Orbis Litterarum 64:5 373384, 2009
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Wer singt Mahomets Gesang?
Zu einem Problem der Goethe-Edition
Horst Lange, University of Nevada, Reno
Erich Trunz hat behauptet, dass der Titel von Goethes Gedicht
Mahomets Gesang eigentlich Mahomets-Gesang lauten solle. Im
Artikel wird einerseits gezeigt, dass die Manuskriptlage und
Goethes Auerungen uber das Gedicht dies sehr unwahrscheinlich
machen. Andererseits wird nahegelegt, dass Goethe Mohammed
ironisieren wollte und dass der von Trunz falschlich geleugnete
Umstand, dass Mohammed der Sanger eines Loblieds auf sich
selbst ist, ein wichtiges Element dieser Ironisierungsstrategie ist.
Stichworter: Goethe, Mahomets Gesang, Hamburger Ausgabe, Erich Trunz, Goethe
und Ironie, Goethe-Edition.
Goethes Verhaltnis zu Fragen der Religion ist komplex. Es kann nicht
geleugnet werden, dass religiose Themen und Fragestellungen nicht nur
haug, sondern auch an wichtigsten Stellen bedeutender Texte vorkommen,
aber es ist keineswegs einfach, die scheinbar widerspruchlichen Gedanken
erfolgreich zusammenzudenken. So konnte der junge Goethe gleichzeitig
eine groe Hochschatzung des Pietismus hegen und dem Quasi-Pietisten
Lavater auf der Rheinreise 1774 seine Spinoza-Begeisterung beichten,
obwohl doch Spinoza bis dato als Inbegri des Atheisten galt. Er konnte
eine lebhafte Freundschaft mit eben diesem Lavater und seiner Frankfurter
Freundin Katharina von Klettenberg unterhalten beides Personen, deren
Theologie christologisch zentriert war , und doch an Herder, also
immerhin einem Geistlichen, schreiben, dass ,,die ganze Lehre Von Christo
[...] ein Scheisding sei1. Er konnte im selben Jahr (1773) in zwei kleineren
Texten Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** und Zwo
wichtige bisher unerorterte biblische Fragen Zum erstenmal grundlich
beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben zwei sympathische
Landgeistliche eine christliche Liebestheologie entwickeln lassen und
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gleichzeitig ein Drama uber Prometheus entwerfen, dessen erhaltene zwei
Akte keinen anderen Schluss zulassen, als dass Goethe mit den Mitteln einer
polytheistischen Mythologie eine scharfe Attacke auf das christliche
Gottesbild reitet. Und als ware dies nicht genug, er konnte, ebenfalls in
diesem Jahr, in einem spater Mahomets Gesang betitelten Gedicht ein
Preishymne auf Mohammed veroentlichen, die den Islam, auf den ersten
Blick zumindest, als eine vollkommene Religion erscheinen lasst.
Es ist nicht einfach, all dies mit einer ubergreifenden Theorie von
Goethes religiosem Denken zu erklaren oder in ein koharentes Schema der
biographischen Entwicklung seiner theologischen Auassungen einzupassen2. Was unter all diesem ist Kernsubstanz von Goethes religiosen
Auassungen, was ist Maskenspiel, was ist das Resultat von Selbstzensur?
Wer solche Fragen beantworten will, muss sich auf die editierten Texte
verlassen konnen: auch kleine Ungenauigkeiten in der Textwiedergabe
konnen die Autorintention genugend verfalschen und etwa ein Ironiesignal
wegredigieren. Dass sich genau ein solcher Fehler in zahlreiche Editionen
von Mahomets Gesang eingeschlichen hat, mit weitreichenden Konsequenzen fur die Interpretation des Gedichts und Goethes religiosem Denken
uberhaupt, sollen die folgenden Uberlegungen zeigen.
I.
In allen von Goethe besorgten Zusammenstellungen seiner Gedichte, von
der sogenannten Ersten Weimarer Gedichtsammlung bis zur Ausgabe
letzter Hand, ist dieser hymnische Text in allen Manuskript- und
Druckversionen durchgehend mit den Worten Mahomets Gesang betitelt.
Die naheliegende Schlussfolgerung, es handele sich um einen von
Mohammed, dem islamischen Religionsstifter, vorgetragenen Gesang, ist
von bedeutenden Editoren, Erich Trunz und Max Hecker, in Frage gestellt
worden: sie lesen das Gedicht ausschlielich als einen Gesang uber
Mohammed. Mithin halten sie die Schreibweise des Titels fur hochst
irrefuhrend und fuhlen sich berechtigt, ihn zu Mahomets-Gesang bzw.
Mahometsgesang zu emendieren. Dabei ist, wohl infolge des bedeutenden
Einusses der Hamburger Ausgabe, diese Schreibweise in viele folgende
Editionen aufgenommen worden. Karl Eibl hat hierzu bereits in der
Frankfurter Ausgabe Zweifel angemeldet3, und die folgenden Uberlegungen sollen diese fortfuhren und ganz wesentlich vertiefen.
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Trunz hat in der Hamburger Ausgabe seine Entscheidung begrundet4. Er
weist darauf hin, dass Goethe im Manuskript oft vergleichbare Komposita
getrennt als zwei Worter schreibt (etwa Zum Schakespeares Tag, Rettungs
Dank, oder Geistes Gru). Diese orthographische Eigenwilligkeit sei aber
leider nicht in den verschiedenen Drucken in konsistenter Weise normalisiert worden, ,,da Goethe den Druck seiner Werke von anderen besorgen
lie. So blieb ,,die Form Mahomets Gesang in zwei Wortern [...] stehen
[...], wohl weil die Faktoren der Druckereien das Gedicht fur einen
Gesang des Mahomet hielten. Also sei, meint Trunz, die Schreibweise
Mahomets-Gesang gerechtfertigt, weil sie ,,am ehesten dem entspricht, was
Goethe meinte.
Zur Prufung dieses Arguments mochte ich zuerst Goethes orthographische Eigenheiten in denjenigen Manuskripten von Goethes eigener Hand
betrachten, die Versionen des Gedichts enthalten und deswegen die grote
Aussagekraft haben durften. Es handelt sich um die von den Herausgebern
der Weimarer Ausgabe mit den Siglen H2, H3 und H4 bezeichneten
Manuskripte, wobei H2 eine nicht spater als 1778 verfertigte Handschrift,
die sogenannte Erste Weimarer Gedichtsammlung, darstellt, und H3 und
H4 zwei 1788 verfertigte Sammlungen bezeichnen, die als Druckvorlage fur
Goethes erste Ausgabe seiner Werke fungierten5. Zum Vergleich seien, wo
dies moglich ist, auch noch fruhere Versionen der Gedichte betrachtet6.
Es zeigt sich, dass sich in H3 und H4 neben der umstrittenen Form
,,Mahomets Gesang noch sieben (oder moglicherweise auch nur sechs)
vergleichbare irregulare Komposita nden7. Aber ist daraus zu schlieen,
dass auch Mahomets Gesang als irregulares Kompositum gelesen werden
darf ? Dies ist moglich, aber keineswegs wahrscheinlich. Zum einen
namlich hat Goethe in H3 und H4 eine uberwaltigende Menge von
Komposita, die einer solchen irregularen Schreibweise fahig sind, regular
geschrieben8, so dass rein statistisch die Wahrscheinlichkeit, es handele
sich bei Mahomets Gesang ebenfalls um eine irregulare Form, nicht
besonders hoch ist. Des weiteren hat Goethe selbst mit einer gewissen
Konsistenz irregulare Falle normalisiert. So enthalten H3 und H4 drei
Falle, wo Goethe von alteren eigenhandigen Manuskripten9, und drei
Falle, wo er von fruheren Drucken oder fremden Abschriften normalisierend abweicht10. Und H2 enthalt vier Falle, in denen irregulare Formen
aus fruheren Handschriften normalisiert wurden11. Dem steht entgegen,
dass nur eine irregulare Form beibehalten wurde12, und dass nur zweimal
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eine irregulare Form neu eingefuhrt wurde13. Das alles legt nahe, dass
Goethe, aus welchen Grunden auch immer, gelegentlich zu der irregularen
Schreibweise neigte, diese aber dann auch wieder als ,,verdachtig
empfand und zu normalisieren strebte, ohne sich dabei zu orthographischer Konsistenz aufschwingen zu konnen14. (Dabei mag sogar der
Umstand, dass Goethe bei der Schreibweise solcher Komposita oft
schwankte, bei Mahomets Gesang aber immer nur eine einzige Schreibweise
wahlte15, als Indiz gelten, dass er eben Mohammed als Sanger im Auge
hatte und eben deswegen die alternative, laut Trunz ,,richtige Form nie
auftaucht.) Als Fazit ist festzuhalten: Goethes Schreib- und Korrekturpraxis macht wahrscheinlich, dass er auch Mahomets Gesang zusammengeschrieben hatte, wenn er den Ausdruck als Kompositum gemeint hatte.
Ein weiterer Manuskriptbefund sei angefuhrt. In H3 und H4 sind die
Titel fast aller Gedichte unterstrichen. Bei funfzig Gedichten mit
mehrwortigen Titeln ist die Unterstreichung durchgangig, bei acht ndet
sich eine Unterbrechung des Strichs. Dabei ist es auallig, dass im Falle
von Mahomets Gesang jedes Wort einzeln unterstrichen ist, wahrend
sowohl Genitivkomplexe wie Wanderers Nachtlied oder Kunstlers Morgenlied16 als auch irregular geschriebene Komposita wie Geistes Gru,
Bundes Lied, und Wechsel Lied durchgangig unterstrichen sind. Warum
weicht Goethe ausgerechnet beim Titel Mahomets Gesang von der
Konvention der durchgangigen Unterstreichung ab? Warum druckt er
nicht, wie es mit den Titeln Geistes Gru und Bundes Lied der Fall zu sein
scheint, durch eine durchgehende Unterstreichung den Umstand aus, dass
es sich auch bei dem Titel Mahomets Gesang um ein Kompositum handelt?
Wenn man beachtet, dass in anderen Titeln die Unterbrechung der
Unterstreichung auch zur Sinnstiftung verwendet wird17, also ofters mit
Uberlegung vorgenommen wurde, besteht eine nicht unbetrachtliche
Wahrscheinlichkeit, dass Goethe durch eine absichtlich vorgenommene
Unterbrechung der Unterstreichung die Moglichkeit, den Titel als ein
auseinandergeschriebenes Kompositum zu lesen, wie Trunz und Hecker es
vorschlagen, ausdrucklich ausschlieen wollte18.
Stellen wir weitere Fragen. Wie schon Karl Eibl bemerkte, hat Goethe in
2
H Mahomets Gesang mit Gedichten zusammengestellt, deren Titel den
Sprecher bezeichnet; als Beispiele seien Prometheus oder Ganymed
genannt. Es ist also wahrscheinlich, dass der Titel anzeigen sollte, dass
auch hier ein Rollengedicht vorliegt, und wenn der Zusatz Gesang im Titel
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steht, dann wird das wohl nur andeuten, dass wir uns das Gedicht nicht,
wie etwa im Falle der Prometheusode als Deklamation, sondern als
Gesang vorzustellen haben19.
Weiterhin ist zu bedenken, dass, nachdem der laut Trunz auerst
missverstandliche Titel des Gedichts im Druck erschienen war, es als
wahrscheinlich gelten muss, dass Goethe nachtraglich die Missverstandlichkeit bemerkt oder gar gesprachweise entdeckt hatte, dass der eine oder
andere Zeitgenosse das Gedicht falschlicherweise fur einen Gesang
Mohammeds nahm. Warum erscheint es also mit demselben Titel in allen
weiteren zu Goethes Lebzeiten veranstalteten Drucken? Konnte diese
Missverstandlichkeit wirklich uber vierzig Jahre hinweg unbemerkt stehen
bleiben?
Noch ein weiteres, damit zusammenhangendes Argument ist anzufuhren.
Zu fortgeschrittener Sprachkompetenz gehort, dass ein Muttersprachler sich
der Moglichkeit von Missverstandnissen bewusst ist und ihnen vorbeugt.
Kompetente Sprecher haben ein Talent fur Desambiguisierung. Ware sich
Goethe also der Schwierigkeit der Leserentscheidung, ob es sich um einen
auschlielich subjektiven oder objektiven Genitiv handelt, ob Mohammed
also entweder nur der Sanger oder nur der Besungene ist, nicht unmittelbar
bewusst gewesen? Man beachte, dass alle irregularen Komposita, die sich in
H2, H3 und H4 nden, keiner Desambiguisierung bedurfen20. Da man sie
einfach nicht missverstehen kann, wird Goethes Sprachgefuhl eine
Normalisierung der Schreibweise auch nicht eingefordert haben, und nur
deswegen sind sie vermutlicherweise stehengeblieben.
Man kann sich diesen Sachverhalt auch noch von einer anderen Seite her
verdeutlichen. Wenn durch den Titel wirklich nur ausgedruckt werden soll,
dass Mohammed der Besungene ist, dann weist die Bildung des Kompositums mit Hilfe des Genitivs eigentlich eine gewisse Harte auf: wer wurde
schon ,,Schillers-Gesang sagen, um auf ein Lied uber oder auf Schiller zu
referieren? Kompetente Sprecher wurden die Form ,,Schiller-Gesang
vorziehen, und zwar aus einem einfachen Grunde: in der gesprochenen
Sprache, wo die orthographische Klarikation durch den Bindestrich nicht
gehort werden kann, muss man den Titel ,,Schillers-Gesang unmittelbar so
verstehen, dass er einen Gesang von Schiller meinen muss. Goethe wurde
folglich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Form ,,Mahomet-Gesang, oder
viel naturlicher, ,,Gesang auf Mahomet, und nicht ,,Mahomets-Gesang,
gewahlt haben, wenn es ihm wirklich um diese Bedeutung gegangen ware.
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Schlielich ist festzuhalten, dass Goethe sich auf das Gedicht mit dem
bindestrichlosen Titel Mahomets Gesang noch anderswo bezieht, also auch
dann nicht die angeblich irregulare Form desambiguiert hat. Einmal tut er
dies in einem Brief an Goschen vom 24. Oktober 1788, wo er Anweisungen
zum richtigen Druck des Gedichts gibt; wenn es eine Gelegenheit gab,
moglichen Missverstandnissen vorzubeugen, dies ware sie gewesen. Ein
anderes Mal geschieht dies in Dichtung und Wahrheit, wo Goethe die Rolle
des Gedichts in seinem nicht vollendeten Mahomet-Drama beschreibt.
,,Mehrere einzuschaltende Gesange wurden vorlaug gedichtet, von denen
ist allein noch ubrig, was uberschrieben Mahomets Gesang, unter meinen
Gedichten steht, schreibt er und fugt interessanterweise gleich hinzu: ,,im
Stucke sollte Ali [...] diesen Gesang vortragen21. Warum ndet Goethe es
notig zu erwahnen, dass ,,im Stucke, und nicht etwa irgendwo anders, Ali
der Vortragende sei22? Anscheinend setzt er voraus, dass der Leser bis zur
Lekture von Dichtung und Wahrheit infolge seiner Begegnung mit dem
Gedicht ,,auerhalb des Stuckes, d.h., in einer Gedichtsammlung,
angenommen hatte, dass ein bestimmter anderer, also wohl Mahomet,
der Sanger sei. Dieser Eindruck kann aber nur durch den Gedichtstitel
zustandegekommen sein, der also anders gemeint sein musste, als dies
Trunz und Hecker wahrhaben wollen.
II.
Sicherlich kann keines der vorgebrachten Argumente fur sich allein
beweisen, dass Goethe Mohammed eindeutig als Sanger meinte; jedes zeigt
nur, dass dies in verschieden hohem Grade wahrscheinlich ist. Aber da
sich Unwahrscheinlichkeiten immer multiplizieren, und nicht etwa blo
addieren, bedeuten sie zusammengenommen, dass die Wahrscheinlichkeit,
Goethe habe Mohammed nicht als Sanger des Gedichts gemeint, auerst,
vielleicht sogar verschwindend klein ist. So stellt sich die Frage, warum
Trunz und Hecker eigentlich glaubten, den Titel emendieren zu mussen.
Denn ihr philologisches Argument, dass der Titel eben ein Kompositum sei
und die Druckgeschichte das verborgen habe, bedeutet ja nur, dass es
moglich ist, Goethe habe Mohammed als nur Besungenen prasentiert, aber
keineswegs, dass dem so sein musse. Nur weil sie vor jeder Manuskriptbetrachtung annahmen, dass Goethe Mohammed als Sanger nicht gemeint
haben konne, suchten sie oenbar nach einem Grund, den Titel anders
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lesen zu konnen, und wurden anlasslich der orthographischen Inkonsistenzen Goethes fundig. Die naheliegende Frage, woher Trunz eigentlich
wisse, was Goethe wirklich gemeint habe, lauft ins Leere, denn Trunz hat
keine Grunde angefuhrt. Wir mussen annehmen, dass er seine Annahme
als selbstevident ansah, und es ist deswegen angebracht, diese Annahme
auf ihre Plausibilitat hin abzuklopfen und die Konsequenzen der
gegenteiligen Annahme fur die Interpretation des Gedichts zumindest
anzudeuten.
Ich kann mir nur ein einziges ausschlielich vom Text ausgehendes
Argument denken, das Trunz vorgeschwebt haben konnte. In seiner ersten,
1773 im Gottinger Musenalmanach veroentlichten Fassung wird das
Gedicht von zwei der fruhesten Konvertiten zum Islam, Fatima und Ali,
gesungen, und es erscheint plausibel anzunehmen, dass Goethe diese
Auenperspektive auf Mohammed als integral fur die Bedeutung des
Gedichts hat beibehalten wollen23. Schlielich sange Mohammed als
Sanger einen Lobgesang auf sich selbst, und eine solche Ironisierung des
Propheten konne, so meinte Trunz wohl, kaum im Sinne Goethes gelegen
haben.
Wie stichhaltig ist diese Uberlegung? Zum einen ist zu sagen, dass die
Auenperspektive in der ersten Fassung nicht konsequent durchgehalten
wird. Wenn Fatima und Ali selbst den ,,Brudern des Stroms in der ersten
Person zurufen: ,,Kommt ihr alle!24, anstatt den Sammlungsruf explizit
Mohammed in den Mund zu legen (Goethe hatte dies etwa durch
Anfuhrungszeichen im Schriftbild andeuten konnen), dann mag diese im
Uberschwang des Gefuhls von den Vortragenden vorgenommene Identikation mit dem Religionsstifter Goethe spater als asthetisch nicht
vertretbar erschienen sein, und durch den Wechsel zur Sangerschaft
Mohammeds hatte er dieses Problem gelost: in der neuen Fassung riefe
eindeutig der Religionsstifter selbst seine Glaubigen zu sich.
Auerdem ist festzustellen, dass der dramatische Kontext, fur den das
Gedicht ursprunglich geschrieben wurde, das positive Bild Mohammeds
und seiner religiosen Mission, wie es den Gesang charakterisiert, in einem
ganz entscheidenden Mae relativiert. In Dichtung und Wahrheit berichtet
Goethe namlich, der Gesang habe gerade dann vorgetragen werden
sollen, als sich Mohammed auf der Hohe seiner Macht befand, aber im
Begri war, an den Folgen der von ihm zur Verbreitung seiner Religion
begangenen Verbrechen unterzugehen25. Durch diesen Gegensatz
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zwischen der dramatisch entfalteten Kritik des Propheten und seiner
lyrischen Preisung war das Gedicht in seinem ursprunglichen Kontext
also durch eine tiefe Ironie gekennzeichnet. So hoch wurde Mohammed
nur erhoben, um in der unmittelbar folgenden Peripetie desto tiefer fallen
zu konnen.
Es kommt hinzu, dass im Dramenfragment Mohammed als Proselytenmacher prasentiert wird, der letzlich seine Religion mit Gewalt
durchsetzen lasst, wahrend im Gedicht, in krassem Widerspruch dazu,
dem Religionsgrunder die Gefolgsleute von ganz alleine zulaufen wie die
Bache dem Fluss und er zum Fuhrer der Glaubensgemeinschaft erst
aufsteigt, als er auf das Flehen seiner ,,Bruder, sie zum Vater mitzunehmen, mit dem Anruf ,,Kommt ihr alle! antwortet. So kontrastiert in einer
weiteren Ironie der passive, in sein Amt gedrangte Mohammed des
Gedichts mit dem aktiven, seine Anschauungen anderen militant aufdrangenden Mohammed des Dramas.
Als Goethe den Zwiegesang Alis und Fatimas zur Veroentlichung im
Gottinger Musenalmanach aus dem Dramenkontext reien musste, mag
er durchaus bedauert haben, dass diese Ironien infolge der Ausklammerung dieser innertextlichen Bezuge notwendigerweise auf der Wegstrecke hatten bleiben mussen. Durch die Idee, Mohammed zum Sanger
seines eigenen Preises zu machen, ist es ihm aber moglich geworden, die
ihm wichtige Distanzierung von dem uber Gebuhr ,,rosigen Mohammedbild des Gedichts in einer ezienten, ohne jeden Kontext auskommenden Weise subtil wieder einzufuhren26. Ein Mohammed, der sich
selbst so hochschatzt, der seiner religiosen Bewegung eine solch
grandiose Zukunft voraussagt, sollte dem Leser von vorneherein suspekt
werden.
Es kann in diesem Zusammenhang nicht muig sein, darauf hinzuweisen, dass sich in der Gruppe von Gedichten, in deren Mitte Mahomets
Gesang seit der Ersten Weimarer Gedichtsammlung bis zur Ausgabe letzter
Hand von Goethe gestellt wurde, die verschiedensten Ironisierungsstrategien nden. Man denke nur an den Prometheus der Ode, der das ganze
Gedicht hindurch dem Zeus immer aufs neue versichert, wie unabhangig
er von ihm sei, und gerade durch diese Fixierung seine innerliche
Abhangigkeit malgre lui unter Beweis stellt. Oder man denke an die
immer wieder bemerkte Tatsache, dass individuelle Gedichte ofters durch
ihre Juxtaposition mit solchen einer anscheinend gegensatzlichen Aussage
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relativiert werden. So liegt die Widerspruchlichkeit von Ganymed und
Prometheus auf der Hand, denn wahrend der erstere in Liebe zu Zeus
vergeht und sich mit ihm vereinen will, verachtet der letztere diesen und
zieht einen klaren Trennungsstrich zwischen sich und ihm. Dass Mahomets
Gesang dabei deutliche Parallelen zu Ganymed aufweist, sollte nicht
vergessen werden: das Gedicht kulminiert wie Ganymed in einer Verschmelzungsphantasie mit Gott, wobei Ganymeds beruhmtes ,,umfangend
umfangen prazise der Beschreibung des noch nicht mit seinen Glaubigen
vereinten Gottes im Gesang entspricht:
Der mit weitverbreiten Armen
Unsrer wartet
Die sich ach vergebens onen
Seine Sehnenden zu fassen27.
Auch dieses Gedicht widerspricht also der Ode Prometheus und sollte
folglich nicht als bare Munze genommen werden.
Die Emendation des Titels durch Hecker und Trunz kann zwar den
Gesang nicht ganzlich aus diesen Ironisierungszusammenhangen herausreien, lauft ihren Intentionen aber ganzlich zuwider. Ein ironisch
ungebrochenes Preislied auf Mohammed muss den Eindruck erzeugen,
dass hier unter einer leicht durchschaubaren Maske die wahren religiosen
Ansichten des jungen Goethe zum Vorschein kommen. Dabei ist es doch
nicht nur auallig, dass wie gezeigt die Gedichte sich oft gegenseitig
relativieren, sondern auch, dass immer, wenn beim jungen Goethe religiose
Gedanken in publizierten Texten zum Vorschein kommen, diese von einer
mit ihm nicht identischen Figur geauert werden, ob es sich nun um die
beiden Landgeistlichen im Brief des Pastors und in Zwo biblische Fragen,
um Werther, um Ganymed, oder um Prometheus handelt. Warum sollte
im Falle von Mahomets Gesang der Sprecher plotzlich anonym sein und
kein Rollengedicht vorliegen?
Wenn Goethe also, so scheint es, grundsatzlich uber Religion in
veroentlichten Texten nur mit ironischer Brechung spricht, besteht auch
kein Grund, warum wir den Titel Mahomets Gesang mit Hecker und Trunz
so lesen sollten, dass das wichtige Ironiesignal wegredigiert wird. Sowohl
die Manuskriptlage als auch grundlegende interpretatorische Anhaltspunkte lassen kaum einen anderen Schluss zu: Mohammed ist der
Sanger von Mahomets Gesang.
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ANMERKUNGEN
1. 12. Mai 1775; Goethe 19851999 [FA], II, 1:451. Gemeint ist wohl die Lehre von
der Gottlichkeit Jesu.
2. Ich arbeite z.Z. an einer monographischen Studie, die versucht, diese Verhaltnisse
besser aufzuklaren, als dies bisher geschehen ist.
3. Goethe 19851999 [FA], I, 1:915f.
4. Goethe 19781981 [HA], 1:482. Alle folgenden Zitate nden sich hier.
5. Ich habe die Faksimile in folgenden Ausgaben konsultiert: fur H2, Bernhard
Suphan und Julius Wahle (Hrsg.): Aus Goethes Archiv: Die erste Weimarer
Gedichtsammlung in Facsimile-Widergabe (Schriften der Goethe-Gesellschaft, 23.
Band), Weimar, 1908 (im folgenden abgekurzt als H2, die Ausgabe enthalt keine
Pagination); fur H3 und H4, Karl-Heinz Hahn (Hrsg.): Goethe, Vermischte
Gedichte, Faksimiles und Erstdrucke, Frankfurt am Main, 1984 (im folgenden
abgekurzt als H3,4).
6. Fur diese Handschriften verlasse ich mich auf die Transkriptionen und Manuskriptbeschreibungen von Hannah Fischer-Lamberg als Herausgeberin von Der
junge Goethe: Neu bearbeitete Auage in funf Banden, Berlin, 19631974, und Karl
Eibl als Herausgeber von der Frankfurter Ausgabe (Goethe 19851999), I, 1.
7. ,,Bundes Lied und ,,Bruder Sinn in Bundeslied (Goethe 1984 [H3,4], 33f.);
,,Geistes Gru und ,,Menschen Schiein in Geistes-Gru (S. 46); ,,Zwillings
Beeren in Herbstgefuhl (S. 44); und ,,Fremdlings Reisetritt in Der Wandrer
(S. 141). Bei ,,Gesundheits Blick in An Schwager Kronos (S. 103) konnte es sich
m.E. bei dem groen B auch um ein schlampig geschriebenes kleines b handeln.
Alle diese Formen wurden im anschlieenden Druck normalisiert. Im ubrigen wird
das Genitiv-s solcher Komposita immer mit einem Schluss-s geschrieben, so dass
man von dieser Seite her keine hilfreiche Information erhalt.
8. In Mahomets Gesang allein gibt es die regular geschriebenen Komposita ,,Felsenquell, ,,Sternenblick, ,,Marmorfelsen, ,,Gipfelgange, ,,Schattental, ,,Liebesaugen, ,,Flammengipfel, ,,Marmorhauser und ,,Zedernhauser (Goethe 1984
[H3,4], S. 8790).
9. ,,Fruhlings-Gotter in Mit einem gemalten Band (Goethe 1984 [H3,4], 28) normalisiert ,,Fruhlings Gotter in Goethe 1908 [H2]; ,,Fruhlingspracht in An den Mond
(Goethe 1984 [H3,4], 51) normalisiert ,,Fruhlingslebens Pracht in der ersten
uberlieferten Handschrift des Gedichts (Goethe 19851999 [FA], I, 1:234); Schlachtfeld-Wogen in Kunstlers Morgenlied (Goethe 1984 [H3,4], 144) normalisiert
,,Schlachtfeld Wogen in Goethe 1908 [H2].
10. ,,Himmelsduft in Maifest (Goethe 1984 [H3,4], 26) normalisiert ,,Himmels Duft
im fruheren Erstdruck (Goethe 19631974, 2:32); ,,Felsenpfad und ,,Mittagstrahl
(Goethe 1984 [H3,4], S. 134 und 141) in Der Wandrer normalisieren ,,Felsen Pfad
und ,,Mittags Strahl in Mercks Handschrift (Goethe 19631974, 2:234 und 238).
11. ,,Fremdlingsreisetritt (Goethe 1908 [H2]) in Der Wandrer normalisiert das von
Goethe in Mercks Manuskript hineinkorrigierte ,,Fremdlings Reisetritt (Goethe
19631974, 2:238); ,,Regenwolk, ,,Ulmenbaum und ,,Taubenpaar (Goethe 1908
[H2]) in Wanderers Sturmlied normalisieren ,,Regen Wolcke, ,,Ulmen Baum und
,,Tauben Paar in der Handschrift, die Goethe an Jacobi geschickt hatte (Goethe
19631974, 2:228 und 230); und ,,Schelmenaug in An Christel (Goethe 1908 [H2])
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normalisiert ,,Schelmen Aug in der Handschrift, die Goethe an Boie geschickt
hatte (Goethe 19631974, 3:72).
,,Seelen Warme in Wanderers Sturmlied ndet sich sowohl in Goethe 1908 [H2] als
auch der erwahnten, an Jacobi geschickten Handschrift (Goethe 19631974, 2:229).
,,Zwillings Beeren in Herbstgefuhl (Goethe 1984 [H3,4], 44) irregularisiert
,,Zwillingsbeeren in der ersten Handschrift (Goethe 19631974, 5:268); ,,Fremdlings Reisetritt in Der Wandrer (Goethe 1984 [H3,4], 141) irregularisiert ,,Fremdlingsreisetritt in Goethe 1908 [H2].
Dass Goethe sich oenbar nie zu einer klaren orthographischen Linie entschlieen
konnte, zeigt sich am besten am Schicksal von ,,Fremdlings Reisetritt in Der
Wandrer, das Goethe in das ,,Fremdlingsreisetritt benutzende Manuskript Mercks
hineinkorrigierte (Goethe 19631974, 238), dann in Goethe 1908 [H2] normalisierte,
und in Goethe 1984 [H3,4], 141, wieder irregularisierte.
Zur Verizierung verwendete ich die elektronische Version der Weimarer Ausgabe.
Es gibt zusatzlich noch die Titel Lilis Park, Jagers Abendlied, Anakreons Grab und
Kunstlers Abendlied.
Sowohl in Willkomm und Abschied als auch Neue Liebe Neues Leben (die
Schragstriche stehen fur eine Unterbrechung der Unterstreichung) soll oenbar ein
semantischer Kontrast ausgedruckt werden.
Dieses Argument ware viel schlagender, wenn Goethe nicht in einigen wenigen
Fallen bei der Unterbrechung der Unterstreichung nicht inkonsistent gewesen ware.
So kann man nicht verstehen, warum in Meine Gottin, An Schwager Kronos
oder Adler und Taube die Unterstreichung nicht durchgangig ist. So bleibt nur die
hohe Wahrscheinlichkeit, dass, weil Goethe in uber 80 Prozent der Gedichte
konsistent handelte, auch bei Mahomets Gesang die Unterstreichung mit Bedacht
geschah.
Da wir wissen, wie sehr Goethe bei der Verfassung vieler seiner Werke an eine
Vertonung dachte, und da die Urform des Gedichts gema dem Zeugnis von
Dichtung und Wahrheit in der Tat zur musikalische Auuhrung bestimmt war, kann
man beim Titel sogar an eine Auorderung an mogliche Komponisten unter seinen
Lesern denken, das Gedicht musikalisch zu bearbeiten.
Es handelt sich um die schon erwahnten Formen ,,Bruder Sinn, ,,Menschen
Schiein, ,,Zwillings Beeren, ,,Fremdlings Reisetritt, ,,Gesundheits Blick und
,,Seelen Warme. Einzig die Bildung ,,Geistes Gru kann ebenfalls zweifach
verstanden werden, als vom Geist vorgenommener oder an den Geist gerichteter
Gru. Allerdings macht das Gedicht selbst unmittelbar klar, dass es sich um das
erstere handeln muss.
Goethe 19851998 [MA], 16:673.
Es wurde naturlich immer wieder bemerkt, dass Goethe hier einer Fehlerinnerung
zu erliegen scheint, denn bei der ersten Fassung des Gedichts handelt es sich um
einen Wechselgesang von Ali und Fatema. Ich halte es allerdings fur moglich, dass
Goethe in der Tat im Drama das Gedicht nur von Ali gesungen haben wollte,
es dann aber, als er es zur Erstveroentlichung aus dem Kontext reien musste,
es zwei Sangern in den Mund legte.
So hat schon Karl Eibl die Behauptung von Trunz zu erklaren versucht (Goethe
19851999 [FA] I, 1:915).
Goethe 19851999 [FA], I, 1:194, Zeile 53.
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25. Goethe 19851998 [MA], 16:672f.
26. Karl Eibl hat vorgeschlagen, dass der Gesang zwar von Mohammed gesungen, aber
nicht von ihm selbst handle, sondern der ,,Ausdruck der Sehnsucht des auergewohnlichen Menschen nach einer gluckenden, angemessenen Lebensbahn
sein konne (Goethe 19851999 [FA], I, 1:916). Zwar wurde eine Untersuchung der
rhetorischen Verfasstheit des Gedichts m.E. diese Moglichkeit entkraften, doch ist
es fur meine Zwecke hier nur wichtig festzuhalten, dass damit Goethe nur eine
andere Ironie, die einer Spannung zwischen Mohammeds Sehnsucht und der
Realitat seines Lebens geschaen hatte.
27. Goethe 19851999 [FA], I, 1:194, Zeile 3942
BIBLIOGRAPHIE
Goethe, J. W. 18891919, Werke. Herausgegeben im Auftrage der Groherzogin Sophie
von Sachsen, Bohlau, Weimar (Weimarer Ausgabe [WA]).
. 1908, Aus Goethes Archiv: Die erste Weimarer Gedichtsammlung in FacsimileWidergabe, Schriften der Goethe-Gesellschaft, 23. Band, hrsg. v. B. Suphan und
J. Wahle, Goethe Gesellschaft, Weimar (H2).
. 19631974, Der junge Goethe: Neu bearbeitete Auage in funf Banden, hrsg. v. H.
Fischer-Lamberg, W. de Gruyter, Berlin.
. 19781981, Goethes Werke: Hamburger Ausgabe in 14 Banden, hrsg. v. E. Trunz,
Beck, Munchen (Hamburger Ausgabe [HA]).
. 1984, Vermischte Gedichte, Faksimiles und Erstdrucke, hrsg. v. K.-H. Hahn, Insel
Verlag, Frankfurt am Main (H3,4).
. 19851998, Samtliche Werke nach Epochen seines Schaens, hrsg. v. K. Richter
et al., Hanser Verlag, Munchen (Munchner Ausgabe [MA]).
. 19851999, Samtliche Werke: Briefe, Tagebucher und Gesprache, hrsg. v. D.
Borchmeyer et al., Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main (Frankfurter
Ausgabe [FA]).
Horst Lange ([email protected]) is Associate Professor of German and Core
Humanities and Adjunct Professor of Philosophy at the University of Nevada, Reno.
He is the author of a book on Kant and numerous articles, many of them on Goethe,
and is currently working on a book on Goethe and religion.