(Erganzungs-Und Nachlassbande Zu Den Gesammelten Werken Von Paul Tillich) Sturm, Erdmann, Erdmann Sturm-Tillich, Paul_ Gesammelte Werke. Erganzungs- Und Nachlabande_ Berliner Vorlesungen III. (1951-19
(Erganzungs-Und Nachlassbande Zu Den Gesammelten Werken Von Paul Tillich) Sturm, Erdmann, Erdmann Sturm-Tillich, Paul_ Gesammelte Werke. Erganzungs- Und Nachlabande_ Berliner Vorlesungen III. (1951-19
(1951–1958)
Herausgegeben von
Erdmann Sturm
Walter de Gruyter
PAUL TILLICH
BERLINER VORLESUNGEN III
(1951⫺1958)
≥
ERGÄNZUNGS- UND NACHLASSBÄNDE ZU DEN
GESAMMELTEN WERKEN VON PAUL TILLICH
BAND XVI
DE GRUYTER
EVANGELISCHES VERLAGSWERK GMBH
BERLIN · NEW YORK
PAUL TILLICH
BERLINER
VORLESUNGEN III
(1951⫺1958)
ONTOLOGIE (1951)
VON
ERDMANN STURM
DE GRUYTER
EVANGELISCHES VERLAGSWERK GMBH
BERLIN · NEW YORK
앪
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier,
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020531-2
쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin
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cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Satz: Readymade, Berlin
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Dem Andenken an
Der vorliegende Band enthält die Vorlesungen, die Paul Tillich als
Gastprofessor an der Freien Universität Berlin in den Jahren 1951,
1952 und 1958 gehalten hat. Erstmals werden der Edition nicht
Vorlesungsmanuskripte Tillichs zugrundegelegt, sondern stenogra-
phische Mitschriften. Wir verdanken sie Dr. Gertie Siemsen, die
bereits als Hilfsassistentin am Frankfurter philosophischen Seminar
für Paul Tillich, Max Wertheimer und Theodor W.-Adorno Vorträge
und Vorlesungen stenographiert hat. Dem Andenken an sie ist dieser
Band gewidmet.
Mein Dank geht wieder an Frau Dr. Mutie Farris Tillich (New
York), die die Publikation dieser Vorlesungen ihres Vaters großzügig
erlaubt hat. Ich danke dem Leiter der Abteilung Handschriften und
Altbestände der Universitätsbibliothek Marburg, Herrn Dr. Bernd
Reifenberg, für mannigfache und entgegenkommende Hilfe in allen
Fragen, die das dortige Paul-Tillich-Archiv betreffen, ebenso Frau
Natalie Fromm und Herrn Gerd Walter, Mitarbeitenden im Uni-
versitätsarchiv der Freien Universität Berlin, die mich bei meinen
Recherchen über die Gastvorlesungen Tillichs an der Freien Univer-
sität unterstützt haben.
Auch Herrn Dr. Albrecht Döhnert, Cheflektor für Theologie,
Judaistik und Religionswissenschaft im Verlag Walter de Gruyter
Berlin / New York, sei wieder gedankt für das anhaltende Interesse an
dem noch unbekannten Tillich und für die gute Zusammenarbeit.
VII
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Editorischer Bericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII
Historische Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI
1. Ontologie
(Freie Universität Berlin, Sommersemester 1951)
1. Vorlesung (21.5.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Vorbemerkungen zur Vorlesung und zum Seminar. Was ist Ontolo-
gie? Die Wissenschaften sind abhängig von der Ontologie. Ontologie
und Erfahrung: Ontologie als „Erfahrung, die sich selbst erfährt“.
Ontologie als Frage nach dem, was in jeder Erfahrung immer schon
vorausgesetzt ist.
2. Vorlesung (22.5.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Der allgemeine Sinn der Seinsfrage und die ontologischen Polaritäten.
Das Sein ist nicht jenseits des Seienden, sondern mitten im Seienden zu
suchen. Die Begegnung mit dem Nichts. Erwartung und Enttäuschung.
„Sein ist Seinsmächtigkeit.“ „Ontologe sein heißt, durch das Nichtsein
hindurchgehen.“ Die vier Schichten der ontologischen Frage.
3. Vorlesung (23.5.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Die Korrelation von Selbst und Welt.
Wie kommen wir über den Gegensatz von Subjekt und Objekt hinaus?
Das Selbst und die Grade der Selbstheit. Das Ich-selbst als vollendetes
Selbst. Umgebung und Welt, Welt-Haben und Sprache-Haben.
4. Vorlesung (24.5.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Die Korrelation von Selbst und Welt (Fortsetzung).
Die Bestreitung durch Fichte, Hobbes, Descartes, Schelling. Der ontolo-
gische und der technische Begriff der Vernunft. Der Sieg der technischen
Vernunft. Konsequenzen in Politik und Theologie. Das Verhältnis von
Subjekt und Objekt. Das Problem der Objektivierung.
IX
5. Vorlesung (28.5.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
Die Korrelation von Selbst und Welt (Fortsetzung).
Erkenntnistheoretisch: Die Subjekt-Objekt-Korrelation. „Nichts in der
Welt ist ohne ein Element der Subjektivität.“ Die polaren Elemente:
1. Individualisation und Partizipation. Die Ich-Du-Begegnung.
6. Vorlesung (29.5.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Die polaren Elemente (Fortsetzung).
Individualisation und Partizipation (Fortsetzung). 2. Dynamik und
Form. Geschichtlicher Überblick. Vitalität und Intentionalität.
7. Vorlesung (31.5.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Die polaren Elemente (Fortsetzung).
Dynamik und Form (Fortsetzung). Vitalität und Intentionalität. Über-
sich-Hinausgehen und In-sich-Beharren. Die Philosophie des Werdens.
3. Freiheit und Schicksal. Freiheit ist Freiheit des Menschen, nicht
einer besonderen Funktion, z. B. des Willens. Freiheit wird erfahren
als Erwägung, Entscheidung und Verantwortung.
8. Vorlesung (31.5.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
Die polaren Elemente (Fortsetzung).
Freiheit und Schicksal (Fortsetzung). Spontaneität und Gesetz. – Be-
antwortung von Fragen.
9. Vorlesung (4.6.1951) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Analyse der Endlichkeit.
1. Das Erlebnis des Nichtseins. Parmenides über das Nichtsein. Logi-
sche und ontologische Versuche, dem Nichtsein zu entgehen. Nichtsein
im Existentialismus. 2. Das Gewahrwerden der Endlichkeit, die Angst.
Das Sein-Selbst ohne Anfang und Ende. Das endliche Sein. Die Kate-
gorien der Endlichkeit. Das Sich-Wissen als endlich.
X
einzelne Sein teilnimmt, in der Form des „Trotzdem“. Die Balance
von Angst und Mut.
XI
Ausdrucksformen der Frage nach Gott. Das Gewahrwerden Gottes in
der Frage nach ihm. Das ontologische Argument. Gegen die Trennung
von Ontologie und Offenbarung. Das kosmologische Argument.
XII
3. Vorlesung (2.7.1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
Drei Formen des Existentialismus (Fortsetzung).
2. Existentialismus als Protest. Schellings Begriff der „negativen“ und
„positiven Philosophie“. Schopenhauer, Feuerbach, Marx. Nietzsche.
Kunst und Literatur. Idealismus und Naturalismus eliminieren die Per-
son als Individuum. 3. Existentialismus als Ausdruck unserer Situation.
Der gegenwärtige Existentialismus und der Mut der Verzweiflung.
Neurotische Reaktion gegen die moderne Kunst.
XIII
II. Die Auffassung des Menschen in der Sicht der Theologie . 247
XIV
15. Vorlesung (23.7.1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Die Zweideutigkeiten des Lebens (Fortsetzung).
3. Die Größe und die Tragik des Lebens. 4. Die Heiligkeit und der
dämonische Charakter des Lebens.
XV
Kreuz des Christus. „Man kann ernsthaft nur fragen, wenn die Macht
des Unbedingten einen in der Form der Frage ergriffen hat.“
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
XVI
Editorischer Bericht
Von keiner der drei hier publizierten Vorlesungen existiert ein Manu-
skript Tillichs. Wir können davon ausgehen, dass Tillich auch kein
Manuskript verfasst hat. Er hat sich in seinem mündlichen Vortrag
lediglich auf „Outlines“ und Stichworte gestützt, anders als in seinen
früheren deutschen Vorlesungen.
Die vorliegende Edition beruht ausschließlich auf der stenogra-
phischen Aufzeichnung durch Dr. Gertie Siemsen1 und deren Tran-
skription. Die Typoskripte dieser Transkripte befinden sich im Paul
Tillich-Archiv der Universitätsbibliothek Marburg.
Gertie Siemsen hat bereits Tillichs Vorlesung über Geschichtsphi-
losophie von 1929 / 30 (= EW XV) sowie seine Hegel-Vorlesung von
1931 / 32 (= EW VIII) stenographisch aufgezeichnet. Sie hatte, bevor sie
ihr Studium im Wintersemester 1927 / 28 an der Frankfurter Universität
aufnahm, Stenographie und Schreibmaschine gelernt. 1934 schloss sie
dort ihr Studium mit einer Promotion im Fach Psychologie ab. Während
ihres Studiums arbeitete sie als Hilfsassistentin am Philosophischen
Seminar unter den Direktoren Paul Tillich und Max Wertheimer. Auch
für Theodor Wiesengrund-Adorno war sie tätig. In einem Präferenzbrief
bescheinigte er ihr, dass sie seinen 1932 gehaltenen Vortrag über die
„Idee der Naturgeschichte“ „trotz des raschen Redetempos und der
erheblichen – stilistischen und inhaltlichen – Schwierigkeiten … lüc-
ken- und fehlerlos wiedergab“, worin er „eine ganz ungewöhnliche
Leistung“ sah, „sowohl was die stenographischen Fähigkeiten anlangt
wie ihr Verständnis und ihre Auffassungsgabe“.2
1
Über Gertie Siemsen vgl. Marlene Kotzur, Steglitz – Frauen setzen Zeichen,
Berlin 1990, S. 107-110; Klaus Harpprecht, Harald Poelchau. Ein Leben im
Widerstand, Reinbek 2004, S. 178 ff., 184 ff., 203 ff., 220 ff.
2
Schreiben von Theodor Wiesengrund-Adorno an Gertie Siemsen, vom
16.11.1933, Nachlass G. Siemsen, zitiert in: Marlene Kotzur, a.a.O.,
S. 108.
XVII
Gertie Siemsen hat nahezu sämtliche Vorträge und Vorlesungen,
die Tillich im Zeitraum von 1948 bis 1962 in Berlin gehalten hat, ste-
nographisch aufgezeichnet, in einer Zeit also, als Tonbandaufnahmen
dort noch nicht möglich waren. Nur wenige dieser Aufzeichnungen
sind veröffentlicht worden, so z. B. Tillichs im Frühsommer 1951 an
der Deutschen Hochschule für Politik gehaltene Vorlesungen über
„Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker“. Von
ihnen schreibt Otto Suhr im Vorwort zu ihrer Veröffentlichung: „Sie
sind, da kein Manuskript vorlag, hier wortgetreu, wie sie gesprochen
wurden, wiedergegeben, mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers,
ohne dass er jedoch die Möglichkeit einer Durchsicht hatte. Gerade
aber durch diese leichte Form der Rede ergab sich eine unmittel-
bare, lebendigere Hinführung des Lesers zu den oft weitgespannten
schwierigen Gedankengängen, so dass der starke Eindruck der Hörer
festgehalten ist.“3 Tillich hat also die Veröffentlichung der stenogra-
phischen Mitschrift von Gertie Siemsen genehmigt, ohne sie überprüft
zu haben, und Otto Suhr hielt die Nachschrift für wortgetreu.
In einem anderen Fall, nämlich im Falle seiner 1952 gehaltenen
Vorträge über „Die Judenfrage“, ist Tillich von dieser Paxis abge-
wichen, aber nicht weil er an der wortgetreuen Wiedergabe seiner
Vorträge durch Gertie Siemsen Zweifel hatte, sondern weil er, wie sich
aus der Korrespondenz mit Otto Suhr ergibt, seinen ihm von Gertie
Siemsen vorgelegten Vortragstext für die Drucklegung überarbeiten
wollte. Hier zeigt sich allerdings, dass die Veröffentlichung einer
frei gehaltenen Rede, die Otto Suhr als „eine unmittelbare, lebendi-
gere Hinführung des Lesers zu den oft weitgespannten schwierigen
Gedankengängen“ zu schätzen wusste, auch ihre problematische
Seite hat.
Gertie Siemsen hat Tillichs „Courage to Be“ und „Love, Power,
and Justice“ ins Deutsche übersetzt und bei der Herausgabe der
„Gesammelten Werke“ Tillichs mitgewirkt.
3
Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker. Vorträge von D.D. Paul
Tillich. Schriftenreihe der Deutschen Hochschule für Politik Berlin, Berlin
1951, S. 5 f.
XVIII
2. Bearbeitung der Nachschriften durch den Herausgeber
(1) Der Herausgeber hat den Text der Nachschriften als „akustischen
Text“ betrachtet, der lediglich in seinem Wortbestand zu bewahren
ist, aber hinsichtlich der Rechtschreibung, Interpunktion, Satz- und
Absatzbildung gelegentlich von der von Gertie Siemsen erstellten
Vorlage, den Typoskripten, abweicht.
(2) Vom Wortlaut abgewichen wurde in folgenden Fällen:
a) Wenn im wortgetreu stenographierten Wortlaut auch sprachliche
Unachtsamkeiten und Ungenauigkeiten des Vortrags unkorrigiert
vorliegen, z. B. wenn im Text „er“ statt „sie“ zu lesen ist oder wenn
ein Wort im Fluss der Rede korrigiert und durch ein anderes ersetzt
wird. Da die Nachschrift wie eine Tonbandaufzeichnung jedes Wort
dokumentiert, war diese Korrektur angebracht.
b) Wenn mit großer Wahrscheinlichkeit Hörfehler vorliegen, z. B.
„die“ statt „wie“, „Transzendenz“ statt „Transparenz“, „Bestim-
mung“ statt „Beziehung“. In diesen Fällen wird in einer Fußnote
auf die Korrektur aufmerksam gemacht und zur Kontrolle der ste-
nographierte Wortlaut hinter „Typ. GS: …“ mitgeteilt. Dies bedeutet:
Im Typoskript des von Gertie Siemsen stenographierten Textes steht
das folgende Wort …
c) Rhetorische Füllsel und stilistische Ungeschicklichkeiten werden
stillschweigend beseitigt.
(3) Häufig finden sich im Text Anglizismen, z. B. „Ein Fehler, der
manchmal, gemacht ist“, „ich schätze ihn höher, als er gewöhnlich
geschätzt ist“, „In gewissen Augenblicken unseres Lebens sind wir
über uns hinausgehend“, „sie werden widersprochen“. Auch die
Satzbildung entspricht oft der Satzbildung im Englischen. Diese An-
glizismen Tillichs wurden mit Absicht beibehalten. Sie dokumentieren
die Veränderungen der Muttersprache durch die Emigration und
sollten auch in der Edition nicht beseitigt werden. Ausgenommen
sind Wörter, die im Deutschen einen anderen Sinn haben als im
Englischen, z. B. nennt Tillich einen Roman „Novelle“ und einen
Romanschriftsteller „Novellist“. Hier wurde vom Herausgeber das
gemeinte deutsche Wort eingesetzt und in der Fußnote auf die Kor-
rektur aufmerksam gemacht.
(4) Die Fußnoten haben zwei unterschiedliche Funktionen:
a) Sie geben textkritische Informationen über die oben genannten,
vom Herausgeber vorgenommenen Korrekturen des Textes.
XIX
b) Sie erläutern Wörter, Namen, Begriffe, Sachverhalte, geben Hin-
weise auf ähnliche Ausführungen Tillichs in seinen anderen Werken,
vervollständigen Zitate und Anspielungen und liefern bibliographi-
sche Angaben. Alle diese Anmerkungen stammen vom Herausgeber
und natürlich nicht von Tillich.
XX
Historische Einleitung
4
Vgl. GW XIII, S. 364.
5
Vgl. Wilhelm und Marion Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken.
Band I: Leben, Stuttgart / Frankfurt a. M., 1978, S. 214-226, sowie EW V,
S. 310-318.
6
Dolf Sternberger war Schüler von Paul Tillich in Frankfurt a.M., hatte bei
ihm 1932 mit einer Arbeit über Heideggers „Sein und Zeit“ promoviert,
war von 1934 bis 1943 Redakteur der „Frankfurter Zeitung“ und seit 1947
Lehrbeauftragter für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg.
XXI
wir unterhielten uns großartig. Am Abend hielt Tillich in der ‚Hei-
delberger Gesellschaft‘ einen kleinen Vortrag mit anschließender
Diskussion. Da erhob sich gegen seine brillierende, halb philoso-
phische Art Professor Schlink und protestierte dagegen im Namen
von Gottes Wort und Evangelium so naiv und so massiv wie nur
je ein pietistischer Bekenner. Tillich ging höflich und schwungvoll
dagegen an, Schlink blieb eigensinnig bei seinem Tenor …“7 Tillich
selbst berichtet von einer ähnlichen Begebenheit an der Kirchlichen
Hochschule in Berlin.8
Der spätere Neutestamentler und lutherische Bischof Eduard
Lohse, der damals in Göttingen studierte, hat dort Tillichs Vortrag
über „Ethische Norm und geschichtliche Relativität“ gehört, der
wenig Anlaß zu ähnlicher theologischer Kritik bot. Er berichtet:
„Unvergeßlich ist mir eine Gastvorlesung von Paul Tillich, in der er
eine Verbindung abendländischen theologischen Denkens mit moder-
nen amerikanischen Fragestellungen vortrug, die uns anfänglich
fremd erschien. Da das Evangelium nicht direkt in gesellschaftliches
und politisches Handeln umgesetzt werden könne, seien von ihm
einige Grundsätze abzuleiten, die als mittlere Axiome allgemein ein-
sichtig gemacht und zur Wirksamkeit im öffentlichen Leben gebracht
werden könnten. Diese pragmatischen Erwägungen muteten uns recht
amerikanisch und nicht überzeugend an. Aber in einem kleineren
Kreis, der in das gastliche Haus eines früheren Studienfreundes von
Paul Tillich eingeladen wurde, hörte er in bewundernswerter Geduld
unseren Fragen zu, ging mit behutsamem Gespür auf jeden, wenn
auch ungeschickt vorgebrachten Einwand ein und wusste auch stam-
melnde Worte so aufzunehmen, dass er das vermutlich Gemeinte und
die eigentliche Sachfrage dann mit seinen Worten so zum Ausdruck
zu bringen verstand, dass wir ihm folgen konnten.“9
Auf dem Mainzer Philosophenkongress hielt er am 4. August einen
Vortrag über „Die philosophisch-geistige Lage und der Protestantis-
mus“.10 Er begegnete hier einem religiös-kulturell und philosophisch
7
Ruth Slenczka (Hg.), Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen.
Autobiographie, Nordersted 2005, S. 310.
8
EW V, S. 317.
9
Eduard Lohse, Theologiestudent in Göttingen 1946-1950, in: Bernd Moeller
(Hg.), Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, S. 381-
397 [394].
10
In: Philosophische Vorträge und Diskussionen (Bericht über den Philosophen-
Kongress, Mainz 1948), Sonderheft 1 der „Zeitschrift für philosophische For-
XXII
aufgeschlossenen katholischen Denken. In Tillichs Sicht beherrschten
katholische Philosophen das Feld, nicht die anwesenden protestanti-
schen und humanistischen Philosophen.11 In seinem Vortrag sprach
er von der Möglichkeit, dass das weltgeschichtliche Schicksal den
Protestantismus an die Seite drängt und dem Katholizismus die Vor-
macht gibt. Weltpolitisch sah er Deutschlands und Europas Schicksal
und Aufgabe darin, zwischen dem radikalen Freiheitsgedanken des
Westens und dem Sicherheitsglauben des Ostens einen neuen, dritten
Weg zu gehen, den einer Vereinigung beider Prinzipien.12 Die Idee
eines „dritten Weges“ für Deutschland wird er spätestens nach der
Berlinkrise des Jahres 1961 aufgeben.
Auf seiner Deutschlandreise hatte Tillich vom 7. bis zum 17. Juli
auch Berlin besucht und sich dort für zehn Tage aufgehalten, kurz
nach der Ausdehnung der Währungsreform auf die Westsektoren
und dem Beginn der totalen Blockade durch die Sowjetunion (24.
Juni). Am 1. Juli hatte die Luftbrücke zur Versorgung der über zwei
Millionen Menschen in West-Berlin begonnen.
Im Frühjahr 1948 war Ernst Reuter zum Oberbürgermeister der
Stadt gewählt worden. Doch wurde sein Amtsantritt von der sowjeti-
schen Militäradministration verhindert. So war er in seinem Amt auf
die drei Westsektoren beschränkt. Die im Osten der Stadt liegende
Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, an der Tillich
einst gelehrt hatte13, stand unter einseitiger sowjetischer Kontrolle.
Tillich hatte die Absicht, an seiner alten Universität einen Vortrag zu
halten. Doch wurde ihm als amerikanischem Staatsbürger verwehrt,
an der Stätte seiner einstigen Wirksamkeit zu sprechen. So musste
er den Vortrag „Ethische Normen und historische Relativität“ in
den Westen der Stadt verlegen, nach Tempelhof, wo sein Schwager,
Erhard Seeberger, Pfarrer war.14
schung“, 1948, S. 119-126 (dort auch ein kurzes Protokoll der Diskussion über
Tillichs Vortrag, u.a. mit den kritischen Anfragen von Gerhard Krüger).
11
GW XIII, S. 369.
12
Philosophische Vorträge und Diskussionen, S. 124.
13
Vgl. EW XI (Berliner Vorlesungen I) und EW XII (Berliner Vorlesungen II).
14
Vgl. den Bericht in „Der Tag“ vom 15.7.1948, S. 3.
XXIII
Klaus Heinrich (später Professor für Religionswissenschaft auf
religionsphilosophischer Grundlage an der Freien Universität), der
seit 1945 / 46 an der alten Universität studierte und zu den ersten
Studenten gehörte, die eine neue, freie, autonome Universität wollten,
schildert die damalige Situation so: „Studenten wurden verhaftet,
wohlweislich in den Semesterferien, es gab kein Verfahren, sie hatten
durch ihre Verhaftung aufgehört, Bürger der Universität zu sein,
und die Bürger der Universität (so hieß es damals) hatten sich nur
um ihre Universität zu kümmern. Die Forderung nach Aufklärung
und Verfahren wurde erstickt, die Herausgeber der unabhängigen
Studentenzeitung ‚Colloquium‘ wurden relegiert. … Das freie Leben,
dessen Teil das freie Studium war, unsere große Hoffnung damals,
war, schneller als einer von uns erwartet hatte, Illusion.“15 So ent-
stand – zunächst unter den Studenten – die Idee einer „Universität
ohne Zwang“. Es ging ihnen dabei nicht um eine Verlagerung der
Universität vom Osten in den Westen, sondern um eine „neue“ Form
der Universität, die natürlich nur in den Westsektoren der Viersek-
torenstadt realisiert werden konnte. Der Pioniergeist der Gründer
sollte in eine politisch-institutionelle Form überführt werden, in eine
Verfassung, die – im „Vorgriff auf eine utopische Gesellschaft das
Modell der Universitätsdemokratie – das Bild einer Gemeinschaft
ohne Zwang (beschwor)“.16 Die Universität sollte z. B. eine Stiftungs-
universität sein, wie einst die Frankfurter Universität, sie sollte nicht
hierarchisch aufgebaut sein; die Studentenschaft sollte in allen Gre-
mien mitbestimmen. Das war der Geist der neuen, freien Universität,
der im Sommer 1948, während der Blockade, unterstützt von Ernst
Reuter und der amerikanischen Militärregierung, politischer Wille
wurde und zur Schaffung der Freien Universität führte.
„Freie Universität Berlin“ – unter dieser Überschrift erschien schon
am 6. Juli, also einen Tag, bevor Tillich in Berlin eintraf, im „Tagesspie-
gel“ ein Artikel des Publizisten und Kunsthistorikers Edwin Redslob, der
später auch der erste geschäftsführende Rektor der Freien Universität
wurde. „Wir wollen keine Katheder-Universität, die den Hörer nur zum
Objekt macht“, schrieb Redslob, „sei es des altmodisch gewordenen
Wissens weltfremder Fachtyrannen, sei es einer befohlenen totalitären
15
Klaus Heinrich, Erinnerungen an das Problem einer freien Universität (1967),
in: Ders., der gesellschaft ein bewußtsein ihrer selbst zu geben, Frankfurt a.M.,
Basel 1998, S. 9-29 [11 f.].
16
Klaus Heinrich, ebd., S. 15.
XXIV
Parteigesinnung …“ Wenn nun die alte Universität den Namen Hum-
boldt für sich beanspruche, müsse sich die neue Gründung ernsthaft um
die Bildungsidee dieses Klassikers der Erziehung bemühen. Ihm sei es
um die Erweckung und Stärkung der Persönlichkeit gegangen. Sein noch
heute lesenswertes Jugendwerk über „die Grenzen der Wirksamkeit des
Staates“ fordere die Beschränkung des Staates auf ein Mindestmaß und
verkündige „die Souveränität des freien Menschen“. Auf den Spuren
Wilhelm v. Humboldts habe Schelling in seinen Jenaer „Vorlesungen
über die Methode des akademischen Studiums“ von 1802 die Stellung
des einzelnen zum Staat mit diesen Worten beschrieben: „Jeder Staat
ist in dem Verhältnis vollkommen, in welchem jedes einzelne Glied,
in dem es Mittel zum Ganzen, zugleich in sich selbst Zweck ist.“17
Redslob lehnte jeden Zwang in Studium und Wissenschaft ab. Das
Suchen und Erkennen der Wahrheit verlange den Schutz des Studiums
und der Studierenden vor propagandistischem Zwang. „Nicht Zwecke
und Befehle, sondern allein Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit geben der
Wissenschaft das Gesetz.“ Redslobs Fazit: Wir brauchen eine andere,
eine freie Universität. Sie soll in Dahlem errichtet werden, wo es noch
Forschungseinrichtungen aus der Zeit vor dem Kriege gibt. Und die
Professoren, die einst Deutschland haben verlassen müssen, sollen an
ihr lehren, z. B. Werner Jaeger, der jetzt in Harvard tätig ist. Redslob
hätte auch Tillich nennen können. So konkret waren bereits im Juli
die Gründungspläne.
Der an der alten Universität Arabisch und Islamwissenschaft
lehrende Walther Braune (1900-1989)18 hatte schon frühzeitig die
Gründungsidee unterstützt; er war Mitglied des Vorbereitenden
Gründungsausschusses, den Ernst Reuter leitete. Er hatte einst von
Halle aus Tillichs Leipziger Vorlesungen gehört und schätzte beson-
ders dessen „System der Wissenschaften“ und „Religionsphiloso-
phie“.19 Zu seinen akademischen Lehrern gehörte der Orientalist (und
preußische Kultusminister) Carl Heinrich Becker. Braune zählte zu
den wenigen Gelehrten der alten Universität, die bereit waren, zur
17
Schellings Werke, Auswahl in drei Bänden, hg. von O. Weiss, Band II, Leipzig
1907, S. 562.
18
Er promovierte im März 1928 an der Königsberger Universität zum Dr. phil.
Nach Erhalt der venia legendi im Juli 1933 wurde er am 5. September 1934
Professor für Arabisch und Islamkunde am Seminar für Orientalische Sprachen
der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.
19
Vgl. seinen Brief an Paul Tillich vom 28.4.1935 (Kopie im PTAM).
XXV
künftigen neuen Universität im Westen der Stadt zu wechseln. Er hat,
wie er später berichtete, Tillich damals gefragt, welches das geistige
Zentrum einer neuen Universität sein könnte. „Stellt in den Mittel-
punkt die Frage: Was ist der Mensch?“, habe Tillich geantwortet.20
In ähnlicher Weise hatte Tillich in seiner Ansprache zur 425jährigen
Gründungsfeier der Universität Marburg im Jahre 1952 den Men-
schen als den Einheitspunkt aller Wissenschaften bezeichnet.21
Schon Ende 1948 übernahm Braune an der Freien Universität den
Lehrstuhl für Religionswissenschaft und die Leitung des Religionswis-
senschaftlichen Instituts mit islamkundlicher Sektion. Er wurde für
Tillich in den kommenden Jahren die wichtigste Kontaktperson zur
Freien Universität. Er war es auch, der Tillich zu Gastvorträgen und
Vorlesungen an sein Institut einlud. Zwischen beiden entwickelte sich
eine enge Freundschaft. Er teilte Tillichs politische, philosophische
und theologische Überzeugungen. Auch bei Tillichs Vorlesungen
an der Deutschen Hochschule für Politik und an der Kirchlichen
Hochschule war er zugegen.22
Am 14. Juli, „am 20. Tag der Blockade“, hielt Tillich auf Einla-
dung der Technischen Universität im Westen Berlins einen Vortrag
20
Prof. Paul Tillich: Was ist der Mensch?, in: Berliner Sonntagsblatt, Nr.
49 / 8.12.1963.
21
GW XIII, S. 359-363. Die Einheit der Wissenschaft sieht Tillich begründet
in der „Bezogenheit alles wissenschaftlichen Fragens auf den, der fragt, den
Menschen“. Der Mensch aber frage, wenn er radikal frage, nach dem Sinn
seines Seins und damit allen Seins. „Dass über den unzähligen Einzelfragen
der wissenschaftlichen Arbeit diese Frage nicht mehr gehört wurde, ist einer
der Gründe für die Katastrophe, die wie über unsere ganze Kultur so auch
über unsere Wissenschaft hereingebrochen ist“ (ebd., S. 363).
22
Vgl. auch W. Braune, Der Theologe Paul Tillich, in: Der Monat, 15. Jg., 1962,
Nr. 169, S. 7-13; ders., Paul Tillich. Ein Gedenkvortrag, gehalten am 25. Juni
1966 in der Freien Universität Berlin von Walther Braune (Veröffentlichungen
der Freien Universität Berlin), Berlin 1966. Vom Denken Paul Tillichs inspi-
riert ist sein Hauptwerk „Der islamische Orient zwischen Vergangenheit und
Zukunft. Eine geschichtstheologische Analyse seiner Sendung in der Weltsitua-
tion“, Bern / München 1960. In seinen orientalistischen Studien hatte Braune,
wie er bekennt, in Carl Heinrich Becker „einen Lehrer, von dem ebenfalls zu
lernen war, dass Wissenschaft im Zeitschicksal steht und von aktuellen Fragen
betroffen sein muß“ (Der islamische Orient, S. 204).
23
Veröffentlicht unter dem Titel „Das geistige Vakuum“ in: Das sozialistische
Jahrhundert, Jg. 2, 1948, S. 303-305. Zu Beginn des Vortrags kritisierte Tillich
die Formulierung „Die geistige Weltlage“. Vgl. den ausführlichen Bericht in
der Zeitung „Die Neue Zeit“ vom 16.7.1948 (unter der Überschrift „Zusam-
menbruch der Harmonie“).
XXVI
über das Thema „Die geistige Weltlage“.23 Darin ging er auf die Ber-
liner Ereignisse überhaupt nicht ein, weder auf den Ost-West-Konflikt
noch auf die bevorstehende Gründung der Freien Universität oder
gar auf die Motive dieser Gründung. Seine These, die Gegenwart sei
ohne ein geistiges Zentrum und es gelte, dies als „heilige Leere“ zu
bejahen und auszuhalten, muss auf die Hörer, die so dachten wie K.
Heinrich, E. Redslob und W. Braune, als abstrakt und unpolitisch, ja
als Affront gewirkt haben. Die Vorträge, die Tillich 1948 in Berlin
hielt, zeigen, dass er prinzipielle Probleme behandeln wollte, nicht
aber sich zu den vor Ort aktuellen Fragen und deren prinzipiellen
Hintergrund äußern konnte und wollte.
So beschrieb er in dem Vortrag über „Die geistige Weltlage“
zunächst die Geschichte des 19. Jahrhunderts als eine Geschichte des
Zerbrechens eines geistigen Zentrums, des Verlusts einer Symbolwelt,
in der jeder einzelne sich wiederfindet und in deren Unmittelbarkeit
er leben kann. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts schilderte er
als die Geschichte der Versuche, das verlorene geistige Zentrum zu
ersetzen durch andere Zentren, z. B. das „Leben“ (gegen den Geist),
die Nation, die Klasse. Diese aber seien keineswegs allumfassend
und letztgültig. Sie würden deshalb auch mit Gewalt durchgesetzt.
Wo aber das Ganze mit einem Einzel-Zentrum identifiziert werde,
da führe dies zu den verheerenden Folgen, die das 20. Jahrhundert
zum schauerlichsten Jahrhundert der Weltgeschichte gemacht haben.
Auch die Kirchen sind für Tillich Einzel-Zentren. Sie sind wie jede
andere Gegebenheit zu transzendieren. Was aber ist heute das geistige
Zentrum, das wir suchen sollen? Tillich sieht es in der „heiligen
Leere“. Wir müssen im Schweigen anerkennen, dass wir das Zentrum
verloren haben und leer geworden sind. In diesem Vakuum können
sich dann neue Möglichkeiten entfalten und neue Symbole entste-
hen. Kein anderes Volk aber sei auf diese „heilige Leere“ innerlich
so vorbereitet wie das deutsche. Es habe so unendlich viel verloren.
Wenn aber die alten Symbole in die „heilige Leere“ hineingenom-
men, also aufgegeben werden, können aus der Leere neue Symbole
entstehen. Wie sehr sich Tillichs religiöse Interpretation der Lage
nach dem Zweiten Weltkrieg von der unmittelbar nach dem Ersten
Weltkrieg unterscheidet, zeigt dieser Vortrag. An die Stelle des Kairos
ist nun die „heilige Leere“, das Warten auf einen neuen Kairos oder
wenigstens auf neue Symbole getreten.
Am 17. Juli reiste Tillich aus Berlin wieder ab, um sich für einige
Zeit noch im Westen Deutschlands aufzuhalten. Von einem Mitar-
XXVII
beiter einer Berliner Zeitung nach seinen stärksten Eindrücken in
Deutschland und Berlin gefragt, äußerte er sich so:
„1. Besonders erfreut war ich über die Aufgewecktheit der Stu-
denten, die Intensität und Gespanntheit, mit der sie meine Vorträge
aufnahmen und nicht müde wurden, Gespräche mit mir zu führen.
Ich habe ein so starkes Interesse weder früher in Deutschland noch
jetzt in Amerika erlebt.
2. Auffallend waren die kummervollen Gesichter der Menschen,
die von großer Überanstrengung und starken Entbehrungen sprechen.
In Westdeutschland leiden die Menschen unsäglich unter der Woh-
nungsnot. Das enge Zusammenleben bringt sie oft zur Verzweiflung
und führt zu unerträglichen Hemmungen für den Einzelnen. In Berlin
scheint die Lage besser wegen der Zuzugssperre.
3. Die deutsche innenpolitische Entwicklung ist das traurigste, was
ich erlebt habe. Haben denn die Deutschen aus der Vergangenheit
nichts gelernt? Wo bleibt der junge Nachwuchs in den Parteien und
Fakultäten? Im Westen ist der Zustand ganz trübe, in Berlin sieht
es besser aus.
4. In Berlin herrscht ein besonders reges geistiges Leben, weil sich
hier der Zusammenprall von Ost und West vollzieht.
5. Im persönlichen Zusammensein mit den Deutschen kommt
man am weitesten, wenn man nur das rein Menschliche sprechen
lässt.“24
24
Der Tag, Nr. 98, 20. Juli 1948, S. 3, unter der Überschrift „Prof. Tillich
abgereist“.
25
In: Christianity and Crisis, 15. Nov. 1948, deutsch: Besuch in Deutschland,
in: GW XIII, S. 364-370.
26
In: Theology Today (Princeton), Vol. 6, 1949, S. 299-310; deutsch: Zur gegen-
wärtigen theologischen Lage, in: EW IV, S. 85-96. Der damaligen Aktualität
wegen mehrfach ins Deutsche übersetzt: Zur theologischen Lage, in: Zeichen
der Zeit, Jg. 5, 1951, S. 361-369; Die kontinentaleuropäische Theologie, in:
Universitas, Jg. 9, 1952, S. 649-654; Das Problem der Diastase und Synthese
in der heutigen theologischen Situation, in: Schweizerische Theologische
Umschau, Jg. 20, 1950, S. 36-41.
XXVIII
Die einzige geistige Macht, die die Naziherrschaft und den Krieg
überdauert hat, ist – darin stimmt Tillich mit nahezu allen Beobach-
tern überein – das Christentum, sei es katholischer, sei es protestanti-
scher Prägung. Im Kampf gegen den Nationalsozialismus haben beide
Kirchen, so Tillich, unterschiedlich agiert. Die katholische Kirche
konnte auf ihre Tradition zurückgreifen, auf ihre Autoritäten und
ihre Institutionen, sie „konnte das bleiben, was sie immer gewesen
war“. So habe sie einen erfolgreichen Kampf gekämpft „mit großem
Mut und viel Martyrium, besonders im niederen Klerus“. „Ihre
augenblickliche Stellung in Deutschland kann kaum überschätzt
werden.“ In der allgemeinen geistigen und moralischen Unsicherheit
und Orientierungslosigkeit in Deutschland und Europa sei sie „ein
Felsen der Sicherheit“.27
Die katholische Kirche habe echte Beziehungen zum kulturellen
Leben und könne eine christliche Kultur schaffen. Sie habe „eine Fülle
von Symbolen und Sakramenten“, und das seien Dinge, die der Pro-
testantismus nötig habe. Das katholische Schrifttum in apologetischer
Theologie, Philosophie und Literatur übertreffe die entsprechenden
Bemühungen des Protestantismus. Viele hochgebildete Menschen
seien zum Katholizismus übergetreten.
Ganz anders stellt sich in Tillichs Sicht der Protestantismus in
Deutschland dar. Die evangelische Kirche habe, um dem National-
sozialismus zu widerstehen, in ihren eigenen Reihen die Elemente
ausmerzen müssen, die in Gestalt der „Deutschen Christen“ fast die
Kirche erobert hätten. Mit dieser Art von liberaler Theologie, die
nicht nur die Einzigartigkeit des Ereignisses „Christus“, sondern auch
die Bibel als einzige Quelle der Offenbarung verworfen habe, habe
die Kirche auch einige Grundgedanken der liberalen Theologie aufge-
geben. In dieser „notwendigen Selbstreinigung“ sei die „Bekennende
Kirche“ aber „über das Ziel hinausgeschossen“.28 So habe sie voll
und ganz die sogenannte „neuprotestantische“ Periode von 1730 bis
1930 verdammt. Tillich findet für diese Entwicklung des deutschen
Protestantismus harte Worte: „Ihren Ausdruck fand diese Haltung in
der Bildung der ‚Evangelischen Kirche in Deutschland‘. Die radikalen
Formen der Bibelkritik werden abgelehnt und ihre Vertreter der Irr-
lehre bezichtigt und einem Lehrzuchtverfahren unterworfen. … Die
27
GW XIII, S. 368.
28
Ebd., S. 369.
XXIX
Verteidiger der historisch-kritischen Methode in der Theologie und
des Gebrauchs philosophischer Begriffe speziell in der systematischen
Theologie stoßen manchmal auf eine Verbindung von Ignoranz und
Fanatismus, die vor fünfzehn Jahren noch unbekannt war.“29 Den
evangelischen Theologen stellt Tillich die humanistisch gesinnten
Nichttheologen gegenüber, unter ihnen besonders die Naturwis-
senschaftler, die seinen Vorlesungen „in übergroßer Zahl“ gefolgt
seien. Unter dem Druck der gegenwärtigen Katastrophe stellten diese
Menschen „letzte religiöse Fragen“, erhielten aber von „dieser Art
Neo-Fundamentalismus“ keine Antwort: Im Gegenteil – und dies
sei die Tragik der Situation: „Sie werden zurückgestoßen durch den
engen Dogmatismus und Konfessionalismus der protestantischen
Kirche, und sie wenden sich entweder einem negativen ‚Existen-
tialismus‘ (Deutschland ist voll von existentialistischen Ideen) oder
einem radikal-autoritären Katholizismus zu.“30 In Tillichs Sicht setzt
sich die protestantische Kirche in Deutschland von der ihr eigenen
protestantischen Kultur ab. Sie zerstört damit die Grundlagen der
Kultur einer „im wesentlichen protestantischen Nation“ – und dies
in einer Lage, „die nach transzendenter Sicherheit, Autorität und
Fülle ruft“.31
Gegen dieses düstere Bild des deutschen Protestantismus, das
Tillich hier zeichnete, erhob der hessische Kirchenpräsident Martin
Niemöller in einem Brief an Tillich Einspruch.32 Tillichs Behauptung
über das Verhältnis der Bekennenden Kirche zur liberalen Theologie
scheine ihm, so Niemöller, das genaue Gegenteil von dem zu sein,
was Tatsache ist. So sei Rudolf Bultmann, der doch als liberaler
Theologe anzusprechen sei, immer eine Säule der Bekennenden
Kirche gewesen, er sei es auch bis heute. Von einem Ketzergericht,
von dem Tillich berichte, wisse er, Niemöller, nichts. „Wo in aller
Welt“, so fragt er Tillich, „sind Sie nur jener ‚Kombination von
Ignoranz und Fanatismus‘ begegnet, die sich gegen die ‚Verteidiger
der wissenschaftlichen Methoden in der historischen Theologie und
des Gebrauchs philosophischer Konzeptionen in der systematischen
Theologie‘ wendet?“33
29
Ebd.
30
Ebd., S. 370.
31
Ebd.
32
M. Niemöller an P. Tillich, 27. 12. 1948, (EW V, S. 314).
33
Ebd., S. 314 f.
XXX
Tillichs Antwort auf diesen Brief lässt eine gewisse Enttäuschung
erkennen darüber, dass sein Angebot an leitende Kirchenführer, sich
„für jede gewünschte Aufgabe in der Kirche“ neben seinen akademi-
schen Verpflichtungen zur Verfügung zu stellen, kein Echo gefunden
hat. Die Fülle der Aufforderungen, die er erhalten habe, sei ausschließ-
lich aus akademischen Kreisen gekommen. „So nahm ich an, dass die
Kirche in ihren leitenden Persönlichkeiten kein Interesse an meinem
Kommen hatte.“34 Auch habe ihm Eugen Gerstenmaier, der Leiter des
Evangelischen Hilfswerks, bestätigt, dass eine Theologie wie die seine
„von den kirchlichen Autoritäten nicht mehr zugelassen würde“. Die
Periode des Neuprotestantismus sei in Deutschland vorbei und als
Irrweg verworfen. Dies sei auch der Eindruck von Bischof Franklin
Clarke Fry, des Präsidenten der Vereinigten Lutherischen Kirchen in
Amerika, nach seiner Deutschlandreise. „Liberale Ideen“, so zitiert
Tillich Fry, „hätten nirgend mehr Boden; es handele sich um eine fun-
damentale Abwendung von der vorhergehenden Periode“. Er selbst
habe durch Gespräche mit Bultmann, Barth und anderen Kollegen
von dem „heresy-trial“ gegen Bultmann erfahren. In einer Diskussion
mit Edmund Schlink und Peter Brunner in Heidelberg sei er erschreckt
gewesen über den „Bibel-Literalismus“, der ihm dort begegnet sei
und dessen Existenz ihm von allen Seiten bestätigt worden sei. In
der Kirchlichen Hochschule Berlin habe er in seinem Vortrag vom
poetischen Charakter der Weihnachts- und Ostergeschichten gespro-
chen und heftigen Widerspruch erfahren. Erneut betont Tillich das
Interesse von Nichttheologen an seinen theologischen Vorlesungen.
Im Gespräch mit ihnen hätten diese beklagt, „dass die biblizistisch-
supranaturalistische Form der kirchlichen Predigt und Lehre ihnen
den Zugang zur Kirche fast völlig versperrt“.35
Tillichs Brief an Martin Niemöller zeigt ebenso wie sein Artikel
„Visit to Germany“ seine tiefe Enttäuschung, dass seine Theologie
im Nachkriegsdeutschland nicht gefragt war. Tillich hatte offensicht-
lich nicht ausgeschlossen, nach Deutschland zurückzukehren. Hatte
er sich Hoffnungen gemacht auf einen theologischen Lehrstuhl in
Deutschland, vielleicht sogar auf ein kirchliches Amt neben seinem
akademischen Amt, so hatte ihn sein Besuch in Deutschland nun
eines anderen belehrt.
34
P. Tillich an M. Niemöller, (EW V, S. 316).
35
Ebd., S. 317.
XXXI
Tillich zur Problematik der Theologie des Diastase
36
P. Tillich, Zur gegenwärtigen theologischen Lage (EW IV, S. 89).
37
Ebd.
XXXII
sind jetzt an der Macht, und das nicht nur mit dem Recht des Siegers,
sondern auch gerechtfertigt durch die Geschichte.“38 Diese Argumen-
tation Tillichs, in der sich seine Methode der Korrelation ankündigt,
unterscheidet sich nicht nur im Ton, sondern auch in sachlicher
Hinsicht von seinem ersten Reisebericht „Visit to Germany“ und
dem dort gezeichneten Bild der theologischen Lage in Deutschland.
Hier ist nicht mehr von „Ignoranz“ und „Fanatismus“ die Rede,
sondern von einer Rechtfertigung durch die Geschichte.
Tillich weist aber auf vier „dringliche Probleme“ hin, die mit der
Theologie der Diastase gegeben sind. Es sind die Probleme Gott und
Mensch, Mythos und Kerygma, kritische Forschung und Autorität
sowie Ethik und Eschatologie. Die Problematik liegt jeweils im
„und“, hinter dem Tillichs Methode der Korrelation sichtbar wird.
Statt die Diastase durch eine Synthese zu ersetzen, will er diese Pro-
bleme „im Lichte des Sieges … sehen, den in Europa die Diastase
über die Synthese errungen hat“.39
(1) Für das Problem „Gott und Mensch“ bedeutet in Tillichs Sicht
die Diastase, dass es keine Korrelation zwischen der menschlichen
Existenz und ihrer kulturellen Form einerseits und dem Kerygma
andererseits gibt. Wenn die christliche Botschaft völlig unabhängig
sei von den Möglichkeiten des Menschen und seiner Kultur, stelle
sich Frage, wie diese Botschaft denn verkündigt und empfangen
werden könne. Tillich lehnt allerdings eine natürliche Theologie oder
Religionsphilosophie als Unterbau der Offenbarung ab. Mit dieser
Vorstellung befinde sich das Gottesverhältnis des Menschen „teilweise
in seiner eigenen Hand“40, was als intellektuelle Werkgerechtigkeit
der Rechtfertigung allein aus Gnade widerspricht. Seine Lösung
formuliert er so: „In der Struktur der menschlichen Existenz, in der
Struktur der Endlichkeit, die Angst und Mut erzeugt, in der Struktur
der Entfremdung, die zu Verzweiflung und Selbstzerstörung führt, in
dem zweideutigen Charakter des Lebens mit seiner Schöpferkraft und
seiner Tragik – in alledem ist die Frage nach Gott enthalten. Aber die
Antwort gibt, wenn sie gegeben wird, die Offenbarung. Natürliche
Theologie und Religionsphilosophie sollten zu einer Analyse der
Fragen werden, die in der Struktur der menschlichen Existenz und
38
Ebd., S. 90.
39
Ebd., S. 90.
40
Ebd., S. 91.
XXXIII
der Existenz überhaupt enthalten sind.“41 Diese Sätze können als
die Grundthese bezeichnet werden, die Tillich in seinen drei Berliner
Vorlesungen der Jahre 1951, 1952 und 1958 entfaltet.
(2) Für das Verhältnis von Mythos und Kerygma macht Tillich
geltend, dass der Mythos mehr als ein primitives Weltbild sei, mit dem
Bultmann ihn gleichsetze, sondern „die notwendige und angemessene
Ausdrucksform der Offenbarung“.42 Die Kirche nimmt nämlich an
einer Wirklichkeit teil, die sich von jeder anderen, vor allem von
jeder empirischen Wirklichkeit unterscheidet. Tillich nennt sie „das
Neue Sein“, das in symbolisch-mythologischer Begrifflichkeit als die
Erscheinung des Christus beschrieben wird. In dieser Interpretation
sieht er das bewahrt, was den Stolz der protestantischen Theologie
ausmacht: die wissenschaftliche Redlichkeit in der Auslegung der
eigenen Quellen.
(3) Das Verhältnis von kritischer Forschung und Autorität der
biblischen Botschaft wird von Tillich übertragen auf die Ebene
des Verhältnisses von protestantischem Prinzip und katholischer
Substanz. Katholische Substanz versteht Tillich als die Tradition, in
der sich das Neue Sein verkörpert und darstellt – „vor, in und nach
seiner endgültigen Offenbarung in Jesus als dem Christus“. Das
protestantische Prinzip bewahrt die katholische Substanz davor, der
Dämonie und Verzerrung zu verfallen. Protestantisches Prinzip und
katholische Substanz gehören aber zusammen, doch kann sich das
protestantische Prinzip nicht der päpstlichen Autorität unterwerfen,
auch nicht der Autorität eines protestantischen Lehramts. Das aber
heißt: „Der Protestantismus muß ein Wagnis auf sich nehmen, sonst
hört er auf zu sein, was er ist. Aber Wagnis bedeutet Möglichkeit des
Misslingens.“43 Dies schließt für Tillich ein, dass wir darum ringen,
„den Reichtum, die geistige Tiefe und die Subtilität der katholischen
Substanz aufzunehmen, ohne die kritische Stärke des protestantischen
Geistes zu schwächen“.44
(4) Die Erwartung des Endes von Zeit und Geschichte „ent-
wertet alle kulturelle Tätigkeit“45 des Menschen, sie betont aber
die Bedeutung der gegenwärtigen persönlichen Entscheidung und
41
Ebd., S. 91.
42
Ebd., S. 93.
43
Ebd., S. 95.
44
Ebd.
45
Ebd., S. 95 f.
XXXIV
Erlösung des Einzelnen. Die Erfüllung der Geschichte wird in der
Theologie der Diastase also nicht aus der Geschichte selbst und aus
unserem Tun abgeleitet. „Es wäre zynisch, von diesen Menschen,
die in ihren Ruinen schon jetzt psychologisch und wirtschaftlich und
morgen vielleicht sogar physisch den Kampfplatz zwischen Osten
und Westen abgeben, zu erwarten, dass sie an irgendwelche rettende
Macht in der Geschichte glauben.“46 Auch für Tillich ist klar: Die
Diastase zwischen Geschichte und Reich Gottes ist für die heutigen
Menschen überzeugender als für die Menschen des 19. Jahrhunderts,
die noch an eine Synthese von menschlicher Geschichte und Reich
Gottes glauben konnten. Die heutigen Menschen haben die Hoffnung
auf eine Art Erfüllung in der Geschichte verloren. Tillich versucht
jedoch, die Alternative von Diastase und Synthese zu überwinden,
indem er auf die Kraft des Neuen Seins in der Geschichte verweist.
Jeder individuelle oder soziale Akt, in welchem die „heilende Kraft“
des Neuen Seins wirksam ist, hat Bedeutung für das Reich Gottes.
„Nichts Gutes, das sich in der Geschichte ereignet hat, ist verloren,
selbst wenn die Geschichte morgen zu Ende sein sollte.“47 Es gibt aber
auch keinen Moment in der Geschichte, in dem die erlösende Kraft
des Neuen Seins fehlt. „Glaube an die Gegenwart des Neuen Seins
in der Geschichte hier und jetzt … muss die utopische Erwartung
ersetzen, dass das Alte Sein sich selbst im Laufe der Geschichte heilen
kann oder dass das Neue Sein das letzte Stadium einer geschichtlichen
Entwicklung ausmacht.“48
Das Problem der Diastase ist für Tillich ein genuin protestanti-
sches Problem. Es ist vorbereitet durch das Bündnis des Neupro-
testantismus mit dem bürgerlichen Prinzip, es hat sich zugespitzt
durch das Bündnis des Neuprotestantismus mit dem Nationalismus
und dem Neuheidentum und hat die Diastase herausgefordert. Die
Diastase war – davon ist Tillich überzeugt – im Recht, aber nur in
einer bestimmten historischen Situation, die ihrerseits sich aus den
genannten Synthesen herleitet. Sie reißt Gott und Mensch, Mythos
und Kerygma, protestantisches Prinzip und katholische Substanz
sowie Geschichte und Eschatologie supranaturalistisch auseinan-
der, statt sie dialektisch im Sinne einer Korrelation aufeinander zu
beziehen. Diese theologische Problematik ist Tillich schon seit seiner
46
Ebd., S. 96.
47
Ebd.
48
Ebd.
XXXV
frühen Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie bewusst.
Auf seiner ersten Deutschlandreise (1948) erlebt er den vollständigen
Sieg der Diastase, in der Begegnung mit seinem alten Freund Emanuel
Hirsch die Niederlage der Synthese. An der Problematik des Sieges
der Diastase aber arbeitet er sich ab – in Gestalt der „Systematic
Theology“, nicht zuletzt auch in seinen Berliner und Hamburger
Vorlesungen von 1951 bis 1961, in denen er seine Methode der
Korrelation vorstellt, wobei er sich an der Freien Universität Ber-
lin bewusst auf die Frageseite der Korrelation beschränkt, an der
Hamburger theologischen Fakultät aber im direkten Anschluss an
den 4. Teil seiner „Systematic Theology“ („Life and Spirit“) beide
Seiten der Korrelation zur Geltung bringt.
49
Schreiben von Rektor F. Meinecke und Prorektor E. Redslob an Paul Tillich,
12.3.1949 (UAFUB, Abt. K 001, C 26-R 4).
XXXVI
oder anderer Stellen“ das Geld für seine Reise aufbringen.50 So baten
Rektor und Prorektor Tillich wiederum, „sich zu Gastvorlesungen
an der Freien Universität Berlin zur Verfügung zu stellen“, nachdem
sich dies für das Sommersemester 1949 leider als undurchführbar
erwiesen habe.51 Doch es kam auch im Sommersemester 1950 noch
nicht zu einer Mitarbeit Tillichs an der Freien Universität. Die Berli-
ner Termine ließen sich mit seinen Lehrverpflichtungen in New York
nicht vereinbaren.52
(1) Am 9. Januar 1951 wandten sich Friedrich Meinecke und
der neue Rektor Hans von Kress erneut an Tillich mit der Bitte
um Gastvorlesungen im kommenden Sommersemester.53 Durch den
Politikwissenschaftler Franz L. Neumann von der Columbia Uni-
versity New York und durch Walther Braune seien sie von sei-
ner grundsätzlichen Bereitschaft, einer Einladung Folge zu leisten,
informiert worden. Tillich nahm die Einladung an; sie sei ihm eine
große Freude und Ehre, schrieb er, „und ich komme gerne – wenn
die Weltgeschichte es erlaubt“.54 Er werde aber kaum vor dem 25.
Mai mit seinen Vorlesungen beginnen können und am 25. Juni
müsse er zu seiner Ehrenpromotion in Glasgow sein. Der Rektor
hielt an seiner Einladung fest. Am 2. April schrieb er an Tillich,
er sei ihm „außerordentlich“ dankbar, wenn er trotz aller Schwie-
rigkeiten „im Laufe des Sommersemesters 1951“ für einen Monat
nach Berlin käme. Zur Frage der Finanzierung äußerte er sich so:
„Es besteht die Hoffnung, dass der Senat von Groß-Berlin für uns
eine entsprechende DM-Summe in Dollars umtauscht, sodass wir
die Ihnen entstehenden Reisekosten in amerikanischer Währung
zurückerstatten können.“55 Es bedurfte also nicht nur mehrerer Ein-
ladungen, sondern auch der Überwindung mancher Schwierigkeiten,
bis hin zur Devisenbeschaffung durch den Senat von Groß-Berlin,
50
P.Tillich an F. Meinecke und E. Redslob, 20.4.1949 (UAFUB, ebd.).
51
F. Meinecke und E. Redslob an P. Tillich, 13.5.1949 (UAFUB, ebd.).
52
So schreibt Tillich am 17.2.1950 an die Außenkommission der Freien Uni-
versität, dass er auch 1950 nicht nach Berlin kommen könne, und betont,
„dass meine Entscheidung nicht durch ein Nein gegenüber Ihrer Einladung,
sondern durch ein Ja gegenüber meinen hiesigen Verpflichtungen veranlasst
ist“ (UAFUB, ebd.).
53
F. Meinecke und H.v. Kress an P. Tillich, 9.1.1951 (UAFUB, ebd.).
54
P. Tillich an F. Meinecke und H.v.Kress, 26.1.1951 (UAFUB, ebd.).
55
F. Meinecke und H.v. Kress an P. Tillich, 24.1.1951 (UAFUB, ebd.).
XXXVII
damit Tillich seine erste Vorlesung, die Ontologie-Vorlesung, an der
Freien Universität halten konnte. Tillich hielt diese Vorlesung zwi-
schen dem 21. Mai und dem 14. Juni. Ähnlich verfuhren auch die
anderen Gastprofessoren. Sie waren – wie Tillich – nicht bereit, ihr
Land und ihre Heimatuniversität für ein ganzes Semester zu verlas-
sen. Es lag aber auch nicht im Interesse der neuen Universität, dass
Gastprofessoren, in der Regel berühmte Ordinarien aus Deutschland
und dem Ausland, die Einstellung jüngerer Dozenten blockieren
könnten. In diesem Sinne hatte der Nobelpreisträger Otto Warburg
vorgeschlagen, dass Gastprofessoren nur zu ein- und zweiwöchigen
Vorlesungszyklen eingeladen werden sollten.56
Zu den namhaften amerikanischen Wissenschaftlern, die Anfang
der fünfziger Jahre als Gastprofessoren lehrten, zählten neben Tillich
der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der schon 1951 Dozent
der Deutschen Hochschule für Politik wurde, der Pädagoge Robert
Ulich von der Harvard University, die Historiker Theodor von Laue,
Fritz Epstein, Fritz Stern und Paul Hoefer, der Gräzist Kurt von
Fritz, der Wirtschaftswissenschaftler Eduard Heimann, der Litera-
turwissenschaftler Eric W. Barnes, der Soziologe Seymour Lipset, der
Mathematiker E. J. Gumbel sowie die Juristen Arthur Schiller und
Paul Hays. Viele von ihnen hatten, wie Tillich, 1933 oder später
Deutschland verlassen müssen und kehrten nun als Gastprofesso-
ren zu Vorlesungen in das zerstörte und isolierte Berlin zurück. Die
meisten von ihnen kamen von der Columbia University New York,
die von der Ford Foundation eine Sonderspende erhalten hatte,
die zum Nutzen der Freien Universität eingesetzt wurde.57 Selbst-
verständlich hielten sie ihre Vorlesungen in deutscher Sprache, die
für die meisten von ihnen ihre Muttersprache war. Wie an den hier
publizierten Vorlesungen Tillichs zu sehen ist, hatte sich allerdings
seine Muttersprache im Satzbau, in der Stilistik und im Wortschatz
amerikanisch eingefärbt.
Tillichs Ontologie-Vorlesung58 umfasst 16 Doppelstunden. Ihr
Gegenstand ist die Ontologie, wie er sie im zweiten Teil seines
ebenfalls im Jahre 1951 publizierten Systems („Being and God“)59
56
James F. Tent, Freie Universität Berlin 1948-1988. Eine deutsche Hochschule
im Zeitgeschehen, Berlin 1988, S. 150.
57
Ebd., S. 260.
58
Text der Vorlesung: s.u., S. 1-168.
59
Systematic Theology, Vol. 1, Chicago 1951, S. 163-210.
XXXVIII
entwickelt. Anders als in seiner „Systematic Theology“ beschränkt
er sich aber strikt auf die Frage-Seite der Korrelation, also auf die
Ontologie. In der Vorlesung formuliert Tillich freier, lebendiger
und oft auch ausführlicher und stärker situationsbezogen als in der
strengen Buchfassung.
Tillichs Ontologie ist Existential-Ontologie oder, wie er in älterer
Terminologie formuliert, „Existentialphilosophie“. Sie ist, wie er am
Ende der Vorlesung einräumt, „anthropozentrisch“.60 Er will weder
vom Objekt noch vom Subjekt ausgehen, sondern vom Menschen
in seiner Ganzheit und zum Menschen wieder zurückführen. Die
Funktion seiner ganzen Vorlesung, so erklärt er, ist „das Hinein-
tauchen in das Sein von dem einzigen Eingangstor, das wir haben,
nämlich unserer Existenz“.61 Darum auch die ausführliche Analyse
der Endlichkeit des Seins, vor allem der Kategorien.
Soll die Ontologie ausmünden in die Frage nach dem Grund des
Seins, so liegt eine Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie von
Bergson und vor allem mit der Prozessphilosophie von Whitehead
nahe. Man kann nicht behaupten, Tillich habe die „Philosophie des
Werdens“, wie er sie auch nennt, nicht zur Kenntnis genommen. Im
Gegenteil, er setzt sich mit ihr in der ganzen Vorlesung immer wieder
auseinander, freilich vom Standpunkt einer Existential-Ontologie.
Die Philosophie des Werdens ist sein eigentlicher philosophischer
Gegner.
Seine Vorlesung hat auch einen theologischen Gegner: die so
genannte Theologie der Diastase und deren Auseinanderreißen von
Ontologie und Offenbarung. Tillich argumentiert: Wer behaupte,
Ontologie und Offenbarung seien zu trennen, der so genannte natür-
liche Mensch könne die Frage nach Gott unmöglich stellen, dies sei
ihm nur möglich, wenn die Offenbarung ihm schon die Antwort
gebe, der setze voraus, „dass Offenbarung nicht Offenbarung für
den Menschen ist, sondern dass der Mensch zunächst in ein anderes
Wesen verwandelt werden muss“.62 Mit seiner Gegenthese stützt
sich Tillich im Grunde auf die augustinische Dialektik von quaerere
(fragen) und invenire (finden)63: Der Mensch kann das Offenba-
rungswort nur empfangen, wenn er nach der Offenbarung fragen
60
S. u., S. 166.
61
S. u., S. 110.
62
S. u., S. 153.
63
Confessiones X, 18, 27.
XXXIX
kann, also „muss schon ein Gewahrwerden dessen, wonach er fragt,
vorhanden sein.“64
Für die im Sommersemester 1951 gehaltene Ontologie-Vorlesung
sprachen Friedrich Meinecke sowie Rektor v. Kress Tillich ausdrück-
lich ihren Dank aus. „Ihre Lehrtätigkeit während des vergangenen
Sommersemesters“, so schrieben sie ihm, „war ein großer Gewinn
für unsere Universität, den wir wohl zu würdigen wissen“. Er habe
die Beschwerlichkeit der weiten Reise nicht gescheut, um seinen
„Beitrag zu der Ausbildung unserer akademischen Jugend zu leisten“.
Sie seien gewiss, so betonten sie, ihm diesen ihren herzlichen Dank
„auch im Namen dieser akademischen Jugend“ auszusprechen, und
sie hofften, „dass die einmal aufgenommenen Verbindungen auch in
Zukunft weiter bestehen, gefestigt und verstärkt werden können“.65
Es fällt auf, wie sehr in diesem Schreiben die Freie Universität ihren
Auftrag als Ausbildung der akademischen Jugend verstand. Nicht die
Forschung stand im Vordergrund, sondern die Ausbildung.
(2) Rechtzeitig fühlte Walther Braune bei Tillich wegen einer Gast-
vorlesung auch im Sommersemester 1952 vor. „Ich glaube besonders
auch im Namen der Studentenschaft zu sprechen“, schrieben der
Ehrenrektor und der Rektor am 7. Februar 1952 an Tillich, „wenn
ich Ihnen erkläre, dass Sie durch eine erneute Lehrtätigkeit uns einen
großen Wunsch erfüllen. Ihr Besuch im vergangenen Sommer war
ein so schöner Erfolg, dass die Freie Universität es als ein großes
Geschenk betrachtet, Sie wieder als Gast begrüßen zu dürfen“. Mit
dem von ihm vorgeschlagenen Thema „Die menschliche Situation
im Lichte der Theologie und Existentialanalyse“ erklärten sie sich
gern einverstanden, ebenso mit dem Juli-Termin.66
Tillich antwortete ihnen, er werde am besten mit Braune über Ter-
min, Zahl und Themen seiner Lehrveranstaltungen korrespondieren.
Gern würde er dabei „vielleicht auch das Thema [der Hauptvorle-
sung] weniger schwerfällig formulieren“.67 Vor allem die Reihenfolge
„Theologie und Existentialanalyse“ hätte er eigentlich umkehren
müssen. Doch es blieb bei der einmal von Braune gegebenen For-
mulierung des Themas: „Die menschliche Situation im Licht der
Theologie und Existentialanalyse.“ Sie erschien auch im Vorlesungs-
64
S. u., S. 154.
65
F. Meinecke und v. Kress an P. Tillich, 10.10.1951 (UAFUB, ebd.).
66
F. Meinecke und H. v. Kress an P. Tillich, 7.2.1952 (UAFUB, ebd.).
67
P. Tillich an F. Meinecke und H. v. Kress, 18.2.1952 (UAFUB, ebd.).
XL
verzeichnis für das Sommersemester 1952, ebenso das Seminarthema
„Die Bedeutung der Ontologie für die Wissenschaft“. Tillich hielt
die Vorlesung zwischen dem 30. Juni und dem 26. Juli, jeweils am
Montag, Dienstag, Mittwoch und Sonnabend.68 Sie umfasste 16
Doppelstunden. Inhaltlich schloss sie an die Ontologie-Vorlesung
des Vorjahres an und setzte deren Anthropozentrik fort. In ihrem
Mittelpunkt steht die Darstellung des Protestes gegen die Vergegen-
ständlichung des Menschen und der Arbeit an der Wiedergewinnung
des Menschen in einer Welt der Vergegenständlichung.
Existentialismus, Tiefenpsychologie und Theologie arbeiten ge-
meinsam an einem neuen Bild des Menschen. Dies zu zeigen, ist die
Absicht der Vorlesung. In der Tiefenpsychologie sieht Tillich aller-
dings eine Doppelstellung zur Verdinglichung. Sie macht einerseits
Entdeckungen über die menschliche Situation, die der Verdinglichung
widerstreben, zugleich unterstützt sie aber durch ihre Begriffsbil-
dung und ihre Heilmethoden die Verdinglichung. Tillich beschreibt
zunächst die dem Existentialismus zugrundeliegende Existential-
analyse, z. T. in engem Anschluss an seinen Aufsatz „Existential
Philosophy“ von 194469 und an die Terry Lectures „The Courage
to Be“ von 1950 bzw. deren Veröffentlichung im Jahre 1952. Er
unterscheidet dabei zwischen Existentialismus als Gesichtspunkt, als
Protest und als Ausdruck.
In der 9. Vorlesung erklärt er, er müsse jetzt „theologischer werden
als bisher, wo die Theologie nur impliziert war“, jetzt werde er die
Frage behandeln: „Wie sieht der Mensch in klassischer Theologie
aus?“70 In den nun folgenden Stunden trägt er eine christliche Lehre
vom Menschen vor, in der er den Menschen als „endliche Freiheit“
bestimmt. Einen verhältnismäßig breiten Raum nimmt die Darstel-
lung der Zweideutigkeiten des menschlichen Lebens in Moralität,
Kultur und Religion ein (von der 13. bis zur 16. Doppelstunde). Die
sich aus den Zweideutigkeiten erhebende Frage formuliert Tillich so:
„Wie können wir in der Zweideutigkeit eine Eindeutigkeit haben,
die die Zweideutigkeit in sich aufnimmt?“ Auf diese Frage gebe die
christliche Theologie ihre positive Antwort. Existentialismus und
Theologie, so fährt Tillich fort, arbeiten gemeinsam an der Frage;
68
Text der Vorlesung: s. u., S. 169-334.
69
In: Journal of the History of Ideas, Vol. 5, 1944, S. 44-70, deutsch: GW IV,
S. 145-173.
70
S. u., S. 247.
XLI
die Antwort aber kann nur die Theologie geben. Sie kann aber die
Antwort nur geben, „wenn sie auf die Frage antwortet und nicht
Antworten gibt, nach denen niemand gefragt hat“. Die Absicht dieser
ganzen Vorlesung sieht Tillich darin, „die Frage zu entwickeln, damit
die religiöse Antwort wieder verstanden werden kann …“71
Kurz vor Abschluss der Vorlesung, am 24. Juli, hielt Tillich an der
Freien Universität einen Vortrag über „Liebe, Macht und Gerech-
tigkeit“.72 Er bot darin eine Zusammenfassung der zwei Monate
zuvor an der Universität Nottingham gehaltenen sechs Vorlesungen
über dieses Thema. Bemerkenswert ist, dass Theodor Litt, ebenfalls
Gastprofessor, im Sommer 1952 ein Seminar über das Thema „Das
System der Wissenschaften und das Leben“ anbot, während der
Theologe Hans Köhler, der als einziger das Fach „Evangelische
Theologie“ vertrat, ein Seminar über „Paul Tillich, Religiöse Verwirk-
lichung“ ankündigte. Tillich selbst hat nie eine Vorlesung oder einen
Vortrag im Fach „Evangelische Theologie“ der Freien Universität
angeboten. Er wollte an der Freien Universität Philosoph sein, nicht
Theologe. Als Theologe hielt er seine Vorträge an der Kirchlichen
Hochschule Berlin.
(3) Am 23. Juli 1953 hielt Tillich am Religionswissenschaftlichen
Institut einen öffentlichen Vortrag über das Thema „Zum Problem
der Freiheit“.73 Darin führte er die Vieldeutigkeit des Freiheitsbegriffs
auf etwas in der gesamten Wirklichkeit Identisches zurück: Sein
aktualisiert sich als Leben, d. h. als Über-sich-Hinausgehen. Im Sein
ist die Möglichkeit des Selbstwiderspruchs enthalten. Tillich zeigt
dies am ontologischen, physikalischen, biologischen, psychologi-
schen, politischen und religiösen Freiheitsbegriff. Politische Freiheit
ist für ihn ontologisch fundiert74, sie ist nicht gebunden an eine
demokratische Staatsform oder Gesellschaft, sondern an „das Recht
71
Ebd., S. 334.
72
Typoskript „Liebe, Macht, Gerechtigkeit“, Typ. GS (PTAM).
73
Kurz zuvor hatte er an der „Deutschen Hochschule für Politik“ über das
Thema „Die Philosophie der Macht“ referiert.
74
Ähnlich auch Aloys Wenzl, Ontologie der Freiheit, in: Zeitschrift für philo-
sophische Forschung, Jg. 3, 1948, S. 50-59. Auch für A. Wenzl gehört „ein
Moment von Freiheit zum Seinsbegriff schlechthin“ (S. 55). „Von diesem
Seinsbegriff aus erfährt nun die klassische Ontologie von Stoff und Form im
Rahmen der Lehre vom Stufenbau der Welt eine neue Sicht. Die je tragende
Unterschicht ist Stoff für die Formung durch die höhere eben dank der Mehr-
möglichkeit, die sie darbietet.“ (S. 58)
XLII
intentionaler Schöpfung in der Gestaltung des Lebens“. Unser Frei-
heitsproblem ist nicht das des Demokratischen gegen das Totalitäre,
sondern „das Problem der Rettung des Menschen von seiner Verding-
lichung, in der seine schöpferische Selbstaktualisierung unmöglich
geworden ist. … Der Kampf um politische Freiheit ist heute Abwehr
der Verdinglichung sowohl in absolutistischen wie in demokratischen
Kulturen. Die ganze moderne Zeit ist mehr oder weniger unter die
Herrschaft der Verdinglichung gefallen, und das ist das Problem der
politischen Freiheit.“ Der Kampf um die Freiheit, um dessentwillen
diese Universität sich „Freie Universität“ nenne, sei nicht ein Kampf
um spezielle Verfassungen und spezielle Strukturen der Gesellschaft,
sondern ein „Kampf für das Menschliche im Menschen, nämlich die
Möglichkeit, Ja und Nein zu sagen, die Möglichkeit, das Neue zu
setzen“. „Despotie, Tyrannis, Absolutismus, Terror schließen weite
Gruppen von Menschen, die potentiell schöpferische Menschen sind,
aus aller menschlichen Aktualisierung aus.“75
Wenige Wochen zuvor hatte in Ost-Berlin und in der Ostzone
der Juni-Aufstand stattgefunden, der durch sowjetische Panzer nie-
dergeschlagen wurde.76
75
Typoskript „Zum Problem der Freiheit“, Typ. GS (PTAM).
76
Bert Brechts Haltung zum 17. Juni kommentiert Tillich in diesem Vortrag mit
den Worten: „Wir haben gesehen, wie einer der größten deutschen Dichter
in unseren Tagen … sich selber ruiniert – ich möchte keinen Namen nennen,
jeder von Ihnen wird an jemand denken“ (Typoskript „Zum Problem der
Freiheit“, Typ. GS, S. 15).
77
Für das Folgende vgl. Rainer Hering, Theologie im Spannungsfeld von Kirche
und Staat. Die Entstehung der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der
Universität Hamburg 1895 bis 1955 (Hamburger Beiträge zur Wissenschafts-
geschichte. Im Auftrag der Universität Hamburg hg. von Eckart Krause, Gunter
Otto, Wolfgang Walter, Band 12), Berlin / Hamburg 1992.
XLIII
argumentierte der Pädagoge Heinz-Joachim Heydorn für die Frak-
tion der SPD, das einst „außerordentlich gespannte“ Verhältnis
zwischen Evangelischer Kirche und Sozialdemokratie sei bisher der
entscheidende Faktor zur Verhinderung einer Theologischen Fakultät
gewesen. Inzwischen aber habe sich die Kirche von ihrer Staatsloya-
lität gelöst. Heydorn bezog sich dabei auf die Theologie von Karl
Barth, Emil Brunner und Paul Tillich. Im „Dritten Reich“ habe die
Evangelische Kirche zu einer „eigenen Gewissensautonomie in einer
überzeugenden Form“ zurückgefunden. Durch die Ausbildung an der
Universität sollten die künftigen Pfarrer die Möglichkeit haben, „mit
allen Gebieten des wissenschaftlichen Lebens und den Problemen
des heutigen Daseins vertraut zu werden, um ihnen zu begegnen“.
In diesem Zusammenhang verwies Heydorn auf die „wirklichkeits-
bezogene Theologie“ Tillichs.78
Zuvor hatte Heydorn in einem Zeitungsartikel die positive Hal-
tung der Hamburger SPD zur Errichtung einer Theologischen Fakul-
tät dargelegt und ebenso für die Berufung Tillichs plädiert, weil sie
„auch in der Person symbolisieren (würde), was durch die Grün-
dung dieser Fakultät in deutlicher Weise zum Ausdruck kommt:
Die Beziehungen zwischen der Sozialdemokratie und der Deutschen
Evangelischen Kirche sind seit einigen Jahren in ein völlig neues
Stadium getreten. Ein für die Kirche wie auch für die deutsche
Arbeiterbewegung höchst unglückseliger Zeitabschnitt scheint sich
endgültig seinem Ende zuzuneigen.“79
Am 20. Dezember 1952 konstituierte sich der Berufungsaus-
schuss.80 Er hatte zu bedenken, dass die bisherige Kirchliche Hoch-
schule mit ihren Dozenten mit der zukünftigen Fakultät vereinigt
werden sollte. Der Ausschuss war sich darin einig, dass eine Aus-
stattung der Fakultät mit fünf Lehrstühlen unzureichend sei. Da die
Systematische Theologie „der Fakultät das Gesicht“ gebe, sollte sie
schon jetzt mit zwei Lehrstühlen mit den Schwerpunkten „Auslegung
der Glaubenslehre“ und „Sozialethik“ besetzt werden. Auf Wunsch
von Senator Landahl sollte auf den zuletzt genannten Lehrstuhl
(„Systematische Theologie mit Betonung des soziologischen Aus-
78
Rede auf der Bürgerschaft zu Hamburg am 22.10.1952, stenographische
Berichte 993 f., zitiert nach R. Hering, S. 274.
79
H. J. Heydorn, Warum theologische Fakultät in Hamburg?, in: Hamburger
Echo, 18.10.1952, zitiert nach R. Hering, S. 274, Anm. 83.
80
Hierzu und zum folgenden: Staatsarchiv Hamburg 364-5I Uni I, C 50.10.,
Bl. 66-69, zitiert nach R. Hering, S. 284-286.
XLIV
gangspunktes“) Paul Tillich berufen werden. Seine Berufung galt als
Symbol für die Annäherung von Evangelischer Kirche und Sozialde-
mokratie. Weil aber Tillich „nicht in der Lage sein dürfte, das gesamte
Gebiet der Systematischen Theologie zu vertreten“, sollte daneben
ein Ordinariat „mit Betonung des hermeneutischen Ausgangspunk-
tes“ eingerichtet werden. Sollte Tillich absagen, solle die Berufung
Helmut Thielickes erwogen werden. Im Februar 1953 einigten sich
Senator Landahl, die Hamburger Schulbehörde und der Berufungs-
ausschuss darauf, dass der Lehrstuhl für Systematische Theologie mit
Tillich besetzt und dass nach dessen Emeritierung, die nach drei (!)
Semestern vorgesehen war, ein „eigentlicher“ Systematiker berufen
werden sollte. Tillichs Professur war also von vornherein inhaltlich
auf den sozialethischen Schwerpunkt begrenzt und zeitlich befristet.81
Zu dieser Zeit aber schrieb Tillich an seinem Opus magnum, der
„Systematic Theology“.
Nach zwei langen Verhandlungen mit Landahl lehnte Tillich im
Mai 1953 den Ruf nach Hamburg ab – „unter Berücksichtigung
seines Alters (67 Jahre), seines Gesundheitszustandes, seiner geplan-
ten wissenschaftlichen Arbeiten … sowie seiner außergewöhnlichen
Arbeitsmöglichkeiten in den Vereinigten Staaten“,82 er bot aber an,
in jedem Semester Gastvorlesungen in Hamburg zu halten. Diese
Lösung, so schrieb er an seine Freunde, gebe ihm nach seiner offi-
ziellen Pensionierung (am 1. Juli 1954) „die Freiheit, die ich – nach
meinem eigenen Gefühl und nach dem dringenden Wunsch meines
Arztes – notwendig brauche“.83
81
Der Evangelische Pressedienst berichtet am 17.8.1961: „Die Theologische
Fakultät Hamburg wollte ihn bereits zum Wintersemester 1954/55, als sie
ihre Arbeit aufnahm, auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie berufen.
Weil jedoch staatlicherseits Bedenken gegen die Berufung eines in den USA
bereits emeritierten Hochschullehrers erhoben wurden, lud die Hamburger
Fakultät ihn zu regelmäßigen Gastvorlesungen in der Hansestadt ein. Dieser
Einladung ist Paul Tillich seitdem viermal gefolgt, zuerst im Wintersemester
1954/55 und dann in den Sommersemestern 1956, 1958 und 1961.“
82
So Senator Landahl in seinem Schreiben an Dr. B. Baring vom 22.5.1953,
zitiert bei R. Hering, S. 294. Noch am 8.5.1953 hatte Tillich an Otto Suhr
geschrieben: „Ich stehe in dauernden Verhandlungen mit dem Senat in Ham-
burg, der mich für die neugegründete theologische Fakultät in Hamburg
gewinnen will. Falls wir zu einer Einigung kommen, würde ich entweder
ganz oder größten Teils während des Juli in Hamburg sein müssen. Die
Entscheidung kann nächste Woche oder später fallen“ (UAFUB, Abt. K 001
Repositur C26-R4).
83
EW V, S. 329.
XLV
Nach der Absage Tillichs konnte die von Senator Landahl beab-
sichtigte religiös-soziale Prägung der Hamburger theologischen Fa-
kultät nicht realisiert werden. Nach zwei weiteren Absagen (von
Helmut Gollwitzer und Edmund Schlink) wurde Helmut Thielicke
auf den systematischen Lehrstuhl berufen. Tillich selbst hatte eine
„Dauereinladung [nach Hamburg] als Gastprofessor“.84 Das bedeu-
tete aber nicht, dass er nun in Berlin keine Vorlesungen mehr halten
würde. Im Gegenteil: Walther Braune teilte dem Dekan der Freien
Universität mit, die Hamburger Unterrichtsverwaltung (!) habe Til-
lich für die Monate des Jahres gewonnen, die er in Deutschland in
Zukunft zu lesen beabsichtigt. Er (Braune) würde es aber für einen
großen Gewinn halten, „wenn wir ihn für die gleiche Zeit zu Vor-
lesungen an der Freien Universität haben könnten“. Da Tillich in
Amerika gewöhnt sei, „wöchentlich an mehreren Stellen zu lesen“,
wäre es nicht ausgeschlossen, dass er in Hamburg und Berlin lesen
würde.85
Tillich hatte mit Senator Landahl vereinbart, im November 1954
nach Hamburg zur Eröffnung der theologischen Fakultät zu kommen
und dort eine Gastvorlesung zu übernehmen. So konnte er die Ein-
ladung von Wilhelm Weischedel, des Direktors des philosophischen
Seminars, schon im Sommersemester 1954 nach Berlin zu kommen
und dort eine Gastvorlesung zu halten, nicht annehmen. Tillich
schlug darum vor, im Wintersemester von Hamburg aus nach Berlin
zu kommen und an der Berliner Schelling-Feier mit einem Vortrag
teilzunehmen.86 So hielt er am 2. Dezember 1954 an der Freien Uni-
versität seinen Schelling-Vortrag, den er bereits am 26.September in
Stuttgart an der Gedächtnisfeier zum 100. Todestag des Philosophen
gehalten hatte.87
Am 1. Juli 1955 wurde Tillich am Union Theological Seminary
New York nach 22 Jahren pensioniert. Die Pensionierung war wegen
der „Gifford Lectures“ in Aberdeen (November und Dezember 1953
und Oktober und November 1954) um ein volles Jahr verschoben
worden. Nach der Pensionierung aber wurde er als „University Pro-
84
So Tillichs Formulierung in dem Rundbrief an seine Freunde, ebd.
85
W. Braune an den Dekan der phil. Fakultät der Freien Universität, 6.10.1953
(UAFUB, ebd.).
86
P. Tillich an W. Weischedel, 13.5.1954 (UAFUB, ebd.).
87
Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung, Jg. 9, 1955, S. 197-208, auch in: GW IV, S. 133-
144.
XLVI
fessor“ an die Harvard University berufen. Hier war er nun völlig
frei zu lesen, worüber und in welcher Fakultät er wollte. So wird er
die Ablehnung des Rufes nach Hamburg nicht bereut haben.
88
Biblical Religion and the Search for Ultimate Reality, Chicago 1955.
89
Biblische Religion und die Frage nach dem Sein, Stuttgart 1956, übersetzt
von Nina Baring.
90
„Betrifft Ehrenpromotion P. Tillich“ (ohne Angabe des Verfassers, UAFUB,
ebd.).
91
Typoskript „Paul Tillich, FU Berlin Juni 56“ (PTAM, 001B: 015).
XLVII
eines Wiederaufbaus Berlins und – „wie damals nach den napoleoni-
schen Kriegen“ – einer Universität Berlin „vom Geistigen her“, der
Freien Universität. Er nannte Berlin „das göttlich-dämonische Unge-
heuer“, aber auch „den Traum und die Wirklichkeit meines ganzen
Lebens“. Seiner Neigung folgend, Geistiges in sinnlichen Bildern zu
schauen, ging er in seiner Rede von den Insignien eines Ringes aus,
den er an seinem Finger trug und den die Doktoren der Theologie der
alten Berliner Universität einst trugen. Die Insignien des Ringes waren
die kreuzweise geschriebenen Worte phōs und zoō, Licht und Leben.
Beide Worte waren im Sinne des Johannes-Evangeliums zweifellos
christologisch gemeint. Tillich bezog sie aber typischerweise sofort auf
die Universität als ganze. Was soll denn eine Universität tun?, so fragte
er, um zu antworten: „Sie soll Licht bringen, damit Leben wächst.“ In
diesem Geiste sei die Berliner Universität einst gegründet worden.
Tillich beschwor die große Tradition des Geistes der Berliner
Universität – von Humboldt und Schleiermacher über Hegel und
den späten Schelling bis hin zu Troeltsch. Ihre Bedrohung aber sah
er darin, dass das Licht sich vom Leben trennt. In Tillichs Typologie
ist es der von ihm oft bemühte Gegensatz zwischen Hegel und dem
späten Schelling. Er selbst habe an der Berliner Universität diese
Spannung zwischen Licht und Leben erlebt. In jeder Rede habe man
vom Humanitätsideal gesprochen. Das Humanum aber sei bedroht
worden dadurch, dass das Licht vom Lebensgrund abgeschnitten
war und das Leben gleichgesetzt wurde mit der wissenschaftlichen
Bemühung zum Zweck der technischen Bewältigung des Lebens. „Und
diese Situation, die ja die große Bedrohung aller Universitäten ist,
die man oft als Spezialisierung der Wissenschaften bezeichnet, oft als
Technisierung, oft als Objektivierung …, diese Situation konnte nicht
überwunden werden durch die beiden Fakultäten, die insonderheit
Wächter des humanistischen Ideals sein sollten, die philosophische
und die theologische.“ Die Philosophie habe längst den Rückzug auf
Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, auf Sprachanalyse und logische
Analyse angetreten. Der Theologie habe trotz großer Leistungen in der
liberalen Ära etwas gefehlt: „der Blick in den göttlich-dämonischen
Lebensgrund, gerade nach der dämonisch-bedrohenden Seite“. So
habe am 1. August 1914 eine „neue Welt“ begonnen, die Welt, in
der wir jetzt leben. Allerdings habe es in der theologischen Fakul-
tät „Durchbruchsversuche zu diesem göttlich-dämonischen Lebens-
grund“ gegeben. In diesem Zusammenhang nannte er Ernst Troeltsch,
„der durchbrechen wollte zu einer historischen Existenz aus dem bloß
XLVIII
Historischen der Beschreibung“. Er habe den Versuch eines „neuen
Humanismus“ gemacht, der die Lebensferne des alten Humanismus
habe überwinden wollen, „sondern sich hineinbegeben wollte in das
Politische und Soziale und Künstlerische und alle Seiten des Lebens“. Er
selbst, Tillich, habe nach dem Ersten Weltkrieg die Idee des religiösen
Sozialismus verwirklichen wollen. Gleichzeitig habe die Theologie des
Paradox die Theologie bewegt. Doch der Sieg des Faschismus habe
alle derartigen Keime zertreten. Durchgesetzt aber habe sich seitdem
eine Theologie, die er als Theologie des Paradox bezeichnet habe. „Sie
war siegreich in einem Kampf auf Leben und Tod der Kirche. Sie ging
zurück auf den Lebensgrund, aber sie tat es nicht in Einheit mit dem
Licht des allgemeinen Kulturbewusstseins. Die Lichtseite, phōs, im
Wappen der theologischen Fakultät von Berlin kam nicht zu ihrem
Recht. Und darum konnte sie das Leben zwar verteidigen, soweit es
da war, konnte es aber nicht formen und kann es nicht formen.“92
Damit ist der entscheidende Einwand gegen die Theologie des Paradox
formuliert: Sie kann das Leben nicht „formen“.
Damit war Tillich beim Thema seiner Vorlesung in diesem Seme-
ster. Sie sei, so erläuterte er, eine Art Apologetik seiner eigenen
theologischen Existenz gewesen, des Versuchs nämlich, die biblische
Religion und die Philosophie oder Ontologie zu vereinigen. Er glaube
nicht, „dass wir uns je ganz für eine Seite entscheiden könnten: für ein
Licht, das nicht mehr leuchtet, obgleich es scharf und hell ist, wie es
oft im wissenschaftlichen Leben der Fall ist, oder für ein Leben, das
dunkel ist und dem das Licht des Humanen, der menschlichen Mög-
lichkeit, des menschlichen Wesens fehlt. Ein nicht-humanistisches
Christentum, ein Christentum, in dem das Humanum ausgestoßen
ist, entspricht nicht dem Sinn der christlichen Botschaft. Gott erlöst
nicht die, die er vorher zerbrochen hat, sondern er erlöst die, deren
Zerbrechen die Frage erweckt nach der Erlösung. Und diese Frage
ist und bleibt menschliche Möglichkeit, wenn auch die Antwort es
nicht bleibt.“93
Tillich beschreibt und verteidigt hier seine Theologie. Im „Zerbre-
chen“ sieht er die Frage des Menschen nach Erlösung oder Heilung.
Sie ist menschliche Möglichkeit – im Unterschied zur Antwort, die
nicht aus dem Menschen kommt. Dies aufzuzeigen, ist das Ziel seiner
Berliner Vorlesungen in den fünfziger Jahren.
92
Ebd., S. 3 (PTAM).
93
Ebd.
XLIX
Tillichs Gastvorlesung „Die Zweideutigkeit
der Lebensprozesse“ (1958)
94
Schreiben des Rektors und Vorsitzenden der Außenkommission der Freien
Universität an P. Tillich, 11.4.1958 (UAFU, ebd.).
95
Text der Vorlesung: s.u., S. 335-409.
96
Vgl. seinen Vortrag „Dimension, Levels, and the Unity of Life“, in: Kenyon
Alumni Bulletin (Gambier / Ohio), Vol. 17, No. 4, 1959, S. 4-8, in deutscher
Übersetzung: Dimensionen, Schichten und die Einheit des Seins, in: Neue
deutsche Hefte, Nr. 71, 1960, S. 218-228.
L
ob es Erfahrungen gibt, „in denen uns das Unzweideutige oder Ewige
gegenüber den Zweideutigkeiten des Lebens erscheint“. Es erscheint
für ihn in der Religion, auch dort allerdings „mitten durch ihre
Zweideutigkeiten [hindurch]“. Er bittet die Hörer, dies als „Hinweis“
auf die „einzig absolut drängende Frage“ zu nehmen, nämlich die
Frage, „die sich aus der Zweideutigkeit des Lebens ergibt, die Frage
nach dem Unzweideutigen, nach dem ewigen Leben“.97 Wo diese
Frage mit radikalem Ernst gestellt werde, geschehe etwas, was im
Moment des Fragens noch nicht bewusst werde: „Man kann nämlich
unbedingt ernsthaft nur fragen, wenn die Macht des Unbedingten
einen in der Form der Frage ergriffen hat, und das ist eine Art, in
der es uns ergreifen kann. Dann ist es schon da, ohne dass wir eine
Antwort gefunden haben.“98
97
S. u., S. 408.
98
S. u., S. 409.
99
Eine stenographische Mitschrift ist nicht erhalten. Vgl. aber die ausführlichen
Berichte von C. Rainer über die drei Vorlesungen in: „Der Tagesspiegel“:
„Sind Kirche und autonome Kultur unverträglich?“ (4.6.1961, S. 16), „Die
Macht der Kirche ist ihre Ohnmacht. Über aktuelle Thesen Paul Tillichs“
(14.6.1961, S. 4), „Kirche ist nicht möglich ohne Kultur“ (28.6.1961, S. 4).
LI
Vorbereitende Ausschuss getagt hatte, um das Wagnis einer neu zu
gründenden Universität zu erörtern, und das dann Rektor, Senat
und ASTA der Freien Universität beherbergte.100 Damals, 1948,
war Tillich zum erstenmal nach fünfzehn Jahren, wieder in Berlin.
Nun, im Jahre 1963, waren wiederum fünfzehn Jahre vergangen. Er
hielt seinen Vortrag über das Thema „Die religiöse Dimension des
wissenschaftlichen Fragens“.
Tillich erklärte, vom Wesen der Religion wie auch der Wissen-
schaft her gebe es heute keine Grenzstreitigkeiten zwischen beiden
Bereichen. Es gebe vielmehr Grenzübertritte von einem Gebiet ins
andere, denn Wissenschaftler leisteten heute Beiträge aus ihrem
Fachgebiet zum religiösen Verständnis des Menschen in der Welt. Die
religiöse Dimension sei also nicht allein der Theologie überlassen.
„Bei diesen Fragen gehe es im übrigen um Religion, nicht im
Namen einer Bekenntnisgrundlage und nicht als ein partikuläres
Lehrfach, sondern darum, die religiöse Dimension in den verschiede-
nen Gebieten zu entdecken. In Physik, Biologie, Medizin, Psychologie
und den Geisteswissenschaften sei eine solche Entwicklung nun zu
verzeichnen …
In der Physik zeige sich neben der strengen Untersuchung physi-
kalischer Objekte das unendliche Mysterium des Seins, dem nahe-
zukommen nicht möglich scheint; neben der berechenbaren und
entdeckbaren Gestalt der Wirklichkeit erscheine ‚der Abgrund als
ein Grundcharakter des Seins‘. In der Biologie seien es die Phä-
nomene von Leben und Tod; die Funktion der Krankheit in ihrer
Zweideutigkeit im Lebensprozess wiederum in der medizinischen
Wissenschaft; und in der therapeutischen Psychologie (weniger der
experimentellen) sei es die Frage nach der zentrierten Persönlichkeit
sowie nach den Elementen, die gegen diese Persönlichkeit stehen,
wobei es darum geht, wie diese zu überwinden seien. Im medizini-
schen wie im psychologischen Heilen sei heute eine Bezugnahme auf
die Sinnfrage unumgänglich.
100
Das „Religionswissenschaftliche Institut mit islamkundlicher Sektion“ war
bis 1963 in der Boltzmannstr. 3 untergebracht, von 1963 bis 1994 im Haus
Boltzmannstr. 4. Seit Tillichs Tod (1965) trug das Haus den Namen „Paul-
Tillich-Haus“, nachdem Pläne, das Institut „Paul-Tillich-Institut“ zu nennen,
am Einspruch der Philosophischen Fakultät scheiterten. Der Name ging 1995
auf das neue Domizil des Instituts Altensteinstr. 40 über (vgl. K. Heinrich, der
gesellschaft ein bewußtsein ihrer selbst geben, Frankfurt a. M. / Basel 1998,
S. 26).
LII
Tillich verwies schließlich darauf, dass auch die Studenten als
humanistische Persönlichkeiten wissen wollten, welchen menschli-
chen Sinn ihre Arbeit habe, womit sich die Seinsfrage erhebt. Und
in den Geisteswissenschaften werde die historische und philologi-
sche Frage nicht mehr als befriedigend empfunden, wenn nicht das
Verstehensproblem in seiner höheren Dimension in Betracht gezo-
gen werde. ‚Kann man einen Text ohne existentielle Partizipation
verstehen?‘, so laute hier die grundsätzliche Frage. Mit der daraus
folgenden Selbstinterpretation des Menschen werde schließlich eine
Analyse betrieben, so folgerte Tillich, die in die Hintergründe der
kulturellen Schöpfung überhaupt führe, und hier wieder stehe man
an den wissenschaftlichen Grenzen.“101
101
Zitiert aus: Prof. Paul Tillich: Was ist der Mensch? Religionswissenschaft-
liches Institut der FU in neuen Räumen, in: Berliner Sonntagsblatt Nr.
49 / 8.12.1963.
102
Vgl. MW 3, S. 287.
LIII
oben und von unten“, die des Geistes von oben und des Blutes, der
Leidenschaften, von unten.103
Zu den damaligen Dozenten der Hochschule gehörte auch Otto
Suhr (1894-1957), der dann im Jahre 1948 als Stadtverordneten-
Vorsteher in West-Berlin den Ausschuss zur Wiedererrichtung der
Hochschule gründete. Ihm gehörten Friedrich Meinecke und Paul
Löbe an als Repräsentanten einer Kontinuität mit der Weimarer
Republik. Im Jahre 1948 gedachte man aber auch der Revolution von
1848. Am 15. 1. 1949, während der Blockade, wurde die Hochschule
wieder eröffnet, in Anwesenheit von Theodor Heuss. Ihr Direktor
war bis 1955 Otto Suhr, sein Nachfolger wurde Otto Heinrich v. d.
Gablentz.
(1) Seine erste Gastvorlesung an der „neuen“, nun in Berlin-
Halensee untergebrachten Hochschule für Politik hielt Tillich im Som-
mersemester 1951 über das ihm vorgegebene Thema „Die politische
Bedeutung der Utopie im Leben der Völker“.104 Weite Teile dieser
Vorlesung können als Kontext und Kommentar zu der gleichzeitig
an der Freien Universität gehaltenen Ontologie-Vorlesung betrachtet
werden. Denn die Wurzel des utopischen Denkens sieht Tillich im
menschlichen Sein, im Menschen, den er als endliche Freiheit ver-
steht. Endlichkeit heißt Mischung von Sein und Nichtsein. Endliche
Freiheit heißt labile Balance von Angst und Mut.
Die Wahrheit der Utopie sieht Tillich darin, dass sie das Wesen
des Menschen, das Ziel seiner Existenz, seiner Erfüllung ausdrückt.
Aber von diesem seinem wahren Wesen ist der Mensch unter den
Bedingungen der Existenz entfremdet. Die Utopie verkennt die End-
lichkeit und Entfremdung des Menschen. Ihre Unwahrheit ist also
ihr falsches Menschenbild. Die Lösung dieses Dilemmas sieht Tillich
in der Transzendenz der Utopie, d. h. im Geist der Utopie, der die
Utopie überwindet. Er unterscheidet darum zwei „Ordnungen“,
eine horizontale Ordnung, d. h. unser geschichtliches Handeln, und
eine vertikale Ordnung, das Reich Gottes. „Wir wissen um diese
zweite Ordnung, weil beide Ordnungen gegenseitig aneinander teil-
103
O.H.v.d. Gablentz, Paul Tillich in der „Deutschen Hochschule für Politik“,
in: GW XIII, S. 572-574.
104
Tillich hielt die vierteilige Vorlesung am 29.5., 5.6., 8.6. und 12.6.1951.
Sie wurde von Dr. Gertie Siemsen wörtlich niedergeschrieben und ohne die
Durchsicht Tillichs in der „Schriftenreihe der deutschen Hochschule für Politik
Berlin“ mit einem Vorwort von Otto Suhr veröffentlicht (Berlin 1951, vgl.
MW 3, S. 531-582).
LIV
nehmen.“105 Das Reich Gottes kämpft in der Geschichte und „wird
zugleich bekämpft, unterdrückt, ausgestoßen“, es realisiert sich also
nicht innergeschichtlich. So ist eine metaphysische Enttäuschung
ausgeschlossen. „Als wir die Vorträge damals hörten“, so erinnert
sich v.d. Gablentz, „packte uns vor allem der Ausruf: Habt Mut zur
Utopie, aber vergesst nicht, dass sie für die Geschichte zwar Maßstäbe
setzen, aber nicht in ihr verwirklicht werden kann.“106
(2) Auch für das Sommersemester 1952 wurde Tillich um einen
Vortrag in der „Deutschen Hochschule für Politik“ gebeten. Als
Vorlesungsthema schlugen Ernst Fraenkel und Otto Heinrich v.d.
Gablentz, die Direktoren des „Instituts für politische Wissenschaft“
der Hochschule, das Thema „Die Judenfrage – ein christliches deut-
sches Problem“ vor.
In ihrem Schreiben an Tillich erläuterten sie das von ihnen ge-
wünschte Vorlesungsthema mit folgenden Worten: „Wir haben beide
das Gefühl, dass die heutige Studentengeneration über kaum eine
Frage so im Ungewissen lebt, wie über die Frage des Judenproblems
und die speziellen Probleme des Antisemitismus und des deutsch-
jüdischen Verhältnisses. Es ist leider so, dass eine wachsende Tendenz
ersichtlich ist, den ganzen Fragenkomplex tot zu schweigen und das
Geschehen zu bagatellisieren. Dies erscheint uns um so gefährlicher,
als die heutige Studentengeneration nur noch unklare Vorstellungen
über das hat, was sich eigentlich in Deutschland in diesem Feld abge-
spielt hat. Es besteht die ganz große Gefahr, dass unter der Hülle
des Schweigens sich nicht nur schiefe Vorstellungen, sondern sogar
eine Art Rechtfertigung dessen entwickelt, was sich in Deutschland
unter den Nazis abgespielt hat. Wir haben das Gefühl, dass es von
entscheidender Bedeutung ist, wenn diese Frage einmal als ethisches,
philosophisches und politisches Problem zugleich angepackt wird.
Wir kennen nicht viele Leute, die das umfassend genug machen könn-
ten, Sie würden es jedenfalls können und würden uns in Berlin über-
haupt und unseren Studenten besonders einen ganz großen Dienst
damit tun. Ich (Fraenkel) weiß ja von unserer gemeinsamen Arbeit
in New York107, wie intensiv Sie sich nicht nur mit dem Problem als
ethisch-philosophisches, sondern auch als aktuelles politisches Pro-
105
MW 3, S. 577.
106
GW XIII, S. 573.
107
Fraenkel bezieht sich auf die gemeinsame Arbeit an der New School for Social
Research in New York.
LV
blem die ganzen Jahre hindurch beschäftigt haben und ich möchte
Sie auch persönlich bitten, unserem Wunsche Folge zu leisten.“ Es
gebe „nichts Wichtigeres für die Studenten der Hochschule heute“,
so bekräftigen sie in ihrem Schreiben an Tillich ihren „sehnlichen
Wunsch“, als die Behandlung dieser Frage, für die sie ihm vier Dop-
pelstunden zur Verfügung stellen. Als Thema schlugen sie ihm vor:
„Die Judenfrage – ein christliches deutsches Problem“.108
Der Brief der beiden Berliner Politologen an Tillich ist ein frühes
Zeugnis der Wahrnehmung des Tot-Schweigens und Bagatellisie-
rens der von den Deutschen verübten Verbrechen an den Juden.
Offensichtlich unterschieden sich die damals Studierenden in dieser
Hinsicht kaum von der Generation ihrer Eltern.
Tillich änderte das Thema geringfügig in „Die Judenfrage, ein
christliches und ein deutsches Problem“ und hielt die Vorlesung
an vier Abenden, beginnend am 4. Juli 1952.109 In seinem Vortrag
bezeichnete er das Verschweigen und Bagatellisieren als Schuld. Er
unterschied dabei zwischen einer „Schuld im Sinne des Vergessens“
und einer „Schuld des kalkulierenden Abwägens“. Nicht, dass man
vergisst, sondern dass man vergessen will, ist die Schuld, „die seit
1945 eine Macht geworden ist“ und die zum Verhängnis werden
kann. „Alles kommt darauf an, dass diejenigen Elemente, die zu
dem antisemitischen Wahn geführt haben, aus der Seele ausgestoßen
werden, nicht verdrängt, nicht versteckt, sondern erkannt und unter
den Schmerzen der Reue verbannt werden.“110 Die andere Schuld
besteht darin, dass man die eigene Schuld bagatellisiert, indem man
eine Proportion zwischen der eigenen Schuld und dem dann selbst
erlittenen Leid herstellt. Man kalkuliert und stellt dann fest: Wir
haben übel gehandelt, aber wir haben auch dafür gelitten. Dieses
proportionale Denken, das auf Aristoteles zurückgeht, muß aber,
wie Tillich fordert, durch den alt- und neutestamentlichen Begriff
der schöpferischen und versöhnenden Gerechtigkeit „überstiegen“
werden.
108
E. Fraenkel und O.H.v.d. Gablentz an P. Tillich, 10.3.1952 (Kopie im
PTAM).
109
Die RIAS- Funkuniversität und Hochschulfunk strahlten am 6. und 7. Okto-
ber 1952 Ausschnitte aus diesen Vorlesungen unter der Überschrift „Anti-
semitismus als christliches und deutsches Problem“ aus (publiziert in: RIAS
Kulturelles Wort: Zum Problem des Antisemitismus, o.J. [1952], S. 2-10).
110
GW III, S. 132.
LVI
In der Existenz des Judentums sieht Tillich eine Warnung gegen
die Paganisierung des deutschen Volkes, aber auch des Christentums
überhaupt. Das deutsche Volk kann ein „Verständnis für den prophe-
tisch-humanistischen Charakter des Judentums“ nur dann gewinnen,
„wenn es sich selber dem christlich-humanistischen Charakter des
Westens einordnet“.111 Die jüdisch-christlich-humanistische Kultur
ist für Tillich die Kultur des Westens. Ihr Gegenstück ist für ihn
nicht der Osten, sondern das Heidentum, die Paganisierung des
Christentums, die Rückverwandlung der christlichen Gemeinde in
eine „heidnische Sekte mystisch-okkulter Art“.112 „Es gehört zur
Funktion des Judentums, dem Christentum den Spiegel seines eigenen
Rückfalls ins Heidnische vorzuhalten.“113
„Ich denke fast täglich an die herrlichen vier Wochen in Berlin“,
schrieb Tillich an Otto Suhr, damals noch Direktor der Deutschen
Hochschule für Politik.114 Er äußerte den „dringenden Wunsch“, dass
der Text der Vorlesungen, den Dr. Gertie Siemsen stenographisch
aufgezeichnet hatte, „tadellos herauskommt“, was bedeutete, dass
er ihn für die Drucklegung noch einmal durchsehen und autorisie-
ren müsste. Dies war für Tillich keine leichte Aufgabe, wie sich aus
seiner weiteren Korrespondenz mit Otto Suhr ergibt. So schrieb er
ihm im Dezember 1952: „Anbei sende ich Ihnen den ersten meiner
vier korrigierten Vorträge. Wie Sie sehen, versuchte ich im Anfang
noch den gegebenen Text zu organisieren. Ich musste es mehr und
mehr aufgeben, da sich wieder einmal bewahrheitete, was ich schon
so oft erlebt habe, dass eine Rede keine ‚Schreibe‘ ist. Nach der 11.
Seite entschloss ich mich, das Korrigieren aufzugeben und das Ganze
neu zu diktieren. Ich habe keine neuen Gedanken hereingebracht,
aber die alten entwickelt und geklärt. Und in ein lesbares Deutsch
gebracht. Das Maß von Arbeit, das dies erfordert, können Sie sich
denken. Ich werde nun so vorgehen, dass ich Ihnen die einzelnen
Vorträge schicke, sobald sie diktiert sind. Die vorher angekommenen
können ja inzwischen von Ihnen druckfertig gemacht werden, so dass
möglichst wenig Zeit verloren geht. Ich glaube, dass auf diese Weise
aus den Vorträgen das werden kann, was wir beide wünschen.“115
111
Ebd., S. 168.
112
Ebd.
113
Ebd., S. 169.
114
P. Tillich an O. Suhr, 17.10.1952 (UAFUB, ebd.).
115
P. Tillich an O. Suhr, Dezember (?) 1952 (UAFUB, ebd.).
LVII
Der publizierte Text116 gibt also – anders als der in derselben
Schriftenreihe veröffentlichte Text der Utopie-Vorlesung – nicht den
ursprünglichen Wortlaut der vier Vorträge wieder.
(3) Am 7. und 14. Juli 1953, wenige Wochen nach dem Arbeiter-
aufstand in Ost-Berlin, konnte Tillich an der Deutschen Hochschule
für Politik über das Thema „Die Philosophie der Macht“117 referie-
ren und am 7., 9., 10., 13. und 14. Juli ein Seminar zum gleichen
Thema abhalten.
Macht kann man nur verstehen, so Tillich in seinem Vortrag, wenn
man sie als Struktur des Seins versteht. Der Machtbegriff erschließt
das Sein. Sein ist Seinsmächtigkeit. So gesehen, ist der Begriff „Wille
zur Macht“ eine Metapher für einen ontologischen Sachverhalt: die
dynamische Selbstbejahung alles Lebendigen, sich selbst zu verwirk-
lichen und zwar – gegen das Nichtsein. „Das Nichtsein treibt das
Sein aus sich heraus.“118
Die Ontologie der Macht entwickelt Tillich weiter zu einer Phä-
nomenologie der Begegnung. „Das ‚Du‘ fordert durch seine bloße
Existenz, dass es anerkannt wird als ‚Du‘ für ein ‚Ich‘ und als ein
‚Ich‘ für es selbst.“119 Der Begriff der Anerkennung wird bei Tillich
zu einem zentralen Begriff. Jede herrschende Gruppe braucht Aner-
kennung, wenigstens schweigende Anerkennung. Aber es gehört zum
Recht des Menschen, auch nicht mehr anzuerkennen, die Anerken-
nung zu entziehen. Weltgeschichtlich von entscheidender Bedeutung
ist für Tillich, ob der politische Terror einen Menschentypus schaffen
kann, „in dem das menschliche Selbst seine Würde, sein Wesen, seine
Seinsmächtigkeit verloren hat“.120 Unter Hinweis auf den Aufstand
vom 17. Juni scheint ihm „gerade Berlin dazu bestimmt (gewesen zu
sein) zu zeigen, dass es Grenzen dieser Möglichkeit gibt. Das scheint
mir das Bedeutungsvolle an dem zu sein, was hier in den letzten
Wochen geschehen ist.“121
116
Die Judenfrage, ein christliches und ein deutsches Problem (Schriftenreihe
der Deutschen Hochschule für Politik Berlin), Berlin 1953, auch in: GW III,
S. 128-170.
117
Veröffentlicht in der „Schriftenreihe der Deutschen Hochschule für Politik“,
Berlin 1956, auch in: GW IX, S. 205-232.
118
GW IX, S. 209.
119
Ebd., S. 219.
120
Ebd., S. 227.
121
Ebd., S. 227 f.
LVIII
Doch Tillich spricht auch die düstere Vision aus, dass der Ter-
ror noch einmal triumphieren und ein „entmenschtes Menschen-
tum“ kommen könnte, „dem die Möglichkeit der Entziehung jener
schweigenden Anerkennung verlorengegangen ist, und ein in sich
selbst schwingender Mechanismus die menschliche Gesellschaft be-
herrscht“.122 Tillich sieht diese Gefahr auch in der Demokratie. Die
Demokratie lebt von der Voraussetzung der Nichtanerkennung,
also der Möglichkeit, Anerkennung zu verweigern, Nein zu sagen.
Wenn aber die Furcht der Regierenden vor Nichtanerkennung eben
so groß sei wie im entgegengesetzten Lager – und das sei in Amerika
in gewissen Kreisen der Fall – , dann bestehe die Gefahr, dass die
Furcht der Regierenden ins Totalitäre umschlägt. Gemeint ist die
antikommunistische Innenpolitik der USA.
(4) Für den Sommer 1958 plante Tillich wieder eine Deutsch-
landreise, die ihn vor allem nach Hamburg führen sollte, zu einem
Gastsemester an der dortigen Evangelisch-Theologischen Fakultät
sowie zur Entgegennahme des Hansischen Goethe-Preises 1958 an ihn
am 1. Juli 1958. Rechtzeitig bezog er die Deutsche Hochschule für
Politik und die Freie Universität Berlin in seine Terminplanung ein.
Die Hochschule für Politik lud ihn ein, auf ihrer Semesterfeier am
20. Juli (!) den wissenschaftlichen Festvortrag zu halten. Der Vortrag
sollte aber, so schrieben ihm E. Fraenkel und O.H.v.d.Gablentz,
„nicht auf das Thema Widerstand im engeren Sinne beschränkt blei-
ben“, wohl aber müsse er ein Thema behandeln, „das zur Frage der
Menschenrechte und des Widerstands eine engere Beziehung hat“.
Dies könne ebenso gut philosophisch wie historisch sein. „Unser
Gedanke ist nun, ob Sie es übernehmen würden, ein Ihnen liegendes
Thema der politischen oder sozialen Ethik zu behandeln.“123 Doch
Tillich konnte im Juli nicht mehr in Berlin sein. So sagte er ab, fügte
aber hinzu: „Und vielleicht sollte ein Emigrant nicht am 20. Juli
sprechen.“124 Seine Bemerkung lässt vermuten, dass er zwischen
dem aktiven Widerstand gegen Hitler und der Emigration einen
deutlichen Unterschied machen wollte. O.H. v.d. Gablentz hatte zum
Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke gehört, hatte
aber nach dem 20. Juli der Gestapo entkommen können. E. Fraenkel
122
Ebd., S. 228.
123
E. Fraenkel und O. H. v.d. Gablentz an P. Tillich, 25.4.1958 (UAFUB,
ebd.).
124
P. Tillich an E. Fraenkel und O. H. v.d. Gablentz, 1.5.1958 (UAFUB, ebd.).
LIX
aber war 1938 in die USA emigriert und im Jahre 1951 – anders als
Tillich – nach Deutschland zurückgekehrt.
125
Vgl. dazu den Bericht in „Der Tag“ vom 10.7.1948, ebenso in: W. und M.
Pauck, a.a.O., S. 223. Tillich hielt über dieses Thema am 1.8.1948 einen Vor-
trag im Gmelin-Institut in Clausthal. Typoskript der Nachschrift im PTAM.
126
Typoskript „Ontologie und systematische Theologie“, Typ. GS (PTAM),
S. 1.
127
Typoskript „Christus und unsere Wirklichkeit“ (PTAM), S. 3.
LX
ursprüngliches Wesen überwindet die Entfremdung. Das Neue Sein
ergreift uns in der Form des „Obgleich“. Hierin besteht für Tillich
der Sinn des christlichen Glaubens. In unserem Leben gibt es keine
Balance zwischen gut und böse. „Immer ist das Böse das Tragisch-
Überlegene, immer sind Gutes und Böses in uns gemischt. Darum
sagt das Christentum: Die Überwindung der Entfremdung ist nur
in der Form des ‚Obgleich‘ möglich.“128 Ein anderes Wort für die
Überwindung der Entfremdung ist „Liebe“. Christus als das Neue
Sein ist das Sein der Liebe. Daran teilzunehmen, von ihm ergriffen
zu werden ist das Ziel unserer Wirklichkeit im Individuellen und
Sozialen.
Als besonders strittig erwies sich in der Diskussion zwischen
Tillich und Heinrich Vogel129 Tillichs Methode der Korrelation. In
ihr werde – so der Vorwurf Vogels – „die Objektivität dessen, was
in Christus geschieht“, reduziert. Tillich hielt dem entgegen, er wolle
durch seine Methode das starre Gegenüber von Objektivität und
Subjektivität auflösen, und verwies dabei auf das Christusbekennt-
nis des Petrus (Mt 16, 16). Niemals hätten Petrus und die Kirche
bis heute sich zu Jesus als dem Christus bekennen können, wenn in
Jesus nicht die göttliche Macht gewesen wäre, die Petrus überwältigt
hat und die alle Christen weiterhin überwältigt, dieses Bekenntnis
auszusprechen.130 Hier ist es also die „göttliche Macht“, die das
Gegenüber auflöst, die aber auch die Korrelation bestimmt.
(2) Auch während seines zweiten Berlinbesuchs, im Sommerseme-
ster 1951, hielt Tillich an der Kirchlichen Hochschule einen Gastvor-
trag. Unter dem Titel „Ontologie und systematische Theologie“131
stellte er seine theologische Methode vor, nach der die Ontologie
und Existentialanalyse die Frage entwickeln, auf die die Offenbarung
die Antwort gibt. Im einzelnen zeigte er dies an der Korrelation von
Sein und Gott, von Existenz und Christus als dem Neuen Sein, von
menschlichem Geist und göttlichem Geist132 sowie von Geschichte
und Reich Gottes.
128
Ebd., S. 4.
129
Heinrich Vogel war Professor für Systematische Theologie an der Universität
Unter den Linden und gleichzeitig Dozent an der Kirchlichen Hochschule
Berlin-Zehlendorf.
130
Protokoll der „Aussprache mit Prof. Vogel“ (PTAM).
131
Typoskript „Ontologie und systematische Theologie“, Typ. GS (PTAM).
132
Also nicht, wie später in der „Systematic Theology“ ausgeführt, an der Kor-
relation von Leben und Geist.
LXI
(3) Ein Jahr später, am 10. Juli 1952, hielt Tillich einen Vortrag
über „Offenbarung und Autorität“, den er bereits ein Jahr zuvor an
der Harvard University gehalten hatte.133 Er wehrte sich hier gegen
eine autoritären Offenbarungsbegriff. Offenbarung ist für ihn Selbst-
manifestation des Grundes von Sein und Sinn. Sie drückt sich für
unser Erkennen in Symbolen aus, die für etwas stehen, was kategorial
nicht ausgedrückt werden kann. Ausdruck der Offenbarung ist das
protestantische Prinzip, d. h. das Prinzip der Kritik jeder totalitären
Autorität, sei es Papst, Kirche oder Bibel.
Am Ende seines Vortrags zeigt er die Konsequenzen seines anti-
autoritären Offenbarungsbegriffs für den Gottesbegriff: „Der dämo-
nische Gott, den Nietzsche nicht ertragen konnte und der durch die
ganze Geschichte der Religion erscheint, ist ein Wesen neben anderen,
das höchste Wesen, aber ein Wesen, und ein Wesen mit einem abso-
luten Anspruch und darum ein polytheistischer Gott … Luther sagt:
‚Wie du ihn glaubst, so hast du ihn‘ – entweder den zornigen Gott,
den niemand ertragen kann, oder den Gott, der an unserem Konflikt
teilhat, der sich klein macht für uns, klein wie ein Kind. Wie ist das
möglich? Weil Gott nicht ein Wesen ist, sondern der Grund von
allem Sein, weil er als der schöpferische Grund von allem zugleich
der Grund meines Seins ist und nicht gegen mich steht. In meiner
Bejahung bejaht er sich selbst. Teilhabe, Partizipation überwindet
Autorität. Das in mir, das Gott töten will, ist Gott selbst, nämlich
der Grund meines Seins, meines Sinnes, meiner Selbstbejahung. Man
könnte diesen Gott ‚Gott über Gott‘ nennen, nämlich über dem Gott
des Theismus, über dem Gott, der ein höchstes Wesen ist und die
Quelle von Heteronomie und hypostasierter Autorität. Der wahre
Gott jenseits dieses Gottes, jenseits des Gottes, der ein Wesen ist,
befreit uns von der totalen Autorität des letzten polytheistischen
Gottes, der in Wahrheit ein Dämon ist.“134
(4) Das Thema der Vorlesung im Sommersemester 1953 lautete
„Der Christus und die Existenz“. Der 2. Band seiner „Systema-
tic Theology“, der das Thema „Existence and the Christ“ zum
Gegenstand hat, erschien erst 1957. Auch die Gifford Lectures in
Aberdeen, die diesem Thema galten, standen erst im November an.
In seinem Berliner Vortrag geht Tillich – anders als in der „Syste-
matic Theology“ – von dem Titel „der Christus“ und den weiteren
133
Authority and Revelation, deutsch: GW VIII, S. 59-69.
134
Typoskript „Offenbarung und Autorität“, Typ. GS, S. 9 f. (PTAM).
LXII
christologischen Hoheitstiteln aus und entwickelt von ihnen aus die
menschliche Existenz in ihrer Negativität, auf die diese Titel oder
Symbole eine Antwort geben wollen. „Wenn wir die negative Seite,
die menschliche Existenz in ihrem Selbstwiderspruch, in ihrer Verfal-
lenheit, in ihrer Schuldhaftigkeit, in ihrer Entfremdung nicht sehen,
dann hat keins dieser Symbole wirkliche Bedeutung für uns.“135
(5) Am 26. Juni 1958 hielt Tillich an der Kirchlichen Hochschule
einen Vortrag über „Die Berechtigung des religiösen Zweifels“.136 Der
Zweifel ist unaufhebbar – so Tillichs These. Auch die Offenbarung
kann ihn nicht überwinden. Er ist „das entscheidende Prinzip“ des
Protestantismus, also ein Element des protestantischen Prinzips.
Das Problem des Zweifels ist allerdings ein Problem der westlichen
Religionen, weil in ihnen jede religiöse Aussage sich auf konkrete
Gegenstände bezieht, im Unterschied zu den östlichen Religionen.
Ein besonderes Recht des Zweifels ergibt sich für Tillich aber aus der
Botschaft vom Kreuz. Jesus wurde im Namen der Religion gekreuzigt.
Angesichts des Kreuzes wird das Recht des Zweifels zur Pflicht des
Zweifels. Die Kirche hat dann die Aufgabe, dem Zweifel zum Recht
zu verhelfen. Tillich bewegt sich hier ganz auf der Linie dessen, was er
bereits im Jahre 1919 unter dem Titel „Rechtfertigung und Zweifel.
Entwurf zur Begründung eines theologischen Prinzips“ formuliert
hat, um der Berliner Theologischen Fakultät, an die er sich von Halle
umhabilitiert hatte, Einblick zu geben in sein theologisches Denken
unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg.137 Er verhält sich nun aber
ganz anders. Jetzt, im Jahre 1958, trägt er seine These vom Recht
des Zweifels in der akademischen Öffentlichkeit vor, während der
Text von 1919 unveröffentlicht blieb und wohl auch der Berliner
Theologischen Fakultät nicht vorgelegt wurde.
Tillich hat sich nicht gescheut, vor der Kirchlichen Hochschule
Berlin, die entscheidend durch die sog. Theologie der Diastase geprägt
war, seine eigene, unverwechselbar andere Theologie vorzutragen.
(6) Das gilt auch für den am 1. Juni 1961 über das Thema „Auto-
rität der Tradition und ihre Grenze“ dort gehaltenen Vortrag. Die
Autorität der Tradition sieht Tillich darin, dass sie uns prägt und
bestimmt, ihre Grenze darin, dass in ihr die Kräfte des immer neuen
135
Typoskript „Der Christus und die Existenz“, Typ. GS, S. 4 (PTAM).
136
Typoskript „Die Berechtigung des religiösen Zweifels“, Typ. GS (PTAM).
137
Vgl. EW X, S. 127 f. Die beiden Versionen seiner Schrift „Rechtfertigung und
Zweifel“ von 1919 in: EW X, S. 128-185 und S. 185-230.
LXIII
Brechens, des Hinausgehens über sie selbst und der Kritik enthalten
sind. Die unmittelbare Tradition muss immer wieder neu „gebro-
chen“ werden. In diesem Sinne ist die Reformation ein dauerndes
Prinzip. Auch die Kirche ist der Polarität von „Gültigkeit und Mit-
teilbarkeit“, von „Geweihtheit (Sakramentalität) und Ehrlichkeit“
unterworfen. So ist z. B. die auch von R. Bultmann kritisierte „Basis“
des Ökumenischen Rates sowohl unwahr (weil häretisch) als auch
„un-mitteilbar“, die Trinitätslehre zwar gültig (wahr), aber ebenfalls
„un-mitteilbar“. Die humanistisch-unitarische Theologie hält Tillich
für mitteilbar, aber für „untief und darum ungültig“. Eine Lösung
des Problems sieht Tillich in der paulinischen Geisttheologie.
Der göttliche Geist „kann Neues Sein schaffen, wo er will. Aber
wenn er es schafft, leuchtet Weihe hindurch. Der Geist ist gebunden
an das Sein der Wahrheit und darum kann er in der Übermittlung
der Tradition nichts von der Gültigkeit ablassen. Aber er ist zugleich
die sich mitteilende Liebe, die nicht Steine statt Brot gibt. Und in der
die Menschen erneuernden Mitteilung ist die dynamische Gültigkeit
zugleich gewährleistet, die [in] den menschlichen Geist einbricht und
Verständliches sagt.“138
Von der Leitung des Amerika-Hauses Berlin hat sich Tillich dazu
gewinnen lassen, am 14. September 1962 über „Die theologische
Spannung in den politischen Konflikten“ zu sprechen, bevor er gut
eine Woche später in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels entgegennahm und dort seine Rede über
„Grenzen“ hielt.
Der politische Hintergrund des Themas war durch den Ort Ber-
lin gegeben. Hier stießen die beiden politischen Weltsysteme direkt
aufeinander. Die Sowjetunion hatte 1961 das Viermächtestatut für
Berlin aufgekündigt und gedroht, „das Westberlin-Problem“ binnen
eines Jahres zu „lösen“. Inzwischen hatten beide Supermächte die
Kernwaffenversuche wieder aufgenommen. Äußerlich war die Veran-
138
Tillichs Vorlesungsmanuskript (Handschrift), S. 10 f. (Kopie, PTAM).
139
Vgl. dazu auch den ausführlichen Bericht von Hans Kudszus in „Der Tages-
spiegel“, 16. September 1962 (unter dem Titel: Die Religion verbietet Ame-
rika, Berlin aufzugeben. Professor Paul Tillich sprach über den politischen
Weltkonflikt).
LXIV
staltung im Amerika-Haus ein Gespräch zwischen Tillich und seinem
Freunde Walther Braune. Doch Braune beschränkte sich darauf,
Fragen zu stellen, die Tillich dann ausführlich beantwortete.
Wie nicht anders zu erwarten, deutete Tillich den aktuellen Ost-
West-Gegensatz wie jede kulturelle Äußerung des Menschen im
Lichte der Religion, des „Stehens im Ewigen“, als Antwort auf die
Frage nach dem Sinn des Seins, den wir nur als den Sinn unseres
Seins verstehen können.
Entschieden wandte sich Tillich gegen jede Schwarz-Weiß-Malerei
in unserem Urteil über den Osten bzw. den Westen. Im Lichte des
Göttlichen gesehen, ist alles Menschliche Lüge. Aber alles Negative
lebt von dem Positiven, dessen Negation das Negative ist. Ohne das
Positive kann das Negative nicht leben. Um den Osten zu verstehen,
sei zwischen dem Negativen und dem Positiven zu unterscheiden.
Wir dürfen nicht nur das Negative des Ostens sehen. Hinter der
Wirklichkeit des Ostens steht seine Wahrheit, das Wesen des Ostens,
nämlich die prophetische Botschaft vom kommenden Reiche Gottes,
das ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit ist.
Der religiöse Hintergrund des Westens ist eine Kombination von
Humanismus und prophetischem Christentum, die sich sowohl im
Protestantismus als auch im Katholizismus wie auch im Humanis-
mus findet, nämlich die Bejahung der menschlichen Freiheit als einer
von Gott gegebenen Freiheit. Tillich kommt es dabei nicht auf die
Form der Demokratie an. Das Entscheidende des Westens ist für ihn
die „Liberalität“, „nämlich der Gedanke, dass jedes einzelne Wesen
unmittelbar zu Gott ist und dass es von da aus keine Autorität geben
kann, die diese schöpferische Freiheit … unterdrücken darf“. Von der
Demokratie als Form, insbesondere von der Massendemokratie spricht
Tillich mit Distanz und Skepsis. Entscheidend ist für ihn der Kern der
amerikanischen Demokratie: Die Anerkennung des anderen als eines
anderen, als Person, die Bejahung des anderen in seinem unbeding-
ten Wert aufgrund des unmittelbaren Verhältnisses zu Gott. Es geht
im gegenwärtigen Ost-West-Gegensatz also um zwei fundamentale
religiöse Ideen: „die eine, die vom ‚Reich‘ ausgeht und von da aus
auch organisatorisch zentral werden kann, und die andere, die von
denen, die im ‚Reich‘ leben, ausgeht, den einzelnen, und von da aus die
Liberalität ermöglicht“. Wenn nun der Westen nicht imstande sei, auf
dem Wege der Liberalität die Idee der Gerechtigkeit durchzuführen,
wird er versagen, wie der Osten versagen wird, wenn er die Idee der
Gerechtigkeit ohne die Anerkennung des anderen als Person durch-
LXV
führen will. Mit anderen Worten: Es kann keine Liebe geben ohne das
Rückgrat der Gerechtigkeit, aber auch keine Gerechtigkeit ohne Liebe.
In beiden Fällen würde die fundamentale Voraussetzung fehlen, auf
der alles menschliche Geistesleben beruht, „nämlich die unbedingte
Anerkennung, die der andere fordert, ihn als Person anzuerkennen.
Wo das fehlt, gibt es weder Liebe noch Gerechtigkeit.“
Am Schluss der Diskussion wollte Tillich noch „ein Wort über
Amerika“ sagen, herausgefordert durch die Furcht der Berliner,
Amerika könnte in der gegenwärtigen politischen Situation Berlin
aufgeben. An diesem Punkt, so versicherte Tillich, sei aber keine
Furcht nötig. Noch immer sei der amerikanische „Crusading Spi-
rit“ eine Garantie. Er versicherte: „Hier handelt es sich um die
letzten Fundamente des Prinzips, des Wesens dessen, worauf der
amerikanische Geist religiös fundiert ist. Und da ist keine Gefahr
des Nachgebens. Das würde die totale Selbstaufgabe bedeuten, und
daran ist gar nicht zu denken. Und darum würde ich heute sagen:
Es besteht keine Gefahr, dass z. B. Berlin aufgegeben wird. Das ist
nicht nur eine machtpolitische Sache, sondern dahinter steht die Frage
des Seins und Nichtseins des fundamentalen religiösen Prinzips, auf
dem Amerika heute noch bewusst steht. … Hier steht Amerika fest.
Das kann ich mit voller Sicherheit sagen und zwar gerade unter dem
Gesichtspunkt der Fragen, von denen wir ausgegangen sind, nämlich
der religiösen Grundlage des Politischen.“140
Am 25. und 26. November 1963 hat Tillich auf einer Fachtagung
der Forschungsakademie der Evangelischen Kirche der Union (EKU)
im Stephanusstift in Ostberlin zwei Vorträge gehalten. Er sprach dort
über „Der Glaubenszweifel und die Wahrheit des Glaubens“ und über
„Die Geistgemeinschaft und das Paradox der Kirchen“. Es waren die
letzten Vorträge, die Tillich in Berlin gehalten hat.141
140
Typoskript „Die theologische Spannung in den politischen Konflikten“, Typ.
GS (PTAM).
141
Vgl. den Bericht „Tillich in Ostberlin 1963“ in: GW XIII, S. 580 f. Wie aus
einem Schreiben Tillichs an Dr. J. Rogge, den Leiter des Sprachenkonvikts der
Ev. Kirche Berlin-Brandenburg, vom 20.9.1965 hervorgeht, hatte Tillich für
den „4. oder 5. Januar“ 1966 einen Vortrag an der Theologischen Fakultät
der Humboldt-Universität sowie einen weiteren Vortrag am Sprachenkonvikt
zugesagt (LABB Best. 46/2471-2496).
LXVI
Im Mittelpunkt der Diskussion stand aber ein anderes Thema: Karl
Barths Kritik an Tillichs theologischer Methode. Helmut Gollwitzer,
der sie von Karl Barth zugeschickt bekommen hatte, ließ sie auf der
Tagung verlesen.142 Um welche Kritik handelte es sich?
Im Januar 1963 hatte Barth ein Vorwort („An Introductory
Report“) für die Publikation der von ihm betreuten Dissertation
von Alexander J. McKelway über Tillichs „Systematic Theology“143
verfasst und diesen Text Gollwitzer zugesandt. Barth hatte seinem
Doktoranden empfohlen, Tillich in optimam partem zu interpretie-
ren. McKelway seinerseits hatte die Dissertation unter Tillichs Mit-
hilfe verfasst. So hatte ihm Tillich eine Fotokopie des Manuskripts
des noch nicht erschienenen 3. Bandes seiner „Systematic Theology“,
aber auch weiteres Material großzügig zur Verfügung gestellt.
Barths „Vorwort“ ist mehr als ein „Vorwort“. Es ist eine sich
auf die Dissertation stützende kritische Stellungnahme zu Tillichs
System. Doch er hebt hervor, dass McKelway mit Recht die Chri-
stologie als das Zentrum der Theologie Tillichs gewürdigt hat. Er
ist glücklich darüber, dass er sich in seinem Urteil über Tillich an
Phil. 1,18 erinnert hat.
Doch macht Barth auch ernste Bedenken geltend gegen Tillichs
Methode der Korrelation. Sein Vorwurf lautet: Die theologischen
Antworten werden in Tillichs System nicht allein der Bibel entnom-
men, sondern mit gleichem Gewicht auch der Kirchen-, Kultur- und
Religionsgeschichte. Da sie abhängig seien von ihrer Beziehung zu den
philosophischen Fragen, stelle sich die Frage, ob sie nicht ebenso gut
(oder vielleicht noch besser?) als Philosophie gelten könnten. Darf
man diese theologischen Antworten, so fragt Barth, in das Schema
der Korrelation hineinpressen, ohne dass ihr „biblischer Inhalt“ in
jedem Falle Schaden erleidet? Ist der Mensch mit seinen philosophi-
schen Fragen für Tillich nicht „der Anfangspunkt der Entwicklung
der ganzen Methode der Korrelation“?144 Ist der Mensch, indem er
von sich aus weiß, welche Frage er zu stellen hat, nicht schon im
Besitz der Antwort und ihrer Konsequenzen? Sollten die theologi-
142
Ebd.
143
A.J. McKelway, The Systematic Theology of Paul Tillich. A Review and
Analysis (Diss. Theol. Basel 1963), Richmond, Virginia, 1964. Karl Barths
„Introductory Report“ dort auf. S. 11-15.
144
„Is man with his philosophical questions, for Tillich, not more than simply
the beginning point of the development of this whole method of correlation?“
(ebd., S. 13).
LXVII
schen Antworten, so gibt Barth zu bedenken, nicht als fundamentaler
betrachtet werden als die philosophischen Fragen „and as essentially
superior to them“?145 So betrachtet, sollte die Theologie nicht von
einem philosophisch verstandenen Subjekt zu einem „göttlichen“
Objekt fortschreiten, sondern von einem theologisch verstandenen
Objekt als dem wahren Subjekt zu dem menschlichen Subjekt und
also vom göttlichen Geist zum Leben und vom Reich Gottes zur
Geschichte. Ein solches Vorgehen würde doch das Konzept der
Korrelation nicht verderben, es würde aber den biblischen Sinn des
„Bundes“ für die Korrelation in Anwendung bringen. Doch diese
Anwendung sei Tillich nicht bekannt. Die Korrelation soll sich also
am biblischen Bundesbegriff orientieren, die Erkenntnisordnung an
der Seinsordnung.
Tillich ging auf diese Einwände Barths, so wird berichtet, Punkt
für Punkt ein. Ob die Behauptung, von Barths Kritik sei „kaum etwas
übrig geblieben“146, zutrifft, muss bezweifelt werden. Der Dissens
zwischen beiden, der auch Tillichs Berliner Vorlesungen und Vorträge
der Nachkriegszeit durchzieht und in ihnen immer wieder sichtbar
wird, blieb unaufgelöst – jedenfalls für Karl Barth.
Wenige Tage nach der Ostberliner Diskussion, am 1. Dezember,
besuchte Tillich von Zürich aus, wo er als Gastprofessor Gerhard
Ebeling vertrat, Karl Barth in Basel. Über ihre Begegnung – es war
die letzte – schrieb Barth an Tillich: „Es ist zweifellos ein Phänomen
ganz eigener Ordnung, dass wir uns menschlich so heiter und gut
verstehen können, sachlich aber – hüten Sie sich wohl, mir eine
Synthese anbieten zu wollen: Sie würden mich damit in meiner
Sicht nur bestätigen können! – so von Grund aus widersprechen und
widerstehen müssen.“147
145
Ebd.
146
So die Behauptung von Erik Schmidt in: GW XIII, S. 581.
147
Karl Barth an Paul Tillich, 3.12.1963, in: Karl Barth, Briefe 1961-1968, hg.
von J. Fangmeier und H. Stoevesandt, Zürich 1975, S. 220.
LXVIII
1.
Ontologie
(Freie Universität Berlin, Sommersemester 1951)
1. Vorlesung
(Montag, 21. Mai 1951)
Es sind zwei Dinge, die aus der Disposition1 ersichtlich sind: einmal,
dass ich nicht historisch, sondern systematisch verfahren will, also
keine Geschichte der Ontologie und keine ontologischen Texte mit
Kommentar lese2, sondern Versuche zu einer konstruktiven Onto-
logie. Das ist ein großes Wagnis und offen für unendliche Kritik.
1
Tillich hatte die oben stehende Disposition zu Beginn der Vorlesung dik-
tiert.
2
lese = zum Gegenstand der Vorlesung mache
1
Aber ich glaube, dass es wichtiger ist, dass wir das einmal versuchen
zu machen, was vergangene Generationen in so grandioser Weise
gemacht haben, und ich bin der Überzeugung, dass die Irrtümer
unserer und die der vergangenen Generationen vielleicht immer noch
lehrreicher sind, als wenn wir einfach berichten, was andere gesagt
haben, ohne die Wahrheitsfrage direkt zu stellen. Das ist das eine.
Das andere ist, dass ich nicht glaube, dass die Bewegung der
Existentialphilosophie eine Modesache ist oder die Angelegenheit
von etwas dekadenten Geistern, sondern dass sie eine Bewegung ist,
die spätestens mit Pascal begonnen hat, nämlich in dem Moment,
in dem die industrielle Gesellschaft in die Wirklichkeit getreten ist,
und dass sie der konstante Angriff auf die Formen des Lebens und
Denkens der bürgerlichen Gesellschaft ist. Ich muss meinen ameri-
kanischen Studenten, die von Existentialismus vor Kriegsende nichts
wussten und die infolgedessen nur an Sartre in Frankreich denken,
wenn sie davon hören, diese Rede mit noch viel größerem Nachdruck
halten als Ihnen. Ich weiß aber, dass zur Zeit die Versuchung überall
besteht, das Wort „Existentialismus“ auf Sartre einzuschränken und
zu glauben, dass er der eigentliche Repräsentant ist. Ich schätze ihn
höher, als er gewöhnlich geschätzt ist, weil ich das Glück habe, sein
eigentlich philosophisches Buch zu besitzen (L’être et le néant), was
nicht leicht war in Amerika für lange Zeit, und ich schätze ihn als
Philosophen recht hoch. Für Sie ist das Ganze sehr viel einfacher,
weil Sie durch Jaspers und Heidegger selbst im Ersten Weltkrieg ein-
geführt worden sind und zwei Philosophen damit haben, die uns ja
allen irgendwie in Fleisch und Blut übergegangen sind. Das bedeutet
nicht, dass ich mich Ihnen vorstelle als ein neuer Existentialist. Ich
habe meine großen Vorbehalte und werde darauf zurückkommen.
Aber Sie werden sehen, dass ich kein einziges ontologisches Pro-
blem behandele, in dem nicht der Einfluss des Existentialismus zu
spüren ist.
Nun möchte ich noch etwas vorwegnehmen, nämlich für diejeni-
gen, die am Seminar teilnehmen, in dem ich in den vier Sitzungen,
die ich nur habe, dem großen Rahmen des Kollegs folgend, folgen-
de Hauptthemen zur Diskussion stellen möchte. Die erste Sitzung
möchte ich ungefähr nennen: Die Möglichkeit und die Grenze der
Ontologie, Erkenntnis und Partizipation. Ich möchte in dieser ersten
Sitzung erst eine Vorlesung halten über ein Thema, über das ich neu-
lich im Kreis der Kollegen in Amerika geredet habe, über „Erkenntnis
2
und Partizipation“.1 Man kann „participation“ mit „Teilhaben“ oder
„Teilnehmen“ übersetzen, ich habe aber lieber das lateinische Wort,
weil es nicht falsche Bei-Bedeutungen hat. In der zweiten Sitzung
möchte ich reden über die ontologischen Polaritäten und die Struktur
des Seienden, in der dritten vor allem über die kategoriale Struktur
des Seienden, d. h. praktisch bei mir die Frage der Zeit; in der vierten
über den Begriff der Endlichkeit und das existentielle Problem, die
eigentliche Problematik der Angst.
Es ist erstaunlich, wie in einem Lande, das so wenig Grund zur
Furcht hat, während Sie so viel Grund zur Furcht gehabt haben und
noch haben, das Problem der Angst immer mehr in den Vordergrund
getreten ist, so dass an manchen Universitäten, wenn dieses Problem
der Angst in einer Vorlesung gestellt wird, Amerika in seinen wesent-
lichen Vertretern einfach da ist und leidenschaftlich sich interessiert.2
Und es ist ein erstaunliches Erlebnis, das vor 17 Jahren, als ich nach
Amerika kam, in keiner Weise zu denken gewesen wäre. Damals
gab es noch kein Wort für Angst, jetzt wird „anxiety“ in diesem
Sinn gebraucht. Da hat sich eine Entwicklung vollzogen, auf die ich
aufmerksam machen möchte, und darum soll die letzte Sitzung den
Titel haben: Endlichkeit und existentielles Problem.
Für heute möchte ich über die Frage mit Ihnen reden, was eigentlich
Ontologie ist. Der gewöhnliche Begriff ist ja „Metaphysik“, und ich
bin sehr froh, dass Herr Braune3 – ich nehme an, auf Grund seiner
Begegnung mit mir in Amerika, wo er von den Dingen gehört und
gesehen hat, die ich da machte – die Vorlesung angekündigt hat nicht
als „Metaphysik“, sondern als „Ontologie“. Der Grund dafür ist,
dass das Wort „Metaphysik“ noch nicht wieder aus dem Stadium
1
Vorlesung über „Knowledge and Participation“ am Union Theological Semi-
nary in New York am 30. April 1951. Zuvor hatte Tillich über dieses Thema
im Philosophy Club, New York, gesprochen (Mitteilung von Peter John,
Typoskript Paul Tillich, Academic Lectures, S. 9). Vgl. auch Syst. Theol. I,
S. 114-121 sowie den Aufsatz Participation and Knowledge. Problems of
an Ontology of Cognition, in: Sociologica. Aufsätze, Max Horkheimer zum
sechzigsten Geburtstag gewidmet, Frankfurt a. M., 1955, S. 201-209; deutsch
in: GW IV, S. 107-117.
2
Vgl. dazu Tillichs Rundbrief vom 14. März 1950, in: EW V, S. 325 f. Darin
erwähnt er seine zuvor gehaltenen Vorträge über „The Theology of Anxiety“
und über „The Theology of Despair“. Im Oktober 1950 hatte er an der Yale
University die Terry Lectures über „The Courage to Be“ gehalten.
3
Walther Braune, Schüler des Orientalisten C. H. Becker, Prof. für Orientalistik
und Direktor des Religionswissenschaftlichen und Islamwissenschaftlichen
Instituts der Freien Universität Berlin bis 1970 (s. o., S. XXVf.).
3
der Verwundung in das Stadium der Gesundheit übergegangen ist.
Ich habe sowohl, als ich noch vor zwanzig Jahren hier in Deutschland
unterrichtete, wie auch in Amerika die Erfahrung gemacht, dass nicht
nur Menschen gerettet werden müssen, sondern dass auch Begriffe
gerettet werden müssen, weil Begriffe genauso verfallen wie Menschen,
und es ist eine der interessantesten Beobachtungen, den Begriffszerfall
zu beobachten und sich zu fragen, wie aus einem Prozess des Begriffs-
zerfalls, besser -verfalls, Begriffe wieder gerettet werden können.
Besonders in meiner theologischen Arbeit habe ich das erfahren. Dort
ist ja der Zerfall geradezu so grotesk, dass bei manchen Begriffen ich
ohne weiteres sage: Keine Operation kann zur Zeit helfen, und darum
ersetze man sie durch andere Begriffe. In manchen Fällen können
Operationen helfen. Ich glaube, was „Metaphysik“ betrifft, dass Ope-
rationen augenblicklich nicht helfen können. An sich wissen Sie ja alle,
dass „Metaphysik“ die Bücher von Aristoteles sind in der Sammlung
seiner Schriften nach den Büchern über Physik. Daher ist das Wort
unendlich harmlos, aber leider hat die Silbe „meta“, die mit „nach“
übersetzt werden kann und mit „dahinter“, eine Nebenbedeutung, die
das ganze Unheil hervorgerufen hat. Man hat nämlich Metaphysik mit
der Statuierung einer Hinterwelt identifiziert, einfach mit „Suprana-
turalismus“ übersetzt und also auf diese Weise das „meta“ aufgefasst
als die Konstruktion einer Welt, die sich der Erfahrung entzieht und
die jenseits der erfahrungsgegebenen Welt liegt.
Der ganze Hass gegen die Metaphysik ist nicht ganz, aber doch
zum Teil begründet in dieser Art und Weise der Auffassung von Me-
taphysik. Das Erste, was man also tun muss, ist das, was Aristoteles
getan hat, sie in anderer Weise zu benennen, nämlich zu übersetzen
mit „erster Philosophie“, d. h. Philosophie, die die ersten oder Grund-
begriffe besitzt; oder dass man sie identifiziert mit Ontologie, weil
immer und unter allen Umständen Sein der erste und fundamentalste
Begriff ist. Das heißt, Metaphysik bedeutet unter diesen Umständen
die Lehre von den grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit, von
denjenigen Strukturen, die in jeder Erfahrung vorhanden sind und
die infolgedessen in jeder Erfahrung vorausgesetzt werden. Damit
ist diese supranaturalistische Missdeutung der Metaphysik beseitigt;
aber da das Wort so verfallen ist, schlage ich vor, dass wir dafür den
Begriff „Ontologie“ gebrauchen. Jemand von Ihnen, der Heidegger
kennt, besonders seine späteren Schriften, wird mir vielleicht ent-
gegenhalten, dass man dies nicht einfach tun könne, sondern dass
Metaphysik etwas Schlechtes und Ontologie etwas Gutes ist, dass
4
Metaphysik der Verfall der Ontologie sei. Ich glaube, dass Heidegger
hier einen grundlegenden Irrtum machte, und werde darauf später zu
sprechen kommen, vielleicht im Seminar. Auf alle Fälle glaube ich,
dass wir zur Zeit das Wort „Ontologie“ benutzen müssen.
Es gibt ein anderes Wort, das erfunden ist zum Zwecke der Be-
schimpfung der Metaphysik, nämlich das Wort „Spekulation“. Auf
die amerikanischen Seelen wirkt es wie das schlimmste aller roten
Tücher. Darum ist auch das wieder ein Wort, das man nicht ver-
wenden kann. Meine Studenten in Amerika sind oft sehr erstaunt,
wenn ich ihnen mitteile, dass „Spekulation“ kommt von speculari:
auf etwas gucken, und nicht von: träumen. In Wirklichkeit bedeutet
es: genau beobachten. Aber auch hier wieder ist es so, dass das Wort
eben in eine Art Verfall geraten ist und dass infolgedessen es besser
ist, das Wort nicht zu gebrauchen.
Aber dann fragt sich, welches Wort?, und da bietet sich ein zweites
Wort an, das zwar nicht verfallen, aber außerordentlich umstritten
ist, nämlich das Wort „Intuition“. Hier ist es wieder dasselbe, dass
„Intuition“, intueri eigentlich bedeutet: auf etwas hinsehen, aber
mit einer kleinen Nuance über speculari hinaus. Intueri heißt: in
hineingucken, in die Sache hineingucken; es hat einen etwas intensi-
veren Sinn, etwas von dem Sinn, den ich vorhin als „Partizipation“
bezeichnet habe, und darum ist es ein Wort, das obgleich es einige
Beschädigungen erlitten hat, doch so wertvoll ist, dass ich es noch
nicht aufgeben möchte. Zunächst einmal kann es also bedeuten: hi-
neingucken, wie Dinge sich benehmen, und kann dann in Gegensatz
gestellt werden zu „reflektieren“. Das ist eine alte Entgegenstellung
aus der Zeit des deutschen Idealismus, die an sich sehr geistreich
ist, denn das Wort „Reflexion“ heißt ja: von einem Spiegel zurück-
geworfenwerden; d. h. es setzt voraus eine vollständige Trennung
von Subjekt und Objekt, wobei das Subjekt der Spiegel ist, nämlich
wir, und das Objekt, die Gegenstände außerhalb sind. Der Spiegel
nimmt in keiner Weise an den Dingen teil, die er spiegelt, und diese
Art von Reflexionsdenken hat den Charakter, dass man von den
Dingen getrennt ist, dass man sie zwar beobachtet, aber in keiner
Form an ihnen teilnimmt. Dieser Begriff, „Partizipation“, scheint
mir in einer besonderen Weise im Zentrum der Ontologie zu stehen.
Intuition tut etwas anderes als Reflexion, spiegeln, sie nimmt teil an
dem Gegenstand als solchem, sie geht in den Gegenstand hinein, und
aus dieser Tatsache haben sich die Schwierigkeiten mit diesem Wort
ergeben. Wenn man das Wort „Intuition“ in Amerika gebraucht, dann
5
haben die Hörer, besonders die Kollegen, das Gefühl, man wolle sich
der bewahrheitenden oder befalschheitenden Kritik entziehen, man
wolle sich nicht einem Kriterium unterwerfen, sondern man habe eine
Art mystischer Intuition, und damit hört die Kritik auf. Und darauf
reagieren natürlich alle ernsthaft Philosophie Treibenden wild, und
ich auch. Die Frage ist: Kann das Wort „Intuition“, wie es z. B. von
Heidegger gebraucht wird, so missbraucht werden? (Hinweis auf
„Intuition“ bei Anthroposophen).
Daher muss man auf der Hut sein. Aber ist das nötig? Ist es
nicht möglich zu denken, dass es Gegenstände gibt, in denen die
Reflexion sekundär ist, die jeder Reflexion vorausgehen? Wenn es
so etwas gäbe, dann würde es dasjenige sein, was wir als Intuition
bezeichnen müssen, und nun glaube ich allerdings, dass es so etwas
gibt, dass es eine unmittelbare erfahrungsmäßige Wahrnehmung gibt
von Formen, die in jeder Wahrnehmung vorhanden sind, und das
wäre die Aufgabe der Ontologie.
Aber ehe ich weiter in dieser Richtung gehe, lassen Sie mich ein
Wort gebrauchen, das für Sie wichtig ist, wenn Sie englische Phi-
losophen lesen: discourse. Das bedeutet im Grunde „reflektierende
Diskussion“. Es ist ein sehr interessantes Wort, heißt eigentlich „aus-
einander rennen“. Eine Methode, die diskursiv ist, hat den Charakter,
die Dinge so zu sehen, dass man die Einzelheiten aufnimmt, dass
man in alle Richtungen blickt und dass man die Einheit nicht sieht,
und darum ist das große Problem für amerikanische Philosophen die
Frage der Einheit. Die Intuition geht auf die vorgegebene Einheit,
das diskursive Denken geht auf die abgeleitete Mannigfaltigkeit. Es
ist die Größe der gestaltphilosophischen Bewegung, die übrigens in
Amerika so sehr eingeführt ist, dass das deutsche Wort „Gestalt“
ein Fremdwort geworden ist (wofür eventuell „structure“ gebraucht
wird, was aber faktisch nicht geht). Intuition ist nicht diskursiv und
nicht reflexiv, sie spiegelt nicht nur, sondern sie nimmt teil. Intuition
sieht nicht nur die Einzelheiten, sondern ihren Grund, das Ganze.
Nun fragen Sie mich, und das ist vielleicht wieder eine Frage,
die in Amerika noch dringender gestellt wird als hier: Wie verhält
sich nun Wissenschaft zur Metaphysik oder Ontologie? Ich nehme
das vorweg; das ist schon deswegen nötig, weil bei Husserl der
Begriff „wissenschaftliche Philosophie“ zu finden ist.1 Das ist eine
1
E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos 1, 1911, S. 289-
341.
6
Wortverbindung, die sich ja sehr häufig findet. Was ist denn das
für ein Ding? Der Einzige, der meiner Meinung nach eine richtige
Antwort auf diese Frage gegeben hat, ist Heidegger, der sagt, es sei
ein runder Zirkel.1 Das, was Wissenschaft überhaupt erst ermöglicht,
ist nämlich die Rundheit. Nun benutzt man dies, um den Kreis zu
definieren. Das kann man nicht machen, sondern man muss sich
ganz klar darüber sein, dass der Fundamentalbegriff „Philosophie“
und nicht „Wissenschaft“ ist. Was Wissenschaft ist, entscheidet die
Philosophie und nicht umgekehrt. Philosophie entscheidet, was Wis-
senschaft bedeutet. Wie könnte Wissenschaft das selber tun, da sie
ja gerade nicht über sich, sondern über ihre Gegenstände nachdenkt
und über unendlich mannigfaltige Gegenstände. Auch hier für Ihre
englische Lektüre eine Bemerkung. Das Wort „science“ ist keine
eigentliche Übersetzung des deutschen Wortes „Wissenschaft“, es
ist immer Naturwissenschaft und darauf beschränkt. Erst in den
letzten Jahrzehnten ist es langsam gelungen, dem Wort „science“ eine
darüber hinausgehende Bedeutung zu geben. Vor allem die Kultur-
wissenschaften wie Psychologie und Soziologie haben sich erlaubt,
das Wort „science“ für sich in Anspruch zu nehmen. Für Dinge wie
Philosophie und Theologie geht es auch heute noch nicht. Es gibt kein
entsprechendes Wort für „Wissenschaft“, man kann sagen „scholarly
approach“, was wiederum sehr interessant ist. Das bedeutet, dass
der Begriff der methodischen Untersuchung vollkommen von der
Naturwissenschaft monopolisiert ist und dass die anderen irgend-
wie um ihre Existenz ringen müssen, als ernsthafte Wissenschaften
anerkannt zu werden. Was im Deutschen „Wissenschaft“ ist, würde
bedeuten „methodisch produziertes Wissen“. Das ist vielleicht die
einfachste Übersetzung davon.
All diese Wissenschaften, die Naturwissenschaft, Geschichte und
alles andere, nehmen ihre Grundbegriffe als garantiert, sie werden
vorausgesetzt. Nehmen Sie einmal einen sehr antimetaphysischen,
antiphilosophischen Naturwissenschaftler oder Soziologen oder so-
gar Theologen. Sie werden ungefähr auf jeder Seite, die er schreibt,
folgende Worte finden: Welt, Subjekt, Objekt, Gestalt, Struktur,
1
„So müssen wir den Kreisgang vollziehen. Das ist kein Notbehelf und kein
Mangel. Diesen Weg zu betreten, ist die Stärke, und auf diesem Weg zu bleiben,
ist das Fest des Denkens, gesetzt daß das Denken ein Handwerk ist. Nicht
nur der Hauptschritt vom Werk zur Kunst ist als der Schritt von der Kunst
zum Werk ein Zirkel, sondern jeder einzelne der Schritte … kreist in diesem
Kreise“ (M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M., 1950, S. 8).
7
Ursache, Ding, Zeit, Geschichte, Erkenntnis, Wahrheit, gut, schlecht
usw. Nun, nehmen Sie sich den Herrn vor, so sagt er Ihnen auf der
ersten Seite, wie völlig metaphysikfrei alles ist, was er da tut. Von
der zweiten Seite an sind aber alle diese Begriffe da. Jetzt fragen Sie
ihn: In welchem Sinne gebrauchen Sie diese Begriffe? Dann hat er nur
zwei Antworten, die eine, das ist, wenn er stottert, wenn er ehrlich
ist; die andere: Das weiß ja jeder, was das bedeutet, was soll ich mich
damit ärgern? Aller Fortschritt besteht aber darin, dass man nicht
mehr weiß, was es bedeutet (Beispiel Einstein …). Die Wissenschaften
sind in jedem Augenblick abhängig von der Philosophie, und wenn
sie diese Abhängigkeit nicht anerkennen, sind sie abhängig von einer
vorgestrigen Philosophie, und das ist, was ich den antiphilosophi-
schen Theologen (es gibt ja einige sehr große Namen da, die ich nicht
zu erwähnen brauche!) dauernd sage: Wenn Sie die Philosophie nicht
ernst nehmen, sind Sie abhängig von der Philosophie von vorgestern,
was wir nicht machen sollten. Daher ist Ontologie heute genau so
wichtig wie zur Zeit des Aristoteles.
Wie steht es mit diesen Begriffen? Wie kann man sie finden und
wie kann man sie entdecken? Zunächst einmal hat ja die Einteilung
klar gemacht: Man kann sie nicht entdecken in einer übernatürlichen
Welt, in einer mystischen Welt, sondern sie sind mehr gegenwärtig
als irgendetwas anderes in der ganzen Welt. Wir sind dauernd in
der Realität von Zeit, Raum, Ursache und Substanz, von Selbst
und Welt, von Form und Dynamik, von Freiheit und Schicksal.
Diese Dinge sind nicht etwas, was weniger gegeben ist, wenn man
von der Philosophie der Gegebenheiten ausgeht, sondern was mehr
gegeben ist, es ist die Gegebenheit von allem. Sie sind gegenwärtig
nicht nur in einer besonderen Erfahrung, sondern gegenwärtig in
allen Erfahrungen. Aber nun muss ich doch denen, die Angst vor
der Ontologie haben, Recht geben: Gerade weil sie das sind, das am
universalsten Gegenwärtige sind, sind sie zugleich das Verborgenste,
weil sie in keinem besonderen Objekt manifest sind, sondern nur
durch andere Objekte. Sie können niemals von Zeit reden, nur von
unserer Zeit, der geschichtlichen Zeit, der animalischen Zeit, der Er-
wartungszeit1, können immer nur von Zeit reden in Zusammenhang
von Lebensprozessen. Abgesehen von den Lebensprozessen, wissen
wir von den Grundbegriffen nichts, und das ist die Beobachtung
1
Vgl. dazu Tillichs Frankfurter Vorlesung „Geschichtsphilosophie“ von
1929 / 30, in: EW XV, S. 9-71.
8
der Metaphysik. Aristoteles sagt mit Recht, dass der Seinsbegriff
das Schwerste und Geheimnisvollste ist und dass das die größten
Aporien zur Folge hat, die „Weglosigkeiten“.1 „Aporie“ ist mehr
als „philosophisches Problem“. Das Wort weist auf eine wesenhafte
Not, in der unser Denken sich immer befindet und über die es nie
hinausgeht, und das Schönste in Heideggers Schrift ist das, was er
über die Ausweglosigkeit sagt.
D. h. Metaphysik beschäftigt sich mit allem, aber nicht mit allem
als solchem, sondern mit allem als Manifestation dessen, was in allem
erscheint, nämlich mit der grundlegenden Struktur der Wirklichkeit,
mit der Struktur von Sein selbst. Esse ipsum, wie es die Scholastiker
genannt haben. Darum kann man auch sagen, Ontologie bemüht sich
um Dinge, die nicht weniger Gegenstand der Erfahrung sind als ande-
re, sondern mehr, es sind nämlich diejenigen Elemente, die Erfahrung
möglich machen. Ich könnte es in einem etwas paradoxen Ausdruck
so nennen, dass Ontologie begründet ist auf der Erfahrung, mit der
die Erfahrung sich selbst erfährt. Immer ist es nicht ein Gegenstand,
den die Erfahrung erfährt, sondern die Erfahrung erfährt sich selbst,
und das macht Ontologie möglich. Sie wissen, dass Erfahrung und
Metaphysik oft in einen Gegensatz gestellt worden sind, und kennen
das ozeanische Hochfluten- und Springflutenphänomen in Amerika,
nämlich dass das Wort „Erfahrung“ einfach alles verschlingt, dass es
anstelle von Sein gesetzt wird, dass es überhaupt nur Erfahrung gibt.
Das macht es nötig, dass man einmal die Frage stellt: Wie verhält
sich Ontologie zur Erfahrung?
Ontologie kann definiert werden als die Erfahrung der Erfahrung
selbst. Das bedeutet eine Umkehrung der Sicht in der Erfahrungs-
philosophie. Im Pragmatism guckt man immer auf die Objekte, aber
nie auf das Gucken, auf den Akt des Sehens oder des Erfahrens
selbst. Und das ist das, was die Ontologie tut und immer tun soll.
In einer Welt, in der es nur Steine gibt, da sieht keiner auf etwas.
Aber nun findet das Phänomen statt, dass ein Wesen da ist, das die
Möglichkeit hat, sich auf andere Wesen in der Form des Hinsehens
zu verhalten – das ist ein ungeheures Phänomen, und das steht hinter
1
Tillich bezieht sich hier auf das von Heidegger in „Sein und Zeit“ vorangestellte
Zitat aus Plato, Sophistes 244a: „Denn offenbar seid ihr doch schon lange
mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ‚seiend‘
gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir
in Verlegenheit gekommen (ºpor»kamen).“
9
aller Metaphysik, nämlich das Sehen des Sehens, das Erfahren des
Erfahrens, das Gewahrwerden dessen, was vorgeht, wenn ich auf
die Wirklichkeit sehe. Wir dürfen also Ontologie als Erfahrung, die
sich selbst erfährt, definieren, und nun komme ich zurück auf das,
was ich über Intuition gesagt habe. Wir können jetzt besser verste-
hen, was Intuition heißt. Es heißt nicht, sich neben anderen Dingen
noch mit dem Sein beschäftigen, sondern es ist ein Zurückgehen,
eine Wendung. Die Erfahrung, die sich selbst erfährt, das ist das,
wo Intuition eine sinnvolle Stelle hat.
Für gewöhnlich sind Subjekt und Objekt getrennt, das Subjekt
sieht auf das Objekt. In dem, was wir Ontologie nennen, was wir
definiert haben als die Erfahrung, die sich selber erfährt, haben wir
einen Begriff von Intuition, der einfach bedeutet: Hinzeigen auf das,
was immer vor sich geht, wenn wir eine Erfahrung machen, und dies
zum Gegenstand einer logischen Analyse machen. Diese Elemente
sind immer da, da sie in jedem Moment gegenwärtig sind, und es ist
nach meiner Meinung das Hauptverdienst der Phänomenologischen
Schule seit Husserl, dass sie im Anschluss an Plato, Aristoteles,
Augustin, Thomas, Kant wieder aufmerksam gemacht hat auf die
Phänomene des unmittelbaren Gewahrwerdens jener Strukturen, die
jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt liegen, die in jedem
Moment vorausgesetzt sind, wo wir eine Erfahrung machen.
10
2. Vorlesung
(Dienstag, 22. Mai 1951)
Die erste Stunde, gestern, hat die Frage gestellt: Was bedeutet On-
tologie, und wie ist Ontologie zu unterscheiden oder nicht zu un-
terscheiden von Metaphysik, von Wissenschaft, von allgemeiner
Sinngebung des Lebens? Ich hatte versucht, einige Antworten auf
diese Fragen zu geben. Nun möchte ich der Klasse gleich mitteilen:
Das Erste, was ich im Seminar gelernt habe, ist, dass Ontologie
von gewissen philosophischen Richtungen in besonderer Weise in
Anspruch genommen wird, und zwar wurde mein alter Kollege
Nicolai Hartmann als derjenige genannt, für den das Wort „On-
tologie“ gleichsam in besonderem Maße zutreffend ist. Ich möchte
darum gleich bemerken, dass ich [den Begriff] „Ontologie“ nicht in
irgendeinem schulmäßig begrenzten Sinn in dieser Vorlesung gebrau-
che, sondern in der denkbar größten Allgemeinheit, nämlich als die
Frage nach dem Sein, nach seiner Struktur, nach seinen Elementen,
nach dem, was in jeder Erfahrung immer schon vorausgesetzt ist.
Weiter habe ich im Seminar gelernt, dass das Wort „Metaphysik“
in Deutschland, und ich nehme an, das gilt wohl auch für das ganze
kontinentale Europa, nicht mehr das rote Tuch ist, das es noch vor
zwanzig Jahren war, und dass infolgedessen ich mich nicht zu scheuen
brauche, mich gelegentlich zu versprechen und statt „Ontologie“
„Metaphysik“ zu sagen, weil ich nicht glaube, dass ein sachlicher
Unterschied besteht. Und zwar glaube ich, dass Heideggers Versuch,
eine solche Unterscheidung vorzunehmen, unbegründet ist. Vielleicht
ist es gar nicht schlecht, diese Unterscheidung als Ausgangspunkt zu
dem Thema der heutigen Stunde, nämlich: Was ist nun eigentlich die
ontologische Frage? zu nehmen.
In seinen letzten Schriften, die sich in manchem sehr deutlich
von seiner ersten großen Schrift „Sein und Zeit“ unterscheiden, hat
Heidegger die Geschichte der Metaphysik kritisiert und zwar von
Plato zu Nietzsche und hat versucht, nach Zerstörung oder Nicht-Zer-
störung, aber sagen wir Infragestellung dieser ganzen Entwicklung,
zurückzugehen auf die Vorsokratiker und bei den Vorsokratikern
etwas zu finden, was er dann Ontologie nennt im Unterschied zu
Metaphysik. Was ist der Unterschied, den er da macht? Für ihn ist
Metaphysik in gewisser Weise eine der vielen Ausdrucksformen der
menschlichen Verfallenheit, nämlich der Tatsache, dass der Mensch
sich vom Sein als solchem entfernt hat und sich auf das Seiende be-
11
zieht, die seienden Dinge und die allgemeinen Arten und Formen der
seienden Dinge. Er betrachtet die platonische Idee oder Essenz, wie
wir wohl besser übersetzen, als allgemeine Arten des Seienden, und
er meint, dass diese allgemeinen Arten des Seienden dasjenige sind,
was in dieser langen Entwicklung von Plato zu Nietzsche als Wesen
des Seins formuliert worden ist, und nun versucht er zu zeigen, dass
damit zwar über das Sein etwas ausgesagt ist, aber gerade nicht das
Eigentlichste und Wesentlichste, was das Sein ist, abgesehen vom
Seienden, von den Dingen, die sind, und ihren allgemeinen Arten
und Formen.
Nun kann man die Frage stellen: Gut, wir wollen dir zugeben,
dass das so ist, dann bitte sage uns, was kann man über das Sein
sagen? Nun beginnt seine Not, und diese Not, die er selber fühlt,
hat er zum Ausdruck gebracht bewusst mit dem Titel seines Buches
„Holzwege“1, nämlich Wege, die zwar Wege sind, die aber nirgend-
wohin führen, sondern die ins Unwegsame führen. Wenn man liest,
was er über das reine Sein sagt, das nun befreit ist von allem Seienden,
dann findet man – und ich möchte dieses Bild, das mir selber neulich
kam, als ich darüber zu sprechen hatte, auch hier ausdrücken: Mir ist
zumute, wenn ich seine letzten Sachen lese, es ist, als ob er um einen
heiligen Berg herumginge; dieser heilige Berg ist in Nebel gehüllt,
und er kreist dauernd um ihn herum, und jedes Wort, das er sagt,
ist ein Versuch, über den heiligen Berg, um den er herumgeht und
der im Nebel liegt, etwas auszusagen. Aber in dem Augenblick, wo
er etwas aussagt, muss er ja das Aussagematerial aus der Landschaft
nehmen, die sichtbar ist, die den heiligen Berg umgibt, d. h. in dem
Augenblick, wo er ontologisch werden will, sprechen will, wo er
das Wort gebrauchen will, wird er selber wieder zum Metaphysiker,
und um dies zu verhindern, gebraucht er dann Worte, die viel mehr
an das erinnern, was die alten Mystiker gestammelt haben und
zwar bewusst gestammelt haben, oder was man in der Theologie
als theologia negativa bezeichnet hat (wo jedes Wort immer gleich
zurückgenommen wird). Aus diesem Grunde glaube ich, dass Hei-
degger vor der Alternative steht, entweder zum Mystiker zu werden,
zu einem Vertreter der großen klassischen Linie der rein negativen
Theologie, oder dass er eine andere Metaphysik schaffen muss. Vor
dieser Alternative steht er, und wie er sich entscheiden wird, wissen
wir nicht. Ich hätte auf ihn nicht Bezug genommen, wenn ich nicht
1
M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950.
12
geglaubt hätte, dass in dem, was in Heidegger vor sich geht, ein
Ereignis vor sich geht in der Geschichte der Philosophie, an dem
wir teilnehmen und auf das man in künftigen Zeiten zurückblicken
wird als ein wirklich erstklassiges philosophisches Ereignis, in dem
ein neuer Schritt gemacht ist, auch wenn es ein Schritt ins Unweg-
same war, ein neuer Versuch gemacht ist, auch wenn er gescheitert
ist. Nun, das mögen Sie sozusagen als eine Präambel betrachten zu
dem, was ich nun direkt zur Sache sagen möchte.
Die Frage der Möglichkeit einer ontologischen Erkenntnis, d. h.
die erkenntnistheoretische Frage ist, wie es diejenigen gestern im
Seminar und wohl mit Zustimmung der meisten, die da waren, aus-
gedrückt haben, eine sekundäre Frage aus dem einfachen Grunde,
weil episteme, Erkennen, Wissen, Wissenschaft Vorgänge innerhalb
der Sphäre des Seins sind, so dass also, was immer man über sie
aussagt, man zunächst einmal etwas aussagen muss über das Sein
selbst, von dem sie ein Teil sind. Das einzige Erkenntnistheoretische,
was ich noch einmal betonen möchte, weil es unnötige Angriffe auf
Ontologie und Metaphysik überflüssig macht, ist, dass wir den Ge-
genstand der Ontologie, nämlich das Sein, nicht jenseits des Seienden
suchen können – dann wäre es ja ein Seiendes neben den anderen
Seienden – , sondern dass wir es mitten im Seienden1 selber suchen
müssen. Wann immer wir der Wirklichkeit begegnen, dann begegnen
wir auch zugleich dem, was das Wirkliche wirklich macht, dem Sein
oder, wie ich es gestern ausdrückte, wann immer wir eine Erfahrung
machen, dann erfahren wir zugleich das Erfahren, in dem uns das
Sein gegeben ist. An keinem Punkte steigen wir über das Seiende
oder über die Erfahrung des Seienden in ein Überseiendes oder in ein
Übererfahrenes, in eine Hinterwelt, und ich glaube, dass Theologie
und Philosophie gleichmäßig Nietzsches Kampf gegen die Hinterwelt
in sich nehmen sollten. Dann würden wir bessere Theologie und
bessere Philosophie haben, besonders bessere Theologie, weil der
Theologe durch seinen Gegenstand immer in der Gefahr ist, das
Höhere als etwas aufzufassen, was hinter der Welt liegt, was einer
Sphäre angehört, die über dem Natürlichen liegt, anstatt etwas ganz
anderes zu sehen, nämlich dass das Göttliche, das Unbedingte, das,
was uns unbedingt angeht, eine Dimension des Natürlichen ist, die
Tiefendimension und nicht eine Welt neben der Welt, was ja auch
1
Korr. (Typ. GS: Sein)
13
diese Nebenwelt oder Hinterwelt zu einer anderen Welt machen
würde, aber nicht zu dem, was die Religion eigentlich meint.
Was bedeutet Sein? Das ist die erste und die letzte Frage dieses
Semesters, und es ist schade, dass es auch die erste sein muss, denn
es müsste eigentlich die letzte sein. Aber wir können nicht umhin,
mit ihr auch anzufangen, damit deutlich wird, was wir zu sagen
haben. Alle Philosophen haben die Erfahrung gemacht, dass unter
allen Begriffen der Seinsbegriff derjenige ist, der die größte unmit-
telbare Gewissheit und Selbstverständlichkeit hat und der, wenn er
in Begriffe gefasst werden soll, der schwierigste ist, derjenige, der
unendlich ausweglos bleibt, der den Charakter hat, dass er niemals
wirklich ins Wort gefasst werden kann. Der Grund dafür ist offen-
bar: Man kann Sein nicht definieren; denn um etwas zu definieren,
müsste man ja einen höheren Begriff haben, von dem das Sein ein
Unterbegriff wäre, und das ist offenbar unmöglich. Jede Definition
setzt etwas voraus, aber Sein kann ja nichts voraussetzen, denn dies
Vorausgesetzte wäre ja dann ein anderes Seiendes, und die Frage
würde wiederholt werden ins Unendliche. Auf der anderen Seite ist
nichts so selbstverständlich und natürlich und so unmittelbar wie
das Sein. Wann immer wir sagen, dass ein Ding ist oder so ist, dann
haben wir das Sein gegenwärtig, es ist das Allerkonkreteste, und
es ist zugleich das Allerungreifbarste. Darum möchte ich Sie gleich
vor einem Fehler warnen, der manchmal gemacht ist und zwar von
bestimmten philosophischen Richtungen: den Seinsbegriff als die
höchste Abstraktion aufzufassen. Man kann das natürlich auch
sagen, man kann sagen: Wenn man von allem abstrahiert, was ist,
dann bleibt noch übrig, dass es ist. Aber damit ist gar nichts gesagt,
sondern das Wesentliche im Seinsbegriff, das was die Vorsokratiker
schon begriffen, ist, dass er Ausdruck der ersten und fundamentalsten
Begegnung mit Wirklichkeit ist.
Wie kommen wir dazu, dem Sein zu begegnen innerhalb des
Seienden? Wie kommen wir dazu, dessen gewahr zu werden, dass
innerhalb des Seienden Sein ist? Die Antwort ist deutlich: Es ist
die Erfahrung des Nichtseienden, und diejenigen unter Ihnen, die
Heideggers Vortrag „Was ist Metaphysik?“1 kennen, die werden
wissen, wie wichtig der Begriff des Nichtseins für den Eingang in die
Ontologie von ihm genommen wird und nicht nur von ihm. Es ist
1
M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Bonn 1929, 6. verm. Aufl. Frankfurt a. M.
1951.
14
jetzt im Englischen ein Buch geschrieben worden über die existenti-
alistische Bewegung unter dem Titel: Encounter with Nothingness.1
Encounter with Nothingness, Begegnung mit dem Nichts, ist als das
Charakteristische von der ganzen Bewegung bezeichnet worden. Der
Verfasser Helmut Kuhn, zur Zeit in Erlangen. Das Buch gibt es in
Deutsch. Dieses Buch – ich halte den Titel für das Wichtigste, obgleich
viele gute Beobachtungen darin sind – zeigt, was da vor sich geht
in unserem Denken. Wir begegnen dem Nichts, und weil wir dem
Nichts begegnen, sind wir wieder imstande, dem Sein zu begegnen.
Nur darum, weil wir dem Nichts begegnen konnten, können wir
dem Sein begegnen.
Wie kommt es zu dieser Erfahrung des Nichts? Das kann in
vielfacher Weise beschrieben werden. Ich möchte es von einer Seite
her beschreiben, nämlich von der Seite, die dem wissenschaftlichen
Bewusstsein am nächsten liegt, von der Seite der Erwartung. Wenn
wir der Wirklichkeit begegnen, erwarten wir, dass uns irgendetwas
begegnet, wir warten auf jemand, auf das Eintreten einer Wetterän-
derung, eines Krieges, einer Reaktion, einen anderen Menschen. Und
was geschieht? Unsere Erwartung wird enttäuscht, das Erwartete tritt
nicht ein. D. h. wir erleben, dass unsere Erwartung, einer Wirklichkeit
zu begegnen, auf Grund unserer bisherigen Erfahrungen, negativ aus-
geht, dass das, was wir als seiend betrachten z. B. in einem anderen
Menschen, sich als nichtseiend herausgestellt hat. Als ich das einmal
vortrug, sagte eine geistreiche Dame: „Das heißt, Ontologie ist das
Resultat eines enttäuschten Rendezvous“. Und das ist vollkommen
richtig. Ein Rendezvous, das heißt ein Sich-Begegnen, das man er-
wartet und das enttäuscht wird, und das geschieht fortwährend, wir
sind fortwährend enttäuscht in unserer Begegnung mit Wirklichkeit,
wir erleben in dieser Enttäuschung das Nichtsein und stellen infol-
gedessen die Frage nach dem Sein.
Weil wir erwarten können und weil wir, um es noch von einer
anderen Seite her zu formulieren, fragen können, darum sind wir
das Wesen, das die Möglichkeit hat, die Seinsfrage zu stellen, Sein als
Sein zu erleben. Fragen ist eins der merkwürdigsten Phänomene, und
ich rate Ihnen zur Verteidigung Ihres Ernstnehmens der Philosophie
und Ihres radikalen philosophischen Denkens einmal diejenigen, die
1
Helmut Kuhn, Encounter with Nothingness: An Essay on Existentialism,
Hinsdale 1949 (Humanist Library, 11); London 1951; deutsch: Begegnung
mit dem Nichts. Ein Versuch über die Existenzphilosophie, Tübingen 1950.
15
Sie angreifen, vor die Frage zu stellen, was eigentlich eine Frage ist.
In dem Augenblick, wo man eine Frage auf ihr Wesen hin analysiert,
kommt man auf eine Fülle merkwürdiger Entdeckungen. Man kann
sogar logische Positivisten damit in Unruhe versetzen, weil sie nämlich
das Fragen, auf das sie eine Antwort geben, als eine Möglichkeit des
Lebens so einfach hinnehmen und sich gar nicht die Frage stellen, wie
Fragen möglich ist. Wenn wir darüber nachdenken, dann finden wir,
dass eine ganze Reihe von Vorbedingungen dazu gehört, damit eine
Frage gestellt werden kann. Es gehört dazu die Vorbedingung eines
Getrenntseins. Man fragt nicht nach dem, wovon man nicht irgendwie
getrennt ist, nach dem, das man nicht hat. Man kann danach fragen.
Wer fragt? Der Stein hat sein Steinsein vollständig, er fragt nicht. Das
Tier hat sein Tiersein bei sich und in sich und fragt nicht. Der Mensch
ist verbunden, wir kommen bald darauf, mit sich selbst und seiner
Welt in einer universalen Weise, aber er ist nicht so damit eins, dass
er aufhören könnte zu fragen. Er muss fragen, weil er zugleich davon
getrennt ist, und damit haben wir schon zwei Charakteristika. Man
fragt nach etwas, was in irgendeinem Sinn zu einem gehört. Was nicht
zu einem gehört, danach kann man nicht fragen, weil man keine Ver-
bindung dazu hat. Aber wenn es ganz zu einem gehörte, würde man ja
auch nicht fragen, weil man es nicht nötig hätte. D. h. im Fragen selber
offenbart sich eine fundamentale Charakteristik desjenigen Wesens,
das die Seinsfrage zu stellen imstande ist: das Dazugehören und das
Getrenntsein. Aus diesem Konflikt heraus ergibt sich die Möglichkeit
der Frage der Ontologie nach dem Sein.
Wir können das auch so ausdrücken, dass der Mensch die Seins-
frage stellt, weil er in einer, ich sage ausdrücklich, metaphorischen
Ausdrucksweise eine Mischung von Sein und Nichtsein ist. Aber
jede andere Formulierung ist auch metaphorisch. Sie kann niemals
direkt sein … Der Mensch stellt die Seinsfrage, weil er zugleich im
Sein und im Nichtsein steht und weil er darum vom Nichtsein her
nach dem Sein fragen kann. Das heißt, Ontologie ist kein göttliches
Unternehmen. Die Götter sind keine Ontologen, und das haben die
Griechen auch schon gewusst, indem sie sie selig nannten. Seligkeit
und Ontologie geht nicht zusammen. Seligkeit heißt haben, das ha-
ben, was das Wesenhafte ist, und das ist das, was in den Göttern der
Völker ausgedrückt ist, das ist ihre Seligkeit. Der Mensch fragt nach
dem, was er ist, weil er von sich1 geschieden ist, weil er als endlich
1
Korr. (Typ. GS: ihm)
16
sich nie hat. Aber man kann nun vielleicht noch sagen: Weil der
Mensch nicht identisch mit dem Sein ist, weil er immer aufs Nichtsein
zu blicken gezwungen ist, an dem er teilhat, weil er darum die Frage
des Seins stellt, darum ist er in dieser Beziehung mehr als die Götter.
Diejenigen, die in seliger Vollendung stehen, die auf dem Olympos
wohnen, fragen nicht nach Sein und Nichtsein, und darum sind die
Menschen größer als sie. Für Theologen die Erinnerung, dass Paulus
einmal sagt, dass die Engel, die ja die Nachfahren der alten Götter
sind, Sehnsucht danach haben, in das Geheimnis der menschlichen
Geschichte hineinzugucken,1 aber sie können es nicht, sie sind nicht
in der Entscheidung zwischen Sein und Nichtsein, sie stehen jenseits
dieser Entscheidung.
Nun noch einen Schritt weiter. Ich würde sagen, jedes neugebo-
rene Kind ist essentiell ein Ontologe. Das ist seine Würde, darum
ist es schon eine Person, obgleich noch nichts davon entwickelt ist,
obgleich die aktuelle Seinsfrage später in der Menschheit von den
größten Geistern gefragt wird. Aber jedes Kind in jeder Kultur ist
essentiell ein Ontologe in dem Augenblick, wo es [etwas] erwartet
und enttäuscht ist. Zum Beispiel, es erwartet das Kommen seiner
Mutter mit einem freundlichen Blick, und entweder kommt jemand
anderes oder der Blick ist nicht freundlich. In dem Moment ist in
dem Kind die ontologische Möglichkeit geboren. Sie ist in jedem
Augenblick der enttäuschten Möglichkeit für jeden von uns geboren.
Daraus folgt, dass, wenn wir von Sein reden, wir sozusagen in einer
doppelten Negation stehen. Das Sein ist die Affirmation des Seienden,
insofern es das Nichtsein des Nichtseienden einschließt, insofern
es eine doppelte Negation des Seins ist. Das ist der Weg, den der
Geist gehen muss, nämlich die doppelte Negation. Die Götter sind
keine Ontologen, der Mensch ist Ontologe durch das, was er ist.
Aber Ontologe sein heißt, durch das Nichtsein hindurchgehen. Ich
glaube, dass diese Einsicht in den Ernst der Ontologie sofort etwas
anderes zeigt, das ich annäherungsweise hier sagen möchte, weil es
gerade im Zentrum des Themas steht, das mich zur Zeit beschäftigt,
dass von daher Ontologie und Ethik in ihrer Identität sichtbar sind.
Alle Ethik wurzelt in der Möglichkeit, Ja zu sagen zu dem, was wir
essentiell sind im Gegensatz zu dem, worin wir am Nichtsein teilha-
ben. Und in einem Sprachgebrauch, den Plato erklärte und Spinoza
1
1 Petr 1, 12.
17
wiederholte, nenne ich den Akt, in dem wir das tun, Mut. Mut ist
nicht eine spezielle Eigenschaft, eine spezielle Tugend neben sieben
anderen Tugenden, sondern Mut ist, in der Möglichkeit zu sein, Ja
zu sagen zum Aufsichnehmen des Nichtseins, in einem Paradox der
doppelten Negation. Mut in diesem Sinne ist die Voraussetzung,
aus der heraus wir leben, sogar in einem Moment, wo wir im ge-
wöhnlichen Sinn des Wortes keinen Mut haben oder nicht wissen,
was Mut bedeutet.
Dies ist eine Abschweifung, die denen, die skeptisch gegenüber
der Ontologie sind, zeigen soll, dass aus der Ontologie fundamen-
tale ethische Konsequenzen sich entwickeln und, wie ich vielleicht
zeigen werde, auch theologische, religiöse Konsequenzen sich ent-
wickeln. Auf alle Fälle ist deutlich jetzt, dass Ontologie auf der
doppelten Negation beruht, durch die der Mensch hindurchgehen
muss, um Ontologe zu werden, und das heißt, dass er, obgleich er
am Nichtsein teilhat, das Sein zu bejahen imstande ist. Einen kleinen
Einwand möchte ich hier noch behandeln, einen Einwand, der hier
vielleicht nicht so ernsthaft zu nehmen ist wie in Amerika, nämlich
den Einwand des Nominalismus. Wer Geschichte der Philosophie
kennt, wird wissen, dass dies die spätmittelalterliche Richtung ist,
die man auffassen kann als Ausdruck der Selbstauflösung der mittel-
alterlichen einheitlichen Kultur. Nur die Einzeldinge haben Realität,
alle Allgemeinbegriffe sind nur Zeichen und Worte, mit denen man
sich geschäftlich verständigen kann. Dieser Nominalismus ist zwar
anscheinend eine logische Theorie, in Wirklichkeit aber sehr viel
mehr als alle logischen Theorien, ist Ausdruck einer fundamentalen
ontologischen Haltung. Diese aber verneint Ontologie. Nominalis-
mus ist eben von mir als eine Überschrift, ein Titel genannt worden.
Wenn ich zu meinen amerikanischen Studenten rede, sage ich: Ihr
seid von Natur aus so sehr Nominalisten, dass Ihr gar nicht verstehen
könnt, dass es etwas anderes gibt, und keiner bestreitet das. Denn
der Nominalismus ging über die englische empirische Philosophie,
die Empiristen Bacon, Hume seinen Weg und ist die Basis der na-
türlichen Weltanschauung zumindest der angelsächsischen Welt mit
verhältnismäßig geringen Ausnahmen. Philosophien gibt es auch
andere, aber es ist die natürliche Weltanschauung, d. h. man glaubt
zwar, dass in diesem Raum schätzungsweise etwa 200 Einzelwesen
anwesend sind, aber die Idee, dass dies eine Klasse ist und dass diese
Klasse von dem Prinzip einer Idee, nämlich der Frage nach dem Sein
beherrscht ist, oder Teil einer Gruppe ist, die eine Einheit – nennen
18
wir sie akademische Welt oder Studentenschaft – bildet1 oder eine
Einheit in einer Nation oder Kirche oder der Menschheit oder im
Universum oder schließlich dem Sein, diese Gedankengänge sind
einer vom Nominalismus determinierten Kultur fast unzugänglich.
Das Einzelne ist alles, und das hat seine großen Vorteile, aber zu-
gleich die negative Folge, dass man das Universale nicht versteht.
Von dieser natürlichen nominalistischen Weltanschauung aus wird
alles, was im Mittelalter Realismus hieß, heute etwa Idealismus,
verneint. Infolgedessen sagt der Nominalist, dass Sein nur ein Hauch
des Mundes ist, den wir brauchen, um uns darüber zu verständigen,
ob gewisse Dinge nur Einbildungen sind oder ob sie Realität haben.
Dagegen sagen die mittelalterlichen Realisten, die ungefähr das sind,
was man heute Idealisten nennt (warum, ist sehr interessant), dass
das Sein das höchste Universale ist. Das ist aber genau so verkehrt.
Dann wäre es ja auch eine Abstraktion von dem Einzelnen und würde
auf derselben Ebene liegen wie alle Dinge.
Um diesem Gegensatz zu entgehen, der widerlegt werden kann,
wollen wir Sein umschreiben, und ich schlage vor, dass man es um-
schreibt durch ein Wort, das im Deutschen möglich ist, aber nicht
im Englischen: Seinsmächtigkeit. Sein ist Seinsmächtigkeit (power of
being). Das ist keine Definition, selbstverständlich nicht. Aber aus
der ganzen Fülle des Seienden greifen wir eine Wirklichkeit, die wir
immerzu erfahren, nämlich die Seinsmächtigkeit, die ein Ding hat,
heraus, und hier kann ich ja auch Goethe zitieren, der gesagt hat,
dass er sich immer wieder erstaunt, wie seiend die Dinge sind.2 Wie
soll man nun das übersetzen? Man kann sagen: Welche Macht des
Seins eine Blume, ein Tier hat, da ist vielleicht das, was phänome-
nologisch den Hinweis gibt auf das, was mit Sein gemeint ist. Wir
können es schärfer fassen: Sein in diesem Sinne ist Seinsmächtigkeit,
d. h. die Macht, dem Nichtsein zu widerstehen. Das ist das Kriterium
der Seinsmächtigkeit, dass etwas dem Nichtsein widerstehen kann.
Nun, damit haben wir in irgendeinem Sinn gesagt, was wir unter
Sein verstehen, in sehr allgemeinem Sinn, und nun sind wir in der
Schwierigkeit: Wie können wir darüber reden?
1
Korr. (Typ. GS: hat)
2
„Was ist doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding. Wie abgemessen
zu seinem Zustande, wie wahr! Wie seiend!“ (Tagebuch der italienischen Reise,
9.10.1786, in: Goethes Tagebücher, 1. Band 1775-1786 [= Goethes Werke,
Weimarer Ausgabe III / 1], Weimar 1887, S. 288).
19
Reden heißt ja unterscheiden, definieren, Materialien der Erfah-
rungswelt gebrauchen, und wenn wir von Sein reden wollen, kön-
nen wir das ja nicht machen. Heidegger hat einen wunderschönen
Satz geprägt, ich glaube im Buch über die Wahrheit, nämlich: „Die
Sprache ist das Haus des Seins.“1 Lassen Sie uns einen Augenblick
über diesen Satz nachdenken. Sprache2 ist das, worin das Sein wohnt
oder zeltet.3 Das ist natürlich wieder ein typisch religiöser Begriff,
der dahinter steckt, wie bei Heidegger alles aus der theologisch-
mystischen Tradition verstanden werden muss, besonders wenn er
scharf atheistisch spricht. (Er ist ein Theologe des Nichts.) Wenn er
sagt4: „Die Sprache ist das Haus des Seins“, will er im Grund nur
dasselbe sagen, was Parmenides gesagt hat, nämlich dass, wo das
Sein ist, da ist auch das Wort des Seins, der logos, in dem das Sein
gefasst wird.5 Das Sein wird fassbar, ausdrückbar im Wort. Im Wort
manifestiert es sich, zeltet es in der Endlichkeit, geht es über in das
Nichtsein. Wir müssen das Wort haben. Aber auf der anderen Seite
können wir kein Spezialgebiet, keinen speziellen Teil der Wirklichkeit
mit dem Sein selber identifizieren. Daraus entsteht ein Problem, mit
dem ich heute abschließen möchte: Wie ist es möglich, vom Sein zu
reden so, dass wir wirklich etwas aussagen, dass das Sein wirklich
unter uns wohnt in diesem Sinne? Wie ist das möglich, wenn wir
zugleich alle speziellen Dinge vermeiden?
Ich will Ihnen als Thema für die nächste Vorlesung vier grundle-
gende Formen zeigen, in denen es möglich ist, über das Sein selbst
zu reden, so dass etwas ausgesagt wird und doch das Sein mit nichts
Speziellem identifiziert ist.
Erstens, wir können die Frage des Fragens selber stellen und müs-
sen das, und ich habe das schon angedeutet, und wenn wir das tun und
aufweisen, was darin steckt, dann kommen wir zur Grundstruktur des
Seins, wie es sich uns offenbart, nämlich zur Korrelation von Selbst
und Welt. Daraus ergibt sich dann als die erkenntnistheoretische
Seite dieser Selbst-Welt-Korrelation die Subjekt-Objekt-Korrelation
und mit ihr die Möglichkeit des Fragens.
1
M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den
„Humanismus“, Bern 1947, S. 53.
2
Korr. (Typ. GS: Es)
3
Vgl. Joh 1,14a: kaˆ Ð lÒgoj s¦rx ™gšneto kaˆ ™sk»nwsen ™n ¹m‹n …
4
Korr. (Typ. GS: wir sagen)
5
Gemeint ist der Satz … tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai (denn dasselbe ist
Denken und Sein) (DK 28 B 3).
20
Zweitens gibt es eine Gruppe von Begriffen, die den Charakter der
Polarität haben. Polaritäten sind Begriffe, die voneinander abhängig
sind, die sozusagen die beiden Enden einer Linie sind, auf der die
eine nicht ist, wenn die andere nicht ist. Es gibt eine Reihe solcher
Polaritäten, die Polaritäten und nicht Gebiete sind. Eine dieser Pola-
ritäten ist Individualisation und Partizipation, eine andere Dynamik
und Form, eine dritte Freiheit und Schicksal. Ich will mit diesen mich
in der nächsten Stunde beschäftigen. Jede von ihnen ist eine echte
Polarität, d. h. eine Polarität, in der das eine wegfällt, wenn das
andere wegfällt. Es gibt keine Individualisation ohne Partizipation,
es gibt keine Dynamik, die sich nicht in eine Form fasst, und keine
Form, die nicht Ausdruck einer Dynamik ist. Und drittens gibt es
keine Freiheit, die nicht Schicksal ist, die nicht eingebettet ist in eine
Notwendigkeit, die ich aus bestimmten Gründen Schicksal nenne,
und es gibt kein Schicksal ohne Freiheit.
Diese Polaritäten sind die zweite Schicht der Ontologie, von der
ich reden möchte, und die deswegen Polaritäten sind, weil keiner von
diesen Begriffen in Isolierung vom anderen bejaht und verstanden
werden kann. Es sind keine Gebiete. Das Gegenteil von ontologischer
Struktur sind ontologische Gebiete, aber darüber wollen wir nicht
reden, sondern nur von dem, was in jedem Gebiet vorkommt, was
eine Wesensstruktur in allen Gebieten ist.
Dann gibt es eine dritte Gruppe, das, was ich als die Mischung
von Sein und Nichtsein bezeichnet hatte und was ich auch mit dem
Wort „Endlichkeit“ bezeichnen würde. Die Endlichkeit des Seins,
die sich ausdrückt in den Kategorien Raum, Zeit, Kausalität und
Substanz, die ich herausgreifen möchte.
Und dann gibt es eine vierte Gruppe, nämlich die Gruppe, die im
allgemeinen in die Wertphilosophie hineingetan wird: [das Gute und
das Wahre]. Aber da ich ein Gegner aller Wertphilosophie bin, weil
ich nicht mitten in den Wolken schwebe, sondern einen festen Fuß auf
der nährenden Erde, nämlich im Sein selber habe, so gehören diese
Fundamentalbegriffe, nämlich das Gute und das Wahre, auch zur
Ontologie. Nämlich in dem Augenblick, wo die Relation hergestellt
wird zu dem, der die ontologische Frage stellt, nämlich zu uns. Das
ist der berechtigte Kern der Wertphilosophie, dass eine Beziehung zu
dem Fragenden darin steckt, das Unberechtigte, dass man die Werte
vom Sein ablöst, in der Luft aufhängt und nicht recht weiß, wann sie
herunterfallen sollen, d. h. wann man sie anwenden soll. Ich glaube,
dass dies, nämlich die beiden großen mittelalterlichen Transzenden-
21
talien verum et bonum, zur Ontologie selbst gehören und dass es ein
Fehlgriff war, aus Angst vor der Metaphysik, als nach dem Zerfall
der Hegelschule die Wertphilosophie erfunden wurde.
Wir haben vier Schichten, in denen wir unsere ontologische Frage
anwenden können.
22
3. Vorlesung
(Mittwoch, 23. Mai 1951)
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 199-202.
23
und seiner Schule, dann seit Heidegger, Jaspers und Sartre und den
weiteren neueren französischen Existentialisten ist ein Problem im-
mer und immer wieder gefragt worden: Wie kommen wir über den
Gegensatz von Subjekt und Objekt hinaus? Wie können wir verhin-
dern, dass die Wirklichkeit verschlungen wird durch ein System von
Objekten, in dem nicht nur die Dinge, sondern auch der, der nach
den Dingen fragt, sozusagen hineingerissen wird in einen objektiven
Mechanismus, in dem er seine Subjektivität verliert? Wenn Sie den
Existentialismus mit einem einzigen soziologisch und psychologisch
charakteristischen Wort beschreiben wollen, dann können Sie sagen,
er ist eine Rebellion, nämlich eine Rebellion gegen eine Welt der
bloßen Objekte, eine Rebellion gegen eine Welt, in der Wirklichkeit
und Ding ein und dasselbe sind.
Ich möchte hier wieder einmal wie schon ein paar Mal den Genius
der deutschen Sprache rühmen, der gewisse philosophische Dinge sehr
viel leichter sagen lässt, als sie in der englischen Sprache sind, und
das ist hier das Verhältnis von Ding und Bedingtheit. Im Englischen
heißt Ding „thing“, aber Bedingtheit heißt condition und hat nichts
zu tun mit „Ding“. Im Deutschen ist „Ding“ und „Bedingtes“ mit-
einander verbunden, d. h. etwas, was unter äußeren conditions steht,
ist eben damit ein Ding, und das ist es, was die deutsche Sprache
irgendwie gefühlt haben muss, wenn sie Ding und Bedingtheit in
diese sprachliche Einheit versetzt hat. Wir können also sagen, dass
der Existentialismus eine Revolte gegen die Verdinglichung aller
Wirklichkeit einschließlich des fragenden Subjekts ist, in dem diese
Verdinglichung vor sich geht. Und das geht weit über das Theoretische
hinaus, das ist, wie die Schriften der Existentialisten deutlich zeigen,
etwas, was die ganze reale Lebensstruktur betrifft. Es ist nicht nur
der Marxsche Begriff der Verdinglichung, des Ware-Werdens, der
Entmenschlichung. Es ist Kierkegaards Begriff des Verlusts des Ent-
scheidung treffenden Subjekts, es ist Nietzsches Begriff, der in einer
Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft genau in dem Sinne der
anderen [Existentialisten] das Objektwerden beschreibt, das Werden
zu einem Teil einer Maschine. Und wir haben die gleiche Revolte mit
dem größten Radikalismus, und das ist wohl sein philosophisches
Verdienst, in Sartre, der zeigt, wie tief die Verdinglichung im Wesen
der menschlichen Beziehungen begründet ist – dass ein einfacher Blick
einen anderen vollkommen in einen Gegenstand verwandeln kann,
ihm seine Freiheit und Subjektivität nehmen kann und ihm dadurch
das nimmt, was nun der Andere in Abwehr durch den Gegenblick
24
mir wieder nehmen will, wenn ich ihn so anschaue.1 Es gibt wohl
nichts Schöneres in „L’être et le néant“ als die Beschreibung des
gegenseitigen Anblickens und die Objektivierung und der Kampf
um das Selbst, der sich in diesem Sich-gegenseitig-zum-Gegenstand-
Machen vorfindet. Ich komme darauf zurück.
Wenn wir nun versuchen, unter den Gegensatz von Subjekt und
Objekt zu kriechen, sozusagen dahinter zu gehen und, um den Ge-
gensatz zu überwinden, nicht bei den Dingen anfangen und nicht
bei dem reinen Subjekt, nicht Naturalisten und nicht Idealisten sind
oder wie die Schlagworte heißen – ich werde sie möglichst vermeiden,
jedes dieser Worte hat so viel falsche Assoziationen, dass sie eigent-
lich nur noch als Schimpfworte benutzbar sind und im Großen und
Ganzen auch nur noch so benutzt werden – , darum ist es sehr viel
nutzbringender, wenn wir, anstatt das zu tun, einfach beschreiben,
was wir meinen und die Ismen möglichst unter den Tisch fallen las-
sen. Aber gelegentlich muss man daran erinnern, dass in den Ismen
früher so etwas gemeint war.
Wenn wir uns fragen: Wie können wir erreichen, dass eine Ana-
lyse des Seins als Seins weder bei den Dingen noch bei dem sie
anschauenden Subjekt beginnt, sondern bei etwas, das tiefer liegt
als die beiden, dann glaube ich, dass eine fundamentale Korrelation
dasjenige ist, auf das wir blicken müssen. Das Wort „Korrelation“
hat verschiedene Bedeutungen, es hat in der englischen Soziologie
die Bedeutung von Reihen, die einander zugeordnet sind.2 So ist es
nicht gemeint. Es ist gemeint als gegenseitige logische Abhängigkeit.
Es gibt einen Sinn, nämlich gegenseitige sachliche Abhängigkeit. Ich
gebrauche es hier in dem Sinn, in dem es wohl im Deutschen meist
gebraucht wird, nämlich gegenseitige logische Abhängigkeit, so dass
der eine Begriff nicht gedacht werden kann ohne den anderen. Die
Wirklichkeit hat weder den Charakter einer monolithischen Objek-
tivität noch einer monolithischen Subjektivität, sondern von vorn-
herein einer Korrelation, und um diese Korrelation zu beschreiben,
verlasse ich für den Augenblick die Worte „Subjekt“ und „Objekt“,
die die erkenntnismäßige Seite dieser Korrelation ausdrücken, und
1
J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris,
1943, S. 310-364 (Le Regard).
2
Vgl. M. Ezekiel, Methods of Correlation Analysis, New York 1930; ders.,
Artikel „Correlation“, in: Encyclopedia of the Social Sciences, ed. E. R. A.
Seligman and A. Johnson, New York 1931, Vol. IV, S. 438-444.
25
gehe zurück zu dem vollen Gehalt dieser Korrelation, der weit um-
fassender ist als etwas nur Erkenntnismäßiges.
Es ist eine der interessantesten Fragen, die1 man dem cartesiani-
schen „Ich denke, darum bin ich“ gegenüber gestellt hat: Was heißt
das eigentlich: sum, ich bin? Was ist dabei eigentlich gemeint? Das ist
bei Cartesius gar nicht analysiert, es ist identifiziert mit Bewusstsein.
Ich bin als Bewusstsein, denn ich bin mir selbst bewusst. Aber ist
damit das „Ich bin“ wirklich vollkommen getroffen, liegt darin nicht
sehr viel mehr? Und das ist die existentialistische Frage gegen den
cartesianischen Ausgangspunkt. Der Ausgangspunkt ist akzeptiert.
Erkenntnistheoretisch muss man ihn irgendwie akzeptieren, obgleich
man ihn umformen kann und muss, aber über das Erkenntnisthe-
oretische hinaus muss man fragen: Ist mit Bewusstsein das Sein
wirklich getroffen, ist Sein nicht mehr als Bewusstsein, ist dasjenige,
was seiner selbst gewiss ist, nicht eine umfassende Ganzheit, und
ist es nicht vielleicht nutzbringender, diese Ganzheit ein Selbst zu
nennen? Ich sage „ein Selbst“, weil das Wort „Ich“ so sehr in die
erkenntnistheoretische Sphäre abgebogen ist, dass es gerade nicht
die Fülle des Begriffs „Selbst“ enthält, und darum gebrauche ich
hier das Wort „Selbst“, und ich wende das Wort an nicht nur auf
das Ich-selbst, wie wir es im Menschen erleben, sondern auch auf
die Selbstheit einer Gruppe, die Selbstheit eines außermenschlichen
lebenden Organismus. In diesem universalen Sinn möchte ich hier
von Selbst sprechen.
Es gibt Grade der Selbstheit. Der Mensch ist derjenige, in dem
der höchste Grad erreicht ist, nämlich das Ich-selbst, über dessen
Charakter wir sprechen wollen. Aber das ist nicht das einzige Selbst.
Die Wirklichkeit hat immer und überall in irgendeinem Sinn den
Charakter der Selbstbezogenheit, der Self-Centeredness, des In-sich-
selbst-Zentriertseins, und diese Zentriertheit finden wir auch schon in
den einfachsten physikalischen Strukturen. Sie alle sind nicht einfache
Dinge, d. h. in jeder Beziehung bedingt, sondern sie reagieren in einem
Punkt, in einer Weise mit ihrem Zentrum, mit ihrer Ganzheit. Im
Menschen ist die Selbstheit vollendet unter denjenigen Gegenstän-
den, von denen wir eine Erfahrung haben, vollendet in dem Sinn,
dass das Selbst sich selbst weiß, dass Selbstbewusstsein vorliegt und
infolgedessen eine Trennung der Welt und des Selbst möglich ist.
1
Korr. (Typ. GS: wie)
26
Und das bringt mich zu dem anderen Begriff, nämlich zu dem
Begriff „Welt“. Der Mensch erfährt sich selbst als jemand, der eine
Welt hat, zu der er gleichzeitig gehört. Das ist die Fundamentalstruk-
tur, die wir haben. Wir erfahren uns selbst als eine Welt habend, zu
der wir zugleich gehören. In dieser Grundstruktur, die viel funda-
mentaler ist als die Struktur von Objekten oder Subjekten, sehe ich
die grundlegende Struktur des Seins, und ich glaube, dass man aus
der grundlegenden Struktur überhaupt erst ein Verständnis gewinnt
für das, was Mensch ist, was Subjekt ist, was Objekt ist, für das,
was Ding ist.
Und darüber wollen wir nun etwas mehr reden. Zunächst können
wir feststellen, dass in jeder unserer Erfahrung die Bezogenheit auf
uns selbst vorliegt, das Zentriertsein in uns selbst. Wenn wir etwas
erfahren als unsere Erfahrung, dann ist damit die Selbstbeziehung
gegeben. In jeder Erfahrung ist etwas, das hat, und etwas, das (mit
einem schrecklichen deutschen Wort) gehabt ist.1 Das, was Gegen-
stand dieses Habens ist, und Haben, diese zwei sind eins. Darum
können wir garnicht die Frage stellen, ob sie existieren, ob sie da
sind, ob man sie vorfinden kann. Die Frage ist absurd deswegen, weil
sie als Frage ja schon das fragende Selbst voraussetzt; sondern die
Frage ist: Gibt es so etwas wie eine Selbstbezogenheit, Selbstzentriert-
heit? Und wir können das niemals verneinen, weil ja in jedem Akt
der Verneinung diese Grunderfahrung schon vorliegt. Mit anderen
Worten, das Selbst ist kein Ding, das man irgendwo suchen kann,
sondern das Selbst ist die Voraussetzung dafür, dass so etwas wie
Dinge überhaupt da sind, dass man von ihnen sprechen kann. Das
Selbst ist das originäre Phänomen, das logisch allem2 Fragen nach
Existieren und Nichtexistieren vorangeht. Ich sage, das Wort „Selbst“
ist besser als das Wort „Ich“, weil das Wort „Selbst“ umfassender ist.
Es umfasst nicht nur das Bewusstsein, obgleich es darin zur Vollen-
dung kommt, sondern es umfasst auch das Unterbewusstsein und das
Unbewusste, was immer dieser Begriff des Unbewussten symbolisch
andeutet – es ist kein Definitionsbegriff, eben weil es unbewusst ist.
Es ist die Ganzheit desjenigen Seins, in dem die Seinsfrage gestellt
wird. Das ist, was Selbst meint, und warum ich glaube, dass wir das
Wort „Selbst“ gebrauchen müssen hier anstelle von „Ich“.
1
Gemeint ist: was gehabt wird (Passiv!).
2
Korr. (Typ. GS: allen)
27
Aber nun können wir hinzufügen: Da, wo das Selbst zur Vollen-
dung gekommen ist, nämlich im Menschen, hat es den Charakter ei-
nes Ich-selbst, da hat es all die Charaktere, die in der philosophischen
Entwicklung vom Ich ausgesagt worden sind. Das Entscheidende am
Selbst ist, dass es alles, was ist, sich gegenüber hat. Es ist für das
Ich-selbst, von dem ich zunächst einmal ausschließlich reden möchte,
charakteristisch, dass es auf alles hinschauen kann, und wenn wir
auf etwas hinschauen können, sind wir von ihm getrennt. Jeder von
uns als ein Selbst, als ein in sich zentriertes Selbst, blickt auf jedes
andere als etwas, von dem es getrennt ist, mit ihm nicht identisch
ist. Aber auf der anderen Seite sind wir ja gewahr, dass dies Ganze,
auf das wir blicken, das uns gegenübersteht, zugleich das ist, von
dem wir ein unendlich kleiner Teil sind. Und diese Doppelstruktur
ist das Grundphänomen, von dem wir reden.
In der gegenwärtigen philosophischen Sprache spricht man von
„Umgebung“, environment.1 Jedes Selbst hat eine Umgebung, es
blickt auf diese Umgebung und zugleich gehört es zu dieser Um-
gebung. Verschiedene Dinge im selben Raum haben verschiedene
Umgebung. Wenn ich mit meinem Hund in meinem Zimmer bin,
haben wir im Sinne des Objektiv-Physikalischen dieselbe Umgebung.
Im Sinn der lebendigen Beziehung von Selbst und Umgebung hat
der Hund eine völlig andere Umgebung als ich. Das, was für den
Hund Umgebung ist, sind die Dinge, mit denen er in einem aktiven
Handlungszusammenhang steht, das, was ihn interessiert, das, wo
er dazwischen ist, was er riecht, glaubt schmecken zu können, was
ihn schreckt, was er angreifen will. Dagegen der Inhalt einer Ru-
bensschen Landschaft, die an meiner Wand hängt, ist für ihn nicht
Umgebung, aber für mich. D. h. Umgebung ist ein Korrelationsbe-
griff, und das ist außerordentlich wichtig zu bemerken, weil daraus
sehr viel folgt. Umgebung in dieser Klasse ist nicht einfach Sie und
die Wände und der Blick draußen usw., sondern Umgebung ist für
jeden von Ihnen und für mich in jedem Moment dieser Klassenstunde
etwas Wechselndes. Es ist das, was für Sie und für mich im Moment
Gegenstand des Handlungszusammenhangs ist. Daraus können wir
ein Argument gegen etwas anwenden, das, glaube ich, auch in der
1
A. Gehlen, Der Begriff der Umwelt in der Anthropologie. Forschung Fort-
schritte 17, 1941, S. 43-46; H. Plessner (Hg.), Symphilosophein. Bericht über
den Dritten Deutschen Kongress für Philosophie Bremen 1950, München
1952, S. 323-353 („Das Umweltproblem“).
28
kontinentalen Philosophie ein Problem darstellt, nämlich die beha-
vioristische Theorie, die das Verhalten der lebenden Wesen abhängig
macht von der Umgebung. In dieser Theorie liegt ein Trugschluss,
nämlich der Trugschluss, als ob das, was Umgebung wäre, klar wäre,
nicht Gegenstand der Frage sein könnte. Wenn man Umgebung in
diesem objektivierten Sinne auffasst und das Verhalten der lebendigen
Wesen von seiner Umgebung in dieser Weise abhängig macht, dann
begeht man den Trugschluss, aus der Korrelation zu springen, d. h.
die Korrelation von Selbst und Umgebung aufzulösen, die Umgebung
zu einem selbständigen Gegenstand zu machen und dann das Selbst
davon abzulösen. Man hat vergessen, dass man eine Umgebung hat
und dass Umgebung Korrelat ist zu dem Selbst, zu dem es gehört.
Man müsste also erst die Korrelation verstehen, und damit ist die
behavioristische Theorie in ihren Fundamenten untergraben. Das
ist das entscheidende Argument gegen sie, es ist die Täuschung des
Herausspringens aus der Theorie zum Glauben, dass Umgebung
eine gegebene Tatsache ist, ein Phänomen, das man greifen kann,
das man photographisch oder sonst wie beschreibt, um dann von
da aus das Verhalten der lebendigen Wesen abzuleiten. Das ist aber
ein unmöglicher Trugschluss, und infolgedessen ist die Theorie, die
das versucht, von vornherein falsch. Wir müssen in der Korrelation
bleiben. Natürlich bedeutet die Korrelation auch, dass das Selbst von
der Umgebung bestimmt ist, genauso wie das Selbst seine Umgebung
bestimmt, aus einem Gegebenen, Vorhandenen das heraussucht, was
für es Umgebung ist. Es ist eine echte Korrelation. Alles, was ich eben
gesagt habe, gilt für alle lebendigen Wesen und in gewisser Weise für
die Strukturen der anorganischen Sphäre.
Aber nun kommen wir zum Menschen. Der Mensch hat ein
Ich-selbst, und das Ich-selbst hat ein Charakteristikum, das wir im
allgemeinen Selbst nicht finden, nämlich: das Ich-selbst überschreitet
jede mögliche Umgebung, oder in anderen Worten: Der Mensch hat
seine Welt. Damit kommen wir zum Weltbegriff. Und nun behaupte
ich, dass Welt genauso wie Selbst ein Korrelationsbegriff ist. Die Welt
ist nicht eine Schachtel, von der man sich streitet, ob sie endlich oder
unendlich ist, in der sich endlich oder unendlich viele Dinge bewegen
in endlicher oder unendlicher Zeit. Das ist die natürliche Weltan-
schauung von dem, was gewöhnlich Welt genannt wird. Man kann es
die Schachtelanschauung nennen, die große Schachtel, in der wir alle
sind. Das ist genau so töricht, wie wenn man Umgebung loslöst von
dem Selbst, das seine Umgebung hat. Ebensowenig kann man Welt
29
loslösen von dem Menschen, der Welt hat. Der Mensch hat Welt, ich
sage nicht hier: die Welt oder eine Welt, sondern Welt. Der Mensch
hat Welt, obgleich er zugleich in der Welt ist. Die griechischen und
lateinischen Worte für „Welt“ deuten an, dass in der ursprünglichen
Konzeption man sich dieser Tatsache bewusst war. Der griechische
Begriff für Welt ist „Kosmos“. Was bedeutet Kosmos? Kosmos kann
man übersetzen als Schmuck, als Geformtheit, als Schönheit, als
Harmonie. Es ist ein Begriff, der aus der pythagoräischen Schule
kommt, wo der Begriff des Maßes im Zentrum stand. Welt ist für
die Pythagoräer wie für das ursprüngliche griechische Denken nicht
eine Schachtel mit Dingen, sondern eine Ordnungsstruktur. Darum
konnten die Griechen auch von verschiedenen Welten reden, die sich
einander ablösen, von verschiedenen Ordnungsstrukturen. Auch das
lateinische Wort „Universum“ mit der Silbe „uni“, d. h. Einheit, die
alles umfasst, deutet auf eine Struktur, auf die Einheit der Mannig-
faltigkeit. Wenn wir also sagen, der Mensch hat Welt, auf die er
schaut, von der er getrennt ist und zu der er gleichzeitig gehört, dann
sprechen wir nicht von einem Kasten mit Dingen, sondern von einer
Struktur, und diese Struktur ist als Struktur eine Einheit.
Hier erhebt sich ein Einwand, und um Ihnen das etwas visuell
sichtbar zu machen: In New York befindet sich Union Theological
Seminary, in dem ich meistens lehre, an der einen Seite des Broadway,
und die philosophische Fakultät von Columbia University auf der
anderen Seite vom Broadway, und wenn wir uns gegenseitig in den
Vorlesungen beschimpfen – das geschieht auf beiden Seiten, aber in
großer Freundschaft (denn ich gehöre halb auch zur anderen Seite) – ,
dann sprechen wir von der „anderen Seite des Broadway“. Dort ist
man in einer Tradition, die von Dewey herkommt, pluralistisch,
d. h. man sagt, man kann nicht von einer einheitlichen Welt reden,
sondern die letzte metaphysische Realität mag eine Vielheit sein.
Darauf gibt es nach meiner Meinung eine sehr einfache Antwort.
Wenn dieser Pluralismus bedeuten soll, dass eine frühschellingsche
Identitätsphilosophie nicht die Lösung des Welträtsels ist, dann
stimme ich mit meinen Kollegen von der anderen Seite überein. Aber
diese Kollegen müssen folgendes bedenken – und damit will ich allen
Pluralisten mein Argument über die Einheit der Welt sagen – : Sie
sagen, die Welt ist so eingerichtet, dass es viele Prinzipien in ihr gibt
und nicht nur eins, sie sagen, die Welt ist so eingerichtet, das Sein
hat den Charakter, pluralistisch zu sein. D. h. um überhaupt reden
zu können, muss man das Ganze, das Universum, den Kosmos als
30
eine zumindest logische Einheit zusammenfassen. Wenn man soviel
schon aussagen kann, dann hat man Welt, und mehr braucht man
nicht. Dann kann man nachher sagen: Die Strukturen der Welt sind
vielfältig, oder: Sie sind viel einheitlicher, als man denkt. Eins kann
man aber nicht, man kann nicht die Tatsache wegstreichen, dass im
logischen Sinne Welt Einheit ist, Einheit des Gegenstandes, Einheit
für ein Selbst, das sich auf die Welt als Objekt richtet.
Nach dieser kleinen polemischen Randbemerkung zurück zu dem,
was Welt bedeutet. Welt schließt ein und überschreitet jede mögli-
che Umgebung, und das bedeutet unendlich viel und ist unendlich
tragisch – denken Sie allein an die Tragik der nationalen Umgebung.
Aber solange wir Menschen sind, solange wir nicht vollkommen
abgefallen sind vom Ich-selbst, von dem, was Menschsein bedeutet,
solange wir nicht entweder durch Trunkenheit im weitesten Sinnes
des Wortes oder Bewusstseinsspaltung, Wahnsinn, Schizophrenie aus
der Ich-Sphäre herausgefallen sind, sind wir niemals vollständig an
die Umgebung gebunden. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das im-
mer jede seiner Umgebungen überschreitet und zwar in der Richtung
auf Welt, und wir können hier wieder eine ganze Ethik aufbauen
aus diesem Verhältnis von Umgebung und Welt. Umgebung ist das
Konkrete, in dem wir stehen, unser unmittelbares Korrelat … Welt-
haben bedeutet, ein strukturiertes Universum haben, etwas haben,
das jede Umgebung transzendiert. Ein psychologischer Zustand, in
dem ein Mensch unter dem Zwang der Bindung an seine Umgebung
oder an etwas Umgebendes steht, ist partiell entmenschlicht. Eine
politische Richtung, in der ein Mensch in eine begrenzte nationale,
rassische oder dogmatische Situation gezwungen werden soll, ist
partiell entmenschlichend.
Und hier sehen Sie einmal den Zusammenhang von Realentwick-
lung und philosophischer Entwicklung. Die behavioristische Theorie,
die den Menschen abhängig macht von der Umgebung, entspricht
genau denjenigen politischen Bewegungen, die den Menschen an eine
Umgebung binden wollen und ihm die Möglichkeit des Transzendie-
rens in der Richtung auf Welt unmöglich machen wollen. Das ist das
eigentlich Charakteristische aller totalitären und autoritären Systeme,
dass die Umgebung die Welt ersetzen soll. Die Welt ist gefährlich, weil
sie unendlich offen ist, und darum, aus der Angst vor der unendlichen
Offenheit, sind die Menschen sehr geneigt, eine solche Bindung an
die Umgebung anzunehmen. Ganz simpel: Eine Reise von Amerika
nach hier produziert eine gewisse Angst. Ich kann es nicht bestrei-
31
ten, ich hatte sie. Aber glücklicherweise war mein Selbstbewusstsein
stark genug, diese Angst zu überwinden. Nehmen Sie dieses simple
psychologische Phänomen als ein Beispiel für die tiefe Angst, die
besteht und die es denen verhältnismäßig leicht macht, die einen
Menschen politisch führen oder mit der Religion binden wollen an
die Umgebung – und was im Familienleben oft die Familie tut; und
wie groß ist die Angst derer, die sich von der Bindung an Vater und
Mutter losreißen müssen, und doch müssen sie es in Richtung auf
Welt, sonst bleiben sie dauernd ohne Welt.
Dieses Welt-Haben des Menschen kommt zum Ausdruck darin,
dass er Sprache hat. Das Welt-Haben des Menschen ist identisch mit
der Tatsache des Sprache-Habens, des Sprechen-Könnens. In dem
Augenblick, in dem wir sprechen, „Baum“ sagen, sind wir nicht
mehr gebunden an diesen Baum, der da vor unserem Haus steht
und den wir so lieben, sondern wir können Baumheit, wo immer
sie uns begegnet, in einem einzelnen Baum wiedererkennen, und wir
können Bäume pflanzen. Da wir den Allgemeinbegriff „Baum“ haben,
können wir der Natur helfen, sie in einer bestimmten Richtung zu
produzieren. Der Mensch ist durch die Sprache frei von der Umge-
bung und offen zum Welt-Haben. Daraus kann man wieder einiges
ableiten, nämlich, wo die Sprache den Charakter des Universalen
verliert, wo sie sozusagen ein Wiedergeben von Lauten wird, da sieht
man, dass Welthaftigkeit verloren geht. Es gibt z. B. so etwas wie
einen Familienjargon, [Worte], die einmal sehr niedlich waren, als
sie zuerst konzipiert wurden, und die man immer wieder gebraucht
und die mit einem sehr geheimen magischen Band an die Familie
binden und einen hindern, welthaft zu werden.
Und das ist in großem Maße der Fall, wenn man in zwei Sprachen
denkt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, was es heißt, übersetzen zu
müssen. Es ist das Problem eines Emigranten und bleibt es immer.
Dabei ergeben sich interessante Phänomene, nämlich nicht nur, dass
man aus dem, was man unmittelbar hat, aus der Muttersprache, die
die Familienumgebung mit einschließt, dass man da herausspringen
muss, sondern dass man dann zurückkommt und nun aus der anderen
Sprache wieder herausspringt, die zur Umgebung geworden ist, und
[dass man] zwischen diesen beiden Sprachen oszilliert. Das ist bio-
graphisch eine ziemlich schwere Sache, lebenslänglich nicht einfach,
geistig gesehen, eine der größten Befreiungen aus Umgebung zu Welt.
Und darum ist das Sprachen-Lernen so außerordentlich wichtig, und
darum ist es tragisch, dass das Land, das jetzt politisch die größte
32
Welthaftigkeit hat, nämlich Amerika, so wenig Sprachbewusstsein,
Bewusstsein von fremden Sprachen hat, dass es kein deutsches,
französisches, lateinisches oder griechisches Wort gibt, das ich nicht
immer erst übersetzen müsste. Was sich da entwickelt, ist ein neuer
Provinzialismus, eine neue Abhängigkeit von der Umgebung, wo
das Bewusstsein noch nicht aufgetreten ist – weil das Land so groß
ist – , dass es nötig ist, aus der Begrenztheit der Sprachgebundenheit
herauszubrechen.
Eine andere Bemerkung, die man hier machen könnte, würde
sich auf diejenige Kunstrichtung beziehen, die man in der extremen
Form Dadaismus genannt hat, die nicht nur lächerlich ist, sondern
die auch philosophisch eine erhebliche Bedeutung hat, nämlich die
Weigerung, herauszugehen zum Universalen, die Bindung an das
Da-da, die extremste Form des Nominalismus: Nur dies in diesem
Moment ist möglich und da.
Nun haben wir auf diese Weise grundlegend die Struktur verstan-
den, die das Sein für uns hat, nämlich die Selbst-Welt-Korrelation.
Wir haben verstanden, was Ich-selbst bedeutet, und wir haben mit
dieser einfachen ontologischen Analyse (die aber fein dialektisch ist,
wenn man hineingeht) nicht nur die Grundstruktur des Seins selbst
gefunden, wie wir ihm immer begegnen, sondern auch daraus sofort
Konsequenzen gezogen, die ins Sprachphilosophische, ins Politische
und ins Ethische gehen. Und ich möchte schließen mit der Bemer-
kung, dass keine Ontologie etwas taugt, aus der man nicht mehr
unmittelbar etwas ableitet, was für unsere Existenz unter diesen
Umständen von grundlegender Bedeutung ist. Das ist die zentrale
Bedeutung der Ontologie, dass sie in alles hineinstrahlt und in alles
in irgendeinem Sinne ihr Licht wirft.
33
4. Vorlesung
(Donnerstag, 24. Mai 1951)
1
Korr. (Typ. GS: Bestimmung)
34
nach dem Fragen selbst. Was ist nötig, damit eine Frage möglich
ist? Und die Antwort ist dann: die Selbst-Welt-Korrelation. Sie ist
die Voraussetzung allen Fragens. Sie ist im Hintergrund und in den
Fundamenten allen Fragens, und es ist die erste Aufgabe des philo-
sophischen Denkens, diese Struktur herauszuarbeiten.
Lassen Sie mich das noch negativ an drei Philosophen klar machen,
um zu zeigen, dass es unmöglich ist, von einer der beiden Seiten
auszugehen oder von etwas, darin die beiden Seiten verschwinden.
Fichte hat versucht, von der Seite des Selbst auszugehen, hat das Selbst
reduziert auf das handelnde, erkenntnistheoretische und ethische Ich
und hat dann versucht, daraus die Welt abzuleiten. Er hat es niemals
gekonnt, was sich darin zeigt, dass er, um die Welt abzuleiten, dem
Ich das Nicht-Ich gegenübersetzen musste. Dies Nicht-Ich fällt vom
Himmel, er konnte es nicht ableiten. Es ist das Dokument der Un-
ableitbarkeit der Welt aus dem Selbst. Und umgekehrt, nehmen wir
einen mechanistischen Materialisten wie Hobbes, der versucht, durch
eine Erkenntnispsychologie aus dem Objekt, aus der Welt, das Selbst
abzuleiten. Er kommt niemals zurück zum Selbst, nur durch einen
irrationalen Sprung kann er aus den Dingen das ableiten, was die
Dinge zu Dingen macht, was vom Ding redet, die Dinge als Dinge
auffasst. Descartes versucht ebenso energisch und ebenso, wie ich
glaube, ohne Erfolg, wieder zu vereinigen, was er einmal durchge-
schnitten hatte, nämlich das reine Ich und die mechanische Bewegung
der Dinge, der toten Körper. Er versucht es verzweifelt, er nahm die
theologische Hypothese zu Hilfe, um es zu ermöglichen, aber diese
schwebt in der Luft, ist eine reine Voraussetzung ohne Inhalt, wenn
man einmal die Selbst-Welt-Korrelation durchschnitten hat. Und
endlich ein Mann wie Schelling in seiner ersten Entwicklung, der
die sog. Identitätsphilosophie erfunden hat, der dasselbe Problem
erlebte und es dadurch zu lösen versuchte, dass er eine Identität von
Selbst und Welt konstruierte, was auf unserer Linie liegt, was aber
dadurch, dass die Identität in sich unartikuliert war, wieder eine
Lösung unmöglich machte. Aus diesen Gründen glaube ich, dass
wir der neueren Entwicklung der Philosophie dankbar sein müssen,
wenn diese neuere Entwicklung uns Möglichkeiten gegeben hat,
ontologisch an einer Stelle anzusetzen, die jenseits der Dinge, jenseits
des abstrakten Selbst liegt und zugleich lebendig und dynamisch ist,
und das ist, was ich mit Selbst-Welt-Korrelation meine.
Aus dieser Selbst-Welt-Korrelation kann das Fragen als Fragen
verstanden werden, und es wird verstanden, wenn wir erkennen, dass
35
innerhalb dieser Selbst-Welt-Korrelation ein Element die Subjekt-
Objekt-Korrelation ist. Um aber über diese Korrelation zu reden,
muss ich weiter ausholen und möchte etwas vorwegnehmen, was in
dem diktierten Programm das nächste ist, nämlich die zwei Begriffe
von Vernunft.1 Es scheint mir außerordentlich wichtig zu sein, dass
in jeder philosophischen Untersuchung und jedenfalls in einer philo-
sophischen Untersuchung, die auf die Fundamente zurückgeht, von
vornherein die Relation von Sein und Vernunft, von Sein und dem
Logos des Seins, wie es Parmenides formuliert hat,2 sichtbar wird.
Und ich will jetzt versuchen, aus der Grundstruktur der Selbst-Welt-
Beziehung eine Lehre von der Vernunft zu entwickeln, die für alle
Kulturphilosophie von größter Bedeutung ist, wenn sie entwickelt
werden könnte. Das Sein, von dem wir reden, das die Struktur
Selbst-Welt hat, ist eben durch diese Struktur zu charakterisieren als
vernünftig. Struktur und Vernunft sind ein und dasselbe. Sinnvolle
Struktur des Bewusstseins und sinnvolle Struktur der Wirklichkeit,
das ist das, was Vernunft bedeuten sollte. Aber das ist nicht das, was
Vernunft heute bedeutet. Aus der theologischen Diskussion heraus
ergibt sich das ungeheuer Drängende der Frage nach dem, was Ver-
nunft ist. Aber es ist nicht nur die theologische Diskussion, die diese
Frage hervor treibt, es ist genauso heute die politische Diskussion.
Was heißt vernünftig, in welchem Sinne können und müssen wir den
Vernunftbegriff gebrauchen? Der Titel aus der ersten Stunde sagt:
„Die beiden Begriffe von Vernunft“, und ich glaube, es ist kaum
etwas wichtiger für Theologie und Politik, als sich klar zu werden,
dass zwei völlig verschiedene Begriffe von Vernunft in der öffentlichen
philosophischen Diskussion nebeneinander hergehen und sich ständig
verwirren. Auch hier würde ich wieder sagen, dass das Wort „reason“
für diese Doppeldeutigkeit vielleicht ein noch stärkerer Boden ist als
das Wort „Vernunft“ im Deutschen, aus dem einfachen Grund, weil
im Deutschen außer Vernunft noch Verstand zur Verfügung steht und
man infolgedessen von vornherein eine Unterscheidung machen kann.
Wie dem auch sei, nicht die philologische Problematik ist wichtig,
sondern die sachliche.
1
In der von Tillich zu Beginn der ersten Stunde diktierten Disposition trägt
Teil 5 die Überschrift „Die zwei Begriffe der Vernunft“.
2
… tÕ g¦r aÙtÕ noe‹n ™st…n te kaˆ e"nai (denn dasselbe ist Denken und Sein)
(DK 28 B 3).
36
Sachlich ist es so, dass ich glaube, man muss unterscheiden zwi-
schen einem ontologischen und technischen Begriff der Vernunft.1
Der ontologische Begriff ist herrschend in der gesamten klassischen
Tradition von Parmenides bis Hegel; der technische Begriff von
Vernunft ist immer auch da, sowohl im vollen philosophischen
Bewusstsein als auch im philosophischen Denken, aber immer als
untergeordnet, bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, wo durch eine
weltgeschichtliche Wendung im Menschheitsbewusstsein der tech-
nische Begriff der Vernunft vorherrschend wird. Das geschieht im
Anschluss an den Zusammenbruch des deutschen Idealismus, und es
geschieht infolge derjenigen Entwicklung, die über den Nominalismus
und den englischen Empirizismus zur empirischen Philosophie des
19. und 20. Jahrhunderts führte. In dieser Entwicklung, die natür-
lich keine isolierte ist, sondern die ihren Grund in der geistes- und
sozialgeschichtlichen Entwicklung der modernen Zeit hat, hat sich
das Gewicht verschoben. Der technische Begriff der Vernunft hat
den ontologischen Begriff der Vernunft verschlungen.
Lassen Sie mich ein paar Worte über den ontologischen Begriff
der Vernunft sagen. Vernunft in der klassischen Tradition, der on-
tologische Begriff der Vernunft, ist diejenige Struktur, die es dem
Bewusstsein ermöglicht, Wirklichkeit zu ergreifen und umzuformen.
Diese Vernunft, die eine Struktur ist, eine Sinnstruktur, ist wirksam
im Erkennen, im Ästhetischen, im Praktischen, im Politischen, im
Technischen, in allem, was man als Geistesfunktion bezeichnet. Selbst
das emotionale Leben des Menschen ist nicht unvernünftig, sondern
hat seine Vernunft in sich selber. Denken Sie einfach an die folgenden
Tatsachen. Für Plato ist es der Eros, etwas sicherlich Emotionales,
das den Geist in Richtung auf die Wahrheit treibt. Es ist die Liebe zur
vollkommenen Form, die nach Aristoteles alle Dinge bewegt, es ist
die Sehnsucht nach dem Ursprung, die im Neuplatonismus die Seele
durch alle Stufen zur höchsten treibt. Es ist der appetitus, der nach
Thomas alle Dinge zu ihrem eigenen Wesen treibt. Es ist die intel-
lektuelle Liebe, die in Spinoza Wissen und Emotion eint. Philosophie
ist von Hegel aufgefasst als Gottesdienst, als Selbstverwirklichung
des Göttlichen in der Geschichte, und so fort. D. h. der ontologische
Begriff von Vernunft vereinigt alle Geistesfunktionen und schließt das
Emotionale in sich, es schließt es nicht aus. Wir können mit einer
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 87-91.
37
heraklitisch-stoischen Formulierung sagen: Ontologische Vernunft
ist Logos, ganz gleich, ob Vernunft mehr intuitiv oder mehr kritisch
verstanden wird. Für diese Vernunft ist das Erkennen eine Sache
neben der anderen, daneben ist das Ästhetische, das Politische, das
Gemeinschaftliche, die Liebe und sofort, all das gehört zur sinnvollen
Struktur des Bewusstseins und in diesem Sinne zur Vernunft.
Eine Theologie oder Politik, die Vernunft in diesem klassischen
ontologischen Sinne verneint, ist unmenschlich, weil sie ungöttlich
ist. Ich sage das besonders denen von Ihnen, die an Theologie und
Religionsphilosophie interessiert sind oder die Religion durch Poli-
tik ersetzen. In beiden Fällen gilt: Dasjenige, was die ontologische
Vernunft zerstört, ist unmenschlich, weil es ungöttlich ist, weil es die
Urstruktur des Seins selber antastet und zerbricht. Darum müssen
wir sowohl einer irrationalistischen Theologie wie einer irrationalisti-
schen Politik widerstreben. Im Englischen hat das Wort „irrational“
eine schärfere Note als im Deutschen. Da hat es viel mehr die Note
des Antirationalen. Man wird immer eine Verurteilung des Irratio-
nalen im Englischen finden, während die deutsche Romantik eine
geheime Vorliebe dafür hat. Ob man das Irrationale mehr im Sinne
des Antirationalen oder im Sinne dessen, was sich in jeder Beziehung
der Vernunft entzieht, auffasst – in beiden Fällen gilt, dass es zu un-
menschlichen, weil ungöttlichen Folgen notwendigerweise führt.
Also bist du ein Rationalist, werden manche sagen, indem du der
Vernunft, unmittelbar der Vernunft, Göttlichkeit zusprichst. Und ist
es nicht das Große der romantischen Bewegung gewesen, dass sie
uns vom Rationalismus befreit hat? Ist nicht noch in manchen von
Ihnen die Erinnerung an die Jugendbewegung der ersten Jahrzehnte
des Jahrhunderts, in der das Nichtrationale das war, was dem Leben
neue Freiheit, neuen Sinn und neue Würde gab? Ich glaube, dass es
so war. Und dann werden Sie erstaunt sein, wenn ich sage, dass die
Negation der Vernunft unmenschlich, weil ungöttlich ist. Die Antwort
ist der Unterschied der beiden Begriffe von Vernunft.
Ich komme nun zum technischen Begriff der Vernunft. Dieser
Begriff ist immer da, weil der Mensch ja immer ein Wesen ist, das
mit Dingen umgeht, das im Umgang mit den Dingen Zwecke ver-
wirklichen will und das deswegen die richtigen Mittel gebrauchen
muss. Und genau das ist die Definition der technischen Vernunft:
Das Finden und Gebrauchen der richtigen Mittel für einen Zweck.
Das war immer so und wird und muss immer so sein. Aber das war
nicht immer das Herrschende. Die Frage, die man dem Begriff der
38
technischen Vernunft stellen muss, ist nämlich die: woher die Ziele,
woher die Zwecke? Die Mittel, ja – die sind gefunden und werden
in einem ungeheuerlichen Maße gefunden – , aber woher die Ziele?
Und dann hat die technische Vernunft keine Antwort. Sie bleibt
innerhalb der Mittel-Zweck-Korrelation, kann aber niemals aus ihr
herausbrechen und dem Zweck selber einen Inhalt geben. Solange
Zwecke von der ontologischen Vernunft determiniert sind, ist darin
nichts Gefährliches. Warum nicht? In dem Augenblick aber, wo die
ontologische Vernunft durch die technische ersetzt wird, entsteht eine
Situation, in der zwar Mittel in unbegrenztem Maße vorliegen, die
Zwecke aber aus der Vernunft herausgeworfen und vernunftlosen
oder irrationalen Emotionen, Traditionen, Machtwillen oder derglei-
chen überlassen werden. Und das ist die ungeheure Gefahr unserer
gegenwärtigen Situation, dass die Zwecke nicht mehr der Vernunft
unterworfen werden, sondern dass eine Vernunft, die für Mittel da
ist, Zwecke von anderswoher sich geben lässt, was von außen her
als Zweck vorliegt, sei es ein religiöser Glaube, sei es eine politische
Richtung, sei es eine subjektive Emotion, in allen Fällen etwas, was
nicht selber unter Vernunft steht. Auf diese Weise wird die kritische
Vernunft ausgeschaltet, und die Zwecke verfallen dem Zufall, der
Emotion, der Autorität, ohne noch der Vernunft unterworfen zu
werden. Und darin scheint mir eines der schwersten Probleme der
Philosophie und Religion in unserer Situation zu liegen.
Ich komme wieder zu dem logischen Positivismus zurück. Er
entwickelt die Hintergründe der technischen Vernunft mit einem un-
endlichen Aufwand von technischer Vernunft, er tut es und überlässt
die Zwecke, die Ziele, das, wofür alles das ist, dem positiv Gegebenen
oder Dingen, über die er keine Aussagen machen kann. Denn als
technische Vernunft kann man über Dinge, die uns angehen, keine
Aussagen machen. Der Erfolg ist, dass technische Vernunft auch
in ihrer größten und raffiniertesten Untersuchung den Menschen
entmenschlicht, weil sie ihn trennt von der ontologischen Vernunft,
und man könnte sogar weiter gehen, aber ich will darauf jetzt nicht
eingehen, dass sogar die technische Vernunft dadurch auf die Dauer
ärmer und ärmer wird, weil sie ja von der ontologischen letztlich
leben muss.
Die Konsequenzen des Sieges der technischen Vernunft im 19. und
20. Jahrhundert sind außerordentlich. Wenn man den Nationalsozia-
lismus in seiner Blütezeit sich ansah, hatte man einen doppelseitigen
Eindruck. Auf der einen Seite: Das ist wild gewordener Irrationalis-
39
mus, und auf der anderen Seite: Das ist raffinierteste Berechnung, und
beide Eindrücke sind richtig. D. h. es war eine Bewegung, die verlassen
war von ontologischer Vernunft, die die Kriterien der Wahrheit und
Gerechtigkeit nicht mehr anerkannte, die für das letzte Ziel keine
vernünftige Norm mehr kannte. Zugleich aber war es eine Bewe-
gung, in der die technische Vernunft einen geradezu vorbildlichen
Organismus1 der Mittel für irrationale Zwecke geschaffen hat, und
ich glaube, dass die auch sonst vorhandenen totalitären Systeme in
ganz ähnlicher Weise charakterisiert werden können, in ähnlicher,
nicht in gleicher Weise; aber darauf will ich jetzt nicht eingehen.
Versuchen Sie einmal, einzelne Erscheinungen im Westen und Osten,
dieser großen Spaltung, in der wir jetzt sind, zu analysieren unter
dem Gesichtspunkt des doppelten Vernunftbegriffs, und Sie werden
wohl einen Schlüssel haben, der Ihnen mehr Einsicht gibt als äußerlich
gesehene politische Schlagworte. Das ist eine politische Konsequenz
aus dieser Unterscheidung.
Man kann auch eine theologische [Konsequenz] ziehen: nämlich,
wenn man diese heftigen Angriffe der Neuorthodoxie, wie in Amerika
die Barthsche Schule genannt wird (was richtiger ist als „dialekti-
sche“, denn sie ist ja gerade die antidialektische), nimmt, kann man
sagen: Darin ist eine große Wahrheit. Nämlich in dem Augenblick, als
Vernunft und Logos getrennt werden, ist die Vernunft als technische
Vernunft aufgefasst, und dann wird mit Recht gesagt: Natürlich ist
es unmöglich, dasjenige, was die endlichen Relationen transzendiert,
die Tiefendimension des Religiösen, aufzufassen mit technischer
Vernunft. Ich würde weiter gehen: Jeder Versuch, mit technischer
Vernunft, d. h. mit Schlussverfahren, auf [den] Gottesgedanken zu
kommen, widerspricht dem Gottesgedanken so, dass man es als eine
Blasphemie bezeichnen könnte, den Gottesgedanken zu begründen
mit Hilfe von Methoden der technischen Vernunft. Insoweit ist es
richtig: Wenn Vernunft technische Vernunft ist, hat der Atheist die
religiöse Wahrheit immer auf seiner Seite, und der, der [Gott] bewei-
sen will, die religiöse Unwahrheit. Wenn es sich aber um den onto-
logischen Begriff der Vernunft handelt, dann heißt das ja, dass man
das Göttliche und das Logoshafte, das, was im Wort gefasst werden
kann, der Sinn und die Struktur der Welt und des Bewusstseins, dass
man die preisgibt, d. h. ganz theologisch: [dass man] Gott seinen
1
Gemeint: Organisation
40
Logos nimmt. Und es ist nicht zufällig, dass die Barthsche Theolo-
gie die Logos-Christologie abgelehnt hat. D. h. in dem Augenblick,
wo man von theologischer Seite die Konfusion, die Vieldeutigkeit
des Begriffes „Vernunft“ nicht übersieht1 und infolgedessen nicht
übersieht, dass die Vernunft im Sinn der sinnvollen Struktur göttlich
ist, Logos-Charakter hat, kommt man sowohl im Politischen wie im
Theologischen in des Teufels Küche, wie man früher zu sagen pflegte,
und das ist mehr als eine Redensart auf beiden Gebieten gewesen.
Hier sehen Sie die Beziehung dieser Gedankengänge zu sehr aktuellen
Problemen religiöser und politischer Art.
Nun einige weitere Bemerkungen über den Charakter dieser
ontologischen Vernunft, der die technische zu dienen hat, weil die
ontologische Vernunft die Zwecke zeigt, während die technische die
Mittel bereit stellt, um diesen Zwecken zu folgen. Wenn wir einen
Schritt weitergehen, dann finden wir, dass diese Vernunft zunächst
die Struktur des Bewusstseins ausmacht, die Fähigkeit, das Wort zu
sprechen. Es ist nicht Zufall, dass „Wort“ und „Vernunft“ im Griechi-
schen dasselbe bedeuten, nämlich „Logos“. Auch hier ist theologisch
die Situation sehr klärend, dass z. B. im Prolog des Johannesevan-
geliums vom Logos die Rede ist und dass bis auf den heutigen Tag
die Theologen sich streiten, ob das „Vernunft“ oder ob das „Wort“
heißt. Es heißt natürlich nicht Vernunft im Sinne der technischen,
argumentierenden Vernunft, sondern im Sinne der schöpferischen
Struktur, wie es Johannes sagt, dass „alles durch den Logos geschaffen
ist“.2 Damit kommen wir zu einem anderen Punkt.
Die Lehre von der Vernunft in ihrer subjektiven und ihrer ob-
jektiven Seite gibt eines der Grundprobleme alles Philosophierens.
Wie verhalten sich die beiden zueinander? Da gibt es eine Fülle von
Möglichkeiten – vier Hauptmöglichkeiten. Die eine ist, dass die
subjektive Vernunft einfach als eine Spiegelung der objektiven aufge-
fasst wird, dass die Wirklichkeit als solche die Möglichkeit hat, ein
vernünftiges Bewusstsein zu produzieren. Es kann aber nie gezeigt
werden, wie das möglich ist. Der zweite Typ versucht umgekehrt,
von der Struktur des Bewusstseins die vernünftige Struktur der Erfah-
rungswelt abzuleiten, was wir gewöhnlich Idealismus nennen, wobei
die Frage entsteht: woher die fundamentale Trennung von subjektiver
1
Gemeint: nicht sieht
2
Joh 1,3a („alle Dinge sind durch das selbe gemacht …“).
41
und objektiver Vernunft? Der dritte Typ macht beide voneinander
unabhängig und versucht, sie in eine Art Wechselwirkung zu bringen,
der Dualismus. Und der vierte versucht, sie zusammenzuführen auf
eine ursprüngliche Einheit – der Monismus. Wir lassen im Augenblick
diese typischen Lösungen miteinander ringen, denn es ist nicht das,
was unser Problem ausmacht, sondern die Notwendigkeit, die in
all diesen Philosophien vorliegt, dass die Struktur des Bewusstseins
und die Struktur des Seins in einem notwendigen Zusammenhang
stehen. Welches dieser Zusammenhang ist, ist eine spätere Frage. Die
Analyse der beiden Begriffe war das, worauf es mir ankam, und die
Möglichkeit, mit Hilfe dieser Analyse an unsere kulturelle Situation
heranzugehen und etwas vielleicht wieder zu erobern, was durch den
Sieg der technischen Vernunft, die zugleich rein subjektive Vernunft
ist, verloren gegangen ist. Diese technische Vernunft hat zugleich die
andere Seite, dass alle übrigen Funktionen des Bewusstseins von ihr
ausgeschlossen sind und dass sie so etwas wie objektive Vernunft
nicht kennt. Es ist eine reine Funktion des Bewusstseins, dies Argu-
mentieren, das Schließen, das Beobachten, es lebt allein in der Sphäre
des Erkennens, das sich bezieht auf das Erkennen und Beobachten
der endlichen Beziehungen der Wirklichkeit zueinander.
Nun komme ich zu dem Thema, das schon angedeutet war in
allem Vorausgehenden, nämlich das Verhältnis von subjektiver und
objektiver Vernunft, das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Hier
sind wir wieder in einer ontologischen Grundproblematik, die sich
in ihrer Schwierigkeit auch darin ausdrückt, dass beide Begriffe,
Subjekt wie Objekt, eine lange Geschichte haben, wo sie heute un-
gefähr das Umgekehrte des Ursprünglichen bedeuten. „Subjektiv“
bedeutet ursprünglich ein Unabhängigsein, eine Hypostase, die auf
sich selber stehen kann. Wir sind ein Subjekt, weil wir unser eigenes
Sein haben, auf uns selber stehen. Objekt ist demgegenüber, was als
Objekt in unserem Bewusstsein ist. Wenn wir heute auf diese Worte
achten, finden wir, dass Objekt genau das bedeutet, was ursprünglich
Subjekt bedeutete, und dass umgekehrt der Inhalt des Bewusstseins
als Subjektivität bezeichnet wird. Ich sage das, um zu warnen vor
Missverständnissen mittelalterlicher Literatur, wo diese Begriffsbil-
dung in diesem verschiedenen Sinn noch da war.
Wir müssen unterscheiden verschiedene Formen von dem, was
„objektiv“ bedeutet. Zunächst einmal kann man sagen, dass alles,
was Gegenstand einer Aussage sein kann, objektiv ist, ein Objekt ist.
Wenn wir von einem Menschen reden, mit dem wir leben, wenn wir
42
zu ihm reden, über ihn reden, ihn zu erkennen suchen, machen wir
ihn unweigerlich zum Objekt. Ganz gleich, ob ein anderer Mensch,
ob eine mathematische Definition oder ein Stein oder ein Gott es
ist, wenn wir von diesen reden, ist er ein Objekt. Aber nun entsteht
hier das fundamentale Problem der Objektivierung, aus dem als
Reaktion eine der Hauptkräfte des Existentialismus hervorgegangen
ist, nämlich die Frage der Gefahr, dass aus dem logischen Objekt ein
wirkliches Objekt wird.
Ich will als Beispiel eines aus der persönlichen Sphäre zunächst
behandeln. Wenn Sie einen anderen Menschen, mit dem Sie in ir-
gendeiner Form der Liebe verbunden sind, zu einem logischen Objekt
machen, ist das unvermeidlich. Machen Sie ihn im ontologischen1
Sinn dazu, so wird er für Sie ein Ding, d. h. ein Ding, das man
in seiner Bedingtheit berechnen und dementsprechend behandeln
kann, und eines der schwersten ethischen Probleme liegt in diesem
feinen Übergang vom Erkennen und Lieben zum Objektivieren. In
dem Moment, wo der Ehegatte den anderen zum Gegenstand der
Diplomatie macht, ist die Liebe zerstört. In dem Moment, wo Sie
Ihren Freund berechnen, und irgendwie tun Sie es ja, Sie können
nicht anders, weil er ja teilweise bedingt und teilweise berechenbar
ist, machen Sie ihn zu einem Ding, und in diesem Augenblick ist die
wirkliche Beziehung durchschnitten. Und in demselben Sinn: In dem
Moment, wo man Gott zu einem Objekt macht, und man muss es
ja, ist etwas geschehen, was dem Gedanken Gottes widerspricht. In
dem Moment, wo wir in der Beziehung zu uns selbst uns zu einem
Objekt machen (Selbstanalyse, schon lange vor Vollendung der
Psychoanalyse!), sind wir wieder in einer Situation, in der wir die
lebendige Einheit mit uns verloren haben. Eine, die Hauptgefahr des
ethischen Lebens ergibt sich aus der Differenzierung des logischen und
ontologischen Sinnes von Objekt. Objektivierung kann der Deckna-
me sein für alles, was menschlich zerstörerisch, entmenschlichend ist.
Objektivierung ist aber auch die Voraussetzung für jedem Umgang,
jedes Erkennen. In einem Sinne ist es logisch gemeint, in anderem
Sinne ist es ontologisch gemeint.
1
Korr. (Typ. GS: ontischen)
43
5. Vorlesung
(Montag, 28. Mai 1951)
Ich möchte noch einige Worte über den Begriff „Objekt“ und den
Begriff „Subjekt“ sagen. Es kam am Ende der vorigen Vorlesung
nicht ganz klar heraus, und darum möchte ich wiederholen, dass
man in einem dreifachen Sinn von Objekt heute sprechen kann,
sehr im Unterschied vom Mittelalter, wo Objekt ungefähr das war,
was heute Subjekt ist.
Objekt kann verstanden werden im rein logischen Sinn; da ent-
steht z. B. das Problem: Wie kann man über etwas reden, was an sich
selber nie Objekt im ontologischen Sinn ist, z. B. über den Geliebten
oder über Gott? Was geschieht, wenn man über ihn redet? Dann
geschieht etwas, was charakteristisch für die menschliche Situation
ist. Man macht ihn logisch zum Objekt. Wenn man ihn aber logisch
zum Objekt macht, kann man nicht verhindern, dass man ihn auch
ontologisch zum Objekt macht, d. h. dass man die Trennung von
Subjekt und Objekt, in der wir als endliche Wesen leben, voraussetzt;
denn das ist das erste Charakteristikum der Endlichkeit, dass die
Trennung von Subjekt und Objekt vorliegt. Der Andere, den man
liebt, oder Gott – da ist eine Analogie zwischen beiden. In diesen
Fällen wird er dann ontologisch1 zu einem Objekt, d. h. er wird ein
Seiendes, dem ich als Subjekt gegenüberstehe, das mir als Objekt
gegenübersteht. In dem Augenblick, wo das geschieht, liegt etwas
vor, was zugleich wieder zurückgenommen werden muss. Die Liebe
kann nicht aufrechterhalten werden, die Liebe ist innerlich zerbrochen
in dem Augenblick, wo der andere zum Objekt für mich wird. Ein
Objekt kann ich behandeln, managen, kann ich so und so dirigieren,
den Geliebten kann ich nicht so und so dirigieren, er ist etwas, mit
dem ich Gemeinschaft haben kann oder von dem ich in Hass getrennt
sein kann. Aber das ist eine völlig andere Haltung. Gott kann nie
Objekt werden, weil er seinem Wesen nach das ist, was jenseits von
Subjekt und Objekt liegt. Machen wir ihn doch zu einem Objekt,
tun wir etwas, was seinem Wesen widerspricht, und müssen es im
Augenblick, in dem wir das getan haben, wieder zurücknehmen.
Nun gibt es eine dritte Form, wo dieses Zurücknehmen nicht
möglich ist oder nicht geschieht, und das ist, wenn man jemand oder
etwas zu einem bloßen Ding macht, und das führt zu einer Betrach-
1
Korr. (Typ. GS: ontisch)
44
tung, die sehr tief in unsere gegenwärtige Weltsituation eingreift. Vor
ein paar Tagen wurde ich gefragt oder sogar gestern, ob unter den
Umständen der gegenwärtigen Welt gewisse religiös-sozialistische
Gedanken, die ich früher entwickelt habe, nicht umgedacht wer-
den müssten. Ich gebe das natürlich zu, weil jede für die Situation
geschaffene Theorie dauernd Wandlungen unterworfen ist. Als ich
nun gefragt wurde, worin denn die Wandlung eigentlich besteht, da
antwortete ich, und ich habe das in Amerika in Zusammenhang mit
einer Bewegung, die unserer religiös-sozialistischen sehr ähnlich war,
noch mehr betont, als es vielleicht hier nötig ist, nämlich: Das, was
heute das eigentliche Problem einer Bewegung ist, die Nein sagt und
zugleich ein neues Ja sagt, ist das Phänomen der radikalen Objekti-
vierung, des Zum-Gegenstand-Machens dessen, was an und für sich
Subjekt ist, nämlich Freiheit. Und ich glaube, dass ich mich damit
in Einheit befinde mit einer ganzen Reihe von Bewegungen, die man
heute existentialistisch nennt und die das in zum Teil radikaler Weise
zum Ausdruck bringen. Das Problem ist, dass dasjenige Wesen, das
wir Mensch nennen und das zugleich endlich und frei ist, dass dies
Wesen in ein Ding verwandelt wird, in einen Teil eines Mechanismus,
sei es ökonomisch, sei es politisch, und das ist besonders gültig für
die amerikanische Situation, aber eine Gefahr für die ganze Welt,
nämlich insofern, als die Zentralen der geistigen Beeinflussung heute
technische Methoden sind: Radio, Film, TV und ähnliche Dinge,
die den Menschen in jedem Moment unter eine Bedingung stellen.
Diejenigen von Ihnen, die „Brave New World“ von Huxley und
Orwell’s „1984“ gelesen haben, werden vielleicht wissen, was ich
mit diesem Phänomen meine, dass ich jemand in jedem Augenblick
unter Bedingungen stelle und ihn damit zum Ding mache, zu etwas,
darin die Spontaneität und Freiheit verloren gegangen ist.
Nun folgt aber aus diesem fundamentalen Korrelat, nämlich
Selbst – Welt, dass es so etwas wie ein reines Ding nicht gibt. Es ist nicht
nur falsch, den Menschen zu einem Ding zu machen, es widerspricht
nicht nur seiner ontologischen Struktur, sondern es gibt nichts in der
Welt, was ohne jedes Element der Subjektivität ist. Denken Sie an ein
Werkzeug. Das Werkzeug scheint vielleicht dasjenige zu sein, wofür
das Wort „Ding“ am meisten zutrifft. Schon bei einem Tier haben wir
Hemmungen, selbst bei einem Baum. Nennen wir einen Menschen ein
Ding, ist es eine Beleidigung, aber selbst ein Ding wie ein Werkzeug ist
nicht nur Ding. Wir versuchen, einem Werkzeug eine Form zu geben,
eine ästhetisch künstlerisch sinnvolle Form, wodurch es sozusagen
45
als ein Subjekt zu uns als Subjekt spricht. Das Ding wird sprechend
dadurch für uns, dass es eine sachgemäße und zugleich ästhetisch
erfüllte Form hat, so dass wir sogar durch die künstlerische Form
versuchen, dem, was von allem am meisten Ding ist, dem Werkzeug,
etwas zu geben, was über das reine Dingsein hinausführt. Und nun
leben wir in einer Welt, wo die Realität des Gesellschaftlichen, des
Psychologischen, des Ökonomischen, des Politischen so beschaffen ist,
dass ein fast unwiderstehlicher Drang zum Objektwerden vorliegt. Die
Antwort also, die ich damals [auf die Frage] gab, wie man heutzutage,
was als religiös-sozialistische Bewegung damals in bestimmten Gren-
zen konzipiert war, auf die gesamte Gesellschaft anwenden müsste,
wäre der Kampf gegen die Verdinglichung.
Das ist ein Wort, das jeder, der Marx, Nietzsche, Kierkegaard
kennt, ohne weiteres wiedererkennen wird. Aber damals war es
begrenzt und war umfasst von Grenzen, in denen die Subjektivi-
tät frei blieb. Heute scheint mir ein Prozess vor sich zu gehen, in
dem Subjektivität mehr und mehr völlig verschlungen wird und
infolgedessen auf allen Gebieten, in der Erziehung usw., die Frage
entsteht: Kann ein Wesen wie der Mensch, nachdem er sich zur
höchsten technischen Rationalität durchgerungen hat, existieren,
ohne selber zum Gegenstand dieser technischen Vernunft, d. h. zum
Werkzeug zu werden? Und ich glaube, dass heute eine geistige po-
litische Bewegung – religiös-geistig-politische, sollte man vielleicht
sagen – notwendigerweise eine Bewegung sein muss, die den Kampf
gegen die Verdinglichung aufnimmt. Und damit haben Sie den dritten
Begriff von Objekt, nämlich Objektivierung oder Verdinglichung im
Sinne von Zum-Ding-machen.
Einige Worte über Subjektivität. Es ist selbstverständlich, dass in
einer rein naturalistischen Weltanschauung das Subjekt ein Epiphäno-
men ist, etwas, was hinzukommt und was keine selbständige ontologi-
sche Wurzel hat. Unser Ausgangspunkt, die Selbst-Welt-Korrelation,
hat von vornherein eine solche Auffassung von Subjekt unmöglich
gemacht, weil die Dingwelt ja von dieser Korrelation abhängig ist.
Aus diesem Grund können wir mit einer verhältnismäßigen Ruhe dem
naturalistischen Versuch1 uns entgegensetzen, das Subjekt zu einem
reinen Objekt zu reduzieren – ein Versuch, der in Zusammenhang
steht mit dem Gesamtphänomen der Objektivierung.
1
Korr. (Typ. GS: den naturalistischen Versuchen)
46
Eins ist interessant, dass zur Zeit im amerikanischen Naturalis-
mus, der sehr radikal war, obgleich er nicht die primitive Form des
deterministischen Materialismus angenommen hat, dass diese Form
des Denkens heute von der gesamtamerikanischen Philosophie, so
wie ich sie übersehen kann, angesehen wird als reductionism, d. h.
Reduzieren, das Reduzieren der nichtphysikalischen Elemente der
Wirklichkeit auf physikalische Elemente, und dass heute der Natura-
lismus sich in einer Richtung entwickelt, in der der Reduktionismus,
also das Reduzieren aller Sphären des Lebendigen im Geistigen,
Seelischen usw. auf physikalische Bewegungen als ein Fehlweg all-
gemein angesehen wird, auch bei all denen, die sich heute noch
Naturalisten nennen. In dem Augenblick, in dem das geschieht, ist
folgendes geschehen: Die Subjektivität ist einbezogen in die Objek-
tivität, d. h. das rein Naturhafte, objektiv Gegebene wird nicht mehr
aufgefasst als etwas, aus dem das Subjektive hervorgeht, sondern
das Subjektive wird eingeschlossen. Man kann es natürlich noch
Naturalismus nennen, es kommt auf den Namen nicht an, denn in
diesem Begriff der Natur und damit des Naturalismus sind jetzt alle
Sphären aufgenommen. Das war sehr interessant besonders beim
letzten Philosophentag1, wo das sehr deutlich wurde, wo die Struktur
der Subjektivität als eine notwendige Struktur im Zusammenhang
mit der gesamten Naturauffassung aufgefasst wurde. Das ist für
Amerika sehr beachtenswert, für Europa, soweit ich sehen kann, ist
das nicht mehr so wichtig, weil hier diese Form des Naturalismus
wohl kaum eine Rolle mehr spielt oder jedenfalls nicht mehr spielt,
natürlich auch gespielt hat.
Ich komme nun zu den ersten polaren Elementen. Die Grundpo-
larität, auf der der ontologische Aufbau beruht, war die von Selbst
und Welt und erkenntnistheoretisch von Subjekt und Objekt. Das
haben wir jetzt behandelt und gesehen, warum das eine Polarität
sein muss. In dem Augenblick, wo wir von der einen oder anderen
Seite anfangen, entsteht etwas, was es unmöglich macht, die andere
1
Gemeint ist die 43. Jahrestagung der Eastern Division der American Philoso-
phical Association, die vom 26.-28. Dezember 1946 an der Yale University in
New Haven stattfand und an der Tillich mit einem Vortrag „The Nature of
Man“ teilnahm. In den Vorträgen von Brand Blanshard, Abraham Edel und
Lewis M. Hammond zum Thema „Mensch und Natur“ kam die von Tillich
hier erwähnte Auffassung von Naturalismus zur Sprache. Die Abstracts der
Vorträge in: The Journal of Philosophy, Vol. XLIII, No. 25, December 5,
1946, S. 673-677.
47
Seite wieder zu entdecken. Infolgedessen muss die Ontologie, was
ich sehr definitiv behaupte, mit einer Polarität anfangen. Die Wirk-
lichkeit in ihrem untersten Grunde ist polar strukturiert und ist nicht
monolithisch strukturiert, nicht eine einheitliche undifferenzierte
Struktur. Sie ist von vornherein differenziert. Und jeder Versuch
einer monistischen oder monolithischen Ableitung des Zweiten vom
Ersten oder umgekehrt ist unmöglich. Das ist der Erfolg der lebens-
philosophischen und existentialistischen Kritik am Naturalismus
des 19. Jahrhunderts. Wir können das als den Ertrag dieser Kritik
aufnehmen und zugrunde legen.
Diese Grundstruktur Selbst – Welt hat polare Elemente in sich,
die nun der Reihe nach behandelt werden müssen, und zwar drei
große Polaritäten: Individualisation und Partizipation, Dynamik und
Form, Freiheit und Schicksal. Diese drei Polaritäten nenne ich die
polaren Elemente1, die immer und überall vorkommen und niemals
in irgendeiner Wirklichkeit weggedacht werden können. Das ist das,
was Ontologie bedeutet, nicht dass wir von etwas Seiendem reden,
sondern dass wir von einer Seinsstruktur reden, die immer und überall
notwendig real ist. Sie werden verstehen, dass ich kein Dogmatiker
in Bezug auf meine Organisation bin – nur in einem Punkt, nämlich
bei der Grundpolarität, weil, wenn diese zerstört wird, das Verstehen
der Welt notwendigerweise zerstört wird. In allem anderen lasse ich
mit mir reden.
Die erste dieser Polaritäten ist Individualisation und Partizipa-
tion.2 Ich weiß nicht, ob man das ins Deutsche übersetzen kann.
Man kann „Vereinzelung“ oder „Trennung“ oder so etwas für
„Individualisation“ sagen, aber „Individualität“ ist so sehr in alle
Bildungssprachen übergegangen, dass man es kaum entbehren kann.
Für „Partizipation“ kann man „Teilnahme“ sagen oder mit einem
etwas künstlichen Wort, das eine Übersetzung der platonischen
„metexis“ ist, „Teilhabe“ sagen. Ich ziehe vor, auch einfach wegen
des allgemein-europäisch Sprachlichen, die lateinischen Worte zu
gebrauchen.
Zunächst Individualisation. Plato sagt, dass die Differenz, die
Verschiedenheit, das Unterschiedene als Idee, als Wesenheit verbreitet
1
In der „Systematic Theology“ (1951) nennt Tillich sie „Ontological Elements“
(Band I, S. 174).
2
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 206-210.
48
ist über alle Dinge und über alle Wesenheiten.1 Das Prinzip der Ver-
schiedenheit ist ein Urbegriff. Noch schärfer drückt das Aristoteles
aus, wenn er das individuelle Sein das „telos“ nennt. Telos ist nicht
als „Zweck“ zu übersetzen, sondern als „inneres Ziel“ einer Sache,
nicht als äußerer Zweck; das, worin eine Sache zur Erfüllung kommt.
Daher die künstliche Wortbildung bei Aristoteles: Entelechie, das,
worin der Zweck innerlich sich verwirklicht. Nach Leibniz gibt es
keine absolut gleichen Dinge, sie könnten nicht existieren, da es die
Verschiedenheit ist, die jedem einen besonderen Platz in Raum und
Zeit gibt. Zwei absolut identische Dinge würden am selben Platz und
zur selben Zeit sein. Auch in der biblischen Schöpfungsgeschichte
produziert Gott nicht Mannheit und Weibheit, um diese Abstrakta
künstlich zu bilden, sondern individuelle Wesen, nämlich Adam und
Eva, was ein symbolischer Ausdruck dafür ist, dass in dem Augen-
blick, wo die Schöpfung sich verwirklicht, es Individuen sind, die
auftreten. Sehr interessant ist hier der Neuplatonismus, der trotz
seines Realismus im mittelalterlichen Sinn doch die Lehre aufgestellt
hat, die über Plato hinausgeht, nämlich dass es ewige Wesenheiten,
Ideen, wie oft gesagt wird, Essenzen, Archetypen, wie es bei Augus-
tin übersetzt wird,2 nicht nur von Universalien, sondern auch von
1
Plato, Parmenides 131 B und C (Gleichnis vom Tag und vom Segeltuch: „so
könnte auch jede einzelne Idee allen Dingen zugleich als ein und dieselbe
innewohnen“).
2
Der Begriff „Archetyp(en)“ findet sich bei Augustinus aber nicht. Offensicht-
lich folgt Tillich hier C. G. Jung, der in seinem Vortrag „Über die Arche-
typen des kollektiven Unbewussten“ (in: Eranos-Jahrbuch 1934. Hg. von
Olga Fröbe-Kapteyn, Zürich 1935, S. 179-229) behauptet: „Der Ausdruck
‚Archetypus‘ stammt von St. Augustinus. Er ist eine erklärende Umschrei-
bung des platonischen e"doj.“ (ebd., S. 180). In seinem Brief an Pater Victor
White (Oxford) vom 24.9.1948 korrigiert Jung allerdings seine Behauptung:
„Übrigens findet sich die früheste Anwendung des Wortes Archetypus, wie
ich soeben entdeckte, in Philo: De opificio mundi, 69; sie bezieht sich auf
das e„kën toà qeoà = kat¦ tÕn tÁj yucÁj ¹gemÒna noàn. Bis jetzt glaubte ich,
dass es zum erstenmal im Corpus Hermeticum vorkäme qeÕj tÕ ¢rcštupon
fîj. S. Augustinus wendet den Begriff ‚Archetypus‘ nicht an, wie ich einmal
irrtümlicherweise vermutete, nur die Idee; aber er findet sich bei Dionysius
Areopagita“ (C. G. Jung, Briefe. Hg. von Aniela Jaffé. 2. Band 1946-1955,
Olten / Freiburg i. Br. 1972, S. 129). In der Neubearbeitung des Vortrags
„Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten“ durch C. G. Jung heißt
es nun: „Der Ausdruck ‚archetypus‘ findet sich schon bei Philo Judaeus (De
opificio mundi, Index) mit Bezug auf die imago Dei im Menschen. Ebenso
bei Irenaeus (Adversus omnes haereses, 2, 6), wo es heißt: ‚Mundi fabricator
non a semetipso fecit haec, sed de alienis archetypis transtulit.‘ Im Corpus
Hermeticum wird Gott tÕ ¢rcštupon fîj genannt. Bei Dionysius Areopagita
49
Individuen gibt. Es gibt sozusagen im Bewusstsein Gottes nach dem
Neuplatonismus und vielfach nach christlicher Lehre einen Archetyp,
nicht allgemeiner Art wie jetzt bei C. G. Jung, sondern es gibt auch
Essentialien von jedem Individuum. Das, was wir essentiell sind, ist
in Ewigkeit Gott gegenwärtig. Das ist eine neuplatonische Lehre,
und das ist sehr bemerkenswert. Das bedeutet, dass hier aus dem
Griechentum noch vor dem christlichen Einfluss ein neues Verständnis
der Individualität hervorgebrochen ist.
Individualisation ist eine ontologische Kategorie und damit et-
was, was als Qualität von jedem, was ist, vorliegt. Sie ist da und ist
konstitutiv für alles, was ist. Individualität ist letztlich ein Element
der Urpolarität, nämlich der Selbstheit. Individualität ist begründet
in Selbstbezogenheit, Selbstzentriertheit, Relation zu sich selbst. Das
Wort „Individualisation“ kommt ja von individuitas, Unteilbarkeit.
Warum kann es nicht geteilt werden? Das ist einfach einzusehen,
wenn wir den Begriff des Selbstzentriertseins verstehen. Was selbst-
zentriert ist, kann zerschlagen werden, aber nicht geteilt werden.
Denn das Zentrum ist ein Punkt, der nicht geteilt werden kann. Es
ist unmöglich, das, was ein Zentrum in sich selbst hat, zu teilen, und
darum kann man sagen, Selbstheit ist notwendig Individualisation,
und Selbstheit ist möglich nur, weil das Element der Individualisation
vorliegt. Die beiden sind wechselseitig von einander abhängig.
Nun liegt es so, dass die Individualisierung in einem ständigen
Fortschreiten, nicht zeitlich, sondern strukturell, sich befindet, von
den einfachsten Atomstrukturen bis zu den Menschen. In allem, was
noch nicht Mensch ist, ist das Individuum ein Exemplar, und die
Gattung, das Universale, ist überwiegend. In jeder Pflanze, in jedem
Tier ist das Individuelle untergeordnet dem Arthaften. Sie werden bei
einigen Ihrer Tiere Ausnahmen machen wollen, wenn Sie in einem
persönlichen Verhältnis zu ihnen stehen. Das bedeutet aber einfach,
dass das Tier hereingezogen ist in die Sphäre der vollendeten Indi-
kommt der Ausdruck mehrfach vor, so ‚De caelesti hierarchia‘ II, 4 [Migne,
P. G. L. III col. 144]: aƒ aÜlai ¢rcetup…ai, ebenso ‚De divinis nominibus‘. Bei
Augustinus findet sich zwar der Ausdruck archetypus nicht, wohl aber die Idee,
so ‚De diversis questionibus, LXXXXIII, XLVI col. 49‘: ‚ideae … quae ipsae
formatae non sunt … quae in divina intelligentia continentur.‘ ‚Archetypus‘
ist die erklärende Umschreibung des platonischen e"doj“ (C. G. Jung, Von
den Wurzeln des Bewußtseins. Studien über den Archetypus [Psychologische
Abhandlungen IX, Zürich 1954]; ebenso C. G. Jung, Gesammelte Werke,
9. Band, 1. Halbband, Olten / Freiburg i. Br. 1976, S. 14).
50
vidualisierung und teilnimmt an der vom Menschen herkommenden
Individualisierung. Abgesehen davon, hat es nicht den Charakter
eines Überwiegens des Individuellen über das Allgemeine, und ich
selbst habe das auch beobachtet. Wenn man glaubt, man kann ein
Lieblingstier nie entbehren, es kann ersetzt werden, während ein
Mensch nie ersetzt werden kann, weil hier Individualität mit Ein-
zigartigkeit verbunden ist.
Wir haben insofern im Menschen allein das, was wir „Person“
nennen. Der Begriff „Person“ ist das Individuelle in der Sphäre
des Juristischen allgemein. Das Wort „Person“ ist sehr interessant;
„persona“ heißt: das, was durchtönt, genau wie das griechische
„prosopon“. Es bedeutet ursprünglich die Maske des Schauspielers,
wodurch jemand ein definitiver individueller Charakter wird. Es ist
interessant, dass der Begriff, den wir vielleicht den wichtigsten für die
Bezeichnung des Menschen als Menschen im Unterschied zur Natur
nennen können, aus einer menschlichen Kulturschöpfung kommt.
In dieser Kulturschöpfung entdeckt der Mensch die Einzigartigkeit
dessen, was er sein kann. Gleichzeitig wird es entdeckt im Recht
insofern, als der Einzelne als rechtliches Subjekt anerkannt wird und
damit Person wird. Nicht alle Menschen, die anatomisch, physiolo-
gisch und sogar psychologisch Menschen sind, sind immer als Person
anerkannt worden. Sie wissen, dass in der Antike die Sklaven, die
Kinder, die Frauen nicht als voll entwickelte Individualitäten und
damit nicht als Person anerkannt worden sind.
Zwei Kräfte haben schließlich dazu geführt, dass alle, die ana-
tomisch Menschen sind, auch aktuell als Personen anerkannt wor-
den sind: Zunächst die Stoiker, die deswegen in jedem Menschen
das Individuelle, die vollkommene Individualisierung entdeckten,
weil sie in ihnen das Universale entdeckten, nämlich das Teilhaben
an der allgemeinen Vernunft, dem Logos. Wir sind nur deswegen
vollentwickelte Individuen. Das war es, was die Stoiker entdeckten
durch die Lehre von der Teilhabe jedes menschlichen Individuums
an der allgemeinen Logosstruktur des Seins. Das ist der eine Weg,
und die antike Emanzipation wurde ja gefördert von den stoischen
Kaisern im römischen Imperium auf Grund der Tatsache, dass jeder
Mensch potentiell an der universalen Vernunft teil hat. Die moder-
ne Demokratie steht auf derselben Grundlage. Der Demokrat sagt
nicht, dass alle gleich sind, sondern sagt genau das, was der Stoiker
sagte, nämlich, dass jeder potentiell an der Vernünftigkeit, an der
universalen ontologischen Struktur von Vernunft teilnimmt und
51
daher unter dem Einfluss der Erziehung (daher der Wert, der auf
Erziehung gelegt wird) imstande ist, diese potentielle Vernünftig-
keit auch zu aktualisieren. Der andere Einfluss, der zur universalen
Anerkennung der Vernunft in jedem Menschen und damit in jedem
Individuum als Individuum geführt hat, kommt vom Christentum.
Einmal, was ich schon sagte, dass im Angesicht Gottes jeder Einzelne
eine einzigartige Verwirklichung von Seinsmöglichkeit ist und dass
diese Einzigartigkeit in der letzten Beziehung, in der unbedingten
Beziehung des Menschen, ihm die Möglichkeit gibt und die Notwen-
digkeit für jeden anderen, ihn anzuerkennen als eine aktuelle und
nicht nur potentielle Individualität und damit als Person. Aus diesem
allen folgt nicht mit Notwendigkeit Demokratie, da in Wirklichkeit
Demokratie ein seltener Glücksfall in der Universalgeschichte war
und von besonderen Konstellationen abhängig war und immer ab-
hängig sein wird. Das Christentum ist deshalb nicht unmittelbar für
Demokratie verantwortlich zu machen, aber für ein Element in der
Demokratie, nämlich für das, was man die Menschenrechte genannt
hat, nämlich die Anerkennung der Würde des Einzelnen im absoluten
Sinn als eines vollentwickelten Individuums.
Das führt uns zu der anderen Polarität1, nämlich der Partizipation
oder Teilnahme. Ich hatte gesagt, dass die Stoiker und die Christen
entdeckt haben die Universalität des Persönlichen gerade dadurch,
dass das Menschliche zugleich teilhat am Universalen. Hier kommen
wir zurück auf den Gegensatz im Anfang zwischen Umgebung und
Welt. Der Mensch hat Welt, alle nichtmenschlichen Wesen haben
Umgebung. Auch der Mensch hat Umgebung, aber er hat die Fä-
higkeit, aus der Umgebung Welt zu machen. Und das bedeutet für
dies Problem, dass die vollkommene Individualisierung nur dann
stattfindet, wo die begrenzte Teilnahme erreicht ist, nämlich das Teil-
nehmen an der Welt als solcher. Jedes Ding nimmt irgendwie teil an
der Umgebung – über das Animalische brauche ich nichts zu sagen.
Dagegen muss ich etwas anderes sagen: dass der Mensch dasjenige
Wesen ist, das universal teilhat. Der klassische Begriff dafür ist der
Renaissance-Mikrokosmosbegriff. D. h. in ihm, dem Menschen, ist
die ganze Welt potentiell gegenwärtig, oft sehr unentwickelt, oft wie
in einem Tier, aber entwicklungsfähig. Diese Idee der universalen
Teilhabe wird von Philosophen wie Cusanus und Leibniz dann vom
1
Gemeint: zum anderen polaren Element
52
Menschen übertragen auf alle anderen Wesen, aber im Menschen
allein ist die universale Teilname aktuell möglich, während sie in
den anderen Wesen potentiell, aber unterdrückt ist.
Der Mensch nimmt teil am Universum, d. h. in seiner ontolo-
gischen Struktur. Die einfache Tatsache, dass wir heute in dieser
Stunde miteinander über Strukturen des Seins als solchen sprechen
können, dass wir sie wiedererkennen können in allem, was ist, macht
uns zu solchen, die universal teilhaben, und das ist die andere Seite
der Individualisation. Wir sind vollkommene Individuen, weil wir
getrennt sind von der Gebundenheit an die Umwelt und weil wir die
Möglichkeit haben, jenseits der Umgebung Welt zu haben. Ich hatte
schon gesagt, dass das möglich ist durch die Sprache. Die Sprache
ist die große Befreierin, und darum fühlt man oft, wenn Tiere sich
ausdrücken wollen und ihnen die Sprache fehlt, etwas Tragisches
in diesem Bemühen. Sie dringen nicht durch zur Sprache, sie sind
gebunden an das, in dem sie sind. Der Mensch ist durchgedrungen
zur Sprache, er hat in seiner Sprache das Prinzip der universellen
Teilnahme. Jedes Wort ist ein Universum in sich und kann in unend-
lichen Exemplaren wiedergefunden werden, und er hat von da an die
Möglichkeit, teilzunehmen an dem entferntesten Stern und an der
entferntesten Vergangenheit, räumlich und zeitlich unbegrenzt. Und
wie nun die Individualität zur Vollendung kommt in der Person, so
kommt die Teilnahme zur Vollendung in der Gemeinschaft.
Gemeinschaft ist diejenige Form des Teilhabens, die zwischen
Personen stattfindet. Wie wir gesehen haben, dass das Individuum
nur als Individuum zur Vollendung kommen kann durch universale
Teilnahme, so folgt daraus, dass Gemeinschaft ebenso essentiell für
uns ist wie Persönlichkeit. Wo keine Person ist, ist auch keine Ge-
meinschaft. Darum sind die Kollektive, die die Person in ein Ding
verwandeln, genau das Gegenteil von Gemeinschaft. Wir hören so
oft in der politischen und religiösen Diskussion, wenn gegen den
Individualismus geredet wird, dass man ja im Kollektiv eine wah-
re Gemeinschaft haben könnte. Aber dann muss man sehr scharf
unterscheiden: Wenn das Wort „Kollektiv“ bedeutet, dass man zu
einer übergeordneten Einheit gehört (wie wir jetzt in dieser Klasse
in einem Kollektiv sind), so sind wir in diesem Sinn dauernd in der
Sphäre des Kollektiven. Bedeutet es aber, dass die Teilnehmer an
dem Kollektiv oder die Teile des Kollektivs verdinglicht werden um
des Kollektivs willen, d. h. ihrer Einzigartigkeit, Individualität und
vernünftigen Freiheit beraubt werden, in dem Augenblick ist auch
53
keine Gemeinschaft mehr möglich. Und das zeigt sich in jedem
kollektiven System, dass es notwendigerweise nicht nur die Person,
sondern auch die Gemeinschaft zerstört. Ich brauche dafür keine
Beispiele zu geben. Sie haben es erlebt und erleben es weiter.
Warum braucht die individuelle Persönlichkeit die Gemeinschaft?
Das ist nicht eine romantische oder emotionale Sache, sondern eine
ontologisch deutlich zu beschreibende Sache. Jedes Individuum ist he-
rausgehend, geht aus sich heraus, über sich hinaus zu etwas anderem.
Wir alle haben einen unendlichen Prozess des Über-uns-Hinausgehens
(ich komme in der nächsten Polarität dazu). Wenn ein Wesen unbe-
grenzt über sich hinausgehen könnte, ohne Widerstand zu finden,
würde es sich verlieren. Wo können wir Widerstand finden? Es gibt
nur einen Punkt, in dem die individuelle Person, in dem das Ich-selbst
einen Widerstand finden kann, den es nicht brechen kann: nirgends in
der ganzen Welt außer im anderen Individuum. Alle anderen Dinge
können von uns bedingt werden, d. h. wir können ihren Widerstand
brechen, wir können sie bewältigen, kontrollieren, in unsere Hand
nehmen, wir können Objekte im Sinne von Ding aus ihnen machen.
Mit der Person können wir das nicht. Das Du wirft uns zurück auf
das Ich und macht uns überhaupt erst zu einem Ich dadurch, dass
es uns zurückwirft. Das ist der tiefste Kern der Ich-Du-Begegnungs-
philosophie und ist eine der wichtigsten Entdeckungen, die in dieser
Formulierung (glaube ich) von Martin Buber stammt. Die Entdeckung
bedeutet, dass das Ich gar nicht imaginiert werden kann in irgend-
einem Sinn ohne das ständige Zurückgeworfensein von dem Du und
umgekehrt. Warum können wir das Du nicht aneignen? Um das zu
tun, müssen wir es zum Ding machen. Es war ja der Versuch der
Diktatoren zu allen Zeiten und besonders in unserem Jahrhundert,
gewisse Menschen vollständig in die Dingstruktur zu verwandeln,
so dass sie ihnen nicht mehr als Subjekte, als Ich dem Du begegnen
konnten. Sie konnten das aber nur, wenn sie durch einen Prozess
totaler Entmenschlichung, der manchmal bis zu einem gewissen Grad
gelang, sie ihrer eigentlichen Subjektivität beraubten, wodurch sie nun
den Widerstand des anderen Ichs nicht sahen. Diese Relation [von
Ich und Du] ist die fundamentale Kritik der Terrormethoden – nicht
deswegen, weil Menschen leiden müssen (das geschieht immer in
Gefängnissen und sonst wo) – , sondern weil da ein fundamentales
Verneinen der Gemeinschaft um des Kollektivs willen produziert
wird, ein Verneinen der Ich-Du-Begegnungsmöglichkeit und damit
ein Zerstören der Gemeinschaft.
54
Die Partizipation ist abhängig von der Individualisation. In dem
Augenblick, wo ein Mensch ein Ding geworden ist, hat er nicht mehr
teil am Universalen, seine Sprache ist reduziert. Wir beobachten dann
die Zerstörung der Sprache. Er kann Worte noch bilden, sie sind
aber bezogen auf die Situation, in der die Worte gebraucht werden
müssen. Die Sprachzerstörung ist eine Konsequenz der Zerstörung
von Partizipation und Individualisation.
Lassen Sie mich schließen mit der Feststellung, dass ich glaube,
dass eines der Grundprobleme des menschlichen Denkens, an dem
das Mittelalter beinahe am Anfang und dann am Ende wirklich
zugrunde ging, nämlich Nominalismus und Realismus, durch die
Polarität von Individualisation und Partizipation gelöst ist. Nomi-
nalismus besagt, dass nur das Einzelne Realität hat. Sein Extrem ist
der Dadaismus – wenn man schon mehr als „Da“ sagt, hat man ein
Universale! Das ist das Extrem des sich abspaltenden Individualisa-
tionsprozesses. Aber das Extrem des Realismus im mittelalterlichen
Sinne ist, was heute vielfach im Kollektivismus sich wiederholt,
nämlich, dass das Individuum keine selbständige Realität hat, womit
die Aktualisierung des Allgemeinen unmöglich wird. Denn es kann
sich nur in der individuellen Person aktualisieren. Das wird ausge-
löscht. Und dann hat man radikalen Individualismus auf der einen
Seite und radikalen Kollektivismus auf der anderen Seite. Auch hier
scheint mir, dass die Polarität die Lösung ist.
55
6. Vorlesung
(Dienstag, 29. Mai 1951)
Noch ein paar Worte über die beiden Begriffe, die wir gestern behan-
delt haben, Individualisation und Partizipation. Erst ein paar Worte
über den Begriff oder besser über die Funktionen, die der Begriff
„Partizipation“ hat. Er hat sehr viele Funktionen, und ich übersetze
ihn jetzt mit „Teilhaben“. Z. B. ein Symbol hat teil oder partizipiert
an der Wirklichkeit, die es symbolisiert. Das ist der Unterschied
zwischen Symbol und Zeichen; das Zeichen steht äußerlich zu dem,
was es bezeichnet, das Symbol partizipiert an dem, was es bezeichnet.
Das ist der Realismus der Symbole im Unterschied von dem rein
imaginären Charakter der Zeichen. Oder: Der Liebende nimmt teil
an dem, den er liebt. Es gibt kein Lieben, das nicht ein partielles
An-der-Stelle-Sein, ein Teil-Sein, participere von dem, was man liebt,
ist, ohne ein Element der Identifikation. Oder, um zurückzugehen auf
den altplatonischen Gebrauch von „metechein“: alles, was existiert,
jeder von uns und jedes Ding, nimmt teil an den Wesenheiten, zu
denen wir gehören, dem Wesen Mensch, dem Wesen Frau, dem Wesen
Lebewesen. Oder: Das Individuum nimmt teil an dem Schicksal der
Entfremdung und Versöhnung, wie die christliche Lehre es formuliert.
Oder: Der Christ nimmt teil an dem neuen Sein, das er in Christus
sieht. D. h. Partizipation ist ein Begriff, der überall seine Funktion
hat und auch da, wo der absolute Gegensatz vorliegt.
Wir haben gestern im Seminar einige Fälle diskutiert, die anzei-
gen, wie der Erkennende am Erkannten teilhat, wie ein Partizipa-
tionsverhältnis die Voraussetzung allen Erkennens ist. Wir hatten
als Beispiel, und ich möchte das hier berichten, weil es so sehr in
die gegenwärtige psychologische Theorie und Praxis eingreift, wir
hatten davon gesprochen, dass man in Bezug auf die Psychotherapie
(z. B. Psychoanalyse, aber auch andere Psychotherapien) unterschei-
den muss zwischen Wissen und Einsicht, und wir hatten gesagt, im
Wissen um die psychoanalytische Theorie, z. B. beim Analytiker,
ist die Teilnahme weit untergeordnet der Detachiertheit objektiven
Erkennens, während, wenn es sich um den Patienten handelt, dieses
Wissen eins der schwersten Hindernisse ist dafür, dass er wirklich
zur Einsicht kommt, nämlich ein Sehen im Sinn des Teilhabens hat,
des Teilhabens an dem, was er in sich vorfindet an unbewussten und
verdeckten Trieben und Tendenzen. Nur wo solches Teilhaben mit
sich selbst in seinen vergangenen oder gegenwärtigen unbewussten
56
Dingen stattfindet, kann die Analyse Heilung bringen. Solange Sie sich
in der Sphäre des bloßen Wissens, des bloß Detachierten befinden,
ist Heilung aufs äußerste gehindert. Aber auch da, wo Feindschaft
vorliegt, ist Teilhabe nötig, wirklich, vorausgesetzt. Man ist feind-
lich nicht dem gegenüber, an dem man in keiner Weise teilhat. Da,
wo Sie feindlich, und besonders da, wo Sie fanatisch feindlich sind,
zeigen Sie damit, dass Sie teilhaben und zugleich diese Teilhabe in
einer anderen Weise haben wollen oder sich von ihr scheiden wol-
len oder sie unterdrücken wollen. Die Psychologie des Fanatikers
ist die Psychologie des Menschen, der etwas unterdrücken muss in
sich selber, an dem er teilhat, und der, wenn er es in anderen sieht,
vorfindet, gegen diese fanatisch sein muss, weil er in sich selber
daran teilhat, aber es nicht wahr haben will, nicht wirklich haben
will, dass er daran teilnimmt. Aus dieser Struktur entsteht alles, was
man als Fanatismus bezeichnen kann – eine sehr wichtige Funktion
des Teilhabebegriffs.
Ich hatte dann zum Schluss ein paar Bemerkungen gemacht über
Nominalismus und Realismus, die logischen Theorien, die zugleich
Symptome für gesellschaftliche Zustände sind, und möchte hier ei-
nen Gedanken, den ich auch im Seminar wiederholte, noch einmal
zum Ausdruck bringen; nämlich, dass der Kampf zwischen Nomi-
nalismus und Realismus verstanden werden kann als ein Kampf um
die unabhängige Wertung des Individuums in der abendländischen
Gesellschaft, ohne dass dafür diese Gesellschaft aufgelöst werden
musste. Das war der große Versuch des Mittelalters, der sich in der
Balance ausdrückt zwischen Nominalismus und Realismus in der
logischen Theorie, der Versuch, das Individuum zu retten und zugleich
die Universalien, die übergreifenden Einheiten, aufrecht zu erhalten.
Der Versuch eines radikalen Realismus, mystischen Realismus, wie
ich ihn nennen würde, dem Individuum jede Bedeutsamkeit zu neh-
men, würde zu einer Asiatisierung Europas geführt haben. Europa
würde im Mittelalter, wäre es dem Realismus vollkommen verfallen,
seine Selbständigkeit verloren haben, nämlich die Bejahung des
Individuums gegenüber dem Kollektiv. Auf der anderen Seite brach
das Mittelalter auseinander, als die bewahrenden Universalien ihre
Bedeutsamkeit verloren und das Einzelne als Einzelnes übrigblieb
und die verbindenden Elemente nun das große Problem des letzten
Jahrhunderts waren. Und wenn Sie von da aus auf die gegenwärtige
Situation blicken, können Sie sagen, wir leben in einem Jahrhundert,
in dem nach dem letzten großen individualistischen, dem 19. Jahr-
57
hundert, der Versuch gemacht worden ist, der Partizipation neue
Bedeutsamkeit gegenüber der Individualisation zu verschaffen, dass
die Attraktionskraft der neuen Lebensformen darauf beruht, dass
diese eine Notwendigkeit sind, dass aber die Versuche, die bisher
gemacht worden sind, solche sind, in denen Individualisation geistig
zerbrochen wird zugunsten einer radikalen Partizipation, wobei auch
diese selbst kaputt geht und ein Mechanismus übrig bleibt.
Ich komme jetzt zu dem zweiten der polaren Elemente, nämlich
Dynamik und Form.1 Ich möchte zunächst einiges über Form sagen,
um dann sehr viel und ausführlich über Dynamik zu sagen. Sein ist
untrennbar geeint mit dem Logos des Seins, mit der Form oder Struk-
tur, die dafür sorgt, dass ein Ding ist, was es ist, die ihm Sinn gibt
und die Möglichkeit, ergriffen und geformt zu werden. Wir können
direkt sagen: Etwas sein heißt, eine Form haben. Dabei kann man an
mehr universale und mehr spezielle Formen denken. Die speziellste
Form, auf die ich gestern hingewiesen habe, ist die Idee, die Essenz
des Individuums, von der2 die Neuplatoniker und die nachfolgenden
altchristlichen Theologen gesprochen haben. Allgemeine und indi-
viduelle Formen können nie getrennt werden, und in ihrer Einheit
sehen wir lebendige Wesen, Menschen, Frauen, diese Frau; in dieser
Einheit machen sie das aus, was ist. Was seine Form verliert, verliert
sein Sein, und darum ist es misslich, obgleich zuweilen unvermeidlich,
wenn man Form mit Inhalt konfrontiert und sagt: Hier Form, dort
Inhalt. Aber das ist nicht der Gegensatz. Die Form, die ein Ding zu
dem macht, was es ist, ist gerade der Inhalt dieses Dinges, ist seine
Essenz, sein Wesen, ist das, was ihm die Macht des Seins gibt, dass
es so seiend ist, wie Goethe es gesagt hat.3 Die Form eines Baums
macht, was ihm den allgemeinen Charakter des Baumseins gibt und
dann den besonderen Charakter dieses Baumes von dieser Art. Form
und Inhalt können nicht getrennt werden, weil die Form einer Sache
ihr Inhalt ist. Der Grund, warum wir trotzdem oft Inhalt und Form
trennen, kommt nicht aus den Dingen, wie sie sind, sondern aus der
menschlichen kulturellen Aktivität. Wenn der Mensch kulturell sich
auf die Wirklichkeit wirft, sie gestaltet, aufnehmend oder verändernd,
dann hat er diese Wirklichkeit mit all ihren Formen, d. h. Inhalten
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 210-214.
2
Korr. (Typ. GS: denen)
3
Goethe, „wie seiend“ (s. o. S. 19, Anm. 2)
58
des Materials, vor sich und dann macht er daraus etwas anderes.
Eine Landschaft hat eine natürliche Form, und diese Form ist ihr
Inhalt; das ist diese Linie, diese Farbe, diese Tiefe oder Flachheit,
all das gehört zur Landschaft. Wenn dann der Maler kommt, be-
nutzt er diese natürliche Form der Landschaft als Material für seine
künstlerische Schöpfung, und in diesem Augenblick ist der Inhalt
dieses Bildes nicht das Material, das er hier gefunden und sehr stark
verändert hat, weil er ja ein schöpferischer Maler ist nach unserer
Voraussetzung, sondern der Inhalt ist auch wieder das, was er daraus
gemacht hat, dieses Bild. D. h. mit anderen Worten, wir können Form
und Inhalt nicht einmal in der kulturellen Schöpfung unterscheiden,
wir können höchstens Material und Form unterscheiden, und das
können wir in der Tat.
Das führt mich zu einem Problem, das ich noch erwähnen möch-
te, weil es auch sehr viel praktische, ethische und politische Folgen
hat, die Frage nach dem Formalismus. Was bedeutet Formalismus?
Formalismus bedeutet nicht, dass eine Form auf ihren Inhalt oder
besser auf ihr Material nicht passt. Es gibt keine künstlerische Form,
die auf das Material dessen, was wir außerhalb des Fensters sehen,
nicht passt; jeder Kunststil kann darauf verwendet werden, und das
Wort „Formalismus“ hat da überhaupt keinen Boden. Die Frage
der künstlerischen Form hat eine ganz andere Bedeutung. Die Frage
ist: Ist die künstlerische Form gegeben als Ausdruck der Begegnung,
einer echten Begegnung? Wir Deutschen können froh sein, das Wort
„echt“ zu haben, das unübersetzbar ist und das etwas ausdrückt,
was von größter philosophischer Bedeutung ist. Wir haben nicht
nur „wahr“ und „falsch“, sondern auch „echt“ und „unecht“. Und
für die Kunst sind diese beiden Begriffe „echt“ und „unecht“ von
größerer Bedeutung als „Wahrheit“ und „Falschheit“. Unwahrheit
in der Kunst ist Unechtheit. Das bedeutet, dass die Form von woan-
ders her genommen ist und nicht aus der ursprünglichen Begegnung
des Geistes mit der Wirklichkeit. Formalismus bedeutet nicht, dass
eine stark durchgearbeitete, sogar eine klassische Form genommen
wird, sondern es bedeutet z. B., dass die klassische Form etwa des
Jahres 1500 zur Idealform für alles künstlerische Schaffen gemacht
wird und dann ein falscher Klassizismus entsteht, wo eine Form,
die aus einer anderen Begegnung mit der Wirklichkeit produziert
wurde, nun von jemand benutzt wird, der diese Begegnung mit
der Wirklichkeit gar nicht mehr hat. Das ist, was Formalismus ist.
Und in diesem Sinn kann Formalismus ganz gleichgültig dagegen
59
sein; es kann in beiden Fällen stattfinden, ob man traditionalistisch
oder revolutionär ist. Für gewöhnlich denkt man bei Formalismus
an Leute, die eine traditionelle Form immer wiederholen, weil sie
finden, dass diese Form dasjenige ist, was als wahre Form zu gelten
hat. Es ist aber keineswegs, dass nur Traditionalismus und Formalis-
mus zusammengehören. Es gibt revolutionäre Stile, die formalistisch
werden können, genau so, wie es konservative Stile gibt, und wir
haben das ja in der Kunst erlebt in einem Augenblick, wo die mo-
dernen Stile, die aus einer echten Begegnung mit der Wirklichkeit,
nämlich einer zerrissenen Wirklichkeit, geschaffen waren, zu einem
Schema wurden, und die von der jüngeren Generation, die diese
Begegnung nicht mehr hatte, einfach nachgeahmt wurde. Und nun
denken Sie an Denkstile, philosophische Stile, politische Stile, wo
wir genau dieselbe Situation haben, wo Leute, die revolutionäre
Stilformen repetieren, sich einbilden, damit Revolutionäre zu sein.
In Wirklichkeit sind sie formalistisch, weil ja die Begegnung, die vor
hundert Jahren einmal echte Revolution war, zu einer hohlen Sache
geworden ist. Das Problem des Formalismus wird von mir z. B. in der
Lehre von der Vernunft behandelt als eine der Ausdrucksformen der
entfremdeten Vernunft. Formalismus ist entfremdete Vernunft, und
es ist entfremdete Vernunft eben deswegen, weil die schöpferische
Vernunft, die eine Form schafft, wenn sie formalistisch wird, Formen
wiederholt, die nicht mehr aus der Begegnung unmittelbar stammen,
damit etwas tut, was letztlich Lüge ist und darum Entfremdung und
Schuld bedeutet. Es ist selbstzerstörende Vernunft, die formalistisch
ist. Wenn in einer religiösen, politischen oder künstlerischen oder
wissenschaftlichen Formgebung Formalismus eintritt, dann wissen
Sie, dass der Mut nicht mehr da ist, der Wirklichkeit so zu begeg-
nen, wie es einer echten Begegnung zukommt, sondern dass man
sich zurückzieht auf frühere Begegnungen. Aus der Kunstgeschichte
kann man eine Fülle hier lernen für die politische Gegenwart. So
viel über die Form.
Nun einiges und mehr noch über Dynamik. Jede Form ist die
Form von etwas, irgendetwas ist geformt. Was ist das, das geformt
ist durch die Form? Vergessen Sie nicht, wir sind in der Ontologie,
wir sprechen von allem, von jeder Wirklichkeit, wenn wir diese
Frage stellen. Jede Form formt etwas. Wenn wir aber fragen, was?,
dann kommen wir in die größte Verlegenheit. Ich habe das Wort
„Dynamik“ gebraucht. Das ist aber auch ein Notbehelf wie alle
anderen Worte; aber sie helfen uns nicht viel weiter. Wenn wir et-
60
was mit einem Wort bezeichnen, wenn wir einen Begriff auf etwas
anwenden, dann muss ja dieses Etwas schon eine Form haben, sonst
können wir es ja nicht in das Wort, den Logosbegriff fassen. Nun
sprechen wir aber von dem, was in jeder Form gegenwärtig ist als
das Geformte, was also selber zunächst keine Form hat. Und das ist
der problematische Charakter dieses Wortes „Dynamik“. Wenn ich
es wirklich definieren könnte, würde es nutzlos sein, dann würde es
gerade nicht auf das hinweisen, auf das es hinweisen soll, nämlich
das, was in jeder geformten Wirklichkeit das ist, was geformt wird,
was als solches noch keine Form hat.
Die Schwierigkeit dieses Begriffes ist sofort in der frühgriechischen
Philosophie gesehen worden und hat zu einer reichen Geschichte des
Denkens geführt auf diesem Gebiet, von der ich einige Ausschnitte
geben will. Am geistreichsten wie immer hat es die griechische Spra-
che gemacht, indem sie zwei Begriffe von Nichtsein geschaffen hat:
ouk on und me on, ouk on, das, was schlechterdings nicht ist, und
me on, das, was nicht ist, aber doch nicht schlechterdings nicht ist,
sondern sein kann, was, wie Aristoteles es später formuliert hatte,
die Dynamis, die Potentialität zu sein ist. Dieses Nichtsein, das me
on, ist das, was keine Form hat, was aber die Möglichkeit aller Form
in sich trägt; es ist nicht das einfache Nichtsein, das Nichts, wie wir
wohl sagen würden, sondern man kann es vielleicht so ausdrücken:
Es ist das Nochnichtsein. Und nun möchte ich sagen: Obgleich die
griechische Sprache diesen Begriff geschaffen hat, ist er sehr viel älter
als die griechische Sprache, ja als irgendeine historische bekannte
Sprache. Er geht zurück bis zur Mythologie, und dort haben wir das,
was dieser Begriff des me on, des Nochnichtseienden ist, Dynamik,
die noch nicht Form ist, in den verschiedensten Weisen gegenwärtig,
z. B. auch wieder bei den Griechen der Begriff des Chaos. Chaos
bedeutet: der offene Rachen, der Abgrund, der keine Form hat, in
dem man verschlungen wird. Oder der alttestamentliche Begriff, der
von Luther durch „wüst und leer“ übersetzt worden ist, der einfach
eine Umschreibung von Chaos ist – Tohuwabohu, das, was noch
keine Form hat, und darum symbolisiert ist in der Genesis durch
das Wasser.1 Das Wasser fungiert sehr oft als das, was noch keine
Form hat, was man freilich objektiv nicht behaupten kann. Relativ
zum Festen ist es aber formlos und daher sehr oft das Symbol des
me on. Man kann auch vom Visuellen her ein Symbol finden, näm-
1
1 Mose 1,2a.
61
lich die Nacht. In vielen Mythen, auch bei den Griechen, ist es die
Nacht; was hier einfach bedeutet, dasjenige, was Form im optischem
Sinn unmöglich macht, nämlich das Fehlen des Lichts. Man kann es
auch ausdrücken, was eine große Bedeutung in der frühgriechischen
Philosophie hat, durch Leere, Vakuum, durch das, was leerer Raum
ist. Die große Frage der Eleaten war: Gibt es einen leeren Raum?
Wie kann es ihn geben, wenn er leer ist? Mit dieser Frage haben die
Eleaten – wie überall die allerersten – das große Problem gesehen:
Was ist dies Nichtsein, das doch nicht einfach ein Nichts ist? Und
die spätere Naturphilosophie bei Demokrit hat dann diesen leeren
Raum bejaht in hochdialektischen Begriffen, der durch die ganze
Philosophie geht. In der modernen Zeit möchte ich auf einige ande-
re Begriffe hinweisen, die der Sache eine gewisse Wendung geben.
Jakob Böhme, der philosophus teutonicus, von dem alle großen
deutschen Philosophen und vielleicht Franzosen (Bergson) abhängig
sind, hat dies Prinzip, das er mit besonderer Deutlichkeit sah, den
„Ungrund“ genannt. Ungrund – man sieht, hier fehlt die Möglichkeit
der Definition, und sie muss fehlen; wäre sie möglich, handelte es
sich ja nicht mehr um den Grund, sondern um eine Form. Dann auf
der Höhe der klassischen deutschen Philosophie bei Schelling und
Schopenhauer „der Wille“. Jeder, der Psychologie studiert hat, ist
fähig, durch [eine] überlegene Geste Schopenhauer zu widerlegen. Er
ist aber damit nicht zu widerlegen, sondern einfach nicht verstanden.
Natürlich ist es nicht das, was die Psychologie im Labor Wille nennt,
sondern wenn wir uns die Beschreibung von Wille bei Schopenhauer
ansehen, dann findet man, dass Phänomene mit „Wille“ beschrieben
sind, die mit dem, was in der Psychologie als Wille, als abgeleitetes
psychologisches Phänomen, bezeichnet wird, gar nichts zu tun haben,
sondern dass Wille bei Schelling und Schopenhauer ein Symbol von
dem, was gerade nicht Begriff sein kann, ist. Und bei Schopenhauer
ist es besonders klar, weil ja die andere Seite der Wirklichkeit, nämlich
der Begriff als Idee, neben dem Willen steht. Und damit bekommt
er seine vieldeutige Natur, die nur verstanden werden kann, wenn
man den Schopenhauerschen Willensbegriff als das, was ich hier als
Dynamik bezeichnet habe, als Symbol für das versteht. Das gibt auch
Verständnis für Nietzsches „Willen zur Macht“. Der ist kindisch im
Augenblick, wo man ihn auffasst als die Idee, dass alle Lebewesen
den Willen haben, so mächtig wie möglich zu werden. Das trifft nicht
zu für nichtmenschliche Lebewesen, nicht für alle Menschen und ist
überhaupt Unfug. Was aber gemeint ist damit, ist genau das, was wir
62
umschrieben haben als Seinsmächtigkeit, nämlich die Selbstaffirma-
tion dessen, was die Macht hat zu sein, die Affirmation zu sein. Das
ist damit gemeint. Es ist nicht Macht im Sinn von Beherrschung – das
kommt gelegentlich auch vor, aber da es ein allgemeines ontologisches
Prinzip bei Nietzsche ist, bedeutet es die Mächtigkeit der Selbstbeja-
hung, der Selbstaffirmation, die dem Nichtsein widerspricht; [es ist]
insofern ein echter ontologischer Begriff und darf nicht mit einem
sozialpolitischen Begriff verwechselt werden. Und wir müssen das
auch anwenden – und da wird es etwas gefährlich für mich – auf
Eduard von Hartmann und Freud, die beiden, die am meisten für
den Begriff des Unbewussten getan haben. Wenn man diesen Begriff
missversteht, kommt man auch in einen ziemlichen Unfug. Dann
sieht das Unbewusste aus wie ein Kellerraum des Bewussten, aber
versperrt mit allem abgelegtem Mobiliar des Bewussten, allem, was da
unten rumort. Fasst man das Unbewusste so, ist es furchtbar leicht,
Freud zu widerlegen und Hartmann einen Phantasten zu schimpfen.
Natürlich ist es bei keinem so gemeint, obgleich ich manchmal meine,
dass die orthodoxen Freudianer (wie alle Schüler schlimmer als ihre
Meister) diesem Kellerbild recht geben … Aber was wirklich gemeint
ist, ist etwas völlig anderes. Es ist die ganze Sphäre der Dynamik,
der Tiefenkräfte der Vitalität, die ins Bewusstsein drängen und das
Bewusstsein stören, unter Umständen zerstören und in irgendeiner
Weise dirigieren. Aber in dem Augenblick, wo man daraus ein
Schattenbild des Bewusstseins machen will und dies dann ganz genau
beschreibt wie ein Land oder einen Keller, ist das Entscheidende daran
vergessen worden: dass es sich hier um den Begriff dessen handelt,
wofür kein Begriff möglich ist. Wäre das möglich, wäre es ja schon
ein Geformtes, ein Etwas und nicht das, was geformt werden soll.
Wenn Sie die psychologische Theorie von da aus verstehen und
vielleicht auch etwas hineininterpretieren würden, würden vielleicht
Einwände gegen diese Theorie wegfallen, und anstelle dessen würde
der tiefe Sinn dieser Theorie zum Ausdruck kommen, den ich darin
sehe, dass er die Bewusstseinspsychologie und Anthropologie, wie
sie seit Descartes überliefert worden ist, definitiv von der Psycho-
logie her unmöglich gemacht hat. Das ist in der Metaphysik seit
Schelling mindestens geschehen, in der Psychologie erst seit Freud.
Das ist seine Bedeutsamkeit, dass hier die Sphäre wiederentdeckt
ist, die bei Cartesius verloren gegangen ist, die Sphäre zwischen
Ding und meinen Bewusstsein, die ich – vorschlagenderweise, nicht
dogmatischerweise – als Dynamik beschreibe.
63
Wo kommt das historisch her und wie hat es sich historisch
entwickelt? Die Frage ist wichtig aus einem bestimmten Grund. Im
griechischen Denken ist diese Dynamik, dies Nichtsein ein letztes
Prinzip, das Prinzip des Widerstandes gegen die Form. Das Verhältnis
von Form und Materie, hyle oder me on, im griechischen Denken
ist dies, dass Form und Materie gleich ursprünglich sind, dass das
Nichtsein sich daher wehrt, von der Form geformt zu werden, das
Nichtsein ist gleichsam das letzte Überbleibsel des Dämonischen
im Polytheismus, in der Form der griechischen Logik; da ist es
endgültig rationalisiert, aber dahinter steht das Dämonische des
Polytheismus. Es ist das Prinzip des Widerstandes. Und nun passiert
etwas weltgeschichtlich Wichtiges für die Ontologie im Augenblick,
als das Christentum den Schöpfungsgedanken aussprach und damit
dieses halb selbständige Prinzip der widerstrebenden Materie auflöste
durch den Schöpfungsgedanken, wo nur ein Prinzip, das Prinzip
der Einheit zwischen Form und Dynamik im Hintergrund der Welt
steht. Damit ist das griechische Problem nur auf eine andere Ebene
geschoben, auf eine nichtdialektische Ebene, wo selbständiges Chaos
nicht mehr möglich ist.
Die griechische Lösung hat das Problem Form und Dynamik
nicht gelöst. Wie kommt es nun zu diesem Gegensatz, zu dieser
Relation, die ja doch eine Realität ist – eine Form und etwas, das
geformt ist – , wie verhält sich das zum Schöpfungsgedanken? So-
weit ich sehe, war der erste, der hilfreich war in dieser Beziehung,
Duns Scotus in dem, was er gegen Thomas sagt, nämlich, dass man
Gott nicht einfach auffassen kann als actus purus, als reine Form
im aristotelischen Sinn, weil dann unverständlich bleibt, woher die
Spannung kommt, sondern dass man Gott als Willen auffassen muss
und dass in diesem Willensprinzip das gefunden ist, was als me on,
als Dynamik in der Struktur der Welt vorliegt (Wille hier wieder
mehr als der psychologische Wille). Von daher ging dieser Gedanke
auf Luther über, für den Gott wesentlich Willensgott wurde und
bei dem der actus purus des Thomas fast ins Gegenteil umgekehrt
wurde in manchen Formulierungen, dass man direkt das dämonische
Element Gottes hindurchsieht. Dann ging es so weiter, und die protes-
tantischen Mystiker, von denen ich vor allem Jakob Böhme genannt
habe, versuchten daraus eine neue dynamische Philosophie der Welt
zu machen, eine Metaphysik, in der man das Element des Dynami-
schen auf eine neue Ebene stellte. Die sogenannte Lebensphilosophie
ist abhängig von der Linie Duns Scotus, Luther, Böhme, Schelling,
64
Schopenhauer, Nietzsche, der schon selbst der repräsentativste der
Lebensphilosophen ist, und darüber hinaus Scheler, Bergson, White-
head mit seiner Prozessphilosophie – diese Männer haben versucht,
eine neue Relation von Form und Dynamik zu entdecken, die auf
christlichem Boden möglich war. Christlich nicht im dogmatischen
Sinn, sondern im Sinn einer Überwindung eines letzten Dualismus der
Welt. Hier setzte eine neue Linie des Denkens ein, radikaler durch-
geführt von der romantischen Philosophie und schließlich von der
Lebensphilosophie. Und ich selber würde sagen, dass meine eigenen
Gedanken, die Konzeption der Polarität von Form und Dynamik,
aus dieser Tradition entstanden ist.
Nun mehr über diese Polarität selbst, nach diesem geschichtlichen
Überblick. Das, was hier gesagt werden muss, ist zunächst die Situa-
tion im Menschen im Unterschied von der Situation in allen anderen
Wesen. In allen anderen Wesen kann man von Dynamik und Form
im allgemeinen reden. Im Menschen wird die Dynamik zu dem, was
wir Vitalität nennen, und die Form zu dem, was ich Intentionalität
nennen möchte. Nur ein paar Worte jetzt: Vitalität kommt ja von
vita; so heißt das, was in Bergson als élan vital auftritt. Nun behaup-
te ich, dass nicht die Tiere, die Löwen, die so oft als Symbol dafür
auftreten, die eigentlichen Vertreter von Vitalität sind, sondern der
Mensch und zwar nach dem Gesetz der Polarität: Weil der Mensch
die größte Intentionalität hat, hat er die größte, nämlich absolut
unbegrenzte Vitalität. Was heißt Intentionalität? Es kommt aus dem
Mittelalterlichen, von intentionalitas, und bedeutet nicht, was es
heute bedeutet, sondern Gerichtetheit auf einen sinnvollen Gehalt,
auf eine Form, auf eine Bedeutung, auf ein Gesetz, auf etwas, das
der Sinnsphäre angehört. Der Mensch hat, da er Welt hat, Vitalität
und Intentionalität zugleich in gegenseitiger Abhängigkeit. Er hat
nur Intentionalität, insofern er Vitalität hat, sofern er getrieben ist
in die Richtung, die als Möglichkeit in ihm vorliegt. Die Art, wie
der Mensch die Welt erobert, sich transformiert, all das drückt aus
die große Urpolarität, in der wir als Menschen stehen.
65
7. Vorlesung
(Mittwoch, 30. Mai 1951)
Wir haben gestern mit der Diskussion begonnen und sie zum Teil
durchgeführt über Dynamik und Form, und ich hatte über den
Menschen gesagt, dass diese Polaritäten in ihm auftreten als Polarität
von Vitalität und Intentionalität, und möchte noch ein paar Worte
darüber sagen.
Es ist für die ganze Lehre vom Menschen äußerst wichtig, die Ein-
heit und die gegenseitige Abhängigkeit von Vitalität und Intentionali-
tät zu sehen. Sehr oft werden die beiden Begriffe in einen primitiven
Gegensatz gestellt: Das ist ein vitaler, und das ist ein intellektueller
Mensch, oder: Das ist eine dynamische Persönlichkeit, und das ist eine
geistige Persönlichkeit, und ähnliche Dinge mehr. Nun ist natürlich
bei den Polaritäten es so, dass immer die Möglichkeit besteht, dass
eine der Polaritäten überwiegt. Wenn aber die ontologische Struktur
richtig gesehen ist, dann muss notwendigerweise daraus folgen, dass
wenn die eine Polarität geschwächt ist, damit indirekt auf die Dauer
auch die andere geschwächt wird. Wir können das sehen. Menschen,
in denen die Gerichtetheit auf Sinnbezüge, auf Kulturschöpfung, auf
geistige Verwirklichungen besonders stark ist, sind auf die Dauer auch
die vital stärksten Persönlichkeiten. Es sind diejenigen, die durchbre-
chen durch das Gegebene, die neue Wege finden, die imstande sind,
Leidenschaft aufzubringen, und wie Hegel sagt, ohne Leidenschaft
kann nichts Großes in der Welt geschehen.1 Und darum haben Leute
wie Nietzsche so stark betont, dass Geist, der nicht mit dieser Vitalität
verbunden ist und auf ihr gegründet ist, ohne Blut ist – er nannte es mit
einem später missbrauchten Wort „Blut“2 – , aber was er damit meinte,
war, was wir Dynamik genannt haben, die Vitalseite der Polarität von
Vitalität und Intentionalität, – was nicht mit Blut geschrieben wird, ist
leer. Das bedeutet: Wo nicht die volle Leidenschaft, die volle Dynamik
1
„… daß nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist“
(G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hg. von
F. Brunstäd, Leipzig o. J. [1907], S. 59).
2
F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV (Der Blutegel): „Dass du einst
sprachst, oh Zarathustra: ‚Geist ist das Leben, das selber in’s Leben schneidet‘,
das führte und verführte mich zu deiner Lehre. Und, wahrlich, mit eignem
Blute mehrte sich mir das eigne Wissen!‘ – ‚Wie der Augenschein lehrt‘, fiel
Zarathustra ein; denn immer noch floss das Blut aus dem nackten Arme des
Gewissenhaften herab. Es hatten nämlich zehn Blutegel sich in denselben
eingebissen“ (F. Nietzsche, Sämtliche Werke, KSA 4, S. 312).
66
der Lebensbejahung und des Lebenswillens enthalten ist, da ist der
Geist arm, abstrakt und leer, und dasselbe gilt umgekehrt: Die Vitali-
tät, die einfach sich in der so genannten animalischen Sphäre bewegt,
kann zunächst sehr stark erscheinen. Persönlichkeiten mit einer stark
animalischen Vitalität erscheinen uns als vitale Persönlichkeiten, wir
nennen sie so. Wenn wir näher zusehen, finden wir ihre Schwäche. Es
ist interessant – das ist eine Beobachtung, die ich im Ersten Weltkrieg
gemacht habe – , dass diejenigen Persönlichkeiten, in denen die Inten-
tionalität am stärksten entwickelt war, auch diejenigen waren, die die
Mühsale und Schrecknisse der Kriegssituation am besten ertrugen,
während die „Bullen“, die vital anscheinend Starken, am wenigsten
imstande waren, in entscheidenden Momenten durchzuhalten. Das
sind kleine Beispiele für das Grundproblem, von dem ich hier rede,
nämlich der inneren Abhängigkeit der beiden Polaritäten. Diejenigen
unter Ihnen, die vielleicht körperlich nicht ganz stark oder geschwächt
oder reduziert sind durch die Ereignisse, brauchen nicht zu denken,
dass sie deswegen weniger Vitalität haben. Die Leidenschaftlichkeit
der Hingabe im Intentionalen produziert eine Vitalität, die stärker
ist als die der gesündesten, in denen die Intentionalität schwach
ausgebildet ist.
Wenn man das Wort „Intentionalität“ benutzt, so werden Sie
vielleicht fragen, warum nicht „Rationalität“ oder „Geistigkeit“?
Weil beide Worte eine andere Betonung haben. Das Wort „Rationa-
lität“ bedeutet einfach, dass man Geist, Vernunft hat, den Stand des
Vernünftigseins, bezieht sich aber nicht auf den Akt, d. h. Intentio-
nalität bezieht sich auf den Akt der Anwendung der Vernunft. Das
Wort „Geistigkeit“ ist ein umfassender Begriff, darauf komme ich
zu sprechen. In Geistigkeit sind alle Elemente vereint, das Geistige
ist das, was von jeder Zelle des Körpers bis zur höchsten logischen
Abstraktion reicht und alle Seiten des Menschlichen umfasst. Darum
schlage ich vor, dass wir vom Mittelalter lernen und den Begriff
der Intentionalität einführen. Der erste, der das erfolgreich tat, war
Husserl, der damit einen sehr guten sprachlichen Griff getan hat
neben der sachlichen Bedeutsamkeit.1
1
Husserl hat den Begriff „Intentionalität“ im Sinne der Beziehung des Bewusst-
seins auf etwas von F. Brentano übernommen, der „Intentionalität“ im
Anschluss an die Scholastik als eine „mentale Inexistenz“ verstanden hatte,
eine Auffassung, die er selbst später aufgab. Zum Begriff der Intentionalität
bei F. Brentano und E. Husserl vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der
Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. Band I, Stuttgart 61976,
S. 3 f., 15-17, 63-65.
67
In der Polarität von Dynamik und Form ist eine andere enthalten,
die wir besonders zu nennen haben, besonders als eine selbstständige
Polarität bezeichnen, weil sie ein Teil davon ist, nämlich die Tatsache,
dass alles, was ist, zugleich über sich hinausgeht und in sich beharrt.
Diese Doppelheit des Über-sich-Hinausgehens und In-sich-Beharrens
ist ein Element, das innerhalb des umfassenden Elements von Intenti-
onalität und Vitalität enthalten ist. Das führt zu einem Begriff, der in
der gegenwärtigen Diskussion eine große Rolle spielt als Gegenbegriff
gegen Sein, nämlich dem Begriff des Werdens. Ich habe in Amerika
dauernd zu kämpfen, wenn ich die Seinsphilosophie verteidigen soll
gegen Werdensphilosophen. Diese sind abgeleitet von Bergson und
Whitehead, beide auch als Prozessphilosophen bezeichnet und beide
daher in der sehr interessanten Diskussion, ob ontologisch das Werden
das Primäre ist oder das Sein. Sie werden wahrscheinlich Wellenschläge
dieser Diskussion auch hier erlebt haben, und sie ist verhältnismäßig
alt. Schon seit Schelling haben wir die Idee eines werdenden Gottes,
was, wenn man den religiösen Unterton abstreift, philosophisch be-
deutet, dass der Grund des Seins selber Werden ist in Gegensatz zum
statischen Sein. Dazu würde ich antworten: Ganz gleich, wie man
das Verhältnis von Selbsttranszendieren und Selbstbewahren fasst,
in beiden Fällen ist Sein der Oberbegriff. Denn das, was wird, muss
zunächst einmal Sein haben im Gegensatz zum Nichtsein. Und mit
diesem Argument, glaube ich, kann man der Werdensphilosophie
entgegentreten. Andererseits muss man von der Werdensphilosophie
übernehmen, dass Selbsttranszendenz eine ontologische Kategorie ist,
die ebenso ursprünglich ist wie Selbstbeharrung. Daraus ergeben sich
dann die beiden Begriffe, die in aller Wissenschaft und in allem Leben
eine so große Rolle spielen – die Polarität des Statischen und Dyna-
mischen. Aber beide sind dem Oberbegriff des Seins untergeordnet,
sowohl das, was statisch sich selbst hält, in sich selber beharrt, als auch
das, was dynamisch über sich hinausgeht und den Werdensprozess
repräsentiert. Beides ist dem Sein untergeordnet. Ich glaube daher,
dass eine Prozessphilosophie, eine Philosophie des reinen Werdens, die
das Beharrliche und die Identität dem Werden opfert, damit auch das
Werden opfert, denn das Werden muss ja gemessen werden an dem,
was im Werden bleibend ist. Das reine absolut Werdende könnte ja
nicht mehr als Werden von etwas bezeichnet werden, dies Etwas muss
vorausgesetzt sein, es ist unter allen Umständen der Oberbegriff. Aber
im Sein ist ein statisches und ein dynamisches Element entsprechend
der Polarität von Dynamik und Form. Das ist theologisch sehr wichtig:
die Lehre vom werdenden Gott.
68
Ich erinnere mich, dass ich kurz vor Schelers Tod, als ich ein paar
Wochen mit ihm zusammen war, in einer Konferenz zahlreiche Debat-
ten darüber hatte.1 Er hatte ganz seinen ursprünglichen Thomismus
aufgegeben und sich völlig der Werdensphilosophie im Bergsonschen
Sinne hingegeben. In der Diskussion war die Frage an ihn gerichtet
worden von mir: „Was ist denn nun das, was Sie göttlich nennen, was
im Prozess liegt, wenn Gott aufgelöst wird in einen Werdensprozess?
Ist nicht der Punkt, der ihn zum Göttlichen macht, das, worin er immer
der Gleiche bleibt, nämlich Gott selbst? Sie können, wenn Sie von
Gott als werdend sprechen, über das eine statische Element, dass sie
von Gott reden, nicht hinaus.“ Er gab das schließlich zu. Das heißt,
eine reine Werdensphilosophie ist an sich unmöglich; es ist ein Wider-
spruch, eine Wirklichkeit zu sehen, einen Seinsgrund zu sehen, in dem
nicht eine letzte Identität enthalten ist. Und es ist selbstverständlich für
Theologie und Religion, es ist das, worauf ja letztlich das Vertrauen
auf2 einen letzten Sinn und ein letztes Sein beruht. Wenn man eine
absolute Werdensphilosophie aufrichten wird, würde diese religiöse
Möglichkeit und damit die Religion selber zugrunde gehen.
Sehr interessant, dass Bergson es gesehen hat. Er ist einer der
Väter der Werdensphilosophie. Seine Lehre vom élan vital, vom
Schwung des Lebens, der durch alles Wirkliche hindurchgeht, diese
von Schelling her formulierte Lehre ist bei ihm eine reine Werdens-
philosophie. Er kennt zwar den Begriff der Selbsttranszendenz, aber
1
Tillich bezieht sich hier auf die zweiwöchige, von dem französischen Kritiker
André Germain Marquette veranstaltete „Semaine européenne“ auf Schloss
Crissier bei Lausanne im September / Oktober 1927. Über Tillichs Begegnung
mit Max Scheler auf dieser Tagung berichtet auch Hannah Tillich: „Before
a small, private group, who had gathered around him on the invitation
of a wealthy banker, Scheler had lectured on Buddha. It had been a great
experience.“ (H. Tillich, From Time to Time, New York 1973, S. 134)
Wilhelm und Marion Pauck (Paul Tillich. Sein Leben und Denken. Band 1:
Leben, Stuttgart / Frankfurt a. M. 1978, S. 118 f.) beschreiben die Begegnung
als „geistige Leistungsschau“ über das Dämonische und datieren falsch auf
„Anfang 1928“. Vgl. auch die beiden Fotos der Ehepaare Scheler und Tillich
auf Schloss Crissier in: Wilhelm Mader, Max Scheler. Rowohlts monographien
290, Reinbek 1980, S. 120 f. Ein ziemlich satirischer Bericht über die „Eindrü-
cke eines karikaturalen Kulturabends“, insbesondere die Auseinandersetzung
zwischen Scheler und Tillich, findet sich in einem Brief von Carl J. Burckhardt
an Hugo von Hofmannsthal vom 12.11.1927 (in: H. von Hofmannsthal – Carl
J. Burckhardt, Briefwechsel. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe. Fischer
Taschenbuch 10833, Frankfurt a. M. 1991, S. 237-240). Herrn Prof. Dr.
Wolfhart Henckmann danke ich für diesen freundlichen Hinweis.
2
Korr. (Typ. GS: an)
69
er verwendet ihn mit dem Begriff der Dauer, und darin ist ein Ele-
ment der Kontinuität gegeben, das den Fluss überhaupt erst möglich
macht. Diese Kontinuität deutet hin zu dem, was ich hier als das
statische gegenüber dem dynamischen Element formuliert habe. Ei-
nes der wichtigsten Beispiele für diese Polarität ist das Wachsen des
Individuellen und das Wachsen überhaupt.
Da möchte ich einen Bericht aus der amerikanischen Situation
hinzufügen, von der Schule von Dewey. Dewey war bis vor kurzem
der beherrschende Philosoph. Er hatte gegen seine eigene pragmatische
instrumentalistische Voraussetzung, dass Denken nur Instrument für
die Praxis ist, eine Philosophie im Hintergrund, und das war eine
Philosophie des Wachstums. Das ist schließlich das, was die letzte
Norm und das letzte Sein abgibt. Fragt man ihn nun: Kommt nicht
in der biologischen Sphäre so etwas wie Misswachs vor, missratenes
Wachstum?, dann hat er kein Kriterium, das zu beantworten. Er zieht
sich darauf zurück: Ein Wachstum, das weiteres Wachstum ermög-
licht. Misswachs tut das nicht … Das ist im Grunde ein circulus, denn
dies kann ja dann wieder neues Fehlwachstum erzeugen. Das Wort
„Wachstum“ als solches ist nicht imstande, letztlich ein Kriterium zu
geben. Wir müssen auch hier das dynamische Über-sich-Hinausgehen
balancieren mit dem Bleibenden, mit dem Statischen. Es wird immer
deutlicher, dass die reine Prozessphilosophie, die sich in der Erziehung
in Amerika und im Leben ausdrückt, in irgendeinem Punkt gescheitert
ist. Die Erziehung, die sich fast durchweg auf die Deweysche Philoso-
phie aufgebaut hat, ist eben daran gescheitert, wenigstens zum Teil;
sie hat ungeheure Werte produziert in der Umformung der traditio-
nalistischen Erziehung, sie ist aber nicht weiter gekommen, da sie das
Element des Bleibenden im menschlichen Sein übersehen hat und damit
manche Kinder in einen Dauerprozess hineingestoßen hat, der keine
Richtung und keine Linie, keine Norm und kein Kriterium hat, weil
das Statische übersehen worden ist. Der Erfolg ist dann nicht etwa,
dass nun ein sehr freies Wesen entsteht, das in jedem Augenblick über
sich hinausgeht, sondern dass die Kinder, weil sie keine kritische Norm
haben, aufgefangen werden von den Formen der gesellschaftlichen
Beeinflussung, von denen ich schon gesagt habe, dass sie vielleicht
das Gefährlichste in der modernen technischen Kultur sind, besonders
in Amerika … und denen dann diese völlig direktionslos im reinen
Über-sich-Hinausgehen erzogenen Kinder notwendigerweise verfal-
len, weil sie keine kritischen Gegengewichte haben. Der Begriff des
Wachstums als solchen bleibt ohne Kriterium, inhaltlos, führt zu einer
70
reinen Selbsttranszendenz ohne Selbstbewahrung (preservation) und
macht zum Opfer der übermächtigen gesellschaftlichen Umwelt und
leistet ganz im Gegensatz zu dem, was diese Menschen wollten, dem
Verdinglichungsprozess der modernen Gesellschaft Vorschub.
Man könnte die Frage stellen, die man im Anschluss an Nietz-
sches Lehre vom Übermenschen gestellt hat: Kann der Mensch als
Gattungswesen über sich hinausgehen, gibt es jenseits des Menschen
noch etwas, wo der Mensch sich selber transzendiert und zugleich
bewahrt? D. h. gibt es eine echte biologische Entwicklung über den
Menschen hinaus? Die Frage muss nach meiner Meinung negativ
beantwortet werden. Weil der Mensch Welt hat, kann biologisch ein
Schritt darüber hinaus nur ein Schritt zurück sein, nur ein Rückschritt,
und das haben wir ja bei allen Versuchen zum Übermenschentum,
zur Schaffung einer vollkommeneren Rasse gesehen, dass sie aus
dem Welthaften ins Umgebungshafte, ins biologisch Begrenzte zu-
rückgesunken sind. Der Übermensch, der nach meinem Gefühl bei
Nietzsche nicht gemeint ist als ein weiterer Fortschritt in der biolo-
gischen Entwicklung, sondern als kultureller Fortschritt, ist, wenn
er biologisch gefasst wird, nicht über dem Menschen, sondern unter
dem Menschen. Die biologisch nächste Stufe nach dem Menschen
würde nicht der Übermensch, sondern der Untermensch sein. Wenn
das nicht philosophisch klar wäre aus der Balance von Intentionalität
und Vitalität, dass der Mensch Welt hat und ein voll entwickeltes
Selbst hat, wenn es daraus nicht schon klar wäre, dann hat die Ent-
wicklung der letzten Jahrzehnte es überwältigend klar gemacht.
Wieder habe ich versucht, bei dieser überaus wichtigen Polarität
Ihnen all die Implikationen religiöser, politischer und auch pädago-
gischer Art zu zeigen, und möchte bemerken, dass ich glaube, dass
der Wert der Ontologie darin besteht, dass sie für alle diese Dinge
Fundamente zu geben hat.
In Zusammenhang mit Selbsttranszendenz kann ich berichten,
dass ich gestern Abend in der „Hochschule für Politik“ über Uto-
pien zu reden hatte1 und es wieder die Methode war, die ich hier
anwende und auf die ich so viel Wert lege, dass ich versuchte, den
1
Gemeint ist die am 29. Mai 1951 gehaltene erste der Vorlesungen über
„Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker“, die Tillich an vier
Abenden (am 29.5., 5.6., 8.6. und 12.6.1951) an der „Deutschen Hochschule
für Politik“ hielt. Sie wurden unter diesem Titel in der „Schriftenreihe der
Deutschen Hochschule für Politik“ veröffentlicht (Berlin 1951) (= Main-
Works / Hauptwerke, Band 3, S. 531-582).
71
Begriff der Utopie aus einer Analyse des menschlichen Seins, des
menschlichen Wesens und der menschlichen Existenz abzuleiten. Das
ist die Vertiefung, die im akademischen Betrieb notwendig ist, die
das Akademische vom bloß Politischen unterscheidet. In irgendeinem
Sinn ist jede Hochschule eine Hochschule für Politik, in der die
ontologischen Fundamente des Politischen aufgedeckt und gesehen
werden, so dass nicht Schlagworte, Wünsche usw. entscheidend sind
für das Verständnis des politischen Handelns, sondern letzte Selbst-
besinnung auf das menschliche Sein, in dem das Sein sich selbst für
uns manifestiert. Das ist der Sinn der Ontologie, die darum wieder
einmal, wenn sie in diesem menschzentrierten Sinn gefasst wird,
zur Grundlage alles akademischen Denkens werden kann, wie sie
es einst war in der Antike und im Mittelalter und sogar noch für
lange Zeit in der Neuzeit.
Die nächste Polarität ist die von Freiheit und Schicksal.1 Freiheit
in Polarität mit Schicksal ist diejenige Polarität, die am Ende stehen
muss, weil daraus etwas Neues sich erheben kann. Nämlich aus der
Freiheit kann der Übergang in die Existenz verstanden werden. Bisher
waren wir im Wesen des Menschen.
In dem Augenblick, wo wir von der Freiheit reden, sind wir
zwar auch noch im Wesen des Menschen, aber an der Grenze, am
Wendepunkt, wo das Wesen des Menschen übergehen kann in die
Existenz. Freiheit kann von da aus definiert werden als die Möglich-
keit eines Wesens, aus seinem Wesen überzugehen in seine Existenz.
Das ist, was wir betrachten müssen, wenn wir von Freiheit reden.
Der Mensch ist Mensch, weil er endliche Freiheit ist. Das ist besser,
als zu sagen: weil er Freiheit hat. Man kann das natürlich auch
sagen, muss sich dann aber klar sein, dass, wenn man ihn in seinem
innersten Wesen definieren will, man sagen muss, dass er Freiheit ist,
aber mit dem Zusatz: endliche Freiheit. Das ist, was den Menschen
zum Menschen macht. Der Begriff des Endlichen wird in einer der
nächsten Stunden behandelt werden. Ich komme jetzt nur auf den
Begriff der Freiheit.
Freiheit erscheint hier in Polarität mit Schicksal. Es ist ungewöhn-
lich, die Polarität als eine Polarität zwischen Freiheit und Schicksal
zu definieren. Gewöhnlich wird Freiheit und Notwendigkeit als
Polarität aufgefasst. Aber Notwendigkeit ist eine Kategorie und kein
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 214-218.
72
ontologisches Element. Sie1 liegt in der Sphäre des Endlichen2 und
seiner Kategorien, während Schicksal eine echte Polarität zu Frei-
heit abgibt. Wenn man Freiheit und Notwendigkeit gegenüberstellt
und als Polarität auffasst, dann wird Notwendigkeit mechanistisch,
und Freiheit wird dann die Verneinung des Mechanistischen. Dann
stehen sie sich gegenüber, und die unendliche Debatte beginnt, die
nie beendet werden kann, weil die Frage falsch gestellt ist. Was wir
unmittelbar erleben, ist niemals Notwendigkeit oder ihr Gegenteil,
sondern die unmittelbar erfahrene Wirklichkeit, dass wir als Men-
schen frei sind, weil wir zugleich als Menschen Schicksal haben. Der
Mensch ist frei, und der Mensch hat ein Schicksal. Seine Freiheit ist
in jedem Moment verwurzelt3 in seinem Schicksal, und nur der, der
Freiheit hat, hat ein Schicksal. Das ist der Grund, warum ich hier von
Freiheit und Schicksal rede in der Lehre von den polaren Elementen
und nicht von Freiheit und Notwendigkeit.
Aber das muss viel weiter ausgeführt werden, und das soll zu-
nächst durch eine historische Bemerkung geschehen. Diese Analyse
geht unterhalb der traditionellen Diskussion zwischen Determinismus
und Indeterminismus, der berühmten oder vielmehr berüchtigten
Diskussion über die Freiheit des Willens. Ich glaube, dass diese Dis-
kussion von vornherein ohne Resultat bleiben muss, weil der Boden,
auf dem sie vor sich geht, der Boden des Dinghaften ist. Man greift
aus den Elementen des menschlichen Seins eines heraus, nämlich
das Ding „Willen“, und dann debattiert man, was für Eigenschaf-
ten dieses Ding hat. Aber in dem Moment, wo das Ding „Willen“
herausgegriffen ist, ist der Determinismus notwendig im Recht.
Denn jedes Ding ist bedingt, und ich bin immer in diesen Debatten
überzeugt, dass der Determinismus, d. h. die völlige Bedingtheit des
Willens als ein Ding neben anderen, die einzig sinnvolle Antwort
ist. Ding heißt ja, dass das, was ohne Freiheit ist, bedingt ist und
daher dem deterministischen Denken die Grundlage gibt. Freiheit
eines Dinges ist ein Widerspruch in sich selber und infolgedessen
Freiheit des Willens ein Widerspruch in sich selber. Letztlich ist
Determinismus eine Tautologie; sie sagt aus, dass ein Ding ein Ding
ist. Und darüber kann man nicht leicht hinweggehen. Nun kommt
der Indeterminismus und stellt sich auf diese Basis und protestiert
1
Korr. (Typ. GS: Es)
2
Korr. (Typ. GS: in der Sphäre der Struktur des Endlichen)
3
Korr. (Typ. GS: wurzeln)
73
dagegen und sagt, dass im moralischen Bewusstsein, im Erkenntnis-
bewusstsein, im geistigen Leben als Ganzes etwas vorliegt, was dieser
deterministischen Theorie widerspricht und dass man Ausnahmen
von dieser Notwendigkeit voraussetzen muss. Und diese Ausnahmen,
diese Zufälle, die eintreten gegen den Determinismus, sind das, was
er Freiheit nennt. Wenn aber der Indeterminismus in diesem Sinn von
der Freiheit des Willens spricht, dann tut er genau das gleiche, was
der Determinismus tut, er akzeptiert die Basis von dem Ding Willen
und sagt dann, dass dieses Ding kein Ding ist. Er hat damit recht,
aber er behandelt es wie ein Ding und hat damit Unrecht. D. h. beide
sind in gleicher Weise von vornherein zum Irrtum verurteilt durch die
Tatsache, dass die Voraussetzung, die Basis, auf der sie debattieren,
falsch ist. Dadurch, dass man Notwendigkeit negiert, hat man noch
lange nicht das, was wir als Freiheit unmittelbar erleben in jedem
Akt, den wir als menschlich bezeichnen. Das, was rein zufällig ist,
eine Entscheidung ohne Motivation, ein verständlicher Zufall, ist
sicherlich nicht das, was der Indeterminismus eigentlich sucht in dem
Moment, wo er um der Ethik willen die Freiheit zu retten versucht.
Im Grunde ist Freiheit dann ein Zufall, der uns genau so zustößt
wie die Determiniertheit; darin zeigt sich wieder, dass die Grundlage
des Ganzen verkehrt ist.
Wir müssen alle diese Grundlagen angreifen und müssen vor
allem sagen: Freiheit ist nicht Freiheit einer besonderen Funktion,
nämlich des Willens, sondern die Freiheit des Menschen. Wir sollen
nicht mehr von Willensfreiheit reden, sondern von dem Menschen als
endlicher Freiheit. Der Mensch ist dasjenige Sein, das eben kein Ding
ist, sondern ein voll verantwortliches Selbst, eine rationale Person, die
eine Welt und eine Gemeinschaft hat. Wenn man den Wunsch hat,
das persönliche Zentrum, die Ganzheit, Willen zu nennen, dann soll
man das nicht zu sehr verkennen. Aber es hat sich gezeigt, dass das
überaus irreleitend ist. Wenn der Wille dann als ein psychologisches
Problem aufgefasst wird, wird jeder Psychologe die Determiniertheit
entdecken, und jeder Ethiker wird dagegen protestieren, und beide
können sich nichts antun, weil sie beide von falschen Voraussetzungen
ausgehen. Darum schlage ich vor, dass wir in aller künftigen Ontolo-
gie von Freiheit des Menschen, nicht von Freiheit des Willens reden
und damit andeuten, dass jedes Teil des Menschen, jede Zelle, teilhat
an dieser Freiheit, dass nichts in uns, weder das Körperliche, noch
das Seelische, noch das Geistige von dieser Freiheit ausgenommen
ist. Das ist das, was eine gute Anthropologie zeigen muss; jede dua-
74
listische Anthropologie, die dem Geist Freiheit gibt und dem Körper
die Freiheit nimmt, kommt nie zum Menschen. Das ist die große
Erfahrung der cartesianischen Schule, die das getan hat, um für die
Naturwissenschaft den Boden frei zu machen, und das erfolgreich
getan hat. Aber sie hat es wie die industrielle Gesellschaft getan um
den Preis, den Menschen zu verlieren. Wenn man ihn aufteilt in ein
Bewusstsein, das frei macht, und einen Körper, von dem man sagt,
dass er eine Maschine ist, dann ist dieser Mensch kein Mensch mehr.
Die Freiheit ist die Zentriertheit, die Ganzheit aller Elemente des
menschlichen Seins.
Das kann man negativ beweisen. Es gibt eine Situation, in der
Determiniertheit und Zufall eine entscheidende Rolle spielen, nämlich
die Situation des Laboratoriums, der körperlichen und der geistigen
Krankheiten. In dieser Situation sind isolierte Teile des Menschen
herausgeholt aus dem Gesamtzusammenhang, und der Mensch ist
von diesem Teil bestimmt. Das ist das Fehlerhafte an den Labor-
Experimenten in der Psychologie, Biologie und Soziologie, dass
diese Experimente etwas aus der Totalität seines Seins herausgrei-
fen, bestimmten Bedingungen unterwerfen, dann bestimmte Reize
anwenden, und dann bekommen wir natürlich die determinierte
Antwort. Diese Reize, die in einer abgesonderten, relativ isolierten
Schicht des Körperlichen, Seelischen oder Geistigen vor sich ge-
hen, haben dann ganz richtig – damit ist die Reiz-Antwort-Theorie
gerechtfertigt – die bedingten1 Reflexe zur Folge. Das ist alles rich-
tig, wenn man den Menschen als Menschen aufgegeben hat in dem
Augenblick, wo man ihn aus der Zentriertheit seines unmittelbaren
freien Reagierens in eine künstliche Situation gebracht hat oder
wenn er sich durch Krankheit oder geistige Zerstörung in einer
solchen Situation befindet. Es ist aber unmöglich, aus dieser Deter-
miniertheit des Einzelnen das Ganze abzuleiten. Ontologisch geht
das zentrierte Ganze im Menschen allen Teilreaktionen voraus, und
darum können die Reiz- und Antwortbahnen, die bedingten Reflexe,
niemals ein adäquates Bild von der Realität des Menschen geben.
Wir können sagen: Diese Theorie der bedingten Reflexe, wenn sie
mehr sein soll als eine partielle Beobachtung von Teilfunktionen, ist
schon ein Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch selber geteilt ist
und als geteilter in gewissen Funktionen, die gesellschaftlich not-
1
Korr. (Typ. GS: beiden)
75
wendig sind, aufgeteilt ist. Je mehr die industrielle Gesellschaft den
Menschen aufteilt in Sonderfunktionen, desto mehr hat die Lehre
von den bedingten Reflexen recht, desto mehr ist der Mensch seiner
Ganzheit beraubt und aufgelöst in Einzelteile. Also, diese Theorie
ist keine unschuldige Theorie, die man hat oder nicht haben kann,
sondern Symptom einer menschlichen Situation, in der Freiheit und
Spontaneität durch Aufteilung in mechanisierte gesellschaftliche
Funktionen geraubt worden ist, indem die Ganzheit des menschlichen
Bewusstseins ausgeschaltet wird, damit er besonders brauchbar wird
für das unendliche Repetieren einer mechanischen Funktion, d. h.
damit er zum Teil einer Maschine wird. Und daraus eine Ontologie
zu machen, zeigt den inneren Zusammenhang zwischen Gesellschaft
und Gedanken und zeigt die Verwerflichkeit dieser Gesellschaft und
die Irrtümlichkeit des Gedankens …
[Drei Begriffe bringen den Sinn des Freiheitsbegriffs positiv zum
Ausdruck.]1 Das eine ist der Begriff des Wägens. Ich wäge Argumente
und Motive, aber ich, die Person, bin der Wägende, das heißt der-
jenige, der die Motive auf die Waage legt und dann entscheidet für
das eine oder das andere Motiv. Nun kommt die Antwort, die Sie
alle kennen: „Das stärkere Motiv ist das, das sich durchsetzt, das
die Waage nach unten drückt.“ Das ist anschaulich sehr einleuch-
tend, logisch ist es Unfug, weil nämlich die Frage damit schon im
voraus beantwortet ist, ehe sie gestellt wird, nämlich: Welches ist das
stärkere Motiv? Das, was sich als das stärkere erweist? Die Sprache
selber macht diesen logischen Unfug nicht mit. Wenn Sie das Wort
„Wägen“ gebrauchen, dann ist immer ein Wägender da, jemand,
der abwägt, und wenn wir die leere Tautologie vermeiden wollen,
werden wir hier aus der Sprache lernen, dass es eine selbstzentrierte
Person ist, die wägt.2
Ein anderer Begriff ist der Begriff der Entscheidung, der im Eng-
lischen und Lateinischen decision, decisio bedeutet. Das lateinische
Wort kommt von decidere, das hängt zusammen mit schneiden,
anschneiden, abschneiden. Eine Entscheidung, eine decision, etwas
Dezidiertes schneidet eine Reihe von Möglichkeiten ab, eine Reihe
von Möglichkeiten, die reale Möglichkeiten waren und die damit
abgeschnitten werden. Auch hier wieder das Bild des Schneidens,
1
Rekonstruktion eines in der stenographischen Aufzeichnung offensichtlich
fehlenden Satzes.
2
Korr. (Typ. GS: dass ein Zentrales hier vorliegt, das das Wägen tut)
76
eines Aktes, das vom Zentrum her etwas abschneidet. Dann im
Deutschen „entscheiden“: Es scheidet aus Möglichkeiten das aus,
was nicht zugelassen werden soll.
Damit hängt zusammen: Verantwortlichkeit, ein Begriff, der
mehr als die beiden anderen untersucht worden ist, was aber für
die Freiheitslehre reale Bedeutung hat. Man muss Antwort stehen,
wenn man gefragt wird, warum man seine Entscheidung gefällt
hat, niemand anderes kann darauf antworten. In einer Theorie des
bedingten Reflexes kann jeder Gelehrte darauf antworten, warum
wir das gemacht haben, und wir selber brauchen nicht zu antworten,
weil wir ein beobachtbarer Prozess sind. Wenn aber keiner für uns
antworten kann, dann ist das der Sinn von Verantwortlichkeit, d. h.
dass wir die Freiheit haben, von uns aus zu entscheiden, und dass
wir darum von uns aus antworten müssen.
77
8. Vorlesung
(Donnerstag, 31. Mai 1951)
Wir haben das letzte Mal über den Freiheitsbegriff in Polarität mit
dem Schicksalsbegriff gesprochen, und ich habe vor allem die Debatte
zwischen Determinismus und Indeterminismus unter eine scharfe
Kritik gestellt und habe dann positiv drei Begriffe herausgehoben, die
den Sinn des Freiheitsbegriffes mit Hilfe der Weisheit der Sprache zum
Ausdruck bringen: Wägen, Entscheiden und Verantwortlichkeit, drei
Begriffe, die zeigen, dass die Sprache noch weiß, dass die Ganzheit,
das Zentrum des Selbst, da aktiv ist, wo wir von Freiheit reden. Und
wir hatten gesagt, dass das die Ganzheit des Menschen betrifft. Es ist
nicht ein erkenntnistheoretisches Selbst, das die Entscheidung trifft,
sondern es ist das ganze Sein, das körperliche, das psychische und
das geistige. Und es ist deswegen sinnlos, in cartesianischer Weise
den Freiheitsbegriff vom erkenntnistheoretischen Ich aus zu sehen,
dann geht er verloren in dem Mechanismus des Körpers.
Nun komme ich jetzt zur anderen Seite. Nur wo Freiheit ist, ist
Schicksal. Dinge haben nur in metaphorischer Sprache ein Schicksal.
Sie haben kein Schicksal, weil sie keine Freiheit haben. Wenn wir
von Gott sagen würden, dass er ein Schicksal hat, dann müssten
wir sagen, dass er sein eigenes Schicksal ist. Das lateinische Wort
„fatum“ und das deutsche Wort „Schicksal“ haben beide gefährliche
Assoziationen. Oft wird fatum und dann auch Schicksal als etwas
aufgefasst, was mit determinierter Notwendigkeit gleichgesetzt wird.
Und doch glaube ich, dass unser aller Sprachgefühl dagegen reagiert.
Selbst diese Worte deuten in Richtung auf ein Element der Freiheit.
Man sagt nicht, dass ein Berg oder ein Stern oder ein Tier Schicksal
hat, ein fatum hat. Warum nicht? Weil das Element der Freiheit
nicht vorhanden ist.
Damit kommen wir zu der Frage: Wie steht es, da dies eine on-
tologische Struktur sein soll, mit der nichtmenschlichen Natur, mit
dem, was unterhalb des Menschen liegt? Unterhalb nicht im Sinn
der Vollkommenheit – die untermenschlichen Wesen sind in vielen
Beziehungen vollkommener als der Mensch – , sondern in dem Sinn,
dass sie keine Welt, sondern nur Umgebung haben. Für die nicht-
menschliche Natur würde ich die Polarität Freiheit und Schicksal
ersetzen durch [die Polarität] Spontaneität und Gesetz. Was im
Menschen Freiheit ist, ist vorbereitet in der Natur als Spontaneität.
Was im Menschen Schicksal ist, ist vorbereitet in der nichtmenschli-
78
chen Natur als Gesetz oder Struktur. In der Natur in allen Schichten
haben wir die Polarität von Spontaneität und Gesetz, wir haben es
in allen anorganischen Gestalten, den einfachsten Elementen der
unteratomischen Welt, wir haben es in den Kraftfeldern, wir haben
es selbstverständlich in der lebendigen Natur, in Pflanzen und Tieren,
überall ist Gesetz1 und Spontaneität bis zu einem gewissen Grade
sichtbar. Aber Gesetz2 und Spontaneität erheben sich auf einer breiten
Basis von Struktur oder Gesetzmäßigkeit.
Das Wort „Gesetz“ ist außerordentlich interessant für unser Frei-
heitsproblem. Das Wort „Gesetz“ und alle entsprechenden Worte in
anderen Sprachen sind abgeleitet von der sozialen Sphäre. Gesetz wird
erlebt im Recht und im Staat und setzt voraus Spontaneität, die sich
dem Gesetz unterwirft oder nicht unterwirft. Und dann ist von der
Sozialsphäre aus der Begriff des Gesetzes allgemein angewandt auf
alle natürlichen Dinge und Ereignisse. Sicherlich, die Natur gehorcht
oder verweigert den Gehorsam den Gesetzen, wie es in der mensch-
lichen Sphäre der Fall ist. Und doch, wenn wir von Gesetz reden,
wenn wir die Analogie aus der Sozialsphäre auf die Natur anwenden,
dann bleibt das sprachliche Bewusstsein erhalten, dass die Gesetze
Gesetze für Wesen sind, die ihnen folgen, die also soviel Selbstheit,
Selbstzentriertheit haben, wenn auch in unentwickelter Weise, dass
sie nicht einfach als Mechanismen reagieren. Auch das Naturgesetz
zerstört nicht die Zentriertheit aller originalen Strukturen des Seins.
Das ist der Beginn dessen, was wir Freiheit nennen, und jede dieser
Strukturen ist eingeschlossen in größere Strukturen. Wir können sie
berechnen, und doch hat das, was berechnet ist, immer ein Element
der Chance dessen, was unberechenbar ist, ein Element der Sponta-
neität. Hieraus folgt, dass auch in der anorganischen Natur Freiheit
und Schicksal, Spontaneität und Gesetz polar aufeinander bezogen
sind. Das ist ganz deutlich, wenn wir noch einmal zurückkehren zu
der menschlichen Sphäre. Wir sind frei, aber unsere Freiheit ist be-
gründet in der Ganzheit, weil unsere Vergangenheit, unser Schicksal,
dies oder das zu sein, in diesem und jenem Zeitalter, in diesem oder
jenem Raum zu leben, dies alles unsere Freiheit bedingt; es ist die
Grundlage und zugleich die Grenze unserer Freiheit. Wir sind frei aus
unserem Schicksal heraus, aber wir können niemals frei sein jenseits
unseres Schicksals. Unser Schicksal selber ist zum Teil eine Verwirkli-
1
Korr. (Typ. GS: Gestalt)
2
Korr. (Typ. GS: Gestalt)
79
chung unserer Freiheit, der Akte der Freiheit, die vorausgehen. Aber
diese Freiheit ist dann ebenso wieder begrenzt durch das Schicksal,
sodass deutlich wird, sowohl in der anorganischen Struktur wie in der
lebendigen, wie besonders im Menschen, dass Freiheit und Schicksal
zueinander relativ und durcheinander bedingt sind. Sie sind echte
Polaritäten. Zu einer echten Polarität gehört, dass, wenn das eine
wegfällt, auch das andere wegfällt. Wer kein Schicksal hat, hat auch
keine Freiheit. Und es ist allgemein sichtbar, dass diejenigen Men-
schen, von denen wir in besonderem Maße sagen, dass sie Schicksal
hatten und repräsentierten, auch diejenigen waren, die am meisten
ihre Freiheit darin zeigten, dass sie hinausstießen über die Bedingun-
gen, aus denen sie kamen; und doch waren sie Schicksal und hatten
sie Schicksal. Und diejenigen, von denen wir sagen, sie haben kein
Schicksal (was nur mit Einschränkung gesagt werden kann), womit
wir Menschen meinen, in denen jenes Ineinander von Freiheit und
Schicksal nicht da ist, das sind die, die ihre Freiheit nicht benutzt
haben, um hinauszustoßen über die Sphäre des Gegebenen, in die
sie hineingestellt waren. Freiheit und Schicksal gehören zusammen.
Weiß man das, dann ist man jenseits der primitiven Diskussion
zwischen Determinismus und Indeterminismus und hat begriffen die
Polarität, die die letzte und höchste ist in der Betrachtung der polaren
Elemente. – Damit schließe ich diesen Abschnitt ab.
Wir haben jetzt die Grundpolarität Selbst und Welt auf ihre Ele-
mente untersucht und haben diese drei Elemente gefunden, die in jeder
Selbst-Welt-Polarität vorliegen: Individualisation und Partizipation,
Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal. Wir haben die Begriffe
der menschlichen Sphäre entnommen, sie sind aber allgemeingültig,
und die Worte können so oder so geändert werden. Es sind immer
dieselben Urphänomene, um die es sich hier handelt. Nehmen Sie
noch einmal zur Kenntnis das Methodische daran, dass wir uns nicht
zwingen lassen durch die Subjekt-Objekt-Struktur unseres Denkens,
von den Objekten auszugehen, sondern dass wir glauben, etwas zu
sehen in diesen Polaritäten, was den Subjekt-Objekt-Strukturen vor-
angeht, was es unmöglich macht, sich schrecken zu lassen durch die
Analyse der Objektwelt im Verständnis des menschlichen Seins, und
erinnern Sie sich noch einmal, dass ich sagte, dies ist ein Protest, den
wir gelernt haben aus der philosophischen Entwicklung u. a. auch der
Existentialphilosophie, nämlich ein Protest gegen diejenige Weltauf-
fassung, die die Realität in eine Totalität von Objekten verwandelt
und dann den Menschen, der diese Weltauffassung geschaffen hat,
80
selber darin einordnet und ihn damit als Menschen verliert. Man
kann nie zum Menschen und damit auch nie zum Verstehen des
Seins kommen, wenn man einmal als das letzte Element der Wirk-
lichkeit die Dingwelt aufgefasst hat. Und darum ist diese Ontologie
von größter polemischer Wichtigkeit für die Welt, die uns alle zu
erdrücken sucht.
Nun möchte ich vor dem nächsten Abschnitt „Sein, Endlichkeit
und Angst“ einen Moment pausieren, um Ihnen Gelegenheit zu ge-
ben, zu der gesamten Lehre von Selbst, Welt und den drei Polaritäten
Fragen zu stellen.
Frage: Sie sprechen immer nur von Freiheit und Schicksal. Gibt es
eine Steigerung bzw. Verminderung von Freiheit?
Antwort: Kann Freiheit quantitativ werden? Das ist eine für die Ethik
sehr wichtige Frage. Der Freiheitsbegriff, wie er hier entwickelt ist,
hat an und für sich mit dem politischen Freiheitsbegriff nichts zu
tun, auch nicht mit dem psychologischen. Sehen wir auf diese bei-
den Sphären. In der Sphäre des Psychologischen und Soziologischen
ist kein Zweifel, dass mehr oder weniger Freiheit in einem Wesen
innerlich und äußerlich möglich ist. In der psychologischen Sphäre
gibt es Menschen, die nicht nur faktisch in der Äußerung ihrer Mög-
lichkeiten, in dem Über-sich-Hinausgehen, das wir als Grundlage
der Freiheit beschrieben hatten, beschränkt sind, weil wenn sie über
gewisse Situationen, in denen sie sich befinden, hinausgehen, sie un-
vermeidlicherweise sich selber verlieren. Das sind die polaren Dinge
und Formen, die mit dem Über-sich-Hinausgehen und In-sich-Bleiben
verbunden sind. Es ist klar, dass manche Menschen tun können, was
andere Menschen nicht tun können. Das gilt zunächst einmal inner-
lich. Viele haben mir gesagt: „Ich kann mir das nicht erlauben.“ Es
ist ontologisch eine menschliche Möglichkeit, psychologisch gesehen,
für diese Menschen eine Gefahr des Über-sich-Hinausgehens, in der
sie sich verlieren würden und dadurch auch ihre Freiheit. Das ist ein
Mehr oder Weniger im Psychologischen.
Dasselbe ist im Soziologischen wirklich. Ich hatte in den letzten
zwei Stunden eine Gruppe von jungen Pfarrern, die die Frage stellten:
Sind die Menschen noch fähig, bei dem langsamen Herabstieg des
Maßes an schöpferischer Intelligenz, die man überall beobachtet hat,
Freiheit im Sinn des 19. Jahrhunderts oder einer demokratischen
Ideologie zu realisieren? Oder gehen wir unvermeidlich einer mehr
kollektivistischen Struktur der Gesellschaft entgegen? Die Antwort
81
in dieser Gruppe war ziemlich eindeutig. Wir können nicht erwarten,
dass wir dieses Maß von Freiheit, das im 19. Jahrhundert in der
liberal-demokratischen Welt vorhanden war, angesichts des Herab-
sinkens des Gesamtniveaus schöpferischer Verantwortlichkeit haben
werden, sondern es wird sich unvermeidlich eine Einschränkung
der Freiheit mehr oder weniger automatisch durchsetzen, so dass
die diktatorischen Versuche Vorläufer sind für etwas, das sich in
anderer Form doch durchsetzen wird, nämlich die Kollektivstruktur
der Gesellschaft, in der weniger Freiheit sein wird. Dann würde Ihre
Frage nach dem Mehr oder Weniger begründet sein. Aber das würde
für die Ontologie des Freiheitsbegriffs gar nichts bedeuten, sondern
nur: Wo ist das Mehr oder Weniger an einer Grenze, die nicht mehr
überschritten werden kann, ohne dass das Phänomen der Entmensch-
lichung eintritt? Dies Phänomen halte ich für das wichtigste von dem,
was uns heute bedroht. Das eigentlich Bedrohende ist die Struktur der
Entmenschlichung, die mit der Gesamtentwicklung der spätindustri-
ellen Gesellschaft zusammenhängt. Wird das Mehr oder Weniger, der
Spielraum zwischen Freiheit und Schicksal, überstiegen nach der einen
oder der anderen Seite, so entsteht entweder Chaos (wenn Freiheit
überstiegen wird) oder als Reaktion darauf Entmenschlichung. Wo
das geschieht, kann nie in abstracto definiert werden. Wir hatten
Phänomene, glaube ich, in denen das Chaos so deutlich war, dass
die Reaktion unvermeidlich war, dass Menschen aus ihrem Schicksal
sprangen, dass sie beides verloren, die Freiheit und das Schicksal.
Die Romane von Sartre sind ein Beispiel dafür, das hindeutet auf
Menschen, die so sehr in Furcht vor dem Schicksal stehen, dass sie
eine Freiheit bejahen, die sie in Wirklichkeit entmenschlicht, in ein
Chaos geistig bringt und von biologischem Prozess letztlich abhängig
macht. Auf der anderen Seite Kollektivformen, in denen die Mög-
lichkeit der Entscheidung und Verantwortung so weit reduziert ist,
dass von daher die Entmenschlichung eintritt. Dazwischen liegt die
Sphäre des Mehr oder Weniger.
Frage: Gibt es nicht auch eine Freiheit des Unbedingten, eine unbe-
dingte absolute Freiheit?
Antwort: Nun drängen Sie mich zu dem Kapitel meiner systemati-
schen Theologie über die symbolische Anwendung der Polaritäten
auf die Gottesidee. Wenn ich diesen Weg weiterginge, würden wir
zu sehr grundsätzlichen theologischen Erörterungen kommen. Ich
glaube selbstverständlich, dass im Gottesgedanken die Polarität
82
eine ursprüngliche Einheit ist, die aber, da wir in Polaritäten leben,
für uns nur symbolisch ausgedrückt werden kann. Ich würde unter
Umständen sagen, mit der Kirchentradition, dass Gott „Aseität“
hat, also nicht endliche Freiheit ist, sondern unendliche Freiheit,
was immer das bedeuten mag. Das ist ein symbolischer Begriff.
Und in der Weise würde ich den Schicksalsbegriff insofern auf Gott
anwenden, dass ich sage, er ist sein eigenes Schicksal. Damit ist
der Sinn dieser beiden Begriffe transformiert. Für die, die sich für
die religionsphilosophischen oder theologischen Konsequenzen der
Ontologie interessieren, ist das eine Andeutung. Ich glaube, dass all
diese Strukturen in der religiösen Sprache eine Rolle spielen, alle aber
symbolisch angewendet werden müssen, d. h. über sich hinausweisen
und über die polare Situation hinausgehen.
Frage: Es gibt doch nicht nur diese drei Polaritäten, sondern unzählig
viele. Die Gefahr ist groß, dass diese Art Dialektik in eine Spielerei
ausartet. Frage, ob man nicht eines aus dem anderen ableitet, ob es
Ordnung zwischen den Polaritäten gibt?
Antwort: Das ist die Frage, die Hegel gegen Kant gestellt hat, und
ich habe sie mir auch gestellt und habe gesagt: Nein, das will ich
nicht versuchen. Kant hatte die drei Kritiken und die Kategorien, die
verschiedenen Postulate der Vernunft usw. Darauf hat Hegel gesagt:
Es ist Willkür.1 Ich bin von Natur ein kleiner Hegel, und wenn ich
könnte, würde ich genau wie Sie das schön systematisch ableiten.
Das Resultat wäre dann ein bisschen Hegels Logik oder so etwas,
und das, was schließlich zum Sturz des Hegelschen Systems geführt
hat, nämlich der Anspruch, deduzieren zu können, was immer im
Inhalt der Erfahrung vorliegt, einschließlich der Weltgeschichte. Ich
glaube, wir müssen uns da vom deutschen Idealismus trennen, vom
System der Deduktivität trennen. Wir könnten das machen, wenn
Sie mir Wochen Zeit geben: deduziere deine Polaritäten, ich tue es
mit Vergnügen, es sind gar nicht unzählige, es ist nicht allzu schwer
weiterzugehen. Das deduktive Prinzip, das vorlag, war die Polarität
Selbst – Welt, und die Frage: Was ist konstitutiv (kantisch) für ein
Selbst in einer Korrelation zu einer Welt? Dann käme das andere als
diejenigen Dinge, die dafür entscheidend sind, ohne die man sich das
1
Hegels Kant-Kritik findet sich vor allem im 3. Teil seiner „Vorlesungen über
die Geschichte der Philosophie“ und in den §§ 40-60 der „Encyklopädie der
philosophischen Wissenschaften“.
83
Selbst-Welt-Verhältnis nicht denken kann. Was meine Absicht war,
war ja nicht, Ihnen ein geschlossenes System der Ontologie zu geben.
Ich glaube, dass das unmöglich ist. Ich glaube auch, dass Nicolai
Hartmann es nicht geschafft hat, und wo er wirklich fruchtbar ist,
ist er von Schelers Visionen abhängig, die mehr Vision als Deduktion
sind.1 Infolgedessen habe ich mich enthalten. Das ist ein Akt der
Askese, weil ich das Schachspiel der Deduktion gern gemacht habe.
Das Spielerische scheint mir im Deduktiven zu liegen. Die Frage ist,
ob durch das, was in diesen Begriffen gesehen wird, eine Wirklichkeit
dargestellt wird, von der Sie sagen können: Wir sehen sie auch. Inso-
fern würde ich mich als Phänomenologen bezeichnen, der sich von
anderen Philosophen unterscheidet dadurch, dass er den Zeigefinger
braucht. (Hinweis auf den Johannes des Grünewaldaltars). Darum
haben die Phänomenologen auch gesagt: Es ist eine Art Umkehrung
der natürlichen Weltanschauung, wenn man auf diese Dinge achtet.
Dann sieht man auf Dinge, uns selbst und alles mögliche. Treiben wir
Ontologie, dann müssen wir uns irgendwie umdrehen und fragen:
Wie ist es möglich, dass man überhaupt Dinge sieht?
Frage: Wieso kann der Mensch als Ganzes Freiheit haben? Entschei-
den, Wägen und Verantwortlichkeit gehören doch dazu, kann er
doch nur in Bewusstsein?
Antwort: Diese Frage ist keineswegs simpel. Wie alle scheinbar simp-
len Fragen bedeutet sie vergangene Philosophie. Was dahinter steht,
ist, was man gewöhnlich Bewusstseinspsychologie oder Bewusstseins-
philosophie genannt hat, wogegen ich besonders in dem Abschnitt
über Dynamik und Form angekämpft habe. Das ist der eigentliche
Stoß gegen die Bewusstseinsphilosophie gewesen und hat, wie Sie sich
erinnern werden, eine Reihe von halb symbolischen Begriffen benutzt,
mit denen die Dynamik beschrieben wurde, unter denen das Unbe-
wusste einer war. Wenn wir eine bewusste Entscheidung treffen, ist
es nicht, was im Bewusstsein ist, was die Entscheidung trifft, sondern
das, was in unserem Bewusstsein zugelassen ist aus der Vergangen-
heit unseres Seins. Wenn Sie nach einer Entscheidung sich selber im
Spiegel sehen und die Frage stellen: Aus welchen letzten Motiven ist
diese Entscheidung gekommen?, dann werden Sie wissen, dass die
rationalen Argumente, die im Moment im Bewusstsein vorliegen,
1
N. Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 1935, 21941; Neue
Wege der Ontologie, Stuttgart 1947.
84
nicht die ausschlaggebenden sind, sondern dass dahinter Ihr Schick-
sal, Ihre Ganzheit stand. Ihr Schicksal aber ist bestimmt und zum
großen Teil identisch mit dem, was der andere Hartmann1 und Freud
das Unbewusste genannt haben und das heute ein Standardbegriff
aller Denker geworden ist. Kein sehr einfacher Begriff. Auf alle Fälle
bedeutet er etwas, was man mit dieser unbestimmten, undefinierten
Schicht, die wir Dynamik genannt haben, bezeichnet hat. Sehen wir
die Dynamik näher an. Man kann sie das Psychische nennen, wenn
es nicht durch dessen Verbindung mit dem Psychologischen zu sehr
mit Bewusstsein zu tun hat. Das Psychische enthält Elemente, die
weit hinausgehen über das, was eine Bewusstseinspsychologie leisten
kann. Die Elemente, die da mit hereinspielen, gehen in den vitalen
Impuls des Körperlichen. Das meinte ich mit den Zellen, ich hätte
auch „Nerven“ sagen können. Ich meine die funktionelle Tendenz
des Körperlichen; wie weit wirken die körperlichen Spannungen,
ganz egal, was für eine Entscheidung es war, mit? Eine Psychologie,
die nur Bewusstseinspsychologie ist, ist Selbsttäuschung. Darum habe
ich gesagt, dass in jedem Akt unser Gesamtschicksal, verkörpert in
unserem Körper und seelisch auch im unbewussten Teil des Seeli-
schen, mit beteiligt ist.
Frage: Freiheit sei ganzheitlich, sagten Sie, dann übertragen auf das
Gebiet des außermenschlichen Seins sprechen Sie von Spontaneität
und Gesetz. Ich glaube, hier ist ein Zweifel anzumelden. Ich glaube,
das ist ein Sprung, wenn man aus der Ganzheitlichkeit des Menschen
schließt, dass deswegen etwa in der Natur, im Organischen auch eine
Entsprechung zu Freiheit sein muss. Bild der angezündeten Kerze,
die herunterbrennt. Hierbei handelt es sich doch um eine rein äußere
Sache, bei Spontaneität aber doch um ein inneres Verhältnis.
Antwort: Die Flamme, die Sie sind und die ich bin, brennt ja
auch ab, unvermeidlich, das gehört zum Endlichkeitsbegriff. Diese
Analogie ist also noch nicht entscheidend. Nämlich die Frage nach
dem Bruch zwischen Natur und Mensch. Dieser Bruch ist wieder bei
Descartes, den ich immer nenne als meinen Prügelknaben, obgleich
ich von ihm abhängig bin als Phänomenologe wie wir alle. In De-
scartes ist der Sprung verabsolutiert. Auf der einen Seite Bewusst-
sein, auf der anderen Mechanismus, wozu auch unser Körper usw.
1
E. v. Hartmann, Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung,
Berlin 1869, 51873.
85
gehört. Die Wirklichkeit wird so abgeschieden, dass auf der einen
Seite Bewusstseinsvorgänge vorliegen und auf der anderen Seite ein
Mechanismus, so dass man, um eine Einheit zustandezubringen, weil
wir ja doch irgendwie mit unserem Körper zusammenhängen, einen
Gott erfindet, der das größere Rad ist, durch den die beiden anderen
[Räder] getrieben werden.
Alle diese Versuche, die wir jetzt machen, sind Versuche, dieser
Ontologie entgegenzutreten, und die ganze Entwicklungslinie, die ich
in Zusammenhang mit dem Begriff der Dynamik, die bis auf Duns
Scotus zurückgeht, genannt habe, ist ein solcher Versuch. Sie haben
völlig recht, wenn Sie sagen: Weise mir das auf! Der letzte große
Vorstoß in dieser Richtung ist gemacht worden durch die Gestalt-
psychologie, die auch eine Gestaltsoziologie und bei Köhler1 auch
eine Gestaltphysik ist. In diese Linie würde ich mich hineinstellen.
Über die Gestaltwissenschaft oder Strukturauffassung des Wirkli-
chen gehen einige Anhänger der Gestaltlehre, die vom Biologischen
herkommen, hinaus. Ich zitiere da gern Goldstein2, der über die
Gestalttheorie die Spontaneitätstheorie eingeführt hat und die Gren-
zen der Gestalttheorie gerade darin gesehen hat, dass die spontane
Reaktion der Gestalt nicht verständlich gemacht wird. Hier sehen Sie
zumindest, dies ist nicht ontologische Spontaneität ohne empirische,
es ist etwas, was in der empirischen Struktur sich ebenfalls findet
und in der mikroskopischen Struktur immer deutlicher in der Physik
sich durchgesetzt hat. Jedes einzelne Atom ist in einem Sinn eine
1
Wolfgang Köhler (1887-1967), Die physischen Gestalten in Ruhe und im
stationären Zustand: eine naturphilosophische Untersuchung, Erlangen 1920;
ders., gestalt psychology, New York 1947.
2
Kurt Goldstein (1878-1965), Neurologe und Psychiater. Während des Ersten
Weltkrieges baute er in Frankfurt a. M. gemeinsam mit dem Gestaltpsycho-
logen Adhémar Gelb das „Institut für die Folgeerscheinungen von Hirn-
verletzungen“ als Klinik für hirngeschädigte Soldaten auf. 1929 wurde er
Ordinarius für Neurologie an der Frankfurter Universität. 1930 eröffnete er
eine neurologische Abteilung an der Berliner Universitätsklinik. 1933 verließ
er Deutschland. Im Exil in Amsterdam veröffentlichte er sein Hauptwerk:
„Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer
Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen“ (Den Haag 1934).
Vgl. die Besprechung dieses Buches durch P. Tillich in: Zeitschrift für Sozial-
forschung, 5. Jg., 1936, S. 111-113, sowie seinen Aufsatz „The Significance
of Kurt Goldstein for Philosophy of Religion“, in: Journal of Individual
Psychology, Vol. 15, No. 1, 1959, S. 20-23, in deutscher Übersetzung: Die
Bedeutung von Kurt Goldstein für die Religionsphilosophie, in: GW XII,
S. 305-309.
86
einmalige Gestalt, die nicht ganz untergeordnet werden kann unter
die allgemeinen Gesetze. (Regelbegriff in der Mikrophysik) D. h., dass
auch in der Mikronatur die Dinge sich nicht bewegen in der Form
der mechanischen Stoß- und Druckvision, sondern dass, wenn ich
eine physikalische Wirklichkeit stoße, sie durch ihr Kraftfeld und den
Strukturcharakter, den sie in sich birgt, anders reagiert als eine andere,
und nur im großen Mittel kann man hier eine Berechnung machen.
Mit anderen Worten, Sie haben Recht, dass der Freiheitsbegriff im
Sinne des Welt-Habens für unsere Erfahrung etwas ist, was nur im
Menschen vorkommt. Da liegt der Sprung. Es ist eindeutig, dass
aber wie in der Renaissance, bei Leibniz, bei Goethe Natur nicht
nur fremd ist gegenüber der menschlichen Freiheit, sondern auch
eine Verwirklichung der Freiheit ist. Hier kommen wir auf ein sehr
ernsthaftes Phänomen. Ich saß mit Goldstein unter einem Baum, da
sagte er: „Ich möchte etwas von diesem Baum wissen.“ Ich zu ihm:
„Du weißt doch alles, Du bist Biologe, das weißt Du also alles.“
„Aber ich möchte wissen“, sagte er, „was dieser Baum für sich
selber bedeutet, was sein Sein für sein Sein ist“. Er wollte nicht von
außen her als Wissenschaftler an den Baum als Ding gehen, sondern
eine Art Gemeinschaft mit dem Baum haben. Ist das möglich? Die
Poesie ist voll davon; sie ist ein Versuch, Gemeinschaft zu haben
mit der Natur. Ist diese Poesie völlig missgeleitete Ontologie? … Ja,
wir müssen uns hüten vor Romantisierung dieser Sache. Wir sind
entfremdet von der nichtmenschlichen Natur, wie auch von jedem
anderen Menschen. Andererseits kann aber die Entfremdung nicht
absolut sein, denn wir kommen ja aus demselben Sein und haben
dieselbe ontologische Grundstruktur.
Darum glaube ich, dass wir der Poesie hier einen höheren Er-
kenntniswert zugestehen müssen, als es für gewöhnlich geschieht.
Wir können die Goldsteinsche Frage nicht wirklich beantworten, aber
wir können diese Frage ernstnehmen und aus der Poesie lernen, dass
trotz aller Entfremdung die letzte Einheit des Seins nicht zerbrochen
ist und nicht zerbrochen werden kann.
87
9. Vorlesung
(Montag, 4. Juni 1951)
Wir kommen auf das Problem, das zweifellos das schwerste in der
ganzen Vorlesung ist, auf das wir schon mehrfach gestoßen sind und
das wir heute systematisch durcharbeiten müssen, nämlich das Pro-
blem des Nichtseins.1 Der Grund, warum das nötig ist, ist folgender.
Wir waren bei der Lehre von der Freiheit zu dem Punkt gekommen,
wo die Möglichkeit des Existierens gegeben war dadurch, dass der
Mensch seiner Essenz, seinem Wesen widersprechen kann. Das ist
der vollkommenste Ausdruck seiner Freiheit, die Möglichkeit des
Sich-selbst-Widersprechens, die wir sonst in der Natur nicht finden.
Diese Möglichkeit ist die Grundlage für die Unterscheidung von
Wesen und Existenz, und der Fundamentalbegriff von Existenz ist
Endlichkeit. Und darum ist der nächste Schritt, den wir ontologisch
machen müssen, der Schritt zu einer Analyse der Endlichkeit. Diese
Analyse will ich in zwei Schritten vornehmen. Der erste Schritt ist
eine Betrachtung eines Elementes in allem Endlichen, nämlich des
Erlebnisses des Nichtseins, und der andere Schritt ist der Begriff der
Endlichkeit selbst und des Gewahrwerdens der Endlichkeit, nämlich
der Angst. Wir sprechen also zunächst von dem Problem des Seins
und Nichtseins und dann von Endlichkeit und Angst. Das sind die
beiden Aufgaben für heute und morgen.
Die Frage nach dem Sein ist ein Resultat desjenigen Schocks,
den wir als den Schock des Nichtseins bezeichnen können. Nur der
Mensch ist fähig, die ontologische Frage zu stellen, weil er allein fähig
ist, über die Grenze des Seins zu schauen, über die Grenze seines
Seins und jedes Seins, und wenn wir vom Standpunkt des möglichen
Nichtseins, des Nichtsein-Könnens, das wir alle erleben und um
das wir wissen, auf das Sein sozusagen zurückschauen, dann sehen
wir, dass das Sein Mysterium ist, dass [es] etwas Geheimnisvolles
um das Sein ist. Nicht um irgendetwas Seiendes, sondern um das
Sein selbst; es hat den Charakter des Mysteriums. Der Mensch ist
fähig, diesen Standpunkt außerhalb des Seins einzunehmen, weil er
fähig ist, jede gegebene Wirklichkeit zu transzendieren. Er ist sozu-
sagen nicht gebunden an irgendein Seiendes oder an die Ganzheit
des Seienden, er kann – bildlich gesprochen – auf den Ozean des
Nichtseins blicken, der das Seiende umgibt, und weil er das kann
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 218-222.
88
und weil er von da zurückblicken kann, kann er die ontologische
Frage stellen: Was ist eigentlich dieses Sein, das umgeben ist und
bedroht von Nichtsein? … Und das ist darum die erste Frage, die
wir behandeln müssen, weil vom Nichtsein aus sein Blick sich auf
das Sein richtet.
Solange der Mensch über das Sein nachgedacht hat, hat er diese
beiden Fragen, die des Seins und die des Nichtseins, miteinander
vereinigt. Er hat es getan im mythischen Denken, wo das Problem
des Chaos in tausend Formen symbolischen Ausdruck gefunden
hat. Er hat es mehr organisiert getan im kosmologischen Denken,
das dem Mythos nachfolgte und dem philosophischen vorangeht.
Schließlich hat er es getan im philosophischen Denken. Die erste
griechische philosophische Frage ist die Frage des Seins aus dem
Erlebnis des Nichtseins heraus, des Vorübergehenden, dass etwas ist
und nicht mehr ist, getrennt nur durch den Zeitpunkt. Der, der es am
eindrucksvollsten getan hat und damit mit Recht als der größte der
Vorsokratiker bezeichnet wird, ist Parmenides. Parmenides begriff,
dass, wenn man vom Nichtsein spricht – und er spricht davon und
konnte es nicht vermeiden – , dass man dann in einen Widerspruch
gerät, dass man dann nämlich dem Nichtsein eine Art von Sein gibt,
weil man ja von ihm sprechen kann, von ihm einen Begriff gibt. Sein
radikaler Rationalismus hatte die Konsequenz, dass er deswegen das
Nichtsein ausschaltete, dass er bestritt, dass Nichtsein sein kann.1
Aber was war die Folge davon? Und das ist für alle Zeiten wichtig:
Wenn man das Nichtsein ausscheidet, dann scheidet man auch die
Welt aus. Für Parmenides war infolgedessen die sichtbare Welt, die
ja eine immer werdende ist, etwas, was kein Sein hatte. Der Versuch,
die Welt zu erklären vom Sein her, endigte damit, dass die Welt we-
gerklärt wurde, dass sie verneint wurde, und dies Ende führt dann
dazu, dass andere Philosophen, z. B. die Atomisten sagten: Das hilft
uns nichts, wir wollen eine Erklärung der Welt, wir wollen Natur-
wissenschaft, wir müssen verstehen, wie Bewegung möglich ist. Aber
um das zu verstehen, wie Bewegung möglich ist, müssen wir dem
Nichtsein eine Art Sein geben. Und sie taten es und bezeichneten den
leeren Raum als das Nichtsein. Aber wenn der leere Raum Nichtsein
ist, wie kann er eine so große Funktion haben, Bewegung möglich
1
DK 28 B 6 und 7. Vgl. auch P. Tillich über Parmenides in der Berliner Vor-
lesung „Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der
griechischen Philosophie“ von 1920 / 21, EW XIII, S. 45 ff.
89
zu machen? Diese Frage hat immer seit der Zeit der Griechen den
philosophischen Geist fasziniert und in Verzweiflung gesetzt.
Es ist deswegen verständlich, dass Versuche vorliegen, dieser
quälenden Frage des Nichtseins zu entgehen, und diese Versuche
kann man teilen in logische und ontologische Versuche. Die logischen
Versuche sind heute in den Vordergrund getreten. Man kann sagen,
Nichtsein ist ein logisches Urteil, nämlich das logische Urteil, dass
der Inhalt eines Bewusstseins kein Sein hat, dass er ausschließlich im
Bewusstsein vorliegt und dass er infolgedessen, wenn er beansprucht,
Sein zu haben, negiert werden muss. D. h. Nichtsein ist die logische
Verneinung einer Behauptung, die mit der Wirklichkeit nicht überein-
stimmt. Daraus könnte man schließen, dass Nichtsein ein negatives
Urteil ist, das ohne jede ontologische Bedeutung bleibt. Was kann
man darauf antworten? Die Antwort muss sein, dass jede logische
Struktur, die mehr ist als ein bloßes Spiel mit möglichen Relationen,
in einer ontologischen Struktur wurzelt. Jede logische Struktur, und
das war Aristoteles völlig klar, jeder Akt des Sprechens über Dinge,
bei dem das Sprechen Wirklichkeit greifen soll, muss notwendig in
der Wirklichkeit, die durch es ergriffen werden soll, eine Wurzel, ein
„fundamentum in re“ haben, wie die Scholastiker es nannten.
Die Tatsache, dass wir etwas verneinen können, setzt ja schon
etwas in unserer Existenz voraus. Es setzt voraus, dass wir der
Wirklichkeit in Formen begegnen, die Enttäuschung bringen, die
Erwartungen enttäuschen. Enttäuschte Erwartung ist der Grund für
negative Urteile. Wir erwarten etwas, es tritt nicht ein, wir sagen,
es ist nicht, es hat nicht die Kraft der Realität. Unsere Erwartung
war falsch. Wir blicken auf etwas, es verschwindet, wir sagen, es hat
keine letzte Realität. In dieser Weise haben wir eine Aussage über den
Menschen, nämlich, dass er über die Situation hinausgehen kann in
Erwartung, in Vorwegnahme, und dann enttäuscht werden kann. Die
negativen Urteile sind also nur möglich, weil irrtümliche positive Ur-
teile möglich sind, und irrtümliche positive Urteile sind nur möglich,
weil der Mensch im Irrtum stehen kann, weil seine Begegnung einen
Charakter hat, der nicht begründet ist in der Wirklichkeit des Seins
selbst. D. h., das logische negative Urteil ist immer zugleich ein An-
zeichen von etwas Ontologischem, nämlich von dem ontologischen
Grund, dass der Mensch die Möglichkeit hat, vom Sein getrennt zu
sein, und er hat sie, weil er teilnimmt nicht nur am Sein, sondern
auch am Nichtsein. Damit ist der Einwand, dass Nichtsein ein rein
logisches Spiel ist, dass es keine Realität hat, keinen Grund im Sein
90
hat, widerlegt. Und wir müssen fragen: Was bedeutet es nun, dass
Sein und Nichtsein gleichzeitig gedacht werden müssen?
Hier gehe ich wieder zurück auf die spätere griechische Entwick-
lung, auf die ich schon hingewiesen habe, nämlich auf den Unterschied
des griechischen „ouk on“ von „me on“, des schlechthin Nichtseins
von dem möglichen [Nichtsein], was sein kann und nicht sein kann,
was noch kein eigenes Sein hat, nämlich der hyle, der Materie. Auch
hier haben wir sofort den Widerspruch. Diejenigen Philosophen – die
ganze platonische Schule – , die dem Nichtsein in der Form von me
on, von der Materie, von dem, was möglicherweise sein kann, eine
Art Sein geben, sagten dann, dass dies Nichtsein der Einheit mit
der Form Widerstand leisten kann. Was ist das für ein Ding: ein
widerstrebendes Nichtseiendes? Offenbar logisch ein Widerspruch.
Denn sofern es widerstrebt, muss es ja Sein haben; sofern es kein
Sein hat, kann es nicht widerstreben. Und doch hat die griechische
Philosophie diesen Begriff akzeptiert, der genauso widerspruchsvoll
und unvermeidlich ist wie der mythische Begriff des Chaos oder
des leeren Raumes der Naturphilosophie. Wir kommen um diese
Begriffe nicht herum, weil unser Denken über affirmative Begriffe
immer abhängig ist von unserem Denken über negative Begriffe. Für
die Griechen war das Nichtsein ein Urbegriff des Seins, so alt wie
die Form, ewig vorliegend, nicht geschaffen, und darum war die
griechische Weltauffassung tragisch. Das Tragische bedeutete, dass
das, was der Wesensform entspricht, niemals erfüllt werden kann,
dass die widerstrebende Materie in Ewigkeit, d. h. in unendlicher
Zeit dem Sein der Form, dem essentiellen Sein widerspricht und nicht
überwindbar ist. Darum kann es keine echte Inkarnation geben auf
diesem Boden und keine echte Eschatologie, keinen Gedanken eines
erfüllten Reiches Gottes und keinen Gedanken des vollkommenen
Verwirklichtseins des Göttlichen im Geschichtlichen. Das ist der Hin-
tergrund der griechischen Form des Nichtseins. Sie sehen, wie wichtig
solche Begriffe sind, wenn man sie in ihren Konsequenzen sieht.
Das Christentum hat im Schöpfungsgedanken von vornherein
den Begriff der Materie als eines ewigen Prinzips verworfen. Die
Schöpfung ist nicht Schöpfung aus Materie, die Gott vorgegeben ist,
obgleich Anklänge in der alten Schöpfungsgeschichte durchblicken
(im Tohuwabohu1), aber die klassische Formulierung des späten
Judentums und des Christentums ist, dass die Welt aus Nichts
1
1. Mose 1, 2 (Luther: „und die Erde war wüst und leer“)
91
geschaffen ist. Dieses Nichts ist nicht das griechische me on, es ist
das griechische ouk on, d. h. nichts ist vorgegeben dem Göttlichen,
sondern aus ihm heraus allein hat die Welt Realität. Wenn wir diesen
Gedanken verfolgen, dann kommen wir zu dem Gedanken, dass jedes
Seiende an sich dies Stigma hat – ich gebrauche absichtlich dieses
Wort. Stigma heißt ja einmal „Mal“ in der Kreuzigung und fran-
ziskanischen Geschichte, Stigma heißt auch etwas, was man einem
Verbrecher aufbrennt. Stigma kann aber auch heißen ein Charakter,
der einen Menschen nach unten oder oben über das hinaushebt,
was normal ist. In dem Sinne gebrauche ich das Wort: Alles Seien-
de hat das Stigma, dass es aus dem Nichtsein kommt, dass es aus
dem Nichtsein geschaffen ist, aus dem absoluten Nichtsein, dass es
endlich ist. Dies Stigma behält es trotz des Schöpfungsgedankens,
der ausdrückt, dass es gut ist, weil ja keine widerstrebende Materie
vorliegt. Trotz dieses Gedankens bleibt das Stigma der Endlichkeit,
der natürlichen Sterblichkeit, an der alles Seiende teilhat, weil es
aus dem Nichts geschaffen ist, creatio ex nihilo. Tun Sie mir einen
Gefallen und machen Sie, wenn Sie diese Begriffe hören, keinen
wörtlich zu verstehenden Mythos daraus, einen Gott, der auf einem
Thron sitzt und plötzlich entscheidet, dass er etwas machen will. Die
Analyse der Endlichkeit zeigt das Stigma der Kreatürlichkeit, nämlich
das Herkommen von dem Grund des Seins auf der einen Seite, aber
aus dem Nichtsein auf der anderen Seite. Was das bedeutet, werden
wir später sehen. Auch hier wieder ist der Begriff des Nichtseins eine
entscheidende Kategorie, dieses ex nihilo, für das das Christentum
einen leidenschaftlichen Kampf gegen die Gnostiker geführt hat auf
Sein und Nichtsein, der genauso wichtig war wie irgendein Kampf
für die Existenz des Christentums in den heutigen Kirchen!
Dies hat den Doppelsinn: Wir sind vom Grund des Seins, aber
aus Nichtsein, und das ist unsere Endlichkeit. Wir sind gut, denn
wir kommen ja aus dem Grund des Seins, aber unsere Güte ist End-
lichkeit. Güte heißt Macht des Seins, Seinsmächtigkeit. Denn wir
kommen ja aus dem Nichts. Die Frage wird dann zurückgeschoben
in Ontologie und Theologie auf den Grund des Seins selbst. Wie
steht es damit? Wie kommt das aus Gott, was doch das Nichtsein in
sich trägt, das Endliche, Geschaffene? Das hat dann die spekulative
Philosophie und Theologie gezeigt, dass, wenn man einen lebendigen
Gott haben will, wenn man den Grund des Seins als Leben auffassen
will, was in der religiösen Terminologie geschieht, dass man dann
eine intime Verbindung zwischen dem Sein selbst, dem Grund des
92
Seins, der Macht des Seins und dem Nichtsein herstellen muss. Da
haben Theologen und Philosophen Versuche gemacht, das in Begrif-
fe zu bringen, die philosophisch und theologisch sinnvoll sind. Ich
denke an Jakob Böhme, dessen „Ungrund“ bedeutet, dass in Gott
das Negative neben dem Positiven steht. Schellings erste Potenz, die
Potenz des Irrationalen, des Willens, der sich selbst widerspricht und
aus dem die Negation als Selbstwiderspruch verständlich wird. Bei
Hegel ist das alles rationaler durchgeführt, hat aber einen ähnlichen
mythischen Hintergrund. Hegels Antithesis, Gegensetzung, Negation,
die durch sein gesamtes System geht, in jedem Moment des Wirkli-
chen da ist, zeigt, dass im Grund des Seins selbst das Negative ist,
und, wie er es sagt, dass das Göttliche zur eigenen Vollendung nur
durch das Negative kommen kann. In Amerika ist eine philosophi-
sche Schule, die sich theistisch nennt und die den Gedanken des
„Gegebenen“ oder des „Kontingenten“ in Gott eingeführt hat. Sie
kommt meist aus der Prozessphilosophie Whiteheads und spielt zur
Zeit eine große Rolle, auch für Theologen. Der Gedanke, dass in
Gott etwas gegeben ist, mit dem er sozusagen fertig werden muss,
dass in ihm etwas „Kontingentes“ ist, das hinzukommt, das nicht
mit Notwendigkeit aus seinem Wesen abgeleitet wird, ist für diese
Philosophie die Voraussetzung für eine lebendige Welt. Hier ist zu
nennen Charles Hartshorne, für den ist dies eine Voraussetzung für
jedes Verstehen der Wirklichkeit als lebendig, dass ein Element des
Zufälligen und damit des Nichtseins in Gott selbst ist.1 Und derje-
nige, der meinen Gedanken vielleicht besonders nahesteht, Nikolai
Berdjajew, und der in Amerika erstaunlichen Einfluss hat (er ist vor
zwei Jahren in Paris gestorben), hat eine Lehre von der meontischen
Freiheit, von dem Grund in Gott, der Nichtsein-Charakter hat und
aus dem alle Freiheit Gottes und der Kultur kommt.2
1
Charles Hartshorne, The Divine Relativity. A Social Conception of God (Terry
Lectures), New Haven 1948, reprint ed. 1983; ders., Man’s Vision of God
and the Logic of Theism, Hambdon 1964.
2
„Die Rätselhaftigkeit und Entzweitheit des Menschen wird dadurch bestimmt,
dass er ein von den Höhen gefallenes irdisches Wesen ist und die Erinnerung
an den Himmel und den Abglanz des himmlischen Lichtes in sich trägt; die
paradoxale und widerspruchsvolle Natur des Menschen wird aber noch tiefer
dadurch bedingt, daß er in seinem Wesen ein Kind Gottes, zugleich aber auch
ein Kind des Nichts, der meontischen Freiheit ist“ (Nikolai Berdiajew, Von der
Bestimmung des Menschen. Versuch einer paradoxalen Ethik, Bern / Leipzig
1935, S. 69). „Die Freiheit wurzelt im ‚Nichts‘. … Es gibt eine Freiheit als
dunklen Urquell des Lebens, als primäre Erfahrung, als Ungrund, die tiefer
93
Ich gab das als Beispiel, will mich damit nicht festlegen, will nur
sagen, dass der Gedanke des Nichtseins innerhalb der klassisch pro-
testantischen theologischen Entwicklung von allergrößter Bedeutung
geworden ist und dass von da aus der Protestantismus einen direkten
Einfluss auf die Philosophie gehabt hat. Der Katholizismus hat unter
dem Einfluss von Thomas und Aristoteles diese Gedanken nicht in
sich aufgenommen. Er hätte es gekonnt, denn in Duns Scotus und Oc-
cam sind sie vorhanden, er hat sie aber letztlich abgelehnt zugunsten
des aristotelisch-thomistischen Gedankens, dass Gott reine Form ist,
d. h. jenseits aller Meontik in irgendeiner Form. Und daher hat der
Katholizismus gegenüber dem protestantischen Denken eine stärker
statische Form des Gottesgedankens vertreten. Auch hier sehen Sie
wieder, wie entscheidend für die ganze Weltauffassung der Begriff des
Nichtseienden ist, dass er sogar für diese Unterschiede der großen
christlichen Konfessionen und der Kultur, die sie produziert haben,
bedeutungsvoll ist. Ontologie lehrt uns verstehen, was vor sich geht
in Schichten, die scheinbar nichts mit ihr zu tun haben und die doch
entscheidend sind für ganze Lebenshaltungen.
Der Begriff des Nichtseins ist absolut ins Zentrum gestellt wor-
den durch den gegenwärtigen Existentialismus. Helmut Kuhn hat
ein Buch geschrieben „Encounter with Nothingness“, das übersetzt
ist und in dem er diesen einen Punkt in tiefer und radikaler Weise
herausarbeitet1. Man kann sagen, dass im Existentialismus das Sein
selbst in gewisser Weise durch das Nichtsein ersetzt ist. Heidegger,
dem ich das einmal sagte, ohne zu viel Widerspruch zu erfahren, ist
ein Theist des Nichtseins; das Nichtsein, das nichtende Nichts ist
sein Gott. Das gilt nicht mehr für seine gegenwärtige Entwicklung,
aber für frühere Formulierungen, vor allem für den Vortrag „Was
ist Metaphysik?“2 Da wird dem Nichtsein eine Positivität gegeben
und eine Mächtigkeit, die dem eigentlichen Sinn des Wortes zuwider
als das Sein selber liegt und aus der heraus das Sein bestimmt wird. Diese
abgrundtiefe, irrationale Freiheit fühlt der Mensch in sich, in der Urgrundlage
seines Wesens. Die Freiheit ist mit Potenz verbunden, mit der Macht der
Potenz.“ (Ders., Die Philosophie des freien Geistes. Problematik und Apologie
des Christentums, Tübingen 1930, S. 148 / 150). Vgl. auch P. Tillich, Nicho-
las Berdyaev, in: Religion in Life (New York), Vol. 7, 1938, S. 407-415, in
deutscher Übersetzung: GW XII, S. 289-299.
1
S. o., S. 15, Anm. 1.
2
Vgl. Formulierungen wie z. B. „Das Nichts selbst nichtet“ und „Im Sein des
Seienden geschieht das Nichten des Nichts“ (in: Heidegger, Was ist Metaphy-
sik? Bonn 1929, Frankfurt a. M. 71955, S. 34 / 35).
94
ist. Wenn Heidegger vom nichtenden Nichts spricht, ist das dasselbe
Phänomen, das wir in der ganzen Geschichte der Philosophie haben.
Dem Nichts ist etwas zugeschrieben an Mächtigkeit, an Seinsmacht,
obgleich es zugleich das Nichts ist. Diese Erfahrung, dieses nichtende
Nichts, ist im wesentlichen identisch mit der Erfahrung des Todes.
Der Mensch wird Mensch, weil er dies Nichts, das im Tod begegnet,
vorwegnimmt. Sartre geht darüber hinaus und spricht nicht nur
von der Drohung des Nichts als in der Form des Todes, als letzter
Drohung, sondern auch von der Drohung des Nichts des Sinnes,
der Sinnlosigkeit, von der Zerstörung der Sinnstruktur des Seien-
den, durch die wir bedroht sind. Im Existenzialismus dieser beiden
Männer haben wir eine Begegnung mit dem Nichts, die radikaler
ist als alle vorhergehenden Begegnungen, was diese Philosophen
interessant, faszinierend, fast dämonisch macht. Denn hier ist Gott
durch sein eigenes Nichts ersetzt. Aber er bleibt noch Gott, und es
bleibt, menschlich gesprochen, angesichts dieses Nichts nichts weiter
übrig, als es auf sich nehmen, es anerkennen und als entschlossen aus
dem Nichts heraus handeln ohne Norm, ohne Richtung in stoischer
oder verzweifelter existentialistischer Selbstbejahung des Seins. Bis
zu diesem Punkt ist die Lehre vom Nichtsein zur Zeit vorgetragen
worden, und wenn wir uns nicht verwirren lassen durch logische
Positivisten, die alles verharmlosen, weil sie es in ein Spiel logischer
Dinge verwandeln, haben Sie gesehen, dass hier ein Problem vorliegt,
das immer aus der Analyse der menschlichen Situation hervorbrechen
muss, nämlich der Blick ins Nichts. Und wenn man es dem logischen
Positivisten gegenüber verteidigen will, muss man ihm sagen, dass
dieser Blick ins Nichts dasjenige ist, woraus die Philosophie nicht nur
das Problem des Nichts ableitet, sondern eben dadurch zum Problem
des Seins kommt, und dieselben, die das Problem des Nichts ableh-
nen, können auch nicht zum Problem des Seins durchstoßen. Eins
hängt am anderen. Die Relation ist sofort klar. Wer nicht wagt, den
Schock des Nichtseins auf sich zu nehmen, ist kein Philosoph, und
die Voraussetzung für irgendein Verständnis echter philosophischer
Probleme ist, dass Sie sich diesen Schock, wenn Sie ihn nicht schon
hatten, dass Sie ihn sich dann verschaffen durch ein Eindringen in
die Tatsache, dass alles Seiende dem Verschwinden ausgesetzt ist und
daraus die Frage sich ergibt nach dem Sein-Selbst.1
1
Die Schreibweise „Sein-Selbst“ entspricht der von Tillich autorisierten deut-
schen Übersetzung der Syst. Theol. I (s. Register unter „Sein-Selbst“). Syste-
matic Theology I: being-itself.
95
Das ist das Vorspiel sozusagen für die Lehre von der Endlichkeit,
zu der ich nun komme.1 Wir können sagen, dass Sein eingeschränkt
durch Nichtsein Endlichkeit ist, oder eine andere Metapher (und
nur in Metaphern kann man hier reden): Sein, geeint mit Nichtsein,
ist Endlichkeit. Nichtsein erscheint als das „Noch nicht“ des Seins
oder als das „Nicht mehr“ des Seins. Wir sind noch nicht, bevor wir
geboren sind, die Welt war noch nicht, bevor sie entstanden ist, wir
werden nicht mehr sein, nachdem wir tot sind, die Welt wird nicht
mehr sein, nachdem sie vergangen ist. Was das bedeutet, kann man
ermessen, wenn wir damit uns klar werden, dass alles auf diese Weise
dem Ende unterworfen ist, mit einer Ausnahme, nämlich des Seins-
Selbst. Das Sein-Selbst kann, wie Parmenides schon erkannte, kein
Ende haben,2 weil es ja dann niemals zum Anfang kommen könnte.
Das, was die Macht des Seins gibt, ist nicht dem Anfang und Ende
unterworfen. Aber das ist sicherlich kein Ding, auch nicht eine Per-
son, keine Mischung von Sein und Nichtsein, sondern es ist Grund
des Seins, es ist die Macht des Seins in allem Seienden. Nichtsein hat
keine Realität außer in Beziehung zu Sein. Sein geht dem Nichtsein
ontologisch voraus, obgleich die Frage nach dem Sein möglich ist,
nur weil Nichtsein erkenntnismäßig dem Sein vorangeht. Das, was
ontologisch das Erste ist, nämlich das Sein, ist im Verhältnis zur
Frage des Zweite. Wir können danach nur fragen aus dem Erlebnis
des Nichtseins. Das Sein-Selbst, das allem vorangeht, ist Beginn
ohne Beginn, Ende ohne Ende. Es ist sein eigenes Anfangen und sein
eigenes Enden. Oder in anderer Sprache: Es ist die Urmächtigkeit
des Seins, die Mächtigkeit von allem, was Sein hat; alles, d. h. was
an diesem Sein teilhat, ist gemischt mit Nichtsein. Es ist Sein im
Prozess des Werdens, des Kommens und Gehens zu etwas und das
heißt: Es ist endlich.
Die ontologischen Strukturen und Elemente, von denen wir ge-
sprochen haben, deuten auf Endlichkeit: Selbstheit, Individualität,
Dynamik, Freiheit – sie alle schließen ein Mannigfaltigkeit, Bestimmt-
heit, Unterschiedenheit, Begrenztheit. Etwas sein heißt: etwas anderes
nicht sein. Hier und dort sein heißt: nicht an einem anderen Hier und
Dort sein. Alle Kategorien des Denkens und der Wirklichkeit drücken
diese Situation aus. Wir werden gleich zu ihnen kommen.
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 222 f.
2
œstin ¥narcon ¥paustoj, DK 28 B 8.
96
Raum, Zeit, Kausalität, Substanz sind Kategorien der Endlichkeit,
Kategorien des endlichen Seins. Etwas sein heißt: endlich sein. Wer
erfährt Endlichkeit? Nur der Mensch, obgleich alles endlich ist.
Nur der, der Nichtsein erfährt, erfährt auch Endlichkeit. Nur der,
der das Ende antizipiert, weiß, was Endlichkeit bedeutet. In jedem
Moment sind zwei Elemente da, ein Wachsen und ein Abnehmen der
Seinsmacht. Wir erfahren Endlichkeit in jedem Moment, aber um
Endlichkeit als Endlichkeit zu erfahren, müssen wir auf uns blicken
von einer anderen Seite, nämlich von der Seite der Unendlichkeit.
Um gewahr zu sein, dass wir auf den Tod hin uns bewegen, müssen
wir über den Tod hinwegblicken über das Seiende als Ganzes, und
das ist unsere Möglichkeit, das ist unser Teilhaben am Unendlichen.
Wir müssen Unendlichkeit haben als Möglichkeit, um Endlichkeit
als Wirklichkeit zu erleben. Nur wer die Möglichkeit hat, jedes
Bestimmte zu transzendieren, nur wer die Möglichkeit hat, Unend-
lichkeit als Möglichkeit zu erleben, weiß um seine Endlichkeit. Und
darum ist der Mensch dasjenige Wesen, das sich als endlich weiß.
Dieses Sich-Wissen als endlich ist der einzige Beweis – nicht für
seine Unsterblichkeit – , sondern für seine Teilnahme an potentieller
Unendlichkeit.
97
10. Vorlesung
(Dienstag, 5. Juni 1951)
Wir hatten gestern die Lehre vom Nichtsein behandelt und hatten
angefangen mit der Lehre von der Endlichkeit, und die letzte Be-
merkung, die ich gemacht hatte, bezog sich darauf, dass der Mensch
seiner Endlichkeit bewusst ist, weil er auf sie schauen kann von
seiner möglichen Unendlichkeit, von der Möglichkeit, jede gege-
bene Wirklichkeit zu überschreiten. Ich möchte darauf jetzt noch
zurückkommen, weil das ein sehr zentraler Punkt für die Lehre
von der Unendlichkeit ist.1 Wenn man die Unendlichkeit als etwas
auffasst, was gegeben ist, dann kommt man in eine Fülle absurder
Widersprüche, z. B. dass, wenn die Unendlichkeit gegeben ist neben
der Endlichkeit, sie schon dadurch nicht mehr unendlich ist, dass
eine gegebene Unendlichkeit in sich Widersprüche hat. Mit anderen
Worten: Während wir bisher Polaritäten hatten, müssen wir jetzt auf
eine andere Form des Denkens achten. Endlichkeit, die in sich die
Möglichkeit des Unendlichen hat. Mit anderen Worten: Unendlichkeit
ist nicht der Begriff von etwas Gegebenem, er ist kein konstitutiver
Begriff, der Wirklichkeit aufbaut, sondern er ist ein dirigierender
Begriff, ein Begriff, der in eine Richtung weist, ohne dass das, was
in dieser Richtung liegt, begrifflich erfasst ist oder erfasst werden
kann. Der Begriff der Unendlichkeit dirigiert das Bewusstsein, die
unendlichen Möglichkeiten des Hinausgehens über jedes Gegebene
zu erleben, aber er bringt nicht eine neue Realität, ein Wesen, ein
Seiendes, sozusagen ein unendliches Seiendes vor unser Bewusstsein.
Wo das geschieht, entstehen Konflikte, die unlösbar sind.
Das gilt auch für die klassische Antinomie, die in der Antino-
mienlehre von Kant ihre letzte Formulierung gefunden hat, die
Endlichkeit und Unendlichkeit von Raum und Zeit und damit der
Welt.2 Wenn man sagt, die Welt ist endlich im Raum oder endlich in
der Zeit, dann läuft das Bewusstsein unvermeidlich über die Grenze,
die mit dieser Feststellung gegeben ist. Was ist hinter dem Raum,
der als endlich statuiert ist? Was ist hinter der Zeit da, wo die Zeit
aufhört? Eine gegebene Unendlichkeit kann nicht anders als end-
lich erfasst werden. Aber wenn wir sie [als] endlich erfassen, dann
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 223-225.
2
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 454 ff.
98
drängt das Bewusstsein über sie hinaus, und dieser Widerspruch ist
unvermeidlich. Im Augenblick, wo wir das Unendliche als solches als
gegeben fassen, wo wir sagen, die Welt ist unendlich in Raum und
Zeit, dann entsteht der innere Widerspruch eines unendlichen Din-
ges, einer unendlichen Sache, die als solche in keinem Moment real
fassbar ist, sondern in jedem Moment der Fassbarkeit widerspricht.
Aus dieser Antinomie, die Kant klassisch formulierte, wird deutlich,
dass es unmöglich ist, Raum und Zeit und damit die Welt als endlich
oder als unendlich zu definieren im Sinne eines Gegenstandes, der
endlich oder unendlich ist.
Ich wende das auch an auf die letzten Lehren über den endlichen
Raum, wie wir sie z. B. in der neuesten mathematischen Physik fin-
den: der endliche Raum, der letztlich in sich zurückkehrende Raum,
der gekrümmte Raum. Aber jeder gekrümmte Raum kann in einem
gekrümmten Raum mit einem weiteren Radius gedacht werden, so
dass auch hier wieder die Kategorie der Endlichkeit nichts ist, bei
dem man stehen bleiben kann. Wie kann man das lösen?
Die Lösung war damit gegeben, dass ich sagte: Unendlichkeit ist
kein konstituierender, sondern ein dirigierender Begriff, ein Begriff
von der Möglichkeit des Hinausgehens, aber nicht ein Begriff von
der Realität eines Seienden. Das menschliche Bewusstsein ist fähig,
endlos die endlichen Wirklichkeiten zu überschreiten in beiden Rich-
tungen, zum Kleinsten und zum Größten, und es tut das ständig.
Aber der menschliche Geist bleibt gebunden an seine Endlichkeit.
D. h. Unendlichkeit ist das Endliche, das sich selbst überschreitet,
sich selbst transzendiert ohne eine bestimmte Grenze. Damit ist der
Unendlichkeitsbegriff aus der statischen Form, in der diese Wider-
sprüche entstanden sind, in eine dynamische Form gegangen. Und
dann verschwinden die Widersprüche, weil die Ebenen, auf denen das
Endliche und das Unendliche liegt, verschieden sind. Das Endliche
ist das Gegebene, das Unendliche ist das, was die Möglichkeit hat,
über jedes Endliche hinauszugehen.
Wenn wir sagen, dass der Mensch diese Möglichkeit hat und
dass er in diesem Sinn Unendlichkeit hat, dann bedeutet das, dass
er zu dem gehört, was jenseits des Nichtseins liegt, nämlich dem
Sein-Selbst, dem Grund des Seins. Der Mensch nimmt dadurch, dass
er unendlich hinausgehen kann, teil an dem, was selbst jenseits des
Gegensatzes von Endlichkeit und Unendlichkeit liegt. Unendlichkeit
ist die Negation des Nichtseins in aller Endlichkeit. Es ist jenseits
dieser Negation, es ist die Negation der Negation.
99
Das ist etwas sehr Persönliches und sehr Existentielles. Der Mensch
ist niemals befriedigt durch irgendeinen Stand endlicher Entwicklung.
Nichts Endliches kann ihn wirklich halten, obgleich er oft zu Endli-
chem resigniert. Aber schon das Wort „Resignation“ deutet an, dass
das Endliche ihn nicht hat halten können von außen. Endlichkeit
ist unser Schicksal, aber da wir dieses Schicksal als solches niemals
anerkennen, da wir immer über jeden gegebenen Stand der Endlich-
keit hinausdrängen, so zeigt sich darin die unauflösliche Verbindung
jedes Endlichen mit dem Grund des Seins, mit dem Sein-Selbst. Es
ist deshalb nicht gut, wenn man das Sein-Selbst unendlich nennt und
es dann dem Endlichen gegenüberstellt. Das Sein-Selbst schließt das
Endliche und das Unendliche ein, das Sein-Selbst manifestiert sich
in dem Unendlichen, treibt dasjenige Endliche, das wir sind, über
jede Endlichkeit hinaus.
Das ist selbstverständlich auch für die Theologie wichtig. Wenn
man einen Gottesgedanken hat und Gott als das Unendliche dem
Endlichen gegenüberstellt, wie es in der religiösen Sprache und in
der theologischen Sprache oft geschieht und wie ich es oft getan
habe, dann muss man wissen, dass dies eine unangemessene Art
des Sprechens ist, in der ein Element herausgegliedert ist aus dem
Gedanken Gott, aus dem Grund des Seins. Wenn wir angemessen
sprechen, so müssen wir sagen, dass Gott jenseits des Gegensatzes
von endlich und unendlich steht, weil er als unendlich das Endliche
in sich schließt und es nicht als ausgeschlossen neben sich hat, womit
er aufhören würde, unendlich zu sein.
Dieser Gedanke bedeutet etwas, was zurücklenkt zu dem, was ich
gestern sagte über die Versuche, das Nichtsein so im Gottesgedan-
ken zu verankern, dass es dort zugleich als Grund alles Nichtseins,
aller Endlichkeit und als überwunden gedacht wird. Und damit
haben wir einen Gottesgedanken, der nicht mehr statisch, sondern
dynamisch ist, in dem Gott der Grund des Lebendigen und darum
selbst lebendig ist.
Nach der Vorlesung wurde ich gefragt, wie ich zum trinitarischen
Gottesgedanken stehe auf Grund dieser Analyse. Meine Antwort war,
dass dies nach meiner Meinung der innerste Kern des trinitarischen
Gedankens ist, der Grund, warum trinitarisches Denken das eigent-
lich notwendige und immer angestrebte Denken über die Lebendigkeit
des Seinsgrundes ist. Ich spreche dabei nicht von dem ausgeführten
trinitarischen Dogma des Christentums, sondern ich spreche von
der Analyse des Lebens, dass es sich trennt und sich wieder vereint,
100
und wenn man solche Gedanken analytischer und symbolischer
Natur nicht auf Gott anwenden kann, sollte man aufhören, in Ge-
beten und Predigten vom lebendigen Gott zu reden. Wenn man das
Wort „lebendig“ gebraucht und von Gott alle Charakteristika des
Lebendigen wegnimmt, gebraucht man das Wort phrasenhaft statt
sinnvoll. Will man es sinnvoll gebrauchen, muss man das Element
des Negativen, des Endlichen, in das Unendliche aufnehmen und
davon sprechen, dass der Grund des Seins insofern unendlich ist, als
er das Endliche in sich aufnimmt und in sich trägt und dadurch in
sich überwindet als Sein-Selbst. Ich kann das zurücklenken zu dem
Gedanken, dass wir Sein umschreiben müssen als Seinsmächtigkeit.
Denken wir den Grund des Seins als Macht des Seins, ist schon in
diesem Mächtigkeitsbegriff das Element der Möglichkeit darin. Und
auch dies analytische Reden führt zurück zu einem dynamischen
Gottesgedanken. Ich weiß nicht, ob es meine alte Schelling-Tradition
ist, dass mir dieser Gedanke so unvermeidlich erscheint, oder ob es
der Einfluss der Prozessphilosophie von Bergson und Whitehead
ist. Es ist für mich unmöglich, zu einem statischen Thomismus zu-
rückzukehren und den Grund des Seins zu denken als etwas, was
actus purus, reine Aktualität im aristotelischen Sinn ist, wo keine
Potentialität mehr übrig ist, wo das Nichtsein ausgeschlossen ist und
damit das Unendliche endlich gemacht wird, weil es dem Endlichen
gegenübersteht, anstatt es in sich zu tragen. Dieser Exkurs ins The-
ologische sollte denen, die gewohnt sind, diese Begriffe in der mehr
theologischen konkreten oder symbolischen Form zu denken, eine
Hilfe geben aus der reinen Abstraktheit von Sein und Nichtsein.
Zugrunde liegen diese ontologischen Begriffe, und ohne sie ist kein
theologisches Denken möglich.
Endlichkeit, wenn sie ihrer selbst gewahr wird, ist Angst. Darum
ist Angst genau wie Sein, wie Endlichkeit ein ontologischer Charakter.
Angst ist nicht etwas Sekundäres, etwas, was abgeleitet werden kann
von Konstellationen der Wirklichkeit, die angsterregend sind. Angst
kann nur beschrieben werden, man kann nur hinweisen. Ganz anders
ist es mit den Gelegenheiten, in denen Angst sich erhebt. Aufgeregt-
Werden aus dem Schlafe, in dem sie immer steht in uns. Aber man
muss unterscheiden Gelegenheiten, die Angst aktualisieren, lebendig
machen, erregen, von der Grundangst des endlichen Seins selbst.
Wenn das richtig ist, dann ist Angst unabhängig von irgendeinem
Gegenstand, einem speziellen Gegenstand, der Angst erzeugen mag.
Sie ist nur abhängig von der Drohung des Nichtseins, die nur ein
101
anderes Wort für Endlichkeit ist. Angst und Endlichkeit, Angst und
Drohung des Nichtseins, Angst und Einheit von Sein und Nichtsein,
d. h. Endlichkeit, ist ein und dasselbe. Man hat darum mit Recht ge-
sagt, dass der Gegenstand der Angst das Nichts ist, denn das Nichts
ist kein Objekt, und Objekte sind nicht Gegenstand der Angst. Das
ist der Unterschied von Angst und Furcht. Gegenstände, Vorgänge,
Persönlichkeiten fürchtet man, eine Gefahr ist gefürchtet, ein Schmerz
ist gefürchtet, ein Feind ist gefürchtet; aber mit Furcht kann man
fertig werden. Und Sie selber haben gezeigt und erinnern sich, dass
man mit den schlimmsten Gelegenheiten der Furcht fertig werden
kann durch Handlung. In dem Augenblick, wo man handelt, was
nicht notwendig eine äußere Bewegung bedeutet, sondern es kann
ein innerer Widerstand sein, wenn man handeln kann, ist die Furcht
überwunden. Aber die Angst kann nicht überwunden werden, weil
man nicht gegen sie, die ohne Objekt ist, handeln kann.
Kein endliches Wesen kann seine Angst überwinden. Man kann
jeden Gegenstand bekämpfen und viele Gegenstände im Kampf
beseitigen, viele Ursachen der Furcht ausschalten. Man kann auch
durch Psychoanalyse, durch Beratung oder durch viele andere Din-
ge, durch Trunkenheit, Furcht ausschalten, weil man immer einen
Gegenstand vor sich hat, mit dem man dann zu ringen glaubt oder
wirklich ringen will. Das trifft nicht zu auf Angst. Sie ist immer
gegenwärtig, sie ist oft latent. Nun kann man sagen: Woher weißt
Du das, wenn es latent ist? Davon, dass es in jedem Moment ohne
jede Ursache äußerer Art, ohne jeden Gegenstand, der furchterregend
wäre, herausbrechen kann. Die Urangst, die Lebensangst, die Angst
des Nichtseins, das ein Teil von uns ist, ist immer da und kann in
jedem Moment hervorbrechen, und wir wissen nicht, wann. Aber
wenn sie hervorbricht, wissen wir, dass sie keinen Gegenstand hat.
Darum kann sie gerade in Situationen, wo man nichts zu fürchten
hat, am deutlichsten werden.
Und man hat oft verglichen die Situation in diesem Land hier
in den schwersten Zeiten des Krieges und der Bomben und danach
mit der in Amerika, wo derartiges gar nicht erlebt wurde. Einzelne
erlebten Ähnliches und reagierten ähnlich, das Land als ganzes
nicht. Der Anteil1 derer, die eine unüberwundene Angst, die dann
ins Ontologische geht, wie ich gleich zeigen werde, haben, ist un-
1
Korr. (Typ. GS: Die Proportion)
102
verhältnismäßig groß in dem Land, in Amerika, das keine Furcht zu
haben braucht, wo die Masse der Menschen nichts in dem Sinne wie
hier zu Fürchtendes gegenüber hat. Und hier und in England, wo
unendlich zu fürchten war, ist in jedem Moment die Angst in Furcht
verwandelt und dann durch Mut überwunden worden. Und das ist
etwas, was bewirkt hat, dass in diesen beiden Ländern während der
schlimmsten Kriegszeit die neurotischen Angsterscheinungen auf ein
Minimum reduziert waren.
Angst versucht, sich selbst zu überwinden dadurch, dass sie sich
in Furcht verwandelt und sich Gegenstände schafft. Wir kennen das
alle, wie man sich fragt, wenn man in einer Angstsituation ist: Was
kann mir denn passieren? und sich dann Gegenstände vorhält und
diese Gegenstände dann anschaut und entdeckt, dass man mit jedem
einzelnen von ihnen fertig werden kann. Nur insofern das gelingt,
kann man die Angst reduzieren; überwinden kann man sie nie, weil
sie ja unser Sein selbst ist, nämlich die Endlichkeit. Darum kann auch
die Psychotherapie nur neurotische Angst überwinden, aber nicht die
ontologische, die auf dem Grund auch der neurotischen Angst liegt.
Psychotherapie kann ja nicht die Struktur der Endlichkeit ändern.
Es kann jede konkrete Struktur weitgehend geändert werden durch
Einflüsse auf Menschen. Es hat ja immer Bekehrungen gegeben, aber
auch der Bekehrte behält die Struktur der Endlichkeit, auch der
psychoanalytisch Geheilte behält die Struktur der Endlichkeit und
damit das Gewahrwerden des Nichtseins. Was Psychotherapie aller
Art tun kann, ist, diejenige Furcht zu überwinden, die hervorgeht
aus dem Mangel an Mut, seine Angst auf sich zu nehmen und dann
die Angst an die falsche Stelle zu setzen, nicht da, wo sie hingehört,
in den ontologischen Grund des Seins, sondern an tausend Stellen
irregeleiteter, törichter, wenn auch in sich konsequenter Furchtäu-
ßerungen. Und da kann geholfen werden. Die Psychotherapie hat
auch zu tun mit den neurotischen Fixierungen einer falsch platzierten
Furcht, einer Angst, die sich in falscher Weise in Frucht verwandelt
hat, anstatt den Mut zu haben, sie auf sich zu nehmen.
Es war eine sehr wichtige Entwicklung, und ich brauche das
hier weniger zu sagen, als ich es in Amerika sagen musste, als drei
große Bewegungen den Begriff der Angst wiederentdeckten, der
seit Pascal, ja seit Augustin immer wieder von einigen existentiell
fundierten Denkern gesehen worden ist. Aber er ging immer wieder
verloren, und die Vermischung mit Furcht machte ihn zu einem
höchst fragwürdigen Begriff. Die drei Bewegungen, denen wir seine
103
Wiederentdeckung verdanken, sind die Existentialphilosophie, die
Tiefenpsychologie und alle künstlerischen Ausdrucksformen, wie
wir sie im 20. Jahrhundert in reichem Maße geschaffen haben. In
all diesen Äußerungen unseres existentiellen Bewusstseins, wovon
Philosophie nur eine ist und die Tiefenpsychologie auch nur eine und
die Kunst und Dichtung das andere sind, in diesen Bewegungen hat
sich die Endlichkeit als Angst enthüllt.
Es ist klar geworden, dass Furcht auf einen bestimmten Ge-
genstand gerichtet ist und dass Angst als das Gewahrwerden der
Endlichkeit ohne einen Gegenstand völlig verschiedene Dinge sind.
Angst ist ontologische, Furcht ist psychologische Angst. Angst ist ein
ontologischer Begriff, der die Endlichkeit von „innen“ ausdrückt.
Und wenn ich sage: von „innen“, möchte ich gleich hinzufügen,
dass zwischen „innen“ und „außen“ hier kein Unterschied des phi-
losophischen Gewichts besteht. Sie können statt von Endlichkeit in
der Philosophie auch von Angst reden, und Sie reden von derselben
Sache. Gewöhnlich wird Angst so stark als emotionales spezielles
Ereignis empfunden, dass die Philosophie es vorzieht, von End-
lichkeit zu reden, um diese mehr subjektivierende Terminologie zu
vermeiden. Aber die Philosophie, die am tiefsten in die Wirklichkeit
gesehen hat, hat gesehen, dass in den Affekten, in der inneren Bewe-
gung der Subjektivität, Sein offenbart ist und dass nur durch diese
Offenbarung des Seins in den subjektiven Bewegungen wir zugleich
imstande sind, Begriffe wie Endlichkeit sinnvoll zu erfassen. Denken
Sie einen Moment nach. Wenn Sie das Wort „Endlichkeit“ hören,
was geschieht dann in Ihrem Bewusstsein? Sicher nicht, dass Sie eine
mathematische Gleichung sehen, dass Sie endliche und unendliche
Zahlen konfrontieren. Sondern, sobald das Wort „Endlichkeit“
ausgesprochen wird, ist die Angst des Sterben-Müssens unmittelbar
damit gegeben oder des zufälligen Seins, des nicht-notwendigen Seins.
All diese Urphänomene des Seins sind enthalten in dem Gebrauch
eines scheinbar so abstrakten Wortes wie „endlich“. Wenn wir das
wissen, dann können wir zwei Wege gehen. Den einen Weg, dass
wir für „Endlichkeit“ ein mathematisches Zeichen erfinden und uns
selbst und allen anderen verbieten, dabei irgendwas zu denken, was
nicht das mathematische Zeichen ausdrückt, was letztlich auf eine
endliche Zahl herauskommen würde, der Weg, den vielfach die mo-
derne Logik geht; den anderen: zu sagen, wenn schon diese Elemente
in einem Begriff wie Endlichkeit mitschwingen, dann wäre es doch
besser, zu sagen und nicht zu verhüllen, dass hier Worte gebraucht
104
werden mit einem Rahmen von Assoziationen und Emotionen, die
immer da sind, aber die man nicht wagt zu nennen.
Ich glaube, es ist eine der besten Leistungen der Existentialphilo-
sophie, dass sie uns wieder gezwungen hat, dem ins Auge zu sehen,
dass Begriffe wie „Endlichkeit“ in sich selber Begriffe wie „Angst“
enthalten. Dadurch werden beide in einer tieferen Schicht erfahren
und verstanden. Angst wird aus dem Subjektiv-Emotionalen heraus-
geholt, obgleich es sich da auch natürlich und oft nur befindet. Und
auf der anderen Seite wird „Endlichkeit“ aus der rein mathematischen
Zahlenbedeutung herausgeholt und es wird eine Beschreibung der
menschlichen Situation. Und das ist der Grund, warum ich sage, es ist
gleichgültig, ob wir die Situation beschreiben als Endlichkeit und das
heißt als Einheit von Sein und Nichtsein oder ob wir sie beschreiben
als Angst, aber als Angst, die immer balanciert ist durch den Mut,
der die Angst in Furcht verwandelt und dann mit dem Objekt der
Furcht fertig wird.
Über den Mut möchte ich noch etwas sagen. Das Wort „Mut“
steht hier genau wie Angst in einem ontologischen Zusammenhang.
Mut wird vielfach als eine Tugend unter anderen verstanden, aber
schon bei Plato wird es deutlich, dass er mehr ist, in gewissem Sinne
die Ganzheit aller Tugenden. (Frühe Dialoge Platos). Der stoische
Mut, die hervorstechende Eigenschaft der großen Stoiker, ist auch
kein soldatischer Mut, ist der Mut, das Nichtsein auf sich zu nehmen.
So wird er überall, nicht mit diesen Worten, aber der Sache nach
beschrieben bei den großen Stoikern. Dasselbe bei Spinoza, wo der
Mut verstanden wird als die letzte Selbstbejahung eines Seienden
im Gegensatz zu dem Nichtsein, mit dem es verbunden ist. Er ist
Selbstbejahung des Seins-Selbst, an dem das einzelne Sein teilnimmt.
Fassen wir Mut in diesem weiten Sinn, wird Mut unmittelbar der
Gegenbegriff zu Endlichkeit und bekommt dieselbe ontologische
Bedeutsamkeit, d. h. er wird ein Begriff, der das Sein selber charak-
terisiert. Sein nach Spinoza ist Selbstbejahung, Selbstaffirmation,
Selbstaffirmation aber in der Form von „Trotzdem“, in der Form
von „trotz des Negativen“, das zum Sein gehört.
Mut und Angst sind balanciert. Wäre nur Angst da, so würde
das Endliche nicht sein können. Aber wir alle wissen, dass wir ja
leben und dass wir imstande sind, Angst in Furcht zu verwandeln
und dann damit fertig zu werden. So ist eine Balance da zwischen
Angst und Mut, aber diese Balance ist nicht gleich, weil der Mut
weiß, dass das, was die Angst weiß, eines Tages vorherrschend sein
105
wird, dass das Nichtsein das letzte Wort hat. Und dann entsteht die
Frage nach einem Mut, der auch dem letzten Wort des Nichtseins
ein Wort entgegenstellen kann. Das war das Problem des Sokrates
vor seinem Tod, das war das Problem der Stoa, das ist das Problem
aller Religionen, das ist das Problem, aus dem die Frage nach Gott
und nach der Religion hervorgeht. Es ist nicht die Frage der Unsterb-
lichkeit, das ist eine mythologische Ausdrucksform davon, sondern es
ist die Frage der Teilnahme an der Selbstbejahung des Seins-Selbst1,
des Grundes des Seins. Ist Mut letztlich stärker als Angst ? Er kann
nur stärker sein, wenn Nichtsein letztlich eingeschlossen ist in Sein
und dadurch überwunden. Das ist die fundamentale Struktur des
religiösen Denkens; aber darauf will ich nicht weiter eingehen.
1
Korr. (Typ. GS: Seienden selbst)
106
11. Vorlesung
(Mittwoch, 6. Juni 1951)
Diskussion:
Tillich: Der Mutbegriff, den ich hier gebraucht habe, ist nach meiner
Meinung der Kern des Glaubensbegriffs. Was darüber hinaus oft
fälschlich mitgedacht wird, der Glaube, dass z. B. Gott existiert, ist
theologisch ein horrendum, anders kann ich es nicht ausdrücken, et-
was, was Theologie und schließlich Religion ruiniert. Was Glaube be-
deutet, ist Teilnahme an dieser letzten Selbstbejahung des Seins-Selbst.
Das kommt in vielen Stellen in der großen Literatur sehr deutlich zum
Ausdruck. Nur in den autoritären Ausdrucksformen der Kirche wird
Glaube definiert als Anerkennung von unglaubhaften Dingen. In der
wirklichen religiösen Erfahrung ist Glaube eine Situation, in der das
Nichtsein überwunden ist durch den Mut, Ja zu sagen zum Sein im
Gegensatz oder in Überwindung des Nichtseins, das dieses Ja-Sagen
unmöglich machen will. Das kommt weiter zum Ausdruck in Äuße-
rungen Luthers. Eines der schönsten Dinge in Luther ist die Art, in
der er ständig den Mut-Begriff anwendet, wo heteronome Theologie
oder Kirchen den Begriff des „Glaubens dass“ oder den Begriff des
Gehorsams oder dergleichen anwenden. Ich glaube, dass er damit in
die letzten Fundamente des ontologischen Denkens vorgestoßen ist.
Die Frage ist nicht: Gibt es einen Gott oder keinen Gott?, sondern:
Wie nehme ich teil am Grund des Seins, an der Selbstbejahung trotz
des Nichtseins? Tue ich das, so bin ich im Glauben, ob ich einen
theistischen Gottesgedanken habe oder nicht.
107
Element aber niemals eine neurotische Angst ist oder niemals den
Charakter der Angst des bösen Gewissens hat, dass in diesem Bild
von einer Überwindung des Negativen geredet wird.
Wir wollen uns konzentrieren auf das, was der nächste Schritt in der
Analyse der Endlichkeit ist, nämlich die Beschreibung und Analyse
der Kategorien der Endlichkeit.1 Und ich muss zunächst einiges über
den Begriff der Kategorie sagen. Kategorien sind die Arten und Weisen
oder die Formen, in denen wir vernünftig über das Wirkliche reden.
Kategorien heißt, über etwas reden. Das ist der ursprüngliche Sinn
des Wortes „Kategorie“, und dieser ursprüngliche Sinn muss festge-
halten werden, wenn immer man das Wort „Kategorie“ gebraucht,
und das wird gelegentlich sehr vage gebraucht. Auch ich bin oft hier
schuldig gewesen. Aber die Beziehung zum Reden oder exakter zum
Denken kann auch dann nicht vom Begriff der Kategorie entfernt
werden, wenn wir annehmen, dass eine Kategorie die Struktur des
Wirklichen ausdrückt. Und das ist die zweite Bedeutung, die neben
der ersten hergeht, die die erste nicht verneint, die aber von der ersten
auch nicht verneint werden soll.
Die Kategorie hat daher wie unsere Vernunft zwei Seiten. Auf
der einen Seite ist sie ein notwendiges Element in der Struktur des
Bewusstseins und auf der anderen Seite ist sie ein notwendiges Ele-
ment in der Struktur der Wirklichkeit. Wenn wir die beiden Seiten
einheitlich formulieren, da können wir sagen, dass die Kategorie die
Begegnung von Bewusstsein und Wirklichkeit ausdrückt; und wenn
wir diese Begegnung „Erfahrung“ nennen, [können wir sagen,] dass
Kategorien diejenigen Strukturen sind, die Erfahrung konstituieren.
Wo immer Erfahrung vorliegt, liegen die Strukturen vor, die wir Kate-
gorien nennen. Kategorien beschreiben die Strukturen des Wirklichen
sowohl in subjektiver als auch in objektiver Beziehung. Wenn wir das
voraussetzen, dann sind Kategorien in jeder Erfahrung gegenwärtig
und darum unabhängig von irgendeiner Erfahrung.
Das bedeutet natürlich nicht, dass sie uns außerhalb der realen Er-
fahrung gegeben sind, sondern es bedeutet, dass sie gegenwärtig sind
und gefunden werden müssen in und mit jeder konkreten Erfahrung
als das strukturelle Knochengerüst, das alles trägt und das immer ge-
genwärtig ist. Das Wort „a priori“ ist eines der missbrauchtesten und,
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 225-232.
108
weil so oft missverstanden, bekämpftesten Worte der Philosophie. Es
gibt immer noch Menschen, die das Wort „a priori“ zeitlich nehmen
und sagen, sie hätten noch nie gesehen, dass ein Baby die Kategorie
der Kausalität hätte. Sagt man das, hat man missverstanden, was
„Kategorie“ und „a priori“ bedeuten. Selbstverständlich hat das Kind
die Kategorie der Kausalität, wenn es seine Hand bewegt, um [etwas
zu greifen], aber nicht den Begriff. Den haben auch sehr wenige
Menschen, auch unter den Gebildeten. Denn das Verhältnis von Ka-
tegorien-Haben und Von-einer-Kategorie-Wissen ist Voraussetzung
für das Verständnis des Begriffes „a priori“. Sagte ich mit Kant, dass
die Kategorien a priori sind, so bedeutet das, dass die Kategorien
Strukturen ausdrücken, die in jeder Erfahrung gegenwärtig sind als
Voraussetzung der Erfahrung, in der die Erfahrung sich selbst erfährt.
Dieser Doppelsinn des Wortes „Kategorie“ bewirkt, dass Kategorien
unterschieden werden müssen von logischen Regeln, aber auch diese
Unterscheidung ist nicht letztlich, denn eine Logik, die nicht der
Ausdruck einer Wirklichkeitsstruktur ist, ist ein willkürliches Spiel
mit willkürlich gesuchten Elementen der Wirklichkeit und nicht ein
Spiegelbild des Verhältnisses von Rede und Realität. Nur wo Logik
als Form der Rede so gefasst ist, dass sie zugleich die Form ist, in
der sich die Wirklichkeit der Rede darbietet, hat Logik einen Sinn.
In anderen Worten: Auch die logischen und semantischen Analysen,
d. h. Sprachanalysen, müssen schließlich auf die ontologische Wurzel
führen, d. h. auf das Sein, das diese Art Rede sinnvoll macht, wenn
wir die Wirklichkeit im Wort greifen wollen.
Aber was ich Ihnen hier darbieten will, ist keine Kategorienlehre
an und für sich, vor allem nicht der Versuch, ein System der Kate-
gorien zu entwickeln, das auf Vollständigkeit Anspruch macht – das
ist von Aristoteles bis Nicolai Hartmann noch niemandem gelungen,
und es kann nicht gelingen, weil die Begegnung mit der Wirklichkeit
in sich unendlich ist und unendlich neue Voraussetzungen sichtbar
macht und unendlich kritisch diese Voraussetzungen von den Inhalten
der Erfahrung scheiden muss. Das Werk der Kategorienlehre ist nie
ein abgeschlossenes, sondern ein unendliches. Was ich statt dessen tun
will, ist der Versuch, die Kategorien oder vielmehr die Identität von
Nichtsein und Angst, von Endlichkeit und der Korrelation von Angst
und Mut in den einzelnen Kategorien durchzuführen und dabei eine
Reihe von ausgewählten Kategorien zur Diskussion zu stellen. Nicht
alle, sondern vier aus Gründen, die ich nicht entwickeln möchte,
die aber insofern nicht ganz unvernünftig sind, als diese vier in der
109
Geschichte der Kategorienlehre immer von entscheidender Bedeutung
gewesen sind: Zeit, Raum, Ursache und Substanz. Wenn wir diese
Kategorien verstanden haben und ihren Charakter als Ausdruck
der Endlichkeit, dann haben wir etwas über das ontologische Sein
der endlichen Wesen verstanden, und das ist ja die Funktion dieser
ganzen Vorlesung, das Hineintauchen in das Sein von dem einzigen
Eingangstor, das wir haben, nämlich unserer Existenz, und darum
eine Analyse der Endlichkeit des Seins, der Kategorien als Formen
der Endlichkeit. Der Versuch ist also der, die Kategorien Ihnen vor-
zulegen als Formen der Endlichkeit.
Die Kategorien und insonderheit die, die ich genannt habe, offen-
baren ihren ontologischen Charakter dadurch, dass sie eine doppelte
Beziehung zu Sein und Nichtsein haben. Sie drücken Sein aus, sie
sind Kategorien des Seins, sie sagen etwas über jede Erfahrung,
über jede Begegnung mit dem Sein aus; zugleich aber drücken sie
Nichtsein aus, das Nichtsein, an dem alles, was ist, teilnimmt. Die
Kategorien, können wir sagen, sind Formen der Endlichkeit, und
als solche vereinigen sie das bejahende und verneinende Element in
jedem Falle. D. h. wenn wir von Zeit, Raum, Kausalität und Substanz
reden, müssen wir beide Elemente betrachten, das positive, dass sie
Sein ausdrücken, und das negative, dass sie Nichtsein ausdrücken.
Und wir müssen das (genau wie gestern in der Analyse der End-
lichkeit) nicht nur tun „von außen her“, sondern auch „von innen
her“. D. h. wir müssen es tun nicht nur in Relation zu der Welt,
sondern auch zum Selbst, denn die Selbst-Welt-Korrelation ist ja
die Grundkorrelation. Wenn wir fragen: Was bedeutet Zeit für das
Selbst?, dann kommen wir genauso wie vorher in der Analyse der
Endlichkeit zu den Grundkategorien Angst und Mut, und wir wol-
len sie durchführen in Zusammenhang mit diesen vier Kategorien.
Wir wollen also erst reden von ihrem Charakter als Kategorien im
Sinne der Welt und dann als Ausdrucksformen von Mut und Angst
in Verbindung mit dem Selbst.
Ich fange an mit der Betrachtung der Zeit. Jede Kategorie ist
Korrelat zu der Seinssphäre, in der sie erscheint. Zeit ist qualitativ
verschieden entsprechend den verschiedenen Schichten des Seins,
wenn wir das Wort „Schichten“ gebrauchen wollen oder „Dimen-
sion“, wenn Sie das vorziehen. Zeit ist nicht ein Flussbett, in dem
Dinge einherrollen, sondern Zeit ist eine Form, die Korrelat ist zu
Strukturen des Seienden und Korrelat ist in verschiedener und kom-
plizierter Weise, in gegenseitig von sich abhängiger Weise. Darum
110
lassen Sie mich in einer vorläufigen Betrachtung zunächst einmal
die verschiedenen Zeitbegriffe unterscheiden, die wir anschauen in
Zusammenhang mit verschiedenen Grundformen des endlichen Seins,
dem wir begegnen.1
Das Erste ist die physikalische Zeit, die eine Abstraktion ist.
Es gibt sie nicht absolut in Wirklichkeit. Sie ist die mathematische
Abstraktion, die höchste aller Abstraktionen; dadurch völlig be-
herrschbar, berechenbar und verständlich im quantitativen Sinn.
Die physikalische Zeit ist rechnerisch aufgefasst worden als eine
Dimension des Raumes und ist damit in gewisser Weise derjenigen
Qualitäten beraubt worden, die die Zeit als Zeit charakterisieren.
Die Zeit der physikalischen Kalkulation ist umkehrbar. Man kann
jede Gleichung, die einen vierdimensionalen Vorgang ausdrückt,
umkehren, und das Resultat ist das gleiche. Daran zeigt sich der
hoch abstrakte Charakter dieser Seite der Zeit oder dieser Zeit, die
überall gegenwärtig ist, in der wir alle stehen, die wir ja alle unter
physikalischen Bedingungen leben, die berechenbar sind, die aber
das eigentliche Sein unserer Zeit nicht ausmacht.
Das Nächste ist nicht mehr abstrakt, sondern konkret wie al-
les Folgende, nämlich die anorganische Zeit, von der wir sagen
können, dass sie den Charakter des Dauernden hat. Wenn wir an
einen Felsblock denken, einen Berg ansehen, dann haben wir immer
ein bestimmtes Zeitgefühl, abgesehen vom Raumgefühl, das damit
verbunden ist, nämlich das der Dauer. Wir wissen, dass die Dauer
nicht ewig ist, aber sie dauert hinein in die Zeit, die Zeit geht an
ihnen vorbei und nagt an ihnen, aber sie haben die Fähigkeit, dem
Zeitprozess zu widerstehen. Und auch diese Widerstandsmöglichkeit
des Anorganischen in der Zeit ist eine Grundlage alles Seienden. Ohne
diesen Widerstand würde es keinen Augenblick sein Sein behaupten
können. Auch hier ist der Mensch wie alles Lebendige intim verbun-
den mit der natürlichen Grundlage, und wie in uns das Knochengerüst
das relativ dauernde ist, so ist die Zeit als „Widerstand gegen“ in der
anorganischen Welt anschaubar, als Widerstand gegen den Charakter
der Zeit, den wir als Vorübergehen kennen lernen werden.
In der pflanzlichen Zeit, in dem, was wir als pflanzlich anschauen,
sind die beiden anderen Voraussetzungen, aber ein Neues kommt
hinein, nämlich die Wachstumszeit. Diese hat etwas sehr Interessan-
1
Zu den Zeitbegriffen vgl. auch Tillichs Frankfurter Vorlesung „Geschichts-
philosophie“ von 1929 / 30, in: EW XV, S. 9-71.
111
tes. In der Wachstumszeit ist ein Verhältnis von Vergangenheit und
Zukunft gegeben, das über die Zeit des Widerstandes und über die
physikalische, berechenbare Zeit hinausgeht. In der physikalischen
berechenbaren Zeit ist jeder einzelne Moment von jedem anderen
dadurch getrennt, dass wir ihn künstlich für einen Augenblick fixie-
ren, dann fallen lassen und weitergehen. In der Zeit des Vegetativen
ist etwas anderes Gegenwart, nämlich die Identität von Vergangen-
heit und Zukunft in dem einheitlichen Prozess des Wachstums, des
Kommens in Existenz, des Hingehens zur Reife, des Altwerdens und
des Vergehens. Dies ist aber ein einheitlicher Prozess. Es ist dasselbe
Ding, dasselbe endliche Wesen, das diese Dinge durchmacht, und
darum erleben wir in der Zeit, in dem Moment, in dem wir heute
auf einen Baum blicken, seine Zukunft. Wir sehen ihn altern, und wir
sehen ihn in seinen frühen Wachstumsperioden, die alle sozusagen
Gegenwart und Zukunft in diesem Moment parallel repräsentieren.
Es ist ein Ineinander geschaffen, das über das reine Vergehen des
Zeitprozesses hinausgeht. Die Zeit hat hier den Charakter des schon
über ihre Getrenntheit in Momenten Hinausgehens, eine Einheit von
Vergangenheit und Zukunft. Im Moment eines einheitlichen Wachs-
tums ist Zukunft, ist Vergangenheit schon darin und umgekehrt das
Junge im Alten noch darin und das Alte im Jungen schon darin.
Und in der menschlichen Sphäre erleben wir das ständig. Es gibt
Momente, wo wir einen Menschen ansehen und sehen ihn plötzlich
in seiner Jugend und wie er als junger Mensch uns begegnet ist,
es gibt Momente, wo wir einem jungen Menschen begegnen, und
wir antizipieren plötzlich sein Altsein rein optisch sozusagen in der
Bildschau seines Wesens.
Dann komme ich zu der nächsten Schicht oder Dimension der
Zeit, der Zeit der Lebewesen. Da ist ein neues Element da, die In-
nerlichkeit, die sich äußert als das Aufbewahren des Vergangenen
als vergangen, was wir Erinnerung nennen, und das Vorwegnehmen1
des Zukünftigen als Zukünftigen gleich Erwarten. Diese beiden Phä-
nomene sind etwas Neues und sind so wichtig, dass Augustin z. B.
Erinnerung als eine Analogie für das göttliche Sein selber gebraucht
hat.2 Erinnerung heißt: in die Innerlichkeit hineinnehmen das, was
als Prozess in der Vergangenheit liegt, und es dadurch zur Gegenwart
machen. Und dasselbe ist das Vorwegnehmen: Es ist noch nicht da,
1
Korr. (Typ. GS: des Vorwegnehmens)
2
Augustinus, Confessiones X 17, 26.
112
aber es ist doch schon da in dem Erwartungsakt. Auf diese Weise
ist die Zeit wieder etwas, was hinausgeht über die Geschiedenheit
im Erinnerten und Vorweggenommenen. Wie es sich als Gegenwart
im Erleben darstellt, ist Gegenwart ein Sieg über die Zeit. Das ist
später von der Theologie als die einzig mögliche Analogie für das
gebraucht worden, was man Ewigkeit nennt. D. h. nicht Zeitlosig-
keit, sondern das Haben des Vergangenen und Zukünftigen in der
Gegenwart, einer Gegenwart, die nicht mehr von der Vergangenheit
und Zukunft getrennt ist.
Dann komme ich zur nächsten Schicht, der geschichtlichen Zeit,
die wieder alle anderen umfasst, aber über sie hinausgeht, die schon
in der Wachstumszeit anfänglich da ist. Sie hat den Charakter der
Unumkehrbarkeit; der wird hier erst wirklich sichtbar. Im Wachstum
schon da, aber in der Geschichte ist er entscheidend. Geschichtliche
Zeit läuft vorwärts, etwas entgegen, was immer das Etwas sein
mag, etwas Neues, etwas, was anders ist als alles Vorhergehende
und von dem es keinen Übergang zu dem Vorhergehenden gibt. Die
geschichtliche Zeit ist daher charakterisiert durch das Neue, durch
die Qualitäten in ihr, sie hat Rhythmus, sie hat Perioden. Und aus
der geschichtlichen Zeit kann derjenige große Rhythmus abgeleitet
werden, den wir in jeder Geschichtsphilosophie als Sinndeutung der
Geschichte vorfinden. Alle diese Schichten des Zeitlichen sind gegen-
wärtig in irgendeiner Weise in jeder dieser Zeiten. Und darum kann
man auch von der Zeit, von der gemeinsamen Zeit oder der Weltzeit
reden, die alle Elemente umfasst, die aber aus diesen Elementen
zusammengesetzt ist und nicht etwas von ihnen Abstraktes ist, ein
Flussbett, in dem Dinge herumrollen. Das ist die erste Betrachtung
über die Zeit, die ich Ihnen geben wollte.
Wenn wir die Zeit so kurz analysiert haben in ihrer Wesensstruk-
tur, dann kommen wir jetzt zu der Zeit als Kategorie der Endlichkeit.
Die Zeit ist die zentrale Kategorie der Endlichkeit. Jeder Philosoph
ist fasziniert und beunruhigt durch das Mysterium der Zeit, und
ich glaube manchmal, jeder Nichtphilosoph ebenso und mehr noch
als viele Philosophen. Die Angst des In-der-Zeit-Seins ist etwas, was
man bei Kindern genau so beobachten kann wie bei den einfachs-
ten, philosophisch ungeformten Menschen. Es ist so natürlich und
grundlegend, dass die primitive, biblische und allgemeine religiöse
Sprache das Zeitsymbol ununterbrochen braucht, um den Charakter
des Menschseins zu beschreiben. Nun kann man zwei Verhaltungs-
weisen gegenüber der Zeit haben. Die eine Verhaltungsweise würde
113
den negativen Charakter der Zeit betonen, das negative Element, die
andere das positive, woraus die Richtigkeit meiner Grundbehauptung
zu sehen ist, dass beide Elemente, Sein und Nichtsein, in der Zeit
vereint sind.
Wenn man das negative Element betont, dann weist man hin
auf den vorübergehenden Charakter alles Zeitlichen, das Werden
und Vergehen, das den Zeitcharakter bestimmt, und vor allem auf
die Unmöglichkeit, im gegenwärtigen Moment einen Zeitbegriff zu
fixieren. Man kann den Fluss, der nirgends stillsteht, nicht fixieren,
wie Heraklit schon sagt.1 Man steigt nicht in dasselbe Wasser zum
zweiten Mal. Es gibt keine Gegenwart; die Zeit bewegt sich von der
Vergangenheit, die nicht mehr ist, entgegen der Zukunft, die noch
nicht ist, durch einen Gegenwartsmoment, der nichts ist als eine sich
bewegende Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Aber
Sein heißt: Gegenwart haben, und wenn Gegenwart eine Illusion
ist, dann heißt das, dass wir fallen ins Nichtsein. Das ist die Zeitbe-
trachtung, die Ihnen sicher geläufig ist und die uns bei jeder Analyse
der Zeit begegnet. Sie drückt das Mysterium der Zeitlichkeit als eine
radikale Frage besonders deutlich aus.
Aber demgegenüber gibt es nun andere, die das Positive in der
Zeit betonen, nämlich den schöpferischen Charakter des Zeitpro-
zesses, das, was man „zeitigen“ im Deutschen nennt, die Tatsache,
dass die Zeit eine Richtung hat, unumkehrbar ist, dass in der Zeit
das Neue geschaffen wird. Keine der beiden Gruppen ist imstande,
unser Zeitgefühl und unser Zeiterlebnis exakt auszudrücken oder
exklusiv auszudrücken. Es ist unmöglich, die Gegenwart illusorisch
zu nennen, weil nämlich die Gegenwart diejenige Möglichkeit gibt,
die wir brauchen, um Vergangenheit und Zukunft überhaupt zu er-
fahren. Die Bewegung von der Vergangenheit zu der Zukunft kann
nur gemessen werden auf dem Boden der Gegenwart, d. h. Gegen-
wart muss sein. Aber Gegenwart kann nicht sein, ist die Antwort
der anderen. Und dann wird denen gegenüber, die das Positive in
der Zeit betonen, eingewandt, dass die Zeit alles verschlingt, was sie
geschaffen hat, wie schon im alten Chronos-Mythos, dass das Neue
alt wird und dahinschwindet und dass die schöpferische Entwicklung
in jedem Moment vom Mutterleibe an begleitet ist von einer Macht
der zerstörenden Desintegration.
1
DK 22 B 49a und 91.
114
Wir sterben vom Moment der Geburt an, wir sterben nicht eines
Tages, sondern das Sterben ist ein Prozess, der genau korrelat ist zu
dem Prozess des Wachsens in jedem endlichen Wesen. Die Ontologie
kann nur sagen, dass der positive und negative Charakter der Zeit
sich die Balance halten, kann nur sagen, dass in ihr etwas gegenwärtig
ist, was nicht aus dem Begriff der Zeit selber abgeleitet werden kann.
D. h. sie kann hier nur die Frage stellen nach dem Ewigen in der
Zeit, nach dem ewigen Jetzt. Aber diese Frage ist nicht eine Frage,
die die Ontologie unmittelbar beantworten kann, es ist die Frage,
aus der die Antwort der Religion hervorgeht, auf die die Antwort der
Religion gegeben werden muss. Als unmittelbare Erfahrung vereinigt
die Zeit Angst und Mut, die Angst der Vergänglichkeit mit dem Mut
der Selbstbehauptung, den wir Gegenwart nennen.
Zunächst das Erste. Das melancholische Bewusstsein, dass alles
Seiende in der Richtung auf Nichtsein verläuft, ist ein Thema, das
die Literatur aller Nationen füllt und natürlich auch die Blätter der
Philosophie von Anfang bis zur Gegenwart. Diese Melancholie wird
wirklich und bewusst in der Antizipation des Todes. Wir müssen
hier klar sein: Was bedeutungsvoll ist, ist nicht die Furcht vor dem
Tod, d. h. vor dem Moment des Sterbens. Die kann man durch Mut
überwinden wie jedes Leiden, jede Krankheit und so fort. Sondern es
ist die Angst, dass wir sterben müssen, und diese Angst muss unter-
schieden werden von der Furcht vor dem Moment des Sterbens, und
diese Angst hat ontologischen Charakter. In dieser Angst des Ster-
ben-Müssens wird Zeit von innen erfahren. Diese Angst ist in jedem
Augenblick gegenwärtig, sie durchdringt das Ganze des menschlichen
Seins, sie formt die Seele, das geistige Leben, und sie formt auch
den Körper. Wer Menschengesichter lesen kann, der sieht in jedes
Menschen Angesicht das Gewahrwerden des Sterben-Müssens.
115
12. Vorlesung
(Donnerstag, 7. Juni 1951)
1
Korr. (Typ. GS: es)
2
Korr. (Typ. GS: es)
3
Gemeint: verzichten (engl. resign)
116
Das ist etwas, was man ontologisch Mut nennen könnte, und
dieser ontologische Mut, dieser Mut, der aus den Wurzeln der Selbst-
bejahung des Seins kommt, ist so ursprünglich wie die Angst. Angst
und Mut sind Ausdrucksformen für die beiden Elemente, die in jeder
Endlichkeit da sind, Sein und Nichtsein. Dieser Mut ist wirksam
in allen seienden Dingen, in allen Wesen, aber er ist radikal und
bewusst wirksam nur im Menschen, weil der Mensch fähig ist, sein
Ende vorwegzunehmen, auf das Nichtsein als Nichtsein zu blicken
und [es] nicht nur wie jedes Tier als das angsterregende Element in
sich zu haben, sondern über die Balance von Angst und Mut hinaus1,
die auch in dem Tier wirksam ist, auf das absolute Ende zu blicken.
Darum ist der Mensch dasjenige Wesen, das den größten Mut nötig
hat, um seine Angst auf sich zu nehmen. „Der Mensch … ist das
mutigste Tier“, sagt Nietzsche.2 Er hat damit recht, aber er ist das
„mutigste Tier“, weil er gerade darin die Tierheit überschreitet, dass
die Angst bei ihm bewusstes Blicken auf das Nichts ist und darum
der Mut bewusstes Aufsichnehmen der Angst ist. Er ist das mutigste
aller Wesen, weil er die tiefste Angst überwinden kann. Es ist am
schwersten für ihn, die Gegenwart zu bejahen, weil er imstande ist,
die Zukunft zu imaginieren, als eine Imago, als ein Bild vor sich zu
haben, das, was noch nicht das Seiende ist, vorwegzunehmen und
das, was nicht mehr das Seiende ist, zu erinnern. Er hat weder das
eine noch das andere, und doch besteht sein Sein aus dem einen und
dem anderen, denn die Gegenwart ist ein sich bewegender Punkt. Er
muss darum seine Gegenwart verteidigen, und das ist oft unerträglich
schwer, wenn man z. B. über die unendlichen Zahlen der astrono-
mischen Physik nachdenkt, wenn man die Vision der unendlichen
Vergangenheit und der unendlichen Zukunft hat, dennoch sich selbst
in seiner Gegenwart zu bejahen.
Ich habe von Gegenwart gesprochen. Gegenwart ist ein sehr
plastisches deutsches Wort, ähnlich dem lateinischen praesentia,
englisch presence, französisch présence. In beiden Fällen, im Deut-
schen wie im Lateinischen und seinen Ableitungen, ist das Bild, das
die Sprache geschaffen hat, das Bild von etwas, was man räumlich
sich gegenüber hat, was vor einem steht (prae). Und daher kann
1
Korr. (Typ. GS: heraus)
2
F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (Vom Gesicht und Räthsel 1) (F. Nietz-
sche, KSA 4, S. 199).
117
man sagen und muss man sagen, dass Gegenwart Raum einschließt.
Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis. Diejenigen unter Ihnen, die
meine letzte Vorlesung in der „Hochschule für Politik“ gehört haben,
werden sich erinnern, was ich da über den Kampf von Raum und
Zeit als Prinzipien der Geschichtsphilosophie gesagt habe.1 Zeit,
insofern sie Gegenwart wird, schließt Raum ein, nämlich etwas, was
man sich gegenüber hat. In dieser Einheit allein kommt die Zeit zu
einem Moment des Stillestehens, darum, weil da etwas ist, worauf
man stehen kann. Und dieses Bild zeigt wieder, dass Gegenwart und
Raum zusammengehören. Raum birgt auch Zeit, vereinigt Sein und
Nichtsein, Angst und Mut. Genau wie Zeit ist Raum unterworfen
den zwei Wertungen, denn es ist eine Kategorie der Endlichkeit.
Darauf will ich eingehen, nachdem ich genau wie bei der Lehre von
der Zeit etwas über das Verhältnis des Raumes zu den Seinsschichten
gesagt habe.2
Wie die Zeit so ist auch der Raum nicht ein großer Kasten, von
dem man nicht sagen kann, ob er endlich oder unendlich ist, weil
beide Aussagen ins Sinnlose führen. Jeder endliche Raum kann die
Frage produzieren: Was liegt dahinter, wo hört er auf? Und jeder
unendliche Raum ist kein gegebener Raum, sondern treibt ins Nichts.
Darum ist es weder sinnvoll zu sagen, dass der Raum endlich, noch,
dass er unendlich ist, wenn er aufgefasst wird als ein großer Kasten,
in dem alle Dinge sich befinden. Der Raum ist etwas anderes als das,
genau wie die Zeit etwas anderes als ein Flussbett ist. Beide sind
kategoriale Strukturen, Strukturen, die bezogen sind auf Realitäten.
Dinge haben Raum, und in diesem Haben ist eine unlösliche Bezie-
hung zwischen den Dingen und ihrer räumlichen Struktur gegeben.
Wenn man daher von den Dingen absieht, wenn man den Raum
nicht als Kategorie auffasst, sondern als Schachtel, oder die Zeit als
Flussbett – das eine ist so töricht wie das andere – , dann ist man in
jener berühmten Kantischen Antinomie, für die es keine Lösung gibt,
die der Endlichkeit und Unendlichkeit.
In dem Augenblick, wo man den Raum auffasst als kategoriale
Struktur, kann man Aussagen machen, die über die Antinomien
1
Tillich erinnert hier an den am 5. Juni 1951 an der „Hochschule für Politik“
vorgetragenen zweiten Teil der Vorlesung „Politische Bedeutung der Utopie
im Leben der Völker“ (= MainWorks / Hauptwerke, Band 3, S. 546 ff.).
2
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 227-229.
118
hinausgehen. Lassen Sie mich das kurz und nur andeutungsweise
tun. Genau wie wir im Anorganischen die Zeit hatten, die in dem
Bild eines Berges, der dauert, sich als die dauernde Zeit darstellt, so
haben wir den Raum, der undurchdringlich ist, wo ein Raumteil den
anderen ausschließt, weil der Körper, der den einen Raum erfüllt,
keinen anderen zulässt. Das ist die grundlegende Form, auf der alle
Exklusivität der Räume beruht, und diese Grundform ist zugleich die
Form der Trennung und Individualisierung, von der wir in früheren
Stunden gesprochen haben. Darum ist das physikalische Symbol
der Undurchdringlichkeit von größtem und fundamentalen Wert.
Nur dadurch, dass Wesen undurchdringlich neben anderen stehen,
haben sie die Möglichkeit, einzigartige selbständige Individualitäten
zu werden, und nur dadurch haben sie die Möglichkeit, sich in Liebe
wieder zu vereinigen. Ohne die Undurchdringlichkeit wäre auch die
Liebe nicht möglich.
Über die Undurchdringlichkeit hinaus führt der Raum des Or-
ganischen. In der organischen Einheit ist der Raumteil, der zu dem
Organismus gehört (denken Sie wieder an einen Baum!), zwar auch
physikalisch von den anderen Raumteilen getrennt – unsere Hände
sind nicht unsere Füße – , und dennoch ist eine Raumeinheit da, die
wir durch alle Räume mitnehmen und die auch im Baum als der
untersten Form dieser Einheit schon da ist. Wenn ich einer Pflanze
in irgendeinem ihrer Teile etwas Zerstörerisches antue, dann ist die
Möglichkeit vorhanden, dass die ganze Pflanze stirbt; die Wirkung
auf einen Raumteil ist eine Wirkung auf das Ganze. Das ist die orga-
nische Raumeinheit, die sich in höheren Wesen, Tier und Mensch, als
Schmerz äußert. Der Schmerz deutet an, dass die Teile des Raumes,
die meinen Körper ausmachen, eine überräumliche Einheit bedeu-
ten. Ich lokalisiere den Schmerz, aber es ist mein Schmerz und der
Schmerz des ganzen Körpers.
Eine dritte Schicht, in der wir das Wesen des Raumes sehen, ist
der Raum der lebendigen Bewegung, der Raum, der die Umgebung
schafft. Wir haben im Anfang viel von Umgebung und Welt gespro-
chen und kommen jetzt auf den kategorialen Ausdruck dieser Grund-
polaritäten. Die Umgebung ist ein Resultat der räumlichen Bewegung.
Umgebung haben heißt, auf andere wirken und von anderen Wirkung
empfangen. In einer dynamischen Bewegung durch den Raum, den
wir Umgebung nennen, wird eine neue Raumeinheit geschaffen, die
über die Raumeinheit des rein Vegetativen, des bloß Organischen
hinausgeht. Die Umgebung gehört zu meinem Raum.
119
Wenn wir von dem Raum sprechen …: Mir ist aufgefallen schon
vor drei Jahren1 und diesmal auch wieder, dass das Wort „Raum“
ein ungeheuer viel gebrauchtes Wort in der gegenwärtigen deutschen
Sprache ist (deutscher Raum, Raum der Kirche, geistiger Raum,
seelischer Raum und dein und mein Raum): Das Wort „Raum“ wird
ununterbrochen verwendet. Ich habe nachgedacht, was das wohl
bedeuten mag. Zunächst ist es ein recht handlicher Ausdruck, der
manchen schwierigen Gedanken überflüssig macht, weil mit dem
Raum ein Bild gegeben ist, das suggestiv ist, obgleich es sachlich sehr
oft nicht zutrifft. Aber vielleicht ist noch etwas mehr damit gemeint,
nämlich, dass durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die ja
die deutsche Sprache nicht unbeeinflusst gelassen hat, der Raum ein
Übergewicht über die Zeit bekommen hat gerade durch den Polythe-
ismus des nationalistischen Denkens, das die Sprache auch ergriffen
hat, und dass dadurch der Begriff des Raumes in den Vordergrund
gerückt ist. Ich erinnere mich, wie ein Buch „Volk ohne Raum“2 einer
der ersten Anfänge war, in dem diese Bedeutung des Raumes begriffen
wurde und zwar im Sinne des Umgebungsraumes, des Raumes der
animalischen Bewegung, langsam an Bedeutung gewann. Man sollte
vielleicht ein bisschen vorsichtiger mit dem Gebrauch dieses Wortes
werden, und es wird ja wohl auch wieder verschwinden, wenn man
wieder mehr von der Zeit gegenüber dem Raum nicht nur gelernt
hat, sondern es als Lebensgefühl in sich aufgenommen hat. In jedem
Falle ist der Raum auf diese Weise Umgebungsraum und gehört zu
der Bewegung der Gruppe oder des animalischen Einzelnen.
Und das letzte ist der über sich hinausgehende, der durch keine
Grenze, durch keine Umgebung begrenzte Raum, der unendliche
Raum, in dem dann als Weltraum die anderen Räume enthalten
sind. Diesen Raum müssen wir wieder verstehen, genau so wie die
unendliche Zeit und wie den Begriff der Unendlichkeit selbst als
Potentialität, aber nicht als Aktualität. Es gibt keinen aktuellen
1
Tillichs erste Deutschlandreise nach dem Kriege fand im Jahre 1948 statt (vgl.
EW V, S. 310-318).
2
Hans Grimm, Volk ohne Raum, München 1926. Das Buch „Volk ohne Raum“
gehört zu den am häufigsten verkauften Büchern in der Weimarer Republik.
Bis 1933 wurden etwa 200 000 Exemplare verkauft. „Zu den Bibeln des
Deutschtums, wo es am knastrigsten ist, gehört auch ein dicker Wälzer, ‚Volk
ohne Raum‘ von Hans Grimm“ (K. Tucholsky, Grimms Märchen, in: Die
Weltbühne, Nr. 36, 4.9.1928, S. 353).
120
unendlichen Raum, sondern es gibt endliche Räume, die die Poten-
tialität der unendlichen Transzendenz haben, die unendlich über sich
hinausgehen können.
Es ist interessant, die Stellung der verschiedenen Kulturen zu der
Möglichkeit des unendlichen Über-sich-Hinausgehens zu beachten.
Die griechische Kultur ist erfüllt von Furcht vor dem unendlichen
Hinausgehen im Raum. Sie fürchtet sich nicht vor dem unendlichen
Weitergehen des Zeitlichen, aber sie fürchtet sich vor dem unend-
lichen Hinausgehen des Räumlichen. Aristoteles hat ausdrücklich
erklärt, dass, während die Zeit unendlich weitergeht, der Raum
begrenzt ist.1 Es war für das griechische Denken unerträglich, einen
Raum zu haben, der nicht mehr als gegebener plastischer Raum
verstanden werden konnte. Der unendliche Raum ist die Negation
der wirklichen Räumlichkeit, und darum erschreckt er. Es war eins
der merkwürdigsten Erlebnisse für mich, als ich in Süditalien, vor
allen Dingen in Paestum, gut erhaltene griechische Tempel aus dem 6.
Jahrhundert v. Chr. sah. Und zwar war das Überraschende zweierlei:
die Kleinheit dieser Tempel, die [eine] humane Dimension hatten im
Gegensatz zu den unendlich langen Dimensionen des Ägyptischen und
den unendlich hohen des Gotischen. Der griechische Humanismus ist
vielleicht in nichts besser ausgedrückt als in den Maßen seiner Tempel,
die weder im Vertikalen noch im Horizontalen ins Maßlose gehen.
Und zugleich als zweites der fast kubische Charakter dieser Tempel.
Der Kubus ist ja in der Architektur der Ausdruck der Kugel, des
In-sich-Zurückkehrenden. Und dann dachte ich in diesem Moment,
als das mich traf, an die Worte des Parmenides vom Charakter des
Seins, dass das Sein allseitig begrenzt ist, dass es endlich ist, dass
es eine Form hat, und dass diese Form zugleich Logosform ist, dass
sie in Wort oder Vernunft gefasst werden kann,2 und dass von da
an das Sein als plastisch architektonisch begreifliches, kugelhaftes
gefasst wird. Parmenides nennt das Sein eine Kugel, die in allen Sei-
ten gleichmäßig ist und darum in der Architektur kubisch ist.3 Und
demgegenüber hat dann das Christentum gewagt, ins Unendliche
1
Aristoteles, zum Begriff der Zeit Phys. IV, 10-14; VI, 3; zum Begriff des
Raumes Phys. IV, 1-5.
2
DK 28 B 3.
3
DK 28 B 8. Vgl. zu Parmenides Tillichs Berliner Vorlesung „Der religiöse
Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philoso-
phie“ von 1920 / 21, in: EW XIII, S. 45 ff.
121
vorzustoßen aus dem Gedanken des unendlichen Gottes. Aber das
Problem ist geblieben, und die Angst vor dem unendlichen Raum
ist geblieben. Vielleicht komme ich darauf zurück, wenn ich in acht
Tagen über „Religion und Kunst“ zu reden habe.1 Dann will ich
versuchen, etwas über die Beziehung dieser Dinge zu den verschie-
denen älteren und vor allem modernen Architekturformen zu sagen.
Sie sind alle abhängig von dem fundamentalen Raumerlebnis, das
entweder im Griechischen oder in einer der vertikal oder horizontal
dynamischen Kulturen sich ausdrückt.
Über die Beziehung von Raum und Zeit möchte ich hier nur sagen,
dass Raum und Zeit als kämpfend aufgefasst werden können. Das
ist ein Mythos. Raum und Zeit kämpfen nicht, aber der Mensch in
der Begegnung mit der Wirklichkeit kämpft und kämpft zwischen der
überwiegenden Gewalt der Zeit, die herausreißt aus jedem einzelnen
Raum in die Linie des Zeitlichen, während der Raum festhält am
Nebeneinander und die Grundlage alles Polytheismus, alles Natio-
nalismus, alles Familiarismus, wenn man dieses Wort bilden kann,
und aller sonstigen Absolutsetzung eines Raumes ist. Und doch kann
die Zeit nicht ohne Raum sein, und darum strebt selbst das Volk der
Zeit, das jüdische, zu einem Raum und hat in einer eschatologischen
Hoffnung immer danach gestrebt und hat jetzt diese Hoffnung vor-
weggenommen in Form einer historischen Realisierung.2
Aber nun lassen Sie mich zu der anderen Betrachtung zurückkeh-
ren, nämlich Raum als Ausdruck der Endlichkeit des Seins, das mit
Nichtsein gemischt ist. Raum ist eine Kategorie der Endlichkeit. Sein
bedeutet Raum-Haben, jedes Seiende strebt danach, sich Raum zu
schaffen, in jedem Augenblick Raum zu bewahren, für sich selbst zu
kämpfen gegen das, was ihm Raum wegnehmen will. Das bedeutet
vor allem der physische Platz, an dem man steht, es bedeutet ein Stück
Boden – daher der Mythos des Bodens, der im Nationalsozialismus
eine so große Rolle gespielt hat – , es bedeutet ein Haus3, das Symbol
des Hauses in aller säkularen und religiösen Sprache und die Bedeu-
tung des Hauses, wie beim Engländer, als castle, als Burg, als das, wo
1
Vortrag über „Kunst und Religion“ im Studentenclub in Berlin-Wannsee am
14. Juni 1951.
2
Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948.
3
Vgl. P. Tillich, Das Wohnen, der Raum und die Zeit. In: Die Form, Jg. 8,
1933, S. 11-12. – Rede anlässlich der Einweihungsfeier des Hauses auf dem
Küssel in Potsdam (= GW IX, S. 328-332).
122
wir uns Gegenwart verschaffen können, oder es bedeutet die Stadt,
das Symbol der Stadt1, das bis ins Jenseits, das himmlische Jerusalem,
hineinreicht; es bedeutet den Raum des Landes, der die Grundlage des
politischen Handelns ist; und schließlich bedeutet es den Weltraum.2
Man spricht auch metaphorisch und vielleicht nicht mit Unrecht von
dem sozialen Raum, zu dem man gehört. Das Wort „Stand“ oder
„Status“ in deutschen und romanischen Sprachen deutet hin auf ein
Stehen, auf etwas Raumhaftes in der sozialen Wirklichkeit. Es gehört
zu der schweren Last der Arbeitslosigkeit, dass man in bestimmter
Weise aus dem sozialen Raum ausgeschieden ist, und es gehört zu
der schweren Last der Vertriebenheit und der Auswanderung, dass
man nicht nur aus dem sozialen Raum, sondern auch aus dem see-
lischen und geistigen Raum, letztlich auch dem Land, dem Boden,
ausgeschlossen ist und dass damit die Angst der Bedrohung des Seins
selbst erlebt wird. Die ungeheure Angst der Unsicherheit, die hier er-
lebt wird, hat etwas zu tun mit dem Nichtsein, das eintritt, wenn der
Raum genommen wird. Keinen Raum haben heißt, kein Sein haben.
Darum ist es eine ontologische Notwendigkeit, dass jedes Wesen in
allen Sphären für Raum kämpft und dass das tragische Lebensgefühl
des Alten Testaments am deutlichsten ausgedrückt ist in den Worten
über das Fehlen eines letzten Raumes. Denn räumlich sein heißt auch,
dem Nichtsein unterworfen sein. Kein endliches Wesen besitzt einen
Raum, der definitiv sein eigen ist. Kein endliches Wesen kann sich
verlassen auf seinen Raum. Es ist selten in der Geschichte so erfahren
worden wie in den letzten zehn Jahren im deutschen Volke und in
anderen Völkern vor ihm und nach ihm in den letzten Jahrzehnten,
dieses Verlieren des Raumes, was die Bibel „Pilgrim sein auf Erden“
nennt. Das ist die eine Seite dieses Nichtseins.
Die andere Seite ist, dass man endlich, schließlich jeden Platz
verlieren muss, den man gehabt hat, das Werden zum Raumlosen.
Ich kenne kein großartigeres Symbol dafür als das, was das Buch
Hiob und abgeleitet von ihm der Psalmist sagt: „Und sein Ort
kennet ihn nicht mehr“3 – das Gras und den Menschen. Nicht: Der
1
Vgl. P. Tillich, Die technische Stadt als Symbol. In: Dresdner Neueste Nach-
richten Nr. 115, 1928, S. 5 (= GW IX, S. 307-311).
2
Vgl. P. Tillich, Has Man’s Conquest of Space Increased or Diminished His
Stature? In: The Great Ideas Today. Ed. Robert M. Hutchins etc., Chicago:
Encyclopedia Britannica 1963.
3
„Seine Stätte kennet ihn nicht mehr“ (Hi 7, 10; Ps 103, 16).
123
Mensch kennt seinen Ort nicht mehr, er könnte ja einen anderen
Platz haben, sondern: Der Ort kennt das Gras nicht mehr und den
Menschen nicht mehr. Das bedeutet, es gibt keine innere, ontologisch
notwendige Beziehung zwischen irgendeinem Raum und dem Sein
und dem Wesen, das sich diesen Raum verschafft hat, um Sein zu
haben. Es gibt keinen ewigen Raum, ewig in dem Sinn, dass eine
ewige Zugehörigkeit stattfindet. Andererseits bedeutet es, keinen
definierten Platz haben, und das bedeutet schließlich, jeden Platz ver-
lieren müssen und damit sich selbst verlieren müssen. Diese Drohung
des Nichtseins ist unentrinnbar. Man kann nicht versuchen, in die
Zeit zu fliehen ohne Raum. Ohne Raum kommt die Zeit nicht zum
Moment des Gegenwärtigen und umgekehrt, das Ende des Raumes
bedeutet das Ende auch der Zeit als gegenwärtiger und damit das
Ende des Seins. Man hat oft gesagt: Warum Raum, wir haben doch
im geistigen Leben die Zeit, die ohne Raum dasselbe sein kann?
Ich erinnere mich an eine Diskussion, in der jemand sagte über
diesen Punkt: In Musik sein heißt ja, außerhalb des Raumes sein und
doch in der Zeit sein. Aber in Musik sein, an Musik teilhaben, Musik
erleben ist ja kein abstraktes Phänomen. Nur jemand, der den Raum
hat, die musikalische Realität, die ja auch eine Realität räumlicher
Erscheinungen ist, in sich erleben [kann], kann auch Musik haben.
Musik ist nach dem alten Mythos Musik der Sphären, d. h. es ist das
Tönen des Raumes und der Räume, und es ist ja immer das Tönen,
das Sich-im-Raum-Bewegen einer Realität. Darum kann man wohl
sagen: Im Erleben der Musik wie auch der Sprache eines Vortrages,
einer Vorlesung ist der Raum nicht das Gemeinte, es geht in der Zeit
vor sich, aber es könnte nicht in der Zeit vor sich gehen ohne den
Raum, der den Vorgang möglich macht in der Realität. Und darum
ist auch so etwas wie Musik oder Rede nicht ausgeschlossen von
der Räumlichkeit.
Zu sagen, dass man keinen definitiven und keinen letzten Raum
hat, bedeutet letzte Unsicherheit. Endlich sein heißt, ohne Sicherung
sein. Das ist erfahren in der menschlichen Angst, die in der deutschen
Sprache als Sorge über das Morgen ausgedrückt ist. Was bedeutet
diese von Jesus verbotene Sorge?1 Es bedeutet, dass wir in jedem
Moment Raum für uns schaffen müssen, physisch und sozial, und
dass wir sonst ins Nichtsein abgleiten. Jeder Lebensprozess hat den
Charakter, Sicherheit haben zu wollen. Das ist ontologisch; aber es
1
Mt 6,34.
124
ist ontisch, d. h. abhängig von bestimmter Zeit und psychologischen
Bedingungen, dass ein besonderes Unsicherheitsgefühl erlebt wird
und aus solchem Erlebnis, in dem die Grundunsicherheit des Seins
deutlich wird und ins Bewusstsein tritt, aus der Potentialität in die
Aktualität kommt. Solche Zeiten und solche Erlebnisse seelischer
Art führen dazu, dass man ein System der Sicherungen sich auf-
baut, um einen Ort, wo man stehen kann, zu garantieren. Das kann
normal geschehen oder neurotisch. Sehr viel von geistig bewegtem,
geistig gefährdetem Dasein und geistig klarem Dasein hat damit zu
tun, dass man sich auf einem schmalen, engen Raum sichern will,
weil der weite, unendliche Raum so große Angst produziert. Der
Mut reicht nicht aus, den Raum der unendlichen Möglichkeiten zu
bejahen, und man zieht sich zurück auf einen engen Raum. Das ist
ein ethisches Phänomen, das uns wohl bekannt ist, das Phänomen,
sich zu sichern in einem begrenzten physischen oder seelischen oder
geistigen Raum. Der meiste Fanatismus, die meisten Orthodoxien,
das meiste der autoritären Haltungen wird abhängig von der Angst
um den Verlust eines Raumes. Und wieder soll man das nicht un-
terschätzen. Einen Raum in diesem Sinne zu verlieren heißt, dem
Nichtsein nahe zu sein. Raumlosigkeit ist eine Angst, die so groß ist
wie das Nicht-mehr-Zeit-haben-Können.
Und darum gilt auch hier, dass man leben kann in Sicht dieser
Raumsituation nur dadurch, dass die Angst balanciert ist durch den
Mut, dass man den gegenwärtigen Raum akzeptiert und weiß, dass
dieser gegenwärtige Raum nicht der letzte ist. Wer das kann, der
hat Gegenwart und damit auch Zeit. Was immer lebt, widersteht
erfolgreich der Angst, keinen Raum zu haben. Was immer lebt, blickt
mutig auf die Gelegenheiten, in denen die Unsicherheit, die ontolo-
gische Unsicherheit eine seelische, geistige oder physische Drohung
wird. Er akzeptiert diese Unsicherheit, und die einzige Sicherung,
die er gewinnt, ist, dass er die Unsicherheit akzeptiert. Eine andere
Sicherheit gibt es für uns alle nicht. Und wenn ich richtig die Berliner
Situation analysiere, dann glaube ich, dass hier ein Beispiel gegeben
ist für einen Mut, dem es weithin gelungen ist, die Unsicherheit und
die Angst der Unsicherheit auf sich zu nehmen und darum imstande
zu sein zu leben.
Aber wie das möglich ist, ist die letzte Frage. Aus welchem Grund
kann solch ein Mut kommen? Gibt es eine Zeit über der Zeit, einen
Raum über dem Raum, ein überzeitliches, ein überräumliches Hier
und Jetzt, aus dem heraus wir die Unsicherheit und die Vergänglich-
125
keit jedes empirischen Hier und Jetzt bejahen können? Das und das
allein ist der Sinn der religiösen Frage, und nicht die Frage: Gibt es
einen Gott oder keinen? Sondern: Ist es möglich, einen Grund des
Mutes zu haben, der die Negativität des Raum-verlieren-Müssens
und des Vorübergehens der Zeit in sich aufnehmen kann?
126
13. Vorlesung
(Montag, 11. Juni 1951)
Wir haben das letzte Mal die Frage der Zeit und des Raumes bespro-
chen und kommen heute zu den beiden noch übrig bleibenden Kate-
gorien, die ich behandeln will: Kausalität und Substanz.1 Ich möchte
aber, ehe ich dazu übergehe, an Sie eine Frage stellen. Nämlich: Was
bevorzugen Sie für die wahrscheinlich beiden letzten Stunden? Es ist
an sich möglich, dass wir das Verhältnis der Polaritäten zur Endlich-
keit besprechen und die Bedrohtheit der Sinnexistenz des Menschen.
Und die andere Möglichkeit ist die, dass wir aus der Ontologie in
die Religionsphilosophie übergehen und dass ich die Analyse der
Endlichkeit in Beziehung setze zu den Grundfragen der Religions-
philosophie, z. B. den so genannten Beweisen für das Dasein Gottes
und der Tatsache, dass sie keine Beweise sind, aber was sie vielleicht
sein könnten, als was sie verstanden werden könnten. D. h. allgemein
gesprochen: mehr vorwärtsgehen im existentialistischen Sinn oder
mehr im religionsphilosophischen Sinn, obgleich das nicht exklusiv
ist.2 Diejenigen, die dagegen sind, brauchen nicht zu fürchten, dass
ich sehr ins Theologische übergehe, sondern ich werde bestimmt
ontologische Fragen damit verbinden und werde aber einiges davon
wenigstens vorbringen, wo die ontologische Frage immer letztlich
zu Fragen nach dem Sein-Selbst führt. Für heute und morgen haben
wir die ontologische Fragestellung.
Über Kausalität zu reden, ist ja ein fast unendliches Problem, und
ich will es wieder so machen, wie ich es bei Zeit und Raum gemacht
habe, nämlich erst etwas sagen über das Verhältnis der Kausalität
zu den Seinsschichten, in denen die Kausalität als Seinsstruktur
erscheint. Wir können entsprechend der Einteilung in der Raum-
Zeit-Sphäre auch hier zunächst reden von der abstrakten Sphäre der
mathematisch-physikalischen Welt, in der die Kausalität bezeichnet
werden kann als äquivalente Kausalität, d. h. eine Umformung in
quantitative berechenbare Formen.3 Das Problem, das jede solche
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 229-232.
2
Bei dieser Abstimmung (Ontologie / Existenzphilosophie oder Religionsphilo-
sophie?) entschied sich das Auditorium mehrheitlich für die Religionsphilo-
sophie.
3
Zum Begriff der „äquivalenten Kausalität“ vgl. P. Tillich, System der Wis-
senschaften (1923), in: GW I, S. 148, sowie die Frankfurter Vorlesung
„Geschichtsphilosophie (1929 / 30)“, in: EW XV, S. 262-266.
127
Anwendung der Kausalität in der Physik bedeutet: Kann nämlich
eine quantitative Gleichung von zwei Elementen, von denen das
eine zeitlich auf das andere folgt, als die Bedingung des anderen
vorausgesetzt werden? Was bedeutet diese Umformung, wo durch
bestimmte Einwirkungen Wasser in Dampf verwandelt wird, was
bedeutet das, ist da eine Identität vorhanden? Oder bedeutet die
Transformation, dass eine qualitativ differente Realität von Anfang
an vor[aus]gesetzt werden muss? Wenn eine Identität vorliegt, dann
würden wir zu einem Begriff wie dem Spinozas getrieben werden,
der in Form seiner Substanzlehre eine universale, überall identische
Ursache voraussetzt und dann innerhalb dieser Identität die Trans-
formation als auf der Oberfläche sozusagen, als eine reine modale
Transformation ohne ursprüngliche Differenz auffasst.
Das führt unmittelbar schon in der Physik zu einer anderen Form
der Kausalität, die ich im Gegensatz zur äquivalenten produktive
Kausalität1 nenne, wo die Kausalität identisch ist mit der Konstella-
tion von Bedingungen, wobei dann vom Möglichen zum Wirklichen
eine Entwicklung möglich wird. Es ist diejenige Kausalität, die in
allen Lebensprozessen vorliegt, wo es sich um eine Produktion
handelt, die in dem Anderen, in dem Vorhergehenden, in der Sum-
me der Bedingungen nicht austauschbar und äquivalent gegeben
war, sondern etwas Neues kommt dazu. Wenn wir eine lebendige
Struktur ansehen, dann können wir unterscheiden zwischen einer
autogenen und einer heterogenen Kausalität. Heterogene Kausali-
tät ist dasjenige in einer lebendigen Struktur, in einer lebendigen
Gestalt, das in äquivalenten Formeln berechnet werden kann. Die
autogene Kausalität ist das, was aus der Gesamtheit des lebendigen
Organismus folgt, ohne dass ein äquivalenter Austausch möglich ist.
Autogen ist diejenige, die wir auch produktiv genannt haben. Auf
der anderen Seite haben wir die heterogene Kausalität, die es möglich
macht, dass z. B. auch menschliche Körper Gegenstand der Physik
und Chemie und einer Reizphysiologie sind, die einen äquivalenten
Austausch beschreiben. Aber all das ist nur möglich, wenn man von
der Ganzheit des Organismus abstrahiert und bestimmte abstrakte
Elemente der Berechenbarkeit der äquivalenten Kausalität unterwirft.
Wenn man nicht sieht, dass die Kausalität im Lebendigen produktiv
1
Zum Begriff der „produktiven Kausalität“ vgl. P. Tillich, System der Wis-
senschaften (1923), in: GW I, S. 194 f., sowie die Frankfurter Vorlesung
„Geschichtsphilosophie (1929 / 30)“, in: EW XV, S. 104-108, 262-266.
128
wird, ein Problem, das schon im Physikalischen vorliegt im Begriff
der Andersheit als [des] Neuen, kommt man in eine Auffassung der
Wirklichkeit, in der das Produktive der Kausalität verloren geht und
die Welt in einen determinierten, in austauschbaren Gleichungen
fassbaren Mechanismus verwandelt wird.
Die produktive Kausalität kommt zu einer Vollendung in der
individuellen Kausalität, d. h. da, wo diejenige Totalität von Bedin-
gungen beschrieben wird, die die Entstehung eines einmaligen und
einzigartigen Ereignisses voraussetzt. Z. B. die Geburt eines Kindes
hat selbstverständlich heterogen alle die physikalisch-chemischen
und biologischen Gesetzmäßigkeiten zur Voraussetzung und zwei-
tens die allgemein spontane Kausalität aller Lebensprozesse zur
Voraussetzung, die individuelle Kausalität [hat] die äquivalente und
die produktive [zur Voraussetzung]. Aber wenn bei der Geburt eines
Kindes all diese Bedingungen erfüllt sind, dann ist in der Produktion
selbst etwas noch nicht erfüllt, nämlich die Einzigartigkeit des Re-
sultates, und das kann nur beschrieben werden: die Vollendung der
produktiven Kausalität, da, wo sie das Einmalige, Unwiederholbare
produziert, was aus der Gesamtheit der Bedingungen nicht abgeleitet
werden kann, obgleich sie immer die Voraussetzung ist. Das sind drei
Formen, in denen wir Kausalität fassen können.
Lassen Sie mich ein paar Worte sagen über ein Problem, das
Verhältnis der Kausalität und Teleologie, über Ursache und Zweck
in ihrem Verhältnis zueinander. Dabei ist eines als Voraussetzung
festzuhalten, nämlich die Unmöglichkeit, den Zweck als eine beson-
dere Ursache einzuschieben. Was dem Vitalismus so verhängnisvoll
war und ihn philosophisch unmöglich gemacht hat, ist nicht, dass
von einem Zweck die Rede ist, sondern dass der Zweck wieder in
Ursache verwandelt wird. Sobald das geschieht, ist der Vitalismus
widerlegt und nicht aufrecht zu halten. Das ist eine falsche Auffas-
sung des Zweckgedankens. Es gibt einen anderen Sinn von telos, ich
gebrauche absichtlich das griechische Wort, weil es nicht notwendig
die Assoziation zweckvolles Handeln des individuellen Subjekts hat.
Telos ist die innere Zentriertheit, eine Struktur, auf die die Ganzheit
der Gestalt sich richtet, die nicht ein äußerer Zweck, [sondern] die
Selbstverwirklichung ist. Aristoteles hat das gesehen, wenn er den
Begriff der Entelechie, des inneren Zweck-Seins, des Sich-selbst-als-
Gestalt-Zweck-Seins fasste. Das ist ein geschlossenes System der
Kausalität, das nicht durch äußere Zwecke bestimmt ist, sondern
das die Struktureinheit hat. Und in dem Sinn kann man und muss
129
man von Teleologie reden. Sobald man darüber hinausgeht und den
Zweck in der Natur als eine Kausalität auffasst, verdirbt man alles. Es
gibt keinen Widerspruch zwischen Kausalität und Zweckmäßigkeit,
wenn man den Sinn von telos, von innerer Struktur, in der rechten
Weise versteht.
Von hier aus haben sich in der Ontologie sehr oft Fragen erhoben
nach der universalen Teleologie. Hat die Welt als Ganzes in diesem
Sinne einen Zweckcharakter? Ich würde hier sagen: So wie wir zu
einer solchen Frage kommen, können wir keine Antwort geben. Wir
wissen nicht, ob die Welt ein geschlossenes oder ein offenes System
ist. In der älteren Philosophie nach Art von Spinoza ist sie ein ge-
schlossenes System. Nach der Prozessphilosophie ist sie ein offenes
System. In beiden Fällen können wir sagen: Das wirkliche Problem
ist nicht, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, sondern die Frage:
Ist Teleologie möglich, gibt es Strukturen, die möglich sind? Und in
dem Augenblick, wo wir das bejahen, haben wir ein Verständnis
für die Tatsache, die Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ so stark
betont hat, dass Teleologie ein regulatives Prinzip ist.1 Er wollte
auch keine Antwort geben auf die Frage nach dem Ganzen. Aber er
wollte sagen, und das heißt regulatives Prinzip: Die Natur muss so
verstanden werden, als ob Zweckstrukturen in ihr möglich wären,
denn sie sind sowohl in der Kunst wie in der organischen Natur
gegeben. Darüber hinaus eine Frage nach dem Zweck der Welt zu
beantworten, ist der Ontologie versagt.
Nun ein Drittes. Was für die Behandlung der Kausalität wichtig
ist, ist die Kritik der Kausalitätskategorie, die ja lange schon vor
Locke und Hume entwickelt worden ist. Schon bei den arabischen
Philosophen finden wir eine sehr scharfe Kritik der Kausalitätskate-
gorie, nämlich scharfe Kritik, soweit sie ein Mythos ist, der Mythos,
dass sozusagen die Ursache ein kraftgeladener Wille ist, oder zu
denken, wenn jemand eine Kugel vorwärts schubst im Raum, als
ob da sozusagen Kräfte von einem Wesen zum anderen übergehen.
Demgegenüber hat der philosophische Protest sehr früh eingesetzt,
hat verstanden, dass dies ein Überbleibsel der mythischen Weltauf-
fassung ist. Um zu verstehen, was in Kausalität vor sich geht, haben
Spinoza und Leibniz beide die äußere Kausalität bestritten. Spinoza
dadurch, dass er alles auf Bewegung der einen Substanz, die allem
zugrunde liegt, zurückgeführt hat, Leibniz dadurch, dass er jede
1
I. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 270.
130
Monade isoliert hat und alle Entwicklung innerhalb der Monade
gesehen hat. Es sind Entwicklungen, die nicht außerhalb von einer
Monade zur anderen übergehen; die Monade hat nicht Fenster
und Türen, und infolgedessen ist es unmöglich, von dem Übergang
einer Kraft in eine andere zu reden. Aber noch radikaler hat den
Kampf gegen die Mythologisierung der Kategorie der Kausalität
aufgenommen Hume in seiner berühmten Kritik der Kausalität.1 Er
hat die Kausalität in das Subjekt hereingeholt als eine subjektive,
wenn Sie wollen, psychologische (aber das ist nicht gut), jedenfalls
erkenntnistheoretisch reine subjektive Wirklichkeit. Kausalität ist ein
Resultat von Assoziationen, die sich dadurch entwickeln, dass Dinge
sich immer wiederholen und die dann Erwartungen erzeugen, dass
sie sich auch das nächste Mal wiederholen werden. Oder wie er sagt,
Glauben im Sinne von belief, d. h. im Sinne natürlich-animalischer
Annahme. Ein moderner amerikanischer Philosoph, Santayana, hat
es „animal faith“ genannt.2 Dieser natürliche Glaube verwandelt
das „post hoc“ in ein „propter hoc“, aber das ist ein Glaube, der
keinerlei objektive Fundierung hat, für den es kein fundamentum in
re gibt. Wenn wir diese subjektivistische Erklärung ansehen, dann
finden wir, dass sie einen Selbstwiderspruch hat, nämlich die kausale
Wirkung der Assoziationen auf die Erwartung. Da ist die Kategorie
der Kausalität vorausgesetzt und zwar vorausgesetzt in einem Gedan-
ken, in dem sie erklärt werden soll, und dieser Widerspruch macht
es meiner Meinung nach notwendig, dass wir3 die Kategorie der
Kausalität in gleicher Weise in der subjektiven wie in der objektiven
Sphäre voraussetzen, wie immer wir uns das Verhältnis dieser beiden
Sphären denken. Kausalität als rein psychologisches Phänomen muss
ja erklärt werden, und wenn sie erklärt wird, wird sie ja schon in
nichtpsychologischem Sinne angewandt. Denn man kann nicht Psy-
chologisches auf Psychologisches zurückführen.
Ich glaube darum, dass Kants kritische Lösung im Prinzip richtig
ist, nämlich, dass Kausalität zur Ontologie des Erscheinenden gehört.
Damit ist die subjektive wie die objektive Seite gegriffen, wobei das
1
Vgl. dazu Tillichs Ausführungen in seiner Berliner Vorlesung „Der religiöse
Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der abendländischen Phi-
losophie seit der Renaissance“ (Sommersemester 1921), in: EW XIII, S. 360-
362.
2
George Santayana, Scepticism and Animal Faith: Introduction to a System of
Philosophy, London / New York 1923.
3
Korr. (Typ. GS: wie)
131
Erscheinende nicht das Unwirkliche, sondern die Realität in der
Begegnung bedeutet, das, was Erfahrung genannt wird; besonders
in Amerika bedeutet Kausalität Erfahrungsstruktur. Das bedeutet,
sie ist subjektiv und objektiv zugleich.
Nun komme ich auf das Problem, das im Hintergrund aller
Probleme stand, nämlich das Problem Endlichkeit und Kausalität,
nachdem ich die verschiedenen Probleme der Kausalität als solcher
behandelte, in einer unmöglichen Kürze, wenigstens so, dass Sie die
Problemgebiete sahen. Wenn wir Kausalität auffassen im Zusammen-
hang mit Endlichkeit, dann kommen wir auf das Gleiche, was wir
in der Raum-Zeit-Analyse gefunden haben, nämlich, dass Kausalität
doppelseitig verstanden werden kann. Kausalität drückt aus sowohl
Sein wie Nichtsein; es ist die Bejahung der Macht des Seins und es
ist die Bejahung der Ohnmacht des Seins. Lassen Sie uns diese Seiten
sofort behandeln.
Zunächst einmal bejaht die Kategorie der Kausalität das Sein.
Wenn wir ein Ereignis gefunden haben, das einem anderen vorher-
geht, so haben wir damit eine gewisse Fundierung seiner Seinsmäch-
tigkeit gefunden, es ist verstanden. Wenn etwas kausal verstanden
ist, dann ist damit seine Realität versichert. Wenn wir fragen: Woher
kommt denn das?, dann meinen wir, wir sind ein bisschen proble-
matisch, ob es sich nicht um eine Täuschung handelt. Wissen wir,
woher es kommt, so wissen wir auch, dass es am Sein teilhat und
gegen Nichtsein sich wehren kann. Die Ursache macht, dass der
Effekt real ist, sowohl in Gedanken wie in Wirklichkeit. In dem
Sinne können wir sagen: Wenn wir auf Ursachen sehen, dann sehen
wir auf die Macht, die ein Ding hat zu sein. Das ist die affirmative
Bedeutung der Kausalität.
Es gibt aber eine negative, und das ist die andere Seite. Wenn wir
nach der Ursache eines Dinges oder Ereignisses fragen, dann setzen
wir voraus, dass es in sich selbst nicht die Macht hat, ins Sein zu
kommen. Es ist eine merkwürdige Sache; Dinge haben keine Aseität,
die können wir nur Gott zuschreiben oder dem existentialistischen
Menschen von Sartre, wobei das Problem entsteht, ob das wirklich
möglich ist. Endliche Dinge sind nicht durch sich selbst verursacht.
Sie sind nach Heidegger „ins Sein geworfen“. Darum ist die Frage
nach dem „Woher“ universal. Kinder und Philosophen, die auch
sonst in vielem einig sind, sind auch darin einig, dass sie imstande
sind, diese Frage unmittelbar zu erleben, nämlich die Frage, wenn
sie auf eine Sache, z. B. auf die sie umgebende Wirklichkeit sehen:
132
Wie steht es damit, woher kommt denn das alles? Das Zeitalter des
„Warum“ in der kindlichen Entwicklung, das kann oft so tiefsinnig
sein, dass Philosophen nur davon lernen können. Aber der Philosoph,
wenn er die Warum-Frage des Kindes hört, ist in einer Verlegenheit,
denn mit dem Warum? muss er ja weggehen von der Sache, die er
vor sich sieht und nach der das Kind fragt, zurückgehen zu etwas
anderem, was gerade diese Sache nicht ist. Das ist das Merkwürdige
an der Kausalität, dass man, um eine Sache zu verstehen, auf etwas
sehen muss, das sie nicht ist. Diese Sache ist nicht beendet damit,
dass wir eine erste Ursache haben, die wir auffinden können. Das
Kind lässt sich nicht abspeisen, es fragt dann weiter. Diese Frage ist
genauso berechtigt und heißt, dass auch das, zu dem wir hingelau-
fen sind, nicht das Letzte ist. Wir werden darüber hinausgetrieben
in einer endlosen Regression. Wir können niemals damit aufhören.
Das ist einer der tiefsinnigsten Gedanken oder besser tiefsinnig aus-
gedrückten Gedanken (denn es ist ein uralter Gedanke), wenn Kant
sagt: Wenn wir haltmachen bei diesem Zurückgehen bei Gott, dann,
sagt er, können wir uns Gott vorstellen als den, der sich selber die
Frage vorlegt: Woher bin ich denn? In diesem Moment haben wir
das schauerliche Erlebnis, wie Kant so schön beschreibt, dass alles
unter uns entschwindet, das Größte und Kleinste, nämlich Gott
selbst.1 Das ist die Kraft der Kausalität, die zum Nichtsein treibt,
zu dem, wo wir nicht mehr fragen können. Das heißt, Kausalität
drückt bei sich selber die Unfähigkeit alles Endlichen aus, in sich
selber zu ruhen. Und wenn Gott das Ende einer Kausalreihe ist, ist
er selber ein Endliches, und wir müssen über ihn hinausgehen. Damit
ist das Endliche als Ganzes in Frage gestellt. Jede Sache ist über sich
hinausgetrieben zu ihrer Ursache, und diese zu ihrer Ursache, und
so geht es ohne Ende fort. Das heißt, Kausalität ist in einer macht-
vollen Weise für Kinder und Philosophen und alle, die dazwischen
stehen und von beiden irgendetwas übrig behalten haben und nicht
in der natürlichen Weltanschauung verloren gegangen sind und
solche Fragen für sinnlos halten, für alle die ist die Kausalität ein
machtvoller Ausdruck des Abgrundes des Nichtseins in allem, was
ist. Das Kausalschema darf, wie ich schon sagte, nicht mit einem
deterministischen Schema identifiziert werden. Das war ja enthalten
in dem Gedanken der schöpferischen Kausalität und der individuellen
Kausalität. Sicherlich, nichts geschieht ohne eine vorhergehende Kon-
1
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 613 / B 641.
133
stellation. Aber die vorhergehende Konstellation ist nicht identisch
mit der Ursache, was sie in einer deterministischen Weltanschauung
sein müsste. Kausalität ist: Wenn wir auf ein Ding sehen und die
Frage stellen: Was ist das?, müssen wir über das Ding hinausgehen
und fragen, was es verursacht und so fort. Es ist natürlich, dass unter
diesen Umständen Kausalität als Ausdruck der ontologischen Angst
aufgefasst werden kann, der Angst des Nichtseins, der Angst, dass
nirgends Aseität, Durch-sich-selbst-Sein ist, das, was die Theologen
Gottes „Ungeschöpflichkeit“ nennen.
Der Mensch ist eine Kreatur. Unser Sein ist kontingent, hat ein
Element letzter Zufälligkeit in sich. Ich erinnere mich, wie ich ein-
mal mit meiner Tochter in den Schweizer Bergen war und wie sie
plötzlich fragte, sie war damals sechs Jahre alt: Warum ist denn das
alles, und wie ist es, warum sind diese Bäume da und warum nicht
was ganz anderes? Das war eine kindliche Frage, die sie nicht etwa
vom Philosophen gelernt hatte, sondern umgekehrt, aber eine ganz
natürliche Frage. Sie erlebte plötzlich in dem Moment instinktiv die
Nichtnotwendigkeit des Seienden, und wenn man Kinder nicht un-
terdrückt in solchen Fragen, dann sind sie offen, weil das ein ontolo-
gisches Erlebnis ist, das im Moment des aufwachenden Bewusstseins
notwendig auftaucht. Dieselbe Zufälligkeit, die den Menschen in die
Existenz geworfen hat, ohne Notwendigkeit, wird ihn wieder aus der
Wirklichkeit, in die er hineingeworfen ist, hinauswerfen.
D. h. die Tatsache, dass der Mensch kausal determiniert ist, macht
sein Sein zufällig, und diese Situation ist erlebt, man wird ihrer gewahr
in Form der Angst, nämlich der Angst über die Nichtnotwendigkeit
des Seins. Man hätte auch nicht sein können. Warum ist man? Für
diese Frage gibt es keine Antwort, die aus der Kausalität abgeleitet
werden kann, weil Kausalität ins Unendliche zurückgreift. Und das
bedeutet, Kausalität ist eine Kategorie der Endlichkeit und darum
eine Kategorie, in der sich Angst ausdrückt. Und nun haben wir
ja immer Angst und Mut in Balance gesehen, und auch hier ist es
der Mut, der die Zufälligkeit des Seins annimmt. Der Mensch, der
diesen ontologischen Mut hat, die kausale Situation anzunehmen,
blickt nicht über sich hinaus auf das, wo er herkommt, sondern er
ist fähig, zu all dem Nein zu sagen, ihm zu widerstehen und in sich
selber zu ruhen. Mut drückt sich u. a. darin aus, dass er die kausale
Abhängigkeit von allem Endlichen ignoriert, dass er in der Form des
„Trotzdem“, die die charakteristische Form des Mutes ist, Ja sagt
zu dem endlichen Sein und dem zufälligen Sein. Ohne diesen Mut,
134
der uns ja auch schon begegnete, als wir über das Gegenwart-Haben
sprachen, gibt es keine Möglichkeit des Lebens. Freilich, die Frage ist:
Wie ist ein solcher Mut möglich? Und wenn wir diese Frage stellen,
dann sind wir zurückgetrieben zu der Frage nach dem Sein-Selbst als
dem Grund alles Mutes. Und das ist eine der Fragen, die uns dann
in den letzten beiden Stunden beschäftigen werden.
Und jetzt komme ich zur vierten Kategorie, die die Einheit von
Sein und Nichtsein in allem Einzelnen beschreibt, nämlich der Kate-
gorie der Substanz. Im Gegensatz zur Kausalität weist die Substanz
auf etwas hin, das dem Strom der Dinge zugrunde liegt, etwas, was
relativ statisch ist und in sich selbst zu ruhen vorausgesetzt wird. Aber
wenn wir näher zusehen, entsteht dasselbe Problem wie bei Raum,
Zeit, Kausalität. Es gibt keine Substanz ohne Akzidentien, und die
Akzidentien erhalten ihre ontologische Möglichkeit von der Substanz,
zu der sie gehören. Es gibt kein Grün an sich, sondern nur Grün an
etwas, das dann diese Substanz ist. Und was ist das: Wenn wir die
Akzidentien wegnehmen, dann bleibt von der Substanz nichts übrig,
d. h. Substanz hat Nichtsein ohne Akzidentien, Akzidentien haben
Nichtsein ohne Substanz. In beiden Fällen ist das positive Element
durch das negative Element balanciert, genau so wie in Raum, Zeit
und Kausalität.
Aber nun ein kurzer Überblick über gewisse Probleme, die mit der
Substanz zusammenhängen. Man kann die Kategorie der Substanz als
eine sterbende Kategorie bezeichnen, und zwar ist das geschehen von
den Prozessphilosophen, die die Substanz auflösen in Prozesse. Das
ist zunächst begründet in demselben Kritizismus von Hume, den wir
bei der Kausalität gefunden haben, der von Locke schon vorwegge-
nommen ist, nämlich, dass die Substanz in keiner Weise Gegenstand
der Erfahrung sein kann. Die Kritik ist unterstützt worden durch
die moderne wissenschaftliche Bewegung, wo Energien und alles,
was noch an den Mythos der Substanz erinnert, in mathematische
Gleichungen aufgelöst wird, in Kräftefelder, wo von Substanz keine
Rede mehr zu sein scheint; und in Psychologie – dieser Kritizismus
auch auf die Seele angewandt – , nämlich, dass die Seele keine Sub-
stanz hat, sondern aus Funktionen und Prozessen besteht. Daraus
hat man geschlossen: Wir brauchen uns nicht mehr aufzuregen über
die Kategorie der Substanz, sie wird bald ausgestorben sein.
Sehen wir aber unseren Sprachgebrauch an, so finden wir, dass
das keineswegs der Fall ist, dass die Kategorie der Substanz in dem
Moment von uns gebraucht wird, wo wir von etwas, von einem
135
Ding, einem Ich reden, von etwas, das ist. Substanz ist kein Ding,
das man vorfinden kann, sondern die Möglichkeit, dass es Dinge
gibt, ist die Struktur des Seins, die ein Ding möglich macht, was ihm
tatsächlich eine gewisse Gleichheit erhält. D. h. die Substanz muss
verstanden werden als eine relative Einheit der lebendigen Gestalt.
Schon in der physiologischen Sphäre ist das so; auch da müssen wir
von der unterliegenden Einheit eines definitiven Wechsels sprechen,
z. B. ein Lebewesen, ein Baum. Dann können wir keine Substanz
entdecken, aber wir haben eine einheitliche Struktur, die in allem
Wechsel während der Lebenszeit eines Baumes eine gewisse Identität
aufweist. Dem kann auch die Prozessphilosophie nicht entgehen bei
noch so dynamischer Weltanschauung. Immer muss man fragen:
Was ist das, das im Wechsel bleibt, sodass der Wechsel als Wechsel
gemessen werden kann? Ohne relativen Nicht-Wechsel könnte das ja
nicht geschehen. In dem Sinne muss man sagen, dass Substanz eine
Kategorie ist, die in der Begegnung von Geist und Wirklichkeit immer
da ist, d. h. eine Kategorie, von der wir sagen müssen, dass sie als
Erfahrungsstruktur unvermeidlich ist, auch wenn alle mythologischen
Substanzen beseitigt und mit Recht beseitigt sind.
Wenn wir gesagt haben, dass Substanz wie die anderen Kategorien
eine Mischung von Positivem und Negativem ist, so folgt daraus,
dass Substanz, von innen gesehen, Angst und Mut ist in Balance.
Nämlich die Angst alles dessen, was ist, sich selber zu verlieren; das
bezieht sich auf den Angst erregenden Charakter des Wechsels. Der
Wechsel schreckt, selbst wenn der gegebene Zustand unbefriedigend
ist, und oft ist der Wechsel in den meisten Fällen mehr angsterregend
als das Beharren. Jeder Wechsel offenbart ja das relative Nichtsein
von dem, was wechselt; das, was eine Scheinabsolutheit hatte, ist
beim Wechsel in seiner Scheinhaftigkeit enthüllt, und daher die Angst
vor dem Verlust der Substantialität. Die wechselnde Wirklichkeit ist
unter dem [Verdacht] der fehlenden Substantialität, der fehlenden
Macht zum Sein, des fehlenden Widerstands gegen Nichtsein.
Es ist diese Angst, die z. B. die griechische Philosophie dazu trieb,
ohne Aufhören immer wieder und immer radikaler die Frage zu stel-
len nach dem, was nicht wechselt, nach dem Beharrenden im allem
Wechsel. Und man kann nicht sagen, dass diese Frage sinnlos ist, da
das Werden genau so ursprünglich ist wie das Sein. Das Werdende
ist eine Seite des Seins, es gibt aber auch das Beharren.
Aber die griechische Frage kann überhaupt nicht logisch widerlegt
werden. Es ist die Frage nach der Überwindung der Angst des Wech-
136
sels, der Drohung vom Nichtsein, die im Wechsel eingeschlossen ist.
Wir kennen diese Angst, die die Griechen zu ihren größten Konzep-
tionen geführt hat, in allem Wechsel des persönlichen und sozialen
Lebens, wir kennen diese Angst, die oft eine Art von individuellem
oder sozialem Schwindelgefühl erzeugt, ein Gefühl, dass der Grund,
auf dem man als Person oder Gruppe stand, weggenommen ist. Und
ich glaube, dass Sie dieses Gefühl vielleicht besser kennen als wir in
dem anderen Kontinent, der diese Erschütterung nicht erlebt hat. Die
Selbstidentität wird zerstört, und diese Angst erreicht die radikalste
Form in der Vorwegnahme des endgültigen Verlustes der Substanz,
nämlich des Nichtmehrseins als Individuum oder Gruppe überhaupt.
Und daraus folgt die Frage nach der Unsterblichkeit überhaupt. Die
Frage nach der Unsterblichkeit ist die Frage nach dem Gedanken, das
Suchen nach einem Gedanken, der die Angst des Substanzverlustes,
des endgültigen Substanzverlustes überwinden kann.
137
14. Vorlesung
(Dienstag, 12. Juni 1951)
Wir hatten gestern die Kausalität und Substanz als Kategorien der
Endlichkeit behandelt, und ich hatte davon gesprochen, dass der
Verlust der Substanz mit dem Verlust der Akzidentien im Tode die-
jenige Angst produziert, aus der der Gedanke einer Fortdauer einer
Seelensubstanz zu verstehen ist. Die Seelensubstanz ist ein Begriff,
der nur begriffen werden kann aus dem Verständnis der Substanz
als Kategorie der Endlichkeit. Wenn wir diesen Gedanken kritisieren,
wie ihn etwa Kant kritisiert hat, dann müssen wir sagen, dass so der
Versuch gemacht wird, mit Hilfe der Substanz, die eine Kategorie der
Endlichkeit ist, die Endlichkeit zu verneinen. Die Seele als unsterbli-
che Substanz gebraucht den Substanzbegriff und verneint ihn dann
unmittelbar dadurch, dass sie ihn als unendlich definiert. Das Resultat
ist, wie es nicht anders sein kann, das Leben nach dem Tode. Wenn
man ein solches Wort gebraucht, so hat das den Charakter einer
endlosen Fortsetzung der Endlichkeit; es hat nicht den Charakter der
Ewigkeit. Denn um den Charakter der Ewigkeit zu haben, müsste die
Kategorie der Substanz als solche überwunden sein, und das gerade
ist nicht geschehen. Wir können zum Teil die Behauptung unterstüt-
zen, dass die so genannten Beweise für die Unsterblichkeit der Seele
nicht nur Paralogismen sind, wie Kant zeigte1, sondern dass sie auch
Versuche sind, dem Ernst der Frage der Substantialität zu entgehen.
Es gibt ein unernsthaftes Verstehen des Todes oder des Blickens auf
den Tod, ein Antizipieren des Todes, das verbunden ist mit einer als
natürlich und selbstverständlich angesehenen Unsterblichkeitslehre.
Die unsterbliche Seele wird gleichsam in den Fortschrittsgedanken
mit eingeschlossen. Der Fortschrittsoptimismus geht auch noch über
das Grab hinaus. Ich kann das vielleicht hier nicht so deutlich sagen
wie in Amerika, wo dieser Begriff der Restbestand der christlichen
Tradition ist, an dem man mit größter Zähigkeit festhält, selbst wenn
man den Gottesgedanken aufgegeben hat.
Der Mut ist nicht der Mut, in dieser Weise der Realität zu ent-
gehen, sondern es ist der Mut, den Verlust der individuellen Sub-
stanz, der Kategorie der Substanz als solcher auf sich zu nehmen.
Und das ist etwas, was wir jedem Augenblick tun. Wir bejahen in
1
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Von den Paralogismen der reinen Vernunft),
A 341 ff., B 399 ff.
138
Form des Mutes eine konkrete Situation, ein schöpferisches Werk,
eine Liebesbeziehung, uns selbst. Man hat gelegentlich gesagt – Sie
können das in Predigten hören – , dass das eine Selbsterhebung des
Endlichen ist. Aber das ist nicht notwendig der Fall. Solch ein Satz
kann der Ausdruck eines schlechten theologischen Moralismus sein.
Sondern es bedeutet zunächst einmal, dass das Endliche sich selbst
bejaht in jener labilen Balance von Mut und Angst, von der wir in
Zusammenhang mit allen Kategorien gesprochen haben.
Die Frage bleibt: Wie ist solch ein Mut möglich, der das Erlebnis
des Substanzverlustes sehen und ertragen kann? Und damit ist wieder
die Frage gestellt, die wir am Ende jeder kategorialen Analyse bisher
gestellt haben: Wieso verliert in der Balance von Angst und Mut
nicht der Mut gegen die Angst, wo doch der Prozess der Endlichkeit
notwendig zu einem Punkt führt, wo das Nichtsein über das Sein
triumphiert? Das ist die religiöse Frage, und die Antwort, die gegeben
ist, ist dass trotz der Endlichkeit einschließlich Substanzverlust eine
Teilnahme an dem, aus dem Substanz, Macht des Seins, kommt,
möglich ist. Aber diese Antwort ist ein Paradox; sie ist nicht eine
Analyse der Substanz, und darum ist es nicht eine Antwort nach Art
der Unsterblichkeitslehre, nach Art der Fortsetzung der Endlichkeit
endlos über den Tod hinaus. Die vier Kategorien, die wir behandelt
haben, Raum, Zeit, Kausalität und Substanz, sind Strukturen der
Endlichkeit. Sie drücken aus ihr positives und ihr negatives Element.
Sie drücken aus eine Vereinigung von Sein und Nichtsein, von Angst
und Mut. Die religiöse Frage ist die Frage nach der Möglichkeit dieses
Mutes trotz der Überlegenheit der Angst und des Nichtseins. Das ist
die erste Betrachtung, die damit zum Abschluss kommt und die uns
an die Schwelle dessen führt, was wir als Religionsphilosophie kurz
in den beiden letzten Stunden behandeln wollen, nämlich die Frage,
wie1 diese Frage grundsätzlich beantwortet werden kann und welche
Möglichkeiten die Ontologie hat und nicht hat.
Ehe ich aber dazu übergehe, möchte ich eine andere Betrachtung
anstellen, die in dieselbe Richtung weist, die Tatsache nämlich, dass
auch die großen Polaritäten, von denen wir geredet haben, der End-
lichkeit unterworfen sind und dass unter Hinsicht auf Endlichkeit die
Polaritäten Spannungen werden.2 Und von diesen Spannungen, die in
1
Korr. (Typ. GS: die)
2
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 232-235.
139
der Existenz zerreißen, will ich erst noch sprechen. Spannung – dieses
Wort bedeutet ja, dass Elemente, die zusammengehören, auseinander
streben, dass sie voneinander weg wollen, dass sie sich in entgegenge-
setzter Richtung bewegen. Das ist eine der Tatsachen aller Existenz,
und es ist eine Tatsache, die ständig über die Spannung zum Bruch
hinausgeht. Heraklit hat mit einem genialen Blick die innere Span-
nung in den Dingen gesehen. Er hat alles Wirkliche verglichen mit
dem gespannten Bogen, weil in jedem Wirklichen eine Tendenz ist
herunter zur Erde in Balance mit einer Tendenz aufwärts zum Feuer.
Alles, was ist in dieser Spannung, ist produziert durch die beiden
Wege, den Weg aufwärts und den Weg abwärts, und kein Ding ist da,
das nicht diese beiden Wege in sich enthält und ihre Spannung.1
Diese Situation hat zur Folge, dass die polaren Elemente im
einzelnen ihre Einheit verlieren, dass sie auseinanderbrechen, und
ich will das jetzt an einigen von ihnen zeigen. Wenn das geschieht,
dann entsteht eine neue Angst, nämlich die Angst, die ontologische
Struktur zu verlieren, die eine andere Angst ist als die des reinen
Nichtseins. Wir können sagen, die eine ist der Verlust des Seins,
die andere ist der Verlust des Sinnes, und die Angst ist immer bei-
des zugleich, und der Mut ist immer in beiden Fällen gegenwärtig,
nimmt in beiden Fällen die Angst auf sich. Ich möchte das aber jetzt
durchführen zunächst an den ersten der polaren Elemente, die wir
besprochen haben, nämlich Individualisation und Partizipation. Sie
können zerbrechen; ihr Zerbrechen ist eine ständige Möglichkeit
im Wesen und eine ständige Wirklichkeit in der Existenz. Das ist
leicht einzusehen. Wir hatten gesehen, dass Individualität Selbstbe-
zogenheit, Selbstzentriertheit ist. Jede Selbstbezogenheit schafft die
Drohung der Einsamkeit, der Abgeschlossenheit von allen anderen,
in der die Welt und Gemeinschaft verloren gehen. Sobald man aber
aus dieser Einsamkeit der Selbstbezogenheit und des Zentriertseins
in sich selbst – was eine natürliche Struktur des Seins ist – , sobald
man diese Drohung erlebt und in die gegenteilige Bewegung eintreten
will oder die Bewegung ins Entgegengesetzte tritt, kommt man in
die Gefahr der vollständigen Auflösung der Selbstbezogenheit in der
Kollektivisierung. Man verliert die Individualität, man verliert die
Selbstbezogenheit. Man ist transformiert in einen bloßen Teil eines
umfassenden Ganzen. Menschliche Angst weiß dauernd um diese
Drohung. Die Angst der Einsamkeit und die Angst, in der Gemein-
1
DK 22 B 60.
140
schaft sein Selbst zu verlieren, stehen in ständiger Spannung und
brechen ständig auseinander. Der Mensch oszilliert in Angst zwischen
Individualisation und Partizipation, zwischen der Bezogenheit auf
sich selbst und dem Teilhaben an dem Allgemeinen, dem „man“,
wie es Heidegger formuliert hat.
Nun, wir wissen alle um diese Dinge und wir wissen, was sie
bedeuten für die psychologische und soziologische Situation einzelner
Menschen und unserer ganzen Zeit. Wenn wir an das Psychologische
denken, so wissen wir, wieviel Menschen auf Grund des Gefühles des
Nichtangenommenseins von den anderen sich zurückziehen auf sich
selbst, sich in der Einsamkeit fixieren, wenn sie aber diese Einsamkeit
nicht ertragen, aggressiv aus ihr hervorbrechen. Das Phänomen dieser
Art von Einsamkeit ist in der Tiefenpsychologie eines der wesentlichen
Elemente der Beschreibung des normalen wie auch des neurotischen
Menschen. Die Wälle, die gebaut werden, um sich abzutrennen, um
sein Selbst zu retten, retten ja das Selbst deswegen nicht, weil das
Selbst in seiner Selbstisolierung genau das verliert, was dem Selbst
den Inhalt und die Fülle gibt, nämlich die Partizipation. Dasselbe gilt
von der Tiefensoziologie, der Betrachtung von Gruppen, die unter
dieser gleichen Situation stehen und die in einer Verzweiflung der
Isoliertheit sich auf der einen Seite abschließen gegen alle Versuche,
sich1 zu öffnen, und dann, da sie das nicht können, dass sie an der
Fülle nicht teilnehmen, aggressiv gegen die Fülle vorgehen. Das alles
sind Dinge, die die Philosophie, die Ontologie speziell, oft übersehen
hat. Die Selbstverschließung als Phänomen der Struktur der Selbstheit
ist die ontologische Wurzel aller neurotischen Einsamkeitstendenzen
und zugleich Einsamkeitsfurcht.
Ebenso hat die Philosophie oft übersehen das essentielle Gehören-
zu-etwas. Die ganze Erkenntnistheorie ist voll von dem Missverstehen
des „Gehörens zu“, der Teilnahme an dem, was erkennt, und an dem,
was erkannt ist. Und was in der Erkenntnistheorie wahr ist, ist in
der Betrachtung der Kollektive umso wahrer. Daraus ergibt sich die
Reaktion, jenes gespannte Oszillieren hin zum Kollektiven, um das
in sich geschlossene Selbst loszuwerden: die Freude, es hingeben zu
können an etwas, an dem man teilnimmt und in dem man sein Selbst
verliert und damit seine Einsamkeit und seine Selbstverschließung,
und dann findet man, dass das, was man hervorbringt, ja nicht
1
Korr. (Typ. GS: sie)
141
mehr das wirkliche Selbst ist, sondern ein zerstörtes, nicht mehr ein
volles Selbst ist, das dann verschlungen wird von dem Kollektiven.
Und auf der anderen Seite das Verselbständigen z. B. des Existentia-
lismus gegen das Kollektive. Aber dabei ergibt sich dann, dass diese
radikalen Selbste, die ihre absolute Freiheit erleben oder predigen,
inhaltlos werden und dann biologischen oder anderen Inhalten zum
Opfer fallen.
Es gehört zur Endlichkeit, dass diese Spannung ständig vor sich
geht, es gehört nicht zur Endlichkeit, dass es zum Bruch kommt,
weil ja im Menschen alles durch Freiheit hindurchgeht. Aber in
der Endlichkeit ist die Drohung enthalten, und eine Ontologie des
Endlichen muss die Drohung dieser fundamentalen Zerreißung, die
fundamentale Polarisation unseres Seins in Betracht ziehen. Wenn sie
das nicht tut, kann sie keinen Unterbau geben, keine tiefen Voraus-
setzungen aufdecken von dem, was in der Psychologie und Soziologie
und Politik und Ethik in jedem Moment real ist von dem, was wir
erleben. Und eine Ontologie, die das nicht kann, dringt eben nicht
zum Sein selbst und seiner Struktur durch. Das ist die erste Spannung,
auf die ich hinweisen wollte, die dadurch zustande kommt, dass die
Grundstruktur der Polarität von Individualisation und Partizipation
in der Endlichkeit unter der Drohung des Zerreissens steht und in
der Existenz aktuell zerrissen ist, so dass daraus die Krankheiten der
Seele und der Gesellschaft zum großen Teil verständlich werden. Das
ist die erste Polarität.
Die zweite Polarität, von der wir gesprochen hatten, ist die zwi-
schen Dynamik und Form. Hier ist dieselbe Spannung und dieselbe
Drohung real und dieselbe Angst und dieselbe Notwendigkeit des
Mutes. Dynamik will sich realisieren in Form. Nur in der Form ist
die Lebenskraft real, nur da hat sie die Macht, dem Nichtsein zu wi-
derstehen. Aber zugleich ist in dem Augenblick, in dem das geschieht,
in dem Form gefunden ist, die Form in der Spannung mit der Dyna-
mik in Gefahr, starr zu werden, sich loszureißen von der Dynamik
und unter dem Namen des Widerstandes gegen das Nichtsein die
Dynamik zu unterdrücken, weil die Dynamik das Chaos zu bringen
scheint. Und wenn die Dynamik durch die starre Form durchbricht,
ist das Ergebnis das Chaos. So haben wir die andere Grundpolarität,
die ein anderer Hebel für das Verstehen der menschlichen Seele und
der menschlichen Kultur ist. Die menschliche Vitalität hat die Ten-
denz, sich auszudrücken in kulturellen Schöpfungen, in Formen, in
Institutionen. Wir hatten das Intentionalität genannt, schöpferisches
142
Gerichtetsein auf Inhalte, auf Formen. Aber jede Verwirklichung ist
zugleich eine Endstation eines Prozesses des vitalen Über-sich-Hin-
ausgehens und damit eine Drohung gegen die vitale Macht selbst.
Der Mensch lebt in Angst über die Drohung einer endgültigen Form
seines Lebens, seiner Kultur, seiner Seele, weil er weiß, wenn er diese
Form erreicht hat, dann ist seine Vitalität verloren. Auf der anderen
Seite strebt er angstvoll hinaus aus der Dynamik, deren chaotische
Möglichkeit, ungeformte Möglichkeit, er sieht und von der er weiß,
dass, wenn er die Form verliert, er auch die Vitalität verliert. Das ist
ja der Sinn dieser Polaritäten, dass nicht das Eine etwa bleibt und
dann überkräftig wird, sondern in dem Augenblick, wo es überkräftig
wird und das Andere unterdrückt, geht es selber auch verloren. Die
starre Form wird Formalismus und hört auf, wirklich formende Kraft
zu haben. Und umgekehrt, die durchbrechende Vitalität, die keine
Form findet, hört auf, Vitalität zu sein. Sie verzehrt sich in Selbst-
verschwendung. Vitalität ohne Intentionalität kann ebensowenig
bestehen wie das Umgekehrte.
Und diese Drohung ist wieder etwas, was ganze Kulturphänomene
erklärt. Auch hier habe ich in Amerika viel gelernt, wo die starre
Form, ein individuelles und soziales Ethos in der gegenwärtigen
und etwas vorhergehenden Generation Reaktionen der Dynamik
der Vitalität produziert hat, die noch keine Form gefunden haben
und darum, und das ist das Interessante, auch nicht etwa vital stark
sind, sondern, weil sie ohne Form sind, sich vital an Nichtigkeiten
vergeuden. Während umgekehrt in Kulturen, wo die Vitalität über-
stark geworden war und die Form nicht gefunden ist – in manchen
Gestalten Dostojewskis kann man das sehen – , dass da die Vitalität
ihren Sinn dadurch verliert, dass sie nicht zur Form gekommen ist
und eine ursprünglich gewaltige Vitalität aus Mangel an Intentio-
nalität sich selbst zerstört. Diese Kulturanalysen können natürlich
fortgesetzt werden ins Psychologische, und ich habe ja schon, wenn
ich an Dostojewski erinnerte, Individuen als Träger dieser Span-
nungen und dieser Zerbrechungen der Spannung genannt. Es ist ein
gewaltiges Heer von Zeugen vorhanden für diese Spannung und
Zerreißung in der Literatur [von] den griechischen Tragödien bis
auf den heutigen Tag.
Aber wieder muss ich sagen, die Philosophen haben diese Dinge im
Allgemeinen vernachlässigt, sie sind gesehen worden in der Lebens-
philosophie, die ja immer als ein Element sich durch die Philosophie
hindurch zog und auf die Urphänomene des Lebens achtete. In der
143
Theologie waren es besonders die protestantischen Mystiker, die ja
zum Teil die Väter der Lebensphilosophie sind. Und zum Teil hat die
Existentialphilosophie auch hier die Augen geöffnet. Philosophie hat
sich immer beschäftigt mit der Struktur der Dinge, mit ihren Formen,
mit ihren Ordnungen, mit ihren Schichten, mit ihren logischen und
realen Relationen, hat aber sehr selten jenes Ungreifbare behandelt,
was wir Dynamik genannt haben, was kein Etwas ist und von dem
doch alles Etwas abhängig ist. Und die Theologen haben es nicht
besser gemacht. Sie haben das göttliche Gesetz von Anfang an be-
tont, haben dies Gesetz identifiziert mit den Schöpfungsordnungen,
haben aber nicht gezeigt, aus welcher Tiefe Schöpfung kommt. Da-
rum haben wir jetzt ganze Richtungen in der modernen Theologie,
in der antitraditionellen Theologie in Amerika, wo der Begriff des
Schöpferischen einfach von Gott weggenommen und dem Menschen
oder der Natur übergeben ist und nun die schöpferische Vitalität
alles ist und die Formen verschwinden. Es ist die Verantwortung der
Theologie und Philosophie, solche Dinge zu sehen und auf Grund
solcher Dinge in die ontologischen Grundlagen aller derartigen Er-
scheinungen zu dringen.
Und dann komme ich zu der dritten Polarität, der von Freiheit
und Schicksal, weil gleichfalls die Endlichkeit der Freiheit eine Span-
nung erzeugt, die zum Zerbrechen führt und die Angst des Bruches
in sich trägt. Der Mensch ist bedroht durch den Verlust der Freiheit,
durch das Element der Notwendigkeit, das in seinem Schicksal darin
steckt, und er ist in gleicher Weise bedroht mit dem Verlust seines
Schicksals durch die Zufälligkeiten, die in seiner Freiheit enthalten
sind. Der Mensch ist ständig in Gefahr zu versuchen, seine Freiheit
dadurch zu bewahren, dass er willkürlich sein Schicksal verneint, und
sein Schicksal zu retten dadurch, dass er seine Freiheit hingibt. Der
Mensch muss Entscheidungen treffen, das gehört zu seiner Freiheit,
aber das produziert Angst in ihm.
Wir alle kennen die Angst des Entscheiden-Müssens, eine der
tiefsten Ängste unseres Daseins. Woher diese Angst? Weil wir die
Gesamtheit der Strukturen, innerhalb derer wir die Entscheidung
treffen müssen, erkenntnismäßig und unmittelbar lebensmäßig nicht
kennen. Jede Entscheidung ist ein Risiko, in dem wir unser Sein
verlieren können, und darum schrecken wir zunächst vor Entschei-
dungen zurück. Denn Entscheidungen, von denen wir wissen, dass sie
richtig sind, würden ja voraussetzen, dass wir die Voraussetzungen
und Konsequenzen durchschauen, was wir nie tun.
144
Auf der anderen Seite ist der Mensch in Furcht, sein Schicksal
anzunehmen, es zu bejahen, denn er weiß, dass eine solche Bejahung
ja nur eine Teilbejahung wäre; dass er ja immer nur einen Teil seines
Schicksals annehmen kann, weil das ganze Schicksal ihm verborgen
ist und er sich dann unterwerfen würde unter ein Teilschicksal, das
nicht identisch ist mit seinem wahren Schicksal. Und darum geht
er dann zurück und versucht wieder, seine Freiheit zu retten durch
Willkür. Und weil das so ist und weil die eine Seite an der anderen
hängt, ist er ständig in Gefahr dadurch, seine Freiheit zu verlieren,
auch sein Schicksal zu verlieren und dadurch, dass er sein Schicksal
verliert, auch seine Freiheit zu verlieren. Sie sind aneinander gebun-
den, und es ist wie in all diesen Polaritäten, dass das Eine, wenn es
zerstört ist, auch das Andere mit sich reißt. Es ist nie so, dass eine
der Polaritäten isoliert bejaht werden kann, um den Schrecken der
Spannung und des Brechens sich zu entziehen. In dem Augenblick,
wo man das tut, verliert man auch die andere Seite.
Lassen sie mich hier für diejenigen unter Ihnen, die in der Dis-
kussion wieder und wieder auf die Frage des Determinismus und
Indeterminismus zurückgekommen sind, ein paar Worte von hier
aus zu dieser Debatte sagen. Die traditionelle Debatte dieser beiden
antiquierten philosophischen Richtungen über die Freiheit des Wil-
lens ist eine objektivierte, rationalisierte Form der Spannung, die sich
logisch ausdrückt, der Spannung zwischen Freiheit und Schicksal.
Beide Teilnehmer an solcher Diskussion verteidigen ein ontologisches
Element, ohne [das] das Sein nicht begriffen werden könnte. Darum
ist immer sowohl der Determinist wie der Indeterminist im Recht in
dem, was er behauptet, aber er hat Unrecht in dem, was er verneint.
Der Determinist sieht nicht, dass die einfache Affirmation des De-
terminismus als Wahrheit voraussetzt, dass man zwischen wahr und
falsch entscheiden kann und dass das keine Täuschung ist, und damit
hat er dem Indeterministen Recht gegeben. Und der Indeterminist
sieht nicht, dass die einfache Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen,
die frei sein sollen, eine Struktur einer Persönlichkeit voraussetzt, die
als solche ja gegeben ist und Schicksal einschließt. Beide können durch
das, was sie tun, in der Debatte widerlegt werden in dem Moment,
wo sie sich einseitig gegeneinander stellen.
Wenn wir einmal sehen, wie wir uns tatsächlich verhalten, finden
wir, wie unreal diese Debatte ist im Verhältnis zu der Realität unseres
Verhaltens. Die Menschen handeln immer so, als ob sie sich, der eine
den anderen, als frei ansehen, und zugleich, als ob sie wüssten, dass
145
sie selbst und der andere ein Schicksal hatten. Niemand behandelt
einen Menschen als einen bloßen Ort einer Serie zufälliger Akte oder
Bewegungen oder Ereignisse; noch behandelt er ihn als einen Mecha-
nismus, in dem berechenbare Affekte berechenbaren Ursachen folgen.
Sondern der Mensch betrachtet den Menschen einschließlich sich
selbst immer als eine Einheit von Freiheit und Schicksal. Er behandelt
ihn immer so, dass er voraussetzt, dass endliche Freiheit in ihm wirkt
auf Grund endlichen Schicksals. Und diese pragmatische Betrachtung
kann zumindest der deterministischen Debatte eine Warnung geben,
dass sie mit ihrer Abstraktion etwas vollzog, von dem sie niemals
zurückkommen kann zur Realität des Menschen. Wer sein Schicksal
verliert, verliert dadurch den Sinn seines Seins. Schicksal ist nicht
sinnloses Fatum, es ist Notwendigkeit in Einheit mit Sinn.
Die Drohung möglicher Sinnlosigkeit ist sowohl eine soziale wie
eine individuelle Wirklichkeit in unserer Zeit, mehr als in vielen
anderen Zeiten. Es gibt Perioden, in denen diese Drohung speziell
stark ist im Unterschied von anderen Perioden, und ich glaube, unsere
Situation ist charakterisiert durch ein tiefes und verzweifeltes Gefühl
möglichen Sinnverlustes oder schon vollzogener Sinnlosigkeit. Indi-
viduen und Gruppen haben alles verloren, was ihrem Schicksal Sinn
gegeben hätte, und haben das verloren, was Spinoza die „Liebe des
Schicksals“ genannt hat.1 Aber wer sein Schicksal nicht mehr lieben
1
Der Begriff „Amor fati“ geht auf F. Nietzsche zurück, der somit Spino-
zas „Amor Dei intellectualis“ abgewandelt hat. Beide Begriffe meinen den
höchsten vom Menschen zu erreichenden Zustand. Zu Spinozas Einfluss
auf Nietzsche vgl. Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie
und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsche,
Berlin / New York 1996, S. 190-193. „Ersetzt man aber einmal ‚amor Dei‘
durch amor fati und sieht man, dass Spinoza sowohl Gott wie auch Erkenntnis
als Macht auslegt, dann leuchtet das auf der Postkarte übermittelte Entzücken
[sc. Nietzsches über Spinoza – E. St.] sogleich ein. … Die Konzeption des
amor Dei gibt … in der Tat das Vorbild für den von Nietzsche neu gepräg-
ten Begriff des amor fati. … An die Stelle Gottes tritt nun ein übermächtiges
Ganzes jenseits aller Vernunft. Das Schicksal ist ohne Einheit und ohne
Ordnung. Aus Spinozas großer Gleichung Deus sive natura wird nun ‚Chaos
sive natura‘, was Nietzsche bezeichnenderweise nicht als ‚Entgöttlichung‘,
sondern als ‚Entmenschlichung der Natur‘ versteht“ (V. Gerhardt, a.a.O.,
S. 191). Tillichs Denken oszilliert zwischen Spinozas amor Dei intellectualis
und Nietzsches amor fati. Dass er hier die Wendung „Liebe des Schicksals“
Spinoza und nicht Nietzsche zuschreibt, ist darum keine bloße Verwechslung.
Vgl. auch William S. Wurzer, Nietzsche und Spinoza, Meisenheim a. Glan
1975; Yirmejahu Yovel, Spinoza und Nietzsche. Amor dei und Amor fati, in:
ders., Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz, Göttingen 1994, S. 384-420.
146
kann, hat sich selbst und den Sinn seines Seins verloren. Wenn man
fragt, wofür das alles, all die technische Welt, all die natürliche Welt,
all die menschlichen Akte, all das Politische?, dann wird diese Frage
zynisch abgelehnt. Es gibt kein „Wofür“ im letzten Sinne, d. h. aus
der endlichen Angst um unser Schicksal ist Verzweiflung über das
Fehlen eines Schicksals geworden, denn Schicksal heißt ja nicht die
Notwendigkeit – die könnte man nicht lieben, denn sie wäre ja nicht
wir selbst, sondern etwas Fremdes von außen – , sondern wir selbst
sind ja unser Schicksal in Einheit mit unserer Freiheit. Und wer sein
Schicksal nicht mehr liebt, kann sich selbst nicht lieben und sich
annehmen. Aus diesem Schicksalsverlust heraus müssen wir unsere
Zeit weitgehend verstehen.
Und man versteht dann auch, warum auf der anderen Seite sich
Freiheit losmachen will vom Schicksal, sich absolut auf sich selbst
stellt und wie alle extremen Existentialisten jede Form des schicksal-
gegebenen Daseins in menschlichen Beziehungen, natürlichen Bezie-
hungen, als eine Sklaverei bekämpft. Das, was wir nicht als Schicksal
lieben können, muss notwendig uns als fremde Macht, gegen die wir
revoltieren1 müssen, erscheinen. Aber in dem Augenblick, wo wir in
dieser Form im Namen der Freiheit gegen das Schicksal revoltieren,
wird die Freiheit Willkür. Und Willkür ist eine ins Psychologische
verkehrte Form der Freiheit, die dann unter Notwendigkeiten fällt,
denen sie gerade entgehen wollte, biologische und psychologische
Notwendigkeiten. Denen können wir nur standhalten, wenn wir
ein Schicksal haben, das wir lieben, wenn wir eine Welt haben, an
der wir teilhaben, eine Form, in die die Dynamik unserer Vitalität
sich ergossen hat. Wer das alles nicht hat, wenn wir eingeschlossen
sind in Selbstbezogenheit, getrieben sind von Dynamik, wenn wir
eine Freiheit haben wollen, die Willkür ist, losgelöst vom Schicksal,
dann fallen wir unter Notwendigkeiten, die unterhalb der Sphäre
des Menschlichen, des Welt-Habens, Form-Habens und Schicksal-
Habens liegen. Und das ist das, was ständig geschieht, und daraus
ergibt sich dann die Frage nach einem Mut, der diese dreifache
Drohung des Sinnverlustes auf sich nehmen kann und dadurch, dass
er sie auf sich nimmt, überwinden kann. Und das ist die Frage der
Philosophie der Religion.
1
Korr. (Typ. GS: revolutionieren)
147
15. Vorlesung
(Mittwoch, 13. Juni 1951)
Wir hatten mit Mehrheit zum Ausdruck gebracht, dass die letzten
beiden Stunden der Verbindung von Ontologie und Religion, d. h.
gewisser Fundamente der Religionsphilosophie gewidmet sein sollen.
Die Frage ist: Wie sieht im Lichte der ontologischen Gedanken, die
ich entwickelt habe, die Religionsphilosophie aus? Und ich glaube,
dass schon an einigen Stellen die grundsätzliche Antwort gegeben
war, nämlich: Da, wo die Balance von Sein und Nichtsein, von Angst
und Mut erlebt wird, entsteht notwendig die Frage nach dem Sein,
das über dem Nichtsein steht, und nach dem Mut, der die Angst
überwindet.
Ich möchte das nun durchführen in Zusammenhang mit den so
genannten Beweisen für die so genannte Existenz Gottes.1 Ich wäre
froh, wenn Sie von nun an das immer so zitieren würden. D. h.,
beide Begriffe sind in sich selber, bloß als Begriffe, schon unhaltbar,
und trotzdem ist in dem, was unter diesem schlechten Titel behan-
delt worden ist in der Geschichte der Philosophie, etwas enthalten,
was für uns wie für fast alle vergangenen Generationen von größter
Bedeutung ist. Es ist eine der interessantesten Erscheinungen in der
Geschichte der Philosophie und insonderheit der Geschichte der
Religionsphilosophie, dass seit Plato, Augustin und Anselm es immer
zwei Gruppen von Philosophen gegeben hat, beide gleich groß, beide
gleich scharfsinnig, beide gleich folgenreich, die in diesem Punkt in
vollkommenem Gegensatz stehen. Die einen, die die so genannten
Argumente angriffen und sie für erfolglos erklärten, die zu zeigen
versuchten, dass es unmöglich ist, dass sie zum Ziele führen, und die
anderen, die mit der gleichen Energie sagten, dass diese Argumente
gültig sind und als so genannte Gottesbeweise angesehen werden
könnten. Bis auf den heutigen Tag ist keine der beiden Gruppen
letztlich siegreich. Wie kann das verstanden werden? Da man nicht
sagen kann, dass die einen (sagen wir Thomas) besser sind als die
anderen (sagen wir Duns Scotus) oder die einen (sagen wir Hegel)
besser sind als die anderen (sagen wir Kant), dass der eine klüger
oder tiefsinniger oder scharfsinniger als der andere ist, so müssen
wir eine Erklärung versuchen, die in folgender Richtung liegt: Die
eine Gruppe griff nicht an, was die andere Gruppe verteidigte. Ihre
1
Vgl. zum Folgenden Syst. Theol. I, S. 238-242.
148
Spaltung war nicht eine Spaltung über denselben Gegenstand, sie
kämpften über verschiedene Gegenstände und drückten sie in den-
selben Begriffen aus. Diejenigen, die die Argumente für die Existenz
Gottes kritisierten, kritisierten ihre argumentative, schließende, lo-
gische Form. Diejenigen, die die Argumente für das Dasein Gottes
verteidigten, verteidigten den Sinn, die Bedeutsamkeit dessen, was
darin versucht wurde mit unzulänglichen Mitteln.
Wenn das die Situation ist, dann ist [es] möglich, dass wir ein
Urteil abgeben. Es scheint mir kaum zweifelhaft zu sein, dass die
Beweise für das Dasein Gottes erfolglos sind, sofern sie den An-
spruch erheben, Beweise zu sein. Sowohl der Begriff der Existenz
als die Methode der Beweisführung sind so vollständig inadäquat
für das, was das Wort „Gott“1 bedeutet, dass – wie ich im Anfang
sagte – man nur von so genannten Beweisen für die so genannte
Existenz Gottes sprechen kann.
Wie immer man es definiert, von der Existenz Gottes zu reden,
widerspricht dem Gedanken des schöpferischen Grundes von Wesen
und Existenz zugleich. Der Grund des Seins kann nicht gefunden
werden als etwas Existierendes in der Ganzheit, in der Summe der
seienden Dinge. Es ist auch unmöglich, dass der Grund des Wesens
und der Existenz teilnimmt an den Spannungen und Zerreißungen,
die für den Übergang von Wesen und Existenz charakteristisch sind.
Das ist der Grund, warum die Scholastik mit tiefem Recht behauptet,
dass in Gott kein Unterschied, keine Differenz zwischen Wesen und
Existenz ist. Wenn das aber der Fall ist, wie kann man da von der
Existenz Gottes sprechen? Wenn man von ihr spricht, so muss man
sofort auch von seinem Wesen sprechen, das mit ihm identisch ist.
Daraus würde folgen, dass die Scholastiker konsequentermaßen die
Argumente für die Existenz Gottes hätten aufgeben müssen. Aber
viele von ihnen, vor allem Thomas, taten es nur teilweise, aber nicht
vollkommen. Um das zu tun, sprach Thomas von der Existenz Gottes,
die mit seiner Essenz gleich ist, seinem Wesen oder seiner Essenz; aber
dann spricht er von einer anderen Existenz, nämlich für uns, über die
wir Argumente machen können.1 Aber was er in Wahrheit meinte,
1
Korr. (Typ. GS: Gottes)
2
„Gottes Sein ist zwar an sich selbst gewiß, weil Gottes Wesen mit seinem
Sein identisch ist, also das Prädikat des Satzes: Gott ist, mit dem Subjekte
desselben identisch ist. Aber Gottes Sein ist nicht auch für uns unmittelbar
gewiß, weil wir nicht wissen, was Gott ist, sondern aus dem bewiesen werden
149
war die Wirklichkeit, die Gültigkeit, die Wahrheit der Gottesidee.
Und er wusste, wie alle großen Theologen vor dem 19. Jahrhundert
wussten, dass die Idee von Gott nicht den Gedanken zulässt von
etwas oder von jemand, der vielleicht existiert oder vielleicht nicht
existiert. Und darum glaube ich mich in der klassischen Linie zu
befinden, obgleich das äußerlich nicht zutrifft, wenn ich gegenüber
der schlechten Religionsphilosophie des 19. Jahrhunderts sage: Eins
der ersten Erfordernisse für das Verständnis des Gottesgedankens ist,
dass wir den Begriff „Existenz Gottes“ aufgeben. Wir dürfen das,
was wir von jedem Gegenstand, von allem, was in Raum und Zeit
vorliegt, aussagen, nämlich, dass es existiert oder nicht existiert, nicht
von dem sagen, was mit dem Wort „Gott“ gemeint ist. Wenn wir von
der Existenz Gottes reden – das ist für die Theologen gesagt – , dann
sollte das beschränkt werden auf die Paradoxie, die wir den Christus
nennen, nämlich, dass an einem Punkt der Geschichte das Göttliche
uneingeschränkt innerhalb der Existenz erscheint. Aber das ist para-
dox, das ist die Grundlage der paradoxen christlichen Aussage, dass
Jesus der Christus ist. Aber das ist keine Lehre von der Existenz oder
Nichtexistenz Gottes. Und darum kann man sagen: Gott existiert
nicht, er ist das Sein-Selbst jenseits von Wesen und Existenz; und
darum, Beweise für die Existenz Gottes zu bringen bedeutet, ganz
gleich wie diese Beweise auslaufen, ihn zu verneinen. In dem Kampf
derer, die Gott beweisen wollen, und derer, die ihn widerlegen wollen,
haben immer die Recht, die die Existenz Gottes verneinen, weil ein
existierender Gott kein Gott ist. Das ist die Wahrheit des Atheismus.
Er ist nicht einfach Unwahrheit, sondern der Atheismus enthält die
Wahrheit, die gegenüber dem argumentativen Theismus unter allen
Umständen Recht hat, nämlich, dass die Kombination der Worte
„Gott“ und „Existenz“ unmöglich ist. Gott ist nicht existent. Sofern
der Atheismus das sagt, hat er Recht.
Aber es ist nicht nur die Kombination dieser beiden Worte „Gott“
und „Existenz“, gegen die wir uns wehren müssen, sondern es ist
auch die Methode der Beweisführung, die dem Wesen Gottes wider-
spricht. Jedes Argument leitet Schlüsse ab von etwas, das gegeben
ist, und geht vorwärts zu etwas, das gesucht ist. In allen Argumen-
muß, was uns erkennbarer, obschon an sich weniger erkennbar ist, d. h. aus
den Wirkungen (Summa th. I, q. 2, a. 1).“ (Matthias Baumgartner, Friedrich
Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie der patristischen und
scholastischen Zeit, Berlin 1915, S. 493)
150
ten für die Existenz Gottes ist die Welt gegeben und Gott gesucht.
Gewisse Charakteristika machen den Schluss Gott notwendig, Gott
ist abgeleitet von der Welt. Wenn er aber von der Welt abgeleitet ist,
dann kann er nicht das sein, was die Welt transzendiert, der Grund
der Welt, dann wird er sozusagen ein Glied innerhalb des Ganzen
der Welt, das durch richtige Schlüsse entdeckt werden kann. Dann
wird er, wie z. B. bei Descartes, dasjenige, was die denkende Sub-
stanz und die ausgedehnte Substanz, die an sich völlig voneinander
getrennt sind, in einem Höchsten vereinigt oder er wird das Ende
eines unendlichen Rückschlusses in Form der Kausalität oder er
wird die Intelligenz, die man braucht, um alles, was sinnvoll in der
Wirklichkeit ist, zu verstehen, oder er wird mit diesen sinnvollen
Prozessen in der Wirklichkeit identifiziert. In all diesen Fällen ist
Gott Welt, er ist ein Teil, abgeleitet in Form von Schlüssen von dem
Ganzen; aber das widerspricht dem Gottesgedanken vollkommen
und radikal. Die Methode der Argumentation widerspricht dem
Gottesgedanken genauso wie der Begriff der Existenz. Die Argumente
für die Existenz Gottes sind weder Argumente noch Beweise für die
Existenz Gottes. Gottesbeweise beweisen die Existenz des Gottes,
den sie beweisen wollen, nicht, dagegen machen sie den Sinn des
Gottesbegriffes unverständlich.
Sie bedeuten etwas ganz anderes als Beweise für die Existenz
Gottes, sie sind Ausdrucksformen der Frage nach Gott, die in der
menschlichen Endlichkeit enthalten ist. Und das ist ihre Wahrheit.
Und darum haben Leute wie Thomas, Descartes und Hegel immer
wieder auf sie hingewiesen und versucht, sie umzuformen, und darum
können sie nicht aus der philosophischen Diskussion verschwinden.
Sie sind Formen, in denen von altersher diejenigen Analysen gegeben
werden, die ich versuche und versucht habe, Ihnen in diesen Vorle-
sungen über die Endlichkeit des Seins zu geben. Sie sind die Vorläufer
der existentiellen Analyse der Endlichkeit des Seins, und als solche
haben sie in der Tat eine bleibende Bedeutung. Aber jede Antwort,
die in Form von Schlüssen aus dieser Analyse abgeleitet wird, ist
unwahr. Das ist die Art und Weise, in der Theologie sich mit diesen
so genannten Beweisen beschäftigen muss. Sie sind von altersher der
Hauptboden, der Hauptgrund für jede natürliche Theologie. Was
wir tun müssen und was die Ontologie uns geholfen hat zu tun, ist,
sie von ihrem Schlusscharakter zu befreien, nicht zu glauben, dass
man in ihnen etwas erschließen kann, und die Kombination der
Worte „Gott“ und „Existenz“ zu beseitigen. Wenn das geschehen
151
ist, dann ist zwar die alte natürliche Theologie in ihrer eigentlichen
Absicht, nämlich zu zeigen, dass die Vernunft den Gottesgedanken
aus sich heraus produzieren kann, aufgegeben, aber was dann ge-
schehen ist, ist die Ausarbeitung der Frage nach Gott. Natürliche
Theologie hört dann auf, die Antwort auf diese Frage zu sein. Sie
ist die Frage selbst und ihre Entfaltung, und über das hinaus können
wir nicht gehen. Das ist das Erste und Grundlegende, was ich als
religionsphilosophische Folge der Ontologie der Endlichkeit, der
Existenzanalyse des Endlichen sagen kann. Die Frage ist entfaltet,
die Antwort kann nicht aus der Frage abgeleitet werden. Nicht Ar-
gumente, sondern Analysen sind die so genannten Beweise für die
so genannte Existenz Gottes.
Aber nun kommen wir zu den einzelnen Formen, in denen diese
Beweise vor sich gingen. Wir können sagen, die Frage nach Gott ist
möglich, weil ein Gewahrwerden Gottes in der Frage selber vorhan-
den ist. In einfacher Formulierung: Gott ist gegenwärtig, wo die Frage
nach Gott erhoben wird. Das Gewahrsein dieser Gegenwärtigkeit
geht der Frage voraus; und das bedeutet dieses Gewahrsein. Ich weiß
kein besseres Wort hierfür, denn gerade in seiner Unbestimmtheit ist
das Wort „gewahr werden“gut für diese Analyse.
Dieses Gewahrwerden ist nicht das Ergebnis eines Argumentes,
sondern ist die Voraussetzung jedes versuchten Argumentes. Und
das bedeutet, dass das Argument kein Argument ist. Und damit
komme ich zu dem, was in der Geschichte der Philosophie als on-
tologisches Argument erscheint und was Sie in der Geschichte der
Philosophie wieder und wieder finden. Das ontologische Argument
beschreibt in der Analyse der Endlichkeit, nämlich der Endlichkeit
des Bewusstseins, dass in dieser Endlichkeit als Frage Unendlichkeit
eingeschlossen ist. Der Mensch weiß, dass er endlich ist, dass er
ausgeschlossen ist von der Unendlichkeit, zu der er doch gehört.
Der Mensch ist oft gewahr seiner potentiellen Unendlichkeit, wäh-
rend er zugleich seiner aktuellen Endlichkeit gewahr ist. Wenn der
Mensch das wäre, was er wesenhaft ist, dann würde die Frage nach
dem Unendlichen als Frage nicht auftreten. Mythologisch könnte
man das so ausdrücken, dass man sagte: Adam vor dem Fall war in
einer wesenhaften, ontologischen unentschiedenen Einheit mit Gott.
Aber das ist nicht die Situation des Menschen, und es ist nicht die
Situation von irgendetwas, das existiert. Sondern der Mensch ist in
der Situation, dass er fragen muss, dass er die Frage stellen muss
nach dem Unendlichen, von dem er entfremdet ist, obwohl er dazu
152
gehört. Er muss die Frage stellen nach dem, was ihm den Mut gibt,
den letzten Mut jenseits der Balance von Mut und Angst, seine Angst
auf sich zu nehmen, und er kann diese Frage stellen, weil er gewahr
ist seiner potentiellen Unendlichkeit, die in dem Gewahrwerden sei-
ner Endlichkeit eingeschlossen ist. Das ist der innerste Kern des so
genannten ontologischen Arguments, das in vielerlei Form erscheint
und das wir reduzieren müssen in seinem Sinne auf diesen entschei-
denden Punkt: eine Beschreibung des Gewahrwerdens des Menschen
von seiner Endlichkeit und mit seiner Endlichkeit von seinem Ausge-
schlossensein von und Zugehörigsein zu dem Unendlichen. Darüber
hinaus können wir nicht gehen. Und darum können wir sagen, soweit
diese Beschreibung reicht, soweit sie Existentialanalyse und nicht
Argument ist, ist sie gültig und wahr. Diese Gegenwart innerhalb
des Endlichen von einem Element, das das Endliche überschreitet,
ist in allen Funktionen des menschlichen Geistes erlebt, theoretisch
sowohl wie praktisch.
Ich möchte jetzt verweisen auf einige historische Folgen. Die the-
oretische Seite dieses Gewahrwerdens des Unendlichen im Endlichen
ist herausgearbeitet von Augustin, die praktische ist herausgearbeitet
von Kant, und hinter beiden steht Platon. Von keiner Seite kann
man ein Argument für die Realität Gottes konstruieren, aber alle
diese Gedankenbewegungen von Plato, Augustin und Kant zeigen,
dass etwas Unbedingtes gegenwärtig ist innerhalb der Bedingtheit
des Selbst und der Welt. Wäre solch ein Element nicht gegenwärtig,
dann hätte die Frage nach Gott niemals gefragt werden können, es
wäre eine sinnlose Frage, eine Kombination sinnloser Buchstaben
gewesen, noch hätte eine Antwort gegeben werden können. Und
nicht einmal die Antwort der Offenbarung hätte empfangen werden
können, weil es ja dann nicht der Mensch gewesen wäre, der sie
empfangen hätte, sondern ein anderes außermenschliches Geschöpf,
das durch die Offenbarung hätte präpariert werden müssen, damit
Offenbarung hätte empfangen werden können. Dieser letzte Satz
richtet sich dagegen, dass man an dieser Stelle Ontologie und Of-
fenbarung trennt und behauptet, die Frage nach Gott ist unmöglich
für den so genannten natürlichen Menschen, sondern ist möglich
nur, wenn die Offenbarung schon die Antwort gibt. Aber solch eine
Argumentation setzt voraus, dass Offenbarung nicht Offenbarung
für den Menschen ist, sondern dass der Mensch zunächst einmal in
ein anderes Wesen verwandelt werden muss. Wenn der Mensch die
Offenbarungsantwort empfangen soll, so kann das nur in der Form
153
geschehen, dass der Mensch die Frage stellen kann, und wenn er die
Frage stellen kann, so muss schon ein Gewahrwerden dessen, wo-
nach er fragt, vorhanden sein. Wie Augustin gesagt hat: „Ich hätte
nicht nach Dir fragen können, hätte ich nicht schon etwas von Dir
gewusst.“1 Und so ist es in allen Dingen.
Ich habe im Anfang eine kurze Analyse der Fragesituation gege-
ben. Die Frage setzt ja immer voraus einerseits freilich, dass man
getrennt ist, sonst würde man nicht fragen, andererseits, dass man so
teilhat an dem, wonach man fragt, dass man nach ihm fragen kann.
Man kann nicht nach etwas fragen, an dem man in keiner Weise
teilhat. Das Element des Unbedingten erscheint in den theoretischen
Funktionen der Vernunft als die Wahrheit selbst, das Wahre, das die
Norm aller Annäherung an die Wahrheit ist. Das unbedingte Element
erscheint in den praktischen Funktionen der Vernunft als das Gute
selbst, das Gute, das die Norm aller Annäherung an die Gutheit ist.
Und beide, die Wahrheit selbst und das Gute selbst, sind Manifes-
tationen des Seins-Selbst, des Seins als des Grundes und Abgrundes
von allem, das ist.
Nun lassen Sie uns sehen, wie Augustin und Kant die Gedan-
kengänge bewegen, wo sie Recht haben und wo ihre Grenze liegt.
Augustin ringt mit dem Skeptizismus. Er schreibt in diesem Ringen
mit dem Skeptizismus, dass auch der Skeptizismus etwas anerkennen
muss, etwas Absolutes, ein Element der Wahrheit selbst. Wenn er
verneint, dass ein wahres Urteil möglich ist, ist das entweder ein
Urteil, dann macht es auf Wahrheit Anspruch und der Wahrheits-
gedanke ist vorausgesetzt, oder es ist eine Stimmung, dann kann es
gedanklich nicht ernstgenommen werden, sondern ist ein biographi-
sches Faktum. Der Skeptiker wird ein Skeptiker, gerade weil er nach
der Absolutheit strebt, von der sich ausgeschlossen weiß. Auch der
Skeptiker anerkennt das unbedingte Element der Wahrheit selbst,
verum ipsum, und niemand sucht die Wahrheit leidenschaftlicher als
gerade der Skeptiker. Das ist der augustinische Gedanke.
Kant zeigt auf analoge Weise, dass Relativismus in Bezug auf
ethische Inhalte vollkommen berechtigt ist, dass er aber voraussetzt
eine absolute Anerkennung des Ethischen als Ethischen, gerade weil
der Inhalt dadurch relativ wird, eine absolute Anerkennung dessen,
was er den kategorischen Imperativ nennt, kategorisch, d. h. unbe-
1
Tillich bezieht sich hier auf die Dialektik von quaerere (suchen) und invenire
(finden) in Augustins Confessiones X, 18, 27.
154
dingt, nicht abhängig von Wünschen und historischer Begegnung.
Und in dem Augenblick, wo er dieses Unbedingte anerkennt, ist im
Ethischen selber die Frage nach dem Unbedingten und daher das
vorausgehende Unbedingte gegenwärtig. Das Gute selbst ist unab-
hängig von irgendeinem Urteil über die Güte. Bis zu diesem Punkt,
der eine Analyse der Endlichkeit im Theoretischen und Praktischen
des menschlichen Bewusstseins darbietet, können Augustin und Kant
nicht widerlegt werden. Denn bis zu diesem Punkt argumentieren sie
nicht, sie beweisen nichts, sie zeigen nur etwas auf. Und mehr als
Aufzeigen kann in der Analyse der Existenz nicht gemacht werden.
Sie zeigen auf, dass in jeder Begegnung mit der Wirklichkeit ein
unbedingtes Element gegenwärtig ist.
Aber nun gehen sowohl Augustin wie Kant über diese Analyse
hinaus. Sie leiten von der Analyse einen Gottesbegriff ab, der mehr
ist als Sein selbst, das Gute selbst, das Wahre selbst, esse bonum
ipsum, verum ipsum. Sie gehen über die analytische Dimension
in eine konstruktive Dimension, und an dieser Stelle entstehen die
Probleme und Unmöglichkeiten. Augustin identifiziert das Wahre
selbst unvermittelt mit dem Gott der Kirche, und Kant versucht,
von dem kategorischen Imperativ jemanden abzuleiten, der die Ein-
heit von Moral und Seligkeit garantiert. In beiden Fällen ist der
Ausgangspunkt richtig und der Schluss falsch. Die Erfahrung eines
unbedingten Elementes in der Begegnung des Menschen mit der Re-
alität ist missbraucht, um ein unendliches oder unbedingtes Wesen
innerhalb der Welt aufzuweisen, und der Versuch, das zu tun, ist
selbstwidersprüchlich, ist unmöglich.
D. h. also, das ontologische Argument ist wahr als Analyse des
menschlichen Bewusstseins in der Einheit eines endlichen und eines
unendlichen Elementes; es ist falsch in dem Versuch, von da aus
die Existenz eines höchsten Wesens, genannt Gott, abzuleiten, und
dieses Ergebnis ist fundamental für die Religionsphilosophie. Wenn
Sie das haben, können Sie den Einwänden gegen natürliche Theo-
logie und gegen Religionsphilosophie entgegnen, können dagegen
einen Stand einnehmen, ohne in die Situation zu kommen, in die die
Religionsphilosophie immer wieder gedrängt wird, nämlich dass sie
sozusagen mit menschlicher Vernunft Gott produziert. Davon ist in
diesem Verstehen der Analyse des menschlichen Bewusstseins keine
Rede. Ich brauche darauf nicht mehr einzugehen, die Grenzen des
ontologischen Argumentes sind von dieser Voraussetzung aus unzwei-
felhaft. Aber nichts ist wichtiger für Philosophie und Theologie als
155
die Wahrheit, die das ontologische Argument enthält, nämlich das
Aufweisen eines unbedingten Elementes in der Struktur der Vernunft
und Wirklichkeit und von Selbst und Welt.
Von da aus ergeben sich die weitest gehenden Konsequenzen für
die Gesamtheit der Kultur. Die Frage, ob die Kultur getrennt ist von
der Religion, oder ob es so etwas geben kann wie eine theonome
Kultur, die gefüllt ist mit und hinweist auf den Grund des Seins, ist
abhängig von dieser Einsicht, von dem, was der ontologische Beweis
sagen will. Und auch eine Philosophie der Religion ist abhängig von
dieser Einsicht. Eine Philosophie der Religion, die nicht mit etwas
Unbedingtem beginnt, kann das Unbedingte niemals erreichen. Ich
habe an anderer Stelle aufzuzeigen versucht,1 wie die Zerstörung des
ontologischen Denkens im Sinne dessen, was wahr ist am ontolo-
gischen Beweise, seit Thomas von Aquin dazu geführt hat, dass die
Voraussetzung unserer Existenz säkular ist. Schritt für Schritt hat
der Gedanke, dass in der Tiefendimension der Wirklichkeit nicht ein
Gott zu finden ist, sondern ein Element der Unbedingtheit immer
schon vorausgesetzt ist, hat dieser Gedanke seit dem Aufhören des
ontologischen Denkens immer mehr Macht gewonnen.2
Der Beginn des modernen Säkularismus liegt in dem Moment, wo
Thomas das ontologische Argument ersetzt durch das kosmologische,
worauf wir noch kommen werden, wo er die Unmittelbarkeit des Ge-
wahrwerdens des unbedingten Elementes verneinte zugunsten einer
autoritativ gestützten Argumentation. In dem Moment, wo er das
tat, trennte er de facto gegenüber Augustin und den Franziskanern
das, was heute getrennt vor uns liegt: eine säkulare Welt, die sich
selbst als säkular weiß und vergisst, dass auch in ihrer Säkularität
sie ständig von dem Element des Unbedingten und Unendlichen
lebt, das im Bedingten und Endlichen gegenwärtig ist. Und auf der
anderen Seite steht eine autoritative Kirchlichkeit, die sich entweder
wie im Protestantismus, im radikalen Protestantismus, radikal von
einer göttlichen Autorität her ableitet und den Menschen als Men-
schen auslöscht, oder wie im Katholizismus teilweise Argumente
1
P. Tillich, The Two Types of Philosophy of Religion, in: Union Seminary Quar-
terly Review (New York), Vol. 1, No. 4, 1946, S. 3-13 (= MainWorks / Haupt-
werke, Band 4, S. 289-300); deutsch: Zwei Wege der Religionsphilosophie,
in: Natur und Geist. Festschrift für Fritz Medicus. Hg. von H. Barth und W.
Rüegg, Erlenbach, Zürich 1946, S. 210-229.
2
Tillich meint das Gegenteil dessen, was die komplizierte Satzkonstruktion
sagt: Schritt für Schritt hat das ontologische Argument an Macht verloren.
156
anerkennt, aber ihre Gewissheit abhängig macht von autoritativer
Bestätigung. Diese Situation, die als Säkularisation beklagt wird, ist
ausgedrückt in dem Kampf um das ontologische Argument. Daher die
Leidenschaft, mit der immer wieder Menschen, Götter, Intelligenzen
wie Hegel und andere zurückgegriffen haben auf dieses Argument,
nicht als Argument, sondern wie Hegel selbst sagte, als Erhebung
des Geistes1, oder wie ich sagte, als Gewahrwerden des Unendlichen
innerhalb des Endlichen, als Gewahrwerden eines Unbedingten in-
nerhalb der Bedingtheit.
Sie sehen daraus, dass solche Dinge, die in der Geschichte der Phi-
losophie oft lächerlich, unmöglich, sinnlos scheinen, wenn man ihren
wirklichen Sinn als Ausdruck von Bewegungen der Kultur versteht,
plötzlich eine ungeheure Bedeutung gewinnen. Unser aller Existenz
ist berührt durch das Ja oder Nein zum ontologischen Argument,
denn unser aller Existenz ist berührt durch das Faktum einer Spaltung
zwischen autoritativer Religion und säkularer autonomer Kultur.
Und darum ist der Versuch, den ich Ihnen hier vorlege, dem
gedanklich zu folgen nicht ganz einfach ist, von großer praktischer
Bedeutung, wenn er sich als wahr erweisen sollte, nämlich, dass die
argumentative Form mit Recht aufgegeben werden muss, dass aber
die Analyse der Endlichkeit in sich einen Hinweis enthält auf das,
was als Unendliches und Unbedingtes in jeder Frage und in jeder
Analyse und in jeder Erfahrung immer schon vorausgesetzt ist. Wenn
das der Fall ist, dann sind wir auch in der autonomen Kultur in
unserer säkularen Existenz nicht außerhalb des Grundes des Seins,
obgleich wir ihn niemals argumentativ erreichen können. Er muss
uns ergreifen. Aber das ist entscheidend, dass er als Frage da ist, und
da jede Frage schon ein Teilhaben voraussetzt, dass ein Teilhaben
auch im extremsten Säkularismus, in der extremsten Entfremdung
immer noch real ist.
1
„Dieser Sinn ist nämlich, daß sie die Erhebung des Menschengeistes zu Gott
enthalten und dieselbe für den Gedanken ausdrücken sollen, wie die Erhebung
selbst eine Erhebung des Gedankens und in das Reich des Gedankens ist“
(Hegel, Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, Theorie Werkaus-
gabe, Band 17, Frankfurt a. M. 1969, S. 356).
157
16. Vorlesung
(Donnerstag, 14. Juni 1951)
Wir haben beschlossen, für diese beiden letzten Stunden uns dem
Problem der Religionsphilosophie zuzuwenden, wie es sich aus der
Ontologie ergibt, und wir hatten es getan im Anschluss an das, was
wir mit leiser Karikatur „so genannte Beweise für die so genannte
Existenz Gottes“ genannt haben. Die erste dieser Betrachtungen
war der Ontologie entsprechend dem ontologischen Gottesbeweis
in der Tradition gewidmet. Was wir da herausgearbeitet haben, war
die Möglichkeit der Gottesfrage. Die Funktion dieses Beweises ist
nicht, etwas zu beweisen, sondern etwas zu analysieren; nämlich
die Analyse, wie es möglich ist, dass ein endliches Wesen, dass der
Mensch als endliches Wesen die Frage nach dem Unendlichen und
damit indirekt die Frage nach Gott stellt. Und ich möchte wieder-
holen, was ich nur kurz in den letzten Worten der letzten Vorlesung
gesagt habe, dass diese Fragestellung geradezu schicksalhafte Be-
deutung gehabt hat und immer haben wird für die Entwicklung des
Verhältnisses von Religion und Kultur. Wo man nicht mehr versteht,
dass im Wesen des Menschen selbst die Gottesfrage eingeschlossen
ist, da versteht man auch nicht mehr die Einheit des Säkularen oder
Profanen auf der einen Seite und des Religiösen auf der andern Seite.
Wo das Verstehen der ontologischen Seite aufhört – und es beginnt
sich schon zu lockern in der Mitte des Mittelalters in Thomas – ,
da ist unausweichlich der Weg geöffnet, der zu einer autoritativen,
heteronomen Religion auf der einen Seite und zu einer autonomen
profanen Kultur auf der anderen Seite führt. In dem Augenblick, wo
nicht mehr gesehen wird, dass in der Endlichkeit selbst die Frage
des Unendlichen enthalten ist, kann jede Antwort nur entweder ein
erfolgloser Versuch sein, zu argumentieren von der Welt her, oder ein
autoritatives System, das von außen her einem Wesen auferlegt ist,
das keine Voraussetzungen dafür hat und das umgeschaffen werden
muss. Und in beiden Fällen ist die Möglichkeit einer religiösen Frage
aufgehoben. Das ist der Grund, warum der unendlich oft widerlegte
ontologische Gottesbeweis bis auf den heutigen Tag, auch selbst in
der gegenwärtigen amerikanischen Theologie, immer wiederholt wird
und in immer anderen Formen untersucht wird. Nicht weil man einen
Beweis finden will – das ist eigentlich schon seit Thomas und Duns
Scotus, die beide darin einig sind, dass sie den Beweis ablehnen,
unmöglich – , sondern weil man darin die vorbildliche existentielle
158
Analyse des menschlichen Seins im Verhältnis zum Unendlichen
gesehen hat und mit Recht gesehen hat. Was wir also gestern getan
haben, war, die Möglichkeit der Frage nach Gott zu untersuchen.
Und wir hatten gesehen, dass, in eine einfachste Formel gebracht,
diese Möglichkeit gegeben ist, weil in jedem solcher Gottesbeweise
Gott immer schon vorausgesetzt ist.
Ich komme nun zu der zweiten Gruppe von so genannten Bewei-
sen, nämlich den kosmologischen, die nicht mehr die Möglichkeit,
sondern die Notwendigkeit der Gottesfrage analysieren. Die Got-
tesfrage muss gefragt werden, weil die Drohung des Nichtseins, die
in der Angst erfahren wird, den Menschen zu der Frage nach dem
treibt, was Nichtsein überwindet, und nach dem Mut, der Angst
überwindet, und diese Frage ist die kosmologische Frage nach Gott.
Mit anderen Worten: Was schon im ontologischen Gottesbeweis von
mir versucht war, in diesem Beweis einen Vorläufer zur Existentiala-
nalyse zu finden, das soll jetzt auf breiterer Basis und in viel größerer
Ähnlichkeit zum heutigen Existentialismus mit dem kosmologischen
Gottesbeweis vorgenommen werden. Die so genannten kosmologi-
schen und auch teleologischen Argumente für die Existenz Gottes
sind die traditionellen, durchaus inadäquaten Formen dieser Frage.
Aber in dieser inadäquaten Form steckt eine Analyse, und diese
Analyse ist adäquat und wahr. In all den vielen Variationen dieser
Argumente geht immer eine Bewegung des Gedankens von gewissen
Charakteristika der Welt aus, von denen auf ein höchstes Wesen
geschlossen werden soll. Diese Beschreibungen der Charakteristika
der Welt, die hinführen sollen zu einem höchsten Wesen, sind gültig
und wahr und notwendig, insofern und insoweit sie eine Analyse der
Wirklichkeit geben und auf diese Weise zeigen, dass die Frage nach
Gott unvermeidlich ist, dass sie in der Analyse unserer Begegnung
mit der Welt enthalten ist. Aber all diese Beweise hören auf, gültig
zu sein, wenn sie den Anspruch erheben, die Existenz eines höchs-
ten Wesens als logischen Schluss aus der Analyse abzuleiten. Das
ist unmöglich, es ist ebenso unmöglich, wie es unmöglich ist, aus
der Angst den Mut abzuleiten, der die Angst überwindet. Genau so
unmöglich ist es, aus der Endlichkeit dasjenige Sein abzuleiten, das
die Endlichkeit in sich trägt und damit überwunden hat.
Die kosmologische Methode, für die Existenz Gottes zu argumen-
tieren, hat zwei Hauptlinien angenommen. Man bewegte sich von
der Endlichkeit des Seienden zu einem unendlichen Seienden, das ist
das kosmologische Argument im engeren Sinn. Oder man bewegte
159
sich von der Endlichkeit des Seins zu einem Träger unendlichen Sin-
nes, und das ist das teleologische Argument im traditionellen Sinne.
In beiden Fällen wird die kosmologische Frage abgeleitet aus dem
Element des Nichtseins und des Nichtsinnes, aus dem Element der
Endlichkeit des Seins und Sinnes und damit des Nichtseins, das in
der Endlichkeit enthalten ist. Die Frage Gottes würde nicht gefragt
werden, wenn weder in der Sphäre des Seins noch des Sinnes jene
Drohung des Nichtseins vorläge, von der ich in Zusammenhang mit
den Kategorien und den Polaritäten gesprochen habe. Denn dann
würde das Sein sicher sein oder, religiös gesprochen, Gott würde in
jedem Moment als gegenwärtig im Seienden erlebt werden. So aber
ist es nicht. Sowohl in Zusammenhang mit dem Sein als in Zusam-
menhang mit dem Sinn ist das Seiende, das Endliche, sind wir selbst
bedroht, und diese Bedrohung ist, wie wir bei der Besprechung der
Polaritäten gesehen haben, mehr als eine Bedrohung, es ist eine Re-
alität. Und darum muss die Frage Gottes erhoben werden.
Noch einmal erinnere ich daran – ich möchte, dass Sie das be-
halten aus dieser Vorlesung – , dass das Geheimnis der ganzen Welt
in dem einfachen Phänomen der Frage enthalten ist, nämlich der
Möglichkeit des Begegnens von Welt, der Getrenntheit von Welt und
der Verbundenheit mit Welt. Und dasselbe gilt für die Beziehung auf
Gott. Die Möglichkeit des Fragens schließt beides ein, das Immer-
schon-Gegenwärtigsein und das gleichzeitige Getrenntsein von Gott
und Mensch. Die erste Form des kosmologischen Argumentes ist
abgeleitet von dem, was wir behandelt haben als die kategoriale
Struktur der Endlichkeit. Von der endlosen Kette von Ursachen
und Wirkungen kommt man schließlich zu dem Schluss, dass eine
erste Ursache da sein müsse. Und von der Zufälligkeit aller Dinge,
aller Substanzen kommt man zu dem Schluss, dass eine notwendige
Substanz da sein muss. Das scheint einleuchtend, und es ist ja das
Schillernde all dieser Dinge, dass sie niemals etwas ganz Falsches
sagen, aber noch viel weniger etwas ganz Richtiges.
Darum sind moderne Theologen geneigt, solche Argumente aus
den theologischen Lehrbüchern zu bannen als etwas, was nunmehr
endgültig zum alten Plunder gehört und weggeworfen werden muss.
Dann plötzlich kommt ein anderer Theologe oder Religionsphilo-
soph und findet in diesen Schlüssen etwas, was er schlüssig findet.
Ich glaube, beide haben Unrecht. Der rechte Weg ist, die Analyse zu
akzeptieren und die Schlüsse abzulehnen. Das folgt unmittelbar aus
der folgenden Erwägung: Sowohl Ursache wie Substanz sind Kate-
160
gorien der Endlichkeit. Was ist denn das: erste Ursache? Hat dieses
Wort überhaupt einen Sinn im gewöhnlichen definitorischen Sinne?
Es hat das nicht, es ist eine hypostasierte Frage, nicht mehr, aber es
ist keine Antwort. Es ist keine Feststellung über ein Wesen, das die
Kette der Kausalität beginnt. Wenn wir uns ein solches Wesen denken
würden, so würde es nach dem Charakter der Kausalität selber in der
Serie stehen, weil nach dem Prinzip der Kausalität jede Wirkung eine
Ursache und jede Ursache eine Wirkung ist, und eine erste Ursache
eine Frage oder ein Symbol, aber kein Begriff ist. Und das gleiche gilt
auch von dem, was ich als notwendige Substanz im Gegensatz und
über die zufällige Substanz hinaus charakterisiert habe. Auch das ist
eine hypostasierte Frage und nicht eine Feststellung über ein Wesen,
das Substanz allen1 Substanzen gibt oder besser Substantialität, die
Macht des Seins, an alle Substanzen gibt. Solch ein Wesen würde,
wenn das Wort Substanz eigentlich gemeint wäre, selber eine Substanz
mit Akzidentien sein, und die Frage müsste dann wiederholt werden
nach einer ursprünglicheren Substantialität. Das Ganze mit anderen
Worten: Wenn man Kausalität und Substanz in dem kosmologischen
Denken der Argumente für Gott als Basis oder als Werkzeug für Ar-
gumente auffasst, dann verlieren beide Kategorien ihren kategorialen
Charakter. Erste Ursache und notwendige Substanz sind Symbole
und keine Kategorien, Symbole, die die Frage ausdrücken, die im
endlichen Sein enthalten ist, die Frage nach dem, was gerade die
Endlichkeit und ihre Kategorien übersteigt und darum selbst nicht
kategorial abgeleitet werden kann, die Frage nach dem Sein-Selbst,
das Nichtsein überwindet, indem es das in sich aufnimmt, d. h. die
Frage nach Gott. Aber es bleibt eine Frage. Und es bleibt eine Fra-
ge, deren analytischen Sinn wir vorhin besprochen haben. Als ich
Ihnen die nicht ganz leichte Endlichkeitsanalyse der Ursache und
der Substanz gab, da wurde klar, dass diese Kategorien Kategorien
der Endlichkeit sind. Und mit Kategorien der Endlichkeit kann man
nicht über das Endliche hinausgehen außer in der Form der Frage,
aber nicht in der Form des Argumentierens oder Schließens.
Die kosmologische Frage nach Gott ist die Frage nach dem, was
letztlich Mut möglich macht. Ein Mut, der die Angst der kategoria-
len Endlichkeit annimmt und damit besiegt. Wir haben vorgefunden
in unseren Analysen die labile Balance, die niemals feste, sichere
Balance zwischen Angst und Mut, wir haben gesprochen über Tod
1
Korr. (Typ. GS: zu allen)
161
in Verbindung mit Zeit, Raum, Kausalität und Substanz. In jedem
Falle kamen wir schließlich auf die Frage: Wie kann der Mut, der
der Drohung des Nichtseins und der Angst des Nichtseins widersteht,
in diesen Kategorien der Endlichkeit stecken? Und die Antwort war,
dass endliches Sein Mut einschließt, aber dass es den Mut nicht
aufrechterhalten kann gegen die letzte Drohung des Nichtseins, die
jedem Endlichen gegenüber das letzte Wort behält. Und darum ist
eine Grundlage für den letzten Mut notwendig.
Endliches Sein ist durch sich selbst ein Fragezeichen. Ob man
fragt oder nicht, das ist ganz gleichgültig, man ist eine Frage, und
diese Frage, die wir sind, geht allem Fragen voraus. Und wenn die
Frage auch noch formal und logisch zugespitzt gestellt wird oder
wenn man auch versucht, sie abzuschaffen als bewusste Frage, die
menschliche Existenz bleibt die Frage, und diese Frage bricht immer
wieder durch, und diese Frage ist genau das, wovon wir jetzt reden,
nämlich die Frage, wie die Drohung des Nichtseins, die Drohung
der Angst überwunden, wie Sein als Letztes und Mut als Siegreiches
bejaht werden können. Es ist die Frage nach dem ewigen Jetzt und
nach dem ewigen Hier, in dem das Zeitliche und das Räumliche
zugleich angenommen und überwunden sind, es ist die Frage nach
dem Grund des Seins, in dem die kausalen und die substantialen
Denkformen zugleich bestätigt und verneint sind. Mit anderen Wor-
ten: Der kosmologische Beweis kann diese Frage nicht beantworten.
Aber was er tun kann und muss, ist, die Wurzeln dieser Frage in
der Struktur der Endlichkeit zu analysieren. Und das scheint mir der
Sinn jeder künftigen Religionsphilosophie zu sein.
Ich möchte an dieser Stelle noch ein Wort über den Mut sagen, weil
das Wort oft in diesen Vorlesungen, wie ich glaube, missverstanden
worden ist. Es gibt im Deutschen zwei Worte: „Mut“ und „Tapfer-
keit“, und alles, was ich hier gesagt habe, würde sinnlos werden,
wenn man „Mut“ mit „Tapferkeit“ übersetzen oder interpretieren
würde. Tapferkeit ist eine Tugend neben anderen und gehört zu den
vier oder mehr Tugenden, die in der antiken Ethik und im Mittelalter
eine Rolle spielten und in der modernen Philosophie in gleicher Weise
behandelt wurden. Mut, wie das Wort „Gemüt“ andeutet, ist nicht
eine Tugend, sondern die Wurzel aller Tugenden, wobei von dem Wort
„Tugend“ jener moralistische Beigeschmack abgestreift werden muss,
den es im 18. Jahrhundert erhalten hat und der es fast unerträglich als
Wort der deutschen Sprache gemacht hat. Wenn wir statt dessen das
italienische virtù, das lateinische virtus nehmen, dann sieht es schon
162
anders aus. Dann ist zu verstehen, dass die Kraft der Selbstbejahung
das ist, was Mut im Grunde bedeutet. Und wenn wir auf courage im
Französischen und courage im Englischen kommen, dann ist es das
Herz, das als Ganzes im Akte des Mutes gegenwärtig ist. Mit anderen
Worten: In der Lehre vom Mut ist der Begriff „Mut“ so weit, wie es
das deutsche und französische Sprachgefühl andeutet, nämlich eine
Ganzheitsreaktion zur Wirklichkeit, eine Reaktion, die Ja sagt zur
Wirklichkeit, aber Ja sagt nicht einfach und direkt, sondern Ja sagt
durch ein Nein hindurch. Und dieser Mut ist das Grundproblem der
Ontologie. Und wenn Sie in Analysen getrieben werden, in denen
Sie sich verlieren, weil sie formaler und formaler werden, machen
Sie immer wieder das Experiment: Wenn ich das transponiere in
die Seite der Innerlichkeit, des Gewahrwerdens, was bedeutet dann
„Mut“? Und in dem Augenblick, wo Sie diese Frage stellen, ist es,
wie wenn ein Licht existentieller oder erfahrungsmäßiger Art hin-
einleuchtet in die Fremdheit der ontologischen Begriffsbildung. Und
das war es, was ich mit diesem Begriff gemeint habe und warum ich
in einer guten Tradition der klassischen Philosophie daran festhalte,
einer Tradition, in der vielleicht Spinoza der ist, der die klarste und
entscheidendste Formulierung gegeben hat.1
Aber nun zu der anderen Seite, nämlich zu dem teleologischen
Argument für die Existenz Gottes. Das Wort ist abgeleitet von „telos“.
Aus dem Sinnvollen, Zweckhaften der Wirklichkeit soll ein höchster
Sinn oder ein höchster Zweck abgeleitet werden. Es ist die Drohung
und zwar nicht gegen das endliche Sein des Endlichen, sondern gegen
die endliche Struktur des Endlichen, die Drohung, die wir besprochen
haben, als wir die Drohung gegen die Einheit der polaren Elemente
durcharbeiteten. Diese Drohung ist wirklich, es ist mehr als eine
Gefahr, es ist eine Realität. Der Zweck, von dem dies angebliche
Argument seinen Namen erhalten hat, ist nicht ein äußerer Zweck,
wie das Wort „Zweck“ im allgemeinen gefühlt wird, sondern der
innere Zweck – Entelechie – der sinnvoll verständlichen Struktur
der Wirklichkeit. Diese Struktur ist gebraucht als die Grundlage für
Schlüsse, dass die endlichen Zwecke eine unendliche zweckgebende
Vernunft voraussetzen und dass diese Vernunft darum aus den endli-
chen Zwecken bewiesen werden könnte. Es ist der Gedanke, dass die
endlichen und bedrohten Sinnbezüge in sich schließen einen Hinweis
1
Spinoza, Ethik III, Lehrsatz 59 (fortitudo). Vgl. P. Tillich, The Courage to Be,
New Haven / London 1952, S. 18-24.
163
auf ein unendliches, nicht bedrohtes Sinngefüge. Aber wenn wir von
Argumenten reden und die logischen Argumente streng nehmen,
müssen wir sagen, das ist genauso ungültig wie die anderen kos-
mologischen Argumente, die keine Argumente sind. Wenn wir aber
vom Argument absehen und es als eine Beschreibung nehmen, dann
ist dieses Argument nicht nur gültig – freilich nicht als Argument – ,
sondern auch unentrinnbar und, wie die Geschichte gezeigt hat, wie
Kant es noch wiederholt1, im höchsten Grade eindrucksvoll.
Die Angst über Sinnlosigkeit, die eine Form der ontologischen
Angst, die dem Menschen allein vorbehalten ist, diese Angst kann
vorkommen nur in einem Wesen, in dessen Natur Freiheit enthalten
ist und in dem Freiheit mit Schicksal geeinigt ist. Die Drohung, diese
Einheit zu verlieren, treibt den Menschen zu der Frage nach einem
unendlichen, unbedrohten Grund des Seins, d. h. zur Frage Gottes.
Das teleologische Argument ist kein Argument; es formuliert die
Frage nach dem Grund des Seins, aber es geht nicht darüber hinaus.
Es formuliert die Frage nach dem Grund des Seins im speziellen,
wie das kosmologische Argument die Frage nach dem Grund des
Seins formuliert. Die Aufgabe einer Behandlung dieser traditionellen
Argumente für die Existenz Gottes ist demnach doppelt. Man muss
die Frage nach Gott entfalten, die sie zum Ausdruck bringen, und
man muss die Unfähigkeit der Argumente, die Frage nach Gott zu
beantworten, herausstellen. Die Argumente bringen die ontologische
Analyse in gewisser Weise zu einem Schluss. Sie enden mit einer Frage,
und die Ontologie endet mit einer Frage – mit einer Frage, die die
Ontologie als konstruktives Denken, abgeleitet von den Strukturen
der Endlichkeit, nicht beantworten kann. Die Antwort kommt nicht
aus der Ontologie. Käme sie aus der Ontologie, so würden wir
Gott schaffen können, und so würde das Endliche das Unendliche
produzieren können, wenn auch nur im Sinne der Logik. Aber was
diese Argumente tun und was die ganze Ontologie tut, ist, eine
Existentialanalyse zu geben, die hintreibt zu einer Frage, zu einer
Frage, deren Antwort nicht aus der Frage abgeleitet werden kann.
Und das ist der Sinn dessen, was die Religion Offenbarung genannt
hat, nicht die Information über Lehren, sondern das Gegenwärtigsein
des Grundes des Seins in einer ekstatischen Erfahrung. Aber das führt
in der Tat weit hinaus über das ontologische Denken.
1
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 623 / B 651.
164
Ich habe einen Abschnitt ausgelassen, nämlich den Abschnitt über
Wesen und Existenz. Hätte ich einen Monat mehr und wäre dies nicht
die letzte Minute dieser Vorlesung, so würde ich mit Ihnen an dieses
Problem gehen, nicht im Sinne eines Debattierens der beiden Worte
Wesen oder Essenz und Existenz, sondern im Sinne einer Grundlegung
aus meiner Ontologie heraus, aus derjenigen Richtung, die heute
als Existentialphilosophie die größte Aufmerksamkeit hier wie in
Amerika auf sich gelenkt hat und die, wie Sie aus meinen Analysen,
besonders aus den letzten gestern und heute, wohl gefühlt haben,
für mich selbst der philosophische Eingang zur Religionsphilosophie
ist – der Philosophie, der Eingang der Religionsphilosophie, nicht der
religiöse Eingang zu Gott – und das sind zwei verschiedene Dinge.
Wenn ich nun zum Schluss ein paar Worte darüber, über Wesen und
Existenz sagen soll, so bitte ich Sie um eines, diese Begriffe möglichst
selten zu gebrauchen, wenn sie nicht vorher scharf definiert sind,
denn sie wimmeln von Vielfältigkeiten. Beide Worte können einen
rein logischen Sinn haben, und sie können einen axiologischen Sinn
haben, einen wertenden Sinn haben.
So kann bedeuten z. B. das Wort „Essenz“ oder „Wesen“ dasje-
nige, was wir in Universalien an der Welt greifen können, aber es
kann dagegen auch bedeuten das, was wesenhaft ist und von dem
man in der Existenz abfallen kann. Die Beziehung dieser beiden Be-
deutungen des Wortes essentia, ousia, Wesen, ist eines der größten
Probleme. Wir können mit Sicherheit für den Menschen sagen, dass
essentia beides bedeutet, nämlich sein logisches Wesen, das, was ihn
zum Menschen macht, und auf der anderen Seite, das, weil es sein
Wesen ist, zugleich die Norm ist für das, was er sein sollte. Dies
ist von allergrößter Wichtigkeit für die Ethik, auf die ich immer
gern hinweise, denn es bedeutet, dass wir in der Ethik nicht eine
Fremdgesetzlichkeit uns gegenüber haben, nicht moralische Gesetze,
die von irgendwelchen Autoritäten, einigen Menschen oder Göttern
geboten werden, sondern dass alle Ethik Formulierung des Wesens
des Menschen ist, des Wesens1, das seiner Existenz gegenübergestellt
wird und nun den Charakter eines Sollens bekommt, weil der Mensch
nicht im Wesen steht.
Und genauso doppeldeutig ist der Begriff „Existenz“. Existenz
kann rein logisch bedeuten das Dasein in kategorialer Struktur der
1
Korr. (Typ. GS: das Wesen)
165
Wirklichkeit, die Vorfindbarkeit von etwas innerhalb dieser Struktu-
ren, innerhalb von Raum und Zeit, den Kategorien und Polaritäten.
Das ist der harmlose oder der wertfreie Begriff der Existenz. Es
gibt aber einen anderen, der darauf beruht, dass in dem Wesen, das
endliche Freiheit ist, im Menschen, Existenz Widerspruch zu dem,
was er wesenhaft ist, bedeutet, dass im Moment seines Existierens
er sich selbst widerspricht und von da aus Existenz einen Sinn be-
kommt, der zugleich logisch und wertend ist. In diesem Sinn ist er
in der Theologie gebraucht und ebenfalls in der Philosophie, obwohl
nicht so bewusst und oft nicht so klar. Alle wesentlichen Probleme
der Beurteilung unserer gegenwärtigen Situation hängen mit der
Doppelheit dieser Begriffe zusammen. Die ganze Ethik, die ganze
Politik, die Beurteilung des Wesens des Menschen, alles hängt da-
mit zusammen, dass wir einen Existenzbegriff haben, der nicht nur
logisch, sondern auch wertend ist, wo Existenz Fall1 ist, und einen
Wesensbegriff, der nicht nur logisch, sondern auch wertend ist, wo
„essentia“ Unschuld, schöpferische Gutheit bedeutet. Wenn wir das
sehen, dann wird sofort vieles klar über die Existentialphilosophie.
Eine Existentialphilosophie, die den Unterschied dieser beiden Bedeu-
tungen von Existenz und auch von essentia vermischt, macht den Fall
zu etwas, was zum Wesen des Menschen gehört, und macht infolge-
dessen eine Überwindung der menschlichen Existenz unmöglich. Auf
der anderen Seite, eine Essentialphilosophie, die behauptet, dass der
Mensch in seiner essentia, in seinem Wesen stände, sieht nicht den
Grund der Tragik der Wirklichkeit, sieht nicht den Grund, warum
der Mensch gegen sich steht. Und darum war dies eine fundamentale
Fortbildung der ontologischen Voraussetzungen, wie ich sie Ihnen
gegeben habe, aber nicht mehr geben kann.
Lassen Sie mich schließen mit einem Gedanken, der auch im
Seminar zur Diskussion kam, nämlich, dass diese ganze Ontologie
anthropozentrisch ist, vom Menschen ausgeht. Das ist richtig, aber
wir müssen wissen, was „anthropozentrisch“ hier bedeutet. Es bedeu-
tet nicht, dass der Mensch als ein Wesen neben anderen Wesenheiten
auch noch behandelt wird. Damit hat es nichts zu tun, nichts mit
der Vollkommenheit des Menschen, wir wissen davon nichts. Wir
kennen nicht die Vollkommenheit der Tiere und der Pflanzen und
aller Organismen und aller Strukturen – sie mögen in ihrer Sphäre
vollkommener sein als wir in unserer. Wir können darüber keine
1
Gemeint: Sündenfall
166
philosophische Entscheidung fällen. Sondern der Unterschied ist der,
dass wir im Menschen eine Tür in uns haben, die uns einen Zugang
eröffnet zur Existenz. Die Existenz der anderen Wesen kann von
uns nicht existentiell erfahren werden. Wir können von außen an sie
herankommen, wir können sie beschreiben, wir können ihre Struk-
turen sehen, aber was sie existentiell sind, was ihr Existieren für sie
bedeutet, das ist etwas, was wir nicht erfahren. Aber was wir vom
Existieren erfahren, erfahren wir in uns, durch die Tür, die wir selbst
sind. Und das allein ist der Grund, warum eine Existentialphilosophie
vom Menschen ausgehen muss und zum Menschen zurückführen
muss. Sie kann sich dann erweitern, sie kann Schritt für Schritt
versuchen, über den Menschen hinauszugehen. Aber der Anfang
ist immer die Existenz, die wir sind, weil vielleicht andere Existenz
uns, unmittelbar gesehen, verschlossen ist. Daraus entwickelt sich
dann der Schein, als ob Existentialphilosophie eine andere Anthro-
pologie ist, ein Schein, der schwer zu vermeiden ist, weil Begriffe
vorkommen, die aus der psychologischen, soziologischen und zum
Teil biologischen Sphäre genommen sind. Trotzdem müssen wir den
Unterschied sehen lernen. Im einen Fall wird das Wesen des Menschen
beschrieben, genau wie wir das Wesen der Tiere und der Sterne und
der Moleküle beschreiben; im anderen Falle wird gar kein Wesen
beschrieben, sondern das Sein wird gesucht, und es wird gesucht mit
Hilfe der Eingangspforte, die wir selbst sind. Diese gebraucht nun
dieselben Worte, aber diese Worte bedeuten etwas anderes; und ich
glaube, dass eine Philosophie, die nicht imstande ist, die existentielle
Frage zu stellen und in ihren Grenzen zu beantworten, niemals zu
einer Lehre vom Sein durchstoßen kann, weil sie notwendig gebunden
bleibt an die Lehre von Dingen, den Gegenständen, und nicht über
die Gegenstandswelt, die ja eine abgeleitete ist, hinausdringen kann.
Sicherlich, sie muss sich vor Subjektivismus hüten. Sie muss nicht
Psychologie und Ontologie vermischen, aber sie muss sich ebenso vor
Objektivismus hüten, nämlich hineinzugehen in die Welt der Dinge
und von da aus zu konstruieren, was das Sein ist.
Das war die Methode, der wir gefolgt sind, diese beiden Extreme
zu vermeiden: weder vom Ding noch vom Subjekt her, sondern aus der
Ganzheit der menschlichen Existenz auszusagen und darum Begriffe
zu gebrauchen, die gleichzeitig die Dingwelt fassen und für unsere
Schau zugänglich sind. Und ich glaube, eines habe ich Ihnen gezeigt,
zumindest war dies meine Hauptabsicht, dass wenn Ontologie so ge-
trieben wird, dass sie dann die Wurzelwissenschaft wieder sein kann,
167
die sie ursprünglich war und immer sein sollte; dass dann Einsichten
in alle Gebiete, die politischen, die ethischen, die künstlerischen und
die Religion sich ergeben, Dinge, die ohne ontologische Fundierung
in jener Luft der Teilung der Arbeit schweben, die nicht nur unser
Denken, sondern auch unser Leben so in Abschnitte zerrissen hat.
Ontologie mit dem Eingangspunkt Mensch scheint mir auch für alle
künftige Gestaltung der Universität, der höheren Erziehung das Zen-
trum sein zu müssen, in dem alle Fakultäten sich einigen, da sie alle
einmal aus der Philosophie hervorgegangen sind. So würde es nicht
einen Rückfall, sondern ein Sich-Schließen eines Zirkels bedeuten,
wenn sie wieder dahin zurückkehrten.
168
2.
Die menschliche Situation im Lichte der
Theologie und Existentialanalyse
(Freie Universität Berlin, Sommersemester 1952)
1. Vorlesung
(Montag, 30. Juni 1952)
Das Thema dieser Vorlesung ist nicht ganz mit meinem Willen, aber
auch nicht gegen meinen Willen festgesetzt worden. Es heißt: „Die
menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialana-
lyse“. Wir haben alles in allem sechzehn Vorlesungen, und ich will
versuchen, die fundamentalen Probleme der menschlichen Existenz in
diesen Vorlesungen zu behandeln und zwar unter einer bestimmten
Voraussetzung: dass Theologie und Existentialanalyse in einem Punkt
nicht nur dieselbe Linie verfolgen, sondern auch von einander abhän-
gig sind. Um es noch schärfer auszudrücken: dass Theologie heute
von keiner anderen philosophischen Richtung so viel nehmen kann
und nehmen muss wie von dem, was Existentialismus im weitesten
Sinne des Wortes genannt wird. Das ist die Voraussetzung für die
Formulierung des Themas, und diese Voraussetzung ist zugleich der
Gegenstand des Beweises in jeder einzelnen der Vorlesungen.
Ich muss nun in der ersten Vorlesung verschiedene allgemeinere
Bemerkungen machen, die aber unmittelbar in das Problem einführen.
„Die menschliche Situation“ – ich glaube, dass von allen Dingen,
die der Mensch im Lauf der letzten Jahrhunderte zum Gegenstand
seiner Beobachtung gemacht hat, nichts weniger im Zentrum stand
und nichts mehr verloren war als der Mensch selbst. Der Mensch
hat sich verloren in dem Augenblick, wo er den Versuch machte, eine
Welt zu gewinnen. Er hat erkenntnismäßig die Welt erobert, er hat
auch Elemente im Menschen, die zur Wirklichkeit gehören und zu
bestimmten Seiten und Formen der Wirklichkeit gehören, erobert,
aber er hat den Menschen als Menschen verloren, und es scheint mir
169
nun, dass es das Entscheidende in der gegenwärtigen Entwicklung
ist, dass der Mensch durch die geschichtlichen Ereignisse wieder auf
sich selbst geworfen ist und die Frage nach seiner Existenz und nach
seiner Situation zu stellen gezwungen ist.
Wie kam es, dass der Mensch sich selbst verloren hat, als er ver-
suchte, die Welt und sich selbst innerhalb der Welt zu finden? Die
Entwicklung zeigt es deutlich. Sie geht aus von dem Faktum, das ich
im vorigen Jahr an diesem und einigen anderen noch entfernteren
Plätzen in dem Kolleg über Ontologie1 entwickelt habe, über die
Lehre vom Sein. Die Lehre vom Sein zeigt, dass die fundamentale
Struktur der Wirklichkeit die Selbst-Welt-Struktur ist, die Korrelation
von Selbst und Welt. Man hat Welt, und nur dadurch ist man ein
Selbst, und man ist ein Selbst, und nur dadurch hat man Welt. Nur
dasjenige Seiende, das in vollkommener Weise ein Selbst ist, hat zu-
gleich das, was wir Welt nennen können. Alle anderen Wesen haben
Umgebung. Auch der Mensch hat Umgebung, aber der Mensch stößt
durch die Umgebung zur Welt, während die anderen Wesen an ihre
Umgebung gebunden bleiben.
Nun, vom Standpunkt des Erkennens bedeutet diese Selbst-Welt-
Korrelation Subjekt-Objekt-Korrelation. Der Mensch als Subjekt
blickt auf die Welt, die ein Objekt ist für seinen Blick, und in dieser
Welt, die ein Objekt ist für seinen Blick, findet er unter vielen an-
deren Wesen auch sich selbst. Aber wenn er sich als Objekt findet,
dann findet er sich eben nicht, denn er ist niemals etwas, was als
Objekt verstanden werden kann. Selbstverständlich, logisch gesehen,
ist alles, auf was man blickt, ein Objekt, aber von diesem logischen
Objektsein unterscheidet sich das ontologische Objektsein dadurch,
dass das ontologische Objekt, sofern es ontologisches Objekt ist, seine
Subjektivität verloren hat, nur noch Objekt ist oder, wie wir sagen
können, nur noch Ding, nur noch Bedingtes. Der Mensch hatte sich
in der Welt der Objekte als ein Objekt beobachtet, analysiert, und
in dem Maße, in dem er das tat, verlor er sich selbst.
Lassen Sie mich das an den verschiedenen Betrachtungsweisen
deutlich machen, die sich aufeinander aufbauen. Wir haben die
mathematische Betrachtungsweise der Welt, wir haben die physika-
lische, wir haben die biologische, wir haben die psychologische, wir
haben die soziologische. In all diesen Betrachtungsweisen kommt
1
In diesem Band, S. 1-168.
170
unter anderen Wesen auch das Wesen vor, das wir Mensch nennen.
Der Mensch ist ein physikalischer Körper, den Gesetzen der Physik
unterworfen. Er ist aber mehr als das. Er ist nicht nur den Gesetzen
der Physik unterworfen, er widerspricht ihnen auch, sofern sie in
Abstraktion gedacht werden, und dieser Widerspruch äußert sich im
Biologischen. Der Mensch ist ein biologisches Wesen, der Mensch
ist im Gegensatz zum bloß biologischen zugleich ein psychologisches
Wesen und folgt den Gesetzen der Psychologie, und diese Gesetze,
wenn sie allein bleiben, sind wieder nicht gültig. Sie werden wider-
sprochen und aufgenommen in ein noch Höheres, die soziologische
Betrachtungsweise. Das ist recht und gut, und diejenigen unter Ihnen,
die Geschichte der Philosophie kennen, werden sofort an Comte,
den französischen Positivisten, erinnert worden sein, der die gleiche
Hierarchie beschrieben hat.1 Ich sage, es ist soweit recht und gut,
wenn der Mensch nun in der Weise betrachtet werden muss als ein
physikalischer Körper und vielleicht als nur ein physikalischer Körper
wie in dem, was man in längst vergangenen Zeiten meiner Jugend
Materialismus nannte – ich weiß, dass so etwas nicht mehr existiert,
aber man kann noch daran erinnert werden. Oder er kann betrach-
tet werden als ein nur biologisches Objekt, und wenn man das tut,
dann hat man ihn in der Weise, wie es der Biologismus des endenden
19. Jahrhunderts, der nicht Materialismus sein wollte, zum Ausdruck
gebracht hat. Dann ist der Mensch ein biologisches Objekt und kann
als solches berechnet werden wie alle biologischen Dinge. Das gleiche
gilt vom Psychologischen. Da ist der große Sprung, der noch mehr
als alle anderen vertieft worden ist durch die cartesianische Philo-
sophie, die sagt, dass die Welt aus Körper und Bewusstsein besteht
und dass der Mensch auf der einen Seite mechanische Körperlichkeit
ist, auf der anderen Seite reines erkenntnistheoretisches Bewusstsein.
Wenn man die Vorgänge des erkenntnistheoretischen Bewusstseins
beschreibt, so kommt man zu dem, was wir Bewusstseinspsychologie
nennen. Und wenn man heute Soziologie treibt, dann (das kann ich
besonders bezeugen von jenseits des atlantischen Ozeans) stellt man
fest, wie sich das Objekt „man“ (Mensch) soziologisch verhält; man
tut das in statistischen Formen genau so, wie man mit Statistiken
das Verhalten des Eisens im Feuer berechnet.
1
A. Comte, Cours de philosophie positive (1830-1842), deutsch: Die positive
Philosophie, im Auszuge von Jules Rig. 3 Bde., Heidelberg 1883; Der Positi-
vismus in seinem Wesen und seiner Bedeutung, Leipzig 1894.
171
Und nun entsteht die Frage: Wie verhalten sich denn nun diese
Teile zueinander? Und eine Antwort bleibt man schuldig, notwen-
digerweise. Die Einheit, die jenseits von Bewusstsein und Körper,
jenseitig von Subjekt und Objekt liegt, war verloren gegangen, oder,
um es in einer anderen Formulierung zu sagen: Die lebendige Mitte
war verloren gegangen. Der Mensch hatte einen Weg gemacht, der
ihn weggeführt hatte von sich selbst, von den Anfängen der Philo-
sophie an, der eine objektive Welt etabliert hatte, in der er sich nun
finden musste als ein Teil dieser objektiven Welt, und der Mensch
hatte vergessen, dass er ja als der Fragende diese ganzen Welt des
Objektiven als Objektives geschaffen hat. Er hatte vergessen, dass
diese Welt ja die Entfremdung von seinem eigentlichen Sein darstellt,
dass er in ihr zwar die Wirklichkeit analysiert und dann beherrscht
hat, dass er aber in dieser analysierten und beherrschten Wirklichkeit
selber nur ein Stück der Analyse der beherrschten Wirklichkeit wurde
und aufhörte, die Frage zu stellen, was denn diese analysierte und
technisch bearbeitete Wirklichkeit vom Standpunkt des Seins selbst
bedeutet. Das war eine lange Entwicklung. Ich habe sie irgendwo
einmal in einem Vortrag mit der Ilias der menschlichen Selbstentfrem-
dung verglichen, und nun haben wir gerade in diesem Jahrhundert
nach einigen von Schiffbrüchen bedrohten und nicht nur bedrohten,
sondern Schiffbrüchen unterworfenen Versuchen im 19. Jahrhundert
die Odyssee begonnen, die Rückkehr des Menschen zu sich selbst.
Die Ilias steht als Symbol für die Selbstentfremdung des Menschen,
die nicht mehr imstande war, die Frage nach sich selbst als dem
Schöpfer der objektiven Wirklichkeit zu verstehen, und die Odyssee
steht als Symbol für die vielen vergeblichen – wie in der Odyssee
selbst – und schließlich vielleicht gelingenden Wege des Menschen
zurück zu sich selbst.
Damit sehen Sie, wie ich die gegenwärtige Situation beurteile. Wir
sind noch in dem Stadium der Entfremdung, in Sonderheit in unserer
akademischen Welt und besonders unter dem Einfluss der radikalsten
Formen der Objektivierung, nämlich der mathematischen Naturwis-
senschaften. Wir sind aber zum Teil in Fortführung der mathemati-
schen Naturwissenschaften in einem Prozess der Umkehr. Und nun
möchte ich sagen, dass diese Umkehr niemals radikaler zum Ausdruck
gekommen ist als in dem, was ich als Existentialismus bezeichnen
möchte. Der Existentialismus ist der verzweifelte Protest gegen die
Selbstentfremdung des Menschen in dem Prozess der Vergegenständ-
lichung. Die beiden Worte „verzweifelt“ und „Protest“ sind beide
172
entscheidend. Existentialismus ist nicht eine philosophische Schule,
die schon nicht mehr ganz „fashionable“ ist, obgleich vielleicht noch
in New York, vielleicht in Deutschland nicht mehr, sondern er ist
eine Frage und eine Haltung und eine Bewegung, die weit über alles
hinausgeht, was im Augenblick so bezeichnet wird, besonders wenn
man es auf ein paar Romane von Sartre reduziert.
Das gibt Ihnen von einer anderen Seite her den fundamentalen
Gesichtspunkt für diese ganzen Vorlesungen. Was sie zeigen sollen,
ist: dass der Mensch, der in früheren Zeiten seiner selbst bewusst war
und dies Bewusstsein in mythologischen und legendären Symbolen
ausdrückte, dass dieser Mensch nach dem Verlust dieser Symbole sich
selbst verlor, zu einem Objekt wurde und nun in dieser Situation der
Objektivierung gegen diese Objektivierung protestiert. Damit haben
Sie zugleich die Verbindung des Theologischen und des Existentialisti-
schen. Das Theologische hat ja in all diesen Jahrhunderten mindestens
ebenso verzweifelt wie der Existentialismus den Versuch gemacht, die
Symbole zu retten, in denen der Mensch seine Situation ausdrückte.
Es waren verzweifelte Versuche, und sie hatten fast durchweg das
Schicksal des Odysseus, von einem Schiffbruch zum anderen zu füh-
ren, aber es waren Versuche. Und nun hat der Existentialismus auf
der entgegengesetzten Seite die gleichen Versuche unternommen. Und
ich möchte kein Urteil in diesem Augenblick darüber abgeben, ob er
mehr den anfänglichen oder den Spätstadien der odysseischen Reise
entspricht. Wir sind selber mitten in dieser Reise und wir fühlen die
Gefahr des Schiffbruchs, aber wir sind auf dem Wege, und darüber
scheint mir kein Zweifel zu sein.
Und nun möchte ich gleich, da Sie ja wissen, dass ich nicht nur
Philosoph, sondern auch protestantischer Theologe bin, dass Sie nicht
fürchten, dies Ganze wäre ein kluger apologetischer Versuch – oder
vielleicht unklug, weil zu offenkundig – , Sie über den Weg des
Existentialismus in das Dogma des Christentums zurückzuführen.
Derartige Absichten liegen mir so fern wie nur möglich. Aber ich
glaube, wenn man Theologie studiert hat, weiß man, dass das, was
die Theologie gesagt und der lebendigen Realität entnommen hat,
echte Symbole sind, d. h. dass sie soviel aussagt, wie echte Symbole
aussagen, nämlich Sphären aufschließt, die für die gegenständliche
Analyse unzugänglich sind. Und das haben die religiösen Symbole
getan, und darum muss man sie ernst nehmen, auch wenn man ihren
dogmatischen Gebrauch völlig ablehnt. Das ist der einzige Grund,
warum in diesem Thema nicht nur Existentialisten, sondern auch
173
Theologen als Mitarbeiter an dem Selbstverständnis des Menschen
auftreten. Nur von diesem Selbstverständnis des Menschen will ich
reden, von dem Wiedergewinnen des Menschen in einer Welt, die voll-
kommen in eine Welt von Objekten verwandelt war. Darum glaube
ich auch, dass die Theologie, die diese Symbole zu retten versucht,
ihr Recht hat trotz aller Schiffbrüche der letzten Jahrhunderte.
Nun, nach diesen allgemeinen Gesichtspunkten, von denen aus die
Vorlesungen durchgeführt werden sollen, muss ich jetzt etwas tech-
nischer werden, nämlich etwas über meine Auffassung des Begriffes
„existentiell“ sagen. Es hat sich auch bei Menschen, die an sich dem
Existentialismus nicht unfreundlich gegenüberstehen, eine negative
Stimmung fühlbar gemacht, die darauf beruht, dass der Begriff sehr
wahllos, sehr undifferenziert überall benutzt wird, dass er entweder
als Zeichen der Dekadenz unserer Kultur verstanden wird oder von
anderen verstanden wird als eine faszinierende neue Ansicht oder als
Modeerscheinung beurteilt wird. Alle diese Formen treffen in keiner
Weise den Ernst und die Realität dessen, was Existentialismus ist.
Und darum möchte ich jetzt den Versuch machen, soweit es mir
möglich ist, eine definierte, umgrenzte Auffassung des Begriffs des
Existentiellen zu geben.
Wir müssen dabei eine ganze Reihe von Unterscheidungen ma-
chen, weil wir ohne sie niemals zu einem wirklichen Verständnis
tieferer und klarer Art durchdringen können. Zunächst und vor allem
müssen wir unterscheiden die existentielle Haltung vom philosophi-
schen und künstlerischen Existentialismus.1 Die Haltung müssen
wir unterscheiden von den Inhalten. Was ist diese existentialistische
Haltung? Wenn wir sagen: Dieser Mann ist ein existentieller Denker,
dann meinen wir nicht, dass er der Sartreschen oder Heideggerschen
oder einer sonstigen gewöhnlich als existentialistisch bezeichneten
Schule angehört, sondern etwas ganz anderes. Wir meinen damit,
dass, wenn er denkt, er zugleich teil hat an dem, worüber er denkt.
Es ist der Gegensatz zu einer detachierten, fernstehenden, nur be-
obachtenden Haltung. Existentiell in diesem Sinn heißt teilhaben
1
Vgl. P. Tillich, The Courage to Be, New Haven / London 1952, S. 123 f.; Über-
setzung ins Deutsche durch Dr. Gertie Siemsen, die auch die im vorliegenden
Band herausgegebenen Vorlesungen Tillichs stenographisch aufgezeichnet
hatte: Der Mut zum Sein, Stuttgart 1953; Taschenbuch als Sonderband in
der Reihe der Stundenbücher, Furche-Verlag Hamburg 1965, S. 125 ff. Im
Folgenden wird auf diese Übersetzung und Ausgabe in den Anmerkungen
verwiesen.
174
an einer Situation mit der ganzen Existenz. Wenn diese Situation
eine erkenntnismäßige ist, wenn die existentielle Haltung eine Er-
kenntnishaltung ist, dann heißt das, dass man an der Situation des
Erkennens, an der Subjekt-Objekt-Korrelation, die in dieser Situation
stattfindet, mit seiner ganzen Existenz teilnimmt. Das ist der Grund
für das, was die Soziologie des Erkennens ist. Ich habe gerade mit
der Witwe meines Freundes Karl Mannheim in London gesprochen,
der dort diese Theorie bis zu seinem Tode durchgeführt hat in einer
Weise, dass englische Freunde mir sagten, dass es die Fundamente
der englischen Existenz zu erschüttern imstande ist, und dass1 sie
infolgedessen ihn auf der einen Seite bewundern und auf der anderen
Seite ihn fürchten.2 Ich glaube nicht, dass diese Furcht begründet
ist. Aber ich verstehe sie. Denn sie bedeutet, dass im Erkenntnisakt
Zeitelemente – das Jahr 1952 – , Raumelemente – England und nicht
Amerika – , geschichtliche Elemente – der Zustand nach einem ver-
lorenen Weltkrieg – , psychologische Elemente – die verschiedenen
Grade der neurotischen Selbstbegrenzung, an der wir alle teilhaben – ,
soziologische Bedingungen – die Gruppe, zu der wir gehören – und
biologische Bedingungen – die Vitalität, die Körperlichkeit, die un-
seren Instinkt oder unsere Inspiration hindert – all diese Dinge da
sind, wenn der Mensch denkt; denn der Mensch ist endlich, und
er ist endlich nicht nur in allem anderen außer in seinem Denken,
sondern sein Denken weiß, dass auch sein Denken endlich ist. Das
scheint mir die Größe von Kant zu sein, dass er diese Endlichkeit
des menschlichen Denkens klassisch formuliert hat. Alle diese Be-
dingungen gehören zu seiner Endlichkeit.
Das hört eine sogenannte wissenschaftliche Philosophie, die man
besser Wissenschaftsphilosophie nennen sollte, nicht gern. Man liebt
es nicht sehr. Ich erinnere mich an ein Gespräch vor vielen Jahren in
Marburg mit Nicolai Hartmann, damals auch dort genau über die-
ses Problem.3 Ich muss damals schon sehr bewusst existentialistisch
gewesen sein, denn ich vertrat den Standpunkt, dass es außer den
Gebieten, die der reinen Abstraktion zugänglich sind, also Mathe-
1
Korr (Typ. GS: wie)
2
Karl Mannheim, Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie. Kant-Studien.
Ergänzungshefte Nr. 57, Berlin 1922; ders., Wissenssoziologie, in: Handwör-
terbuch der Soziologie, hg. von Vierkandt, Stuttgart 1931.
3
Vgl. auch Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis,
Berlin 1921, 21925.
175
matik und mathematische Physik, dass es in allen Problemen, die
relevant sind für die menschliche Existenz, keinen Standpunkt über
der Existenz gibt, während Nicolai Hartmann den Gedanken vertrat,
dass der Standpunkt des Erkennenden zeitlos, raumlos, geschichts-
los ist und dass alle Einflüsse, die von Zeit, Raum und Geschichte,
Seele und Gemeinschaft auf ihn kommen, nur Fehlerquellen sind,
die man beobachten muss und die, wenn man sie richtig beobachtet,
beseitigt werden können. Ich bin nicht überzeugt worden, und ich
glaube, dass die Entwicklung der Geschichte der Philosophie mir
im Grund Recht gegeben hat, wenn der Begriff des Erkennens nicht
orientiert ist an den Wissenschaften der reinen oder angewandten
mathematischen Abstraktion, sondern wenn es sich um Dinge der
menschlichen Existenz handelt. Das bezieht sich nicht nur auf Reli-
gion und ethische Dinge, sondern ebenso auf Dinge der Seele, Dinge
der Gemeinschaft, selbst auf Dinge der medizinischen Biologie. Auch
da ist ein reiner Standpunkt nicht möglich, auch da ist die existentielle
Teilnahme fundamental. Das ist nicht meine Erfindung, sondern das
habe ich von einigen der bedeutendsten psychosomatischen Ärzte
und Mediziner gelernt.
Das heißt, eine existentielle Haltung ist eine Haltung, an der
auch im Erkenntnisprozess die Ganzheit des Menschen teilnimmt
mit all seiner Endlichkeit, und dass dies nun nicht etwa eine Feh-
lerquelle ist – das kann es in anderem Sinne auch sein – , aber dass
es die Möglichkeit des Zuganges ist, und das ist das Entscheidende.
Ohne Teilnahme, ohne „being involved“, Hereingenommensein in
die Sache, hat man keinen Zugang zur Sache, und das ist so im
Erkenntnisakt wie in allen anderen Relationen. Und nun würde ich
sagen: Dies widerspricht in keiner Weise der notwendigen Objektivi-
tät, die jeder Erkenntnisakt hat, es widerspricht in keiner Weise der
Notwendigkeit jedes Erkennens, auch detachiert zu sein. Umgekehrt,
es ist die höchste Form der Objektivität, dass man im Erkenntnisakt
den Gegenstand, den man erkennen will, nicht vorher zerstört. Ich
meine natürlich nicht, physisch zerstört, aber in seinem Sinn, seiner
Realität zerstört. Das ist etwas, was immer und immer wieder ge-
schehen ist in der Existenz, der menschlichen Selbstentfremdung, der
Entfremdung des Menschen von sich selbst. Selbstverständlich, alles,
was in quantitativer Weise mathematisch ausgedrückt werden kann,
fordert eine Behandlung, einen Zugang, der durchaus objektiv ist im
Sinn von Detachiertheit, von Möglichkeit der Nichtteilnahme. Aber
wenn man nun die Wirklichkeit selber ansieht und ihre konkrete
176
innere Unendlichkeit, ihre Unerschöpflichkeit und Unermesslichkeit,
weiß man sofort, dass die meisten Schichten der Realität, dass das
Reale, das nicht eine Abstraktion ist, so nicht ergriffen werden kann,
dass Berechnung und Bearbeitung aufhören da, wo die Universalität
sich in einem lebendigen Wesen bemerkbar macht.
Um zu wissen, z. B. was ein Selbst ist, muss man an ihm teilneh-
men. Aber zugleich, um daran teilzunehmen im Erkenntnissinn, muss
man imstande sein, es in der Teilnahme objektivieren zu können, und
das ist die große Kunst in allen Gebieten, die nicht der quantitativen
Berechnung unterliegen. Um eine andere Person zu erkennen, muss
man an ihr teilnehmen. Um den Grund des Seins zu erkennen, muss
man mit ihm verbunden sein. Um Geschichte zu verstehen, muss
man geschichtlich handeln. Aber in allem, was diesen Charakter
hat, sind ja auch Elemente der mathematischen Berechenbarkeit.
Diese Elemente fordern genau dieselbe Detachiertheit wie in den
reinen Wissenschaften. Und so ist die Situation, dass eine existentielle
Haltung im Erkennen nicht eine Haltung ist, in der wir einfach uns
selber projizieren auf den anderen – das wird oft vorgeworfen – ,
sondern es ist eine Haltung, in der wir eine balancierte Relation von
Detachiertheit und Teilnahme haben. Und wenn wir vom Menschen
oder von menschlicher Geschichte sprechen, ist es klar, dass nur,
wenn diese beiden Dinge da sind, ein wirklicher Bezug zu diesen
Objekten gefunden ist. All das ist nicht Existentialismus, aber es ist
existentielle Haltung.
Nun kann es aber auch sein und ist es gewesen, dass das Wort
„existentiell“ nicht eine Haltung, sondern einen Inhalt bezeichnet,
dass es hinweist auf bestimmte Formen der Philosophie und Kunst
und Literatur, des Theaters und viele andere Formen des Ausdrucks
menschlicher Relation zur Wirklichkeit. Und dies ist der für uns
entscheidende Sinn von „existentiell“. Aber ehe wir in die Fülle der
Probleme und der Perioden gehen, die in diesem Sinn „existentiell“
bedeuten, müssen wir eine Frage stellen: Wie verhalten sich denn die
existentielle Haltung und die existentiellen Inhalte zueinander? Sie
haben gemeinsam eine Interpretation der menschlichen Situation, die
mit einer essentiellen Interpretation im Widerstreit liegt. Wir können
sagen, mit Einschränkungen, auf die ich komme: Das Hegelsche
System ist der klassische Ausdruck von Essentialismus.
Wenn nun Kierkegaard von Hegels System der Wesenheiten sich
entfernte und dagegen protestierte, tat er zwei Dinge. Er forderte
eine existentielle Haltung, Teilhabe an dem, was entscheidend ist für
177
menschliche Entscheidungen, und zweitens, er entwickelte daraus
eine Lehre vom Menschen, die die menschliche Existenz beschreibt
in Begriffen, die zeigen, dass der Mensch von seiner essentiellen
Natur entfremdet ist und darum nicht imstande ist, eine essentielle
Philosophie zu entwickeln. Der Mensch in der existentiellen Situation
von Endlichkeit und Entfremdung kann Wahrheit nur erreichen durch
eine existentielle Haltung. Der Mensch sitzt nicht auf dem Thron
des Universums. Er nimmt nicht teil an einer essentiellen1 Erkenntnis
von allem, was ist, und er kann es schon deswegen nicht, weil ja
alles offen [ist] für die Zukunft und, wie manche Philosophen, die
dem Existentialismus nahestehen, gesagt haben, selbst Gott kann
das nicht, denn auch für ihn ist die Zukunft offen. Der Mensch hat
keinen Platz, von dem er in einer Objektivität jenseits der Endlichkeit
und der Entfremdung die Wirklichkeit ansehen kann. Die Erkenntnis-
funktion ist so existentiell wie sein ganzes Wesen. Und damit sehen
wir den tiefsten Grund, warum die Weisheit der Sprache die beiden
Begriffe – existentiell als Haltung und existentiell als Inhalt – mit
demselben Wort bezeichnet hat. Eine Existentialphilosophie ist be-
gründet in der Notwendigkeit der existentiellen Haltung für den
Menschen in seiner Endlichkeit und Selbstentfremdung, und die
existentielle Haltung, wenn sie sich selber bewusst wird, nämlich der
Endlichkeit und Entfremdung, fordert eine existentielle Philosophie.
Das ist der innere Zusammenhang.
Nun wollen wir aber das nächste Mal nicht weiter auf die Hal-
tung eingehen, sondern wollen einen Überblick gewinnen über die
drei Formen oder Perioden dessen, was Existentialismus als Inhalt
bedeutet.
1
Korr. (Typ. GS: existentiellen). Vgl. P. Tillich, Der Mut zum Sein (1965),
S. 128: „Der Mensch … partizipiert nicht an seiner essentiellen Erkenntnis
alles dessen, was ist.“
178
2. Vorlesung
(Dienstag, 1. Juli 1952)
1
Vgl. P. Tillich, Der Mut zum Sein (1965), S. 128 ff.
2
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., 1923-1929, 2.
Aufl. Darmstadt 1953-54.
179
Nun zunächst der existentialistische Gesichtspunkt. Er ist überall
gegenwärtig, nicht in aller, aber in großen Teilen der Theologie, in
großen Teilen der Philosophie, der Kunst, der Literatur. Aber es
bleibt ein Gesichtspunkt und oft ein Gesichtspunkt, der von denen,
die ihn haben, nicht verstanden wird. Erst im 19. Jahrhundert, nach
einigen Vorgängern im 17. Jahrhundert, wird der Existentialismus
mehr als ein Gesichtspunkt, wird er eine Bewegung, nämlich die
Bewegung des Protestes gegen die vergegenständlichte Gesellschaft,
und im 20. Jahrhundert, das mit dem 1. August 1914 anfängt, wird
der Existentialismus der Ausdruck von dem, was ist. So können wir
unterscheiden Existentialismus als Gesichtspunkt, Existentialismus
als Protest und Existentialismus als Ausdruck.
Für das erste kann man weit in die Geschichte zurückgehen, und
man muss, wenn immer man über Existentialismus spricht, zu Plato
zurückgehen, weil Platos Scheidung der Welt der Wesenheiten, der
Welt der Essenzen, die er „eidos“ nannte, und der Welt der Realität
der Hintergrund alles existentiellen Denkens ist. Seine Trennung der1
Essentialwelt oder der Ideenwelt und der Existentialwelt, der Welt des
Erscheinenden und Verschwindenden, ist nicht eine philosophische
Erfindung von Plato, sondern ist eine philosophische Umformung
einer fundamental-religiösen Haltung, nämlich der orphischen Tra-
dition. In der orphisch-platonischen Gedankenwelt findet sich die
menschliche Seele in einem Stadium der Heimatlosigkeit. Die Seele
hat ihre Heimat in der Welt der Ideen, d. h. in der Welt der reinen
Wesenheiten verloren. Der Mensch ist entfremdet von dem, was er
wesenhaft ist. Seine Existenz in der vorübergehenden Welt, in der
Welt des Vergänglichen, widerspricht seiner wesenhaften Teilhabe
an der Welt der Essenzen. Plato drückt das erkenntnistheoretisch
immer dadurch aus, dass, wenn er von der Existenz spricht, er einen
Mythos bringt. Die platonischen Mythen sind nicht geschaffen, um
dem Ganzen einen mehr poetischen Anstrich zu geben, sondern sie
sind geschaffen, weil es einen Punkt gibt, wo rationales Denken
Mythos werden muss, nämlich in dem Moment des Übergangs von
dem Essentiellen zum Existentiellen und im Moment der Rückkehr
vom Existentiellen zum Essentiellen. Wo immer Plato von diesen
beiden Dingen spricht, schreibt er einen Mythos, und er kann nicht
anders. Er weiß, dass, wenn er die Existenz essentiell beschreiben
würde, sie ja aufhören würde, Existenz zu sein, sie würde ja dann
1
Korr. (Typ. GS: von der) (Anglizismus!).
180
selber in Essenz verwandelt werden, d. h. die Kluft wäre nicht da.
Aber Plato war Realist genug, obgleich man ihn oft einen Idealisten
schimpft (was längst zum Schimpfwort geworden ist), dass er sagt,
dass zwischen Essenz und Existenz eine solche Kluft besteht. Diese
Unterscheidung, die in der platonisch-orphischen Gedankenwelt
zuerst in der westlichen Welt im Unterschied zu Asien auftritt, ist
der Hintergrund alles existentiellen Denkens.
Ein anderes Beispiel für den existentialistischen Gesichtspunkt sind
die klassischen christlichen Lehren vom Fall, von der Sünde, von der
Erlösung. Sie sind ganz in Analogie mit der platonischen Unterschei-
dung und vielfach von der platonischen Unterscheidung beeinflusst.
Wie im Platonismus, so ist im christlichen Denken die wesenhafte
Natur des Menschen gut, die Welt ist gut, weil sie geschaffen ist. Wir
sollten nie vergessen, dass nicht das Christentum einen ontologischen
Pessimismus hat, einen Pessimismus über das Sein als solches (das ist
heidnisch, und es ist auch griechisch), sondern dass das Christentum
eine ontologische Affirmation hat: esse qua esse bonum est, sagt Au-
gustin, das Sein als Sein ist gut.1 Es ist sogar das Gute selbst. Aber
nach christlicher Lehre ist die menschliche Existenz nicht gut, eine
Kluft besteht zwischen der essentiellen Welt der geschaffenen Formen
und der existentiellen Welt der Verwirklichung des Endlichen. Die
wesenhafte Gutheit des Seins ist verloren. Fall und Sünde sind nicht
nur ethische, sondern auch erkenntnismäßige Qualitäten. Auch im
Erkennen ist der Mensch den Gesetzen der Endlichkeit und Entfrem-
dung unterworfen. Sie erinnern sich, wie ich gestern davon sprach,
dass es nicht möglich ist, einen Punkt über der Existenz zu finden, von
dem aus der Mensch die Wirklichkeit adäquat erkennen kann, weil
er von der essentiellen Welt getrennt ist. Darum kann er nur in der
Situation der Entfremdung nicht nur handeln, sondern auch denken.
Und doch ist der Ursprung nicht verloren. Plato spricht von einem
transhistorischen Gedächtnis, von einem übergeschichtlichen Wissen,
das in jedem Menschen da ist. Genauso spricht das Christentum von
der Bewahrung der wesenhaften Struktur des Menschseins. Wäre es
1
Diese von Tillich oft zitierte und von ihm Augustinus zugeschriebene Formel
lässt sich bei Augustinus nicht nachweisen. Sie stellt eine Paraphrase von Con-
fessiones VII, 12, 18 dar (ergo quamdiu sunt, bona sunt. Ergo quaecumque
sunt, bona sunt … Et quoniam non aequalia omnia fecisti, ideo sunt omnia,
quia singula bona sunt et simul omnia „valde bona“, quoniam fecit deus
noster „omnia bona valde“ [Gen 1,31; Sir 39, 21]; vgl. Confessiones XIII,
28, 43; 32, 47).
181
nicht bewahrt, so könnte es nicht erlöst werden. Denn der Mensch
kann die Konflikte, in denen er steht, nur deswegen als Konflikte
verstehen, weil sein essentielles Gut-Sein nicht verloren gegangen ist.
D. h. Platonismus und Christentum haben deutlich den existentialis-
tischen Gesichtspunkt, aber keiner von beiden ist existentialistisch
im gegenwärtigen Sinn des Wortes. Denn dieser Gesichtspunkt steht
in einem umfassenden System von essentiellem Denken: bei Plato in
der Ideenlehre, beim Christentum in der Schöpfungslehre. Es ist nicht
so, dass eine dieser beiden Richtungen, die ja zutiefst voneinander
abhängig sind, das Christentum vom Platonismus, schlechthin exis-
tentialistisch ist. Aber es hat den existentialistischen Gesichtspunkt.
Es ist imstande zu sehen, dass der Mensch nicht in seiner Essenz
steht, sondern von ihr geschieden ist.
Eine weitere Gruppe von existentialistischem Gesichtspunkt findet
sich im Mittelalter im Mönchtum und in der Mystik, und zwar in der
praktischen Selbstanalyse der Menschen. Was heute als analytische
Psychologie bezeichnet wird, war in anderen Formen und ohne die
moderne wissenschaftliche Methode real im gesamten Mittelalter.
Wir haben dort ein Material, das so reich ist, über die Zustände der
menschlichen Seele, dass weder Nietzsche noch die Freudsche Schule
noch die übrigen psychoanalytischen Gruppen sehr viel wesenhaftes
Material hinzugefügt haben. Es ist alles da, aber es ist nicht metho-
disch durchgearbeitet, und es ging verloren.
Es ist noch ein anderer Punkt, der in der mittelalterlichen Denk-
weise den existentialistischen Gesichtspunkt zum Ausdruck bringt,
nämlich das mittelalterliche Verständnis des Dämonischen, in dem
die Dialektik, die innere Zweideutigkeit alles Schöpferischen sichtbar
wurde und die Gefahr der menschlichen Situation nicht nur in der
Gefahr persönlichen Übels aufgefasst wurde, sondern auch aufgefasst
wurde im Zusammenhang mit Dämonien, die übergreifend sind und
die zeigen, wie weit jeder individuelle Mensch von der essentiellen
Struktur entfernt ist. Diese Analytiker des Mittelalters wussten etwas
über die menschliche Seele in den feinsten oder entferntesten Ecken,
in die sich die Dunkelheit der menschlichen Existenz flüchtet.
Vielleicht der größte dichterische Ausdruck des existentialisti-
schen Gesichtspunkts im Mittelalter ist Dantes Divina Commedia.
Selbstverständlich genau wie im Schöpfungsgedanken arbeitet sie
mit Symbolen, aber in den Symbolen, besonders in dem Symbol der
Hölle, wo die Analyse der menschlichen Entfremdung dargeboten
ist, finden sich fast alle wesentlichen Materialien einer tiefenpsy-
182
chologischen Analyse der sittlichen Situation des Menschen. In die
tiefsten Orte menschlicher Selbstzerstörung und die Verzweiflung
dieser Selbstzerstörung und auch die höchsten Plätze des Mutes und
der Erlösung bringt uns Dante. Was er gibt, ist ein kosmisches Bild.
Aber wenn wir näher zusehen, ist es vor allem ein kosmisches Bild
der menschlichen Seele, ein Bild des menschlichen Zustandes, und
Sie finden weder in Sartre noch in Heidegger oder wen immer ich
nennen will, selbst nicht in Kafka, Dinge, die Sie nicht bei Dante fin-
den, der in der Tradition der mittelalterlichen Seelenforschung steht.
Dieselben Dinge können Sie in der Malerei des späten Mittelalters
finden, im Übergang zur Renaissance, die dämonischen Gegenstände,
mit denen Bosch, Brueghel, Grünewald sich beschäftigen, die Grau-
samkeit, mit denen die Spanier und Süditaliener die menschliche
Situation beschreiben in Märtyrerbildern und in anderen Bildern,
der unheimliche Ausdruck auf den Gesichtern von spätgotischen
Malern, wenn sie Massenszenen produzieren und grauenvolle Gestal-
ten die gesamte Umgebung Jesu bilden – in all diesen Dingen finden
Sie das, was ich existentialistischen Gesichtspunkt nennen möchte.
Brueghel hat verschiedene Bilder vom Turmbau zu Babel gemalt, und
in diesen Gemälden finden wir die Einheit der malerischen und der
philosophischen Symbolik des In-sich-brüchig-Seins der Schöpfung,
der menschlichen Natur.
All das ist existentialistischer Gesichtspunkt, aber all das ist noch
nicht Existentialismus, weil all das immer noch sich bewegt im Rah-
men einer umfassenden kosmischen Struktur von essentiellem Cha-
rakter. Man müßte noch jemand anderes nennen oder eine Gruppe,
eine der wichtigsten Gruppen, nämlich diejenigen mittelalterlichen
Philosophen, die der Ausdruck damals waren für eine Situation, die in
mancher Beziehung ähnlich der Situation ist, in der wir uns befinden,
deren Ausdruck ja die Existentialphilosophie und existentialistische
Literatur und Kunst und Musik ist. Diese Situation des späten
Mittelalters ist formuliert vom Nominalismus, an sich eine logische
Schule, aber eine Schule, die eine ganze Reihe von Methoden des
gegenwärtigen Existentialismus antizipiert hat. Sie hat antizipiert den
Irrationalismus, d. h. die Entdeckung der nicht-rationalen Schichten
des Seins. In Duns Scotus, dem größten Theologen und Philosophen
des Mittelalters trotz Thomas von Aquin, brach die Philosophie der
Essenzen, die Thomas noch zu retten versuchte, zusammen. Dasselbe
ist dann bei Occam durchgeführt. Diese Nominalisten und Volunta-
risten sahen die Zufälligkeit in allem, den kontingenten Charakter
183
der Welt, und sie sahen den Grund dieses kontingenten Charakters
der Welt in der Kontingenz des Göttlichen selbst. Die Tatsache, dass
Duns Scotus Gott als Willensgott beschreibt im Gegensatz zu Thomas,
der ihn als Intellektgott beschreibt, bedeutet, dass die Nominalisten
kein Gefühl mehr hatten für letzte Notwendigkeit. Nichts in der Welt
und nichts in einem selbst ist absolut notwendig, es hat ein Element
des Zufälligen in sich, und aus diesem Zufallsmoment ergibt sich die
Angst, die das Spätmittelalter so radikal charakterisierte.
Ein anderes Motiv, das auch charakteristisch ist für den Existenti-
alismus von heute, ist die unwiderstehliche Tendenz, in Autorität zu
entweichen. In dem Moment, wo die Welt der Essenzen, der sachli-
chen Notwendigkeit der ethischen und ästhetischen Struktur, an die
man glaubt und die man akzeptiert, verloren gegangen ist, entsteht
die Frage der Autorität in einer viel radikaleren Weise als vorher.
Wenn man das Mittelalter ein autoritäres System nennt, dann soll
man ja unterscheiden zwischen allem, was bis Ende des 13. Jahrhun-
derts vor sich ging bis zum Erscheinen des Duns Scotus, und allem,
was nachher vor sich ging. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts ist
die Autorität des Mittelalters unmittelbar. Es ist eine Autorität der
Teilhabe. Man ist nicht von außen unterdrückt, sondern man fühlt
sich lebendig teilhaben an dem, was die Autoritäten symbolisieren.
Sie sind nicht etwas, was gegen einen steht, sondern etwas, was
man selber ist, und nur dann ist die Autorität erträglich, wenn sie
das ausdrückt, was man selbst ist in seinem wahren Wesen. Alle
göttlichen Forderungen sind nur dann anzuerkennen, wenn man
realisiert, dass sie unser wahres Wesen gegen unser falsches Wesen
ausdrücken. Man muss ihnen dagegen widersprechen, wenn sie uns
entgegengebracht werden im Namen einer jenseitigen Autorität ei-
nes willkürlichen höchsten Wesens. Nun, am Ende des Mittelalters
wurde die Autorität heteronom. Sie kam von außen, sie hatte die
Inquisition, was es bis dahin nicht gab – autoritäre Systeme brau-
chen den Terror, und die erste abendländische Form des Terrors war
die Inquisition. Alle modernen Formen des Terrors sind mehr oder
weniger technisch erfolgreiche Nachahmungen. Sie sind immer dann
da und unvermeidlich da, wenn die Unmittelbarkeit des Lebens in
einer geistigen Substanz verlorengegangen ist. Aber dann sind sie
da. Und heute? Ja, der heutige Existentialismus sieht sich um nach
Autorität, und der des 19. Jahrhunderts hat Autoritäten geschaffen
und zwar Autoritäten in dem radikalsten Sinn, der vielleicht je in
der Geschichte erschienen ist. All das findet sich schon im mittelal-
184
terlichen Nominalismus. In diesem Sinn können wir sagen, dass der
Existentialismus zu unserer westlichen Tradition gehört als Form, als
Gesichtspunkt, und doch war auch dieses System noch nicht Exis-
tentialismus. Selbst sie waren noch einbezogen in ein übergreifendes
System, das anerkannt war, die Kirche.
Und nun, und das ist die Probe auf das Exempel, muss ich ein-
gehen auf die Frage: Wie ging dieser existentialistische Standpunkt
so weitgehend verloren? Er ging nie ganz verloren, aber er ging so
weitgehend verloren, dass die existentialistische Revolution nötig
wurde. Und warum ging er verloren? Lassen Sie mich das als nächste
Betrachtung Ihnen vorlegen. Denn ohne diese geschichtlichen Vor-
bedingungen kann man herrlich über Sartre und die Existentialisten
schwätzen, aber es bleibt Geschwätz, auch wenn es sehr gelehrt ist.
Wenn man nicht an die geschichtlichen Hintergründe denkt und
nicht sieht, was in unserer abendländischen Geschichte passiert ist
und dass unser gegenwärtiges Schicksal, auch unser gegenwärtiges
politisches Schicksal, von diesen Dingen abhängig ist, dann hat man
in Wirklichkeit nichts verstanden von dem, was Existentialismus
bedeutet.
Wo ging der existentialistische Standpunkt verloren? Er war noch
vorhanden in der ersten Periode der Renaissance, wo Augustin noch
immer der überragende Geist war. Aber er ging verloren in der zweiten
Periode der Renaissance, ein Faktum, das ich nicht mit bedauernden
Worten ausspreche, dann wäre ich ein törichter Romantiker – nicht
alle Romantiker sind töricht, aber es gibt auch törichte Romantiker – ,
sondern in dieser zweiten Periode schuf der menschliche Geist etwas,
was nie vorher da war, nämlich die rationale Interpretation der Welt
in wissenschaftlicher Tradition und in technischer Anwendung. Es
sind Galilei, Newton, Descartes, die immer genannt werden. Husserl,
der Philosoph an der Wende dieses Jahrhunderts, der alle folgenden
tief beeinflusst hat in seiner Phänomenologie, ist abhängig von De-
scartes. Und er selber hat es in einem Vortrag, dem letzten, den ich
von ihm gehört habe, kurz vor 1933, in seiner … eindeutigen Weise
zum Ausdruck gebracht,1 und zwar in einer Weise, in der das Be-
1
Vortrag in der Kantgesellschaft Frankfurt a. M. am 1. Juni 1931 über „Phä-
nomenologie und Anthropologie“. Vgl. Husserliana Dokumente Band I:
Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, Den Haag 1977,
S. 381; der Vortrag in: Husserl Gesammelte Werke, Band XXVII. Aufsätze
und Vorträge (1922-1937), hg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp,
Dordrecht / Boston / London 1989, S. 164-181.
185
dauern fühlbar war, das auch persönlich dann ausgesprochen wurde,
dass seine Schüler aus der cartesianischen Essentialphilosophie in die
Existentialphilosophie übergegangen sind. Er jedenfalls war ein reiner
Ausdruck essentialphilosophischen Denkens, und es gibt vielleicht
kein schöneres Symbol dafür als seinen Satz: Man muss die Existenz
einklammern.1 Alle existentiellen Gegenstände sind eingeklammerte,
die Gegenstandswelt wird analysiert in Formen, von denen Husserl
annahm, dass sie ewige Seinsformen sind. Er war reiner Platoniker in
dieser Beziehung. All das folgt aus der Formulierung von Descartes,
dessen „Cogito ergo sum“ den Wendepunkt zu einem völligen Verlust
des existentialphilosophischen Denkens bedeutet. „Cogito ergo sum“
heißt nicht: Ich denke, also bin ich, sondern es heißt: Das einzig Ge-
gebene ist das Bewusstsein und seine Formen und Strukturen, auf sie
hat die Philosophie sich zu richten und hat zu vergessen, was Existenz
bedeutet. Wir werden später sehen, wie genau an dieser Formulierung
die Ontologie der Existentialisten sich entflammt.
Zugleich mit der Renaissance, besonders in ihrer späten aufklä-
rerischen Periode (oder sagen wir, wissenschaftlichen Periode, die
Aufklärung ist ja später), finden wir den Protestantismus. Es schien
zunächst, als ob der Protestantismus den existentialistischen Gesichts-
punkt wieder aufgreifen, wiederholen und verstärken wollte, und in
der Tat, die ungeheure Energie, mit der Sünde und Vergebung, mit
der menschliche Endlichkeit und göttliche Prädestination von der
Reformation betont werden, hat existentialistische Klänge. Aber mit
dieser Reduktion der ganzen Theologie auf das Schema von Sünde
und Vergebung oder Endlichkeit und Prädestination war etwas
geschehen, was die ganzen Materialien mittelalterlichen existenti-
alistischen Forschens verloren gehen ließ. Die Protestanten wollten
nicht in die menschliche Situation hineingehen. Luther wusste darum,
Luthers Analysen der menschlichen Verzweiflung, der Anfechtungen,
wie er es nannte, gehören zu den tiefsten Analysen der Verzweiflung,
1
„Als Ego bin ich für mich nicht der Mensch in der seienden Welt, sondern
das die Welt hinsichtlich all ihres Seins und somit auch Soseins in Frage
stellende Ich oder das die universale Erfahrung zwar durchlebende, aber ihre
Seinsgeltung einklammernde … Die Welt erscheint weiter, wie sie erschien, das
Weltleben ist nicht unterbrochen. Aber Welt ist jetzt ‚eingeklammerte‘ Welt,
bloß Phänomen, und zwar Geltungsphänomen der strömenden Erfahrung, des
Bewußtseins überhaupt, das aber nun transzendental reduziertes Bewusstsein
ist“ (Phänomenologie und Anthropologie; Husserl Gesammelte Werke, Band
XXVII [vorige Anm.], S. 171).
186
von denen Kierkegaards „Krankheit zum Tode“, in der er ja das
Problem der Verzweiflung analysiert, ein Nachklingen ist. Und doch
wurde das nicht weitergeführt. Luther war noch in der mönchischen
Tradition, er wusste noch um diese Dinge und er erlebte sie noch.
Nach ihm wurde in der Orthodoxie das Schema Sünde – Gnade
theoretisch akzeptiert, aber die menschliche Existenz selber wurde
nicht mehr zum Gegenstand gemacht. Die Konsequenz war, dass die
Predigt der Reformatoren in der Orthodoxie bald zu einer Predigt
objektiven detachierten Lebens wurde, dass man universale religiöse
Probleme behandelt, ohne teilzuhaben und ohne zu zeigen, dass die
menschliche Situation voll von Elementen ist, die auf diese Dinge
hinweisen. Und so wurde der Protestantismus voll von Misstrauen
gegen psychosomatische und psychosoziale Analyse. Er fürchtete,
dass damit die Ausschließlichkeit des Blickes auf Gott verletzt wird.
Er will nicht, dass man auf den Menschen blickt, weil vom Menschen
ja nichts abhängt. Erst im 20. Jahrhundert fängt der Protestantismus
an, sich zu öffnen unter dem Druck der sozialen Bewegung1, unter
dem Druck der neurotischen Wirklichkeit und der Methoden ihrer
Heilung. Aber zunächst war das in keiner Weise der Fall, weder im
Luthertum noch im Calvinismus. Alle existentiellen Fragen wurden
in theologische Formen gebracht, die abstrakt blieben in Bezug auf
menschliches Sein. Im Pietismus, der sich bekanntlich mit dem ein-
zelnen Menschen beschäftigte, finden wir dagegen das Wiedererwa-
chen, Wiederbewusstwerden gewisser Materialien der menschlichen
Existenz, wie ja überhaupt der Pietismus die Subjektivität wieder zu
entdecken versucht, es aber in einer Weise tat, die sofort zum Opfer
des herrschenden Moralismus und Intellektualismus wurde.
Ein Blick auf Kant ist hier sehr wichtig. Er hatte zwei Plätze
für existentielles Denken in seiner Philosophie, nämlich einmal die
ungeheure Betonung der Endlichkeit menschlicher Erkenntnis. Alle
Kategorien, besonders die der Zeit, sind Kategorien der Endlichkeit,
des Seins und Nichtseins. Ich glaube heute noch, dass das beste Buch
von Heidegger sein Kant-Kommentar2 ist, und zwar nicht, weil er da
Kant als Kant interpretiert, sondern weil er ein Element, das implizit
in Kant ist, herausarbeitet, nämlich die Analyse der Endlichkeit in
den Formen des kategorialen Denkens. Kant hat noch eine andere
Stelle, wo das Existentielle bei ihm vorkommt, nämlich in der Lehre
1
Korr. (Typ. GS: Bewährung [?])
2
M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929.
187
vom radikalen Bösen,1 und es ist interessant, dass besonders diese
letztere Lehre den Zorn aller seiner Zeitgenossen auf sich zog, be-
sonders den Zorn von Goethe und von den Größten seiner teilweise
Zeitgenossen, teilweise Nachfolger.
Warum konnten diese, wie Goethe es gesagt hat, die Flecke auf
dem sonst sauberen Kleid Kantischen Denkens2 nicht ertragen?
Weil sie alle den existentialistischen Gesichtspunkt vergessen hatten.
Natürlich, ein Mann wie Goethe konnte ihn nicht vergessen, aber
er suchte ihn zu vermeiden. Er suchte, wo immer, dem Problem
auszuweichen, und der größte Versuch, den Essentialismus wie-
derherzustellen und den Problemen der Existenz auszuweichen, ist
Hegels System. In dem wurde Existenz aufgelöst in eine Essenz; die
Welt ist vernünftig, insofern als sie ist. Existenz ist der notwendige
Ausdruck von Essenz, Dasein der notwendige Ausdruck von Wesen.
Geschichte ist nicht nur Konflikt einer entfremdeten Wirklichkeit mit
sich selbst, sondern ist die notwendige Manifestation dessen, was der
Mensch wesenhaft ist. Und darum kann die Geschichte verstanden
und gerichtet werden. Darum ist eine weltgeschichtliche Theodizee
möglich. Gott kann gerechtfertigt werden. Die Ängste des Schicksals,
der Schuld, des Zweifels sind beseitigt. Man erhebt sich zum reinen
Geist in Stufen. Und doch konnte Hegel dem Existentiellen nicht
entgehen. Vor allem zeigt sich das in seiner Ontologie des Nichtseins.
Die existentiellen Elemente in Hegel sind trotz allem, was ich eben
sagte, stärker, als man glaubt. Das Nichtsein ist es, das die Welt in
Bewegung erhält, die Macht des Nichts treibt jedes Ding über sich
hinaus. Eine Philosophie des Nichts, die Hegel übersehen würde,
wäre schlecht begründet. Hegel weiß darum, Hegel weiß auch um das
Mysterium, das mit dem Nichtsein verbunden ist, und um die Angst,
die mit dem Nichtsein und mit der Drohung des Nichtseins verbunden
ist. Ein zweites existentialistisches Element in Hegel ist seine Lehre,
dass innerhalb der Existenz nichts Großes geschehen kann ohne
Leidenschaft und Interesse. Das Wort „Leidenschaft“, übernommen
1
I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A 24-44 / B
26-48.
2
Goethe im Brief an das Ehepaar Herder vom 7. Juni 1793: „Dagegen hat aber
Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben
gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen zu reinigen, fre-
ventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch
auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen“ (Goethes Briefe,
hg. von K. R. Mandelkow, Band II, Hamburg 1864, S. 166).
188
von Kierkegaard, das Wort „Interesse“, übernommen von Marx,
stammen beide von Hegel und sind beide gegen Hegel verwendet
worden. Diese Formel aus der „Einleitung in die Geschichtsphiloso-
phie“1 zeigt, dass Hegel gewahr war der nichtrationalen Elemente im
menschlichen Sein. Und endlich das dritte Element, das wie die beiden
anderen alle Gegner Hegels tief beeinflusste, war Hegels Lehre, die
sich auch in der „Einleitung zur Geschichtsphilosophie“ findet, dass
Geschichte nicht der Platz ist, auf dem das Individuum sein Glück
finden kann.2 Die Weltgeschichte ist nicht für das Individuum da; aber
er hatte nun keine andere Antwort für das Individuum. Und darum
war er so unmittelbar nah an dem, was dann als Existentialismus
sich gegen ihn wendete, nämlich die, die so eine Bemerkung ernster
nahmen als er selbst und sie gegen ihn verwandten.
Und nun sind wir an einem Punkt, leider auch am Ende dieser
Stunde, wo wir kommen zu den zwei großen Teilen dieser Bewegung,
die wir Existentialismus nennen, nämlich Existentialismus als Protest
und als „revelation“3.
1
„So sagen wir also, dass überhaupt nichts ohne das Interesse derer, welche
durch ihre Tätigkeit mitwirkten, zustande gekommen ist; und indem wir
ein Interesse eine Leidenschaft nennen, insofern die ganze Individualität mit
Hintansetzung aller anderen Interessen und Zwecke, die man auch hat und
haben kann, mit allen ihr inwohnenden Adern von Wollen sich in einen
Gegenstand legt, in diesem Zweck alle ihre Bedürfnisse und Kräfte konzen-
triert, so müssen wir überhaupt sagen, dass nichts Großes in der Welt ohne
Leidenschaft vollbracht worden ist“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die
Philosophie der Geschichte [Theorie Werkausgabe, Band 12], Frankfurt a. M.
1970, S. 37 f.).
2
„Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks“ (Hegel, Vorlesungen
über die Philosophie der Geschichte, ebd., S. 42).
3
Gemeint: als Ausdruck, „Spiegel einer erfahrenen Wirklichkeit“. So auch P.
Tillich, Der Mut zum Sein (1965), S. 128 u. 139.
189
3. Vorlesung
(Mittwoch, 2. Juli 1952)
190
genüber nennt er „positive Philosophie“ den Gedanken, das Denken
des Einzelnen, der Erfahrungen macht und in einer geschichtlichen
Situation Entscheidungen fällt. Schelling war der erste, der den Be-
griff Existenz im Widerspruch zum philosophischen Essentialismus
gebrauchte. Existentialismus ist so wenig etwas Modernes, dass es
vielmehr eine Entwicklung ist, die nun schon mehr als hundert Jahre
alt ist und zwar in allen wesentlichen Begriffen von der Mitte des
19. Jahrhunderts als Protest geschaffen worden ist. Schellings Phi-
losophie wurde zurückgewiesen von der Mehrheit der Philosophen
seiner Zeit, weil er es sich zu leicht damit machte, die christlichen
Symbole unmittelbar auf dem Boden der Existentialphilosophie zu
rechtfertigen und eine Art existentieller Theologie zu bauen. Die
Situation ist recht ähnlich dem, was man heute den „theistischen
Existentialismus“ nennt, ein Begriff, den es gar nicht gibt, der gar
nicht anwendbar ist, aber gebraucht wird und der darauf hinweisen
kann, dass manche gegenwärtige Existentialisten es sich auch zu
leicht machen, zu schnell aus ihrer Existentialanalyse und Kritik
herausspringen in eine gegebene religiöse Gedankenwelt. Trotzdem
beeinflusste Schelling viele Menschen, vor allem Kierkegaard, der ihn
nicht liebt, der aber von Anfang an seine Kategorien gebraucht.
Ein anderer Angriff auf die Essentialsysteme kommt von Scho-
penhauer. Er stellt sich in der Willensphilosophie in die Tradition,
die wir verfolgt haben gestern von Duns Scotus bis zur Gegenwart
in Menschen wie Nietzsche und Bergson und Whitehead. Schopen-
hauer, den zu lesen ich allen empfehle, die existentialistische Inte-
ressen haben, d. h. die daran interessiert sind, in welcher Situation
sich der Mensch befindet, Schopenhauer entdeckte wieder viele
Charakteristika des menschlichen Seins, der menschlichen Existenz
mit all ihren dämonischen Elementen, die in der Essentialphiloso-
phie verschüttet waren. Zur gleichen Zeit betont Feuerbach, dass
der Mensch endlich ist, weil er abhängig ist von materiellen Bedin-
gungen, und er begriff den Zusammenhang zwischen menschlicher
Endlichkeit und dem religiösen Problem, die Frage nach dem, was
die Endlichkeit überwinden kann. Marx wird gewöhnlich nicht zu
den Existentialisten gerechnet. Das kann aber nur der nicht tun,
der seine Jugendschriften oder seine frühen Schriften nicht gelesen
hat. Wer sie gelesen hat, ist auf jeder Seite erstaunt, wie analog die
fundamentale Begriffsbildung zu der Begriffsbildung ist, die uns al-
len von Kierkegaard her bekannt ist. Gegenüber Hegels essentieller
Beschreibung, dass der Mensch mit sich selber versöhnt ist in der
191
gegenwärtigen Gesellschaft, versucht Marx zu zeigen, dass er nicht
nur nicht versöhnt mit sich selbst [ist], sondern in vollkommenem
Widerspruch zu sich selber steht. Und auch er sah die Beziehung
dieser Existentialsituation zu dem Religiösen. Das Religiöse ist von
ihm beschrieben als der Versuch, der Frage, die mit dieser Situation
der unversöhnten gesellschaftlichen Klassengegensätzlichkeit gegeben
ist, zu entweichen, in einer transzendenten Welt eine Versöhnung zu
finden, die in der Immanenz nicht vorliegt.
Am wichtigsten von allen existentialistischen Revolutionären des
19. Jahrhunderts ist Nietzsche. Seine Beschreibung des europäischen
Nihilismus war die Beschreibung einer Welt, in der die menschliche
Existenz vollkommen sinnlos geworden ist. Die Lebensphilosophie,
die Pragmatisten versuchten, die Spaltung zwischen Subjekt und
Objekt auf etwas zu beziehen, was jenseits von beiden steht und
was sie Leben nannten. Sie fochten gegen die objektivierte Welt mit
Begriffen wie schöpferisches Leben oder élan vital oder process,
und ich möchte daran erinnern, dass einer der größten Gelehrten
des 19. Jahrhunderts, einer der größten in der gesamten Welt und
auch anerkannt als solcher, Max Weber in Heidelberg, die tragische
Selbstzerstörung des Lebens beschrieb, nachdem einmal die techni-
sche Vernunft die Herrschaft angetreten hat.1
Das alles war Protest und konnte nicht die Gesamtheit der Situ-
ation ändern, aber als Protest war es zugleich Prophetie; und all das
war nicht nur der Fall in der Philosophie, sondern auch in Kunst
und Literatur. Die großen französischen Impressionisten betonten
die Subjektivität, aber sie gingen nicht hinaus über die Spaltung
von Subjektivität und Objektivität, sondern machten – ich erinnere
an Bilder wie die von Seurat – das Subjekt und die Bilder, die sich
in seinem Bewusstsein bilden, zum Gegenstand wissenschaftlicher
Analyse und wissenschaftlich begründeter Malerei. Sie schufen gro-
ße Kunst, aber sie gehören ganz ins 19. Jahrhundert. Die Situation
änderte sich erst, als Männer wie Cézanne, van Gogh und Munch
1
Vgl. z. B. die Schlusssätze in Max Webers Aufsatz „Askese und kapitalistischer
Geist“ (in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, Tübin-
gen 1934, S. 163-206; vorher unter dem Titel „Askese und protestantischer
Geist“ in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 21. Band, Tübin-
gen 1905,S. 74-110); dort auch die düstere Vision der „letzten Menschen“:
„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet
sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben“
(S. 109).
192
die Existentialanalyse in Farben und Formen ausführten. Von der
Zeit an schrie die Frage der Existenz den Menschen entgegen in den
beunruhigenden Formen des künstlerischen Expressionismus. In der
Literatur produzierte die existentialistische Revolte eine Fülle von
psychologischem Material. In Schopenhauer und Nietzsche ist fast
alles da, was wir heute über das Unbewusste der Menschen wissen,
nur nicht methodisch, sondern intuitiv produziert. In der Poesie
waren es vor allem Männer wie Baudelaire und Rimbaud, die die
Tiefen der menschlichen Existenz, ihre dämonischen Untergründe
in Form brachten. Im Roman waren es Flaubert und noch viel stär-
ker und viel großartiger Dostojewski, der für uns alle im Anfang
dieses Jahrhunderts die Brücke zum Existentialismus gab, noch ehe
für die meisten Kierkegaard bekannt war. Im Drama waren es Ibsen
und Strindberg, die auf der Grenze der Jahrhunderte standen. Und
wir erlebten, erinnerten uns an diese Erlebnisse auf der Bühne, die
die Wüsten und den Dschungel der menschlichen Seelen entdeckten.
Ihre Einsichten wurden bestätigt und methodisch organisiert von der
Tiefenpsychologie, die ebenfalls am Ende des Jahrhunderts anfing.
Als am 31. Juli 1914 das 19. Jahrhundert zum Ende kam, hörte die
existentialistische Revolution auf, eine Revolution zu sein, sie war
ein Spiegel geworden von dem, was jeder als Wirklichkeit erfahren
konnte.
Was war es nun genau, was diese Revolution hervorrief? All
diese Männer mit ihren Vorläufern begriffen, dass ein Prozess vor
sich ging in der modernen industriellen Gesellschaft, in der die
Menschen in Dinge verwandelt wurden, in Stücke der Wirklichkeit,
die die reine Wissenschaft berechnen und die Technik kontrollieren
kann. Und das trifft zu auf beide Gruppen, die idealistische wie
die realistische oder naturalistische. Die idealistische Richtung des
bürgerlichen Denkens verwandelte die Person in den Träger von
universalen, von allgemeinen Begriffen und allgemeinen Formen,
von Vernunftstrukturen. Der einzelne Mensch ist ein mehr oder
weniger adäquater Platz und dementsprechend mehr oder weniger
vernünftig oder vernunftfähig; seine ganze Daseinsberechtigung ist,
ein solcher Durchgangspunkt zu sein. Die idealistische Form, das
folgt daraus, war also nicht etwa, obgleich sie sich das oft einbil-
dete, eine Rettung von der verdinglichenden Entwicklung, es waren
nicht Naturdinge, die die Wirklichkeit beherrschten, aber es waren
Dinge, nämlich Allgemeinbegriffe. Es war nicht die Person. Auf
der anderen Seite stand die naturalistische Linie des bürgerlichen
193
Denkens. Auch sie machte die Person zu einem leeren Feld, in das
hinein Sinneseindrücke sich pressen, in das sie eintreten, in dem sie
miteinander kämpfen und siegen entsprechend ihren Kräften und
ihrer Intensität. In beiden Fällen war das individuelle Selbst ein
leerer Raum geworden, ein Träger von etwas, das es nicht selbst ist,
etwas Fremdes, durch das das Selbst sich selbst entfremdet ist. D. h.
beide, Idealismus und Naturalismus, sind gleich in ihrer Haltung zur
existierenden Person. Beide eliminieren die unendliche Bedeutung
der individuellen Persönlichkeit, beide machen ihn zu einem Raum,
durch den etwas anderes hindurchgeht, und beide Philosophien sind
Ausdrucksformen einer Gesellschaft, die bestimmt war, den Men-
schen zu befreien, aber die in einer tragischen Dialektik unter die
Sklaverei der Gegenstände fiel, die diese Menschheit geschaffen hatte.
Die Menschheit hatte Sicherheit gegen die Natur gewollt, aber diese
Sicherheit, die durch gut funktionierende Mechanismen garantiert
war, durch die technische Herrschaft des Menschen über die Natur,
die garantiert war durch eine raffinierte psychologische Kontrolle der
Person und der Massen, diese Sicherheit ist um einen hohen Preis
erkauft. Und der Mensch, für den all das als Mittel erfunden war,
wird selbst ein Mittel im Dienst der Mittel, und das Ziel verschwin-
det.1 Das ist der Hintergrund von Pascals Angriff auf die Herrschaft
der mathematischen Vernünftigkeit im 17. Jahrhundert – er war
der erste, der divinatorisch die Gefahren sah, die in seinem eigenen
Werk beschlossen sind. Es ist auch der Hintergrund für den Angriff
der Romantiker auf die Herrschaft der moralischen Vernunft im
18. Jahrhundert, es ist der Hintergrund von Kierkegaards Angriff auf
die Herrschaft der entpersonalisierenden Logik in Hegels Werk, es
ist der Hintergrund des Kampfes von Marx gegen die ökonomische
Entmenschlichung, es ist der Hintergrund von Nietzsches Kampf
für das Schöpferische, von Bergsons Angriff auf die Räumlichkeit,
in der tote Objekte gefunden werden und das schöpferische Leben
verschwindet, es ist der Hintergrund für den Wunsch der meisten
Lebensphilosophen, das Leben zu retten von der zerstörerischen
Macht seiner Selbstobjektivierung. Alle diese Menschen kämpften
für die Bewahrung der Person, für die Selbstbejahung des Selbst als
Selbst in einer Situation, in der das Selbst mehr und mehr in der von
ihm geschaffenen Welt der Objekte verloren gegangen war. Sie alle
1
Vgl. Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Die Dialektik der Aufklärung,
Amsterdam 1947.
194
wollten darüber hinaus, und sie sind die Grundlage, auf der nun die
dritte Form des Existentialismus sich entfaltete, der Existentialismus
als Ausdruck, d. h. unserer Situation.
Der Existentialismus, wie er im 20. Jahrhundert erschien, ist die
lebhafteste und die bedrohlichste Form, in der der Begriff Existenti-
alismus angewendet werden kann. Hier, in gewissen Erscheinungen
der ersten fünfzig Jahre dieses Jahrhunderts, kommt die existentia-
listische Ausdrucksweise an einen Punkt, der nicht mehr zu über-
treffen ist.1 Aber nicht willkürlich, sondern weil in allen Ländern
der westlichen Welt das Problem so akut geworden ist, dass wir
überall diese Ausdrucksformen in verschiedener Weise wiederfinden.
Existentialismus in diesem Sinn kommt vor in allen Gebieten der
schöpferischen Kräfte des Menschen. Er kommt vor in allen Klas-
sen der Gesellschaft. Existentialismus ist nicht die Erfindung eines
philosophischen Bohémien, eine Art und Weise, in der man ihn gern
beschreiben möchte, weil er zu bedrohlich erscheint. Auch ist er
nicht die Erfindung eines neurotischen Romanschriftstellers2, auch
nicht eine sensationelle Übertreibung, mit deren Hilfe man Profit
macht oder Ruhm gewinnen kann. Er ist auch nicht ein morbides
Spiel mit Negativitäten. Diese Dinge sind auch darin, wo wären sie
nicht, sie sind in jeder Menschenseele, aber Existentialismus selbst
ist etwas anderes. Er ist in dieser dritten Form, von der ich nun rede,
wo er Spiegel geworden ist, Ausdruck der Angst der Sinnlosigkeit,
der Angst, den Sinn zu verlieren, und als Ausdruck, als kulturelle
Schöpfung ist er zugleich ein Ausdruck des Mutes, diese Angst des
Sinnlosen in sich aufzunehmen. Unter diesen beiden Gesichtspunkten
müssen wir den gegenwärtigen Existentialismus betrachten.
Er ist nicht Individualismus im Sinn der vorbereitenden Bewegun-
gen, wie der rationalistische3 Individualismus des 18. Jahrhunderts
oder der romantische des beginnenden 19. Jahrhunderts oder der
naturalistische des späten 19. Jahrhunderts. Das alles sind vorberei-
tende Bewegungen und sie haben manches Material gegeben, wie ich
schon zeigte. Aber im Unterschied von all diesen vorbereitenden Be-
wegungen hat der moderne Existentialismus den Zusammenbruch des
Sinnes im universalsten und tiefsten Sinne erlebt. Aus diesem Erlebnis
sind seine Schöpfungen geboren. Der Mensch des 20. Jahrhunderts
1
Korr. (Typ. GS: zu einem Punkt, über den es unmöglich ist, zu gehen)
2
Korr. (Typ. GS: Novellisten)
3
Korr. (Typ. GS: rationale)
195
hat eine sinnhafte Welt verloren, er hat ein geistiges Zentrum verloren.
Die vom Menschen geschaffene Welt der Objekte1 hat ihn in sich
selber hineingezogen. Er, der sie geschaffen hat, ist verloren in ihr. Er
ist geopfert für seine eigenen Produkte. Aber das kann nie das letzte
Wort sein, der Mensch hat eine Eigenschaft behalten, er kann sich
bewusst sein dessen, was er verloren hat, und dessen, was er ständig
mehr verliert. Er ist noch Mensch genug, um Entmenschlichung zu
erfahren. Um zu wissen, was Entmenschlichung ist, muss man noch
Mensch sein. Vielleicht weiß er „keinen Ausweg“, aber dennoch
versucht er, seine Persönlichkeit zu retten, indem er schöpferischen
Ausdruck gibt der Situation „ohne Ausweg“. Er antwortet mit dem
Mut der Verzweiflung,2 aber mit dem Mut der Verzweiflung, nämlich
mit dem Mut, die Verzweiflung auf sich zu nehmen. Er sieht die
radikale Drohung des Nichtseins, nämlich das Nichtsein von Sinn,
aber er hat noch den letzten Mut, dieser radikalen Drohung einen
Ausdruck zu geben, der der Drohung selbst adäquat ist. Wer immer
heute gegenwärtige Philosophie, Kunst, Literatur, Theater analysiert,
kann diese doppelseitige Struktur aufweisen, er kann zeigen, dass sie
enthalten zuerst diese Gefahr der Sinnlosigkeit, das An-die-Grenzen-
der-Verzweiflung-Treiben und zugleich eine leidenschaftliche Anklage
gegen diese Situation und einen Versuch, die Angst dieser Situation
aufzunehmen und sie auf diese Weise zu überwinden.
Nun lassen Sie mich etwas sagen über die Kritik an der modernen
Kunst. Wenn diese Analyse, die ich gegeben habe, richtig ist, dann
ist es in keiner Weise erstaunlich, dass diejenigen, die unerschüttert
sind in ihren Sinnsymbolen, erschreckt sind durch den Ausdruck des
existentialistischen Mutes der Verzweiflung. Sie können einfach nicht
verstehen, was in unserer Periode vor sich geht, sie sind unfähig,
zwischen der schöpferischen und echten und der neurotischen Angst
im Existentialismus zu unterscheiden. Sie greifen als eine morbide
Sehnsucht an, als einen Wunsch, im Negativen zu versinken, was in
Wirklichkeit eine mutige Annahme des Negativen oder Aufnahme
des Negativen in den Mut des Seins ist. Sie nennen Verfall, was in
Wirklichkeit der schöpferische Ausdruck des Verfalles ist. Sie haben
Recht, wenn sie es Verfall nennen, aber dass der Verfall ausgedrückt
wird, ist gerade das, was dem Verfall gegenübersteht. Sie wollen ih-
1
Korr. (Typ.GS: vom Objektiven)
2
Vgl. dazu P. Tillich, Der Mut zum Sein (1965), S. 140 ff.
196
ren Verfall retten dadurch, dass sie verhindern, dass er ausgedrückt
wird. Sie wollen ihn präservieren, und darum haben sie vor nichts
mehr Angst als vor der philosophischen oder künstlerischen Ana-
lyse dessen, was vor sich geht. Sie verwerfen als sinnlos den höchst
sinnvollen Versuch, die Sinnlosigkeit unserer Situation zu offenbaren.
Es ist nicht die Schwierigkeit des Verstehens dieser modernen Kunst
und anderer Formen, was die weit verbreitete Resistenz gegen sie
verursacht, sondern es ist der Wunsch, nein, eigentlich Versuch, das,
was sie haben, zu bewahren, weswegen sie nicht verstehen wollen.
Irgendwie fühlen auch sie, dass es keine wahre Sicherheit ist, in der
sie geistig leben, auch sie müssen etwas unterdrücken, auch in ihnen
ist an einigen Stellen eine Neigung, die existentialistischen Visionen
anzunehmen, sich von ihnen beeindrucken zu lassen. Ja, wenn ich
an die Theatersituation in Amerika und in Europa denke … Man
freut sich, dass diese Dinge auf dem Theater und in den Romanen
da sind, aber man will sie nicht ernst nehmen, man will nicht aner-
kennen, dass sie ernste Offenbarungen der eigenen Sinnlosigkeit, der
eigenen verborgenen Verzweiflung sind. Die Reaktion gegen moderne
Kunst im Kollektivismus sowohl der Nazis wie der Sowjets zeigt das
vollkommen deutlich. Ebenso deutlich auch zeigen es bestimmte
Gruppen im konformistischen Denken, die sich ernsthaft bedroht1
fühlen durch diese Kunst. Gerade ein paar Monate vorher ist eine
Erklärung veröffentlicht worden in Amerika von Kirchenmännern
und anderen führenden Persönlichkeiten gegen die moderne Kunst,
weil das größte New Yorker Museum moderne Plastik ausgestellt
hatte und die nicht-moderne dabei zu kurz gekommen war. Und
das Argument war: Moderne Kunst ist immer der Vorläufer von
Bolschewismus. Ihr Lachen zeigt, dass Sie darauf reagieren wie ich,
nämlich dass die Tatsachen ja zeigen, dass es genau umgekehrt ist,
dass in dem Augenblick, wo eine Situation analysiert wird, alle
konformistischen Gruppen, ob sie totalitär oder demokratisch sind,
unvermeidlich protestieren. Aber man muss sich klar sein, dass man
sich geistig bedroht nur durch etwas fühlt, was ein unterdrücktes
Element in einem selbst ist.
Und damit kommen wir zu einer noch tieferen Analyse. Es ist
ein Symptom des neurotischen Charakters, dass er die Drohung des
Nichtseins dadurch überwindet, dass er das Sein reduziert, dass er
1
Korr. (Typ. GS: bedrängt)
197
sich auf ein begrenztes Sein zurückzieht, dass er Seinsmöglichkeiten,
die in ihm sind, opfert, um überhaupt sein zu können, weil er der
Wirklichkeit als ganzer nicht gewachsen ist. Und wenn heute die Exis-
tentialisten angegriffen werden, dass sie Neurotiker sind, so könnten
sie mit sehr viel tieferem Recht entwickeln, dass die Reaktion gegen
moderne Kunst deutlich die Mechanismen zeigt, die in allen neuro-
tischen Charakteren vorliegen. Man muss den begrenzten Raum, die
Burg, auf die man sich zurückgezogen hat, die Burg eines begrenzten
Seins, verteidigen, weil man dem ganzen Sein nicht gewachsen ist.
So liegt es sozialpsychologisch hier. Es ist unmöglich für viele, der
Analyse der menschlichen Situation ins Gesicht zu sehen, und darum
reagieren sie, wie sie reagieren. Nun, wie sieht diese moderne exis-
tentialistische Analyse der menschlichen Situation aus?
198
4. Vorlesung
(Sonnabend, 5. Juli 1952)
Existentialismus als Spiegel, als Ausdruck. Das ist das, was wir sind,
und darum möchte ich jetzt über die Situation, wie sie sich im Exis-
tentialismus des 20. Jahrhunderts ausdrückt, und über die Formen
dieses Ausdrucks etwas sagen, und vielleicht bleibt noch ein Augen-
blick für Fragen. Die erste Frucht einer kleinen Privatdiskussion mit
einem der Kommilitonen hier war, dass er mich darauf aufmerksam
machte, dass der „Mut der Verzweiflung“ im Deutschen zweideutig
ausgedrückt ist und dass das, was ich meine mit diesem Wort, richtig
ausgedrückt werden müßte als „Mut zur Verzweiflung“, nämlich als
Mut, die Verzweiflung auf sich zu nehmen. Mut der Verzweiflung
kann bedeuten: Verzweiflung und in der Verzweiflung etwas tun,
was sinnlos ist. Das ist der Sinn, der oft mit diesem Wort verbunden
ist, das ist aber nicht, was das Wort in unserem Zusammenhang
bedeuten soll. Denn es soll bedeuten den Mut, die Verzweiflung auf
sich zu nehmen.
Wir werden nun finden, dass in allen Existentialisten des 20. Jahr-
hunderts, und die Weite des Begriffs ist Ihnen ja inzwischen deutlich
geworden, in dem ich ihn benutze, dass in ihnen allen diese beiden
Elemente sich finden: die Verzweiflung wird zum Ausdruck gebracht,
aber es ist Mut, der diesen Ausdruck schafft. Hinter der Literatur
und Philosophie und Kunst des 20. Jahrhunderts liegt ein Ereignis,
durch das die Drohung der Sinnlosigkeit Wirklichkeit geworden
ist, nämlich der Verlust Gottes im 19. Jahrhundert. Feuerbach, der
antihegelsche Schüler Hegels, deutete Gott als einen Ausdruck der
unendlichen Sehnsucht nach Unendlichkeit, und diese Deutung war
nichts anderes als ihn zu wegzudeuten. Marx deutete ihn weg als
einen ideologischen Versuch des Menschen, sich über die gegebene
Wirklichkeit zu erheben, anstatt sie zu ändern. Nietzsche deutete
Gott als den Ausdruck eines geschwächten Willens zum Leben,
einer geschwächten Selbstbejahung des Willens, denn das bedeutet
der sogenannte Wille zur Macht. Er formuliert dann die Situation
der Sinnlosigkeit. Er erlebt Sinnlosigkeit, wenn er sagt: „Gott ist
tot“. Das bedeutet für ihn, dass das gesamte System der Werte, das
seine Stütze und sein Fundament im Gottesgedanken fand, verloren
gegangen ist. Er selbst fühlt das nicht nur als einen Verlust, sondern
als eine Befreiung. Andererseits war er sich klar, dass diese Befreiung
notwendig zu dem führte, was er Nihilismus nennt, nämlich das
199
Nichtsein des Sinnes. Und seitdem ist das Sinnproblem das zentrale
Problem aller großen Schöpfungen des 20. Jahrhunderts. Die ande-
ren Probleme, die mit der menschlichen Existenz zusammenhängen,
Endlichkeit und Schuld, sind immer auch da, sie könnten nicht nicht
da sein, aber sie sind nicht das, was die zentrale Aufmerksamkeit
erweckt. Der Zweifel hat die Voraussetzungen aller Antworten auf
diese Form des Sinnverlustes untergraben, und nun ist der Sinnverlust
unbedingt geworden. Niemand hat den Existentialismus des 20. Jahr-
hunderts mehr beeinflusst als Nietzsche in der Literatur und in der
Philosophie. Ich möchte nur erinnern an die Wertung, die Heidegger
Nietzsche gibt in seinen letzten Schriften, in den „Holzwegen“ vor
allem, [in] einem der großartigsten Aufsätze über Nietzsche, den ich
jedem von Ihnen empfehle, wo er zu zeigen versucht, dass die Linie
von Platon zu Nietzsche sozusagen die Gesamtheit der abendländi-
schen Metaphysik umspannt, dass, was mit Plato angefangen hat,
mit Nietzsche aufhört.1
Auf dieser Grundlage hat nun der Existentialismus und d. h. die
große Kunst, Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts den
Mut gezeigt, Sinnlosigkeit auszudrücken. In den Schöpfungen aller
dieser Menschen haben wir den Mut zur Verzweiflung, d. h. den
Mut, Verzweiflung auszudrücken und damit in den Mut hineinzu-
nehmen. Sartre, der oft als der wichtigste Vertreter bezeichnet wird,
obgleich er es keineswegs ist, hat in einem seiner besten Stücke, „Kein
Ausweg“2, wie er es nannte, die klassische Formel für die Situation
der Verzweiflung gegeben. Ich erinnere daran, dass im Lateinischen
Verzweiflung „desperatio“ heißt und im Englischen „despair“, im
Französischen „désespération“, d. h. „ohne Hoffnung“, ohne etwas,
wozu man gehen kann. Das ist die horizontale Symbolik für Ver-
zweiflung, wie sie sich in den romanischen Sprachen findet und im
Englischen, soweit es vom Romanischen beeinflusst ist. Die germa-
nische Sprache hat das Wort „Verzweiflung“, was wahrscheinlich
mit der Silbe „zwei“ in irgendeinem Zusammenhang steht, auf alle
Fälle Zwiespalt andeutet, Konflikt, sozusagen vertikale Verzweiflung
erlebt. Das ist charakteristisch für das Lebensgefühl dieser beiden
Gruppen von Menschen. Aber wenn Sartre das Stück „Kein Aus-
1
M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders., Holzwege, Frank-
furt a. M., 1950, S. 193-247.
2
Huis clos (1944), deutsch: „Geschlossene Gesellschaft“ bzw. „Die geschlos-
senen Türen“.
200
weg“ nennt, dann formt er ja die Situation, die ohne Ausweg ist,
und formt sie in einem großen Theaterstück. Er hat einen Ausweg,
keinen endgültigen, aber einen vorläufigen Ausweg, er kann sagen:
„ohne Ausweg“, und das Sagen-Können „kein Ausweg“ ist sein Aus-
weg. T. S. Eliot hat zum Titel seines ersten klassischen Gedichts das
Wort „The Waste Land“ genommen, d. h. „die Wüste“, „das wüste
Land“genau.1 Er beschreibt darin die Selbstzerstörung der Zivilisa-
tion, den Mangel an Überzeugung und Richtung, die Armut und die
Hysterie des modernen Bewusstseins. Aber nun möchte ich sagen: Es
ist ein wundervoll kultivierter Garten eines großen Gedichts, in dem
er die Wüste zum Ausdruck bringt. Das heißt, auch in ihm haben
wir das Aussprechen und dadurch das Auf-sich-Nehmen dessen, was
als Sinnlosigkeit beschrieben ist.
In den beiden wichtigen Romanen von Kafka, „Das Schloss“ und
„Der Prozess“, wird die unerreichbare Ferne der Quelle des Sinnes
beschrieben. Das Schloss, das das Leben des Dorfes dirigiert, ist der
Ausdruck des Sinnes, ist die Quelle des Sinnes, und dieses Schloss
kann nie erreicht werden. Der Held, Herr K., d. h. Kafka, d. h. der
Mensch im Zeitalter des Existentialismus, kann nicht die Quelle des
Sinnes erreichen. Er weiß, sie ist da, er weiß, er wird in irgendeinem
unverständlichen Sinn davon dirigiert, aber er kann sie nicht errei-
chen, er kann nicht zu ihr gehen. Und dasselbe im „Prozess“. Es
ist die Quelle der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, die dunkel
ist. Er ist angeklagt, aber er weiß nicht, wer ihn angeklagt hat, weiß
nicht, wessen er angeklagt ist. Der ganze Roman ist ein Versuch,
das Lebensschuldbewusstsein zu analysieren und zu determinieren,
und das Ergebnis ist, dass es nicht determiniert werden kann. Der
Mensch ist getrennt von der Quelle des Sinns. Aber das zu sehen
und das in einer Sprache zu sagen, die selbst klassisch ist, ist Mut
zur Verzweiflung. Der Mensch ist getrennt, aber er ist nicht ganz
getrennt, er kann noch sagen, dass er getrennt ist. Und das ist das,
was in diesen Romanen so ungeheuer erschütternd ist. Der jetzt in
Amerika lebende, ursprünglich englische Dichter Auden spricht vom
„Zeitalter der Angst“2, und auch darin findet sich der Mut, in sich
hineinzunehmen die Angst einer Welt, die den Sinn verloren hat. In
Sartres „L’âge de raison“, „das Zeitalter der Vernunft“ (eine Ironisie-
1
T. S. Eliot, The Waste Land and other poems, London 1940, 111959.
2
W. H. Auden, The Age of Anxiety, 1948; deutsche Übers.: Das Zeitalter der
Angst, Einleitung von G. Benn, 1951.
201
rung!), ist der Held damit beschäftigt, zu vermeiden, dass irgendeine
Situation auftritt, die ihn binden könnte, die ihn unfrei machen
könnte. Er hat Freiheit, aber er zahlt dafür den Preis vollkommener
Entleerung. Und hier wieder ist es der Mut, diese Entleerung der
absoluten Freiheit zu beschreiben, die hinter diesem Roman steht.
Dann möchte ich Sie auf eine Figur aufmerksam machen, falls Sie
sie noch nicht kennen, die in irgendeinem Sinne die vollkommenste
Beschreibung dessen ist, was als Drohung in der industriellen Ge-
sellschaft über uns steht, eine Figur, die den vollkommenen Verlust
der Subjektivität kennzeichnet. Das ist „der Fremde“1 von Camus,
dem französischen Novellisten und Philosophen. Dieser Mann, der
beschrieben wird nicht als irgend etwas Besonderes, sondern als der
absolute Durchschnitt, ist ein Mensch ohne Subjektivität. Er ist in
keiner Weise außerordentlich, er arbeitet als ein gewöhnlicher Be-
amter in einer mittleren Position. Er handelt dementsprechend, wie
jeder in seiner Position handeln würde, und doch ist er ein Fremder,
weil er an keinem Punkt eine reale Beziehung zu sich und seiner Welt
erreicht. Alles, was ihm zustößt, hat weder Realität noch Sinn für
ihn: eine Liebe, die keine wirkliche Liebe ist, ein Prozess gegen ihn,
der kein wirklicher Prozess ist, eine Verurteilung, die nicht wirklich
begründet und nicht wirklich unbegründet ist, eine Hinrichtung, die
ihm geschieht wie einem Ding, das zerbrochen wird. Es gibt in ihm
weder Schuld noch Vergebung, weder Verzweiflung noch Mut. Er ist
nicht beschrieben als eine Person, sondern er ist beschrieben als ein
psychologischer Prozess, der vollständig bedingt ist. Die Philosophen
der bedingten Reflexe sollten diese Erzählung2 immer wieder lesen.
So würde der Mensch aussehen, wenn sie Recht hätten. Aber Gott
sei Dank haben sie nicht Recht. Was immer er tut, ob er arbeitet
oder liebt oder tötet oder isst oder schläft oder getötet wird, er ist
ein Objekt unter Objekten, er hat keinen Sinn für sich selbst, und er
ist deswegen unfähig, Sinn in seiner Welt zu finden. Er vertritt das
Schicksal des Absolut-Objekt-Werdens, gegen das alle Existentialisten
seit den frühesten Zeiten des 19. Jahrhunderts gekämpft haben. Er
vertritt vielleicht die radikalste Form ohne Versöhnung.
Nun lassen Sie uns einen Moment auf das Theater sehen, weil
da nicht nur die Sache selbst, sondern auch die Reaktion der Zu-
1
A. Camus, L’Étranger, Paris 1942; deutsche Übers.: Der Fremde. Erzählung,
Boppard 1948.
2
Korr. (Typ. GS: Novelle)
202
schauer wichtig ist. Das Theater, jedenfalls in den USA, ist voll von
Sinnlosigkeit und Verzweiflung. In vielen Stücken ist nichts anderes
als dies gezeigt. Sie selber haben auch hier kennen gelernt, was im
Englischen heißt „Death of a Salesman“1 oder „A Streetcar Named
Desire“2. Aber es kommt niemals zu Positivitäten. Keine positive
Lösung wird wirklich gegeben, und das Erstaunliche ist, dass diese
Spiele in Amerika, wo man doch – ich nehme an, dass Sie dieses
Bild haben, dass da viele Menschen wohnen, „who all together
have a good time“. Darin ist in mancher Beziehung, wenn nicht die
Idealbildung beschrieben werden sollte, ein Stückchen Wahrheit.
Die Wirklichkeit aber ist, dass die Menschen in Massen Monat
für Monat und Jahr für Jahr in diese Stücke strömen. Und diese
Tatsache zeigt, dass irgend etwas in diesen Menschen angetastet ist,
das die Sinnlosigkeit ihrer Existenz beschreibt. Und ich kann Ihnen
dazu berichten, dass diejenigen Stellen in meiner systematischen
Theologie, die meine Studenten vor dem Zweiten Weltkrieg gehört
haben, in denen ich die Probleme der Endlichkeit, der Schuld und
der Sinnlosigkeit beschrieben habe im Zusammenhang des theolo-
gischen Systems, von ihnen nicht nur aufs Intensivste aufgenommen
wurden3, sondern, soweit sie dann in den Krieg gingen, vielfach als
Feldprediger und mit ihren Soldaten zusammenlebten oder auch
einfach als christliche Soldaten ohne Spezialfunktion – sie kamen
zurück und sie erzählten mir, dass dies die Dinge gewesen waren,
die bei all denjenigen, die mit der christlichen Symbolik als solcher
nichts mehr anfangen konnten, ein Tor aufgeschlossen hatten. Und
darum glaube ich – das ist im Grund der Sinn dieser ganzen Vorle-
sung, den ich schon heute vorwegnehme – dass, wenn es überhaupt
möglich sein sollte, die theologische Auffassung vom Menschen
wieder verständlich zu machen, dass das nur geschehen kann mit
Hilfe der Existentialanalyse, weil nur dadurch diejenigen Tiefen,
die der Mensch heute imstande ist, in seiner Sprache zu fühlen, zu
sehen in sich selber, ihm als ein Spiegel vorgehalten werden, der nicht
getrübt ist durch die unzähligen falschen Assoziationen, die sich an
die traditionellen christlichen Begriffe binden.
1
Von Arthur Miller (1949), deutsche Übers. „Der Tod eines Handlungsreisen-
den“ (1950).
2
Von Tennessee Williams (1947), deutsche Übers. „Endstation Sehnsucht“
(1949).
3
Korr. (Typ. GS: sind)
203
Die Einheit von dem Erlebnis der Sinnlosigkeit und dem Mut, es
zur Darstellung zu bringen, finden wir auch in der bildenden Kunst in
allen ihren Formen. Im Expressionismus und im Surrealismus sind die
Oberflächenstrukturen der Wirklichkeit zerrissen. Die ontologischen
Kategorien, die alle normale Erfahrung konstituieren, haben ihre
Macht verloren. Das ist das Entscheidende zum Verständnis dieser
Bilder. Zum Beispiel die Kategorie der Substanz ist verloren, feste
Gegenstände werden locker wie Stricke (ich denke an die Uhren, die
von den Leinen hingen, von einem der expressionistischen Maler1);
die kausale Bedingtheit der Dinge voneinander wird ignoriert, die
Dinge erscheinen auf diesen Bildern in vollständiger Zufälligkeit
vom Standpunkt ihre Inhaltes, nicht vom Standpunkt der Bildform;
zeitliche Folgen sind ohne Bedeutsamkeit, sie können gleichzeitig
erscheinen, und das ist in den Romanen2 noch stärker durchgeführt,
es ist gleichgültig, ob ein Ereignis früher oder später stattgefunden
hat, es kann gleichzeitig gezeigt werden. Die räumlichen Dimensi-
onen werden aufgelöst in eine erschreckende Unendlichkeit, in die
man hineingerissen wird. Die organische Struktur des Lebens wird
in Stücke geschnitten und willkürlich – vom biologischen Stand-
punkt, nicht willkürlich vom künstlerischen Standpunkt aus – wieder
zusammengesetzt. Glieder werden an verschiedene Plätze gesetzt,
wo sie nicht hingehören, Farben werden getrennt von ihren natür-
lichen Trägern, die psychologischen Prozesse im Menschen werden
umgedreht, und – das bezieht sich mehr auf die Literatur als auf
Kunst – man lebt von der Zukunft zurück in Vergangenheit, man
lebt ohne Rhythmus – denken sie an „Ulysses“, diesen Roman von
James Joyce. Man lebt ohne Sinnorganisation, zufällig, von Moment
zu Moment. Die Welt der Angst ist eine Welt, in der die Kategorien,
die die Wirklichkeit konstituieren, ihre Gültigkeit verloren haben.
Stellen Sie sich einen Moment vor, dass jetzt in diesem Raum etwas
ohne Kausalität geschähe3, dass etwa das Glas umfiele, ohne dass ich
daran gestoßen hätte usw., ohne Grund. Wir würden alle denken,
das ist eine Sinnestäuschung oder wir sind wahnsinnig geworden.
Und das steht dahinter: Die Sinnstrukturen der Wirklichkeit sind
1
Gemeint sind die „weichen Uhren“ des Surrealisten Salvador Dalí, insbe-
sondere das Bild „Die Beständigkeit der Erinnerung“, 1931 (im Museum of
Modern Art, New York).
2
Korr. (Typ. GS: Novellen)
3
Korr. (Typ. GS: geschehe)
204
aufgelöst, und das zeigt diese Kunst. Aber sie zeigt es in anderen
Strukturen, nämlich in Strukturen großer Kunst. Darum ist es so
töricht, diese Kunst anzugreifen als Vorläufer totalitärer Systeme. Sie
drücken aus, was wir haben, aber sie verursachen es nicht. Und nur
diejenigen, die das Spiegelbild nicht ertragen können oder die nicht
davon getroffen sind, weil sie nicht in dieser Sinnentleerung stehen
oder nichts davon erlebt haben, reagieren dagegen.
205
dass man etwas falsch tut, sondern dass man überhaupt etwas tut.
Wir müssen schuldig werden dadurch, dass wir handeln, nicht da-
durch, dass wir falsch handeln. Denn handeln und falsch handeln
können nicht unterschieden werden, weil es keine Norm für falsch
und richtig gibt.
Die Konsequenzen von Heidegger werden noch radikaler von
Sartre gezogen. Das ist eine sehr viel umstrittenere Erscheinung. Er
hat das Unglück gehabt, wie man in Amerika sagt, „fashionable“ zu
werden, d. h. von den oberen Klassen der intellektuellen Gesellschaft
als Gegenstand der Teestunde oder der Cocktailparties benutzt zu
werden. Das bekommt einem Philosophen nicht gut, wenn er in diese
Situation gebracht wird, mit oder ohne seine Schuld. Wenn man ihn
davon einmal loslöst und vor allem den Begriff Existentialismus von
der zu intimen Verbindung mit Sartre abschneidet, sieht es anders
aus. Er ist ein großer Dramatiker, darüber ist kein Zweifel, er ist
ein schlechter Romanschriftsteller1, aber die schlechten Romane2
sind immerhin voll von philosophischem Ausdruck3, er ist ein glän-
zender Psychologe, wie alle französischen Moralphilosophen immer
gewesen sind. Er ist ein schülerhafte Ontologe, nämlich Schüler von
Heidegger. All das sind Elemente in ihm. Und trotzdem hat er etwas
getan, was immer wichtig ist, dass nämlich radikale Konsequenzen
aus einem Standpunkt gezogen werden. Und das hat er getan, und
zwar hat er das getan in einem Satz, worin komprimiert die ganze
existentialistische Philosophie enthalten ist: „Das Wesen des Men-
schen ist seine Existenz.“4 Das ist ein Satz, der anscheinend sehr
harmlos und sehr abstrakt und für manche vielleicht sehr töricht
klingt. Hinter diesem Satz steht die Entthronung Gottes und die
Inthronisation des Menschen als Gott. Denn was bedeutet dieser
Satz? Er bedeutet, dass der Mensch seinem Wesen nach das ist,
was er aus sich macht, dass er genau das tut, was im Mittelalter
von Gott gesagt worden ist, nämlich dass er „a se“ ist, Aseität hat,
dass er sich selber schafft. Sie erinnern sich an die Worte aus dem
1
Korr. (Typ. GS: Novellist)
2
Korr. (Typ. GS: Novellen)
3
La nausée, Paris 1938; Les chemins de la liberté, 3 Bde. (L’âge de raison. Le
sursis. La mort dans l’âme), Paris 1945-1949.
4
Eine von Tillich selbst formulierte Zusammenfassung von Sartres Schrift
L’Existentialisme est un Humanisme, Paris 1946, deutsche Übers.: Ist der
Existentialismus ein Humanismus?, Zürich 1947.
206
„Faust“: „Im Namen dessen, der sich Selbst erschuf!“1 – das ist die
deutsche Übersetzung von Aseität. Nun, „Gott ist tot“, das ist die
Voraussetzung für Sartre, die er genauso energisch wie Nietzsche zum
Ausdruck bringt. Wenn aber Gott tot ist, der einzige, von dem bisher
gesagt wurde, dass er sich selber machte, dann ist es der Mensch,
der [sich selbst] macht, und er hat Aseität bekommen. Der Mensch
schafft, was er ist, er ist der Schöpfer, aber er hat keine Norm für
seine Schöpfung, es gibt keine Essenz, Wesenhaftigkeit, wonach er
sich richtet. Das Wesen seines Seins ist nicht etwa, dass er frei ist,
sondern er macht es, und damit ist das, was sein sollte, etwas, was
er macht.2 Der Mensch ist, was er aus sich selber macht, das ist die
radikalste Form und darum in gewisser Weise die offenbarendste
Form, die wir im Existentialismus haben.
Demgegenüber wirken Leute wie Jaspers stark idealistisch in ihrer
Formulierung. In dem Begriff des Umgreifenden ist die idealistische
Tradition der Identität bewahrt, und Menschen wie Gabriel Mar-
cel, die ausgesprochen im katholischen Lager wie Kierkegaard im
protestantischen [sich befinden], sind zu schnell in ihrem Wunsch,
zurückzukehren zu der Tradition.
Ich habe von den schöpferischen Formen des Existentialismus
gesprochen und habe in den verschiedensten Gebieten Ihnen Aufweise
dafür gegeben. Aber nicht aller Existentialismus ist schöpferisch.3 Wer
von uns würde sich ohne weiteres als schöpferisch im Sinn der von
mir eben Genannten betrachten? Niemand. Aber das existentielle
Problem kann sich auch in anderer Weise ausdrücken. Es gibt zwei
Typen, die es ausdrücken in einer ganz deutlichen Weise und die nicht
schöpferisch sind. Der eine ist der Zyniker, und der andere ist der
Indifferente. Der Zyniker – und die ganze junge Generation ist voll
von Zynikern – ist nicht ein Nachfolger der griechischen Philosophie,
das waren tief gläubige Sokratiker, die an die Vernunft glaubten und
von da aus die Gesellschaft kritisierten. Ein Zyniker ist auch nicht ein
Einzelner, der es liebt, zynische Bemerkungen zu machen, besonders
um romantische Blasen aufzustechen – was oft sehr nötig und schön
ist; ohne ein bißchen Zynismus, besonders in Deutschland, kommt
man nicht durch. Aber es gibt einen anderen Zynismus. Und dieser
andere Zynismus ist die nicht-schöpferische Form des Mutes zur
1
Anfangszeile aus Goethes Gedicht „Prooemion“.
2
Korr. (Typ. GS: und damit das, was sein sollte, ist etwas, was er macht)
3
Zum Folgenden vgl. P. Tillich, Der Mut zum Sein (1965), S. 151 ff.
207
Verzweiflung, und die Menschen, die in diesem Zustand sind, sind
genau so wichtig für das Verständnis unserer Zeit wie die, die diesem
Mut zur Verzweiflung Ausdruck geben. Sie geben ihm Ausdruck in
der Art des Lebens. Sie sind imstande, immer wieder Mut zu schöp-
fen, den absoluten Zweifel in sich zu tragen und anzuwenden, Mut
zu schöpfen, bei jedem Sinnsymbol, das ihnen angeboten wird, den
Zweifel anzumelden, und sie haben darum dieselbe Positivität, wie
ich sie bei den Existentialisten beschrieben habe. Sie sind weit besser
als die Indifferenten. Die Indifferenten haben die Verzweiflung im
Grunde, weil sie ja Menschen sind, und Menschen ohne Sinn in der
Angst der Sinnlosigkeit, die nicht überwunden werden kann, sind in
Verzweiflung. Aber sie haben nicht den Mut, diese ihre untergründ-
liche Verzweiflung offen auszudrücken, sich selber einzugestehen
und zu objektivieren, und das macht sie auf die Dauer neurotisch,
auch wenn sie im technischen Sinn nicht Neurotiker sind. Neurose
ist das Resultat der Unfähigkeit, das Nichtsein in sich aufzunehmen,
der Unfähigkeit, den Mut zu haben, die Angst des Nichtseins, der
Sinnlosigkeit, der Schuld in sich aufzunehmen und [der Neigung],
dann auf einem begrenzten, qualitativ und quantitativ begrenzten
Seinsgebilde sich ein Schlößchen zu bauen, aber nicht das Schloß
von Kafka, das die Quelle des Sinns ist, sondern ein kleines Schloß,
wo ein kleiner Sinn, der unreal ist, mit der Wirklichkeit nicht ganz
übereinstimmt, eingeschlossen ist. Das ist ein Typ, aus dem die
große Bewegung, die sich in den neurotischen Formen der Existenz
ausdrückt, besonders in Amerika, [hervorgegangen ist]1. Wenn wir
sie analysieren, so ist es die Sinnlosigkeit der Existenz zum Beispiel
in „Death of a Salesman“, die Sinnlosigkeit dieser Existenz auf der
Straße ein ganzes Leben lang … und zwar in einer Weise, dass die
Persönlichkeit dabei zerbricht. Diese Phänomene der Neurose und oft
auch Psychose sind Phänomene, die mit der existentiellen Situation
des Menschen im Zeitalter der Sinnentfremdung zusammenhängen.
Es sind nicht spezielle Krankheiten, es sind nicht einzelne Menschen,
die immer mal krank wurden – jeder kennt ja Menschen, die krank
wurden – , sondern es sind Phänomene weitgehender Art, die onto-
logisch verstanden werden müssen. Und sie können ontologisch nur
verstanden werden, wenn wir begreifen, dass die Antwort auf die
Angst des Nichtseins in all ihren Formen der Mut zum Sein, zum
Ja ist, nicht: die Angst zu entfernen, sondern sie in sich zu nehmen
1
Korr. (Typ. GS: gefunden werden muss)
208
und in sich zu tragen. Das ist die einzige Möglichkeit, denn die
Angst ist nichts, was entfernbar ist, aber sie kann durch den Mut
aufgehoben werden. Das ist der richtige Mut, der die Angst in sich
aufnimmt, der nicht wegsieht davon. Wer das nicht fertigbringt, der
muss unvermeidlich sich von der Realität zurückziehen. Wenn er
aber leben will – der Neurotiker will ja nicht sterben, sondern leben,
Lebensmöglichkeit finden – , so muss er die Fülle seiner Potentialitä-
ten opfern, um einige noch zu aktualisieren. Er muss ein Fülle von
Realität opfern, um an der Realität überhaupt teilzunehmen. Und
wenn er das tut, dann produziert er das, was man den Verteidigungs-
mechanismus genannt hat. Darum habe ich das Bild „Burg“ gewählt.
Dieses eng begrenzte Gebiet, das realitätsfremd ist, das die eigene
Potentialität nicht zur Entfaltung bringt, wird nun leidenschaftlich
verteidigt, und jeder Analytiker, jeder Seelsorger, jeder Freund, der
mit Menschen dieser Art zu tun hat, weiß, wie ungeheuer stark die
Verteidigungsmechanismen sind, wenn man einmal sich auf eine
solche begrenzte Existenz zurückgezogen hat.
Damit ist die Analyse des Existentialismus, soweit für diese Vor-
lesung [nötig], im allgemeinen beendet. Ich will nun nächste Woche
in die mehr anthropologischen, also die Lehre vom Menschen be-
treffenden Probleme von verschiedenen Seiten her kommen. Aber
vielleicht wird es nötig sein, dass zu dieser Gesamtanalyse doch
Fragen gestellt werden.
209
5. Vorlesung
(Montag, 7. Juli 1952)
Wir müssen einen Augenblick uns jetzt über die Entwicklung unseres
Gesamtgedankenganges klar werden. Wir haben angefangen mit ei-
ner Analyse der existentialistischen Auffassung vom Menschen und
zwar in der geschichtlichen Sicht. Wir sind in der vorigen Stunde bis
zu dem Punkt gekommen, wo wir unmittelbar die zeitgenössischen
Formen des Existentialismus behandeln konnten, und wir sind nicht
nur zu den theoretischen und ästhetischen Ausdrucksformen des
Existentialismus gekommen, sondern haben auch den nicht-schöp-
ferischen Existentialismus in den beiden Grundformen des Zynismus
und der Indifferenz behandelt. Der Grundgedanke war, dass der
Existentialismus in seiner Gesamtentwicklung eine Revolte ist gegen
die Gefahr der Verdinglichung in der spätbürgerlichen Gesellschaft,
im spätindustriellen Zeitalter. Das führt zu der naheliegenden Frage,
inwieweit diese beiden Grundtendenzen in unserer gegenwärtigen
Situation in ihrem Ringen miteinander gesiegt haben oder besiegt
worden sind. Und da würde ich als erste Antwort sagen: In allen
Formen, in denen der Existentialismus versucht hat zu revoltieren,
ist er besiegt worden. Und diese Niederlagen bestimmten weiterhin
das gegenwärtige Selbstverständnis des Menschen. Lassen Sie mich
das in verschiedenen wesentlichen Punkten durchführen, um dann
daraus die Frage zu stellen, ob es noch andere Mächte gibt, die in
derselben Linie arbeiten und die vielleicht über den Existentialismus
hinaus zur Antwort beitragen können.
Zunächst hatten wir einen Begriff in Kierkegaard gefunden, der für
die Gesamtsituation wichtig ist, nämlich den Begriff des Sprunges.1
Wir hatten gesehen, dass der philosophische Existentialismus den
Sprung des Einzelnen aus allen Traditionen heraus, aus allen sozi-
alen Verflechtungen heraus in die Freiheit normloser Entscheidung
bedeutet. Der theologische Existentialismus, worunter ich nicht nur
Kierkegaard verstehe, sondern alle diejenigen, die unmittelbar von
ihm beeinflusst sind in ihrer theologischen Formulierung, soweit sie
die fundamentale Analyse Kierkegaards anerkennen, dieser theologi-
sche Existentialismus verlangt den Sprung des Individuums aus der
1
Den Begriff „Sprung“ (bei Kierkegaard) hatte Tillich zuvor noch nicht behan-
delt.
210
gegebenen kulturellen und intellektuellen Situation in die Annahme
einer geheiligten Tradition, die vielleicht Hunderte von Jahren oder
weniger früher formuliert worden war.
Lassen Sie uns einen Moment über diese Idee des Sprunges nach-
denken. Der Sprung soll befreien. Aber müssen wir nicht fragen: Hat
er nicht vielmehr die Eigenschaft, wieder zu versklaven? Ein Beispiel:
Die Persönlichkeiten oder die Figuren in Sartres Romanen1 haben
absolute Freiheit, aber was für eine Freiheit ist das? Es ist die Freiheit,
unter den Zwang der äußeren und inneren Situation des Augenblicks
zu fallen. Der Held kann nicht nach Normen handeln, er widersteht
allen sozialen und anderen Bindungen. Aber anstelle des Zwanges
von oben ist er getrieben durch einen Zwang von unten, durch seine
triebhafte Reaktion auf die Zufälle, denen er begegnet.
Und das ist eine tiefe Dialektik, die immer dann eintritt, wenn die
Freiheit als absolute Freiheit bezeichnet wird und nicht kompensiert
ist durch Schicksal und die Normen, die schicksalhaft uns begegnen.
Das ist die eine Art, in der der Existentialismus des Sprunges sich
selbst aufhebt. In der neoorthodoxen Theologie, dem, was man hier
fälschlicherweise „dialektische Theologie“ nennt, unterwirft sich der
Christ durch einen Glaubenssprung den traditionellen kirchlichen
Dogmen. Sicherlich, er ist frei in dem Moment, in dem er springt,
aber sein Sprung in die Freiheit schließt das Opfer der Freiheit mit
ein. Nachdem er gesprungen ist, ist er abhängig von objektiven Tra-
ditionen, die genauso ihn zum Objekt des Unterwerfens machen wie
die Struktur der Gesellschaft als ganze. Die Macht der technischen
Gesellschaft ist wirksam und sichtbar in diesem Konflikt zwischen
unentrinnbarer Notwendigkeit und dem Sprung in die Freiheit. Die
Person ist verloren, wenn die Notwendigkeit vorwiegt. Die Person
versucht, sich selbst zu retten durch einen Sprung, aber der Sprung
führt zu neuen Formen der Knechtschaft – natürlichen Formen wie
bei Sartre oder übernatürlichen wie in der neuorthodoxen Theologie.
Nur wenn wir diese Situation realistisch anblicken – sie ist unsere
Situation mehr noch, als sie Hegels und Kierkegaards war – , nur
dann können wir die Ernsthaftigkeit des Problems der menschlichen
Natur, das durch den Existentialismus gestellt ist, voll würdigen.
Aber das ist nur ein Beispiel für den Umschlag des Existentialismus
in sein Gegenteil.
1
Korr. (Typ. GS: Novellen)
211
Ein anderes Beispiel war der Versuch der sozialen Umformung zum
Zweck der Rettung der Person, zum Zweck der Rettung der Freiheit,
wie Engels es formuliert hat: „der Sprung der Menschheit aus dem
Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“1. Ganz gleich,
was diese Phrase im einzelnen bedeutet, sie zeigt, wie exakt die Situ-
ation von Engels gesehen ist im Sinn der existentialistischen Revolte
gegen die notwendigen Zwänge der industriellen Gesellschaft. Aber
die Frage ist nun: Wie kann man aus ihr entrinnen? Man kann sagen,
dass Engels und Marx meinen, durch den dialektischen Prozeß und
durch die Revolution, die der dialektische Prozeß bringen wird. Aber
soziale Dialektik läuft ja durch menschliche Wesen hindurch, und wo
menschliche Wesen ins Spiel kommen, gibt es ja Möglichkeiten, dass
die Dialektik nicht funktioniert. Daraus entsteht ein Problem, das
nicht viel anders ist und genauso radikal ist wie das von Kierkegaard,
nämlich das Problem des Sprunges. Wenn der dialektische Prozeß
nichts wäre als ein natürlicher Prozeß, der wissenschaftlich beschrieben
würde, würde kein Problem entstehen außer dem Problem: Wie kann
man so etwas beschreiben, wenn man selbst darin ist? Aber auch für
Marx und Engels ist ja der dialektische Prozeß durch das Handeln
von Menschen vermittelt, und wenn nach den Voraussetzungen diese
Personen entpersonalisiert sind durch den Zustand der bürgerlichen
Gesellschaft, dann entsteht die Frage: Wer soll dann die Umformung
aus dem Zustand der Notwendigkeit in den Zustand der Freiheit vor-
nehmen? Und daraus ergibt sich das große Problem, an dem der Mar-
xismus gescheitert ist, nämlich das Problem der Befreiung der Person
mit Hilfe eines Prozesses, der die Person verschlingt. Die Reaktion auf
den Unsicherheitskoeffizienten, den die Person einführt in den dialek-
tischen Prozess, kann nur zu zwei Möglichkeiten führen: Entweder der
dialektische Prozess bleibt dauernd bedroht, es ist möglich, dass die
Dinge völlig anders laufen, als die Erwartung der wissenschaftlichen
Analyse es fordert, oder aber man schaltet das irrationale Element der
Freiheit, die man schaffen will, aus. Und das ist der Versuch dessen,
was man vielleicht Stalinismus nennen kann, der Versuch, die Person
in einem künftigen Zustand der Geschichte zu retten, indem man
in der Gegenwart diejenigen personalen Elemente entfernt, die die
Zukunft in Gefahr bringen könnten. Um der angeblichen Freiheit der
Zukunft willen, für die existentialistische Gedankengänge auch des
1
Friedrich Engels, Anti-Dühring (Karl Marx Friedrich Engels Werke, Bd. 20,
Berlin 1962, S. 264).
212
ursprünglichen Marxismus gekämpft haben, wird die menschliche
Freiheit, die Person in der Gegenwart geopfert. Und diese Dialektik,
die wirkliche Dialektik und nicht mechanische Notwendigkeit ist, hat
zum Aufbau eines Systems geführt, in dem alle Mittel der industriellen
Gesellschaft, alle technischen Mittel benutzt werden, um jedes Risiko
zu eliminieren, das in der persönlichen Reaktion von Einzelnen enthal-
ten sein mag. Ein Typ technischer Gesellschaft ist aufgebaut worden,
in dem die Person in der Gegenwart völlig geopfert ist für die erhoffte
Person der Zukunft. Man kann sagen: Eine Bewegung, die angefangen
hat mit einem leidenschaftlichen Kampf gegen Entpersönlichung, ist
umgebaut worden in eine der größten Mächte der Entpersönlichung
in aller Geschichte.
Die Tragödie, die in diesen Sätzen enthalten ist, ist schwer zu er-
messen, und zwar meine ich vor allem die eine Seite dieser Tragödie,
die mir immer wieder in einzelnen Persönlichkeiten, in einzelnen
Intellektuellen in unserer Zeit entgegentritt. Viele Menschen gehörten
der Bewegung an, die hier im weitesten Sinne als existentialistischer
Protest bezeichnet ist. In den zwanziger Jahren, in Amerika in den
dreißiger Jahren, glaubten sie, dass im Kommunismus etwas enthalten
ist, was genau dem entspricht, was Marx als Kampf gegen die Ent-
persönlichung bezeichnet hatte, und so folgten sie. Und nun sahen
sie Schritt für Schritt die Dialektik der Entwicklung, diese feine und
zugleich so unendlich reale Dialektik des Opfers der Person der Ge-
genwart für die Person, die in einer Zukunft erwartet wird. Und sie
wandten sich ab, sie fühlten, dass ihre Ideale betrogen sind, und aus
diesem Zustand ergibt sich ein Konflikt, dessen neurotischer und oft
psychotischer Zustand sich in ihrer fanatischen Reaktion gegen ihre
eigene Vergangenheit ausdrückt. Ihr ganzes Leben besteht nun darin,
das zu verbrennen, was sie angebetet haben, und jeden zu verfolgen
mit der typischen Psychologie des Fanatismus, der es nicht erträgt, dass
das, was er in sich selbst zu unterdrücken hat, ihm in einem anderen
begegnet. Woraus dann eine geistige Zersetzung der ganzen Intelli-
genzschicht folgt, die diese Entwicklung mitgemacht hat. Und wenn
man sprechen kann von einem Triumph der industriellen Gesellschaft
in ihrer entmenschlichenden Wirkung, dann ist es sichtbar in diesen
Opfern des Kampfes gegen die Entmenschlichung, die ein Resultat der
Gesamtentwicklung und ihrer entpersönlichenden Kräfte sind.
Und dann das dritte, das Problem, das von Nietzsche aufgebracht
ist, das in Sonderheit den Existentialismus der zwanziger Jahre
charakterisiert, nämlich der Kampf des Lebens gegen die Sache.
213
Der Protest, den Nietzsche und alle existentialistischen Nachfolger
ausgedrückt haben, ist genauso stark und in ganz genau derselben
Richtung wie alle übrigen, wie von Kierkegaard und Marx. Aber
wir müssen fragen: Ist dieser Vorstoß imstande, die Wälle dieser
Gesellschaft und ihre entmenschlichende Magie zu durchbrechen?
Und wieder müssen wir sagen: sicherlich nicht. Man hat zu kämpfen
mit der Reflexion, mit den Mitteln der Reflexion, gegen den Zustand,
der durch die Reflexion geschaffen ist. Politisch ficht man – ich
denke an die Jugendbewegung der zwanziger Jahre – gegen die In-
telligenz und für das Primitive und Ursprüngliche, extrem: für Blut
und Boden. Und dieser Kampf gegen die Versachlichung der reflek-
tierenden Intelligenz, die hinter der bürgerlichen Gesellschaft und
der industriellen Gesellschaft im Spätzeitalter steht, dieser Protest
hat das raffinierteste und technisch durchgearbeitetste System ge-
schaffen, nämlich ein System von Mitteln zur Unterdrückung jedes
ursprünglichen Ausdrucks von Leben. Ein Ausdruck von Leben, der
nicht den Forderungen des politischen Systems sich unterwirft, wird
angegriffen und zerstört. Der Mensch in dieser faschistisch-nazisti-
schen Gesellschaft wurde in ein Schema der Gedanken eingepresst,
in ein Schema der Handlung und des täglichen Verhaltens, das mehr
an das Agieren von Maschinenteilen als von menschlichen Wesen
erinnert. Die Gesichter der Menschen, die in Sonderheit dieses Sys-
tem repräsentierten, waren genauso stereotyp, genauso normalisiert
wie industrielle Maschinenteile, jede Indikation1, jeder Hinweis auf
Persönlichkeit und Individualität war unterdrückt. Der Versuch also,
im Namen des Lebens die Herrschaft entmenschlichender Dinge zu
überwinden, hat zu einer völligen Entfernung, völliger Unterdrückung
des Menschlichen in den Trägern dieses Versuchs geführt, und die
Opfer wurden durch Terror in Sklaven verwandelt, die nicht weniger
gehorsam waren als der Sklave, den man Maschine nennt.
Ich möchte aber noch ein paar Worte dazu sagen, weil es sich hier
nicht um zufällige Ereignisse handelt, sondern um eine Wirklichkeit,
die die Frage nach dem Wesen des Menschen radikaler stellt als
irgendein Philosoph oder Theologe sie heute stellen kann, nämlich
der Sinn des Terrors, konkret gesprochen, der KZ und alles dessen,
was mit diesem Namen bezeichnet ist. Der Zweck ist nicht, Gegner
auszuschalten, das war es im Anfang, das wäre nach ein paar Jah-
1
Anglizismus (indication = Hinweis)
214
ren gelungen, sowohl in Deutschland wie in Russland, sondern der
Zweck ist, alle ihrer möglichen zufälligen Reaktionen zu berauben,
sie typisch im KZ und von da aus durch Drohung auch außerhalb
in Objekte und zwar in die vollkommensten Objekte menschlicher
Aktivität zu verwandeln. Das Ideal jeder absoluten Diktatur ist die
Ausrottung der Subjektivität, des Subjekts bis zu einem Punkt, wo
es nichts mehr ist als eine entmenschlichte Maschine, und das war ja
in vielen Fällen durch den Terror erreicht, mit körperlichen und mit
seelischen Mitteln, [auch] bei denen, die nicht Opfer waren.
Ich möchte noch einen Satz dazu sagen, nämlich das Symbol des
Terrors und der Mittel, die er anwendet, scheint mir das furchtbarste,
aber vielleicht auch wichtigste Symbol zu sein des Problems, vor dem
der Mensch heute steht: nämlich ein System, das im Namen von
Dingen aufgebaut ist, die für die Freiheit des Menschen geschaffen
waren, für die soziale, für die vitale Freiheit und auch – wir haben
da die Tradition des Mittelalters – die religiöse Freiheit, und die, um
diese Freiheit zu verwirklichen, Mittel anwenden, die den Menschen
jeder menschlichen Möglichkeit der Reaktion berauben. Die Gefahr,
die darin liegt, ist größer als jede andere. In Zeitungen wird immer
davon geredet, dass, wenn ein Atomkrieg kommt, die Selbstzerstö-
rung der Kultur oder sogar der gesamten Menschheit stattfindet. Ich
finde das sehr wenig beunruhigend, das ist nicht das Schlimmste,
was passieren kann. Aber wenn man sich vorstellt, dass der Mensch
durch die Entwicklung der Ratio und zwar der technischen Vernunft
in den Stand gesetzt worden ist, den Menschen im Menschen zu
zerstören, dann sehe ich da eine viel tiefere Gefahr, die unmittelbar
in eine Vorlesung wie diese und in die Verantwortung aller Akade-
miker gehört, nämlich die Verantwortung1, den Menschen zu retten,
gleichgültig wie, nur nicht so, weil man ihn sonst zerstört. … Was
von der Vitalität derer, die nicht Opfer waren, übrigblieb, war eine
ungehemmte Verwirklichung von früher unterdrückten Trieben nach
Macht, Vergnügen und Zerstörung. Man ließ sie frei2 im Namen
der Vitalität gegen die Intentionalität. Aber auch hier spielt sich
eine interessante Dialektik ab. Es ist ja nicht so, dass der Mensch
vitaler ist, je weniger intellektuell er ist, sondern dass der Mensch
das vitalste Wesen ist, weil er das rationalste ist, weil er mit Hilfe
1
Korr. (Typ. GS: Gefahr)
2
Korr. (Typ. GS: Man tat das und ließ es frei)
215
seiner Vernunft eine Welt hat und nicht nur eine Umgebung. Die
Vitalität auch der vitalsten Tiere oder Pflanzen ist gebunden an die
Umgebung, die Vitalität des Menschen reicht in die fernsten Ver-
gangenheiten, in die Zukunft, die fernsten Räume und die kleinsten
Elemente des Raumes, und darum war die Vitalität, die von diesen
im Namen der Vitalität geschaffenen Bewegungen produziert wird,
eine verstümmelte, selbstzerstörerische Vitalität, verbunden mit Bes-
tialität und Absurdität.
Das heißt, die Macht der industriellen Gesellschaft zeigt sich
wieder einmal in der ungeheuren Kraft, eine Protestbewegung sich
völlig untertan zu machen. Die Mittel des Protestes waren die Mittel,
die von dem genommen wurden, wogegen man protestierte, und so
war das Resultat eine Auswirkung derselben Fundamentaltendenzen
der Verdinglichung im radikalsten Sinne. Das ist die Dialektik des
Existentialismus in seiner politischen Auswirkung. Entweder wirkt er
politisch sich nicht aus und bleibt dann abhängig von den triebhaften
Elementen. Aber Sie wissen ja selbst, dass niemand dem Politischen
entgehen kann, selbst wenn man, was ich sehr verstehe, eine große
Sehnsucht danach hat, ihm zu entgehen, in einer Zeit, wo alles
zwangsläufig zu sein scheint. Es ist wie in der Spätantike: Einzelne
[stehen] an der Spitze der Gesellschaft, wo Tyche und Heimarmene
über jedem Einzelnen stehen. Diese Stimmung ist verständlich, sie
ist es, die in der Antike zum stoizistischen Verzicht und zur Skepsis
geführt hat. Aber wir können ihr nicht nachgeben. Tun wir das,
und wenn eine politische Entscheidung an uns herantritt (und wir
sind bei Existentialisten!), dann entscheidet sich der eine für eines
dieser Systeme, die alle knechten, und der andere für eine Gegenbe-
wegung – beide Male nicht im Namen von Normen, der Wahrheit,
sondern im Namen seiner zufälligen Situation. So werden zahllose
Menschen ständig in Entscheidungen hineingepresst, die keine sein
können, weil die Normen fehlen. D. h. ganz gleich, ob wir versu-
chen, von der Zwangsläufigkeit oder scheinbaren Zwangsläufigkeit
uns zu befreien, oder ob wir uns den Gegenbewegungen gegen die
Verdinglichung anschließen und dann vielleicht in die Tragödie jener
Intelligenz kommen, von der ich sprach – in jedem Fall ist die Frage,
die uns in diesen Dingen [gestellt ist], außerordentlich und belastend
in einer Weise, wie es selten für eine Generation der Fall war.
Nun gibt es einen Ausweg, der vielleicht andere Perspektiven zeigt,
der der Dialektik entgegenkommt. Der Rückweg ist nicht möglich,
auch ein anders gearteter Rückweg ist nicht möglich, nämlich der
216
konservative. In allen Ländern ist heute eine solche Rückbewegung
sichtbar, sehr verständlich. Wer ein bisschen Geschichte kennt, weiß,
wie nach der Französischen Revolution, Napoleon, diese Rückbewe-
gung eintrat, alte Symbole wieder verständlich zu machen, wieder zu
benutzen und daraus neue Formen des Ja zum Sein, des Mutes zum
Sein zu finden. Aber das geht nicht, sie sind nicht mehr adäquat.
Es ist in irgendeiner Weise für einen Beobachter, der von außen
kommt, fast erschütternd, in welchen Maße hier in Deutschland
die alten Parteiideologien, die alten Schlagworte, die alten Formen,
die alten Denkweisen wieder aufgelebt sind und sich als politische
Mächte etabliert haben. Auf diese Weise ist es unmöglich, die exis-
tentialistische Fragestellung zu beantworten. Aber vielleicht gibt es
andere Möglichkeiten, ein Verständnis der menschlichen Situation
und Lösungen auf Grund einer Deutung der menschlichen Natur,
die auf einem anderen Boden liegen. Ich will wieder beschreibend
vorgehen und erst in der zweiten Hälfte der gesamten Vorlesung zu
mehr systematischen Formulierungen kommen.
Ich denke an zwei Realitäten hier, das eine die psychologische und
das andere die theologische, und ich möchte die Frage stellen: Ist
in1 einer dieser beiden Formen, mit dem Problem des Menschen zu
arbeiten, ein Weg zu finden, der gegen die Verdinglichung siegreich
ist und nicht in die Dialektik fällt, die ich eben nachgewiesen habe
schon bei Kierkegaard, dann in Marx und bei der von Nietzsche
herkommenden Kampffront? Die Psychologen, d. h. die Vertreter
der Tiefenpsychologie behaupten, dass sie glauben, dass ihr Weg
ein Ausweg ist, natürlich nicht alle, aber es ist doch noch ein weit-
gehendes Gefühl, dass man beim Einzelnen anfangen muss und
dass dieser Weg, den Menschen von der Verdinglichung zu retten,
die Tiefenpsychologie ist. Vielfach unterstützt [durch] körperliche
Formen der Bewegung, des Atmens, eine sehr gesunde psychoso-
matische Vision, aufs Ganze gesehen. Die Frage aber ist: Was kann
sie leisten? Wie ist die Möglichkeit gegeben, das nicht zu tun und
in das nicht zu fallen, was die Realität der anderen Bewegungen
zeigte? Nun, um das zu tun, möchte ich ein paar Probleme mit
Ihnen behandeln, die auch wieder eine Fülle von Material für die
menschliche Situation herausarbeiten, nämlich die Probleme, die
hinter der Psychologie stehen – wobei ich nicht an die akademische
Experimentalpsychologie denke, gegen die ich nichts habe, gegen
1
Korr. (Typ. GS: von)
217
die ich nur sehr viel habe, wenn sie die anderen von der Universität
ausschließt, nicht aber, wenn sie ihre Grenzen erkennt. … Ich meine
auch nicht eine bestimmte Gruppe, etwa die orthodoxen Freudianer
oder irgendeine andere orthodoxe oder liberale Gruppe innerhalb der
Psychotherapie, finde es aber wohl höchst amüsant zu sehen, wie die
Kirchengeschichte der ersten Jahrhunderte sich jetzt in der Quasi-
Kirche der psychotherapeutischen Gruppen wiederholt. Aber das ist
an sich keine Kritik, genauso wenig, wie es Kritik an der Kirche ist,
dass Spaltungen in ihr vorkommen – sie wäre tot, wäre das nicht,
und auch nicht [Kritik] an der Tiefenpsychologie.
Diese gesamte Bewegung scheint mit begründet zu sein in einem
Phänomen, das zusammenhängt mit dem, was ich als Vergegenständ-
lichung bezeichnet hatte, nämlich dem Phänomen der Neurose, die
nicht mehr eine spezielle Krankheit, sondern die weit darüber hinaus
ein soziales Phänomen geworden ist. Was ist Neurose? Was bedeutet
sie für die Natur des Menschen? Ein Theologe, der heute von der
Natur des Menschen spricht, oder ein Ontologe, der alles über das
Wesen von Freiheit und Notwendigkeit und den Kategorien weiß und
nicht weiß, was heute unter Neurose verstanden wird und welches
ihre Wurzeln sind, der weiß gar nichts vom Menschen. Und darum
fordere ich, wo immer ich kann und auch hier, die Zusammenarbeit
der Tiefenpsychologie mit der Theologie.
Bisher hatte ich gesprochen von der Existentialphilosophie. Die
Existentialphilosophie hat die Natur des Menschen wieder gesehen
in einer Weise, wie Hunderte von Jahren es nicht möglich war. Ich
hatte gezeigt, warum die Tiefenpsychologie immer ein Bundesgenos-
se des Existentialismus von Anfang an ist. Ich rate Aspiranten von
Doktordissertationen, einmal folgende Themen zu behandeln: Die
Vorwegnahme der gegenwärtigen tiefenpsychologischen Einsichten in
der existentialistischen Bewegung seit Pascal, Schelling, Kierkegaard,
dem jungen Marx, Nietzsche – vielleicht Nietzsche mehr als die ande-
ren, und dann eine andere Doktorarbeit: Über die Zusammenarbeit
und das Zusammenklingen der tiefenpsychologischen Analysen mit
den Visionen der Existentialisten im 20. Jahrhundert. Zwei herrliche
Doktorarbeiten, ich beneide diejenigen, die an sie herangehen, und
ich hoffe, jemand wird sich dafür finden. Wenn diese Arbeit gemacht
würde, dann würde man erstaunliche Entdeckungen machen – und
dazu möchte ich noch eine dritte geben, aber dazu gehört Latein:
nämlich die Vorwegnahme der tiefenpsychologischen Einsichten in
den Poenitentialbüchern des Mittelalters, in den Büchern, in denen
218
die Beichtväter beraten werden über das, was sie zu erwarten ha-
ben, wenn die Beichtkinder zu ihnen kommen, wie sie sich dazu zu
verhalten haben … ein großes und überwältigendes Material. Alle
diese drei Doktorarbeiten würden das erstaunliche Resultat zeigen,
das ich schon vorweg weiß. Es würde sich zeigen, dass die Entde-
ckung der Tiefenpsychologie, die ja das 20. Jahrhundert genauso
beeinflusst hat wie der Marxismus politisch, – der Gegner ist genauso
beeinflusst wie der Anhänger, manchmal noch etwas mehr – , diese
Art des Einflusses zeigt, dass der Mensch imstande war, in all diesen
Bewegungen Dinge zu sehen, die heute für unsere Art des Denkens
am besten verstanden werden, wenn sie in der wissenschaftlich
gereinigten Form und nicht intuitiv, sondern [in der] methodisch
formulierten Form der Tiefenpsychologie vorkommen. Auf alle Fälle
sind Phänomene wie Neurose und Psychose nicht unbekannt, aber
ich will nicht auf die Geschichte der Medizin der Geisteskrankheiten
im Lauf der Jahrhunderte eingehen – es gibt schöne Bücher dafür, die
ich alle besonders empfehle.
Was wir machen müssen, ist vom Standpunkt des Wesens des
Menschen und d. h. ja nicht nur des Wesens des Menschen, sondern
des Wesens des Seins selber zu versuchen zu deuten, warum so etwas
wie Neurose auf dem Boden der menschlichen Existenz möglich ist,
wie es sich zu der normalen Begrenztheit der menschlichen Existenz
verhält, wie zum Beispiel normale und neurotische Angst [sich] zu-
einander verhalten. Wenn wir diesen Weg gemacht haben, den ich
heute nur ankündige, dann werden sich Tiefen des menschlichen
Daseins erschließen, öffnen, von denen man Jahrhunderte lang nur
wenig gewusst hat. Es waren immer Leute, die etwas davon wuss-
ten, natürlich, aber es waren wenige, und es war nicht methodisch.
Heute gibt es keine Wissenschaft, die diesen Resultaten näher stände
und durch sie mehr bestätigt würde als, glauben Sie es oder nicht,
als Theologie. Theologie in ihren starren Formen war wie ein ver-
schlossenes Schatzkästlein, an das man nicht mehr konnte, das auf
dem Altar stand, manchmal ging man hin, meistens nicht, und wenn
man hinging, wusste man nicht, was in ihm war. Es waren nicht die
Theologen, die es uns eröffnet haben, in Bezug auf die theologische
Lehre vom Menschen, sondern die Existentialisten und die Psycho-
logen, die es uns eröffnet haben. Und nachdem ich einiges über die
Art gesagt habe, wie es die Existentialisten getan haben, will ich
morgen einiges über die Art sagen, wie es die psychologische Lehre
vom Menschen, die wir heute haben, getan hat.
219
6. Vorlesung
(Dienstag, 8. Juli 1952)
220
7. Vorlesung
(Mittwoch, 9. Juli 1952)
Die Stunde gestern hat uns in gewisser Weise in dem Fortschritt zwar
verzögert, wenn auch den Unterbau etwas solider gemacht. Was ich
angekündigt hatte am Montag und was gestern unterbrochen war,
soll fortgesetzt werden, nämlich das Problem Psychotherapie und
der existentialistische Protest in ihrer Bedeutung für ein Verständnis
des Menschen.
In all den Gebieten, die ich behandelt habe, fand sich, dass ein
Protest, eine Revolution gegen die verdinglichende Welt, in der wir
leben, sich vollzog und dass diese Revolte scheiterte an der überle-
genen Kraft der spätindustriellen Gesellschaft und ihrer Methoden
der Verdinglichung. Die Frage war dann gestellt, ob es eine Methode
gibt, in der dies vermieden werden kann, und als erstes bot sich an
die Tiefenpsychologie oder die psychoanalytische Psychologie, wie
man sie auch nennen kann, die nicht eine Fachangelegenheit ist, das
ist sie auch, die aber vor allem eine Bewegung ist, die durch mehr
als ein halbes Jahrhundert das 20. Jahrhundert in allen Teilen der
zivilisierten Welt aufs Tiefste beeinflusst hat. Es ist nicht Sache einer
Schule oder Sache einer speziellen Angelegenheit, einer Methode
oder einer speziellen Disziplin, sondern es ist Sache einer universalen
Bewegung, die ihre Einwirkung auf alle Gebiete des Lebens, auch
des persönlichen Lebens gehabt hat.
Die Psychotherapie vom Standpunkt unseres Problems hat eine
Doppelstellung: Die eine Seite ist, dass in ihr Entdeckungen ge-
macht sind über die menschliche Situation, die dem Charakter der
industriellen Verdinglichung widerstreiten, [die andere Seite,] dass
Begriffsbildungen benutzt sind und Methoden des Heilens ange-
wendet sind, die dem widersprechen, was von ihr auf der einen
Seite geleistet ist. Wir finden die Doppelstellung schon in Freud
selbst. Er ist ein Mann des 19. Jahrhunderts, seine fundamentalen
Begriffsbildungen sind abgeleitet von Kategorien und Denkformen,
die in der Philosophie des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielten. Er ist
ein Naturalist, ein Moralist. Er denkt technisch, oft mechanistisch,
er denkt deterministisch. Und auf der anderen Seite ist jede seiner
großen Entdeckungen einer der Wege gewesen, durch die die Hal-
tung des 19. Jahrhunderts weithin unterminiert wurde. Was ist die
Entdeckung, die im gemeinsamen Kampf mit der existentialistischen
Analyse die Situation der industriellen Gesellschaft aufgedeckt hat?
221
Man kann fundamental sagen, die Tiefenpsychologie hat in einer
besonders deutlichen und scharfen Form die Selbstentfremdung des
Menschen entdeckt. Die Arbeit an Neurose und Psychose, die Arbeit
an Geisteskrankheiten hat bewirkt, dass der Zwiespalt im Menschen,
die Selbstentfremdung des Menschen, von einer neuen Seite gesehen
worden ist. Sie ist gesehen worden, wie wir ausgeführt haben, mit der
ganzen existentialistischen Bewegung, sowohl wenn das Existentialis-
tische ein Element ist oder wenn es Revolte ist oder wenn es Spiegel
ist. Es ist gesehen worden in Philosophie, in Dichtung, in Kunst,
Theater, in bildender Kunst, es ist gesehen worden in der existenti-
alistischen Philosophie, aber vielleicht methodisch am wirksamsten
war die Art, wie es gesehen wurde durch die Tiefenpsychologie. Ein
simples Beispiel dafür folgende Tatsache: Als ich vor 19 Jahren nach
Amerika kam, konnte das Wort „anxiety“ (von angustia, die Enge,
zusammengedrängte, enge Situation, die Angst erregt) nicht benutzt
werden für das Phänomen, das in Deutsch und Dänisch (Kierkegaard)
mit Angst bezeichnet wird. Heute heißt „anxiety“ in der gesamten
Literatur Angst, damals hieß es Bemühtsein, Vorwegnehmen, Sorge
haben, aber es hieß nicht Angst. Jetzt heißt es Angst. Das ist zum
Teil die Auswirkung der Existentialphilosophie, zum Teil, und ich
würde sagen, vor allem ist es das Werk der Tiefenpsychologie,
weil die Tiefenpsychologie dem amerikanischen empirischen Den-
ken unmittelbarer wahre Evidenz zu geben scheint als theologische
und philosophische Formulierungen. Auf alle Fälle ist eine Analyse
der menschlichen Situation, die von da aus die Selbstentfremdung
beschreibt, ein entscheidendes Element in dem Thema, das wir uns
gestellt haben, nämlich zu zeigen, wie die menschliche Situation von
allen Seiten in einem neuen Licht gesehen wird.
Was sind die Zwiespaltsarten, die im Mittelpunkt der psychothe-
rapeutischen Psychologie stehen? Ich gebrauche absichtlich nicht das
Wort „Psychoanalyse“, weil das häufig für eine der Schulen verwendet
wird und ich den Begriff möglichst weit nehmen möchte: alle dieje-
nigen Bewegungen, die in direktem oder indirektem Zusammenhang
mit Freud stehen und die das Phänomen des menschlichen Zwiespalts
beschrieben haben in einer Weise, dass viele existentialistische Lite-
ratur und bildende Kunst die Resultate dieser Beschreibung in sich
aufgenommen haben. Der erste Zwiespalt, den die psychotherapeuti-
sche Psychologie entdeckte und in den Mittelpunkt gestellt hat, ist der
Konflikt zwischen dem unendlichen Begehren der Libido, die in sich
keine Grenze hat, und dem Über-Ich, das aus der Gesellschaftssituation
222
stammt und dies Begehren verdrängt, unterdrückt. Daraus entsteht
ein Verständnis der Verdrängungspsychologie, und nichts ist wichtiger
für die theologische Ethik, ich würde auch sagen, mindestens ebenso
für die philosophische Ethik, als eine Einsicht in die Psychologie der
Verdrängung, weil ohne diese Einsicht das Verständnis für den Sinn des
sittlichen Gesetzes in seiner Anwendung auf die menschliche Situation
nicht möglich ist und vor allem ein Verständnis des Gnadenbegriffs
nicht möglich ist. Ich glaube, dass wie in manchen anderen Fällen das
neue Verständnis der Gnade, das sich langsam in protestantischen
Kirchen durchsetzt und das gegen unendliche Hemmungen zu kämpfen
hat, besonders im calvinistischen und ursprünglich sektiererischen
Protestantismus, dass da die Tiefenpsychologie eine entscheidende
Bresche geschlagen hat in der moralistischen und intellektualistischen
Beseitigung des Gnadenbegriffs im Protestantismus. Auf alle Fälle ist
dies der erste Zwiespalt, der Zwiespalt zwischen dem, was Freud Li-
bido nennt, was wesensmäßig unbegrenzt ist, endlos (nicht unendlich
zu nennen, weil das [ein] qualitativer Begriff ist) und verdrängt wird
durch das Über-Ich.
Ein zweiter Zwiespalt in der menschlichen Situation, der von
der Tiefenpsychologie entdeckt ist, ist der Konflikt zwischen den
unbewussten Vorgängen und Tiefenkräften und unserer bewussten
Entscheidung, die im Zentrum der Persönlichkeit vorgeht. Hier ist
einer der tiefsten christlichen Gedanken wieder aufgelebt, nämlich
der Gedanke, dass Dinge, die man bewusst tut, von der Ganzheit
des Menschen gesehen, etwas ganz anderes bedeuten, als sie im
Bewusstsein zu bedeuten scheinen. Und dieser Konflikt, dieser Wi-
derspruch zu dem, was die Dinge zu bedeuten scheinen, und dem,
was sie aufgrund der Analyse des Unbewussten wirklich bedeuten,
sind wie eine ständige Warnung für jeden Menschen, dasjenige, was
sich in seinem Bewusstsein abspielt, nicht als das zu nehmen, was
es wirklich ist. Und wir werden sehen, wie tief das in christlicher
Tradition verwurzelt ist und wie völlig verschwunden in der Peri-
ode, die ich in der ersten Woche beschrieben hatte als Verlust des
existentialistischen Elements. Aus diesem Konflikt ergeben sich dann
Symptome – und die Entdeckung der Bedeutung dieser Symptome des
Zwiespalts oder der Selbstentfremdung des Menschen ist das andere,
was hier zu nennen wäre in Bezug auf die Wiederentdeckung der
menschlichen Situation.
Ich nenne hier, weil wir später mehr darauf eingehen müssen, diese
Symptome nur kurz. Allen voran die Angst. Das Angstphänomen
223
ist mehr und mehr in den Mittelpunkt getreten für alle analytische
Arbeit. Wenn das Schuldphänomen nicht unmittelbar als Sünde
gefasst [wird], aber als Schuld im Sinn des Erlebnisses der Qual, die
der Selbstwiderspruch produziert, oder der Ekel am Sein und der
daraus folgende Todestrieb, den Freud vor allem betont hat und den
aus Gründen, auf die ich gleich komme, seine Schule nicht akzeptiert
hat – das sind Formen, in denen die menschliche Selbstentfremdung
sichtbar geworden ist. Und all diese Begriffe in ihrer direkten Auswir-
kung und in ihrer indirekten, durch den Existentialismus vermittelten
Auswirkung hatten die Funktion gehabt, zu unterminieren, was als
Vergegenständlichung des Menschen von uns beschrieben worden
war. Sie haben Tiefen der menschlichen Existenz aufgedeckt, die
unsichtbar geworden waren.
Aber nun entstand das Merkwürdige, dass dieser selbe Mensch
Freud und alle seine Freunde und Nachfolger, die diese Entdeckun-
gen in der Tiefe, in der Schicht des Unbewussten und Vorbewuss-
ten gemacht haben, sie in naturalistischen und anderen Formen
ausdrückten, die genau der Weltanschauung entsprechen, gegen
die sie kämpften. Wer von Ihnen die Geschichte des Sozialismus
kennt – ich meine nicht Einzelheiten und Namen, sondern die große
Linie – , wird sich erinnern an die Tatsache, dass diejenigen Dinge,
gegen die die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhunderts gekämpft
hat, innerhalb der Bewegung selber immer wiederkehrten und die
Bewegung schließlich fast in ihr Gegenteil in einem Flügel (Kommu-
nisten) umschlug oder im anderen Flügel sie im Tiefsten schwächte,
weil der Gegner mitten darin war in der Armee, die kämpfte. Und
diese Situation wiederholte sich in der tiefenpsychologischen Bewe-
gung. Der Gegner – in diesem Fall der verdinglichende Einfluss des
Denkens in der spätindustriellen Gesellschaft – war stark genug,
mitten in die Kräfte des Gegners einzudringen und sie auszuhöhlen,
sie innerlich zu unterminieren. Dies Doppelphänomen im Sozialen
und im Psychologischen muss von uns beachtet werden, um zu
verstehen, was geschehen ist. Lassen Sie mich, vielleicht weil Ihnen
das gewohnter ist, das zunächst an der soziologischen Seite durch-
führen. In der soziologischen Sphäre ist es so gewesen, dass man in
der sozialdemokratischen Bewegung die Dialektik als Mechanismus
verunstaltete [und] unter dem Titel „wissenschaftlicher Sozialismus“
einen Sozialismus einführte, der beobachtend abwartete, wie die Me-
chanismen der Geschichte unvermeidlich zum Ideal, zur klassenlosen
Gesellschaft führten. Dies Zusehen, das charakteristisch war für die
224
deutsche Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts, war der
Sieg des Gegners in der Mitte der gegnerischen Armee und hat zu
all den Dingen geführt, die im 20. Jahrhundert die Sozialdemokratie
aus ihrer leidenschaftlichen kämpferischen Position herausgeworfen
hat und schließlich zur Verdinglichung geführt hat, die alles übertraf
von dem, wogegen man kämpfte.
Und nun glaube ich, dass in der psychotherapeutischen Bewegung
eine ähnliche Gefahr vorliegt. Die Situation ist lange nicht soweit
gediehen, aber in irgendeinem Sinne ist sie schon bemerkbar, und
es gibt auch innerhalb dieser Bewegung Einzelne, die diese Gefahr
sehen und über sie hinaus wollen. Das erste ist die naturalistische
Ausdrucksform. Es ist in Freud oft so, als ob die Vorgänge, die sich
bewusst und unbewusst abspielen, Mechanismen sind, wo in keiner
Weise mehr sichtbar wird, an welchem Punkt die Ganzheit der
Persönlichkeit Entscheidungen trifft. Es ist oft das Gefühl, dass was
beschrieben wird, eine Maschine im Sinn der mechanistischen und
deterministischen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts ist. Das be-
deutet, dass in der Analyse das Persönlichkeitszentrum ausgeschaltet
ist. Ein Beweis für diese Situation in der frühen psychoanalytischen
Literatur ist die Tatsache, dass in der gegenwärtigen neu-analytischen
Bewegung die Persönlichkeit ins Zentrum getreten ist und dass
viele Menschen, unter anderen mein Freund Erich Fromm, New
York, jetzt Mexiko, dafür gekämpft haben, dass man statt einer
atomistischen und mechanistischen Beschreibung der Vorgänge das
Element der zentrierten Persönlichkeit nicht nur rettet, sondern ins
Zentrum stellt.1
Eine zweite Form, die immer mit dem Naturalismus einherging,
ist die moralistische Ausdrucksform. Das ist nicht sehr logisch, weil
man denken könnte: Wenn naturalistisch, wo kommt dann die Moral
her? Aber die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war im-
1
Tillich bezieht sich wohl auf E. Fromms Schriften „Man for Himself. An
Inquiry into the Psychology of Ethics“ (New York 1947), „Psychoanalysis and
Religion“ (New Haven 1950) und „The Forgotten Language. An Introduction
to the Understanding of Dreams. Fairy Tales and Myths“ (New York 1951).
E. Fromm (1900-1980) war 1930 von Max Horkheimer an das Frankfurter
Institut für Sozialforschung berufen worden. Er emigrierte 1934 nach New
York, wo er bis 1939 an der Columbia University lehrte. 1949 zog er nach
Mexico City, wo er eine psychotherapeutische Praxis leitete. Vgl. auch Tillichs
Rezension von Fromms „Psychoanalysis and Religion“ in: Pastoral Psychology
2, 1951, S. 62-66, deutsche Übers. in: GW XII, S. 333-336, sowie von „The
Sane Society“ (New York 1955) in: Pastoral Psychology 6, 1955, S. 13-16.
225
mer zugleich moralistisch und naturalistisch, weil das Moralistische
notwendig war, um das Funktionieren der Gesellschaft aufrecht zu
erhalten, obgleich der Naturalismus die Auflösung ankündigt und
voraussagt. Die ganze Begriffsbildung, um die es sich hier handelt
(der Unterdrückung, der Sublimierung), ist im Grunde moralistisch,
d. h. sie spiegelt das Nicht-Folgen der Erfüllung [wider], wo der Lie-
besbegriff entscheidend sein müßte, weil nur in der Liebesbeziehung
die Libido aus der Endlosigkeit und damit aus der Verzweiflung des
Nie-erfüllt-werden-Könnens herausgenommen wird und dann in der
Liebe Erfüllung hat. Aber statt von Erfüllung zu reden, sprach Freud
von Sublimierung und Unterdrückung, aber auch in Sublimierung
steckt noch der erhobene Finger gegen das Begehren, die Libido, gegen
die Macht, die uns treibt zu uns selbst und zu anderen. Darum ist es
so verfehlt, wenn man Freud als amoralisch betrachtet. Die Kritik,
die man gegen ihn einwenden1 müßte, ist sein Moralismus und nicht
seine Amoralität. … Moralismus bedeutet ja, dass ein [?]-Verhältnis2
zwischen Triebleben und der Erfüllung nicht vorgestellt werden kann
und dass infolgedessen die Existenz schwankt zwischen Unterdrü-
ckung und Explosion dessen, was unterdrückt wird, und das ist die
Realität gewesen, dass in dem Moment, wo die Unterdrückungssitu-
ation bewusst wurde, die Explosion kam und diese dann nicht mit
gutem Gewissen erlebt wurde und Schuldbewusstsein erzeugte, und
aus diesem Konflikt das ungeheure Anwachsen der Neurose, z. B. in
Amerika, teilweise zu erklären ist.
Hier ist Freud 19. Jahrhundert, und auch in der dritten Form, in
der empiristischen Ausdrucksform, d. h. in dem Gebrauch von Be-
griffen wie „das Es“, „das Ich“, „das Über-Ich“ – alle drei sprachlich
fragwürdig, aber erlaubt, keiner aber ontologisch begründet und
darum [vieldeutig]. Ich erinnere mich gerade an eine Diskussion,
die ich in New York vor meiner Abreise hatte zwischen Ärzten und
Theologen, wo der Begriff des Über-Ich von den verschiedensten
Fachleuten in Freud in absolut entgegengesetzter Weise gedeutet
wurde und eine ungeheure Konfusion über das Über-Ich sich erhob
zwischen den berufensten Vertretern dieser Gruppe. Das ist nicht
zufällig, und das ist darin begründet, dass eine Durchführung einer
rein empirisch begründeten Strukturierung des Menschen überhaupt
nicht möglich ist, sondern möglich nur, wenn man zurückgeht auf
1
Korr. (Typ. GS: anwenden)
2
Typ. GS: Ich(?)-Verhältnis
226
eine ontologische Analyse, wenn man begreift, was ein Selbst ist, wie
Selbst und Welt sich zueinander verhalten und wie Person und Ding
sich zueinander verhalten. Das sind aber keine empirischen Probleme,
obgleich das empirische Material als Illustration ständig gegenwär-
tig sein muss, sondern Probleme, die auf das Wesen des Menschen
hindeuten, die tiefer liegen als irgendeine empirische Methode. Für
kommende Generationen wird es tragisch oder auch komisch wirken,
wenn sie sehen, wie diese Menschen, die aus dem 19. Jahrhundert
kamen (ich gehöre auch dazu), Empiriker sind und unter dem Vor-
wand ihres Empirismus Dinge bringen, die man nur als konfuse
Ontologie bezeichnen kann. Das ist jetzt noch nicht so deutlich, weil
diese Hilfsbegriffe für manche Dinge sehr nützlich sind. Will man
aber vom Wesen des Menschen reden, kann man nicht mit diesen
Begriffen arbeiten, als wenn sie fixierte Dinge wären. Ich habe kaum
je einen Philosophen gefunden, der seine Begriffe Selbst-Welt, Sub-
jekt-Objekt, Vergehen, Werden, Sein usw. so dogmatisch gebraucht
wie viele der Psychotherapeuten diese Begriffe Über-Ich, Ich und Es
gebrauchen, wie man ein Glas Wasser gebraucht, das man einfach
in die Hand nimmt und dahinstellt, wo man will, dessen Existenz
evident ist. Diese Art eines neuen Dogmatismus ohne ontologische
Fundamentierung ist ein merkwürdiges psychologisches Phänomen
in der Struktur vieler Psychotherapeuten, nicht aller. Es muss beob-
achtet werden …, und es liegt an der ganzen Entwicklungsgeschichte
aus dem 19. Jahrhundert und der ungeheuren Durchschlagskraft im
19. Jahrhundert.
Schließlich wirkt sich dieser Konflikt aus im Erlösungsgedanken
in der Psychotherapie. Man nennt es dort „Heilung“, aber nur im
Deutschen haben wir da zwei Worte: [Erlösung und Heilung], im
Englischen „salvation“ von „salus“. Die Erlösung oder Heilung, die
die Tiefenpsychologie anstrebt, kann beide Bedeutungen haben. Sie
kann bedeuten, dass man heilt, wie ein Mediziner heilt, nämlich eine
bestimmte, begrenzte Sache, die sich am Körper oder in der seelischen
Struktur fixiert hat, die eine gewisse Unabhängigkeit erreicht hat.
Krankheit kann definiert werden als isolierte Vorgänge, die mit der
Ganzheit des Körpers nicht mehr in einer Balance stehen. Und über-
trägt man das aufs Psychologische, wäre das eine technische Aufgabe,
die mit technischen Mitteln gemacht werden muss, wobei „technisch“
sich auf die Technik der seelischen Behandlung bezieht. Und nun ist
die Frage (hier wieder der Konflikt des 19. und 20. Jahrhunderts) vom
Standpunkt des 19. Jahrhunderts: Würde der Psychoanalytiker fähig
227
[sein], weil ja alle Gegenstände technisch [behandelt werden], den
Menschen wirklich zu erlösen, ihn absolut aus der Problematik seiner
existentiellen Situation zu befreien? Und es gibt Psychotherapeuten,
die glauben, dass das möglich ist. Die das glauben, gehören dem
19. Jahrhundert in diesem Gedanken an. Andere haben begriffen,
z. B. zitiere ich wieder Erich Fromm und Karen Horney, dass die
Psychoanalyse nur führen kann bis zu einem Punkt, in dem bestimmte
hemmende Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen beseitigt
werden, also eine fixierte Krankheit aufgelöst ist, dass dadurch der
Mensch in die Freiheit gestellt wird, nun sich wieder zu entscheiden;
und die Entscheidung kann für oder wider das Wesen des Menschen
erfolgen. Nach erfolgter Heilung ist der Mensch frei, gegen sich
selbst zu entscheiden, d. h. in der Entfremdungssituation zu bleiben.
Das sind die verschiedenen Richtungen, die man in diesem Punkt,
oft bei geringer Klarheit, ineinander findet, aber gelegentlich auch
unterscheiden kann. Ich würde sagen: Es ist ganz entscheidend, sie zu
unterscheiden. Darauf beruht die gesamte Relation von theologischer
und psychologischer Erlösung.
Ich möchte nach dieser Kritik, die keineswegs negativ, sondern
eben sowohl positiv und negativ ist genau wie die Analyse aller ande-
ren Versuche, dem vergegenständlichenden Denken zu entrinnen, ein
spezielles Problem behandeln, nämlich das Problem der neurotischen
und normalen Angst. Es ist klar, um dies vorwegzunehmen, wenn
Sie an diese beiden Theorien denken, [kennt] die erste überhaupt
nur neurotische Angst, d. h. alle Angst ist neurotisch. Komm zum
Analytiker, du wirst von deiner Angst befreit, du wirst eine voll-
kommene Persönlichkeit! Die andere sagt, und das ist meine eigene
Auffassung, dass es zwei fundamental verschiedene Arten von Angst
gibt, die Angst, die normal ist, die essentiell zum Menschen gehört
oder die existentiell zur menschlichen Situation, die an und für sich
nicht neurotisch ist, und dann auf der anderen Seite die neurotische
Angst. Es gibt zur Zeit viele Theorien der Angst, und einige der
führenden Psychologen, vor allem Freud selbst, haben verschiedene
Interpretationen der Angst entwickelt, aber allen diesen Theorien
über die Angst ist ein Charakteristikum gemeinsam, nämlich die
Feststellung, dass Angst die Bewusstwerdung, das Gewahrwerden
ungelöster Konflikte zwischen verschiedenen Strukturelementen der
Persönlichkeit ist, z. B. des Konflikts zwischen den unbewussten
Trieben und den verdrängenden Normen zwischen verschiedenen
Trieben, von denen jeder das Zentrum der Persönlichkeit beherr-
228
schen will, zwischen eingebildeter Welt und der Erfahrung der realen
Welt, zwischen dem Begehren nach Grandeur, wie Karen Horney1
es genannt hat, und Vollendung im Moralischen, und der Erfahrung
der Kleinheit der wirklichen Existenz und ihrer Unvollkommenheit,
zwischen dem Wunsch, von anderen Menschen auch angenommen zu
werden oder von der Gesellschaft oder vom Universum als ganzem,
und der Erfahrung, dass man verworfen wird, sei es von den Eltern,
der Gesellschaft oder vom Universum; des Konflikts zwischen dem
Willen zu sein und der scheinbar unerträglichen Last des Seins, aus
der dann der heimliche Wunsch, nicht zu sein, folgt. Diese ganzen
Konflikte, ob sie unbewusst oder unterbewusst oder bewusst sind,
fühlt man in plötzlichen oder dauernden Zuständen der Angst. Ge-
wöhnlich findet ein Theoretiker der Angst, dass eine von diesen die
wichtigste von allen ist. Aber in den meisten Versuchen, nach einer
Fundamentalangst zu suchen, findet sich, dass irgendein Prinzip
für das, was fundamental ist, fehlt, und weil es so viele Ursachen
für Angst gibt, so ist die Erhebung einer dieser Ängste zu zentraler
Bedeutung sehr selten überzeugend. Ein weiterer Grund ist der, dass
die Psychoanalyse infolge ihres ontologischen Mangels nicht klar
unterscheidet zwischen essentieller, existentieller und pathologischer
Angst, zwischen der Angst alles Kreatürlichen, der Angst des selbst-
entfremdeten Kreatürlichen und der neurotischen Angst. Nur eine
ontologische Analyse der menschlichen Situation kann diese Konflikte
und Schwierigkeiten überwinden.
Ich möchte noch kurz die entscheidende Antwort sagen. Patho-
logische Angst oder neurotische Angst, welches Wort Sie benutzen
wollen („pathologisch“ ist besser, weil es verschiedene Formen ein-
schließt), ist der [Zustand] von essentieller oder existentieller Angst
unter bestimmten Bedingungen. Welches ist diese Bedingung? Es ist
die Bedingung, dass ein Mensch nicht imstande ist, die Angst in sich
selber [hinein]zunehmen, sie auf sich zu nehmen. Es ist der Mangel
an Mut zum Sein, des Mutes, Ja zu sich selbst, zum Sein als solchem
zu sagen trotz des Nichtseins, das in allem Sein gegeben ist. Wer
mutig handelt, der kann sich selbst bejahen und kann die Angst des
Nichtseins auf sich nehmen. Auf sich nehmen oder in sich hinein-
1
Karen Horney, Neurosis and Human Growth. The Struggle Toward Self-Rea-
lization, New York 1950; deutsche Übersetzung: Neurose und menschliches
Wachstum. Das Ringen um Selbstverwirklichung, München 1975, S. 15 („Die
Suche nach Ruhm und Ehre“).
229
nehmen bedeutet, dass Selbstbejahung notwendig den Charakter des
Obgleich, des Trotzdem in sich hat. Der Mut leistet dem Weg zur Ver-
zweiflung Widerstand dadurch, dass er die Angst in sich nimmt, d. h.
sie bejaht als ein Element seiner Selbstbejahung. Daraus folgt ohne
weiteres der Charakter der neurotischen Angst. Wer nicht imstande
ist, wer nicht die gratia communis, die universale Begnadetheit hat,
die Angst mutvoll auf sich und in sich hineinzunehmen, nicht sie zu
beseitigen, der vermeidet den unerträglichen extremen Zustand, die
Angst, nämlich die Verzweiflung, dadurch, dass er in die Neurose
entflieht. Auch der Neurotiker bejaht sich selbst, aber er bejaht sich
auf einer begrenzten Basis. Paradox gesprochen: Neurose ist der
Weg, Nichtsein zu vermeiden dadurch, dass man Sein vermeidet. Sein
vermeiden heißt, die volle Realität, die Potentialitäten, die in einem
selbst sind und in seiner Welt sind, zu reduzieren, eine geringere
Basis der Existenz zu schaffen, um überhaupt am Sein festhalten zu
können. Das Sein wird reduziert, damit man dem Nichtsein entgeht.
Das ist das neurotische Element.
230
8. Vorlesung
(Sonnabend, 12. Juli 1952)
231
jede neurotische Situation einfach und uneingeschränkt negativ beur-
teilen, sollen wir von jedem Neurotiker sagen, er ist ein Gegenstand
notwendiger Heilung? Und hier würde ich sagen: Die Frage kann
nicht so einfach beantwortet werden. Es ist durchaus möglich, dass
auf der Grundlage einer neurotischen Selbstbegrenzung Möglich-
keiten verwirklicht werden, die ins Geniale hineinreichen, während
eine Befreiung von dieser neurotischen Selbstbegrenzung dazu führen
würde, dass nun überhaupt keine Selbstbejahung möglich ist, d. h.
dass ein Prozess des Zerfalles einsetzt. Darum muss die Neurose mit
Vorsicht behandelt werden. Das ist genauso wie die Behandlung des
Durchschnittsmenschen, der ja dem Neurotiker darin gleicht, dass
er sich auch auf eine relativ enge Basis von Möglichkeiten des Seins
stellt und sich dadurch sichert gegen die volle, für ihn zu über-
mächtige1 Realität. Er ist ihr nicht gewachsen und darum zieht er
sich auf begrenzte Möglichkeiten zurück. Und auch da müssen wir
vorsichtig sein und müssen die Frage stellen: Ist es berechtigt, den
Durchschnittsmenschen in seiner begrenzten Sicherung zu erschüt-
tern? Das ist eine Frage, die weit in die soziologischen Probleme, in
die politischen Probleme geht. Inwieweit haben wir ein Recht dazu,
z. B. Existentialanalyse konkret auf den Menschen anzuwenden und
konkret ihn damit zu unterminieren? Ich stelle hier diese Fragen nur,
sie können nicht abstrakt beantwortet werden. Aber im Konkreten
ist diese Situation eine überaus reale, und genauso wie gewisse kör-
perliche Schwächen nicht der Heilung unterliegen sollen, weil sie
die Gesamtheit des Körperlichen mit Einbeziehung dieser negativen
Elemente aufgebaut haben. Man kann und soll nicht alles operieren
und so auch Seelisches nicht, soll vor allem nicht den Durchschnitts-
menschen unbesehen einer Operation unterziehen.
Das hat schon in eine Frage geführt, nämlich: Gibt es einen
Unterschied zwischen dem Durchschnittsmenschen in seiner Selbst-
begrenzung2 und dem Neurotiker? Ich würde sagen: Es gibt einen
Unterschied. Im Falle der normalen, wenn auch begrenzten Selbst-
verwirklichung hält sich der Durchschnittsmensch fern von der Ex-
tremsituation. Sie alle wissen, dass dieser Begriff der Grenzsituation
nicht erst erfunden ist von der modernen Existentialphilosophie
oder von Kierkegaard und auch nicht einmal von Pascal, sondern
1
Korr. (Typ. GS: überwältigende)
2
Korr. (Typ. GS: selbstbegrenzten Reduktion)
232
dass er schon bei Thomas Müntzer eine Rolle spielt.1 Dieser Mann
sah genau wie unsere gegenwärtigen Existentialisten sehr deutlich,
dass die Grenzsituation eine Situation ist, in der die radikale Frage
sich auftut und damit eine Antwort möglich ist, die anderweitig
nicht verständlich ist. Bei Thomas Müntzer ist es das Kommen des
Heiligen Geistes, die Macht des gegenwärtigen Gottes. In der Weise
kann man sagen, der Durchschnittsmensch in seiner Normalität hält
sich fern von der Grenzsituation, er hat einen Mechanismus des
Sich-Fernhaltens, weil er weiß, dass er den Grenzsituationen nicht
gewachsen ist. Innerhalb dieser Grenze ist er aber fähig, in ganz
anderem Sinne mit der Realität sich auseinanderzusetzen, sich ihr
anzupassen, als es der Neurotiker ist. Er konstruiert keine eingebil-
dete Welt, obgleich seine Welt nicht die volle Realität hat, die man
nur sieht, wenn man an ihrer Grenze steht und auf sie zurücksieht.
Die hat [seine] Welt nicht, aber innerhalb dieser hat er realitätsge-
rechte Erkenntnisse und Verhaltungsweisen, und das macht ihn im
Verhältnis zum Neurotiker gesund. Der Neurotiker ist krank und
er braucht Heilung, wenn Heilung angezeigt ist. Er kann sich nicht
der Realität so anpassen, wie es selbst der sich begrenzende Durch-
schnittsmensch kann. Obgleich pathologische Angst schöpferische
Möglichkeiten in sich hat, ist pathologische Angst ein Objekt der
Heilung, aber mit der Einschränkung, die ich vorbrachte, wenn
ein Mensch aus der Burgsituation begrenzter Selbstverwirklichung
herausgerissen wird, weil wir nie wissen, ob er zur Selbstverwirkli-
chung durchstoßen kann. Und da wir das nicht wissen, müssen wir
jedesmal fragen: Wie liegt die Situation? Es gibt verzweifelte Fälle,
wo man riskieren muss, genau wie bei der Operation, wo eine völ-
1
Vgl. dazu Tillich über Thomas Müntzer in „A History of Christian Thought.
From Its Judaic and Hellenistic Origins to Existentialism. Edited by Carl E.
Braaten, 1972: „Thomas Müntzer, who was the most creative of the evan-
gelical radicals, said that it is always possible for the Spirit to speak through
individuals. But in order to receive the Spirit, a man must share the cross.
Luther, he said, preaches a sweet Christ, the Christ of forgiveness. We must
also preach the bitter Christ, the Christ who calls us to take his cross upon
ourselves. The cross is, we could say, the boundary situation. It is internal
and external. In an astonishing way Müntzer expressed this in modern exis-
tentialist categories. If a man realizes his human finiteness, it produces in
him a disgust about the whole world. Then he really becomes poor in spirit.
The anxiety of creaturely existence grasps him, and he finds the courage is
impossible. Then it happens that God appears to him and he is transformed.
When this has happened to him, he can receive special revelations. He can
have personal visions, not only about matters of daily life“ (p. 239).
233
lige Unangepasstheit an die Realität vorliegt und wo man vorgehen
muss, ganz gleich, was geschähe1. Aber es gibt Fälle, wo es nicht
so ist, und ich rate allen, die wirklich verantwortlich mit anderen
Menschen zu tun haben – ich meine damit nicht bestimmte Berufe,
es gilt für diese alle, aber jeder von uns ist da ja auch für andere im
Sinn des allgemeinen Priestertums, jeder ist für den anderen und für
eine bestimmte Gruppe verantwortlich, und darum warne ich jeden,
der diese Verantwortlichkeit fühlt – , mit der Methode, die wir jetzt
haben, nicht allzu schnell einzuschneiden in den anderen, es könnte
zu seinem Verderb ausschlagen.
Das führt mich zu der allgemeinen Frage nach dem Verhältnis von
Religion und Medizin oder Theologie und Medizin oder Heilung und
Erlösung im allgemeinen. Die medizinische Wissenschaft, vor allem
Psychotherapie und Psychoanalyse, behaupten oft, dass sie es sind,
die die Angst des Menschen heilen müssen, dass sie es können und
dass sie allein es können. Sie behaupten, dass alle Formen der Angst
geheilt werden können, dass Angst immer Krankheit ist und dass es
keine ontologischen Hintergründe für die existentielle und essentielle
Angst gibt. Man schließt, dass ärztliche Einsicht und ärztliche Hilfe
der Weg sind, zur Lebensbejahung zu führen, zu dem Mut zum Sein,
der die Angst in sich aufnimmt. Aber dieses Argument findet nicht
mehr viel Anhänger, auch nicht mehr unter den Psychoanalytikern
und -therapeuten im weiteren Sinn. Es kann ja nicht anders sein,
denn der Arzt, wenn er philosophisch denkt, muss zumindest eine
Antwort auf die Frage geben: Wie ist Krankheit überhaupt mög-
lich? Und in dem Augenblick, wo er diese Frage stellt, muss er ja
weiter sagen: Sie ist möglich, weil in der Struktur des Lebendigen
Elemente vorliegen, die ontologisch Krankheit ermöglichen. Er muss
verständlich machen, wie es möglich ist, dass in allen Menschen die
Angst der Endlichkeit, die Angst des Zweifels, die Angst der Schuld
auftaucht, und er muss verständlich machen, warum sie in ihm
selber auftauchen würde, wenn er sich einer Unehrlichkeit in seiner
wissenschaftlichen Untersuchung schuldig macht. Das ist eines der
Argumente, die man immer anwenden kann gegen eine bestimmte
Art von Wissenschaftsglauben, die die Schuld und Angst und solche
Dinge abzuschaffen versuchen. An einem Punkt ist ein anständiger
Wissenschaftler immer mit einem gewissen Schuldgefühl behaftet,
1
Korr. (Typ. GS: geschehe)
234
nämlich dass er wissenschaftlich sich nicht genügend den Normen
der wissenschaftlichen Forschung unterworfen hat. Und dann kann
man ihn fragen: Woher diese Normen? Warum erkennst du sie an?
Warum geben sie dir Angst, diese Normen, wenn du wissenschaftlich
arbeitest, warum hast du Schuldgefühle, wenn du sie einmal verletzt
hast? Und dann muss der Wissenschaftler anerkennen, dass es so
etwas gibt auch in dem Menschen, von dem er nicht sagen würde,
dass er darin krank ist, denn der gewissenhafte Forscher ist sicherlich
nicht ein Symbol für Krankheit.
Das bedeutet, dass es verständlich ist, wenn heute mehr und
mehr Vertreter der Medizin und speziell der Psychotherapie um die
Zusammenarbeit der Medizin1 und Theologie sich bemühen. Es
ist auch der Grund, warum heute in der Theologie sich ein Zweig
entwickelt hat, zumindest in Amerika sehr energisch sich durchge-
setzt hat, der dort „counseling“ heißt, d. h. „beraten“. Es ist nicht
Psychotherapie im technischen Sinn. Der gute Berater wird immer,
wenn es sich um eine gute Beratung handelt, den Betreffenden zum
Psychotherapeuten schicken, wenn das nötig ist, aber es ist auch
nicht mehr, was es in vergangenen Zeiten so häufig war, nämlich
moralische Vermahnung, sondern es ist der Versuch zu verstehen,
was geschehen ist, und es ist das Bewusstsein, dass wenn der Pfarrer
oder der Lehrer oder irgendeine andere Stelle, in der die Normen
des gesellschaftlichen Daseins repräsentiert sind, mit jemand, der
mit diesen Normen in innere oder äußere Konflikte gekommen ist,
spricht, dass dann die Frage entsteht, nicht ihm zu sagen: Aber du
musst diesen Normen gehorchen, sondern ihm zu sagen: Ich nehme
dich auf, obgleich du diese Normen hasst und wahrscheinlich ver-
letzen willst, in die Gemeinschaft, in der wir beide nun verstehen
wollen, was bei dir wirklich geschehen ist. Und das ist eine völlig
andere Haltung. Das ist ein neues Gebiet, das in der Entwicklung ist,
diese psychotherapeutische Beratung, die nun in innigster Verbindung
mit der Seelsorge steht und eine neue Form der Seelsorge [ist], auch
über die alte Beichte [hinausgeht]. Darum würde ich sagen, dass
dies ein neuer und entscheidend neuer Weg ist. Die Notwendigkeit
solcher Zusammenarbeit ist von beiden Seiten deutlich. Der Arzt
hat ja aufgehört, nur mit Teilen des Menschen zu tun zu haben, er
hat zu tun mit dem Gesamten, und zwar nicht nur mit dem Kör-
1
Korr. (Typ. GS: Philosophie)
235
perlichen, mit der Konstitution des Körpers, sondern auch mit dem
geistigen Leben, der Seele des Menschen, und eins im anderen. Das
ist das, was psychosomatische Medizin bedeutet. Um aber das zu
können, muss er ja etwas wissen von all den Dingen, die die wissen,
die sich mit dem Wesen des Menschen beschäftigen. Sie alle gehen
auf dasselbe Ziel zu, und wenn eines davon herausgenommen ist,
ist das Ganze verfehlt. Das ist einer der Gründe, warum wir heute,
wo wir mit dem Menschen in so radikaler Weise zu tun haben, die
Zusammenarbeit der Departments in den Fakultäten nötig haben.
Ich habe absichtlich das Wort Department, d. h. Warenhausabtei-
lung, gewählt. Wir können nicht mehr in Form eines Warenhauses
verschiedene Wünsche mit verschiedenen Abteilungen bedienen, wir
müssen alle eine Ausrichtung haben. Und diese Ausrichtung ist der
Mensch, denn er ist nicht nur im Zentrum, sondern auch in einer
Notsituation, die es nötig macht, dass er sich selbst wieder Zentrum
geworden ist. Das treibt also zu auf die Zusammenarbeit von Me-
dizin und Theologie.
Dasselbe gilt für die Theologie. Der Theologe, der nicht weiß, was
in einem Menschen neurotisch und was anders ist, ist völlig außer-
stande, diesem Menschen zu helfen. Er spricht ja zu jemandem, von
dem er voraussetzt, dass er die christliche Verkündigung aufnehmen
kann. Aber der neurotische Rückzug auf die begrenzte Burg macht
ja das Verstehen der religiösen Schichten, von denen der Pfarrer
und Priester spricht, bei dem Neurotiker unmöglich. Und darum ist
es absolut notwendig, dass der Theologe weiß, wann er nicht nur
die Hilfe des körperlichen Arztes in Anspruch nehmen muss, wenn
jemand anscheinend theologisch schreckliche Dinge macht oder sagt
und man ohne weiteres feststellt, dass die und die physiologische
Krankheit vorliegt, sondern auch im Seelischen – wenn das nicht
von ihm gesehen wird, dann kann er gar nicht an den Menschen
heran, oder er müßte eine Kraft haben, die von Jesus berichtet wird,
dass er die gesamte Persönlichkeit herausreißt aus der Situation der
neurotischen Selbstzerstörung. Aber das ist nicht eine Sache der
Methode, das ist eine Sache des Geistes und der Kraft.
Der Theologe muss aber noch etwas anderes bedenken. Er muss
wissen, dass er selber oder vielmehr die Religion an vielen Neuro-
sen schuld ist. Das religiöse Material, das sich immer und immer
wieder aus dem Unbewussten der kranken Menschen ergibt, ist sehr
häufig geformt durch religiöse Gedanken und Symbole. Oft ist eine
enthusiastische Antwort, positiv enthusiastische Antwort auf einen
236
religiösen Appell etwas, was man mit größtem Verdacht betrachten
muss, nämlich vom Standpunkt einer realistischen Selbstbejahung.
Sehr oft ist ein solcher Enthusiasmus nichts als der Wunsch, das eigene
Sein zu begrenzen, die Begrenzung zu benutzen, um der Realität zu
entfliehen. Und darum kommt es oft vor, dass Religion pathologische
Selbstreduktion erzeugt, dass sie den Menschen zwingt in neurotische
Zustände der Selbstbehauptung, die sich dann in Phantasien oder in
verzweifeltem extremen Schuldbewusstsein oder Angst des Zweifels
in einem extrem pathologischen Sinn zeigen, wo man sagen muss,
der Pfarrer und die Kirche als ganze sollten wissen, dass Religion
genauso gefährlich wie Alkohol und andere Dinge ist und dass man
sich mit Religion genauso berauscht, genauso in eine Fluchtsituati-
on bringen kann und dass es darauf ankommt, die Religion selber
ständig unter gemeinsamer Arbeit mit der Psychologie unter radikale
Kritik zu stellen.
Nun gibt es aber eine Begrenzung zwischen beiden Fakultäten,
und diese Begrenzung kann vielleicht folgendermaßen beschrieben
werden. Der Mediziner heilt fixierte Krankheiten, und wenn er sie
geheilt hat, hat er den Menschen befreit von jener Selbstreduktion,
die den neurotischen Charakter ausmacht. Er hat ihn befreit, aber
er hat ihn nicht erlöst, und zwar deswegen nicht, weil mit dieser
Freiheit nun alles gemacht werden kann, was in den Möglichkeiten
des Menschen liegt, nämlich der Rückfall in die Flucht, besonders
unter dem Druck der Außenwelt, unter dem Druck der sozialen
Realität. Goldstein1, der mein Freund und Lehrer in Frankfurt war
und jetzt in New York ist und immer bleiben wird, der große Neu-
rologe, hat einmal gesagt im Zusammenhang mit der individuellen
und sozialen Problematik der Neurose: Ich fühle mich, sagte er, in
einem schrecklichen Zustand. Ich heile meine Patienten, und wenn
ich sie geheilt habe, schicke ich sie wieder in eine Welt wie, sagen wir,
New York oder irgendeine andere (keiner, nicht einmal Berlin, soll
sich zu hoch erheben über New York!), und dann, in dieser sozialen
Situation, entstehen Druckformen, die Angst erregen und Angst erre-
gen in einem solchen Grad, dass die Heilung wieder ungültig wird.
Das ist ein Neurologe, der mir das gesagt hat, und das ist eine tiefe
Weisheit. Darum hat die letzte Bewegung der Psychologie sehr stark
Rücksicht genommen auf die sozialen Fundamente der geistigen und
1
S. o., S. 86, Anm. 2.
237
seelischen Erkrankungen. Die Situation kann natürlich nicht geändert
werden, und es ist ja auch nicht nur das Seelische, es sind auch in
einem geheilten Körper die Potentialitäten des Wieder-Krankwerdens,
von einer anderen Ecke her Krankwerdens gegeben, und genauso in
einem geheilten psychologischen Organismus.
Und darum hat nun die theologische Fakultät, wenn ich sie nennen
darf als Symbol für etwas sehr viel Besseres als die theologischen
Fakultäten, eine Funktion, die weit über das hinausgeht, was der
heilende Arzt machen kann, nämlich nun die Persönlichkeit zu zen-
trieren auf etwas, was sie1 unbedingt angeht und was ihr den Grund
der Wirklichkeit und damit die Wirklichkeit selbst neu erschließt.
Aber diese Möglichkeit, die ich vielleicht nennen möchte: die Men-
schen hinführen zu einem letzten Realismus – und letzter Realismus
kann immer nur religiöser Realismus sein, weil religiöser Realismus
bedeutet Bezogensein zum Sein, auf den Grund des Seins selbst und
[nicht] auf ein spezielles Gebiet nur – … selber an ihm teilzunehmen
und von ihm aus die Wirklichkeit als Ganzes zu sehen. Ich rede
nicht von dem Mediziner X und dem Theologen Y …, da liegen die
Dinge ein bißchen anders. Der Mediziner X ist vielleicht ein Christ,
der mehr Erlösungskräfte in sich hat als mancher Pfarrer, aber er
ist es nicht qua Mediziner, sondern weil er Christ ist und nach dem
allgemeinen Priestertum für jeden Priester sein kann. Und der Theo-
loge Y kann imstande sein, heilende Kräfte auszuüben dadurch, dass
in ihm medizinische Weisheit vorhanden ist, aber dadurch wird er
kein Arzt. D. h. wir müssen die Funktionen scheiden. Was persönlich
möglich ist, kann nicht durch diese Scheidung determiniert werden,
dass der Mensch Objekt der Medizin ist, insofern eine akute fixierte
oder chronisch gewordene Krankheit vorliegt, d. h. Abgrenzung von
Funktionen, die nicht mehr in das Ganze integriert sind, während
der Theologe sich zu richten hat auf das persönliche Zentrum, das
Zentrum – (hier kommt das Sakramentsproblem herein), das nicht
nur auf den Intellekt beschränkt werden kann, sondern dass die
Gesamtheit der Persönlichkeit angefasst wird von etwas, das unbe-
dingt ist.
Ich möchte nun noch eingehen auf die zweite Frage, die mir
heute gestellt wird, nach der vitalen Funktion der Angst. Und das
führt zu einer anderen Fakultät, nämlich nicht mehr nur Medizin,
sondern nun zur biologischen Fakultät. Und da ja der Mensch von
1
Korr. (Typ. GS: ihn)
238
allen Seiten, von allen Fakultäten her angesehen wird, muss ich
nun auf die biologische kommen und sie zunächst einmal kurz dar-
stellen. Es gibt ein biologisches Argument, vielleicht gegen all diese
Gedankengänge gerichtet, die ich eben herausgebracht habe. Vom
biologischen Standpunkt würde ich sagen, dass Furcht und Angst
Wächter sind, die die Drohung des Nichtseins dem lebendigen Wesen
andeuten und die Bewegungen des Schutzes und des Widerstandes
gegen diese Drohung hervorrufen. Man würde weiter sagen, Furcht
und Angst müssen aufgefasst werden als Selbstbejahung auf der
Hut, als Selbstbejahung, die gewarnt ist, dass hier und dort eine
Drohung vorliegt. Ohne Furcht, ohne die vorwegnehmende1 Furcht
und die treibende Angst würde kein lebendiges Wesen imstande sein
zu existieren. Und das antwortet auf die Frage nach der Angst der
Kreatur über die menschliche Angst hinaus. Der Mut in Bezug auf
diese Angst würde sein die Bereitschaft, eine Reihe von Negativitäten
auf sich zu nehmen, die die Furcht vorwegnimmt, um einer volleren
Positivität willen. Eine wirkliche biologische Selbstbejahung in jedem
lebendigen Wesen bedingt die Akzeptierung von Mangel, Arbeit,
Unsicherheit, Schmerz, möglicher Selbstzerstörung und Tod. Ohne
diese Selbstbejahung könnte das Leben nicht erhalten und bewahrt
werden. Je vitaler die Stärke eines Wesens ist, desto mehr ist es
fähig, zwei Dinge zu tun: nämlich da Furcht zu haben, wo Furcht
am Platze ist, und dann trotz dieser Furcht die Gefahr, die von der
Furcht gesehen wird, auf sich zu nehmen. Das heißt, es muss eine
Balance bestehen zwischen dem Mut, das, wovor man sich fürchtet2,
auf sich zu nehmen, und der Realität dieser Furcht. Und daraus folgt,
dass das Leben unvermeidlich warnende Furcht und den Mut, der
das, wovor man sich fürchtet, auf sich nimmt, enthält. Ohne die
Balance dieser beiden Elemente kann kein Lebensprozess vor sich
gehen. Solange das Leben eine solche Balance hat, ist es imstande,
dem Nichtsein Widerstand zu leisten. Eine unbalancierte Kühnheit
und eine unbalancierte Furcht zerstören das Leben.
Nun könnte man von da aus argumentieren: Also ist Angst und
Vitalität nur insofern miteinander verbunden, als die Angst das war-
nende Element ist, und hat nichts mit der Ontologie zu tun, von der
du sprichst. Und ich könnte mir denken (und das ist etwas, was immer
gesagt worden ist): Ein Wesen ist um so mutiger, je mehr Vitalität
1
Korr. (Typ. GS: vorausnehmende)
2
Korr. (Typ. GS: das, was gefürchtet ist)
239
es hat. Wenn die Vitalität aufhört, hört der Mut auf, und die Angst
nimmt Oberhand. Also lasst uns die Vitalität eines Wesens stärken;
haben wir das getan, stellt sich der Mut von allein ein.
Aber wie steht es damit? Ist dies biologische Argument gültig
gegenüber der ontologischen Angst, die wir beschrieben1 haben? Ich
glaube nicht. Zunächst einmal deswegen nicht, weil dies Argument
Angst und Furcht durcheinanderwirft. Furcht ist gegenständlich, und
das, wovor die Furcht uns warnt, ist ein bestimmter Gegenstand, auf
den wir uns richten und mit dem wir fertig werden können, dem wir
ausweichen können oder, wenn das nicht geht, mit dem wir kämpfen
können. Angst hat solche vitale Funktionen nicht, und ich glaube,
hier müssen wir sehr scharf unterscheiden: Angst als solche macht
ja gegenstandslos. Angst ist ja Angst nicht vor etwas Bestimmtem,
sondern Angst ist das Gewahrwerden des Nichtseins. Wenn wir uns
von Angst warnen lassen, dann lassen wir uns vor dem warnen, wovor
nicht gewarnt werden müsste, nämlich unserem Sein selbst. … Furcht
dagegen ist die Objektivierung der Angst. Selbstverständlich, in jeder
Angst ist die Tendenz, sich in Furcht zu verwandeln, denn in dem
Moment, wo eine Angst zu Furcht geworden ist, kann man mit ihr
fertig werden. Mit der Angst, die nicht Furcht ist, kann man nicht
fertig werden, weil sie keinen Gegenstand hat, weil sie einfach das
endliche Dasein oder die existentielle Schuld oder der existentielle
Zweifel selber ist, weil Nichtsein, das scheint mir eine der tiefsten
Einsichten des Existentialismus [zu sein], der Grund der Angst ist,
weil die Angst das Wahrnehmen des Nichtseins ist. Und eben darum
kann man damit nicht fertig werden wie [mit der]2 Furcht, die auf
einen Gegenstand gerichtet ist. Nun ist in der Furcht auch immer
Angst. Genau wie die Angst Furcht werden will, hat die Furcht
etwas mit der Angst zu tun. Die Furcht ist nämlich die Furcht, in
Angst zu geraten, in den Zustand zu geraten, in dem man mit dem
Leben nicht fertig wird. Furcht ist niemals Furcht vor Gegenständen
allein – denken Sie an Examensangst, vielmehr -furcht – und es ist
doch nicht ganz unrichtig, es Angst zu nennen. Wenn Sie sich näm-
lich in dem Zustand vor dem Examen – ich habe ein halbes Dutzend
gemacht, ich kann davon reden – sich genau vorstellen, was Ihnen
eigentlich als Schlimmstes passieren kann, können Sie damit fertig
werden. In dem Augenblick aber, wo das Schlimmste, das einem
1
Korr. (Typ. GS: durchgeführt)
2
Korr. (Typ. GS: die)
240
passieren kann, den Charakter hat, dass Sie nun das Gefühl haben,
nun nicht fähig zu sein, mit dem Leben fertig zu werden, dass Ihr
Leben selber, Ihre Existenz als solche bedroht ist, wenn dies aus dem
Hintergrund der Furcht vor diesem speziellen Ereignis herauskommt,
dann wird man damit nicht mehr fertig.
Ich habe auch den Ersten Weltkrieg mitgemacht und kann Ihnen an
einem einzigen Schlachttag den Unterschied klarmachen. Die Angst
war wie Blei über jedem, der sensitiv war, und von den anderen nehme
ich nicht an, dass man sie als Menschen allzu ernst zu nehmen hatte,
weil ihnen das Bewusstsein um Angst fehlte … Die Nacht vorher, die
„bange Nacht“, wie es im Lied heißt.1 Warum ist sie bang? Weil kein
Gegenstand da ist. Und dann geht man ins Feuer am nächsten Tag,
und dann wird aus der Angst Furcht, dann weiß man, was man zu
tun hat. Man muss gegenständlich damit fertig werden. Und in dem
Moment, wo man das tut, gegenständlich damit fertig werden, ist es
wie eine ungeheure Befreiung, und die ontologische Angst ist trans-
formiert für diesen Moment – nicht ganz, denn auch in der Furcht ist
noch die Furcht, dass man in den Zustand der Negativität kommt,
die sich als Angst ausdrückt. Aber fundamental ist der Schritt getan,
der nötig ist, um damit fertig zu werden. Und nun noch ein Satz, den
ich durch eine Geschichte illustrieren will, die ich schon oft erzählt
habe. Ein Gemeiner und ein Unteroffizier sitzen im Trommelfeuer.
Der Unteroffizier sagt zu dem Gemeinen, der ein Intellektueller war:
„Du hast ja Angst!“ Und der Gemeine antwortet: „Wenn Sie soviel
Angst hätten wie ich, wären Sie längst weggelaufen.“ Das ist eine der
tiefsinnigsten Geschichten für das Verhältnis von Angst und Furcht.
Der eine hat seine Angst, die er wirklich hatte, und da er sensitiv
war und vielleicht neurotischen Charakters war, auf sich genommen,
und das war die ganze Spannweite des Mutes, während der andere
nicht in der gleichen Weise Mut hatte, weil die Angst in ihm nicht
in der gleichen Weise gefühlt war. Das sind die Dinge, auf die ich
hier kommen wollte.
Dann möchte ich eigentlich die paar Minuten benutzen, die uns
das Gewitter gibt, um noch weitere Fragen aus Ihnen herauszulocken.
(Keine Fragen)
1
„Die bange Nacht“ ist ein 1843 von Georg Herwegh verfasstes Soldaten-
lied, 1843 von Justus Lyra vertont. Die erste Strophe lautet: „Die bange
Nacht ist nun herum./ Wir reiten still, wir reiten stumm, / Wir reiten ins
Verderben. / Wie weht so scharf der Morgenwind! / Frau Wirtin, noch ein
Glas geschwind / Vor’m Sterben, vor’m Sterben.“
241
Dann will ich den Gedanken der beiden Formen1 durchführen,
in Bezug auf die drei fundamentalen Formen der Angst, auf die ich
in begrenztem Maße in diesem Jahr eingegangen bin, sehr viel mehr
im vorigen.2 Die Angst kann beschrieben werden in einer dreifachen
Weise. Das eine ist die Angst des Schicksals und des Todes, das andere
die Angst der Schuld und Verdammung, und das dritte die Angst des
Zweifels und der Sinnlosigkeit. Diese drei Formen der Angst hängen
unmittelbar mit der menschlichen Natur zusammen und erscheinen,
wie wir später in unseren theologischen Erörterungen sehen werden,
in allen Religionen symbolisch ausgedrückt und zugleich beantwor-
tet. Was sind diese drei Formen der Angst, und wie verhalten sich
die neurotische und die ursprüngliche Angst in diesen drei Formen
untereinander?
Das Erste ist die Angst des Nichtseins im Sinn von Nicht-Daseins.
Nicht-Dasein im radikalen Sinn bedeutet: Sterben müssen. Und da
möchte ich besonders die Theologen unter Ihnen, aber auch jeden
Einzelnen davor warnen, ganz einfach von „Todesangst“ zu reden.
Richtiger ist es, von der „Angst des Zu-sterben-Habens“ zu reden,
denn den Tod können wir nicht erleben, erleben können wir nur
das Sterben, denn in dem Moment, wo der Tod da ist, sind wir
nicht mehr da. Aber diese Angst des Zu-sterben-Habens ist eine
Realität, die nicht etwa gelegentlich da ist und gelegentlich nicht
da ist, sondern die immer da ist, und aus dieser Angst entsteht die
Schicksalsangst, die z. B. in der Spätantike die alles beherrschende
war, die Schicksalsangst, die darin besteht, dass hinter jedem mög-
lichen Schicksal die Drohung des Nichtseins steht. Dadurch wird
das Schicksal eine vorläufige angstschaffende Form, die aber ihre
Angst daraus bezieht, dass am Ende des Schicksals das Schicksal
des Sterbenmüssens steht.
Und nun: Wie steht es dann in dieser Sphäre mit dem Verhältnis der
originalen und neurotischen Angst? Was tut der Neurotiker in Bezug
auf Schicksal und Tod? Er stellt seine Angst an Stellen, wo es unbe-
gründet ist. Er tut, was jeder tut, versucht sie in Furcht zu verwandeln,
aber dies gelingt nicht, weil er seine Angst objektiviert an Plätzen, die
sinnlos sind. Er hat – ich spreche da autobiographisch – in der Mitte
1
Gemeint: die neurotische und die ursprüngliche Angst.
2
In der Vorlesung „Ontologie“ (im Sommersemester 1951) und im Vortrag in
der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Tempelhof am 1. Juni 1951 über
das Thema „Der Mut zum Sein“.
242
einer Berliner Wohnung im sechsten Stock … eine solche Furcht vor
Schlangen, dass, als das Wort „Kobra“ erwähnt wurde, er mehr oder
weniger wie von einem elektrischen Schlag umfiel. Das ist jemandem,
den ich sehr gut kenne, passiert. Ähnliche Fälle können Sie überall
finden. Es sind auch andere Formen der Angst, Angst den Beruf
zu verlieren, wo es nicht nötig ist, Angst, wie ich eben hörte, vor
Entführung in die Ostzone bei Frauen, die kein Mensch entführen
will. D. h. der Neurotiker stellt seine Angst an den falschen Platz
und [das] darum, weil er nicht imstande ist, mit der wirklichen
Lebensangst fertig zu werden. Falsch gestellte Angst ist das, was
man vielleicht hier als Charakteristikum des Neurotikers bezeichnen
müßte. Die normale Angst, die mit Schicksal und Tod zu tun hat, ist
immer da, und ich weiß nicht, ob es Ihnen so geht wie mir, wenn
Sie auf die Art sehen, wie menschliche Gesichter geformt sind, dann
entdecken Sie, wenn Sie tief in dies hineingehen, wie der Ausdruck
des Gesichts – ich möchte sagen, jede physiologische Zelle, die daran
teilhat, mit dadurch geformt ist, dass das stille Bewusstsein, das un-
ausgesprochene Bewusstsein immer da ist: Man hat zu sterben, das
Schicksal ist unsicher, es gibt keinen Moment wirklicher Sicherheit.
Ich will das nicht als ein Argument auffassen, ich will darüber nichts
sagen, was nicht verifiziert werden kann, aber wer von Ihnen diesen
Eindruck nicht hat, wem von Ihnen die Kunst diesen Ausdruck nicht
bestätigt – mir hat alle Kunst ihn bestätigt – , der soll das vergessen,
es soll kein Argument, es soll ein Hinweis sein.
Mit dem, was ich bisher individuell durchgeführt habe, soll eine
soziologische Betrachtung verbunden werden. In der Spätantike war
dies die entscheidende Form der Angst. Die Stoiker waren die Muti-
gen, die nämlich, die Schicksalsangst auf sich nahmen. Das stoische
Fatum war von den Stoikern als der entscheidende Ausdruck des
Nichtseins gesehen worden. Sie sahen es, und ihr Problem war: Wie
kann die Schicksalsangst von einem Menschen überwunden werden?
Und ihre Antwort war: durch den Mut, der diese Angst auf sich nimmt
in der Macht des universalen Logos, des allgemeinen schöpferischen
Prinzips, an dem der Weise teilhat. Solche epidemischen Formen der
Angst treten immer auf, wenn eine Kultur ihre festen Fundamente
verloren hat, wenn die Symbole nicht mehr stark genug sind, den
Mut zu erzeugen, den sie einmal [zu erzeugen] fähig waren, wenn
das Gefüge – und alles Sein beruht ja auf Gefüge – , in dem die Men-
schen eine relative, nie eine absolute Sicherheit hatten, sich auflöst
und nun die absolute Unsicherheit der menschlichen Existenz jetzt
243
herausbricht. Ich brauche das Ihnen ja vielleicht am allerwenigsten
zu sagen. Das bedeutet nicht, dass nun der Mut erschwert (?) wird,
aber das Problem des Mutes wird universal. Und darum waren die
Stoiker die eigentlichen Träger der Heilungs- und Erlösungsidee ihrer
Zeit, mehr noch als die religiösen Gruppen, und erst vom Christentum
wurden sie abgelöst.
Es gibt eine zweite Periode, in der es ganz ähnlich aussah, die
charakterisiert ist durch die Angst der Schuld, nämlich das Spätmit-
telalter und der Beginn der Reformationszeit. Ehe ich darauf eingehe,
möchte ich über die Form dieser Angst etwas sagen, nämlich die
Angst, die darin besteht, dass wir im Widerspruch zu dem stehen,
was der Sinn unseres Seins ist, dass wir die Normen, die uns wesen-
haft konstituieren, verletzen. Die Angst, um die es hier geht, ist die
Angst der Freiheit, und hier würde ich jetzt im Anschluss an die Frage
nach der nicht-menschlichen Kreatur den Unterschied sehen. In der
nicht-menschlichen Kreatur ist die erste Form der Angst vorhanden,
dagegen die zweite Form, die Angst der Schuld und der Verdammung,
ist nicht vorhanden. Was bedeutet diese Angst? Wir sehen hier natür-
lich von einem Wörtlichnehmen der religiösen mythischen Symbole
ab und sprechen statt dessen von dem Sinn dieser Symbole in Bezug
auf Schuld und Verdammnis. Was bedeutet das, was hier vor sich
geht? Der Mensch steht in der Freiheit, sich selbst zu widersprechen,
er ist das einzige Wesen, das wir kennen, das diese Möglichkeit hat,
und er hat nicht nur die Möglichkeit, sondern zugleich auch die
Wirklichkeit. Die Realität des Menschen ist die Realität desjenigen
Wesens, das in Freiheit sich selbst und seinem Wesen widerspricht. Es
ist die Schuld der Selbstentfremdung, wie ich es nennen will, um alle
belasteten theologischen und philosophischen Begriffe zu vermeiden.
Und diese Schuld ist Schuld, weil sie, obgleich sie universal ist, durch
die Freiheit des Einzelnen hindurchgeht. Die Freiheit jedes Einzelnen
partizipiert an der universalen Entfremdung. Wir sind entfremdet
dadurch, dass wir existieren, aber wir fördern diese Entfremdung
durch jede Handlung, die wir tun. Diese Situation ist der Grund der
Angst der Schuld. Was ist die nun, was steckt dahinter? Hinter der
Angst der Schuld steckt die Angst um das Nichtsein unseres Wesens,
um das Nichtsein im Sinne von: sein Wesen zu verlieren, nicht mehr
das zu sein, was man wesenhaft ist, sich selbst zu verlieren in dem,
was das innere Telos von einem ist. Das ist Schuld. Lassen Sie sich
nicht irreführen durch kierkegaardsche oder augustinische Formulie-
rungen. Weder ist es ein abstraktes Gesetz, das uns schuldig macht
244
oder uns Schuldbewusstsein gibt, noch ist es ein transzendentes
Wesen, genannt Gott, dessen Willen wir widersprechen, sondern
beide, das allgemeine Gesetz im Sinn von natürlichen Gesetzen, der
Logos des Seins, und Gott als Träger für das, was wir als Grund und
Sinn der Wirklichkeit auffassen, repräsentieren im Schuldbewusst-
sein gegen uns unser wesenhaftes Sein. Sie stellen nicht etwas, was
uns wesensfremd ist, über oder gegen uns, sondern sie stellen unser
wesenhaftes Sein gegen unser wirkliches Sein. Und das ist der Grund
des Schuldbewusstseins.
Und nun das neurotische Schuldbewusstsein. Der Neurotiker
ist nicht imstande, seine Schuld da zu sehen, wo sie liegt, nämlich
in der Entfremdung und der speziellen Charakteristik, in der diese
Entfremdung sich bei ihm ausdrückt. Um das zu vermeiden, setzt
er die Schuld an die falsche Stelle, er klagt sich an, als Kind seinen
Bruder ermordet zu haben, und es ist völlig sinnlos – es mag sein, dass
aus dem Gesamtzustand der menschlichen Entfremdung feindliche
Gedanken gegen den Bruder da waren, aber in seinem Unbewussten
hat sich dieser Gedanke fixiert. Und das ist dann der Weg, durch den
er vermeidet, das Schuldbewusstsein voll zu akzeptieren und das zu
überwinden, nämlich durch den Mut, die Botschaft zu akzeptieren,
dass er akzeptiert ist, obgleich er unakzeptabel ist. Und das ist das
Letzte, was darüber gesagt werden kann, über diese Form des Mutes
und der Angst.
Die letzte und dritte Form ist die Angst des Zweifels und der
Sinnlosigkeit. Die Angst des Zweifels, die darin begründet ist, dass
der notwendige Zweifel zum Menschsein gehört, zu einem radikalen
Zweifel gehört, nämlich zu einem Zweifel, in dem der Sinn des Seins
verloren geht. Nicht das Zweifeln an einem Einzelnen, sondern das
Zweifeln, das den Seinssinn preisgibt, ist das Problem. Auf eine
Beschreibung dieses Zustands brauche ich nicht einzugehen (erste
Woche!). Wie steht es hier mit der neurotischen Form? Die neuro-
tische Form besteht darin, dass man sich in fanatische Sicherungen
flüchtet und von ihnen aus den Zweifel an die falsche Stelle setzt,
dass man an Stellen, wo es sinnlos ist, zweifelt, an Menschen zum
Beispiel, an Stellen, wo es notwendig wäre [zu zweifeln], fanatisch
bejaht. Diese Zerrissenheit der Situation ist die Analogie zu dem,
was wir in allen anderen Formen der Angst und des Mutes gefunden
haben. Die Angst ist die Angst, den Lebenssinn zu verlieren, nicht [die
Angst], sein Wesen zu verlieren wie im Schuldbewusstsein, nicht, sein
Dasein zu verlieren wie im Todesbewusstsein, sondern den Sinn seines
245
Lebens, weil kein Symbol diesen Sinn mehr ausdrücken kann, und
man dann – das ist die neurotische Form – in Sicherungen flüchtet,
in denen dieser Sinn festgehalten wird, und die wirkliche Frage an
die falsche Stelle setzt.
246
9. Vorlesung
(Montag, 14. Juli 1952)
247
einfach definieren – das, was bei Origenes, Augustin, Thomas und
Calvin gemeinsam ist. Da gibt es Dinge, die genauso gemeinsam
sind und die die christliche Menschenauffassung definieren, wie
es in den divergierenden psychoanalytischen und psychotherapeu-
tischen Richtungen Gemeinsamkeiten gibt und ebenso wie es im
Existentialismus Gemeinsamkeiten gibt. Das Argument, dass jeder
Theologe das Gegenteil vom anderen sagt, ist weder logisch richtig
noch sachlich richtig. Was in Wirklichkeit geschehen ist, ist eine
erstaunliche fast durchgängige Tradition, die in vielen Beziehungen
mit den ältesten Schichten der alttestamentlichen Literatur einsetzt
und bis auf den heutigen Tag wieder und wieder formuliert worden
ist. Und da sind wir in einer verhältnismäßig leichten Situation trotz
vieler Abweichungen und Gegensätze, auf die ich kommen werde,
wo es nötig ist.
Die Grundauffassung, die die christliche Theologie über den
Menschen hat, ist die Unterscheidung von drei Stadien im Sein des
Menschen. Im ersten das Stadium der Geschaffenheit und der Gutheit
des Grundes des Seins dieses geschaffenen Stadiums. Das zweite das
Stadium der Entfremdung, des inneren Widerspruchs, und das dritte
das Stadium der Überwindung des Widerspruchs. Nun ist es nicht so,
dass diese drei Stadien zeitlich aufeinander folgen. Natürlich spricht
man von Sünde, Fall und Erlösung als drei Stadien wie immer, wenn
man über solche Dinge spricht, in zeitlichen Kategorien. Aber die
zeitlichen Kategorien dabei sind Ausdrucksformen und nicht Gegen-
stand der Aussage. Was vom Menschen ausgesagt wird in der Theo-
logie, ist, dass er essentiell gut ist, dass, sofern er am Sein teilhat, er
an der Güte des Seins teilhat. Ich möchte Ihnen wieder einmal den
fundamentalen Satz Augustins einprägen, der für alles Menschenver-
ständnis heute wichtig und für das Christentum fundamental ist: esse
qua esse bonum est. Das Sein als Sein ist gut. Mit diesen drei oder
vier Worten unterscheidet sich die christliche Theologie fundamental
von allen Formen des Heidentums. Weder im Buddhismus noch im
Hinduismus noch im altindischen Denken noch im persischen findet
sich dieser Grundsatz, noch findet er sich in der Rationalisierung des
heidnischen Denkens, in der griechischen Philosophie. Sondern es ist
so, dass überall dieser Grundsatz nicht anerkannt wird und er ist auch
nicht anerkannt im modernen Naturalismus und Existentialismus.
Wenn man die törichten Worte „Optimismus“ und „Pessimismus“
hier brauchen will – ich brauche sie, weil sie unausrottbar sind – ,
dann würde ich sagen: Die einzige essential optimistische Weltan-
248
schauung ist die christliche; die griechische ist essential pessimistisch,
weil im Griechentum der Gedanke der widerstrebenden Materie den
Schöpfungsgedanken unmöglich macht und den augustinischen Satz
„esse qua esse bonum est“ unmöglich macht.
Das ist die eine Seite; denn das zweite ist, dass der Mensch exis-
tential im Widerspruch zu sich selber steht, dass der Mensch nicht
etwa in einem Entwicklungsprozess steht, wo seine essentielle Güte
mehr oder weniger langsam und schwierig verwirklicht wird, sondern
dass ein existentieller Widerspruch zu seiner essentiellen Gutheit
vorliegt. Das Symbol der Sünde und des Falles sind nichts anderes
als diese Situation. Der Mensch ist von dem, was er essentiell ist,
gefallen. Das ist aber ein zeitlicher mythologischer Ausdruck von der
Beziehung der beiden Elemente in der menschlichen Situation, von
der Beziehung des Essentiellen zum Existentiellen.
Und dann sagt die christliche Theologie: Dieses beides sind Abs-
traktionen. Der Mensch ist weder in dem Sinne gut, als ob er noch
im Paradies wäre, noch in dem Sinne schlecht, als ob er im Gegensatz
zum Paradies stünde, sondern er ist in einem Prozess, in dem Heilung
vor sich geht; und das ist das dritte Element. Diese drei Elemente
durchdringen sich in dem dritten. In dem Prozess des Lebens, der
Geschichte, in dem Heilungskräfte vorhanden sind, finden sich immer
beide anderen Elemente als gegenwärtig. Mensch ist immer Mensch,
er hört nicht auf, Mensch zu sein dadurch, dass er Sünder ist nach
christlicher Theologie, obgleich es heutzutage Theologen gibt, die
an die Grenze des Manichäismus kommen und die essentielle Güte
des Menschen verleugnen. Denn [der] Mensch ist immer in Entfrem-
dung – und es gibt keine Perfektion, das war der pietistische Irrtum,
der immer wiederkommt! – , in dem die existentiellen Widersprüche
und Entfremdung immer vorliegen. Das ist das Kriterium gegen alle
Utopie und falschen Fortschrittsglauben. Und dann, dass die beiden
Elemente immer im Menschen zusammen sind, dass sie nicht in
einen den Menschen zerreißenden Widerspruch getreten sind, ist
begründet in der Tatsache, dass die Geschichte in ihrem innersten
Kern Heilsgeschichte ist, d. h. dass heilende Kräfte immer und überall
da sind trotz der überwiegenden Realität der Selbstzerstörung, des
Dämonischen, wie man es für gewöhnlich nennt.
Wenn Sie von der Lehre vom Menschen sprechen in der Theologie,
dann müssen Sie diese drei Elemente aufrecht erhalten, und wenn
eines von diesen drei Elementen verschwindet, dann steht das im Bild
des Menschen im Widerspruch zu einer echten Religiosität … Wenn
249
eines dieser Elemente verloren geht, entstehen verzerrte Anschauun-
gen vom Menschen, wie ich sie andeutete. Es ist erstaunlich, wie das
durch die ganze Philosophie- und Theologiegeschichte hindurchgeht,
wie die Frage immer ist: Gibt es noch essentielle Gutheit, ist das
Existentielle, der Widerspruch, die Entfremdung eine Macht, die in
der Geschichte unüberwindlich ist? Und drittens: Ist trotzdem Hoff-
nung möglich, nämlich heilende Kräfte, in denen der Widerspruch
des Essentiellen und des Existentiellen überwunden wird? Diese drei
Fragen sind die Fundamentalfragen der theologischen Auffassung
vom Menschen.
Nun will ich im Einzelnen auf diese drei Elemente eingehen und
über sie so viel sagen, wie es nötig ist im Zusammenhang dieser
Vorlesung. Zunächst das essentielle Stadium. Hier kommen wir
zum Problem des Schöpfungsgedankens. Zunächst einmal möchte
ich eine Karikatur beseitigen, die, solange sie primitive Phantasie
bleibt, ungefährlich ist, aber wenn sie theologisch wörtlich genom-
men wird, nämlich der Gedanke einer Schöpfung, die irgendwann
einmal stattgefunden hat, die im zeitlichen Ablauf in einem Moment
da war, gefährlich ist, was bedeutet, dass Gott nicht wesenhaft
schöpferisch ist, sondern dass das Erschaffen ein Einfall bei ihm
ist, wo man fragen könnte: Warum? Das hat Konsequenzen für
den Theodizeegedanken, für den Versuch, Gott für das Leid in der
Welt zu rechtfertigen, für das moralische Übel. Ich werde hier etwas
apologetisch, weil ich glaube, diese Ideen sind wichtig, und weiß,
dass ihre Wichtigkeit nicht mehr erkannt werden kann, wenn die
wörtlich genommene mythische Umhüllung nicht beseitigt wird.
Darum als erster Satz dazu, dass der Schöpfungsgedanke nicht von
einer Schöpfung in der Zeit spricht, sodass Gott sozusagen eine Zeit
vor der Schöpfung erlebte, wo er sich langweilte, sondern dass Gott
immer schöpferisch ist, dass es zu seinem Wesen gehört, zu schaffen,
dass in seinem Sein ein ununterbrochenes Schaffen von Sein vor sich
geht. Oder in einer noch schärferen Formulierung: dass das, was
der ewig schöpferische Grund des Seins ist, von uns Gott genannt
wird. Der Schöpfungsgedanke in diesem Sinn ist begriffen worden
von der klassischen Theologie seit Augustin und auch vorher schon,
wenn gesagt worden ist, dass die Zeit mit der Schöpfung geschaffen
ist. D. h. die Zeit ist nicht ein leeres Flussbett, in dem erst Gott und
dann die Welt und dann wieder Gott allein da ist, sondern die Zeit ist
die Kategorie der Endlichkeit, und in dem Moment, wo Endlichkeit
ist, ist Zeit. Nun habe ich eben einen schönen Fehler gemacht, der
250
zeigt, wie schwer es ist. „In dem Moment, wo …“, d. h. ich habe
eigentlich gesagt: In der Zeit, wo Endlichkeit ist, und d. h., dass wir
nicht imstande sind, auch nur den Gedanken der Schöpfung der Zeit
ohne dauernde …1 auszusprechen. Ich möchte es jetzt ein bisschen
exakter so ausdrücken, dass Endlichkeit Zeitlichkeit in sich schließt,
aber das Zeitliche nicht der Endlichkeit vorausgeht.
Nun, was ist Endlichkeit? Damit kommen wir zu einem Begriff,
der sowohl in der Theologie wie in der Existentialphilosophie funda-
mental ist, den die Psychopathologie in der Lehre von der Angst noch
erst ein bisschen besser durcharbeiten, sich aneignen soll. Ein großer
Teil der Missverständnisse der Tiefenpsychologie kommt daher, dass
sie nicht weiß, was Nichtsein ist. „Nichtsein“ ist ein schwieriger
Begriff, weil er nicht Begriff sein kann, dann wäre er ja ein Sein, ein
Seiendes oder eine Qualität von Sein. Er ist aber der Gegenstoß zum
Sein. Nun ist aber das Interessante an der Geschichte des Denkens,
dass Sein, wenn immer es gedacht wurde, gedacht wurde in Korre-
lation zu Nichtsein. Man kann es nicht anders denken. Sein ist die
Affirmation trotz des Nichtseins als Möglichkeit und Wirklichkeit,
und darum hat natürlich die Theologie und vorher schon die einfa-
che religiöse Intuition den Begriff des Nichtseins in tausend Formen
gehabt. Das „Chaos“ von Genesis 12 ist die dialektische tiefsinnige
und völlig berechtigte Form, das Nichtsein anzuschauen. Chaos heißt
„offener Schlund“ im griechischen Sinn des Wortes. Es ist das, was
keinen Inhalt hat; aber wenn es als Chaos bezeichnet wird, hat es
doch eine Art von Sein. Es ist sehr interessant, hier die biblische Ur-
geschichte mit der vorsokratischen Philosophie zu vergleichen und zu
sehen, wie in einer mythologischen Form im Biblischen vorliegt, was
in reduziert mythologischer Begrifflichkeit bei den Vorsokratikern
vorliegt, nämlich dass das Sein vom Nichtsein her gedacht ist.
Aber nun kommt unmittelbar die Unterscheidung des Griechi-
schen und des klassisch Christlichen. Die Unterscheidung ist die,
dass im griechischen rationalisierten Heidentum das Nichtsein eine
Mächtigkeit hat, die es ihm ermöglicht, dem Sein Widerstand zu leis-
ten. Diese Möglichkeit ist in der Bibel und der christlichen Theologie
nicht vorhanden. Das Nichtsein in der christlichen Theologie ist nicht
die Materie, die dem Formprinzip gegenübersteht und von der alle
Endlichkeit und alles Leid und alle Schuld und alles Übel abgeleitet
1
Ein fehlendes Wort in der Aufzeichnung.
2
„Die Erde war wüst und leer“ (Gen 1, 2).
251
werden kann. Und da haben wir die erste fundamentale Unterschei-
dung, von der alles weitere abhängt. Im Christentum ist der Mensch
wie alles aus dem Nichtsein geschaffen. Nun wollen wir ein solches
Wort ein bisschen analysieren. Es ist keine biblische Formulierung,
sondern eine rabbinisch-frühchristliche Formung. Gott hat die Welt
aus dem Nichts geschaffen. Damit meinte die christliche Theologie:
Es war keine Materie da, von der dann ja [Gott] abhängig wäre,
wenn sie ontologische Selbständigkeit hätte, sondern: Gott hat die
Welt geschaffen aus den Potentialitäten in ihm selbst. Das ist ein
entscheidender Gedanke. Nur wenn dieser Gedanke bejaht wird,
kann Erlösung gedacht werden. Darum kann in der Antike Erlösung
nur als Auslöschung gedacht werden. Überall in der Antike, auch der
griechischen, ist Erlösung Eingang in das Ursprüngliche, in dem die
Unterschiede ausgelöscht sind. Der christliche Schöpfungsgedanke
gibt die Möglichkeit der Erlösung, weil er das einzelne Seiende nicht
ableitet von einem widerstrebenden Nichtsein, sondern von Gott.
Und das Nichts, aus dem die Schöpfung entstanden ist, ist ein Nichts,
das nicht den Charakter einer von Gott unabhängigen Materie hat.
Das ist die eine Seite der Sache. Darum erweist sich der Gedanke
der Schöpfung aus Nichts, wenn man ihn logisch analysiert, sofort
als Symbol und nicht als etwas im logischen Sinn zu Denkendes,
ein Schutzgedanke gegen die Verneinung der Inkarnation Gottes
in der Geschichte, ein Schutzgedanke gegen die Verneinung der
Eschatologie, der Hoffnung. Auf dem Boden des Gedankens, dass
die Materie widerstrebende Endlichkeit ist, kann es keine Hoffnung
geben, und darum war ja Origenes, der noch tief im Griechischen
steckte, unfähig, die Eschatologie zu akzeptieren.
Neben dieser einen Seite steht die andere Seite. Der Schöpfungsge-
danke sagt, dass wir kreatürlich sind, und ich würde den Theologen
und Religionsphilosophen unter Ihnen folgenden Rat geben: Wenn
Sie die Schöpfungslehre analysieren, wenn Sie sagen: Gott hat die
Welt erschaffen, dann sagen Sie: Der Mensch ist kreatürlich! Analy-
sieren Sie die Kreatürlichkeit der Existenz! Dann gehen Sie von der
realen Erfahrung jedes Menschen aus. Ob Gott die Welt geschaffen
hat oder nicht, ist in dieser Wörtlichkeit höchst fragwürdig und
überzeugt niemanden, wenn nicht schon der Gottesgedanke als
Antwort vorliegt. Wenn aber einem Menschen gesagt wird: „Du
bist kreatürlich, sieh dich einmal an!“, wird er vielleicht begreifen,
was mit dem Begriff „Schöpfung“ gemeint ist. Du bist Kreatur, was
heißt das? Das heißt: Du kommst aus dem Nichtsein und trägst die
252
Zukunft des Nichtseins in dir, du bist endlich, und Endlichkeit heißt:
Nichtsein vereint mit Sein. Wir alle sind endlich, das heißt, wir alle
haben Teil am Nichtsein. Das zu analysieren, scheint mir die Haupt-
aufgabe einer gegenwärtigen Lehre von der Schöpfung zu sein. Wir
müssen vorläufig die Dogmen, in diesem Fall das Schöpfungsdogma,
existentiell reduzieren als Antwort auf eine Frage, die in der mensch-
lichen Situation gegeben ist, und die menschliche Situation ist die
Situation der Endlichkeit. Was Endlichkeit bedeutet, zu beschreiben,
ist eine Aufgabe, die von allergrößter Bedeutung ist für Philosophie
und Theologie. Endlichkeit hat natürlich den letzten Sinn: aus dem
Nichts kommen, wie es Heidegger ausdrückt: „Geworfenheit“, und
zum Nichts gehen, die Notwendigkeit des Zu-sterben-Habens. Und
das drückt sich aus in den Kategorien der Endlichkeit.
Ich glaube, dass das Tiefsinnigste an Kant das ist, was Heidegger
an ihm entdeckte, nämlich die Kategorienlehre als Lehre von der
Endlichkeit.1 Bei Kant ist das zunächst bedeutungsvoll für das Er-
kennen. Die Kategorien, die wir brauchen müssen, zeigen, dass wir
im Erkennen endlich sind. Aber es geht weit über das hinaus. Die
Kategorien sind Kategorien der Endlichkeit. Es ist das eine für die
philosophische Kategorienlehre überraschende Einsicht, aber eine
Einsicht, die die Philosophie schlucken muss. Sie kann nicht einfach
die Kategorien so hinnehmen, ohne die Beziehung zur Endlichkeit
auszudrücken. Endlichkeit hat zwei Seiten. Es ist Sein und Nichtsein
zugleich. Die Zeit zeitigt – es ist eine Heideggersche Spielerei mit
dem Wort, aber hier eine gute – , d. h. sie setzt aus sich das Neue
heraus. Insofern ist die Zeit Sein und wie alles Sein schöpferisches
Sein. Aber die Zeit ist zugleich das, was hinwegschwemmt, was
sie aus sich herausgesetzt hat. Sie ist die Form des Vergehens, wie
Aristoteles sagt, mehr als des Werdens.2 Für ihn wie für die Pythago-
räer ist die Zeit das, was auslöscht, die Annihilation des Seins. Wir
brauchen weder das eine noch das andere zu betonen. Wir können
sagen: Die menschliche Situation ist Situation in der Zeit, d. h. von
Nichts kommen und zu Nichts gehen, und das heißt: Kreatur sein.
Nehmen Sie all diese Dinge einmal anders, als es gewöhnlich in der
theologischen Kinderlehre, die auch für Erwachsene gewöhnlich
gebraucht wird, vorliegt. In der Theologie ist so viel Tiefe, dass es
1
M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt am Main
1929.
2
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 81.
253
eines der schmerzlichsten Dinge ist, zu sehen, wie die Tiefe ständig
verdeckt wird durch die Art, in der diese Dinge dargestellt werden.
Wenn man keine Zeitanalyse macht und nicht versteht, dass Zeit
Form der Endlichkeit ist, und [wenn man] Unsterblichkeit einfach
als fortgesetzte Zeit sich denkt oder Ewigkeit nicht in Verbindung
mit Zeit setzen kann oder Zeit und Tod nicht zusammen versteht, ist
beides im Grunde genommen und christlich-theologisch unverständ-
lich. Heute hat Theologie nichts nötiger als die Mahnung: Ihr habt
alle Möglichkeiten – alles, die Geschichte selbst, die Weltgeschichte
und deren Spiegel, das gegenwärtige Denken usw., das hat euch
gezeigt, wie ihr über diese Dinge reden könnt. Aber ihr könnt nicht
darüber reden wie in der theologischen Kinderlehre; und selbst die
Kinderlehre kann tiefer sein, als sie für gewöhnlich ist.
Und nun: Endlichkeit ist nicht Entfremdung. Ich betone damit
nur etwas, was ich zu den drei Gesichtspunkten schon gesagt hatte.
Endlichkeit ist an sich positiv nach christlicher Lehre; auch der
Christus, in dem das menschliche Urbild geschaut wird, ist endlich.
Der Unterschied von der menschlichen Situation als solcher ist nur,
dass in ihm angeschaut ist die Überwindung der Entfremdung, aber
nicht die Überwindung der Endlichkeit. Und der Ausdruck dafür ist
die Tatsache, dass das Gewahrwerden der Endlichkeit, nämlich die
Angst in ihm, in derselben Weise vorhanden ist wie in jedem anderen
Menschen. Die verschiedenen Beschreibungen der Angst Jesu (Gethse-
mane!) zeigen, dass für die christliche Theologie die Angst zum Guten
gehört. Die Angst der Endlichkeit ist nicht das Schlechte, sondern
das Gute, es gehört zum Schöpferischen der Endlichkeit selbst und ist
auch in dem vorhanden, der der Christus genannt wird. Diese Angst
kann nicht durch Mut beseitigt, sondern nur aufgenommen werden.
Was dagegen möglich ist, ist dass Entfremdung entsteht, und das ist
keine Notwendigkeit im Sinn einer essentiellen Notwendigkeit. Das
ist das Urfaktum des Daseins und der Geschichte.
254
10. Vorlesung
(Dienstag, 15. Juli 1952)
Die gesamte Diskussion, die wir gehabt haben, war so, dass wir in den
ersten beiden Wochen die psychoanalytische und existentialistische
Auffassung des Menschen besprochen haben und dass wir nun die Pa-
rallele ziehen wollten zu der theologischen Auffassung des Menschen.
Infolgedessen bin ich gestern an einige theologische Grundbegriffe
gegangen, und zwar den Schöpfungsgedanken, den ich gedeutet habe
als Erfahrung der Kreatürlichkeit, nicht als einen mythologischen
Akt in der Vergangenheit, sondern eine Erfahrung des Nicht-von-
sich-selbst-Seins, des In-die-Welt-Hineingeworfen-Seins, des Aus-
der-Welt-herausgehen-Müssens. Und ich hatte zugleich besprochen
das Element des Nichtseins, das in der Erfahrung der Endlichkeit
vorliegt, im allgemeinen und besonders in der Unterscheidung des
griechischen und des christlichen Begriffes von Nichtsein. Und dann
zum Schluss war ich auf einige Kategorien eingegangen, wie Zeit,
die die Endlichkeit des Endlichen charakterisieren.
Die christliche Problematik macht, wie ich am Anfang der letzten
Stunde aufs schärfste betonte, einen scharfen Unterschied zwischen
Endlichkeit und Entfremdung, und daraus ergibt sich eine Fülle von
Problemen, deren einige wir jetzt behandeln müssen. Zunächst einmal
entsteht die Frage nach dem Übergang von dem, was ich gestern als
essentielles Sein des Menschen oder gegebenes Gut-Sein, zu dem,
was ich als existentielle Zerspaltung und Entfremdung bezeichnet
habe. Ich möchte noch einmal betonen, dass es fundamental für
alles christliche Denken ist, dass diese beiden Begriffe, das essentielle
Sein des Menschen und die existentielle Entfremdung des Menschen,
unterschieden werden. Erst wenn das geschehen ist, können wir in
der Realität des Menschen die vieldeutige Mischung dieser beiden Ele-
mente finden. Wenn es nicht geschieht, dann kommen wir entweder
zu jener Weltanschauung, die glaubt, dass alles Existentielle nur eine
vorläufige Sache ist, die überwunden wird innerhalb der Geschichte,
entweder in einem fortschrittlichen Entwicklungsprozess oder in
revolutionären Katastrophen. Auf der anderen Seite haben wir dann
den existentialistischen Begriff von dem Sein des Menschen, das kein
Wesen mehr hat und infolgedessen keine Normen und keine Kriterien.
Um diese beiden Abwege zu vermeiden, muss jede philosophische
Stellungnahme, ich würde sagen, im Sinn der christlichen Tradition
Stellung nehmen zu dem Zwei- oder Dreitakt der menschlichen
255
Realität. Der Existentialismus hat uns die existentielle Seite wieder
eröffnet: die Entfremdung, die Entmenschlichung, den Widerspruch.
Die klassische Philosophie hat die essentielle Seite uns nach allen Rich-
tungen hin erschlossen. Ich würde sagen, dass hier vielleicht Spinoza
die klassische Form einer reinen Essentialphilosophie ist. Aber beide
sind einseitig und können nicht an die Wirklichkeit des Menschen
heran, und obgleich es für einen Theologen sich eigentlich nicht an-
steht, in der heutigen Situation die Größe und Tiefe der christlichen
Lehre zu preisen, so wage ich trotzdem, das zu tun. Ich würde es
vorziehen, dass es ein Nichttheologe täte, aber ich habe nun einmal
das Glück oder Unglück, ein Theologe zu sein, und ich glaube, dass
es, wenn die Dinge wieder einmal aus der Tiefe verstanden werden,
für den Menschen unserer Tage sichtbar wird, wie sehr durch die
christliche Tradition in der Lehre vom Menschen die fundamentale
Einsicht, die ich hier formuliert habe als des Menschen essentielles
Gut-Sein und des Menschen existentielle Selbstentfremdung, wie sehr
diese beiden Fundamentalbegriffe durch die christliche Tradition be-
wahrt sind und dass die Bedeutsamkeit dessen, was Existentialismus
und die verwandte Tiefenpsychologie aufgedeckt haben, eben dies ist,
dass gegen eine lange Periode vorherrschender Essentialphilosophie
wir wieder die existentielle Seite haben sehen lernen.
Für den christlichen Theologen, der etwas wusste um die christliche
Tradition, war das Ganze nicht überraschend. Überraschend war es
nur für den christlichen Theologen, der in der bürgerlichen Sekurität
einer essentiellen Welt und essentiellen Philosophie lebt und der durch
die radikalen Formen der existentialistischen Kunst und Philosophie
aus dieser Sekurität herausgerissen wurde. Es ist bedauerlich, wenn
die Kirche, die das größte Interesse an diesen Dingen haben sollte,
nicht versteht, was da vor sich geht, und sich auf die Seite derer
schlägt, die eigentlich ihre radikalsten Gegner sind, nämlich die, die
in dem Zustand der spätindustriellen Sekurität festliegen und die
Formen der Kunst, der Philosophie, der Musik und alles andere als
verderbt verwerfen und ihre unbeschreibliche unehrliche Kitschkunst
in Sonntagsblättern weiter betreiben. Jeder von Ihnen, der irgendein
Interesse an der religiösen und kirchlichen Existenz hat, sollte hier tief
ungeduldig werden und sich das nicht gefallen lassen, sondern sollte
klar und scharf sagen, dass in dieser Form mehr christliche Theologie
steckt als in den Kitsch-Jesus aller Sonntagsblätter zusammen.
Nun etwas mehr in die Sache selbst. Das Entscheidende ist, dass
Endlichkeit und Entfremdung nicht das Gleiche sind, und das ist
256
vielleicht das tiefste Problem der Lehre vom Menschen überhaupt.
Endlichkeit und die Angst der Endlichkeit, das heißt die Angst des
Nichtseins, sind in jedem Wesen, das am Nichtsein teilhat, sind im
Menschen, aber diese Angst der Endlichkeit ist nicht die Angst der
entfremdeten Endlichkeit. Und diese beiden Formen der Angst müssen
aufs schärfste unterschieden werden. Wie kommt es im Menschen
aus der Endlichkeit zur Entfremdung? Das ist die Frage, die vielfach
gestellt worden ist als die Frage nach dem Ursprung der Sünde oder
die Frage der Theodizee oder die Frage, die zwischen Augustin und
Pelagius oder Luther und Erasmus diskutiert wurde, die Frage nach
der menschlichen Situation in Bezug auf den Übergang aus dem
Essentiellen in das Existentielle. Und das ist das Problem, mit dem
wir jetzt zu ringen haben.
Die Möglichkeit dieses Überganges ist die Tatsache, dass der
Mensch in seinem essentiellen Charakter definiert werden kann und
wohl muss als endliche Freiheit. Diese beiden Worte sind ausreichend,
um die entscheidende Charakteristik des Menschen zu geben. In
„Freiheit“ ist die rationale Struktur des menschlichen Seins, sein
Charakter als individuelles Selbst, als zentrierte Persönlichkeit ge-
geben. In „Endlichkeit“ ist die Möglichkeit gegeben, mit sich selbst
in Widerspruch zu treten. „Endliche Freiheit“ scheint mir – und ich
habe dafür viele Bestätigungen auch aus den tiefenpsychologischen
Kreisen in Amerika – die adäquateste – nicht Definition, man kann
den Menschen nicht definieren – , aber der adäquateste Hinweis auf
das zu sein, was den Menschen zum Menschen macht. In Freiheit
ist nicht irgendein Willensfreiheitsproblem oder Determinismus-
Indeterminismusproblem gemeint, sondern die Tatsache, dass der
Mensch ein Selbst ist und eine Welt hat, dass er Normen anerkennen
und ihnen widersprechen kann, dass er nicht reagiert in Form eines
mechanischen stimulus-response, sondern dass er reagiert durch das
Zentrum seines Seins, und das heißt: entscheidend, erwägend, Gründe
vorbringend und schließlich sich für dies oder das einsetzend. Diese
Möglichkeit ist dadurch gegeben, dass der Mensch frei ist, und das
ist die Definition von Freiheit. Diese Freiheit des Menschen, die on-
tologisch ist und vor jeder anderen Freiheit liegt, die die Grundlage
der juristischen Freiheit ist, dass jemand Person ist, der ethischen
Freiheit, dass jemand verantwortlich ist, der Grund dafür, dass wir
gegen Verdinglichung reden – diese Freiheit ist nicht die Willkür
des Indeterminismus, sondern es ist eine zu beschreibende Struktur
des menschlichen Seins, nämlich zu beschreiben als die Fähigkeit
257
habend, durch ein erwägendes und entscheidendes Zentrum hin zu
handeln. Das ist die Größe des Menschen, und für Theologen würde
ich sagen: Es ist das Ebenbild Gottes im Menschen. Es ist das, was
den Menschen zum essentiellen Ausdruck des Seinsgrundes macht,
es ist die Selbstmächtigkeit des Seins, die in ihm zur vollendeten
Verwirklichung in einer Kreatur kommt.
Aber zugleich ist diese Freiheit die Gefahr des Menschen. Der
Mensch ist das einzige Wesen, das fundamental gefährdet ist. Alle
anderen Wesen folgen dem Gesetz, dass das Handeln dem Sein folgt,
diesem alten metaphysischen Gesetz. Im Menschen ist die Möglich-
keit, dass das Handeln dem Sein widerspricht, und diese Unterschei-
dung des Menschen von aller übrigen Kreatur ist die Gefährdung des
Menschen. Diese Gefährdung des Menschen würde nicht existieren,
wenn die menschliche Freiheit göttliche Freiheit wäre – aber sie ist
endliche Freiheit, sie ist nicht unendliche Freiheit. Und da sie endliche
Freiheit ist, ist sie in einer besonderen Situation, die aus der Gefahr
die Wirklichkeit dessen, was in der Gefahr droht, kommen lässt:
nämlich die Entfremdung.
Und wie geschieht das? Es gibt zwei ganz große Beschreibungen
davon. Das eine ist die biblische Geschichte, auch wenn wir alle
mythologischen Worte nicht mehr ernst nehmen, sondern die tie-
fenpsychologische Weisheit, die darin steckt, als das herausholen,
was damit gemeint ist. Und das zweite ist Kierkegaards Schrift „Der
Begriff Angst“.1 Beides sind Versuche, die Existenz des Menschen im
Unterschied von seiner essentiellen Realität, von seiner Geschaffen-
heit verständlich machen. Auf beides müsste man eingehen, und ich
würde es kurz tun in irgendeinem Sinn. Es ist eins der schwersten
und faszinierendsten aller Probleme der menschlichen Situation. Es
ist ein Problem, das ständig verifiziert wird durch die Erfahrung von
jedem von uns. Die Adamsgeschichte ist immer unsere Geschichte,
ganz gleich, ob sie in biblischer oder Kierkegaardscher Form vor-
getragen ist. Das heißt, der Übergang vom Essentiellen zum Exis-
tentiellen ist nicht etwas, was einmal passierte, und dann fragt man
sich: Was geht uns das an? Und dann kommen allerhand mythische
Versuche, es mit Erbschaft zu erklären, die alle sinnlos sind, weil
sie voraussetzen …2, sondern [sie sind eine] Beschreibung des realen
Übergangs von träumender Unschuld in reale Selbstverwirklichung.
1
Korr. (Typ. GS: Fragment über die Angst)
2
Einige Wörter der stenographischen Aufzeichnung fehlen.
258
„Träumende Unschuld“ ist ein poetisches Symbol, und ich möchte
es erläutern. Es ist eine Übersetzung von „Paradies“. Aber Paradies
in dem Sinn, dass wir ständig aus dem Paradies vertrieben werden
und zwar dadurch, dass wir uns realisieren müssen.
Lassen Sie mich mit Kierkegaard beginnen und zurückgehen auf
die biblische Analyse. Bei Kierkegaard ist der Grund des Übergangs
von träumender Unschuld zu aktueller Selbstverwirklichung, die
schuldig macht, begründet in der doppelten Angst, von der er spricht.
Und ich möchte mit meinen Worten diese doppelte Angst beschreiben
auf Grund von Beobachtungen an lebendigen Menschen und mir
selbst. Die eine Angst ist die Angst der Unschuld. Denken Sie zum
Beispiel an sexuelle Unschuld. Der Übergang von der Unschuld in
Selbstrealisierung – man wird in diesen Übergang getrieben in Form
einer doppelten Angst. Die eine Angst ist die Angst, sich nicht zu
verwirklichen, die Potentialitäten, in diesem Fall die schöpferischen
Potentialitäten nicht nur im Sinn der Gattung, sondern auch im indi-
viduellen Sinn, die im Erotischen stecken, [nicht] zu realisieren. Diese
Angst treibt zu dem Schritt der Realisierung, Sie können es täglich
beobachten. Auf der anderen Seite ist etwas, was zurückhält, und das
ist die Angst, aus der Unschuld herauszutreten in den unbekannten
Raum des Schuldigwerdens, des die Realität-Erfahrens und in der
Erfahrung der Realität mit sich selbst in Widerspruch zu kommen.
Die Unschuld antizipiert das Schuldigwerden in ihrer Angst, die
die Unschuld bei sich selbst halten will. Aber auf der anderen Seite
drängt die Angst, sich nicht zu verwirklichen, die Unschuld dazu,
den Sprung zu machen und schuldig zu werden. Und es ist immer
ein Sprung. Nun, wenn Sie diese Beschreibung, die ja sehr abgekürzt
ist, annehmen, und ich glaube, man muss sie annehmen … Es ist
die Angst des freien Seins, sich nicht zu verwirklichen und weniger
zu bleiben als das, was als Möglichkeit gegeben ist, und die Angst,
sich zu verwirklichen und sich in der Verwirklichung zu verlieren,
diese doppelte Angst ist das, was in unserer Erfahrung da ist. Das
ist keine mythologische Phantasie, sondern Beschreibung dessen, was
in dieser Erfahrung ständig gegenwärtig ist.
Nun glaube ich, dass die biblische Geschichte in ganz analoger
Weise die Situation beschreibt. Da sind zwei Kräfte, die eine das göttli-
che Verbot, der Ausdruck der Angst, in eine Situation zu kommen, wo
man wissend ist, und das andere ist die Versuchung der Schlange, d. h.
des naturhaften, dynamischen, vitalen Prinzips in allem Seienden, das
zur Selbstverwirklichung drängt, das drängende, vorwärtstreibende
259
Prinzip; auf der einen Seite das zurückhaltende Prinzip, das göttli-
che Verbot, das Symbol des zurückhaltenden Prinzips, weil damit
Entfremdung unvermeidlich gegeben ist. Und auf der anderen Seite
das hintreibende Prinzip, das schöpfungsmäßig in jedem gegeben ist,
gleich, ob man es „Wille zur Macht“ oder „Libido“ oder „Drang“
oder „Instinkt“ nennt. Die Weisheit der alten Geschichte ist tief in
dem Moment, wo man das kindische Wörtlichnehmen des Mythos
beseitigt hat und wo man eine Sache vor allem versteht: dass in dem
göttlichen Verbot ja schon die Entfremdungssituation vorausgesetzt
ist als Möglichkeit. Es ist nicht so, als ob Gott wie ein willkürlicher
Vater sagt: „Die Äpfel darfst Du essen, die Birnen nicht“, sondern
es ist so, dass das göttliche Prinzip hier auftritt als die Warnung, die
Angst des Sich-selbst-Verwirklichens. Denn der Mensch verwirklicht
sich und seine Freiheit, wenn er erkennt die Macht des Seins. „Gut
und böse“ heißt im Urtext nicht moralisch gut und böse, obgleich
das nicht ausgeschlossen ist, sondern die Macht des Guten und
Schöpferischen und des Schädlichen und Verderblichen. Solange der
Mensch nicht imstande ist, diese Mächte zu verstehen in sich selber,
der Gesellschaft und der Natur, ist er nicht wirklich Mensch. In dem
Sinn muss er wissen, und auf der anderen Seite, wenn er weiß, wird
er schuldig. Das ist die Situation.
Diese Situation ist so allgemein und in jedem einzelnen hat sie
wieder den Doppelcharakter der Unvermeidlichkeit und der Verant-
wortlichkeit zugleich. Und damit sind wir an dem Punkt, wo logische
Alternativen Fallen stellen könnten, indem Sie nun versuchen, die
Erfahrungsweisheit, die in dieser Analyse liegt, zu unterminieren
dadurch, dass Sie jetzt die Frage stellen: Woher kommt das Böse?
Wenn es von Gott kommt, ist Gott nicht gut; kommt es nicht von
Gott, dann ist da eine zweite Macht. Ich sage: Solche Alternativen
erlaube ich zu stellen, wo ihr mit Gegenständen zu tun habt. Im
Augenblick, wo ihr von Existenz redet, sind solche Alternativen
geradezu der Sündenfall, der Versuch, Gott und den Menschen zu
verdinglichen und sie wie Bauklötze nebeneinander zu stellen. In
Wirklichkeit ist die Situation für jeden klar, und jeder weiß das,
nämlich, dass er für seine Existenz und wie er sie in sich vorfindet,
zugleich verantwortlich ist und sie doch als unentrinnbar hat auf sich
nehmen müssen. Und dieses Doppelurteil ist die Realität des Lebens,
und Sie brauchen sich nicht zu fürchten, dass ein Logiker kommt – ich
glaube einer zu sein, aber bin es da, wo solche logischen Alternativen
notwendig sind. Wenn es sich aber um Existenz handelt, sind solche
260
Alternativen das, was Existenz zerstört und auflöst in physikalische
[Vorgänge]. Was aktuell vorliegt, ist nur aus der Unmittelbarkeit des
Seins selber, der Existenz selber in beschreibender und hinweisender
Weise zu ziehen. Und ich glaube wieder, dass an diesem Punkt die
Existentialphilosophie, die ja gegen solche essentiellen Alternativen
mit aller Macht kämpft, vollkommen berechtigt ist, dass hier gerade
der Hinweis auf existentielle [Analyse] im Gegensatz zu essentieller
Analyse uns zeigt, dass es eine Dimension der Realität gibt, nämlich
die der Existenz, in der die Alternativen der essentiellen Analyse
nicht gültig sind.
Und das heißt, dass ich mich gegen Pelagius und gegen Erasmus
und gegen viele Vertreter humanistischer Theologie für Paulus und
Augustin und Luther entscheide – nicht weil sie die Dinge vortreff-
lich formuliert haben, das ist oft nicht der Fall. Es ist so unendlich
schwer, bei der kategorialen Struktur unseres Bewusstseins zu ver-
meiden, wenn man auf diese Seinsschicht hinweist, wieder in die
gegenständliche Denkweise zurückzufallen. Und das ist den Leuten,
die ich eben nannte, auch passiert. In dem Augenblick, wo Paulus das
Bild vom Töpfer und Ton1 anwendet, verdinglicht er den Menschen,
d. h. das Bild wird inadäquat. Ebenso, wenn Augustin später von
der Unwiderstehbarkeit der Gnade spricht, dann verdinglicht er den
Menschen, denn wenn Gnade unwiderstehlich ist, geht sie nicht mehr
durchs Zentrum, und dem Menschen passiert etwas, als fiele ihm
ein Stein auf den Kopf. Ebenso hat Calvin die Prädestinationslehre
aus der existentiell-analytischen Sphäre herausgehoben und zum
Weltschauspiel gemacht, wo man zuguckt, wie Gott agiert und der
Zuschauer heimlich weiß, dass er auf die eine Seite gehört, während
die meisten auf die andere Seite gehören. Dieser Zuschauerstandpunkt
ist das, was an der Prädestinationslehre so unerträglich ist. Ist sie
aber existentiell gefasst, bedeutet sie etwas anderes, dann ist sie
existentielle Beschreibung der menschlichen Situation, die auch in
tausend anderen Formen gegeben ist, aber darin zu einer schärfsten
Zuspitzung gekommen ist, nämlich, dass die Entfremdung nicht
ein Zufall ist, dass der Einzelne nicht jeden Tag die Entfremdung
aufheben kann, dass es nicht möglich ist, die essentielle Gutheit zu
verwirklichen, wenn man nur will. Es ist eine Einsicht in die Tatsache,
dass dies Symbol, das ich so viel bekämpfe in Amerika, der „people of
1
Röm 9, 21.
261
good will“, die alles Gute schaffen werden …, dass das eine überaus
schlechte und bedenkliche Form der Beschreibung der menschlichen
Situation ist. Darum sage ich, die Griechen hatten Recht mit ihrer
tragischen Weltanschauung. Tragisch heißt ja die Unvermeidlichkeit
selbst für die Götter – selbst sie können es nicht beseitigen. Gott sei
dank, dass die Götter es nicht können, denn wenn sie es könnten,
könnten sie uns zu guten Dingen machen. Aber Dinge, die gut sind,
sind nicht wirklich gut. Demgegenüber kann ich nur sagen: Es gibt
nichts Gutes als einen guten Willen1, das heißt einen guten Willen
im Sinn einer Persönlichkeit, die durch ihre Freiheit hindurch teilhat
an der essentiellen Wirklichkeit.
Aber sich auf den guten Willen in dem Sinn zu verlassen, dass
man den Menschen sagt: „Habt nur guten Willen, und alles wird gut
werden!“, ist genau das Gegenteil von dieser Calvinschen Vorausset-
zung. Auch hier ist wieder Kant so interessant. Er kann angeführt
werden für die Menschen des guten Willens – dahinter steckt die
englische Übersetzung des Gesanges der Engel: „Ehre sei Gott in
der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens
sind.“ Den Menschen guten Willens, das heißt, nur den Menschen
guten Willens gilt die Botschaft der Weihnacht, so wird das auch
aufgefasst. Daraus entsteht und aus tausend anderen Gründen jener
Moralismus, der sagt, dass man erst guten Willen haben muss, und
dann wird der liebe Gott kommen. Aber umgekehrt ist der Sinn der
christlichen Botschaft: Zuerst kommt Gott zu den Menschen, die gar
keinen guten Willen haben, und dann wird ein guter Wille durch das
Zentrum der Persönlichkeit geschaffen. Dadurch wird ein Problem
deutlich: das des Tragischen nach der christlichen Auffassung, vor-
bereitet durch die tragische Auffassung der Griechen und durch die
des Alten Testaments. Die alte Geschichte der Genesis hat tragisches
Bewusstsein; der Fluch über den Acker2, das klingt genauso wie die
griechischen Weisen, fast wörtlich so. Das ist tragische Weltanschau-
ung, aber das Tragische bleibt nicht allein im Christlichen, weil die
Persönlichkeit eine andere Stelle hat und die persönliche Verantwor-
tung das andere Element ist und weil aus diesen beiden Elementen
heraus die Möglichkeit der Überwindung der Entfremdung, wenn
auch nur fragmentarisch, gedacht werden kann.
1
I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 1.
2
1. Mose 3, 17.
262
Das ist das, was ich in diesem Zusammenhang zunächst einmal
sagen wollte, und vielleicht gibt Ihnen das eine Einsicht darin, dass,
wenn die Kirchenväter gegen Ketzer kämpften, Augustin gegen Pelagi-
us, dass das nicht gleichgültige Dinge sind, sondern dass das genauso
ernsthaft ist, wie wenn heute Philosophien miteinander kämpfen oder
Ausdrucksformen von Kunst miteinander kämpfen oder große poli-
tische Systeme miteinander kämpfen. Das ist überall eine bis in die
Tiefe der Dinge gehende Sache, das sind nicht theologische Spielereien
und scholastische Unterscheidungen, sondern es handelt sich um die
Frage: Wie beurteilen wir unsere Situation? Wie ernst das ist, kann
deutlich werden durch den Vergleich mit den Bürgern von Athen, die
auf Kosten des Staates praktisch gezwungen waren, durch die Sitte, zu
den großen Spielen der Tragiker und Komiker zu gehen. Wir müssen
teuer bezahlen, die Griechen waren ein so viel höheres Kulturvolk in
der Beziehung, dass sie glaubten, dass im Theater, das von Dionysos
herkam, sich etwas ausdrückte, das jeden von uns anging. Was? Die
tragische Situation des Menschen. Und diese „Situation“ gilt nicht
nur für die griechische Kultur, sondern genauso für die griechische
Philosophie. Und am liebsten würde ich Ihnen das erste Fragment
aus der griechischen Philosophie ganz zitieren. Ich will es ungefähr
versuchen, weil darin diese Weltanschauung sofort gesehen ist und
die ganze Philosophie von da her aufgerollt werden kann: „Wo aber
den Dingen ihr Ursprung ist, nämlich im Unendlichen, dahin kehren
sie zurück nach der Zeitordnung; denn sie zahlen einander Strafe
und Buße entsprechend der Ordnung der Zeit“.1 D. h., das Werden
und Vergehen der Dinge ist von dem ersten Fragment griechischer
Philosophie aufgefasst als eine Beschreibung derselben Realität, die
im Menschen Existenz geworden ist.
Die ganze griechische Kultur wird verzerrt gesehen, wenn sie
als klassizistisch gesehen wird. Im Unterschied von „klassisch“ ist
„klassizistisch“ das Herausheben der Form und das Missverstehen
dieser Form. Der Mut der Griechen war, Ja zu sagen zum Leben
trotz der tragischen Grundlage ihres Lebensgefühls, und das haben
die klassizistischen Professoren und Oberlehrer des Griechischen
völlig vergessen und haben darum eine Auffassung der griechischen
Kultur eingeführt, die den Eindruck erweckt, als ob sie in absoluter
Opposition zum Christentum stände. Davon kann keine Rede sein.
1
Anaximander (DK 12 A 9).
263
Wenn der Grieche Ja sagt zum Sein, dann baut er einen Apollotempel,
einen Tempel, der die vollkommene Form hat. Der vollkommene
Kubus ist genau wie das Sein des Parmenides in seinen philosophi-
schen Fragmenten. Aber was bedeutet es, dass er das tut, dass er Ja
sagt zu einem Sein, von dem er zugleich weiß, dass er letztlich davon
ausgeschlossen ist? Darum nennt er die Götter die „Unsterblichen“
und sich den „Sterblichen“. Er definiert das Menschsein durch
Sterblichsein, indem er es konfrontiert mit dem Sein der Götter, das
Unsterblichsein ist. Dazu kommt das Schuldempfinden, das objektiv
unentrinnbar über dem Menschen steht. Die griechische Kultur ist
das eine Element der existentialistischen Lehre vom Menschen, das,
was der Existentialismus wieder heute herausgearbeitet hat.
Aber da ist ein anderes Element, das vom Prophetischen her-
kommt, die persönliche Verantwortlichkeit, das Ich-Du-Verhältnis
zu Gott, aus dem die ganze Spannung des Ethos kommt. Aus dem
Griechischen, wenn es allein bleibt, kam die spätantike Angst und
Skepsis. Aus dem Jüdischen, wenn es allein bleibt, kam der spätjü-
dische Moralismus. Diese beiden Dinge sind ständig unter uns, und
wir haben ständig in unserem eigenen Leben zu sehen: Wo steht das
eine oder das andere, wo sind wir moralistisch oder wo zynisch,
wo unterwerfen wir uns der …1 und sagen Nein zum Leben? Wo
versuchen wir mit gutem Willen, das zu tun, was die Ursache des
guten Willens sein muss, nämlich das neue Sein zu schaffen? Wenn
man von hier aus die christliche Lehre vom Menschen anschaut,
dann gewinnt sie ein Größe, die selten sichtbar ist, die fast völlig
verdeckt ist unter den traditionellen Formeln.
Ich habe das Wort „Entfremdung“ gebraucht, das von Hegel
und Marx kommt, und ich habe Marx und gewisse Elemente in
Hegel in die existentialistische Linie eingereiht, den Protest gegen
die Verdinglichung. Aber auf der anderen Seite ist die Situation so,
dass Worte wie „Sünde“ schwer zu vermeiden sind. Ich hatte gestern
eine sehr interessante Diskussion mit Studenten der Theologie über
das Verhältnis von Entfremdung und Sünde, und aus der theolo-
gischen Tradition heraus ist es naturgemäß, dass man das Gefühl
hat: Entfremdung, das ist ja wie ein Naturvorgang. Und darin ist
eine Wahrheit – man geht an einen anderen Ort, man sieht sich
zehn Jahre nicht und ist entfremdet. Oder man lebt zusammen, und
1
Einige Wörter der stenographischen Aufzeichnung fehlen.
264
gewisse Lebenselemente passen nicht mehr zusammen, und man ist
entfremdet – wie ein Vorgang, worin keine Verantwortung ist. Trotz-
dem brauchen wir das Wort „Entfremdung“, weil das Wort „Sünde“
nicht nur nicht ausreichend ist, sondern völlig irreführend geworden
ist, weil es erstens im Plural gebraucht wird. Für die Reformatoren
gab es die Sünde, die Trennung von Gott. Für die Kinder der Refor-
mation, nämlich die Protestanten überall in der Welt, gibt es nur die
Sünden, und die werden dann gezählt (in Amerika ist es in gewissen
Kreisen vor allem Rauchen und Tanzen). Dieser Sündenbegriff ist die
völlige Verneinung dessen, was Sünde ist. Sünde ist die verantwort-
liche Selbstverwirklichung, in der die Entfremdung von dem Grund
unseres Seins zugleich geschieht; und in personalistischen Begriffen,
die auch nötig sind, ist es der Widerstand, der Konflikt mit dem
Gott, der das Bild unseres wesenhaften Seins uns gegen das hält, was
wir existentiell sind. Das ist, was mit Sünde gemeint ist. Aber ich
glaube, dass die Theologie an keinem Punkt der Existentialanalyse
dankbarer sein muss als gerade an diesem Punkt, nämlich da, wo
von ganz anderen Voraussetzungen aus oft unter völliger Ablehnung
der christlichen Inhalte eine Analyse gegeben ist, die das Christliche
wieder aufleuchten lässt. Denn das ist es, was wir brauchen.
265
11. Vorlesung
(Mittwoch, 16. Juli 1952)
Wir haben gestern die Probleme des Übergangs von der essentiellen
zur existentiellen Sphäre in theologischer Beleuchtung behandelt. Der
Hauptgedanke und die stärkste Betonung lag auf dem Versuch, diese
Realitäten, die in der christlichen Lehre vorkommen, verständlich zu
machen in einer Terminologie, die einen falschen Literalismus des
Mythischen überwindet, ohne den Sinn des Mythischen zu verlieren.
Wenn jetzt viel von Entmythologisierung die Rede ist, würde ich
sagen, das „Ent“, das Negative daran, soll und muss sich beziehen
auf das Wörtlichnehmen des Mythischen, während es sich auf die
Beseitigung des Mythos als Mythos nicht beziehen darf. Und viel-
leicht ist in der gegenwärtigen Debatte an diesem Punkt vielleicht
eine Fehlentwicklung, dass die Aufhebung der wörtlichen Bedeutung
des Mythischen zu einer Aufhebung der Kategorie des Mythischen
geführt hat. Wo aber die Kategorie des Mythischen aufgehoben ist,
ist das Religiöse selbst aufgegeben, denn das Religiöse lebt in der
Kategorie des Mythischen.
Der nächste Schritt, den ich heute machen möchte, ist eine Dis-
kussion der menschlichen Situation im Verhältnis zur natürlichen,
zu dem, was noch nicht menschlich ist. Die Frage kommt auf in der
christlichen Tradition, die ja in den Vorlesungen dieser Woche unser
Thema ist, als der Begriff der gefallenen Welt, und wir müssen uns
die Frage stellen: Was bedeutet dieser Begriff, ist das ein sinnvoller
oder ein sinnloser Mythos? Ich kann Ihnen nur berichten, dass
nichts von allem, was ich lehre, meinen amerikanischen Studenten
schwerer wird als der Gedanke der gefallenen Welt. Sie verstehen
ohne wesentliche Schwierigkeiten den Gedanken des gefallenen
Menschen, weil sie diesen Gedanken moralisch nehmen und nie-
mand ernsthaft zweifelt, dass eine Entfremdung der Existenz von
der essentiellen Struktur des Menschen vorliegt. Wenn aber dieser
Gedanke ausgedehnt wird auf die Welt als Ganzes, dann stellen
sie die Frage: Was bedeutet gefallene Welt, gefallene Natur, Tiere,
Pflanzen, Sterne, Atome – hat das irgendeinen Sinn? Und diese Frage
ist nicht eine Frage beliebiger Phantasie, sondern ist eine Frage, die
entscheidend für die Analyse der menschlichen Situation ist, mit der
wir uns ja hier beschäftigen, deren existentialistischen Ausdruck wir
beschrieben haben und deren klassisch-theologischen Ausdruck wir
nun beschreiben.
266
Zunächst wird gesagt werden: Wie ist es möglich, dass die Natur
übergeht von ihrem essentiellen in ihr existentielles Sein, wo in der
Natur doch gerade das fehlt, was wir gestern in den Mittelpunkt
gestellt haben, nämlich der Mensch als endliche Freiheit? Ist denn in
der Natur Freiheit vorhanden? Wenn aber keine vorhanden ist, wenn
in der Natur das, was geschieht, eine Folge des Wesens ist, wenn kein
Selbstwiderspruch möglich ist, was hat es dann für einen Sinn, von
einer gefallenen Welt oder von der Teilnahme des Kosmos an dem
Übergang vom Essentiellen zum Existentiellen zu sprechen, was hat
das dann für eine Bedeutung? Ist nicht, so fragen selbst Theologen,
die mir in anderer Beziehung sehr nahestehen, die Natur immer
unschuldig, ist das, was wir als „träumende Unschuld“ bezeichnet
haben, nicht nur etwas, was die Natur durchweg charakterisiert, und
ist es nicht allein sinnvoll, vom Menschen zu sagen, dass in ihm dieser
Übergang immer stattfindet, weil er verantwortlich ist?
Das sind sehr ernsthafte Fragen, und warum sind sie ernsthaft?
Das ist die erste Frage, die ich stellen möchte, ob es einen Sinn
hat, solche Fragen zu stellen. Die Ernsthaftigkeit dieser Frage kann
nicht darin begründet werden, dass in der biblischen Sprache und
in Symbolen und Mythen der die biblische Religion umgebenden
Religionen der inneren Verfallenheit der Schöpfung, des Ganzen,
gedacht wird und niemals nur vom Menschen die Rede ist. Das ist
interessant und muss verstanden werden. Aber gibt es Argumente
dafür? Nehmen wir an, es gäbe keine, wir würden der moralistischen
Auffassung folgen, dass es nur im Menschen den Übergang vom
Essentiellen zum Existentiellen gibt, dass nur der Mensch aus der
träumenden Unschuld herausgefallen ist, während die Natur noch
in ihr steht – dann würde man fragen müssen: Wie ist das Verhältnis
des Menschen zur Natur? Ist denn der Mensch nicht selber Natur,
ist er nicht auch Natur? Ist nicht jede Zelle seines Leibes denselben
Gesetzen unterworfen, denen die Natur außer ihm unterworfen ist?
Und kann man überhaupt in irgendeinem Moment die Natur in ihm
und die Natur außer ihm wirklich trennen? Muss man nicht sagen,
dass die Tatsache der Leiblichkeit bedeutet, dass die Natur in das
Sein des Menschen hineinragt, und besonders dann, wenn man eine
Auffassung über die Natur des Menschen hat, die klassisch-christlich
ist, dass er nicht zusammengesetzt ist aus Leiblichkeit und Geistigkeit,
und dass das eine ewig und das andere vergänglich ist und dass sie
im Grunde nichts miteinander zu tun haben? Sondern wenn man der
Auffassung ist von der Einheit des Menschen, die zentriert ist um das,
267
was wir Seele nennen, und die sich sowohl nach der körperlichen
wie nach der geistigen Seite hin ausdrückt, dann kann der Mensch
nicht von der natürlichen Basis, auf der er steht, getrennt werden.
Wenn man ihn dennoch trennt, dann kommt folgende Haltung
zustande: Wir müssen Menschen guten Willens produzieren, die
Kräfte des Unbewussten, des Vorbewussten, des Leiblichen werden
vernachlässigt, sie zählen nicht mit. Der Mensch hat die Möglichkeit,
in jedem Moment guten Willens zu sein, er hat die Möglichkeit, sich
von den Naturtendenzen und –kräften zu lösen. Also, ist dann die
Antwort, [über]lasst die Natur sich selbst, wenn sie auch noch so
grausam ist, sie ist unschuldig, und in dieser Unschuld müssen wir
sie stehen lassen! Unsere Aufgabe ist etwas anderes: Wir müssen
das, was in der Natur unschuldig vorkommt, überwinden, weil es
in uns zur Schuld wird.
Das ist in sich konsequent, aber die Folgen dieser konsequenten
Gedankenbildung sind bedenklich und haben sich immer wieder
gezeigt. Eine der Folgen aus dieser Gedankenbildung ist, dass dann
eine Entwicklung des Menschengeschlechts antizipiert oder geglaubt
wird, die auf der dämonischen, obgleich unschuldigen Natur eine
göttliche, vormals schuldige und nun unschuldig gewordene Mensch-
heit aufbaut. Die Geschichte wird in einer Entwicklung verlaufen, ist
die Annahme, in der die Menschen guten Willens werden, und zwar
alle, und in der die Kräfte des guten Willens etwas tun, was in der
Natur nicht möglich ist. Der Begriff, der dafür mit Recht gebraucht
wird, ist Utopie. Hier liegen die tiefsten Wurzeln dessen, was wir
als Utopie benennen müssen. Utopie heißt ja die Stabilisierung, das
Aufrichten einer Wirklichkeit in Vorwegnahme und Einbildung,
in der diejenigen Kräfte im Menschen, die wir als das Prinzip der
Schlange gestern kennen gelernt haben, die Naturprinzipien, die zur
Selbstverwirklichung treiben, reduziert sind oder unterworfen sind
unter die essentiellen Formen menschlicher Existenz, unter das Prinzip
der Gerechtigkeit vor allem. Das wird irgendwann einmal möglich
sein. Die Natur wird damit nicht verändert werden, sie bleibt, was
sie ist. Und nun frage ich: Wie steht es dann mit der Natur im Men-
schen in diesem utopischen Gebilde, in dem – ob man es klassenlose
Gesellschaft nennt oder Reich Gottes oder den Entwicklungsprozess,
der immer näher an das Vollkommene heranführt? Wenn man diese
Einheit1 zwischen Natur und Geschichte verliert, wenn man den
1
Korr. (Typ. GS: Trennung)
268
Menschen sozusagen entkörpert und die körperliche Beziehung zur
Realität als bedeutungslos hinstellt, ist man unvermeidlich Utopist.
Dadurch, dass ich das Utopismus nannte, habe ich mein Urteil dar-
über ausgesprochen, nämlich dass es unrealistisch ist, während es
realistisch war, wenn die alten Propheten vom Naturfrieden sprachen
und nicht nur die jüdischen, sondern viele der umgebenden Religionen
hatten denselben Symbolismus. Der Naturfriede, d. h. die Aufhebung
der Entfremdung in der Natur, ist ein konsequenter Gedanke. Wenn
in der Natur, d. h. auch in der Natur in uns, die Kräfte des Gegen-
einander, der Entfremdung, der Zerstörung überwunden sind, nur
dann ist es möglich, dass auch die menschliche Geschichte zu einem
Zustand kommt, in dem die zerstörerischen Kräfte überwunden sind.
Ich glaube darum zu sehen, dass die scheinbar realistische Auffassung,
die den Menschen von der Natur loslöst und für ihn eine Hoffnung
gibt, an der die übrige Natur nicht teilnimmt, unrealistischer ist
als eine Hoffnung, die absolut fantastisch klingt, nämlich dass die
ganze Welt, das Universum an der Vollendung, der Überwindung
der Entfremdung teilhat. Dann ist es verständlich, dass auch der
Mensch daran teilhat. Und das ist die biblische Symbolik, die das
andeutet. Wenn die übrige Natur bleibt, wie sie ist, dann ist nicht
zu verstehen, wie der Mensch, der ja in sie hineinragt, wie sie in ihn
hineinragt, sich aus der Natur herausheben soll.
Dann aber, wenn das die Situation ist, ist die Frage, um die es sich
hier handelt, sehr wichtig: Was kann das Symbol der gefallenen Welt
bedeuten, was kann das Symbol der Überwindung der Gefallenheit
im kosmischen Maßstab bedeuten?
Wir sprechen, wenn wir darüber sprechen, in einer höchst sym-
bolischen Weise. Es ist klar, dass irgendein wörtlicher Sinn solcher
Aussagen absurd ist. Aber es ist absurd, ihn wörtlich zu nehmen.
Dieser ersten Absurdität folgt die zweite, dass der Inhalt absurd ist.
Was gemeint ist, ist dies, dass jede Selbstverwirklichung des Lebens
zugleich Entfremdung in sich schließt und zwar sowohl verantwort-
lich im Menschen und doch auch unvermeidlich in ihm. Und nun
müssen wir sagen, dass an dieser menschlichen Freiheit, die in der
Selbstverwirklichung zur Entfremdung führt, alle Kreatur indirekt
teilhat, d. h. dass die Natur ihm tragisch unterworfen ist. Warum
können wir das sagen? Weil die Natur teilhat an der menschlichen
Freiheit in Form des Werdens auf die menschliche Freiheit zu. Man
kann vielleicht den Unterschied so ausdrücken, dass man sagt: Was
im Menschen Freiheit ist, ist in aller Natur Spontaneität. Es ist noch
269
nicht Freiheit, aber es ist auch nicht Notwendigkeit im mechanischen
Sinn. Und die Natur reagiert spontan durch das Zentrum hindurch,
das in jedem Wesen irgendwo ist. Wenn das so ist, dann hat das
Symbol einen bestimmten Sinn. Aber wir müssen hier vorsichtig
sein. Ich glaube, dass alle Beziehungen zu außermenschlicher Natur
infolge der Entfremdung nicht philosophisch, sondern letztlich nur
dichterisch zum Ausdruck gebracht werden können. Der Dichter
partizipiert an der Natur außerhalb des Menschen in einer Weise,
wie es der Philosoph nicht kann. Sofern er philosophischer Dichter
ist, wie es Plato war, oder sofern er prophetischer Dichter ist, wie
die meisten es waren, können Aussagen gemacht werden, die aber
noch in anderem Sinn symbolisch sind, wie etwa die Aussagen gestern
über den Menschen. Warum ist das so? Es gehört zur Entfremdung
des Menschen von sich selbst und von der Realität als ganzer, dass
er diejenige Verbindung mit der Natur verloren hat, die es ihm er-
möglicht, zu verstehen, was in der Natur vor sich geht.
Ich erzähle an dieser Stelle, wenn ich über diesen Punkt debattiere,
zuweilen ein Gespräch, das ich mit Goldstein, dem Neurologen hatte.
Als wir unter einem Baum sassen und er, der Biologe, der über den
Aufbau des Lebens ein wichtiges Buch geschrieben hat1, plötzlich
sagte: Ich möchte gern etwas über diesen Baum wissen, fragte ich ihn
sehr erstaunt: Du weißt das doch alles, du bist doch Biologe, und er
sagte: Dann weiß ich doch gar nichts, ich weiß nur, was der Baum
ist, sofern ich als Wissenschaftler bestimmte Abstraktionen vorneh-
me, aber was das Sein des Baumes für den Baum selber bedeutet,
weiß ich nicht. Der Dichter weiß es, aber in ganz anderem Sinn als
der Philosoph es wissen kann. D. h. der Mensch ist entfremdet von
der Natur, zu der er gehört und die in ihn hineinragt, und daher
kann er nur indirekt und poetisch über die Teilnahme an der Natur
sprechen.
Die Wichtigkeit des Symbols der gefallenen Welt ist diese, dass
es einer humanistischen Arroganz und einem humanistischen Uto-
pismus entgegensteht, der humanistischen Arroganz des Menschen,
der sich von der Natur trennt und, wie es besonders im industriellen
Zeitalter der Mensch tut, die Natur gestaltet, aber nicht mehr liebt,
nicht mehr mit ihr in wirklicher Wiedervereinigung steht. Er mag
sentimentale Gefühle haben, aber er hat nicht mehr das Gefühl für
1
S. o., S. 86, Anm. 2.
270
die Verbundenheit alles Seienden, also auch alles natürlichen Seien-
den. Dann ergibt sich gleichzeitig die Utopie, die aus der Arroganz
des Menschen kommt, nämlich die Utopie, dass in der menschlichen
Realität, die völlig losgelöst ist von der Natur, etwas geschieht, was
in der Natur nicht mehr geschieht, nämlich Selbstverwirklichung
individueller Mächtigkeit. Ich werde vielleicht – ich fühle schon
das Damoklesschwert über mir schweben – nächste Woche einen
Vortrag halten müssen über „Liebe, Macht und Gerechtigkeit“1,
und da will ich sehr viel mehr auf diese Dinge eingehen und eine
Philosophie der Mächtigkeit andeuten, in der der Gedanke, den
ich jetzt durchführte, vom Standpunkt der menschlichen Situation
noch viel stärker herausgearbeitet werden kann, nämlich dass die
Selbstrealisierung alles Seins Selbstrealisierung von Mächtigkeit ist,
von Seinsmächtigkeit ist und dass nur in einem Miteinander und
Gegeneinander der Seinsmächtigkeiten Realität sich verwirklicht.
Aber ich möchte nicht weiter darauf eingehen. Ich möchte Sie nur
bitten, die poetischen theologischen Symbole, wie sie in der prophe-
tischen Literatur so zahlreich sind, auch in der Offenbarung, ernst
zu nehmen und den Begriff des gefallenen Kosmos als ein Symbol
zu verstehen, das unbedingt notwendig ist, wenn man das Symbol
der gefallenen Menschheit annimmt.
Es gibt da noch andere Argumente. Eines ist, dass der Unterschied
zwischen Natur und Mensch in der entwicklungsgeschichtlichen Auf-
fassung der Wirklichkeit nicht einfach verschwindet, aber auf keinen
Fall fixiert werden kann und zwar entwicklungsgeschichtlich nicht
nur im Sinn der universalen Entwicklungsgeschichte der lebendigen
Substanz auf der Erdoberfläche, sondern auch im Einzelfall jedes
einzelnen Menschen. Wann ist er ein Mensch, wann ist er noch Natur,
wo beginnt die Differenzierung? Wann ist er noch völlig eingebettet
in die natürliche Unschuld, wenn es so etwas gibt, wann hört die
auf? – Fragen, die unbeantwortet sind, weil es unbeantwortbar ist
zu sagen, der Säugling ist noch in der Unschuld der Natur, er ist
noch nicht Mensch. Aber, wie wir als Studenten einem Professor zu
Ehren dichteten: „Keinem Vater bringst du bei, dass sein Kindchen
ein Kaninchen sei“. Ich glaube, das Gefühl für die Menschlichkeit im
Säugling, vielleicht sogar schon im Embryo, ist etwas, was berechtigt
ist. Auf der anderen Seite ist ja gerade, was wir voraussetzen und in
1
Vortrag am 24. Juli 1952 an der Freien Universität Berlin.
271
aller moralistischen Theologie vorausgesetzt wird, nämlich die freie
Verantwortung, nicht vorhanden. D. h. mit anderen Worten, der
Übergang von Natur zu dem Moment der freien Verantwortung,
der endlichen Freiheit, lässt sich nicht feststellen.
Wir können noch ein anderes Argument aus der modernen Psycho-
logie nehmen, nämlich das Moment der Gegenwärtigkeit der unbe-
wussten Instinkte, die aus der Natur kommen, die in uns selber Natur
sind und unsere bewusste Entscheidung weithin dirigieren. Wenn
man diese beiden fundamentalen Übergangssphären zwischen dem
bewussten Zentrum und der universalen Natur in Betracht zieht, dann
soll man nach meiner Meinung den Gedanken der gefallenen Welt
als Existenz im universalen Sinn verstehen. Existenz kann nicht von
Natur getrennt werden, das ist der Sinn dieses Gedankengangs.
Und diejenigen unter Ihnen, die einmal Utopisten waren – und
wir alle eigentlich seit 1919, und in Amerika ist man es heute noch
zum Teil, wenn es auch erschüttert ist, man war es hundertpro-
zentig in den dreißiger Jahren, verbunden mit einem bestimmten
Moralismus – diese utopistischen Gedankengänge können im Westen
überwunden werden durch eine Philosophie der Natur als das, zu
dem universal alles gehört, auch der Mensch trotz seiner Erhebung
über die Natur. Dieser Gedankengang hat eine Konsequenz, die
ich als antiutopisch bezeichnet habe. Sie hat vielleicht noch Impli-
kationen, auf die ich jetzt nicht eingehen kann, für1 das Verhältnis
des Menschen zur Natur, nämlich die Teilhabe der Natur an dem,
was im Menschen als Erlösung vor sich geht. Das ist eine weitere
Problematik, die wie alle diese Dinge sofort sinnlos wird, wenn sie
wörtlich genommen wird, die aber etwas bedeutet, wenn wir uns
ganz klar über den symbolischen Charakter dieser Dinge sind. Sind
wir das, brauchen wir nicht vor dem Begriff der gefallenen Welt
oder diesen Symbolen zu erschrecken, sollten vielmehr erschrecken
bei einer Symbolik, die arrogant und utopisch den Menschen von
der Natur trennt.
Nun, nach diesen Gedankengängen komme ich jetzt zu einer
mehr direkten Beschreibung dessen, was Existenz bedeuten soll,
die existentielle Zerspaltung, wie wir sie im Menschen unmittelbar
erfahren, während wir sie in der übrigen Wirklichkeit nur indirekt,
nur poetisch-antizipierend und einfühlend erfahren. Es sind drei fun-
damentale Realitäten, die die klassische Theologie als den Ausdruck
1
Korr. (Typ. GS: über)
272
der Existenz beschrieben hat, und hier glaube ich wieder, dass diese
drei Begriffe so fundamental und allumfassend sind, dass sachlich der
Existentialismus nichts hinzugefügt hat, dass er wohl aber die Augen
wieder geöffnet hat, in konkreter Weise und unmittelbar verständlich,
für das, was in diesen drei Begriffen, die die menschliche Existenz
analysieren, in der christlichen Tradition enthalten ist. Nach der De-
finition der Reformatoren zum Beispiel ist die Sünde in erster Linie
Unglaube, in zweiter Linie Hybris, Hochmut, wenn man es übersetzen
will, und in dritter Linie Konkupiszenz, Libido oder Begierde. Über
diese drei Dinge, die die Beschreibung der existentiellen Situation
des Menschen ausdrücken, muss ich eine ganze Menge sagen. Und
wieder will ich den Versuch machen, diese drei Begriffe, die intel-
lektualistisch und moralistisch verbogen und verzerrt sind bis zur
absoluten Unkenntlichkeit, daraus herauszuholen und als Ausdruck
dessen, was Sie alle und ich selber heute und hier erleben, wieder zu
retten. Das ist, was das tiefste Motiv hinter dieser ganzen Vorlesung
ist, das Doppelmotiv: zu beschreiben, was wir sind, und zu zeigen,
dass in der klassisch-theologischen Gedankenwelt ursprünglich eine
tiefrealistische und exakte Beschreibung dieser Situation gegeben war
und dass das Unglück von Kirche und Theologie zur Zeit ist, dass
der Sinn dieser exakten Beschreibung verlorengegangen war.
Die drei Begriffe Unglaube, Hochmut oder Hybris und drittens
Concupiscentia oder Libido – ich will diese Worte nur vorläufig
genannt haben und will nun erst einmal auf das erste eingehen.
Und da ist ein ganz scharfer Angriff notwendig, mehr als irgendwo
anders. Wenn die Reformatoren Unglaube als die Grundlage der
Entfremdung des Menschen bezeichnet haben, dann können Engel
vom Himmel kommen und zu den meisten Menschen unserer Tage
reden und ihnen sagen, was das bedeutet, sie werden es nicht hören,
sondern was sie heraushören werden, wird immer dasselbe sein: dass
ich nicht mehr an Gott und die Lehre der Kirche glaube, das ist nach
dieser Behauptung Sünde. Hört man das heraus, ist es besser das
Wort „Unglaube“ überhaupt nicht mehr zu gebrauchen, denn das
ist nicht, was die Reformatoren gemeint haben. Was sie meinten,
ist Trennung in allen Funktionen des menschlichen Seins vom Sinn
und Sinngrund unseres Seins. Das ist, was Unglaube bedeutet; nicht
mehr in der unmittelbaren Verbindung stehen zu dem, was der Grund
unseres Seins und Sinnes ist, von dem, woraus der Mut zum Sein,
der Mut zum Ja zum Sein gegenüber dem Nichtsein, woraus der Mut
zum Ja zum Sein gegenüber der Sinnlosigkeit folgt. Die menschliche
273
Situation ist, was sie ist. Das sagt die Theologie zu Existentialisten,
deren Analyse sie anerkennt, weil diese Trennung stattgefunden hat,
und diese Trennung hat den Namen Unglaube. Nun, wenn Sie diesen
Namen nicht gebrauchen können, dann gebrauchen Sie ihn nicht,
sondern sprechen Sie statt dessen von Trennung, von Widerspruch,
von Entfremdung, von Abwendung, von Feindschaft. All das ist
gemeint mit diesem Wort.
Aber dies Wort hat nichts zu tun mit der Ablehnung autoritärer
Lehren, nicht einmal in Bezug auf die so genannte und unglückli-
cherweise fälschlich so genannte Existenz oder Nichtexistenz Gottes.
Man kann mit Gott verbunden sein in einem Sinne, der in die letzte
Tiefe geht, und zugleich Atheist sein, und man kann die Lehren
über Gott anerkennen und zugleich von ihm getrennt sein. Das ist
nicht das Problem des Lebens, mit dem die christliche Theologie und
die Reformatoren zu kämpfen hatten. Das, womit sie zu kämpfen
hatten, war die Frage: Ist der Mensch und die Menschheit und das
ganze Sein dadurch, dass es seine Spontaneität, seine Mächtigkeit
des Seins aktualisiert, gefallen von dem, woher es kommt, ist die
menschliche Situation in der universalen schuldhaften Tragik, dass
Selbstverwirklichung zugleich Trennung vom Seinsgrund bedeutet?
Und die Antwort darauf, die die Reformatoren gegeben haben, war:
Ja, so ist es, das ist das, was Unglaube bedeutet. Nun, der Begriff
Unglaube, der hier benutzt wird, ist nicht ohne ein theoretisches
Element. Wie könnte er es sein, denn der Mensch ist ein denkendes
Wesen, und es ist unmöglich, dass im Menschen etwas vor sich geht,
an dem sein kognitives Bewusstsein nicht auch teilhat. Aber das ist
nicht das Entscheidende. Der Grundfehler ist, dass in der religiösen
Sprache Glaube und Unglaube als Funktionen eines isolierten intel-
lektuellen Aktes gedacht sind und dann Glaube aufgefasst ist als die
Anerkennung von etwas, was man nicht anerkennen kann, aber doch
muss, teils weil es die Autorität befiehlt, an die man symbiotisch
gebunden ist, teils weil Emotionen einen dahin treiben. Dieser ganze
Unfug mit dem Glaubensbegriff verwandelt ihn in etwas Gleichgül-
tiges oder sogar Zerstörerisches. Bedeutet Glaube das, zerstört der
Glaube ja die anständige Ehrlichkeit des Menschen, die immer den
Zweifel in sich tragen muss und die wir bejahen müssen als Ausdruck
der Menschenwürde, als Ausdruck der göttlichen Ebenbildlichkeit.
Ein Glaube, der das zerstört, ist dämonischer Glaube, und sehr viel
Kirchenglaube ist das in dem Sinn der Anerkennung von Dingen,
die anzuerkennen unmöglich ist, deren Anerkennung aber mit Hülfe
274
von Autorität oder Emotionen verlangt wird. Nun, diese Situation
ist es, die in dem Moment in unser Bewusstsein tritt, wenn wir den
Begriff Unglauben haben, der ja die Negation von Glauben ist, und
beide Begriffe leiden unter demselben Unglück. Das ist das erste.
Die im Zentrum des Seins sich vollziehende Lostrennung von dem
Grund des Seins, die Nicht-mehr-Teilnahme an dem Seinsprinzip,
dessen Name Liebe ist, die Isolierung der endlichen Seinsmacht von
der unendlichen Macht des Seins, aus der sie stammt, und infolge-
dessen als Konsequenz die Sinnlosigkeit und die Seinslosigkeit, die
die menschliche Existenz charakterisieren, das ist das erste.
Und dann das zweite ist Hybris. Mit dem Begriff Hybris kommen
wir zu einer Synthese oder besser einer Korrelation der griechischen
Lebenserfahrung mit dem Christlichen. Die Grundschuld, die im
Griechischen erlebt wurde, ist eine Schuld, die darin besteht, dass
die Großen, die Heroen, was im Griechischen bedeutet: die Träger
der höchsten Werte, dass sie dadurch, dass sie Träger der höchsten
Werte sind, an die göttlichen Sphäre rühren, in sie hineinstoßen, in
sie einzudringen suchen, dass die Selbstverwirklichung des Heroen als
Träger höchster Werte mit der Selbstverwirklichung des Göttlichen
in Konflikt kommt, dass das Göttliche reagiert und den Heroen in
die Tragik der Existenz hineinstößt. Dieser Begriff der Hybris ist
von der klassischen Theologie immer als die andere fundamentale
Sünde aufgefasst worden, nämlich als so genannte geistige Sünde,
als die Selbsterhebung des Einzelnen über seine Endlichkeit, das
Sich-selber-unendlich-Machen. Die Symbolik des biblischen Wortes
der Schlange: „Ihr werdet sein wie Gott“ ist zugleich die Überschrift
über die gesamte Tragödie der Griechen. Wenn ich „Hybris“ vorher
mit „Hochmut“ übersetzt habe, muss ich Sie warnen. Hochmut ist
eine spezielle Eigenschaft. Viele Menschen haben Demut. Die Art
der Demut, die sie haben, ist eine Umkehrung der Hybris. Sie sind
in ihrer Demut hochmütig. Es gibt eine Selbsterniedrigung, die ge-
nauso Hybris ist wie eine Selbsterhebung, und wir finden besonders
im christlichen Kulturkreis unter dem Druck des Kampfes gegen
die Hybris sehr viel Hybris in Form von Selbsterniedrigung. Und
darum ist es nicht die moralische Tugend als solche, Demut gegen
Hochmut, sondern etwas viel Tieferes, Metaphysisches oder Onto-
logisches. Es ist die Ontologie des mächtigen Seins, d. h. des Seins,
in dem Seinsmächtigkeit und Seinswert vereinigt sind, wo dann eine
Berührung mit der göttlichen Sphäre entsteht, eine Selbstbejahung,
die sich nicht mehr von der Selbstbejahung des Göttlichen unter-
275
scheidet, und die Tragödie des Menschen beginnt. Das ist der Sinn
dieser zweiten Form der theologischen Analyse der menschlichen
Situation. Und ich werde das nächste Mal noch etwas mehr darauf
eingehen und dann zum dritten, der Concupiscentia, kommen, wo
die gesamten Probleme des Willens zur Macht und der Libido sich
uns vorstellen werden.
276
12. Vorlesung
(Sonnabend, 19. Juli 1952)
277
denz des Endlichen, seine potentielle Unendlichkeit für sich selbst
zu gebrauchen. Die menschliche Schöpferkraft, die der Ausdruck
seines Seins ist und seiner Unendlichkeit, ist in der Hybris zentriert
in seinem eigenen endlichen Selbst. Die religiöse Sprache hat dafür
den Ausdruck geschaffen: Sünde ist der Versuch, zu sein wie Gott,
nämlich das Zentrum der eigenen Schöpferkraft. Der Mensch ist
fähig, den Versuch zu machen, zu sein wie Gott, aber er ist nicht
fähig, es erfolgreich zu tun, weil er endliche Freiheit ist und darum
sich selbst als endlich nicht zum Zentrum seiner selbst machen
kann. Ich hatte dann von dem Verhältnis der Hybris zu der mora-
lischen psychologischen Eigenschaft des Stolzes gesprochen. Hybris
ist mehr als eine psychologische moralische Eigenschaft, sie ist die
Eigenschaft, nach der alles Große in der Versuchung steht, an die
göttliche Sphäre zu rühren und dann von der göttlichen Sphäre
zurückgestoßen zu werden. Dieser Begriff „Selbsterhebung“ ist ein
Begriff, in dem das Klassische und das Christliche und das Jüdische
einig sind. In allen drei Fällen ist die fundamentale Struktur der
Existenz verstanden als die Selbsterhebung eines Endlichen zur un-
endlichen Gültigkeit.
Und nun komme ich zu dem dritten Begriff, der in der klassischen
Theologie den Namen „Concupiscentia“ gehabt hat, Begierde, Li-
bido. Was ist das? Es ist der Trieb des Endlichen, seine unendlichen
Möglichkeiten zu benutzen für eine grenzenlose Selbsterfüllung. Diese
Begierde übersteigt die Endlichkeit in allen Möglichkeiten, ohne die
Frage zu stellen nach dem Ganzen, zu dem das Endliche gehört. Und
das ist die dritte Charakteristik von Existenz, die Charakteristik der
unendlichen Begierde, des unendlichen Getriebenseins. Alle mensch-
lichen Möglichkeiten, Erkenntnis, Macht, Glück werden verwirklicht
in unbestimmter und endloser Weise. Es ist der Trieb über die mensch-
lichen Grenzen hinaus, der oft unter die menschlichen Möglichkeiten
fällt, wenn er enttäuscht ist. Auch hier ist es nicht so, dass der Trieb
als solcher sich nur in seiner positiven Seite äußert. Genau wie der
Unglaube nicht nur negativer Glaube ist, sondern auch Ergriffensein
von einem Falschen, das uns angeblich unbedingt angeht, genau wie
der Stolz sich zeigen kann in falscher Demut, wie die Hybris sich
darin zeigen kann, dass man weniger ist in seiner Selbstbegrenzung,
als man wesenhaft ist, so kann die Begierde sich zeigen in der Angst
vor der Begierde, in der Angst, sich voll zu realisieren. Es sind immer
in allen drei Fällen zwei Möglichkeiten, von denen die eine positiv,
die andere negativ ist. Beide wachsen auf demselben Stamm, und der
278
Stamm heißt Unglaube in dem einen Fall, Hybris in dem anderen
Fall und Concupiscentia im dritten Fall.
Nun, diese Concupiscentia ist scharf gesehen worden in der mo-
dernen Philosophie. Wir haben zum Teil schon darüber gesprochen,
und ich greife jetzt darauf zurück, um klar zu machen, was es ist.
Zunächst, was es nicht ist. Es ist nicht, wie es oft erscheint in der
christlichen Tradition, wobei Augustin nicht ganz ohne Schuld ist,
sexuelle Begierde. Wir haben da genau dieselbe Problematik, ohne
dass er es wusste, wie bei Freud, wo Libido oft identifiziert ist mit
einem rein Sexuellen. Sieht man aber näher zu, ist der Begriff des
Sexuellen aber, der als Libido gefasst wird, so weit, dass er genauso
wie der christliche Concupiscentia-Begriff universal ist und das Se-
xuelle in Wirklichkeit die Libido, nämlich das unbegrenzte endlose
Streben zur Erfüllung des Endlichen mit allem anderen Endlichen
bedeutet. Man kann für dasselbe auch einen Begriff von Nietzsche
gebrauchen, nämlich den Begriff des „Willens zur Macht“, der aber
im Grunde weder Wille noch Macht ist, es ist eine Kombination von
Worten, die verstanden werden muss in ihrem Ursprung und ihrer Be-
deutsamkeit. Es ist Selbstbejahung des Lebens, beschrieben als Wille
nach mehr Leben. Es ist nicht im soziologischen Sinn Macht, und es
ist nicht im psychologischen Sinn Wille. Beide Worte sind symbolisch
oder besser ontologisch gemeint, und beide Worte bedeuten letztlich
dasselbe wie Libido, wie Concupiscentia, nämlich der unendliche,
unbegrenzte, ungeformte Wille der Selbstbehauptung.
Und nun muss ich hier etwas über diese Begriffe und ihre Adä-
quatheit sagen. Bei Freud ist die Situation sehr klar. Warum spricht
er von unendlicher Libido? Weil er die Situation des Menschen in
seiner existentiellen Verzerrung sieht und beschreibt. Aber er geht nun
darüber hinaus und macht die Libido zu einem essentiellen Charakter
des Menschen, d. h. zu etwas, was zur menschlichen Natur wesenhaft
gehört. Und demgegenüber können wir ohne weiteres zeigen, dass der
Mensch wesenhaft und, solange und soweit er im Wesen steht, keine
über das Konkrete und Endliche1 hinausgehende Libido hat, sondern
dass, sofern er im Wesen steht, er Erfüllungsmöglichkeiten hat und
in diesen Erfüllungsmöglichkeiten ruhen kann. Wir haben dasselbe
Phänomen im „Faust“: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuss …“2
1
Korr. (Typ. GS: konkrete Unendliche)
2
Goethe, Faust, 3249.
279
Das ist Beschreibung der unendlichen Libido, der Concupiscentia,
des Machtwillens oder wie immer es genannt wird. Diese Begriffe
sind alle sinnvoll, wenn sie Beschreibungen der existentiellen Ver-
zerrung menschlichen Seins sind. Sie sind alle inadäquat, wenn sie
Beschreibungen der Essentialstruktur sein sollen. Die Fehlerhaftigkeit
der Nichtunterscheidung dieser beiden Dinge zeigt sich dann in der
Diskussion über diese Begriffe. Jemand sagt: „Ich habe gar keinen
unendlichen Willen zur Macht“ und er hat Recht. „Ich habe gar
keine unendliche Begierde und bin mit Wenigem zufrieden …“ Dann
waren also die Begriffe falsch, und Concupiscentia war etwas, was
dem menschlichen Sein nicht zugehörte. Und das ist wieder falsch.
Darum ist die fundamentale Unterscheidung, die ich in der ersten
Stunde über das theologische Denken gab, von so entscheidender
Bedeutung für das Verständnis der … psychologischen und ethischen
Phänomene, die Unterscheidung zwischen der essentiellen Struktur
des Menschen, dem, was er wesenhaft ist, und der existentiellen
Verzerrung. In der Verzerrung ist die essentielle Struktur immer noch
da. Wenn ich jetzt hier die Existentialien des Menschen beschreibe,
meine ich nicht, dass es eine Beschreibung des wirklichen Menschen
ist, sondern bestimmter Elemente in der gesamten Wirklichkeit des
Menschen.
Die Wirklichkeit des Menschen ist die Wirklichkeit der Zweideu-
tigkeit, und darauf komme ich später, aber in der Zweideutigkeit
sind beide Elemente enthalten. Und darum ist das meiste, was über
den Menschen gesagt wird, selbst nicht zweideutig, sondern konfus,
weil es nicht möglich ist, ohne diese fundamentalen Unterscheidungen
etwas über die menschliche Situation und die menschliche Realität
auszusagen. Und hier würde ich nun sagen: Diejenige Begierde, die
sich ihrer Endlichkeit bewusst bleibt („bewusst“ ist kein gutes Wort!),
die ihre Endlichkeit bejaht, kann zur Erfüllung kommen. Man kann
diejenigen Tendenzen der Selbstverwirklichung, die mit allem mensch-
lichen Sein gegeben sind, verwirklichen. Diejenigen Tendenzen, die
mit der existentiellen Verzerrung zu tun haben, sind ohne die Mög-
lichkeit der Befriedigung. Sie entsprechen dem Bild von Faust und
Freud und Nietzsche, nämlich das endlose (besser als: unendliche),
das endlose, unbegrenzte, ungeformte chaotische Hinausgehen über
die begrenzte Erfüllung, die Angst vor der begrenzten Erfüllung, weil
die unendlichen Möglichkeiten, die damit unerfüllt bleiben, Angst
erzeugen. Aber der Mensch hat keine unendliche Möglichkeit der
Erfüllung, er hat sie nicht, weil er selbst endlich ist. Und so müssen
280
wir diese Begriffe verstehen. Es handelt sich also, wenn die christliche
Theologie von Concupiscentia spricht und nicht selber verwirrt ist,
was sie sehr oft ist, nicht um sexuelle Begierde – das gehört irgend-
wie dazu, ist aber nur ein Element – , und nicht um den essentiellen
Menschen, den Menschen in seiner essentiellen Struktur, denn da sind
Erfüllungen möglich, sondern um die existentielle Verzerrung. Und
was gemeint ist, ist, dass in Wirklichkeit Elemente der Erfüllung und
Elemente der Concupiscentia, die endlos ist, sich mischen und dass
darum die Frage nach einer Kraft der Entmischung, einer Kraft, die
das Existentielle überwindet, sich ergibt, die Frage der Religion.
Damit habe ich drei fundamentale Begriffe besprochen: den Be-
griff des Unglaubens, d. h. der Getrenntheit von den Quellen und
dem Grund unseres Seins; der Hybris, des Willens des Endlichen,
seine Potentialitäten als absolut zu setzen, und der Concupiscentia,
des Willens, alles Endliche in sich hineinzuschlingen und sich selbst
zum Träger des Universums zu machen. Nun möchte ich einige
Begriffe herausarbeiten, die sich daraus ohne weiteres ergeben und
die alle, wie Sie sehen werden, in der Existentialphilosophie, der
Tiefenpsychologie und der modernen Kunst ihre Analogien haben.
Wo immer das Endliche sich von der Einheit mit dem, was jenseits
von Endlichkeit und Unendlichkeit ist, nämlich dem Grund seines
Seins, trennt, da werden die Strukturen seines Seins zerrissen. Das
Sein alles Seienden und in Sonderheit das Sein des Menschen ist
charakterisiert durch Paare von Polaritäten. Diejenigen von Ihnen,
die die vorige Vorlesung1 hörten, werden sich erinnern an die großen
Polaritäten Selbst und Welt, Individualisation und Partizipation,
Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal. Diese Polaritäten sind in
der Essentialstruktur des Menschen geeint, in der Existentialstruktur
sind sie auseinander gerissen. Und eine Beschreibung der menschli-
chen Existenz muss in die Konflikte der ontologischen Polaritäten,
wie sie sich im menschlichen Sein vollziehen, eingehen, und darüber
will ich zunächst reden.
Die Einheit von Freiheit und Schicksal wird in der Zerreißung um-
gedreht in den Gegensatz von Willkür und Mechanismus. Wenn ich
dies sage, denke ich nicht nur an den Zustand des Menschen, sondern
gleichzeitig an gewisse Philosophen, die aufgrund dieses Zustandes
des Menschen die Wirklichkeit selber beurteilen. Und dann kommen
wir auf einen sehr schwierigen und gefährlichen Punkt, nämlich den
1
Gemeint ist die Berliner Ontologie-Vorlesung vom Sommersemester 1951.
281
Zusammenhang gewisser Gedankenrichtungen mit der existentiellen
Zerrissenheit des Menschen. Die Situation, die als der Widerspruch
von Mechanismus und Willkür oder Bindung an Mechanismen und
Willkür bezeichnet werden kann, das, was die Theologen mit Sünde
bezeichnen, ist zu beschreiben in Bezug auf diese Polaritäten als Os-
zillation zwischen Willkür und Sklaverei unter Mechanismen. Diese
Dinge, die vielleicht noch vor wenigen Jahrzehnten unwahrscheinlich
geklungen hatten, können heute nicht mehr verneint werden, nach-
dem wir in der Tiefenpsychologie gezeigt haben, bis zu welchem
Grad dies eine Beschreibung der psychopathologischen Charaktere
ist. Aber das, was in psychopathologischen Charakteren in extremer
Weise zum Ausdruck kommt, ist in anfänglicher Weise in jedem Men-
schen vorhanden und charakterisiert die Existenz. Der Unterschied
ist nur, dass der Gesunde fähig ist, Heilkräfte zu akzeptieren, die die
Polaritäten zusammenhalten, während der Kranke diese Fähigkeit
nicht mehr hat. Der Gegensatz, um den es sich hier handelt, ist der
zwischen einer Willkür, die keine Norm kennt, wie sie zum Beispiel
in gewissen späteren Formen des Existentialismus zum Ausdruck
gebracht worden ist, und auf der anderen Seite den Mechanismen
einer psychologischen und soziologischen Struktur, denen1 man sich
entziehen will. Die Willkür des Existentialismus ist der Gegenschlag
gegen die Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, aber beide sind
Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch nicht im Wesen steht.
Hier eine methodische Bemerkung. Ich habe hier auf eine be-
stimmte Situation der Geschichte hingewiesen. Wie verhält sich die
bestimmte Situation der Geschichte zu der Wesens- und Existenti-
alstruktur des Menschen? Sie verhält sich so, dass in bestimmten
Situationen Elemente des menschlichen Seins, die immer da sind,
essentielle oder existentielle, in einer überwältigenden und beherr-
schenden Weise sichtbar werden. Das ist methodisch außerordentlich
wichtig. Von soziologischer oder psychologischer Seite könnte man
sagen, dass es die psychologische Situation eines Neurotikers oder
die soziologische Situation des späten Kapitalismus ist, und die soll
man nicht verallgemeinern, man soll nicht sagen, dass das das Wesen
des Menschen ist, sondern soll sagen: Das ist die Situation des Men-
schen im Jahr 1940. Wenn man so etwas sagt, dann übersieht man
ein Faktum. Man übersieht, dass das, was durch [eine] bestimmte
1
Korr. (Typ. GS: der)
282
Situation aktualisiert und in besonders intensiver Weise ausgelöst
wird, ja schon immer als essentielle oder existentielle Struktur in po-
tentieller Weise vorhanden sein muss, dass es nicht ausgelöst werden
könnte, wenn es dem Wesen des Menschen widerspräche. Darum ist
methodisch kein Unterschied, ob man von dem Empirischen anfängt
und dann zum Ontologischen geht oder vom Ontologischen anfängt
und dann zeigt, wie unter Umständen, bestimmten Konstellationen
diese Möglichkeiten herauskommen.
Hier war immer von den Möglichkeiten der Willkür und der
Beherrschung durch Mechanismen die Rede. Ich nenne das Sünde
und würde den Theologen empfehlen, wenn sie von Sünde reden,
dass sie nicht von bestimmten Vorschriften reden, die nicht erfüllt
sind, sondern zum Beispiel eine Strukturanalyse dieser Verzerrung
der ontologischen Struktur machen, der ontologischen Struktur
von Freiheit und Schicksal. Im Prozess der Wiederherstellung sind
Schicksal und Freiheit eins. Wir können das noch in jedem Moment
des Schöpferischen erfahren. Jeder schöpferische Akt schließt Freiheit
und Schicksal ein. Der Schöpfer wird niemals sagen, dass sein Werk
ein Resultat einer freien Willensentscheidung ist, er weiß genau, wie
unmöglich das ist, wie es über ihn gekommen ist, wie es ihn getrieben
hat, wie es aus seinem historischen und persönlichen Schicksal heraus
gefolgt ist. Auf der anderen Seite wird er niemals sagen, dass es ein
Mechanismus war, der ihm passiert ist, wie ein Stein, der einem auf
den Kopf fällt, sondern dass es sein ununterbrochenes Abmühen,
seine Imagination, seine Freiheit, über viele Möglichkeiten, die sich
ihm bieten, hinauszugehen zu etwas Besserem war, dass alle diese
Elemente der Freiheit da sind. Der Standpunkt der Integrität ist der
Standpunk der schöpferischen Möglichkeit. Ich freue mich, sagen
zu können, dass diese Idee … anerkannt ist zum Beispiel von ei-
nem theologisch infizierten Psychologen wie Erich Fromm, der den
Gegensatz des Gesunden und des Kranken darin macht, dass der
Gesunde schöpferisch ist und der Kranke diesen Konflikten zwischen
Mechanismus und Willkür unterworfen ist.1
Hier muss ich aber sagen, was auf Grund vielfacher Missverständ-
nisse, die diese Sätze hervorgerufen haben, gesagt werden muss. Der
Begriff des Schöpferischen bezieht sich nicht auf eine kleine Schicht
produktiver, schöpferischer Menschen, die etwas Neues in die Welt
1
Erich Fromm, Escape from Freedom, New York 1941, S. 138-140; deutsche
Übersetzung: Die Furcht vor der Freiheit, Zürich 1945.
283
setzen. Dann gäbe es nur sehr wenig Gesunde, und alle anderen
wären krank. Gemeint ist die Möglichkeit spontaner Reaktion, und
in dem Sinn ist die alte Bauersfrau schöpferisch, und der Professor,
der unter einem Mechanismus oder Arbeitszwang arbeitet und nicht
mehr imstande ist, die Lebensbeziehung seiner Arbeit zu sehen,
nicht mehr schöpferisch und in diesem Sinn in der Sklaverei eines
Mechanismus. Mit anderen Worten: Der Begriff des Schöpferischen
ist der Begriff der Totalreaktion auf dem Boden einer spontanen
Möglichkeit. Diese spontane Möglichkeit ist eingebettet in Schicksal,
aber sie geht durch die Person, und das macht sie heil und ganz,
während im Zustand der Getrenntheit von dem schöpferischen Grund
unseres Seins wir in jedem Moment in Gefahr sind, Mechanismen
zu verfallen, psychologischer, soziologischer, traditioneller Art, und
dann dagegen willkürlich zu reagieren oder willkürlich zu handeln
und dabei nicht zu wissen, dass unsere Willkür ja heimlich dirigiert
ist von den Mechanismen in uns, deren Herr wir nicht mehr sind.
Das ist ein Beispiel für das, was christliche Sündenlehre sein sollte.
Es hat nichts mit Moralismus zu tun, es ist Strukturanalyse einer
zerrissenen Existenz. Und genau das ist, was die Lehre von der
Sünde bedeutet.
Ich komme zu einer zweiten Polarität, nämlich der Polarität
zwischen Vitalität und Intentionalität oder zwischen Dynamik und
Form. Hier haben wir die gleiche Situation. Wenn Dynamik oder
Vitalität, was Dynamik im Menschen ist, getrennt ist von der Form,
dann wird sie verwandelt in chaotische Begierde, wird sie Libido
im echten Freudschen Sinne ohne Ziel, ohne Gegenstand, unend-
lich über sich hinausgehend, niemals erfüllt und darum notwendig
mit der Sehnsucht nach dem Tod verbunden. Unendliche Begierde
und Todestrieb gehören zusammen. Jeder Mensch, dessen Begierde
diesen Charakter der Endlosigkeit hat, hat den heimlichen Wunsch,
sich selbst loszuwerden, weil er nicht erfüllt werden kann. Auf der
anderen Seite: Wenn die Intentionalität von der Vitalität getrennt
wird, dann wird sie Legalismus, Gesetzlichkeit, Moralismus in der
moralischen Sphäre. Intentionalität ist ein mittelalterliches Wort und
bedeutet die Gerichtetheit auf Inhalte, auf Gültigkeiten logischer oder
ethischer Art. Diese Gerichtetheit ist in Gefahr in dem Augenblick,
wo der vital-schöpferische Impuls aus ihr herausgeht und das ist
das, wogegen Nietzsche so gekämpft hat. Der ganze „Zarathustra“
ist eine Beschreibung des Zustandes der entfremdeten Menschheit,
der gefallenen Wirklichkeit, nämlich ein Zustand, in dem Vitalität
284
und Intentionalität auseinandergerissen sind. Wie sieht Intentiona-
lität aus, wenn die Vitalität fehlt? Sie wird Unterwerfung unter ein
Gesetz anstatt schöpferischer Erfüllung der wesenhaften Struktur, die
unsere eigene ist. Sie wird Unterwerfung unter Formen, aus denen
die Dynamik heraus ist.
In einer Diskussion, die ich gestern hatte in Anschluss an das
Problem der Kunstwissenschaft im Verhältnis zur Ontologie,1 kamen
wir auf das Thema „Klassik und Klassizismus“, und das ist sehr
offenbarerisch für diese Situation der gefallenen Welt. Sie werden
fragen: Wie? Klassik ist Form und Dynamik in einer Einheit, viel-
leicht in einer Einheit, in der das Formelement zuweilen stärker wird
als gerechtfertigt, aber das Element des Dynamischen ist dahinter
stehend. Vitalität der Irrationalität, des Dynamischen, der Oszilla-
tion zwischen Göttlichem und Dämonischem, all das ist da, wo es
ist, zur Form gebracht. Im Formalismus sind die Formen, die dort
Schöpfung sind, als Antwort auf die Fragen, die in der Vitalität und
ihren Konflikten enthalten sind, abstrahiert von der Substanz, aus
der sie kommen, und nun benutzt für etwas, wozu sie nicht mehr
gehören. Und das ist klassizistisch. In der Stilwandlung von der
Klassik zur Klassizistik drückt sich die menschliche Situation aus in
dem fundamentalen Konflikt zwischen Formalismus, d. h. einer Form,
die losgelöst ist von der vitalen Basis, und dem Chaos, nämlich einer
Vitalität, die losgelöst ist von einer sie ausdrückenden und erfüllenden
Form. Das ist die zweite Form, die ich nennen möchte.
Hier wäre noch hinzuzufügen, dass das, was ich eben in der Kunst
ausgeführt habe, ebenso in der Ethik ausgeführt werden kann. Und
das führt vielleicht noch tiefer. Was ist Gesetzlichkeit in der Ethik?
Das ist Moralismus. Es ist die Unterordnung unter ethische Formen,
die ursprünglich Ausdrücke der Erfahrung der Menschheit sind, in
der auch chaotische Beziehungen des Menschen zu sich selbst und
zu den anderen und zum Kosmos eine Antwort, eine Form gefun-
den haben. Nun werden diese Gesetze als Gesetze abstrakt, sie sind
Konventionen, sie sind das, was man geistesgeschichtlich „Wilhel-
minismus“ oder „Victorian Age“ nennt, weil es da besonders zum
Ausdruck gekommen ist. Sie sind konventionelle Formen, in denen
die Vitalität, aus denen diese ethischen Formen einmal geschaffen
worden sind und ihren Sinn hatten, verschwunden ist, und die nun
1
Im Seminar über „Die Bedeutung der Ontologie für die Wissenschaften“.
285
als abstrakte absolute Normen zur Unterdrückung der Vitalität
benutzt werden.
Darum ist die Antwort auf die Sünde des Formalismus und Le-
galismus Liebe. Denn Liebe ist das Schöpferische in dieser Sphäre
zwischen Dynamik und Form, weil in der Liebe die Form des An-
deren erhalten bleibt, aber die Dynamik zugleich die Abgrenzungen
durchbricht und eine Einigung schafft. Im Zustand der Entfremdung,
der Gefallenheit, sind wir zwischen der zerrissenen Polarität, wo
die eine Seite chaotische Gesetzlosigkeit ist und die andere Seite ein
Gesetz, das abstrahiert wird von dem schöpferischen Chaos. Darum
war es Nietzsche, der in all diesen Dingen am schärfsten gesehen hat
und immer die Seite der Dynamik gegen die Form ergreift, von dem
Chaos spricht, der einen tanzenden Stern gebären kann1, das heißt,
der sich selber schöpferisch und frei ausdrücken kann.
Und eine dritte Polarität muss hier genannt werden, nämlich die
von Individualität und Partizipation. Wenn sie getrennt werden, so
entsteht die Individualität, die nicht mehr partizipiert, es entsteht die
leere, in sich selbst ruhende Subjektivität, die besonders der Religion
als Geschenk von der Wissenschaft gegeben ist, wenn man die Reli-
gion als emotionale Sphäre aus den ernsthaften Angelegenheiten des
Lebens, nämlich Wissenschaft, Politik, Ethik und ähnlichen Dingen
ausschließt. Das ist der Ausdruck einer Ursituation in der entfremde-
ten Welt, dass man bestimmte Dinge der reinen Subjektivität überlässt
und dann auf der anderen Seite eine unfruchtbare Objektivität schafft,
deren extremer wissenschaftlicher Ausdruck der Götzendienst der so
genannten Fakten ist, wobei man übersieht, dass es solche Fakten
gar nicht gibt, dass jedes Faktum schon Interpretation enthält. Aber
man versucht, sich dieser Interpretation nicht mehr bewusst zu sein,
sie zu vergessen und eine unfruchtbare Objektivität zu schaffen. Das
Extrem auf dieser Seite ist ein Verzicht der Philosophie auf irgend-
welche realen Probleme der menschlichen Existenz, ein Verzicht, der
die Philosophie in Wissenschaftstheorie und formale Logik treibt
und dort einen Gegenpol konstituiert hat zu der ins Emotionale
hineingetriebenen Religion. Eine Weltsituation, eine geistige Situati-
on wie die, die ich in Amerika und auch hier und auch in England
habe beobachten können, dass die Dinge, die lebensnotwendig sind,
in die Subjektivität geworfen sind, in eine leere, durch keine Teil-
1
„Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern
gebären zu können“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Vorrede 5).
286
habe [bestimmte] Subjektivität, während auf der anderen Seite die
Objektivität sich konstituiert im rein Formalen, ohne auf die Frage
der Existenz Rücksicht zu nehmen – ist ein Herausbrechen eines viel
Tieferen, nämlich der Zerrissenheit dieser Polarität.
Und schließlich können wir zu der Urpolarität zurückgehen,
nämlich zurück zu [der Polarität von] Selbst und Welt, und können
von ihr dasselbe sagen. Wenn diese Polarität zerreißt, dann wird
das Selbst entfremdet von seiner Welt. Die Welt ist das absolut
Fremde geworden, das Objektive, das Gegenstehende, das, worauf
man blickt, das, zu dem man keinen Zugang mehr hat, und dann
verschließt man sich in dem Selbst. Aber das Selbst, das dann keinen
Inhalt hat, wird fremd, und was übrig bleibt, ist die leere logische
Subjektivität des erkenntnistheoretischen Subjekts. All diese Erwä-
gungen, die fortgesetzt werden können, zeigen ein Faktum: dass in
jeder kulturellen Erscheinung fundamentale existentielle Strukturen
zu finden sind und dass die geistige Leere, dass die Welt im Argen
liegt, für die ja heute einige Argumente aus der Geschichte selbst
beigebracht werden könnten, dass diese Leere nicht dadurch bestätigt
werden soll, dass man dem einzelnen Menschen vorwirft, was er
alles nicht tut und tun sollte, sondern dass man zeigt, wo der Akt
in einer universalen Struktur der miteinander in Konflikt stehenden
Polaritäten sich befindet. In diesem Falle wird der kleinliche Mora-
lismus, den wir vielfach mit dem Begriff der gefallenen Welt oder
Sünde oder Ähnlichem verbinden, beseitigt, und anstelle dessen
kommt das, was ursprünglich in der Tradition der Griechen, in der
prophetischen Verurteilung des Menschen und in der christlichen
Analyse der Verfallenheit drinsteckte, zum Ausdruck. Aber es kommt
nicht so zum Ausdruck, als ob das nun alles essentielle Natur wäre,
gerade das nicht. Und darum möchte ich schließen mit dem Satz:
Die existentielle Zerrissenheit ist immer zugleich Fakt und Akt,
immer zugleich Faktum und Tat. Das heißt mit anderen Worten:
Es ist nicht wie die Luft, die uns umgibt, die wir nicht produzieren,
sondern die existentielle Situation ist immer schon gegeben und wird
immer in ihrer Gegebenheit durch jeden unserer Akte bestätigt und
verwirklicht. Und diese Einheit von Faktum und Akt ist entscheidend
für das Verständnis der menschlichen Situation. Das ist ein Versuch,
herauszukommen aus der moralistischen Verkleinerung dessen, was
in dieser Vision der menschlichen Situation durch die Theologie
steckt, und auf der anderen Seite das Universale nicht zu einem
Mechanismus zu machen, der unentrinnbar ist und wo das, was zur
287
existentiellen Struktur gehört, für die wir immer auch verantwortlich
sind, als essentielle Struktur, die uns schöpfungsmäßig gegeben [ist],
bezeichnet wird. Diese Unterscheidung bleibt und drückt sich aus
darin, dass die existentiellen Zerspaltungen immer zugleich Faktum
und Actum sind, immer zugleich Schicksal und Freiheit sind.
288
13. Vorlesung
(Montag, 21. Juli 1952)
289
überwunden ist – , dann können wir sehen, dass auch im Zustand
der Erlöstheit die Angst nicht überwunden ist, weil die Angst zur
Endlichkeit gehört. Und darum ist der Mut zum Sein, der Mut der
Selbstbejahung, der Mut, der als Element in dem, was christliche
Theologie Glaube genannt hat, enthalten ist, dieser Mut ist der Mut,
die Angst der Endlichkeit auf sich zu nehmen. Die Möglichkeit dazu
ist in der christlichen Botschaft gegeben, in dem Teilhaben an der
ewigen Selbstbejahung, in der das Nichtsein überwunden ist. Aber
das Nichtsein des Endlichen und damit die Angst der Endlichkeit
können aufgenommen werden in den transzendenten Mut, aber
können nicht beseitigt werden.
Aber nun hatten wir von dem zweiten Element der menschlichen
Existenz gesprochen, nämlich der Existentialstruktur des Menschen,
und hatten eine Reihe von Charakteristika gegeben, die in der
christlich-protestantischen Tradition vorkommen. Wenn wir nun zu
der Frage nach dem Unterschied von Endlichkeit und Entfremdung
kommen, so ist damit ein Thema angegeben, das fast unerschöpflich
ist und das unendlich schwer zu behandeln ist und zwar aus folgen-
den Grund. Die Existentialstruktur ist ja das, was wir erleben, die
Essentialstruktur ist das, was dies Erlebnis möglich macht. Wir sind
immer noch Menschen. Infolgedessen mischt sich in unserer Realität
in jedem Moment Essential- und Existentialstruktur, und die Frage
ist: Was gehört zur Essentialstruktur, was gehört zur Existentialstruk-
tur? Ich kann im Einzelnen nicht darauf eingehen, ich kann es nur
methodisch deutlich zu machen versuchen.
Die Existentialstruktur unterscheidet sich von der Essentialstruk-
tur dadurch, dass in ihr Elemente, die in der Essentialstruktur ver-
einigt sind, auseinandergerissen werden und dass infolgedessen die
verschiedenen Ausdrucksformen der Endlichkeit sich verschärfen
und radikalisieren und zur Selbstzerstörung treiben. Aber schon
diese Beschreibung zeigt Ihnen, dass die Sache nicht so einfach ist.
Nehmen wir einmal die Todesangst – nicht die Angst vor dem Tod,
damit kann man gut fertig werden, wenn man den Tod objekti-
viert – , sondern die Angst zu sterben, die Angst des Nichtseins, die
in der Todesangst enthalten ist. Nicht das Ereignis als solches – das
ist Sache der Furcht – ist es, aber die Angst des Nichtseins, die
eine Urangst, eine ontologische Angst ist. Diese Angst ist sichtbar.
Denken Sie an Gethsemane, was hier so wichtig ist, weil ja da eine
endliche Realität angeschaut wird, die nicht in der Entfremdung
steht, das ist das neutestamentliche Bild. Und nun, was ist die To-
290
desangst, die aus der Entfremdung kommt im Unterschied von der
Todesangst, die aus der bloßen Endlichkeit kommt? Das hat Jesus
klar formuliert, dass der Stachel des Todes die Sünde ist1, d. h. die
Verbindung von der Angst der Endlichkeit und der Angst der Schuld
ist es, die nun dazukommt und der Todesangst eine neue Qualität
gibt. Und es kommt wohl noch etwas Drittes hinzu, was aber auf
beide Seiten gleichmäßig verteilt werden kann, nämlich die Angst
der Sinnlosigkeit. Der Tod als bloßer Tod ist ja sinnlos oder ist der
Ausdruck dafür, dass wenn er nichts ist als das, sinnlos ist. Und
diese Sinnlosigkeit ist verschärft zum Schrecken der Verzweiflung in
der Schuldangst, die sich mit der Todesangst verbindet. Auf diese
Weise entsteht eine neue Qualität, und es ist bedauerlich, dass in
den meisten literarischen und predigtmäßigen Ausdrucksformen von
Todesangst die Unterschiede nicht klar innegehalten sind. Auch der,
der der Christus genannt wird, nimmt teil an der Todesangst, aber
nimmt nicht teil an den Schrecken vor dem Tod, an der Verzweiflung
über den Tod, die durch die Verbindung von Endlichkeitsangst und
Schuldangst gegeben ist und durch die die Angst der Sinnlosigkeit
verschärft ist. Das ist ein Beispiel.
Solche Beispiele sind wichtig, weil sie verhindern, dass das mensch-
liche Sein, und das ist der allgemeine Begriff, auf der gleichen Ebene
gesehen wird in allen seinen Äußerungen. Es sind aber verschiedene
Ebenen, auf denen wir die menschliche Situation sehen müssen, und
wenn ich jetzt, nachdem wir eine ganze Woche theologische Arbeit
getrieben haben und vorher Existentialanalyse, sage, die Grenze
des Existentialismus in der Analyse der menschlichen Situation ist
die, dass er den Unterschied von Essential- und Existentialstruktur
nicht machen kann, sondern dass er sich ausschließlich auf die
Existentialstruktur konzentriert. … Und da liegt die Negativität,
und da muss die christliche Theologie Widerstand leisten. Wenn
sie nicht Widerstand leisten würde, und das ist ja nicht eine Sache
der Empirie, denn die Fakten erkennt ja die christliche Theologie
genauso an wie die Existentialanalyse, aber die christliche Theologie
interpretiert dieselben Fakten als Entfremdung von einem essentiellen
Sein, während der Existentialismus sie interpretiert als das, was da
ist, und etwas anderes gibt es nicht, d. h. als die einzige Form, in der
menschliches Sein sich ausdrückt.
1
1 Kor 15, 56.
291
Lassen Sie mich ein paar andere Beispiele geben: den Gedanken
der Sorge, der durch Heidegger so wichtig geworden ist. Auch hier ist
dieselbe Analyse vorzunehmen. Sorgen im Sinne von Besorgen ist das,
was zur Endlichkeit gehört. Auch in dem Bild Jesu finden sich eine
Reihe vorsorgender Akte, und das Besorgen spielt ja in der Ethik des
Alten Testaments eine große Rolle. Aber nun ist die Sorge verboten
von Jesus: „Sorget nicht!“1 Was heißt das? Das heißt: Die Angst,
die zur Vorsorge treibt, ohne die das Wesen, das lebendige Wesen,
zugrunde gehen würde (Beschreibung von Vitalität und Angst!), diese
Angst, die dann als Furcht vor bestimmten Mängeln und Gefahren
sich ausdrückt und ihnen vorsorglich begegnet, ist etwas, was zum
essentiellen Wesen des Menschen gehört. Die Sorge im Sinn der Angst,
die ruhelos die Zukunft vorwegnimmt als etwas, worin das Nichtsein
stärker ist als das Sein, diese Form der Angst ist etwas völlig anderes.
Die Angst der Sorge wird in diesem Augenblick eine Angst, die nicht
mehr die Kraft hat, anzuzeigen, dass da Gefahren sind, denen mit
Mut und Aktivität begegnet werden muss, sondern nun wird es ein
Zustand des Bedrängtwerdens durch das mögliche Nichtsein, das in
der Zukunft vorliegt. Und das ist die Angst, die ihren letzten Grund
in der Entfremdung von dem Grund des Seins hat, weil in der Einheit
mit dem Grund des Seins das zukünftige Nichtsein ja genauso – nicht
beseitigt, aber – überwunden wird und darum aufgenommen werden
kann in den Mut, der in die Zukunft geht.
Es ist für das Verständnis Heideggers außerordentlich bedauerlich
gewesen, dass er – aber das ist kein Zufall, das liegt im Ansatz – diese
beiden Arten der Sorge nicht scharf genug unterschieden hat und dass
er die Sorge mit Recht zu einem Existential gemacht hat, nämlich im
Sinn des Besorgens, was mit Angst verbunden ist. Wenn er aber das
Schuldbewusstsein auch auf dieselbe Linie setzt wie das Besorgen,
wird die Angst, die im Neuen Testament verbotene Sünde, zum
Existential. Und da sehen Sie wieder an einem lebenswichtigen Punkt
für uns alle, besonders für unsere Situation hier, die Notwendigkeit
und die Bedeutsamkeit der theologischen Unterscheidung von Essen-
tial- und Existentialstruktur. Die Sorge bedeutet etwas völlig anderes,
wenn sie in der Existentialstruktur auftritt; dann ist sie verbunden
mit der Schuldangst und dem Gefühl der Sinnlosigkeit. Wenn sie in
der Essentialstruktur auftritt, ist sie das Vorsorgen. Ich werde dar-
auf gleich kommen. Nun ist es ja so, dass diese Dinge zwar logisch
1
Mt 6, 25-34.
292
unterschieden werden können und dass es von größter Bedeutung
ist, dass das getan wird, weil sonst die menschliche Natur in ihren
zwei verschiedenen Formen nicht verständlich ist, aber in der Realität
durchdringen sich die Dinge. Man kann sich selber oft beobachten.
Man sagt: Ich muss ja vorsorgen. Das ist Essentialstruktur und ist
richtig. Aber in dem Ausdruck: „Ich muss ja vorsorgen“ steckt dann
etwas ganz anderes, nämlich: Ich bin ja in Sorge, d. h. in jener Sorge,
in der das Nichtsein Macht über mich gewinnt, in der Bedrohung
von der Zukunft her. Und diese beiden Dinge sind in der Realität
ständig durcheinandergemischt, sie nehmen teil an der Zweideutigkeit
des Lebens, von der ich bald reden will.
Wir können noch ein drittes Beispiel nehmen, das ich geben
will und das eng verwandt ist mit dem Sorgeproblem, nämlich das
Unsicherheitsproblem. Das ist ein solch fundamentales Problem der
menschlichen Existenz in unserer Zeit, dass wir auch da wieder uns
fragen müssen: Was gehört darin zur essentiellen und was gehört
zur existentiellen Struktur? Die Unsicherheit besteht darin, dass der
Mensch keinen notwendigen Platz hat, dass der Raum ihm zwar einen
Grund gibt, auf dem er stehen kann, aber zugleich diesen Grund in
jedem Augenblick bedroht, weil der Raum genau wie die Zeit eine
Form der Endlichkeit und damit des Seins und Nichtseins ist. Die
Unfähigkeit, die Unmöglichkeit irgendeines endlichen Wesens, einen
Raum zu haben, zu dem das endliche Wesen wesensmäßig gehört,
ist im Alten Testament ausgedrückt in der schönen paradoxen For-
mulierung: „Und seine Stätte kennet ihn nicht“1. Nicht, dass er sie
nicht mehr kennt, ist wichtig, sondern dass sie ihn nicht mehr kennt.
D. h. die Stätte hat keine essentielle Beziehung zum Menschen, es ist
nicht notwendig, dass er auf dieser Stätte ist. Diese Unnotwendigkeit
ist der ontologische Hintergrund aller Unsicherheit. Und wieder
kann ich auf das neutestamentliche Christusbild kommen und sa-
gen: Diese Unsicherheit ist ja im neutestamentlichen Christusbild
genauso durchgeführt wie in der alttestamentlichen Geschichte der
Wanderschaft und der Exile Israels. Die Stätte, der Raum geht immer
wieder verloren, und Jesus hat keinen Platz, wo er sein Haupt hinlegt,
was symbolisch bedeutet, dass auch die nichtentfremdete Endlich-
keit keine notwendige Beziehung zu einem bestimmten Raum hat.
Man könnte vielleicht in hochsymbolischer Sprache sagen, dass der
1
Ps 103, 16 („… wenn der Wind darüber weht, so ist sie nimmer da, / und ihre
Stätte kennet sie nicht mehr.“)
293
Himmel, d. h. die Vollendung der Elemente des Wirklichen, der Platz
ist, in der die Unsicherheit zwar noch da, aber aufgenommen ist in
eine universale Gesichertheit. Auch im Himmel bleibt das Endliche
endlich, um es ganz poetisch auszudrücken, aber der Himmel ist der
umfassende Ort, der eine Sicherheit gibt jenseits jeden speziellen Or-
tes, und denken wir Himmel unsymbolisch als Teilhaben am Grund
des Seins, haben wir einen Ort jenseits der Orte. Und nun die reale
Unsicherheit in der Existentialstruktur. Es ist die Unsicherheit, die
der Schrecken des Verlierens jeden Ortes ist, weil mit dem Verlieren
des Raumes auch Existenz verloren ist.
Ich würde sagen: Soziologisch gesprochen, ist dies vielleicht eines
der größten Charakteristika unserer modernen industriell-noma-
denhaften Existenz zusammen mit einer Sozialstruktur, wie wir sie
wenigstens bis vor kurzem hatten, in der der Schrecken der Unsi-
cherheit dasjenige war, worin die meisten Menschen ihr Menschsein
im existentiellen Sinn empfanden. Ich erzähle gelegentlich, dass, als
ich 33 nach Amerika kam, ja die Krisis noch da war, nicht mehr
im allerschärfsten Sinn, und dass bis auf den heutigen Tag die Men-
schen, mit denen man redet, das Unsicherheitserlebnis der drohenden
dauernden Arbeitslosigkeit, d. h. des Herausgeworfenseins aus jedem
sozialen und damit physikalischen Raum, für sie ein genauso schweres
Trauma der Seele veranlasst hat, wie in Europa der Erste Weltkrieg.
Die Erinnerung, die Wunden, die das gegeben hat, die Angst davor,
ist so groß, dass einem gelegentlich von Studenten gesagt wurde:
Wenn das wieder droht, will ich lieber in den Atombombenkrieg
gehen, das ist viel erträglicher. Hinter dieser Unsicherheit steht vor
allem die Angst der Sinnlosigkeit. Man ist nicht imstande, einen
Sinn zu realisieren, der jeden speziellen Sinn, jeden raumgebundenen
Sinn transzendiert. Und darum ist der Schrecken der Unsicherheit,
das Wandern-Müssen, wie es sich im Alten Testament und in vieler
Poesie findet, zu einem Schrecken, zu etwas, was nicht überwunden
und in sich selbst aufgenommen werden kann, geworden.
Und noch ein solcher Begriff: die Einsamkeit. Das ist wieder ein
für beide Kulturen, amerikanische und europäische Verhältnisse,
außerordentlich wichtiger Begriff. Man kann sagen, dass in Ameri-
ka man nicht privat existieren kann, man erträgt nicht, einsam zu
sein. Man hat dafür das Wort „solitude“ von solus, allein – das ist
unerträglich. Darum versucht man immer, in der Gruppe zu sein, im
„gang“ zu sein, in einem Haus zu sein, dessen Zimmer keine Türen
haben, sodass jeder zu jedem ohne weiteres kommt, und eine Abson-
294
derung, selbst wenn erwünscht, nicht möglich ist. Was ist das für ein
Phänomen, wenn wir es existentiell analysieren? Es ist das Phänomen
der Einsamkeit im anderen Sinn, wofür das Englische „loneliness“
hat, nämlich Verlassenheit. Diese Verlassenheit in der atomistischen
Kultur ist trotz aller Normalisierung der Existenz so stark, dass
man sie ständig überdecken muss. Und hier haben Sie wieder in der
englischen Sprache sehr fein ausgedrückt die beiden Formen der
Essential- und Existentialstruktur. Die Einsamkeit Jesu ist eines der
Themata, die Sie im Neuen Testament entwickelt finden. Niemand
kann eindringen zu dem Zentrum seiner Selbstbezogenheit, und er
kann nicht eindringen in andere Zentren und sie zu sich herausholen.
Sie alle verlassen ihn und missverstehen ihn, und die Nächsten am
allermeisten. Die Einsamkeit in diesem Sinn ist ja besonders wirk-
sam, wenn man in der Gruppe ist. Ich glaube, dass die existentielle
Einsamkeit – im Deutschen gibt es nur das eine Wort – in der Gruppe
am stärksten empfunden wird. Wenn man allein ist, dann kann man
sich einbilden, dass man ja nur zu den anderen gehen muss, dann
ist das Alleinsein überwunden. Wenn man aber in der Gruppe allein
ist, das heißt, diese existentielle Einsamkeit, dann erlebt man, dass
hier ein Phänomen vorliegt, das nicht mehr mit einem einfachen Zu-
anderen-Gehen beseitigt werden kann, sondern dass ein Phänomen
vorliegt, das zwei Seiten hat, eine essentielle und eine existentielle.
Die essentielle ist darin begründet: Jeder Mensch ist selbst als ein
selbstbezogenes Individuum, als ein selbstzentriertes Selbst, was kein
negativer, sondern ein Strukturbegriff ist, ausgeschlossen von allem
anderen, was existiert. Er hat alles andere als Welt sich gegenüber.
Das ist eine Konsequenz der vollkommenen Individualisierung. Diese
Einsamkeit kann niemals überwunden werden und kann nicht durch-
brochen werden. Auf der anderen Seite ist eine Einsamkeit, die den
Charakter der Selbstabschließung hat, und das ist eine ganz andere
Einsamkeit, die aus der Existentialstruktur folgt und nicht aus der
Essentialstruktur, und diese Selbstverschließung ist gewöhnlich eine
Folge des Versuchs, zu anderen zu kommen, des Zurückgestoßen-
werdens, des Fühlens der Fremdheit zwischen Wesen und Wesen, und
dann einer bitteren Abschließung von allen anderen, einer beleidigten
bitteren Abschließung von allen anderen.
Es ist erstaunlich – und da ich manchmal über Amerika rede,
darf ich vielleicht ein paar Worte über hier sagen – , ich habe das
Gefühl, dass die vielen menschlichen Spannungen, die man hier so
deutlich sieht, etwas zu tun haben mit dieser Selbstabschließung, in
295
die, vielfach durch das historische Schicksal, vielleicht durch andere
Charaktereigenschaften – ich kann es nicht beurteilen – , der deut-
sche Mensch getrieben ist, und aus dieser Einsamkeit, aus diesem
Sich-zurückgestoßen-Fühlen und dann bitterem Sich-in-sich-selber-
Verschließen entstehen auf der einen Seite die ständig schwelenden
Feindseligkeiten, die man in allen Gruppen, die man genauer beob-
achtet, findet, und auf der anderen Seite Augenblicke, in denen man
gewaltsam diese Selbstverschließung durchbrechen will und dann
sozusagen sein zentriertes Selbst aufgeben will. Ich denke dabei an
das Phänomen, auf das ich wohl schon einmal gekommen bin, das
Erich Fromm „symbiotische Liebe“ genannt hat,1 nämlich eine Lie-
be, die nicht den anderen will, sondern sich selbst als weggeworfen
will, dem anderen aber nichts gibt, weil das Selbst dabei sich sel-
ber hingeworfen hat und sich verloren hat. Diese Phänomene sind
Existentialphänomene, sie sind nicht Konsequenzen der essentiellen
Einsamkeit, die jeder Mensch hat und die notwendig ist, sondern
Konsequenzen der existentiellen entfremdeten Einsamkeit, in der
wir alle uns befinden und das wir alle sehen können. Wenn die
notwendige Einsamkeit, die nur aufgenommen ist, aber nicht auf-
gehoben ist in dem Teilhaben an dem Grund unseres Seins in Gott,
wenn die in existentieller Entfremdung erscheint, dann hat sie den
Doppelcharakter bitterer aggressiver und verzweifelter Selbsthingabe
oder des Selbstverlusts.
Ich glaube, diese Dinge zeigen Ihnen einiges und zeigen Ihnen, dass
hier vielleicht ein Begriff noch behandelt werden muss, nämlich der
Begriff der Verzweiflung. Dieser Begriff muss unterschieden werden
vom Begriff der normalen Angst. Der Begriff der Verzweiflung ist
ein Ausdruck für eine Situation, in der die Selbstbejahung in Ein-
heit mit dem Grund des Seins nicht mehr möglich ist, in der man
aber zugleich sich selbst nicht loswerden kann und sich loswerden
möchte. Und diese Verzweiflung ist nicht etwas, was man immerzu
erlebt. Ich hatte ein interessantes Missverständnis in einer theologi-
schen Diskussion in Amerika, wo ein Kollege mir sagte: Ich bin ein
frommer Anglikaner – das sagte er nicht, aber das war dahinter – ,
ich habe diese Verzweiflung nie in meinem Leben erlebt, von der ihr
Existentialisten dauernd redet. Worauf ich sagte: Verzweiflung ist
eine Grenzsituation. Das ist sehr deutlich in allem Existentialismus,
1
Erich Fromm, Man for Himself. An Inquiry into the Psychology of Ethics,
New York 1947, S. 119-141.
296
es ist nicht etwas Alltägliches, aber als Grenzsituation offenbart es
die Gesamtsituation. Das ist die Funktion aller Existentialanalysen,
die ich hier gebe – nicht dass ich irgendeine Beschreibung gebe von
dem, was wir nun hundertprozentig in jedem Augenblick sind, das
wäre höchst unrealistisch, und dann könnten Sie sagen: „Der Herr ist
aber pessimistisch, können wir etwas für ihn tun?“ (wie in Amerika
gelegentlich). Das ist nicht gemeint, sondern es handelt sich um eine
Strukturanalyse, die offenbar wird in der Grenzsituation. Und das
ist etwas völlig anderes … Vielleicht hat er niemals eine Grenzsitu-
ation erlebt. Ich glaube es ihm nicht ganz, dazu ist er ein zu guter
Theologe, aber er hat sie nicht erkannt, vielleicht weil er zu schnell
mit seinem traditionellen Dogma sie überdeckt hat. Auf alle Fälle ist
das gemeint in dieser Analyse. Und ich bitte Sie darum, mich nicht
einen Pessimisten und nachherein Optimisten zu nennen, sondern
diese Begriffe als unphilosophisch wegzulassen und zu fragen, ob die
Existentialanalyse richtig ist vom Standpunkt der Grenzsituation aus,
nicht vom Standpunkt einer Beschreibung des alltäglichen Verhaltens.
Über den Menschen kann man nur reden von der Grenzsituation aus,
wie überhaupt über alle Dinge. Solange man mitten darin ist, kann
man nicht darüber reden, nur wenn man an die Grenze getrieben
ist, sieht man, was das ist, wo man darin war …
Ich will noch den Übergang zu den letzten drei Vorlesungen geben,
die die Überschrift haben sollen: die Zweideutigkeit des Lebens. Und
um das zu machen, muss ich jetzt einige Vorbemerkungen machen.
Die erste ist folgende: Die letzten Worte über Pessimismus und Op-
timismus zeigen schon, dass keiner dieser beiden Begriffe sinnvoll ist.
Man kann der christlichen Schöpfungslehre – esse qua esse bonum
est, Augustin – vorwerfen, dass es ungebührlicher Optimismus ist.
Die Welt ist nicht gut, und die Anklage gegen Gott wird von jedem
irgendeinmal und von vielen ständig erhoben, dass der Gedanke des
guten Grundes des Seins beinahe eine Lästerung ist gegenüber denen,
die in dem unendlichen Elend unserer Tage als Opfer leben. Das ist
völlig verständlich. Aber dies ist die eine Seite, und diese eine Seite
ist fundamental. Ohne sie gäbe es keine Erlösung, keine christliche
Botschaft, kein Kommen des Messias, kein Ende, keine Erfüllung.
Nur weil die Essentialstruktur des Menschen gut ist, kann sie Objekt
der Erlösung sein. Wäre sie schlecht, könnte sie vielleicht durch an-
dere ersetzt werden, aber Erlösung wäre unmöglich. Das ist die erste
Behauptung. Man kann sie Optimismus nennen. Aber die Existenti-
alstruktur ist niemals allein da, und wenn man sagt, du bist Pessimist
297
oder das Christentum ist es mit der Erbsündenlehre – Anklage der
Aufklärung dagegen, weil sie den Eindruck hatte, dass damit der han-
delnde Mensch, der sich selbst und die Welt in die Hand nimmt mit
seiner Vernunft, unterminiert wird. Daher beseitigt die Aufklärung
diese Lehre. Diese Lehre konnte nicht mehr erlaubt sein, denn die
Entwicklung der industriellen Gesellschaft machte eine ganz andere
Haltung zur Wirklichkeit notwendig. Wir können dies Verbot nicht
mehr anerkennen, aber wir müssen beides sehen: Der Mensch ist in
jedem Moment des Lebensprozesses eine zweideutige Mischung der
existentiellen und essentiellen Elemente. Das ist die Realität. Weder
der Optimismus der Essentialstruktur noch der Pessimismus der
Existentialstruktur ist ein letztes Wort, sondern nur die zweideutige
Vereinigung beider Strukturen in der Realität des Lebensprozesses.
Und damit kommen wir auf den Begriff des Lebens, der bisher noch
nicht gebraucht war.
Ich will Leben definieren als die Aktualisierung des Seins. Das ist
die einfachste Definition, die an Aristoteles orientiert ist.1 Nun, in den
westlichen Sprachen wird das Wort „Leben“ und seine Äquivalente in
dreifachem Sinn gebraucht. Man gebraucht „Leben“ als die lebendige
Verbindung und das Zusammenspiel alles dessen, was ist. Wenn man
so allgemein spricht, meint man die universale dynamische Realität,
in der wir leben. Zweitens wird „Leben“ gebraucht für lebendige
Wesen, diejenigen Wesen nämlich, die vor allem selbstzentriert sind,
die als lebendige ein Zentrum haben und von diesem Zentrum aus-
gehen und zu ihm zurückgehen. Und dann wird der Lebensbegriff
symbolisch gebraucht, wenn wir vom lebendigen Gott reden und
damit meinen, dass der schöpferische Grund in Ewigkeit schöpferisch
ist. Dadurch ist Gott lebendig, dass er dialektisch ist, das Nichtsein
in sich hat als überwunden. Oder in anderen Worten: das kosmische
Leben, das organische Leben und das göttliche Leben.
Es gibt ein Charakteristikum aller dieser Begriffe von Leben,
nämlich, dass es eine Bewegung ist, in der ein Seiendes sich von sich
selber trennt und zu sich selber zurückkehrt, und diese Doppelbe-
wegung des Ausgehens und Zurückgehens ist die Urbewegung des
Lebens. In der Geschichte der mythischen Symbole werden Sie die
1
Gemeint ist die aristotelische Unterscheidung von Möglichkeit (dÚnamij) und
Verwirklichung (™nšrgeia). Der Stoff oder die Materie ist die Möglichkeit,
die vermöge der Form in die Wirklichkeit übergeht. Dieses Geschehen der
Verwirklichung nennt Tillich „Leben“.
298
Einsicht, die ja empirisch verifiziert werden kann, überall finden,
wo die Realität der Welt abgeleitet wird von dem Wesensgrund, der
aus sich hinausgeht und dann [zurückkehrt] im Sinn des 90. Psalms
„Kommt wieder, Menschenkinder“ oder Anaximanders „Die Dinge
gehen zurück, woher sie kommen“1 oder von indischen Gedanken,
das Ausatmen und Wiedereinatmen des Brahma, oder von Nicolaus
Cusanus: die Welt als die Selbstentfaltung und Selbstzurücknahme des
Göttlichen. All diese Gedanken bedeuten, dass Leben den Charakter
hat von Aus-sich-Herausgehen und Zu-sich-Zurückkehren.
Wenn Sie diese Fundamentalbegriffe anwenden, dann kann man
zunächst fragen: Wie steht das zu der Unterscheidung von essentiell
und existentiell? Und darauf ist die Antwort deutlich: Leben ist Aktu-
alisierung dessen, was essentielles Sein ist. Das Essentielle als solches
ist noch nicht Leben, es ist die Möglichkeit des Lebens, aber nicht
Aktualisierung. Und das ist das, was wir in der vorigen Stunde be-
sprochen haben als den Übergang aus der träumenden Unschuld (ein
poetisches Wort für „Potentialität“!) in die Aktualität, die schuldig
macht. Das Leben ist immer abhängig von einer essentiellen Struktur.
Das ist wichtig gegenüber der radikalen existentialistischen Philoso-
phie, die behauptet, dass die Essentialstrukturen nur Spiegelungen
dessen sind, worin Existenz vor sich geht, was dann zu so radikalen
Widersprüchen führt, dass ich nicht darauf einzugehen brauche. Dann
ist ja die Essentialstruktur des Menschen, dass er protestiert … Wir
brauchen nicht darauf einzugehen. Aber wir müssen eine Sicherung
in uns haben gegen den Versuch, die Essentialstruktur, d. h. die schöp-
ferische Ganzheit des Seins zu verleugnen, die Ganzheit des guten
Seins, des Seins. Wer das verleugnet, verleugnet die Möglichkeit des
Seins überhaupt. Und wie verhält sich Leben zu existentiellem Sein?
Dadurch, dass das essentielle Sein, das potentielle Sein übergeht in
den Zustand der Existenz, dass durch endliche Freiheit hindurch
die Essentialien sich aktualisieren. Und daraus folgt dann, dass das
Leben überall diesen Übergang zeigt und damit die Entfremdung, die
Widersprüche der Existenz und die Kluft zwischen existentiellem und
essentiellem Sein. Das Leben aber ist die Einheit beider Elemente.
In jedem lebenden Wesen wie im Leben als Ganzem sind essentielle
und existentielle Elemente zweideutig vermischt. Zweideutig besagt,
1
„Woraus aber die Dinge das Entstehen haben, dahin geht auch ihr Vergehen
nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre
Ruchlosigkeit nach der festgesetzten Zeit“ (DK 12 A 15, B 3).
299
dass wir in keinem Einzelfall eindeutig bestimmen können, dass dies
essentiell und dies existentiell ist. Es ist niemals möglich, schwarz und
weiß zu malen. Wer das tut, ist ein idealistischer Phantast. Das gibt es
nicht, es gibt keine Realität, von der man eine unzweideutige Aussage
machen kann über ihr Gut-Sein. Das ist das, was ich mit dem Begriff
des Lebens meine, und ich will dann in vier großen Zweideutigkeiten
die zweideutige Struktur des Lebens durchführen.
300
14. Vorlesung
(Dienstag, 22. Juli 1952)
Ich hatte angekündigt, dass ich die drei letzten Vorlesungen benutzen
möchte, um die konkrete Realität der menschlichen Existenz und der
Existenz im allgemeinen unter dem Titel „Die Zweideutigkeiten des
Lebens“ zu behandeln. Das ist im Deutschen ein etwas schwieriger
Ausdruck und eine etwas banal klingende Formulierung, als ob es
sich um Zweideutigkeiten handelte, die man auch im Leben findet
neben anderen Dingen. Aber was ich meine, ist, dass Zweideutigkeit
ein Charakteristikum von Leben als Leben ist, und das will ich nun
versuchen in verschiedenen Beziehungen durchzuführen.
Das Leben oder besser: Leben war definiert worden als die Ak-
tualität von Sein, als die gegenseitige Durchdringung essentialer und
existentialer Strukturen. Wenn das der Charakter von Leben ist, dann
ist Leben in all seinen Prozessen und Schöpfungen zweideutig und
zwar, weil nichts im Leben nur essential oder existential ist. Die erste
Polarität, an der das nachgewiesen werden kann, ist der schöpferische
und der zerstörerische Charakter von Leben. Leben ist immer zugleich
schöpferisch und zerstörerisch. In anderen Worten: Die Bedingungen
von Leben sind auch Bedingungen von Tod. Dasjenige, was Leben
als Leben möglich macht, macht Tod als Tod notwendig. In jedem
individuellen Lebensprozess von Anfang bis zum Ende ist der Tod
gegenwärtig, er ist gegenwärtig als ein Element des Lebens selbst,
obgleich die äußere Beendigung des Lebens auch abhängig ist von
der Konstellation der lebendigen Kräfte und des Seins überhaupt.
Wir sterben, weil Tod immer in uns ist, aber der Tod kommt, wenn
die äußere Konstellation es möglich oder unentrinnbar macht. Das
Verhältnis dieser beiden Seiten, der inneren Notwendigkeit des End-
lichen, zum Ende zu kommen, und der äußeren Konstellation, in
diesem Augenblick zum Ende zu kommen, ist eins der Geheimnisse
des Lebens. Es ist eines der Geheimnisse, das hinter der Frage steckt:
Wird die äußere Konstellation aufgesucht durch die innere Tendenz
zum Tode oder ist sie immer zufällig? Ich weiß keine Antwort. Ich
weiß nur, dass es Fälle gibt, wo wir das Gefühl haben, vielleicht ohne
es bewahrheiten zu können, dass hier ein innerer Prozess, der zum
Tode drängt, sich die äußere Konstellation gesucht hat, in der der Tod
aktuell wurde. Es gibt andere Fälle, wo wir sagen: Es ist in keiner
Weise verständlich von innen her, dass in diesem Moment durch diese
äußere Konstellation, diese Zufälligkeiten eines Unglücksfalles oder
301
dergleichen das Leben zu Ende kam. Ich würde es für falsch halten,
das eine oder das andere überzubetonen. Es ist eine Polarität, wie alle
Lebensprozesse in irgendeinem Sinn es sind, wo an dem einen Ende
die zufällige Konstellation und am anderen die innere Bereitschaft
steht. Sie beide gehören zusammen.
Nun wollen wir versuchen, die Schöpferkraft und die zerstöreri-
schen Charakteristika des Lebens, eins im anderen, zu betrachten.
Das Leben drückt seine Schöpferkraft in drei Formen aus. Das eine
ist das extensive und intensive Wachstum des eigenen Selbst, das
Prinzip des Wachsens. Das Leben wächst, und es gibt Philosophen,
die in die merkwürdige Lage geraten, als Philosophen etwas über
die Realität aussagen zu müssen, aber als Antimetaphysiker es sich
unmöglich zu machen, etwas auszusagen, und ich denke dabei an
den Senior der amerikanischen Philosophen, John Dewey, der eine
durchweg antimetaphysische Haltung einnimmt, der aber, wenn er
Normen aufstellt – er ist ja der Meister der Erziehungstheorie in
ganz Amerika, der das gesamte Schulwesen verändert hat – , dann
nur den einen Begriff kennt, nämlich Wachstum; was gut ist, was
gefordert ist, ist das, was dem Wachstum nützlich ist. Wenn man
aber näher zusieht, findet man, dass der Begriff des Wachstums in
sich ja in keiner Weise eine Norm abgeben kann. Denn es gibt ja
auch den Fehlwuchs, das Wachstum, das wir als falsches Wachstum
bezeichnen, und wir müssen dann die Norm, ob ein Wachstum richtig
oder falsch, gut oder schlecht ist, anderswoher als vom Begriff des
Wachstums selber haben. Immerhin ist es nicht zufällig, dass dieser
Begriff des Wachstums so zentral in der Beschreibung der mensch-
lichen und allgemeinen Existenz steht.
Das zweite Prinzip ist das Werk, das Werk, das durch den Men-
schen hindurchgeht und seine Welt umformt und bereichert. Dieser
Fundamentalbegriff des Lebens – ich spreche hier, wie Sie sehen,
primär vom menschlichen Leben – ist nur zu verstehen aus dem
Verhältnis von Selbst und Welt. Nur wenn Selbst und Welt so ge-
trennt sind, wie sie es in dem vollkommenen Selbst sind, das der
Mensch ist, nur daraus erklärt sich und kann verständlich gemacht
werden, was das Werk bedeutet. Das Werk bedeutet diejenige Form
des Schaffens, die es dem Leben ermöglicht, die Wirklichkeit, die
gegeben ist, umzugestalten. Und hier kommen wir vor allem zu
jener Grunddefinition des Menschen, dass der Mensch homo faber
ist, d. h. fabrizierender, gestaltender, umgestaltender Mensch ist. Das
Werk hat die Bedeutung, dass der Mensch jenseits des Gegebenen
302
steht, das Wachstum an sich hat diesen Charakter nicht. Das Werk
hat diesen Charakter. Das Werk setzt voraus, dass der Mensch
das Gegebene transzendiert, dass er über die Gegebenheiten des
Lebendigen, der Wirklichkeit, in der er steht, hinausdrängt und die
Wirklichkeit verändert. In dieser Veränderung objektiviert er seine
eigene Potentialität und verwirklicht die Möglichkeit des Wachstums,
sodass beide zusammengehören.
Die dritte Form, in der die Schöpferkraft des Lebendigen sich
äußert, ist die Fortsetzung des individuellen Lebens im Leben der
Gattung, die Fortpflanzung. Das Lebendige ist schöpferisch, indem
es sich über sich hinaus fortpflanzt und in dieser Fortpflanzung sich
selber essentiell verewigt, besser: sich Dauer schafft über die Exis-
tenz hinaus. Das hat nichts mit einer pseudoromantischen Unsterb-
lichkeitstheorie zu tun. Man ist weder unsterblich im Werk und in
seinen Kindern, auch in ihnen ist man sterblich. Aber man ist nicht
sterblich im Sinn der bloß individuellen Begrenzung. Man schafft über
sich hinaus und nimmt teil an dem fundamentalen schöpferischen
Charakter des Lebens.
Aber dies alles sage ich nur, um nun zu zeigen, dass auf der an-
deren Seite das zerstörerische Element des Lebens sich ebenfalls in
drei Formen ausdrückt, die in jedem schöpferischen Akt vorhanden
sind. Und das scheint mit eine entscheidende Einsicht zu sein, dass
diese drei schöpferischen Akte, diese drei Formen, in denen die
Schöpferkraft des Lebens sich ausdrückt, dass die in sich selber, in
ihrem reinen Vollzug das Zerstörerische enthalten und dass man nicht
sagen kann: Hier ist Wachstum und dagegen steht Zerstörung, hier
ist Werk und unglücklicherweise wird es nach einiger Zeit zerstört,
hier ist Fortpflanzung, und dann erschöpft sich das Individuum und
schließlich die Gattung. Das ist es nicht, sondern in der Situation
selber, in der Struktur dieser Formen selber findet sich immanent in
ihnen darin das zerstörerische Element.
Das Erste ist, dass das Wachstum dynamisch ist und dass kein
Lebendiges weiß, wieweit es vorstoßen kann, dynamisch in die
Wirklichkeit hinein, dass es erst dann weiß, wieweit es vorstoßen
kann, wenn es dem anderen Leben begegnet, das auch vorstößt.
Vorstoßen kann rein biologisch aufgefasst werden, wie Bäume, die
miteinander kämpfen um Raum und Sonne, kann aufgefasst werden
in dem psychischen Eindruck, den ein Mensch im Konflikt mit dem
anderen auf den anderen macht, es kann im geistigen Kampf sich
ausdrücken. Es drückt sich selbstverständlich dauernd aus in allem,
303
was in weitestem Sinn … in alledem der unentrinnbare Konflikt zwi-
schen Leben und Leben [ist]. In der Existenz ist Wachstum, ist Werk,
ist Fortpflanzung, aber in diesen drei Formen, in denen das Leben
schöpferisch ist, kommt es mit anderem Leben in Konflikt. Wenn das
Leben eine fixierte Harmonie wäre, eine festgelegte Harmonie, die
fertig wäre, würde es zu keinem Konflikt kommen. Aber dann wäre
es nicht Leben, sondern dann wäre es das vorgegebene System der
bloßen Möglichkeit. In dem Augenblick, wo es Wirklichkeit wird,
wo es sich aktualisiert, in diesem Augenblick kommt es in Konflikt
mit anderem Leben, weil erst im Konflikt sich entscheidet, wie weit
ein Leben vorstoßen kann in Richtung auf anderes Leben.
Die zweite Form ist der Gebrauch eines Lebens durch das ande-
re. Das drückt sich am einfachsten darin aus, dass in der gesamten
Natur und im Verhältnis des Menschen zur Natur ein Wesen vom
anderen lebt, dass der gesamte Lebensprozess ständig den Gebrauch
des Lebendigen durch das Lebendige zur Folge hat, dass wir nie
leben könnten, auch nur für einen Augenblick, ohne unzählige
kleinste Lebewesen zu ernähren und zu töten und ohne anderes
Leben, tierisches, teils zu vernichten, wenn es gefährlich ist, teils zu
gebrauchen. Auf diese Weise entsteht der Gebrauch des Lebendigen
durch das Lebendige, und das ist eine Sache, die erschreckend wird
in dem Augenblick, wo wir in die soziale Situation hineinblicken,
wo der begeistertste Pazifist, wenn er einen Beruf hat, nicht daran
denkt, dass er in diesem selben Augenblick einem anderen, der um
diesen Beruf, diese Stelle sich bemüht, den Platz wegnimmt und
zwar notwendigerweise. Aber der Schmerz des anderen und vieler
anderer, die sich um diesen Platz in der Gesellschaft beworben ha-
ben, in dem Moment, wo er diesen Platz innehat, ist das Opfer, das
von ihm akzeptiert wird in jedem Augenblick, in dem er sich selbst
realisiert. Ich habe mich oft über die Primitivität manchen Pazifis-
mus’ gewundert, der denkt, dass alle Probleme gelöst sind, wenn der
Krieg beseitig ist, und nicht daran denkt, dass in jedem Stück Brot,
das man isst, das Problem des Krieges in der ökonomischen Sphäre
de facto vorhanden ist. Das ist die in der Existenz unvermeidliche
Dialektik des Lebendigen.
Und das dritte ist die Erschöpfung jedes Lebensprozesses, die
innere Gerichtetheit auf das Ende durch Erschöpfung. Diese innere
Erschöpfung ist das, was hinter dem Todesinstinkt von Freud steht,
und bedeutet einfach die Begrenztheit der Schöpferkraft im Leben-
digen, die sich in einem bestimmten Augenblick nicht mehr klar für
304
sich selbst entscheidet, sondern anfängt, wie mir jemand vor ein paar
Tagen sagte über sich selbst, „abzubröckeln“, zu „zerbröckeln“. Das
Positivum der Selbstbejahung oder, wie ich es gern ausdrücke, der
Mut zum Sein zerbröckelt, d. h. einzelne Stücke erscheinen, die nicht
mehr zum Ganzen gefügt werden können, und dies [ist die] innere
Erschöpfung jeden Lebensprozesses. Man sagt von alten Leuten, sie
sind müde geworden, und das Alte Testament spricht von „alt und
lebenssatt“. Diese Erschöpfung ist genauso dem Leben angeboren
wie das Wachstum und die Fortpflanzung und das Werk.
Und nun würde ich behaupten, dass die schöpferische Kraft und
die zerstörerische Kraft nicht zwei Kräfte sind, sodass man sie von-
einander scheiden kann und sagen: Lasst uns die eine beseitigen und
die andere behalten, sondern dass sie sich innerlich durchdringen,
sodass kein Lebensprozess möglich ist, der unzweideutig zum einen
oder zum anderen gehört. Es gibt keinen Lebensprozess, von dem wir
sagen können, dies ist schöpferisch und das ist zerstörerisch, in einer
unzweideutigen Feststellung. Und das kann man vielleicht nennen
die Ambivalenz der Werte und kann sagen, dass diese Ambivalenz
der Werte jeden undialektischen Moralismus ausschließt. Ein undia-
lektischer Moralismus ist ein Moralismus, der die Menschen und die
Dinge einteilt in gut und böse, in schöpferisch und zerstörerisch, in
die mit gutem Willen und die mit bösem Willen, und was, da man
selber immer auf die positive Seite gehört, das Pharisäertum des
Moralismus produziert. Wer einmal sich in seiner besten Tat beob-
achtet hat oder in seinem besten Selbstausdruck, der wird wissen,
was diese Zweideutigkeit des Schöpferischen und Zerstörerischen,
diese Zweideutigkeit der Werte bedeutet, und wird nicht imstande
sein, diese Schwarz-Weiß-Scheidung innerhalb irgendeines konkreten
Ereignisses vorzunehmen.
Das ist von allergrößter Wichtigkeit, weil es den Moralismus des
pharisäischen Richtens unmöglich macht, weil es auch unmöglich
macht, in der Geschichte zum Beispiel über eine Sache zu reden als
ganz schlecht und über eine andere als ganz gut. Ich glaube, dass dies
für die hiesige Situation von entscheidendem Wert und entscheidender
Bedeutung ist. Wie immer wir uns entscheiden – und wir müssen uns
ja entscheiden, wenn wir uns, sagen wir einmal, ganz offen für den
Westen entscheiden, was ich glaube, dass es das Richtige ist – , dann
dürfen wir diese Entscheidung nicht so treffen, dass wir sagen: Wir
haben uns für das absolut Gute entschieden, und dort im Osten ist
das absolut Schlechte. Dann haben wir nicht verstanden, was die
305
Zweideutigkeit der Werte bedeutet. Sondern wir müssen wissen, dass
das Schöpferische, das dem Westen anhaftet, zerstörerische Elemente
in sich hat und dass das Zerstörerische des Ostens nur lebensmöglich
ist, weil es aufgebaut ist auf ursprünglich schöpferischen Elementen.
Das heißt nicht, dass alles gleich ist, das wäre vollkommen miss-
verstanden. Es ist die Tragik des Lebendigen, dass es sich ständig
verwirklichen muss, das heißt, dass in der Sphäre der Zweideutigkeit
der Werte ständig Entscheidungen getroffen werden müssen, aber
in dem Bewusstsein, dass wir Menschen sind, das heißt, dass wir in
keinem Moment die Möglichkeit haben, unzweideutig das eine positiv
und das andere negativ zu nennen, auch wenn wir uns für das eine
entscheiden. Und ich glaube, von hier aus kann jener Absolutismus
des moralisch-pharisäischen Urteils überwunden werden.
Die höchste Form der Einheit von Schöpferischem und Zerstöre-
rischem in der Sphäre des Vitalen ist die Liebe der Geschlechter. Und
wenn jemand unter Ihnen über dieses Problem einmal im Lichte der
Geschichte des Christentums ernsthaft nachgedacht hat, dann wird
diese Sache allein, dies Gebiet allein ausreichend sein, um meine
These von der Zweideutigkeit des Lebens überhaupt zu unterstützen.
Es ist erstaunlich, wie widerspruchsvoll die Interpretationen dieser
höchsten Form des Vital-Schöpferischen in der Ethik, in der Kultur-
philosophie und in der Religion sind, wie die gesamte Geschichte
des Christentums unendlichen Schwankungen unterworfen war und
niemals zu einer Formulierung führen konnte, die unzweideutig war.
Die asketisch-negativistischen Formen haben eine Zweideutigkeit in
sich, die uns ja durch die Tiefenpsychologie in ihrer ganzen Bedeut-
samkeit für die menschliche Existenz gezeigt worden ist. Die entge-
gengesetzten Haltungen haben die Zweideutigkeit in sich, dass sie
die desintegrierende Tendenz der Existenz fördern, wenn sie einseitig
behandelt werden. Und zwischen diesen beiden Polen schwankt das
Urteil immer hin und her. Es gibt im Vitalen nichts, was so schöp-
ferisch ist wie die sexuelle Liebe, und es gibt nichts, was an innerer
Zerstörungskraft in allen Formen, in denen sie sich ausdrückt, dem
Sexuellen gleichkommt. Ich glaube, dass ich hier nicht, es ist ja hier
keine ethische Vorlesung, viel tiefer darauf eingehen möchte. Ich
wollte nur an diesem höchsten Beispiel vitaler Schöpferkraft zeigen,
wie beide Elemente in jedem Moment miteinander verbunden sind.
Und wenn heute von einer gewissen Seite, nicht unbedingt verbunden
mit der neuorthodoxen Theologie, vielleicht in gewisser Verbindung
mit dem Neucalvinismus, die Idee vertreten wird, dass die sexuelle
306
Liebe eine Form annehmen muss, in der sie eine göttliche Prüfung
oder ein göttliches Verhängnis wird, und nichts anderes als das
ist, dann sind wir damit in einer Situation, wo aus Angst vor dem
Zerstörerischen der sich selbst verwirklichenden sexuellen Liebe nur
eine Zerstörung durch Unterdrückung produziert wird, die zumin-
dest ebenso, wenn nicht noch mehr, zerstörerisch ist. Es ist schwer,
über diese Dinge zu reden, aber es gibt auf keinem Gebiet so viel
Angst vor dem Nichtsein und weniger Möglichkeit des Mutes zur
Bejahung, zur Selbstaffirmation, wobei die Negativitäten auf sich
genommen werden1, wo der Mut da ist, der das Negative und die
Angst in sich nimmt. Diese Angst kann nicht vermieden werden,
sie kann in keinem schöpferischen Moment vermieden werden. Sie
ist die Realität, die mit dem höchsten Schöpferischen verbunden
ist gerade wegen der inneren Dialektik des Schöpferischen und des
Zerstörerischen. Und darum ist dies eines der größten Beispiele für
die antimoralistische Form, in der eine Analyse der Zweideutigkeit
des Lebens uns tiefere Einsicht geben kann. Jeder schöpferische Akt
von Leben ist begleitet von Lust, und jedes zerstörerische Element,
das im Schöpferischen darin steckt, ist von Schmerz begleitet. Die
Zweideutigkeit von Schöpferkraft und von Zerstörung im Lebenspro-
zess drückt sich aus in der Zweideutigkeit von Schmerz und Lust in
ihrer Bedeutsamkeit, eine Zweideutigkeit, die wieder in der sexuellen
Liebe ihren Höhepunkt erreicht.2
Und damit komme ich auf etwas, was dem modernen Natura-
lismus aufs schärfste entgegensteht, nämlich eine glatte und totale
Ablehnung des Lustprinzips in der Psychologie. Das Lustprinzip in
der Psychologie besagt, dass der Mensch psychologisch immer der
Lust nachgeht und den Schmerz zu vermeiden sich bemüht. Das
ist in keiner Weise psychologisch zutreffend. In Wirklichkeit will
jeder Mensch Schöpfung, er richtet sich auf etwas, sei es Werk, sei
es Fortpflanzung, sei es Wachstum, das schöpferisch ist, und der
Schmerz, der mit dem Schöpferischen verbunden ist, ist nicht etwas,
was er vermeidet, sondern was er auf sich nimmt in dem Willen zum
Schöpferischen. Das Opfer, das damit verbunden ist, ist etwas, das
man nicht etwa versucht zu vermeiden, sondern das eingeschlossen
ist in dem Ja zum Schöpferischen. Eine tiefere Psychologie würde
1
Korr. (Typ. GS: auf einen genommen sind)
2
Vgl. dazu P. Tillich, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925-1927), (EW XIV),
S. 131-138.
307
uns zeigen, dass das Lustprinzip des Handelns in keiner Weise das
wirkliche Handeln des Menschen beschreibt. Wir müssen es ersetzen
durch das Schöpferprinzip des Handelns, wobei Schöpfung nicht be-
deutet, große Literatur schaffen oder große Kunst schaffen, sondern
bedeutet, sich schöpferisch zu verwirklichen. Das ist das Prinzip des
Lebens, und dies Lebensprinzip schließt den Schmerz ein und hat die
Kraft, den Schmerz auf sich zu nehmen, während ein zerfallendes
Leben dem Lustprinzip folgt. Es ist sehr interessant, dass die moderne
Psychologie in ihren naturalistischen Formen, die metaphysisch, nicht
empirisch begründet sind, die krankhaften, die Zersetzungszustände
zur Norm ihrer psychologischen Beschreibung macht. Das ist so in
dem Reiz- und Reaktions-Zirkel, in der Lehre von den bedingten
Reflexen und ähnlichem, wo ein aus der Ganzheit herausgehobenes
Element des Lebendigen zur Basis eines Experimentes gemacht wird
und dann von dem ganzen Leben behauptet wird, dass es diesen
Charakter hat. Wir wissen aber alle von uns selbst, wann der Reiz-
Reaktions-Zirkel, wann die bedingten Reflexe wirksam sind, wenn
wir krank, betrunken sind, in dem vagen Zustand zwischen Schlafen
und Wachen, in Formen, in denen die Totalität und Zentriertheit
unseres Lebens nicht mehr da ist. Und diese abstrakten Zustände, die
künstlich hergestellt werden können und im Labor hergestellt werden,
werden zur Norm, zur schöpferischen Totalität des Lebensprozesses
gemacht. Und das wird nun genauso mit dem Lustprinzip gemacht.
Nur neurotisch verzerrte Lebensweisen veranlassen einen, in jedem
Augenblick dem Schmerz auszuweichen und der Lust nachzuge-
hen. Kein schöpferisches Leben, kein Leben, das in seiner Vollkraft
steht, wird jemals das machen. Und darum ist eine Psychologie, die
auf dieser Basis sich aufbaut, schlechthin falsch und ein Ausdruck
selber eines sozialen Zustandes, in dem das schöpferische Leben
durch die Verdinglichung zerstört wird. Die Intention des Lebens ist
Schöpfung mit der Zerstörung, die das einschließt, und nicht Lust.
Es ist Schöpfung einschließlich der Freude des Schaffens und auch
einschließlich des Schmerzes des Schaffens. Nur zersetzendes Leben
ist dem Lustprinzip untertan.
Das war die erste Gruppe, von der ich reden wollte: der Gegensatz
von schöpferisch und zerstörerisch. Ich komme jetzt zu einer zweiten
Polarität, nämlich der Polarität von dem ganzheitlichen und dem
fragmentarischen Charakter des Lebens. Leben ist ein zentrierter
Prozess von Trennung und Wiedervereinigung. Innerhalb der Existenz
ist dieser Prozess sowohl total wie auch fragmentarisch. Jeder Lebens-
308
prozess ist eine Gestalt, eine Totalität, wenn man ihn unterscheidet
von anderen Lebensprozessen. Jedes lebendige Wesen, jeder Mensch
ist ein Lebensprozess, der zentriert ist und dadurch totalen Charakter
hat. Aber jeder Lebensprozess ist zugleich fragmentarisch, weil in ihm
nur in fragmentarischer Weise Möglichkeiten verwirklicht werden.
Und das führt in Probleme, die jedem von uns sehr nahe liegen. Der
totale Charakter des Lebensprozesses drückt sich aus in der Bezogen-
heit jeden Elementes unseres Lebensprozesses auf unser individuelles
Zentrum oder, wie es Heidegger ausgedrückt hat: Leben ist immer
das „jemeinige“, immer bezogen auf jemanden, dessen Leben es ist.
Es gibt nicht Leben überhaupt, sondern nur dein und mein Leben.
Und weiter drückt sich der totale Charakter des Lebens darin aus,
dass es fremde Elemente ohne Unterbrechung ausstößt.
Lassen Sie mich ein Beispiel aus dieser Situation geben. Sie alle
hören, wenigstens hoffe ich es, was ich in einer Stunde sage. In dem,
was ich sage, sind eine ganze Reihe von Elementen, die dem Lebens-
prozess des einen von Ihnen fremd sind und nicht angeeignet werden
können und darum um der Totalität Ihres eigenen Lebensprozesses
willen ausgestoßen werden müssen. Das geschieht natürlich unbe-
wusst, aber es geschieht, und es ist gut so. Und dann sind andere
da, die dadurch gefährdet sind, dass sie nicht die Kraft haben, die
fremden Elemente, die von mir auf sie zukommen, auszustoßen, die
sie aufnehmen, aber bei denen sie Fremdkörper bleiben, die unter
Umständen zerstörerisch sind. Und eine dritte Gruppe, die sogar
bereit ist, dies oder jenes anzunehmen in die Totalität des eigenen
Lebensprozesses. Jeder Lehrer sollte sich bewusst sein, dass dies die
Situation in jeder Klasse ist, und nicht traurig darüber sein, dass er so
viel Nichtempfänglichkeit findet, sondern froh darüber sein, dass er
nicht zerstörerische Einwirkungen hat. Und der totale Charakter des
Lebens drückt sich darin aus, dass jedes Leben den Versuch macht,
seine eigenen Möglichkeiten total und vollständig zu verwirklichen.
Wir alle wollen konsequent sein, auch wenn wir gelegentlich bewusst
inkonsequent sind. Wir wollen das als eine Konsequenz eines der
Elemente in unserem Sein. Niemand ist bewusst inkonsequent, auch
wenn er es aktuell ist. Und wir wollen total sein in der Verwirkli-
chung unserer Möglichkeiten. Jede Nichtverwirklichung fordert eine
Resignation, schließt einen Schmerz ein. Dies ist, was ich den totalen
Charakter des zentrierten Lebendigen nennen würde.
Nun steht dem wieder gegenüber, aber nicht eigentlich gegenüber,
sondern in dieser Totalität ist zugleich der fragmentarische Charak-
309
ter des Lebens offenbar. Und dieser fragmentarische Charakter des
Lebens offenbart sich zuerst in der unvollständigen Verwirklichung
der Polaritäten, die man hat, in dem unendlichen Abgrund, der
zwischen unseren Möglichkeiten und ihrer Verwirklichung liegt. Ich
möchte hier auf etwas hinweisen, was in Sonderheit schmerzlich ist,
nämlich zwei Möglichkeiten, seine Möglichkeit nicht zu verwirkli-
chen. Die eine, dass wir immer Möglichkeiten opfern müssen um
der Wirklichkeit willen, in der wir stehen. Es gibt Menschen, die
ständig ihre Wirklichkeit aufgeben, sie verlieren, weil sie nicht den
Mut haben, Möglichkeiten, die auch in ihnen sind, zu opfern, und
auf der anderen Seite das Wirkliche für das Mögliche zu opfern.
Möglichkeiten erscheinen am Horizont, wir haben den Mut, sie zu
bejahen, obgleich sie uns aus aller Wirklichkeit herausreißen. Und
wenn wir die Wirklichkeit opfern, dann ist das ein Opfer. Und so
stehen wir ständig zwischen den beiden Wegen: das Mögliche für das
Wirkliche oder das Wirkliche für das Mögliche zu opfern. In beiden
Fällen haben wir den Schmerz des Opfers auf uns zu nehmen, und
das ist ein Element des Lebensprozesses, das nicht etwa hinzukommt,
das man haben oder nicht haben kann, sondern das in jedem Lebens-
prozess vorliegt. Auch hier wieder ein Beispiel, das sehr viele von
Ihnen betreffen wird. Jeder von Ihnen hat verschiedene Begabungen,
einige haben Begabungen, die ausgesprochen sind, aber sagen wir,
zwei Begabungen, eine wissenschaftliche und eine musikalische, wo
die eine für die andere irgendeinmal geopfert werden muss. Es ist
nicht möglich, beide in vollkommener Weise zu verwirklichen. Und
in solchen Fällen wird entweder das Reale für das Mögliche oder
das Mögliche für das Reale geopfert. Und solch ein Opfer soll dann
mutvoll gebracht werden. Das heißt, man soll wissen, dass es Schmerz
bedeutet, aber dass man diesen Schmerz auf sich nehmen muss. Das
ist die zweite Form, in der sich die Zweideutigkeit des Lebens in dem
fragmentarischen Charakter der Selbstverwirklichung ausdrückt.
Und dann das dritte ist die Inkonsequenz und Ungerichtetheit, das
Unordentliche des Lebensprozesses. Ich glaube, dass keiner von uns
irgendwie zweifeln wird, dass das, wovon ich hier rede, eine Realität
ist, die unser Leben fragmentarisch macht. Wir wollen konsequent
sein, in Wirklichkeit ist die Struktur unseres Lebensprozesses voll
von Widersprüchen. Wir wollen ein geordnetes Innenleben haben.
In Wirklichkeit gilt, was mein Lehrer Martin Kähler, als er der große
Weise mit 70 Jahren war, einmal behauptete: „Glauben Sie nicht,
meine Herren, dass, wenn man älter wird, das ungeordnete Innenle-
310
ben aufhört. Es hört nie auf!“ Und er fügte allerdings hinzu: „Darum
brauchen wir immer die Rechtfertigung durch den Glauben.“ Und er
meinte damit die Annahme unserer Ungeordnetheit, weil sie, absolut
gesehen, angenommen ist. Und weiter über das Fehlen einer Gerich-
tetheit. Ich weiß, dass für viele Menschen die Gerichtetheit etwas
so Wichtiges ist, dass sie aus Angst, ungerichtet zu werden, daran
festhalten und damit jede Möglichkeit schöpferischer Verwirklichung
sich zerstören. Wer aber schöpferisch ist, der kann keine Gerichtetheit
eindeutig aufrecht erhalten. Das Ungerichtete ist eine Implikation,
eine innere Notwendigkeit des Schöpferischen.
Und schließlich ein Element des Lebensprozesses, wo das opti-
mistische Wort, das ich über Ihre Haltung zu meinem Wort gesagt
habe, in Frage gestellt wird, nämlich, dass Sie doch nicht imstande
sind und keiner von uns imstande ist, das ständige Eindringen von
fremden und gefährlichen und eventuell zerstörenden Elementen zu
verhindern. Wir sind offen für solch Eindringen, und der Lebenspro-
zess ist niemals eine wirkliche Totalität. Und damit komme ich zum
Ende und sage nur: Wer diese Dinge sieht, der sieht die Zweideu-
tigkeit dessen, was man Vollendung nennt. Niemand ist vollendet in
seinem Lebensprozess. Der Perfektionismus ist verurteilt durch die
Zweideutigkeit, die in dem totalen und fragmentarischen Charakter
des Lebensprozesses herrscht. Schöpferisches Leben ist nicht zu ver-
stehen mit Begriffen, die von irgendeiner Form des Perfektionismus
hergeleitet werden.
311
15. Vorlesung
(Mittwoch, 23. Juli 1952)
1
S. o., S. 19, Anm. 2.
312
im logischen Sinn als teilhabend an der Ganzheit des Seienden,
sondern er meint es im qualitativen Sinn: wie stark die Seinsmacht
ist, die durch jedes Seiende hindurch sichtbar wird. Ein Ausdruck
dafür ist etwas, was auch in der Wissenschaft erlebt werden kann,
nämlich die Unendlichkeit und Tiefe, die jedes Ding zeigt, wenn
wir in es eindringen wissenschaftlich und durch Teilhabe. Es ist
niemals ganz erschöpflich. Das Charakteristische des Seinsgrundes
ist seine Unerschöpflichkeit. Darauf beruht die Existenz der Welt.
An dieser Unerschöpflichkeit, an diesem Charakter der Seinsmacht
hat jedes Seiende teil, und darum kann Goethe davon sprechen,
dass es seiend ist und wie seiend es ist, das heißt, welche Macht
des Seins es ausstrahlt, nicht nur, wenn es ein großes auffallendes
Ding ist, wie ein menschliches Wesen, sondern auch, wenn es ein
kleines, ein verschwindendes Sandkorn ist. Im Grunde hat die The-
ologie das immer gewusst. Wenn Luther davon spricht, dass Gott in
jedem Sandkorn ganz gegenwärtig ist und zugleich das Ganze alles
Seienden überragt, dann ist das ein Ausdruck für das, was ich hier
die Größe jedes Lebensprozesses nenne. Ein anderer Ausdruck dafür
war die Philosophie des Nicolaus Cusanus, der davon sprach, wie
in jedem Dinge das Größte und das Kleinste zusammenfallen, die
Koinzidenz des Entgegengesetzten. Auch da ist die Größe gesehen
in allem Endlichen, in jeder Wirklichkeit. Die Größe eines Dinges
besteht also darin, dass es die endliche Begrenztheit, in der es uns
begegnet, in einer bestimmten Weise transzendiert, dass durch die
Gegenwärtigkeit seiner unerschöpflichen Tiefe jedes Ding zeigt, dass
es teilhat an dem unerschöpflichen Seinsgrund, aus dem es kommt.
Wenn der Existentialismus in allen seinen Formen von der Tragik
des Lebensprozesses, von der Tragik des Lebens spricht, ohne von
seiner Größe zu sprechen, dann hat er den Sinn des Tragischen nicht
verstanden, denn das Tragische hat Möglichkeit nur, weil es ausgesagt
wird von dem, das Größe hat. Nur das Große hat Tragik, und jedes
Ding nimmt am Tragischen teil, insoweit und weil es an der Größe
des Seins teilhat. Und das führt nun zu der anderen Seite.
Die Tragik jeden Lebensprozesses drückt sich darin aus, dass es
unentrinnbar seine Größe vermischt mit der Größe des Grundes,
dass es die unendliche Seinsmacht des Seinsgrundes verwechselt mit
seiner endlichen Größe. Damit haben wir den Fundamentalbegriff
des Tragischen. Dieser Begriff wird viel gebraucht, und darum ist
es vielleicht nicht falsch, wenn ich ein paar Selbstverständlichkeiten
darüber wiederhole. Eine der Selbstverständlichkeiten ist, dass das
313
Tragische nicht das Traurige ist. Der Missbrauch des Wortes des Tra-
gischen hat oft dazu geführt, dass, wenn irgendwo ein Unglücksfall
passiert, man sagt: Das ist ja tragisch. Es kann tragisch sein, aber
an und für sich ist es nur tragisch, wenn es die Kehrseite der Größe
dieses Vorgangs oder Ereignisses ist. An und für sich ist das Traurige
nicht das Tragische. Das ist die eine Bemerkung, die ich machen
möchte, und ich kann Sie versichern, dass diese Bemerkung immer
wieder gemacht werden muss. Zum Beispiel in Amerika, wo der
Sinn für das Traurige durchaus vorhanden ist, aber dieser Sinn für
das Traurige sich nur selten zu dem Sinn für das Tragische vertieft,
und zwar aus dem einfachen Grund, weil im Tragischen ein Element
der Notwendigkeit vorliegt, das für das Denken einer aktivistischen,
moralistischen Kultur wie der Amerikas überaus schwierig ist. An-
dererseits ist das Tragische nicht zu identifizieren mit dem, was als
Tragödie, wo das Wort an sich herkommt, dem Tragischen ästhetische
Form gibt. Das Tragische ist auch da vorhanden, wo die tragische
Form als solche nicht sichtbar ist. Es ist ein Strukturelement der
Zweideutigkeit des Seins selbst.
Die Charakteristika des Tragischen, wo immer es erscheint, sind
Selbsttäuschung, Arroganz, Selbstzerstörung und Verzweiflung. Das
Erste und Fundamentale ist Selbsttäuschung. In der klassischen grie-
chischen Tragödie finden wir, wie mein Freund und früherer Kollege
Karl Reinhardt in Frankfurt gezeigt hat, dass Tragödien Offenba-
rungen der menschlichen Situation sind, dass in den meisten Fällen
die griechischen Tragödien Offenbarungstragödien nicht im Sinn
von göttlichen Offenbarungen, sondern im Sinn von Offenbarung
der menschlichen Situation sind.1 Und darum haben die Existenti-
alisten mit Recht auf die griechische Tragödie zurückgegriffen und
ihre Elemente in moderne Form übersetzt, aber das Fundamentale
der menschlichen Situation, das in der griechischen Tragödie sicht-
1
Karl Reinhardt, Sophokles, Frankfurt am Main 1933, S. 10: „Die Götter des
Sophokles bringen dem Menschen keine Tröstung, und wenn sie sein Schicksal
lenken, dass er sich erkenne, so erfaßt er sich als Mensch doch erst in seinem
Preisgegeben- und Verlassen-Sein. Erst im Zerbrechen scheint sein Wesen, rein
werdend, aus seiner Dissonanz den Zustand der Harminie mit der göttlichen
Ordnung zu gewinnen. Darum sind die Tragischen des Sophokles Vereinzelte,
von ihren Wurzeln Losgerissene, Ausgeworfene: monoÚmenoi, ¥filoi, frenÕj
o„obîtai, und wie all die vielen Worte dafür lauten. Aber die gewaltsame
Entwurzelung würde nicht so schmerzlich erlitten, wäre die Verwurzelung
nicht so innig von Natur“.
314
bar geworden ist, mit hereingenommen in ihre eigene Fassung des
Tragischen. Was zum Beispiel im „König Ödipus“ geschieht, ist eine
Offenbarungstragödie. Das Unrecht ist vergangen, es ist geschehen,
aber nicht im Sinn einer sittlichen Schuld, sondern eines Fluches
über dem Geschlecht, das zwar mit Schuld verbunden ist, aber nicht
eindeutig auf moralische Schuld zurückgeführt werden kann.
Nun kommt das zweite Element der Tragödie, nämlich die Ar-
roganz, die Hybris, die Selbsterhebung, die mit der Selbsttäuschung
verbunden ist. Diese Arroganz ist wieder kein spezieller moralischer
Fehler oder eine Eigenschaft, die jemand hat, sondern es ist das in
der Größe selber enthaltene Sich-Erheben über die Grenzen der End-
lichkeit. Und daraus entsteht dann die Illusion, dass diese Größe der
Endlichkeit enthoben ist. Natürlich nicht im abstrakten Sinn – jedes
sterbliche Wesen weiß, dass es sterblich ist – , aber es handelt so, als
ob es nicht sterblich wäre. Und ein Mann wie König Ödipus, der
der Träger alles Großen in seinem Zeitalter ist, der ein Heros ist im
Sinn des Tragens der höchsten Werte seiner Zeit, ist arrogant nicht
im moralischen, sondern im ontologischen Sinn. Sein Sein selber ist
etwas, was die menschliche Situation so weit überragt, dass es eine
Illusion wird, Selbsttäuschung wird. Und nun kommt ein Bote nach
dem anderen in der ersten Szene des Ödipus und macht ihm deutlich,
was seine wirkliche menschliche Situation ist: seine Endlichkeit, der
Fluch über ihn, seine metaphysische Schuld.
Und dann folgt das dritte Merkmal, nachdem die menschliche Si-
tuation offenbar geworden, nämlich die Verzweiflung und der innere
Konflikt [des Menschen] mit sich selbst, der sich darin äußert, dass
er sich selber zerstört, dass er sich blind macht, weil er blind über
seine Situation gewesen ist. Wenn Sie über Existentialismus leichthin
reden hören, dann fragen Sie den Betreffenden, ob er schon mal
den „König Ödipus“ wirklich gelesen hat und gelesen hat, was im
„König Ödipus“ über die menschliche Situation und die Verblendung
bezüglich der menschlichen Situation gesagt ist und das Erwachen
über diese Verblendung. Und das bezieht sich natürlich nicht nur
auf Einzelne, sondern auch auf Völker – in der griechischen Tragö-
die gewöhnlich nicht auf Nationen, sondern auf Geschlechter, die
die fundamentale soziale Gruppe in der älteren griechischen Kultur
waren. Verzweiflung als Konsequenz der Offenbarung des Tragischen
ist der innere Konflikt des Menschen, der diese Situation des Zu-
rückgestoßenseins vom Göttlichen, der Offenbarung seiner Situation,
erlebt und nun die neue Situation nicht erträgt, keinen Trost findet
315
und verzweifelt. Das ist die Tragik jeden Lebensprozesses, die mit
seiner Größe unmittelbar gegeben ist.
Und darum sage ich: Die Größe und die Tragik eines Lebenspro-
zesses sind gegenseitig voneinander abhängig und zwar in der Weise,
dass kein spezielles Element eines Lebensprozesses unzweideutig
groß oder unzweideutig tragisch ist. Die Größe hat schon immer das
Tragische in sich, das Tragische hat immer die Größe in sich. Es ist
interessant, dass die griechische Tragödie wie auch die Shakespea-
res sich in den tragischen Figuren nicht um das Grässliche, Kleine,
Durchschnittliche oder auch moralisch Negative dreht, sondern um
das Große, das in seiner Größe zugleich an das Göttliche rührt und
vom Göttlichen zurückgeworfen wird. Und das liegt im innersten
Wesen der Tragödie. Ohne den Begriff der Größe kann man das
Tragische nicht verstehen. Das bedeutet nun nicht etwa, dass nur
die ausgezeichneten Persönlichkeiten im Tragischen stehen. Es bedeu-
tet, dass sie das Tragische repräsentieren in einer Weise, dass jeder
Einzelne daran teilhat und dadurch erschüttert und, wie Aristoteles
sagt, gereinigt werden kann.1 Die Gewohnheit des athenischen Staa-
tes, von seinen Bürgern zu verlangen, drei Tage an Tragödie und
Komödie teilzuhaben und dafür den ausfallenden Lohn, wenn sie es
nötig hatten, rückerstattet zu bekommen durch den Staat, war eine
etwas höhere Wertung des Theaters, als wir sie heute haben, und
war etwas weiser, als wir heute im kommerzialisierten Theater zu
handeln imstande sind. Es bedeutet, dass die athenische Regierung,
die Weisheit von Athen wusste, dass die menschliche Situation dar-
gestellt ist in diesen dionysischen Spielen, die zwar als eigentliche
Themata die Legenden heroischer Einzelner oder Familien hatten,
die aber so beschaffen waren, dass jeder Einzelne nicht etwa dies als
etwas Fremdes von außen ansah, sondern erschüttert mit hereinge-
rissen wurde in die Einheit des Großen und des Tragischen, wie es
in der griechischen Tragödie vorliegt. Daraus ergibt sich, dass Größe
und Zweideutigkeit zusammengehören, weil Größe das Tragische in
sich birgt, und das schließt jeden religiösen Immanentismus aus, es
schließt aus den Glauben, dass irgendwo und irgendwann einmal
in Raum und Zeit die Menschheit oder ein Teil der Menschheit zu
einer Größe kommen wird, in der das Tragische nicht gegenwärtig
ist. Das Große, auch das geistig Große, das durch die Geschichte
1
Aristoteles, Von der Dichtkunst, 1449 b27 f.: „eine Reinigung (k£qarsij) von
eben diesen Leidenschaften“.
316
verwirklicht werden soll, ist etwas, in dem zugleich das Tragische
gegenwärtig ist.
Und darum gibt es kein Reich Gottes auf Erden oder, wenn
man davon spricht, nur die kämpfende Seite des Reiches Gottes
ist auf Erden, die hier und da fragmentarisch sich verwirklicht, auf
die die Kirche hinweist durch ihre Existenz, die aber niemals iden-
tisch ist mit irgendetwas, was auf Erden geschieht. Und wenn diese
Zweideutigkeit der Größe im 19. Jahrhundert verborgen blieb, weil
der Fortschrittsschwung, der ein säkularisierter eschatologischer
Schwung ist, dies Jahrhundert trug und in gewisser Weise mit Recht
trug, in manchen Beziehungen, sehnen wir, die wir das 19. Jahrhun-
dert am Anfang dieses Jahrhunderts am schärfsten kritisiert haben,
uns gelegentlich zurück, wenn wir die Grauen des 20. Jahrhunderts
sehen. Und trotzdem: Es war eine Selbsttäuschung genau im Sinn
der griechischen Tragödie, eine Arroganz nicht im moralischen,
sondern im ontologischen Sinn, und es führte zur Selbstzerstörung
und Verzweiflung. In dem Sinn ist zur Zeit der Glaube, dass inner-
halb der Geschichte die Größe der Menschheit zu unzweideutiger
Verwirklichung kommen kann, wieder einmal zerschmettert worden.
In gewisser Weise kann man sagen, dass das 20. Jahrhundert das
geleistet hat gegenüber den vorausgehenden zwei Jahrhunderten,
was der erste Akt des „Ödipus“ dem Ödipus leistet, nämlich die
menschliche Situation offenbar zu machen. Und daraus müssen Sie
verstehen, warum wir in diesem Jahrhundert als einzig adäquaten
Ausdruck den Existentialismus in all seinen zahllosen Formen haben,
der ja nichts anderes tut, als die menschliche Existenz zu enthüllen.
Auf alle Fälle ist selbst in einem Land wie Amerika, wo die Zwei-
deutigkeit der Größe nicht gesehen wurde, als sie in Europa schon
nicht mehr verborgen bleiben konnte, heute eine wachsende Erfah-
rung vorhanden von der Zweideutigkeit dieser Größe, d. h. von der
tragischen Implikation aller Größe.
Die höchste Form der Einheit von Tragik und Größe des Lebens
ist der Heroismus. Der Heroismus tut eine Sache: Er akzeptiert die
selbstzerstörerischen Elemente der Größe. Der Heroismus ist oft ver-
standen worden als Idealbildung. In einer Beziehung ist das richtig.
Der tragische Heros ist ein Träger der Wertungen und Ideale eines
Zeitalters, aber zugleich ist Heroismus ja die Fähigkeit, die tragischen
Implikationen der Größe in sich selber zu tragen. Der Ausdruck dieser
Zweideutigkeit des Heroischen ist gegeben in der tragischen Kunst,
die nun im engeren Sinn tragisch genannt wird. Und die tragische
317
Kunst hat die Bedeutsamkeit, dass in ihr die Zweideutigkeit von
Moral, Kultur und Religion zum Ausdruck gebracht sind. In gewisser
Weise ist die heutige Kunst durchweg tragische Kunst, d. h. sie zeigt
die Größe, den heroischen Mut derer, die diese Kunst schaffen und
verstehen, das Negative und Tragische auf sich zu nehmen und es
auszudrücken und zu bejahen. Aber auf der anderen Seite zeigt sie
die ständige Grenzlinie zur Selbstzerstörung, zur Verzweiflung. Das
ist die erste Form, von der ich reden wollte, die erste Polarität, die
dritte im Zusammenhang der Vorlesungen.
Und ich komme nun zu der vierten, nämlich die Heiligkeit und
der dämonische Charakter von Leben. Wenn im Leben der Grund
des Seins sich selbst verwirklicht in Existenz und Endlichkeit, dann
ist es immer heilig und dämonisch zur selben Zeit. Jeder Lebenspro-
zess hat in sich selber Heiligkeit, und zwar hat er Heiligkeit, weil er
transparent ist, weil durch jeden Lebensprozess das göttliche Leben,
der göttliche Grund des Lebens durchscheint. Vielleicht ist nichts in
der Welt, was die Kunst mehr rechtfertigt, als in Formen dieses durch-
scheinen zu lassen, die Heiligkeit des Lebens zu offenbaren. Darum
ist die größte Kunst die transparente Kunst. Ich brauche das Wort
„transparent“ in einem Sinn, der vielleicht erläutert werden muss.
Ich denke zum Beispiel an die byzantinische Kunst, an die Mosaiken,
wo das Transparente so radikal ist, dass durch jede Farbe und jede
Form etwas hindurchscheint, was nicht an und für sich dieser Farbe
und dieser Form angehört, und doch sind sie so geordnet und so
zueinander gestellt und benutzen ein solches Material und solchen
Ausdruck der lebendigen Wesen und der Natur, dass, wenn man
darauf sieht, man ohne weiteres [hin]durchsieht. Sie müssen natür-
lich das Wort „transparent“ metaphorisch verstehen im geistigen
Sinn des Durchscheinenlassens. Aber es ist nicht nur diese Art von
Kunst, die vielleicht das Extrem darstellt und für mich immer als
die höchste Form abendländischer Kunst empfunden worden ist. Ich
hatte das große Glück, in London jetzt die so von mir so geliebten
ravennatischen Mosaiken in einer exakten Wiederzusammenstellung
der Mosaiksteine mit denselben Farben und Formen zu sehen und
besser, als man es in Ravenna kann, im einzelnen diese Transparenz
auch von Dingen, die nicht so bekannt, nicht religiös sind, von
Einzelheiten der Natur, der Gesichter zu sehen und da zu erleben
ein Zeitalter, das byzantinische, das wie die meisten europäischen
Epochen etwa 500 Jahre lang gedauert hat (400-900 n. Chr.), wo
die Transparenz des Geistigen durch die Natur das Entscheidende
318
war und darum die Heiligkeit des Lebens in einer Weise zur Ver-
wirklichung kam, wie ich es in keiner anderen Kunst im Abendland
gefunden habe.1 Und trotzdem ist es nicht die einzige. Auch in den
frühgotischen Miniaturen und frühitalienischen Bildern finden Sie
die Transparenz und damit die Heiligkeit jeden Vorganges, jeden
Kleides, jeden Baumes, jeden Grases in vollkommener Weise zum
Ausdruck gebracht. Das geht durch alle Kunst. Aber das ist nur
die eine Seite. Die Heiligkeit eines Lebensprozesses besteht darin,
dass es transparent ist für den göttlichen Grund, zugleich aber ist
jeder Lebensprozess dämonisch verzerrt, sofern er die Heiligkeit des
Grundes mit seiner eigenen Heiligkeit vermischt, sofern er dasjeni-
ge, was transparent sein soll, untransparent macht und sich selbst
verabsolutiert. Und das ist wieder etwas, was nicht in besonderen
Fällen vorliegt oder ein spezieller moralischer Akt ist, sondern das
ist etwas, das zum Lebensprozess selbst gehört.
Nun lassen Sie mich wieder auf diese beiden Begriffe eingehen.
Zunächst die Heiligkeit des Lebensprozesses. Sie ist sichtbar in der
ontologischen Seinsmächtigkeit eines Dinges, d. h. eines Lebenspro-
zesses, der sein Teilhaben an der Güte und an der Wahrheit zeigt.
Das ist das erste. Ich komme wieder auf das zurück, was Goethe
sagte, wie „seiend ein Ding ist“, aber jetzt nicht mehr von der Macht,
sondern von der Form her gesehen. Es nimmt teil am Logos, an der
universalen Form des Gut-Seins und des Wahr-Seins, und sofern
ein Lebensprozess das tut, untermenschlich oder menschlich, hat
er Heiligkeit.
Ein zweites Charakteristikum ist seine Ausdruckskraft, und diese
Ausdruckskraft ist identisch mit seiner Schönheit. Das ist sehr wichtig
für das Verständnis von Kunst. Ich denke auch hier an diejenigen
unter uns, die Theologen sind, wenn sie einmal verantwortlich in einer
Kirche oder anderswo sind für religiöse Kunst. Der Maßstab ist nicht
eine von außen her über die Realität gestülpte Schönheit. Und dieser
Satz enthält eine sehr radikale Kritik des meisten von dem, was heute
als religiöse Kunst angesehen ist, was ein verzerrtes Renaissance-
Ideal ist. Aber was die Schönheit eines Lebensprozesses ausmacht,
ist nicht eine von außen her gegebene Formvollendung, sondern ist
1
Im Mai 1952 hatte Tillich an der Universität Nottingham die „Firth Lectures“
über „Love, Power, and Justice“ gehalten. Im Schloss Windsor hielt er einen
Vortrag über „Man in Late Industrial Society“. Im Anschluss daran besuchte
er die von ihm genannte Ausstellung im British Museum.
319
Ausdruckskraft. Und darum kann man sagen: Die Heiligkeit eines
Lebensprozesses ist gegenwärtig in seiner Kraft, das auszudrücken,
was es von dem schöpferischen Grund seines Seins auszudrücken
bestimmt ist. Ein Porträt ist nicht gut, wenn es verschönt oder ver-
hässlicht, das ist gleichgültig, sondern wenn es ausdrückt, ob das
nun klassizistisch schön oder hässlich ist, was das innerste Wesen
des Seins ist. Kunst drückt aus, das ist ihre erste Form. Und dasselbe
gilt von allen Künsten. Kunst verschönt nicht, und darum hat man
die Bedeutsamkeit der Kunst für das Verständnis der Heiligkeit des
Lebens so viel missverstanden. Man hat sie als Zierde des Lebens,
als Moment des Ausruhens oder dergleichen hingestellt und hatte
die Religion damit in die Ecke gestellt, damit die technische Kultur
durch solche Dinge wie Religion und Kunst unbelästigt bleibt. Man
hat der Kunst einen Platz gegeben als auch noch etwas, das schön
ist. Man hat nicht begriffen, dass in der wirklichen Geschichte der
Kunst die Kunst überhaupt nicht Kunst war, sondern Ausdruck war
an den Realitäten des Lebens, mit denen man umging. Ich glaube,
der schlimmste Sünder in Bezug auf Kunst ist heutzutage die Kirche,
und zwar nicht die offizielle, sondern diejenigen, die verantwortlich
sind für Kirchenblättlein und ihre Gedichte und ihre zeichnerische
Form – und warum ist das so? Weil hier die Heiligkeit als solche
herausgebracht werden soll, weil das der Sinn der Kirche im Unter-
schied zum säkularen Leben ist, dass hier das Heilige, das in allem
Säkularen gegenwärtig ist, besonderen Ausdruck finden soll, und um
das zu tun, macht man einen Ausdruck, der von außen her schön
zu sein vorgibt und in Wirklichkeit nur die Flachheit ausdrückt,
in die das religiöse Leben versunken ist, aber nicht die Tiefe, von
der es zeugen soll. Das sind alles Dinge, die mit einer Analyse der
Lebensprozesse zusammenhängen.
Ein drittes Element, das die Heiligkeit des Lebens angeht, ist
die Unverletzlichkeit des Lebens oder die Würde jedes Lebendigen.
Das ist eines der Dinge, die fast hundertprozentig im Widerspruch
stehen zu dem, was das 20. Jahrhundert als Grundtendenz gezeigt
hat, nämlich die Entwürdigung des Menschen, die Zerstörung sei-
ner Heiligkeit und seiner Unverletzlichkeit. Das hat angefangen
dadurch, dass durch die technische Kultur die Natur diejenige Seite
verloren hat, die Unverletzlichkeit zum Ausdruck bringt, [die aber
verletzt wurde]1 in jedem Augenblick als Mittel zum Zweck. Nun
1
Korr. (Typ. GS: und (sie) verletzte)
320
ist das Verhältnis vom Menschen zur Natur, wie das Paradieswort
andeutet,1 das der Herrschaft, aber nicht das einer Herrschaft, die
die Eigenmächtigkeit der Dinge fundamental zerstört, sondern einer
Herrschaft, die die Eigenmächtigkeit kultiviert. Man pflanzt den
Garten Eden in der Paradiesgeschichte, d. h. man benutzt die Dinge
nicht nur als Dinge. Ich spreche über diesen Punkt vielleicht schärfer,
als es im immer noch etwas romantischen Deutschland nötig ist,
weil es in dem gänzlich unromantischen Amerika eine Haltung zur
Natur gibt, in der die Natur bis zu einem Grad verdinglicht ist, dass
sie aufgehört hat, ein Eigensein zu zeigen, dass die Unverletzlichkeit
der Natur aufgehoben ist und dann natürlich die Frage entsteht:
Kann die Unverletzlichkeit des Menschen, kann die Heiligkeit des
menschlichen Lebens aufrecht erhalten werden? Sie kann es nicht.
Wenn an einem Punkt die Heiligkeit des Seins nicht mehr gesehen
werden kann, geht sie langsam an allen Punkten verloren. In dieser
Heiligkeit des Lebens oder: von Leben, um es logisch schärfer zu
machen, sind alle Werte des Lebens gegründet. Die gesamte Wert-
philosophie kann verstanden werden im Lichte der Heiligkeit von
Leben. Und nun werden diese Lebensprozesse dämonisiert und zwar
dadurch, dass der einzelne Lebensprozess sich im Namen seiner
Heiligkeit erhebt zur Universalität und die anderen Lebensprozesse
verneint. Dass, sagen wir, eine Nation die Heiligkeit ihres eigenen
Seins anerkennt und sie in Mythen und Riten, wie es immer ge-
schehen ist, ausdrückt, ist begründet; dass sie aber diese Heiligkeit
identifiziert mit Heiligkeit überhaupt und damit notwendig die Ehre
und Würde alles anderen Lebens bedroht und vielleicht zerstört, ist
der Ausdruck des Dämonischen. Ein Fragment wird vergöttlicht.
Das ist das Wesen des Dämonischen, und das führt notwendig zu
der dämonischen Selbstzerstörung.
Darum hat unsere Zeit in der absoluten Glorifizierung einer Ras-
se und einer Nation ein Beispiel des Dämonischen erlebt, an dem
der Begriff des Dämonischen in all seinen Charakteristika deutlich
gemacht werden kann: Zerspaltung, die das Dämonische einschließt
wegen des Widerspruchs des endlichen Seins und des unendlichen
Anspruchs, der Zerstörungskräfte gegen alles andere, der Fanatismus,
weil, um das Andere zu zerstören, man Elemente des Anderen in sich
selber unterdrücken muss, die Entwürdigung des fremden Lebens,
die schließlich zur Entwürdigung des Lebens in der Gruppe selbst
1
1 Mose 2, 15.
321
führt, der Terror, dessen Sinn es ist, die Heiligkeit des menschlichen
Lebensprozesses, seine Unverletzlichkeit und seine Würde anzutas-
ten – all das ist sichtbar in diesen Ereignissen, die darum das große
Beispiel sind für die Zweideutigkeit zwischen dem Göttlichen und
dem Dämonischen in allen Lebensprozessen.
Die Heiligkeit und die Dämonisierung aller Lebensprozesse sind
in der Weise miteinander verbunden, dass kein spezielles Element
im Lebensprozess das unzweideutig allein Heilige und unzweideutig
allein Dämonische ist. Und daraus ergibt sich die Zweideutigkeit des
Heiligen, die analog ist der Zweideutigkeit der Größe, der Zweideu-
tigkeit des Schöpferischen und der Zweideutigkeit der Ganzheit. In
allen vier Formen haben wir die Zweideutigkeit gefunden. Und was
bedeutet die Zweideutigkeit des Heiligen? Sie bedeutet, dass auch
dasjenige, was das Heilige repräsentieren soll, die heilige Sphäre, die
Kirche, die organisierte Religion, der Moment des Religiösen in un-
serem eigenen Leben, im individuellen und persönlichen, dass sie alle
an der Zweideutigkeit des Lebensprozesses teilhaben, dass es nicht
so ist, dass die Religion oder die Kirche oder die Frommen weniger
zweideutig sind in Bezug auf das Göttliche und das Dämonische als
die säkularisierte Welt. Und das ist die Größe der protestantischen
Kritik an allen den Formen des Katholischen, die die Zweideutigkeit
des Lebensprozesses nicht mehr kennen.
Ich möchte dies deutlich machen wieder an einem Begriff, der die
höchste Form, die Einheit des Heiligen und Dämonischen, zum Aus-
druck bringt, nämlich Heiligkeit im Sinne einer persönlichen Haltung,
die Heiligen, wie sie im Mittelalter vorkommen, wie sie von der Alten
Kirche gesehen sind und wie sie heute neu geschaffen werden in der
römischen Kirche und wie sie vom Protestantismus abgeschafft sind.
Was ist der Sinn von Heiligkeit in diesem Zusammenhang? Es ist der
Versuch, ein Leben zu realisieren – nicht, das moralisch besonders
gut ist, das ist eine mögliche Konsequenz – , sondern ein Leben, das
so transparent für das Göttliche ist, dass die Zweideutigkeit des
Heiligen überwunden ist. Aber die Heiligen sind die, in denen die
dämonischen Strukturen am sichtbarsten sind. Wer mittelalterliche
Malerei kennt, der braucht keine Beweise dafür. Die Heiligen haben
in ihrer seelischen Struktur die dämonischen Bilder als etwas, was
ihre Funktion, mehr transparent zu sein als andere, in einer viel
radikaleren Weise bedroht, als es bei anderen der Fall ist.
Aus dieser Zweideutigkeit des Heiligen ergibt sich eine der größten
Kräfte in der Geschichte der Religion, der ständige Kampf zwischen
322
dem Priesterlichen und dem Prophetischen. Und daraus ergibt sich,
dass nun in der Weltgeschichte etwas geschehen ist, was wesenhaft
nicht geschehen sollte, nämlich die Zerspaltung der geistigen Realität
in Religion, Kultur und Moralität. Über diese drei Begriffe und ihre
Teilnahme an der Zweideutigkeit, das heißt der Zweideutigkeit des
Lebens auf dem geistigen Niveau, in der geistigen Sphäre will ich in
der nächsten Stunde sprechen.
323
16. Vorlesung
(Sonnabend, 26. Juli 1952)
1
Korr. (Typ. GS: darauf eingehen)
2
Korr. (Typ. GS: insofern er geistiges Leben hat)
324
die Sphäre der geistigen Inhalte, sowohl der theoretischen wie der
praktischen, und ist geschaffen auf dem Boden der Sprache durch
die gegenseitige Abhängigkeit von Individuum und Gruppe. Religion
ist die Sphäre, in der der jenseitige Grund des geistigen Lebens sich
durch besondere Formen der Moral und Kultur ausdrückt. Diese
drei Elemente des geistigen Lebens gehören essentiell zusammen.
Aber im aktuellen Lebensprozess sind sie immer zugleich bedroht
und teilweise zerrissen in der Realität existentieller Entfremdung.
Und wenn das geschieht, dann verlieren sie sich selbst.
Die erste Formulierung, die wir hier geben müssen, ist die, dass
Moralität, Kultur und Religion auseinanderfallen. Die Entfremdung
des Menschen von seinem essentiellen Sein drückt sich in diesem
Auseinanderfallen der drei Elemente, der drei Inhalte des geistigen
Lebens aus. Die Moralität, d. h. die Sphäre der persönlichen Ent-
scheidungen, erhält ihren unbedingten Charakter und ihren letzten
Sinn von der religiösen Sphäre. Die Moralität erhält ihre bedingten
Inhalte, ihre Impulse, ihre Motive und ihre vorläufigen relativen Ziele
von der Kultur. Ohne eine religiöse Fundierung und ohne kulturelle
Struktur ist Moralität, als was sie bei Kant erscheint, nämlich die leere
Selbstbejahung der Persönlichkeit als Persönlichkeit. In dieser Weise
ist Moralität, das Ethische, in jedem Moment begründet im Religiösen
und inhaltlich bestimmt durch das Kulturelle. Darum wechseln die
Inhalte der Moral mit der Kultur, darum hat die Form des Moralischen
teil an der unbedingten Gültigkeit, die das Religiöse ausdrückt.
Kultur, d. h. die Sphäre der geistigen Inhalte, erhält ihre unendliche
Bedeutsamkeit und ihren ewigen Wert von der Religion. Religion
ist die Substanz in aller Kultur, ganz gleich, ob jemand atheistisch
oder theistisch-religiös ist. Kultur empfängt ihren verpflichtenden
Charakter von der Ethik. Ohne die Tiefendimension des Religiösen
und ohne die sittliche Hingabe wird Kultur eine Summe ehrenwerter
geistiger Objekte, ein Gegenstand von Betrachtung, von Lebens-
schmuck oder von technischer Benutzung, d. h. Kultur verliert ihre
Tiefe und ihren Ernst.
Und drittens Religion, d. h. die Sphäre der geistigen Selbsttran-
szendenz, des Über-sich-Hinausgehens des Geistigen, erhält ihren
personhaften und damit zentralisierten Charakter von der Moralität,
sie erhält die Formen ihres Selbstausdrucks von der Kultur. Alle reli-
giöse Sprache, alle religiösen Ausdrucksformen sind geschaffen von
der Kultur. Ohne den Ernst persönlicher Realität wird Religion ein
heiliger Mechanismus oder eine gefühlsmäßige Berauschung, ohne
325
kulturellen Ausdruck wird Religion ein unerreichbares Mysterium,
das alle spirituelle Tätigkeit zerbricht. Damit habe ich eine Wesens-
analyse gegeben in kurzen Worten. Eine ganze Religionsphilosophie
steckt dahinter.
Diese Wesensanalyse sagt, dass die drei Formen des Geistigen,
eben das Ethische – die zentrierte Persönlichkeit – , das Kulturel-
le – die schöpferischen Inhalte – und das Religiöse – die Selbsttrans-
zendenz – in jedem Augenblick zusammengehören und dass, wenn
eins vom anderen getrennt wird, auch das andere leer wird oder
zerbricht oder unernst wird. Und nun befinden wir uns innerhalb der
Existenz, und wenn mich jemand fragen würde: Was ist in diesem
Sinn der Philosophie des Geistes der erste Ausdruck menschlicher
Selbstentfremdung?, so würde ich sagen: Es ist die Tatsache, dass
es eine Religion gibt oder dass es eine Sittlichkeit gibt oder dass es
eine Kultur gibt, nämlich als etwas Getrenntes gibt, dass es nicht ein
einheitliches geistiges Leben ist, in dem diese drei Qualitäten mitein-
ander verbunden sind. Der Entfremdungszustand der menschlichen
Existenz ist das Von-einander-Getrenntsein der Elemente, die ich als
zusammengehörig beschrieben habe. Und nun aus dieser Vorausset-
zung ergibt sich das, was man die Zweideutigkeit aller Seiten des
geistigen Lebens in Analogie zu den Zweideutigkeiten des Lebens
überhaupt nennen könnte.
Lassen Sie mich nun die menschliche Situation beschreiben von
diesen Seiten her. Zuerst die Zweideutigkeit des Sittlichen. Das Sitt-
liche nimmt teil an den Zweideutigkeiten der menschlichen Existenz
nicht im Sinn des Gegensatzes von sittlich oder unsittlich, moralisch
oder unmoralisch, gut oder böse – in der Sphäre sind wir im Augen-
blick nicht, sondern in der Sphäre der Zweideutigkeit des Morali-
schen, das heißt, des positiv Moralischen, des Guten, und erst da
kommen wir in die Tiefe der menschlichen Existenz, wenn wir die
Zweideutigkeit des Moralischen genauso sehen wie die Zweideutig-
keiten des Lebens überhaupt. Zunächst muss man sagen, dass das
Moralische als die Sphäre geistiger Entscheidungen schöpferisch ist.
Das Schöpferische war ja die eine Seite des Lebens, die wir in der
Analyse der Zweideutigkeit gefunden hatten. Als die Selbstbestim-
mung und Selbstkontrolle, die die geistige Persönlichkeit über sich
selbst ausübt, bewahrt Moralität die Ganzheit des geistigen Lebens;
als Ausdruck der persönlichen Würde, die mit dem Ethos eins ist,
zeugt Moralität für die Größe des geistigen Lebens, und als Mittel
und Organ, das die unbedingte Forderung des Seinsgrundes erfährt,
326
deutet Moralität auf die Heiligkeit des geistigen Lebens hin. Wir
haben in der Moralität alle vier Formen des Positiven des Lebens, das
Schöpferische, das Totale, die Größe und die Heiligkeit des Lebens.
Sie finden sich im geistigen Leben wie im Leben überhaupt.
Aber nun die andere Seite. Moralität ist zugleich zerstörerisch.
Moralität als die Sphäre des Gesetzes ist zerstörerisch – des Gesetzes
nicht als ein System von Strukturen, die das Wesen des Einzelnen und
der Gesellschaft ausdrücken, sondern des Gesetzes als die Forderung,
die gegenübersteht, gegen die wir rebellieren und die unser Leben
dadurch zerstört. Es ist das Gesetz, von dem Paulus und Luther so
viel gesprochen haben. Sie sagen: Das Gesetz ist gut, d. h. es drückt
die essentielle Struktur des Seins aus, und zugleich sagen sie, dass das
Gesetz mit Tod, Teufel und Sünde in eine Linie gehört. Und das ist,
was in der Botschaft des Christentums überwunden ist. Die christ-
liche Theologie ist niemals moralistisch gewesen, das Christentum
ist immer in Moralismus entartet, und darum haben die Theologen
ständig gegen diese Entartung zu kämpfen, und die größten Kämpfer
gegen diese Entartung waren Paulus und Luther. Moralität als die
Sphäre des Gesetzes ist zerstörerisch. Sie schließt aus viele mögliche
Wege der Selbstbestimmung um einer Entscheidung willen. Moralität
schafft fragmentarische Entscheidung, die niemals die Ganzheit der
Situation in Betracht zieht, weil der Mensch immer von der Ganzheit
ausgeschlossen ist, aber eine echte Entscheidung nur möglich wäre,
wenn man in der Ganzheit stünde. Moralität wird tragisch und dä-
monisch, wenn sie sich selbst erhebt und eine Selbstbestätigung des
sittlichen Selbst einschließt in der Unbedingtheit, die dem Charakter
der Moralität zukommt – der Typus des Pharisäers, in Amerika oft
auch identifiziert mit dem Typus des Puritaners, in Deutschland und
Europa der Typus des Moralisten. D. h. wir haben in der Sphäre der
Moralität alle Charakteristika positiver Art, die das Leben überhaupt
ausmachen, und wir haben gleichzeitig alle Charakteristika negativer
Art, die das Leben überhaupt ausmachen. Und vielleicht gibt es keine
Sphäre, in der diese Situation so gefährlich ist wie in der morali-
schen. Der moralistische, der gesetzliche Mensch ist derjenige, der
die Zweideutigkeit des moralischen Menschen nicht ertragen kann
und sich in die Moral flüchtet, um der Zweideutigkeit zu entgehen,
und nun in ihr einen sicheren Punkt hat, von dem aus er die anderen
und sich selbst beurteilt.
Der moralische Mensch ist etwas ganz anderes. Er ist was? Am
Ende der moralischen Zweideutigkeit steht die Frage nach einer trans-
327
moralischen Moralität, und das ist genau die Frage des Christentums
nach der Rechtfertigung durch den Glauben, einer transmoralischen
Moralität, d. h. eines persönlichen Zentriertseins in Einheit mit den
Wesensstrukturen, ein Annehmen und Erfüllen dieser Wesensstruk-
turen, aber nicht dieser Wesensstrukturen in Form der Forderung
von außen, in Form des Gesetzes, selbst wenn es im Namen Gottes
oder der Kirche oder der Gesellschaft oder der Konvention oder
irgendetwas anderem geschieht, sondern weil eine Realität da ist,
die es uns ermöglicht, moralisch zu sein in der Gebrochenheit und
Zweideutigkeit der moralischen Existenz. Und damit ist der Begriff
der Zweideutigkeit eingeführt in eine Sphäre, wo die Gefahr der
Schwarzweißmalerei, die Gefahr des Urteilens und zwar dann immer
des Urteilens der anderen mehr gegenwärtig ist als in irgendeiner
anderen. Es ist aber nicht immer das Urteilen der anderen, was das
Gefährliche ist, zum Teil ist es auch die Selbstverurteilung, die ori-
entiert ist an dem Gesetz und die zu der Unmöglichkeit führt, sich
selbst anzunehmen. Man kann sich selbst nur annehmen auf Grund
einer Moralität, die transmoralisch ist.
Eine zweite Betrachtung ist die der Kultur. Die Kultur gibt die
Inhalte des geistigen Lebens und als solche das zweite Element alles
geistigen Lebens. Auch Kultur zeigt daher unausweichliche Spannun-
gen zwischen dem Schöpferischen und dem Zerstörerischen. Alle kul-
turellen Aktivitäten, alle Systeme von Kultur, in denen wir leben, und
wir leben immer in mehr oder weniger offenen und veränderlichen
Systemen von Kultur, sie alle sind in jedem Augenblick bewegt und
getrieben durch die Spannungen zu den Grundstrukturen des Seins,
zwischen Freiheit und Form, zwischen Revolution und Konservation,
zwischen Macht und Vernunft, zwischen Individualität und Kollekti-
vität. Sobald eine der beiden Seiten überwiegt, wird nicht nur die eine
Seite zerstört, denn in diesem Augenblick reagiert die andere Seite
gegen die erste Seite, sondern es wird auch die erste Seite zerstört,
weil diese Dinge polar sind. Das kulturelle System ist in ständiger
Todesgefahr wegen der Zweideutigkeiten, durch die das kulturelle
System die Polaritäten des Seins verwirklicht. Aber die Tragödie der
Kultur ist verursacht durch den1 Versuch der Kultur, sich loszulösen
von ihrem religiösen Grund, d. h. von der Tiefendimension – nicht
die Loslösung von einer Kirche oder einem bestimmten Glauben ist
entscheidend, das kann die Form sein, in der man sich überhaupt
1
Korr. (Typ. GS: bei dem)
328
loslösen will oder in der man zurückkehren will zu dem eigentlichen
Grund – , aber wenn eine Kultur aufhört, Ausdruck dessen zu sein,
was uns unbedingt angeht, in diesem Moment ist sie den Spannun-
gen preisgegeben und bricht mit dieser Preisgabe zusammen. Wir
können das in allen Angelegenheiten durchführen. Wir sehen eine
kulturelle Schöpfung, denken Sie an die Wissenschaft, an die Kunst,
an den Staat. Diese kulturellen Schöpfungen folgen ihren autono-
men Strukturen, der Logik, der Ästhetik, der Ethik, der Politik. Sie
müssen diesen Strukturen folgen, denn durch diese Strukturen ist ja
die Kultur, was sie ist. In ihnen und durch sie wird sie schöpferisch.
Aber in dem Augenblick, in dem sie das tut, verneint sie zugleich
in einer unentrinnbaren Zweideutigkeit den Grund des Letztange-
henden, des Unbedingten, Sinnvollen1 und schließt sich davon ab.
Und nun entsteht in aller Kultur die Frage: Inwieweit ist es möglich,
dass eine Kultur autonom bleibt, d. h. sich kirchlichen Geboten nicht
unterwirft und doch die religiöse Dimension aufweist? Wir sind hier
in der Mitte des Problems der Säkularisierung der Kultur. Das ist
aber nicht ein Problem, über das man klagen soll und sagen: Wir
Arme in einer säkularisierten Kultur, und in früheren Zeiten gab es
so etwas nicht, was sollen wir machen? Diese ständigen Zeitanalysen,
die alle richtig sind, aber nichts helfen, wenn man nicht sieht, dass
dies eine Wirkung der inneren Zweideutigkeit der Kultur ist, nämlich
die Unentrinnbarkeit der Spannung zwischen den autonomen Formen
jedes kulturellen Systems und der Tiefendimension dessen, was uns
unbedingt angeht. Selbst die scheinbar religiöseste Kultur hat schon
diese Spannungen. Es ist unmöglich, ihnen zu entgehen. Und wenn
wir nichts hätten als eine Theologie statt einer Wissenschaft, wie es
ja zum Teil in den archaischen Perioden der Fall war, in Ägypten
und Griechenland und Indien, ist diese Theologie schon wieder ein
Ausdruck des Logos und seiner autonomen Gesetze, und die Span-
nung der Kultur ist dann eine Spannung innerhalb der Theologie,
und diese Spannung kann nicht überwunden werden.
Und aus diesem Grunde stellen wir eine zweite Frage, nämlich
die Frage: Gibt es etwas wie eine Kultur jenseits der Kultur? Und das
habe ich versucht auszudrücken mit dem Begriff der Theonomie, das
heißt, eine Ausdrucksform schöpferischer Art im Theoretischen wie
im Praktischen, im Ästhetischen wie im Sozialen, die jenseits der Span-
1
Korr. (Typ. GS: des unbedingten Sinnvollen)
329
nungen der Kultur steht oder imstande ist, diese Kulturspannungen in
sich aufzunehmen, ohne an ihnen zu zerbrechen. Gibt es einen Punkt,
wo, um es einmal trinitarisch auszudrücken – das Trinitarische ist ein
Reservoir aller großen Symbole, in denen Lebensprozesse beschrieben
werden können, ganz gleich wie man zum Dogma der Trinität steht – ,
man kann sagen: Ist es möglich, in der Wirklichkeit einen Punkt zu
finden, wo der unerschöpfliche Grund des Göttlichen und die schöp-
ferische Form des Göttlichen geeint sind? Denn das ist schließlich die
Frage nach der theonomen Kultur und dem Sinn der Kultur.
Wenn man von dem Reich Gottes spricht, bedeutet das nicht ein
individuelles Verhältnis Einzelner zu dem Göttlichen, sondern es ist
ein Symbol für die universale Teilnahme aller Formen des Seins an
einer Einheit, die bestimmt ist durch den Grund des Seins. Das ist
der Sinn des Symbols des Reiches Gottes. Und diese Frage erhebt
sich in jedem Moment bei jeder kulturellen Schöpfung. Wenn wir
Wissenschaft betreiben und die Frage stellen – die Wissenschaft, die
uns scheinbar in ihren autonomen Methoden und Formen, die wir
um der einfachen Ehrlichkeit willen anerkennen müssen, kann diese
Wissenschaft zugleich geeint sein und Ausdruck sein des Grundes
desjenigen Seins, von dem sie spricht? Oder ist hier notwendig eine
Kluft, die unüberwindlich ist? Wenn sie unüberwindlich wäre, hätten
die Theologen Recht, die die Kultur für ein Spiel des Menschen mit sich
selber halten und sie sozusagen immer im Abgrund der Gleichgültig-
keit versenken wollen – sie sind aber in der unglücklichen Lage, dass
sie sprechen müssen, wenn sie das tun, und dann gebrauchen sie die
Gesamtheit der kulturellen Schöpfung. Wir sind unmittelbar gebunden
an kulturelle Produktion, und mit einfachem Abschneiden ist nichts
getan. Und andererseits, diejenigen, die Kultur in autonomen Formen
bejahen, aber ihren unbedingten sittlichen Ernst und Tiefendimension
nicht mehr sehen, verwandeln die Kultur letztlich auch in ein Spiel
oder in etwas, was utilitaristischen Motiven unterworfen bleibt, und
zerstören damit die Würde der Kultur, die Motive, aus denen Kultur
immer wieder hervorgegangen ist, nämlich letzte Wirklichkeit durch
vorletzte hindurch zu finden. Sie bleiben bei der vorletzten und ver-
lieren die letzte und sehr bald auch die vorletzte.1
Und nun komme ich zu dem Dritten und in gewisser Weise Pa-
radoxesten dieser Betrachtungsweise, nämlich der Religion. Religion
1
Vgl. D. Bonhoeffers Unterscheidung zwischen den „letzten“ und „vorletzten
Dingen“.
330
ist der Ausdruck dafür, dass das geistige Leben auf den1 Grund des
Seins bezogen ist, und zwar in jedem Moment. Eben darum aber
nimmt Religion teil an den Zweideutigkeiten des Lebens. Sie muss
sich ja ausdrücken in Ethos, d. h. persönlicher Entscheidung, und in
Kultur, d. h. in Formen, und wären es auch nur Formen der Sprache.
Zur selben Zeit entwertet Religion die moralischen und kulturellen
Ausdrucksformen und stellt die Frage nach etwas, was jenseits aller
Sphären des geistigen Lebens liegt. Religion hat alle vier Charakte-
ristika positiver Art. Sie hat Heiligkeit, sie hat Größe, sie eint und
sie schafft und als solche ist sie unmittelbarer Ausdruck des unend-
lichen Grundes alles geistigen Lebens. Und zugleich hat Religion
dämonische, tragische, zerreißende und zerstörerische Elemente in
sich, weil sie ja immer auch der Ausdruck der Formen existentieller
Endlichkeit ist. Ich möchte Sie bitten, diese Sätze mitzunehmen von
einem Theologen: Das religiöse Leben ist der höchste Ruhm und die
größte Schande des Menschen. Wenn wir durch die Geschichte der
Menschheit blicken, dann werden wir dies bestätigt finden. Es gibt
nichts, was für den Menschen mehr ein Gegenstand der Scham zu
sein hätte, als die Geschichte dessen, was sein höchster Ruhm ist,
nämlich die Beziehung zum Grund des Seins.
Nun, ich will nicht tiefer in diese Dinge gehen. Es gibt viele Ty-
pen von Religion, und in jedem dieser Typen findet sich die Gefahr
in besonderer Weise. Es ist vielleicht möglich, die Situation der
Zweideutigkeit der Religion dadurch zu zeigen, dass wir an diese
vier typischen Formen denken und sehen, wie in ihnen beides da ist:
nämlich die Größe und die Tragik des Religiösen. Im ersten Typ der
Religion wird eine endliche Wirklichkeit über alle anderen erhoben
und wird dann zum ausschließlichen Träger des unendlichen Sinnes
gemacht; wir nennen das die sakramentale Religion. Im zweiten
Typ der Religion wird das Endliche geopfert, damit das Unendlich
da sein kann, wir nennen das den mystischen Typ der Religion. Im
dritten Typ wird das Endliche dem Unendlichen unterworfen, wir
nennen das den gesetzlichen Typ der Religion. Und nun gibt es einen
vierten Typ, der eigentlich kein vierter Typ ist, sondern die säkulare
Form dieser verschiedenen Typen: die eine, die man als die Schau des
Unendlichen im Endlichen als gegenwärtig sehen kann, die mystisch-
sakramentale Form, und die andere, in der die Forderung des Heiligen
in der säkularen Wirklichkeit gesehen wird, die moralisch-utopische
1
Korr. (Typ. GS: zum)
331
Form. Sie sind säkularisierte Varianten der drei Grundtypen. Und in
jedem dieser Typen finden wir den Gegensatz des Schöpferischen und
des Zerstörerischen, des Göttlichen und des Dämonischen.
Zunächst einmal der sakramentale Typ. Im sakramentalen Typ,
d. h. in der Weihe von etwas, was hier und da ist, was gegeben ist,
was man sehen kann, was institutionell festgelegt ist, im sakramen-
talen Typ kann man von schöpferischer Religion reden, sofern das
Göttliche dadurch unmittelbare Gegenwärtigkeit erhält. In einer
endlichen Wirklichkeit ist das Heilige gegenwärtig. Das ist der Sinn
des Sakramentalen, und ohne solche Gegenwärtigkeit des Heiligen
gibt es keine Religion. Und darum ist das Sakramentale nicht etwas
Spezielles, hat sehr wenig zu tun mit den so genannten Sakramenten,
sondern ist eine fundamentale Haltung gegenüber dem Göttlichen,
nämlich das Schauen des Göttlichen in konkreten Formen, Worten,
Einrichtungen, Symbolen. Das Zerstörerische des sakramentalen
Typus ist dies, dass der endliche Träger mit dem Unendlichen selbst
identifiziert wird. In dem Augenblick, in dem dies geschieht, wird
dieser endliche Träger zum Absoluten erhoben und steht nun in einem
Verhältnis gegenseitiger Zerstörung zu allen anderen Endlichkeiten.
Hier sind die Wurzeln des Absolutismus der sakramentalen Religion,
und dieser Absolutismus findet sich nicht nur in der Religion im
engeren Sinne, sondern auch in der Religion im weiteren Sinn, die
sich findet in den Quasi-Religionen politischer Art, die in ganz der
gleichen Weise die Gegenwärtigkeit des Unbedingten in bestimmten
Gedankengängen, Formen und Strukturen sehen. Auf diese Weise
ist die sakramentale Form der Religion, wie sie zum Beispiel im
Römisch-Katholischen in vollkommener Weise durchgeführt ist, zu-
gleich der Gegenstand aller derjenigen Kritik, die diesen Anspruch,
symbolisch ausgedrückt im Anspruch der Unfehlbarkeit des Papstes,
begreift als dämonisch. Hier ist der echteste Begriff des Dämonischen,
der ursprünglichste, nämlich, dass eine endliche Realität, in der das
Heilige als gegenwärtig, als ein für allemal gegeben, als absolut erlebt
wird, nun jeder Wirklichkeit gegenüber sich absolut setzt und sie sich
unterwerfen will. Darum ist es ein törichter Gedanke, man könnte
die römische Kirche in eine religiöse Verbindung mit irgendeiner
anderen Kirche und Gruppe bringen – damit würde sie sich auf-
geben. Denn sie ist ihrem innersten Wesen nach eine sakramentale
Kirche, obgleich sie Elemente von allen anderen in sich trägt. Und
als sakramentaler Typ könnte sie gar nicht anders, das wird schon
klar im ersten, zweiten Jahrhundert, als sie sich zu der Richtung zu
332
entwickeln begann, die im Jahre 1950 der Welt wieder einmal zum
Bewusstsein gebracht worden ist, nämlich die Absolutsetzung einer
endlichen Form, in der sich das Unendliche darbietet.1
Der zweite Typ ist der mystische. Der mystische Typ ist schöpfe-
risch, insofern er den Abgrundcharakter des Seinsgrundes zeigt, seine
Unerschöpflichkeit, die Unmöglichkeit, das Göttliche zu identifizieren
mit irgendeiner Realität. Der mystische Typ ist immer das Übersteigen
des Sakramentalen, er geht über das Sakramentale hinaus und ver-
neint die sakramentale Gegebenheit. Das ist seine Größe, und darum
sage ich gegen alle protestantische Antimystik: Nehmt das mystische
Element hinweg, und ihr macht Gott zu einem Ding neben anderen
Dingen und wärt damit die wahren Wegbahner des Atheismus. Denn
dieser Gott muss abgelehnt werden. Ein Gott, der nicht in sich den
unerschöpflichen Grund des Seins trägt, das, wovon die Mystik spricht,
wäre nicht Gott, sondern ein Tyrann, gegen den man revoltieren muss.
Und trotzdem ist der mystische Typ der Religion gleichfalls offen für
das Zerstörerische, Dämonische, und zwar dadurch, dass er dasjenige
auflöst, was im Göttlichen als Form und Vollendung der Form vorliegt,
nämlich das Personhafte. Dadurch, dass er das Personhafte zerstört,
und wir sehen das in den großen mystischen Kulturen des Ostens,
verneint er die Liebe und damit die Grundstruktur des Seins, nämlich
die Anerkennung des anderen, des Geschiedenen, des Unterschiedenen
als etwas, was unendliche Bedeutsamkeit hat. So sehen wir hier die
Zweideutigkeit der Mystik.
Und dann der dritte Typ, der gesetzliche Typ, auf den ich nur
insofern zurückgehen muss, weil ich ihn in dem Zusammenhang mit
der Moralität behandelt habe, nämlich der Typus, der das Endliche
transformieren will entsprechend der unendlichen Forderung. Das ist
seine Größe. Darum sind die gesetzlichen Typen des Religiösen, wie
Judentum und Calvinismus, die kraftvollsten, weil sie die Wirklich-
keit nicht nur anschauen, sondern auch transformieren; und noch
in ihrer säkularen Form als moralisch-utopisch wie im Marxismus
oder im Islam haben sie außerordentliche dynamische Kraft. Denn
der Mensch will vom Unbedingten her Forderungen empfangen. Aber
auf der anderen Seite ist der gesetzliche Typ zerstörerisch, indem er
das Unendliche aus der Möglichkeit, erreicht zu werden, heraushebt.
Die Forderung des Gottes, der nichts als Forderung ist, macht den
1
Gemeint ist das von Papst Pius XII. am 1. 11. 1950 verkündete Dogma von
der Aufnahme Marias nach vollendetem Lebenslauf mit Leib und Seele in die
himmlische Herrlichkeit (Assumptio; Denzinger 2331-33).
333
Gott unzugänglich und zerstört die Einheit des Grundes des Seins und
alles Seienden. Oder mit anderen Worten: Die Gnade, nämlich die
Gegenwärtigkeit1 des Heiligen, die im sakramentalen Typ vorhanden
ist, ist verloren, und ein unendlicher Zwiespalt zwischen Sein und
Sollen macht schließlich das Seiende leer.
Ich will nun nicht auf andere Typen eingehen, sondern ich will
sagen, dass auch hier die Forderung sich erhebt nach einer Religi-
on jenseits der Religion, d. h. nach einer Religion, die nicht mehr
Religion ist, die die Religion genauso richtet, wie sie Kultur und
Moralität richtet.
Und wenn wir diese drei Fragen zusammenfassen als den letzten
Ausdruck der menschlichen Situation, nämlich die Frage nach einer
Moralität jenseits des Moralischen, einer Kultur jenseits des Kultu-
rellen, einer Religion jenseits des Religiösen, haben wir die Zwei-
deutigkeit der menschlichen Situation in einem universalen Begriff
gefasst. Das ist die Zweideutigkeit.
Und dann haben wir noch etwas anderes: Wir haben dann die
Frage gestellt, auf die die Religion des Jenseits der Religion, auf die
die christliche Botschaft zu antworten versucht. Erst wenn man zu
diesem Punkt des Fragens gekommen ist, kann man verstehen, was
die christliche Botschaft bedeutet. Sie bedeutet nicht eine Antwort
auf Erlösungssehnsucht, auf Sittlichkeitssehnsucht, auf die Frage: Wie
kann man unsere westliche Kultur retten? – etwa dadurch, dass man
sie religiös unterbaut oder solchen Unfug – , sondern die christliche
Botschaft bedeutet die Antwort auf die Frage: Wie können wir in
der Zweideutigkeit eine Eindeutigkeit haben, die die Zweideutigkeit
in sich aufnimmt? Und das ist das, worauf die christliche Theologie
nun ihre positive Antwort gibt.
In diesen Vorlesungen haben wir nur die Frage entwickelt, die
Frage, die gemeinsam durch die Arbeit des Existentialismus und
der Theologie gestellt ist. Die Antwort auf diese Frage ist das, was
Theologie geben sollte. Theologie kann es aber nur geben, wenn sie
auf die Frage antwortet und nicht Antworten, nach denen niemand
gefragt hat, als Steine an die Köpfe der Menschen wirft, wie sie es so
oft tut. Das war einer der Hintergründe dieser ganzen Vorlesung: Die
Frage zu entwickeln, damit die religiöse Antwort wieder verstanden
werden kann, nachdem sie für die meisten unserer Zeitgenossen
unverständlich geworden ist.
1
Korr. (Typ. GS: Gerechtigkeit)
334
3.
Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse
(Freie Universität Berlin, Juni und Juli 1958)
1. Vorlesung
(Freitag, 6. Juni 1958)
Ich danke Dir1 für Deine Worte und in Sonderheit dafür, dass Du auf
das auch mir höchst eindrucksvolle Ereignis hingewiesen hast. Und
wenn ich an meine eigene Entwicklung denke, an die Art, wie Karl
Barths Römerbriefkommentar in den frühen zwanziger Jahren mich
aus meinem Schlummer aufgeweckt hat,2 der die Gefährdung in sich
hatte, Lebensprozesse mit Gottes Manifestationen gleichzusetzen, und
wie dann unsere Wege auseinander gingen, als er seine dogmatische
Formulierung entwickelte und ich meine Methode der Korrelation
zwischen Frage und Antwort – und es ist für mich ein Geschenk,
dass jetzt nach einem einheitlichen Ausgangspunkt und einer langen
divergenten Entwicklung nun eine konvergierende Entwicklung ein-
getreten ist. Und ich glaube, das bedeutet, dass die theologische Arbeit
nicht einfach zu widersprüchlichen Resultaten führen muss, sondern
dass auch die wenn auch nicht häufige Möglichkeit besteht, dass bei
ernsthaftem Suchen und bei radikaler Selbstkritik auch gegnerische
Standpunkte eine Einheit in einem höheren finden.
Es ist ein Thema, das, wie Sie unmittelbar fühlen, eine unendliche
Breite haben kann und das deswegen eine energische Begrenzung
fordert, damit es durchführbar sein kann, und ich möchte in den
1
An den Religionswissenschaftler Prof. Dr. Walther Braune gewandt, der Tillich
zum Vorlesungszyklus eingeladen und in seiner Begrüßung auf Karl Barths
Vortrag „Die Menschlichkeit Gottes“ (veröffentlicht als Heft 48 der „Theo-
logischen Studien“, Zollikon-Zürich 1956) hingewiesen und diese Schrift als
ein „eindrucksvolles theologisches Ereignis“ gewürdigt hatte.
2
Vgl. auch Tillichs Bsprechung von Karl Barths „Römerbrief“ in: Vossische
Zeitung Nr. 513, 1922, S. 1.
335
drei Abenden mich beschränken auf diejenige Einheit, die zunächst
gegeben ist mit dem Begriff des Lebens selbst, und dann hinfüh-
ren zu den Spannungen, die notwendig aus den Lebensprozessen
kommen – ich nenne diese Spannungen die Zweideutigkeiten des
Lebens – , um schließlich die Frage zu formulieren, die ich selbst in
dieser Vorlesung nicht beantworten kann, nämlich die Frage: Wo
ist eine Einheit jenseits der Einheit und der Zerspaltung der Lebens-
prozesse? Die Antwort liegt in etwas, das jenseits des Lebens steht,
wie wir es erfahren. In der religiösen Sprache ist es „ewiges Leben“
genannt. Und ich will hier und da die Punkte zeigen, die hinweisen
auf dieses große umfassende Symbol aller Religionen und in Sonder-
heit des Christentums, möchte aber entsprechend meinem eigenen
Ausgangspunkt in diesen Vorlesungen Sie nicht durch Antworten,
die verhältnismäßig leichtherzig gegeben werden können, trösten
über die Tatsache, dass, wo Leben ist, Zweideutigkeit ist und dass
darum Leben mit Notwendigkeit zu der Frage drängt nach dem, was
jenseits der Zweideutigkeit steht.
Nun lassen Sie mich zunächst einige terminologische oder, wie man
heute zu sagen pflegt, semantische Probleme behandeln, Fragen, die
mit den Sinn von Worten zu tun haben. Zunächst das Wort „Leben“
selbst. Ich kann fünf Bedeutungen unter den vielen möglichen, die
man im Lexikon finden kann, unterscheiden, und ich möchte das in
Kürze tun. Denn es gehört zu den Schwierigkeiten der geistigen Ver-
ständigung in der Theologie wie auch in den Geisteswissenschaften
überhaupt und in der Philosophie, dass wir in einer Periode eminenter
Sprachverwirrung leben. Wie ich meinen theologischen Studenten in
Amerika oft sage: Erst müssen Worte gerettet werden, und dann kön-
nen Seelen gerettet werden – nämlich die Worte, die heute abgenützt,
unverständlich, widersprüchlich, verwirrt geworden sind. Und das ist
das Einzige, warum ich sogar eine philosophische Richtung, die mir
sonst recht fern liegt, begrüße, nämlich den logischen Positivismus,
nämlich soweit er sich ins Semantische entwickelt hat und die Frage
stellt: Was bedeutet exakt ein Wort, ein Satz, ein Schluss? Ich sagte
einmal einem Kollegen, einem berühmten logischen Positivisten: „Ich
wünschte, wir hätten einen von Euch in meinem theologischen Kol-
leg, damit jedesmal, wenn ein Begriff verwirrt benutzt wird, Sie den
Finger heben!“ Er erklärte: „So stark bin ich nicht; denn ich müßte
den Finger die ganze Zeit heben!“ Darum will ich versuchen, diese
Situation in Bezug auf diesen an sich schon sehr vieldeutigen Begriff
wenigstens etwas zu erklären, ganz wird es sicher nicht gelingen.
336
Die erste Bedeutung, die das Wort „Leben“ haben kann, möchte
ich den polaren Lebensbegriff nennen, nämlich Leben als Gegensatz
zum Tod. Und ich glaube, dass es begründet ist, damit anzufangen,
weil wahrscheinlich die Menschheit aus der Erfahrung des Zu-En-
de-Kommens des Lebens im Tode den Begriff des Lebens allererst
gefunden hat. Nur durch Gegensätze werden ja derartige Begriffe
ursprünglich konzipiert, und ich glaube, dass das auch noch heute
nachklingt, wo immer das Wort „Leben“ gebraucht wird. Es hat
selbst in verhältnismäßig prosaischer Redeweise einen seltsamen,
betonten Klang. Man sagt nicht einfach „Leben“, wie man „Ding“
oder selbst „Mensch“ sagt, sondern, wo man das Wort „Leben“
gebraucht, hat man in dem Gebrauch dieses Wortes die Negation
des Gegensatzes, nämlich nicht Nicht-Leben, nicht Tod, sondern
Leben. Und das ist besonders stark, wenn man etwa zu der religiösen
Benutzung des Wortes „Leben“ kommt und vom „lebendigen Gott“
oder von dem „ewigen Leben“ spricht. Jedesmal hat „Leben“ eine
betonte, emphatische Bedeutung, die damit zusammenhängt, dass
ein innerer Gegensatz verneint wird.
Der zweite Sinn von Leben ist der Artbegriff des Lebens, der Be-
griff, der auf eine bestimmte Gattung von Dingen hinweist, nämlich
die Gattung der lebendigen Wesen, die zur organischen Dimension
der Wirklichkeit gehören. Hier ist das Charakteristische, dass diese
Wesen, denen wir in Sonderheit Leben zusprechen, einen bestimmten
Charakter haben, nämlich den Charakter des Zentriertseins in sich
selbst, der Bezogenheit auf sich selbst, des In-sich-Geschlossenseins
und dadurch Abgegrenztseins von jedem anderen lebenden Wesen.
Und hier ist dann auch der Gegensatz zwischen Leben und Tod be-
sonders manifest. Der Tod ist dann die Zerstörung der zentrierten
Einheit, der Bezogenheit eines Wesens auf sich selbst, und der Tod
ist dann das Ende aller Akte, die aus solch einem Zentrum kommen
und umgekehrt auf es gerichtet sind. In dem Moment des Todes
werden die lebendigen Wesen in eine andere Sphäre, wo sie auch
noch ein Zentrum [haben], vielleicht ein chemisch-physikalisches,
hineingeworfen, aber die Zentriertheit, die Selbstbegrenzung und
der Akt der Selbstbezogenheit ist verloren.
Der dritte Begriff des Lebens ist der ontologische Lebensbegriff,
der in klassischer Weise von Aristoteles formuliert ist, nämlich Leben
als die Aktualität des Seins. Sein ist hier gefasst als potentielles Sein,
das im Lebensprozess aktualisiert wird. Das Potentielle ist nicht
Nichts, aber es ist auch noch nicht Aktualität. Es hat die Macht
337
zu sein, wie1 man das Wort „Potentialität“ übersetzen kann, noch
nicht gebraucht; es ist die Möglichkeit, potentielle Möglichkeit,
aber es ist noch nicht zur Aktualität geworden. Das ist der dritte
Lebensbegriff, aus dem dann das ganze Problem der Zerspaltenheit
des Lebens folgt. Ich will es hier nur andeuten: nämlich der innere
Widerspruch zwischen dem, was ein Wesen potentiell ist, und dem,
was es actualiter ist.
Der vierte Lebensbegriff ist universal. Der universale Lebensbe-
griff fasst alle Realität zusammen als eine Gesamtheit gegenseitiger
Abhängigkeiten. Jeder ist abhängig von jedem, direkt oder indirekt.
Und hier ist die Lebenseinheit identisch mit der Einheit, die wir in
dem Wort „Universum“ noch mitschwingen hören. Leben in diesem
Sinn wird von uns vielfach gebraucht – wenn wir sagen: „So ist das
Leben“ oder: „Das Leben ist etwas Herrliches!“ oder: „Das Leben
ist etwas Grauenvolles!“ Jeder von uns hat wohl einmal beides
gesagt. Sicher, wir erleben es zunächst an uns, das ist der einzige
Zugang, den wir zum Leben haben. Aber wir meinen dann das Le-
ben überhaupt, alles Wirkliche eingeschlossen. Dieser Begriff ist die
Grundlage der Lebensphilosophie, wie wir sie in Nietzsche, Bergson,
Simmel, Whitehead und anderen haben, und dieser Lebensbegriff ist
einer derjenigen, der für uns von besonderer Bedeutung ist in unserer
Betrachtung. Er schließt alles ein: das Anorganische, das Organische
und das Geistige; alle Wechselbeziehungen zwischen diesen Wirklich-
keiten gehören dazu. Ich möchte nur bemerken, dass Whitehead statt
„Leben“ das Wort „process“ gesagt hat2; aber wenn er „Prozess“
sagt, meint er damit, obgleich das Wort aus dem anorganischen
Gebiet kommt, auch alle Lebensprozesse, auch die geistigen, auch
die geschichtlichen. In beiden Fällen ist Leben universal gefaßt. Es
ist das Universum in seiner aktuellen Bewegung in sich selbst.
Und dann können wir noch von einem fünften Lebensbegriff
sprechen, nämlich dem symbolischen. In dem Augenblick, wo wir
das Wort „Leben“ auf das Göttliche anwenden – „der lebendige
Gott“, „der alte Gott lebt noch“ oder „ewiges Leben“ oder „Gott
ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen“3 – , wie hier
das Wort „Leben“ gebraucht ist, wird es symbolisch gebraucht. D. h.
1
Korr. (Typ. GS: die)
2
Alfred North Whitehead, Process and Reality. An Essay in Cosmology, New
York / London 1929.
3
Mt 22, 32.
338
aus unserer Erfahrung von Leben in dieser vierfachen Bedeutung
wenden wir dieses Wort auf Gott an, und dadurch wird es symbo-
lisch, d. h. verliert es die Eigentlichkeit, die es in der endlichen Welt
hat. Es wird uneigentlich, aber nicht unwahr. Es ist im Gegenteil von
größter Bedeutung, dass wir auf Gott den Lebensbegriff symbolisch
anwenden, weil wir sonst zu einer toten Identität kommen, die nicht
wirklich Gott ist.
Diesen fünffachen Sinn von „Leben“ bitte ich Sie im Hintergrund
zu behalten, wenn wir jetzt an unser Problem herangehen. Das
nächste Problem, das in gewisser Weise schon angedeutet ist und
alles Künftige vorbereitet, ist die Möglichkeit des Zwiespaltes in
den Lebensprozessen. Erst nachdem ich das behandelt habe, wollen
wir weitergehen zu den Formen, in denen Einheit und Zwiespalt
sich darstellt.
Die ontologische Definition von Leben war, dass Leben die Ak-
tualisierung des Potentiellen ist. Es ist derjenige Prozess, in dem das,
was die Macht hat zu sein, das, was die potentia hat, diese potentia
anwendet, verwirklicht und zum Leben kommt. Aber wenn das
geschieht, wenn der Keim eines Baumes, in dem empirisch diese
Potenz vorgebildet ist, sich aktualisiert, die Mächtigkeit, die im
Keim enthalten ist, in die Realität des Baumlebens überführt, dann
entsteht die Möglichkeit des Zwiespaltes. Es entsteht die Möglich-
keit, dass dieser individuelle Baum, diese individuelle Kiefer nicht
aktuell wird, was sie werden könnte entsprechend ihrem Charakter
des Baumes. Wir reden dann von einem schlechten Baum, von einem
unvollkommenen Baum. Wir sagen von ihm, er sei ein dem Ideal des
Baumseins keineswegs angemessener, kranker, verkümmerter Baum,
und wir sägen ihn ab, wenn er in unserem Garten steht. Denn auch
in der vegetativen Natur besteht die Möglichkeit des Konfliktes, des
Gegensatzes zwischen dem Essentiellen, nämlich der Baumheit, und
dem Existierenden, nämlich dem Baum in meinem Garten.
Und damit kann man sagen: Das Aktuelle ist beides, mehr oder
weniger als das Potentielle. Es ist mehr als das Potentielle, weil hier
Seinsmöglichkeit verwirklicht ist. Wir können das ja alles in Ge-
danken unmittelbar auf unser persönliches Leben übertragen und
dadurch konkret haben. Auf der anderen Seite ist es weniger, weil
das, was in der Essenz eines Dinges enthalten ist, nicht wirklich
verwirklicht wird, sondern nur in begrenzter, unvollkommener, sich
selbst zersetzender Weise verwirklicht wird. Wir haben also das
doppelte Urteil, dass das Leben als die Aktualität des Seins beides
339
ist, ein Mehr als das bloß Potentielle und ein Weniger als das bloß
Potentielle.
Darin liegt ein Werturteil, und über dies Werturteil möchte ich
etwas sagen, weil es zu tun hat mit dem großen Gegensatz von Ost
und West, ich meine der östlichen religiösen Grundlage – Indien bis
hin nach Japan – und der westlichen religiösen Grundlage, soweit
sie vom Jüdischen, Alttestamentlichen herkommt. In diesen beiden
Grundtypen der Deutung des Lebens finden wir zwei verschiede-
ne und in gewisser Weise scharf entgegengesetzte Deutungen des
Verhältnisses von essentiell und existentiell, von Potentialität und
Aktualität. In der östlichen Welt ist das Aktuelle nur weniger als
das Potentielle. Es ist ein Abfall, es tut am besten, zurückzukehren
zu dem, wovon es abgefallen ist. Ich hatte in den letzten Monaten
in der theologischen Fakultät von Harvard, Cambridge, Gelegen-
heit, mit Zen-Buddhisten zu sprechen, die nicht nur philosophische
Interpretatoren waren, sondern echte Zen-Meister. Einer von ihnen
war in unsere Fakultät für ein Jahr berufen worden als Lehrer des
Zen-Buddhismus,1 und in den Unterhaltungen wurde mir so klar wie
noch nie, dass diese scheinbar höchst abstrakten Formulierungen
Wesen und Existenz, Potentialitat und Aktualität ein persönliches
1
Im Herbst 1957 waren die japanischen Zen-Meister und Philosophen His-
amatsu Shin’ichi (1889-1980) und Daisatsu Teitaro Suzuki (1870-1966) zu
Vorträgen in Cambridge. Hisamatsu war Visiting Professor an der Harvard
Divinity School. Anfang Oktober hielt er seine erste Vorlesung. Grace Kalí,
Tillichs damalige Sekretärin, schreibt darüber: „The lecture was on the
concept of the self. Its premise, so foreign to western philosophy, denied
the existence of the ego. The concept was infinitely abstruse and listening
required the utmost concentration“ (Grace Kalí, Paul Tillich First-Hand. A
Memoir of the Harvard Years, Chicago 1995, S. 73). Zur gleichen Zeit war
auch Daisatsu Teitaro Suzuki in Cambridge. Suzuki und Tillich nahmen am
5. Oktober an einem Symposium vor der „Research Society for Creative
Altruism“ am Massachusetts Institute for Technology in Cambridge über
das Thema „New Knowledge in Human Values“ teil. Tillich sprach über
das Thema „Is a Science of Human Values Possible?“ (publiziert in: New
Knowledge in Human Values. Ed. A. H. Maslow, New York 1959). Am 11.
November 1957 trafen Tillich, Hisamatsu und dessen Übersetzer Fujiyoshi
Jikai und Richard de Martino zu einem west-östlichen Dialog zusammen, der
an zwei weiteren Tagen fortgesetzt wurde. Die Gespräche wurden mit dem
Tonband aufgezeichnet und publiziert in: The Eastern Buddhist (New Series)
(Kyoto), Vol. 4, 1971, S. 89-107 (Part One), Vol. 5, 1972, S. 107-128 (Part
Two), Vol. 6, 1973, S. 87-114 (Part Three), ebenso in: P. Tillich, Encounter
of Religions and Quasi-Religions. Ed. Terence Thomas (Toronto Studies
Theology, Vol. 37), Lewiston / Queenston 1990, S. 75-170.
340
Lebensprobleme für Tausende von Jahren und für Millionen von
Menschen bedeuten. Wenn das Existentielle nur als weniger als das
Potentielle betrachtet wird, dann heißt das: Die Welt steht unter dem
Zeichen „Im Grunde hätte es nicht sein sollen“, und die Zurück-
nahme, wie meine Zen-Freunde wiederholt sagten, in das „formlose
Selbst“, jenseits von Subjekt und Objekt, jenseits von Erkenntnis
und Willen, das zu erreichen ist das höchste Ziel alles menschlichen
Seins.1 Und wenn wir dann ins Gespräch kamen, und ich sagte:
„Dies Ziel hat eine Negativität in sich, Sie haben keine positive
Würdigung dessen, was im Leben und in der Geschichte geschieht
und innerhalb der Geschichte bleiben wird in der Zweideutigkeit, wir
können diesen Zustand niemals erreichen“ – dann war die Antwort
sehr einfach. Sie sagten: „Du hast es eben noch nicht erreicht; hättest
Du es erreicht, würdest Du wissen, was wir meinen.“ Das macht
die Unterhaltung schwierig, zeigt aber zugleich, worum es geht: um
einen fundamentalen Unterschied, und dass irgendwann einmal die
Menschheit sich entscheiden muss und eine billige Synthese nicht
möglich sein wird, nämlich in dem Sinn dessen, was ich sagte, dass
in der Zweideutigkeit des Lebens enthalten ist sowohl ein Mehr des
Aktuellen gegenüber dem Potentiellen als auch ein Weniger. Und nur,
wenn wir das verstehen, können wir die tiefsten Hintergründe des
Unterschiedes von Ost und West verstehen.
Und darum glaube ich, dass kein Zen-Buddhist oder Hindu- oder
Vedanta-Philosoph den Begriff der Zweideutigkeit des Lebens akzep-
tieren würde. Denn in Zweideutigkeit liegt ja beides, das Positive
und das Negative. Es liegt beides darin, das essentiell Gute und das
existentiell Entfremdete, das von seinem Gut-Sein entfremdet ist.
Und diese Einheit ist die Grundlage für fast die gesamte christliche
[Schöpfungslehre], den Schöpfungsgedanken mit dem großen Wort:
„Gott sah, was er geschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut“.2
Das kann niemals im Osten gesagt werden. Und weil das im Wes-
ten gesagt werden kann, hat der Westen Geschichte und diejenige
Liebe, die das Neue Testament agape nennt und für die es im Osten
weder ein Wort noch eine Sache gibt. Selbstverständlich gibt es
überall Agape-Elemente, aber agape im neutestamentlichen Sinn
als ein letztes Prinzip gibt es im Osten nicht. Und alle, die von dort
1
Über Potentialität und das „formlose Selbst“ vgl. die in der vorigen Anmerkung
genannten Gespräche (1971, S. 97 f., 1972, S. 107 f.).
2
1. Mose 1, 31a.
341
zurückkamen und die ich gesprochen habe, bestätigten es aus der
Realität der täglichen Erfahrung.
Das ist eine einleitende Betrachtung gewesen und sie zeigt Ihnen,
dass es sich hier nicht um müßige Probleme handelt, auch wenn Ab-
stracta wie „existentiell“ und „essentiell“ usw. angewandt werden,
sondern dass es sich hier um letzte Begegnungen mit letzter Wirk-
lichkelt handelt, und dass niemand ihnen entgehen kann.
Ich möchte nun weiter gehen zu einem anderen Problem, nämlich
dem Problem der Einheit des Lebens in seiner Struktur. Für diesen
Zweck möchte ich eine Formulierung vorschlagen – ich fühle durch-
aus, dass es ein Vorschlag ist – , nämlich die Formulierung, dass das
Leben nicht aus Schichten besteht, die übereinander gelagert sind und
eventuell ineinander eingreifen und unabhängig voneinander bestehen
können, sondern dass das Leben eine andere Struktur hat.
Wenn wir von solchen Dingen reden, ist es selbstverständlich,
dass wir in Metaphern reden müssen, und alle Metaphern – alles
„Übertragen“, was „Metapher“ eigentlich heißt – bedeutet immer,
etwas übertragen aus der räumlichen Sphäre, in die unsere Sprache
zunächst einmal projiziert ist, in die übrigen Sphären. Alle Metaphern
auch in der Religion sind primär räumlich. Wir sprechen auch heute
noch, obwohl Kopernikus einige Jahrhunderte früher gelebt hat, von
„oben“ und „unten“, obgleich es im absoluten Sinn kein Oben oder
Unten gibt; aber die Metapher bleibt bestehen. Und die gewohnte
Metapher war die der Rangordnung im Sozialen, die der höchsten
Funktion im Psychologischen, höhere oder niedere Ordnung, höheres
oder niederes Sein, universal gesprochen. Man sprach von Schich-
ten, die übereinander gelagert sind, die leibliche, die seelische, die
geistige im Menschen, die wirtschaftliche, die militärische und die
philosophische bei Plato im Sozialen, und in der Betrachtung der
Natur die anorganische, organische, die sowohl das Biologische wie
das Psychologische einschließt, und dann die, die wir das Geistige
nennen.
Diese Schichtenlehre ist eine der Grundlagen für unzählige Ver-
wirrungen und unnötige Probleme, die sich in der Geistesgeschichte
des Westens entwickelt haben. Ich möchte hier einmal etwas sehr
Radikales sagen: Ich glaube, dass die Motive, die in der Reformation
und in der Renaissance gleichzeitig aufbrachen, Motive sind, deren
tiefster Grund ein Kampf gegen die Schichtenlehre ist, und dass dies
nicht nur in der Reformation der Fall war, wo es in Luther immer
wieder deutlich ausgesprochen ist, dass es nicht Schichten der An-
342
näherung an Gott gibt (die Laien, die Priester, die Mönche), sondern
dass Gott der das Zimmer kehrenden Magd mindestens ebenso nahe
ist wie dem Heiligen im Kloster. Das war eine Durchbrechung der
Hierarchie der Schichten in der religiösen Sphäre und hat die unge-
heure Folge gehabt, die mit dem Aufkommen des Protestantismus
gegeben ist. Aber der Protestantismus, wie das so immer ist in der
Geschichte, war sich keineswegs selber voll bewusst dessen, was da
geschehen ist. Nämlich, dass die christliche Botschaft gerade die
ist, dass Gott dem Niedrigsten ebenso nahe ist wie dem Höchsten
und dass infolgedessen die Vergebung, die jedem in gleicher Weise
gebracht wird, nicht dadurch erkauft werden kann, dass man in die
höhere Schicht einrückt. Hier und jetzt, in diesem Augenblick, im
Stande der Sündhaftigkeit, der Entfremdung vom Göttlichen, sagt
Gott Ja zu uns, das ist der lutherische Gedanke.
Vergleichen Sie das mit dem Mann, der auch aus der religiösen
Sphäre kommt, einem römischen Kardinal, Nicolaus Cusanus aus
Kues an der Mosel, der in philosophisch-mystischer Form dasselbe
verkündigte, nämlich die Koinzidenz der Gegensätze (der Gegensatz
des Unendlichen und des Endlichen). Ihm war klar, dass das Unend-
liche aufhören wird, das Unendliche zu sein, wenn es neben dem
Endlichen liegen würde, dass nur, wenn in der Tiefe jedes Endlichen
das Unendliche ganz gegenwärtig ist, wenn das Zentrum des Göttli-
chen in jedem Sandkorn ist – dies Beispiel hat auch Luther gebraucht,
ohne dass sich die beiden kannten – , dass dann die Unendlichkeit
des Unendlichen gerettet ist.
Durch diese Zusammenstimmung des Reformatorischen und des
Humanistischen ist eine neue Möglichkeit des Denkens über das
Leben entstanden, wie sie in der spätantiken Tradition nicht bestand.
Und das Christentum hat sich trotz seiner alttestamentlichen Wurzel,
die diesem Einheitsgedanken entspricht, besonders in Bezug auf die
Lehre vom Menschen, nicht klar gemacht, dass mit der vollen Erfas-
sung der Göttlichkeit des Göttlichen die Gegenwart des Göttlichen
im Endlichen, Kreatürlichen gegeben sein muss. Wenn das einmal
eingesehen ist, hat das außerordentliche Konsequenzen. Ich sage,
der Protestantismus hat nicht immer begriffen, was ihm geschehen
ist. Auch der Humanismus hat es nicht immer begriffen. Wir haben
immer wieder ein Denken in Hierarchien, in Schichten, die übereinan-
der gelagert sind, im Menschen, in der Gesellschaft, in der Natur als
ganzer. Und darum möchte ich jetzt einen Versuch machen, nämlich
ganz radikal die Konsequenzen dieses protestantisch-humanistischen
343
Ansatzes durchzudenken. Wenn man das tut, kann es einem gesche-
hen, dass der Weg als fragwürdig erscheint, und wenn das geschieht,
so war es nicht vergeblich. Vielleicht aber sieht man dann auch, dass
durch dies radikale Durchdenken eines solchen Problems Probleme
gelöst sind, die sonst als unlösbar erscheinen.
Zunächst zu dem Letzten. Welches sind die Motive, die uns trei-
ben, den Gedanken der Dimension zu benutzen, die Metapher der
Dimension an die Stelle der Metapher der Schicht zu setzen? Es sind
viele, die dazu führen, ich will einige nennen. Das eine ist der Voll-
kommenheitsbegriff. Man hat sehr häufig im hierarchischen Denken
das, was oben in der Hierarchie steht, für das Vollkommnere erklärt
gegenüber dem, was niedriger in der Hierarchie steht. Was dann z. B.
zur Folge hat, dass das Tier höher steht als die Pflanze, die Pflanze
höher als der Kristall, der Mensch höher als das Tier. Aber das ist
eine Verwirrung der Begriffe. Vollkommen ist eine Wirklichkeit, in
der das, was potentiell in ihr ist, aktuell dem Potentiellen so nahe
wie möglich verwirklicht ist. Und darum ist es viel richtiger, in den
so genannten niederen [Stufen] der Hierarchie Vollkommenheit zu
sehen als in den höheren. Ich stehe nicht an zu behaupten, dass ge-
gen die Vollkommenheit einer Katze in ihren Bewegungen, in ihrer
Form, in jedem Ausdruck ihrer verschiedenen Potentialitäten, nur
sehr selten ein menschliches Wesen sich rühmen kann, anzukommen.
Vollkommenheit ist Verwirklichung von Potentialität. Der Mensch ist
nicht vollkommener, sondern der Mensch ist etwas anderes. Er hat
die Möglichkeit, eine Unvollkommenheit in sich zu verwirklichen,
die viel tiefer geht als irgendeine Unvollkommenheit in der Natur.
Er kann seinem eigenen Wesen widersprechen, er kann durch eine
Einheit von Freiheit und Schicksal in Widerspruch mit sich selbst
geraten. Und das ist, was in theologischer Sprache Sünde, universale
Sünde, und in schlechter Sprache Erbsünde genannt wird, was aber
eine ungeheure Realität ist, nämlich die universale Entfremdung
des Menschen von sich. Das ist der Vorzug des Menschen, dass er
das kann. Aber das darf nicht mit dem Wort „Vollkommenheit“
gedeckt werden, das ist Größe. Es ist kein Zweifel, dass der Mensch
größer ist als irgendein Tier. Darum kann er auch nie hinabsinken
unter den Zustand des Tieres, er kann nie ein Tier werden, denn ein
Tier ist vollkommen in seiner Art, sondern er kann ein sich selbst
entfremdeter und sich selbst zerstörender Mensch sein. Das ist aber
kein Tier. Hier sehen Sie sofort, was für wichtige, gefährliche Dinge
mit dem Schichtendenken verbunden sind.
344
Aber jetzt eine noch wichtigere Seite des Schichtendenkens. Das
Schichtendenken hat zur Folge, dass die verschiedenen Schichten,
die in der Einheit der Lebensprozesse vorliegen, als zufällig mitein-
ander verbunden aufgefasst werden. Ihre Verbindung ist zufällig,
kontingent. Das wichtigste Beispiel hier ist die Verbindung von Leib
und Seele, und die wichtigste Diskussion, die hier je stattgefunden
hat, ist die zwischen Plato und Aristoteles und zwar in der Form,
in der sie sich in dem verzweifelten Ringen des Thomas von Aquin
widerspiegelt, der gezwungen war durch seine Tradition, die beiden
großen Traditionen der abendländischen Philosophie zu vereinigen.
Von Plato haben wir ein zufälliges Verhältnis der Seele, was immer
sie bedeuten mag, mit dem Leib. Das Symbol des Kerkers ist dafür
am ausdrucksvollsten: der Leib als Kerker der Seele.1 Von Aristoteles
her haben wir die Tradition, dass der Leib die Potentialität und die
Seele die Aktualität der Potentialität des Leibes ist, und diese beiden
Traditionen waren im Aristoteliker Thomas zusammen, und er rang
darum, sie zu vereinigen. Aber es war unmöglich, und in der Popu-
lartheologie siegte die platonische Tendenz und mit ihr die in der
gegenwärtigen popularisierten Form nicht nur unchristliche, sondern
auch pseudoplatonische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Das
sind Konsequenzen aus dem Schichtendenken. Und wenn ich hier
sage, die „unchristliche“, so brauche ich nur hinzuweisen auf das
neutestamentliche Symbol (schon in Persien vorbereitet), nämlich das
Symbol der Auferstehung des Leibes, was in die Richtung der Einheit
des Lebens im Menschen weist und diese Einheit als unzerreißbar
betrachtet, nicht nur in der zeitlichen Dimension, sondern auch in
der Dimension des Ewigen. Demgegenüber ist die Unsterblichkeit
der Seele begründet in dem Schichtendenken und hat, ich möchte
das nur mitteilen, dazu geführt, dass in der wenn auch noch so
profanisierten Denkform des amerikanischen Protestantismus und
darüber weit hinaus in der säkularen Welt alle Dogmen des Chris-
tentums, alle Lehren der Religion mehr oder weniger gleichgültig
geworden sind, dass aber eine Lehre geradezu tabu ist, nämlich die
von der Unsterblichkeit der Seele; aber nicht etwa im platonischen
Sinn – die Seele von der Welt der Ideen kommend und zu ihr zu-
rückkehrend – , sondern in einem Sinn, den ich den kalifornischen
Kirchhofspropaganda-Sinn nennen möchte, nämlich: „Kommt zu
1
Plato, Phaidros 250 A ff., Phaidon 87 A ff.
345
unseren herrlichen Kirchhöfen, nachdem ihr eben gestorben seid,
wo ihr vergnügt wieder aufwachen werdet und unter den Bäumen
und auf den Wiesen wandelt.“ Solche Konsequenzen hat dann ein
philosophisches und theologisches Denken, das von vornherein die
Schichtensymbolik als Metapher der Einheit entgegenstellt.
Ein dritter Nachteil der Schichtenidee ist das gegenseitige Ein-
brechen ineinander, der ständige Einbruch von einem ins andere,
wodurch das eine durch das andere gestört wird resp. zerstört wird.
Die Seele soll die körperlichen Prozesse beeinflussen, der Körper die
seelischen, die geistige Welt soll die materielle Welt beeinflussen, das
Göttliche soll das Menschliche oder Kreatürliche von außen her
beeinflussen. Der pervertierte Wunderbegriff, der soviel Unheil im
Christentum angerichtet hat, ist eine Folge des Schichtendenkens: aus
der göttlichen Schicht Eindringungen, die die kreatürlichen Prozesse
stören oder zerstören, damit Gott sich offenbaren kann. Hier haben
Sie einen dritten Punkt und vielleicht einen, der besonders brennend
ist, wenn das Schichtendenken vorliegt. Das gleiche gilt für die Be-
einflussung des Organischen durch das Anorganische usw.
Es gilt noch für einen vierten Punkt, nämlich das Verhältnis von
Religion und Kultur, wenn wir die säkulare, autonome sich selbst
schaffende Kultur als Schicht betrachten und Religion als die Sphä-
re, die daneben oder darüber liegt oder ein Teil davon ist, ansehen.
Wenn die Kategorie des Nebeneinander dabei herrscht, dann sind die
Konflikte zwischen Religion und Kultur da, die die westliche Welt seit
vielen hundert Jahren erfüllt haben und den ungeheuren Widerstand
gegen die Religion geschaffen haben und die Verzweiflung der Reli-
gion, die dann zu Gewaltmaßregeln greift, um wieder zur Herrschaft
zu kommen. All das sind Konsequenzen des Schichtendenkens.
Vielleicht ist die letzte Konsequenz die Religion selber, direkt näm-
lich die sakramentale Idee von zwei Welten, einer übernatürlichen und
einer natürlichen, die nebeneinander stehen oder wo Eingriffe von
einem ins andere gedacht werden und wo dann der Protestantismus
ursprünglich seine Kritik angesetzt hat.
Nun habe ich die Schwierigkeiten des Schichtendenkens versucht,
deutlich zu machen, und nun will ich einen Schritt weiter gehen
und den Dimensionsbegriff positiv einführen. Es ist klar, dass auch
Dimension eine Metapher ist, d. h. dem Räumlichen entnommen.
Es ist die Struktur des Raumes selber, die wir in Form von Dimen-
sionen beschreiben. Ich gebrauche aber „Dimension“ jetzt als Me-
tapher, und „Metapher“ heißt ja „übertragen“. Ich bin also nicht
346
gebunden an die eine, zwei, drei oder vier Dimensionen. Es kann
viele Dimensionen geben, obgleich es die in unserem anschaulichen
Raum nicht gibt. Aber ich will mich aus praktischen Gründen auf
drei Dimensionen1 zurückziehen und sagen: Dimension hat all die
Belastungen nicht, die die Schicht hat. Wenn Sie sich einen Körper
vorstellen, die drei Dimensionen im Raum, die sich in einem Punkt
schneiden: Sie schneiden sich, sie haben einen Punkt der Einheit, aber
sie können nicht ineinander eingreifen. Sie liegen nicht übereinander
und nebeneinander. Und das hat die allergrößten Konsequenzen.
Denn sobald wir diese Metapher gebrauchen, haben wir damit etwas
unendlich viel Wichtigeres als einen bequemen Metapherngebrauch.
Wir haben uns entschieden für die Einheit des Lebens gegenüber der
Schichtentheorie.
Nun, Sie erinnern sich, der Widerspruch, die Zweideutigkeit, von
der ich spreche, bleibt. Aber – und das ist das Entscheidende – die Wi-
dersprüche, die Zweideutigkeit können nicht zurückgeführt werden
auf den Gegensatz der Schichten. Und damit ist eine völlig andere
Welt entstanden als eine Welt, in der die Gegensätze durch Schichten
bestimmt sind. Wenn wir das scharf formulieren wollen, dann können
wir sagen: In jedem Seienden sind alle Dimensionen gegenwärtig;
es gibt kein Seiendes, in dem nicht die Dimensionen, die ich jetzt
aus Bequemlichkeit mit abkürzenden Worten die anorganische, die
organische und geistige nenne, potentiell vorhanden sind. Ich habe
das einmal so ausgedrückt: „Als Gott das Atom schuf, schuf er den
Menschen; als Gott den Menschen schuf, schuf er das Atom.“2 Wenn
man im Schichtendenken bleibt, muss man einen Punkt aufweisen,
wo aus dem Atom das Organische, aus dem Organischen das Geis-
tige hervorsprang durch einen Akt der Hinzufügung gewissermaßen.
Wenn man aber in Begriffen der Hinzufügung redet, entspringen all
die Probleme, die die Naturphilosophie und die Psychologie geplagt
haben. Es entsteht das Problem der Entstehung des Organischen
aus dem Anorganischen, das Problem des inneren Gewahrwerdens
des Organischen, der Entstehung des Bewusstseins, das Problem des
Geistigen im Zusammenhang mit dem Bewusstseinsprozess und den
Prozessen des Unbewussten. Es entsteht das Problem der Entstehung
1
Korr. (Typ. GS: drei und eine Dimension)
2
Vgl. Syst. Theol. III, S. 27, sowie bereits in der Frankfurter Vorlesung
„Geschichtsphilosophie“ (1929 / 30), EW XV, S. 276.
347
des Geschichtlichen als einer Schicht. Wenn wir in Dimensionen
denken, fallen diese Fragen nicht weg, sie bleiben, aber sie können
beantwortet werden.
Wir haben wieder zwei große Lösungen vor uns. Das eine ist die
klassische aristotelische, die auch im christlichen Schöpfungsmythos
und seiner Deutung bejaht wurde, nämlich dass die Arten vom
Ursprung her sind, dass sie ursprünglich geschaffen sind und dass
infolgedessen von einer Entwicklung der Arten keine Rede sein kann.
Dann die Entwicklungstheorie, vielfach mit dem Namen Darwin
verbunden, wonach die ursprünglich atomare Zusammensetzung
schließlich zu Bildungen geführt hat, die wir heute organisch nennen,
und dass sich daraus weiter Dinge entwickelt haben, die wir heute
geistige nennen. Beide Theorien sind durch das Dimensionendenken
in ihrem Recht und Unrecht charakterisiert. Die aristotelische Lehre
bezieht sich auf das Potentielle. Potentiell sind alle Dimensionen in
jedem Atom vorhanden, aktuell hat die Entwicklungslehre Recht.
Bedingungen, die nötig sind, damit das Potentielle aktuell wird, wer-
den von den Prozessen des Lebens geschaffen. Und mit diesen beiden
Sätzen ist eine große Fülle von Lebensproblemen zusammengefasst
und in bestimmter Weise beantwortet. In der Sphäre des Potentiellen
kann man sagen, wie es viele Mythen getan haben, dass Gott zuerst
den Menschen geschaffen hat. Das ist natürlich absurd, wenn man
es aufs Empirisch-Zeitliche überträgt. Es ist sinnvoll, wenn man es
auf das Potentielle übertragen soll, nämlich auf den Menschen als
die Einheit der Potenzen, in ihm sind sie alle vereinigt – die große
Renaissance-Idee des Mikrokosmos. Und umgekehrt: Wenn das
Atom da ist, ist dann auch alles potentiell da, was nötig ist, dass
der Mensch da ist. Aber die Bedingungen innerhalb der empirischen
Wirklichkeit können das, was potentiell möglich ist, nur zulassen,
wenn eine bestimmte Konstellation eingetreten ist.
Lassen Sie mich hier springen auf uns selber, auf die menschli-
che Situation, wo die Dinge genau so liegen. Wenn jemand denkt,
dann geschieht etwas ganz Erstaunliches – es liegt eine Fülle von
Perzeptionen vor, Sinneseindrücken, Gefühlen, inneren Willensakten,
Körpergefühlen, von jeder Form von Elementen, die an und [für]
sich das Material geben, aus dem ein Gedanke entstehen kann. Was
geschieht im Akt des Denkens selbst? Im Akt des Denkens selbst
setzt sich das, was potentiell in dieser Konstellation von Sinnes-
eindrücken, Erinnerungen, Antizipationen, Strebungen und vieler
anderer Elemente unserer psychologischen Organe, bewussten und
348
unbewussten, darin liegt – Potentialität – , und der Akt des Denkens
ist die Verwirklichung dieser Potentialität. Damit ist die Eingriffsthe-
orie, die Theorie, als ob das Denken aus einer selbständigen Schicht
käme, die das Psychologische überragt und die dann von außen in
das Psychologische eingreift und sozusagen das Psychologische „von
außen stößt“1, diese mechanische Theorie des Denkens, die sich oft
idealistisch genannt hat, ist damit überwunden.
Damit ist ein Begriff des Menschen entstanden, den ich mit einem
erschreckenden Wort „monistisch“ nennen möchte, weil es kein bes-
seres Wort gibt. Ich möchte es vermeiden, weil gewisse Assoziationen
dabei auftreten (Haeckels Monismus), das wäre ein Unglücksfall.
Ich meine die monistische Auffassung des Menschen, die ich für die
biblische halte und von der ich glaube, dass sie in Aristoteles und
allem, was ihm entspricht, philosophisch sich ausgedrückt hat, d. h.
ich meine damit eine Lehre, in der der Mensch nicht aus Leib, Seele
und Geist usw. besteht, sondern eine Einheit ist. Wenn man will,
kann man sie mit dem griechischen „psyche“ nennen und sagen,
dass diese Einheit verschiedene Funktionen zeigt zur individuellen
Verwirklichung in Raum und Zeit – der Leib, der dazu Elemente
aus der organischen und anorganischen Welt benutzt, und auf der
anderen Seite die Richtung zu den Gültigkeiten, dem Sinn und dem
Wert, den Normen, den Prinzipien, und wir können das Geist nen-
nen. Diese Lehre vom Menschen soll die Voraussetzung der Lehre
von der Zweideutigkeit des Lebens sein, die damit auf eine andere
Basis gestellt wird.
Wenn man die Schichtentheorie beibehält, dann muss man jedes-
mal die Frage stellen: Kommt die Entfremdung der menschlichen
Gesellschaft und des einzelnen Menschen von seinem und ihrem
wahren Wesen davon, dass eine Schicht nicht funktioniert, dass eine
in die andere einbricht, dass animalische Kräfte die geistigen Kräfte
hindern, und was kann geschehen, um diese Spaltung zu überwinden?
Und wenn man so denkt, dann kann man weder medizinisch noch
psychologisch noch geistig heilen. Ich kann Ihnen gestehen, dass diese
Einsichten – und ich glaube, es sind Einsichten – in meinem Kampf
1
Vgl. J. W. Goethe, Prooemion: „Was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemts, die Welt im Innern zu
bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, So dass, was in ihm lebt
und webt und ist, Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt.“ (Hamburger
Ausgabe, Band 1, Hamburg 1964, S. 357)
349
gegen die Schichtentheorie zum großen Teil von der Arbeit an dem
Zusammenhang zwischen Heilung und salvatio, Rettung im religiö-
sen Sinn, herkommen. Wenn man da mit Schichtendenken arbeitet,
dann ist der Konflikt zwischen drei Fakultäten unlösbar: auf der
einen Seite der medizinischen Fakultät, die heute nicht mehr, aber
doch bis vor kurzem alle Dimensionen auf die eine der berechenbaren
anorganischen Prozesse zurückfuhren wollte.
Bei dem Wort „zurückführen“ möchte ich eine Fußnote über Ame-
rika einfügen, nämlich dass es zeitweise in dem so naturalistischen
Amerika – ich rede von der philosophischen Schule – eine Form des
Naturalismus gegeben hat, nämlich die sie dort die reduktionistische
nennen, die alles zurückführt auf eine Dimension oder, wie man ge-
sagt hat, die Schicht des physikalisch Berechenbaren. Heute sind die
Naturalisten auch noch Naturalisten, sie bekennen sich dazu, aber
doch immer mit einem Aber verbunden: Naturalismus ja, aber nicht
reduktionistischer Naturalismus. Und das ist das Problem, und an
diesem Punkt setzt die Lehre von den Dimensionen ein.
Ich sprach von den drei Fakultäten; die andere ist die psycholo-
gische, die ja lange Zeit und heute noch juristisch einen schweren
Kampf zu kämpfen hat gegen gewisse Vorurteile in der medizinischen
Fakultät, nämlich Vorurteile gegen die Möglichkeit, psychologisch
zu heilen, ohne vom Körper her zu heilen. Und die Frage nach der
Möglichkeit eines psychologischen Heilens, der tiefenpsychologi-
schen Arbeit an der Psyche hängt mit dieser Schichten- und Dimen-
sionenproblematik aufs engste zusammen.
Dann die dritte, die theologische Fakultät, die dann noch sagt:
„Wir heilen, ihr könnt ja gar nicht heilen“ oder: „Wir heilen ganz
etwas anderes als ihr!“ Heute wissen wir oder vielmehr sollten
wir wissen – ich bin nicht so optimistisch – , dass in jeder dieser
drei Gruppen die Dimension der beiden anderen enthalten ist, dass
[es] also unmöglich ist, das eine Heilen ohne das andere Heilen zu
vollziehen, und die Tatsache, dass das heute anerkannt ist auch
von vielen Medizinern. Es ist interessant, dass von allen Fakultäten
von Harvard ich selber am häufigsten von den Medizinern gerufen
werde, um über Lebensprozesse mit ihnen zu reden – die nächste ist
„business“. D. h. hier sind Bewegungen im Gange, die wissen, dass
das Nebeneinander der Schichten unmöglich geworden ist.
Nun werden Sie fragen: Das ist vielleicht richtig, aber woher dann
die Verschiedenheit der Gebiete? Und diese Frage will ich jetzt noch
beantworten, nämlich die Frage: Wie steht es denn nun mit der Rela-
350
tion der Schichten und der Dimensionen? Das, was die Schichtenlehre
ursprünglich wollte, war ja begründet in der realen Begegnung mit
der Wirklichkeit. Es gibt ja Verschiedenes – wir Menschen, die wir
hier in diesem Raum jetzt sind, sind ja etwas anderes als das Holz
und der Stoff der Bänke, auf denen wir sitzen – die einen sind Dinge,
Dinge technischer Produktion, die es in der Natur als solcher nicht
gibt; und die anderen sind Personen. D. h. es gibt Unterschiede. Was
machst Du mit Deiner Dimensionenlehre mit diesen Unterschieden?
Darauf kann ich nur antworten: dass die Bedingungen der empiri-
schen Wirklichkeit des sich entwickelnden Universums an einigen
Stellen Dimensionen zur Aktualisierung zugelassen haben, die an
anderen Stellen nicht zugelassen worden sind aus vielerlei Gründen,
z. B. u. a. dass, damit die organische Dimension sich verwirklicht,
ungeheure Massen quantitativ von anorganischer Substanz von dieser
Dimension ausgeschlossen sein müssen, und in derselben Weise, dass,
damit die geistige Dimension sich verwirklichen kann, ungeheure
Mengen organischer Substanz ausgeschlossen sein müssen von einer
solchen Verwirklichung.
Da liegen die Gründe, die zum Schichtendenken geführt haben.
Will man etwas widerlegen oder verwerfen, kann man es nur so
machen, dass man zugleich die Motive betrachtet, aus denen dies
ursprünglich gekommen ist. Und diese Motive sind überaus ein-
leuchtend, und wir alle werden noch lustig weiter in diesen Worten
reden – wie von Sonnenaufgang und -Untergang, Aber das schadet
nicht, wenn wir wissen, dass es sich hier nicht um ontologisch selb-
ständige Schichten handelt, sondern dass das Leben eine Einheit
ist.
Zur Vorbereitung der nächsten Stunde möchte ich noch einen
kurzen Schritt weiter gehen und von dem Leben nicht so sehr in
seiner Struktur als in seiner Bewegtheit reden, wo wir auch das
Prinzip der Einheit sehen werden. Das Leben ist ein Prozess, in dem
eine doppelte Bewegung wie in allen Prozessen zu beobachten ist:
die Bewegung zur Trennung von sich selbst und zum Bleiben in sich
selbst. Jedes lebendige Wesen geht in jedem Moment – Sie, indem Sie
zuhören – über das hinaus, was es in diesem Augenblick ist, zu etwas
anderem; zugleich aber wünschen Sie ja nicht, dass ich ein Magier
wäre und Sie dadurch überzeugte, dass ich Sie in etwas verwandelte,
was sie in Wirklichkeit nicht sind. Sie wollen ja das bleiben, was
Sie in Wirklichkeit sind. D. h. das Leben in all seinen Dimensionen
geht über sich hinaus, trennt sich von sich selber, läuft sozusagen
351
von sich fort und bleibt gleichzeitig bei sich selber, und das heißt das
Zurückkehren zu sich selber. Dies ist ja die Grundbewegung alles
dessen, was Leben heißt, von der wir ausgehen müssen schon in der
subatomarischen Dimension, die uns heute erschlossen ist, und die
wir, ein jeder von uns, in einem jeden sittlichen Akt ständig erleben:
das Von-sich-selber-Weggehen, die Angst, sich zu verlieren, und die
Rückkehr zu sich selbst, die oft nicht erreicht wird.
Daraus ergeben sich drei große Prozesse. Den ersten nenne ich
die Selbstintegration des Lebens, den zweiten die Selbstproduktion
des Lebens und den dritten die Selbstmanifestation des Lebens. Die
drei Begriffe haben eines gemeinsam, nämlich das Wort „Selbst“, und
das bedeutet sehr viel. Zunächst einmal, dass jeder Gedanke an ein
Von-außen-her-Einbrechendes im Lebensprozess als ganzes abgelehnt
ist. Alle Lebensprozesse sind Prozesse, in denen das Leben sich selbst
realisiert. Aber in dem Wort „Selbst“ liegt noch mehr: Es ist nicht
nur ein Pronomen, sondern es bedeutet, dass wo Leben ist, Selbstheit
ist. Das hat zu tun mit grundlegenden ontologischen Erwägungen,
nämlich, dass das Urphänomen alles endlichen Seins die Polarität
von Selbst und Welt ist. Es gibt keine Welt ohne Relation zu einem
Selbst und kein Selbst ohne Relation zu einer Welt. … Darum spreche
ich hier von Selbstintegration, -produktion, -manifestation.
Jeder dieser drei Begriffe muss an sich durchgeführt werden in
allen Dimensionen. Wir haben das Phänomen der Selbstintegration in
der Aktualisierung aller Dimensionen, und wir können das verfolgen,
und es ist großartig, wie die heutige Physik uns hilft in der Beschrei-
bung gerade dieser Funktion der Selbstintegration in den kleinsten
Fundamenten der Realität. Dasselbe gilt von der Selbstproduktion,
wo die großen Probleme der Entropie auftauchen, die früher ein
Dogma war, heute ein Problem geworden ist, der Kältetod der Welt,
die Frage, ob die Selbstproduktion den Kältetod überwindet. Und
das dritte, die Selbstmanifestation, nämlich die Einsicht, dass alles
Lebendige Ausdruck von etwas ist, das mehr ist als es selbst. Und
diese drei Funktionen des Lebendigen wollen wir dann untersuchen.
Nur sehr kurz, infolge der begrenzten Zeit, in den Sphären des An-
organischen und Organischen, was das Psychologische einschließt,
und sehr ausführlich in der Dimension des Geistigen.
Über die Dimension des Geistigen möchte ich gleich folgendes
sagen: Die Dimension des Geistigen entspricht in den drei Grund-
funktionen, die sie hat, diesen drei Grundfunktionen des Lebens. Die
Selbstintegration im Geistigen ist die sittliche Selbstrealisierung der
352
Persönlichkeit, ist die Grundlage von allem, was in Frage kommt
in allen Formen des geistigen Lebens. Es gibt kein geistiges Leben
ohne die Selbstsetzung sozusagen der zentrierten Persönlichkeit – das
nenne ich das Sittliche oder lieber das Moralische. Jedenfalls ist
das Moralische nicht eine Summe von Geboten, weder göttlicher
noch menschlicher, weder autonomer noch heteronomer, sondern
jeder Akt, in dem eine zentrierte Persönlichkeit als eine zentrierte
Persönlichkeit gesetzt ist; das, was wir tun im sittlichen Akt, ist der
Akt der Selbstintegration des Lebens im Geistigen. In der Sphäre der
Produktion ist das Geistige das, was man unter analoger Anwendung
eines religiösen Symbols schöpferisch genannt hat und was die Kultur
betrifft. Die gesamte Sphäre der Kultur ist aufnehmend im ästheti-
schen und erkennenden Handeln und umgestaltend im sozialen und
politischen Handeln. Und drittens die Selbstmanifestation des Lebens
in all seinen Formen dessen, was über das Leben hinausweist, und
das ist der Sinn des Religiösen, dies Hinausweisen des Lebens über
sich selbst in der Funktion der Selbstmanifestation.
Nun haben Sie diese drei Formen, in denen das Leben sich bewegt,
alle Dimensionen des Lebens sich bewegen und das geistige Leben
sich bewegt. Und wenn wir diese drei Funktionen haben, haben wir
zugleich eindeutig den möglichen Grund des Zwiespalts, nämlich den
Kampf der Integration des Lebens mit der Desintegration, und die
Tatsache, dass in jedem Akt der Integration zugleich Desintegration
vor sich geht, und zweitens den Akt des Schöpferischen in allen
Lebensformen und die Tatsache, dass in jedem Akt des Schöpferi-
schen zugleich das Zerstörerische gegenwärtig ist, und drittens, die
Selbstmanifestation des Lebens, [und die Tatsache], dass in jedem Akt
der Selbstmanifestation des Lebens zugleich die Selbstverhüllung des
Lebens vorliegt. Dies ist die Grundstruktur der Gedankenwelt, die ich
heute in ihren grundlegenden Voraussetzungen entwickelt habe.
353
2. Vorlesung
(Freitag, 20. Juni 1958)
354
Selbstidentische hinausgeht. Aber da das Hinausgehen zugleich ein
Sich-von-sich-selbst-Entfernen bedeutet, so folgt aus dem Fundamen-
talprinzip der Identität mit sich selbst die Rückkehr zu sich selbst.
Dies ist das Grundschema, von dem wir ausgegangen sind, und mit
diesem Grundschema sind wir dann zu drei überall nachweisbaren
Lebensfunktionen gekommen, die alle drei mit dem Wort „Selbst“ zu
tun haben: die Selbstintegration des Lebens, die Selbstproduktion des
Lebens und die Selbstmanifestation des Lebens. In jedem Lebenspro-
zess ist eine Mischung zwischen dem, was die Wirklichkeit essentiell,
und dem, was sie existentiell in der Entfremdung von ihrem wesen-
haften Sein ist. Das Leben ist die ständige Mischung, das ständige
Ineinander dieser Elemente, sodass es keinen Prozess gibt, von dem
man unzweideutig sagen könnte, er liegt auf der einen oder auf der
anderen Seite, er liegt unzweideutig auf der Seite des Wesenhaften,
dessen, was ein Wesen schöpfungsmäßig ist, und dem, was es aktuell
ist in dem Stand der Entfremdung, in dem alles Seiende sich befin-
det. In jedem Lebensprozess sind beide Elemente immer vorhanden,
und darum spreche ich von der Zweideutigkeit des Lebens als dem
Zentralbegriff. Alle Lebensprozesse sind zweideutig, sie manifestieren
beides, essentielles Gut-Sein und existentielle Entfremdung. Das sind
die Grundlagen, von denen ich ausgehe.
Nun stehen wir den drei großen Lebensfunktionen gegenüber: der
Funktion der Selbstintegration, der Funktion der Selbstproduktion
und der Funktion der Selbstmanifestation des Lebens, und ich will
in den drei Vorlesungen (die dritte an Stelle der Diskussion) dieses
Thema der Reihe nach behandeln, und zwar in folgender Weise: Jede
dieser drei Funktionen findet sich in allen Dimensionen des Lebens
und soll zumindest kurz in allen Dimensionen nachgewiesen werden,
obgleich man aus diesem Schema eine ausführliche Lebensphilosophie
entwickeln könnte; die entscheidende Analyse soll in der geistigen
Funktion gegeben werden.
Das Verhältnis der drei Lebensfunktionen zu der geistigen Funk-
tion ist so, dass die Selbstintegration des Lebens zu ihrer Vollendung
und zugleich zu ihrer höchsten Zweideutigkeit kommt in der mo-
ralischen Funktion des geistigen Lebens, dass die Selbstproduktion
zu ihrer höchsten Vollendung und zugleich zu ihrer größten Zwei-
deutigkeit kommt in dem, was wir Kultur nennen, und dass die
Selbstmanifestation des Lebens zu ihrer höchsten Vollendung und
zugleich zu ihrer tiefsten Zweideutigkeit kommt in dem, was wir die
religiöse Funktion nennen. In dieser ganzen Analyse ist das Problem
355
der anderen Seite sozusagen noch nicht angedeutet. Wir werden aber,
wenn wir von der religiösen Funktion sprechen, die Zweideutigkeit
der Religion gerade in dem Verhältnis der Lebensseite und der an-
deren Seite, was immer das sein mag, des Lebens finden.
Die beiden heutigen Stunden sollen gewidmet sein der Bespre-
chung der Selbstintegration und der Desintegration des Lebens in
allen ihren Dimensionen. Ich möchte beginnen mit einem kurzen
Überblick über diese Funktion in der anorganischen und organischen
Dimension des Lebens.
Um das zu rechtfertigen, brauche ich zunächst nur hinzuweisen auf
das, was über die Dimensionen gesagt worden war, nämlich, dass in
allen Dimensionen die Zweideutigkeit des Lebens sich darstellt und
dass in allen Dimensionen die Frage nach dem Unzweideutigen gestellt
werden muss. Aber ich kann noch etwas Konkreteres hinzufügen. Ich
glaube, dass wir heute nicht mehr sprechen können von der Sphäre
des Körperlichen und Geistigen, ohne von diesen Dimensionen des
Organischen und Anorganischen auch zu sprechen. Was wir heute
brauchen, ist eine Philosophie und Theologie der Krankheit, und wir
können das nicht haben, ohne in allen Dimensionen zu denken. Ich
glaube, dass ich kein großes Geheimnis verrate, wenn ich sage, dass der
Gedanke der dimensionalen Gegenwart aller Dimensionen in den Din-
gen zum großen Teil abgeleitet ist von Arbeiten und Gedanken über das
Heilen und die Krankheit und die Gesundheit in allen Dimensionen.
Ich glaube, dass ich damit eine vorchristliche, und zwar unmittelbar
vorchristliche Tradition aufnehme. In der jüdischen Apokalypse ist dies
Problem immer ein Zentralproblem der Religion gewesen. Für lange
Zeit kam dann die Kluft zwischen Medizinern und Theologen, und in
der letzten Zeit ist diese Kluft reduziert und noch nicht überwunden,
aber im Begriff, überwunden zu werden. Und diese Tatsache bedeutet,
dass wenn wir philosophisch und theologisch dieser Situation nach-
kommen wollen, dass wir dann eine Theorie der Krankheit in allen
Dimensionen haben müssen und dass wir ohne eine solche Theorie
auch den religiösen Begriff des Heilens, salvatio, „heil machen“, nicht
haben können. Das ist der Grund, warum ich mir erlaube (ich muss
es so ausdrücken, obgleich ich weit davon entfernt bin, auf diesem
Gebiet ein Fachmann zu sein), doch einiges auszudrücken, was, wenn
man eine kosmische Sicht der Wirklichkeit hat und keine partikulare,
notwendigerweise von uns aufgefasst werden muss.
Wir können von der Selbstintegration der anorganischen Gestalt
sprechen, von den Kräften, die in dem Universum, abgesehen vom
356
Lebendigen, dazu führen, dass wir überall Zentriertheit finden, dass
die Körper nicht erscheinen als unzentrierte diffuse Verteilung von
Atomen, die sich gegenseitig stoßen, sondern dass sie immer erschei-
nen als zentrierte Körper. Das ist so im Makrokosmos der Gestirne,
und das ist so im Mikrokosmos, in den atomaren und subatomaren
Strukturen. Jeder Stern, jeder Weltkörper, ist eine Einheit, die zentriert
ist, mit einer Peripherie, in der die Tendenzen gegen die Zentrierung
sich zeigen; und so ist jedes System von Sternen. Das ist zumindest
erstaunlich zu denken, dass auch die Sterne in Gestalten zentrierter
Art im Kosmos auftreten. Und genau so ist es im Subatomarischen,
wo wir ja die Zentriertheitsform viel mehr kennen gelernt haben,
als die intuitive Philosophie der Griechen sie ahnen konnte, in den
Molekülen, in den anorganischen Körpern, Kristallen, und auch
in Kompositionen von Körpern. Wir finden in der anorganischen
Natur auch das Ineinandersein der Attraktion und der Repulsion,
des Hingeneigtseins zum Zentrum und des Auseinanderstrebens vom
Zentrum. Wir finden Konzentration und Expansion, wir finden Ver-
schmelzung und Spaltung. Diese Realitäten sind überall vorhanden
und sie sind die anorganische Analogie zu dem, was ich Selbstidentität
und Selbstverwandlung alles Seienden genannt habe.
Und nun ist es so, dass in keinem Augenblick eines physikalischen
Prozesses das eine oder das andere unzweideutig da ist. Der angloame-
rikanische Philosoph Whitehead hat von „Relationen“1 gesprochen,
um den Dingbegriff in der Natur zu vermeiden, und hat beschrieben,
wie keine Relation2 unzweideutig definiert werden kann, wie immer
die Selbstidentität in Spannung steht mit dem Über-sich-Hinausgehen.
Das bedeutet aber, dass jede Wirklichkeit, jede zentrierte Struktur
ein Sieg ist über die Tendenz zur Desintegration, dass es aber, wie
wir wissen, immer wieder geschieht, dass dieser Sieg der Integration
streitig gemacht wird und dass in jedem Augenblick die Kräfte mit-
einander ringen. Dadurch haben wir ein Weltbild, das schon in der
anorganischen Welt die mechanistische Metapher der [Ding-]Welt
hinter sich gelassen hat und in dem in irgendeiner Weise – ich sage das
ungern, aber da es sich um Analogien handelt, muss man es vielleicht
sagen – Vorgänge anschaubar geworden sind, wo eine Teilhabe nicht
nur eines von außen herkommenden Denkens, sondern ein durch
Analogie vermitteltes Teilhaben möglich ist.
1
Korr. (Typ. GS: Situationen)
2
Korr. (Typ. GS: Situation)
357
Das heißt, unsere Einsicht in den Kosmos, den uns die moderne
Naturwissenschaft vermittelt hat, hat etwas von der metaphysischen
Entfremdung überwunden, die zwischen dem Anorganischen und
dem Lebendigen bestanden hat. Und obgleich ich nicht gern naturwis-
senschaftliche Resultate benutze, um Gottesbeweise daran zu hängen,
die zehn Jahre später nicht mehr gültig sind, so glaube ich, dass es
sich hier zwar nicht um einen Gottesbeweis handelt, wohl aber um
eine Wandlung des geistigen Klimas in Bezug auf die anorganische
Welt. Und in einem anderen Zusammenhang würde ich sagen, dass
ich glaube, dass es in der atomaren Welt wie im ganzen Universum
keine Dinge gibt, dass nur wo der Mensch die Gestalten zerbricht
und dann neue macht, Dinge entstehen. Aber auch dann ist die
Grundlage dieser Dinge z. B. einer Maschine in der sub-atomarischen
Sphäre wieder nicht dinghaft, sondern gestalthaft.
Nun, all das ist unmittelbar zu beobachten in der Dimension des
Organischen und zwar sowohl im Biologischen wie im Psychologi-
schen. Alle biologischen Prozesse verlaufen deutlich zwischen einem
Pol der Selbstidentität, dem Festhalten an seiner Identität, und [einem
Pol] des Hinausgehens über die Identität. In allen Wachstumsprozes-
sen, der Aufnahme der Nahrung, den Bewegungsprozessen, finden wir
dieses Über-sich-Hinausgehen, das aber zugleich mit dem Willen – das
Wort „Willen“ darf hier nicht psychologisch genommen werden – ,
dem Trieb verbunden ist, sich zu behaupten und sich nicht zu ver-
lieren im Hinausgehen über sich selbst. Wenn einer dieser Pole – der
Pol der Identität mit sich selbst oder der Pol des Hinausgehens über
sich selbst – erreicht wäre, dann würde das Leben zu Ende kommen.
Und hier haben wir die erste Definition von Krankheit und auch von
Tod: Solange das Leben sich zwischen den Polen von Selbstidentität
und Selbstalteration, Selbstveränderung, Über-sich-Hinausgehen be-
wegt, ist es lebendig. In dem Augenblick, wo diese Pole erreicht sind,
wo nur noch Selbstidentität oder nur noch Über-sich-Hinausgehen
da ist, ist zunächst Krankheit und dann Tod die Folge. Krankheit,
kann man daher sagen, ist eine Selbstveränderung, die nicht dazu
führt, dass der Lebensprozess zu sich zurückkehrt, dass das, was
als Funktion oder Element in der Veränderung wirksam war, nicht
zur Einheit zurückkehrt. – Und das geschieht z. B., wenn fremde Ele-
mente eintreten in einen lebendigen Organismus und die Rückkehr
zur Einheit des Organismus verhindern, wenn sie nicht ausgestoßen
oder aufgenommen werden können, wie z. B. infektiöse Krankheiten.
Aber dieses Über-sich-Hinausgehen ist zugleich das, was das Leben
358
möglich macht. Ohne dass der Organismus ständig fremde Elemente
sich aneignet, ist der Lebensprozess nicht möglich. So haben wir also
hier im Biologischen in der Begegnung von Leben mit Leben beides:
Integration – die Einheit wird aufrecht erhalten und erweitert – und
Desintegration – die Einheit ist ständig gefährdet. Krankheit kann
auch von der anderen Seite her geschehen, nicht nur dadurch, dass
man über sich hinausgeht in einer Weise, dass eine Rückkehr nicht
möglich ist, sondern auch so, dass man nicht mehr die Kraft hat, über
sich hinauszugehen, sondern in sich selber festgehalten wird. Viele
der nicht-infektiösen Krankheiten haben diesen Charakter. Der Orga-
nismus will sicher sein, er will sich bewahren, er will nicht über sich
hinausgehen, aber er muss einen Preis für diese Sicherheit bezahlen,
nämlich den Preis, in sich zu erstarren. Aber da dies eine Selbstiden-
tität ist, die nicht mehr ein Hinausgehen zulässt, so ist die letzte Folge
ebenfalls Desintegration: Krankheit und Tod. Wir können also sagen,
dass nicht in die Einheit zurückgerufene Elemente, äußere and innere,
die Desintegration produzieren, die wir Krankheit und Tod nennen.
Elemente, die nicht in die Selbstintegration, in die Zentriertheit des
biologischen Organismus aufgenommen sind entweder eindringend
oder den Prozess anhaltend, sind die Kräfte der Desintegration.
Und hier kann ich vielleicht etwas sagen über eine Theorie, die
sozusagen die Krankheit zum Modell des Lebens selbst machen will,
ich meine damit die Theorie von Reiz und Reaktion, stimulus und
response. Diese Theorie setzt voraus, dass bestimmte Funktionen
isoliert werden von der Einheit des lebendigen Prozesses, und das
kann auf zwei Weisen geschehen. Die eine Weise habe ich eben be-
schrieben, es ist die Krankheit, und die andere Weise kann künstlich
erzeugt werden, es ist das Labor. Laboratoriumsexperimente, die
die Kurven von Reiz und Antwort beweisen wollen, sind immer,
wenn sie richtig durchgeführt werden, wahr. Sie sind aber richtig
nur unter der Voraussetzung, dass der Gesamtprozess des Lebens
angehalten ist. Das heißt, die Wahrnehmungen, die an dieser Kurve
vorgenommen werden, haben eine relative Gültigkeit. Wenn sie aber
als absolut gültig genommen werden, machen sie den Lebensprozess
definitionsmäßig zu etwas Krankem. Und das ist eines der Phäno-
mene, die wir jetzt oft in der Wissenschaft finden, dass bestimmte
Theorien, die heute gang und gäbe sind und die zum Teil als Dog-
men ausgegeben werden, durchaus richtig sind, aber sie sind richtig
unter der Voraussetzung verkrüppelter Lebensprozesse. Und in dem
Augenblick, wo diese Theorien sich selber einordnen würden als
359
Elemente in etwas Umfassenderem, wären diese Probleme gelöst. Sie
würden Recht haben, aber ihr Recht würde beschränkt sein durch
die Spontaneität des Lebensprozesses.
Nun, in der psychologischen Dimension zeigt sich derselbe Vor-
gang. Jedes psychologische Zentrum, d. h. jedes bewusste oder so-
gar selbstbewusste Wesen will über sich hinausgehen, will neue
Inhalte sich aneignen, will aber gleichzeitig sich selbst als Zentrum
aufrecht erhalten. Und in der psychologischen Wirklichkeit ist das
eine der fundamentalen Funktionen, in denen wir alle ständig leben
und mit denen wir alle ständig zu tun haben. Das Wandeln, das
Über-uns-selbst-Hinausgehen, kann zu einem Punkt kommen, wo die
Mannigfaltigkeit die Einheit zerstört, wo der Charakter der neu ein-
tretenden Elemente, visueller, akustischer oder jeder anderen Art, die
psychologisch wirksam ist, nicht mehr in die Einheit aufgenommen
werden kann oder wo bestimmte Elemente unserer psychischen Pro-
zesse sich gegen die Einheit erheben und die übrigen zu kontrollieren
versuchen, woraus dann die Neurosen und im schlimmsten Fall die
Psychosen sich ergeben oder, wo der Versuch gemacht wird – wir alle
kennen das – , bestimmte Situationen aufrecht zu erhalten gegen alle
Wandlungen, im Extrem: katatonische Zustände. Aber wir haben
das in allen unseren psychischen Reaktionen, nicht nur in diesen
Extremen der psychischen Krankheit. Das Selbst will sich bewahren
in seiner Zentriertheit, aber es will zugleich über sich hinausgehen
und will so viel wie möglich von der begegnenden Wirklichkeit in
sich aufnehmen. Nun, in gesunden Lebensprozessen, die wir gesund
nennen, sind diese beiden Tendenzen relativ balanciert, niemals völlig
balanciert, die Zweideutigkeit des Lebens lässt das nicht zu. Aber
sie sind relativ balanciert. Sowie wir dagegen zu dem persönlichen
Leben kommen, über das nur Psychische hinausgehend, und damit
zu den ethischen Problemen kommen, liegen die Dinge anders.
In uns allen ist, sobald wir an die ethische Zentriertheit denken,
die Balanciertheit aufgehoben, und in dieser Dimension finden dann
Prozesse statt, die dem, was ich eben sagte, analog sind. Ich erwarte,
für diese Behauptung ein Naturalist genannt zu werden, und nehme
dieses Schimpfwort nicht zu tragisch. Vielleicht gibt es einen Sinn von
Naturalismus, den man bejahen sollte, jedenfalls glaube ich, dass es
einen nichtreduktionistischen Naturalismus gibt, von dem man sagen
kann, dass er theologisch bejaht werden müßte.
Nun komme ich zu der geistigen Dimension nach all diesen Vor-
bereitungen und spreche über die Zweideutigkeit der persönlichen
360
Sphäre und der moralischen Sphäre. Geistiges Leben ist wirklich in
der Persönlichkeit und der Gemeinschaft in gegenseitiger Abhängig-
keit. Nur in der Gemeinschaft der Personen wird man Person, und
nur wo Personen sind, ist die Gemeinschaft und nicht Herde. Und
nun möchte ich sagen: Wenn wir das Wort „Moral“ hören, haben wir
oft Gedankengänge, die uns dieses Wort feindlich machen. Ich habe
immer wieder gefunden, dass im Englischen das Wort „morality“
noch einen positiven Sinn hat; im Deutschen ist „Moral“ einfach
„Moralismus“ oder Aufklärungsmoral oder bürgerliche Moral, auf
alle Fälle etwas Scheußliches. Und man benutzt dann ein vornehmeres
Wort, nämlich „ethisch“. Aber das wird auch bald unvornehm wer-
den, wenn es falsch benutzt wird. Statt dessen sollten wir folgende
Unterscheidung machen: „Ethisch“ sollte gebraucht werden für die
Theorie des Sittlichen und das Wort „Moral“ für den sittlichen Akt
selbst. Das Deutsche hat den großen Vorteil, das Wort „sittlich“ zu
haben, was das Englische nicht hat. Was ist ein moralischer Akt?
Was ist der moralische Akt als moralischer Akt? Es ist derjenige
Akt, in dem die geistige Dimension sich dadurch konstituiert, dass
die Persönlichkeit sich als Persönlichkeit konstituiert, und dieses
Sich-Konstituieren als Persönlichkeit in dem vollkommen zentrier-
ten Wesen, das wir Mensch nennen – andere kennen wir nicht – ist
das Fundament alles geistigen Lebens. Persönlichkeit nennen wir
das Leben eines völlig zentrierten Selbst, und völlig zentriert ist
nur der Mensch. In allen Tieren sind Elemente des Gebundenseins
an die Umgebung. Das Zentrum ist teilweise in der Peripherie, der
Umgebung. Und hier kann ich wieder etwas sagen über Theorien.
Die Theorie der Umgebung, diese Theorie, nach der alles, was im
Lebendigen geschieht, ein Resultat der Umgebung ist, ist genau die
Theorie, in der das Menschliche als Menschliches vermieden wird,
in der der Mensch reduziert wird auf etwas, was noch nicht Mensch
ist. Das vollzentrierte Wesen hat die Umgebung sich gegenüber und
hat nicht nur Umgebung sich gegenüber, sondern hat etwas, was
durch alle Umgebung bricht, nämlich Welt sich gegenüber. Und das
Welt-Haben ist das Korrelat zum völlig zentrierten Selbst. Wer nur
Umgebung hat, ist nicht völlig zentriert, nur wer Welt hat, ist völlig
zentriert, und Welt haben kann man nur, wenn man völlig zentriert
ist und daher fähig, sich selbst und seiner Welt gegenüberzustehen,
und das ist die Situation des Menschen.
In dem Augenblick, wo ein Selbst in diesem Sinne gefunden wird,
können Fragen gestellt werden. Nur aus dieser vollen Zentriertheit ist
361
Fragen möglich. … Das Tier kann nicht fragen, und nur da, wo man
gegenübersteht, kann man Forderungen empfangen und antworten,
und nur der Mensch kann antworten im Sinne der Verantwortung.
Diese Situation ist es, die ich das zentrierte Selbst nenne, und dadurch
wird der Mensch das Zentrum, sozusagen das Perspektive-Zentrum
seiner selbst und seiner Welt. Alles kommt in dies Zentrum zurück.
Jeder von uns blickt in diesem Moment auf diesen Raum, und jeder
einzelne Mensch in diesem Raum und jedes Steinchen der Wand
usw. sind in einem Zentrum, und ohne es voll bewusst zu haben,
blicken wir heraus über diesen Saal usw. in den Kosmos des Ganzen,
und das alles läuft1 zusammen perspektivisch in dem Zentrum, das
wir selbst sind. Und daraus kann es folgen, dass der Mensch die
ganze Welt gewinnen will, d. h. infolge seiner Zentriertheit sie in
sich hineinschlingen will und kann. Aber wenn er das versucht – wir
alle versuchen es ununterbrochen bis zu einem gewissen Grade – ,
gibt es einen Punkt, den er nicht in sich hineinschlingen kann, und
dieser eine Punkt ist das andere Selbst, das andere Zentrum. Und
an der Begegnung mit dem anderen Zentrum, das er nicht in sich
hineinschlingen kann, das nur zu Unrecht perspektivisch ganz in ihm
beschlossen ist, entzündet sich der ethische Akt.
(Pause)
Lassen Sie mich jetzt etwas über die Entstehung der Persönlichkeit aus
der Begegnung mit der anderen Persönlichkeit sagen. Wir sprachen
vom zentrierten Selbst, vom vollkommen zentrierten Selbst, das wir
nur in uns finden, das Welt und Selbst hat und ihnen gegenübersteht
und dadurch die Möglichkeit hat des Fragens, des Empfangens von
Antworten, des Antwortens, wenn die Welt zu ihm spricht, und des
Erfüllens von Forderungen, wenn aus der Struktur des Seins die
Wesensforderungen an ihn herankommen. Diese Situation ist nur
möglich, wo wir dem anderen Ich begegnen. Das reine Naturwesen,
das mit den Kräften der menschlichen Geistigkeit unendlich in das
Universum vorstoßen würde, ohne den Widerstand des anderen Ich zu
finden, dem würde das Entscheidende fehlen, nämlich die Möglichkeit
der Sprache. Nur in der Begegnung mit dem anderen Ich entwickelt
sich die Sprache, entwickelt sich die Möglichkeit, hinauszugehen
über das unmittelbar Gegebene zum Universalen.
1
Korr. (Typ. GS: sie alle laufen)
362
Ich kann das noch von einer anderen Seite her betrachten, nämlich
von der Tatsache, dass jedes Lebendige, jedes Selbst immer das Selbst
von jemand ist. Vielleicht ist die Zentriertheit des Lebens in nichts
so deutlich ausgedrückt als in der Jemeinigkeit des Lebens. Leben ist
immer „mein Leben“ oder „dein Leben“ oder „euer Leben“, es gibt
kein Leben abgesehen von diesem Wort, und dies Wort sagt nichts
anderes als: Hier ist ein1 Zentrum, das „mein“ und „ich“ sagen kann,
und mein Leben ist das Leben eines zentrierten Selbst, und in diesem
Selbst ist alles zentral eingeschlossen, was zu mir gehört, mein Ge-
wahrwerden meiner selbst, mein Gedächtnis, meine Vorwegnahme,
mein Hineinnehmen, meine Welt als meine Welt. Das ist es, was die
Ganzheit eines zentrierten Selbst konstituiert.
Und nun kommt der Lebensprozess, der die Doppelheit hat,
über sich hinauszugehen und zu sich zurückzukehren, weil er die
Identität mit sich selbst aufrechterhalten will, und das geschieht
in drei Richtungen, die ich zum Teil schon in der organischen, ja
sogar anorganischen und psychologischen Welt betrachtet habe,
nämlich die Verteidigung gegen und zugleich die Assimilation von
Fremdkörpern, die in mich eindringen wollen, die Gerichtetheit und
zugleich der Wille, in viele Richtungen zu gehen, der Wille, meine
Möglichkeiten zu entfalten, und das Erlebnis, dass zwischen den
Möglichkeiten ein Konflikt besteht, der zum Opfer führt. Und in
dieser Form erfährt das zentrierte Selbst, die Persönlichkeit, die eine
Persönlichkeit geworden ist durch die Begegnung mit der anderen
Persönlichkeit, sich selbst in ihrem Lebensprozess.
Die Einheit ist nicht statisch, sie ist dynamisch, sie wechselt, sie
geht über sich hinaus. Was wir selbst sind, ist niemals, in keinem
Moment, eindeutig definierbar. Daraus folgt, dass wir in der ständigen
Problematik sind, Fremdes und Fremdstoff, wie Goethe gesagt hat,
der sich immer eindrängt2, anzunehmen und abzuweisen. Wir können
überfüttert werden im Geistigen, wir können in unseren Interessen
ins Unendliche gehen und die Richtung verlieren.
Und diese Vorgänge sind es, die das Leben der Persönlichkeit so
zweideutig machen. Die fremden Elemente, die sich in der Lektüre
z. B. eines Buches in unser persönliches Zentrum eindrängen oder in
der Begegnung mit anderen Menschen, anderen Situationen, anderen
1
Korr. (Typ. GS: dein)
2
„Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen, Drängt immer fremd und
fremder Stoff sich an …“ (J. W. Goethe, Faust, 634 f.).
363
Sprachen, anderen Religionen in uns eindringen wollen. Um die
Selbstidentität zu bewahren, müssen wir es abweisen, müssen wir
viel von dem, was auf uns eindrängt, abweisen – aber wie viel? In
dem Augenblick aber, in dem wir es abweisen, werden wir um dieses,
was wir abweisen, ärmer; wenn wir es aber nicht abweisen, droht die
Zerrüttung des Zentrums. Und ich glaube, wir alle kennen diesen Le-
bensprozess. In gewissen Augenblicken unseres Lebens sind wir [über
uns] hinausgehend, wir versuchen, so viel wie möglich aufzunehmen,
Neues, Unerhörtes suchend – und in anderen Momenten gehen wir
zurück, weil die Fülle, das Hinausgehen das Zentrum zerstört. Wir
suchen die Balance, aber jeder Akt, in dem wir die Balance suchen,
ist zweideutig. Wir können in keinem Moment eindeutig sagen,
dass dies abgewiesen werden muss, dass dies angenommen werden
muss. Die Frage des Fremden, das wir aufnehmen, ist genau wie im
Biologischen, wie im Psychischen, wie im Anorganischen eine Frage
des Zentrums.
Ein anderer Ausdruck für die Zweideutigkeit der persönlichen
Selbstverwirklichung ist die Gerichtetheit. In welcher Richtung gehen
wir? Für junge Menschen ist dies oft eine Frage von Leben und Tod.
In welcher Richtung sollen sie gehen? Wenn sie in einer Richtung
gehen, werden sie starr; sie fühlen, wenn sie es aufgeben, in einer
Richtung zu gehen, verlieren sie sich in viele Richtungen, und das
Leben verliert seine innere lineare Gerichtetheit, es wird direktionslos,
wie wir sagen. Und diese Direktionslosigkeit ist wieder ein Element,
das die Zentriertheit zerstört und damit der Selbstintegration des
Lebens zuwider ist. Sie sehen, warum die ethischen Probleme kon-
kret so unendlich schwer sind wegen der Zweideutigkeit. Die eine
Richtung gibt uns vielleicht für lange Zeit ein Gefühl, nun endlich
Ruhe zu haben, nun endlich gesichert zu sein in unserem persönlichen
Zentrum. Aber im nächsten Augenblick – nach vielen Monaten oder
Jahren vielleicht – merken wir, dass wir in dieser Sicherheit verloren
haben, was wir hätten haben können. Und nun kommt vielleicht eine
Explosion, und wir gehen ins Direktionslose, in allen Richtungen.
Nehmen Sie das als eine kurze andeutende Beschreibung. Die
gesamte Literatur ist voll dieser Dinge, in Sonderheit die existenti-
alistische, die es sich unbewusst zur Aufgabe gemacht hat, die Des-
integration der Zentren zu beschreiben in der menschlichen Sphäre
und in der sozialen Sphäre.
Das dritte und vielleicht das fundamentalste dieser drei Dinge ist
bestimmt durch die Relation des Potentiellen und Aktuellen. Jeder
364
Mensch hat unendlich viel mehr Potentialitäten, als er aktualisieren
kann. Das Renaissance-Ideal der vollaktualisierten Persönlichkeit,
wie es symbolisch, nicht ganz empirisch, aber sicher symbolisch in
Menschen wie Leonardo da Vinci angeschaut wurde, dies Ideal hat
wenig aktuelle Realität. Es glückte hier und da, es glückte zum Teil
in Goethe – aber in dem Augenblick, wo wir es zur Norm machen,
wird das Ideal fast lächerlich im Anblick der Realität des gewöhnli-
chen menschlichen Daseins. Und selbst in diesen Großen sind Mög-
lichkeiten geopfert worden. Goethe selbst wusste, wie viel er opfern
musste, um jene Zentriertheit zu behalten. Und so stehen wir ständig
in dieser Situation, dass wir das Mögliche für das Wirkliche opfern
müssen und das Wirkliche für das Mögliche. Wer das Wirkliche für
das Mögliche opfert, kommt nie zur Verwirklichung, sondern springt
von einer Möglichkeit zur anderen, und die Wirklichkeit wird zer-
stört, desintegriert. Wer das Mögliche opfert für das Wirkliche, für
das, was er hat, bleibt arm, hat eine Sicherheit, die ihn schließlich
zerstört dadurch, dass sie den Lebensprozess der Selbstverwirklichung
eindämmt. Sie sehen jetzt an solchen Beispielen, die wir alle kennen,
dass die Analyse des Lebensprozesses, des Über-sich-Hinausgehens
und Zu-sich-Zurückkehrens als Selbstidentität und Selbstalteration
unmittelbarste Konsequenzen für unser tägliches Leben hat. Ich
denke an unsere Studenten. Ich weiß von vielen, die Begegnungen
in verschiedensten Richtungen und Interessen in vielen Richtungen
haben, dass sie Möglichkeiten opferten um einer Wirklichkeit willen,
in der sie integriert sein können, und diese Situation ist oft mit viel
Tragik und Leid verbunden – und doch ist es unvermeidlich. Aber
oft ist es dann so, dass dies Opfer absperrt, dass aus der Angst, der
Versuchung des Möglichen zu erliegen, sie sich im Wirklichen, in
dem, was sie haben, verfestigen und auf diese enge Welt sich schließ-
lich neurotisch zurückziehen. Das sind die Phänomene hier, und die
bringen mich zu einem Punkt, der vielleicht die Zusammenfassung
der ganzen Problematik der Selbstintegration des Lebens ist, nämlich
das Problem des Opfers.
In der christlichen Kultur unter dem Eindruck des Symbols des
göttlichen Opfers, der Wirklichkeit Gottes in der Entfremdung, ist
Opfer immer gepriesen worden. Aber Opfer auch ist zweideutig. Es
gibt keinen Pharisäismus, der berechtigt ist und sich auf das Opfer
als Opfer gründet. Es kommt darauf an, was geopfert wird und
wofür geopfert wird. Wir wissen aus der Tiefenpsychologie, wie viel
Opfer für andere Menschen eine Flucht vor der Möglichkeit ist, ein
365
Selbst zu werden, und zuweilen, wie viel Verweigerung des Opfers
der berechtigte Wille ist, seine Identität zu bewahren. Es gibt keinen
Absolutismus des Opfers. Das Opfer ist zweideutig. Und ich denke
an ein Wort von Nietzsche, der in seiner Kritik der christlichen Liebe
und der Hingabe im Opfer einmal darauf hingewiesen hat, dass es
darauf ankommt, was für ein Selbst in die Liebesbeziehung eingeht,
dass es ein wertloses Opfer gibt, weil das, was geopfert wird, wertlos
ist, nämlich ein schwaches Selbst, das nicht von sich selbst sein kann
und nur den einen Wunsch hat, sich selbst loszuwerden.1 Dann gibt
es das berechtigte Opfer, wo wirklich etwas hingegeben wird und
eben in dieser Hingabe von Möglichkeit um der Wirklichkeit willen
die Identität des Selbst erhalten wird. In keinem einzigen Moment
kann man mit gesetzlicher Formel sagen, was hier berechtigt und
was hier nicht berechtigt ist. Und ich würde das hinführen bis zu
der Zweideutigkeit des Gewissens im allgemeinen.
Aber das führt mich zu einem Punkt, der der letzte in dieser ganzen
Betrachtungsweise ist, nämlich die Zweideutigkeit des Moralischen.
Ich komme damit zurück auf das, was ich vorhin über den morali-
schen Akt gesagt hatte, und ich möchte das wiederholen und jetzt
weiterführen. Der moralische Akt ist nicht der Akt des Gehorsams
1
Paraphrase eines Zitats aus den nachgelassenen Fragmenten, die unter dem
Titel „Der Wille zur Macht“ in Band 18 und 19 der Musarionausgabe ver-
öffentlicht wurden. Darin unter der Nr. 296. „Die großen Verbrechen in der
Psychologie:
[…]
4) dass alles Große am Menschen umgedeutet worden ist als Entselbstung, als
Sich-opfern für etwas Anderes, für Andere; dass selbst am Erkennenden, selbst
am Künstler die Entpersönlichung als die Ursache seines höchsten Erkennens
und Könnens vorgespiegelt worden ist.
5) daß die Liebe gefälscht worden ist als Hingebung (und Altruism), während
sie ein Hinzu-Nehmen ist oder ein Abgeben in Folge eines Überreichthums
von Persönlichkeit. Nur die ganzesten Personen können lieben; die Entper-
sönlichten, die „objektiven“ sind die schlechtesten Liebhaber ( – man frage
die Weibchen!). Das gilt auch von der Liebe zu Gott, oder zum „Vaterland“:
man muß fest auf sich selber sitzen,
Der Egoismus als die Ver-Ichlichung, der Altruismus als die Ver-Ände-
rung … (F. Nietzsche, Gesammelte Werke, 18. Band, Der Wille zur Macht,
München 1926, S. 214 f. = KSA 12, S. 427 [Orthographie nach dieser Aus-
gabe]). Vgl. auch KSA 6, S. 305 (Ecce homo): „Die Circe der Menschheit,
die Moral, hat alle psychologica in Grund und Boden gefälscht – vermorali-
sirt – bis zu jenem schauderhaften Unsinn, dass die Liebe etwas ‚Unegoisti-
sches‘ sein soll … Man muss fest auf sich sitzen, man muss tapfer auf seinen
beiden Beinen stehen, sonst kann man gar nicht lieben.“
366
gegen ein Gesetz, ein menschliches, ein konventionelles oder ein
göttliches, sondern der moralische Akt ist der Akt, in dem das Selbst
sich als Selbst im Sinn der Person erfasst und verwirklicht. Wenn das
Moral ist, dann haben wir einen Begriff der Moral oder, wenn Sie das
schöner finden, der Sittlichkeit oder, noch vornehmer, der Ethik, der
völlig sich unterscheidet von jeder Gehorsamsethik, nämlich von jeder
Ethik, die das Gesetz als etwas auffasst, das jenseits des Wesens des
Menschen steht und dem er sich zu unterwerfen hat. In Wirklichkeit
ist das Gesetz der von der Weisheit der Menschen verstandene und
formulierte Akt der Selbstsetzung des Menschen in seiner wesenhaften
Menschlichkeit. Das Gesetz steht gegen uns, weil wir von unserer
wesenhaften Menschlichkeit entfremdet sind. Aber das Gesetz hat
keine andere Quelle als unsere wesenhafte Menschlichkeit, sonst
könnte es uns nicht integrieren, sondern würde uns desintegrieren.
Und das ist der erste und vielleicht entscheidende Punkt, den man
hier über die Zweideutigkeit des Gesetzes sagen muss.
Das Gesetz, d. h. das Moralgesetz, das im Gesetz der Völker, im
juristischen Gesetz einen positiven und konkreten Ausdruck gefunden
hat, ist nicht eine Erfindung der Mächtigen, ist nicht ein göttlicher
Befehl, der aus Willkür kommt, sondern ist das Wesen des Menschen
gegen den Menschen gestellt um der Selbstentfremdung des Men-
schen willen, um ihm zu zeigen, dass er selbstentfremdet ist. Das ist
die Funktion des Gesetzes. Das hat man einmal im Protestantismus
gewusst, das hat man gewusst, wenn man Paulus folgte, in der Ge-
schichte des Christentums, aber das ist verloren gegangen. Und das
Gesetz ist ein Fremdkörper geworden, der von außen her Forderungen
stellt, anstatt zu sagen, dass hier das vor uns als Spiegel gehalten
wird, was wir selbst sind. Und darum ist jeder Widerspruch gegen
das Gesetz ein Widerspruch gegen uns selbst, nämlich gegen unser
wahres Wesen. Wer nun dem Gesetz folgt oder zu folgen glaubt, fällt
notwendigerweise in die erste Zweideutigkeit des Gesetzes, nämlich
dass das Gesetz gerade darauf beruht, dass wir von dem entfremdet
sind, was der Inhalt des Gesetzes ist, und dass infolgedessen das
Gesetz uns nicht helfen kann, es ist ein Spiegel. Es kann auch in der
Zivilsphäre, in der bürgerlichen Sphäre, abschreckende Konsequen-
zen haben, wenn es mit der Drohung verbunden ist, aber es kann
nicht helfen. Man hat gesagt: „Du kannst, wenn Du willst.“ Die
Frage ist: Kann man wollen? Und warum können wir nicht wollen,
nämlich in dem Sinn, dass unser ganzes Sein darin steht, weil das
ganze Sein vom Gesetz entfremdet ist, weil der moralische Akt der
367
Selbstverwirklichung in einer Situation von uns vollzogen werden
muss, in der wir von uns selbst entfremdet sind.
Diese Zweideutigkeit des Lebens zeigt uns, dass die Frage ent-
stehen muss nach etwas, was jenseits der Sphäre des Moralischen
steht, eine transmoralische Moralität, wenn Sie wollen, etwas, was
den Akt der Selbstverwirklichung ermöglicht und darum nicht Gesetz
sein kann.
Eine andere Seite des Gesetzes, die vielleicht noch tiefer geht, ist
die, dass die Inhalte des Gesetzes aus der Kultur kommen. Als ich
vorhin sagte, im Gesetz ist das Wesen des Menschen, ihm gegenüber-
gestellt, weil er von ihm entfremdet ist, haben sicher manche gefragt:
Was ist denn dies Wesen des Menschen? Und in dem Augenblick, in
dem wir das fragen, kommen wir zu dem Problem der Inhalte.
Und dies Problem ist das Problem der Relation des Absoluten
und Relativen in der Moral. Jeder moralische Akt ist absolut, d. h.
er ist die unbedingte Voraussetzung geistiger Selbstverwirklichung.
In dem Sinne muss man von der Absolutheit des Ethischen reden.
Kein moralischer Akt, der konkret ist, ist absolut im Sinne seines
Inhaltes. Jeder Inhalt ist relativ, ist geschichtlich bedingt, ist situati-
onsbedingt. Darum sind die Debatten über die Absolutheit und Re-
lativität der Sittlichkeit so unfruchtbar, weil sie diese Unterscheidung
nicht machen. In dem Augenblick, wo ein sittlicher Akt Gegenstand
meines Gewissens ist, ist er absolut, auch wenn er falsch ist. In dem
Augenblick, wo ich mich frage: Welches ist das, was ich tun soll?,
bin ich in der Zweideutigkeit aller Inhalte. Die formale Absolutheit
und die inhaltliche Relativität müssen zusammengedacht werden in
jedem ethischen Akt, und das ist auch die Lösung dieser Problematik.
Eine andere gibt es nicht, aber es gibt eine Hilfe. Und diese Hilfe ist
die Erfahrung der Menschheit, die gewisse Gruppen des Handelns in
großer Allgemeinheit als desintegrierend erfahren hat, als hinderlich
für die Selbstrealisierung der ethischen Persönlichkeit, und diese Er-
fahrungen, die ich mit dem Begriff der Weisheit verbinden möchte,
sind in den Gesetzen niedergelegt. Die Zehn Gebote z. B. sind nicht
göttliche Forderungen, die aus dem Nichts kommen, sondern in ih-
nen spiegelt sich die Weisheit der Menschen, und zwar der Gruppe,
in der diese Gebote Gültigkeit erlangten, mit all ihren Relativitäten
wider. Diese Gebote als solche, vom Inhalt her gesehen, haben keine
Absolutheit, sie gehören zur Geschichte einer Feudalordnung, sie ge-
hören zu der Weisheit, die in einer bestimmten Zeit errungen war, und
darum mussten diese Gebote immer und immer wieder interpretiert
368
und immer wieder auf neue Situationen angewandt werden. Und wie
sie stehen, helfen sie uns nicht, sondern sind zerstörerisch, weil sie
der Realität der Situation, in der wir sind, nicht entsprechen.
Und das führt mich zu dem dritten Problem, nämlich zum Problem
der ganz konkreten Situation. Wenn man einen ethischen Akt in einem
bestimmten Augenblick vollziehen muss (und wir alle müssen dies
in dieser Stunde und in der nächsten Stunde und in allen Stunden
unseres wachen und zum Teil auch unseres nichtwachen Lebens),
wenn wir dann vor die Frage gestellt werden: Woher gewinnen wir
Normen, was verhindert die Dezentralisation, das Zerfallen unseres
integrierten Selbst, was nimmt uns die Qualität des Personhaften?,
dann kann die Antwort, glaube ich, nur eine dreifache sein – und
ich möchte von unten anfangen, nämlich von der konkreten Situ-
ation. Stellen Sie sich vor als unten-Mitte-oben: unten, das ist die
ganz konkrete Situation hier und jetzt, in diesem Augenblick. Das
ist die wirkliche menschliche Situation, und in dieser wirklichen
menschlichen Situation sind alle Zweideutigkeiten der moralischen
Wirklichkeit vereinigt. Jede Antwort bleibt ein Problem, aber eine
Hilfe ist da, nämlich die Situation selbst. Wie mein Freund Werthei-
mer, der Gestaltpsychologe, zu sagen pflegte: Die Situation schreit.
Sie ruft, sie hat etwas in sich, was zwar nicht eindeutig ist … Sie ist
vieldeutig, aber nicht alldeutig, Das heißt, nicht alles ist möglich, ein
begrenzter Spielraum ist gegeben. Das ist immer die eine Seite.
Dann gehen wir zu dem Nächsthöheren, und das Nächsthöhere ist
das, was ich das Gesetz oder die Weisheit nannte. Die Weisheit – man
hat sie in der amerikanischen Ethik die Mittelaxiome genannt1 – diese
Weisheit sagt: Es ist wahrscheinlich, dass Handeln in dieser Richtung
weniger desintegrierend für die Persönlichkeit ist als Handeln in einer
anderen Richtung. Aber das ist kein absolutes Gesetz, davon hatte
ich gesprochen. Die Zweideutigkeit ist nicht weggenommen.
1
Der Begriff „Mittelaxiom“ stammt von dem anglikanischen Theologen J. H.
Oldham, der ihn in die Vorbereitungsarbeit der Weltkonferenz für „Praktisches
Christentum“ in Oxford (1937) eingebracht hatte. Die Methode der „mitt-
leren Axiome“ ermöglicht, von den absoluten Forderungen der christlichen
Ethik zu sozialethisch anwendbaren Prinzipien zu gelangen. „Sie sind ein
Versuch, die Richtung zu bestimmen, in der der christliche Glaube sich in
einer besonderen Gesamtlage auswirken muß. Sie binden nicht für alle Zeiten,
sondern sind vorläufige Umschreibungen der Art von Lebensführung, wie
sie in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen von Christen
gefordert sind“ (J. H. Oldham / W. A. Visser ’t Hooft, Kirche und Welt, Band
4, hg. von der Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates für Praktisches
Christentum, Berlin 1937, S. 200).
369
Und nun kommen wir zum höchsten Prinzip: Gibt es vielleicht
etwas, was man als Wesen des Menschen bezeichnen kann und was
trotzdem nicht fixiert ist, was alle Dynamik des Lebens in sich hält,
was heruntersteigen kann in die konkrete Situation, was ihr echten
Sinn gibt? Und darauf würde ich sagen: Es ist das Prinzip der Liebe.
Das ist das einzige Prinzip, von dem ich glaube, dass hier die Lösung
gegeben ist zwischen dem Absolutismus der ethischen Forderung, die
unbedingt bleibt, was auch der Inhalt sei, und den konkreten Inhalten
mit ihren unermesslichen Zweideutigkeiten. Liebe ist fähig, genau
das zu tun, was ich vorhin nannte, nämlich in die Situation des Hier
und Jetzt zu gehen und zu horchen, was die Situation fordert. Ich
sprach vom Schreien der Situation; aber nun kriegt das Schreien auch
ein Ohr, das darauf hören kann, und das ist das Ohr der Liebe. Und
genau so ist es mit den Geboten der Weisheit. Sie bleiben bestehen,
aber keines von ihnen, kein Naturgesetz, wie es gewisse Theologien
wollen, kein göttliches Gebot, wie es andere Theologien wollen, keine
Theologie, die beides identifiziert, kann uns helfen ohne dies letzte
Prinzip, weil in dem Augenblick, wo wir ein Weisheitsgebot wie die
Zehn Gebote anwenden auf die konkrete Situation ohne Liebe, es
das Gegenteil der Liebe wird, es zerstörend wird für Persönlichkeit
und für Gemeinschaft. Und darum scheint mir, dass wir hier zu einem
Moment gekommen sind, wo das Transmoralische zum erstenmal
in unseren Blick tritt, nämlich das Prinzip der Liebe, Liebe in ihrem
vielfachen Sinn, auf den ich jetzt nicht eingehen kann, primär im
christlichen Sinn der agape, die sich wieder zurückbezieht auf die Be-
gegnung der Person mit der Person, die begrenzende Kraft des anderen
Selbst gegen mein Selbst, und die Notwendigkeit, das andere Selbst
als Selbst anzuerkennen. Das ist das Rückgrat in jedem Leben. Es ist
nicht die volle Liebe. Denken und Erkennen ist nur möglich in der
Teilhabe, und erst die verschiedenen Weisen des Teilhabens erfüllen
den Begriff völlig – aber das ist das Rückgrat des Begriffes …
Nun, ein Gebiet habe ich nur angedeutet, nämlich das Gebiet der
Gemeinschaft. Die Integrations- und Desintegrationsphänomene im
Gemeinschaftsleben sind nicht nur unendlich wichtig und analog zu
denen in allen anderen Lebensprozessen, sondern haben für unsere
gegenwärtige Situation eine ganz besondere Bedeutung. Es ist wohl
noch nie geschehen, soweit wir die Weltgeschichte kennen, dass
die Menschheit geeint war, potentiell technisch, und dass genau in
dem Augenblick, wo sie geeint war, die Weltkriege sie zerschnitten
und heute etwas vorliegt, was man als tellurische Schizophrenie
370
bezeichnen kann, ein Krankheitszustand, der sich über die gesamte
Menschheit erstreckt, über die gesamte Oberfläche der Erde, und von
dem aus Sie, wenn ich bisher nichts gesagt hätte und hier angefangen
hätte, ohne weiteres das Problem der Integration und Desintegration
des Lebens gesehen hätten. Wir sind heute durch diese kosmische
Schizophrenie in einem Zustand, in dem wir unsere eigene Realität
verlieren, wie es ja in der Schizophrenie der Fall ist. Keine der beiden
Seiten ist mehr fähig, das Realitätsprinzip auf die Menschheit als
solche anzuwenden.
Die Desintegration steht als tödliche Zerspaltung in jedem Augen-
blick vor uns, und dagegen hilft nicht, dass man gute Ratschläge gibt,
dass man Politik treibt, dagegen hilft vielleicht gar nichts. Vielleicht
ist es bis jetzt so, dass alle Versuche, etwas dagegen zu tun, wie es
in allen echten Strukturen der Zerspaltung ist, die Zerspaltung noch
verstärken. Vielleicht kann das Tun gar nichts tun, ich lasse die
Frage offen. Aber ich möchte sagen, dass, wenn es ein großartiges
und grauenvolles Beispiel für Integration und Desintegration gibt,
dann ist es dies.
Bis 1900 gab es keine Menschheit außer in philosophischer Abs-
traktion oder im religiösen Mythos, eine reale Menschheit gibt es seit
Beginn unseres Jahrhunderts. Und in dem Augenblick, wo empirisch
Menschheit möglich war, trat die Zerspaltung ein, die heute nicht
nur zwischen Ost und West vorliegt, sondern die alle Menschen in
einen inneren Zwiespalt treibt und die im Unbewussten – ich glaube,
das ist, was uns die Psychologen berichten – Verwüstungen anrichtet,
deren Ausmaß wir kaum abschätzen können.
Wenn das so ist, dann entsteht die Frage: Kann das Liebesprinzip,
das wir in der Begegnung von Mensch und Mensch, auch in der
Begegnung des Menschen mit sich selbst angewandt haben, kann
das auch auf die Begegnungen der Gruppen angewandt werden?
Ich glaube, es kann. Aber es ist genau wie mit dem Liebesprinzip
im einzelnen Leben. Wir können es nicht anwenden, und darum
spreche ich so kritisch gegen alle Heilmittel-Politik, gegen alle, die
sagen: „Wenn nur alle Menschen gut sind, sich vereinigten, wie
herrlich! – (denn die Menschen guten Willens sind immer wir und
nicht die anderen) – wenn nur …!“ Aber das ist der Trugschluss. Dar-
aus wird ein Gesetz abgeleitet, und dies Gesetz heißt: Der andere soll
seinen bösen Willen aufgeben. Und dies Gesetz hat die notwendige
Konsequenz wie alles Gesetz: Da es nicht erfüllbar ist, produziert es
das, wogegen es steht, mit noch schärferer Bedrohung als vorher.
371
Damit sind wir an einem Punkt angekommen, wo die einzige
Antwort sein kann: Es möge sein (wir wissen es nicht), dass auch
in dieser schwersten Krankheit, die die Menschheit in unserem his-
torischen Bild bisher erlebt hat, heilende Kräfte sind, genau so wie
sie im Einzelnen sind, und dass diese heilenden Kräfte letztlich als
Kräfte des Gefühls des Menschen für den Menschen auch die Führer
in dieser Spaltungssituation ergreifen werden, nicht um sie fromm
zu machen, zu Pazifisten zu machen, das können sie nicht, aber
um Möglichkeiten zu schaffen. Das ist eine Hoffnung. Wenn diese
heilenden Kräfte, die nicht unsere Kräfte sind, genau so wenig wie
in unserem persönlichen Leben, sich nicht in der Menschheit finden,
dann ist die Menschheit zur vollen Desintegration, d. h. nicht nur zur
Krankheit, sondern zum Tode verurteilt. Das ist die Ernsthaftigkeit
dieser Lehre von der Zweideutigkeit des Lebens. Hier kommt sie zu
einem Punkt, wo niemand mehr ausweichen kann, wo nur die Frage
erhoben werden kann: Sind Kräfte vorhanden jenseits der Sphäre des
Moralischen, jenseits der Sphäre des Gesetzes, die in diesem Falle
das tun können, was sie im Einzelnen tun?
Wir können keine Antwort mit Sicherheit geben, das Warten,
das Gerichtetsein ist die Haltung, die für uns nötig ist, zusammen
mit dem Verstehen dessen, was geschieht. Wenn wir aber versuchen
wollen, mit Mittelchen die Desintegration eines Neurotikers oder
eines Psychotikers zu überwinden, dann tun wir dasselbe mit der
Menschheit, wenn wir mit Mittelchen die tellurische Schizophrenie,
in der wir stehen, überwinden wollen.
372
3. Vorlesung
(Freitag, 27. Juni 1958)
Wir haben heute die dritte Vorlesung über das Gesamtthema „Die
Zweideutigkeit des Lebens und die Frage nach dem Unzweideutigen“.
In der ersten Vorlesung habe ich den Lebensbegriff zu entwickeln
versucht, und zwar in der Weise, in der wir ihn voraussetzen, und
habe aus den verschiedenen Lebensbegriffen den Begriff gewählt, den
ich den universalen nannte, der alles Seiende in allen Dimensionen
umfasst. Und dann kamen wir zu drei Funktionen des Lebens: der
Selbstintegration, der Selbstproduktion und der Selbstmanifestation.
In der vorigen Vorlesung haben wir die Selbstintegration des Lebens
verfolgt und zwar so, dass wir erst auf alle Dimensionen, auch die
anorganische, die organische und psychische Dimension des Lebens
achteten und dort die Zweideutigkeiten der Selbstintegration aufwie-
sen. Am Ende aber kamen wir zu der Dimension, die gewöhnlich
die geistige genannt wird und in der sich die Zweideutigkeiten der
moralischen Selbstverwirklichung der Persönlichkeit zeigten.
In analoger Weise will ich in dieser Vorlesung über die Zwei-
deutigkeit des Lebens in der Funktion des Selbstproduktion des
Lebens sprechen und auch hinführen zu der Dimension des Geistigen,
diesmal aber nicht zu der Moralität, sondern zu der Kultur und
dann sprechen über die Selbstmanifestation des Lebens, wobei in
der geistigen Dimension wir zu der Zweideutigkeit in der religiösen
Funktion kommen werden.
Zunächst also die Zweideutigkeit des Lebens in der Sphäre der
Selbstproduktion. Ich gebrauche absichtlich das Wort „Selbstpro-
duktion“. Es wäre wahrscheinlich schöner, von Selbstschöpfung zu
reden. Ich zögere, weil das Wort „Schöpfung“ und „schöpferisch“,
das aus dem Mythos stammt und von den Göttern, von den Ur-
mächten ausgesagt war, mehr und mehr zu einem Wort geworden
ist, das auf alle menschlichen Aktivitäten angewandt wird bis zur
Produktion einer neuen Zahnpasta – auch das ist ein „schöpferischer
Akt“! Und wo das geschieht, da verliert ein solches Wort, dessen
urmythische Kraft doch bewahrt bleiben sollte, diese Kraft völlig, und
das Ergebnis ist, dass man es für seinen ursprünglichen Sinn nicht
mehr anwenden kann. Aber abgesehen von dem Kampf gegen den
Missbrauch des Wortes „schöpferisch“, müssen wir unterscheiden
zwischen den urschöpferischen Akten des Lebens und dem, was auf
der Basis der Urschöpfung innerhalb des Geschaffenen vor sich geht.
373
Alles Leben setzt Leben voraus, um Leben zu schaffen, und das ist
der Grund, warum wir zu der letzten Voraussetzung alles Lebens
kommen, dem Grund des Lebens, wo das Wort „Schaffen“ seinen
eigentlichen, vom Mythos her stammenden Sinn hat. Und nun ist es
so, dass genau wie im Prozess der Selbstintegration die Zweideutigkeit
darauf beruht, dass der Integration immer und überall Desintegra-
tion gegenübersteht, dem Selbstproduzieren des Lebens immer die
Selbstzerstörung des Lebens gegenübersteht. Und wie in der Bespre-
chung der Selbstintegration die höchste Zweideutigkeit gefunden
wurde in der Sphäre des Moralischen, weil da die Integration die
vollkommenste ist und zugleich der Widerspruch der stärkste, so ist
es auch in der Funktion der Selbstproduktion. Sie kommt zu ihrer
höchsten Erfüllung in der Sphäre, die wir Kultur nennen und über
die ich nachher zunächst einmal definitorisch einiges sagen möchte.
Und wie die Zweideutigkeit des moralischen Gesetzes die Grundlage
ist für die Frage nach dem, was unzweideutig ist, nach dem Trans-
moralischen oder dem ewigen Leben, so ist es in der Sphäre der
kulturellen Selbstproduktion des Lebens, wo aus der Zweideutigkeit
aller kulturellen Aktion die Frage nach dem entsteht, was man als
transkulturell bezeichnen könnte und das identisch ist mit dem, was
wir „ewiges Leben“ nennen.
Nun, wie wir es in der ersten Betrachtung, nämlich in der über
die Selbstintegration getan haben, so müssen wir auch in der De-
batte der Selbstproduktion einen Blick auf alle Dimensionen des
Lebens werfen. Ich glaube, dass Sie verstanden haben, dass meine
Leidenschaft in dieser Vorlesung vor allem auf die Einheit des Seins,
die Einheit des Lebens geht, dass ich versucht habe zu zeigen, dass
dieselben Vorgänge, die wir im Ethischen und, wie ich es heute zei-
gen will, im Kulturellen und im Religiösen erleben, dass dieselben
Vorgänge der Integration und Desintegration, der Produktion und
Destruktion, der Manifestation und Verhüllung überall verbreitet
sind in allen Dimensionen des Lebens, die ich eben aus diesem Grund
nicht Schichten, sondern Dimensionen nenne.
Wenn wir auf die anorganische Kultur blicken, so können wir
auch hier wieder unterscheiden zwischen den makrokosmischen
und mikrokosmischen Vorgängen. In den makrokosmischen Vor-
gängen ist das Problem ja so lebendig gewesen seit der Entdeckung
des Entropie-Gesetzes, dass immer wieder Theologen versucht ha-
ben, dieses Entropiegesetz zu benutzen, um daraus theologische
Schlüsse zu ziehen. Sie wissen, das Entropiegesetz bedeutet, dass
374
die Energie, die im Gesamtkosmos vorhanden ist, sich im Prozess
der Realisierung verliert durch die Ausstrahlung der Wärme, durch
die Unmöglichkeit des Zurücknehmens eines Prozesses, der einmal
vor sich gegangen ist und bei dem Energieverlust stattgefunden hat.
Diese Entropielehre hat den Theologen oft den Gedanken gegeben,
dass man nun wisse, dass Gott die Welt geschaffen haben muss, da
ja ohne einen schöpferischen Anfang die Welt längst am Wärmetod
zugrunde gegangen wäre. Aber hier hat man eben übersehen – nicht
nur, dass methodisch solche Dinge unzulässig sind – , sondern dass
die Analogie hier ganz anders gelagert ist. Die Analogie zwischen
den allgemeinen produktiven und zerstörerischen Lebensprozessen
und dem Gesetz der Entropie liegt ja darin, dass in beiden Fällen
die Prozesse zweideutig sind. Die Gottesbeweise aus dem Entropie-
gesetz setzen voraus, dass die Prozesse eindeutig sind, nämlich auf
Erschöpfung hinauslaufen. Das ist aber keineswegs die Antwort, über
die heute und vielleicht immer Sicherheit in der Naturwissenschaft
selbst besteht. Wir wissen nicht, ob gegenüber den Kräften, die zum
Wärmetod oder Kältetod führen, nicht andere Kräfte vorhanden
sind, die dem entgegenwirken, so dass in jedem Prozess zweideutige,
schöpferische oder besser produktive und zerstörerische Elemente
vorliegen. Mehr als das können wir nicht sagen. Wir können sagen,
dass eins feststeht, dass die Analogie der Selbstproduktion und der
Selbstzerstörung in die geheimnisvolle Region hineinreicht, wo mit
den subatomarischen Kräften auch Raum und Zeit geschaffen wer-
den. Darüber hinaus können wir nicht gehen. Aber Tatsache [ist],
dass die Welt von vornherein so angelegt ist, dass in den physischen
Prozessen selbst das Produktive und das Destruktive darin sind und
in irgendeiner Form, deren genaue Beschreibung wir nicht haben,
sich die Waage halten, jedenfalls in den Prozessen, die wir heute
und jetzt kennen.
Und das hat schon von selbst aus dem Makrokosmos in den
Mikrokosmos geführt in der Betrachtung dessen, was ich das Subato-
marische genannt habe, wo wir ständig Produktion und Destruktion
in den kleinsten Teilchen beobachten können. Wenn man so etwas
einen Moment ernsthaft sich vorstellt, imaginiert, heißt das, dass das
Leben in allen seinen Dimensionen diese Zweideutigkeit von Produk-
tion und Destruktion hat, dass es eben so ist. Und wir können, wenn
wir Imagination anwenden, vielleicht auch sagen, es könnte ja auch
anders sein – und es ist immer gut, dass der denkende Mensch – darin
besteht im Grunde das Denken – sagt: „Es könnte auch anders sein.“
375
Und wenn man das „könnte“ ernsthaft nimmt, wundert man sich,
dass es so ist, wie es ist. Und in diesem Falle: dass die Kräfte der
Selbstproduktion, auf denen unser Sein beruht, immer in zweideutiger
Verbindung mit den Kräften der Destruktion stehen.
Von da aus möchte ich auf das organische Leben eingehen, von
dem wir sagen können, dass die Bedingungen des Lebens selbst die
Bedingungen sind des Todes. Es ist nicht so, das wäre nicht zwei-
deutig, dass hier Lebenskräfte sind und hier Todeskräfte, sondern es
ist ja so, dass dasselbe, was das Leben bedingt, die Bedingung des
Todes ist. Es sind nicht zwei verschiedene Lebensfunktionen, son-
dern es ist die zweideutige Einheit von Produktion und Destruktion
in jeder Funktion. Und nur wenn man das verstanden hat, dann
versteht man den Sinn des Lebens und den Sinn des Todes in ihrer
Einheit. Die Bedingungen des Lebens sind auch die Bedingungen des
Todes. Der Tod ist nicht etwas, was von außen schneidet, sondern
er ist gegenwärtig in jedem Lebensprozess von Anfang bis zu Ende,
obgleich der wirkliche Tod eines lebenden Wesens nicht nur von dem
abhängig ist, was in einem Individuellen geschieht, sondern auch von
der Konstellation aller Lebensbedingungen.
Wenn wir so sprechen, dann kommt ein mythisches Bild vor
unsere Augen, auf das Simmel1 hingewiesen hat, das mythische
Bild der Parzen, die den Faden abschneiden, ihn abmessen und ihn
schneiden, nachdem sie ihn gesponnen haben, die drei Funktionen
der Parzen. Hier sehen Sie auch eine bestimmte Art der Einheit von
Leben und Tod im griechischen Symbol. Aber man kann mit Recht
sagen, vielleicht ist diese Beschreibung des Todes noch zu äußerlich,
sie bringt das Schicksal von außen herein. Aber sie beschreibt eine
Seite nicht, von der die Griechen wussten seit Anaximander, aber
die in diesem Symbol nicht vorliegt, nämlich dass ja ein schwarzer
und ein weißer Faden – wenn wir weiß als Symbol des Lebens und
schwarz als Symbol des Todes nehmen – vom Moment der Geburt
an ineinander verflochten sind, dass das Abschneiden nur möglich
ist, weil schon der Faden, der das Ende bedeutet, von vornherein
gegeben ist. Keine Parze, ja kein Gott könnte den Faden abschneiden,
wenn der Faden nicht in sich selber schon beide Elemente hätte in
zweideutiger Einheit, das Element des Sich-selbst-Schaffens und das
Element des Sich-selbst-Zerstörens.
1
Georg Simmel, Tod und Unsterblichkeit, in: Ders., Lebensanschauung. Vier
metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918, S. 99-153; 99 f.
376
Und nun möchte ich von hier aus auf verschiedene Formen, in
denen der Lebensprozess produktiv und mit seiner Produktivität
zugleich destruktiv ist, hinweisen, auf drei Formen: Wachstum, Werk
und Fortpflanzung. Jedes Leben versucht, und zwar immer bis zu
gewissem Grad erfolgreich, über sich hinauszuwachsen, intensiv und
extensiv. Leben will immer mehr sein, als es ist. Das entspricht der
grundlegenden Struktur, die wir im Anfang formuliert haben, nämlich
des Aus-Sich-Herausgehens und Zu-sich-Zurückgehens des Lebens.
Und wir nennen das Wachstum, und dies Wachstum ist nicht etwas
Äußerliches, was sozusagen geschehen kann oder nicht geschehen
kann, sondern es gehört zum Wesen des Lebens in all seinen Formen,
dass es wächst.1 In dem Augenblick, wo das aber aufhört, hört das
Leben auf. Das ist Selbstschöpfung des Lebens. Und dies Wachstum
hat zur Folge, dass das Leben dadurch, dass es wächst, etwas über-
windet, dem es zugleich unterworfen ist, es überwindet die Trennung
der räumlichen und zeitlichen Existenz, [die] in der anorganischen
Sphäre herrschend ist, obgleich nicht ausschließlich.
Auch darüber möchte ich ein paar Worte sagen, weil da die erste
Analogie zu dem erscheint, was ich als ewiges Leben beschreiben
würde. Nehmen Sie einen Baum. Das Wachstum bedeutet, dass in
Bezug auf den Raum der Baum mehr ist als eine Konstellation von
räumlich nebeneinander liegenden Elementen. Im Baum ist eine
Raum überwindende Einheit gegeben, die sich darin zeigt, dass,
was der Wurzel geschieht, auch dem Blatt geschieht, während das,
was diesem Tisch hier geschieht, an und für sich diesem Stuhl nicht
geschieht, sie stehen nebeneinander. Im Baum ist der Raum insoweit
überwunden, als an jeder Zelle der räumlichen Ausdehnung eines
Baumes das, was an der einen Zelle geschieht, auch anderen Zellen
mit geschieht.
Und das gleiche gilt auch für das Altern. Auch hier ist etwas
überwunden, nämlich das Nebeneinander der Zeit. Im kleinen Kind
ist der Greis gegenwärtig potentiell, und im Greis ist noch das kleine
Kind gegenwärtig aktualisiert. Und damit ist der Unterschied des
Kindesalters und des Greisenalters zeitlich nicht mehr entscheidend.
Das, was im Flusse geschieht, dass das Wasser jetzt hier und dann dort
ist und die Orte gar nichts miteinander zu tun haben, geschieht in
diesem Lebensprozess nicht. Hier ist die Selbstproduktion des Lebens
1
Zum Folgenden vgl. Tillichs Frankfurter Vorlesung „Geschichtsphilosophie“
von 1929 / 30, EW XV, S. 22, 53-55.
377
das Hinausgehen in eine Überwindung der auseinander liegenden
Momente von Zeit und Raum.
Und wenn wir dies Beispiel im Tier fortführen, dann kommen wir
zu dem Raum der Bewegung,1 und dieser Raum der Bewegung ist
wieder ein Hinausgehen über die Gebundenheit an den bestimmten
Raum, in dem das Tier in diesem Moment des Hier und Jetzt sich
befindet (als Beispiel das höhere Tier genommen). Es befindet sich
potentiell in allen Räumen, die ihm offen sind, und dem Tier sind nur
beschränkte Räume offen, auch die wandernden Vögel (Zugvögel)
haben Grenzen – beim Menschen ist das anders. Und wir erleben das
jetzt in ungeheurer Intensität in Bezug auf die Öffnung aller Räume,
auch jenseits der Erdbewegung.
Und genau so in der Zeit. Die Zeitlichkeit im Tier wird im Wachs-
tum überwunden durch die Erinnerung und Vorwegnahme. Ein Tier
schafft sich eine Einheit der Modi der Zeit, die in der rein physika-
lischen Zeit der auseinander liegenden Momente nicht gegeben ist.
Das war ein Beispiel, und ich glaube, schon dieses Beispiel zeigt, dass
diese Betrachtungsweise eigentlich mehr eine Tür ist als ein Raum,
ein Eingang in eine fast unerschöpfliche Fülle von Möglichkeiten,
die sich aus einer solchen Betrachtungsweise ergeben.
Im Werk schafft das Leben sich über sich hinaus dadurch, dass
es sich selber einen Raum schafft. Und auch hier können wir zu-
rückgehen bis zu den Tieren, die ja alle insofern Werk ausüben, als
sie das tun müssen, was fundamental für alles Sein ist, nämlich sich
einen Raum schaffen. Was die Völker in den Kriegen tun, sich einen
Raum schaffen und um des Raumes willen Kriege führen, das tut
jedes Tier, in seiner Weise gebunden und doch frei, es transformiert
das Gegebene, es hat diese Freiheit, nicht einfach von der begeg-
nenden Umgebung abhängig zu sein, sondern diese Umgebung sich
anzueignen, sich eine Höhle, ein Nest, einen Raum zu schaffen, von
dem es vorstoßen kann in den Raum der Umgebung, und gelegentlich
sehr weit in diesen Raum. Das Werk im Menschen wird dann gipfeln
in der technischen Transformation der gesamten Wirklichkeit, die
im Tier vorgebildet ist und in der etwas geschaffen wird, was das
Lebensproblem von uns allen in unserer Zeit ist, mehr als in anderer
Zeit, nämlich das Schaffen des Lebens, das sich selbst schafft und
das dabei eine Welt über der gegebenen Welt schafft, die Welt, die
1
Zum Folgenden ebd., S. 22 f.
378
technisch gestaltet ist, die nun eine Selbständigkeit gewinnt, nachdem
sie geschaffen ist, eine Selbständigkeit, die den Schöpfer bedroht.
Und dann das Dritte, was wir als Selbstschöpfung oder Selbst-
produktion des Lebens beschrieben haben, nämlich die Fortsetzung
jedes individuellen Lebens durch die Produktion neuen individuellen
Lebens innerhalb der gegebenen Spezies, die Fortpflanzung. Und hier
kommen wir zu einem Punkt, wo es vielleicht am nächsten liegt, das
unschöne Wort „Produktion“ durch das schöne Wort „Schöpfung“
zu ersetzen. Es gibt sicherlich in der gesamten biologischen Wirklich-
keit keine Sphäre, in der dies angemessener wäre, weil hier mehr als
irgendwo anders das Neue entsteht, nämlich das neue Individuum.
Und doch müssen wir sagen: Auch hier ist das Wort „Schöpfung“,
wenn wir es gebrauchen wollen, nur analog zu gebrauchen. An und
für sich gehört es zu der Urschöpfung, nämlich der Schöpfung aller
Möglichkeiten im göttlichen Leben selbst, und dies ist eine ewige
Schöpfung.
Ich muss weitergehen … Wir müssen zu der Zweideutigkeit in die-
sen großen Lebensprozessen der Selbstproduktion kommen. Wachs-
tum schließt in sich den Konflikt mit anderem Leben, und es gibt
kein Wachstum ohne ein Vorstoßen des einen Lebens in das andere
Leben und ohne Beraubung des anderen Lebens von Möglichkeiten,
selbst vorzustoßen. Wenn wir einmal eine Phänomenologie der Be-
gegnung schreiben würden – ich kann rein biographisch erzählen,
dass meine letzte Arbeit in Frankfurt vor 1933 ein Versuch war,
eine Phänomenologie, d. h. eine Erscheinungslehre der Begegnung
auszuarbeiten1 – , ergibt sich eine Unendlichkeit von zweideutigen
Phänomenen, von Phänomenen, in denen ständig die Konfliktsitua-
tion gegeben ist, zugleich aber die Wachstumssituation gegeben ist.
Die Individualisierung des Lebens führt dazu, dass in jeder Begeg-
nung ein Hinausstoßen auf der einen Seite und ein Gegenstoß auf
der anderen Seite ist. Beobachten Sie einmal psychologisch, was in
Ihnen geschieht, wenn ich zu Ihnen spreche. Ich stoße vorwärts mit
meinen Gedanken und zum Teil mit meinen Emotionen und Leiden-
schaften, die in meinen Worten sind. Sie nehmen auf oder stoßen
dagegen, und auch im Aufnehmen ist noch ein Stück Gegenstoß, weil
1
Gemeint ist Tillichs Frankfurter Vorlesung über Geschichtsphilosophie von
1929 / 30, jetzt veröffentlicht in: EW XV, S. 1-289. Auch seine in demselben
Semester gehaltene Vorlesung über Sozialpädagogik (EW XV, S. 291-348)
stellt eine „Phänomenologie der Begegnung“ dar.
379
die Aufnahme nicht einfach ein passives Aufnehmen ist, sondern ein
Hineinnehmen und Verwandeln in den Aufnahmeformen, die Ihnen
gegeben sind durch Geschichte und Schicksal. Solche Vorgänge des
Vorstoßens, des Zurückweichens, des Gegenstoßens machen alle
Begegnungsprozesse aus. Und darum zeigen alle Beobachtungen der
Begegnungsprozesse stärker als irgendetwas anderes vielleicht die
Zweideutigkeit der Lebensprozesse selbst.
Daraus ergibt sich auch etwas, das uns zurückführt zur ethischen
Betrachtung. Daraus ergibt sich wieder einmal die Unmöglichkeit
eines allgemeinen Gesetzes, das etwa in Form des Liebesgebots die
Realität der Begegnungsanalyse übersieht und infolgedessen als Uto-
pie zu dem führt, wozu alle Utopie, aller Götzendienst führt, nämlich
zur metaphysischen Enttäuschung, die tiefer ist als die pragmatische
Enttäuschung, die wir täglich erleben, die uns Tag und Nacht umgibt.
Aber hier handelt es sich um eine andere Art Enttäuschung, nämlich
um Enttäuschung, in der unsere ganze Existenz in Frage gestellt ist,
weil wir unser Vertrauen in etwas gesetzt hatten, das der Realität nicht
entsprach. Aus der Analyse der Begegnungsvorgänge kann man z. B.
die Kritik des dogmatischen gesetzlichen Pazifismus ableiten, desje-
nigen Pazifismus, der glaubt, dass Begegnungsvorgänge – Vorstoßen,
Zurückweichen – verboten werden können im Namen Gottes oder im
Namen einer autonomen Ethik. Das heißt, das Leben ist verboten,
denn im Leben ist ständig das Vorstoßen, das Hineinnehmen, das Aus-
stoßen, das Zurückweichen, das Hineinziehen und unzählige andere
Phänomene dieser Art, in denen das Leben sich selber schafft, aber
zugleich ständig sich selber dem Risiko der Selbstzerstörung aussetzt
und ständig Momente der Selbstzerstörung in Form von Leid und
Tod auf sich zieht. Hier kann man sofort sagen, ein Lebensprozess,
der nicht mehr wagt, vorzustoßen, ist tot, und ein Lebensprozess,
der nur vorstößt, verliert sich selbst und stirbt daran. Nur in einer
gewissen Balance der Zweideutigkeit der Selbstproduktion kann das
Leben einhergehen.
Und dann ein Zweites, das wieder höchst aktuell für unsere Zeit
ist: das Werk und seine Zweideutigkeit. Ich deutete es schon an von
einem anderen Gesichtspunkt aus, nämlich die Zweideutigkeit in der
technischen Kultur, wo das Leben etwas geschaffen hat, was nun das
Leben zerstört, aber nicht nur zerstört, sondern auch weiterschafft.
Und unter dieser Zweideutigkeit der technischen Kultur leiden wir
alle, und vielleicht kann ich sagen, dass man in Amerika dieser Dinge
sich so bewusst geworden ist, dass man dort fast noch mehr leidet als
380
hier, wo die früheren Schicksale immer noch dies Problem überschat-
ten. Aber in einer Kultur wie der Amerikas ist das große Problem:
Kann das Leben sich retten gegen das, was es hier geschaffen hat,
was dem Leben gegenüber selbständig geworden ist und was nun das
Leben zu zerstören sucht, durch jenes Phänomen, das wir mit einem
schönen unübersetzbaren deutschen Wort „Verdinglichung“ nennen
können, das Hineinziehen aller Lebensprozesse in das Werk und in die
Resultate des Werks. Zunächst in das Werk – die Unmöglichkeit für
den Menschen, sich dem Werk zu entziehen, die völlige Versklavung
unter das Werk in den Augenblicken der Ruhe. Das große Problem
der amerikanischen Kultur ist heute die Freizeit, die ja immer noch
anwächst, und die Unmöglichkeit, die Freizeit wirklich als freie Zeit
zu haben, anstatt sie zu haben als eine Mischung von Fortsetzung des
Werks und Langerweile. Und das ist eine Seite des Problems.
Aber tiefer vielleicht ist die andere Seite des Problems, nämlich
diese objektive Wirklichkeit, die dahin gestellt ist und die nun den
Menschen zu einem Teil ihrer selbst macht und ihn treibt, selber
ein Teil der großen Maschine zu werden. Es ist das, was schon in
den frühen Werken des Marxismus vorkommt, die Versachlichung.
Verdinglichung des Menschen – das Hineingepresstwerden in den
Werkprozess … Aber sollen wir deswegen das Werk aufgeben, Ma-
schinenstürmer werden? Oder glauben wir, dass die gesellschaftlichen
Lösungen die Lösung sein werden? Vielleicht haben wir es noch in
diesem Jahrhundert geglaubt – die Geschichte dieses Jahrhunderts
hat gezeigt, dass dies keine Lösung sein kann, dass die Kräfte, die
um den Menschen kämpfen, in einer tieferen Schicht liegen.
Und dann das letzte, was ich noch erwähnen muss, die Erschöp-
fung des Lebens. Jeder Lebensprozess hat in sich die Tendenz, sich zu
erschöpfen, noch ehe eine äußere Wirkung ihn zu Ende bringt, und
diese Erschöpfung ist nicht etwas nur Objektives, was uns geschieht,
sondern ist zugleich etwas Inneres, das auf das Ende zugeht. Der
Mann, der darüber das Tiefste gesagt hat, und dies Tiefste müssen
wir verteidigen gegen seine Schüler noch mehr als gegen seine Kri-
tiker, ist Freud mit seiner Lehre vom Todestrieb, wie immer auch
diese Lehre von seinen Schülern weggeworfen ist, weil verständlich
ist, wie schlecht das Wort „Trieb“ hier ist, Eines ist richtig: In allem
Leben finden wir eine Sehnsucht nach seinem eigenen Ende, aber
auch Sehnsucht ist eine Metapher. Wir finden neben dem sich selbst
bejahenden Willen zum Leben den Willen, seine Welt zu verlieren und
damit sich selbst zu verlieren. Dieser Trieb, diese Tendenz ist nichts
381
anderes als das ständige Gewahrwerden der Erschöpflichkeit des Le-
bens und, obgleich wir finden werden, dass in der geistigen kulturellen
Produktion das Altwerden nicht notwendig identisch ist mit diesem
Sich-Erschöpfen des Lebens, so werden wir auch da finden, dass auch
da der Erschöpfungsprozess aller kulturellen Stile und Formen in allen
Perioden genau so unentrinnbar ist wie der Erschöpfungsprozess in
allem biologischen und psychologischen Dasein, und wie genau wie
in diesen eine Tendenz zur Selbstaufhebung einer Kultur sich gerade
am Ende der großen Kulturen in denjenigen Produktionen ausdrückt,
in denen die innere Angst des Endes einer Kultur am stärksten zum
Ausdruck kommt. Denn das ist die Zweideutigkeit, dass das, wohin
man strebt, das Zum-Ende-kommen, zugleich das ist, was die Angst
schafft. Und wenn Sie von da aus die Bilder des späten Mittelalters
ansehen würden, würden Sie vieles von dem besser verstehen, als es
durch Worte vermittelt werden kann.
(Pause)
Sie erinnern sich, dass in der letzten Stunde, vor acht Tagen, ich davon
sprach, dass die höchste Form der Zweideutigkeit der Integration
die Zweideutigkeit des Opfers ist. Um einer Anfrage willen möchte
ich bemerken, dass ich dabei nicht an das Opfer im absoluten Sinn
dachte, sondern an das Aufopfern bestimmter Dinge für bestimmte
Dinge und an die Zweideutigkeit eines jeden derartigen Opfers.
Ich möchte nun die gleiche Bemerkung machen in Bezug auf die
Selbstschöpfung des Lebens. In dem Gedanken der Fortpflanzung
war es schon vorhanden nach der positiven Seite, aber es muss noch
spezieller durchgeführt werden, und wir können sagen, dass die
höchste Form der selbstschöpferischen oder selbstproduzierenden
Kräfte des Lebens die sexuelle Gemeinschaft ist, die Gemeinschaft
der Geschlechter. Wenn das so ist, dann würde sich in der Gemein-
schaft der Geschlechter die Zweideutigkeit des Schöpferischen und
des Zerstörerischen in Sonderheit zeigen. Nun, ich kann nicht auf das
Problem als solches hier eingehen. Ich kann nur auf eines hinweisen,
das die Fülle der Formungen und Interpretationen dieses Verhält-
nisses auch innerhalb der Christenheit, der christlichen Geschichte,
und die Ungelöstheit des Problems in der christlichen Theologie und
im christlichen Leben heute zeigen, wie tief hier die Zweideutigkeit
zwischen Selbstproduktion und Selbstzerstörung geht. Vielleicht
ein paar Andeutungen. In der Ekstase des Sich-Einens ist immer
zugleich in der biologischen Welt und in der psychologischen Welt
382
bis hin zur Begegnung der Persönlichkeiten das Sich-Verlieren in
etwas Drittem ein Element dessen, was geschieht. Das, was man als
Rausch oder in einer höheren Form analog zur religiösen Ekstase
„Ekstase“ nennen kann, ist jedesmal zugleich eine Vollendung des
biologischen, des gesamten vitalen und seelischen Lebens und zugleich
ein Sich-Verlieren der unabhängigen Selbständigkeit jedes einzelnen,
wenn er in diese Wirklichkeit eingeht. Aber das ist nur eine Seite,
von der dabei die Rede ist.
Wir können einmal die ganze Betrachtung aus der äußeren Rela-
tion herausnehmen und das Gewahrwerden zum Gegenstand einer
selbständigen Betrachtung machen. Das Gewahrwerden des Lebens
im Sich-selbst-Schaffen drückt sich aus in der Zweideutigkeit von
Lust und Schmerz. An und für sich ist jeder selbstproduktive Akt des
Lebens von Lust begleitet und jede selbstzerstörerische Konsequenz
von Schmerz. Aber die Zweideutigkeit des Lebens lässt es ja nicht bei
dieser einfachen Unterscheidung, in Wirklichkeit sind beide Elemente
immer ineinander. Und auch hier können wir sagen, dass in der Ge-
meinschaft der Geschlechter die Zweideutigkeit beider Elemente zu
einer höchsten Vollendung kommt. Ich glaube, ich brauche über die
Dinge nicht viel zu sprechen, Sie alle wissen darum, aber ich glaube, es
ist nötig, dass, um das Leben zu verstehen und nicht mit zu einfachen
Rezepten an das Leben heranzugehen, wir uns dieser Tatsache der
Zweideutigkeit des Lebens auch an diesem Punkt bewusst sein müs-
sen. Lassen Sie mich daher schließen mit einer Betrachtung über ein
Prinzip, das in der akademischen Psychologie eine große Rolle spielt
und von dem ich glaube, dass es eine der größten Verzerrungen in der
Darstellung der Lebensprozesse darstellt, nämlich über das Prinzip
des Lust-Suchens und Schmerz-Vermeidens als Interpretation für alle
Bewegungen des Lebens, für den Lebensprozess. Die Psychologen
behaupten oft, dass jeder in jedem Moment nur die eine Tendenz
hat – es ist ja kein Wille, es liegt viel tiefer, unbewusster – , dem
Schmerz zu entgehen und Lust zu erreichen, möglichst viel Schmerz
zu vermeiden, möglichst viel Lust zu gewinnen. Wenn wir jetzt auf
die Analyse der Zweideutigkeit des Lebens mit etwas geschärftem
Blick sehen, dann finden wir, wie verkehrt diese Beschreibung ist.
In Wirklichkeit ist die Intention jedes Lebensprozesses, nun sage ich
einmal, Schöpfung, Selbstproduktion, Selbstintegration, Selbstmani-
festation, und nur das ist die Intention des Lebens als solchen. Und
das Leben, jeder von uns als Träger von Leben, fragt im Augenblick
der Selbstproduktion des Lebens nicht danach, ob dieser Akt der
383
Selbstproduktion Lust bringt oder ob er Schmerz bringt, und richtet
sich dann danach, sondern er ist gerichtet auf die Produktion selbst,
auf den Inhalt oder, wie es Plato ausgedrückt hat, er ist getrieben
durch den Eros, der sich auf den Akt des Schaffens richtet und
auf den Gegenstand, der geschaffen werden soll, aber niemals auf
Schmerzelemente oder Lustelemente richtet. Selbstverständlich ist im
schöpferischen Akt selbst Lust vorhanden, aber es ist ebenso Schmerz
vorhanden, und weder wird Lust gesucht – wenn sie gesucht wird,
kann sie gar nicht gefunden werden, weil dann der schöpferische Akt
schon kein schöpferischer Akt mehr ist, weil dann die Intention auf
Lustgewinn gerichtet ist. Und in dem Augenblick, wo das geschieht,
ist das Element der Selbstproduktion des Lebens verloren. Hier wie
in vielen Theorien des gegenständlichen Denkens besonders unserer
Periode, [liegt vor], dass sie das zur Norm machen, was das kranke
Leben charakterisiert. Nur das kranke Leben hat das Charakteristi-
kum, dem Lust-Schmerz-Prinzip zu folgen. Das gesunde Leben fragt
nicht danach oder nicht primär danach, sondern es fragt nach der
Möglichkeit, sich selbst zu produzieren, sich selbst zu integrieren
und sich selbst zu manifestieren. Und ich glaube, dass wir unsere
eigenen Aktivitäten an diesem Kriterium messen können und das
Maß unseres Krankseins an dem Maß messen können, in dem wir
diesem Prinzip folgen, das von gewissen Gedanken der modernen
Psychologie als das maßgebliche Prinzip hingestellt wird.
Das ist eine Nebenbemerkung, die aber von der Innerlichkeit der
Vorgänge des Lebens ein neues Licht auf die Zweideutigkeit wirft,
die Zweideutigkeit des Schmerzes, der immer mit Zerstörung verbun-
den ist, und der Lust, die immer mit Produktion verbunden ist, und
die Unmöglichkeit, diese beiden Elemente zu scheiden in unserem
unmittelbaren Gewahrwerden – was ein Ausdruck dafür ist, dass sie
nicht geschieden werden können in den Prozessen selbst.
Nun, dabei sind wir zu dem Punkt gekommen, wo wir fragen:
Wie steht es nun mit der Zweideutigkeit der Selbstproduktion in
derjenigen Produktion, die wir als die geistige bezeichnen, in der
Kultur? Wir müssen jetzt reden von der Zweideutigkeit der Kultur,
wir können das aber nicht, ohne einen Blick zu werfen auf das Ver-
hältnis, das die Kultur erstens wesensmäßig und dann aktuell hat zu
den beiden anderen Funktionen des menschlichen Geistes, nämlich
der Moralität des Sich-selbst-Setzens der Persönlichkeit und der
Religion, des Hinausgehens über die endlichen Formen andererseits.
Vielleicht können wir folgende Formulierungen gebrauchen, die die
384
Abkürzung der Formulierung einer ganzen Theologie ist, nämlich
die Formulierung, dass Moralität das Rückgrat der Kultur ist und
dass Religion die Substanz der Kultur ist. Und umgekehrt, dass die
Kultur der Moralität die Inhalte und der Religion die Form gibt.
Das ist das Verhältnis.
Ich will es wiederholen:
Erstens: Das Verhältnis von Kultur und Moralität: Moralität ist
das Rückgrat der Kultur. Ich muss hier diese organische Metapher
gebrauchen, weil Rückgratlosigkeit der Kultur die Form ist, in der
die Kultur sich der moralischen Selbstsetzung der Persönlichkeit
entzieht, gewöhnlich das, was wir mit Kierkegaard Ästhetizismus
nennen können.
Zweitens hatten wir gesehen, dass die Moralität zwar die Unbe-
dingtheit der Forderung enthält, aber nicht einen einzigen unbeding-
ten Inhalt als solchen [enthält] außer dem der Liebe und dass die
Liebe immer konkret [ist]. Die Inhalte kommen aus der Kultur. Die
Moral der verschiedenen Völker ist immer wieder von Anthropologen
und Ethnologen und von relativistischen Moralphilosophen benutzt
worden, um die Unbedingtheit der Moral zu verneinen, sie haben
aber verwechselt die Unbedingtheit des moralischen Imperativs mit
der Unbedingtheit der Inhalte. Es gibt keinen unbedingten Inhalt.
Und darum kann die Moralität nicht in Abstraktion von der Kultur
verstanden werden. Dabei entstehen oft sehr interessante Probleme,
da sich nämlich zeigt, dass die Betoner der Relativität der Moral oft
die simpelsten Verwechslungen vornehmen, die jeder Gestalttheoreti-
ker ihnen nachweisen könnte: dass nämlich in einer Kultur das, was
scheinbar Mord bedeutet, Töten bedeutet, dass in Wirklichkeit gar
nicht der Mord in dieser Kultur erlaubt ist, sondern bestimmte sehr
definierte Formen des Tötens. Und das findet sich in allen Kulturen
und in unserer nicht minder als in der primitivsten, und in dieser
Weise kann man oft finden, dass der Relativismus selber nicht ab-
solut gesetzt werden darf. [Wir finden] oft, dass erstaunlicherweise
die Weisheit der Nationen … aus ihrer Erfahrung ähnliche, analoge,
oft erstaunlich überraschend ähnliche Folgerungen gezogen hat und
Inhalte benutzt hat. Aber das ist ein Seitenweg.
Ich wollte sagen, dass die Kultur ohne das Rückgrat der Moral
und zwar der moralischen Persönlichkeit in der Gemeinschaft etwas
ist, was sich selbst verliert, und dass in derselben Weise Religion die
Substanz der Kultur ist und die Kultur der Religion die Form gibt.
Wenn ich sage: Religion ist die Substanz der Kultur, meine ich damit,
385
dass der unerschöpfliche Sinngehalt aller kulturellen Wirklichkeit aus
der Dimension des Unbedingten kommt, das allein unerschöpflich ist.
Das bedeutet nicht, dass Religion der Kultur unterworfen ist, sondern
nur, dass in jedem kulturellen Akt eine Dimension auffindbar ist,
die hinausweist über das nur Formale des kulturellen Aktes. Umge-
kehrt aber gibt die Kultur der Religion die Form, und hier brauche
ich mich nur auf eines zu beschränken, die Sprache. Die Religion
übernimmt die Form, die die Kultur geschaffen hat, wenn sie die
Sprache übernimmt, und alle Theologen, die eine supranaturalisti-
sche Religion verteidigen, die der Kultur gegenübersteht, verfallen
einer Selbsttäuschung. Sie gebrauchen, um die Kultur auszuschei-
den aus der Religion, alle kulturellen Inhalte, die ihnen die Kultur
geliefert hat, sie gebrauchen Sprache und damit Philosophie und
Kunst, sie gebrauchen die Gesamtheit der Kultur, spezielle Formen
des Zusammenlebens usw. D. h. im Wesenhaften kann die Kultur
ebensowenig von Moralität und Religion getrennt werden, wie die
beiden anderen von der Kultur getrennt werden können. Im Bild des
Wesenhaften sind die drei eine einheitliche Gestalt. Aber nun: Wir
sind nicht im Wesenhaften, wir sind im Existentiellen, Entfremdeten,
und wir sind in der Mischung des Wesenhaften mit dem existentiell
Entfremdeten, wir sind in der Zweideutigkeit des Lebens. Und in
dieser Zweideutigkeit des Lebens beginnt die kulturelle Form sich
loszumachen von ihrem Fundament und von ihrer Tiefe, von dem,
was ihr Halt gibt, nämlich dem Moralischen, und von dem, was ihr
Unerschöpflichkeit gibt, nämlich dem Religiösen. Die Kultur wird
autonom, und das gesamte Problem der Zweideutigkeit der Kultur
ist die autonome Kultur. Lassen Sie uns das zunächst durchführen
im Leben der individuellen Persönlichkeit.
Die kulturelle Persönlichkeit, das Leben, das sich selbst produziert
in der geistigen Dimension, ist in jedem ihrer Akte, ihrer autonomen
Akte zweideutig. Der Mensch in der kulturellen Produktion hat das,
was man die Möglichkeit und damit die Versuchung nennen kann. Er
hat die Möglichkeit, hinauszugehen über alles Gegebene, und diese
Möglichkeit ist wie alle Möglichkeiten seine Versuchung, Das Symbol
der Paradiesgeschichte bleibt für immer hier nicht ein Bericht, das
wäre absurd, sondern das klassische Symbol. Der Mensch, der die
Kräfte der Natur so beherrschen kann, wenn er vom Baum ißt, der
ihm diese Möglichkeit gibt, ist der Mensch, der Kultur schafft.
Und dieselbe Geschichte kehrt dann wieder in einer anderen
ebenso großen Variante, nämlich in der Geschichte vom Turmbau zu
386
Babel, wo es wieder die Kultur schaffende Kraft des Menschen ist,
die in ihrer Zweideutigkeit enthüllt wird. Die Zweideutigkeit in der
Paradiesesgeschichte ist, dass der Mensch nur dadurch geschichtlicher
Mensch wird, Reiche gründet, Sprache schafft, wie die Bibel selbst
erzählt, Kultur grundlegt, weil er aus dem Schlaf des Paradieses er-
wacht ist, dass aber zugleich, indem er in dieser Weise kulturschaffend
wird, er das verliert, mit dem er geeint war, über das hinausgeht,
was er hatte in der träumenden Unschuld seines wesenhaften Seins
(eine Metapher!), und dann in die Zweideutigkeit kommt, dass er
den Boden bearbeitet, aber dass zugleich der Boden ihm Fluch ist,1
dass er Arbeit und Werk nötig hat, dass aber Arbeit und Werk nicht
idealisiert werden wie in der bürgerlichen Gesellschaft, besonders
protestantischen Charakters, sondern dass es zugleich als Befreiung
und als Fluch verstanden wird und dass Fortpflanzung nicht nur
als Selbstschöpfung verstanden wird, sondern auch als Fluch über
das Weib.2
Nun, das ist die biblische Form, in der die Zweideutigkeit hier
klassisch ausgedrückt ist. Und dieselbe Zweideutigkeit haben wir in
der Geschichte vom Turmbau zu Babel. Die Menschheit lebte ne-
beneinander, nicht gegeneinander, nicht miteinander, und sie wollte
miteinander leben. Und um miteinander leben zu können, wollten sie
sich ein Zeichen machen, ein einheitliches Symbol, eine einheitliche
Sprache, eine einheitliche Kultur. In diesem Versuch, den auf den
heutigen Tag alle großen Imperien wiederholt haben und noch wie-
derholen, wird die Zweideutigkeit offenbar. Aus diesem Willen bricht
die Sprachverwirrung hervor, und erst jetzt sind sich die Menschen
ihrer Getrenntheit bewusst, jetzt entsteht die lange Geschichte, in
der Sprachgemeinschaften gegründet werden, deren jede ein kleiner
Turm zu Babel ist, und in der zugleich der Kampf dieser Sprachge-
meinschaften gegeneinander losbricht, weil sie zwar im selben Raum
leben müssen, aber sich nicht mehr verstehen können, nicht nur im
Sinne von Sprache und Fremdsprache, sondern auch von Sein und
Entfremdetsein. Und aus dieser Situation geht die Zweideutigkeit
des Lebens hervor.
In der modernen Kultur können noch drei andere Folgen genannt
werden, die aus der Kulturschöpfung als zweideutig sich ergeben.
Das eine ist die Fähigkeit der autonom schaffenden Form in allen
1
1. Mose 3, 17 f.
2
1. Mose 3, 16.
387
Gebieten, im Erkennen, in ästhetisch-künstlerischer Produktion, in
technischer Behandlung, in sozialer Gestaltung, in politischer For-
mung, überall kann die Form sich selber autonom verwirklichen
und muss es, und jeder Eingriff von außen würde zerstörerisch sein
für die Kultur, und die Kultur muss sich dagegen wehren. Aber die
Zweideutigkeit liegt gerade darin, dass im kulturellen Prozess selber
Gegenkräfte zerstörerischer Art sich erheben. Ich möchte drei nennen:
Spezialisierung, Ästhetizismus und Objektivierung oder Verdingli-
chung. Spezialisierung: Es wird unendlich viel von dem Spezialis-
tentum geredet, und das Spezielle ist ja das Wirkliche. Wir sollten
nicht so leichthin darüber schimpfen. Ohne in das Speziellste und
Konkreteste intensiv einzugehen, wird nichts geschaffen, sondern nur
Banalitäten oder Allgemeinheiten. Aber in dem Augenblick, wo wir
wiederum mit einem Opfer uns dem Speziellen so dienstbar machen,
dass wir jede andere Möglichkeit nicht nur in uns, sondern auch im
Kulturschaffen opfern, dann entsteht etwas, was für den Einzelnen
zerstörerisch ist und was für die Gesamtheit die Möglichkeit einer
sinnerfüllten Kultur ausschließt.
Daraus folgt der Gegenstoß, daraus folgt dann der Wille zu einem
Sich-Erheben über das Spezielle und aus diesem Willen das Nicht-
mehr-Hineingehen, das Nur-noch-Anschauen. Das ist Ästhetizismus
genannt worden. Es hat an sich mit Ästhetik oder gar mit Kunst
nichts zu tun, weil ja das Kunstschaffen das tiefste Hineingehen in
bestimmte Dimensionen des Seins voraussetzt. Es ist ein Wort, das
geprägt worden ist, weil viele Menschen mit Hilfe der distanzierten
ästhetischen Betrachtungsweise der Dinge sich der Verantwortung
für sie1 entzogen, der verantwortlichen Teilhabe. In Amerika kennt
man das Wort nicht; als ich es gebrauchen wollte, sagte ein Kollege:
„So etwas gibt es bei uns nicht, und darum haben wir auch kein
Wort dafür“ – weil eben der Aktivismus Amerikas eine derartige
Möglichkeit im allgemeinen verschlingt, und die schmale Bohème
in Greenwich Village kommt dagegen nicht an. Die ästhetische
Haltung bleibt draußen und opfert für das Übergreifende das Kon-
krete, das Hineingehen in die Spezialität und das verantwortliche
Teilnehmen an dem, was produziert wird. Ich brauche darüber nicht
viel zu sagen, was das bedeutet, dafür ist das gesamte Schrifttum
von Kierkegaard vielleicht die großartigste Darstellung, und nicht
1
Korr. (Typ. GS: an ihnen)
388
nur von Kierkegaard, ich würde auch sagen, weithin von Nietzsche
und von Marx, d. h. von allen den Vorläufern des Existentialismus
im 19. Jahrhundert, die alle gegen diese Art des Indifferentbleibens
gekämpft haben.
Dann das Dritte, das sich ergibt aus dem Verhalten der Persön-
lichkeit in der Kultur, ist die Objektivierung. Sie ist etwas ganz
Großes. Dass wir imstande sind, die Wirklichkeit als Objekte, als
das Gegenstehende, das Entgegengeworfene anzuschauen und auf
Grund der Anschauung ihrem eigenen Wesen nach zu erkennen und
dann auf Grund dieser Erkenntnis mit ihnen umzugehen, ist wahrlich
Selbstproduktion des Lebens, Selbstproduktion im höchsten Maße.
Und der Stolz der Menschheit, der auch in denen vorhanden ist, die
theoretisch es nicht zugeben würden, ist berechtigt. Der Mensch ist
dasjenige Wesen, das imstande ist, im Unterschied von allen anderen,
ein Objekt als Objekt zu haben, weil er das einzige Wesen ist, das
Welt als Welt hat und nicht nur an die Umgebung gebunden ist. Das
Tier kann die Umgebung nie wirklich objektivieren, es ist immer
gebunden an die Situation, die mit dem Wesen des speziellen Lebens
des Tieres verbunden ist. Ein Hund in einer Bildergalerie interessiert
sich für kein Bild, aber für den Ölgeruch. … Diese Situation zeigt,
dass Objektivierung Größe bedeutet. Und wieder sage ich: Wenn
wir Kulturkritik treiben, sollen wir uns nicht den Kulturkritikern
unterwerfen, die den Menschen im Grund zu einem Stückchen Na-
tur zurückwerfen wollen, ihn aus seinem welthaften Dasein, wozu
der Prozess des Objektivierens gehört, herausheben wollen. Das ist
nicht gemeint.
Diese haben eine eindeutige Antwort, wir bleiben bei der zwei-
deutigen Antwort, denn das ist die Wirklichkeit des Lebens, und
die zweideutige Antwort ist, dass bei dieser Objektivierung immer
zugleich etwas verloren geht, nämlich die Eros-Relation. Ein Freund
von mir in Amerika, früher in Deutschland, hat ein Buch geschrie-
ben: „Eros und Zivilisation“1 und hat versucht, vom Standpunkt der
Eros-Lehre die Schäden der Zivilisation, die besonders für ihn Freud
aufgedeckt hat, dies Unbehagen an der Kultur, wie Freud es nannte,
zu überwinden. Und darin liegt eine tiefe Wahrheit, nur dass er den
1
Herbert Marcuse, Eros and Civilisation, Boston 1955; deutsche Übersetzung:
Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Stuttgart
1957; Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund
Freud, Frankfurt a. M. 1970.
389
Fehler macht, sofort wieder auf die andere Seite der Zweideutigkeit
zu fallen, und glaubt, dass man den Eros haben kann und zugleich
die Objektivierung haben kann, ohne dass die Zweideutigkeit sich
bemerkbar macht. Wir haben das auch in einer anderen Schrift,
Erich Fromm: „The Sane Society“1 – Gesunde Gesellschaft macht
ähnliche Dinge. Das Problem ist ungeheuer lebendig: Wie können wir
die Wirklichkeit wiedergewinnen in der Form des Eros, nachdem es
gerade unsere Größe war, sie objektiviert zu haben? In Wissenschaft
und Technik, sozialen, juristischen Organisationen – überall wird
diese Frage mit Angst und Leidenschaft gestellt. Und ich glaube, dass
hier die Lehre von der Zweideutigkeit des Lebens uns daran hindern
kann, nach der einen oder anderen Seite [abzugleiten], und das ist
notwendig. Aber das Problem ist richtig gesehen. Wo bleibt der Eros
in der Vergegenständlichung? Ist nicht all das, was uns verbindet
mit dem Inneren der Natur, in dem Augenblick verschwunden, wo
die Natur zu einem Werkzeug gemacht wird? Heideggers „Gestell“,
nur noch hingestellt, nicht mehr Subjekt, nicht mehr aus sich her-
aus lebend, sondern zu einem Ding geworden, dem die andere Seite
fehlt, in dem aber zugleich das Gegen-Dinghafte, das Gestalthafte,
das Spontane da ist. Dieses kann Gegenstand des Eros sein, und die
einzigen, die es versucht haben, den Eros heute noch zu retten, sind
die Künstler. Ich glaube, dass in der so genannten abstrakten Malerei
von heute ein Beispiel gerade für die Zweideutigkeit der Vergegen-
ständlichung im kulturellen Produzieren [gegeben ist]. Auf der einen
Seite ist die Vergegenständlichung bis zum äußersten getrieben, alles
ist reduziert zu anorganischen Elementen, Linien, Farben, Kurven,
Farbtönungen, alles Organische, alles Subjektive, das menschliche
Angesicht, die tierische Schwermut, alles ist verschwunden. Aber
es ist nicht alles verschwunden. Die großen – nicht die kleinen,
nur nachahmenden – Maler haben aus diesen Kurven und Flächen
und Linien und Farben etwas gemacht, worin eine Dimension der
Wirklichkeit sich zeigt, die in den äußerlich genommenen … der
Bilder des späten 19. Jahrhunderts Tiefe ist. Und diese Tiefe zeigt
sich in diesen Bildern in der Gefülltheit der anorganischen Formen
mit kosmischer Substanz. Lassen Sie mich dieses etwas hochtönende
1
Erich Fromm, The Sane Society, New York / Toronto 1955; deutsche Über-
setzung: Der moderne Mensch und seine Zukunft. Eine sozialpsychologische
Untersuchung, Frankfurt a. M. 1960, 71974. Tillichs Rezension in: Pastoral
Psychology 6, 1955, S. 13-16.
390
Wort gebrauchen für etwas, das nicht einfach Ding ist. Diese Dinge
in der großen Malerei sind nicht nur Dinge, sondern etwas, wovon
ich vielleicht sagen möchte, dass es jenseits von Ding und Person,
von Subjekt und Objekt liegt, es ist hineingebannt in diese Kurven
und Formen, gewisse Bilder von Picasso und Braque und vielen
anderen. Wenn Sie darauf blicken, dann haben Sie hier ein neues
Beispiel für die Zweideutigkeit des Kulturschaffens, das imstande
ist, mitzugehen bis zum Äußersten der Objektivierung und dann
doch, sofern es Kultur produziert, sofern das Leben sich hier selbst
produziert, sich nicht zerstören lässt, sondern im Rückgang auf die
Urelemente etwas zeigen kann, was mehr ist als bloß Ding. Und
darum glaube ich, dass die moderne Kunst beides enthält. Sie weiß
mehr, als viele Philosophen und Theologen heute wissen, von der
Zweideutigkeit aller Lebensprozesse, aber sie hat den Mut, dadurch,
dass sie das Negative, die Zerstörung aller organischen Formen auf
sich nimmt, dass sie nicht künstlich organische Formen aufrechter-
halten will, die ihren Sinn verloren haben, dass sie dadurch zugleich
im Kulturschaffen neben dem Negativen, dem Zerstörerischen das
Selbst-Schaffende wieder aufzeigt.
Und darum soll diese ganze Analyse der Zweideutigkeit auch in
der Sphäre der Selbstproduktion der Kultur nicht pessimistisch oder
optimistisch sein – diese Worte sollten in der Philosophie überhaupt
vermieden werden, sie drücken Stimmungen aus und nicht Begriffe.
Was gemeint ist, ist eine exakte Beschreibung des Lebens, das niemals
nur Selbstzerstörung und niemals nur selbstschaffend ist, sondern
immer eines im anderen.
391
4. Vorlesung
(Freitag, 4. Juli 1958)
1
Korr. (Typ. GS: geschehen)
392
Daher kann auch die Religion dem Gesetz der Zweideutigkeit
nicht entgehen, und das Problem der Religion ist: Wie kann der Platz,
in dem die Zweideutigkeit des Lebens gewahr wird und die Frage nach
der Eindeutigkeit erhoben und beantwortet wird, zugleich eindeutig
und zweideutig sein? Das ist das tiefste Problem der Religion.
Aber ich will erst später auf das Problem der Religion kommen
und wie immer zunächst vom Leben als ganzem sprechen. Ich will
hinweisen auf die Art und Weise, in der das Leben aus der Tiefe
seines Mysteriums sich manifestiert. Ich möchte sagen, dass der
Begriff, den wir vielleicht am besten und adäquatesten dafür verwen-
den können, die Heiligkeit des Lebens ist. Und darum möchte ich
zuerst, anstatt von Religion zu reden, von der Heiligkeit des Lebens
reden und dabei einen Begriff benutzen, der ja der Grundbegriff aller
religiösen Erfahrung ist, nämlich Begegnung mit dem Heiligen, aber
diesen Grundbegriff anwenden auf die Wirklichkeit als Ganzes und
von der Heiligkeit des Lebens sprechen. Die Selbstmanifestation des
Lebens kann beschrieben werden als die Transparenz aller Lebenser-
scheinungen hin zu dem Letzten, was im Leben verborgen ist, was
noch tiefer liegt als der Unterschied des Potentiellen und Aktuellen.
Das Leben ist heilig, weil der schöpferische Grund in allem, was ist,
sich bemerkbar macht. Nun zugleich aber das: Diese Transparenz,
dies Durchscheinen des Lebens ist ein gebrochenes. Die Dinge haben
nicht nur Transparenz, sie vermitteln nicht nur und strahlen aus,
sondern sie halten auch umschlossen in ihrem Sein das Geheimnis
des Lebens. Wir können poetisch sagen, dass die Stimme dessen, was
im Grund des Lebens ist, durch alles Leben spricht, aber dass alles
Lebendige zugleich diese Stimme zum Verstummen zu bringen sucht
und seine eigene Stimme hörbar werden lässt. Und wenn es das tut,
wird alles Lebendige zum Götzen, und wir können den allgemeinen
Satz aussprechen, dass alles Endliche potentiell ein Götze ist, weil
es Heiligkeit hat. Die Möglichkeit der Vergötzung ist begründet in
der Heiligkeit des Lebens. Ohne die Heiligkeit des Lebens wäre es
unmöglich gewesen, dass alle Arten endlicher Dinge zu Götzen, d. h.
Objekten der Heiligkeit, die einen Unbedingtheitsanspruch für sich
selbst machen, geworden sind.
Nun, lassen Sie mich etwas beschreiben von dem, was ich mit der
Heiligkeit des Lebens meine. Es sind drei Dinge, die man vielleicht
herausgreifen kann, um die Heiligkeit des Lebens zu beschreiben: die
Mächtigkeit alles Lebendigen, das Gut-Sein alles Lebendigen und die
Größe alles Lebendigen. Aber alle drei, Macht, Güte oder Gut-Sein
393
und Größe, haben tiefe Zweideutigkeiten, haben Widersprüche, auf
die ich kommen will.
Zunächst die Zweideutigkeit der Macht des Lebens. Was meine
ich mit diesem Wort „Macht“ oder besser „Mächtigkeit“ (das ist
abstrakter, aber richtiger)? Ich meine nicht den soziologischen Begriff
von Macht, der nur eine Konsequenz eines tieferen Begriffes ist. Hier
zeigt sich z. B. das Verhältnis von Ontologie und Soziologie. Eine
Soziologie, die den Machtbegriff nur aus den sozialen Relationen
nimmt, weiß überhaupt nicht, was Macht ist, und kann infolgedessen
keine Antworten auf die ethischen Probleme der Macht geben. Nur
wenn man auf die Tatsache zurückgeht, dass Sein Seinsmächtigkeit
ist, nämlich die Macht, dem Nichtsein zu widerstehen, kann man
eine Ethik der Macht aufbauen. Hier zeigt sich an einem sehr ent-
scheidenden Punkt die bleibende Abhängigkeit aller Wissenschaften
von der Philosophie, wenn die Philosophie [sich] dieser ihrer Aufgabe
bewusst bleibt und sich nicht in Logik und Semantik zurückzieht.
Wenn ich von der Macht des Lebens spreche, so meine ich damit
die Seinsmächtigkeit, die in allem, was ist, wirkt und die allem die
Möglichkeit gibt, dass es ist es. Alles, was ist, hat Sein nur deswegen,
weil es an der Macht des Seins teilhat. Dieser Machtbegriff ist ein
nicht-bezogener Machtbegriff. Sie können nicht fragen: „Macht wo-
rüber?“, sondern es ist Macht an sich. Denken Sie an Tiere – ich bin
schon einmal darauf zurückgekommen – , die die Seinsmächtigkeit
in ihren Formen und ihren Bewegungen ausdrücken und die damit
auch ausdrücken ihre begrenzte Macht, dem Nichtsein zu widerste-
hen, Krankheiten, Schwächen, Verzerrungen, Angriffen. Wir fühlen
unmittelbar die Zweideutigkeit.
Und wenn nun der Realist kommt und uns kritisiert und sagt:
„Wie kannst du von der Heiligkeit des Lebens sprechen? Du kennst
das Leben nicht, das Leben ist profan“ – er hat Recht! Denn stän-
dig wird das, was heilig ist, nämlich Lebensprozesse, profanisiert,
d. h. vor die Tore des Heiligen gestoßen und außerhalb des Heiligen
gesehen. Lebendige Wirklichkeiten, von denen ich in den ersten Stun-
den sprach, werden in Dinge verwandelt und dadurch profanisiert.
Und doch, ich gehöre nicht zu den Maschinenstürmern und etwas
leichtherzigen Kritikern der Technik. Auch die Technik kann erlöst
werden von ihrem bloßen Dingsein. Und wer das tut? Die Kunst, in
der künstlerischen Formung technischer Gebilde, wobei künstlerisch
das Gegenteil ist von Verschönerung. Künstlerisch ist eine Form, in
der Leben sich selber ausdrückt. Und nur wenn die Realität dessen,
394
was künstlerisch geformt ist, in der künstlerischen Form da ist, zeigt
sich selbst in einem technischen Gebilde etwas von der Heiligkeit des
Lebens. Hier ist die künstlerische Form die lebendige Kraft.
Aber der Realist geht weiter und sagt: „Sieh dir die Gesichter
der Menschen an, denen du begegnest. Ist an diesen Gesichtern
irgendetwas anderes zu sehen als Profanität, als Stehen außerhalb
des Heiligen, als Mangel an Transparenz? Ist in ihnen irgendetwas
anderes zu sehen als das Nichts, das durchscheint? Nun, das ist so,
der Realist hat wie immer Recht; aber es stimmt nicht ganz. Es gibt
Augenblicke, wo auch an den entmenschlichten Gesichtern [sich die
Heiligkeit des Lebens manifestiert.] Ich habe zahllose Beobachtungen
gemacht, z. B. in der New Yorker Untergrundbahn, wo man sehr
viel Zeit hat, um solche Beobachtungen zu machen, und wo man
dann finden kann, dass selbst in entmenschlichten Gesichtern Leid,
Melancholie, Bitterkeit, Verzweiflung ist – alles Ausdrucksformen,
in denen die Erfahrung des Nicht-Durchscheinens durchscheint, in-
dem von der negativen Seite her die verlorene Heiligkeit des Lebens
sichtbar wird.
Nun daraus folgt, dass das Leben sich selbst manifestiert in allen
Dingen und zu uns spricht ohne Worte und dass wir seine Sprache
entziffern müssen. Wenn es spricht, spricht es von seinem letzten
Grund, aber oft spricht es gar nichts zu uns. Und diejenigen, zu denen
das Leben nicht mehr von seiner Heiligkeit spricht, sind diejenigen,
die nur noch von der Entleertheit des Lebens sprechen können, sind
diejenigen, die an den Abgrund der Sinnlosigkeit getrieben werden,
ein Phänomen, das zur Zeit vielleicht weiter verbreitet ist, als es in
irgendeiner anderen Zeit seit der Spätantike war. Das Leben wird
dann empfunden als nicht wert, gelebt zu werden. Zuweilen kommt
dann eine Reaktion, ein Evangelist kommt und gibt einen Inhalt, aber
dieser Inhalt hat nichts zu tun mit dem Leben – es wird ewiges Leben
von den Evangelisten genannt, und man will dann die Profanität und
Entleerung des Lebens hinter sich lassen und hinübersteigen zu einem
Leben, das ewig ist, d. h. in dem die Negativitäten überwunden sind.
Aber das ist ein falscher Ausweg.
Wenn wir das Wort „Ewiges Leben“ brauchen, dann ist es wie
mit allen großen Symbolen, dass sie zweischneidig sind. Sie symbo-
lisieren das göttliche ewige Leben und zugleich, wenn sie das tun,
erheben sie das Material, aus dem sie genommen sind, als Symbol
in die Sphäre des Heiligen. Und daraus folgt eine für dieses Thema
sehr wichtige Einsicht. In dem Augenblick, wo wir eine symbolische
395
Aussage über Gott oder göttliche Dinge machen, gebrauchen wir
Worte, die aus dem Material des alltäglichen Lebens gewonnen sind,
und wir gebrauchen sie mit Recht, wir haben keine andere Sprache
und können nichts anderes gebrauchen. Aber wenn wir es wirklich
tun, und mit voller Hingabe tun, voller Bejahung, dann geschieht
noch etwas anderes. Dann wird die Sphäre, aus der es genommen
wird, geheiligt.
Nur ein Beispiel: die Medizin. Viele religiöse Begriffe kommen aus
dieser Sphäre, z. B. „heilen“. Wie ich oft schon sagte, ist der Stamm
„salvare“, der im Englischen salvation, d. h. Erlösung, eigentlich
„Heilung“ bedeutet. Wenn man von Gott oder Christus sagt, dass
er der Heiler, der Heiland ist, dann ist damit die Sphäre dessen, wo-
raus das Symbol genommen ist, selber geheiligt. Das Heilen hat nun
die Kraft bekommen, das Göttliche zu symbolisieren, und ist damit
erklärt als etwas, das auf göttlichem Grund steht, sonst könnte es
das Göttliche nicht symbolisieren.
Nun eine andere Betrachtung: die Heiligkeit des Lebens vom
Standpunkt dessen, was sein soll. Alles Heilige hat zwei Seiten: das
Heilige als Sein und das Heilige als Sollen. Und wenn wir sagen,
dass die Heiligkeit des Lebens im Gut-Sein des Lebens besteht, so
ist damit eine bestimmte Haltung dem Leben gegenüber geboten,
und die Erfahrung der Heiligkeit des Lebens fordert diese Haltung
von uns. Ich nenne sie die Anerkennung der Unverletzbarkeit des
Lebens. Wer Leben verletzt, der verletzt sich selbst. Leben ist immer
das Leben von jemand oder von etwas. Und hier fühle ich mich trotz
mancher sonstiger Differenzen der Philosophie von Albert Schweitzer
sehr nahe und glaube, dass er etwas sehr Tiefes hier gesehen hat, was
vielleicht tiefer ist, als er es gesehen hat, … und wo wir ihn vielleicht
über ihn hinausführen müssen.1 Aber dass er von der Heiligkeit des
Lebens [spricht], ist im übrigen in der klassischen Tradition. Wenn
Sie gründlich das verzerrte Bild von Hegel verbrennen und sich die
Mühe machen, seine Jugendschriften zu lesen, werden Sie sehen,
dass dieses Bild eine Karikatur ist.2 Eines der größten Fragmente
in der deutschen philosophischen Literatur ist das Fragment vom
1
Vgl. das Rundfunkgespräch Tillichs mit Jerald Brauer (Chicago) vom 11.1.
1959 über Albert Schweitzer; ein Auszug daraus in: Lutherische Monatshefte
14. Jg., 1979, S. 511 f.
2
Vgl. Tillichs Frankfurter Hegel-Vorlesung von 1931 / 32 (EW VIII).
396
jungen Hegel – herausgegeben von Nohl1 – über Leben und Liebe,
wo er die Entfremdung des Lebens mit sich selbst, die Verletzung des
Lebens, das Fremde und die Reaktion des Lebens gegen den, der es
verletzt hat, beschreibt in Worten, die, wenn wir Zeit hätten, ich voll
zitieren möchte – denn dann haben Sie den wirklichen Hegel.2 Seine
dialektisch klappernde These-Antithese-Synthese ist eine Logisierung
dieses Ursprünglichen. Und dieses Ursprüngliche ist tiefe Einsicht in
die Heiligkeit des Lebens, und daraus sollten wir folgern, dass der
wirkliche Hegel sehr wenig mit der Karikatur zu tun hat. Ich will
damit aufhören, die Zweideutigkeit des Lebens ist klar.
Wir verletzen uns ständig nicht nur gegenseitig, sondern auch uns
selbst. In allen Lebensprozessen ist genau das ständig vorkommend,
manchmal mit Willen, meist ohne Willen, was eine Verletzung der
Heiligkeit des Lebens ist. Hier haben uns die Tiefenpsychologie und
die Novellistik, die sich zum Teil auf die Tiefenpsychologie gründet,
unendlich viele Einsichten gegeben in die Verletzung von Leben
durch Leben da, wo Leben zu Leben gehört, z. B. in der Familie,
im Verhältnis von Kindern zu den Eltern, Geschwistern, Ehegatten,
in den3 ständigen Prozess des Verletzens und [in] die Wirkung, die
das hat auf die Verletzenden, nämlich die zerstörende Wirkung, das
Verschwinden des Bewusstseins um die Heiligkeit des Lebens, die
Überdeckung des Lebens mit dem, was profan ist. Sie sehen, diese
Dinge sind weitreichend, und sie sind eigentlich die Themastellung,
die ich Ihnen gab, die aber in dieser Form nicht so oft gegeben wor-
den ist und die Ihnen vielleicht hier und da für konkrete Erlebnisse
des täglichen Lebens die Augen öffnen kann.
Nun komme ich zu dem Dritten, nämlich zum Leben, insofern es
groß ist und das Gegenteil von Größe, das immer der Größe anhaftet,
nämlich Tragik. Jeder Lebensprozess, selbst der kleinste, hat Elemente
von Größe, sofern er den unerschöpflichen Seinsgrund ausdrückt.
Ich kenne niemand, der das schöner gesehen und gesagt hat, als
Goethe, wenn er von der Seinsmächtigkeit eines Dinges spricht und
von der Größe dessen, was man sieht, wenn man in die Tiefe der
Natur dringt.4 Er hat niemals diesen Blick verloren, obgleich auch
1
H. Nohl (Hg.), Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften
der Kgl. Bibliothek in Berlin, Tübingen 1907.
2
Ebd. S. 280 f.
3
Korr. (Typ. GS: dem)
4
S. o., S. 19, Anm. 2.
397
er ein empirischer Forscher war. Er ist immer wieder zurückgekehrt
zu den Elementen der Größe in den Lebensprozessen. Aber zugleich
ist die Größe tragisch. Ich gebrauche das Wort „tragisch“ hier in
einem allgemeineren als im ursprünglichen griechischen Sinn, aber
doch im Zusammenhang damit. Die griechische Tragödie ist das,
was vielleicht unserem Problem der Selbstmanifestation des Lebens
am nächsten kommt. Die griechische Tragödie hatte die Funktion, in
repräsentativen Figuren, den so genannten Heroen, und in repräsen-
tativen Ereignissen die universale menschliche Situation zu offenba-
ren. Die griechische Tragödie ist, manchmal versteckter, manchmal
offen, eine Offenbarungstragödie. Die menschliche Situation in ihrer
Endlichkeit wird offenbar. Wenn im athenischen Staat jeder Bürger
die Pflicht hatte, an den Aufführungen der griechischen tragischen
Stücke teilzunehmen und dafür sogar vom Staat während der Tage
unterhalten wurde, dann war der Sinn dieser Teilnahme, dass es sich
letztlich um einen Kultakt handelte, und das heißt, dass der Heros
nicht dem Durchschnittsbürger entgegensteht, sondern dass auch
der Durchschnittsbürger Größe hat, die es möglich für ihn macht,
an der Erfahrung der Tragödie teilzunehmen, und dass der Durch-
schnittsbürger diese Erfahrung machen kann. Nach Überzeugung der
Griechen gibt dies dem Durchschnittsbürger seine Größe.
Und wenn wir nun im Sinn unserer Analyse der Zweideutigkeiten
des Lebens auf das Problem der Größe stoßen, so finden wir, dass
auch heute und auch in unserem Denken Größe und Tragik zusam-
mengehören. Was ist groß? Größe ist die Macht eines Lebenspro-
zesses, die letzte Größe, das unbedingt Große, das Sein selbst zum
Ausdruck zu bringen. Und in dem Sinn wiederhole ich: Es gibt keinen
Lebensprozess ohne Größe. Wir empfinden das oft, wenn wir z. B.
den unerschöpflichen Reichtum und zugleich das Mysterium, das
immer bleibt, bewundern, was in jedem Atom vor sich geht, was in
jeder Zelle des lebendigen Körpers vor sich geht, in jedem Nerv und
vor allem in jeder Seele. Diese Größe des Lebens ist unabhängig von
dem, was man gewöhnlich Größe nennt, physische Größe, soziale
Größe, geistige Größe. Aber der Heros ist der, in dem diese Größe
repräsentativ wird, weil er der Träger der höchsten Werte in einer
lebendigen Gruppe ist und weil er diese spezielle Größe hat, die es
ihm ermöglicht, die Größe des Lebens universal zu repräsentieren.
Im Griechischen bezieht sich das nicht nur auf einzelne, sondern auf
ganze Geschlechter. Nur die großen Geschlechter sind Objekte der
Tragödie. Aber nicht nur die Repräsentanten, sondern auch die, die
398
durch sie repräsentiert werden, sind groß, denn das Leben als solches
hat Größe. Aber diese Größe treibt zur Tragik. Die lebendigen Wesen
gebrauchen ihre Größe als ihr Eigentum, anstatt sie zu gebrauchen
als Selbstmanifestation des Seinsgrundes in ihrem Leben, anstatt in
ihrer Größe die Quelle aller Größe zu sehen.
Damit komme ich zurück auf den Offenbarungscharakter der
griechischen Tragödie. In vielen Fällen ist der Heros blind in Bezug
auf seine Endlichkeit, er identifiziert sich mit dem Göttlichen und ist
dann zurückgestoßen zur Selbstzerstörung. Es ist nicht moralischer
Stolz, sondern es ist die Größe als solche, die die tragische Haltung
der Hybris, der Selbstüberhebung produziert. Stolz im gewöhnlichen
moralischen Sinn findet sich nicht in den großen tragischen Figuren
wie Antigone oder Ödipus oder Cordelia1, aber alle drei sind blind,
nämlich blind über die Endlichkeit, blind auch über die Endlichkeit
und Zweideutigkeit ihrer moralischen Größe, blind über ihr Recht
oder Unrecht, einen speziellen Wert zu verteidigen und sich selbst
dafür zu opfern.
Man kann das auch von der anderen Seite ausdrücken: Die Tatsa-
che, dass der Mensch Tragik haben kann, macht seine Größe aus. Im
Leben des Durchschnittsbürgers sind die tragischen Elemente da, da
immer Größe da ist, aber sie sind selten erlebt. Es ist selten, dass im
Durchschnittsmenschen eine echte tragische Situation erfahren wird.
Traurige Situationen werden immerzu erfahren – tragisch ist nicht
traurig, sondern tragisch ist Größe, die durch ihre Größe zur Kata-
strophe treibt. Das bürgerliche Drama, das sich im l8. Jahrhundert
entwickelte, ist ein Problemdrama mit tragischen Elementen, aber
keine Tragödie im klassischen Sinn, und als z. B. Schiller versuchte,
wieder klassische Tragödien zu schreiben, misslang es. Tragödie
ist immer mit Schuld verbunden, aber nicht notwendig mit einem
besonderen Akt bewusster Sünde. Die Schuld des Königs Ödipus
waren keine bewussten Akte. Er tötet nicht bewusst seinen Vater
und heiratet nicht bewusst seine Mutter, aber seine Schuld ist seine
Blindheit darüber, dass er objektiv schuldig ist, und infolgedessen ist
der Hauptteil der Tragödie von Ödipus Rex die Offenbarung seiner
Realsituation gleichzeitig als endlich und als schuldhaft.
Mir kommt dabei der Gedanke, dass man vielleicht jene höchst
dramatische Szene, wo die Boten, einer nach dem anderen, kommen
1
In Shakespeares „King Lear“.
399
und dem König Ödipus die Offenbarung seiner Situation bringen,
ähnlich sind dem, was die existentialistischen Dichter, Schriftsteller,
Maler, Philosophen unseres Jahrhunderts getan haben. Einer nach
dem anderen kam, von der Mitte des 19. Jahrhunderts an, oder
noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts kamen einzelne Boten und
dann im 20. Jahrhundert eine ganze Schar von Boten. Und was ist
ihre Botschaft? Genau das, was die Boten dem König Ödipus sagten;
nämlich, sie haben uns die Augen geöffnet für die menschliche Situ-
ation, wie sie sich im modernen Menschen darstellt. Sie haben ihm
seine Endlichkeit und seine tragische Schuld gezeigt, und sie haben
oft Zweifel und Verzweiflung geschaffen, die der des Königs Ödipus
ähnlich sieht. Auch das Alte Testament und das Neue Testament
haben nie die Zweideutigkeit des Lebens in Bezug auf Größe und
Tragik missverstanden, sie haben die Größe des Menschen gepriesen,
er ist das Bild Gottes, und er ist nur ein wenig den Engeln unterlegen
nach dem Psalter1; und sie haben zugleich die tragische Allgemeinheit
des gefallenen Standes des Menschen beschrieben. Aber in vielen
Beispielen sozialer Größe – die Richter, die Könige, die Mächtigen,
die Reichen – haben sie die Zweideutigkeit von Größe und Tragik
beschrieben, und doch anders als in Griechenland. Sie haben die
Subjektivität der Schuld betont gegenüber der reinen Objektivität,
und darum waren sie imstande, im Unterschied von der Lösung des
Stoizismus, nämlich der negativen Lösung, eine positive Lösung der
Vergebung zu finden. Aber alle beide, die Griechen und die Prophe-
ten, die Tragiker und die Propheten, wussten um die menschliche
Situation, ihre Größe und ihre Tragik.
(Pause)
Wir haben die Zweideutigkeit der dritten der großen Lebensfunktio-
nen, der Selbstmanifestation, besprochen. Diese Selbstmanifestation
kommt zum Bewusstsein in der Funktion des Geistes, in der die
Kategorie des Heiligen entscheidend ist, in der religiösen Funktion.
Und wir hatten schon gesagt, dass diese religiöse Funktion noch
etwas ist, was in seiner Problematik über Moralität und Kultur
hinausgeht, weil in der Religion die Selbsttranszendenz des Lebens,
das Über-sich-Hinausgehen zugrunde liegt und zugleich verborgen ist.
Und darum würde ich sagen: Die Zweideutigkeit der Religion geht
1
„Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit
hast du ihn gekrönt.“ (Ps. 8, 6)
400
tiefer als die Zweideutigkeit der Moralität und der Kultur. Religion
als der Platz, wo die Antwort zu der Frage nach dem Unzweideutigen
empfangen wird, ist jenseits der Zweideutigkeit. Religion als der Akt
des Empfangens dieser Antwort in persönlichen Akten, Akten der
moralischen Selbstverwirklichung und in kulturellen Formen nimmt
an den Zweideutigkeiten des Lebens, auch des geistigen Lebens,
teil. Und das ist die grundlegende Zweideutigkeit der Religion, aus
der alle konkreten Zweideutigkeiten der Religion folgen und womit
zugleich der Platz bezeichnet ist, an dem diese Zweideutigkeiten
überwunden sind.
Mir wurde einmal in den letzten Jahren gesagt, dass es ein Fehler
wäre, wenn ich in den Übersetzungen meiner Bücher ins Deutsche
das Wort „Religion“ so häufig verwende, wie ich es harmloserweise
in meinem englischen Text verwende. Und man warnte mich und
sagte, das bringe mich in Mißkredit in der deutschen Theologie.
Nun, den Anfang dieser Bewegung gegen den Religionsbegriff habe
ich noch miterlebt, und eine meiner ersten Schriften im Deutschen
hatte den Titel „Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Re-
ligionsphilosophie“1. Das heißt, ich machte damals diese Bewegung
mit, aber doch zweideutig – in der Religionsphilosophie wird der
Begriff überwunden – und an dieser Zweideutigkeit habe ich festge-
halten, obwohl ein Tabu gegen den Begriff der Religion durch die so
genannte dialektische Theologie aufgerichtet war, ein Tabu, das auf
einer Selbsttäuschung beruht, weil in dem Augenblick, wo Offenba-
rung empfangen wird und man seine Offenbarung gegen Religion
setzt – und man tut es heute noch – , Offenbarung selber zur Religion
wird. Und das muss man verstehen, dass darum ein simples und ich
möchte wirklich sagen: simples theologisches Denken, das hier die
Tiefe der Problematik nicht sieht, keinen Platz haben sollte. Nun,
wenn wir die Dialektik wirklich formulieren, dann ist es klar, dass
an einem Punkt die dialektische Theologie Recht hat. Sie hatte darin
recht, dass sie uns warnte, die Geschichte der Religion, die ja auch
immer auch die Kultur einschließt in allen Perioden der Geschichte,
dass diese Geschichte zur Offenbarungsgeschichte wurde.
Offenbarung liegt hinter aller Religion, vor aller Religion, aber
in dem Augenblick, wo Offenbarung in kulturellen Formen und in
moralischen Akten aufgenommen wird, wird sie zur Religion, und
in dem Augenblick, wo das geschieht, entsteht die Zweideutigkeit in
1
In: Kant-Studien, Jg. 27, 1922, S. 446-469, auch in GW I, S. 367-388.
401
allen einzelnen Äußerungen des religiösen Geistes. Sie sollten einmal
die Religionsgeschichte daraufhin ansehen, wie viel Protest auch in
anderen Religionen gegen Religion sich findet, wie eigentlich man
sagen kann, dass das, was man die großen Religionen nennt, geboren
ist aus dem weltgeschichtlichen Protest gegen Religion auf dem Boden
dieser Religionen. So war es im Konfuzianismus, im Buddhismus,
Hinduismus, in der mohammedanischen Religion, im Persischen.
Es war überall ein Kampf der Religion gegen die Religion, d. h.
man war ergriffen von dem Heiligen selbst und verglich nun diese
Ergriffenheit von dem Heiligen selbst mit dem, was als heilig in der
Religion aktualisiert wurde. Und daraus ergibt sich die Kritik. Die
radikalste Kritik an der Religion findet sich im prophetischen Alten
Testament. Kein moderner Atheist kann radikaler gegen Kultur und
Dogma vorgehen, als es Amos, Jesaja und andere getan haben. Es
findet sich [auch] in dem Kampf von Johannes dem Täufer und der
ganzen religiösen Bewegung, die wir durch die Totenmeer-Rollen
besser kennen als zuvor. Es findet sich in vollkommenster Weise
im Neuen Testament, in schärfster Ausprägung bei Paulus, wenn
er sagt: „Hier gilt weder Beschneidung noch Nicht-Beschneidung,
sondern das Neue Sein …“1 In solchen Worten ist die christliche
Religion genau so negiert wie jede andere Religion im Namen des
Neuen Seins, im Namen der Realität eines unzweideutigen Seins.
Und darum kann man sagen, der Sinn der Religion ist nicht Reli-
gion, sondern das Aufnehmen von etwas, das die Religion richtet.
Richten, nicht vernichten, richten heißt im Griechischen „krinein“,
und das heißt scheiden, das scheiden, was entsprechend dem Gesetz
der Zweideutigkeit des Lebens ausgeschieden werden muss zuguns-
ten dessen, was behalten werden muss. Und vielleicht ist all dies in
seiner Vollendung ausgedrückt in dem Kreuz des Christus, in der
Selbstaufhebung der Religion in dem Christus. Die Selbstaufhebung
der Religion, die darin besteht, dass er von der Religion ans Kreuz
gebracht wird, sowohl von der heidnischen Staatsreligion wie der
jüdischen Gesetzesreligion.
Wenn wir diese fundamentale Unterscheidung festhalten, dann
entsteht das Problem der Zweideutigkeit der Religion sowohl im
negativen wie im positiven Sinn. Man kann sagen, das religiöse Leben
ist die größte Ehre und die tiefste Scham für den Menschen. Nichts
in der Weltgeschichte ist so sehr ein Grund des Sich-Schämens wie
1
Gal 5, 6.
402
die Geschichte der Religion einschließlich der Quasi-Religionen, wie
sie im 20. Jahrhundert sich finden. Und nichts hat die Größe der
Religion, weil in der Religion die Gegenwart des Unzweideutigen
erlebt werden kann in einer Weise, wie nirgends anders in der Be-
gegnung mit dem Leben. Religion ist die Beziehung zu dem, was uns
unbedingt angeht. In jeder Religion ist der Unbedingtheits-Charakter
des Heiligen bejaht, und alles Religiöse beansprucht darum Heilig-
keit und unbedingte Geltung, zugleich aber ist alles Heilige von der
Sprache bis zur Moralität, bis zur Kultur ein unmittelbarer Ausdruck
des Endlichen. Das religiöse Leben, ob es organisiert ist oder ob es
innerlich ist, gebraucht die Schöpfungen der Kultur, um sich selber
in den Funktionen des Lebens zu verwirklichen.
Hier eine kleine Randbemerkung. Die Kritiker der Religion sagen
uns oft jetzt: „Wir sind religiös, aber wir sind gegen die organisierte
Religion“. Das ist letztlich Unsinn – vorläufig, nicht letztlich, vorletzt-
lich eine Art und Weise, dem Problem zu entgehen. Denn wenn die
organisierte Religion verneint wird, d. h. die Kirche, und demgegen-
über die religiöse Subjektivität betont wird, dann liegt darin immer
eine Selbsttäuschung vor. Es gibt keine religiöse Subjektivität, die
nicht von der religiösen Tradition und Gemeinschaft her ihre Sub-
stanz erhalten hat. Und infolgedessen ist das religiöse Leben immer
gleichzeitig Gemeinschaftsleben und individuelles Leben. Nehmen
Sie an, jemand behauptet, er hätte Religiosität und kümmerte sich
nicht um die Kirche – das kann höchst berechtigt sein, es ist durch-
aus denkbar, dass man sich von bestimmten kirchlichen Situationen
fernhält oder dass geschichtliche Situationen einen zwangsweise
fernhalten, Krieg, KZ, Gefangenschaft, und dann ist die persönliche
Religion das, was bleibt. Aber wenn wir diese persönliche Religion
analysieren, finden wir, dass sie mit jedem Wort und mit jedem
Ausdruck und mit jeder ihrer Gesten eine Schöpfung der Tradition
ist, die selber geschaffen ist von Erlebnissen in Persönlichkeiten, so
dass die beiden in Wechselwirkung stehen. Geben Sie sich nicht der
Täuschung hin, dass man subjektive Religion haben könnte ohne die
Religion in der Gemeinschaft, genau so wie man keine universalen
Symbole, die einen ernsthaft verpflichten, sich schaffen kann außer
in spielhafter oder zwangsneurotischer Weise oder wie man keine
individuelle Sprache sich für sich selbst schaffen kann. Wir sind in
allem eingebettet in die Tradition, die die Substanz uns liefert für
das, was dann persönliche Religion sein kann, die unter bestimmten
Umständen die einzige ist, die uns noch gelassen ist – in bestimmten
403
Situationen, nicht notwendig nur äußeren Situationen, vielfach auch
inneren Situationen, Situationen einer starken geistigen Antipathie
gegen die zur Verfügung stehende organisierte Religion. All das ist
möglich. Das sind konkrete Bedingungen, aber das ist kein Prinzip.
Und wenn ich hier spreche von den zwei Religionsbegriffen und
von Kirche und von dem Gericht, das die Offenbarung über die
Religion ausübt, dann hat das nichts zu tun mit der oft leichtsinnig
gebrauchten Unterscheidung von innerer und äußerer Religion oder
persönlicher und organisierter Religion.
Nun, wo liegen die Zweideutigkeiten, ganz gleich, ob es eine
persönliche oder organisierte Religion ist? Sie liegen darin, dass die
Religion notwendigerweise bestimmte Formen der Kultur, der Ethik,
der Ästhetik, des Erkennens, des Gestaltens gebrauchen muss, um sich
selbst zu realisieren. Daraus folgt dann, dass diese kulturellen Formen
als absolut den Anspruch der Religion auf sich nehmen und nun selber
als heilig gelten. Ein Beispiel, das ganz einfach ist. Wer die großen
kirchlichen Dogmen etwas kennt, von Nikäa und Chalcedon, der
kann ohne weiteres sehen: Hier sind griechische Begriffe gebraucht,
die mit Recht die Welt erobert haben in Wissenschaft und Technik,
aber keine Begriffe, die absolute Heiligkeit beanspruchen können.
Die Geschichte der Philosophie ist über sie hinweggegangen. Wenn
nun das Dogma, wie es formuliert ist, absolute Gültigkeit für sich in
Anspruch nimmt, dann ist damit eine spezielle Erkenntnissituation
mit dem Prädikat des Göttlichen selbst umkleidet, und dann wird
es dämonisch, und das ist der dämonische Charakter des Dogmas.
Das Dogma als solches ist der Ausdruck eines Erlebnisses, einer Of-
fenbarungsgrundlage, die sich in Symbolen darstellt, und als solche
hat jede Gemeinschaft ihre Dogmen und ihre Grundsätze, bis hin
zum Kegelklub. Das ist allright, dagegen ist nichts zu sagen. Aber in
dem Augenblick, wo das Dogma die Heiligkeit des Heiligen für sich
beansprucht und damit Begriffe, die einer Zeitsituation angemessen
waren, allen Zeitsituationen auferlegen will, ist die Zweideutigkeit
und das Dämonische der Religion da.
Und so ist es mit dem Thomismus in der römisch-katholischen
Kirche, mit der klassischen Orthodoxie in der protestantischen Kir-
che. Wo bestimmte Erkenntnisbewegungen und Prozesse als unzwei-
deutig über die Zweideutigkeiten des Lebens erhoben werden, da
ist Dämonie und schließlich Selbstzerstörung und die Situation, in
die die Religion gebracht war in den letzten Jahrhunderten: Diese
Situation an der Seite oder im Untergrund oder toleriert als mora-
404
lisch nützlich für die Erziehung der Kinder (im Sinne von Voltaire,
der seinen Diener hinausschickte, als er über die Unsterblichkeit der
Seele debattierte mit einem Freund … „Weil, wenn er uns folgt, ich
vielleicht möglicherweise vor ihm ermordet werde …“).
Nun, diese Art, die Religion zu gebrauchen als moralisch nützlich,
ist das, was vielfach geblieben ist. Es ist doch immer so, dass das
Dämonische angegriffen wird entweder vom Göttlichen oder vom
Profanen. Wenn es vom Profanen angegriffen wird, entsteht das
Phänomen der Entleerung. Dann schwindet die Heiligkeit des Lebens,
der Grund des Lebens kann nicht mehr gesehen werden, und dann
kommen die Dämonen zurück in anderer Form. Dieser Rhythmus
ist das Schicksal des deutschen Volkes – zuerst die Dämonien der
beiden Orthodoxien in den Zeiten der Religionskriege, wo bestimmte
Formen absolut gesetzt waren, dann die Reaktion dagegen in Auf-
klärung und Naturalismus des 19. Jahrhunderts, das Entstehen der
Leere, der Entleertheit, und dann der Versuch, neue Fülle zu geben,
aber nun nicht vom Göttlichen, sondern vom Dämonischen, und
damit die dämonische Zerstörung allen Lebens, das diesen Dämonen
sich unterwarf. Das ist die Situation, wie wir sie ständig haben, und
der Grund, warum die Zweideutigkeiten der Religion nicht dazu
führen sollen, in einer entleerenden Kritik die Heiligkeit des Lebens
zu verhüllen, auf der Oberfläche der Weltgestaltung Mittel für Ziele
anzusehen, die wieder Mittel werden – diesen entleerten Prozessen
der Schöpfung von technischen Dingen, deren letzter Sinn undeut-
lich bleibt oder nicht vorhanden ist, sondern wieder, aber in einer
entdämonisierten Weise, die Tiefendimension zu erreichen suchen,
in der Religion manifest wird.
Ich habe von einer gedanklichen Dämonie gesprochen, man kann
auch von anderen Dämonien reden, z. B. ästhetischen. Man kann
sagen, dass bestimmte ästhetische Formen nicht einem bestimmten
Auftrag gemäß waren und dann die Kunst sich gegen die Religion
wandte, um sich davon zu befreien. Ich hatte ein sehr interessantes
Gespräch … mit einem Kollegen von der griechisch-orthodoxen Kir-
che in unserer Fakultät in Harvard über die Ikonen, d. h. bestimmten
Arten von Bildern, die in der Kirche der griechisch-orthodoxen Reli-
gion und zugleich in den Häusern sich vielfach befinden, und sprach
über die künstlerische Form der Ikonen. Und er sagte: „Diese Ikonen
haben etwas, was weder die römische Kirche noch die protestantische
Kirche versteht, sie haben in sich selber das Heilige, das sie reprä-
sentieren, also den Christus oder die heilige Jungfrau.“ Daher die
405
ungeheuer leidenschaftliche Gegenbewegung gegen die Bilder in den
Bilderkämpfen des 9. Jahrhunderts und dann wieder im ursprüng-
lichen Protestantismus wegen der Angst vor dem Polytheismus, vor
der Dämonie, dass diese Bilder in sich Heiligkeit haben und damit
Absolutheit. Dann sagte er, das hänge zum Teil zusammen mit der
Form. Eine Ikone kann nicht beliebig gemalt werden, der Künstler
hat bestimmte Forderungen zu erfüllen, die aus der kirchlicher Tra-
dition kommen. Tut er das nicht, hat er keine Ikone gemacht. Und
genau so in der Musik. Und nun klagte er den Westen an. Schon in
der römischen Kirche sind es nur noch Bilder, und daher haben die
Künstler größere Freiheit, und im Protestantismus haben sie volle
Freiheit, und das Resultat, wo ich ihm zustimmte, ist fürchterlich,
nämlich protestantische Kirchenkunst des 19. Jahrhunderts. Da sehen
Sie das Problem: auf der einen Seite die Dämonie des Festhaltens an
bestimmten ästhetischen Formen, auf der anderen Seite die Entlee-
rung. Und die Konsequenz ist, dass wir ehrlicherweise sagen müssen,
seit 1900 haben wir zwar einen Stil, der religiös brauchbar ist, aber
noch nicht wirkliche religiöse Kunst geschaffen.
Ich kann dies [auch] durchführen im Sittlichen. Das Sittliche
ist ein sehr spezielles Gebiet, wo ein Phänomen geschaffen ist, der
Heilige – das Heilige, verwirklicht in dem Heiligen. Und die Frage
würde sein, wie verhält sich der Heilige zum Heiligen? Nun, darüber
könnte man wieder viel sagen und zunächst einmal einen Irrtum
beseitigen. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber wie es in
Amerika ist, [weiß ich], wo der Heilige der ist, der nicht trinkt, raucht
und tanzt. D. h. der Begriff des Heiligen ist völlig reduziert auf den
Begriff des moralisch Wünschenswerten in einer religiös traditionellen
protestantisch-puritanischen Gesellschaft. Das ist, was er ist. Infol-
gedessen kann man nun ernsthaft das Wort überhaupt nicht mehr
gebrauchen. „Der ist aber heiligt“ – das heißt: Er trinkt nicht.
Was war ursprünglich der Begriff des Heiligen? Es war der des
Transparenten. Und wenn wir diesen Begriff nicht verstehen, können
wir überhaupt nicht verstehen, was im Katholizismus Heiligkeit ist
und Durchscheinen dessen, was jenseits der Zweideutigkeit besteht
in dem immer zweideutig bleibenden Menschen. Heiligkeit bedeutet
nicht einfach moralische Gutheit – bestimmte moralische Konse-
quenzen werden als selbstverständlich angenommen. Aber wenn
wir die Heiligenbilder des Mittelalters ansehen, finden wir, dass die
phantastischsten Dämonen in den Heiligen mit den Engeln kämpfen
während ihrer Lebzeiten und nicht nur wie bei Faust, nachdem er
406
niedergesunken ist und Mephisto und seine Diener mit den Engeln
um seine Seele kämpfen. Sondern das geht schon vor sich im Leben.
Und darum ist die moralische Missdeutung des Heiligen etwas, was
wir vermeiden müssen.
Das ist der Grund, warum die katholische Kirche keinen Heili-
gen für heilig erklärt, der nicht Wunder getan hat. Das kann sehr
mechanistisch aufgefasst sein, wie überhaupt der Wunderbegriff
sehr mechanisiert ist. … Aber darin liegt eine Wahrheit. Das echte
Wunder ist verbunden mit dem Begriff „Transparenz“1, Ausstrahlen,
Durchscheinen, etwas, was durchscheint und dann Wirkungen hat,
die über das hinausgehen, was wir gewöhnlich mit Menschen erleben.
In dem Sinn kann man von dem Heiligen reden und wäre der Heilige
derjenige, in dem die ethische Bejahung der Persönlichkeit stattfindet.
Aber der Heilige ist mechanisiert worden durch bestimmte Dinge, die
mit ihm verbunden sind, bestimmte Formen der Askese, bestimmte
Erlebnisse wie Märtyrertum, die als vorausgesetzt behauptet sind.
Und damit ist etwas entstanden, was durchaus gefährlich ist,
nämlich das Persönlichkeitsideal ist völlig identifiziert mit dem Ideal
der Heiligkeit in einem bestimmten asketischen Sinn. Gegen dieses
Persönlichkeitsideal hat der Protestantismus revoltiert und hat die
protestantische Persönlichkeit geschaffen, in der das Heilige nicht im
Menschen überhaupt liegt; es gibt keine protestantischen Heiligen in
irgendeinem dogmatischen Sinn mehr. Die großen protestantischen
Erscheinungen sind Menschen, in denen das Bewusstsein ihrer Un-
heiligkeit das Heilige ist, aber zugleich das Bewusstsein, dass ihnen
vergeben ist, dass sie akzeptiert sind im Ewigen. Daraus ergab sich
die protestantische Persönlichkeit, die die Welt zum großen Teil
erobert und weithin verändert hat. Aber auch das protestantische
Ideal wurde dann beseitigt durch das humanistische Ideal, und der
Übergang vom einen zum anderen kann gesehen werden in einer
der größten Erscheinungen der Kunst aller Zeiten, nämlich den
späten Bildnissen von Rembrandt, wo wir ein Persönlichkeitsideal
haben, eine Idee der Persönlichkeit, in der die ganze Zweideutigkeit
des Lebens in großartigster Weise zum Ausdruck gebracht ist. Jeder
dieser alten Männer und Frauen hat eine Lebensgeschichte in ihrem
Gesicht, und sie ist eine Geschichte, die in die Dimension des letzten
Grundes hineingeht, aber sie haben keinen Heiligenschein, könnten
1
Korr. (Typ. GS: Transzendenz)
407
ihn auch nicht haben. Sie sind nicht einmal protestantische Persön-
lichkeiten, sie sind auf dem Übergang einer religiösen Tradition in
eine humanistische Tradition, aber einen Humanismus, der noch
verwurzelt ist in dem christlichen Realismus des Protestantismus. Und
dann kommt die humanistische Persönlichkeit, und dann entsteht
die idealistische und dann die naturalistische Persönlichkeit. Und
schließlich verschwindet die Persönlichkeit innerhalb der modernen
Kunst, in der sie zunächst zerbrochen wird in der Oberfläche und
dann langsam durch die abstrakte Kunst beseitigt wird.
Nun, wir sind am Ende unserer Vorlesung angelangt, und ich hätte
gern noch ein Wort zum Schluss gesagt. Sie haben nicht allzuviel
über Religion, wohl überhaupt nichts über Gott und sehr wenig über
Christus in diesen vier Vorlesungen eines Theologen gehört. Ich bin
mir dessen wohl bewusst und würde es für unrecht gehalten haben,
wenn ich solche Worte in meine Darstellung hineingemischt hätte,
und zwar deswegen, weil dann die Entfaltung der Frage, nämlich
der Zweideutigkeit des Lebens, sofort als nur halb so schlimm, als
geglättet, als leicht überwindbar für viele erschienen wäre, wie es
oft in Predigten ist: Erst die Negativität, grauenvoll gemalt, und
dann das letzte Drittel oder Viertel ein paar tröstende Worte. Man
kann mit dem Trost anfangen. Man sollte immer mit dem Positiven
anfangen und dann zeigen, warum wir das Positive nicht haben
in der Zweideutigkeit des Lebens, und dann vielleicht die Frage
stellen: Gibt es Erfahrungen, in denen uns das Unzweideutige oder
Ewige, das ewige Leben gegenüber den Zweideutigkeiten des Lebens
erscheint? Ich sagte, es erscheint in der Religion mitten durch ihre
Zweideutigkeiten, die Zweideutigkeiten schaffend, aber zugleich
richtend. Das ist die religiöse Antwort. Und vielleicht ist das für
viele von Ihnen keine Antwort. Aber nehmen Sie es, wenn nicht als
Antwort, so doch als Hinweis. Und dieser Hinweis, hoffe ich, hat
die Bedeutung, dass es nun ein Hinweis auf etwas geworden ist, was
für unser Leben und für alle Lebensprozesse die grundlegende, die
einzig absolut drängende Frage ist, die Frage, die sich aus der Zwei-
deutigkeit des Lebens ergibt, die Frage nach dem Unzweideutigen,
nach dem ewigen Leben.
Und ich würde sagen: Wo diese Frage gestellt ist, da könnte ich
mit einer Bibelstelle sagen, dass dies das eine ist, was not ist,1 und
1
Lk 10, 42.
408
dass, wenn sie mit radikalem Ernst gestellt ist, dann schon etwas
geschehen ist, was vielleicht im Moment des Fragens noch nicht
bewusst geworden ist. Man kann nämlich unbedingt ernsthaft nur
fragen, wenn die Macht des Unbedingten einen in der Form der
Frage ergriffen hat, und das ist eine Art, in der es uns ergreifen
kann. Dann ist es schon da, ohne dass wir eine Antwort gefunden
haben. Und darum würde ich sagen: Das Letzte, was vielleicht auch
in unserer Weltsituation in den unendlichen Zweideutigkeiten unserer
Situation uns bleibt und mehr ist, als was es zu sein scheint, ist die
unbedingte Ernsthaftigkeit des Fragens nach dem, was jenseits der
Zweideutigkeiten des Lebens steht.
409
Register
Personenregister
Adam 49, 152 Duns Scotus 64, 86, 94, 148, 158, 183,
Amos 402 184, 191
Anaximander 263, 299, 376
Anselm v. Canterbury 148 Einstein, A. 8
Aristoteles 4, 8, 9, 10, 37, 49, 61, 64, Eliot, T. S. 201
94, 101, 109, 121, 129, 253, 298, Engels, F. 212
316, 337, 345, 348, 349 Erasmus v. Rotterdam 257, 261
Auden, W. H. 201 Eva 49
Augustinus 10, 23, 49, 103, 112, 148,
153, 154, 155, 156, 181, 185, 248, Feuerbach, L. 191, 199
250, 257, 261, 263, 279, 297, Fichte, J. G. 23, 35
354 Flaubert, G. 192
Freud, S. 63, 85, 182, 221, 222, 223-
Bacon, F. 18 225, 226, 228, 279, 280, 284, 304,
Barth, K. 40, 41, 335 381, 389
Baudelaire, Ch. 193 Fromm, E. 225, 228, 283, 296, 390
Berdjajew, N. 93
Bergson, H. 23, 62, 65, 68, 69, 101, Galilei, G. 185
191, 194, 338 Goethe, J. W. 19, 58, 87, 188, 207,
Böhme, J. 62, 64, 93 313, 349, 363, 365, 397
Bosch, H. 183 Gogh, V. van 192
Braque, G. 391 Goldstein, K. 86, 87, 237, 270
Braune, W. 3 Grimm, H. 120
Brueghel, P. 183 Grünewald, M. 183
Buber, M. 54
Haeckel, E. 349
Calvin, J. 187, 248, 261, 262 Hartmann, E. v. 63, 85
Camus, A. 202 Hartmann, N. 11, 84, 109, 175, 176
Cartesius → Descartes Hartshorne, Ch. 93
Cassirer, E. 179 Hegel, G.W.F. 22, 37, 66, 83, 93, 148,
Cézanne, P. 192 151, 157, 177, 188, 189, 190, 194,
Comte, A. 171 211, 264, 396, 397
Cusanus, N. 52, 299, 313, 343 Heidegger, M. 2, 4-5, 7, 9, 11, 12,
13, 14, 20, 24, 94, 95, 132, 141,
Dalí, S. 204 174, 183, 187, 200, 205, 206, 253,
Dante, A. 182 292, 309, 390
Darwin, Ch. 348 Heraklit 114, 140
Demokrit 62 Hiob 123
Descartes, R. 23, 26, 35, 63, 85, 151, Hobbes, J. 35
171, 185, 186 Horney, K. 228, 229
Dewey, J. 30, 70, 302 Hume, D. 18, 130, 135
Dilthey, W. 23 Husserl, E. 6, 10, 23, 67, 185, 186
Dostojewski, F. 143, 193 Huxley, A. 45
413
Ibsen, H. 193 Occam, W. 94, 183
Jaspers, K. 2, 24, 207 Origenes 248, 252
Jesaja 402 Orwell, G. 45
Jesus Christus 56, 107, 124, 150, 183,
236, 254, 289, 291, 292, 293, 354, Parmenides 20, 36, 89, 96, 121, 264
402, 408 Pascal, B. 23, 103, 194, 218, 232
Johannes, d. Evangelist 41 Paulus 17, 261, 327, 367, 402
Johannes d. Täufer 84, 402 Pelagius 257, 261, 263
Joyce, J. 204 Picasso, P. 391
Jung, C.G. 50 Platon 10, 11, 12, 17, 37, 48, 49, 105,
153, 180-181, 182, 190, 200, 270,
Kähler, M. 310 342, 345, 384
Kant, I. 10, 23, 83, 98, 99, 109, 118,
130, 131, 132, 133, 138, 148, 153, Reinhardt, K. 314
154-155, 164, 175, 187, 190, 253, Rembrandt 407
262, 325 Rimbaud, A. 193
Kierkegaard, S. 23, 24, 46, 177, 187, Rubens, P.P. 28
189, 190, 191, 193, 194, 205, 210-
211, 212, 215, 217, 218, 222, 232, Santayana, G. 131
258, 259, 385, 389 Sartre, J.-P. 2, 24-25, 95, 173, 174,
Köhler, W. 86 183, 185, 200, 206-207, 211
Kopernikus, N. 342 Scheler, M. 65, 69, 84
Kuhn, H. 15, 94 Schelling, F.W.J. 23, 30, 35, 62, 63,
64, 68, 69, 93, 101, 190, 191, 205,
Leibniz, G.W. 49, 52, 87, 130 218
Leonardo da Vinci 365 Schiller, F. 399
Locke, J. 130 Schopenhauer, A. 65, 69, 84, 191,
Luther, M. 61, 64, 107, 186, 187, 257, 193
313, 327, 342, 343 Schweitzer, A. 396
Seurat, G. 192
Mannheim, K. 175 Shakespeare, W. 316
Marcel, G. 207 Simmel, G. 338, 376
Marcuse, H. 389 Sokrates 106
Marx, K. 23, 24, 46, 189, 190, 191, Spinoza, B. 17, 37, 105, 130, 146,
192, 194, 199, 205, 212, 213, 215, 163, 256
217, 218, 264, 389 Strindberg, J.A. 193
Miller, A. 203
Müntzer, Th. 233 Thomas v. Aquin 10, 37, 64, 94, 101,
Munch, E. 192 148, 149-150, 151, 156, 158, 183,
248, 345
Napoleon 217
Newton, I. 185 Voltaire 405
Nietzsche, F. 11, 12, 13, 23, 24, 46,
62, 63, 65, 66, 71, 117, 182,190, Weber, M. 192
192, 193, 199, 200, 205, 207, 213- Wertheimer, M. 369
214, 217, 218, 279, 280, 284, 286, Whitehead, A.N. 23, 65, 68, 93, 101,
338, 366, 389 191, 338, 357
Nohl, H. 397 Williams, T. 203
414
Sachregister
415
Dauer 70, 111 Erschütterung 137
Deduktion 83, 84 Erwartung 15
Demokratie 51f., 82 Erziehung 52, 70
Denken 349 Eschatologie 91, 252
Desintegration 353, 356-372 esse ipsum 9
Determinismus 73f., 80, 145, 257 Essentialien 50, 299
Dialektik 182, 194, 212, 213 Essentialismus 177, 188
Dimension 110, 344-352 Essentialphilosophie 166, 186
–, anorganische 356-358 Essential-/Existentialstruktur passim
–, biologische 358-360 Essenz/Existenz passim
–, geistige 360- esse qua esse 181, 248, 297
–, psychologische 360 Ethik 17, 31, 74, 380, 404
Ding 24, 35, 43, 44, 45, 53, 73f. Europa 57, 197
Dogma/Dogmen 211, 345, 404 Evolution 348
Dynamik/Form 21, 58-72, 142f., 284- Ewige, das 115, 408
286 Ewigkeit 50, 91, 138
Existentialismus 2, 23f., 43, 94, 142,
Ebenbild(lichkeit) 258, 274 172, 173, 174, 178, 183
Eindeutigkeit 393 –, als Ausdruck 194-219
Einheit 87 –, als Gesichtspunkt 179-189
Einheit des Lebens 342-352 –, als Protest 190-194
Einsamkeit 140, 141, 190, 294f. Existentialphilosophie 2, 104, 105, 166,
Einzigartigkeit 51 167, 178, 186
Eleaten 63 Existenz/Essenz → Essenz/Existenz
Elemente, polare 48-87 existentiell 174f., 177
Empirismus 18, 37, 227 Expressionismus 193, 204
endlich 16, 72
Endlichkeit 3, 20, 21, 73, 85, 88-147, Fall (Sündenfall) 181
175, 176, 178,186, 187, 247, 251, Familie 32
253, 289, 399 Familiarismus 32, 122
Entelechie 49 Fatum 146
Entfremdung 11, 56, 60, 87, 157, 172, Form → Dynamik/Form
178, 181, 182, 222, 244, 250, 255, Form, vollkommene 37
261, 265, 289, 326, 343, 349 Formalismus 59f., 143, 285, 286
Entleertheit 395, 405 Fortpflanzung 303
Entmenschlichung 24, 39, 54, 194, Frage/Antwort 16, 20, 136f., 154,
196, 213 160f., 334, 335, 409
Entmythologisierung 266 Frage nach dem Sein 25, 89
Entpersönlichung 213 Freiheit 24, 38, 45, 53, 211
Entscheidung 17, 24, 76f., 144 –, endliche 72-87, 257, 258, 267, 278,
Entschlossenheit 205 299
Erfahrung 4, 9f., 13, 108 Freiheit/Schicksal 21, 72-87, 144-147,
Ergriffensein 107, 277, 402, 409 281-284
Erinnerung 112 fundamentum in re 90
Erkenntnis 2, 13, 26, 141
Erkenntnisakt 176 Ganzheit 26, 74, 76, 85, 327
Erkenntnisbewusstsein 74 Gegenwart 114, 16, 117
Erlösung 252 Geist 67, 157
Eros 37, 389f. Geistesfunktion 37
Erschöpflichkeit 382 Geistesgeschichte 342
Erschöpfung 304f., 381f. Geisteswissenschaften 336
416
Geistige, das 352f. Grenzsituation 233, 247
Geistigkeit 67 Größe 312-318, 393-400
Gemeinschaft 54, 87 Grund des Glaubens 277
Gerichtetheit 65, 284, 311, 364 Grund des Seins 92, 93, 99, 100, 106,
Geschichte 7, 17 , 249, 348 107, 164, 177, 312, 330
Geschichtsphilosophie 113, 118, 189 Gute, das 21, 154, 341
Gesellschaft
–, abendländische 57 Haben 27
–, bürgerliche 2, 24, 179, 212, 225 Heilige, das 395, 406
–, industrielle 3, 75, 76, 193, 202, 213, Heiligkeit 318-323
214, 221, 298 Heiligkeit des Lebens 393, 403, 404,
–, protestantisch-puritanische 406 405
–, spätbürgerliche 210 Heilsgeschichte 249
–, spätindustrielle 221 Heilung 187, 221, 227, 228, 350, 356,
Gesetz 78f., 85, 327, 367 372, 396
Gestalt 6, 86 Humanismus 121, 343, 408
Gestaltphilosophie 6 Hybris 273, 275f., 277f., 399
Gestaltpsychologie 86 Hypothese 42
Gestaltsoziologie 86
Gestalttheorie 86 Ich 27, 35
Gestaltwissenschaft 86 –, erkenntnistheoretisches 35, 78
Getrenntsein 16 –, ethisches 35
Gewahrwerden 10, 88, 153, 154, 156, –, handelndes 35
157, 163, 228, 347, 384 Ich selbst 28, 31, 54
Glaube 39, 107, 274, 277 Ich-Du-Begegnung 54, 264
Gnade 233 Ideal 407
Götter 16, 17 Idealismus 19, 23, 25
Göttliche, das 13, 69, 91, 184, 275, –, deutscher 5, 37, 83
330, 343, 396, 399, 404, 405 Idee 12
Göttlichkeit 38, 40 Ideenlehre 182
Gott 40, 43, 44, 49, 50, 64, 69, 78, Identität 35, 69, 207, 339
83, 86, 92, 93, 100, 106, 133, 206, Identitätsphilosophie 30
250, 252, 333, 343, 408 Imperativ, moralischer 385
–, Ebenbild 258 Indeterminismus 73f., 80, 145
–, Entthronung 206 Individualisation/Partizipation 21, 48-
–, als reine Form 94 58, 140f., 286f.
–, als Freiheit 93 Individualismus 55, 195
–, als Intellektgott 184 Individualität 51, 214
–, lebendiger 100, 101, 298, 337, Individuum 53, 57, 189
338f Inkarnation 91, 252
–, Manifestation 335. Innerlichkeit 112, 163, 384
–, unendlicher 122 In-sich-Beharren 67, 81
–, werdender 68, 69 Intellektualismus 187
–, Wesen/Existenz 148, 165-168, 274 Interesse 188f.
–, als Wille 64, 184 Intentionalität 65-67, 71, 142f., 215,
Gottesbeweis 151f., 358, 375 285
–, kosmologischer 159-163 Intuition 5, 6, 10
–, ontologischer 142-159 Irrationalismus 38, 39, 183
–, teleologischer 163-164 Islam 333
Gottesgedanke 40, 43, 82, 94, 100,
107, 199 Jerusalem, himmlisches 123
417
Judentum 91, 122, 333 Leidenschaft 66, 188
Jugendbewegung 38 Libido 222, 223, 226, 260, 273, 276,
278, 279
Kategorie 88-147 Liebe 38, 53, 44, 119, 286, 296, 333,
Katholizismus 94, 156, 404, 406 341, 370, 371, 385
Kausalität 127-135 Logos 20, 38, 40, 41, 51, 58, 61, 121,
–, autogene 128 243, 329
–, äquivalente 127f. Logos-Christologie 41
–, heterogene 128 Lust/Schmerz 307, 383f.
–, individuelle 129, 133
–, produktive 128 Macht 394
Klassizismus 59, 263f., 285 Macht des Lebens 394f.
Kollektiv 53, 57, 141 Macht des Seins 92, 96
Kollektivismus 55, 197 Mächtigkeit 393
Kommunismus 213 Malerei 59, 192
Konkupiszenz 273, 276, 278, 279 Manifestation 9, 107, 335, 392
Kontingenz 93, 184 Materialismus 23, 47, 171
Korrelation (allgemein) 25, 29 Materie 91, 252
Kosmos 30, 267, 358 Mensch
Krankheit 238, 283, 358-360, 384 –, christliche Lehre 247-334
Kreatürlichkeit 92 –, existentialistische Auffassung 179-
Kreuz 402 246
Kultur 70, 156, 157, 324f., 328-330, me on 61, 91, 92
353, 374-391 Metapher 96, 342
Kultur jenseits der Kultur 334 Metaphysik 3, 4, 5, 6, 9, 11, 12, 13,
Kulturanalyse 143 14, 63, 64
Kulturphilosophie 36 Methode der Korrelation 335
Kulturschöpfung 51, 66 Mikrokosmos 52, 348, 375
Kulturwissenschaft 7 Mittelalter 44, 57, 72, 158, 182, 183,
Kunst, moderne 197, 198, 204, 222, 184, 206, 215, 218f., 244, 322, 382,
319, 408 406
Mittlere Axiome 369
Leben 297-334, 335-409 Möglichkeit 17
–, Entleertheit des 395 Mönchtum 182
–, ewiges 395 Monismus 42, 349
–, geistiges 324-334 Moral 155, 361, 367
–, göttliches 298 Moralische, das 353, 366f.
–, Grund des 405 Moralismus 187, 305, 327
–, kosmisches 298 Moralität 324-328, 385
–, organisches 298 Moralität jenseits des Moralischen
Lebendige, das 334
–, Größe des 393-400 Mut 18, 105, 107, 115, 116, 138, 139,
–, Gut-Sein des 393f. 162f., 196, 201, 202, 290
–, Macht des 393f. Mut der Verzweiflung 199
Lebensbejahung 67 Mut zur Gegenwart 116
Lebensphilosophie 64, 65, 143, 144, Mut zum Sein 208
192, 194, 338, 355 Mysterium 88, 114, 392, 398
Lebensprozess 8, 297-334, 335-409 Mystik 182, 333
Lebenswille 67 Mystiker 12, 64, 144
Leere 62, 405 mystisch 8, 333
Leiblichkeit 267f. Mythos 89, 122, 180, 266
418
Mythologie 61 –, amerikanische 6
–, existentialistische 205-209
Nationalismus 120, 122 –, des Geistes 326
Nationalsozialismus 39, 122, 197, –, des Wachstums 70
214 –, wissenschaftliche 6
Natur 269-272 Platonismus 181, 182
Naturalismus 23, 25, 47, 48, 225, 248, Pluralismus 30
350, 405 Poesie 87
Naturphilosophie 91, 347 Polarität 3, 21, 55, 281
Naturwissenschaft 7, 89, 172 Politik 38
Negativität 195, 307, 341 Polytheismus 64, 120, 406
Neue, das 113 Positivismus 16, 39, 95, 171, 336
Neues Sein 56, 402 Postulat der Vernunft 83
Neuorthodoxie 40 Potentialität 101, 209, 230, 299, 338,
Neuplatonismus 37, 49, 50, 58 340, 341, 344, 345, 365, 392
Neurose/neurotisch 103, 141, 175, 187, Potenz 93, 339
196, 197, 198, 207, 218, 222, 230, Prädestination 261
232, 245, 360 Pragmatismus 9, 192
New York 30, 173, 197, 226, 237, Profane, das 158, 405
395 Profanität 395
Nichts 15, 61, 95, 188, 252 Prophet 400
Nichtsein 14, 17, 61, 88, 89, 91, 93, Prophetische, das 264, 323
94, 106, 188, 196 Protest, existentialistischer 221-246
Nihilismus 199 Protestantismus 94, 156, 186f., 223,
Nochnichtsein 61 322, 333, 343, 345, 346, 367, 404,
Nominalismus 18, 19, 33, 37, 55, 57f., 406, 407, 408
183 Prozess, dialektischer 212
Notwendigkeit 72f. Prozessphilosophie 65, 68, 70, 93, 101,
130, 135, 136, 192, 338, 357
Objekt 170 Psychoanalyse 43, 56, 102, 221, 222,
Objektivierung 24f., 43, 45, 46, 173, 225, 227, 229, 234
389f. Psychologie 7, 57, 62, 171, 384
Objektivität 176, 192 Psychotherapie 56, 103, 218, 221-
Offenbarung 153f., 164, 398-402, 246
404
Offenbarungsgeschichte 401 Rationalismus 38, 89
Offenheit 31 Rationalität 67
Ontologie 1-168 Raum 8, 49, 99, 117-126
Opfer 310, 365f., 382 Realismus 19, 23, 49, 55, 57f.
Orthodoxie 125, 187, 405 Rechtfertigung 311, 328
ouk on 61, 91, 92 Reflexion 5, 214
Reformation 186, 244, 265, 273f.,
Paradox 18, 139 342
Paradoxie 150 Reich der Freiheit 212
Partizipation → Individualisation/Parti- Reich Gottes 91, 268, 317, 330
zipation Reiz-Reaktions-Theorie 75, 305, 359
Pazifismus 380 Relativismus 385
Persönlichkeit 67, 326, 362, 407, 408 Religion 14, 38, 39, 69, 106, 107, 325f.,
Person 17, 51, 53, 212, 333, 361 330-334, 353, 392-409
Phänomenologie 10, 84, 185 –, gesetzlicher Typ 331
Philosophie –, mystischer Typ 331, 333f.
419
–, organisierte 403f. Selbstbejahung 63, 95, 105, 106, 107,
–, persönliche 403f. 194, 199, 230, 237, 239, 275, 279,
–, sakramentaler Typ 331, 332f. 290, 296, 305
–, subjektive 403f. Selbstbestätigung 327
–, jenseits der Religion 334 Selbstbestimmung 326, 327
Religionsphilosophie 38, 83, 127, 139, Selbstbewahrung 68, 71
147, 148-168, 252, 326, 401 Selbstbewusstsein 26, 32, 34
Religiosität 403 Selbstbeziehung 27
Renaissance 52, 87, 183, 185, 186, Selbstbezogenheit 26, 27, 50, 140, 147,
319, 342, 348, 365 295, 337
Revolte 24 Selbstentfremdung 172, 178, 222, 223,
Revolution 60, 185, 193 224, 244, 256, 326, 367
–, Französische 217 Selbsterhebung 139, 275, 277, 278,
Romantik 38, 185, 194 315
Selbsterniedrigung 275
Säkularismus 156, 157 Selbstheit 26, 50, 141
Sakramentale, das 333, 346 Selbsthingabe 296
Schicht 110, 116 Selbstidentität 137, 357, 358, 365
Schichtenlehre 342-352 Selbstintegration 352-372, 373, 383
Schmerz/Lust → Lust/Schmerz Selbstkontrolle 326
Schock des Nichtseins 95 Selbstliebe 354
Schönheit 319f. Selbstmanifestation 352, 354f., 373,
Schöpfung 49, 91, 92, 182, 252 383, 392-409
Schöpfungsgedanke 64, 341 Selbstobjektivierung 194
Schöpfungsordnung 144 Selbstproduktion 352-355, 373-391
Schuld 244f. Selbstrealisierung 259, 271, 352
Schwermut 390 Selbstreduktion 237
Seele 138, 180, 345 Selbstschöpfung 387
Sein 10, 11, 13, 14, 20, 38 Selbstsetzung 385
Seiendes 12, 13, 14 Selbsttäuschung 315
Sein/Nichtsein 16, 17, 19, 187 Selbsttranszendenz 68, 69, 71, 400
Seinsbegriff 14 Selbstüberhebung 399
Seinsfrage 16 Selbstveränderung 358
Sein-Selbst 20, 95, 96, 100, 101, 105, Selbstverhüllung 353
106, 127 Selbstverlust 296
Seinsgrund 69, 100, 274, 313, 326, Selbstverschließung 295f.
399 Selbstverschlossenheit 231
Seinsmacht 313 Selbstverschwendung 143
Seinsmächtigkeit 19, 92, 95, 101, 132, Selbstverurteilung 328
394 Selbstverwandlung 357
Selbst 8, 26, 31, 352 Selbstverwirklichung 37, 233, 258, 259,
–, formloses 341 265, 268, 269, 271, 274, 275, 280,
Selbstabschließung 295 365
Selbstaffirmation 63, 105, 307 Selbstwiderspruch 224
Selbstalteration 358, 365 Selbstzentriertheit 26, 27, 79
Selbstanalyse 43, 182 Selbstzerstörung 183, 201, 236, 239,
Selbstaufhebung 402 290, 374, 375, 380, 382, 391
Selbstausdruck 325 Selbst-Welt-Korrelation 20, 22-33, 80,
Selbstbegrenzung 175, 232, 278, 337 83, 170, 227, 287f., 352
Selbstbeharrung 68 Sinn 69, 201
Selbstbehauptung 115, 237 Sinn des Seins 146
420
Sinnbezug 66 –, dialektische 211, 401
Sinnentleerung 205 –, heteronome 107
Sinngebung 11 –, irrationalistische 38
Sinngefüge 164 –, klassische 247, 250, 272, 275
Sinnlosigkeit 95, 146, 196, 197, 201, –, natürliche 151f.
203, 207, 245f., 275, 395 –, negative 12
Sinnstruktur 37, 95 –, neuorthodoxe 211, 306
Skeptizismus 154 –, protestantische 173
Sorge 292 Theonomie 329f.
Sozialdemokratie 224f. Thomismus 69
Sozialismus 224 Tiefe 313
–, religiöser 45, 46 Tiefendimension 13, 40, 325, 329, 330,
Soziologie 7, 25, 171 405
Spekulation 5 Tiefenpsychologie 104, 141, 182f., 217,
Spontaneität 45, 76, 78, 85 218, 219, 221, 222, 227, 256, 281,
Sprache 32, 34, 53, 362, 386, 387 306, 350, 365, 397
Sprachphilosophie 33 Tiefensoziologie 141
Sprung 35, 85, 87, 210f., 212 Tod 95, 97, 115, 138, 253, 291, 301,
Stalinismus 212 337, 358, 376
Stil 60 Todestrieb 381
Stoa/Stoiker 51, 52, 95, 105, 216, 243, Tradition 403
400 Traditionalismus 60
Struktur 27, 30, 48 Tragik 31, 166, 262, 274, 312-318,
–, des Bewusstseins 36, 41 365, 397-400
–, des Seienden 3 Tragische, das 53, 91, 262, 312, 314,
–, des Seins 48, 79 316, 398
–, jenseits von Subjekt und Objekt 10 Tragödie, griechische 143, 275, 314f.,
–, der Wirklichkeit 4, 36 316, 317, 398
Subjekt/Objekt 5, 25, 42f., 44, 341 Transparenz 318f, 393, 395, 406,
Subjekt-Objekt-Korrelation 20, 22, 407
170, 175 Transzendentalien 21f.
Subjekt-Objekt-Struktur 80 Transzendieren 31
Subjektivität 24, 42, 45, 46, 47, 104, Trinität 100, 330
170, 187, 192, 202, 215, 287, 400, Trotzdem 105, 116, 134, 230
403
Substanz 8, 135-147, 161 übergeschichtlich 181
Sünde 344 Über-Ich 222, 223, 226, 227
Supranaturalismus 4, 386 Übermensch 71
Symbol 49, 56, 61, 65, 173, 174, 179, Überseiendes 13
182, 243, 387, 395, 403, 404 Über-sich-hinausgehen 54, 68, 70, 81,
121, 358, 365, 400
Technik 354 Umgebung 28f., 31, 34, 52, 119, 170
Teilhabe → Individualisation/Partizi- Unbedingte, das 13, 155, 328, 386,
pation 409
Teilnahme 106, 176 Unbedingtheit 156, 327, 385, 403
Teleologie 129f. Unbedingtheitsanspruch 393
Theater 202f. Unbewusste, das 27, 63, 193, 223, 245,
Theodizee 188, 250, 257 347, 371
Theologie 38, 69, 92 Undurchdringlichkeit 119
–, amerikanische 158 Unendliche, das 14, 158, 343
–, deutsche 401 Unendlichkeit 97-99, 118, 199
421
Unglaube 273f., 277 Weltkrieg, Erster 2, 67, 241, 294
Ungrund 52, 93 –, Zweiter 2
Universalgeschichte 52 Werden 68
Universalien 57 Werdensphilosophie 68, 69
Universum 30, 53, 338 Werk 302, 378f.
Unsterblichkeit 97, 106, 137, 138, Werturteil 340
345 Wertphilosophie 21f.
Unzweideutige, das 408 Wesen 88, 227
Urpolarität 50 Wesen/Existenz passim
Urstruktur 38 Wesenheit 49, 180
Utopie 72, 268f. Wille 62, 64, 73
Wille zum Leben 381
Verantwortlichkeit 77, 84 Wille zur Macht 62, 199, 256, 276,
Verdinglichung 24, 46, 71, 210, 217, 279
221, 381 Willensphilosophie 191
Vergegenständlichung 172, 218, 224 Wissen 13
Vernunft 36 Wissenschaft 7, 13, 177, 193
–, moralische 194 Wort 41
–, objektive 37 Wunder 346, 407
–, ontologische 37-43
–, subjektive 37 Zeichen 56, 387
–, technische 37-43, 46 Zeit 8, 49, 110-117, 253f.
Versöhnung 56 –, animalische 8
Verwirklichung 66 –, anorganische 111
Verzweiflung 186, 187, 196, 200f., 203, –, geschichtliche 8, 113
230, 291, 296f., 400 –, pflanzliche 111f.
Vitalismus 129 –, physikalische 111
Vitalität 63, 65-67, 71, 142, 147, 215, –, Erwartungszeit 8
216 –, Wachstumszeit 112
Vollkommenheit 344 Zen-Buddhismus 340f.
Voluntarismus 183 Zentriertheit 79
Vorsokratiker 11, 14, 89, 251 Zerspaltenheit 338
Zerspaltung 255, 288, 336, 371
Wachstum 70, 112, 302, 303f., 377f. Zerrissenheit 289
Wägen 76, 84 Zerstörerische, das 353
Wahre, das 21 Zweideutigkeit 182, 297-334, 335-
Wahrheit 37, 154 409
Wahrnehmen → Gewahrwerden Zweifel 245f., 400
Welt 8, 27, 29-33 Zwiespalt 339
–, gefallene 266-276 Zynismus 207, 210
422