Rolletschek - 2008 - Politik Der Gleichgültigkeit
Rolletschek - 2008 - Politik Der Gleichgültigkeit
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Jan Rolletschek
Inhaltsverzeichnis
Interferenzen Philosophische Dichtung sthetischer Erziehung Der sthetische Zustand Vom Schicksal der Kritik der sthetischen Erziehung Das schmelzende und das energische Schne Vernunft der Bestimmbarkeit Der dissensuelle Gemeinsinn Verwaltung im sthetischen Staat? (Exkurs) Das Ma der Gleichgltigkeit sthetische Utopie ohne Begriff Literatur
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Interferenzen Wohl nicht zuletzt die Bemhungen um das Projekt Europa haben deutschsprachigen Leser_innen in jngerer Zeit eine Anzahl von bersetzungen franzsischer Philosophie beschert. Seit einigen Jahren findet so im hiesigen Sprachraum, genauer: in linken Kunst- und Kulturzusammenhngen auch ein regelrechter Rezeptionsboom der politischen sthetik Jacques Rancires statt, und dies ganz abgesehen von Europa nicht ohne Grund. Es geht in diesen Texten letztlich, wie auch in Rancires politischer Theorie, um nicht weniger als die Aufhebung von Herrschaft und entfremdender Arbeit in Prozessen der Voraussetzung und Verifikation einer egalitren Gemeinschaft (vgl. Rancire 1994: 125). Dabei sind ob ihrer gemeinsamen Fundierung in einer transzendentalen sthetik ungefhr im Sinne Kants sthetische Kunst und Politik nicht als zwei grundstzlich geschiedene Bereiche zu verstehen, sondern als lediglich zwei unterschiedliche Ordnungen der Aufteilung des Sinnlichen bzw. derer Identifikation (Rancire 2006a: 25f; Ders. 2006c, 41; Ders. 2007: 36). Das strukturierende Paradox des sthetischen Regimes der Knste, das Rancire gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzen sieht, ist das Politischwerden der Kunst und ihre Emanzipation von den Regeln der Reprsentation ausgerechnet durch die Entdeckung eines Gemeinsinns, welcher der Sitz einer radikalen Gleichgltigkeit ist (Rancire 2006a: 39, 78, 79). Diese Gleichgltigkeit wird fortan sowohl das Besondere der Kunst sein, als auch jedes greifbare Kriterium ihrer Besonderheit gegenber den anderen Praktiken des Lebens aufheben (Rancire 2006a: 40). An den Polen dieser scheinbar paradoxen Ordnung der Identifikation von Kunst stehen, so Rancire, einerseits die modernistischen Illusionen der Autonomisierung der Knste und der Reinheit einer Kunst, die sich jedes gesellschaftlichen Engagements enthlt (Rancire 2005: 50f, Ders. 2006a: 85f) sowie andererseits das modernitaristische Projekt der Abschaffung der Kunst in ihrer Identifikation mit den Formen des Lebens, in denen sich die sinnliche Erfllung einer noch latenten Menschlichkeit des Menschen vollzieht. (Rancire 2006a: 45, auch 82ff, Ders. 2005: 123f) Dabei sind die sthetische Kunst, wie auch die marxistische Meta-Politik, die von ihr entscheidend beeinflusst wurde, allerdings nur zwei Bereiche der kollektiven Erfahrung, in denen sich diese besondere Aufgabe oder dieses besondere Schicksal der Moderne erfllt (Rancire 2006a: 43-46). Wenn eine Diskussion, die der Tragweite der politischen sthetik Rancires gerecht wird, hierzulande nur zgerlich in Gang zu kommen
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scheint, liegt dies sicher zunchst auch an dem schwierig zu gewinnenden Zugang zu seinen Texten. Jede allzu schlssige Auflsung ihrer paradoxalen Grundstruktur, die sich zwischenzeitlich einzustellen scheint, wird enttuscht. Es gibt hier keine reinen Optionen, keine absoluten Demarkationen, kein entweder oder, berhaupt kein Eigenes mehr. Rancires Darlegungen fhren in die Malosigkeit der Vermischung (Rancire 2005: 53). Weit davon entfernt, deshalb beliebig zu sein, entziehen sie sich jedweder vereindeutigenden Zurichtung, was dahingehende Versuche in ihrer philosophischen Diskussion gerade zu provozieren scheint. Wenn diese Schwierigkeiten ihrer Aneignung der Popularitt der sthetik Rancires keinen Abbruch tun, so liegt dies daran, dass eben diese Schwierigkeiten auch ihre Attraktivitt ausmachen. Rancire spricht Kunst, unter bestimmten Voraussetzungen, berzeugend politische Relevanz zu, ohne sie deshalb als Kunst aufzuheben und auch ohne sie, gerade um dieser Relevanz willen, von ihrem gesellschaftlichen Engagement oder ihrer Kritik zu isolieren (vgl. Rancire 2005a: 77).
Philosophische Dichtung sthetischer erziehung Es gibt eine Art Ursprungstext, auf den sich Rancire, in diesem Zusammenhang, immer wieder nahezu euphorisch bezieht: Schillers Briefe ber die sthetische Erziehung des Menschen. Im Zentrum von Rancires politischer sthetik und mithin auch ihrer gegenwrtig sich behauptenden Popularitt steht die Aktualisierung des sthetischen Zustands und das Paradox, das ihn kennzeichnet, das Paradox, gleichzeitig ein individuelles und ein gesellschaftliches Ideal der Menschheit zu bezeichnen (Schiller 2006: 59) sowie einen Zustand der vlligen Bestimmbarkeit (Schiller 2006: 83), der als ein solcher, mit keinem bestimmten Handeln und keiner bestimmten gesellschaftlichen Organisation vereinbar, nur als vorbergehend, als ein bergang und zwar im Falle Schillers als ein bergang zum moralischen Staat einer Herrschaft der Gesetze verstanden werden kann (Schiller 2006: 14). Verbunden mit diesem Bezug ist das bekannte Versprechen, nicht nur das ganze Gebude der sthetischen Kunst, sondern zugleich auch jenes der noch schwrigeren Lebenskunst zu begrnden (Schiller 2006: 63, vgl. Rancire 2007: 38, Ders. 2006c: 39ff). Doch der Rekurs auf einen Gemeinsinn sowie auf die Schillerschen Briefe scheint zweifelhaft. Er weckt Widerstnde, die nach der Mglichkeit einer selektiven Aneignung fragen lassen, einer Aneignung, die sich ihrer
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kollektiv-identitren oder gouvernementalen Inanspruchnahme entgegen setzen lsst. Die sthetischen Briefe sind tatschlich voll von unangenehmen Widersprchen, die zu allerlei ebenso unangenehmen Deutungen einladen. Lsst sich von diesen Widersprchen absehen, scheint es jedoch angebrachter, die paradoxe Figur, die Rancire aus Schillers Briefen gewinnt, produktiv zu entfalten, anstatt sie schlicht als kontradiktorisch ab zu tun und einer einseitigen oder diachronen Interpretation zu unterwerfen. Ich werde zunchst den sthetischen Zustand in Erinnerung rufen und einige Mglichkeiten seiner Interpretation vorfhren. Dabei wird es mir darum gehen, Rancires Aktualisierung der sthetischen Erziehung gegen ihre hiesige, wie ich meine, unaufmerksame Aufnahme zu verteidigen, um sie schlielich in ihren weitreichenden Implikationen etwas deutlicher werden zu lassen. Dies Letzte eventuell auch ber Rancires eigene Intentionen hinaus. Ich mchte also behaupten, oder die Behauptung aufrecht erhalten, dass Rancire den sthetischen Zustand als das Prinzip einer politischen Bewegung1 erweist, indem er ihn in seiner ursprnglichen Paradoxalitt zugleich als Prinzip der Auflsung von Bestimmungen und als Idealzustand gelten lsst. Dass er eine Theorie politischen Handelns zur Verfgung stellt, die heute ihre Attraktivitt beweist, womglich tatschlich one of the few consistent conceptualisations of how we are to continue to resist (iek 2004: S. 79) indem er das dissensuelle Moment gleichgltiger Gleichheit mit dem immanent-transzendenten Fluchtpunkt eines Ideals gleich-gltiger Gleichheit, also einer Aufhebung von Herrschaft und Entfremdung versieht.
Der sthetische Zustand Schiller hat in seinen sthetischen Briefen auf das Scheitern der Franzsischen Revolution mit der Konzeption einer sthetischen Erziehung reagiert, genauer, auf die durch dieses Scheitern aufgeworfene Frage nach den Bedingungen der Mglichkeit einer prinzipiell fr ntig befundenen gesellschaftlichen Wandlung, insofern diese nicht unumgnglich in neuerliche Despotie einmnden soll. Eine Veredelung des Charakters msse der Verbesserung der bloen Formen des Staates vorausgehen (Schiller 2006: 29, 33, auch 144), so die Lehre, die Schiller aus
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Bewegung, hier gemeint, als ein formales Prinzip. Vgl. zum Politikbegriff Rancires:
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dem in Regression umgeschlagenen Versuch des franzsischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen (Schiller 2006: 137) und wahre Freyheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen (Schiller 2006: 18) gezogen hat. Es sei so die These am Anfang der Briefe die Schnheit (...) durch welche man zur Freyheit wandert (Schiller 2006: 11).2 Zur Formulierung seiner politischen sthetik sttzt sich Schiller bekanntlich auf eine anthropologisierte und politisch gewendete Adaptation des Kantischen Geschmacksurteils, das hier deshalb kurz skizziert werden soll. Wie Schillers sthetischer Zustand zeichnet sich das reine Geschmacksurteil Kants durch die Aufhebung des Unterordnungsverhltnisses der Erkenntniskrfte aus. Sinnlichkeit und Verstand befinden sich bei Gelegenheit dieses Urteils im freien Spiele zweckfreier Reflexion (Kant 1974: B 29), in einer Art Schwebezustand gegenseitiger Suspension begleitet vom Gefhl eines reinen uninteressierten Wohlgefallen[s] (Kant 1974: B 6). Die Erkenntniskrfte sind am Zustandekommen des Geschmacksurteils in einem auf solche Weise harmonischen Verhltnis beteiligt, dass dieses weder auf unmittelbare Bedrfnisbefriedigung, noch auf eine begriffliche Bestimmung zielt. Das Bewusstsein unserer subjektiven Zweckmigkeit ohne ueren Zweck ist, so Kant, zugleich das Wohlgefallen (bzw. das Gefhl der Lust) selbst, wie dieses Wohlgefallen abhngig von der allgemeinen Mitteilbarkeit des betreffenden Zustands ist (Kant 1974: B 35f, B 27f). Die von uns unterstellte Mitteilbarkeit des Geschmacksurteils lsst Kant auf dessen subjektive Allgemeinheit schlieen (Kant 1974: B 18), das heit auf die Allgemeingltigkeit der Form der Urteilsfindung: des freien Spiels der Erkenntniskrfte sowie der Form des Urteils: des Gefhls der Lust oder Unlust. Geschmacksurteile haben somit ihr eigenes Apriori. Sie legen, als ein allgemeines subjektives Prinzip oder Beurteilungsvermgen, einen Gemeinsinn zu Grunde, einen allgemeinen Menschensinn (Kant 1974:
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Ihre Forderung gelte universell, sowohl fr die niedern und zahlreichern Klassen (18) wie
fr die civilisirten Klassen (19); obzwar sie mit grerem Recht von letzteren verlangt werden darf, welche nicht schon im Kampf mit der Noth viel zu sehr ermdet (32), dennoch das angenehme Blendwerk aufrecht erhalten, auf dem sie den ganzen Bau ihres Glcks gegrndet haben (33). Weil sie die Verderbni durch Maximen befestige (19), scheint Schiller eine reine Verstandeskultur, selbst die grere Gefahr fr eine verbesserte Einsicht mit sich zu bringen (33). Den Impetus zur sthetischen Erziehung auf Schillers Ochlokratietrauma zu reduzieren, wird ihr nicht gerecht (vgl. Zelle 2005a: 413f).
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B 64, 160, 263). Trotz der Unbegrifflichkeit sthetischer Urteile verstndigen wir uns nicht nur ber sie und unterstellen also ihre Mitteilbarkeit; auch Geschmacksurteile sind, so Kant weiter, zudem begleitet von der Zumutung einer Notwendigkeit , die allerdings nicht apodiktisch, sondern in der Form eines Sollens auftritt (Kant 1974: B 63). Eine blo auf die Urteilsform bezogene Allgemeinheit wrde jedoch zu keinem auf das Objekt gerichteten Anspruch auf Notwendigkeit Anlass geben. Um einen solchen Anspruch und somit die Mglichkeit der Mitteilbarkeit berhaupt erst zu begrnden, muss eine bereinstimmung des Urteils mit dem Objekt angenommen werden, die Angemessenheit der Vorstellung zur harmonischen (...) Beschftigung beider Erkenntnisvermgen (Kant 1974: B 155), die jedoch in der Art einer untergrndigen Regel nur eine idealische oder unbestimmte Norm eines Gemeinsinns suggeriert. Die Mglichkeit sich auf die Flle der richtigen Anwendung des Urteils zu einigen wofr vom materiellen Gehalt der beurteilten Gegenstnde zugunsten ihrer Form abzusehen sei birgt, fr Kant, das Versprechen einer zuknftigen Einhelligkeit der Sinnesart (Kant 1974: B 67f). Schiller setzt entsprechend dem Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand, doch konsequenter als Kant, zwei entgegengesetzte, aber interdependente Prinzipien an. Auf der einen Seite einen Stofftrieb, der fr die Forderungen der Materie, fr Realitt und den Wechsel der Zustnde steht (Schiller 2006: 52, 46f), auf der anderen den Formtrieb, der das absolute Prinzip des moralischen Gesetzes und folglich die Person vertritt (Schiller 2006: 48, 51). Beide Prinzipien machen ihren Anspruch auf den Menschen geltend (Schiller 2006: 46). Unter den Bedingungen extremer Arbeitsteiligkeit, zwischen Feudalabsolutismus und Manufakturkapitalismus, konstatiert Schiller ihre Vereinseitigung und daher Dominanz, eines ber das andere, in den Einzelnen und so in der Gesellschaft. Er sieht ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entwickeln, whrend die anderen verkmmern. Die vereinzelten Einzelnen fnden sich nun, hnlich einem kunstreichen Uhrwerke, zusammengestckelt zu einem Ganzen (Schiller 2006: 22f). Nur wenn das Gleichgewicht in den Individuen wiederhergestellt und der Zwang, dem der jeweilige Mensch ausgesetzt ist, von ihm gehoben werden kann, knne so auch der doppelte Zwang in der Gesellschaft aufgehoben und die aufgegebene Einfalt, Wahrheit und Flle, in der der Mensch als Selbstzweck respektiert wird, auf hherer Stufe wiederhergestellt werden (Schiller 2006: 30, 28). Da aber die strikte Trennung
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von Empfindungsvermgen und Verstand, Materie und Form, die ihre Vereinigung ntig macht, dieser ebenso entgegen steht, wre allein in einem mittleren Zustand, welchen Schiller den sthetischen nennen wird, in einem Zustand also transzendentaler Schnheit, die ihm gleichzeitig als die volle Menschheit gilt, eine Einheit ohne Unterordnung mglich (Schiller 2006: 70f, 81). Aus der Erfahrung dieses Zustands entsprnge der Spieltrieb, der den beiden anderen Prinzipien in ihrer Vereinzelung weil sie beide in ihm wirken entgegengesetzt wre und der deshalb den Menschen, sowohl physisch als moralisch, in Freyheit setzt (Schiller 2006: 56). Aber was ist von solchen Ankndigungen zu halten?
Vom schicksal der kritik der sthetischen erziehung Obwohl etwa Christoph Menke das Wechselverhltnis von gesellschaftlicher Herrschaft und individueller Subjektivierung treffend beschreibt, sind seine Anmerkungen zum angeblichen Schicksal sthetischer Erziehung wenig ermunternd. Doch hier geschieht nicht mehr, als dass das Paradox der sthetischen Erziehung noch einmal etwas traditioneller erzhlt wird, um diese aus begrifflichen Grnden scheitern zu lassen (Menke 2006: 61). sthetische Erziehung knne, dieser einfachen Logik zufolge, nicht politisch etwas ndern, weil, solle sie dies doch, sie erstens das sthetische, durch das oder in dem die Erziehung stattfinden soll, um seine Autonomie bringen muss und zweitens das Gleiche andersherum sie eben die Strukturen der Herrschaft voraussetzen und in Anspruch nehmen muss, gegen die sie sich richtet. (Menke 2006: 61/64) Um dieses Argument jedoch funktionieren zu lassen, muss zunchst eine bestimmte Lesart sthetischer Autonomie vorausgesetzt werden, nach der sich diese gegenber der barbarischen Staatsverfassung eben nicht autonom (bzw. indifferent) verhlt (vgl. Schiller 2006: 33), sondern prinzipiell von ihr behelligbar ist. Dazu ist es ntig, den aktiven Aspekt des sthetischen Zustands zu unterschlagen, den Rancire immer dann betont, wenn er sich am Ende seiner Texte gegen die Verabsolutierung der ethischen Erniedrigung des Denkens durch Lyotard wendet. Die falsche Gleichung lautet also wie folgt: Passivitt (der Sinnlichkeit) und Aktivitt (der Vernunft) gleich Passivitt, anstatt Autonomie sinnlicher Vernunft. Ausgehend von dem Beispiel, auf das Menke sich sttzt Posa wirft sich in Schillers Don Carlos dem Souvern zu Fen und bittet um die Gewhrung allgemeiner Redefreiheit bedeutet dies eine konsequente
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Ausweitung des Konzepts der Herrschaft auf jegliches gesellschaftliche Handeln, ob auf jene Entscheidung Posas oder das potenzielle Handeln eines Knigs, der seine Macht auf deren Rckbau verwendet. Es geht um einen logischen Einwand, keinen empirischen. Ein Beispiel wre nicht ntig gewesen, oder zumindest htte Menke nicht den Knig auftreten lassen mssen, um es zu liefern. Es ist einfach eine Einlassung, die einen minimalen Abstand zwischen den Seiten dieses Arguments gewhrt, das sich selbst zu verschlucken droht: Die Inanspruchnahme der Herrschaft, die die sthetische Erziehung preisgibt, indem sie sie realisieren will, fhrt uns zurck zur sthetischen Erziehung, die sich nicht realisieren kann, weil sie sich treu bleibt. Denn das Subjekt, so Menkes Kritik, ist im sthetischen Null-Zustand (...) kein Vollzge beginnender und verantwortender Akteur mehr. Diese aber sind unzweifelhaft ntig, um die Wechselwirkung zu erreichen, in der sich die Subjekte vervollstndigen und auch die Klassenherrschaft sich auflst. Es ist, so Menke, also die Wechselwirkung im sthetischen Zustand, die diese Wechselwirkung zugleich verhindert, weil sie die Aktivitt verhindert, die zu ihr beitrgt; kann heien, erstens, eine ihrer Seiten ausmacht oder zweitens, sie gesellschaftlich realisiert (vgl. Menke 2006: 64). Wre es auch nur, weil Christoph Menke ungenau gelesen hat, als er meinte Bestimmungslosigkeit als ein Merkmal des sthetischen Zustands festhalten zu knnen (Menke 2006: 64, vgl. Schiller 2006: 82). Die eigentmliche Rckkopplung, in die das Zeichen der Aktivitt oder des Beginns bei ihm gert, gibt uns Gelegenheit, einige ganz besondere denkmethodische und begriffliche Schwierigkeiten (Hamburger 1965: 131) der sthetischen Briefe aufzuklren. Es wird so mglich sein, die erste, unwahrscheinliche Lesart auszuschlieen, und gleichzeitig dadurch diese Ungenauigkeit und ihre Konsequenzen zu invertieren die zweite zu widerlegen, ohne direkt ihrer bestechenden Logik widersprechen zu mssen.
Das schmelzende und das energische schne Das erste Problem wird ersichtlich aus einer bestimmten Art seiner Lsung. Es ist nicht gerade exemplarisch fr die Briefe, aber es zeigt sich auch dort. Im letzten Satz schreibt Schiller, d er Mensch im sthetischen Staat hat es weder ntig, fremde Freyheit zu krnken, um die seinige zu behaupten, noch seine Wrde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen. Es ist schwierig einzusehen, wie es sich hier, in diesem doch sthe-
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tisch genannten Staat, noch um ein Gleichgewicht der Krfte handeln soll, insofern wir wie dies blicherweise getan wird annehmen, dass die Wrde, mit ihren energischen Eigenschaften, dem Kantischen Erhabenen entspricht, worin die Vernunft sich die Sinnlichkeit unterwirft, whrend die Anmut (Grazie), mit ihren schmelzenden Eigenschaften, dem Kantischen Schnen nachempfunden ist. Letztere wrde an sich schon ein Gleichgewicht bedeuten, das sich nicht wieder auf Sinnlichkeit reduzieren und mit der erhabenen Wrde parittisch vermitteln lsst. Es gibt zwei Weisen, diese begriffliche Inkonsistenz verstndlich zu machen, die beide ber den Text hinaus gehen. Zum einen ist es mglich, an den entsprechenden Stellen und also auch an dieser, Anmut tatschlich als vorrangig Sinnlichkeit konnotierend zu lesen, wofr mit Diana Schilling die Banalitt der geschichtlichen Bedingungen, konkret, die Geschlechterklischees (...) in Schillers Lyrik einstehen (Schilling 2005: 392, 396). Eine als eher sinnlich, weil weiblich, eingestufte Anmut msste dann in der Tat durch mnnlich besetzte Wrde ergnzt werden, um zur Humanittsidee zurckzukehren. Nicht nur die Bewertung des Schnen, wie Carsten Zelle es uns sagt, sondern vor allem sein Gehalt wird sich zuvor verschieben. Die sinnliche Komponente, die im sthetischen Zustand Bedingung auch erst der Person ist (Schiller 2006: 54f, 76), gilt nunmehr als Tuschung und Fessel der Vernunft (vgl. Zelle 2005b: 482, 485). Da fr den Schiller der mittleren Briefe beide Vermgen unberbrckbar getrennt sind, sollte es dem sinnlichen Vermgen jedoch berhaupt nicht mglich sein, die Vernunft positiv, also anders als gerade durch einen Mangel seiner eigenen Funktion einzuschrnken. Das relative berma des Affekts erklrt sich dort fr Schiller nicht einfach schon durch sich selbst, sondern nur durch die freie Unterlassung des unabhngigen Vermgens der Vernunft, sich als eine Macht zu behaupten, was das Gemt haltlos dem Wechsel der Eindrcke ausliefert (Schiller 2006: 75f). Auf diese Weise allein ist die Tuschung mglich. Auch wenn beide Prinzipien sich zu widersprechen scheinen, teilen sie doch nicht den selben Gegenstand. Der Formtrieb verlangt Beharrlichkeit nur von der Person, der sinnliche Trieb Wechsel nur von den Empfindungen (Schiller 2006: 50). Was sie vereint ist eine neue Art von Freiheit und eine neue Art des Willens (Schiller 2006: 77). Diese Schnheit also, die schmelzende, die Schiller um das Erhabene ergnzen mchte, ist nicht mehr jene Schnheit im Vollsinn, die er etwas verfnglich auch das Idealschne nennt.
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Zum anderen ist es mglich, das Kapitel Wrde, gleichzeitig mit der Gestaltkomponente auch der Anmut bzw. der Schnheit berhaupt, auen vor zu lassen, wie Kte Hamburger dies getan hat ( Hamburger 1965: 136; Dies. 1966: 92f). Als Quelle des Widerspruchs identifiziert Hamburger die von Shaftesbury herrhrende Vorstellung der moral grace, die einen frhen Einfluss auf Schiller ausgebt hat. Die Idee der Kalokagathie, das ethisch-sthetische Menschentum, eine Begriffsbildung (...) die keinem Phnomen entspricht (Hamburger 1966: 99, auch 91f), ist insgesamt zu verwerfen. In analogischer oder additiver Kombination entstehen daraus begriffliche Amalgame, in denen die transzendentale Schnheitsidee , wie sie fr die Briefe bestimmend ist, verschwindet, und die Vermessenheit reiner Vernunft dominiert (vgl. Hamburger 1966: 92). Da fr die Vernunft im sthetischen Zustand bereits hinlnglich gesorgt ist, drfen Konstruktionen wie etwa Benno von Wieses sthetische Vernunft verdchtig erscheinen (von Wiese 1995/63: 492), um so mehr, da dieser meint, es knne in der Gemeinschaft des Staates nur darum gehen, da allmhlich die dem Menschen auferlegten Gesetze nicht mehr als bloe Ntigungen empfunden, sondern vom Individuum frei gewollt zu Neigungen und Wnschen seiner eigenen Natur werden (von Wiese 1959/63: 493, auch 464). Dies aber hat alles mit Verdummung und nichts mehr mit der Selbstbestimmung der Vernunft unter den Bedingungen ihrer Sinnlichkeit zu tun. Und so gehrte, wenn es nach von Wiese ginge, denn auch die Schnheit in einen vom robusteren politischen Leben streng geschiedenen Bereich der Hegung mit hchstens regenerativen Kapazitten (von Wiese 1959/63: 492, 493). Mit der Isolation dieser Widersprche ist eine Substanz der sthetischen Erziehung noch gegen Schiller selbst zurck gewonnen. Einer selektiven Aneignung der zentralen Figur des sthetischen Zustands steht durch sie somit nichts entgegen. Halten wir also fest: Der sthetische Staat ist kein Mittel und Durchgangsstadium zum ethischen Staat, sondern Selbstzweck und (...) ein utopisches Ziel. (Hamburger 1965: 149) Dies jedoch ist ein so schillernder und verfnglicher Begriff, dass ihn Rancire, zugleich Anti-Platoniker und am Mglichen orientiert, lieber meidet (vgl. Blechman, Chari, Hasan 2005: 293).
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Vernunft der Bestimmbarkeit Doch kann auch der sthetische Zustand so ganz Selbstzweck sein, wenn es ein utopisches Ziel gibt? Wo bleibt das Handeln, das uns diesem Ziel innergeschichtlich nher bringen knnte? Auch das zweite Problem ist bekannt. Es ist die Situation der Entscheidung, sagt uns Zelle weiter (Zelle 2005b: 485), die Schiller am Erhabenen interessiert und ihn dazu ansetzen wird, die auf Ganzheitlichkeit zielenden sthetischen Briefe um eine Philosophie fr den Ernstfall zu ergnzen (W. Riedel nach Zelle 2005a: 437). Dem unglcklichen Zustand des Zeitalters msse mit Erhabenheit begegnet werden; die Schnheit ist fr ein glckliches Geschlecht (Schiller nach Zelle 2005b: 488). Es ist zu dieser Interpretation, die die sthetik der Briefe in die gewohnte Einteilung in eine sthetik des Schnen und des Erhabenen auseinanderfallen lassen will, allerdings ntig zu ignorieren, dass Schiller selbst auf der Mglichkeit einer Einheit des schmelzenden und des energischen Schnen besteht. Das Erhabene, so Zelle, ist ntig, um das Vermgen der Vernunft, was der Schnheitsbegriff voraussetzt, allererst herauszustellen (Zelle 2005b: 484). Nun ist aber die Schnheit, wie Schiller nicht mde wird uns mitzuteilen, nichts als eben dies: ein Vernunftbegriff oder eine Idee . Sie ist selbst nur eine Forderung der Vernunft oder ein Versprechen (Schiller 2006: 42-67). Und von ihr seien bereits gleichzeitig zwei Wirkungen zu erwarten, whrend sie sich in der Erfahrung stets in eine doppelte Schnheit, eine schmelzende und eine energische, teilen wird (Schiller 2006: 66f). Das Gegenteil ist also der Fall, aber es lsst sich leider nicht anders sagen: Der Schnheitsbegriff setzt die Vernunft voraus.3 Die Schnheitskonzeption des mittleren Teils der Briefe wird nicht um eine Erhabenheitskonzeption ergnzt, sie enthlt sie bereits. Im sthetischen Zustand, so wie Schiller ihn uns beschreibt, sind sowohl das rezeptive Vermgen der Sinnlichkeit, als auch das aktive Vermgen der Vernunft bis an ihre Grenzen gesteigert (Schiller 2006: 52). Mit der aus dieser Entgegensetzung resultierenden Aufhebung des Zwangs, sowohl des einen wie auch des anderen Prinzips, sei etwas unendliches erreicht. Dem Menschen sei seine Menschheit selbst zurckgegeben (Schiller 2006: 84). Die Tuschung funktioniert also nur als eine Selbsttuschung, das heit, sie funktioniert gar nicht. So wenig wie die Vernunft einen Doppelgnger hat, der hinzukommen knnte, um der Vernunft auf die Schulter zu tippen.
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Vgl. zur Bedeutung der Idylle fr die Mglichkeit auch der Schnheitserfahrung und die gesell-
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Der Mensch, sagt Schiller, kann auf drei verschiedene Arten Null sein, wovon hier nur jene zwei unterschieden werden sollen, die wie Nichts und Alles voneinander abweichend sind (vgl. Schiller 2006: 83, auch 52). Der einzige Punkt, in dem die Bestimmungslosigkeit aus Mangel an Eindrcken, welche Schiller eine leere Unendlichkeit nennt (Schiller 2006: 83, auch 74) und die erfllte Unendlichkeit sthetischer Bestimmbarkeit sich hneln, ist der Ausschluss jeder besondern Determination (Schiller 2006: 83). Schiller distinguiert den sthetischen Zustand deshalb als einen der realen und aktiven Bestimmbarkeit (Schiller 2006: 81, m. H.). Die sthetische Bestimmbarkeit ist, anders als die Leere bloer Bestimmungslosigkeit, unbegrenzt, weil das Gemt in ihr alle Realitt vereinigt (Schiller 2006: 83). Die Schnheit ist so bereits eine Bestimmtheit, die jedoch nicht in der Ausschlieung gewisser Realitten, sondern in der absoluten Einschlieung aller besteht (Schiller 2006: 72, vgl. auch 85). Der Horizont mglichen Handelns soll mit dem sthetischen Zustand, der eine unbegrenzte Bestimmbarkeit mit dem grtmglichen Gehalt verbindet, zunchst und unverhofft vllig geffnet werden, um unmittelbar aus diesem Zustand etwas positives erfolgen zu lassen, eine selbstttige Bestimmung. Es geht darum, augenblicklich von aller Bestimmung frey [zu] seyn, darum, sich von den falschen Vermittlungen zu lsen, um einen Willen formen zu knnen und alsdann eine passive Bestimmung mit einer aktiven zu vertauschen (Schiller 2006: 80, auch 77). Es geht um das Eingehen eines verantworteten (Nicht-)Vollzug.
Der dissensuelle Gemeinsinn Das Ideal der Schnheit entspricht fr Schiller ebenso jenem der vollen Menschheit. Er sieht es in die Gtterstatue der Juno Ludovisi gelegt, deren Beschreibung Rancire als ein Beispiel dient, wenn es ihm darum geht, den Dissens, die Aufkndigung einer bestimmten bereinstimmung zwischen dem Denken und dem Sinnlichen (Rancire 2007: 115), im Zentrum der sthetischen Erfahrung zu verorten. Schiller schreibt:
Es ist weder Anmuth noch ist es Wrde, was aus dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludovisi zu uns spricht; es ist keines von beyden, weil es beydes zugleich ist. (...) In sich selbst ruhet und wohnt die ganze Gestalt, eine vllig geschlossene Schpfung, und als wenn sie jenseits des Raumes wre, ohne Nachgeben, ohne Widerstand; da ist keine Kraft, die mit Krften kmpfte, keine Ble, wo
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die Zeitlichkeit einbrechen knnte. Durch jenes unwiderstehlich ergriffen und angezogen, durch dieses in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem Zustand der hchsten Ruhe und der hchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rhrung, fr welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat. (Schiller 2006: 63/64)
Mit der Identitt von bereinstimmung und Nicht-bereinstimmung (Rancire 2007: 115), von der Rancire mit Blick auf dieses Zitat spricht, ist also nicht etwa die Identitt oder auch nur die Gleichzeitigkeit von Anmut verstanden als Schnheit und Wrde verstanden als Erhabenheit gemeint. Die freie bereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft ist bereits in sich eine Nicht-bereinstimmung oder ein Dissens. (Rancire 2007: 114, m. H.) Es ist daher nicht ntig, so Rancire, in der Erfahrung des Erhabenen den Double-Bind der Anziehung und des Abstoens zu suchen, oder die Schnheit durch sie zu ergnzen. Schiller sagt uns, die gleichzeitige Ttigkeit der Vermgen im sthetischen Zustand, mithin die Konfrontation der Erhabenheit des Dings mit jener der Vernunft, wrde eine Negation bewirken, die gegenseitige Aufhebung ihre[r] bestimmende[n] Gewalt (Schiller 2006: 81). Der Schillersche Gemeinsinn also ist dissensuell. Er schliet die bereinstimmung in der Form einer Unterordnung aus (Rancire 2007: 114f).
Was also das Denken in Rcksicht auf Bestimmung ist, das ist die sthetische Verfassung in Rcksicht auf Bestimmbarkeit, jenes ist Beschrnkung aus innrer unendlicher Kraft, diese ist eine Negation aus innrer unendlicher Flle. (Schiller 2006: 82f)
Dort, wo Kant der sthetischen Kunst die Aufgabe zuweist, in ihrem Bereich die Zusammenfhrung des ausgebildetsten Teils mit dem roheren Teil eines Volkes zu einem stabilen Gemeinwesen zu organisieren, zieht Schiller die Konsequenzen aus der Gleichheit, die diese Operation erst ermglichen soll zugleich aber diese Vermittlung des gesetzlichen Zwanges der hchsten Kultur mit der Kraft einer ihren eigenen Wert fhlenden freien Natur zu einer so schwierigen Aufgabe macht (vgl. Kant 1974: B262f). Schiller, so Rancire, legt so die Aufteilung frei, vor deren Hintergrund Kant operiert: die Aufteilung zwischen denjenigen, die handeln, und denjenigen, die erleiden; zwischen den kultivierten Klassen, die Zugang haben zur Totalitt des Lebens, und den wilden Klassen, die in der Zerstckelung der Arbeit und der sinnlichen Erfahrung versinken.
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(Rancire 2006a: 68) Er mache also die Gleichgltigkeit zum Herzen der Politik, das heit zum Herzen jener Vorgnge in denen eine bestehende Aufteilung mit einer anderen Aufteilung des Sinnlichen, einer anderen Definition des Gemeinsamen konfrontiert wird und eine egalitre dissensuelle Gemeinschaft entsteht. Jedem Urteil oder bestimmenden Handeln liegt, mit dem freien Spiel der Vermgen, eine radikale Unentschiedenheit voraus (vgl. Schiller 2006: 84, Kant 1974: B155). Der dissensuelle Gemeinsinn, der sich im Geschmacksurteil zeigt, konfrontiert so eine gesellschaftliche Ordnung mit der Hilflosigkeit ihrer Kontingenz. Indem er die Seite der Vermgen neutralisiert und die Verhltnislosigkeit der Verhltnisse von Herrschaft und Unterordnung bezeugt, kndigt der sthetische Zustand eine Revolution an, die nicht die Eroberung der Macht sondern eine Neutralisierung der Formen selbst sein wird, in welchen die Macht ausgebt wird. Er widersetzt sich folglich sowohl dem Konsens der traditionellen Ordnung als auch jener Ordnung, die die Revolution hat aufzwingen wollen (Rancire 2007: 116, Ders. 2006c: 45). Es geht, so Rancire, mit dem sthetischen Zustand um das Versprechen einer Revolution der sinnlichen Erfahrung, die tiefer ansetzt als die bloe Vernderung gesellschaftlicher Formationen, indem sie das Prinzip der Unterwerfung einer passiven Materie unter eine souverne Form aussetzt (2006a: 81, auch Ders. 2007: 43, 45).
Verwaltung im sthetischen staat? (exkurs) Dies freilich, wenn man es nicht verstehen will, kann ngste auslsen. So muss etwa Josef Frchtl Rancires Theoretisierung des Verhltnisses von Polizei (organisierte Ungleichheit) und Politik (deren Infragestellung) erst verflschen, bevor er sie kritisieren kann. Denn dieses Verhltnis wirkt sich keineswegs einseitig zu Gunsten der Politik aus, was zu behaupten bei Frchtl mit einer erneuten Reduktion politischer Subjektivierung auf bloen Lrm einhergeht und ihn dazu ansetzt, die Gleichberechtigung der Polizei einzufordern, und zwar konkret in der rechtsstaatlichdemokratische[n] Variante (Frchtl 2007: 213, 215, vgl. Rancire 2002: 41, 48). Vielmehr ist fr Rancire weder die primre Unterwerfung unter die dominanten Formen der Materialisierung des Intellekts vllig vermeidbar er spricht beispielhaft oft von Rhetorik und Recht je mehr sich das Verstehen-Wollen verweigert (Rancire 1994: 120), noch auch die materielle Organisation des Lebens berhaupt, derer sich zu begeben ein Privileg der Gtter bleibt. Diesseits des Raums ist der Vollzug
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unausbleiblich. So ist zum einen denn auch das politische Ereignis nicht schlicht das Hereinbrechen einer unidentifizierbaren und namenlosen Kraft ber die Ordnungsmacht der Polizei (vgl. Frchtl 2007: 214). Im Gegenteil konfrontiert es auf zugleich schpferische und argumentative Weise im Namen der Gleichheit und eines unbegrndbaren Rechts auf Mannigfaltigkeit die ttige Unvernunft der Erklrung der Ungleichheit und den Irrationalismus eines sich auf Titel, Macht und Besitz sttzenden autoritativen Handelns mit einer anderen Definition des Gemeinsamen (Rancire 1994: 129, 122, Ders. 2002: 71, Ders. 2006b: 38/39). Zum anderen ist, dass der dissensuelle Prozess der Einrichtung eines Anteils der Anteillosen auch immer ein Prozess der Organisation und somit relativ zu denken ist (Rancire 2002: 24), und dass sich Politik im besten Fall in institutionellen Strukturen sedimentiert (vgl. Blechman, Chari, Hasan 2005: 297), so selbstverstndlich, dass Rancire dieser Seite tatschlich wenig Aufmerksamkeit widmet und uns hauptschlich selbst extrapolieren lsst: Die Politik (...) kann nichts anderes sein als die Polizei, das heit die Verneinung der Gleichheit. (Rancire 2002: 46) Im Ganzen des politischen Prozesses stellt sich denn auch die Frage nicht, ob die Politik der Polizei vorzuziehen sei, sondern wie jene Produktionen sich gestalten werden, die die bloe Unordnung der Revolte und die Ordnung der Herrschaft (Rancire 2002: 24), die Endlosigkeit der schismatischen Explosion sowie den Zwang des konsensuellen Stumpfsinn[s] gleichermaen vermeiden (Rancire 2005: 56f). Die moralische Aufladung des explizit formalen Begriffs der Polizei, auf die Josef Frchtl seine Argumentation grndet, muss er sich denn auch vllig selbst zuschreiben (vgl. Frchtl 2007: 214). Ein weiteres Missverstndnis bleibt hier nicht aus. Es geht Schiller so wenig wie Rancire um eine bertragung der sthetischen Spielkonzeption auf die gesellschaftliche Sphre, sondern im Gegenteil um die Aufhebung dieser Analogisierung, die immer wieder nur zu jener Aufgabenteilung zwischen Kopf und Armen fhren kann oder zu jenem Gleichgewicht dessen, was Josef Frchtl den Klassen-, Rassen- oder Geschlechtergegensatz nennen mchte und das er, so zynisch dies auch klingen mag, in der real existierenden brgerlichen Demokratie verwirklicht sieht (Frchtl 2007: 217, vgl. Rancire 2006c: 42).4 Es geht im Verhltnis dessen, was in keinem Verhltnis steht, der gleichgltigen Gleichheit und der Ungleichheit der Gesellschaft, gerade um die Aussetzung jedes Gegensatzes, der sich
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Darin, dass nichts anderes dem Ganzen seinen Charakter verleiht, als die Eigenschaften seiner
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in der Form essentialisierender Platzanweisungen artikuliert, als um die Mglichkeitsbedingung des Ganzen der Politik. Wenn am Ende der Briefe im sthetischen Staat die Unterordnung des dienende[n] Werkzeug[s] bzw. der Masse unter den Verstand freiwillig erfolgen soll, scheinen zwei aufeinander folgende bereinstimmungen zunchst weiterhin vorausgesetzt: Mit der Analogie von Individuum und Gesellschaft verteilen sich die unterschiedenen individuellen Vermgen in absehbarer Weise auf unterschiedene gesellschaftliche Klassen. Doch dieses Werkzeug ist nicht mehr das Werkzeug im starken Aristotelischen Sinn (vgl. Politik 1254a). Der Identifikation von Volk und Masse/Materie sowie Regierung und Verstand wird durch die erforderte Beystimmung, und damit also durch die begrndete Fhigkeit zur Einwilligung oder zur Verweigerung, grundstzlich widersprochen (Schiller 2006: 123).
Das Ma der Gleichgltigkeit Gleichzeitig mit der Ausnahme der Gleichgltigkeit und mit dem Versprechen einer anderen Freiheit, als es die Freiheit einer Vernunft sein knnte, die einer Materie ihren Willen aufzwingt, stellt sich eine andere Nicht-bereinstimmung ein, denn diese Erfahrung der Autonomie bedeutet eine Abweichung gegenber der Aufteilung der Ungleichheit. Eine Inkongruenz, die unmittelbar auch ein Konflikt ist, und eine Weigerung, die passiv nicht mglich wre, gegenber der Aufteilung, in der die Vermgen getrennt sind, in der einige dazu bestimmt sind zu denken und zu entscheiden und andere zu materieller Arbeit verurteilt sind, die ihnen die Verfgung ber die Ttigkeit ihrer Arme entzieht (Rancire 2006c: 46). Der Blick oder diese Praxis der Gleichheit hat keinen besonderen Ort, wo sie dem Konflikt entgehen knnte. Sie kann sich in der Kunst ereignen, doch sie hat weder eine heilige Sttte (Rancire 2005: 38) noch ein eingrenzbares Instrumentarium. Msste das Bewusstsein, dass die Gleichheit inselhaft ist, dass die Schnheit zwar Realitt, die Realitt aber keine Schnheit ist, nicht ein ttiges Begehren wecken, das nach Dauer strebt? Zu individualistisch, wird man urteilen, um gesellschaftlich relevantes Handeln zu orientieren. Gehen wir also noch einen kleinen Schritt weiter. Die Schnheit, so wie Schiller sie verstanden wissen will, ist keine Schwchung der Vernunft, sondern im Gegenteil die Aufhebung ihrer negativen Beschrnkung, die zugleich ihre Vermessenheit ist, und das unmittelbare Verwiesen-sein auf ihren letzten Zweck. Deshalb ist sie, sagen wir das dazu, begleitet von
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subtiler Verzweiflung, solange sie in die Ausnahme gezwungen ist. Denn sie wsste bereits, dass wir ineinandergreifen, wenn auch nicht ebenso wie die Rder eines Uhrwerks, und dass deshalb wahre Autonomie keine individualistische Angelegenheit sein kann.5 Die Kunst verliert zwar ihre magische Kraft, um noch einmal von Wiese zu zitieren, wenn sie mit Realitt verwechselt wird (von Wiese 1959/63: 492/493); ihre Kraft kommt ihr ob der umgekehrten Verwechselung aber auch erst zu. Fragen wir uns also lieber, was diese Ver-wechselung ermglicht und gehen wir noch einmal zurck zu dem Paradox, das im Zentrum der Politik der Kunst angetroffen werden muss. Es ist, so Rancire, das Paradox des sthetischen Regimes der Kunst (...), dass es einen gemeinsamen Sinn, einen Gemeinsinn gibt, der in dem Mae politisch ist, in dem er Sitz einer radikalen Gleichgltigkeit ist. (Rancire 2006a: 79) Dieses Paradox macht es uns nicht all zu schwer, und zwar deshalb nicht, weil Rancire die Gleichgltigkeit, hnlich der Unbegrifflichkeit des sthetischen Urteils, mit einer doppelten Bedeutung ausgestattet hat. In der Dialektik der sthetischen Urteilskraft lst sich die Antinomie des Geschmacks bekanntlich auf, indem sich die Bedeutung der Unbegrifflichkeit des sthetischen Urteils in einen Mangel an bestimmten Begriffen sowie einen transzendenten unbestimmten Begriff differenziert (Kant 1974: B 237). Auf letzteren grndet das sthetische Urteil und erzeugt jene lustvolle Erfahrung unserer Selbstgengsamkeit, jene nicht mehr benennbare, weil universelle Rhrung, von der Schiller spricht. Ist dieser Begriff auch nicht verstandesmig einholbar, da bezogen auf das bersinnliche Substrat der Menschheit selbst (Kant 1974: B 236), als auf den Vereinigungspunkt aller unserer Vermgen (Kant 1974: B 239), so ist er nichtsdestoweniger eine Denknotwendigkeit, die der Zweckmigkeit in der schnen Kunst (...) zum subjektiven Richtmae dienen kann. Auf diesen unbestimmten Begriff hin in Beziehung alle unsere Erkenntnisvermgen zusammenstimmend zu machen [,ist , so Kant,] der letzte durch das Intelligible unserer Natur gegebene Zweck (Kant 1974: B 242). So wie sich die Antinomie des Geschmacks auflst und auf einen transzendenten Begriff verweist, auf den sich die be5
Die volle Steigerung beider Vermgen im sthetischen Zustand impliziert eine Unmittelbarkeit
des Verstehens und, von ihr ausgehend, die Umkehrung des Erkenntnisprozesses in einen explikativen. Solange den Dingen eine Eigengesetzlichkeit zugestanden wird, geben sie dabei jedoch immer auch die Begrenzung der Vernunft und die Erfahrungsabhngigkeit ihrer Ttigkeit mit zu verstehen.
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dingte Notwendigkeit des Geschmacksurteils grndet, birgt Rancires Gleichgltigkeit, neben der offensichtlichen Bedeutung der Indifferenz, hinter der Gleichheit der Vermgen auch das Versprechen der von eben dieser Gleichheit verlangten Gleich-Gltigkeit des Mannigfaltigen. Dies aber ist mglich nur unter einer Bedingung. Abseits der (vorlufig) realistischen Einschtzung, dass Politik auch immer Polizei ist, ist es tatschlich unvermeidlich, die innergeschichtliche Mglichkeit, oder besser, unzhlige Mglichkeiten unbegrifflich vorzustellen, in denen zwar nicht das Gewicht der Dinge gehoben, jedoch mit der vollstndigen Verifikation der Gleichheit Organisation keine Polizei mehr wre. Ebenso, wie das sthetische Urteil keinen Begriff und die Kunst keine Regeln hat, gibt auch die sthetische Gleichgltigkeit dem Handeln keine Regel. Es ist also aus dieser Perspektive allein keine Entscheidung fr oder gegen dieses oder jenes konkrete Handeln mglich. Soweit die notwendige anti-autoritre Investition, die auch unmittelbar einen (weiteren) Gewinn grndet. Denn dass dieser Relativismus oder dieser Pluralismus zugleich ein Universalismus ist, bedeutet nichts anderes, als Ausschlussverhltnisse im Horizont der Gleichgltigkeit/Gleichheit denken zu mssen. Die Kontingenz des partikularen Handelns kann schon deshalb nicht absolut sein, weil sie damit in Identitt kollabierte und so auch das transzendente Ziel der Aufhebung von Herrschaft verloren ginge. Die Gleichgltigkeit/Gleichheit ist also keine Willkr, sondern selbst das Ma der Einigung. Sie bestimmt ihre eigene unbestimmte Grenze. Nur kann diese Einigung unmglich jene schwierige Einigung zwischen verschiedenen Klassen im Bereich eines echte[n] Geschmack[s] sein, die Kant sich vom Gemeinsinn erhofft hat. Die faktische Unreinheit, die Unbegrifflichkeit und die verlangte Freiwilligkeit des Urteils sind tatschlich nicht mit dessen Gleichfrmigkeit in einem zum Volk oder noch darber hinaus erweiterten Kreis von Kennern zusammenzubringen, noch viel weniger, wenn die sittlichen Ideen, die diese Einigung vorbereiten sollen (vgl. Kant 1974: B 264), einmal Fu gefasst haben und durchschaut sind. Denn in der Abteilung der praktischen Vernunft stellt erst und einzig die unbedingte Unterwerfung der Sinnlichkeit, also die Absehung von der Partikularitt der Flle und Situationen, die logisch nicht zu vollziehende Verbindung zwischen der Allgemeinheit eines unbedingten Imperativs und der Verallgemeinerbarkeit oder einfachen Serialitt der Handlungen und Subjekte das heit, der Stiftung des Rechts her (David-Mnard 1999: 25f). Der Rigorismus dieser Unterwerfung sichert so eine bestimmte expansive Totalitt, die Notwendigkeit einer Ordnung,
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die fr einen Moment abhanden gekommen zu sein schien. Die verlangte Beistimmung zum sthetischen Urteil kndigt wieder nur ein juridisches Sollen an, eine Unterwerfung im Register der Quantitt (David-Mnard 1999: 132f, 103). Ein Gemeinsinn im objektiven Sinn, als reine Form oder Proportion (Kant 1974: B 66), ist jedoch faktisch nicht zu erbringen. Die materiellen Gegebenheiten bleiben beim Geschmacksurteil nicht auen vor. Sie gehen in es ein und in ihm unter, das heit aber, sie sind in ihm aufgehoben, wenn es gelingt, dass der Verstand keinen Ansto leide[t] (Kant 1974: B 71). Es muss sich letztlich aus Kants eigenem Willen zur Teilung/Anhufung der Menschheit erklren lassen, dass er dem Geschmacksurteil einen Symbolcharakter fr das sittliche Urteil gegeben hat, um mit dieser Analogisierung auch gleichzeitig eine nur noch zu berspringende Entfernung fr immer einzuschreiben (vgl. Kant 1974: B 258), durch die es heute mglich ist, Pluralitt (des Geschmacks) unter die Marktlogik zusammenzufassen und mit Zwangsverhltnissen zu vereinbaren. Es ist gerade diese Trennung und Vereinbarung, die sowohl die Zumutung der Notwendigkeit des Geschmacksurteils strkt und das, was sthetizismus zu nennen man sich verstndigt hat verabsolutiert, als auch eine Ethisierung der sthetik (Rebentisch 2006: 74) erst ermglicht, insofern die Vernunft hier nicht, als schon immer auch in der sthetik aufgehoben gedacht wird. Der Geschmack kann beliebig erst mit moralischen Ideen in Verbindung gebracht werden (Kant 1974: B 214, auch B 51), insofern wir Kant darin folgen, dass er auch ganz ohne spezifische Inhalte zu haben ist, welcher Art auch immer sie sein mgen.
sthetische Utopie ohne Begriff Es ist richtig, dass den sthetischen Briefen zwei unvereinbare, stndig sich durchkreuzende Logiken unterliegen: die Ausgleichslogik des mittleren Zustands, die um eine freie bereinstimmung der gemischten menschlichen Natur bemht ist, und die Entscheidungslogik, die den Vernunftaspekt ber die Sinnlichkeit des Menschen triumphieren lassen will, wobei dem sthetischen Zustand lediglich die Aufgabe zufllt, einen bergang zu bilden (Zelle 2005a: 422, 425). Zelle gibt zu bedenken, dass die Widersprchlichkeit dieser Argumentation Resultat eines durch Kant vermittelten Platonismus ist (Zelle 2005b: 485). Die Beziehung von Erscheinung und Idee war fr Platon zugleich gekennzeichnet durch die Teilhabe der Erscheinung an der Idee und durch die Trennung beider so-
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wie die Existenz der Idee in einer ontologisch hheren Sphre. Relativ beilufig ergnzt Kant sich selbst, wenn er bemerkt, dass auch in der Erfahrung der Schnheit [d]er Verstand allein (...) das Gesetz gibt (Kant 1974, B69); und die Prinzipien sthetischer Ideen in der Vernunft zu suchen sind (Kant 1974, B242). Hier liegt vielleicht der entscheidende Grund dafr, dass die Schillersche sthetik immer wieder zur Dominanz des Verstandesvermgens tendiert. So ffnen sich die Briefe schlielich auf ein Szenario vom Geist, der die Materie seinem Gesetz unterwirft, (...) der Selbst-Erziehung der Menschheit, die sich von der Stofflichkeit emanzipiert und die Welt nach ihrem Bilde formt. (Ranciere 2006c: 50) Schillers Rckfall in die Rede vom menschliche[n] Herrscherrecht (Schiller 2006: 110), die erneute Verengung also der Definition des Menschlichen nach Art des Erhabenen im 26. Brief, ist begleitet nicht nur von der Einfhrung einer rassistischen Teleologie, anhand welcher sich der Bereich eines Gemeinsinns im objektiven Sinn eingrenzen lsst. Die Rekonfiguration des Terrains fr die Heraufkunft dieser erneuten Freyheit des Geistes (Schiller 2006: 111), welcher die Sinnlichkeit der erhabenen Einfalt seines Gesetzes unterwirft (Schiller 2006: 117), ist berhaupt an die strikte Trennung des Krpers von der Form, des Stoffs von der Gestalt, der Realitt von der Kunst des Scheins gebunden (Schiller 2006: 109-111). Um 1800, so Rancire, wollte die sthetische Revolution6 des ltesten Systemprogramms diese Trennung durch die Erfllung/Abschaffung der sthetischen Kunst aufheben; hnlich der kurzen Allianz von knstlerischen und marxistischen Avantgarden zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Wo die Erfllung den freien Schein jedoch auf eine Wahrheit oder, um mit Schiller zu sprechen, auf eine bestimmte Existenz (Schiller 2006: 110) verpflichtet, gert diese gelebte Wahrheit (...) wiederum in Gegensatz zur Lge des Scheins. Die Reaktion auf die ungeduldigen und letztlich verdummenden Versuche einer solchen Inkarnation geht vor sie zurck, indem sie sich auf das andere Extrem verlegt. Sie ist das, was Rancire das Leben der Formen nennt, ebenfalls eine Abschaffung der Kunst, jedoch gerade nicht in ihrer Erfllung, sondern in der Konservierung ihres Versprechens in der Reinheit von Dekor oder Dogma (vgl. Rancire 2006c: 51, 52). Ohne deshalb die Erfahrung der Ausnahme an die je herrschende
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Der Gebrauch dieser Formulierung ist inkonsistent. Zumeist bezeichnet die sthetische
Revolution im Rancireschen Denken einfach den Ruin des reprsentativen Regimes. Vgl. etwa: Rancire 2006d: 19.
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Realitt zu verraten, scheint es Rancire vornehmlich um eine selektive Aneignung des sthetischen Zustands zu gehen, so wie Schiller ihn etwa vom vierzehnten bis zum zweiundzwanzigsten Brief beschreibt. Der sthetische Zustand wre demnach ein individuelles und gesellschaftliches Ideal, dem zufolge jedes Handeln in der freien bereinstimmung von Sinnlichkeit und Verstand geschieht und diese Autonomie die Autonomie aller ist. Er ist unmittelbar auerdem die uerung eines Gemeinsinns, der bis zum Erreichen einer solchen wahren Kultur (Schiller 2006: 42), der universellen Aufhebung von Herrschaft, ebenso unwillkrlich dissensuell wie inselhaft und prekr ist, die Erfahrung einer Ausnahme, mit dem Versprechen, keine Ausnahme mehr zu sein, ein bergang also, letztlich aber ein bergang zum Ideal einer vollstndigen Verifikation der Gleichheit. Da diese jedoch nicht zum Bild einer notwendigen Gesellschaft gerinnt und der Prozess dieser Verifikation, von den Bedingungen sowohl der Gegenwart wie auch des jeweiligen Lebens ausgehend, eine ungewisse Geschichte durchlaufen muss, deshalb also kein unmittelbarer Bezug des Handelns auf ein solches an sich schon zweifach transzendentes und zudem nicht notwendiges Bild mglich ist, knnen in der Tat keine unbedingten Regeln fr ein Handeln abgeleitet werden. Die unbestimmte Orientierung, die jenseits des eigenen Vorteils im innersystemischen Verteilungsgerangel liegt, und die mit der doppelten Bedeutung der Gleichgltigkeit gewonnen ist, scheint mehr Gefahren mit sich zu bringen, als tatschliche Orientierung zu bieten. Es ist unmglich und also unangebracht, eine konkrete Utopie auszumalen. Es ist aber ebenso unmglich, eine notwendige unbegriffliche Idee voluntaristisch zu verabschieden, weshalb wir im Rcklauf aus dieser Idee, mit der gleichen Kraft der Notwendigkeit, immerfort gezwungen sind, (das Handeln fr) eine utopische Gesellschaft, die nicht eine ist, auch begrifflich zu fassen. Die unbegriffliche Idee eines Ideals gleichgltiger Gleichheit ist notwendig das subjektive Richtma, das einem weniger als absolut gltigen Handeln situativ bedingte Spielrume vorzugeben in der Lage ist. Dabei fhrt gerade das Gerichtet-sein auf ein transzendentes Ideal, welches das jeweilige Handeln als kontingent kennzeichnet und ber sich selbst hinaus verweist, sowohl zu einer Loslsung von den partikularen Inhalten dieses Handelns, als auch zu seiner Ernsthaftigkeit.7 Eine Politik der Gleichgltigkeit (Rancire 2006a: 79) wre so in der Lage, autoritre
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Vorgaben und bloes radikal-relativistisches Ausweichen gleichermaen zu diskreditieren. Gleichgltigkeit und das Wissen um eine im doppelten Sinn des Wortes geteilte Welt mssen also hinreichen, um politisches Handeln zu orientieren. Absehbar waren sie wohl zwar, die eher seichten Einwnde einer normativen Unbrauchbarkeit oder eines nur anarchischen Impetus, die gegenber Rancires Aktualisierung des sthetischen Zustands zu hren sind. Eine Auseinandersetzung beruhend auf einer prziseren Lektre, die nicht schnell zu solchen Vorwrfen fhren knnte, steht hierzulande vielleicht noch weitgehend aus. Lohnend wre sie allemal. Denn jenseits bloer Selbstverstndigung kme sie nicht umhin, auf ihrem Terrain den kapitalistischen und rechtlichen Begrenzungen eines Vokabulars zu begegnen: der Universalitt und Freiheit der Konkurrenz, der Mannigfaltigkeit der Warenform und dem Selbstzweck von Wachstum und Profit, samt der grotesken Zerstrungskraft und der Brutalitt die ihnen implizit sind. Diese einschrnkenden Aneignungen bewegen sich zwangslufig auf dnnem Eis, das einbrechen zu lassen nicht schwer sein sollte, wie es eine konsequente Aktivierung der Vokabeln, mit denen sie operieren, belegt. Die Politik der Gleichgltigkeit impliziert eine Bewegung, gerichtet auf die vollstndige gesellschaftliche Verifikation der Gleichheit. Dies wre nicht die Grenze, an der das Ganze im totalitren Konsens einer ethischen Gemeinschaft kollabiert. Hier treffen sich keine Enden, so wenig wie die beiden Verwendungen des Wortes Konsens, als Verneinung eines Anteils der Anteillosen und als freie Einigung/Teilung, jemals verschwimmen werden. Die Vollstndigkeit einer solchen Verifikation knnte von keiner Position aus behauptet werden. Wrde sie, was wohl nicht wahrscheinlich ist, einmal erreicht, verlre so auch das individuelle Handeln nicht seine transzendente Orientierung, nur lge diese, ohne es zu bemerken, pltzlich weniger in der Zukunft, als in der Gegenwart des bewegten Ganzen.
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literatur Primr:
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