geschftspartner nicht immer zimperlich zu sein: Liquiditt scheint oft vor
Reputation zu gehen bei Menschen wie
Beny Steinmetz zum Beispiel. Der israelische Diamantenhndler ist zur Hlfte an
den 75,1 Prozent der Premium- und Sporthuser von Karstadt beteiligt, die Benko
bereits im Herbst von Berggruen bernommen hatte. Auerdem gehren ihm
50 Prozent der 21 Karstadt-Immobilien,
die Benko gekauft hatte. Mit einem Privatvermgen von geschtzt 3,5 Milliarden
Dollar soll Steinmetz laut Forbes einer
der reichsten Mnner Israels sein aber
eben auch einer der umstrittensten. In den
USA, Guinea und der Schweiz laufen Untersuchungen wegen des Vorwurfs der
Korruption gegen ihn, den Steinmetz bestreitet.
Bei der jetzt erfolgten bernahme der
kompletten Karstadt-Gruppe hat Benko
Konsequenzen gezogen: Steinmetz wird
seinen bisherigen Anteil zwar behalten
aber weder an den restlichen 24,9 Prozent
der Premium- und Sport-Gruppe noch an
der Karstadt Warenhaus GmbH beteiligt
werden.
Es ist nicht das erste Mal, dass Benko
umsteuert, wenn er merkt, dass sein Ruf
in der ffentlichkeit leiden knnte und
damit auch das Geschft. Erst am Montag
vergangener Woche besttigte der oberste
Gerichtshof in Wien ein Urteil des Landgerichts, das Benko im November 2012 zu
68
DER SPIEGEL 34 / 2014
zwlf Monaten Haft auf Bewhrung verurteilt hatte. Gemeinsam mit seinem Steuerberater soll Benko versucht haben, in
einer Steuerangelegenheit in Italien zu
intervenieren, die Vorsitzende Richterin
sprach damals von einem Musterfall fr
Korruption.
Benko beteuerte zwar bis zum Schluss,
das Treiben seines Steuerberaters nicht
durchschaut zu haben zog aber sofort
Konsequenzen: Er gab die administrative
Geschftsfhrung der Signa Holding an
Christoph Stadlhuber und Marcus Mhlberger ab und wechselte in den Unternehmensbeirat der Holding, von dem die eigentliche Steuerung der Konzernstrategie
ausgeht. In seinem Umfeld heit es dazu,
Benko sei in dieser Frage einfach zu naiv
gewesen, habe zu wenig Erfahrung in Compliance-Angelegenheiten. Benko und
naiv?, spttelt allerdings ein Wiener Geschftspartner. Das kann man natrlich
so sehen vor allem, wenn man es unbedingt glauben will.
Karstadt
Dass der neue Karstadt-Eigentmer in ein
paar Jahren allerdings wie sein Vorgnger
Nicolas Berggruen behaupten wird, er habe
bei der bernahme der Warenhauskette
nicht gewusst, wie krank Karstadt wirklich ist, ist wenig wahrscheinlich. Er hat
sich, wie man aus Branchenkreisen hrt,
sehr ausfhrlich mit der Thematik beschftigt, er hat untersuchen lassen, welches
Potenzial das Konzept des Warenhauses
in Deutschland berhaupt hat. Was er aber
genau mit Karstadt vorhat, das wei er
momentan vielleicht noch nicht einmal
selbst genau.
Klar ist nur: Der strauchelnde Konzern
braucht neben dem Geld fr Investitionen
endlich eine klare Strategie fr den On-
linehandel und die verschiedenen Standorte.
Vorbild fr zumindest einige KarstadtHuser knnte das sein, was als Benkos
erster groer Coup gilt: das Kaufhaus Tyrol in Innsbruck. 2004 erhielt der damals
noch relativ unbekannte Investor den Zuschlag und verwandelte das heruntergekommene Kaufhaus in ein florierendes
Handelshaus. Er vermietete Flchen innerhalb des Kaufhauses an einzelne Firmen oder Marken, so entstand eine Art
Shoppingcenter auf kleinem Raum. Heute
arbeiten dort deutlich mehr Menschen als
vorher, heit es bei Signa selbstbewusst.
Ob das im Fall der Karstadt-Filialen allerdings bedeutet, dass zwar auen noch das
Karstadt-Logo prangt, innen aber wenige
oder keine Karstadt-Angestellten mehr
arbeiten, bleibt offen.
Der Karstadt-Betriebsrat und die Gewerkschaft Ver.di halten sich mit Lob fr
den Neuen zurck. Sie wollen erst einmal
abwarten, welche Plne er hat und was
das fr die 17 000 Arbeitspltze bedeutet.
Noch rtselt die Branche, warum sich
Benko auf das Abenteuer Karstadt eingelassen hat. Mglich, dass er noch immer
einen Zusammenschluss von Karstadt und
Kaufhof plant, wie viele in der Branche
glauben. Ende 2011 hatte er eine bernahme von Kaufhof versucht und war gescheitert.
Zunchst muss er aber die Probleme
von Karstadt lsen. Und daran sind in der
Vergangenheit schon viele gescheitert.
Karstadt ist so politisch, eine so groe
Nummer da frchten viele, dass Benko
sich verschluckt, sagt einer, der die Diskussionen ber lange Zeit verfolgt hat.
Aber dann lacht er und sagt: Gleichzeitig
ist die Sache so hoffnungslos, da kann er
eigentlich nur gewinnen. Susanne Amann
FOTO: GREGOR TITZE / SIGNA
Aussicht vom Immobilienareal Goldenes Quartier in Wien: Perle im Portfolio
Wirtschaft
Missliche
Lage
Freihandel Ein Abkommen
mit Kanada gefhrdet
Brgerrechte in Deutschland.
Gelingt es, die umstrittene
Passage noch zu streichen?
FOTO: RHPL / VARIO IMAGES
eine gute Stimmung lsst sich der
Wirtschaftsminister derzeit durch fast
nichts verderben. Gut gebrunt reist
er durchs Land, schaut sich Betriebe an,
Grnderzentren und Universitten. Nur
bei einem Thema liegen die Nerven blank.
Das mit dem Freihandelsabkommen,
sagt ihm ein Student in Potsdam, das fnde
er meganegativ. Was man da so alles
lese, Chlorhhnchen, geheime Verhandlungen, Schiedsgerichte, da bekomme er
ein schlechtes Gefhl bei.
Pltzlich hebt sich Sigmar Gabriel aus
seinem Hrsaalstuhl: Ich kann Ihre Gefhle nicht ndern, herrscht er den brtigen Mann an. Aber bei dem Thema sei er
schlecht informiert, sagt der SPD-Chef.
Das mit den Hhnchen sei doch schon
lange vom Tisch, auf der Website des Ministeriums knne man sich zum Freihandelsabkommen informieren. Schiedsgerichte brauche man sowieso nicht. Bei so viel
Unwissenheit rechne er schon bald mit der
Frage: Was machen Sie dagegen, dass der
Mond auf die Erde strzt?
Doch die lstigen Fragen zu Freihandelsabkommen werden in der nchsten Zeit
noch lauter werden. Denn seit vergangener
Woche ist der Vertragstext jener Verein-
barung ffentlich, die die Europische Union soeben mit Kanada ausgehandelt hat.
Ceta lautet die Abkrzung fr dieses Abkommen, das in der Szene auch der ltere
Bruder von TTIP genannt wird, also dem
Freihandelsabkommen, das die EU derzeit
mit den USA verhandelt.
Auf vielen Hundert Seiten haben die
Emissre aus Ottawa und Brssel festgehalten, wie sie den Handel zwischen der
EU und Kanada erleichtern wollen. Schon
in einem Monat soll das Werk auf einem
Gipfeltreffen paraphiert werden. Doch so
geruschlos, wie es geplant war, wird es
nicht gehen.
Denn die laute Schar der Gegner fhlt
sich in ihren schlimmsten Befrchtungen
besttigt: Wir haben hier eine Blaupause
fr TTIP, warnt die wettbewerbspolitische Sprecherin der Grnen, Katharina
Drge, und die mache vor allem eins deutlich: Unsere kritischen Einwnde sind darin berhaupt nicht bercksichtigt.
Fr Drge und die Antifreihandelsaktivisten ist Ceta ein Geschenk vor allem
jenes Kapitel, das sich mit dem Schutz von
Firmen beschftigt, die im jeweils anderen
Wirtschaftsraum investiert haben. Grokonzerne knnten dadurch den Staat verklagen, wenn dieser Gesetze etwa zum
Schutz seiner Brger erlsst, so lautet die
Befrchtung der Gegner.
Ein Beispiel dafr: Der Vattenfall-Konzern verklagt die Bundesrepublik wegen des
Atomausstiegs auf Schadensersatz. Austragungsort sind dabei nicht staatliche Gerichte,
sondern private Schiedsgerichte. Auch Ceta
erffnet diesen parallelen Rechtsweg.
Das Urteil des Schiedsgerichts sollte zumindest eine Revisionsmglichkeit bieten,
so fordern es auch Rechtswissenschaftler,
die sich mit Freihandelsabkommen beschftigen. Das Abkommen mit Kanada
sieht Revisionen nicht vor. Man wolle so
Gtertransport in Kanada: Was machen Sie dagegen, dass der Mond auf die Erde strzt?
etwas in der Zukunft schaffen, steht da
nur, kritisiert Markus Krajewski, Vlkerrechtler von der Universitt Erlangen.
Der Juraprofessor hat in dem nun vorliegenden Vertragstext eine ganze Reihe
von Regelungen entdeckt, bei denen die
Einwnde der Kritiker nur scheinbar bercksichtigt wurden. Es finden sich dann
aber immer im Kleingedruckten Relativierungen, erklrt er. Ein Beispiel dafr seien Regeln, wonach die Schiedsgerichte der
ffentlichkeit Einblick in die Verfahren
geben mssen nicht aber, wenn legitime
Geschftsinteressen fr eine Geheimhaltung sprchen.
Auch konnte die Befrchtung nicht ausgerumt werden, dass US-Konzerne ber
ihre kanadischen Niederlassungen Investitionsschutzklagen einreichen knnen.
Zwar mssten die Investoren schon substanzielle Geschftsaktivitten in dem
Land nachweisen knnen. Doch auch das
ist schwammig formuliert, warnt Krajewski. Die Formulierung reiche vermutlich gerade einmal, die Klagen von Briefkastenfirmen abzuwehren.
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel bringt Ceta in eine missliche Lage.
Er muss eine klare Haltung zu dem Abkommen einnehmen. Vergangene Woche
versuchte er, Zeit zu gewinnen, und erklrte mrrisch, nun mal erst die 1500
Seiten zu lesen.
Von Amts wegen msste er ein Interesse
daran haben, Handelshemmnisse zu beseitigen. Doch in seiner Partei ist das Freihandelsabkommen mindestens genauso
unbeliebt wie in der Bevlkerung.
Und die Kampagne gegen das Investitionsschutzkapitel luft bereits an. Kernargument der Gegner: Wie soll man den
Amerikanern ein Investitionsschutzkapitel
ausreden, wenn man eines mit den Kanadiern beschliet?
Der SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil
schlgt vor, den heiklen Teil einfach aus
dem Abkommen herauszubrechen.
Doch das knnte nicht nur an den Kanadiern scheitern, sondern auch an einigen
europischen Mitgliedslndern. Im Wirtschaftsministerium jedenfalls arbeiten die
Strategen schon daran, wie man den Brgern das Freihandelsabkommen mit Kanada auch inklusive des Investorenschutzes
schmackhaft machen knnte.
Der argumentative Trick: Das Investitionsschutzabkommen mit Kanada sei so
streng formuliert, dass die Befrchtungen
der Kritiker unberechtigt seien. So steht
es in einer Antwort Gabriels auf eine parlamentarische Anfrage der Linken.
Die Bundesregierung msse beurteilen,
ob nicht das europische Gesamtinteresse
so berwiegend ist, dass gegebenenfalls
ausgehandelte Investitionsschutzabkommen hingenommen werden knnen.
Gerald Traufetter
DER SPIEGEL 34 / 2014
69
Ausland
Uiguren in Kashgar
Unterdrckte
Minderheit
Sie gelten als stolzes Turkvolk mit einer weit ber
tausendjhrigen Geschichte,
doch von der chinesischen
Regierung fhlen sich die Uiguren in der Region Xinjiang
ausgegrenzt und unterdrckt.
Im Juli, whrend des Rama-
Belgien
Kamikaze-Koalition
In Brssel knnten demnchst flmische Nationalisten an die Macht gelangen.
Aus der Parlamentswahl im
Mai war deren Partei als
strkste Kraft hervorgegangen. Nun kommen die Koalitionsgesprche zwischen
der Neu-Flmischen Allianz
(N-VA) auf der einen Seite
und Christdemokraten und
Liberalen auf der anderen in
die entscheidende Phase.
Bei einer Einigung, die viele
70
DER SPIEGEL 34 / 2014
dan, wurde der muslimischen
Minderheit das Fasten vielerorts verboten. Seit Anfang
August drfen sie keine ffentlichen Busse mehr benutzen, wenn sie Kopftuch,
Schleier oder einen langen
Bart tragen. Nun kndigte
die Regionalregierung an, ihnen auch die Geburtenkontrolle zu verordnen. Die Regeln der Familienplanung
glten knftig fr alle ethnischen Gruppen gleichermaen, so der Parteichef der
Region. Bislang waren die
Uiguren wie alle ethnischen
Minderheiten in China von
der Ein-Kind-Politik ausgenommen. Doch seit der Konflikt zwischen der Zentralgewalt in Peking und der auf
Autonomie drngenden
Minderheit eskaliert, soll das
Teilnehmer erwarten, wrde
erstmals eine Separatistenpartei mit in der Regierung
sitzen. In Belgien ist schon
von einer Kamikaze-Koalition die Rede. Denn in ihrem
Programm spricht sich die
N-VA fr die Grndung eines
unabhngigen Staates Flandern aus. Parteichef Bart De
Wever, Brgermeister der flmischen Metropole Antwerpen, hat wiederholt gesagt,
Belgien sei eine gescheiterte Nation, die irgendwann
verdampfen werde. Auch
gegenber Einwanderern fordert die N-VA einen hrteren
Kurs. Deshalb erhebt sie
auch Anspruch auf das Innenministerium einer der
Knackpunkte bei den aktuellen Verhandlungen. csc
De Wever
nicht mehr gelten. Einige
Blogger kritisieren im chinesischen Internet die Verschrfung der Geburtenkontrolle,
die meisten aber stimmen
der Manahme zu, zum Teil
mit rassistischen Kommentaren: Warum so viele Terroristen zur Welt kommen lassen? Sollen sie doch sterben,
diese Muslime, schreibt
etwa Cheng Jiaxu. bza
Funote
104,9
Millionen
Dollar hat der ehemalige
US-Prsident Bill Clinton
seit dem Ende seiner Amtszeit 2001 mit 542 Reden
verdient; damit waren die
Einknfte des Demokraten
aus Vortrgen etwa
324-mal so hoch wie das
mittlere Jahreseinkommen
eines US-Brgers. red
FOTOS: KEVIN FRAYER / GETTY IMAGES (O.); AFP (U.)
China
Ausland
USA
Rassenunruhen
FOTOS: LUCAS JACKSON / REUTERS (O.); AP / DPA (U.)
Der Tod des Afroamerikaners Michael Brown, 18,
lste vergangene Woche in
Ferguson, einer Stadt im
US-Bundesstaat Missouri,
nchtelange Proteste aus.
Der weie Polizist Darren
Wilson hatte den unbewaffneten Teenager mit
mehreren Schssen niedergestreckt. Kurz zuvor hatte es einen Diebstahl gegeben, in den Brown verwickelt gewesen sein soll.
Trotzdem, wieder einmal
sah es so aus, als wren
weie Ordnungskrfte willkrlich gegen einen Farbigen vorgegangen. Auch
den aufgebrachten, berwiegend schwarzen Einwohnern standen schwer
bewaffnete Polizisten
gegenber, vermummt wie
Soldaten im Antiterrorkrieg. Prsident Barack
Obama rgte aus seinem
Urlaub den exzessiven
Gewalteinsatz gegen friedliche Proteste. dbe
Protestierende Brger in Ferguson
Trkei
Spanien
Aufbumen gegen den Pascha
Bedrohtes Urlaubsparadies
Trotz des Triumphs von Regierungschef Recep Tayyip Erdoan
bei der Prsidentenwahl wchst in seiner Partei fr Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) der Widerstand gegen ihn. Wichtige
Parteimitglieder sind unzufrieden mit Erdoans Personalpolitik.
Der Nochpremier habe die Partei wie ein Pascha regiert, kritisiert der AKP-Mitgrnder und frhere Vizepremier Erturul
Yalbayr. Aus eigenem Machtkalkl habe Erdoan Talente kleingehalten, die Partei sei personell ausgeblutet. Yalbayr
frchtet, die AKP knne schon bald ohne Kopf, ohne Vision
und ohne Untersttzung durch das Volk dastehen. Auch
Erdoans mutmalicher Wunschnachfolger fr den Posten des
Ministerprsidenten und Parteivorsitzenden, Auenminister Ahmet Davutolu, ist innerhalb
der AKP umstritten. Er gilt
als Technokrat, der an der Basis keinen Rckhalt hat und
mit dem der Partei bei der
Parlamentswahl im kommenden Jahr erhebliche Verluste
drohen. Der Politikwissenschaftler Gencer zcan von
der Istanbuler Bilgi-Universitt schtzt die Gruppe der
Kritiker auf mehrere Dutzend Abgeordnete und prophezeit der Partei einen erErdoan
bitterten Machtkampf. pop
Die Bewohner der Kanarischen Inseln befrchten Umweltschden in einem der wichtigsten europischen
Ferienziele. Vergangene Woche erlaubte die spanische
Regierung dem Minerallkonzern Repsol, mit Probebohrungen rund fnfzig Kilometer vor den Ksten Lanzarotes und Fuerteventuras zu beginnen. An dem Projekt
ist auch der deutsche Konzern RWE beteiligt. Die
Regionalregierung kritisiert, dem Minister fr Industrie,
Energie und Tourismus seien wirtschaftliche Interessen
wichtiger als die Sorgen der Inselbewohner. Hunderttausende protestieren gegen die Suche nach l- und Erdgasvorkommen, Umweltschtzer warnen vor Lrmbelstigung, Trinkwasserverseuchung und Beben
50 km
AFRIKA
des Meeresgrunds.
Fr einen eventuellen
Schadensfall whrend
Lanzarote
der Sondierungen
muss Repsol 60 MillioKanarische Inseln
nen Euro als Sicher(SPANIEN)
heit hinterlegen. Das
Fuertegenge bei Weitem
ventura
nicht, bemngelt die
Sondierungsorte
Regionalregierung
fr Probebohrungen
Meeresund kndigt Klagen
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DER SPIEGEL 34 / 2014
71
Das Kalifat des Schreckens
Terrorismus Die erschtternden Bilder der fliehenden Jesiden im Nordirak haben
die Welt aufgerttelt: Der Kampf gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat
eint Amerikaner, Europer, Kurden und Iraner. Zu spt?
72
DER SPIEGEL 34/ 2014
Titel
FOTO: ADAM FERGUSON / NEW YORK TIMES / LAIF
n Rakka, einer Stadt in Syrien, ist das
Kalifat des Islamischen Staates,
kurz IS, schon Wirklichkeit. Alle Frauen mssen den Gesichtsschleier Nikab tragen, Hosen sind verboten. Dieben werden
Hnde abgehackt, Gegner werden ffentlich gekreuzigt oder gekpft und die Bilder dieser Schreckenstaten werden ber
soziale Netzwerke verbreitet.
Die wenigen noch geffneten Friseurlden mussten die Frauenbilder auf den
Packungen fr Haarfrbemittel schwrzen.
Hochzeiten drfen nur noch ohne Musik
stattfinden. Auf den Viehmrkten mssen
die Hinterteile der Ziegen und Schafe mit
Lappen verhllt sein, denn beim Anblick
der unbedeckten Genitalien knnten Mnner auf sndige Gedanken kommen.
Und wer zu den fnf Gebetszeiten des
Tages auf der Strae angetroffen wird, der
riskiert sein Leben.
Die Dschihadisten des Islamischen
Staates leben im Namen Gottes ihre Allmachtsfantasien aus. Sie morden, foltern
und bedrngen Familien, den aus dem Ausland zugereisten Kmpfern ihre Tchter
zur Frau zu geben. Ein Mdchen, dessen
Familie eingewilligt hatte, sie zu verheiraten, nahm sich daraufhin das Leben.
In Syrien haben die IS-Milizen und ihre
Vorlufer in den letzten Jahren unzhlige
Menschen gettet, ber 160 000 Menschen
sind im syrischen Brgerkrieg insgesamt
gestorben. Doch erst jetzt wacht die Welt
auf nachdem der Konflikt auf den Irak
bergegriffen hat und sich der Islamische
Staat auch dort scheinbar ungehindert
ausbreitet.
Die Welt brauchte erst Bilder. Sie
brauchte sie, um zu verstehen, welches
Grauen sich abspielt im Irak und in Syrien,
und wie unmenschlich die Terrormiliz Islamischer Staat vorgeht. Sie wurde Zeuge,
wie Zehntausende Jesiden, diese Angehrigen einer bisher wenig bekannten Glaubensgemeinschaft, vor den Dschihadisten
in ein Gebirge fliehen mussten und verdurstend um Hilfe flehten. Denn fr die
Fanatiker von IS sind Jesiden Teufelsanbeter, die den Tod verdienen.
Erst diese Szenen eines drohenden Genozids zwangen die internationale Gemeinschaft zum Handeln. Sie vereinten sie
im Kampf gegen IS, die mit Abstand brutalste, erfolgreichste und unheimlichste
Dschihadistentruppe.
Mit erschreckender Leichtigkeit hatten
die IS-Kmpfer in den vergangenen Wochen die Peschmerga-Einheiten der kurdischen Autonomieregierung im Irak in die
Flucht geschlagen, teilweise kampflos. Die
Kurden, die mit ihren 200 000 Mann als
beste Kmpfer des Irak galten, waren entRettung von Jesiden im Sindschar-Gebirge
Den Unglubigen den Krieg erklren
DER SPIEGEL 34/ 2014
73
Propagandavideos des Islamischen Staats
Jede Gegenstrategie wird Jahre brauchen
zaubert. Die Bedrohung hat auch die lange
verfeindeten kurdischen Fraktionen der
Peschmerga und die kommunistische PKK
zusammengebracht.
Selbst Amerika und Iran haben im Islamischen Staat nun einen gemeinsamen
Feind. Und binnen krzester Zeit sind im
Westen Entscheidungen gefallen, die sich
vor wenigen Wochen kaum jemand htte
vorstellen knnen: Die Europer wollen
Waffen an die einzigen vertrauenswrdigen Alliierten in der Region liefern, die
Kurden. Und die USA, die vor zweieinhalb
Jahren glaubten, den Irak mit dem Truppenabzug endlich hinter sich zu lassen, sahen sich gezwungen, mit Spezialeinheiten
und Kampfjets einzuschreiten.
Nichts verdeutlichte das Scheitern der
amerikanischen Politik im Irak wie die Tatsache, dass US-Kampfflugzeuge im Nordirak in den vergangenen Wochen ihre eigenen Waffensysteme bombardieren mussten: Sie schalteten gepanzerte Fahrzeuge
und mobile Artillerie aus, die sie einst
selbst an die irakische Armee geliefert hat74
DER SPIEGEL 34/ 2014
ten und die im Juni in die Hnde des Is- verbndeten Milizen ber etwa 15 000 im
Irak, genau wei das niemand. Darunter
lamischen Staats gefallen waren.
Der IS geht bei seinem Eroberungszug sind 2000 bis 3000 Kmpfer aus Europa.
Bei der Eroberung von Mossul hat IS
nicht nur brutal, sondern mit geschicktem
Kalkl vor. Er kontrolliert nun den Stausee fast eine halbe Milliarde Dollar in bar ervon Mossul, die groen Flsse und damit beutet. Die Dschihadisten sind schon lange
weite Teile der Trinkwasserversorgung des nicht mehr auf Spenden aus den Staaten
Irak, auerdem groe Weizenvorrte und am Golf und Saudi-Arabien angewiesen.
Mittlerweile finanzieren sie sich selbst: Sie
wichtige Anbaugebiete.
Und so ist das sogenannte Kalifat verkaufen das l und das Gas aus eroberdes Islamischen Staats scheinbar ten Feldern, kontrollieren Wasser und
pltzlich auf der Landkarte erschie- Strom und erheben sogar Steuern.
Den Bewohnern der von ihnen kontrolnen ein albtraumhaftes Reich, das
vom Nordosten Syriens bis tief in den lierten Gebiete bieten sie SozialleistunIrak hineinreicht, angefhrt von einem gen wie ein echter Staat, sagt Charles
selbst ernannten Kalifen namens Abu Lister. Wo immer der IS ein Gebiet erobert,
bezahlt er die Fachkrfte einfach weiter
Bakr al-Baghdadi.
Wie konnte es so weit kommen? etwa die Angestellten des Mossul-StauSchleichend ist in den vergangenen damms, aber sogar Restaurantpersonal.
Doch wie sieht es aus im Innern des IsJahren die grte terroristische Bedrohung seit al-Qaida entstanden. Das war lamischen Staats? Drei Wochen lang durfwohl nicht unvermeidlich. Dass weite Teile te sich der Journalist Medyan Dairieh in
Iraks und Syriens zu Dschihadistenterrito- Rakka aufhalten, der neuen Hauptstadt
rium wurden, hat vor allem zwei Ursachen. des Kalifats. Die Kmpfer bestimmten,
Da ist zum einen der Brgerkrieg in Sy- was er zu sehen bekam und was er filmen
rien: Er verhalf den Kmpfern aus dem durfte. Das Ergebnis ist ein 45-mintiger
Irak und dem Rest der Welt zu Kriegser- Film, der manchmal wirkt wiePropaganda,
fahrung, Spenden und zu einer Sache, die der aber gleichzeitig auch einen bislang
das Kmpfen lohnte. Die zgerliche einzigartigen Einblick ermglicht. Es ist
internationale Reaktion auf den syri- eine Welt aus Fanatisierten, in der Halbwchsige in die Kamera brllen, um Unschen Konflikt trug dazu bei.
Doch die Anfnge von IS liegen im glubigen den Krieg zu erklren.
Der Islamische Staat hat einen Presseirakischen Brgerkrieg nach der USInvasion von 2003. Die Organisation sprecher in Rakka, Abu Musa, einen jungen
htte sich in den vergangenen Mona- Brtigen mit einer Ray-Ban-Sonnenbrille.
ten niemals so schnell ausbreiten Abu Musa benutzt die Gelegenheit, um seiknnen, wenn nicht viele irakische ne Botschaft an Amerika zu verknden:
Sunniten sich den Kmpfern ange- Seid keine Feiglinge, die uns mit Drohnen
schlossen htten nachdem sie jahre- angreifen, schickt lieber eure Soldaten, die
lang gegngelt wurden von der Re- wir schon im Irak gedemtigt haben.
Zu sehen ist auch eine Patrouille der
gierung des schiitischen Premiers Nuri alMaliki und vielfach immer noch gefangen Hisbah, der Sittenpolizei des Islamischen
sind im nostalgischen Groll, dass sie ihre Staats. Versuch doch mal, eine einzige
frhere Vormachtstellung aus Saddam Hus- Person zu finden, die Alkohol verkauft,
prahlt der Chef der Patrouille. Im Vorbeiseins Zeiten verloren haben.
Maliki ist vergangene Woche nach er- fahren ermahnt er den Mann einer vollbittertem Widerstand von seinem Amt zu- kommen verhllten Frau, sie solle ihr Gerckgetreten. Sein designierter Nachfolger wand beim Gehen nicht hochheben.
Die Geschichte der Organisation, die
Haidar al-Abadi ist ebenfalls Schiit. Anfhrer der sunnitischen Stmme erklrten spter zu IS wurde, beginnt vor der amesich vergangene Woche bereit, mit ihm zu rikanischen Invasion des Irak. In den Jahverhandeln um IS im Irak zurckzudrn- ren danach beginnt ein Jordanier, der sich
gen, ist eine Verstndigung zwischen Schii- Abu Musab al-Sarkawi nennt, eine Serie
ten und Sunniten entscheidend. Aber das spektakulrer Bombenanschlge auf Schiiten er will einen Religionskrieg entfaallein sei nicht genug.
Der IS ist mittlerweile so stark gewor- chen.
Sarkawi schliet sich offiziell al-Qaida
den, dass jede Gegenstrategie Jahre brauchen wird, sagt Charles Lister vom Think- an. Noch zu Lebzeiten kritisiert Osama
tank Brookings in Doha, der sich intensiv Bin Laden in einem spter bekannt gewormit der Gruppe beschftigt. Militrische denen Dokument die Brutalitt des irakischen Ablegers. Damals schon verstren
Manahmen reichten nicht aus.
Was zwischen Bab in Syrien und Fal- Sarkawis Leute ihre sunnitischen Verbnludschah im Irak entstanden ist, erinnert deten mit absurden Vorschriften etwa
tatschlich bereits an eine Art Staat, einen dem Verbot von Speiseeis, das es zu Zeiten
des Propheten nicht gegeben habe, oder
Staat des Bsen.
Er verfgt ber schtzungsweise 6000 von Gurken auf den Mrkten, die sexuelle
bis 8000 Kmpfer in Syrien und mit den Gedanken provozieren knnten.
FOTOS: AFP (O.); POLARIS / STUDIO X (2. V. U.)
Titel
Titel
Nachdem der Aufstand gegen Assad im
Bevor Sarkawi 2006 bei einem US-Luftangriff starb, fachte er den Brgerkrieg an, Mrz 2011 begonnen hatte, entlie das Reder bis heute den Irak auseinanderzurei- gime viele Dschihadisten, die davor im
en droht. Nach seinem Tod benennt sich Irak gekmpft hatten, aus seinen Hochdie Organisation um in Islamischer Staat sicherheitsgefngnissen. Das untermauerte
im Irak und verliert an Schlagkraft, weil Assads Behauptung, man kmpfe gegen
die Amerikaner Koalitionen mit den sun- radikale Islamisten.
Doch damals wurde der Widerstand vor
nitischen Stmmen eingehen.
Erst Abu Bakr al-Baghdadi, seit 2010 An- allem von der Freien Syrischen Armee
fhrer der Organisation, macht sie zu dem, (FSA) bestritten, einer Ansammlung deserwas der IS heute ist. Er hat eine profes- tierter Soldaten und Zivilisten. Die FSA
sionellere, militrische Haltung eingefhrt, war nicht islamistisch, sie war aber auch
sagt IS-Experte Lister. Baghdadi hat im nie viel mehr als ein Name: Es gab kaum
Wesentlichen Sarkawis Strategie bernom- bergreifende Kommandostrukturen. Sie
men, sie aber doppelt so effektiv gemacht. verfgte nie ber gengend Geld oder WafBaghdadi habe auch eine hhere Autoritt, fen, um Assad besiegen zu knnen. Der
denn er verfge ber eine religise Ausbil- Westen sorgte sich, dass bei einer Untersttzung der FSA schwere Waffen in faldung anders als etwa Bin Laden.
Doch die militrische Fhrung hat er sche Hnde fallen knnten.
Nicht nur in den USA gibt es nun eine
wohl nicht selbst inne, sondern ein Fhrungszirkel, der vor allem aus Exoffizieren Debatte, ob der Westen IS htte stoppen
und Kadern von Saddam Husseins Baath- knnen, wenn er rechtzeitig die moderate
Partei besteht. Die schotten sich herme- Opposition gestrkt htte.
Exauenministerin Hillary Clinton, die
tisch ab: Die normalen Kmpfer kennen
nur ihren rtlichen Emir, der wiederum wahrscheinliche demokratische Prsidentschaftsbewerberin, kritisierte Obama offen:
hat nur mit dem Provinz-Emir zu tun.
Heute gilt IS als die kampfstrkste Miliz Seine Weigerung, die Opposition in Syrien
der Region. Doch bis dahin war es ein lan- frhzeitig zu untersttzen, habe ein groger Weg von den Anfngen im Irak fhr- es Vakuum geschaffen, das den Aufstieg
von IS begnstigt habe.
te er ber den Brgerkrieg in Syrien.
Wer recht hat? Das ist schwer zu sagen.
Brookings-Experte Charles Lister glaubt,
im Irak htte sich der IS dennoch ausbreiten knnen doch eine Untersttzung der
moderaten Rebellen in Syrien wre zu Beginn sinnvoll gewesen, um den IS dort in
Schach zu halten.
Irgendwann im Sommer 2011 berquerten acht Mnner die Grenze vom Irak zu
Syrien. Einer von ihnen hie Abu Mohammad al-Dschulani. Der Chef der Organisation, Baghdadi, hatte ihn mit der Mission
losgeschickt, auch in Syrien einen Ableger
von al-Qaida zu grnden: die Nusra-Front.
So begann der dschihadistische Teil des
syrischen Brgerkriegs.
Dschulani wollte sich absetzen von den
krassen Methoden der irakischen Qaida
und verzichtete auf brutale Bestrafungen.
Nusra etablierte sich schnell als effektivste
Truppe in Syrien, machte sich aber auch
bei der Bevlkerung beliebt die Kmpfer
lieferten Hefe an Bckereien und verteilten
Lebensmittel.
Doch im April 2013 wollte Baghdadi die
Kontrolle ber seine syrische Kreation zurckgewinnen. Er erklrte sich zum Anfhrer der irakischen und der syrischen
Qaida, die fortan den gemeinsamen Namen ISIS tragen sollten. Aber Dschulani,
TRKEI
Dscharabulus
Hassaka
Tal Afar Mossul
Aleppo
Arbil
Sindschar
AssadStausee
Machmur
Rakka
Kirkuk
Deir al-Sor
Irak
Gebiete unter
Kontrolle von
Kurden
Regierungstruppen
IS-Milizen und
Verbndeten
dnn besiedelte Wstengebiete
IRAK
Tikrit
Homs
Abu Kamal
IRAN
SYRIEN
Haditha
Kubaisa
Bagdad
Falludscha
Damaskus
Ruba
JORDANIEN
Syrien
Gebiete unter Kontrolle von
Kurden
Rebellen (u. a. Freie Syrische Armee)
Assad-Truppen und Verbndeten
IS-Milizen und Verbndeten
SAUDIARABIEN
200 km
Stand: 14. August
Quelle: Pieter van Ostaeyen/ Thomas van Linge
DER SPIEGEL 34/ 2014
75
der Nusra-Anfhrer, lehnte dies ab und
holte sich Untersttzung bei Qaida-Anfhrer Sawahiri. Das war der Moment, als
Baghdadi mit Sawahiri und al-Qaida brach.
Nusra spaltete sich. Ein Teil der Kmpfer
hielt weiter zu Dschulani und al-Qaida,
doch andere, darunter die meisten auslndischen Kmpfer, liefen zu Baghdadi ber.
Der sah sich damals schon an der Spitze
eines Staates, nicht nur als ein Milizenfhrer unter vielen und ernannte sich zum
Anfhrer aller Glubigen.
Im Mai 2013 eroberte ISIS von Nusra
die Stadt Rakka in Syrien und machte sie
spter zu seiner Hauptstadt. Seither breiteten sich die Dschihadisten in Nordsyrien
aus, nhrten sich vom steten Zustrom
Radikaler aus Tunesien, Saudi-Arabien,
gypten, Europa, ja selbst Indonesien.
Weil die Islamisten kaum gegen das Regime, dafr umso mehr gegen die brigen
Rebellengruppen kmpften, vertrieb im
Januar eine Koalition fast aller Gruppen
die Dschihadisten binnen Wochen aus
dem Nordwesten Syriens. Doch mit den
Waffen aus dem Irak kam der IS wieder
in die Offensive.
In den vergangenen Wochen marschierten die Dschihadisten vorrangig gegen Gebiete in Nordsyrien. IS-Kmpfer eroberten
mehrere Orte westlich des Euphrat nahe
der trkischen Grenze. Dabei schnitten sie
rivalisierenden Kmpfern der Freien Syrischen Armee wichtige Versorgungswege
ab die kommen gerade in Aleppo gegen
die Truppen des Regimes in Bedrngnis und
werden so kaum lange ausharren knnen.
Anders als es die IS-Propaganda glauben
machen will, werden die Dschihadisten
lngst nicht von allen Sunniten in Syrien als
Befreier gefeiert. So regt sich in der Provinz
Deir al-Sor Widerstand gegen die neuen
Herrscher. Kmpfer des mchtigen Schaitat-
Nicht nur Mnner brechen auf ins KaStamms haben in mehreren Orten gegen IS
aufbegehrt. Kleine Zeichen des Widerstands lifat, sondern auch fanatisierte Frauen,
die gern einen Dschihadisten zum Mann
gibt es auch in der IS-Hochburg Rakka.
Dort verurteilten die Fundamentalisten htten. Per Twitter und Facebook erteilen
Mitte Juli innerhalb von zwei Tagen zwei IS-Gattinnen ideologische und auch ganz
Frauen wegen angeblichen Ehebruchs zum praktische Ratschlge. Auf ihrem Blog gibt
Tod durch Steinigung. Die meisten Bewoh- sich Umm Layth als britische Einwandener, die von den IS-Fhrern in den Baa- rerin im Kalifat aus. Sie postet Fotos
dscha-Park gerufen worden waren, weiger- von sich und ihren Schwestern, schwarz
ten sich laut Augenzeugenberichten je- verhllt natrlich. Sie beschwrt ihre Ledoch, zu Ttern zu werden. Deshalb schrit- serinnen, ihr in den Islamischen Staat
zu folgen: Wie kannst du keine Nachkomten die Dschihadisten selbst zur Tat.
Anders als im Irak gelingt es IS in Syrien men hinterlassen wollen, die, so Gott will,
nicht, in dem hohen Mae einheimische Teil des groen islamischen Revivals sind?
Schwestern, die bereits berzeugt sind,
Islamisten fr seine Ziele zu gewinnen. In
den Propagandavideos der Dschihadisten gibt Umm Layth folgenden Tipp: Es ist
treten zumeist Mnner mit nordafrikani- besser fr euch, Kleider, Schuhe etc. aus
schem oder saudi-arabischem Akzent auf. dem Westen mitzubringen. Es gibt hier
Sie stehen in der IS-Hierarchie oben, und Kleider, aber, bei Allah, die Qualitt ist
sie sind es auch, die die Scharia-Gerichte wirklich schlecht.
Auch aus Deutschland sind mehrere
in den syrischen Orten fhren.
Auch deshalb ist fr den Islamischen Hundert Kmpfer nach Syrien aufgebroStaat die Propaganda ber soziale Netz- chen. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe
werke so wichtig. Seine Anhnger zele- ermittelt nach SPIEGEL-Informationen in
brieren ihren Ruf, besonders grausam zu mehr als zwei Dutzend Fllen gegen mutsein. Sie twittern Bilder von Kreuzigungen maliche Mitglieder oder Untersttzer des
und Massakern. IS gibt sogar ein eigenes Islamischen Staats darunter eine Reihe
deutscher Staatsangehriger. Mehrfach erMagazin im PDF-Format heraus.
Das Ziel ist klar: Es sollen weitere Kmp- hob die Behrde inzwischen Anklage wefer aus dem Rest der Welt ins Kalifat ge- gen der Untersttzung einer auslndischen
lockt werden. Besorgniserregend ist, dass terroristischen Vereinigung.
Offenbar schickt der IS erprobte Mitdie Dschihadisten mittlerweile auch in europischen Lndern Sympathisanten zu streiter aus dem Nahen Osten zurck nach
gewinnen scheinen: Fahnen des Islami- Deutschland, damit sie dort Geld und Maschen Staats tauchten in den vergangenen terial fr den bewaffneten Kampf besorgen
Wochen bei Demonstrationen in Paris und oder gar den Dschihad nach Europa tragen.
So gingen den Ermittlungsbehrden am
Brssel auf, vergangene Woche wehte sogar eine an einem Haus im Bundesstaat 13. November 2013 auf einer AutobahnNew Jersey, und mitten an der Londoner raststtte in der Nhe von Stuttgart drei
Oxford Street verteilten Islamisten Flug- mutmaliche Islamisten ins Netz, die mit
bltter: Das Kalifat sei da, alle Glubi- Medikamenten, Tarnbekleidung, Nachtgen sollten aufbrechen. Manchen Fanati- sichtgerten und 6250 Euro Bargeld offenbar auf dem Weg nach Syrien waren. Minkern gelten die IS-Kmpfer als Popstars.
destens einer der drei, ein Libanese, soll
dort zuvor im Kampf ausgebildet worden
sein. Einer seiner Helfer war ein deutscher
Staatsbrger.
Ende Mai klagte die Bundesanwaltschaft
die drei Mnner an, am 6. Juni folgte eine
weitere Anklage gegen einen 20-jhrigen
Deutschen. Auch er soll mindestens ein
halbes Jahr lang in Syrien an Waffen ausgebildet worden sein. Nach seiner Rckkehr wurde er in Frankfurt am Main festgenommen. Er steht unter dem dringenden
Verdacht, eine schwere staatsgefhrdende
Gewalttat geplant zu haben.
Einen spektakulren Anschlag im Westen zu verben, daran hatte der Islamische Staat bisher kein Interesse. Doch in
einem nchsten Schritt, glauben Experten
wie Charles Lister, sei es genau das, was
den neuen Dschihadisten noch fehle, um
al-Qaida endgltig zu bertrumpfen.
US-Prsident Obama: Groes Vakuum
76
DER SPIEGEL 34/ 2014
Markus Feldenkirchen, Christoph Reuter,
Mathieu von Rohr, Jrg Schindler,
Samiha Shafy, Christoph Sydow
FOTO: NICHOLAS KAMM / AFP
Titel
Verletzte Kinder im Camp Newroz
Flucht vor den Wahnsinnigen
Nordirak Nicht die Amerikaner, nicht die kurdischen Peschmerga-Kmpfer waren es, die am
Ende die Jesiden im Sindschar-Gebirge retteten. Eine kleine Guerillagruppe der PKK holte die
Verzweifelten vom Berg herunter. Von Christoph Reuter
FOTO: HAWRE KHALID / METROGRAPHY / DER SPIEGEL
m achten Tag auf dem Berg bekam
Bagisa ihr erstes Kind, ein Mdchen. Sie nannte es Chudaida.
Aus dem Dorf Sumari waren die junge
Bagisa und ihr Mann Hadi geflohen. Die
beiden hatten das Glck, allein zu laufen,
nicht in einer der Gruppen, die von den Angreifern unter Beschuss genommen wurden.
Und sie hatten das Pech, allein zu laufen, denn als sie schlielich innehielten,
irgendwo im Schatten eines Felshangs, war
da niemand, den sie kannten. Niemand,
der sein kostbares Wasser mit Bagisa geteilt htte. Sie hatten nun eine Tochter,
aber sie hatten nichts mehr zu trinken.
Andere Familien mit einem Sugling
rckten zusammen, um Mutter und Kind
Schatten zu spenden, sparten sich vom
Munde ab, was einmal am Tag verteilt
wurde. Oder was sie, nach stundenlangen
Mrschen, in den Senken der ausgetrockneten Bergbche gefunden hatten.
Bagisa, Hadi und dem Neugeborenen
half niemand, sie mussten in der Hitze aus-
harren. Bis am Tag nach Chudaidas Geburt
endlich drei kurdische Kmpfer auftauchten, Mitglieder der PKK, und sie nach Syrien brachten, ins Lager Newroz.
Die Geflchteten im Camp Newroz erzhlen vom Grauen, das sie hinter sich gelassen haben. Sie erzhlen, wie die Mnner
von der Terrorgruppe Islamischer Staat
im Dorf Garzarik per Lautsprecher verkndeten: Legt nur eure Waffen nieder,
wir werden euch nichts tun. Und wie sie
dann trotzdem auf alle schossen, die fliehen wollten.
Sie erzhlen vom Schaf, das Verzweifelte mit einem Felsbrocken totschlugen,
um sein Blut zu trinken. Von den alten Eltern, die sie zu Hause zurcklassen mussten. Von Mnnerleichen auf den Straen.
Und von Frauen, die ihre Familien anflehten, sie zu tten, um nicht diesen Wahnsinnigen in die Hnde zu fallen.
Aber sie erzhlen auch von Nachbarn,
die pltzlich zu Feinden und zu Helfershelfern des Islamischen Staats (IS) wur-
den. Denn offenbar ist dessen Angriff einem erprobten Muster gefolgt. Erst wurde
ber lngere Zeit diskret ein Netz an Informanten aufgebaut, mit Arabern aus den
umliegenden Drfern, Turkmenen und
selbst einigen Kurden.
Die Informanten zeigten den Kmpfern,
welche Huser zu plndern sich lohnte,
wo Sunniten lebten, wo Christen und wo
Jesiden. Und so wussten die IS-Krieger,
wie stark der Gegner ist und wen man
als Erstes tten wollte. So war es auch in
den Stdten und Drfern Nordsyriens gewesen, ebenso in der irakischen Handelsmetropole Mossul Anfang Juni.
Knapp zwei Monate lang hatten sich
die Menschen hier sicher gefhlt. Sie
glaubten, dass die dschihadistische Horde
in den Gebieten der Araber bleiben wrde. Erst sah es auch danach aus, fuhren
IS-Kolonnen ihr neues Kriegsgert aus
den geplnderten Bestnden der irakischen Armee doch zur Siegesparade nach
Rakka und kmpften vor allem in Syrien
DER SPIEGEL 34 / 2014
77
PKK-Kmpfer in Machmur: Sie trugen alte Frauen und Kinder auf dem Rcken, dann ging es weiter mit Pick-ups
weiter. Dann aber kamen sie ber Nacht
zurck.
Am Morgen des 3. August griffen die
ersten IS-Konvois Drfer im Umland von
Sindschar an. Einige Einheiten der kurdischen Peschmerga-Miliz htten anfangs
noch zurckgeschossen. Aber im Morgengrauen sagte pltzlich einer der Kommandeure, er habe den Befehl zum Rckzug bekommen, erinnert sich einer der
Dorfbewohner, der alte Blindkas Chalaf.
Alle seien abgezogen, mehr als 7000
Mann aus den Stdten und Drfern des
Bezirks, und htten sich samt ihrem
Waffenarsenal auf den Weg nach Norden
gemacht. Viele der Waffen hatten sie erst
im Juni den Jesiden abgenommen.
Wir waren etwa 1600 Soldaten aus
Sindschar in Malikis Armee, so Chalaf.
Als die sich nach dem Fall Mossuls auflste und die Peschmerga hier einrckten,
beschlagnahmten sie alle Waffen und versprachen, uns zu beschtzen.
Dann aber, an diesem Sonntagmorgen,
zogen die Peschmerga ab aus Sindschar.
Die Jesiden wollten wenigstens ihre Kalaschnikows wiederhaben, um sich selbst
verteidigen zu knnen. Sie lieen den
Konvoi der Peschmerga nicht weiterfahren. Wtend htten sich die kurdischen
Kmpfer daraufhin den Weg freigeschossen, so erzhlt es Chalaf.
Eine Order zum Rckzug habe es nie
gegeben, dementiert hingegen Brigadegeneral Holgard Hekmat, Sprecher des
Peschmerga-Ministeriums in Arbil: Unsere Soldaten sind einfach so weggelaufen.
Das ist beschmend, deshalb haben sie
den Befehl wohl erfunden. Aber wir ermitteln gegen sie und auch gegen den78
DER SPIEGEL 34 / 2014
jenigen, der angeblich den Befehl gegeben
hat.
Die Peschmerga hatten die Jesiden sich
selbst berlassen, wohl um deren Schicksal
anschlieend zu nutzen, um Amerika und
die Welt endlich zum Eingreifen zu bewegen. Dass die Peschmerga nicht in der Lage
waren, die Dschihadisten aufzuhalten,
selbst wenn sie wollten, zeigte der Verlust
von Machmur, einer Stadt im kurdischen
Kernland, die fr Tage von den IS-Milizen
eingenommen wurde.
Vor allem eine kleine Einheit der ebenfalls kurdischen Rebellengruppe PKK und
die US-Luftschlge entschieden die Rckeroberung Tage spter. Bewohner, die am
vergangenen Dienstag zum ersten Mal
nach Machmur zurckkehrten, kamen
nicht, um zu bleiben. Sie wollten nur die
restlichen Mbel holen.
Alle haben Angst, dass die Wahnsinnigen wiederkommen, sagt ein Mann,
whrend er seine Klimaanlage aus der
Wand schraubt. Htten die Amerikaner
nicht bombardiert, wren die schon in Arbil. Unsere Peschmerga knnen uns nicht
schtzen.
Der Vormarsch der Kalifatskrieger hat
das Selbstvertrauen der Peschmerga erschttert. Und alte Feinde zumindest fr
einen Moment zusammengefhrt. Die
PKK und die irakische Kurdenfhrung, die
sich jahrelang misstrauisch beugten, sind
zu Verbndeten in der Not geworden. Kurdenprsident Massud Barsani reiste eigens
Video:
Die Rettung der Jesiden
spiegel.de/app342014irak
oder in der App DER SPIEGEL
nach Machmur, um dem dortigen PKKKommandeur zu danken.
Dass bis zu 50 000 Menschen binnen einer Woche vom Sindschar-Gebirge evakuiert werden konnten, ist wohl tatschlich
das Werk dieser bis vor Kurzem eher
gestrig wirkenden Guerillatruppe PKK.
Deren Kader trainierten in ihrem feldgrnen Militrdrillich immer noch in den
Bergen fr einen Krieg gegen die Trkei,
der lngst abgesagt schien.
Doch nun waren es die PKK-Kmpfer,
die das Terrain auf syrischer Seite der Grenze kontrollierten und von dort die Strae
nach Sindschar freischossen, eine Kette von
Auffangstationen und Lagern entlang der
Route innerhalb Syriens aufbauten. Zu Fu
holten sie die halb verdursteten Flchtlinge
vom Berg, trugen alte Frauen und Kinder
auf dem Rcken, dann ging es weiter mit
Kieslastern und Pick-ups.
Wir haben alles eingesetzt, was fahren
kann, sagt Alwar Chalil, der Chef des
grten Auffanglagers Newroz, in dem die
Jesiden nun auf den Weitertransport warten. Die meisten bleiben nur ein paar Tage,
bis sie weiter in den Irak gebracht werden.
Jeden Tag kommen und verlassen Scharen
das Camp, Ende der vergangenen Woche
wurden dort schtzungsweise zwischen
3000 und 6000 Menschen von der PKK versorgt. Wie viele genau, wei niemand.
Zur selben Zeit dachte man im Pentagon
noch darber nach, wie die Jesiden mittels
einer Luftbrcke aus dem Gebirge gerettet
werden knnten. Als amerikanische Special Forces am Mittwoch aber dort landeten und die Lage sondierten, stellten sie
berrascht fest, dass die Zahl der Flchtlinge weit kleiner war als erwartet.
FOTOS: HAWRE KHALID / METROGRAPHY / DER SPIEGEL
Titel
Eine zuvor erwogene Rettungsaktion sei
damit unwahrscheinlich geworden, sagte
daraufhin US-Verteidigungsminister Chuck
Hagel. Es ist bezeichnend fr das Chaos in
Kurdistan, dass die systematische Evakuierung der Gestrandeten offenbar auch dem
US-Militr weitgehend entgangen war.
Am Mittwochabend vergangener Woche
kamen die vermutlich letzten Flchtlingsgruppen im Lager Newroz an. Die meisten
Lastwagen waren auf dem Rckweg vom
Sindschar-Gebirge leer, einer hatte ein paar
verirrte Schafe geladen. Auch beim ersten
Zwischenstopp Mabada, nur wenige Kilometer hinter der Grenze, wo Helfer Wasser
und medizinische Erstversorgung bereithielten, waren keine Fliehenden mehr zu sehen.
Ob jetzt noch welche vom Berg kommen, wei kein Mensch, sagt ein Arzt.
Das sind ber 100 Quadratkilometer, die
kann keiner absuchen. Aber wir werden
hier noch ein paar Tage bleiben und abwarten.
Selbst die punktuellen Luftangriffe der
amerikanischen F-18-Kampfjets haben IS
kaum gestoppt. Und auch Sturmgewehre
und Panzerfuste knnen keine Kampftruppe aufhalten, die gepanzerte Humvees, Raketenwerfer und Artillerie aus den
Arsenalen der irakischen Armee erbeutet
hat. Waffen, die zuvor von den USA an
die Iraker geliefert worden waren.
Fast zeitgleich mit der Erfolgsmeldung
von Prsident Barack Obama, dass der
Belagerungsring um Sindschar durchbrochen sei, haben ihn die Terrorkommandos
vom Islamischen Staat am vergangenen
Donnerstag abermals fr Stunden geschlossen.
Nahe der Strae ins Sindschar-Gebirge,
auf der das SPIEGEL-Team unterwegs ist,
schlagen pltzlich Mrsergranaten ein und
lassen haushohe Staubwirbel hochschieen, die der Wind weitertrgt. Lastwagenfahrer reien das Lenkrad herum,
schlingern ber die Piste, die Mnner rufen
Entgegenkommenden in Panik zu: Sie
schieen!
Am Morgen des 14. August hrt die
winzige Tochter von Bagisa und Hadi auf
zu atmen.
Chudaida wurde vier Tage alt.
Woran genau sie starb, knne man nicht
feststellen, sagt der Arzt, der sie im Camp
Newroz behandelt hatte: An allem. An
der Hitze auf dem Berg, dem Durst, dem
Wind voller Staub und Exkremente, dem
Hunger. Sie sei schon zu schwach gewesen,
als sie im Lager ankam.
Hadi grub mit einem Stck Plastik eine
Grube, nur ein paar Meter hinter den Zelten des Camps. Ein syrischer Sanitter sah
ihn dort, ein Bndel im Arm. Er wollte
helfen, wenigstens ein bisschen Wrde zu
Ehepaar Bagisa und Hadi mit totem Baby
Nur ein kleines Grab
bewahren, also fragte er beim nahen Dorffriedhof an, ob dort Platz fr Chudaida
sei, nur ein kleines Grab.
Whrend die Flchtlinge im Camp die
Lastwagen gen Irak bestiegen, wurden
Hadi und seine Frau Bagisa einen halben
Tag lang herumgeschickt, von der Friedhofsverwaltung zum PKK-Sicherheitsdienst, von dort zur Camp-Leitung und
wieder zum Friedhof zurck.
Niemand wollte zustndig sein fr ein
totes jesidisches Kind aus dem Irak in
syrischer Erde. Am Nachmittag endlich
erlaubte der Friedhofswchter Hadi und
Bagisa, ihre Tochter zu beerdigen.
I
TRKEI
Gerek
TRKEI
SYRIEN
SindscharGebirge
Tigris
Fischchabur
Lager Newroz
SYRIEN
kurz vor Gerek
IRAK
Durchgangslager Mabada
Bagdad
in Grenznhe
IRAK
Evakuierung
von Jesiden
durch die PKK
N
Strae nach
Mossul,
ca. 115 km
SINDSCHAR-GEBIRGE
G O O G LE E ART H
Sindschar
(unter IS-Kontrolle)
Hchste Erhebung: 1463 m
Lnge: ca. 60 km
Ausland
Der Krieg der anderen
Ukraine Der SPIEGEL-Autor und ehemalige Russlandkorrespondent Christian Neef ist als einer
der letzten Journalisten noch in Donezk. Ein Bericht aus der umkmpften Stadt.
80
DER SPIEGEL 34 / 2014
ten soll. Auf dem zweiten steht: Wir passen auf Ihre Wohnungen auf, solange Sie
nicht in Donezk sind. Wir sind verlsslich
und ehrlich. Jewgenij und Anna. Immobilienagentur 21. Jahrhundert. Dann folgen
zwei Telefonnummern.
Es sind gut gemeinte Hinweise, aber leider keine, die in diesem Krieg helfen.
Nachbarn sind jetzt aufgetaucht, sie zerren die Verletzten in zwei Autos, auf Krankenwagen darf man in diesen Tagen nicht
mehr hoffen, und irgendwann kommen
auch die ersten Rebellen herangerast. Sie
sperren mit wilden Gesten die Strae ab,
auf der ohnehin kaum noch jemand fhrt.
Ich gehe ins Treppenhaus von Nummer
58a, unter den Schuhen knirscht das zersplitterte Glas. Ganz unten rechts steht
eine Frau in der offenen Wohnungstr, sie
versucht, ihre Fassung zu bewahren. Nur
noch drei Familien seien im Haus, sagt sie
zu mir, die anderen seien aus Donezk geflohen. Dann sieht sie mich misstrauisch
an und schlgt die Wohnungstr zu.
Aber irgendwann geht die Tr wieder
auf, und sie zieht mich hinein, allerdings
erst nach ausfhrlicher Befragung, woher
ich denn sei. Die nun glaslosen Fenster
sind verhngt, die Zimmer mit Scken, Kis-
ten und Einweckglsern vollgestopft: berlebensreserven. Strom wie im Park Inn
gibt es hier nicht, die Kche ist verwstet,
aus dem Zimmer gegenber taucht ein
lterer Mann mit Taschenlampe auf.
Er lsst sich meine Ausweise zeigen,
dann die Visitenkarte, er wirkt ngstlich,
misstrauisch. Er sagt: Wir wissen ja nicht,
wer jetzt kommt und was wird. Und ob
sie sich an uns rchen werden. Sie das
sind die regierungstreuen Ukrainer, die
sich auf den Sturm der Stadt vorbereiten.
Sie haben nie mit uns reden wollen,
sagt der Mann und fhrt mich ins Wohnzimmer. Falls man den Raum so nennen
kann: Auch er ist mit dem Hab und Gut
der Familie vollgestopft, es sieht chaotisch
aus, aber neben all den Kisten ist noch ein
Platz auf dem Sofa frei, der Mann bietet
ihn mir an.
Dann stellt er sich vor: Professor Wladimir Borissenko vom Lehrstuhl fr Elektroantriebe und Automatisierung von Industrieanlagen an der Technischen Universitt,
Vizedekan der Franzsisch-Technischen
Fakultt, Mitglied der ukrainischen Akademie der technologischen Wissenschaften.
Seine Universitt liegt gleich um die Ecke,
27 000 Studenten sind dort eingeschrieben.
Autor Neef an der Donezker Artjomstrae
Diesmal sind die Einschlge unglaublich laut
FOTO: ALPEYRIE JONATHAN / DER SPIEGEL
er Firnis ist dnn, der Gsten im
Donezker Hotel Park Inn den Eindruck vermittelt, sie wren vor der
unwirtlichen Auenwelt geschtzt. Drinnen sehen wir BBC und ZDF, wir haben
noch flieend Wasser, Strom und Internet,
eine Klimaanlage khlt die Sommerhitze
herunter.
An der Bar sitzen Beobachter von der
OSZE, sie trinken Lwiwske, dunkles
ukrainisches Bier, der halbe Liter kostet
umgerechnet 2,50 Euro, ein fr Donezk
geradezu irrer Preis. Drauen stehen ihre
blendend weien Toyota-Gelndewagen,
mit denen sie durchs Kriegsgebiet fahren,
wenn es nicht ganz so gefhrlich ist.
Dieser Donnerstag gehrt zu den gefhrlicheren Tagen. Es ist kurz vor 13 Uhr, als
eine Salve Granaten niedergeht. Das Ohr
gewhnt sich schnell an Kriegsgerusche,
es kann sie bald auch halbwegs verlsslich
unterscheiden: Diesmal sind die Einschlge
unglaublich laut und sehr nah. Und tatschlich, ich brauche nur drei Minuten aus
dem Hotel, da bin ich im Elend der Kriegsstadt Donezk angelangt.
Ich war seit dem Frhjahr, seit Beginn
des Krieges im Osten der Ukraine, regelmig in Donezk. Ich erinnere mich daran,
wie im 120 Kilometer entfernten Slowjansk
die Auseinandersetzungen zwischen prorussischen Separatisten und kiewtreuen
Ukrainern begannen. Das war im April, es
gab dort die ersten drei Toten, ich war bei
der Beerdigung. Dann kehrte ich nach
Donezk zurck und dachte: Diese blhende Millionenstadt wird der militante Hass
nicht erreichen.
Aber jetzt ist der Krieg bis nach Donezk
gekommen, bis an die Uliza Artjoma, die
Hauptstrae, die sich durchs Zentrum zieht.
Ich stehe vor Haus Nummer 58a. In der
Wand, dritte Etage, ist ein groes Loch zu
sehen, Fensterscheiben sind zerplatzt, auch
ringsherum gibt es Spuren von Einschlgen,
die Strae ist mit Scherben berst. Und
der Asphalt ist nicht mehr glatt, sondern
mit Dutzenden kleinen Trichtern durchsetzt.
Es sind die Granatsplitter, vor denen
man sich frchten muss. 50 Meter entfernt
an der Kreuzung liegen drei Menschen:
eine Frau, deren Beine stark bluten, und
gegenber zwei Mnner. Der eine von ihnen ist tot, der andere stirbt kurz darauf.
An der Hauswand von Nummer 58a
hngen zwei Zettel. Auf dem einen warnt
die Fhrung der prorussischen Rebellen
vor Blindgngern und erklrt, wie man
sich beim Auffinden von Munition verhal-
der sogenannten Donezker Volksrepublik Leuten auch egal. So resigniert sind sie
sitzt. Er hat den Posten von Alexander mittlerweile hier.
Borodai bernommen, einem studierten
Ich habe es mir zur Angewohnheit gePhilosophen aus Moskau. In den Volks- macht, in fremden Stdten nicht das Taxi
republiken verschwinden nun viele der zu benutzen, sondern Straenbahn oder
bisherigen politischen Fhrer. Sie werden Bus. So hre ich, was die anderen reden. In
durch Militrs ersetzt ein Zeichen, dass Donezk verbindet die Straenbahnlinie 8
die Stunden der Volksrepubliken gezhlt den Rand des Stadtzentrums mit den Bergsind, jetzt ist straffe Fhrung gefragt.
werkssiedlungen. Die alten tschechischen
Sachartschenko kommt selbst zu Kabi- Tatra-Wagen rumpeln kilometerweit durch
nettssitzungen in Camouflage. Ich sa ihm Brachland oder Gartensiedlungen, bevor
vorige Woche gegenber, an seiner Brust sie das nchste Wohngebiet erreichen. Es
prangte das Georgskreuz 4. Klasse. An sind Gegenden, in die nur kleine Straen
Felduniformen werden keine Orden getra- fhren, man sieht Dinge, die aus dem
gen, Sachartschenko aber legt Wert auf Autofenster nicht zu sehen sind.
die Auszeichnung.
An eine der Haltestellen hat jemand den
Dabei wurde er vor allem ins Amt ge- Satz gemalt: Donezker Volksrepublik das
hievt, damit die Welt nicht mehr von Mos- bedeutet Verarmung des Donezbeckens.
kauer Marionetten sprechen kann, die in An der nchsten steht: Donezker VolksDonezk regieren Sachartschenko ist republik das sind Mrder. Und dann:
Ukrainer. Aber was soll dann das russische Ruhm der Ukraine! Auch das gehrt zur
Georgskreuz, das fr besondere militri- Stimmung in Donezk.
sche Leistungen bei der Verteidigung des
Nicht weit vom Regierungssitz der Rerussischen Vaterlandes verliehen wird?
bellen hat vergangene Woche ein Caf zuSachartschenko war Elektriker in einem gemacht, das als eines der letzten seine
Bergwerk, dann studierte er an der Poli- Tren noch offen hielt. Die Inhaber haben
zeischule. Er redet vom faschistischen eine Mitteilung an die Eingangstr gehngt.
Regime in Kiew, davon, dass man die Aufflligerweise ist sie nur in Ukrainisch
ukrainischen Soldaten liquidieren ms- verfasst, was in Donezk normalerweise als
se, weil sie so rcksichtslos die Stadt be- Sakrileg oder Akt des Protestes gilt.
schieen. Es ist nicht die Sprache BorisMit dem Ukrainischen hapert es bei mir,
senkos, auch wenn der Professor ebenfalls ich bitte eine ltere Dame, die gerade vorkein Anhnger Kiews ist. Der hat zum beigeht, um Hilfe. Auf dem Zettel steht
Beispiel gar nicht davon gesprochen, dass nicht die in diesem Fall bliche Formel,
ukrainische Granaten sein Haus zerstrt man schliee angesichts der gegebenen
htten. Es wei ja niemand, von wem die Lage. Nein, hier klingt das ganz anders:
tdlichen Raketen stammen, es ist den
Entschuldigen Sie bitte, dass wir Ihnen
zurzeit nicht unser Lcheln, unsere Sigkeiten und unsere berhmte Schokolade
anbieten knnen. Die Tragdie, die ber
unsere geliebte Stadt hereingebrochen ist,
will einfach nicht zu Ende gehen. Wir sehen uns wieder, vergessen Sie uns nicht!
Das Caf ist eine Filiale der Lemberger
Schokoladen-Werkstatt. Lemberg liegt in
der von den Donezkern ungeliebten Westukraine, wo die Menschen eher Ukrainisch
als Russisch sprechen. Offiziell ist Lemberg
jetzt angeblich Feindesland.
Aber in Donezk regt sich niemand ber
diesen Zettel auf, niemand reit ihn ab.
Gibt es die viel beschworenen Konflikte
zwischen den Volksgruppen, den Russen,
den West- und den Ostukrainern, am Ende
gar nicht?
Je lnger ich in dieser Stadt bin, desto
mehr glaube ich, dass vieles nicht stimmt,
was man sich ber den Krieg in der Ostukraine erzhlt. Andere haben ihn dorthin
getragen.
Am Freitagnachmittag kommt die Nachricht, die Ukrainer htten gepanzerte
russische Militrfahrzeuge auf ukrainischem Territorium zerstrt. Moskau dementiert, es seien berhaupt nie Militrfahrzeuge ber die Grenze gefahren. Das
Schutzsuchende im Keller einer Donezker Entbindungsstation
Spiel mit dem Feuer geht weiter.
I
Es ist egal, von wem die Raketen stammen
FOTO: DIMITAR DILKOFF / AFP
Franzsische Fakultt? Es ist einer dieser Momente, in denen mir die Absurditt
des Krieges besonders bewusst wird. Ja,
sagt Borissenko, bei uns wird in Franzsisch gelehrt, er gebe auch seine Bcher
mit franzsischen Wissenschaftlern heraus.
Er kramt sein neues Werk hervor, vorige
Woche, schon mitten im Krieg, ist es aus
einer Donezker Druckerei gekommen, in
Russisch und Franzsisch verfasst, Auflage:
100 Exemplare.
Er legt es vor mich hin und fngt an zu
blttern. Er zeigt mir technische Zeichnungen, farbige Fotos und Tabellen, fllt vom
Russischen ins Ukrainische, dann ins Franzsische. Selbst ein bisschen Deutsch
mischt er hinein, denn sein Lehrstuhl unterhlt auch Beziehungen zur Technischen
Universitt Magdeburg.
Wie gesagt: Drauen ist Krieg, in sein
Haus ist gerade eine Granate eingeschlagen, seine Frau hat jetzt andere Sorgen.
Borissenko aber freut sich darber, dass
sein Buch erschienen ist. Der Titel auf dem
Buchdeckel ist in Ukrainisch.
Es ist nicht so, dass in Donezk niemand
Ukrainisch kann. Die meisten knnen es,
aber Kiew hat wenig fr eine Annherung
getan, die Regierung findet bis heute nicht
den richtigen Ton im Umgang mit dem Osten. Das haben andere, die den Donbass
seit Sowjetzeiten fr eine exterritoriale
Domne halten und ihn nun gewaltsam
vereinnahmen wollen, fr sich genutzt.
Alexander Sachartschenko zum Beispiel,
der neue Premierminister der Rebellen,
ein Major, der nun im Regierungsgebude
DER SPIEGEL 34 / 2014
81
Die Schutzlosen
Nahost Ein Haus im Gaza-Streifen, darin befinden sich acht Menschen.
Bevor sie gerettet werden knnen, fallen Bomben. Die Rekonstruktion einer Tragdie.
Von Julia Amalia Heyer und Juliane von Mittelstaedt
Luftangriff auf Huser der Wahdan-Familie in Beit Hanun am Morgen des 26. Juli
Trauernde Familienangehrige
82
DER SPIEGEL 34 / 2014
Ausland
FOTOS: POLARIS (O.); ALESSIO ROMENZI / DER SPIEGEL (U.)
aki Wahdan sucht einen Kopf. Oder
einen Leib. Die berreste von acht
Menschen, die hier sein mssen. Die
beiden kleinen Brder, die Groeltern, die
Mutter, die zwei Schwestern und die kleine
Nichte. Bisher hat er nur 13 Beine gefunden, mit kleinen und groen Fen. Aber
wie soll er sie an den Fen erkennen, die
schwarz sind von Dreck und Blut?
Er steht auf dem Schuttberg, der sein
Elternhaus war, und schreitet die Umrisse
des Wohnzimmers ab. Sie mssen hier unter ihm liegen, unter zerfetzten Matratzen,
Kleidung, einem Kinderfahrrad, unter Tonnen von Beton. Sie sind so nah, aber Saki
kommt nicht an sie heran. Es htte nicht
viel gefehlt, und auch er wrde hier liegen,
in einer Gruft aus Beton.
Jeden Tag kommen Saki und seine lteren Brder zu diesem Berg aus Stein und
Schutt. Der Islam verlangt, die Toten so
schnell wie mglich zu beerdigen. Aber
sie sind schon fast zwei Wochen hier. Es
riecht nach Tod, Fliegen surren. Saki luft
ber die Trmmer und wei nicht, was er
tun soll. Er ist ein groes Kind, mit einem
breiten, gutmtigen Gesicht, mit seinen
19 Jahren ist er jetzt wieder der jngste
Sohn. Aber was heit das noch, Sohn? Er
hat ja keine Eltern und keine Groeltern
mehr.
Saki zieht an Eisenstangen und rttelt
an Betonbrocken. Mit den Hnden graben? Hoffnungslos. Eigentlich brauchen
sie einen Bagger, doch die sind alle im Einsatz. Allein in Beit Hanun, im uersten
Nordosten des Gaza-Streifens, sind ganze
Huserblocks verschwunden. Da, wo die
Familie Wahdan wohnte, steht nichts mehr.
14 Huser gehrten der Grofamilie, vor
vier Wochen lebten darin 200 Menschen.
Jetzt ist hier nur noch ein einziger Schuttberg. Dahinter liegt Brachland, ist die
Grenze zu Israel, einen Kilometer entfernt.
Wie ein Finger ragt Beit Hanun an Israel
heran. Und das Viertel al-Burrah, wo die
Familie Wahdan lebte, ist die Fingerspitze.
Schon oft fuhren Panzer durch Beit Hanun, die 50 000 Einwohner sind daran gewhnt. Doch diesmal ist der Ort zu einem
der schlimmsten Schlachtfelder dieses Krieges geworden. 91 Menschen sind hier gestorben, darunter 23 Kinder und 22 Frauen.
Und acht Mitglieder der Familie Wahdan.
Die Uno sagt, 85 Prozent der Toten im
Gaza-Streifen seien Zivilisten. Israel
spricht von hchstens 60 Prozent. Aber
was sagen diese Zahlen schon aus?
Der Fall der Familie Wahdan ist nur eine
Funote in diesem Krieg, in dem ber 2000
Menschen gestorben sind. Aber er zeigt
beispielhaft, wie Unbeteiligte in diesem
Konflikt zu Opfern wurden. Wenn man
eine Antwort sucht auf die jetzt diskutierte
Frage, ob dieser Krieg verhltnismig ist,
dann hilft es, das Schicksal der Familie
Wahdan genauer zu betrachten.
Der SPIEGEL hat mit Angehrigen gesprochen, mit Freunden und Nachbarn der
Familie, mit palstinensischen Menschenrechtlern und einem Oberst der israelischen Armee. Sie alle haben viele Details
besttigt; nur die Armee will sich nicht
konkret uern. Anhand dieser Aussagen
und mithilfe von Chat-Protokollen ist es
mglich, die letzten Tage der acht Menschen in Beit Hanun zu rekonstruieren.
Daraus ergibt sich das Bild einer
offenbar bewusst in Kauf genommenen
Ttung von Zivilisten durch die israelische
Armee. Das Haus der Wahdans wurde
bombardiert, obwohl die Soldaten wissen
mussten, dass hier ein alter Mann, drei Kinder und vier Frauen waren. Sie starben,
weil sie nicht fliehen konnten, weil sie zu
Gefangenen in ihrem Haus wurden.
Auch im Krieg geschehen Fehler, es sterben Zivilisten, ohne dass es Absicht ist.
Womglich hat sich jemand geirrt, als er
die Bombe abwarf. Aber knnen acht Tote
einfach nur ein Fehler sein? Ab wann kann
man von Fahrlssigkeit sprechen? Und ab
wann von einem Kriegsverbrechen?
8. Juli: Der Kriegsbeginn
Die meisten Mitglieder der Familie Wahdan verlassen ihre Huser schon, bevor
die Operation beginnt, die Israel Fels in
der Brandung nennt. Es ist unruhig geworden, die Armee feuert von der Grenze
aus. Aber Sakis Groeltern geht es wie
vielen Palstinensern: Sie wollen ihr Haus
nicht verlassen, es ist ihr wichtigster Besitz.
Sie leben seit Jahrzehnten darin, dreistckig ist es, wei gestrichen, viel Platz fr
eine Grofamilie. Dahinter ein Garten, mit
Olivenbumen und Bienenstcken.
Und es ist ja noch nie etwas passiert.
Auch in den vorherigen zwei Gaza-Kriegen sind die Wahdans geblieben. Sie fhlen sich sicher, gerade weil sie so nah an
der Grenze sind. Denn von drben, von
Israel aus, werden sie rund um die Uhr beobachtet. Und in der Luft ber ihnen kreisen Drohnen. Von al-Burrah, ihrem Stadtteil, werden keine Raketen abgefeuert. Die
Soldaten, denken die Wahdans, wissen,
dass sie friedlich sind. Dass sie sich mehr
fr ihre Orangen interessieren als fr Politik, dass sie Bienenzchter sind oder Bauarbeiter, die meisten ohne Job. Mnner, denen selbst der kleine Gaza-Streifen zu gro
ist, weshalb sie Beit Hanun selten verlassen.
Dann, am 8. Juli, beginnt der Krieg. Und
alles wird anders. Die Hamas feuert am
ersten Tag mehr als 158 Raketen auf Israel;
Israel greift 223 Ziele in Gaza an. In Beit
Hanun fallen tglich Bomben, die Artillerie schiet auf das Viertel. Die zurckgebliebenen Wahdans merken, dass es nun
zu gefhrlich ist, das Haus zu verlassen.
Und so bleiben sie. Wo sollen sie auch hin?
Ganz Gaza wird bombardiert, es gibt hier
keinen Ort, an dem man sicher wre.
Fnfzehn Menschen befinden sich zu
dieser Zeit im Haus: Grovater Saki und
seine Frau Suad, beide Mitte 60; der Vater
Hatim, 51, die Mutter Bagdat, 50, und
sechs ihrer Shne. Da sind die beiden
Kleinsten, Hussein, 10, und Ahmed, 14. Auerdem Saki, 19, Mohammed, 20, Bahdschat, 29, und Rami, 30. Die Tochter Sumud, 22, mit der anderthalbjhrigen Ghina.
Auerdem sind zwei Brder des Vaters da.
Als Letzte kommt Sakis Schwester Zeinab, 27, dazu. Sie ist medizinisch-technische Assistentin im nahen Krankenhaus
von Beit Hanun, drei Tage lang hat sie
dort Verletzte versorgt und Blutproben untersucht. Nun will sie zu Hause duschen
und ein wenig ausruhen. Sie ist eine der
wenigen in der Familie, die ein regelmiges Einkommen haben, davon bezahlt sie
die Krebsmedikamente fr den Vater. Sie
trumt davon, Gaza zu verlassen, nach
gypten zu gehen und einen Master zu
machen. Sie liebt arabischen Pop und trkische Serien. Und sie liebt Saki, ihren Bruder, der zu Hause wohnt, mal auf dem Bau
arbeitet, mal Geld vom Vater bekommt.
Saki und Zeinab, die beiden Geschwister, sind sich hnlich, sie sind unverheiratet,
frhlich und lebenslustig. Beide sind in
Gaza aufgewachsen, sie haben zwei Kriege
erlebt, doch trotzdem hat sie nichts auf
das vorbereitet, was jetzt kommt.
17. Juli: Die Bodenoffensive
Am Abend des 17. Juli sehen Saki und sein
Bruder Ahmed zusammen fern. Sie haben
al-Aksa-TV eingeschaltet, den Hamas-Sender. Die Brder sind keine Anhnger der
Hamas, aber nur al-Aksa zeigt rund um
die Uhr Berichte von den Kmpfen, Beerdigungen und zerstrten Husern. Der
kleine Ahmed, so erzhlt es sein Bruder
spter, sagt: Irgendwann zieht ihr mich unter den Trmmern hervor. Dann weint er.
Kurz darauf kndigt Israel an, dass die Bodeninvasion beginnt. Auf al-Aksa-TV sagt
ein Hamas-Sprecher, die Soldaten wrden
keinen Meter nach Gaza hineinkommen.
Am nchsten Abend rollen die Panzer
nach al-Burrah. Die Armee vermutet, dass
sich hier Tunnel befinden, die unter der
Grenze hindurchfhren. Die Soldaten haben zuvor Flugbltter abgeworfen, jetzt
fordern sie die Bewohner per Lautsprecher
auf zu fliehen. Die Menschen rennen weg,
nur mit ihren Kleidern am Leib. Aber um
die Wahdans herum wird schon gekmpft.
Es ist zu spt, sie haben die letzte Gelegenheit zur Flucht verpasst.
Die Familie ruft beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes an, erzhlt Saki.
Das Rote Kreuz knnte mit der israelischen
Armee ihre Evakuierung organisieren. Die
Familie wei nicht, dass ihr Viertel nun in
einer geschlossenen Militrzone liegt. Dutzende Hamas-Kmpfer werden hier in den
nchsten Tagen gettet, auch drei israeDER SPIEGEL 34 / 2014
83
Freundinnen Doha Atala, Zeinab Wahdan: Ich sitze in der Scheie
Die Soldaten greifen den Grovater und
schieben ihn als Schutzschild vor sich her,
das M-16-Sturmgewehr auf der Schulter,
von einem Zimmer ins nchste, auf der
Suche nach Kmpfern und Waffen. Sie finden offenbar nichts. Die Mnner der Familie werden durchsucht, dann fesseln die
Soldaten sie und ziehen ihnen Augenbinden ber. Sie konfiszieren die Handys. Nur
Zeinab, die Schwester, kann ihres verstecken. Es wird in den nchsten sechs Tagen
ihre einzige Verbindung zur Auenwelt
sein. Die Wahdans sind jetzt Gefangene
in ihrem eigenen Haus, um sie herum wird
geschossen.
Die Familie muss im Eingangsbereich
bleiben, erzhlt Saki, nur ein alter Teppich
liegt hier. An der Wand hngt Vers 255
aus der 2. Sure des Koran, der Haus und
Menschen schtzen soll. Die Soldaten
schlafen auf den Matratzen im Wohnzimmer, ihre M-16 neben sich. Scharfschtzen
positionieren sich auf dem Dach. Sie zerschlagen Tren und Fenster, hauen Lcher
in die Wnde, so knnen sie von einem
Haus ins nchste gelangen.
Noch am selben Nachmittag werden alle
erwachsenen Mnner fr ein Verhr nach
Israel gebracht, nur den Grovater nehmen sie nicht mit. Um 14 Uhr steigen die
sieben Mnner mit verbundenen Augen in
Panzer, so erzhlt es Saki. Sie fahren in
das Gefngnis von Aschkelon, 15 Kilometer nrdlich von Gaza. Die Armee besttigt, dass Dutzende Mnner aus al-Burrah
in Israel befragt wurden, will sich aber zu
einzelnen Fllen nicht uern.
Die anderen bleiben zurck. Saki und
Zeinab sind jetzt getrennt. Sie ahnen nicht,
dass sie sich nicht wiedersehen werden.
Zeinab schreibt auf ihrer Facebook-Seite: Gott, hab Gnade!
Noch in derselben Nacht, kurz bevor
lische Soldaten. Vermutlich knnen die Wahdans daher nicht evakuiert werden. So er- der Tag anbricht, sprengen israelische Solzhlt es die Familie; das Rote Kreuz uert daten ein Loch in die Gartenmauer, dann
sich zu einzelnen Fllen grundstzlich nicht. brechen sie die Haustr auf. Sie rufen auf
Am Abend erhlt Zeinab Wahdan, die Arabisch: Alle herkommen! Wer sich im
lteste Tochter, eine Kurznachricht von ih- Haus versteckt, wird erschossen!
Der Oberst der israelischen Armee, der
rer besten Freundin Doha Atala, 26, es ist
22.34 Uhr: Bist du okay? Wo bist du jetzt? die Kmpfe in Beit Hanun befehligt, beZeinab antwortet: Ich sitze in der sttigt auf Anfrage, dass die Soldaten in
Ortschaften Huser eingenommen haben.
Scheie. Sie sind jetzt reingekommen.
Doha: Warum habt ihr nicht das Haus Von dem Moment, ab dem wir al-Burrah
gerumt? Stimmt es, dass die Panzer in eu- betreten haben, sind wir auch in Huser
rer Nhe schieen? Zeinab antwortet so- gegangen. Die Soldaten wrden von dort
fort, es wird fr sechs Tage ihre letzte Ant- aus operieren, oft blieben sie mehrere
wort bleiben: Ja, es ist nah. Wir haben das Tage. Dass sie ein Haus mit Zivilisten fr
Haus nicht verlassen. Wie knnten wir? lngere Zeit besetzten, sei eigentlich nicht
Sie bombardieren wie verrckt. Ich habe vorgesehen. Aber es kann passieren.
Was an diesem ersten Tag im Haus gegenug, sie sollen aufhren. Wie geht es dir?
Doha schreibt: Wir sind besser dran. Ich schah, erzhlt der 19-jhrige Saki zwei Wohabe gehrt, ganz Beit Hanun hat sich in chen danach. Die Brder korrigieren ihn,
manchmal ergnzt einer Details.
die Schulen geflchtet.
84
DER SPIEGEL 34 / 2014
In Aschkelon wird Saki acht Stunden lang
befragt. Gehrt er zur Hamas? Wei er,
wo die Tunnel sind? Der Israeli, der ihn
befragt, nennt sich Abu Daud. Er spricht
flieend Arabisch und wei viel ber den
Islam. Er behandelt Saki gut, nur die
Handfessel drckt. Es gibt Sandwiches
und Wasser. Am dritten Tag schicken die
Soldaten die Wahdans zurck nach Gaza.
Sie haben nichts Belastendes gefunden,
sonst wrden sie sie nicht freilassen. Saki,
die Brder, sein Vater und die Onkel berqueren den Grenzbergang Erez. Sie wollen zu ihrem Haus, aber die Palstinenser,
die sie in Erez treffen, sagen: Seid ihr
verrckt? Niemand kommt lebend nach
Beit Hanun.
In Gaza-Stadt kommen sie bei Angehrigen unter. Saki versucht, seine im Haus
zurckgebliebene Schwester Zeinab zu erreichen, erzhlt er, aber ihr Handy ist aus.
Sie meldet sich erst am nchsten Tag. Die
Soldaten seien noch da. Die Eingeschlos-
FOTOS: LORIS SAVINO / DER SPIEGEL (O.L.); ALESSIO ROMENZI / DER SPIEGEL (U.)
20. Juli: Die Gefangenschaft
berlebender Saki Wahdan im zerstrten Haus in Dschabalia: Zwei Bombardements in neun Tagen
Ausland
senen haben nichts mehr zu trinken, ihr
Wassertank wurde zerschossen.
Zeinab ruft an, wann immer sie kann.
Wenn sie im Badezimmer ist. Wenn sie
kocht, was die Soldaten nur in den ersten
Tagen erlauben. Sie hat Angst, dass sie ihr
das Handy wegnehmen. Dass der Akku
leer ist. Es gibt ja keinen Strom mehr. Das
lngste Gesprch dauert eine Minute. Danach macht sie das Handy sofort aus.
Am 24. Juli beschiet die Armee die UnoSchule in Beit Hanun mit Mrsern, 16 Menschen sterben. Die Panzer dringen ins Zentrum des Ortes vor, Soldaten durchsuchen
das Rathaus, sie zerstren Computer, reien
die Festplatten heraus und nehmen sie mit.
Was in diesen Tagen im Haus der Wahdans passiert, ist nur durch die Anrufe von
Zeinab nachzuvollziehen und durch das,
was sie auf Facebook postet.
An dem Tag, an dem die Uno-Schule
getroffen wird, schreibt Zeinab auf ihrer
Facebook-Seite: Wir sind mit der israelischen Armee seit fnf Tagen eingeschlossen. Bittet Gott, dass es bald zu Ende ist.
Ihre Freundin Doha fragt: Warum seid
ihr nicht gegangen wie alle anderen?
Zeinab antwortet: Wir konnten nicht gehen. Wir sind die Einzigen hier.
Doha schreibt: Lass sie nicht sehen, dass
du ein Handy hast. Pass auf dich auf und
versuch, das Rote Kreuz zu erreichen.
Zeinab ist verzweifelt, erzhlt Saki. Ihre
Stimme habe mit jedem Mal schwcher
geklungen. Sie sagt zu ihm: Wir warten
darauf, dass wir dran sind zu sterben.
Um 13.46 Uhr schreibt die Freundin
wieder eine Nachricht: Zeinab, wo bist du?
Alle suchen dich! Ich mache mir solche
Sorgen, mach doch dein Telefon an!
Etwas mehr als eine Stunde spter antwortet Zeinab: Wir sind eingeschlossen.
Es ist schrecklich. Ich darf das Telefon nicht
anlassen. Ich darf das Telefon nicht mehr
bei mir haben.
Doha antwortet: Sei vorsichtig und pass
auf dich auf! Hab keine Angst!
Am Tag darauf um 16.32 Uhr meldet
sich Doha wieder: Zeinab, wo bist du?
Anderthalb Stunden spter kommt die
Antwort: Mach dir keine Sorgen, ich lebe
noch. Jetzt sind wir seit einer Woche eingeschlossen, es ist zum Verzweifeln, nicht
einmal das Rote Kreuz hilft uns.
Doha fragt: Habt ihr zu essen, zu trinken? Ich mache mir solche Sorgen.
Zeinab schreibt: Kein Wasser, kein
Strom. Niemand hilft uns.
Am sechsten Tag verlassen die Soldaten das Haus, es ist der 25. Juli.
Kurz darauf, am Vormittag, ruft
der Grovater beim Brgermeister von Beit Hanun an.
Mohammed Nasik al-Kafarna ist Professor fr
Arabisch, er gehrt der
Hamas an, aber er ist
beliebt, auch bei denjenigen, die die Islamisten ablehnen. Der Grovater sagt, so
erinnert sich Kafarna: Bitte holt uns hier
raus. Wir sind verzweifelt. Der Brgermeister verspricht Hilfe, aber er sagt auch,
die Koordinierung mit der israelischen Armee knne dauern. Sein Assistent ruft bei
der Uno an, die wiederum mit den Israelis
spricht. Am Ende, so berichtet es Kafarna,
habe der Uno-Helfer versprochen: Bis zum
Fastenbrechen am Abend wrden sie die
Wahdans evakuieren. Die Uno uert sich
dazu nicht; es habe zu viele solcher Anfragen gegeben, Tausende in wenigen Tagen.
Doch nichts passiert. Als die Zeit des
Fastenbrechens beginnt, ruft Sakis Mutter
aus dem Haus an. Sie fragt den Brgermeister: Mssen wir alle Hoffnung aufgeben und anfangen zu beten?
Um 19 Uhr ruft Zeinab ihren ltesten
Bruder Rami zum letzten Mal an. Er erinnert sich, dass die Schwester gesagt habe,
die Soldaten htten die Familie angewiesen,
im Haus zu bleiben, dort sei sie sicher. Und
dann habe Zeinab noch gesagt: Jetzt, wo
die Soldaten weg sind, ist es noch gefhrlicher. So erzhlen es die Brder. Andere
Zeugen fr diese Worte gibt es nicht.
26. Juli: Die Bombardierung
Am nchsten Morgen ab acht Uhr soll
es eine zwlfstndige Feuerpause geben.
Die Brder erzhlen spter, dass sie sich
frh auf den Weg zum Haus machen, um
kurz nach sieben Uhr rufen sie Zeinab
zum letzten Mal an. Sie sagen ihr, dass sie
unterwegs sind. Als sie in al-Burrah ankommen, ist es still, sie sind die Einzigen
hier. Es riecht verbrannt, der Staub senkt
sich. Dort, wo ihr Haus stand, ist nichts
mehr.
Aber wo sind die acht Menschen?
Sie htten gehofft, erzhlt Saki, dass die
Soldaten Zeinab und die anderen mit nach
Israel genommen htten. Es ist eine naive
Hoffnung, das wissen sie. Aber es ist ihre
einzige. Die Soldaten knnen sie doch
nicht im Haus gelassen haben?
Dann finden sie die Fe.
Was in der Stunde zwischen sieben und
acht Uhr passiert ist, sehen sie erst spter.
Beit Hanun ist whrend des Kriegs der
am meisten gefilmte Ort, viele Sender
haben ihre Kameras auf der israelischen
Seite der Grenze aufgebaut, auf einem
Hgel bei Sderot. Von dort aus sind die
zwei Kilometer entfernten Huser der
Wahdans gut zu erkennen. An diesem
Morgen steht dort auch eine Kamera des
Senders al-Arabija.
Whrend sie ihre Geschichte erzhlen,
spielen die Brder immer wieder ein Video
des Senders auf ihrem Handy ab. Oben in
der Ecke ist die Zeit eingeblendet. Um
7.02 Uhr beginnt der erste Luftangriff auf
die Wahdan-Huser, um 7.53 Uhr ist die
letzte Explosion zu sehen, am Himmel steht
eine riesige Wolke aus Rauch und Staub.
In weniger als einer Stunde wird der gesamte Huserblock zerstrt. Sieben Minu-
Ausma der Zerstrung
im nrdlichen Gaza-Streifen
zerstrte oder schwer
beschdigte Gebude
Gebiet der UnitarBestandsaufnahme
I S RAE L
3
Stand: 8. August
Quelle: Unitar/ Unosat
Satellitenbild: Google Earth
26. Juli: Bombenangriff auf
das Haus der Familie
Wahdan in Beit Hanun
3. August: Raketenangriff auf
das Haus in Dschabalia
danach: Notquartier in einer
Uno-Schule in Dschabalia
Karte
GAZA ST R E I F E N
Grenzbergang
Erez
1
Flchtlingslager
Dschabalia
Gaza-Stadt
Beit Hanun
al-Burrah
ten spter tritt die Feuerpause in Kraft.
Das Video zeigt, was passiert ist, aber
es erklrt nicht, warum die Wahdans
von der Luftwaffe bombardiert wurden,
warum Saki seine halbe Familie verloren hat. Er findet darauf keine Antwort,
und das ist vielleicht das Schlimmste.
Aber es knnte eine Erklrung geben.
Sie hat mit der Lage des Hauses zu tun,
in der nordstlichsten Ecke von Gaza,
wo es nun aussieht, als htte ein Erdbeben gewtet. Von hier bis ins Zentrum von Beit Hanun erstreckt sich die
Zerstrung. Drei Viertel der Gebude
sind unbewohnbar, 30 000 Menschen obdachlos. Auf Satellitenbildern ist zu erkennen, dass ganze Ortschaften entlang
der Grenze systematisch dem Erdboden
gleichgemacht wurden.
Drei Wochen spter wird der Oberst
sagen, er sei traurig, dass das Viertel
zerstrt wurde. Aber wir hatten keine
Wahl. berall dort habe es Tunnel,
Sprengfallen und Waffenlager gegeben.
Natrlich wrden sie nicht absichtlich
Zivilisten bombardieren. Aber Fehler,
gibt er zu, knnten passieren.
Doch es sind so viele Huserblcke
zerstrt, dass die Hamas Jahrzehnte gebraucht htte, um unter ihnen berall Tunnel zu bauen. Es sieht eher so aus, als htte
Israel vor der Waffenruhe Beit Hanun auch
deshalb massiv bombardiert, um es dauerhaft unbewohnbar zu machen und die
eigene Sicherheitszone auszudehnen.
Es scheint, als wren die acht Menschen
gestorben, einfach weil sie im Weg waren.
Am 27. Juli um 19 Uhr schreibt Doha
Atala, die Freundin, zum letzten Mal an
Zeinab: Ist die Armee bei dir im Haus?
Ich mache mir solche Sorgen. Wo bist du?
Als Zeinab nicht mehr antwortet, ruft
Doha Atala den Vater ihrer Freundin an.
Er erzhlt, dass das Haus nicht mehr steht.
Und er sagt ihr auch, dass sie Zeinabs Bein
gefunden haben. Sie hat ein Muttermal auf
dem Furcken, so haben sie es erkannt.
Dann bringen die Brder die Beine auf
den Friedhof von Beit Lahia. Eine sandige
Brache, gesumt von Dutzenden frischen
Grbern und Bergen von Mll. Sie heben
eine Grube aus, fr acht Menschen, sie ist
gro genug. Sie legen die Beine hinein und
markieren das Grab mit einem Betonklotz
und einer Plastikflasche. Sie kommen noch
fter zum Friedhof. Sie bringen Gliedmaen, Haut, Fleisch.
Aber die Geschichte der Wahdans ist damit nicht zu Ende. Es mssen noch vier
weitere Grber ausgehoben werden.
3. August: Der zweite Angriff
Nachdem die Brder einige Tage in GazaStadt sind, ziehen sie in eine Uno-Schule
in Dschabalia um. Doch es ist zu eng, zu
voll. Die Wahdans mieten ein Haus in der
Nhe, eher eine Baracke. 35, vielleicht
86
DER SPIEGEL 34 / 2014
Trmmer des zerstrten Hauses in Beit Hanun
13 Beine, das ist alles, was brig blieb
40 Menschen ziehen hier ein, vor allem
Frauen und 13 Kinder.
Am 3. August um kurz nach Mitternacht
wacht Saki auf, so erzhlt er es. Es gibt
Strom, er will den Ventilator anstellen, sein
Handy laden. In diesem Moment schlgt
eine Rakete ein. Die Explosion reit seinen
Vater in Stcke, der Onkel wird so schwer
an den Beinen verletzt, dass sie amputiert
werden. Eine zweite Rakete trifft den
Raum, wo die Frauen schlafen. Dschamila,
Sakis Schwgerin, und ihre dreijhrige
Tochter Nour sterben. Auch eine andere
Schwgerin, Sanura, kommt um. Zwlf
Menschen sind verletzt, davon fnf Kinder.
Saki hat zum zweiten Mal berlebt.
Noch am selben Tag, dem 3. August,
zieht Israel die Bodentruppen aus dem
Gaza-Streifen ab. Der Krieg ist zwar nicht
vorbei, aber er flaut ab.
Die schwer verletzten Kinder werden ins
Schifa-Krankenhaus gebracht. Raika, die
erst 14 Monate alt ist, der anderthalbjhrige
Mohammed und Omar, 3. Die Jungen haben Narben von der Brust bis zur Hfte.
Mohammeds Gesicht ist verbrannt, er hat
Infusionen im Arm, die Beine stecken in
Verbnden. Die Kinder liegen starr, manchmal schreien sie pltzlich los.
Die Armee kann sich nicht zu dem Fall
uern, aber der Oberst besttigt, dass die
Hamas aus dem Flchtlingslager keine
Raketen abgefeuert hat. Warum wurde die
Familie trotzdem beschossen?
Es bleiben nur Vermutungen. Vielleicht
hatten sich in den Tagen zuvor hier Militante versteckt? Vielleicht hielten die Drohnenpiloten die Scke mit Reis und Mehl,
die Kanister mit l und Wasser, die die
Wahdans in das Haus trugen, fr Materia-
lien zum Bombenbau? Aber msste die
Drohne dann nicht auch gesehen haben,
dass da Kinder waren?
Womglich hat sich auch einfach nur
jemand geirrt, als er die Rakete auf das
Haus in Dschabalia feuerte. Vielleicht war
der zweite Angriff Pech. Aber was ist mit
dem ersten, auf das Haus in al-Burrah?
Kann man noch von einem Fehler sprechen, wenn ein Haus bombardiert wird,
in dem acht Menschen sind? Acht Menschen, von denen die Armee wissen musste, weil Soldaten zuvor im Haus waren.
Die Armee hat keine Anstrengungen
unternommen, die Familie Wahdan zu
schtzen, sagt Mahmud Abu Rahma
von der Menschenrechtsorganisation
al-Mezan in Gaza. Er hat den Fall der
Familie dokumentiert. Abu Rahma kritisiert sowohl Israel wie die Hamas, er
ist als Palstinenser in diesem Konflikt
nicht neutral, aber er ist politisch unabhngig. Er sagt: Es gab in diesem Krieg
Hunderte solcher Vorflle, aber der Tod
dieser acht Menschen in Beit Hanun ist
einer der klarsten Flle. Es knnte sich
um ein Kriegsverbrechen handeln.
Er will nun weiter Beweise zusammentragen, aber er wei schon jetzt, dass es
nichts bringen wird. Nach dem Krieg vor
fnfeinhalb Jahren haben die Palstinenser
Hunderte Strafanzeigen gestellt, auch die
Uno wies der israelischen Armee Kriegsverbrechen nach. Doch niemand wurde
wirklich zur Verantwortung gezogen. Nur
ein Soldat kam fr sieben Monate ins
Gefngnis: Er hatte eine Kreditkarte gestohlen und damit Geld abgehoben.
Die Wahdans wohnen jetzt auf dem
Treppenabsatz einer Uno-Schule in
Dschabalia, in die sich 1500 Menschen geflchtet haben. Auf dem Boden liegen
Schaumstoffmatratzen, sie haben ein Bettlaken aufgehngt, fr ein bisschen Privatsphre.
Bevor ihr Vater von der Rakete getroffen
wurde, so erzhlen die Brder, habe er
noch gesagt, dass sie das Haus nicht wieder
in al-Burrah aufbauen wrden, weil es dort
zu gefhrlich sei. Saki wei nicht, wie es
jetzt weitergehen soll. Er sagt, er sehe noch
immer das Bild seines toten Vaters vor sich.
Saki schlft nicht mehr, er ist apathisch und
wtend zugleich. Dieser Krieg hat uns
nichts gebracht. All diese Zerstrung hier,
und wir sollen die Gewinner sein? Nein,
die Hamas hat vielleicht gewonnen, aber
unsere Familie ist zerstrt.
Ganz oben in Zeinabs Facebook-Timeline steht nun die Nachricht eines Freundes, er schreibt: Es tut so weh, dass du
nicht mehr da bist. Genie das Paradies!
Video:
Angriff auf Beit Hanoun
spiegel.de/app342014israel
oder in der App DER SPIEGEL
FOTO: ALESSIO ROMENZI / DER SPIEGEL
Ausland
Das Michelangelo-Prinzip
Italien Vor sechs Monaten wurde der Sozialdemokrat Matteo Renzi Premierminister
in Rom und bald danach Star der europischen Linken. Aber ist er
wirklich der Mann, den das Land jetzt braucht oder doch nur ein Blender?
chnell und schlagfertig ist er, Italiens
Regierungschef. Wird bei Twitter
ber seine Gewichtsprobleme gespottet (Seit er stndig den Kopf hinhalten
muss, ist bei Renzi der Hals verschwunden), folgt eine Minute spter die Antwort: Stimmt, aber jetzt nehme ich ab.
Matteo Renzi fackelt nicht, Tempo ist
ihm wichtig: Im Februar wurde er, mit
39 Jahren, zum jngsten Premier in Italiens Geschichte ernannt. Angela Merkel
verlieh ihm bereits den Titel Matador;
die Financial Times schwrmte von
Europas Mann der Stunde. Und selbst
Barack Obama sagte: Dieser Premier
wird sein Land nach vorn bringen.
Was aber ist es, das diesen Renzi in Rekordzeit zum Hoffnungstrger werden
lie? Wo doch Italien, aller Aufbruchstimmung zum Trotz, inzwischen zurck in die
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Rezession gerutscht ist und nicht nur
Goldman Sachs und Moodys bezweifeln,
dass der junge Regierungschef die drittstrkste Volkswirtschaft der Eurozone aus
der Krise fhren kann.
Ist Renzi nur ein redegewandter Blender
oder doch der Mann, den das Land jetzt
braucht?
Versprochen hat der Premier eine Totaloperation am Patienten Italien. Zentrale
Vorbedingung dafr ist eine Verfassungsnderung, damit der Senat in seiner jetzigen Form abgeschafft und die lhmende
Vorschrift, nach der jedes Gesetz durch
beide Kammern des Parlaments muss, beseitigt werden kann. In erster Lesung haben die Senatoren dem Plan zugestimmt.
Des Weiteren sollen die Provinzen aufgelst und die Regionen entmachtet werden, um die rmische Zentralgewalt zu
strken. Gegen den erbitterten Widerstand
einer Phalanx von Berufs- und Interessenvertretern will Renzi den Arbeitsmarkt mit
Zeitvertrgen durchlssiger machen und
mit einer beschleunigten Verfahrensabwicklung in der Justiz Investoren zurckgewinnen.
Pro Monat eine Schlsselreform hatte
der Premier fr die ersten 100 Tage angekndigt inzwischen ist lngst von einem
1000-Tage-Programm die Rede. Aus dem
Sprinter Renzi sei ein Marathonlufer geworden, so wird in Rom gespottet. Doch
die Steine, die ihm in den Weg gelegt wrden, sagt der Regierungschef, knnten seinen Reformzug nicht stoppen.
Widerstand scheint Renzi zu befeuern.
Man muss ihn nur sehen, wie er im Juli
beim EU-Gipfel in Brssel auftritt; wie er
zuerst darauf beharrt, seine Getreue, die
FOTO: XXPOOL / / MAGNUM / AGENTUR FOCUS
Regierungschef Renzi im Palazzo Chigi
FOTO: GETTY IMAGES
Ausland
Auenministerin Federica Mogherini, zur
knftigen EU-Chefdiplomatin hochzuloben. Und wie er nach den gescheiterten
Verhandlungen mault, beim nchsten Mal
knne man sich derlei Treffen und die dazugehrigen Kosten fr Flge in Regierungsmaschinen einfach sparen.
Renzi ist rotzig, rauflustig und entschlossen, seinem hoch verschuldeten, unter Silvio Berlusconi in Verruf geratenen Land
wieder mehr Respekt zu verschaffen.
Zwischendurch gibt er sich dabei durchaus
diplomatisch und zahm wie an jenem
Samstag, an dem er zur Europatagung auf
Schloss Prsels am Schlern einfliegt.
Hier, mitten in Sdtirol, dem Landstrich
hinter dem Brennerpass, wo Italien und
Deutschland sich nah sind wie nirgendwo
sonst, sieht er Schnittmengen im europischen Spannungsfeld Nord gegen Sd. Das
an der Sprach- und Kulturgrenze gelegene
Sdtirol, sagt er, tauge zum Modell fr
ganz Europa weil es seine Identitt bewahrt habe und gleichzeitig europische
Integration vorlebe. Fr die EU als Ganzes
gelte derzeit mehr denn je: Eine gemeinsame Whrung ist nutzlos, wenn es keine
gemeinsame Zielrichtung gibt.
Seit er im Februar seinen Parteifreund
Enrico Letta aus dem Amt putschte, spielt
Renzi die Rolle des guten Europers mit
Erfolg. Unter seiner Fhrung erreichten
Italiens Sozialdemokraten bei den EUParlamentswahlen im Mai 40,8 Prozent
der Stimmen. Europaweit geniet kein anderer Regierungschef, auch kein anderer
Parteifhrer der Linken, vergleichbaren
Rckenwind.
Die Oxford-Professorin Kalypso Nicolaidis sieht Italiens Premier als perfektes
Gegengewicht zur konservativen Kanzlerin Angela Merkel; als den Mann, der
fr die sozialdemokratischen Konturen im
Europa der Zukunft sorgen knne. Weil
Renzi zwar verspreche, sein Land grundstzlich und umfassend zu reformieren, zuallererst aber das Wachstum ankurbeln
wolle whrend die Kanzlerin die umgekehrte Reihenfolge bevorzuge.
Vom Ausgang dieses innereuropischen
Tauziehens hngt viel ab: Denn im Kampf
um eine flexiblere Auslegung des Stabilittspakts vertritt Renzi auch die Position
des franzsischen Prsidenten Franois
Hollande. Hinter Angela Merkel wiederum
versammeln sich nicht nur Niederlnder
und Finnen, sondern mittlerweile auch die
Regierungen Spaniens und Portugals. Letztere haben ihren Brgern schmerzhafte
Schritte bereits zugemutet; nun fordern sie
gleiche Pflichten fr alle EU-Staaten.
Allem inhaltlichen Dissens zum Trotz
sei das Verhltnis zu Berlin ausgezeichnet,
sagt ein enger Berater des Premiers: Angela Merkel sieht in Renzi keinen Gegenspieler, sie sieht ihn als Partner. Im Berliner Kanzleramt hingegen heit es, Merkel
sei zwar froh ber den neuen Machthaber
in Rom und das starke Whlervotum fr
ihn, aber alles hnge davon ab, ob er abliefert, was er verspricht es gibt da die
Angst vor einer Art Obama-Effekt. Das
heit: vor zu viel Euphorie und zu geringem Ertrag.
Zum Kennenlernen im Kanzleramt am
11. Juli 2013 war Renzi, damals noch Brgermeister von Florenz, frh um halb sieben einbestellt worden ein Hrtetest der
preuischen Art. Pnktlich um 6 Uhr 29,
so der Italiener, sei Merkel dann persnlich
im trkisfarbenen Blazer erschienen, um
ihn in ihr Arbeitszimmer zu schleusen.
Acht Monate spter folgte eine weitere
Zusammenkunft in Berlin. Der zwischenzeitlich zum Premier aufgestiegene Renzi
untermauerte da seinen Reformwillen mit
einem selbstbewussten Vergleich: Er werde
Italien einem Prinzip Michelangelos folgend verndern. Der Renaissanceknstler
habe einst auf die Frage, wie er aus einem
Marmorblock seinen David habe modellieren knnen, geantwortet: Ganz einfach alles berflssige entfernen.
Die Kanzlerin soll von diesem Gleichnis
angetan gewesen sein vor allem da sie
es satthat, allein die unbarmherzige Mahnerin spielen zu mssen. Es komme ihr ge-
David-Statue in Florenz
berflssiges entfernen
legen, erzhlt man im Palazzo Chigi, dass
Renzi, anders als seine Rivalen Silvio Berlusconi und Beppe Grillo, die Botschaft
verbreitet habe: Wir machen diese Reformen in Italien aus Eigeninteresse und nicht
weil Berlin oder Brssel es verlangen.
Italiens Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro
Kopf liegt mittlerweile unter dem Niveau
von 1999. Die Staatsverschuldung hat mit
133 Prozent des BIP einen Wert erreicht,
den in der EU nur Griechenland bertrifft.
Und die Jugendarbeitslosigkeit beluft sich
auf 43,7 Prozent Rekord unter allen G-7Staaten. Italien sei too big to fail, warnen Finanzexperten gehe das Land pleite,
sei auch der Euro am Ende.
Die Verpflichtung, bereits 2015 einen
strukturell ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, wrde Renzi gern umgehen unter anderem dadurch, dass man ihm entgegenkommt und notwendige Investitionen,
zum Beispiel in die digitale Infrastruktur,
von der Defizitberechnung ausklammert.
Fr seine Zustimmung zur Wahl des konservativen Kommissionsprsidenten JeanClaude Juncker erhofft sich Renzi im
Gegenzug moderatere Sparauflagen so
wie es aussieht, vergebens.
Jede Menge Taktik, aber wenig Taten,
kritisiert Daniel Gros, Direktor der Brsseler Denkfabrik CEPS, Renzis Bilanz. Unklar ist, wo der Premier die versprochenen
jhrlichen Einsparungen in zweistelliger
Milliardenhhe herholen will. Hinzu
kommt: An die 800 vom Parlament seit
2011 beschlossene Reformen sind bis heute
nicht vollstndig umgesetzt. Romano Prodi, einst EU-Kommissionsprsident, warnt
deshalb, der entscheidende Kampf seines
Parteifreundes Renzi msse der italienischen Brokratie gelten.
Weil Renzi selbst merkt, wie es hakt,
fhrt er am Regierungssitz im Palazzo Chigi ein straffes Regiment und entscheidet
so viel wie mglich selbst. Zwischen dem
ersten Stock, in dem sein Bro liegt, und
dem dritten, wo er ein 300-QuadratmeterApartment bewohnt, errtert er mit einem
Grppchen Vertrauter die Frage, wie Italien verndert werden kann. Die Liste altgedienter Spitzenbeamter, die dabei nicht
zurate gezogen, ja nicht einmal ins Zentrum der Macht vorgelassen werden, ist
dem Vernehmen nach lang.
Der Seiteneinsteiger Renzi hat im politischen Rom die Statik erschttert. Von
Szenen wie aus einer Studenten-WG, samt
Yogabungen, fliegenden Rugbybllen in
Besprechungspausen und Pizzakartons auf
den Fluren des Regierungssitzes, wird berichtet. Renzi nimmt Rat an, aber du
musst sehr schnell und verstndlich argumentieren, sagt einer seiner Vertrauten:
Und, vor allem, das Wichtige vom Unwichtigen trennen.
Zwar hat der Regierungschef sein Vorhaben einkassiert, ber SchlsselpersonaDER SPIEGEL 34 / 2014
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Ausland
Europapolitiker Renzi: Italien braucht sich keine Lektionen erteilen zu lassen
lien in allen Ministerien selbst zu entschei- den der konservativen Volkspartei im
den. Der Hinweis eines Vertrauten, eine Europaparlament. Der CSU-Mann hatte
derartige Praxis sei zuletzt in den Zwan- sich die Frage erlaubt, was es bedeuten
zigern, zur Zeit des Diktators Benito wrde, nach Frankreich nun auch noch
Mussolini, blich gewesen, gab den Aus- Italien einen flexibleren Umgang mit
schlag. Aber selbst regierungsnahe Bltter den Stabilittskriterien einzurumen:
beklagen inzwischen die One-Man-Show Wie erklren wir Irland, Portugal, Grieim Palazzo Renzi. Auch vor der geplan- chenland, Zypern und Spanien, warum
ten Verfassungs- und Wahlrechtsreform wir uns bei G-7-Mitgliedern nachsichtiger
wird gewarnt: Wenn wie vorgesehen die zeigen?
Weber zollt dem neuen Superstar RenBedeutung des Parlaments beschnitten
werde, so die Juristin Lorenza Carlassare, zi Respekt, weil der fr Aufbruch stehe
dann sei die Demokratie insgesamt in und fr die Rckkehr Italiens in die erste
Liga. Aber was die Bedingungen des
Gefahr.
Renzi aber scheint entschlossen, die 60- Stabilittspakts betrifft, werden wir keine
Millionen-Republik Italien mit den Metho- Abstriche machen. Alles andere wre ein
den zu regieren, die er auch im Rathaus verheerendes Signal, und zwar nicht nur
von Florenz angewendet hat: als Anfhrer an die Lnder, die ihre Hausaufgaben geeiner ihm ergebenen, schlagkrftigen Trup- macht haben, sondern auch an die weltpe, die auf schnelle und dem Wahlvolk weiten Mrkte.
leicht vermittelbare Reformprojekte setzt.
Die schlanke Struktur, sagt einer aus
dem Stab, garantiert Einheitlichkeit, allerdings fehlt uns das Auffangnetz. Renzis
Renzis Aufstieg zum Sprecher jener, die
Hochseilakt verdiene Respekt seiner Einzigartigkeit wegen: Pltzlich ist da ein im Namen des Wachstums den StabilittsNeuer, zutiefst europisch und verwurzelt pakt neu interpretieren wollen, habe vor
im christlichen Milieu mitten in diesem allem mit der Schwche von Franois Hollande zu tun, so Weber: Im Vergleich ist
sklerotischen Europa.
Wie eine langweilige alte Tante kom- ja Frankreich in grerer Not wenn dort
me die EU daher, spottete Renzi noch nicht bald etwas passiert, wird die KomEnde Juni, kurz vor Beginn der italieni- mission Auflagen verhngen mssen.
schen Ratsprsidentschaft. Von der Seele Dass selbst Pariser Zeitungen Renzi inzwiEuropas, vom Erbe Aristoteles oder Dan- schen als Fhrer der europischen Lintes msse knftig wieder mehr die Rede ken bezeichnen, sorgt in Rom fr stille
sein und weniger vom Sparen: Italien, Genugtuung.
Grassierender EU-Verdrossenheit zum
ein groes Land, das auf seiner Seite nicht
nur die Vergangenheit, sondern auch die Trotz spricht Renzi von Stolz und
Zukunft hat, brauche sich keine Lektio- Mut als Leitlinien der italienischen Ratsprsidentschaft. Auch heikle Themen geht
nen erteilen zu lassen.
Auch nicht von Manfred Weber, soll- er an dazu zhlt die Forderung nach
te das heien, dem Fraktionsvorsitzen- einer gerechteren Lastenverteilung im
Umgang der EU-Staaten mit den Armutsflchtlingen, die an den Ksten Siziliens
anlanden. 100 000 waren es bereits in
diesem Jahr.
Das Hauptaugenmerk der italienischen
Ratsprsidentschaft aber gilt dem Wirtschaftswachstum vom Sparen, so Renzi,
sei zuletzt genug die Rede gewesen. Und
da mhselige Kompromisse und austarierte Minimalziele ihm sowieso nicht liegen,
macht der Ministerprsident mit Blick auf
die Zukunft besonders dicke Backen: Ich
wette, verkndete er im Mai, dass Italien
binnen zehn Jahren zur fhrenden Nation,
zur Lokomotive Europas wird.
Spricht da noch immer jener grospurige Renzi, der schon in jungen Jahren als
Mat-Teoria verspottet wurde? Hat am
Ende gar Piero Ostellino recht, Exchefredakteur des Corriere della Sera, der behauptet, das Florentiner Brschchen
habe nicht die geringste Ahnung, wie
Italiens Probleme zu lsen seien?
Nein, auch wenn Renzi bertriebene Erwartungen geweckt haben mag. Von keinem seiner Vorgnger wurden die Wurzeln
der italienischen Krise klarer benannt und
entschiedener angegangen. Nicht ich
habe dieses Land ruiniert, sagt der Premier, wenn Kritiker ihm die weiterhin miserablen Wirtschaftsdaten ankreiden. Bereits im Herbst droht Italien die Zwangsverwaltung die gefrchtete Troika, so
Exwirtschaftsminister Giulio Tremonti, sei
nicht mehr weit.
Scheitert Renzis radikales Reformprojekt am Widerstand der Besitzstandswahrer, wird Italien sich davon so schnell nicht
erholen. Bedenklich ist, dass Gegenwind
nicht zuletzt vom linken Flgel der eigenen Partei kommt seit Renzi mit dem
vorbestraften Oppositionsfhrer Silvio Berlusconi einen, so sagen Linke, teuflischen
Pakt einging. Weil Renzi das BerlusconiLager als Mehrheitsbeschaffer brauche,
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DER SPIEGEL 34 / 2014
msse er sich sputen, wird da gespottet
damit die wichtigsten Verhandlungspartner nicht verhaftet seien, ehe der Umbau
des Landes begonnen hat.
Renzi aber ist durch derlei Einwnde
nicht zu beirren. Er nimmt die Untersttzung Berlusconis in Kauf, um an der Spitze
der Regierung bleiben zu knnen und
zu verkrpern, was die europischen Partner in Berlusconis Italien am schmerzlichsten vermissten: Stabilitt und Berechenbarkeit.
Dass sein Land keine Zeit und er selbst
einen Ruf zu verlieren hat, ist dem Premier
dabei bewusst: Ich habe vor, sprach
Renzi vergangene Woche, dieses Land
dem, der nach mir kommt, in ordentlichem
Zustand zu berlassen.
Walter Mayr
FOTO: PAOLO TRE / A3 / CONTRASTO / LAIF
Selbst regierungsnahe Bltter beklagen inzwischen die
One-Man-Show im Palazzo Renzi.
Ausland
patschen durch Pftzen und fotografieren die schumenden
Gullys. Ihre Mtter umringen den Crpes-Stand, tragen schwarze Burkas oder zumindest Kopftcher, beim Mohammer sitzen saudische Mnner in Galabija und Kufija. Und im Stadtmuseum stehen die arabischen Familien ratlos vor einer altertmlichen Skiausrstung, die Kinder fragen den Vater nach
dem Sinn dieser Dinger. Der wei es aber auch nicht.
Abends gehen die Mnner zum Teehaus Istanbul, um eine
Schischa, eine Wasserpfeife, zu rauchen. Etwas khnere stehen
Global Village Wie ein sterreichischer
kichernd vor dem Dolls, der Tabledance-Bar an der Loferer
Strae. Oder sie ziehen zum Kreml-Edwin in den KupferkesUrlaubsort mit dem Ansturm
sel, wo sie eine Flasche Chivas Regal bestellen. Der Kneipier,
arabischer Gste zurechtkommt
verblfft, hat unlngst seine Gste zu deren Alkoholkonsum
befragt. Sie sagten, wenn die Luft schwarz ist, also nachts,
as Wetter sei grauslich, das gibt Frau Hrl gern zu, es dann sieht Allah nicht, was man tut, und so kann mans natrschttet seit Tagen, ein Tief von England, da kommts lich mit dem Islam bequem aushalten!
Es ist, als wrden zwei Filme gleichzeitig aufgefhrt: Im weija her, das schlechte Wetter, und so prasselt es vom
Himmel, tropft von den gelben Markisen am Caf Mohammer. en Rl und Lawrence von Arabien. Aus dem Ortsnamen
Nebel hngt ber dem See, und die Berge auf der anderen machen die arabischen Gste brigens Sellamsi, guttural ausUferseite, der Ronachkopf, der Hundstein, sie sind verschwun- gesprochen und mit Betonung auf der zweiten Silbe.
Wir haben hier eine Sommersaison geschaffen, aus dem
den hinter einer Wolkenwand. Die wenigen deutschen Urlauber
werden verdrielich; Dauerregen im Ferienort, eine Katastro- Nichts, nur durch Mundpropaganda in den arabischen Lndern, sagt Sabine Hrl. Natrlich haben wir auch Konflikte,
phe, eigentlich.
Aber fr manche Gste nicht. Fr unsere arabischen Tou- aber ich sag immer, Konflikte san zum Lsen da.
Und es gibt tatschlich welche. Ich dachte eigentlich, ich
risten, sagt Frau Hrl, ist unser Klima wunderbar, die Khle,
das Grau, der Regen. Sabine Hrl ist Hotelchefin in Zell am mache Urlaub in Europa, sagt ein Deutscher; seine Frau fgt
hinzu, sie komme sich fast nackt vor in ihrem kurzen Rock. Sie seien, so beide, das letzte Mal hier.
Die einheimischen Kritiker uern sich nur vorsichtig, der Rassismus-Vorwurf liegt nah. Wenn
man aber verspricht, ihren Namen nicht zu erwhnen, erzhlen sie von der Arroganz der arabischen Gste, die alle Verkehrsregeln missachteten, die sich im Restaurant ungehobelt benhmen,
das Stadtbild vernderten. Was ntzt mir Profit,
wenn ich mei Heimat nit mehr erkenne?, so
einer von ihnen.
Sabine Hrl kennt die Vorwrfe. Globalisierung
brauche eben Zeit, sagt sie. Und berhaupt, die
arabischen Touristen seien dankbar, wenn man
ihnen die Regeln erklre woher solln sies denn
sonst wissen?
Asis Bin al-Schib zum Beispiel. Er sitzt teetrinkend auf der Terrasse des Grandhotels, mit seiner
jungen Frau. Sie kommen aus Dschidda, SaudiArabien, es ist ihre Hochzeitsreise, ihre erste Reise
in den seltsamen Westen.
Bin al-Schib ist 27 Jahre alt, Lehrer, ein freundArabische Urlauberin in Zell am See: Dann sieht Allah nicht, was man tut
licher Mann mit schwarzem Vollbart. An Sellamsi,
See, stattlich, klug und warmherzig. Sie liebe ihre Arbeit, sagt sagt er, liebe er das khle Wetter und dass seine verschleierte
sie, es gebe brigens, bei 80 Zimmern und Vollauslastung, Frau nicht feindselig angeschaut werde. Sie sagt whrend
immer genug davon. Vor allem in der Sommersaison, die ist des Gesprchs kein Wort. Sie sei brigens seine erste Frau,
erzhlt Bin al-Schib, und wenn er eine zweite oder dritte Ehe
a Volltreffer.
Zell am See ist ein adretter Ferienort im Salzburger Land, eingehe, womit hoffentlich zu rechnen sei, werde er zur Hoch9900 Einwohner, der Anteil der Wertschpfung aus dem Tou- zeitsreise wieder herkommen. Er sagt das ohne Zgern. Sie
rismus liegt bei 75 Prozent. Der Schnee droben, der See drunten, senkt den Blick.
Und so stellt sich in dem kleinen Zell am See eine groe
deshalb kmen die Leute, sagt Sabine Hrl, eine heile Welt, jedenfalls auf den ersten Blick. Auf den zweiten ist Zell am See Frage wie viel Fremdheit hlt Europa aus?
Darauf hat Sabine Hrl ausnahmsweise keine Antwort.
mehr als das, nmlich ein europisches Multikulti-Labor auf
9900 Einwohner kommen jeden Sommer, nach Ende des Rama- Dafr erzhlt sie von Paaren, die nun bereits im fnften,
dan, rund 70 000 arabische Touristen, und es stellt sich die Frage, sechsten Jahr kmen. Mit jedem Jahr seien sie lockerer geworwie das gehen kann. Und ob es gut geht. Oder ob die nette Frau den, die Frauen htten jedes Mal mehr von ihrem Gesicht
Hrl nicht in einer Falle sitzt, an der sie selbst mitgebaut hat. gezeigt. In diesem Jahr hat sie sogar ein Paar gesehen, das
Die Gste kommen aus Abu Dhabi und Dubai, aus Katar, Hndchen hielt, beim Spazierengehen. Klingt wie gar nichts,
Kuwait und Saudi-Arabien und machen Zell am See einige i wei, sagt Hrl, aber Hndchenhalten ist scho a RiesenMonate lang zu einer orientalischen Stadt. Arabische Kinder fortschritt.
Ralf Hoppe
ZELL AM SEE
Ferien in Sellamsi
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FOTO: MARTIN HANGEN / DER SPIEGEL
Sport
Schwimmen
Steiler Flug
Viele deutsche Schwimmer, die in dieser Woche bei den Europameisterschaften in Berlin
antreten, wenden eine neue Technik beim
Startsprung an. Bislang tauchten sie nach
dem Abdruck vom Block in einem Winkel
von rund 36 Grad ins Wasser ein. Der neue
Sprung sieht einen Winkel von 40 Grad vor.
Schwimmer, die steiler eintauchen, bieten
dem Wasser weniger Widerstand und verlieren weniger Geschwindigkeit. Damit sie
nicht zu tief unter Wasser geraten, leiten
die Sportler noch whrend des Eintauchens
einen Beinschlag ein. Der Delfinkick bringt
sie schnell in die horizontale Krperlage, in
der sie dann losschwimmen. Die Athleten
seien damit auf den ersten 15 Metern bis zu
zwei Zehntelsekunden schneller, sagt Sportwissenschaftler Sebastian Fischer von der
Universitt Kassel. Er analysierte die Starts
von ber hundert Spitzenschwimmern und
entwickelte den neuen Bewegungsablauf.
ber die Schwimmtechnik knnen Topathleten kaum noch etwas rausholen, da sind
die Leistungsgrenzen erreicht, sagt Fischer,
aber mit einer neuen Startstrategie knnen
sie mit relativ wenig Aufwand einen groen
Effekt erzielen. Um die Technik zu erlernen, brauchten Sportler rund vier Wochen.
Fischer reiste zuletzt in mehrere Trainingslager der Nationalmannschaft, um mit den
Schwimmern an ihren Starts zu feilen. Auch
Steffen Deibler, der beste deutsche Schmetterling-Schwimmer, fliegt nun steiler ins
Wasser. Am Start zhlt er inzwischen zu den
Schnellsten der Welt. le
Schach
SPIEGEL: Herr Naiditsch, Sie
Er wirkte
durcheinander
haben bei der Schach-Olympiade in Troms Magnus
Carlsen geschlagen, den besten Spieler der Welt. Was ist
das fr ein Gefhl?
Naiditsch: Es war ein einzigartiges Erlebnis. Carlsen ist
uns allen sehr weit voraus,
vielleicht der beste Schachspieler der Geschichte. Ihn
zu bezwingen, das ist so, wie
Usain Bolt ber 100 Meter zu
schlagen.
SPIEGEL: Sie erzhlten nach
Ihrem Sieg, Carlsen sei whrend der Partie regelrecht
panisch gewesen. Wie machte sich das bemerkbar?
Naiditsch: Bei der SchachOlympiade hat man fr die
ersten 40 Zge 90 Minuten
Zeit. Danach bekommt man
eine Zeitzugabe. Vor dem
Arkadij Naiditsch, 28, deutscher
Schachgromeister, erklrt
seinen Sieg gegen Weltmeister
Magnus Carlsen.
FOTOS: EISENHUTH / PHOTOARENA / IMAGO (O.); SVEN SIMON / IMAGO (U.)
Schwimmer nach dem Absprung vom Startblock
40. Zug hatten wir beide wenig Zeit brig. Fr Carlsen
ist das komisch, weil er normalerweise sehr schnell
spielt. Er kommt selten in
Drucksituationen. Er wurde
sehr nervs, wirkte durcheinander, und dann kamen
die Fehler.
SPIEGEL: Carlsen verlor drei
Tage nach seiner Niederlage erneut gegen den
Kroaten Ivan Sari. Steckt
der Weltmeister in einer
Formkrise?
Naiditsch: Die Partie gegen
Sari war komisch. Carlsen
hat in der Erffnungsphase
schnell ein paar Bauern geopfert, letztendlich aber
nichts dafr bekommen und
dann verloren. Eine Schwchephase ist das jedoch auf
keinen Fall.
SPIEGEL: Wie weit sind Spie-
ler wie Sie noch von Carlsen
entfernt?
Naiditsch: In der Weltrangliste, aufgestellt anhand der
Elo-Zahl, die die Spielstrke
von Schachspielern beschreibt, ist der Abstand
ziemlich gro. Doch die
Spielstrke von uns allen ist
mehr oder weniger gleich.
Das Problem ist vielmehr die
Konstanz. Kleine Schwankungen machen viel aus. Vor
acht Monaten war ich noch
die Nummer 18 der Welt,
dann habe ich ein schlechtes
Turnier gespielt und bin aus
den Top 30 herausgerutscht.
Natrlich mchte ich unter
die ersten 10 der Welt. Aber
es ist furchtbar schwierig,
man darf einfach keine
Schwchen zeigen. red
DER SPIEGEL 34 / 2014
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Eine Art
Lebenswerk
SPIEGEL-Gesprch Nationalspieler Christoph Kramer, 23,
ber sein neues Leben als Weltmeister, seinen
K.o. von Rio und ein 350 Seiten langes Fuballtagebuch
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DER SPIEGEL 34 / 2014
terises Fuballtagebuch, in das Sie Gedanken und Erinnerungen an Ihre Spiele
eintragen. Was steht da ber das WMFinale?
Kramer: Noch nichts. Ich bin lnger nicht
zum Schreiben gekommen, habe jetzt erst
im Urlaub die Rckrunde der vergangenen
Bundesligasaison nachgetragen. Ich notiere einschneidende Momente.
SPIEGEL: Und was war das in Rio?
Kramer: Das war eindeutig der Blick auf
den WM-Pokal, beim Einlaufen ins Stadion. Der Pokal ist anders als andere Trophen, er hat eine Aura. Als ich an ihm
vorbeilief, musste ich schlucken. Fr mich
war das ein Bild fr die Ewigkeit.
SPIEGEL: Viele Erinnerungen an Ihren Einsatz werden Sie ja nicht haben. Bei Ihrem
Zusammenprall mit dem Argentinier Ezequiel Garay in der 17. Minute erlitten Sie
eine Gehirnerschtterung mit Bewusstseinsstrungen. Von dieser Szene an bis
zu Ihrer Auswechslung knapp eine Viertelstunde spter wissen Sie nichts?
Kramer: Null. Ich dachte, wenn ich mir die
Fernsehbilder anschaue, kommt was zurck.
Da kam aber nichts. Das Letzte, woran ich
mich erinnere, ist der Einwurf von Miro
Klose und dass ich versucht habe, den Ball
nach vorn mitzunehmen. Da war zuerst nur
der andere Argentinier neben mir
SPIEGEL: Marcos Rojo.
Kramer: Ja, ich dachte, wenn ich den Ball
gut an ihm vorbeilege, muss er grtschen,
um eine Flanke von mir zu verhindern. Es
war im Strafraum, es war brenzlig, vielleicht htte es Elfmeter fr uns gegeben.
SPIEGEL: Stattdessen kam Garay und rammte Ihnen seine Schulter ins Gesicht. Ein
Foul?
Kramer: Ich will ihm keine Absicht unterstellen, aber er nahm zumindest billigend
in Kauf, dass er mich traf. Ich wrde sagen:
Wenn der Schiedsrichter es genau sieht,
kann es Platzverweis und Elfmeter geben.
SPIEGEL: Die Spielweise bei der WM war
hart.
Kramer: Man musste sich bewusst machen:
Meckern oder Debattieren brachte in Brasilien nichts. Vor allem bei sdamerikanischen Mannschaften hatte ich den Eindruck, dass ein bewusstes Wehtun zu ihrem Spiel dazugehrt.
SPIEGEL: Sie waren im Finale offenbar richtig k. o. gegangen. Warum haben Sie berhaupt weitergespielt?
Kramer: Ich mchte mal was klarstellen: Ich
kann niemandem einen Vorwurf machen,
keinem Arzt und keinem Trainer, obwohl
es immer heit, es sei gefhrlich, mit einer
Gehirnerschtterung zu spielen.
SPIEGEL: Ist es ja auch. Ein zweiter Sto
gegen den Kopf kann dann tdlich sein.
Das Gesprch fhrten die Redakteure Lukas Eberle und
Jrg Kramer.
FOTO: UWE KRAFT / IMAGO
SPIEGEL: Herr Kramer, Sie fhren ein mys-
FOTOS: NATACHA PISARENKO / AP (O.); ROBERT CIANFLONE / GETTY IMAGES (M.); LAURENCE GRIFFITHS / GETTY IMAGES (U.)
Sport
Kramer: Aber es konnte in meinem Fall keiner wissen, was ich hatte.
SPIEGEL: Teamarzt Hans-Wilhelm MllerWohlfahrt und Physiotherapeut Klaus
Eder waren schnell bei Ihnen.
Kramer: Und man sieht auf den Fernsehbildern, dass ich total normal wirke. Ich erkenne da, dass ich zu ihnen sage: Ich habe
ein bisschen Kiefer also Schmerzen. Allerdings glaube ich, dass ich kurz ohnmchtig gewesen bin, bevor die beiden bei mir
ankamen. Direkt nach dem Zusammenprall sieht man, dass meine Hnde in den
Gelenken schlaff nach unten klappen. Da
war ich wohl 15 bis 20 Sekunden weg.
SPIEGEL: Sie haben dann eine Viertelstunde
lang vollkommen normal weitergespielt.
Kramer: Aber ich war anscheinend in dieser
Welt nicht richtig drin. Ich habe am Spiel
teilgenommen, war aber nicht wirklich da.
Als ich hinterher in die Kabine kam von
da an erinnere ich mich ja wieder , sprachen die Leute dort von einem Tor, das
wegen Abseits nicht anerkannt worden
war. Ich wusste nicht mal, welche Mannschaft das erzielt haben sollte.
SPIEGEL: Der italienische Schiedsrichter
sagt, Sie htten ihn gefragt, in welchem
Spiel Sie sich befnden.
Kramer: Komisch. Ich spreche eigentlich
nie mit dem Schiedsrichter. Aber mein Mitspieler Thomas Mller erzhlte spter, dass
ich ihn so was Seltsames gefragt htte: Sind
wir gerade im Finale? Darauf sagte er: Pass
mal auf, leg dich jetzt einfach mal schn
hin. Auf den Rasen. Er machte dann zur
Trainerbank das Zeichen: auswechseln!
SPIEGEL: Finden Sie es schade, dass Ihnen
nun ausgerechnet die Hlfte Ihrer Endspielteilnahme im Gedchtnis fehlt?
Kramer: Es ist schade, dass ich nicht durchgespielt habe. Ich hatte ja vor dem Endspiel nicht so viele WM-Einsatzzeiten
SPIEGEL: gut 15 Minuten
Kramer: Und ich war fit, ich kam gut rein.
Es htte ein schnes Spiel werden knnen.
SPIEGEL: Sie waren ganz kurzfristig fr den
angeschlagenen Sami Khedira aufgestellt
worden. Waren Sie nervs?
Kramer: Der Trainer kam zu mir, eine Viertelstunde vor dem Anpfiff: Khedira kann
nicht. Ich hatte noch fnf Minuten, mich
mit der Mannschaft warm zu machen.
Wahrscheinlich war es gut, dass ich nicht
viel Zeit hatte nachzudenken.
SPIEGEL: Kommt der Moment ins Tagebuch?
Kramer: Unbedingt. Darin stehen lauter Dinge, an die ich mich ein Leben lang erinnern
will. Deswegen schreibe ich sie auf. Das
Buch ist fr mich eine Art Lebenswerk.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Kramer: Man lernt daraus, dass man alles
schaffen kann. Ich habe mit 16 Jahren damit angefangen, damals war ich aus der
Oben: mit den Argentiniern Marcos Rojo (l.) und
Ezequiel Garay am 13. Juli in Rio de Janeiro.
WM-Finalist Kramer*
Da war ich wohl weg
Jugend von Bayer Leverkusen aussortiert
worden und zu Fortuna Dsseldorf gegangen. Auch in den sieben Jahren danach
lief nicht alles glatt. Es gab schwierige Phasen. Ich wei, ich habe so viel investiert,
dass der Erfolg kein Zufall ist. Werde ich
in sieben Jahren Weltfuballer? Das erscheint unrealistisch. Aber htte mir vor
sieben Jahren einer gesagt, dass ich Weltmeister werde, htte ich es fr noch unrealistischer gehalten.
SPIEGEL: Welches ist das erste Spiel, ber
das Sie im Buch etwas notiert haben?
Kramer: Fortuna Dsseldorf gegen Bonner
SC, zur Erffnung der B-Jugend-Bundesliga. Wir haben 3:6 gegen Bonn verloren,
aber ich habe ein Tor geschossen.
SPIEGEL: Kennen Sie alle Ergebnisse noch?
Kramer: Natrlich. Ich wei sogar, in welchem System wir gespielt haben, wer neben mir spielte, jedes Detail. Fuball ist
meine groe Liebe. Und wenn man etwas
so sehr mag und sich so krass darauf vorbereitet, bleibt das in einem drin.
SPIEGEL: Wie dick ist Ihr Buch?
Kramer: Grob geschtzt 350 Seiten, viele
sind nicht mehr frei. Wissen Sie, was irre
ist? Ich habe jetzt noch die WM-Vorbereitungsspiele nachzutragen, bei denen ich
dabei war, und die WM-Spiele. Schreibe
ich weiter ungefhr eine Seite pro Spiel,
steht auf der letzten Seite das WM-Finale
und fertig.
SPIEGEL: Und dann?
Kramer: Dann schliee ich das Buch in einen Safe bei der Bank.
SPIEGEL: Fangen Sie kein neues an?
Kramer: Ich wei noch nicht. Vielleicht wrde mir etwas fehlen.
SPIEGEL: Haben Sie schon Ihr erstes Lnderspiel dokumentiert?
Kramer: Nur die berschrift: Deutschland
gegen Polen. Es war ja mein Kindheitstraum, mal fr Deutschland zu spielen und
die Hymne mitzusingen. Mir war klar, ich
war da reingerutscht, weil viele fehlten,
die Spieler der Pokalfinalisten Bayern Mnchen und Borussia Dortmund, und ich
dachte, es sei wohl gleichzeitig mein letztes
Lnderspiel. Dass der vorlufige 30-MannKader fr die WM da noch verndert werden und ich mich noch fr Brasilien empfehlen konnte, wusste ich ja gar nicht.
SPIEGEL: Das hatte Ihnen wirklich niemand
gesagt?
Kramer: Ich bin froh, dass die Leute in meinem Umfeld, meine Eltern und meine Berater, nicht so fanatisch sind. Man kennt
das ja aus der Jugend, wenn Eltern ihren
Sohn unbedingt spter mal im Nationaltrikot sehen wollen. Sie stehen am Rand
und rufen, wie er zu trainieren hat. Ich
hatte Glck. Meine Eltern haben mich
zwar immer zum Training gefahren, sich
aber dann ins Vereinsheim gesetzt und
Kaffee getrunken. Sie sind heute noch bei
den Heimspielen. Sie fragen anschlieend
DER SPIEGEL 34 / 2014
97
nur, ob ich Spa hatte. Wenn ich Ja sage,
war es ein guter Tag fr meine Eltern.
SPIEGEL: Sie starten am Wochenende mit
Borussia Mnchengladbach erst in Ihre
zweite Bundesligasaison und sind schon
Weltmeister. Sind Sie ein Glckspilz?
Kramer: Ich wei, was Sie meinen: die
Umstnde des Polen-Lnderspiels, Sami
Khedira und Bastian Schweinsteiger angeschlagen, dann hat sich Lars Bender im
Trainingslager verletzt. Das waren lauter
Ereignisse, die jetzt den Eindruck erwecken, dass ich immer nur zur richtigen Zeit
am richtigen Ort war. Aber es ist eine Qua-
Kramer: Ich bin kein anderer Mensch als
vorher, falls Sie das meinen.
SPIEGEL: Manchmal fngt man an, eine Rol-
le zu spielen das, was die Leute erwarten.
Und sie erwarten von einem Star, dass er
sich wie ein Star benimmt.
Kramer: Da bin ich hypersensibel. Ich achte
genau darauf, dass mir keiner unterstellen
kann, ich sei arrogant. Frher hatte ich
manchmal keinen Bock, mich nach dem
Training mit Fans fotografieren zu lassen.
Ich lief einfach in die Kabine. Wenn ich
das jetzt machen wrde, sagen alle: Gott,
ist der abgehoben!
Ich merke schon im Training, dass ich anders gesehen
werde: Der ist Weltmeister, also ein guter Spieler.
litt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort
auch gut zu sein. Es geht nicht ohne Glck.
Aber es geht auch nicht ohne Knnen.
SPIEGEL: Sie sind fast ber Nacht berhmt
geworden. Wie war Ihre Rckkehr in den
Trainingsbetrieb nach dem Urlaub?
Kramer: Es gibt schon mehr Medienanfragen. Und ich glaube, es wurden auch mehr
Trikots von mir verkauft. Ich bekomme
Werbeanfragen. Und ich werde in Fernsehshows eingeladen.
SPIEGEL: In welche?
Kramer: Das darf ich nicht sagen. Nur so
viel: Es sind ein paar Kracher dabei.
SPIEGEL: Haben Sie etwa zugesagt?
Kramer: Klar, warum nicht? Das geht womglich so weiter. Weltmeister, das ist
nicht vergnglich. Wahrscheinlich kann ich
mich noch mit 40 in ein TV-Studio stellen
und von damals reden vorausgesetzt, ich
verkaufe mich nicht wie ein Esel.
SPIEGEL: Hat der Titel Sie verndert?
98
DER SPIEGEL 34 / 2014
SPIEGEL: Warum gibt es von Ihnen eigentlich keine Paparazzi-Fotos aus dem Urlaub? Sie waren doch auf einem Boot vor
Mallorca der falschen Insel?
Kramer: Oder der richtigen, wie mans
nimmt.
SPIEGEL: Bei manchen Ihrer Kollegen, die
im Sommer vor Ibiza oder Formentera ankern, hat man den Eindruck, sie mchten
gern fotografiert werden.
Kramer: Kann sein. Ich nicht.
SPIEGEL: Sie haben nicht mal ein Profil bei
Facebook und sind auch nicht bei Twitter.
Was ist los mit Ihnen, haben Sie etwa kein
Interesse an Selbstdarstellung?
Kramer: Ich muss das nicht haben. Das ist
doch anstrengend. Wenn ich nach dem
Training 55 Minuten lang Autogramme gegeben habe, muss ich nicht auch noch irgendwo posten: War ein toller Tag heute.
SPIEGEL: Haben Sie sich als Fuballer durch
die WM verndert?
Video: Weltmeister
mit 23
spiegel.de/app342014kramer
oder in der App DER SPIEGEL
FOTO: INA FASSBENDER / REUTERS
Mnchengladbacher Bundesligaprofi Kramer: Man ist wer
Kramer: Ich habe dazugelernt, sicher. Immerhin habe ich acht Wochen mit den besten Spielern der Welt verbracht. Auerdem ist es im Fuball ja so: Wenn du
Selbstvertrauen hast, in so einem Flow bist,
gelingt dir alles. Und ich merke schon im
Training, dass ich anders gesehen werde:
Der ist Weltmeister, also ein guter Spieler.
Das ist kein Druck fr mich, sondern Besttigung. Wenn ich das auf den Platz bertragen kann, muss eine reifere Spielweise
dabei herauskommen. Man ist wer.
SPIEGEL: Sie gelten als eine Art Laufwunder. Ihr Mnchengladbacher Trainer Lucien Favre bezeichnete Sie als Maschine,
Bundestrainer Joachim Lw nannte Sie,
nach Ihren Strken gefragt: belastbar. Gefllt Ihnen das Image als Fleiiges Lieschen?
Kramer: Ich kann damit leben. Laufen und
fighten zu knnen ist auch ein groes Talent, vielleicht das grte. Kicken knnen
viele. Unter denen, die damals mit mir in
der Bayer-Jugend gespielt haben, war keiner technisch schwach. Aber ich bin der
Einzige, der brig geblieben, in der Spitze
angekommen ist.
SPIEGEL: Gelten Arbeitstiere im Fuball
nicht als unsexy?
Kramer: Wenn bei mir immer nur ber meine Laufstatistik gesprochen wird, nervt es
natrlich. Dass ich mich mit dem Ball am
Fu ganz passabel aus engen Rumen befreien kann, erwhnt kaum jemand.
SPIEGEL: Wren Sie als Kind ein Fan des
Spielers Christoph Kramer gewesen?
Kramer: Ja. Denn mein Lieblingsspieler war
immer der Englnder Steven Gerrard. Der
lief immer schon jedem Ball hinterher, mit
groen Schritten. Er war vielleicht nicht
der begnadetste Fuballer, aber berall auf
dem Platz prsent, hat gegrtscht und gekmpft.
SPIEGEL: Sie stehen bei Bayer Leverkusen
unter Vertrag, sind im zweiten Jahr an
Mnchengladbach ausgeliehen. Das Leihgeschft endet 2015. Drfen Sie noch mitreden, wo Sie spielen?
Kramer: Wenn ich irgendwo nicht spielen
mchte, spiele ich da nicht. Das versichere
ich Ihnen. Da kann ein Vertrag aussehen,
wie er will.
SPIEGEL: Leverkusens Sportchef Rudi Vller
kndigte wiederholt an, er werde Sie in
einem Jahr zu Bayer zurckholen.
Kramer: Ganz generell, ich sage das nicht
mit Blick auf einen bestimmten Verein,
fhle ich mich in dem Geschft manchmal
wie in einem modernen Menschenhandel.
Doch am Ende entscheide immer noch ich.
SPIEGEL: Herr Kramer, wir danken Ihnen
fr dieses Gesprch.
Sport
Liebe und
Hass
Stars Floyd Mayweather Jr. ist
die grte Geldmaschine des
Boxens. Fr eine Serie von sechs
Kmpfen erhlt der Amerikaner
rund eine viertel Milliarde Dollar.
FOTO: STEVE MARCUS / REUTERS
as Boxen ist fr ihn keine Parabel
auf das Leben und auch keine Poesie der Fuste, er kann mit diesem
pseudophilosophischen Gerede nichts anfangen. Fr ihn ist das Boxen: Zirkus. Eine
Show.
Ich zwinge niemanden, mich kmpfen
zu sehen, sagt Floyd Mayweather Jr.
Warum die Leute trotzdem kommen?
Alles eine Frage des Entertainments.
Und Entertainment, das kann er. Mayweather ist nicht nur der beste Boxer der
Welt, er ist auch der unterhaltsamste. Er
lie sich schon auf einem Thron von vier
Mnnern in Gewndern rmischer Gladiatoren zum Ring tragen. Er reist mit zwei
Privatjets: Der eine ist fr ihn und seine
Kchenmannschaft, im anderen fliegen die
Leibwchter hinterher. Seine Glatze lsst
er von einem privaten Friseur pflegen, die
Muskeln von einer vollbusigen Masseurin.
Es gibt viele dieser Geschichten.
Mayweather ist 37 Jahre alt, ein kleiner,
drahtiger Mann mit einer makellosen
Bilanz. In 18 Jahren als Profi trat er zu
46 Kmpfen an, in fnf verschiedenen
Gewichtsklassen jedes Mal verlie er
den Ring als Sieger, 26-mal gewann er
durch Knock-out. Er respektiere, was
Sugar Ray Robinson und Muhammad Ali
fr das Boxen getan htten, sagt er, aber
der Grte bin ich. Es gibt Menschen mit
weniger Selbstbewusstsein.
Am 13. September boxt er das nchste
Mal, dann gegen Marcos Maidana, einen
Linksausleger aus Argentinien, aber der
Gegner ist eigentlich nicht der Rede wert.
Wenn es um Mayweather geht, dann zhlt,
dass der Kampf in der MGM Grand Garden Arena von Las Vegas steigt, dass die
Halle 16 800 Sitzpltze hat und ausverkauft
sein wird, dass Ticketbrsen die Karten
fr mehr als 17 000 Dollar handeln.
Lange Zeit nannte sich Mayweather
Pretty Boy, weil er nach zwlf Runden
schlimmstenfalls aussah, als htte er mit
seinen Kindern im Garten gerauft. Mittlerweile lautet sein Kampfname Money,
und der weist deutlicher auf das Wesentliche hin. Kein Sportler verdient mehr Geld
als Mayweather, kein Boxer erzielt einen
hheren Umsatz.
Weltmeister Mayweather
Alles eine Frage des Entertainments
Seine garantierte Brse liegt zwischen
32 und 42 Millionen Dollar; Schwergewichtsweltmeister Wladimir Klitschko bekommt weniger als die Hlfte, wenn er
boxt. Der Bezahlsender Showtime nahm
mit einem von Mayweathers Kmpfen 150
Millionen Dollar ein.
Mayweather hat mit Showtime einen
Vertrag ber sechs Fights in 30 Monaten,
der ihn um rund eine viertel Milliarde Dollar reicher macht. Der Vertrag endet mit
seinem 49. Kampf, der vielleicht historisch
wird.
Bisher gelang es nmlich erst einem
Boxer, 49-mal in Serie ohne Niederlage
und Unentschieden zu bleiben. Es war der
Amerikaner Rocky Marciano; zwischen
1947 und 1955 gewann er alle seine Kmpfe. Lange her.
Floyd Mayweather ist auf dem Weg, diese Bestmarke einzustellen. Er wolle Geschichte schreiben, er sagt: Ich mchte,
dass mein Name fr immer lebt.
Er will nach ganz oben, weil er von ganz
unten kommt. Mayweather ist in einem
Armenviertel der Industriestadt Grand Rapids aufgewachsen, im US-Bundesstaat Michigan. Sein Vater war Boxer, sein Onkel
auch, beide haben ihn trainiert, der Vater
sa wegen Drogengeschften im Gefng-
nis, der Onkel wurde wegen Krperverletzung verurteilt. Die Mutter war ein Junkie.
Als Kind besa er drei Hosen und drei
T-Shirts, es gab im Haus kein warmes Wasser. Manchmal schliefen sieben Leute in
einem Raum.
Heute lebt er in einer Villa, die 18 Zimmer hat, und er hat stets einen Rucksack
dabei, in dem eine Million Dollar stecken.
In bar, versteht sich. Falls er unterwegs
was Schnes sieht. Er protzt mit seinen
Autos, seinen Juwelen und seinen Schuhen, die er immer nur einmal trgt. Es ist
seine Art, die Vergangenheit zu kompensieren.
Ganz abschtteln kann er sie nicht. Mayweather ist kein braver Mann. Er bekam
ein Jahr auf Bewhrung, nachdem er in
einem Nachtklub zwei Frauen bedrngt
hatte. Vor zwei Jahren ging er fr 63 Tage
ins Gefngnis, weil er auf seine Ex losgegangen war. Die Richterin verschob den
Haftantritt damals, weil er mit einem Boxkampf kollidierte.
Mayweather polarisiert; die einen lieben
ihn fr seine Extravaganz, die anderen hassen ihn fr seine Malosigkeit. Gleichgltig
lsst er kaum jemanden, auch das ist ein
Grund fr seinen Erfolg.
Mayweather kann zur Boxlegende werden, er hat die Fhigkeiten dazu. Er ist
schnell, sein Schlagrepertoire und die taktische Intelligenz sind gro. Die Kunst, seinen Gegner oft zu treffen und dabei selbst
so wenig abzukriegen wie mglich, beherrscht keiner besser als er. Mayweather
traf in seinen bisherigen Kmpfen im
Schnitt mit 41 von 100 Schlgen, die Gegner erwischten ihn nur bei 17 von 100 Versuchen.
Sechs Kmpfe in zweieinhalb Jahren bedeutet aber auch, dass er alle fnf Monate
boxen muss. Sich nach einem Kampf sofort
auf den nchsten vorzubereiten ist krperlich und mental eine Qual. Im Training
sind fr Mayweather in jeder Einheit 8000
Schlge auf Punchingblle, Sandscke und
Sparringspartner blich.
Der Musiker 50 Cent, brgerlich Curtis
Jackson, der auch als Boxpromoter arbeitet, ist skeptisch, dass Mayweather das
durchhalten kann. Er bezweifle stark, dass
der Boxer seinen Teil des Deals mit Showtime erfllen knne. Es gibt Kritiker, die
ihm vorwerfen, er gehe den strksten Gegnern aus dem Weg.
Floyd Mayweather sieht das natrlich
anders. Er denkt schon weiter und hat
angekndigt, etwas Wichtiges mitzuteilen.
Mglicherweise kmpft er noch einmal. Es
wre sein 50. Fight, er knnte als alleiniger
Rekordhalter abtreten. Kaum vorstellbar,
wie hoch seine Brse an dem Abend wre.
Du kannst dem Geld nicht hinterherjagen, sagt Mayweather. Es kommt von
allein zu dir, wenn du tust, was man von
dir erwartet.
Maik Groekathfer
DER SPIEGEL 34 / 2014
99
Wissenschaft + Technik
Sind Psychopathen
doch therapierbar?
Sie gelten als furchtlos, manipulativ und kaltherzig und
ihnen haftet der Makel an,
nicht therapierbar zu sein.
Doch dieses unter Fachleuten
weitverbreitete Urteil ber
Psychopathen wird nun angefochten. Die Psychologin Devon Polaschek von der Victoria University of Wellington
in Neuseeland kommt in
der neuen Ausgabe des Fach-
Medizin
Der Spott war
mir egal
Karl Lauterbach, 51,
Gesundheitsexperte und
Fraktionsvize
der SPD, ber
die Mhen
der salzlosen
Ernhrung
SPIEGEL: In Berlin galten Sie
jahrelang als komischer Kauz,
weil Sie sich salzfrei ernhren
und im Restaurant sogar
darauf bestehen, dass Nudeln
in ungesalzenem Wasser gekocht werden. Jetzt zeigt
eine neue Studie: Allein 2010
starben mehr als 1,6 Millionen Menschen an zu salzhaltiger Kost. Fhlen Sie so etwas
wie spte Befriedigung?
Meersalz auf Mallorca
magazins Current Directions
in Psychological Science
zu einem berraschenden Befund: Die verbreiteten
Vorstellungen ber Psychopathen und deren Therapierbarkeit sind weitgehend substanzlos, urteilt die Wissenschaftlerin. Die Ansicht
etwa, dass Psychopathen
sogar die Therapie selbst ausnutzen, um dadurch ihre
manipulativen Sinne zu schrfen, sei das Ergebnis einer
veralteten Studie diese Untersuchung, so Polaschek,
werde inzwischen als unethisch und wahrscheinlich
schdlich eingestuft. Ohnehin gebe es kaum Studien,
in denen der Behandlungserfolg bei Psychopathen dezidiert untersucht worden sei.
Die wenigen vorhandenen
Erkenntnisse zeigten aber,
dass Psychopathen in gleicher Weise auf Resozialisierungsmanahmen reagierten
wie gewhnliche Schwerverbrecher: Sie wollen auf
jeden Fall eine erneute Verurteilung vermeiden. tha
Lauterbach: Der ganze Spott
war mir immer egal. Lieber
einen Witz ertragen, als zu
frh sterben. Ich esse schon
seit 1989 salzarm. Damals studierte ich genau an dem Institut in Harvard, das nun die
Studie verffentlicht hat.
SPIEGEL: Ist ein Leben ohne
Salz nicht schrecklich fade?
Lauterbach: Anfangs war es
schon eine Umstellung. Aber
nach anderthalb Jahren habe
ich das Salz gar nicht mehr
vermisst. Wenn man darauf
verzichtet, lernt man den Geschmacksreichtum von Gewrzen wie Chili, Pfeffer oder
Kurkuma erst zu schtzen.
SPIEGEL: Ist es kompliziert, auf
Salz zu verzichten?
Lauterbach: Zugegeben: Ganz
einfach ist es nicht. Ich
muss mir zum Beispiel mein
eigenes Brot backen. Und
Restaurants weigern sich hu-
fig, salzlos zu kochen. Das
liegt auch daran, dass nicht
mehr alle Speisen komplett
vor Ort zubereitet werden,
Soen zum Beispiel. Aber
was Salz angeht, bin ich
konsequent: Ein Restaurant,
das nicht darauf verzichten
kann, muss auf mich verzichten.
SPIEGEL: Sie scheinen kein
ganz einfacher Gast zu sein.
Lauterbach: Wenn ich zum
Essen eingeladen bin, sage
ich natrlich vorher Bescheid.
Manchmal geht es trotzdem
schief. Einmal hatte mich
die damalige amerikanische
Gesundheitsministerin
Kathleen Sebelius zu einem
Bankett im Weien Haus
geladen. Trotz Absprache
war das Essen gesalzen.
Ich habe dann nur Wein getrunken. Das war auch ganz
lustig. elg
Funote
100$
kostet es, das neue Medikament Sofosbuvir gegen
Hepatitis C fr eine zwlf
Wochen dauernde Behandlung herzustellen. Tatschlich aber verlangt der Pharmakonzern Gilead Sciences
60 000 Euro fr die Therapie. Pure Gier nennt das
die unabhngige deutsche
rzteorganisation MEZIS.
100
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FOTOS: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL (L.M.); F1ONLINE (L.U.)
Kriminalistik
Gipfeltreffen im Meer
Das Verhltnis zwischen Mensch und Hai gilt als belastet der
britische Fotograf Andy Murch wagte sich dennoch ins Wasser,
um die Begegnung mit Zitronenhaien festzuhalten. 2014 sind
bislang fnf Menschen durch Haiattacken umgekommen; demgegenber stehen Millionen gettete Haie.
Kommentar
Das Schweigen der Matheknigin
FOTO: ANDY MURCH (R.)
iese Frau wei, wie viele geschlossene geodtische Kurven mit einer bestimmten Maximallnge es auf hyperbolischen Flchen gibt. Sie ist erst 37 Jahre alt, bereits Professorin an der Stanford University in Kalifornien und seit
voriger Woche auch noch Trgerin der Fields-Medaille. Als
erster Frau berhaupt wurde ihr diese Auszeichnung verliehen, die als eine Art Nobelpreis der Mathematik gilt.
Die Mathematikerin Maryam Mirzakhani ist ein Fabelwesen, das man bestaunen mchte doch ausgerechnet im
Augenblick ihres grten Triumphs verstummte die geborene
Iranerin. Sie sei derzeit nicht in der Lage, Interviews zu geben, und plane dies auch nicht in absehbarer Zukunft, lie sie
ber ihre Universitt mitteilen. Ein neuerlicher Beweis fr die
Verschrobenheit von Mathematikern? Erinnerungen werden
wach an den Russen Grigorij Perelman. Dieser geniale Schrat
hatte 2006 gleich ganz abgelehnt, die Fields-Medaille anzunehmen. Er blieb lieber daheim in Sankt Peterburg, wo er sich
mit seiner Mama eine kleine Wohnung teilt und die ffentlichkeit scheut. Aber Mirzakhani ist nicht wie Perelman. Sie
hat ein Kind und einen Ehemann, kleidet sich modisch und
achtet offenbar nicht nur auf die Dynamik und Geometrie
Riemannscher Flchen, sondern im Unterschied zu Perelman auch auf ihr ueres. So einer Frau wrden vermutlich
sogar viele jener zahlreichen Mdchen in Deutschland zuhren, die laut jngster Pisa-Studie eine tiefe Abneigung gegen
das Fach Mathematik hegen. Dazu msste Maryam Mirzakhani
nur fortfahren, ber die Schnheit ihrer Arbeit zu sprechen.
Frank Thadeusz
DER SPIEGEL 34 / 2014
101
Neue Heimat auf dem Mars
Raumfahrt 704 Freiwillige kmpfen schon bald um die Chance, den lebensfeindlichen
Wstenplaneten zu besiedeln. Ein weltweites Medienspektakel soll das Geld
fr die gewagte Weltraummission einspielen es wre eine Reise ohne Wiederkehr.
enn sein Herzenswunsch sich erfllt, wird Stephan Gnther eines Tages auf dem Mars sterben.
Er hat den Fall lngst vorausbedacht. Er
mchte, dass die Gefhrten seinen Leichnam hermetisch versiegeln, bevor sie ihn
dann auerhalb der Kolonie zwischen die
Felsen betten.
Vielleicht gibt es ja unbekannte Lebensformen auf dem Mars, sagt Gnther, 45.
Da drfen wir nicht einfach eingreifen.
So aufgeklrt sind die Eroberer von heute. Sie wollen einen Planeten in Besitz neh-
Kche, Vorratsrume und Schleuse
men, und ihre letzte Frsorge gilt seinem
trostlosen kosystem aus Staub und Steinen: Menschliche berreste knnten eingeborene Bakterienkulturen verflschen.
Noch ist der Mars wst, leer und kologisch intakt. Aber vielleicht wird Stephan
Gnther bald auf einem Rover durch holprige Krater kurven, und das Fernsehen
funkt die Bilder zur Erde. Der Mann, derzeit noch Fluglehrer in Magdeburg, hat
sich beworben fr eine denkwrdige Reise
zum Nachbarplaneten: Einen Rckflug
wird es nicht geben.
Wohnzimmer mit
Panoramabildschirm
Aufwand und Kosten der Mission sinken
dadurch auf einen Bruchteil. Eine Stiftung
in den Niederlanden, geleitet von Unternehmer Bas Lansdorp, treibt das Projekt
um den Einwegflug ins All voran. 2024
wollen wir die ersten vier Siedler zum
Mars schicken, sagt Lansdorp, weitere
Teams werden folgen.
704 Kandidaten stehen bereit, die Erde
fr alle Zeit zu verlassen. Ein Wettkampf
soll entscheiden, wer von ihnen in die stndige Vertretung der Menschheit auf dem
Mars entsandt wird. Acht Jahre lang will
Schlafraum
Lager
Sandaufschttung zum Schutz
gegen Klte und Strahlung
Aufblasbare Wohnmodule
Mannschafts- und
Versorgungskapseln
Wissenschaft
Lansdorps Stiftung Mars One die Er- den Rcken. Dann ging es hinaus ins All
whlten trainieren. Es erwartet sie ein Le- auch bei schnem Wetter, sagt Gnther.
Die anderen Jungs spielten drauen Fuben im Ausnahmezustand.
Als Reiseziel gibt der Mars wenig her. ball, ich flog in meiner Kapsel.
Nun darf er hoffen, in einem echten
Es ist dort bitterkalt, und Staubstrme hllen den gesamten Planeten hufig fr Wo- Raumschiff mehr als 50 Millionen Kilomechen ein. An Sehenswrdigkeiten gibt es ter zwischen sich und die Erde zu bringen.
bestenfalls kilometertiefe Klfte und ge- Erste Konzepte fr marstaugliche Flugkrwaltige Vulkane, einer davon fast so gro per gibt es bereits. Die US-Firma SpaceX
wie Polen aus einer Tiefebene erhebt er etwa stellte im Mai ihr Modell Dragon
v2 vor. Die Kapsel bietet Platz fr bis zu
sich zu einer Hhe von 26 Kilometern.
Die Erde aber erscheint den Aussiedlern sieben Passagiere; ab 2016 soll sie Astronur als Punkt am Himmel. Wenn ihnen nauten zur Internationalen Raumstation
etwas zustt, wird von dort keine Hilfe ISS fliegen und spter, wenn es nach
kommen. Mindestens sechs Monate dauert Mars One geht, womglich auch die ersder Flug. Und nur alle zwei Jahre stehen ten Siedler zum Nachbarplaneten.
Schon ab 2018 will Mars One mit eidie Planeten einander so nah, dass berner Reihe unbemannter Flge die ntige
haupt eine Rakete starten knnte.
Den Kandidaten Gnther schreckt das Ausrstung auf den Mars schaffen. Wenn
alles nicht. Er ist ein geborener Sternfahrer. dann 2025 die ersten 4 von insgesamt 24
Als Kind baute er sich Raumkapseln aus Siedlern landen, finden sie einen fast
groen Pappschachteln. Er malte sie innen schlsselfertigen Auenposten vor: fr
mit Instrumenten aus, schnitt Luken hinein jeden eine Wohnkapsel, dazu aufblasbare
und kippte als Pilotensitz einen Stuhl auf Treibhuser fr Salat, Tomaten und ZucTreibhaus zur Produktion von Sauerstoff und Gemse
chini. Wasser gewinnen die Neubrger,
indem sie das Eis im Boden schmelzen.
Solarzellen liefern die ntige Energie.
Dass die Marsmission technisch zu schaffen wre, steht kaum in Zweifel sonst
aber ziemlich alles. Grte Hrde: die Kosten. Mars One will mit sechs Milliarden
Dollar bis zur ersten Landung auskommen Experten halten den Aufwand dagegen fr kaum kalkulierbar. Den Groteil
des Geldes soll der Verkauf der Fernsehrechte einspielen. Lansdorp rechnet vor,
dass die Sender heute schon fr Olympische Spiele rund vier Milliarden Dollar hinblttern und was sind ein paar Sportler
gegen die erste Siedlung im All? Dafr
wird das Publikum sich begeistern, sagt
er, wie seit der Mondlandung nicht mehr.
Schon auf Erden sollen Kameras dabei
sein, wenn die Kandidatenteams gegeneinander antreten zum Beispiel in simulierten Katastrophen, wie sie der Kolonie
auf dem Mars jederzeit drohen: Wie schlagen sich die Raumfahrer, wenn pltzlich
Auenposten im All
Der Fahrplan von Mars One
2011 Grndung des Mars One-Projekts
2013 Sichtung der Kandidaten beginnt
2015 Training der ausgewhlten sechs Teams
2018 Erste Sonden zur Vorbereitung der Mission
2020 Start des Transportroboters Mars-Rover
2022 Start verschiedener Frachtmodule
2023 Landung und Aufbau der ersten Module
2024 Start der ersten vier Marssiedler
2025 Landung auf dem Roten Planeten
2026 Start der zweiten Crew. In zweijhrigem
Abstand sollen weitere Siedler folgen.
Mars-Rover fr Transporte
und Exkursionen
Solarzellenpark zur Energieversorgung
Wissenschaft
104
DER SPIEGEL 34 / 2014
Mars One-Visionr Lansdorp
Grtes TV-Ereignis seit der Mondlandung
Lebzeiten und das womglich vor einem
Milliardenpublikum.
Darf man Menschen einer so bermchtigen Versuchung aussetzen selbst auf
die Gefahr hin, dass sie zugrunde gehen?
Wenn ja, wen schickt man hin? Wer hat
das Zeug, eine solche Himmelfahrtsmission zu ertragen? Und wenn es schiefgeht:
Wann schaltet man die Kameras ab?
Viele Bewerber wollen ein Beispiel geben. Sie trumen davon, eine neue Zivilisation zu grnden, ohne Gesetze, ohne
Staaten. Der Mars bietet die ideale Leere,
in die sich alles hineinfantasieren lsst.
auch tapfer in der Hitze Spaniens, wo er
oft den Sommer verbringt.
Seiner Frau gehrt ein Bungalow inmitten der Bettentrme von Benidorm, nicht
weit vom Strand. Hier kann Gnther, fern
der Flugschule, in Ruhe programmieren.
Das ist sein zweiter Beruf. Er entwickelt
Simulationen fr Weltraumbegeisterte: ein
Spaceshuttle etwa, das sich durchs All
steuern lsst, und Apollo-Missionen
zum Nachspielen.
Wenn es ihm zwischen den Hochhusern zu eng wird, fliegt Gnther im offenen Gyrokopter eines Freundes ber das
ausgedrrte spanische Kstenland. Von
oben sieht es dem ersehnten Wstenplaneten schon recht hnlich.
Auf dem Mars freilich wird es mit dem
Fliegen fr immer vorbei sein. Das ist die
feine Ironie dieser Mission: Haben die
Abenteurer endlich das Ziel der Ziele erreicht, werden sie dort das Leben von Stubenhockern fristen. Um die 40 Quadratmeter Wohnflche gibt es fr jeden.
Bei uns in den Niederlanden kommen
wir auch oft den halben Winter nicht raus,
sagt Pamela Nicoletatos aus Rotterdam, 41.
Auch sie, verheiratet, zwei Shne, will mit
zum Mars. Sie belegt bereits Kurse in Astronomie, Geologie und Medizin. Fllt es
ihr leicht, die Familie aufzugeben?
Das sei ein hartes Wort, findet sie, fr
jemanden, der sich so viele Jahre gekmmert hat. Ich habe sogar meine Shne zu
Hause unterrichtet, sagt sie. Mehr Familie geht ja wohl nicht. Auf dem Mars sucht
sie jetzt ein neues, ganz anderes Leben.
Die Jungs werden Mitte zwanzig sein,
wenn die Mutter sich aufmacht. Sie kann
ihnen Funkbotschaften schicken; mindestens sechs Minuten vergehen, bis die Antwort von der Erde eintrifft. Womglich ist
es auch nur eine Trennung auf Zeit. Mein
Die Aussiedler werden nie mehr knirschenden Schnee
unter den Schuhen spren.
Kandidat Gnther glaubt, dass solche Mann und die Shne wollen sich auch beIdealisten auf dem Mars nichts verloren werben, sagt Nicoletatos, aber erst fr
haben. Dort werde das Leben viel schwe- sptere Missionen. Sie wei: Verwandte
rer, nicht einfacher. Lansdorp sieht das im Team, das verbietet sich. Jederzeit kann
ebenso. Wir schicken niemanden los, dem es um Leben und Tod gehen da sollte
es auf Erden nicht gefllt, sagt er. Denn die Besatzung nicht familir verstrickt sein.
dann ist nicht die Erde das Problem. Wir Das Team wird eine zweite Familie fr
brauchen Leute, die eine Menge aufzuge- mich sein, glaubt die Marsfrau.
Das liegt in der Natur der Sache. Die
ben haben und trotzdem gehen wollen.
Stephan Gnther darf sich gemeint fh- Kolonisten werden einander nher rcken,
len. Er lsst drei Kinder zurck und seine als Erdenmenschen sich das vorstellen knEhefrau Beate. Sie hat sich nach dem ers- nen. Vor der Ersatzfamilie auf dem Mars
ten Schock gefgt. Offenbar muss ihr Mann gibt es kein Entrinnen. Die Kolonie ist ein
nun mal hinaus ins All wie ein Lachs, Laborversuch in totaler wechselseitiger
der an die Sttte seines Ursprungs zurck- Abhngigkeit: Big Brother auf Lebenskehrt. Sie trstet sich damit, dass ihnen zeit. Kein Heimwehkranker verlsst den
Posten, keine Nervensge kann rausgenoch zehn gemeinsame Jahre bleiben.
Der Kandidat lsst aber sein Ziel schon whlt werden.
Stephan Gnther blickt deshalb mit eijetzt nicht mehr aus den Augen. Er hat
sich 20 Kilogramm abtrainiert, und er joggt ner gewissen Bangnis auf die 704 Kandi-
FOTO: JUDITH JOCKEL / LAIF
das Klo ausfllt? Wenn die Luftzufuhr versiegt? Wenn ein Meteorit durchs Dach
kracht? Die Besatzung bt in originalgetreuen Kapseln, immer wieder wochenlang
isoliert von der Auenwelt. Das wird die
hrteste Ausbildung aller Zeiten, sagt,
nicht ohne Stolz, Kandidat Gnther.
Die Fernsehrechte fr die Kandidatenauswahl hat sich gerade eine Tochterfirma
des niederlndischen Endemol-Konzerns
(Big Brother) gesichert. Sie filmt zunchst die Interviews, mit denen Mars
One den Kreis weiter lichten will. Bis zu
25 Viererteams, so der Plan, gehen in die
Ausscheidungskmpfe; fr die 6 besten beginnt dann schon nchstes Jahr die Ausbildung in den Knsten des berlebens.
Die Mission steht und fllt mit ihren Helden. Sie braucht starke, farbenfrohe Charaktere, fr die sich Zuschauer in aller Welt
jahrelang begeistern knnen. Zugleich
aber braucht sie gengsame, gleichmtige
Typen, die in einer staubigen Einsiedelei
auf dem Mars nicht verrckt werden.
Lansdorp behauptet, das widerspreche
sich nicht. Wer das Fernsehpublikum gewinnen kann, hat auch das Zeug zum Kolonisten, sagt er. Wrden Sie mit Langweilern auf den Mars bersiedeln wollen?
Anfangs schien die Auswahl riesig. Gut
200 000 Sternfahrer hatten sich groteils
ber das Internet bei Mars One beworben. Dann machten sich Lansdorp und
seine Leute ans Sichten. Sie nahmen die
Witzbolde aus dem Spiel und die traurigen
Trpfe, die auf ein bisschen Aufmerksamkeit spekulierten. Am Ende blieben 704
Kandidaten brig.
Es ist immer noch eine bunte Schar. Daniel aus Kleve zum Beispiel, Sozialarbeiter,
26 Jahre alt. Er wandert gern wochenlang
allein durch leere Landstriche ihm ist,
wie er gesteht, hchstens bang davor, dass
er den Mars mit drei weiteren Menschen
teilen muss. Die quirlige Leila, 46, Notrztin aus Washington, freut sich dagegen auf
Enge und Trubel in der kleinen Kolonie.
Dem Webdesigner Chalid aus Dubai, 22,
kam bereits eine Fatwa seiner Mullahs in
die Quere: Die Marsmission sei Selbstmord, urteilten die Rechtsgelehrten, also
einem glubigen Muslim nicht gestattet.
Chalid will trotzdem mitfliegen.
In den selbst gedrehten Bewerbungsvideos fllt oft das Wort vom Lebenstraum. Die Besiedelung des Weltalls sei
doch das Allergrte.
Menschen, die sich nach Einzigartigkeit
sehnen, mssen so etwas unwiderstehlich
finden der Sternfahrer erhebt sich als
Einzelner aus der Menge, wie es nicht einmal den geistesverwandten Extrembergsteigern vergnnt ist: Die mssen nach
jedem Gipfelrekord wieder hinab in die
Gewhnlichkeit. Die Marsianer dagegen
brechen alle Brcken zum Erdengeplnkel
hinter sich ab. Sie werden Denkmale zu
FOTO: GONZALO AZUMENDI / DER SPIEGEL
daten. Er fragt sich, ob diese bunte Schar
am Ende sechs unbezwingliche, verschworene Kolonistenteams hergibt. Wenn die
Mission scheitert, dann daran.
In der Vorauswahl finden sich Originale
wie Ludwig aus Bonn, 33, Freund alles
Kosmischen, der sich als Botschafter der
Neuen Weltordnung empfiehlt. Oder die
Filmprofessorin Jan aus San Francisco, 64,
die beim Abflug weit ber siebzig sein
wird und gern sagt, sie mchte der erste
Mensch sein, der auf dem Mars stirbt.
Auch Steve aus der Schweiz, 29, ist noch
im Rennen krperlich voll da, wie er
beteuert. Er gehrt zu den weltbesten
Athleten der Disziplin Vierstndiges Dauerrutschen im Schwimmbad, die vor allem ein strapazierfhiges Ges erfordert.
Steve will seiner Freundin vorm Abflug
ein Kind schenken. Das Schweizer Fernsehen dreht einen Film mit ihm.
Wissen all diese Ulknudeln, was sie auf
dem Wstenplaneten erwartet?
Am schwersten wre wohl der Reizentzug zu ertragen, sagt Hanns-Christian
Gunga, Weltraummediziner an der Berliner Charit. In so einer isolierten Kolonie
ist ja wenig wahrzunehmen auer dem
Brummen der Lebenserhaltungssysteme.
Die Aussiedler werden nie mehr knirschenden Schnee unter den Schuhen spren oder das Fcheln einer Brise um die
Nase. In ihrer abgeschiedenen Welt gibt
es weder Kindergeschrei noch Bienengesumm. Irgendwann wrde den Insassen
wohl selbst schnder Straenlrm wie eine
Symphonie des Lebens vorkommen.
Ab und zu knnten die Marsianer mit
einem Rover hinausfahren, um ein paar
Lavahhlen zu erkunden. Aber der Alltag
ist Routine Pflanzen versorgen, Maschinen warten, den Staub von den Solarpaneelen fegen. Und vor allem: trainieren.
Ausgiebige Bewegung ist wichtig, weil
sonst Skelett und Muskulatur dahinschwinden. Das geht schnell, sagt Mediziner Gunga. Schon am ersten Tag im
All wird Knochenmaterial abgebaut.
Selbst bei tglich zwei Stunden Training
gehen jeden Monat ein bis zwei Prozent
der Knochenmasse verloren. Ein 40-jhriger Raumfahrer, schtzt die Nasa, wrde
nach drei Jahren in der Schwerelosigkeit
mit dem Skelett eines 75-Jhrigen zurckkehren.
Auf dem Mars herrschen zwar immerhin
38 Prozent der irdischen Schwerkraft, weswegen der Knochenabbau sich verlangsamt. Aber an einigen Stellen ist der Verlust weiterhin relativ gro, darunter Hacke
und Becken alles Knochen, die auf der
Erde besonders beansprucht werden.
Der Umbau des ganzen Krpers geht
ungleichmig vonstatten. Am schnellsten
werden sich jene Muskeln zurckbilden,
die den Menschen aufrecht halten das
Ges etwa drfte deutlich abflachen. Ins-
Kandidat Gnther im Gyrokopter: Als Kind schon in Raumschiffen aus Pappe durchs All
gesamt sind rund 60 Prozent der Muskelmasse betroffen, sagt Gunga. Wir lernen
aber gerade erst, wie vielfltig die Schwerkraft den Organismus beeinflusst.
Sicher ist, dass die Kolonisten nach einer
Weile anders aussehen als Erdenmenschen:
schmchtig die Gestalten, mit Spindelbeinen und dnnen rmchen.
Schon deshalb wre eine Rckkehr so
gut wie ausgeschlossen. Unter der irdischen Schwerkraft knnten die Knochen
der Marsmenschen brechen wie Glas.
Auch Schwerkranke mssen auf dem
Vorposten ausharren; keine interplanetarische Ambulanz kann sie heimholen. Dabei ist das Krankheitsrisiko der Kolonisten
hoch. Schon auf dem langen Flug sind sie
kosmischer Strahlung ausgesetzt, die zu
Krebs fhren kann. Auerdem steigt die
Anflligkeit fr Nieren- und Gallensteine,
weil die abgebaute Knochensubstanz teilweise im Krper eingelagert wird. Weltraummediziner Gunga sieht die ganze Mission sehr skeptisch.
Was wollen die Kolonisten tun, wenn
der erste Mitmensch an Darmkrebs erkrankt oder von Nierenkoliken gepeinigt
wird? Wir mssen wohl operieren lernen,
sagt Kandidat Gnther. Nach einigem
Nachdenken rumt er ein, dass man im
Zweifel wohl auch ber Tten auf Verlangen werde nachdenken mssen.
Zum Leben in einer weltverlorenen Einsiedelei gehren, abseits der Pionierromantik, nun mal hssliche Entscheidungen.
Eine fein austarierte Sittlichkeit muss man
sich leisten knnen. Wo Notstand in Permanenz herrscht, droht stets der Rckfall
in eine archaische berlebensmoral. An-
genommen, ein Pilz fllt im luftdicht versiegelten Gewchshaus ber die Pflanzen
her, und pltzlich reicht die Nahrung nicht
mehr fr alle was dann?
Utopische Eroberertrume schlagen
nicht selten in ihr Gegenteil um. Schriftsteller haben sich das oft genug ausgemalt, und besonders gern am Beispiel des
Mars. Viele Geschichten erzhlen von
Versuchen, den Mars zu besiedeln, sagt
Philipp Theisohn, Literaturforscher an
der Uni Zrich. Ich kenne keine, die gut
ausgeht.
In den Fnfzigern, als die Angst vor einem Atomkrieg umging, wurde der Mars
als Zufluchtsort populr. Dorthin knnte
die Menschheit sich womglich retten
Planet B sozusagen. Berhmtes Beispiel:
die dsteren Mars-Chroniken des Amerikaners Ray Bradbury. In mehreren Wellen brechen da Siedler auf ins All, voller
Hoffnung auf ein besseres Leben bis sie
erfahren, dass sie alle Schrecken in sich
tragen, denen sie zu entkommen hofften.
Theisohn fragt sich, was Mars One
berhaupt mit dem Auenposten bezweckt. Das ist ja gar keine richtige Kolonie, sagt er. Die Siedler bleiben Fremdlinge, isoliert in schweren Raumanzgen
und beschrnkt auf den engen Radius um
die Station herum.
Dennoch kann der Mars wohl einfach
auf Dauer nicht unbesiedelt bleiben. Zwar
hat die Nasa vorlufig keine Plne, doch
streben private Unternehmer umso eifriger
zum leeren Planeten.
Der Brite Richard Branson verkndet
seit Jahren, er wolle unbedingt den Mars
bevlkern. Seine Firma Virgin Galactic entDER SPIEGEL 34 / 2014
105
Bushs Liste
106
DER SPIEGEL 34 / 2014
arden Dollar genehmigt wurde, richtete
keine solchen Schden an, war aber ebenfalls umstritten. Fr groe Pharmakonzerne waren die auf einzelne Forschungsvorhaben zugeschnittenen Frdergelder kaum
interessant. Lediglich kleine Biotechfirmen
freuten sich ber die ein- bis zweistelligen
Millionenbetrge, die fr einzelne Projekte
genehmigt wurden. Meist riss die Finanzierung der Impfstoffprojekte nach dem
Tierversuchsstadium ab. Kaum eine Neuentwicklung schaffte es bis zur teuren klinischen Prfung am Menschen.
Nun aber knnte sich das Milliardenprogramm gegen Bioterrorismus doch noch
als Segen erweisen im Kampf gegen die
exotische Dschungelseuche Ebola.
Denn auch das Ebola-Virus stand auf
Bushs Liste potenzieller Biowaffenerreger.
In Westafrika, wo derzeit die schlimmste
jemals registrierte Ebola-Epidemie wtet,
knnten die ursprnglich gegen bioterroristische Anschlge und zum Schutz von
US-Soldaten entwickelten Impfstoffe und
Medikamente nun tatschlich zum Einsatz
kommen.
1145 Menschen sind bei dem aktuellen
Ausbruch nach offiziellen Angaben der
Weltgesundheitsorganisation WHO bis
Ende vergangener Woche gestorben. Doch
die WHO rumte ein, dass die Zahl der
tatschlichen Todesopfer lngst weit hher
liegen drfte. Bereits vier westafrikanische
Lnder Guinea, Liberia, Sierra Leone sowie Afrikas bevlkerungsreichster Staat
Nigeria hat die Seuche im Wrgegriff;
Kenia und die Elfenbeinkste gelten als
gefhrdet. Katastrophal ist die Lage in Liberias Hauptstadt Monrovia. Rund 40 Mitarbeiter von Gesundheitseinrichtungen sol-
FOTO: JOHN MOORE / GETTY IMAGES
wickelt immerhin bereits ein Raumflugzeug, das Touristen auf einen Kurztrip ins
erdnahe All befrdern soll das Projekt
liegt allerdings weit hinter dem Zeitplan.
Bessere Aussichten hat vermutlich der
Amerikaner Elon Musk. Er baut nicht nur
das Elektroauto Tesla, er hat auch die erfolgreiche Raumfahrtfirma SpaceX gegrndet im Grunde nur, sagt er, um eines Tages Passagiere zum Mars zu expedieren.
Musk kalkuliert mit 80 000 Weltraumtouristen, die je 500 000 Dollar fr ein Ticket
hinlegen. Die Zahlen hat er freilich einfach
aus der Luft gegriffen.
Verbal ist der Mars, wie es scheint,
lngst erobert als virtuelle Kolonie von
Milliardren, die zeigen mssen, dass ihnen die Erde zu klein ist.
Dagegen hat die Jedermann-Mission
von Mars One fast etwas Egalitres.
Aber ohne das groe Geld kommen auch
diese Visionre nicht aus. Neben dem Verkauf der TV-Rechte sollen Sponsoren die
Finanzierung sichern. Nicht auszuschlieen also, dass die erste Siedlung der
Menschheit im All Planet Starbucks oder
Ikea Village heit.
Sponsoren verbinden aber ihren Namen
nicht gern mit Vorhaben, die erbrmlich
scheitern knnen. Alles hngt am Ende
wenn wider Erwarten sonst nichts dazwischenkommt von den Sternfahrern ab. Seuchen Gegen Ebola sollen
Knnen sie das Fernsehpublikum fr sich
gewinnen? Traut man ihnen das Unmgli- experimentelle Medikamente
che zu? Sonst wird das nur ein kurzlebiger zum Einsatz kommen entRummel um ein paar Weltraumverrckte, wickelt wurden sie nach den
die bald wieder vergessen sind.
Kandidat Gnther glaubt, dass ein Quan- Anschlgen vom 11. September.
tum an Verrcktheit fr Missionen ins Unbekannte unabdingbar ist. Er nimmt es
ie Angriffe auf das World Trade
auch hin, dass Leute seines Schlags belCenter waren gut ein Jahr her, als
chelt werden. Schon unter den Frhmender damalige US-Prsident den Einschen muss es Sonderlinge gegeben haben, marsch in den Irak ankndigte. In seiner
die immerzu an den Gestaden hockten, Rede zur Lage der Nation rechtfertigte
aufs offene Meer hinausstarrten und ir- George W. Bush die Invasion damit, dass
gendwann einfach aufbrachen. Fr die der irakische Diktator Saddam Hussein
anderen, sagt Gnther, waren das da- heimlich Biowaffen produzieren lasse
mals bestimmt auch lauter Irre.
was sich spter jedoch als GeheimdienstUnd nicht ganz zu Unrecht: Wie viele mrchen entpuppte.
sind wohl spurlos auf den Ozeanen verFast unter ging dabei, dass Bush in seischwunden? Andere aber schwemmte der ner Rede auch den Aufbau des Projekts
Zufall an eine fremde Insel. So breitete Bioshield forderte, eines Schutzschildes
sich der Homo sapiens ber den ganzen gegen Bioterrorismus. Die Erinnerung an
Planeten aus.
die Briefe mit Milzbranderregern, die kurz
Fr Gnther ist der Mars nur die Nach- nach den Anschlgen vom 11. September
barinsel im All, ein Etappenziel, an dem 2001 verschickt worden waren, war noch
die Menschheit sich ben kann. Als Nchs- frisch; fnf Menschen waren gestorben.
tes gelingt ihr womglich der Sprung auf
Fast sechs Milliarden Dollar wollte der
die Jupitermonde. Und dann, sagt er, US-Prsident deshalb in die Entwicklung
geht es hinaus in die Tiefe des interstella- von Impfstoffen und Medikamenten gegen
ren Raums.
Manfred Dworschak potenzielle Bioterrorwaffen investieren:
Neben Milzbrand ging es beispielsweise
um die Erreger von Botulismus und Pest.
Video: Daniel Mackenbrock
Die Irakinvasion fhrte zu einer humawill zum Mars
nitren Katastrophe, die bis heute andauert. Das Projekt Bioshield, fr das tatschspiegel.de/app342014marsone
lich die gigantische Summe von 5,6 Millioder in der App DER SPIEGEL
Wissenschaft
Abtransport einer Ebola-Toten in Monrovia
len sich dort bereits angesteckt haben, etliche Krankenhuser mussten schlieen.
Zur Eindmmung von Ebola-Ausbrchen gibt es eine Strategie, die sich in der
Vergangenheit bewhrt hat: die Kranken
isolieren, die Kontaktpersonen beobachten
und notfalls auch isolieren; die hoch ansteckenden Leichen nur von Helfern in
Schutzkleidung beerdigen lassen. Wenn
all diese Manahmen konsequent angewendet werden, lsst sich jede noch so
schwere Ebola-Epidemie unter Kontrolle
bringen.
Doch nachdem zwei an Ebola erkrankte
US-Amerikaner mit dem nie zuvor an
Menschen erprobten Antikrpercocktail
ZMapp behandelt wurden und sich ihr Gesundheitszustand daraufhin deutlich verbesserte, brach in Afrika ein Sturm der
Entrstung los: Warum werden nicht auch
afrikanische Ebola-Kranke, vor allem aber
das schwer gebeutelte medizinische Personal mit solchen neuartigen Mitteln
behandelt? Die Proteste zeigten Wirkung ein Ethikkomitee der WHO erlaubte vergangene Woche den Einsatz experimenteller Medikamente und Impfstoffe,
und einige Dosen ZMapp trafen bereits
in Liberia ein.
Wie aus dem Nichts taucht seither eine
Substanz nach der anderen auf, fast alles
Mittel, die kurz vor der klinischen Prfung,
also der Erprobung am Menschen stehen:
neben dem Antikrpermix ZMapp mehrere Ebola-Impfstoffe auf Basis von sogenannten VS-Viren, von Adenoviren und
Tollwutviren. Sogar ein hochmoderner
Hightech-Impfstoff aus dem Biolabor der
Firma Tekmira, der gezielt bestimmte
Gene des Virus ausschaltet, knnte jetzt
an Infizierten getestet werden.
Fr eine so exotische Krankheit, die nur
sehr sporadisch ausbricht, und zwar in den
rmsten Lndern der Welt, und sich bislang auch stets rasch wieder eindmmen
lie, ist das Angebot neuartiger Mittel erstaunlich. Wenn nicht militrische Gelder
geflossen wren, gibt Heinz Feldmann zu,
Leiter des Virologie-Labors des US-amerikanischen National Institute of Allergy and
Infectious Diseases (NIAID) und einer der
weltweit fhrenden Ebola-Forscher, she
die Situation jetzt deutlich schlechter aus.
Nicht nur die 5,6 Milliarden Dollar fr
Bushs Projekt Bioshield flossen in die Ebola-Forschung. Darber hinaus stellt auch
das US-Verteidigungsministerium seit Jahren viel Geld fr die Entwicklung von
Impfstoffen und Medikamenten zur Ver-
fgung. Die Arbeiten am Hightech-Impfstoff TKM-Ebola der kanadischen Firma
Tekmira etwa werden vom Pentagon mit
140 Millionen Dollar untersttzt.
So hat die Angst vor dem Bioterrorismus
die amerikanische Forschungslandschaft
nachhaltig verndert. Nach den AnthraxAnschlgen habe es einen regelrechten
Hype um die gefhrlichen Viren gegeben,
sagt Stephan Becker, Direktor des renommierten Instituts fr Virologie an der Universitt Marburg. Nur so sei auch zu erklren, dass viele neue Hochsicherheitslabore
gebaut wurden, ohne die Ebola-Forschung
gar nicht machbar ist.
Obwohl wir ber die National Institutes
of Health finanziert werden, sagt auch
Ebola-Experte Feldmann, ist unser Hochsicherheitslabor am NIAID auch unter diesem Aspekt entstanden.
Sogar das berchtigte Forschungsinstitut
U. S. Army Medical Research Institute of
Infectious Diseases (USAMRIID) in Fort
Detrick wo Militrforscher bis 1969 in
geheimen Laboren Biowaffen entwickelt
haben wurde pltzlich gesellschaftsfhig
und zum geschtzten Forschungspartner
fr zivile Wissenschaftler. Schon 2002 zeigte sich NIAID-Direktor Anthony Fauci
nach zwei Besuchen beeindruckt von der
technischen Ausstattung des Militrforschungsinstituts und strebte eine Zusammenarbeit an. Er blieb nicht der einzige
Forscher, der fortan mit den US-Militrs
kooperierte.
Auf Anfrage des SPIEGEL prsentierte
das USAMRIID eine eindrucksvolle Liste
seiner Highlights aus dem derzeitigen
Portfolio der Ebola-Forschung. So haben
Forscher des Armeeinstituts den Antikrper-Cocktail, der dem Mittel ZMapp zugrunde liegt, an Affen erprobt und an der
Entwicklung zahlreicher Ebola-Impfstoffe
Tdliche Tropenkrankheit
Das Ebola-Virus in Westafrika
INFEKTIONSWEG
SYMPTOME
Flughund
Menschenaffe
Die erste Ansteckungsquelle
sind vermutlich infizierte Wildtiere. Durch Zubereitung und
Verzehr der Tiere gelangt
das Virus in den menschlichen Krper. Die bertragung von Mensch zu
Mensch erfolgt durch
ungeschtzten Kontakt
mit Krperflssigkeiten
bereits infizierter
Personen (z.B. Blut).
Mensch
Pltzlich auftretendes
Fieber, Kopf-, Halsund Muskelschmerzen,
Bindehautentzndung,
belkeit, Erbrechen
und Durchfall.
Es kann zu Blutgerinnungsstrungen kommen.
Erkrankte bluten aus
Magen-Darm- und
Genitalbereich. Hufig
wird die Leber geschdigt
und die Nieren versagen.
Am Ende kann der Zusammenbruch weiterer wichtiger Organfunktionen
zum Tode fhren.
AUSBREITUNG
NIGERIA
Ebola-Flle (besttigte und Verdachtsflle)
LIBERIA
davon
verstorben:
413
786
SIERRA LEONE
348
810
GUINEA
380 519
NIGERIA
4 12
Quelle: WHO;
Stand: 15. August
DER SPIEGEL 34 / 2014
107
US-Prsident Bush in einem Impfstoff-Forschungszentrum*: Milliardenspende fr Virologen
mitgewirkt. Es waren auch USAMRIID- renne ich seit drei Jahren herum und verForscher, die anhand alter Blutproben von suche, Geld fr eine erste Studie an MenPatienten aus Sierra Leone jetzt entdeckt schen aufzutreiben.
Der Schritt von der Grundlagenforhaben, dass das derzeitig grassierende Ebola-Virus offenbar nicht neu in Westafrika schung zur klinischen Forschung sei unist, sondern dort schon vor acht Jahren glaublich schwierig, so Eldridge: Wir nennen ihn das Tal des Todes, das wir durchMenschen infiziert hat.
Fr Impfstudien an Menschen hingegen queren mssen. Natrlich sei der jetzige
ist das Army-Institut nicht zustndig ein Ebola-Ausbruch eine menschliche KataGrundproblem in der Ebola-Forschung. strophe, so Eldridge, doch er erffnet
Die Gemeinde der Ebola-Forscher, sagt auch die Mglichkeit, die Dinge weiterzuVirologe Becker, besteht fast ausschlie- bringen. Nun geht alles sehr schnell, was
jahrelang blockiert war.
lich aus Grundlagenforschern.
Schon in der Tasche hat Eldridge die ZuEntsprechend schwer ist der immens
teure Schritt vom Tierversuch zu klini- sage eines angesehenen Forschungsinstischen Tests an Menschen, wie auch John tuts, das eine erste klinische Studie mit
Eldridge erfahren musste, Chefwissen- dem Profectus-Impfstoff durchfhren will
schaftler beim amerikanischen Biotech-Un- wenn die Firma es schafft, die Vakzine
ternehmen Profectus Biosciences. Seine in ausreichender Menge herzustellen.
Dafr, sagt Eldridge, muss ich jetzt
Pharmafirma hat einen Ebola-Impfstoff
auf Basis sogenannter VS-Viren entwickelt. drei Millionen Dollar auftreiben. Noch in
Wir haben gezeigt, dass er Affen sehr gut
vor Ebola schtzt, sagt Eldridge. Jetzt * In Bethesda, US-Bundesstaat Maryland, 2003.
dieser Woche, hofft er, wird er es geschafft
haben.
Wann sein Impfstoff dann tatschlich in
Afrika verabreicht werden kann, ist aber
ungewiss. Die Produktion der ersten 7000
bis 10 000 Dosen, so Eldridge, wird rund
sieben Monate dauern. Zudem bentige
er vor der Ausfuhr auch unbedingt die Erlaubnis der US-Arzneimittelbehrde FDA:
Sonst kann ich im Gefngnis landen.
Angesichts des Sterbens in Westafrika
erscheinen diese wissenschaftlichen Fortschritte immer noch qulend langsam. Die
WHO, die von der kanadischen Regierung
Hunderte Dosen Ebola-Impfstoff geschenkt bekommen soll, erklrt, es werde
einige Wochen dauern, bis wir eine Strategie fr die Verwendung haben. Auch
bis grere Mengen des Antikrper-Cocktails ZMapp zur Verfgung stehen, werden
Monate vergehen.
Aber es knnte einen schnelleren Weg
geben, den Infizierten zu helfen. Der Mediziner David Heymann war als Mitarbeiter des US-Seuchenkontrollzentrums CDC
schon beim ersten bekannten Ebola-Ausbruch 1976 im heutigen Kongo dabei. Er
hat einen verblffend einfachen Therapievorschlag der auch noch gnzlich ohne
Militrforschungsgelder auskommt.
Ich empfehle, den Ebola-berlebenden
Blut abzuzapfen, sagt Heymann. In ihrem Serum seien ebenso wie in dem Mittel ZMapp reichlich Antikrper gegen
das Virus enthalten. Aus diesem Grund
knne man das Serum berlebender als
Medikament nutzen.
Was kaum bekannt ist: In den Neunzigerjahren haben tatschlich acht Ebola-Patienten im kongolesischen Kikwit eine solche Blutspende erhalten. Sieben von ihnen
berlebten.
Veronika Hackenbroch
FOTO: DOUG MILLS / NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF
Wissenschaft
Technik
Krcher-Einsatz am Mount Rushmore in den USA
Segen der
Druckdusche
Denkmalpflege Mit der Reinigung
von Monumenten treibt der
Gertehersteller Krcher das
Putzen auf die Spitze und verfolgt jetzt ein ganz groes Ziel.
ass die Kraft des steten Tropfens
selbst den Stein schwinden lsst,
ist erwiesen. Dass aber dieser Erosionsprozess auch noch beliebig beschleunigt werden kann, das demonstrierte die
Alfred Krcher GmbH & Co. KG krzlich
im Berchtesgadener Land.
Techniker des schwbischen Gerteherstellers unterzogen die Fahrrinne der dortigen Bobbahn einer Druckstrahltherapie
tiefgreifender Wirkung: Binnen wenigen
Minuten war der Beton an den behandelten Stellen weg; Stahlskelett und Khlleitungen lagen frei zur Reparatur.
Der Eingriff war Teil einer Generalsanierung und darf als wohlttiger Beitrag
zur Erhaltung historischer Sportanlagen
verstanden werden. Das Bauwerk aus dem
Jahr 1968 ist die lteste Kunsteisbahn der
Welt. Krcher stellte das Gert, einen
100 000 Euro teuren Profi-Apparat der Konzernmarke WOMA, gratis zur Verfgung.
Es ist das neueste Beispiel dafr, wie
sich das Unternehmen, bei dem es vorwiegend um Oberflchenreinigung geht, fr
den Schutz ehrbarer Altbauten engagiert.
Monumente aus der Oberliga des Kulturerbes unter ihnen die Memnonkolosse
von Theben, die amerikanischen Prsidentenkpfe am Mount Rushmore, die Christusstatue in Rio de Janeiro sowie die
Sulengnge um den Petersplatz in Rom
profitierten bereits von der Putzkraft des
Krcher-Strahls, alles auf Firmenkosten.
Die Benefizspektakel sind die plausibelste Form von Werbung, die dieses Unternehmen treiben kann: Krcher beherrscht
den Weltmarkt der Hochdruckreinigung,
gilt als Inbegriff dieses Gertetyps und beschftigt 11 000 Mitarbeiter auf allen Kontinenten. Firmengrnder Alfred Krcher
schuf 1950 einen der ersten Apparate dieser Art, inspiriert durch die Wartung klobiger Reinigungsmaschinen der amerikanischen Besatzer. Der Cannstatter Ingenieur vereinigte die Heiwassertechnik mit
einer Hochdruckpumpe: Der Dampfstrahler war geboren.
Das blaue Urmodell steht inmitten des
Firmenmuseums am Stammsitz Winnenden
bei Stuttgart, eines famosen Panoptikums
der Putzgerte, die inzwischen die weltbekannte Krcher-Farbe Gelb tragen: Spezialstaubsauger, Kehrmaschinen, Wischroboter. Krcher macht weit mehr als Dampfstrahler. Der Begriff sorge oft genug fr
Verwirrung, sagt Kurator Frank Schad.
Schad ist ein vornehmer Geisteswissenschaftler; er koordiniert das Kultursponsoring und leitet eine Art weltanschauliche
Betriebsfeuerwehr. Unerfreulicherweise
geht mit dem hygienischen Segen der
Druckdusche manch fragwrdige Metaphorik einher. Als Frankreichs Innenminister
und spterer Prsident Nicolas Sarkozy
sich erbot, konflikttrchtige Siedlungsrume mit dem Krcher zu subern und die
linke Intelligenzija ihn sogleich als Le
Krcher verhhnte, stand nicht nur der
Politiker vor einer medialen Malaise.
Schad schickte Briefe an Redaktionen und
Parteibros, sie mgen doch bitte die Firma aus solchen Streitigkeiten raushalten.
Auch dem Verb krchern vermag der
Kurator keinen semantischen Genuss abzugewinnen, schon gar nicht im Zusammenhang mit dem Kultursponsoring. Wer
sagt, der Jesus von Rio sei schon viermal
gekrchert worden, liegt mit der Zahl zwar
richtig, wird aber der Komplexitt dieser
Behandlungsmethoden nicht gerecht. Es
handle sich um restauratorische Reinigungen, sagt Schad. Allein die Vorbereitung
und Absprache mit den Denkmalbehrden
dauere zwei Jahre. Es gibt extreme Herausforderungen etwa wenn der Schmutz hrter ist als das Material darunter.
Die Christusstatue hat einen sehr weichen Speckstein und ist ein Dauerpatient,
weil Tropenklima und Abgase ihr enorm
zusetzen. Ohne Krcher wre sie dunkelgrn. An den amerikanischen Prsidentenkpfen klebten Flechten, Algen und Moose.
Die waren schnell weg, allerdings mussten
Kletterer ans Werk, da sich das Monument
nicht in ein Gerst packen lsst.
Den genauen Ursprung der Aktionen
kennt Schad nicht; in den Siebzigern habe
es eine Gratissuberung des Stuttgarter
Hauptbahnhofs gegeben was zweifellos
klger war, als ihn nun fr Milliarden unter
die Erde zu legen. Seit Jahrzehnten jedenfalls ist Krcher eine Institution der Denkmalwsche und muss sich kaum noch um
den Zugang zum Objekt bemhen. In
Deutschland harren derzeit die Karls- und
Hubertuskapelle des Aachener Doms, das
Quedlinburger Rathaus und der Frankoniabrunnen in Wrzburg einer Krcher-Kur.
Nur im indischen Agra wirbt die Firma
seit Jahren vergebens um die Lizenz zum
Krchern. Es geht um ein zeitraubendes
Hin und Her zwischen Behrden und
wechselnden Regierungen, und es geht um
ein Grabmal, von dem viele Menschen mit
gutem Grund sagen, es sei das schnste
Bauwerk der Welt.
Staub und Abgase haben ihm eine gelbliche Patina verliehen, aber darunter, sagt
Schad, sei makelloser, weier Marmor.
Schad gert ins Flstern, wenn er von seinem Traumprojekt spricht, als glte es, keine bsen Geister zu wecken.
Es ist der erhabenste Wunsch des Kurators, dass der Tadsch Mahal unter den
Krcher kommt.
Christian Wst
Video: Christian Wst
krchert
spiegel.de/app342014hochdruckreiniger
oder in der App DER SPIEGEL
DER SPIEGEL 34 / 2014
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Tokios Spaguerilla
Sie gelten derzeit als verrcktester Avantegarde-Spa im internationalen Theaterzirkus: Wie Pop-Groupies auf einem viel
zu lauten Hllentrip wirken die Sngerinnen und Tnzerinnen
der japanischen Theatergruppe Miss Revolutionary Idol Berserker, die an diesem Donnerstag in Hamburg erstmals ihr
neues Performance-Spektakel Noise and Darkness vorstellen. Die Truppe der in Tokio lebenden Choreografin Toco
Nikaido, 28, kombiniert in ihren Shows den bunten Krach der
japanischen Jugend- und Comic-Kultur mit bizarren Exerzier-
Kunst
Redende Statuen
Das Denkmal Queen Victorias in der Innenstadt von
Manchester ist von Hochhusern umgeben. Ich habe
genug von diesem Ausblick,
klagt die kleine, dicke Knigin aus Bronze, und es sei
auerdem ermdend, das
schwere Zepter zu halten.
Talking Statues ist der Titel
einer Kunstaktion, die in diesem Sommer in London und
110
DER SPIEGEL 34 / 2014
Manchester stattfindet. Die Idee
dafr hatte die
Organisation
Sing London,
die auf diese Weise mehr Lebendigkeit in die Stdte
bringen will. Britische Schriftsteller
haben 35 Monologe
verfasst, die sie verschiedenen Statuen
auf den Leib schrieben. Darunter ist
ritualen. Diese Pop-Attacken sind radikale Befreiungsakte,
sagt Andrs Siebold, Leiter des Sommerfestivals der Kulturfabrik Kampnagel, der Toco Nikaido und ihre Gruppe vergangenes Jahr erstmals prsentierte und nun die Noise and
Darkness-Premiere ausrichtet (danach wird die Show unter
anderem auch in Berlin gezeigt). Mit wunderbarer Leichtigkeit, so Siebold, demonstrieren sie, dass Kunst als Analysewerkzeug unserer Gegenwart funktionieren kann. Choreografin Nikaido bezeichnet ihre Mitspielerinnen gelegentlich
als Roboter und Krieger und will in ihrem neuen Werk
vor allem von den Zwangsneurosen der modernen japanischen Industriegesellschaft erzhlen. hb
auch das Denkmal
Sherlock Holmes
in Londons Baker
Street oder Peter
Pans in Kensington Gardens.
Schauspieler
haben die Texte
gesprochen, und
wenn nun Spaziergnger mit
ihren Handys
einen an der
Statue angebrachten Code
scannen, erhalten sie Anrufe
jener stummen steinernen
Zeugen. In etwa zweimintigen Monologen erzhlen
diese aus ihrem Leben. Manche der Monologe sind rein
fiktiv, andere basieren auf
historischen Fakten. In jedem
Fall verleiten sie die Zuhrer
dazu, fr kurze Zeit stehen
zu bleiben und ihre Aufmerksamkeit auf ein Kunstwerk
zu richten, an dem die meisten Passanten einfach vorbeieilen. clv
FOTO: PETER HNNEMANN (O.)
Theater
Kultur
Literatur
Roulette des Lebens
Stewart ONan hat in den vergangenen 25 Jahren 15 Romane verffentlicht. Womglich
waren das zu viele. Seine
Bcher werden von der Kritik
gelobt und gelangen in die
Bestsellerlisten, obwohl sie
seit einigen Jahren so durchschnittlich sind wie das Leben
ihrer Helden. In Die Chance geht es um Marion und
Art Fowler, ein Ehepaar aus
dem Norden der USA, das
mit einem Reisebus auf dem
Weg zu den Niagarafllen ist.
Hier haben die beiden vor
30 Jahren ihre Hochzeitsreise
verbracht, und hier wollen sie
nun ihr letztes Geld beim
Roulette setzen, um ihren
Bankrott vielleicht doch noch
abzuwenden. Er wrde zudem
gern seine Ehe retten. Jedes
Kapitel beginnt mit der Angabe einer statistischen Wahrscheinlichkeit, die im Zusammenhang zur folgenden
Handlung steht: die Wahrscheinlichkeit, bei einem Bus-
Kino
FOTO: REAL FICTION; ILLUSTRATION: PETRA DUFKOVA / DIE ILLUSTRATOREN / DER SPIEGEL
Aufbau West
Einst ein Stahlwerk, jetzt eine
Goldgrube: In Dortmund-Hrde wird ein 200 Hektar groes
Industriegebiet in ein Luxusviertel umgewandelt. Was das
fr die Stadt und ihre Bewohner bedeutet, zeigen die Regisseure Ulrike Franke und
Michael Loeken in ihrer Langzeitdokumentation Gttliche
Lage. Es ist die aberwitzige,
manchmal auch traurige
Chronik eines Strukturwandels und seiner sozialen Verwerfungen. Alle meinen es
unglck ums Leben zu kommen 1:436212 und prompt
gert auf den nchsten Seiten
der Reisebus ins Schleudern.
ONan konstruiert seinen Roman vernnftig, er psychologisiert routiniert, doch alles
an diesem Buch ist vorhersehbar und leicht zu interpretieren. Das gilt fr die aufdringliche Metapher des Roulettespiels und auch wenn Art im
Hotelzimmer eine Eislaufkr
im Fernsehen sieht und es
heit: Es kam ihm ungerecht
vor, dass ein einziger Ausrutscher eine lebenslange Hingabe zunichtemachen konnte
Stewart ONan betreibt die
Schriftstellerei als Handwerk.
Aber schlgt man deshalb
einen Roman auf? clv
Stewart ONan
Die Chance
Aus dem Englischen
von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag,
Reinbek; 224 Seiten;
19,95 Euro.
gut, die Projektentwickler,
der Heimatverein, vermutlich
sogar die Investoren. Die
meisten von ihnen sind sich
so sicher, die Zukunft auf
ihrer Seite zu haben, dass jede
Abweichung vom Plan sie
verwirrt: Was macht man mit
diesen seltsamen Menschen,
die sich keine Bauhaus-Villen
leisten knnen? Und was passiert mit den Gnsen, die sich
auf dem Gelnde ansiedeln,
obwohl Tiere hier gar nicht
vorgesehen sind? Es geht in
dem Film letztlich um die Frage, wie man eine Stadt mit
Leben fllt. lob
Dirk Kurbjuweit Zur Lage der Welt
Wo Guardiola irrt
Als ich den vorletzten SPIEGEL durchbltterte, befiel mich eine Niedergeschlagenheit, die bis heute anhlt. Es
geschah auf Seite 99. Dort entdeckte
ich ein Foto von Pep Guardiola, dem
Trainer von Bayern Mnchen, und
eigentlich bekomme ich immer gute
Laune, wenn ich ihn sehe. Diesmal
nicht.
Er trug ein T-Shirt, mit dem er dafr warb, dass die
Katalanen ber ihre Unabhngigkeit abstimmen knnen.
Es sollen, las ich, menschliche Trme fr die Demokratie gebildet werden.
Demokratie war lange eines meiner liebsten Wrter,
jetzt geht es mir auf die Nerven, weil es so oft missbraucht wird. Wenn einer etwas durchsetzen will,
schreibt er sich gern die Demokratie auf die Fahne. So ist
es bei den Gegnern von Stuttgart 21, so ist es bei Separatisten, so ist es bei vielen, die sich lokal oder global irgendwie in der Mehrheit whnen und deshalb Abstimmungen fordern. In Dave Eggers Roman Der Circle
reit ein Unternehmen, das Facebook hnelt, im Namen
der Demokratie die Demokratie an sich und macht
daraus eine Diktatur, die Demokratie genannt wird.
Ich glaube, dass man irrt, wenn man davon ausgeht,
die Demokratie sei vor allem dafr gut, eigene Interessen
durchzusetzen. In Wahrheit ist es eher umgekehrt. Fr
mich gibt es dazu drei entscheidende Stze.
Der erste: Wenn ich die CDU whle, bin ich froh,
dass andere die SPD whlen, und andersrum. Wrden
alle so ankreuzen wie ich, knnte sich der Bundeskanzler
oder die Bundeskanzlerin auf eine Zustimmung von
100 Prozent sttzen. Das wre die Macht eines Kim Jong
Un oder eines Erich Honecker, und sie wrde missbraucht.
Der zweite: Wenn ich zweimal hintereinander dieselbe
Partei gewhlt habe, und sie gewinnt, bin ich bei der
nchsten Wahl geneigt, fr eine andere Partei zu stimmen, weil ich den Wechsel fr sinnvoll halte, damit sich
Macht nicht verfestigt wie in einer Diktatur.
Der dritte: Ich bin unzuverlssig. Ich kenne meine
Irrtmer, auch bei politischen Einschtzungen. Ich bin
daher erleichtert, dass es die anderen als Korrektiv fr
mich gibt. In einer Diktatur geht man davon aus, dass ein
Mensch oder eine Partei auf Dauer recht haben kann.
Das verbindende Wort zu diesen drei Punkten ist:
andere. Rosa Luxemburg hat gesagt, Freiheit sei immer
Freiheit der Andersdenkenden. Das gilt auch fr die
Demokratie. Deshalb strt es mich, wenn Leute dieses
Wort gebrauchen, um fr ihre Interessen zu werben. Sie
knnen selbstverstndlich dafr werben, aber nicht im
Namen der Demokratie. In deren Namen, finde ich, wirbt
man allenfalls fr die Interessen der anderen. Deren
Wertschtzung macht den Unterschied zur Diktatur aus.
Beim Fuball, lieber Pep, gelten natrlich andere Prinzipien. Nach zwei Meisterschaften fr Bayern Mnchen
kme ich nicht im Traum auf die Idee, den anderen, also
Borussia Dortmund, den nchsten Titel zu gnnen.
An dieser Stelle schreiben drei Kolumnisten im Wechsel. Nchste Woche ist
Claudia Voigt an der Reihe, danach Elke Schmitter.
DER SPIEGEL 34 / 2014
111
Du fhlst dich
unsterblich
SPIEGEL-Gesprch Der Galerist Gerd Harry Lybke
ber seine Sicht auf die DDR 25 Jahre nach
dem Mauerfall, ber Erfolge und Schwierigkeiten
im Kunstgeschft und den anhaltenden Neid
der Konkurrenten
112
DER SPIEGEL 34 / 2014
Kultur
FOTO: STEFFEN JNICKE / DER SPIEGEL
Der gebrtige Leipziger Lybke, 53, ist einer
der bekanntesten deutschen Galeristen
und eine historische Figur. Er fhrte in der
DDR eine illegale Galerie und wurde nach der
Wende international erfolgreich. Die Malerei
Neo Rauchs machte er zu einem Gut, nach
dem der Weltmarkt gierte. Lngst sind beide,
Galerist und Maler, Teil der Kunstgeschichte.
SPIEGEL: Herr Lybke, Sie waren der junge
Typ aus der alternativen Leipziger Kunstszene, der als Galerist nach der Wende Lybke: Nein, es ging auch spter eigentlich
eine unvergleichliche Karriere machte. Hat nie um Politik, sondern darum, zu leben,
sich Ihr Blick auf die DDR im Laufe der und da wurde es doch schnell politisch.
Zeit verndert, erscheint sie Ihnen aus der Jrg Herold, ein Kumpel von mir, der dann
Distanz gefhrlicher oder harmloser?
Knstler in meiner Galerie wurde und es
Lybke: Wenn ich zurckdenke, habe ich kei- bis heute ist, hat in den frhen Achtzigern
nen Staat vor Augen. Ich erinnere mich berall in Leipzig an Mauern geschrieben:
dann erst einmal an den Ort, an dem ich Ich. berall in der Stadt: Ich. Die Beaufwuchs, an Meusdorf, diesen Stadtteil tonung des eigenen Ich war in der DDR
von Leipzig, an meine Familie, an die die grte Frechheit, die sich jemand erFreunde, mit denen ich auf der Strae lauben konnte. Eine Kampfansage. Das
spielte. Wir waren eine echte Bande, ich hat jeder sofort verstanden.
musste den grten Unsinn machen, weil SPIEGEL: Sie hatten whrend Ihres Wehrmir als dem Kleinsten keine Strafe drohte, dienstes an die Kaserne geschrieben:
und ich war irgendwie immer der Kleinste. Macht Liebe, nicht Krieg. Das war mutig.
Das sind Erinnerungen, die denen vieler Lybke: Oder bld. Ich musste zeigen, dass
anderer Menschen hneln, gleichgltig, ich eigentlich nicht dazugehrte, nichts mit
woher sie stammen.
dieser Armee am Hut hatte. Dabei wollte
SPIEGEL: Hatten Sie je den Wunsch, hinaus- ich, wenn ich eine Waffe in der Hand hatte,
das auch knnen, dieses Schieen. Das mit
zukommen aus diesem Staat?
Lybke: Lange nicht. Ich habe zwar einen den Schiebungen war schnell vorbei. Ich
Ausreiseantrag aufgesetzt, da war ich noch wurde in die Bibliothek versetzt.
jung, aber den habe ich geschrieben, weil SPIEGEL: Wenn von Ihrer Geschichte in der
man das so machte. Man rauchte zum ers- DDR die Rede ist, klingt alles wie ein einten Mal, trank den ersten Alkohol, stellte ziger Streich, ein Schelmenroman. Auch
einen Ausreiseantrag, das gehrte zum Er- weil Sie selbst es so klingen lassen. Der
wachsenwerden dazu, jedenfalls in meiner Kerl, der Kosmonaut werden wollte, der
Gruppe.
durchaus gern bis zum Mond geflogen
wre, aber nicht einmal Lust hatte, im
SPIEGEL: Und?
Lybke: Habe ich nie abgeschickt, deshalb strengen Moskau zu studieren. Stattdessen
besitze ich ihn berhaupt noch. Mir war haben Sie ziemlich ffentlich in Leipzig
auch pltzlich nicht mehr so klar, warum eine illegale Galerie gefhrt und das Sysich weggehen sollte. Auf der anderen Seite tem berlistet.
der Mauer wollte mich niemand, so dachte Lybke: Weil ich das Angebot abgelehnt hatich jedenfalls. Mit 17 bin ich dann in eine te, in Moskau Kraftwerktechnik zu studieWohnkommune in Leipzig gezogen, so et- ren, durfte ich auch nichts anderes studiewas gab es berhaupt nur zweimal in der ren. Ich durfte nicht einmal mehr Aufsicht
Stadt.
im Museum werden, das war im Grunde
ein Berufsverbot. Obwohl ich eigentlich
SPIEGEL: Was sagte Ihre Familie dazu?
Lybke: Meine Mutter war begeistert. Sie nichts anderes wollte als ein ganz normales
htte selbst gern ein solches Leben gefhrt, Leben, ein Studium, einen akademischen
das war da alles ungezwungener. Es gab Beruf. Die Stasi hat allen gesagt, lasst den
diese groe Wohnung in einem wunder- nicht arbeiten. Und die Gefahr war die:
schnen, grandios heruntergekommenen Du wirst nach einem Jahr Nichtarbeiten
alten Haus. Da lebte ein Paar, die Frau zum Asozialen ernannt, eingesperrt und
war aus dem Westen hergezogen, sie be- vielleicht irgendwann in den Westen versaen eine Bibliothek, ein Musikzimmer, kauft.
ein Auto, sogar ein Telefon. Ein Russisch- SPIEGEL: Hatten Sie also eher Angst?
student, ein paar andere Leute und ich Lybke: Ich fhlte mich wie gelhmt. Ich bezogen mit ein. Da war immer so ein Sa- schloss, von mir aus zur Polizei zu gehen,
longefhl. Und ich als 17-Jhriger mitten- mich denen auszuliefern, wollte eine Strafe
drin, der bunte Vogel, der den Khlschrank antreten. Ich bin tatschlich losgelatscht.
leer a.
Auf dem Weg wurde mir klar, dass das
Schwachsinn ist und ich nichts Falsches
SPIEGEL: Wurde ber Politik diskutiert?
gemacht habe. Das war eine Befreiung. Ich
Das Gesprch fhrte die Redakteurin Ulrike Knfel.
dachte, dann bin ich eben asozial, und
Auszug aus Lybkes Stasiakte, 1987
pltzlich merkte ich, dass noch viele andere in der Stadt genauso asozial und ohne
Arbeit waren. Eine ganze Parallelwelt.
SPIEGEL: Wie sah Ihr Alltag aus in einem
Land, in dem Arbeitslosigkeit nicht vorgesehen war?
Lybke: Bei mir ja auch nicht. Ich wollte dann
Schauspieler werden. Deshalb spielte ich
im Studententheater mit. Ich war zwar kein
Student, aber das war da keiner. Wir hatten
vormittags Sprecherziehung, Bewegungstraining. Danach bin ich in den Studentenklub Moritzbastei gegangen, habe Billard
gespielt, gegen Geld. Ich habe mal bei der
Post ausgeholfen, war jahrelang Aktmodell
an der Hochschule. Ohne Anstellung natrlich. Abends traten wir auf der Bhne auf,
und zwar auf der, auf der unter anderem
auch Heiner Mller inszeniert wurde, Stcke quasi ausprobiert wurden.
SPIEGEL: Von Ihren Auftritten gibt es Videofilm-Mitschnitte. Da kommen Seitenhiebe
auf den Staat vor, auf die fehlende Freiheit.
Das war riskant, oder?
Lybke: Ich war nur der, der das aufsagte.
Das Leben war fr uns aber durchaus eine
Mutprobe.
SPIEGEL: Sie absolvierten Aufnahmeprfungen an Theaterhochschulen.
Lybke: Ich wre, wie ich spter erfuhr, angenommen worden, die Stasi hat das verhindert.
SPIEGEL: Nach der Wende wurde klar, wie
der Staat Ihr Leben zu steuern versucht
hatte. Viele andere wirken wegen hnlicher Vorgnge verbittert.
Lybke: Es gibt viele Grnde, weshalb ich
nicht verbittert war oder bin. Einer davon
ist, dass ich ahnungslos war. Ich wusste
beispielsweise nicht, dass ich auf einer
schwarzen Liste stand. Darauf zu stehen
hie: Ich war vorgesehen, im Ernstfall,
wenn dem Staat grere Gefahr drohte,
interniert und eliminiert zu werden. Man
nahm, wie auch immer, diese Geruchsproben von mir, um mich im Falle des
Falles eindeutig zu identifizieren. Wenn
ich von den Perversitten gewusst htte
ich htte mit allem aufgehrt, sofort. Ein
Gesprch htte gereicht, dann wre ich
zurck ins Kirow-Werk an die Maschine,
da hatte ich ja frher die Ausbildung zum
Monteur gemacht. Ich war nicht lebensmde.
SPIEGEL: Aber Sie provozierten. Der Beruf
des selbststndigen Galeristen, der ausDER SPIEGEL 34 / 2014
113
stellt, was er will, war in der DDR nicht
wirklich vorgesehen, der Kunsthandel war
staatlich organisiert. Wie kam es dazu,
dass Sie Kunst prsentierten, zu Vernissagen einluden, selbst an Kunstaktionen teilnahmen?
Lybke: ber die Leute, die ich kannte, ausschlielich ber sie. Ich hatte keine Arbeit,
keine Aussichten, ich war 21, 22. In dem Alter dreht sich der Motor hochtourig. Also
haben wir Partys gemacht. Das hat aber irgendwann nicht mehr gereicht. Deshalb veranstalteten wir an den Wochenenden in
meiner Dachwohnung Themenpartys.
SPIEGEL: Die im Grunde Performances
waren?
Lybke: Ja, wir haben dann eine Gruppe
gegrndet, PIG, das stand fr Plagwitzer
Interessengemeinschaft. Wir gingen in leer
stehende Fabriken und simulierten einen
Acht-Stunden-Arbeitsalltag, und das haben wir gefilmt. Dieses Dokumentieren
war uns wichtig. Wenn wir hinausgeflogen
wren aus der DDR, htten wir etwas
vorzuweisen gehabt, was nach einem
knstlerischen Beruf aussah. Wir haben
einen Preis ausgelobt und verliehen,
auch fr Performances. Wir haben uns
Anzge besorgt, sogar Smokings, falls die
Polizei auftauchen wrde, die waren da
114
DER SPIEGEL 34 / 2014
leicht zu beeindrucken, die hatten so eine
Hrigkeit.
SPIEGEL: Dann, von 1985 an, die Galerierume in einem Hinterhofgebude. Offiziell war das ein Atelier, in dem sich immer
andere Knstler einen Monat lang einmieteten und eben auch ihre Werke zeigten.
Sie tricksten den Staat aus. Und der Staat
hat Sie dabei beobachtet. War Ihnen das
bewusst?
Lybke: Leute kamen zu mir, erzhlten, dass
sie ber mich ausgefragt worden seien, die
sind richtig unter Druck gesetzt worden.
Mir war klar, die Stasi interessiert sich fr
mich, mir war nicht klar, dass sie mehrere
Leute auf mich angesetzt hatte, dass sie in
meiner Gegend einen Beobachtungssttzpunkt eingerichtet hatte. So wichtig erschien ich mir nicht.
SPIEGEL: Warum lie man Sie gewhren?
Lybke: Die DDR war ein surrealistisches
Theaterstck, das war uns klar. Wir wussten
aber nicht, wie weit das ging. Die Stasileute
haben in den Berichten mal etwas weggelassen, manchmal etwas hinzuerfunden, wir
durften nicht zu gefhrlich, nicht harmlos
erscheinen, sonst wren die abgezogen worden. Das wollten die offenbar nicht. Die
Galerie, diese Erffnungen, das war ein super Job fr die. Immer was los, gute Stim-
mung. Spter wollten die uns sehr wohl auffliegen lassen, aber da lste sich der Staat
schon selbst auf. Und noch einmal: Solange
du nicht so genau weit, was dir tatschlich
passieren knnte, denkst du nicht so viel
nach. Du fhlst dich jung, schn und sowieso unsterblich. Auerdem habe ich mich
im Gegensatz zu anderen nie politisch geuert, war nicht bei der Friedensbewegung. Und wir waren nicht Berlin.
SPIEGEL: Und das hie?
Lybke: Da lebten unserer Meinung nach die
echten Revolutionre, wir fuhren hin, wollten wie die im Caf sitzen, sinnieren, etwas
in irgendwelche Hefte schreiben und uns
im Grunde wie in Paris fhlen. Uns hat
aber in Berlin keiner beachtet, wir haben
schsisch gesprochen, waren Provinz, wrden nie dazugehren. Das hat uns frustriert. Also sind wir zurck nach Leipzig
und feierten weiter unsere Partys. Leipzig
war eben Spa. Wir hatten Jazzfestivals,
Festivals fr Dokumentarfilme, wir haben
uns da eine Woche reingesetzt und von
frh bis spt alles gesehen. Keine Minute
wurde ausgelassen.
SPIEGEL: Sie sollen laut Stasiakten einen
Mitarbeiter der US-Botschaft gut gekannt
und berhaupt umfangreiche Diplomatenkontakte gehabt haben.
FOTOS: BARBARA SCHNABEL / AKG (L.); UWE FRAUENDORF / GALERIE EIGEN + ART LEIPZIG/BERLIN (R.O.); GALERIE EIGEN + ART LEIPZIG/BERLIN (R.U.)
Galerist Lybke in Leipzig 1985, mit Knstlern in seiner Galerie 1986 und in seiner Wohnung 1983
Die DDR war ein surrealistisches Theaterstck
Kultur
Lybke: Zur Leipziger Messe konnten Leute
aus dem Westen leichter einreisen, es kamen dann aber auch Industrielle bei mir
vorbei. Wenn ich das Gefhl hatte, die Stasi knnte mir gefhrlich werden, die schlieen mir vielleicht doch bald die Bude,
habe ich solche Besucher weggeschickt.
Auf der anderen Seite haben mich diese
Kontakte geschtzt. Im Westen erschienen,
wenn es notwendig wurde, Artikel ber
mich, das hat geholfen. Manchmal, wenn
sich was zusammenbraute, habe ich mich Lybke: Wir waren 30, 40 oder vielleicht
von den Mitarbeitern auslndischer Bot- noch mehr Leute, die sich das geschworen
schaften in den Urlaub an die Ostseekste hatten. Am 1. Mai 1990 bin ich wie verabeinladen lassen. Amerikanische Botschaft, redet um zehn Uhr morgens unter dem
franzsisches Kulturzentrum. Das war Eiffelturm erschienen. Es kam nur noch
wichtig fr uns.
ein Paar, wir waren zu dritt. Das wars.
SPIEGEL: In den Akten wird auch Sascha Alle anderen waren lngst in der gesamten
Anderson erwhnt, der Mann, der die jun- Welt versprengt, fr die bestand keine Notwendigkeit mehr zu erscheinen. Stattdesge DDR-Boheme verraten hat.
Lybke: Den habe ich nur oberflchlich ken- sen kam ein Journalist von Le Monde,
nengelernt, der war zum Glck zu hoch- drckte der Freundin von meinem Freund
nsig, der wollte nichts mit mir zu tun Schneeglckchen in die Hand, sie und ich
sollten uns kssen, es gehe um eine franhaben.
SPIEGEL: Ihre damalige Lebensgefhrtin zsische Tradition. In der nchsten Ausgakommt ebenfalls in den Berichten vor, be erschien ein Foto von uns, es hie dazu:
auch sie wurde observiert und belauscht. Junge Franzosen kssen sich immer noch
So kam heraus, dass Sie ihr Telefon be- am 1. Mai unter dem Eiffelturm. Die Zeinutzten, um Ihre Galerie zu organisieren. tung habe ich natrlich noch.
Heute ist sie eine bekannte Schauspielerin. SPIEGEL: Der Westen Deutschlands schaute
Lybke: Sie war frh meine Freundin, ihre auf den Osten herab, war auf arrogante
Eltern waren nach New York zur Uno ge- Art mitleidig. Haben Sie bewusst entschieschickt worden, wir hatten sturmfreie den, die Ihnen zugewiesene Rolle nicht anBude, wir haben die wildesten Partys ge- zunehmen, nicht der arme Kerl aus dem
Osten zu sein? Lieber der amsante?
feiert, die waren legendr.
SPIEGEL: War es in gewisser Hinsicht sogar Lybke: Ich wollte jedenfalls nicht stndig
das bessere, weil intensivere Leben da- als Ossi wahrgenommen werden, man ist
mals?
ja mehr, ein Individuum mit einer GeLybke: Es war ein Leben auf einem viel zu schichte. Deshalb bin ich mit der Galerie
kleinen Billardtisch, die Kugeln haben kei- fr einige Zeit nach Japan gegangen, da
ne Chance, einander auszuweichen, die war das mit ost- und westdeutsch egal. Es
knallen stndig gegeneinander. Das hatte war lustig, und wir sind mit mehr Selbstkeine Zukunft. Wir haben uns 1985, 1986 bewusstsein zurckgekommen. Dann 1991
gesagt, wer 1990 am 1. Mai nicht in Paris nach Paris, auch fr ein paar Monate. Da
ist, hat sich selbst betrogen. Ich war mir war es auch gleichgltig, ob aus dem Osten
sicher, ich wrde bis dahin hinausgeworfen oder Westen Deutschlands. Die haben
werden. Das war fast ein Antrieb. Und mich deshalb ignoriert, weil ich in meiner
dann ging, was wir nicht ahnten, die DDR Kurzzeit-Galerie keinen Franzosen zeigte.
Ich habe bei einem Bekannten in der Rue
unter.
Saint-Denis gewohnt, unten in den Lden
SPIEGEL: Und trafen sich alle in Paris?
Auszug aus Lybkes Stasiakte, 1989
Auszug aus Lybkes Stasiakte, 1985
lauter Peepshows. Kurz bevor wir abgefahren sind, habe ich einen Typen gefragt,
ob wir Dias auf die Mdchen projizieren
drfen, da kamen alle. Schlielich BerlinMitte, ein Projekt in dem gerade gegrndeten Ausstellungshaus Kunst-Werke, und
1993 New York. Dort wollte ich die ostdeutsche Karte dann ausspielen, und es
hat nicht funktioniert.
SPIEGEL: Warum nicht?
Lybke: Die hatten nicht mitbekommen, dass
die Mauer gefallen war oder dass es die
berhaupt mal gegeben hat. Ich war einfach der Deutsche, der sich whrend der
Wirtschaftskrise nach New York traute.
Der Frhlingsbote. First Bird. Wir waren
dort in einem Gebude im Galerienviertel,
16 Stockwerke standen darin leer, nur unten der berhmte Leo Castelli mit seiner
Galerie. Ich sagte, ich schalte immer berall das Licht an, dann wirkt das Gebude
bewohnter, dafr zahle ich keine Miete.
Verkauft habe ich nichts, die anderen Galeristen damals aber auch nicht.
SPIEGEL: Aber Sie fielen in New York, der
wichtigsten Kunststadt der Welt, auf. Man
war beeindruckt von Ihnen. Das bekam
man auch in Deutschland mit, dort besaen Sie zwei Galerien, in Leipzig und Berlin-Mitte. Das Geschft lief.
Lybke: Bis 1996 habe ich unterm Strich trotzdem nur Miese gemacht.
SPIEGEL: Dann aber setzte ein regelrechter
Rausch ein, auf dem halben Globus wurde
ber Sie berichtet, die Leute kamen aus allen mglichen Lndern mit Jets und teuren
Autos nach Leipzig. Die vielen superreichen Sammler. Wieder eine andere Welt.
Lybke: So anders ist die nicht. Ich war bei
Dustin Hoffman eingeladen, der zieht
abends beim Essen genauso gern unter
dem Tisch die Schuhe aus wie ich. Diese
Leute sind keine Gegner, das muss man
verstehen.
SPIEGEL: Nun war das Ostdeutsche der
Standortvorteil. Alle wollten die neue
Leipziger Malerei. Neo Rauch ist der berhmteste Vertreter dieser Richtung.
Lybke: Er war mit seiner Malerei der Star
einer Messe in New York. Die haben sich
gefragt, was ist da in Leipzig los? Warum
wird da wieder gemalt?
SPIEGEL: Wie lange kennen Sie ihn?
Lybke: Seit 1981, 1982, ich war fnf Jahre
lang sein Modell. Er ist ein Knstler, der
200 Bilder im Jahr htte verkaufen knnen,
DER SPIEGEL 34 / 2014
115
Kultur
Galerist Lybke, Knstler Rauch 1987, 2013*
Wir haben auf die Mglichkeit verzichtet, in krzester Zeit fr uns auszusorgen
116
DER SPIEGEL 34 / 2014
Lybke: Wir arbeiten, was die Vertretung un-
die jetzige Adresse in der ehemaligen
serer Knstler im Ausland betrifft, mit we- Jdischen Mdchenschule zu schick gewornigen Galerien zusammen, aber mit den den ist.
besten. Wir hatten lange Geduld, und das SPIEGEL: Ein Galerist wie der Amerikaner
hat sich bewhrt.
Larry Gagosian hat viele Weltstars, Sie
SPIEGEL: 2011 aber durfte Ihre Galerie Ei- haben einen. Gagosian hat ein Dutzend
gen + Art pltzlich nicht an der Art Basel Filialen von London bis New York. Haben
teilnehmen, der wichtigsten Messe der Sie eine Chance, da mitzuhalten?
Welt. Im Auswahlgremium saen einige Lybke: In New York musst du als Galerist
Ihrer Konkurrenten aus Berlin.
das Riesenrad drehen. Ich will Kontakt zu
Lybke: Ich war dort immer Auenseiter, den Knstlern und Sammlern haben, das
kostet Zeit. Ich habe nicht den Anspruch,
und es bleibt auch so.
SPIEGEL: Der Markt ist grausam, trotz der mglichst viel Macht zu besitzen, ich will
lieber die Macht ber mein Leben behalten.
guten Geschfte?
Lybke: Ach, der Rausch ist doch vorbei, SPIEGEL: Matthias Weischer, einer Ihrer
schon lnger, seit sechs, sieben Jahren.
Knstler, der auch sehr erfolgreich war,
SPIEGEL: Auf dem Auktionsmarkt werden hat sich von Ihrer Galerie getrennt.
stndig neue Rekorde erzielt.
Lybke: Schade, es waren zehn gute Jahre.
Lybke: Aber nicht in den Galerien. Heute Wir waren seine erste Galerie, und vielwrde man seinem Kind raten, von zwei leicht braucht er andere Erfahrungen. FraSachen die Finger zu lassen, von Drogen gen Sie ihn selbst. Die Knstler machen
und von Kunst. Galerist wird nur noch, es sich nicht leicht. Wenn man ins Atelier
wer das auch wirklich will. Man braucht geht und merkt, das alles kann auch ein
Kampf sein, ein Kampf des Knstlers mit
viel Geduld.
SPIEGEL: Warum haben es die Galerien trotz sich selbst, und dann kriegt er es doch in
den Griff, wenn man diese Wegstrecke mitdes wachsenden Marktes denn schwer?
Lybke: Weil viele Sammler heute Werke erleben darf, ist das extrem spannend. Ich
kaufen wollen, die eine Million Dollar und kann diese Leben mitleben.
mehr kosten. Werke von gesetzten Knst- SPIEGEL: Es fllt auf, dass Sie, dessen Leben
lern, die kein Risiko darstellen. Wenn du so von politischen Entwicklungen und
als Galerist nichts in dieser Preisklasse hast, Zsuren geprgt ist, keine Politkunst auswird es schwierig. Viele Galeristen weichen stellen.
auf den Secondary Market aus, auf den Lybke: Aber wir haben auch keine Kunst,
Handel mit Werken, die es schon lnger die unpolitisch ist. Das ist bei uns nur
oder sogar sehr lange gibt und die schon nichts Plakatives, keine Kunst, die an die
den einen oder anderen Verkauf hinter sich Tagesschau erinnert. Das eigene Ich, die
haben. Das wollten wir nicht, wir wollen eigene Biografie zu behaupten ist immer
auch nicht grer sein. Wir wollen Weg- noch politisch und wichtig, und auf jeden
bereiter sein, das knnen wir. Wir haben Fall entsteht etwas Einzigartiges. Das ist
vor zwei Jahren zustzlich zu unseren bei- es, was wir zeigen.
den Galerien ein sogenanntes Lab in Berlin SPIEGEL: Herr Lybke, wir danken Ihnen fr
aufgemacht, ein Labor fr junge Kunst. dieses Gesprch.
Nchstes Jahr ziehen wir damit um, weil
Video:
Die Galerie Eigen + Art
* Links: Lybke (2. v. r.), Rauch (r.) mit Ehefrau Rosa Loy
(l.); rechts: Lybke (r.) in seiner Galerie Eigen + Art in Leipzig vor Rauch-Gemlde Speertanz.
spiegel.de/app342014galerie
oder in der App DER SPIEGEL
FOTOS: GALERIE EIGEN + ART LEIPZIG/BERLIN (L.); VG BILD-KUNST, BONN 2014, FOTO: HENDRIK SCHMIDT / PICTURE ALLIANCE / DPA (R.)
aber so etwas nicht mitmachte. Ich gestehe,
ich htte vielleicht nichts dagegen gehabt.
Er aber hat an der Hochschule in Leipzig
gelernt, dass man nur Werke schafft, die
ntig sind. Sein Atelier verlassen 15 bis 20
Werke im Jahr, mehr nicht. Wir haben
Kunden verprellt, wir haben auf die Mglichkeit verzichtet, in krzester Zeit fr
uns auszusorgen. Aber es war richtig so.
SPIEGEL: Bilder von Rauch und einigen Malern Ihrer Galerie erinnerten allerdings an
den Sozialistischen Realismus, den Stil des
Ostblocks aus dem Sie mal hinausgeschmissen werden wollten.
Lybke: Es ging unseren Knstlern nie um
die politische Botschaft des Sozialistischen
Realismus. Wenn man genau hinsieht, erkennt man das auch ziemlich schnell.
SPIEGEL: Viele Sammler fanden aber diese
ostdeutsche Einfrbung sehr aufregend,
den Stil einer Diktatur.
Lybke: Es war vielleicht eher das Ungewohnte, das sie faszinierte, die Malerei,
noch dazu gegenstndlich. Der Begriff
Neue Leipziger Schule, den jeder im
Munde hatte
SPIEGEL: und der an den Begriff Leipziger Schule anknpfte, die fr die Malerei der DDR stand
Lybke: hat geholfen. Er war ein Transportmittel fr eine Gruppe von Leuten, aber
wenn die Tren aufgingen, stiegen sehr unterschiedliche Knstlerpersnlichkeiten aus.
Und einige von ihnen kamen ja auch aus
dem Westen. Aber was man vergisst, ist, wir
hatten immer auch andere Knstler. Wir arbeiten nicht mit Vertretern eines bestimmten Stils zusammen, sondern mit Menschen.
Carsten Nicolai hat am Anfang Zeichnungen und Holzschnitte gemacht, heute beschftigt er sich mit der Visualisierung von
Sound, bespielt in Hongkong die Skyline.
SPIEGEL: Der Neid der heimischen Konkurrenz wuchs und ist bis heute ungebrochen.
Lybke: Na klar.
SPIEGEL: Fhlt sich das an wie eine Anerkennung oder wie eine Ausgrenzung?
Filmstar Hoffman, fotografiert von Corbijn,
whrend der Dreharbeiten in Hamburg 2012
Auer Kontrolle
ie Bilder bleiben. Wie er am Heck mit dem leeren Blick. Es ist, es war Hoffeiner Fhre im Hamburger Hafen mans letzte groe Rolle.
Am 2. Februar 2014, einem Sonntag,
sitzt, den Blick ins Nichts gerichtet.
Wie er im T-Shirt auf dem Bett liegt, eine zwei Wochen nach der Premierenfeier in
Zigarette in der Hand, ein Glas mit Sundance, wurde Hoffman tot in seiner
Whisky auf dem Nachttisch. Wie er hinter Wohnung in New York gefunden. In seidem Hauptbahnhof in einem Dner- nem linken Arm steckte noch die Spritze.
restaurant wartet, das einst ein Lieblings- Todesursache war eine berdosis Heroin,
lokal von Mohammed Atta war, dem aber bei der Obduktion stellte man in seiAnfhrer der Attentter vom 11. Septem- nem Krper auch Kokain und diverse Beruhigungs- und Aufputschmittel fest.
ber 2001.
Hoffman wurde 46 Jahre alt, er hinterDie Bilder stammen aus dem Spielfilm
A Most Wanted Man, einem Agenten- lsst eine Frau, drei Kinder und unzhlige
thriller nach dem Roman von John le Car- traurige Kollegen und Fans in aller Welt.
r, gedreht im Herbst 2012 in Hamburg. Niemand konnte Verlierer, Auenseiter
Anfang dieses Jahres hatte der Film beim und charismatische Arschlcher so berFestival von Sundance Premiere, am 11. zeugend verkrpern wie er. Die New York
September kommt er in die Kinos. In der Times ernannte Hoffman posthum zum
Hauptrolle als deutscher Geheimdienst- grten Schauspieler seiner Generation.
A Most Wanted Man ist damit mehr
mann: Philip Seymour Hoffman, der Oscar-Preistrger, der Mann auf der Fhre als nur ein Kinofilm, er ist Hoffmans Ver118
DER SPIEGEL 34 / 2014
mchtnis als Schauspieler, seine Abschiedsvorstellung, auch wenn es natrlich nie so
geplant war.
Es war ein Unfall, sagt Anton Corbijn
ber Hoffmans Tod. Corbijn ist der Regisseur von A Most Wanted Man. Knapp
drei Monate hat er mit Hoffman in Hamburg gedreht, oft saen sie nach der Arbeit
gemeinsam in einem Restaurant im Stadtteil St. Georg. Zuletzt trafen sie sich beim
Sundance-Festival in Utah, beim Dinner
nach der Premiere.
Diese Nhe macht den Regisseur jetzt
zu einer Art Nachlassverwalter: Viele Menschen wollen Erklrungen von ihm hren,
Theorien, Beobachtungen, Interpretationen zu Hoffmans Leben, zu seinem Ende.
Hat Corbijn etwas geahnt?
Eine undankbare Rolle fr den Regisseur, der eher ein groer Schweiger ist.
Wenn er berhaupt reden will, dann ei-
FOTO: ANTON CORBIJN / COURTESY SCHIRMER / MOSEL MNCHEN
Kino Der Regisseur Anton Corbijn drehte mit
dem Schauspieler Philip Seymour Hoffman
den Thriller A Most Wanted Man. Es wurde
Hoffmans letzter groer Auftritt.
FOTO: MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL
Kultur
gentlich nur ber seine Arbeit als ob sich
das trennen liee. Zumal Philip Seymour
Hoffman nicht der erste Drogentote in Corbijns Karriere war.
Corbijn, Jahrgang 1955, ist Hollnder,
sein Vater war Pastor der NiederlndischReformierten Kirche, ein Mann, der schon
von Amts wegen stndig ber den Tod redete und noch fter ber das, was mglicherweise danach kommt. Ein Elternhaus,
das eine stille Rebellion befrdert haben
drfte.
Als junger Mann begann Corbijn zu fotografieren, er machte Bilder von einem
Freund namens Herman Brood, der von
einer Karriere als Rockstar trumte. Corbijn fotografierte ihn auf der Bhne, aber
auch privat, sogar dann, wenn Brood Heroin nahm. Es gibt ein Foto aus dem Jahr
1977, das Corbijn auf der Toilette eines Zuges aufgenommen hat, wie der Musiker
mit einer Heroinspritze hantiert. Broods
Blick fixiert die Nadel.
Knstler sind anders als normale Menschen, sie neigen zu Experimenten, sagt
Corbijn. Und Holland war in den Siebzigerjahren viel liberaler als heute. Wer damals Drogen nehmen wollte, bitte sehr.
Die Polizei hat Herman ein paarmal festgenommen, aber hinterher haben sie ihm
die Drogen, die sie beschlagnahmt hatten,
zurckgegeben. Weil er sich ohnehin neuen Stoff besorgt htte.
Brood wurde einer der berhmtesten
Rockmusiker Hollands, auch dank der Fotos von Corbijn. Herman mochte die Publicity. Die Drogen haben seiner Karriere
geholfen. Fr ihn hat es sehr gut funktioniert. Bis es irgendwann eben nicht mehr
funktionierte, sagt Corbijn.
2001 sprang Brood im Alter von 54 Jahren vom Dach des Amsterdamer Hilton
Hotels in den Tod. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, dass ihm ein Leben ohne
Drogen sinnlos erscheine.
Heute, sagt Corbijn, wrde er Fotos wie
die von Herman Brood nicht mehr machen, weil ich nicht den Anschein erwecken mchte, es sei in Ordnung, Drogen
zu nehmen.
Ende der Siebzigerjahre war Corbijn
nach London gezogen, auf der Suche nach
der britischen Band Joy Division, die den
Punkrock fr Melancholiker neu erfunden
hatte. Er schoss Fotos von den Musikern
und ihrem Snger Ian Curtis, in SchwarzWei mit harten Kontrasten, passend zu
Curtis aggressiv-schwermtigen Texten.
Curtis war Epileptiker und litt unter Depressionen, er musste unzhlige Tabletten
nehmen. 1980, im Alter von 23 Jahren, erhngte er sich in der Kche seiner Wohnung. Joy Division wurde durch den Tod
des Sngers zur Legende, die brigen Mitglieder grndeten eine neue Band, New
Order, sie wurden Popstars.
Seine Aufnahmen von Joy Division
machten aus dem Autodidakten Corbijn einen gefragten Fotografen. Er arbeitete jetzt
fr Musikzeitschriften und gestaltete Plattencover, oft grobkrnige Fotos, teilweise
unscharf oder kunstvoll verwackelt; er drehte Musikvideos. Mit einigen der Knstler
freundete er sich an. Immer wieder gelang
es Corbijn, Musiker als geheimnisvolle, erhabene Popstars zu inszenieren: Die Mitglieder von U2 im Death Valley in Kalifornien oder Dave Gahan, Snger von Depeche Mode, wie er im Video zu Enjoy
the Silence mit einer Plastikkrone auf dem
Kopf durchs Gebirge schreitet. Corbijn drehte auch ein Video mit Nirvana, Heart-Shaped Box, nur wenige Monate bevor sich
Kurt Cobain, der Frontmann, heroinabhngig und depressiv, das Leben nahm.
2007 gab Corbijn sein Debt als Spielfilmregisseur, er erzhlte die Geschichte
von Ian Curtis, natrlich in Schwarz-Wei.
Herbert Grnemeyer, seit Langem mit Corbijn befreundet, bernahm eine Nebenrolle: Er spielte jenen Arzt, der Curtis die Tabletten verschreibt. Corbijn nannte seinen
Film Control, frei nach einem Song von
Joy Division. Doch der Begriff beschreibt
wohl auch seine Haltung, jene Selbstdisziplin, die ihm geholfen haben drfte, Jahrzehnte in der Musikbranche zu berstehen.
Er selbst habe nie Drogen genommen,
sagt Corbijn, ich mag es nicht, wenn ich
keine Kontrolle habe. Er achtet auf seine
Gesundheit, er ernhrt sich vegan.
Vor ein paar Jahren lernte Corbijn den
Schauspieler Philip Seymour Hoffman bei
einem Fototermin fr die Vogue kennen.
Hoffman hatte da bereits einen Oscar gewonnen fr die Titelrolle in Capote, in
dem er den Schriftsteller Truman Capote
verkrpert; er hatte auch schon in Sidney
Lumets Krimi Before the Devil Knows
Youre Dead einen Mann gespielt, der im
Anzug ins Bro geht und seine Heroinsucht lange perfekt verheimlichen kann.
Kaum jemand wusste, dass Hoffman als
junger Mann selbst Probleme mit Alkohol
und harten Drogen gehabt hatte. Nach der
Schauspielschule lie er sich in eine Entzugsklinik einweisen, es funktionierte.
Mehr als 20 Jahre lang blieb er clean und
nchtern, und anders als der vergangene
Woche verstorbene Hollywood-Star Robin
Williams redete er in der ffentlichkeit
nicht ber seine Drogenvergangenheit.
Hoffman machte Karriere und grndete
eine Familie.
2011 drehte Hoffman The Master, er
spielt darin den Anfhrer einer Sekte,
Regisseur Corbijn
Einzelgnger, das hat etwas Romantisches
DER SPIEGEL 34 / 2014
119
einen diabolischen Verfhrer. Auf der
Party zum Abschluss der Dreharbeiten soll Hoffman einen Drink angenommen haben, mglicherweise der
Anfang vom Ende.
Menschen, die schtig sind, bleiben ihr Leben lang schtig, sagt
Corbijn. Es ist ein tglicher Kampf,
der Sucht nicht nachzugeben. Wenn
Martin Wuttke, Hoffman in A Most Wanted Man
die Sucht in einem steckt, kann sie
jeden Tag zurckkehren.
ber Hoffmans Verfassung whrend der gemeinsamen Dreharbeiten
vor zwei Jahren in Hamburg mchte
Corbijn nicht reden. Wie es Hoffman
seinerzeit ging, ob er clean war?
Sagen wir so: Ich wei es nicht.
Vielleicht hat er damals Heroin genommen, vielleicht auch nicht. Ich
mag die Spekulationen nicht. Wir
haben jedenfalls gut zusammengearbeitet.
Hoffman verkrpert in A Most
Wanted Man einen Agenten namens
Gnther Bachmann, strafversetzt
nach Hamburg, weil er bei einem Einsatz in Beirut versagt haben soll. Kollegen sind aufgeflogen, es gab Tote.
Musiker Cobain in Seattle 1993
In Hamburg muss Bachmann potenzielle Terroristen berwachen, Paranoia nach Aktenlage. Ein Debakel
wie vor dem 11. September 2001, als
sich Mohammed Atta zum Massenmrder radikalisierte, ohne dass die
Behrden etwas merkten, darf sich
nicht wiederholen. Dass Bachmann
trotzdem einen verdchtigen frommen Muslim nicht gleich verhaften
will, macht ihn zum Auenseiter.
Hoffmans Bachmann wirkt wie der
einsamste Mensch der Stadt: Als einziger Agent hat er sich entschieden,
kein Zyniker zu werden, obwohl er
allen Grund dazu htte. Er verstellt
sich nur, wenn es sein muss, hufig
genug, aber eben nicht immer. Dass
er Schnaps in seinen Kaffee kippt,
dass er wtend wird, wenn seine Vorgesetzten oder die lieben Kollegen
von der CIA ihm ins Handwerk pfuschen: Jeder soll es sehen.
Corbijn hat whrend der Dreharbeiten nebenbei auch fotografiert.
Eine Sammlung von Schnappschssen ist so entstanden, mein kleines
Band Joy Division in London 1979
Tagebuch, sagt Corbijn, es erscheint
jetzt als Bildband*. Es zeigt Momente,
Corbijn-Fotos: Mein kleines Tagebuch
aufgenommen in den Drehpausen, in
denen die Konzentration von Hoffman ab- muss. Philip verausgabte sich vllig vor
fiel, wenn er sich unbeobachtet whnte, unseren Augen, schrieb John le Carr
auf der Hafenfhre zum Beispiel. Es ist ber seinen Besuch am Set.
heute unmglich, diese Bilder unvoreingeIn welche Abgrnde sich Hoffman benommen zu betrachten, aber man ahnt, geben haben mag, um die Aura der vlliwelche Kraft ihn die Rolle gekostet haben gen Einsamkeit zu erschaffen, wird fr immer sein Geheimnis bleiben. Corbijn erzhlt, dass Hoffman E-Mails an ihn mit
* Anton Corbijn: Looking at A Most Wanted Man.
Verlag Schirmer/Mosel, Mnchen; 180 Seiten; 49,80 Euro. Gnther unterschrieb. Aber das sei ein
120
DER SPIEGEL 34 / 2014
Scherz gewesen, kein Hinweis auf
eine beridentifikation mit der Figur.
Hoffmans Spiel ist es jedenfalls zu
verdanken, dass A Most Wanted
Man nicht nur ein guter Thriller geworden ist, sondern vor allem eine
groartige Charakterstudie, ein
Schauspieler auf dem Hhepunkt seiner Kunst.
Wer mag, kann in A Most Wanted
Man auch die Fortsetzung einer Serie erkennen, vielleicht sogar eine Art
Selbstportrt des Regisseurs. Wie in
Control ber Ian Curtis, wie in
The American, Corbijns zweitem
Film, in dem George Clooney einen
Profikiller darstellt, geht es erneut um
einen von seiner Arbeit besessenen,
wortkargen Einzelgnger.
Die meisten Menschen sind Einzelgnger, sagt Corbijn, ich kann
mich damit durchaus identifizieren.
Ein Einzelgnger, das hat etwas
Romantisches. Aber vielleicht verklre ich das Ganze auch zu sehr.
Die makabre Ironie besteht darin,
dass in A Most Wanted Man erstmals bei Corbijn die Hauptfigur berlebt.
Hoffmans Zustand verschlechterte
sich nach Ende der Dreharbeiten. Im
Frhjahr 2013 suchte er Hilfe, er begann in einer Klinik einen Entzug.
Letztlich vergebens: Im Herbst trennte sich seine Lebensgefhrtin von
ihm, offenbar wegen seiner Sucht.
Hoffman zog aus der gemeinsamen
Wohnung aus, er besuchte Treffen
der Narcotics Anonymous, vergleichbar mit den Anonymen Alkoholikern.
Auf Fotos vom Januar beim Festival von Sundance wirkt Hoffman
leicht verwahrlost. Man knnte ihn
fr einen Menschen halten, der einfach ein bisschen zu viel gefeiert hat.
Ein Journalist, der Hoffman auf der
Strae traf, erkannte ihn nicht gleich.
Was er denn so mache, fragte der
Journalist. Ich bin ein Heroinabhngiger, sagte Hoffman.
Anton Corbijn arbeitet mittlerweile
an seinem nchsten Film, Life. Der
Film spielt 1955, Corbijns Geburtsjahr;
es geht darin, Zufall oder nicht, um
die Freundschaft zwischen dem Hollywood-Star James Dean und Dennis
Stock. James Dean ist heute vor allem
fr seinen frhen Tod berhmt. Und
Dennis Stock war jener Fotograf, dessen
Portrts James Dean bis heute unsterblich
machen.
Martin Wolf
Video:
A Most Wanted Man"
spiegel.de/app342014kino
oder in der App DER SPIEGEL
FOTOS: ANTON CORBIJN / COURTESY SCHIRMER / MOSEL MNCHEN (O.); ANTON CORBIJN / CONTOUR BY GETTY IMAGES (2, M. + U.)
Kultur
Kultur
Mein Land krankt
Essay Ich lebe in Russland. Ich schme mich. Von Ljudmila Ulitzkaja
Autorin Ulitzkaja, prorussische Kmpferin: Der Mensch schafft das Bse aus eigener Kraft
ersten Text zur Musik von Alexander Alexandrow schrieb der
Hofdichter Sergej Michalkow 1943. Er enthielt die mchtigen Zeilen: Und Stalin erzog uns zur Treue dem Volke, beseelt uns
zum Schaffen, zur heldischen Tat. Nach Stalins Entthronung
wurde sie ohne Text gespielt, unter anderem jeden Morgen im
Radio als Weckruf fr das ganze Land. 1977 dann korrigierte Mialzburg, eine zauberhafte Schatulle, eine ideale Touristen- chalkow den Text; nun rhmte die Hymne die Partei. Dann
stadt, in der die Zeit stehen geblieben scheint die Fantasie kam die Jahrhundertwende, und im Jahr 2000 wurde ein erneut
malt das nostalgische Bild eines ausgestorbenen schnen korrigierter Text sanktioniert: Derselbe Michalkow, Profi durch
Lebens. Die grnlich schimmernde Salzach, schroffe Felswnde, und durch, hatte Partei durch Gott ersetzt, wie es in unserem
die Burg hoch ber der Stadt, Klster und Kirchen, die Univer- neuorthodoxen Land jetzt blich ist.
Autor und Komponist ruhen inzwischen in Gott, es ist
sitt das alles ist genauso wie im Mittelalter. Eine mythische
Stadt, ein Phantom, ein Fantasieort. Die Einwohner tragen Uni- also schwer zu sagen, wer die nchste Korrektur vornehmen
form als Portier, Kellner oder Zimmermdchen, hin und wieder wird. Allerdings entwickelt sich unser Land in derartigen Spiralen
huscht eine hohe Kochmtze vorbei. Auf der Strae ein paar als und Zickzacklinien, dass eine Neufassung der Hymne womglich
Mozart verkleidete Bettler mit synthetischer Percke und kleiner wieder zu Stalin zurckkehrt.
Whrend ich darber nachdenke, tragen zwei groartige SchauGeige, aber auch Bettler ohne Verkleidung, Roma aus Osteuropa.
spieler einen Dialog aus dem 800-Seiten-Drama Die letzten
Nur sie erinnern an die Gegenwart.
Vom Flughafen zum Hotel bringt mich ein Chauffeur von so Tage der Menschheit von Karl Kraus vor, einem prophetischen
makelloser Erscheinung, dass ich mich scheue, ihm ein Trinkgeld Werk ber den Untergang der Menschheit, entstanden zwischen
zu geben. Man hat mir ein Zimmer im Hotel Sacher reserviert, 1915 und 1917.
Was ist mit der Welt geschehen, dass sie sich erneut auf hundert
einem alten, luxurisen Haus von der Art, die mir als Intellektueller fremd ist. Es riecht nach altem Geld, nach altmodischem Jahre alte Prophezeiungen besinnt?
Ich hre den Reden der sterreichischen Politiker zu des
Luxus, nach sterreich-Ungarn, nach der einstigen heimlichen
Romanze zwischen Aristokratie und Brgertum. Die Erinnerung Salzburger Landeshauptmanns, des Kulturministers, des Bundesan das alte Imperium beginnt beim Eintritt in das Hotel, und sie prsidenten. Und mich erfllt ein wachsendes Erstaunen, das
Brger europischer Staaten vermutlich nicht verstehen knnen.
endet bei der Premiere von Don Giovanni.
Dazwischen liegt die Erffnung der Salzburger Festspiele. Ihr Denn da sprechen kulturell gebildete Menschen, ihre Reden erThema ist der Erste Weltkrieg und seine nicht beherzigten Lehren. innern eher an Vorlesungen von Universittsprofessoren als an
die Phrasen von Parteifunktionren, an die wir von klein auf
Davon will ich erzhlen.
Der Festakt beginnt mit der sterreichischen Bundeshymne. gewhnt sind.
Es geht um die Gegenberstellung zweier historischer MomenAlle Zuschauer stehen auf, auch ich. Ihr sterreicher habt es
gut, denke ich mit leisem Neid den Text zu eurer Hymne hat te der Situation vor dem Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts
1947 die unbescholtene Dichterin Paula von Preradovic verfasst. und der heutigen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Alle Redner
Fr unsere russische Hymne schmen wir uns seit Langem. Den betonen den nationalen Enthusiasmus der Bevlkerungen, die
Am 26. Juli erhielt Ulitzkaja, 71, eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Russlands, im Rahmen der Salzburger Festspiele den sterreichischen Staatspreis fr Europische Literatur. Ulitzkajas Bcher wurden in 17 Sprachen bersetzt, zuletzt erschien auf Deutsch ihr Roman
Das grne Zelt (2012).
122
DER SPIEGEL 34 / 2014
FOTOS: ANITA SCHIFFER-FUCHS / SDDEUTSCHER VERLAG (L.); ITAR-TASS / IMAGO (R.)
lebhafte Untersttzung des Krieges durch europische Intellektuelle zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, die wenigen Stimmen
des Protests. Beim Vergleich der beiden historischen Zeitpunkte
fllt eine gefhrliche hnlichkeit auf: die gleiche Steigerung des
Nationalismus in einigen Lndern, die Ausbeutung des Begriffs
Patriotismus, die Frderung von Stimmungen nationaler Einmaligkeit und berlegenheit.
Da ich in Russland lebe, spre ich das besonders deutlich. Ich
bin nicht politisch aktiv, aber ich sage, was ich denke, wenn ich
danach gefragt werde. Deshalb werde ich der Fnften Kolonne
zugerechnet und beschuldigt, mein Land zu hassen. Mich zu
rechtfertigen erscheint mir so fruchtlos wie dumm. Ich empfinde
keinerlei Hass, nur Scham und Hilflosigkeit. Die gegenwrtige
Politik Russlands ist selbstmrderisch und gefhrlich und in erster
Linie eine Bedrohung fr Russland selbst, knnte aber durchaus
zu einem Auslser eines Dritten Weltkriegs werden. Der im Grunde bereits begonnen hat. Die lokalen Kriege in Tschetschenien,
in Georgien und jetzt in der Ukraine sind der Prolog. Den Epilog
wird wohl niemand mehr schreiben knnen.
Whrend ich die Reden der sterreichischen Politiker verfolge,
kehren meine alten Gedanken ber das Wesen des Staates zurck,
ber seine hnlichkeit mit einem Krebsgeschwr. Er wuchert
metastatisch in Bereiche hinein, die nicht sein Metier sind, in die
Kultur, die er seinen Interessen unterordnen will, und in das Privatleben der Menschen, deren Bewusstsein er manipuliert. In
der heutigen Zeit, da mit den Massenmedien ein mchtiger Mechanismus zur Beeinflussung der Bevlkerung entstanden ist,
strebt der Staat danach, smtliche Medien unter seine Kontrolle
oder in seinen Besitz zu bringen. Genau das ist in unserem Land
geschehen.
Die sterreichischen Politiker sprechen ber das, was mich am
meisten beschftigt: ber das Verhltnis zwischen Politik und
Kultur. Der australische Historiker Christopher Clark, Autor des
Buches Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg
zog, hlt eine klare, fundierte Rede ber die Situation in Europa
vor dem Ersten Weltkrieg.
Die Euphorie, die sogar herausragende Intellektuelle Europas
zu Beginn des Ersten Weltkriegs empfanden, zeugt davon, dass
selbst der hoch entwickelte Intellekt der in der Natur des Menschen-Tieres angelegten Aggression nichts entgegenzusetzen hat,
dass er leicht in die Fnge des Nationalismus, der Idee von der
Einzigartigkeit des eigenen Volkes gert. In jenen Jahren teilten
auch Thomas Mann, Robert Musil und Hugo von Hofmannsthal
die militrische Begeisterung, weil sie den Krieg als Reinigung
von brgerlichem Mief und Stagnation betrachteten.
So verrieten Kulturschaffende, die stets als Gegengewicht zur
Politik gewirkt hatten, ihre eigentliche Bestimmung und missachteten ihre eigenen moralischen Prinzipien. Heute stehen wir
nicht mehr vor der Wahl zwischen Krieg und Frieden, sondern
vor der Wahl zwischen Frieden und vollstndiger Auslschung
der Menschheit.
ie heutige Welt ist nicht mehr in Weie und Schwarze, in
Juden und Araber, in Muslime und Christen, in Arme
und Reiche, in Gebildete und Ungebildete gespalten, sondern in diejenigen, die das begreifen, und diejenigen, die das
nicht begreifen wollen.
Die Zivilisation steckt in einer Sackgasse: Wissenschaft, Aufklrung, Erkenntnis und Kunst haben es nicht vermocht, die in
der Natur des Menschen angelegte Aggression zu zhmen. Es
schien, als knnte die Kultur dieses Streben nach Selbstauslschung bezwingen, aber ich frchte, die Menschheit hat keine
Zeit mehr. Die Zivilisation und ihre herausragenden technischen
Leistungen haben leider nur dazu gefhrt, dass wir uns in krzester Zeit gegenseitig vernichten knnen.
Wir knnen die Schuld nicht mehr auf mystische Krfte des
Bsen schieben, auf den Teufel und seine Gesellen. Der gro-
artige Regisseur Alexander Sokurow stellt in seinem Film Faust
dem Menschen ein ganz anderes Zeugnis aus als Goethe: Das
Bse im Menschen bersteigt alles, was die christliche Theologie
dem Teufel jemals zugeschrieben hat. Die These von der infernalen Natur des Bsen hat ausgedient, der Mensch schafft das
Bse aus eigener Kraft und er bertrifft den Teufel darin.
Der sterreichische Kulturminister Josef Ostermayer erinnert
an jene, die ihre Stimme gegen den Ersten Weltkrieg erhoben
haben: wie Stefan Zweig und Bertha von Suttner. Niemand
kann heute sagen, ob Europa damals eine andere Entwicklung
genommen htte, wre die Mehrheit der Intellektuellen von
Anfang an auf ihrer Seite gewesen.
Der Festakt zur Erffnung der
Salzburger Festspiele geht weiter.
Musik von Richard Strauss und
Anton Webern. Die Musik setzt
das Thema Leben und Tod fort.
Die heutige Kunst gilt nur noch
diesem einen Thema.
Schlielich sagt der Landeshauptmann von Salzburg, Wilfried Haslauer, etwas sehr Wichtiges. Kultur und Politik seien
heute keine unvershnlichen Gegenstze mehr, sondern eher wie
langjhrige Ehepartner sie stritten sich, trgen Konflikte miteinander aus, knnten aber nicht ohneeinander leben. Die Kunst
rettet die Welt nicht, das mssen wir schon selbst besorgen, aber:
Ohne Kunst wird uns das kaum gelingen.
Ich erlebe zum ersten Mal, dass ein Politiker an die Kultur
appelliert. Vielleicht zu spt.
Ich lebe in Russland. Ich bin eine russische Schriftstellerin jdischer Herkunft und christlicher Prgung. Mein Land hat gegenwrtig der Kultur, den Werten des Humanismus, der Freiheit
der Persnlichkeit und der Idee der Menschenrechte, einer Frucht
der gesamten Entwicklung der Zivilisation, den Krieg erklrt.
Mein Land krankt an aggressiver Unbildung, Nationalismus und
imperialer Gromannssucht.
Ich schme mich fr mein ungebildetes und aggressives Parlament, fr meine aggressive und inkompetente Regierung, fr die
Staatsmnner an der Spitze, Mchtegern-Supermnner und Anhnger von Gewalt und Arglist, ich schme mich fr uns alle, fr
unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat.
Die Kultur hat in Russland eine schwere Niederlage erlitten,
und wir Kulturschaffenden knnen die selbstmrderische Politik unseres Staates nicht ndern. Die intellektuelle Gemeinschaft unseres Landes ist heute gespalten: Wie zu Beginn des
Jahrhunderts uert sich erneut nur eine Minderheit gegen den
Krieg.
Mein Land bringt die Welt mit jedem Tag einem neuen Krieg
nher, unser Militarismus hat bereits in Tschetschenien und
Georgien die Krallen gewetzt, und nun trainiert er auf der Krim
und in der Ukraine.
Leb wohl, Europa, ich frchte, wir werden nie zur europischen Vlkerfamilie gehren. Unsere groe Kultur, unser Tolstoi
und unser Tschechow, unser Tschaikowski und unser Schostakowitsch, unsere Maler, Schauspieler, Philosophen und Wissenschaftler konnten die Politik der religisen Fanatiker und der
kommunistischen Ideen in der Vergangenheit ebenso wenig
verhindern wie die der machtbesessenen Wahnsinnigen heute.
300 Jahre lang haben wir uns aus denselben Quellen genhrt
es waren auch unser Bach und unser Dante, unser Beethoven
und unser Shakespeare und nie die Hoffnung aufgegeben.
Heute knnen wir russischen Kulturschaffenden, der kleine Teil
von ihnen, zu dem ich gehre, nur noch eines sagen: Leb wohl,
Europa!
Ich erlebe zum
ersten Mal,
dass ein Politiker
an die Kultur
appelliert.
Vielleicht zu spt.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
DER SPIEGEL 34 / 2014
123
Kultur
Im Auftrag des SPIEGEL wchentlich ermittelt vom Fachmagazin buchreport; nhere
Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Belletristik
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2
(2)
(1)
Sachbuch
Jan Weiler
Das Pubertier
(1)
(3)
Kindler; 12 Euro
Diana Gabaldon
Ein Schatten von Verrat und Liebe
Blanvalet; 24,99 Euro
(3)
Kerstin Gier
Silber Das zweite Buch der Trume
Eichborn; 19,99 Euro
5
6
(5)
(7)
(4)
Donna Tartt
Der Distelnk
(4)
(2)
(6)
Volker Weidermann Ostende
1936, Sommer der Freundschaft
(5)
(8)
Roger Willemsen
S. Fischer; 19,99 Euro
Das Hohe Haus
Peter Hahne
Rettet das Zigeuner-Schnitzel!
Goldmann; 24,99 Euro
John Williams
Stoner
dtv; 19,90 Euro
Kerstin Gier
Silber Das erste Buch der Trume
Grfe und Unzer; 17,99 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 17,99 Euro
Fischer JB; 18,99 Euro
7
8
(19)
(14)
Isabel Allende
Amandas Suche
Suhrkamp; 24,95 Euro
Quadriga; 10 Euro
Robert Seethaler
Ein ganzes Leben
(10)
()
10
(9)
Hanser Berlin; 17,90 Euro
Gegenentwurf zur Globalisierung: Ein einfacher Mann
verbringt die Zeit, die
er auf Erden hat, am selben
Ort in einem Bergdorf
(6)
(8)
Frank Schtzing
Breaking News
(9)
Frank Schirrmacher
Ego Das Spiel des Lebens
Blessing; 19,99 Euro
Marc Elsberg
ZERO Sie wissen, was du tust
11 (11) Dieter Hildebrandt
Letzte Zugabe
12
(7)
Blanvalet; 19,99 Euro
11
Christopher Clark
DVA; 39,99 Euro
Die Schlafwandler
Andreas Englisch
Franziskus Zeichen der Hoffnung
C. Bertelsmann; 19,99 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 26,99 Euro
10
George Packer
S. Fischer; 24,99 Euro
Die Abwicklung
Susanne Frhlich / Constanze Kleis
Diese schrecklich schnen Jahre
Fischer JB; 19,99 Euro
Wilhelm Schmid
Gelassenheit Was wir gewinnen,
Insel; 8 Euro
wenn wir lter werden
Matthias Weik / Marc Friedrich
Der Crash ist die Lsung
Jonas Jonasson
Die Analphabetin, die rechnen konnte
Carls Books; 19,99 Euro
12 (10) Hanns-Josef Ortheil
Die Berlinreise
Blessing; 19,99 Euro
Christian Wulff
Ganz oben Ganz unten
C. H. Beck; 19,95 Euro
13 (12) Guido Maria Kretschmer
Edel Books; 17,95 Euro
Anziehungskraft
14 (13) Florian Illies
1913 Der Sommer des Jahrhunderts
S. Fischer; 19,99 Euro
Luchterhand; 16,99 Euro
13 (12) Donna Leon
Das goldene Ei
15 (14) Glenn Greenwald
Die globale berwachung
Droemer; 19,99 Euro
Diogenes; 22,90 Euro
16 (15) Hamed Abdel-Samad
Der islamische Faschismus
14 (15) Anna Gavalda
Nur wer fllt, lernt iegen
Droemer; 18 Euro
Hanser; 18,90 Euro
17 (16) Peter Sloterdijk
Die schrecklichen Kinder der Neuzeit
15 (16) Graeme Simsion
Das Rosie-Projekt
Suhrkamp; 26,95 Euro
Fischer Krger; 18,99 Euro
16 (13) Veronica Roth
Die Bestimmung
Letzte Entscheidung
17 (11) Timur Vermes
Er ist wieder da
18
()
Stewart ONan
Die Chance
18
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Rowohlt; 19,95 Euro
Wunderlich; 19,95 Euro
Jim Holt
Gibt es alles
oder nichts?
Warum gibt es das
Universum, und weshalb
ist es entstanden? Der
New Yorker Philosoph gibt
pointierte Antworten
Eichborn; 19,33 Euro
19 (20) Suzanne Collins
Die Tribute von Panem
Oetinger; 18,95 Euro
Flammender Zorn
20 (18) Simon Beckett
Der Hof
()
19 (20) Peter Wensierski
Die verbotene Reise
20
()
DVA; 19,99 Euro
Jrn Leonhard
Die Bchse der Pandora
C. H. Beck; 38 Euro
DER SPIEGEL 34 / 2014
125
Kultur
Eine Art ffchen
er Sheriff von Marin County hatte stand dieses Paradieses mssen schwer
uns fr elf Uhr bestellt. Und nun auszuhalten sein, wenn alles in einem
standen wir da im Halbkreis, etwa schwarz ist.
Vor Williams braun getnchter Villa stanhundert Journalisten aus aller Welt. NBC,
ABC, Telemundo, Reuters. Die Mikrofone den die Vans der Fernsehsender. Gepuderte
stapelten sich auf dem schmalen Redner- Anchormen verkndeten die News aus der
pult. Erstmals wollte sich die Polizei zum Pressekonferenz in alle Welt. Touristen
streckten Digitalkameras in die Hhe.
Tod von Robin Williams uern.
Nach wenigen Schritten endete die StraEin Lieutenant namens Keith Boyd leitete die Pressekonferenz an diesem Diens- e in einer Sackgasse. Hinter dem Fenster
tag, dem 12. August. In seinen Hnden hielt einer Villa sah ich eine Gestalt. Ich kliner mehrere Bltter, zusammengerollt. Kurz zuvor noch hatte er mit
dem Rechtsmediziner telefoniert.
Boyd kondolierte der Familie in
einem Halbsatz. Er besttigte den
Suizid von Mr. Robin McLaurin
Williams. Dass sich Williams wegen
Depressionen habe behandeln lassen. Dass er sich erhngt habe. Ob
er Alkohol und Drogen im Blut gehabt habe, mssten die toxikologischen Tests noch zeigen.
In Deutschland wren viele Pressekonferenzen jetzt vorbei gewesen. Aber Boyd hatte noch schlimmere Details: Wann, wie und wo
Feuerwehrmnner den toten Schauspieler am Vortag in seinem Haus
gefunden hatten. Als Boyd um Fragen bat, riefen einige Kollegen: Wie
viel wog Williams zum Schluss?
War er abgemagert? Wie viele
Schnitte hatte er sich mit einem
Messer beigebracht?
Nach 20 Minuten sa ich wieder
Hollywood-Star Williams
in meinem Auto, ermattet, nieder20 Charaktere in einer Minute? Kein Problem
geschlagen. Der Lieutenant hatte
mit seinen Worten Bilder gezeichnet, die gelte. Niemand ffnete. Ich klingelte noch
nicht mehr zu lschen sind. Ob die Familie mal. Ein groer Mann in Jeans und T-Shirt
von Robin Williams das alles jemals hatte machte die Tr auf, barfu. Er kniff die
erfahren wollen? Was werden diese Nach- Augen zusammen, sein Blick war skeptisch. Er sagte: nichts.
richten mit seinen Kindern machen?
Ich entschuldigte mich, sagte meinen
Im Auto sehnte ich mich nach schnen
Bildern. Ich schaltete das Radio an. Sie re- Namen, woher ich komme. Der Mann hatte
deten ber die Pressekonferenz. Ich schal- die Pressekonferenz im Fernsehen verfolgt.
tete das Radio aus. Und entschied mich, Niemand von uns wusste, wie Robin gezu dem Haus von Robin Williams zu fah- storben ist. Ich bin mir nicht mal sicher, ob
ren. Ich wusste jetzt, wie er gestorben war. seine Kinder es wussten. Es ist ekelhaft. DaNun wollte ich sehen, wie er gelebt hatte. bei gibt es so viel Gutes ber ihn zu sagen.
John, wie ich ihn nenne, trat vor die
Die Hgel Kaliforniens, der Pazifik, in
der Ferne schimmerte die Skyline San Haustr, setzte sich auf die Stufen und
Franciscos. Die Straen Tiburons, einer machte Platz. Er will anonym bleiben. Wie
Halbinsel in der Bucht von San Francisco, alle, die hier leben, ist auch er ziemlich
heien Antilles Way, Trinidad Drive, wohlhabend. Ich habe Robin vor sechs
Martinique Ave. Und schlielich Paradise Jahren kennengelernt, als er herzog. Er
Cay, eine Villenanlage im Wasser, jedes lebte mit Susan und ihren beiden Shnen
Haus mit eigenem Bootssteg und meist zusammen. Ich glaube, er hat sich hier
eigener Jacht. Die Bewohner leben mitten schnell wohlgefhlt. Alle laufen in Jeans
im Pazifik. Die Schnheit und der Wohl- und T-Shirt rum, wir grillen oft zusammen.
126
DER SPIEGEL 34 / 2014
Es ist alles sehr entspannt. Hier muss niemand dem anderen etwas beweisen. John
lchelte entschuldigend.
Es war schwer, ihm nahezukommen.
So, wie wir hier gerade sitzen, uns unterhalten, das war mit Robin nicht mglich.
Jedes ernste Thema habe er gleich mit
einer lustigen Story abgewrgt, auf jede
lustige Story sei noch eine gefolgt. Am
Ende lachten alle, und niemand erinnerte
sich, worum es eigentlich gegangen war.
Robin konnte nie still sitzen. Immer in Bewegung. 20 Charaktere in
einer Minute? Kein Problem. Wie
gro die Dmonen in ihm waren,
ich wusste es nicht. Ob es berhaupt jemand wusste?
Dass er ffentlich ber seine
Suchtprobleme gesprochen hatte, dafr htten ihn alle bewundert. Privat hat er das ausgeklammert. Wenn
sich jemand ein Bier aufmachte, sagte er: Brrrr, Teufelsgebru, geh mir
blo weg. Mehr kam dann nie.
Manchmal, erzhlte John, tollte
Williams mit Nachbarskindern auf
der Strae rum. Oder er versteckte
sich hinter den Autos und imitierte
den Flaschengeist aus Aladdin,
dem er in dem Disney-Film seine
Stimme geliehen hatte. Im Grunde
genommen war er selbst ein Kind.
ber seine Ehe mit Susan hat er mal
gesagt, es sei wunderbar, mit ihr verheiratet zu sein. Nur fr Susan sei
es nicht lustig: Sie ist mit einer Art
ffchen zusammen, sie wei nie,
was ich als Nchstes mache.
Das letzte Mal hat John ihn eine Woche
zuvor gesehen. Einer der Nachbarn sei
schwer an Krebs erkrankt. Williams, der,
wie sich spter herausstellte, selbst an Parkinson erkrankt war, sei ihm im Auto entgegengekommen, als der Nachbar gerade
auf dem Weg in die Klinik war. Robin
hielt mitten auf der Strae an, sprang aus
seinem Landrover, rannte zu dem Mann
und umarmte ihn.
Der Notruf ging bei der Polizei vergangenen Montag um 11.55 Uhr ein. Die Nachbarn verstndigten sich untereinander per
SMS: RW passed away.
Wir alle hier hatten abgemacht, nicht
mit der Presse zu sprechen. Aber irgendwie wollte ich ihn jetzt beschtzen. Dann
verabschiedete sich John. Er weinte.
SPIEGEL-Redakteurin Antje Windmann arbeitet
derzeit als Stipendiatin des Arthur F. Burns Fellowship fr die Oakland Tribune in Kalifornien.
FOTOS: JEFF VESPA / CONTOUR BY GETTY IMAGES
Schauspieler Zum Tod von Robin Williams. Von Antje Windmann
Kultur
Hnschen klein
Literaturkritik Der Tenor Rolando Villazn
hat seinen ersten Roman
geschrieben: ein autobiografisches Bekenntnis.
FOTO: MONIKA HFLER / DG
ei Weitem nicht alle Vorurteile stimmen: Frauen kaufen
angeblich am liebsten Schuhe ein, Tenre sind nicht die
Hellsten, und Clowns sollen tief in ihrer Seele sterbenstraurige Melancholiker sein.
Nun hat der mexikanische Tenor Rolando Villazn, 42, einen
Roman geschrieben. Er heit in deutscher bersetzung Kunststcke und handelt von dem Clown Macolieta. In Wahrheit
handelt das Buch sogar von zwei Clowns. Denn Macolieta,
der ziemlich erfolglos ist, trumt sich in einen anderen Spamacher hinein, in Balancn, der weltweit vor vollen Husern
auftritt.
Auch Villazn hat eine Weltkarriere, nun ja, hinter sich. Um
die Jahrtausendwende wurde er berhmt, immer mehr bedeutende Opernhuser engagierten den Snger. Sein Temperament,
Snger Villazn
seine Bhnenprsenz und seine ungebremste Art, die jeweilige
Rolle auszufllen, als wre sie seine letzte, verschafften ihm
schnell Zuspruch bei Kritik und Publikum.
Weil aber ein Tenor allein keine Oper trgt, fehlte ihm zum Dirigent Daniel Barenboim, der oft mit Villazn zusammengevollkommenen Glck noch ein adquater Sopran. Der kam arbeitet und ihn auch fr die Zukunft engagiert hat, wird auf
aus Russland, hatte frher Fubden im Mariinski-Theater in der Rckseite des Buchumschlags mit den Worten zitiert, der
Roman erinnere ihn an die groen lateinamerikanischen
Sankt Petersburg gewienert und hie Anna Netrebko.
2005 sangen beide in La Traviata bei den Salzburger Fest- Schriftsteller wie Borges, Garca Mrquez und Vargas Llosa.
spielen, und seit diesem Triumph galten sie als ideale Gesangs- Das ist malos bertrieben. Es ist so, als hbe der Dirigent
paarung. Platten- und Filmaufnahmen folgten, Galaauftritte Hnschen klein auf die Stufe von Tristan und Isolde.
Was will uns der Autor mit seinem Roman eigentlich sagen?
auf den Pltzen und in den Parks dieser Welt, nichts schien
Villazns Held stolpert durch sein trauriges Leben, fhrt mit
diese Parallelkarrieren erschttern zu knnen.
Doch Villazn verausgabte sich, er nahm ein paar Monate einem gelben Kleinwagen und zwei Kumpels zu KindergeburtsPause vom Opernbetrieb, kam zurck, sang wieder ein paar tagen, auf denen die Clowns den Affen machen, spielt Schach
Monate, pausierte wieder. Mit einem solch unsicheren Kanto- und leidet an sich und an der Welt. Gelegentlich fhrt er phinisten lie sich nicht mehr richtig rechnen. Die Arbeitsgemein- losophische Gesprche mit seinem Freund Claudio, der Zitate
von Platon, Kant und Wittgenstein in die schleppende Konverschaft mit Anna Netrebko zerbrselte.
Die groe Krise des Rolando Villazn kam im April 2009. sation streut wie Pizzabcker den Kse ber die Teigfladen.
Und immer wieder greift Macolieta zu seinem kleinen blauen
Da musste er bekannt geben, dass eine Zyste auf den StimmBuch und schreibt die Geschichte seines Alter Ego Balancn
bndern ihn zum temporren Rckzug
weiter. Schon gleich zu Beginn lsst er die dramaturgische Katzwang. Alle Versuche, an die alte Form Rolando Villazn
ze aus dem Sack: Er ist sich sicher, heit es ber Macolieta,
und an den alten Erfolg anzuknpfen, Kunststcke
nicht in seiner eigenen Haut zu stecken, fremde Trume gescheiterten. Ein Jammer.
Aus dem Spanischen
trumt zu haben und in einem Zimmer aufzuwachen, das die
Der Name des Sngers hat inzwischen von Willi Zurbrggen.
mehr Strahlkraft als seine Stimme. Un- Rowohlt Verlag, Reinbek; Erinnerungen eines anderen birgt, in dem die Minuten eines
Lebens dahinkriechen, das nicht das seine ist.
lngst sang Villazn den Belmonte in Mo- 276 Seiten; 19,95 Euro.
zarts Entfhrung aus dem Serail in BaFrh keimt im Leser ein hsslicher Verdacht: Knnte es sein,
den-Baden. Die Presse schrieb von Fehlfragt er sich, dass Villazn es darauf angelegt hat, uns zu zeigen,
besetzung, die Frankfurter Allgemeine
dass Erfolg und Misserfolg ganz nah beieinanderliegen, zwei SeiZeitung verklausulierte ihr Urteil wenig
ten derselben Medaille sind, dass Macolieta und Balancn mglielegant: Der Tenor brauche einen guten
cherweise zueinander gehren wie Sonne und Mond, Wasser und
Freund, der ihm rate, mit dem Singen
Feuer, Mann und Frau? Und wer die rund 270 Seiten berstanden
aufzuhren. Dem Publikum hat die Darhat, wird mit der Erkenntnis belohnt: Ja, so war es wohl gemeint.
bietung in Baden-Baden brigens gefalMan wird sich wieder auf viele schne Talkshow-Auftritte
len, der Mexikaner bekam Ovationen.
von Rolando Villazn freuen drfen. Man wird ihn lebhaft gesSeinen Roman Kunststcke knnte
tikulierend sein Buch anpreisen sehen. Warum auch nicht?
man als Aufarbeitung all des Elends lesen.
Aber eine Erkenntnis sei vorher verraten. Rolando Villazn
Vor einem Jahr kam er im spanischen
kann immer noch besser singen als schreiben.
Original heraus. Der groe Pianist und
Joachim Kronsbein
DER SPIEGEL 34/ 2014
127
Medien
Unterhaltung
Es ist anstrengend,
man schwitzt
Ralf Reichert,
39, Chef der
Electronic Sports
League, ber
Zocken als
Leistungssport
FOTOS: KAI MICHAEL KIENZLE / ESL (L.); NDR / DPA (R.)
SPIEGEL: Sie veranstalten
Computerspiel-Turniere,
krzlich haben Sie das
Frankfurter Stadion mit
Spielefans gefllt. Sind Sie
der Bernie Ecclestone der
Gaming-Branche?
Reichert: Die Grundidee,
einen weltweiten Turnierzirkus aufzubauen, ist der Formel 1 tatschlich sehr hnlich. Wir organisieren die
Wettkmpfe und verdienen
unter anderem am Verkauf
von Tickets, Rechten und mit
Werbeeinnahmen.
SPIEGEL: In Sdkorea werden
Computerspiel-Turniere im
Fernsehen bertragen.
Warum nicht in Deutschland?
Reichert: Die Diskussion um
Computerspiele und Gewalt
hat die Entwicklung des
Unterhaltungsformats behindert. Ego-Shooter wie
Counter-Strike sind in
Deutschland erst ab 16 Jahren freigegeben. Das ist ein
konomischer Nachteil. Allein die Logistik auf Messen
wie der Gamescom ist dadurch viel komplizierter.
SPIEGEL: Ist Computerspielen
berhaupt Sport?
Reichert: Es ist natrlich nicht
so physisch wie Fuball, aber
athletischer als Schach. Gute
Gamer bettigen pro Minute
200- bis 400-mal Maus und
Tastatur. Gleichzeitig mssen sie Informationen verarbeiten und Entscheidungen
treffen. Das ist anstrengend,
man schwitzt.
SPIEGEL: Wer sich von Pizza
ernhrt, wird es also kaum in
die Weltspitze schaffen?
Reichert: Noch kann er es,
aber die Sportart professionalisiert sich immer
mehr hnlich wie der Fuball innerhalb der letzten
Jahrzehnte. Dort htte ein
pummeliger Diego Maradona heute keine Chance
mehr. akn
Miosga
ARD
Miosga will mehr
Es war nur eine Geste, die TagesthemenModeratorin Caren Miosga diese Woche
selbst zur Nachricht machte: Als Hommage
an den verstorbenen US-Komiker Robin
Williams stellte sie sich auf den Moderationstisch in Anlehnung an den Williams-Film
Club der toten Dichter. Dass Miosga mehr
kann und mehr will, als es die Tagesthemen normalerweise zulassen, wissen auch
die ARD-Intendanten. Einige von ihnen wnschen sich schon lnger, dass Miosga als journalistische Marke im Programm prsenter
wird hnlich wie es das ZDF mit heute-
Netzwirtschaft
Amazon
auf den Fersen
Es schien so, als habe Amazon alle abgehngt. Nicht
beim Onlinehandel mit
Bchern, sondern beim boomenden Milliardengeschft
mit Cloud-Computing. Dabei
werden in riesigen ServerFarmen Daten verarbeitet
und gespeichert; die Nutzer
zum Teil Konzerne oder
sogar Behrden sitzen
manchmal Tausende Kilometer entfernt und sind ber
eine Datenleitung damit ver-
journal-Moderatorin Marietta Slomka vormacht. Die Gelegenheit dazu gbe es. Schon
vor Monaten entwickelte Miosga gemeinsam
mit der Produktionsfirma von Frank Plasberg das Filmformat Die Inlandskorrespondentin. Einen Pilotfilm fanden mehrere
ARD-Entscheider zwar gut einen Sendeplatz boten sie Miosga jedoch nicht an, was
auch daran liegt, dass mgliche Programmpltze bereits mit der neuen Reportagesendung von Reinhold Beckmann verplant sind.
NDR-Boss Lutz Marmor frdert das Format
der NDR-Frau jedenfalls nicht. Derzeit
habe man kein Interesse, teilt der Sender mit.
Das Miosga-Projekt werde damit wohl
versanden, heit es in ARD-Kreisen. bra
bunden. Zwar beherrscht
Amazon dieses Geschft und
machte damit im vergangenen Quartal laut einem Bericht der Synergy Research
Group fast eine Milliarde
Dollar Umsatz. Doch Microsoft holt auf, seine CloudSparte wuchs im Vergleich
zum Vorjahresquartal um 164
Prozent auf 370 Millionen
Dollar, IBM erwirtschaftete
259 Millionen Dollar, ein
Wachstum von 86 Prozent.
Auch aus China droht Amazon Konkurrenz: Der dort
ansssige Onlinegrohndler
Alibaba hat ebenfalls das Ge-
schft entdeckt. 2013 verdiente er 102 Millionen Dollar mit seinem Cloud- und
Infrastrukturgeschft. mum
Cloud-Anbieter
zweites Quartal 2014
Umsatz mit CloudDiensten in Mio. $
Vernderung
zum Vorjahr
Amazon
962
+ 49 %
Microsoft
370
+ 164%
IBM
259
+86 %
Salesforce
203
+ 38 %
Google
169
+ 47 %
Quelle: Synergy Research Group
DER SPIEGEL 34 / 2014
129
Medien
Wrstchen an der Macht
TV-Filme US-Serien zeigen Politik als episches Drama. Im deutschen Fernsehen taugen
die Regierenden meist nur zur Klamotte wie jetzt bei Veronica Ferres als Kanzlerin.
ieser Frau wrde man nicht einmal
einen Kaktus zur Pflege anvertrauen, dennoch trgt sie Sorge fr ein
ganzes Land. Wie sie an dessen Spitze gelangen konnte, ist ein Rtsel. Offenbar
auch fr sie selbst.
Wenn Bundeskanzlerin Anna Bremer
ber ihr Amt spricht, klingt das wie die
Erklrung einer Dreijhrigen: Mein Beruf
ist vielleicht etwas ungewhnlich, zumindest gibt es ihn im ganzen Land nur einmal.
Was in der Welt los ist, erfhrt Kanzlerin
Bremer nicht etwa dank diplomatischer
Beziehungen, sondern aus den Sat.1-Nachrichten. Erschreckt sie etwas, fllt ihr schon
mal die Kaffeetasse aus der Hand. Ihr politisches Handeln besteht darin, im Gehen
Briefe und Akten abzuzeichnen oder mar130
DER SPIEGEL 34 / 2014
kige Stze zu sagen wie: Wir ziehen die
Energiewende durch. Jetzt.
Die meiste Zeit jedoch zieht Kanzlerin
Bremer gar nichts durch, sondern verluft
sich auf der Suche nach sich selbst. Ihr Ziel
ist es, Beruf und Privates zu vereinen.
Doch privat ist da nichts. Schon gar kein
Mann. Als endlich einer aufkreuzt, ist der
natrlich nicht irgendwer, sondern der
franzsische Prsident, ein Schnling mit
Pierre-Brice-Akzent, wodurch die TV-Komdie Die Staatsaffre vollends zur Klamotte wird. In der Hauptrolle: Veronica
Ferres, die Trnendrse der Nation. Zu sehen im September auf Sat.1.
Man knnte ber dieses peinliche Stckchen Fernsehkunst diskret hinwegsehen,
wre es nicht so symptomatisch fr die
Art, wie in deutschen TV-Filmen und Seri-
en Macht dargestellt wird. Wie das hiesige
Fernsehen sich gern um die Herausforderung herummogelt, etwas Substanzielles
zur Gegenwart zu sagen. Und wie es erzhlerisch kapituliert.
Im amerikanischen Fernsehen drfen
die fiktiven Prsidenten Schurken und Helden sein, echte Heilige und wahre Teufel
nur eines nicht: harmlos.
Kevin Spacey spielt seinen Frank Underwood in der Serie House of Cards
als neomachiavellistisches Genie. Martin
Sheen gab in West Wing seinen Josiah
Bartlet als Ikone der Gerechtigkeit. Die
verschiedenen Prsidenten in den acht
Staffeln von 24 waren beides: mal kluge
Retter der Nation wie Dennis Haysbert;
mal Irre, die mit dem Leben von Millionen
spielten.
FOTO S. 130: STEFAN ERHARD / SAT 1; S. 131: PHOTO PRESS SERVICE (O.L.); CINELIZ/ALLPIX/LAIF (O.M.); GETTY IMAGES (O.R.)
Szene aus Die Staatsaffre mit Schauspielerin Ferres als Kanzlerin Bremer
Haysbert (r.) in 24
FOTOS S. 131: ZDF (U.L.); OLAF WAGNER / IMAGO (U.M.); BRITTA KREHL / MARAN FILM / SWR (U.R.)
Behrendt in Kanzleramt
Deutsches Fernsehen dagegen zeigt
Kanzler und Kanzlerinnen, ja Politiker allgemein, als arme Wrstchen. Bestenfalls
handelt es sich um ein Wrstchen in Dauererektion, so hatte der Schauspieler Matthias Brandt seinen weibstollen Bundesprsidentenanwrter neulich im ARD-Film
Mnnertreu angelegt. Meist aber werden
ahnungslose und blasse Gestalten prsentiert, die beim Zuschauer nicht einmal rger hervorrufen.
An den Darstellern allein liegt es sicher
nicht. Denn egal, ob nun Manfred Zapatka
im ARD-Drama Spiele der Macht (2005)
den Regierungschef gab, Robert Atzorn in
der ARD-Schmonzette Kss mich, Kanzler(2004) oder Klaus J. Behrendt in der
ZDF-Serie Kanzleramt (2005). Ob 2007
Iris Berben die Kanzlerin spielte im Sat.1Film Frhstck mit einer Unbekannten
oder nun eben Ferres: Das Ergebnis ist
stets dasselbe.
All diese Produktionen bleiben bei der
Hlfte ihrer Mglichkeiten stecken. Entweder imitieren sie die Realitt im Setzkastenformat, wie im ZDF-Kanzleramt,
in dem Behrendt das jovial-kumpelige Auftreten von Gerhard Schrder imitierte, allerdings ohne dessen unbndige Lust auf
Spacey in House of Cards
Sheen (r.) in West Wing
Berben (l.) in Frhstck mit einer Unbekannten
Atzorn in Kss mich, Kanzler
Macht. Oder sie unterbinden jegliche Fallhhe, indem sie die Rume der Macht als
Kulisse fr eine handelsbliche Komdie
missbrauchen.
Gutes Fernsehen erzhlt immer auch
von seinem Publikum, es berhrt seine
Emotionen, wei von seinen ngsten und
Sehnschten. Gutes Fernsehen, das von
Politik handelt, wsste eben auch davon
zu erzhlen, wie wir Deutschen uns die
Macht und die Mchtigen wnschen oder
was wir an ihr und an ihnen frchten. Die
deutschen Filme wagen sich nicht einmal
in die Nhe dieser Fragen.
Das hat viel zu tun mit der Krperlichkeit der Macht. Man muss sich nur ansehen, wie in den amerikanischen Produktionen die Kamera an den Prsidenten heranfhrt, wie sie ihn nicht einfach nur im
Oval Office, im rumlichen Zentrum der
Macht, herumstehen lsst, sondern ihn
selbst, seinen Krper, als eigentliches Zentrum der Macht anblickt. Wenn sich Kevin
Spacey als Frank Underwood am Ende der
zweiten Staffel von House of Cards hinter dem Schreibtisch aufrichtet, erhebt sich
in ihm die gesamte Staatsgewalt.
Dieses Fernsehbild des 21. Jahrhunderts
ist wie ein Nachhall der Theorie von den
zwei Krpern des mittelalterlichen Knigs,
wie sie der deutsche Historiker Ernst Kantorowicz beschrieben hat. Der Herrscher
ist demnach einerseits sterblicher Mensch
wie alle, zugleich aber in seinem Amt auch
die konkrete, anfassbare Verkrperung des
Staates.
Auch im demokratischen Staat ist diese
Spannung zwischen Funktion und Person
der Ursprung aller Dramen. Der Mchtige,
der sich selbst mit der Macht verwechselt,
ihr nicht gewachsen ist oder von ihr nicht
lassen kann, weil er ohne sie ein Niemand
ist.
Im US-Fernsehen ist diese Spannung
sprbar. Im deutschen Fernsehen ist sie
nicht einmal zu erahnen. brig bleibt nur
der sterbliche Teil des Mchtigen, der private, kleine, potenziell peinliche.
Das ist sogar dort so, wo aus realen Ereignissen Spielfilme destilliert werden.
Etwa in den Sat.1-Produktionen ber KarlTheodor zu Guttenberg und Christian
Wulff aus den vergangenen Jahren. Es sind
zwei Verlierergeschichten, aber auch zwei
Geschichten von Mnnern, die in ihren
mtern sich selbst verlieren.
Wie Christian Wulff frstelnd mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch den
DER SPIEGEL 34 / 2014
131
Szene aus dnischer TV-Serie Borgen: Sehnsucht des Publikums nach einer anderen Art der Politik
Die Entfhrung Hanns Martin Schleyers
und der Lufthansa-Maschine Landshut,
die Erpressung des Staats durch die RAF
das waren Stoffe fr Heinrich Breloers Drama Todesspiel oder den ARD-Thriller
Mogadischu.
In Filmen wie Deutschlandspiel durfte
Helmut Kohl im Ringen um die deutsche
Einheit weltmnnische Cleverness zeigen.
Doch wenn es um die Gegenwart geht,
ringen Kanzler im Abendprogramm um
nichts. Auer vielleicht um ihre Ehe oder
die Vertuschung einer Affre.
In den US-Politikserien wird in der Figur
des Prsidenten stets die Frage mitverhandelt, wie sich Amerika selbst in der Welt
sehen mchte. Meist lautet die Antwort:
als starker Retter.
Die deutsche Antwort auf diese Frage
war lange: Niemand soll mehr Angst vor
Deutschland haben.
Und vielleicht zieht sich das deutsche
Fernsehen immer wieder auf diese schmalbrstigen Kanzlerfiguren und lebensuntchtigen Kanzlerinnen zurck, weil es
Deutschland vor allem als ungefhrlich zeigen will.
Politisch mag das sympathisch sein,
doch es ist dramaturgisch de und wahrscheinlich ist dieses Selbstbild nicht einmal
mehr ehrlich.
In Wahrheit ist die Frage nach der Macht
der Deutschen gerade eine der spannendsten. Die konomische Dominanz der Deutschen empfinden etwa die Lnder Sdeuropas schon lnger als bedrohlich. Eine
Kanzlerin, die als mchtigste Frau des
Planeten gilt und mit dem russischen Prsidenten auf Konfrontationskurs geht, ist
Das wird einfach, aber intelligent erPark stakst und mit einer PR-Beraterin
ber seine Zukunft rsoniert, die lngst zhlt. Nyborg gewinnt eine Wahl, weil sie
Vergangenheit ist; wie Guttenberg, im Film im entscheidenden TV-Schlagabtausch die
heit er Donnersberg, am Frhstckstisch vorbereiteten Texte ihres PR-Strategen vervon einer Freundin Margarine ins Haar ge- wirft und eine ehrliche Rede hlt. Und
schmiert bekommt und so zu seiner typi- Borgen bleibt nicht beim Mrchen, es
schen Frisur kommt das ist die Vorfh- wird zum Drama von Ideal und Wirklichkeit in der Politik.
rung des Politikers als Flitzpiepe.
In den deutschen Tralala-Filmen la
Natrlich haben es amerikanische Produzenten einfacher. Das Amt des US- Die Staatsaffre oder Kss mich, KanzPrsidenten ist eine verschwenderische In- ler sind am Ende immer alle verliebt, alle
szenierung, sie wird aufgefhrt in herr- glcklich, haben fr alles Verstndnis. Die
schaftlichen Kulissen: im Oval Office, in Kanzlerin bekommt den franzsischen Prder Prsidentenmaschine Air Force One,
im Situation Room als Ort der verschlsselten Kommunikation, im Sommersitz
Camp David. Das Bild der deutschen Macht
besteht fast nur aus Pressekonferenzen im sidenten, der Kanzler seine kasachische alles andere als harmlos. Und der Einsatz
Putzfrau. Nur die Politik ist ihnen seltsam deutscher Soldaten in Kriegsgebieten ist
Kanzleramt. Der Rest ist Talkshow.
jedenfalls kein Tabu mehr.
Doch die deutschen TV-Filme bemhen schnurz.
Das alles wre genug Stoff fr eine pralIn Borgen verndert die Macht dagesich nicht, die Strukturen hinter der Inszenierung erzhlerisch ernst zu nehmen. Da- gen alles. Die Ehe der Politikerin zerschellt le Politserie, die das Verhltnis der Deutbei funktionieren politische Serien nicht an der Realitt des Amtes. Selbst fr die schen zur Macht neu auslotet. Ein Stoff,
nur, wenn sie von einer Weltmacht handeln idealistisch gestartete Nyborg geht es ir- nach dem Fernsehmacher geradezu schtig
sein mssten. Und was macht das deutsche
und die Hauptperson Flugzeugtrger ver- gendwann nur noch um die Macht.
Zwar kennt auch die amerikanische Kul- Fernsehen?
schieben kann anstatt nur BeitragsbemesDer NDR arbeitet gerade an dem Film
sungsgrenzen. Dnemark hat mit Borgen tur das Genre der Prsidenten-Schmonzeteine exzellente Politikserie hervorgebracht. te, wie Dave oder Hello, Mr. Presi- Die Eisluferin, der im kommenden Jahr
Und der dnische Regierungschef befehligt dent, doch stehen ihnen viele Filme ent- ausgestrahlt werden soll. Iris Berben spielt
gegen, die weit darber hinauswachsen. darin zum zweiten Mal eine deutsche Rekeine Arsenale von Atomraketen.
Doch Borgen nimmt die Macht ernst, Deutsche Fernsehfiktionen ber die Macht gierungschefin. Der auf einem Roman baes zeigt die Spannung zwischen Privatper- dagegen werden ausnahmslos nach dem sierenden Komdie gelingt das Kunststck,
eine Staatsfrau zu zeichnen, die den geisson und Amt. Die Hauptperson Birgitte Wrstchen-Prinzip gebaut.
Mit das Frappierendste ist, dass die deut- tigen Zustand der Ferres-Kanzlerin von
Nyborg ist ein glaubwrdiger politischer
Charakter, der sich auf dem Weg zur schen Fernsehmacher regelmig bewei- Sat.1 noch dramatisch unterschreitet.
Schuld ist ein Bahnhofsschild, das der
Macht und durch die Macht verndert. Das sen, dass sie den filmischen Umgang mit
eigentliche Wagnis aber ist, dass die Ge- den Dramaturgien der Macht beherr- Kanzlerin im Urlaub auf den Kopf fllt,
schichte als politisches Mrchen beginnt. schen wenn es ein wenig historischen woraufhin sie ihr Gedchtnis verliert. Von
da an mssen ihre Vertrauten ihr tglich
Als eines, das die Sehnschte des Publi- Abstand gibt.
Da darf ein Kanzler Schmidt dann auch neu erklren, was eigentlich ihr Job ist.
kums nach einer anderen Art des Politikin deutschen Fernsehfilmen Strke zeigen.
geschfts berhrt.
Markus Brauck, Alexander Khn
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DER SPIEGEL 34 / 2014
FOTO: ARTE
Es gbe Stoff genug fr eine pralle Politserie, die das
Verhltnis der Deutschen zur Macht neu auslotet.
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Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Ursula
Junger, Sylke Kruse, Maika Kunze, Stefan
Moos, Reimer Nagel, Manfred Petersen,
Fred Schlotterbeck, Sebastian Schulin,
Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels
P RO D U KT I O N Solveig Binroth, Christiane
Stauder, Petra Thormann; Christel Basilon,
Petra Gronau, Martina Treumann
BILDREDAKTION Michaela Herold (Ltg.),
Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt;
Sabine Dttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein,
Elisabeth Kolb, Matthias Krug, Parvin
Nazemi, Peer Peters, Karin Weinberg,
Anke Wellnitz
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Tel. +1 212 3075948
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Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Kristian Heuer,
Nils Kppers, Sebastian Raulf, Barbara
Rdiger, Doris Wilhelm
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Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg
Besondere Aufgaben: Stefan Kiefer
REDAKTIONSVERTRE TUNGEN
DEUTSCHL AND
BERLIN Pariser Platz 4a, 10117 Berlin;
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886688-100, Fax 886688-111; Deutschland,
Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft
Tel. (030) 886688-200, Fax 886688-222
DRESDEN Steffen Winter, Wallgchen 4,
01097 Dresden, Tel. (0351) 26620-0,
Fax 26620-20
DSSELDORF Frank Dohmen, Barbara
Schmid, Fidelius Schmid, Benrather Strae
8, 40213 Dsseldorf, Tel. (0211) 86679-01,
Fax 86679-11
FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch,
Martin Hesse, Simone Salden, Anne Seith,
An der Welle 5, 60322 Frankfurt am Main,
Tel. (069) 9712680, Fax 97126820
KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstrae
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134
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GERHARD RUPPRECHT, 65
Fast sein ganzes Berufsleben
verbrachte der gebrtige
Nrnberger beim grten
deutschen Versicherungskonzern Allianz. 1979 heuerte
Rupprecht bei der Allianz Lebensversicherung in Stuttgart
an, 1991 bernahm er dort
den Vorstandsvorsitz, den er
15 Jahre lang innehatte. Mithilfe des leidenschaftlichen
Versicherungsmathematikers
schaffte es die Allianz Leben,
ohne grere Probleme auch
LAUREN BACALL, 89
Sie wirkte wie das Inbild der modernen Frau, selbstbewusst, cool und unglaublich schnell im Kopf. Dass sie ihre
Schnheit lssig berspielte, machte sie umso betrender.
Sie war die ideale Partnerin fr Humphrey Bogart, mit
dem sie in vier Filmen spielte und den sie 1945 heiratete.
Bacall war erst 19, als sie die Hemingway-Adaption Haben und Nichthaben drehten, Bogart mehr als doppelt so
alt. Und doch wirkte sie schon damals wie eine Frau, der
nichts Mnnliches fremd ist. Ein Mdchen schien sie nie gewesen zu sein. Die Dialoge zwischen Bacall und Bogart
wurden zu den schnsten Duetten und Duellen der Kinogeschichte. Bacall war eine Gromeisterin des Hintersinns,
nie wirkte Ironie auf der Leinwand so sexy wie bei ihr. In
den Fnfzigerjahren, in einem Hollywood, das die Frauen
wieder zurck an den Herd schickte, schien sie ein wenig
deplatziert. Bacall kommentierte dies in dem Film Wie angelt man sich einen Millionr? (1953), in dem sie sich ber
eine ebenso schlichte wie heiratswtige Blondine (Marilyn
Monroe) lustig macht. Spter bernahm Bacall immer wieder Gastrollen, so auch in Lars von Triers Gangsterepos
Dogville (2003). Jeder Satz, den sie mit ihrer unverkennbaren Whiskey-Stimme sprach, war das reine Vergngen.
Lauren Bacall starb am 12. August in New York. lob
GNTER JUNGHANS, 73
Alle haben sich totgelacht, erinnerte sich der gelernte Schlosser aus Leipzig spter, als er in
schnstem Schsisch bei der Aufnahmeprfung zur Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg etwas Klassisches vorsprach. Aber
Junghans wurde angenommen
und zu einem der beliebtesten
Schauspieler in Ostdeutschland.
Die klassischen Helden waren
nie das Fach des bodenstndigen Knstlers, dessen Witz
eher von der Strae kam: An der Berliner Volksbhne gab
er mehr als 20 Jahre lang unter Regisseuren wie Fritz
Marquardt, Benno Besson und Matthias Langhoff die
Zwielichtigen und Bsen, den Jago in Othello oder den
Franz Moor in Schillers Rubern. Rund 150 Kino- und
TV-Auftritte zhlte Junghans whrend seiner Karriere.
Mehrmals war er in Krimireihen wie Polizeiruf 110 oder
Tatort zu sehen. Im September sollte der Schauspieler
wieder als Generaloberst Koweitz, den er in der ARDSerie Weissensee gab, vor der Kamera stehen. Gnter
Junghans starb am 10. August in der Nhe von Berlin. kle
durch schwierige wirtschaftliche Zeiten zu kommen. 2006
bernahm Rupprecht die
komplizierte Aufgabe, als
Deutschland-Chef des Konzerns eine Radikalkur zu verantworten, in deren Verlauf
mehrere Tausend Arbeitspltze abgebaut wurden. 2011
ging er in den Ruhestand. Gerhard Rupprecht verunglckte
am 8. August auf einer Bergtour in Vorarlberg. kle
RAYMOND BERTHILLON, 90
Ein Besuch in seinem Eissalon
steht auf dem Plan vieler Touristen in Paris. 1954 hatte der
Bckersohn das Caf seiner
Schwiegermutter in ein Eisgeschft umgewandelt. Bereits
sieben Jahre spter wurde es
von den Gastrokritikern Henri Gault und Christian Millau
als erstaunlicher Eisladen,
versteckt in einem Bistro auf
der Ile Saint-Louis, gelobt.
Mittlerweile wird Berthillon
zu den besten Eisherstellern
der Welt gezhlt. Nur mit
Qualittszutaten mache er
sein Eis, mit Vollmilch, Eiern, Crme frache, so warb
er dafr. Zu den Favoriten unter den 70 Sorten gehrt das
Walderdbeersorbet. Der
Laden und die Eisproduktion
werden von der Familie weitergefhrt. Raymond Berthillon starb am 9. August. kle
MENAHEM GOLAN, 85
Hollywood blickte auf den
israelischen Produzenten zunchst herab wie auf einen
Emporkmmling mit zweifelhafter Herkunft und dubiosen
Absichten um ihn dann mit
wachsendem Neid genau zu
beobachten. Der frhere
Kampfpilot Golan und sein
Partner Yoram Globus wurden mit den Sexfilmchen der
Eis am Stil-Reihe reich und
drehten mit Kampfsportstars
wie Jean-Claude Van Damme
oder Chuck Norris ebenso
wste wie eintrgliche Actionkracher. Mit ihrer Firma
Cannon kauften sie in Europa
Kinoketten auf, laut und
knallig sollten ihre Filme sein.
Die beiden drehten Spektakel
wie Missing in Action, in
denen alles erlaubt war, was
Mnnern Spa macht, aber
auch nur das. Als sie auf die
Idee kamen, intellektuelle
Regisseure wie Jean-Luc
Godard anzuheuern, ging es
mit Cannon bergab. Menahem Golan starb am 8. August in Jaffa. lob
FRANS BRGGEN, 79
Schon als Kind faszinierte ihn
das Spiel mit der Blockflte;
im Alter von 21 war er bereits
Professor am Konservatorium
von Den Haag. Seine Liebe
zur Flte fhrte dazu, dass er
sie als Konzertinstrument
wieder salonfhig machte.
Brggen war einer der Pioniere der historischen Auffhrungspraxis, gab aber auch
Auftrge an Avantgardekomponisten. In den Achtzigerjahren startete der Starfltist,
der viele Musiker geprgt hat,
eine neue Karriere als Dirigent und grndete das Orchester des 18. Jahrhunderts.
Frans Brggen starb am
13. August in Amsterdam. kle
DER SPIEGEL 34 / 2014
135
Personalien
Bestrzend amsant
Er zieht Glitzerkleider und Damenunterwsche an, trgt
Nudeln auf dem Kopf oder simuliert mit Obst und Gemse
weibliche Brste: Liam Martin (2, 4) aus Auckland in Neuseeland stellt Fotos von Popstars wie Taylor Swift (1) und Nicki
Minaj (3) nach. Der 17-Jhrige lsst sich dabei oft von sei-
ner Mutter fotografieren und postet die mit Photoshop
bearbeiteten Bilder zusammen mit den Vorlagen auf
Instagram. Liams Mutter Karen sagt, sie sei manchmal
bestrzt ber seine Ideen, aber auch immer wieder beeindruckt von den Ergebnissen. Inzwischen hat Liam mehr
als 1,6 Millionen Follower auf Instagram. ks
Bse Gre
Ein Mdchen fr Kim
Anlsslich seines 53. Geburtstags vor zwei Wochen portrtierten
selbst ernannte russische Kunstaktivisten den amerikanischen
Prsidenten Barack Obama mit albernem Htchen, Banane essend. Mit grnem Laser projizierten sie die rassistische Karikatur ausgerechnet an die Fassade der ehemaligen US-Botschaft
in Moskau. Mit dieser antiamerikanischen Rhetorik drckt die
Knstlergruppe die Gefhle einer Bevlkerungsmehrheit von
74 Prozent aus. Seit die Krise in der Ukraine eskaliert, verschlechtert sich das Ansehen der USA kontinuierlich. red
Ihr gelang, wovon westliche Journalisten trumen: Mariana
Naumowa, 15, russische Gewichtheberin, durfte nach Nord-
Barbra Streisand, 72, amerikanische Sngerin, holt
nach, was sie schon 1976 tun wollte: Sie singt im
Duett mit Elvis Presley. Damals fragte sie den King of
RocknRoll, ob er in ihrem Musical-Film A Star Is Born
mitmachen wolle, doch dazu kam es nicht. Jetzt lie
sie mithilfe digitaler Technik und dem Einverstndnis
von Elvis' Nachlassverwaltung Aufnahmen der Stimme des 1977 verstorbenen Musikers mit ihrem Gesang
mischen; als Ergebnis ist nun ihre neue Platte Partners erschienen, auf der Streisand auch mit Stevie
Wonder oder Andrea Bocelli zu hren ist. ks
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DER SPIEGEL 34 / 2014
korea reisen. In einem Brief an den Diktator Kim Jong Un bat
sie darum, Nordkorea besuchen zu drfen, um junge Sportler
zu treffen und mehr ber das Land zu erfahren. Sie wollte
einmal dorthin reisen, wo
noch keiner meiner Freunde
war, sagte Naumowa, auch
bekannt als strkstes Mdchen der Welt, der Moscow
Times. Nach zwei Wochen
kam die Antwort; das nordkoreanische Sportministerium
lud sie ein und bernahm alle
Kosten. Fr Nordkorea, eines
der rmsten Lnder der Welt,
hat sich die PR-Manahme
gelohnt. Kaum zurck in
Moskau, berichtete Naumowa: Ich habe Kinder Eis
kaufen sehen. Leute tun das
nicht, wenn sie arm sind. red
Julien Bocher, 39, franzsischer Schauspieler, hat den
wohl ersten Radiosender fr Babys gegrndet. Vor fnf
Monaten schaltete der dreifache Vater Radio Doudou
im Internet frei, heute hat er um die 50 000 Zuhrer.
Radio Doudou richtet sich an unter Dreijhrige und ihre
Eltern, kann auch ber die gleichnamige App empfangen werden und sendet ausschlielich Musik. Investiert hat Bocher bisher 15 000 Euro, er hofft in einem
Jahr eine schwarze Null zu schreiben. Die App kostet
jetzt 1,79 Euro, und auf der Website wird Werbung fr
alles rund ums Baby geschaltet. ks
FOTOS: MARJANA NAUMOWA FR MT (M.R.); INTERTOPICS (L.U.); PHOTOGRAPHERONLINE.FR (R.U.)
FOTOS: CHRISTOPHE MOURTH / BUREAU233 (O.); GAUTAM SINGH / AP (L.U.); FUTURE IMAGE / IMAGO (R.U.)
Madame mag
keinen Sex
Madame Claude war im Paris
der Sechzigerjahre eine feste
Gre, ihr Bordell im 16. Arrondissement eine Institution.
Dass zu den Kunden der
heute 91 Jahre alten Fernande
Grudet berhmte, reiche, auch
mchtige Mnner gehrten,
war bekannt, aber ber die
Namen gab es nur Gerchte.
Mitte der Achtzigerjahre traf
Madame den amerikanischen
Journalisten William Stadiem,
der ein Buch ber sie schreiben wollte. Dazu kam es
nicht. Nun berichtet Stadiem
in Vanity Fair erstmals von
den Erzhlungen Grudets.
Demnach zhlten zu ihren
Gsten Muammar al-Gaddafi,
Mosche Dajan, Marlon Brando und Rex Harrison. Auch
Marc Chagall sei Kunde gewesen und habe von den
Prostituierten Skizzen angefertigt, nachdem er ihre
Dienste in Anspruch genommen hatte. John F. Kennedy
habe nach einem Mdchen
verlangt, das seiner Ehefrau
Jackie hnlich sei, aber
hei. Auch Jackies zweiter
Mann Aristoteles Onassis
habe ihr Etablissement besucht. Er sei mit Maria Callas
aufgetaucht, und die beiden
htten Wnsche geuert, die
Madame errten lieen. Es
heit, Madame Claude habe
Sex gehasst. ks
Venkaiah Naidu, 65, Minister fr Stadtentwicklung in
Neu Delhi, beschftigt Menschen in Affenkostmen:
Sie sollen die wilden Rhesusaffen vom Parlamentsgebude fernhalten. Wie andere indische Stdte leidet
auch die Hauptstadt unter einer Affenplage. Beamte
berichten von mittglichen Essensdiebsthlen und Aktenklau, Schulkinder werden von Affenbanden terrorisiert. Die Tiere gelten als heilig; weder die organisierte
Verdrngung durch die greren Hanuman-Languren
noch der Einsatz von Affenfngern hat den Zehntausenden Tieren bisher Einhalt gebieten knnen. red
Grudet 1999
Stefan Dettl, 33, Frontmann der bayerischen Kultband
LaBrassBanda, wurde als sprachkultureller Tabubrecher vom Bund Bairische Sprache mit der Bairischen
Sprachwurzel 2014 ausgezeichnet. Dettl habe mit seinen ausschlielich in Mundart gegebenen Interviews
in allen medialen Lebenslagen der Generation Facebook in Bayern ein neues dialektales Selbstbewusstsein gegeben, so die Jury. Auerdem habe der Musiker
gegen die Schwindsucht des Bairischen mehr bewirkt als einer seiner Vorgnger, der emeritierte Papst
Benedikt XVI., Preistrger 2006. red
DER SPIEGEL 34 / 2014
137
Hohlspiegel
Aus den Badischen Neuesten
Nachrichten:
Wenn ein Hotel wissen mchte, wo
es mit der Sauberkeit oder dem
Service hapert, ruft es inkognito einen
Hoteltester zur Hilfe.
Aus dem Oberbayerischen Volksblatt
Unter der berschrift Tierschtzer
strmen Planungsbro in Brinkum aus
dem Weser-Kurier: Die Protestanten
veranstalteten daraufhin vor dem
Gelnde eine spontane Kundgebung.
Aus der B.Z. am Sonntag
Aus der Welt am Sonntag:
Ohne die FDP htten weder CDU
noch SPD eine Koalition
mit der FDP bilden knnen.
Aus dem Mindener Tageblatt
Aus der Augsburger Allgemeinen:
Gebaut wurden die Luxus-Modellautos
von Triebttern im Maregelvollzug,
angefhrt von einem Dreifachmrder,
der seinen Opfern die Geschlechtsteile
abzuschneiden pflegte. Allein
dieses Geschftsmodell empfinden
manche CSU-Politiker und die
gesamte Opposition als ungehrig.
Aus der Westflischen Rundschau
138
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Rckspiegel
Zitate
Die Deutsche Presseagentur zum SPIEGELBericht Wurm drin ber Kostenexplosionen bei Groprojekten des Bundes
(Nr. 32/2014):
Bundesbauministerin Barbara Hendricks
(SPD) kndigt mehr Personal fr die Bauverwaltungen an, um gegen steigende
Kosten bei ffentlichen Bauvorhaben
vorzugehen Hendricks will zudem die
Verantwortung am Bau strker bndeln.
Auftragnehmer sollten ihre Leistungen
zu einem greren Teil selbst erbringen,
statt sie an Subunternehmer weiterzugeben, sagte die SPD-Politikerin. Streitigkeiten drften Baustellen nicht lahmlegen und mssten schneller gelst werden etwa durch vertraglich vereinbarte
Schlichtungsstellen. DER SPIEGEL hatte in
der vergangenen Woche berichtet, dass
die grten Bauvorhaben des Bundes insgesamt rund eine Milliarde Euro mehr
kosten als geplant. Von den 40 grten
Projekten lgen nur 14 im Kostenrahmen.
Der Branchendienst Horizont ber
DEIN SPIEGEL, das Nachrichten-Magazin
fr Kinder:
Bei der SPIEGEL-Gruppe, an was denkt
man da? Als am Zeitgeschehen Interessierter sicher ans Hauptobjekt SPIEGEL
samt SPIEGEL ONLINE und SPIEGEL TV.
Als vom Mediengeschehen Faszinierter
vielleicht auch an den turnusmigen
Fhrungszoff. Als am Wirtschaftsleben
Teilhabender und Impressum-Leser mglicherweise ans MANAGER MAGAZIN, gar
an den HARVARD BUSINESS MANAGER.
Und als Kind? An DEIN SPIEGEL. Seit
fnf Jahren ist der Monatstitel auf dem
Markt und schenkt sich zum Geburtstag
einen optischen Relaunch und erstmals
eine Tablet-App. DEIN SPIEGEL versteht
sich als Nachrichten-Magazin fr Kinder
Auch Nutzwertthemen, etwa 33 Ideen
fr einen tollen Sommer, schaffen es
bisweilen aufs Cover ganz hnlich wie
beim Mutterblatt Um die monatlich 76
Seiten zu fllen, stammen etliche Texte
von dessen Schreibern, die hier in kurzen Stzen und ohne Ironie auf 80 Zeilen den Euro-Stabilittsmechanismus
ESM erklren. Was, das wei man aus
Zuschriften, auch bei manchen Eltern fr
Erhellung sorgt. Doch die meisten Zuschriften kommen von den Kindern,
rund 500 pro Heft, fast alle per E-Mail:
Beteiligungen an Umfragen und Rtseln,
Bewerbungen als Kinderreporter ein
festes Format in jedem Heft , Kommentare und Fragen zu Artikeln sowie Themenvorschlge. Das Involvement der
jungen Leser zeigt, dass DEIN SPIEGEL bei
ihnen ankommt.