0 Bewertungen 0% fanden dieses Dokument nützlich (0 Abstimmungen) 454 Ansichten 678 Seiten Handbuch Des Mykenischen Griechisch Bartonek PDF
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246614975-Handbuch-Des-Mykenischen-Griechisch-Bart... für später speichern ANTONIN BARTONEK
Handbuch
des mykenischen
Griechisch
Universitatsverlag
C.WINTER
HeidelbergVorwort des Verfassers
Am Manuskript fiir dieses Handbuch des mykenischen Griechisch habe
ich im Jahre 1983 zu arbeiten begonnen, als ich auf Einladung von Prof.
Dr. Hubert Petersmann eine Gastprofessur an der Universitat Heidelberg
wahrnehmen konnte und bei dieser Gelegenheit mit Dr. Carl Winter einen
vorlaufigen Vertrag iiber die Herausgabe eines Handbuchs des mykeni-
schen Griechisch unterschrieb.
Es folgten lange Jahre der Arbeit — nicht ohne Pausen, in welchen
andere Projekte im Vordergrund stehen muften, aber auch mit zahlrei-
chen Phasen von intensiver Beschaftigung mit der mykenischen Sprache
und den Linear B-Texten. Das Unternehmen erfolgte dabei mit finanzieller
Unterstiitzung von zwei Seiten — einerseits der Alexander-von-Humboldt-
Stiftung in Bonn (hier sind mehrere Aufenthalte von mir in Heidelberg
zu erwahnen sowie die Korrektur meines Deutsch und die Durchsicht des
Textes durch Mag. Pléchl vom Sprachwissenschaftlichen Seminar der Uni-
versitéit Heidelberg) und andererseits der Tschechischen Grantagentur in
Prag (welche die EDV-Bearbeitung an meiner Heimatuniversitat finanziell
unterstiitzte).
Hier in Brno hat mir — abgesehen von der moralischen Unterstiitzung
durch meine Frau Dr. D. Bartoikova — eine lange Reihe von jungen Kol-
legen, Doktoranden und Studenten mit gréB8ter Effizienz geholfen, von Dr.
D. Urbanové gleich am Anfang bis zu einer ganzen Gruppe von Mitarbei-
tern in den letzten Jahren bzw. Monaten beim Abschluf des Manuskripts:
unter der Leitung von Mag. T. Hlavitka vor allem Mag. K. Siminkové,
R. Bartiinék, K. Loudova, J. Mikulova und P. Brezina. Die letzte Format-
tierung des Textes stammt von Ing. O. Vacha.
Und last, but not least bin ich Martin Peters vom Institut fiir Sprach-
wissenschaft der Universitat Wien auferst verbunden, der sich erbétig
machte, den ganzen Text des Manuskripts in seiner Fassung vom Sommer
2001 durchzusehen und zu korrigieren.
Nur eine Person wurde in dieser letzten Phase der Bearbeitung meines
Buches auf das schmerzlichste vermift, der primus movens und Pate des
Handbuchs Prof. Dr. Hubert Petersmann, der am 31. 1. 2001 fiir immer
von uns gegangen ist. Ihm sei dieses Buch am heutigen Tag einer akade-
mischen Gedenkstunde in Heidelberg zur Erinnerung an den grofartigen
Gelehrten und wunderbaren Menschen Hubert Petersmann von ganzem
Herzen gewidmet!
Heidelberg, am 26. 4. 2002 Antonin BartonékInhaltsverzeichnis iL
Inhaltsverzeichnis
EINFUHRUNG
deDieHintererinde 9 7
A. Binfihrung
B. Archdologischer Hintergrund .
©. Sprachlicher Hintergrund .......06..00e0seeeeeeee eee ee
Il. Die altagaischen Schriften und ihre Ausstrahlung ............ 16
A. Die kretische hieroglyphische Schrift (HG) 17
B. Die kretische Linear A-Schrift (LA) 18
C. Die mykenische Linear B-Schrift (LB) . - 27
D. Die kyprominoische Schrift (KM) .. . 39
E. Die klassische kyprische Schrift (KK) - 43
DIE TEXTE
IIL. Die Entzifferung der Linear B-Schrift . 51
A. Der Weg zur Entzifferung . 51
B. Die Ventrissche Entzifferung . . 52
C. Die Kontroverse . 62
IV. Die LB-Dokumente 70
A. Die Fundorte .. 70
B. Die Entstehungszeit der Dokumente 74
C. Der auBere Charakter der Texte .... 79
D. Die inhaltliche Klassifizierung der Texte . . 85
SCHRIFT UND LAUTE
V. Das Linear B-Schriftsystem . 97
A. Syllabogramme . 98
B. Ideogramme ... 11
C. Die Hilfszeichen +» 128
DD. Die Wortrennung 128
WE Viautlehte) see eee 131
A. Vokalismus
B. Konsonantismus
C. Kombinatorische Lautverinderungen der Konsonanten ... 1442 Inhaltsverzeichnis
WORTFORMEN
VII, Mykenische Formenlehre . 151
A. Die datenverarbeitende Methodik 151
B. Die mykenischen Wortarten .. 154
C. Die nominale Flexion und ihre Kategorien
D. Die mykenischen Deklinationen
1. Einfithrung
2. Substantiva und Adjektiva
der I., I. und III. Deklination .
I. Deklination (Substantiva) .
II. Deklination (Substantiva)
Adjektiva der I. und II. Deklination
IIL Deklination (Substantiva und Adjektiva)
A. Konsonantische Stamme .
B-C. Vokal- und Diphthongstamme .
Ubersicht iiber die mykenische Deklination .
Die Typen der mykenischen Adjektiva
E. Die verbale Flexion und die verbalen Kategorien .
1. Alphabetisches Verzeichnis der mykenischen
Verben und Verbalformen.
2. Grammatisch geordnete Verbalformen .
3. Statistische Auswertung der mykenischen
Verbalformen
4. Die Verbalkategorien .
F. Die iibrigen Wortarten ............0ccccceceeeueeeeees 343
. 164
225
273
+» 295
. 302
WORTSCHATZ UND SYNTAX
VIII. Mykenischer Wortschatz
A. Die semantische Klassifizierung der substantivischen
Appellativa
1. Der Mensch und sein physisch-biologisches Milieu .
2. Der Mensch und sein sozial-dkonomisches Milieu . .
3. Der Mensch und seine materiellen Bediirfnisse
und Arbeitsprodukte
B. Die mykenischen Eigennamen
C. Das Mykenische und die Etymologie griechischer
Worter
D. Bemerkungen zur mykenischen Semantik .
351Inhaltsverzeichnis 3
E. Die mykenische Syntax .....0.0..0060cccccceeeeseeeues 439
MYKENISCHER DIALEKT
IX. Die Stellung des Mykenischen im Rahmen
der altgriechischen Sprache
A. Mundartliche Charakteristik des Mykenischen .
B. Der mykenische Dialekt und die homerische
. 446
Sprachform
C. Frithgeschichte der griechischen Sprache ue
D. Appendix: Listen alterer griechischer Entlchnungen ...... 490
CHRESTOMATHIE
X. Ausgewahlte mykenische Texte ......6..00.00cc0eeeeeeeees 501
INDICES
Alphabetischer Index der mykenischen Appellativa .......-. 533
BIBGIOGH ARE ee 621EINFUHRUNGI. Die Hintergriinde
A. Einfiihrung
In meinem Handbuch des mykenischen Griechisch werde ich versuchen,
eine grazistische Teildisziplin vorzustellen, die das Licht dieser Welt vor
mehr als 50 Jahren erblickt hat (1952), und deren Vater ein englischer
Architekt namens Michael Ventris war, wobei an ihrer Wiege als Paten
einige cher junge Philologen, Archdologen und Historiker standen. Diese
versuchten das Kleinkind zu beschiitzen, als in dessen viertem Lebens-
jahr sein Vater gestorben war (1956), und selbst das Leben des Kindes
schien bald danach durch eine hyperkritische schottisch-deutsche Allianz
gefihrdet zu sein. Die Mykenologie hat allerdings diese leidenschaftliche
Auseinandersetzung bei guter Gesundheit iiberstanden, die Kontroverse
hat sogar ein wichtiges positives Ergebnis gehabt, indem sie aus dem my-
kenologischen Horizont Scharen von Phantasten vertrieb, die immer bereit
waren, alles mégliche und unmigliche aus den mykenischen Texten her-
auszulesen.?
‘Auf diese Weise ist die Mykenologie im Laufe der Jahre allmahlich
miindig geworden und bediente sich immer mehr, neben verschiedenen
auferst niitzlichen interdiszipliniren Kontakten, aller fiir die klassische
Philologie typischen methodischen Verfahren, einschlieBlich der Textkri-
tik, Dies ist ein bedeutsames Verdienst von John Chadwick, dem Stief-
vater und Mitbegriinder der Mykenologie, der immer darauf Wert legte,
die mykenologischen Studien in engster Verbindung mit der klassischen
Philologie zu pflegen.
Heute sind wir imstande, die wahre Bedeutung der Mykenologie im ge-
samten Komplex der Altertumswissenschaften richtig abzuschatzen. Da-
bei hat die Ventrissche Entzifferung der Linear B-Schrift keinen zu groBen
Erdrutsch im Bereich der Grizistik verursacht. Dazu sind die mykenischen
Texte sowohl inhaltlich, als auch was ihre quantitative Dimension betrifft,
zu unzureichend. Doch trotz aller Einseitigkeiten repriisentieren die myke-
nischen Linear B-Inschriften die dlteste bezeugte griechische Sprachform,
2” Uber die sogenannte mykenische Kontroverse s. S. 62ff.8 Die Hintergriinde
die um wenigstens vier Jahrhunderte alter ist als die frithesten alphabeti-
schen Belege.? Demgemaf enthiilt diese Sprachform verschiedene Beson-
derheiten, deren Existenz man vereinzelt bereits frither richtig rekonstru-
iert hat, doch gar nicht in allen einzelnen Fallen so erahnen konnte. Dabei
ist das Mykenische nicht sparlicher bezeugt als viele andere altgriechische
Dialekte: man kann in den mykenischen Texten fast alle wichtigeren gram-
matischen Formen identifizieren, besonders im nominalen Bereich — die
Verben sind dagegen nur spirlich belegt.! Und was den Inhalt betrifft,
fihren uns die Linear B-Dokumente in eine Welt, deren gesellschaftliche
Verhaltnisse sich ohne Zweifel sehr von jenen unterscheiden, die wir aus
der klassischen Gesellschaftsentwicklung kennen. Sie weichen offensicht-
lich auch von den bei Homer beschriebenen Verhiltnissen ab. Wir haben
es hier mit einem hochentwickelten und auferst zentralistisch organisier-
ten Wirtschaftssystem mit recht komplizierten Gesellschaftsbedingungen
zu tun, zu welchen gecignete Parallelen cher im Vorderen Orient als im
klassischen Griechenland zu finden sind. Andererseits aber behielten die
einzelnen mykenischen Zentren ihre politische Selbstindigkeit und sind of-
fensichtlich nie zu einem einheitlichen mykenischen Staat verschmolzen.
Trotzdem mag das mykenische Griechenland viel Bedeutsames zum
Verstehen der archaischen griechischen Gesellschaft beitragen. Im Ge-
dachtnis der griechischen Bevélkerung blieb fir immer das Bewuftsein
einer Kontinuitat mit der prachtvollen mykenischen Vergangenheit tief
verankert, welche trotz ihrer dkonomischen Verschiedenheit schon viele
wichtige kulturelle Merkmale besa, die kiinftighin zu einem dauerhaften
Impuls fiir verschiedene Gebiete der klassischen griechischen Schépfung
geworden sind.
B. Archiologischer Hintergrund
Der alteste direkte Beleg menschlicher Existenz auf dem dgiisch-hel-
ladischen Boden stammt aus dem mittleren Paldolithikum (ca. 750000
bis 50000 v. Chr.); es handelt sich um den Schddel eines Neandertalers
3” Die altesten bezeugten alphabetischen Texte stammen vor allem aus Eubéa (Lef-
kandi, Eretria) baw. aus den eubjischen Handels- und Kolonisationsgebieten (Al
Mina an der vorderasiatischen Kiiste, Pithekoussai = Ischia im Golf von Neapel),
und zwar bereits aus der 2. Halfte des 8 Jh. v. Chr. Vgl. G. Buchner (passim),
D. Ridgway (passim), und vor allem A. Bartonék - G. Buchner 1995 (1997).
4 Vgl. Kap. VII.
5 Uber das Verhiltnis des Mykenischen zur homerischen Sprachform vgl. das Kap.
IX B.Die Hintergriinde 9
aus der Petralona-Hohle, 75 km siidéstlich von Thessaloniki. Das erste Ske-
lett eines Homo Sapiens (ca. 7600 v. Chr.) wurde in der Franchthi-Hohle
nérdlich von Porto Cheli in der siidlichen Argolis entdeckt. Die Spuren
der ersten menschlichen Siedlungen kommen aus dem friiheren Neolithi-
kum, die erste keramische Siedlung scheint diejenige von Nea Nikomidia
westlich von Thessaloniki zu sein (ca. 6200), wihrend seit dem Anfang des
6. Jahrtausends bereits mehrere neolithische Siedlungen in verschiedensten
helladischen und Agiischen Landschaften auftreten. Die erste Hochkultur
des helladischen Neolithikums wird mit Hunderten von Siedlungshiigeln
des archaologischen Sesklo-Horizonts in Ostthessalien verbunden, der im
5. Jahrtausend v. Chr. sowohl in Thessalien als auch in verschiedenen
anderen Landschaften des helladischen Festlandes bezeugt und durch be-
merkenswerte bemalte Keramik charakteristiert ist. Im 4. Jahrtausend
wird diese Entwicklung durch einen neuen, jedoch nur auf Thessalien be-
schrénkten archdologischen Horizont unterbrochen, der nérdlicher Her-
kunft zu sein scheint und von einigen Forschern — offensichtlich aber
ohne geniigende Beweise — schon als indoeuropaisch angesehen wird. Im
Laufe der 1. Halfte des 3. Jahrtausends ist das Neolithikum durch die er-
sten Ansitze der Bronzezeit abgelést worden, die in den agaischen Raum
von Osten her gelangt waren — angeblich im Zusammenhang mit einer
éstlichen Migration. Die bronzezeitliche Kultur machte sich im dgaisch-
helladischen Raum in drei Teilgebieten geltend: auf dem Festland als die
sogenannte ,helladische*, auf der Insel Kreta als die ,minoische* und auf
den tibrigen Agiischen Inseln als die ,kykladische* Kultur.®
Nach der Evansschen Binteilung und verschiedenen Modifikationen an-
derer Forscher gliedert man heute die agdische Bronzezeit in folgende Teil-
phasen:?
© Uber die agaische Bronzezeit vgl. 2.B. E. Vermeule 1964, P.Demargne 1975,
P. Warren 1975, M.S. F. Hood 1978, O. Dickinson 1994.
A.J.Bvans 1905, vgl. auch M.S. F. Hood 1978, S. 10, O. Dickinson 1994, S. 19,
Gétter und Helden, Ausstellung Bonn 1999, S. 16f.
710 Die Hintergriinde
minoisch kykladisch helladisch
Friih-_ | FM: 3000-2100 | FK: 3000-1900 | FH: 3000-2100
Mittel- | MM I: 2100-1900 | MK: 1900-1600 | MH: 2100-1550
MMI: 1900-1700
MMIII: — 1700-1600
Spat- |SMIab: 1600-1450] SK: 1600-1050 | SH I: 1550-1500
SM IL: 1450-1400 SH II: 1500-1400
SM IIlab: 1400-1200 SH Tlab: 1400-1200
SM IIIc: 1200-1050 SH Ic: 1200-1050
Die chronoldgischen Angaben sind allerdings nur approximativ und
vereinfacht.
In der Frithbronzezeit lag der Schwerpunkt der kulturellen Entwick-
lung auf dem Festland und den agiischen Inseln. Sowohl das Festland
als auch die Inseln erlebten besonders im FH II baw. FK II (2400-2200)
einen bemerkenswerten Aufschwung (Lerna, Asine, Tiryns in der Argolis,
Zygouries, Korakou in der Korinthia, Agios Kosmas in Attika, Butresis,
Orchomenos in Béotien, Malthi in Messenien u.a; Thermi auf Lesbos,
Poliochni auf Lemnos, Chalandriani auf Syros, Phylakopi auf Melos; Aus-
fuhr des hochgeschaitzten Obsidians von Melos in viele Mittelmeerlander).
Am Ende von FH II/FK II wurde eine Anzahl dieser Lokalititen, beson-
ders in der Argolis, in der Korinthia und auf den Kykladen, zerstért —
was mit einer angeblich aus dem Osten, d.h. von Anatolien her kommen-
den Vorhut der indoeuropaischen Einwanderer in Zusammenhang gebracht
wird. In anderen helladischen Gegenden erfolgten ahnliche Zerstérungen
erst gegen das Ende von FH II]; sie werden tibereinstimmend fiir das Re-
sultat einer von Norden her kommenden indocuropaischen Einwanderung
protogriechischen Typs gehalten.
Auf Kreta zeigt sich dagegen die friihbronzezeitliche Lage als weni-
ger iibersichtlich, da hier oft die FM-Schichten in den spiiteren Entwick-
lungsphasen zerstért wurden. Binige FM-Funde stammen aus Héhlen-
kultstatten (Grote von Bileithyia, éstlich von Iraklion), doch es gibt auch
einige sichere FM-Siedlungen (z.B. Vasiliki). Die bronzezeitliche Bliite-
zeit ist jedoch auf Kreta erst mit der MM-Periode verbunden, in welcher
zuerst die dlteren Palaste von Knossos, Phaistos und Mallia ausgebaut
wurden und nach deren Zerstérung um 1700 die jiingeren Palaste von
Knossos, Phaistos, Mallia, Kydonia (Khania) und Kato Zakros in MM III
entstanden sind. Deren Blitezeit dauerte wenigstens bis zum Ende von
$M I (fir Knossos vielleicht noch etwas linger) — dies gilt auch fir vieleDie Hintergriinde 11
andere Lokalitaten (zu diesen gehirte der knossische Hafenort Amnisos,
die minoische Stadt Gournia, die kénigliche Villa von Agia Triada, die
Herrenhauser in Tylissos, Vathypetro, die Nekropole in Archanes, einige
weitere Héhlenkultstatten u.a.); doch ist schon damals die Insel von einer
Reihe zerstérender Erdbeben erschiittert worden. Diese Katastrophenserie
scheint am Anfang des 15. Jahrhunderts ihren Héhepunkt erreicht zu ha-
ben; seit etwa 1450 v. Chr., d.h. seit dem Ende der SM Ib-Periode, liegen
fast alle minoischen Zentren in Triimmern, was von manchen Forschern
mit dem auf der naheliegenden Insel Thera angeblich gerade um diese Zeit
erfolgten Vulkansaubruch in direkten oder indirekten Zusammenhang ge-
bracht wurde®’ Nur Knossos scheint weniger betroffen gewesen zu sein,
da es sich offensichtlich spatestens am Anfang des 14. Jahrhunderts wie-
der in betrachtlichem kulturellem Aufschwung befand, wenn auch schon
unter den neuen Herren vom helladischen Festland — den griechischen
Achéern.?
Demgegeniiber ist auf dem helladischen Festland und auf den agaischen
Inseln die mittelbronzezeitliche Phase (MH bew. MK) durch einen kultu-
rellen Riickgang gekennzeichnet, der ohne Zweifel durch die Einwande-
rung der kulturell riickstandigen protogriechischen Indoeuropier verur-
sacht worden ist. Erst im Laufe der letzten Phase der MH-Periode (vom
17. Jh. an) beginnt der Wiederaufschwung der helladischen Kultur —
zuerst mit dem dlteren Schachtgraberrund von Mykene (Graberrund B)
—, der dann in der SH-Periode durch den Ausbau mehrerer mykeni-
scher Palaste und zahlreicher Siedlungen seine Bliitezeit erreichte; dies
war der Fall nicht nur auf dem Festland (Mykene, hier nun das Graber-
rund A; Tiryns, Pylos, Athen, Theben, Orchomenos, Iolkos u. a.), sondern
auch auf den Agdischen Inseln (z.B. Agia Irini auf Keos), ja sogar —
seit dem Anfang des 14. Jh. — in dem einst minoischen Knossos. Ein
umfangreiches mykenisches Handelsgebiet bildete sich dann besonders im
13. Jahrhundert im ganzen Ostmittelmeerraum heraus. Doch dieser Auf-
schwung der mykenischen Zivilisation war relativ kurz, und bereits gegen
5 Die Ansichten tier den Zeitpunkt des Vulkanausbruches auf Thera unterscheiden
sich allerdings betrachtlich; z.Z. datiert man die Katastrophe in das ausgehende
17. Jh. v. Chr. (vgl. S. W. Manning, in: Thera and the Aegean World IIT, London
1990, S. 29ff.), wodurch der angebliche Zusammenhang zwischen dem Vulkanaus-
bruch auf Thera und den Zerstérungen auf Kreta um 1450 seine chronologische
Stiitze verliert.
Auch die Umstande der Ankunft der Achder auf Kreta sowie die Chronologie der
spatbronzezeitlichen Zerstérungen in Knossos bleiben offen (vgl. Knossos. A Laby-
rinth of History, Papers presented in honour of M. 8. F, Hood 1994, passim, und La
Gréte mycénienne 1977 = BCH Suppl. 30).12 Die Hintergriinde
Ende des 13. Jahrhunderts machten sich die ersten deutlichen Anzeichen
ihres Niedergangs bemerkbar (Schematisierung verschiedener Kunstfor-
men, Zerstérung einiger Palaste u.a.). Im Laufe des 12. Jahrhunderts
fanden dann verschiedene sowohl ékonomisch-politische als auch kultu-
relle Verdnderungen im ganzen Agiischen Raum statt, so da dadurch
eine neue Entwicklung eintrat, die sich danach ihren eigenen Weg durch
die sogenannten ,,finsteren“ Jahrhunderte zum archaischen Griechentum
bahnte.
C. Sprachlicher Hintergrund
Die Griechen selbst, wie gesagt, waren in der Agais nicht seit jeher
zu Hause. Ihre Vorfahren wanderten in den dgdischen Raum um das Jahr
2000 v. Chr. ein und stieBen dabei auf eine altere Bevélkerungsschicht,
die sich ohne Zweifel auf einem héheren Zivilisationsniveau befand. Man-
che Forscher glauben, da8 im Agdischen Raum noch vor den Griechen
andere Indogermanen lebten, aber sichere Beweise dafiir gibt es nicht. Die
pelasgische Hypothese von V. Georgiev und einigen anderen Forschern!®
stiitzt sich lediglich auf ein paar Wérter, die man auch anders deuten
kénnte. Die eventuelle Existenz zweier aufeinanderfolgender Invasionswel-
len im Agaischen Frihhelladikum III, z. B. in Lerna, erlaubt auch andere
Erklarungen als diejenige von L. Caskey"! vermittels zweier verschiede-
ner indoeuropaischer Einwanderungen im Intervall von etwa 200 Jahren
(2200-2000).
Im Laufe der ersten drei oder vier Jahrhunderte des 2. Jahrtausends
v. Chr. haben sich die protogriechischen Einwanderer mit der dlteren agai-
schen Bevélkerung stark vermischt, wodurch auch ihre Sprache eine An-
zabl spezifischer Lautverdinderungen (vor allem im Bereich der Konsonan-
ten) baw. verschiedener morphologischer Innovationen (vor allem in der
Verbalflexion) durchmachte und einen Teil des indoeuropdischen Wort-
schatzes einbiiSte. Gegen Ende des Mittelhelladikums (d.h. um 1600)
waren die ein solches Griechisch sprechenden Bevélkerungsschichten im-
stande, im Rahmen der soeben entstehenden mykenischen Zivilisation die
Fiihrungsrolle auf dem helladischen Festland zu iibernehmen.
Dieser schnelle kulturelle Aufschwung, der zum erstenmal im Hori-
zont der Schachtgraber von Mykene zu sehen ist, beruht auf wichtigen
Faktoren. Gerade zu dieser Zeit begannen sich mehrere mittelhelladische
10 V, Georgiev 1966, vgl. auch W. Merlingen 1955.
NL. Caskey 1971 (CAH, 3rd ed., Vol. I, 2, S. 771ff.).Die Hintergriinde 13
Siedlungen zu ersten staatlichen Gebilden zu organisieren. Das fihrte zur
Haufung von Reichtum in den Handen der lokalen Herrscher, wie es ausgie-
bige Funde in den frithesten mykenischen Palastschichten bezeugen. Die-
ser Reichtum lockte bald Handwerker und Kiinstler aus den benachbarten
Hochkulturen, besonders aus dem minoischen Kreta, in die Palastzentren.
Zugleich aber benstigte man fiir den angehiuften Reichtum auch eine Art
Registrierung. Dieses Bediirfnis wurde bald durch das Heranziehen von
Linearschreibern aus Kreta befriedigt. Dort hatte sich in den ersten Jahr-
hunderten des 2. Jahrtausends ein spezifisches Schriftsystem entwickelt,
das man heute die kretische hieroglyphische Schrift nennt. Diese Schrift
wurde im 18./17. Jahrhundert v. Chr. durch die sogenannte Linear A-
Schrift ersetzt, die ihre Blitezeit im 16. Jahrhundert erlebte und deren
Einflu8 sich auch in anderen Schriftsystemen des éstlichen Mittelmeer-
raumes bemerkbar machte.!?
Auf dem helladischen Festland haben vielleicht zuerst die von Kreta
stammenden minoischen Schreiber im Auftrag ihrer mykenischen Herren
die kretische Linear A-Schrift in der Palastadministration verwendet, doch
nach einer gewissen Zeit haben offensichtlich ihre Nachfolger diese Schrift
den Bediirfnissen der griechischen Sprache angepaft, und das Resultat
war die Einfiihrung der sogenannten Linear B-Schrift — vielleicht schon
im 15. Jahrhundert v. Chr., wenn nicht noch friiher — in die dkonomische
Verwaltung der mykenischen Palastzentren.!®
Die noch nicht geniigend geklarte kretische Katastrophe um 1450 vor
Chr., die in kurzer Zeit eine fast totale Vernichtung der minoischen Zi-
vilisation bedeutete, hat es den festlindischen Griechen, den Achaern,
erméglicht, in das schwer getroffene Land einzuwandern, den Palast von
Knossos in Besitz zu nehmen und auch andere kretische Gegenden unter
ihre Kontrolle zu bringen. Da sie griechisch sprachen, wurde nun auf Kreta
die Administration in Linear B-Schrift durchgefiihrt, wie es in den Zen-
tren auf dem Festland iiblich war, und nicht mehr in der fiir die minoische
Kultur typischen Linear A-Schrift.
Auf dem helladischen Festland beniitzte man die Linear B-Schrift bis
zum Ende des 13. Jahrhunderts, wonach der Gebrauch dieser Schrift rasch
in Vergessenheit geriet, offensichtlich im Zusammenhang mit Machtum-
walzungen am Anfang der ,,finsteren* Jahrhunderte.
12 Mehr dariiber in Kapitel Il.
13 Doch vgl. Anmerkung 9 iiber die unsichere Chronologie der Ereignisse in Knossos
sowie die Ausfiihrungen auf. 74ff. tiber Zeit und Ort der Entstehung der LB-Schrift.
Es gibt Forscher, die deren Entstehung mit Entschiedenheit auf Kreta lokalisieren.14 Die Hintergriinde
Jedenfalls bediente sich noch in der 2. Hiilfte des 2. Jahrtausends
v. Chr. ein gewisser Teil der dgadischen Bevélkerung anderer Sprachen
als des friihgriechischen indogermanischen Idioms. Das ersieht man u. a.
aus dem klar ungriechischen Geprage beider dlterer Schriftsysteme auf
Kreta, der hieroglyphischen und der Linear A-Schrift, die einen nicht-
indoeuropiischen Sprachtypus reprisentieren. Die mykenischen Griechen
haben zwar im Laufe des 14. und 13. Jahrhunderts ihren politischen, und
vor allem ihren dkonomischen Einflu8 auf den ganzen Ostmittelmeerraum
ausgedehnt, doch selbst diese Expansion bedeutete offensichtlich keinen
raschen Untergang der einheimischen vorgriechischen Sprachen.
Die Zahl der Yerschiedenen vorgriechischen und nichtgriechischen Vol-
ker, deren Namen die altgriechischen Autoren bewahrt haben, ist betrécht-
lich: die Pelasger, Leleger, Kydoner, Eteokreter, Karer, Thraker, Illyrier
und viele andere. Uber die konkreten Sprachen dieser Vélker wissen wir
heute gar nichts oder nur sehr wenig. Allerdings hat man noch gegen die
Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. in einigen Randgebieten der agdischen
Inselwelt fremde Sprachen gesprochen, zu deren Wiedergabe man sich des
griechischen Alphabets bedient hat. Es handelt sich um eteokretische In-
schriften aus Ostkreta, etruskoide aus Lemnos und thrakoide aus Samoth-
rake.!4
Andererseits ist zu erwihnen, da8 einige im Mykenischen baw. im al-
phabetischen Griechisch bezeugte Eigennamen auch in den Texten zweier
wichtiger Sprachen des alten Orients vorkommen, und zwar:
a) in der hethitischen Keilschrift; vgl. in den Texten von Boghazkéy aus
dem 14.-13. Jh. v. Chr. z.B. die Toponyma Ahhijawa = “Ayou(¢)ia (vgl.
myk. a-ka-wi-ja-de Akhaiwian-de ,nach A.“ als Name einer kretischen (!)
Lokalitat), Milawanda, Milawata = MiX(f)atos, Midytog usw. oder das
Anthroponym Tawagalawag = "Exeoxdfig (vgl. myk. e-te-wo-ke-re-we-i-jo
Etewoklewe(h)ios als Adj. zum Personennamen * Etewoklewés)!>;
b) in der agyptischen hieroglyphischen Inschrift auf einem Statuen-
sockel im Tempel von Amenophis III. aus der Zeit um 1370 v. Chr.; vgl.
mehrere kretische und helladische Toponyma, z.B. Amn: “Auviod
(vgl. myk. a-mi-ni-so Amnisos), Kunugé = Kvaoodg (vgl. myk. ko-no-
so Knés(s)os), Mukdna = Muxfvoi, Degajis = O#Bor (vgl. myk. te-qa-i
Thég”a(h)i Dat.-Lok. ,,in Theben*).!®
14 Vel. Y. Duhour 1982, A. Bartonek 1993c baw. 1994.
15 Vel. E. O. Forrer 1924, F. Sommer 1933, G. Steiner 1964, F. Schachermeyr 1986.
18 Vel. E. Edel 1966, A. Bartonék 1983, G. A. Lehmann 1991.Die Hintergriinde 15
Die neuesten bibliographischen Angaben zu weiterem
Lesen
(I. Kap.)
In diesen zusitzlichen Partien, die am Ende jedes Kapitels (bzw. ei-
niger Subkapitel) eingereiht werden, fihre ich die wichtigsten Studien
vor allem aus dem Buch von P.Dardano, Un decennio di studi mice-
nei (1991-1997), Roma 2000 (neben ein paar weiteren Studien, z. B. aus
J.T. Hooker, Mycenology in the 1980’s, Kratylos 36, 1991, 32-72, oder aus
der Publikation Floreant Studia Mycenaca I-II, Akten des Intern. Myken.
Colloquiums in‘Salzburg 1995, Wien 1999) an:
Zum neuesten Stand im Bereich der altagdischen Archologie im 3.
bis 2. Jahrtausend v. Chr. siehe vor allem O. Dickinson 1994 (vgl. auch
J. Vanschoonwinckel 1991 iiber die Wende vom 2. zum 1. Jt. v. Chr.).II. Die altigéischen Schriften und ihre
Ausstrahlung
Den heutigen Stand der Dokumentation der drei altagaischen Schriften
aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. (HG, LA, LB) kann man durch folgende
statistische Angaben charakterisieren:
Die agaischen Schriften im Vergleich!”
‘Ton- | Tonsiegel [Siegel-| Ton. | Andere | Gesarmt- Fundorte
tafelchen| u.8. | stscke [scherben| Obj. | sah!
Hieroglyphisch | 132 57 | 6] 16 | 331 [32 Kreta +2 Insein
+ 5 Inseln
+1 Pelop.
Linear A 325 1021 ae 42 72 | 1460 [33 Kreta + 1-3
Kleinasien
+ 1-2 Israel
Linear B 5561 | 171 | ~ | 170 | 2 | 5904 | 5 Kereta +5 Petow.
+ 6 Zentralge.
Insgesamt 6008 | 1249 | 136 | 212 | 90 | 7695
1 Siche A. Bartonék, Die gaischen voralphabetischen Schriften, in: Europa et Asia
Polyglotta, Festschrift fiir Robert Schmitt-Brandt 2000, S. 7-11. Die statistischen
Angaben wurden auf der Grundlage folgender Editionen zusammengestellt:
HG: CHIC 1996 = J.-P. Olivier—L.Godart, Corpus Hieroglyphicarum Inscrip-
tionum Cretae, Athénes-Rome-Naples 1996; J.-Cl. Poursat, Fouilles exécutées &
Mallia, Le Quartier Mu, Vol. III, Beitrag von J.-P. Olivier: ,Addenda Ecriture
hiéroglyphique crétoise“, pp. 154-199 + Pl. 64, 67-75.
LA: GORILA 1976-1985 = L. Godart-J.-P. Olivier, Recueil des Inscriptions du
Linéaire A, vol. I-V, Paris 1976-1985, baw. J. Raison—M. Pope, Louvain 1994 (2°
éd.).
LB: S. die LB-Editionen auf S. 71ff. (vgl. auch A. Bartonék 1983b, J.-P. Olivier,
in: Knossos. A Labyrinth of History, Papers...in honour of M. S. F, Hood 1994,
S. 157ff.), vor allem CoMIK 1-V, 1985-1999, K'T® 1989 (fiir Knossos), PT'T I-II
1973-1976 (fiir Pylos), TITHEMY 1991 (fir Tiryns, Theben und Mykene), Thebes
2002 (fiir Theben) und A. Sacconi 1974 (fiir die Vaseninschriften)
Vgl. den bibliographischen Uberblick auf S. 71f.Die altagaischen Schriften und ihre Ausstrahlung 17,
A. Die kretische hieroglyphische Schrift (HG)
Die Anfinge der agaischen Schriften reichen bis in das 3. Jahrtausend
v. Chr. zuriick, wo man zunichst nur gelegentlich Zeichen verschiedenster
Identifizierungs- und Registrierungsfunktionen begegnet. Um den Anfang
des 2. Jahrtausends vermehren sich vor allem die piktographischen Zei-
chen auf Siegeln und deren Abdriicken, und bald findet man auch lingere
Zeichengruppen auf verschiedenen ungebrannten Tonobjekten, besonders
auf Tontéfelchen. Beides zihlt man bereits zu dem Altesten bezeugten
Abb. 1. Kretische ,hieroglyphische“ Schrift. 1 - Siegelabdruck im Ton, Br. ca. 3 cm
(nach Prehistory and Protohistory 1974, S. 158); 2 — vierseitiges Hieroglyphensiegel,
Br. 3 cm (nach Grumach 1969, Taf. 41); 3 - protolinearer Tonbarren, L. ca. 3,4 cm;
4 protolinearer Tonanhinger, Br. ca. 2,1 cm (beides aus Knossos um 1700 v. Chr; nach
Prehistory and Protohistory 1974, S. 158 f.)
Agiischen Schriftsystem, der kretischen hieroglyphischen Schrift, die auf
den Steinsiegeln und deren Abdriicken als plastische Gravierung erscheint,
wiahrend sie, in den Ton eingeritzt, in einen schematischen Schriftstil ge-
rader oder gekriimmter Linien iiberging, fiir den man die treffende Benen-
nung ,,protolinear zu beniitzen pflegt. Die Anzahl der hieroglyphischen
Texte ist gering (s. die Tabelle auf S. 16). Neben den etwa 190 Siegeln und
Siegelabdriicken mit sehr kurzen Inschriften hat man bis jetzt nur etwa
120 ungebrannte Tontafeln und andere Tonstiicke mit Inschriften von 2 bis
30 Zeichen sowie einige weitere mit der HG-Schrift beschriftete Objekte
entdeckt, d.h. insgesamt etwa 330 HG-Belege aus der Zeit zwischen ca.
2200 und 1500 v. Chr. — Einige Beispiele der HG-Schrift finden sich auf
den Abb. 1-2 (s. S. 17).18 Die altagaischen Schriften und ihre Ausstrahlung
Abb. 2. Beispiele der protolinearen Kursive
in Faksimile. 1, 2 - Tonbarren (H. ca. 3,4
cm, Br. ca. 0,9 cm baw. 4,6 und 1,0 cm);
3ab — Tonanhinger, Br. ca. 2,1 cm (nach
Evans 1921, Abb. 208); 4 ~ vierseitiges Sie-
gel, Br. ca. 3,8 cm (nach Kenna 1969, S
106, Abb. 1: P 26); 5 - Tontafel, Br. ca. 4,2
cm (nach Evans 1921, Abb. 209).
Besonders auf den Tontafeln glaubt man bereits mit Lautzeichen wie-
dergegebene Worter von ideographisch ausgedriickten Begriffen unter-
scheiden zu kénnen, welche oft von spezifizierenden Zahl- und Mafvzeichen
begleitet werden. Die Richtung der Schrift ist nicht eindeutig. Die An-
zahl der mutmatilichen Lautzeichen betragt etwa 90 (vgl. Abb. 3), was fiir
eine syllabische Schrift sprechen konnte. Doch eine Entzifferungsperspek-
tive scheint zur Zeit noch weit entfernt zu sein.
B. Die kretische LinearA-Schrift (LA)
Aus der protolinearen Abart der hieroglyphischen Schrift hat sich nach
der iiberwiegenden Meinung der Forscher die Linear A-Schrift entwickelt,
die zum einfluBreichsten agiischen Schriftsystem wurde und seit ihren er-
sten Anfangen etwa im 19. Jh. v. Chr. ununterbrochen wenigstens bis 2u
der Zeit der grofen kretischen Katastrophe um 1470/50 bliihte.Die altagiischen Schriften und ihre Ausstrahlung 19
Repetitorium der Linear A-Texte
W-Serie ZSerie
Lokatitat Tomtae | —Tonsieget | Getase [Andere Ovience | Cosunt>
Nod. [Lab. [Rnd. [Stein] Ton [Suk] Stein] Met. uaw.
‘AP [Apodoulou eS SSeS
AR | Arkalokhori SS eee
AK | Arkhanes 7)-}-]-]-]-]-]-]-]-] 7
GR | Gortys oe lee | a
GO | Gournia ee ee ele
HS | (Hag. Stephanos) - | -|-|-|-]-|-|-]-]Ja] 2
HT | (H)ag. Triada | 148 | 846] 6 | 26 | - | 5/o] 3. | - | 7 | - | 1041
IO |Ioukhtas - |-]-]- | 43} afoy-] - ep
KA | Kamilari - }-}-]-}-}-]-}-Jad-] a
KE | Keos 1 }-|-]1] - 5/0 Sele
KH |Khania 93 |20] -|o4] -] - |-| -]-] -]| 207
KN | Knossos 6 |1]-|6 | 4 |uy2}-]1]2]2] 35
KO | Kophinas StS eels a
KY |Kythera lel ete lela
LA |Larani Se elo) |e S| 7
MA | Mallia 6 |-|-}]2]- |io}-]a - | 10
ML | Melos te yo ee
MO| Mokhlos - |-|-}-]-]-]-]-Jad-]2
PK | Palaikastro 2]-]-|-Jafaa}-|- 15
PA | Papoura 1 |- Sele lee |e ||
PH |Phaistos 20 | 1 9 | - | 3/0 - - | 38
PL | Platanos See ea
PR | Prassa 7 -}-/ai]-]-]-]-]-]oa
PS |Psykhro -}-]-]-}a]-]-]-]-]-] 2
PU | Pyrgos Ae ee ees a
SE |Selakanos eee ile
SI | Sitia -}-]-]-}-]-]-]-]-]afoa
SK |Skhinia Saale Ol | | |e a
SY | Symi - |-]-]- -|-|-|]-]-] 4
TH | Thera - |-|-]-|-]sl-]-]-]-] 5
TS | Traostalos - J-]-]-]-}a}-}-]-}-] 4
TL | Troullos Slee eel
TR | Trypiti - |-]-]-]-]-]-]-]-]Ja} 2
TY | Tylissos 2 | ee
VR | Vrysinas See ele
ZA | Zakros 33 J-|-)1]-]2%0]/-}-]-]2] 5
KT | (Creta inc.) 2 1{-|-]-] -|[-]-]2]- 5
i 869 11 141] 40 39/8 3 2 18 9
insgesamt,
325 1021 114 1460
iirzungen: Nod. = ,nodules“, Lab. = ,jetons“, engl. ,lables“, Rnd. = ,rondelles",
Stk. = Stukkatur, Met. = Metall; bei den Tongeféifen bedeutet die Bruchzahl 11/2: 11
Fragmente mit gravierter Inschrift und 2 mit gemalter Inschrift. [Stand 1995; doch vgl.
die Anm. 18-22]
Die Ortsnamen baw. deren Abktirzungen werden hier nach Raison — Pope 1994 angege-
ben; die iiblichen deutschen Formen, die in unserem Test vorkommen, sind allerdings
etwas verschieden (zB. Khania = Chania).20 Die altagaischen Schriften und ihre Ausstrahlung
Da jedoch nur eine gewisse An-
zahl der hieroglyphischen Schrift-
zeichen in der Linear A-Schrift wie-
derkehrt und da beide Schriften
iiber eine gewisse Zeitspanne hin-
weg nebeneinander gebraucht wur-
den, haben einige Forscher die Hy-
pothese vertreten, da& sowohl die
hieroglyphische Schrift als auch die
Linear A-Schrift von einer noch
lteren, bis jetzt nicht bezeugten
kretischen Schrift abgeleitet gewe-
sen sind (J.T. Hooker 1980). Fir
einen eventuellen Ausgangspunkt
wird in diesem Zusammenhang die
sparlich bezeugte, aus der Zeit
um die Wende des 3.—2. Jahrtau-
sends y. Chr. stammende kretische
Abb. 3. Hieroglyphische Schriftzeichen in HG-Schrift aus Archanes gehalten
Auswahl. A — plastische, B — kursive (li- (@. Owens 1996 u.a.).
neare) Schriftvarianten (nach Evans 1921, J, Godart (1979) hat die Mei-
Abb. 214), : : :
nung geduBert, das hieroglyphi-
sche und das LA-System seien un-
abhangig voneinander entstanden. Das hieroglyphische System sei aus
den auf Siegeln vorkommenden piktographischen Darstellungen hervor-
gegangen; gelegentlich sei es spiter — sekundar — nach dem Vorbild der
im 19. Jahrhundert v. Chr. entstandenen LA-Schrift auch vereinzelt auf
Tontafelchen und anderen Tongegenstnden beniitzt worden; nach dem
Untergang der alteren Palaste sei die HG-Schrift jedoch aus dem minoi-
schen Schrifthorizont verschwunden.
Die von L. Godart hervorgehobenen Differenzen zwischen dem Zeiche-
ninventar beider Systeme (mehr als 50% der Zeichen sind verschieden)
kénnte man allerdings auch durch die stark liickenhafte Uberlieferung
beider Schriftsysteme erklaren. Eine funktionelle Auseinanderhaltung von
HG- und LA-Schrift diirfte berechtigt sein, doch eine urspriingliche, von
Anfang an bestehende Unabhingigkeit beider Systeme ist schwer beweis-
bar (jedoch so auch L. Godart 1990).
Die Gesamtzahl aller Dokumente in Linear A-Schrift macht heute we-
nigstens 1460 Belege aus (s. Tabelle auf S. 19): etwa 325 nicht gebrannte
Tontafeln, ca. 1020 sehr kurze Inschriften auf anderen nicht gebrann-Die altagaischen Schriften und ihre Ausstrahlung 21
ten Tonobjekten (d.h. Tonmedaillons, Tonanhinger und Siegelabdriicke
in Ton) und etwa 115 weitere Inschriften auf anderem Material (Metall,
Stein, Wandfresken, GefaiSscherben u. a.).!® Doch kaum mehr als etwa 500
LA-Inschriften sind epigraphisch relevant..9
Abb. 4. Linear A-Inschriften (Photographien mit Faksimiles). 1 ~ Tonbecher mit Tin-
teninschrift aus Knossos (1. Hilfte des 17. Jh. v. Chr.), © ca. 8 cm (a nach Prehistory
and Protohistory 1974, S. 217; b - nach Brice 1961, Taf. XXIla, Nr. II 1); 2 - goldener
Siegelring von Mavro Spelio bei Knossos, @ ca. 0,95 cm (nach Brice 1961, Taf. XXX,
Nr, V 14); 3 - Goldaxt mit einer eingravierten Inschrift aus Arkalokhori (nach Grumach
1969, Taf. 46),
18 Die heutigen Zahlen liegen etwas hdher (s. z.B. die Anm. Nr. 20/21).
+9 Vor allem sind viele Tonsiegel aus Hagia Triada in solchem Sinne nicht relevant.
Gegeniiber GORILA werden in der Edition von J. Raison-M. Pope1994 nur etwa
500 LA-Texte registriert (und in der vor kurzem erschienenen Edition von C. Consani
und M. Negri 1999 ca. 510).22 Die altagaischen Schriften und ihre Ausstrahlung
26
Abb. 5. Linear A-Tondokumente aus
Hagia Triada. 1- Tontafel HT 13, Br.
ca. 6.cm (a~ nach Grumach 1969, Taf.
49; b - nach Pugliese Carratelli 1945,
S. 485, Abb. 57); 2, 3 - Beispiele einer
rotella (,roundel“) und einer cretula
(,sealing") aus Hagia Triada, Br. ca. 2
baw. 3 cm (nach Brice 1961, Taf. XV,
Nr. IV3 und V 1).
Insgesamt fand man nach J. Raison -M. Pope 199479 Linear A-Doku-
mente in wenigstens 31 Lokalitaten (z.Z. 33) fast auf der ganzen Insel
Kreta (mit Ausnahme des aufersten Westens), was von einer enormen
Starke des kretischen Schriftpotentials besonders im 17. und 16. Jahrhun-
dert v. Chr. zeugt. Selbst Tontafeln sind in 12 kretischen Lokalitaten ent-
deckt worden. Den wichtigsten Fund dieser Art stellt das Tontafelarchiv
von Hagia Triada dar — mit etwa 150 Tontafeln von zweifellos admini-
strativ-dkonomischem Geprige aus der Zeit um 1450, die in der Regel
die Form eines hochkantgestellten Rechteckes mit 4-9 Textzeilen haben.
Heutzutage stehen aber auch Reste von LA-Tontafelarchiven aus anderen
kretischen Lokalitaten zur Verfiigung, besonders aus Khania, Phaistos und
Zakros.
20 ‘Auch die Zahl der LA-Fundstatten steigt mit den neuen Entdeckungen weiter; eine
zahlenmaige Auswertung von Raison — Pope 1994 und Consani - Negri 1999 (sowie
von G. Owens 1996) fiihrt uns heute zur Gesamtsumme von 33 kretischen Loka-
litaten, 5 insular-agaischen und wenigstens 3 entweder auf dem europaischen oder auf
dem asiatischen Festland liegenden Fundstatten (/H/agios Stephanos, Miletos, Tel
Haror). Vgl. weiter die zwei vermutlichen LA-Belege aus Troia (L.Gadart 1994, 457
bis 460) sowie den eweiten Beleg aus Israel (M. Finkelberg - A. Uchitel- D. Ussishkin
1996, 195-207). Vgl. auch oben auf dieser Seite.
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