2019.03.23 Spiegel Nachrichtenmagazin
2019.03.23 Spiegel Nachrichtenmagazin
Grundrente
Ärmsten triezt
Wie der Staat seine
Die Sphinx
von Cupertino
Apple-Chef Tim Cook
Vorurteile
ertragen müssen
Was Kinderlose so alles
Das globale Netzwerk rechter Terroristen
VERSCHWÖRUNG
DIE BRAUNE
Nr. 13 / 23.3.2019
Deutschland € 5,10
ENDLICH FREI.
DER NEUE BMW Z4 ROADSTER.
Noch nie in der Geschichte des Deutschen Bundestags hat es so viele Abgeordnete
gegeben, 709 Frauen und Männer repräsentieren den Willen des Volkes und treten
sich dabei in jeder Beziehung gegenseitig auf die Füße. Im Januar setzte sich Alexander
Smoltczyk eine Woche lang auf die Zuschauertribüne, beobachtete und hörte zu.
Danach verabredete der Reporter sich mit Abgeordneten aller Parteien, um die
Woche nachzubereiten: »Ich wollte wissen, wie Parlamentarier miteinander umgehen,
die sich nicht selten abgrundtief verachten.« Das betrifft vor allem die Abgeordneten
der AfD-Fraktion. »Inzwischen arbeiten manche durchaus ernsthaft in den Ausschüs-
sen mit. Andere genießen es, geschnitten zu werden.« Sein Bericht über die neuen
Grenzen und Grenzüberschreitungen auf Seite 52
Nationale Schnapsidee
Leitartikel Eine staatlich orchestrierte Fusion von Commerzbank und Deutscher Bank wäre falsch.
E
s ist ja nicht so, als wäre nicht alles schon einmal Hinzu kommen Rechtsrisiken wegen der Verwicklung in
da gewesen. Endlich, so hieß es im Sommer Geldwäschefälle sowie dubiose Kredite an Donald
2008 aus der Politik, könne die hiesige Wirtschaft Trump. Der bekam als Immobilieninvestor zeitweise nur
auf einen zweiten nationalen Finanzchampion noch von der Deutschen Bank Geld.
zurückgreifen. Was war passiert? Die Commerzbank hat- Diese Risiken werden die Bank in den Schlagzeilen und
te den Kauf der Dresdner Bank verkündet, um zur ihre Kosten hoch halten. Aber so gefährlich wie einst bei
damals noch starken Deutschen Bank aufzuschließen. Die Lehman Brothers ist das nicht. Und sollte die Deutsche Bank
Große Koalition in Berlin orchestrierte den Deal – auch tatsächlich in Existenznot geraten, müsste der Bund ohnehin
weil der Allianz-Konzern, bis dato Eigner der Dresdner einspringen, um sie zu retten. Fürs Scheitern ist sie zu groß.
Bank, an der maroden Tochter zu ersticken drohte. Das Die Banken müssen sich selbst sanieren, Risiken dras-
tat dann die Commerzbank, weshalb der Bund sie in der tisch reduzieren, Geschäftsmodelle schärfen. So banal es
Finanzkrise mit Steuermilliarden klingt: So läuft das in einer Markt-
retten musste. wirtschaft, dafür werden Manager
Elf Jahre später scheinen die Ver- bezahlt. Erste Erfolge beim Kosten-
antwortlichen in Berlin nicht klüger senken gibt es, wenngleich die Ein-
geworden zu sein. Denn die fixe Idee nahmen noch stärker sinken. Das
»nationaler Champions« lebt wieder ist gefährlich, aber nichts, was der
auf. Wirtschaftsminister Peter Alt- Staat per Fusion heilen könnte.
maier hat sie in seiner »Nationalen Die Kollateralschäden einer Fu-
Industriestrategie 2030« skizziert. In sion wären schlimmer: Anstatt sich
der listet er die Deutsche Bank als er- um Kunden zu kümmern, wären
haltenswert auf. Finanzminister Olaf die Partner über Jahre mit sich selbst
Scholz geht noch einen Schritt weiter. beschäftigt. Ihre Kulturen sind
Er hat die Commerzbank, an der der grundverschieden. Selbst in der
Bund 15 Prozent hält, und die Deut- Deutschen Bank trauen sich Invest-
sche Bank in Fusionsgespräche ge- mentbanker und der Rest nicht über
drängt. Bloß: Die wollen das offen- den Weg. Dass Berater enormes Ein-
MARC-STEFFEN UNGER
Fußball,
das sind wir alle.
Volkswagen. Stolzer Partner des DFB.
#wedrivefootball
Meinung So gesehen
Uploadwas?
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
Endlich verständlich: die
EU-Urheberrechtsreform
Der Masochismus der SPD G Es ist an diesem Samstag einmal
mehr mit erschreckenden Szenen der
Dass Sozialdemokraten wurde Andrea Nahles gefragt. »Nein«, Ignoranz zu rechnen. Während von
nicht mit Zahlen umgehen antwortete sie. »Wir haben gelernt.« Aachen bis Würzburg mutmaßlich
könnten, ist ein Gassen- Wie in den ersten beiden Koalitio- viele Tausend engagierte junge Men-
hauer konservativer nen hat die SPD erneut viele ihrer schen gegen die geplante EU-Urhe-
Denunziation. SPD- Anliegen durchgesetzt, sogar mehr als berrechtsreform protestieren werden,
Finanzminister wie Helmut CDU und CSU. Erwähnt seien hier mit Plakaten insbesondere gegen
Schmidt oder Peer Steinbrück nur die Musterfeststellungsklage, die Artikel 13 derselben und drohende
bewiesen das Gegenteil, und Olaf verschärfte Mietpreisbremse, das Uploadfilter, stehen wahrscheinlich
Scholz tut es aktuell auch. Wenn es Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, Millionen verständnislos am Rand.
aber um Große Koalitionen unter das gut geframte »Gute-Kita-Gesetz«, Artikel 13? Uploadfilter? Die digi-
Angela Merkel geht, ist eine gewisse die Festschreibung des Rentenniveaus talen Analphabeten begreifen wohl
Rechenschwäche der Sozialdemo- bis 2025 oder die Rückkehr zur hälf- nicht, welche verheerenden Folgen es
kraten nicht zu leugnen. tigen Finanzierung der Krankenkassen- für Meinungsfreiheit, Meme-Kultur,
In die erste GroKo startete die SPD beiträge. Auch die dritte Große Koa- für User-Generated Content und
2005 mit 34,2 Prozent und kam mit lition ist, inhaltlich, eine sozialdemo-
23 Prozent wieder heraus. In die zwei- kratische.
te ging es 2013 mit 25,7 Prozent, am Nur die Bürger sehen das frecher-
Ende standen 20,5. Eine nüchterne weise wieder mal anders. Im aktuellen
Analyse der Zahlen hätte den Genos- ARD-Deutschlandtrend erklärten
sen etwas verraten können. Trotzdem 48 Prozent der Befragten, die CDU
unterzeichneten sie vor einem Jahr habe sich inhaltlich am stärksten durch-
den dritten Koalitionsvertrag mit Mer- gesetzt. 16 Prozent sagten das über die
kels Union. Dieses Mal werde alles SPD. Immerhin: Damit lag sie noch
anders, beteuerten die Spitzen der Par- knapp vor der CSU (14 Prozent).
tei. Also echt jetzt. Die 20,5 Prozent der SPD bei der
»Der Koalitionsvertrag ist sehr gut, Bundestagswahl konnten in den selbst für kleine Blogger haben kann,
besser als der vor vier Jahren«, Umfragen weiter konsequent reduziert wenn die Reform Realität wird.
schwärmte Manuela Schwesig. Tatsäch- werden. Das mag ungerecht sein. Beim Sogar Spitzenpolitiker scheinen
lich hatte die SPD für eine 20,5- dritten Mal aber verbietet sich jedes nicht in Gänze begriffen zu haben,
Prozent-Partei fast unverschämt viele Mitleid. Wer konstant gegen dieselbe was auf dem Spiel steht.
Ministerien und Inhalte bekommen. Wand rennt, darf sich nicht wundern, Anders als die Kampagne »Rettet
»Wir gehen diesmal mit einer anderen wenn er nicht vorankommt und jedes die Bienen« muss »Rettet das Inter-
Haltung in diese Koalition«, versprach Mal etwas derangierter zurückbleibt. net« zudem ohne ein Maskottchen
Malu Dreyer. Ob es ein Naturgesetz auskommen. Sascha Lobo sammelt
sei, dass die SPD aus Großen Koalitio- An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und nun mal keinen Honig.
nen immer geschwächt hervorgehe, Markus Feldenkirchen im Wechsel. Darum soll hier ein letzter Ver-
such unternommen werden, das Pro-
blem der Uploadfilter so radikal zu
Kittihawk vereinfachen, dass seine Dramatik
der breiten Masse begreifbar wird.
Stellen Sie sich also vor, das Inter-
net wäre Ihr Auto. Sie wollen los-
fahren, geht aber nicht, weil der
Motor nach neuer EU-Richtlinie erst
startet, nachdem Sie in den obligato-
risch eingebauten Alkotester gepus-
tet haben. Schlimm genug. Aber
das unzuverlässige Gerät sperrt den
Anlasser nicht nur bei Volltrunken-
heit, sondern manchmal schon nach
dem Genuss einer einzigen Schorle.
Immer noch zu kompliziert? Dann
eben so: Die EU-Reform könnte dazu
führen, dass weniger kostenlose
Pornos im Netz zu finden sind. Auf
die Barrikaden! Stefan Kuzmany
F
ür manche war es ein Happening so fühlen wie er. Diese Menschen leben hen könnte. Tarrant steht für eine neue
im Internetforum 8chan am vorver- überall auf der Welt, viele in Deutschland. Sorte des Terrors, die vor allem dafür ge-
gangenen Freitag gegen 13.30 Uhr. Ihre Freude über den Tod der Muslime dacht ist, über das Internet Nachahmer zu
Brenton Tarrant hatte gerade an- versuchen sie kaum zu verbergen. rekrutieren. »Troll-Terrorist« hat SPIEGEL-
gekündigt, einen tödlichen Anschlag aus- Die »Propaganda der Tat« ist eine Idee ONLINE-Kolumnist Sascha Lobo den At-
zuführen und diesen live auf Facebook zu aus dem 19. Jahrhundert, einst von Anar- tentäter in seiner Kolumne treffend be-
übertragen. Da meldeten sich die ersten chisten ersonnen. Attentäter wie Tarrant zeichnet. Ein harmlos klingender Name
Fans. »Viel Glück«, schrieb einer, »klingt beleben sie nun wieder und nutzen dafür für einen Tätertypus, den Sicherheitsbe-
nach Spaß« ein zweiter, »bester Start ins die Mittel der digitalen Welt: den Live- hörden für sehr gefährlich halten – gegen
Wochenende« ein dritter. Und dann, als stream über soziale Netzwerke, den Auf- den sie aber noch kein schlüssiges Konzept
tatsächlich über Tarrants Kopfkamera zu ruf an Gleichgesinnte, sogenannte Memes haben.
sehen war, wie er am Eingang der Al- der Tat zu verbreiten: ikonengleiche Bil- Was nach Amokläufen bislang als Er-
Noor-Moschee in Christchurch, Neusee- der, Tarrants Rucksack zum Beispiel, den klärung angeboten wird, wirkt oft hilflos
land, den ersten Menschen nie- und wie eine Schablone gesell-
derschoss, der ihn gerade noch schaftlicher Trauerarbeit. Die
freundlich gegrüßt hatte, schrieb Täter werden als schwierige Ein-
ein vierter: »Heilige Scheiße, net- zelgänger beschrieben, als Ge-
te Schießerei!« störte, als große Einsame mit
Fast 200 Facebook-Nutzer sa- oder ohne schwere Kindheit. Sie
hen auf ihrem Handy, Tablet werden per Ferndiagnose mal
oder Monitor dabei zu, wie der als psychisch krank, mal als so-
28-Jährige aus dem Auto stieg, zial isoliert dargestellt. »Einsa-
den Kofferraum öffnete, in dem me Wölfe« nennen die Forscher
seine Gewehre lagen, und dann solche Täter.
begann, 50 Menschen in zwei Das ist meist richtig, auch Tar-
Moscheen und deren Umgebung rant hatte nach jetzigem Stand
zu töten. der Ermittlungen keinen Mittä-
Kinder wie den 3-jährigen ter. Er handelte nicht im Auftrag
Mucad Ibrahim. Schüler wie den eines Anführers, er plante die
14-jährigen Sayyad Milne. Män- Tat offenbar allein. In seiner Um-
ner wie den Familienvater Kha- gebung nahm wohl keiner wahr,
led Mustafa. Frauen wie Husne was in ihm über Monate reifte
Ara Parvin, die noch versuchte, und wie er von Tag zu Tag radi-
ihren Mann im Rollstuhl zu be- kaler wurde. Hinweise, dass er
schützen. psychisch krank ist, gibt es keine.
Ein Massenmord an Musli- Was aber wäre, wenn zwi-
men, dokumentiert in Echtzeit, schen gewissen Massenmördern
gefilmt in der Optik eines Video- ein ideologisches Band bestün-
spiels, bejubelt wie ein Fußball- de? Wenn ihre Taten gar nicht
finale. »So werden wir gewin- so singulär und unerklärlich wä-
nen«, schrieb ein fünfter. Mehr ren, sondern politisch herleit-
Menschenverachtung geht nicht. bar? Wenn die einsamen Wölfe
Keiner dieser fast 200 Zu- in Wahrheit ein Rudel bildeten?
schauer meldete Facebook das Oder, um im Sprachgebrauch
Verbrechen, Tausende sahen den der Täter zu bleiben: wenn sie
Livestream nachträglich. Das Un- sich als Frontsoldaten einer gro-
ternehmen, dessen Chef Mark C h r i s t c h u r c h 1 7. 3. 2 0 1 9 – ßen Bewegung verstünden, die
Zuckerberg sich gern rühmt, dass Polizeiabsperrung vor der Al-Noor-Moschee. sich vermeintlichen Gefahren
Zehntausende Moderatoren die Zwei Tage zuvor hat Tarrant (linke Seite) unserer Zeit entgegenstellten?
Inhalte des Netzwerks ständig das Feuer auf die Gläubigen eröffnet Diese Lesart gewinnt mit der
überwachen, bemerkte erst mal Tat von Christchurch an Plausi-
nichts. Erst zwölf Minuten nach- bilität. Die Linie zwischen den
dem die Übertragung beendet war, er- er bei der Tat trug. Sein Abbild wird zur Gedankenwelten des Brenton Tarrant und
reichte Facebook der erste Hinweis. Insignie eines vermeintlichen Helden und etwa des Anders Breivik, der 2011 in Nor-
300 000 Kopien des Videos löschte das zum Aufruf, es ihm gleichzutun. wegen 77 Menschen tötete, ist leicht zu
Unternehmen daraufhin angeblich inner- Darf man über einen solchen Täter ziehen. Beide fabrizierten zur Begründung
halb von 24 Stunden, 1,2 Millionen Mal schreiben und ihn damit, wenn auch nicht ihrer Morde ein Amalgam aus menschen-
verhinderten demnach automatisierte Fil- willentlich, aufwerten? Darf man seinen verachtenden Theoremen. Sie fassten sie
ter, dass Tarrants Video hochgeladen wur- Namen nennen, oder soll man ihn ver- in sogenannten Manifesten zusammen, die
de. Doch wie bei allen Daten, die im In- schweigen, wie es Neuseelands Premier- nun durch die digitalen Kanäle geistern
ternet schnell und vielfach geteilt werden, ministerin Jacinda Ardern macht? Oder und zur Bibel potenzieller neuer Attentä-
gelang die Tilgung nicht. Wer will, findet muss man aushalten, dass er triumphieren ter werden.
das Video noch immer. könnte, läse er diesen Artikel? Tarrant nimmt in seiner Erklärung auf
Brenton Tarrant hat seine Ziele erreicht: Die Antwort lautet: Ja, man muss es. Breivik Bezug und ist diesem im sprach-
weltweite Aufmerksamkeit, 17 grausame Man muss über Brenton Tarrant reden, lichen Ausdruck und im Layout ähnlich,
Minuten als Vermächtnis und am Ende die man muss über ihn schreiben, um zu ver- wie die norwegische Journalistin Asne
virtuelle Verbeugung von Menschen, die stehen, was geschah und was noch gesche- Seierstad sagt, die über Breivik ein Buch
geschrieben hat. »Beide teilen dieselbe Schläfer einer Bewegung, die zumindest Der Topos vom Endkampf der Chris-
Ideologie, eine Art modernen Faschismus, darin ihren kleinsten gemeinsamen Nen- tenheit mit den Muslimen hat in den ver-
dessen Hauptfeindbild die Muslime sind.« ner findet, dass es für sie lebensunwertes gangenen Jahren innerhalb der extremen
Tarrant behauptet in seinem Manifest so- Leben gibt? Und dass sie das Recht zur Aus- Rechten den Rassismus als ideologisches
gar, er habe kurzen Kontakt zu Breivik ge- löschung hätten? Wie viele Schläfer gibt Herzstück teilweise ersetzt. Diese Sicht-
habt, wobei nicht klar wird, wann und wie. es wohl, und wann wacht ein Schläfer auf? weise ähnelt der islamistischer Attentäter,
Auch David Sonboly, der 2016 am Brenton Tarrant wuchs in den Neunzi- die in ihrem Kampf gegen die »Ungläubi-
Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun gerjahren im Osten Australiens auf, in ei- gen« ebenfalls einen Bogen vom frühen
Menschen aus Einwandererfamilien er- nem kleinen Ort namens Grafton. Sein Va- Mittelalter über die Kreuzzüge bis in die
schoss, suchte die Nähe zu dem norwegi- ter arbeitete bei der Müllabfuhr, seine Mut- Gegenwart spannen. »Extremisten sehen
schen Attentäter. Er wollte für seinen An- ter als Lehrerin, gemeinsam hatten sie sich nie in der Rolle des Aggressors, son-
schlag unbedingt die gleiche Pistole haben, zwei Kinder. Tarrants Vater erkrankte früh dern in einem Zustand existenzieller Be-
die der Norweger benutzt hatte. Nach lan- an Krebs und starb 2010 im Alter von drohung«, sagt der Terrorismusforscher
ger Suche wurde er im Darknet fündig. 49 Jahren. Peter Neumann vom Londoner King’s
Niemand muss mehr zu Websites knall- Tarrant gab seinen Job als Trainer in ei- College. »Der Kampf der Kulturen steht
harter Neonazis vorstoßen, um die Sorge nem Fitnessstudio auf und beschloss, in ihren Augen kurz bevor.«
über das angebliche Sterben der weißen durch die Welt zu ziehen. Es wurde eine
Rasse zu inhalieren. Niemand muss zu Ka- Reise, die offenbar seine Ideologie prägte In den Jugoslawienkriegen rechtfertigten
meradschaftstreffen in piefige Gasthöfe ge- und verfestigte. serbische Kriegsverbrecher mit einer sol-
hen, um zu erfahren, wo die vermeintliche Entscheidend dürften wohl seine Auf- chen Ideologie ihren Kampf gegen musli-
Gefahr lauert: bei den muslimischen Ein- enthalte auf dem Balkan gewesen sein, des- mische Bosnier. Brenton Tarrant unterleg-
wanderern, den »Invasoren«, wie Tarrant sen Geschichte und Mythen sein rechts- te sein Video mit einem serbischen Kampf-
sie nennt. extremes Denken mit inspiriert haben lied aus dieser Zeit: »Karadžić, führe deine
Die Verschwörungsfantasien eines Brei- könnten: die Mär vom ewigen Kampf des Serben«. Der Song wurde vor mehr als
vik, Sonboly oder Tarrant sickern, vermit- Christentums gegen muslimische Horden, zehn Jahren von Rechtsradikalen in neuen
telt durch charmante YouTuber oder durch die aus dem Osten anrücken, um das Versionen mit dem zynischen Untertitel
die Fankanäle beliebter Rapper, in den Kreuz gegen den Halbmond zu tauschen. »Remove Kebab« ins Netz gestellt.
populären Zeitgeist ein. Sie landen in Fo- Auf den Waffen und Magazinen, die Glaubt man Tarrants »Manifest«, dann
ren wie 4chan oder 8chan, in Spielercom- Tarrant später zum Töten benutzte, tau- beschloss er im Frühjahr 2017, dass nur
munitys wie Discord oder Steam, auf Platt- chen etliche Namen christlicher Krieger Gewalt die endgültige Lösung sei. Damals
formen wie Global Fascist Fraternity, Fas- auf, die sich in den vergangenen gut tau- starb in Stockholm die elfjährige Ebba
cist Forge oder Ironmarch, eingebettet in send Jahren mit osmanischen Heeren Åkerlund auf dem Weg von der Schule,
eine rechte Netzkultur mit eigenen Codes schlugen. Tarrant stellte sich in eine Linie als ein 39-jähriger Usbeke einen Lkw in
und eigenem Habitus. Den Teilhabern fällt mit diesen Männern und versuchte wo- eine Menschenmenge fuhr. Ein paar Wo-
es oft schwer, zwischen Ernst und übler möglich so, seine Tat als Teil eines Jahr- chen später wurde Emmanuel Macron
Ironie zu unterscheiden, vielleicht gar zwi- hunderte währenden Schicksalskampfes französischer Präsident. Tarrant fuhr in
schen virtueller und analoger Welt. Wie zu verklären. dieser Zeit durch Frankreich.
ist der verstörende Applaus für die Dort, so schreibt er, habe er die
Liveübertragung einer brutalen Tö- Lage schlimmer erlebt, als er sie sich
tungsserie zu erklären? Offenbar ausgemalt habe. Er saß im Mietwa-
können oder wollen die Jubler zwi- gen vor einem Einkaufszentrum
schen Ego-Shooter und Massen- und sah überall »Eindringlinge«.
mord nicht mehr trennen. Auch die sexuellen Übergriffe zum
Mörder wie Breivik oder Tarrant Jahreswechsel 2015/16 in Köln er-
sehen sich als Avantgarde einer wähnt er. Er findet sie »schockie-
schwindenden Mehrheit. Schwer rend« und schreibt an die Täter: »Ihr
bewaffnet nehmen sie das Heft des werdet hängen.«
Handelns in die Hand, denn sie ha- »Der große Austausch«, nennt
ben die Apokalypse vor Augen. Tarrant sein Manifest. Es ist nicht
Während alle anderen nur quat- nur der Titel eines Buches des 1946
schen, schaffen sie blutige Fakten, geborenen französischen Autors
um die vermeintlichen Interessen Renaud Camus, es ist auch eine ideo-
der weißen Rasse zu verteidigen. logische Deutung der Moderne. Sie
Diese Verbohrtheit wirkt auf hat sich binnen weniger Jahre in al-
manch jungen Kopf, die dahinter- len rechten Netzwerken sowie im
steckende Ideologie jedenfalls spuk- parlamentarischen Populismus ver-
te durch die Köpfe so mancher Tä- breitet.
FRANCOIS LENOIR / REUTERS
15
Wie gefährlich islamfeind-
liche Ideologie in Verbindung
mit dem Hass im Internet sein
kann, zeigt der Fall von Nino
K. Wenige Tage vor dem Tag
der Deutschen Einheit 2016
zündete er eine Rohrbombe
an einer Dresdner Moschee.
Auf seinem Rechner sam-
melte K. Internet-Meme, jene
kleinen Bilder, die bei ihm mit
menschenfeindlichen Sprü-
chen versehen waren. Auf ei-
nem ist Gott zu sehen, der an
einem Fließband Menschen
auf die Erde schickt und sagt:
»So, Hirn ist alle, jetzt gibt’s
nur noch Muslime.« Auf ei-
nem anderen ist ein Schlauch-
boot mit Flüchtlingen zu se-
hen, dazu der Satz: »Wo ist
der Weiße Hai, wenn man ihn
braucht?«
K. war auch für seine Ge-
Auch die »Hooligans gegen Salafisten«, der »Reichsbürger« und »Prepper«, die Ausland kaum wertvolle Erkenntnisse,
kurz Hogesa, formierten sich in einer sich auf einen »Tag X« vorbereiten, an wenn es um Neonazis geht.« Dabei ist in
rechtsradikalen Facebook-Gruppe – und dem die staatliche Ordnung zusammen- den Behörden seit Langem klar, dass die
brachten dann später in Köln Tausende bricht. Auch sie entwickeln ihre apokalyp- Führungsfiguren der deutschen Szene in-
Teilnehmer auf die Straße. Die Polizei wur- tische Weltsicht oft in geschlossenen Chats. ternationale Kontakte pflegen.
de davon völlig überrascht. 45 verletzte Zugleich stoßen die Ermittler immer wie- Das Bundeskriminalamt hat auf die
Beamte und wilde Ausschreitungen in der der auf ganz reale Waffenlager. Bei einem neue Bedrohungslage von rechts reagiert
Innenstadt waren die Folge. Offenbar hat- »Reichsbürger« in Bayern fanden sie ne- und die Zahl der Ermittler erhöht. Der
ten die Ermittler nicht bemerkt, was sich ben einem geladenen Revolver und einem neue Chef des Bundesamts für Verfas-
im Netz zusammenbraute und ins echte Schrotgewehr Kunststofftonnen voller Le- sungsschutz, Thomas Haldenwang, will
Leben schwappte. In einer vertraulichen bensmittel. Er befürchte, dass die »Musel- die Rechtsextremismus-Abteilung um
Analyse kam das nordrhein-westfälische manen uns überrennen und Polizei und 50 Prozent aufstocken. Und der General-
Landeskriminalamt zum Ergebnis, dass Militär diese nicht mehr aufhalten könn- bundesanwalt in Karlsruhe schreitet bei
die Bewegung »keine einheitliche Grup- ten«, sagte der Mann. Terrorverdacht von rechts nun noch früh-
pierung«, sondern ein »heterogenes Bild zeitiger ein, wie zuletzt in Chemnitz, wo
mit Straftätern verschiedener Spektren« Für eine flächendeckende Kontrolle im Rechtsextremisten in einem konspirativen
darstelle. Die verbindenden Elemente: Internet aber fehlt das Personal. Zwar sind Chat vom »Bürgerkrieg« raunten.
Feindseligkeit gegen den Islam, Angst vor die Dienststellen für Rechtsextremismus Hochrangige Verfassungsschützer fürch-
Fremden, Brutalität und das Internet. bei Polizei und Verfassungsschutz besser ten dennoch, dass sich neue rechtsterro-
Mit der neuen Entwicklung halten die bestückt als die, die sich mit Linksextre- ristische Strukturen in Deutschland heraus-
Sicherheitsbehörden nur schwer Schritt. Zu mismus befassen. Im Vergleich zu den Er- bilden könnten. »Wir müssen wachsam
lange orientierten sie sich an den altbekann- mittlern islamistischen Terrors sind sie je- sein«, sagt der Leiter eines Landesamts.
ten Strukturen der rechtsextremen Szene. doch deutlich in der Minderzahl. Die Prio- »Nach unserer Bewertung ist das militante
Sie beobachteten Kameradschaften und Par- risierung der Politik ist seit 9/11 eindeutig: Personenpotenzial erheblich. Es reicht
teien, Szenetreffs und Straßendemos. Doch Spricht sie von Terrorgefahr, meint sie vor möglicherweise ein einzelnes Ereignis als
die Terrorgefahr von rechts ist unberechen- allem die, die von Islamisten ausgeht. Initialzündung, um schwerste Gewaltakte
barer, seit das Internet zum zentralen Ver- Auch die internationale Zusammenar- auszulösen.« Das kollektive Versagen, den
sammlungsort geworden ist. In einem ver- beit ist diffizil. Deutschland hat wegen sei- »Nationalsozialistischen Untergrund« recht-
traulichen Bericht an den Bundestag beklag- ner Geschichte die strengsten Gesetze, was zeitig zu erkennen, hat man nicht verges-
te das Bundesamt für Verfassungsschutz im rechtsradikale Hetze anbelangt. »Gerade sen. Und die Resonanz unter deutschen
Februar, dass »die Bearbeitung rechtsterro- im angelsächsischen Raum fallen viele Äu- Rechtsextremisten auf den Attentäter von
ristischer Ansätze« in den vergangenen Jah- ßerungen im Netz unter die Meinungsfrei- Christchurch nährt diese Bedenken.
ren »deutlich arbeits- und personalintensi- heit, während sie bei uns strafrechtlich ver- Was passiert, wenn man die Gefahr
ver« geworden sei. Weil sich potenzielle Ge- folgt werden müssten«, sagt ein Staats- rechtsextremer Gewalttäter zu lange aus
walttäter oft nicht mehr in klassischen schützer. »Ich erwarte mir daher aus dem den Augen verliert, kann man in den USA
rechtsextremen Strukturen beweg-
ten, entstünden »Probleme in der
weiteren Beobachtung und Aufklä-
rung« durch die Geheimdienste.
Der neue Tätertypus sei meist um
die 30 Jahre alt, männlich und zu
einem beträchtlichen Teil den Be-
hörden zuvor noch nicht aufgefal-
len. Sein Weltbild bastele er sich oft
aus verschiedenen rechten Ideologie-
elementen, Versatzstücken und Ver-
schwörungstheorien zusammen.
Der Hass richte sich vor allem gegen
Asylbewerber und Muslime.
Der Fokus der Überwachung
müsse deshalb noch stärker »auf
rechtsextremistische Internetaktivi-
täten gerichtet werden, da hier hohe
FILIP SINGER / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK
17
beobachten: Laut den Angaben der Anti- pel und geben zugleich Journalisten Inter-
Defamation League haben rechtsextreme
Eine toxische views.
Gewalttäter dort seit dem 11. September Melange aus frus- Schritt für Schritt wird die Schwelle zum
2001 deutlich mehr Menschen getötet als trierten Maulhelden Terrorismus kleiner. In der Folge der Neo-
andere terroristische Gruppierungen. Im nazimärsche von Charlottesville erklärte
Jahr 2017, dem ersten Amtsjahr Donald und psychisch FBI-Direktor Christopher Wray in einer
Trumps, waren rund 60 Prozent aller Ter- labilen Fanatikern. Anhörung vor dem US-Kongress, dass sei-
roranschläge in den USA durch rechts- ne Behörde ungefähr tausend offene Er-
extreme Ideologie motiviert, rassistisch, mittlungsverfahren gegen inländische Ter-
antisemitisch oder homophob. Die Global Innenstädten ankam. Nachdem sie so viele rorverdächtige führe. Das seien genauso
Terrorism Database zählte in den USA Jahre im Internet verbracht hatten, oftmals viele wie gegen mutmaßliche Mitglieder
2006 nur 6 Anschläge, 2017 aber schon eng verbunden mit der Computerspiel- des »Islamischen Staats«.
65, die 95 Menschenleben forderten. szene, sahen die neuen Rechten aus wie Man kann die Entwicklung in den USA
36 dieser Angriffe werden rechten Grup- Fantasyfiguren. Sie trugen Motorradhel- als Folie für das betrachten, was in
pierungen zugeschrieben, sie kosteten me, Rüstungen, manche auch »Make Ame- Deutschland noch kommen kann. Erste
11 Menschen das Leben. rica Great Again«-Kappen. »Alt Right« Vorboten gibt es schon. »Wir wollen den
Für diese vermehrte rechte Gewalt gab werden sie genannt. totalen Bürgerkrieg«, heißt es in einer
es in den vergangenen zehn Jahren eine Die allermeisten von ihnen sind keine E-Mail an einen potenziellen Terroristen.
Anzahl von Gründen: Die Wahl Barack Terroristen. Aber auch keine »sehr guten Die verschlüsselte Nachricht, gesendet
Obamas zum ersten schwarzen Präsiden- Leute«, wie Präsident Trump sie im Nach- im vergangenen Juli, lautete weiter: »Un-
ten hat Rassisten befeuert wie kaum ein gang der Nazimärsche von Charlottesville ser Schwerpunkt liegt auf Gewalt und Tö-
anderes Ereignis zuvor. Zugleich waren unter ihnen ausgemacht haben wollte. Vie- ten sowie Propaganda, die zu solcher Ge-
über Jahre Foren im Internet unbeachtet le sind durchaus gewaltbereit. walt und solchem Töten führt.« Gewalt
geblieben, in denen sich Rechtsextreme Die Eskalation hin zu Schüssen und zum Erhalt des Volkes, ein Rassenkrieg,
unkontrolliert organisieren konnten. Bomben und Toten vollzieht sich in den darum gehe es. Dafür brauche man mög-
Schließlich schuf die Wahl Trumps zum USA über zwei Stufen. Auf der ersten tau- lichst viele Männer. »Wir hoffen auf eine
Präsidenten ein gesellschaftliches Klima, chen Populisten und Hetzer auf. Leute wie langfristige Zusammenarbeit mit Dir, die
das es den nun zum Teil sehr gut organi- der amtierende US-Präsident, der die rech- in Zukunft weit über Propaganda hinaus-
sierten rechtsextremen Netzwerken er- ten Demonstranten in Charlottesville ver- gehen kann«, schrieb der Rekrutierer und
möglicht, aus den Tiefen des Internets teidigt und den rechtsextremen Hetzern schloss mit den Worten: »Sieg Heil! Viele
auch auf Amerikas Straßen aufzutauchen. so signalisiert hat, dass das, was sie da tun, Grüße!«
Es war ein ungewohntes Bild Anfang kein Tabu mehr sei. In der zweiten Eska- Die E-Mail wurde in fehlerfreiem
2017, als die neue radikale Rechte der USA lationsphase schwingen Leute der Alt- Deutsch verfasst, ohne Zweifel von einem
plötzlich an den Universitäten und in den Right-Bewegung auf offener Straße Knüp- Muttersprachler. Die Identität des Absen-
ders ist unklar. Fest steht: Die
Person ist Mitglied der »Atom-
waffen Division Deutsch-
land«, eines Ablegers des US-
amerikanischen Neonazinetz-
werks »Atomwaffen Division«
(AWD).
Im Jahr 2015 hatte sich die
Gruppe im einschlägigen In-
ternetforum »Ironmarch.org«
gegründet. Zunächst war die
AWD nur internetaffinen Ein-
geweihten bekannt, sie galt als
ein Netzphänomen. Doch in
diesem virtuellen Raum pro-
duziert sie Anhänger vom sel-
ben Typus wie der Attentäter
aus Christchurch: junge Män-
ner, die es nicht bei starken
Sprüchen im Internet belas-
sen, sondern auch im echten
Leben bereit sind zu handeln,
will heißen, zu morden.
Fünf Menschen fielen jun-
gen Männern aus dem AWD-
Umfeld in den USA bislang
zum Opfer. Darunter der jüdi-
sche, homosexuelle Student
Blaze Bernstein, der im ver-
RYAN M. KELLY / AP
VOLKER DZIEMBALLA
Schüler einer Ganztagsschule im hessischen Hochheim
Bildung
Finanztransaktionsteuer Abgabe, die künftig bei jedem Kauf eines reich, Belgien und Portugal, sind mit 11 Pro-
Anteilsscheins einer großen Aktiengesell- zent dabei. Die Mittel sollen zudem in
Milliarde aus Deutschland schaft fällig werden soll, in Deutschland Teilen auf die Beiträge der Staaten zum
Die Bundesrepublik wird den mit rund eine Milliarde Euro einspielen. Das EU-Haushalt angerechnet werden, heißt es
Abstand größten Beitrag zur geplanten sind gut 31 Prozent des Gesamtaufkom- in dem Papier. Über den entsprechenden
Finanztransaktionsteuer liefern, die zehn mens von knapp 3,4 Milliarden Euro. Schlüssel wird unter den beteiligten Regie-
Staaten der Europäischen Union gemein- Frankreich, wo die Steuer bereits erhoben rungen freilich noch verhandelt. Deren
sam einführen wollen. Das geht aus einer wird, soll gut 24 Prozent beisteuern, Italien Finanzminister hatten sich bei ihrer Sit-
Aufstellung der EU-Kommission für den rund 19 Prozent, Spanien knapp 15 Pro- zung Anfang März grundsätzlich darauf
Finanzministerrat hervor. Danach soll die zent. Die übrigen Länder, darunter Öster- verständigt, die Steuer einzuführen. MSA, REI
im Kampf gegen Steuer- Schäfer: Bei solchen Geschäften treffen ring-Gesetzes schon anderthalb Jahre
hinterziehung künftig sich die Leute nicht mehr in Hinterzim- zurückliegt und die Branche boomt,
auch Telefone und mern. Das geht über elektronische Kanä- fehlt das nötige Parkschild in der Stra-
Internetverbindungen le zwischen mehreren Beteiligten. Bei ßenverkehrsordnung. Die Anbieter des
anzapfen können. bandenmäßigem Umsatzsteuerbetrug Services warten händeringend darauf,
darf die Kommunikation heute schon vor allem in Großstädten die Verkehrs-
SPIEGEL: Müssen deutsche Steuerzahler überwacht werden. Und nach einem zeichen aufhängen zu kön-
fürchten, dass das Finanzamt demnächst Gesetzentwurf der Bundesregierung soll nen. In einem Brief an
mithört, wenn sie mit ihrem Steuerbera- der Zoll ähnliche Befugnisse bekommen, Scheuer warnt der Bundes-
ter telefonieren? um gegen Schwarzarbeit vorzugehen. verband Carsharing, dass
Schäfer: Ausdrücklich nein. Wer bei der Ich finde, dass die Steuerfahndung nicht die Kommunen den Start
Kilometerabrechnung schummelt, muss schlechter ausgestattet sein sollte, wenn neuer Projekte für gemein-
ganz sicher nicht damit rechnen, dass es um diese schweren Fälle geht, die wir schaftlich genutzte Autos
sein E-Mail-Verkehr abgefangen wird. im Auge haben. aussetzen würden, weil sie
Wir wollen dieses Instrument auf beson- SPIEGEL: Am Ende wird das Fernmelde- »auf die Veröffentlichung
ders schwere Fälle der Steuerhinterzie- geheimnis immer weiter eingeschränkt. des bereits vor langer Zeit
hung beschränken. Wo sehen Sie die Grenze? angekündigten amtlichen Parkschild-
SPIEGEL: Welche Fälle sind gemeint? Schäfer: Wir haben in Deutschland ein Verkehrszeichens warten«. Entwurf
Schäfer: Wir denken etwa an sogenannte bewährtes System: Auch nach einer Ein Entwurf des Ministeri-
Cum-Ex-Geschäfte, bei denen durch Gesetzesänderung würde die Steuer- ums für das Schild zeigt vier menschli-
Aktienleerverkäufe rund um den Dividen- fahndung nicht allein entscheiden, ob che Silhouetten und ein Auto, das in
denstichtag im großen Stil Steuern hinter- eine Überwachung gerechtfertigt ist. der Mitte durchgeschnitten ist – ganz
zogen wurden. Oder an den Geschäfts- Die Fahnder müssen einen Antrag bei als handle es sich hier um einen Not-
mann, der seit Jahrzehnten Schwarzgeld Gericht stellen, dann entscheidet ein halteplatz für kaputte Pkw. Die Grünen,
in der Schweiz hat und nun aus Angst vor unabhängiger Richter. Wir dürfen von Scheuer als Verbotspartei
Entdeckung mit seinem Steuerberater nicht tatenlos dabei zusehen, wie Straf- geschmäht, ermahnen diesen, ein ver-
und möglicherweise auch mit seiner Bank täter die technischen Möglichkeiten ständliches Piktogramm gestalten zu
und einer Anwaltskanzlei verabredet, die- immer stärker für ihre Zwecke nutzen lassen. »Verkehrsminister Scheuer
ses Geld in ein Drittland zu verschieben, und wir nicht mithalten können. Wenn redet viel über die Zukunft der Mobili-
ein sogenanntes Steuerparadies. das Entdeckungsrisiko zu gering tät. Wenn Maßnahmen anstehen, wird
SPIEGEL: Um welche Beträge kann es da ist, wird die Verlockung zur Straftat es dann aber sehr ruhig«, sagt Grünen-
gehen? größer. MAB Verkehrsexperte Oliver Krischer. GT
Dammbruchkatastrophe lich, die »endgültige Situation der Anlage« Registers über Arbeiten, die anders durch-
nach dem Bau der ersten, insgesamt geführt wurden als ursprünglich geplant.
Versagte deutscher TÜV 60,5 Meter hohen Schichten zu beurtei- Am 25. Januar war der nunmehr 86 Meter
in Brasilien? len, heißt es im Gutachten. Eine Doku- hohe Damm gebrochen. Er begrub unter
mentation habe lediglich für die nach dem anderem eine Kantine unter sich, in der
Nach dem Dammbruch im brasiliani- Jahr 2003 hinzugekommenen vier Schich- Minenarbeiter gerade zu Mittag aßen.
schen Brumadinho, bei dem im Januar ten vorgelegen. Zudem beklagten die Der TÜV teilt mit, das neue Gutachten
mehr als 200 Menschen ums Leben internen Prüfer das Fehlen eines präzisen beschreibe den Zustand des Damms zum
kamen, gerät der TÜV Süd weiter Zeitpunkt seiner Begutachtung,
unter Druck. Brasilianische Mit- und verweist auf externe Exper-
arbeiter des deutschen Prüfunter- ten, die »den tragischen Damm-
nehmens hatten die Sicherheit bruch untersuchen«. Sollten die-
des Damms vier Monate vor dem se ein Fehlverhalten von TÜV-
ANTONIO LACERDA / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK
21
IS-Anhänger zen dort inzwischen 59 Islamisten mit Linkenpropaganda
Mehr deutsche Gefangene deutschem Pass in Gefängnissen oder Gute Katja,
Internierungslagern ein. Drei Viertel von
Bei Gefechten um die letzte IS-Enkla- ihnen sind Frauen. Hinzu kommen schlechte Sahra
ve in Syrien sind offenbar auch zahlrei- knapp 60 deutsche Kinder, die meist mit
che Deutsche in Gefangenschaft geraten. ihren Müttern festgehalten werden. Der Pünktlich zum Europawahlkampf
Nach Zählung der Bundesregierung sit- Bundesnachrichtendienst konnte viele hat die Parteizentrale der Linken eine
der Islamisten in Syrien Anleitung verteilt, wie man sich kor-
befragen. Gegen 20 rekt fotografieren lässt. Der Schnell-
Deutsche liegen inzwi- kurs in Sachen Bildsprache ging an
schen auch Haftbefehle aussichtsreiche Listenkandidaten.
des Bundesgerichtshofs Punkt 1: »Was
oder der Länderjustiz wollen wir aus-
vor. Die Kurden, die strahlen?«, Ant-
einen Großteil der IS- wort: »Wir sind
Anhänger festhalten, die beste der Par-
drängen darauf, dass die teien, mit den
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Die Costa-Brava-Masche
Affären Im Spendenskandal seiner Partei gerät AfD-Chef Jörg Meuthen zunehmend unter Druck:
Angebliche Wahlkampf-Finanziers entpuppen sich als gekaufte Strohmänner,
dem Bundestag wurden offenbar gleich mehrere gefälschte Unterstützerlisten vorgelegt.
D
as unmoralische Angebot ereilte Die Swiss Connection der AfD – nun auch noch eine Strohmann-Affäre
Peter Schneider* in entspannter ins Haus. In deren Zentrum steht mit Meu-
Wahlkampagne der Schweizer PR-Agentur Goal AG
Urlaubsatmosphäre. An der son- then ausgerechnet der AfD-Spitzenkandi-
zugunsten von Jörg Meuthen im baden-württem-
nigen Costa Brava, unweit des bergischen Landtagswahlkampf (Frühjahr 2016) dat für die Europawahl.
Ferienparadieses Lloret de Mar, hatte der Die AfD sieht sich selbst als »die einzige
Kaufmann im vergangenen Sommer einen Rechtsstaatspartei in Deutschland«. Seit
alten Bekannten aus Süddeutschland ge- ihrer Gründung wettern ihre Politiker ge-
troffen. Man sprach über ein Geschäfts- drohende gen das Finanzgebaren der vermeintlich
Strafzahlungen
modell der besonderen Art: Schneider 89 800 € (dreifacher Wert) verkommenen »Altparteien«. Nun steckt
könne ohne große Mühe »einen Tausi« die »Alternative für Deutschland« selbst
verdienen, wenn er im Gegenzug seinen für Inserate, in einem Sumpf aus fragwürdigen Spen-
Namen für eine nicht ganz lupenreine Flyer, Plakate den und dubiosen Geldgebern. In mehre-
und Grafik
Spendenangelegenheit hergeben würde. ren Bundesländern und in der Schweiz be-
Kaufmann Schneider, der in geschäft- angeblich schäftigen die Vorgänge auch die Justiz.
lichen Dingen wenig Berührungsängste 10 Einzelspender Ausgangspunkt der neuen Affäre ist
mit der deutschen Justiz hat, willigte ein. eine umstrittene Werbekampagne, die
Wunschgemäß bestätigte er, für die Wahl- 269 400 € Meuthen 2016 den Weg in den baden-
kampfkampagne eines gewissen Jörg Meu- württembergischen Landtag ebnen sollte.
then eine hohe vierstellige Summe zur Ver- Organisiert wurde sie von der Schweizer
fügung gestellt zu haben. Nachdem Schnei- PR-Firma Goal AG, die von dem deut-
der eine entsprechende Erklärung unter- Wahlkampagne der Schweizer PR-Agentur Goal AG schen Politwerber Alexander Segert gelei-
zeichnet hatte, sei der versprochene Lohn zugunsten von Guido Reil im nordrhein-west- tet wird, einem Freund Meuthens.
geflossen, berichtet er. Daheim in Deutsch- fälischen Landtagswahlkampf (Frühjahr 2017) Aus dem Umfang und Wert der Kampa-
land habe er dann die 1000 Euro erhalten, gne hatten die Freunde lange ein Geheimnis
»in cash«. gemacht – bis Meuthen jüngst mit überra-
An die spanische Urlaubsepisode erin- 44500 € schenden Neuigkeiten aufwartete: In einem
nert sich der Kaufmann heute nur noch Interview mit der »Welt« räumte der AfD-
für Werbe-
ungern: Als ihn Reporter des SPIEGEL und briefe,
Chef nicht nur ein, dass die Wahlkampfhilfe
des ARD-Politikmagazins »Report Mainz« Plakate aus der Schweiz wesentlich höher ausfiel
am Dienstag zu der gefälschten Zuwen- und Grafik als bislang angenommen. Fast 90 000 Euro
dungsbescheinigung für Meuthen, den 133 500 € habe die Kampagne gekostet, inklusive Zei-
Bundesvorsitzenden der AfD, befragten, angeblich tungsinseraten, Flyern und Werbeplakaten,
6 Einzelspender
bestätigte Schneider erst nach einigem verriet Meuthen. Und noch mehr: Die Kos-
Zögern, dass er sich als Strohmann habe ten, das wisse er von Segert, hätten »zehn
anheuern lassen. Die ganze Sache habe er Unterstützer« übernommen, die der Goal
auch schon dem baden-württembergi- Wahlkampfspende an den AfD-Kreisverband AG jeweils »Beträge zwischen 6000 und
schen Landeskriminalamt erklären müs- von Alice Weidel, überwiesen über das Konto 9700 Euro« zur Verfügung gestellt hätten.
sen; Anfang des Jahres sei er als Zeuge der Zürcher Firma PWS PharmaWholeSale Nun zeigt sich, dass Meuthen seinem
vernommen worden. Dass er sich im Som- International AG, im Bundestagswahlkampf Freund Segert vielleicht zu sehr vertraut hat.
mer 2018 auf den Deal mit der Spenden- (Sommer 2017)* Die Interviewaussagen des AfD-Manns über
quittung eingelassen habe, sei ein großer seine Spender dürften kaum zu halten sein:
Fehler gewesen, sagt Schneider. Im Nach- Nach gemeinsamen Recherchen von SPIE-
hinein habe sich das Geschäft als »Griff in 132005,52 € GEL und »Report Mainz« sind mehrere an-
einen großen Misthaufen« erwiesen. (gestückelt gebliche Kampagnen-Finanziers von Meu-
überwiesen
Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung in 17 Tranchen)
thens Liste in Wahrheit Strohmänner.
dürfte dieser Tage auch die AfD-Spitze Nach übereinstimmenden Angaben von
kommen. Die brisanten Bekenntnisse von Personen, die mit dem Vorgang vertraut
Schneider und weiteren Zeugen treffen die sind, haben mehrere der angeblichen Gön-
Rechtspopulisten zu einem denkbar un- ner in Vernehmungen durch das baden-
günstigen Zeitpunkt. Neun Wochen vor angeblich württembergische Landeskriminalamt be-
der Europawahl steht der AfD – die ohne- 14 Einzelspender stritten, jemals Geld für die Meuthen-Kam-
hin schon von einem Spendenskandal um pagne der Goal AG gegeben zu haben.
Fraktionschefin Alice Weidel belastet ist *Der Betrag wurde Stattdessen hätten sie sich – so wie Peter
Monate später größten-
teils wieder an den 396 016,56 € Schneider – nur als Spender ausgegeben
* Name geändert. Absender überwiesen. und dafür teilweise Geld erhalten. Gleich-
24
LARS BERG
Kampagnen-Profiteur Meuthen: 1000 Euro Cash für ein Geschäftsmodell der besonderen Art
lautende Angaben machten mehrere der und seine Partei. Mittlerweile prüft die werden. In einer Umfrage der Forschungs-
Strohleute selbst. Bundestagsverwaltung mehrere größere gruppe Wahlen zur Europawahl sank die
Wer Meuthens Schweizer Wahlkampf- und kleinere Spendenkomplexe der AfD, AfD in der vergangenen Woche das erste
hilfe tatsächlich finanziert hat, ist nun wie- in deren Zusammenhang immer wieder Mal seit Monaten unter 10 Prozent. Auch
der völlig offen. Fest steht, dass der oder die Goal AG auftaucht. Hat die Partei Gel- im Bund stehen die Rechtspopulisten mit
die Geldgeber offenbar großen Wert auf der oder Leistungen erhalten, die sie ent- rund 12 Prozent schlechter da, als sie es
Diskretion legten und zur Wahrung ihrer weder nicht richtig deklariert hat oder die sich nach den letzten Wahlerfolgen ausge-
Anonymität auch vor kriminellen Metho- gar als illegale Parteienfinanzierung gewer- rechnet hatten.
den nicht zurückschreckten. tet werden müssen? Kämen die Beamten Die Partei hat in ihrer noch jungen Ge-
Meuthen beteuert, dass »nach unserer des Bundestags zu diesem Ergebnis, würde schichte schon diverse Affären angesam-
sorgfältig gesicherten Rechtsauffassung« dies hohe Strafzahlungen nach sich ziehen. melt. Da geht es nicht nur um Strohmann-
die Unterstützung der Goal AG »keine Auf dem Papier bemüht sich die AfD Vorwürfe, sondern auch um die fragwür-
Spende« im Sinne des Parteiengesetzes um die bestmögliche Kooperation mit der dige Anschubfinanzierung der Partei über
sei. Unterdessen prüft die Staatsanwalt- Bundestagsverwaltung, deren Prüfungen eine Münchner Werbeagentur (SPIEGEL
schaft Stuttgart im Zusammenhang mit der gleich drei AfD-Spitzenfunktionäre betref- 48/2018), um mysteriöse Zuwendungen ei-
Werbekampagne für Meuthen die Einlei- fen: Jörg Meuthen, die Bundestagsfrak- ner niederländischen Stiftung, um einen
tung eines Ermittlungsverfahrens, wie ein tionschefin Alice Weidel und den NRW- parteieigenen Goldshop, einen exklusiven
Behördensprecher auf Anfrage bestätigte. Europakandidaten Guido Reil. Für alle Moskau-Trip von AfD-Funktionären im
Als EU-Abgeordneter ist Meuthen zwar drei Finanzkomplexe hatte die AfD in der Privatjet – und nicht zuletzt um die Rolle
vorerst vor Strafverfolgung geschützt. Schweiz Listen der Finanziers und Zuwen- eines ominösen »Vereins zur Erhaltung der
Doch sollte die Staatsanwaltschaft einen dungsbeträge angefordert. Nun rächt sich, Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen
Anfangsverdacht gegen den Spitzenkan- dass diese Listen offenbar ungeprüft an Freiheiten«. Dieser machte seit 2016 mit-
didaten erkennen und die Aufhebung sei- die Bundestagsverwaltung weitergereicht hilfe von groß angelegten Plakataktionen
ner Immunität beantragen, wäre es für die wurden – jetzt liegen sie bei diversen und flächendeckend verteilten Wahl-
AfD ein Desaster. Staatsanwaltschaften. kampfzeitungen Stimmung für die AfD.
Dabei sind die Stuttgarter Vorermittlun- Im Endspurt vor der Europawahl kann Woher das Geld für die millionenschwe-
gen nicht das einzige Risiko für Meuthen die Finanzaffäre gefährlich für die AfD re Propaganda stammte, die oft kaum von
GOTTFRIED STOPPEL
folge auch mit einer dritten AfD-Unter-
stützerliste. Darauf stehen die Namen von
sechs vermeintlichen Gönnern, die sich an
der Finanzierung einer Kampagne für den
Fraktionschefin Weidel, Vereinsfunktionär David Bendels* 2017: Identische Geldgeber? AfD-Politiker Guido Reil beteiligt haben
sollen. Reil steht heute auf Platz zwei der
AfD-Liste für die Europawahl, nachdem
der offiziellen AfD-Werbung zu unter- einer Familie aus dem Rhein-Main-Gebiet, er 2017 erfolglos für den nordrhein-west-
scheiden war, blieb bis heute im Dunkeln. darunter eine pflegebedürftige Seniorin fälischen Landtag kandidiert hatte. Auch
Gesteuert wurden die Vereinstätigkeiten und ein Hartz-IV-Empfänger. Alle sollen er ließ sich damals wie zuvor Jörg Meuthen
maßgeblich von ebenjener Goal AG, deren falsche Quittungen signiert haben. von der Schweizer Goal AG helfen, mit
Aktivitäten die AfD jetzt in ernsthafte Bei dem Bekannten von Peter Schneider, Wahlwerbung im Wert von 44 500 Euro.
Schwierigkeiten bringen könnten. der ihm das verlockende Angebot unter- Wegen der womöglich illegalen Verbu-
Angesichts drohender Strafzahlungen breitet haben soll, handelt es sich den Er- chung dieser Kampagne durch die AfD hat
(siehe Grafik Seite 24) will die AfD nun Gel- mittlungen zufolge um einen 60-jährigen die Staatsanwaltschaft Essen am Dienstag
der einfrieren, um für mögliche Sanktionen Mann aus dem Rhein-Main-Gebiet, der ein Ermittlungsverfahren wegen des Ver-
gewappnet zu sein. Der Konvent, das höchs- vor Jahren nach Spanien ausgewandert ist. dachts auf Verstoß gegen das Parteien-
te Gremium der Bundes-AfD zwischen den Hier residiert der ehemalige Geschäftsfüh- gesetz eingeleitet – es richtet sich zunächst
Parteitagen, trifft sich am kommenden Wo- rer einer hessischen Marketingfirma in der gegen »unbekannt«.
chenende, um darüber zu entscheiden. Laut Provinz Girona, in einer weiß verputzten In dem Geflecht von Spenden und Stroh-
eines internen Schreibens des Bundesvor- Casa mit Meerblick. Gegenüber »Report männern könnte wohl vor allem eine Person
stands soll unter anderem beschlossen wer- Mainz«, dessen Reporter ihn vor seinem für Aufklärung sorgen: Goal-Chef Alexan-
den, »für Zahlungsverpflichtungen, die sich Haus trafen, lehnte der Mann am Mittwoch der Segert. Bemerkenswert viele Finanz-
aus laufenden Verfahren bei der Bundes- jede Stellungnahme zu den Vorwürfen ab. affären der AfD scheinen letztlich zu Segerts
tagsverwaltung ergeben können«, eine Wer hinter dem Täuschungsmanöver Firma zu führen. Doch der Goal-Chef
Rücklage von einer Million Euro zu bilden. mit den falschen Quittungen steckt, ist un- schweigt beharrlich. »Zu laufenden Verfah-
In Partei und Fraktion ärgern sich hinter klar. Bemerkenswert ist jedoch der Um- ren«, erklärte er auf Anfrage, »nehmen wir
vorgehaltener Hand einige, dass die AfD stand, dass die Dienste mancher Stroh- grundsätzlich keine Stellung.« Ein AfD-
womöglich die Kollektivhaftung für die Ver- männer im Jahr 2018 offenbar gleich mehr- Sprecher teilte mit, Segert habe erst Anfang
fehlungen einzelner Funktionäre überneh- fach für die Verschleierung von Zuwen- März die »Namen und Beträge der Kosten-
men muss, die sich aus trüben Quellen Pri- dungen in Anspruch genommen wurden. übernehmer« in den Fällen Meuthen und
vatkampagnen spendieren ließen. Deshalb So tauchten mehrere angebliche Meuthen- Reil »noch einmal schriftlich bestätigt«.
wird der AfD-Konvent auch über eine Än- Unterstützer später auch auf der Spender- Auch AfD-Chef Meuthen klammert sich
derung der Finanzordnung beraten: Falls liste für Alice Weidel auf. In ihrem Fall an das Wort seines Freundes: Segert habe
die Bundespartei Strafen nach dem Partei- geht es um mehr als 130 000 Euro, die im ihm »die bereits im August 2018 übermit-
engesetz »schuldhaft verursacht«, heißt es Bundestagswahlkampf an den Kreisver- telte Liste von Unterstützern« für seinen
im Entwurf, soll sie gegenüber den Landes- band der heutigen AfD-Fraktionschefin Wahlkampf von 2016 »schriftlich und ver-
und Ortsverbänden »für den daraus entste- geflossen sind (SPIEGEL 9/2019). bindlich bestätigt«, betont Meuthen. »Da-
henden Schaden« haften. Die Haftung soll Sowohl die Bundestagsverwaltung als rauf durften und dürfen wir uns verlassen.«
auch umgekehrt gelten. So müssten nicht auch die Staatsanwaltschaft Konstanz prü- Jetzt müssen nur noch die Staatsanwalt-
alle Ebenen der AfD für die Eskapaden von fen die fragwürdige Großspende; ermittelt schaft und Bundestagsverwaltung diese
Meuthen und Weidel geradestehen. wird auch gegen Weidel selbst. Die Frak- Auffassung teilen.
Die neuen Strohmann-Vorwürfe dürften tionschefin weist die Vorwürfe zurück. Ann-Katrin Müller, Sven Röbel
diese Stimmung noch befeuern, zumal die Ihr Kreisverband hatte den Großteil des
angeblichen Finanziers der Schweizer Betrags erst Monate nach der für Weidel ‣ Lesen Sie auch auf Seite 52
Wahlkampfhilfen bei näherer Betrachtung Stresstest – wie die AfD die Umgangs-
alles andere als typische Parteispender * Vorsitzender des »Vereins zur Erhaltung der Rechts- formen im Bundestag verändert hat
sind: Auf den Listen stehen fünf Mitglieder staatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten«.
SPIEGEL: Frau Kramp-Karrenbauer, die parlament an verschiedenen Orten tagt. sich über ihre unterschiedlichen europa-
CDU war mal die Europapartei. Warum Das hat im Übrigen im vergangenen Jahr politischen Antworten auseinandersetzen,
haben Sie sich von den Grünen in dieser auch die Kanzlerin schon gesagt. Es ergibt als das Feld den Populisten zu überlassen,
Frage den Rang ablaufen lassen? sich aus unserer eigenen Verfassungstra- die Europa ablehnen.
Kramp-Karrenbauer: Die Union war nicht dition, dass es Sinn macht, Parlament und SPIEGEL: Können wir keine europapoliti-
nur die Europapartei, sie ist es auch heute Regierung oder in diesem Fall Parlament schen Impulse der Bundeskanzlerin mehr
noch. Da lassen wir uns von niemandem und Kommission an einem Standort zu ha- erwarten, weil jetzt Sie zuständig sind?
übertreffen. ben. Das spricht für Brüssel. Kramp-Karrenbauer: Die Bundeskanzle-
SPIEGEL: Die Einschätzung, dass die Grü- SPIEGEL: Den Franzosen ist Straßburg rin genießt in Europa ein überragendes An-
nen als die Europapartei wahrgenommen wichtig. sehen und hält durch ihre Politik Europa
werden, stammt von Ihrem Parteifreund Kramp-Karrenbauer: Ich weiß, dass immer wieder zusammen. Ich kann als Par-
Gunther Krichbaum, dem Vorsitzenden Frankreich an diesem Punkt empfindlich teivorsitzende über das hinausgehen, was
des Europaausschusses im Bundestag. ist. Aber es gibt in der Diskussion um im Regierungshandeln möglich ist. Das
Kramp-Karrenbauer: Ich weiß nicht, was Europa eben immer Dinge, die für den entspricht unserer Arbeitsteilung.
zu dieser selbstkritischen Betrachtung ge- Partner schwieriger sind. Für Deutschland SPIEGEL: Sie haben in Ihrem Beitrag einen
führt hat. Ich mache mir dieses Urteil für ist die Forderung nach einer Bankenunion europäischen Pakt für Klimaschutz gefor-
die CDU im Allgemeinen und speziell für oder dem Eurozonenhaushalt auch nicht dert. Gleichzeitig äußern Sie sich skeptisch
den saarländischen Landesverband, den einfach. Trotzdem muss man diese Dinge zu den Schülerprotesten. Warum dieser
ich lange geführt habe, nicht zu eigen. Die ansprechen. Schlingerkurs?
CDU ist und bleibt die Europapartei. Wir SPIEGEL: Eines der beliebtesten Feindbil- Kramp-Karrenbauer: Mit dem »Pakt für
wollen ein starkes Europa und werden im der der Europagegner sind die faulen und den Klimaschutz« meine ich ein Bündnis
Europawahlkampf deutlich machen, wa- überbezahlten Brüsseler Beamten. Dieses derjenigen Länder in Europa, die mit ge-
rum wir das besser können als die anderen. Bild bedienen Sie in Ihrem Beitrag, indem meinsamen Initiativen vorangehen wollen
SPIEGEL: Finden Sie Ihren Satz »Die Ein- Sie eine Besteuerung der Beamten fordern, und können. Ich bin fest davon überzeugt,
zigen, die Schengen derzeit perfekt nut- die es längst gibt. dass wir in Sachen Klima als CDU wesent-
zen, sind kriminelle Elemente« europa- Kramp-Karrenbauer: Die Formulierung lich mehr tun müssen. Wir waren in Fragen
freundlich? im Text war in der Tat verkürzt, was bei des Umweltschutzes schon sehr viel weiter
Kramp-Karrenbauer: Der Satz lautet voll- der Endredaktion übersehen wurde. Na- und haben das Thema in den letzten Jah-
ständig »… nicht die Sicherheitsbehör- türlich bezahlen europäische Beamte Steu- ren vernachlässigt. Das ist ein Fakt, den
den«. Das ist meine Erfahrung auch aus ern, aber sie bezahlen sie nicht auf alle ich klar benennen will. Die Stärke der Grü-
sieben Jahren als Innenministerin in einem Gehaltsbestandteile, und sie werden an- nen beruht zum Teil auch darauf, dass wir
Grenzgebiet. Ich weiß, wovon ich rede. ders besteuert als in ihren Heimatländern. keine Antworten auf Klimafragen gegeben
Mit Europafeindlichkeit hat das nichts zu Wenn wir uns über Akzeptanz und Ef- haben.
tun. Ich möchte Schengen vollenden, das fektivität der Brüsseler Verwaltung Ge- SPIEGEL: Sie stellen gerade Norbert
heißt dadurch stärken, dass wir uns um danken machen, dann muss man auch da- Röttgen und Peter Altmaier, die unter An-
die noch bestehenden Probleme und Lü- rüber reden. gela Merkel Umweltminister waren, ein
cken kümmern, insbesondere beim Außen- SPIEGEL: Macron hat als Präsident einen schlechtes Zeugnis aus.
grenzschutz. Die Reaktion auf diesen Satz offenen Brief an die EU-Bürger geschrie- Kramp-Karrenbauer: Nein. Die CDU hat-
war parteipolitisch motiviert und bewusst ben. Sie haben als Parteichefin geantwor- te mit Klaus Töpfer, Angela Merkel, Nor-
verzerrend. Ich würde es als »Fake-Empö- tet. Ist das angemessen? bert Röttgen und Peter Altmaier hervor-
rung« bezeichnen. Kramp-Karrenbauer: Wir hatten im ver- ragende Umweltminister. Ich spreche vor
SPIEGEL: Sie haben in einem Zeitungs- gangenen Jahr eine Debatte darüber, dass allen Dingen für die Partei, und ich spreche
artikel auf die europapolitischen Vorschlä- Emmanuel Macron als eine seiner ersten von den letzten Jahren. Mein erster Chef
ge von Emmanuel Macron geantwortet. Amtshandlungen eine große europapoliti- war Klaus Töpfer, das war jemand, der die-
Auch dort haben Sie zunächst Einwände sche Rede gehalten hat und sehr lange auf ses Thema auch in der CDU gegen viele
und Bedenken formuliert. eine Antwort aus Deutschland warten Widerstände präsent gemacht hat. Wir ha-
Kramp-Karrenbauer: Dieser Text ist ein musste. Das ist allerorten kritisiert worden, ben einfach als Partei in der letzten Zeit
starkes proeuropäisches Bekenntnis. Ich und ich teile diese Kritik. Jetzt hat Macron zu häufig gesagt, Klimaschutz, Arten-
habe Vorschläge gemacht, mit denen wir einen zweiten Aufschlag gemacht, und auf schutz, das interessiert unsere Leute nicht.
Europa stärken können. Wenn man sich den habe ich nun direkt geantwortet. Bei meiner Zuhör-Tour im vergangenen
den Text objektiv anschaut, stellt man fest, SPIEGEL: Müsste auf den Präsidenten Jahr habe ich das Gegenteil erlebt.
dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen nicht die Kanzlerin antworten? SPIEGEL: Dann müssten Sie die Schüler-
den Ausführungen Präsident Macrons und Kramp-Karrenbauer: Macron steht auch proteste doch unterstützen.
meinen Vorstellungen gibt. Das betrifft für seine Bewegung »En Marche« und Kramp-Karrenbauer: Ich finde es zu-
den Klimaschutz, die Sicherheits- und Ver- führt derzeit Europawahlkampf. Ich emp- nächst wirklich gut, dass Schülerinnen und
teidigungspolitik, das Thema Schengen finde es als Aufgabe der CDU-Vorsitzen- Schüler wieder für etwas auf die Straße
und die Bedeutung eines multilateralen den, eigene Vorstellungen darzulegen und gehen. Ich bin selbst in die Partei eingetre-
Ansatzes, Politik zu machen. im Europawahlkampf auch eine sehr per- ten zur Zeit der Diskussion um den Nato-
SPIEGEL: Sie regen an, das Europaparla- sönliche Sichtweise auf die europapoliti- Doppelbeschluss. Da war das vollkommen
ment von Straßburg nach Brüssel zu ver- schen Herausforderungen zu formulieren. normal, dass man dafür oder dagegen de-
legen. Das ist eine Forderung, die null Das war im Grunde genommen der ganze monstrierte.
Chancen auf Realisierung hat und in Frank- Hintergrund für diesen Artikel, der natür- SPIEGEL: Jetzt müsste ein »Aber« kom-
reich als Provokation wahrgenommen lich durch die zeitliche Nähe zu den Aus- men.
wird. Was bringt so etwas? führungen Macrons noch mal eine andere Kramp-Karrenbauer: Es kommt kein
Kramp-Karrenbauer: Es ist vollkommen Aufmerksamkeit bekommen hat. Ich habe »aber«, was das Anliegen angeht. Der
unbestritten, dass man auch darüber reden damit eine Debatte angestoßen. Es ist doch Schutz des Klimas und damit die Bewah-
muss, ob es sinnvoll ist, dass das Europa- besser, dass die demokratischen Parteien rung der Schöpfung ist eines der ganz gro-
29
ßen existenziellen Zukunftsthemen. Es be- keinen sauberen Schnitt gemacht und sich
trifft besonders die jungen und die kom- von Viktor Orbáns Partei getrennt?
menden Generationen. Es ist nachvoll- Kramp-Karrenbauer : Wir alle haben
30
Deutschland
Grober
Lambsdorff entschied sich zum Gegen- dass die Liberalen das Image als Intri-
angriff. »Das ist nicht die Haltung der gantentruppe abstreifen müssen. Ausge-
@fdp«, schrieb er auf Twitter. Im Umgang rechnet Kubicki, der Lindner am Abend
Klotz
mit dem US-Botschafter rate er zu »sou- der verlorenen Wahl versprochen hat,
veräner Gelassenheit«. nicht gegen ihn zu arbeiten, schert immer
Genau die hätte sich mancher in der Füh- wieder aus. Daran hindert ihn auch
rungsspitze von Lambsdorff gewünscht. So sein Amt als Bundestagsvizepräsident
Liberale Die Freidemokraten plädierte der Parlamentarische Geschäfts- nicht, wie manche in der Partei gehofft
führer Marco Buschmann intern dafür, hatten.
sind uneins über die Frage, Kubickis Wortmeldungen einfach zu igno- Lindner ist Kubickis Alleingänge leid.
wie sie mit den Alleingängen von rieren. Kubicki und der US-Botschafter Dem gehe es doch vor allem um sich selbst,
Parteivize Wolfgang Kubicki seien sich gar nicht so unähnlich, so Busch- soll der Parteichef hinter verschlossenen
mann im kleinen Kreis: »Der Wolfgang ist Türen gesagt haben.
umgehen sollen. der Ric Grenell der FDP.« Vor allem zu außenpolitischen Themen
Die meisten Parteifreunde folgten offen- vertritt Kubicki Positionen, die man eher
W
enn Finanzminister Olaf Steuersenkungen. »Die Verteufelung der Ihr Parteigenosse und Ausschusskollege
Scholz Kritiker oder Kabinetts- Schulden ist nicht mehr zeitgemäß«, meint Michael Schrodi ist derselben Überzeu-
mitglieder mit überbordenden Hüther. gung. Er nennt sich selbst einen Gegner
Ausgabenwünschen abwehren Tatsächlich findet in der Ökonomen- der Schuldenbremse von Anfang an. »Sie
will, dann wird er gern grundsätzlich. »Wir zunft ein Umdenken statt. Viele halten das beschneidet den Entscheidungsspielraum
Deutschen finden ein Thema so wichtig, alte Diktum, die Schulden von heute seien des Parlaments, den Wünschen und Be-
dass wir es in der Verfassung verankert ha- die Steuern von morgen, nicht mehr für dürfnissen der Bürger nachzukommen«,
ben«, sagt der SPD-Mann dann und verrät zutreffend. Besonders dann nicht, wenn sagt er. »Wenn selbst konservative Ökono-
seinem Gegenüber zügig, um welches es neue Kredite dank Niedrigzinsen fast zum men die Konsequenzen der Vorschrift be-
sich handelt: »die Schuldenbremse«. Nulltarif zu haben sind. Wenn Investi- klagen, dann zeigt sich, wie kontraproduk-
Zweierlei soll die Belehrung bewirken: tionen praktisch nichts kosten, die Wirt- tiv sie wirkt und wie groß der Problem-
Zum einen will der Bundeskassenhüter schaft aber dank des zusätzlichen Impulses druck jetzt ist.«
den Bittsteller veranlassen, sein sicher be- wächst, finanzieren sich die Schulden von Wiebke Esdar, ebenfalls für die SPD
rechtigtes, aber teures Vorhaben aufzuge- selbst, so der Glaube. Mitglied im Finanzausschuss, plädiert da-
ben. Zum anderen will Scholz klarmachen, In der SPD-Fraktion stößt die Kritik an für, »die Schuldenbremse abzuschaffen
dass es nicht an seiner Knauserigkeit schei- der Schuldenbremse auf positive Reso- oder zumindest durch eine Investitions-
tert. Eine höhere Macht ist am Werk, der nanz. »Ich finde das prima«, sagt die Fi- verpflichtung des Bundes zu ergänzen, die
er zu gehorchen hat, das Grundgesetz. nanzexpertin Cansel Kiziltepe. Die Schul- ebenfalls Verfassungsrang besitzt«. Und
Genau vor zehn Jahren einigte sich eine denvorschrift des Grundgesetzes gilt auch weiter: »Die Schuldenbremse tut so, als
Kommission zur Reform des Föderalismus ihr vor allem als Investitionsbremse. »In ob wir späteren Generationen nur einen
auf das Instrument, das die Regierung den vergangenen Jahren haben der Bund Kontostand hinterlassen«, sagt sie. »Dabei
beim Geldausgeben disziplinieren sollte. und auch die Länder nicht genügend in- haben die Menschen von morgen auch et-
In diesem Gremium saßen Mitglieder aller vestiert, und das lag nicht zuletzt an den was davon, wenn wir heute in funktionie-
damals im Bundestag vertretenen Parteien. Beschränkungen des Grundgesetzes.« rende Infrastruktur investieren.«
Über Jahrzehnte hinweg hatten Regie- Einig sind sich die Rebellen darin, dass
rungen aller Couleur von Jahr zu Jahr die Schuldenbremse flexibler gehandhabt
mehr Schulden angehäuft. Das sollte ein Wirksame Schuldenbremse werden müsse, besonders wenn die Kon-
Ende haben. Dem Bund gestand die Kom- Nettokreditaufnahme des Bundes junktur tatsächlich einbrechen sollte. »Da
mission noch ein Minidefizit zu, in abso- in Milliarden Euro müssen wir gegenhalten können«, sagt
luten Zahlen derzeit knapp zwölf Milliar- Kiziltepe. »Die schwarze Null ist kein
den Euro. Die Selbstbindung der Politik 44 Selbstzweck.« Und ihr Kollege Schrodi er-
wirkte. Die Neuverschuldung des Bundes gänzt: »Wir müssen die falsche Erzählung
lag 2010 noch bei 44 Milliarden Euro, bis 34 der schwäbischen Hausfrau endlich durch-
2014 sank sie auf null. Seitdem kommt die brechen.«
Regierung von Kanzlerin Angela Merkel 23 22 Auf Mithilfe ihres Finanzministers kön-
(CDU) ohne frische Kredite aus. Und so 17 Seit 2014 hat der Bund nen die Abgeordneten vorerst nicht zäh-
soll es auch weitergehen: »Es bleibt bei keine neuen Kredite len. Eisern hält Scholz an der schwarzen
einem ausgeglichenen Haushalt ohne neue mehr aufgenommen. Null fest. Festgeschrieben ist sie nirgend-
Schulden«, verkündete Scholz vergange- 0 wo, sie etablierte sich in den vergangenen
nen Mittwoch bei der Vorstellung der Eck- Jahren aber als finanzpolitische Orientie-
werte für den Etat 2020. 2010 2015 2019 * rungsgröße, unabhängig von den Vorga-
Doch pünktlich zum Jubiläum der ben der Schuldenbremse. Der Grund ist
Grundgesetzänderung gerät die Schulden- Staatsverschuldung in Prozent des BIP einfach: Ein ausgeglichener Haushalt mit
bremse unter Druck, und das gleich von der griffigen Bezeichnung »schwarze Null«
mehreren Seiten. Linke Ökonomen wie der 81,0 lässt sich leicht erklären und verstehen.
80
Düsseldorfer Volkswirt Jens Südekum, aber Für die Schuldenbremse gilt das Gegen-
auch der Chef des Deutschen Instituts für teil. Sie geht von einem strukturellen, also
Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, sa- dauerhaften Defizit aus. Dessen Höchst-
gen, die Vorgabe hindere den Finanzminis- grenze liegt bei 0,35 Prozent des Brutto-
ter daran, genügend Geld zu investieren. inlandsprodukts (BIP), in absoluten Zah-
Eher konservative Wirtschaftswissen- 60,1 len knapp zwölf Milliarden Euro. Um zu
schaftler wie Michael Hüther, Chef des ar- 60 ermitteln, wie hoch das strukturelle Minus
beitgebernahen Instituts der deutschen ausfällt, müssen die Beamten des Bundes-
Wirtschaft in Köln, fügen hinzu, die Maß- finanzministeriums (BMF) komplizierte
* geplant; Quelle: BMF
gabe des Grundgesetzes habe nicht nur Berechnungen anstellen. Sie kalkulieren,
Investitionen ausgebremst, sondern auch 2010 2015 2018 wie hoch konjunkturbedingte Mehreinnah-
32
Zudem kann der Bundestag in einer ex-
tremen Krise mit Kanzlermehrheit beschlie-
ßen, dass die Regierung unbegrenzt Kredite
aufnehmen darf. Einen solchen Schulden-
schub kann der Bund umso besser verkraf-
ten, je stärker er seine Verschuldung zuvor
drückt. »Die Schuldenbremse bietet viel
mehr Gestaltungsspielraum, als ihre Kriti-
ker bemängeln«, sagt Kastrop. Zum Bei-
spiel könne der Finanzminister das Ziel der
schwarzen Null aufgeben und die vorgege-
bene Verschuldungsobergrenze von derzeit
zwölf Milliarden Euro ausreizen. Vor allem
sei die Schuldenbremse nicht der Grund
dafür, dass der Bund in der vergangenen
Dekade zu wenig Geld für Straßen, Schie-
nen oder digitale Infrastruktur ausgegeben
habe. »Die Investitionen des Bundes sind
schon vor 2009 geschrumpft«, sagt Kastrop.
»Ganz ohne Schuldenbremse.«
Die Grundgesetzvorgabe verhindere
keine Investitionen, meint auch Clemens
Fuest, Chef des Münchner Ifo-Instituts.
»Das ist ein Scheingefecht«, sagt er. »In-
vestitionen scheitern in Deutschland am
fehlenden politischen Willen und am Wi-
derstand der Bevölkerung.« Zudem habe
die schwarz-rote Koalition in den vergan-
»Als würden sie betteln« Eintracht kaum weiter. Weil in diesem Jahr
in vier Bundesländern gewählt wird, buh-
len Union und SPD mit unterschiedlichen
Versprechen um die Gunst ihrer Wähler.
Grundrente Senioren, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, Das Konzept jedenfalls, das Bundes-
müssen heute aufwendig beweisen, dass sie arm sind. Union und sozialminister Hubertus Heil (SPD) erson-
nen hat, um kleine Renten aufzustocken,
SPD streiten, ob diese Prüfung zumutbar ist. Ein Behördengang. schießt weit über die Vereinbarungen des
Koalitionsvertrags hinaus. Die Union ist
vergrätzt, weil der SPD-Politiker auf das
Zehn-Seiten-Formular verzichten will.
»Eine bürokratische Bedürftigkeitsprüfung,
die mühsam angespartes Vermögen und
Wohneigentum infrage stellt, wäre der fal-
sche Weg«, sagt Heil. Für die Union ist
dieses Detail aber entscheidend: »Ohne
Bedürftigkeitsprüfung wird es mit uns
keine Grundrente geben«, erklärt CDU-
Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Auch die Bundeskanzlerin sieht das so.
Der Streit offenbart sehr unterschied-
liche Auffassungen davon, was die Renten-
versicherung leisten soll. Die Sozialdemo-
kraten fordern, sie müsse die Leistung von
Senioren anerkennen: Wer lange Jahre
Beiträge auf kleine Löhne eingezahlt hat,
soll mit einer höheren Rente rechnen dür-
fen – ohne sich umständlich zu erklären.
»Mein Vorschlag erfüllt die Ziele des
Koalitionsvertrages: Lebensleistung anzu-
erkennen und einen wirksamen Beitrag
gegen Altersarmut zu leisten«, sagt Heil.
Die Union dagegen argumentiert, das
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL
35
Mit SPIEGEL+ nutzen ben sei es nur einmal vorgekommen, dass
eine reifere Dame ausfallend geworden
Sie die ganze digitale sei, erzählt Heike Benkenstein. Die Senio-
rin schlug mit der Handtasche auf eine
Sachbearbeiterin ein. Die meisten Rent-
ner schämen sich leise. Sie meiden das
abo.spiegel.de/upgrade
36 DER SPIEGEL Nr. 13 / 23. 3. 2019
Deutschland
Aufs Dach
und Jugendliche mehr als noch ein Jahr lien, die in den vergangenen Jahren aufge-
zuvor. Im Sommer sollen hier noch einmal nommen wurden.
knapp 800 Erstklässler mehr eingeschult Da Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Hol-
werden als im Vorjahr – das entspricht stein und Bayern gleichzeitig das achtjähri-
Demografie Bildungspolitiker etwa 40 Klassen, die zusätzlich gebildet ge Gymnasium um ein Jahr verlängern,
haben sich verschätzt: Die werden müssen. Die Schülerzahl wächst muss dort obendrein für einen zusätzlichen
dreimal so schnell wie die Bevölkerung. Jahrgang Platz geschaffen werden.
Schülerzahlen steigen, statt zu Wie sich zeigt, müssen die Länder der- Die meisten Städte haben die Raumnot
sinken – nun fehlt in Großstädten zeit nicht nur den Lehrermangel beseiti- erkannt: In München sollen bis 2030
der Platz für neue Schulen. gen, sondern auch das Platzproblem. Jetzt 45 neue Schulen gebaut werden. Berlin
rächt sich, dass Bildungspolitiker lange möchte mehr als 60 Schulen errichten,
von sinkenden Schülerzahlen ausgingen. Hamburg 30 bis 40. »Darüber hinaus soll
37
Deutschland
lange in Italien gelebt, bevor er nach Konzepte entwickelt worden seien, findet
Deutschland kam. »Ich muss bei meiner Voß »schockierend« und »grob fahrlässig«.
Familie immer mehr essen, als ich will«, Auch davor seien schließlich Asylbewer-
ruft ein zweiter Mann dazwischen. Er fühlt ber nach Deutschland gekommen.
sich verstanden. In den Integrationskursen für Asyl-
Wie erklärt man das Prinzip der sexuel- bewerber wird das Thema Sexualität laut
len Selbstbestimmung jemandem, der in Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
einem anderen Teil der Welt aufgewachsen (Bamf) bis dato lediglich erwähnt. Den
ist, wo Mädchen und Jungen vielleicht ge- Szenen aus Sexualkunde-Trickfilm letzten Vorstoß zu mehr sexueller Bildung
trennt zur Schule gehen, wo Zärtlichkeiten »Bewusstlose mögen keinen Tee« machte die Integrationsbeauftragte der
38
Als das Video zu Ende ist, fragt Wend-
wesen, was die Männer darüber denken.
»So ist das Leben«, grummelt ein Teilneh-
mer, er ist selbst Familienvater. Dann re-
det er auf Arabisch weiter. Ein anderer
Mann aus Syrien protestiert. Schließlich
übersetzt er für Wendwesen. Der andere
habe gesagt, das Mädchen sei selbst
schuld. Männer könnten sich nicht beherr-
schen. Die Hormone. Dabei sei das
Quatsch. »Wir sind doch Menschen, keine
Tiere.« Wendwesen geht dazwischen:
»Also ich finde, eine Frau hat niemals
Schuld, wenn sie vergewaltigt wird«, sagt
er. Der Familienvater zuckt widerwillig
mit den Schultern.
Wäre es nicht besser, den Teilnehmern
deutlicher zu machen, was richtig und was
falsch ist?
Eva-Maria Gärtner, die Hero in
Deutschland vertritt, wiegelt ab. In den
Kursen sollen Prozesse angestoßen, und
es soll Raum für andere Meinungen gelas-
sen werden, »auch wenn es aus der Sicht
einer deutschen Frau manchmal schwer-
fällt«. Auf zu viel Erziehung würden die
meisten Menschen abwehrend reagieren.
Viel effektiver sei es, wenn die Teilnehmer
auf Augenhöhe untereinander diskutier-
ten. Gärtner wisse aus Erfahrung, sagt sie,
dass im Nachhinein in den Unterkünften
meistens weiter über die Themen gespro-
chen werde.
In den kommenden sechs Monaten wer-
den die Hero-Kurse ausgeweitet auf alle
Unterkünfte im Berliner Bezirk Marzahn-
Hellersdorf, auch die anderer Träger.
LISA WASSMANN / DER SPIEGEL
Wortgefecht
Bundeswehr Was ist ein Veteran? Die Verteidigungsministerin sagt: jeder, der mal bei der Truppe war
oder noch ist. Viele Soldaten, die im Einsatz waren, fühlen sich davon zurückgesetzt.
Über einen Streit, der viel über die Armee von heute erzählt. Von Christoph Hickmann
I
n Koblenz, in der Cafeteria des diesem Dienstverhältnis ehrenhaft aus- war ein bisschen wie damals, als sie noch
Bundeswehrkrankenhauses, sitzt geschieden ist, also den Dienstgrad nicht Sozialministerin war und allen Kindern
an einem Nachmittag im Februar verloren hat.« ein »warmes Mittagessen« versprach.
der einstige Infanterist Alexander Also jeder, der mal Bundeswehrsoldat Zugleich ist es die maximale Unschärfe:
Sedlak und spricht über Afghanistan. In war und sich anständig benommen hat, Alle drin und damit letztlich keiner, so
Afghanistan hat er gekämpft, in Koblenz außerdem diejenigen, die es noch sind, der sehen das Menschen wie Alexander
ist er zur Traumatherapie, weil er Af- Afghanistankämpfer genauso wie der frü- Sedlak. Der Streit ist nicht vorbei, auf den
ghanistan nicht mehr loswird. Es ist, er here Wehrpflichtige, der sich die Zeit beim Befehl folgte diesmal kein Gehorsam.
überlegt kurz, sein siebter stationärer Bund mit Trinkspielen verkürzt hat. Es ist Warum nicht? Man könnte ja auf die
Aufenthalt hier. eine Klammer, die niemanden außen vor Idee kommen, die Bundeswehr habe der-
In Afghanistan, so erzählt es Sedlak, 29, lässt, also eine, mit der alle zufrieden sein zeit noch ein paar andere Probleme, zu we-
sind ihm Kugeln um den Kopf geflogen, könnten. Aber so ist es nicht. nig Geld, zu wenig Nachwuchs, dafür eine
er hat Verletzte gesehen, Tote, Oberbefehlshaberin, die ein
er hat geschossen, wurde be- paar Berater zu viel beschäftigt
schossen. Er darf sich Veteran hat. Doch es geht bei diesem
nennen, er sagt: »Auf jeden Streit um mehr als ein Wort.
Fall fühle ich mich als Veteran. Es geht aus Sicht vieler Sol-
Ein Veteran ist für mich ein daten um die Frage, was ihr
Soldat mit Einsatzerfahrung. Einsatz wert war. Ob er über-
Jemand, der im Ausland ge- haupt etwas wert ist oder ob
dient hat.« der Veteran für alle nicht sogar
In Berlin-Charlottenburg, ganz gut passt zu einer Gesell-
bei einem Italiener am Savi- schaft, die ihre Armee zwar
gnyplatz, sitzt ein paar Tage mittlerweile seit Jahrzehnten
später der Militärhistoriker ins Ausland schickt, aber ei-
Sönke Neitzel und spricht über gentlich immer nur dann kurz
die Instandsetzungskompanie aufmerkt, wenn mal wieder
60 in Hofgeismar. Dort, in was nicht funktioniert, U-Boo-
Nordhessen, hat Neitzel vor te nicht fahren oder Flugzeuge
gut 30 Jahren seinen Wehr- nicht abheben.
dienst geleistet. Es gab, so Bernhard Drescher, Vorsit-
kann man das sagen, nicht ra- zender des Bundes Deutscher
send viel zu tun. Einsatzveteranen, sagt: »Wir
Der Dienst des Obergefrei- Soldat Sedlak um 2011 in Afghanistan erleben gerade einen gefähr-
ten Neitzel bestand darin, in »Man weiß, wie sich’s angehört hat« lichen Rechtsschwenk in unse-
der Kaserne eine Tankstelle zu rer Bewegung. Die Leute ge-
führen, was ihm viel Zeit ließ, Latein- Was ist ein Veteran, was ist eine Vetera- hen den rechten Rattenfängern auf den
vokabeln für sein bevorstehendes Studium nin? Man denkt da erst mal an alte Männer, Leim, die ihnen wer weiß was verspre-
zu lernen. Aber auch Neitzel, 50, Profes- Stalingrad, vielleicht an Sylvester Stallone, chen.« Und das, sagt Drescher, habe »auch
sor für Militärgeschichte an der Universität wie er John Rambo spielte. Doch es hat, mit der Veteranendebatte zu tun«.
Potsdam, darf sich jetzt Veteran nennen. unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, Worum genau also geht es hier?
Er sagt: »Nee, ich würde mich nie als Ve- seit Jahren Streit um dieses Wort gegeben. Alexander Sedlak ist ein schlanker, jun-
teranen bezeichnen. Da muss ich doch la- Auf der einen Seite standen die, die aus ger Mann, bärtig, auf dem Kopf ein Base-
chen. Herr Neitzel, der Veteran von der dem Auslandseinsatz kamen. Sie gründe- cap, auf seinem T-Shirt steht »Hard Rock
Tankstelle in Hofgeismar!« ten, mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Cafe« und »Love all, serve all«.
Aber so soll es jetzt sein, so hat es die Zweiten Weltkrieg, Veteranenvereine. Sie Seine Stimme ist weich, zu Beginn
Verteidigungsministerin festgelegt. Und wollten dieses Wort für sich. Sie sollten des Gesprächs blickt er einen kaum an,
was eine Ministerin festlegt, das ist halt so. Veteranen sein, die anderen nicht. dann häufiger und länger. Manchmal bricht
Seit Ende November gibt es in Deutsch- Auf der anderen Seite standen diejeni- ein Lachen aus ihm heraus, als würde
land rund zehn Millionen Veteranen. gen, die es breiter anlegen wollten, die Druck entweichen. Sedlak sagt: »Also, der
Damals verkündete Ursula von der Leyen auch den Kalten Krieger einbeziehen woll- Punkt, an dem mir klar war, ich muss was
in einem sogenannten Tagesbefehl: »Vete- ten, der einst den Luftraum an der inner- machen, das war, als ich nur noch 66 Kilo
ranin oder Veteran der Bundeswehr ist, deutschen Grenze überwacht hat. Von der auf der Waage hatte.« Bei 1,84 Meter.
wer als Soldatin oder Soldat der Bundes- Leyens Definition sollte den Streit been- Da lag der letzte Einsatz, der in Afgha-
wehr im aktiven Dienst steht oder aus den: Alle drin, keiner geht verloren. Es nistan, schon ein paar Jahre zurück, aber
41
schaftler befragten dafür Soldaten, die Brandverletzungen. Es folgte die PTBS: Einsatzmedaillen, eine deutsche und eine
2010 in Afghanistan waren. Sieben Solda- Schlafstörungen, Alkoholsucht, Gefühls- amerikanische«, sagt Sedlatzek-Müller.
ten des Kontingents fielen, 28 wurden ver- kälte, Aggressionen, das volle Programm. Er steht auf, läuft zum Schrank, nimmt
wundet, teilweise schwer, mehr als die »Ich gelte als austherapiert«, sagt er. »Das sie beide heraus. »Hier«, sagt er, »auf der
Hälfte berichtete, feindlichen Beschuss er- heißt, ich bin dauerhaft geschädigt.« amerikanischen, da steht vorn was drauf
lebt zu haben. Trotzdem sagten nur sieben Er sitzt am Wohnzimmertisch seines und hinten auch.« Und auf der deutschen?
Prozent der Soldaten, es gehe ihnen ge- Hauses in Stade, um die 50 Kilometer von Vorn ein Adler. Er wendet sie. »Und hin-
sundheitlich schlecht. Stattdessen gab Hamburg, und erzählt ruhig, freundlich ten nichts. Das zeige ich gern den Schul-
knapp die Hälfte an, psychisch belastbarer von seinem Kampf gegen den Dienstherrn. klassen, vor denen ich Vorträge halte: Jeder
geworden zu sein. Es habe lange gedauert, bis seine Schädi- Einsatz hat zwei Seiten. Aber bei uns fehlt
»Man darf diese Gruppe nicht vergessen, gung anerkannt worden sei, aber wenn die Kehrseite der Medaille. Die Anerken-
wenn über Veteranen diskutiert wird«, man einmal drin sei im System der Versor- nung, das politische und gesellschaftliche
sagt der Politikberater Christian Weber. gung, dann sei alles gut, sagt Sedlatzek- Interesse an dem, was wir geleistet haben.«
Er war 13 Jahre lang bei der Bundeswehr, Müller. »Bei der Versorgung von Einsatz- Als von der Leyens Definition öffentlich
letzter Dienstgrad Hauptmann, und er rückkehrern sind wir innerhalb der Nato war, druckte die Zeitschrift des Reservis-
hat über »Veteranenpolitik tenverbands, die tatsächlich
in Deutschland« promoviert. »loyal« heißt, eine Auswahl an
»Wir konzentrieren uns hier Leserbriefen: »Infantil und lä-
manchmal zu sehr auf Gefecht cherlich«, stand darüber,
und Verwundung«, sagt er, »Komme mir verschaukelt
»aber die große Mehrheit vor« oder schlicht: »Absurd«.
erlebt so etwas im Einsatz Ein Generalmajor a. D. fragte:
gar nicht.« »Wer denkt sich so etwas aus?«
Weber war vier Monate in Und ein Hauptfeldwebel der
Mali, als Presseoffizier, es gab Reserve wütete, der Politik sei
keine bedrohliche Situation. »nichts Besseres eingefallen,
Der Einsatz habe ihn persön- als eine Gleichmacherei zu be-
lich bereichert, sagt er. Und ja, treiben, wie ich sie schon aus
auch er fühle sich als Veteran. der ehemaligen DDR kenne«.
»Ich muss damit nicht hausie- In Dänemark gilt als Veteran,
ren gehen, aber das Gefühl ist wer im Auslandseinsatz war,
schon da.« Von der Leyens De- ähnlich ist es in den Niederlan-
finition findet er »vollkommen den. In Frankreich gibt es einen
absurd«. »Kombattantenausweis«, für
Denn sie alle, die Ge- den man eine von mehreren
schwächten und Gestärkten, Bedingungen erfüllen muss,
die mit Gefechtserfahrung etwa die Teilnahme an fünf
und die, die nur im Lager Feuergefechten. In den USA
saßen, haben eines gemein- und Großbritannien gelten alle
ROMAN PAWLOWSKI / DER SPIEGEL
Vor mehr als sechs Jahren hatte von der Neitzel spricht dann über den »Typus bigen Feldlager verbringen oder im Zwei-
Leyens Vorgänger Thomas de Maizière ei- des Soldaten in seinem ursprünglichen fel ihr Leben einsetzen sollen. Und sie wol-
gentlich bereits eine eigene Definition ver- Sinn«, dessen Welt nicht der Savignyplatz len für das Besondere ihres Dienstes be-
kündet: Ein Veteran sei ein ehemaliger Sol- sei und der natürlich »eine vollkommen sondere Anerkennung.
dat, der im Auslandseinsatz gewesen sei, andere Grunddisposition« habe als ein His- Das war schon immer so, man wird die-
Punkt, aus. Und er ließ Veteranenabzei- toriker oder ein Abgeordneter. Übersetzt: ses Bedürfnis nie ganz befriedigen können.
chen beschaffen, exakt 10 198, kleine Kreu- ein Kämpfer, kein Redner und Verhandler. Aber man darf die Lücke zwischen Einsatz
ze mit einem Adler in der Mitte. Die Bun- »Die Frage ist, ob wir das eigentlich aus- und Anerkennung auch nicht zu groß wer-
deswehr ist, wie jede Armee der Welt, ver- halten, dass es solche Typen in unserer Ge- den lassen. Sonst stoßen andere hinein.
narrt in Abzeichen, weshalb es womöglich sellschaft gibt«, sagt Neitzel. Die AfD hat im vergangenen Jahr ein ei-
viel Frust, Enttäuschung und Verbitterung Und bei alldem gehe es um eine noch genes Veteranenkonzept vorgelegt: Wer im
verhindert hätte, eine Art metallenes Pflas- größere Frage: »Wozu eigentlich Streitkräf- Einsatz war, ist Veteran. Wer nicht im Ein-
ter in Form eines Kreuzes. te? Ist die Bundeswehr eine Armee, die satz war, ist es nicht. Es ist ziemlich genau
Allerdings hatte sich der Minister dann ein bisschen Bündnisverteidigung übt und das, was die Vorkämpfer der Einsatzvete-
in seinem letzten Amtsjahr mit eher ansonsten Brunnen bohrt? Oder ist sie ranen wollten. »Uns geht es darum, unserer
unerfreulichen Dingen wie ei- Armee wieder einen angemes-
nem Untersuchungsausschuss senen Stellenwert in der Gesell-
herumzuschlagen, die Defini- schaft zu geben«, sagt der AfD-
tion wurde nie offiziell, die Ab- Verteidigungsexperte Rüdiger
zeichen wurden nie ausge- Lucassen. Der Mann ist Oberst
geben. Sie lagern in mehreren a. D., er weiß, was in der Trup-
abschließbaren Drehrollladen- pe ankommt.
schränken im Ministerium, in Verteidigungsministerium,
einem Drucker- und Kopier- früher Mittwochnachmittag,
raum. am Mikrofon steht die Ministe-
Vor einiger Zeit gab es Ärger, rin und sagt zu den Menschen
weil ein paar Abzeichen bei vor ihr, sie könnten stolz sein
Ebay aufgetaucht waren, wo- »auf Ihren Kampfgeist, auf Ih-
raufhin das Ministerium mitteil- ren überragenden Willen«.
te, es seien »61 Exemplare als Ursula von der Leyen ist ge-
Ansichtsexemplare« ausgege- kommen, um die deutschen
ben worden, also noch »aktuell Teilnehmer der »Invictus Ga-
10 137 Abzeichen im Bestand« mes« zu ehren, eines paralym-
des Ministeriums. Die Zahl der pischen Wettbewerbs für »ein-
Ebay-Veteranen dürfte sich in satzgeschädigte, traumatisierte,
eher engen Grenzen halten. verunfallte oder erkrankte ak-
Und damit noch einmal tive sowie ehemalige Soldatin-
zum Militärhistoriker Neitzel, nen und Soldaten«, so drückt
der kein Ebay-Veteran ist, son- es das Ministerium aus. Oder
dern ein echter, weil er einst auch: für Veteranen.
in Hofgeismar Wehrdienst leis- Vor der Ministerin im Raum
tete. An einem frühlingshaften stehen Generäle, Admirale,
Tag sitzt er am Savignyplatz, sonstige Dienstgrade und an
wo das alles, Mali, Afghanis- ein paar Tischen verteilt die
tan, Drehrollladenschränke, knapp 20 deutschen Teilneh-
ziemlich weit weg wirkt. Neit- mer mit ihren Betreuern. Einer,
zel, ein schlanker, fast zarter ein junger Mann, muss sich auf
Mann, sagt, es gehe hier doch Fallschirmjäger Sedlatzek-Müller 2005 einen Rollator stützen, ein an-
»um mehr als nur diesen Be- »Dauerhaft geschädigt« derer, älterer, hat eine kom-
griff«. Eigentlich, sagt er, gehe plett vernarbte Gesichtshälfte.
es um ein »innenpolitisches Projekt«. eine Armee, die im äußersten Fall auch Aber den meisten von ihnen sieht man
Aber welches? Krieg führt?« Diese Frage sei nach wie vor erst einmal nicht an, was ihnen fehlt.
»Es geht darum, der Bundeswehr einen nicht beantwortet. »Das sieht man auch »Sie sind alle Vorbilder«, sagt von der
möglichst zivilen Anstrich zu geben, damit an diesem Veteranenbegriff.« Leyen – und dass »Ihr Dienst und Ihre Ver-
sie in unserer Gesellschaft überhaupt noch Und so ergibt es dann Sinn. So versteht dienste um unser Land in der Gesellschaft
vermittelbar ist.« man die Enttäuschung, den Zorn, das bei- hoch anerkannt werden«.
Das heißt? nahe beamtenhafte Ringen um ein Wort, Es folgen ein Musikstück, eine weitere
»Wenn ich sage, alle sind Veteranen, eine Definition, einen Status. Man kann Rede und ein Video, man sieht in schnel-
dann verhindere ich damit, dass der Typus das alles eben auch so lesen: als Ergebnis ler Schnittfolge Menschen beim Kugel-
des Kriegers öffentlich sichtbarer wird«, einer großen Orientierungslosigkeit. stoßen, Schwimmen, Weitsprung. Da-
sagt Neitzel. »Den brauche ich zwar in be- Ja, es geht auch um Geld, um Zuschüsse, nach geht von der Leyen von Tisch zu
stimmten Einsätzen, aber er ist hier eigent- Vorteile, es geht um Einfluss, es kämpfen Tisch und ehrt die Teilnehmer. Für jeden
lich nicht erwünscht. Also hat man diese die kleinen Veteranenvereine gegen die gibt es eine Medaille und einen Fotoband.
vollkommen inhaltsleere Definition ge- großen Verbände, aber es geht eben auch Die Sportler scheinen sich ehrlich zu freu-
wählt, die niemandem aufstößt, nur den- um zwei soldatische Grundbedürfnisse: en. Manchmal braucht es dafür ja nicht
jenigen, die im Einsatz waren. Die haben Soldaten wollen gesagt bekommen, wofür sehr viel.
ohnehin keine Lobby.« genau sie mehrere Monate in einem stau-
43
Deutschland
44
SPIEGEL: Breivik hatte im Juli 2011 in Nor- Rolle. Ähnlich verhält es sich mit den
wegen 77 Menschen getötet, die meisten Kindheiten in der ehemaligen DDR.
davon waren Jugendliche in einem Ferien- SPIEGEL: In welcher Hinsicht?
camp. Renz-Polster: Nach der Wende waren viele
Renz-Polster: Die Mutter hatte ihn eigent- Menschen davon überrascht, dass es gerade
lich abtreiben wollen, es kam dann nicht in jenem Teil Deutschlands, der sich als
dazu, aber Breivik ist mit diesem Wissen antifaschistisch verstanden hatte, immer
aufgewachsen. Die veröffentlichten psy- wieder zu rechtsextremen Übergriffen kam.
chiatrischen Befunde zeigen, dass er sich Ähnlich irritiert blickte man später auf den
immer abgelehnt und in seiner Existenz rasanten Erfolg der AfD in den neuen Bun-
bedroht fühlte. Das hat sich mit entsetzli- desländern. Ich teile die soziologischen Er-
chen Folgen bis in sein Erwachsenenalter klärungen: Da wirkt das Erbe eines autori-
fortgesetzt. tären Regimes fort, da sammeln sich jene,
SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass es die sich abgehängt fühlen. Aber ich führe
keine derartigen Täter und auch generell die Entwicklungen auch auf belastete Kind-
keine Anhänger autoritärer Ideologien heiten zurück. In der ideologiebehafteten
gäbe, wenn Eltern und Pädagogen besser Pädagogik der staatlichen Krippen spielte
mit Kindern umgingen? die Idee einer sicheren Bindung offiziell
Renz-Polster: Genau so sehe ich das. Die- keine große Rolle. Und als mit dem Ende
se Menschen vereint ein inneres Erleben, der DDR die vertraute äußere Ordnung
das auf eine früh angelegte Unsicherheit wegfiel, fehlte vielen Menschen genau jener
zurückzuführen ist. Sie haben ein messbar innere Kompass aus Selbstvertrauen und
negativeres Menschenbild und reagieren Selbstsicherheit, der ein Menschenkind
auf jene, die anders als sie denken, mit Ab- durch verwüstetes Gebiet führen kann.
wertung, Ablehnung oder Hass. Sie sehen SPIEGEL: Nun ist Rechtspopulismus nicht
die Welt als einen Kampfplatz an, weil sie nur ein ostdeutsches Phänomen. Und das
sich in ihr nie sicher gefühlt haben. Wissen über kindliche Bedürfnisse hat in
SPIEGEL: Zahlreiche Politologen, Soziolo- den vergangenen Jahrzehnten deutlich zu-
gen und Philosophen erklären den Erfolg genommen. Tausende engagierte Lehrer,
von Rechtspopulisten und anderen auto- Sozialpädagogen und Eltern denken über
ritären Gruppen allerdings mit den verun- Fragen der kindlichen Entwicklung nach.
sichernden Umbrüchen der globalisierten Das widerspricht Ihrer These.
Welt. Haben die alle unrecht? Renz-Polster: Wir haben tatsächlich die
Renz-Polster: Auch deren Erklärungen besten Kindheiten, die es jemals in
führen letztlich zu der Frage, ob ein Deutschland gab. Deshalb halte ich es
Mensch über einen funktionierenden in- auch für wenig wahrscheinlich, dass die
neren Kompass verfügt. Die Globalisie- AfD jemals ins Bundeskanzleramt ein-
rung stellt jeden vor die Frage, ob er sein zieht. Aber vielen Jungen und Mädchen
Leben an die sich rasant verändernde Welt fehlt es nach wie vor am Nötigsten: dem
anpassen muss. Nicht jeder Modernisie- Gefühl von Anerkennung und Sicherheit.
rungsverlierer schließt sich Rechtspopulis- Wenn sie aus Familien kommen, in denen
ten, Salafisten oder anderen autoritären es schlecht läuft, und dann in Kindergärten
Gruppen an. Um mit gesellschaftlichen oder Schulen wenig Ermutigung erfahren,
Umbrüchen und Krisen produktiv umzu- ist die Gefahr groß, dass wir sie zu poten-
gehen, braucht es eine gefestigte und den- ziellen Rechtspopulisten erziehen.
noch wandlungsfähige Persönlichkeit, wie SPIEGEL: Welche Lösung schwebt Ihnen
sie ein sicher gebundenes Kind entwickelt. vor?
Bei Menschen mit Bindungsdefiziten hin- Renz-Polster: Wir müssen unseren Kin-
gegen aktiviert die Globalisierung das früh- dern eine Kindheit geben, in der es um
kindlich erlebte Unsicherheitsgefühl. menschliches Wachstum und die seeli-
SPIEGEL: Bislang spielen derartige Argu- schen Bedürfnisse geht – und nicht um
mente in den Debatten über Globalisie- Auslese oder Wettbewerb. Wenn wir wei-
rung und Rechtpopulismus keine erkenn- terhin die Schulnoten oder ein erwünsch-
bare Rolle. tes Verhalten ins Zentrum unserer Auf-
Renz-Polster: Genau das finde ich über- merksamkeit rücken, ziehen gerade jene
raschend. Die politischen Entwicklungen Kinder, die in ihren Familien belastet sind,
in Deutschland sind ohne den Blick auf die Nieten. Wir müssen uns bewusster ma-
die Kindheiten der jeweiligen Generatio- chen, dass Kinder ein Umfeld brauchen, in
nen kaum zu verstehen. Man hat den Er- dem sie reifen und nachreifen können –
ziehungsdrill im Kaiserreich zwar immer und dass stabile Bindungserfahrungen ih-
als einen Boden für die nationalsozialis- nen dabei die größten Chancen bieten. Die
tische Pädagogik verstanden, in der Kin- Zukunft ist immer ungewiss, das gilt heute
der hart wie Kruppstahl sein sollten. Aber vielleicht mehr denn je. Umso wichtiger
inwieweit daraus ein seelisches Erbe er- ist es, dass ein Kind das Vertrauen erwirbt,
wachsen ist, das die politische Gesinnung sie angstfrei gestalten zu können.
in der Bundesrepublik mitgeprägt hat, Interview: Katja Thimm
spielte auch in der Forschung lange keine
A
ls Marie-Theres Thiell 31 Jahre Gesellschaftlich gehören Frauen und grund ihres Lebensstils angeklagt und be-
alt war, änderte sich ihr Leben für Männer, die bewusst auf Nachwuchs ver- neidet«.
immer. Ihre Laufbahn bei RWE zichten, zu einer Minderheit, über die bis- Gabriele Riedle, 60, kann das bestäti-
begann. Und ihre Beziehung zer- lang selten geredet wurde und deren Mo- gen. »Früher hieß es über kinderlose Frau-
brach, ihr langjähriger Freund verließ sie, tive und Probleme wenig erforscht sind. en, sie wollten sich egoistisch selbst ver-
er wollte keine Karrierefrau, sondern eine Dabei sind sie viele Millionen, und ihre wirklichen«, sagt sie. »Heute werden wir
Familie. Zahl wächst: Jede fünfte Frau bleibt heute manchmal als arme Opfer gesehen. Jede
Thiell konzentrierte sich auf ihren Beruf, kinderlos, bei Akademikerinnen ist es jede Art von Hypothese über Kinderlose ist
»24 Stunden lang, sieben Tage die Woche«, vierte. letztlich eine Kriegserklärung.«
wie sie sagt. Heute ist sie eine der mäch- Um das Phänomen besser zu verstehen, Mitleid verbittet sie sich. Sie selbst be-
tigsten Frauen in der Energiebranche und hat das Bundesfamilienministerium 2015 reue grundsätzlich nichts, an jedem Punkt
leitet die RWE-Tochter Innogy Ungarn. eine Studie über das Leben von Menschen ihres Lebens habe sie sich so entschieden,
Gut 2700 Mitarbeiter hängen von ihren ohne Nachwuchs veröffentlicht. Der wie sie es zu dem Zeitpunkt für richtig
Entscheidungen ab, viele mit Familien. Münchner Soziologe Carsten Wipper- hielt. Mit Mitte dreißig fragte sie ihren da-
Kinder? Vermisst sie nicht. Die Entschei- mann fand heraus: Es sind vor allem An- maligen festen Freund, ob sie auf Verhü-
dung für den Job sei eben eine gegen eige- gehörige gehobener Milieus, »Performer«, tung verzichten solle. »Ich habe noch viel
nen Nachwuchs gewesen. »Das war früher wie er schreibt, die bewusst auf Nach- Zeit zum Zeugen«, habe der geantwortet.
so«, sagt die 59-jährige promovierte Juris- wuchs verzichten. Drei Jahre später war die Beziehung vor-
tin, »wir hatten andere Werte.« Und: Sie werden dafür von der Gesell- bei, und ihr lief die Zeit davon.
Mit »anderen Werten« meint Thiell schaft nicht gerade geliebt. Betroffene »er- Danach begann die Berliner Journalistin
nicht bessere Werte. Sie ist stolz darauf, fahren aufgrund ihrer gewollten Kinder- eine Affäre mit dem russischen Schriftstel-
dass im Vorstand ihres Unternehmens in losigkeit offene oder latente Stigmatisie- ler Wiktor Jerofejew, elf Jahre älter als
Ungarn zwei Frauen und zwei Männer ar- rungen«, so Wippermann. Sie sähen sich sie selbst, verheiratet, Vater. »Mit Wiktor
beiten. Und sie spricht selbstbewusst über »mit Vorwürfen eines sozialschädlichen begann die intensivste Zeit meines Le-
ihr Lebensmodell. Etwa über ihr Hobby Egoismus« konfrontiert und würden »auf- bens«, sagt Riedle. Sie trafen sich zu Re-
Mode, für das sie gern »die Kreditkarte portagereisen, schrieben zusammen einen
glühen« lässt, über Männer (»ich lebe à la Roman. Für Kinder sei kein Raum gewe-
carte«) oder Verwandte (»bitte nicht ›kei- Nein zum Nachwuchs sen. »Mir ist erst viel später bewusst ge-
ne Kinder‹ gleichsetzen mit ›keine worden, dass die Logik meines Lebens
der Frauen in Deutschland,
Familie‹«).
Was die Managerin nervt, ist die Unter-
stellung, dass Menschen wie ihr etwas feh-
74% die keine Kinder haben,
sind gewollt kinderlos.
nicht auf Kinder hinauslief.«
Und heute? Riedle ist ledig, keine Kin-
der, keine Enkel. »Ich bin insgesamt auf
le. Dass kinderlose Frauen wahlweise be- mich allein gestellt, und das ist nicht
dauernswert seien – oder eiskalt. Diese Frauen haben momentan keinen Wunsch schön«, sagt sie. Doch im Gegensatz zu
nach eigenen Kindern, weil …
Private Entscheidungen wie ihre wer- vielen Eltern in ihrem Alter sei sie ans Al-
den jetzt scharf diskutiert. »Kinderfrei Schulbildung der Frauen leinsein gewöhnt, sei ihr der Schmerz er-
statt kinderlos« lautet der Titel eines Ma- »… Partnerschaften hoch 26% spart geblieben, der häufig auftritt, wenn
nifests, mit dem die Regensburger Femi- heute oft in die Brüche die erwachsen gewordenen Kinder für im-
mittel 39
gehen, da sind Kinder
nistin und Gymnasiallehrerin Verena Brun- ein großes Problem.« gering 45 mer ausziehen.
schweiger vor allem in sozialen Medien Jede vierte kinderlose Frau und jeder
eine hitzige Debatte provozierte. Es ging »… ihre beruflich 37 vierte kinderlose Mann zwischen 20 und
um den gesellschaftlichen Nutzen oder Situation dafür nicht 24 50 Jahren ist der Studie des Familien-
Schaden des Kinderkriegens. geeignet ist.« 22 ministeriums zufolge unglücklich darüber,
Viele Betroffene schweigen lieber. Sie keinen Nachwuchs zu haben. Die meisten
haben keine Lust, ihren Lebensentwurf öf- »… Kinder mit 14 allerdings kommen damit ganz gut klar.
fentlicher Kritik auszusetzen. Thiell, drei hohen finanziellen »In westlichen Industrienationen sind
19
weitere Frauen und ein Mann haben mit Belastungen Nichteltern im Schnitt sogar etwas zu-
verbunden sind.« 26
dem SPIEGEL gesprochen. Für eine von ih- friedener als Eltern«, sagt die Soziologin
nen, Manuela Vickermann, ist es sogar ein Hilke Brockmann von der Jacobs Uni-
15
bewusstes Coming-out. »Wir kinderlosen »… Kinder mit großem versity Bremen. Die Professorin, Mutter
Frauen können genauso mitfühlen wie 16 von zwei Töchtern, staunt selbst über
Stress verbunden sind.«
Mütter. Wir können genauso sozial enga- 23 diesen Befund, den viele Studien bestätigt
giert sein, genauso fürsorglich«, sagt sie. Angaben in Prozent, Auswahl aus den Antwortmöglichkeiten; haben. »Für Deutschland konnten wir
»Wir sind ganz normale Menschen.« 990 befragte Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren; Quelle: BMFSFJ, 2015 sogar nachweisen, dass Mütter im Schnitt
47
wollt, macht es jetzt, sonst dann begeisterte sie die Aus-
könnte es zu spät sein: Schaut bildung zur Steuerfachange-
mich an!« Sie garantiere den stellten so sehr, dass sie anfing
Jüngeren, nach der Babypause zu studieren. »Ich bin ein Zah-
wieder da einsteigen zu kön- lenmensch, ich liebe Daten
nen, wo sie aufgehört haben. und Fakten.«
Für Ewald ist die Sache klar: Sie wurde »Manager«, »Se-
»Wenn die Gesellschaft Kinder nior Manager«, »Director«.
will, dann muss sie dafür sor- »Jedes Mal dachte ich, die Stufe
gen, dass Frauen die Chance gönne ich mir noch, bevor ich
haben, sie zu bekommen, eine Familie gründe.« Als sie
ohne berufliche Nachteile zu dann erfuhr, dass es zu spät da-
riskieren.« für sei, war sie froh, weil nun
Und was ist mit den Män- der Weg nach ganz oben frei
nern? Axel Schwartz ist 52 und war. »150 Prozent fürs Kind ge-
zufrieden mit seinem Leben. ben und 150 Prozent für die
Der Kölner Unternehmer hat Karriere, das geht nicht.«
keine Kinder, weil er lange Seit zwei Jahren ist Vicker-
keine wollte. Und außer den mann Partnerin in der interna-
Eltern seiner Ex-Frau habe tionalen Steuerabteilung von
ihn auch nie jemand danach PricewaterhouseCoopers. Auf
gefragt, erst recht nicht im ihrer Managementebene ist
beruflichen Umfeld. »Keiner, nur etwa jede zehnte Füh-
nie.« Er staunt selbst darüber, rungskraft eine Frau.
schüttelt den Kopf. »Kinder In ihrer Hamburger Woh-
sind im Job bei Männern kein nung stehen Fotos von ihren
Thema.« Patenkindern in einer hell er-
Seine zweite Frau brachte leuchteten Nische, ein Mäd-
zwei Teenager mit in die Ehe, chen, 5, ein blonder Junge, 8.
sie habe es ihm leicht gemacht. Auch in Lateinamerika hat sie
»Ich musste nie den Ernährer Patenschaften übernommen.
QUELLE: TWITTER
raus, aus den kleinen Büros soll ein großes
werden. Fraktionschef Ralph Brinkhaus
will einen Newsroom schaffen, in dem ein
Medienteam die Arbeit seiner Abgeord-
neten choreografiert. Eine Mannschaft, die Regierungssprecher Steffen Seibert (3. v. l.)*: Sicher ist sicher
berichtet, erklärt, einordnet. Ganz so, als
wäre sie eine kleine Redakteurstruppe.
Der Trend zum Newsroom durchzieht fen. Ein Konzept gibt es noch nicht, über Anruf bei Lars Klingbeil, Generalsekre-
derzeit Parteien und Fraktionen, auch Mi- neue Stellen ist noch nicht entschieden, tär der SPD. Auch die Sozialdemokraten
nisterien bauen sich Schaltzentralen mit TV- beteuert man. Sicher ist aber, dass die haben einen Newsroom, sechs Stellen
Studios und Multimediaecken. Eine »Hoch- CDU künftig noch stärker selbst darüber sind inzwischen dafür reserviert, Mitte
rüstung im Inszenierungsgeschäft« nennt es bestimmen will, wie sie wahrgenommen April soll eine neue Chefin ihre Arbeit
der Medienwissenschaftler Bernhard Pörk- wird. Über Videos, Erklärungen, Podcasts. antreten. Die SPD leidet darunter, dass
sen, von einer überfälligen Professionalisie- Die Parteichefin macht daraus gar kei- sie medial als Partei in der Dauerkrise
rung sprechen dagegen die politischen Strate- nen Hehl: Beim Auftakt zum Werkstatt- beschrieben wird. Der Newsroom soll
gen: Es gelte, neben der klassischen Presse- gespräch über die Flüchtlingspolitik vor helfen, aus dieser Negativspirale auszu-
arbeit den Dialog mit dem Bürger zu stärken einigen Wochen habe man keine Presse zu- brechen.
und das Internet besser zu beobachten. gelassen und stattdessen einen Livestream Geht es darum, die Medien zu umgehen?
Alles ganz harmlos, so der Tenor. angeboten, berichtete Kramp-Karren- Klingbeil wiegelt ab. »Wir verzichten nicht
Nur ist der Newsroom eben auch ein bauer neulich in der »Entscheidung«, dem auf klassische Formate. Das wäre falsch«,
wunderbares PR-Instrument, ein Mittel, Magazin der Jungen Union, und schwärm- beteuert er. Aber die Vorteile sieht auch er:
um sich im Zweifel der Kontrolle und der te: »Wir waren Herr über die Bilder, wir »Im Newsroom können wir zusätzlich auch
medialen Einordnung zu entziehen. Wer haben die Nachrichten selbst produziert. eigene Botschaften verstärken«, sagt Kling-
im Newsroom schreibt oder filmt, kann In diese Richtung wird es weitergehen.« beil: »Wir verlängern die Kommunikation
die üblichen Filter vermeiden. Kein Kom- Das Recht der Parteien, modern zu kom- aus den klassischen Medien ins Internet
mentator setzt Zitate in einen kritischen munizieren, stellt niemand infrage. Schwie- direkt zu unseren Leuten.«
Kontext, kein Kameramann zeigt un- rig wird es, wenn Politiker die Strukturen Der Trend macht auch vor der Regierung
schöne Bilder. Und die Interviewer von verändern, um kritischen Fragen leichter nicht halt. Das Verkehrsministerium sieht
CDU. TV, längst präsent bei jedem wichti- ausweichen zu können. Sätze wie die von sich als Vorreiter. Im vergangenen Jahr
gen Parteitermin, fragen weniger hartnä- Kramp-Karrenbauer lassen den Medien- rückten dort, wo früher dröge Pressekon-
ckig als ihre »Kollegen« der unabhängigen wissenschaftler Pörksen aufhorchen. Der ferenzen zum Verkehrswegeplan stattfan-
Medien. So können die Parteien ihre Bot- Professor von der Uni Tübingen mahnt: den, die Techniker an. Seit Inbetriebnahme
schaften widerspruchslos über die ver- »Das Problem besteht darin, dass die Par- des »Neuigkeiten-Zimmers« hat sich bei
schiedensten Kanäle an Unterstützer ver- teien journalistische Arbeitsweisen letztlich Minister Andreas Scheuer und seinen Leu-
schicken. Echokammern, in denen man zum Zweck der Eigen-PR kopieren – mit ten ein Ritual eingespielt: Nach der Presse-
immer recht hat und niemand stört. Auf dem Ziel einer maximalen Kontrolle über konferenz, die jetzt im Eckzimmer nebenan
der Strecke bleibt der kritische Diskurs. Bilder und inhaltliche Akzentsetzungen.« stattfindet, läuft der CSU-Mann in sein eige-
Vorbild für diese Entwicklung ist ausge- Nach Kritik stellte Kramp-Karrenbauer nes TV-Studio, um noch einmal das zu ver-
rechnet die AfD. Deren Strategie, sich vorsichtshalber klar, dass für sie die freie künden, was er gerade erst den Journalisten
über Twitter, Facebook und andere Kanäle Presse zur Demokratie gehöre. Unabhän- sagte. Sicher ist sicher.
eine eigene Wirklichkeit zu schaffen, ver- giger Journalismus sei ihr »ein Herzens- Denn auch Scheuer beklagt sich gern,
folgen die Parteistrategen mit einer Mi- anliegen«, betonte sie. dass die Journalisten einfach nicht das
schung aus Sorge und Bewunderung – nun rüberbrächten, was er als Botschaft ver-
ziehen sie nach. Auch Annegret Kramp- künden wolle. »Ihr wollt’s doch nicht über
Karrenbauer hat große Pläne. Die CDU- die Zukunft der Mobilität schreiben«, sag-
Chefin will im zweiten Stock des Konrad- »Im Newsroom können te er ihnen im trauten Kreis, »sondern
Adenauer-Hauses einen Newsroom schaf- wir zusätzlich immer nur über den doofen Diesel.«
Quelle: Michelin
Nicht der Duft schwarzer Périgord-Trüffeln durchzog wie Nationalstraßen gut, besser und ausgezeichnet einkehren könne.
sonst das Le Fouquet’s auf den Champs-Élysées, stattdessen biss 1933 notierten die Tester 23 Restaurants, die »eine Reise wert«
Tränengas in die Nase, als die Gelbwesten die Pariser Luxus- seien, und vergaben jeweils drei Sterne. 2018 gab es weltweit
Brasserie vergangenen Samstag verwüsteten. Ein Sakrileg, zu- 126 Restaurants mit der höchsten Michelin-Wertung. 28 davon
mal Frankreich seine gastronomische Sonderstellung auch den finden sich in Frankreich. Deutschland erreichte die Verfeine-
Sansculotten verdankt, Vorläufern der Gelbwesten, die von rung der Kochkünste verspätet: 1979 holte Eckart Witzigmann
1789 an wutentbrannt Aristokratenhäuser geplündert hatten. erstmals drei Sterne nach Deutschland, inzwischen hat sich die
Die damit brotlos gewordenen Köche machten aus der Not eine Zahl bei zehn, elf Spitzenrestaurants eingependelt. Die Stadt
Tugend und eröffneten Straßenküchen, Garstuben und später mit den meisten Sternen allerdings ist mittlerweile Tokio. Auch
Bistros. Die Revolution führte zu einer Popularisierung des ver- Pierre Gagnaire, unter dessen Namen im Le Fouquet’s gekocht
feinerten Geschmacks, von der sich Frankreich bis heute nicht wird, betreibt Restaurants in Japan, China, Südkorea: Die kuli-
erholt hat. Als sich »le peuple« motorisierte, lieferte der Reifen- narische ist die erfolgreichste aller französischen Revolutionen,
fabrikant Michelin praktische Hinweise, wo man am Rande der jedenfalls in den Ländern Asiens. [email protected]
Arbeitswelten ke, dass Arbeit an sich besser ist als auch nicht sein. Irgendwer muss doch die
Müßiggang. Arbeit erledigen.
Sollte man fürs SPIEGEL: Und das stimmt nicht? Welzer: Natürlich. Was ich meine: Die
Nichtstun bezahlt werden, Welzer: Wieso soll es sinnvoller sein, in Hochschätzung der Arbeit im Sinne der
der Rüstungsindustrie zu arbeiten und fremdbestimmten Erwerbstätigkeit ist
Herr Welzer? Waffen zu produzieren, deren einziger historisch jung, vor der Industrialisierung
Harald Welzer, 60, ist Soziologe und Autor Zweck die Zerstörung ist, als auf der war das noch anders. Wir achten die
des Buchs »Alles könnte anders sein«. Wiese zu liegen und in den Himmel zu Arbeit heute auch deswegen, weil sie dem
schauen? Tag eine Struktur gibt – man muss sich kei-
SPIEGEL: In der schwedischen Stadt Göte- SPIEGEL: Was soll es bringen, sich auf die ne Gedanken machen, was man mit seiner
borg ist eine unbefristete Stelle ausge- Wiese zu legen? Zeit anstellt. Wenn man kein Geld verdie-
schrieben: umgerechnet 2046 Euro brutto Welzer: Wir leben in einer Kultur des nen muss, ist man aber nicht zwangsläufig
im Monat fürs Nichtstun. »Die Arbeit ist Alles-immer. Der Rückzug aus der Unru- faul. Müßiggang ist etwas anderes als Faul-
das, was der Angestellte tun will«, heißt he des Alltags ist wichtig, wir brauchen heit. Faulheit ist ein Begriff, der uns dazu
es in der Jobbeschreibung. Gute Idee? die Kontemplation, die Lee- bringen soll zu arbeiten.
Welzer: Eine charmante Idee. Wir wun- re. Der eine hält die Leere Müßiggang heißt auch:
SEBASTIAN WILLNOW / DPA
dern uns nicht, wenn jemand 3000 Euro einen Tag lang aus, der Man kann sich ehrenamt-
Rente bekommt und Däumchen dreht, andere zwei Monate. Aber lich im Hospiz engagieren.
weil wir wissen, dass er dafür gearbeitet es wirkt wie eine Infusion: Man hat die Möglichkeit,
hat. Wir halten es aber für irrational, dass Man wird frischer, kreativer. anderes zu tun. Und zwi-
jemand für gar nichts entlohnt wird. SPIEGEL: Dass alle nur Wol- schendurch guten Gewis-
Dahinter steckt der absonderliche Gedan- ken zählen, kann es aber sens absolut nichts. MAG
HEINZ TOPERCZER
mehreren Bekannten, die scheinlich gleich tauchen
ebenfalls Taucher sind und und Schimpf mit sich in
die für Schimpfs Sicherheit die Tiefe ziehen würde.
sorgen sollten, wenn er im Schimpf konnte nichts tun.
Wasser war. Schimpf hoffte, Schimpf im Maul eines Wals Er konnte nur die Luft
draußen auf dem Meer anhalten, versuchen, ruhig
spektakuläre Bilder ma- zu bleiben und zu hoffen,
chen zu können – vom gro- dass er an diesem Tag ein
ßen Fressen und Gefressen- zweites Mal Glück haben
werden, das verlässlich werde.
stattfindet, wenn sich im Von der Website RP-Online.de Und er hatte Glück.
Frühjahr Millionen Sardi- Kaum zwei Sekunden nach-
nen versammeln, dem kalten Benguelastrom folgen und dem dem Schimpf im Maul des Wals gelandet war, presste dieser
Plankton, das den Fischen als Nahrung dient. das Wasser aus seinem Maul hinaus und schluckte die Sardi-
Die Schwärme der Sardinen locken Räuber an, in großer nen hinunter. Mit dem Wasser wurde auch Schimpf zurück
Zahl. Aus der Luft attackieren Tölpel die Fische, unter Wasser ins Meer gespült, unverletzt. Er kletterte ins Boot zurück,
greifen Haie und Delfine an, und oft sind es die Delfine, die seine erste Frage an den Fotografen lautete: »Hast du das im
einen Schwarm in die Enge treiben und die Sardinen zwingen, Bild?«
eine Kugel zu bilden, den »Bait Ball«, in den dann die ande- Schimpf ist 51 Jahre alt, er hat viel gesehen und scheint
ren Räuber einfallen, von allen Seiten, bis ihr Appetit gestillt ein eher pragmatischer Mensch zu sein, der die Dinge nimmt,
oder der Sardinenschwarm aufgerieben ist. wie sie kommen. Was passiert, passiert; es gibt keinen großen
Schimpf hoffte, ein solches Massaker dokumentieren zu Plan, keine Frage nach dem Warum.
können. Die Bilder wollte er als Werbung für seine Touren Was es allerdings gibt, sind Wahrscheinlichkeiten, und es
nutzen, er wusste, dass sich auch Fernsehsender in aller Welt war sehr unwahrscheinlich, dass Schimpf an diesem Tag noch
für solche Szenen interessieren. einmal eine ähnlich dramatische Begegnung mit einem Tier
Gegen acht Uhr am Morgen lag das Boot bereit. Schimpf haben würde. In der Saison, die von Februar bis Juli dauert,
lenkte es aus dem Hafen, dann ging es gut drei Stunden war er oft vier Stunden pro Tag im Wasser gewesen, seit
hinaus aufs Meer, bei guter Sicht und ruhiger See. Rund 16 Jahren, und nie war etwas Vergleichbares passiert.
50 Kilometer entfernt von der Küste, das Land war längst Er blickte vom Boot ins Meer. Das Wasser war klar,
hinter dem Horizont verschwunden, entdeckte Schimpf end- Schimpf konnte sehen, dass nun auch Haie am Bait Ball ar-
lich in einiger Entfernung, wonach er suchte: Tölpel, dunkle beiteten. Gute Bilder waren das. Schimpf nahm seine Kamera
Punkte, die über dem Meer kreisten und von dort immer und glitt wieder ins Wasser. Uwe Buse
51
Gesellschaft
Grenzsicherung
Stresstest Seit anderthalb Jahren sitzt die AfD im Bundestag, 91 Abgeordnete bilden die
größte Oppositionsfraktion. Verändert das die Umgangsformen? Wie soll man den
neuen Kollegen begegnen? Eine Sitzungswoche im Berliner Reichstag. Von Alexander Smoltczyk
E
s sind 66,5 Zentimeter, vorgege- gen mit einer weißen Bürgerwehr erwi- »Dann eröffne ich die Aussprache und erteile
ben durch die Verschraubungen schen. Laut Geschäftsordnung hätte die das Wort dem Bundesgesundheitsminister
im Boden des Plenarsaals, die Partei außerdem Anspruch auf einen Sitz Jens Spahn« (Beifall bei der CDU/CSU so-
nach Auskunft der Bundestagsver- im Bundestagspräsidium, zu besetzen in wie der Abg. Sabine Dittmar [SPD]).
waltung in der Horizontalen »mit unter- geheimer Wahl. Bislang scheiterte jeder
schiedlichen Toleranzen« eingerichtet sind. Kandidat daran, eine Mehrheit zu finden. Wer eine ganz normale Sitzungswoche
Es sind 66,5 Zentimeter, die Alt und Alle Abgeordneten, egal aus welchem lang von der Zuschauertribüne aus den
Neu voneinander trennen, die Guten von Lager, verbindet die Frage: wie umgehen Debatten lauscht, dem zeigt sich unsere
den weniger Guten. Für manchen markie- miteinander? Parlamentarische Demokra- Demokratie als fein kalibrierte Maschine.
ren sie die Grenze zwischen Zivilität und tie ist das Dilemma von körperlicher Nähe Eine Woche im Januar beispielsweise,
Barbarei, zwischen System und Antisys- und ideologischer Entfernung. es könnte auch eine beliebige andere sein:
tem. Es sind genau 66,5 Zentimeter Ab-
stand zwischen den Pulten der FDP-Frak-
tion und denen der AfD im Deutschen
Bundestag, 19. Wahlperiode, wo über jede
Sitzung Protokoll geführt wird.
52
Es wird über Schulspeisung debattiert, Der 19. Bundestag ist mit seinen 709 Ab- Gegenüber den Kollegen der AfD ha-
über den Brexit, über Organspenden und geordneten zu groß, um Wirgefühle auf- ben sich die meisten Abgeordneten für
den Frieden in Eritrea, über Wildtier- kommen zu lassen. Man reist an zu eng eine Haltung entschieden, die Sven-Chris-
schutz, die Planung der Bahn AG, Nah- getakteten Sitzungswochen, voller Frak- tian Kindler, Grüner aus Hannover, so
verkehr und Bürokratieabbau, es wird tions- und Ausschusssitzungen, Mittags- zusammenfasst: »Kein Duzen, kein Bier,
die Zukunft einer Fregatte in Schwerin runden, Besuchergruppen, Presseterminen, keinen Kaffee mit Faschisten.«
verhandelt sowie die Problematik des Anhörungen und Festveranstaltungen, Als Martin Reichardt, AfD-Vorsitzen-
tansanischen Megastaudamms »Stieglers Landesgruppentreffs und Plenarabstim- der in Sachsen-Anhalt, am Vortag den Sit-
Schlucht«. Unter anderem. mungen, die bis in die Nacht dauern kön- zungsraum des Familienausschusses be-
Jürgen Trittin kommt hereingeschlen- nen. Neulinge haben schon Schwierigkei- trat, reichte ihm niemand die Hand, selbst
dert, der frühere Umweltminister der Grü- ten, sich die eigenen Leute zu merken. die Vorsitzende schob sich grußlos an ihm
nen. Die Linke in der Tasche, läuft er an »Ganz am Anfang verirrte sich mittags vorbei wie an einer Zimmerpalme. Rei-
den Bänken der AfD vorbei, den Blick in ein CDUler an unseren Tisch«, erzählt chardt ist ehemaliger Offizier, eine anzug-
die Ferne gerichtet und im Gesicht einen Götz Frömming, bildungspolitischer Spre- sprengende Gestalt. Und war plötzlich un-
Ausdruck, wie man ihn von Opernbe- cher der AfD. »Wir machten Small Talk. sichtbar.
suchern kennt, wenn ein Obdachloser vor Bis das Gespräch auf Merkel kam. Da ver- »Das ist nicht schön«, sagt Reichardt.
dem Eingang hockt. abschiedete er sich schnell.« »Aber klar, wir sind in deren Wohnzimmer
Das Verhältnis zu den »Altparteien«, eingedrungen, in die Komfortzone.« Ihm
Bundesminister Jens Spahn: »… geht es also sagt Frömming, sei nicht besser geworden, sei das fast freundschaftliche Miteinander
darum, dem Transplantationsbeauftragten »im Gegenteil«. Seit der angekündigten in den Fraktionen von der Linken bis zur
durch verbindliche Freistellungsregelungen Prüfung seiner Partei durch den Verfas- Union, dieses Duzen und Umarmen durch-
und eine entsprechende Refinanzierung sungsschutz sei der Ton giftiger, die Dis- aus suspekt. Schließlich gehe es, sagt er,
mehr Freiraum …« tanz größer. um harten politischen Kampf.
Im Jahr 2017 hatte der damalige Innen-
minister Thomas de Maizière zehn Thesen
für eine deutsche Leitkultur skizziert. Un-
ter Punkt eins heißt es: »Wir sagen unseren
Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die
Hand.«
53
ren«, sagt Strack-Zimmermann. Anders tems und genossen es gleichzeitig. Joschka ein aggressives Protestgebaren eifrig auf
sei es für eine junge Frau, die ihre erste Fischer war selig, als ihm das Mikro abge- die Einhaltung der guten Ordnung im Ple-
Rede hält: »Die fühlt sich wirklich als dreht wurde.« Fischer, der Straßenkämpfer num pochen.«
Opfer und leidet unter dem Gefeixe.« und spätere Außenminister, hatte den da- Die AfDler schreiben Anfragen, halten
Jürgen Braun, der parlamentarische maligen Vizepräsidenten, »mit Verlaub«, sich an die Redezeiten und erheben sich,
Geschäftsführer der AfD, sagt, er verste- ein »Arschloch« genannt. wenn der Anlass es gebietet – wenngleich
he die Kollegin nicht: »Das geht hier Die Sprache im Bundestag sei früher di- mancher auch betont langsam, etwa in der
eben nicht zu wie in einem Mädchenpen- rekter gewesen, die Wortwahl weniger Holocaust-Gedenkstunde.
sionat«, sagt er. »Mit anderen FDP- politisch korrekt, sagt Vollmer. Heute rate
Kollegen gibt es durchaus mal ein fried- sie zu einer Haltung, wie sie auch Wolf- Marlene Mortler (CDU/CSU): »Liebe Frau
liches Wort. Aber Frau Strack-Zimmer- gang Schäuble einnimmt: »Nicht so aufre- Kollegin, da sind Sie bei mir genau an
mann ist völlig humorlos.« Was habe er gen. Sie behandeln wie ein rohes Ei und der richtigen Adresse. Als gelernte Haus-
sich schon für Sprüche wegen seines zivil auflaufen lassen. Umso größer die wirtschaftsmeisterin weiß ich sehr wohl,
Nachnamens anhören müssen, sagt Braun. Enttäuschung für die.« dass man sich mit wenig Geld sehr gut und
»Lieber eine schwarze Jacke als auch sehr ausgewogen ernähren
eine braune Gesinnung. Ständig kann.«
ging das heute so.«
Aber natürlich habe er Frau In der fast 70-jährigen Geschichte
Strack-Zimmermann, über den des Deutschen Bundestags haben
66,5-Zentimeter-Graben hinweg, sich Techniken der Gruppendyna-
schon die Hand ausgestreckt. Das mik herausgebildet, Mixed Zones
gehöre zur Kinderstube. Warum re- und ideologische Abkühlbecken.
den Sie nicht mit mir, habe er die Es gibt die Morgenandacht vor Ple-
FDP-Kollegin gefragt. Und eine narsitzungen, in der fraktionsüber-
Abfuhr erhalten: »Herr Braun, ich greifend gesungen und gebetet
will nicht mit Ihnen reden. Nicht wird. Bei einem Gebetsfrühstück
mit Rechtsradikalen. Nehmen Sie hat Jürgen Braun, der AfD-Frak-
es einfach zur Kenntnis.« tionsgeschäftsführer, zum ersten
Es sind verschiedene Welten. Mal mit einem Kollegen von der
Und andere Zeiten. Dinge, die im Linken gesprochen. Das funktionie-
Geschlechterverhältnis vor 10, 20 re schon, sagt Braun, sei aber »die
Jahren normal gewesen seien, emp- totale Ausnahme«.
fänden die anderen heute vielleicht Sie sind die Fremden. Die eigent-
als Sexismus, sagt Peter Boehringer lich nicht hierhergehören, aber nun
von der AfD, der den Haushaltsaus- mal da sind, weil jemand sie herein-
schuss leitet. Überhaupt sei die gelassen hat. In diesem Fall das
Frustrationstoleranz beim politi- Volk. Mag sein, dass einige sich in-
schen Gegner dramatisch gesunken: tegrieren lassen. Aber dafür sollen
»Die AfD sagt lediglich ein paar sie sich gefälligst anstrengen. Bis
Wahrheiten in der ›old fashioned‹ dahin sitzen sie eben allein in der
Tradition der Achtziger- und Neun- Cafeteria. Selbst die Linken, die bis-
JESCO DENZEL / DER SPIEGEL
deutsch-israelischen Parlamentariergrup- das war ziemlich klar in dem Moment«, Es wird allgemein – und nicht ohne
pe: »Die Regierung in Jerusalem lehnt sagt Brand. »Ich bin jetzt 13 Jahre im Bun- Neid – anerkannt, wie professionell die
Treffen mit AfD-Politikern ab. Mit vollem destag, ich bin kein Frischling. Aber diese AfD-Fraktion sich der sozialen Netzwer-
Recht.« extreme Aggressivität, das hat mich er- ke bedient. Derzeit wird an einem
schrocken.« Newsroom gearbeitet, mit eigenem TV-
Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Beatrix von Storch lässt Brands Darstel- Kanal.
»Ich schließe die Aussprache. Wir kommen lung durch ihr Büro scharf widersprechen, »Die machen systematische Desinforma-
zur Abstimmung über die Beschlussemp- sie grenze »sehr nahe an eine Verleum- tion«, sagt Thomas Oppermann, und seine
fehlung des Ausschusses für wirtschaftliche dung«. Sehr wohl erinnere sie sich an »die Kollegin Claudia Roth sagt: »Die haben
Zusammenarbeit und Entwicklung auf Beschimpfungen des Kollegen Brand«. einen wahnsinnigen Propagandaapparat
Drucksache 19/7089.« Brands Schilderung wird von einem Par- aufgebaut.«
teikollegen bestätigt. Jede Rede, jede Provokation wird ins
Er müsse zugeben, sagt Thomas Opper- Das Protokoll vermerkt gar nichts Netz gestellt, auch jeder Lapsus der ande-
mann, dass die Intensität der Debatten dazu. ren. »Sie lauern nur auf Fehler, testen Gren-
durch die AfD »enorm zugenom- zen des Anstands aus«, sagt Roth.
men« habe. »Ich habe einmal das »Für die Sitzungsleitung ist das an-
britische Parlament erlebt. Das war strengend. Ich bin nach zwei Stun-
schon atemberaubend. Im Ver- den Präsidium immer richtig fertig.«
gleich dazu sind wir das House of Die Rüpelei wird dabei gern aus-
Lords« – gewesen. gelagert in die einschlägigen Blogs
Am 14. Dezember 2018, dem und Facebook-Seiten. Was den Alt-
letzten Sitzungstag vor der Jahres- eingesessenen jede Form von Ent-
wende, stand die Ausschuss-Über- spannungspolitik gegenüber AfD-
weisung eines Antrags zur Förde- Kollegen erschwert.
rung des wissenschaftlichen Nach- Sven-Christian Kindler, der grü-
wuchses zur Abstimmung. Die AfD ne Haushaltssprecher, sagt: »Vor-
beantragte einen »Hammelsprung«, dergründig versucht etwa Peter
um die Beschlussfähigkeit des Ple- Boehringer von der AfD, die Form
nums festzustellen, ein zeitaufwen- zu wahren. Unter seinem Vorsitz
diges, aber zulässiges Verfahren. ist bisher im Haushaltsausschuss
Nur boykottierten die Abgeord- nicht Chaos ausgebrochen, auch
neten der AfD dann den Hammel- weil wir die Verfahrensmehrheit
sprung und blieben vor den Türen haben. Aber ich kann nicht verges-
des Plenarsaals stehen. »Das halte sen, wie Boehringer im Plenum
ich für antiparlamentarisch«, sagt und auf Facebook seine Verschwö-
der CDU-Mann Michael Brand: rungstheorien verbreitet. Das geht
»Erst nach der Abstimmung sind gar nicht.«
sie wieder reingekommen. Wie
klein ist das und wie feige.« Vizepräsidentin Claudia Roth: »Vie-
Das Protokoll vermerkte: Anhal- len Dank. – Nächste Rednerin für
tende Unruhe – Glocke der Präsi- Bündnis 90/Die Grünen: Claudia
JESCO DENZEL / DER SPIEGEL
dentin ... Beifall und rhythmisches Müller« (Beifall beim Bündnis 90/
Klatschen bei der CDU/CSU, der Die Grünen). Claudia Müller: »Sehr
SPD, der FDP, der Linken und dem geehrte Frau Präsidentin! Sehr
Bündnis 90/Die Grünen sowie von geehrte Damen und Herren! Das
der Regierungsbank. Thema Peene-Werft zeigt …«
Brand wollte kurz den Saal ver-
lassen. »Ich nahm die Abkürzung FDP-Abgeordnete Strack-Zimmermann Die junge Abgeordnete trägt ein
durch die AfD-Reihen. Frau von »Brauchen Sie die Peitsche?« enges Wollkleid und passende Stie-
Storch schrie dort laut und wild ges- fel. Unwichtig, eigentlich. Vom
tikulierend herum, ich fragte nur: Rednerpult bis zu den vorderen Sit-
›Was sind Sie eigentlich für ein armes Nikolas Löbel (CDU/CSU): »Sie haben in zen der AfD sind es gerade mal 4,80 Meter,
Würstchen?‹ Sie guckt mich sehr seltsam Ihrem Antrag kein einziges Wort des Dan- und es gibt keinen Stenografentisch da-
an – und dann haut sie mir tatsächlich mit kes für den Einsatz unserer Soldaten übrig zwischen.
voller Wucht diesen beweglichen Sitz ge- gehabt. (Matthias W. Birkwald [Die Linke]: »Man spürt das dann körperlich, diese
gen meine Schienbeine!« ›Sie halten die falsche Rede!‹) Das offenbart Aggressivität, diese Feindschaft aus den
Brand ist Sprecher der Union für Men- den Charakter Ihres Ansinnens, dem ich Reihen der AfD«, sagt Sarah Ryglewski,
schenrechte. In seinem Büro hängt ein Por- hier entschieden widersprechen will …« SPD-Abgeordnete aus Bremen. »Vielleicht
trät der Mutter Teresa. achtet man unbewusst viel zu sehr auf
»Ich war fassungslos. Da steht dann ein Wie einst die Grünen ist die AfD zugleich die.«
Mann auf, ein AfD-Abgeordneter, baut Bewegungs- und Parlamentspartei, von Man weiß ja, sagt sie, welche Reaktio-
sich vor mir auf, mitten im Plenarsaal, fast der Straße ins Hohe Haus gespült. Sie nen kommen, wenn man zu Themen der
Nase an Nase, und schreit mich an: ›Haben schielt deshalb immer mit einem Auge zur AfD spricht: »Hasskommentare im Inter-
Sie ein Problem?!‹« Basis. Jede Rede ist auch eine Botschaft net, widerliche Anrufe und E-Mails, wo
»Nase an Nase«, das sind deutlich weni- an die eigenen Leute. einem eine Vergewaltigung gewünscht
ger als 66,5 Zentimeter. »Noch ein Wort, Durch die neuen Medien ist dieser wird. Und wenn einem dann Familie und
und ich hätte eine ins Gesicht bekommen, Kontakt direkter, schneller, manipulativer. Freunde sagen, dass sie sich um mich Sor-
55
Immer wenn es um Gender oder Ähnli-
ches geht, spüre sie Häme und Verachtung,
sagt Roth: »Da hockt diese Masse Mann,
raunt vor sich hin und klopft sich auf die
Schenkel.« Als das später im Ältestenrat
zur Sprache gebracht wurde, fragte Wolf-
gang Schäuble, der Bundestagspräsident,
nach konkreten Vorfällen. Mit nur gefühl-
ter Aggression könne er nichts anfangen.
Schäuble sitzt seit 1972 im Bundestag.
Er kommt aus einer Zeit, als der Kanzler
Willy Brandt hieß und in der Union Alfred
Dregger und Franz Josef Strauß den natio-
nal-reaktionären Flügel bespielten. Als
Danke, Conni
Auto, die wir einlegten, wenn lange Fahrten mühsam zu wer-
den drohten. Wenn Conni etwas Lobenswertes tat oder sagte,
johlten meine Kinder. Wenn Connis Mutter sprach, sanft, ge-
duldig erklärend, dann äfften meine Kinder ihren Tonfall
nach.
Homestory Kinderbücher, klagen Erwachsene, Fein, Conni, das hast du prima gemacht.
bestätigen häufig Klischees. Ist das schlimm? Danke, Conni, dass du daran gedacht hast.
Die Kassette war der ideale Streitschlichter – es gab kaum
etwas, das unsere Kinder mehr vereinte als die Abneigung
Automobilindustrie
Verkehr der Schuldenstand der Bahn auf mehr als unternehmen Arriva verkaufen. Für diesen
Bahn will eine Milliarde 20 Milliarden Euro anwachsen und somit Vorschlag zeichnet sich im Kontroll-
jene rote Linie überschreiten, die die gremium eine breite Zustimmung ab, ein-
neue Schulden machen Bundesregierung dem staatseigenen Unter- schließlich der im Aufsichtsrat sitzenden
nehmen vorgegeben hat. Auf der Bilanz- Parlamentarier der Großen Koalition. Dort
Der Vorstand der Deutschen Bahn will pressekonferenz am kommenden Donners- macht man sich jedoch Sorgen, ob die Plä-
einen weiteren Kredit in Höhe von einer tag will Bahn-Chef Richard Lutz einen ne von Lutz aufgehen. »Es gibt in dem
Milliarde Euro aufnehmen, um die Finan- ungedeckten Geldbedarf von 2,5 Milliar- Finanzierungsvorschlag keinen Plan B für
zierungslücke in der Bilanz zu schließen. den Euro in diesem und 4 Milliarden Euro den Fall, dass der Verkauf von Arriva schei-
Das geht aus einer Vorlage für die Auf- in den kommenden Jahren bekannt geben. tert«, sagt ein Aufsichtsratsmitglied. Im
sichtsratssitzung des Konzerns am kom- Um frisches Geld einzuspielen, will die schlimmsten Fall müsste der Staat als Bür-
menden Mittwoch hervor. Dadurch würde Bahn ihre Anteile am britischen Bahn- ge für weitere Kredite einspringen. BAZ, GT
59
Wirtschaft
W
ie tritt man an die Stelle eines
Gottes? Der »Economist«
stellte Apple-Gründer Steve
Jobs einmal als Heiland dar,
das »New York Magazine« bezeichnete
ihn als »iGod«. Und Tim Cook, sein Nach-
folger, wer ist Tim Cook?
Das ist auch nach acht Jahren, die Cook
nun im Amt ist, noch immer schwer zu sa-
gen. Ihn selbst kann man nicht fragen,
Apple hat eine Interviewanfrage abge-
lehnt, ebenso wie die Bitten um Gespräche
mit diversen anderen Apple-Größen. Aber
Cook wird ohnehin meist dadurch defi-
niert, wer oder was er alles nicht ist.
Er ist kein Visionär, wie Jobs einer war.
Er ist kein Zauberer, kein Schöpfer neuer
Welten. Er hat die Firma nicht zu neuen
innovativen Höhenflügen geführt. Er hat
nur wenig Humor und kaum Charisma. Er
hat kein großes Ego. Er ist sicher nicht »der
Philosoph des 21. Jahrhunderts«, wie eine
SPIEGEL-Titelgeschichte vor bald zehn
Jahren den Mann nannte, der ihn ein-
gestellt hatte: Jobs. Überhaupt, er ist ein-
fach nicht Steve Jobs, und das wollen ihm
viele noch immer nicht verzeihen. Er heißt
auch nicht »Tim Apple«, obwohl Donald
Trump ihn bekanntlich vor Kurzem so
nannte. Er ist kein Vater. Und er hat, so-
weit man weiß, keinen Lebenspartner, er
hat ohnehin so gut wie kein Privatleben.
Wie kann dieser Mann ohne Eigenschaf-
ten Chef des vielleicht erfolgreichsten Un-
ternehmens in der Geschichte des moder-
nen Kapitalismus sein?
Klar ist, dass Tim Cook und Apple in
den vergangenen Monaten so viel schlech-
te Presse bekommen haben wie wohl noch
nie seit 1996, als Jobs zwischendurch eine
andere Firma, Pixar, leitete und der Kon-
zern nah am Konkurs stand. Klar ist, dass
die iPhone-Verkäufe, die fast zwei Drittel
des Apple-Umsatzes ausmachen, im letz-
ten Quartal wesentlich bescheidener aus-
fielen, als die Firma erhofft hatte (China-
geschäft schlecht, Indien schwach). Klar Klar ist, dass Apple nächste Woche, am Wie wenig man weiß über einen der
ist, dass Apple schon lange keine wahnsin- 25. März, an seinem Hauptsitz in Cuper- mächtigsten Manager der Welt und wie
nig großartige (»insanely great« – Steve tino mit Pomp etwas Neues, irgendwie groß die Wissbegierde ist, zeigt die Menge
Jobs’ berühmter Anspruch) Erfindung Großes vorstellen will, ein Streaming- und- der Tim-Cook-Fragen, die sich auf
mehr gemacht hat und dass die Apple-Be- Abo-Modell, mit dem Apple neue Einnah- Quora.com finden, einer Fragen-und-Ant-
obachter mit wachsender Ungeduld auf mequellen erschließen und unabhängiger worten-Seite von allen für alle.
das nächste Wunder warten (die AirPods von den Hardware-Verkäufen werden will
zählen für die Apple-Jünger nicht, die (siehe Kasten). Wird Apple, wird Cook Wie viele Stunden Schlaf kriegt Tim Cook?
Apple Watch auch nicht, noch nicht). endlich ein neues Kapitel aufschlagen? Wie ist es, mit Tim Cook zu arbeiten?
60
Warum wird Tim Cook ignoriert und un- sische Tastatur besaß). »Warum Apple dem te, dass er sie bald entwickeln würde.
terschätzt? Ist Tim Cook tot? Untergang geweiht ist«, legte 2011 die Kommt das je wieder?
Die letzte Frage kann man immerhin »Huffington Post« dar. 2017 sah ein Analyst Einer, der das wissen könnte, ist Lean-
zweifelsfrei verneinen. Viele halten ihn und Apple vor einer »jahrzehntelangen Malai- der Kahney.
seinen Konzern aber in jüngster Zeit für se« stehen, denn »die Risiken für die Firma Nicht nur hat der Brite, 53, der seit Jahr-
angeschlagen. Nach dem monatelangen waren nie größer«. Im Herbst vergangenen zehnten in San Francisco lebt, gerade eine
Kursrutsch und der Umsatzwarnung im Ja- Jahres sorgte sich der TV-Sender CNBC Tim-Cook-Biografie geschrieben, die bald
nuar ist wieder »Peak Apple« in der Presse, um eine voranschreitende »Apple-Schmel- erscheinen wird*. Kahney ist auch Grün-
bei Analysten, bei Experten. Und das ist ze« und fragte: »Verliert der Markt den der und Chef des Apple-Blogs »Cult of
gleichbedeutend mit: Peak Cook. Peak, Tech-Giganten?« Für das deutsche »Mana- Mac«. »Die These, dass Cook scheitern
Spitze, der Punkt, von dem aus es bergab ger Magazin« (das zum SPIEGEL-Verlag wird, dass Apple vor dem Untergang steht,
wird niemals verschwinden«, sagt Kahney.
Früher, als Kahney noch Redakteur beim
Tech-Magazin »Wired« war, habe er alle
Konzernchef Cook vor Porträt des paar Wochen von Autoren Vorschläge für
Firmengründers Jobs Apple-Abgesänge jedweder Art erhalten.
»Und das gab es eigentlich nur bei Apple.
Niemand wollte Microsoft, Google oder
IBM beerdigen.«
Woher rührt diese morbide Lust aufs
Apple-Requiem? Zu einer Antwort führt
vielleicht ein altes Buch von Kahney aus
den Nullerjahren (2004), das ebenfalls
»The Cult of Mac« heißt und in seinem
Büro herumliegt. Es enthält viele Fotos,
und wer es betrachtet, spürt, dass Apple
tatsächlich nicht mehr ist, was es damals
war: Kult. Spürt, dass die Apple-Toten-
gräber von heute vielleicht vor allem ent-
täuschte Verliebte von damals sind.
Man sieht hier Bilder von Menschen,
die sich das Apple-Logo ins Kopfhaar ra-
siert haben oder es als Tattoo auf dem Hin-
tern tragen. Man erfährt von einem
Songwriter, der Hymnen auf den Macin-
tosh singt. Man liest kryptoerotische Er-
fahrungsberichte von Menschen, die ihre
Freude beim langsamen Auspacken ihres
Macintosh beschreiben. Es ist eine Art
Apple-Kamasutra. Apple-Produkte, da-
mals, wurden nicht bedient, sie wurden
gestreichelt. Wenn man sich Apple und
den damaligen Apple-Käufer als ein Lie-
bespaar vorstellt, dann waren das die wil-
den Jahre, die Neunziger, die Nuller. Heute
muss man wohl sagen: Herzflattern vorbei.
Aber es ist womöglich eine ziemlich stabile
Ehe daraus geworden.
Kahney hat eine einfache Formel für die
Reifung des Apfels von Jobs zu Cook:
»Jobs war vor allem kulturell erfolgreich.
MARCIO JOSE SANCHEZ / AP
MEGA
lerdings medial extrem präsent war. Die
gewaltige Aufmerksamkeit, die Apple-Pro-
dukten zuteilwurde, stand bis vor ein paar
Jahren im Missverhältnis zu ihrer Verbrei-
tung. Genau spiegelbildlich war es immer
bei Microsoft: riesige globale Präsenz, kei-
MEGA
gut 1000 Prozent zugelegt. Cook hat Ap-
ple so groß gemacht, dass die Marke Main-
stream wurde. Omnipräsent. Gewöhnlich.
Und das ertragen viele nicht, für die Apple anwesen anderer Silicon-Valley-Größen ist loses Müsli mit ungesüßter Mandelmilch.
früher aufregend war, anders, neu, exklu- das eine bescheidene Hütte. Dann, um fünf, geht er ins Fitnesscenter.
siv. Denn was überall ist, ist immer auch Es ist Mittagszeit, also ist Cook eh nicht Cook hat, laut »Fortune«, außer Fitness,
ein bisschen langweilig. zu Hause. Er ist, wie man liest, ohnehin Radeln und der Footballmannschaft seiner
Wenn Cook ein Genie ist, dann ein Ge- selten da, eigentlich nur zum Schlafen, Uni (Auburn Tigers), keine Hobbys. Dann
nie der Langeweile. und auch dabei kommt er mit wenig aus. fährt er ins Büro, oder er wird gefahren.
Der Cook-Kenner und leitende Redakteur Um diese Uhrzeit ist sogar das notorisch
Kann Tim Cook programmieren? Hat des »Fortune«-Magazins Adam Lashinsky verstopfte Silicon Valley noch staufrei und
Steve Jobs Tim Cook je runtergemacht? Wo schrieb, Cook sei dafür bekannt, »als Cook in rund 20 Minuten beim Apple
wohnt Tim Cook? Erster im Büro zu sein und als Letzter zu Park.
Ein paar Straßen vom Ortskern Palo Al- gehen«, eine bemerkenswerte Leistung Wie bewegt sich einer wie Cook durch
tos entfernt liegt ein kleines Haus, vor dem bei gut 10 000 Mitarbeitern im Apple- die Welt? Zu Hause mag er mit dem Moun-
ein großer Baum sehr schräg in den Him- Hauptquartier. Er steht, laut »USA tainbike über die Hügel fahren oder zu
mel wächst. Kein Apfelbaum. Man kann Today«, üblicherweise um Viertel vor vier Fuß zum Fitnessstudio laufen, aber geflo-
sich schwer vorstellen, dass hier der Apple- auf (richtig: 3.45 Uhr). Einmal, als er 2015 gen wird per Privatjet, denn Flüge mit Li-
CEO wohnen soll; ist aber angeblich so. die Apple Watch der Öffentlichkeit vor- nienmaschinen, auch private, hat ihm der
Schlendert man auf dem Bürgersteig dran stellte, schrieb Cook auf Twitter, er habe Vorstand 2017 untersagt. Cooks Verdienst
vorbei, kann man in Tim Cooks Vorgarten sich vor diesem Event etwas mehr Ruhe zuletzt: 15,6 Millionen Dollar. Cooks Ver-
gucken, falls man die paar Quadratmeter als üblich gegönnt und »ausgeschlafen bis mögen: 625 Millionen (laut »Time«).
so nennen will, und, wären die Jalousien halb fünf«.
nicht unten, vielleicht in seine Küche. Die Danach liest er sich, laut »Business Warum benutzt Tim Cook Dropbox? Ist
Nachbargebäude rücken dem Häuschen Insider«, durch die ersten seiner 700 bis Apple unter Tim Cook im Niedergang? Wie
dicht auf den Leib, es gibt keinen hohen 800 täglichen E-Mails und schreibt Direk- sieht Tim Cooks Büro aus?
Zaun, keine Mauern, keine lange Auffahrt, tiven an Untergebene. Laut »New York Ti- Cooks Büro befindet sich im Apple Park
schon gar keine Bodyguards. Gemessen an mes« mag er zum Frühstück gern Rührei am 1 Apple Park Way, Cupertino. Fotos von
den in privaten Parks versteckten Luxus- (ohne Eigelb), Truthahnspeck und zucker- Robert Kennedy und Martin Luther King
zieren den Raum. Ein berühmtes King-Zitat Cooks Vorgänger wurden und werden Der Franzose, 75, der einen viel beach-
steht in Cooks Twitter-Profil: »Die hartnä- die allerhöchsten Meriten zugeschrieben, teten Apple-Newsletter schreibt (»Monday
ckigste und dringlichste Frage im Leben ist nicht weniger als vier Industrien stellte er Note«), war mal ein führender Manager
diese: Was tust du für andere?« Eröffnet auf den Kopf: die Computerindustrie (mit der Firma. In der frühen Apple-Historie hat
2017, ist das neue Apple-Headquarter der dem Macintosh), die Musikindustrie er den undankbaren Part des Königsmör-
Glas und Stahl gewordene Ausdruck des Be- (durch iTunes Store und iPod), die Filmin- ders inne, weil er nicht nur entscheidend
deutungsdrangs einer Weltfirma. Ein ring- dustrie (durch Pixar und die Computerani- daran beteiligt war, dass Steve Jobs die Fir-
förmiges Gebäude von fast einem halben mation), die Telekommunikation (durch ma 1985 verlassen musste, sondern danach
Kilometer Durchmesser, im Inneren des das iPhone). Und was ist Cooks meistzi- auch dessen Aufgabe als Entwicklungschef
Rings ein Park von zwölf Hektar. So oft wie tiertes Verdienst? Die Optimierung der übernahm. Als Jobs 1997 wiederkam, war
unvermeidlich wird der Bau als Raumschiff Lieferkette. Die logistische Disziplin. Die Gassée nicht mehr dabei. Aber das Thema
bezeichnet. Auf Google Maps, aus der Luft globalen Produktionsabläufe. Hochgradig Apple hat ihn nie losgelassen.
betrachtet, sieht er aus wie ein Kornkreis, langweiliges Zeug. Leid tue ihm Cook deshalb, sagt Gassée,
von Aliens in die Landschaft gelasert. Oder Aber ungeheuer schwierig und furcht- weil die Jobs-Cook-Vergleiche offenbar
wie das Steuerrad eines gewaltigen iPods. bar wichtig. Was nützt die wunderbarste niemals aufhörten. Er bewundere den Stoi-
Die Zentrale duckt sich ins Gelände, ist Innovation, wenn sie nicht lieferbar ist? zismus, mit dem der Mann das seit Jahren
gleichzeitig riesig und unsichtbar, uneinseh- Als Cook vor 20 Jahren anfing bei Apple, aushalte. Vermutlich rührten Cooks Un-
bar. Mächtig und unnahbar. war die Firma arm, aber sexy; er sorgte verletzlichkeit und Disziplin von seiner
Fühlt sich Cook wohl in dem Ding? Er- dafür, dass sie sexy und reich zugleich wer- Herkunft. »Wer als schwuler junger Mann
dacht hat das Mutterschiff in seinen letzten den konnte. Heute mag Apple nicht mehr in Alabama aufwächst, geht entweder un-
Lebensjahren noch Steve Jobs, und Jobs ganz so sexy sein, dafür ist der Konzern ter oder entwickelt ein dickes Fell«, sagt
hat den Großbaumeister Norman Foster unvorstellbar reich. 249 Milliarden Dollar Gassée. Interessanter als die Frage aber,
ausgewählt, um es zu zeichnen. Cook sitzt Cash-Reserven hat CEO Cook in der Kas- wie Cook das Jobs-Erbe verwalte, findet
in einem Nest, das der Übervater ersonnen se, dreimal so viel wie zur Zeit seines er diese: »Wie würde ein Steve Jobs mit
hat, und so war es eigentlich immer: Tim Amtsantritts. Das ist mehr, als die Deut- der heutigen Größe von Apple zurecht-
ist der Typ, der Steves Firma führt. sche Bundesbank an Währungsreserven kommen? Könnte er das?«
Überliefert sind Anekdoten einer loya- vorweisen kann (202 Milliarden). In man- Gassée trifft sich regelmäßig mit alten
len Gefolgschaft. Nachdem Cook, gelern- chen Jahren verfügte Apple über mehr Apple-Freunden zum Essen, um infor-
ter Ingenieur, der seine Karriere bei IBM Bares als Amazon, Google/Alphabet und miert zu bleiben. Das ist eine eigene Exis-
begonnen hatte, erst ein halbes Jahr beim Microsoft zusammen. tenzform hier im Silicon Valley, Ex-hohes-
Rivalen Compaq angestellt war, verließ Tier verkehrt mit Ex-hohen-Tieren und
er 1998 den damaligen PC-Marktführer Welche Energieriegel isst Tim Cook gern? schreibt Expertisen. Monsieur Gassée ist,
abrupt wieder, weil Jobs ihn bei einem Hat Tim Cook Leibwächter? Wäre Steve was Apple betrifft, nicht im Mindesten
Treffen überzeugt hatte, seiner straucheln- Jobs heute stolz auf Tim Cook?
den Firma beizutreten (»Ich schaute auf »Tim tut mir leid«, sagt Jean-Louis
all die Probleme, die Apple hatte, und Gassée. Von Cooks Haus in Palo Alto sind Erst sexy, 1121
dachte, dass ich beitrage, sie zu lösen, dass es nur ein paar Schritte zum Restaurant dann reich
das ein Privileg sei, und plötzlich dachte Il Fornaio, einem Italiener, der früher Apples Börsenwert,
ich, ich mach das, ich tu’s«). Als er Jobs, mal chic war. Dort sitzt der Ex-Apple- in Milliarden Dollar
der sich von einem Eingriff nach einer Mann Gassée und saugt seinen Milch- 1000
Krebserkrankung (Bauchspeicheldrüse) kaffee durch einen Strohhalm, macht
erholte, interimistisch als CEO vertrat und er offenbar immer so, der Kellner hat Apple CEO
Gerüchte aufkamen, er werde ihm bald ihm, Stammgast seit Langem, das Glas Q Steve Jobs
nachfolgen, bezeichnete Cook Jobs als samt Halm unbestellt an den Tisch ge- Q Tim Cook 887
»unersetzlich«: »Ich sehe Steve hier noch bracht.
in seinen Siebzigern, mit grauem Haar,
wenn ich schon lange im Ruhestand bin.« 2019
Und 2009, als bei Jobs der Krebs zurück- Vermutlich
kehrte, offerierte Cook ihm Teile seiner wird Apple einen
Streamingdienst
Leber für eine Transplantation (Jobs lehn-
ankündigen.
te ab). 600
2016
AirPods:
Kabellose
Ohrstöpsel 2017
Das iPhone bekommt zu seinem
349 zehnjährigen Jubiläum den Zusatz X. 400
beunruhigt. »Man braucht nur alle zehn Umsatz ein. Services sind mittlerweile der aktion mit. Zuletzt zählte Apple 360 Mil-
Jahre eine große Innovation.« Das iPhone zweitgrößte Umsatzbringer nach dem lionen Bezahl-Abos für seine verschiede-
ist allerdings schon mehr als zehn Jahre iPhone und zuletzt mit einer Bruttomarge nen Dienste – deutlich mehr, als Amazon
her. Ist das neue Abo, das Apple vorstellen von 63 Prozent: extrem lukrativ. »Dienst- Prime-Mitglieder aufweist. Die Services
wird, das nächste große Ding? Ist der leistungen« also, puh. Das klingt fast noch sind das unsichtbare Netz, das die Apple-
Schritt weg von der Hardware Richtung langweiliger als »Lieferkette« – und ist da- Hardwareprodukte miteinander verbindet,
Dienstleistungen die nächste Evolutions- mit klassisches Tim-Cook-Territorium. das die Apple-Menschen unmerklich um-
stufe für Apple? Und das soll Apples neues Zugpferd sein, garnt. »Die Services«, sagt Jean-Louis Gas-
Auch Tim Cook hat in jüngster Zeit um unabhängiger vom gesättigten Mobil- sée, »machen es für den Kunden schwer,
mehrfach von den Services gesprochen, telefonmarkt zu werden? Wie verdient Apple je wieder zu verlassen.«
hat die neuen Rekordergebnisse der ein- Apple überhaupt Geld damit?
zelnen Angebote betont: Dienstleistungen, Im iTunes-Store kauft oder mietet der Wann wacht Tim Cook auf? Was war Tim
meinte er, seien »ein anderer Weg, um die Apple-Mensch Musik, Filme, Podcasts. Im Cooks größter Fehler? Haben die iPhone-
Firma zum Wachsen zu bringen«. App-Store ersteht er Apps, und an man- Verkäufe zugenommen seit Tim Cook?
chen verdient Apple mit. Bei Apple Books Ja. Sehr. Als Cook begann, gab es nach
Wenn Steve Jobs heute wiederauferstehen gibt es digitale Bücher für iOS-Geräte und Schätzungen 200 Millionen iPhones auf
würde, würde er Tim Cook entlassen? Wa- Macs. Apple Music ist Apples Spotify-Kon- der Welt. Ende Januar meldete Apple, dass
rum ist Tim Cook kein Milliardär? Welche kurrent, kostet knapp zehn Euro im Monat weltweit »1,4 Milliarden Apple-Geräte im
Apple-Produkte benutzt Tim Cook? und hat laut Apple weltweit mehr als aktiven Einsatz« sind. 900 Millionen da-
Apple, das war eigentlich immer Hard- 50 Millionen Abonnenten. iCloud, die Da- von sind iPhones, 100 Millionen sind Mac-
ware. Schöne Dinge, zum Anfassen, zum tenspeicherwolke für Mails, Fotos, Kon- Rechner, 400 Millionen sind iPads, iPods,
Mitnehmen, zum Spielen. Dass der Kon- takte, Dokumente, ist bis fünf Gigabyte Smartwatches und Apple-TV-Boxen. Weil
zern um seine Produkte herum schon früh gratis, größer kostet. Mit Apple Care bietet viele Leute mehr als ein Apple-Gerät be-
eine ganze Reihe von Softwaredienstleis- Apple Rundum-Support für die eigenen sitzen, aber wenige mehr als ein iPhone,
tungen aufgebaut hat – daran denkt man Hardwareprodukte an. Und mit Apple Pay, darf man die Zahl der Apple-Menschen auf
erst mal nicht, wenn man an Apple denkt. seit ein paar Monaten auch in Deutschland eine gute Milliarde schätzen. Eine Milliarde
Doch die »Services«, so heißt der Ge- im Einsatz, kann der Apple-Mensch bar- – das ist also die ungefähre Zahl der Be-
schäftsbereich, brachten Apple im vergan- geldlos bezahlen, per iPhone oder Apple wohner des Apple-Ökosystems. Rund ein
genen Geschäftsjahr 37 Milliarden Dollar Watch, und Apple verdient bei jeder Trans- Siebtel der Weltbevölkerung.
Abo-Angebote Apple plant offenbar, einen eigenen Streamingdienst licherweise am Montag gemeinsam mit
Apple-Chef Tim Cook auf der Bühne
anzubieten, der Fernsehen, Musik und Presse bündelt.
stehen und ihre Produktionen vorstellen.
64
Und es scheint, als wäre es Cook wich-
tiger, dieses Ökosystem zu pflegen und ein-
zuhegen, als es zu vergrößern. Die neuen
Film-, Musik- und News-Angebote, die
Apple jetzt als Abo vorstellen soll, dienen
dazu, die Apple-Weltbevölkerung zu un-
terhalten, das Services-Geschäft zu befeu-
ern. 2020 soll der Umsatz allein mit Ser-
vices laut Apple rund 50 Milliarden Dollar
erreichen. Katy Huberty, bekannte Apple-
Analystin, rechnet bis 2023 mit 100 Milliar-
den Dollar Services-Einnahmen. Dienst-
leistungen: langweilig, aber einträglich.
Ein anderes Zahlen-und-Gedanken-Ex-
periment macht der Apple-Experte Horace
Dediu. Sein Handgelenk-mal-Pi-Argument
geht so: Weil der Apple-Mensch sich durch-
HGM-PRESS
schnittlich etwa alle drei Jahre ein neues
iPhone für etwa 700 Dollar und alle fünf
bis sechs Jahre einen doppelt so teuren Mac Apple-Chef Cook in Florenz 2018: Genie der Langeweile
kauft, zahlt er Apple quasi einen Dollar pro
Tag. »So gesehen«, sagt Dediu, »braucht
Tim Cook sich keine Sorgen zu machen, Jobs mied den Anlass nach Möglichkeit. weise miserable Arbeitsbedingungen bei
wie viele Handys er im Weihnachtsgeschäft Kritische Fragen kommen so gut wie gar seinen Zulieferern in China und für krea-
verkauft oder ob das iPhone X ein Renner nicht. Niemand spricht von iPhone-Flaute, tive Steuermanöver. CEO Cook musste
ist oder nicht.« Es geht nur darum, dass die niemand fragt nach Wachstumsaussichten. sich deswegen schon vor einem Senatsaus-
Apple-Menschen ihre Apple-Geräte ver- Es will auch keiner wissen, ob Apple bald schuss in Washington verteidigen, in
lässlich durch neue ersetzen. Und das tun ein Falthandy vorstellen wird, wie Sam- Europa leistete Apple eine von der EU-
sie bisher mit großer Treue. »Bei 1,4 Mil- sung das bereits getan hat. Keinen interes- Kommission festgesetzte Steuernachzah-
liarden aktiven Geräten sind Apples Ein- siert, ob Apple mit seinen Bemühungen lung in Höhe von 13 Milliarden Euro.
nahmen nur für die Hardware 1,4 Mil- um ein selbstfahrendes Auto vorankommt Seltsamerweise wirkt Cook dennoch
liarden Dollar am Tag«, sagt Dediu. (»Project Titan«) und wann endlich die glaubwürdig bei seinem Engagement, was
Wachstum durch Stillstand – Apple kann Augmented-Reality-Brille zu kaufen ist. damit zu tun haben mag, dass diverse Tech-
sich das leisten. Das alte Missverständnis Ein älterer Herr fragt Tim Cook, ob sich Führer um ihn herum – Mark Zuckerberg
derer, die Apple Innovationsmüdigkeit vor- Videos von seinem alten iPad auf ein neues von Facebook, Jeff Bezos von Amazon, Elon
werfen, ist dieses: Apple ist nicht primär überspielen lassen, wenn ja, würde er sich Musk von Tesla, Jack Dorsey von Twitter –
ein Erfinderlabor, eher ist es eine Besse- nämlich eins zulegen. »Ich fände es super, seit einiger Zeit von Skandal zu Skandal
rungsanstalt. Eine Perfektionsmaschine. wenn Sie sich eins kaufen würden«, ant- straucheln und die Herren der Digitalwirt-
Apple hat das eigentliche Kreieren meist wortet Cook. Der Saal lacht höflich, Tim schaft gerade aussehen wie die apokalypti-
anderen überlassen und erst spät in Märkte Cook hat einen Scherz gemacht. Später schen Reiter. Dass Zuckerberg noch vor zwei
eingegriffen, um sie danach zu dominieren. wird er mit 99,1 Prozent wiedergewählt. Jahren für einen möglichen US-Präsident-
Apple hat nicht den ersten Desktop-Com- Kommunistische Verhältnisse im Herzen schaftskandidaten gehalten wurde, klingt
puter erschaffen, aber den ersten guten und das Kapitalismus. heute wie ein Witz. Würde Cook je Ambi-
schönen. Apple hat auch nicht das erste In den vergangenen Jahren hat Tim tionen auf das höchste politische Amt ent-
Smartphone gebaut, nicht den ersten Ta- Cook, Chef des mal wertvollsten, mal zweit- wickeln (was er bisher nicht tut), Applaus
bletcomputer und nicht die erste Smart- wertvollsten Unternehmens der Welt, einen wäre ihm gewiss. Die Sehnsucht nach einer
watch. Auch kabellose Kopfhörer gab es erstaunlichen Nebenjob für sich gefunden, moralischen Instanz im krisenversehrten Si-
schon lange bevor Apple mit den AirPods hat sich eine neue Rolle gegeben: die des licon Valley ist groß.
kam. Die erste smarte Datenbrille kam von guten Menschen von Cupertino. Bei Auf-
Google im Jahr 2014 auf den Markt, und sie tritten spricht er mittlerweile mindestens so Ist Tim Cook ein Heuchler? Wie lautet die
floppte, Apple entwickelt auch eine, ist aber gern von Klimaschutz, Bildung, Menschen- E-Mail-Adresse von Tim Cook?
auch fünf Jahre später noch nicht so weit. rechten, Gender-Gerechtigkeit, Datensi- So: [email protected]. Wie Steve Jobs
cherheit, Diversity und Toleranz wie von vor ihm beantwortet auch Cook ab und
Ist Tim Cook ein guter Tänzer? Was für Geschäftlichem. Bei einer viel beachteten zu E-Mails von Kunden persönlich. Es gibt
Hemden trägt Tim Cook? Rede in Brüssel im letzten Oktober beklagte die Anekdote eines Bloggers, der Tim
Bei der Apple-Hauptversammlung sit- Cook den »datenindustriellen Komplex« Cook den Ratschlag gab, er solle nicht
zen Anfang März dieses Jahres rund 200 und die »Überwachung« durch Unterneh- Steve Jobs sein. Er soll Tim Cook sein.
Kleinaktionäre im Halbdunkel des Steve men, und es war klar, dass er vor allem die Cook antwortete: »Keine Sorge. Das ist
Jobs Theater im Apple Park. In der ersten Kollegen von Facebook und Google meinte. die einzige Person, die ich sein kann.«
Reihe haben sich Apple-Manager sowie Seine Homosexualität machte Cook 2014 Helene Laube, Guido Mingels
der frühere US-Vizepräsident Al Gore und mit einem persönlichen Essay öffentlich,
die anderen Mitglieder des Aufsichtsrats und er benutzte dabei große Worte. »Ich
platziert. Tim Cook steht auf der Bühne bin stolz darauf, schwul zu sein, und ich Animation
Die größten
und versucht sich an einem Lächeln. glaube, dass Schwulsein zu den größten Ga- Flops
»Ich liebe diese Versammlung«, sagt er. ben gehört, die Gott mir gegeben hat.« spiegel.de/sp132019apple
Schon zu Steve Jobs’ Zeiten war das seine Ein Wirtschaftsführer als Kämpfer für oder in der App DER SPIEGEL
Aufgabe, der Kontakt zu den Aktionären, das Gute? Apple ist auch bekannt für teil-
Lieber
allein
Finanzindustrie Ausgerechnet
Deutsche-Bank-Chef Christian
Sewing könnte der Gewinner
sein, wenn die Fusionsgespräche
mit der Commerzbank scheitern.
D
as Leben sei immer lebensgefährlich, sagt Werner Entsprechend aufgebracht ist die Stimmung unter den
Baumann gern flapsig, und wer wollte ihm da wi- Aktionären. Ihre Wut und ihr Frust dürften sich in gut vier
dersprechen. Risiken gehören zum Leben auch eines Wochen in Bonn entladen. Dann steht die turnusmäßige
Vorstandsvorsitzenden. Aber es zählt auch zu des- Hauptversammlung der Bayer AG an.
sen Aufgaben, nicht sehenden Auges Risiken einzugehen, die Sie könnte zu einem Tribunal für Baumann und dessen
die Existenz des gesamten Unternehmens gefährden. Ziehvater Werner Wenning werden. Der Aufsichtsrats-
Genau ein solches Risiko aber war die Übernahme des vorsitzende gilt als Architekt der Bayer-Konzernstruktur, er
amerikanischen Glyphosat-Herstellers Monsanto, wie sich trieb den Deal mit Monsanto voran und verteidigt ihn bis
am Dienstag dieser Woche einmal mehr zeigte. Da befand heute.
eine Jury des Bundesbezirksgerichts in San Francisco, dass Kritische Aktionäre, Schutzvereinigungen, Kleinaktionäre
Monsantos glyphosathaltiges Unkrautvernichtungsmittel und Banken arbeiten derzeit an Gegenanträgen und Einsprü-
Roundup erheblich zur Krebserkrankung des Klägers Edwin chen zur Tagesordnung. Die ersten sind bei Bayer schon ein-
Hardeman beigetragen habe. Es war nicht das erste für Bayer gegangen, sie lassen auf eine turbulente Hauptversammlung
desaströse Urteil in Sachen Glyphosat, aber das erste, in schließen. Denn im Kern laufen die Forderungen darauf
dem Bayer und nicht Monsanto die hinaus, Vorstand und Aufsichtsrat
Verteidigung steuerte, und deshalb nicht aus der Verantwortung zu ent-
schmerzt diese Niederlage besonders. 7. Juni 2018 lassen.
Sie zerstört die Hoffnung der Kon- Bayer übernimmt Es dränge sich die Frage auf,
zernoberen, dass es ihren Juristen, die Monsanto schreibt etwa Christian Strenger,
sich im Pharmageschäft schon oft 98,70 € Experte für gute Unternehmens-
gegen Massenklagen wehren mussten, 10. August führung, in seiner Eingabe an Bayer,
Erstes Glyphosat-
besser gelingen würde, die Vorwürfe Verfahren in ob der »Abschlussdrang« des Vorstan-
der Kläger zu widerlegen. den USA des so groß gewesen sei, dass Bau-
Im ersten Verfahren hatten dies die mann mit seiner Aufgabe »unverein-
Monsanto-Anwälte vergebens ver- 20. März 2019
bare Risiken« eingegangen sei. Die
sucht. Damals, im August 2018, hatte Zweiter Glyphosat- Kritiker bezweifeln, dass der Vor-
ein Gericht einem Kläger 39 Millio- Prozess stand die Monsanto-Geschäftszahlen,
nen Dollar Schadensersatz zuge- die Wachstumsprognosen, vor allem
sprochen und Monsanto zu weiteren aber die Rechtsrisiken mit aller Sorg-
250 Millionen Dollar Strafe verurteilt. Aktienkurs falt geprüft hat.
Die zweite Instanz reduzierte zwar 21. März Wurden, so fragen sie, die damals
die Strafe auf 39 Millionen, bestätigte 61,28 € bereits bekannten Klagen und Ver-
Quelle: Thomson Reuters Datastream
aber die Schuld Monsantos an der dachtsmomente über die Gesund-
Krebserkrankung des Klägers. heitsrisiken beim Einsatz von Glypho-
Denn darum ging und geht es in all den Klagen, über 11 000 sat bewusst kleingeredet, um den in Deutschland und Europa
sind es inzwischen: Ist Glyphosat krebserregend? Und, ohnehin umstrittenen Deal und den exorbitanten Kaufpreis
schlimmer noch: Hat Monsanto dies gewusst und vertuscht? von 63 Milliarden Dollar zu rechtfertigen? Aktionäre wie
Über diese Frage muss das Gericht im Fall Hardeman nun in Strenger wollen solche Fragen möglicherweise durch einen
einem zweiten Verfahren entscheiden. Und über die Höhe Sonderprüfer klären lassen.
des Schadensersatzes. Bislang weigern sich die Bayer-Manager, die Verantwor-
Zwei Verfahren, zwei Niederlagen. Noch gibt sich Bayer tung für das Desaster zu übernehmen. Sie hoffen, dass sich
überzeugt, dass die Urteile in den nächsten Instanzen auf- der Kauf von Monsanto langfristig als lohnende Investition
gehoben werden. Der Konzern will notfalls über Jahre hin- für den Konzern erweisen wird. Und sie beharren darauf,
weg Klage für Klage ausfechten und weist die Möglichkeit dass Dutzende Institute und Gutachten die Unbedenklichkeit
eines Vergleichs von sich. Bisher hat Bayer in seiner Bilanz von Glyphosat bescheinigt hätten. Doch ganz so eindeutig
nur 660 Millionen Euro für Rechtskosten, aber keinen Cent ist das nicht (siehe Seite 97), und selbst wenn es das wäre,
für mögliche Schadensersatzzahlungen zurückgestellt. würde es Baumann und Wenning kaum helfen. Die Gesell-
Die Finanzmärkte teilen die Zuversicht der Konzern- schaft hat sich längst ihre Meinung gebildet und lehnt den
führung nicht. Bayers Börsenwert ist seit der Monsanto-Über- Einsatz des Pestizids in weiten Teilen ab. Die Bayer-Führung
nahme um mehr als 30 Milliarden Euro gesunken, der Aktien- hat beides offenbar ignoriert, die juristischen Risiken und
kurs, der sich seit Anfang des Jahres wieder etwas berappelt den gesellschaftlichen Widerstand.
hatte, stürzte am Mittwoch nach dem Urteil zeitweise um Schon jetzt sind Baumann und Wenning schwer ange-
mehr als zehn Prozent ab. schlagen. Ihre Zukunft liegt in den Händen der US-Justiz.
Mit jedem weiteren Rückschlag wächst die Gefahr, dass Weitere Urteile, die den Klägern recht geben und Glyphosat
aktivistische Fonds Unternehmensanteile aufkaufen und den für deren Krebserkrankung verantwortlich machen, dürfte
Traditionskonzern zerschlagen, um seine Einzelteile mit zumindest Baumann kaum überstehen.
Gewinn zu verkaufen. Frank Dohmen, Armin Mahler
Thompson, 73, wurde nach dem Diesel- Werner: Der Dieselskandal hat das Unter- schlimm, dass VW erst die Dieselaffäre
skandal vom US-Justizministerium ent- nehmen durchgeschüttelt, er war ein Ka- durchmachen musste. Aber ich glaube, das
sandt, um Volkswagen bei der Aufarbei- talysator für den Wandel, auch wenn die Unternehmen hat den Schuss jetzt gehört.
tung zu überwachen. Werner, 52, VW- Kraftanstrengung gewaltig war und ist. SPIEGEL: Sie haben als Vizejustizminister
Vorstand für Recht und Integrität, soll die Drei Jahre später sind wir in einem weit- unter George W. Bush gearbeitet und da-
Konzernkultur erneuern. aus besseren Zustand als damals. Der Kon- mals die Ermittlungen gegen die beiden
zern ist heute dezentraler organisiert und US-Skandalkonzerne Enron und World-
SPIEGEL: Herr Thompson, warum braucht setzt voll auf E-Mobilität. com geleitet. Was haben Sie dort für Ihren
ein deutsches Unternehmen wie VW einen Thompson: Einer Sache bin ich mir sicher: Job bei VW gelernt?
amerikanischen Aufpasser? Einen zweiten Dieselskandal würde Volks- Thompson: Volkswagen ist anders als je-
Thompson: Weil der Konzern in den USA wagen nicht überleben. Das ist meine per- der US-Konzern, den ich bisher kennen-
schwerwiegende Rechtsverletzungen be- sönliche Meinung, aber ich denke, dass sie gelernt habe. Die Leute hier sind dem Un-
gangen hat. VW hat sich schuldig bekannt. von vielen Menschen im Unternehmen ge- ternehmen tief verbunden. Die meisten
Zur Einigung mit dem Justizministerium teilt wird. Und niemand möchte, dass VW Mitarbeiter haben mit dem Dieselskandal
im Strafverfahren gehörte, dass VW einen aufhört, Autos zu bauen. Es ist zwar absolut nichts zu tun. Trotzdem haben sich
Monitor akzeptiert. Ich bin aber kein Er- viele für das, was passiert ist, bei mir ent-
mittler. Es ist nicht mein Job, in die Vergan- schuldigt. Das hat mich beeindruckt.
genheit zu schauen, sondern nach vorn. SPIEGEL: Das ist der nette Teil. Und der
SPIEGEL: Was bedeutet das? negative?
Thompson: Wir müssen den Konzern so Thompson: Um einem Missverständnis
umbauen, dass kein zweiter Dieselskan- gleich vorzubeugen: Ich würde VW nie
dal geschehen kann. Die Ursachen der Teure Trickserei mit Enron vergleichen.
Affäre müssen beseitigt werden. VW Aufwendungen von VW SPIEGEL: Die jahrelangen Bilanzfäl-
braucht ein Ethik- und Compliance- für den Dieselskandal schungen bei Enron gelten als einer
Programm, das Betrug und Verstöße der größten Wirtschaftsskandale der
gegen Umweltgesetze verhindert US-Geschichte.
2015 bis 2017
und aufdeckt. Thompson: Wäre die Lage bei VW
SPIEGEL: Wie werden Sie von den
Mitarbeitern empfangen? 25,8 Mrd. € derart schlimm, hätte ich das Man-
dat niemals angenommen. Aber
Thompson: Ich war vor einigen Ta- etwas habe ich bei Enron gelernt: Es
gen in Ingolstadt und habe vor dem hängt vom Topmanagement ab, ob
Audi-Management gesprochen. Einer ein Unternehmen Schwierigkeiten be-
der Kollegen dort sagte mir: Wir schät- kommt oder nicht. Viele Führungskräf-
zen wirklich sehr, dass Sie hier sind. Aber te bei Enron wussten genau, dass etwas
wir freuen uns auch, wenn Sie wieder weg schiefläuft. Ihnen fehlte aber der Mut, ihre
sind. Bedenken im Topmanagement vorzutra-
SPIEGEL: Frau Werner, Sie sollen VW zu 2018 gen oder auch nur einen anonymen Hin-
Redlichkeit erziehen. Qua Amt müssten
Sie zu den unbeliebtesten Menschen im
3,2 Mrd. € weis zu geben. Man braucht also eine Kul-
tur, die Manager ermutigt, Bedenken und
Konzern gehören. Kein schöner Job, oder? Verstöße zu melden.
Werner: Als Vorstand für Recht und Inte- SPIEGEL: Soll heißen, eine solche Unter-
grität sehe ich meine Aufgabe nicht darin, nehmenskultur fehlte bisher bei VW?
möglichst beliebt zu sein, sondern die Mit- 2019 Werner: Ja, in den Jahren vor dem Diesel-
arbeiter davon zu überzeugen, dass dieser 2 Mrd. €* skandal gab es bei Teilen von VW offenbar
Weg alternativlos ist. Wir müssen die Art nicht genug professionelle Zivilcourage.
und Weise, wie wir hier arbeiten, positiv Es gab Leute, die den Konzern einem gro-
verändern. Das gefällt nicht jedem. Aber 2020 ßen Risiko ausgesetzt haben, aber mög-
es ist eine spannende Aufgabe. licherweise dachten, sie handelten im Sin-
1 Mrd. €* *Schätzung des
SPIEGEL: Was hat VW aus der Dieselaffäre Finanzvorstands ne des Unternehmens. Gleichzeitig gab es
gelernt? im Dezember 2018 Kollegen, die das anders bewerteten – und
68
kann man vergleichen mit Dopingtests im
Sport. Je besser die Messverfahren wer-
den, desto größer ist die Gefahr aufzuflie-
gen. Deshalb gibt es keine Alternative zu
Transparenz und Ehrlichkeit.
SPIEGEL: Herr Thompson, als Sie im Juni
2017 in Wolfsburg ankamen: Welchen Ein-
druck hatten Sie von der Kultur bei VW?
Thompson: Damals war das ganze Unter-
nehmen in einem Schockzustand. Es hatte
riesige Strafen in den USA zu zahlen und
eine Menge Ärger in Deutschland. Die Aus-
läufer des Skandals reichten bis nach Süd-
korea. Und dann wird ihnen noch ein Alien
wie ich aus den USA vor die Nase gesetzt.
SPIEGEL: Sie dürften sich umgekehrt ge-
wundert haben, in was für ein Unterneh-
men Sie geraten sind. VW hat eine kom-
plizierte Eigentümerstruktur, die Familien
Porsche und Piëch auf der einen Seite, das
Land Niedersachsen auf der anderen. Die
Gewerkschaften spielen eine große Rolle.
Glauben Sie, dass diese Struktur ein
Grund für den Dieselskandal ist?
Thompson: Eine komplizierte Struktur ist
keine Ausrede für eine inakzeptable Un-
ternehmenskultur. Ein Konzern, der global
Geschäfte macht, muss sich an die Regeln
halten, egal wo.
SPIEGEL: Vergangene Woche forderte VW-
Chef Diess seine Führungskräfte auf, nach
mehr Gewinn zu streben. Dafür verwen-
dete er die Worte »Ebit macht frei«. Viele
fühlten sich an die Nazi-Parole »Arbeit
macht frei« erinnert. Welchen Eindruck
hat der Ausspruch bei Ihnen hinterlassen?
Werner: Es tut mir sehr leid für die Men-
schen, die sich dadurch verletzt fühlten.
URBAN ZINTEL / DER SPIEGEL
SIERUNG
ren haben. Der Dieselantrieb wird gene- ist, sind noch nicht abgeschlossen. Wo es
rell infrage gestellt, außerdem gibt es Fahr- konkreten Anlass gibt, haben wir gehandelt.
verbote in Innenstädten. Dafür kann man Sie wissen auch, dass einige Mitarbeiter ih-
nicht VW allein verantwortlich machen. ren Job verloren haben. Einige von ihnen weh-
SPIEGEL: In den USA haben Sie den Kun- ren sich mit Kündigungsschutzklagen. Wir
den Milliarden an Entschädigungen be- befinden uns mit einer Reihe von Ex-Mitar-
zahlt. In Europa zahlen Sie nichts. Warum beitern in gerichtlichen Auseinandersetzun-
diese Doppelmoral? gen, auch mit Führungskräften. Hier müs-
Werner: Es geht hier nicht um Doppel- sen wir die Urteile der Gerichte abwarten.
moral, es geht um die Rechtslage. Die ist SPIEGEL: Herr Thompson, Sie haben in
in den USA anders als im Rest der Welt. Ihrer Zeit als Vizejustizminister dafür plä-
Selbstverständlich hat VW auch in Europa diert, dass Unternehmen beschuldigten
und Deutschland das Interesse seiner Kun- Mitarbeitern nicht die Anwälte bezahlen
den im Auge. Die Softwareprobleme in sollten. VW hat aber mehreren Beschul-
den Fahrzeugen wurden behoben. Es gab digten den Rechtsbeistand finanziert. Wie
zahlreiche Zusatzmaßnahmen, die auf bewerten Sie das?
dem Dieselgipfel beschlossen wurden, Thompson: Ich habe damals nur gesagt,
zum Beispiel Umtauschprämien. dass Firmen keinen Anwalt bezahlen dür-
SPIEGEL: Herr Thompson, in einem frü- fen, um einen Mitarbeiter von einer Aus-
heren Bericht haben Sie beklagt, VW zie- sage abzuhalten. Man lässt ja auch nicht
he zu wenig sichtbare Konsequenzen ge- zu, dass die Mafia die Beschuldigten aus
genüber Mitarbeitern, die für den Diesel- ihren eigenen Reihen über bezahlte An-
wälte zum Schweigen bringt. Also sollte
man es auch Unternehmen nicht erlauben.
Werner: Volkswagen kooperiert vollum-
»Unternehmen müssen fänglich mit den Staatsanwaltschaften, und
Gesetzesbrecher für ihr wir zahlen keine Schweigegelder.
SPIEGEL: In der zweiten Halbzeit Ihres
Fehlverhalten zur Mandats werden die Staatsanwälte wohl
Verantwortung ziehen.« Anklagen gegen Ex-Vorstände wie Martin
Winterkorn und Rupert Stadler erheben.
Auch gegen Vorstandschef Diess und Auf- Weitere Themen:
sichtsratschef Hans Dieter Pötsch laufen
skandal verantwortlich sind. Ist VW zu
nachsichtig mit seinen schwarzen Schafen?
Ermittlungsverfahren. Welchen Einfluss
könnte das auf Ihr Urteil über VW haben? CORPORATE IDENTITY
Thompson: Mein Bericht ist vertraulich,
aber für alle Unternehmen gilt: Sie müssen
Thompson: Die Ermittlungen und die
Rechte, die Beschuldigte in den USA und
So definieren Sie die Marke
Gesetzesbrecher für ihr Fehlverhalten zur Deutschland haben, bringen mich in eine Ihres Unternehmens
Verantwortung ziehen. Und sie müssen delikate Lage und machen meine Unter-
diese Maßnahmen transparent machen,
damit der Belegschaft klar ist: Es gibt Kon-
suchung nicht leichter. Ich hoffe dennoch,
dass wir in der geplanten Zeit die Unter-
AUGUST-WILHELM SCHEER
sequenzen – bis hin zur Kündigung. suchung abschließen können. Der IT-Pionier rettet
Werner: Wir haben dabei im vergangenen SPIEGEL: Ihr Mandat ist auf drei Jahre an-
Jahr große Fortschritte gemacht. Wir ha- gelegt. Reicht das?
sein Lebenswerk
ben unseren Mitarbeitern die Konsequen- Thompson: Für diese Zeit habe ich jeden-
zen schwerwiegender Regelverstöße vor falls unterschrieben. Ich werde also mein MOTIVATION
Augen geführt. Wer nicht nach den neuen Bestes geben, mich an diese Vorgabe zu
Regeln spielt, wird sanktioniert. Und wer halten. Aber VW ist ein großes und kom- Strategien gegen den
gegen Gesetze verstößt, hat bei uns im Un-
ternehmen keinen Platz.
plexes Unternehmen. Wir haben lange ge-
braucht, um überhaupt ein Grund-
inneren Schweinehund
SPIEGEL: VW hält aber immer noch an verständnis des Konzerns zu bekommen.
der Legende fest, die Dieselaffäre sei das SPIEGEL: Wann werden Sie entscheiden,
Werk einiger Ingenieure auf der unteren
und mittleren Hierarchieebene. Ist das
ob VW ein positives Zeugnis erhält?
Thompson: Wir haben einen ersten Zwischen-
! Auch als digitale Ausgabe erhältlich:
glaubwürdig, Herr Thompson? bericht erstellt, es wird ein zweiter folgen. harvardbusinessmanager.de
Thompson: Es reicht, sich alle öffentlich Dann werden wir zum Ende des Mandats
verfügbaren Informationen anzusehen, entscheiden, ob wir es hinbekommen – oder
um Hinweise zu bekommen, dass Top- ob wir in die Verlängerung gehen müssen.
manager in die Affäre involviert waren. SPIEGEL: Frau Werner, Herr Thompson,
Ich weiß nicht, ob das Unternehmen dazu wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
öffentlich eine andere Auffassung vertritt.
71
Wirtschaft
Vom Guru
Konzerne kopieren die Produkte. Ram- selbst eine würzige Zahnpasta entwickelte
devs Konterfei ziert Kioske vom Himalaja und die Preise senkte, erholte sich die Mar-
bis zur Südküste. ke wieder. Auch L’Oréal hat reagiert und
empfohlen
Der Guru gründete seine Firma 2006 bringt mittlerweile Ayurvedashampoos he-
gemeinsam mit Acharya Balkrishna. Der raus. Die Nachahmerstrategie hat Erfolg.
Partner firmiert als Besitzer, dem Guru ge- Im abgelaufenen Geschäftsjahr ist der Ge-
hört offiziell nichts. Ihre Produkte basie- winn von Patanjali zum ersten Mal seit
Konsum Der indische Yogi Baba ren auf traditioneller indischer Heilkunde, der Gründung geschrumpft.
Ramdev hat eine ob Seife oder Spülmittel. Viele Inder glau- Ramdev wird nachgesagt, Yoga in Indien
ben daran. Und nicht nur das: Indien ist wieder populär gemacht zu haben. Er steht
Milliardenfirma gegründet, die ein Wachstumsmarkt. Westliche Unterneh- Premier Narendra Modi und dessen hin-
Konzernen wie L’Oréal men, die ihr Potenzial zu Hause ausge- dunationalistischer Partei nahe, machte für
und Nestlé Konkurrenz macht. schöpft haben, träumen von dieser Art sie Wahlkampf. Bei der Premierenfeier
Land. Ramdevs Eigenmarke macht ihnen einer neuen Show über Ramdevs Leben,
dieses Geschäft allerdings schwer. »Forbes« die in einem Stadion stattfand, saß der
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International, das Fidelity-International-Logo und das „F-Symbol” sind Markenzeichen von FIL Limited. Herausgeber: FIL Investment Services GmbH, Kastanienhöhe 1, 61476 Kronberg im
Taunus. Stand März 2019. MK10270
Ausland
Wenn Macron Blickkontakt mit dem Gegner hat, dann hat er eigentlich schon gewonnen. ‣ S. 80
Kommentar
Sie hätten ihn endlich rauswerfen sollen. Aber die EVP-Fraktion möglich gemacht hat – schützte sie Ungarn doch vor EU-Sanktio-
im Europaparlament hat es gerade einmal geschafft, Viktor Orbáns nen und wertete Orbáns Positionen auf. Das zweite Argument
Mitgliedschaft vorläufig zu suspendieren. Seit neun Jahren sind er lautet: Wenn wir Orbán rausschmeißen, bildet er einen Block der
und seine Fidesz-Partei in Ungarn an der Macht, genauso lange Störer und Bremser, dem Rechtsparteien aus Osteuropa, Öster-
haben die europäischen Konservativen ihn geduldet, auch CDU reich, Italien, den Niederlanden und Frankreich angehören könn-
und CSU. Sie haben zugesehen, wie er die Demokratie in seinem ten. Doch außer der Angst vor Fremden eint diese wenig. Polen
Land demolierte und Fremdenhass säte. Nun soll ein dreiköpfiger und Ungarn brauchen EU-Subventionen und wollen sogar mehr
»Weisenrat« entscheiden, wie es weitergehen soll, ob Fidesz in der Zusammenarbeit, beispielsweise bei Energie und Verteidigung.
Fraktion bleiben darf. Die Chance aber, Orbán und den Ungarn Misstrauisch blicken sie nach Italien, das zu viel Geld ausgibt und
deutlich zu zeigen, dass sie mit ihrer Politik und Propaganda außer- zum europäischen Sanierungsfall werden könnte. Die AfD oder
halb der europäischen Wertegemeinschaft stehen, ist vertan. Marine LePens Partei schrecken andere angesichts ihrer Nähe zu
Es sind immer die gleichen zwei Argumente, mit denen die EVP Russland ab. Für alle wäre es politisch riskant, sich bei der EU als
ihre Milde gegenüber dem Brandstifter aus Budapest begründet – ewige Neinsager zu profilieren. Denn die Bevölkerung, vor allem
und beide taugen wenig. Das erste: Man könne mäßigend auf die die im Osten, stellt Europa nicht wie die Briten grundsätzlich infra-
Fidesz einwirken, solange sie Teil der EVP-Fraktion sei. Doch es ge. In Orbáns Ungarn zum Beispiel erreicht die EU in Umfragen
war wohl eher so, dass die Mitgliedschaft die Radikalisierung erst bis zu 80 Prozent Zustimmung. Jan Puhl
75
Ausland
Plakat im Londoner East End: Niemand glaubt, dass es leichter wird, wenn May weg ist
Der Untergang
Großbritannien Der letzte verzweifelte Versuch, ihren Brexit-Deal mit der EU zu retten, wird
Regierungschefin Theresa May wohl nichts mehr nützen. Das Nachfolgerennen hat begonnen.
Aber wer auch immer übernimmt, das Ringen mit Brüssel wird noch quälende Jahre dauern.
76
B
oris Johnson trägt neuerdings die der die Verhandlungen mit der Europäi- hen es dem 54-Jährigen nach, wenn er ver-
Haare kurz. Er hat in den vergan- schen Union – irgendwann, vielleicht – in schleierte Musliminnen als »Bankräube-
genen Monaten, für jeden sicht- einer zweiten Phase weiterführt. rinnen« oder »Briefschlitze« verunglimpft
bar, Gewicht verloren. Und zu- Europa muss sich auf das Schlimmste oder behauptet, Geld für die Aufklärung
letzt hat er sogar gelernt zu schweigen. Als gefasst machen. zurückliegender Kindesmissbrauchsfälle
der ehemalige britische Außenminister am Einer der Ersten, die sich kürzlich un- sei »zum Fenster rausgeschmissen«.
Dienstag ein Parlamentsgebäude in West- geniert um Mays Nachfolge bewarben, war Mehrere weibliche Tory-Abgeordnete
minster verließ, wurde er wie immer von deren ehemaliger Brexit-Minister Dominic drohten diese Woche, sie würden lieber
Journalisten mit Fragen traktiert. Aber der Raab. In einer Rede vor einem konser- die Partei verlassen, als unter Johnson zu
Mann, der sonst nie einem Mikrofon aus- vativen Thinktank versprach der smarte dienen. Es gibt jedoch keinen Zweifel da-
weicht, schob sich seine Skimütze ins Ge- 45-Jährige Mitte März, er werde »den gro- ran, dass die im Lauf der Brexit-Jahre nach
sicht und zog wortlos von dannen. ßen britischen Underdog von der Leine rechts gedriftete Parteibasis Johnson wäh-
Seither sind sich Londons Politik-Augu- lassen«. Seine Unterstützer haben die len würde. Sie liebt ihn für seine Vision
ren sicher: Johnson hat etwas vor. Er warte Facebookseite »Ready for Raab« lanciert, von einem »glorreichen Großbritannien«,
nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, um der Zuspruch hält sich jedoch in Grenzen: das frei von allen Fesseln der EU wieder
sich mit Verve zurück ins Rampenlicht zu 114 Menschen haben sich dort bislang als zu alter Größe zurückfände.
katapultieren. Es sieht ganz so aus, als Raab-Fans zu erkennen gegeben. Ob Johnson jemals wird zeigen können,
wäre der Tag nicht mehr fern. Subtiler als Raab gehen die amtierenden wie das gehen soll, ist aber nicht gewiss.
Nach einer weiteren atemberaubenden Minister Jeremy Hunt (Außen) und Sajid Nach den Parteistatuten der Tories ist es
Woche hat in Großbritannien das Endspiel Javid (Innen) vor. Beide wurden zuletzt zunächst den Abgeordneten vorbehalten,
begonnen. Nicht nur um den Brexit – son- wiederholt dabei gesichtet, wie sie im das Bewerberfeld in einem mehrstufigen
dern auch um das Amt der Premierminis- Regierungsviertel Parteifreunde offenbar Wahlverfahren zu reduzieren. Von den bei-
terin. Es war Theresa May selbst, die am beim Frühstück oder bei einem Glas Wein den Kandidaten, die übrig bleiben, darf
Mittwoch vor dem Parlament andeutete, umwarben. Beide sollen bereits Mitarbei- die Basis am Ende einen wählen.
dass ihre Tage als Regierungschefin wo- ter für eine Wahlkampagne rekrutieren. Boris Johnson, der gut reden, aber we-
möglich gezählt seien. Und beide versuchten zuletzt eher un- niger gut taktieren kann, wird also in den
Dabei hätte es dieses Hinweises gar geschickt, ihr moderates Image abzulegen, kommenden Tagen und Wochen sein Ver-
nicht mehr bedurft. Wer gesehen hat, wie halten genau abwägen. Und vor allem wird
unverschämt populistisch sich May am er helfen müssen, May zu stürzen, ohne
Mittwoch direkt an ihr Volk wandte, um »Vielleicht erlebt sie selbst als Königinnenmörder dazustehen.
jede Schuld am Brexit-Desaster weit von noch einen Honeymoon, Dass May von selbst geht, ist unwahr-
sich zu weisen; wer ihren kraftlosen Brief scheinlich, auch wenn sie diese Woche be-
an die EU-Spitzen gelesen hat, in dem sie aber der würde nur drei tonte, sie werde »als Premierministerin«
fast schon flehentlich um eine Verlänge- Minuten dauern.« keine womöglich jahrelange Verschiebung
rung des Elends bat; wer ihrem stets be- des Brexits mitmachen. Der Handlungs-
sonnenen Parteifreund Dominic Grieve spielraum der glücklosen Regierungschefin
zugehört hat, der sich ihretwegen »schämt, um sich dem rechten Rand ihrer Partei an- ist jedoch am Ende dieser Woche auf ein
ein Konservativer zu sein« – der weiß: zudienen: Hunt, indem er die EU mit der Minimum geschrumpft.
Theresa May ist am Ende. Sowjetunion verglich; Javid, indem er einer Anfang kommender Woche wird May
»Mag sein, dass sie noch ein paar Mo- einst zum IS übergelaufenen Britin die einen vermutlich letzten verzweifelten An-
nate durch London stolpert«, sagt ein lang- Heimreise aus Syrien verwehrte. Dass lauf nehmen, um das mit der EU verhan-
jähriger Weggefährte. Vielleicht gelinge die 19-Jährige jüngst ihr Neugeborenes in delte Austrittsabkommen doch noch
es ihr sogar wirklich noch, ihr allseits ver- einem Flüchtlingslager verlor, versetzte Ja- durchs Parlament zu peitschen. Gelänge
hasstes Scheidungsabkommen mit der EU vids Führungsambitionen jedoch einen ihr das, würde die EU ihrem Land noch
auf den letzten Metern durchzudrücken. schweren Schlag. Plötzlich stand der erste einige Wochen zusätzliche Zeit einräumen,
»Aber retten kann sie sich nicht mehr.« Muslim, der eines der höchsten Staatsäm- um den Brexit technisch umzusetzen.
Mitten in der größten Nachkriegskrise ter bekleidet, als herzloser Technokrat da. May wäre dann tatsächlich diejenige,
des Vereinigten Königreichs bringen sich Neben Raab, Hunt und Javid liebäugeln die die Scheidung von der EU vollzogen
daher viele Spitzenpolitiker immer unver- derzeit mindestens sechs weitere promi- hätte. Aber kaum jemand glaubt, dass ihr
hohlener in Stellung, um May zu beerben. nente Tories mit dem Einzug in 10 Dow- das noch helfen würde. Einer aus Londons
Darunter mindestens eine Handvoll am- ning Street. Dass außerdem etliche Hin- Politikapparat sagt: »Vielleicht erlebt sie
tierender Minister, die eigentlich genug terbänkler ernsthaft erwögen, ins Rennen noch einen Honeymoon – aber der würde
damit zu tun haben müssten, ihr Land vor um ihre Nachfolge einzusteigen, sei Mays nicht länger als drei Minuten dauern.«
einem Abdriften ins Chaos zu bewahren. eigene Schuld, schreibt die Londoner Die wenigsten glauben, dass sich Mays
Damit setzt sich fort, was im Kern immer »Times«. Sie zitiert einen konservativen Blatt in einer dritten Abstimmung wirklich
das Problem war: Der Brexit, für den Rest Abgeordneten mit den Worten: »Diese noch einmal wenden wird. Viel wahr-
Europas ein außenpolitisches Drama, stellt Premierministerin hat die Latte so tief ge- scheinlicher ist, dass ihr das Parlament
sich in London vor allem als innenpoliti- hängt, dass viele glauben, sie könnten es kommende Woche zum dritten Mal eine
sches Ringen um die Macht dar. genauso gut selbst versuchen.« Niederlage zufügen wird, die dann wohl
Es ist ein unwürdiges Schauspiel, das Die größten Chancen auf das Amt des endgültig wäre. Anschließend könnten die
derzeit hinter den Kulissen Westminsters Premierministers werden jedoch Boris Abgeordneten de facto die Kontrolle über
WOLFGANG RATTAY / REUTERS
aufgeführt wird. Und egal wie es ausgeht: Johnson eingeräumt. Dass der ehemalige die Regierungsgeschäfte übernehmen, um
Alles spricht dafür, dass der Brexit, dieses Frontmann der Brexit-Kampagne sich ein ein für ganz Europa verheerendes No-
politische Perpetuum mobile, wegen die- ums andere Mal blamiert, sobald er den Deal-Szenario zu verhindern.
ses Machtkampfs noch schwieriger zu lö- Mund aufmacht, scheint einen Großteil Dafür müsste das Vereinigte Königreich
sen sein wird. Nach Lage der Dinge wird der konservativen Wählerschaft nicht zu die EU schleunigst um eine wohl neun-
es am Ende wohl ein Brexit-Hardliner sein, stören – im Gegenteil. Die Menschen se- monatige, womöglich gar zweijährige Aus-
78
Ausland
Ausnahmezustand
Analyse Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die anstehende Kommunalwahl
zu einer Frage des Überlebens erklärt. Er ist zu Recht nervös.
E
r ist wieder dort, wo er sich am wohlsten fühlt – auf und Erdoğan-Vertrauten Binali Yıldırım von der AKP etwa
der Straße. Seit Jahresbeginn reist Recep Tayyip Er- gleichauf mit Ekrem Imamoğlu, dem Spitzenkandidaten der
doğan rastlos durch die Türkei, drei bis vier Wahl- Republikanischen Volkspartei (CHP). In Ankara, der Haupt-
kampfauftritte absolviert er jeden Tag, ganz so, als stadt, und im traditionell oppositionellen Izmir liegt die CHP
träten bei der Kommunalwahl am 31. März nicht Bürger- vorn.
meister- und Stadtratskandidaten an, sondern er selbst, der Zwar hat Erdoğan durch seinen Sieg bei der Präsident-
Präsident. schafts- und Parlamentswahl im Juni 2018 seine Herrschaft
Erdoğan steht unter Druck wie seit Langem nicht mehr. zementiert. Die Kommunalwahl könnte das Machtgefüge in
Seine Partei, die islamistische AKP, hat seit ihrer Gründung der Türkei trotzdem nachhaltig verändern. Istanbul stellt
2001 jede einzelne Wahl gewonnen, doch jetzt werden die mit 15 Millionen Einwohnern knapp ein Fünftel der Gesamt-
Bürger erstmals inmitten einer schweren Wirtschaftskrise an bevölkerung der Türkei. Der Istanbuler Bürgermeister ge-
die Urnen gebeten. Und das macht den Präsidenten nervös. nießt mehr Prestige als viele Minister.
Zu Recht. Für Erdoğan, der seine Laufbahn als Lokalpolitiker in Istan-
Erdoğan ist an die Macht gekommen, weil er den Men- bul begann, ist die Abstimmung nicht nur von einem hohen
schen so glaubhaft wie kein anderer Politiker eine bessere symbolischen Wert. Er braucht die Kontrolle über die Stadt-
Zukunft versprochen hat. Bis 2023 verwaltungen, wohl auch um seinen
soll die Türkei nach seinen Plänen Unterstützern weiterhin ungestört
zu einer der zehn größten Wirt- Aufträge und Gefälligkeiten zukom-
schaftsnationen aufsteigen. Aber zur- men zu lassen. Sollten in Ankara und
zeit stehen die Menschen in den Istanbul künftig Oppositionspoli-
Großstädten für verbilligte Lebens- tiker regieren, ließe sich das Regie-
mittel Schlange. rungssystem der AKP nur sehr
Das türkische Bruttoinlandspro- schwer aufrechterhalten.
dukt ist im vierten Quartal 2018 um Erdoğan hat die Kommunalwah-
fast drei Prozent geschrumpft. Tau- len zu einer Frage des nationalen
sende Firmen gingen 2018 in die In- »Überlebens« erklärt. Und seine
solvenz, die Arbeitslosigkeit wird im Regierung hat in den vergangenen
März voraussichtlich auf einen Re- Wochen die Repressionen gegen
kordwert von 13 Prozent klettern. Oppositionelle und Bürgerrechtler
BURHAN OZBILICI / DPA
Zwar hat sich die Lira nach dem Ab- verschärft. So erhob die Istanbuler
sturz vom Spätsommer ein wenig Staatsanwaltschaft Anklage gegen
erholt, aber die Inflation ist mit rund Osman Kavala, einen international
20 Prozent nach wie vor hoch. Die bekannten Mäzen, der laut Erdoğan
Lebensmittelpreise sind im Januar angeblich die Gezi-Proteste 2013
und Februar explodiert, worunter Erdoğan-Anhängerinnen in Ankara organisiert haben soll. Auch der
vor allem Menschen mit niedrigem Entzug der Arbeitserlaubnis für
Einkommen leiden. ausländische Korrespondenten soll
Die Regierung in Ankara versucht, die Krise einzudämmen, offensichtlich von schwachen Umfragewerten der AKP
indem sie gegen Händler vorgeht, die die Preise überdurch- ablenken.
schnittlich stark angehoben haben. Sie hat einen Notfallfonds Erdoğan gehen nach 16 Jahren an der Macht zunehmend
eingerichtet, der es angeschlagenen Bau- und Immobilienfir- die Ideen aus, wie er seine Wähler mobilisieren soll. Seine
men ermöglicht, unprofitable Firmenteile abzustoßen. Das Angst vor einer Niederlage ist offenbar so groß, dass er nicht
Finanzministerium hat Exportunternehmen dazu verpflichtet, einmal davor zurückschreckt, die Anschläge auf zwei Mo-
acht Zehntel ihrer Einnahmen in türkischen Banken zu de- scheen in Christchurch, Neuseeland, vom 15. März für seinen
ponieren. Aber all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, Wahlkampf zu missbrauchen. Trotz internationaler Empörung
dass die Regierung selbst nicht weiß, wie sie die Wirtschaft spielte Erdoğan auf Kundgebungen mehrmals Filmaufnahmen
wieder dauerhaft aufrichten soll. des Terrorangriffs ab und forderte die Todesstrafe für den Täter.
Erdoğan gibt dem Ausland die Schuld für die Misere. »Sie Es ist ein weiterer, schamloser Versuch des türkischen Präsi-
haben begonnen, ein Spiel mit der Türkei zu spielen. Die denten, sich als Schutzpatron der Muslime zu inszenieren.
Preise für Auberginen, Tomaten, Kartoffeln und Gurken eska- Unterdessen verdichten sich in Ankara die Gerüchte, wo-
lieren. Das ist ein terroristischer Anschlag.« nach der frühere Premier Ahmet Davutoğlu und der frühere
Die Wähler sind jedoch nicht mehr bedingungslos bereit, Wirtschaftsminister Ali Babacan, beide AKP-Größen, kurz
seinen Verschwörungstheorien zu folgen. Laut einer Erhe- davor seien, eine eigene, moderat konservative Partei ins
bung des Meinungsforschungsinstituts Metropoll war Erdo- Leben zu rufen.
ğans Zustimmungsrate zum Jahresende auf knapp unter Das System Erdoğan wird am 31. März nicht einstürzen.
40 Prozent gefallen, den niedrigsten Wert seit Jahren. Für Aber es könnte Risse bekommen. Maximilian Popp
die Wahl in Istanbul sehen Umfragen den früheren Premier Twitter: @Maximilian_Popp
E
r fühle sich regelrecht verfolgt von hat widersprochen. Er, dem immer alles spricht mit Rentnern und Jugendlichen, mit
diesem Gesicht mit den ebenmäßi- in den Schoß zu fallen schien, muss sich Bürgermeistern und Präfekten. Er lädt In-
gen Zügen, der geraden Nase und jetzt anstrengen. Er schafft das, sagen die- tellektuelle zu sich in den Élysée-Palast ein
dem markanten Kiefer, schreibt jenigen, die ihn so lange schon kennen. und diskutiert bis morgens um zwei über
der, der ihn hasst: »Überall posieren Sie, »Emmanuel ist besonders gut, wenn es den Unterschied zwischen der »erzählen-
als stünden Sie Modell für einen Versand- schwierig wird«, sagen sie. den Identität« und der »geronnenen Iden-
hauskatalog.« Und es ist schwierig geworden, in die- tität«. Er kommt nach Bourg-de-Péage,
Man muss die Aversion gegenüber Em- sem zweiten Jahr seiner Präsidentschaft, fährt nach Étang-sur-Arroux, nach Grand
manuel Macron bei François Ruffin nicht die begann, wie er sich das zuvor so lange Bourgtheroulde oder nach Souillac. Er be-
zwischen den Zeilen suchen – sie wird schon ausgemalt hatte: als modernes Hel- findet sich in einer Art permanenter Bür-
durch nichts verbrämt. denepos. gersprechstunde, allerdings einer, die einem
Ruffin bezeichnet seine Abneigung ge- Ein überdurchschnittlich begabter jun- Nahkampf ähnelt. Die Debatte ist seine
gen den französischen Präsidenten als et- ger Mann gewinnt die Präsidentschafts- Waffe, sein Gegenmittel für das Gelbwes-
was »Physisches«, sie komme tief aus sei- wahlen. Gegen alle Vorzeichen, gegen alle ten-Gift und ein Besänftigungskommando,
nem Inneren. Und er sei bei Weitem nicht Widerstände. das auf diejenigen zielt, die ihn hassen. Und
der Einzige, der Emmanuel Macron auf Im Moment des Sieges, im Mai 2017, hier, in Bourg-de-Péage, wirkt diese Kur:
eine fast körperliche Weise »abstoßend« steht Emmanuel Jean-Michel Frédéric Erst wird er verhalten empfangen, am Ende
finde: Dieser Hass, so Ruffin, sei »mittler- Macron, 39 Jahre alt, auf einer Bühne im jedoch mit großem Applaus verabschiedet,
weile eine politische Tatsache«. Innenhof des Louvre und verspricht, die selbst von jenen in Warnweste.
Ruffin ist Autor und Regisseur einer Franzosen wieder mit sich selbst zu ver- Immer noch gilt: Wenn Macron Blick-
preisgekrönten Dokumentation, er ist gut kontakt mit dem Gegner hat, dann hat er
zwei Jahre älter als Macron und stammt eigentlich schon gewonnen.
wie dieser aus dem nordfranzösischen Je länger er durchs Land Macron sagt: »Sie können hier völlig
Amiens. In seinem gerade veröffentlich- fuhr, zuhörte und erklärte, frei sprechen, aber Sie dürfen bitte keine
ten Buch verknüpft er Macrons Biografie Dinge sagen, die nicht stimmen.«
mit seiner eigenen – es heißt vielsagend: desto höher kletterten Oder: »Hören Sie, unsere Verfassung
»Dieses Land, das Du nicht kennst«. Als seine Beliebtheitswerte. ist keine Schreibwerkstatt, wo Millionen
Macron 2017 zum Präsidenten gewählt Menschen mal ein bisschen kritzeln üben
wurde, zog François Ruffin für die Links- können.« Und immer wieder: »Ich höre
radikalen des »Unbeugsamen Frankreichs« söhnen. »Ich werde euch immer die Wahr- Ihren Zorn.« – »Ich respektiere Ihre Wut.«
ins Parlament ein. Aber schon davor be- heit sagen«, ruft er. Alles scheint möglich Und trotzdem: Es könne nicht angehen,
gegnete man ihm immer wieder. 2016 in diesem Augenblick. den Staat für alles haftbar zu machen. »Ich
wurde er zum Paten der Nuit-debout- Knapp zwei Jahre später sieht es anders habe keinen Zauberstab«, sagt er und
Bewegung, die an der Place de la Répu- aus. Weil sein Zauber verflogen ist, muss reicht sein Mikrofon an einen Mann in gel-
blique Nachtwachen abhielt – aus heutiger er jetzt kämpfen. ber Weste weiter. Der erklärt, er habe gar
Perspektive eine Art Vorläufer der Gelb- Es ist schon dunkel, als seine Limousine nicht gewählt, das bringe nichts.
westen-Bewegung. vor einer Mehrzweckhalle in Bourg-de- Macron ruft: »Wenn die Nichtwähler,
Ruffins übersteigerte Art, Emmanuel Péage hält, einem Kaff hinter dem TGV- weil sie plötzlich unzufrieden sind, die
Macron zu hassen, wirkt im Augenblick Bahnhof von Valence, irgendwo in der Pe- Kreisverkehre blockieren, dann ist das al-
wie eine Blaupause für das, was sich im ripherie. Ein Ort, der wie exemplarisch die les andere als demokratisch!« Er bekommt
ganzen Land ereignet. In Frankreich wird Frakturen der französischen Gesellschaft Applaus dafür. Da ist er wieder, der Über-
gerade grundsätzlich heftig gehasst, egal ausstellt, Symptom und zugleich Ursache performer, die Rampensau. »Macron zu-
ob es sich dabei um »die Reichen« handelt, für die Protestierenden, die Macron nun rück im Wahlkampf«, wird »Le Monde«
um Polizisten oder Juden, um Abgeord- seit Monaten vor sich hertreiben: die Gelb- am nächsten Tag titeln; es ist ein Kom-
nete – oder eben um Macron. westen. Die Bewegung, in sich disparat, pliment.
Denn so sieht es aus, fast zwei Jahre richtet sich gegen vieles – vor allem aber Aber Macron ergeht es wie jedem, der
nach seiner Wahl zum jüngsten Präsiden- gegen ihn, den Präsidenten. Hier, in der kämpft. Auf den Sieg folgt manchmal auch
ten der Fünften Republik: Das Land, das Halle, hocken ganz normale Bürger auf wieder eine Niederlage.
er einen wollte, wie er noch am Wahl- Plastikstühlen, sie haben sich angemeldet Am vergangenen Wochenende, pünkt-
abend versprach, ist zerklüftet. Vielleicht für die Veranstaltung, ohne zu wissen, dass lich zum Ausgang seiner »Grand Débat«,
mehr noch als zuvor. auch der Präsident dabei sein wird. Ein erlebte die Gewalt aufs Neue einen Höhe-
Emmanuel Macron, der als Präsident al- paar von ihnen tragen eine gelbe Weste. punkt. An den Champs-Élysées wurden
les anders machen wollte als seine Vorgän- Macron hatte sich und den Franzosen mehrere Zeitungskioske niedergebrannt
ger, weiß, dass er sich auf dünnem Eis be- nach den Ausschreitungen der Gelbwesten und zahlreiche Geschäfte geplündert; das
wegt. Dass er jederzeit einbrechen kann. im Dezember eine »Große Debatte« ver- Nobelrestaurant Fouquet’s, wo einst Nico-
So hat er es Vertrauten erzählt, und keiner ordnet, zwei Monate lang, landesweit. Er las Sarkozy seinen Wahlsieg feierte, sieht
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KIRAN RIDLEY / GETTY IMAGES
Polizisten bei einem Gelbwesten-Protest am 16. März in Paris: »Ich respektiere Ihre Wut«
Er beugt sich vor, legt die Hände auf spricht über Demokratie und Menschen- gant wahrgenommen wird. Weil sie ihn so
die Knie. Nein, sagt er an jenem Abend rechte. »Die Stabilität eines Landes wird darstellen.
in Kairo. Er lächelt jetzt nicht mehr. Bei bedingt durch die Freiheit«, doziert er; es Mit der Tageszeitung »Le Monde« lag
alldem, was gerade in Frankreich passiere, ist unmöglich, Sisis Miene dazu zu lesen. er lange über Kreuz, weil er sich im Wahl-
handle es sich um ein Phänomen, das Am Ende sind zwei Fragen zugelassen, kampf von ihr nicht ernst genommen fühl-
exakt so auch in anderen Ländern zu be- und ein Ägypter fragt mit süffisantem Un- te. Dabei war er es selbst, der sich ein ums
obachten sei. Umwälzungen, mit denen terton, wie es denn nun eigentlich um die andere Mal als »Outsider« bezeichnete,
viele Demokratien im Augenblick zu Stabilität Frankreichs bestellt sei. der »außerhalb des politisch-medialen Sys-
kämpfen hätten. Die Gelbwesten verfolgen ihn bis nach tems« operiere.
Diese Analyse mag nicht völlig falsch Heliopolis. An seinem rasanten Aufstieg hatten die
sein, aber sie bleibt auf problematische Seine Bemerkungen zur Pressefreiheit Medien durchaus ihren Anteil. In seinen
Weise unvollständig. verursachen jedenfalls sarkastische Kom- zwei Jahren als Minister unter seinem Vor-
– Sie selbst, Ihr Regierungsstil, tragen mentare auf der Pressetribüne, wo vor al- gänger François Hollande erregte er mehr
dafür keine Verantwortung? lem die mitreisenden französischen Jour- Aufmerksamkeit als sämtliche Kollegen,
Für einen Moment wirkt es, als werde nalisten sitzen. Macrons eigene Beziehung auch, weil er das so wollte. Während die
er ungehalten. Als wäre er es nicht mehr zur Presse ist durchwachsen: Während der Regierung, deren Mitglied er war, quasi
gewohnt, dass jemand nachfragt, ihn be- Affäre um seinen prügelnden Leibwäch- wöchentlich neue Negativrekorde in den
helligt mit einer anderen Meinung. ter – eine Art Ouvertüre für den Krisen- Umfragen aufstellte, wurde er, Emmanuel
Nein, sagt er brüsk. Dann, etwas konzi- modus, in dem sich seine Präsidentschaft Macron, immer beliebter.
lianter: »Ich bin ein Kind dieses Zorns.« seit Monaten befindet – warf er den Jour- Sein Privatleben sei privat, sagte der
Und nicht nur das. Es gab Zeiten, da schür- nalisten öffentlich vor, »nicht mehr die Kandidat Macron und ließ sich anschlie-
te er die Wut auf »das System«, das er mit Wahrheit zu suchen«. Er glaubt, es sei ßend mit seiner Frau, Enkeln und Argen-
seinem Wahlsieg zu Fall bringen wollte. überwiegend ihre Schuld, dass er als arro- tinischer Dogge für eine Homestory ab-
Die Franzosen seien nun einmal ein sehr lichten. Als Präsident lässt er sich aus-
politisches Volk, sagt Macron. »Was unser schließlich von seiner eigenen Fotografin
Land jetzt braucht, ist Ruhe zum Nach- begleiten, für die Rechte an seinem Bild
denken.« Nicht die Politik wurde vertraut er der Agentur der berüchtigten
Am Tag darauf steht er in der prächtigen zu Macrons Problem, Paparazzi-Königin Mimi Marchand. Die
Rotunde des ägyptischen Präsidentenpa- von Mitterrand eingerichtete Salle de Pres-
lasts; er gibt eine Pressekonferenz, gemein- sondern seine se im Élysée schließt er, für Journalisten
sam mit Präsident Abdel Fattah el-Sisi. Er Persönlichkeit. soll dort kein Platz mehr sein.
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Ausland
Sparen für
Mich
Er kann das jetzt, er ist Präsident. Und setzen; wie nimmt man Tausende An-
er macht in der Tat viele Dinge anders als regungen auf und verhindert, Tausende
die vor ihm. Anders auch, als er es sich Teilnehmer zu frustrieren?
selbst vorgenommen hatte, da mag er sich In seinem Hass-Pamphlet wundert sich
noch so viele Gedanken gemacht haben, François Ruffin, der Mann, bei dem Ma-
wie dieses Amt auszufüllen sei: noch hie- cron Aversionen auslöst, darüber, wie jun-
rarchischer, noch distanzierter. Weniger genhaft das Gesicht des Präsidenten nach
schwatz- und pflaumenhaft als unter Hol- wie vor wirke. Keine Augenringe, keine
lande. Am Ende bricht sich die Wirklich- Falten, nicht mal ein Pickel, schreibt er.
keit Bahn, und es sieht dann noch mal »Normalerweise findet man in einem Ge-
anders aus. sicht Spuren von Enttäuschung, von Leid,
Es war nicht er selbst, der diese zweite eben von irgendetwas Menschlichem.«
Phase seiner Präsidentschaft einläutete,
von der jetzt alle sprechen. Es waren seine
Man darf Ruffin getrost Hoffnung ma-
chen, dass diese Amtszeit weder an Em-
meine Kinder
Gegner, die Hater, wenn man so will. manuel Macron noch an seinem Gesicht
Wie im Rausch war dieses erste Jahr ver- spurlos vorbeigehen wird.
flogen: Emmanuel Macron Superstar, lau- Denn niemand außer ihm selbst hat es
tete das Motto; er unterlegte es mit langen, in der Hand, das Ruder herumzureißen.
feierlichen Reden über die Zukunft Euro- Zuzutrauen ist ihm das unbedingt. Er hat
pas oder die Zukunft des Multilateralis- eingesehen, dass er nicht im Pulk seiner
mus. Immer gab es irgendetwas, was er Verehrer regieren kann, dass er sich auch
wieder neu begründen wollte. Götter- mit Menschen umgeben muss, die anders
gleich sollte sein Mandat sein, kleiner ging ticken als er selbst. Zwei seiner engsten
es nicht. Dem Rest der Welt gefiel das erst Berater seit Wahlkampfzeiten haben des-
mal, er schaute wieder öfter nach Frank- halb ihre Posten aufgegeben.
reich, auf diesen jungenhaft wirkenden War man im Élysée vor Kurzem noch
Mann mit dem großen Gestus. der Meinung, der Präsident sei derart bril-
Und es stimmt ja: Macron schaffte in- lant, er müsse nicht auch noch beliebt sein,
nerhalb weniger Monate, was seine Vor- wird diese Sichtweise nun nach und nach
meine Enkel
gänger jahrzehntelang nicht vermochten: revidiert. Es kann durchaus hilfreich sein,
Frankreich als modernes Land erscheinen wenn auch das Volk mit dem einverstan-
zu lassen, als europäische Führungsnation den ist, was das Staatsoberhaupt anpackt.
mit Ideen. Wahrscheinlich stehe Macron In wenigen Wochen sind Europawahlen,
in einer Reihe mit Präsidenten wie Charles die er, vor einer ganzen Weile schon, zum
de Gaulle und François Mitterrand, nationalen Stimmungstest ausgerufen hat.
schrieb die Zeitschrift »Foreign Policy«. Damals, als das Glück ihn noch verfolgte
Der sonst so skeptische »Economist« be- wie ein hartnäckiger Stalker.
fand: »Frankreich hat alle Erwartungen Bisher liegt seine Partei LREM vorn, ge-
übertroffen«, habe sich quasi im Allein- folgt von Marine Le Pens Rassemblement
gang runderneuert. national. Gewinnt er die Wahl, hat er auch
Es war von allem ein bisschen zu viel. die Akzeptanz wiedergewonnen, die er
Zu viel Lob, zu viel Bühne. braucht, um den Umbau Frankreichs wei-
Die Franzosen stimmten für Macron, ter voranzutreiben, das ist sein Kalkül. Schon ab 25 € Sparrate im Monat
weil er ihnen den Bruch versprach: Tabula Ein Donnerstag im Februar, Emmanuel mit dem einfachen und
rasa. Den Bruch mit dem phlegmatischen Macron steht mit aufgekrempelten Är-
Vorgänger, der Macron noch seinen »Zieh- meln und durchnässtem Hemd in einer
intelligenten ETF-Sparplan von
sohn« nannte, als dieser bereits seine Be- Sporthalle im Burgund. Hunderte Jugend- Oskar Schritt für Schritt
wegung »En Marche« ausgerufen hatte liche um ihn herum, wenig Sauerstoff. ein Vermögen aufbauen.
und unverhohlen mit einer Kandidatur Nach mehr als drei Stunden Diskussion
liebäugelte. Macron war der Disruptor, der über Ausbildungswege und Atomkraft,
das Establishment hinwegfegen sollte. Er über die Möglichkeiten der repräsenta- Oskar ist die neue Art der Geldanlage:
versprach eine Transformation, Teilhabe, tiven Demokratie und die Vorzüge von ETF-basiert, weltweit gestreut,
Arbeitsplätze. Was die Franzosen hinge- Volksbefragungen wirken alle im Saal kostengünstig und intelligent.
gen nicht wollten, war ein Mann an ihrer recht erschlagen. Alle, bis auf einen. Als Die Eröffnung dauert nur 15 Minuten.
Spitze, der spricht wie ein Manager und seine Berater ihm winkend bedeuten, zum Und das Beste: Wir kümmern uns um alles.
sich aufführt wie ein Monarch. Ende zu kommen, ruft er in ihre Richtung:
Zwei Drittel der Franzosen wünschen »Können wir bitte noch ein bisschen wei-
sich, dass er sich ändert. Nicht die Politik termachen? Ginge das wohl?«
wurde zu seinem Problem, sondern seine Er hat immer viel Glück gehabt. Aber Oskar – der einfache und intelligente
Persönlichkeit. Statt immer noch eine Idee, er kann auch kämpfen. ETF-Sparplan.
noch eine Rede draufzusetzen, eine Ma- Alle Informationen unter
rotte, von der zum Beispiel auch deutsche
Diplomaten schwer genervt sind, muss er Video
Mein Macron, .de
die geschaffenen Erwartungen jetzt erst mein Paris
mal abarbeiten. Damit hat er genug zu tun. spiegel.de/sp132019macron
Wie zum Beispiel lässt sich seine landes- oder in der App DER SPIEGEL Die Kapitalanlage ist mit Risiken verbunden.
weite Debatte in konkrete Ergebnisse über- Der Wert Deiner Kapitalanlage kann fallen
oder steigen. Es kann zu Verlusten des ein-
gesetzten Kapitals kommen.
DER SPIEGEL Nr. 13 / 23. 3. 2019 83
Ausland
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EDDY VAN WESSEL / DER SPIEGEL
Mangelernährte Kleinkinder aus Baghus: »Es kommen immer mehr, wir schaffen das nicht allein«
eine halbfeste Proteinbutter. »Wir mussten Sicherheitsrisiko. Wir sind ja kein Militär- lung, wer wie dringend ärztliche Hilfe be-
erst mal die Schwestern schulen«, sagt der krankenhaus.« Allzu lange bleiben sollen nötige. Ein weiteres Problem habe er mit
Arzt: »So was kannten wir hier gar nicht. die Kleinen ohnehin nicht, »sobald wir sie seinen ganz normalen Patienten in Hasaka,
Wir sind ja nicht in Afrika.« stabilisiert haben, nach zwei, drei Wochen, der zwar vom Krieg weitgehend verschon-
Wer es lebend bis ins Krankenhaus schaf- kommen sie zurück zu ihren Müttern ins ten, aber armen Stadt: »Da kommen El-
fe, habe ziemlich gute Chancen. Nur bis Lager«. tern mit ihrem kranken Kind, und wir
dahin zu überleben, sei das Problem: Die Nur bei schweren Erkrankungen der haben keinen Platz. Außerdem müssen
Mütter und Kinder, die Baghus lebend ver- Kinder dürfen die Mütter mitkommen normale Patienten bezahlen. Was soll ich
lassen konnten, werden in offenen Lkw und eines der raren Einzelzimmer bezie- einem armen Bauern sagen, der mit sei-
mehrere Stunden ins Lager gefahren. Dann hen. Wie im Fall einer nach Syrien zum nem kranken Kind hier ankommt, aber
bringen Angehörige des Kurdischen Roten IS ausgereisten Deutschen, deren fünf Mo- keine Behandlung erhält, während für den
Halbmonds die schwersten Fälle per Sam- nate alte Tochter Sofia an einem Wasser- mangelernährten Säugling einer tunesi-
meltransport aus al-Haul nach Hasaka, das kopf leidet, einer krankhaften Erweite- schen Terroristenfamilie die Uno bezahlt?«
bedeutet noch mal anderthalb Stunden rung der Flüssigkeitshohlräume im Hirn. Er seufzt. Die internationale Gemein-
Fahrt. Viele der kleinen Patienten, sagt der Sofia wurde vor wenigen Tagen in Hasaka schaft müsste dringend ein richtiges Kran-
Arzt, überstünden diese Odyssee nicht. operiert. Doch zuvor, klagt ihre Mutter, kenhaus im Lager der IS-Gefangenen er-
Nach Zählung der Hilfsorganisation In- habe sie über Wochen immer wieder stun- richten. Aber nichts geschehe, obwohl die
ternational Rescue Committee, die bei der denlang mit der zusehends apathischer Dramatik der Lage seit mindestens zwei
Versorgung im Lager al-Haul mithilft, werdenden, sich immer wieder überge- Monaten allen bekannt sei. Alle hätten
sind dort seit Anfang Dezember bereits benden Kleinen am Tor des Lagerbereichs sich auf den Krieg gegen den IS konzen-
108 Kinder tot angekommen oder kurz für ausländische IS-Frauen gestanden und triert, daran, die Kämpfer einzusperren.
nach der Ankunft gestorben. Im Kranken- um ärztliche Hilfe gebeten. Erst als aus- Aber niemand habe an die Tausenden
haus von Hasaka hätten sie im März durch- ländische Reporter die Lagerleitung infor- Kinder gedacht, die dort in den vergange-
schnittlich einen Fall von »dead on arrival« mierten und ein Video der Tochter veröf- nen vier, fünf Jahren auf die Welt gekom-
pro Tag. fentlichten, sei sie ins Krankenhaus ge- men seien und nun entweder keine Eltern
Wenigstens sei es kein allzu großes Pro- bracht worden. mehr hätten oder nur solche, die in Ge-
blem, die Mütter davon zu überzeugen, Den Arzt wundert es nicht: »Es sind ein- fängnissen und Internierungslagern ein-
ihre Kinder allein ins Krankenhaus einlie- fach zu viele Menschen, zu viele Kranke säßen: »Im Moment kümmern wir uns um
fern zu lassen: »Die meisten haben noch aus diesem letzten IS-Gebiet gekommen. die Kleinen, so gut es geht. Aber nach
drei, vier weitere Kinder, um die sie sich Niemand hatte mit Zehntausenden gerech- zwei, drei Wochen müssen sie wieder raus
im Lager kümmern müssen. Wir hätten kei- net.« Jetzt hätten sie im Lager ein Problem hier, sonst haben wir keinen Platz.«
nen Platz für sie, außerdem wäre es ein mit der sogenannten Triage, der Beurtei-
D
er frühere Rebellenkomman- Vergewaltigung. Am Ende gab es beide selbst zu wehren: »Wir hatten keine Wahl,
deur trägt die Uniform des Male Freispruch. »Ich tat, was nötig war«, Serbien trat zuletzt immer aggressiver auf;
Staatsmanns mittlerweile per- sagt Haradinaj im Rückblick, es klingt aus uns wurden Offenheit und Großzügigkeit
fekt: Maßschuhe, dunkler An- seinem Mund fast teilnahmslos; während zunehmend als Schwäche ausgelegt.«
zug, goldene Manschettenknöpfe. Flan- des Kriegs und auch danach gehe es da- Zwar drückte US-Präsident Trump in
kiert von ehrfürchtig blickenden Hof- rum, »in einer gesetzlosen Gesellschaft zu Briefen an die Staatschefs in Belgrad und
schranzen empfängt Ramush Haradinaj überleben«. Noch heute, in der Uniform Priština die Hoffnung aus, baldmöglichst
in Priština, am Sitz der Regierung des des Staatsmanns, ist Haradinaj Kämpfer. im Weißen Haus ein »historisches Abkom-
Kosovo. Mit Strafzöllen von 100 Prozent auf Ein- men« besiegeln zu können. Eine dauerhaft
Wenn nicht Haradinaj und seine Gefähr- fuhren aus Serbien versucht er, eine Aner- friedliche Lösung ist aber nicht in Sicht.
ten gewesen wären, gäbe es Europas jüngs- kennung des Kosovo durch die Regierung Lange Zeit kam eine Teilung des Kosovo
te Republik vielleicht nicht. Unter dem in Belgrad zu erzwingen – und bringt da- für Washington nicht infrage. Inzwischen
Decknamen »Smajl« befehligte er in den mit die US-Schutzmacht gegen sich auf. klingt das anders. »Wir haben keine roten
Neunzigerjahren Teile der Freischärler-
armee UÇK – auf dem Höhepunkt des
Aufstands ethnischer Albaner gegen die
serbische Besatzungsmacht im Kosovo.
Heute ist er Regierungschef eines Landes,
das in Europa seinen Platz sucht.
Zwanzig Jahre nach den Nato-Bombar-
dements, mit denen ab dem 24. März
1999 der Abzug der jugoslawischen Ar-
mee erzwungen wurde, ist das Kosovo
noch immer ein Sorgenkind auf dem Bal-
kan. Die Minirepublik, kaum zwei Mil-
lionen Einwohner stark, zu 90 Prozent
albanisch besiedelt, wird bis heute von
mehr als 80 Staaten, darunter fünf EU-
Mitglieder, nicht anerkannt. Diese Unsicher-
heit bremst das Land. Als einzige europäi-
sche Nation westlich von Weißrussland
AGRON BEQIRI / REUTERS
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publik die Drohkulisse einer Spaltung des versammelt sind unter der kyrillischen laden hat, der viele heutige Spitzenpoliti-
Staats aufrecht. Überschrift »Wir sind Brüder – Gott steht ker des Landes entstammen. Seit Januar
Die ungeklärte Zukunft des Kosovo uns bei«. Treueschwüre an die Adresse des wird verhandelt – vor einem Gericht, das
birgt Zündstoff in einer Gegend, in der orthodoxen Brudervolks gehören hier international besetzt, aber kosovarischem
ethnische Albaner über mehrere Länder nicht nur zur serbischen Folklore, sondern Recht unterworfen ist. Alte Kriegskame-
verstreut siedeln und schon geringste sind auch Teil des geopolitischen Kalküls. raden von Premier Haradinaj sind bereits
Grenzverschiebungen das delikate Gleich- Der Ton im Kosovo ist schärfer gewor- vorgeladen worden, ob als Beschuldigte
gewicht zu erschüttern drohen. Hinzu den: Die eigene Schutztruppe könnte oder Zeugen, wird bewusst offengelassen.
kommt: Die Massenproteste der letzten schrittweise in eine 5000 Mann starke re- Im gottverlassenen Flecken Tropoja auf
Wochen gegen die Regierenden in den guläre Armee umgewandelt werden. Bisher albanischer Seite zeigen zwei Männer auf
Nachbarländern Albanien, Montenegro garantiert die Nato für die Sicherheit im dem Friedhof, ohne zu zögern, auf das
und vor allem Serbien zeigen die Unge- Land – ihr Generalsekretär Jens Stolten- Grab jenes Kämpfers, der für die UÇK
duld jener Balkanbewohner, die seit Jah- berg warnt vor »schweren Erschütterungen« jenseits der Grenze gefallen ist – und dem
ren im Wartesaal der EU festsitzen. im Verhältnis zur Allianz. einer seiner Brüder später die abgetrenn-
Wer im Kosovo zündelt, auf dem histo- Und weil Albaniens Regierungschef Edi ten Köpfe zweier serbischer Soldaten zu
rischen Amselfeld mit den mittelalterlichen Rama in Tirana sauer ist über das, was er Füßen gelegt hat. Fotos belegen den grau-
Klöstern, wo laut serbischem Mythos die als Hinhaltetaktik der EU versteht, droht enerregenden Ritualmord.
Wiege der Nation steht, riskiert einen Flä- er mittlerweile damit, die albanischen Brü- Bei der Regierung in Priština heißt es
chenbrand. Und trotzdem: Federica Mog- der im Kosovo heim ins Mutterland zu ho- dazu, selbstverständlich dürfe untersucht
herini, Trumps Sicherheitsberater John len. Ein gemeinsames Staatsoberhaupt werden, ob Kriegsverbrechen auch auf al-
Bolton, Serbiens Präsident Aleksandar und eine Außenpolitik aus einem Guss sei- banischer Seite verübt wurden. Allerdings
Vučić – sie alle erwägen, den Norden des en, so Rama, eine ernst zu nehmende Al- werde die Geduld der albanischstämmigen
Kosovo Serbien zu überlassen und stattdes- ternative zum EU-Beitritt. Bevölkerung langsam überstrapaziert. Be-
reits unter Uno-Regie bis 2008 wurde er-
mittelt, später dann auch durch das Kriegs-
verbrechertribunal in Den Haag und die
EU-Mission Eulex; wenn jetzt noch einmal
versucht werde, die Wahrheit über die
UÇK herauszufinden, durch ein Spezial-
gericht, dann sei das zermürbend.
Den grotesken Zickzackkurs der west-
lichen Wertegemeinschaft belegt der Um-
stand, dass die gleichfalls verdächtigen
Ex-Kommandeure Hashim Thaçi, aktuell
Staatspräsident, und Fatmir Limaj, Vize-
premier, derweil mit der EU-Chefdiploma-
tin Mogherini auf verschiedenen Kanälen
verhandeln dürfen.
»Es gibt natürlich Leute, auf albanischer
wie serbischer Seite, die in Einzelfällen sa-
PIERRE CROM / GETTY IMAGES
ULI HOENESS
Der Bayern-Boss verspielt sein Lebenswerk
Sport
Sané ist das Gesicht der neuen Nationalmannschaft. Die Zukunft. ‣ S. 94
Verletzungen bei Fußballspielern mit mindestens einem Pflichtspieleinsatz für einen Klub in der 1. und 2. Bundesliga, Saison 2016/17, in Prozent
Zeitpunkt der Verletzung Betroffene Körperregionen
Juli 6,2
August 8,7 Kniegelenk Sprunggelenk
September 9,7 15,5 12,5
Oktober 12,6
Unterschenkel
November 8,7 Ober- 10,8
Quelle:
Dezember 10,0 schenkel VBG-
24,4 Sportreport 2018
Januar 6,5 Fuß
10,3
Februar 10,4
sonstige
IMAGO
März 9,5 Kopf
15,8 Hüfte 6,4
April 13,2
Arjen Robben, 4,3
Mai 4,5 Juni: spielfrei Bayern München
Der April ist der Monat der Verletzungen: Wenn die Saison in spieler versichert sind, für ihren Sportreport 2018 ermittelt. Im
die Entscheidung geht, angeschlagene Spieler nicht mehr ge- Lauf der Saison 2016/17 verletzten sich die Spieler der ersten
schont werden und einige Profis durch vorherige Blessuren vor- beiden Ligen im Schnitt 2,7-mal und fielen deshalb 28 Tage aus.
belastet sind, kommen die Kicker am häufigsten zu Schaden. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der Ausfalltage wegen
Das hat die Berufsgenossenschaft VBG, bei der alle Bundesliga- Knie- und Sprunggelenkverletzungen um 40 Prozent an.
Magische Momente
schlechtes Spiel. Am Ende stand da nur van Basten. Du kennst seine Tricks, einen Defensivspezialisten zu investieren.
das falsche Ergebnis. Und zu van Basten: seine Bewegungen – bist du fit? Und so Vorher hieß es immer: Abwehrspieler
Er holte einen Elfmeter raus, der keiner kam ich ins Team. schnitzen wir uns irgendwie, wir kaufen
war, und machte das zweite Tor einfach SPIEGEL: Sie hatten van Basten im Griff. nur Stürmer.
großartig. Deutschland gewann 2:1. SPIEGEL: Sie sind van Basten dankbar?
SPIEGEL: Mit dem Abstand von mehr als Kohler: Ich habe mit Bayern München,
30 Jahren klingt das sehr lapidar. Juventus und Borussia Dortmund große
Kohler: Wieso lapidar? Van Basten wurde Titel gewonnen – wer weiß, ob sich
Torschützenkönig der EM und Weltfuß- ohne van Basten alles so gefügt hätte. Er
baller des Jahres, und ich habe aus diesem hat mich salonfähig gemacht, und egal
Spiel meine Lehren gezogen. wie heftig wir uns auf dem Feld bekämpf-
SPIEGEL: Welche denn? ten – wir konnten uns danach immer in
BOB THOMAS / GETTY IMAGES
Kohler: Sein Treffer zum 1:2 hat mir die Augen gucken.
schmerzhaft gezeigt, dass man als Vertei- SPIEGEL: Haben Sie mit ihm das Trikot
diger immer auch mit dem Unmöglichen getauscht?
rechnen muss. Ich wollte damals einer der Kohler: Nicht nach einem Länderspiel,
besten Innenverteidiger der Welt sein, aber nach einer Partie mit Juventus
und ich merkte, dass ich mich noch mehr gegen den AC Mailand. Ich empfand das
fokussieren muss. Van Basten, Kohler im Juni 1990 als Zeichen großer Wertschätzung. PK
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Sport
Slum der
Champions
Boxen Ein Armenviertel in Ghanas Hauptstadt Accra
hat mehr Boxweltmeister hervorgebracht
als jeder andere Ort in Afrika. Der Sport bietet eine der
wenigen Chancen, der Armut zu entfliehen.
J
eden Morgen um fünf, wenn es drau- schindet sich in einem der rund 20 Gyms.
ßen noch dunkel und nur das Rau- In ihnen wohnt die Hoffnung, es als Profi
schen des Windes zu hören ist, er- zu Ruhm und Reichtum zu bringen. Nichts
hebt sich Henry Malm, 18 Jahre alt, spornt die Menschen mehr an.
von einer Holzpritsche, die unter einem Henry Malm boxt seit fünf Jahren als
Blechdach auf vier Pfählen steht. Er steigt Amateur im Leichtgewicht, in der Ge-
über zwei schlafende Hunde, schlurft zu wichtsklasse bis 60 Kilogramm. Die meis-
einem schiefen Schuppen und kramt ein ten seiner mehr als ein Dutzend Kämpfe
Paar ausgetretene Turnschuhe hervor. hat er gewonnen. Einmal gegen einen Jun-
Dann rennt der muskulöse Mann los, gen aus Accra, den er mit einem wuchtigen
in dünnem Trainingsanzug, mit leerem Kinnhaken niederstreckte. Die 300 Zu-
Bauch und müden Augen, durch die Stra- schauer im Kingsway, einem Marktplatz
ßen von Bukom, einem Armenviertel in in Bukom, tobten und brüllten »Assassin,
Ghanas Hauptstadt Accra. Er joggt vorbei Assassin«, Mörder, Mörder. Den Spitzna-
an Wellblechhütten, ruhenden Garküchen men hat er von Freunden für seine gefürch-
und den dicken Mauern der einstigen Skla- teten Schlagkombinationen bekommen.
venfestung James Fort, weiter zum Leucht- Er hat ihn sich mit Filzstift auf den rechten
turm und hinunter zum Strand der Atlan- Unterarm gemalt. Er wünschte, der Schrift-
tikküste, wo sein Hals zu kratzen beginnt, zug wäre ein Tattoo, sagt er.
weil von der Ziegenfarm nebenan der Bukom ist in Ghana eine Legende. Kein
Rauch von geräuchertem Fleisch aufsteigt. Flecken Afrikas hat auf so kleinem Raum so
Eine Stunde lang läuft Malm durch den viele Spitzenboxer hervorgebracht. Fast alle
Sand, 15 Runden im Kreis, jede 300 Meter der insgesamt zehn ghanaischen Weltmeis-
lang. Danach schnallt er sich ein Seil um ter stammen aus dem Viertel. Auch Azu-
die Hüfte, an dessen Ende ein alter Auto- mah Nelson, Ike Quartey, Alfred Kotey und
reifen hängt. 20 Minuten lang zerrt er ihn im Februar Richard Commey krönten ihre
stumm über den Strand, bei jedem Schritt Karriere mit einem WM-Gürtel und wurden
füllt sich der Reifen mit mehr Sand, das Ge- zu Volkshelden. Ihr Erfolg hat ein ganzes
wicht lässt Malms Oberschenkel brennen. Land stolz und boxverrückt gemacht.
Die einzigen Zuschauer sind ein paar Fi- Kurz vor sechs geht die Sonne über dem kannte er, welche Macht in seinen Fäusten
scher, die zwischen Bergen von Plastikmüll Meer auf. Henry Malm sitzt barfuß am steckt – und er beschloss, sie zu nutzen.
unter umgestülpten Booten hausen. Sie er- Strand und befördert Sand aus seinen Eines Nachmittags, so erzählt er es,
innern Malm täglich daran, wofür er sich Turnschuhen. Der Traum von einer Box- nahm er seinen Mut zusammen und lief
quält. Er sagt: »So will ich nicht leben.« karriere könnte in diesem Moment nicht in eine Boxschule am Ende seiner Straße.
Bukom ist eines der ältesten Viertel weiter weg sein. Er hasst das zeitige Auf- Über dem Eingangstor stand in dicken
Accras und gehört zum Stadtteil Ussher stehen, er hasst das Joggen, »aber ohne Graffiti-Lettern »Discipline Boxing Aca-
Town, einem ehemaligen Stützpunkt nie- Ausdauer wirst du nichts«, sagt er. Und demy«. Henry fand, das klang nach etwas
derländischer Kolonisatoren. In dem Slum später am Tag ist es zum Laufen zu heiß. Großem. Er fragte den Trainer, ob er mit-
drängen sich rund 20 000 Menschen, es »Das machen nur Anfänger.« machen könne, er sei ein guter Kämpfer.
gibt kein fließendes Wasser, oft fällt tage- Malm hat früh gelernt, dass in Bukom Der Coach lachte und schickte ihn gegen
lang der Strom aus. Viele Bewohner kön- das Recht des Stärkeren gilt. Wer hart zu- einen seiner besten Schüler in den Ring.
nen weder lesen noch schreiben, die Ar- schlagen kann, der hat das Sagen. Wer Henry trug das erste Mal Boxhandschuhe,
beitslosigkeit im Viertel ist hoch, die Lan- schwach ist, muss sich beugen. Als Teen- übermütig legte er los, ohne Taktik, ohne
geweile lässt sie lustlos in Plastikstühlen ager habe er sich mit einem Mitschüler um Plan. Er schlug einfach, so hart er konnte,
lümmeln, mancher hat sich aufgegeben. einen Schokoriegel geprügelt, sagt er. Hen- bis sein Gegner schnaufend in den Seilen
Die Bewohner sagen, wer in Bukom auf- ry verlor einen Eckzahn, »aber ich bekam hing. Am folgenden Tag durfte Henry mit-
wächst, der habe zwei Möglichkeiten. Er den Schokoriegel«. Danach habe sich trainieren. »Von da an wollte ich nichts
wird Fischer. Oder er wird Boxer und niemand mehr mit ihm angelegt. So er- anderes mehr machen«, sagt er.
90
JAN HELGE PETRI / DER SPIEGEL
Talent Malm, Trainer Korley: »Er hat keine Angst, du siehst es in seinen Augen«
Seit dem 15. Jahrhundert ist Bukom die Nach dem Joggen rüttelt Malm um halb will, wie spät es ist, geht er in einen Kiosk
Heimat der Ga. Für die Männer dieses Vol- sieben am Holztor seiner Boxschule. Er um die Ecke, wo hinter der Kasse eine
kes ist der Faustkampf schon lange eine will mit dem Co-Trainer an der Schlagtech- Wanduhr hängt.
Demonstration der Stärke und Mittel zur nik arbeiten, doch das Tor ist verschlossen, Malm spricht nicht viel, das kantige Ge-
Selbstverteidigung. Jede Woche trafen sie der Coach kommt nicht. sicht steckt voller Frust, Bukom hat ihn
sich am Strand, und einer reckte die Faust Mit hängenden Schultern trottet Malm schnell erwachsen gemacht. Seine Gedan-
in den Himmel und brüllte »Odododio- zurück nach Hause, unterwegs kauft er ken kreisen ständig um zwei Dinge: Wie
dioo!«, lasst uns kämpfen! sich von einem Händler eine kleine Tube werde ich ein besserer Boxer, und wo be-
Halbstarke gegen Halbstarke, Männer Flüssigseife. Dann zieht er seine Trainings- komme ich Geld her? Als Profi kann man
gegen Männer, Frauen und Kinder schau- jacke aus, holt aus einer Regentonne einen in der Woche zwischen 30 und 150 Cedi
ten zu. Feste Regeln gab es erst, als Eimer Wasser und kippt ihn sich mitten verdienen, umgerechnet 5 bis 25 Euro.
die Briten die Goldküste kolonialisierten. auf der Straße über den Kopf, an den Fü- Amateure wie Malm müssen froh sein,
So wurde dieser Sport Teil der Ga-Iden- ßen Fake-Badeschlappen von Gucci. Er wenn sie für einen Kampf vom Promoter
tität. habe gehört, das sei eine gute Marke. 25 Cedi, gut 4 Euro, erhalten. Malm gönnt
Heute gibt es in Bukom rund 400 Ama- Seine Klamotten wäscht Malm nach je- sich dann manchmal eine Orange, erzählt
teur- und 100 Profikämpfer. Die Menschen dem Training in einer Schüssel. Er besitzt er, »meine Belohnung«.
im Viertel sagen, sie atmeten, fühlten, leb- nur eine Handvoll Kleider, sein größter Eigentlich ist Ghana ein reiches Land.
ten Boxen. Henry Malm sagt: »Boxen ist Schatz ist eine Silberkette, die er in einem Es gehört zu den wichtigsten Goldförde-
alles, was ich habe.« Wäschesack versteckt. Wenn er wissen rern der Welt, die Ölvorkommen vor der
Küste sind groß, der Diamantenhandel flo- Einer der Boxstars Bukoms, Joshua det der Promoter. Ein nationaler Titel-
riert. Doch das Land leidet unter dem Clottey, wurde 2008 IBF-Champion im kampf in Accras neuer Boxarena koste 20
Fluch der Bodenschätze, wie viele afrika- Weltergewicht. Früher musste er mit zu Cedi Eintritt, knapp 3,50 Euro. »Aber die,
nische Staaten. Die Eliten sind korrupt, sie kleinen Schuhen trainieren, heute ist er die es sich leisten können, rufen mich an
teilen die Gewinne unter sich auf und rau- ein reicher Mann. Nachdem Clottey vor und wollen Freikarten haben. Völlig irre.«
ben so das eigene Volk aus. Ein Viertel der Jahren in Texas den US-Amerikaner Cal- Ntiamoah-Boakye hasst dieses Betteln,
Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, vin Green bezwungen hatte, säumten bei es zu ändern sei unmöglich. »In Ghana
mehr als eine Million Kinder sind unter- seiner Rückkehr Tausende die Straßen, um kennt jeder jeden, da bittet man gern um
ernährt. ihn zu bejubeln. Bis heute trainiert er in einen Gefallen«, sagt er. Genau deshalb
Der Hunger quält Malm jeden Tag, und der Boxschule, in der er einst anfing. Und gehe im Boxen nichts voran. »Wir haben
manchmal ist er so groß, dass ihm die Kraft mit ihm trainieren jene, die so werden wol- Riesentalente und keine Mittel, sie an die
fehlt. Ob er sich zum Frühstück Reis und len wie er. Weltspitze zu bringen. Ohne Geld keine
Bohnen oder nur Haferbrei kaufen kann, Die meisten Profiboxer in Bukom kön- hochkarätigen Gegner, keine internationa-
hängt davon ab, wie viele Cedi er in seiner nen kaum vom Sport leben. Sie fahren len Titelkämpfe.«
Hosentasche sind. Manchmal findet er kei- zum Fischen, buckeln Sandsäcke für Zie- Schon ein Amateurkampf sei eine logis-
ne, dann muss er die Fischer fragen, ob er gelbrennereien oder schlachten Ziegen. tische Herausforderung, sagt Ntiamoah-
für sie arbeiten kann. Dann schleppt er Die meisten von ihnen verschwinden in Boakye und klickt auf ein Video in seinem
Thunfische, nimmt sie aus und schneidet der Bedeutungslosigkeit, werden Boxtrai- Smartphone. Es zeigt einen Boxring am
sie mit langen Messern in Stücke. ner, vielleicht noch Polizist oder Soldat. Abend, umlagert von jubelnden Men-
Malm verachtet diesen Job, er bringt Immerhin etwas. schen, aufgestellt mitten auf einer Kreu-
wenig ein und lässt seine Finger stinken. Der Mann, der aus den Träumen der zung in Bukom, darüber an einer Wäsche-
»Ich bin kein Fischer«, sagt er. »Ich bin Kinder und Eltern ein Geschäft macht, leine zwei Glühbirnen, die gerade so hell
Boxer.« Doch die Not zwingt ihn, seinen heißt Alex Ntiamoah-Boakye. Er ist leuchten, dass die zwei Jungen in der Dun-
Stolz zu schlucken. Promoter und sitzt in einem dunklen Büro kelheit sehen, wo sie hinschlagen.
Den Fischer, der ihm ab und zu etwas unter einer summenden Klimaanlage an Boxen ist ein schmutziges Geschäft, vol-
zu tun gibt, nennt er »Papa«. Der Mann Bukoms Hauptstraße; vor ihm auf dem ler Krimineller, Großmäuler und Straßen-
ist nicht sein leiblicher Vater. Dieser starb, Schreibtisch drei Telefone, von denen ei- schläger – das war es schon immer. Für
als er drei Jahre alt war. Malm sagt, er hät- nes alle drei Minuten klingelt. Ntiamoah- Ghanas Regierung scheint das der Grund
te gern einen richtigen Vater. Einen, den Boakye hat sein Geld mit Immobilien ver- zu sein, lieber den Fußball zu fördern. »In
er um Rat fragen kann. dient, viel davon steckt er ins Boxen. »Oft deren Augen betreiben wir den Armeleute-
Seine Mutter hat wenig Zeit. Sie ver- mache ich Miese«, sagt er. sport«, sagt Peter Zwennes, Präsident der
kauft Regenschirme an einer Kreuzung in Für Boxen ist in Ghana kein Geld da. Die nationalen Boxorganisation. Dabei halte
Accras Zentrum, ihre Altersvorsorge sind einheimischen TV-Anstalten zahlten nicht das Boxen die Gesellschaft zusammen.
ihre sechs Kinder. Henry ist die größte für die Übertragungen, sagt Ntiamoah-Boa- Kein Sport habe dem Land mehr Weltmeis-
Hoffnung. Sie sagt: »Er ist ein starker Jun- kye, weil niemand Fernsehgebühren ent- ter beschert. Drei seiner vier olympischen
ge. Er wird Ghanas nächster Weltmeister.« richte. »Die Ticketpreise sind ein Witz«, fin- Medaillen hat Ghana im Boxen errungen.
»Was haben wir Großes im Fußball er- ein Raubtierbändiger. »Was willst du in ausgepumpt am Boden, der Schweiß rinnt
reicht?«, fragt Zwennes. »Es ist traurig.« den Seilen?«, zischt er Malms Gegner an. ihm über den Oberkörper, sammelt sich
Am Nachmittag schlägt Henry Malm sei- »Komm schon! Wehr dich!« Nach jeder in den Furchen seiner Bauchmuskeln. Ei-
ne Fäuste in einen geflickten Sandsack, er Runde spritzt er den Jungen Trinkwasser gentlich sollte am Abend ein Trainings-
ist der Erste in der Discipline Boxing Aca- aus Plastiktüten ins Gesicht. Wasser aus kampf gegen einen anderen Boxklub statt-
demy. Die Sonne knallt ihm auf den Kopf, Flaschen ist Luxus. finden, aber der hat kurzfristig abgesagt.
ein Dach gibt es nicht, wenn es regnet, fällt »Henry hat das, was man nicht trainie- »Die haben Angst vor uns«, tönt Malm
das Training aus. Die Boxschule ist gerade ren kann«, sagt Korley. »Er hat keine und schlägt sich mit der Faust auf die Brust.
so groß wie ein Klassenzimmer, begrenzt Angst. Du siehst es in seinen Augen.« Nie Er wolle so schnell wie möglich ins Profi-
von vier braun gestrichenen Mauern, die habe er Malm vor einem Gegner zurück- geschäft einsteigen, mehr Geld verdienen,
gequetscht zwischen Wellblechhütten ste- weichen sehen. Einmal habe Malm einem sagt er. Dafür braucht er einen Manager –
hen. Der Ring misst nur vier mal vier Me- Nachwuchsboxer aus Ghanas National- jemanden, der ihn als Investition in die Zu-
ter, die Seile sind rissig, der Boden ist aus team eine Kopfnuss verpasst, weil der sich kunft sieht. Er hat keine Ahnung, woher der
Beton. »Wer hier k. o. geht, den knockt es bei einem Freundschaftskampf ständig kommen soll, einen anderen Plan hat er
zweimal aus«, sagt Suleyman Korley. wegduckte. »Manchmal ist er noch zu sehr nicht. Sein Plan ist es, ein Held zu werden.
Korley ist seit 21 Jahren Boxtrainer, ein Heißsporn.« Ansonsten bringe Malm für Nachts in seinen Träumen, erzählt
grimmig blickender Mann, der viel flucht. das Boxen im Leichtgewicht beste Voraus- Malm, fliege er über den Atlantik, weg
Alles, was er über Boxen weiß, hat er aus setzungen mit. Korley sagt: »Er kann ein von Bukom, weg von den Fischern, in die
Büchern. Geld macht er mit privaten Box- Champ werden, wenn er gesund bleibt.« USA, nach Las Vegas, dem Boxmekka. In
stunden für Accras Oberschicht. Jeden Korley besorgt neue Boxhandschuhe seinen Träumen ist er so gut wie der Ame-
Morgen trainiert er den Bruder des ehe- und neue Helme. Er sieht zu, dass die rikaner Floyd Mayweather Jr., Ex-Box-
maligen Präsidenten John Mahama. Nach- Amateure im Team genügend Kämpfe und weltmeister und bestbezahlter Sportler
mittags rast er auf dem Motorrad nach Bu- die Profis respektable Gegner bekommen. der Welt, sein Idol.
kom in die Boxschule. Seine Schüler müsse Er predigt, dass Boxen wichtig, aber nicht »Ich habe noch nichts erreicht«, sagt
er nicht motivieren, sagt er. »Ihre Moti- alles sei. Wenn er erfährt, dass jemand Henry Malm und starrt in den roten
vation ist es, keine Wahl zu haben.« nicht zur Schule geht, erzählt er ihm die Abendhimmel. Nur ein talentierter Boxer
Zum Aufwärmen scheucht der Trainer Geschichte der Boxikone Azumah Nelson. zu sein, der sich täglich gegen das Elend
die neun Jungen im Entengang über den Wie der als Kind nie lesen und schreiben behauptet – das ist in seiner Welt nichts
Boden und lässt sie 500 Seilsprünge ma- lernte. Wie ihn das eigene Management wert. Matthias Fiedler
chen. Danach schickt er Malm und einen später um viel Geld betrog. Dann fragt
Trainingspartner zum Sparring. Korley den Schulschwänzer: »Willst du
In sechs Runden zu drei Minuten fliegen Verträge lesen können oder in die Röhre Video
Fischen oder
die Fäuste, begleitet vom Raunen der üb- gucken wie Nelson?« kämpfen
lichen Zuschauer von der Straße. Wer die Nach drei Stunden am Sandsack und spiegel.de/sp132019boxen
Deckung zu tief hält, dem schlägt Korley im Ring, nach 200 Liegestützen und oder in der App DER SPIEGEL
mit einem Stock auf die Handschuhe wie 300 Rumpfbeugen kauert Henry Malm
93
Sport
Letzter
Inzwischen ist viel passiert. Die Natio- ren nur noch Neuer und Toni Kroos zur
nalmannschaft spielt nur noch zweitklas- Nationalmannschaft. Schwer zu sagen, wie
sig. Selbst gegen schwache Serben, die am lange noch.
Mann
Mittwoch ein Aufwärmgegner für das EM- Nach anfänglichem Zögern will Löw
Qualifikationsspiel gegen die Niederlande beweisen, dass er kein Bremser ist, son-
am Sonntag sein sollten, reichte es nur zu dern ein Erneuerer, ein Reformer. Wäh-
einem 1:1. rend Neuer wegen schwankender Leistun-
Fußball Neuer oder ter Stegen – Löw ist dabei, seine Auswahl umzu- gen kritisiert wird, spielt sein Konkurrent
die Entscheidung über die bauen. »Wir stehen vor einer neuen Zeit- Marc-André ter Stegen, 26, beim FC
rechnung«, sagt er. Er hat altgediente Spie- Barcelona eine starke Saison. In TV-
Nummer eins im deutschen Tor ler aus dem Kader geworfen. Mit jungen Expertenrunden wird nicht darüber de-
wird zeigen, wie groß der Profis will der Bundestrainer »mehr Tem- battiert, ob ter Stegen die neue Nummer
Reformeifer des Bundestrainers ist. po, Dynamik und Zielstrebigkeit« in das eins wird, es stellt sich die Frage: Wann
Spiel bringen. fällt Neuer?
Sané ist das Gesicht der neuen Natio- Der Konkurrenzkampf der jungen ge-
Jeden
Mittwoch und
Sonntag
Wissenschaft+Technik
»Denkbar ist, dass es prinzipiell unvorhersehbare Klimaphänomene gibt.« ‣ S. 98
AFP
Neben einer Wand aus Gletschereis wandern zwei französische Forscher über den Archipel Madre de Dios
(»Mutter Gottes«). Die chilenische Regierung möchte für diese Inselgruppe im Süden des Andenstaates
demnächst den Status als Weltnaturerbe beantragen. In die beeindruckende Karstlandschaft grub Wasser
eine Vielzahl von Höhlen. Den patagonischen Ureinwohnern, den Kawésqar, dienten diese als Grab-
und bisweilen als Wohnstätten.
Einwurf
4000
schon bei den ersten Problemen, die in Als ich selbst Kinder bekam, fiel es mir
Mathe auftreten, eine Schwäche in dem schwer, für sie altersgerechte Sachbücher
Fach attestieren – meist, weil sie selbst zu finden. Also habe ich angefangen,
Angst davor hatten. Wenn sie dann das selbst welche zu schreiben.
erste Mal ihre Kinder dabei erleben, wie SPIEGEL: Mitte der Neunziger erfand
sie etwas nicht verstehen oder zu schwer eine amerikanische Lehrerin die »Baby Sterne bewegen sich offenbar gemein-
finden, sind sie schnell dabei zu sagen: Einstein«-Reihe: Sie brachte mithilfe von sam nur 100 Lichtjahre von der Erde ent-
»Weißt du was, ich war auch nicht gut in Handpuppen Kindern in kurzen Videos fernt durchs Weltall. Astrophysiker der
Mathe und habe trotzdem Erfolg im den Komponisten Ludwig van Beethoven Universität Wien haben diesen Strom
Leben. Also geht das in Ordnung.« oder den Maler Vincent van Gogh nahe. entdeckt, als sie mithilfe von Daten der
SPIEGEL: Wie sollen die Babybücher da Planen Sie etwas Ähnliches? Weltraumsonde »Gaia« die Bewegung
helfen? Ferrie: Ich will niemandem vorgaukeln, Hunderttausender Sterne in der Milch-
Ferrie: Ich möchte gar nicht unbedingt, dass die Kinder durch die Bücher einen straße analysierten. Weil diese Sonnen
dass kleine Kinder schon die Quanten- Wissensvorsprung erlangen. Darum geht vergleichsweise nah sind, können an
physik verstehen. Ich möchte vielmehr es mir nicht. Man weiß heute ja auch, ihnen gut die Lebenszyklen von
den Eltern helfen zu verstehen, dass das dass diese Konzepte ihre Versprechen Sternhaufen und das Gravitationsfeld
alles gar nicht so sonderlich kompliziert nicht eingehalten haben. der Milchstraße untersucht werden.
Medizin ten Einsatz des Mittels besteht kein Entstehung von NHL liefern. »Es fehlt
»Schauprozess« um erhöhtes Krebsrisiko«, konstatiert Daniel
Dietrich von der Universität Konstanz
jedoch ein biologischer Mechanismus, der
erklären könnte, wie Glyphosat den
Glyphosat? gegenüber dem SPIEGEL. Der Professor Krebs auslösen soll«, sagt Dietrich. Ganz
für Umwelttoxikologie hält die Hardeman- anderer Meinung ist Beate Ritz, Profes-
Edwin Hardeman versprühte 26 Jahre Verhandlung für einen »Schauprozess«. sorin für Epidemiologie an der University
lang das Monsanto-Unkrautvernichtungs- Epidemiologische Studien würden zwar of California in Los Angeles, die vor dem
mittel Roundup (Wirkstoff: Glyphosat) einen »denkbaren Zusammenhang« US-Gericht als Expertin auftrat. Mit
auf seinem Grundstück. 2015 erkrankte zwischen Glyphosatbelastung und der einem »vernünftigen Maß an wissenschaft-
der heute 70-Jährige an Non-Hodgkin- licher Sicherheit« würden sowohl Glypho-
Lymphom (NHL), einer Form von Lymph- sat als auch Roundup NHL verursachen,
drüsenkrebs. Hängt beides miteinander schreibt Ritz in ihrer Stellungnahme.
zusammen? Eine Laienjury eines US-Bun- Warum sich die Wissenschaftler immer
desbezirksgerichts in San Francisco hat noch nicht einig sind, erklärt Dietrich mit
diese Frage am Dienstag einstimmig einer »unterschiedlichen Gewichtung«
bejaht, ein schwerer Rückschlag für den der verfügbaren Daten. Zudem gebe es
inzwischen zu Bayer gehörenden US-Saat- einen Mangel an aussagekräftiger For-
gutriesen, dem in einem zweiten Teil- schung zum Thema. »Wir brauchen epide-
verfahren nun Schadensersatzansprüche miologische Langzeitstudien, in denen
IMAGO STOCK
in Milliardenhöhe drohen. mal jemand zehn Jahre oder länger die An-
Dabei ist der Wissenschaftlerstreit, ob wender solcher Pestizide begleitet«, sagt
Glyphosat krebserregend ist, in Wahrheit Dietrich, »dann könnten wir die Sache
noch keineswegs beendet. »Beim korrek- Pestizideinsatz in der Landwirtschaft auch endlich zu den Akten legen.« PHB
97
MOMENT OPEN / GETTY IMAGES
Kumulonimbus-Wolken
E
s ist eine schlichte Zahl, doch wird Um sich jedoch konkret auf das Kom- ihrer Zusammensetzung unterscheiden sie
sie das Schicksal dieses Planeten mende vorzubereiten, taugten die Modelle sich: Die einen bestehen aus winzigen
bestimmen. Sie ist leicht zu be- der Klimaforscher nicht. Als Entschei- Wassertröpfchen, andere enthalten viele
schreiben, doch vertrackt schwie- dungshilfe beim Bau von Deichen und Ent- kleine Körnchen aus Eis.
rig zu berechnen. Die Forscher nennen sie: wässerungskanälen seien sie ungeeignet. Jeder dieser Wolkentypen wirkt anders
»Klimasensitivität«. »Unsere Computer sagen nicht einmal mit auf das Klima ein. Und vor allem: Sie wir-
Sie gibt an, um wie viel sich die Durch- Sicherheit voraus, ob die Gletscher in den ken kräftig.
schnittstemperatur auf der Erde erwärmt, Alpen zu- oder abnehmen werden«, er- Selbst Laien kennen den Effekt. Sobald
wenn sich die Konzentration der Treib- klärt Stevens. sich eine Wolke vor die Sonne schiebt,
hausgase in der Atmosphäre verdoppelt. Die Schwierigkeiten, denen sich er und wird es kühler. Umgekehrt liegen die Wol-
Schon in den Siebzigerjahren wurde sie seine Forscherkollegen gegenübersehen, ken im Winter oft wie ein Deckel über dem
mithilfe primitiver Computermodelle er- lassen sich in ein Wort fassen: Wolken. Die Land, was die Wärme am Boden hält.
mittelt. Die Forscher kamen zu dem träge über den Himmel ziehenden Gebirge Natürliche Prozesse im Computer zu si-
Schluss, dass ihr Wert vermutlich irgendwo aus Wasserdampf sind der Fluch aller mulieren wird immer dann besonders hei-
zwischen 1,5 und 4,5 Grad liegen dürfte. Klimaforscher. kel, wenn kleine Ursachen große Wirkung
An diesem Ergebnis hat sich bis heute, Zunächst ist es die enorme Vielfalt ihrer hervorbringen. Für keinen anderen Faktor
rund 40 Jahre später, nichts geändert. Und Erscheinungsformen, die Wolken so unbe- im Klimageschehen gilt das so sehr wie für
genau darin liegt das Problem. rechenbar macht. Mal bilden sie zarte die Wolken. Alles Gewölk am Himmel zu-
Die Rechenleistung der Computer ist auf Streifen, mal treiben sie in Herden bau- sammengenommen würde, zu Wasser kon-
das Vielmillionenfache gestiegen, aber die schiger Gebilde dahin, oder sie türmen densiert, die Erde mit einem Film von ge-
Vorhersage der globalen Erwärmung ist so sich zu kilometerhohen Unwetterfronten rade einmal 0,1 Millimeter Dicke bede-
unpräzise wie eh und je. »Es ist zutiefst frus- auf. Einige wabern hoch oben als licht- cken. Diese winzige Menge Wasser reicht
trierend«, sagt Bjorn Stevens vom Hambur- durchlässige Schleier am Himmel, andere aus, das Klima massiv zu beeinflussen.
ger Max-Planck-Institut für Meteorologie. schließen sich zu einer dichten, tief hän- Das verdeutlicht eine weitere Zahl: Ver-
Seit mehr als 20 Jahren forscht er nun genden Decke zusammen. Und auch in ringerte sich der Anteil der tief hängenden
schon auf dem Feld der Klimamodellie-
rung. Er hat miterlebt, wie die Modell-
Erde, auf der die Wissenschaftler das Klima
Die Mächtige und die Tückische Zwei Wolkengattungen der Klimaforscher
simulieren, immer komplizierter und rea-
listischer wurde. Die Forscher setzten Mee- Kumulonimbus-Wolken
Sonnenlicht
resströme in den Ozeanen in Bewegung, Q reichen typischerweise in Höhen bis 13 Kilometer
und sie ließen Wälder auf den Kontinenten Q Einerseits wird Sonnenstrahlung reflektiert, andererseits
wachsen. Stevens hat selbst viel beigetra- wird von der Erde abgestrahlte Wärme festgehalten.
gen zum Fortschritt. Und doch musste er Q Abkühlungs- und Wärmeeffekt heben sich wechselseitig auf.
sich immer wieder aufs Neue eingestehen, Q regionaler Einfluss auf die Temperatur
dass seine Zunft, was die Vorhersage des Q bestimmt von großräumiger Luftbewegung
Klimawandels betrifft, auf der Stelle tritt.
Es ist nicht leicht, dieses Versagen der
Öffentlichkeit zu vermitteln. Stevens will
ehrlich sein, er will keine Probleme vertu- Stratokumulus-Wolken
schen. Trotzdem möchte er nicht, dass die Q tief in ein bis zwei Kilometer Höhe hängend
Leute denken, die jüngsten Jahrzehnte der Q hoher Rückstrahlungseffekt
Klimaforschung seien umsonst gewesen. Q kühlende Wirkung
»Die Genauigkeit der Vorhersagen ist Q globaler Einfluss auf die Temperatur
nicht besser geworden, aber unser Vertrau- Q bestimmt von kleinräumiger Luftbewegung
en in sie ist gewachsen«, sagt er. Die For-
scher hätten alles geprüft, was der globalen Sonnenlicht
Erwärmung vielleicht entgegenwirken
könnte. »Nun sind wir sicher: Sie kommt.«
Wärme
Genau das, meint Stevens, sei die Bot-
schaft gewesen, welche die Politiker ge- Wärme
braucht hätten, um sich auf das Pariser
Klimaabkommen einigen zu können. »Wir
haben da einen entscheidenden Beitrag
geleistet«, sagt er.
99
Stratokumulus-Wolken
Wolken auf Erden auch nur um Zusammen mit Kollegen
vier Prozentpunkte, würde es vom Jet Propulsion Laborato-
weltweit schlagartig um rund ry und vom MIT hat Caltech-
zwei Grad wärmer. Der gesam- Klimatologe Schneider eine
te Temperatureffekt, der im Forscherallianz geschmiedet.
Pariser Abkommen als gerade Ihr Ziel: die »Klimamaschine«
noch hinnehmbar bewertet zu bauen. So nennen Schnei-
SPIEGEL-Gespräch
die Computer selbstständig nach Mustern kritische Teil des Klimageschehens künftig
suchen könnten. Genau darin liegt die Stär- besser vorhersagbar sein. Allerdings belief live im Bucerius
ke der KI-Programme, die beispielsweise sich der simulierte Zeitraum zunächst nur
auch für Gesichtserkennung eingesetzt auf 40 Tage. »40 Tage und 40 Nächte, für
Kunst Forum
werden. Klimaforscher hat das Symbolwert«, sagt
Bisher allerdings waren die Ergebnisse
enttäuschend. Die Computer, so zeigte
der Hamburger Forscher – so lange trieb
Noah mit der Arche durch die Sintflut.
Der Widerstand
sich, tun sich schwer damit, Muster, die sie Aber natürlich weiß Stevens: Um den gegen Hitler
anhand des heutigen Klimas erlernt haben, Klimawandel darzustellen, muss er die
in demjenigen der Zukunft wiederzuerken- Modelle für die Dauer von 40 Jahren
nen. Auch fehlen wichtige Daten, etwa laufen lassen. Bis dahin ist es noch ein wei-
© Ulrich Dahl
über die Feuchtigkeit und die Strömungen ter Weg.
innerhalb der Wolken. Schneider jedoch Globale Vorhersagen aus Pasadena,
glaubt zu wissen, wie er solcherlei Proble- regionale aus Hamburg – es wäre schön,
me umschiffen kann. wenn alles so klappte, wie es sich die bei-
Stevens wünscht seinem Freund in Pasa- den Kontrahenten vorstellen. Einstweilen
dena viel Glück mit seiner Klimamaschine. allerdings ist nur gewiss, dass die Mensch-
»Wir können jeden Fortschritt brauchen«, heit noch einige Zeit auf handfestere
sagt er. An einen Durchbruch aber mag er Klimaprognosen wird warten müssen.
nicht recht glauben. Auch Stevens hat sich Und selbst wenn sich die Wolken irgend-
lange mit dem Stratokumulus-Problem be- wann den Gleichungen der Forscher fügen,
fasst und ist dabei zu der Überzeugung wird die Welt dann sicher vor Über-
gelangt, dass es sich derzeit mit Klima- raschungen sein? Keiner der beiden For-
modellen noch nicht knacken lasse. scher mag da Entwarnung geben. »Wir
Der Hamburger Max-Planck-Forscher betreten unkartiertes Terrain«, sagt Prof. Dr. Wolfgang Benz
hat sich deshalb einem anderen Typ Wol- Schneider. »Da gibt es keine Gewiss-
ken zugewandt, den Kumulonimbussen. heiten.«
Das sind mächtige Gewitterwolken, die Gerade hat er ausgerechnet, was pas- Vor 75 Jahren scheiterte das Attentat auf
sich mitunter, dunkel und bedrohlich, hö- siert, falls sich die Stratokumulus-Wolken Hitler. Die Täter werden als Helden gefeiert,
her als jedes Gebirge bis an den Rand der über den subtropischen Ozeanen großflä- ebenso wie die Mitglieder der Weißen Rose.
Stratosphäre emporrecken. chig auflösen sollten. Seinen Modellrech- Doch der Widerstand gegen die National-
Zwar habe diese Wolkengattung auf die nungen zufolge würde das zwar erst bei sozialisten war vielfältig. Warum dauerte es
Durchschnittstemperatur der Erde einen einer Kohlendioxidkonzentration von so lange, bis auch der Mut von Deserteuren
vergleichsweise geringen Einfluss, erklärt 1200 ppm geschehen. Dieser Wert liegt oder Kommunisten gewürdigt wurde?
Stevens. Denn sie reflektieren ungefähr dreimal so hoch wie der heutige, selbst in
Über diese Fragen diskutieren die
ebenso viel Sonnenstrahlung ins All, wie den düstersten Treibhausszenarien gilt es
SPIEGEL-Redakteure Uwe Klußmann
sie andererseits von der Erde abgestrahlte als unwahrscheinlich, dass er erreicht wird.
und Eva-Maria Schnurr mit dem Berliner
Wärme festhalten. Doch auch Kumulo- Trotzdem war Schneider überrascht, als
nimbusse sind ein wichtiger Klimafaktor. er sah, wie sich in seinem Modell die Wol- Historiker Prof. Dr. Wolfgang Benz.
Denn diese Wolken transportieren Ener- kendecke über Pazifik und Atlantik ver-
gie. Verändert sich ihre Zahl oder ihre Ver- flüchtigte und die Welttemperatur darauf-
teilung, dann kann dies zur Verschiebung hin unaufhaltsam kletterte – um volle acht Dienstag, 2. April 2019, 20 Uhr
großer Wettersysteme oder ganzer Klima- Grad. »Es scheint dort eine Nichtlinearität Bucerius Kunst Forum
zonen beitragen. zu geben, die wir bisher nicht kannten«, Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg
Vor allem eine Eigenschaft macht die sagt er. »Das zeigt, wie schlecht die Stra-
wuchtig-spektakulären Kumulonimbus- tokumuli bisher verstanden sind.«
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und an allen
Wolken für Stevens interessant: Sie sind Stevens unterdessen fürchtet eher, dass
bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich.
beherrscht von kräftigen Konvektions- es die Kumulonimbus-Wolken sind, die un- Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro zzgl. Gebühren)
strömen, die großräumig genug wirbeln, erwartet Unfrieden stiften könnten. Tro- berechtigt am Veranstaltungstag zum Besuch der
um für moderne Supercomputer berechen- pische Sturmsysteme seien berüchtigt für Ausstellung »Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre«
bar zu sein. Große Hoffnungen setzt ihre Unberechenbarkeit. »Der Monsun (9. Februar bis 19. Mai 2019).
der Forscher auf eine neue Generation zum Beispiel könnte anfällig für plötzliche
von Klimamodellen, die gerade an den Änderungen sein«, meint er. Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von
Start gehen. Möglich sei, dass die Berechnungen der 19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste
Während die meisten ihrer Vorgänger feinmaschigen Computermodelle es er- geöffnet. Änderungen vorbehalten.
für Berechnungen ein Raster mit einer Auf- laubten, solche Klimakapriolen frühzeitig
lösung von rund hundert Kilometern über zu prophezeien. »Denkbar ist aber auch,
die Erde legen, haben diese neuen Modelle dass es prinzipiell unvorhersehbare Klima-
die Maschenweite auf fünf oder sogar noch phänomene gibt«, sagt Stevens. »Dann
weniger Kilometer verringert. Um ihre können wir noch so genau simulieren und
Verlässlichkeit zu testen, hat Stevens, zu- kommen trotzdem zu keinen verlässlichen
sammen mit Kollegen in Japan und den Ergebnissen.«
USA, eine erste Vergleichssimulation Das ist die schlimmste aller Möglichkei-
durchgeführt. ten. Denn dann steuert die Menschheit
Dabei zeigte sich, dass diese Modelle auch weiterhin ins Ungewisse.
die tropischen Sturmsysteme recht gut ab- Johann Grolle
bilden. Es scheint also, als würde dieser
101
Wissenschaft
Mikro-Spurensuche
Tierbestimmung mit Umwelt-DNA
Herkömmliche Methoden, um die Arten- Forscher filtern daher auch aus Wasser- Diese Umwelt-DNA (eDNA) kann
vielfalt in einem Biotop zu untersuchen und anderen Umgebungsproben das Erbgut, zum Beispiel gewonnen werden aus: • Bodenproben
(Monitoring), sind zeitaufwendig, mitunter das die Organismen darin hinterlassen – • Gewässern (Meere, Seen, Flüsse) • Sediment- und
unvollständig und oft ein Eingriff in die etwa durch Ausscheidungen, Haut, • Blüten (DNA von Insekten, die Eisbohrkernen
Natur (etwa durch Einfangen). Schuppen, Haare oder Verwesung. die Pflanzen aufsuchen) • Schnee
C. KRUTZ / WILDLIFE
Fachblatt »Biological Conservation«, kön-
ne die neue Methode das Monitoring deut-
lich verbessern.
Thomsen wiederum wollte mit seiner
Insektenstudie ein neues Anwendungsfeld
für eDNA öffnen – bislang stammen die
meisten Proben aus Gewässern. »Insekten
hinterlassen aber eine Menge Spuren, die
wir nutzen können«, sagt er. An den Pflan-
zen aus seiner Studie fand sich Erbgut von
mehr als 130 Arten – von Fliegen, Käfern,
Schmetterlingen, Bienen, Wanzen.
CAROLINE SEIDEL / DPA
An einer Pflanze die DNA von über 130 Insekten Die Taxonomie, also die Kunst der Arten-
bestimmung, leidet unter Nachwuchsman-
gel. Moderne Genomanalysen könnten sie
zumindest teilweise ersetzen.
forscht, hat Jacobs das eDNA-Projekt Wo sich die Groppe wohlfühlt, gesundet Als Nächstes will sich Thomsen wieder
entwickelt. die Natur: Der dunkel gesprenkelte Fisch dem Wasser zuwenden. Für sein Projekt
Die Groppe steht symbolisch für eine galt im Emschergebiet fast ein Jahrhundert »Coast_Sequence« setzt er auf die Hilfe
Art Wiedergutmachungsaktion gegenüber lang als ausgestorben, sein Lebensraum der Bevölkerung. Ab September sollen
der Natur. Dass die Emscher, einst dre- vergiftet von den stinkigen Abwässern der Scharen Freiwilliger entlang der däni-
ckigster Fluss Deutschlands, und ihre Ne- Schwerindustrie im Ruhrgebiet – bis 1997 schen Küsten Wasser- und Bodenproben
benläufe überhaupt wieder eine solche in einem kleinen Zufluss ein paar Exem- sammeln. Thomsen möchte zum Bei-
Vielfalt an Lebewesen beherbergen, liegt plare wiederentdeckt wurden. spiel herausfinden, welchen Einfluss der
an einem gigantischen Renaturierungspro- Von diesen Groppen haben Jacobs und Salzgehalt eines Gewässerabschnitts auf
jekt. Seit 1992 werden die Abwässer in ein seine Kollegen einige in bereits renaturier- die Zusammensetzung der Meeresfauna
400 Kilometer langes unterirdisches Ka- te Gewässer gesetzt – und wollen nun wis- hat.
nalsystem verlegt, 350 Kilometer Fließ- sen, ob die seltenen Tiere dort heimisch »Das Leben ist in Ozeanen entstanden«,
gewässer in eine natürliche Form zurück- werden. sagt er, »und wir wissen längst noch nicht,
gebaut. 2021 soll alles fertig sein, Kosten: »Das Keschern schadet den Tieren zwar was dort alles vorkommt.« Julia Koch
rund 5,4 Milliarden Euro. nicht«, sagt Biologe Hempel, »aber es ist
? Tag-
Teichfrosch pfauenauge
Im Labor werden die DNA-Bruchstücke Barcodes für die Supermarktkasse, Mit der Barcodemethode kann auch nach vielen Arten zugleich ge-
vervielfältigt, mit Sequenziergeräten ausge- für jede Art spezifisch. So erfahren sucht und damit die Zusammensetzung eines Biotops beurteilt werden.
lesen und durch bioinformatische Metho- die Forscher, ob DNA der Arten, für Informationen über die genaue Anzahl, das Geschlecht und das Alter von
den mit bekannten Erbgutdaten verglichen. die sie sich interessieren, in einer Individuen liefert die eDNA-Methode allerdings nicht. Sie kann daher
Die Sequenzen sind, vergleichbar mit den Probe vorhanden ist. das klassische Monitoring nur ergänzen.
103
Technik
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Ausstellungen
Heikle Überhöhung
Diese Bonner Schau mit dem Titel »On
the Wall« lebt von der Strahlkraft eines
besonderen Toten. Sie will zeigen, welches
Echo der 2009 verstorbene Popstar Michael
Jackson in der Kunstwelt ausgelöst hat,
wie er Fotografen, Maler und andere
Künstler zu Werken inspirierte. Entwickelt
wurde sie von der National Portrait Gallery
in London und dort 2018 eröffnet – in dem
Jahr, in dem der Musiker seinen 60. Ge-
burtstag gefeiert hätte (SPIEGEL 25/2018).
Der Direktor des Museums dankte damals
den Nachlassverwaltern Jacksons für ihr
»Vertrauen«, das Projekt war von einem
freundlichen Unterton geprägt. Seit diesem
Freitag gastiert die Ausstellung in der Bun-
deskunsthalle in Bonn. Allerdings hat die
Diskussion um »Leaving Neverland« den
Kontext der gezeigten Werke verändert. In
dem Dokumentarfilm behaupten zwei
Männer, als Kind von Jackson missbraucht
worden zu sein. So wirkt jegliche Überhö-
hung plötzlich heikel – und in Bonn wird
sie auch noch staatlich subventioniert. Die
Ausstellungshalle wird jährlich mit 21 Mil-
lionen Euro bezuschusst, das Geld kommt
aus dem Budget der Kulturstaatsministerin
COURTESY OF THE ARTIST. © DAVID LACHAPELLE
Sachbücher nen möchte und darum die Aussage ver- genehme Wahrheit oder das Eingeständnis
Es ist nur eine Phrase, Hase meidet. Der Journalist Oliver Georgi hat
nun die Eigenarten und Mechanismen
von Konflikten und Schwächen. Die gegen-
wärtige Öffentlichkeit sei extrem schaden-
Wenn wieder mal »vollstes Vertrauen« der politischen Floskel in einem lesenswer- froh und Fehlern gegenüber intolerant. Es
ausgesprochen wird und der Rauswurf ten Buch analysiert: »Und täglich grüßt geht um Unterhaltung: Wer gewinnt, wer
droht, wenn Einigkeit betont wird, um das Phrasenschwein«, eben erschienen im verliert? Bei all den Reden, Grußworten,
Streit zu verschleiern, und man ein strate- Dudenverlag (224 Seiten; 18 Euro). Der Talkshowauftritten werden die Politprofis
gisches Konzept ankündigt, statt Ratlosig- Autor macht nicht allein die Politiker für zu Meistern der Aussagevermeidung.
keit zuzugeben – dann wandern wir im die Geschwurbelkultur verantwortlich, Sind wir wirklich bereit für Politiker, die
großen Reich der politischen Phrase. Die er zeigt auch, warum Medien und Bürger zu ihrer Fehlbarkeit, ihren Schwächen
Krise der postmodernen, liberalen Demo- das Wischiwaschi eigentlich erst provo- und Spleens stehen? Georgis gelungenes
kratie lässt sich längst an der politischen zieren. Eine Rede, die nichts aussagt, scha- Buch entlässt seine Leserinnen und Leser
Alltagssprache ablesen, die Wähler scho- de einem Politiker weniger als eine unan- in die Selbstkritik. NM
109
Kultur
Ein
Schurkenstück
Literatur Der Schriftsteller Christoph Hein hat sein
Leben in Anekdoten aufgeschrieben. Mit der Wahrheit
nimmt er es in »Gegenlauschangriff« allerdings
nicht so genau, und er verteidigt seine Gegenwahrheit
mit allen Mitteln. Von Volker Weidermann
A
m Anfang schien das alles nur ein freiheit, Angst im Leben eines offenen,
Missverständnis zu sein. Eine ungeschützten, liebenden Menschen an-
Verwechslung, kann ja passieren, richtet. Die Icherzählerin und Heldin des
Christoph Hein wird in wenigen Buches, Claudia, hat sich als Folge der
Wochen 75 Jahre alt. Ein Leben voller Ungerechtigkeit, die sie am Beispiel ihrer
Kämpfe und wichtiger Bücher, mit Demü- besten Jugendfreundin hautnah erleben
tigungen und Siegen hat der Schriftsteller musste, für ihr späteres Leben einen Käl-
schon gelebt. Es geht um eine Geschichte tepanzer zugelegt. Sie hat – als Folge der
in seinem neuen Buch »Gegenlauschan- unbarmherzigen Brutalität des Systems –
griff. Anekdoten aus dem letzten deutsch- in Drachenblut gebadet. Das heißt: See-
deutschen Kriege«, das gerade erschienen lisch abgeschottet, unfähig zu lieben, sich
ist*. Sie handelt vom SPIEGEL, von einem Menschen gegenüber zu öffnen, lebt sie
ehemaligen DDR-Korrespondenten dieses ein Leben in innerer Sicherheit. Ein groß-
Hauses, einem Gespräch im Jahr 1993 und artiger Text über die Verheerungen im
dem Vorwurf gegen den Korrespondenten Leben eines Menschen.
von damals, ein »Schurke« zu sein, bezie- Aufgeschreckt durch den Erfolg dieser
hungsweise, wie Hein schreibt: »Für mich Novelle, war das Erscheinen des nächsten
hat er sich damit selbst als Schurke ent- Buches, Heins erstem Roman »Horns
larvt.« Was war da los? Ende«, ungleich schwieriger. In einem der
Spulen wir einen Moment zurück: Texte seines neuen Buches beschreibt
Christoph Hein war in den letzten Jahren Hein die Kämpfe um dieses Werk. Der
der DDR eine der wichtigsten literarischen Satz des Romans hatte lange in der Dru-
Stimmen jenes Staates. Begonnen hatte er ckerei auf Freigabe gewartet – die nicht
als Bühnenautor, wechselte aber, nach zer- erfolgte. Bis schließlich ein Drucker privat Autor Hein mit Sängerin Tamara Danz (l.)
mürbenden Kämpfen mit der Zensur, ver- die Druckmaschinen anlaufen und für sich,
mehrt zur Prosa, in der Hoffnung, in dieser ein paar Freunde und den Autor selbst
Form freier, direkter schreiben zu können. einige Exemplare drucken ließ. Exklusiv dass die Kultur Westeuropas insgesamt ge-
Was auch in Maßen gelang, mithilfe von und unzensiert. Ein Jahr darauf ließ Heins fährdet sein wird.« Hein hatte die Zenso-
Glück, Geschick und mutigen Helfern. Verleger Elmar Faber vom Aufbau Verlag ren im Vorfeld seiner Rede geschickt hin-
Sein zweites Prosabuch, die Novelle »Der das Buch einfach drucken. Und die Be- gehalten, konnte die Rede beinahe unge-
fremde Freund«, im Westen unter dem Ti- hörden wagten offenbar nicht, die geschaf- stört halten – und sie erschien im Westen,
tel »Drachenblut« erschienen, war ein gro- fenen Fakten vor aller Augen aus den in der »Zeit«. In diesen Vor- und Nach-
ßer, auch internationaler Erfolg. Buchhandlungen zu entfernen. wendejahren war Christoph Hein auf dem
Das Buch erschien 1982, und wenn man Damals war Hein ein viel gefragter Gipfel seines Ruhms.
es heute liest, ist man erstaunt, wie offen Mann in Ost und West. In Maßen mutig Es geschah mit Christoph Hein, was mit
ein mutiger, innerlich freier Autor damals und klug auf dem sehr schmalen Grat des all den bis zur Wende noch vom Westen
über die Ereignisse des 17. Juni 1953 und möglichen Widerstandes balancierend. hofierten, im Osten von Freund und Feind
die Folgen jenes Arbeiteraufstandes für die Auf dem 10. Schriftstellerkongress der akribisch gelesenen, bewunderten und ge-
Bevölkerung der DDR schreiben konnte. DDR im November 1987 geißelte er die fürchteten Schriftstellern und Schriftstelle-
Auch über Republikflucht und die Drang- Zensur als »überlebt, nutzlos, paradox, rinnen geschah: Sie waren nicht mehr wich-
salierungen, die Christen in der DDR zu menschenfeindlich, volksfeindlich, unge- tig. Ihrer Literatur, die einen Teil ihrer Be-
erleiden hatten. Und vor allem: über die setzlich und strafbar«. Nicht ohne dabei deutung der Tatsache verdankt hatte, dass
seelischen Folgen, die Überwachung, Un- zu erwähnen, dass die Kultur im Westen man in ihr Unsagbares sagen, Unschreib-
noch gefährdeter sei, durch die Konzen- bares schreiben konnte, gingen neben dem
* Christoph Hein: »Gegenlauschangriff. Anekdoten
tration im Verlagswesen in den kapitalisti- Gegner auch viele Anhänger verloren.
aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege«. Suhrkamp; schen Staaten: »Aussterben wird ein wich- Diesen Bedeutungsverlust, verbunden
122 Seiten; 14 Euro. tiger Teil der Kultur, ein so wichtiger Teil, mit vielen persönlichen Kränkungen, kann
110
WOLFGANG DIETZEL
und Ehefrau Christiane am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin: Wachsende Verbitterung
man in Heins neuem Buch von Anekdote dem der empörte Autor, der sich um sein Fantasien um und werdet auch noch reich
zu Anekdote verfolgen. »Vom Wachsen Leben betrogen sieht, gleich nach Ansicht damit. Ein grundsätzliches Gefühl der Em-
einer Bitterkeit« könnte es auch heißen. des Filmes einen empörten Brief schreibt, pörung und Kränkung – ob das dann im
Im Vorfeld des Erscheinens gab es schon dieser Regisseur hatte nie behauptet, Detail stimmig sein kann, ist nicht so wich-
eine erste Debatte um das Buch. Die »Süd- Heins Leben darstellen zu wollen. Er hatte tig. Dieser Text von Hein ist in seiner
deutsche Zeitung« hatte einen Text daraus ihn im Vorfeld des Filmes getroffen, Hein Falschheit unbedingt interessant.
vorabgedruckt, der im Buch unter dem Ti- hatte ihm sein Leben erzählt, und darauf- Bei einem anderen Text in dem Buch
tel »Mein Leben, leicht überarbeitet« er- hin hatte Donnersmarck einen aus vielen sieht es ganz anders aus. In ihm stimmt an
scheint. Darin wirft Hein dem Regisseur Leben zusammengesetzten Spielfilm ge- nachprüfbaren Fakten wenig, aber wie
des Films »Das Leben der Anderen« (Flo- macht, der so effektvoll war, dass er damit Hein – in einem mehrtägigen Mail-Aus-
rian Henckel von Donnersmarck, im Buch einen Oscar gewann. tausch – gegen alle nachprüfbaren Fakten
wird er nicht genannt) vor, sein, also Heins, Der Witz und die Tragik dieser Em- in immer neuen Versionen im Kern an
Leben im Film falsch dargestellt zu haben. pörungsschrift ist, dass hier ein Mann einer offenbar nicht wahren Geschichte
»Mein Leben war anders«, schreibt er. »Im zugleich den Diebstahl der eigenen Lebens- festhält, ist befremdlich.
Kino sitzend hatte ich erstaunt auf mein geschichte beklagt und die totale Fälschung Die Anekdote trägt den Titel »Dass ei-
Leben geschaut. So war es zwar nicht ge- derselben. Heins Text ist ein exemplarisch ner lächeln kann und lächeln«, sie soll sich
wesen, aber so war es viel effektvoller.« tragisches Stück über die Kränkungen von im Jahr 1993 zugetragen haben, die Stasi-
Und schließlich: »Mein Leben verlief völ- Bürgern der DDR nach dem Mauerfall: Akten waren zugänglich, über ihn, Hein,
lig anders.« Erst nehmt ihr uns unsere Biografien weg, gab es »Berge von Material«. Er selbst be-
Heins Text ist skurril und eigentlich die Bedeutung unserer Biografien – und schloss, sich nicht eingehend damit zu be-
ziemlich komisch: Denn dieser Regisseur, dann fabuliert ihr sie nach euren billigen schäftigen. Aber Hein erfuhr von einer
Mitarbeiterin der Behörde für Stasi-Unter- tes Gespräch mit Christoph Hein gegeben. sagt: »Die ganze Geschichte ist erstunken
lagen, dass »bisher mehr als achtzig Jour- Es gab eines im Oktober 1989 und dann und erlogen.«
nalisten Einsicht« in seine Akten beantragt wieder ein längeres im Jahr 1998. Das erste Schließlich meldet sich Hein: Er habe
und erhalten hatten. hat ein ehemaliger DDR-Korrespondent ge- das Gespräch gefunden. »SPIEGEL vom
Ein paar Monate später, so Hein, habe führt: Ulrich Schwarz. Wir weisen Chris- 9. November 1998, das Gespräch führten
ihn die »Wochenzeitschrift DER SPIEGEL« toph Hein darauf hin, dass seine Geschichte Martin Doerry und Volker Hage. Aber
um ein größeres Interview gebeten. Es ka- nicht stimmen kann, und fragen, ob er wei- wieso fanden Ihre Archivare dieses Ge-
men drei Männer in seine Wohnung, einen terhelfen könne. Er antwortet: »Das Ge- spräch nicht?«
von ihnen kannte Hein, »denn er war zu spräch mit dem einleitenden, nicht gedruck- Auf dieses weitere Gespräch hatten wir
DDR-Zeiten der Korrespondent dieser Zeit- ten Satz, führte Herr Schwarz, den ich seit ihn in der allerersten Mail schon hingewie-
schrift für Ostdeutschland gewesen«. Da- Jahren kannte, zusammen mit zwei (?) an- sen. Keiner der beiden war DDR-Korres-
mals glaubte Hein, sie schätzten einander. deren Redakteuren. Es war ein Gespräch pondent, keiner der beiden kannte Hein
Doch er sollte sich täuschen. Denn er »er- nach der Wende.« Und fügt noch mal hinzu: aus DDR-Zeiten persönlich. Beide haben
öffnete das Gespräch mit den Worten: ›Herr »Auf jeden Fall nach der Wende und nach ihn – im Gegensatz zum »Schurken« aus
Hein, wir haben leider nichts gegen Sie in der Eröffnung der Stasi-Unterlagen.« der Geschichte – später wiedergesehen.
der Hand.‹ Dabei lächelte er.« Hein mut- Es kann sich also nicht um das Gespräch Zu einem weiteren SPIEGEL-Gespräch,
maßt, es habe sich dabei um ein »Lächeln von Ulrich Schwarz handeln, denn das er- mit Heins Sohn Jakob im Jahr 2004.
der Enttäuschung« gehandelt. Denn der schien im Oktober 1989. Selbst der nieder- Wir weisen ihn darauf hin, dass es sich
aus den genannten Gründen nicht um die
beiden Kollegen handeln könne, wir wei-
sen auch auf den freundlichen, respektvol-
len Ton des Gesprächs hin. Doch Chris-
toph Hein bleibt bei seiner Darstellung,
der Satz sei in diesem Gespräch gefallen,
womöglich, räumt er ein, sollte es eine
»wohl scherzhafte« Eröffnung des Ge-
sprächs sein. »Aber unübersehbar oder un-
überhörbar war auch das ›Schade‹, denn
anderenfalls hätte man liebend (gern) das
Titelblatt mit meinem Foto verziert.«
Jetzt wird es langsam wirklich merkwür-
dig. Die ganzen Eckdaten der Geschichte
stimmen nicht: 1993. Ex-Korrespondent
der DDR. Kannten und schätzten uns aus
DDR-Zeiten. Habe diesen Mann nie wie-
REGINA SCHMEKEN / SZ PHOTO
der Geschichte, nicht das Jahr, nicht der 3 (3) Dörte Hansen 3 (2) Andreas Michalsen
Beruf, wenn, da die beiden selbst niemals Mittagsstunde Penguin; 22 Euro
Mit Ernährung heilen Insel; 24,95 Euro
im Stasi-Archiv waren, sie auch nicht sym- 4 (4) Marc Elsberg Gier! Wie weit
bolisch für jene »Hundertschaft von Jour- 4 (–) Jürgen Todenhöfer
würdest du gehen? Blanvalet; 24 Euro Die große Heuchelei Propyläen; 19,99 Euro
nalisten« stehen, die seine Stasi-Akte ver-
gebens durchforscht haben – wie kann 5 (7) Daniela Krien 5 (4) Stephen Hawking
man da an dieser Geschichte festhalten? Die Liebe im Ernstfall Diogenes; 22 Euro Kurze Antworten auf große Fragen
Ergänzt nur um den Hinweis, es handele Klett-Cotta; 20 Euro
sich bei der Person nicht um den »ge- 6 (–) Sarah Kuttner
Kurt 6 (6) Anne Fleck
schätzten Herrn Schwarz«? S. Fischer; 20 Euro
Ran an das Fett Wunderlich; 24,99 Euro
Der Suhrkamp Verlag, den wir seit Diens-
tagabend wiederholt um eine Stellungnah- 7 (6) John Grisham 7 (5) Harald Welzer Alles könnte
Das Bekenntnis Heyne; 24 Euro anders sein S. Fischer; 22 Euro
me bitten, wie sie mit dem Buch weiter ver-
fahren wollen, schreibt: »Wir haben den 8 (5) Bela B Felsenheimer 8 (11) Dieter Nuhr
Antworten von Christoph Hein in der Scharnow Heyne; 20 Euro Gut für dich! Bastei Lübbe; 15 Euro
Messeeile gerade nichts hinzuzufügen und
erreichen auch Herrn Hein heute nicht mehr. 9 (8) Julian Barnes Die einzige 9 (8) Eckart von Hirschhausen / Tobias Esch
Den Änderungswünschen am Buch von Geschichte Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro
Christoph Hein werden wir uns selbstver- 10 (7) Yuval Noah Harari
ständlich gleich nach der Messe zuwenden.« 10 (9) T. C. Boyle 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert
So lange wird das Buch weiterverkauft Das Licht Hanser; 25 Euro
C. H. Beck; 24,95 Euro
und danach eine erfundene Geschichte
11 (10) Nele Neuhaus 11 (10) Daniel Stelter Das Märchen
über die Methoden des SPIEGEL, eines Muttertag Ullstein; 22 Euro vom reichen Land FBV; 22,99 Euro
Mitarbeiters als Schurken, nur um den Hin-
weis ergänzt, es handele sich bei der Per- 12 (11) Sebastian Fitzek 12 (9) Johannes Krause / Thomas Trappe
son »nicht um Ulrich Schwarz«? Tanja Der Insasse Droemer; 22,99 Euro Die Reise unserer Gene Propyläen; 22 Euro
Postpischil findet nichts dabei: »Wo liegt
denn da die Verleumdung? Dass innerhalb 13 (13) Christian Berkel 13 (–) Ian Kershaw
Der Apfelbaum Achterbahn
einer Anekdote (!) irgendjemand, der Ullstein; 22 Euro
DVA; 38 Euro
nicht namentlich genannt wird und, wie
Sie ja selber feststellen, nicht identifizier- 14 (16) Carmen Korn
Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro Der britische Historiker
bar ist, Stasi-Akten angeschaut hat? Was legt den zweiten Teil seiner
jeder kann und darf?« 15 (12) Michel Houellebecq
Geschichte Europas im
Mal sehen, wie es weitergeht. Eine Er- 20. Jahrhundert vor – und
Serotonin DuMont; 24 Euro beschreibt die deutschen
innerung, kämpfend bewahrt gegen alle Kanzler als Glücksfälle
Fakten. Falsch oder nicht? Meine Wahr- 16 (17) Siri Hustvedt
heit. So hatte Christoph Hein schon seine Damals 14 (–) Thomas Karlauf
frühe Romanheldin denken lassen: »Die Rowohlt; 24 Euro Stauffenberg Blessing; 24 Euro
Vergangenheit ist nicht mehr auffindbar. Ergreifende Reminiszenz 15 (15) Dirk Rossmann / Peter Käferlein /
Es bleiben nur die ungenauen Reste und einer Schriftstellerin
an das New York ihrer
Olaf Köhne »… dann bin ich auf
Vorstellungen in uns. Verzerrt, verschönt, den Baum geklettert!« Ariston; 20 Euro
Jugend, in dem sich Dich-
falsch. Nichts ist mehr überprüfbar. Meine tung und Wahrheit auf
Erinnerungen sind unwiderleglich gewor- das Innigste verbanden 16 (19) Stephan Grünewald Wie tickt
den. Es war, wie ich es bewahrt habe, wie Deutschland? Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
ich es bewahre. Meine Träume können 17 (14) Ingrid Noll
Goldschatz 17 (13) Frank Bösch
nicht mehr beschädigt werden, meine Diogenes; 24 Euro
Zeitenwende 1979 C. H. Beck; 28 Euro
Ängste nicht mehr gelöscht.«
Das ist poetisch schön, nachvollziehbar 18 (–) darkviktory One Exit. 18 (17) Abbas Khider
und wahr. Wenn die Selbstverteidigung
Verloren im Untergrund Loewe; 16,95 Euro Deutsch für alle Hanser; 14 Euro
der eigenen Erinnerung jedoch gegen 19 (–) Anne Gesthuysen 19 (14) Elli H. Radinger
alle Fakten beleidigend wird, kommt die Mädelsabend Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro Die Weisheit alter Hunde Ludwig; 22 Euro
dichterische Selbstbehauptung an ihre
Grenzen. 20 (–) Günter Kunert 20 (18) Ines Geipel
Die zweite Frau Wallstein; 20 Euro Umkämpfte Zone Klett-Cotta; 20 Euro
113
Erfahrung: Diese Wahl erfolgt in Millisekunden, und sie
Elke Schmitter
ist eher unbewusst. Es erfordert eine eigene Anstrengung,
Die große
sich dem Strom von Informationen und provozierten
Gefühlen zu entziehen, der in einem fort fließt und in
dem wir mitschwimmen, uns treiben lassen und gelegent-
lich untergehen. Wenn ich nun einmal kurz ans Ufer tre-
Entlastung
te, stelle ich fest: Bis vor etwa zwei Jahren waren Flücht-
linge die Prominenten in der Gewissensbilanz, bei mir
wie allgemein. Das Foto des dreijährigen Alan Kurdi am
Strand des türkischen Ferienortes Bodrum ging im
September 2015 um die Welt. Die Medien überschlugen
Essay Eine neue Gefühlslage prägt das Land: sich mit Berichten über Geflüchtete, über ertrunkene
Seit 2015 waren Flüchtlinge die Kinder, Frauen, Männer im Mittelmeer. Der Treck
von Hunderttausenden durch Südosteuropa und Merkels
wichtigste Projektionsfläche für Mitgefühl, Angst, Entscheidung, die Dublin-Verordnung vorübergehend
Hass. Nun sympathisieren wir mit auszusetzen, beschäftigten mit all ihren Folgen über
demonstrierenden Jugendlichen. Warum? Jahre nicht nur die deutsche Öffentlichkeit. Die aber
besonders.
E
s ist noch nicht so lange her, da
hätte jemand wie ich die große
Bilanz auf den Sonntag oder das
Lebensende verschoben. Christ-
lich getaufte Menschen hatten über bei-
nahe zwei Jahrtausende die Gewohnheit,
ihr Gewissen mit einer Mittelsperson zu
erleichtern, in der Beichte oder im
Gespräch mit dem Pfarrer, und auf dem
Sterbebett gab es noch eine letzte Gele-
genheit, sich von moralischer Schuld zu
befreien. Zwischen den wöchentlichen
Ritualen und vor der letzten Beichte lag
das Gebet. Eine Zwiesprache mit sich
selbst im vorgestellten Angesicht der gro-
ßen göttlichen Instanz, die beides forder-
te: den Dank für alles, was gut war – das
Große und das Kleine, der Hintergrund
CHRISTIAN MANG
gefoltert? Ist er ein Täter oder gar ein Terrorist? Und hier kaserniert, weil es eine politische Entscheidung un-
nicht nur die Vergangenheit der Flüchtlinge ist ungewiss, serer Demokratie ist, ob sie überhaupt lebend ankommen
auch ihre Fremdheit ist eine Einladung zur Projektion. und ob sie mit uns leben dürfen. Beide sind Repräsentan-
Ist sie eine Ärztin oder er ein Analphabet, ist ein ande- ten einer Art von Unmündigkeit; die einen aufgrund ihres
rer Frauenverächter oder verantwortungsvoller Vater? Alters, die anderen aufgrund ihrer Hilflosigkeit. Aber die
Wird und will er sich integrieren – wenn er die Möglich- Jugendlichen sind die Agenten unserer guten Absichten,
keit bekommt –, und wie viele Menschen zieht er mög- sie handeln gewissermaßen in unserem Auftrag; sie sind
licherweise nach? eine narzisstische Erweiterung unseres »eigentlich guten«
Der Junge Alan Kurdi hat so viel Rührung erzeugt, weil Selbst. Die anderen waren einmal das Projekt dieses wohl-
bei ihm die Unschuld keines Nachdenkens und keiner meinenden Selbst, eine Verkörperung von Hoffnung auf
Recherche bedarf: Er war ein Kind aus Syrien. Gerechtigkeit und Emanzipation, auf das Recht jedes
Die nun demonstrierenden Schüler hingegen sind uns Menschen auf eine lebenswürdige Existenz.
vertraut. Es ist die nächste Generation, hier aufgewachsen Was ist passiert in den vergangenen vier Jahren, woher
und erzogen. Sie verkörpert unsere Werte wie unsere rührt dieser Schwenk in der Affektlage der Republik? Ich
Versäumnisse. Sie appelliert an unser Gewissen, aber so, kann die eigenen blinden Flecken nicht sehen. Aber ich
dass wir sie als Verbündete betrachten können. Sie stellt kann mich wundern über die emotionale Drift der vergan-
einen Vorwurf dar, aber kein Geheimnis. »The kids are all genen Jahre, über das allgemeine Entzücken angesichts
right«, heißt es mit Stolz. der protestierenden Schüler und über meine beschämte
Abwehr der Bilder ertrunkener Erwachsener –
und Kinder! – im Mittelmeer. Wie übrigens
auch von den Helden der Gegenwart, die trotz
rechtlicher Hürden bis zur Verurteilung daran
festhalten, dass Seenotrettung ein Gebot der
Menschlichkeit ist, und denen, die am Rande
der stacheldrahtumwehrten Flüchtlingslager
tun, was sie können. Ihre Berichte und Appel-
le allerdings dringen kaum mehr durch.
Denn unser wohlmeinendes Selbst hat die
Flüchtlinge und Helfer in einer Mischung aus
Scham und Resignation buchstäblich ad acta
gelegt. Unter der Führung von Angela Merkel
hat Europa die Not der Flüchtlinge zu einem
Problem der Verwaltung gemacht. Die Institu-
NATIONAL GEOGRAPHIC / GETTY IMAGES
I
gelobtes Landes, sie vegetieren noch immer in Zelten und
ch halte diese beiden Gruppen als Projektionsobjek- Lagern, sie sind zu Altlasten des Gewissens geworden, die
te einander entgegen, weil sie beide in meinen, an den Rand des Bewusstseins verschoben sind. Insofern
wenn auch diffusen, Verantwortungsbereich gehö- vollzieht die Drift unserer Anteilnahme von den Flücht-
ren. Weil sie uns in zwei Aspekten näher sind als die lingen zu den demonstrierenden Jugendlichen nach, was
Kriegsopfer im Jemen oder die Terroropfer in Neuseeland. die Politik Europas und Deutschlands vollzogen hat:
Die einen, weil sie meine Kinder sein könnten und die Die Flüchtlinge sind an die Ränder gedrängt, dort harren
Zukunft meines Landes repräsentieren. Ihre Generation sie aus. Sie symbolisieren nicht mehr unser gutes Selbst,
wird wesentlich bestimmen, in welcher Welt ich alt werde, unsere Mitmenschlichkeit und unsere Hoffnung, sondern
und umgekehrt finden sie die Welt so vor, wie ich sie als sie repräsentieren ein Versagen der demokratischen
Teil der heute Erwachsenen tatsächlich verantworte. Die Politik und so auch eine Art Scham. Und von dem, wofür
anderen, die Flüchtlinge, irren in Europa umher oder sind man sich schämt, wendet man sich ab. I
115
Kultur
117
»Auf diesem Dampfer steuert
die Linke in den Untergang«
SPIEGEL-Gespräch Der Theatermacher und Aktivist Bernd Stegemann über Sprachkontrolle,
die Sensibilität von Minderheiten und Kränkung als politische Waffe
118
Kultur
Der Professor für Theatergeschichte und Freiheit des Theaters besteht doch gerade ostdeutschen Mann zum Beispiel, der sich
Dramaturgie in Berlin war zwei Jahre lang darin, dass jeder alles spielen darf. Wenn vor Ausländern fürchtet, nehmen wir seine
Chefdramaturg an der Schaubühne am wir dahinter zurückgehen, beleben wir die Sorgen nicht ab. Dem sagen wir, er solle
Lehniner Platz, derzeit arbeitet er am Ber- jahrhundertealte Tradition der Theater- sich nicht so anstellen.
liner Ensemble. Er gründete im Sommer zensur. Das Theater hat sich mühsam in Stegemann: Auch unter weißen Männern
2018 mit Sahra Wagenknecht die Samm- die Moderne vorgekämpft, und nun wird können sich viele in einer Opferposition
lungsbewegung »Aufstehen«, die sich zum eine moralische Ordnung etabliert, in der befinden, als Ausgegrenzte, Arbeitslose
Ziel gesetzt hat, die politische Linke in schwarze Figuren nur von Schwarzen und oder prekär Beschäftigte. Aber um diese
Deutschland wieder zu einen. In seinem Behinderte nur noch von Behinderten ge- Form der Diskriminierung zu sehen, muss
neuen Buch (»Die Moralfalle. Für eine Be- spielt werden dürfen. man auf die materiellen Verhältnisse
freiung linker Politik«) kritisiert Stege- SPIEGEL: Auch die Travestieshow wäre da- schauen. Genau dieses klassische Instru-
mann, 51, dass sich das linke Lager auf mit obsolet. ment der Wirklichkeitsbeschreibung gilt
Moralpolitik und Minderheitenthemen re- Stegemann: Welche Blüten die ständige heute als unmodern. Es ist zusehends
duzieren lasse und seine eigentliche Auf- Bereitschaft zur Kränkung treibt, zeigte uncool geworden, die Klassenfrage über-
gabe aus den Augen verliere: die Frage nach die Aufregung, als Scarlett Johansson ei- haupt anzusprechen.
der gerechten Verteilung des Eigentums. nen Transgender-Mann spielen wollte. Da SPIEGEL: Wie konnte das passieren?
gab es einen Riesenaufstand, weil der Stegemann: Der akademischen Linken
SPIEGEL: Herr Stegemann, viele Linke sa- Komment besagt, dass sich Schauspieler sind die Arbeiter peinlich geworden, weil
gen, dass politische Korrektheit ein Phan- nicht in Menschen verwandeln dürfen, die diese mit all den identitätspolitischen De-
tasma sei, das gar nicht existiere. Stigmatisierung erfahren haben. batten nichts anfangen können. Man muss
Stegemann: Das halte ich für einen fan- SPIEGEL: Sie sagen, dass die Kränkung im es sich leisten können, sich über die Fein-
tastischen Selbstbetrug. Es gibt in dem Mi- Diskurs der Linken die alte marxistische heiten der gendergerechten Sprache den
lieu, in dem ich mich aufhalte, eine Menge Gesellschaftsanalyse abgelöst habe. Kopf zu zerbrechen. Wer bei Amazon im
Leute, die glauben, man könne über die Stegemann: Der zentrale Begriff im Mar- Lager arbeitet, der interessiert sich eher für
Kontrolle der Sprache zu einer besseren xismus ist die Entfremdung. Diese lässt eine gerechte Bezahlung. Man kann hier
Welt kommen. Genau da setzt meine Kri- sich an objektiven Kriterien festmachen: deutlich die Doppelmoral der Identitäts-
tik an: Wenn Linke meinen, die Menschen Wenn der Fleischzerleger in einer Groß- politik sehen. Globale Konzerne wie Apple,
moralisch erziehen zu müssen, sind sie auf schlachterei für einen minimalen Lohn ar- Google oder Facebook achten in der
dem Holzweg. Außendarstellung peinlich genau darauf,
SPIEGEL: Bevor wir fortfahren: Was genau dass sie »divers« erscheinen, wie das so
haben wir unter politischer Korrektheit zu schön heißt – schon allein deshalb, weil
verstehen? »Auch unter weißen alle immer auch Kunden sind. Aber die-
Stegemann: Sprachhygiene ist vielleicht Männern können sich selben Firmen wehren sich, wenn ein Be-
ein zu starkes Wort, aber in jedem Fall triebsrat gegründet werden soll.
Sprachüberwachung. Politische Korrekt- viele in einer SPIEGEL: Die Identitätspolitik, die Sie so
heit sagt: Wenn sich jemand von einer Be- Opferposition befinden.« beklagen, hat allerdings auch enorme
zeichnung gekränkt fühlen könnte, dann Erfolge erzielt. Durch die #MeToo-Bewe-
muss dieses Wort unbedingt vermieden gung verloren mächtige Männer ihren Pos-
werden. Das Fundament der politischen ten, die Frauen belästigt hatten.
Korrektheit ist die Kränkung. beitet, dann ist das für jeden erkennbar Stegemann: Der anfängliche Erfolg von
SPIEGEL: Man könnte argumentieren, dass Ausbeutung. Was eine Kränkung ist, liegt #MeToo hat weniger mit Identitätspolitik
politische Korrektheit nur eine Form der dagegen im Auge des Betrachters. Aus die- als mit den radikal erweiterten Möglich-
Höflichkeit sei. ser Unwägbarkeit wird dann die absolute keiten von Publizität zu tun. Da haben
Stegemann: Leider wird die Höflichkeit Forderung, dass das Opfer immer recht sich Menschen, die ein Unrecht erlitten
oft mit groben Mitteln durchgesetzt. Krän- hat. Wer ihm widerspricht oder das sub- hatten, Gehör verschafft. Dass einzelne
kung ist ein höchst subjektives Gefühl, das jektive Empfinden anzweifelt, hat sich Stimmen heute dank Twitter oder Face-
dazu zu berechtigen scheint, andere aus- schon ins Unrecht gesetzt. Das ist eine in- book global wahrgenommen werden,
grenzen zu dürfen. Insofern ermöglicht teressante Umdrehung der Machtverhält- könnte eine Form der Öffentlichkeit sein,
politische Korrektheit nicht die Debatte, nisse, weil nunmehr allein das Opfer da- wie Kant sie sich gewünscht hätte. Es ist
sie erstickt sie. rüber entscheidet, wodurch es zum Opfer der zentrale Gedanke der Aufklärung, dass
SPIEGEL: Wie äußert sich das in Ihrem geworden ist und wie sich die Gesellschaft eine Gesellschaft sich durch das öffentliche
Arbeitsgebiet, dem Theater? ihm gegenüber zu verhalten hat. Gespräch selbst zivilisiert.
Stegemann: Wir bereiten am Berliner SPIEGEL: Was ist daran aus linker Sicht SPIEGEL: Dennoch haben Sie kritisiert,
Ensemble gerade eine Inszenierung von beklagenswert? dass #MeToo ins Totalitäre abgedriftet sei.
»Othello« vor. Am Theater herrscht seit Stegemann: Die sogenannte Identitäts- Stegemann: Das ist die Dialektik der Em-
Jahren ein Diskurs, der besagt, dass sich politik blendet die ökonomischen Verhält- pörungsindustrie und die Schattenseite
weiße Schauspieler nicht schwarz anmalen nisse aus und fokussiert ausschließlich auf von Twitter & Co. Wenn sich die Empö-
dürfen. Das Tabu geht zurück auf Shows, die Diskriminierungserfahrungen als An- rung absolut setzt, weil mit ihr die größte
die im 19. Jahrhundert in den USA aufge- gehörige einer gesellschaftlichen Gruppe. Aufmerksamkeit erzielt wird, verhindert
führt wurden und in denen weiße Schau- In der Folge entbrennt ein Kampf um die sie die konstruktive Debatte. In diesem
spieler mit Farbe im Gesicht, großen besten Plätze in der Opferhierarchie. Auf Sinne gab es ja auch fundierte Kritik, zum
Ohren und rot geschminkten Lippen diesem Dampfer steuert die Linke in den Beispiel von der Philosophin Svenja Flaß-
Schwarze karikiert haben. Das war ein- Untergang, weil sie damit ihren Anspruch pöhler. Sie hat zu Recht beanstandet, dass
deutig rassistisch. Daraus wird nun abge- aufgibt, die Stimme für alle Opfer der Aus- die #MeToo-Bewegung dazu übergegan-
leitet, dass jede Verwandlung über ethni- beutung zu sein. gen ist, den Opferstatus zu verfestigen,
sche Grenzen hinweg verboten gehört, SPIEGEL: Offenbar kann nicht jeder den statt darüber nachzudenken, wie es gelin-
was mir überhaupt nicht einleuchtet. Die Opferstatus für sich beanspruchen. Dem gen kann, ihn dauerhaft zu überwinden.
ZUTATEN (4 GLÄSER):
2 GRAPEFRUITS
1 ½ LIMETTEN
12 CL INGWERSIRUP
8 EISWÜRFEL
MUMM ROSÉ DRY
4 ROSMARINZWEIGE
www.mumm-sekt.de/mumm-drinks
www.kitchenstories.com/de
Kultur
wird gejagt Keep« (2012). Manchmal war auch nur eine Frau hinter ihm
her, wie Meryl Streep in »Jenseits von Afrika«.
Tucker lernt nach einem Raubzug eine ältere Dame ken-
nen, Jewel, gespielt von Sissy Spacek. Sie ahnt nichts von
Filmkritik »Ein Gauner & Gentleman«, Robert seinem Beruf, aber seine mysteriöse Aura gefällt ihr. Gemein-
Redfords letzter Auftritt als Schauspieler sam sitzen sie in einem Restaurant. Redford muss in dieser
Szene bloß sein zerknittertes Gesicht in die Kamera halten.
Kinostart: 28. März Er philosophiert über sein Leben, wobei nicht ganz klar ist,
wer da spricht: Tucker, der Bankräuber, oder Redford, der
Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Mail: [email protected]
Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Sandra Öfner, Dr. Vasilios Papadopoulos,
DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel,
Schmundt, Frank Thadeusz, Christian 01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0
Wüst. Autor: Jörg Blech Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer,
DÜSSELDORF Frank Dohmen, Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek,
KULTUR Leitung: Sebastian Hammelehle, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt,
Tobias Rapp (stellv.). Redaktion: Tobias Lukas Eberle, Fidelius Schmid, Jägerhof- Abonnementsbestellung
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Becker, Lars-Olav Beier, Ulrike Knöfel, thaler, Meike Stapf, Rainer Staudhammer, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
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124 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Nachrufe
Dick Dale, 81 schule Berlin-Weißensee als
Er liebte die Natur, vor freiberuflicher Grafiker. Seit
allem den Pazifik – trotz- 1977 war er als Professor
dem hat Dick Dale, der für Schrift und gebrauchs-
»King of the Surf Guitar«, grafisches Gestalten tätig.
eine Menge Plastikmüll hin- Neben seiner Lehrtätigkeit
terlassen: Die Saiten seiner entwarf er Plakate, Bücher
Stratocaster-Gitarre wurden und Zeitschriften, wie das
durch sein schnelles, druck- Modejournal »Sibylle«
volles Spiel jahrzehntelang oder die »Wochenpost«,
bei jedem Auftritt so heiß, aber gestaltete auch Schrif-
dass die Plektren, die er ten und das 20-Pfennig-
tausendfach verwendete, Stück sowie Gedenkmün-
schmolzen und sich in Plas- zen und Briefmarken der
tikabfall verwandelten. DDR. Mit seinem an der
Dabei wollte Richard Mon- Tradition geschulten Form-
sour, 1937 als Sohn eines bewusstsein versuchte er,
Libanesen und einer pol- dem Leser und Nutzer des
nischstämmigen Mutter in von ihm Gestalteten zu
Boston geboren, eigentlich dienen. Axel Bertram starb
Country-Star werden. Doch am 16. März 2019 nach
nachdem seine Familie Mit- langer, schwerer Krankheit
te der Fünfziger nach Kali- in Berlin. MBS
fornien umgesiedelt war,
Alan Krueger, 58
REGINA SCHMEKEN / SZ PHOTO
bekannt geworden, dass am Haus der Kunst wohl Mitglie- Axel Bertram, 82
der von Scientology arbeiteten und sich Teile des Personals Keiner gestaltete so viele
von ihnen schlecht behandelt fühlten. Doch waren diese Bereiche des Alltags in der
mutmaßlichen Sektenmitglieder bereits in der Institution DDR wie der vielseitige
tätig, bevor Enwezor dort anfing. Der von der Staats- Grafiker. In Dresden als
regierung angeführte Aufsichtsrat hätte ihn beraten kön- Sohn einer Kaufmannsfami-
nen, man entschied sich für Trennungsgespräche. Ein lie geboren, wuchs Bertram
schmählicher Umgang mit einem Weltveränderer. Okwui im sächsischen Freital auf
Enwezor starb am 15. März an den Folgen einer Krebs- und arbeitete nach seinem
erkrankung. UK Studium an der Kunsthoch-
tenden Katalog eigens einen ner Dom, Goethe, Luther, Rauchs Bildern mit Titeln
Beitrag verfasst. Beide sind Caligari und VW. Passender- wie »Der Aufschneider« oder
international erfolgreich, aber weise heißt die Verkaufsaus- »Die Herrin« zum Kaufen
dem großen chinesischen stellung in Hongkong »Propa- verführen lassen. UK
G »Der Stint ist ein besonderer Fisch. Er ist klein wie eine
mehr zwischen den Lebens- Sardelle, riecht frisch nach Gurke, weshalb er auch Gurken-
Vier Jahrzehnte welten als ein ganzer Konti- fisch genannt wird. Er verhält sich wie ein Lachs: Er
sind kein Leben nent und ein Ozean. Zwei- schlüpft in einem Fluss, lebt dort einige Zeit und schwimmt
tens sind Ehen im Show- dann ins Meer. Den größten Teil seines Lebens verbringt
G Am Ende ist auf der Ziel- geschäft stets zum Scheitern der Stint da. Doch zum Laichen kehrt er zurück an den Ort,
geraden gescheitert, was als verurteilt. Mehr als 40 Jahre an dem er aufwuchs – für viele Stinte ist das die Elbe. Der
eine der verlässlichsten Ehen lang haben sich die Eheleute Fisch ist somit eigentlich ein Geschenk für uns; wir müssen
dieser Republik galt, mit redlich bemüht, hat gerade nur die Reusen ins Wasser hängen und warten, bis die
Pauken und Trompeten. der umschwärmte Gatte auf Fische sich in die Maschen verirrt haben. Früher funktio-
Kaum eine Nachricht hat dem »Wetten, dass ..?«-Sofa nierte das gut, da holte ich im Schnitt 200 Kilogramm Stinte
Deutschland in der vergange- dem Zwinkern italienischer am Tag aus der Elbe, an guten Tagen das Doppelte. Am
nen Woche so heftig erschüt- Sängerinnen ebenso wider- Ende der Saison waren es 25 bis 30 Tonnen. Und da wären
tert wie die Trennung von standen wie den Avancen noch mehr Fische gewesen, nur konnte ich nicht mehr ver-
Thea, jenseits der 70, und amerikanischer Schauspiele- kaufen. Doch seit fünf Jahren gehen die Bestände sehr dras-
Thomas Gottschalk, 68. rinnen – vergebens. Drittens tisch zurück. In dieser Saison liegt mein Fangergebnis bei
Umso wichtiger sind nun hilft auch die gemeinsame etwa zweieinhalb Tonnen. So wenig wie noch nie.
vier Lehren, die sich mit kla- Verantwortung für inzwi- Viermal am Tag fahre ich raus, um die Netzreusen ins
rem Kopf aus dieser Kata- schen längst erwachsene Kin- Wasser zu lassen oder sie wieder einzuholen. Alle sechs
strophe ziehen lassen. Ers- der nicht, wenn die Liebe Stunden. Die Stintsaison beginnt im Oktober, von da an
tens hält keine Beziehung zwischen Eltern erlischt. kommen die ersten Schwärme in die Elbe. Die folgen-
auf Dauer die Berufspende- Viertens gibt es womöglich den sechs Monate sind dunkel und kalt und nass, aber
lei aus, irgendwann liegt Wichtigeres. FRA für mich die wichtigsten: Der Stintverkauf macht fast die
Hälfte meines Geschäfts aus. Ich beliefere normalerweise
50 Restaurants rund um Hamburg, zudem die Händler
auf dem Fischmarkt. Dieses Jahr habe ich niemandem
etwas verkaufen können, es war einfach zu wenig. Die
Stinte, die ich hatte, haben wir in dem Fischgeschäft mei-
ner Frau angeboten.
Der Rückgang ist nicht nur für uns Elbfischer dramatisch,
sondern für das ganze Ökosystem. 90 Prozent aller Fische
GISELA SCHOBER / GETTY IMAGES
127
»Meine beiden Dackel fordern von mir, dass ich den SPIEGEL
abbestelle. Sie meinen, Ihr Titelbild ist diskriminierend.«
Werner Riedel, Geestland (Niedersachsen)
Permanenter Ausnahmezustand Ich bin enttäuscht von der Titelgeschichte. Lasst uns Europa wagen!
Was haben SUVs oder vernünftige Schutz-
Nr. 12/2019 Tierisch wütend – Warum Nr. 11/2019 Leitartikel – Wo bleibt
ausrüstungen von Skifahrern mit »Kampf-
so viele Menschen im Alltag die Nerven Deutschlands Außenpolitik?
verlieren und ausrasten geist« zu tun? Ein Griff ins Klo sind solche
Beispiele. Und wo sind bitte die juristi- Vielen Dank für einen großartigen Leit-
Ihre Überschrift ist total falsch. Weder sind schen Konsequenzen gegen die erwähnten artikel. Er fasst zusammen, was ich seit
es ganz normale »Menschen«, die ausras- Gewalttäter und Beleidiger geblieben? Sol- Jahren erleide. Immer wieder wird bei uns
ten, noch ist es Deutschland – sondern es che Fakten würden doch abschreckend für Europa bemüht, nur tut diese grässlich
sind so gut wie ausschließlich Männer. Se- die potenziellen Täter und beruhigend für bewegungsmüde Regierung nichts. Große
hen Sie sich Ihren Artikel doch nochmals die Leser wirken. Wir sollten nicht nur Gesten nützen nichts – man muss auch
an – fällt Ihnen nichts auf? Frauen sind es Falschparker oder Temposünder konse- einmal bereit sein, wirklich in Europa zu
jedenfalls nicht, die unser Land zugrunde quent zur Verantwortung ziehen, sondern investieren. Mit dieser Kanzlerin, mit die-
randalieren. auch echte Problemmacher. sem Wirtschaftsminister, mit dieser gesam-
Evelyn Thriene, Konstanz Tao Zhang, Moosburg (Bayern) ten Regierung scheint mir das unmöglich.
Und irgendwann ist das großartige Projekt
Hier geht es um Menschen, die von den dann an kleinmütigem Finanzdenken ge-
politischen Phrasen und der gesellschaftli- scheitert.
Auch mal gegrüßt Seit nunmehr 53 Jahren lebe ich in Ham- nen Volkes, einen verlogenen militäri-
Nr. 11/2019 Ferda Ataman über ihr
burg. Geboren in Teheran, bin ich hier zur schen Aggressor (Tschetschenien, Geor-
Verständnis von Heimat und Deutschsein Schule gegangen, habe studiert, und ich gien, Ostukraine, Krim), einen Förderer
arbeite seit meinem 16. Lebensjahr. Dies und Komplizen verbrecherischer Massen-
Vielen Dank für den pointiert geschrie- sind die Fragen, mit denen ich noch heute mörder (Kadyrow, Assad) als »charman-
benen Essay! Schon oft habe ich mich ge- konfrontiert werde: »Haben Sie sich schon ten, aufgeschlossenen, offenen Gesprächs-
ärgert, wenn Moderatoren diverser Fern- an das deutsche Essen gewöhnt?«, »Sie ha- partner« bezeichnet, sollte seine Finger
sehshows ihre (häufig akzentfrei Deutsch ben so schwarze Haare und sprechen so von der Politik lassen. Herr Teltschik sollte
sprechenden) Studiogäste nach deren gut Deutsch, wie kommt das?«, »Wann sich bei integeren russischen und nicht-
Herkunft befragten, sich dann aber mit fahren Sie wieder zurück in Ihre Heimat?« russischen Kennern der russischen Ge-
Duisburg oder Bochum als Antwort nicht Als Schüler gab es Spitznamen für mich: schichte und des putinschen Kreml-Syndi-
zufriedengaben. Ihr Satz »Wer Leute nur Kameltreiber, Teppichverkäufer, Jubelper- kats informieren, statt sich als unbedarfter
wegen ihres Namens oder ihres Aussehens ser. Tatsächlich hatte sich zwischenzeitlich »Putin-Versteher« und »Merkel-Kritiker«
woanders verortet, hat ein herkunftsdefi- einiges geändert. Es war leichter, die deut- lächerlich zu machen.
niertes Bild vom Deutschsein und bürgert sche Staatsangehörigkeit zu beantragen, Prof. Dr. Dietrich Wörn, Tübingen
alle verbal aus, die nicht in dieses Bild pas- und wenn man einen guten Job hatte und
sen« bringt mein dahinter liegendes Un- ein deutsches Premiumauto, wurde man
behagen auf den Punkt. Im Übrigen gibt von den Nachbarn auch mal gegrüßt.
es große Unterschiede in der Einordnung Durch die nicht zu Ende gedachte Politik
der erfragten »Familienherkunftsländer«: Merkels in der Flüchtlingsfrage 2015 und
Während Schweden häufig romantische den damit verbundenen Rechtsruck ist es
Endlich einmal Klartext zur völlig verfehl- dien fast nur das »hässliche« Russland ge-
ten und scheinheiligen Russlandpolitik un- zeigt und nicht seine unendlich reiche,
serer Regierung. Wann endlich begreifen großartige Kultur? Dieser Vielvölkerstaat
Autorin Ataman die Politiker, dass Russland zu Europa ge- hätte der Welt so viel zu bieten. Auf Putin
hört und Europa nur mit Russland stark sollte die Europäische Union trotz aller Dif-
Vorwurfsvoll stellt Ferda Ataman uns die sein wird? Die ewige Diskussion um unse- ferenzen zugehen, ihm gesichtswahrende
Frage: »Wann werden aus Migranten Ein- re »Werte« ist langsam nicht mehr zu er- Alternativen zur derzeitigen Abkehr von
heimische?« Meine Antwort: Wenn sie tragen, es geht um gemeinsame Interessen Europa aufzeigen und ihm zu verstehen
uns »Wurzeldeutschen« den Eindruck wie beispielsweise eine Freihandelszone geben, dass das russische Volk sehr wohl
vermitteln, nicht Teil immer größer wer- auch mit Russland. Deutsche Soldaten an einen Platz im europäischen Haus hat.
dender Parallelgesellschaften zu sein, die der russischen Grenze sind keine Lösung, Ursula Göron, Passau
sich einer Integration mehr oder weniger sondern eine Provokation.
stark verweigern. Es geht nicht darum, Ingelore Kiss, Torgau (Sachsen)
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
wer zuerst hier war, sondern wer sich wie ([email protected]) gekürzt
überzeugend mit unserem Wertesystem Wer einen homophoben Antidemokraten, sowie digital zu veröffentlichen und unter
identifiziert. einen korrupten Politmafioso, einen bru- www.spiegel.de zu archivieren.
Hans-Werner Bastian, Brühl (NRW) talen Ausbeuter und Unterdrücker des eige-
129
Hohlspiegel
)RUWVFKULWW Rückspiegel
LVWHLQIDFK Zitate
Die »Welt am Sonntag« greift einen
Stellenanzeige aus dem SPIEGEL-Bericht über das
»Kölner Wochenspiegel« Flüchtlingslager auf Lesbos auf
(»Die Gefängnisinsel«, Nr. 48/2017):
Das »Hamburger Abendblatt« Sogar Papst Franziskus, bis dahin als Un-
über zwei Graffitisprayer: terstützer der Flüchtlingspolitik Angela
»Die Bundespolizei nahm die Merkels wahrgenommen, skandalisierte
mutmaßlichen Männer vorläufig fest.« den Pakt mit der Türkei. Er reiste ins
Lager auf Lesbos und nahm zehn Migran-
ten mit zurück nach Rom. Und fast wäre
sogar diese humanitäre Geste an den
Regularien des Türkei-Deals gescheitert,
wie die SPIEGEL-Reporterin Katrin Kuntz
später recherchierte. Das Kirchenober-
haupt hatte nämlich zwei Frauen aus der
Gemeinschaft Sant’Egidio ins Lager vo-
Warnhinweis an einem rausgeschickt … Gemeinsam mit dem
Autobahnrastplatz in Nordrhein-Westfalen UNHCR wählten sie zehn schwer trauma-
tisierte Flüchtlinge aus, die vielleicht die
Deportation in die Türkei gesundheitlich
Aus den »Ruhr Nachrichten«: nicht überstehen würden. Doch die grie-
»Wie das Magazin SPIEGEL am Freitag chischen Behörden untersagten die Ret-
berichtete, wurde der Marinesoldat tung (zunächst –Red.).
nach einer Überprüfung durch
den Militärischen Abschiebedienst
(MAD) als Extremist eingestuft.« Der Historiker Götz Aly verteidigt in der
»Berliner Zeitung« das britische
Unterhaus angesichts einer SPIEGEL-
Überschrift (»House of Chaos«,
SPIEGEL ONLINE am 13. März 2019):
:HLOXQVHUH([SHUWHQ
,KU8QWHUQHKPHQPLWGHU Der SPIEGEL berichtete …
ULFKWLJHQ)LQDQ]LHUXQJ … in dem Titel »Die Schulz-Story«
YRUDQEULQJHQ über die Wahlkampagne des
Schild in Valbella (Schweiz) damaligen SPD-Kanzlerkandidaten
Martin Schulz (Nr. 40/2017):