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(Barnes John) Orbitale Resonanz

Das Dokument beschreibt die Ankunft eines neuen Schülers namens Theophilus Harrison auf dem Fliegenden Holländer. Theophilus stammt von der Erde und unterscheidet sich von den anderen Schülern durch sein Gewicht und seine Herkunft. Seine Ankunft löst eine Reihe von Ereignissen aus, die die Protagonistin Melpomene beschreibt.

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(Barnes John) Orbitale Resonanz

Das Dokument beschreibt die Ankunft eines neuen Schülers namens Theophilus Harrison auf dem Fliegenden Holländer. Theophilus stammt von der Erde und unterscheidet sich von den anderen Schülern durch sein Gewicht und seine Herkunft. Seine Ankunft löst eine Reihe von Ereignissen aus, die die Protagonistin Melpomene beschreibt.

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John Barnes

Orbitale Resonanz
Roman

Aus dem Amerikanischen


von Martin Gilbert
KAPITEL EINS
...............................................................

8. DEZEMBER 2025

Dr. Lovell bescheinigt mir schriftstellerisches Talent: also


mu ich an diesem blden Wettbewerb teilnehmen und habe
dadurch noch ein paar Stunden mehr am Hals -; und in nicht
einmal einem halben Jahr steht die Erwachsenen-Abschlu-
prfung an. Die Leute von der Kultusbehrde glaubten, die
Kinder von der Erde wrden sich fr das Leben im Welt-
raum interessieren, und deshalb haben sie diesen Spezial-
wettbewerb fr uns anberaumt, der in den Schiffen, Hfen
und Stationen stattfindet. Das ist natrlich nichts Neues fr
euch, liebe Leser; vielleicht wird dieser erste Absatz deshalb
auch gestrichen. Ich hasse das - bei der Vorstellung, da
man meine Arbeit zusammenstreicht ohne vorher mit mir
Rcksprache zu halten, mchte ich die Schriftstellerei am
liebsten gleich wieder aufgeben.
Wie dem auch sei, mein Name ist Melpomene Murray; ich
bin dreizehn Erdenjahre alt und lebe auf dem Fliegenden
Hollnder, wo ich auch geboren wurde. Ich habe bereits
achteinhalb Orbits hinter mir, die auf dem Fliegenden Hol-
lnder als >Jahre< bezeichnet werden; weil sie aber unter-
schiedlich lang sind, werden sie doch nicht fr die Zeit-
rechnung verwendet, wie ihr das mit den Erdenjahren tut.
Vielleicht sollte ich einfach die >Liste mit ntzlichen
Fakten< transkribieren, die man uns vor dem Auftrag gege-
ben hat. Das wre sicher so langweilig, da ich beim Wett-
bewerb nicht vorrcken wrde und etwas Neues schreiben
mte:
Wie die vier anderen Schiffe im Besitz der Nibon
America, ist auch der Fliegende Hollnder ein eingefan-
gener Aste-roid. Der Asteroid mit der ursprnglichen
Bezeichnung Inoueia 1996 YT wurde im Jahr 2008
eingefangen; im Jahr 2011 ging die Besatzung an Bord, aber
die Arbeiten sind noch lngst nicht abgeschlossen. Der
Fliegende Hollnder hat eine Stammbesatzung von sieben-
tausendzweihundert Personen. Im Vojahr hatte sie noch bei
achttausend gelegen, aber seitdem sind viele ltere Leute
von Bord gegangen. Sechstausendsiebenhundert Menschen
sind jnger als zwanzig Jahre, und sechstausendvierhundert
sind im Schiff geboren worden. Die gesamte Besatzung
belegt weniger als ein Prozent des nutzbaren Volumens des
Schiffs. Wenn die Laderume im Jahr 2059 fertiggestellt
sind, werden sie ein Fassungsvermgen von ber drei
Kubikkilometern haben.
Unser Orbit wird stndig moduliert - das heit, die Trieb-
werke laufen immer und beschleunigen und verlangsamen
uns abwechselnd -, so da das Aphel immer in der Nhe des
Mars liegt und das Perihel immer in der Nhe der Erde. Fr
den Antrieb des Schiffs sind acht MAM-Reaktoren mit einer
Gesamtleistung von dreiigtausend Terawatt zustndig.
Shit. Ich halte es nicht mehr aus. Ich streiche das spter
und mache erst mal weiter.
Ich langweile mich schon selbst, und bis Freitag mu ich
mindestens zwanzigtausend Bytes abgeliefert haben. Auer-
dem besagt die >Liste ntzlicher Fakten<, da irdische
Kinder in meinem Alter noch nicht einmal die Infinitesimal-
rechnung beherrschen, und fast das ganze Zeug hier ist
Physik.
Ich mag Physik nicht besonders - und ich mu sie auch
nicht mgen, denn ich werde demnchst Brgermeisterin.
An diesem Punkt wrde Dr. Lovell wirklich den Rotstift
an-setzen. Ich knnte darber schreiben ... als ob ich wollte
...
Ich habe schon den ganzen Bildschirm vollgeschrieben,
aber noch immer nichts Wesentliches ausgesagt. Ich ver-
suche stndig, mich von meinen Lieblingsbchern inspirie-
ren zu lassen, aber das ntzt auch nicht viel:
Nennt mich Melpomene - nun, so weit war ich auch
schon, und es hat mich keinen Deut weitergebracht.
Sie war knapp unter einssechzig, drr, und sie kam mit
hngenden Schultern direkt auf sie zu ... Und ihre Mutter
sagte ihr, sie solle Haltung annehmen.
Als Ms. Melpomene Murray aus Block A Korridor Zwlf
Wohneinheit Sechs verkndete, da sie ihren dreizehnten
Geburtstag feiern wrde ... Bitte! Das bringt berhaupt
nichts, weil ich es sowieso streichen mu. Ich brauche
etwas, das mir Stoff fr 20 kB bietet, und bisher kann ich
nicht einmal eine Einleitung abkupfern, geschweige denn
mir selbst eine ausdenken.
Die einzig sinnvolle Erffnung steht in einem Buch, das
ich hasse, aber es war das Lieblingsbuch meines Grovaters
- ich habe ihn nie gekannt, denn er starb bei der Liquidierun
im Jahre 1999, aber ich habe viel von ihm gehrt.
Viel mehr, als ich eigentlich wollte. Mutter zitiert ihn
immer - sie ist so fixiert auf Grovater, da sie sogar ein
paar Gewichts-Zuteilungen nur dafr geopfert hat, sein
persn-liches Exemplar dieses Buches zu beschaffen. Und
da es Papa auch gefiel, machte es nur noch schlimmer - ich
mute es nmlich auch lesen. Es fngt so an: Wenn Sie es
wirklich hren wollen ...
Und sobald ich ber die ganzen verrckten Sachen
schreibe, die sich im letzten Jahr ereignet haben, luft es
darauf hinaus, da ich Brgermeisterin werde und dann aus
dem Wettbewerb ausscheide, weil Dr. Lovell es auf keinen
Fall senden wird. Im gnstigsten Fall wird sie die Hardcopy
akzeptieren und die Datei dann lschen.
Andererseits habe ich sowieso keine Lust, an diesem
blden Wettbewerb teilzunehmen. Ich knnte auch
LECKEN SIE MICH AM ARSCH, DR. LOVELL eingeben
und das dann so oft kopieren, bis die 20 kB erreicht sind
aber sie wrde es nur lschen und mir dann einen reinwr-
gen. Aber wenn die ganze Geschichte nur von den Ereignis-
sen des letzten Jahres handelt, wette ich, da ich nicht
einmal zugelassen werde. Was mir nur recht wre - dann
mte ich es nmlich nicht noch einmal schreiben.
Okay, jetzt habe ich ein Thema. Ihr werdet es zwar nie
erfahren, aber vielleicht gelingt es mir tatschlich, etwas zu
verfassen; und womglich wird Dr. Lovell es sogar anne-
hmen.
Aber ich hoffe wirklich, da sie es nicht tun wird.

Es begann mit Theophilus Harrison. Schon als ich ihn zum


ersten mal im Unterricht sah, wute ich, was geschehen
wrde. Drei Dinge stimmten nicht mit ihm.
Zum einen war Theophilus mollig. Das war sicher nicht
sei-ne Schuld; wir alle leben von Geburt an auf Dit, und
wenn wir auch einige etwas krftigere Klassenkameraden
haben - Bekka Hayakawa wird von allen nur >Pummel-
chen< genannt -, so ist doch niemand wirklich dick.
Zum zweiten: das erste, was er an diesem Morgen tat, war,
Randy Schwartz in Individueller Mathematik den Rang
abzulaufen. Das war wirklich spaig - Randy war seit fast
einem Jahr Klassenbester in diesem Fach, und es ging eine
regelrechte Schockwelle von ihm aus, als Dr. Niwara die
Noten verlas.
Zum dritten, und das war das eigentliche Problem,
stammte Theophilus von der Erde.
Nicht, da ihr jetzt glaubt, ich htte etwas gegen die Men-
schen von der Erde, aber manchmal sind sie wirklich tzend
- zumindest die buroniki, corporados und plutocks, die
whrend der einen Woche, die wir im Perihel stehen, hier
heraufkommen. Sie fhren sich immer auf, als ob sie sich
auf einer Ausstellung befnden: Ist es nicht erstaunlich,
wie die Schwerkraft sich stndig verndert? (Das tut sie
berhaupt nicht, denn sie entspricht immer der Beschleuni-
gung des Schiffs im Hauptkrper und der Zentrifugalkraft
im Pilz. Es htte mich eher gewundert, wenn die Schwer-
kraft immer konstant geblieben wre.)
Auch die jugendlichen Touristen haben von nichts eine
Ahnung.
Theophilus traute ich jedoch etwas mehr zu, weil er
Siedler und kein Tourist war, und bevor man hier
hochkommt, mu man eine mindestens einjhrige
Intensivausbildung absol-vieren, um Anschlu an seinen
Geburtsjahrgang zu finden; hier wird man nmlich schon im
Alter von drei Jahren eingeschult, und der Jahresunterricht
umfat 250 Tage mit jeweils zehn Stunden. (Diese Zahlen
habe ich auch aus der >Liste ntzlicher Fakten<. Ich hoffe,
fr ihre Erwhnung bekomme ich Sonderpunkte oder eine
sonstige Belobigung.)

Aber auf jeden Fall bedeutete die Tatsache, da ein fetter


Erdling Randy in Mathe a.a.l., einen Kollisionskurs - und
Randy war gro und gemein, und Sportsgeist konnte ihm
auch nicht unbedingt nachsagen. (Soeben fragte der blde
Computer mich, was a.a.l. denn bedeutete. a.a.l = >alt
aussehen lassen<; das, was der Computer einem antut, wenn
er wieder mal abstrzt.)
Als es Zeit fr die Pause war, stand Theophilus zu schnell
auf und stie mit den Knien an die Unterseite der Tisch-
platte; jeder hrte den dumpfen Laut. Selbst das halbe Gravo
im Klassenzimmer, das sich an der Peripherie des Pilzes
befand, mute sein gewohntes Ma wohl weit unterschrei-
ten.
Alle drehten sich zu ihm um, als er den Schmerz zu
verbeien versuchte. Man sollte die Instandhaltung bitten,
einen Sicherheitsgurt an seinem Platz anzubringen, regte
Kwame van Dyke an.
Kwame sagt immer solche Sachen, aber aus irgendeinem
Grund lachte diesmal niemand - auer Theophilus und mir.
Dr. Niwara drehte sich um und lie schweigend den Blick
durch den Raum schweifen. Pltzlich wurde es sehr still.
Die Schler hatten indes noch mehr Spa, als sie sahen,
wie Theophilus die Treppe hinaufging, entlang derer die
Schwerkraft stndig abnahm. Die Schwerkraft verringert
sich linear mit zunehmender Entfernung zum Zentrum, so
da sie zunchst deutlich sprbar ist, aber dann mit jedem
Meter merklich abnimmt. Leute, die daran nicht gewhnt
sind, beginnen den Aufstieg deshalb ganz normal und
hopsen dann allmhlich die Stufen hinauf.
Genau dies widerfuhr auch Theophilus. Er ging direkt
hinter Dr. Niwara, und der Rest von uns folgte. Miriam,
meine beste Freundin, und ich waren etwa sieben bis acht
Meter hinter ihm. Jedesmal, wenn er in die Hhe hpfte,
stie sie mir den Ellbogen in die Rippen, vor allem im
oberen Bereich, als er berhaupt nicht mehr normal ging,
sondern nur noch hpfte.
Scheint so, als ob er aus Australien kme, flsterte
Kwame hinter uns. Weil Miriam immer ber seine Witze
lachte, suchte er stndig ihre Nhe. Offensichtlich ..
... war einer seiner Vorfahren ein Knguruh, beendete
ich den Satz fr ihn. Ich halte es wirklich fr interessant,
da die meisten deiner Witze mit >offensichtlich<
beginnen.
Und nun, sagte Miriam, nhert sich ein chaotischer
Proze der vlligen Auflsung. Theophilus hatte jetzt
vllig die Bodenhaftung verloren und griff hektisch nach
dem Handlauf, um sich daran festzuhalten. Er rumste gegen
die Wand und das Gelnder, bevor er sich wieder in die
richtige Position brachte.
So ging das den ganzen Weg bis zur Luftsporthalle. Diese
befindet sich in der Nhe des Pilzzentrums, wo die
Gravitation ungefhr ein zwanzigstel Gravo betrgt - noch
immer viel hher als im Hauptkrper, aber viel niedriger als
in den Klassenzimmern.
Es hatte den Anschein, da er zumindest ein wenig
Weltraumerfahrung besa; vielleicht hatte er reiche Eltern,
die ihn auf die Spielpltze von Supra New York oder Supra
Tokio geschickt hatten. Auf jeden Fall beherrschte er das
Glideboard halbwegs, wenn er auch kaum beschleunigte und
die Wnde mied, die am meisten Spa machen; er mute die
Fe in die Schlaufen haken und sich an den weenie-Leinen
festhalten.
Gerade schickte der Computer mir ein Memo und wies
mich darauf hin, da ihr sicher nicht wit was eine weenie-
Leine ist, weil es auf der Erde nmlich keine Luftsporthallen
gibt.
Gut, also werde ich es erklren: eine Luftsporthalle ist ein
schsselfrmiger Raum mit einem Basisdurchmesser von
dreiig Metern. Der Boden ist in Abstnden von vielleicht
einem halben Zentimeter mit kleinen Lchern perforiert, aus
denen Preluft austritt, und man flitzt einen Zentimeter ber
dem Boden auf einem Glideboard umher: dieses Glideboard
besteht aus Fiberglas von der Strke eines Blatts Papier und
ist einen Meter lang und dreiig Zentimeter breit. Es gibt
zwei Schlaufen fr die Fe, aber die meisten haken nur den
linken Fu ein, so da sie mit dem rechten diverse
Kunststckchen vollfhren knnen, und fr die absoluten
Flaschen gibt es dann noch die weenie-Leine, die an der
Spitze des Bretts befestigt ist. Am anderen Ende ist ein
Ring, an dem man sich festhlt, um die Balance zu halten.
Die meisten schneiden die weenie-Leine ab, wenn sie sechs
sind.
Ich hoffe, da ich den Computer damit zufriedengestellt
und euch hinreichend aufgeklrt habe, und ich hoffe
wirklich, da ich jetzt weitermachen kann. Weil ich endlich
fertig werden will. Weil ich das Buch von vornherein nicht
schrei-ben wollte. (Das wird spter dann gestrichen.)
Also zischten wir in der Halle umher, machten Rennen und
Spiele, und Theophilus versuchte mitzuhalten, aber entwe-
der war er zu langsam, um die Wand hinaufzukommen, oder
er bewegte sich nur vor und zurck und war den anderen
blo im Weg. Ein paar Mal berschlug er sich, weil er sich
zu fest abgestoen hatte, und flog mit dem Gesicht auf den
Boden - nicht fest, weil er ziemlich langsam war, aber
jedesmal schauten alle hin.
Melpomene. Miriam ging lngsseits. Sie betonte die
zweite Silbe immer dann, wenn sie mir Vorhaltungen ma-
chen wollte. Du bewegst dich ja gar nicht, sondern klebst
an der Wand wie ein Erdschwein. Sie sagte es gerade so
laut, da Theophilus es auch mitbekam; er berhrte es
jedoch. Das machte mich wtend, und ich zog mich von
Miriam zurck - ich scho die Wand hinauf, schlug eine
Rolle rckwrts durch den Raum und erreichte mit einem
Wirbel die gegenberliegende Wand. Beim Versuch, mir zu
folgen, scheiterte Miriam wie gewhnlich, wobei ihr Brett
von der Wand abprallte und sie rotierend in die Mitte der
Kammer driftete; dann sank sie langsam zu Boden.
Okay, Mel, es tut mir leid. Ich hate es, wenn man mich
Mel nannte - auch heute noch. Es war fast so schlimm wie
die >Melly<, auf der meine Mutter noch immer bestand.
Als Miriam sich erhob, umkreiste ich sie einmal. Sie rieb
sich die Hnde - sie muten schmerzen, so wie sie
aufgekommen war.
Wirklich, Melpomene - mut du denn jeden auf der Welt
in Schutz nehmen?
Tut mir leid, Mim, sagte ich. Ich hatte sie nicht
verletzen wollen, aber sie htte auch so viel Verstand haben
mssen, mir nicht auf diese Art nachzufliegen, aber
schlielich wu-te ich auch, da Miriam versuchen wrde,
mir berallhin zu folgen, und ich htte das bercksichtigen
mssen. Es ist auch so schon hart genug fr ihn. brigens
httest du den Wirbel diesmal fast geschafft. Wenn Carole
dich nicht geschnitten htte, wrst du schnell genug
gewesen, um durchzukommen. Willst du es noch mal
versuchen?

Sie lchelte mich an - immer, wenn sie mich so anlchelt,


berkommt mich ein intensives Glcksgefhl. Pos-def.
Gut; der Trick ist, auch wenn du scheinbar die Kontrolle
verlierst, behltst du sie doch. Erst in der letzten Sekunde
reit du den Kopf herum und ...
Mel, ich heie nicht Theophilus. Ich wei das alles ich
kann es nur nicht. Flieg mir voraus, und ich versuche, es dir
nachzumachen.
Sicher, sagte ich. Zuerst verletzte meine beste Freundin
sich durch meine Schuld, und jetzt behandelte ich sie auch
noch wie ein dummes Erdschwein ... bevor ich abflog, kniff
ich mich fest in die Rckseite des Oberschenkels.
Ich ging direkt rein, um es Miriam so leicht wie mglich
zu machen. Am richtigen Punkt - ich kann ihn nicht
beschrei-ben, man mu ihn fhlen - wirbelte ich herum,
wobei ich den Kopf herumri, um das Ziel im Auge zu
behalten, und flog die Wand hinauf.
Jedesmal, wenn ich den Kopf herumri, beschleunigte das
Brett ein wenig und trieb mich die Wand hinauf, bis ich
mich schlielich in der Horizontalen befand; die nchste
Kopfbewegung fiel bewut etwas gedmpfter aus, so da
ich mich an der Wand hinunterschraubte und dann ber den
Boden rotierte.
Miriam war zwar gut, aber dann bekam sie Angst, und das
verlangsamte ihre Rotation. Es ist im Grunde der Abtrieb,
der fr die Haftung an der Wand sorgt vergleichbar mit
einem auf dem Kopf stehenden Hubschrauber -, und deshalb
mu man schnell rotieren. Wie immer wurde ihre Rotation
langsamer, ihr Brett bockte und lste sich von der Wand,
und dann schwebte sie mit rudernden Armen mitten in der
Kammer, bevor sie langsam zu Boden sank. Wieder nichts.
Du denkst zuviel, sagte ich zu ihr.
Ha. Dr. Niwara wre berrascht, das zu hren. Sie stand
auf; diesmal hatte sie bei der Landung wenigstens nicht
rotiert, so da sie sich nicht verletzte. Es wird also nichts
passieren, wenn ich versuche, mich so schnell wie mglich
zu drehen, ja?
h ... so in etwa. ,
Du bist wirklich eine groe Hilfe.
Nun, du mut abbremsen, um die Wand wieder hinunter-
zukommen. Wenn du den Bereich der Luftdsen verlt und
die Decke erreichst, berschlgst du dich und strzt ab.
Darber mache ich mir dann Sorgen, wenn ich oben bin.
Anstatt mich wieder vorausfliegen zu lassen, flog sie
einfach los.
Sie versetzte sich etwas zu frh in Rotation, beschleunigte
jedoch so schnell, da es darauf auch nicht mehr ankam.
Miriam glitt an der Wand hinauf, bis sie die Horizontale
sogar berschritt und mit dem Kopf leicht nach unten wies.
Sie blieb in dieser Position, bis sie die Kammer zur Hlfte
umrundet hatte. Dann hatte die Winkelgeschwindigkeit sich
so weit reduziert, da sie wieder zu Boden fiel. Sie glitt auf
den Mittelpunkt zu, ein wenig unbeholfen zwar, aber nicht
schlecht fr das erste Mal.
Jeder klatschte Beifall. Alle wuten natrlich, da sie
lange daran gearbeitet hatte, und der Wirbel war so
spektakulr gewesen, da jeder ihn gesehen hatte. Ich
applaudierte auch, und als Miriam zurckkam, drckten wir
uns.
Inmitten des ganzen Trubels bemerkte ich, da 'Iheophilus
sie anstarrte. Es gelang mir nicht, seinen Gesichtsausdruck
zu ergrnden: irgendwie war er wtend auf sie, wirkte aber
auch einsam. Ich wollte ihm etwas sagen; wute aber nicht,
was, und auerdem befand er sich auf der entgegengesetzten
Seite der Kammer. Die Pause war vorbei, bevor ich ihn
erreicht hatte.
Der Rest des Tages verlief ziemlich normal, so normal wie
eben mglich, wenn man einen Neuling in der Klasse hatte -
ich wette, ihr bekommt jede Woche einen Neuzugang, aber
bei uns geschieht das nur dann, wenn eine neue Familie,
eine mit einem Mangelberuf, zu uns kommt, und das
passiert vielleicht zweimal pro Perihel; und selbst dann ist
die Wahrscheinlichkeit sehr gering, da der oder die
Betreffende in deinem Alter ist und in deine Schicht kommt,
ganz zu schweigen von derselben Klasse. Rachel Delane
war seit drei Jahren der letzte Neuzugang in unserer Klasse,
und ihre Familie war zudem von der Albatross, dem Erde-
Ceres-Schiff, herbergewechselt, so da sie sich sehr
schnell eingelebt hatte.
Dr. Niwara rief Theophilus an diesem Tag oft auf,
vermutlich, um seinen Leistungsstand zu ermitteln. Bei der
Quantenmechanik, die in dieser Woche auf dem Lehrplan
stand, schlug er sich wacker.
Ich beobachtete ihn auch grndlich. Er hatte ein hbsches
Gesicht - ebenmige Zge, hellbraunes lockiges Haar, die
Nase war vielleicht etwas zu spitz und zu lang, aber nicht zu
sehr. Die Hautfarbe war etwas dunkler als die eines Kauka-
siers, und er war ziemlich gro fr unseren Jahrgang - was
jedoch durch seine mollige Statur kaschiert wurde. Dennoch
stand fest, da er recht gut aussehen wrde, wenn er die
Pausen dazu nutzte, abzuspecken.
Auerdem war mir aufgefallen, da Randy Schwartz
Theophilus musterte. Bis Mitte letzten Jahres war Randy in
der B-Schicht gewesen, und der Rest von uns kannte ihn
nicht sehr gut - er war ziemlich verschlossen - und es kur-
sierten hliche Gerchte, wonach seine Familie die Schicht
eher auf Befehl als auf eigenen Wunsch gewechselt hatte. Er
war intelligent und erzielte gute Noten, aber er schien keine
wirklichen Freunde zu haben, und viele von uns frchteten
sich sogar vor ihm.
Whrend ich ihn nun beobachtete, fiel mir ein dsteres
Glhen in seinen Augen auf - in den nchsten Tagen wrde
etwas geschehen, das stand fest. Randy war Klassenbester in
Mathe, in allen drei Disziplinen Einzel-, Paar- und Pyrami-
den-Mathe -, seit er in unsere Klasse gekommen war. Das
halbe Geheimnis seines Erfolges bestand darin, da,er wirk-
lich gut war.
Die andere Hlfte erklrte sich dadurch, da er die Scheie
aus jedem herausprgelte, der besser abschnitt als er.

Als ich an diesem Abend nach Hause kam, war Papa noch
auf einer Sitzung des Komitees, und Mutter hatte gerade den
neuen Roman ihrer Lieblingsautorin erhalten, einer Frau
namens Olson, die diesen langatmigen, langweiligen Kram
ber Menschen schrieb, welche in den fnfziger oder siebzi-
ger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Kleinstdten
lebten, die inmitten von Kornfeldern lagen; an die Namen
dieser Stdte erinnere ich mich nicht.
Diese Geschichten waren vor allem deshalb so uninteres-
sant, weil das Getreide heute im Orbit angebaut wird, wo es
kein Ungeziefer und keine Drre gibt, dafr aber viel mehr
Sonnenlicht; die ganze Arbeit wird von Robotern erledigt.
Wer will denn berhaupt noch wissen, wie es damals
gemacht wurde? Ich habe einige dieser Bcher gelesen und
den Eindruck bekommen, da das Leben seinerzeit gefhr-
lich, langweilig, stupide und unhygienisch war - man stelle
sich einmal vor, verweste Tierscheie mit den bloen
Hnden anzufassen! (Man nannte es zwar >Kompost<, aber
ich habe mich informiert - es war wirklich Scheie.)
Mutter versank schier in den Hochzeiten, Affren und
Scheidungen der Familien Cabell, Ratigan, Fuentes und
Schultz, und irgendwie trug dieser ganze Kram zum Sinn
ihres Lebens bei. Dieser Sinn manifestierte sich immer in
Sprchen wie: >Dies ist unser, denn wir sind das Land, und
wir haben kein Recht darauf, bis wir uns ihm hingegeben
haben< oder: >Jeder von uns ist Teil dieser unserer Erde,
und indem wir sie teilen, teilen wir alles< oder in sonstigem
nichtssagenden Mist. Interessant wird es immer ab der
ersten Zeile des letzten Absatzes; dann tut nmlich jeder
das, was er schon seit drei Megabytes tun wollte - in der
Regel ficken, manchmal morden, und zwar jemanden, mit
dem man nicht gerechnet hat. Wie dem auch sei, sie war tief
in das Buch versunken, und so sagte ich: Mutter?
Hmm?
Gutes Buch, ja?
Ja. Sie schaute auf und lchelte mich an. Tut mir leid,
es ist Zeit zum Abendessen.
Ja. Und du hast keinen Hunger, sagte ich. Du kannst
ruhig weiterlesen - es sei denn, du glaubst, da du Hunger
bekommst, bevor wir zurck sind.
Sie strahlte mich an. Du sorgst dich wirklich um deine
Mutter.
Ich wei. In der Kche rief ich die Speisekarte auf. Es
gibt Tintenfisch und Nudeln mit Ksesauce. Mchtest du
Spaghetti oder Makkaroni? Zu trinken gibt es Kaffee oder
Zitronensaft.
Spaghetti, antwortete sie. Und wenn es nicht zu viele
Umstnde bereitet, beide Getrnke.
Sicher, sagte ich.
Tom schwebte aus seinem Zimmer in den Gemeinschafts-
raum und hngte sich die Notebook-Tasche um. Alles klar.
Ein Arbeitsessen kommt auch.
Als wir uns der Tr zuwandten, sagte Mutter: Ich wei,
ich bin ein Gierschlund. Bringt mir einen Imbi mit und
einen extra groen Kaffee. Ich wei zwar, da wir
gefriergetrock-neten haben, aber der schmeckt nicht so gut
wie der frischgemahlene. Benehmt euch ich mchte mein
Abend-essen nicht im Bau abholen.
Wir traten auf den Korridor, und die Tr glitt hinter uns
zu. Ich wnschte, diese Olson wrde fter als nur jedes
Jahr einen Roman herausbringen, sagte ich. Dann ist
Mutter wenigstens beschftigt.
Solange sie uns nicht zwingt, das zu lesen, gab Tom zu
bedenken. Diese verrckten Geschichten jeder ist immer so
allein, und alles ist so geheimnisvoll. Ich bekomme Alptru-
me davon. Aber es ist immer noch besser, als wenn Mutter
nach der Schule auf uns warten wrde.
Wir ergriffen das Netz im Korridor und hangelten uns
daran entlang. Keiner sagte etwas auf dem kurzen Weg zur
Cafeteria, nicht einmal, als wir dort angekommen waren.
Die rtlichen Cafeterien sind wie groe rotierende Trom-
meln angeordnet, mit einem Durchmesser von zwanzig Me-
tern, und die Schwerkraft dort betrgt etwa ein zwanzigstel
Gravo, was gerade bei Suppe oder krmeligen Sachen prak-
tisch ist. (Obwohl ich vermute, da es nicht ganz einfach ist
- zu Besuch weilende Erdschweine sauen sich whrend der
ersten paar Tage immer ein. Sie sagen, der Anblick von
Leuten, die direkt neben ihnen auf dem Kopf stehend essen,
wrde sie irritieren.)
Wir suchten uns ein kleines Separee fr zwei Personen aus
und verstauten die Taschen in den Schliefchern unter den
Sitzen. Man knnte meinen, wir htten eine Verabredung,
sagte Tom.
Red nicht - jetzt, wo wir hier zusammensitzen, erweckst
du nmlich den Anschein, dich gegenber Susan >Nagetier<
um eine Stufe verbessert zu haben.
Susan ist in Ordnung, sagte er, und schon lag ein Streit
in der Luft. Wir whlten ein Abendessen aus, und Tom gab
die Arbeitsessen-Bestellung fr Mutter ein.
Eklig. Ich kann bald keinen Tintenfisch mehr sehen,
sagte ich, nur um berhaupt etwas zu sagen; so schlimm war
der Tintenfisch nun auch wieder nicht.
Das Agrar-Team sagt, sie wrden wie verrckt zchten;
also wirst du bald gar nichts mehr sehen. Er fhrte eine
groe Portion Spaghetti zum Mund. Schade, da die
Kaninchen und Austern nicht genauso paarungsfreudig
sind.
Genau. Dann widmeten wir uns fr eine Weile
schweigend dem Essen. Tom?
Ja.
Wir haben einen neuen jungen in der Klasse. Ich
erzhlte ihm von Theophilus Harrison, aber er schien gar
nicht zuzuhren, was ungewhnlich ist fr Tom.
Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus. Tom, was
bedrckt dich?
Sein Lcheln war schief und suerlich. Vor dir kann man
auch gar nichts verbergen, was? Nun, es ist nichts Schlim-
mes, aber es beschftigt mich doch. Es macht mir zu schaf-
fen, da ich in CSL so schlecht bin. Vor allem deshalb, weil
ich in den anderen Fchern doch gut bin. Das war nichts
Neues. Tom war quasi ein Genie, aber seit dem Alter von
vier Jahren war er in CSL der Schlechteste seiner Klasse.
Seine Sprachbegabung war verblffend - die meisten von
uns nehmen nur eine zustzliche Sprache auer dem obliga-
torischen Englisch, Spanisch, Japanisch und Esperanto, aber
Tom zeigte nicht nur in diesen vier gute Leistungen, sondern
auch in Russisch, Suaheli und Arabisch. Auerdem schrieb
er, zeichnete und sang und war der Champion der A-Schicht
im Flip-Flop-Rennen. Aber das einzige, woran er dachte,
war seine Schwachstelle.
Nun, ich mute ihn etwas aufmuntern. Er hate es zwar,
weshalb ich vorsichtig sein mute, aber ich konnte kaum
dabeisitzen, whrend mein Bruder Trbsal blies.
Wir nahmen Mutters Arbeitsessen in Empfang. Tom ver-
staute es in der Computer-Tasche, und wir gingen wieder zu
unserem Wohnbereich zurck. Als wir noch etwa hundert
Meter von der Tr entfernt waren, sagte ich: Ich mu mit
dir ber Theophilus sprechen.
Wer ist das?
Der Neue in meiner Klasse.
Er grunzte. Freunde dich mit ihm an, lach ber seine
Witze, und wenn in den Pausen eine Kontaktsportart statt-
findet, sorg dafr, da er in deine edlen Teile rennt.
Ich will doch nicht mit ihm schlafen!
Das ist gut, denn, offen gesagt, so edel sind deine edlen
Teile gar nicht. Dann lachte er wie ein Irrer und setzte sich
von mir ab; ich verfolgte ihn, aber Tom war am Netz schon
immer schneller gewesen als ich. Also erreichte er die Tr
vor mir, und in Mutters Anwesenheit konnte ich ihm nicht
den Tritt geben, den er eigentlich verdient hatte.
Dankend nahm sie von Tom das Essen entgegen, aber sie
war so offensichtlich bestrebt, sich wieder ihrem Buch zu
widmen, da wir direkt auf unsere Zimmer gingen. Ent-
schuldigung, sagte Tom, legte den Arm um mich und
drckte mich leicht. Wie war das noch gleich mit diesem
Thiophylase?
Theophilus. Ich erzhlte es ihm noch einmal, whrend er
die CSL-Hausaufgaben vorbereitete. Nach einer Weile
versuchte er mich zu ignorieren, aber ich redete einfach
weiter, bis er die ganze Geschichte kannte - schlielich
wollte ich nicht nur fr Tom dasein, wenn er Hilfe brauchte,
sondern ich wollte auch seinen Rat.
Niemand gibt dem Neuen eine Chance, sagte ich
schlie-lich. Tom wirkte nun vllig frustriert und stand
anscheinend kurz vor dem Eingestndnis, Hilfe zu
bentigen.
Das ist immer der Fall bei Leuten, die anders sind, sagte
Tom.
So einen Schwachsinn erzhlte er immer, wenn er wollte,
da ich sein Zimmer verlie. In drei Monaten wrde er die
Erwachsenen-Prfung ablegen, und das letzte halbe Jahr war
er schon ganz verzweifelt, weil er in CSL so schlecht
abschnitt. Ich wnschte nur, er wre nicht so starrkpfig -
bei dem Gedanken, sich von seiner >kleinen Schwester<
helfen zu lassen, bekam er schier einen Rappel. (Dabei bin
ich nur neunzehn Monate jnger als er, verdammt.)
Der Rechner meldet sich schon seit etwa tausend Bytes.
Die KI weist darauf hin, da CSL auf der Erde nicht bekannt
sei. Na schn:
Es steht fr >Cyberntik, Semiotik und Logik< und befat
sich mit Prozeduren, Datenstrukturen, Machbarkeitstheore-
men, generalisierter Symbolmanipulation, Systemmodellen,
polytextueller Kommunikation und solchem Zeug. Wem das
nicht klar ist, der mu hochkommen und den Kurs belegen -
vertraut mir, es ist ganz leicht, nur nicht fr Tom.
Ich htte ihm sofort sagen knnen, was zu tun war er lie
gerade ein regionalisiertes CA-Programm ablaufen, und die
Basis seiner Master-Schablone war eindeutig von drei Viren
befallen. Aber er war zu stur, um sofort Hilfe anzunehmen;
weil ich jedoch wute, da er sie brauchte, blieb ich bei ihm,
bis er darum bat.
Er startete den vierten Testlauf derselben Logik Tom
versuchte die Viren immer durch bloe Iteration zu elimi-
nieren, als ob es von selbst besser wrde -, und natrlich
hatte er genauso wenig Erfolg wie zuvor. Hast du denn
keine Hausaufgaben? fragte er mich, ohne vom Bildschirm
aufzuschauen.
Ich habe sie schon gemacht. Es juckte mich in den
Fingern, die Tastatur an mich zu reien und das Problem zu
beheben; das Konzept hatte er wohl begriffen, aber mit der
Ausfhrung haperte es. Ich glaube, Theophilus wird
einfach nicht fair behandelt.
Niemand wird fair behandelt, meinte Tom. Wer das
von sich behauptet, hatte nur Glck.
Ich liebe meinen Bruder, sicher, aber seine Einstellung ...
Er pfuschte etwas zusammen, wodurch das eigentliche
Problem aber nicht behoben wurde. Es tat mir in der Seele
weh, ihn bei dieser Stmperei zu beobachten, aber wenn ich
jetzt etwas sagte, wrde er mich rausschmeien und es nie
hinbekommen.
Immerhin erhielt er jetzt eine Lsung fr das erste
Problem, und dann drehte er sich um und schaute mich an.
Was soll ich nun wegen dieses neuen Jungen
unternehmen?
Ich wei nicht. Du bist lter und weiser - praktisch schon
erwachsen. Erteile mir einen fundierten Ratschlag.
Ich bin noch nicht mal vierzehn, also nicht gerade im
weisen Alter. Ich wei auch nicht. Akzeptiert ihn einfach.
Helft ihm, sich zu integrieren. Das ist vorerst alles, was mir
dazu einfllt.
Darauf wre ich auch von selbst gekommen, sagte ich.
Siehst du, wie klug du schon bist? Du brauchst mich doch
gar nicht mehr. Er lie das zweite Problem laufen und
scheiterte. Er atmete tief und langsam durch, um sich zu
beruhigen, wie Papa es uns beigebracht hatte. Schlielich
sagte er: Aber ich brauche dich. Wie komme ich damit
klar?
Ich mute wirklich an mich halten, nicht zu sagen: Es ist
doch so einfach. Wie dem auch sei, nach drei Minuten
hatte ich das Problem behoben.
KAPITEL ZWEI
...............................................................

17. DEZEMBER 2025

Ich dachte, mit der Ablieferung der Arbeit wre alles


erledigt gewesen; aber nach einer Woche - gestern -
bestellte Dr. Lovell mich in ihr Bro. Als ich dort erschien,
hatte sie meinen Text schon in den Rechner geladen, und da
wurde mir klar, da es sich um eine grere Sache handelte,
als ich zuerst angenommen hatte. Ich ergriff eine Halte-
schlaufe, setzte mich und harrte der Dinge, die da kommen
wrden.
Gleich vorweg, Melpomene, so kann das nicht an die
Kultusbehrde weitergeleitet werden. Nicht einmal die Pas-
sagen, wo du versucht hast, einen Gedanken auszuformu-
lieren, sind dir gelungen.
Dazu hatte mein Wortschatz nicht ausgereicht.
Und ob du es glaubst oder nicht, an einigen Stellen
werden die Menschen auf der Erde Ansto nehmen.
Nun, ich hatte eigentlich geplant, den Text noch einmal
von den fr Public Relations zustndigen Knstlichen
Intelligen-zen redigieren zu lassen, aber ich hatte noch eine
Menge an-derer Hausaufgaben zu erledigen und ohnehin
nicht damit gerechnet, da dieser Text angenommen werden
wrde. Trotz der scheinbaren Bedeutungslosigkeit der Sache
ver-spre ich nun ein leichtes Unbehagen. Das Ma an
Sympa-thie, die ich Dr. Niwara entgegenbrachte, empfinde
ich an Antipathie fr Dr. Lovell, die ziemlich cryo ist, aber
es widerstrebt mir, in der Gegenwart einer Lehrerin eine
Sache nur halbherzig zu erledigen.
Und dann wre da natrlich noch das Thema der Arbeit,
fuhr sie fort.
Das war die Krux. Es tut mir leid, sagte ich. Ich wute
wirklich nicht, worber ich sonst htte schreiben sollen. Ich
wollte Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Beim nachfol-
genden Gedanken frstelte ich. Sie haben es doch nicht
etwa rausgeschickt, oder?
Sie schttelte den Kopf. Natrlich nicht. Und natrlich ist
dir kein anderes Thema eingefallen. Es geschieht nur sel-
ten, da Dr. Lovell einmal lchelt, aber zumindest versuchte
sie es und sagte dann: Keine Sorge, Melpomene, du hast
nichts zu befrchten. Deswegen bist du nicht hier.
In einer Hinsicht war das eine groe Erleichterung aber
andererseits wute ich auch schon, was rger mit der Schu-
le bedeutet. Worum auch immer es ging, ich wute es nicht.
In Ordnung, meinte ich. Mit dieser Aussage konnte ich
sicher nichts falsch machen.
Wie hast du dich denn gefhlt, nachdem du diesen
Aufsatz geschrieben hattest? fragte sie.
Jetzt wute ich Bescheid. Hier sprach nicht Dr. Lovell,
meine Lehrerin, sondern Dr. Lovell, Mitglied des CPB. Ich
vermite Papa - und Dr. Niwara und all die anderen
Erwachsenen - mehr als je zuvor. Nun, ich habe da wohl
einige Dinge zur Sprache gebracht, die mir vorher nicht
ganz klar gewesen waren. Ich glaube, da ich jetzt etwas
besser ber mich selbst Bescheid wei.
Das war noch nie dagewesen. Sie lachte. Du bist wirklich
Cornelius Murrays Tochter.
Gibt es daran vielleicht etwas auszusetzen?
Nein, ganz und gar nicht. Sie schttelte den Kopf. Ich
bin mit der ganzen Sache nur etwas berfordert, Melpome-
ne. Es tut mir leid, da ich eine so schwierige Gesprchs-
partnerin bin. Ich sollte wohl aufhren, auf den Busch zu
klopfen und dir endlich sagen, was anliegt. Dann kannst du
dich dazu uern.
Gut, keine Einwnde.
In Ordnung. Der CPB interessiert sich fr ein kleines
Problem, an das du vielleicht nie gedacht hast. Was wird
geschehen, wenn die Menschen auf der Erde prziser, die
Menschen im Westen - herausfinden, da wir wirklich hier
oben leben? Sie knnen das Schiff nicht lahmlegen - nach
mutAIDS und dem Eurokrieg ist die menschliche Zivilisa-
tion dazu einfach nicht imstande; es sei denn, sie wrden
binnen weniger Dekaden in groem Umfang die Ressourcen
des Weltraums erschlieen - aber sie knnten die Besatzun-
gen nur befristet einsetzen, und das wre fnfmal so teuer.
Mir stockte der Atem, und der Magen verkrampfte sich.
Sie meinen - sie wollen, da wir alle das Schiff verlassen?
Und ... fr jede Reise soll eine neue Besatzung zusammen-
gestellt werden ... ? Ich sprte, wie meine Augen feucht
wurden. Knnten sie das denn tun?
Sie streckte den Arm aus und ergriff meine freie Hand - es
war zwar eine unbeholfene Geste, aber ich wute, was sie
damit sagen wollte, und das half. Ja, das knnten sie. Aber
sie werden es nicht tun - wenn wir es richtig anstellen. Das
Problem ist, da wir mit einem zu kurzen Zeithorizont
kalkuliert haben. Wir htten erkennen mssen, da ihr - alle,
die hier geboren und aufgewachsen sind - euch stark von
den Menschen auf der Erde unterscheidet und da beide
Parteien den Unterschied bemerken, sobald sie Kontakt
miteinander aufnehmen. Und weil sie wissen, da ihr ihre
Geschichte kennt, fragen sie sich mit einer gewissen
Nervositt, welche Art von Menschen ihr wohl seid. Wenn
ihr in ihren Augen exotisch, ungewhnlich und bunt seid -
dann gibt es keine Probleme.
Aber wenn sie euch fr verschroben, unmoralisch und
verckt halten... nun, dann ist fast alles mglich.
Wir glauben, da ihre Einstellung hauptschlich vom
ersten Eindruck bestimmt wird, den sie von euch
bekommen. Weil eine Begegnung auf Dauer nicht zu
vermeiden ist, besteht das Problem also darin, wie das
Rendezvous der Erden-menschen mit diesen ... h ...
Aliens aussehen soll, half ich ihr aus der Verlegenheit.
Diese Bezeichnung hatten wir tatschlich benutzt, aber
wir wuten nicht, wie ihr darauf reagieren wrdet. Sie
berreichte mir einen Computerausdruck. Ich wei, da du
schon so gute Kenntnisse in CSL hast, um das zu verstehen.
Es handelt sich hierbei um eine memetische Simulation von
Bevlkerungs-Perzeptions-Profilen fr sechs unterschiedli-
che >Erstkontakte<. Ja, so nennen wir das.
Schnell erkannte ich die den Kurven und Linien der Grafik
zugrunde liegende Struktur. Warum als Hardcopy?
Warum wohl? Es gibt eine Anzahl Leute, insbesondere
recht junger und indiskreter Leute, die sich mit Computern
sehr gut auskennen. Sie lie diese Feststellung lange im
Raum stehen, um eine eventuelle verrterische Reaktion bei
mir zu provozieren. Bei einem Ausdruck haben wir die
Dateien direkt vor Augen und mssen sie nicht im Netz
lassen, wo sie womglich angezapft werden.
Die Grafik, die ich in Hnden hielt, zeigte ein Szenario,
das sich in allen >guten< Richtungen deutlich von den
anderen unterschied. Ich schaute nach unten auf die
Legende und sah, worum es sich handelte. Aha ein Buch,
ein Schulbuch ...
Die Oberschicht setzt die Mastbe fr die Unterschicht,
sowohl was Meinungen betrifft als auch Moden. Ober-
schicht-Kinder lesen mehr und glauben auch mehr von dem,
was sie lesen. Und Meinungen, die im ersten Lesejahrzehnt
erworben werden, sind tief verwurzelt und von hoher
emotionaler Intensitt.
Groartig, aber wer soll das denn schreiben und
verffentlichen?
Die NAC hlt groe Anteile an der Kultusbehrde und
hat im brigen genug Geld, um sich alles zu beschaffen, was
sie braucht. Und dann offenbarte sie mir, wer dieses Buch
schreiben sollte.
Also bin ich nun Autorin. Ich sage es mit meinen eigenen
Worten und versuche, die Milliarden zorniger Menschen zu
vergessen, die mir ber die Schulter schauen. Nun, ich
hoffe, euch gefllt es, denn mir gefllt es mit Sicherheit
nicht.
Obwohl ich mich nach meinen gestrigen
schriftstellerischen Aktivitten sogar etwas besser fhlte.
Wie dem auch sei, seit ich vor einer halben Stunde die
Hausaufgaben erledigt hatte, sitze ich hier und schreibe,
ohne indes das zu schreiben, was ich schreiben soll - welch
ein grlicher Satz -, aber ich glaubte eine Erklrung dafr
schuldig zu sein, weshalb ich die zulssige Anzahl der
Wrter so weit berschritten habe. Und zwar nicht der
Kultusbehrde, sondern euch, den Lesern.
Das ist der Grundgedanke, rckhaltlose Offenheit. Was fr
eine schreckliche Vorstellung.

Der nchste Morgen begann mit Einzelunterricht in Nicht-


Euklidischer Geometrie; ich wette, es ist berall das gleiche.
Man stpselt sich in eine KI ein, und die hilft einem bei
Problemen und erlutert den Lsungsweg.
Um zu verhindern, da Langeweile aufkommt, unterbricht
die KI oft den Vortrag - das nennt sich dann >Dialog<, und
dafr sind mindestens zwei Wochenstunden vorgesehen.
Die KI, mit der ich es an diesem Morgen zu tun bekam,
hie PLEL, ein sturer Pedant, bei dem der Unterricht keinen
Spa macht.
... MELPOMENE, DU HAST ANSCHEINEND EIN GU-
TES INTUITIVES VERSTNDNIS FR DIE PROBLE-
MATIK DES NEUNDIMENSIONALEN RAUMS.
... DANKE.
... MACHT DIR DAS SPASS?
... ICH GLAUBE, ICH MAG DISKRETE
DIMENSIONEN LIEBER ALS STETIGE. DIE
BEWEISFHRUNG ER-SCHEINT MIR ELEGANTER.
... WAS BEDEUTET erscheint mir eleganter?
Und so weiter. Manche von uns glauben, die KI tten das,
um ihre pdagogische Kompetenz oder die Beherrschung
der natrlichen Sprache zu verbessern; manche glauben
auch, auf diese Art wrde der CPB uns berwachen, mit den
allgegenwrtigen Kameras und durch stichprobenartiges
Abhren der Kommunikation.
Es war eine groe Erleichterung, als Dr. Niwara
verkndete: Die KI berichten, da ihr alle auerordentliche
Fortschritte macht. Wenn ihr mchtet, knnten wir heute
morgen Paar-Mathe spielen, um zu sehen, wie ihr mit
wechselnden Situationen zurechtkommt. Ich lasse in fnf
Minuten ab-stimmen.
Sofort ertnte berall das Klappern der Tastaturen. Ich gab
ein:
... JA, HRT SICH GUT AN.
Und dann schickte ich es mit meiner Signatur ab; inzwi-
schen wurden auf dem Bildschirm die Mitteilungen der an-
deren eingeblendet:
... ALLES, UM DIESE LANGWEILIGE KI
LOSZUWER-DEN! Gwenny Mori.
... ICH HABE HEUTE BOCK - SICHER. Bekka
Hayakawa.
... OKAY. Randy Schwartz.
Und so weiter, bis schlielich:
... WESHALB TUN WIR DAS? Theophilus Harrison.
... WIR WOLLEN EINEN KONSENS FINDEN, UND
DESHALB ENTSCHEIDEN WIR ALLE, WIE WIR AB-
STIMMEN. Mim Baum.
... WOZU EINEN KONSENS SCHON VOR DER
ABSTIMMUNG? Theophilus Harrison.
... WOZU ABSTIMMEN, WENN ES KEINEN
KONSENS GIBT? Mim Baum.
Gut, Mim. Provoziere ihn, Fragen zu stellen und dadurch
zu lernen. Ich tippte ein:
... WIR MCHTEN NICHT GEGEN UNSERE
FREUNDE STIMMEN.
... KONSENS WOFR? Roger Coelho.
Roger war immer daran gelegen, schon vorab einen
Konsens zu erklren. Ich glaube, er befrchtete, die Leute
wrden ihn nicht mgen, und deshalb wollte er ihnen schon
zustimmen, noch bevor die anderen berhaupt selbst eine
Entscheidung getroffen hatten.
Aber diesmal war es durchaus sinnvoll, zumal ohnehin
jeder dafr war. Als Dr. Niwara wenige Minuten spter zur
Abstimmung rief, gingen alle Hnde nach oben. Sie grinste -
ich liebte ihr Grinsen. Das war aber ein kurzer Multilog. In
Ordnung, hier sind eure Partner ...
Auf meinem Bildschirm wurde der Name PENNY
GRAHAM eingeblendet; sie war ganz gut in Mathe, wie ich
auch - in Paar-Mathe hatte sie sechzehn Punkte und ich
vierzehn.
(Noch eine Meldung vom Rechner. Die Schulen auf der
Erde muten wirklich seltsam sein - sie kannten kein Paar-
Mathe; ohne dieses Fach konnte ich mir die Schule kaum
vorstellen. Den Unterlagen zufolge machten die Schler auf
der Erde alles allein. Wozu gingen sie dann berhaupt noch
zur Schule? Nun, wie dem auch sei, bei Paar-Mathe handelt
es sich um einen Wettbewerb, bei dem mit einer
Zeitvorgabe versehene mathematische Probleme zu lsen
sind und wo die beiden Partner danach beurteilt werden, wie
schnell sie die richtige Antwort finden; jede Art der
Zusammenarbeit ist erlaubt. Beide erhalten dann die
Durchschnittspunktzahl.)
Weil neben mir ein paar Bnke frei waren, nahm Penelope
ihr Notebook und setzte sich neben mich. (Warum nur
nannte jemand mit einem so melodischen und klangvollen
Namen wie >Penelope< sich >Penny<? Und mich rief sie
immer >Mel<.)
Schau'n wir mal, was anliegt, sagte sie. Randy
Schwartz ist mit Gwenny Mori zusammen; die Sieger stehen
also schon fest.
Es sei denn, Theophilus schlgt Randy so wie gestern.
Keine Chance. Er bildet ein Team mit Barry Yang. Barry
mu ungefhr fnfundzwanzig Punkte haben. Sechsund-
zwanzig, korrigierte ich nach einem Blick auf den
Bildschirm. Mehr als Chris Kim und Dmitri Onegin, aber
weniger als alle anderen.
Unsere Computer piepsten leise, als der Zentralrechner
sich zuschaltete, und dann ging es los. Ich mag Paar-Mathe
mit Penelope, weil wir fast gleich gut sind; es gibt also
keinen Sieger und keinen Verlierer.
Wir beschftigten uns berwiegend mit unseren eigenen
Problemen und arbeiteten nur bei den schwierigen Fragen
zusammen. Im Hintergrund hrte ich Randy und Gwenny
streiten - der Fluch der geballten Intelligenz in einem Team
-, und neben mir hrte ich, wie Miriam Chris Kim etwas zu
erklren versuchte, der von Mathe nun gar keine Ahnung
hat.
Schlielich war es vorbei. Dr. Niwara verlas die
Ergebnisse. Penelope und ich hatten in etwa wie erwartet
abgeschnitten - unsere Leistung war konstant geblieben.
Miriam hatte Chris mitgezogen, und obwohl sie sich um
einen Punkt ver-schlechtert hatte, hatte er sich um fnf
verbessert. Sie drckten sich.
Nett, flsterte ich. junges Glck ...
Da Miriam in diesem Jahr so zugelegt hat, ist fr Chris
wahrscheinlich noch erfreulicher als seine eigene Verbes-
serung, mutmate Penelope.
Wie es aussieht, ist das sogar der Grund fr die Verbes-
serung. Ich wei zwar nicht, ob sie mich gehrt hatte, aber
just in diesem Augenblick drehte Dr. Niwara sich um, und
wir machten eine unschuldige Miene.
Sie fuhr mit der Bekanntgabe der Noten fort, wobei sie die
beiden erstplazierten Teams wie immer bis zum Schlu
aufhob.
Sieger waren Theophilus und Barry. Gwenny und Randy
waren Zweite.
Alle waren vllig perplex.
Nachdem wir uns wieder gesetzt hatten, berspielte
Miriam mir eine private Mitteilung auf den Bildschirm: ...
PAUSE HEUTE = AEROCROSSE. TH = TOT.
D'ARTAGNAN. ... POS-DEF.
WAS KANN ICH TUN? erwiderte ich. Vorsichtshalber
signierte ich mit meinem Codenamen >Hornblower<.
... WIR KNNTEN ...
Ein Piepston am Podium machte Dr. Niwara darauf
aufmerksam, da eine private Verbindung zwischen dem
Klassenzimmer und einer externen Stelle geschaltet war.
Wir hatten uns aber schon lange vorher in die Alarmschal-
tung eingeloggt und brachen die Verbindung sofort ab, als
sie entdeckt wurde. Es mute Dr. Niwara fast zum Wahn-
sinn treiben, aber anscheinend ignorierte sie das Piepsen -
aber es brach nicht ab und zeigte damit an, da jemand ihre
Autoritt untergrub.
Ich schaute zu Randy Schwartz hinber. Sein Gesicht war
so rot wie der Feuerstrahl des Haupttriebwerks, aber er war
noch viel gefhrlicher, weil er sich nmlich mitten unter uns
befand.
Trotzdem wrde Randy etwas Zeit bleiben, sich
abzukhlen, denn vor der Aufnahme stand noch etwas
anderes auf der Tagesordnung: die allwchentliche Erd-
Horror-Stunde, wo wir alle stillsitzen und dumm auf unsere
Computerbildschir-me starren muten. Nun sah ich zum
erstenmal in meinem Leben einen Sinn in dieser bung.
Die Erd-Horror-Stunde ist so unsglich bld, da ich mir
nicht einmal sicher bin, ob ich euch damit behelligen soll.
Sofern das berhaupt jemand sagen kann, soll sie uns wohl
verdeutlichen, wie gut wir es hier oben haben, oder
vielleicht sollen wir dadurch motiviert werden, die Erde zu
retten, oder was auch immer.
Die offizielle Bezeichnung lautet >Der aktuelle Stand der
Krise: Die Lage auf der Erde heute<, und das erscheint dann
auf unseren Bildschirmen, und wir mssen es eine ganze
Stunde lang betrachten. Danach wird der Inhalt auch noch
abgeprft. Whrenddessen sind unsere Computer blockiert,
so da wir uns dem Vorgang auch nicht entziehen knnen.
Davon abgesehen, da Randy sich whrend dieser Stunde
abkhlen konnte, hatte die Sache noch den einen Vorteil,
da sie als Frhwarnsystem fungierte, wenn bei Mutter und
Papa wieder einmal die Sicherungen durchbrannten. Immer,
wenn sich in der Nhe der Ruinen von Chicago, wo sie
aufgewachsen waren, ein Vorfall ereignete, waren sie die
nchsten paar Tage nicht zu genieen - so verrckt sich das
auch anhren mag.
Andere Eltern rasten schlielich auch nicht gleich aus,
wenn aus dem Dreckloch, dem sie entstammen, schlechte
Neuig-keiten zu vermelden sind, aber wenn die
Allgemeinheit etwas tut, mu das noch lange kein Beweis
dafr sein, da es auch sinnvoll ist. Schlielich war es schon
zwanzig Jahre her, und wenn die Erwachsenen sich so
darber aufregten, da alles zerstrt war, dann htten sie
von vornherein keinen Krieg fhren drfen, rechtzeitig
etwas gegen AIDS unter-nehmen sollen, bevor es sich in
mutAIDS verwandelte, und den Klimaschutz verbessern
mssen. Ehrlich gesagt, sie erinnern mich an Dreijhrige im
Kindergarten, die alles kaputtmachen und dann losheulen,
weil die Sachen nun kaputt sind. Ich hoffe nur, da ich als
Erwachsene nicht so bescheuert bin.
Diese Woche lautete das Thema >Tendenz zu Miernten<.
Das ist immer so traurig, und wenn die Leute so viele
verengende Tiere sehen, verursachen sie nicht die blichen
Gerusche, bei denen Dr. Nirwana immer mit strengem
Blick durch die Reihen geht. Verendende Rinder haben
einen so traurigen Blick - mit ihren groen braunen Augen.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie die Menschen es
bers Herz bringen, sie zu essen ... ich meine, Schweine und
Kaninchen haben kleine Knopfaugen und hliche kleine
Gesichter, und wen kmmert es schon, was mit ihnen
geschieht, aber wenn man das Leiden dieser armen groen
Tiere sieht ...
Sie laberten uns die Ohren voll ber all die Orte, an denen
es Miernten gegeben hatte. Ich verwechsle immer China
und Chile, aber beide Lnder schien es gleichermaen er-
wischt zu haben, zusammen mit dem grten Teil Nordame-
rikas und Eurasiens. Die Stimme trug immer wieder diesel-
ben Erklrungen vor, ans ob wir schwer von Begriff wren,
da die Winter nun so kalt seien und die Sommer so hei
und da das Wasser nach der Schneeschmelze abflo, noch
bevor der Boden auftaute und es in ihm versickerte.
Baut doch Speichertanks, ihr nrrischen Erdlinge, hrte
ich Kwame hinter mir murmeln. Dies war einer der wenigen
Punkte, wo ich ihm beipflichtete.
So leicht ist das nun auch wieder nicht, sagte Dr. Niwara
leise, und die Darstellung auf den Monitoren verwandelte
sich in ein Standbild. Ein Sthnen ging durch den Raum, als
wir erkannten, da sie von ihrer Option Gebrauch machte,
den Vortrag zu unterbrechen und selbst Erklrungen zu
geben. Sie ignorierte die Unmutsbekundung und sagte:
Kwames Frage ist berechtigt, aber die Antwort lautet, da
die Erde viel zu gro ist, als da wir trotz unserer
fortgeschrittenen Technologie genug Speichertanks fr ihren
Wasserbedarf errichten knnten - und vor allem wollen wir
die Erde nicht mit Speichern verunstalten, die vielleicht nur
gebraucht werden, bis eine neuerliche Klimavernderung
eintritt. Wenn diese Speicher dann fertiggestellt sind, wird
vielleicht etwas ganz anderes gebraucht. Also sieht die
Antwort so aus, da es keine Antwort gibt auer Leiden und
Sterben.
Knnte man dann nicht wenigstens diese armen Khe
schlachten und hungrige Menschen damit ernhren? fragte
Penelope.
Diese Khe werden im Frhling vor den Pflug gespannt,
erluterte Dr. Niwara mit einem ungeduldigen Unterton.
Wenn du zugehrt httest: diese Erklrung kam schon auf
der Tonspur ...
Aber weshalb bauen sie dann nicht einfach mehr
Traktoren? fragte sie, wobei sie Dr. Niwara ins Wort fiel -
niemand von uns htte das gewagt, aber pltzlich erkannte
ich, da Penelope aufgebracht war.
Ein Traktor bentigt einen Fahrer, einen Mechaniker und
vor allem jemanden, der einen Bauernhof betreibt - und
solche Dinge lernt man nicht ber Nacht, erwiderte Dr.
Niwara. So, wie sie die Tastatur bearbeitete, berprfte sie
wohl, ob wir beim Test nach der ErdHorror-Stunde
geschummelt hatten. Nun, da die Erde wieder ber
ausreichend Energie und kompakte Kraftwerke verfgt,
werden Traktoren auf die Felder geschickt und Fachkrfte
ausgebildet - aber zur Zeit wissen die meisten Leute nur,
wie man einen Ochsen vor den Pflug spannt, und auerdem
stehen fr die bentigten Anbauflchen nicht genug Trakto-
ren bereit. Wre es dir vielleicht lieber, die Menschen
wrden berhaupt nicht arbeiten und kein Getreide anbauen,
als wenn sie Ochsen einsetzten?
Penelope schttelte den Kopf; Trnen glitzerten in ihren
Augen. Die Ochsen haben einfach so traurig geschaut. Ich
wei nicht, was sie sonst tun knnten, aber das ist falsch.
Dr. Niwara setzte sich auf die Stuhlkante und sagte: Wit
ihr, im Moment habe ich ein groes Problem. Ich habe euch
alle ber verhungernde Kinder und Erwachsene lachen se-
hen, besonders, als manche von euch sie schaute Kwame
an - unreife, taktlose Bemerkungen ber sie gemacht
haben. Ich habe euch gesagt, und das Video hat euch gesagt,
da trotz all unserer Bemhungen und des Einsatzes
buchstblich tausender Rettungs-Hubschrauber jede Stunde
auf der Erde mehr Kinder an Cholera, Typhus und
Diphtherie sterben, als dieses Schiff Besatzungsmitglieder
hat - Krankheiten, die seit hundert Jahren heilbar sind -, und
mir ist aufgefallen, da ihr auch nicht einen Augenblick lang
Trauer gezeigt habt. Nicht einmal die Tatsache, da ihr alle
noch jung seid und praktisch niemand von euch mehr
Groeltern hat, scheint in euer Bewutsein zu dringen.
Ich habe euch gezeigt, da die ganze Arbeit, welche die
Menschen in vielen Jahren in diese Stdte investiert hatten,
vllig umsonst war - ich habe euch das Video mit den
schwarzen Wolken gezeigt, die von der Wste Amazoniens
bis nach Arabien wanderten und den Zyklon von '21, der
ber ein halbes Jahr lang in der quatorzone tobte und mehr
als zehn Millionen Todesopfer forderte -; erinnert sich denn
berhaupt noch jemand von euch an die Menschen, die in
Peru von der Brandung gegen die Pier geschleudert und
zermalmt wurden?
Ich erinnerte mich durchaus noch daran, aber ich glaubte
nicht, da mir das in diesem Moment einen Punkt einge-
bracht htte. Und im brigen hatte ich keine Ahnung, wo-
rauf sie berhaupt hinauswollte.
Sie wute es vielleicht selbst nicht, denn nachdem sie die
Belegschaft ein letztes Mal lange gemustert hatte, berlie
sie uns wieder der Erd-Horror-Stunde. Wir sahen noch mehr
verendende Khe, und dann erschien eine recht interessante
Grafik, die zeigte, wie ein Kampfstoff zur Vernichtung von
Reiskulturen sich nach der Bombardierung der Labors fr
biologische Kriegsfhrung in Manila und Jakarta ber alle
Reisanbaugebiete, verbreitet hatte; mit der abwrts gerichte-
ten Kurve fr die Reisernte schnitt sich eine nach oben
schieende Kurve mit der Legende >Unterernhrung<, aber
die interessanten Grafiken wurden alle in diese Bilder mit
verhungernden, zerlumpten Menschen eingeblendet, die
staubige Straen entlanggingen. Stndig sah ich sie barfu
durch den Dreck schlurfen, und das war so degoutant, da
ich gar nicht erfate, worum es berhaupt ging - ich meine,
wenn sie erst einmal die Lager erreicht hatten, gab es doch
Weltraum-Getreide in Hlle und Flle. Sie muten nur den
Marsch fortsetzen ... ich bin sicher, da das unter der hohen
Schwerkraft kein Vergngen war, aber ich hatte irgendwie
den Eindruck, da sie daran gewhnt waren.
Vielleicht besteht der Zweck aber auch nur darin,
Schuldkomplexe wegen unseres guten Lebens hervorzuru-
fen. Ich habe mit Papa darber gesprochen, und der meint,
man wolle uns >motivieren<, die Weltraumproduktion
hochzufahren, bevor die Lage auf der Erde noch desolater
wird - aber ich verstehe nicht ganz, was das mit uns zu tun
hat. Wenn die Weltraumindustrie und der Weltraumbergbau
sich nicht entwickeln, wenn das Terraforming auf dem Mars
nicht funktioniert, wird der Fliegende Hollnder keine
Fracht transportieren und ausgemustert werden - aber wir
drfen nicht zulassen, da dem Schiff so etwas widerfhrt.
Schlielich ist es unsere Heimat.
Fr wie dumm hlt man uns eigentlich, da man glaubt,
wir mten jede Woche eine Stunde damit verschwenden,
uns wegen jedes verhungernden Ausstzigen, oder wie auch
immer man sie heutzutage nennt, wegen jedes abgebrannten
Waldes und jeder ausgestorbenen Spezies auf der Erde ein
schlechtes Gewissen zu machen, nur damit wir motiviert
werden, das System aufrechtzuerhalten?
So sehr ich mich auch ber die Atempause freute, die diese
Stunde fr Theophilus darstellte, so berkam mich doch
bald wieder die bliche Langeweile und Gereiztheit. Der
Anla fr die Erd-Horror-Stunde war so obskur wie immer.
Es war die Rede von einer Vergletscherung ostafrikanischer
Berge, und es wurden Aufnahmen von Sturzfluten gezeigt,
die nach dem Bruch von Eisbarrieren zu Tal rasten; das war
lustig anzusehen, aber dann brachten sie diese degoutanten
Nahaufnahmen - ein Lwe lag tot im Schlamm und hatte die
Tatzen auf den Bauch gelegt, eine Pavianmutter trug ihr
totes Junges mit sich herum, und eine Rotte verzweifelt
dreinblickender Menschen bestellte mit primitiven Hacken
den Boden. Nach Dr. Niwaras Ausbruch verkniff ich mir die
Bemerkung, da sie sich doch ein paar elektrische
Gartenwerkzeuge kaufen sollten, aber es lag mir auf der
Zunge.
Endlich war diese erbrmliche Vorstellung vorber, aber
es dauerte noch zehn Minuten, bis wir an der Reihe waren,
durch die Korridore zu den Groen Gemeinschaftsrumen
zu gehen; und so befand Dr. Niwara, da wir unsere Studien
bezglich der Erdschweine noch vertiefen sollten. Theo-
philus, sagte sie, wenn das mglich wre, mchte ich, da
du der Klasse noch ein wenig davon erzhlst, was du unten
auf der Erde gesehen hast.
Er stand auf, als ob sie von ihm verlangt htte, sich als
Freiwilliger fr eine Demo-Kastration im Labor zu melden,
und ging langsam und bedchtig zur Stirnseite des Raums.
Ich war mir nicht sicher, ob er noch immer Probleme mit
dem Gehen oder nur keine Lust hatte. Vielleicht traf beides
zu.
h ... nun, ich komme aus dem Bergland von Georgia,
einem Bundesstaat der USA. Und ... h ... so schlimm war
es dort eigentlich gar nicht. Ich erinnere mich zwar, da wir
whrend des Zyklons einige groe Strme hatten, und auf
den Videos hie es immer, da Stdte wie New Orleans,
Tampa und andere ins Meer gesplt worden wren; aber
dort, wo ich lebte, fiel blo die Schule aus, weil es so heftig
strmte, da die Stromleitungen unterbrochen wurden.
Ich meine, ich habe das alles auch auf Video gesehen, aber
mein Vater ist Spezialist fr Niedergravitationswasserwirt-
schaft, und meine Mutter ist Volkswirtin, und deshalb ging
es uns nicht allzu schlecht ... auer, da wir ein paarmal in
einiger Entfernung Maschinengewehrfeuer hrten, weil die
Polizei Vags eliminieren mute. Wir hatten ein Mdchen an
der Schule, dessen Mutter umkam, als Vags ihre Fhre bei
der Landung abschossen - sie tun das, um die Leichen zu
fleddern, was ich fr ziemlich abscheulich halte, wenn ihr
mich fragt.
Vor lauter Anspannung knabberte Dr. Niwara am Daumen,
ich vermute, Theophilus redete ihrer Ansicht nach am
Thema vorbei.
Was sind denn Vags? fragte Chris Kim - vielleicht der
einzige im Raum, der sich nicht scheute, seine Unkenntnis
zuzugeben.
Ach, weit du, wie diese wandernden Leute auf dem
Video, das wir eben gesehen haben. Menschen ohne Geld,
die sich zu Banden zusammenschlieen. Sie haben keine
Arbeit und weigern sich auch, in die Lager zu gehen, denn
sie betrachten sich nicht als Flchtlinge; sie wollen
Schadenersatz fr die Huser und Geschfte und die anderen
Dinge, die sie angeblich verloren haben. Ich wette, die
meisten von ihnen tuschen diese Verluste nur vor. Im
Grunde sind sie blo Diebe und Ruber. Und sie sind gar
kein so groes Problem - als die Firma meines Vaters
Whitfield erwarb, um dort ihr Hauptquartier zu errichten,
zogen sie einfach eine hohe Mauer um die Stadt und stellten
viele Wachen ein. Es hat nie Probleme gegeben; nur einmal
ist eine Rakete im Park eingeschlagen und hat den
Ententeich verwstet. Sein Blick wurde traurig und
entrckt. Das war wirklich eine Schande. In diesem kleinen
Teich hatte es dreiig oder vierzig weie Enten gegeben, ein
idyllisches Bild, aber am nchsten Tag war dort nur noch
eine Schlammkuhle, und die Enten hingen tot in den
Bumen oder lagen zerfetzt auf dem Boden.
Das war irgendwie interessant - und traurig -, aber nun
wurde er von Dr. Niwara unterbrochen. Ahem ... ich
glaube, wir haben uns fr diese Woche genug mit diesem
Thema befat. Vielleicht knntest du uns noch etwas von dir
erzhlen, bevor wir in die Pause gehen? Das versprach
interessanter zu werden. Am meisten interessierten uns seine
schulischen Leistungen. Sein Lieblingsfach war Mathe -
kein Wunder -, aber er machte sich nicht viel aus
Gemeinschaftskunde und Literatur. Er sprach mit einem
lustigen Akzent und beherrschte Englisch und Spanisch,
aber kein Esperanto oder Japanisch; also wrde er auch nach
der Erwachsenen-Abschluprfung noch Sprachunterricht
nehmen mssen.
Die ganze Zeit, whrend Theophilus dieser Befragung
unterzogen wurde, starrte Randy ihn haerfllt an. Mein
Computer meldete sich:
... WARUM WIRST DU NICHT SEINE MENTORIN?
ER BRAUCHT EINEN FREUND - D'Artagnan.
Hornblower meldete pos-def.

In der Nachmittagspause fuhren wir alle mit dem


Omnivator nach oben ins Zentrum des Pilzes.
(Dmlicher Rechner! Wieder so ein blder Hinweis.) Der
Pilz ist dieses groe Metallding mit der Form eines Pilzes,
der oben aus dem Fliegenden Hollnder herausragt. Er
rotiert, so da wir einen Ort mit hoher Schwerkraft haben.
Wir mssen ihn jeden Tag aufsuchen und viel Sport treiben,
um Muskelschwund vorzubeugen. Auerdem sollen wir
dadurch auf einen spteren Besuch auf der Erde vorbereitet
werden, aber weshalb soll man sich in eine Umgebung mit
hoher Schwerkraft, Keimen und ohne Temperaturkontrolle
wagen, wenn man sie auch hier im Video beobachten kann?
Wir spielten Aerocrosse in der Groen
Gemeinschaftshalle, einem zylindrischen Raum mit einen
Durchmesser von etwa fnfzig und einer Hhe von
zweihundert Metern. Diese Kammer befindet, sich im
Hauptkrper, also im Asteroiden.
Der Aufstieg in den Omnivatoren dauerte ziemlich lange,
und wo sonst immer herumgealbert und gekichert wurde,
hrte man heute nur Geflster, das sich ausschlielich um
ein Thema drehte.
Was glaubst du, wird Randy mit ihm machen, Mel?
hauchte Miriam mir ins Ohr.
Alles, womit er straffrei ausgeht.
Wir erreichten eine Kreuzung und stieen uns von einer
netzverkleideten Wand zur anderen ab. Theophilus fiel zu-
rck - er hatte sich noch immer nicht an das Hangeln ge-
whnt. Obwohl ich versuchte, Verstndnis fr ihn aufzu-
bringen, wunderte ich mich dennoch, da er sich so schwer-
tat. Ich meine, wir alle konnten doch auch so gut gehen wie
er.
Papa bezeichnet den Umkleideraum der
Gemeinschaftshalle immer als >Zoo<. Einfach jeder hat
etwas zu sagen. Heute bewunderten wir Miriams neues
Kreuz Ahorn, der in einem Bonsai-Tank gezogen worden
war. Sogar die Lcher fr die Schnur sind gezchtet,
sagte sie stolz. Und das Netz besteht aus strukturiertem
Monomyl.
Das weckte natrlich die Begehrlichkeit der anderen. Ist
das aber schn, Mim. Ich mu meinen Vater berreden, da
er mir auch eins kauft, sagte Gwenny. Sie schob sich das
hellbraune Haar zurck und schttelte es - es fiel ihr bis auf
die Schultern, wirklich lang, und man konnte meinen, die
Keime wrden sich darin tummeln, aber den Jungs schien es
zu gefallen -, bevor sie sicherheitshalber hinzufgte: Armer
Papa, ich sehe ihn kaum noch, wo er jetzt in vier Komitees
sitzt.
Ich wei, was du meinst, sagte Penelope. Obwohl es
nur um Technikkram geht, ist es doch zeitraubend.
Meine Mutter hat berhaupt nie Zeit fr mich - bei den
ganzen Sachen, die sie immer verffentlicht.
Carole nickte. Ja, ihre Arbeiten erscheinen auf der ganzen
Erde, nicht wahr? Nur gut, da sie eine solche
Beschftigung hat, wenn sie schon keinen
schiffsspezifischen Beruf ausbt.
Dankbar fr diese Untersttzung lchelte Gwenny Carole
an und machte ihr Komplimente wegen ihres neuen Kleids.
Whrenddessen zeigte Miriam Penelope ihr neues Kreuz.
Weil es aber nie viel zu erzhlen gibt, ist eine solche Runde
immer schnell beendet.
Vor einem Jahr hatte ich die Gelegenheit gehabt, mich in
Szene zu setzen, und whrend ich mein schlichtes Fiberglas-
Kreuz mit Miriams schnem Exemplar verglich, wollte ich
schon etwas ber Papas Arbeit einflieen lassen - der CPB
ist so wichtig, da der Brgermeister und der Rat nur mit
Zustimmung des CPB aktiv werden drfen.
Aus diesem Grund hatte Mutters Stelle in der Abteilung
fr Langfrist-Wirtschaftsprognosen auch immer das
Potential fr einen kometenhaften Aufstieg umfat.
Aber ich hielt mich dann doch zurck, denn andernfalls
wre sicher zur Sprache gekommen, da Mutter die Stelle
gekndigt hatte. Sie arbeitete schon seit zehn Monaten nicht
mehr und verbrachte fast die ganze Zeit damit, zu Hause zu
sitzen und zu lesen; die Leute bezeichneten sie als asozial,
auch wenn sie mir das nicht ins Gesicht sagten.
Ich war vllig in Gedanken versunken und merkte gar
nicht, da ich mich nicht mehr bewegte und alle anderen
sich umzogen, bis Carole an mir vorbeiging; ich schaute auf
und sah, da ich fast allein war. Hastig zog ich mich um,
aber trotzdem betrat ich als letzte die Gemeinschaftshalle.
Dr. Niwara schaute mich belustigt an, und ich befrchtete
schon, sie wrde wieder etwas von Tagtrumen erzhlen,
aber sie sagte nichts. Und ... jetzt sind alle da - gut,
Melpomene, du stellst auf.
Das ist keine groartige Sache. Man bringt nur die Tore
nach oben, hngt sie ein und pumpt sie mit der Preluftdose
auf. Aufgeblasen haben sie einen Durchmesser von einem
Meter und ein Gewicht von etwa zweihundert Gramm; wenn
das Spiel luft, dauert es bei niedriger Schwerkraft fast zehn
Minuten, bis sie zu Boden fallen; zusammengefaltet passen
sie in eine Grteltasche, und man kann einfach nach oben
springen und schwimmen. Auerdem waren es noch nie so
wenige gewesen - durch den Zugang von Theophilus be-
stand die Klasse nun aus achtundzwanzig Schlern, wo-
durch sich sieben Viererteams statt neun Dreierteams
ergaben.
Als ich wieder unten war, hatten die Spielfhrer bereits
ihre Teams ausgewhlt. Ich war bei Barry Yang in Team
Sechs, zusammen mit Kwame (Im Ohrhrer hrte ich, wie
sie ber ihn lsterten!) und Ysande Kravizi, einem stillen,
fast scheuen Mdchen. (Obwohl sie im Rckblick doch
nicht so scheu war. Sie legte die Erwachsenen-
Abschluprfung so frh ab, da sie noch mit dreizehn
heiratete. Manchmal verblffen die Leute einen schon.)
Es war ein halbwegs brauchbares Team - ich beherrsche
Kunststcke in der Luft, die andere nicht knnen, Barry
verkrpert die seltene Synthese aus Gre und Schnellig-
keit, und Ysande hat ein exzellentes Ballgefhl. Kwame ist
jedoch eine Niete und stellte somit unser schwaches Glied
dar.
Miriam war Mannschaftskapitn und htte mich auswhlen
knnen, wenn sie sich nicht zuerst fr Gwenny Mori
entschieden htte. Aber Gwenny ist eine ausgezeichnete
Spielerin. Und dann wurde ich von Barry Yang ausgewhlt,
der indes ein besserer Mannschaftskapitn war als Miriam,
auch wenn er ein Kumpel von Randy Schwartz war.
Es war keine berraschung, da Theophilus als letzter
vom letzten Mannschaftskapitn, Paul Kyromeides,
ausgewhlt wurde. Niemand wute, ob er spielen konnte
oder nicht; auf jeden Fall hatte er tags zuvor keine gute
Figur in der niedrigen Gravitation gemacht.
Gut, sagte Dr. Niwara. Gehen wir noch einmal die
Regeln durch. Das hatten wir schon seit drei Jahren nicht
mehr getan, aber das wute Theophilus ja nicht. Wei
jeder, wer sein Mannschaftskapitn ist? Achtet darauf, da
ihr euch auf der Team-Frequenz befindet, und auf eurem
Kreuz steht die Team-Kennung. Ich sah, da Paul
Theophilus und die beiden anderen Teammitglieder zusam-
menrief, um sicherzugehen, da alle Bescheid wuten.
Und so luft es, fuhr Dr. Niwara fort. Die Teams Eins
bis Sechs haben die Tore Eins bis Sechs; an allen Seiten der
Tore leuchten eure Team-Nummern. Team Sieben hat kein
Tor.
Wir spielen mit drei Wurfbllen. Jeder Ball trgt die
Signatur des Kreuzes, das ihn zuletzt berhrt hat. Wird ein
Tor erzielt, geht besagtes Tor an das vom Ball identifizierte
Team ber. Das wird als >Eroberung< bezeichnet.
Wenn ein Ball ins Tor geht, habt ihr zwei Sekunden, um
ihn mit einem Ball zu treffen, der eure Signatur trgt. Dann
geht das Tor an die andere Mannschaft. Eure
Gesamtpunktzahl errechnet sich aus allen Eroberungen,
abzglich der Tore, welche die anderen Mannschaften von
euch erobert haben.
Hrt auf euren Mannschaftskapitn. Er wird euch sagen,
welche Tore zu verteidigen oder zu erobern sind. Die
Allianzen zwischen den Teams ndern sich stndig.
Ihr drft andere Spieler anrempeln, sie aber nicht schlagen,
treten oder klammern.
Und noch etwas - das Wichtigste. Der Kapitn des Schiffs
meldet, da die Schwerkraft heute unter 0,008 Ge liegt; die
Tore werden also relativ schnell absinken, und ihr mt
heftig paddeln. Ihr solltet es vermeiden, die ganzen zwei-
hundert Meter bis zum Boden zu fallen - ihr knntet so hart
aufkommen, da ihr euch den Knchel verstaucht. Wenn es
euch nicht gelingt, in der Mitte der Halle zu bleiben und mit
den Flossen die Wand zu erreichen, geratet nicht in Panik -
es dauert ber eine Minute, bis ihr unten aufkommt. Stellt
die Flossen senkrecht zur Bewegungsrichtung und scheut
euch nicht, um Hilfe zu rufen. Ruft einfach >Ich falle!<.
Mannschaftskapitne, achtet auf den Punktestand und
aktualisiert eure Strategie. Sie musterte die Wand, wo wir
alle an Sicherheitsgurten hingen oder auf den Landeplatt-
formen saen. Noch Fragen? Keine Fragen.
Dann ging alles sehr schnell. Die Leute verteilten sich auf
die Tore - jedes Team mute vor Beginn des Spiels sein Tor
berhren, wobei Team Sieben auf dem Boden der
Gemeinschaftshalle wartete - und dann bettigte Dr. Niwara
den Schalter, worauf das Katapult ein paarmal rotierte und
die drei Blle in die Halle scho. Wir jagten ihnen nach;
diejenigen, die leer ausgingen, stellten die Armflossen auf,
krmmten den Rcken und segelten zu den Lande-
Plattformen hinber. Dann sprangen sie wieder nach oben.
Paul erhaschte einen Ball und schlug eine Rolle, bevor er
die Plattform erreichte; dann scho er in die Hhe und
landete an der Rckseite des Tors von Team Fnf. Er
schwang sein Kreuz und schlug den Ball gegen die grere
Sphre des Tors. Nach zwei Sekunden wechselte die rote
>5< zu einer purpurnen >7<. Paul postierte Theophilus am
Tor, wahrscheinlich um es ihm leicht zu machen.
Doch bevor Theophilus noch Position beziehen konnte,
eroberte Randy Schwartz das Tor fr Team Drei, wobei er
horizontal von der Wand hereinkam, einkurvte und so
schnell wieder abdrehte, da Theophilus ihn nicht mehr
erwischte.
All das registrierte ich aus dem Augenwinkel und
versuchte gleichzeitig, mich vor Prellbllen und
berraschungsangrif-fen in acht zu nehmen. Von den
Teams zwei und drei gleichzeitig attackiert, hatten wir alle
Mhe, unser Tor zu verteidigen.
Barry wies uns an, das Tor weiter nach oben zu verlegen,
und Drei griff unvermittelt Zwei an, was uns eine
Atempause verschaffte; wir befanden uns nun ganz oben,
und die Blle flogen zum grten Teil weit unter uns durch
die Halle.
Zieh Mel und Kwame ab, Kwame fhrt, ertnte Barrys
Stimme in meine Ohrhrer. Greift das Tor an, das Drei
gerade erobert hat. Ich hielt es fr ein schlechtes Manver,
besonders von einem so guten Spieler wie Barry, zwei Leute
von unserem Tor abzuziehen, aber er war der Chef. Ich flog
hinter Kwame her, schwamm dann zur Decke, schlug eine
Rolle und stie mich nach unten ab.
Manchmal gelingt es einem, im Sturzflug einen Ball
abzufangen, und dann taucht man hurtig zum Boden und
bricht zum Ziel durch. Genau das war unser Plan.
Kwame segelte am Tor von Drei vorbei, aber eine Sekunde
bevor der Ball auf dem Boden auftraf, erwischte er ihn und
warf ihn mir zu. Mein Kreuz gab ein dumpfes Gerusch von
sich, als ich die Sicherung bettigte und der Deckel sich
schlo. Kwame schaffte es, gegen ein in Flugrichtung
stehendes Elasto-Brett zu prallen und scho wie eine Rakete
in die Hhe; so tolpatschig, wie er nun einmal war, hatte ich
schon befrchtet, er htte sich den Knchel verstaucht, aber
anscheinend wurde er immer besser.
Er scho auf das dreiig Meter ber ihm stehende Tor Drei
zu. Ich wich etwas zur Seite aus und streckte mich zu einem
Sturzflug auf Tor Drei, wobei die Beinflossen durch die Luft
schnitten. Vielleicht gelang es uns, sie in die Zange zu
nehmen - die Verteidigung gegen einen solchen Angriff
war, extrem schwierig, vor allem, wenn, wie in diesem Fall,
ein Angreifer von oben kam.
Randy Schwartz verteidigte das Tor von oben. Theophilus,
der unbeholfen durch die Luft ruderte, flog zwischen uns
hindurch, und mit einem festen Tritt stie Randy sich von
seinem Tor ab, bugsierte es nach unten auf Kwame zu und
rammte den Kopf mitten in Theophilus' Bauch.
Theophilus krmmte sich vor Schmerzen, taumelte und
knallte mit dem Hintern gegen die gegenberliegende
Wand, wobei er nur knapp die Kante einer Plattform
verfehlte. Das Tor, auf dem noch immer die groe grne
>3< glhte, glitt so weit an Kwame vorbei, da er es nicht
erreichen konnte, und traf auf dem Boden auf. Dann stieg es
wieder zu Randy empor, der sich drehte und es in Empfang
nahm.
Ich war auer mir vor Zorn. So fest ich konnte, warf ich
den Ball gegen Randys Helm. Dadurch klapperten ihm
vielleicht die Zhne, und ich fhlte mich auf jeden Fall
besser.
Durch reinen Zufall traf der Ball als Querschlger das Tor
Vier. Die dunkelbraune >4< verschwand und wich einer
hellrosa >6<, als Kwame hinberflog, um das Tor zu bewa-
chen. Weil Vier den Ball nicht gefangen hatte, konnten sie
auch keinen Konter durchfuhren, und das Tor gehrte uns.
Somit waren wir eins von zwei Teams mit zwei Toren, und
Barry verkndete, da wir uns mit dem anderen Spitzenteam
verbindet htten - Team Drei, Randys Truppe. Ich brach den
Sturzflug ab, landete auf einer Plattform und stie mich zu
Kwame ab, um unser neues Tor weiter nach oben zu
verlegen. Neben uns schob auch Randy das Tor von Team
Drei nach oben.
Bald hing ein Klumpen aus vier Toren an der Decke, der
von einer Schale aus acht Leuten umgeben war. Wir traten
Luft, sprangen von Plattform zu Plattform und hngten uns
mit den Fen in die Sicherheitsgurte.
Sechzehn Angreifer - Team Sieben schien der
gegnerischen Allianz nicht anzugehren - kamen auf uns zu
und bewarfen uns mit Bllen, wobei sie versuchten, sie so
zu beschleuni-gen, da sie unerreichbar fr uns waren. Dann
prallten sie von der Decke ab und fielen wieder ins
Territorium der Angreifer zurck.
Ich schwang mich auf eine Plattform und stellte fest, da
ich mich auf Hrweite neben Randy befand. Tut mir leid,
da ich dich so erwischt habe, sagte ich. Es tat mir
natrlich nicht leid, aber ich hasse es, mit jemandem in
Fehde zu liegen.
Kein. Problem. Guter Karomm-Schu. Deine aggressive
Spielweise gefllt mir. Du bist ein echter Berserker.
Ein Kompliment von Randy Schwartz hatte ungefhr den
Seltenheitswert eines Schweins, das aus einem Ei schlpft.
Und es war so nett von ihm gesagt, da es mir zunchst die
Sprache verschlug. Als ich ein >Danke< stammeln wollte,
hatte er den Blick schon abgewandt. Dann zeigte er mit dem
Finger und rief: Unter dir!
Gwenny Mori hatte sich von einer unteren Plattform
abgestoen und kam mit heftigen Schwimmsten auf uns
zu. Sie versuchte durchzubrechen und die Tore zu zerstreu-
en, aber sie traf nicht.
Randy und ich gingen in den Sturzflug, um sie
abzufangen, und nahmen Gwenny in die Zange, als sie
gerade zielen wollte. Sie verlor den Ball und tauchte hundert
Meter ab, bevor sie in den Gleitflug berging.
Paul Kyromeides fegte an uns vorbei, ergriff den Ball und
eroberte das Tor von Team Zwei.
Er ist ein wirkliches Ein-Mann-Team, sagte ich.
Das mu er auch, bemerkte Randy. Dieses neue
Erdschwein kennt das Spiel noch nicht. Aber du hast recht -
Paul spielt immer so. Er ist zwar ein netter Kerl, aber kein
Mannschaftsspieler.
Wir trennten uns und postierten uns an verschiedenen
Stellen. Ich warf nun fter als zuvor einen Blick auf Randy
und sah ihn dabei mit anderen Augen. Die Erkenntnis, da
er auch eine menschliche Seite hatte, berraschte mich.
Barry meldete sich ber den Ohrhrer: Mel und Kwame,
knnt ihr fr zwanzig Sekunden ohne mich und Ysande
auskommen?
Sicher, aber wirklich nur zwanzig, sagte ich.
Pos-def, erwiderte Kwarne. Wasch dir aber die Hnde,
wenn du fertig bist. Das war exakt das dumme Zeug, das er
immer von sich gab. Exakt.
Barry ging gar nicht darauf ein; auf sein Handzeichen
schlugen er und Ysande eine Rolle, stieen sich mit den
Fen ab und gingen mit heftigen Tritten in den Sturzflug.
Erst dann erkannte ich, da es ihnen gelungen war, zwei
von drei Bllen zu bekommen. Barry hatte bemerkt, da
Theo-philus weit unter dem Tor hing, was immer ein Fehler
ist, denn die meisten Angriffe kommen von oben. Whrend
der kurzen Zeit, in der seine Sicht behindert war, legten
Barry und Ysande den grten Teil der Entfernung, zum Tor
zurck. Als Theophilus sich in Bewegung setzte und
versuchte, sich zwischen sie und das Tor zu schieben, war es
schon zu spt. Barry rammte ihn mit der Schulter, woraufhin
er trudelnd abstrzte, und Ysande traf mitten ins Tor. Dann
rollte sie es zu Team Sechs hinber.
Theophilus, der durch die Wucht des Aufpralls bis zum
Boden hinabkatapultiert worden war, versuchte, sie zu
verfolgen; das war zwar tapfer, aber sinnlos, denn er hatte
gar keinen Ball. Er verschtzte sich derart, da er trotz
seiner irdisch krftigen Beine nur eine Hhe von 130
Metern erreichte; dann war die Bewegungsenergie aufge-
zehrt, und er strzte wieder ab.
"Ich falle! Ich falle! Die Leute lachten ihn nur aus.
Dr. Niwara scho in die Hhe - bei der Pausenaufsicht trug
sie immer ein Tornistertriebwerk auf dem Rcken
schnappte sich Theophilus und befrderte ihn zum Blauen
Punkt, dem am Eingang befindlichen Sammelplatz fr
Verletzte.
Dr. Niwara schrie fast ins Mikro: In Ordnung! Das war's!
Das Spiel ist aus. Kommt alle runter.
Wir lieen die Luft aus den Toren und stopften sie in die
Behlter, damit die nchste Klasse sie benutzen konnte; die
Blle kamen in ein kleines Regal an der Tr. Da standen wir
nun und vermieden es, uns in die Augen zu schauen. Wir
wuten nicht, was nun kommen wrde und hatten uns nichts
zu sagen.
Sie schaute sich um und lie den Blick auf jedem von uns
ruhen. Helme ab, damit ihr mich hrt. Klarer Fall von
unterlassener Hilfeleistung. Jemand hat >Ich falle!<
gerufen, und niemand machte Anstalten, ihm zu helfen. Ihr
habt nur gelacht. Macht ihr das auch so, wenn ein Freund
sich in Schwierigkeiten befindet? Wenn ja, dann wird dieses
Schiff bald auseinanderfallen, nachdem ihr die Erwachse-
nen-Abschluprfung abgelegt habt.
Sie hatte vllig recht. Theophilus hatte sich zwar nicht in
Lebensgefahr befunden, aber er war in Panik geraten und
hatte um Hilfe gerufen. Wir hatten sie ihm verweigert.
Schweigend und mit gesenkten Blicken gingen wir in die
Umkleidekabinen.
Als ich die Flossen von Armen und Beinen abstreifte und
den Helm sowie das Kreuz in den Spind warf, setzte Miriam
sich neben mich. Mchtest du noch immer, da wir ihm
helfen?
Ja. Du kennst mich doch, Mim. Hornblower an die
Front.
Ihr Lcheln verriet Sehnsucht. Hmmm. Aber
gutaussehen-de Jungen, die Hilfe brauchen, sind nicht sehr
populr.
Ich finde, er sieht gut aus. Er mte nur ein wenig
abnehmen. Er hat ein hbsches Gesicht.
Sie kicherte. Andere Dinge sind aber auch hbsch. Ist dir
etwas aufgefallen, als er ber damals in Georgia sprach?
Was soll mir aufgefallen sein?
Melpomene. Hast du denn die ganze Zeit nur sein Gesicht
betrachtet? Sagen wir mal so, seine Antenne war
ausgefahren.
Seit kurzem war das die einzige Stelle, auf die Miriam bei
Jungs achtete; ich hielt das fr peinlich, aber weil sie
anscheinend schon so viel reifer war als ich, wollte ich mich
deswegen nicht wie ein kleines Kind benehmen.
War er wirklich so gro? fragte ich.
Pos-def. Riesig.
Er kommt von der Erde, mut du wissen. Sie sind dort
ziemlich altmodisch. Wahrscheinlich wei er nicht einmal,
wozu es gut ist.
Miriam knuffte meinen Arm. Nun, dann sollte jemand es
ihm zeigen. Aber zuerst zeigen wir ihm, wozu die Flossen
gut sind. Das wei er nmlich auch nicht.
Auf dem Rckweg nahmen wir Theophilus zwischen uns.
Ich holte tief Luft und sprach ihn an: War dieses Spiel neu
fr dich?
In den Ferien habe ich es schon ein paarmal in Supra
Tokio gespielt, aber damals war es leichter. Es fand nur im
freien Fall statt, und es spielten nur Kinder von der Erde mit
- niemand kannte die genauen Regeln.
Fr das erste Mal war es gar nicht schlecht, sagte
Miriam die Unwahrheit. Httest du heute abend Zeit zum
ben? Kein Aerocrosse, sondern nur Fliegen in niedriger
Schwer-kraft?
Er wirkte gleichermaen verdutzt und erfreut. Ich ... ja,
ich htte Zeit. Um 20:00 ist der Frderunterricht zu Ende. Ist
das zu spt?
It du dann noch zu Abend? fragte ich.
Nein. Der Frderunterricht schliet einen Besuch in der
Esperanto-Cafeteria mit ein. Und ich kann meinen Leuten
auch eine Nachricht hinterlassen - sie werden sich freuen,
wenn ich Freundschaften schliee.
Schn, sagte Miriam. Der Raum, in dem wir Trainings-
zeit beantragen mssen, liegt in dieser Richtung Freizeitlob-
by, Gemeinschaftsdeck Zwei. Wir treffen uns dort um
20:15.
Danke, sagte er. Er hrte sich glcklich an - und ich
fhlte mich gut.
Dr. Niwara kam zu uns. Gibt es Probleme? Oder haltet
ihr nur ein Schwtzchen?
Ich wollte schon etwas sagen, aber Theophilus kam mir
zuvor. Es ist meine Schuld. Ich habe Schwierigkeiten,
nachzukommen, und sie wollten mir nur helfen.
Da meldete Miriam sich. Die Wahrheit ist, wir haben ein
Schwtzchen gehalten, und deshalb hat er Schwierigkeiten.
Eilig ging sie mit Theophilus voraus, und ich folgte ihnen.
Dr. Niwara hielt sich neben mir. Melpomene, sagte sie
leise. Mir gefiel es, wenn sie uns so nannte, wie wir genannt
werden wollten.
Ja, Ma'am?
Was wolltest du eben sagen?
Was Miriam auch gesagt hat. Es ist die Wahrheit.
Gut. Das hatte ich gehofft ...
Sie streckte den Arm, aus, drckte meine Schulter und
beschleunigte. Ich bemhte mich, ihr zu folgen.
Nach dem Imbi hatten wir Projektunterricht; diesmal
(Hurra!) wurden Gruppenarbeiten geschrieben, in vier
Siebener-Teams. Leider handelte es sich bei der Kl-Jury um
STRUNK, FLESCH und ELLSWORTH. Das ist immer
ganz schn langweilig, pos-def, denn diese drei KI sind
pedantisch und halten sich stur an die Regeln; ORWELL
und SPENCER mag ich viel lieber. Wenigstens erfolgte die
Beurteilung diesmal nach dem Rangkoeffizienten und nicht
nach dem Mittelwert, der ein starkes Team begnstigt. Zum
Glck war ich Leiterin von Team Eins.
Miriam und ich waren immer gut bei Gruppenarbeiten, so
da ich sie zuerst auswhlte, obwohl sie Gwenny einmal mir
vorgezogen hatte. (Ja, das war lppisch. Ich trug es ihr auch
nicht nach - unsere Freundschaft mute das aushalten, vor
allem wenn man bedachte, wie Gwenny sich im Umkleide-
raum diskreditiert hatte.)
Wir sprachen jetzt nur noch ber den Wettbewerb. Ich
verga auch Theophilus, der in Vanyas Team war. Unser
Team war das beste, wobei unsere Aufstze den ersten Platz
(ich), den zweiten (Miriam), den vierten und achten erran-
gen. Unser schlechtestes Ergebnis war Platz vierzehn. Der
Wettbewerb dauerte fast den ganzen Tag.
Nicht schlecht, sagte Miriam, whrend wir drauen auf
dem Korridor auf Theophilus warteten. Aber wir htten
uns mehr Zeit fr die Korrektur von Sylvestrinas Aufsatz
nehmen sollen. Sie htte Platz Sechs belegt, wenn sie noch
zwei Punkte mehr fr das Layout bekommen htte.
Sie hat es schwer, sagte ich. Aber sie hat sich deutlich
verbessert. Ich glaube, heute war sie zum ersterunal unter
den zehn Besten.
Ich wei. Ich meinte auch nur, sie htte sich sicher sehr
gefreut, wenn sie noch besser abgeschnitten htte. Wir
klammerten uns ans Netz und beobachteten die Tr.
Es wundert mich, da du ihm angeboten hast, heute
abend zu trainieren, sagte ich. Donnerstag ist doch der
Privat-Tag.
Sie schnitt eine Grimasse. Ich hasse Wettbewerbe.
Ich auch, erklrte ich. Aber auf sie bereite ich mich
immer intensiver vor als auf alles andere.
Wir haben eine Menge gemeinsam, stellte sie fest.
Vielleicht sollten wir Freundinnen werden. Ach, schei
drauf; Mel, er braucht unsere Hilfe.
Ja. Vielleicht etwas Anleitung ... Just in diesem
Moment trat er aus der Tr und schaute sich um. Wir
winkten, und er kam auf uns zu.
Da legte sich von hinten eine Hand auf seine Schulter. Er
drehte sich um.
Randy Schwartz' Faust krachte in Theophilus' Gesicht. Er
fiel nach hinten und breitete die Arme aus, um sich abzu-
fangen.
Wir beide rannten los. Theophilus schlug die Hnde vors
Gesicht; Trnen flossen, aber er war mit einem blauen Auge
davongekommen.
Ich schaute zu Randy hoch, der noch immer ber seinem
Opfer stand.
Er hatte einen merkwrdigen Gesichtsausdruck; man
konnte fast meinen, er wre es gewesen, der den Schlag
abbekom-men htte. Er starrte mich kopfschttelnd an und
lie dabei die Arme baumeln - in diesem Augenblick wute
ich, da der Vorgang ihn genauso berraschte wie alle
anderen, ja sogar erschreckte. Er wirkte so verstrt, da ich
gegen mei-nen Willen Mitleid fr ihn empfand und fast das
Bedrfnis versprte, aufzustehen, ihn beiseite zu nehmen
und mit ihm zu reden.
Dann wandte er den Blick von mir ab, drehte sich um und
hastete den Korridor zu den Omnivatoren entlang, wobei er
fast noch gestolpert wre.
KAPITEL DREI
...............................................................

Beim Abendessen sagte Mutter: Heute habe ich die


Mutter eines deiner Klassenkameraden getroffen,
Melpomene.
Ja, wen denn?
Mrs. Harrison, Theophilus' Mutter. Sie ist eine sehr
interessante Person.
Bei welcher Gelegenheit bist du ihr denn begegnet?
fragte ich sie. Mutter verlie die Wohneinheit nur selten,
und deshalb war es ein gutes Zeichen, wenn sie unter die
Leute ging.
Ach, sie tritt meine alte Stelle an. Man hat mich
beauftragt, sie ein paar Tage einzuarbeiten. Sie verzog das
Gesicht. Ich bin froh, wenn die Synthese von
Schweinefleisch endlich funktioniert - langsam habe ich
genug von diesem Experimentalmampf.
Papa lachte. Da bekomme ich immer Gewissensbisse; ein
armes kleines Stck Muskelfleisch, das sein ganzes Leben
in einem Tank verbracht hat und nie die Gelegenheit bekam,
sich in einem authentischen Schwein zu verwirklichen.
Erneut lachte er; irgendwie klang es aber nicht ganz echt.
Mutter schttelte den Kopf. Cornelius, ich bitte dich. Ich
bin durchaus naturverbunden, aber noch lange kein ko.
Auf jeden Fall ist Mrs. Harrison eine hchst interessante und
kultivierte Person, und ich wrde vorschlagen, da wir uns
mit der Familie bekannt machen.
Uns mit der Familie bekannt machen. In letzter Zeit
berka-men Mutter oft solche bizarren Anwandlungen; es
klang wie in den Olson-Romanen, damals, als ein Mann
noch ein Mann war; die Halme bogen sich unter der Last der
Soja-bohnen, die Drfer wurden von Hinterwldlern
bewohnt, und das Leben war voll signifikanten Schmerzes
leerer, bedeutungsloser existentieller Nichtigkeit, wie Tom
sich immer ausdrckte.
Um das Gesprch auf ein interessanteres Thema zu lenken,
sagte ich: Es war sicher schn, deine alten Kollegen
wiederzusehen. Wie geht es ihnen denn?
Sie zuckte die Achseln. Nun, ich hatte nie viel mit ihnen
zu tun.
In der Regel halte ich sie nur fr meschugge, aber manch-
mal redet sie wirklich wie eine Asoziale. Hattest du denn
keine Zeit, dich mit ihnen zu unterhalten?
Ehrlich gesagt, Melpomene, habe ich den Job auch
deswegen aufgegeben, weil die Leute uninteressant waren.
Ihre Gesprche drehten sich nur um den Beruf und die
Familie; es war unmglich, in der Abteilung fr Langfrist-
Wirtschaftsprognosen zu arbeiten, ohne da in der Frh-
stckspause ber Zwanzig-Jahres-Kolonisierungsplne dis-
kutiert wurde. Niemand interessiert sich dort fr Kunst oder
Politik oder berhaupt etwas. Natrlich haben Mrs. Harrison
und ich auch hauptschlich ber den Job gesprochen, aber in
der Mittagspause hatten wir eine lange Unterhaltung. Sie
und ihr Mann kommen aus interessanten Kreisen auf der
Erde.
Es lag mir schon auf der Zunge, ihr zu sagen, da die
meisten aus diesen >interessanten Kreisen< dem Groen
Sterben zum Opfer gefallen waren und da die Harrisons
einfach nicht fein genug waren fr uns; wir Murrays pflegen
nmlich nur Umgang mit direkten Nachkommen gewhlter
Prsidenten und anderer fhrender Politiker. Solchen Kse
gaben die Personen in den Olson-Bchern stndig von sich.
Aber ich versuchte, mir Mut zu machen; sie wrde den
Wohnbereich wenigstens fr ein paar Tage verlassen. Das
ist interessant. Ich werde Theophilus heute abend darauf
ansprechen.
Heute abend?
Miriam und ich treffen uns mit ihm zum Sport. Er mu
fliegen lernen. Willst du mitkommen, Tom? Auf diese Art
knnte ich Tom in die Sache involvieren; ich wute, da
mein Bruder mit einigen guten Ideen aufwarten wrde,
wenn es mir gelang, ihn fr Theophilus' Probleme zu
interessieren. Er hatte immer gute Ideen, wenn man erst
einmal sein Interesse geweckt hatte.
Ich htte schon Lust, aber wir haben heute abend eine
Sitzung. Pyramiden-CSL. Seinem Gesichtsausdruck nach
zu urteilen, hatte Tom gerade das Ende der Welt verkndet.
Whrend der letzten Monate vor der Erwachsenen-Ab-
schluprfung stehen viele Abendsitzungen auf der Tages-
ordnung; nur fr den Fall, da es jemanden von euch
interessiert: ich hatte auch nicht mehr Freude daran als er.
Und schon gar nicht, wo ich zustzlich noch dieses Buch
schreiben mute. Es ist schon ziemlich spt; also mache ich
etzt Schlu und schreibe morgen weiter wenn ich Zeit finde.

17. DEZEMBER 2025

Ich bin wieder da; vor ein paar Minuten hatte ich eine
Kleinigkeit gegessen. Ich konnte nicht schlafen.
Noch einmal zurck zur Unterhaltung. Ich wollte Tom
gera-de Glck wnschen fr sein CSL, als Mutter sich
wieder darber auslie, wie schrecklich es wre, da wir so
viel arbeiten mten und wie viel Ferien sie in unserem
Alter gehabt htte. (Was mich betrifft, so wrde ich mit so
viel Zeit gar nichts anzufangen wissen.) Ich griff nur unter
den Tisch und drckte Toms Hand.
Nach einer Weile war Mutter fertig, und ich sagte, da ich
vor dem Treffen mit Theophilus und Miriam noch ein paar
Hausaufgaben machen msse. Also durfte ich die Cafeteria
frher verlassen. Als ich ging, verbreitete sie sich noch
immer lauthals ber die Freuden ihrer >normalen< Kindheit,
und Papa und Tom aen schweigend und starrten auf ihre
Teller, weil sie Blickkontakt mit den Leuten an den anderen
Tischen vermeiden wollten. Ich kam mir wie ein Deserteur
vor.
Ich war etwas zu frh in der Freizeitlobby, aber Miriam
war auch schon da, und so gingen wir die Liste mit den
kleineren Sporthallen durch. Im Moment hatte die B-Schicht
Schule, und deshalb war die Groe Gemeinschaftshalle
natrlich belegt - ganz davon abgesehen, da sie sowieso
nicht fr nur drei Leute geffnet wrde.
Ich frage mich, ob Randy Schwartz wohl seine Freunde
vermit, sagte ich.
Was kmmert's dich?
Nun, vielleicht ist das der Grund, warum er ein solcher ...
h ...
Schlger und Depp ist? Miriam schttelte den Kopf.
jetzt mal im Ernst, Melpomene. Du machst dir wirklich
ber jeden Gedanken. Warum nimmst du nicht einfach zur
Kenntnis, da Randy Schwartz bse und gemein ist, und
lt es dabei bewenden? Ich bin sicher, da er an dich
keinen Gedanken verschwendet. Ich hob die Schultern.
Das war nur so ein Gedanke. Er sieht seine alten Freunde
wahrscheinlich nicht mehr, und es fllt ihm schwer, neue zu
gewinnen ...
Nun, wenn er vielleicht damit aufhren wrde, den
Leuten ins Gesicht zu hauen ...
Miriam!
Was erwartest du denn von mir? Gut, er ist einsam. Aber
wessen Schuld ist das denn? Er kann seine alten Freunde
doch noch beim Frhstck und Abendessen sehen oder in
den Freischichten. Er lebt noch immer in Block B mit ihnen
zusammen - er wurde beim Schichtwechsel nicht verlegt. Es
ist ja nicht so, als ob er auf ein anderes Schiff gegangen oder
gerade von der Erde gekommen wre ...
Ja, aber ... nun, er ist ganz allein dort unten. Whrend
seiner Wachphase ist der Korridor fast die ganze Zeit
abgedunkelt. Wenn er Zeit htte, seine Freunde zu sehen,
heit es fr sie >Licht aus<. Und wenn er mit ihnen essen
will, mu er bis kurz vor der Sperrstunde warten, und sie
mssen sofort essen, wenn die Schule aus ist. Also sieht er
sie vielleicht; andererseits sieht er sie auch wieder nicht,
wenn du weit, was ich meine.
Ich glaube schon. Trotzdem meine ich, da es Leute gibt,
die deine Sympathie eher verdient htten.
Ich mute noch immer an Randys schockierten
Gesichtsaus-druck denken, nachdem er Theophilus
geschlagen hatte; ich antwortete nicht.
Wir suchten uns eine groe leere Kammer aus, einen
Lagerraum weit unten in der Nhe der Haupttriebwerke, und
ich signierte mit meinem Daumenabdruck.
Theophilus erschien wenige Minuten spter. Hallo, bin
ich etwa zu spt? Tut mir leid - ich habe mich beeilt ...
Du bist nicht zu spt. Entspann' dich, sagte Miriam.
Hast du deine Ausrstung dabei?
Hier in der Computer-Tasche.
Gut. Wir haben einen langen Abstieg vor uns; wir
nehmen den Expre-Omnivator.
Als wir die kleine Kabine betraten, sagte Theophilus: Ich
mchte mich bei euch fr die Einladung bedanken, Leute.
Ich hatte mich ziemlich einsam gefhlt ...
So sind wir eben, sagte Miriam. Fahrende Damen. Wir
knnen einem Ritter in Not einfach nicht widerstehen.
Obwohl wir hoffen, da eine Nacht mit uns dich nicht in
Not bringen wrde, ergnzte ich.
Miriam errtete, und Theophilus kicherte. Soviel zu seiner
Unschuld.
Als wir den Omnivator verlieen, hatten wir noch hundert
Meter zu gehen. Zur Zeit gibt es viele leere Rume im
Schiff - bisher transportieren wir nur Wechselschicht-Perso-
nal und Nachschub fr die Marsstationen -, und die Sektoren
unterhalb der Wohnbereiche und Agrarzonen werden nur
von Kindern benutzt, die in den kleineren, unter Druck
stehenden Laderumen spielen.
Und natrlich von Liebespaaren. Ich hoffte, wir wrden
durch unser Erscheinen in dieser Kammer niemand den
Abend verderben.
Wie erwartet, war der Raum aber leer, wahrscheinlich
wegen der darin installierten berwachungskamera. Die
Kammer befand sich noch im Rohzustand; die Wnde
wiesen noch die krnige und glnzende Anmutung auf, die
von den Vakuum-Extrudern und der Sprh-Beschichtung
herrhrte. Die Lichter wurden berall reflektiert, wie
verschwommene Sterne, die sich in der Unendlichkeit
verloren.
Gut, sagte ich. Fangen wir an. Die Armflossen werden
so angelegt - so ist es richtig, die Breitseite nach auen -,
und die Beinflossen werden im Fnfundvierzig-Grad-
Winkel nach hinten ausgestellt. Sie mssen fest sitzen,
drfen aber auch nicht drcken.
Wir berprften ihn; die Flossen saen richtig. Gut,
Helme auf und los.
Ihr tragt Helme, auch wenn es nicht vorgeschrieben ist?
fragte er. Ich dachte, ihr httet sie nur aufgesetzt, weil
Niwara dabei war.
Ich war etwas berrascht, da er ihren Titel weglie. Es
erschien mir unhflich, aber vielleicht war das auf der Erde
so blich. Wir sagten immer >Dr. Niwara<. Gut, sagte
ich, zum einen, wenn du einen Kopftreffer erhltst - ab und
zu passiert das jedem von uns tut es lngst nicht so weh.
Und berhaupt ist es Vorschrift, wenn man frei fliegt. Das
sind die Regeln.
Ich dachte nur, weil niemand uns sieht, sagte er, als ob
das eine Erklrung gewesen wre.
Ich war verwirrt; ich wute nichts von einer Regel, die nur
dann zu befolgen war, wenn man beobachtet wurde. Ich
schaute Miriam an. Sie zuckte die Achseln und hob leicht
die Hnde - ich glaube nicht, da Theophilus es gesehen
hatte. Vielleicht noch so eine Eigentmlichkeit von der
Erde; ich begriff nicht, weshalb jemand eine Regel verletzen
sollte, und noch weniger verstand ich, weshalb man einen
Schlag gegen den Kopf riskieren sollte; offensichtlich hatte
Theophilus aber keine Probleme damit. Nun, wenn du es
so siehst: mit groer Wahrscheinlichkeit werden wir ber
diese Kamera beobachtet, sagte sie.
Ich wollte schon fragen, ob das Kameras sind. Ich
verdrehte die Augen; Miriam blinzelte mir zu. Wir sollten
endlich losfliegen, sagte ich. Denke daran, da die
Flossen nur eine Kraft von ein paar Newton entfalten, selbst
wenn du mit aller Kraft schwimmst - weil du selbst jedoch
hchstens fnf Newton wiegst, reicht das aber aus. Du
kannst eine hohe Geschwindigkeit erreichen.
Aber es dauert eine Weile, bis du ein Gefhl dafr
entwickelst ergnzte Miriam. Wenn du also merkst, da
du es richtig machst, hr nicht auf - warte ein paar
Sekunden, bis der Effekt sich einstellt.
Wir fliegen jetzt nach oben und zeigen es dir, sagte ich.
Sto dich leicht ab und mach dann ein paar Frosch-
sprnge. Ich stieg auf; Theophilus folgte, und Miriam
bildete die Nachhut falls er Probleme bekam. Die Halle war
nur etwa fnfzig Meter hoch, so da es ganz leicht war, an
die Decke zu springen, aber es gengte, ihm ein Gefhl
dafr zu vermitteln.
Beim Aufstieg wurde er so bermtig, da er in der Luft
herumkickte, wie er es bei uns in der Groen Gemein-
schaftshalle gesehen hatte. Leider wute er nicht, wie man
abbremste oder stoppte, und so beschleunigte er, bis er mit
dem Kopf gegen die Decke knallte und von ihr abprallte. Er
wirbelte herum, wobei er mit Armen und Beinen wedelte,
und versuchte dann Luft zu treten. Er rotierte zwar langsam,
aber er verlangsamte den Abstieg so weit, da er sanft auf
dem Boden aufkam.
Miriam und ich hatten unterdessen kehrtgemacht, um nach
ihm zu sehen; er wirkte etwas derangiert.
Immerhin beherrschst du jetzt die Kopf-Bremse, sagte
ich scherzhaft, aber er wandte sich abrupt ab, und ich
erkannte, da der Witz nicht so gut gewesen war. Als er sich
wieder umdrehte, sah ich, wie er sich ein Grinsen abrang,
und schmte mich fr diesen Spott.
Tut mir leid, sagte ich. Das war unsere Schuld. Wenn
du in der Luft herumkickst, mut du abbremsen und oben
eine Rolle schlagen. Das verringert die Geschwindigkeit,
und durch die Drehung kommst du mit den Fen zuerst
auf. Sie zeigte ihm den Salto.
Dann flogen wir erneut nach oben, und diesmal machte er
es richtig. Er mute sich nur etwas abstrampeln, um einen
Sicherheitsgurt zu erreichen; dann packte er ihn mit der
linken Hand und legte sie auf den Bauch, so da beide Fe
gleichmig an die Decke gezogen wurden.
Mit den Fen ist es angenehmer als mit dem Kopf,
sagte er.
Miriam lachte und umarmte ihn; das schien ihn zu
irritieren. Mutter sagt, da die Leute auf der Erde sich nicht
oft berhren; also war es vielleicht das, oder mglicherweise
lag es auch an der Art, wie sie sich dabei an ihm gerieben
hatte.
Das erinnerte mich daran, wie sehr die Dinge sich im
letzten Jahr verndert hatten. Miriam war in die Pubertt
gekom-men und hatte sie im Schnelldurchlauf hinter sich
gebracht - vor einem Jahr hatte sie noch meine Statur
gehabt, schlank und klein (Tom htte >drr< und >winzig<
gesagt). Fast ber Nacht war sie mehrere Zentimeter in die
Hhe geschossen, breite Hften bekommen und diese
ppigen Brste ausgeformt. Den Taillenumfang hatte sie
aber beibehalten, verdammt.
Egal, wir bten jetzt Gleiten und zeigten ihm, wie man mit
leichten Flossenschlgen steuert. Das ist ziemlich schwierig,
denn man mu ein feines Gespr fr den Grenzbereich
entwickeln - wenn man auer den Handgelenken und
Kncheln auch noch Arme und Beine einsetzt, berzieht
man und taumelt wie ein Papierflugzeug durch die Halle.
Nach zwei oder drei dieser wilden Manver hatte er den
Bogen raus - und dann war es die reine Freude, ihn durch
die Halle jagen zu sehen. Wir applaudierten, und er packte
den Gurt an einem Landepunkt und verneigte sich.
Ich war der Ansicht, da Miriams Kichern in keinem
Verhltnis zu dieser Verbeugung stand.
Eigentlich knnten wir auch schon das volle Programm
durchziehen, zumal du wegen der hohen Schwerkraft auf
der Erde die Beine dafr hast, sagte ich. Es ist im Grunde
wie Gleiten, nur da man die Flossen zur Stabilisierung
benutzt und sich mehr dreht, um Auftrieb zu bekommen.
Das einzige Manver, das du noch lernen mut, ist die Rolle
- und wenn du die beherrschst, kannst du wirklich lustige
Sachen machen. Ich scho in der Halle umher und erzielte
sechs Karommtreffer in Folge, bevor ich direkt vor ihm
landete.
Da war etwas in seinem Lcheln, das mir das Gefhl
vermit-telte, er htte mich gerade umarmt; in diesem
Moment htte ich alles fr ihn getan. Es macht sicher viel
Spa, aber ich wei nicht, ob ich das jemals schaffe, sagte
er.
Ich kann es auch nicht, sagte Miriam. Mel will sich nur
darstellen.
Das stimmte, aber zumindest hatte ich das, was ich
darstellte, auch gelernt, und nicht nur auf der Brust wachsen
lassen.
Bevor ich ihr das auf diplomatische Art beibringen konnte,
fuhr Miriam fort: Aber sie hat natrlich recht. Deine Strke
liegt an der Wand. Du schlgst eine Rolle ... Sie kippte ab
und driftete langsam zur entgegengesetzten Wand. Schau,
der Trick besteht darin, sich abzustoen und dann die Fe
in Flugrichtung auszurichten, so da man mit ausgestreckten
Beinen am Ziel ankommt. Dadurch wird die Rotation
verhindert und man nutzt die Beine als Dmpfer, so da der
Aufprall abgefedert wird. Auf diese Art kann man alles
machen, von der Vollbremsung bis zur Beschleunigung.
Sie landete und kam auf uns zu.
Ist es so richtig? fragte er. Er sprang auf die
entgegengesetzte Wand zu, zog aber die Beine an, so da er
sich langsam berschlug. Er streckte die Beine aus, aber da
war es bereits zu spt. Er trudelte durch den Raum und
landete auf Hnden und Knien.
Du mut die Fe direkt auf die Krpermitte zuziehen,
sagte ich.
Nach einem weiteren Versuch hatte er den Bogen raus.
Dann zeigten wir ihm alle Techniken, die wir kannten; er
lernte schnell, und es machte Spa.
Nachdem er sich so verbessert hatte, spielten wir noch
Fangen. Miriam stellte sich seltsam ungeschickt an, aber
vielleicht geschah das auch mit Absicht, um sein Selbstver-
trauen zu strken. Ich htte das wohl auch tun knnen, aber
einen Wettkampf nehme ich nicht auf die leichte Schulter;
ich spiele, um zu gewinnen, oder berhaupt nicht.
Zweimal kam sie bei der Landung so hart auf, da es
sicher schmerzte, und dann stie sie sich wieder zu
Theophilus ab, so da er eine Chance bekam, sie zu
erwischen. Das gelang ihm tatschlich, obwohl sie es leicht
htte verhindern kn-nen.
Als wir schlielich Schlu machten, wuten wir, da wir
von nun an in den Pausen viel bessere Chancen haben
wrden. Wir hatten nur noch eine Stunde bis zur Sperr-
stunde; also eilten wir zum Omnivator, meldeten uns in der
Freizeitlobby bei Mrs. Onegin, Dmitris Mutter, ab und
rannten zusammen nach Block A.
Wie sich herausstellte, war seine Familie in Miriams
Korridor untergebracht worden; also gingen wir noch ein
Stck gemeinsam, bevor sie sich von mir trennten.
Theophilus schien jetzt viel besser mit den Netzen
zurechtzukommen, und ich lobte ihn deswegen.
Weshalb fliegen die Leute denn nicht einfach durch die
Korridore? fragte er.
Das ist verboten, erwiderte ich.
Aha. Das verwirrte ihn anscheinend. Und warum ist
das verboten?
Ich berlegte einen Moment; ich wute es nicht. Aus
verkehrstechnischen Grnden, nehme ich an. Manchmal
mssen Gruppen von zwanzig Leuten aneinander vorbei;
weil die Korridore nur einen Durchmesser von drei Metern
haben, ist es viel sinnvoller, wenn die Leute sich an den
Wnden fortbewegen, statt mitten durch die Luft zu fliegen.
Auerdem begrenzt das Netz die Geschwindigkeit, so da
man schnell anhalten kann und nicht mit Leuten aus der
Gegenrichtung zusammenstt.
Miriam drngte sich zwischen uns und fing mit einem
Mathe-Problem an: Theophilus schien sich geschmeichelt zu
fhlen, da jemand ihn um Hilfe bat. Das empfand ich als
unhflich, vor allem deshalb, weil sie sowieso noch mit ihm
allein sein wrde, aber ich vermute, da dieses Problem ihr
gerade durch den Kopf geschossen war. Obwohl es ziemlich
banal war und sie zudem in Mathe noch besser ist als ich.
Ich bog bei Korridor Zwlf ab, und sie gingen weiter; sie
unterhielten sich so angeregt, da sie mein Verschwinden
wohl nicht einmal bemerkt hatten. Ich ging an der Peripherie
unseres Gemeinschaftskorridors entlang - bis auf drei
vielleicht sechzehnjhrige Prchen mit Babies war er verlas-
sen - und betrat dann den Gang zu unserer Wohneinheit.
Ich schlpfte durch die Tr und wollte gerade in Toms
Zimmer gehen, um zu sehen, wie es gelaufen war, als
Mutter mich irn Flur abfing. Hoffentlich hast du auch alle
Hausaufgaben gemacht, bevor du gegangen bist.
Ja, habe ich. So bld war ich nun nicht mich auf diese
Art drankriegen zu lassen.
Sie schwebte zu mir herber und flsterte mir etwas ins
Ohr; wenn die Videos recht haben, beneide ich die Erdlinge
wirklich um den Platz, den sie zur Verfgung haben. Unsere
Wohneinheiten sind so klein, da man trotz der Schalliso-
lierung jedes Gerusch hrt. Die Wnde von Papas Praxis
sind mit einer dicken Schallisolierung verkleidet, um seinen
Patienten Diskretion zu gewhrleisten, aber berall sonst
hrt man alles, was lauter ist als ein Flstern. Tom ist auf
seinem Zimmer, hauchte sie mir ins Ohr. Ich wei aber
nicht, ob er dich sehen will, Melly - ich meine, Mel-
pomene. Sie mute gemerkt haben, da ich mich versteifte.
Er ist sehr aufgeregt.
Was ist denn los?
Er hat in Pyramiden-CSL sehr schlecht abgeschnitten und
noch dazu einigen anderen die Note verdorben.
Ich nickte. Danke, da du mir es gesagt hast. Er wird
sicher mit mir sprechen wollen. Ich packte einen Handlauf
und schwang mich an ihr vorbei zu seiner Tr.
Das weit du doch gar nicht, sagte sie; das war
berflssig, denn natrlich wute ich es. Drng dich nicht
auf, wenn er dich nicht sprechen will - la ihm seine
Privatsphre.
In Ordnung, sagte ich des lieben Friedens willen.
Als ich jung war, hatte ich auch gern einmal meine
Ruhe.
Selbst wo ich Mutter nun schon so lange kenne, ist mir das
unbegreiflich. Die Erwachsenen sagen immer solche Sa-
chen. Ich meine, Privatsphre heit doch nur, da man ganz
fr sich allein ist ohne Freunde, die sich um einen kmmern
und mit denen man Spa hat. Wer braucht das denn? Tom
und ich schlossen die Tren nur deshalb, weil sie darauf
bestand.
Und das war wieder einmal typisch fr sie, ihn in diesem
Zustand allein zu lassen. Papa glaubt, da sie >unzureichend
an das soziale Neokonstrukt adoptiert ist<.
Ich glaube, da sie spinnt.
Du klopfst vorher an, befahl sie mir.
Tom ffnete die Tr und sagte: Melpomene, komm bitte
rein. Sofort war ich drin, und er schlo die Tr; Mutter
stand wie ein Karpfen mit offenem Mund da. Manchmal
hasse ich sie wirklich.
Ich sah, da er geweint hatte, und wurde noch wtender
auf Mutter. Wie konnte sie ihn nur sich selbst berlassen -
um Himmels willen, weshalb mu man erst warten, bis die
Leute einen um Hilfe bitten? Ich legte die Arme um ihn,
und er weinte sich aus. Es dauerte lange, wobei ich seinen
zitternden Krper spurte und heie Trnen auf meine
Schulter tropften. Ich wartete nur.
Als er schlielich aufhrte zu schluchzen, sagte ich: Es
gibt viele Dinge, in denen du gut bist. Man kann nicht in
allem ein Genie sein.
Das ist es nicht, sagte er mit abgewandtem Blick. Ich
halte es nicht aus, da jeder so verdammt verstndnisvoll
tut. Alle wissen, da ich den Notendurchschnitt der Gruppe
verschlechtert habe, aber sie haben so viel Sportsgeist, da
man den Eindruck hat, sie wrden sich nur wegen meiner
Befindlichkeit Sorgen machen.
Nun, sie sind eben deine Freunde. Vielleicht machen sie
sich wirklich Sorgen um dich.
Er schaute mich nicht an. Sicher sind sie das. Aber ich
kann dir sagen, was sie denken. Ich wei, da die Team-
leiter mich bei CSL immer erst zum Schlu auswhlen. Ich
halte es einfach nicht aus, der Schlechteste im letzten Team
zu sein!
Er fing wieder an zu weinen, und ich wute nicht, was ich
sonst noch sagen sollte; zumindest nichts, was ihm geholfen
htte. Also hielt ich ihn nur, streichelte ihm mit einer Hand
den Rcken und sagte, da ich ihn mochte, auch wenn er
nicht gut wre in CSL, und was man sonst noch so sagt,
wenn jemand sich so schlecht fhlt. Im ersten Moment zeigt
das scheinbar nie eine Wirkung, aber wenn es mir schlecht
geht, hilft allein schon der Trost, auch wenn ich nicht
aufhre zu weinen.
Jetzt geht es mir etwas besser, sagte er schlielich. Ich
wnschte, ich htte eine Ahnung, weshalb ich solche
Probleme mit CSL habe.
Wie viele Punkte hast du denn erreicht?<,
Vierzehn von hundert. Er schaute weg; Ich, frchtete
schon, er wrde wieder weinen und streichelte seinen Hals
und die Schultern. Das ist ein gutes Gefhl, danke.
Statistisch war mein Ergebnis praktisch Null, vielleicht ein
reiner Zufallseffekt der Bewertungsprozedur. Ich htte
ebensogut gar nicht zu erscheinen brauchen. Er seufzte.
Jetzt mu ich wieder an die Arbeit.
Du wirst aber nicht die ganze Nacht aufbleiben und CSL
machen, oder?
Er schaute konsterniert drein. Weshalb glaubst du ...
Weil du das in solchen Fllen immer tust. Du bist dann
unausgeschlafen und bringst am nchsten Tag in der Schule
keine Leistung. Er sah mich nur an. Das hattest du doch
vor, nicht wahr?
Er schniefte. Ich hasse es eben, so schlecht in CSL zu
sein, und ich will etwas dagegen tun.
Die Tr ging auf, wobei mein Bein gegen die Wand
schlug, und Mutter steckte den Kopf herein. Melpomene,
du regst deinen Bruder doch nur auf ...
Raus, Mutter! Ich rege mich zwar auf, aber ich will, da
Melpomene bleibt. Wen ich nicht hier haben will, das bist
du.
Sie schlug die Tr zu.
Tom seufzte. Gut, ich gebe es zu. Ich wollte an den CSL-
Problemen arbeiten. Wenn schon nichts anderes, hilft mir
das beim Einschlafen, denn irgendwann bin ich fix und
fertig.
Warum wichst du dir nicht einfach einen ab?
Das kann ich nicht, wenn ich mich aufrege.
Nun, dann nimm eine Schlaftablette, aber qule dich
nicht die ganze Nacht mit CSL herum! Dadurch bekommst
du nur noch mehr Probleme.
Ja. Er holte die Flasche mit Pillen aus der
Hausapotheke, nahm sich eine und sagte: Siehst du? Ab ins
Reich der Trume.
Schon besser, sagte ich. Jetzt nimm sie auch.
Er schnitt zwar eine Grimasse, schluckte die Pille aber.
Ich klappe lieber die Tischplatte hoch und ziehe das Bett
heraus. Die Wirkung wird in zehn Minuten einsetzen.
Ich stand auf. Gut. Aber wenn du spter wieder
aufwachst oder trotz der Pille nicht einschlfst und dich
ausweinen willst, dann komm zu mir oder Papa. Aber, im
Gegensatz zu Papa schlafe ich nicht bei Mutter, und es
macht mir nichts aus, wenn du mich weckst.
Er hob die Hand, als ob er vereidigt wrde. Absolut.
Beim ersten Anzeichen einer Krise ab zu Melpomene.
Meine Schwester, mein Kuscheltier.
Ich streckte ihm die Zunge heraus. Tu es einfach. Und
versuche, den Test endlich abzuhaken.
Ich bin fr immer kuriert. Geh jetzt. Das Bett mu fertig
sein, wenn ich mich in ein paar Minuten glcklich und
benebelt fhle.
Gute Nacht. Ich umarmte ihn; er drckte mich auch, und
dann berbrckte ich den einen Meter bis zu meinem
Zimmer. Vor dem Schlafengehen wrde ich noch einmal
nach ihm sehen.
Ich versuchte noch etwas zu lernen, aber es war noch eine
Stunde bis zur Schlafenszeit, und ich wollte sie nicht in
dieser kleinen Gefngniszelle verbringen, auch wenn Mutter
das von mir erwartete. Sie erzhlte immer davon, wieviel
Zeit sie auf diese Art verbracht htte, allein auf dem
Zimmer, nur mit ihren Bchern und Magazinen, als sie in
meinem Alter gewesen war. Das erklrte einiges. Ich wollte
nicht bei ihr im Wohnzimmer sein. Sie tat ohnehin nichts
anderes, als dazusitzen und zu lesen.
Blieb nur noch Papa.
Wie immer war er im Bro. Trotz Mutters Ermahnungen,
mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, zog er sich in der
Regel gleich nach dem Abendessen ins Bro zurck. Ich
stie einfach die Tr auf, obwohl ich wute, da ich eigent-
lich anklopfen sollte. Aber ich war des bizarren Verhaltens
der Erwachsenen berdrssig. Papa?
Hallo, Melpomene. Komm rein. Was hast du denn auf
dem Herzen?
Ich schlo die Tr hinter mir und schwebte zu einem Stuhl
hinber. Es handelt sich zum Teil um Tom und zum Teil
um ... gewisse Dinge.
Allgemeine Dinge?
Genau.
Er sa da und schaute mich an, ohne etwas zu sagen. Das
ist eben das Problem mit den Psychos. Im Gegensatz zu
normalen Menschen gibt es bei ihnen kein informelles
Geplauder, bei dem man seine Gedanken sammeln knnte.
Also tat ich das, was ich immer tat - ich erffnete die
Unterhaltung und wartete, bis er reagierte. Tom schmt
sich so, weil er daran schuld ist, da die Gruppe in CSL
schlecht abgeschnitten hat. Er mu sich zwar keine Vorwr-
fe anhren, und es macht sich auch niemand ber ihn lustig,
aber trotzdem fhlt er sich schlecht.
Ich wei, sagte er. Er wollte auch nicht mit mir auf
einen spten Imbi in den Hauptspeisesaal gehen. In der
letzten Zeit hatte sich das zwischen den beiden nmlich
schon zu einem richtigen Brauch entwickelt. Glaubst du
denn, ich knnte etwas fr ihn tun?
Ich wei nicht, Papa. Wenn ich darber nachdachte, war
alles so verwirrend. Ich schaute auf meine neuen blauen
Hausschuhe und rieb sie aneinander. Ich glaube ... nun,
weshalb sollte es jemanden auer Tom kmmern, wie gut er
in CSL ist?
Er starrte lange auf den Bildschirm an der Wand. Papa
gehrt zu den wenigen Leuten, deren Bildschirm stndig mit
einer Auenkamera verbunden ist; ich wute zwar nicht,
was er beobachtete, denn wenn wir uns nicht gerade in der
Nhe des Mars oder der Erde befinden, gibt es nichts zu
sehen auer weien Punkten vor einem schwarzem Hinter-
grund. Schlielich sagte er: Nun, du hast die richtige Frage
gestellt und bist also auch alt genug, die Antwort zu
erfahren. Wenn du sie ohnehin nicht schon weit. Weshalb
sollte es jemanden auer Tom kmmern, wie gut er in CSL
ist? Und, prziser, weshalb sollte Tom sich darum
kmmern, wie die anderen darber denken?
Standing. Das war offensichtlich. Immer, wenn so
etwas geschieht, verliert er an Standing. Sie sind zwar alle
sehr nett zu ihm, aber sie wissen, da er versagt hat, und er
wei, da er versagt hat; so einfach ist das.
Hmmm. Papa nickte mir zu. Man nennt das >einen
Wink mit dem Zaunpfahl<. Ich hatte das in Papas
Unterlagen gelesen. Das tut der Sprecher immer dann, wenn
er glaubt, der Adressat wrde fr die Botschaft
empfnglicher, wenn man ihm den Eindruck vermittelt, er
htte das selbst schon gewut. Ich mu in solchen Fllen
immer an etwas ganz anderes denken.
Schau, sagte ich, So sieht es aus. Niemand verliert gern
an Standing.
Wutest du schon, da die Kinder auf der Erde diegen
Begriff gar nicht kennen? Es existieren zwar verwandte
Begriffe wie >Klassenbester<, >Ehre< und >Gesicht<, aber
Standing, so wie du es kennst, gibt es nur hier im
Weltraum.
Ich zuckte die Achseln. Die Erdschweine sind schon
seltsam.
Hmmm. Er schaute wieder auf den Bildschirm.
Ich hasse das. Aber ich kann einfach nicht aus meiner
Haut. Nun, nahm ich einen neuen Anlauf. Tom fhlt sich
schlecht, wenn er Standing verliert. Es macht ihm zu
schaffen, denn er mchte ein hohes Standing, zumal er es in
den anderen Fchern auch hat. Dieses Ungleichgewicht
rgert ihn. Ich glaube, wenn man sich immer nur wie ein
Trottel vorkommt, gewhnt man sich irgendwann auch
daran.
Kennst du denn Kinder, die sich immer wie Trottel
vorkommen?
Sicher. Carole. Und sie hat sich wirklich daran gewhnt,
oder zumindest scheint es so. Sie lchelt immer und ist
frhlich und hat viele Freunde. Wir alle mgen sie.
Und wie ist ihr Standing?
In jeder Hinsicht Null.
Ihr STANDING. Er hatte das Wort prononciert aus-
gesprochen, sich nach vorne gebeugt und schaute mich so
an, wie Tom eine nicht ganz korrekte Grafik mustert. Nicht
die schulischen Leistungen. Wie ihr euch untereinander
einschtzt.
Ich wute natrlich, was er meinte, und in Anbetracht der
allgegenwrtigen Mikrofone und Kameras wre ich auch
nicht erstaunt gewesen, wenn er es schon gewut htte -
aber ich kam mir noch immer wie ein Denunziant vor. Also
stellte ich mich dumm. Und was hat das mit Tom zu tun?
Welches Standing frchtet Tom zu verlieren?
Ich sa fr einen Moment da und schaute ihn an. Wenn er
diesen Raubvogel-Blick aufsetzt, ist die Sache wirklich
wichtig fr ihn. Er war im Debattierclub des College gewe-
sen, und htte fast Rechtswissenschaften studiert, und das
merkte man.
Gut, sagte er. Ich wei, was du meinst. Richtig, weil
Tom sonst berall ein Spitzen-Standing hat, drckt diese
Peinlichkeit sein Standing - sein reales Standing, wenn man
es so nennen will - gegen Null. Man verliert immer an
Standing, wenn man den Leuten einen Angriffspunkt bie-
tet. Da mute ich wieder an Mutter denken, und mich
berkam ein Anflug von Zorn. Aber ich begreife immer
noch nicht, wie du darauf kommst, da mit Tom etwas nicht
stimmt. Natrlich ist es wichtig fr ihn, was seine Freunde
denken! Aber warum mssen sie so eklig sein und ihn
blamieren ...
Haben sie ihn denn verspottet oder auf ihm
herumgehackt?
Nein, aber er wei, wie sie ber ihn denken, und das
krnkt ihn - und ich halte das fr unfair. Ich war ziemlich
aufgebracht und verwirrt und wute gar nicht, weshalb.
Er nickte mehrmals. Offensichtlich versuchte er sich an et-
was zu erinnern, das ihm nicht einfallen wollte. Oh, ver-
dammt, Melpomene, ich wute nie, wie ich es dir sagen
sollte, obwohl ich viel darber nachgedacht habe. Du willst
dich fr den Fortgeschrittenen-Lehrgang in Soziologie
bewerben, nicht wahr? Mit Schwerpunkt Verwaltung oder
Psychologie?
Ich nickte.
Er seufzte. Nun, dann knnte ich genauso gut... Seine
Stimme wurde undeutlich.
Was ist denn los?" fragte ich. Er hatte pltzlich einen so
merkwrdigen Gesichtsausdruck - das hatte ich ja noch nie
... er hatte Trnen in den Augen.
Papa!
Ich mu mit dir ber etwas reden. Es steht auf dem Plan -
ist sogar schon berfllig, und der CPB reit mir den Arsch
auf, wenn ich es nicht bald erledige. Er holte tief Luft und
schaute mir in die Augen. Melpomene, ich wei, da du
ehrgeizig bist. Wie wrde es dir gefallen, die Chance fr
eine Blitzkarriere zu bekommen - wo du schon mit
neunzehn einen hohen Posten bekleidest?
Wirklich?! Pos-def! Ich meine natrlich, ja! Ist eine neue
Stelle eingerichtet worden? Ich dachte, ich wrde alle
offenen Stellen auf dem Schiff kennen ...
Erneut nickte er. Das ist das Problem. Es ist nicht hier auf
dem Fliegenden Hollnder. Die Stelle ist im synchronen
Marsorbit, im groen Hafen von Deimos. Mchtest du das
Schiff verlassen, nicht bei diesem Mars-Rendezvous,
sondern beim nchsten? Du wrst dann Erwachsen und
knntest dort leben ...
Mir stockte der Atem; ich fhlte mich, als ob ich einen
Schlag in den Magen bekommen htte. Papa, ich kann
nicht - sag nicht ... Die Welt verschwamm um mich her-
um, das Blickfeld wurde von einem roten Rand eingefat,
und ich glaubte schreien oder mich bergeben zu mssen.
Er legte die Arme um mich, trstete und hielt mich,
whrend ich schluchzte. Entspanne dich. Tief durchatmen.
Tut mir leid, da ich dir das angetan habe. Manchmal fasse
ich es selbst noch nicht. Nein, du mut nicht gehen. Er
musterte mich besorgt. Bist du in Ordnung?
Ich holte aus, um ihm mit aller Kraft ins Gesicht zu
schlagen; er hielt die Hand fest und drckte sie an meine
Seite. Ganz ruhig ... , flsterte er und hielt mich.
Ich weinte und wute nicht, weshalb; es war erschreckend.
Wie hatte ich nur versuchen knnen, Papa zu schlagen?
Aber er hatte doch gesagt ... er hatte vorgeschlagen ...
Schon gut, sagte er. Das war vorprogrammiert. Damit
war zu rechnen. Tief durchatmen.
Langsam beruhigte ich mich wieder. Erkennst du es jetzt?
Wie tief diese Dinge verwurzelt sind? fragte er. Ich htte
es wissen mssen - schlielich habe ich daran mitgearbeitet.
Du bist die perfekte Mitarbeiterin fr Nihon America, so
perfekt, wie wir dich nur konditionieren knnen. Du willst
das Schiff nicht verlassen. Alles, was dir wichtig ist, ist hier,
und alles, was fr dich zhlt, ist das reibungslose
Funktionieren des Schiffs. Wir knnen dir keine Weisheit
oder einen edlen Charakter verleihen, aber wir knnen dafr
sorgen, da du hierbleiben willst, und wir knnen bewerk-
stelligen, da dein ganzer Lebenszweck in der Teamarbeit
besteht. ,
Dreckige Schei-Assis, sagte ich und holte wieder
gegen ihn aus. Diesmal reagierte er etwas zu langsam, und
ich erwischte ihn an der Backe. Das mute gesessen haben,
aber er reagierte nicht. Und aus diesem Grund fhlt Tom
sich beschissen wegen seiner Leistungen in CSL. Weil er
darauf programmiert worden ist! Er seufzte. Natrlich ist
er das. Ich bemerkte - und wunderte mich ber den Anflug
von Genugtuung, den mir das verschaffte -, da seine freie
Hand zuckte, als ob er einen weiteren Schlag abwehren
wollte. Natrlich ist er das, wiederholte er. Und du bist
wtend deswegen. Du hast ein Recht darauf. Auf der besten
aller Welten wre so etwas vielleicht nicht geschehen ...
Erzhl mir jetzt nur nicht, du httest keine Wahl gehabt
sagte ich.
Pltzlich wirkte sein Gesicht hart wie Stein. In
Anbetracht der Vergangenheit hatten wir keine Wahl. Du
hast ja keine Vorstellung davon, wie schrecklich das Leben
nach dem Groen Sterben und dem Eurokrieg war. Die
Reorgani-sation... fr viele von uns ...
Ich bin Viertbeste in Geschichte. Verschone mich damit!
Gut, ihr mutet die Schiffe am Fliegen halten, weil ihr
Weltraumressourcen brauchtet. Was, zum Teufel, gibt euch
aber das Recht, an meinem Bewutsein herumzupfuschen?
Nichts, sagte er. Nichts gab uns das Recht. Wir muten
es tun, also taten wir es. Ich erinnere mich an das letzte
groe Weihnachten, die Erklrung der Universellen
Abrstung, als die Menschen in den Straen tanzten und
Vater mich bei den groen Paraden auf den Schultern trug...
und am nchsten Weihnachten hatte mutAIDS zugeschla-
gen, und meine Eltern wurden irgendwo in einem Massen-
grab beerdigt, und ich verbrachte Weihnachten in der Schu-
le, zusammen mit vielen anderen Kindern, die auch ihre
Eltern verloren hatten. Genau zehn Jahre danach streifte ich
durch Belgien und suchte nach einer amerikanischen Einheit
nach berhaupt einem berlebenden Amerikaner. Das
darauffolgende Weihnachten verbrachte ich in einem
Evakuie-rungslager in der Normandie - und fuhr auf einem
koreanischen Frachter, der mit europischen Flchtlingen
beladen war, zurck in die Staaten, denn damals waren die
Vereinigten Staaten nicht in der Lage, ihre Soldaten selbst
heimzuholen. Ich hatte ihn noch nie so wtend - und
gleichzeitig so ruhig - darber sprechen hren. Ich wei
nicht in allen Einzelheiten, wie deine Mutter berlebt hat;
ich will es auch gar nicht wissen. Sie wei es auch nicht von
mir und hat mich nie danach gefragt. Wir wissen nur, da
jeder, der berlebte, ein Mensch war, der das tat, was er tun
mute. Erwarte also kein Fnkchen Mitleid und erwarte
auch nicht, da wir uns um die wertvollen Rechte von dir
und deinen Freunden scheren. Wir tun das, was wir tun
mssen; und wenn wir es dann getan haben, machen wir uns
vielleicht auch Gedanken darber, wie ihr darber denkt.
Darauf herrschte ein langes Schweigen.
Das passiert jedem, sagte er. Der einzige Unterschied
besteht darin, da die anderen Menschen durch Zufallsereig-
nisse geprgt werden. Du wurdest konstruiert. Und wir hab-
en dir eine Menge erspart. Wutest du schon, da intelligen-
te Kinder auf der Erde von ihren Schulkameraden zusam-
mengeschlagen werden, nur weil sie ihnen zu klug sind?
Sicher. Heute nachmittag habe ich das selbst erlebt. Er
starrte mich mit offenem Mund an; eigentlich hasse ich
diesen Gesichtsausdruck, aber diesmal gefiel er mir direkt.
Du erzhlst mir jetzt alles darber, sagte er schlielich
krchzend und schaltete den Recorder ein.
Also erzhlte ich ihm alles ber Theophilus und Randy.
Whrend die Aufnahme lief, gab er noch eine Menge in den
Computer ein, aber er stellte nicht viele Fragen ... ich mute
die Geschichte wohl gut vorgetragen haben.
Das ist aber interessant, sagte er, als ich fertig war.
Behalte sie im Auge; damit hatten wir nicht gerechnet.
Ich wte nicht, weshalb ich fr dich spionieren sollte,
sagte ich. Und ich mchte noch immer wissen, weshalb du
Toms Bewutsein so manipuliert hast, da es ihm zum
Nachteil gereicht. Hat du ihn, oder was?
Wir alle haben ein Interesse an Toms Leistungen in CSL,
denn alles, was er nicht sehr gut kann, schrnkt sein Einsatz-
profil ein, und alles, was er gut kann, kommt uns allen
zugute.
Wenigstens das ergab einen Sinn. Aber weshalb habt ihr
es dann so eingerichtet, da er echte Probleme damit hat?
Ich meine, es ist doch offensichtlich ... ihr knntet uns
einmal die Woche ein Memo oder so etwas in die Schule
schicken. Du weit schon, wie die Hinweise, beim Sport
einen Helm zu tragen und sich die Zhne zu putzen.
Es ist offensichtlich fr dich, weil wir >an deinem
Bewutsein herumgepfuscht haben<. Aber es ist nicht fr
jeden offensichtlich. Die meisten Menschen auf der Erde
wrden es genauso sehen wie du - seine Leistungen sind
seine Sache. Sicherlich sieht deine Mutter es auch so, und
deswegen tut sie sich auch so schwer, mit seinen Gefhlen
umzugehen.
Sie spinnt, sagte ich. Das ist ihr Problem.
Das rgerte ihn, aber er versuchte, es vor mir zu verbergen.
Es dauerte einen Moment, bis er fortfuhr: Es spricht eine
Menge fr ihren Standpunkt - es bedeutet vielleicht, da
mehr Menschen glcklicher sind, aber es bedeutet auch, da
die Leute weniger Untersttzung bekommen, wenn etwas
schiefgeht.
Aber ob die Leute nun glcklicher werden oder nicht, hier
oben, mit unserer begrenzten Population und den knappen
Ressourcen sowie dem Zwang, Gewinne zu erzielen, mit
denen wir unsere Importe bezahlen, drfen wir solche Ideen
gar nicht erst aufkommen lassen. Sie knnte das Ende des
Schiffs bedeuten. Und wenn das Schiff stirbt, stirbt die
Zivilisation mit ihm - so einfach ist das. Das kosystem der
Erde verkraftet keine weitere Schwerindustrie mehr, und
ihre Ressourcen befinden sich zu dicht an der Gravitations-
quelle; und es sind viel zu viele Menschen, als da sie nur
mit Landwirtschaft und erneuerbaren Energien berleben
knnten. Wir mssen in den Weltraum expandieren, selbst
wenn es hundert Jahre zu frh kommt. Also brauchen wir
die Schiffe, und Tom mu mit seinen Gefhlen zurecht-
kommen.
Er hat wohl kaum eine andere Wahl, sagte ich.
berhaupt nicht. Er seufzte. Aber nichts ist perfekt.
Diese Entwicklung mit dem neuen Jungen - nun, das hat
mich schockiert, und der CPB wird auch schockiert sein. Ich
habe keine Ahnung, was in diesem Fall zu tun wre. Ich
wrde es begren, wenn du mich auf dem laufenden
hltst.
Ich schttelte den Kopf. Wenn du mich gestern gefragt
httest, htte ich >pos-def< gesagt. Aber jetzt ... nein. Ich
habe keine Lust, fr den CPB zu spionieren.
Und wrdest du es fr den Fliegenden Hollnder tun?
Das ist nicht dasselbe. Zumindest nicht immer. Ich fate
es nicht, da ich Papa auf diese Art widersprach. Anderer-
seits war dies das erstemal, da ich wirklich selbst etwas tat,
wenn ihr wit, was ich meine.
Ich sagte >Gute Nacht< und ging dann hundemde in mein
Zimmer zurck. Mutter war vllig in ihr Buch versunken, so
da ich leise Toms Tr ffnete. Er schlief oder stellte sich
zumindest schlafend. Dann ging ich in mein Zimmer, klapp-
te den Tisch und den Stuhl in die Wand und lie das Bett
herunter.
Ich stellte mich in die Umkleideecke, zog Springerkombi
und Hausschuhe aus, warf sie in den Wscheaufbereiter und
stellte das Raumthermostat auf >nackt schlafen<. Dann
schwebte ich an die Decke, packte die Expandergriffe,
entspannte sie und lie sie los; hierauf atmete ich tief durch
und driftete auf das Bett.
Normalerweise schlafe ich so schnell ein, da ich die
Landung auf dem Bett gar nicht mehr spre, aber diesmal
mute ich mich trotz meiner Mdigkeit ausstrecken und
dreimal fallen lassen, bis ich endlich einschlief.
KAPITEL VIER
...............................................................

Am nchsten Tag reagierte D'Artagnan nicht auf Horn-


blowers Nachrichten. Ich hatte nicht einmal Blickkontakt
mit Miriam, und weil es an diesem Tag keine Pause gab,
war es mir auch nicht mglich, mit ihr zu sprechen.
Vielleicht litt sie auch an Schlafmangel.
Die zweite Hlfte des Nachmittags verbrachten wir mit
Pyramiden-Mathe, und ausgerechnet ich mute ein Team
mit Randy Schwartz bilden. Das Leben war schon hart und
ungerecht.
In Pyramiden-Mathe kommt die Bewertung
folgendermaen zustande: die Hlfte der eigenen Punktzahl
plus einem Viertel der eigenen Punktzahl und der des
Partners plus einem Achtel der Punktsumme der
Vierergruppe und so weiter. Allerdings wird der
Klassendurchschnitt parittisch mit den Durchsch-
nittspunktzahlen der Teams gewichtet, so da es im Grunde
auf ein und dasselbe hinausluft. Jede Stelle, von der
Einzelperson bis zu ganzen Teams, tritt jeweils
gegeneinander an. Anders ausgedruckt: je nher dir jemand
in der Team-Struktur steht, desto relevanter ist sein Ergebnis
fr dich.
Offiziell gab es zwei Sechzehner-Teams; weil wir aber nur
achtundzwanzig Schler waren, erhielten in jeder Achter-
gruppe zwei Leute eine Doppelpaarung, um dem Bewer-
tungsschema gerecht zu werden; sie bekamen den Durch-
schnitt der beiden Ergebnisse. (Mit einem Diagramm knnte
ich euch das anschaulicher erklren.) Dr. Niwara sagte zwar
immer, diese Doppelpaarungen wurden zufllig zustande
kommen, aber in Wirklichkeit teilte sie dazu immer die
schwachen Schler ein, um sie auf diese Art zu frdern.
(Sie machen das genauso, Dr. Lovell, und wir alle wissen
es; reden wir also Klartext.)
Wie dem auch sei, das Entscheidende bei PyramidenMathe
ist, da man, um selbst eine gute Note zu erhalten, auch dem
Partner zu einer guten Note verhelfen mu. Weiterhin mu
man darauf hinarbeiten, da das Viererteam eine gute Note
bekommt und so weiter, bis am Ende jeder in der Klasse
daran interessiert ist, da der andere eine hohe Punktzahl
erreicht. Eigentlich gefllt mir das auch, weil wir alle so eng
zusammenarbeiten mssen.
Ich war mir nur nicht pos-def sicher, ob ich mit Randy
Schwartz zusammenarbeiten wollte. Wir setzten uns stumm
gegenber und warteten darauf, da die ersten Problemstel-
lungen eingingen.
Beim dritten Problem wute ich nicht mehr weiter.
Randy?
Brauchst Hilfe? Gut, schau'n wir mal ... h ... negativer
Beweis? Nimm an, da das Ergebnis falsch ist, und zeige
die Problematik auf, die sich daraus ergibt? Erneut ging ich
das Problem durch; es war offensichtlich. Danke - ich
glaube, ich habe es.
Wir machten uns wieder an die Arbeit, aber es sah so aus,
als ob ich auch bei allen anderen Aufgaben Hilfe bentigte.
Er wurde zappelig und geriet aus dem Konzept, als er mir zu
helfen versuchte. Schlielich wurde es so schlimm, da ich
ihn fragte - Randy, stimmt etwas nicht?
Nein ... h ... ich ... Er schttelte den Kopf. Es ist nur,
mir steht heute nicht der Sinn nach Mathe oder sonst etwas,
Mel. Aber wir mssen es tun, also ... he, das hier ist einfach.
Schau, du kannst beweisen, wenn es fr ein Ellipsen-Paar
gilt, dann gilt es auch fr jedes Ellipsen-Paar, klar? Das ist
wirklich trivial.
Ich brauchte zwar eine Minute, um das nachzuvoll ziehen,
aber er hatte recht; der Beweis war einfach. Was jetzt?
fragte ich. Er beschftigte sich wieder mit seiner eigenen
Arbeit und schien sich ber die Frage zu wundern. Oh. Wo
du das jetzt bewiesen hast, mut du nur noch zeigen, da es
auch fr zwei Kreise mit Einheitsradius gilt. Auf diese Art
fllt der ganze komplizierte Kram weg.
Das ist ja fast schon Betrug.
Ist es, ein kleines bichen. Aber es funktioniert hier ist
ein Diagramm ...
Er rollte die Maus zwischen den Handflchen, ein
seltsamer Trick, den er immer beim Erstellen von Grafiken
anwandte. Noch whrend das Diagramm auf dem
Bildschirm erschien, erkannte ich das Prinzip und wollte
ihm schon sagen, da ich es jetzt allein schaffen wrde,
doch dann fragte er mich: Mchtest du lieber mit Mel oder
Melpomene angeredet werden?
Vor lauter Verblffung mute ich erst einmal schlucken,
bevor ich erwidern konnte: h ... alle nennen mich Mel,
aber Melpomene wre mir lie-lieber. Mit acht Jahren hatte
ich zum letztenmal gestottert; heute hatten wir beide einen
schlechten Tag.
Ich versuche, ihn mir zu merken. Er nickte. Das ist ein
schner Name.
Danke. Dann trat eine lange Pause ein; ich wute nicht,
was ich sonst noch htte sagen sollen, und er sah anschei-
nend durch den Bildschirm hindurch. h ... ich glaube, wir
machen uns lieber wieder an die Arbeit. sagte ich, wobei
meine Verlegenheit mit jeder Sekunde wuchs.
Genau. Er widmete sich wieder seinem Monitor. Ich
wei nicht, womit er sich an diesem Tag befate - er
arbeitete so schnell, da ich nicht folgen konnte, und
berhaupt htte ich es ohnehin nicht verstanden.
Ich lste das Problem zwar, brauchte aber so lange dafr,
da das Team kaum davon profitierte. Wir hatten noch eine
Stunde, und die Aufgaben wurden immer schwieriger, so
da mir das Schlimmste nicht nur noch bevorstand - es
wrde eine Menge Schwierigkeiten geben.
Whrend die Probleme komplexen und schwieriger
wurden, arbeiteten wir immer fter in Vierer- oder gar in
Achtergruppen. Manchmal wechselte Randy zu Carole oder
Barry, um sie und damit das gesamte Team zu retten.
Ich war froh, da ich beschftigt war und kaum Zeit hatte,
mit Randy zu sprechen oder an ihn zu denken. Wenn er nur
nicht solch ein bler Schlger wre. Ich fragte mich,
weshalb er so geworden war, wo er doch einen Freund hatte,
mit dem er reden konnte. Nach dem Angriff auf Theophilus
hatte er so verloren gewirkt, als ob er gar nicht verstnde,
wie er das berhaupt hatte tun knnen... Und dann hatte er
doch wirklich gefragt, wie ich genannt werden wollte; das
hatte noch kein anderer getan, und wenn ich es Freunden
wie Miriam sagte, vergaen sie es in der Regel wieder.
Ich schaute auf den Bildschirm, und mir stockte der Atem.
Die in der unteren Ecke eingeblendete Uhr zeigte, da schon
ber eine Minute verstrichen war. Statt mich mit Mathe zu
befassen, hatte ich an Randy gedacht. Ich hatte nur dageses-
sen und das Problem auf dem Bildschirm nicht registriert.
Ein ganzes Drittel der mglichen Punkte war bereits
verloren.
Und nichts auf dem Bildschirm ergab auch nur
ansatzweise einen Sinn.
Randy - h ... Hilfe!
Sicher. Eilig kam er zu mir herber - dadurch ging es
mir etwas besser, aber sein Gesichtsausdruck beim Blick auf
den Bildschirm gefiel mir nicht. Teufel. He, Kollegen,
jeder, der Zeit hat, herkommen und Melpomene helfen. Ich
hrte, wie die Leute sich hinter uns versammelten und das
Problem vom Monitor ablasen, aber ich hatte nur Augen fr
Randy.
Gut, gut, gut, sagte er im Monolog, fast als Singsang,
whrend er das Problem in Angriff nahm. Keine einfache
Lsung. Scheinbar unmglich. Aber fr solche Sachen gibt
es immer einen Trick. Mu ihn nur finden. Suche nach
etwas ganz Bestimmtem ...
Fr die Lsung braucht man nur p und q, assistierte ich.
Das war aber auch schon alles, was ich dazu beitragen
konnte.
Ja, knnte sein, bei einem Standard-Problem gbe es vier
Variablen und neun Konstanten, aber das hier ... Ha! Diese
zwei Bereiche sehen so aus, als ob man sie ausdrucken
knnte ... genau. Wenn man ausklammert, ist der eine p plus
p Quadrat, der andere p minus p Quadrat, und das Verhltnis
zwischen den Seiten ist pq durch pq minus q, also ... nun,
versuch das mal.
Ich tat wie geheien, ohne indes auch nur zu ahnen,
worauf er berhaupt hinauswollte.
Ist das Dreieck also p hoch q durch zwei?
Genau, besttigte er. Jetzt haben wir drei Winkel in
dieser Projektion; wenn wir nun p und q in Bezug zu ihnen
setzen ...
Nun, mit vereinten Krften boxten wir uns schlielich
durch. Natrlich stammten alle Ideen nur von Randy, aber
zumindest war ich nun imstande, seine Gedankengnge so-
weit nachzuvollziehen, um gewappnet zu sein, falls Dr.
Niwara bei den Partnern nachhakte obwohl das in den
letzten Jahren kaum noch der Fall gewesen war. Ich glaube,
sie hielt uns wohl fr reif genug ...
Mit nicht einmal mehr zwei Minuten auf der Uhr mute
ich mich ordentlich anstrengen, um berhaupt noch einen
Punkt zu erzielen. Ich fhlte mich ziemlich schlecht - mein
unttiges Herumsitzen hatte das Team den Bonus fr die
Lsung des Problems gekostet.
Ich wollte mich schon entschuldigen, als Randy sagte:
Nein, ich habe selbst Zeit vergeudet, weil ich es besonders
elegant machen wollte. Nettes Problem - ich wnschte nur,
wir wren nicht ausgerechnet an einem Pyramiden-Tag da-
mit konfrontiert worden, als wir gegen die Uhr arbeiten
muten. Er berhrte mich leicht an der Schulter. Wie dem
auch sei, wenn sie dir heute noch mal eine solch schwere
Aufgabe stellen, heit das, du bist ein Genie, und das will
etwas heien. Er wandte sich ab und kmmerte sich um
Ysande.
Wenn du wieder mal Hilfe brauchst, melde dich, sagte
Kwame van Dyke. Wenn du es selbst nicht schaffst, suche
jemanden, der es kann.
Randy fuhr herum. La sie in Ruhe! Sie hat sich gut
gehalten.
Mit einemmal wurde es sehr still, und ich wnschte, er
htte das nicht gesgt. Die anderen starrten ihn an, und ich
glau-be, er wnschte sich jetzt auch, nichts gesagt zu haben,
aber er entspannte die Fuste und erklrte ganz nchtern:
Hilfe war nicht frher mglich, weil ich mit Roger
zusammenge-arbeitet hatte.
Das stimmte zwar nicht ganz; aber immerhin hatte er
neben Roger gesessen, der gerade mit einem Problem
beschftigt war, so da niemand sich die Mhe machen
wollte, ihn zu fragen. Und weil keiner von euch etwas zur
Lsung des Problems beizutragen wute, wre es vllig
sinnlos gewe-sen, wenn sie euch angefordert htte. Wir
htten die Punkte also auf jeden Fall verloren.
Sein Blick wanderte von Kwame zu den anderen und dann
wieder zurck zu Kwame. Wenn ihr Leute bedrngt, die
Probleme haben, dann werden die Probleme nur noch
grer. Das bringt nichts - wir mssen uns auf die Punkte
konzentrieren, die noch zu holen, und nicht auf die, die
schon verloren sind. Jetzt macht selbst ein paar Punkte,
wenn ihr schon so clever seid. Ich hielt seine Argumenta-
tion fr ziemlich gut - zumindest war ich vom Haken. Als
Randy ihm den Rcken zudrehte, flsterte Kwame, welche
schlimmen Sachen ich machen wrde, um Randy meine
Dankbarkeit zu beweisen. Weil Kwame aber immer solche
Sachen sagt, hrte niemand hin.
Ich drehte mich wieder zum Bildschirm um und rief die
nchste Frage ab. Sie sah aus wie eine Variation der
vorherigen Aufgabe, aber nun sollte ich nur sagen, ob das
Problem lsbar sei. Fast htte ich >ja< eingegeben, denn ich
hatte gerade den Lsungsweg der letzten Frage mitverfolgt
und dachte, jetzt mte ich sie entsprechend beantworten,
als ich stutzte. Randy, sagte ich, noch einmal zum
letzten Problem - wenn die horizontalen und vertikalen
Projektionswinkel gleich gro wren, wre das berdifferen-
ziert?
Ja. Warum?
Ich tippte >Nein< ein Das gab dicke Punkte. Nach diesem
letzten Problem hatte die KI wohl vermutet, da ich
entweder klglich versagen oder mir vor lauter Angst sehr
viel Zeit lassen wrde. Danke, sagte ich. Ich habe es.
Dann widmete ich mich dem nchsten Problem.
Nun hatten wir keine Zeit, uns abzusprechen, denn beim
letzten Teil ging es um Geschwindigkeit. Sie blenden diese
komplizierten Grafiken ein, mit blau markierten Strecken
und Winkeln, wobei einige Strecken und Winkel mit roten
Fragezeichen versehen sind. In diesem Fall wird kein
Problem definiert, und man mu auch nicht rechnen - ber
dem Fragezeichen gibt man einfach einen Schtzwert fr die
Strecke oder den Winkel ein; je schneller und genauer man
ist, desto mehr Punkte gibt es. Dies ist der einzige Bereich
in Mathe, fr den ich ein Talent habe.
Bei der Abschluwertung am spten Nachmittag lag
Randy auf Platz Zwei und ich auf Platz Sieben - ein
schlechtes Ergebnis fr ihn und ein sehr gutes fr mich.
Theophilus war Erster, und berhaupt war das andere Team
besser; Miriam wurde sogar Fnfte. Auer seinem Talent in
Mathe war Theophilus anscheinend auch ein guter Mentor.
Ich versuchte, eventuellen Verdru schon im Ansatz zu
unterdrcken. Es tut mir wirklich leid, Randy, sagte ich
an der Tr.
Er wirkte berrascht. Was denn?
Ich habe unser Ergebnis verschlechtert, vor allem bei
diesem einen Problem. Mit Partnern wie Gwenny oder
Padraic httest du viel besser abgeschnitten ...
Er zuckte die Achseln. Macht nichts. Man kann nicht
immer die Nummer Eins sein - diese Erfahrung ist vielleicht
ganz gut fr mich. Ich bin nmlich ein verdammt schlechter
Verlierer.
Dann traten wir hinaus in den Korridor, und fr eine
Sekunde trafen sich unsere Blicke. Bis morgen, sagte ich,
und der Anflug eines Lchelns erschien auf seinem Gesicht.
Ja, bis morgen. Diese KI wird dich jetzt fr ziemlich
intelligent halten - die Aufgaben waren wirklich schwer.
Ich nickte. hem ... danke, da du mich verteidigt hast.
Das war keine Verteidigung. Es geht Kwame nichts an,
wie du deine Aufgaben lst. Das ist nur eine Sache
zwischen dir und deinem Partner. Kwame ist sowieso nur
Trittbrettfahrer bei den anderen, und du bist nicht fr seine
Punktzahl verantwortlich, wenn er selbst keinen Beitrag
dazu leistet.
Das war zwar alles richtig, aber ich hatte nicht erwartet, es
von ihm zu hren. Kann sein. Auf jeden Fall bedanke ich
mich.
Er nickte. Dann fiel uns nichts mehr ein, und wir standen
verlegen da. Schlielich gingen wir in entgegengesetzte
Richtungen davon. Das war so ziemlich die verkrampfteste
und dmmste Unterhaltung, an der ich jemals beteiligt
gewesen war; sie htte genauso gut in einem Olson-Roman
stehen knnen.
Miriam und Theophilus gingen vor mir, und ich schlo zu
ihnen auf. Hallo, Leute.
Miriam hatte einen merkwrdigen Gesichtsausdruck, als
ob meine Anwesenheit sie strte, und ich wollte schon
diskret verschwinden, als Theophilus mich lchelnd
begrte. Nun war es zu spt. Schweigend gingen wir den
Gang entlang und nahmen statt der Omnivatoren die Treppe
zum Zentrum des Pilzes. Nachdem wir mehrere Ebenen
bewltigt hatten, fragte Miriam pltzlich: Was hattest du
denn mit Randy Schwartz zu bereden?
Ach, es ging um die Mathe-Aufgaben. Er war mein Part-
ner. Bei einem schwierigen Problem wute ich nicht mehr
weiter, und er hat mir aus der Patsche geholfen. Kurz
darauf fgte ich hinzu: Er ist auch gut.
Fast so gut, wie er glaubt, bemerkte Theophilus. Ich
hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Fast so gut, wie er
glaubt? - Wer, wenn nicht er selbst, htte denn wissen
sollen, wie gut er war? Und weshalb >fast<? Bei all den
Rckmeldungen, die wir erhielten, konnte er sich doch nicht
stndig berschtzen.
Miriam kicherte; also mute es wohl ein Scherz gewesen
sein.
Ted, sagte sie, du hast ein bses Mundwerk. Er wird
dir wieder eine scheuern, wenn du dich nicht zurckhltst.
Ich suchte noch immer nach der Pointe, aber allmhlich
langweilte es mich auch. Ted? fragte ich.
So mchte ich gern genannt werden, sagte Theophilus.
Ich habe nmlich eine Vorliebe fr kurze Namen. Wie eure
- Mim und Mel.
Noch jemand, der mich Mel rief. Oh. Ich begleitete sie
auf dem restlichen Weg durch den Pilz, und dann warteten
wir darauf, da der Verteilerring uns nach Block A
befrderte.
Was. hltst du von Penny Graham? wandte Theophilus
sich an Miriam.
Ich wei nicht, du hast den Namen doch genannt. Sie
kicherte. Ich fragte mich, ob sie vielleicht eine berra-
schungsparty geben wollten. Auf jeden Fall bte Theophilus
einen negativen Einflu auf Miriam aus ihre Sprche waren
nicht'viel sinnvoller als seine.
Pfannkuchen, sagte er.
Darber muten beide lachen, und Miriam sagte: Das
sind sie wirklich, mut du wissen. Ich habe sie im
Umkleideraum gesehen, und sie sind nicht nur klein,
sondern auch schlaff.
Ich wute nicht, weshalb sie sich ber Penelopes Brste
unterhielten oder wieso das so lustig war.
Gut, pos-def Pfannkuchen, befand Theophilus. Und
wen nehmen wir jetzt?
Such du jemanden aus.
Das Mdchen, das zwei Reihen vor mir sitzt.
Rebecca Hayakawa?
Genau die, besttigte Theophilus. Oh - volle
Scheiben.
Das kapiere ich nicht, sagte Miriam.
Als ich hier ankam, wurde gerade ausgerufen, da es auf
dem Panoramadeck etwas zu sehen gbe ... Ach, jetzt
verstehe ich. >Erde und Mond stehen als volle Scheiben am
Himmel ... < Aber da fllt mir noch etwas Besseres ein. Wie
wre es mit Stopfen? regte Miriam an. So wirkt sie
nmlich, wenn sie durch einen engen Korridor geht.
Weil Rebecca ein so grogewachsenes Mdchen war, ach-
tete sie penibel auf ihr Gewicht und die Figur. Ich war mir
sicher, da sie in Trnen ausgebrochen wre, wenn sie das
gehrt htte, aber die beiden lachten wie die Idioten.
Schlielich tauchte der Eingang von Block A auf, und wir
gingen hindurch. Ich wohnte in einem anderen Korridor als
die beiden und wollte mich verabschieden, aber sie wrdig-
ten mich keines Blickes; also ergriff ich das Netz und
hangelte mich fort. Sie waren so in ihr Flstern und bldes
Kichern vertieft, da sie mich ignorierten. Bevor die Tr
sich schlo, hrte ich Miriam noch etwas sagen, das ich
nicht ganz verstand.
Dann sagte Theophilus: He, das ist super. Papa Psycho,
Mama Asozial und Zwerg Nase!
Als ich schlielich unsere Wohnung erreicht hatte, ging
ich sofort auf mein Zimmer und wollte bis zum Abendessen
lernen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Gut, ich
war nicht sehr gro fr mein Alter, und vielleicht sah ich
auch jnger aus, als ich war. Und ... wirklich, Mutter war
ziemlich produktiv gewesen und hing jetzt nur noch zu
Hause herum.
Miriam wute doch, wie sehr mich das rgerte. Wie
konnte sie sich dann nur so darber lustig machen?
Ich hatte die Zimmertr offengelassen, womit ich Tom
signalisierte, da er eintreten konnte, wenn er Hilfe brauchte
oder sich mit mir unterhalten wollte. Pltzlich ertnte das
Signal des Interkoms. Ich speicherte die Arbeit ab, mit der
ich mich gerade abmhte - >Abstrakte Mikrokonomie des
Orbitaltransfers< -, und schaltete eine Audio-Video-
Verbindung, indem ich den Monitor auf den Interkom legte.
Zu spt fiel mir ein, da ich noch das Kleid anhatte vom
Abend zuvor, und,in der Cafeteria hatte es Kaninchen-
Lasagne gegeben ...
Zum Glck war es nur Miriam, der das nichts ausmachte.
Hallo, Mel, wollte mich nur unterhalten - hast du Zeit?
Pos-def, Mim; was liegt an?
Nun - sag mal, was ist denn das auf deinem Kleid?
Mu wohl vom Abendessen sein, gestand ich. Sie
schttelte den Kopf. Melpomene. Aber wirklich. Miriam
machte das schon seit Jahren so, aber aus irgendeinem
Grund war es diesmal anders, als ob...
Einen Viertelmeter hinter meinem Kopf wurde die Tr
zugeschlagen. Mutter sorgte fr meine Privatsphre, ob ich
sie wollte oder nicht.
Seltsamerweise schien Miriam nicht zu wissen, was sie sa-
gen sollte, obwohl sie doch angerufen hatte. Hast du schon
den Kram fr den Kunst-Club erledigt? fragte sie mich
schlielich.
Ja, natrlich. Ich war Vorsitzende und Miriam Kassen-
wart; sie wollte von mir wissen, wie viele Mitglieder wir
hatten, um Frdermittel zu beantragen. Es dauerte eine
Zeitlang, bis das geklrt war.
Dann trat erneut ein sehr langes und sehr verlegenes
Schweigen ein. Nachdem ich, fr ein paar Momente das
gesamte Inventar des Zimmers betrachtet hatte, nur nicht
Miriams Gesicht auf dem Bildschirm, sagte ich schlielich:
Tom hat bald ein groes Rennen - die Schiffsmeisterschaft.
Samstagmorgen.
Ach. Hat er denn eine Chance, zu gewinnen?
Er will die Schiffsmeisterschaft fr Block A verteidigen.
Wnsch ihm Glck von mir.
Werde ich.
Wieder Schweigen.
In der Literaturarbeit nchste Woche, sagte Miriam,
geht es um Nicks Behauptung, Gatsbys Geschichte handele
im Grunde vom Westen. Hast du das mitbekommen?
Ja. Es erinnert mich an die Dinge in den Bchern, die
mei-ne Mutter immer liest - Verschnitte von Hemingway,
Fitz-gerald und so weiter. Du bekommst eine Kopie meines
Aufsatzes. Vielleicht hilft er dir weiter... Dann schickte ich
die Kopie der Datei ab.
Sie senkte den Blick und berprfte, ob die bertragung
fehlerfrei erfolgt war. Danke.
Wir beide saen nervs da. Ich dachte schon daran, die
Verbindung mit irgendeiner Begrndung zu unterbrechen,
tat es dann aber doch nicht.
Wie kommt Theophilus denn zurecht? fragte ich
schlielich.
Sie setzte sich gerade hin und schrzte die Lippen, als ob
sie schmollte. Dann sagte sie: Er mchte gern mit Ted
angeredet werden. Das hat er dir doch gesagt.
Tut mir leid. Das hatte ich vergessen.
Er mchte Ted genannt werden. Er war nur zu
schchtern, das schon frher zu sagen.
Es tut mir leid, wiederholte ich. Wirklich. Ich hatte
nicht mehr daran gedacht.
Nun, dann solltest du dich bemhen, aufmerksamer zu
sein. Und weshalb hast du heute auf dem Heimweg kein
Wort gesprochen? Ich hatte den Eindruck, mein kleiner
Bruder wrde mich begleiten. Du hast mich in Verlegenheit
gebracht.
Ich fragte mich, ob ich mich vielleicht entschuldigen
sollte, wute jedoch nicht, wofr.
Dann sagte sie nichts mehr, und wir saen nur da und
schauten uns an. Du tust es schon wieder, sagte sie
pltzlich. Sagst kein Wort. Ehrlich, Mel, du bist meine
beste Freundin, aber manchmal wundere ich mich schon
ber dich. Wir reien die ganze Zeit Witze - und du stehst
nur da wie ein Trottel. Theophilus hat mich schon gefragt,
wie die Leute auf die Idee kmen, dich als intelligent zu
bezeichnen!
Miriam hatte noch nie in diesem Ton mit mir gesprochen.
Ich wute nicht, was ich ihr entgegnen sollte. Und heute
hast du wirklich den Vogel abgeschossen, sprach sie
weiter. Mit Randy Schwartz rumzuhngen. Das war der
Gipfel ...
Ich habe nicht mit ihm rumgehngt. Meine Stimme
klang weinerlich, als ob ich schmollen wrde, und ich hate
das. Ich habe mich nur mit ihm unterhalten. Ich hatte ein
paar Fragen wegen Mathe, und er ist gut in Mathe, und er
hat mir geholfen. Und, ergnzte ich in Gedanken, ich
wollte verhindern, da Randy Theophilus - Verzeihung, Ted
- in die Korridorwand drosch. Aber langsam fragte ich mich,
weshalb mir das berhaupt ein Anliegen gewesen war ...
Nun, es sah so aus, als ob du mit ihm herumhngen
wrdest, und nur das zhlt. Darauf will ich hinaus. Machst
du dir denn nie Gedanken darber, wie deine Handlungen
auf die anderen wirken? Manchmal bist du richtig bld ...
Meine Kehle war heiser, und ich brachte kaum ein Wort
heraus. Weshalb redest du so mit mir? Ich hatte ein
Stechen in den Augenwinkeln. Ich befrchtete, vor Miriam
zu weinen, und obwohl das sonst nie ein Problem gewesen
war, gefiel mir diese Vorstellung auf einmal nicht mehr.
Es ist nur zu deinem Besten, Mel. Sie seufzte und
verdrehte die Augen. Wenn du keine Kritik vertrgst ...
egal, nichts fr ungut. Dann lchelte sie leicht. Tut mir
leid. Wirklich. Schau, ich hatte nur angerufen, um dich zu
fragen, ob du morgen frh mit mir, Ted und ein paar
anderen in Cafeteria Zwlf frhstcken mchtest.
Wrde ich gern, sagte ich, aber du kennst doch meine
Mutter. Unsere Familie frhstckt immer gemeinsam in
unserer lokalen Cafeteria. Ich kann also nicht kommen.
Miriam schaute mich erzrnt an. Du weit, da Ted dich
nur eingeladen hat, weil ich ihn darum gebeten habe. Ich
habe mich wirklich fr dich eingesetzt. Ich sage dir lieber
nicht, wie er deine Aktion heute nachmittag beurteilt hat.
Dann unterbrach sie, die Verbindung.
Ich lehnte mich im Stuhl zurck und brach in Trnen aus.
Im Moment stimmte berhaupt nichts.
Da klopfte es leicht an die Tr, und ich hrte Toms
Stimme. Melpomene?
Komm rein! Ich erhob mich vom Stuhl und klappte ihn
hoch, so da er eintreten konnte.
Er kam halb durch die Tr. Du klingst bedrckt. Brauchst
du jemanden zum Reden?
Ja. Pos-def.
Er trat ganz ein, schlo die Tr und nahm auf dem
Besucherstuhl Platz. Ich klappte den Stuhl wieder herunter
und setzte mich; als ich aber etwas sagen wollte, fiel mir
nichts ein, und mein Hals war wie zugeschnrt, so da ich
keine Luft bekam. Ich sa nur da und schniefte, wobei mir
die Trnen ber das durch die Demtigung glutrote Gesicht
liefen.
Er beugte sich vor und nahm meine Hnde. Wir knnen
auch spter reden, wenn du jetzt allein sein willst.
Jetzt sprichst du schon wie Mutter.
Mit den Fingern simulierte er eine Pistole und hielt sie sich
an den Kopf, wie in den alten 2-D-Videos.
Ich schniefte, nahm ein Reinigungstuch und wischte mir
das Gesicht ab. Jetzt fhlte ich mich wieder besser.
Ich wrde gern reden, sagte ich. Aber die ganze Sache
ergibt berhaupt keinen Sinn. Und dann sprudelte es aus
mir heraus, wobei ich aus einem unerfindlichen Grund
damit anfing, wie Randy Theophilus am Tag zuvor
angegriffen hatte. Hltst du mich fr verrckt? fragte ich.
Oder knnte es sein, da ich einfach zuviel hineininter-
pretiere? Er hat so komisch geschaut, nachdem er Theophi-
lus geschlagen hatte - ich wei gar nicht, weshalb das so
wichtig ist ...
Tom zuckte die Achseln. Er verlor die Beherrschung und
tat etwas, wofr er sich hinterher dann schmte. Oder er
wute nicht, was er tat, bis es zu spt war. Oder vielleicht ...
- er grinste mich an - vielleicht war es ihm peinlich, da
du Zeugin dieses Vorfalls warst.
Du hast doch ... das ist das Dmmste, was ich je ...
Reg dich nicht auf. Ich versuche nur, eine Erklrung zu
finden. Hast du den Eindruck, er mag dich?
Ich wollte schon sagen >Natrlich nicht<, aber statt dessen
erklrte ich: Nun ja, manchmal ... ich meine, ist er wirklich
nett. Deshalb - nun ... Ich erzhlte ihm von Pyramiden-
Mathe und, als Nachbetrachtung, von den Komplimenten,
die Randy mir beim Aerocrosse gemacht hatte.
Tom hatte dieses gemeine Glhen in den Augen, das
besag-te, da er jetzt erst richtig zur Sache kam. Gut. Nur
um das klarzustellen - nichts ist so interessant wie das
Liebesleben anderer Leute.
Ich habe nichts mit ihm zu schaffen. Er schlgt
Menschen!
Tom blinzelte mir zu; das brachte mich erst recht auf die
Palme.
Er mute das bemerkt haben, denn er wurde wieder sach-
lich. Ich vermute, da das auch gar nicht das eigentliche
Problem ist.
Es ist ein Teil davon. Ich schneuzte mich. Ich habe
mich nach Krften bemht, nett zu Theophilus zu sein, aber
jetzt wnschte ich, er wre nie in unserer Klasse
erschienen. Dann erzhlte ich ihm den Rest. Als ich auf die
Unterhal-tung zu sprechen kam, die ich gerade mit Miriam
gehabt hatte, mute ich wieder weinen, und er nahm mich in
den Arm und beruhigte mich, bevor ich die Geschichte
beendete.
Das ist wirklich verrckt. sagte er. Ich wei nicht wie
man seine beste Freundin so behandeln kann. Und ich wei
auch nicht, was sie davon hat, auer da sie mit diesem
Theophilus zusammen ist, was mir im brigen nicht wie ein
groer Gewinn vorkommt.
Ich schniefte noch immer, fhlte mich aber schon viel
besser. Nun, wo Tom es angesprochen hatte, kam es mir
wirklich ziemlich seltsam vor; mit so etwas war ich noch nie
zuvor konfrontiert worden. Vielleicht hat er eine Art
ansteckender Geisteskrankheit, spekulierte ich. Ich habe
keine Ahnung. Aber was auch immer es ist, Miriam hat es
ziemlich schlimm erwischt. Auf einmal berkam mich eine
groe Mdigkeit. Ich glaube, jetzt geht es mir wieder
besser, zumindest fr den Augenblick.
Tom seufzte. Na gut, aber es ist dir gelungen, mich zu
beunruhigen. Hast du berhaupt noch Zeit, die Hausaufga-
ben zu machen?
Ich werde sie bermorgen erledigen. Morgen ist
>Einzelkmpfer-Tag<.
Fr mich auch. Ich arbeite gerade an einer interessanten
Sache. Mchtest du es dir einmal anschauen?
Klar, sagte ich, obwohl ein Teil von mir innerlich
sthnte. Seit ich mich erinnere, hatte Tom seine Laborzutei-
lungen immer nur dafr verwendet, skurrile Objekte anzu-
fertigen, die kaum als Kunstgegenstnde und schon gar
nicht als Erzeugnisse des Maschinenbaus zu bezeichnen
waren. Im Gegensatz zu den meisten anderen hatte er es
auch nie fr ntig gehalten, an den Projektwettbewerben
teilzunehmen.
Die meisten von uns gaben ihr Letztes fr diese
Veranstaltungen - Miriam und ich waren im letzten Quartal
einmal zwei Nchte hintereinander aufgeblieben, um ein
Wandgemlde fertigzustellen, wobei wir uns das Zubehr
und die Farben berall zusammengeliehen hatten, nachdem
unsere Laborzuteilung aufgebraucht war. Und Penelopes
verbessertes Tornistertriebwerk sowie Chris Kims neuar-
tiger Sauerstoffreiniger fr die Aquakulturtanks waren ein
echter Erfolg gewesen - sie gingen jetzt in Serie.
Es verhielt sich indes nicht so, da Tom von vornherein
jeden Wettbewerb ablehnte, und in diesem Bereich verfgte
er sogar ber ein gutes Potential - ich war sicher, da er sein
Standing hyperbolisch htte verbessern knnen, wenn er
sich auch nur halbwegs Mhe gegeben htte.
Und doch investierte er jedes Quartal seine Laborzutei-
lungen in eine bizarre Synthese aus Komponenten von
Werkzeugmaschinen und Prozessorchips, inklusive einer
scheinbar chaotischen Kollektion anderer Teile. Er ver-
brachte Stunden damit, diese Elemente zu verschweien und
zu verdrehten, wobei er nach einem unergrndlichen Plan
vorging, der anscheinend nur in seinem Kopf existierte, und
produzierte dann Gegenstnde, die Mutter als >Alien-
Artefakte< bezeichnete. Sulen aus verschraubten Metall-
platten, die mit blinkenden Lampen bestckt waren, pyrami-
denfrmige Gestelle, aus deren Innern ein mysterises
Sthnen drang und die mit Bndern aus Aluminium und
Kupfer umwickelt waren, sowie ein Sortiment von fnf
winzigen Gleitern, die sich in aberwitzigen Spiralen jagten
und dabei leise Glockentne von sich gaben.
Einmal hatte er mich gebeten, ihm bei der Lsung eines
CSL-Problems zu helfen, welches er als integrale Kompo-
nente seines Projekts betrachtete. Das Problem war indes
vllig absurd, genauso wie das Projekt.
Wie dem auch sei, normalerweise htte ich dankend abge-
lehnt, aber nun schuldete ich ihm einen groen Gefallen.
Weil ich aber nicht bermig gespannt war, was er mir
diesmal prsentieren wrde, hatte er schon die Lcke
zwischen unseren Zimmern berbrckt, bevor ich mich
berhaupt in Bewegung setzte.
So fgte es sich, da ich Papa am Rand des Gemein-
schaftsbereichs beim Lauschen ertappte.
Er erschrak, nickte mir aber zu und ging dann ohne ein
Wort in den Gemeinschaftsbereich zurck.
Das htte mich eigentlich nicht wundem drfen. Die
meisten Angehrigen des CPB verbrachten nmlich jeden
Tag mindestens eine Stunde mit dem stichprobenartigen
Abhren von Interkom-Gesprchen. Aber irgendwie war ich
doch wtend.
Trotzdem wollte ich nicht gerade jetzt einen Streit
provozieren. Ich mute zeitig schlafen gehen, weil tags
darauf der Wettbewerb anstand. Und auerdem fragte Tom
sich sicher schon, ob ich vielleicht auf dem ZweiMeter-Trip
von meinem zu seinem Zimmer verschollen war. Also nahm
ich mir vor, Vater spter zur Rede zu stellen und betrat
Toms Zimmer.
Der Raum schien zu siebzig Prozent mit einem Gewirr aus
Kabeln, Klemmen, dnnen Aluminiumrhren
und rechteckigen Metallplatten angefllt zu sein. Hast du
den ganzen Kram aus dem Lager geklaut, oder hat es hier
einen schrecklichen Unfall gegeben?
Ich Glckspilz - da ich eine so schlaue kleine Schwester
habe. Setz dich und la dich berraschen. Dann schaltete er
alle Lichter aus. Ich sah nichts - bei geschlossener Tr war
es stockfinster.
Ein Lied, verlangte er.
Was?
Ich sah ein kurzes gelbes Flackern, und dann explodierte
etwas, das wie ein dreidimensionales Modell einer Spiralga-
laxis aussah, vor meinen Augen. Drei pulsierende Schnre
kamen zum Vorschein, die wie ein metallisches Organ aus-
sahen. Mit einem leisen Trllern verwandelte die Spiralgala-
xis sich in eine Sphre aus blauen Punkten, nicht grer als
ein Aerocrosse-Ball, und lste sich dann auf.
Oh! sagte ich. Das ist wirklich ...
Eine groe Fontne aus Rot- und Gelbtnen eruptierte aus
dem Boden und brach sich an der Decke, whrend eine
Melodie, die wie ein Beethoven-Duett fr Pikkoloflte und
Banjo klang, verhallte. Die Fontne brach in einem Wirbel
aus grnen Sternen zusammen und stie dabei furzende
Laute aus.
Mit einem Klicken bettigte Tom einen Schalter. Nun war
es wieder dunkel. Die Spracherkennung ist noch nicht ganz
ausgereift. Wenn du wirklich etwas sehen willst, dann sing.
Noch bevor ich ihn darauf hinweisen konnte, da ich nicht
gut sang und mich auch davor scheute, hatte er den Schalter
wieder bettigt. Aber wenn ich ihm das sagte, wrde ich
erneut eine solch bizarre Prsentation auslsen, und er
wrde sich nur aufregen.
Leider fiel mir nur Papas altes Universitts-Lied ein, und
ich sang:

Ich kenne nicht die gottverdammten Worte, ich kenne nicht


die gottverdammten Worte ...

Eine rotierende Rose aus winzigen Lichtpunkten erschien


vor mir, wobei die Bltenbltter jedoch verschiedene Farben
hatten. Ein etwas dissonanter Klang, wie von einem Horn,
ertnte.
Weil Tom mir nicht gesagt hatte, da ich mit dem Singen
aufhren sollte, versuchte ich, die Melodie zu begleiten, die
aus Toms Maschine drang. Ich sang:

Aber ich bemhte mich zu singen, als ob ich wute, was ich
tat.

Nun nahm die Musik die Klangfarbe einer Marimba an,


und die Rose stlpte sich um, faltete sich zusammen und
strzte in ihren Mittelpunkt.

Also werde ich weitergingen, obwohl ich wei, da es


keinen Sinn ergibt.

Pltzlich sackte der sich zusammenziehende Wirbel im


Zentrum nach unten durch und fiel zu Boden; dann stieg er
in einer pilzfrmigen Wolke wieder auf. Die Klnge wurden
voluminser, tiefer, nahmen die Klangfarben eines Pianos
und schlielich einer Orgel an.
Pltzlich waren die Lichter und die Musik verschwunden.
Was fr eine unglaubliche Idee! sagte Tom. Weshalb ist
es mir nicht schon frher aufgefallen - egal, macht nichts.
Die Zimmerbeleuchtung schaltete sich wieder ein. Dein
Gesang war eine Reaktion auf die Effekte.
Es tut mir leid, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Du
hast mir immer noch nicht gesagt, wozu dieses Ding
berhaupt gut ist.
Du warst groartig. Genau das habe ich gebraucht; ich
wute es nur nicht. Zgernd kam er hinter der Hardware
hervor. Und was die Maschine betrifft nun, sie tut einfach,
was sie tut. Man knnte sie als eine Art Gehirn im Weltraum
bezeichnen. Schwingungen der Verstrebungen und Drhte
werden an Mikrofone bertragen. Fotozellen reagieren auf
die von den Lasern projizierten Lichtpunkte. All diese
Informationen gehen an einen Arbeitsspeicher. Dann
scannen die fr die Laser und Audio-Ausgnge zustndigen
Prozessoren den Speicher und entscheiden anhand dieser
Informationen sowie der Musik ber die nchsten Schritte.
Ich wollte Tom nicht sagen, da er soeben das Prinzip der
Quecksilber-Rhre neu erfunden hatte - die Alan Turing im
ersten Computer berhaupt eingesetzt hatte. (In Geschichte
hatte ich ein Referat darber gehalten.) Wozu soll das denn
gut sein? erkundigte ich mich so taktvoll wie eben
mglich, whrend ich versuchte, mich aus dem Raum zu
schleichen und schlafen zu gehen.
Er lachte so frei und unbeschwert, wie ich es seit Monaten,
ja seit Jahren nicht mehr von ihm gehrt hatte. Das freute
mich so sehr, da ich sogar seine Antwort verkraftete:
Genauso, wie das Klavier ein Musikinstrument ist, tut
diese Sule aus Draht und Rhren das, wofr sie erschaffen
wurde. Und ich glaube, du hast mir gezeigt, welchen Zweck
sie erfllt.
Keine Ursache, sagte ich und wandte mich ab.
Danke, sagte er; die Ironie hatte er gar nicht bemerkt.
Als ich die Tr zu meinem Zimmer ffnete, hrte ich, wie er
an der Tastatur eine offensichtliche Zufallsfolge von
Klngen erzeugte.
Fast wre ich zurckgegangen, um zu sehen, was er da
machte. Teilweise hatte es sich nmlich recht melodisch
angehrt, auch wenn es keinen weiteren Nutzwert hatte.
Aber ich hatte die Tr schon geffnet, und da sa Papa auf
meinem Stuhl.
Komm doch rein! sagte ich.
Ich hatte den Eindruck, du wolltest reden.
Heute abend lief ich mit meiner Ironie ins Leere. Nun, vor
zwei Tagen htte mich das noch nicht gestrt - aber jetzt
hatte ich wie meine schrullige Mutter das Gefhl, da meine
Privatsphre verletzt worden war.
Ich frage mich, wie blind geborene Kinder sich nach der
Implantation knstlicher Augen fhlen, wenn ihnen zum
erstenmal grelle Farben ins Auge springen.
Was soll ich denn sagen? fragte ich schlielich.
Was immer du mchtest.
Am liebsten htte ich ihm gesagt, er solle verschwinden
und mich in Ruhe lassen. Statt dessen weinte ich aber noch
heftiger, als ich es bei Tom getan hatte, und ich konnte nicht
aufhren. Ich sprte, da die Kehle sich wie bei einer
Panikattacke verengte, und versuchte, die Atmung zu ver-
langsamen und zu regulieren, aber zum ersten mal gelang es
mir nicht, und ich bekam keine Luft mehr und geriet in
Panik.
Er stand auf und legte die Arme um mich. Atmen, sagte
er. Atmen. Aber ich konnte nicht.
Dann flsterte er etwas - man wei ja nie, mit welchen
Sprchen sie einen unter Hypnose konditionieren -. und
daraufhin schluchzte ich. Ich weinte zwar noch immer so
heftig wie bisher, aber ich bekam wieder Luft und war nicht
mehr so ngstlich. Ich verstehe berhaupt nichts.
Du bist ausgeschlossen worden, erklrte er.
>Ausgeschlossen aus einer Gruppe. Das geschieht hier nicht
sehr oft, und du bist noch nie davon betroffen gewesen.
Kommt das auf der Erde oft vor? Ich hate die Erde
mehr als je zuvor.
Stndig. Er seufzte. In der Schule hatten meine
Klassenkameraden und ich viel Zeit darauf verwendet, uns
gegenseitig auszuschlieen.
Ich lehnte mich auf dem Besucherstuhl zurck. Hast du
das etwa auch manipuliert? Wenn ja, halte ich es fr
ausgesprochen primitiv und grausam.
Er schttelte den Kopf. Bisher haben wir die Kinder auf
dem Fliegenden Hollnder davor bewahrt. Es ist absolut
pathologisch - verletzt jeden, der davon betroffen ist,
einschlielich der Verantwortlichen selbst, und ist im bri-
gen vllig sinnlos. Die Kinder auf der Erde werden dadurch
genauso verletzt wie du; weil es dort aber fter vorkommt
als hier, sind die Menschen eher daran gewhnt und haben
Bewltigungsstrategien entwickelt. Er beugte sich vor und
schaute mich an. Er hatte eine Augenbraue hochgezogen
und die Lippen zusammengepret. Ich wrde gern die
ganze Geschichte aus deiner Perspektive erfahren, von
Anfang an. Aber du bist aufgeregt, Melpomene, und wir
sollten vielleicht spter reden. Wenn du dazu bereit bist.
Ich seufzte und dachte nach. Durch das Weinen hatte ich
mich wieder beruhigt - es hilft immer, obwohl es irgendwie
peinlich ist. Ich mchte jetzt reden. Wenn mir wieder die
Trnen kommen, knnen wir immer noch aufhren.
Papa nickte und ergriff meine Hand; dabei schaute er mir
tief in die Augen. Wie gesagt, ich kenne keines der
Kommandos, die er fr eine leichte Hypnose benutzt, denn
ich kann sie nicht anzapfen; ich habe gehrt, da es sich um
eine Kombination von einigen Worten handelt, die in kei-
nem natrlichen Kontext gebraucht wrden, gefolgt von ein
paar unsinnigen Silben.
Er behandelte mich mit der Sequenz, die mein Erinne-
rungsvermgen aktiviert, oder so kam es mir zumindest vor.
Dann sagte er leise: In Ordnung, erzhle mir alle rele-
vanten Dinge, die sich heute in der Schule ereignet haben.
La dir Zeit, schweife ab, wenn du mchtest, nimm aber
keine Wertungen vor ...
Als seine Tochter kenne ich diese Formeln so gut wie er
selbst. Ich erzhlte ihm die ganze Geschichte mit Randy und
Pyramiden-Mathe, wie er sich fr mich einsetzte, wie ich
mit Miriam und Theophilus nach Hause ging und von allem
ausgeschlossen wurde, und was sonst noch vorgefallen war.
Da ich unter Hypnose stand, berichtete ich nur die Fakten.
Weil man unter Hypnose keine Einzelheit auslt, war es
fast 23:30, als wir die Sitzung mit der Routineprozedur
abschlossen, den Gefhlen Luft zu machen.
Nachdem ich den Trnen noch einmal freien Lauf gelassen
hatte, ging es mir viel besser; dann schaute ichauf die Uhr.
Habe ich dich aufgehalten? Eine dmmere Frage htte
Papa nun wirklich nicht einfallen knnen.
Nun ja, morgen habe ich einen Wettbewerb, und die
Schule beginnt um 07:45.
Mchtest du eine Suggestion, die Krfte weckt?
Ich glaube, du hast schon genug an meinem Gehirn
herumgepfuscht.
Tut mir leid, da ich dir deine Zeit gestohlen habe.
Schon gut, sagte ich. Das stimmte sogar - ich fhlte
mich jetzt viel besser, obwohl ich noch immer nicht wute,
was los war. Ich mu jetzt schlafen - wenn ich morgen
etwas mde bin, ist das nicht schlimm.
Er drckte mich noch einmal und sagte: >Gute Nacht.<
Als ich mich ins Bett legte, ging es mir ziemlich gut ich
hatte mich regelrecht leergeweint.
Gerade, als ich mich zu den Expander-Griffen abstoen
wollte, kam mir streiflichtartig der Gedanke, da ich viel-
leicht von Randy Schwartz trumen wrde. Ich wute nicht,
warum, aber pltzlich stellte ich mir vor, da ich mit ihm
schlafen wrde. Ich legte mich aufs Bett und bekam einen
Orgasmus, kaum da ich die Klitoris berhrt hatte.
Es war groartig - ich schlief sofort ein. Ich erinnere mich
nicht, ob ich von Randy getrumt hatte oder nicht.
Blder Computer. Ich habe >Klitoris< dreimal definiert,
und er fragt noch immer, ob der Begriff jugendfrei sei. Ich
glaube, die Mdchen auf der Erde wissen durchaus
Bescheid. Aber jetzt liege ich im Bett. Ich, werde mich
spter damit befassen.
KAPITEL FNF
...............................................................

22. DEZEMBER 2025

Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Mein Buch


macht tglich Fortschritte, und jeden Tag fllt mir etwas
Neues ein. Ich trete also praktisch auf der Stelle. Auerdem
fllt es mir immer schwerer, nur das niederzuschreiben, was
tatschlich geschehen ist. Ich wrde am liebsten anmerken,
was ich nicht verstanden oder wo ich mich geirrt hatte, denn
ich bin sicher, da der Leser dieses Buches entsprechende
Fragen hat, und ich mchte nur sagen, da ich es jetzt auch
verstehe. Nur damals hatte ich es nicht verstanden.
Zudem beeintrchtigte es mich noch beim Lernen fr die
Erwachsenen-Abschluprfung; nicht so sehr wegen des
enormen Zeitaufwands, sondern weil es mich ganz verrckt
macht und ich dann nicht mehr lernen kann. Am letzten
Abend hatte mich das Schreiben so enerviert, da ich tags
darauf unvorbereitet zur Schule ging. Zuletzt war mir das
mit acht Jahren passiert. Ich fhlte mich scheulich.
Mittlerweile habe ich einen groen Stapel unerledigter
Sachen vor mir, und dennoch schreibe ich an diesem Buch
weiter. Ich wei nicht, ob ich einfach nicht aufhren kann;
auf jeden Fall hre ich nicht auf. Ich hoffe nur, da Dr.
Lovell auch wute, wovon sie sprach.

Am Donnerstag fand der Wettbewerb statt. Wir bezeich-


nen diese Wettbewerbe als >Einzelkmpfer-Tage<, weil
jeder in einer Kabine fr sich allein arbeitet. Eine Zusam-
menarbeit ist nicht mglich. Man sitzt nur da und versucht
das Beste aus dem zu machen, womit die KIs einen trak-
tieren.
Sie zielen immer auf die individuellen Schwachstellen, so
da sie mir in CSL und Geschichte fast berhaupt keine und
in Englisch und Esperanto nur ein paar Prfungsfragen
stellten. Dafr nahmen sie mich in Japanisch, Mathe, Physik
und Chemie in die Mangel, so da ich den ganzen Tag
beschftigt war.
Sie muten herausgefunden haben, da ich nach dem
Problem, das ich mit Randys Hilfe gelst hatte, ein Faible
fr Projektions-Geometrie entwickelte, denn sie stellten mir
keine diesbezglichen Fragen; aber das zustzliche diffy-q
htte ich mit Vergngen auch noch bewltigt.
(Nein, nicht schon wieder. Der Computer meldet sich.
Also stimmt irgend etwas nicht. Gut, schauen wir mal, ob er
diese Definition akzeptiert: Diffy-qs sind Differentialglei-
chungen, also ein Bereich der Mathematik; sie sind lang-
weilig, weil es sich im Grunde nur um eine Trickkiste
handelt. Ich hate sie damals schon und heute auch noch.
Der einzige in der Klasse, der damit klarkommt, ist der
verdammte Randy.)
Ab und zu setzten sie mir ein wenig Spanisch,
Wirtschaftswissenschaften oder Bio vor, und ein paarmal
nervten sie mich mit der Geographie der Erde, womglich
zur Erbauung - mal ehrlich, interessiert ihr euch vielleicht
dafr, wo sich Block B befindet? Weshalb mu ich dann in
der Lage sein, Australien auf einer Landkarte ausfindig zu
machen? Das kommt mir alles ziemlich irdisch vor...
Der ganze Tag wurde diesem Unsinn geopfert. Jeder hat
es, aber man kann sich auch nicht davor drcken, weil die
Wettbewerbe in der akademischen Gesamtwertung stark
gewichtet werden, und wenn man Standing verliert, erfahren
das alle. Also machte ich weiter ... Schreibe fnfhundert
Worte zum Thema >Die Tri-Modulation des Orbits des
Fliegenden Hollnders zur Addition einer Jupiter-Passage
unter dem Aspekt der konomischen Durchfhrbarkeit<.
... Beweise die Unmglichkeit einer Projektion der Genus
der natrlichen Sprache auf eine starre Hierarchie binrer
Regeln. ... An welche Nationen grenzt die
Nichtassoziierte Republik Kurdistan? ... Schreibe ein
modulares Programm, mit weniger als zweihundert Zeilen
zur Darstellung des Spektrums der wahrscheinlichen
Absorptionsraten der Bekennenden Protestanten in die
kokatholische Bewegung. Spezifiziere die Ausgangs- und
Grenzbedingungen fr das Modell als Ganzes. ... Der
Hausmeister brachte Mittagessen vorbei; ich stellte es neben
mir ab und arbeitete weiter.
Schreibe ein selbstreplizierendes Programm mit Muta-
tionen, welches sich zu einem stabilen, lernfhigen Aggre-
gat entwickelt und das in der Lage ist, das VierFarben-
Problem zu lsen. Das machte wenigstens Spa. Ich
berprfte es zweimal und verbesserte es noch ein wenig,
als ich sah, da ich noch Zeit hatte. Gerade als ich es
abschickte und die Note fr diese Aufgabe bekanntgegeben
wurde, fnfzehn Punkte, war die Zeit fr diesen Tag um.
Pltzlich berkam mich Hunger, und ich stopfte mir den
Nachtisch, einen Schokoriegel, in den Mund. Dann berflog
ich den Tisch, damit ich auch nichts im Prfungszentrum
verga - wenn das passiert, dauert es immer eine Ewigkeit,
bis man die Sachen zurckbekommt. Ich stellte die Tasse
mit Kakao auf WARM und strzte sie dann kalt hinunter,
als der Hausmeister vor meinem Tisch stehenblieb und mir
sagte, ich solle mich beeilen. Ich stellte das noch fast volle
Tablett und die Tasse auf das Band, und es lief zur nchsten
Kabine weiter.
Alle hatten sich drauen in der Halle versammelt und
verglichen ihre Noten. Obwohl die Aufgaben individuali-
siert sind, glauben die meisten Leute noch immer an >gute<
und >schlechte< Tage.
Ich schaute mich nach Miriam um, aber sie unterhielt sich
drben mit Theophilus, Gwenny und Kwame, und ich
scheute mich, zu ihnen hinberzugehen. Anscheinend hiel-
ten sie auch nach etwas Ausschau.
Mit suchendem Blick kam Randy durch die Tr. Die vier
liefen auf ihn zu.
Ich wute nicht, was sie vorhatten, aber die Art, wie sie
sich bewegten, gefiel mir nicht. Ich nahm Kurs auf Randy,
wobei die hohe Schwerkraft eine zgige Fortbewegung
ermglichte,
Er schaute auf und lchelte, als er mich sah. Dann tippte
Miriam ihm auf die Schulter.
Als er sich umdrehte, wirbelte Theophilus auf einem Bein
herum. Das andere Bein hatte er auf Kopfhhe hochgerissen
und trat mit einer Wucht in Randys Gesicht, die bei weitem
alles bertraf, was ich bisher erlebt hatte. Randy flog seitlich
weg und fiel schwer auf das Deck. So etwas hatte ich noch
nicht gesehen.
Ich rannte los - alle anderen auch wenn es einen Kampf
gibt und er nicht schnell beendet wird, mu nmlich die
ganze Klasse dafr ben. Weil ich ohnehin schon diese
Richtung eingeschlagen hatte, traf ich als eine der ersten am
Schauplatz ein.
Randy verbarg das Gesicht in den Hnden. Es tut mir
leid, da ich dich geschlagen habe, sagte er. Man hatte den
Eindruck, er wrde vor Zorn kochen, aber, seine Stimme
war ruhig. Das war eine miese Sache, und ich hatte die
Revanche wirklich verdient; also drften wir jetzt, quitt
sein.
Ach, es tut dir leid, sagte Theophilus. Das kann ich mir
vorstellen. Ich wette, das erzhlt Ihr jedem, den Ihr
niederschlagt, Eure Majestt.
Randy setzte sich auf. Er war noch, immer leicht
benommen. Eben darum geht es doch. Ich meine, ich habe
dich geschlagen, und ich wute, da es falsch war. Deshalb
hast du mich auch getreten. Jetzt ist doch alles klar.
Jetzt ist doch alles klar. Beim Spott in Theophilus'
Stimme zuckte ich zusammen. Gut, gut, gut. Du hast mich
geschlagen, ich habe dich geschlagen, und nun ist alles in
Ordnung. Glaubt Ihr das wirklich, Eure Majestt? Damit
eins klar ist: Ich will deine Entschuldigung nicht. Ich will
auch nicht dein Freund sein. Ich habe fnf Jahre Taekwondo
trainiert. Die Kinder hier drfen keinen Kampfsport treiben
- deshalb glaube ich nicht, da du weit, wie man richtig
kmpft. Ich wollte dir nur zeigen, da ich das jederzeit
wiederholen kann. Hast du das verstanden? Er stand in
Angriffshaltung ber Randy, bereit, ihn zu treten oder
schlagen, falls er sich bewegte. Sagt, da Ihr verstanden
habt, Eure Majestt.
Trnen strmten ber Randys Gesicht. Ich verstehe.
Du hast geglaubt, du knntest mich behandeln wie alle
anderen und mich zusammenschlagen, nur weil ich
intelligenter bin als du. Weil Ihr immer der Knig der
Klasse gewesen seid, nicht wahr, Eure Majestt? Jetzt hast
du abgedankt. Im Grunde warst du immer nur der primitive
alte Klassenschlger, und nun bist du der Ex-Schlger. Nur
dumme Menschen schlagen andere. Als er den auf dem
Boden liegenden Randy anlchelte, erinnerte ich mich nicht,
jemals einen so glcklichen Menschen gesehen zu haben -
und noch nie zuvor hatte ich mich so gefrchtet. Sag es!
Offensichtlich wute Randy nicht, was Theophilus noch
von ihm wollte. Er wirkte verwirrt und ngstlich und stand
kurz davor, richtig in Trnen auszubrechen.
Der Junge von der Erde drehte sich und trat Randy gegen
die Schlfe. Du bist wirklich dumm. Du kapierst es nicht,
was? Sag, da du dumm bist!
Warum? Randys winselnde Stimme verursachte mir
belkeit.
Weil es stimmt. Willst du noch einen? Theophilus holte
erneut aus, und Randy kroch keuchend und schniefend weg.
Theophilus machte einen Schritt nach vorn und trat auf
Randys Hand, um ihn an der Flucht zu hindern. Du weit,
da dein Standing nur deshalb so hoch ist, weil die anderen
Angst haben, besser zu sein als du.
Ich ertrug den Anblick von Randys Gesicht nicht, konnte
den Blick aber nicht wenden. Er sagte nichts, aber der Zorn,
den er ausstrahlte, zeigte, da diese Worte ihn hrter
getroffen hatten als Theophilus' Fu.
Wenn du jetzt nicht sagst, da du dumm bist, verpasse ich
dir noch eine. Ich bring dir schon bei, wer du bist.
Im ersten Moment hatte es den Anschein, da Randy sich
Theophilus widersetzen wrde - aber der hob den Fu und
Randy blickte auf das Deck. Ich bin dumm, sagte er leise.
Ich bin dumm, okay? Ich bin dumm!
Theophilus stand mit in die Hften gestemmten Armen
und einem Lcheln da, bei dem es mir kalt den Rcken
hinunterlief. Schon viel besser. Jetzt wit Ihr, was Ihr seid,
Eure Majestt. Knig Dumm.
Wie fhlt Ihr Euch nun, Eure Majestt? fragte Miriam
im gleichen Ton, den sie am vorigen Abend auch mir
gegenber schon angeschlagen hatte. In diesem Moment
hate ich sie mehr, als ich einen Menschen jemals gehat
hatte. Gwenny Mori lachte, und dann lachten auch Theophi-
lus und Miriam, und schlielich stimmte Kwame auch noch
mit ein.
Kinder aus der umgebenden Menge lachten auch, was aber
eher an der nervlichen Anspannung als an der lustigen
Situation gelegen haben durfte.
In Ordnung, auseinander, sagte Dr. Niwara leise, die
unbemerkt hinter uns aufgetaucht war.
Randy stand auf und verlie die Arena. Ich hrte, wie ein
paar Leute ihm Knig Dumm und Eure Majestt
zuflsterten. Er schaute indes starr geradeaus und ging
zielstrebig auf die Omnivatoren zu.
Ich sagte, auseinander, befahl Dr. Niwara mit tonloser
Stimme. Eine solche Klte war noch nie von ihr ausge-
gangen. Wir setzten uns in Bewegung; als ich um die Ecke
bog, sah ich, da Theophilus von einer Menscherunenge
umlagert wurde. Die Leute wirkten aufgeregt, nervs -
glcklich.
Ich bestieg ebenfalls einen Omnivator, gab das Ziel ein -
die ganze Strecke bis zu meinem Gemeinschaftskorridor,
obwohl der Omnivator dadurch unntig lange in Anspruch
genommen wurde, und fuhr ab, ohne zu warten, ob
vielleicht noch jemand mitfahren wollte. Es war das erste
Mal, da ich so etwas getan hatte. Ich fragte mich, wie oft
man das tun mute, um zu einem Assi abgestempelt zu
werden.
Ich schwebte aus dem Oninivator auf die Korridorwand zu
und hangelte mich dann so schnell ich konnte an den Netzen
entlang. Es war ein wirklich gutes Gefhl - ich htte mir fast
die Hnde aufgescheuert, als ich vor der Wohneinheit an-
hielt.
Mutter sa, wie blich, am Lesegert. Normalerweise wre
ich nach der Begrung gleich auf mein Zimmer gegangen,
aber diesmal ri sie sich von dem Buch los. Wie war es
heute in der Schule?
Ich zuckte die Achseln. Eigentlich nichts Besonderes -
wir hatten einen Wettbewerb. Von dem Vorfall mit Randy
wollte ich ihr nicht erzhlen; wenn Mutter zwischen
Mitgefhl und Interpretation whlen kann, entscheidet sie
sich immer fr letzteres.
Ich habe Mrs. Harrison nun eingearbeitet. Sie ist eine
sehr interessante Frau, aber ich bin doch froh, da ich nicht
mehr in dieses Bro zurck mu.
Ach. Ich band die Tasche mit dem Computer los und
schleuderte sie leicht gegen Toms Tr, von der sie abprallte
und in mein Zimmer flog. Wre ja auch ein Wunder
gewesen, wenn sie beschlossen htte, wieder zu arbeiten.
Sie sagte, da einige Kinder - eine >richtige Bande<,
sagte sie - heute morgen zusammen mit Theophilus gefrh-
stckt htten. Deine Freundin Miriam Baum soll auch
dabeigewesen sein ...
Ja, Mutter, sagte ich. Ich war auch eingeladen, aber ich
dachte, du wrdest es mir nicht erlauben. Du weit schon,
Frhstck im Kreise der Familie.
Nun, aus einem solchen Anla htte ich natrlich nichts
dagegen. Wenn er wieder ...
Ich glaube nicht, da er mich einladen wird. Wir
verstehen uns nmlich nicht besonders gut. Dann schwebte
ich in mein Zimmer; Jetzt stand mir wirklich einmal der
Sinn nach dieser Privatsphre, die sie immer predigte.
Fnf Sekunden, nachdem ich die Tr geschlossen hatte,
klopfte es. Melpomene?
Ja?
Du solltest wirklich Kontakt zu ihm suchen. Er kommt
von der Erde und knnte deinen Horizont erweitern ...
Du meinst, verzerren. Nein danke. Wenn ich ein Assi
werden mchte, kann ich mich auch an Angehrige meiner
eigenen Familie wenden.
Melpomene!
Als sie die Tr ffnen wollte, stie ich sie mit dem Fu zu.
Dann setzte ich mich auf den Stuhl und schlug die Hnde
vors Gesicht. Mehr als alles andere wnschte ich mir, da
ich meine Hausaufgaben schon gemacht htte - ich htte sie
auch gestern schon erledigt, wenn dieser Vorfall nicht
gewesen wre, und jetzt das ... ich hatte keine Lust. Der
heutige Tag war schon lang genug gewesen.
Nach einer Weile klopfte Mutter erneut an die Tr.
Hau ab! sagte ich.
Gut. Ich wei, da du jetzt eine Weile allein sein willst.
Ich wollte, da sie mich in Ruhe lie, aber trotzdem in der
Nhe war. Dein Vater und ich gehen jetzt in eine der
kleinen Cafeterien im Pilz. Wenn du mchtest, kannst du
mitgehen; aber du kannst auch auf Tom warten und mit ihm
zu Abend essen.
Ich warte auf Tom. So, wie sie geklungen hatte, kam nur
diese Antwort in Frage. Wir sehen uns. In Ordnung,
Melly. Pa auf dich auf. Ich hrte, wie sie und Papa
hinausgingen; sie hatte ihm wahrscheinlich nicht erzhlt,
da wir uns gestritten hatten und da ich schlecht gelaunt
war - sie dachte wohl, das >ginge ihn nichts an<. Ich wei
noch immer nicht was sie damit meint. Da sie nun gegangen
waren, ffnete ich die Tr und ging in den Gemeinschafts-
bereich. Ich htte den Computer herausholen und etwas
lernen knnen, vielleicht auch meditieren - unsere Familie
pflegt Cybertao, aber es war mindestens ein Jahr her, seit ich
auch nur einen Blick auf Zeitgabeln geworfen hatte.
Ich htte eine Menge sinnvoller Dinge tun knnen, aber
zum Glck war ich noch nicht so alt, da ich immer nur
vernnftig sein mute. Statt dessen ging ich zum Lesegert
und suchte mir ein Buch aus - das gute, altbekannte Beat to
Quarters. Nach einer Minute machte ich mir eine Tasse
heien Schokoladen-Kaffee und setzte mich ans Lesegert.
Als Tom eine halbe Stunde spter nach Hause kam und
mich mit einer Berhrung an der Schulter wieder in die
Realitt zurckholte, ging es mir schon viel besser. Es mu-
te ihn wohl berraschen, mich am Lesegert zu sehen - sonst
benutzen wir es nmlich nur nachts, wenn wir nicht schlafen
knnen, und natrlich an den Wochenenden und in den
Ferien. Neuigkeiten von der Erde?
Ich schob den Monitor des Lesegerts vom Gesicht weg,
brachte den Stuhl in eine aufrechte Position und schaltete
die Massagelehne aus. Nein, nur das bliche. Ich hatte auf
dich gewartet. Und ich hatte keine Lust, Hausaufgaben zu
machen. Zum Abendessen sind wir allein - darf ich dich
zum Pizzaessen einladen?
Baby-Tilapia und Kaninchenwurst? fragte er - sein
Lieblingsbelag.
Du hast vielleicht Vorstellungen. Knnen wir den Fisch
weglassen und uns mit Kaninchenwurst begngen?
Du hast die Einladung ausgesprochen - aber wie wre es
mit Pilzen anstelle von Tilapia?
Pos-def. Zweimal Karnickel mit Pilzen, gro. Ich bestelle
schon mal. Die Pizzeria befindet sich unten im Promena-
denbereich neben dem Zugang zum Pilz. Bis zur Pizzeria
wrden wir ein paar Minuten unterwegs sein; deshalb gab
ich die Bestellung vorab auf.
Auf dem Weg dorthin redeten wir nicht viel, und ein paar
Minuten, nachdem wir in einer Kabine Platz genommen
hatten, kam die Pizza aus dem Schacht. So konnte ich mich
ausgiebig dem Essen widmen und mich in Toms Gesell-
schaft einfach nur wohlfhlen.
Ich habe dich vermit, sagte ich pltzlich, wobei ich gar
nicht wute, wie ich auf diesen Gedanken gekommen war.
Jedesmal, wenn du mit Susan >Nagetier< zu Abend
gegessen hast. Er versteifte sich. Ich meine Susan, deine
Freundin.
Er zuckte die Achseln. Tut mir leid. Er htte wenigstens
sagen knnen, da er mich auch vermit hatte. Ich wei,
da du sie nicht magst. Aber wenn du schon damit anfngst,
sage ich dir am besten gleich, da ich wieder mit ihr
zusammen bin. Und noch etwas, er beugte sich vor und
blinzelte mir zu, ich kam deshalb zu spt, weil wir noch
einen Quickie gemacht haben.
Ist ja toll. Meine Stimmung war auf dem Nullpunkt.
Habt ihr das Andockmanver durchgefhrt?
Nein, wir hatten nur Zeit, ein bichen zu fummeln. Aber
es hat trotzdem Spa gemacht. Sie hat schon Brste. Wieso
hast du noch keine?
Ich starrte auf den Teller und zwang mich zum Essen.
Entschuldigung, sagte Tom. Er streckte den Arm aus
und ttschelte meine Schulter. Ich wei, da du Susan
nicht leiden kannst. Ich werde auch nicht mehr von ihr
sprechen.
Das ist es nicht. Doch, ist es schon, aber es ist nicht die
Hauptsache.
Ich wute doch, da du etwas auf dem Herzen hast,
sagte er. In der letzten Zeit hast du oft Streit mit Mutter.
Ja, seufzte ich. Heute ist etwas wirklich Schlimmes
passiert, aber ich wei nicht recht, wie ich es dir sagen soll.
Ich bi wieder in die Pizza. Theophilus hat ein Publikum
um sich versammelt und dann die Scheie aus Randy
rausgeprgelt.
Etwas langsamer bitte.
Ich fing noch mal von vom an. Zunchst war ich auch ganz
ruhig, aber dann tauchten die Bilder wieder in meiner
Erinnerung auf, und schlielich war ich den Trnen nahe.
So etwas habe ich bisher nur auf Videos gesehen. Ich
meine, wenn zwei Leute aneinandergeraten, gibt es viel-
leicht mal eine Quetschung oder so etwas, aber er hat Randy
wirklich und absichtlich verletzt. Und er hat auch die
Entschuldigung und das Vershnungsangebot abgelehnt. Ich
kenne viele Kinder, die sich vor Randy frchten und ihm die
Prgel vielleicht gegnnt haben, aber das war zuviel.
Theophilus hrt einfach nicht auf, auch wenn er lngst
gewonnen hat ...
Tom mampfte erst das ganze Stck fertig, bevor er sagte:
Schlimm. Wirklich schlimm. Hast du dich schon mit Papa
darber unterhalten?
Ich nickte. Gestern abend. Er hatte in meinem Zimmer
gewartet. Vorher hatte er aber an der Tr gelauscht. Tom
nickte. Er hat wohl etwas fr sein Geld getan.
Hat er sich irgendwie dazu geuert?
Langsam bekomme ich den Eindruck, da es ein bizarrer
irdischer Brauch ist. Wie Menschenopfer und Sklaverei in
den Geschichtsbchern, weit du. Oh, Tom, in meinem
Kopf dreht sich alles. Ich mache mir Gedanken wegen
Theophilus und Randy und vielleicht sogar wegen Miriam,
aber ich wei nicht, was ich tun soll. Danke, da du mir
zugehrt hast, aber jetzt wechseln wir das Thema. Wie war
dein Tag?
Er schttelte den Kopf. Du wirst es nicht glauben, aber
ich wei es wirklich noch nicht - es wird sich noch
herausstellen. Ich mte eigentlich zufrieden sein, aber ich
kann mich einfach nicht entspannen und mich darber
freuen - ich habe das Gefhl, da irgend etwas im Busch
ist. Er verstummte und bi ein groes Stck ab. Heute
hatte ich diesen Schwung CSL-Aufgaben bekommen, und
pltzlich wute ich alle Antworten. Das ist mir noch nie
passiert. Ich mu wohl zehn Leute deklassiert haben.
Das ist ja wunderbar, sagte ich. Ich wute immer
schon, da du eine Begabung dafr hast - nur bist du
anscheinend nie in der Lage gewesen, dieses Talent auch zu
nutzen.
Er schttelte den Kopf, bi wieder in die Pizza und kaute
hektisch. Ich liebe meinen Bruder, aber seine Egewohn-
heiten ... Das Problem ist nur, da ich wirklich keine
Ahnung habe, wie ich zu den Lsungen gelangt bin - sie
waren einfach da. Geistesblitz, Intuition, wie auch immer
man es nennen will. Es gibt also keine Garantie dafr, da
es beim nchstenmal wieder funktioniert ...
Und jetzt wird die Maschine den Schwierigkeitsgrad fr
dich anheben. Oje."
Vielleicht gibt es einen Trick, mit dem all diese Problem-
stellungen gelst werden knnen, und du hast ihn gefunden
und weit es nur nicht. Vielleicht schaffe ich es, dahinter-
zukommen und es dir zu sagen - erinnerst du dich an eine
Aufgabe?
Er lachte verkniffen. Das ist noch so eine verrckte
Sache. Ich erinnere mich an alle Aufgaben. Normalerweise
brte ich ewig lange ber einem Problem und habe es dann
bald schon wieder vergessen - aber diesmal brauchte ich
nicht einmal eine Minute fr eine Aufgabe, und ich knnte
sie praktisch wrtlich wiedergeben.
Ich sagte ihm, er solle alle Aufgaben in meinen Rechner
eingeben, damit ich mich spter damit befassen konnte.
Schon auf den ersten Blick fiel mir etwas auf, aber ich
konnte es nicht przisieren.
Weit du, sagte Tom unvermittelt, anscheinend war
Randy noch nie sonderlich beliebt. Dein neuer
Klassenkamerad scheint das sofort gemerkt zu haben. Ich
nickte. Und er profitiert ganz schn davon. Aber wozu? Ich
habe den Eindruck, da er irgend etwas will, aber ich habe
keine Ahnung, was das ist.
Vielleicht mchte er nur von euch akzeptiert werden,
spekulierte Tom.
Vielleicht. Aber das ist wohl kaum der geeignete Weg.
Ich zuckte die Achseln. Vielleicht war das auch nur ein
einmaliger Ausbruch, mutmate ich in dem Versuch, mir
das selbst einzureden.
Vielleicht. Mchtest du noch mein letztes Stck Pizza?
Warum it du es denn nicht selbst? Du kannst es fr das
groe Flip-Flop-Rennen gebrauchen; schlielich mut du
Susan imponieren.
Ich sah zu, wie er das letzte Stck Pizza hinunterschlang -
falsch; ich schaute nicht zu. Schon gut, Melpomene. Du
mut Susan nicht schmeicheln. Dann bezeichne sie lieber
gleich als Nagetier.
Entschuldige. Ich wollte nur ...
Ist schon recht. Er streckte sich und ghnte. Angesichts
der Gerchte, die ber Mutter kursieren und der Tatsache,
da Susan so viel Ehrfurcht vor Papas Job hat, da es ihr in
seiner Gegenwart schier die Sprache verschlgt, ist es
ziemlich problematisch, sie zu uns einzuladen. Aber ich
wrde sie gern einmal einladen. Wenn du mir helfen willst,
dann tu halt so, als ob du dich freuen wrdest, wenn du sie
das nchste Mal siehst.
Tu es oder geh dabei drauf, Massa, erwiderte ich.
Er beugte sich vor und kte mich auf die Wange. Hast
du frher mal Henry Rider Haggard gelesen?
C. S. Forrester.
Oh.
Dann unterhielten wir uns ber Belanglosigkeiten, aber das
Gesprch wurde immer verkrampfter. Das Problem war, da
Tom kurz vor der Erwachsenen-Abschluprfung stand und
seine Gedanken nur noch darum kreisten; er hatte sogar das
Interesse am FlipFlop-Rennen verloren, was ich bisher fr
undenkbar gehalten htte. In nicht einmal zehn Wochen
wrde seine Kindheit vorbei sein; mir blieben noch zwei
Jahre.
Wir hatten uns einfach nicht mehr viel zu sagen. Das
machte mich richtig traurig, und ich wurde immer stiller.
Schlielich gingen wir nach Hause. Wir sprachen nicht viel,
und zum erstenmal, seit ich mich erinnerte, fhlten wir uns
in der Gegenwart des anderen verlegen und verkrampft.
Tom ging direkt auf sein Zimmer, und den Geruschen nach
zu urteilen, machte das Alien-Artefakt gute Fortschritte.
Papa und Mama waren noch immer nicht zurck. Was
Mutter betraf, so war mir das auch egal, aber ich wute, da
Papa mit mir ber den Vorfall zwischen Randy und
Theophilus reden wollte - nun, zumindest wollte ich das --,
und ich konnte es mir nicht leisten, zwei Nchte
hintereinander lange aufzubleiben..
Als ich die Hausaufgaben gemacht hatte, waren sie immer
noch nicht zurck. Ich lokalisierte ihre Position, sie waren in
den Ballsaal-Tanzclub gegangen, der oben im Hut des Pilzes
lag. Als ich noch klein war, waren sie oft tanzen gegangen,
aber das war schon Jahre her.
Nun, wenn sie Spa daran hatten, dann sollten sie es halt
tun. Wir hatten es in den Pausen mal versucht, und das
Beste daran war noch gewesen, da ich mit ein paar jungen
auf Tuchfhlung gegangen war, die mir ganz gut gefallen
hatten.
Sie wrden sicher erst spt nach Hause kommen, aber ich
war noch nicht mde und beschlo daher, noch ein
Weilchen aufzubleiben.
Tom war schon zu Bett gegangen, und die Lichter waren
schon ausgeschaltet, so da ich auch nicht mehr ausgehen
konnte. Um jemanden von der A-Schicht anzurufen, war es
schon zu spt, und von den Schichten B und C kannte ich
niemanden. Ich versprte auch nicht das Bedrfnis, fr die
Schule vorzuarbeiten, und obwohl ich frher immer beim
alten >Hornblower< Trost gefunden hatte, mochte ich das
Buch jetzt auch nicht mehr aufschlagen. Ich wnschte, Tom
wre noch wach gewesen, damit wir uns htten unterhalten
knnen.
Da fielen mir seine Aufgaben ein. Im Moment hatte ich
sowieso nichts Besseres zu tun.
Beim ersten berfliegen der Probleme hatte ich sie direkt
als Herausforderung empfunden - schwierig und knifflig
zwar, aber dennoch zu lsen. Die CSL-Probleme, mit denen
ich mich befate, hatten wahrscheinlich einen hheren
Schwierigkeitsgrad als die von Tom - das Alter hat keinen
Einflu auf das Niveau der Ausbildung, nur der Partner, mit
dem man zusammenarbeitet.
Nach vierzig Minuten war ich immer noch hellwach; mit
solch schwierigen CSL-Problemen war ich noch nie
konfrontiert worden. Ich hatte fast schon vergessen, da ich
auf Papa warten wollte.
Tom hatte gesagt, er htte jedes Problem in weniger als
einer Minute gelst. Ich war bisher noch mit keiner einzigen
Aufgabe zu Rande gekommen. Und dennoch lagen sie
durchaus auf meinem Niveau. Etwas stimmte da ganz und
gar nicht.
Ich holte mir eine Tte Fruchtsaft aus der Essensausgabe,
stach einen Strohhalm hinein und trank sie halb aus, bevor
ich mich wieder dem Bildschirm zuwandte.
Nach weiteren zwanzig Minuten war es wirklich schon
sehr spt, und ich war noch keinen Schritt weitergekommen.
Ich gab es auf und versuchte, einen Algorithmus fr jedes
Problem zu konzipieren, der den Nachweis erbrachte, da
das jeweilige Problem berhaupt lsbar war. Dies ist im
Grunde die aufwendigste, langsamste und primitivste Art,
ein Programmierungsproblem zu lsen, aber gleichzeitig ist
es auch die einzig sichere Methode.
Diesen Ansatz hatte ich zunchst gar nicht in Erwgung
gezogen, denn wenn Tom die Antworten durch
einen Geistesblitz erhalten hatte, war es unwahrscheinlich,
da sein Unterbewutsein das Problem auf die langsamste
aller mglichen Arten gelst hatte.
Das Problem war so komplex, da sogar eine
Rechenverzgerung eintrat; selbst mit vier Kiloprozesso-
ren tat der Computer sich schwer. Mit der Antwort, die ich
schlielich erhielt, htte ich indes berhaupt nicht gerechnet;
die Probleme hatten tatschlich etwas gemein-
sam.
Sie waren alle unlsbar.
(Soeben mahnte der Computer eine weitere Erluterung
an. Ich vergesse immer wieder, da ihr gar kein CSL habt.
Weil es aber fr Dinge wichtig ist, auf die ich spter noch zu
sprechen komme, will ich es versuchen: Das sogenannte
Gdel'sche Theorem besagt, da nicht jede wahre Aussage
auch berechnet werden kann - fr manche Probleme gibt es
nur eine richtige Antwort, ohne da jedoch ein logischer
Pfad dorthin fhren wrde. Man kann die Lsung entweder
erraten, oder man versucht es deduktiv und hofft, da eine
der Antworten auf das Problem pat. Es ist aber nicht
mglich, ein solches Problem im eigentlichen Sinne zu
>lsen<. Man erhlt nur Antworten.)
Auf die eine oder andere Art >wute< Tom, der sich sonst
sogar die einfachsten Probleme schwer erarbeiten mute,
einfach die richtigen Antworten auf diese unmglichen
Probleme. Das, wonach die Software suchte, hatte er
gefunden. Nun, er brauchte sich keine Sorgen wegen
schwierigerer Probleme mehr zu machen - er hatte das
Unmgliche bereits mglich gemacht.
Es ergab zwar keinen Sinn, aber was ergab berhaupt noch
einen Sinn. Ich war hundemde. Ich klappte alles hoch, zog
das Bett herunter, sprang nach oben, streckte mich aus, lie
mich fallen und war eingeschlafen, noch bevor ich die
Matratze berhrte.
KAPITEL SECHS
...............................................................

Am Freitagmorgen kam ich etwas spter als sonst zur


Schule. Es hatten sich einige Vernderungen ergeben.
Miriam, die bisher immer neben mir gesessen hatte, sa
nun neben Theophilus. Obwohl ich wute, da er >Ted<
genannt werden wollte - Dr. Niwara hatte das sogar offiziell
bekanntgegeben - blieb ich dennoch bei >Theophilus<; viel-
leicht wollte ich ihn dadurch abstrafen. Gwenny, Kwame
und Carole hatten sich um Miriam und Theophilus geschart.
Nun, das war auch keine berraschung, denn Kwame stand
vermutlich auf Miriam, und wo Gwenny hinging, da ging
Carole auch hin.
Fr gewhnlich distanzierte Randy sich immer ein wenig
von uns, wobei nur Barry Yang seine Nhe suchte. Randy
sa an seinem Platz, aber diesmal befand Barry sich am
anderen Ende des Raums, im Rcken von Theophilus'
Gefolge.
Und ich war allein auf weiter Flur.
In gewisser Weise war es eine Fortsetzung des >Einzel-
kmpfer<-Tages, denn wir begannen mit Individueller CSL.
Die Gedanken schweiften ab, aber ich wrde sowieso den
ersten Platz belegen; die Probleme wanderten ber den
Monitor, und im Grunde ergnzte ich nur Stze, anstatt zu
berlegen. Nachdem ich in der Nacht zuvor ber eine
Stunde damit verbracht hatte, das nachweislich Unmgliche
zu vollbringen,- waren diese Aufgaben natrlich eine leichte
bung.
Als die Zeit auslief, informierte Dr. Niwara uns ber die
Computer, da fr den Nachmittag Pyramiden-CSL ange-
setzt wre; dann erschien auf dem Bildschirm:

... DEIN PARTNER: CHRISTIAN KIM.

Hervorragend. Der Junge war doch dumm wie Bohnen-


stroh. Da ging mein Top-Standing dahin ...

... IN DER PAARUNG MIT. PADRAIC MONAGHAN


UND ANGEL CASTAGHENA.

Nun, vielleicht kormten wir drei das Schlimmste verhten.

Ich lste das letzte Bonus-Problem und stellte mich dann


in der Schlange vor der Cafeteria an; heute schien ich stn-
dig dreiig Sekunden hinter der Zeit zu sein. Theophilus und
seine >richtige Bande< - wenn ich an einige alte 2-D-Filme
dachte, die ich einmal gesehen hatte, verstand ich auch,
weshalb sie so genannt wurden -, standen vorne mit Dr.
Niwara zusammen.
Whrend ich noch darber nachdachte, blieben die Leute
vor mir stehen, um eine Klasse Grundschler ber eine
Kreuzung zu lassen, und ich rumste gegen meinen Vorder-
mann, den ich dann als Chris Kim identifizierte. Entschul-
dige, sagte ich. Ich habe nicht aufgepat.
Schon gut. Er lchelte mich schchtern an. Ich schtze,
du sollst mir Bldmann heute nachmittag in CSL auf die
Sprnge helfen. Das hrte sich nicht so an, als ob er auf eine
Konfrontation mit mir aus war. Ich wnschte fast, es wre
so gewesen.
Sag so etwas nicht. Ich dachte noch immer ber
Theophilus und seine >richtige Bande< nach. Das war eine
wirklich treffende Bezeichnung ... nicht geboren aus
Freundschaft und Loyalitt sondern wie das Wolfsrudel, das
ich gesehen hatte, als mein Fenster einmal mit einer Kamera
im Denali-Weltpark verbunden war ... eher noch wie ein
Rudel Haie ...
Chris sagte etwas; ich bekam es aber nicht mit. Tut mir
leid. Ich bin heute vllig daneben. Was hast du gesagt?
Ich sagte, wenn du mich erst mal bei CSL erlebst, wirst
du mich auch fr bld halten.
Gib mir doch bitte die Chance, diese Entdeckung selbst
zu machen. brigens, was ist denn so schlimm an CSL?
Nichts; es ist nur so konfus. Das htte auch von Tom
kommen knnen.
Dann betraten wir die Cafeteria. Wie immer stand das
Mittagessen schon bereit, und angesichts der ganzen Ereig-
nisse war das irgendwie wundervoll. Egal, was die Leute
ber einen dachten und mit wem man rger hatte, das
Mittagessen mit dem Namensetikett wurde immer serviert
>... weil du zum Schiff gehrst<, hrte ich Papas Stimme
sagen, und pltzlich erkannte ich, wie oft ich das schon
gehrt hatte, als ich noch jnger gewesen war. Danke dem
Schiff fr das Essen. Liebe das Schiff, denn es ernhrt
dich... denn es liebt dich auch.
Was auch immer es heute gab; pltzlich verging mir der
Appetit. Ja sicher, irgendwann erhielt jeder die Quittung ...
Ich wei gar nicht, mehr, weshalb ich Reis mit
Schweinefleisch bestellt habe.
Ich gebe dir meine Langustenpltzchen dafr, schlug
Chris vor.
Pos-def.
Wir setzten uns an einen kleinen Tisch. Ich wollte
herausfinden, wo seine Probleme mit CSL lagen, bevor er
ernsthafte Schwierigkeiten bekam. Ich schob das Reisfleisch
auf sein Tablett, und er gab mir die Langustenpltzchen.
Hier, sagte ich. Wir haben unsere Indifferenz-Kurven
geglttet.
Er hrte berhaupt nicht zu, sondern beobachtete, wie
Miriam neben Theophilus Platz nahm. h... was hast du
gesagt?
Ich sagte, du bist kaum indifferent bezglich der Art, wie
ihre Kurven sich ausbeulen.
Chris lachte, ein angenehmer Klang, ganz anders als
Theophilus' hmisches Kichern. Na gut. Ich hatte dich
eben wirklich nicht gehrt. Er zuckte die Achseln. Ich
hatte eigentlich gedacht, Mim wrde sich fr mich
interessieren. Aber wie es scheint, ist das wohl vorbei.
Nun schaute ich auch hinber. Sie hing geradezu an
Theophilus' Lippen und schttete sich aus vor Lachen ber
jedes Witzchen von ihm.
Du machst noch einen Knoten in deine Gabel, sagte
Chris.
Ich verwandte meine ganze Konzentration darauf, sie an
der Tischkante wieder geradezubiegen.
Dieser Ted hat hier einen ziemlichen Wirbel
veranstaltet, fgte Chris hinzu.
Ich nickte dster und schaute mich im Raum um. Die
Gruppe an Theophilus' Tisch unterhielt sich, manchmal
flsternd, und zuweilen lachten sie auch auf diese eigentm-
liche Art, als ob die anderen etwas nicht hren sollten.
Manchmal htte ich auch schwren knnen, da sie auf
mich zeigten und ber mich redeten, wobei ich natrlich
nicht wute, was sie sagten.
Die Nachbartische waren ebenfalls besetzt, und jeder ver-
suchte, den Gesprchen von Theophilus' Truppe zu folgen.
Manche, wie Barry Young und Paul Kyromeides, schienen
sich schier darum zu reien, zu Theophilus' Tafelrunde
zugelassen zu werden; andere zeigten sich weniger
interessiert, aber auch sie beugten sich zu ihm hinber,
wenn brllendes Gelchter an seinem Tisch ertnte.
Auer mir und Chris gab es jedoch auch noch andere, die
abseits der Richtigen Bande saen. Randy Schwartz sa
ganz allein auf der anderen Seite des Raums. Seine Konzen-
tration galt ausschlielich dem Tablett, aber er hatte die
Schultern hochgezogen, als ob er jeden Moment mit einem
Pfeil rechnete. Bekka Hayakawa und Penelope Graham
saen in einer anderen Ecke. Sie ignorierten es scheinbar,
aber bei jedem Heiterkeitsausbruch vertieften sie sich in ihr
Essen. Rachel DeLane war auch allein und arbeitete am
Computer; aber wo ich jetzt darber nachdachte, hatte sie
das immer schon gemacht. Darber hinaus waren noch ein
paar andere Leute im Raum verteilt, und ich hatte den
Eindruck, da sie alle gespannt lauschten.
Padraics Stimme bertnte den Rest der Richtigen Bande.
Ja, er ist ziemlich hlich und irgendwie auch linkisch,
aber das gleicht er durch seine absolute Dummheit aus.
Auer auf Randy htte das auch auf Robert, M'tsu und
Ichiro zutreffen knnen ... als die Gruppe brllend auflachte,
versteiften sich die potentiellen Opfer dieses Spotts. Ich
schaute Chris an, und der war verkrampft wie eine Faust.
Selbst einige von uns, die mit Miriam befreundet sind,
sind der Ansicht, da sie nicht mehr alle Tassen im Schrank
hat, sagte ich. Manche von uns glauben eben immer noch,
da ein anstndiger Charakter, gute Leistungen und
Engagement wichtiger seien als der Ehrgeiz, Eindruck zu
schinden.
Er lchelte geqult. Nun, ich bin engagiert, und ich bin
auch nicht unanstndig. Aber ich bin sicher nicht gut in CSL
und auch in keinem anderen Fach.
Warte ab, bis ich mit dir fertig bin, sagte ich nur halb im
Scherz. Dr. Niwara hatte mir mehr als einmal attestiert, da
ich die geborene Pdagogin sei.
Chris starrte Lcher in die Decke, als ob er mich nicht
verstanden htte. Wahrscheinlich liegt es zum groen Teil
auch daran, da ich einfach nicht motiviert bin. Deshalb
langweile ich mich. Fr Agrartechnologie brauche ich kein
CSL. Ich mchte im Bereich Hydroponik arbeiten; dafr
mu ich nur ein paar Berechnungen anstellen und Grafiken
interpretieren. Dieser andere Kram ist wohl auch ganz
interessant, aber manchmal nervt es mich nur. Ich kann es
kaum erwarten, die Erwachsenen-Abschluprfung zu ma-
chen und nie mehr etwas damit zu tun zu haben - ich will
einfach zu den Tanks hinunter und arbeiten.
Ich nahm einen groen Schluck Milch; ich versprte das
Bedrfnis, Chris zu fragen, ob er berhaupt das Zeug dazu
htte, die Austern zu berlisten. Papa sagt zwar immer, dort
knne jeder unterkommen, aber das Engagement mancher
Leute, die in diesem Bereich arbeiten, ist nicht gerade
berwltigend,
Dann wechselten wir das Thema und unterhielten uns ber
Sport. Das war interessanter - mir war frher schon aufge-
fallen, da Chris trotz seiner geringen Krpergre drahtig
und sehr flink war, doch nun erkannte ich, da er wirklich
ber eine strategische Begabung verfgte, und seine Ansich-
ten ber die verborgenen Strken unserer Klassenkameraden
und wen er zum Mannschaftskapitn (was er in Anbetracht
seines generell niedrigen Standings wohl nie werden wrde)
whlen wrde, waren durchaus fundiert. Er war doch nicht
so dumm, wie ich bisher unterstellt hatte - wir hatten nur
unterschiedliche Interessen.
Da hatte ich eine Idee. Als Chris sich erbot, unsere
Tabletts zurckzustellen, widersprach ich ihm nicht. Als er
mir den Rcken zugedreht hatte, rief ich auf dem Computer
die FINK-Seite auf.
Auf der FINK-Seite (die offizielle Bezeichnung lautet
Lehrer-Informations-Rubrik) plaziert man Dinge, von denen
man glaubt, da sie dem Lehrer von Nutzen sind. Die
Eingaben sollen zwar dem Datenschutz unterliegen, aber ich
bin sicher, da der CPB die Meldungen doch identifizieren
kann, genauso, wie er die privaten Kommunikationskanle
berwacht.
Ich gab ein >C Kim vielleicht mehr Interesse fr CSL
wenn Praxisbezug zu Ag-kol & kon bes. Aqua<. Dann
lschte ich den Bildschirm und rief zur Tarnung den
Stundenplan fr die nchste Woche auf. Manchmal kann
man jemandem mit der FINK-Seite wirklich einen Gefallen
tun, nur da es einem nicht gedankt wird.
Wir unterhielten uns noch ein wenig, hauptschlich ber
Bungee-Rennen und Sechswand-Handball, und dann ging
der Unterricht weiter. Ich fhlte mich jetzt viel besser.
Der Nachmittag lie sich nicht schlecht an. Pyramiden-
CSL ist von allen Pyramiden-Wettbewerben der einfachste.
Ich untersttzte Chris bei der Lsung einiger Probleme, half
ein paar anderen Team-Mitgliedern aus der Patsche, und
einmal gab ich sogar Randy Hilfestellung - obwohl er in
CSL eigentlich hervorragend ist.
Nach Schulschlu versammelten wir uns vor dem Klassen-
zimmer, und ich versuchte, Chris mit ein paar aufmuntern-
den Worten ber Miriam hinwegzutrsten. Diese hing indes
noch immer bei Theophilus herum, als es losging.
Randy. Knig Randy. Eure Majestt. Diesmal war es
Gwenny. Randy ignorierte sie und hielt direkt auf die
Omnivatoren zu.
He, Knig Randy, stimmte Kwame ein. Ihr seid wieder
nur Zweiter geworden, Eure Majestt. Viele Kinder
kicherten hmisch. Ich verstand diese Art von Spa noch
immer nicht, und langsam wollte ich sie auch gar nicht mehr
verstehen.
He, Randy. Theophilus trat aus der Menge hervor.
Randy, Junge, ich rede mit dir. Ich wute nicht, weshalb
er das >Junge< so betonte; schlielich wrde es noch ber
ein Jahr dauern, bis wir die Erwachsenenabschluprfung
berhaupt in Angriff nahmen.
Langsam, als ob ihm das ziemlich ungelegen kme, drehte
Randy sich zu Theophilus um. Was? fragte er unwirsch
und mit gesenktem Kopf.
Ich wnschte, Randy htte Theophilus fest in die Augen
geblickt und ihn dadurch zum Verstummen gebracht, aber er
stand nur mit gesenktem Blick da.
Theophilus kam brsig auf ihn zu, wartete, bis er
aufschaute und sagte dann: Ich dachte, es wre sicher
lustig, wenn du noch einmal fr alle diese heulenden Laute
von dir gibst.
Offensichtlich wute Randy nicht, wovon Theophilus
berhaupt sprach. Die Zeit verstrich, ohne da jemand sich
gerhrt oder etwas gesagt htte.
Dann drehte Theophilus Randy gemchlich den Rcken zu
und kam ein paar Schritte auf uns zu. Er schaute in die
Runde und sagte: Um mich >anzupassen<, schickt man
mich zu diesem Psychiater. Randy geht auch hin. Sein
Termin liegt immer direkt vor meinem. Dann hre ich
Randy jedesmal schreien und weinen, und dann stt er
dieses ulkige Heulen aus. Deshalb frage ich mich, ob Knig
Randy nicht Lust htte, uns allen das vorzufahren, damit wir
etwas zum Lachen haben ...
Randy stand da wie vom Blitz gerhrt. Trnen strmten
ber sein Gesicht. Er traf keine Anstalten, sie abzuwischen.
Komm schon, Knig Randy. Theophilus ging einen
Schritt auf ihn zu. Erinnerst du dich denn nicht mehr? Es
geht so ... Er legte den Kopf in den Nacken und heulte - er
atmete mit einem quiekenden Laut ein und stie dann mit
offenem Mund ein falsettartiges Sthnen aus, in das sich
heftige Schluchzer und tiefe Grunzlaute mischten, whrend
es zu einem atemlosen Keuchen abflachte. Selbst in
Theophilus' spttischer Imitation ging es mir durch Mark
und Bein.
Es wurde so still, da ich Randys Atem hrte. Miriam, die
sich eigentlich vor Lachen htte kringeln mssen, lachte
nervs. Eine groe Anzahl der Anwesenden folgte ihrem
Beispiel.
Ich wei nicht, ob Randy wirklich vorhatte, Theophilus
anzugreifen. Es interessiert mich auch nicht. Ich hatte eher
den Eindruck, da er in blinder Wut vorwrtsstrmte und
gar nicht in der Lage war, einen berlegten Angriff
vorzutragen.
Theophilus war bereit - er hatte wahrscheinlich schon
damit gerechnet. Er vollfhrte ein paar Schlge und Tritte,
wobei er Randy ins Gesicht traf und ihm dann einen Schlag
in den Solarplexus versetzte. Randy fiel hart zu Boden, und
Theophilus fate ihn am Kinn und schlug ihm immer wieder
ins Gesicht. Es hrte sich an, als ob Aerocrosse-Blle gegen
die Schutzpolster klatschten, und Randy schien sich unter
den Schlgen wie ein nasses Handtuch zusammenzufalten.
Ich wute nicht einmal, da ich auf sie zurannte. Wenn
jemand etwas gerufen, oder gesagt hatte, so hrte ich es
nicht. Sobald ich sprechen konnte, hatte Papa mir
eingehmmert, bei allem, was ich von seinen Patienten hrte
oder sah, absolute Diskretion zu wahren. Chris und Barry
haben mir spter gesagt, da ich, whrend ich auf Theophi-
lus zulief, geschrien htte, aber es wren keine Worte,
sondern nur unartikulierte Laute gewesen; nicht einmal
daran erinnere ich mich noch.
Ich htte ihn mitten am Rcken erwischt; aber er holte aus,
packte mich am Handgelenk, ri daran, whrend er mich
gegen das Bein trat, und schleuderte mich kopfber an die
Wand.
Papa sagt, ihr alle wrdet das in den Pausen lernen und das
ist ein weiterer Grund, weshalb ich der Erde nie einen
Besuch abstatten werde.
Mein Rcken schmerzte frchterlich, und mein Bein war
taub; dann rutschte ich an der Wand hinab und kam mit dem
Kopf auf. Ein Vorhang aus dumpfem Schmerz blendete die
Welt aus. Nur verschwommen nahm ich wahr, wie Dr.
Niwara herbeieilte, und als der Schmerz so weit nachgelas-
sen hatte, da ich wieder klar sehen konnte, sa Papa mit
mir und Randy im leeren Klassenzimmer. Ich glaube,
sagte er, es ist Zeit fr eine ausfhrliche Unterhaltung.
Randy, ich habe deinen Vater benachrichtigt. Er wei, da
du bei uns bist; wenn du also mit mir kommen wrdest ...

Nach allem, was geschehen war, erwartete ich wohl eine


groe Offenbarung, aber da tuschte ich mich grndlich.
Papa ging es nur darum, Randy zu verdeutlichen, was mit
ihm los war, und ich sollte mit >Beobachtungen und Kom-
mentaren< assistieren, wie er es ausdrckte. Es gab jedoch
nicht viel zu sagen. Theophilus Harrison war so etabliert wie
es nur mglich war. Was Papa als >adoleszente
Machtspiele< bezeichnete, verdrngte nun das >solidarische
Neokonstrukt<. Ich bin sicher, da Randy die Hlfte davon
berhaupt nicht verstand, wo ich schon ein Drittel nicht
begriff und immerhin an Papa gewhnt war.
h... Dr. Murray? sagte Randy schlielich. Das meiste
habe ich verstanden - glaube ich zumindest - aber ich wte
nicht, was ich dagegen tun knnte. Oder Melpomene. Wir
sind doch nur Kinder.
Papa kratzte sich am Kopf; mir gefiel die Art, wie er das
tat. Die groe kahle Stelle am Hinterkopf glnzte, als ob er
sie gewachst htte; anstatt ihm zuzuhren, betrachtete ich
ihn und kam zu dem Schlu, da er langsam alt wurde.
... nicht sicher, ob ihr >nur Kinder< seid. In vielerlei
Hinsicht seid ihr die einzigen, die berhaupt etwas
verstehen. Er seufzte. Sehr wenige Erwachsene
versuchen, sehr viele von euch in eine Kultur zu integrieren,
die wir gerade erst gegrndet haben und zu der wir keinerlei
emotionale Bindungen haben. Wir versuchen, uns in einer
vllig neuen Situation zu behaupten und mssen nach besten
Krften improvisieren.
Nun kratzte Randy sich auch am Kopf. Ich glaubte schon,
es wre ansteckend. Heute wei ich, da Randy den Leuten
auf diese Weise hflich klar machen will, da sie Quatsch
verzapfen. Hm, sicher. Ich verstehe. Aber was knnen wir
nun tun?
Papa lehnte sich zurck und schien angestrengt zu
berlegen. Nun hatte ich Zeit, mir meine eigenen Gedanken
zu machen, und ich wurde wtend. Dieser Mensch hatte
Randys und mein Gehirn so manipuliert, da unser Bewut-
sein den Normen der NAC entsprach. Nun stellte sich
heraus, da er einen Fehler gemacht hatte und nicht
imstande war, ihn zu beheben. Und wer durfte nun fr ihn
und die NAC die Sache bereinigen? Richtig geraten. Wir.
Die Leute, die sie mit ihrem Plan zum Krppel gemacht
hatten.
Und jetzt errterte er das so ruhig mit Randy, als wre es
die natrlichste Sache der Welt. Randy bernahm wieder die
Rolle des Zuhrers - nach allem, was dieser Mann ihm
angetan hatte, bat Randy ihn auch noch um Rat.
Ich wollte schon etwas sagen - vielleicht auch schreien -,
als Papa den Kopf schttelte, als ob etwas Klebriges auf
seinem Kopf gelandet wre. Pfui. Ich hatte ein Bndel
Antworten, und keine davon hilft euch wirklich weiter - nur
>auf diese< oder >auf jene< Art. Typisches Psychogewsch.
Ich sage euch jetzt, was ich von euch beiden erwarte,
insbesondere von dir, Melly. Melly. Wie ich das hate.
Folgt eurem Herzen.
Unseren Herzen folgen? In welcher Hinsicht gehrten sie
uns berhaupt noch? Klar, sagte ich. Das ist aber auch
das einzige, worauf ich hre.
Ich stand auf und ging; sie waren zu verblfft, um mich
daran zu hindern. Ich glaube noch gehrt zu haben, wie
mein Vater meinen Namen rief.

Ich schwebte in unseren Wohnbereich, schleuderte den


Computer in seinen Behlter und schlo die Tr. Ich wute
nicht genau, wie spt es war, aber es war mir zu anstren-
gend, auf den Knopf zu drcken und mich zu informieren.
Statt dessen klappte ich nur Tisch und Sthle hoch, zog das
Bett herunter und streckte mich darauf aus.
Ich war vllig ausgebrannt, als ob ich eine Woche,
ununterbrochen geweint htte, und schlief fast sofort ein.
Ich wei fast immer, wann ich trume, und deshalb
erschrecken Alptrume mich normalerweise auch nicht.
Dieser indessen schon.
Im Traum schritt ich den ringfrmigen Zentralkorridor an
der Peripherie des Pilzes ab. Die Gravitation war irgendwie
zu hoch, und ich war schon so lange gegangen, da mir die
Beine wehtaten. Ich war allein.
Ich wimmerte - was ich im wirklichen Leben nie mache.
Mein erster Gedanke war: >In diesem Traum suche ich
jemanden und finde ihn nicht.< Aber ich wute berhaupt
nicht, wen ich suchen sollte, und auerdem htte ich mich
sehr wohl ausruhen drfen, wenn mir danach gewesen wre.
Schritte hinter mir. Ich darf mich nicht umdrehen, und ich
darf mich nicht erwischen lassen, was immer es auch ist. Ich
hasse diese jagdszenen in den alten 2-D-Filmen, und in
meinen Trumen mag ich sie noch viel weniger. Der
Verfolger schien nherzukommen, und ich rannte los, wobei
die Beine von den Oberschenkeln abwrts schmerzten. Aus
unerfindlichen Grnden konnte ich aber auch nicht in eine
Abzweigung einbiegen.
Zunchst schien ich es zu schaffen, doch dann
beschleunigten die Schritte hinter mir auch und kamen rasch
nher. Ich lief noch schneller und vergrerte den Vor-
sprung, doch der Verfolger holte erneut auf. Als ich
schlielich mit hchstmglichem Tempo lief, war mein
Verfolger anscheinend auch nicht mehr in der Lage, noch
zuzulegen.
Vor mir hrte ich weitere Schritte, die sich jedoch
von mir entfernten. Wenn ich es bis zu dieser Person
schaffte, wre ich in Sicherheit. Aber die Distanz zu dem
Lufer vor mir blieb konstant, wobei er sich in dem anstei-
genden, gekmmten Korridor meinem Blick entzog.
Genauso wenig, wie ich diesen unheimlichen Verfolger
abschtteln konnte, gelang es mir, den vor mir laufenden
Freund einzuholen.
Ebenso, wie ich wute, da ich trumte, erkannte ich aber
auch, da ich Oberhaupt nicht verfolgt wurde und da sich
auch niemand vor mir befand. Und dennoch stand ich unter
dem Zwang, weiterzulaufen - immer weiter. Der Angst, vor
der ich floh, und der Hoffnung, der ich nachjagte, konnte ich
mich nicht widersetzen, obwohl selbst die Schritte nur
Echos waren, die im ueren Ring des Pilzes widerhallten.
Nach dieser grotesken Logik brachte ich den Pilz wie ein
Laufrad zum Rotieren, wie die Tiere, die ich auf Videos in
Tretmhlen gesehen hatte. Wenn ich nicht rannte, gab es
keine Schwerkraft, und unser Kalziumspiegel wrde
absinken und unsere Knochen wrden zerbrseln. Die
Schmerzen wurden durch die Anstrengung verursacht, die es
kostete, die groe Struktur mit einem Durchmesser von
einem halben Kilometer und einer Masse von hundert-
tausend Tonnen allein mit meinen beiden Beinen in
Bewegung zu halten.
Ich sah mich selbst, wie ich blau anlief und stolperte.
Entweder es gelang mir, die irrationalen Emotionen in den
Griff zu bekommen und stehenzubleiben, oder ich scheiterte
und lief immer weiter.
Wenn ich stehenblieb, wrde ich auf dem Korridor in
einen Erschpfungsschlaf fallen. Dann wrde die Rotation
des Pilzes sich allmhlich verlangsamen. Es gbe keine
Schwerkraft mehr, und weil alles meine Schuld war, wrde
die Katastrophe des Kalziumschwundes sofort mir zur Last
gelegt werden. Die Knochen wrden zerbrseln, Urin wrde
wei und dickflssig wie Joghurt aus dem Krper rinnen,
das Fleisch zerfallen. Die Rippen wrden sich deformieren,
und ich wrde gerade noch rechtzeitig aufwachen, um zu
erleben, wie die Brustmuskulatur zum letztenmal zuckte, die
Knochen splitterten und die Lunge kollabierte. Ich wre
unfhig zu atmen und mich zu bewegen, ich wrde mich auf
dem Deck winden, blau anlaufen und Gesicht und Gehirn in
die Luftrhre saugen...
Oder ich lief weiter, wie ein Marathon-Lufer, bis mein
Krper schlielich versagte, die Blutgefe platzten, die
Membranen rissen, das Gewebe sich zu Gallert verdeckte
und die Haut sich abschlte, whrend ich schrie und das
Gesicht zerfiel. Mein kompostierter Krper wrde sich in
einer groen roten, nach Eisen riechenden Lache auflsen.
Wie ich sah, geschah jedoch nichts Derartiges - das
Nervensystem war intakt. Das Gehirn, an dem dicke
Nervenstrnge hingen, lag in dieser roten Pftze und starb in
einem stundenlangen Todeskarnpf, whrend ber die noch
intakten Nervenbndel Schmerzmeldungen eingingen.
Beide Todesarten, der krperliche Verfall und die
Auflsung zu einer amorphen Masse, waren absurd,
genauso absurd wie die Tatsache, da ich den Pilz drehte
oder auf einer Strecke von fast zwei Kilometern Schritte im
Korridor hrte, deren IGangbild sich nicht vernderte. Das
sagte ich nr inuner wieder, genauso wie ich mir sagte, da
ich nur trumte.
Aber ich blieb nicht stehen und wachte auch nicht auf.
h ... Melpomene?
Ich setzte mich schreiend auf und schaute mit trnennassen
Augen in Randys Gesicht.
h... , wiederholte er und starrte mich an. Tut mir leid,
wenn ich dich geweckt habe.
Wie? sagte ich. Das war das einzige, was mir einfiel. Ich
zog ein Reinigungstuch aus dem Spender und rubbelte mir
das Gesicht ab.
h ... Dr. Murray ... dein Vater, weit du ...
Jedenfalls sagt das meine Mutter.
Ja, nun, er ... was hast du gesagt?
Das ist ein alter Scherz, den ich mal in einem uralten 2-
D-Film gesehen habe. Ich schneuzte mich. Vor lauter
Freude, diesem Alptraum endlich entronnen zu sein, wute
ich gar nicht mehr, worber ich mich eigentlich aufgeregt
hatte. Setz dich. Was hat Papa denn gesagt? Randy setzte
sich aufs Bett. Nun ... h ... er hat gesagt, ich solle mal
nach dir schauen. Er sagte, er htte Angst, dich noch mehr
aufzuregen, und er wollte nicht, da du wartest, bis dein
Bruder nach Hause kommt.
Ich bin in Ordnung, sagte ich und setzte mich. Aber
wie geht es dir denn? Ich dachte schon, Theophilus wollte
uns beide umbringen.
Ich wnschte fast, er htte das auch getan. Randy
schttelte den Kopf. Mich umgebracht, meine ich. Dann
htten sie ihn wenigstens eingesperrt, und ich mte keine
Angst mehr vor ihm haben.
Ich wei, was du meinst. Pos-def. Hat Papa noch etwas
gesagt, nachdem ich gegangen bin?
Ich wollte dir nachlaufen, aber er sagte, da du sicher
allein sein wolltest. Ich hielt das zwar fr reichlich absurd,
aber er ist der Psycho, also ... Erneut zuckte Randy die
Achseln. Auf jeden Fall bin ich froh, da du in Ordnung
bist.
Hat er sonst noch etwas gesagt?
Er hat nicht von dir gesprochen, wenn du das meinst. Er
senkte den Blick, und da fiel mir zum erstenmal auf, da er
im Grunde schchtern war. Er ... h... du weit vielleicht,
da ich wegen einiger Probleme jede Woche einen Termin
bei Dr. James habe. Er zwang sich, mir in die Augen zu
schauen. Jeder wei das wohl.
Ich nickte. Ich mag dich trotzdem.
Randy wurde um zwei Nuancen roter, und ich glaubte
schon, er wrde weinen, aber dann lchelte er mich offen
und herzlich an - das hatte ich noch nie zuvor an ihm
gesehen - und lachte sogar. Danke! Ich habe immer Angst,
da die Leute mich deswegen ablehnen. Dann htten sie
nmlich auer dem, was sie jetzt schon von mir wissen,
noch etwas, weswegen sie mich hassen knnten. Wieder
senkte er den Blick. Es ist schon verdammt komisch,
Melpomene. Frher haten die Leute mich, weil ich der
Klassenschlger war, aber das hatte ich ja noch verstanden.
Aber heute bin ich kein Schlger mehr, und sie hassen mich
mehr als zuvor.
Ich hasse dich nicht, sagte ich. In meinen Augen bist
du wirklich nett. Und im Grunde glaube ich auch nicht, da
die Leute dich hassen. Es liegt nur daran, da Theophilus
dieses neue Spiel erfunden hat, und jeder will mitspielen.
Er seufzte. Kann sein.
Ich wute nicht, was ich sonst noch htte sagen sollen, und
er wirkte so angespannt, da ich befrchtete, bei einer
Berhrung von mir wrde er sofort an die Decke springen.
Fr eine Weile sa ich nur da und schaute ihn an.
Andererseits war dieses Schweigen noch schlechter als
alles, was ich htte sagen knnen. Du hast Dr. James
erwhnt, sagte ich.
Genau.
Bist du damit einverstanden, den Arzt zu wechseln?
Ja. Ich habe manchmal Schwierigkeiten mit Dr. James.
Er hob die Schultern. Vielleicht liegt es daran, da er ein
aufgeblasener Quacksalber und obendrein ein Cryo ist. Nur
als Beispiel. Aber dein Vater - ich glaube, er ist in Ordnung,
soweit ich das nach der ersten Begegnung berhaupt
beurteilen kann. Deshalb habe ich ihn gefragt, ob ich von
Dr. James zu ihm wechseln kann.
Das ist ja toll, sagte ich. Das meinte ich auch so, denn
ich wute da Papa einen sehr guten Ruf hatte, aber
gleichzeitig mute ich wieder an den Grund meines rgers
denken. Wann liegen deine Termine?
Montags nach der Schule. Er sagte, wenn du nichts
dagegen httest, knnte ich nach Schulschlu mit zu euch
nach Hause kommen. Dann wrde ich in seine Sprechstunde
gehen, und hinterher knnten wir zusarnmen zu Mittag es-
sen? Randy htte es als Frage ausgesprochen, und ich war
sicher, da er einen Rckzieher machen wrde, wenn er den
Eindruck bekam, da ich mit der ganzen Sache nicht
einverstanden war.
Das ist pos-def in Ordnung, sagte ich. Mein Magen
rumorte. Aus gegebenem Anla fragte ich: Wo wir gerade
davon sprechen, hast du schon zu Abend gegessen?
Nein, ich habe mich lange mit deinem Vater unterhalten.
Er sagte, er wollte sich dir in der nchsten Zeit nicht
aufdrngen. Ich glaube, er ist mit deiner Mutter
ausgegangen.
Gut, dann ben wir schon mal fr Montag, schlug ich
vor. Wir gehen zusammen essen, vielleicht in einer
Cafeteria, wo niemand uns kennt und wir uns ber alles
unterhalten knnen.
Pos-def. Er stand auf, nahm seine Computertasche, und
ich holte meine aus dem Behlter.
Wir beschlossen, in die Cybertao-Cafeteria an der
Peripherie des Pilzes zu gehen; Randy, weil er keine Erfah-
rung mit Zeremonien hatte, und ich hoffte, dadurch dem CT
am Wochenende zu entrinnen. Papa und Mama waren zwar
nicht sehr streng, aber sonntags mute ich normalerweise
immer an der Buchbertragung teilnehmen, obwohl ich
nicht die geringste Lust dazu hatte. Wenn ich die Schuld
jetzt abtrug, durfte ich mich am Sonntag vielleicht
ausschlafen.
Der Weg war ziemlich weit - ungefhr so weit wie bis zur
Schule -, weshalb wir den Omnivator nahmen. Als wir an
der Peripherie des Pilzes den Bereich erhhter Schwerkraft
betraten, sprte ich, wie mde ich wirklich war und trottete
schlapp und hungrig durch die Halle zur Cafeteria. Ich
schaute Randy an, und der sah noch schlechter aus.
Zu meiner berraschung war der Kellner in der Cybertao-
Cafeteria Bert van Piet, Sylvestrinas Vater. In der Regel hat
ein Kellner nicht viel zu tun, weil alles automatisiert ist;
nachdem wir Platz genommen und bestellt hatten, kam er
auf ein Schwtzchen zu uns. Schn, euch hier zu sehen.
Wollten mal etwas Neues ausprobieren, sagte ich
sachlich. Als wir noch jnger waren, waren Miriam und ich
manchmal mit Sylvestrina zusammengewesen, aber ihren
Vater kannte ich nur flchtig.
Er nickte lchelnd. Irgend etwas an diesem Lcheln strte
mich, und obwohl ich nicht wute, warum, war ich pltzlich
froh, da dies hier ein ffentlicher Ort war und Randy sich
bei mir befand. Habt ihr schon einmal eine Zeremonie
mitgemacht? fragte er.
Nur per Draht - ich lasse sie leider nicht abspeichern. Ist
das in Ordnung? Ich wute, da es in Ordnung war; trotz-
dem schadete es nichts, wenn ich es mir noch einmal offi-
ziell besttigen lie und Randy so das Unbehagen nahm.
Ja, natrlich. Wenn dir die Zeremonien nicht gefallen
htten, wrst du sicher nicht wieder gekommen.
Sie sind sehr kontemplativ, sagte ich. Das war die
neutralste und unverfnglichste Bemerkung, die mir einfiel.
Sie werden dir noch besser gefallen, wenn du sie aus dem
Bewutsein aufrufst. Offensichtlich war er fr dezente
Hinweise ebensowenig empfnglich wie seine Tochter. Er
sagte das mit einer solchen Wrme, die mich irgendwie an
irdische Politiker und nicht zuletzt an Dr. James erinnerte.
Er wandte sich an Randy und fragte: Du bist Randy
Schwartz, nicht wahr?
Jawohl.
Silly spricht oft davon, welche Hilfe du ihr in Mathe bist.
Wir wissen das wirklich zu schtzen. Nun strahlte er
Randy an.
Silly. Und ich hatte es schon fr kra gehalten, wenn
Mutter mich >Melly< rief. Es gibt wohl immer jemanden,
der noch schlechter dran ist als man selbst ...
Sie ist ziemlich gut; sie hat nur zu wenig Selbstver-
trauen, sagte Randy. Das war gelogen. Sie ist strohdumm
und obendrein noch faul. Aber das wrde Randy ihrem
Vater wohl nicht auf die Nase binden.
Mir mute etwas von dem entgangen sein, was Mr. van
Piet gesagt hatte, denn Randy erklrte- Nun ... h ... Dad ist
ein kokatholik, und wir gehen nicht oft in die Kirche.
Wenn euch der Abend gefllt, kommt auf jeden Fall
wieder. Und wenn ihr Fragen habt ...
... wenden wir uns an Sie. Randy schaute mich leicht
irritiert an. Wahrscheinlich fragte er sich, ob ich ihn hierher
gelockt hatte, um ihn zu missionieren; hier oben gibt es
nicht viele Leute wie Mr. van Piet, aber dennoch sind sie
berall. (Papa sagt, die Erde sei verseucht mit ihnen.) Also
glaubte Randy vielleicht, ich sei auch so eine. Langsam
wurde es peinlich...
Mr. van Piet unterhielt sich noch eine Weile mit uns ber
Banalitten und trollte sich dann, um jemand anders zu
belstigen. Ich mu mich dafr entschuldigen, sagte ich.
Ich habe einen Fehler gemacht. Ich htte wissen mssen,
da sie hier einen Pfadfinder postiert haben, um uns ins
Paradies zu fhren.
Ich dachte, du wrst cybertao.
Nicht genug fr Leute wie ihn.
Mimutig verzog Randy das Gesicht. Vielleicht ist das
der Grund dafr, weshalb Sylvestrina so still ist. Vielleicht
erwarten ihre Eltern, da sie die Leute bekehrt, und weil sie
zu anstndig dafr ist, sagt sie gleich gar nichts.
Auf diesen Gedanken war ich noch gar nicht gekommen,
aber er erklrte einiges. Ich glaube, im Grunde wei man
nie, wie es in anderen Familien zugeht. Das Essen wird bald
kommen; wenn wir an der Zeremonie teilnehmen wollen,
sollten wir langsam anfangen.
Du bist hier die Expertin.
Das brachte mich zum Lachen. Vergi nicht, die
Unglubige fhrt den Heiden an. Ich zog den Ohrhrer
unter dem Tisch hervor. Steck ihn dir ins Ohr und befolge
die Instruktionen. Dann stpselte ich mir den Hrer ins
Ohr.
Ich freue mich wirklich, da wir zusammen essen, sagte
ich. Ich hasse es nmlich, allein zu essen.
Einen Moment lauschte Randy dem Ohrhrer und sagte
dann: Ich freue mich auch. Es ist ein wahrer Genu, jeman-
den zu haben, mit dem man sich unterhalten kann.
Mein Ohrhrer meldete sich: Mach deinem Begleiter ein
Kompliment.
Ich mag dein Lcheln sagte ich.
Er wurde rot, aber nachdem sein Ohrhrer sich erneut als
Souffleur bettigt hatte, gelang es ihm, mir zu sagen, da er
mich in CSL fr ein Genie hielt. Das hatte er aber schn
gesagt.
Und so ging es dann weiter; die Erste Zeremonie, die viele
Leute mental abspeichern lassen, ist eine gefhrte Konver-
sation mit gegenseitigem Sympathiebekundungen. Papa
sagt, das sei auch der eigentliche Grund gewesen, weshalb
er zum Cybertao konvertiert wre.
Am Ende der Ersten Zeremonie fuhr der Servierwagen vor,
und wir nahmen unser Essen in Empfang. Ich wurde vom
Gewicht der Tabletts berrascht, aber dann erinnerte ich
mich daran, da die Schwerkraft hier fast 0,5 Ge betrug, das
Zehnfache des Wertes in der Cafeteria, wo ich sonst immer
zu Abend a. Man gewhnt sich zwar an die Vorstellung,
da Frhstck und Abendessen nicht viel wiegen, das
Abendessen jedoch um so mehr; aber trotzdem bringt einen
das ganz aus dem Rhythmus.
Jetzt kommt die Zweite Zeremonie, sagte ich zu Randy,
whrend wir darauf warten, da das Essen sich abkhlt.
Dann essen und reden wir, und zum Schlu kommt die
Dritte Zeremonie. Wir stpselten wieder die Ohrhrer ein.
Die Zweite Zeremonie ist eine individuelle Erfahrung, und
sie ist immer drahtgesttzt. Die Maschine fhrt einen durch
eine Spontane Situations-Bewertung. Dies ist die offizielle
Bezeichnung dafr, da man darber sinniert, wie das Essen
auf den Tisch kam, wie viele Menschen an der Produktion
und Zubereitung beteiligt gewesen waren, wie weit die
Pflanzen und Tiere und man selbst sich entwickeln muten,
um die Eintrittswahrscheinlichkeit genau dieser Mahlzeit
herbeizufhren, und so weiter. Mit Sprchen wie >Versuch,
dir den Weizen in den Nudeln vorzustellen<, >Bedenke, da
auch der Tisch irgendwie hierher gekommen sein mu< und
>Bercksichtige die Proteinvertrglichkeit< wurde man alle
dreiig Sekunden traktiert; in der Regel waren es immer
fnf Stze.
Am liebsten htte ich mich jedesmal erkundigt, welche
Fragen den anderen gestellt worden waren, wie nach einem
Test in der Schule, aber das gilt als >Geringfgige
Dissonanz<, und das tut man einfach nicht. Ich hoffte,
Randy wrde mich nicht fragen, denn wenn er es tte, wrde
ich nie mehr der Versuchung widerstehen knnen,
Informationen zu handeln.
Er fragte mich jedoch nicht, so da mir keine Erffnung
einfiel, als wir die Gabeln zur Hand nahmen und aen. Es
ist zwar ungewhnlich, aber es gefllt mir, sagte Randy.
Die Zeremonien?
Genau. Wir sprechen das Tischgebet.
Wie in den alten 2-D-Filmen?
Genau.
Wir widmeten uns wieder dem Essen. Ich war noch nie so
hungrig gewesen. Es gibt nichts Besseres als einen Streit,
eine emotionale Krise und ein sptes Abendessen, um den
Appetit anzuregen.
h - Melpomene ... ich glaube, frher oder spter mu
ich mich mit dir ber etwas unterhalten, sagte Randy
schlielich. Dein Vater hat gesagt, du wrst auer dir
gewesen, als er dir von der Gefhlsmechanik auf dem
Fliegenden Hollnder erzhlt hat ...

Ich nickte nur und hatte Angst, etwas zu sagen. Er sa fr


eine Weile da, bevor er leise sagte: Mit mir hat man das
auch gemacht, aber ich hatte niemanden, mit dem ich
darber reden konnte.
Wirklich?
Er nickte nur; er schien alles gesagt zu haben. Er lffelte
den letzten Rest Soe vom Tablett.
Ich a die restlichen Bissen auf und fragte: Kommst du
mit den Hausaufgaben klar?
Zuerst schaute er verblfft, lchelte dann schelmisch und
erwiderte: Mit dieser Frage hatte ich jetzt aber nicht
gerechnet.
Ich dachte, da wir vielleicht etwas unternehmen und uns
dabei unterhalten knnen. Heute ist doch Freitag. Wir
knnten uns einen Raum zum Spielen suchen.
Ja, das wrde mir gefallen. Sechswand?
Pos-def.
Sechswand, ist ein Geschwindigkeits- und Koordina-
tionsspiel, bei dem es nicht unbedingt auf die Krpergre
ankam.
Wir unterhielten uns noch ein wenig ber die Hausauf-
gaben, absolvierten die Dritte Zeremonie und verabschiede-
ten uns dann hastig von Mr. van Piet. Ich hatte Angst, er
wrde mich am Ende noch dazu berreden, zum CT zu kon-
vertieren, und dann wre der eigentliche Sinn und Zweck
des Besuchs hier hinfllig.
Das Essen hatte unsere Lebensgeister wieder geweckt, und
als wir zurck im Hauptkrper waren, spielten wir noch
ber zwei Stunden Sechswand, (freitags ist die Sperrstunde
immer spter), wobei wir fast nicht miteinander sprachen.
Unsere Spielstrke war in etwa gleich, und es tat gut, sich
nur auf das Spiel zu konzentrieren und sich in angenehmer
Gesellschaft zu bewegen - was ich von vielen meiner alten
Freunde in der letzten Zeit nicht mehr behaupten konnte.
Er gewann die beiden letzten Spiele. Ich wurde mde, und
es war auch schon spt. Willst du noch weiterspielen, oder
sollen wir uns unterhalten? fragte ich.
Reden wir. Er gurtete sich fest. Wie hast du dich denn
gefhlt, als dein Vater dieses Gesprch mit dir gefhrt hat?
Ich erzhlte ihm alles ber die Unterhaltung mit Papa; es
sprudelte nur so aus mir heraus. Ich fing mit Tom an, weil
ich es in diesem Zusammenhang auch fr bedeutsam hielt.
Stndig unterbrach er mich und fragte mich in allen
Einzelheiten nach Papas Ausfhrungen und Reaktionen aus.
Es war ein so gutes Gefhl, nur zu reden und jemanden zu
haben, der mich verstand. Manchmal mute ich weinen;
manchmal lachten wir beide - ich erinnere mich nicht,
worber. Als ich meinen Vortrag schlielich beendet hatte,
war ich leer und erschpft, aber ich fhlte mich nicht mehr
so allein wie in den letzten Tagen.
Das klingt wirklich verrckt, sagte er.
Wenn du diesen Eindruck hast, Randy, kann ich dir das
nicht verdenken. Ich ging zu ihm hinber und setzte mich
fast auf Tuchfhlung neben ihn an die Wand. Er zog sich
nicht zurck, aber er legte auch nicht den Arm um mich, wie
ich es eigentlich gehofft hatte. Er verbarg das Gesicht in den
Hnden. Gut. Also. Ich wei, es hrt sich bld an, aber ich
wnschte, ich htte jemanden wie deinen Vater zum Reden
gehabt. Bei einer Sitzung hat Dr. James mich in zwei
Minuten abgefertigt. Er hat, mich praktisch hinausgewor-
fen.
Das ist ja schrecklich.
Pos-def. >Ach, brigens, Geist und Seele der Menschen
werden von der NAC gem den Anforderungen an einen
guten Arbeitnehmer konditioniert. Bis nchste Woche.< Er
zuckte die Achseln. So macht er das im Grunde immer. Ich
frage mich schon die ganze Zeit, ob er das Schiff vielleicht
verlassen will. Auf jeden Fall bin ich froh, jetzt bei deinem
Vater in Behandlung zu sein.
Mir hat er aber nicht gutgetan. Ich bin auch verletzt.
Ja. Er nickte und senkte dann den Blick. Ich wei.
Etwas Dmmeres htte er kaum sagen knnen.
Mit anderen Leuten kommt er viel besser klar als mit
seiner eigenen Familie.
Er schlang die Arme eng um den Krper. Das trifft aber
fr viele Leute zu.
Es ist auch gar nicht so schn, wenn man so etwas von
seiner eigenen Familie gesagt bekommt, weit du! Mit
zitternden Fingern streifte ich Handschuhe und Knieschtzer
ab und stopfte sie in die Computertasche.
Es tut mir leid.
Das sollte es auch.
Er entledigte sich seiner Ausrstung, knulte sie
zusammen und warf sie achtlos in die Computertasche. Und
das Gesprch hatte berhaupt noch nicht richtig angefangen
- bis zum Kern der Sache war er noch gar nicht vorgedrun-
gen. Diesmal hatte ich es grndlich verbockt.
Er schlo die Computertasche und sagte: Es tut mir
wirklich leid, da ich dich so aufgeregt habe. Ich werde dich
nicht wieder belstigen.
Eine Trne quoll aus seinem Auge. Soweit ich wute,
hatten ihn bisher nur zwei Leute zum Weinen gebracht -
Theophilus und ich. Ich kam mir so dumm vor. Es tut mir
auch leid. Das war ungefhr das einzige, was mir einfiel.
Und du hast mich gar nicht belstigt. Ich mag dich. Ich
hatte nur die Beherrschung verloren und berreagiert, in
Ordnung? Ich mchte, da wir Freunde bleiben.
Er lie den Kopf hngen, sagte aber: Ja, pos-def. Dann
sah er mich ber die Schulter hinweg an. Es tut mir leid,
wiederholte er.
Weshalb?
h ... ich glaube, weil ich dich aufgeregt habe.
Ich redete zwar Mist, war aber nicht die einzige. Du hast
dich auch aufgeregt, stellte ich fest. Knnen wir nicht
endlich aufhren, uns stndig zu entschuldigen?
Vielleicht kannst du das. Randy seufzte. Barry sagte
immer, ich wrde mich fr alles und jedes entschuldigen...
Er hatte recht. Reden wir von etwas anderem - von etwas
ganz anderem.
Pos-def. Mit dem Resultat, da wir natrlich gar nichts
mehr sagten. Miriam hatte mir erzhlt, da das mit Jungen
immer passieren wrde, und ich hatte ihr nicht geglaubt.
Schlielich fiel mir noch etwas ein, das ich hatte sagen
wollen. Randy?
Anwesend, meine Dame.
Fein. h... und welche Konsequenzen ziehen wir jetzt
daraus? Randy wirkte hchst verlegen. Erst jetzt, wo ich es
nach ber einem Jahr niederschreiben erkenne ich, da er es
gewut haben mu - und jetzt bin ich verlegen.
Weil ich den Eindruck hatte, da er gar nicht wute, wo-
von ich sprach, half ich ihm auf die Sprnge. Den ganzen
Gefhlsmechanik-Kram.
Im nachhinein versuche ich mich zu erinnern, ob er
erleichtert oder enttuscht gewirkt htte. Wahrscheinlich
war beides zutreffend.
Ich wte nicht, was wir tun knnten, sagte er und
lehnte sich zurck. Ich dachte, wir wrden nur besprechen,
wie wir mit diesem Gedanken leben sollen.
Nun, ich bin jedenfalls neugierig. Ich will wissen, in
welchem Ausma sie mich verdrehtet haben. Habe ich
berhaupt noch eigene Gefhle? Und dann gibt es da noch
eine Menge Zeug, von dem ich nicht wei, weshalb sie es
getan haben; ich begreife nmlich nicht, wieso man Leute
auf Faulheit oder schlechtes Benehmen konditionieren
sollte, denn es gibt schon im Normalzustand genug davon.
Randy schttelte den Kopf. Ich hatte es selbst nicht
verstanden, weshalb ich immer durchknallte und Leute
schlug, nur weil ich auf irgend etwas neidisch war. Tat ich
das nur, weil der CPB es so wollte? Wollten sie, da ich
diese Kinder zusammenschlagen? Weshalb mu ich mich
dann schuldig fhlen? Und wenn sie mir die Erfahrung
vermitteln wollten, ein Schlger zu sein, wieso muten dann
andere Kinder zusammengeschlagen werden?
Ich holte tief Luft; Ich hatte eine Idee, und nach dem, was
Randy bisher gesagt hatte, lag ich sogar richtig damit.
Genau das habe ich mich auch schon gefragt. Ich wei aber
nicht, wie sie es schaffen, auch das Unterbewutsein zu
manipulieren. Vielleicht haben sie etwas hnliches wie die
Drei Gesetze der Robotik in uns implementiert - erinnerst du
dich noch an diese alten Geschichten?
Klar. >Ein Arbeiter darf der NAC keinen Schaden
zufgen und darf nicht durch Unttigkeit zulassen, da die
NAC zu Schaden kommt.< Und so weiter. Aber nun frage
ich mich, weshalb ein paar Erdschweine glauben, da sie
alle Eventualitten vorhersehen knnten? Was, wenn wir
beispielsweise eines Tages das Schiff verlassen mssen?
Ich starrte ihn an; meine schlauen berlegungen hatten
sich erbrigt. Du hast recht. Durch die Begrenzung der
Optionen knnte der Fliegende Hollnder irgendwann
einmal in Gefahr geraten. Diese Vorstellung war fast zu
schrecklich, um sie auch nur in Erwgung zu ziehen.
Und auf einmal funktioniert es nicht mehr, sagte Randy.
Das hat dein Vater uns gesagt. Er ri die Beine hoch,
schlug eine Rolle und federte dann zwischen Boden und
Decke hin und her. Wenn ich vorher gewut htte, da er
ein Ponger war ...
Wieder ein Hinweis vom Computer. In Ordnung. >Pon-
ging< entspricht dem >Pacing<, das ich in irdischen Schau-
spielen und Filmen gesehen habe, nur da es eben an die
niedrige Schwerkraft adoptiert ist. Dies dient zur Entspan-
nung, wenn man angestrengt nachdenkt. Viele Leute tun
das.
Andererseits macht es auch viele Leute verrckt. Wrdest
du bitte damit aufhren?
Verlegen schlug er einen Salto und schwebte zur Decke
empor. Entschuldigung, ich mache das immer, wenn ...
Wenn du nachdenkst. Ich wei. Mim tut das auch im-
mer. Ich seufzte. Entschuldige, da ich laut geworden bin.
Ich fhle mich selbst nicht so gut. Meine Idee kam mir
wieder ins Bewutsein, aber ich war nicht sicher, ob ich sie
Randy erzhlen sollte. Weit du vielleicht, was wir tun
knnten?
Nein. Ich wei nur, da wir etwas tun mssen. Er
schttelte den Kopf. Es tut mir leid.
Randy schaute so betreten, und vor allem ohne jeden
Grund, da ich einfach lachen mute.
Was?! Er schaute mich dster an.
Du! Wenn die Sonne sich in eine Nova verwandeln und
uns alle braten wrde, kmst du auch noch mit einer
Entschuldigung.
Nun ... Zunchst hatte es den Anschein, als ob er
wtend wrde, und dann schien er sich wieder
entschuldigen zu wollen. Nun ... h ... das wre ja auch ein
Grund.
Das war so doof, da wir beide lachten, und ich fhlte
mich gleich viel besser. Ich wollte ihm schon von meiner
Idee erzhlen, als der Lautsprecher ertnte. An Melpomene
Alice Murray und Randomly Distributed Schwartz. In fnf-
zehn Minuten mt ihr den sechseckigen Handballraum
verlassen und euch auf den Rck weg zu euren Wohnbe-
reichen machen.
Verstanden, sagten wir unisono und packten die
Computertaschen.
Morgen ist Samstag, stellte Randy fest. Und nchste
Woche haben wir Sprachen.
Genau. Da standen wir wieder und wuten nicht, was
wir sagen sollten. Was machst du denn an den Wochen-
enden? fragte ich ihn in Ermangelung einer besseren Frage;
aber dann erkannte ich, da meine Idee wirklich perfekt
war.
Normalerweise lerne ich, antwortete er. Manchmal
fliegen Barry und ich auch Glideboard, aber... weit du ...
Er klang so traurig, und weil jetzt keine Zeit fr lange
Erklrungen war, sagte ich: Wenn du dich deinen Studien
gewidmet hast, httest du dann Lust auf ein Treffen? Ich
glaube, ich wei, wie man das Problem angehen knnte, und
mir reicht der Sonntag, um mich auf die nchste Woche
vorzubereiten.
Nun - ich mte eigentlich viel fr Japanisch tun ...
Das knnte mir auch nicht schaden. Wie wre es, wenn
wir morgen nur Japanisch sprechen?
Das wrde zwar helfen, aber ich mu wirklich auch in die
Bcher schauen. Dann verzog er wieder das Gesicht und
lachte freudlos. Das ist doch albern. Ich kann es kaum
erwarten, den Tag mit dir zu verbringen. Ich werde am
Wochenende schon noch Zeit zum Lernen finden. Wir
verbringen den Samstag zusammen, und dann kannst du mir
von deiner Idee erzhlen.
Noch besser, wir knnen morgens schon anfangen. Wir
treffen uns gleich nach dem Frhstck, und ... o nein.
Was ist denn los?
Morgen frh mu ich zum Outside Club. Mein Bruder
Tom hat ein Flip-Flop-Rennen. Die Junioren-Schiffsmeister-
schaft.
Randys Grinsen wurde breiter. Genau das wollte ich auch
vorschlagen. Ich wrde ihn sehr gern kennenlernen.
Du interessierst dich fr Flip-Flop? Betreibst du es selbst
auch?
Ich kann es nicht besonders, sagte er, aber ich schaue
sehr gern zu. Ich habe deinen Bruder schon oft gesehen. Er
ist Spitze.
Das finde ich auch. Dann standen wir dumm herum.
Nun, dann ist ja alles klar, sagte ich nach einer langen
Pause.
Wir standen noch eine Weile herum, bis Randy schlielich
sagte: Genau. Treffen wir uns vor dem Gemeinschaftsraum
von Block A, 09:00?
Das wre schn.
Bis dann.
Wieder eine sehr lange Pause. Dann kte er mich
unvermittelt auf die Wange.
Damit hatte ich nicht gerechnet, und er wollte sich schon
zurckziehen, als ich ihn umarmte. Er umarmte mich auch.
Vor lauter Verlegenheit sahen wir uns nicht an und sagten
kein Wort. Dann ertnte wieder der Lautsprecher. Ach-
tung, Melpomene AliceMurray und Randomly Distributed
Schwartz. In fnf Minuten mt ihr den sechseckigen Hand-
ballraum verlassen und euch auf den Rckweg zu euren
Wohnbereichen machen.
Wir lsten uns voneinander, lchelten errtend und schaut-
en berall hin, nur uns nicht in die Augen. Randomly
Distributed? fragte ich.
Dad sagte, frher oder spter wrde er eine Vater-
schaftsklage verlieren, und sehr wahrscheinlich gegen eine
ungeeignete Mutter. Er wirkte sehr ernst.
Randy ist ein wirklich schner Name. Und so fgte es
sich, da ich zum erstenmal auf den Mund gekt wurde.

23. DEZEMBER 2025

Heute ist ein seltsamer Tag.


Noch nie zuvor hatte ich die Schule versumt.
Als ich mit dem Schreiben aufhrte, blieben mir nur noch
drei Stunden Schlaf. Ich wollte wirklich aufstehen. Ich war
auch fast bis zur Umkleideecke gerobbt als ich wieder
einschlief, und nun, da ich endlich wach bin, ist die Schule
in einer Stunde aus. Schner Mist - so kurz vor der
Erwachsenen-Abschluprfung.
Ich werde wohl im Sekretariat anrufen, mir die
Hausaufgaben geben lassen, sie erledigen und dann wieder
ins Bett gehen. Fhle mich wie ausgewrungen.
Wnschte, ich knnte mich einfach hinsetzen und an
diesem Buch weiterarbeiten; habe den Eindruck, es ist zu
wichtig, um jetzt aufzuhren, aber im Moment fasse ich
keinen klaren Gedanken mehr; wenn ich das noch einmal
mache, werde ich zwei Tage verlieren.
ber sich selbst zu schreiben macht schtig. Ich hoffe, ihr
Leute merkt euch das. Wenn ihr das Bedrfnis versprt, eine
Autobiographie zu schreiben, versucht es mit Heroin. Viel
sicherer und einfacher zu kontrollieren ...
Hausaufgaben. Und ausschlafen. Dann werden wir, sehen,
ob ich weitermache. Knnte eine Weile dauern.
KAPITEL SIEBEN

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2. JANUAR 2026

Fr mich sind nun zehn Tage vergangen, aber ich glaube,


euch kommt es nicht so lange vor. Ich habe es noch einmal
durchgelesen, und es hat den Anschein, als ob ich euch nicht
einmal ein Zehntel dessen erzhlt htte, was sich ereignet
hat, zumindest nicht von dem, was wirklich wichtig war.
Und manchmal bin ich auch vom Thema abgeschweift. Ich
meine, der Ku von Randy war mein erster, aber das pas-
siert vielen Leuten, und es hat auch nicht viel mit dem zu
tun, was ich euch eigentlich erzhlen wollte.
Ich erkannte das Problem, als ich gestern mit Dr. Lovell
sprach. Sie kommt mir immer 100 % cryo vor, effizient und
so weiter; sie ist jemand, an den man sich in einem Notfall
wendet, aber Sympathie empfindet man nicht fr sie. Und
doch sa ich hier in ihrem Bro und setzte mich nach der
Schule freiwillig einer Gravitation von einem halben Gravo
aus, nur um mit ihr zu sprechen.
Ich habe das Gefhl, da ich zu viel sage, wenn ich
weiterschreibe.
Diese Gefahr besteht immer. Auch die, da man das Fal-
sche sagt.
Sie beugte sich nach vorne und schaute mir mit einem
traurigen Lcheln in die Augen.
Das hatte ich eigentlich nicht hren wollen. Ich schaute
aus dem Fenster; wie Papa war es immer mit einer Auen-
kamera verbunden, ob es dort etwas Interessantes gab oder
nicht.
Heute war nur ein Sternenmeer vor einem schwarzen
Hintergrund zu sehen. Ich glaube, ich brauche eine Vor-
stellung von der tatschlichen Bedeutung der Sache, sagte
ich. Ich meine, Sie haben mich aufgefordert, weiterzu-
schreiben. Soll das nur eine Therapie sein, oder hngt die
ganze Zukunft des Fliegenden Hollnders davon ab, oder
was?
Ihr Lcheln wurde breiter. Leicht zu beantworten.
Irgendwo dazwischen.
Ich war nicht in der Stimmung, mich veralbern zu lassen,
und sagte ihr das auch. Sie entschuldigte sich, und weil es
dann anscheinend nichts mehr zu sagen gab, verabschiedete
ich mich hflich und ging heim.
Tom war noch nicht zu Hause, dafr aber Susan. Das war
in Ordnung. Wenn der Umgang mit Susan auch kein Quell
unendlicher Freude ist, so kann man doch mit ihr aus-
kommen. Wir akzeptieren uns, und manchmal keimt sogar
Sympathie zwischen uns auf. An spterer Stelle werde ich
vielleicht noch auf einige Dinge zu sprechen kommen, die
im letzten Jahr zwischen uns vorgefallen sind.
Sie sa im Gemeinschaftsbereich, in Mutters Leseecke,
und tippte einen Bericht oder so etwas in ihren Computer
ein. Sie ist wirklich sehr talentiert auf ihrem Fachgebiet -
interne Logistik-Architektur -, und ich glaube, in ihrem
Bro hlt man groe Stcke auf sie. Susan spricht nur dann
ber ihre Arbeit, wenn ich sie danach frage, und dann
hchstens eine Minute.
Sie beendete die Eingabe, schaute auf und sagte, Hallo,
Melpomene.
Hallo. Heute was Aufregendes bei dir passiert? Sie
ghnte und streckte sich. Ich habe ihnen zwei Versor-
gungskorridore ausgeredet, die sie anlegen wollten. Der
Gewinn an Frachtumschlags-Kapazitt htte nmlich in kei-
nem Verhltnis zum Verlust an struktureller Stabilitt
gestanden.
Das klingt ziemlich bedeutend. Ich nahm Platz und lie
die Computertasche fallen.
Sie zuckte lchelnd die Achseln. Ja und nein. Bedenke,
da der Fliegende Hollnder erst 2059 fertiggestellt sein
wird - und seine volle Kapazitt wird er wahrscheinlich erst
2120 erreichen. Und Probleme wie das, welches ich heute
gelst habe, werden sich erst nach einigen Orbits bei voller
Kapazitt bemerkbar machen. Mithin wird es noch 120
Jahre dauern, bis meine heutige Aktion einen mebaren
positiven Effekt zeitigt.
Angesichts der Erkenntnisse ber die Lebenserwartung
unter niedriger Schwerkraft, fhrte ich aus, werden wir
beide dann vielleicht noch leben. Ich lade dich dann zum
Abendessen ein.
Sie blinzelte mir zu. Ich werde dich daran erinnern. Wie
dem auch sei, die Rotation kann gar nicht frh genug
erfolgen, obwohl mein nchster Auftrag im Grunde das
genaue Gegenteil des aktuellen darstellt die Konzeption
neuer Strukturen, die mein altes Team dann ablehnt. Als ob
man fr die Teilnahme an einem Debattierclub bezahlt
wrde. Sie seufzte. Und jetzt jammere und beklage ich
mich schon wieder. Das macht dich sicher verrckt.
Ich habe ein Ohr fr dezente Hinweise. Ich mag dich
trotzdem.
Sie wurde rot, wie das immer geschieht, wenn ich etwas
Vergleichbares sage, selbst wenn sie es mir regelrecht aus
der Nase ziehen mu. Es mute doch schrecklich sein, wenn
man stndig auf Selbstbesttigung angewiesen war - zumal
sie noch so schchtern war, da sie dabei errtete.
Im letzten Jahr hast du dich einige Monate berhaupt
nicht beklagt, und wenn du es doch tatest, hattest du sicher
allen Grund dazu, ergnzte ich. Ich bin mir nie sicher, ob
ich das nun sage, weil es stimmt und ich mir vergegen-
wrtigen mu, was fr ein guter Mensch Susan im Grunde
ist, oder weil ich wei, da es sie in Verlegenheit bringt und
ich mich daran erfreue. Vielleicht beides.
Wie dem auch sei, sie nahm es zur Kenntnis und wechselte
das Thema. Wie kommst du mit dem Buch voran?
Nicht allzu gut. Oder vielleicht auch zu gut. Ich investiere
viel Zeit in eine ziemlich unwichtige Sache.
Es ist unwichtig? Sie setzte sich gerade hin und schaute
mich mit diesem intensiven Blick an.
Nein, so kann man das auch nicht sagen. Aber in
fnfunddreiig Tagen mache ich die Erwachsenen-Ab-
schluprfung. Ich fate es nicht, da sie das vergessen
hatte. Sie konnte manchmal richtig dmlich sein. Darauf
mu ich mich konzentrieren, fgte ich hinzu, fr den Fall,
da sie den Zusammenhang noch immer nicht erkannt hatte.
Sie bi sich so fest auf die Lippe, da es mir selbst wehtat,
und sagte: Ich wollte dich nicht verrgern. O Gott, wes-
halb hatte Tom nur ein Sensibelchen wie sie zur Freundin
und einen Trampel wie mich zur Schwester? Du hast mich
nicht verrgert - ich rgere mich einfach. berhaupt gerate
ich viel zu schnell in Rage. Ich mu stndig an diese
verdammte Prfung denken, aber dazu kannst du schlielich
nichts. Es tut mir leid. Ich hatte mich zu ihr umgedreht und
ihre Hnde ergriffen.
In letzter Zeit luft es immer so zwischen uns; wir
versuchen das vertrackte Problem zu umgehen, da wir
beide meinen Bruder lieben, aber wir knnen uns nicht ohne
Sticheleien unterhalten.
Susan nickte ein paarmal und machte gute Miene zum
bsen Spiel; wohl deshalb, weil ich es auch tat. Melpo-
mene, schau, ich wollte nur sagen - es ist nur so, da ich die
Dinge manchmal durcheinanderbringen und ich mchte, da
du mich verstehst - wenn du an diesem Buch arbeitest, bist
du konzentrierter als sonst jemand, den ich kenne, auer
Tom vielleicht, wenn er eine rumliche Berechnung anstellt.
Ich wei auch gar nicht, weshalb das so wichtig ist, aber ich
habe eben diesen Eindruck.
Ich umarmte sie. Das hast du aber schn gesagt.
Habe ich das?
Sicher. Aber nicht, da es dir zu Kopf steigt. Ich kte
sie sogar auf die Wange. Und ich glaube, ich werde jetzt
am Buch weiterarbeiten. In fnfzig Minuten treffe ich mich
mit Randy in der Cafeteria.
Ich wnsche dir gutes Gelingen. Das meinte sie wirklich
so.
Nun, eigentlich htte es kein derartiges Problem fr mich
darstellen drfen, aber es war doch eins. Auerdem, wessen
Buch ist es berhaupt? Ich hatte einfach das Bedrfnis
versprt, euch davon zu erzhlen, also tat ich es. Und Randy
ist unpnktlich wie immer; also wende ich mich wieder der
eigentlichen Geschichte zu.

Das Frhstck am nchsten Morgen - die Geschichte spielt


jetzt wieder im vergangenen Jahr - war amsant; vorausge-
setzt, ihr gehrt zu den Leuten, die eine langsame Folter
amsant finden. Wie immer war Mutter der Qulgeist.
Frhstcken deine Freunde heute zusammen, Melly?
Mchtest du lieber mit ihnen frhstcken?
Nach dem, Frhstck treffe ich mich mit einem Freund -
wir gehen in den Outside Club und lernen dann zusammen.
Auerdem dachte ich, eine >richtige Familie sollte gemein-
sam essen<. Gut, ich, war rotzfrech... aber sie zog wirklich
alle Register ihrer Tiefbesorgte-Mutter-Routine.
Papa versuchte einen seiner Witze anzubringen, allerdings
ohne Erfolg, wie in neunzig Prozent aller Flle. Also hatten
wir alle einen prchtigen Start erwischt.
Whrend wir uns das Essen hineinschoben, herrschte
Sendepause, aber das war zu schn, um von Dauer zu sein.
Tom, du it ja fast gar nichts, bemerkte Mutter. Stimmt
etwas nicht?
Je weniger ich jetzt esse, desto weniger kotze ich in drei
Stunden in mein Visier, erklrte Tom mit vollem Mund.
Tom!
Er hob die Schultern. Ist doch wahr. Und sag jetzt nur
nicht, ich wrde dir den Appetit verderben. Du hast schlie-
lich angefangen.
Doch, das hast du, aber ich mache mir weniger Sorgen
darber als ber deine Feindseligkeit, sagte Mutter pikiert.
Sie bekam nur das, was sie wollte. Ich mache mir ernsthaft
Sorgen um dich. Du it nichts, du interessierst dich nur fr
Sport und diese Alien-Artefakte...
Tom blinzelte mir verstohlen zu, wie wir das immer tun,
wenn wir sagen wollen >Pa auf - und hilf mir, falls ntig<,
und schaute Mutter ernst in die Augen. Das ist Kunst,
Mutter, behauptete er prononciert. Es wird wohl noch
eine Weile dauern, bis du sie zu wrdigen lernst.
Zunchst war Mutter so still, da ich schon glaubte, er
htte die magische Formel gefunden, sie zum Schweigen zu
bringen.
Schlielich seufzte sie. Vielleicht hast du recht. Es liegt
in der Familie...
Und dann erzhlte sie uns von ihrem frh verstorbenen
Bruder James. James war angeblich ein Poet gewesen, ob er
nun poetische Werke verfat hatte oder nicht. Er war immer
einsam und deprimiert und hatte keine Freunde. Ich wute
auch, weshalb nicht - er machte sich ber die Athleten lustig
(auf der Erde darf wohl nur ein Bruchteil der Schler Sport
treiben, und dafr drfen diese Kinder nicht studieren, oder
so hnlich - bei diesem Unsinn hrte ich nie zu und
deswegen schlugen sie ihn zusammen. Er verliebte sich in
Mdchen, die ihn nicht einmal kannten und ihn verschmh-
ten. Er suchte die Gesellschaft der intelligenten Kinder, aber
er machte sich auch bei ihnen unbeliebt. (Weil er sich nach
Mutters Ausknften nur fr Literatur interessierte und die
anderen Fcher boykottierte, konnte ich das auch nachvoll-
ziehen.) Ich wei zwar nicht, was das alles mit Poesie zu tun
hatte, aber fr Mutter bestand anscheinend ein Zusammen-
hang.
In meinen Augen war das ein klassisches Assi-Profil; weil
das auf der Erde aber kein Straftatbestand ist, erhalten die
Betreffenden auch nicht die erforderliche Therapie. James
war schon ein trauriger Fall gewesen hier oben htte man
ihn wahrscheinlich mit gutem Erfolg behandelt.
Wie dem auch sei, James hatte viel geschrieben, alles in
einer Art Kurzschrift, in der er darlegte, da er ein isoliertes,
schreiendes X in einem groen, indifferenten Y sei. Zum
Beispiel: X = Kieselstein, Y = Strand; X = Baum, Y =
Wste; X = Eisberg, Y = Ozean. Das Prinzip ist einfach. Ich
wei natrlich, da diese Xe berhaupt nicht schreien, aber
Mutter behauptet, das sei Teil der
Pointe.
Auf allen Bildern von James, die ich gesehen habe, trgt er
anscheinend die Kleidung aus den 70er Jahren des 20.
Jahrhunderts, in Grau oder Schwarz.
Jedenfalls erkrankte er im Alter von sechsundzwanzig
Jahren an mutAIDS und starb daran. Das war nach dem
Groen Sterben und dem Eurokrieg, also um 2005 oder
2006, als ob er in keiner Hinsicht in der Lage gewesen wre,
sich anzupassen. Vielleicht sieben oder acht Jahre, bevor ich
geboren wurde; ich bin mir nicht sicher.
Ich vermute, obwohl ich mir auch da nicht sicher bin, da
meine Mutter folgendes sagen wollte: weil sie die einzige
gewesen war, die James' Poesie verstanden hatte, htte sie
auch die Alien-Artefakte verstanden, falls es da berhaupt
etwas zu verstehen gab.
Im Verlauf von Mutters Darlegungen wurde Tom
zusehends stiller; das schien sie zu ermutigen. Sie fhrte alle
Aspekte aus, in denen er sich von james unterschied, wobei
der Schwerpunkt anscheinend auf Toms fehlender >Sensibi-
litt< lag. Weil sie Tom gewi genauso gut kannte wie ich,
hatte sie das sicherlich nicht im eigentlichen Wortsinn
gemeint, aber soweit ich es beurteilen kann, wollte sie damit
zum Ausdruck bringen, da er >ein Rpel und ein schlech-
ter Verlierer< war, denn Toms Mangel an Sensibilitt
erklrte sich durch seine Sportbegeisterung.
Papa versuchte mehrmals, sie zu einem Umschwenken auf
einen anderen toten Verwandten auer James zu bewegen,
aber ohne Erfolg. Was mich betraf, so waren sie allesamt,
tote Erdschweine. Was gab es da noch viel zu reden?
Endlich, zu meiner auerordentlichen Erleichterung, war
das Frhstck vorbei, und wir hatten den Familienwerten fr
heute Genge getan. Ich hatte meinen Teller ungefhr zur
Hlfte geleert und Tom hatte noch mehr briggelassen. Papa
bugsierte Mama aus der Cafeteria an einen Ort, der sie
angeblich interessierte, und sagte, da sie Toms Rennen
ber Video verfolgen wrden.
Tom stieg den Hauptkrper zum Mnner-Umkleideraum
hinab. Ich hatte noch immer eine halbe Stunde bis zum
Treffen mit Randy, und da es auf meinem Weg lag, beglei-
tete ich Tom ein Stck.
Die Korridore lagen verlassen - hchstens ein halbes
Dutzend Leute war zu sehen. Tom hangelte sich vor mir
entlang, ohne sich umzudrehen.
h ... Tom sind die ... h... Alien-Artefakte wirklich
Kunst, fragte ich schlielich, oder hast du das nur gesagt,
um Mutter zu verwirren?
Sie mssen Kunst sein, Melpomene. Erinnere dich an das
Erste Gesetz der Anthropologie: wenn man etwas tut, ohne
den Sinn dieser Handlung zu verstehen, handelt es sich
entweder um Wahnsinn, ein religises Ritual oder Kunst.
Ich bin nicht religis, und weil ich der Sohn des Groen
Cornelius Murray bin, kann ich auch nicht verrckt sein;
also mu es Kunst sein. Seine Stimme war so rauh und
bitter, da ich mich am liebsten umgedreht htte und
gegangen wre; weil es in letzter Zeit jedoch den Anschein
hatte, da Tom von allen hngengelassen wurde, konnte ich
ihn nicht verlassen.
Machst du dir Gedanken wegen des Rennens? fragte
ich, wobei ich versuchte, mglichst gleichmtig zu klingen.
Irgendwie schon, krchzte er.
Ich legte den Arm um ihn, und er drehte sich um und
drckte mich. Wir waren schon eine beachtliche Strecke in
diesem Korridor abgesunken, bis uns auffiel, da keiner von
uns am Netz hing. Zum Glck kamen wir mit den Fen
zuerst auf. Es war ein Niedergravitations-Tag, und weil wir
nur etwa fnfzig Meter gefallen waren, war der Aufprall
geringer, als ob man auf der Erde vom Stuhl gefallen wre.
Dennoch war es heftig genug.
Tom lehnte sich lchelnd zurck. Jetzt geht es mir besser.
Zum Glck sind wir nicht mit dem Kopf aufgekommen. Ich
glaube aber, wir haben die Abzweigung verfehlt.
Wir stiegen wieder auf; als wir besagte Abzweigung
erreicht hatten, meinte er: Susan wird auch zuschauen. Fr
den Fall, da ich gewinne, habe ich versprochen, ihr das
Teil zu zeigen, das du schon kennst - wie es funktioniert und
so weiter.
Er legte eine Pause ein. Ich habe viele Vernderungen
und Verbesserungen vorgenommen und kann jetzt wirklich
damit umgehen, rechtfertigte er sich dann. Hat sie auch
schon die anderen Dinge gesehen?
Alle. Er hangelte sich vorwrts. Ich bemhte mich
mitzuhalten, denn bald wrde der Eingang des Mnner-
Umkleideraums auftauchen.
Tom.
Was? Er drehte sich zu mir um. Mu ich es dir
wirklich sagen? Einige Sachen haben ihr gefallen - man
knnte fast meinen, sie versteht manches von dem, was ich
tue und auszudrcken versuche. Sie ist die einzige, die das
versteht. Und dieses Rennen ist das wichtigste. Ja, ich bin
nervs, und ich bin auch etwas angespannt. Das Rennen
wird ziemlich schwierig werden.
Du wirst es schon gut machen, sagte ich, ob du das
Rennen jetzt gewinnst oder nicht.
Darauf sagte er eine lange Zeit gar nichts, sondern
klammerte sich nur kopfber mit Hnden und Fen an das
Netz, ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo ich auf dem
Boden des Korridors sa. Ich meine es ernst, sagte er
schlielich. Was, wenn es Susan nicht gefllt?
Es wird ihr sicher gefallen. Dann wird sie es mir erklren,
und dann gefllt es mir auch. Wirklich. Jetzt geh und
gewinn das Rennen; du hast schon genug herumgetrdelt.
Er schluckte, nickte und hangelte sich zum Mnnerum-
kleideraum weiter.
Als ich mich auf den Rckweg machte, um mich mit
Randy zu treffen, sagte ich mir kurioserweise, da es ein
langer Tag war, obwohl das Frhstck erst eine halbe
Stunde zurcklag.
Randy wartete am Gemeinschaftsraum von Block A auf
mich; er war etwas zu frh dran, aber ich auch. Pltzlich fiel
mir ein, da wir uns nur verabredet hatten, um Toms
Rennen zu beobachten, und bis zum Umkleiden hatten wir
noch mindestens eine Stunde Zeit.
Nun, aufgrund der Erfahrungen des letzten Abends
konnten wir verlegen herumstehen und herumstottern. Und
in der Tat wrde es mit grter Wahrscheinlichkeit auch
darauf hinauslaufen.
Als ich auf ihn zuging und mich dabei zwischen Tischen
mit Schachspielern und lernenden Kindern hindurch-
schlngelte und nach kleinen Kindern Ausschau hielt, die in
der Luft herumtollten, erkannte ich, da er mich noch nicht
gesehen hatte. Er frnte dem Ponging, soweit das in der
ffentlichkeit berhaupt durchfhrbar war; er federte im
Dreieck in einer Ecke umher, stieg einen halben Meter auf,
stie sich mit dem Rcken an einer Wand ab, drehte sich mit
dem Rcken zur anderen Wand und sank schlielich wieder
zu Boden: vom Boden zu Wand zu Wand, zu Boden zu
Wand zu Wand - nachdem ich aus einer Entfernung von ein
paar Metern einige Durchgnge beobachtet hatte, wurde mir
schwindlig.
Entweder dachte er angestrengt nach, oder er war
ausgesprochen nervs.
Ich schwebte zu ihm hinber und begrte ihn. Er stie an
die Decke. Wohl eher nervs.
Autsch, sagte er und rieb sich beim Absteigen den Kopf.
Ich mu abgetrieben sein - du hast mich aber auch wirklich
erschreckt.
Ich schaue mir mal deinen Kopf an.
Ich bin in Ordnung. Super. Wirklich.
Woher willst du das denn wissen? Siehst du deinen Kopf
etwa?
Er beugte sich nach vorne, damit ich nachschauen konnte.
Im dichten rotblonden Schopf war ein roter Fleck zu erken-
nen. Hier?
Au! Nicht anfassen!
Mu sein. Sieht wie eine Abschrfung aus - die Haut ist
unverletzt, also wirst du keine Beule bekommen. Danke,
da ich nachsehen durfte - ich htte mir sonst noch Sorgen
um dich gemacht.
Vorsichtig berhrte Randy die Schrfwunde. Ich wollte
immer schon mal eine Mutter haben.
Du kannst meine haben, wenn du mchtest. Aber ich mu
dich darauf hinweisen, da sie vom Umtausch ausgeschlos-
sen ist. Das klang ernster, als ich es eigentlich beabsichtigt
hatte - wir schauten uns in die Augen, und nun machte er
einen niedergeschlagenen Eindruck.
Also nahmen wir Platz, und dann erzhlte ich ihm von
dem rger, den ich und Tom mit Mutter hatten. Wie blich
hrte Randy mit voller Konzentration zu, und obwohl er
nichts sagte, kamen mir die Querelen mit Mutter pltzlich
lcherlich vor.
Nach einer Weile seufzte ich, rieb mir die Augen und
beschlo, das Selbstmitleid einzustellen. Wo wir uns jetzt
gegenseitig emotionale Erste Hilfe geleistet haben, sollten
wir uns vielleicht umziehen.
Genau. Er stand auf, und wie aus einem Reflex nun, ich
glaube auch heute noch nicht, da er es vorher geplant hatte
- ergriff er meine Hand. Ich war stolz darauf, da ich jetzt
nicht an die Decke stie.
Ich hoffte, da niemand uns sah.
Ich hoffte, da alle uns sahen.
Insbesondere Miriam, damit sie einmal sah, wie es mit
einem netten Jungen war.
Whrend wir zusammen zu den Umkleiderumen gingen,
fiel es mir wieder ein. Ich habe dir noch gar nicht von
meiner Idee erzhlt, Randy. Ich glaube, es wre zu riskant
gewesen, im Outside darber zu sprechen, wo man uns
vielleicht abgehrt htte.
Er schaute etwas irritiert, erklrte sich aber einverstanden.
Ich wute, da ich langsam paranoid wurde, und als ich
mich umkleidete und den Gesundheitscheck machen lie,
wurde mir das erneut bewut. Ich hatte zwar keine Ahnung,
wie der CPB oder der Sicherheitsdienst hinter meinen Plan
kommen sollten, aber wenn sie damit nicht einverstanden
waren, befanden wir beide uns in echten Schwierigkeiten.
Deshalb erschien es mir in einem mit Kameras und
Mikrofonen gespickten Ambiente zu gefhrlich.
Wie immer startete das Rennen mit Versptung, weil
einige der Lufer mehrmals ber den Parcours gefhrt
werden muten. Tom sagt, das wrde passieren, wenn ein
Flip-Flop-Lufer die Nerven verliert, aber zum Aussteigen
wre es dann schon zu spt.
Die Rennstrecke zieht sich zickzackfrmig um den
Umfang des Hauptkrpers und hat eine Lnge von neun
Kilometern; sie wird aber jedesmal variiert, um weitere
Flip-Flop-Stationen einzurichten, die dann von den Teilneh-
mern des Rennens angelaufen werden. In meinen Augen
stellen die Leute sich damit nur ein Armutszeugnis aus -
anstatt gleich zuzugeben, da die Auendienstler immer
Verwendung fr neue FlipFlop-Stationen haben, mu der
Sport als Ausrede herhalten.
Fr das Rennen selbst erhlt jeder Lufer einen Satz mit
Strichcodes markierten Flip-Flop-Leinen, und mit diesen
wird der Parcours abgearbeitet.
Wie der Computer soeben meldet, gibt es bei euch auf der
Erde kein Flip-Flopping.
Na schn. Als Flip-Flopping bezeichnet man die Fortbe-
wegung auf der Oberflche des Hauptkrpers. Bei einer
Flip-Flop-Station handelt es sich um eine Anzahl gezogener
Stahlrohre mit einem Durchmesser von etwa fnf Zenti-
metern; oben sind sie mit einem Ring versehen, der in etwa
die Flche einer Faust und die Dicke eines Daumens auf-
weist. Ein Flip-Flop ist ein simpler Knebel, der auf den Ring
aufgesetzt wird, und eine Flip-Flop-Leine ist ein Monomyl-
kabel, an dessen Enden jeweils ein Flip-Flop befestigt ist.
Um von einer Station zur anderen zu gelangen, ergreift
man ein zwischen beiden Stationen verlaufendes Kabel.
Man lst den Flip-Flop vom Ring und befestigt ihn am
Brustgurt; dann klinkt man das im Rckentornister
befindliche Reservekabel in den Ring ein und berzeugt sich
davon, da die Leine frei luft, damit man nicht wie ein Jojo
zurckgerissen wird. (Fr Profis besteht diese Gefahr aber
nicht, denn sie verzichten von vornherein auf Reserve-
leinen.)
Dann stt man sich ab und wickelt das Kabel auf, so da
man sich auf die Zielstation zubewegt; das Kabel wird dabei
um eine an der Vorderseite des Anzugs befestigte Trommel
gewickelt. Auf diese Art zieht man sich langsam auf die
Zielstation zu. Wenn die Magnetstiefel schlielich Kontakt
mit der nchsten Station bekommen, nimmt man die
Kabeltrommel ab, verstaut das zusammengerollte Kabel im
Rckentomister, nimmt die Reserveleine aus dem Tornister
und klinkt sie in einen freien Ring ein. Mehr nicht. Wenn
zum Erreichen eines Ziels mehrere Sprnge erforderlich
sind, wird der Vorgang einfach wiederholt.
Zur Bewltigung des Neun-Kilometer-Kurses um den
Hauptkrper liegt fr jeden Flip-Flop-Lufer eine Garnitur
Kabel bereit. Die Etappen sind unterschiedlich lang, in
Abhngigkeit vom Schwierigkeitsgrad. Beim Rennen geht
es darum, alle Flip-Flop-Stationen zu durchlaufen und zur
Ausgangsstation zurckzukehren.
Heute verfolgten ungefhr fnfzig Zuschauer das Rennen
von der Oberflchen-Bahn aus; auerdem drften noch
einige Hundert per Video zugeschaut haben, darunter auch
meine Eltern. Wenn man das Rennen von der Bahn aus
betrachtet, verfolgt man den Start mit, fhrt dann eine
Station auf halber Strecke des Parcours an und begibt sich
schlielich zum Ausgangspunkt zurck, um das Eintreffen
der Lufer zu beobachten.
Whrend des Transfers zwischen den jeweiligen Punkten
kann man das Rennen entweder auf den Monitoren verfol-
gen oder einfach den Weltraum betrachten, was - 'tschuldi-
gung, Tom! - ich normalerweise auch tue.
Als ich aus der Schleuse trat, sah ich, da Susan schon an
der Bahn stand, wobei ihre Stiefel an den Schienen klebten,
und winkte ihr zu. Fr eine Sekunde stand sie nur da und
winkte dann freudig zurck. Es mute sie wohl berrascht
haben, da ich ihr berhaupt meine Aufmerksamkeit ge-
schenkt hatte; nun, wenn ich Tom einen Gefallen damit tat,
wenn ich nett zu ihr war, wrde ich sie mit meiner Nettig-
keit schier erdrcken.
Sie sprang herber - eigentlich herunter, denn die Bahn
befindet sich oberhalb der Schleuse -, wobei sie gekonnt
abfederte und die Sicherheitsleine, ber die sie mit der Bahn
verbunden war, Wellen schlug. Wie war seine Stimmung
heute morgen? fragte sie.

Wie die eines fetten Karnickels vor Weihnachten. Und


wie war er gestern abend?
Absolut unmglich. Hinter dem Visier ist ein Gesicht
zwar kaum zu erkennen, aber ich konnte mir vorstellen, da
sie eine Grimasse schnitt. Weit du vielleicht, was er mir
zeigen will, falls er gewinnt?
Da ertnte ein anonymes Kichern im Interkom. Wortlos
hielt ich meinen Privatanschlu in die Hhe; Susan ergriff
ihn und schlo ihn an den ihren an. Mit einem Zungenschlag
schaltete ich von der offenen Frequenz auf Privatverbindung
um. Test?
Erfolgt. Es ist doch widerlich, wenn fremde Leute
lauschen, nicht wahr?
Ja. Sicherlich wrde es dem Spanner aber weniger gefal-
len, wenn wir ihm die Luft abdrehen oder ihn zum Mars
schicken wrden.
Das ist ja richtig morbide, sagte sie. Besagte Praktiken
waren mir aus diesem nmlichen Erd-Video, Asteroiden-
Piraten, gelufig, aber sie hatte es wohl nicht gesehen.
Aber es wre keine schlechte Idee. Wie sieht dieses groe
Geheimnis von Tom denn nun aus?
Das ist schwer zu beschreiben. Ich gab mich etwas
reserviert, weil ich nicht wute, wie ich es am besten aus-
drcken sollte; aber das rgerte mich wiederum, denn wir
versuchten auf einer freundschaftlichen Basis miteinander
auszukommen, und ich htte ihr eigentlich vertrauen sollen.
Es hat keinerlei hnlichkeit mit dem, was er bisher ge-
macht hat, und ich verstehe es selbst nicht richtig. Deshalb
mchte ich nicht, da du vielleicht einen falschen Eindruck
bekommst.
Sie nickte. Aber hat dir daran etwas gefallen?
Oh, pos-def. Eine Menge. Aber ich wei wirklich nicht,
was mir daran gefallen hat. Bis auf den letzten Teil war das
zwar eine bertreibung, aber mit etwas Glck war es das
gewesen, was sie hren wollte.
Wie dem auch sei, sie kaufte mir das ab, und ich war aus
dem Schneider. Ich mchte nur sichergehen, da es mir auf
den ersten Blick gefllt.
Tom sagte, dir gefielen viele seiner Sachen.
Das ist richtig, besttigte Susan. Aber dies ist etwas
anderes. Dieses Ding, was auch immer es ist, stellt eine
richtige Wundertte dar. Und er hat gesagt, von meiner
Reaktion wrde es abhngen, ob es gut oder schlecht ist.
Also mu es mir einfach gefallen. Ich dachte nur, wenn du
mir etwas darber erzhlen wrdest, knnte ich mir schon
vorab eine Meinung bilden. Denn mein Urteil wird fr ihn
bindend sein.
Wirklich? fragte ich irritiert, und nicht nur wegen ihrer
Worte, sondern aufgrund der Art, wie sie meine Hnde hielt.
Auer, da sie bisher einen ruhigen Eindruck gemacht hatte,
wie eine Klette an Tom klebte, keine eigene Meinung vertrat
und schlicht langweilig war, wute ich nichts von ihr - doch
als ich sie nun anschaute, erkannte ich, da sie in Wirklich-
keit eine ganz andere Person war. Zum Glck steckten
meine Hnde in Handschuhen, so da sie unter Susans Griff
nicht zerquetscht wurden.
Ich wei, da es wichtig fr ihn ist, fgte ich stotternd
hinzu, aber ich wei nicht...
Ich kann es nicht erklren. Es ist nur ein Gefhl. Er tut
etwas, das wichtig fr uns alle ist, selbst wenn wir es nicht
begreifen. Sie schttelte sich frustriert. Mist, wenn ich es
erklren knnte, wrde jeder es verstehen.
Ich umarmte sie. Im Schutzanzug ist das zwar ziemlich
umstndlich, aber im Moment war es fr mich die einzige
Mglichkeit, meinen Gefhlen Ausdruck zu verleihen. Ich
wrde sie vielleicht nie mgen, aber Tom zuliebe wrde ich
sie sogar lieben, selbst wenn es mich umbrachte.
Weil es nun nicht mehr viel zu sagen gab, kamen wir beide
in dieser merkwrdigen Pseudo-Konversation, die ich nicht
einmal mehr rekonstruieren kann (es hatte den Anschein, als
ob wir noch nicht einmal des Sprechens mchtig waren),
berein, da wir ihm viel Glck und den Sieg wnschten.
Dann lsten wir die Halteleinen, schalteten wieder auf
Sprechfunk um und bestiegen die Tram.
Mittlerweile waren die Lufer fast vollzhlig versammelt.
Als ich nach Randy Ausschau hielt, schmte ich mich, weil
ich nicht einmal wute, wie sein Anzug aussah. Die meisten
von uns tragen alle mglichen Farbmarkierungen, vor allem,
wenn wir im Outside Club sind, und auerdem bemalen wir
die Anzge noch nach eigenen Vorstellungen, so da
praktisch der ganze Krper einen >Farbcode< aufweist.
Diese Bemalungen sind so individuell wie ein Gesicht, so
da man die Leute drauen mit derselben Leichtigkeit
identifizieren kann, als ob sie einem am Tisch gegenber-
sen.
Das heit wenn man wei, wie sie aussehen. Und ich hatte
keine Ahnung, wie Randy aussah.
Zum Glck gab es auf den ersten Blick nur vier Leute von
Randys Krpergre. Zwei von ihnen kannte ich, und die
dritte Person glaubte ich im Frauen-Umkleideraum gesehen
zu haben. Der letzte trug eine Auendienst-Kombi in Kin-
dergre, Signalorange ohne sonstige Farben, die nur mit
VWU-Junior-Aufnhern und schwarzen Abzeichen fr
Aueneinstze besetzt war. Ich erinnerte mich vage, da
Randys Vater manchmal im Auendienst beschftigt war
und der Gewerkschaft angehrte. Auerdem wies das Kind
in der organgefarbenen Kombi Randys typische Krper-
haltung auf.
Ich setzte mich neben ihn. Sie haben eine ziemlich
komplexe Route festgelegt, sagte er, siebzehn Stationen,
aber zwei Etappen mehr als normal. Ein richtiger Zickzack-
Kurs. Ein Abschnitt fhrt praktisch senkrecht nach unten.
Umpf, sagte ich. Fr weniger routinierte Lufer htte
das wirklich gefhrlich werden knnen. Wenn ein Lufer
bei einer langen Abwrts-Etappe die nchste Station
verfehlte, bestand die Gefahr, da er abtrieb und das Kabel
nicht rechtzeitig einholen konnte, bevor die Bewegung des
Schiffs ihn in den Abgasstrahl des Haupttriebwerks zog -
das purpurne Glhen, das tief unter uns durch die Ionen
verursacht wurde, die mit annhernder Lichtgeschwindigkeit
aus den Dsen austraten. Aber es handelte sich um eine
Meisterschaft, und man durfte erwarten, da die Teilnehmer
ihre Leistungsfhigkeit richtig einzuschtzen wuten. Dann
ist das ja genau das Richtige fr Tom - er mag nmlich
solche Strze.
Genau, er hat da so einen speziellen Trick, am Kabel zu
reien. Ich hatte mal versucht, ihn zu imitieren, und bin
dabei gegen die Wand geknallt.
Ich kann es auch nicht, gestand ich. Er sagt, es kme
nur aufs Timing an - da knnte man genauso gut sagen,
beim Klavierspielen kme es nur auf die Fingerfertigkeit
an.
Toms Stunt - voller Stolz hatte ich gehrt, wie einige
meiner Klassenkameraden es als >Murray-Sprung< bezeich-
neten - bestand darin, da er sich gerade nach hinten abstie,
das Kabel spannte und dann heftig daran zerrte. Wenn man
das richtig anstellte, schlug man eine ballistische Flugbahn
ein, die einen dicht an die Zielstation heranfhrte. Wenn
man das Kabel dann schnell genug einholte, war es in der
Nhe des Ziels erneut straff gespannt, und man konnte es
schnell aufwickeln. Dieses Verfahren war viel rationeller,
als das Kabel die ganze Zeit auf voller Lnge straff zu
halten, und der Abstieg in Richtung Triebwerk gestaltete
sich unglaublich schnell, fast wie ein prziser Zielanflug.
Die Tram wird Station Neun anfahren, sagte Randy.
Sie befindet sich am unteren Punkt der lngsten Fall-
strecke. Und die nchste Etappe betrgt nur zweihundert
Meter im rechten Winkel, so da wir diesen Hpfer auch
noch mitbekommen.
Es herrschte reger Funkverkehr, und weil wir dadurch
zunehmend Verstndigungsprobleme bekamen, wechselten
wir auf den Privatanschlu.
Schlielich erschienen die Lufer. Zum Aufwrmen
machten sie Lockerungs- und Dehnbungen an der kurzen
Leine, die an den Startringen befestigt war.
Da fiel mir etwas ein, und ich kam mir wieder dumm vor.
Weit du, Randy, so, wie du darber sprichst, mut du die
Renn-Saison whrend der letzten fnfzehn Wochen mitver-
folgt haben, aber ich habe dich nie hier drauen gesehen.
Normalerweise rede ich nicht darber. Auerdem hatte
ich auch niemanden, mit dem ich mich darber unterhalten
konnte.
Oh. Mir fehlten die Worte, so tonlos, wie seine Stimme
gewesen war.
Ich gehe immer nach drauen, wenn die Gelegenheit sich
mir bietet. Mein Dad macht sich zwar ber mich lustig und
bezeichnet mich als junior Space Ranger und Fnf-Sterne-
Kadett, was auch immer das bedeuten soll. Hast du schon
mal an der Mittwochabend-Exkursion teilgenommen?
Nein, noch nie, sagte ich und beschlo im selben
Atemzug, da ich es bald nachholen wrde. Ist das nicht
nur eine Tramfahrt auf dem Hauptkrper?
Genau. In Randys Stimme schwang Enthusiasmus mit,
als ob ihm das schon lange auf der Zunge gelegen htte.
Aber dazu wird das Dach der Tram abgenommen, und weil
immer nur wenige Passagiere mitfahren, kann man sich auf
der Bank ausstrecken und nach oben in den Weltraum
schauen. Es ist - nun, ich kann es nicht beschreiben. Super.
Du mut es selbst erleben.
Jetzt, wo du mir davon erzhlt hast, werde ich es auch,
sagte ich. Es klingt gut, aber man mu sich wohl auch
ziemlich einsam vorkommen.
Das macht einen Teil des Reizes aus.
h ... nun, wie dem auch sei, wenn du am Mittwoch-
abend nicht gar zu sehr mit Hausaufgaben eingedeckt bist,
sollten wir es mal ausprobieren. Ich htte wirklich Lust
dazu. Ich hoffte, Randy wrde nicht bemerken, da ich
dummes Zeug schwtzte.
Da ertnte ein leises Klingeln im Ohrhrer. Das Rennen
beginnt in zwei Minuten. Die Lufer bereitmachen fr die
berprfung der Ausrstung.
Mutter sagte immer, Toms Anzug wrde aussehen, als ob
er ihn einer Vogelscheuche abgenommen htte, wobei ich
den Sinn dieser Kombination indes nie begriffen hatte.
Immerhin wute ich, was sie damit sagen wollte. Die Kombi
war derart mit Stickern berst die zum Teil auf die alten
aufgesetzt waren, da bis auf zwei neuere Abzeichen - >A-
Schicht-Gravo-Club 24< und >Renovierung von Gemein-
schaftsraum Block A 02.04.24< - keine fnf Quadratzen-
timeter dieselbe Farbe aufwiesen. Tom bevorzugte Neon-
Farben und glitzernde Sticker, so da der Anzug im grellen
Schein des Sonnenlichts regelrecht irisierte.
Der Hauptgegner, um den er sich Gedanken machen mu-
te, war der B-Schicht-Champion, Karol Kysmini. Karol war
ein groer, krftiger Junge, der dicke Querstreifen auf sein-
em Anzug trug - auf mich wirkte er immer wie eine massive
Maschine -, aber die B-Schicht hatte beim Auslosen verlo-
ren, so da das Rennen vier Stunden frher anfing, als Karol
eigentlich aufgestanden wre. Zudem war Karol nicht
bermig helle. Tom mutmat immer, da er viel Zeit in
die Perfektionierung der Kopfbremse investiert haben
msse.

Die C-Schicht hatte beim Auslosen gewonnen und trat in


den frhen Abendstunden an, aber ihr Champion, Inga
Blanc, war im Grunde nur die Beste der B-Mannschaft. Sie
war vielleicht etwas strker als Torn und sicherlich
intelligenter als Karol, aber fr einen dritten Platz bei den
Mannschaften der A- und B-Schicht htte es dennoch nicht
gereicht. Ihre Kombi war nur auf der rechten Seite von der
Schulter bis zur Hfte mit Abzeichen besetzt, und der Rest
war silbergrau. Sie war zwar keine erstklassige Sportlerin,
sah aber wirklich adrett aus.
Von den anderen Lufern der B- und C-Schicht kannte ich
niemanden. Die brigen Lufer der A-Schicht waren
Tswana Carmen auf Platz Zwei, ein Mdchen aus Toms
Klasse, der ich eine gute Chance auf den zweiten Platz der
Gesamtwertung einrumte, und Levi Yang, einer von Barrys
lteren Brdern. Ich frage mich, wo Barry steckt, sagte
ich. Mit einem Lufer in der Familie sollte man eigentlich
glauben...
Sie hassen sich, erklrte Randy. Levi ist der >gute
Junge, der Familie Yang. Auer ihm verbringt keines der
Yang-Kinder mehr Zeit im Wohnbereich als unbedingt
notwendig.
Die Lufer an den Start, meldete die Stimme sich wieder
ber Funk. Die Lufer bezogen Position, und dann
wechselten die Positionslampen an den einzelnen Stationen
von Rot auf Grn.
Lufer bitte Bereitschaft melden. Neun Arme gingen in
die Hhe. Fertig. Bei Grn - los. Es wurde grn.
Tom und Tswana stieen sich siebzig Meter vom Schiff ab
und kamen fast auf gleicher Hhe zum Stillstand. Die Kabel
strafften sich; die beiden zogen daran, und dann fielen sie
auf den Horizont des Hauptkrpers zu. Nach nicht einmal
zehn Sekunden beschrieben sie elegante Kurven im Sonnen-
licht, wobei sie sich selbst als dunkle Punkte am Kabelende
abzeichneten. Ich schaltete die Optik auf Vergrerung und
beobachtete Tom. Zgig und stetig wickelte er das lockere
Kabel auf. Hchstens auf den letzten zwanzig Metern wrde
es unter Spannung stehen.
In der Zwischenzeit hatte Karol sich dem Fliegenden
Hollnder erst auf zirka dreiig Meter genhert. Er zerrte
heftig am Kabel, aber es war bereits jetzt klar, da er ber
die Hlfte der Etappe unter Spannung statt ballistisch wrde
bewltigen mssen.
Alle anderen starteten im alten Taucherstil wobei sie
vorwrts statt zurcksprangen und dann unter Spannung zur
Oberflche hinunterstiegen. Stmperhaft, wirklich stm-
perhaft, kommentierte Randy. Levi beherrscht sogar die
Sprungtechnik deines Bruders, wendet sie aber nicht an,
weil sein Vater sagte, da man sich mit den Beinen weiter
abstoen knne als mit den Armen. Viel Hirn hat niemand
in dieser Familie - mu ihnen wohl in den Meniskus
gesickert sein.
Ich lachte. Dann erkannte ich die Parallele. Solche Witze
reien auch Theophilus und die >Richtige Bande<, sagte
ich.
Er machte die >Kugel-in-die-Brust<-Geste und sagte: So
etwas habe ich immer nur gedacht. Ich wette, andere Leute
auch. Nur haben wir es nie laut gesagt, bis Theophilus in
unsere Klasse kam. Vielleicht werden es in ein paar Mo-
naten sogar die kleinen Kinder machen. Die Tram nahm
Fahrt ber die Oberflche des Hauptkrpers auf, wobei sie
so langsam und gleichmig ein paar Zentimeter ber den
eisernen Schienen dahinglitt, da die meisten Passagiere die
Bewegung nur anhand der langsamen Verschiebung der
Sterne registrierten. Jetzt geht es zur mittleren Station,
sagte ich. berhaupt finde ich, da der Zieleinlauf
spannender ist als der Start.
Genau. Gibt mehr zu sehen. h ... wir sind in der
Privatschaltung und werden es noch eine Weile bleiben.
Reicht die Zeit, um mir von deinem Plan zu erzhlen?
Ich seufzte. Ich wnschte, es wre wirklich ein Plan. Ich
dachte nur, wenn es tatschlich eine Art Plan oder ein
Konzept fr die Gesellschaft gibt, die sie uns aufprgen
wollen, dann mu irgendwo eine Kopie davon existieren,
vielleicht in den CPB-Dateien.
Aber die sind doch privat! Diese Reaktion hatte ich
schon befrchtet.
Deshalb konfrontierte ich ihn mit dem Argument, das ich
mir selbst schon zurechtgelegt hatte. Sind sie das wirklich?
Sie betreffen jeden, sie gehen alle an - das kommt mir doch
ziemlich ffentlich vor.
Normalerweise fllt es nicht auf, wenn der Trger eines
Schutzanzugs den Kopf schttelt oder nickt, aber Randy
schttelte den Kopf so heftig, da ich es in diesein Fall doch
sah. Nein, nein, Melpomene. Es ist nun, es ist nicht so -
ach, Scheie. Ich verstehe, was du meinst, aber du kannst
nicht einfach bestimmen, ob die Dateien privat sind oder
nicht. Sie sind privat.
Er stammelte wie ein Schwachsinniger, und ich hate es,
denn es machte mir bewut, wie sehr ich ihn aufgeregt hatte.
Aber wenn ich jetzt einen Rckzieher machte, wrden wir
es nie herausfinden. Und ich war noch immer der Ansicht,
da unsere These vom Vorabend richtig gewesen war -
diese Sache konnte fr die Zukunft des ganzen Schiffs
entscheidend sein. Welche Merkmale weist eine private
Datei denn auf? fragte ich ihn, wodurch ich ihn beschf-
tigen wollte, bis mir weitere Argumente einfielen.
Er lie sich mit der Antwort Zeit. In Ordnung,
Melpomene. Ich wei zwar nicht, weshalb ich dir etwas
erklren soll, was jeder schon mit sechs Jahren wei, aber
gut. Eine Datei ist dann privat, wenn die Person, die sie
angelegt hat es sagt. Nur so kann es berhaupt eine Privat-
sphre geben. Wenn jemand anders darber befinden wollte,
mte er Einblick in die Privatsphre nehmen, und dann
wre sie nicht mehr privat, nicht wahr? Wenn der Verfasser
also sagt, sie sei privat, dann ist sie auch privat. Basta.
Mittlerweile hatte ich mir eine Menge Argumente zurecht-
gelegt. Ich htte ihn fragen knnen, ob ich eine seiner Datei-
en kopieren drfte, sie mit >Privat< beschriften, das Origi-
nal vernichten und dann erklren, er drfe sie nicht benu-
tzen. Ich htte ihm darlegen knnen, da wir auf die
Erwachsenen wtend waren, gerade weil sie uns nichts
sagten. Ich htte mich bei meinem Begehren sogar auf
unsere Freundschaft berufen knnen. Allein, wie er war,
htte das auch funktioniert obwohl ich mir dann wie ein
Assi vorgekommen wre.
Ich erwhnte indessen nichts von alledem. Man kann keine
sachliche Auseinandersetzung mit jemandem fhren, der das
Gefhl hat, besagte Sache sei grundfalsch. Das wei ich von
Papa.
Also lie ich die ganze Angelegenheit auf sich beruhen.
Ich beugte mich zu Randy hinber und sah zu, wie die
Sterne sich um uns drehten. Tut mir leid, Melpomene.
Was tut dir leid?
Ach, da ich mich so aufgeregt und dich belehrt habe,
da ich ein Arsch bin, da ich berhaupt auf der Welt bin.
Diese Dinge eben.
Ich bin aber froh, da es dich gibt. Ich versuchte das
schier Unmgliche - im Raumanzug zu kuscheln. Es mute
funktioniert haben; er schien sich zu entspannen, und wir
betrachteten die Sterne und unterhielten uns ber die letzten
Rennen, whrend die Tram Kurs auf die dunkle Seite des
Schiffs nahm.
Erde und Mond waren noch immer sichtbar und standen
tief unterhalb des Schiffs, als wir in den Schatten einfuhren;
die Erde erschien als Sichel und der Mond als runder Punkt.
Zusammen hatten sie die Gre einer Erbse und die Periode
auf diesem Bildschirm, eine Handbreit auseinander und auf
Armeslnge entfernt.
Dann verschwanden sie hinter dem Horizont. Nach we-
nigen Minuten schickte der Mars sein strahlendes rotes
Licht ber das Schiff; der Planet selbst war aber noch nicht
zu sehen.
Ich sag dir was, meinte Randy. La uns das nchstemal
dorthin gehen.
Pos-def. Es ist ein herrliches Rot. Frage mich nur, ob es
sich in Grn oder Blau verwandelt, wenn wir mit ihm fertig
sind.
Mit dieser Frage hatten wir uns in meiner alten Klasse
befat. Es hngt davon ab, wieviel Wasser zugefhrt wird.
Wenn die groen Seen wie vorgesehen geflutet werden und
die Wrme unter einer Wolkendecke gespeichert wird, wird
er wahrscheinlich wei leuchten wie die Erde. Aber wenn er
mindestens zur Hlfte eine Wste bleibt, wird das Licht sich
nicht verndern.
Ich habe auch ein paar Berechnungen durchgefhrt und
glaube, da wir bald den ersten Kometeneinschlag auf dem
Mars beobachten werden. Das wird vielleicht ein Anblick.
Ich driftete in einen Tagtraum ab, glcklich, dies zusammen
mit Randy zu beobachten... und mit all meinen anderen
Freunden, sogar mit Susan und dann erinnerte ich mich an
Miriam, und mir fiel wieder der ganze rger ein; ich mute
an Papa denken und die Manipulationen, denen sie uns
unterzogen hatten, und binnen zwei Minuten htte ich am
liebsten geweint. Ich wute nicht, ob die Dinge wieder ins
Lot
kommen wrden.
Die Tram erreichte die Station, und wir alle drehten uns
um und suchten den Horizont nach den Lufern ab. Diese
Station befindet sich ziemlich weit unten in der Nhe der
Triebwerke, sagte Randy und ri mich aus meinem
Selbstmitleid. Und der Abschnitt entspricht bald der
ganzen Lnge des Schiffs; er verluft fast vertikal. Dieser
Parcours ist sehr anspruchsvoll, selbst fr eine Schiffs-
Meisterschaft.
Ich vermute, die Verantwortlichen sind der Ansicht da
die Teilnehmer es schaffen. Ich versprte einen Anflug von
Sorge um Tom, aber er war ein besserer Lufer als die
meisten und nicht der Typ, der unntige Risiken einging.
Dennoch hatte das Schiff eine Lnge von ber einem
Kilometer, und auf einer solchen Entfernung konnte viel
passieren.
Die Lufer treffen nun bei Station Acht ein und werden
voraussichtlich in zwei Minuten in Sicht kommen. Beste
Zwischenzeit: Thomas Murray, Champion der A-Schicht.
Zweiter: Karol Kysmini, Champion der B-Schicht. Dritte:
Tswana Carmen, Zweite der A-Schicht. Wie hatte Karol es
geschafft, sich vor sie zu setzen?
Wir stellten die Brennweite auf Unendlich ein und suchten
den Horizont ab.
Das erste Anzeichen, da etwas nicht stimmte, war die
berhhte Geschwindigkeit mit der Tom ber den Horizont
kam. Er scho in die Hhe wie eine Rakete, bei einem
Rendezvous und schien sich geradewegs vom Schiff zu
entfernen.
Lange Sekunden verstrichen, bis Tom endlich seine
maximale Hhe erreicht hatte. Dann tauchten Karol und
Tswana langsam ber dem Horizont auf, mit kreisenden
Armen, als ob sie ihre Leinen aufwickelten. Weitere
Sekunden verstrichen, bis langsamere Lufer, die sich der
alten Technik befleiigten, am Horizont erschienen und
hektisch ihre Leinen aufrollten, um sie straff zu halten.
Ich schaute wieder nach oben, um zu sehen, was Tom
trieb, aber ich sah ihn nirgends. Wo ...
In der Nhe vom Schwanenhals, sagte Randy mit leiser,
aber angespannter Stimme. Er mu wenigstens fnfhundert
Meter abseits vom Schiff stehen. Was macht er blo?
Ich wei nicht. Jetzt, wo Randy ihn geortet hatte, sah ich
Tom auch, als ich den Zoomfaktor vergrerte. Ich sah, da
er die Leine mit beiden Hnden einholte, nicht mit den
weiten, lssigen Schleifen wie sonst, sondem er wickelte sie
mit einer Hand stramm um die Trommel und holte sie mit
der anderen ein. Ich hatte keine Ahnung, weshalb er sie so
ordentlich zusammenwickelte - seine Sprungtechnik war
gerade deshalb so effektiv, weil er die Spannung der Leine
so gering wie mglich hielt und dadurch Kraft sparte. Und
er profitierte nicht einmal vom Einholen - er verkrzte die
Leine zwar, aber sie hing dennoch durch, und er mute die
freie Hand einsetzen, um sie beim Aufwickeln zu straffen.
Die anderen Lufer nherten sich der Station. Tom behielt
die verwunderliche Distanz zum Schiff bei. Jeder beobach-
tete ihn.
Schau dir mal seine Leine an, sagte Randy.
Wir sahen sie im Schein der Flutlichter des Schiffs. Sie
war nicht ganz schlaff, aber auch nicht richtig straff,
sondern hing in einem langen Bogen durch.
Da mu potentielle Energie drinstecken, sagte Randy,
aber genau wei ich es nicht.
Ich sagte ihm, da Tom die Leine aus unerfindlichen
Grnden immer strammzog. Er hat etwas vor, aber er sollte
sich lieber beeilen - Karol und Tswana holen auf. Noch nie
war es mir so schwer gefallen, ein Flip-Flop-Rennen zu
verfolgen. Normalerweise konzentrieren die Lufer sich in
maximal hundert Metern Hhe in einem engen Sektor des
Himmels, wo sie je nach Position des Schiffs von der Sonne
oder den Flutlichtern angestrahlt werden. Tom stand indes
mindestens neunzig Grad abseits von den anderen, und wo
die meisten von ihnen, nicht hher als fnfzig Meter ber
dem Schiff hingen, war er zirka dreihundert Meter hoch,
fllte nur drei Prozent des Himmels aus und reflektierte nur
drei Prozent des Lichts.
Randy schluckte hrbar.
Was?
Die Leine. Schau.
Sie hing noch immer durch - aber nun wies sie in Richtung
der Triebwerke. Tom war auf ein Niveau unterhalb der
Station abgesackt und mute sich wieder hocharbeiten.
Das war keine neuartige Taktik. Mein Bruder hatte versagt
und wrde mit Sicherheit als letzter durchs Ziel gehen. Ich
empfand Mitgefhl fr ihn, sogar fr Susan ...
Whrend mir diese Gedanken durch den Kopf gingen,
zeichnete er sich pltzlich hell am Himmel ab. Ein seltsa-
mes, flackerndes Licht spielte ber seinen Anzug, und Flam-
men tanzten kaleidoskopartig auf dem irisierenden Material.
Was ... ? sagte Randy.
Da begriff ich es. Der Abgasstrahl das Haupttriebwerks.
Die Flammen. Ich hatte es ber Videokameras und auf
Beibootexkursionen gesehen - aber nun spielte das Licht des
flackernden, tanzenden Plasmas ber Toms Krper. Mein
Magen verkrampfte sich, als ob ich ein Stck Eisen
geschluckt htte. Die Leine ist noch zu lang. Er wird in den
Abgasstrahl driften.
Ich hrte, wie Randy der Atem stockte. Tom wurde nun
vom Glhen des flackernden und lodernden Plasmas ange-
strahlt. Kurz bevor er abdriftete, wrde er vielleicht noch
aus dem Schatten des Schiffs heraustreten und sich im grel-
len Sonnenlicht abzeichnen, bevor er in diese tdliche
Strahlungsquelle eintauchte.
Die Leine scheint zu ... , rief Randy.
Ein Ruck ging durch Toms Krper.
Er wurde in die Hhe katapultiert zurck zur Station.
Ruckartig bewegte er sich nach oben. Abrupt verschwand
das Flackern der Glut des Haupttriebwerks von seinem
Krper, als er wieder in den Schatten des Schiffs scho.
Erleichtert stie Randy ein meckerndes Lachen aus.
Meine Gte, dein Bruder hat vielleicht Nerven. Das
Timing fr diesen Abschnitt war perfekt, er hat exakt am
unteren Totpunkt an der Leine gerissen. Genauso wie beim
Start. Und dann hat sie ihn nach oben katapultiert. Wetten
wir, da er ballistisch landet?
Nein. Ich holte tief Luft. Er hat ein paarmal an der
Leine gezerrt - er hat sie wahrscheinlich nur deshalb
erwischt, weil er sie zufllig- im Glhen des Abgasstrahlt,
gesehen hatte.
Schau mal zur Station!
Karol und Tswana befanden sich im Landeanflug, den
Rest der Lufer im Schlepptau. Karol stand etwas hher als
Tswana, und deshalb rumte ich ihr die besseren Chancen
ein ...
Tom scho direkt ins Ziel, fast im Neunzig-GradWinkel
zum Schiff, und ging so tief in die Knie, da ich den Ein-
druck hatte, die Fersen htten Kontakt mit dem Hintern.
Sofort bergab er die Kabeltrommel dem Bodenpersonal,
klinkte sich wieder ein, sprang in die Hhe und straffte die
Reserveleine. Leicht nach oben geneigt scho er auf die
nchste Station zu, die sich nur hundert Meter entfernt
befand.
Bevor Tswana im Ziel eintraf, hatte Tom bereits die halbe
Entfernung zur nchsten Station bewltigt. Tswana schlug
eine schne Rolle, und Karol kam herein, als sie sich gerade
abstie. Bevor die beiden die kurze Etappe zurckgelegt
hatten, war Tom schon am nchsten Ziel angekommen,
wieder gestartet und hinter dem Horizont verschwunden.
Das Gros des Feldes traf gerade in der Station vor uns ein.
So etwas habe ich noch nie gesehen, sagte Randy. Am
Ende ist er noch vor der Tram im Ziel.
Als ob die Wettkampfleitung denselben Gedanken gehabt
htte, setzte die Tram sich wieder in Bewegung. Weil es nun
nicht mehr viel zu sehen gab, fachsimpelten wir den Rest
der Fahrt ber die physikalischen Aspekte von Toms Ak-
tion. Schlielich berzeugte Randy mich von der Richtigkeit
seiner These - Toms Vorteil resultierte aus der zustzlichen
Beschleunigung aufgrund des Falls unter die Zielstation;
mithin war diese Technik nur bei besonders langen Etappen
effektiv.

Als wir die letzte Station erreichten, muten wir nicht


einmal eine Minute warten, bis Tom eintraf. Das Feld hatte
er weit hinter sich gelassen. Er vollfhrte eine saubere
Landung bei der Station, wobei er die Stiefel auf der Wan-
dung des Schiffs arretierte. Seine Zeit wurde genommen -
kein Rekord fr das Neun-Kilometer-Rennen, aber die
Strecke war auch auerordentlich schwierig gewesen.
Dennoch hatte er das Ziel erreicht, bevor die Verfolger auch
nur am Horizont erschienen. Dieser Vorsprung stellte auf
jeden Fall einen Rekord dar.
Er steckte die Karte ins Lesegert, meldete sich ab und
ging zu Susan hinber. Aus der Art wie er mir zuwinkte,
folgerte ich, da er glcklich war.
Schlielich traf das Feld der Lufer ein. Tswana fhrte mit
ganzen vier Sekunden vor Karol. Als die Lufer und Zu-
schauer sich um und auf der Tram versammelten, schalteten
Randy und ich auf die allgemeine Frequenz um.
Alle diskutierten Toms Manver, wobei er von einigen
Leuten gebeten wurde, ihnen ausfhrlich zu erklren, was
Randy und ich bereits erarbeitet hatten. Anscheinend hatten
die echten Fans, die das ganze Rennen ber Video verfolgt
hatten, gesehen, da er das gleiche Kunststck auch auf
einem anderen langen, abwrtsgerichteten Abschnitt voll-
fhrt hatte. Er mute das Grundprinzip mehrmals erklren -
da durch den langen, freien Fall an der Station vorbei viel
Energie gespeichert wurde, die durch einen Ruck an der
elastischen Monomyl-Leine dann wieder freigesetzt wurde.
Wenn er eine der von ihm entwickelten Formeln in die
Praxis umsetzte, war die zustzliche Energie so hoch, da
sie fr den lngeren Rckweg mehr als ausreichend war -
die relevanten Parameter waren offensichtlich die Lnge des
jeweiligen Abschnitts, die Falltiefe sowie die
Geschwindigkeit des Schiffs.
Der Kommentator krchzte in unsere Ohren: Bekannt-
gabe der Plazierungen des heutigen Flip-FlopRennens.
Erster Platz und somit Schiffs-Champion: Tswana Carmen.
Zweiter Platz: Karol Kysimi. Dritter Platz ...
Die Maschine verlas smtliche Plazierungen, bis hinunter
zur letzten Pfeife aus der C-Schicht, und sagte schlielich:
Und hier noch eine Sonderentscheidung der Punktrichter.
Durch einstimmigen Beschlu wird Thomas Murray wegen
des Einsatzes einer gefhrlichen Technik disqualifiziert. Die
Entscheidung der Punktrichter geht in der folgenden
Fassung in die REGELN DES FLIP-FLOP-RENNENs ein:
>Kein Lufer darf an irgendeinem Punkt die Ebene unter-
schreiten, welche durch den Schiffsumfang verluft, der
durch die quidistanz zur tiefstgelegenen Station und zur
hchstgelegenen Austrittsffnung der Triebwerke definiert
wird.< Ausdrucke dieser Regel werden zwecks Kenntnis-
nahme und Kommentierung am Mitteilungsbrett von Out-
door Sports ausgehngt und knnen auch ber das Bordin-
formationsnetz abgerufen werden.
Ich bekam Kopfschmerzen. Alle redeten durcheinander,
und ich war nicht mehr in der Lage, den Kommentator
herauszufiltern. Randy bedeutete mir, umzuschalten, und
wir gingen wieder auf Privatverbindung.
Test.
Erfolgt. Melpomene, das ist wirklich ein Unding. Sie
haben ihm den Sieg gestohlen. Und diese Technik ist auch
nicht gefhrlicher als die reine Prsenz hier drauen.
Ja. Ich war wie betubt. Ich glaube, ich sollte
versuchen, mit ihm zu reden oder wenigstens...
Pltzlich stand Susan vor uns. Sie fuhr ihren Privatan-
schlu aus, und wir verbanden ihn mit meinem Anschlu, so
da sie an der Unterhaltung teilnehmen konnte. Tom geht
gerade in den Umkleideraum. Wenn er wieder heraus-
kommt, werde ich ihn abfangen. Treffen wir uns in der
Pizzeria? Ich glaube, es wrde ihm helfen.
Pos-def, sagte ich, als Randy sich gerade ein Wenn du
meinst ... abqulte.
Ihr beide, betonte Susan, woraufhin ihr Standing sich in
meinen Augen hyperbolisch verbesserte. Wir werden ihn
wahrscheinlich wieder aufrichten mssen. Er wird am
Boden zerstrt sein.
Wir werden da sein, versprach ich. Aber sieh auch zu,
da du ihn erwischst - wenn seine Stimmung wirklich
schlecht ist, vor allem, wenn er etwas verbockt hat
verkriecht er sich nmlich irgendwo.
Wenn man dich so reden hrt, knnte man meinen, er
wre vier Jahre alt. Sie fiel wieder in ihren normalen
weinerlichen Tonfall zurck. Vielleicht hatte ihr gutes
Benehmen sie in Verlegenheit gebracht.
Das ist er zwar nicht, aber er wird trotzdem versuchen,
sich irgendwo zu verkriechen. Wir sollten uns lieber auf die
Socken machen, bevor er dir noch entwischt.
Sie klinkte sich aus und ging wortlos. Vielleicht war sie
verrgert. Wie dem auch sei, ich hoffte, da sie meine
Worte ernst genommen hatte und sich beeilte.
Nun, Randy, ich glaube, du wirst demnchst Zeuge' einer
Familienkrise.
Willst du wirklich, da ich mitkomme?
Pos-def. Ich wunderte mich selbst, mit welchem Nach-
druck ich das gesagt hatte, und dann war mir diese eindeu-
tige Reaktion auf einmal peinlich. Treffen wir uns im
groen Panoramasaal? Er lag ungefhr auf halber Strecke
zwischen unseren Umkleiderumen.
Gut. Treffen wir uns dort. Randy klinkte sich aus, und
das vielstimmige Geplapper auf der allgemeinen Frequenz
brach wieder durch. Er streichelte mich mit dem Arm -
vielleicht eine angedeutete Umarmung und wir betraten das
Schiff.
Es dauert eine Weile, sich des Anzugs zu entledigen, denn
man mu ihn einem Drucktest unterziehen und dann vom
UV-Sterilisator behandeln lassen. Auerdem waren noch
viele Leute vor mir, und noch schlimmer, es waren Erwa-
chsene darunter, die aus irgendeinem schwachsinnigen
Grund den Maschinen nicht trauen und deshalb alles zwei-
und dreimal berprfen und das Personal mit dummen
Fragen nerven, woran man erkennt, da ein Teil erneuert
werden mu. (Das Personal in den Umkleiderumen tole-
riert nicht einmal zehn Prozent der zulssigen Strahlungs-
dosis an einer Komponente.)
Wenigstens befand Susan sich am Kopf der Schlange und
hatte keine Erwachsenen vor sich. Sie winkte mir zu. Nackt
wie wir waren, mit in den Taschen verstauten Anzgen, sah
ich, da sie schon voll entwickelt war, mehr noch als
Miriam, und obwohl es mich fr Tom freute, wurde ich mir
meines knabenhaften Krpers nun in voller Schrfe bewut.
Ich wute, da Susan lter war als ich und da ich auch so
aussehen wrde, wenn ich in ihr Alter kam, aber ich wollte
einfach nicht mehr wie ein Kind aussehen.
Susan ging durch die Kontrolle und winkte erneut. Ich
winkte zurck. Sie war wirklich eine Sttze fr Tom, und er
hatte sie anscheinend sehr gern. Und was mich betraf, so
war fast eine Stunde verstrichen, seit ich sie zum letztenmal
in Gedanken als >Nagetier< bezeichnet hatte.
Unter meinen neidischen Blicken ging sie zum Umkleide-
raum. Vielleicht wrde die Pubertt schlagartig einsetzen,
und wenn ich morgens dann aufwachte, wrde ich genauso
aussehen.
Als ich den Panoramasaal betrat, war Randy noch nicht da,
und bis auf ein Prchen, das vor einem der kleinen
Bildschirme sa, war der Raum leer. Sie waren nicht mit
einer Auenkamera oder einem Teleskop verbunden -
vielmehr betrachteten sie den Weltraum aus der Perspektive
einer Sonde, die in geringer Hhe im polaren Mars-Orbit
stand.
In letzter Zeit hatte ich viele Erwachsene bei dieser
Beschftigung beobachtet. Vielleicht handelte es sich um
ein ansteckendes Mars-Virus. Normalerweise betrachteten
nur alte Menschen wie Papa oder Dr. Lovell fter den
Weltraum. Mir gengen ein paar Blicke pro Woche, und ich
mchte wetten, da ich schon fter hinausschaue als die
meisten Leute.
Schlielich erschien Randy, und wir hangelten uns am
Netz zum Pilz empor.
Die Pizzeria ist fast immer sehr gut besucht, und an den
Wochenenden ist es noch voller, so da es schwer ist, dort
ein bekanntes Gesicht auszumachen. Wir drehten eine Run-
de durch den Raum, bis Susan uns ersphte und bei all den
Leuten, die lautstark ihre Freunde begrten, unsere Auf-
merksamkeit auf sich zog.
Als wir uns gesetzt hatten, stellte ich Randy >offiziell<
vor, denn Tom kannte ihn bisher nur vom Hrensagen, und
Susan hatte ihn nur im Raumanzug gesehen. Zu meinem
Erstaunen blinzelte Tom mir zu und machte heimlich das
>Daumen-nach-oben<-Zeichen.
Nur fr die Akten, sagte ich, sie haben dir wirklich den
Sieg gestohlen.
So, wie Susan mich ansah, mute ich etwas Dummes
gesagt haben, aber Tom meinte nur: Ja, aber sie hatten
nicht ganz unrecht. Er zuckte die Achseln. Es war ein
gefhrlicher Trick. Aber ich bin froh, da ich die Technik
entwickelt habe, denn manchmal mu man drauen schnell
sein, trotz des Risikos.
Randy nickte. Mein Vater startet schon seit Monaten
nach deiner Methode. Ich bin sicher, da dieser Trick ihm
auch gefallen wird.
Da fllt mir ein, Randy, da ich nicht einmal wei,
welchen Beruf dein Vater berhaupt hat, sagte ich. Auf
einmal war es mir peinlich, ihn nicht schon frher danach
gefragt zu haben.
Vakuum-Extrusion. Er arbeitet meistens drauen.
Sag ihm, er soll aufpassen, wenn er mit dem neuen Trick
arbeitet, sagte Tom. Als meine Filmtasche kontrolliert
wurde, sah ich, da sie ziemlich geschwrzt war anschei-
nend ist die Streustrahlung doch strker, als ich gedacht
hatte. Und wenn man vorher nicht genug trainiert hat, ist es
durchaus mglich, da man abdriftet und gegrillt wird. Da
ist es vielleicht nur gut, da sie nicht jeden rauslassen. Er
stand auf. Ich mu noch mal weg, bis die Pizza kommt.
Hoffe, es strt euch nicht, wenn sie ...
... mit Baby-Tilapia und Kaninchenwurst belegt ist,
ergnzte ich. Das ist dein Standardbelag, seit du die Namen
der Zutaten berhaupt aussprechen kannst.
Er grinste mich an. Ja, aber ich bin bekehrt worden.
Susan hat nmlich eine Kaninchen-Allergie. Ich habe Wach-
telfilet und Pilze genommen. Er kte sie auf die Stirn und
war verschwunden.
Sie lchelte. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.
Kein Problem, sagte ich. Wachtel schmeckt wie alte
Socken, nur da sie nicht so riecht.
Ich esse fast alles, verkndete Randy. Mittlerweile wei
ich jedoch, da das >fast< gelogen war. Mssen wir
Bezugsscheine einwerfen?
Tom hat uns alle eingeladen, sagte sie. Ich ... nun, du
kennst ihn ja, Melpomene. Er ist schon ein verrckter Kerl.
Ich erwischte ihn, als er gerade verduften wollte, genau wie
du gesagt hattest. Er sagte, das Museum wre nur heute fr
die Allgemeinheit geffnet, und er wollte hingehen.
Ich mute lachen. Im Museum ist eine Menge Schrott von
der Erde ausgestellt, Bilder und Bekleidung und so weiter.
Niemand in unserem Alter geht dorthin, es sei denn, wir
machen mit der Klasse eine Exkursion.
Susan hielt das anscheinend gar nicht fr lustig. Ich
glaubte schon, sie wrde mir mit ihrer weinerlichen Stimme
Vorhaltungen machen.
Entschuldige. Ich bemhte mich, ein Kichern zu unter-
drcken. Ich mute nur deshalb lachen, weil ich schon als
kleines Kind seine Verstecke aufgespht hatte, und das
Museum ist der ungewhnlichste Ort, den er sich jemals
ausgesucht hat.
Sie schaute nachdenklich und nickte. Nun, dann ist es
schon das zweitemal, da er sich merkwrdig verhalten hat.
Als ich ihn hierher zurckholte, war er wirklich schlecht
gelaunt, doch dann mu ihm irgendein Gedanke gekommen
sein, und er benahm sich richtig seltsam. Vllig berdreht;
ich konnte mir das gar nicht erklren.
Ich kenne ihn zwar nicht, sagte Randy, aber ich habe
schon gehrt, da Leute, wenn sie sehr verletzt wurden, auf
eine Art reagieren, die man in einem solchen Fall berhaupt
nicht erwarten wrde.
Ja, erwiderte ich schleppend, das trifft auf Tom zu.
Fr eine lange Zeit sagte niemand etwas. Ich verstehe es
immer noch nicht, meinte Randy schlielich. Beim Flip-
Flop-Rennen gibt es ein halbes Dutzend legaler Manver,
bei denen ebenfalls die Gefahr besteht, da man in den
Abgasstrahl gert. Weshalb haben sie sich gerade dieses
ausgesucht, wo es doch so effektiv ist und den besten und
wagemutigsten Athleten einen groen Vorteil verschafft?
Die Regel selbst ergibt keinen Sinn. Und die Begrndung ist
Unsinn. Es besteht nmlich kein logischer Bezug zu den
brigen Regeln. Weshalb haben sie gegen ihn entschieden?
Ich wollte, da Susan wieder auf Toms Verhalten zu
sprechen kam. Ich glaube nicht, da es persnliche Grnde
waren.
Randy nickte, aber ich sah, da er mit den Gedanken
woanders war. Er dachte angestrengt nach, aber ich wute
nicht, worber.
Hat Tom denn gesagt, weshalb es ihm wieder besser
geht? fragte ich. Wenn seine Stimmung gut ist, trgt er das
Herz nmlich auf der Zunge.
Nein, und das ist ebenfalls untypisch fr ihn. Ich mute
ihn sogar fragen, woran er gerade dachte; das war auch
ungewhnlich, denn sonst platzt er gleich mit allem
heraus...
Ich befrchtete, sie wrde gleich schmollen. Was hat er
denn gesagt?
>Entweder war er verrckt, oder alles war in bester
Ordnung.< Genau das hat er gesagt. Und da er daran
arbeiten msse. Und dann sprach er pltzlich von dem Ding,
das er mir zeigen wollte und ber das ich dich ausgefragt
habe - ich glaube, er will es mir noch immer zeigen. Er sag-
te, es wrde mir sicher gefallen und er htte keine Bedenken
und vielleicht wrden wir es schon heute nachmittag ma-
chen. Mehr hat er nicht gesagt, denn seitdem macht er einen
glcklichen und verrckten und geistesabwesenden Ein-
druck. Sie verstummte und nahm einen Schluck Wasser.
Wre es mglich, da er vor Enttuschung den Verstand
verloren hat? Erneut bi sie sich auf die Lippe. Nun sah sie
wirklich aus wie ein Karnickel.
Ich zitierte Papa. >Nur weil Menschen verrckt werden,
bedeutet das nicht, da es oft geschieht.< Vielleicht arbeitet
er auch nur an einem neuen Alien-Artefakt?
Susan war baff. Du nennst sie auch so?
Ja, wieso?
Es verletzt seine Gefhle, wenn eure Mutter die Sachen
so nennt. Das hat er mir schon oft gesagt. Ich fhlte mich
wie eine Kakerlake. Es tut mir leid! sagte Susan. Nein.
Ist schon recht. Ich bin froh, da ich jetzt Bescheid wei.
Dann wechselte jemand das Thema; ich wei nicht genau,
wer es war und was nun besprochen wurde aber nach einer
Weile berwand ich meine Schuldgefhle und beteiligte
mich an der Unterhaltung. Wir sprachen ber Banalitten
wie Schule und Familie.
Weil Susan vier Brder und fnf Schwestern hatte, war sie
natrlich besonders kompetent in Sachen Familie. Wie
schon so oft sagte ich mir, da unsere Familie auf dem Flie-
genden Hollnder aus dem Rahmen fiel, weil wir nur zwei
Kinder waren. Und wo ich nun daran dachte, wurde mir
bewut, da Randy noch nie etwas von Geschwistern gesagt
hatte. Hatte er nicht gesagt, er wte gern, wie es wre, eine
Mutter zu haben?
Als mir gerade der Faden entglitt, kam Tom zurck; er war
noch besser gelaunt als vorher. Dann kam die Pizza, und wir
aen schweigend.
Nur da das Schweigen von den seltsamen >Hmms<,
,Aahs< und >ja!s< unterbrochen wurde, die Tom von sich
gab.
Am Schlu fhrten die beiden Jungs ein solches Theater
auf, sich gegenseitig das letzte Stck zukommen zu lassen,
da Susan rasch zugriff und es vertilgte. In diesem Augen-
blick liebte ich sie wirklich.
Dann unterhielten wir uns fr eine Weile ber die neuesten
Filme von der Erde, wobei wir Tom grndlich musterten.
Wie aus heiterem Himmel, als ob er schlielich aufgegeben
und sich entschieden htte, uns zu berraschen, sagte er:
Ihr solltet euch wirklich mal den Abgasstrahl des Haupt-
triebwerks anschauen.
Er blickte in die Runde; niemand sagte etwas. Das war
wohl nichts."
Pos-def, besttigte ich.
Du meinst das Glhen..., sagte Susan.
Genau, aber nicht auf Video oder im Beiboot aus einem
Kilometer Entfernung. Sondern wie ich es gemacht habe.
Das Glhen ist - nun, es ist schwer zu beschreiben. Deshalb
solltet ihr es euch selbst mal ansehen. Er hrte sich an, als
ob er versuchte, einem Kleinkind einen offenkundigen
Sachverhalt zu erlutern.
Das war das Ende der Unterhaltung. Tom schleppte Susan
fort, um ihr das Kunstwerk zu prsentieren. Er schien nicht
ganz bei Sinnen zu sein, machte aber einen glcklichen
Eindruck.
In einem solchen Zustand habe ich ihn noch nie erlebt,
sagte ich, nachdem er gegangen war.
Wenn ich ihn nicht kennen wrde, sagte Randy, wrde
ich ihn entweder fr einen Heiligen oder einen Verrckten
halten. Will sagen, er ist doch zu intelligent, um nicht zu
erkennen, da man ihn manipuliert hat.
Manipuliert?
Pos-def. Aus irgendeinem Grund wird er manipuliert.
Randy wich meinem Blick aus. Er schien sich unbehaglich
zu fhlen, und ich fragte mich, ob unser gemeinsamer Tag
vorzeitig beendet wrde. Httest du etwas dagegen, wenn
ich mir noch eine kleine Pizza bestelle? Die erste war nicht
besonders.
Ich habe auch noch Hunger, sagte ich. Was hltst du
davon, wenn wir uns eine mittlere teilen? Egal welche, nur
keine mit Wachteln und Pilzen. Wir verstndigten uns auf
Kaninchenwurst mit Extra-Kse; sie kam schnell, so da das
verlegene Schweigen nach der Bestellung nicht lange
dauerte, und dann konzentrierten wir uns auf das Essen.
Mutter pflegte immer zu sagen, das Groartige an einer
jungen Liebe sei, da man immer noch zusammen essen
knne, wenn einem der Gesprchsstoff ausgeht. Vielleicht
war dies das erste Anzeichen der Liebe ... oder vielleicht
war es auch nur Kommunikationsunfhigkeit.
Nach einer Weile beschlo ich, es Papa gleichzutun und
ohne Umschweife zur Sache zu kommen. Randy, ich halte
dich fr einen der intelligentesten Menschen, die ich je
kennengelernt habe, und ich mag dich und vertraue dir.
Auch wenn es dir offensichtlich unangenehm ist, mchte ich
dich doch bitten, mir zu sagen, was man deiner Ansicht nach
mit Tom gemacht hat.
Er bi ein groes Stck von der Pizza ab und kaute es
gemchlich. Nachdem er mehrmals geschluckt hatte, war er
anscheinend gewillt, sich zu uern; aber dann bi er wieder
ein groes Stck ab, kaute und schluckte ... trank einen
Schluck Wasser... und schlielich seufzte er.
Ich finde nicht die richtige Bezeichnung dafr. Aber
wenn sie uns schon in solchem Umfang manipulieren
weshalb richten sie es dann so ein, da er ein solches Pech
hat? Wieder ein Schluck Wasser. Am liebsten htte ich
ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herumgetrom-
melt, aber ich lie es bleiben.
Ich sah, wie er sich zwang, mir in die Augen zu schauen,
und versuchte, den Blick zu erwidern.
Weit du, wie ich mich gefhlt habe, als Dr. James mir
von der Soziomechanik erzhlte, die sie bei uns anwenden?
Ich war fast verrckt vor Angst. Er sagte es fast emotions-
los, als ob er es in einen Rechner tippte. Wenn diese
Gefhle wiederkehren, verspre ich meistens den Drang,
jemanden zu schlagen. Als ob sie damit aufhren mten,
wenn ich nur die richtigen Leute erwische und sie verletze.
Womit aufhren?
Mit dem, wofr mir die Worte fehlen. Das, was sie tun.
Ich kann's nur fhlen, aber nicht beschreiben. Wer auch
immer >sie< sind. Er seufzte wieder. Allmhlich ging mir
dieses Gerusch auf die Nerven. Das ist es wohl, was die
Welt braucht; man mu die Verantwortlichen zur Rechen-
schaft ziehen. Ich wei nicht.
Nun zu deinem Bruder. Punkt Eins - hast du schon einmal
erlebt, da jemand aufgrund einer rckwirkend aufgestellten
Regel disqualifiziert wurde? Ich wei, da sie das knnen,
aber hast du es jemals schon erlebt? Sie berwachen das
Training aller Teilnehmer, also besteht dafr keine Veran-
lassung. Falls jemand etwas tut, das ihnen mifllt, wird er
vorher verwarnt. Und es wird auch nicht das erste Mal
gewesen sein, da Tom diesen, Trick angewandt hat. Also
wuten sie, da er diesen Bungee-Sprung durchfhren wr-
de. Und sie haben ihn nicht gewarnt. Vor einer Technik, die
sie fr zu gefhrlich halten?
Auch wenn sie noch so sehr versuchen, sich zu recht-
fertigen, wird ihnen das nicht gelingen. Erneut bi er
herzhaft in die Pizza, als ob er sie regelrecht vernichten
wollte.
Verschluck dich nicht, sagte ich. Ich warte, bis du
fertig bist.
Er schluckte. 'tschuldigung. Also gut. Die Entscheidung
der Punktrichter ergibt also keinen Sinn, und der ganze
Vorgang lt nur den einen Schlu zu, da sie Tom auf dem
Kieker haben. Und wenn du mir dann noch sagst, da er mit
den CSL-Problemen nicht zurechtkommt, die sie ihm vorle-
gen - und wie sich herausgestellt hat, stellen sie ihm unls-
bare Aufgaben. Und das ganze unmittelbar vor der Erwa-
chsenen-Abschluprfung.
Er hat die Probleme aber gelst.
Ich wette, sie hatten keine Ahnung, da er es schaffen
wrde. Ich glaube, sie wollten ihn endgltig abservieren,
indem sie ihm eine Aufgabe stellten, die er unmglich
bewltigen konnte. Ich hatte Randy schon oft zornig gese-
hen, aber immer nur in Verbindung mit einer Prgelei. Nun
sa er da und sprach mit mir, ohne da er die Stimme hob
oder einen Muskel anspannte, aber wtender, als ich ihn
bisher erlebt hatte. Vor vielleicht fnfzehn Wochen war
Tom noch ein echter Anfhrer in seiner Klasse und hatte ein
verdammt hohes Standing, habe ich recht?
Pos-def. Bis auf CSL war er berall Spitze.
Ich frage mich nur, wie sie ihn in CSL unten gehalten
haben ...
Das war schlicht paranoid. Vielleicht fehlt ihm einfach
die Begabung.
Er schnaubte und schttelte den Kopf. Ich hate es, wie
sein Lcheln sich verzerrte.
Es wre aber doch mglich, beharrte ich auf meinem
Standpunkt.
Wie denn? CSL berschneidet sich zu mindestens
neunzig Prozent mit Mathe und Linguistik, und du hast mir
doch selbst gesagt, da er in diesen Fchern gut sei. Und
wie allgemein bekannt ist, weisen die Leistungen in CSL
eine signifikante Korrelation zu den Leistungen in Musik,
Kunst und Naturwissenschaften auf. Weit du noch, wie es
im CSL-Text des vierten Schuljahrs hie -
>in gewisser Weise ist CSL ein Synonym fr Intelligenz<?
Wie ist es also mglich, da er in den Fchern, die
Schnittmengen mit CSL aufweisen, so gut ist, und in CSL
selbst so schlecht? Er stopfte sich noch ein Stck Pizza in
den Mund und splte mit Wasser nach.
Deine Egewohnheiten sind wirklich ungesund.
Genau. Er trank wieder, diesmal jedoch langsamer.
Irgend etwas ist immer ungesund. Was deine Idee betrifft,
einen Blick auf diese Dateien zu werfen... hast du so etwas
schon einmal versucht?
Eigentlich nicht. Ich hatte nicht den Eindruck, da es ein
Problem wre.
Es ist viel schwieriger, als es aussieht. Das kannst du mir
glauben. Es wrde mir leid tun, wenn du Probleme
bekommst, nur weil du die einschlgigen Tricks nicht
kennst.
Ich nickte. Danke.
Wenn wir mit dem Essen fertig sind, gehen wir in meinen
Wohnbereich. Dort sind wir ungestrt.
Auf dem Weg dorthin redeten wir nicht viel, aber aus
irgendeinem Grund versprte ich eine groe Verbundenheit
mit ihm, und ich fhlte mich auch besser und sicherer als im
bisherigen Verlauf der Woche. Und das war wirklich
seltsam. Wo ich mich eigentlich doch vor dem Zorn htte
frchten mssen, von dem er erfllt war.
KAPITEL ACHT
..............................................................

Randys Wohneinheit war wirklich klein, und weil es


Samstag war und der grte Teil der Belegschaft von Block
B noch schlief oder gerade aufstand, muten wir uns auch
ruhig verhalten. Also unterhielten wir uns im Flsterton. Ich
kam mir vor wie eine Geheimtagentin in einem dieser
blden 2-D-Filme, die wir von der Erde bekamen.
Er schleuderte die Computer-Tasche in den dafr vorgese-
henen Behlter und sagte: Wir nehmen den Hausanschlu,
weil dort die ID-Kennung leichter neutralisiert werden
kann.
Sein Raum wirkte nchtern, und die Einrichtung bestand
nur aus Standardgegenstnden - es war nichts vorhanden,
wofr er einen Extra-Bezugsschein htte investieren ms-
sen. Das Zimmer war zwar schn ordentlich, aber nichts
deutete darauf hin, da Randy hier lebte.
Wir gingen wieder in den Gemeinschaftsbereich. Wo ist
denn der Rest deiner Familie?, platzte ich heraus und
bereute die Frage schon, kaum, da ich sie gestellt hatte.
Es schien ihm aber nichts auszumachen. Dad ist wahr-
scheinlich im Earth Sports Club und schaut sich Fuball,
Baseball oder sonst etwas an. Damit ist er den ganzen Tag
beschftigt. Und wir sind eh nur zu zweit. Wir setzten uns
an den Haus-Anschlu, und nach ungefhr zehn Minuten
erkannte ich, da ich trotz meiner besseren theoretischen
Kenntnisse in CSL viel weniger ber die Schiffssysteme
wute als Randy, denn bisher hatte ich mich noch kaum
unbefugt an den Systemen zu schaffen gemacht.
Auch auf die Gefahr hin, da ich mich mit dieser Frage
lcherlich mache, aber weshalb tun wir das? erkundigte ich
mich nach einer Weile.
Randy berhrte sachte meine Schulter. Ich freue mich,
Ihnen auf dieser Tour als Fhrer zu dienen, Kemo Sabe.
Wer?
Altes 2-D. Der einsame Reiter. Ich zeige es dir
irgendwann mal. Seine Finger huschten ber die Tastatur,
wobei sie nur innehielten, um die Maus zu bedienen. Woll-
te nur sagen, du wrdest jetzt verdammt tief in der Scheie
sitzen, wenn du es auf eigene Faust versucht httest. Er
lehnte sich zurck und zeigte auf den Bildschirm. Nun
luft ein Programm ab, das eine Kette virtueller Anschlsse
erzeugt. Es sind einige hundert Anschlsse, die sich alle
gegenseitig kontrollieren.
Und wozu soll das gut sein?
Nun, deinen eigenen Anschlu kannst du nicht benutzen,
weil man deine ID-Kennung identifizieren und dir jeden
Dialog nachweisen wrde, richtig? Jetzt, wo er es gesagt
hatte, begriff ich es auch. Ich wre sofort erwischt worden.
Ich lehnte mich etwas nher zu ihm hinber. Gut, aber
weshalb gleich so viele?
Das Systemregister fr diese Terminalklasse hat nur eine
Erkennungstiefe von fnfzehn Ebenen, aber man kann bis
zu 511 Ebenen miteinander verketten. Bei mehreren hundert
Ebenen ist es nicht mehr mglich, uns zu identifizieren, und
wir knnen uns nach Belieben umschauen.
Weshalb dann keine Kette von sechzehn Terminals? Die
Sache wurde interessant; vielleicht war Randys CSL-
Kompetenz genauso hoch wie meine, nur anders gelagert.
Nun, wir mssen in der Kette quasi die Brcken hinter
uns abbrechen, wenn wir nicht erwischt werden wollen.
Also gehen wir auf eine Tiefe von 250 und stellen den
Unterbrecher so ein, da er ab Ebene 18 aktiv wird. Er hieb
wieder in die Tasten; er mute wohl jede Woche eine
Tastatur verschleien.
Ich htte gar zu gern nachgefragt, was ein Unterbrecher
war, aber ich hatte das Gefhl, mich schon genug blamiert
zu haben. Auerdem folgerte ich durch die bloe Beobach-
tung von Randys Aktivitten, da ein Unterbrecher die
Vorgnge in einer Kette berwachte. Das Register zeigte
nur die letzten vierzehn Terminals in der Kette, so da man
nicht in einem direkten Sprung identifiziert werden konnte,
aber der Sicherheitsdienst konnte einen Eindringling den-
noch in Sechzehner-Sprngen identifizieren. Wenn sie mit
der Untersuchung begannen, wrde der Unterbrecher alle
virtuellen Terminals zerstren und somit die Spur zum
Ausgangsterminal verwischen.
Das war verdammt clever und raffiniert. Das ist brillant,
sagte ich. Wo hast du das denn alles gelernt?
Von den Technikern. Dies ist eine Schutzmanahme
gegen das Management, und so haben sie beim Vertrags-
abschlu auch die richtigen Zahlen. Und die B-Schicht hat
die meisten Techniker. Jedes Wissen, das einen gewissen
Nutzwert hat, dringt nach einiger Zeit nach drauen. Er
machte einen Ausdruck des Registers, studierte es und
nickte. Das ist schon mal ein guter Anfang. Aber wenn wir
in die CPB-Dateien eindringen wollen, sollten wir besser
noch andere Sachen laden, sagen wir, einen >Pfefferstreuer<
und eine falsche Kontinuation.
Ich berwand meinen Stolz, schluckte und gestand:
Damit kann ich nichts anfangen.
Die Kis, die Ketten virtueller Terminals verfolgen,
werden >Bluthunde< genannt. Ein >Pfefferstreuer< infiziert
den >Bluthund< mit Viren, aktiviert seine Error-Bits und
meldet ihn als beschdigten Code ans System, woraufhin er
von den Immun-KIs angegriffen wird. Der >Bluthund<
braucht bis zu acht Millisekunden, um diesen Angriff
abzuwehren, und in dieser Zeit hat der Unterbrecher uns
schon rausgeholt.
Ich sah ihm bei der Implementation zu. Wre es nicht
besser, du wrdest den Algorithmus noch optimieren?
An welcher Stelle denn?
Diese Induktionsmaschine sollte im Vergleichsraum eine
diskrete geometrische Reihe benutzen anstelle einer
stetigen. Zumindest kam ich mir nicht vllig berflssig
vor. Und dann kannst du auch gleich den Vergleich von
numerisch zu einer ODER-Verknpfung ndern; dadurch ist
die Matrix nur noch ein Zehntel so gro.
Richtig - sehr gut. Fr ein paar Minuten arbeiteten wir
gemeinsam an dem Problem. Als wir schlielich eine
endgltige Version erstellt hatten, installierte Randy den
>Pfefferstreuer< auf einem Dutzend virtueller Terminals.
Was hltst du davon, wenn ich es noch abschicke?
Abschicken? Wohin?
An das Inoffizielle Organ. Der Trick ist gut, und andere
Leute interessieren sich bestimmt auch dafr.
Sicher. Ich wute zwar nicht genau, was ich da zuge-
stimmt hatte, aber offensichtlich war ihm an meiner Einwil-
ligung gelegen. Ich hatte wohl schon ein paarmal vom Inof-
fiziellen Organ gehrt, aber nur im satirischen Kontext. Ich
hatte keine Ahnung, was das war.
Er tippte etwas ein, und einige unbekannte Icons erschie-
nen. Er klickte zwei davon an, woraufhin eine Kopie abge-
schickt wurde.
Auch beim nchsten Schritt war ich ihm behilflich: zu
verhindern, da eine neu kopierte genetische KI sich an
unsere Fersen hefteten. Das ist kompliziert - man mu nm-
lich einige tief verankerte Prohibitionen neutralisieren; denn
wenn eine KI schon intelligent genug ist, den Suchvorgang
durchzufahren, ist sie auch intelligent genug, Verdacht zu
schpfen und den Sicherheitsdienst zu alarmieren.
Als die eigentliche Barriere gilt gemeinhin das Pawort,
aber den schwierigen Teil hatten wir bereits geschafft. Der
Pawort-Schutz ist hier oben nicht sehr effektiv, weil die
Biographien der gesamten Besatzung allgemein zugnglich
sein mssen. Deshalb findet man die Mdchennamen
verheirateter Frauen, die Namen von Verwandten, persn-
liche Prferenzen und auch sonst alles, was eigentlich in den
Dossiers des Sicherheitsdienstes stehen wrde.
So wute ich zum Beispiel von frheren Schnffeleien,
da Papa whrend seiner >High School<-Zeit auf der Erde
von seinen Freunden manchmal der >scharfe Corny<
genannt wurde, und da er bei seiner ersten Verabredung
mit Mutter von Sergeant Joseph Clifford verhaftet wurde,
weil er mit Tempo Hundert durch eine Tempo-Sechzig-
Zone fuhr. (Anhand dieser Geschwindigkeitsangaben
schliee ich, da es auf der Erde viel zu hektisch zugeht.)
Also knnte man eine weitere manipulierte KI einsetzen,
um relevante Biographien zu durchsuchen und zu sehen,
was sie ans Tageslicht bringt. Auerdem waren nur die
allerwenigsten Dateien pawortgeschtzt. Die meisten Leute
hielten den Vermerk >privat< fr ausreichend, selbst bei
einer Datei, in der sie ein hherrangiges Pawort gespei-
chert hatten.
Fast sofort waren wir in den Dateien der klerikalen Mitar-
beiter des CPB, und mit einiger Gewiheit hatten manche
von ihnen hier Pawrter fr vertraulichere Dateien abge-
speichert.
Als wir die CPB-Dateien mit einer hheren Geheimhal-
tungsstufe anzapften, sagte Randy: Gut, und nun eine
falsche Kontinuation. Ich habe da eine wirklich gute Idee...
Die Idee war Wirklich gut - und mit ein wenig Hilfe von
mir gestaltete der Vorgang sich sogar elegant. Der CPB hat
Zugang zum ganzen System. Deshalb lie Randy die Kette
der virtuellen Terminals vom CPB in den Sicherheitsdienst
ausgreifen, wobei er den berrangstatus des CPB nutzte, um
die Sperren des Sicherheitsdienstes zu berwinden, und griff
auf die Bildschirme am Ende der Kette zu. Mit anderen
Worten, er drang in die Polizeistation ein.
Dieser Vorgang bescherte uns eine Menge Arbeit. Zu-
nchst zogen wir Kopien von zirka zwanzig Dateien, die
unserer Ansicht nach Wissenswertes enthielten und luden
die Kopien in die Zwischenablage meines Computers, auf
die der Zentralrechner keinen Zugriff hatte. Dann gingen
wir systematischer vor und ffneten jede Datei, bei der
mindestens neun Schlsselwrter mit denen auf unserer
Liste bereinstimmten. Schlielich, nur so zum Spa, ff-
neten wir unsere eigenen Dateien sowie die von Tom, Theo-
philus, Miriam, Gwenny Mori und Barry Yang. Wo wir
schon hier sind, ffnen wir doch auch noch die von Susan
dem Nagetier, regte ich an.
Von wem? fragte Randy lachend.
Susan Rodenski. Wir haben mit ihr und Tom zu Mittag
gegessen.
Ein Nagetier kommt auf die Speisekarte. Die Datei
wurde in die Zwischenablage kopiert.
Die Tr zum Wohnbereich ffnete sich.
Mein Herz schlug bis zum Hals. Wir befanden uns in einer
Scheisituation - bis wir uns aus dem System ausgeloggt
hatten, wrde es noch fast eine Minute dauern.
Randy drckte meine Hand mit der Rechten und bewegte
mit der Linken die Maus. Ein Icon erschien - ein Einbrecher
im alten Comic-Stil mit einer schwarzen Maske und einem
Sack ber der Schulter. Randy klickte ihn an.
Nun erschien ein japanischer bungstext, darunter ein
Notizblock.
Auf japanisch gab Randy >alles klar< ein, lschte den
Bildschirm und rief die nchste Seite auf. Dann schob er mir
die Tastatur zu.
Hallo, Dad, sagte er mit einer Gelassenheit, als ob wir
tatschlich Hausaufgaben gemacht htten.
Mr. Schwartz war riesig - fast zwei Meter gro, und oben-
drein schwer. Ich hatte den Eindruck, da zwei Ausgaben
von mir bequem auf seinen Schultern htten sitzen knnen.
Er trug eine signalorange Standard-Kombi, wie sie die
meisten Techniker bevorzugten.
Sie war mit ein paar interessanten Aufnhern verziert,
meistens von Konstruktionsprojekten, die vom Quito-Geo-
synch-Kabel von 2009 bis zum Auenbord-Konstruk-
tionsabzeichen des Fliegenden Hollnders reichten; dann
gab es da noch Sticker von der Gewerkschaft der Weltraum-
Arbeiter und ein paar schwarze Gewerkschaftsbro-Ab-
zeichen. Vorne links, direkt unterhalb des Saums, befand
sich ein schwarzes XV mit zwei Balken darunter - siebzehn
Jahre Dienst im All.
Ich fragte mich, ob es ihn rgerte, da Randy und ich
schon zwlf Jahre Weltraumerfahrung hatten.
Hallo, du hast Besuch, wie ich sehe.
Dad, das ist Melpomene Murray. Melpomene, das ist
mein Vater. Sie ist eine Schulfreundin und rettet gerade mit
einer Hand meine Note in japanisch.
Tapfere junge Dame.
Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, sagte ich.
Und so schlecht ist Randy eigentlich gar nicht.
Mr. Schwartz nickte lchelnd und sagte zu Randy: Stell
dir vor, sie zeigen vier Stunden Radrennen. Kann es nicht
ausstehen, einem Rudel Typen in engen kurzen Hosen
zuzusehen, wie sie gegenseitig ihren Hintern nachjagen, also
dachte ich, gehe ich mich waschen und umziehen. Er
nickte mir wieder zu. Schn, da du hier bist.
Er ging in sein Zimmer, holte eine kleine Tasche und einen
Satz Kleidung heraus, warf sie sich ber die Schulter und
sprang in einer flieenden Bewegung zur Tr hinaus, wobei
sie automatisch arretiert wurde.
Ich hoffe, ich habe deinen Vater jetzt nicht aus seiner
eigenen Wohnung vertrieben.
Nein, er geht sowieso immer ins ffentliche Bad. Er ist
gern in Gesellschaft - das gilt fr die meisten Techniker.
Ich wute zwar, da es diese Bder gab, aber Mutter hatte
mir den Eindruck vermittelt, da sie irgendwie unanstndig
wren. Gehst du auch dorthin?
Manchmal. Es gehen nicht viele Leute in unserem Alter
hin. Ab und zu ist deine Freundin Miriam mit ihrer Familie
dort.
Also hatte er Miriam Schon nackt gesehen, mich aber
nicht.
Noch nicht.
Um das Gefhl der Eifersucht zu verdrngen, sagte ich:
Gut, dann schauen wir uns mal die Beute unseres Ein-
bruchs an. Und wo hast du dieses Vertuschungs-Programm
gefunden?
Nur ein kleiner Trick vom Inoffiziellen Organ. Ich wun-
dere mich, da du noch nie von den Tricks gehrt hast, wo
du doch so gut mit dem Computer umgehen kannst. Die
meisten der echten Computer-Freaks sind ... Der seltsame
Ausdruck, der nun auf seinem Gesicht erschien, beunruhigte
mich, und das nervse Lachen beunruhigte mich noch mehr.
Er ergriff meine Hand. Du kennst den Grund nicht.
Das verletzte mich, wobei ich aber nicht wute, weshalb.
Dein Vater gehrt zum CPB.
Wenn er gesagt htte, mein Problem wren meine Hrner
und Hufe, die berraschung htte nicht grer sein knnen.
Was hat das denn damit zu tun?
Randy zeigte auf die Liste geheimer Dateien, die auf dem
Monitor zu sehen war.
Oh. Es muten Millionen Dinge sein, die ich aus diesem
Grund nie erfahren hatte. Seit Jahren schon muten mir
Dinge vorenthalten worden sein. Pltzlich erinnerte ich
mich an die vielen Male, als ich den Eindruck hatte, da die
Leute ihre Unterhaltungen unterbrachen, sobald ich in die
Nhe kam.
Ich mute weinen und konnte mich lange nicht beruhigen.
Er hielt mich und streichelte mir sanft ber Rcken und
Nacken, und schlielich versiegten die Trnen; danach sa-
en wir noch lange Zeit da, hielten uns die Hnde und
schauten uns stumm an.
Schlielich sagte Randy: Du hast da etwas an der Nase
hngen. Brauchst du ein Taschentuch?
J-ja. Ich seufzte - und mute dann kichern. Meiner
Treu, ihr seid wirklich sehr romantisch, mein Herr. Er
sprang zum Wandschrank hinber, zog ein Tuch heraus und
berreichte es mir mit einer bertriebenen
Verbeugung.
Ich versprte die moralische Verpflichtung, mich trompe-
tend zu schneuzen, worauf er auch lachen mute. Als wir
uns dann wieder beruhigt hatten, sagte ich: Jetzt sollten wir
uns aber mal die Dateien ansehen, die wir uns beschafft
haben.

Der CPB verwendet eine merkwrdige Terminologie. Die


Auswertung der Schlsselwrter-Listen und Dossiers
erbrachte nicht viel. Daraufhin arbeiteten wir die Dateien
sequentiell durch.
Den grten Teil des Nachmittags verbrachten wir damit,
die Dateien abwechselnd zu sichten und zu diskutieren. Es
ist nicht einfach, diesen speziellen Jargon ins Englische zu
bersetzen - Japanisch wre leichter, sagte Randy. Viel
leichter.
Hai su-desu, ne? Zumindest erkenne ich allmhlich einen
Sinn. Und es ist nicht so schlimm, wie wir zuerst befrchtet
hatten ...
Ich wei nicht, Melpomene, da stehen Dinge, mit denen
sogar viele Techniker berfordert wren. Er zeigte auf die
Liste von >Werten fr die Inklusion ins Semiotische System
im Alter von acht Jahren<.
Ich dachte, das wre nur eine Liste von Platitden.
Den Eindruck hatte ich zuerst auch. Aber betrachte
einmal Nummer Drei: >In einem Raumschiff oder einer
Gesellschaft sind die fundamentalen Interessen aller iden-
tisch. Wir alle mssen den Vorgaben der Politik und den
Direktiven Folge leisten, unabhngig von Position, Rang,
Ansehen oder Titel, um die Ziele des Sclffs zu verwirk-
lichen.< Wie ist das mit der Zugehrigkeit zu einer Gewerk-
schaft zu vereinbaren? Wenn man die hehren Prinzipien
beiseite lt, sieht es im Grunde nmlich so aus, da >alle
den Mund halten und das machen sollen, was die NAC
ihnen sagt<.
Ich las es mehrmals durch und versuchte, den Sinn seiner
Rede zu ergrnden. Ich glaube, so knnte man es interpre-
tieren. Eine Anwendungsliste zu diesem Wert gibt uns viel-
leicht Auskunft ber die Intention. Existieren irgendwelche
Dokumente zu den entsprechenden Regelanwendungen?
Ich gab einen Befehl ein, und die Liste erschien. Scheint so
- zwei allgemeine Dossiers, unsere und Toms Dossiers.
Merkwrdig. Weshalb nur wir drei und niemand von den
anderen?
Nach etwa fnf Minuten hatten wir herausgefunden, da
dies der Schlssel zu der ganzen Sache war. Ab dieser Stelle
wird die NCA meinen Bericht wahrscheinlich zensieren;
deshalb halte ich es zum privaten Gebrauch fest:
Die Gewerkschaften sollten binnen fnfundzwanzig Jahren
aufgelst werden.
Die Wahlen sollten noch vor 2040 durch einen >organisch
gewachsenen Konsens< ersetzt werden. (Was bedeutete
>organisch gewachsen<? Wir interpretierten es so, da es
im Ermessen der Besatzung des Fliegenden Hollnders
stand. Nachdem wir den Kommentar durchforstet hatten,
wuten wir, da der CPB noch keine Klarheit bezglich der
Prferenzen der Leute hatte und deshalb nach besseren
Optionen suchte.)
Am aufschlureichsten war jedoch die Auswertung unserer
eigenen Dateien, in denen Randy, Tom und ich als
>Spezielle Kategorie<, bezeichnet wurden.
Welche Rolle spielen wir dabei? fragte Randy. Das ist
die groe Frage.
In dem Moment, als wir die Datei ffneten und sie
durchlesen wollten, ging die Tr auf. Blitzschnell wechsel-
ten wir wieder zu der Japanisch-Aufgabe.
Ich schluckte. Ich mute wohl befrchtet haben, Papa und
der gesamte CPB wrden aus allen Rohren feuernd die
Wohnung strmen. Aber natrlich war es nur Mr. Schwartz.
Ich hoffe, ihr habt viel geschafft. Will jemand ein
Abendessen, bevor die Party anfngt?
Von einer Party wute ich nichts. Ich schaute Randy an.
So rot war sein Gesicht noch nie angelaufen.
Mr. Schwartz lie mehrmals den Blick zwischen uns hin
und her wandern und setzte dann ein breites Grinsen auf.
Dann stie er einen Jubelschrei aus, sprang an die Decke,
stie sich ab, landete auf den Hnden und richtete sich mit
einem Fallrckzieher wieder auf. Er stie ein brllendes
Gelchter aus.
Randy war puterrot angelaufen und hatte die Augen
niedergeschlagen.
Dann hast du es ihr also noch nicht gesagt, stellte Mr.
Schwartz fest.
Randy schttelte den Kopf.
Randy? sagte er mit sanfterer Stimme.
Randy sa reglos und stumm da.
hem ... Ah... Entschuldigung. Er wandte sich zur Tr
um. h... - er blinzelte Randy zu, aber der sah es nicht -
... mir ist gerade eingefallen, da ich die Vakuumkammer
auf ihre Dichtigkeit berprfen mu. Ich bin in etwa zehn
Minuten wieder zurck, in Ordnung?
Randy nickte.
Es tut mir wirklich leid. Glaube jetzt nicht, da du dich
auch wie ein Idiot benehmen mut, nur weil dein alter Herr
es dir vormacht. Es liegt nicht in der Familie.
Nun schaute Randy auf und rang sich ein angedeutetes
Lcheln ab. "Pos-def. Bis gleich.
Mit einem Satz war Mr. Schwartz zur Tr hinaus und
schlug sie zu. Ich hatte den Eindruck, er htte ein Vakuum
im Raum zurckgelassen.
Weil ich nicht wute, was mit Randy los war, legte ich den
Arm um ihn. Er zuckte zusammen und lehnte sich dann
wieder zurck. Ich wartete.
Siehst du? sagte er schlielich. Das versteht er unter
Ausgelassenheit. Er schniefte. Nie kann ich jemanden mit
nach Hause bringen. Er funkt immer dazwischen und sagt
etwas Bldes. Immer. Er ist total beknackt. Und ich be-
frchte, es frbt auch auf mich ab.
Ich sprang auf, ri ein Tuch aus dem Wandhalter und gab
es ihm. Er schneuzte sich und seufzte. Man sollte eigent-
lich meinen, ich wrde ihn kennen. Ich meine, er hlt sich
fr einen Partylwen. Und irgendwann stehe ich dann
immer wie ein dummer Junge in der Ecke, und er lacht mich
aus. Wenn ich nur einmal den Mut aufbringen wrde, ihm
zu erklren - ich glaube, er wrde mich nicht einmal hren.
Erneut schneuzte er sich. Heute war ein Tag zum Weinen.
Die Wahrheit ist, da ich es einfach vergessen habe. Ich
wollte es sagen, aber ich habe es vergessen. Nicht, weil ich
etwa Angst gehabt htte, aber er wird sich jetzt darber
lustig machen...
Ich reichte ihm noch ein Tuch. Er wischte sich die Trnen
aus den Augen. Was hast du vergessen?
Er holte tief Luft und erzhlte.
Es geht um die groe Party im B-Block, die nach jedem
Perihel und Aphel stattfindet. Nach dem Vorbeiflug an der
Erde oder dem Mars ist die Hektik nmlich vorbei - der
grte Teil der Auenmannschaften und Techniker wird von
der B-Schicht gestellt. Es ist eine groe Sache; alle gehen
hin, meine alten Freunde werden dort sein, und da dachte
ich halt ...
Weit du, ich esse nicht sehr oft mit Dad, vielleicht einmal
die Woche, aber heute morgen haben wir zusammen gefrh-
stckt, und zum erstenmal haben wir uns richtig miteinander
unterhalten. Er hat sich nach der Schule, meinen Freunden
und so weiter erkundigt. Weil ich ihm nicht erzhlen wollte,
da Ted mich zusammengeschlagen hatte, habe ich fast nur
von dir gesprochen, Melpomene.
Innerlich umarmte ich mich. Und was hat er gesagt?
Wie ich schon sagte. Oder so hnlich. Er hat mich gefroz-
zelt - ich meine, nicht bsartig, wie er manchmal ist, son-
dern ganz freundschaftlich. Er wollte wissen, ob ich dich
gefragt htte, ob du mit mir auf die Party von Block B
gehst...
Ich umarmte ihn strmisch und sagte: Du hast es sicher
nur vergessen, weil wir anderweitig beschftigt waren. In
Ordnung, ich gehe mit.
Ich zog noch ein Tuch aus dem Spender und reichte es
ihm. Ich meine, ich gehe mit, wenn du es noch mchtest.
Zum Abendessen und zur Party. Aber ich bruchte eine
Dreiviertelstunde, um mich zurechtzumachen. Wenn deine
alten Freunde da sind, kann ich kaum wie eine Vogel-
scheuche auftreten, nicht wahr? Oder wollen wir sie
schocken?
Da mute er lachen; das erleichterte mich, denn ich wute
nicht, wie lange ich diese Bldeleien noch durchhielt. Gut,
also ganz frmlich: Melpomene, mchtest du mich auf die
Party von Block B begleiten?
Pos-def.
Er seufzte. Nun, ich hatte mir es zwar etwas anders
vorgestellt, aber wenigstens hat es funktioniert. Ich komme
mir wie ein Narr vor.
Aber du bist ein liebenswerter Narr. Ich kte ihn auf
die Wange. Bis gleich.
Also flitzte ich mit pochendem Herzen in meine Wohnung.
Vor Freude singend ging ich unter die Dusche und holte
dann die neue weie Kombination aus dem Schrank, die ich
eigentlich anllich des Abschluzeugnisses hatte anziehen
wollen.
Gerade als ich mich im Spiegel betrachtete und berlegte,
wie ich meine wundervolle Erscheinung noch veredeln
knnte, kamen Papa und Mama nach Hause. Brstenschnitt,
Kombination und blaue Slipper allein machten nicht viel her
... deshalb befate ich mich mit der Frage, ob ich nun einen
Grtel oder eine Schrpe anlegen sollte.
Papa ging schnurstracks ins Bad, Mutter stand nur da und
musterte mich schweigend.
Melly, sagte sie schlielich, wenn ich nicht wte, da
es unmglich ist, wrde ich schwren, da du dich
zurechtmachst.
Ich wei zwar nicht, weshalb ich das trotz der >Melly<
lustig fand, aber auf jeden Fall lachte ich und erffnete ihr
mein Vorhaben.
Zuerst wirkte sie etwas konsterniert, aber dann lchelte sie
mich an; es war dieses herzliche, wundervolle Lcheln, das
ich schon seit Jahren an ihr vermit hatte. Melpomene -
Liebes -, es wird dich sicher berraschen, aber ich glaube,
du hast eine Verabredung.
Oh, Mutter, ich gehe wirklich nur auf eine Party ... h,
mit einem Jungen. Er trifft sich mit seinen alten Freunden ...
hem. Vielleicht lerne ich sie auch kennen. Viel mehr fiel
mir dazu nicht ein. Nun, hmm.
Sie betrachtete mich von Kopf bis Fu. Sieht nicht
schlecht aus; unterscheidet sich zwar etwas von der Mode,
die in meinen jungen Jahren aktuell wat aber Rcke sind
auch nicht sehr praktisch in niedriger. Schwerkraft, und mit
hohen Abstzen hatten mir immer die Fe wehgetan.
Schauen wir mal, was man noch machen knnte...
Was ist denn noch da? fragte ich.
Warte eine Minute. Sie eilte in ihr Zimmer; gleich
darauf kam sie mit einem kleinen Kstchen zurck.
Mit offenern Mund bestaunte ich das Kstchen. Es ist aus
Holz. Aus echtem Holz. Nicht in den Tanks gezchtet.
Ja, von der Erde importiert. Vorsichtig berteichte sie es
mir, und ich ergriff es mit dem seltsamen Gefhl, da es
etwas schrecklich Wichtiges enthielt. Dieses Kstchen
samt Inhalt hat mich ungefhr zehn Prozent meiner
Gewichtszuteilung gekostet, sagte sie nervs, als ob sie
meinem Lachen zuvorkommen wollte.
Es ist so glatt. Aber die Maserung ist so ... verwirbelt und
unregelmig, wie ein Bild im Fraktale-Geometrie-Unter-
richt. Und es fhlt sich so warm an...
Ich hatte es von meiner Gromutter bekommen, als ich
ein kleines Mdchen war. Zum ffnen mut du den Ver-
schlu nach rechts schieben. Er ist aus Silber.
Ich hatte noch nie so viel Silber auf einmal gesehen, nicht
einmal im Chemielabor. Der Verschlu wies eine seltsame
Form auf, die ich nicht benennen konnte; aber ich hatte sie
schon einmal in einem Biologietext gesehen. Ein Blatt oder
eine Muschel oder in der Art. Ich schob ihn nach rechts und
hob vorsichtig den Deckel an.
Juwelen! Ich habe mal welche gesehen, als wir mit der
Klasse ins Museum gingen. Ich wute ja gar nicht, da du
so etwas besitzt...
Vielleicht war es erst jetzt an der Zeit. Ich wei wirklich
nicht, weshalb ich sie dir nicht schon frher gezeigt habe.
Vorsichtig nahm sie den Schmuck wieder an sich. Weit
du, wir sind uns fast wie aus dem Gesicht geschnitten, und
deshalb mte es dir auch stehen, aber du hast noch nie
Ohrringe getragen und auch kein langes Haar ... schauen wir
mal. Diese Brosche gehrte meiner Gromutter. Sie nahm
eine kleine Metallrose aus dem Kstchen und befestigte sie
vorsichtig auf meiner Brust, ein paar Zentimeter unterhalb
der linken Schulter. Und - ha. Natrlich. Ich hatte es fast
schon vergessen, aber das macht es perfekt.
Sie zog etwas Winziges und Zerknittertes aus einem
kleinen Fach im Kstchen. Ein paar Jahre, bevor wir die
Erde verlieen, war sehr kurzes Haar in Mode. Damals hatte
dein Vater mir das hier geschenkt.
Es sah aus wie ein winziges Stck Metallgewebe. Was ist
das?
Man nannte es einen >Coleman<. Vielleicht war das der
Name des Designers, oder es wurde von der Kleidung der
Bergarbeiter abgeleitet, was auch immer. Sie hielt es in der
Hand und hauchte es mehrmals an. Sobald es sich erwrmt
...
Kurz darauf glich es einem zerknitterten Blatt mit der
Gre und Form von Nathan Roswalds Jarmulke. Sie strich
es glatt und legte es mir links auf den Kopf, direkt neben der
Krone. Ich sprte ein merkwrdiges Kribbeln im Haar.
Jetzt mut du heftig den Kopf schtteln.
Ich tat wie geheien.
Gut. Sie hauchte es wieder an, wobei ihr Atem warm
und feucht ber meinen Kopf strich, und wartete ein paar
Sekunden. Wieder den Kopf schtteln. Richtig. Gut, noch
mal... Ihr Atem wehte warm ber meinen Kopf. Warte...
wieder schtteln. Ich schttelte heftig den Kopf; den
Coleman sprte ich nicht mehr. Kneift es noch irgendwo?
Nein.
Jetzt kannst du es so lange anbehalten, wie du mchtest.
Deinem Haar wird nichts passieren. Sie reagieren irgendwie
auf Temperaturschwankungen - ich kenne aber nicht das
Prinzip. Betrachte dich mal im Spiegel.
Ich war verblfft - der Wirbel aus glnzendem Metall
kontrastierte mit meinem Haar wie eine winzige Galaxie
und reflektierte das feurige Glhen der ovalen Blten der
Rosen-Brosche... Es ist schn.
Du bist es auch, sagte Mutter schnell, als ob sie mich
korrigieren wollte. Das liegt in der Familie. Aber nun beeil
dich - es ist zwar das traditionelle Vorrecht der Dame, etwas
zu spt zu kommen, aber hier oben sind fnf Minuten eine
lange Zeit.
Um wie viele Minuten hast du dich immer versptet?
Ganz nach Belieben. Genau so lange, bis er sich wirklich
nach mir sehnte, und keine Sekunde lnger... es sei denn, du
strebst eine Karriere als la belle dame sans merci an.
Ich lachte, woraufhin sie noch merkwrdiger schaute
Weit du ... weit du, da du jetzt fnf Jahre lter wirkst?
Wie eine Frau?
Auf einmal hatte ich Schmetterlinge im Bauch. Vielleicht
wie eine sehr kleine Frau, bemhte ich mich, witzig zu
sein.
Dennoch lchelte sie, und wir umarmten uns. Es mute
mindestens ein Jahr vergangen sein, seit wir das zum
letztenmal getan hatten.
Ich fuhr allein im Omnivator, zum Teil deswegen, weil ich
spt dran war, und hauptschlich deshalb, weil ich wollte,
da Randy mich von allen als erster sah.
Er ffnete sofort die Tr. Er hatte sich auch verndert -
war in seine Firmenuniforrn geschlpft. Die NAC besteht
darauf, da jeder sie anzieht, wenn die Eltern einen Plutock-
Touristen betreuen mssen und uns als richtige corporados
vorstellen. Ich nehme an, da viele Erdschweine auf
Schiffsbesichtigung glauben, wir wrden diese Kluft stndig
tragen.
Wie alle anderen auch steckte Randy in einer Kindergre
der Unisex-Uniform seiner Eltern. Fr Randy bedeutete das
ein signaloranges Hemd und eine gleichfarbige Hose, einen
breiten Grtel aus schwarzem Elasthan, schwarze Schuhe
und ein schwarzes Halstuch. Aus irgendeinem Grund bezei-
chnete mein Vater das immer als >Faschingskostm< und
titulierte unsere hellgrnen Schuluniformen als >Pfadfinder-
klamotten<. Manchmal werde ich aus den Erwachsenen
wirklich nicht schlau.
Randy sah prchtig aus, sehr erwachsen und stattlich.
Getrbt wurde die Freude indes dadurch, da er mich
anstarrte. Du siehst wirklich ... gut aus, stotterte er nach
einem Moment.
Jetzt krieg dich wieder ein. Du siehst auch groartig aus,
sagte ich.
Dann trat ein langes, verlegenes Schweigen ein, bis
irgendwo hinter Randy die Stimme von Mr. Schwartz
ertnte: Deine nchste Zeile, Sohn, lautet: >Treten Sie
ein<.
Aus der Tatsache, da Randy errtete, schlo ich, da es
ihm peinlich war, aber er stammelte die Einladung, und ich
kam ihr nach.
Mr. Schwartz war auch in Uniform. Er hielt eine Kamera
in der Hand und grinste. Ihr beide stellt euch nebenein-
ander.
Wir folgten der Aufforderung, und er machte Bilder von
uns.
Die Situation war so befremdlich, da wir beide lachten.
Er fiel in unser Lachen ein, drckte aber weiter auf den
Auslser. Dann fhrte er die Kamera ins Lesegert des
Hausterminals ein, und kurz darauf erschienen die Abzge.
Er tippte ein paar Befehle in den Rechner. Wenn ich schon
dabei bin, kann ich auch gleich deiner Mutter die Abzge
schicken, Melpomene, sagte er.
Meiner Mutter? fragte ich verblfft.
Sie hat angerufen, als du unterwegs warst. Die Bilder
waren ihre Idee, und ich fand es auch gut. Die Hardcopies
sind fr mich. Dann bearbeitete er fr ein paar Minuten die
Tastatur. Wenn ich fertig bin, essen wir zu Abend. Hoffe,
ihr habt keine Einwnde gegen die Suppenbar. Er beendete
die Eingabe und nahm eines der Bilder in die Hand. Ich
hab sie auf Festplatte abgespeichert, aber das solltet ihr euch
wirklich mal ansehen. Er hielt das besagte Bild hoch.
Jetzt begriff ich, was meine Mutter gemeint hatte, als sie
sagte, ich she fnf Jahre lter aus. Glaubt mir, geniet es,
zwlf zu sein.
Ich war fast noch nie in der Suppenbar gewesen. Das erste,
was mir dort auffiel, waren die vielen Auendienst-Tech-
niker. Als sein Vater sich den vierten Nachschlag holte,
klrte Randy mich auf: Weit du, wie ausgedrrt die Kehle
nach zwei Stunden im Outside Club ist? Und wie hei und
feucht es im Anzug wird, wenn du drauen pissen mut?
Nun, die letzten Stunden vor dem Aueneinsatz trinken die
Leute nichts mehr, und den ganzen Tag mssen sie mit ein
paar Schlucken Wasser auskommen. Also trocknen sie
wirklich aus. Wenn ich von der Schule nach Hause komme,
bereite ich immer ein paar Liter Mineraldrink zu und stelle
sie in den Khlschrank und wenn er dann nach
Hause kommt, kippt er sich gleich die Hlfte hinter die
Binde.
Das ist noch so eine Ungereimtheit, sagte ich.
Wenn wir alle angeblich gleich sind, wie kommt es dann,
da ich nichts von den Technikern wei?
Randys Vater kam zurck. Er hatte die Frage gehrt, und
nach dem Verzehr einiger Lffel Suppe sagte er: Nun, in
der Theorie gibt es keine Klassen auf dem Schiff, aber in der
Praxis sieht es anders aus. Das Leben stellt sich fr die
Menschen einfach unterschiedlich dar, je nachdem, welche
Arbeit sie verrichten. Es ist durchaus ein Unterschied, ob
man jeden Tag in Schwei gebadet ist oder immer wie aus
dem Ei gepellt aussehen mu. Auerdem spielt es auch eine
Rolle, ob das Management sich um die Freizeitgestaltung
der Arbeitnehmer kmmert. Er schnaubte. Ich bin das
beste Beispiel dafr. Mit dem Begriff >Arbeit< assoziiere
ich >kontrolliert werden< - Manager arbeiten in meinen
Augen nicht.
Mr. Schwartz lffelte seine Suppe aus. Auf einmal lieferte
der Inhalt der gestohlenen Dateien mir eine Vorlage. Ich
kenne einen groen Unterschied zwischen Technikern und
Managern. Alle Techniker sind in der Gewerkschaft, aber
ich kenne niemanden auer Randy, dem die Gewerkschaft
sympathisch ist.
Die Eltern lehnen die Gewerkschaft wahrscheinlich auch
ab, sagte Mr. Schwartz. Die meisten Kinder bemehmen
nmlich die Ansichten ihrer Eltern. Randy hatte jedoch das
Glck, frher als die meisten anderen zu erkennen, welch
ein Narr sein alter Herr ist. Manche werden ihre Meinung
schon ndern, wenn sie erst einmal arbeiten.
Um ihn zum Weitersprechen zu animieren, sagte ich: Ich
habe noch nie Argumente fr die Gewerkschaft gehrt. Der
offizielle Kanal des NAC ist ihr auch nicht sehr gewogen.
Nun, das ist auch nicht zu erwarten. Ich glaube, es ... Er
musterte Randy von der Seite. He, ich mchte mich nicht
bei deiner ersten Verabredung mit deinem Mdchen ber
Volkswirtschaft unterhalten. Du httest mir unter dem Tisch
einen Tritt geben sollen oder so.
An dem Ruck, der durch Randy ging, erkannte ich, da er
eben erst begriffen hatte, mit mir verabredet zu sein. Um
die Wahrheit zu sagen, Dad, ich interessiere mich selbst
dafr. Ich habe mich vielleicht schon drei oder viermal fr
die Gewerkschaft eingesetzt und wei immer noch nicht,
welchen Zweck sie berhaupt erfllt.
Mr. Schwartz seufzte. Ich knnte schwren, da der Un-
terricht, den ihr bekommt, etwas selektiv ist. Aber vielleicht
macht das auch gar nichts, denn mit deinem Abschlu, Ran-
dy, wirst du eh wohl ein Manager werden. Wie dem auch
sei, ich sehe es so: Leute mit unterschiedlichen Berufen ha-
ben auch unterschiedliche Interessen. Sicher, manchmal
kommt es auch vor, da die Leute in einer echten Krise, wie
bei einem Schiff in Seenot oder einem Unternehmen vor
Bankrott meinsame Interessen verfolgen; denn die Rettung
des Ganzen ist wichtiger als die einzelnen Teile.
Aber in der Regel ist es viel komplizierter. Er legte eine
Pause ein und trank einen Schluck Kaffee. Schaut, wenn
man an der Spitze steht, kommt man leicht auf den
Gedanken, da das, was gut fr einen selbst ist, auch gut fr
die ganze Organisation sei. Kurzfristig knnte das sogar -
ein Unternehmen profitiert nmlich davon, wenn die Leute
fr weniger Geld mehr arbeiten oder wenn es weniger in die
Sicherheit am Arbeitsplatz investiert.
Lngerfristig erledigen jedoch die Arbeiter die Arbeit. Das
Management jedoch nicht. Wenn die Arbeiter krank werden,
sich verletzen, blaumachen oder ausgebrannt sind, verlieren
die Manager auch ihre Legitimation.
Als Tochter meines Vaters bin ich selbst eine ziemlich
gute Debattenrednerin, und im Kreuzverhr bin ich beson-
ders gut. Aber wo liegt dann das Problem? Das Unterneh-
men mte doch selbst ein Interesse daran haben, fr an-
stndige Arbeitsbedingungen zu sorgen.
Sicher - aber mit mglichst geringem Aufwand. Ange-
nommen, ein Manager wrde uns befehlen, jeden Tag zwei
berstunden bei halber Bezahlung zu leisten. Wer wrde
den zustzlichen Profit dann einstreichen?
Der NAC, sagte ich.
Genau das ist der Punkt. Das Management arbeitet fr
den Arbeitgeber, und zumindest kurzfristig sind die Interes-
sen des Arbeitgebers den Interessen des Arbeitnehmers
diametral entgegengesetzt. Egal, was fr ein netter Kerl dein
Manager auch ist, er wird dafr bezahlt, dein Gegner zu sein
und deine Arbeitskraft kostengnstig auszubeuten.
Aber die Geschichte geht noch weiter. Im Grunde gbe es
nur die Alternative, da sie uns versklaven oder wir sie
tten. Tatsache ist jedoch, da sie sich nicht trauen, den
Kampf bis zur letzten Konsequenz zu fhren - wenn sie die
Arbeiter nmlich vernichten, wer soll dann die Produkte
herstellen und sie kaufen? Die Gewerkschaft bestimmt also
den Handlungsspielraum des Managements und garantiert
eine Langfrist-Perspektive. Oder Gerechtigkeit, was auf
dasselbe hinausluft.
Er trank den Kaffee aus. Mehr habe ich dazu nicht zu
sagen. Ich hoffe sogar, da niemand von euch der Gewerk-
schaft beitreten mu - soweit ich es beurteilen kann sind
Berufe im Management und in der Forschung viel angeneh-
mer. Und berhaupt bin ich der Ansicht, da manuelle
Arbeiten im Weltraum bald eingestellt werden, so da es in
einigen Jahrzehnten vielleicht gar keine Gewerkschaft mehr
gibt. Aber die Familie ist nun schon seit vier Generationen
in der Gewerkschaft, Randy, und ich glaube, du hast ein
Recht darauf, die Grnde dafr zu erfahren. Er rhrte im
Kaffee herum; er wirkte irgendwie traurig, wie meine Mut-
ter, wenn sie von Grovater spricht oder Miriams Vater,
wenn er von Manhattan erzhlt, bevor es unter einer Kuppel
verschwand. Aber genug geredet. Ihr mt eure Freunde
beeindrucken, und ich mu mir beweisen, da ich nicht
schon zu verdammt alt bin, um mit den Jungen in meiner
Mannschaft mitzuhalten. .
Gemchlich hangelten wir uns zusammen den Korridor zur
Party entlang, so da wir uns unterhalten konnten. Mr.
Schwartz erzhlte uns Anekdoten von frher, von Jobs, die
er gehabt hatte, zum Beispiel die Verlegung der Geosynch-
Kabel, und er berichtete von der Erde vor dem Groen
Sterben. Mit zehn Jahren war er von zu Hause fortgelaufen
und Tausende von Kilometem durch Nordamerika gewan-
dert, whrend die alte Gesellschaft zerbrach. Als er sich ein
halbes Jahr spter zur Heimkehr entschlo, waren seine
Eltern, wie so viele andere, an mutAIDS gestorben. Natr-
lich hatten wir auch frher schon Geschichten ber
mutAIDS gehrt, aber es schockierte uns doch, da die Lage
sich so verschlechtern konnte, da man die Heimat
verlassen und sich irgendwie durchschlagen mute.
Er zuckte die Achseln. Keine psychologische Betreuung,
kein CPB, und es gab keine Bevlkerungskontrolle - hier
oben gibt es fast keine Asozialen. Alle sind integriert. Nur
ein Grund, weshalb es hier oben viel besser ist. Und trotz-
dem wnschte ich, Randy, da du San Francisco oder New
Orleans und selbst Cleveland gesehen httest, bevor Kup-
peln ber diesen Stdten errichtet wurden, oder da du
wenigstens auf den alten Interstates durch die Industrie-
grtel gefahren wrst. Die Lichter und Feuer der Stahl-
werke, Fabriken und Raffinerien erinnerten an die aufgehen-
de Sonne - es war schn, einfach schn.
Ich habe noch nie die Sonne aufgehen sehen, sagte
Randy.
Nun, eines Tages wirst du die Erde sehen. Ich bin sicher,
da auch heute noch die Sonne aufgeht. Aber die Fabriken
sind verschwunden. Jetzt gibt es alle paar hundert Kilometer
eine Kuppel, und der Rost zerfrit alles, seit die Schwerin-
dustrie in den Orbit verlegt wurde. Die alten Highways sind
leer, bis auf Lastengleiter, und die ungeschtzten Stdte sind
verlassen, bis auf die Verrckten, die nicht gehen wollten.
Er seufzte. Viele Leute hatten die alten Stdte fr hlich
gehalten - aber sie waren menschlich. Nun hat es den
Anschein, als ob die Menschen von der Erde verschwan-
den.
Dann grinste er wieder. Da hngt ihr hier in den Seilen
und lauscht den Erinnerungen eines alten Erdschweins. Ihr
Kinder versteht es sicher, das Leben zu genieen. Wie dem
auch sei, verschwinden wir von hier, bevor ich noch senil
werde.
Einen schnen Abend noch, Dad, sagte Randy, als wir
den Partyraum erreicht hatten.
Es hat mich sehr gefreut, fgte ich hinzu.
Mich auch. Ich bin drben bei den Senioren, wenn ihr
mich braucht. Dann war er verschwunden.
Randy schttelte den Kopf, Bei dir ist er doch tatschlich
zum Charmeur geworden. Er war ja ein richtiger Mensch.
Er hielt meine Hand, whrend wir zu einer Schar aus Leuten
unseres Alters hinberschwebten. Was auch immer es war
- ich bin froh, da es passiert ist - ich rgere mich zwar oft
ber ihn, aber ich mchte, da du ihn magst.
Was fr ein Getns!
Ich wies den Computer an, mich mit einem akustischen
Signal zu warnen, falls es zu spt wurde; ich hatte keine
Lust, noch einmal die Schule zu versumen. Natrlich ertn-
te das Signal, als es gerade erst richtig losging.
Was die Party in Block B betrifft, so wnsche ich, da alle
meine Erinnerungen der Wirklichkeit entsprechen. Die Party
war nmlich das einzig Gute in dieser abgedrehten und irren
Zeit.
Die chronologische Abfolge, in der ich das jetzt nieder-
schreibe, stimmt zwar nicht ganz, aber ich bin sicher, da
am Anfang die Leute auf Randy zuliefen, um ihn zu begr-
en; beim Tanzen legte ich den Kopf an Randys Schulter;
Mr. Schwartz tanzte mit einer lteren Technikerin den
Boink oder einen anderen prhistorischen Tanz, wobei beide
lachten und sie vllig betrunken war; Randy berhrte leicht
mein Gesicht, als ob er sich davon berzeugen wollte, da
ich auch real war; whrend er uns etwas zu trinken besorgte,
unterhielt ich mich mit zwei seiner alten Freunde, wobei
sowohl Terry als auch Henri sich so superhflich und super-
intelligent gebrdeten, als ob es das Wichtigste von der Welt
gewesen wre, mir zu imponieren.
Ich erinnere mich, da ich noch nie so laute Musik gehrt
hatte, und ich sprte die Vibrationen bis hinunter in den
Magen, dazu den sanften Zug der Magnetsohlen, die mich
beim Tanzen am Boden hielten, Die seltsame warme Aus-
dnstung dieser vielen Menschen, die alle frisch geduscht
waren - sie mssen das Wasserwerk wirklich strapaziert
haben.
Es war eine merkwrdige Erkenntnis, da wir auf dem
Blauen Punkt standen, im selben Gemeinschaftsraum, in
dem wir sonst immer Aerocrosse spielten.
Der Punsch prickelte und schumte im Mund; Randys
Vater lachte brllend, als er irgendeine Frau in die Hhe
stemmte.
Pastellfarben drifteten kaleidoskopartig ber den Boden.
Ein wundervoller, krftiger Braunton wurde von Randys
Haar gefiltert und vermittelte den Eindruck, als ob sein Kopf
von einer Aureole umgeben wre. Aus einem Glcksgefhl
heraus mute ich lachen, und er schaute so verwirrt, da ich
es ihm erklren wollte, aber ich konnte es nicht, und das
fand ich auch sehr lustig. Ich war ziemlich angeheitert und
benebelt.
Als die Taschenlautsprecher ertnten und uns mitteilten,
da wir in einer halben Stunde zu Hause sein mten,
machten wir beide einen Satz von einem halben Meter. Wir
waren vllig berrascht, denn die Party wrde noch sechs
Stunden dauern - schlielich gehrten fast alle Gste zur B-
Schicht -, aber noch erstaunlicher war, da wir jegliches
Zeitgefhl verloren hatten.
Mutter sagt, ihr wre das als Mdchen auch oft passiert.
Aber hier oben kommt das nie vor - man lebt nmlich nach
der Uhr. Es wre so, als ob man das Atmen vergessen
wrde.
Und dennoch ist es uns passiert.
Nun ist es wirklich spt. Den Wecker zu stellen bringt
nicht viel, wenn man das Klingeln ignoriert.
Wie dem auch sei, Randy brachte mich nach Hause, und
wir beschlossen, da wir am nchsten Tag zusammen Japa-
nisch lernen wrden, und zum Abschied kte er mich.
Ich trat ein, und alle - Mutter, Papa, Tom und Susan -
empfingen mich mit einem blden Grinsen. Ich hatte wahr-
scheinlich auch bld gegrinst.
Spt. Sehr spt. Nun, vielleicht sollte ich mich noch einmal
mit Dr. Lovell ber dieses Projekt unterhalten. Langsam
geht es mir nmlich auf die Nerven.
COMPUTER: NOTIZ. Morgen Termin Lovell. ENDE
NOTIZ.
Jetzt gehe ich aber schlafen.
KAPITEL NEUN
..............................................................

3. JANUAR 2026

Heute wollte Dr. Lovell wegen der Schriftstellerei und der


Erwachsenen-Abschluprfung mit mir sprechen. Um die
Wahrheit zu sagen, ich war so enerviert da ich gar nicht
wute, worum es berhaupt ging. Wenn ich etwas verstan-
den hatte, dann so viel, da sie nicht wuten, was sie mit
mir machen sollten. Ich vermute es zumindest, knnte mich
aber auch irren.
Sie sagte, glaube ich - mein Gott, ich hatte so geheult da
ich nichts mitbekam -; sie sagte, ich solle mir so viel Zeit
frs Schreiben nehmen, wie ich wolle, und ich msse nicht
mehr zum Unterricht erscheinen.
Aber das war es weniger, was mir so zusetzte, als vielmehr
das, was ich sonst noch erfuhr - wenn man wie ich und Ran-
dy einer speziellen Kategorie angehrt, ist die Erwachsenen-
Abschluprfung eigentlich nicht von Belang. Wir sollen sie
zwar ablegen, des Gemeinschaftserlebnisses wegen, aber im
Grunde geht man davon aus, da wir hauptschlich unseren
Hobbies oder sonstigen Marotten frnen, wie Tom es
gemacht hat.
Wenn ich nun darber nachdenke, htte ich es schon
Anfang dieses Jahres wissen mssen, aber ich habe mich
wohl gegen die Erkenntnis gestrubt. Aber es ergibt einen
Sinn. Ich meine, wenn unsere Entwicklung schon anders
verluft als die der anderen, weshalb sollten sie uns dann so
behandeln wie die anderen?
Vielleicht besteht das Problem darin, da ich nun die
ganze Tragweite der Sache erfasse. Es ist wie im Mrchen.
Es war einmal ein hliches Entlein. Jeder verspottete es.
Das Entlein war traurig, weil es keine Freunde hatte. Dann
rettete es eines Tages den ganzen Schwarm vor einem Tiger
oder wie das Tier heit, das Enten frit. Und alle sagten:
Toll! Was fr eine Ente! Und von Stund an waren sie viel
netter zu ihr.
Aber sie hatte nach wie vor keine Freunde, denn wenn
man es nchtern betrachtete, war sie noch immer ein hli-
ches Entlein.
Vielleicht schreibe ich spter weiter. Im Moment fhle ich
mich nicht danach.

Es ist eine Stunde verstrichen. Irgendwo im Text hatte der


Computer wieder Einspruch erhoben, aber ich mchte euch
zunchst die Neuigkeit erzhlen, bevor ich wieder auf die
Dinge zu sprechen komme, die sich im letzten Jahr ereignet
hatten.
Tom kam herein. Er gibt in der C-Schicht einen VHS-Kurs
in Mandelbrot-Pointillier-Technik. Susan machte ein Nik-
kerchen; sie hatte es aufgegeben, mir Nettigkeiten entgegen-
zubringen, aber ich mache ihr keinen Vorwurf deswegen.
Als er mich wie ein Hufchen Elend dasitzen sah und sich
nach dem Grund meines Verdrusses erkundigte, antwortete
ich ihm nach bestem Wissen; daraufhin reagierte er wie ein
Volltrottel und riet mir, meine Sorgen zu vergessen, weil es
besser und freier wre, ein wirklicher Individualist zu
sein. Auch wenn du den Eindruck hast, da niemand dich
versteht. Gerade dann. Dann siehst du nmlich Dinge, die
sonst niemand sieht, du verstehst Dinge und machst sie allen
anderen zugnglich. Du bist wirklich wichtig und einzig-
artig...
Ich brach in Trnen aus. Dies hat sich als die beste
Verteidigung gegen wohlmeinende Zeitgenossen erwiesen,
die einem irgendeinen Schwachsinn zu >deinem Besten<
erzhlen. Er stotterte etwas zusammen, patschte auf meinen
Arm, schlich sinnlos um mich herum, und, als das
Schluchzen intensiver wurde, flchtete er in sein Zimmer,
das er mit Susan teilte, und schlo die Tr hinter sich. Ich
ging ins Bad und trocknete die Trnen.
Ich musterte mich und kam zu dem Schlu, da der Rest
von mir auch eine Pflege vertragen konnte. Also zog ich
mich aus, warf die Kleider in die Waschmaschine, ging
unter die Dusche, drehte die Brause auf und schaltete den
Dunstabzug ein. Eigentlich wre ich erst in anderthalb Ta-
gen mit dem Duschen an der Reihe gewesen, aber ich ver-
sprte jetzt das Bedrfnis. Es war ein wundervolles Gefhl,
als die warme, seifige Emulsion aus Wasser und Alkohol
mir ber den Kopf rann und gluckernd im Abflu ver-
schwand. Es war Wochenanfang, so da die Zuteilung frisch
war und noch nicht den Geruch anderer Leute angenommen
hatte - vor mir hatte Tom sie nur einmal benutzt und Susan
zweimal.
Ich setzte den Brausekopf wieder ein und stellte mich
unter den warmen Strahl, der mich einhllte und die Nieder-
geschlagenheit fortsplte. Dann drckte ich auf den Aus-
Knopf, und die Waschlotion flo in den Speichertank
zurck.
Das Handtuch roch nach Tom. Er mute direkt nach dem
Sport geduscht haben. Solcher Schmutzwsche ist die
Waschmaschine einfach nicht gewachsen.
Whrend ich mich abtrocknete, schaltete ich den Video
ein, um die Nachrichten zu sehen. Alle wurden immer
reicher, und alle waren glcklich. Die NAC log wieder
einmal - ab einer gewissen Entfernung von der Erde knnen
die unabhngigen Nachrichtensender des Schiffs nur auf die
Informationen von NAC-Flash zurckgreifen. Angeblich
wollen TASS und die BBC irgendwann Richtfunkstrecken
zwischen dem Schiff und der Erde implementieren, so da
wir immer die aktuellen Nachrichten haben, aber wir sind
schon seit vielen Orbits hier oben, und es hat sich noch
immer nichts getan.
Es ist mir unbegreiflich, weshalb man uns von den irdi-
schen Nachrichten nur >HappiNews< und >Progress!< ge-
nehmigen will. Vielleicht sollte ich noch die entsprechende
Datei stehlen, um das herauszufinden.
Ich warf das Handtuch in die Waschmaschine und zog die
gereinigten Kleider an. Susan wartete schon im Gemein-
schaftsraum. Ich habe Tom schon in die Cafeteria voraus-
geschickt. Ich treffe mich dort mit ihm - du kannst uns
Gesellschaft leisten, wenn du mchtest, oder soll ich dir ein
Arbeitsessen bestellen?
Was soll ich denn mit einem Arbeitsessen? Wo man mir
doch gesagt hat, ich bruchte keine Hausaufgaben mehr zu
machen. Und im brigen habe ich keinen Hunger. Ich stie
mich ab und entschwebte in Richtung meines Zimmers.
Sie fing mich mit einem sanften Bodycheck ab, umarmte
mich und drckte mich gegen die Wand. Nein, das tust du
nicht. Es tut mir leid, wenn du dich nicht gut fhlst, aber du
wirst dich nicht in deinem Zimmer in Selbstmitleid ergehen.
Tom tut das nicht mehr, und du wirst es dir auch abge-
whnen.
Vor lauter Ratlosigkeit fing ich an zu weinen. Ich hate
sie. Aber es war so trstlich, gehalten zu werden, da ich
nicht versuchte, mich ihrem Griff zu entziehen.
Es wird alles gut. Wirklich. Jetzt hr mir mal zu. Ich wei
nicht, ob ich dich richtig verstehe, aber ich wei genau, da
man an den Tagen, nachdem du etwas geschrieben hast,
besser mit dir auskommt, und dann ist dein Selbstha auch
nicht so gro. Und ich glaube, das hat damit zu tun, da du
glcklich bist.
Ich mchte, da du glcklich bist.
Also setz dich hin und schreibe. In anderthalb Stunden
wirst du sicher Hunger haben; sptestens dann bringe ich dir
ein Arbeitsessen vorbei. Keine Widerrede. Tu es einfach.
Erneut drckte sie mir die Arme und lie mich dann los; sie
stie sich ab und betrachtete mich einen Augenblick vom
Eingang aus. brigens, Tom sagt, er htte nun all seine
Probleme gelst. Also ist er wirklich unertrglich fr
jemanden, der immer nur Trbsal blst. Vielleicht solltest du
dich von ihm fernhalten, bis er darber hinweg ist.
Dann war sie verschwunden.
So sitze ich nun wieder am Computer und habe eben erst
verstanden, da er mich aufgefordert hat, meine Zuordnung
zur Besonderen Kategorie zu erklren.
Das pat sogar in meine Geschichte, aber ich werde wohl
darauf zu sprechen kommen, wenn es soweit ist. Frs erste
halte ich die Dinge nur in der richtigen Reihenfolge fest und
hoffe, da es einen Sinn ergibt. Los geht's!

Am darauffolgenden Tag, einem Sonntag, zog Papa sich


kurz nach dem Frhstck in sein Bro zurck, und Tom
ging auf sein Zimmer. Sie sagten, sie knnten nicht mehr.
Mutter und ich hatten beim Frhstck das Thema der Party
in Block B aufgegriffen und die Unterhaltung whrend des
Heimwegs und bis zur Ankunft im Gemeinschaftsbereich
fortgesetzt. Soweit ich mich noch erinnerte, erzhlte ich ihr,
was die Leute angehabt hatten und wer mit wem getanzt
hatte. So, wie sie sich zum Ablauf Party uerte, konnte
man fast glauben, sie wre selbst dabei gewesen.
Papa murmelte etwas Abflliges ber >Weiberkram<,
bevor er verschwand. Vergi nicht, du hast eins geheira-
tet, rief Mutter ihm nach.
Wie knnte ich das je vergessen, sthnte er und ging.
Das war einfach kstlich. Wir muten wohl fnf Minuten
gelacht haben. Whrend dieses Heiterkeitsausbruchs stand
Tom auch auf.
Ich war so guter Dinge, da ich Mutter tatschlich nach
ihrer Kindheit fragte.
Sie hatte ein Album mit alten Familienfotos, und wir
schauten uns Bilder an, auf denen sie irgendwelche Veran-
staltungen besuchte. Es war eine merkwrdige Vorstellung,
da die Huser auf den Bildern wahrscheinlich schon zu
Ruinen verfallen waren - ihre Heimatstadt war zu klein, um
eine Kuppel darber zu errichten.
Aber sie hielt sich nicht lange damit auf und wurde auch
nicht sentimental, wie es sonst oft der Fall war. Diesmal hat-
te sie viele wirklich lustige Geschichten zu erzhlen und lie
nicht anklingen, wie schlimm es hier oben war. Ein
wichtiges >Familienerbe< oder hnlichen Unsinn vertraute
sie mir indessen nicht an. Solche Dinge hob sie sich fr ihre
Freundinnen auf.
Schlielich muten wir mit dem >Weiberkram< aufhren,
denn ich war mit Randy zum Lernen verabredet. Als ich
ging, holte Mutter sich gerade ein Buch von dieser Olson
auf den Monitor, aber anders als sonst regte ich mich nicht
darber auf.
Whrend ich zum B-Block unterwegs war, gingen mir
stndig Fragen durch den Kopf, die ich bezglich ihrer
Kindheit hatte. Wie es zum Beispiel gewesen war, Rcke zu
tragen - vielleicht konnten Randy und ich einen Tanzkurs
machen, im unteren Ende des Pilzes. Zu diesem Anla
trugen die Mdchen nmlich Rcke. Und was fr ein Gefhl
wre es wohl, unter freiem Himmel frische Luft zu atmen,
ohne Temperaturkontrolle, und wie das mit den Tieren war,
die frei umherwanderten?
Mr. Schwartz war wieder ausgegangen und hatte Randy
sich selbst berlassen. Fr den Fall, da der CPB uns ber-
wacht und Verdacht geschpft hatte, beschlossen wir, zuerst
die Hausaufgaben zu machen.
Also unterhielten wir uns fr eine Weile auf japanisch,
spanisch und esperanto, machten ein paar bungsaufgaben
und verbrachten ansonsten viel Zeit damit, Hndchen zu
halten und zu lesen. Als es Zeit zum Mittagessen war, gin-
gen wir in die Cafeteria von Block A, nahmen unser
Arbeitsessen in Empfang und begaben uns sofort wieder an
die Arbeit.
Gegen 14:00 reckte Randy sich und sagte: Httest du jetzt
Lust, das Zeug durchzuarbeiten, das wir uns gestern be-
schafft haben? Mir ist da gerade etwas eingefallen. Mchtest
du dir mal diese Dateien ansehen?
Pos-def.
Wir ffneten sie, um herauszufinden, wie eine >Besondere
Kategorie< definiert war. Soweit ich wei, sagte Randy,
fllt jeder darunter, der hchstens ein Geschwister hat.
Also drften auch wir dazu zhlen. Aber ich wte nicht,
welchen Sinn das haben sollte.
Ich sichtete die technischen Dokumente. Ich habe den
Eindruck, mich in ein vllig neues Fachgebiet einzuarbeiten.
Angeblich behandeln wir in der Schule alle Fcher, und wir
stehen kurz vor dem Abschlu - weshalb ist dies hier dann
so fremd?
Die nchste Stunde verbrachten wir mit Diskussionen und
der Suche nach Lsungsmglichkeiten, und wir waren noch
immer nicht dazu gekommen, unsere eigenen Dateien zu
sichten, als wir das Puzzle schlielich zusammengesetzt
hatten.
Das Ergebnis lautete wie folgt:
In einer auf Konsens ausgerichteten Gesellschaft mchte
niemand das Amt eines Anfhrers bernehmen, denn dieser
Posten ist nicht mit den Privilegien ausgestattet, die in einer
Diktatur oder reprsentativen Demokratie blich sind. Und
niemand, der in einer solchen Gesellschaft sozialisiert
wurde, wird Manahmen ergreifen, bevor er nicht wei, was
die anderen Menschen wollen. Auch wenn man eine groe
Mehrheit von Konsens-Suchern bentigt, kommt es doch
vor, da schnell eine schwierige Entscheidung getroffen
oder eine wichtige Aufgabe delegiert werden mu; und dazu
braucht man ein paar Exzentriker - die Kinder der
>Speziellen Kategorie<.
Schon aufgrund dieser Definition mssen sie in der Lage
sein, auch ohne ffentliches Votum zu handeln, schwierige
Entscheidungen zu treffen und sich auf ihr eigenes Urteil zu
verlassen. War die Entscheidung richtig, sind sie Helden;
war sie falsch (und wenn eine Soziett nach funktionalen
Kriterien organisiert ist, wird das exzentrische Individuum
sich fast immer irren), sind sie das, was wir als Assis
bezeichnen. Sie mgen wohl Freunde haben und zum Teil
sogar populr sein, aber sie knnen sich dieser Freund-
schaften nie so sicher sein wie Kinder, die normal auf-
wachsen. Sie hinterfragen jede Entscheidung, die der Grup-
pe und ihre eigenen. Manchmal versuchen sie, etwas vllig
Unerwartetes zu tun, nur um sich in ihrer Andersartigkeit zu
profilieren.
Obwohl sie ein ffentliches rgernis darstellen, mu man
sie immer >auf Vorrat< haben, denn manche von ihnen
erweisen sich am Ende als zu verschroben, zu inkompetent,
zu egoistisch - Assis eben. Auerdem braucht man Alterna-
tiven fr Berufe wie Kapitn, Chef-Agrarwissenschaftler,
Brgermeister und so weiter.
Und was geschieht mit den berzhligen, die man produ-
ziert und dann nicht bentigt?
Einige wenige werden wirklich Assis oder Kriminelle. Die
meisten jedoch werden jmmerliche Existenzen, die ihren
Job schlecht machen. Viele enden als Arbeitsschtige, die
ihre Arbeit zwar gut erledigen, die Menschen aber hassen.
Dieser Typus ist stark prsent - auf der Erde versucht man
erst gar nicht, die Anzahl der Menschen der >Speziellen
Kategorie< zu kontrollieren, und wenn man sich anschaut,
wie sie dort unten leben, stellt man fest, da sie wirklich
berhand genommen haben. Was gleichzeitig auch die
ganze Geschichte der Erde erklrt, wenn ihr mich fragt.
Man erschafft Leute wie mich und Randy und Tom (und
vielleicht auch solche wie euch, wenn ihr von der Erde
stammt), indem man sich Methoden bedient, die in den 50er
und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt
wurden. Offenbar traten in den USA nationale Verwerfun-
gen wegen des Verschwindens von >Individualismus< auf,
was immer dieser Begriff auch bedeuten sollte, und man
gelangte zu der Ansicht, da mehr Assis bentigt wrden.
Wie dem auch sei, man fand ein Rezept zur Produktion von
Assis: man lasse Kinder in Kleinfamilien aufwachsen, damit
sie mehr Zuwendung erfahren und sich daraufhin fr etwas
Besonderes halten, und man trage Sorge dafr, da sie nicht
zu teilen lernen. Man zwinge sie, in jungen Jahren viel Zeit
allein zu verbringen. Man manipuliere ihr Sozialleben,
damit ihr Status bei den Gleichaltrigen sich verndert und
sie sich daran gewhnten, die Anerkennung zu >verdienen<,
die den meisten Menschen automatisch zufllt. Man gebe
sie in die Obhut von Eltern mit abweichenden Werten, so
da sie mit einem grundstzlichen Mitrauen gegenber
anderen Menschen aufwachsen.
Ich erinnere mich nicht mehr, worber wir sprachen,
nachdem wir das gelesen hatten. Oder ob wir berhaupt
etwas gesagt hatten. Ich glaube, wir waren einfach zu
perplex.
Schlielich standen wir auf und wuschen uns das Gesicht.
Weil die Arbeit getan war und wir beide den Eindruck
hatten, von der ganzen Welt verraten worden zu sein, be-
schlossen wir, zu Abend zu essen und danach etwas Sport
zu treiben. Morgen wrde alles anders aussehen. Ich rief
Mutter an und sagte ihr, da wir essen gingen; sie blinzelte
mir zu, und pltzlich fhlte ich mich besser, ohne zu wissen,
weshalb.
Beim Abendessen sprachen wir aus dem Stegreif
japanisch, als Randy pltzlich zu Englisch wechselte und
sagte: Ich hatte ein wenig herumgeschnffelt, bevor du
kamst. Erinnerst du dich noch, wie Dad etwas eingetippt hat,
nachdem er die Bilder gemacht hatte? Ich habe heraus-
gefunden, da er Kopien davon und einen Brief an meine
Mutter geschickt hat.
Wo ist sie denn?"
In Berlin. Sie ist mit einem Plutock verheiratet, der stn-
dig oben lebt. Mit fnf Jahren habe ich sie zurn letztenmal
gesehen; sie besuchte uns whrend des Vorbeiflugs an der
Erde, aber ich erinnere mich nicht mehr an sie. Sie war
Tnzerin in einem der Null-Gravo-Clubs. Er trank einen
Schluck Milch. Normalerweise denke ich nur zu Weih-
nachten an sie, wenn sie mir Geld fr eine neue Kombi und
eine neue Uniform schickt; Dad verlangt dann von mir, da
ich mich bei ihr bedanke. Ich wei, er htte es gern, wenn
ich ihr ausfhrlicher schreiben wrde, aber sie antwortet eh
nie darauf.
Ich glaube, Vater wnschte sich wirklich, da sie ihn hei-
ratet, aber sie wollte keine Kinder. Zumindest hatte sie das
damals gesagt. Jetzt habe ich zwei Halbbrder; Dad sagt,
wenn der lteste fnf wird, sollte ich ihm schreiben. Aber
ich vergesse immer wieder ihre Namen ...
Wie dem auch sei, ich war ein ausgesprochen neugieriges
Kind, und als ich die Zwischenablage durchsuchte, fand ich
eine an meine Mutter adressierte Sendung. Ich rief sie auf
und ffnete sie. Sie war so kurz, da ich sie wrtlich wie-
dergeben kann: >Wollte dir nur sagen, er wchst schnell und
ist ein guter Junge. Ich bin sehr stolz auf seine Entwicklung.
Schreibe, wenn du an Details interessiert bist.< Randy
zuckte die Achseln. Auf jeden Fall fand ich es nett. Es war
typisch fr ihn, weit du. So ist er eben - harte Schale,
weicher Kern. Er schaute zur Seite, auf die Wand.
Du rgerst dich oft ber ihn. Ich sagte das so beilufig
und sanft wie mglich, wie Papa immer mit Patienten
spricht, wenn er ihnen irgendwo begegnet. Und ich hate
mich dafr, da ich Randy auf die Psychotour kam.
Ja, ich rgere mich ber ihn, besttigte Randy. Aber es
ist schon viel besser geworden, seit wir beide eine Therapie
machen. Aber noch nicht so gut, wie ich es mir eigentlich
wnsche. Wenigstens reden wir jetzt miteinander. Er
streckte sich. Dad war so lieb an diesem Wochenende. Ich
meine, ich sah ihn irgendwie mit deinen Augen. Vielleicht
hat es daran gelegen. Er kann wirklich charmant sein, wenn
er will. Ich mute daran denken, als er mich pltzlich
geschlagen hatte...
Er schlgt dich?
He, nicht so laut. Ich will es dir erzhlen, aber doch nicht
der ganzen Cafeteria. Jetzt schlgt er mich nicht mehr - das
war nmlich auch ein Grund fr die Therapie. Aber, ja, er
hat es getan.
Ich war so schockiert, da mir eine wirklich dumme und
irrelevante Frage entfuhr: Wo?
Ach, normalerweise ein Schlag ins Gesicht.
Ich versuchte, mir das vorzustellen. Ich hatte schon ein
paarmal von anderen Kindern Dresche bezogen. Als ich
zehn war, hatten Gwenny Mori und ich uns gegenseitig ein
blaues Auge verpat. Aber beim Gedanken, da ein Erwach-
sener, ein groer, starker Mann wie Mr. Schwartz...
Randy ergriff meine Hand. Schau, sagte er, so schlimm
ist es nicht mehr. Ich wei, es klingt schrecklich, aber es ist
nun einmal geschehen. Klar? Dad nimmt sich das noch viel
mehr zu Herzen als ich, glaube ich. Aber damals, als es
geschah, gerade zu der Zeit, als wir die Schicht wechseln
muten, ging es mir wirklich schlecht, weil ich niemanden
hatte, mit dem ich reden konnte. Ich wollte jemanden, mit
dem ich darber reden konnte, weit du, einen echten
Freund. Aber jetzt ... auf jeden Fall wird es nicht wieder
vorkommen. Er hat sich sehr gebessert, seit wir die Therapie
machen, und ich fhle mich wieder sicher in seiner Ge-
genwart. Alles klar?
Ich nickte und drckte ihm fest die Hand. Ich mchte
nicht, da dir jemals wieder etwas Schlimmes passiert. Auch
nicht das, was schon geschehen ist.
Das wnsche ich dir auch. Er seufzte. Aber ich glaube
nicht, da wir groen Einflu darauf haben. Gut, spielen wir
noch ein bichen?
Sicher. Hndchenhaltend verlieen wir die Cafeteria.
Ich fhlte mich lebendiger als je zuvor, und jedesmal, wenn
ich auf dem Weg zur Sporthalle ein Seil ergriff, kam es mir
so vor, als ob mein ganzer Krper wie eine Gitarrensaite
vibrierte.
Wir machten ein paar gute Spiele, und dann gaben wir uns
einen Gute-Nacht-Ku. Langsam bekamen wir wirklich
Routine. Ich wute, da Miriam mich deswegen ausgelacht
htte - sie machte schon Petting, seit sie zehn war, und
angeblich hatte sie schon mit drei Jungen das Andock-
manver durchgefhrt -, aber fr mich war es wundervoll,
und ich hatte es auch nicht eilig. Auch in dieser Hinsicht
war der Weg das Ziel.

He! Es ist noch frh! Einen ganzen Tag in ein paar


Stunden niedergeschrieben. Ich werde in den Gemein-
schaftsraum gehen und mich noch ein wenig mit Susan
unterhalten; dann lege ich mich ins Bett, so da ich morgen
ausgeschlafen zur Schule komme.
Vielleicht werde ich auch noch ein Gesprch mit Dr.
Lovell fhren. Oder vielleicht werde ich mich auch nur
hinten in den Raum setzen und den Unterricht stren. Wenn
es eh nicht darauf ankommt, sollte ich es mir wenigstens so
angenehm wie mglich machen.
Morgen mehr, okay?
KAPITEL ZEHN
...............................................................

In der nchsten Woche war Sprachunterricht, und am


Montag wurde fast nur Konversation gebt. Fr einen guten
Schler ist das fast wie Ferien, denn es wird nur geredet.
Wenn die ehemalige Muttersprache der Familie an der
Reihe ist, schliet man sich einer Gruppe an, um die Wahl-
pflichtsprache zu ben. Das macht viel Spa, denn diese
bung wird nicht benotet. Meine Wahlpflichtsprache ist
Suaheli, und ich bin wirklich gut darin; Suaheli ist viel
leichter als Japanisch und interessanter als Esperanto und
Spanisch. Zu meiner Erleichterung war Theophilus in der
Franzsisch-Gruppe und hatte mit mir und Randy (der
Russisch lernte) nichts zu schaffen.
Im bersetzen bin ich wirklich lausig, aber ich bemhe
mich zumindest. An diesem Tag bestand die Suaheli-Gruppe
nur aus vier Leuten, und M'tsu und Lisa verstrickten sich in
einen sinnlosen Streit wegen der Luftsporthalle, so da Mi-
riam und ich uns gegenbersaen. Konversation ist Pflicht -
wenn es in dieser Veranstaltung eine Regel gibt, dann die,
da man etwas sagen mu. Also kamen wir nicht umhin, zu
kommunizieren.
Zuerst unterhielten wir uns nur ber den Unterricht und
erzhlten uns Witze, doch pltzlich sagte Miriam: Ich wei
nicht, was geschehen ist.
Willst du mir erzhlen ...
Ich meine, was geschehen ist - mit unserer Freundschaft,
weit du. Sie schaute auf den Tisch. Ich fasse nicht, was
ich manchmal zu dir gesagt habe. Oder was ich immer noch
mache.
Ich sagte, es wre schon in Ordnung. Wir beide wuten,
da ich log. Ich wollte sie fragen, welche Rolle Theophilus
bei der ganzen Sache spielte, aber ich wute nicht, wie ich
es formulieren sollte, ohne einen Streit zu provozieren,
zumal die bung nur fnfundvierzig Minuten dauerte.
Manchmal ndern die Dinge sich, sagte ich in der
Hoffnung, damit zu einem weniger heiklen Thema zu
wechseln.
Ich hatte den Eindruck, da ihr Trnen in die Augen
stiegen. Hattest du jemals das Bedrfnis, da die Leute
Notiz von dir nehmen? Ich meine, viele Leute? Die
Beachtung, die Randy genossen hatte, oder die, die Theo-
philus jetzt zuteil wird?
Ich nickte. Dieses Bedrfnis hat wahrscheinlich jeder von
uns.
Sie schttelte den Kopf. Mir war wirklich sehr daran
gelegen. Schon immer. Sie schaute wieder auf den Tisch.
Es tut mir leid, sagte sie erneut. Wirklich, Mel.
Darauf gab es nicht viel zu sagen, so da ich wieder
meinte, es wre schon in Ordnung, und das Thema wech-
selte. Nach einer Weile sprachen wir ber die blichen Ba-
nalitten, und es war fast wieder wie frher.
Fr den Nachmittag war Individuelle Japanische Kompo-
sition angesetzt, wo alle sich schwertun, selbst unsere drei
japanischen Klassenkameraden.
Damit waren wir fast den ganzen Tag beschftigt, von der
Pause abgesehen, die in der Luftsporthalle stattfand dies-
mal wurde Gleiter-Hockey gespielt.
Theophilus war Tormann der gegnerischen Mannschaft,
und zu meiner tiefen Genugtuung erzielte ich einen Treffer.
Offiziell waren Randy und Theophilus im selben Team, aber
sie gingen sich aus dem Weg.
Ich hatte fast vergessen, da Randy einen Termin bei Papa
hatte. Wir sprachen nicht viel auf dem Heimweg; ich glau-
be, er war nervs.
Papa erwartete Randy schon, und sie gingen schnurstracks
in seine Praxis. Ich versuchte, vor dem Abendessen noch
etwas zu arbeiten. Ziemlich oft hrte ich Randys Stimme,
was bedeutete, da er laut wurde, denn Papas Praxis ist
bekanntlich schallisoliert.
Eine halbe Stunde hatte ich nur dagesessen und ber
Randy nachgedacht, ohne das geringste zu arbeiten. Das
konnte ich mir nicht leisten - bis Freitag mute ich einen
Vier-Ebenen-Bericht erstellen und in mehrere Sprachen
bersetzen. Seufzend startete ich das Suchprogramm und
rief wieder Dokumente aus der Bibliothek auf. Dann spei-
cherte ich sie auf der untersten Ebene ab und plazierte die
Schsselworte als Markierungen auf der dritten Ebene. Das
ist zwar eine ziemlich stumpfsinnige Arbeit, die aber auch
einen hohen Zeitaufwand und Konzentration erfordert, und
genau das brauchte ich jetzt.
Miriam hatte mir bei dieser Unterhaltung mehrmals etwas
sagen wollen. Dessen war ich mir sicher. Vielleicht war es
etwas Wichtiges, aber was?
Vielleicht wollte sie sich nur mit mir vershnen. Ich zwang
mich dazu, die Konzentration wieder auf die Unterlagen zu
richten, die ich bearbeitete.
Ich hatte das Dokument in den Grundzgen erstellt, die
meisten Funoten eingebaut und wollte mich gerade an die
zweite Ebene begeben, als Randy die Praxis verlie. Die
Augen waren rot gerndert, und er hatte Trnenspuren auf
den Wangen, aber er schien in Ordnung zu sein und wirkte
sogar ruhiger als sonst.
Gut, sagte Mutter. Wo wir alle vollzhlig sind, sollten
wir essen gehen. Sie klang irgendwie formell. Randy,
normalerweise essen wir in der lokalen Cafeteria, und die
Familie it gemeinsam. Wir gehen in die lokale Cafeteria,
weil es dort nicht so voll ist und wir einen Tisch fr uns
haben. Irgend etwas an ihrer Rede gefiel mir nicht, aber ich
wute nicht was es war. Diesmal nahm ich statt des Handys
die Computertasche mit, so da Randy und ich beim Essen
die Hausaufgaben vergleichen konnten. Tom hatte seinen
Computer auch dabei; Mutter beschwor zwar immer den
Zusammenhalt der Familie; indes kam es oft genug vor, da,
wir wohl am selben Tisch saen, aber jeder mit dem
Computer oder Lesegert zugange war.
Die Korridore lagen fast verlassen, so da wir die Netze
fr uns allein hatten; die meisten Leute essen gleich nach
dem Ende der Arbeits-Periode II ihrer Schicht zu Abend,
und fr die A-Schicht wre das erst in ber einer Stunde der
Fall. In der Cafeteria angekommen, setzten wir uns an einen
Fnfertisch.
Diesmal gab es etwas ganz Besonderes - Hhnchen! so da
die Mahlzeit fast schweigend verlief, von den blichen
Bemerkungen einmal abgesehen, da die Agraringenieure
sich mehr Mhe geben sollten.
Als wir aufgegessen hatten, fragte Mutter: Randy, wie
viele Geschwister hast du denn?
Keine, erwiderte er. Ich bin ein Einzelkind.
Oh. Deine Eltern mssen ...
Nein. Er schttelte den Kopf. Ich lebe nur mit meinem
Vater zusammen.
Mutter lchelte. Und was macht dein Vater beruflich?
Er ist im Auendienst. Vakuum-Extrusion. Und er ist
Vizeprsident und Sekretr der rtlichen Sektion der Ge-
werkschaft der Vakuum-Arbeiter.
Es hatte den Anschein, als ob Mutter Randys Standing
demontieren wollte, aber das ist ein Spiel, das nur Kinder
spielen - Erwachsene tun das nicht, jedenfalls nicht vor uns.
Papa rettete die Situation mit einer langen und lustigen
Geschichte - ich nehme zumindest an, da sie lustig sein
sollte, auch wenn niemand von uns lachte -, und dann
befanden er und Mutter sich in einem dieser Kmpfe, die nie
nach einem Kampf aussehen, es sei denn, man wei so gut
Bescheid wie ich. Das bedeutete konkret, da sie den Rest
der Welt fr die nchsten paar Stunden ignorieren wrden.
Tom, sagte ich, weit du, was das Interessante an
deinen CSL-Problemen war?
Nein, was denn?
Ich habe sie durchgerechnet und erkannt, da sie alle
unlsbar waren.
Tom schnaubte. Und dann wundern die Leute sich, da
ich Schwierigkeiten in CSL habe. Wie knnen die Probleme
aber unlsbar sein, wenn ich sie gelst habe?
Ich schttelte den Kopf. Das ist gerade der Punkt. Du hast
sie nicht gelst. Du hast nur die Antworten gewut - es gab
jedoch keine rationale Mglichkeit, die Lsungen zu
ermitteln. Irgendwie ist es dir halt gelungen.
Tom zuckte die Achseln. Du denkst dabei an die Beweise
fr die Unlsbarkeit im Buch. Es ist mir nie gelungen, einen
derartigen Beweis zu fhren. Und ich verstehe auch nicht,
weshalb ein Problem, fr das es eine Antwort gibt, unlsbar
sein soll.
Hilfesuchend sah ich Randy an; er schaute auf, wobei er
rein krperlich zwar in der Roswalds-Cafeteria sa, in
Gedanken jedoch wahrscheinlich ganz woanders war. Mal
der Reihe nach, sagte Randy. Du hattest also eine Reihe
unlsbarer Aufgaben bekommen? Es ging nicht nur darum,
zu ermitteln, ob sie zu lsen waren, sondern du solltest sie
tatschlich berechnen - ohne einen Hinweis oder eine
Warnung? Nichts, woraus hervorging, da etwas an ihnen
ungewhnlich war?
Nicht das geringste Indiz, besttigte Tom. In meinen
Augen waren es ganz normale Aufgaben.
Und du hast sie gelst. Hmm. Hast du eine Kopie,
Melpomene?
Ich hatte eine. Randy berflog meine Beweisfhrung.
Schlielich sagte er: Nun, diese Probleme sind auf jeden
Fall unlsbar.
Mir ist noch immer nicht klar, woher du das wissen
willst, vor allem, wenn die Antworten so offensichtlich
sind.
Daraufhin wollten wir es ihm erklren. Aber zu diesem
Zeitpunkt hatten Mutter und Papa ihren Streit bereits
beendet. Obwohl ich es schon so oft gesehen habe, begreife
ich noch immer nicht ganz, wie sie in der ffentlichkeit
diese faszinierenden Streitigkeiten austragen und dabei die
ganze Zeit lcheln und so leise sprechen knnen.
Wir gingen zusammen nach Hause. Ich glaube, Mutter war
etwas berrascht (und womglich nicht begeistert), da
Randy Tom und mich begleitete, aber weil wir alle auf
Toms Zimmer gingen, konnte sie kaum etwas dagegen
sagen.
Eine Stunde lang konstruierte Randy unlsbare mathema-
tische Probleme, ich transferierte sie in CSL, und Tom fand
binnen fnf Minuten die Antworten; er sa einfach nur da
und dachte nach. Das war die verrckteste Sache, die uns je
untergekommen war - und noch verrckter wurde es da-
durch, da er die Konzeption der Probleme berhaupt nicht
nachvollziehen konnte. Sie kommen mir wie ein Puzzle
vor, bei dem nur ein Teil fehlt, sagte er. Man wei
natrlich, welche Gestalt es hat und welches Bild es zeigt -
anders knnte man es auch gar nicht zusammensetzen. Aber
was ich berhaupt nicht verstehe, ist, wie ihr auf diese
Schritte kommt, die ihr da eingebt.
Also erklrten wir es ihm, und auf diese Art erteilte Randy
mir intensiven Nachhilfeunterricht in Mathe; er zeigte mir
weniger die Prozeduren, mit denen ich selbst recht gut
vertraut war, sondern erklrte mir seine Betrachtungsweise
eines Problems. Randy meinte, ich htte ihm analog zu
diesem Verfahren bei seinen CSL-Aufgaben geholfen; das
war nicht nur nett von ihm, sondern entsprach vermutlich
auch der Wahrheit.
Aus irgendeinem Grund sprach Tom auf die kombinierten
Bemhungen von Randy und mir viel besser an als auf
meine bisherigen Versuche; er lernte wirklich schnell.
Hmmm, sagte er, nachdem er zum erstenmal in seinem
Leben mehrere Probleme erfolgreich bearbeitet hatte, Ich
glaube, langsam bekomme ich den Durchblick. Ihr solltet
Lehrer oder Professoren werden... ihr seid ein groartiges
Team.
Ich wei nicht, weshalb Randy errtete; ich wei nicht
einmal, weshalb ich mich verlegen fhlte. Aber Tom
bersah das geflissentlich. Er beschftigte sich bereits mit
einem neuen Problem. Vor dem Schlafengehen schaffe ich
vielleicht noch ein Dutzend dieser Aufgaben. Ihr knnt
ruhig mit eurer eigenen Arbeit weitermachen ... Randy
schaute so verlegen, wie ich mich fhlte. Die Esperanto-
Prsentation fr morgen habe ich noch nicht einmal
angefangen.
Ich auch nicht, gestand ich.
Tom schaute auf die Uhr in der Ecke des Bildschirms;
noch eine knappe Stunde bis zur Sperrstunde. Es tut mir
leid! Ich habe euch doch tatschlich aufgehalten! Nun war
er verlegen. Was mt ihr denn noch machen?
Wir mssen morgen ein fnfmintiges Referat auf
esperanto halten, sagte ich. Es geht dabei um die Frage,
ob die Arbeiten am Bau des Frachtraums beschleunigt
werden sollen. Wir haben die entsprechenden Daten, so da
es schon nicht so schlimm werden wird, aber vorher mssen
wir Dr. Niwara eine Kopie des Textes aushndigen.
Ihr mt es nicht memorieren, oder? fragte er.
Nein, wir drfen von einem Teleprompter ablesen, aber
wir beide sind nicht sehr gut in Esperanto, erklrte Randy.
Nun, ich bin Klassenbester in Esperanto, sagte Tom.
Ihr drft doch einen Schablonen-Translator >benutzen?
Sicher.
Gut, dann hack etwas auf englisch hinein, erstelle eine
grobe bersetzung, und ich helfe dir dann, sie stilistisch
aufzupolieren. Das ist das mindeste, was ich tun kann.
Also geschah es. In Englisch bin ich sehr gut, und Randy
ist auch ganz gut, so da wir schnell fertig waren; dann
schickten wir den Text durch den Translator und erhielten
die bersetzung in Esperanto. Bei anderen Ausgangs-/Ziel-
sprache-Kombinationen funktioniert das kaum; weil Eng-
lisch jedoch eine lineare Struktur aufweist und Esperanto
auch ber einheitliche Strukturen verfgt, war das Resultat
ganz brauchbar. Tom nahm ein paar Korrekturen vor, glt-
tete den Text stilistisch, und dann waren wir fertig.
Fast im selben Moment, als wir den Text in den Notebooks
abgespeichert hatten, wies der Zentralrechner Randy mit ei-
nem optischen Signal auf die kurz bevorstehende Sperr-
stunde hin. Ich mu gehen, sagte er mit einem Anflug des
Bedauerns in der Stimme. Wir sehen uns morgen im
Unterricht, Melpomene. Hat mich gefreut, Tom.
Tom lchelte. Du hast mir sehr geholfen. Ich bin froh,
da wir uns wenigstens einmal pro Woche sehen und ich
htte auch nichts dagegen, wenn Melpomene dich fter mit
nach Hause bringen wrde.
Ich war unschlssig, ob ich meinen Bruder nun umarmen
oder in den Hintern treten sollte. Wir zuckten die Achseln,
sagten >Gute Nacht<, und er ging nach Hause.
Ich arbeitete gerade die Prsentation durch, als ich hrte
wie meine Eltern sich stritten; ich wei wohl, da nicht
einmal Papa es mag, wenn ich bei solchen Anlssen zuhre,
aber schlielich belauscht er die Leute sogar von Berufs
wegen, und wie heit es auch so richtig auf dem Schild im
Klassenzimmer: >Die Sorgen des Einzelnen sind die Sorgen
der Allgemeinheit<. Ich vermag nicht einzusehen, weshalb
diese Prmisse fr das Schiff gelten soll, nicht aber fr die
Familie.
Papa sprach in diesem ultrarationalen Tonfall, der charak-
teristisch fr ihn ist, wenn er befrchtet, da Mutter gleich
loskeift. Helen, da dies passieren knnte, wutest du
schon, als du den Vertrag unterschrieben hast. Wie du dich
sicher noch erinnerst, warst du es, die mir die Fabel vom
Fuchs und dem Lwen erzhlt hat. Nun, nach solchen
Erfahrungen werden die Menschen zu Lwen. Ich wei, da
sie nicht so attraktiv sind wie andere Kinder ...
Nicht so attraktiv! Dieser kleine Schwartz ist ein Schl-
ger, und sein Vater schlgt ihn. Hat aber den Anschein, da
er es verdient. Ich hrte ihren pfeifenden Atem. Das ist
doch kein Partner fr Melpomene!
Papa seufzte. Sprich leiser - die Kinder kennen unsere
Vorstellung von Privatsphre nicht.
Das ist eine andere Sache. Melpomene...
... ist ein Kind, das sich durchaus in die Umwelt einfgt.
Mit einer groen Liebebedrftigkeit, einer berbetonung
des Glcksanspruchs und einem gewissen stillen Charisma.
Dieses Persnlichkeitsprofil wird vom Brgermeister erwar-
tet, wenn das Schiff voll einsatzbereit ist. Und ein herzliches
Verhltnis...
Herzliches Verhltnis! Im Abstand von einem Atemzug
ertnten zwei dumpfe Gerusche; wenn Mutter wirklich in
Rage gert, stampft sie mit dem Fu auf, wobei sie leider
vergit, da der Boden hart ist und ihre Schuhe leicht sind,
mit dem Effekt, da sie in der niedrigen Schwerkraft direkt
an die Decke katapultiert wird. Ich konnte mir vorstellen,
da sie sich verletzt hatte und sich gleichzeitig den Fu und
den Kopf rieb und Papa mit einer Handbewegung verscheu-
chte, als er sich ber sie beugte. Ich bekam es fast nicht mit,
als sie sagte: Weshalb gibst du es nicht einfach zu? Du hast
deine Tochter vorstzlich zu einer Neurotikerin gemacht,
und jetzt willst du sie noch mit einem psychotischen Kind
verkoppeln.
Papa senkte die Stimme, was in der Regel ein Indiz dafr
war, da er wtend wurde. Helen, wir sprechen nicht nur
von dem Plan hier. Niemand wird Melpomene die Pistole an
den Kopf setzen und sie zu einer Heirat zwingen, ebenso-
wenig, wie wird sie ohne ihre Zustimmung als Brgermei-
sterkandidatin aufstellen. Und wir werden sie auch nicht
einer Gehirnwsche unterziehen. Wie jeder von uns ist sie
nur ein Produkt ihrer Erfahrungen. Der einzige Unterschied
- der wirklich einzige - ist der, da noch mehr von ihrer Art
fr einen besonderen Anla geplant sind. Wenn du jetzt in
ihr Zimmer gehen und sie fragen wrdest, wozu sie 2038
oder 2040 Lust htte, wre es sehr gut mglich, da sie sagt,
sie mchte sich fr den Rat bewerben - um dann in den
2050ern als Brgermeisterin zu kandidieren. Und wenn sie
sich bisher noch keine Gedanken darber gemacht hat, wird
sie es noch tun. Wir haben ihre Entscheidungen vielleicht
geplant - aber sie trifft sie noch immer selbst. Ich glaube
nicht, da sie es mir belnhme, wenn ich jetzt zu ihr gehen
und ihr sagen wrde, was wir getan haben.
Das zeigte nur, wie wenig er mich kannte. Ich war wtend!
Htte er mich auch nur halbwegs aufgeklrt dann htten
Randy und ich nie die Umstnde und das Risiko auf uns
genommen, herumzuschnffeln. Eines stand fest - wenn ich
erst einmal Brgermeisterin war, wrde dieser ganze blde
Privatkram abgeschafft. Keine privaten Dateien mehr. Wenn
ich die Leute dazu bewegen knnte, wrden alle Tren aus
den Wohneinheiten entfernt.
Aber das, was Papa dann sagte, vershnte mich wieder mit
ihm.
Und was Randy betrifft - er ist ein guter Junge. Im
Grunde der beste. Im letzten Jahr haben wir ihn bis zum
Exze unter Druck gesetzt, und es ist nichts passiert, auer
da seine Aggressivitt sich leicht erhht hat. Wenn wir die
Lage so verndern, da seine Akzeptanz zunimmt entspricht
sein Persnlichkeitsprofil exakt den Anforderungen eines
Schiffsoffiziers. Im Grunde knnte man ihn sich sogar als
Kapitn vorstellen.
Leicht erhhte Aggressivitt, ja? Wendy hat gesagt, er
wrde...
Ja, er gert mit ihrem Sohn aneinander. Kein Wunder. In
meiner Eigenschaft als Experte fr mentale Gesundheit mu
ich dem kleinen Ted Harrison attestieren, da er ein Arsch-
loch ist.
Mutter schnaubte. Dir ist auch nichts zu absurd wenn du
mich nur belehren kannst. Es fllt mir schwer zu glauben,
da du dir das Familienprofil der Harrisons angeschaut
hast...
Doch, ich habe es mir angeschaut, und gerade deshalb
wei ich, da dieser junge ein Arschloch ist. Aber er wird
sich auch noch anpassen mssen. Im Moment sieht es so
aus, da unsere Kinder den Gestank der Erde von ihm
abwaschen und ihm beibringen, was sie schon seit ihrer
Geburt wissen - sie tun es allerdings auf die rauhe Art, denn
er mu es schnell lernen.
Die Vorstellung, da Theophilus mehr unter uns litt als wir
unter ihm, erschien mir reichlich bizarr. Ich konnte mich
dem nicht anschlieen. Ich war schon versucht, hinauszu-
strmen und Papa auf seinen fundamentalen Irrtum hinzu-
weisen, als mir bewut wurde, da ich dann beide gegen
mich aufbringen wrde.
Pos-def wre es der falsche Zeitpunkt gewesen. Mutter
weinte und schrie ihn an, dieses quengelnde Heulen, in das
sie immer verfllt, wenn sie eine Auseinandersetzung verlo-
ren hat, und Papa versuchte, ihre Tiraden zu stoppen. Wenn
sie sich so auffhrt, verstehe ich sie nicht einmal, wenn ich
mich im selben Raum wie sie aufhalte, aber fr Papa ist das
anscheinend kein Problem.
Als sie dann nur noch schluchzte, sagte er schlielich:
Helen, was erwartest du denn von mir? Oder von uns
allen? Die Erde gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht die Erde,
die wir kannten. Es wird nie wieder so sein wie vor dem
Groen Sterben und dem Eurokrieg. Und diese Kinder sind
auch nicht dazu verpflichtet, die Erde im alten Glanz
wiederauferstehen zu lassen, nur weil ihre Eltern es so
wollen.
Schniefend nuschelte sie etwas; ich verstand fast nichts,
nur Satzfetzen mit >Freiheit< und >Menschenwrde< und
dergleichen.
ber diese Frage mssen sie entscheiden. Vielleicht
stimmt es ja wirklich, da die Menschen auf diese Art nicht
sehr lange berleben knnen. Aber die hohen Verluste an
Menschen und Sachwerten sind der beste Beweis dafr, da
ein Leben wie bisher auch nicht mehr mglich ist. Der
Individualismus ist tot, weil er nicht funktioniert hat.
Ich hrte, wie sie in ihr Zimmer eilte. Dann knallte die Tr
zu. Nun war Papa allein im Gemeinschaftsraum. Eigentlich
htte ich zu ihm gehen sollen, aber ich wute nicht, was ich
htte sagen sollen.
5. JANUAR 2026

Ich zeigte Dr. Lovell mein Elaborat. Meinen Sie wirklich,


wir sollten es dabei bewenden lassen? Damit ein Planet
voller Assis Grund hat, sich zu rgern? (Entschuldigung,
ihr Leser auf der Erde. Aber das, was ich gesagt habe, trifft
praktisch auf jeden von euch zu.)
Sie zuckte die Achseln. Das sollen andere Leute entschei-
den, Melpomene. Aber wie fhlst du dich denn?
Weil ich es geschrieben habe? Es hat mir viel gebracht.
Zuerst glaubte ich, vor Glck zu zerspringen. Mein Gott -
Brgermeisterin, wenn ich so weitermache wie bisher. Und
Randy vielleicht als Kapitn.
Sie nickte mehrmals. Und was dann?
Dann ist viel passiert. Ich war ganz verwirrt und habe
mich ber die vielen Vorkommnisse aufgeregt.
Und obendrein hatte ich den Plan fast ganz vergessen.
Vielleicht wollte ich nicht da es sich so entwickelt.
Ganz am Anfang hast du geschrieben, du wrdest
Brgermeisterin werden. Sie sa direkt vor mir und schau-
te mir in die Augen. Wie bist du auf diese Idee gekom-
men?
Ich werde Brgermeisterin. Aber nicht so, wie es vorge-
sehen ist. Die Geschichte gefllt mir, aber ich glaube, wir
Kinder sollten sie besser fr uns selbst schreiben. Sie
nickte, beugte sich vor und drckte mir die Hnde. Eine
Sache ist mir nicht ganz klar, Melpomene. Knnte es sein,
da du nach den Ereignissen des darauffolgenden Tages -
als du und Randy quasi einen Vorgeschmack auf eine Fh-
rungsposition bekommen habt - beschlossen hast, da du es
doch nicht mchtest und dich mit Anstand aus der Affre zu
ziehen? Hltst du dich jetzt selbst zum Narren?
Da hatte ich zum erstenmal den Eindruck, da Dr. Lovell
doch keine Niete war. Deshalb lie ich das, was sie gesagt
hatte, mir den ganzen Abend grndlich durch den Kopf ge-
hen, anstatt zu schreiben. Susan und Thomas sind schon zu
Bett gegangen, und gleich ist Sperrstunde, und ich habe
noch immer keine Antwort gefunden.
Also werde ich euch morgen erzhlen, was sich als
nchstes ereignet hat, und wie ich mich dabei fhlte;
vielleicht hilft es mir, herauszufinden, was ich wirklich will.
KAPITEL ELF
...............................................................

6. JANUAR 2026

Ich wei es immer noch nicht. Mit ihrer Frage hat Dr.
Lovell etwas Merkwrdiges in meinem Gehirn ausgelst.
Also erzhle ich euch nun von den weiteren Ereignissen.
Vielleicht findet ihr eine Antwort.
Am nchsten Tag hielten wir unsere Referate - Randy und
ich zeigten eine gute Leistung. Dann schockte Dr. Niwara
uns mit der Ankndigung, da zur Ermittlung der Mann-
schaftskapitne fr das Aerocrosse ein Blitzmathe-Wettbe-
werb stattfinden wrde. Das kommt ziemlich oft vor -
Mathe mitten in einer Woche mit Sprachunterricht. Ich glau-
be, damit soll erreicht werden, da wir geistig flexibel blei-
ben.
Es wurden wieder sieben Vierer-Teams gebildet. Da die
Mannschaftskapitne in einem Mathewettbewerb ermittelt
wurden, htte ich sie jetzt schon benennen knnen. Mit
Sicherheit wrde Theophilus Kapitn von Team Eins und
Randy von Team Zwei - er versteifte sich pltzlich, als
Barry Yang flsterte: Man sollte vielleicht Knigsblau als
Mannschaftsfarbe whlen. Im Geiste merkte ich mir Barry
fr einen schnen, harten Bodycheck vor.
Gwenny Mori wurde Kapitn von Team Drei, Kwame von
Team Vier und Padraic von Team Fnf. Man sah wirklich,
wer in der letzten Zeit mit wem herumgehngt hatte - so we-
nig ich Theophilus auch mochte, mute ich doch zugeben,
da er ein Mathegenie war und anscheinend auch ein guter
Mentor.
Team Sechs, sagte Dr. Niwara. Miriam Baum. Auch
aus dem Freundeskreis von Theophilus. Er besa wirklich
pdagogisches Talent.
Team Sieben, Melpomene Murray.
Da Miriam Mannschaftskapitn wurde, war schon ein
Erfolg - da ich es wurde, war schier unglaublich. Aber es
war eine Tatsache - ich wrde Team Sieben leiten, das am
Anfang ohne Tor spielte. Etwas von Randy mute auf mich
abgefrbt haben.
Dann hatten wir Paar-Esperanto-Komposition und gingen
anschlieend zum Mittagessen. Weil ich als eine der letzten
den Raum verlie, war die Schlange schon ziemlich lang,
und ich stellte mich hinter Chris Kim an, der sowieso immer
herumtrdelte. Ich war mit ihm ins Gesprch gekommen -
ich hatte schon beschlossen, ihn als ersten in meine Mann-
schaft zu whlen, denn er war ein viel besserer Spieler, als
die meisten Leute ahnten also zog ich ihn mit, als ich zu
Randy ging, der an einem Tisch in der Ecke des Speisesaals
sa.
Damit bildeten wir drei quasi eine eigene Gruppe.
Theophilus und die Richtige Bande hatten den Tisch in der
Mitte mit Beschlag belegt. Die meisten Klassenkameraden
konzentrierten sich um ihn, manche in Theophilus' Nhe,
um zu demonstrieren, da sie dazugehrten, andere etwas
entfernt, aber immer noch so nahe, da sie alles mitbeka-
men. Eines mute man Theophilus zugute halten; seit seiner
Ankunft hatten wir viel mehr Gesprchsstoff'.
Wir setzten uns und unterhielten uns ber Hausaufgaben
und Klausuren, wobei wir Esperanto sprachen; damit
schleimten wir uns nmlich bei Dr. Niwara ein, die auf-
merksam lauschend im Speisesaal umherstreifte.
Ich glaube, da Chris sich immer ein wenig vor Randy ge-
frchtet hatte, aber jetzt hatte er mehr Angst vor Theophilus;
schlielich war er nicht so gut in Mathe, da Randy ihn
deswegen zusammenschlagen wrde, aber Opfer dieser
blen Scherze konnte jeder werden.
Nach einer Weile wurden die beiden warm miteinander.
Wie sich herausstellte, wrden beide Luftball in der B-Ju-
gend der Gewerkschaft spielen, und sie stimmten darin
berein, da ihr Trainer, Bob Mori, noch immer viel zu sehr
der Vorstellung von zwei Krben und einem zweidimen-
sionalen Spielfeld verhaftet war.
Ich freute mich, da ich so gut in Mathe abgeschnitten
hatte und zum Mannschaftskapitn ernannt worden war, und
- ich wei zwar nicht, wo ich diese Gewiheit hernahm, aber
ich wute es einfach - Chris und Randy freuten sich ber
das Zustandekommen ihrer Freundschaft. Wir redeten laut
und lachten albern.
Zufllig schaute ich zu Theophilus' Tisch hinber und
bekam fr eine Sekunde Blickkontakt mit Miriam; sie wirk-
te verrgert. Die Mitglieder des von mir so bezeichneten
>inneren Kreises<, Theophilus, Kwame, Gwenny und
Miriam, unterhielten sich flsternd und ignorierten die
anderen. Damals ma ich dem keine groe Bedeutung bei -
es war schlielich nichts Neues.
Nach dem Mittagessen standen Dialoge auf dem
Stundenplan - sterbenslangweilig!

... WIE GEHT ES DIR HEUTE, MELPOMENE?


... GANZ GUT, DANKE.
... DENKST DU GERADE AN ETWAS BESTIMMTES?
... ICH FREUE MICH AUF DAS HEUTIGE
AEROCROSSE-TURNIER.
... WAS GEFLLT DIR DENN SO AN AEROCROSSE?
... ICH BIN MANNSCHAFTSKAPITN.
... KORMORAN? (Wie ich das hasse! Die doofe KI war
nicht in der Lage, eine Assoziation zwischen >sich freuen<
und >Mannschaftskapitn< herzustellen.)
... MANNSCHAFTSKAPITN IST EINE FUNKTION
IM AEROCROSSE. ICH FREUE MICH SEHR, DIESE
FUNKTION AUSZUBEN.
... GENEHMIGT. (Besten Dank.) WESHALB
MCHTEST DU DENN MANNSCHAFTSKAPITN
SEIN?
Nachdem das eine Stunde so weitergegangen war,
sprangen wir alle von den Bnken auf, als Dr. Niwara
verkndete, da es nun Zeit fr Aerocrosse sei.
Weil Team Sieben bei der Auswahl der Spieler zuletzt an
der Reihe war, konnte ich von Glck sagen, da ich Chris
bekam. Dann whlte ich Penelope Graham aus, nicht etwa,
weil sie ein As war, aber sie fgte sich gut ins Team ein,
und Dmitri Onegin, weil er der letzte war. Er gab sich zwar
alle Mhe, war aber dennoch ein Tolpatsch.
Randy, der Kapitn von Team Zwei, whlte Barry Yang
aus, sicher einer der besten Spieler der Klasse, auch wenn er
Randy in den letzten Tagen kein sehr treuer Freund gewesen
war. Dann fiel seine Wahl auf Rachel DeLane, deren Wurf
die Przision eines Laserstrahls hat; vom Boden aus trifft sie
bis an die Decke der Groen Gemeinschaftshalle. Auerdem
bekam er noch Rebecca Hayakawa; das war seltsam, denn
sonst wurde sie wegen ihrer Kraff und spielerischen
Intelligenz immer schon viel frher ausgewhlt.
Seit dem Anpfiff waren gerade zwei Minuten vergangen,
als die Dinge eine merkwrdige Wendung nahmen. Normal-
erweise sehen die Teams mit hohen Zahlen sich einer star-
ken Verteidigung gegenber, aber diesmal lag etwas in der
Luft, als ob alle auf etwas warteten; nur da ich nicht wute,
was es war.
Der Ohrhrer rauschte. Die Mannschaftskapitne verfgen
sowohl ber einen Kanal zu ihrem Team als auch ber eine
Verbindung zu den anderen Kapitnen; auf diese Art knnen
Absprachen getroffen werden. Wir sind zwar stndig auf
beiden Kanlen auf Empfang, aber wir knnen sie selektiv
anwhlen, wenn wir etwas sagen wollen.
Es war Miriam. He, Melpomene. Falls die Sieben die
Zwei angreifen will, hlt Sechs zwei Blle. Im Moment
hielt jedes Team einen Ball und suchte ein Ziel aus einen
Ball kann man ziemlich leicht abwehren.
Gut, Mim.
Wir kamen von zwei Seiten auf das im Mittelpunkt der
Halle stehende Tor von Zwei zu und nahmen es in die
Zange.
Der Schiffskapitn hatte die Gravitation auf 0,0006 Ge
eingeregelt, so da fast keine Eigendynamik herrschte. Man
konnte wirklich schwimmen. Es war sogar mglich, aus
dem Stand Luft zu treten und sich so hochzuarbeiten.
Miriam stellte M'tsu zur Bewachung des Tors von Team
Sechs ab, worauf dieser es nach unten verlegte, wo er auch
beim Einfangen verirrter Blle helfen konnte - ein kalku-
liertes Risiko, wobei die Sache jedoch schiefgehen konnte,
wenn das Bndnis zerbrach oder jemand anders an den Ball
kam. Als das erledigt war, gruppierten die Teams Sechs und
Sieben sich um das Tor von Zwei, versuchten Treffer zu
erzielen und spielten uns den Ball zu siebt zu. Alle anderen
waren im oberen Bereich der Gemeinschaftshalle verstreut
und wahrten einen Sicherheitsabstand fr den Fall eines
berraschungsangriffs.
Es war ein wirklich gutes Spiel - Randys Team hatte nichts
anderes zu tun, als sich den Bllen in den Weg zu stellen,
und es war klar, da sie spter einige blaue Flecken vorzu-
zeigen htten. Ich ging voll in meiner Rolle als Kapitn auf
und konzentrierte mich auf das Spiel, aber dennoch stellte
ich mit Bewunderung fest, wie Randy mit Team Zwei die
Stellung hielt - ich glaube nicht, da ich mit einem gleich
guten Team das Tor auch nur fr die Hlfte der Zeit htte
halten knnen.
Chris wurde dem Vertrauen, das ich in ihn gesetzt hatte, in
vollem Umfang gerecht; pltzlich kippte er vornber, fing
einen von mir an Dmitri gerichteten Pa ab und zirkelte den
Ball an Barry Yang vorbei ins Tor. Die helle >7< ersetzte
die >2< auf dem Tor, und Randys Team trat den Rckzug
an, wobei sie mit Fallrckziehern auf die Plattformen spran-
gen und zu den dicht gestaffelten Zielen an der Decke
schossen. Sie hofften wohl auf einen schnellen Erfolg, denn
alle Blle befanden sich zur Zeit in den Kreuzen von
Miriams Sechsern und meinen Siebenern.
Ich fing den Karomm-Schu ab, registrierte, da Penelope
auch einen Ball gefangen hatte, und dann verlie ich die
Kapitnsfrequenz, so da Miriam nicht ber unsere nchsten
Schritte informiert wurde.
Dmitri und Chris, schafft das Tor nach oben und bewacht
es. Jetzt gleich. Penny, wir werden die Sechs aufs Kreuz
legen. Stell dich auf eine Fnger-Plattform, als ob du einen
hohen Sprung machen wolltest; aber dann greifst du im
Sturzflug das Tor von Team Sechs an, sobald ich das Zei-
chen gebe. Ich komme von der anderen Seite - schau'n wir
mal, ob es uns gelingt, einen Doppeltreffer zu erzielen.
Miriams Stimme rauschte im Ohr. Gut, Mel, bringen wir
unsere Tore nach oben.
Sie htte es wirklich besser wissen mssen. Weil wir als
erstes Team einen Treffer erzielt hatten, befanden wir uns in
Fhrung - unser Punktestand war plus eins, der von Randys
Zwei minus eins, und alle anderen, einschlielich Miriams
Sechs, hatten null Punkte. Natrlich versucht man immer,
seinen Vorsprung auszubauen.
Nun, wenn sie schon so bld war, konnten wir es auch
ausnutzen. Gut, sagte ich. Dann ging ich wieder auf die
andere Frequenz, so da ich nur mit meinem Team
verbunden war; Chris und Dmitri schoben unser Tor in die
Sicherheit des oberen Hallenabschnitts.

Ich driftete zu einer der Plattformen hinunter, als ob ich


auch einen Hochsprung plante. Penelope war schon auf
Position; so flach, wie sie sich an die Wand drckte, war sie
fast nicht zu sehen.
Ich ging wieder auf die Kapitnsfrequenz. He, Mim, wes-
halb schiebst du das Tor nicht direkt nach oben?
Nach einer Sekunde warf M'tsu Miriam das Tor zu. Es
stieg langsam zu ihr auf. Sie kam ihm entgegen. Ich wech-
selte wieder auf die Teamfrequenz.
Penny, fertig?
Fertig!
Eins, zwei, los!
Wir stieen uns beide ab und hielten direkt auf das Tor zu,
dessen groe grne >6< uns anstrahlte. Miriam kam zwar
schnell nher, aber sie befand sich im Zentrum und konnte
das Tempo nur dadurch steigern, da sie mit voller Kraft
schwamm. Wir hingegen hatten uns von der Wand abge-
stoen, und nach einem tiefen Atemzug hatten wir das
gemchlich aufsteigende-, leere Tor erreicht.
Nicht werfen, Penny, wir markieren es nur. Sie
besttigte und verstaute den Ball in ihrem Kreuz; dann
spreizte sie Arme und Beine, fing das Tor ein und schwebte
damit auf mich zu. Ich nahm die gleiche Krperhaltung ein
wie sie und flog ihr entgegen, wobei das Tor sich fr einen
kurzen Moment zwischen uns weiterdrehte, bis ich es mit
meinem etwas hheren Drehmoment arretierte.
Nun war Miriam in einer hoffnungslosen Lage - wir hatten
eine hohe, nach oben gerichtete Tangentialgeschwindigkeit,
die wir durch Lufttreten noch steigerten, zumal wir zwei
Drittel des Tors mit den Krpern abschirmten. Nur mit
Schwimmen wrde sie uns nie einholen, und weil wir ihr
Tor noch nicht markiert hatten, wrde ein Treffer mit dem
Ball, den sie in der Hand hielt, auch nichts an der Situation
ndern.
Also warf sie mir den Ball mit voller Kraft von hinten
gegen den Helm, und nun erlebte ich aus erster Hand, was
ich Randy vor ein paar Tagen angetan hatte - ich hatte ein
Drhnen in den Ohren, der Hals schmerzte, und die Zhne
klapperten. Ich sah nicht, in welche Richtung der Ball
abprallte.
Penelope holte den Ball aus dem Kreuz und berhrte das
Tor, womit es offiziell in unseren Besitz berging. Dann
packte sie den Ball wieder ein. Bist du in Ordnung, Mel?
Ja. Nur etwas benommen.
Fieser Wurf. Sie hat genau deinen Kopf anvisiert. Auf
das Tor hat sie nicht gezielt. Das konnte sie auch gar nicht.
Es ist legal, sagte ich.
Trotzdem ... , meinte sie, als wir die Plattform erreich-
ten. Wohin jetzt?
Direkt nach oben - bei drei stoen wir uns ab. Ich zhlte,
und dann schossen wir in die Hhe.
Melpomene, das war dein letzter Streich. Es war
Miriams Stimme; sie war auer sich vor Zorn, aber schlie-
lich sind es unter anderem solche Aktionen, die den Reiz
des Spiels ausmachen. Ich hatte versucht, dich mit den
Leuten in Kontakt zu bringen, und du bist mir in den
Rcken gefallen. Du httest dich mit jedem gegen Team
Zwei verbunden knnen, aber du warst nur auf einen billi-
gen Punkt aus.
Ich wurde rgerlich. Das war aber ziemlich teuer fr
dich, stellte ich richtig.
Nicht so teuer, wie es fr dich wird, fiel Theophilus ein.
Mir war nicht klar, was Theophilus damit zu tun hatte, und
seine Einmischung machte mich nur noch wtender. Penelo-
pe und ich traten heftig Luft und wurden mit zunehmender
Hhe immer schneller; die groe gelbe >l< von Theophilus'
Tor leuchtete direkt ber uns. Ich desaktivierte das Mikro.
Penny, glaubst du, da wir es schaffen, das Tor von Eins
zu erobern, bevor sie uns erreichen?
Das Spiel heit Aerocrosse, Mel. Warum nicht?
Ich nickte und sagte: Warte, bis wir dicht dran sind; dann
schicken wir beide Blle ab und sehen, wie sie hpfen.
In diesem Augenblick tauchte das ganze Team Eins bis auf
einen Spieler im Sturzflug zu uns herab. Es deutete nichts
darauf hin, da sie uns das Tor entreien und spter mit
einem Ball markieren wollten. In diesem Fall stt man sich
nmlich von der Decke ab und spreizt dann Arme und Bei-
ne. Sie hingegen traten nach uns und beschleunigten, um ei-
nen brutalen Bodycheck anzubringen.
Ich wartete ab, bis sie nher herangekommen waren.
Jetzt! Wir beide warfen mit voller Kraft; ich bin nicht si-
cher, welcher Ball durchgekommen war, aber die gelbe Eins
verwandelte sich in eine Sieben.
Drei Tore - falls wir sie halten konnten.
Wir warteten noch einen Augenblick und stemmten dann
die Fe auf das Tor, und als ich Jetzt sagte, stieen wir
uns seitlich nach unten ab. Team Eins jagte vorbei, ohne
eine von uns zu erwischen, und das Tor schaukelte an die
Decke, wo es von Dmitri in Empfang genommen wurde.
All das sah ich, whrend ich mit dem Kopf voraus durch
die Kammer flog und auf die Wand zuhielt. Ich schlug einen
Salto und trat Luft, um die Bewegung zu neutralisieren und
abzubremsen; dann bekamen die Fe Kontakt mit der
Wand. Ich zog mich auf die obere Plattform, richtete mich
auf und stie mich fest nach oben ab, auf das Tor zu, das wir
gerade von Eins erbeutet hatten.
Ich sah, da Penelope dieselbe Richtung eingeschlagen
hatte, und Chris und Dmitri schoben die anderen, zwei Tore
auf uns zu. Es wrde nicht leicht werden, die drei Tore zu
verteidigen, nicht einmal an der Decke.
Ich wute, da unsere beiden Blle als Querschlger unten
in der Halle umherzogen; Mitglieder verschiedener Teams
versuchten, sie einzufangen. Aber wo befand sich der dritte
Ball, der von meinem Helm abgeprallt war?
Ich hatte keine Zeit, weiter darber nachzudenken.
Penelope, ich, Chris und Dmitri schoben die drei Tore so
dicht wie mglich an die Decke heran; nur so war eine
solche Anzahl zu verteidigen. Keiner von uns wrde die
Gelegenheit haben, sich anzugurten und auszuruhen.
Die Teams, die sich noch im Besitz ihrer Tore befanden,
Drei, Vier und Fnf, entfernten sich hektisch von uns und
bemhten sich, die Tore gegen den Luftwiderstand in
Sicherheit zu bringen. Wenn sie die Blle unten einfingen,
wrden alle Angriffe sich auf uns konzentrieren.
Da tauchte pltzlich der dritte Ball wieder auf. Wie aus
dem Nichts stie Randys Team Zwei auf Kwames Team
Vier hinab. Randy und Barry mischten sie mit harten Body-
checks auf, wobei Kwame und zwei seiner Teamkameraden
zu Boden trudelten, und Bekka bettigte sich als Abstauber
und entri Sylvestrina das Tor. Dann markierte Rachel
DeLane das Tor mit dem Ball, und Randy fing den Quer-
schlger ab, als er von einer Fnger-Plattform zurckflog -
ein schnes Spiel.
Aber es htte noch viel schner sein knnen. Randy
schickte Barry einen Pa, worauf dieser die ungeschtzte
Oberseite des Tors von Team Drei angriff - der Ball zischte
jedoch am Tor vorbei, vorbei an Gwenny, und in Theophi-
lus' Kreuz.
Ich traute meinen Augen nicht. Ganz offensichtlich, jeden-
falls in meinen Augen, nickten Theophilus und Barry sich
zu. Es war einfach nicht richtig - sie waren nicht im selben
Team, und Barry war nicht einmal Kapitn. blicherweise
werden die Absprachen nur zwischen den Kapitnen getrof-
fen, obwohl es bei verbndeten Teams manchmal auch ge-
schieht, da die Leute direkt miteinander kommunizieren,
wenn sie nahe genug sind.
Fr solche Betrachtungen war jedoch keine Zeit mehr,
denn pltzlich befand Theophilus' Team sich im Besitz aller
drei Blle und kam mit krftigen Schwimmsten auf uns
zu. Natrlich waren sie nicht so schnell wie im Sturzflug,
aber dennoch beschleunigten sie zgig; auerdem waren wir
vollauf damit beschftigt, die drei Tore beieinander zu
halten.
He, Sieben - Bndnis? Randys Stimme rauschte in mei-
nem Ohrhrer.
Pos-def. Komm her, sagte ich und wechselte auf die
Privatfrequenz. Okay, Leute, Team Zwei hat sich uns
angeschlossen. Rebecca und Rachel schoben das Tor zu
den anderen, und wir bereiteten uns auf den Empfang von
Team Eins vor, das sich noch immer im Steigflug befand.
Theophilus war nach wie vor kein Meister des Spiels; er
warf viel zu frh und hrte vielleicht auch nicht auf den Rat
seiner Teamkameraden. Der Ball wurde langsamer, und ich
wollte ihn einfangen. Deiner, sagte Randy neben mir. Ich
griff nach ihm...
Etwas traf mich in den Rcken. Randy und ich trieben
taumelnd ab, whrend Barry Hab ihn rief, uns wegstie
und nach dem Ball griff.
Er versuchte, ihn mit der Hand einzufangen - idiotisch,
denn dadurch ndert die Markierung auf dem Ball sich nicht
-, und er entglitt ihm und traf ein Tor meines Teams.
Ich richtete mich auf - Randy befand sich noch immer
neben mir, aber wir waren vier Meter abgesackt. Ich hrte
ein >Uff<, als Theophilus mit Rachel zusammenprallte, sie
gegen die Decke stie und trotz all unserer Bemhungen die
Tore zerstreute. Und dann hatte Team Eins alle erobert.
Bei mir machte es >klick<. Mit schnellen Sten flog ich
zu Randy hinber, desaktivierte beide Frequenzen und fl-
sterte ihm ins Ohr: Randy, ich habe gesehen, wie Theo-
philus Barry ein Zeichen gegeben hat. Barry hat vorstzlich
gegen die Regeln verstoen.

Randy schaute mich an. Ich habe es auch gesehen,


besttigte er. Es stimmt.
Randy ging auf seine Teamfrequenz. Barry, sofort zu
mir, sprach er ins Mikro. Melpomene, wenn du...
Ich nickte und wollte abfliegen, doch da erschien Barry
und packte mich am Arm. Was hat sie dir erzhlt?
Ich schlug einen Salto, entwand mich seinem Griff und sah
ihm ins Gesicht. Ich habe gesehen, da Theophilus dir
zugenickt hat, als du ihm den Ball zugespielt hast. Und dann
hast du mit Absicht ihren Ball ins Tor deines eigenen Teams
befrdert.
Barry wollte etwas sagen, aber Randy kam ihm zuvor:
Ich glaube Melpomene, spar dir also die Worte. Aber was
mich wirklich wurmt...
Willst du mich schlagen?
Ich schlage niemanden mehr.
Ha. Barry schniefte; seine Augen waren feucht.
Ich habe dich nicht geschlagen und werde dich auch nicht
schlagen. Und jetzt hr zu. Was mich wirklich wurmt, ist,
da ich dich in diese Mannschaft geholt hatte, weil... -
Randy schluckte - ... weil du - ich wollte, da wir wieder
Freunde sind. Wir waren doch Freunde...
Randy kamen die Trnen. Er tat mir schrecklich leid, und
ich schaute weg. Mein Kopf schmerzte noch von Miriams
Ball, und ich nahm an, da ich dort, wo Barry mich am
Rcken getroffen hatte, einen Blutergu bekommen wrde.
Wie die meisten anderen Teams hatten wir null Punkte,
gefolgt von Randys Team mit minus eins; Team Eins hatte
nun vier Tore.
Aber die anderen Mannschaften griffen nicht an. Team
Eins war im Besitz aller Blle, und es dauerte eine Weile,
bis ich begriffen hatte, da sie sich >auf ihren Lorbeeren
ausruhten< - das hatte ich in der Sportschau zwar bei
irdischen Sportlern schon gesehen, aber noch nie hier.
So etwas tat wirklich nur ein Erdschwein; als ob das
Ergebnis wichtiger sei als das Spiel selbst. Und dann die
anderen zu deklassieren, ohne sich ihnen im ehrlichen
Wettkampf zu stellen.
Ohne da ich es htte begrnden knnen, wute ich, da
im Falle von Theophilus' Sieg die Streitigkeiten und Ressen-
timents sich deutlich verstrken wrden.
Ich ging auf die offene Notfrequenz des Helmsenders.
Eigentlich soll man sie nur bei Unfllen oder dergleichen
benutzen, aber jetzt war nicht der geeigneter Zeitpunkt, sich
um das Reglement zu sorgen. Barry Yang hat gerade
zugegeben, sein eigenes Team zugunsten von Team Eins
sabotiert zu haben. Wir wissen nicht, ob das ein Einzelfall
war. Ihr solltet euch vergewissern, ob eure Mannschafts-
kameraden auch wirklich auf eurer Seite stehen - und achtet
besonders auf eure Kapitne. Wir alle wissen, mit wem sie
befreundet sind.
Darauf folgte ein sehr langes Schweigen. Schlielich mel-
dete Theophilus sich ber die Notfrequenz. Ihr wit, da
sie etwas gegen mich hat, seit sie wei, da ich ihre Freun-
din Miriam lieber mag. Aus lauter Ha hat sie sich sogar mit
dem Klassenschlger angefreundet. Sie beklagt sich nur,
weil sie nicht beliebt ist... sie gehrt einfach nicht dazu. Sie
ist eine Einzelgngerin, und das macht sie verrckt.
Meine Augen fllten sich mit Trnen...
Pltzlich stie Barry Yang sich von einer Fnger-Plattform
nach unten ab, ging in den Sturzflug und rammte Theo-
philus. Dieser fuchtelte wild in der Luft herum, um das
Gleichgewicht wiederzuerlangen, und prallte gegen die
Wand. Mit einem hlichen, lauten Gerusch schlug sein
Kopf auf die Plattformkante, und er schmierte ab.
Und dann schlugen und traten pltzlich alle auf ihn ein,
kamen von allen Seiten ber ihn und schleuderten ihn gegen
die Wand. Selbst die Mitglieder seiner Clique, Kwame,
Gwenny und wie sie alle hieen, mit Ausnahme von
Miriam, fielen ber ihn her, schlugen und knufften ihn, bis
er so betubt war, da er sich nur noch drehte. Er war nicht
mehr in der Lage, sich zu wehren oder gar die Wand zu
erreichen. Blut sickerte in einer spiralfrmigen Bahn aus
seiner Nase, und ich hrte ihn hysterisch schluchzen.
Seine Peiniger lachten nur, ein hliches, aggressives
Lachen, das ich noch nie zuvor gehrt hatte.
So etwas hatte ich mein Lebtag noch nicht gesehen.
Ich hoffe, ich mu es nie wieder sehen. Ich ging sowohl
auf die Kapitns- als auch die Privatfrequenz. Randy, wir
mssen ihn dort herausholen. Ich versuche, ihn im Sturzflug
am Grtel zu packen. Chris und Dmitri, kommt auch mit.
Wir mssen ihn zum Blauen Punkt bringen. In Gedanken
war ich noch im Spiel - der Blaue Punkt diente als Sammel-
stelle fr verletzte Spieler, bis sie nach Spielende hinaus-
gebracht wurden. Ich wei zwar nicht woher ich angesichts
der Ereignisse diese Zuversicht bezog, aber ich erwartete,
da jeder diesen Bereich respektierte.
Wir holten ihn heraus. Das war nicht einfach, denn er war
in Panik und ziemlich schlimm verletzt - er blutete aus
einigen Wunden und hatte berall Prellungen. Nieren und
Hals waren nicht so stark in Mitleidenschaft gezogen wor-
den, da man mit bleibenden Schden rechnen mute, aber
er befand sich in einem bsen Zustand.
Als Chris, Dmitri und ich ihn abtransportierten, brachen
die anderen Kinder in Jubel aus. Ich wute nicht was der
Grund dafr war, also ignorierte ich es; als wir ihn in eine
halbwegs stabile Lage gebracht hatten, brachten wir ihn
weg. Er strubte sich heftig - wahrscheinlich war er so
verngstigt und desorientiert, da er befrchtete, wir wrden
ihn auch noch zusammenschlagen.
Als die Leute sahen, was wir taten, redeten sie alle mit
hohen, schrillen Stimmen durcheinander, die in der Kammer
widerhallten. Sie schwammen alle auf uns zu, manche sehr
schnell. Alle hatten den gleichen merkwrdigen Gesichts-
ausdruck, als ob dasselbe Programm bei ihnen abliefe.
Randy setzte sich zwischen uns und die Menge, wobei
Rachel, Penelope und Bekka ihm folgten. Sie stieen sich
von den Trampolins ab und flogen der Menge frontal
entgegen. Randys Stimme ertnte ber die Notfrequenz:
Nein, nein. Schlu! Lat ihn in Ruhe!
Ich wei nicht genau, was er noch sagte, aber es bte eine
beruhigende Wirkung aus; anscheinend hatte er alles unter
Kontrolle. Er redete weiter, und wir transportierten Theo-
philus hinunter zum Blauen Punkt; als er festen Boden
sprte, legte die Panik sich, und wir hielten ihn fest und
versuchten ihn zu beruhigen.
In der Zwischenzeit hatte Randy die anderen in die Um-
kleiderume gefhrt sowie Bekka und Penelope als Auf-
sichtspersonen eingesetzt. Er kam mit Rachel zurck, um
nach Theophilus zu sehen - was diesen ziemlich verwundert
haben drfte, aber er sagte nichts. Wir forderten eine Med-
Kapsel an, legten Theophilus hinein und schickten ihn auf
die Krankenstation.
Noch ein Grund, weshalb ich Randy immer lieben werde -
er begleitete mich nach Hause. Ich brauchte jetzt wirklich
jemanden, denn alles kam mir vllig irreal vor. Ich zog mich
nicht einmal um, was als grober Versto gegen die Etikette
gilt. Vor der Tr legte er den Arm um mich und drckte
mich. Dann ging er nach Hause.
Mutter erwartete mich schon. Was ist denn passiert?
fragte sie.
Ich wei nicht. Ich wei nicht, wo Dr. Niwara war und
weshalb sie nichts unternommen hat, sagte ich und brach in
Trnen aus. Ich wei nicht, wie es berhaupt geschehen
konnte. Ich...
Ihr habt den Jungen so schlimm verprgelt, da er ins
Krankenhaus mute!
Sie schrie es mir ins Gesicht; ich war so berrascht, da
ich nicht einmal den Versuch einer Erklrung unternahm.
Ich hre schon die ganze Zeit, was fr nette kleine
Scheier ihr seid. Nur etwas anders. Nur etwas zivilisierter.
Ihr seid ber den armen kleinen Jungen hergefallen und
httet ihn am liebsten noch umgebracht. Und ihr sollt einmal
- ihr seid diejenigen, die ... Sie schnappte nach Luft.
Sie packte mich bei den Schultern und schttelte mich so
fest da mir der Hals schmerzte. Das htte ich schon lngst
tun sollen!
Und dann - nun, ich schreibe es zwar nieder, aber ich
hoffe, ihr glaubt es nicht, selbst wenn es stimmt: sie drehte
mich um und zog mir die Sporthose herunter. Ich schrie. Die
Nachbarn hrten es durch die Schallisolierung.
Und dann drckte sie meinen Kopf ber den Hausanschlu
und versohlte mir ausdauernd den blanken Hintern, wobei
sie immer heftiger zuschlug. Dabei schrie sie mich an und
beschimpfte mich schluchzend. Ich kam mir nackt vor,
entblter, als ich es mir jemals htte vorstellen knnen, und
vllig gedemtigt. Ich wollte mich bergeben, in Ohnmacht
fallen, sterben; wenn ich nur dieser Situation entrann.
Und dann war auf einmal Papa da, und sie lie mich los.
Ich zog die Hose hoch und rollte mich zu einer kleinen
Kugel zusammen; und dann kamen Med-Kapseln. Zwei
Stck, eine fr Mutter und eine fr mich.
Sie entlieen mich noch am selben Abend; sie hatte nicht
sehr fest zugeschlagen, und ich hatte nicht einmal einen
Blutergu davongetragen, aber ich bekam eine Flasche mit
Antidepressiva, die ich die nchsten Tage einnehmen sollte.
Sie waren wtend auf Vater - obwohl sie es vor der >Toch-
ter vom Boss< natrlich zu verheimfichen suchten. Nach
einer Weile wurde mir klar, da sie es nicht fr angezeigt
hielten, da ich in seine Sprechstunde ging; es widersprach
den Theorien und so weiter. Die Krankenschwester schien
sich am meisten von allen zu echauffieren. Was ist das
denn fr eine Verantwortung? Jahrelang hlt er seine Frau
unter Verschlu und jetzt, wo seine kleine Tochter zusam-
mengeschlagen wird... Man bat ihn, leise zu sein und
versuchte, ihn aus der Krankenstation hinauszukomplimen-
tieren. Es ist mir egal, was der Plan vorsieht, hrte ich ihn
sagen, und dann redete man mit leiser Stimme eindringlich
auf ihn ein, und ich hrte ihn erneut: Ich gebe einen Schei
auf diesen verdammten
Plan; er ist nicht richtig. Dann wurden noch ein paar
Worte gewechselt, und schlielich blieb es ruhig; sie lieen
mich allein, bis Papa kam und mich holte. Die Antidepres-
siva versetzten mich in eine entrckte Stimmung; ich stellte
mir vor, ich wre Brgermeisterin und Randy wre Kapitn,
und ich fragte mich, ob wir Theophilus besuchen sollten
solange wir noch hier waren; wenn Randy mich besuchte,
wrden wir vielleicht durch die Halle gehen...
Ich schlief, als Papa schlielich erschien. Er weckte mich
auf und gab mir meine Kleider; wortlos zog ich mich an,
und dann gingen wir nach Hause. Mutter war nicht da. Sie
wird in drei bis vier Tagen entlassen, sagte Papa. Sie
braucht jetzt viel Geduld und Verstndnis; sie fhlt sich sehr
schuldig, und sie unterzieht sich einer leichten Hypno-
Therapie, um ihre Akzeptanz zu verstrken.
Ich nickte; im letzten Jahr, als man mich in der Toilette
beim Masturbieren erwischt hatte und die anderen Mdchen
sich noch wochenlang ber mich lustig gemacht hatten, ging
es mir hnlich. Man erhlt ein leichtes Beruhigungsmittel
und kommt in den Sensorischen Deprivations-Tank, und
dann hrt man sich eine selbst erstellte Aufnahme mit Auto-
suggestionen an - bei mir hie es >Ich bin vllig normal<,
>Ich geniee es, mich zu berhren, und ich schme mich
nicht deswegen<, und >Sie wollten mich nicht verletzen.
Wenn ich ihnen hflich sage, da sie mich damit verletzen,
werden sie es nicht mehr tun.<
Natrlich fragte ich mich auch, was Mutter sich wohl
anhren mute. >Ich schlage gerne und stehe dazu.< ber
diesen Mutmaungen htte ich fast nicht gehrt was Papa
sagte. Ich mute ihn bitten, es zu wiederholen.
Es tut mir leid, Melpomene, sagte er. Ich wute ja
nicht, da du...
Schon gut, erwiderte ich. Das waren nur Tagtru-
mereien. Weshalb hat sie das denn getan?
Er lehnte sich zurck und schaute mich an. Was glaubst
du denn, weshalb sie es getan hat?
Ich hasse diese Psycho-Spiele. Weil sie verrckt ist. Er
nickte. Ich verstehe, da du diesen Eindruck hast.
Ach, Shit. Erst jetzt merkte ich, wie wtend ich wirklich
war. Das war die grte Demtigung, die ich je erlebt
habe, und du willst, da ich mir ihre Version anhre? Vergi
es. Was mich betrifft, so ist sie vllig irre, und wenn sie sich
schuldig fhlt, ist das nur richtig.
Er sa eine ganze Weile schweigend da. Mir fllt dazu
keine Antwort ein, Melpomene, sagte er schlielich.
Nichts von dem, was ich dir sagen knnte, wrde fr dich
einen Sinn ergeben. Er stie sich vom Stuhl ab, driftete zur
Panoramascheibe hinber und aktivierte sie. Die Sterne
leuchteten in der Dunkelheit; in der unteren Ecke sah ich das
rote Glhen des Mars, der erst in einigen Monaten wieder
als Scheibe erscheinen wrde. Er tut das sonst nie. Psychos
schauen einem immer in die Augen, jedenfalls die guten...
Ich wute nicht, was mit Papa nicht stimmte. Und ich wute
nicht, was generell nicht stimmte.
Melpomene, sagte er dann. Ich wei, da du in die
CPB-Dateien eingedrungen bist. Auf der Erde wrden In-
formationen, wie sie in diesen Dateien enthalten sind - wenn
sie verffentlicht wrden - einen Aufstand hervorrufen. Re-
volution. Anarchie. Und, was glaubst du, wrde hier gesche-
hen?
Ich schttelte den Kopf. Ich wei nicht.
Ich auch nicht. Er streckte die Arme aus, als ob er mich
umarmen wollte. Versuche deine Mutter zu verstehen. Sie
mag die Menschen dort unten - die auf der Erde, meine ich.
Sie sieht die Welt mit ihren Augen. Unter anderem deshalb
ist sie die ideale Mutter fr dich... sie hat dir geholfen, Indi-
vidualitt zu entwickeln. Theophilus wre vielleicht gettet
worden, wenn du und Randy nicht eingeschritten wrt.
Ich halte das auch fr mglich.
Er nickte. Was wirst du also tun, wenn du Brgermei-
sterin bist? Deine Freunde mit gutdotierten Posten versorgen
und dich von ihnen wiederwhlen lassen?
Weshalb? fragte ich. Sind sie denn die besten Leute fr
diese Positionen?
Er schttelte den Kopf. Ich frage, ob du sie ihnen gibst,
nur weil sie deine Freunde sind?
Weshalb sollten sie sich denn dafr interessieren, wenn
sie nicht die richtigen Leute sind?
Er lchelte mich an, aber ich sah Trnen in seinen Augen.
Melly, sagte er leise. Ich liebe dich.
Das klang seltsam aus seinem Mund, aber wenigstens
wute ich die richtige Antwort. Ich liebe dich auch, Papa.
Er nickte. Ich... vor zwanzig Jahren, als ich gerade mit
der Schule fertig war und der NAC mich einstellte, wurde
schon die Grundlage fr diese Entwicklung gelegt. Aber
jetzt erst verstehe ich es. Er lchelte noch immer, und ich
umarmte ihn erneut. Ich mu dir etwas gestehen, das dir
vielleicht das Recht gibt, mich zu schlagen, sagte er. Aber
ich mu es dir trotzdem erklren.
Ich glaube nicht, da ich dich wieder schlagen werde.
Was immer es auch ist.
Dr. Niwara ist angewiesen worden, nicht, in der Groen
Gemeinschaftshalle zu erscheinen. Wir hatten Theophilus
und seine Freunde beim Mittagessen belauscht, wie sie alles
planten, und wir wollten sehen, wie ihr Kinder die Situation
bewltigt, ohne da ein Erwachsener eingreift.
Ich lehnte mich zurck und starrte ihn an. Ihr wutet, was
geschehen wrde?
berhaupt nicht. Wir hatten nicht die geringste Ahnung,
da deine Klassenkameraden so heftig reagieren wrden.
Er hielt die Hand hoch, um mir zu signalisieren, da er noch
nicht fertig war; ich htte aber auch gar nichts zu sagen
gehabt. Melpomene, ich dachte nur, du solltest wissen, da
wir grndlich versagt haben. Und je lter ihr Kinder wurdet,
desto weniger begriffen wir, und um so schlimmer wurde es.
Also... nun, wir errtern etwas. Eigentlich drfte ich dich
das gar nicht fragen, aber du bist meine Tochter, und ich
kann erst dann ernsthaft darber nachdenken, wenn ich es
wei.
Was, wenn wir dir sagen wrden, da du nicht Brger-
meisterin wirst?
Nun, wenn es besser fr das Schiff ist... ich meine, ich
wre schon enttuscht, aber wenn der Fliegende Hollnder
jemand anders braucht...
Was, wenn wir gar keinen Brgermeister ernennen?
Wenn wir den ganzen Plan einfach aufgeben, weil wir er-
kannt haben, da wir nicht wissen, was wir tun, und die
Verantwortung den Kindern bergeben - weil ihr ein bes-
seres Verstndnis habt?
Ich war perplex. Die Gedanken berschlugen sich.
Wrdet ihr das wirklich tun?
Er wischte sich die Augen. Wenn es das Beste ist... ich
glaube, wir mssen es tun. Aber, Melpomene, es wird nie
wieder so leicht sein...
Dann umarmte ich ihn wieder, und er seufzte tief. Ich hatte
alle mglichen Fragen, aber ich stellte sie nicht.
Fr eine lange Zeit saen wir nur da.
Jemand klopfte an die Tr. Papa ffnete sie, und da stand
Tom. Er grinste wie ein Irrer. Ich habe es geschafft! Ich
habe es geschafft!
Was geschafft?
Eine Eins in CSL! Der Klassenbeste! Papa holte tief
Luft, aber ich wute nicht, weshalb. Auf jeden Fall freute
ich mich fr Tom. Papa gratulierte ihm und sagte mir, es
wre alles besprochen. Also ging ich mit Tom hinaus.
Ruf Randy an, sagte er. Wir mssen das feiern. Wenn
ihr mir nicht geholfen httet, htte ich das nie geschafft. Als
ob ein Licht angegangen wre - auf einmal verstand ich den
ganzen Kram, der mir vorher ein Buch mit sieben Siegeln
gewesen war.
Randy anrufen? meinte ich. Es mu doch gleich
Sperrstunde sein.
Erst 19:03, korrigierte er mich.
Dann begriff ich; ich war frh von der Schule gekommen
und hatte auf der Krankenstation nicht allzu lang geschlafen.
Sicher! Also rief ich Randy ber den Interkom, und dann
gingen wir alle in die Snack-Bar im Pilz und bestellten
Pizza, wobei wir eine Menge Bezugsscheine in Zutaten
investierten. Ich geno sogar Susans Anwesenheit, was
mich ziemlich verwundene.
KAPITEL ZWLF
...............................................................

Am nchsten Tag stand japanische Morphologie auf dem


Stundenplan. Ich habe gehrt, da sie in den vergangenen
Jahrzehnten stark vereinfacht worden wre - nichts fr un-
gut, meine japanischen Freunde, aber mir kommt das sehr
gelegen. Randy und ich haben uns zusammengesetzt; nicht,
weil wir die anderen etwa ausschlieen wollten, sondern
weil sie sich in unserer Nhe anscheinend nicht wohlfhlten.
Nach einer Weile setzte Miriam sich noch zu uns; die
Unterhaltung lief zwar verkrampft, aber immerhin fand
berhaupt eine statt. Ich fragte mich, ob jemand gesehen
hatte, wie ihr geholfen wurde - die Ereignisse des gestrigen
Tages muten ihr ganz schn zugesetzt haben -, aber ich
scheute mich, sie in Randys Anwesenheit zu fragen.
Miriam mute das Eis wohl gebrochen haben, denn bald
setzten Chris und Dmitri sich auch zu uns, gefolgt von
Rachel. Nach der ersten Verlegenheit fhlten wir uns ziem-
lich wohl in der Gegenwart von Freunden.
Miriams Japanisch ist ziemlich gut, so da wir beim
mndlichen Wettbewerb recht ordentlich abschnitten sie war
Gruppenleiterin und nahm alle dran, auch Penelope und
Bekka.
Ich befrchtete schon, da wir jetzt unsere eigene Richtige
Bande grnden wrden, aber diese Sorge war unbegrndet.
Alle waren sehr still und schweigsam, aber beim Mittag-
essen erwiderten die Leute zumindest mein Lcheln, und als
wir uns im Umkleideraum fr die Luftsporthalle umzogen,
redete Gwenny sogar mit mir und Bekka.
Es hatte den Anschein, da die Dinge sich wieder einren-
ken wrden. Der Rest des Tages verging ohne besondere
Vorkommnisse; ich ging nach Hause, machte die Hausauf-
gaben, unterhielt mich eine Weile per Interkom mit Randy
und Miriam und ging zeitig zu Bett. Alles war stinknormal -
womit ich voll und ganz einverstanden war.
Am nchsten Morgen, der gleichzeitig Schlafenszeit fr
die B-Schicht und Halbzeit fr die C-Schicht bedeutete,
wurde der Plan der interessierten ffentlichkeit zugnglich
gemacht. Es entzndeten sich heftige Diskussionen, und ich
glaube, da manche Leute richtig in Rage gerieten, aber
nach einer Woche handelte es sich nur noch um ein
akademisches Problem, mit dem wir im Unterricht konfron-
tiert werden wrden. Dr. Niwara lie uns Aufstze zu die-
sem Thema schreiben. Man htte eigentlich meinen sollen,
da Randys und mein Vorsprung uns zum Vorteil gereichte,
aber dem war nicht so.
Nach einem Monat war es nur noch langweilig, und die
Konstituierende Versammlung, deren Mitglieder in den er-
sten Jahren nach der Indienststellung des Fliegenden Hol-
lnders geboren wurden, lste sich wegen allgemeinen Des-
interesses nach sechs Wochen wieder auf.
Es war eine Woche seit dem Aerocrosse-Aufstand, wie
jeder den Vorfall nannte, vergangen. Mutter war vor ein
paar Tagen wieder nach Hause gekommen, so da ich unse-
re Wohneinheit berwiegend mied. Die Entschuldigung fr
diesen Abend lautete, da Randy, Miriam und ich der
Psychiatrischen Abteilung der Krankenstation einen Besuch
abstatten mten. Hast du ihm gesagt, da wir kommen?
fragte Randy Miriam nun schon zum zehntenmal.
Ja, sagte sie. Ich habe ihm Bescheid gesagt. Er wei,
da du ihm die Menge vom Hals gehalten hast, Randy. Er
ist dir nicht bse. Er sagte, da er nur dich und Mel sehen
wolle, also habe ich euch gefragt. Das ist alles.
Nun saen wir zu dritt in der Snack-Bar, verjubelten
Bezugsscheine und warteten darauf, da in der Kranken-
station die Besuchszeit begann. So nervs hatte ich Randy
bisher noch nicht gesehen.
Wenn du so herumzappelst, wird es auch nicht leichter,
vor allem nicht fr Ted, sagte Miriam.
Randy schnitt eine Grimasse. Ich wei. Ich beruhige mich
schon, wenn wir erst mal drin sind. Aber im Moment denke
ich nur daran, was vielleicht alles schiefgehen knnte. Ich
rege mich wahrscheinlich vllig umsonst auf.
Wie immer, sagte ich und kniff ihn unter dem Tisch in
den Oberschenkel.
Danke, Dr. Murray. Deine ganze Familie empfiehlt mir,
mich zu entspannen. Wenn ich auch nur ein Zehntel eurer
Ratschlge befolgt htte, lge ich schon lngst im Koma.
Wenn du sie befolgen wrdest, mten wir es dir nicht
immer wieder sagen.
He, keinen Streit, Leute. Nicht, da wir am Schlu noch
alle in den Knast wandern. Miriam blinzelte mir zu; wenig-
stens lenkten wir Randy dadurch etwas ab.
Das ist eine bizarre Vorstellung, bemerkte ich. Obwohl
jeder Witze darber macht, habe ich noch nie jemanden
kennengelernt, der im Gefngnis war. Ihr vielleicht?
Miriam schttelte den Kopf, aber dann sagte Randy:
Mein Vater.
Wir beide starrten ihn an, und mein Magen verkrampfte
sich. Wirklich?
Keine groe Sache, wiegelte er ab. Letztes Jahr, als er
noch ziemlich gewaltttig war, hat er manchmal erst zuge-
schlagen und dann berlegt. Wenn er also sprte, da ihm
eine besonders schlimme Nacht bevorstand, hat er sich beim
Sicherheitsdienst gemeldet und sich in Vorbeugehaft neh-
men lassen.
Ich suchte noch nach Worten, als Miriam sagte: Er mu
dich wirklich sehr lieben, wenn er sich einsperren lt.
Randy nickte und schien sich dann zu entspannen. Inner-
lich gratulierte ich mir zu dem glcklichen Hndchen, das
ich seit jeher schon bei der Auswahl meiner Freunde gehabt
hatte.
Danach sprachen wir nicht mehr viel; nach ein paar Minu-
ten wies Miriams Computer uns mit einem Piepsen darauf
hin, da die Besuchszeit gleich begann. Wir erhoben uns
und gingen die Treppe hinunter; man war der Ansicht, da
Theophilus in der hohen Gravitation der Krankenstation, wo
ber ein viertel Gravo auf ihm lastete, schneller die Orien-
tierung wiedererlangen wrde. Das kam uns natrlich merk-
wrdig vor, aber ich glaube, wenn ich bei einem Besuch auf
der Erde verletzt wrde, wollte ich zum Beispiel auch lieber
in ein Krankenhaus auf Supra-New York, wo die
Schwerkraft meine Genesung nicht behinderte.
Die Blutergsse waren fast verheilt. Es waren nur noch
eklige gelbbraune Flecken zu sehen. Ich fate es immer
noch nicht da es so viele waren.
Hallo, sagte Miriam. Ich habe ein paar Freunde
mitgebracht.
Sein Lcheln galt sogar auch Randy. Ich freue mich, da
ihr gekommen seid.
Ich hoffe, es geht dir besser, Ted.
Ziemlich. Er setzte sich auf. Und wie luft es bei dir?
Noch immer der Beste in Mathe?
Randy stotterte etwas, verschluckte sich und lachte dann
ber sich selbst.
Weit du, etwas Schlimmeres httest du kaum fragen
knnen. Gwenny Mori hat mich berflgelt, und ich denke,
da sie ab jetzt auf den ersten Platz abonniert ist.
Bis ich wiederkomme. Und wenn ihr zusammenarbeiten
wollt, wrde ich mich freuen, wenn ihr mich abends noch
einmal besucht - ihr glaubt kaum, wie die Vortrge meines
Vaters ber die Ausbalancierung des B-Komplexes in der
neuen Tilapia-Zucht mir zum Hals heraushngen.
Bis du wiederkommst? fragte Miriam. Dr. Niwara hat
aber gesagt...
Ja, ich wei, was sie beschlossen haben. Aber sie haben
mich nicht gefragt, Mim. Wie soll ich denn nach der Erwa-
chsenen-Abschluprfung mit einem von euch zusammen-
arbeiten, bei den Umstnden, unter denen wir uns zuletzt
gesehen haben... nun, du weit schon.
Dann wirst du also zurckkommen, stellte ich fest. Am
Anfang wird es sicher schwer fr die Klasse, aber ich glau-
be, du hast recht.
Ich freue mich wirklich, sagte Randy.
Theophilus seufzte und streckte sich; als die Arme aus
dem Medo-Schlafsack hervorkamen, sahen wir noch mehr
Blutergsse. Er bemerkte unsere Blicke und schob die Arme
wortlos wieder zurck. Es ist schon in Ordnung, sagte
Randy. Entschuldigung.
Schon recht. Theophilus sa eine ganze Weile reglos da;
wir wuten nicht, was wir sagen sollten. Ich versuchte, mir
den Tag seiner Rckkehr in die Klasse vorzustellen; viel-
leicht wre es wie das Erscheinen eines neuen Schlers, nur
hundertmal schlimmer? Wie wrden diejenigen, die ihn ge-
schlagen hatten - vor allem Barry Yang, der damit angefan-
gen hatte, und Gwenny Mori und Kwame van Dyke, die
seine Freunde gewesen waren - wie wrden sie reagieren?
Dann rusperte er sich. Ich habe euch etwas zu sagen.
Damals, auf der Erde... damals in Georgia. In meiner Schule
in der Kuppel von Atlanta ... spielte ich eine spezielle Rolle
in meiner Klasse. Und wit ihr, welche?
Ich war der Klassen-Kasper.
Das ist altmodischer Erd-Slang. Ihr wrdet wohl Klassen-
Assi dazu sagen. Ich schleimte mich immer bei den Lehrern
ein und mute mich oft vor irgendwelchen Kindern ver-
stecken, die mich zusammenschlagen wollten. Ich verletzte
die Gefhle der anderen, ich machte mich ber sie lustig, ich
war verdammt arrogant, weil ich bessere Noten hatte als
sie... ich war der Auenseiter. Immer. Ich hatte keine Freun-
de, auer ein paar merkwrdigen Figuren, die mir immer
nachliefen und auf denen ich am meisten herumhackte.
Als ich dann hierher kam... Er drehte sich zu uns um.
Zuerst glaubte ich, diesmal htte ich es besser angetroffen,
in einer Klasse, die ich beherrschen knnte und in der ich
der Grte wre. Aber dann erkannte ich, da es genauso
war wie frher - vor allem, weil... weil... Er stie einen
tiefen Seufzer aus. Wit ihr, was? Damals in Georgia
wurde ich gar nicht Ted genannt. Ich hie Theo. Ich hate
diesen Namen.
Mchtest du lieber Ted genannt werden? fragte ich.
Er nickte.
Dann bist du Ted fr uns.
Er wollte sich wieder umdrehen, als Randy ihn fragte:
Wirst du so etwas noch einmal machen?
Nein.
Dann ist es in Ordnung. Solange du es nicht mehr tust
und dich bemhst, den angerichteten Schaden wieder ut zu
machen, ist es egal, was du frher getan hast. Randy ging
vor dem Bett in die Hocke, so da er Theophilus direkt in
die Augen schaute. Vertrau mir, Ted. Ich habe Erfolg. Fr-
her habe ich auch Leute geschlagen, aber jetzt komme ich
gut mit ihnen aus.
Wir wollten lachen, aber irgendwie waren wir noch nicht
soweit. Aber ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern.

28. JANUAR 2026

Ich hatte schon wieder eine Auseinandersetzung mit Dr.


Lovell. In gerade einem Monat scheint sie sich von einer
Lehrerin ber eine Psychotante in eine Buchrezensentin
verwandelt zu haben. Aber der ganze Kram ist doch lang-
weilig, befand ich. Und wenn man einmal darber nach-
denkt, mute es ja so kommen. Der Plan hat keine Gltig-
keit mehr, und jeder, der sich vielleicht fr das Buch interes-
siert, wird Tom bald kennen. Die >Fontnen des Finsteren
Vakuums< sind schon berall gezeigt worden.
Zur Zeit ist er populr, stimmte sie mir zu. Und viel-
leicht wird seine Popularitt noch lange anhalten. Aber ich
glaube, da die Menschen wissen wollen, wie deine
Geschichte wirklich endet.
Gut, dann sage ich es ihnen in zwei Abstzen. Zwei
Stzen. Der erste: >Als der Plan scheiterte, beschlo der
NAC, alle Erwachsenen zum Mars-Terraforming-Projekt
abzukommandieren und bergab uns das Schiff. Nach dem
dritten Marsumlauf wird die ganze Besatzung des Fliegen-
den Hollnders nur noch aus Leuten bestehen, die hier
geboren sind.< Der zweite: >Tom wurde berhmt durch
seine mobile Lichtskulptur, die interaktiv auf Musik rea-
giert. Das Ding sieht so aus wie der Abgasstrahl des Haupt-
triebwerks und klingt so hnlich wie Beethoven.< Nach
diesen zwei Stzen bin ich fertig.
Ich stand auf und wollte gehen, aber sie blockierte mit
ausgestrecktem Arm die Tr. Glaubst du wirklich? Was
soll deiner Meinung nach mit diesem Buch berhaupt
ausgesagt werden?
Ich wei nicht. Zufllige Ereignisse? Oder geht Ihre
Interpretation etwa darber hinaus? Ohne da ich genau
wute, wie ich darauf kam, wurde mir pltzlich etwas klar,
das ich nie fr mglich gehalten htte. Ich gehrte zu Dr.
Lovells Lieblingsschlern. Deshalb glaubte ich, ihr etwas
dafr zu schulden, aber sicher war ich mir nicht.
Also halte ich es mit Papa, der empfiehlt, im Zweifel die
Wahrheit zu sagen. Viele Dinge sind einfach nur passiert,
sagte ich. Aber whrend sie geschehen, denkt man viel zu
sehr darber nach, und wenn sie dann passiert sind, wei
man gar nicht mehr, was man berhaupt gedacht hat. Das ist
alles. Wie auf der Party von Block B - ich wei, da ich an
meine Mathe-Hausaufgaben dachte; deshalb langweilte ich
mich vielleicht eine Zeitlang, obwohl ich es so darstellte als
ob ich mich den ganzen Abend nur amsiert htte. Und
mitten im Aufstand, als Randy eingriff und die Menge in
Schach hielt, damit wir Theophilus in Sicherheit bringen
konnten, wute ich, da es zum Teil nur deswegen funk-
tionierte, weil Bekka, Penelope und Rachel ihm Deckung
gaben und niemand sich mit allen vier anlegen wollte. Ich
meine, es erforderte Mut von ihm, das zu tun, und er war
auch der Anfhrer, aber sie muten erst einmal den Mut
aufbringen, ihm zu folgen. Und, sehen Sie, auch wenn ich
das alles erzhlt htte, es wrde nichts bedeuten. Oder soll
ich vielleicht auch noch erwhnen, wie oft ich letzte Woche
auf die Toilette gegangen bin oder was? Es wrde alles in
den Details untergehen.
Also werde ich es nicht schreiben. Ich wei, Sie meinen, in
diesem Buch ginge es gerade darum - da mein Bruder Tom
ein Knstler wurde, der erste im Weltraum geborene profes-
sionelle Knstler und der ganze Kram, den Time-Murdoch,
der OBSR-CHANL und NACFlash ihm angedichtet haben.
Und da die Erwachsenen auswanderten und wir das Schiff
ein Jahrzehnt frher als geplant fertigstellten, weil wir eben
hierher gehrten und sie die Aliens waren. Aber wo das
alles nun bekannt ist, weshalb es noch als Buch heraus-
bringen und verfilmen?
Sie seufzte. Alles, worum ich dich bitten mchte, ist, da
du noch zwei Szenen schreibst. Und ich wei, da dir das
gut gelingen wird. Auerdem trug der Besuch bei Theo-
philus auf der Krankenstation auch zur ganzen Entwicklung
bei, so da du sagen kannst, du httest den Schlu schon zu
einem Drittel fertig. Weshalb mchtest du nicht, da dieses
Buch einen Schlu hat? Ich hob die Schultern. Das Buch
handelt von etwas, das nie abgeschlossen sein wird. Wenn
die Forschung recht hat, da die Lebenserwartung in der
niedrigen Gravitation sich verlngert, dann werden wir alle
noch mehrere hundert Jahre leben. Wir haben noch so viel
vor uns. Also wre ein Schlu - nun, eine Lge. Und zwar
eine grere Lge als alle Lgen, die ich bisher erzhlt
habe. Weil es mein Buch ist, mchte ich nicht, da eine
solche Lge darin vorkommt.
Sie schttelte den Kopf. Aber es ist nicht nur dein Buch.
Es ist zum Wohle des ganzen Schiffs. Es soll die Menschen
auf der Erde in die neue Kultur einfhren, die hier oben ent-
steht, damit sie Sympathie und Verstndnis fr uns entwik-
keln. Soweit ist alles in Ordnung, glaube ich - es wird den
Zweck erfllen, den der NAC sich vorstellt - aber wie
kannst du deine Leser so enttuschen und dann noch erwar-
ten, da ihnen das Buch gefllt? Sie wollen sehen, wohin
das alles fhrt, und sie wollen einen Sinn darin sehen. Das
ist ein Teil deiner Verantwortung, ihnen gegenber und dem
Schiff.
Ich dachte lange darber nach. Was sie gesagt hatte, war
sicher richtig, aber trotzdem mchte ich diese letzten Szenen
nicht schreiben. Ich bin keine Kunstkritikerin, und ihr kennt
mich, Randy und Susan mittlerweile so gut, um zu wissen,
wie wir uns darber freuten, da Toms Projekt am Projekt-
Tag alle Preise abrumte und dann auf dieser Sonderaus-
stellung und in all diesen Sendungen gezeigt wurde. Wir
veranstalteten eine Party fr ihn, und alle tanzten und wr-
digten Toms Leistung gebhrend.
Und was die Erwachsenen betrifft ... nun, in dieser
Angelegenheit fhrten Tom und ich ein langes, schwieriges
Gesprch mit Mutter und Papa, wie es auch all die anderen
Kinder mit ihren Eltern fhrten; sonst gab es in dieser Sache
nichts mehr zu tun. Wenn man nun darber nachdenkt, ent-
hlt der Abschlubericht der CPB nur das, was ohnehin zu
erwarten war.
Die Leute werden lter. Sie werden unabhngiger und
unterschiedlicher. Die Planung wird immer, schwieriger.
Entweder man setzt ihnen die Pistole auf die Brust und
zwingt sie zur Einhaltung des Plans, oder man bergibt
ihnen die Geschfte und lt sie es auf ihre Art machen. Es
geht nicht an, die Menschen mit vierzehn fr erwachsen zu
erklren und ihnen dann zu erffnen, da sie bis sechzig
keine Mitspracherechte htten.
Vor allem dann nicht, wenn sie bis in alle Einzelheiten mit
ihrer Umwelt vertraut sind und die Erwachsenen die Ein-
wanderer darstellen.
Was sollten sie also sonst tun, wenn sie uns liebten? Was
sonst sollte der NAC tun, wenn er wollte, da wir arbeite-
ten?
Jetzt glaube ich aber doch, da ich noch eine letzte Szene
schreiben mchte. Eben habe ich nmlich den Eindruck er-
weckt, als ob wir uns alle zusammengesetzt, die Entschei-
dung in aller Ruhe getroffen und sie dann einfach ausgefhrt
htten.
So hat es sich natrlich nicht abgespielt. Das haben wir
uns hinterher blo eingeredet.
Ihre ganzen Sachen - einschlielich dieser blden alten
Ausgabe von Fnger im Roggen, die Mutters Vater gehrt
hatte - befanden sich schon in der Fhre. Einer der groen
Vorteile, die das Leben hier oben bietet, sagte Papa,
whrend er sich den Seesack umhngte, besteht darin, da
sich nie so viel Kram ansammelt, da es Probleme mit dem
Packen gibt. Ich vermute, er fate es nicht, da seine
ganzen Habseligkeiten in diesen, Seesack gingen.
Mutter rieb sich die Augen. Sie wirkte vllig verwirrt. Du
kmmerst dich um deine Schwester? fragte sie zum zwan-
zigstenmal.
Genau bis Mitternacht des 30. Juni 2026, versicherte
Tom ihr. Danach fllt sie in die Zustndigkeit des Fliegen-
den Hollnders.
Ich hatte schon befrchtet, nach dem Erreichen des Erwa-
chsenen-Status wrde er unertrglich werden; statt dessen
war er nun viel umgnglicher geworden seit man ihm eine
Stelle als >Permanenter Knstler< eingerichtet hatte, war
ein groer Teil des Drucks von ihm genommen.
Weil Mutter und Papa uns verlieen, wrde Susan auf der
Basis eines befristeten Mietvertrags bei uns einziehen, der
gegebenenfalls verlngert werden konnte das war Mutter
zwar nicht recht, aber sie beschrnkte sich auf diesbezg-
liche Andeutungen. In besagtem Vertrag hie es, da Wohn-
einheit Sechs im Besitz der Familie bleiben und ich mein
Zimmer behalten wrde; Tom wrde sein Studio in Papas
Praxis einrichten.
Nun standen wir alle verlegen herum und suchten nach
halbwegs sinnvollen Abschiedsworten.
Vidifoniert mal, wenn ihr Zeit habt, sagte Mutter. Ich
werde mir sogar das Gesicht waschen, bevor ich vor die
Kamera trete, versprach ich.
Ach, du. Sie umarmte mich; als sie sich von mir lste,
sah ich Feuchtigkeit auf ihrer Kombi. Erst jetzt merkte ich,
da ich weinte.
Schon gut, sagte sie. Ich wei, da wir uns nicht ver-
tragen haben, aber ich werde dich trotzdem vermissen.
Nun mute Tom sie umarmen, und ich drckte Papa, und
dann wnschten wir uns gegenseitig alles Gute.
Schick mir ein Bild von deinem ersten Garten! sagte ich
zu ihr.
Sie lachte. Ich bin achtzig, wenn ich den habe, und dann
wird er wie das Gemsefach im Khlschrank aussehen.
Auerdem werden wir sowieso erst in zwanzig Jahren aus
dem Orbit absteigen.
Ich nickte. Du wirst noch lange leben.
Sie lchelte. Komm uns besuchen. Es wird zwar nicht so
schn sein wie auf der Erde, aber wenigstens sieht man den
Himmel, und die Pflanzen wachsen in der freien Natur.
Ich versprach es. Das war natrlich Unfug - ein Ticket fr
den Besuch einer anderen Station oder eines Schiffs ver-
schlang mehr als ein Jahresgehalt, und ich hatte kaum eine
Vorstellung davon, was man mir fr einen Besuch in der im
Bau befindlichen Oberflchenkolonie des Mars-Terrafor-
ming-Projekts berechnen wrde. Aber ich hatte noch nie zu-
vor jemandem wirklich Lebewohl sagen mssen, und
deshalb gab ich eine Menge dummes Zeug von mir.
Mit knurrender Stimme erteilte Papa Tom eine Reihe
Ratschlge, von denen die meisten aber nur scherzhaft
gemeint waren. Denk immer daran, du bist der Chaucer fr
diese Leute; ab und zu solltest du mal versuchen, dich ber
das Niveau der Boulevardpresse zu erheben.
Chaucer hat das auch nicht getan.
Und die angloamerikanische Geschichte beweist das
auch, sagte Papa. Und keine politischen Satiren ber
deine Schwester. Tom schaute verwirrt; Papa blinzelte mir
zu. Sag es ihm nicht. Es soll eine richtige berraschung fr
ihn werden.
Tom schaute von mir zu Papa und dann wieder zu mir, wo-
bei er sich am Hinterkopf kratzte. Nun, es ist auf jeden Fall
einfacher, es nur mit einem von euch zu tun zu haben. Er
streckte die Hand aus, und Papa schttelte sie. Aber ich
werde dich sehr vermissen.
Daraufhin fielen wir uns wieder um den Hals und heulten.
Aber die anderen Leute im Laderaum bewahrten auch nicht
mehr Haltung.
Schlielich war es soweit. Mutter kte mich noch einmal
und sagte: Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, aber
ich meine es wirklich ernst. Folge immer der Stimme deines
Herzens - ich wei, du hast ein gutes Herz.
Ich hielt sie lange fest. Ich hoffe, du wirst glcklich auf
dem Mars, sagte ich.
Und wenn nicht, verspreche ich, da ich trotzdem mein
Bestes gebe. Ich werde in kein Olson-Buch mehr hinein--
schauen, bis ich die erste Getreideernte eingebracht habe!
Dann lste sie sich von mir. Auf Wiedersehen, Melly -
Melpomene. Ich liebe dich.
Ich liebe dich auch.
Dann umarmte ich Papa. Wir brachten kein Wort hervor,
so da das >Ich liebe dich< ungesagt blieb. Aber wir wuten
es auch so.
Sie nahmen ihre Seescke auf und gingen durch eine Tr
in das groe Passagierabteil der Landefhre; sie gehrten zu
den ersten, die an Bord gingen. Dr. Niwara war dicht hinter
ihnen; Randys Vater stand weit hinten in der Schlange.
Eigentlich war ich gekommen, um mich von vielen Leuten
zu verabschieden, aber am Ende blieb es bei Papa und
Mutter.
Als ich mich spter mit den anderen Kindern unterhielt
erfuhr ich, da es ihnen auch so gegangen war. Randy und
sein Vater hatten kein einziges Wort gesprochen - die eine
Stunde, bis Mr. Schwartz an Bord ging, hatten sie sich nur
umarmt und Trnen gewischt.
Die letzten stiegen ein, und die Sirene ertnte. Wir gingen
durch die groen Tore des Frachtraums und begaben uns
wieder an unsere Arbeit.
Als eine Stunde spter ein Ruck durch den Fliegenden
Hollnder ging, wuten wir, da das Katapult die Fhre
abgeschossen hatte und sie unterwegs waren. Obwohl es ein
Regelversto war, hielten Randy und ich den Rest des
Nachmittags unter der Bank Hndchen.

2. FEBRUAR 2026

Papa sagt auf der Erde wachst ihr alle so auf wie Randy
und ich und Tom. Ihr zhlt alle zur >Speziellen Kategorie<.
Wir brauchen mehr solcher Leute hier oben, denn wir sind
nur wenige - wenn ich sage, da wir uns nicht einsam fh-
len, mte ich lgen. Manchmal fhle ich mich sogar sehr
einsam, obwohl jeder fr den anderen da ist. Also werde ich
dieses Buch doch fr die Kultusbehrde oder einen Verlag
berarbeiten, und wenn ich damit keinen Erfolg habe, werde
ich es im Internet selbst verffentlichen.
Und dann mchte ich euch bitten, mir zu schreiben, ja?
Auch wenn ich eine Menge Freunde im Schiff habe,
Freunde hat man nie zu viele.

In Liebe
MELPOMENE MURRAY

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