(Werke 11) Georg Lukács - Die Eigenart Des Ästhetischen 1 (1963, Luchterhand) PDF
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GEORG LUKACS WERKE
GEORG LUKÄCS WERKE
Ästhetik Teil I
BAND 11
GEORG LUKÄCS
1. Halbband
LUCHTERHAND
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Die Werke, in denen ich die wesentlichsten Ergebnisse meiner Entwick¬
lung zusammenzufassen gedenke, meine Ethik und meine Ästhetik,
deren erster, selbständiger Teil hier vorliegt, sollten als bescheidener
Versuch einer Danksagung für mehr als vierzig Jahre Gemeinschaft an
Leben und Denken, an Arbeit und Kampf
Gertrud Bortstieber Lukdcs, gestorben am 28. April 1963,
gewidmet sein. Jetzt kann ich sie nur ihrem Andenken widmen.
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7
Inhalt
Erster Halbband
Vorwort 13
Erstes Kapitel
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben 33
I Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 33
II Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 78
Zweites Kapitel
Die Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in
der Wissenschaft 139
I Bedeutung und Schranken der desanthropomorphisierenden
Tendenzen in der Antike 139
II Der widerspruchsvolle Aufschwung des Desanthropomorphisie-
rens in der Neuzeit 161
Drittes Kapitel
Prinzipielle Vorfragen der Loslösung der Kunst vom
Alltagsleben 207
Viertes Kapitel
Die abstrakten Formen der ästhetischen Widerspiegelung
der Wirklichkeit 253
I Rhythmus 254
II Symmetrie und Proportion 284
III Ornamentik 311
Fünftes Kapitel
Probleme der Mimesis I: 352
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
I Allgemeine Probleme der Mimesis 352
II Magie und Mimesis 377
III Das spontane Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der
magischen Mimesis 4°^
8 Inhalt
Sechstes Kapitel
Probleme der Mimesis II:
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst 442
I Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 444
II Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 469
III Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 508
Siebentes Kapitel
Probleme der Mimesis III:
Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung 532
I Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 533
II Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 550
III Vom partikularen Individuum zum Selbstbewußtsein der
Menschengattung 572
Achtes Kapitel
Probleme der Mimesis IV:
Die eigene Weit der Kunstwerke 618
I Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre
(Werk, Genre, Kunst im allgemeinen) 618
II Das homogene Medium, der ganze Mensch und der
Mensch ganz 640
III Das homogene Medium und der Pluralismus der ästhetischen
Sphäre 670
Neuntes Kapitel
Probleme der Mimesis V:
Die defetischisierende Mission der Kunst 696
I Die natürliche Umwelt des Menschen (Raum und Zeit) 700
II Die unbestimmte Gegenständlichkeit 720
III Inhärenz und Substantialität 741
IV Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 760
Zehntes Kapitel
Probleme der Mimesis VI:
Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik 778
I Der Mensch als Kern oder Schale 778
Inhalt
9
Zweiter Halbband
Elftes Kapitel
Das Signalsystem i’ n
I Die Umschreibung des Phänomens 13
II Das Signalsystem 1’ im Leben 38
III Indirekte Hinweise (Haustier, Pathologie) 76
IV Das Signalsystem i’ im ästhetischen Verhalten 99
V Dichterische Sprache und Signalsystem 1’ 161
Zwölftes Kapitel
Die Kategorie der Besonderheit 193
I Besonderheit, Vermittlung und Mitte 193
II Die Besonderheit als ästhetische Kategorie 226
Dreizehntes Kapitel
Ansich - Füruns - Fürsich 267
I Ansich und Füruns in der wissenschaftlichen Widerspiegelung 267
II Das Kunstwerk als Fürsichseiendes 294
Vierzehntes Kapitel
Grenzfragen der ästhetischen Mimesis 330
I Musik 330
II Architektur 402
III Kunstgewerbe 458
IV Garten 473
V Film 489
VI Der Problemkreis des Angenehmen 521
10 Inhalt
Fünfzehntes Kapitel
Probleme der Naturschönheit 575
I Zwischen Ethik und Ästhetik 5 76
11 Die Naturschönheit als Element des Lebens 607
Sechzehntes Kapitel
Der Befreiungskampf der Kunst 675
I Grundfragen und Hauptetappen des Befreiungskampfes 675
II Allegorie und Symbol 727
III Alltagsleben, partikulare Person und religiöses Bedürfnis 775
IV Basis und Perspektive der Befreiung 830
Personenregister 87 3
Sie wissen es nicht, aber sie tun es
Marx
13
Vorwort
Das hier der Öffentlichkeit übergebene Buch ist der erste Teil einer Ästhetik,
in deren Mittelpunkt die philosophische Begründung der ästhetischen Setzungs¬
art, die Ableitung der spezifischen Kategorie der Ästhetik, ihre Abgrenzung
von anderen Gebieten steht. Indem die Darlegungen sich auf diesen Problem¬
komplex konzentrieren und auf die konkreten Probleme der Ästhetik nur
soweit eingehen, als das zum Erhellen dieser Fragen unerläßlich ist, bildet
dieser Teil ein abgeschlossenes Ganzes und ist auch ohne die auf ihn folgenden
Teile in sich ganz verständlich.
Unerläßlich ist es, sich klar zu werden über die Stelle des ästhetischen Ver¬
haltens in der Totalität der menschlichen Aktivitäten, der menschlichen Reak¬
tionen auf die Außenwelt, über das Verhältnis der daraus entstehenden
ästhetischen Gebilde, das ihres kategorialen Aufbaus (ihrer Strukturform
usw.) zu anderen Reaktionsweisen auf die objektive Wirklichkeit. Unbefan¬
gene Beobachtung dieser Beziehungen ergibt in rohen Umrissen folgendes Bild.
Das Primäre ist das Verhalten des Menschen im Alltagsleben, ein Gebiet, das
trotz seiner zentralen Wichtigkeit für das Verständnis der höheren und
komplizierteren Reaktionsarten noch weitgehend unerforscht ist. Ohne hier
im Werk selbst ausführlich Dargelegtes vorwegnehmen zu wollen, müssen die
Grundgedanken des Aufbaus doch in aller Kürze erwähnt werden. Das All¬
tagsverhalten des Menschen ist zugleich Anfang und Endpunkt einer jeden
menschlichen Tätigkeit. D. h. wenn man sich den Alltag als einen großen
Strom vorstellt, so zweigen in höheren Aufnahme- und Reproduktionsformen
der Wirklichkeit Wissenschaft und Kunst aus diesem ab, differenzieren sich
und bilden sich ihren spezifischen Zielsetzungen entsprechend aus, erreichen
ihre reine Form in dieser - aus den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Lebens
entspringenden - Eigenart, um dann infolge ihre Wirkungen, ihrer Einwir¬
kungen auf das Leben der Menschen wieder im Strom des Alltagslebens zu
münden. Dieser bereichert sich also andauernd mit den höchsten Ergebnissen
des menschlichen Geistes, assimiliert diese seinen täglichen, praktischen Bedürf¬
nissen, woraus dann wieder, als Fragen und Forderungen, neue Abzweigungen
der höheren Objektivationsformen entstehen. Dabei müssen die komplizierten
Wechselbeziehungen zwischen der immanenten Vollendung der Werke in Wis¬
senschaft und Kunst und zwischen den gesellschaftlichen Bedürfnissen die ihre
Erwecker, die Veranlassungen ihrer Entstehung sind, eingehend untersucht
Vorwort
14
werden. Erst aus dieser Dynamik der Genesis, der Entfaltung, der Eigengesetz¬
lichkeit, des Wurzeins im Leben der Menschheit lassen sich die besonderen Kate¬
gorien und Strukturen der wissenschaftlichen und künstlerischen Reaktionen
des Menschen auf die Wirklichkeit ableiten. Die Betrachtungen dieses Werks sind
natürlich auf die Erkenntnis der Eigenart des Ästhetischen gerichtet. Da aber
die Menschen in einer einheitlichen Wirklichkeit leben und mit ihr in Wechsel¬
beziehungen stehen, kann das Wesen des Ästhetischen nur in ständigem Ver¬
gleich mit andern Reaktionsarten auch nur annähernd begriffen werden. Dabei
ist das Verhältnis zur Wissenschaft das wichtigste; es ist aber unerläßlich, auch
das Verhältnis zur Ethik und Religion aufzudecken. Sogar die hier auftauchen¬
den psychologischen Probleme ergeben sich ebenfalls als notwendige Folge von
Fragestellungen, die auf das Spezifische der ästhetischen Setzung zielen.
Selbstverständlich kann keine Ästhetik auf dieser Stufe stehen bleiben. Kant
konnte sich noch damit begnügen, die allgemein methodologische Frage des
Geltungsanspruchs der ästhetischen Urteile zu beantworten. Abgesehen davon,
daß diese Frage unseres Erachtens keine primäre, sondern für den Aufbau der
Ästhetik eine höchst abgeleitete ist, kann sich seit der Hegelsdien Ästhetik
kein Philosoph, der es mit der Klärung des Wesens des Ästhetischen ernst
nimmt, mit einem derart engbegrenzten Rahmen und einer so einseitig an
Erkenntnistheorie orientierten Problemstellung begnügen. Von den Frag¬
würdigkeiten der Hegelschen Ästhetik, sowohl in der Grundlegung wie in
den Einzelausführungen, wird im Text vielfach die Rede sein; doch bleibt
der philosophische Universalismus ihrer Konzeption, ihre historisch-syste¬
matische Art der Synthese auf Dauer beispielgebend für den Entwurf einer
jeden Ästhetik. Erst alle drei Teile dieser Ästhetik zusammen können eine
- nur teilweise - Annäherung an dies hohe Vorbild verwirklichen. Denn
ganz abgesehen von Wissen und Begabung dessen, der einen solchen Versuch
heute unternimmt, lassen sich die von der Hegelschen Ästhetik aufgestellten
Maßstäbe des Allumfassens in der Gegenwart sachlich weit schwerer als zu
Hegels Zeiten in Praxis umsetzen. So bleibt die von Hegel ausführlich behan¬
delte - ebenfalls historisch-systematische - Theorie der Künste noch außerhalb
des Bereichs, den der Plan dieses gesamten Werks umschreibt. Sein zweiter
Teil - mit dem vorläufigen Titel: »Kunstwerk und ästhetisches Verhalten« -
soll vor allem die im ersten Teil erst in größter Allgemeinheit abgeleitete und
umrissene spezifische Struktur des Kunstwerks konkretisieren; die im ersten
Teil bloß in Allgemeinheiten gewonnenen Kategorien können dann erst ihre
wahre und bestimmte Physiognomie erlangen. Probleme wie Inhalt und
Form, Weltanschauung und Formbildung, Technik und Form etc. können im
Vorwort
U
ersten Teil nur höchst allgemein, nur als Horizontfragen auftauchen; ihr
wahres konkretes Wesen kann philosophisch nur im Laufe der eingehenden
Analyse der Werkstruktur ans Licht treten. Ebenso ist es mit den Problemen
des schöpferischen und rezeptiven Verhaltens bestellt. Der erste Teil vermag
nur bis zu ihren generellen Umrissen vorzudringen, gewissermaßen den
jeweiligen methodologischen »Ort« ihrer Bestimmungsmöglichkeit abbilden.
Die realen Beziehungen zwischen Alltag einerseits, wissenschaftlichem, ethi¬
schem etc. Verhalten und ästhetischer Produktion und Reproduktion anderer¬
seits, die kategoriale Wesensart ihrer Proportionen, Wechselwirkungen, gegen¬
seitigen Beeinflussungen etc. erfordern ebenfalls auf das Konkreteste gerichtete
Analysen, die im Rahmen des auf philosophische Grundlegung eingestellten
ersten Teils prinzipiell unmöglich sind.
Ähnlich steht die Lage mit dem dritten Teil. (Sein vorläufiger Titel lautet:
»Die Kunst als gesellschaftlich-geschichtliche Erscheinung«.) Es ist zwar unver¬
meidlich, daß schon der erste Teil nicht nur einzelne historische Exkurse ent¬
hält, sondern vor allem ständig auf das originär historische Wesen eines
jeden ästhetischen Phänomens hinweist. Der historisch-systematische Charak¬
ter der Kunst erhielt, wie bereits erwähnt, seine erste ausgeprägte Gestalt in
Hegels Ästhetik. Die aus dem objektiven Idealismus entspringenden Starr¬
heiten der Hegelschen Systematisierung wurden durch den Marxismus richtig¬
gestellt. Das komplizierte Wechselverhältnis zwischen dialektischem und histo¬
rischem Materialismus ist schon an sich ein bedeutsames Zeichen dafür, daß
der Marxismus nicht historische Entwicklungsphasen aus der inneren Ent¬
wicklung der Idee deduzieren will, sondern im Gegenteil darauf ausgeht,
den wirklichen Prozeß in seinen verwickelten historisch-systematischen Be¬
stimmungen zu erfassen. Die Einheit von theoretischen (hier: ästhetischen) und
historischen Bestimmungen verwirklicht sich letzten Endes in einer äußerst
widersprüchlichen Weise und kann deshalb sowohl prinzipiell wie in den ein¬
zelnen konkreten Fällen nur durch eine ununterbrochene Zusammenarbeit von
dialektischem und historischem Materialismus ergründet werden h Im ersten
und zweiten Teil dieses Werks sind die Gesichtspunkte des dialektischen Mate¬
rialismus dominierend, da es sich darum handelt, das objektive Wesen des
Ästhetischen begrifflich auszudrücken. Es gibt dabei jedoch fast kein Problem,
den Mittelpunkt des Interesses. Darum konnte Mehring, der übrigens seine
Ästhetik auf die »Kritik der Urteilskraft« gründete, in den Divergenzen
zwischen Marx-Engels und Lassalle nur einen Zusammenprall von subjek¬
tiven Geschmacksurteilen erblicken. Diese Kontroverse ist freilich längst er¬
ledigt. Seit der geistvollen Studie von M. Lifsdiitz über die Entwiddung der
ästhetischen Anschauungen von Marx, seit seiner sorgfältigen Sammlung und
Systematisierung der zerstreuten Aussprüche von Marx, Engels und Lenin
über ästhetische Fragen kann kein Zweifel mehr über Zusammenhang und
Kohärenz dieser Gedankengänge bestehen 1 2.
Diesen systematischen Zusammenhang aufzuzeigen und nachzuweisen löst
aber die Frage nach einer Ästhetik des Marxismus noch lange nicht endgültig.
Denn wäre in den gesammelten und systematisch geordneten Aussprüchen der
Klassiker des Marxismus eine Ästhetik oder zumindest ihr perfektes Skelett
bereits explicit enthalten, so wäre nichts anderes nötig als ein guter Verbin¬
dungstext und die marxistische Ästhetik stünde fertig vor uns. Davon kann
keine Rede sein! Nicht einmal eine direkte monographische Anwendung
dieses Materials auf alle Einzelfragen der Ästhetik kann, wie vielfache Erfah¬
rungen zeigen, für den Aufbau des Ganzen wissenschaftlich Ausschlaggebendes
bringen. Man steht also vor der paradoxen Situation, daß es eine marxistische
Ästhetik gleichzeitig gibt und nicht gibt, daß sie durch selbständige Forschun¬
gen erobert, ja geschaffen werden muß und daß das Resultat zugleich doch nur
etwas der Idee nach Vorhandenes begrifflich darlegt und fixiert. Die Para¬
doxie löst sich indessen von selbst auf, wenn das ganze Problem im Licht der
Methode der materialistischen Dialektik betrachtet wird. Der uralte Wortsinn
der Methode, der mit dem Weg zur Erkenntnis unlösbar verknüpft ist, ent¬
hält nämlich die Forderung an das Denken, um bestimmte Resultate zu
erzielen bestimmte Wege zu gehen. Die Richtung dieser Wege ist in der
Totalität des Weltbilds, das die Klassiker des Marxismus entworfen haben, in
zweifelsfreier Evidenz enthalten, insbesondere dadurch, daß die vorhandenen
Ergebnisse als Endpunkte solcher Wege klar vor uns stehen. Es ist also, wenn
auch nicht unmittelbar, nicht auf den ersten Blick sichtbar, durch die Methode
des dialektischen Materialismus klar vorgezeichnet, welche Wege und wie sie
zu beschreiten sind, wenn man die objektive Wirklichkeit in ihrer wahren
Objektivität auf den Begriff bringen und das Wesen eines Einzelgebiets seiner
Wahrheit gemäß ergründen will. Erst wenn diese Methode, diese Wegrich¬
tung selbständig, durch eigene Forschung verwirklicht und eingehalten wird,
ist die Möglichkeit vorhanden, auf das Gesuchte zu stoßen, die marxistische
Ästhetik richtig aufzubauen oder wenigstens sich ihrem wahren Wesen anzu¬
nähern. Wer die Illusion hegt, mit Hilfe einer bloßen Marxinterpretation die
Wirklichkeit und zugleich damit Marxens Erfassen der Wirklichkeit gedank¬
lich zu reproduzieren, muß beides verfehlen. Nur eine unbefangene Betrach¬
tung der Wirklichkeit und ihre Aufarbeitung mittels der von Marx entdeckten
Methode kann beides erringen: Treue zur Wirklichkeit und zugleich Treue
zum Marxismus. In diesem Sinne ist diese Arbeit zwar in allen ihren Bestand¬
teilen und in ihrer Ganzheit das Ergebnis selbständiger Forschung, sie erhebt
aber dennoch keinen Anspruch auf Originalität. Denn alle Mittel, sich der
Wahrheit anzunähern, ihre ganze Methode verdankt sie dem Studium des
Gesamtwerks, das die Klassiker des Marxismus uns überliefert haben.
Die Treue zum Marxismus bedeutet aber zugleich die Anhänglichkeit an die
großen Traditionen der bisherigen gedanklichen Bewältigung der Wirklichkeit.
Es ist in der Stalinschen Periode, besonders seitens Shdanows, ausschließlich
das hervorgehoebn worden, was den Marxismus von den großen Überlieferun¬
gen des menschlichen Denkens trennt. Wenn dabei nur das qualitativ Neue
am Marxismus betont worden wäre, nämlich der Sprung, der seine Dialektik
von der seiner entwickeltsten Vorläufer, etwa von Aristoteles oder Hegel
trennt, so könnte das relativ berechtigt sein. Ein solcher Standpunkt könnte
sogar als notwendig und nützlich bewertet werden, wenn er nicht - in tief
undialektischer Weise - das radikal Neue am Marxismus einseitig, isolierend
und darum metaphysisch hervorhöbe, wenn er dabei nicht das Moment
der Kontinuität in der menschlichen Dedankenentwicklung vernachlässigte.
Die Wirklichkeit — und deshalb auch ihre gedankliche Widerspiegelung und
Wiedergabe — ist aber eine dialektische Einheit von Kontinuität und Diskon-
tiunität, von Tradition und Revolution, von allmählichen Übergängen
und Sprüngen. Der wissenschaftliche Sozialismus selbst ist etwas in der Ge¬
schichte völlig Neues und vollbringt doch zugleich die Erfüllung einer jahr¬
tausendelang lebendigen Menschheitsehnsucht, die Erfüllung dessen, was die
besten Geister zutiefst angestrebt haben. So steht es auch mit dem begriff liehen
Erfassen der Welt durch die Klassiker des Marxismus. Die tiefe und durch
Vorwort 19
Ergebnissen bestimmt sind, die Aristoteles, Goethe und Hegel in ihren ver¬
schiedenen, nicht nur in den direkt auf die Ästhetik bezüglichen Schriften,
gewonnen haben. Wenn ich daneben meine Dankbarkeit gegenüber Epikur,
Bacon, Hobbes, Spinoza, Vico, Diderot, Lessing und den russischen revolu¬
tionär-demokratischen Denkern ausspreche, habe ich natürlich nur die für
midi allerwichtigsten Namen aufgezählt; die Liste der Autoren, denen ich
midi für diese Arbeit, im Ganzen wie im Detail verpflichtet fühle, ist damit
noch lange nicht erschöpft. Dieser Überzeugung entspricht die Art des Zitierens.
Es ist nicht beabsichtigt, Probleme der Geschichte der Kunst oder der Ästhetik
zu behandeln. Vielmehr kommt es nur darauf an, Tatbestände oder Entwick¬
lungslinien, die für die allgemeine Theorie von Belang sind, zu erhellen.
Darum werden, der jeweiligen theoretischen Konstellation entsprechend, ent¬
weder solche Autoren oder Werke zitiert, die etwas - richtig oder in bedeut¬
samer Weise falsch - zum erstenmal ausgesprochen haben oder deren Meinung
für eine bestimmte Sachlage als besonders charakteristisch erscheint. Nach
Vollständigkeit der literarischen Belege zu streben, mußte den Intentionen
dieser Arbeit fernliegen.
Schon aus dem bisher Dargelegten folgt, daß die polemische Spitze dieser
ganzen Arbeit gegen den philosophischen Idealismus gerichtet ist. Dabei fällt
der erkenntnistheoretische Kampf gegen ihn naturgemäß aus ihrem Rahmen
heraus; es kommt auf die spezifischen Fragen an, in denen der philosophische
Idealismus sich als Hindernis für das adäquate Begreifen spezifisch-ästhe-
tisdier Sachverhalte erweist. Uber die Verwirrungen, die sich ergeben, wenn
sich das ästhetische Interesse auf die Schönheit (und evtl, auf ihre sogenannten
Momente) konzentriert, werden wir hauptsächlich im zweiten Teil sprechen;
hier wird dieser Komplex nur episodisch gestreift. Umso wichtiger scheint es
uns, auf den notwendig hierarchischen Charakter einer jeden idealistischen
Ästhetik hinzuweisen. Wenn nämlich die verschiedenen Bewußtseinsformen
als die letzthinnigen Bestimmungsprinzipien der Gegenständlichkeit aller
untersuchten Objekte, ihrer Stelle im System etc. figurieren, und nicht - wie
im Materialismus - als Reaktionsweisen auf objektiv, unabhängig vom Be¬
wußtsein Vorhandenes und bereits konkret Geformtes auf gef aßt werden,
müssen sie sich zwangsläufig zu obersten Richtern der gedanklichen Ordnung
aufwerfen und ihr System hierarchisch aufbauen. Welche Rangstufen eine
solche Hierarchie jeweils enthält ist historisch außerordentlich verschieden.
Das soll aber hier nicht diskutiert werden, da es uns allein auf die alle Gegen¬
stände und Beziehungen verfälschende Wesensart einer jeden solchen Hierar¬
chie ankommt.
Vorwort 21
Es ist ein weit verbreitetes Mißverständnis, wenn man glaubt, daß das Welt¬
bild des Materialismus — Priorität des Seins dem Bewußtsein, des gesellschaft¬
lichen Seins dem gesellschaftlichen Bewußtsein gegenüber — ebenfalls hierar¬
chischen Charakters wäre. Für den Materialismus ist die Priorität des Seins
vor allem die Feststellung einer Tatsache: es gibt ein Sein ohne Bewußtsein,
es gibt aber kein Bewußtsein ohne Sem. Daraus folgt jedoch keinerlei hierar¬
chische Unterordnung des Bewußtseins unter das Sein. Im Gegenteil, diese
Priorität und ihre konkrete theoretische wie praktische Anerkennung durch
das Bewußtsein schafft erst die Möglichkeit, das Sein durch das Bewußtsein
real zu beherrschen. Die einfache Tatsache der Arbeit illustriert diesen Tat¬
bestand in schlagender Weise. Und wenn der historische Materialismus die
Priorität des gesellschaftlichen Sems dem gesellschaftlichen Bewußtsein gegen¬
über feststellt, handelt es sidi ebenfalls nur um die Anerkennung einer
Faktizität. Audi die gesellschaftliche Praxis ist auf das Beherrschen des gesell¬
schaftlichen Seins gerichtet, und daß sie ihre Ziele im Laufe der bisherigen
Geschichte nur sehr relativ verwirklichen konnte, schafft gleichfalls kein
hierarchisches Verhältnis zwisdien beiden, sondern bestimmt bloß jene kon¬
kreten Bedingungen, unter welchen eine erfolgreiche Praxis objektiv möglich
wird, bestimmt damit freilich zugleich ihre konkreten Grenzen, jenen Entfal¬
tungsspielraum für das Bewußtsein, den das jeweilige gesellschaftliche Sein
darbietet. So wird eine historische Dialektik in diesem Verhältnis sichtbar,
aber keinesfalls eine hierarchische Struktur. Wenn ein kleines Segelboot sich
einem Sturm gegenüber als hilflos erweist, den ein mächtiges Motorschiff ohne
Schwierigkeiten überwindet, so zeichnet sich bloß die reale Überlegenheit
oder Schranke des jeweiligen Bewußtseins dem Sein gegenüber ab, nicht aber
eine hierarchische Beziehung zwischen dem Menschen und den Naturkräften;
um so weniger, als die historische Entwicklung - und mit ihr die wachsende
Erkenntnis des Bewußtseins über die wahre Beschaffenheit des Seins - ein
ständiges Wachsen der Herrschaftsmöglichkeiten jenes über dieses hervor¬
bringt.
Radikal anders muß der philosophische Idealismus sein Weltbild entwerfen.
Es sind nicht die realen und wechselvollen Kräfteverhältnisse, die ein zeit¬
weiliges Übergewicht oder Unterlegensein im Leben schaffen; sondern von
vorneherein steht eine Hierarchie jener bewußtseinsmäßigen Potenzen fest,
die nicht nur die Gegenständlichkeitsformen und die Beziehungen zwischen
den Gegenständen hervorbringen und ordnen, sondern sich auch untereinan¬
der in hierarchischen Abstufungen befinden. Um die Lage an unserem Problem
zu beleuchten: wenn etwa Hegel die Kunst der Anschauung, die Religion
Vorwort
22
der Vorstellung, die Philosophie dem Begriff zuordnet und sie als von diesen
Bewußtseinsformen regiert auf faßt, so ist dadurch eine genaue, »ewige«,
unumstößliche Hierarchie entstanden, die, wie jeder Kenner Hegels weiß,
auch das historische Schicksal der Kunst bestimmt. (Wenn etwa der junge
Schelling die Kunst entgegengesetzt in seine hierarchische Ordnung einfügt,
so hat sidi damit an den Prinzipien nichts geändert.) Es ist evident, daß
daraus ein ganzes Knäuel von Scheinproblemen entsteht, das seit Platon eine
jede Ästhetik methodologisch verwirrt hat. Denn einerlei, ob die idealistische
Philosophie in einer bestimmten Hinsicht eine Über- oder Unterordnung der
Kunst gegenüber anderen Bewußtseinsformen statuiert, wird das Denken von
der Untersuchung der spezifischen Eigenheiten der Gegenstände abgelenkt,
diese werden — zumeist ganz unzulässig — auf einen Nenner gebracht, damit
man sie innerhalb einer hierarchischen Ordnung miteinander vergleichen und
der gewünschten hierarchischen Stufe einfügen kann. Es mag sich um Probleme
der Beziehung der Kunst zur Natur, zur Religion, zur Wissenschaft etc.
handeln, überall müssen aus den Scheinproblemen Verzerrungen der Gegen¬
ständlichkeitsformen, der Kategorien entspringen.
Die Bedeutung des Bruchs, der so mit jedem philosophischen Idealismus voll¬
zogen wird, zeigt sich in seinen Konsequenzen noch deutlicher, wenn wir
unseren materialistischen Ausgangspunkt weiter konkretisieren: wenn wir
nämlich die Kunst als eine eigenartige Erscheinungsweise der Widerspiegelung
der Wirklichkeit auffassen, die ihrerseits nur eine Unterart der universellen
sie widerspiegelnden Beziehungen des Menschen zur Wirklichkeit ist. Einer
der entscheidenden Grundgedanken dieses Werks besteht darin, daß alle Arten
der Widerspiegelung - wir analysieren vor allem die durch das Alltagsleben,
die Wissenschaft und die Kunst - stets dieselbe objektive Wirklichkeit abbil¬
den. Dieser als selbstverständlich, ja als trivial scheinende Ausgangspunkt hat
aber weittragende Konsequenzen. Da die materialistische Philosophie alle
Gegenständlichkeitsformen, alle den Gegenständen und ihren Beziehungen
zugehörigen Kategorien nicht als Produkte eines schöpferischen Bewußtseins
ansieht, wie der Idealismus, sondern in ihnen eine vom Bewußtsein unab¬
hängig existierende objektive Wirklichkeit erblickt, können sich alle Diver¬
genzen, ja Gegensätzlichkeiten in den einzelnen Widerspiegelungsarten nur
innerhalb dieser materiell und formell einheitlichen Wirklichkeit abspielen.
Um die komplizierte Dialektik in dieser Einheit der Einheit und Verschieden¬
heit begreifen zu können, muß zuerst mit der weitverbreiteten Vorstellung
einer mechanischen, photographischen Widerspiegelung gebrochen werden.
Wäre eine solche die Grundlage, aus welcher die Differenzen herauswachsen,
Vorwort
23
fällen ein besonderes Kapitel (das vierzehnte) zu widmen, hier mit dem
Bestreben, die spezifischen Differenzen so zu erhellen, daß in ihnen zugleich
die allgemeinen ästhetischen Prinzipien ihre Geltung bewahren.
Diese Universalität der Widerspiegelung der Wirklichkeit als Grundlage aller
Wechselbeziehungen des Menschen mit seiner Umwelt hat, zu Ende geführt,
sehr weitgehende weltanschauliche Folgen für die Auffassung des Ästhetischen.
Für jeden wirklich folgerichtigen Idealismus muß nämlich eine jede im mensch¬
lichen Dasein bedeutsame Bewußtseinsform - also in unserem Falle die ästhe¬
tische -, da ihr Ursprung hierarchisch im Zusammenhang einer Ideenwelt
begründet ist, von einer »überzeitlichen« »ewigen« Wesensart sein; soweit
sie geschichtlich behandelt werden kann, geschieht dies innerhalb eines solchen
metahistorischen Rahmens des »zeitlosen« Seins oder Gehens. Diese scheinbar
formal-methodologische Position muß aber notwendig ins Inhaltliche, ins
Weltanschauliche Umschlägen. Denn es folgt aus ihr notwendig, daß das
Ästhetische, sowohl produktiv wie rezeptiv, zum »Wesen« des Menschen
gehört, mag man dieses vom Standpunkt der Ideenwelt oder des Weltgeistes,
anthropologisch oder ontologisch bestimmen. Ein völlig entgegengesetztes Bild
muß unsere materialistische Betrachtungsweise ergeben. Die objektive Wirk¬
lichkeit, die in den verschiedenen Arten der Widerspiegelung erscheint, ist
nicht nur einem ununterbrochenen Wandel unterworfen, sondern dieser zeigt
sehr bestimmte Richtungen, Entwicklungslinien. Die Wirklichkeit selbst ist
also ihrer objektiven Wesensart nach historisch; die in den verschiedenen
Widerspiegelungen erscheinenden inhaltlichen wie formellen geschichtlichen
Bestimmungen sind demgemäß nur mehr oder weniger richtige Annäherungen
an diese Seite der objektiven Wirklichkeit. Eine echte Historizität kann aber
niemals in einer bloßen Veränderung der Inhalte der völlig gleichbleibenden
Formen, bei völlig unveränderlichen Kategorien bestehen. Ja gerade dieser
Wechsel der Inhalte muß notwendig modifizierend auch auf die Formen ein¬
wirken, muß vorerst bestimmte Funktionsverschiebungen innerhalb des kate-
gorialen Systems, von einem bestimmten Grad an sogar ausgesprochene Wand¬
lungen mit sich führen: das Entstehen neuer und das Verschwinden alter
Kategorien. Die Historizität der objektiven Wirklichkeit hat eine bestimmte
Historizität der Kategorienlehre zur Folge.
Freilich muß dabei sehr darauf geachtet werden, inwiefern und wieweit solche
Veränderungen von objektiver oder subjektiver Beschaffenheit sind. Denn
obgleich wir meinen, auch die Natur müsse letzten Endes historisch aufgefaßt
werden, sind die einzelnen Etappen dieser Entwicklung von einer derartigen
zeitlichen Ausdehnung, daß ihre objektiven Veränderungen für die Wissen-
Vorwort
25
wie an seiner Stelle dargelegt werden soll, nicht einen einfachen Sub¬
jektivismus. Die Objektivität der Objekte bleibt im Gegenteil bewahrt, je¬
doch so, daß in ihr alle typischen Bezogenheiten auf das menschliche Leben
mitenthalten sind, daß sie so erscheint, wie es dem jeweiligen Stand der inne¬
ren wie äußeren Menschheitsentwicklung, die eine gesellschaftliche Entwick¬
lung ist, entspricht. Das bedeutet, daß jede ästhetische Gestaltung das histo¬
rische hic et nunc ihrer Genesis als wesentliches Moment ihrer entscheidenden
Gegenständlichkeit in sich einbezieht, sich selbst einordnet. Natürlich ist jede
Widerspiegelung sachlich von der bestimmten Stelle ihres Vollzugs deter¬
miniert. Selbst bei der Entdeckung mathematischer oder rein naturwissen¬
schaftlichen Wahrheiten ist der Zeitpunkt niemals zufällig; allerdings besitzt
er sachliche Bedeutung mehr für die Geschichte der Wissenschaften als für das
Wissen selbst, für welches man es als völlig gleichgültig betrachten kann,
wann und unter welchen - notwendigen - historischen Bedingungen etwa der
Pythagoräische Lehrsatz zum erstenmal formuliert wurde. Ohne hier auf die
kompliziertere Lage in den Gesellschaftswissenschaften eingehen zu können,
muß auch für diese festgestellt werden, daß die Einwirkungen der Zeitlage in
ihren verschiedensten Formen hindernd auf das Herausarbeiten der wirk¬
lichen Objektivität in der Reproduktion der gesellschaftlich-geschichtlichen
Tatbestände wirksam werden können. Völlig entgegengesetzt steht es mit der
ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit: ohne ein gestalterisches Le¬
bendigmachen des jeweiligen historischen hic et nunc im abgebildeten Mo¬
ment ist noch niemals ein bedeutendes Kunstwerk entstanden. Einerlei ob die
betreffenden Künstler sich dessen bewußt sind oder mit dem Glauben schaf¬
fen, etwas Überzeitliches hervorzubringen, einen früheren Stil fortzuführen,
ein aus der Vergangenheit geschöpftes »ewiges« Ideal zu verwirklichen, so¬
weit ihre Werke künstlerisch echt sind, wachsen sie aus den tiefsten Bestre¬
bungen der Zeit ihres Entstehens heraus; Inhalt und Form der wahrhaftig
künstlerischen Gestaltungen können - gerade ästhetisch - von diesem Boden
ihrer Genesis nicht getrennt werden. Die Historizität der objektiven Wirk¬
lichkeit erhält ihre subjektive wie objektive Gestalt gerade in den Werken
der Kunst.
Dieses historische Wesen der Wirklichkeit führt zu einem weiteren wichtigen
Problemkomplex, der primär ebenfalls methodologischer Art ist, jedoch, wie
jedes echte Problem einer richtig - und nicht bloß formal - aufgefaßten
Methodologie notwendig ins Weltanschauliche umschlägt. Wir meinen das
Problem der Diesseitigkeit. Rein methodologisch betrachtet ist Diesseitigkeit
eine unerläßliche Forderung der wissenschaftlichen Erkenntnis ebenso wie der
Vorwort
27
künstlerischen Gestaltung. Nur wenn ein Komplex von Phänomenen rein aus
ihren immanenten Eigenschaften, aus den auf sie wirkenden gleichfalls
immanenten Gesetzlichkeiten restlos begriffen erscheint, kann man ihn als
wissenschaftlich erkannt betrachten. Praktisch ist eine solche Vollständigkeit
natürlich immer nur approximativ; die extensive wie intensive Unendlichkeit
der Gegenstände, ihrer statischen und dynamischen Beziehungen etc. gestatten
nicht, daß irgendeine Erkenntnis in ihrer jeweils gegebenen Form je als eine
absolut endgültige aufgefaßt werden kann, daß Korrekturen, Einschränkun¬
gen, Erweiterungen etc. an ihr je als ausgeschlossen betrachtet werden können.
Dieses »Noch nicht« in der wissenschaftlichen Bewältigung der Wirklichkeit
wurde von der Magie bis zum modernen Positivismus in den verschiedenen
Weisen als Transzendenz interpretiert, unbekümmert darum, wie vieles, wo¬
rüber man einst ein »Ignorabimus« verkündet hatte, bereits längst als lösbares,
wenn auch vielleicht noch nicht praktisch gelöstes Problem in die exakte Wis¬
senschaft eingezogen ist. Die Entstehung des Kapitalismus, die neuen Be¬
ziehungen zwischen Wissenschaft und Produktion, kombiniert mit den großen
Krisen der religiösen Weltanschauungen, haben an die Stelle der naiven
Transzendenz eine kompliziertere, raffiniertere gesetzt. Schon zur Zeit der
Versuche einer ideologischen Abwehr der Kopernikanischen Theorie seitens
der Verteidiger des Christentums ist der neue Dualismus entstanden: eine
methodologische Anschauung, um die Immanenz für die gegebene Erschei¬
nungswelt mit einem Leugnen ihrer letzthinnigen Realität zu verknüpfen, um
die Kompetenz der Wissenschaft, über diese etwas Gültiges aussagen zu kön¬
nen, zu bestreiten. Auf der Oberfläche mag der Eindruck entstehen, daß diese
Entwertung der Wirklichkeit der Welt nichts ausmacht, da ja die Menschen
praktisch in der Produktion ihre unmittelbaren Aufgaben erfüllen können,
unabhängig davon, ob sie Objekt, Mittel etc. ihrer Tätigkeit für etwas Ansich-
seiendes oder für bloße Erscheinungen halten. Eine solche Anschauung ist aber
in doppelter Weise sophistisch. Erstens ist jeder handelnde Mensch in seiner
realen Praxis immer überzeugt, mit der Wirklichkeit selbst zu tun zu haben;
selbst der positivistische Physiker ist es, wenn er z. B. ein Experiment voll¬
zieht. Zweitens zersetzt eine derartige Anschauung, wenn sie - aus gesell¬
schaftlichen Gründen - tief eingewurzelt und stark verbreitet ist, die vermit-
telteren geistig-moralischen Beziehungen der Menschen zur Wirklichkeit. Die
existenzialistische Philosophie, in der der in die Welt »geworfene« Mensch
dem Nichts gegenübersteht, ist - gesellschaftlich-geschichtlich angesehen - der
notwendig ergänzende Gegenpol jener philosophischen Entwicklung, die von
Berkeley bis zu Mach oder Carnap führt.
28 Vorwort
1 Vgl. Gordon Childe, What happened in history (1941), deutsch: Stufen der Mensch-
heitsgeschichte, 1952.
Vorwort
29
Befreiungskampf der Kunst von der Bevormundung seitens der Religion eine
fundamentale Tatsache ihrer Entstehung und Entfaltung. Die Genesis hat
eben zu zeigen, wie aus der naturgemäßen bewußtseinsmäßigen Gebundenheit
des primitiven Menschen an die Transzendenz, ohne welche anfängliche
Stadien auf jedem Gebiet unvorstellbar wären, die Kunst sich allmählich zu
einer Selbständigkeit in der Widerspiegelung der Wirklichkeit, zu ihrer eigen¬
artigen Bearbeitung durchgerungen hat. Es kommt dabei natürlich auf die
Entwicklung der objektiven ästhetischen Tatsachen an, nicht darauf, was ihre
Vollstredcer über ihr eigenes lun gedacht haben. Gerade in der künstlerischen
Piaxis ist die Divergenz zwischen Tat und Bewußtsein über sie besonders
groß. Das Marx entnommene Motto unseres ganzen Werks: »Sie wissen es
nicht, aber sie tun es«, tritt hier besonders prägnant hervor. Es ist also die
objektive kategoriale Struktur des Kunstwerks, die jede Bewegung des Be¬
wußtseins ins Transzendente, die in der Geschichte des Menschengeschlechts
naturgemäß sehr häufig ist, wieder in Diesseitigkeit verwandelt, indem es als
das was es ist, als Bestandteil des menschlidien, diesseitigen Lebens, als Sym¬
ptom seines jeweiligen Geradesoseins erscheint. Die vielfache Verwerfung der
Kunst, des ästhetischen Prinzips, von Tertullian bis Kierkegaard ist nichts
Zufälliges; vielmehr eine Anerkennung ihres wirklichen Wesens aus dem
Lager ihrer geborenen Feinde. Auch dieses Werk registriert nicht einfach diese
notwendigen Kämpfe, sondern es bezieht in ihnen resolut Stellung: für die
Kunst, gegen die Religion, im Sinne einer großen Tradition, die von Epikur
über Goethe bis Marx und Lenin reicht.
Die dialektische Entfaltung, Auseinanderlegung und Wiedervereinigung so
mannigfacher, widerspruchsvoller, konvergierender und divergierender Be¬
stimmungen von Gegenständlichkeiten und ihren Beziehungen, erfordert auch
für die Darstellung eine eigene Methode. Wenn hier ihre grundliegenden
Prinzipien kurz auseinandergesetzt werden sollen, so kann keineswegs davon
die Rede sein, im Vorwort eine Apologie der eigenen Darstellungsweise geben
zu wollen. Niemand kann ihre Grenzen und Fehler klarer sehen, als der
Verfasser. Er will hier nur für seine Intentionen geradestehen; wo er sie
angemessen, wo fehlerhaft verwirklicht hat, darüber steht ihm kein Urteil zu.
Es soll also im folgenden nur von den Prinzipien die Rede sein. Diese wurzeln
in der materialistischen Dialektik, deren konsequente Durchführung auf einem
so ausgedehnten und viel weit Auseinanderliegendes umfassenden Gebiet vor
allem einen Bruch mit den formellen, auf Definitionen und mechanischen Ab¬
grenzungen, auf »reinlichen« Scheidungen in Unterabteilungen beruhenden
Darstellungsmitteln erfordert. Wenn wir, um uns mit einem Schlag ins
3o Vorwort
hoffe ich, kann dieses Werk eher als Verwirklichung eines solchen Denkstils
gelten.
Endlich mag der Leser gestatten, ganz kurz auf die Entstehungsgeschichte
meiner Ästhetik hinzuweisen. Ich begann als Literaturkritiker und Essayist,
der in den Ästhetiken Kants, später Hegels theoretische Stütze suchte. Im
Winter 1911—12 entstand in Florenz der erste Plan einer selbständigen syste¬
matischen Ästhetik, an deren Ausarbeitung ich mich in den Jahren 1912—1914
in Heidelberg machte. Ich denke noch immer mit Dankbarkeit an das wohl¬
wollend-kritische Interesse, das Ernst Bloch, Emil Lask und vor allem Max
Weber meinem Versuch gegenüber zeigten. Er ist vollständig gescheitert. Und
wenn ich hier leidenschaftlich gegen den philosophischen Idealismus auftrete,
so ist diese Kritik immer auch gegen meine eigenen Jugendtendenzen gerich¬
tet. Äußerlich gesehen unterbrach der Kriegsausbruch diese Arbeit. Schon die
»Theorie des Romansx«, entstanden im ersten Kriegsjahr, richtet sich mehr
auf geschichtsphilosophische Probleme, für welche die ästhetischen nur Sym¬
ptome, Signale sein sollten. Dann traten Ethik, Geschichte, Ökonomie immer
stärker in den Mittelpunkt meiner Interessen. Ich wurde Marxist, und das Jahr¬
zehnt meiner aktiven politischen Tätigkeit ist zugleich die Periode einer inneren
Auseinandersetzung mit dem Marxismus, die seiner wirklichen Aneignung.
Als ich - um 1930 - mich wieder der intensiven Beschäftigung mit künstleri¬
schen Problemen zuwandte, stand eine systematische Ästhetik nur als sehr
ferne Perspektive an meinem Horizont. Erst zwei Jahrzehnte später, Anfang
der fünfziger Jahre, konnte ich daran denken, mit ganz anderer Weltanschau¬
ung und Methode an die Verwirklichung meines Jugendtraums heranzutreten
und ihn mit völlig anderen Inhalten, mit radikal entgegengesetzten Methoden
auszuführen.
Ich möchte dieses Buch nicht der Öffentlichkeit übergeben, ohne meinen Dank
abzustatten: an Prof. Bence Szabolcsi, der mir mit unermüdlicher Geduld
half, meine dürftige musikalische Kultur zu verbreitern und zu vertiefen;
an Frau Agnes Heller, die mein Manuskript während seines Entstehens las
und deren scharfsinnige Kritik dem endgültigen Text sehr zugute kam; an
Dr. Frank Benseler für seine Initiative beim Entstehen dieser Ausgabe, für
seine hingebende Arbeit am Manuskript und bei der Korrektur.
1 Georg Lukäcs, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über
die Formen der großen Epik, Berlin 1920; Neuauflage Neuwied 1963.
'
Erstes Kapitel
ruft. Hier hört die Arbeit auf, primär von den eigenen körperlichen und
geistigen Kräften des Arbeitenden bestimmt zu sein. (Periode der Maschinen¬
arbeit, steigende Determination der Arbeit durch die Wissenschaften.) Da¬
zwischen liegt die Ausbildung der Arbeit auf einem weniger entwickelten,
mit den persönlichen Fähigkeiten der Menschen tief verbundenen Niveau
(Periode des Handwerks, der Nähe von Handwerk und Kunst), die historisch
die Voraussetzungen für die dritte Periode schafft.
Allen drei Perioden ist jedoch das Wesenszeichen der spezifisch menschlichen
Arbeit, des teleologischen Prinzips, gemeinsam: daß das Resultat des Arbeits¬
prozesses »beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also
schon ideell vorhanden war.« Die Möglichkeit einer solchen Aktionsweise
setzt einen bestimmten Grad der richtigen Widerspiegelung der objektiven
Wirklichkeit im Bewußtsein des Menschen voraus. Besteht doch, nach Hegel,
der diese Struktur der Arbeit klar erkannt hat und auf den sich Marx bei
diesen Betrachtungen auch beruft, ihr Wesen darin: Sie »läßt die Natur an
sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert so mit leichter Mühe das Ganze«.1
Es ist klar, daß ein solches Regieren der Naturvorgänge - selbst auf primitiv¬
ster Stufe - ihre annähernd richtige Widerspiegelung voraussetzt, auch dann,
wenn die verallgemeinernden Forderungen, die daraus gezogen werden,
falsch sind. Pareto hat den Zusammenhang von Riditigkeit im einzelnen
und Phantasmagorischem im allgemeinen treffend beschrieben, wenn er sagt:
»Man wird sagen können, daß die wirklich wirksamen Kombinationen, wie
die Entzündung von Feuer mit dem Kieselstein, den Menschen auch zum
Glauben an die Wirksamkeit eingebildeter Kombinationen treibe.« 2
Gehören jedoch solche Ergebnisse der Widerspiegelung der Wirklichkeit zum
Alltagsleben und zu dessen Denken, so ist es klar, daß die Frage der Objekti-
vationen bzw. ihre mangelhafte Ausbildung in dieser Sphäre des Lebens nur
sehr elastisch, dialektisch aufgefaßt werden darf, wenn wir die grundlegen¬
den Struktur- und Entwicklungstendenzen nicht vergewaltigen wollen.
Unzweifelhaft entsteht in der Arbeit (ebenso wie in der Sprache, die eben¬
falls ein fundamentales Moment des Alltagslebens bildet) eine Art von Ob-
jektivation. Und zwar nicht bloß im Produkt der Arbeit, worüber kein Streit
möglich ist, sondern auch im Arbeitsprozeß. Indem die Akkumulation der
täglichen Erfahrungen, die Übung, die Gewohnheit etc. dazu führen,
Hinter allem bisher Aufgeführten steckt ein zweites Wesenszeichen des all¬
täglichen Seins und Denkens: der unmittelbare Zusammenhang zwischen
Theorie und Praxis. Diese Feststellung bedarf, um richtig verstanden zu
werden, einer gewissen Erläuterung. Es wäre nämlich total falsch anzuneh¬
men, die Gegenstände der Alltagstätigkeit wären objektiv, an sich, unmittel¬
baren Charakters. Im Gegenteil. Sie existieren nur infolge eines sehr weitver¬
zweigten, vielfältigen, komplizierten Vermittlungssystems, das im Laufe der
gesellschaftlichen Entwicklung immer komplizierter und weiterverzweigt
wird. Insofern es sich jedoch um Gegenstände des Alltagslebens handelt,
stehen diese fertig da, und das sie hervorbringende Vermittlungssystem er¬
scheint in ihrem unmittelbaren, nackten Dasein und Sosein als restlos aus¬
gelöscht. Man denke dabei nicht nur an technisch-wissenschaftliche, sondern
auch an ökonomisch sehr komplizierte Phänomene, wie Taxi, Autobus,
Straßenbahn etc., an ihren Gebrauch im Alltagsleben, an die Art, wie sie im
Alltagsleben figurieren, um diese Unmittelbarkeit klar vor sich zu sehen. Es
gehört zur notwendigen Lebensökonomie des Alltags, daß man im Durchschnitt
seine ganze Umgebung — solange sie funktioniert — nur auf Grund ihres prak¬
tischen Funktionierens (und nicht auf Grund ihres objekiven Wesens) auf¬
nimmt und beurteilt. Und sogar in sehr vielen Fällen ruft ihr Nichtfunktio-
nieren ebenfalls bloß ähnliche Reaktionen hervor. Das ist natürlich - in seiner
Reinkultur - ein Produkt der kapitalistischen Arbeitsteilung. Auf primitive¬
ren Entwicklungsstufen, wo die Mehrzahl der Geräte etc. des Alltagslebens
von den Handelnden selbst hergestellt wurden, oder wo deren Produktions¬
weise allgemein bekannt war, war gerade diese Art der Unmittelbarkeit weit
weniger entfaltet und auffällig. Erst eine hochentwickelte gesellschaftliche
Arbeitsteilung, die aus jedem Produktionszweig und aus seinen Teilmomen¬
ten eine scharfumgrenzte Spezialität macht, zwingt den durchschnittlich
Handelnden des Alltagslebens diese Unmittelbarkeit auf.
Die allgemeinere, freilich weitaus weniger entwickelte Struktur dieser Verhal¬
tensweise geht bis in die Urzeit zurück. Denn die unmittelbare Verbindung
von Theorie (d. h. Nachdenken, Widerspiegelungsart des Gegenstandes)
und Praxis ist sicher ihre allerälteste Form: die Umstände zwingen die Men¬
schen sehr oft, ja in der Mehrzahl der Fälle zu einem sofortigen Handeln.
Freilich besteht die gesellschaftliche Rolle der Kultur (vor allem die der
Wissenschaft) darin, daß sie zwischen einer voraussehbaren Situation und
der bestmöglichen Form des Handelns Vermittlungen entdeckt und dann da¬
zwischenschiebt. Jedoch wenn diese einmal vorhanden, in allgemeinen Ge¬
brauch getreten sind, verlieren sie für den im Alltag handelnden Menschen
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens
45
1 Cassirer: a. a. O. S. 62.
2 Ebd. 5i.
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
5°
der Denkungsart des Alltags. Jeder Schritt vorwärts, den der Materialismus
als Weltanschauung macht, beinhaltet eine Entfernung von der Betrachtungs¬
weise des unmittelbaren Alltags, eine beginnende wissenschaftliche Einsicht in
die »nicht ostensiblen« Ursachen der Phänomene und ihrer Bewegung. An
den Schranken dieser wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit,
die, wie wir sehen werden, eine Entfernung von den, eine Erhebung über die
Denkformen des Alltags bedeutet, entsteht notwendig eine Rückkehr zu
diesem. Formell mag ein solches Denken sehr hochentwickelt sein, es mag alle
Formen und Inhalte der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit
benützen, ihre Grundstruktur wird dodi stets der des Alltags sehr nahestehen.
Wenn zum Beispiel Engels die Geschichtsauffassung des mechanischen Mate¬
rialismus kritisiert und in ihr einen Rückfall in den Idealismus feststellt, so
bewegt sich seine Argumentation in der von uns beschriebenen Richtung. Er
wirft diesem Materialismus vor, daß er in der Geschichte »die dort wirksamen
ideellen Kräfte als letzte Ursachen hinnimmt, statt zu untersuchen, was denn
hinter ihnen steht, was die Triebkräfte dieser Triebkräfte sind. Nicht darin
liegt die Inkonsequenz, daß ideelle Triebkräfte anerkannt werden, sondern
darin, daß von diesen nicht weiter zurückgegangen wird auf ihre bewegenden
Ursachen.«1 Es ist klar, daß selbst hier, wo es sich um eine auf anderen Ge¬
bieten hochentwickelte philosophische Richtung handelt, das Wesen des
methodologischen Mangels darin besteht, daß der Standpunkt des unmittel¬
baren Alltagsdenkens nicht radikal genug verlassen, und die Umwandlung der
ihr zugrunde liegenden Widerspiegelung in eine wissenschaftliche nicht hin¬
reichend vollzogen wurde. Solche Beispiele zeigen auch die ununterbrochenen
Wechselwirkungen beider Sphären, hier das Hineinspielen des Alltagsdenkens
in das wissenschaftliche, während andere Fälle die umgekehrte Beeinflussung
erweisen können. Die richtige Analyse solcher Beispiele würde aber auch
zeigen, daß einerseits das reine Herausbilden der wissenschaftlichen Wider¬
spiegelung für die höhere Entwicklung der Kultur des Alltagslebens unerlä߬
lich ist, daß anderseits in der Praxis des Alltags die Ereignisse der Wissenschaft
wieder ins Gefüge des Alltagsdenkens eingegliedert werden.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß eine der wichtigsten unter den ori¬
ginären und herrschenden Formen sowohl im anfänglichen wie im ursprünglich
alltäglichen Denken, die überwiegende Art für die Verknüpfung und Trans¬
formation der unmittelbaren Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit
die Analogie ist. Wir haben es hier nicht mit dem logischen Problem von
Analogie und Analogieschluß zu tun; nur um unser Problem besser zu erhel¬
len, seien einige Bemerkungen Hegels angeführt. Hegel betrachtet zwar diese
Frage nicht genetisch, immerhin gibt er einige Andeutungen, die zeigen, daß
er in der Analogie und im Analogieschluß etwas mit den Anfängen des Den¬
kens Verbundenes erblickt. So spricht er, die Darlegungen der »Phänomeno¬
logie« einarbeitend, hier von dem »Instinkt der Vernunft« (also nicht von der
entfalteten Vernunft in ihrer reinen Gestalt), »welcher ahnen läßt, daß diese
oder jene empirisch auf gefundene Bestimmung in der inneren Natur unter der
Gattung eines Gegenstandes gegründet sei, und welcher darauf weiter fußt« b
Auch der Ausdruck »ahnen« unterstreicht diesen anfänglichen Charakter der
Analogie. Freilich bemerkt Hegel an der gleichen Stelle, daß einerseits die
Anwendung des Analogieverfahrens in den empirischen Wissenschaften wich¬
tige Resultate gezeitigt hat, andererseits weist er deutlich, vom Standpunkt
der entwickelten Wissenschaft darauf hin, daß die Analogie aus dem Mangel
der Induktion, aus der Unmöglichkeit, alle Einzelheiten zu erschöpfen ent¬
standen und zur Anwendung gelangt sei. Um die Wissenschaftlichkeit vor
diesen Gefahren zu schützen, weist Hegel auf die Notwendigkeit hin, zwi¬
schen »oberflächlicher und gründlicher« Analogie genau zu unterscheiden.
Erst wenn die Wissenschaft die in Analogie gebrachten Bestimmungen sehr
genau umreißt und aussondert, kann die Analogie für die Praxis fruchtbar
werden; die Naturphilosophie der Schelling-Schule ist in Hegels Augen das
Schulbeispiel für ein »nichtiges Spiel mit leeren, äußerlichen Analogien«.
Aus alledem ist die urwüchsige Eigenart der Analogie, ihre schwer zerreißbare
Verknüpftheit mit dem Alltagsdenken klar ersichtlich. Die Andeutungen
Hegels über ihren oberflächlichen Gebrauch deuten nicht nur Allgemeines an -
denn jede Schlußform kann oberflächlich oder gründlich, formell-sophistisch,
oder sachlich behandelt werden -, sondern eine tief eingewurzelte spontane
Möglichkeit zu einem Gebrauch in dieser Richtung. Ohne auf die geschichtli¬
chen Probleme des analogischen Denkens näher eingehen zu können, darf doch
festgestellt werden, daß gerade hier die bloß verbale Anwendung der Begriffe
sehr nahe liegt. Prantl weist, sich auf Schilderungen in Platons »Euthydemos«
berufend, auf den sophistischen »Grundsatz« hin, »daß der sprachliche Aus¬
druck überall auf alle Verhältnisse gleichmäßig angewendet werden müsse«,
worin er mit Recht »das Motiv aller bloß auf den Sprachausdruck gegrün-
1 Ebd. 87.
2 Goethe: a. a. O. IV S. 231.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 55
Denkens führt, die aber bei einem Stehenbleiben, ja bei einem willkürlichen
Fixieren in Sophismus oder leere Phantastik zu münden pflegt.
Auf eine neue Seite der Stellung der Analogie in der Widerspiegelung der
Wirklichkeit macht Goethe aufmerksam, wenn er sagt: »Jedes Existierende
ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer
zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr,
so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sidi alles ins
Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überleben¬
dig, das anderemal als getötet.« 1 Der Plauptweg zu Irrtümern liegt unmittel¬
bar in der leichtfertigen Überspannung; wir sehen aber hier, daß der Gegen¬
satz, ein pedantisches Ablehnen aller nicht bereits fundierten Ähnlichkeiten,
ebenfalls zu Verzerrungen führen kann. Das ist sowohl für die günstige Wirk¬
samkeit der Analogien im Alltagsleben, wie für die Ausbildung des wissen¬
schaftlichen Denkens bedeutsam. Diese und auch die früheren Ausführungen
Goethes weisen aber auch darauf hin, wie das Erfassen der Welt in der Form
von Analogien in die Richtung der ästhetischen Widerspiegelung führen kann.
Über das eigentliche Problem ist es bei dem gegenwärtigen Stand unserer
Einsichten noch verfrüht zu sprechen. Es kann jetzt nur darauf hingewiesen
werden, daß die von Goethe hervorgehobene Lässigkeit und Elastizität der
Analogie einen günstigen Boden für den künstlerischen Vergleich bildet.
Denn da hier die Ähnlichkeit nie ihre Bezogenheit auf das Subjekt verliert,
da die Analogie gar nicht mit dem Anspruch auftritt, zwei Gegenstände oder
Gegenstandsgruppen mit ihrer Hilfe auch nur annähernd vollständig zu be¬
stimmen, kann manches, was wissenschaftlich verwerflich wäre, hier zur
Tugend werden, obwohl natürlich auch hier eine richtige Widerspiegelung
der Wirklichkeit die Voraussetzung bildet, nur eine qualitativ andersgeartete.
Auf die ganze Frage kommen wir später zu sprechen.
Die Wichtigkeit des auf Analogieverfahren basierten Denkens für den Alltag
hat uns dazu gezwungen, schon jetzt ein Problem zu streifen, das in unseren
späteren Ausführungen eine große Rolle zu spielen berufen ist, dessen genaue
Bestimmungen jedoch auf dieser Stufe noch nicht dargelegt werden können.
Wir haben bereits allgemein darüber gesprochen, daß Alltagsdenken, Wissen¬
schaft und Kunst einerseits dieselbe objektive Wirklichkeit widerspiegeln,
andererseits daß — je nach der aus dem gesellschaftlichen Leben der Menschen
entstehenden konkreten Typen von Zielsetzungen — Inhalt und Form der
und wann eine genügende Anzahl von Phänomenen vorhanden war, damit sie
zur Geltung gelangen können. Es war jedoch eine jahrtausendlange Entwick¬
lung der menschlichen Erfahrungen und ihrer gedanklichen Bearbeitung nötig,
um sie zu erkennen und bewußt anzuwenden. Objektiv optisch (und darum
auch objektiv sinnesphysiologisch) hat es — wenigstens in unserer Erdatmo¬
sphäre— immer Valeurdifferenzen gegeben. Es war jedodi auch hier eine lange
künstlerische Entwicklung vonnöten, um in ihnen wichtige Formen der visuell
erscheinenden objektiven Wirklichkeit und der Beziehungen des Menschen¬
geschlechts zu ihnen wahrzunehmen und ästhetisch zu bewerten. Daß solche
Errungenschaften der wissenschaftlichen und künstlerischen Widerspiegelung
der Wirklichkeit zuerst als wenig bewußte Fragen, Bedürfnisse etc. im Alltags¬
leben auftauchen, und nach ihrer angemessenen Beantwortung durch Kunst und
Wissenschaft in dieses zurückströmen, ist ein Prozeß, auf den wir bereits hin¬
gewiesen haben und im folgenden noch vielmals hinweisen werden.
Vielleicht am plastischsten käme die Eigenart des Alltagsdenkens zum Aus¬
druck, wenn man die Sprache von diesem besonderen Standpunkt einer ein¬
gehenden Analyse unterwerfen würde. Die Sprache des Alltags zeigt vor
allem die von uns bereits hervorgehobene Eigentümlichkeit, ein an sich
kompliziertes Vermittlungssystem zu sein, zu welchem sich jedes Subjekt, das
es gebraucht, unmittelbar verhält. Diese Unmittelbarkeit erhielt ihre phy¬
siologische Erklärung in unseren Tagen, als Pawlow in der Sprache das den
Menschen von den Tieren unterscheidende zweite Signalsystem entdeckte.
Daß jedes Wort und erst recht jeder Satz über die Unmittelbarkeit hinaus¬
geht, ist ohne weitere Erörterungen einleuchtend; ist doch das gewöhnlichste
Wort, wie Beil, Stein, gehen, etc. bereits eine komplizierte Synthese von
unmittelbar untereinander verschiedenen Phänomenen, ihre abstrahierende
Zusammenfassung. Wie sehr es sich hier um einen langwierigen Prozeß der
Vermittlung und Verallgemeinerung, d. h. der Entfernung von der Unmittel¬
barkeit, der sinnlichen Wahrnehmung handelt, zeigt die Sprachgeschichte.
Betrachtet man die Sprache eines beliebigen primitiven Volks, so sieht man,
daß ihre Wortbildung unvergleichlich wahrnehmungsnäher, begriffsferner ist,
als die unsere. Schon Herder hat gesehen, daß im Wort bestimmte Merkmale
der Gegenstände fixiert werden, damit »dies der Gegenstand und kein anderer
sei«1. Es ist aber ein langwieriger historischer Weg von vielen tausenden
1 Herder: Preisschrift über den Ursprung der Sprache, Werke, Stuttgart und Tü¬
bingen 1827, II S. 40.
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
58
1 Levy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, Wien und Leipzig 1921, S. 145.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 59
sie nicht verstehe, daß sie deshalb mit einem Psychologen angebandelt habe.
Ihre Freundin, der sie dies gesteht, sagt: »Er wird deinen Leiden einen grie¬
chischen Namen geben.«
Die Sprache im Alltagsleben zeigt also den dialektischen Widerspruch: sie
schließt den Menschen eine unvergleichlich größere und reichere Außen- und
Innenwelt auf, als dies ohne sie auch nur vorstellbar wäre, d. h. sie macht die
eigentliche menschliche Um- und Innenwelt zugänglich; zugleich jedoch macht
sie ihnen oft die unbefangene Rezeption der Innen- und Außenwelt unmög¬
lich oder ersdiwert sie wenigstens. Diese Dialektik kompliziert sich noch
dadurch, daß es sich um eine Gleichzeitigkeit der eben geschilderten Erstar¬
rung mit einer Unbestimmtheit und Verworrenheit in der Sprache handelt.
Die wissenschaftliche Termionologie geht in erster Linie darauf aus, letztere
Tendenz zu überwinden. Es wäre aber einseitig und falsch, nicht zu sehen,
daß in ihr auch stets Bestrebungen obwalten, über die Schranke der Sprach-
erstarrung hinauszukommen. Freilich zeigt die Geschichte der Wissenschaft,
wie stark auch in ihr die Kräfte zur Remanenz sein können. Dies hängt in
erster Reihe mit der Entwicklung der Produktivkräfte und in ihrer Folge mit
der wissenschaftlichen Erforschbarkeit der objektiven Wirklichkeit zusammen.
Die dadurch entstehenden Grenzen des Wissens können oft zu jahrhunderte¬
langen Erstarrungen der wissenschaftlichen Begriffsbildung und darum auch
der wissenschaftlichen Sprache führen. Man denke etwa an das lange Zeit
fetischartig erstarrte Axiom vom »horror vacui« der Natur. Solche Schran¬
ken können aber auch durch die gesellschaftliche Struktur »künstlich« fixiert
werden (Herrschaft von Priesterkasten im Orient).
In alledem zeigt sich wieder die Wechselbeziehung zwischen Alltag und Wis¬
senschaft. Nur diesmal nicht von der positiven Seite, der fruchtbringenden
Differenzierung der wissenschaftlichen Einstellung, Sprache etc. für die Ge¬
samtentwicklung der Menschheit, des ebenfalls den Fortschritt fördernden
Einwirkens der wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse auf Denken und
Praxis des Alltags; sondern auch negativ kann die doppelte Schranke des All¬
tagsdenkens, polare Reproduktion von Verschwommenheit und Erstarrung
in die wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit und ihren sprach¬
lichen Ausdruck eindringen. Da die wissenschaftliche Betätigung auch
im Leben des bewußtesten und zielstrebigsten Gelehrten in seinen eigenen
Alltag eingebettet bleibt, da auch für ihn durch dessen Vermittlung die
Grundkräfte seiner sozialen Formation auf ihn einwirken, sind solche Ein¬
schläge des Alltagsdenkens und seines Ausdrucks in die Sprache der Wissen¬
schaft vollauf verständlich. Und obwohl wir uns hier noch nicht mit der
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 61
lieh auf den Körper bezogen, daß man glaubte, es gäbe in der Seele nichts,
das ihnen entsprädie: und umgekehrt hat man wieder angenommen, daß
gewisse abstrakte Gedanken auf keine Weise im Körper sich widerspiegelten.
Es sind jedoch beide Annahmen irrtümlich, wie es meist bei dieser Art Unter¬
scheidungen der Fall zu sein pflegt, weil man hierbei nur auf das Augenfällige
geachtet hat. Auch die abstraktesten Gedanken bedürfen irgendeiner sinn¬
lichen Anschauung, und wenn man erwägt, was eigentlich die verworrenen
Gedanken sind - die stets auch unsere distinktesten begleiten, wie z. B. die
Empfindungen der Farben, Gerüche, Geschmäcke, Wärme, Kälte usw. - so
erkennt man, daß sie stets ein Unendliches einschließen und nicht nur die
Vorgänge in unserem Körper, sondern durch seine Vermittlung auch alle son¬
stigen Ereignisse ausdrücken.« 1 Für unser gegenwärtiges Problem der Sprache
folgt daraus die Anerkennung der Verallgemeinerung in jedem sprach¬
lichen Ausdruck, wie auch die dialektische Relativierung der Grade dieser
Verallgemeinerung im praktischen Gebrauch. »Die allgemeinen Ausdrücke«,
sagt Leibniz, »dienen nicht allein zur Vollkommenheit der Sprachen, sondern
sind sogar notwendig, um ihr Wesen herzustellen. Denn wenn man unter den
besonderen Dingen die individuellen Dinge versteht, so würde es unmöglich
sein zu sprechen, wenn es nur Eigennamen und keine Appellativa gäbe, d. h.
wenn es nur Worte für das Individuelle gäbe, da in jeden Augenblick Neues
wiederkehrt, wenn es sich um individuelle Zufälligkeit und besonders um
Handlungen handelt, welche man gerade am meisten bezeichnet; wenn man
aber unter den besonderen Dingen die niedrigsten Arten (species infimas)
versteht, so ist es außer der häufig vorkommenden Schwierigkeit, sie fest
zu bestimmen, auch offenbar, daß sie schon auf die Ähnlichkeit begrün¬
dete allgemeine Begriffe sind. Da es sich also nur um die größere oder
geringere Ähnlichkeit handelt, je nachdem man von Gattungen oder Arten
spricht, so ist es natürlich, jede Art von Ähnlichkeit oder Übereinstimmung
zu bezeichnen und folglich allgemeine Worte jeglichen Grades anzu¬
wenden ...« 2
Diese Darlegungen von Leibniz werfen nicht nur ein Licht auf das Problem
von Denken und Sprache, sondern weisen auch auf einen anderen wichtigen
Wesenszug des Alltagslebens hin: daß nämlich darin stets der ganze Mensch
engagiert ist. Dies bringt uns wieder in Gegensatz zu der in der Geschichte
der Ästhetik sehr einflußreichen Lehre von den sogenannten »Seelenver-
mögen«. Schon die Hegelsche Philosophie und Ästhetik führte einen heftigen
Kampf gegen eine solche Zerstückelung des Menschen, gegen den »Seelen¬
sack«, wie Hegel selbst sagte. Dieser Kampf konnte indessen nicht konsequent
zu Ende geführt werden, denn die im Idealismus unvermeidliche Hierarchie
führte — auf anderer, höherer Ebene — ebenfalls zu einer Zerstückelung der
dialektischen Einheit des Menschen und seiner Betätigungen. Man denke an
die Koordination von Anschauung - Kunst, Vorstellung-Religion, Begriff -
Philosophie und ihre metaphysisch-hierarchischen Konsequenzen im System
Hegels. Erst der dialektische Materialismus statuiert durch die Priorität des
Seins vor dem Bewußtsein die methodologische Grundlage für eine einheit¬
liche und dialektische Auffassung des ganzen Menschen in seinen Aktionen
und Reaktionen auf die Außenwelt. Damit wird zugleich die vom metaphy¬
sischen Materialismus angenommene mechanische Art der Widerspiegelung
der Wirklichkeit überwunden. Die große Bedeutung der Pawlowschen Lehre
besteht gerade darin, daß sie den Weg eröffnet zum Begreifen sowohl der
materiellen Einheit aller Lebensäußerungen, wie der realen materiellen Ver¬
bindung des naturhaften, physiologischen Seins des Menschen mit seinem
gesellschaftlichen Sein (zweites Signal-System als Verbindung von Sprache und
Arbeit). Der dialektische Materialismus hat aber schon viel früher die orga¬
nische Zusammenarbeit aller menschlichen Fähigkeiten (»Seelenvermögen«)
in jeder menschlichen Betätigung erkannt. Allerdings nicht in der Form einer
problemlosen gegenseitigen Förderung, einer harmonia praestabilita, sondern
in ihrer realen Widersprüchlichkeit, wo die gesellschaftliche Praxis bestimmt,
ob und wie weit ein solches wechselseitiges Sich-Unterstützen entsteht oder ob
aus der Wohltat eine Plage wird. So sagt Lenin über den Erkenntnisprozeß:
»Das Herangehen des Verstandes (des Menschen) an das einzelne Ding,
die Anfertigung eines Abdruckes (= eines Begriffes) von ihm, ist kein
einfacher, unmittelbarer, spiegelartig-toter, sondern ein komplizierter, zwie¬
spältiger, zickzackartiger Akt, der die Möglichkeit in sich schließt, daß die
Phantasie dem Leben entschwebt; damit nicht genug: die Möglichkeit der
Verwandlung (und dabei einer unmerklichen, dem Menschen nicht bewußt
werdenden Verwandlung) des abstrakten Begriffes, der Idee in eine
Phantasie (in letzter Instanz = Gott). Denn auch in der einfachsten Ver¬
allgemeinerung, in der elementarsten allgemeinen Idee (>der Tisch< über¬
haupt) steckt ein gewisses Stückchen Phantasie. (Vice versa: es ist unsinnig,
die Rolle der Phantasie auch in der strengsten Wissenschaft zu leugnen: siehe
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 65
Pissarew über den nützlichen Traum als Ansporn zur Arbeit und über
die leere Träumerei)1.«
Die Tatsache, daß die Lehre von der metaphysischen Absonderung der
»Seelenvermögen« nicht ein einfacher Irrweg der Wissenschaft, der Fehler
einzelner Denker war, sondern die - freilich idealistisch oder vulgärmateriali¬
stisch verzerrte - Widerspiegelung bestimmter Seiten der Wirklichkeit oder
Etappen ihrer Entwicklung, kann an unserem Urteil über sie nichts ändern.
Es ist allerdings richtig, daß die kapitalistische Arbeitsteilung diese unmittel¬
bare Ganzheit des Menschen zerstört, daß die Grundtendenz der Arbeit im
Kapitalismus den Menschen von sich und seiner Tätigkeit entfremdet. Das
wird freilich durch die kapitalistische Ökonomie gedanklich verborgen, und
zwar wie Marx sehr fein gerade in bezug auf unser jetziges Problem bemerkt,
dadurch »daß sie nicht das unmittelbare Verhältnis zwischen den Arbeitern
(der Arbeit) und der Produktion betrachtet.« 2 Dadurch entsteht der polare
Gegensatz zwischen dem objektiven Produkt der Arbeit und zwischen ihren
seelisch-moralischen Folgen im sich selbst entfremdeten Arbeiter. Es wäre aber
ein Irrtum zu glauben, durch diese Entfremdung würde die Lehre von
den »Seelenvermögen« bestätigt. Die - scheinbare - Unabhängigkeit der
»Seelenvermögen« von einander, ja ihre offenkundig hervortretende Wider¬
sprüchlichkeit einander gegenüber ist allerdings eine wichtige Tatsache des
kapitalistischen Alltags. Sie ist seine unmittelbare Erscheinungsform in der
Seele der Menschen dieser Periode. Der metaphysische Charakter der auf
diesem Boden entstandenen philosophischen, psychologischen, anthropologi¬
schen etc. Theorien beruht darauf daß sie den zweifellos vorhandenen
unmittelbaren Tatbestand unkritisch, in seiner Unmittelbarkeit verabsolu¬
tieren. Unkritisch bedeutet nicht unbedingt ein einfaches Hinnehmen, was
freilich oft geschieht. Die Dialektik der Erscheinungsweise kann scharf¬
sinnig kritisiert werden und auf diesem Wege können sogar widitige Kultur¬
zusammenhänge aufgedeckt werden, wie das z. B. in Schillers Kunstphilo¬
sophie geschieht. Freilich fehlt in diesem Fall nicht eine wenigstens ahnungs¬
volle Einsicht in die gesellschaftlich-geschichtliche ursächliche Bedingtheit
einer solchen Verselbständigung und Widersprüchlichkeit der »Seelenver¬
mögen« und damit eine - wenn auch rückblickend-utopische — Sehnsucht nach
1 Lenin: Aus dem philosophischen Nachlaß, Wien-Berlin 1932, 2. Aufl. Berlin 1954,
S. 299.
2 Marx: ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA III S. 84 f.
66 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
dem einheitlichen und ganzen Menschen. Jedoch erst das volle Erhellen der
sozialen Gründe vermag den Menschen als Ganzheit, die Unzertrennbarkeit
seiner physischen und psychischen Kräfte begreiflich zu machen. Marx drückt
die Perversion, die in der Entfremdung zustandekommt, außerordentlich
drastisch aus: »Essen, Trinken und Zeugen etc. sind zwar auch echt mensch¬
liche Funktionen. In der Abstraktion aber, die sie von dem übrigen Umkreis
menschlicher Tätigkeit trennt und zu letzten und alleinigen Endzwecken
macht, sind sie tierisdi.« 1 Diese Wirkungen der kapitalistischen Arbeitsteilung
hat der junge Marx hier nur in bezug auf die Arbeiterklasse festgestellt. Sehr
bald darauf, schon in der »Heiligen Familie« 2, dehnt er ihre Geltung auf die
ganze bürgerliche Gesellschaft aus und erblickt einen entscheidenden ideolo¬
gischen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat gerade darin, wie sie
auf dieselben Tendenzen der Entfremdung entgegengesetzt — bejahend bzw.
verneinend — reagieren. Später verallgemeinert Engels diesen Tatbestand auf
alle Lebensäußerungen der bürgerlichen Gesellschaft 3.
Die Klassiker des Marxismus waren sich jedoch stets klar darüber, daß diese
Wirkung des kapitalistischen Unterbaus nur eine Seite der Totalität seiner
Ausstrahlungen umfaßt. Als letzte auf Ausbeutung basierte Gesellschaft, als
jene Gesellschaft, die nicht nur die materiell-ökonomischen Vorbedingungen
zum Sozialismus schafft, sondern auch ihren eigenen Totengräber hervor¬
bringt, muß sie innerhalb der den Menschen entstellenden und verzerrenden
Kräfte auch jene produzieren, die - freilich immer bewußter gegen sie selbst
gewendet - auf die Zukunft gerichtet sind. Schon in der »Heiligen Familie«
sieht, wie oben gezeigt, Marx diesen Gegensatz in der zufriedenen bzw.
empörten Reaktion auf die kapitalistische Entfremdung des Menschen von
sich selbst. Später umreißt er auch die Konturen jener ökonomischen Bestim¬
mungen, die dieser Empörung objektiv zu Grunde liegen, die sie gestalten,
ja notwendig machen, daß sie nicht unfruchtbar subjektiv bleibt, sondern
wirklich zur Umwälzung der Gesellschaft führt. In seiner Beurteilung
Ricardos sagt Marx darüber: »Ricardo betrachtet mit Recht, für seine Zeit,
die kapitalistische Produktion als die vorteilhafteste für die Produktion
überhaupt, als die vorteilhafteste zur Erzeugung des Reichtums. Er will die
Produktion der Produktion halber, und dieses mit Recht. Wollte man
1 Ebd. 86.
2 Marx: Die Heilige Familie, ebd. S. 206.
3 Engels: Antidühring, Moskau-Leningrad 1935, S. 304.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 67
behaupten, wie es sentimentale Gegner Ricardos getan haben, daß die Produk¬
tion nidit als solche der Zweck sei, so vergißt man, daß Produktion um der
Produktions halber nichts heißt, als Entwicklung der menschlichen Produktiv¬
kräfte, also Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbst¬
zweck ... Daß diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich
sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und gewis¬
ser Menschenklassen vollzieht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und
zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die
höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozeß
erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden, wird nicht ver¬
standen.« 1
Hier wird ein weiterer Grund sichtbar, warum wir keine philosophisch fun¬
dierte Analyse des Alltagslebens und des Alltagsdenkens besitzen. Diese
müßte nämlich, direkt oder indirekt, zu der von Marx umrissenen wider¬
spruchsvollen Doppeltheit des Alltagslebens im Kapitalismus irgendwie Stel¬
lung nehmen. Wobei es ohne weiteres klar ist, daß die Widersprüchlichkeit
des Alltags, die hier einen Kulminationspunkt erreicht, in sehr variierten
Formen sich auch in manchen früheren Formationen vorfindet und sicher
nicht mit der Expropriation und Vergesellschaftung der Produktionsmittel
sofort und automatisch zu existieren aufhört. Die mit dem Sozialismus ein¬
setzende Aufhebung des antagonistischen Charakters der hier auftretenden
Widersprüche und ihre Verwandlung in nicht mehr antagonistische ist eben¬
falls ein langwieriger, ungleichmäßiger Prozeß, der bestimmte Residuen, ja
Rückfälle keineswegs ausschließt. Da nun auch die abstrakteste erkenntnis¬
theoretische oder phänomenologische Untersuchung des Alltagsdenkens an
derartigen historischen Strukturwandlungen unmöglich Vorbeigehen kann,
wenn sie nicht - durch eine antihistorische Verabsolutierung - ihren eigenen
zu erkennenden Gegenstand inhaltlich und strukturell verfälschen will, muß
sie zu den hier angedeuteten historischen Grundphänomenen so oder so Stel¬
lung nehmen. Jede Stellungnahme involviert jedoch eine historische Betrach¬
tung der hier vorkommenden Erscheinungsweisen des kapitalistischen Alltags,
andererseits eine gewisse Einsicht in die wirkliche Richtung der gesamten
historischen Entwicklung. Sonst entsteht eine Verabsolutierung und Ideali¬
sierung von Vergangenheit oder Gegenwart oder von beiden, die sowohl
einen gleich falschen positiven als auch negativen Wertakzent haben können.
Die Stellung Heideggers zum Alltag ist bereits in seiner Terminologie sicht¬
bar. Wenn er die hier vorkommenden Dinge »das Zeug«, das »Wer?« dieser
Sphäre »das Man«, die häufigsten typischsten Verhaltungsarten »das Gerede«,
die »Zweideutigkeit«, das »Verfallen« etc. nennt, so mag er selbst die Illu¬
sion hegen, er gäbe hier nur eine objektive Beschreibung und kein gefühls¬
betontes Werturteil; objektiv handelt es sich bei ihm doch um eine Welt der
Uneigentlichkeit, der Verfallenheit, des Abfalls vom Eigentlichen. Heidegger
selbst nennt diese >Bewegtheit< des Daseins in seinem eigenen Sein den
Absturz. »Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosig-
keit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit. Dieser Sturz aber
bleibt ihm durch die öffentliche Ausgelegtheit verborgen, so zwar, daß er
ausgelegt wird als >Aufstieg< und >konkretes Leben.<«1 Und dies weiter aus¬
legend: »Das Phänomen des Verfallens gibt auch nicht so etwas wie eine
>Nachtansicht< des Daseins, eine ontisch vorkommende Eigenschaft, die zur
Ergänzung des harmlosen Aspekts dieses Seienden dienen mag. Das Verfallen
enthüllt eine wesenhafte ontologische Struktur des Daseins selbst, die so wenig
die Nachtseite bestimmt, als sie alle seine Tage in ihrer Alltäglichkeit kon¬
stituiert.« 2
Dieser tiefe Pessimismus, der den Alltag in eine Sphäre der hoffnungslosen
Verfallenheit, der Geworfenheit »in die Öffentlichkeit des Man« 3, »der Bo-
denlosigkeit des Geredes« 4 verwandelt, muß zugleich dessen Wesen und
Struktur verarmen und entstellen: wenn die Praxis des Alltags ihre dyna¬
mische Verbundenheit mit der Erkenntnis, mit der Wissenschaft - phänomeno¬
logisch-ontologisch - verliert, wenn diese nicht aus den Fragen, die jene stellt
entsteigt, wenn jene sich nicht ständig an den Ergebnissen, die diese hervor¬
bringen bereichert, durch diese breiter und tiefer wird, so verliert der
Alltag gerade seine echte Wesensart, das, was ihn zur Quelle und zur Mün¬
dung der Erkenntnis im menschlichen Handeln macht. Indem er von diesen
Wechselbeziehungen entleert wird, erscheint er bei Heidegger als ausschlie߬
lich von den den Menschen entstellenden Kräften der Entfremdung beherrscht.
Das andere, vorwärtstreibende Moment in der und trotz der Entfremdung
verschwindet aus der ontologischen »Peinigung« der Phänomene.
Denn es besteht auch hier zweifellos ein Zusammenhang zwischen Methodologie
und Weltanschauung. Heideggers Methode, wie die der Phänomenologie und
1 Ebd. S. 69.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 7'
wie Wissenschaft und Kunst, äußert sich vor allem darin, daß die Kriterien
für Auswahl, Gruppierung, Intensität etc. der eingesetzten subjektiven Tätig¬
keiten viel genauer umgrenzt und determiniert sind, als in sonstigen Lebens¬
äußerungen. Natürlidi gibt es hier sehr abgestufte Übergänge, so insbesondere
in der Arbeit, die ja auch objektiv im Laufe der Geschichte viele Übergänge
zur Wissenschaft und zur Kunst aufweist.
Solche Objektivationen haben nicht nur ihre - freilich erst allmählich bewußt
gemachte - innere Gesetzmäßigkeit, sondern auch ein bestimmtes Medium,
durch welches allein die betreffende Objektivation produktiv wie rezeptiv
realisiert werden kann. (Man denke an die Rolle der Mathematik in den
exakten Wissenschaften, an die Visualität in den bildenden Künsten etc.) Wer
nicht durch dieses Medium hindurch den Weg zur Objektivation einschlägt,
muß gerade an ihren entscheidenden Problemen Vorbeigehen. Diese Tatsache
ist oft beobachtet worden, jedoch fast ebenso oft wurden aus ihr falsche
Folgerungen gezogen. Indem das Medium mit der Objektivation identifiziert
wurde (so bei Konrad Fiedler bei Behandlung der Visualität, worauf wir
später in konkreter gewordenen Gedankengängen ausführlich zurückkommen
werden), wurde einer Objektivationsgruppe - trotz modernisierten Varia¬
tionen - doch ein isoliertes »Seelenvermögen« zugeordnet und die bewegte
Dynamik der Totalität des menschlichen Seelenlebens vernachlässigt oder
vollständig beseitigt. Der wirkliche Tatbestand zeigt aber, daß, weil in der
Objektivation die Rolle des Mediums gerade darin besteht, Träger einer
Totalität von Empfindungen, Gedanken, Sachzusammenhängen etc. zu sein,
die Anpassung des subjektiven Verhaltens daran ebenfalls eine Synthese
solcher Elemente sein muß. Es ist also immer wieder der ganze Mensch, der
sich in einer solchen äußersten Spezialisierung ausdrückt, nur mit jener sehr
wichtigen dynamisch-strukturellen Veränderung (im Gegensatz zum Durch¬
schnittsfall des Alltags), daß seine einheitlich mobiliserten Eigenschaften sich
gewissermaßen in jener Spitze konzentrieren, die auf die von ihm inten-
tionierte Objektivation gerichtet ist. Wir werden deshalb, wo im folgenden
von diesem Verhalten die Rede sein wird, vom »Menschen ganz« (in bezug
auf eine bestimmte Objektivation) im Gegensatz zum ganzen Menschen
des Alltags sprechen, der sich, bildlich gesprochen, mit der ganzen Ober¬
fläche seiner Existenz der Wirklichkeit zuwendet. Für uns ist naturgemäß
das ästhetische Verhalten vor allem wichtig. Darum werden wir uns in späte¬
ren Zusammenhängen mit dem ästhetischen Unterschied des ganzen Men¬
schen und des »Menschen ganz« ausführlich beschäftigen. Da das wissen¬
schaftliche Verhalten uns vor allem als kontrastierende Bestimmung zum
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 73
ästhetischen interessiert, können wir uns dabei mit ganz allgemeinen Fest¬
stellungen begnügen.
Dieser Gegensatz mußte in seinen Extremen scharf herausgearbeitet werden.
Man darf aber dabei die unübersehbar abgeschatteten Übergänge nicht ver¬
nachlässigen. Es genügt nur an die Arbeit zu denken, in welcher, je vollkom¬
mener sie wird, desto mehr, eine gewisse Tendenz zur eben analysierten
Zuspitzung auf den »Menschen ganz« ebenfalls zustandekommt. Den Uber¬
gangscharakter schafft das nicht totale Wesen der meisten Arbeitsverrichtun¬
gen. Wo die Arbeit, wie im alten Handwerk, sich der Kunst annähert, nähert
sich auch das objektive Verhalten in ihr dem künstlerischen, wo die maximale
Rationalisierung hochentwickelt ist, zuweilen dem wissenschaftlichen an. Viele
Arten der Arbeit sind also in dieser Hinsicht Übergangserscheinungen, jedoch
so fundamental sie auch für das gesamte menschliche Leben sind, so umfassen
sie trotzdem nur einen Teil des Alltagslebens. Und in den übrigen Teilen muß
naturgemäß das andere, breitere, lässigere, weniger zielgerecht den Menschen
umgruppierende Prinzip überwiegen. Natürlich gibt es auch hier Ubergangs¬
formen; Spiel, Sport (indem sein Betreiben zu einem systematisierten Training
wird), Gespräch (indem es in sachliche Diskussion übergeht) etc. können sich
dauernd oder vorübergehend leicht dem Verhaltungstyp der Arbeit annähern.
Diese große Skala von überleitenden Nuancen schafft aber doch nicht die
Entgegengesetztheit der Extreme aus der Welt. Im Gegenteil. Wir glauben
gerade dadurch wird nicht nur die Notwendigkeit des Hinüberwachsens der
Verhaltensart des ganzen Menschen in die des »Menschen ganz« klargestellt,
sondern auch die Fundiertheit dieser in jener, ihre wechselseitige Befruchtung
und Höherentwicklung. Dabei bleibt jedoch der Unterschied, ja der Gegen¬
satz bestehen. Er gründet sich einerseits auf den mehr oder weniger totalen
Charakter der erstrebten Objektivation (von seinem fast vollständigen Fehlen
bis zur Vorherrschaft über das subjektive Verhalten), andererseits und im
engen Zusammenhang damit auf die mehr oder weniger unmittelbare Be¬
ziehung von Denken und Praxis. Man denke dabei an den Sport als einfache
Körperübung, wo diese Beziehung einen rein unmittelbaren Charakter haben
kann, wie im Spaziergang und an die komplizierten, oft sehr weitgestreckten
Vermittlungen, die im systematischen Training auftauchen.
Noch deutlicher tritt dieser Gegensatz hervor, wenn wir an die politisch¬
gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen denken. Lenin hat diese Tätigkeit in
seinem Werk »Was tun?« glänzend aufgedeckt. Seine Analysen sind für uns
umso wertvoller, weil sie auf die gesellschaftlich-politischen Formen und
Inhalte konzentriert sind und die hier behandelten Probleme nur nebenbei,
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
74
fast unbeabsichtigt streifen. Lenin zeigt in bezug auf die Spontaneität der
ökonomischen Bewegungen der Arbeiterklasse, daß ihnen gerade das Be¬
wußtsein der weiteren Zusammenhänge in der Gesellschaft, die über die
Unmittelbarkeit hinausweisenden Zielsetzungen fehlen; den spontan strei¬
kenden russischen Arbeitern vom Anfang des 20. Jahrhunderts fehlte - mußte
fehlen, sagt Lenin - »die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit
ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen
Regime« 1 d. h. die Einsicht in die weiteren notwendigen Folgen ihres eigenen
Tuns. Es bedarf, glauben wir, keiner ausführlichen Erörterung, um einzusehen:
die überwältigende Mehrheit der Handlungen im Alltagsleben, einerlei ob sie
individuelle oder kollektive Aktionen sind, haben eine ähnliche Struktur,
worin die von uns früher festgestellte unmittelbare Verbindung von Denken
und Praxis klar zur Geltung gelangt. Indem nun Lenin seine politisch-soziale
Kritik der Spontaneität dahin weiterführt, daß das richtige Bewußtsein den
spontan für ihre Interessen kämpfenden Arbeiter »nur von außen beigebracht
werden« kann, »d. h. außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der
Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern«2, also
außerhalb der unmittelbaren Umwelt, der unmittelbaren Zielsetzungen der
Arbeiter, spricht er für die uns jetzt beschäftigende Frage eine doppelt wich¬
tige Erkenntnis aus. Erstens daß zur Überwindung des Alltagslebens geistige
Kräfte, denkerische Verhaltungsarten vonnöten sind, .die qualitativ über den
Horizont des Alltagsdenkens hinausgehen. Zweitens, daß - wenn wie hier
von einer richtigen Orientierung für das praktische Handeln die Rede ist -
das Leninsche »von außen« die Welt der Wissenschaft bezeichnet.
Die hiermit gewonnene Einsicht in das Alltagsdenken scheint zu beweisen,
daß seine richtige Höherentwicklung, sein Geeignetmachen zur Erkenntnis
der objektiven Wirklidikeit nur auf Wegen der Wissenschaft, auf dem Wege
des Verlassens des Alltagsdenkens möglich ist. In einer welthistorischen Trend¬
linie gesehen, ist dem auch so. Es wäre aber eine vulgarisierende, wichtige
Tatsachen der Entwicklung verfälschende Abstraktion, daraus ein überall und
ausnahmslos funktionierendes Gesetz machen zu wollen. Allerdings stehen
oft - und in sehr wichtigen Fällen - wissenschaftliches und alltägliches Den¬
ken in dieser Weise einander gegenüber. Man denke an die Kopernikanische
1 Lenin: Was tun? Werke, Wien-Berlin 1929, IV/2, S. 159 = Werke Bd. 5, Berlin
1955» S. 385.
2 Ebd. 216 f. bzw. 436.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 75
der Praxis des Alltags geworden sind. Der Form nach haben solche Ver¬
allgemeinerungen in den meisten Fällen einen apodiktischen Charakter. Die
ganze lakonische Spruchweisheit der Völker drückt sich so aus. Sie stützen sich
auf keinen Beweis, da sie eben Zusammenfassungen oft uralter Erfahrungen,
Gewöhnungen, Traditionen, Sitten etc. sind. Und gerade diese ihre Form pflegt
sie in eine unmittelbare Richtschnur zum Pfandein zu verwandeln; schon ihre
Form widerspiegelt so den fürs Alltagsdenken typischen unmittelbaren Zu¬
sammenhang zwischen Theorie und Praxis.
Gerade darin äußert sich nun die oben angegebene Widersprüchlichkeit: ob
nämlich diese apodiktisch-lakonische Weisheit den komplizierteren Objek-
tivation von Wissenschaft und Kunst gegenüber zu Recht besteht oder nicht.
Obwohl wir hier auf die konkreten Probleme gesellschaftlich-geschichtlicher
Art nicht eingehen können, ist es leicht ersichtlich, daß die positive oder nega¬
tive Funktion des gesunden Menschenverstandes, auch der Volksweisheit, mit
dem Kampf des Alten und Neuen eng verbunden ist. Überall, wo das Abster¬
bende sich durch künstlich vermittelte, dem Leben entfremdete Gedanken¬
bauten, Gefühlskonventionen etc. gegen das Entstehende verteidigt, erlangt
der gesunde Menschenverstand oft die Funktion des Gassenjungen im An-
dersenschen Märchen, der ausruft: der Kaiser hat keine Kleider an. Tsdierni-
schewskijs Ästhetik hat das große Verdienst, gegen die künstlich über¬
spannten Ansprüche der gebildeten Klasse die echten Bedürfnisse des Volks
auszusprechen.1 Die Molieresche Dienstmagd ist der oberste Kritiker des
großen Komikers, die Ästhetik und Kunstphilosophie des späten Tolstoi stellt
den einfachen Bauern als obersten Richter zur Beurteilung der Richtigkeit oder
Falschheit der Produkte von Kunst und Wissenschaft auf.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß solche Verdikte in vielen Fällen von der
Geschichte bestätigt werden. Es ist aber ebenso sicher, daß sie nicht selten nur
eine spießbürgerliche Nörgelei großen Neuerungen gegenüber vorstellen. So
richtig die Tolstoische bäuerliche Verspottung der spiritistischen Mode in
»Früchte der Aufklärung« ist, so schief müssen seine Urteile - im Namen der ein¬
fachen Bauern - im Falle der Renaissance oder Shakespeare ausfallen. Schon
Schiller hat auf die Grenzen der Urteilskompetenz der Moliereschen Dienst¬
magd hingewiesen, und ich selbst habe im Anschluß an ihn versucht, diese ganze
Problematik der Kulturbewertung des späten Tolstoi aufzudecken 2.
als Gegenbeispiel - auf die die Entwicklung von Wissenschaft und Industrie
oft hemmenden Folgen der kapitalistischen Profitspontaneität, die Bernal
untersucht hat. Daß diese Widersprüchlichkeit nur konkret, nur historisch¬
sozial zur Lösung gebracht werden kann, ist - in abstrakt allgemeiner
Form - der genaue Ausdruck dafür, daß die höheren Objektivationen von
der Menschheitsentwicklung im Interesse der reicheren und tieferen Bewäl¬
tigung der konkreten Probleme des Alltagslebens hervorgebracht wurden,
daß ihre Selbständigkeit, ihre Eigengesetzlichkeit, ihr qualitatives sich Ab¬
heben von den Widerspiegelungsformen des Alltagslebens im Dienste dieses
selben Alltags stehen, daß sie also ihre Daseinsberechtigung sowohl dann ver¬
lieren, wenn diese Verbindung - freilich nicht für den Tag, sondern im histori¬
schen Maßstabe - verlorengeht, wie dann, wenn sie auf ihre Vermitteltheit
verzichten und sich der unmittelbaren Einheit von Theorie und Praxis im All¬
tag kritiklos anpassen. Diese Widersprüchlichkeit unterstreicht also, daß das
ununterbrochene Hinauf- und Herunterströmen von Alltag zu Wissenschaft
und Kunst und zurück zwangsläufig ist, eine Bedingung des Funktionierens,
des sich Vorwärtsbewegens aller drei Lebenssphären. Zweitens kommt in
dieser Widersprüchlichkeit auch zum Ausdruck, daß die Kriterien der Richtig¬
keit der Widerspiegelung vor allem inhaltlich sind, d. h. die Richtigkeit, die
Tiefe, der Reichtum etc. in der Übereinstimmung mit dem Original, mit der
objektiven Wirklichkeit selbst besteht. Dabei können formale Momente (Tra¬
dition etc. im Alltag, immanent methodologische Vollendung in Wissenschaft
und Kunst) nur eine sekundäre Rolle spielen; von wirklichen Kriterien los¬
gelöst heftet ihnen eine unaufhebbare Problematik an. Das bedeutet keine
Unterschätzung oder gar Anullierung der Formprobleme; diese können jedoch
nur bei Aufrechterhaltung der Priorität des Inhalts innerhalb ihrer Wechsel¬
wirkung richtig gestellt und gelöst werden.
Wenn wir die bisher erreichten, noch sehr allgemeinen Ergebnisse unserer
Analyse vom Standpunkt der Entwicklung zusammenfassen, so sehen wir,
daß im Alltagsleben und Alltagsdenken immer mehr Vermittlungen, immer
reichere, kompliziertere und weiterhergeholte erscheinen und zwar doch in
der Form ihrer charakteristischen Unmittelbarkeit. Ja, wir haben ebenfalls
festgestellt, daß die Vorwärtsbewegung der Gesellschaft allmählich Objek-
tivationssysteme herausbildet, die zwar eine betonte Unabhängigkeit vom
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 79
kann, wurde bereits gezeigt. Deshalb suchen wir als Ausgangspunkt nicht die
Genesis der Objektivationen überhaupt, sondern bloß eine Entwicklungsstufe
mit einem Minimum an Objektivationen. (Wir haben bereits betont, daß wir
uns hier nicht mit Objektivationen institutionellen Charakters beschäftigen
werden; es ist aber klar, daß dieses Entwiddungsstadium auch Gebilde, wie
Staat, Recht etc. ebenfalls noch nicht gesdiaffen hat. Sitte, Gewohnheit etc.
also Formen des Alltagslebens erfüllten dort nodr ausschließlich die jenen
später zukommenden Funktionen.)
Eine solche schon etwas näher präzisierte Fragestellung bedeutet also, daß
die Probleme der Menschwerdung außerhalb unserer Betraditungen fallen.
Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß der ursprüngliche, im Selbst¬
werden begriffene Mensch von der Natur zur Verteidigung und zum Angriff
weniger ausgestattet war, als die meisten Tiere. Indem er sich eine Kultur
der Arbeit, der Werkzeuge schuf, hat sich auch dieses Wenige rückgebildet.
Gordon Childe sagt darüber: »Einige ganz frühzeitliche >Menschen< hatten in
der Tat weiterherausragende Eckzähne in höchst massiven Kiefern, die recht
gefährliche Waffen darstellten, aber beim modernen Menschen sind sie ver¬
schwunden und sein Gebiß bringt keine tödlichen Verwundungen bei1.«
Solche Tatsachen haben für uns die Bedeutung, daß auf der Stufe, die uns
interessiert, der biologisch-anthropologische Werdegang des Menschen bereits
abgesdilossen ist. Die Entwicklungslinien, die nunmehr in Betracht kommen,
sind wesentlich gesellschaftlichen Charakters. Natürlich lassen diese auch in
der körperlich-geistigen Beschaffenheit des Menschen Spuren zurück. Es han¬
delt sich dabei aber viel mehr um die Flöherentwicklung des zentralen Nerven¬
systems, als um eine Änderung der körperlichen Beschaffenheit im eigentlichen
Sinne. Auf die Fragen, die dabei auftauchen, werden wir später oft zurück¬
kommen müssen. Hier sei nur kurz darauf hingewiesen, daß Arbeit und
Sprache die menschlichen Sinne dahin entwickeln, daß diese, ohne eme phy¬
siologische Änderung oder Verbesserung, ohne ihre an sich vorhandene Unter¬
legenheit gewissen Tierarten gegenüber zu überwinden, für menschliche Zwecke
weitaus brauchbarer werden, als sie ursprünglich waren. Schon Engels hat
festgestellt: »Der Adler sieht viel weiter als der Mensdi, aber des Menschen
Auge sieht viel mehr an den Dingen als das des Adlers. Der Hund hat eine
weit feinere Spürnase als der Mensch, aber er unterscheidet nicht den hundert¬
sten Teil der Gerüche, die für diesen bestimmte Merkmale verschiedener Dinge
sind. Und der Tastsinn der beim Affen kaum in seinen rohsten Anfängen
existiert, ist erst mit der Menschenhand selbst, durch die Arbeit herausgebildet
worden.« 1
Engels weist damit auf eine der wichtigsten Fragen der Widerspiegelungs¬
theorie: auf ihren nichtmechanischen Charakter. Ob und wie weit nämlich
die Widerspiegelung physiologisch tatsächlich eine Photokopie, eine mecha¬
nische Kopie der Außenwelt ist, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Daraus
jedoch, daß ihre Genauigkeit eine Existenzbedingung eines jeden Lebewesens
ist, daß die Unfähigkeit dazu es notwendig dem Untergang entgegenführen
müßte, darf nicht gefolgert werden, daß jede Widerspiegelung zwangsläufig
auf einer Stufe der bloßen Photokopie stehenbleiben muß, ja kann. Ebenso¬
wenig, daß die Differenzierung, das Hinausgehen über eine solche unmittel¬
bare Spiegelung der Wirklichkeit ausschließlich dem Denken zukäme, daß die
Auslegung, Analyse etc. des kopiehaft Wahrgenommenen allein befugt wäre,
die wesentlichen Zusammenhänge, Bestimmungen etc. herauszuarbeiten. In
Wirklichkeit ist dieser Prozeß viel komplizierter. Wenn Engels sagt, daß der
Mensch mehr an den Dingen wahrnimmt als der Adler, so handelt es sich
darum, daß sein Auge sich daran gewöhnt hat, aus der extensiv wie intensiv
unendlichen Erscheinungswelt bestimmte Merkmale der Gegenstände, ihrer
Zusammenhänge, etc. unmittelbar visuell zu erfassen. Es erfolgt also schon in
der Gesichtswahrnehmung eine Sichtung der widergespiegelten Außenwelt,
eine Auswahl: ein verschärfter Sinn für bestimmte Merkmale, ein mehr oder
weniger entschiedenes Vernachlässigen anderer, bis dahin, daß sie auch unmit¬
telbar überhaupt nicht wahrgenommen werden. Art, Grad etc. einer solchen
Auswahl ist gesellschaftlich-geschichtlich bedingt. Die Ausbildung von neuen
Wahrnehmungsfähigkeiten ist oft mit der Rückbildung anderer verknüpft.
Ja, die Sinne des Menschen stellen geradezu Fragen an die Außenwelt; man
denke an Akte wie Hinblicken, Hinhören, etc. Freilich wenn wir hier eine
mechanische »Arbeitsteilung« zwischen Sinnlichkeit und Verstand abgelehnt
haben, so soll damit nicht geleugnet werden, daß eine solche Beschaffenheit
der menschlichen Sinne nur durch Aufspeichern und Ordnen von Erfahrungen
(also auch durch Denken) Zustandekommen kann. Das ändert aber am Ergeb¬
nis: an der von Engels geschilderten Fähigkeit der Sinne, ihrer reicheren und
- was das Wesentliche betrifft - genaueren Aufnahmefähigkeit nichts. Die
Konkretisierung dieser Frage wird uns im Späteren wiederholt beschäftigen.
(Daß dieser Entwicklung bereits die tierische vorgearbeitet hat, scheint uns
ziemlich sidier. Ihre Behandlung hat aber mit unseren Problemen nichts
zu tun.)
Die konkrete Rolle der Arbeit in diesem Prozeß besteht gerade darin, daß
eine Arbeitsteilung unter den menschlichen Sinnen zustandekommt. Das Auge
übernimmt die verschiedensten Wahrnehmungsfunktionen des Tastens, der
Hände, wodurch diese für die eigentliche Arbeit freigesetzt werden und sich
nun ihrerseits höher entwickeln, weiter differenzieren können. So sagt Gehlen:
»Das wichtigste Resultat der höchstverwickelten Kooperation der Tast- und
Sehwahrnehmung ist zunächst, daß die Sehwahrnehmung - und beim
Menschen allein - die Erfahrungen der Tastwahrnehmung mit übernimmt.
Die entscheidende Folge ist die doppelte: unsere Hand wird von Erfahrungs¬
leistungen entlastet, also frei zu eigentlichen Arbeitsleistungen und zum Ver¬
werten der entwickelten Erfahrungen. Und die gesamte Kontrolle der Welt
und unserer Handlungen wird in erster Linie von der Sehwahrnehmung über¬
nommen oder abgelöst.« 1 Diese Funktion kann das Auge nur dadurch über¬
nehmen, daß es lernt - im Sinne von Engels — in der visuell zugänglichen
objektiven Wirklichkeit solche Merkmale wahrzunehmen, die unmittelbar
und gewöhnlich außerhalb des Bereichs des »natürlichen« Sehens liegen.
Gehlen stellt mit Recht fest, daß dabei Eigenschaften wie Härte oder Weiche,
wie Gewicht etc. visuell wahrgenommen werden, daß man, um sie abzu¬
schätzen nicht mehr an das Tasten zu appellieren braucht. Und ebenso ergeht
es im Kontext der Anhäufung von Arbeitserfahrungen, im Laufe der Fixie¬
rung dieser Erfahrungen, ihres zur Gewohnheitwerdens in der Form von
bedingten Reflexen bei anderen Sinnen 2.
So wenig wir im Allgemeinen die einzelnen Stufen dieser Entwicklung konkret
verfolgen können, bei der Beziehung des primitivsten Menschen zu seinen
Werkzeugen ergeben sich doch deutlich drei Etappen. Zuerst werden Steine
von einer bestimmten Beschaffenheit für gewisse Verrichtungen ausgewählt,
um nach dem Gebrauch wieder weggeworfen zu werden. Später werden solche
zum Gebrauch geeigneten Steine (Faustkeil) nach ihrem Auffinden bereits
aufbewahrt. Es bedarf einer langen Entwicklung bis solche Steinwerkzeuge
bereits hergestellt werden, zuerst als Nachahmungen ihrer Vorgefundenen
1 Gordon Childe: a. a. O. S. 38 f.
2 Engels: Antidührung, a. a. O. S. 117 f. Hegel: Enzyclopädie, § 47. Zusatz.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung h
All dies spiegelt sich in der Sprachentwicklung wider, wobei freilich zugleich
zu bemerken ist, daß es sich keineswegs um eine Passivität des bloßen Reflek¬
tiertwerdens handelt, daß die Sprachentwicklung vielmehr eine aktive Rolle
in diesem Prozeß spielt. Diese Aktivität gründet sich auf die Untrennbarkeit
von Sprache und Denken; die sprachliche Fixierung von Verallgemeinerungen
der Erfahrungen beim Arbeitsprozeß ist ein wichtiges Vehikel nicht nur für
ihre Aufbewahrung, sondern auch — gerade auf Grund des eindeutigen Fest¬
haltens — für ihre Höherentwicklung und Weiterentfaltung. Der wichtigste
Schritt in dieser Richtung ist der von der Vorstellung zum Begriff. Denn ohne
Frage haben bereits die höheren Tiere bestimmte, mehr oder weniger deut¬
liche Vorstellungen über ihre Umwelt. Aber erst mit dem sprachlichen Aus¬
druck wird das ausgedrückte, das fixierte Abbild der Gegenstände, Vorgänge
etc. der Außenwelt von seinem unmittelbar auslösenden objektiven Anlaß
abgehoben und allgemein verwendbar gemacht. Im einfachsten, konkretesten
Wort steckt bereits eine Abstraktion; es drückt ein Merkmal des Gegenstandes
aus, wodurch ein ganzer Komplex von Erscheinungen zur Einheit synthetisiert
oder sogar einer höheren Einheit subsumiert wird (was stets einen voran¬
gegangenen Prozeß der Analyse voraussetzt). Dadurch hat sich das einfachste,
das konkreteste Wort in einer ganz anderen Weise von der unmittelbaren
Gegenständlichkeit distanziert, als dies für die höchstentwickelte Vorstellung
der höheren Tiere möglich ist. Denn erst durch diese Erhöhung der Vorstel¬
lung auf das Niveau der Begriffe kann sich das Denken (die Sprache) über
die unmittelbare Reaktion auf die Außenwelt, über das bloß vorstellungs¬
mäßige Wiedererkennen zusammengehöriger Gegenstände, Gegenstands¬
komplexe erheben. Die — freilich relative — Freiheit des Plandelns, besser
gesagt die vernünftige Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten be¬
deutet ein ständig bereichertes Beherrschen der objektiv vorhandenen Ver¬
mittlungen. Durch das Schaffen des Begriffs in Denken und Sprache verliert
die Reaktion auf die Außenwelt immer stärker ihre ursprüngliche, anla߬
gebundene, rein spontane Unmittelbarkeit. Dazu kommt, daß die Vorgänge
im Innenleben des auf die Umwelt so reagierenden Subjekts erst durch den
Begriff in ihrer Eigenart, in ihrer Besonderheit und Differenziertheit erkannt,
für das Subjekt bewußt gemacht werden können, wodurch erst die obengeschil¬
derte Subjekt-Objekt-Beziehung entsteht.
Die Genesis des Selbstbewußtseins setzt eine bestimmte Höhe des Be¬
wußtseins über die objektive Wirklichkeit bereits voraus und kann sich nur
im Prozeß, in Wechselwirkung mit diesem entfalten. Wenn wir aber diesen
Prozeß in seiner wahren Beschaffenheit begreifen wollen, dürfen wir nie ver-
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 87
gessen, daß das Alltagsleben, Übung und Gewohnheit in der Arbeit, Tradi¬
tion und Sitte im Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen,
Fixieren dieser Erfahrungen in der Sprache zugleidi dahin wirken: die eroberte
Welt der Vermittlungen in eine neue Welt der Unmittelbarkeit zu verwan¬
deln. Diese Tendenz ist einerseits die Wegeröffnung für die weitere Eroberung
der Wirklichkeit. Denn indem das bisher Errungene zum selbstverständlichen
Besitz wird, indem jene Anstrengungen, die dazu nötig waren, durch Gewöh¬
nung etc. diesen Charakter einer Unmittelbarkeit erhalten, entstehen neue
Zusammenstöße mit der noch nicht aufgehellten objektiven Wirklichkeit, mit
den subjektiven Anschauungen, Vorstellungen und Begriffen der Menschen,
tendenziell auf einem immer höheren Niveau; sie stimulieren zum Auf decken
von Zusammenhängen, von Gesetzlichkeiten, die bis dahin unbekannt ge¬
blieben sind. Hier entstehen Erfüllungen, die immer neue Bedürfnisse nicht
nur nach Ausbreitung, sondern nach Vertiefung und Verallgemeinerung
erwecken. Andererseits jedoch - und darin spielt die Sprache, ebenso wie im
oben erwähnten Komplex eine entscheidende Rolle - kann ein jedes Fixieren
bis zum Gewohnheitwerden eine konservierende, das Weiterschreiten hem¬
mende Funktion erhalten; wir erinnern nochmals an die Beobachtung Paw-
lows darüber, daß das zweite Signalsystem der Sprache auch eine schädliche
Entfernung des Menschen von der objektiven Wirklichkeit hervorbringen
kann, nämlich nicht bloß die unerläßliche Distanzierung von auslösenden
Anlaß, sondern auch ein Steckenbleiben bei der zur neuen Unmittelbarkeit
gewordenen, von den Gegenstandsbeziehungen relativ losgelösten Welt der
Sprache. Diese Dialektik liegt jedem Widerstreit zwischen Altem und Neuem
zugrunde, sowohl in Wissenschaft und Kunst wie im Alltag.
Die Sprache ist also gleichzeitig Spiegelbild und Vehikel solcher komplizierten,
widerspruchsvollen, ungleichmäßigen Entwicklungstendenzen in der mensch¬
lichen Herrschaft über die objektive Wirklichkeit. Bei aller Zickzackartigkeit
dieser Bewegungslinien sind aber die nach Vorwärts weisenden unzweifelhaft
die herrschenden, selbstredend nur im weltgeschichtlichen Maßstab. Denn die
Herrschaft des zweiten Signalsystems in Arbeit und Sprache macht aus der
bloßen Anpassung an ein gegebenes Naturmilieu bei den Tieren eine ununter¬
brochene, gesellschaftlich determinierte Umwandlung dieser Umwelt und mit
ihr der Struktur der wandelschaffenden Gesellschaft und ihrer Mitglieder.
In dieser Bewegung selbst, in der durch sie bedingten Reproduktion der Ge¬
sellschaft, ihrer Struktur auf einer höheren Stufenleiter ist das Prinzip der
Tendenz zur Höherentwicklung implicite enthalten (im Gegensatz zur im
wesentlichen stationären Reproduktion der Tierarten). Natürlich kann hier
88 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
nur von einer Tendenz die Rede sein. In der historischen Wirklichkeit gibt es
wiederholt Fälle der Erstarrung, des Niedergangs oder sogar des Untergangs.
Daraus folgt jedoch bloß eine Vielartigkeit und Ungleichmäßigkeit der gesell¬
schaftlich-geschichtlichen Entwicklung, keineswegs eine Ausschaltung der Ten¬
denz zur Höherentwicklung, und zwar auch in der Richtung auf qualitativ
Höheren als die Zustände des jeweiligen Ansatzes.
Ohne hier auf die Details der Sprachentwicklung auch nur andeutend ein-
gehen zu können, muß doch kurz bemerkt werden, daß die Entwicklung der
Sprache die oben geschilderte Doppelbewegung, das durch Verallgemeinerung
erreichte Überwinden der Schranken der jeweiligen Unmittelbarkeit und das
Rückverwandeln des so Erreichten in eine neue Unmittelbarkeit höherer
Potenz, umfassenderen, differenzierteren Charakters genau zum Ausdruck
bringt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die primitiven Sprachen
einerseits keine Gattungsbezeichnungen besitzen, andererseits und gleichzeitig
für jede Differenz in den Gegenständen und den Vorgängen eigene Ausdrücke
haben. Levy Bruhl bringt dafür zahlreiche Beispiele; wir führen nur eines an:
»In Nordamerika haben die Indianer eine Anzahl von Ausdrücken, deren
Genauigkeit man fast wissenschaftlich nennen könnte, für die verschiedene
Wolkenbildungen, für die charakteristischen Merkmale der Physiognomie des
Himmels, die gar nicht zu übersetzen sind. Man würde in den europäischen
Sprachen vergebens entsprechendes suchen. Die Gibbeways z. B. haben für die
Sonne, die zwischen zwei Wolken durchscheint, einen besonderen Namen . . .
Auch für die kleinen blauen Flecken, die man manchmal zwischen zwei
dunklen Wolkeln am Himmel sieht. - Die Klammath-Indianer haben kein
Gattungswort für Fuchs, Eichhörnchen, Schmetterling, Frosch; aber jede Art
von Füchsen etc. hat ihren besonderen Namen. Die Substantiva der Sprache
sind unübersehbar.« 1 So sind dual, trial, quadrial aus den etwickelteren Spra¬
chen allmählich ausgestorben; so haben - wieder nach Levy-Bruhl — die
Papuas der Kiwai-Insel für Wirkung eine ganze Reihe von Suffixen um die
Unterschiede auszudrücken, ob zwei auf viele, zwei auf drei, drei auf zwei in
Gegenwart oder Vergangenheit etc. diese ausüben 2.
Für uns ist an dieser Entwicklung bemerkenswert, daß derartige, Konkret¬
heiten widerspiegelnde Sprachformen immer mehr aus der Sprache ver¬
schwinden, um den viel allgemeineren Gattungswörtern den Platz zu über-
lassen. Muß aber dadurch die Fähigkeit der Sprache, jeden konkreten Gegen¬
stand konkret zu bezeichnen, unmißverständlich erkennbar zu machen,
verloren gehen? Wir glauben, daß solche oft geäußerten romantischen Vor¬
stellungen dem Wesen nach falsch sind. Freilich verliert jedes Wort, je mehr es
sich einem Gattungsbegriff annähert, an sinnlich naher, unmittelbarer Kon¬
kretheit. Man vergesse aber nicht, daß in unserer sprachlichen Beziehung zur
Wirklichkeit der Satz eine immer größere Bedeutung erhält, daß kompli¬
zierte syntaktische Verbindungen der Worte immer stärker ihren Sinn im
konkreten Anwendungszusammenhang bestimmt, daß sich immer verfei¬
nerte Sprachmittel ausbilden, um konkrete Gegenstandsbeziehungen
durch das Verhältnis der Worte zueinander im Satze sinnfällig zu machen.
In dieser Sprachentwiddung spiegelt sich also der früher philosophisdi analy¬
sierte Prozeß des Hinausgehens über eine primitivere Unmittelbarkeit und
zugleich das Fixieren des Ergebnisses in einer neuen komplizierteren Unmit¬
telbarkeit. Dabei enthält die steigende Verallgemeinerung in den einzelnen
Wörtern, die Kompliziertheit der Verbindungen und Beziehungen im Satz¬
bau ohne Frage auch eine - unbewußte - Tendenz sich über die Unmittelbar¬
keit des Alltagsdenkens zu erheben.
Diese letztere Tendenz zeigt sich auch darin, daß die hier in ihren aller¬
gemeinsten Zügen geschilderte Sprachentwicklung unbewußt ist. Der
Ausdruck unbewußt bedarf unter den gegenwärtigen Verhältnissen einer
terminologischen Aufklärung. Es kann nicht die Absicht dieser Betrachtungen
sein, sich auf eine Polemik mit den wüsten Mystifikationen der sogenannten
»Tiefenpsydiologie« einzulassen. Diese verdunkeln das Wesen des Unbe¬
wußten auch dort, wo es wirklich vorhanden und wirksam ist. Denn es ist
sicher, daß eine große Reihe der Denkprozesse, der Empfindungsentwicklun¬
gen etc. nicht im wachen Bewußtsein der Menschen abläuft, daß außerordent¬
lich häufig nur die Ergebnisse nicht bewußter Bewegungen mehr oder weniger
plötzlich ins Bewußtsein treten. Es genügt auf Phänomene wie Einfälle, Ein¬
gebungen etc. hinzuweisen, um den unmittelbaren Tatbestand klar vor sich
zu haben. Viele moderne Psychologen und Philosophen sind auch bestrebt,
daraus, z. B. aus der sogenannten Intuition, unerlaubt weitgehende Konse¬
quenzen zu ziehen, vor allem durch eine starre Entgegensetzung von Intuition
und bewußtem Denken, wobei jene stets eine - erkenntnistheoretische -
Präponderanz erhält. Es wird aber dabei der innige Zusammenhang zwi¬
schen beiden außer Acht gelassen. Die Tatsache, daß die Intuition inhalts¬
gemäß eine bewußt angefangene Denkoperation abzuschließen pflegt, bietet
sich so dar, daß dem betreffenden Menschen die Zwischenglieder seines
9o Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
eigenen Denkens nicht bewußt werden; allerdings können diese, was den Ge¬
dankengehaltbetrifft, nachträglich immer bewußt gemacht werden. Diese und
ähnliche seelische Erscheinungen weisen deutlich darauf hin, daß der Ablauf
des Seelenlebens aus einer ununterbrochenen Wechselwirkung bewußter und
nicht bewußter Prozesse besteht. Sogar wenn wir sagen, daß etwas im Ge¬
dächtnis aufgespeichert vorliegt, handelt es sich nicht um ein mechanisches
Konservieren etwa früherer Gedanken. Diese unterliegen vielmehr einerseits
ununterbrochenen Wandlungen, Verschiebungen, Umfärbungen etc.; anderer¬
seits stehen 9ie dem Menschen sehr oft nicht automatisch, nach Belieben zur Ver-
fügung; man vergißt manchmal längst Erworbenes, gerade, wenn es am nötig¬
sten wäre, zuweilen tauchen ungewollt, ja das Gegenwärtige störend, in Ver¬
gessenheit geratene Erinnerungen auf etc. Alldies zeigt deutlich, daß im Gehirn
des Menschen und demzufolge in seinem Denken, Empfinden etc. sich Prozesse
abspielen, in denen bewußte und nicht bewußte Elemente und Tendenzen
ununterbrochen ineinander übergehen; ihre bewegte Einheit macht erst die
Totalität des seelischen Lebens aus. Die Gesetzmäßigkeit dieser Prozesse sind
noch weitgehend unerforscht, vor allem, weil die ihnen zugrundeliegenden
physiologischen Tatsachen nur höchst partiell aufgedeckt sind. Die Mythen,
die daraus entspringen, daß eventuell wichtige Teilmomente, wie z. B. die
Sexualität, als alles bewegende Kräfte fetischisiert und in einem metaphy¬
sischen Gegensatz zum bewußten Leben gebracht werden, können uns hier
nicht interessieren, da sie unsere Betrachtungen sehr wenig berühren. (Die
ästhetischen Folgerungen, die etwa aus Freuds oder Jungs Psychologie gezogen
werden, sind derart exzentrisch, unfundiert und abwegig, daß eine Diskussion
mit ihnen völlig unfruchtbar bleiben müßte.) Wir haben diesen Problem¬
komplex nur darum überhaupt gestreift, weil seine sachliche Wichtigkeit für
die Psychologie im allgemeinen sehr groß ist. Wir werden zwar später auf
bestimmte spezifisch psychologische Grundlagen des ästhetischen Verhaltens
näher eingehen müssen, diese haben aber mit dem Gegensatz bewußt-unbe¬
wußt wenig zu tun.
Wenn wir nun diesen Gegensatz vom Standpunkt unserer Probleme etwas
eingehender betrachten, so zeigt sich, daß der Begriff des Unbewußten mit
dem bisher ins Auge gefaßten wenig zu tun hat: es handelt sich für uns
primär um eine gesellschaftliche Kategorie, nicht um eine psychologische im
eigentlichen Sinne. Unter bewußter Produktion verstehen wir vor allem ein
inhaltliches Problem: ob und wieweit der jeweilige Inhalt des Bewußtseins
(und demzufolge auch seiner Formen) mit der objektiven Wirklichkeit über¬
einstimmen, ob und wieweit der Gegenstand und das Verhalten zu ihm vom
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 9i
1 Gehlen: a. a. O. S. 154.
2 Ebd. S. 220.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 93
linie der Fortschrittlichkeit des Ganzen stets im Auge gehalten werden; wenn
eine menschliche Gemeinschaft über die Wirklichkeit ausschließlich falsche
Vorstellungen hätte, würde sie unfehlbar rasch zugrundegehen. Jedes falsche
Bewußtsein muß mithin auch gewisse Elemente der Richtigkeit enthalten, auf
primitivster Stufe stärker in der Widerspiegelung der Gegenstände, Vorgänge
und Verknüpfungen selbst, als im Versuch, sie zu erklären, auf den Begriff
zu bringen, ihre Gesetzlichkeit zu erfassen.
All dies erhellt, daß das Moment der Unbewußtheit im Alltagsleben
der Haupttendenz nach stärker zu sein pflegt, als etwa in der Wissen¬
schaft. (Obwohl - ideologisch angesehen - keine entwickelte wissenschaftliche
Arbeit möglich ist ohne »Unbewußtmachen« einer ganzen Reihe von tech¬
nischen Ffilfsmaßnahmen.) Die spontan unmittelbare »Unbewußtheit« des
Alltagslebens - sie dominiert im zweiten hier beschriebenen Prozeß - ist also
als solche ein gesellschaftliches Phänomen. Den auslösenden Anlaß mögen in
unzähligen Fällen psychologisch klar bewußte individuelle Akte bilden,
indem sie jedoch zum allgemeinen gesellschaftlichen Besitz werden, werden sie
im oben angegebenen gesellschaftlichen Sinn unbewußt, und zwar nicht nur
vom Standpunkt der allgemein gesellschaftlichen Praxis, sondern auch von
dem der einzelnen Individuen, die sie nunmehr vollbringen. Diese Feststel¬
lungen beziehen sich in prägnanter Weise auf die Sprache gerade wegen ihres
gesamtgesellschaftlichen Charakters. Die Unbewußtheit der Sprachentwick¬
lung (in beiden hier angedeuteten Bedeutungen) zeigt sich am deutlichsten,
wenn die Umgangssprache, die Sprache im eigentlichen Sinn, mit spezifischen
Arten ihres Gebrauchs, z. B. mit einer wissenschaftlichen Terminologie ver¬
glichen wird. Natürlich bildet diese streng genommen keine eigene Sprache;
sie ist in der allgemeinen Syntax und im generellen Wortschatz fundiert, von
diesen getragen, die bewußte Neubildung bezieht sich auf enge Intermundien
innerhalb der eigentlichen Sprache. Jedoch ist die Entwicklungsart eines sol¬
chen partiellen Ausschnitts auch geeignet Unmittelbarkeit und Spontaneität
der eigentlichen Sprachentwicklung zu beleuchten. Ihre Befruchtung z. B.
durch einzelne Dichter beweist nichts dagegen; denn so weit eine allgemeine
Aneignung erfolgt, unterscheidet sie sich in nichts von der normalen und all¬
täglichen. Es zeigt sich bloß, was wir auf anderen Gebieten bereits angedeu¬
tet haben, daß die Sphären der ausgesprochenen Objektivationen sich auch
in ihrer Entstehungs- und Wirkungsweise von denen des Alltags abheben,
ihre Spontaneität überwinden. Dabei bleibt - mit bestimmten Modifikatio¬
nen - der Zusammenhang und Gegensatz von richtigem und falschem Be¬
wußtsein auch hier in Geltung.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 95
Damit ist jedoch, wie wir ebenfalls zu zeigen versucht haben, der gemein¬
same Boden keineswegs annulliert. Wir können dies wieder in der Haupt¬
funktion der Sprache, im Benennen der äußeren und inneren Gegenstände
deutlich sehen. Wieder erwachsen Bedürfnis und Erfüllung ursprünglich
aus dem Arbeitsprozeß. Wenn Engels über die Entstehung der Sprache rich¬
tig sagt: »Die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu
sagen hatten« x, so ist dieser zu sagende Inhalt ohne Frage primär aus dem
Arbeitsprozeß herausgewachsen; erst hier wird sowohl für Gegenstand wie
für Handlungsweise aus der bloßen Vorstellung ein Begriff und dieser kann
nur dann im Bewußtsein festgehalten werden, wenn er einen Namen erhält.
Dadurch, daß die Sprache auch den Anschauungen und Vorstellungen Namen
gibt, erhebt sie auch diese auf ein höheres Niveau der Bestimmtheit und
Eindeutigkeit, als ihr Vorkommen bei den höheren Tieren erreichen kann.
Anschauung und Vorstellung in steter dialektischer Beziehung zum Begriff,
im ständigen Aufstieg zu ihm und Abstieg von ihm, müssen etwas qualitativ
anderes werden, als sie ursprünglich ohne diese Bewegung waren. Man kann
deshalb die Bedeutung des Benennens für das geistige Leben der Menschen
nicht hoch genug schätzen: es reißt das Neue vehement aus dem bisherigen
Dunkel in die Bewußtheit. Und auch wenn das benennende Wort durch
Gewöhnung fixiert wird, wenn sein Gebrauch deshalb den Schock des Be-
wußtwerdens verliert, wenn die allmähliche Eroberung der Wirklichkeit
durch die - in unserem Sinne unbewußt wirksam gewordene - gesellschaft¬
liche Bewußtheit weit fortgeschritten ist, bleibt freilich mit sehr geändertem,
herabgemindertern Gefühlsakzent etwas von dieser frühen Schockartigkeit
des Benennens aufbewahrt. Darauf, daß die Dichtung ununterbrochen mit
der Erschütterung der richtigen Namensgebung arbeitet, kommen wir in
konkreteren Zusammenhängen später noch ausführlich zurück. Hier sei nur
darauf hingewiesen, daß es sich dabei, je entwickelter die Zustände sind
desto seltener einfach um die Benennung unbekannter Gegenstände oder
objektiver Zusammenhänge handelt, sondern zumeist darum, daß die Be¬
ziehungen der Menschen zu den Gegenständen etc. ihrer Umwelt, die durch
Gewohnheit selbstverständlich, in bewußter Weise unmerklich geworden
sind, durch die Dichtung »plötzlich« in neuer Beleuchtung, in einem neuen
gegenständlichen Verhältnis zum Menschen erscheinen. Das Benennen wächst
und schlägt oft unmerklich in Bestimmung um. Diese Struktur ist an sich schon
1 Childe: a. a. O. S. i6S f.
2 Frazer: Der goldene Zweig, Leipzig 1928, S. 355.
3 Ebd. S. 356 f., Levy-Bruhl: a. a. O. S. 347 f. etc.
98 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
noch nicht vorhanden waren. Freilich müssen dabei die Ausdrücke fast und
kaum betont werden, denn schon das Wort, das Benennen hat einen keim¬
haften Objektivationscharakter. Allerdings kann selbst die entwickelteste
Sprache nie in dem selben Sinne die Objektivation repräsentieren, wie etwa
Wissenschaft, Kunst oder Religion; sie wird nie wie diese eine eigene
»Sphäre« des menschlichen Verhaltens. Gerade die Untrennbarkeit von
Sprache und Denken hat zur Folge, daß sie alle menschlichen Verhaltungs¬
und Handlungsweisen umgibt und fundamentiert, daß sie ihre Universalität
auf das gesamte Leben ausdehnt, nicht aber eine besondere »Sphäre« darin
bildet. Allerdings kann man auch sagen, daß die »Systeme« der Magie, ihre
Anschauungen, Riten etc. viel stärker mit dem Alltagsleben verwachsen
sind, als etwa die der späteren Religionen, dieses viel stärker »umgeben«
als sich von ihm abheben, um als selbständige Objektivation mit ihm in
Wechselwirkung zu treten. Die so starke Gefühlsbetontheit der Namengebung
ist zwar eines der Mittel für die Festigung der Macht der Magier, für die
Flerausbildung der magischen Lehre und Verhaltensart, als ein Moment
der anfangenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Ihre Geeignetheit zu
einem solchen Gebrauch beruht jedoch auch auf dieser völlig elementaren
und unwiderstehlichen Vorstellung des primitiven Menschen, daß Name
und Ding (Person) eine untrennbare Einheit bieten, daß aus dieser Einheit
sich die glücklichsten und verhängnisvollsten Folgen für das Individuum
ergeben können.
Es ist wieder die Marxsche Methode von der Erklärung der Anatomie des
Affen aus der des Menschen, die uns dazu verhilft, das Phänomen der
Magie historisch annähernd richtig zu erfassen, eben durch die Erkenntnis
des Weges, der von ihr zu uns geführt hat. Die richtige Erkenntnis hat auch
hier zwei falsche Extreme zu überwinden. Einerseits ist es noch heute große
Mode, den »Ursprung« zu idealisieren und eine Rückkehr zu ihm - als
Ausweg aus der sonst unlösbar scheinenden Problematik der Gegenwart -
zu predigen. Ob dies in der Form einer brutalen Demagogie, wie bei Hitler
und Rosenberg, oder in der Form von »scharfsinnigen« philosophischen
Gedankengängen, wie bei Klages oder Heidegger geschieht, ist von unserem
Standpunkt aus hier ziemlich gleichgültig, da in allen diesen Fällen gleicher¬
weise die wirkliche historische Entwicklung gedanklich annulliert wird. (Wir
werden später sehen, daß solche Einheitskonstruktionen sogar bei geistvol¬
len und progressiven Autoren viel Unheil schaffen; so in der Annäherung
der Lyrik an die Magie bei Caudwell.) Andererseits gibt es immer noch
zahlreiche Positivisten, die die Tatsachen vergangener Zeiten so interpre-
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 99
tieren, indem sie ihnen einfach heutige Gedanken und Gefühle unterschieben.
So der sonst sehr kenntnisreiche und scharfsinnige Ethnologe Boas, der z. B.
die Magie so auslegen will: »Und die Magie? Ich glaube, wenn ein Knabe
bemerken würde, daß jemand auf seine Photographie spuckt und sie zer¬
reißt, wäre er tief empört. Ich weiß, daß, wenn es in meiner Studentenzeit
passiert wäre, das Resultat ein Duell gewesen wäre...«1 Boas übersieht
»bloß«, daß kein heutiger Mensch glaubt, daß sein persönliches Schicksal
von einer solchen Aktion abhängt; er mag sich zwar beleidigt fühlen, aber
nicht in seiner physischen Existenz bedroht, gefährdet, wie der Mensch der
magischen Periode.
Die älteren Urzeitforscher waren in dieser Frage weit historischer und
realistischer. Frazer und Taylor halten die Personifikation der Naturkräfte
kraft Analogie für ein relativ spätes Stadium. Wie wir bereits hervorgehoben
haben, ist sogar die erlebnishaft festgehaltene Subjekt-Objekt-Beziehung
ein Produkt der Arbeit, der Erfahrungen des Arbeitsprozesses, denn sie setzt
sowohl die Auffassung der Umwelt als ein - relativ beherrschtes - Wir¬
kungsfeld der menschlichen Tätigkeit, wie die Person, die - bis zu einem
gewissen Grade - ihrer Fähigkeiten und Schranken in Flandlung, Anpassung
etc. bewußt ist, voraus. Deshalb müssen zur Entfaltung personifizierender
Analogieschlüsse die zur Gewohnheit gewordenen Arbeitserfahrungen be¬
reits eine beträchtliche Höhe erlangt haben. Natürlich ist der allerallge¬
meinste Teil solcher Erlebnisse allen relativ niederen Entwicklungsstufen
gemeinsam, nämlich das Auf-ein-Hindernisstoßen, das mit den vorhandenen
Kräften und Kenntnissen nicht genommen werden kann. Bei der Unmittel¬
barkeit der Gefühle und Denkformen solcher Stufen wird dahinter eine
unbekannte Kraft geahnt und es entsteht der Versuch, diese der mensch¬
lichen Tätigkeit zu unterwerfen oder sie wenigstens in einer für diese gün¬
stigen Richtung zu beeinflussen. (Die verschiedenen Formen des Aber¬
glaubens, die in den Intermundien auch unseres Alltags nisten, entstehen
fraglos auch aus solcher Unfähigkeit, die Außenwelt zu bewältigen: frei¬
lich ist es ein qualitativer Unterschied, ob es sich um episodische Inter¬
mundien oder um Breite und Tiefe des gesamten Lebens handelt.) In bezug
auf die Stadien der hier entstehenden phantasiedurchtränkten, gefühls¬
mäßig spontanen Analogien oder Analogieschlüssen ist das entscheidende
Motiv ihre Unmittelbarkeit. Frazer hebt richtig hervor, »daß der primitive
Magier die Zauberei nur von ihrer praktischen Seite kennt.« Daraus folgt
die weitere Charakteristik: »Er fleht keine höhere Macht an. Er sucht nicht
die Gunst irgendeines wankelmütigen und launischen Wesens zu gewinnen.
Er erniedrigt sich vor keiner furchtbaren Gottheit.« 1 Es kommt einzig und
allein darauf an, die »Regeln«, die seine Praxis der unbekannten Kraft
gegenüber einsetzt, genau und richtig anzuwenden; die geringste Nicht¬
beobachtung würde nicht nur Mißerfolg, sondern höchste Gefahr herauf¬
beschwören. Der Magier behandelt also diese »Kräfte« als »leblose Dinge«,
gewissermaßen technologisch (rituell-magisch), nicht religiös. Darin erblicken
gewisse Ethnologen (so Read) eine Art von Materialismus im Gegensatz
zum Idealismus des Animismus. Das ist freilich reichlich übertrieben, denn
es handelt sich, wie gezeigt wurde, um die Periode vor der deutlichen
Trennung und Entgegensetzung von Materialismus und Idealismus. Man
könnte eher sagen, die Eigenart der Magie im Gegensatz zur Religion ist
ein geringerer Grad der Verallgemeinerung, eine stärkere Herrschaft der
Unmittelbarkeit; die erkennbaren Grenzen von Außen- und Innenwelt sind
verschwommener, ineinander überfließender, als in der religiös-ammistischen
Periode. Das Fehlen einer ethisch-religiösen Beziehung zur Außenwelt ist
also in der Magie noch kein Keim der späteren materialistischen Weltauf¬
fassung, sondern bloß eine primitive Äußerung des uns bekannten spon¬
tanen Materialismus des Alltagslebens; dagegen erblickt Read im Ani¬
mismus richtig erste weltanschauliche Ansätze des Idealismus. In der
Magie haben sich die späteren Tendenzen der Gegensätzlichkeit noch
nicht differenziert. Alle Elemente der Weltauffassung sind in der unmittel¬
baren - alltagsartigen, nicht objektivierten - magischen Praxis konzentriert.
Wenn also Frazer die Magie ein »unechtes System« von »Naturgesetzen«
nennt, »eine falsche Wissenschaft und eine unfruchtbare Kunst«, so enthal¬
ten diese negativ wertenden Ausdrücke ebenfalls eine gewisse Modernisie¬
rung, denn das sich-Abheben von der Alltagswirklichkeit, die Tendenz zu
einer eigenen (wissenschaftlichen, respektive künstlerischen) Objektivität
muß auch der magischen Entwicklungsstufe noch fehlen. Die Termini sind
nur darum relativ statthaft, wirkliche Sachlagen beleuchtend, weil sich auf
dieser Etappe unsichere und unbewußte Ansätze zeigen, die in ihrer späte¬
ren Entfaltung eine Richtung auf Wissenschaft bzw. Kunst nehmen. Soweit
sie bereits hier eine bestimmte Objektivation erhalten haben, ist diese -
1 Frazer: a. a. O. S. 70.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung IOI
gerade wegen des eminent praktischen Charakters der Magie - mehr jenem
tendenziellen Minimum der Alltagswirklichkeit als der der selbständig
gewordenen Wissenschaft oder Kunst verwandt. So weit darin Elemente der
späteren, höheren Objektivationen enthalten sind, was ohne Frage der Fall
ist, so sind sie besonders anfangs völlig den magisch-praktizistischen Haupt¬
tendenzen untergeordnet, ihre Eigenart kann nur stellenweise, episodisch,
immer unbewußt, wenn auch nicht zufällig zur Geltung gelangen.
Wir sagen: nicht zufällig, denn die Intention auf eine richtige Widerspiege¬
lung, auf eine Erkenntnis der an sich seienden objektiven Wirklichkeit ist,
natürlich unbewußt, bereits im primitivsten Akt der Arbeit, ja des Sam¬
melns enthalten, denn eine völlige Unkenntnis der Realität, ein völliges
Vorbeigehen an ihren objektiven Zusammenhängen müßte sofort zum
Untergang führen. Die Arbeit bedeutet hier einen qualitativen Sprung in
der Richtung auf Hervortreten der Erkenntnistendenzen. Es muß aber
eine relative Höhe der Verallgemeinerungen, der Erfahrungen erreicht sein,
um die ersten Schritte in der Richtung tun zu können, sich von den herr¬
schenden magischen Tendenzen, deren Fundament gerade die Unkenntnis
der objektiven Wirklichkeit ist, zu befreien. Trotz dieser unmittelbar un¬
zertrennbaren Einheit muß die objektive Divergenz der Verallgemeinerung
in den Arbeitserfahrungen und in denen der magischen Praxis festgehalten
werden. Die ersteren führen zur späteren Wissenschaft, die letzteren hem¬
men diese Entwicklung zumeist, wie Gordon Childe richtig aufgezeigt
hat. Freilich ist diese Entgegensetzung - so richtig sie für die Trendlinie der
Entwicklung ist - keine absolute. Wechselwirkungen kommen immer wie¬
der vor, so daß Pareto, wie wir früher gezeigt haben, hier mit einem gewis¬
sen Recht auch Wechselwirkungen feststellen kann. (Über ähnliche Tenden¬
zen in der Kunst werden wir später ausführlich sprechen.) In alledem ist
eine allergemeinste Ähnlichkeit mit der Struktur des Alltagsdenkens vor¬
handen. Freilich darf dabei der grundlegende Unterschied nicht vergessen
werden, daß der Alltag der Zivilisation stets, bewußt oder unbewußt, die
Ergebnisse einer entwickelten Wissenschaft und Kunst zur Verfügung hat.
Die Unterordnung ihrer Eigenart unter die eigenen, oft augenblicklich¬
praktischen Interessen kann zwar schwere Deformationen ihres spezifi¬
schen Wesens hervorrufen, der Beherrschungsgrad der objektiven Wirklich¬
keit befindet sich aber auf einem unvergleichlich höheren, qualitativ ande¬
ren Niveau. Die jetzt hervorgehobene Strukturähnlichkeit soll also nur im
allerallgemeinsten Sinn verstanden werden und man soll sie nicht, ana-
logisierend, auf Einzelheiten anwenden.
102 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
Diese primitive Wesensart der magischen Periode hat zur Folge, daß eine
Weiterentwicklung ihrer chaotisch gemischten, unmittelbar praktischen
Verhaltungsweise zur objektiven Wirklichkeit sich in idealistischer Rich¬
tung bewegt. G. Thomson gibt eine exaktere Charakteristik des magischen
Zustandes als Frazer oder Taylor. Er sagt: »Die primitive Magie beruht
auf der Vorstellung, daß, indem man die Illusion schafft, die Wirklichkeit
zu beherrschen, man sie tatsächlich beherrscht. Es ist eine illusionäre Tech¬
nik, komplementär zu den Mängeln der wirklichen Technik. Entsprechend
der niedrigen Stufe der Produktion ist das Subjekt der Außenwelt nur
unvollkommen bewußt, folglich erscheint die Ausführung eines voran¬
gehenden Ritus als Ursache des Erfolgs im wirklichen Unternehmen; gleich¬
zeitig jedoch als eine Anleitung zur Aktion, verkörpert die Magie die wert¬
volle Wahrheit, daß die Außenwelt durch das subjektive Verhalten der
Menschen wirklich verändert werden kann1.« Es ist naheliegend, daß bei
einer so geringen, mehr als lückenhaften Kenntnis der Wirklichkeit, die
jedodi in ihren objektiv wertvollen Teilen auf Arbeitserfahrungen beruht,
die subjektive Seite des Arbeitsprozesses, die zeitliche Priorität des Zielset¬
zens als Ursache und die objektiven Ergebnisse als Folge früher verallgemei¬
nert und systematisiert wurden, als die so fragmentarisch bekannten Ele¬
mente der objektiven Wirklichkeit selbst. Und da, wie bereits hervorgeho¬
ben, auf dieser Stufe die Analogie das gedankliche Hauptvehikel für Ver¬
allgemeinerung und Systematisation ist, erscheint es natürlich, daß der Schritt
über die Magie in idealistischer Richtung vor sich geht, in der Richtung auf
Personifizierung der unbekannten Kräfte nach dem Modell des Arbeits¬
prozesses: auf Animismus und Religion. Nicht die Annahme der Existenz
von »Geistern« ist entscheidend. Diese kann, wie Frazer zeigt, schon in der
Magie vorhanden sein, was, da es sich um eine elementare Verallgemeine¬
rung der subjektiven Seite des Arbeitsprozesses handelt, ohne weiteres ver¬
ständlich ist. Dieses Analogisieren in der Magie bewegt sich jedoch auf der
gleichen Ebene, wie alle sonstigen Beobachtungen; erst wenn die Personifi¬
kation mit allen Zügen der Selbstauffassung ausgestattet wird, entstehen
die neuen Beziehungen zu den Geistern; natürlich gibt es hier unzählige
Übergänge, auf die wir hier nicht eingehen müssen. Frazer weist richtig auf
den entscheidenden Unterschied: »Es ist wohl wahr, daß die Magie sich oft
mit Geistern beschäftigt, die persönlich handelnde Wesen sind, wie die
Religion sie annimmt. Aber überall da, wo sie dies in der üblichen Form
tut, behandelt sie diese Wesen in derselben Weise, wie sie mit leblosen Din¬
gen umgeht, d. h. sie zwingt und fesselt anstatt zu versöhnen und sich ge¬
neigt zu machen, wie die Religion es tun würde.«1 2 Daher bezeichnet das
Fehlen der ethisch-religiösen Beziehungen zur Außenwelt keine höhere
»materialistischere« Stufe im Vergleich zu den idealistischen, sich im Verlauf
der Entwicklung ethisierenden Vorstellungen, sondern ist das Wesenzeichen
der primitiven Stufe. Der Idealismus muß hier ähnlich als Fortschritt auf¬
gefaßt werden, wie die Sklaverei als Höherentwicklung im Vergleidi zum
Kannibalismus.
Es ist ein wirkliches Verdienst Frazers, daß er in seiner Analyse der magi¬
schen Theorie und Praxis die große Wichtigkeit der Nachahmung als ele¬
mentare Tatsache der Beziehung des Menschen zur objektiven Wirklichkeit
betont. Er verknüpft sie zwar ausdrücklich nur mit dem, was er im magi¬
schen Vorstellungskreis »Gesetz der Ähnlichkeit« nennt, nämlich, daß
Gleiches stets Gleiches hervorbringt. Eine genauere Betrachtung der von
ihm angenommenen anderen Art der Magie, »daß Dinge, die einmal
in Beziehung zueinander gestanden haben, fortfahren, aus der Ferne aufein¬
ander zu wirken, nachdem die physische Berührung aufgehoben wurde«
zeigt jedoch auch hier die entscheidende Rolle der Nachahmung. Das ist ver¬
ständlich. Denn die primitive, unmittelbar-praktische Reaktion auf die -
relativ — unmittelbare Widerspiegelung der Wirklichkeit, drückt sich eben
in der Nachahmung aus. Es muß eine verhältnismäßig lange Entwicklung
vor sich gehen, eine ziemlich weitgehende Entfernung von der Unmittelbar¬
keit vollzogen werden, das Analogisieren muß in eine wenn auch noch
unentfaltete Kausalbetrachtung übergehen, damit die Menschen zur Ein¬
sicht gelangen, ihre Einwirkungen auf die Natur mit Methoden zu errei¬
chen, die äußerlich unmittelbar keine Ähnlichkeit mehr mit dem widergespie¬
gelten Phänomen (wohl aber mit dessen Wesen und Gesetzlichkeit) haben.
Man denke daran, daß die allerprimitivsten Werkzeuge einfache Nachah¬
mungen der früher zufällig gefundenen, später gesammelten Steine waren.
Bei Funden der Anfangsstufen ist es gar nicht so leicht, Original von Nach¬
ahmung zu unterscheiden. Erst viel später entstehen Werkzeuge, die das
Wesentliche, den Nutzeffekt der Arbeit so erreichen, daß ihre Form aus der
1 Frazer: a. a. O. S. 74.
2 Ebd. S. 15.
104 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
1 Frazer: a. a. O. S. 29.
io 6 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
versuchen charakterisiert. Diese Diskrepanz muß sich noch steigern, wenn die
Magier, Medizinmänner, Schamanen etc. durch die gesellschaftliche Arbeits¬
teilung zu besonderen »Berufen« werden. Einerseits erfolgt diese soziale
Differenzierung, wenigstens ursprünglich, auf Grundlage der Auswahl
der Kenntnisreichsten und Erfahrensten, und so sehr die Entstehung einer
Kaste oft zur Erstarrung, zur Hemmung der weiteren Ausbildung der
Kenntnisse zu führen pflegt, ist es doch ein elementares Interesse dieser
Sdiicht, ihr privilegiertes Dasein durch gute Leistungen zu schützen und
zu befestigen. Andererseits muß dieses Privilegiertsein, das sich vor allem
in der Befreiung von der körperlichen Arbeit äußert, dahin wirken, daß
jene idealistischen Tendenzen in der Naturbetrachtung, die vom subjek¬
tiven Zielsetzen in der Arbeit ausgehen, die die Naturerscheinungen nach
dem »Modell« der so aufgefaßten Arbeit erklären, sich ständig verstärken
müssen, um so mehr als der Wegfall der unmittelbar materiellen Kon¬
trolle der Arbeitserfahrungen diese Tendenzen notwendig verstärkt. Solche
Tendenzen sind in der gesellschaftlichen Entwicklung sehr lange wirksam,
auch wenn die verschiedensten Objektivationen sich schon länger entfaltet
haben. Die Diskrepanz zwischen den immer höher werdenden Einzel¬
erkenntnissen und ihrer irrealen weltanschaulichen Verallgemeinerung
nimmt also zeitweilig notwendig zu, auch nachdem diese die Stufe des
»urzuständlichen Blödsinns« längst überholt hat, nachdem das Denken
vom bloß unmittelbaren Analogisieren zu einer mehr oder weniger ent¬
wickelten Kausalbetrachtung übergegangen ist, durch die hinter den ideali¬
stischen, hypostasierend antropomorphisierenden Hüllen bereits ein wirk¬
liches Erringen von Erkenntnissen über die Außenwelt und über den Men¬
schen immer sichtbarer wird. Mit Recht charakterisiert daher Vico dieses
Denken als ein mit »phantastischen Universalien« oder Gattungsbegriffen
arbeitendes1. Die menschlichen Kenntnisse müssen also einen verhältnis¬
mäßig hohen Grad an Breite und Tiefe erreichen, damit eine materialistische
Kritik der Mythen, der »phantastischen Universalien« etc. einsetzen kann.
Engels gibt über diese Entwicklung, über die Schwierigkeit, das idealistische
Aufdenkopfstellen der erkenntnismäßig errungenen Tatsachen und Zusam¬
menhänge zu überwinden, eine prägnante Zusammenfassung, die sich zwar
vor allem auf bereits hochentwickelte Zustände bezieht, die jedoch zugleich
gerade die für uns wichtigen Entwicklungslinie klar beleuchtet. Er sagt:
»Vor allen diesen Gebilden, die zunächst als Produkte des Kopfs sich dar¬
stellten, und die die menschlichen Gesellschaften zu beherrschen schienen,
traten die besdieideneren Erzeugnisse der arbeitenden Hand in den Hinter¬
grund; und zwar um so mehr als der die Arbeit planende Kopf schon auf
einer sehr frühen Entwicklungsstufe der Gesellschaft (z. B. schon in der ein¬
fachen Familie) die geplante Arbeit durch andere Hände ausführen lassen
konnte, als die seinigen. Dem Kopf, der Entwicklung und Tätigkeit des
Gehirns wurde alles Verdienst an der rasch fortschreitenden Zivilisation zu¬
geschrieben; die Mensdien gewöhnten sich daran, ihr Tun aus ihrem Den¬
ken zu erklären, statt aus ihren Bedürfnissen, (die dabei allerdings im Kopf
sich widerspiegelnd zum Bewußtsein kommen) - und so entstand mit der
Zeit jene idealistische Weltanschauung, die namentlich seit Untergang der
antiken Welt die Köpfe beherrscht hat. Sie herrscht noch so sehr, daß selbst
die materialistischsten Naturforscher der Darwinschen Schule sich noch
keine klare Vorstellung von der Entstehung des Menschen machen können,
weil sie unter jenem ideologischen Einfluß die Rolle nicht erkennen, die die
Arbeit dabei gespielt hat.« 1 Hier ist die Rolle des subjektiven Moments der
Arbeit in der Entstehung und Befestigung der idealistischen Weltanschau¬
ung deutlich sichtbar.
Die Anfangsetappen dieser Entwicklung sind heute noch wissenschaftlich
scharf umstritten. Für unsere Zwecke ist es aber nicht entscheidend, wann
und wie aus dem Chaos der Magie, aus dem Vorstellungskreis der »Kräfte«
(um ein allzu bestimmtes Wort zur Bezeichnung dieser sehr verschwom¬
menen Gedanken und Gefühle zu gebrauchen) sich »animistische« Welt¬
bilder in Mythen, in Religionen weitergebildet haben. Es genügt für uns
klar zu sehen, daß jene Formen der geistigen Arbeitsteilung der Menschheit,
die dem zivilisierten Menschen als derart selbstverständlich Vorkommen, daß
er sie kaum als historisch Gewordenes sich zu vergegenwärtigen vermag,
die die wichtigsten Philosophien zu den überzeitlichen, dem Wesen des Men¬
schen ontologisch zugehörigen Verhaltensarten und Objektivationen rech¬
neten (es genügt auf Kant hinzuweisen), dieses ihr Wesen im Laufe einer
langwierigen historischen Entwicklung allmählich erworben haben. Von
diesem Standpunkt aus ist es bemerkenswert, wie wenig die früheren Ent¬
wicklungsstufen die ethischen und eigentlich religiösen Verhaltensweisen des
Menschen zur Welt (zum Jenseits), zu sich selbst gekannt haben. Wir haben
bereits auf eine solche Feststellung Frazers hingewiesen. Linton und Wingert
sagen über die Weltauffassung der Polynesier: »Die ganze Konzeption war
mechanisch und unpersönlich und involvierte keine Idee von Sünde oder
vorsätzlicher Strafe«; mit den Göttern wurde »manipuliert«, und die Prie¬
ster waren »geübte Handwerker« einer solchen Technik1. Auch Tylor
meint, daß Zeremonie und Ritus »Mittel des Verkehrs mit geistigen Wesen
und des Einflusses auf dieselben« sind »und als solche einen ebenso direkten
praktischen Endzweck wie irgendein chemischer oder mechanischer Pro¬
zeß ...« haben2 3. Und in bezug auf Ethik: »Der wilde Animismus ent¬
behrt ... fast gänzlich jenes ethischen Elements«, das später in den Religionen
eine so große Rolle spielt. Die Ethik entsteht »auf ihrem eigenen Boden, auf
dem Boden der Tradition und der öffentlichen Meinung und ist verhältnis¬
mäßig unabhängig von den animistischen Glaubenssätzen und Riten, welche
neben ihr existieren«. Er nennt diesen Zustand »nicht unmoralisch«, aber
»ohne Moral« s.
Tylor bestätigt hier nicht bloß die von uns nachgezogenen Entwicklungs¬
linien, sondern weist auch auf eine andere äußerst wichtige Frage hin. Dar¬
auf nämlich, daß jene Formen der Widerspiegelung der Wirklichkeit und
der menschlichen Reaktionen auf sie, die wir mit dem Terminus Ethik zu
bezeichnen pflegen, ebenfalls Produkte einer langen historischen Entwick¬
lung sind (und ebenfalls keine angeborenen oder ontologischen Eigenschaf¬
ten des Menschseins), die sich unabhängig von dem magisch-animistisch-reli-
giösen Vorstellungen entwickelt haben und erst verhältnismäßig spät in
jene - äußerst widerspruchsvolle - Union mit der Religion hineingewachsen
sind, die zu behandeln weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausginge.
Nur soviel muß auch hier bemerkt werden - während Tylor wie die meisten
bürgerlichen Forscher den Urkommunismus und seine Auflösung igno¬
riert -, daß die Notwendigkeit einer wenn auch noch so primitiven Ethik
erst mit der Entwicklung der Klassen auftaucht. Erst aus diesem Boden
erwachsen nämlich gesellschaftliche Verpflichtungen, die nicht mehr mit den
unmittelbaren Bedürfnissen und Interessen der einzelnen unmittelbar zu¬
sammenfallen, ja diesen geradezu entgegengesetzt sind. Die Pflicht, sowohl
im rechtlichen wie ethischen Sinn, entsteht also erst mit der Auflösung des
Urkommunismus, mit der Entstehung der Klassen. Engels gibt über den
früheren Zustand gerade in bezug auf unser Problem ein sehr prägnantes
Bild: Nach innen gibt es noch keinen Unterschied zwischen Rechten und
Pflichten; die Frage, ob Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten,
Blutrache oder deren Sühnung, ein Recht oder eine Pflicht sei, besteht für
den Indianer nicht; sie würde ihm ebenso absurd Vorkommen, wie die: ob
Essen, Schlafen, Jagen ein Recht oder eine Pflicht sei b« In welchen kon¬
kreten Formen diese Entwicklung sich abgespielt hat, gehört nicht hierher.
Was hier festgestellt werden muß, ist bloß: die Vicosdien »phantastischen
Universalien«, in denen sich der Weltzusammenhang für die Menschen noch
lange äußert, sind nicht mehr bloß Widerspiegelungen der Natur, sondern
- und sogar in steigendem Maße - auch die der Gesellschaft. Zusammen¬
wirken und Zusammenleben der Menschen hat aufgehört, eine »naturhafte«
Selbstverständlichkeit zu sein, für deren Regelung die alltagsmäßig wir¬
kende Tradition, Gewohnheit, spontane öffentliche Meinung, auch in even¬
tuellen einzelnen Konfliktsfällen, ausreichen. Es ist zum Problem geworden,
zu dessen Lösung, zur widerspruchsvollen Erhaltung und Reproduktion
einer in sich widerspruchsvollen Gesellschaft, die Menschen neue Objektiva-
tionen, neue Verhaltensarten ausbilden mußten, darunter auch die Ethik.
Die Widersprüchlichkeit dieser Entwicklung zeigt sich auf allen Punkten.
Auf einen sehr interessanten weist Frazer hin, indem er in der zunehmen¬
den Erkenntnis der Menschen einen Grund des Übergangs von der magi¬
schen Vorstellungsweise zur religiösen erblickt, und zwar nicht direkt, son¬
dern im Gegenteil so, daß mit zunehmender Erkenntnis »der Mensch
deutlicher die Unendlichkeit der Natur und seine eigene Kleinheit und Ohn¬
macht ihr gegenüber einsehen« lernt. Parallel damit wächst sein Glaube an
die Macht jener Kräfte, die nach seinen Vorstellungen die Natur beherrschen,
die, wie wir gesehen, eine immer anthropomorphere, personifiziertere Gestalt
erhalten haben. Damit »gibt er zugleich die Floffnung auf, den Gang der
Natur mittels seiner eigenen, selbständigen Flilfsquellen, d. h. mit Hilfe der
Magie, zu lenken, und er sieht immer mehr zu den Göttern auf, als zu den
einzigen Bewahrern jener übernatürlichen Kräfte, die er einst mit ihnen zu
teilen behauptete. Mit der fortschreitenden Erkenntnis nehmen daher
1 Engels: Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Moskau-Lenin¬
grad 1934, S. 153.
I 12 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
Gebete und Opfer die führende Stelle in dem religiösen Ritus ein und die
Magie, welche einst als gleichberechtigt galt, wird allmählich in den Hinter¬
grund gedrängt und sinkt zur schwarzen Kunst herab1.« Frazer hebt hier
richtig den Gegensatz von Magie und Religion hervor. Dazu ist jedoch zu
bemerken — worüber sowohl er wie andere sehr viel Material zusammen¬
getragen haben -, daß die Religionen zumeist die Magie als aufgehobenes
Moment in sich aufnehmen und aufbewahren. Sobald z. B. in die Beziehung
zwischen Mensch und Gott genau einzuhaltende Zeremonien, genau vor¬
geschriebene Worte, Gebärden etc. vermittelnd eingeschaltet werden, um
die Gottheit günstig zu beeinflussen, sie den Bitten geneigt zu machen, ist
es klar, daß dabei magische Tendenzen als organische Bestandteile der Reli¬
gion erscheinen. Je ausgebildeter eine Religion ist, je tiefer sie in ethische
Probleme eingreift, je innerlicher das von den Riten bestimmte Verhalten
sein soll, desto auffallender zeigt sie sich als tief eingetaucht in magische
Vorstellungen. Natürlich können diese beiden an sich gegensätzlichen Ten¬
denzen nicht immer friedlich miteinander leben; oft — im Laufe der Ge¬
schichte in zunehmender Weise - entstehen äußerst heftige Kämpfe zwischen
den Vertretern von magischen und von »rein« religiösen Vorstellungen.
Versuche zur völligen Befreiung einer Religion von ihren magischen Über¬
lieferungen bedeuten oft tiefe Krisen in der Religion selbst. Die historisch
außerordentlich verschiedenen Formen dieser Krisen, deren einige wie die
Bilderstürme, auch die magischen Grundlagen der Beziehung von Religion
und Kunst berühren, haben wir hier nicht zu untersuchen. Für uns ist bloß
wichtig, daß - trotz Widersprüchen, die in Krisen übergehen können - zwi¬
schen Magie, Animismus und Religion eine historische Kontinuität vorhan¬
den ist, in welcher als Hauptlinie der Entwicklung die ständige Steigerung
und weitere Ausbildung des Subjektivismus in der Weltanschauung, das
steigende Anthropomorphisieren der wirkenden Kräfte in Natur und Ge¬
sellschaft, die Tendenz, diese Anschauung und die aus ihnen folgenden
Gebote auf das gesamte Leben anzuwenden, vorherrschend wird.
Daneben muß natürlich der urwüchsige, nur als solcher, als Weltanschauung
nicht bewußte Materialismus der Arbeit sich ebenfalls ständig vervollkomm¬
nen. Ist doch gerade diese Periode eine der größten in der Ausdehnung der
Herrschaft des Menschen über die Natur. (Es genügt, auf die Rolle der An¬
wendung von Bronze und Eisen zu denken.) Je höher beide Richtungen sich
Verwendung (etwa bei den Arbeitern selbst) bereits wieder ein unmittelbares
Verhalten diesen - objektiv sehr weit vermittelten - Ergebnissen der Wis¬
senschaft gegenüber entstehen. So ganz gewiß bei ihren Konsumenten; der
durchschnittliche Mensch, der Medizin einnimmt, mit dem Flugzeug reist
etc., hat in den meisten Fällen keine Ahnung von den wirklichen Zusam¬
menhängen dessen, was er benutzt. Er gebraucht sie ganz einfach, gestützt
auf den »Glauben« an die Aussagen der Fachmänner, auf die empirischen
Erfahrungen über die unmittelbare Bewährung der jeweilig konkreten
Einrichtung. Natürlich ist beim aktiven Anwender (Pilot etc.) eine un¬
vergleichlich höhere Kenntnis der Zusammenhänge vorhanden. Es liegt aber
im Wesen der Sache, daß auch dieser keineswegs immer auf die prinzipiellen
wissenschaftlichen Fundamente zurückgreifen muß und tatsächlich in den
seltensten Fällen auf sie zurückgreift. Für die durchschnittliche Praxis reicht
der Empirismus im Sammeln von Erfahrungen, gestützt auf den »Glauben«
an die Autoritäten, vollkommen aus. Hier wird deutlich sichtbar, daß das
Herrschendwerden der Wissenschaft über immer größere Gefilde des Lebens
das Alltagsdenken keineswegs abschafft, es nicht durch wissenschaftliches
ersetzt, sondern im Gegenteil sich auch auf solchen Gebieten reproduziert,
in denen früher ein weit weniger unmittelbares Verhältnis zu den Gegen¬
ständen etc. des Alltagslebens bestand. Sicher haben z. B. heute prozentual
weit weniger Menschen eine fundierte Einsicht in die Beschaffenheit der
von ihnen benutzten Verkehrsmittel als in früheren Perioden. Das schließt
natürlich nicht eine bisher ungeahnte Massenverbreitung wissenschaftlicher
Erkenntnisse aus. Im Gegenteil: gerade die lebendige Dialektik dieser ein¬
ander widersprechenden Tendenzen bildet die Grundlage zur ständigen
Reproduktion des Alltagsdenkens.
Wir haben oben den Terminus »Glauben« nicht zufällig benützt. Denn zu¬
meist - und dies gilt für die überwiegende Mehrzahl der Handlungen im
Alltagsleben - wenn aus irgendeiner theoretischen Feststellung unmittelbar
praktische Konsequenzen gezogen werden können und müssen, tritt an die
Stelle des wissenschaftlichen Beweises notwendigerweise der Glauben. Tho¬
mas Mann erzählt z. B. mit viel Humor, daß es in der Chicagoer Klinik, wo
er operiert wurde, als Taktlosigkeit galt, sich über die Medizin, die man er¬
hielt, zu erkundigen; selbst wenn es sich um allbekannte Hausmittel, wie
Natron Bicarbonaticum handelt. Damit wird der »Glaube« geradezu
gezüchtet. Von gewissen Strömungen der Psychiatrie, wo quasireligiöse
Beziehungen absichtlich hervorgerufen werden, gar nicht zu reden. Und
daß das ganze moderne Reklamewesen auf das Züchten eines solchen
Prinzipien und, Anfänge der Differenzierung 115
»Glaubens« gerichtet ist, braucht nicht besonders bewiesen werden. Daß die
Wissenschaft hier so oft als Erwecker eines solchen »Glaubens« figuriert, macht
den oben angedeuteten Zusammenhang noch evidenter. Freilich ist der
Ausdruck »Glaube« für die eben geschilderten Verhältnisse nicht wirklich
exakt. Er enthält zwar den Gegensatz zu Wissen und Erkennen, vor allem
aber den Mangel an Willen, an konkreter Möglichkeit etc. zur Verifikation.
Damit kommen jedoch solche Akte dem nahe, was man in der logischen
Terminologie als Meinen, im Gegensatz zum Wissen zu bezeichnen pflegt.
Kant legt in der Abgrenzung von Meinen und Glauben gerade auf dieses
Moment der Weiterbildung zum Wissen, zur Verifikation ein großes Ge¬
wicht: »wenn aus objektiven, obzwar mit Bewußtsein unzureichenden
Gründen etwas für wahr gehalten, mithin bloß gemeint wird, so kann dieses
Meinen doch durch allmähliche Ergänzung in derselben Art von Gründen
endlich ein Wissen werden.« Dagegen entsteht nach Kant der Glaube dort,
wo ein derartiges Weiterschreiten sachlich unmöglich ist: »Aller Glaube ist
nun ein subjektiv zureichendes, objektiv aber mit Bewußtsein unzureichen¬
des Fürwahrhalten; also wird es dem Wissen entgegengesetzt.« 1 Eine solche
schroffe Entgegensetzung von Glauben und Meinen ist vom Standpunkt der
Axiomatik seines philosophischen Systems durchaus verständlich; der Zu¬
sammenhang und das systematische Ineinanderfügen von Erkenntnis, Ethik
und Religion kann für dieses System nur so konstruiert werden. Im Alltags¬
denken spielt aber nicht nur die objektive Möglichkeit von Meinen zu Wis¬
sen weiterzugehen eine wichtige Rolle, sondern zugleich auch der Wille
dazu. Einerlei, welche gesellschaftlichen Gründe hier wirksam sind - einige
haben wir bereits aufgezählt -, ihr Aktuellwerden verwandelt das Denk¬
gebilde des Meinens, das objektiv eine mögliche Vorstufe des Wissens vor¬
stellt, subjektiv, und zwar sozial-psychologisch in eine Abart des Glaubens.
Es ist z. B. heute mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung feststellbar,
daß im Lottospiel jede beliebige Kombination von fünf Zahlen die gleichen
Chancen des Gewinnens hat, der einzelne Spieler wird aber auf Grundlage
eines Traumes etc. daran »glauben«, daß seine Zahlen unbedingt gezogen
werden müssen. Die objektive Möglichkeit, das Meinen zum Wissen weiter¬
zuführen, hat auf einen solchen »Glauben« überhaupt keinen Einfluß. Das
Beispiel ist freilich ein Extrem. Es wäre aber sicher möglich, an einer Fülle
1 Kant: Was heißt sich im Denken orientieren? Werke, Phil. Bibi. Leipzig 1905,
V S. 156.
ii 6 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
Akzent des religiösen Glaubens, der ihn von ähnlichen Akten des Alltags¬
denkens so scharf unterscheidet.
Die Feststellung der Emphase und der ihr zugrunde liegenden Bezogen-
heit auf das wesentliche Schicksal des ganzen Menschen, scheint einen Ab¬
grund zwischen Alltag und Religion aufzureißen. Damit ist jedoch, wie wir
sehen werden, die wesentliche strukturelle Verwandtschaft zwischen diesen
beiden Lebenssphären nicht vernichtet. Wir verweisen dabei wieder nur
kurz auf die Verwandtschaft zwischen magischer Praxis und der des Alltags,
schon darum, weil darin das vielleicht wichtigste Kennzeichen des Alltags¬
lebens, die unmittelbare Verknüpftheit von Theorie und Praxis, deutlich
zum Ausdruck gelangt. Wenn wir dabei an die magische Auffassung der als
transzendent vorgestellten Mächte oder Kräfte denken, so tritt klar hervor,
daß Transzendenz hier einfach etwas Unbekanntes bedeutet und ihre
»Tiefe« einfach eine Modernisierung ist, indem man alle, viel später ent¬
standenen Gedanken und Gefühle, die etwa den Grund des von Kant be¬
stimmten Begriffs des Glaubens im eigentlichen Sinne (im Gegensatz zum
Meinen) bilden, durch welche das faktisch Unbekannte in ein prinzipiell
Unerkennbares verwandelt wird, ohne jede historische Berechtigung, in die
Anfangszeiten projiziert. Selbst als viel später animistische Anthropomor-
phisierungen entstehen, als die Beziehung der Menschen zu ihren Lebens¬
mächten ethische Akzente erhält, bildet sich der Gedanke — und das ihn
fundierende und begleitende Gefühl — der Transzendenz im modernen
Sinne nur sehr allmählich aus. (Man denke an die Göttervorstellungen der
Homerischen Gedichte.) Der emphatische Charakter des religiösen Verhal¬
tens kann nur dann entstehen und aufblühen, wenn es den ganzen Men¬
schen in einer Weise erfaßt, die zumindest eine ethische Komponente, einen
ethischen Unterton hat. Denn auch in der magischen Periode (und nicht sel¬
ten im späteren Alltagsleben) handelt es sich um Aktionen, Entscheidungen
etc., die über Wohl und Wehe, ja über die Existenz schlechthin des Men¬
schen entscheiden. In solchen Fällen entsteht naturgemäß eine starke Ge-
fühlsbetontheit; indem aber Erfolg oder Mißgeschick vom Anwenden
äußerlich-praktischer Regeln abhängt, fehlt den Emotionen jene Wendung
nach innen, jene Reflexion auf die inneren Fundamente der eigenen Persön¬
lichkeit, die ein wesentliches Moment der religiösen Emphase ausmacht.
(Um unsere Betrachtungen nicht allzusehr zu komplizieren, sehen wir
einerseits ab von jenen Begebenheiten des Alltagslebens, in denen eine ethi¬
sche Komponente mitwirkt, andererseits von jenen des religiösen Verhal¬
tens, in denen noch die magischen Überreste dominieren.) Die religiöse
118 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
Emphase richtet sich also auf etwas prinzipiell Transzendentes, auf ein Jen¬
seits dem realen irdischen Leben gegenüber; auch wenn nicht der Tod, die
Bewahrung und das Schicksal des Ichs nach dem Tode das konkrete Thema
bildet, auch wenn der Ausgangs- und Zielpunkt des jeweiligen religiösen
Akts ein unmittelbar diesseitiger ist, schiebt sich zwischen den konkreten
ganzen Menschen und den Gegenstand seiner religiösen Intention eine prin¬
zipielle Transzendenz; nicht ein einfach Unbekanntes, sondern ein - mit
den normalen Mitteln des Lebens - prinzipiell Unerkennbares, das aber
durch ein richtiges religiöses Verhalten zum intimsten Besitz des Menschen
werden kann. Die so entstehende Spannung, deren äußerst verschiedene
Typen wir hier natürlich nicht einmal andeuten können, liegt dem empha¬
tischen Charakter des religiösen Glaubens zu Grunde. Denn so sehr in
vielen Religionen das Einhalten der Riten, Zeremonien etc. für das Erreichen
solcher Ziele als unvermeidlich aufgefaßt wird (also bestimmte, freilich oft
modifizierte, oft starr spiritualisierte Strukturform der Magie aufbewahrt
werden), bleibt diese subjektive Bezogenheit auf das Subjekt, auf den ganzen
Menschen unaufgehoben bestehen; die Beichte hat z. B. einen ritenhaften
Rahmen, die subjektive Aufrichtigkeit wird jedoch als unerläßliche Bedin¬
gung ihres transzendenten Effekts betrachtet, was in der Magie offenbar
nicht der Fall war.
Trotz dieser deutlichen Entfernung von Magie und Alltag bleibt deren
Grundstruktur, die unmittelbare Verbindung von Theorie und Praxis den¬
noch erhalten. Freilich muß dabei der Begriff der Theorie, als Gehalt und
Objekt des Glaubens noch weiter konkretisiert werden. Wir haben früher
die Rolle des »Glaubens« im Alltagsleben und Denken etwas zergliedert
und kamen dabei zum Ergebnis, daß es sich dabei um eine Modifikation des
Meinens handelt, indem die verschiedensten gesellschaftlichen Gründe, so¬
wie die dadurch bedingten subjektiven Verhaltensarten in engster Ver¬
bindung mit dem unmittelbaren Zusammenhang von Theorie und Praxis
eine Weiterbildung in der Richtung zur verifizierbaren Erkenntnis verhin¬
dern. Diese Möglichkeit ist jedoch objektiv in vielen Fällen vorhanden, nur
pflegt sie sich sehr oft aus den geschilderten Gründen so zu verwirklichen,
daß ein Weiterführen des Meinens zum Wissen doch nicht erfolgt, z. B.
wenn jemand den »Glauben« an seinen Arzt verliert und diesen nun auf
einen anderen Arzt überträgt. Natürlich gibt es im Alltag ebenfalls viele
entgegengesetzt sich auswirkende Fälle, besonders auf dem Gebiet der Ar¬
beit. Die beiden Tendenzen unterscheiden sidi aber darin, daß im zweiten
Fall etwas aus der Masse des Unbekannten erobert, zur Kenntnis gemacht
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 119
wird, während beim ersten Typus die Welt des Unbekannten wesentlich
als unverändert aufgefaßt wird. Die unmittelbare Verknüpftheit von
Theorie und Praxis im Alltagsleben ist die wichtigste Grundlage dafür, daß
das Theoretische eine solche Fassung erhält. Es ist aber dabei notwendig
festzustellen, daß gerade dadurch - von unten, aus dem Arbeitsprozeß -
Tendenzen wirksam werden, die in die Richtung von Erkenntnis, Wissen
und Wissenschaft weisen, daß diese auch dort, wo verschiedene soziale Kräfte
dieses Meinen zum »Glauben« verweisen, infolge der vitalen Zwangsläufig¬
keit eine gewisse Verifikation der Vorstellungen, die originäre Intention des
Meinens nur selten völlig verschwinden lassen.
Auch das religiöse Verhalten ist auf eine unmittelbare Beziehung von
Theorie und Praxis basiert. Das ist überall, wo magische Überreste vor¬
herrschen, ohne weiteres evident. Aber auch dort, wo bereits genuin reli¬
giöse Erlebnisse entstehen, bleibt diese Struktur aufrechterhalten. Denn es
handelt sich ja um Heil oder Untergang des ganzen Menschen bzw. dessen,
worin das Zentrum seiner letzthinnigen Existenz erblickt wird. Diese aller¬
allgemeinste Formulierung begreift sowohl Himmel und Hölle wie Nirvana
und Sansara in sich. Mit einer derartigen Setzung entstehen jene wichtigen
Modifikationen sowohl in der Konzeption der Transzendenz, wie in der
Fassung des Begriffs der Theorie für diese Sphäre. Beginnen wir mit der
Klärung des Transzendenzbegriffs. Wir haben gesehen, daß die Wissen¬
schaft, solange sie wirkliche Wissenschaft bleibt und sich nicht zur ideali¬
stisch-philosophischen oder religiös-theologischen Reflexion über Ergebnisse
und Grenzen der Wissenschaft, über ihre Stelle im Leben des Menschen,
über ihre Bedeutung für die Gesamtheit der menschlichen Existenz ent¬
wickelt, das Unbekannte bloß als ein noch Unbekanntes zu behandeln
gezwungen ist. Am deutlichsten ist dies bei Kant zu sehen. Als idealistischer
Philosoph betrachtet er die Welt der Dinge an sich als absolut transzendent;
als Theoretiker der Wissenschaftslehre hat auch bei ihm die konkrete
Eroberung des noch Unbekannten keine Grenze. (Für diese Betrachtungen
ist es nicht wichtig, daß Kant dieses Gebiet - metaphysisch - als Welt der
Erscheinungen bewertet, da seine Methodologie gerade darauf ausgeht, die
unbezweifelbare Objektivität der hier erlangbaren Erkenntnisse philo¬
sophisch zu begründen.) Die Frage selbst ist jedoch lange nicht so formal,
wie die »Kritik der reinen Vernunft« sie darstellt. Der echte Glaube - nicht
der von der reinen Ethik destillierte Glaube Kants - gestattet keine derar¬
tige Zweiteilung der Welt; wo eine solche vollzogen wird, und sie wird es
in vielen Religionen, bleibt es nicht bei einer unpathetischen Nebeneinander-
120 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
Stellung von Erscheinung und Ding an sich, die beide Objekte der Er¬
kenntnis sind, sondern steigert sich emphatisch zum Gegensatz von Kreatur
und Gottheit, von Sansara und Nirvana etc. Erscheinung und Wesen sind
unmittelbar auf das sein Heil suchende Subjekt bezogen und erst durch diese
Bezogenheit erhalten sie ihre eigentliche religiöse Gegenständlichkeit. Dieser
Primat der subjektiven Bedürfnisse in der Entstehung der spezifischen Gegen¬
ständlichkeit verbindet die Religion mit der Magie, allerdings bei der bedeut¬
samen Differenz, daß die auslösenden subjektiven Affekte wie Furcht, Hoff¬
nung etc. hier von den Bedürfnissen des Alltagsmenschen, von Hunger,
physischen Gefahren etc. bestimmt sind, während dort der Grundtendenz
nach eine ethisch gefärbte Sublimierung vor sich geht, die ganz allgemein als
Heil der Seele umschrieben werden kann. Erst die so bedingte Art des Gegen¬
ständlichsetzens von Erscheinung und Wesen ergibt die Basis für das Spezi¬
fische sowohl der Transzendenz wie jener Theorie, die auch hier in unmittel¬
barer Beziehung zur Praxis steht.
Von dem Augenblick an, wo die anthropomorphisierende Verallgemei¬
nerung einen Demiurgos der Welt setzt, ist auch das Verabsolutieren der
Transzendenz vollzogen. Die Welt mag so oder so, bis zu diesem oder jenem
Grad erkennbar und von dort an unerkennbar sein, der Schöpfer ist im
allgemeinen Sinn als transzendent gesetzt; zwischen Schöpfer und Schöpfung
entwickelt sich allmählich eine Hierarchie, in welcher jener eine absolute
qualitative Superiorität über diese zugesprochen bekommt. Das ist aus der
pathetischen Verallgemeinerung des Arbeitsprozesses vom Subjekt aus
durchaus verständlich. Auch in der griechischen Philosophie, insbesondere
bei Platon und Plotin wird diese Beziehung so gewertet: der Schöpfer steht
unbedingt höher, als das von ihm Geschaffene. Es ist ein jahrtausendelanger
Prozeß, eine gewaltige Entwicklung der Werkzeuge, Geräte, ja Maschinen
nötig, um die idealistische Philosophie zu einer realistischen Umkehrung
dieses in jeder Hinsicht falsch auf gefaßten Verhältnisses zu veranlassen; so
in der Hegelschen Dialektik1. Diese Richtigstellung der Proportionen prallt
naturgemäß von der religiösen Konzeption der Welt ab, denn jeder end¬
gültige Bruch mit der bloß weltlichen Kreatürlichkeit des wirklichen Men¬
schen bedeutet eine Absage an die religiöse Weltanschauung. Die Hegelsche
Philosophie ist auch in bezug auf diese Frage äußerst mehrdeutig. Denn es
ist klar, daß die Hegelsche dialektische Auffassung des Verhältnisses vom
der Inhalt des Glaubens, die Gefühle, Gedanken, Handlungen etc., die dar¬
aus folgen, haben - nach der religiösen Auffassung - unermeßliche Konse¬
quenzen für den sidi hier entscheidenden Menschen: für das Heil seiner
Seele. Und damit ist zugleich Gegenständlichkeit und Umkreis der Trans¬
zendenz ganz deutlich umschrieben: das Transzendente ist aus einem faktisch
Unbekannten zu einem prinzipiell Unerkennbaren geworden: die Trans¬
zendenz ist somit ein Absolutes. Es gehört zum konstituierenden Wesen
der religiösen Sphäre: für sich selbst, für ihre eigenen Verhaltensweisen,
auf deren Vielfältigkeit wir jetzt nicht eingehen können, auch die Mög¬
lichkeit einer mehr oder weniger restlosen Überwindung der Transzendenz
zu beanspruchen und zwischen dem ganzen Menschen und der religiösen
Transzendenz doch eine unmittelbare und innige Verbindung — ja zu¬
weilen eine Einheit - herzustellen. Damit erhält erst der Glaube seinen
prägnant eigenartigen Charakter; er befreit sich von jener schimmernden
Verwandtschaft mit dem abortierten Meinen, das das Alltagsleben charak¬
terisiert: er wird zur zentralen entscheidenden Verhaltungsart, indem er
radikal mit jedem Wunsch nach einer objektiven Verifizierbarkeit bricht,
die jedem Meinen letzten Endes doch zu Grunde liegt und dem anthro-
pomorphisierenden, vom Subjekt aus Objekte schaffenden Wesen der reli¬
giösen Sphäre entsprechend, die Erfüllung dezidiert ins Subjektive bzw. in
ein subjektiv-anthropomorphisierend geschaffenes Pseudo-Objektsfeld ver¬
legt. Während also das Meinen, auch in seiner alltäglichen, zum »Glau¬
ben« verzerrten Weise doch eine Art Vorform der Erkenntnis bleiben
muß, erhebt der Glauben in seinem originär religiösen Sinn den Anspruch,
Erkenntnis und Wissen zu beherrschen, eine höhere Form der Bewältigung
der wesentlichen Wirklichkeit zu sein.
Darum ist die Formel von Anselmus, das »credo ut intelligam« die klas¬
sische Form dieses Verhältnisses. Es ist für diese Betrachtungen selbstredend
unmöglich, die so außerordentlich variierten Erscheinungsweisen des Ver¬
hältnisses von Glauben und Wissen zu berücksichtigen. Jedenfalls ist es
evident, daß die klassische Form historisch eher ein Ausnahmefall als Aus¬
druck einer Regel sein kann. Denn das Vordringen der Wissenschaft macht
es oft außerordentlich schwer, sowohl die bekannte Wirklichkeit im Sinne
des Glaubens, im Sinne dessen konkreter Inhalte und impliciter Axiome zu
interpretieren, wie Inhalte und Grenzen der religiös bestimmten Trans¬
zendenz als solche dem Bereiche des bloß vorläufig Unerkennbaren zuzu¬
weisen. Wohl bildet die sich zur Kirche konstituierte Religion immer wieder
eine eigene Wissenschaft, die Theologie aus, um ihr auf dem Glauben
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 123
Entwertung der realen Welt — immer wieder.« 1 Der Zweck seiner Darlegun¬
gen bringt es mit sich, daß diese nicht auf die Theologie zugespitzt sind. Unsere
Ausführungen zeigen, daß gerade in ihr die höchste Aufgipfelung des
Anthropomorphisierens, des »geistlosen Bewußtseins« zu finden ist.
Da hier keine Religionsphilosophie oder Religionskritik angestrebt wird,
sondern bloß das Herausarbeiten der Beziehung der Religion zum Alltags¬
leben, kann das Festhalten dieses Primats des Glaubens vor der Beglaubigung
oder vor dem Beweis seiner Objekte, des Primats der Subjektivität vor
jedweder - faktischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen - Objektivität
für unsere Zwecke genügen. Damit bildet die Religion einen Bestandteil des
Alltagslebens der Menschen mit der großen gesellschaftlich-geschichtlichen
Variabilität von dem Beherrschen aller oder der meisten Erkenntnisse durch
den theologisch dogmatisierten Glauben bis zu dessen Rückzug auf die
reine, völlig entleerte Innerlichkeit bei Preisgabe alles objektiven Wissens
an die Wissenschaft. Das Wesentlichste, die unmittelbare Verknüpfung des
Zieles, des Heils der Seele mit der vom Glauben bestimmten »Theorie« und
ihren unmittelbar praktischen Folgen bleibt bei allen derartigen Wandlun¬
gen unverändert. Trotz dieses inneren Gleichbleibens, sind diese Verän¬
derungen für den konkreten Einfluß des Glaubens auf Wissenschaft und
Kunst sehr wichtig. Im nächsten Kapitel, in welchem wir die Entfaltung
des desanthropomorphisierenden Weltbetrachtens der Wissenschaft analy¬
sieren werden, braucht auf den konkreten Strukturwandel nur wenig Bezug
genommen werden; da der ausschließende Gegensatz von Anthropomorphi-
sieren und Desanthropomorphisieren evident ist. Einer eingehenden
Betrachtung bedarf jedoch die prinzipielle und praktische Trennung der bei¬
den anthropomorphisierenden Lebenssphären, Kunst und Religion; unser
letztes Kapitel wird dieser Untersuchung gewidmet sein. Hier muß nur noch
auf einen Gesichtspunkt hingewiesen werden, auf die enge Beziehung des
religiösen Glaubens zur konkreten Gegenständlichkeit seiner anthropomor-
phisierend geschaffenen Objekte; eine Beziehung die derart intim ist, daß das
Verblassen der Konkretheit der Objekte ein Verblassen des Glaubens mit sich
zu führen pflegt. Der dogmatische Charakter einer jeden begrifflichen Ver¬
allgemeinerung (Theologie) ist also keine Entartung wie jeder Dogmatismus
in Wissenschaft und Philosophie, sondern die notwendige Folge gerade
dieser Konkretheit. Ein wirklich religiöser Mensch glaubt nicht an Gott
1 N. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins, Berlin und Leipzig 1933, S. 97.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 125
1 Levy-Bruhl: a. a. O. S. 57.
I30 Probleme der WiderSpiegelung im Alltagsleben
wenn er das gesellschaftliche Bedürfnis, das dem Menschen die Zahl, das
Zählen und Messen aufgedrängt hat, im Tausch, im beginnenden Waren¬
verkehr erblickt. Auch er hebt hervor, daß in dem materiellen Wirtschafts¬
leben primitiver Völker das Zählen kein Bedürfnis ist. Dieses entsteht erst
auf einer bestimmten Stufe des Verkehrs, des Warenaustausches. Ihre Aus¬
breitung bringt es mit sich, daß bestimmte Güter in bestimmten (zahlen¬
mäßig bestimmten) Proportionen ausgetauscht werden. »Erst dadurch, daß
dann eine allgemein begehrte oder umgekehrt in Überzahl vorhandene
Art von Gegenständen mit verschiedenen anderen Arten gleichzeitig in ein
solches Tauschverhältnis eintritt, gibt sie ein Mittel ab, um auch diese
letzteren zueinander in Wertbeziehung zu setzen. Sie wird somit zunächst
für diese anderen bestimmten Arten von Gegenständen zum Wertmesser.« 1
Daß die Zahl, wenn einmal entdeckt, ebenso wie die auf dem Weg des Mes¬
sens entstandene Geometrie grenzenlose Möglichkeiten der wissenschaft¬
lichen Ausbildung in sich birgt, ändert nichts daran, daß sie sich jahr-
hunderte-, jahrtausendelang in den oben skizzierten alltäglich-religiösen
Zusammenhang widerstandslos einfügen läßt. Wenn Magie oder Religion
die Zahlen rezipiert, in ihr eigenes System einbaut, so wird diese Rückwen¬
dung durch qualitative Betrachtungsweise des Alltags noch deutlicher. Jede
Zahlenmystik, jede religiöse Verwendung von Zahlen, jede magische Beto¬
nung der Glück oder Unheil bringenden Wirkungen bestimmter Zahlen
etc., reißt die jeweilig gebrauchte Zahl (etwa 3 oder 7) aus der Zahlen¬
reihe, in der sie ihren normalen quantitativen Sinn hat und verwandelt sie
in eine bestimmte, einzigartige, gefühlsbetonte Qualität, d. h. gibt ihr eine
Stelle in der Denkstruktur des Alltagslebens.
Es scheint vielleicht, als ob wir bisher bei der strukturellen Annäherung
von Magie, Animismus und Religion an das Denken und Fühlen des Alltags
eine unzulässige Abstraktion begangen hätten. Wir haben zwar den empha¬
tischen Charakter der hier entstehenden Vorstellungsgebilde hervorgehoben,
sind aber nicht darauf eingegangen, ob nicht und wenn ja, inwiefern hier
auch eine Erhebung über den Alltag bezweckt und erreicht wird. Diese
Tendenz ist vorerst wenig gedanklich, sie wird es aber im steigenden Maße,
indem die Religionen auch Weltbilder entwickeln (Kosmologien, Geschichts¬
philosophien, Ethiken etc.), um ihre Inhalte auch in der Sprache der
Erkenntnis des Wesens enthalten ist. Diese wird aber erst im wissenschaft¬
lichen Verhalten zu einer bewußten Methode: zur klaren Trennung von
Erscheinung und Wesen, um von einem deutlich erkannten Wesen aus eine
Rückkehr zur Gesetzlichkeit der Erscheinungswelt möglich zu machen. Je
energischer diese Methode ausgebildet wird, desto schärfer trennt sich die
in der Wissenschaft widerspiegelte Wirklichkeit inhaltlich wie formell von
den unmittelbaren Spiegelungsarten des Alltags. Dadurch erscheint das
wissenschaftliche Spiegelbild der Wirklichkeit vom Standpunkt des Alltags
aus gesehen und gewertet oft als paradox. Marx hat - nachdem er ausführ¬
lich auseinandergesetzt hat, daß eine Erklärung des Profits nur von dem
Lehrsatz aus, daß die Waren durchschnittlich zu ihren wirklichen Werten
verkauft werden, möglich ist - dieses wichtige Ergebnis für die allgemeine
Methodologie der Wissenschaft in ihrem Verhalten zum Alltag plastisch
verallgemeinert: »Dies scheint paradox und im Widerspruch zu den täg¬
lichen Beobachtungen. Es ist auch paradox, daß die Erde sich um die Sonne
bewegt, und daß das Wasser aus zwei leicht entzündlichen Gasen besteht.
Wissenschaftliche Wahrheiten sind immer paradox, wenn man sie an der
alltäglichen Erfahrung mißt, welche nur den täuschenden Schein der Dinge
erfaßt (Marx: Lohn, Preis und Profit, Berlin 1928 S. 41).«
Über die Rückverwandlung vieler Ergebnisse der wissenschaftlichen Wider¬
spiegelung in unmittelbare Alltagspraxis haben wir bereits gesprochen. Sie
wird dadurch möglich, daß in dieser Rückverwandlung die paradoxen Be¬
ziehungen der wissenschaftlich gespiegelten Welt wieder zur Unmittelbarkeit
verblassen, ihre eigentlichen Kategorien verschwinden, Verfahren und Er¬
gebnisse werden durch Gewöhnung, Tradition etc. ins Alltagsleben ein¬
gebaut, so daß die Resultate der Wissenschaft praktisch verwendet werden
können, ohne eine sofortige fundamentale Änderung des Alltagsdenkens
hervorzurufen. Daß das gesellschaftlich-geschichtliche Kumulieren solcher
Aneignungen der Ergebnisse der Wissenschaft auch das allgemeine Weltbild
des Alltags verändert, ist selbstverständlich. Dies geschieht jedoch zumeist
vermittels auf der Oberfläche kaum merkbarer kapillarischer Änderungen,
die allmählich Horizont, Inhalte etc. des Alltagslebens und -denkens weit¬
gehend modifizieren, ihre wesentliche Struktur aber vorerst nicht grund¬
legend verwandeln. (Natürlich kommen auch Fälle der revolutionären Ver¬
wandlung vor; es genügt an den Sturz der geozentrischen Astronomie zu
denken.)
Wir sagten: ein Weg von der Erscheinung zum Wesen ist auch in der reli¬
giösen Widerspiegelung der Wirklichkeit vorhanden. Ihre Eigenart besteht
Prinzipien und, Anfänge der Differenzierung 135
seits das souveräne Recht des Schaffenden, Wirklichkeit und Mythen nach
eigenen Bedürfnissen umzumodeln. (Daß dieses Bedürfnis gesellschaftlich
bedingt und bestimmt ist, ändert nichts an diesem Tatbestand.) Anderer¬
seits wird von der Kunst jede Transzendenz - künstlerisch - in Diesseitig-
keit verwandelt, auf das gleiche Niveau als Darzustellendes gesetzt, wie
das eigentliche Diesseits. Wir werden später sehen, daß diese Tendenzen
verschiedene gegen die Kunst gerichtete Theorien (Lügenhaftigkeit etc.)
hervorrufen. Der aus diesen Antagonismen entspringende Kampf zwischen
Religion und Kunst ist dem allgemeinen Bewußtsein weit weniger gegen¬
wärtig als der zwischen Wissenschaft und Religion, obwohl freilich auch
dieser - von beiden Seiten - oft verwischt wird. Wir werden uns deshalb
in einem eigenen Kapitel damit zu beschäftigen haben, wo natürlich auch die
historischen, immer wieder auftauchenden, jedoch nicht aus dem objektiven
Wesen beider Gebiete folgenden Gegensätze zwischen Wissenschaft und
Kunst gelegentlich zur Sprache kommen.
Es ist klar, daß alle diese objektiven Antagonismen sich unmöglich im An¬
fangsstadium der Menschheit äußern konnten. In der Magie sind noch die
undifferenzierten Keime von wissenschaftlichem, künstlerischem und reli¬
giösem Verhalten vollkommen zur Einheit gemischt, und die aus der Arbeit
herauswachsenden Tendenzen der Wissenschaft können noch nicht bewußt
werden. Die Ablösung erfolgt relativ spät, je nach den spezifischen gesell¬
schaftlichen Verhältnissen äußerst ungleichmäßig. Wir haben bereits darauf
hingewiesen, daß in bestimmten Kulturen eine hohe Kunst, eine relativ
große Entwicklung gewisser Zweige und Probleme der Wissenschaften ent¬
stehen kann, ohne daß von einem künstlerischen oder wissenschaftlichen
Geist, von einem subjektiven Bewußtwerden der objektiven Intentionen
dieser Gebiete auch nur die Rede sein könnte. Wir werden im Folgenden
zuerst die Prinzipien des Selbständigwerdens der Wissenschaft kurz unter¬
suchen und die darauffolgenden Betrachtungen über einen ähnlichen Prozeß
in der Kunst mit der Darstellung ihres Befreiungskampfes schließen.
I39
Zweites Kapitel
Wir haben gesehen, wie das Bedürfnis nach einer Erkenntnis der Wirklich¬
keit, die sich nicht nur faktisch, in einzelnen Fällen gewissermaßen zufällig,
sondern prinzipiell, methodologisch, qualitativ über das Niveau des Alltags
erhebt, aus den Lebenserfordernissen des Alltagslebens, vor allem der
Arbeit herauswächst. Andererseits haben wir auch sehen können, daß dieses
selbe Alltagsleben ununterbrochen Tendenzen hervorbringt, die eine umfas¬
sende Verallgemeinerung der Arbeitserfahrungen zur Wissenschaft hemmen
und hindern. Die Fortschritte des Menschengeschlechts auf primitiven Stufen
(und wie wir sehen werden, nicht nur auf diesen, wenn auch später mit viel ge¬
ringerer Macht des Widerstandes) bringen Widerspiegelungs- und Denkformen
hervor, die statt die spontan-naiven Personifikationen und Anthropomorphi-
sierungsformen des Alltags radikal zu überwinden, diese auf einer höheren
Stufe reproduzieren und gerade dadurch der Entwicklung des wissenschaft¬
lichen Denkens Schranken setzen. Engels gibt eine kurze Charakteristik dieser
Lage: »Schon die richtige Widerspiegelung der Natur äußerst schwer, Produkt
einer langen Erfahrungsgeschichte. Die Naturkräfte den ursprünglichen Men¬
schen Fremdes, Geheimnisvolles, Überlegenes. Auf einer gewissen Stufe, die
alle Kulturvölker durchmachen, assimiliert er sie durch Personifikation.
Dieser Personifikationstrieb schuf eben überall Götter, und der consensus
gentium des Beweises vom Dasein Gottes beweist eben nur die Allgemeinheit
dieses Personifikationstriebs als notwendiger Durchgangsstufe, also auch
der Religion. Erst die wirkliche Erkenntnis der Naturkräfte vertreibt die
Götter oder den Gott aus einer Position nach der anderen. ... Dieser Prozeß
jetzt so weit, daß er theoretisch als abgeschlossen angesehen werden kann.« 1
S. 127 f.
142 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
tendenzen der griechischen Gesellschaft, die wir eben kurz geschildert haben,
bringen auf der anderen Seite eine gesellschaftliche Verachtung der Arbeit
hervor, deren Folgen man im Laufe der Geschichte der griechischen Wissen¬
schaft und Philosophie immer wieder beobachten kann. Marx verspottet
Nassau Senior, weil dieser Moses einen »produktiven Arbeiter« nennt. Er
hebt dabei den scharfen Gegensatz der Beziehung zur Arbeit in Antike und
Kapitalismus hervor. »War es Moses von Ägypten oder Moses Mendels¬
sohn? Moses würde sich schön bei Herrn Senior bedankt haben, ein Smith¬
scher produktiver Arbeiten zu sein. Diese Menschen sind so unter ihre
fixen Bourgeois-Ideen unterjocht, daß sie glauben würden, den Aristoteles
oder den Julius Caesar zu beleidigen, wenn sie dieselben »unproduktive
Arbeiten nennten. Diese würde schon den Titel »Arbeiten als eine Beleidi¬
gung betrachtet haben1.« Damit sind erst die gesellschaftlichen Grundlagen
für die erste klare Trennung der wissenschaftlichen Widerspiegelung der
Wirklichkeit von der des Alltags sowie von der der Religion gegeben. Erst
die so errungene Selbständigkeit der Wissenschaft macht es möglich, all¬
mählich eine einheitliche wissenschaftliche Methodologie und Weltanschau¬
ung auszubilden, die Kategorien in ihrer wissenschaftlichen Eigenart und
Reinheit zu erkennen, die einzelnen Ergebnisse der Praxis und der For¬
schung zu verallgemeinern und zu systematisieren etc.
Natürlich bedeutet die so errungene Freiheit zur Selbstbewegung der Wis¬
senschaft nicht ihre konfliktlose Evolution. Im Gegenteil. Gerade dadurch
wird es erst möglich, die inhaltliche und methodologische Gegensätzlichkeit
zu Religion (auch Alltagsdenken) klar auszusprechen, wissenschaftlich zu
formulieren. Eben deshalb wäre es falsch, diese Freiheit unzulässig zu ver¬
absolutieren. Aus unserer obigen Feststellung, daß es für die griechische
Religion und Priesterschaft unmöglich war, die Wissenschaft sich zu unter¬
werfen, folgt keineswegs ein friedliches Verhältnis zwischen beiden. Das
Herausarbeiten der spezifischen Kategorien und Methoden der Wissenschaft
bedeutete zwangsläufig einen immer entschiedeneren Kampf gegen jede Art
von Personifikation und damit gegen jene Mythen, in denen die griechische
Religiosität sich objektivierte. (Aus der von uns angedeuteten historischen
Lage folgt ebenfalls notwendig, daß der Kunst, besonders der Poesie, durch
Ausbildung und Auslegung dieser Mythen eine sonst nie dagewesene Rolle
zuteil wurde; woraus denn auch die auffallend feindselige Stimmung
zwischen Philosophie und Poesie als eines der Merkmale der griechischen Ent¬
wicklung zu erklären ist.) Was die Religion betrifft, so darf man das Fehlen
einer Priesterkaste nicht einfach als gesellschaftliche Machtlosigkeit der Reli¬
gion auffassen. Die ganze Struktur der Polis, die herrschende Stellung des
öffentlichen Lebens, die sich schon im Grundeigentum ausdrückt, indem
man nur als Bürger der Polis Privateigentümer seiner Parzelle sein kann,
würde dem widersprechen. Der religiöse Kultus, die Tempel etc. waren seit
Anfang einer Gesetzgebung rechtlich (und früher durch Sitte) geschützt.
Und im Verlauf der sich verschärfenden Attacken auf die personifizierende,
anthropomorphisierende Widerspiegelung der Wirklichkeit werden diese
Gesetze auch auf die theoretischen Angriffe gegen die Religion ausgedehnt.
So entstand in Athen das Gesetz gegen die »Asebeia«: »Es sollen die Leute
vor Gericht gezogen werden, die nicht an die Religion glauben oder Unter¬
richt in der Astronomie erteilen1.« So wurden z. B. Anaxagoras, Protagoras
etc. verklagt. Es ist sehr bezeichnend, daß im Gesetz selbst, wie in der An¬
klage gegen Anaxagoras, die Astronomie eine entscheidende Rolle spielt. Sie
ist und bleibt für lange Zeit das Schlachtfeld, wo anthropomorphisierende
und desanthropomorphisierende Widerspiegelungen der Wirklichkeit vor
allem Zusammenstößen. Es zeigt sich aber zugleich, daß die in den Einzel¬
heiten wissenschaftliche, auf exakte Beobachtung und Mathematik fun¬
dierte Forschung nicht genügt, um den prinzipiellen Gegensatz auszutragen.
Die in vieler Hinsicht hochentwickelte Astronomie des Orients konnte in
personifizierende Begriffssysteme eingebaut werden. Erst die methodolo¬
gische und weltanschauliche Verallgemeinerung bei den Griechen zeigt, daß
sich an dieser Frage die Wege trennen können und müssen. Die griechischen
»Asebeia«-Prozesse sind ein Vorklang jener Verfahren, die die Inquisition
gegen Giordano Bruno und Galilei geführt hat.
Die griechische Entwicklung schafft auf diese Weise die Fundamente des
wissenschaftlichen Denkens. Allerdings muß sogleich hinzugefügt werden,
daß dieselben Gesetze der griechischen Produktionsweise, die diese Möglich¬
keit hervorgebracht haben, zugleich ihrer restlosen Entfaltung, ihrem kon¬
sequenten Zu-Ende-führen unübersteigbare Hindernisse in den Weg stell¬
ten: die infolge der Sklaven Wirtschaft entstandene Verachtung der produk¬
tiven Arbeit, das, was Jacob Burckhardt das Antibanausentum nennt. Wir
können uns auch mit dieser Frage hier unmöglich eingehend beschäftigen,
1 Zitiert bei W. Nestle: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940, S. 479 f.
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
144
selbst wenn wir uns auf die hier vor allem wesentliche Frage, auf die gegen¬
seitige Befruchtung von Produktion und Theorie beschränken würden. Es
genüge, wenn wir - nach Plutarchs Biographie des Marcellus - diese Lage
kurz andeuten. Plutarch erzählt, wie Versuche, die Gesetze der Geometrie
auf den Maschinenbau anzuwenden, den heftigsten Widerstand Platons
hervorriefen, der eine Entwürdigung der Geometrie darin sah, daß sie auf
praktisch-mechanische Probleme angewendet, in die sinnlich-körperliche
Welt herabgezogen werde. Unter solchen Einflüssen trennte sich die Mecha¬
nik von der Geometrie und wurde zum Handwerk, das vor allem im Heer
angewendet wurde. Und selbst bei Archimedes hebt Plutarch hervor, daß er
die Anwendung der Mechanik als Handwerk verachtete und nur aus Patrio¬
tismus sich an der Verteidigung von Syrakusa mit seinen Erfindungen be¬
teiligte. Die Verachtung der produktiven Arbeit ist natürlich nur die ideo¬
logische Kehrseite der Lage, daß in einer Sklavenwirtschaft die Anwendung
von Maschinen (eine wissenschaftliche Rationalisierung der Arbeit) ökono¬
misch unmöglich ist. Das hat zur Folge, daß in der griechischen Entwicklung
weder die Ergebnisse der theoretischen Forschung einen ausschlaggebenden
Einfluß auf die Technik der Produktion, noch die Probleme der Produktion
eine befruchtende, weiterführende Wirkung auf die Wissenschaft haben
konnten. Es ist bezeichnend, daß die meisten geistvollen Erfindungen
Herons im Altertum bloß Spielereien blieben, und es der Wissenschaft der
Renaissance Vorbehalten blieb, aus ihnen wirklich praktische und darum
theoretische Folgerungen zu ziehen1. Diese Schranke ist in der griechischen
Wissenschaft und Philosophie überall spürbar; sie verhindert den konse¬
quenten, bis in die Details hinunterreichenden Ausbau des wissenschaftlichen
Prinzips, der wissenschaftlichen Methode in der Ausbildung der Widerspie¬
gelung der Wirklichkeit, die einheitliche Begriffsbildung in Wissenschaft und
Philosophie gerade in ihrem Gegensatz zum Alltagsdenken und zur Reli¬
gion und gleichzeitig den Ausbau eines allseitigen Zusammenhangs zwischen
Wissenschaft und Praxis des Alltags.
Innerhalb dieser Schranken hat jedoch die griechische Philosophie die ent¬
scheidenden Probleme der Eigenart der wissenschaftlichen Widerspiegelung
der Wirklichkeit nicht nur aufgeworfen, sondern vielfach zu einer vollen
Klärung gebracht. Sie hat - und damit steht die Ausbildung der Dialektik
tiven Wirklichkeit nur durch einen radikalen Bruch mit der personifizieren¬
den, anthropomorphisierenden Anschauungsweise möglich ist. Die wissen¬
schaftliche Art der Widerspiegelung der Wirklichkeit ist ein Desanthropo-
morphisieren sowohl des Objekts wie des Subjekts der Erkenntnis. Des
Objekts, indem sein An-sich von allen Zutaten des Anthropomorphismus
nach Möglichkeit gereinigt wird; des Subjekts, indem es sein Verhalten zur
Wirklichkeit darauf einstellt, die eigenen Anschauungen, Vorstellungen, Be¬
griffsbildungen ununterbrochen daraufhin zu kontrollieren, wo und wie
anthropomorphisierende Entstellungen der Objektivität in die Aufnahme
der Wirklichkeit eindringen können. Der konkrete Ausbau wird das Ergeb¬
nis einer späteren Entwicklung sein, die methodologischen Grundlagen sind
aber bereits hier niedergelegt: daß das Subjekt der Erkenntnis eigene Instru¬
mente, Verfahrungsweisen ersinnt, mit deren Hilfe es einerseits die Rezep¬
tion der Wirklichkeit unabhängig von den Schranken der menschlichen
Sinnlichkeit macht, andererseits aber die Selbstkontrolle sozusagen auto¬
matisiert.
Zu dieser Frage des Desanthropomorphisierens sei aber noch - zweitens -
bemerkt, daß sein Vollzug mit dem Bewußtwerden des philosophischen Mate¬
rialismus zusammengeht. Wir haben gesehen, daß der urwüchsige, spontane
Materialismus des Alltagslebens keinen gedanklichen Schutz gegen das
Vordringen, gegen die Herrschaft der idealistisch-religiösen Personifikation
aufzubieten vermag. Dementsprechend ist der auf einer relativ großen
Höhe der Kultur auftretende philosophische Materialismus keineswegs seine
direkte Weiterführung und Ausbildung. Natürlich kann er sich auch auf
solche Erlebnisse stützen, aber selbst dies geschieht in einer durchaus kritisch¬
dialektischen Weise, indem einerseits die unmittelbaren Sinneseindrücke
als Grundlage genommen und gegen idealistische Uminterpretationen ver¬
teidigt werden, andererseits jedoch ihre sich ununterbrochen verschärfende
kritische Überprüfung vollzogen wird. Die spontane Überzeugung von der
Existenz einer vom menschlichen Bewußtsein unabhängigen Außenwelt erfährt
also eine qualitative Änderung, eine qualitative Erhöhung durch ihr philo¬
sophisches Bewußtwerden, durch ihre weltanschauliche Verallgemeinerung.
Dadurch tritt erst der bewußte Kampf von Materialismus und Idealismus
in die Philosophie ein, wird zu ihrer Zentralfrage. Und die Höhe dieser
materialistischen Verallgemeinerung, die zugleich Weite und Tiefe des
Durchdringens der Wissenschaft mit der desanthropomorphisierenden
Widerspiegelung und Begriffsbildung bedingt, umreißt zugleich das Terrain
des Kampfes zwischen Materialismus und Idealismus. Es kann hier natur-
Desanthropomorphisierende Tendenzen in der Antike I47
gemäß nicht unsere Aufgabe sein, diesen Widerstreit auch nur andeutungs¬
weise zu skizzieren. Es muß nur bemerkt werden, daß im Laufe der
Geschichte der desanthropomorphisierende Materialismus immer größere
Gebiete des menschlichen Wissens erobert, die der Idealismus - nolens vo-
lens - als solche zu räumen gezwungen ist, so daß in bezug auf das Schlacht¬
feld die Möglichkeiten des Idealismus immer stärker eingeengt werden, was
selbstredend nicht eine Kapitulation, sondern zuweilen eine Verschärfung
der Zusammenstöße bedeutet, allerdings unter geänderten Bedingungen. Es
ist aber für die aus der Ökonomie der Sklavenwirtschaft stammenden
Schwächen des griechischen Materialismus, der griechischen Art der Des-
anthropomorphisierung charakteristisch, daß diese veränderten Formen
zumeist erst nach der Renaissance auftauchen. Und auch in dieser selbst
gibt es noch heftige Fehden um die anthropomorphisierende Wesensart der
gesamten Erkenntnis (Fludd gegen Kepler und Gassendi).
Es entspricht der Lage der griechischen Kultur, daß die desanthropomor¬
phisierende Tendenz der Vorsokratiker notwendig in einer Kritik der
Mythen, die Inhalt und Form des religiösen Weltbilds der Zeit bestimmen,
kulminiert. Und da die Poesie in ihrer Ausbildung, Entwicklung Uminterpreta¬
tion etc. eine ausschlaggebendere Rolle spielt, als je später in der Geschichte,
wird in dieser Kritik der Religion die Poesie mitbetroffen. Die sogenannte
Kunstfeindlichkeit der griechischen Philosophie von den Vorsokratikern bis
Platon hat hier ihre geistigen Wurzeln. In der Wiederaufnahme der des-
anthropomorphisierenden Tendenzen seit der Renaissance verschwindet
dieser Angriff auf die Kunst oder spielt wenigstens eine äußerst episodische
Rolle. Das hängt einerseits mit der Entwicklung der exakten Naturwissen¬
schaften, und mit dem Konkreterwerden der desanthropomorphisierenden
Kategorien zusammen, wodurch es möglich wird, in der Kunst eine andere,
spezifische Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit zu erkennen (man
denke an die Stellungnahme von Galilei, Bacon etc. zur Kunst). Andererseits
damit, daß die Mythenbildung und Interpretation des Mittelalters von der
Kirche vollzogen wurde; die Kunst hatte ebenfalls einen Freiheitskampf gegen
sie zu bestehen.
Ganz klar und prinzipiell tritt dieser Kampf gegen jedwedes Anthropomor-
phisieren in den bekannten Aussprüchen von Xenophanes hervor: »Doch
wähnen die Sterblichen die Götter würden geboren und hätten Gewand
und Stimme und Gestalt wie sie.« - »Doch wenn die Ochsen und Rosse und
Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke
bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen
148
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
1 Zitiert aus »Sokrates geschildert von seinen Schülern«, Jena 1911, Band II
S. 394 f.
I JO Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
Endliche und das Erkennen des Endlichen, den Verstand .. . Dieser Skep¬
tizismus ist demnach . . . gegen den gemeinen Menschenverstand oder das
gemeine Bewußtsein gewendet, welches das Gegebene, die Tatsache, das
Endliche (dies Endliche heiße Erscheinung oder Begriff) festhält und an
ihm als einem Gewissen, Sichern, Ewigen klebt; jene skeptischen Tropen
zeigen ihm das Unstete solcher Gewißheiten auf eine Art, welche dem
gemeinen Bewußtsein nahe liegt.« 1 Man muß nur die Ausführungen von
Sextus Empiricus über seine ersten Tropen durchlesen, um zu sehen, daß
er die - aus der Subjektivität stammenden - Irrtumsmöglichkeiten der
menschlichen Sinne analysiert, auf die daraus notwendig entstehenden
Widersprüche aufmerksam macht. Hegels Auffassung dieser Art des Skep¬
tizismus konzentriert sich darauf, daß sie »als die erste Stufe zur Philosophie
angesehen werden« kann, denn die so entstehenden Antinomien beleuch¬
ten die Unwahrheit des bloßen Alltagsdenkens. Hegel spricht dabei vom
Endlichen und hebt ausdrücklich hervor, es sei einerlei, ob dabei von Er¬
scheinung oder Begriff die Rede sei. Er sieht also das Entscheidende in der
Dialektik, die, auf dem Weg so entstehender Antinomien den Dogmatismus
(die anthropomorphisierende, subjektgebundene Unmittelbarkeit) auflöst
und infolge dieser Befreiung zur Objektivität, zur Erkenntnis der Welt an
sich führt. So zeigt er — auf wesentlich höherer Stufe, jedoch dasselbe
Problem betreffend — die Antinomien der Geometrie in Beziehung zum
Alltagsdenken: »So z. B. Punkt und Raum lassen wir unbefangen gelten.
Punkt ist ein Raum und ein Einfaches im Raum, er hat keine Dimension;
hat er keine Dimension, so ist er nicht im Raum. Insofern das Eins räumlich
ist, nennen wir es einen Punkt; wenn dies aber einen Sinn haben soll, so
muß es räumlich sein und als Räumliches Dimension haben, — so ist es aber
kein Punkt mehr. Er ist die Negation des Raums, insofern er die Grenze
des Raums ist, als solche berührt er den Raum; diese Negation hat also
einen Anteil an dem Raum, ist selbst räumlich, — ist so ein Nichtiges in sich,
ist aber damit auch ein Dialektisches in sich.« 2 Es sei hier nur beiläufig
bemerkt, daß dieses Problem bereits bei Protagoras auftaucht und auch von
Platon in seinem siebten Brief sowie von Aristoteles in der »Metaphysik«
klar sieht und scharf kritisiert, das menschliche Denken wieder auf das
bereits verlassene Niveau des Anthropomorphismus zurück. Aristoteles
kritisiert z. B. die Wunderlichkeit und Widersprüchlichkeit der Behauptung
der platonischen Ideenlehre: »wenn man einerseits sagt, es existieren neben
den Dingen in der Welt noch gewisse andere Wesen, andererseits aber diesen
die gleiche Beschaffenheit wie den sinnlich wahrnehmbaren Dingen zuschreibt,
nur daß sie ewig sein sollen, während jene vergänglich sind.« Aber, fügt
er hinzu, über diese Antinomik hinaus führt eine solche Betrachtungsweise
notwendig zum Anthropomorphismus und damit zur Religion zurück. Er
setzt dementsprechend seinen Gedankengang so fort: »So spricht man von
dem Menschen an sich, von dem Pferde an sich und von der Gesundheit
an sich, ohne daß eine weitere Änderung im Gegenstand damit einträte;
ganz ähnlich wie wenn man zwar das Dasein von Göttern behauptet, sie
sich aber ganz menschenähnlich vorstellt. Denn in diesem Falle hat man nichts
anderes getan, als daß man Menschen mit dem Prädikat der Ewigkeit aus¬
stattet, in jenem Falle nichts anderes, als daß man sich Ideen denkt, ganz wie
sinnliche Gegenstände, aber mit dem Prädikat der Ewigkeit h«
Man sieht: die Anthropomorphisierung der Ideenwelt entspringt unmittel¬
bar daraus, daß die idealistische Philosophie dem Wesen eine eigene Existenz
neben, besser gesagt über der Erscheinungswelt zuspricht. Diese eigene
Existenz muß notwendigerweise mit eigenen Zügen ausgestattet werden,
und da diese nicht Abbildungen der materiellen Welt, der unzertrennbaren
Verbundenheit und zugleich dialektischen Widersprüchlichkeit sind - was
können sie anders sein als Proportionen des menschlichen Wesens? Das ist
natürlich nur die allgemeinste Grundlage des hier vorliegenden kompli¬
zierten Tatbestandes. Denn die idealistische Tendenz hat hier weitaus kon¬
kretere Konsequenzen, die jedoch ausnahmslos derselben Quelle entstam¬
men. Wir haben bereits früher - damals noch sehr abstrakt - darauf
hingewiesen, daß die als solche isolierte Psychologie des Arbeitsprozesses
ebenso das Modell zu den idealistischen Weltbildern abgibt, wie die Arbeit
— in ihrer wahren konkreten Totalität erfaßt — den Ausgangspunkt zur
richtigen Widerspiegelung der Wirklichkeit, damit zum Entfernen der
anthropomorphisierenden Betrachtungsweisen bildet. Dieser Gegensatz zeigt
sich am klarsten in der Beziehung von Subjektivität (Aktivität) und Materie.
Aristoteles: Metaphysik, III. Buch 2. Zitiert nach der Übersetzung von A. Lasson,
Jena 1908, S. 43.
Desantbropomorphisierende Tendenzen in der Antike 153
klar erblickt. Er polemisiert gegen die Auffassung, »daß die Ideen die Ur¬
sachen des Seins und des Entstehens sind. Aber gesetzt auch, die Ideen
existieren, so kann gleichwohl noch nicht das, was an ihnen Teil hat, zum
Dasein gelangen, wo es keine bewegende Ursache gibt . . . Daß die einen
ewig sind, die anderen nicht, das macht doch für die Ursächlichkeit nichts
aus.« 1 Für den objektiven Idealismus der Antike, der in der Ideenwelt das
von der Erscheinungswelt losgetrennte und selbständig gemachte Wesen
auch in einen Realgrund der Wirklichkeit verwandelte, blieb kein anderer
Weg offen, als die so statuierte Verursachung anthropomorphisierend,
mythologisierend als »Arbeitsprozeß« des Entstehens, Seins und Werdens
der Welt aufzufassen und damit allem, was die vorangegangene Philosophie
zur Desanthropologisierung der Erkenntnis, zu ihrer Begründung als Wis¬
senschaft geleistet hat, die Spitze abzubrechen.
Diese Modellrolle des Arbeitsprozesses als Grundlage des neueren Anthro-
pomorphisierens ist aber noch intimer historisch bedingt, als es in dieser
kurzen und abstrakten Darlegung den Anschein hat. Es handelt sich nämlich
nicht bloß um das Hineinprojizieren der abstrahierten Arbeit überhaupt
in die realen Kausalzusammenhänge der objektiven Wirklichkeit, sondern
darüber hinaus konkret um die ihrer spezifisch antiken Auffassung. Diese
tendiert — je stärker die Widersprüche der Sklavenwirtschaft offenbar wer¬
den, desto mehr - auf eine Verachtung der Arbeit, vor allem der körper¬
lichen. Das hat nun philosophisch zur Folge, daß die oben geschilderte
mythologisch-anthropomorphisierende Beziehung von Ideenwelt und mate¬
rieller Wirklichkeit eine hierarchische sein muß, in welcher das jeweilige
schöpferische Prinzip seinsnotwendig ontologisch höher zu stehen hat, als
das von ihm Hervorgebrachte. Plotin sagt: »Auch alles bereits Vollkom¬
mene zeugt und erzeugt ein Geringeres als es selbst ist.« 2 Diese Hierarchie,
daß das Geschaffene, aas Produzierte notwendig tieferstehen müsse, als der
Schöpfer, ist hier eine Konsequenz der griechischen Bewertung der Arbeit.
Sie folgt keineswegs unbedingt notwendig aus dem Wesen des philosophi¬
schen Idealismus, obwohl sie eine Rückkehr zur religiösen Weltanschauung
beinhaltet. Aber unter dem Einfluß der kapitalistischen Ökonomie und
ihrer Auffassung der Arbeit, bestimmt der ebenfalls objektive Idealist
Hegel diesen Zusammenhang in völlig entgegengesetzter Weise. Er sagt über
den Arbeitsprozeß und dessen Produkt: »Insofern ist das Mittel ein Höheres
als die endlichen Zwecke der äußeren Zweckmäßigkeit; - der Pflug ist ehren¬
voller als die unmittelbaren Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden
und die Zwecke sind. Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren
Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt
der Mensch die Macht über die äußerliche Natur, wenn er auch nach seinen
Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist.« 1 Wo auch bei Hegel der anthro-
pomorphisierende Demiurgos-Mythos einsetzt, gehört nicht hierher.
Die so in der Antike entstehende Hierarchie erlangt eine ausschlaggebende
Bedeutung für das spätere Denken. Sie kehrt allgemein inhaltlich zu den
primitiven religiösen Vorstellungen zurück; indem sie jedoch diese Wendung
auf entwickelter philosophischer Grundlage vollzieht, indem sie die Ergeb¬
nisse des wissenschaftlich-methodologischen Fortschritts teilweise sich ein¬
verleibt, schafft sie gedankliche Grundlagen für die Erhaltung der Reli¬
gion auf einer hochentwickelten Stufe der Zivilisation, der Wissenschaft. Es
erübrigt sich, detailliert auseinanderzusetzen, wie wichtig diese Tendenz ist:
die einzelnen wissenschaftlichen Ergebnisse, ja die praktisch notwendige
Methode der wissenschaftlichen Forschung (das Desanthropomorphisieren
mitinbegriffen) aufrechtzuerhalten, auszunützen, ja im einzelnen sogar
weiterzubilden, bei einem radikalen Abbrechen der weltanschaulichen Spitze:
nämlich die desanthropologisierend einsetzende wissenschaftliche Forschung
bei Behandlung der »letzten Fragen« in ein neues Anthropomorphisieren
Umschlagen zu lassen. Die platonische Ideenlehre ist hierfür ein klassisches
Beispiel; ähnliche Lösungsversuche, die wissenschaftliche Methode für die
Praxis zu retten, ihr jedoch keinen Einfluß auf die (religiösen) Welt¬
anschauungsfragen zu gestatten, tauchen natürlich auch im Orient auf. Da
aber hier zumeist das Priestertum das geistige Leben viel stärker beherrscht,
als je in Griechenland, kann dieser Einbau der Einzelwissenschaften in eine
anthropomorphisierende Mystik sich viel früher, radikaler und konflikt¬
loser vollziehen, als in der klassischen Antike, in welcher diesem Rückschlag
eine ganze Periode des prinzipiellen Desanthropomorphisierens vorangegangen
ist, in welcher die Tendenz auf Wissenschaftlichkeit ihren Boden nicht ohne
Kampf aufgibt. Andererseits bestimmt die mit Platon einsetzende Zurück¬
führung der Weltanschauung auf das Anthropomorphisieren das Schicksal
des wissenschaftlichen Denkens in Europa beinahe ein Jahrtausend lang und
Es ist für jede wirkliche Ethik bezeichnend, daß sie — mag der Abstand des
ethischen Gebots vom Durchschnittsniveau der Praxis in der Alltagswelt
noch so groß sein, — an jenes Wesen im Menschen appelliert, das jeder als
Mensch, als Persönlichkeit in sich mitenthält; mag dessen Entfaltung noch
so große innere Kämpfe, noch so tiefe Krisen hervorrufen, der immanente
Kreis der menschlichen Persönlichkeit überhaupt wird doch nicht gesprengt;
das von der Ethik geforderte, noch so schwer erringbare Wesen ist doch
das Wesen eines jeden einzelnen Menschen als Menschen. Das subjektive
Moment des Aufstiegs zur Ideenwelt beinhaltet aber gerade hier einen
Bruch: auch das ethisch verwirklichte menschliche Wesen ist bloß irdisch,
materiell, kreatürlich im Vergleich zu jenem Subjekt, das würdig und fähig
ist, der intellektuellen Anschauung der Ideenwelt teilhaftig zu werden. Es
handelt sich also hier, gerade in jener Sphäre, deren Wesen das Gebunden¬
sein an die Menschlichkeit ist, um ein Desanthropomorphisieren. Es trägt
aber auch hier den Stempel des Pseudodesanthropomorphisierens. Denn an
die Stelle der wirklichen konkreten Überwindung jener Momente im Men¬
schen, die ihn an die Oberfläche des Alltags fesseln und ihn daran hindern,
das Wesentliche seiner selbst aus eigenen Kräften herauszuarbeiten, tritt eine
abstrakte Transzendenz von Forderungen, über die Grenzen des Mensch¬
lichen überhaupt hinauszugehen. Und es liegt im Wesen der Sache, daß jene
Strömungen in der Ethik, die darauf ausgehen, den - tief mit der gesell¬
schaftlichen Entwicklung verbundenen, in ihr wurzelnden - immanent
menschlichen Kern des Menschen herauszuarbeiten und zu bestimmen, sich
auch in Auffassung und Darstellung auf eine wirklich objektive wissen¬
schaftliche Begriffsbildung konzentrieren können. Dagegen muß das abstrakt¬
transzendente Hinausgehen über das Menschliche, theoretisch und praktisch
verallgemeinert, zu der Annäherung an oder gar zu der Verwirklichung
von magisch-religiösen Gebräuchen, Riten etc. treiben. Dies ist schon im
Neuplatonismus, Neupythagoreismus etc. in der Antike geschehen, lange
bevor die christliche Religionslehre diese Philosophien sich einverleibt hatte.
Also auch subjektiv entsteht hier ein Pseudodesanthropologisieren.
Nur beiläufig sei hier bemerkt, denn die ausführliche Behandlung kann erst
später stattfinden, daß das Umschlagen der Konzeption einer menschen¬
jenseitigen Ideenwelt in Anthropomorphismus notwendig eine weitgehende,
freilich oft unbewußte Rezeption ästhetischer Prinzipien beinhaltet. Ver¬
ständlicherweise: denn der übersinnlich-sinnliche Charakter einer Ideen¬
welt verleiht dieser notwendig gewisse wichtige Züge der Kunst, besser
gesagt, einer - ebenfalls ins Transzendente projizierten - Pseudoverwirk-
160 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
Züge zeigt, hat historische Ursachen. Diese zeigen in bezug auf unser
Problem zwei Hauptströmungen.
Erstens hängt Breite, Tiefe, Intensität etc. des Vordringens der desanthro-
pomorphisierenden Richtung davon ab, wie weit Arbeit und Wissenschaft
einer Periode die objektive Wirklichkeit zu bewältigen imstande sind. Wir
haben auf die Schranken der Sklavenwirtschaft in der Antike hingewiesen,
die zur Folge hatten, daß die wissenschaftliche Basis der desanthropologi-
sierenden Widerspiegelung der Wirklichkeit von Anfang an schmal sein
mußte, ohne die gesellschaftliche Möglichkeit einer entschiedenen Aus¬
dehnung. Was wiederum dazu führen mußte, daß die genialen Verallge¬
meinerungen des Anfangs nicht imstande waren, bis in die Details der
objektiven Wirklichkeit einzudringen und sich daran, an besonderen Tat¬
sachen, Zusammenhängen, besonderen Gesetzlichkeiten etc., zu befruchten,
und dadurch sich zu einer konkreten Allgemeinheit, zu einer umfassenden
Methodologie zu erheben. Das ändert sich nach dem Zusammenbruch der
Sklavenwirtschaft im Mittelalter. Engels zeigt, wie diese »dunklen Jahr¬
hunderte« zu einer Fülle wissenschaftlicher und technischer Entdeckungen
führten, deren Existenz erst die neue Wendung zur Wissenschaftlichkeit in
der Renaissance ermöglichte h Freilich übten sie einzeln und sogleich noch
wenig Einfluß auf das von der Theologie beherrschte Denken ihrer Zeit.
Eine gewisse Kumulation, ein Umschlagen des langsamen Anwachsens der
Quantität in die neue Qualität einer neuen wissenschaftlichen Attitüde war
nötig, um diesen Umschwung hervorzubringen.
Zweitens jedoch kreuzt sich diese aus dem Stoffwechsel der Gesellschaft mit
der Natur entspringende Tendenz mit einer anderen, ebenso wichtigen:
nicht nur darauf kommt es an, ein wie großes Erkenntnismaterial und
dadurch bestimmt, wie tiefgreifende Fragestellungen eine Gesellschaft der
Wissenschaft und der Philosophie darbietet, sondern auch darauf, wieweit sie
imstande ist, jene Verallgemeinerungen, jene Wahrheiten, die aus diesem
jeweiligen Stoffgebiet wissenschaftlich gewonnen werden können, ideolo¬
gisch zu ertragen. Es ist hier nicht unsere Aufgabe diesen Problemkomplex
in Antike, Mittelalter und Neuzeit konkret zu untersuchen. Hier liegt
wieder ein Problem vor, wo die Fragen und Antworten des dialektischen
Materialismus in die des historischen Materialismus übergehen. Dieser hat
jene konkreten gesellschaftlichen Gesetzlichkeiten zu erforschen und aufzu-
decken, die bestimmen, warum eine soziale Formation auf einer bestimmten
Stufe ihrer Entwicklung jene Art der Widerspiegelung der objektiven Wirk¬
lichkeit, die in ihr, infolge der Höhe ihrer Produktivkräfte möglich gewor¬
den ist, schon nicht mehr erträgt, warum auf bestimmten Stufen bestimmter
Formationen noch kein Bedürfnis nach Verallgemeinerung der einzeln errun¬
genen, einzeln notwendigen und nützlichen Erfahrungen erwacht und end¬
lich warum unter bestimmten sozialen Bedingungen dieses Bedürfnis eine
unwiderstehliche Wucht erhält, etc. etc. Für uns, die wir hier mit dem
dialektisch materialistischen Problem beschäftigt sind, wie die desanthro-
pomorphisierenden Momente der wissenschaftlichen Widerspiegelung der
Wirklichkeit sich ausbilden, ist die allgemeine Kenntnisnahme dieser Zusam¬
menhänge zwar von höchster Wichtigkeit, indem sie uns auf die gesellschaft¬
lichen Motive der ungleichmäßigen Entwicklung auch auf diesem Gebiete
aufmerksam macht, indem sie bestimmte konkrete Korrelationen aufzeigt,
die für die Fortschritte und Rückschläge auch hier bezeichnend sind; alle
diese Fragen kommen jedoch für uns in erster Reihe vom Standpunkt der
dialektisch materialistischen Probleme der Widerspiegelung selbst in
Betracht.
Wenn wir also jetzt auf die Analyse der neuzeitlichen Entwicklung über¬
gehen, müssen wir vor allem die Hauptmomente des Unterschieds zur
Antike hervorheben, die spezifischen Züge dieser Periode - freilich bloß in
höchster Allgemeinheit -, wodurch sie eine neue und in bestimmtem
Sinne endgültige Wendung im Desanthropomorphisierungsprozeß der wis¬
senschaftlichen Widerspiegelung herbeiführen. Das primäre und übergrei¬
fende Moment ist dabei die Entstehung der kapitalistischen Produktions¬
weise. Diese ökonomische Formation ist nicht etwa zufällig, sondern im
Gegenteil infolge des Wesens ihrer Gesetzlichkeit, also aus einer historisch¬
systematischen Notwendigkeit die letzte Klassengesellschaft. Einerseits pro¬
duziert der Kapitalismus die materiellen Bedingungen einer Gesellschaft
ohne Ausbeutung, andererseits bringt er selbst seinen eigenen »Toten¬
gräber«, das Proletariat hervor, eine Klasse, bei welcher die »Bedingung
der Befreiung ... die Abschaffung jeder Klasse« 1 ist. Daraus entsteht, lange
bevor diese Widersprüchlichkeit des Kapitalismus offen hervorgetreten
wäre, seine Eigenart als ökonomische Formation, sein prinzipieller Unter¬
schied zu jeder vorangegangenen. Marx bestimmt diese Differenz folgender-
Für uns sind dabei zwei Momente wichtig. Erstens, daß die Entfaltung der
Produktivkräfte keine »heilige Grenze« im Sinne früherer Formationen
hat, sondern für sich betrachtet, die immanente Tendenz zur Schranken¬
losigkeit besitzt. Zweitens, daß die schrankenlose Erweiterung der Produk¬
tivkräfte in ständiger Wechselwirkung mit einer ebenfalls schrankenlosen
Ausbildung der wissenschaftlichen Methode, im gegenseitigen befruchten¬
den Austausch und Beeinflussen vorgeht. Mit dem Fall der Produktions¬
schranke von früheren Formationen fallen auch alle Schranken der Aus¬
breitung und Vertiefung der wissenschaftlichen Methode. Die Entwicklung
der Wissenschaft erhält erst jetzt, theoretisch und praktisch, den Charakter
eines unendlichen Progresses. Damit steht im engen Zusammenhang, daß
die Ergebnisse der Wissenschaft, vor allem durch die Umgestaltung des
Arbeitsprozesses immer stärker das Alltagsleben durchdringen, und, aller¬
dings ohne seine Grundstruktur umwälzen zu können, seine Erscheinungs¬
und Äußerungsweisen wesentlich modifizieren. Dazu gehört z. B. das immer
weitergreifende Zerreißen der jahrtausendelang bestehenden Verbunden¬
heit zwischen Handwerk und Kunst, die Verwissenschaftlichung von Sphären
des Lebens und der Arbeit, denen solche Einwirkungen bis dahin völlig
fernstanden etc.
Diese radikal neue Lage beeinflußt auch den Charakter des zweiten von uns
untersuchten gesellschaftlich hemmenden Motivs in den Entwicklung des
wissenschaftlichen Geistes. Bei den Desanthropomorphisierungstendenzen:
die Ablehnung der verallgemeinerten Ergebnisse der Wissenschaft aus Grün¬
den ihrer klassenmäßigen Untragbarkeit. Das Phänomen selbst ist natürlich
ein allgemeines: in einer solchen Untragbarkeit drückt sich immer das
Problematisch werden der Lage einer herrschenden Klasse aus; die mit Hilfe
der von ihr entfesselten Produktivkräfte entstandene Wissenschaft gerät,
wenn ihre Ergebnisse methodologisch und weltanschaulich zu Ende gedacht
werden, in Widerspruch zu den ideologischen Voraussetzungen ihrer Klas¬
senherrschaft. Die neue Lage im Kapitalismus besteht in einer Spaltung
der Interessen der herrschenden Klasse: sie will einerseits keine Bresche in
der Weltanschauung, die ihre Herrschaft unterbaut, dulden, andererseits ist
sie, bei Strafe des Untergangs gezwungen, die Produktivkräfte immer weiter
zu entwickeln und deshalb auch die Wissenschaft entsprechend zu fördern.
Diese gesellschaftlich-geschichtliche Doppelfunktion der herrschenden Klasse
in bezug auf unser Problem der Desanthropomorphisierung in der wissen¬
schaftlichen Widerspiegelung, gibt den ideologischen Rückschlägen einen
neuen Charakter.
166 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
Idealismus zieht sich auf die Position des bloß erkenntnistheoretischen Ver¬
bots eines objektiven Weltbilds zurück.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe die große Variabilität der möglichen, sich
hier ergebenden Stellungnahmen auch nur anzudeuten. Der auf diese Weise
entstehende Spielraum erstreckt sich von der einfachen, »erkenntnistheore¬
tischen« Rekonstituierung der Religionen bis zum religiösen Atheismus,
vom vollendeten Agnostizismus der Positivisten bis zur freien Mythen¬
bildung etc. Wir können hier auf eine detaillierte Behandlung dieser Viel¬
heit von Formen um so eher verzichten, als diese vom Aspekt unseres
Problems dieselbe Physiognomie zeigen: die das Anthropomorphisierens.
Diese Tendenz ist naturgemäß am deutlichsten sichtbar, wo es sich um die
philosophische Rettung alter Religionsvorstellungen oder um das Neuschaf¬
fen von Mythen handelt. Freilich gerät auch hier immer stärker der alte,
trügerische Glaube an die Objektivität solcher vom Menschen geschaffener
Gebilde ins Wanken. Bei Schleiermacher oder Kierkegaard ist das Bewußt¬
werden der Subjektivität bereits zum Prinzip der neuen Religiosität gewor¬
den, aber auch in anderen, weniger deutlichen Fällen ließe sich diese Orien¬
tierung nachweisen. Hat doch die ganze Tendenz zum Erhalten oder Neu¬
schaffen der Religion, gerade im betonten Gegensatz zur Wissenschaft, eine
neue Emphase erhalten. Schon bei Pascal erscheint die »Gottverlassenheit«
der Welt infolge des Vordringens der desanthropomorphisierenden Wissen¬
schaft als Schreckbild, gegen welches alle »menschlichen« (d. h. anthropomor-
phisierenden) Kräfte der Religion, des Glaubens emphatisch mobilisiert
werden sollen. Dieser Aufruf verstärkt sich im Laufe der Zeit. Je weniger
die herrschende Klasse das wahre Abbild der Wirklichkeit an sich ertragen
kann, desto stärker erhält in dieser ihrer Ideologie die Wissenschaft den We¬
senszug des Unmenschlichen, des Gegenmenschlichen. Wenn nun die Emphase
einer solchen weltanschaulichen Polemik gegen die Wissenschaftlichkeit
darauf konzentriert ist, die Methode der Wissenschaft, die Annäherung an die
objektive, an sich seiende Wirklichkeit, ihre desanthropomorphisierende
Widerspiegelung als unmenschlich zu diffamieren, so ist es klar, daß dabei
philosophisch nur eine - offen oder versteckt - anthropomorphisierende
Methode in den Vordergrund geraten kann.
Die steigende Bedeutung des Subjektivismus in diesem Prozeß muß zugleich
- einerlei ob bewußt oder nicht - die anthropomorphisierenden Tendenzen
stärken. Dies ist in der reinen Philosophie der Neuzeit vielleicht noch deut¬
licher sichtbar als in den Religionen oder auf Begründung von Religiosität
ausgehenden Weltanschauungen; diese müssen mit einem - wenn auch oft
168 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
klar, daß Planck hier unter Handeln die Lebensbedingungen des Alltags
versteht. Daß ihm dabei der gesellschaftliche, ökonomisch-sozial bedingte
Charakter dieses Milieus und der darin möglichen Handlungsformen nicht be¬
wußt wird, ändert an seiner Stellungnahme nichts. Sie zeigt nur wieder unsere
frühere Feststellung, wie eng die Struktur der Religion und der Alltags¬
praxis Zusammenhängen. Darum bestätigt seine Einstellung die grund¬
legende These von Marx über die Bedingungen der Existenz und des Ab¬
sterbens der Religion: »Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann
überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Wer¬
keltagslebens der Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehun¬
gen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen
Lebensprozesses, d. h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur
ihren mythischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschaf¬
teter Menschen unter deren bewußter, planmäßiger Kontrolle steht. Dazu
ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe
materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Pro¬
dukt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind 1.«
Wir haben hier Planck als Beispiel gewählt, weil er die desanthropologisie-
rende Methode in den Wissenschaften unbefangen, spontan materialistisch
behandelt, das wachsende Unabhängigmachen der Widerspiegelung der
Wirklichkeit von den menschlichen Sinnesorganen als eine Selbstverständ¬
lichkeit ansieht: »Der Ausschaltung der spezifischen Sinnesempfindung aus
den Grundbegriffen folgte naturgemäß die Verdrängung der Sinnesorgane
durch geeignete Meßinstrumente. Das Auge wich der photographischen
Platte, das Ohr der schwingenden Membran, die wärmeempfindliche Haut
dem Thermometer. Die Einführung selbstregistrierender Apparate machte
von subjektiven Fehlerquellen noch weitergehend unabhängig 2.« Dabei fehlt
in diesen seinen Betrachtungen völlig jene Angst, daß die Desanthropomor-
phisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis, als Reflex einer »gottverlas¬
senen« Welt, subjektiv zu einem Prinzip der Unmenschhchkeit werden
könnte. Er sieht im Gegenteil klar, daß der hier entstehende Prozeß der
unendlichen Annäherung an die an sich seiende, von unserem Bewußtsein
unabhängig existierende Welt das einzig reale Mittel ist, um den Menschen
cne Erkenntnis und damit die Herrschaft über die objektiv seiende Wirk-
1 Hobbes: Grundzüge der Philosophie, III. Teil, Lehre vom Bürger, Widmung,
Leipzig 1918, S. 6j, und Spinoza: Ethik, III. Teil, Leipzig i9°7> S. 99•
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
T74
selbst aufzubauen, den Sinn seines Lebens im Leben, in seinem Leben selbst
zu finden. Daraus folgt zweitens, daß der Mensch, als »Mikrokosmos«,
gleichfalls immanent, eigengesetzlich zu betrachten ist, ohne irgendein
Mythologisieren seiner eigenen Kräfte und Schwächen als Derivate von
Transzendenzen. Die ebenfalls schon angeführte ethische Affektentheorie
Spinozas zeigt deutlich, wohin ein solcher Weg führt. Natürlich variieren
solche Lehren sehr stark, je nachdem wie die Gesellschaft, in welcher der
Mensch als »Mikrokosmos« zu wirken hat, beschaffen ist. Wir haben ja
beobachten können, wie in unseren Tagen gerade aus dem Wesen des Kapi¬
talismus der Gegenwart, aus seiner Hypostasierung Theoreme der kos¬
mischen Transzendenz, der »ewigen« Unerkennbarkeit des Menschen er¬
wachsen. Eine derartige Entstellung ist aber keineswegs zwangsläufig.
Auch die Stoiker und Epikureer lebten in einer Gesellschaft, die sie ab¬
lehnten; diese Ablehnung hebt bei ihnen jedoch das immanente Aufsich-
gestelltsein des Menschen als »Mikrokosmos« nicht auf, sie verstärkt und
vertieft sie im Gegenteil: das Fehlen einer Erfüllbarkeit des echten Huma¬
nismus in der Gesellschaft ist gerade ein entscheidendes Motiv, um den
Typus des Weisen noch entschiedener, noch menschlich immanenter auszu¬
gestalten. Die gedanken- und gefühlsmäßige Umgestaltung der desanthro-
pomorphisiert betrachteten Welt ist also keine nihilistische oder relativisti¬
sche Enthumanisierung der menschlichen Wirklichkeit, sie ergibt keine ver¬
zweifelte Richtungslosigkeit für das menschliche Handeln. Wo dies auftritt,
haben wir, im Gegenteil, es mit einem reaktionären Mythos zu tun.
Für unsere Zwecke genügt es, wenn wir diese Problemlage an der Analyse
der Affekte Furcht und Hoffnung andeutend aufzeigen. (Natürlich ist hier
nur von den Affekten die Rede. Wenn auf höherem seelischen Niveau von
Furcht und Hoffnung die Rede ist, wenn man z. B. bei einem wichtigen
Entschluß »sich fürchtet«, ob man genügend Kraft, Entschlossenheit zur
Durchführung des Richtigen haben wird, so ist das ein Gefühlsreflex mora¬
lischer Erwägungen und kein Affekt.) Ihre polare Zusammengehörigkeit,
ihre Gebundenheit an einen bloßen Glauben hat bereits Descartes erkannt1.
Hobbes betont dabei, daß ihr Objekt ein bloß »anscheinendes« Gut, bzw.
Übel ist, es hat also einen bloß subjektiven Charakter, ist mehr Anlaß
als Ursache, kann also auch durch »etwas Unvorstellbares« ausgelöst wer¬
den, wenn dieses »nur ausgesprochen werden kann«. Hobbes weist dabei
1 Hobbes: Grundzüge der Philosophie, II. Teil, Die Lehre vom Menschen, 12. Ka¬
pitel, a. a. O. S. 35.
Spinoza: Ethik, IV. Teil, Lehrsatz, 44. Anmerkung, a. a. O. S. 213 f.
Es ist vielleicht interessant, beiläufig zu bemerken, daß die Goethesche Definition
bei den Klassikern des Marxismus sehr populär geworden ist. Engels gebraucht sie
zur Charakteristik der Kleinbürger, wobei der Inhalt der Hoffnung zum Auf¬
stieg ins Großbürgertum, der der Furcht zum Hinabgestoßenwerden ins Proleta-
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit l79
riat konkretisiert wird. Über Goethes besonderen, von dem romantischen und
späteren abweichenden Gebrauch Begriff des Philister, vergleiche mein Buch:
Goethe und seine Zeit, Berlin 1953, S. 33.
180 Desantbropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
thropomorphisieren selbst ist, wie wir es bei Behandlung der Arbeit sehen
konnten, tief im Alltagsleben des ganzen Menschen verankert und sogar
seine Instrumentur zeigt oft derart fließende Übergänge, daß die Grenze
oft schwer feststellbar ist. Denn jedes Werkzeug enthält objektiv desanthro-
pomorphisierende Grundlagen: um mit ihm für den Menschen nützliche
Verrichtungen vollziehen zu können, muß vorerst seine Wesensart, seine
Wirkungsmöglichkeit etc. durch ein Absehen von der gewöhnlichen, alltäg¬
lich-menschlichen Betrachtungsweise des ganzen Menschen aufgedeckt wer¬
den. Soweit es jedoch bloß dazu dient, die angeborenen oder gesellschaftlich
erworbenen menschlichen Fähigkeiten zu verstärken, ihre Fehlleistungen
auszugleichen, führt seine Anwendung ins Alltagsleben der ganzen Menschen
zurück. So ist hier trotz der gleitenden Übergänge doch ein Sprung zum
echten Desanthropomorphisieren der Wissenschaft vorhanden; die Brille
desanthropomorphisiert nicht, wohl aber das Teleskop oder das Mikroskop,
denn jene stellt bloß eine gestörte normale Beziehung im Alltagsleben des
ganzen Menschen her, während diese eine den menschlichen Sinnen sonst
unzugängliche Welt eröffnen. Die praktisch freilich immer von Zwischen¬
stufen verwischte Grenze wird also gerade danach gezogen, ob das Instru¬
ment in das Alltagsleben des ganzen Menschen zurückführt oder eine davon
qualitativ verschiedene Welt, die des Ansichseienden, des vom Menschen un¬
abhängig Existierenden wahrnehmbar macht. Dieser Sprung läßt die Ver¬
haltensweise des Menschen ganz entstehen. Beim Benutzen eines solchen
Instruments scheint der Übergang höchst einfach; er ist komplizierter, wenn
die Instrumentur eine vorwiegend geistige ist, wie z. B. der Gebrauch der
Mathematik, wo dem menschlichen Denken ihm sonst unbekannte Aufgaben
gestellt werden, die mit einer vom Alltagsdenken qualitativ verschiedenen
Methode gelöst werden müssen. Ihre Welt von rein quantitativen Beziehun¬
gen ist zwar jedenfalls eine Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit,
indem jedoch die Abstraktion des Quantifizierens vollzogen wurde und das
homogene Medium der reinen und ausschließlich m Betracht gezogenen
Quantität entstanden ist, blühen Begriffsbildungen und -Verknüpfungen auf,
die im Alltagsleben des ganzen Menschen keine Analogie haben, obgleich
sie füi die Erkenntnis der an sich seienden Wirklichkeit höchst fruchtbar
angewendet werden können.
Das desanthropomorphisierende Denken stellt auch den sich mit dem Men¬
schen und den menschlichen Beziehungen beschäftigenden Wissenschaften
dem Alltagsleben gegenüber völlig neue Anforderungen. Auch hier handelt
es sich darum, daß Phänomene von einer bestimmten Qualität aus dem
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 183
1 Zitiert bei L. Olschki: Galilei und seine Zeit, Halle 1927, S. 465.
186 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
1 Ebd. S. 384.
2 Ebd. S. 170 ff.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 187
von den Dingen entlehnt.« 1 Die Wortkritik geht hier bereits in die des
unmittelbaren - zumeist analogischen - Alltagsdenkens über. Bacon warnt
an anderer Stelle: »Der menschliche Geist setzt vermöge seiner Natur leicht
eine größere Regelmäßigkeit und Gleichheit in den Dingen voraus, als er
später findet. Und obgleich in der Natur vieles nur einmal vorkommt, oder
voller Ungleichheiten ist, so legt der Geist doch den Dingen viel Gleich¬
laufendes, Übereinstimmendes und Beziehungen bei, die es nicht gibt.«2
Dem entspricht im Alltagsdenken ein achtloses Vorbeigehen am Gewohnten,
während man sich um die Ursachen dessen, was häufig geschieht, nicht zu
kümmern pflegt 3. Ebenso zäh hält sidr im Alltagsdenken, was von altersher
als wahr angenommen wird, was mit diesem übereinstimmt, und selbst wenn
die Anzahl entgegengesetzter Fälle sehr groß ist, werden diese nicht beach¬
tet, etc. Die Aufstellung des vierten Typus endlich (»idola theatri«) richtet
sich gegen die bisherigen Philosophien, denen Bacon dem Sinne nach eben
das Anthropomorphisieren vorwirft, »welche aus der Welt eine Dichtung
und eine Schaubühne gemacht haben«. Er betont dabei ausdrücklich, daß
seine Kritik sidr nicht nur auf die Philosophie im engeren Sinne bezieht,
sondern auch auf die Prinzipien der einzelwissenschaftlichen Praxis.
Die Baconsche Kritik des Alltagsdenkens richtet sich simultan gegen die
möglidien anthropomorphisierenden Fehler sowohl der Sinnlichkeit, wie
des Verstandes. »Der Fehler der Sinne« führt er aus »ist ein zwiefacher;
entweder lassen sie uns im Stich oder sie täuschen. In erster Hinsicht gibt es
vieles, was selbst den vollkommen gesunden und unbekümmerten Sinnen
entgeht, sei es, daß der Gegenstand überhaupt zu fein ist, oder die Teile zu
klein sind, oder daß die Entfernung zu groß, oder die Bewegung zu langsam
oder zu schnell ist, oder weil der Gegenstand zu bekannt ist, oder aus
anderen Gründen. Aber auch da, wo die Sinne die Sache erfassen, sind ihre
Wahrnehmungen nicht immer zuverlässig. Denn das Zeugnis und die Kund¬
gebung der Sinne geschieht immer nur in Beziehung auf den Menschen,
nicht in Beziehung auf das Weltall, und es ist ein großer Irrtum zu behaup¬
ten, daß die Sinne das Maß der Dinge seien.« 4 Instrumente und vor allem
Experimente sind die Mittel, über diese Schranken hinauszukommen: »Denn
die Feinheit der Versuche übertrifft die der Sinne, wenn sie von guten
Instrumenten unterstützt werden ... Deshalb gebe ich auf die unmittelbare
und eigentliche Sinneswahrnehmung nicht viel, sondern ich richte die Sache
so ein, daß der Sinn nur über den Versuch, der Versuch aber über die Sache
das Urteil fällt.«1 Die Baconsche Kritik des Verstandes (des Alltagsdenkens)
haben wir bereits gestreift. Die Betrachtung der bloßen Einfachheit in der
Außenwelt hemmt und schwächt den Verstand, die ihrer Zusammengesetzt¬
heit betäubt und zersetzt ihn. Bacon nimmt also hier den Kampf gegen alle
metaphysischen Einseitigkeiten und Starrheiten des Alltagsdenkens auf. Er
verlangt den Wechsel solcher Betrachtungsweisen, die den Verstand sowohl
durchdringend, als auch empfänglich machen. Die wirkliche Spitze seiner
Polemik ist aber hier auf das Problem der Vermittlungen gerichtet. Er kriti¬
siert die Philosophie - dabei Pythagoras, Platon und seine Schule hervor¬
hebend - weil sie »abstrakte Formen, Endzwecke und erste Ursachen ein¬
führt und dabei immer die mittleren überspringt.«2 Auch hier ist ein
Zweifrontenkampf gegen Abstraktion und Unmittelbarkeit vorhanden,
welche gerade im Überspringen und Vernachlässigen der Vermittlungen
einander begegnen, wobei beide an die spontanen Reaktionen des mensch¬
lichen Subjekts auf die Wirklichkeit appellieren und die Hingabe an die -
dem unmittelbaren Schein widersprechende - Welt der verborgeneren Ver¬
mittlungen vernachlässigen. Es entsteht dabei, nach Bacon, eine unzulässige
Verknüpfung des Einzelnen mit den »entlegenen und allgemeinsten Grund¬
sätzen«, nicht nur in der von der Scholastik überlieferten Syllogistik etc.,
sondern auch im Alltagsdenken, das mit Hilfe von Analogien und Analogie¬
schlüssen noch aus der Urzeit, die Gewöhnung bewahrt hat, aus Einzelheiten
allgemeine Folgerungen zu ziehen. Bacon verlangt demgegenüber ein stufen¬
weises Aufsteigen von der Beobachtung der Einzelheiten bis zu den allge¬
meinsten Grundsätzen. Die ersteren betrachtet er als vermischt mit den
unmittelbaren Erfahrungen des Alltagslebens (man denke jetzt an deren
Korrektur durch Experimente), die letzteren findet er »inhaltlos und unzu¬
verlässig«. »Dagegen sind die mittleren Sätze die wahren zuverlässigen und
lebendigen, auf denen das Leben und Wohl der Menschen beruht. Uber
diesen stehen endlich auch ganz allgemeine Grundsätze, aber solche, die
nicht inhaltlos sind und die durch jene mittleren Sätze in Schranken gehalten
1 Ebd. S. 58 f.
2 Ebd. Artikel 65, a. a. O. S. 112.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 193
1 Ebd. S. 24.
2 Ebd. S. 41.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit
5
reicher werdenden, immer intensiver eroberten Welt, nicht eine Leere, ein
Abgrund, wie Pascal und viele nach ihm es erlebt und ausgedrückt haben.
Die Unwiderstehlichkeit, die Unaufhebbarkeit, Unumkehrbarkeit dieser
Bewegung - im Gegensatz zur griechischen Entwicklung - hängt mit ihrer
Fundiertheit in einem ganz andersgearteten gesellschaftlichen Sein, als die
antike Sklavenwirtschaft hatte, zusammen. Wir haben seinerzeit darauf hin¬
gewiesen, daß die Sklaverei eine rationelle Umgestaltung der Produktion
auch dort nicht gestattet hat, wo die Entwicklung der Wissenschaft es an sich
möglich gemacht hätte; die mit der Sklaverei unzertrennlich verbundene
Verachtung der Arbeit, des Banausentums, wie Jakob Burckhardt sich aus¬
drückt, verhinderte eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen materieller
Produktion und Wissenschaft, weshalb die großartigsten Errungenschaften
des sich befreienden Denkens vielfach allgemein, abstrakt, philosophisch blei¬
ben mußten, nicht ins Alltagsleben und Alltagsdenken der Menschen umwäl¬
zend eindringen konnten. Das Mittelalter hat gezeigt, wie bedeutende, vor¬
erst isolierte Vorstöße der Wissenschaft in dieser Richtung infolge des Ab¬
sterbens der Sklaverei möglich wurden. Auf dieser Basis, durch Verwerten
und Weiterbilden dieses Erbes, konnte die kapitalistische Ökonomie ihren
Siegeszug antreten.
Auch hier kann es nicht unsere Aufgabe sein, diesen Prozeß selbst bloß kur¬
sorisch zu schildern. Es kommt hier einzig darauf an, die desanthropomor-
phisierenden Tendenzen in dieser Entwicklung nachzuweisen. Darum spre¬
chen wir hier nur von den entscheidenden Wendepunkten, nicht von den
vorbereitenden Übergängen: von der Maschine, und zwar wie Marx mit
großer Entschiedenheit hervorhebt, von der Werkzeugmaschine. Marx
zitiert den Ausspruch John Wyalts über die Spinnmaschine, dessen Pro¬
gramm lautete: eine Maschine, »um ohne Finger zu spinnen« L Marx
schildert von diesem Gesichtspunkt den prinzipiellen Gegensatz zwischen
Manufaktur (auch mit hochentwickelter Arbeitsteilung) und Maschinen¬
industrie: »In der Manufaktur müssen Arbeiter, vereinzelt oder in Grup¬
pen, jeden besonderen Teilprozeß mit ihrem Handwerkzeug ausführen.
Wird der Arbeiter dem Prozeß angeeignet, so ist aber auch vorher der
Prozeß dem Arbeiter angepaßt. Dies subjektive Prinzip der Teilung fällt
weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier
objektiv, an und für sich betrachtet, in seine konstituierenden Phasen
analysiert, und das Problem, jeden Teilprozeß auszuführen und die verschie¬
denen Teilprozesse zu verbinden, durch technische Anwendung von Mechanik,
Chemie usw. gelöst.«1 Daß die nicht mehr menschliche Triebkraft diesen
Prozeß außerordentlidi beschleunigt, versteht sich von selbst. Das Wesent¬
liche ist aber, daß der Arbeitsprozeß sidi immer mehr von den subjektiven
Anlagen etc. der Arbeiter loslöst, nach den Prinzipien und Notwendigkeiten
eines objektiven An-sich geregelt wird. »Die Tätigkeit des Arbeiters, auf eine
bloße Abstraktion der Tätigkeit beschränkt, ist nach allen Seiten hin bestimmt
und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht umgekehrt.« 2 Da¬
durch erst ist die materielle Basis für die sdirankenlose Entwiddung der Wis¬
senschaft gegeben: die prinzipiell schrankenlose gegenseitige Berruchtung und
Förderung von Wissenschaft und Produktion, da ihnen beiden — zum ersten¬
mal in der Geschichte - dasselbe Prinzip, das der Desanthropomorphisierung,
zugrunde liegt.
Natürlich setzt sich dieses neue Prinzip in einer äußerst widerspruchsvollen
Weise durch. Die Schilderung dieser inneren wie äußeren Widersprüche
kann in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht unsere Aufgabe sein. Wir
haben bereits darauf hingewiesen, daß die Wechselbeziehung zwischen öko¬
nomischem Vorteil (im Kapitalismus: Profit) und technisch-wissenschaft-
licher Vervollkommnung ununterbrochen zu Gegensätzlidikeiten treibt,
die das Durchsetzen der Haupttendenz oft hemmen und hindern. Hier sei
nur noch auf einen fundamentalen Widerspruch hingewiesen. Der roman¬
tischen, nach rückwärts weisenden Kritik der hier entstehenden Entwick¬
lung gegenüber, haben wir wiederholt aufgezeigt, daß das Prinzip der
Desanthropomorphisierung im wesentlichen ein Prinzip des Fortschritts
und der Humanisierung ist. Da jedoch die treibende Kraft, das Streben nach
Profit, seinem Wesen nach widerspruchsvoll ist, muß dieses seinen Charak¬
ter auch in den grundlegenden Problemen ununterbrochen äußern, d. h. das
Prinzip der Humanisierung erscheint auch als Prinzip der äußersten Inhu¬
manität, ja Antihumanität. Marx hat, mit den bürgerlichen Apologeten
polemisierend, die diese Widersprüchlichkeit aus der Welt zu schaffen ver¬
suchten, diese Doppelseitigkeit bei der Charakteristik der Maschine sehr
scharf hervorgehoben: »Die von der kapitalistischen Anwendung der
Maschinerie untrennbaren Widersprüche und Antagonismen existieren
1 Ebd. S. 343 f.
2 Marx: Grundrisse, a. a. O., Band I, S. 584.
198 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
nicht, weil sie nicht aus der Maschinerie selbst erwachseni sondern aus ihrer
kapitalistischen Anwendung! Da also die Maschinerie an sich betrachtet
die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeits¬
tag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre
Intensität steigert, an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist,
kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an
sich den Reichtum des Produzenten vermehrt, kapitalistisch angewandt ihn
verpaupert usw., erklärt der bürgerliche Ökonom einfach, das Ansichbe-
trachten der Maschinerie beweise haarscharf, daß alle jene handgreiflichen
Widersprüche bloßer Schein der gemeinen Wirklichkeit, aber an sich, also
auch in der Theorie gar nicht vorhanden sind.«1 Das bloße Hervorheben
dieser menschenfeindlichen Äußerungsweise des ökonomischen Fortschritts
im Kapitalismus gibt aber ein einseitiges Bild. Die Marxsche Kritik darüber
haben wir bereits angeführt. Es handelt sich hier um einen grundlegenden
inneren Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft; in ihm drückt sich
die spezifische Eigenart dieser Formation aus, daß sie nämlich - und zwar
in unzertrennlicher Weise - zugleich die höchste Form aller Klassengesell¬
schaften ist, in welcher Produktion und Wissenschaft die hier gegebenen
objektiven Möglichkeiten der Entwicklung und unter »antagonistischen
Distributionsverhältnissen« maximal entfalten können, gleichzeitig jedoch
die letzte Klassengesellschaft ist, die ihren »Totengräber« selbst produziert.
Die doppelte Funktion der Desanthropomorphisierung von Arbeit und
Denken in ihrer kapitalistischen Form zeigt auf ihrer entwickelten Stufe
diese Untrennbarkeit des praktisch ökonomischen Vorwärtsdrängens und
der ideologischen Reaktion, von Niederlagen der objektiven Fundamente
eines entwickelten Humanismus und von Zerstampfen der Humanität in
der ökonomischen Praxis. Auf primitiverer Stufe, etwa bei Sismondi,
konnte dieser Widerspruch in ehrlichen und kritischen Formen erscheinen,
je entwickelter der Kapitalismus ist, desto weniger kann ein objektiv guter
Glaube in der romantischen Kritik zum Ausdruck gelangen. Das Dilemma
ist aber für das bürgerliche Bewußtsein auf keiner Stufe lösbar, wie das
Marx in einer von uns bereits zitierten Stelle klar ausspricht. Alle Beispiele,
Kategorien der objektiven Wirklichkeit im Laufe dieses Weges und auf die
Beziehung solcher Kategorien zu den anderen Arten der Widerspiegelung
der Wirklichkeit. Wir haben uns bis jetzt schon wiederholt mit der Einheit
und Verschiedenheit dieser Formen des Abbildens beschäftigt. Es ist ohne
weiteres klar, daß bestimmte fundamentale Kategorien der Gegenständlich¬
keit, der Beziehung der Gegenstände zueinander, der Gesetzlichkeit ihrer
Bewegungen etc. die Grundlage einer jeden wahrheitsgetreuen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit bilden müssen. Wir mußten jedoch andererseits fest¬
stellen, daß in der Anwendungsart der Kategorien die konkreten, typischen
Zielsetzungen der Menschen, der Gesellschaft eine außerordentliche Rolle
spielen, wodurch auch subjektiv eine Geschichte der Kategorien entsteht.
In dieser Entwicklung erhalten der qualitative Aufschwung des desanthropo-
morphisierenden Prinzips in der Neuzeit und die mit seiner Hilfe erzielten
theoretischen Ergebnisse eine besondere Bedeutung. Eine bloß abstrakte
Gegenüberstellung der anthropomorphisierenden Kunst und der desanthro-
pomorphisierenden Wissenschaft würde diesen Gegensatz zu einem meta¬
physischen erstarren lassen. Die Bedeutung, die die Entdeckung etwa der
Geometrie für die Kunst gehabt hat - wir werden auf diese Frage bald
ausführlich eingehen -, wäre allein schon eine drastische Widerlegung solcher
schematischen Kontrastierungen; aber auch die Zusammenarbeit von Wis¬
senschaft und Kunst im Herausarbeiten der Gesetze der Perspektive in der
Renaissance bestätigt die Warnung vor voreiligen Konstruktionen.
Bei allen diesen Vorbehalten muß das Umschlagen ins Qualitative, die die
Desanthropomorphisierung für die wissenschaftliche Widerspiegelung der
Wirklichkeit in den letzten Jahrhunderten gebracht hat, doch in seiner
spezifischen Eigenart berücksichtigt werden. Die Euklidische Geometrie z. B.
repräsentiert zweifellos bereits eine hohe Stufe der desanthropomorphisie-
renden Widerspiegelung. Dennoch bleibt ihre Wahrnehmbarkeit noch in
einem unzerreißbaren Kontakt mit dem menschlich-visuellen Erfassen der
Wirklichkeit. Die Höherentwicklung der Wissenschaften zerreißt jedoch
diese Verbindungsfäden. Der Prozeß der Befreiung der wissenschaftlichen
Widerspiegelung von der menschlichen Sinnlichkeit ist zu bekannt, um hier
geschildert werden zu müssen. Es braucht nicht einzeln aufgezählt zu
werden, wie dabei neue Kategorien und kategorielle Zusammenhänge auf¬
tauchen, die für die wissenschaftliche Begriffsbildung bedeutsam wer¬
den, welche mit der Unmittelbarkeit des Alltagslebens und der daraus
aufsteigenden ästhetischen Widerspiegelung nichts mehr zu tun haben
können. Es genügt, wenn wir an die neu entdeckte Wirksamkeit der
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 205
die über die Befruchtung des allgemeinen Weltbilds der Kunst durch die
Wissenschaft und umgekehrt zur Geltung gelangen. Die detaillierte Behand¬
lung dieser Frage geht ebenfalls über den Rahmen dieser Arbeit hinaus; es
sollte hier nur der methodologische Ort der neuen Lage kurz angedeutet
werden.
207
Drittes Kapitel
geschliffen oder geschabt, von der menschlichen Hand zum Werkzeug umge¬
formt werden, auch kann die dabei verwendete Technik erst auf einem ver¬
hältnismäßig hohen Niveau selbst ein bloß unbewußtes Aufnehmen künst¬
lerischer Motive gestatten. Boas weist richtig nach, daß eine verhältnismäßig
entwickelte Technik des Schabens oder Schleifens nötig ist, damit der
Stein die richtige Form erhält, damit seine abgeschabte Oberfläche nicht ein
Durcheinander der Teile, sondern deren Gleichheit, Parallelität etc. auf¬
zeige1. Dies involviert anfangs noch keinerlei ästhetische Intention; es ist
nichts mehr, als die bessere technisch-handwerkliche Adaption an den
unmittelbar-praktischen Zweck der Arbeit. Es ist aber ohne weiteres klar,
daß bevor das menschliche Auge imstande ist, Formen und Strukturen
genau wahrzunehmen, bevor die Hand vermag, die dabei notwendigen
Parallelitäten, gleichen Abstände etc. dem Stein pünktlich abzuzwingen, alle
Voraussetzungen für eine selbst allerprimitivste Ornamentik fehlen müssen.
Die objektive Höhe der Technik ist also zugleich eine Entwicklungshöhe
des arbeitenden Menschen. Engels gibt über die entscheidenden Züge dieser
Entwicklung ein sehr deutliches Bild: »Bis der erste Kiesel durch Menschen¬
hand zum Messer verarbeitet wurde, darüber mögen Zeiträume verflossen
sein, gegen die die uns bekannte geschichtliche Zeit unbedeutend erscheint.
Aber der entscheidende Schritt war getan: die Hand war frei geworden und
konnte sich nun immer neue Geschicklichkeiten erwerben, und die damit
erworbene größere Biegsamkeit vererbte und vermehrte sich von Geschlecht
zu Geschlecht. So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch
ihr Produkt«• 2. Engels weist weiter nach, daß die Ausbildung der Hand
wichtige Rückwirkungen auf den übrigen Organismus gehabt hat. Über
den Zusammenhang der Arbeit, der darin erworbenen Geschicklichkeit, der
darin entstehenden höheren Gemeinschaft mit der Sprache war bereits die
Rede. Zu erwähnen ist hier noch, daß Engels die spezifisch menschliche Ver¬
feinerung und Differenzierung der Sinne energisch hervorhebt. Es handelt
sich dabei nicht in erster Reihe um eine physiologische Vervollkommnung. Im
Gegenteil. In dieser Hinsicht sind viele Tiere dem Menschen weit überlegen.
Es kommt aber darauf an, daß die Wahrnehmungsfähigkeit der Dinge durch
die Erfahrungen der Arbeit sich qualitativ ändert, verbreitert, vertieft, ver¬
feinert. Wir haben auf diese Frage in anderen Zusammenhängen bereits
1 Boas: a. a. O. S. 21.
2 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 694 f.
210 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
klar zu beleuchten. Gehlen führt aus: »Zum Beispiel pflegen wir an einem
Gegenstand, etwa einer Tasse, die Glanzlichter und Schatten, sowie die
Ornamente teils ganz zu übersehen, teils nimmt sie das Auge als Andeu¬
tungshilfen für die Raum- und Gestaltsauffassung, womit also indirekt die
Rückseiten und die von uns weg orientierten Raumteile »gehabt« werden.
Überschneidungen werden ebenso ausgewertet. Dagegen wird die Material¬
struktur (»dünnes Porzellan«) und das Gewidht voll mitgesehen, doch in
einer anderen und sozusagen mehr »prädikativen« Weise als der im Vorder¬
grund zur Geltung kommende Charakter des »Gefäßes«, d. h. des Hohlen
und Runden, und wieder in anderer Weise gewisse optische Daten, z. B. der
Henkel oder die »handliche« Stelle der Gesamtform, Bewegungssuggestio¬
nen für Umgangsbewegungen. Alle diese Daten aber umfaßt das Auge mit
einem Blick. Man muß geradezu sagen, daß unser Auge gegen den Istbestand
der Empfindlichkeit, ja des jeweils hintergrundhaft Empfundenen ungemein
gleichgültig ist, dagegen höchst empfindlich für hochkomplexe Andeutun¬
gen1.« Gehlen erkennt auch ganz richtig die Rolle der Gewöhnung in
diesem Prozeß, allerdings wieder ohne dabei die Arbeit (und auf späterer
Stufe: die der Kunst) zu berücksichtigen.
Wir sind auch hier der realen Entwicklung weit vorausgeeilt und müssen
dieses Vorwegnehmen der Endresultate zwecks Beleuchtung der - un¬
bekannten und voraussichtlich nie faktisch erkennbaren — Anfangszustände
der Differenzierung, der allmählichen Ablösung der künstlerischen Wider¬
spiegelung von der des Alltagslebens, ihr Selbständigwerden nicht nur
dieser, sondern auch der der Wissenschaft (und andererseits der von Magie
und Religion) gegenüber weiter fortführen. Es handelt sich wieder um die
marxistische Methode, daß die Anatomie des Menschen den Schlüssel zur
Anatomie des Affen abgibt, daß an sich unbekannte und wissenschaftlich
unerforschbare Anfangsstadien mit Hilfe der von ihnen ausgelösten, nur
auf entwickelteren Stufen sichtbar gewordenen Impulse, in ihrer Quali¬
tät, Richtung, Tendenz etc. durch die erkennbaren Folgen rekonstruierbar
werden, indem wir die Entwicklung in ihrem bisher erreichten Endpunkt,
unter Berücksichtigung der uns vorliegenden Zwischenetappen, in um¬
gekehrter Richtung verfolgen und aus der Art der Differenzierung Rück¬
schlüsse auf den primitiven undifferenzierten Zustand, auf seine Auflösung,
auf die Zukunftskeime, die in ihm stecken, ziehen.
1 Ebd. S. 67 f.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 213
von Magie und Religion nicht nur überschätzt, sondern auch gerade in
bezug auf das anthropomorphisierende Prinzip einen nicht existierenden
Gegensatz in sie hineinträgt. Zugegeben, daß die Objekte der Magie sich auf
Naturerscheinungen (Tiere, Kräfte etc.) konzentrieren - woher nimmt die
Magie ihre Auffassung von deren Wesen? Zweifellos aus den damaligen
Erfahrungen des Menschen über sich selbst, über seine Beziehungen zu der
umgebenden Natur. Daß diese weniger offen »personifiziert« sind, als die
der späteren Religionen, stammt einfach daher, daß die menschliche Per¬
sönlichkeit noch weit weniger entwickelt, weit weniger ihrer selbst bewußt
war. Wenn z. B. die Gestalt des Demiurgos erst später hervortritt, so er¬
klärt sich dies zwanglos daraus, daß zur Zeit des bloßen Sammelns, der Vor¬
herrschaft von Jagd, Fischerei etc. in der Selbsterhaltung der Menschen den
»unpersönlichen Mächten« notwendigerweise eine viel größere Rolle ge¬
danklich zugesprochen wird, als in späteren Stadien, in denen der Arbeit
ein viel größerer Anteil daran zukommt. Das ändert jedoch bloß die
Objekte, die in die Außenwelt als Ursachen projiziert werden, ihre Beschaf¬
fenheit, Wesensart etc., nicht aber den Akt des Projizierens aus den inneren
Erfahrungen des Menschen in die objektive Wirklichkeit. Anthropomorphi-
sieren und Desanthropomorphisieren scheiden sich gerade hier: ob von der
objektiven Wirklichkeit ausgegangen wird, deren an sich seiende Inhalte,
Kategorien etc. ins Bewußtsein gehoben werden, oder eine Projektion von
Innen nach Außen, vom Menschen in die Natur stattfindet. Von diesem
Standpunkt ist der Kult von Tieren oder Naturkräften ebenso anthropo-
morphisierend, wie das Schaffen von menschenähnlichen Göttern.
Diese Frage des Anthropomorphisierens wird ihrer Wichtigkeit gemäß, in
unseren späteren Betrachtungen eine zentrale Rolle spielen. Hier wurde sie,
m einer notgedrungen noch sehr abstrakten, vorwegnehmenden Weise nur
darum angeführt, damit bestimmte Eigenschaften dieses Loslösungsprozes¬
ses in allgemeinen Umrissen schon sichtbar gemacht werden können. Erstens
die Schwierigkeit und Kompliziertheit des objektiven Ablösungsprozesses,
nämlich wie - unbekümmert darum, von welchem Bewußtsein er begleitet
wird - in der künstlerischen Praxis eine spezifisch ästhetische Gegenständ¬
lichkeit entsteht, die obwohl ebenfalls anthropomorphisierend, sich qualita¬
tiv dem Wesen nach von den Gegenständlichkeitsformen des Alltags, der
Magie und der Religion unterscheidet. Zweitens wird dadurch unsere
frühere Behauptung vom post-festum-Charakter des Bewußtmachens dieser
Widerspiegelungsart schon auf diesem abstrakten Niveau der Betrachtungen
etwas besser erhärtet. Es wird verständlich, daß das allgemeine Prinzip der
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 2I7
beginnenden Praxis, das »sie wissen es nicht, aber sie tun es« hier in beson¬
ders extremen Maßstäben erscheint. Die spezifische Art der ästhetischen
Gegenständlichkeit, das spezifisch ästhetische Verhalten zu ihr hat sich
bereits längst praktisch ausgebildet, bevor ein nur einigermaßen ernsthafter*
denkerischer Vorstoß bemerkbar sein konnte, die verschiedenen Formen
der anthropomorphisierenden Widerspiegelung der Wirklichkeit begrifflich
scharf, theoretisch fundiert voneinander zu trennen, wie dies in bezug auf
die desanthropomorphisierenden Widersprüche in der Philosophie geschah.
Ja es bedarf - mit wenigen Ausnahmen, zu denen freilich Aristoteles gehört -
einer jahrtausendelangen währenden Entwicklung, um aus den Kriterien
der ästhetischen »Wahrheiten« die Elemente der wissenschaftlichen zu ent¬
fernen, um die »Wahrheit« der ästhetischen Widerspiegelung - positiv wie
negativ - nicht nach diesen Maßstäben zu bewerten.
Die Schwierigkeit wächst noch dadurch, daß die ersten Ausdrucksformen
der wissenschaftlichen und philosophischen Widerspiegelung der Wirklich¬
keit ebenfalls stark mit ästhetischen Elementen gemischt auftreten. Diese
entstammen unmittelbar fraglos noch aus der magischen Periode, in welcher
die später sich differenzierenden Tendenzen noch unzertrennlich ineinander
verschlungen Vorkommen. Man denke an die altorientalische Poesie, in
welcher diese - dem sachlichen Wesen nach unorganische - Tendenz sich
noch sehr lange konserviert hat. Aber selbst in Griechenland, wo die inhalt¬
liche Trennung, ja Gegenständlichkeit sich relativ früh konstituiert, finden
wir häufig wissenschaftliche oder philosophische Produktionen, die in poeti¬
scher Sprache, zuweilen mit poetischer Anschauung geschrieben wurden; so
philosophische Gedichte bei den Vorsokratikern, so die frühen Dialoge
Platons. Ohne Frage entsteht daraus eine Doppelentwicklung, eine sehr
langsame und ungleichmäßige Differenzierung: einerseits das philosophische
Gedicht als besonderes Genre innerhalb der Lyrik (Schiller), andererseits
das Abstreifen des poetisierenden Ausdrucks in Wissenschaft und Philo¬
sophie. Jedoch selbst so gewaltige Werke wie »De rerum natura« von
Lukrez haben die klar differenzierende Trennung noch nicht vollzogen,
und sogar bei Dante finden wir noch Spuren des Ineinanderübergehens von
wissenschaftlicher und poetischer Widerspiegelung der Wirklichkeit.
Noch hartnäckiger bewahrt sich diese ursprüngliche Ungetrenntheit in
vielen Äußerungsweisen der Gesellschaftswissenschaften und des öffent¬
lichen Lebens. Es genügt, wenn wir für das letztere auf die antike Rhetorik
hinweisen. Die Antike hat diese zweifellos für eine Kunst gehalten. Es ist
hier nicht der Ort, alle Widersprüche, die sich daraus ergeben, ausführlich
2I8 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
des Ästhetischen zur Geltung. Die anfangs (etwa bei Herodot) vorherrschende
anekdotisch-novellistische Gruppierung und Erzählung der Ereignisse flaut
zwar immer stärker ab, jedoch besonders die Einwirkung pseudoästhetisch¬
rhetorischer Elemente bleibt - wie wir gesehen haben - durchgehend äußerst
wichtig. Die entschiedene Konstituierung der Geschichte als Wissenschaft
erfolgt erst spät, in der Neuzeit. Sie beruht darauf, daß die erstarkende
Tendenz der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit immer
energischer darauf gerichtet ist, die Tatsachen des Geschichtsablaufs nicht nur
in ihren allgemeinen Umrissen treu zu reproduzieren, sondern ihr historisches
Geradesosein ungestört durch die Subjektivität des betreffenden Historikers
als notwendig zu erfassen 1. Darin kommt, wie leicht einzusehen ist, der Sieg
des desanthropomorphisierenden Prinzips in der Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit zum Ausdruck: das Bestreben, die Tatsachen der Wirklichkeit mög¬
lichst in ihrem objektiven An-sich-Sein wiederzugeben, die menschliche Sub¬
jektivität in Erforschung, Auswahl und Anordnung der Tatsachen möglichst
auszuschalten. Diese Tendenz beruht auf der wadisenden Einsicht, daß gerade
hinter der qualitativen Veränderung der Tatsachen des Lebens, der Be¬
ziehung der Menschen zueinander, der Bedingungen ihres Handelns, ihrer
Psychologie, ihrer Moral, objektive, wissenschaftlich aufdeckbare und erklär¬
bare gesellschaftliche Kräfte wirksam sind, nämlich die Struktur der jeweili¬
gen gesellschaftlichen Gebilde, ihre Umwandlungen und deren Ursachen. Das
qualitative Geradesosein dieser Tatsachen erscheint also nicht mehr als ein¬
fache unmittelbare Gegebenheit, als abstraktes Sosein, sondern als Knoten¬
punkt, als Wechselbeziehung objektiver Gesetzmäßigkeiten. Beides hat die
antike Historiographie wenig gekannt und darum kaum beachtet. Darum
spielen in der Darstellung des Geradesoseins der Fakten und Ereignisse
künstlerische Elemente eine so wichtige Rolle. Die künstlerische Freiheit im
»Erdichten« der Reden historischer Persönlichkeiten ist nur ein auffälliges
Symptom dieser Lage. Der Vergleich, den Aristoteles in bezug auf Verall¬
gemeinerung zwischen Dichtung und Geschichte, zuungunsten der letzteren,
zieht, beleuchtet die antike Entwicklungsstufe der Differenzierung. Auf die
Probleme der Beziehung von Geschichtsphilosophie und Geschichte, die als
Übergang eine wichtige Rolle spielen, werden wir uns hier nicht einlassen, da
1 Ansätze dazu sind natürlich auch in der Antike vorhanden; Thukydides zumal
greift mit seiner Geschichte des peloponnesischen Krieges der späteren Entwick¬
lung weit vor.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 221
auf jene Auffassungen zu werfen, die sehr oft aus Opposition gegen den
kunstfeindlichen Charakter der kapitalistischen Gesellschaften entstanden
sind, die deshalb in die Anfänge der Menschheit ein urwüchsig ästhetisches
»goldenes Zeitalter« projizierten. Die aus seiner Auflösung entstandene Zivi¬
lisation hat darum für die eigene Gegenwart die Aufgabe, die einst spontan
und unbewußt erwachsenen Prinzipien bewußt zu verwirklichen. Es genügt
zur Illustration uns auf den berühmt gewordenen Aphorismus aus Hamanns
»Ästhetica in nuce« zu berufen: »Poesie ist die Muttersprache des mensch¬
lichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerei, - als
Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüsse: Tausch, - als
Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Be¬
wegung ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinnens
oder Erstaunens saßen sie;-und taten ihren Mund auf - zu geflügelten
Sprüchen1.«
Es ist nicht allzu schwer die Selbsttäuschung Hamanns nachzuweisen. Wenn
es etwa wahr wäre, daß der Gartenbau älter ist, als der Acker, so handelt es
sich auch dann bloß um verschiedene Weisen des Landbaus; dieser Garten
hat mit dem Garten in ästhetischem Sinne noch nichts zu tun. Die Hamann-
sche Malerei (Hieroglyphen etc.) ist bildhafter Gedankenausdruck:, magischer
Zeichenkomplex, also weit davon entfernt, Vorfahre der späteren Malerei
zu sein etc. Auch wenn gewisse Analogien in Sprache und Denken bildhaft
erscheinen, so enthalten sie in sich die Keime sowohl der Gleichnisse, wie der
Schlüsse, keineswegs die »Poesie« als herrschende Ausdrucksweise einer »prä¬
logischen«, einer ästhetischen Periode. Uber die scheinbar spontane Bild¬
haftigkeit der primitiven Sprachen (obwohl wir sie alle nur auf einer relativ
entwickelteren Stufe kennen, haben wir bereits gesprochen). In ihnen eine
poetische Muttersprache der Menschheit zu erblicken, heißt soviel, wie unsere
späteren Sensationen über pittoreske Ausdrücke in die alten Worte zu proji¬
zieren, die ihrem Wesen nach ebenso abstraktiv sind, wie die späteren, ohne
jedoch zu einer wirklich verallgemeinernden Synthesis schon befähigt zu sein.
Die bedeutende einfache Schönheit alter Volkslieder, die wir mit Recht als
vorbildlich bewundern, ist in einer weitaus entwickelteren Etappe beheimatet;
in einer, wo bereits der Satz, der Zusammenhang, das einzelne - in begriff¬
licher Verallgemeinerung vervollkommnete — Wort beherrscht und kraft einer
umfassenden Stimmung poetische, pittoreske etc. Effekte hervorbringt.
1 So viel ich weiß, läßt sich ein Zusammenhang zwischen Vico und Hamann philo¬
logisch nicht nachweisen, obwohl Vico’sche Anregungen z. B. durch die englische
Altertumsforschung Hamann sehr leicht erreicht haben konnten.
2 Vico: Die neue Wissenschaft, a. a. O. S. 151/2.
3 Ebd. S. 148.
4
Ebd. S. 151.
226 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
1 Hamann: a. a. O. S. 65.
Vergleiche darüber mein Buch »Der junge Hegel und die Probleme der kapitalisti¬
schen Gesellschaft«, Berlin 1954, S. 389 ff.
3 Marx: ökonomisch-philosophische Manuscripte, a. a. O. III S. 157.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 127
1 Ebd. S. 120.
228 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
standen sind. Und zwar - und dies ist ein sehr wichtiger Unterschied zur
wissenschaftlichen Widerspiegelung - muß besonders unterstrichen werden,
daß nicht nur die Empfänglichkeit, sondern auch ihre Gegenstände selbst
Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung sind. Die Gegenstände der Natur
existieren an sich, unabhängig vom menschlichen Bewußtsein, von seiner ge¬
sellschaftlichen Entwicklung; die das Bewußtsein umformende Tätigkeit der
letzteren ist allerdings notwendig, damit sie erkannt, in der wissenschaft¬
lichen Widerspiegelung aus an sich seienden Gegenständen in für uns seiende
verwandelt werden. Musik, Architektur etc. entstehen aber - auch objektiv -
erst im Laufe dieses Prozesses. Ihre Wechselbeziehung zum produzierenden
und aufnehmenden Bewußtsein muß also auch anderen Züge zeigen, als jene,
die bloß zum Für-uns-Machen des An-sich-Seienden bestimmt sind. Die wis¬
senschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft hat zwar ebenfalls ein gesellschaft¬
lich entstandenes Objekt, wenn es aber einmal entstanden ist, hat es ebenso
einen An-sich-Charakter, wie die Gegenstände der Natur. Wie verschieden
immer ihre gegenständliche Struktur, die Gesetzlichkeiten ihrer Wirksamkeit
von denen der Natur sein mögen, ihre wissenschaftliche Widerspiegelung
geht ebenfalls den geraden Weg vom Ansich zum Füruns. Daß hier eine reine
Form der Objektivität weit schwerer zu erreichen ist, daß die Abweichung
von dieser ebenfalls von der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt ist,
ändert an dieser Lage nichts wesentliches. Der Marxismus hebt hier beide
Seiten, die identische wie die verschiedene mit gleichen Nachdruck hervor.
Einerseits zeigt die ganze Methodologie der gesellschaftswissenschaftlichen
Schriften von Marx, daß sie ihre Gegenstände als vollständig unabhängig vom
menschlichen Bewußtsein funktionierenden Prozesse auffaßt. Andererseits
weist Marx - unter Berufung auf Vico - darauf hin, daß »die Menschen¬
geschichte sich dadurch von der Naturgeschidite unterscheidet, daß wir die eine
gemacht, die andere nicht gemacht haben« L Soweit die Produkte der künstleri¬
schen Tätigkeit rein als Produkte dieser Entwicklung betrachtet werden, was
zweifellos den Tatsachen entspricht, d. h. so weit sie ausschließlich als Teile des
gesellschaftlichen Seins der Menschen betrachtet werden, gelten für die wissen¬
schaftliche Widerspiegelung dieses Seins dieselben Gesetzlichkeiten, auf die wir
eben hingewiesen haben.
Innerhalb dieses gesellschaftlichen Seins, für sich betrachtet, zeigen sie jedoch
ganz neue und eigenartige Züge, deren Herausarbeiten gerade die Haupt-
aufgabe dieser Betrachtungen sein wird. Diese jetzt aufzuzählen hieße Ge¬
dankengänge abstrakt vorwegzunehmen, die nur konkret, nur im richtigen
theoretischen und historischen Zusammenhang wirklich sinnvoll erfaßt wer¬
den können. Wir können hier nur - vorwegnehmend - darauf hinweisen, daß
die Wechselbeziehungen zwischen Objektivität und Subjektivität zum ge¬
genständlichen Wesen der Kunstwerke gehören. Nicht auf die Wirkung auf
X oder Y kommt es an, sondern auf die gegenständliche Struktur des Kunst¬
werks als so oder so Wirkendes. Was auf jedem anderen Gebiet des mensch¬
lichen Lebens ein philosophischer Idealismus wäre, nämlich daß kein Objekt
ohne Subjekt existieren könne, ist im Ästhetisdien ein Wesenszug seiner spe¬
zifischen Gegenständlichkeit. (Natürlich existiert der in der Skulptur bearbei¬
tete Marmorblock als Stück Marmor ebenso unabhängig von jedem Bewußt¬
sein, wie vor seiner Bearbeitung, wie jedes Objekt in der Natur oder in der
Gesellschaft. Erst durch die bildhauerische Arbeit und ausschließlich in bezug
auf sie besteht die von uns angezeigte und später ausführlich zu behandelnde
Subjekt-Objekt-Beziehung.)
Die von uns angeführten Darlegungen von Marx erhellen gerade diese spezi¬
fische Gegenständlichkeit des ästhetischen Gebiets; seine spezifische Wechsel¬
wirkung mit der Entstehung einer ästhetisdien Subjektivität. Im Gegensatz
zum bürgerlichen Historismus, der höchstens eine gesdiichtliche Entwicklung
der menschlichen Intelligenz anerkennt, hebt Marx mit großem Nachdruck
hervor, daß gerade die Entwicklung unserer fünf Sinne ein Ergebnis der
ganzen bisherigen Weltgeschichte sei. Diese Entwicklung umfaßt natürlich -
und das ist als Grundlage der Marxschen Betrachtungen klar ersichtlich -
viel mehr als die Entfaltung einer Empfänglidikeit für die Kunst. Gerade das
Beispiel vom Essen zeigt, daß es sich vorerst um elementare Lebensäußerun¬
gen handelt, deren objektive wie subjektive Höherbildung gleicherweise
Produkt der Entwicklung der Arbeit ist. Das ist kein gradliniger Fortgang;
Marx’ Beispiele zeigen, wie die Produktionsverhältnisse, die gesellschaftliche
Arbeitsteilung auch auf höheren Stufen Hindernisse der richtigen subjektiven
Beziehungen zu den Objekten werden können. Die Entstehungsgeschichte der
Kunst, sowohl des produktiven Sinnes, wie der künstlerischen Empfänglich¬
keit kann also nur in diesem Rahmen, in dem der Weltgeschichte der fünf
Sinne, behandelt werden. Damit wird aber das ganze ästhetisdie Prinzip zu
einem Ergebnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der Mensch¬
heit.
Man sieht aus alledem, daß von einem ursprünglichen Vermögen der Mensch¬
heit zur Kunst keine Rede sein kann. Dieses Vermögen hat sich - wie alle
230 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
1 Ebd. S. 2jj f.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 233
wirksam waren, bevor das Denken ihre Zusammenhänge, Einheit etc., wider¬
zuspiegeln, auszulegen, zu systematisieren imstande gewesen wäre. Die
Nachträglichkeit des Prinzips liegt aber in unserem Fall nicht nur im Für-
uns, sondern auch im Ansich selbst: die Einheitlichkeit des Prinzip entsteht
im Ästhetischen allmählich, gesellschaftlich-geschichtlich, kann also natur¬
gemäß nur, den real entstandenen Stufen der Einheit entsprechend, nachträg¬
lich als solche erkannt werden.
Diese Tatsache selbst weist bereits auf einige Probleme des Gehalts hin. Schei¬
nen auch Sinne, Empfänglichkeiten etc. einander gegenüber heterogen zu sein
und sind es auch in ihrer Unmittelbarkeit, so können sie doch nicht, wie Kant
und Kantianer vom Typus Fiedler sich vorstellen, hermetisch voneinander
abgesondert werden. Sie sind stets Sinne etc. eines ganzen Menschen, der mit
seinesgleichen in einer Gesellschaft lebt, dessen elementarste Lebensäußerun¬
gen sich in dieser Gesellschaft abspielen und darum tief gemeinschaftliche
Elemente und Tendenzen mit diesen anderen Menschen haben müssen. Die
Arbeitsteilung der Sinne, die Erleichterung und Vervollkommnung der Arbeit
durch sie, die wechselseitige Beziehung eines jeden Sinnes mit der anderen
durch diese immer differenziertere Zusammenarbeit, die zunehmende Erobe¬
rung der äußeren und inneren Welt der Menschen infolge derartiger sub¬
tiler Kooperationen, die Ausbreitung und Vertiefung des Weltbildes als ihre
Folge: all dies schafft einerseits die sachlichen und seelischen Voraussetzungen
für das Entstehen und die Entwicklung der verschiedenen Künste; andererseits,
sobald sie geboren wurden, in jeder die Tendenz, sowohl die eigenen imma¬
nenten Eigenschaften immer eigenartiger auszubilden, wie ihnen eine solche
Universalität, Umfassungskraft zu verleihen, die - unbeschadet der Selbstän¬
digkeit einer jeden einzelnen Kunst - das allen Gemeinsame, das Medium des
Ästhetischen allmählich ausbildet.
Die beiden Tendenzen verbindet eine widerspruchsvolle Einheit, die Einheit
eines Widerspruchs: die simultane Einheit und Differenziertheit des in einer
Gesellschaft wirkenden ganzen Menschen, der seine Reaktionen auf Natur
und Gesellschaft, innerhalb der eigenen Subjektivität immer energischer ver¬
feinert und spezialisiert, die so spezialisierte innere Arbeitsteilung jedoch
stets auf die eigene Gesamtpersönlichkeit rückbezieht und diese dadurch um¬
fassender und reicher macht. Diese etwas umständliche Bestimmung ist auch
notwendig, um unsere Auffassung möglichst scharf von allen Theorien
abzugrenzen, die die volle und ausgebildete Persönlichkeit des Menschen
bloß als Kennzeichen primitiver Stadien betrachten und sie durch die un¬
aufhaltsam fortschreitende Arbeitsteilung als gefährdet, ja als vernichtet
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 235
jeweiligen - Einheit ist also immer ein Moment und zwar ein bewegendes
Moment dieser Einheit selbst.
Die wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, wie es sich von
selbst versteht, ein wichtiges Moment dieser dialektischen Bewegung; so weit
sie darauf gerichtet ist, diesen Prozeß selbst gedanklidi zu erfassen, muß sie
die hier wirksamen Kategorien in ihren wirklichen objektiven Proportionen,
in ihrer wahren Beweglichkeit zu erfassen versuchen. Die ästhetische Wider¬
spiegelung muß hier andere Wege gehen. Erstens richtet sich die erstere bei
weitem nicht immer - unmittelbar - auf diesen Prozeß des Stoffwechsels
selbst. So sehr er - letzten Endes - die Entwicklung der wissenschaftlichen
Widerspiegelung der Wirklichkeit bestimmt, geht diese, je höher sie sich ent¬
faltet, auch auf eigenen Wegen, die oft nur nach sehr weiten Vermittlungen
hier wieder einmünden. Die künstlerische Widerspiegelung hat dagegen stets
die Gesellschaft in ihrem Stoffwechsel mit der Natur zur Basis und kann die
Natur nur auf dieser Grundlage mit ihren eigenen Mitteln erfassen und
gestalten. So unmittelbar die Beziehung des Künstlers (und des Rezeptiven
der sein Werk genießt) zur Natur zu sein scheint, so weit und kompliziert
ist sie objektiv vermittelt. Freilich ist diese Unmittelbarkeit, über welche
später in konkreteren Zusammenhängen noch ausführlich gesprochen werden
muß, doch kein bloßer Schein, wenigstens kein trügerischer. Diese Unmittel¬
barkeit ist ein intensiver Bestandteil der zur Gestalt gewordenen ästhetischen
Widerspiegelung, des Kunstwerks, eine ästhetische Unmittelbarkeit sui
generis. Damit ist aber die oben festgestellte objektive Vermitteltheit weder
geleugnet, noch aufgehoben. Es handelt sich hier um eine der wesentlichen,
fundamentalen und künstlerisch fruchtbaren inneren Widersprüchlichkeiten
der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Zweitens hat aber dieser
unmittelbar unlösbare Zusammenhang der ästhetischen Widerspiegelung mit
ihrer Seinsbasis eine eigenartige Inhaltlichkeit und Struktur des reflektierten
und gestalteten Objekts zur Folge. Die wissenschaftliche Widerspiegelung
muß, so sehr sie sich auch oft auf Einzelprobleme beschränken mag, stets
bestrebt sein, der extensiven wie intensiven Totalität der allgemeinen Be¬
stimmungen ihres jeweiligen Objekts nach Möglichkeit nahezukommen. Die
ästhetische Widerspiegelung richtet sich dagegen unmittelbar immer nur auf
ein partikulares Objekt. Diese unmittelbare Partikularität steigert sich noch
dadurch, daß jede Kunst - und in der unmittelbaren ästhetischen Realität gibt
es nur einzelne Künste, ja einzelne Kunstwerke, und ihre ästhetische Gemein¬
samkeit ist nur begrifflich, nicht unmittelbar künstlerisch erfaßbar-die objek¬
tive Wirklichkeit nur in ihrem eigenen Medium (Visualität, Wort etc.) wider-
23S Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
Hier zeigt sich, worauf schon hingewiesen wurde, daß der eigentliche scharfe
Gegensatz zwischen Kunst und Arbeit erst im Kunstwerk selbst zum klaren Aus¬
druck gelangt. Der künstlerische Schaffensprozeß hat mannigfaltige Berührungs¬
punkte sowohl mit der Arbeit selbst, wie mit der wissenschaftlichen Widerspiege-
lung der Wirklichkeit. Letztere ist ein una.ufhebba.res Moment dieses Prozesses.
Konkret können die hier auftauchenden Probleme erst im zweiten Teil, in der
Analyse der ästhetischen Verhaltensarten untersucht werden.
V orf ragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 239
entwickeltesten Stufen hervor, wenn die sich aus ihr herausbildende Wissen¬
schaft bereits eine völlig selbständige Gestalt erringt und auf sie zurückwirkt.
Dann werden die desanthropomorphisierenden Kräfte der wissensdia'ftlichen
Widerspiegelung der Wirklichkeit auf beide Komponenten der Arbeit wirk¬
sam: ihre sowohl getrennte wie auf die Wechselbeziehung bezogene wissen¬
schaftliche Analyse bezweckt das jeweils sachlich erreichbare Optimum an
Auswirkung, am Zurgeltungkommen des Objektes an sich, soweit wie mög¬
lich unabhängig gemacht von den besonderen Eigenschaften, Fähigkeiten etc.
der an der Arbeit beteiligten Menschen. Der Stoffwechsel zwischen Gesell¬
schaft und Natur liegt zwar allen diesen Analysen der Arbeit an sich zu¬
grunde, bestimmt ihre Entwickeltheit und ihre Richtung, ihre Methode und
ihre Ergebnisse, aber an ihren subjektiven Reflexen ist diese Bezogenheit
immer weniger unmittelbar ersichtlich. Das Zurückweichen der Naturschranke
wirkt sich notwendig in solcher Weise aus. Diese Struktur erscheint ganz
deutlich nur auf hochentwickelten Stufen, obwohl die Tendenz zu einer
solchen Desanthropomorphisierung mit der Arbeit selbst spontan, unbewußt
einsetzt. Sie wird jedoch auf weiten Strecken von anderen Tendenzen gekreuzt
und überdeckt. Unter diesen spielt nun die künstlerische zeitweilig eine her¬
vorragende Rolle. Wenn man beide Tendenzen gedanklich voneinander scharf
absondern will, stößt man oft auf nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten. So
decken die in der Arbeit wirksamen künstlerischen Tendenzen oft bis dahin
unbekannte Eigenschaften des Ansich auf, fördern die Arbeitsfähigkeiten (Be¬
herrschen des Materials, Verfeinern der Werkzeuge und ihrer Handhabung etc.)
ebenso wie die auf Wissenschaftlichkeit gerichteten. Ja beide können in der
Beziehung eines bewußten Bündnisses stehen, so z. B. in der Renaissance.
Trotzdem bleibt begrifflich die Scheidung zwischen Arbeit und Kunst doch
notwendig und möglich, aber man kann sie bloß aus den Objektivationen
selbst und nicht aus deren bewußtseinsmäßigen Reflexen ablesen. Die
Scheidungslinie verläuft - auf primitiver Anfangsstufe etwa bei Schmuck des
Menschen selbst, Verzierung der Werkzeuge etc. - dort, wo die unmittelbare
Nützlichkeit aufhört. Während die Entfaltung der desanthropomorphisieren¬
den Widerspiegelung immer vermitteltere Nutzbarkeiten einschaltet und da¬
mit den unmittelbaren Nutzeffekt der Arbeit erhöht, repräsentieren die
ästhetischen Elemente einen Überschuß, der nichts zum effektiven, faktischen
Nutzen der Arbeit beiträgt. (Wir kommen später darauf zu sprechen, eine wie
große Rolle der eingebildete Nutzen, entsprungen aus magischen Vorstellun¬
gen in Entstehen und Entwicklung der Kunstgebilde spielt; gerade damit wird
aber der objektive ästhetische Charakter der Gegenstände oder Verrichtungen
240
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
verdeckt.) Schon darum ist das relativ späte Auftreten des Ästnetischen der
Arbeit gegenüber erklärlich: es setzt nicht nur sachlich eine bestimmte Höhe
der Technik, sondern audi eine bestimmte durch die Erhöhung der Produk¬
tivkräfte der Arbeit herbeigeführte Muße für das Schaffen des »Über¬
flüssigen« voraus.
Fassen wir das erste - ästhetisch keineswegs eindeutige - Auftreten eines mit
dem Künstlerischen verwandten Prinzips als das Herstellen eines Arbeits¬
produkts, das ganz oder in gewisser Hinsicht nicht vom materiellen Nutzen
bestimmt wird, so ist es schon auf dieser Stufe klar, daß dieses unmöglich
auf einer desanthropomorphisierende Widerspiegelung der Wirklichkeit basie¬
ren kann. Der primitivste Nutzeffekt setzt bereits ein System von Vermitt¬
lungen in Gang, das die Bezogenheit auf den Menschen suspendiert, um seine
Zwecke effektiver verwirklichen zu können. Eine derartige Suspension findet
hier nicht statt. Natürlich muß auch diese Feststellung dialektisch verstanden
werden. Die künstlerische Tätigkeit bewahrt, nicht nur in Architektur, Plastik
oder Kunstgewerbe, bestimmte Züge der einfachen Arbeit selbst und des mit
ihr verbundenen Erforschens der objektiven Wirklichkeit, und soweit dieses
Moment wirksam ist, findet auch die Suspension notwendig statt. Und über
dieses Moment im subjektiven Hervorbringen der Kunstwerke hinaus bleibt
das Moment der Nützlichkeit eine unaufhebbare Grundlage mancher Künste,
so daß sie auch rein ästhetisch nicht zur Erfüllung gelangen können, wenn
sie nicht gleichzeitig die Zielsetzungen der praktischen Nützlichkeit verwirk¬
lichen. Je mehr sich jedoch die künstlerische Tätigkeit als solche konstituiert,
desto mehr werden solche desanthropomorphisierenden Momente zu auf¬
gehobenen Momenten; desto mehr werden sie bloße Mittel, um Zwecke grund¬
legend anderer Art zu realisieren.
Dieser Gegensatz im Prozeß des Hervorbringens und im subjektiven Ver¬
halten der Beteiligten läßt sich - ganz allgemein - am einfachsten als der von
»Bewußtsein über ...« und »Selbstbewußtsein von ...« ausdrücken. Das
Wort Selbstbewußtsein hat im Alltagsgebrauch eine zwiefache Bedeutung,
aber merkwürdigerweise ist gerade dieser Doppelsinn dazu geeignet, das hier
Gemeinte zu verdeutlichen. Es bedeutet nämlich einerseits die Festigkeit, das
sichere Auf-den-Füßen-Stehen des Menschen innerhalb seiner konkreten Um¬
welt, andererseits das Erhellen eines Bewußtseins (und des ihm zugrunde
liegenden Seins) durch die auf es selbst gerichtete eigene Geisteskraft. Es ist
eine sehr späte und das Wesen des Phänomens völlig verdunkelnde Auffas¬
sung, im Selbstbewußtsein etwas rein Innerliches, von der Welt Abstrahieren¬
des, nur auf das Subjekt Bezogenes zu erblicken. Gerade die von uns
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 241
angegebene erste, sicherlich auch ältere Bedeutung, ist ohne Beziehung auf
eine konkrete Umwelt überhaupt undenkbar. Und es ist ebenso klar, daß
Selbstbewußtsein auch im zweiten Sinne sich nur dann wirklich entwickeln
kann, wenn die subjektive, auf sich selbst bezogene Spiegelung die Inhalte
einer konkreten Umwelt, so komplett wie möglich, umfaßt. Schon Goethe
hat gegen den Begriff des Selbstbewußtseins im Sinne des »Erkenne Dich
selbst« wiederholt Stellung genommen. Seine Ausführungen in einem Ge¬
spräch mit Eckermann illustrieren sehr gut unsere Fassung des Selbstbewußt¬
seins: »Man hat zu allen Zeiten gesagt und wiederholt, man solle trachten,
sich selber zu kennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand
genügt hat, und der eigentlich auch niemand genügen soll. Der Mensch ist mit
allen seinen Sinnen und Trachten aufs Äußere angewiesen, auf die Welt um
ihn her, und er hat zu tun, diese insoweit zu kennen, und sich insoweit dienst¬
bar zu machen, als er es zu seinen Zwecken bedarf. Von sich selber weiß er
bloß, wenn er genießt oder leidet, und so wird er auch bloß durch Leiden und
Freuden über sich belehrt, was er zu suchen oder zu meiden hat h«
Goethe geht natürlich in dieser Polemik weniger vom künstlerischen Verhal¬
ten, das bei ihm ganz spontan ein der Welt zugewandtes ist, als vom Alltags¬
leben aus. Er spricht dies an einer anderen Stelle sehr deutlich aus: »Nehmen
wir sodann das bedeutende Wort vor: Erkenne dich selbst, so müssen wir es
nicht im asketischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unse¬
rer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen da¬
mit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: Gib einigermaßen acht auf dich
selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu
deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst. Hierzu bedarf es keiner
psychologischen Quälereien; jeder tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es
heißen soll; es ist ein guter Rat, der einem jeden praktisch zum größten Vor¬
teil gedeiht 1 2.« Trotz dieser schroffen Ablehnung der einseitigen Wendung
nach innen, ist auch in der Goetheschen Beschreibung dieses Verhalten im
Alltagsleben die Bezogenheit auf das Subjekt, auf den wirklichen, den ganzen
Menschen deutlich sichtbar. Im Alltagsleben ist aber dieses Selbstbewußtsein
ebenso auf die unmittelbare Praxis bezogen, wie das - sich allmählich des-
anthropomorphisierende - Bewußtsein über die Außenwelt. Wir haben nun
in großen Zügen verfolgt, wie letzteres sich von der unmittelbaren Praxis
1 Ebd. S. 210.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 243
Resultat. Es bereichert und vertieft sich durch die Wechselwirkung der von
den verschiedenen Künsten bereicherten und vertieften Sinne, Gefühle und
Gedanken. Aber die Voraussetzung für eine solche befruchtende Wechsel¬
beziehung war und bleibt die Selbständigkeit der einzelnen Künste und
Genres, die Selbständigkeit in der Ausbildung der einzelnen Sinne zur Uni¬
versalität. Das ästhetische Prinzip, die ästhetische Einheit der verschiedenen
Typen der ästhetischen Widerspiegelung ist also Endergebnis eines langen
Entwicklungsprozesses, und die selbständige Genesis der verschiedenen Arten
und Unterarten der Kunst, der ihnen entsprechenden ästhetischen Subjektivi¬
tät in Produktion und Rezeption ist viel mehr als eine bloß historische Tat¬
sache: sie wurzelt, wie wir später sehen werden, tief im Wesen der ästheti¬
schen Widerspiegelung der Wirklichkeit, ohne ihre Berücksichtigung verzerrt
sich das Wesen des Ästhetischen selbst.
Dabei mußten wir um der ersten Klarheit willen diese Differenzierung ein¬
facher darstellen als sie in Wirklichkeit ist. Es wäre nämlich eine Simplifikation
zu meinen, daß jedem menschlichen Sinn nur eine Kunst entsprechen kann. Es
genügt, wenn wir auf die weitgehende innere Heterogeneität der visuellen
Künste, Architektur, Plastik, Malerei etc. hinweisen. Natürlich bestehen
auch hier von Anfang an und im Laufe der Entwicklung immer intimer ein-
zreifende, tiefer und wesentlicher wirkende Wechselbeziehungen. Wir berufen
uns bloß auf das Eindringen der malerischen Anschauungen in Plastik und
Architektur unter bestimmten historischen Umständen.
Die so entstehende Lage kompliziert sich noch dadurch, daß die ästhetische
Widerspiegelung der Wirklichkeit in einem qualitativ anderen Sinne histo¬
risch, ort- und zeitgebunden ist als die wissenschaftliche. Daß jede Subjek¬
tivität gesellschaftlich-geschichtlichen Charakters ist, ist eine Selbstverständ¬
lichkeit und hat auch nicht unwesentliche Folgen in der Geschichte der Wis¬
senschaft. Jedoch die objektive Wahrheit einer wissenschaftlichen Aussage
hängt ausschließlich von ihrer - annähernden - Übereinstimmung mit jenem
Ansich, das sie in ein Füruns verwandelt, ab. Die Wahrheitsfrage hat demge¬
mäß hier mit den Problemen der Genesis nichts zu tun. Diese kann freilich
eine Erklärung dafür bieten, wie und warum die Annäherungsversuche der
wissenschaftlichen Widerspiegelung an die objektive Wirklichkeit unter be¬
stimmten gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen unvollständig sein mu߬
ten oder mehr oder weniger vollständig sein konnten. Ganz anders ist die
Lage für die Kunst. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, daß der
fundamentale Gegenstand der ästhetischen Widerspiegelung die Gesellschaft
in ihrem Stoffwechsel mit der Natur ist. Hier liegt natürlich ebenso eine vom
248 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
nähme in der objektiven Tatsache etc. stellen die Momente dieser Historizität
dar. Die künstlerische Wahrheit ist also als Wahrheit eine historische; ihre
richtige Genesis ist in Konvergenz mit ihrer wahren Geltung, da diese nichts
weiter ist, als das Aufdecken und Sinnfälligmachen, zur Erlebbarkeit Erhöhen
eines Moments der Menschheitsentwicklung, das inhaltlich und formell ver¬
dient, so festgehalten zu werden.
Es wird in den folgenden Betrachtungen konkret zu zeigen sein, daß diese
enge Verschlungenheit von Subjektivität und Objektivität, die aus dem
anthropomorphisierenden Wesen, aus Objekt und Subjekt der ästhetischen
Widerspiegelung folgt, die Objektivität der Kunstwerke nicht zerstört, im
Gegenteil gerade ihre spezifische Eigenart erst begründet. Ebenso wird zu
zeigen sein, daß die Entstehung des Ästhetischen aus verschiedenen, ja auch
unmittelbar heterogenen Quellen nicht zu einem Zerfallen seiner prinzipiel¬
len Einheit, sondern zu seiner allmählichen Konstitution als konkrete Ein¬
heit führt.
Die Einheit muß natürlich auch hier dialektisch gefaßt werden. Hegel nennt
die Einheit der Wissenschaften einen »Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne
Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in
den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist. Bruch¬
stücke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften, deren jede ein Vor und
ein Nach hat, - oder genauer gesprochen, nur das Vor hat und in ihrem
Schlüsse selbst ihr Nach zeigt1.« Diese Struktur des Kreises aus Kreisen ist
im Gebiet des Ästhetischen noch ausgeprägter vorhanden. Infolge seines
Objekts, das schon von vornherein, schon bevor es zum Gegenstand der Kunst
wurde, eine Bearbeitung durch die Tätigkeit des Menschengeschlechts in sich
aufweist; infolge seines Subjekts, dessen Funktion weit darüber hinausgeht,
das vom Bewußtsein unabhängige Ansich in möglichst treuer Annäherung
als ein bewußtseinsmäßiges Füruns zu spiegeln, das vielmehr jedem Element
des Objekts (von seiner Ganzheit gar nicht zu reden) eine Bezogenheit auf
sich einprägt und im ganzen wie in allen Teilen seine Stellungnahme zu ihm
zur Geltung bringt: erhält jede Kunstgattung, ja letzten Endes ein jedes
Kunstwerk eine - relativ - selbständige Existenz, auf welche das Hegelsche
»Vor« und »Nach« nur mit sehr komplizierten Vermittlungen und Trans¬
positionen anwendbar ist. (Über die sich hieraus ergebenden Probleme wird
später noch oft und ausführlich die Rede sein.)
gebenen Sinn, Formen entstehen, die als solche in aller historischen und indi¬
viduellen Varietät doch - gerade als wesentliche Formen - eine gewisse
Konstanz zeigen. Diese Frage ist deshalb zugleich eine prinzipiell ästhetische
und eine unüberwindbar historische. Nicht nur weil, infolge unserer Bestim¬
mung der Form, jedes echte Kunstwerk auch die allgemeine Form - ein¬
malig - neuschafft; nicht nur weil die großen Wendungen der gesellschaft¬
lichen Entwicklung qualitativ neue Typen auch innerhalb desselben Genres
hervorbringen (griechisches, englisches, französisches, spanisches etc. Drama);
nicht nur weil die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung einzelne Genres
radikal umgestaltet (der Roman als bürgerliche Epopöe); - dies allein würde
bloß zu einem radikalen historischen Relativismus führen - sondern, weil
die Probleme der historischen Wandlung in ihrer Wirkung auf die Kunst un¬
verstanden bleiben würden, wenn das Bleibende an den Formen nicht aus
dem Wesen der ästhetischen Widerspiegelung, also aus dem Grundprinzip
des Ästhetischen zu begreifen und abzuleiten wäre. Die richtige Lösung dieser
Frage, die in den Ästhetiken als System der Künste aufzutauchen pflegt, kann
also nur auf der simultanen Grundlage der dialektisch-materialistischen Er¬
klärung des Ästhetischen überhaupt und der historisch-materialistischen Ge¬
setze seiner geschichtlichen Wandlungen in ihrer Spezifikation befriedigend
erhellt werden.
Schon diese allgemeinen, vorläufig ziemlich abstrakt bleibenden Bemerkungen
zeigen, daß das Problem eines »Systems der Künste« in eine neue Beleuchtung
rückt. Es kann sich weder um eine Deduktion aus dem Prinzip des Ästhetischen
handeln, noch um ein empiristisches Aneinanderreihen der vorhandenen
Künste; vielmehr im Gegenteil um eine historisch-systematische Betrachtungs¬
weise. Diese verzichtet auf jede »symmetrische« Anordnung der Künste und
Genres, jedoch ohne damit ihre theoretische Fundamentierung aufzugeben. Sie
läßt die Möglichkeit des historischen Absterbens einzelner Genres, sowie des
historischen Entstehens neuer offen; wieder: ohne in beiden Fällen sich bloß
auf das Gesellschaftlich-Geschichtliche zu beschränken, ohne auf die theore¬
tische Ableitung zu verzichten. Dabei zeigen bereits unsere bisherigen Be¬
trachtungen, daß es sich nicht um eine einfach nachträgliche Synthese zweier
an sich getrennter Gesichtspunkte handelt, daß vielmehr jede dialektisch¬
materialistische Analyse auf Probleme des historischen Materialismus stößt
und vice versa. Es handelt sich bei jeder Einzelbetrachtung nur um die Prä-
ponderanz des einen oder des anderen Gesichtspunkts.
So konnte hier nur der methodologische Ort und die Methode der Lösung dieser
Fragen angedeutet werden. Die Ableitung der Formen aus den wiederkehren-
252 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
den, ständigen und relativ stabilen Momenten der Widerspiegelung hat als
erster Lenin formuliert. In Anschluß an Hegels tiefe Feststellung, daß den
logischen Schlußformen eine objektive Wirklichkeit entspricht, schreibt er:
»Für Hegel ist das Handeln, die Praxis, ein logischer »Schluß«, eine Figur der
Logik. Und das ist wahr! Natürlich nicht in dem Sinne, daß die Figur der
Logik ihr Anderssein in der Praxis des Menschen hätte (= absoluter Idea¬
lismus), sondern daß vice versa die Praxis des Menschen sich dadurch, daß
sie sich milliardenmale wiederholt, im Bewußtsein des Menschen als logische
Figuren einprägt. Diese Figuren haben gerade (und nur) Kraft dieser milliar¬
denmaligen Wiederholung die Festigkeit eines Vorurteils und axiomatischen
Charakter1.« Das ist das methologische Vorbild für jede Theorie der Künste,
der Genres in der Ästhetik. Natürlich kann - unseren Bestimmungen über das
Wesen der ästhetischen Form entsprechend - diese Leninsche Formulierung
nicht einfach übernommen und ins Ästhetische »übersetzt« werden. Die Größe
der möglichen und notwendigen Variationen innerhalb einer Form bedeuten
etwas qualitativ Neues der Logik gegenüber. Der große Gedanke Lenins,
daß die wissenschaftlichen (logischen) Formen Widerspiegelungen des Blei¬
benden und Wiederkehrenden an den Erscheinungen sind, muß in seiner An¬
wendung auf die Ästhetik der Eigenart dieser Weise der Widerspiegelung
der Wirklichkeit entsprechend gründlich konkretisiert werden 2.
Viertes Kapitel
Es muß immer wieder betont werden: über den wirklichen historischen Ur¬
sprung der Kunst wissen wir so gut wie nichts. In vielen wichtigen Künsten,
wie Poesie, Musik, Tanz etc. ist es sogar von vorneherein aussichtslos nach
»ursprünglichen« Dokumenten zu suchen. Was uns die Ethnographie hier zu
bieten hat - auch wenn es sich um die primitivsten Völker handelt - stammt
aus einem Zustand, der längst die Anfänge hinter sich gelassen hat. Aber auch
dort, wo Archäologie und Ethnographie über Denkmäler der materiellen
Kultur verfügen, ist die Grenze zwischen vorkünstlerischen Gebilden und
Kunstwerken mit einer auch nur annähernd historischen Exaktheit nicht zu
ziehen. Der Prozeß der Loslösung des Ästhetischen vom magischen Alltag
kann also - philosophisch - auch und gerade hier nur vom bereits ästhetisch
Geformten aus nach rückwärts verfolgt werden.
Auch hier wird die Schwierigkeit, die wir früher aufzeigten, sofort sichtbar:
sie besteht in den heterogenen Quellen der Genesis der einzelnen Formen, die
wir nun zu untersuchen haben, wobei, wie in den obenerwähnten Betrachtun¬
gen bereits betont wurde, diese Fleterogeneität der Genesis keineswegs ein
hermetisches Abgeschlossensein des einen Moments vom anderen bedeutet und
noch viel weniger die historisch später entstehende ästhetische Einheit zu
verhindern vermag. Diese allgemeine Schwierigkeit vergrößert sich noch da¬
durch, daß wir es jetzt nicht mit der Entstehung von verschiedenen Künsten
oder Genres zu tun haben werden, sondern mit Prinzipien, Aufbauelementen
der künstlerischen Produktion, die in den verschiedenen Künsten eine sehr
verschiedene Rolle spielen, die für uns nur mehr in diesen äußerst variierten
Funktionen auf weitaus höheren Entwicklungsstufen gegeben sind (Rhyth¬
mus, Proportion etc.), die nur ausnahmsweise ihre ursprüngliche Selbständig¬
keit bewahrt haben (Ornamentik), ohne freilich in der Gesamtkultur je wie¬
der jene Bedeutung erlangen zu können, die sie in bestimmten Anfangsstadien
hatten.
254
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
I Rhythmus
Trotz solcher Schwierigkeiten kann das Bild der Loslösung des Ästhetischen
von der Alltagswirklichkeit dem Wesen nach philosophisch wahrheitsgemäß
nachgezeichnet werden, wenn wir unseren Ausgangspunkt im Zentrum des
Alltagslebens, in der Arbeit wählen. Darum betrachten wir den Versuch
Büchers, den Rhythmus aus der Arbeit abzuleiten, und das zum Beweis seiner
These gesammelte große und überzeugende Illustrationsmaterial als einen
wichtigen Beitrag zur Aufdeckung dieser Zusammenhänge. Natürlich gibt es
auch heute nicht wenige, die hier auf »tiefere«, auf »naturhaftere« Quellen
zurückgehen wollen1. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das biologische
Dasein der Menschen (und auch der Tiere), sowie die Begebenheiten ihrer
Umwelt nicht wenige Phänomene des Rhythmischen aufweisen. Bei diesen
müssen wir aber zwei verschiedene Reihen genau voneinander trennen. Näm¬
lich einerseits jene Elemente der Rhythmik der die Menschen umgebenden
Natur (Tag und Nacht, Jahreszeiten etc.), die in einem viel späteren, entwik-
kelteren Stadium, nachdem infolge der Arbeit der Rhythmus zu einem wich¬
tigen Moment der menschlichen Existenz geworden, sowohl im Alltag, wie
in der künstlerischen Tätigkeit eine große Rolle zu spielen berufen waren.
Die Mythen der Vorzeit weisen dagegen darauf hin, daß in primitiven Zeiten
diese rhythmische Abfolge keineswegs als so selbstverständlich erlebt und
aufgefaßt wurde, wie später. Levy-Bruhl spricht von »Zeremonien, deren
Zweck es ist, die Regelmäßigkeit der Jahreszeiten, die normale Produktion
der Ernte, den gewohnten Überfluß an Früchten, Insekten, eßbaren Tieren
zu gewährleisten 2.« Und Frazer sagt: »Wenn ich recht habe, bildet die Ge¬
schichte von Balders tragischem Ende sozusagen den Text des geistigen
Dramas, das Jahr für Jahr als magischer Ritus zu dem Zwecke aufgeführt
wurde, damit die Sonne scheine, Bäume wüchsen, die Ernte gedeihe, und
Mensch und Tier von den verderblichen Künsten der Feen und Trolle, Hexen
und Zauberer bewahrt blieben 3.« Es ist höchst wahrscheinlich, daß Mythen
wie die von Isis und Osiris, von Persephone und Demeter etc. ursprünglich
einen ähnlichen Gehalt hatten. Und es ist selbstverständlich, daß ein Rhythmus
Selbstredend liegt es nicht auf derselben Linie, daß Aristoteles den Rhythmus und
die Harmonie (ebenso wie die Nachahmung) als natürliche Anlage der Menschen
betrachtet, Poetik, Kapitel IV.
2 Levy-Bruhl: a. a. O. S. 216.
3 Frazer: a. a. O. S. 964 f.
Rhythmus *55
E. Adama van Scheltema: Die Kunst der Vorzeit, Stuttgart 1950, S. 41.
2 Goethe: Maximen und Reflexionen, a. a. O., Band IV, S. 242.
Rhythmus 257
Damit wäre die elementare Tatsache des Rhythmus, die auf dieser Stufe
natürlich bloß ein Phänomen der Alltagspraxis ist, und - an sich - noch nicht
einmal eine unbewußte Intention auf das Ästhetische in sich enthält, in seinem
notwendigen Zusammenhang mit der Arbeit aufgezeigt. Und Bücher weist mit
Recht darauf hin, daß der verschiedene Rhythmus verschiedener Arbeiten
uns überall als Klang ins Bewußtsein tritt, wo »die Berührung des Werkzeugs
mit dem Stoff einen Ton abgibt1.« Die Verschiedenheiten dieser Rhythmen,
die nicht allein durch die körperliche Beschaffenheit des Menschen bestimmt
sind, sondern durch deren Wechselwirkung mit einer gesellschaftlichen Potenz,
mit den sachlichen Anforderungen konkreter Arbeitsweisen, die Bücher durch
eine ganze Reihe von Beispielen belegt, ist dabei von großer Wichtigkeit.
Denn dadurch rückt der gesellschaftliche Charakter des Phänomens in ein
helleres Licht. Es ist nicht einmal nötig, auf die Probleme der Kooperation
zweier und mehrerer Arbeiter ausführlich einzugehen, obwohl Bücher an sehr
anschaulichen Fällen, wie z. B. an der Zusammenarbeit zweier Schmiede
zeigt, wie der Arbeitsprozeß hier nicht nur einen sehr bestimmten Rhythmus
der einander angepaßten Bewegungen, sondern auch den der dabei hörbaren
Töne erzeugt. Das wichtigste ist jedoch, daß dieser Rhythmus nicht etwas
naturhaft Fixiertes ist, wie bei bestimmten Bewegungen im Tierreich, wo
unsere am Arbeitsrhythmus geschulten Sinne solches feststellen, vielmehr ein
stets variierter, stets vervollkommenbarer Bestandteil der spezifisch mensch¬
lichen Praxis ist. Die Grundlage bildet deshalb kein »Instinkt«, kein unwill¬
kürlicher, unbedingter Reflex, sondern ein durch Übung erworbener, beding¬
ter Reflex im Sinne Pawlows. Und gerade das Vielerlei dieser Rhythmen, die
sich schon in verhältnismäßig unentwickelten Stadien ausbilden, führt dazu,
daß das gemeinsame Grundphänomen zu einem erworbenen, in verschiede¬
nen Formen auf verschiedene Gegenstände angewandten Bestandteil des
menschlichen Alltagslebens wird.
Die Betonung des Abstands zwischen solcher Rhythmisierung durch Arbeit
und einer »natürlichen« im Leben der Tiere (und auch der Menschen) bedeu¬
tet subjektiv, daß letztere sich völlig spontan, ohne darauf reflektierendes
Bewußtsein abspielt, da sie einen organischen, angeborenen Bestandteil der
tierischen (oder menschlichen) Existenz bildet, während erstere bei jedem
Individuum das Ergebnis eines Einübungsprozesses bildet. Die Rückwirkung
auf das Selbstbewußtsein entsteht dadurch, daß etwas Angelerntes zum
1 Ebd. S. *4-
Rhythmus 259
lebenden Tier. Diese Potentialität ist freilich ein interessantes Problem (auch
in bezug auf den primitiven Menschen) und ist wert eingehend erforscht zu
werden. Dazu müßten aber die Bedingungen der Experimente ganz anders
kritisch bewußt gemacht werden, als dies nicht nur bei Rensch, sondern auch
bei vielen anderen der Fall ist; das bezieht sich nicht nur auf die Lebens¬
bedingungen der Gefangenschaft, sondern auch auf die Existenzweise der
Haustiere, aus welcher ebenfalls direkte Rückschlüsse auf das Tier überhaupt
methodologisch unzulässig sind.
Wir machten diesen Exkurs um die für unser Problem höchst wichtigen metho¬
dologischen Fragen von Anfang an deutlich zu formulieren. Wenn wir nun
zum Problem von Rhythmus und Arbeit zurückkehren so ist klar, daß
diese Entwicklungsetappe an sich noch nichts mit Kunst zu tun hat. Der ästhe¬
tische Charakter des Rhythmus ist im Alltag des primitiven Menschen nur
insofern an sich vorhanden, als die relativ geringere Verausgabung von Kraft
erfordernde und zugleich bessere Ergebnisse erzeugende Art der Arbeit Lust¬
gefühle der Erleichterung, des Herrseins über sich selbst und den Arbeits¬
gegenstand, über den Arbeitsprozeß ein Selbstbewußtsein in der ersten Be¬
deutung unserer früheren Bestimmung auslöst. So lange solche Gefühle nur
als die unmittelbare Begleitung des jeweiligen Arbeitsprozesses auftreten,
bleibt dieses keimhafte An sich des Ästhetischen objektiv wie subjektiv latent
und zu seiner Entwicklung bedarf es weiterer differenzierender Momente,
die den Rhythmus aus dieser ursprünglichen untrennbaren Verbundenheit
mit jeweiligen konkreten Arbeitsprozessen herauslösen, ihm eine selbständige
Funktion im Leben der Menschen verleihen, die auf diesen Wegen seine Ver¬
allgemeinerung und Anwendung auf die verschiedensten Gebiete - schon
außerhalb der Arbeit selbst - ermöglichen.
Das erste derartige vermittelnde Moment wird wohl die Freude über Steige¬
rung und Erleichterung der Arbeit, vor allem das aus solchen Erlebnissen und
Erfahrungen herauswachsende Selbstbewußtsein der arbeitenden Menschen
sein. Dieses Gefühl, das ja auch auf viel höheren Stufen als in den Anfängen
der Arbeit immer wieder auftaucht, solange der Arbeitsprozeß von der Leistung
der Arbeitenden ausgehend verbessert und erleichtert wird 1, äußert sich wie
alle wichtigen Lebenstatsachen in dieser Periode in magischer Umhüllung. Es
ist für unsere Zwecke recht gleichgültig, wie innerlich diese Verbindung mit
der Magie ist, wie weit sie - vermittelt - die Handlungen selbst bestimmt,
oder im wahren Sinne des Wortes, nur eine magische Umhüllung an sich
magiefremder Inhalte ist. Gordon Childe hat unseres Erachtens im allgemei¬
nen durchaus redit, wenn er wiederholt auf die Äußerlichkeit solcher Zusam¬
menhänge hinweist: so z. B. auf viel entwickelterer Stufe, daß etwa sumerische
Priester zwar die Schrift erfunden haben, jedoch nicht als Priester oder
Magier, sondern als Folge ihrer weltlichen, administrativen Funktionen, so
auch in Ägypten, in der Kretischen Kultur1. In einem bestimmten Sinn gilt
dies auch für primitivere Stufen, obwohl dann die magische Verhüllung sicher
dichter ist, obwohl die reale Wechselwirkung zwischen realen Arbeitserfah¬
rungen und magischem Analogisieren als ihrer Verallgemeinerung viel inniger
gewesen sein mag. Diese subjektive Verschlungenheit hebt aber die an sich
vorhandene Divergenz der Akte und Intentionen nicht auf. Die Trennung
ist also hier sicherlich viel früher und radikaler vorhanden als in der Ent¬
stehungsperiode der Kunst. Und Gordon Childe weist abschließend - eben¬
falls mit Redit - darauf hin, daß die Wissenschaft nidit direkt aus Magie
und Religion entspringen konnte, ja daß Medizin oder Astronomie, wenn
sie von der Religion annektiert wurden, dadurch als Wissenschaften steril
werden mußten2. Jedenfalls: Wissenschaft kann nur Wissenschaft werden,
wenn sie ihre spezifische - desanthropomorphisierende - Methode im
Kampf gegen Magie und Religion ausbildet. Dasselbe bezieht sidi, wie wir
ebenfalls gezeigt haben, auch auf das Ästhetische, wo allerdings dieser
Abhebungsprozeß - aus ebenfalls angegebenen Beweggründen - noch kom¬
plizierter und schwieriger ist, als der in der Wissenschaft. Bei der Frage von
Arbeit und Rhythmus muß daran festgehalten werden, daß die Entstehung
der rhythmisierten Bewegung ein Ergebnis der Verbesserung des Arbeits¬
prozesses selbst, der Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit ist, also
nidit unmittelbar, nicht direkt von der Magie bestimmt sein kann. Wenn
wir jedoch jetzt auf die auslösenden Momente für das Selbständigwerden
des Ästhetischen reflektieren, so ist der primäre Gegenstand unseres Inter¬
esses nicht so sehr der objektive Prozeß selbst, als vielmehr dessen subjek¬
tive Widerspiegelung im Bewußtsein, die beginnende Ausbildung einer
eigenartigen Widerspiegelung der Wirklichkeit.
Gehlen. Der Mensch, a. a. O. S. 231. Daß Gehlen hier überall von »Symbolen«
spricht und das Analogische in diesen Akten verkennt, hebt die Richtigkeit der
Beschreibung selbst nicht auf.
Rhythmus 263
1 Boas: a. a. O. S. 40.
264 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
innere Musik der Bewegungen bloß ins Hörbare fortzusetzen, und wieder
die Bewegung die an sich raumlose Musik in sich hineinzuziehen, und an
einen sichtbaren Ort zu verdichten h«
Wir haben bereits, Bücher folgend, auf die rhythmisierten und oft von¬
einander klanglich, der Stärke nach verschiedene Töne aufmerksam ge¬
macht, die bei einer derartigen Arbeit entstehen. Und Überreste der ältesten
Überlieferungen weisen darauf hin, daß das rhythmisierte Wesen der Arbeit
auf noch sehr primitiver Stufe als Begleitung des Rhythmus der Bewegun¬
gen durch - unartikulierte, aber in den Rhythmus genau eingefügte - Aus¬
rufe sich zu äußern pflegte. Bücher beschreibt diesen Zustand folgendermaßen:
»Der erste Schritt, den der primitive Mensch bei seiner Arbeit in der Rich¬
tung des Gesanges getan hat, hätte also nicht darin bestanden, daß er sinn¬
volle Worte nach einem bestimmten Gesetz des Silbenfalls aneinander
reihte, um damit Gedanken und Gefühle zu einem ihm wohlgefälligen und
anderen verständliche Ausdrucke zu bringen, sondern darin, daß er jene
halbtierisdhen Laute variierte und sie in einer bestimmten, dem Gesang der
Arbeit sich anpassenden Abfolge aneinander reihte, um das Gefühl der
Erleichterung, das ihm an und für sich jene Laute gewähren, zu verstärken,
vielleicht es zum positiven Lustgefühle zu steigern. Er baute seine ersten
Arbeitsgesänge aus dem selben Urstoff, aus dem die Sprache ihre Worte
bildete, den einfachen Naturlauten. So entstanden Gesänge, wie sie oben
noch mehrfach mitgeteilt werden konnten, die lediglich aus sinnlosen Laut¬
reihen bestehen, und bei deren Vortrag allein die musikalische Wirkung,
der Tonrhythmus, als Unterstützungsmittel des Bewegungsrhythmus in
Betracht kommt. Die Notwendigkeit, beide Arten von Rhythmen in
Übereinstimmung miteinander aufzubauen, war durch ihre gemeinsame
Abhängigkeit von der Atmung gegeben1 2.« Diese Betrachtungen zeigen
wieder, wie die »naturhaften« Elemente wirksam werden. Bücher hat
ganz Recht, wenn er auf die verbindende Rolle der Atmung aufmerksam
macht.
Ist der hier angedeutete Zusammenhang einmal da, so erscheint die Über¬
tragung des Rhythmus von einem Gebiet auf andere als ganz natürlich.
Die Rolle des Rhythmus in den unmittelbar magischen Zeremonien ist
vielfach belegt. Diese waren aber ein universelles Mittel in der Regelung
der verschiedenartigsten Lebensgebiete. Hat sich also einmal die Art der
Übertragung durchgesetzt, hat sich dadurch der Rhythmus von der kon¬
kreten Arbeit, in der er ursprünglich entstanden ist, losgelöst, so stand einer
weiteren Verallgemeinerung, einer noch breiteren Anwendung bereits nichts
mehr im Wege. Allerdings gehört dazu die - primär magisch bestimmte -
Nachahmung wirklicher Vorgänge des Lebens, um gerade dadurch das ge¬
wünschte Ziel magisch der Verwirklichung näherzubringen. Schon das
Faktum eines solchen unmittelbar praktisch nicht zweckgebundenen, besser
gesagt: auf einen phantasmagorischen Zweck; orientierten Nachahmern löst
den Rhythmus von der realen Arbeit selbst ab, gibt ihm eine sinnlich ver¬
allgemeinerte Fassung. Darauf kann hier nur kurz hingewiesen werden, da
der ganze komplizierte Komplex der Mimesis erst in den folgenden Ka¬
piteln behandelt wird. Die größte Bedeutung wird dabei der Tanz erlangt
haben. Dazu sei hier nur kurz bemerkt, daß nicht nur bei primitiven
Völkern, sondern auch in der Antike der Tanz, obwohl er bereits zur
Kunst geworden war, noch keineswegs seine ursprüngliche Verbindung mit
der Arbeit, mit Übung und Spiel, mit den Sitten des Alltagslebens verloren
hatte. Jedenfalls führt Bücher neben einer Reihe von Fällen aus dem Leben
primitiver Völker die verschiedensten Beispiele aus der Antike, z. B. aus
Xenophons »Gastmahl« an1.
Wie immer sich nun auch dieser Prozeß des Hinausgehens des Rhythmus
über die konkrete Arbeit, seine relative Loslösung von ihr, seine sinnliche
Verallgemeinerung auf die mannigfaltigsten Lebensäußerungen abgespielt
haben mag, das philosophisch Wesentliche dabei ist, daß er aus einem
Moment des realen Lebens die Widerspiegelung dieses Moments geworden
ist. Dieser Widerspiegelungscharakter auch der abstraktesten Momente des
Ästhetischen kann nicht energisch genug hervorgehoben werden. Denn die
moderne bürgerliche Ästhetik, die in jeder Widerspiegelungslehre den ver¬
haßten Materialismus wittert, ist immer bestrebt, die einfachen und ab¬
strakten — vor allem die mathematisierbaren oder geometrisierten — For¬
men und Formelemente der künstlerischen Reproduktion der Wirklichkeit
1 Ebd. S. 325 f.
Rhythmus 267
zur Epik und Dramatik bildet, sei hier nur nebenbei erwähnt. Wichtiger ist,
daß bei ihm deshalb aus dem Selbstbewußtsein jede Beziehung zur Welt, zur
Umwelt des Menschen verschwindet, daß es nicht mehr das in der Praxis
fundierte Beziehen der Reflexe der Wirklichkeit auf den Menschen ist, son¬
dern die Flucht aus der Welt, das theoretische Begründen einer hermetischen
Absperrung des Menschen von der Außenwelt. Darin drückt sich zweifellos
das Verhalten eines großen Teils der bürgerlichen Intelligenz in der imperia¬
listischen Periode aus, es ist aber radikal antihistorisch, wenn es als »ewiges«
Prinzip in die Entwicklung der Menschheit hineininterpretiert wird. Die auf
diese Weise entstehende Mystifizierung steigert sich noch dadurch, daß Caud-
well seine These physiologisch unterbauen will. Wir haben darauf hinge¬
wiesen, daß die Rolle der physiologischen Momente nicht unterschätzt werden
darf. Ist doch der Rhythmus, der in der Arbeit entsteht, das Produkt einer
Wechselwirkung zwischen den physiologischen Gegebenheiten des Menschen
und den Forderungen einer optimalen Arbeitsleistung, wobei der ständige
Bezug auf das Physiologische eben im Bestreben, die Arbeit zu erleichtern
zur Geltung gelangt. Auch ist, wie ebenfalls betont, in späteren Entwick¬
lungsphasen der Einfluß des physiologisch bestimmten Rhythmus (Atmen in
Poesie, Gesang etc.) ein nicht unwichtiger Faktor in dessen weiterer Aus¬
bildung und Verfeinerung. Daß aber diese Momente für sich genommen, und
zwar als Negationen jedes »äußeren« Rhythmus je zu einer Poesie, zu einer
Musik hätten führen können, muß entschieden bestritten werden. Die Be¬
wältigung der rhtyhmischen Erscheinungen der Natur, z. B. des Wechsels
der Jahreszeiten erfordert bereits eine relativ hohe Kultur. Gordon Childe
weist mit Recht darauf hin, welche Schwierigkeiten in dieser Hinsicht der
ursprüngliche Mondkalender verursacht hat h Caudwell selbst zeigt in einer
an sich berechtigten Polemik gegen Wittgensteins Theorie vom »Unaussprech¬
lichen«, bei welchem ein metaphysisches Dilemma zwischen (semantischer)
Ausdrückbarkeit und mystischer Intuition konstruiert wurde, welche Rolle
die Kunst im Aussagen des Unaussprechlichen spielt, auf. Da er aber hier nur
an ein solipsistisches Selbstbewußtsein appellieren kann, ist seine Gegenüber¬
stellung - »Der Musiker ist ein introvertierter Mathematiker«1 2 - ebenso
metaphysisch und mystisch wie die Theorie des mit Recht kritisierten Witt¬
genstein.
Freilich beinhaltet eine solche Feststellung nicht nur die Stellungnahme gegen
die mystische Genesis aus dem isolierten Ich, sondern zugleich die gegen jene
Auffassungen, die die Widerspiegelung auf eine jeweilige Photokopie der
unmittelbar gegebenen Wirklichkeit reduzieren wollen. Flier treffen wir in
der Ästhetik auf die allgemeinen Schranken des heutigen bürgerlichen Den¬
kens, das die Existenz des dialektischen Materialismus nicht anerkennt, und
seine Polemik stets gegen dessen primitivere mechanische und metaphysische
Abart richtet. Der dialektische Materialismus muß sidi aber die Ausbildung
seiner eigenen Methode nicht nur dem philosophischen Idealismus, sondern
auch seinen mechanistischen Vorläufern gegenüber erkämpfen. Lenin vollzieht
auf folgende Weise die Abgrenzung vom metaphysischen Materialismus, »des¬
sen Hauptüt?el in der Unfähigkeit besteht, die Dialektik auf die Bildertheorie,
auf den Prozeß und auf die Entwicklung der Erkenntnis anzuwenden« b
Es ist freilich interessant, daß, sobald nicht von der philosophischen Theorie
der Widerspiegelung, sondern von Auslegung bestimmter Lebenstatsachen
die Rede ist, es nicht wenige Forscher gibt, die die dialektische Widerspiege¬
lungstheorie (terminologisch anders gefaßt) praktisch anwenden. Man denke
an die anthropologischen Ausführungen Gehlens, in denen er Abstraktionen
und Betonungen in der Widerspiegelung der Wirklichkeit praktisch aner¬
kennt, diese also im konkreten Fall dialektisch auffaßt, wenn er auch - be¬
fangen in den allgemeinen bürgerlichen Vorurteilen der imperialistischen
Periode - das richtig beschriebene Phänomen mit der irreführenden Etikette
des Symbols versieht. In einer ähnlichen Weise vollzieht sich die Anwendung
der Rhythmik außerhalb der konkreten Arbeit. In der Widerspiegelung der
sinnlich gegebenen Ganzheit wird eines der wichtigen Momente, eben der
Rhythmus, und zwar vorerst so wie er unmittelbar ist, besonders hervor¬
gehoben, und eben dadurch von seiner konkreten, ursprünglichen Erschei¬
nungswelt losgelöst, als selbständig erfaßtes (widerspiegeltes) Stück Wirk¬
lichkeit in den Erfahrungsschatz einverleibt, darin aufbewahrt, um ihn in
neuen Zusammenhängen neu zu verwerten. Dieser Vorgang ist im Alltags¬
leben durchaus häufig; er geschieht zumeist auf der Grundlage von Analo¬
gien oder Analogieschlüssen. Haben diese einen in der objektiven Wirklich¬
keit fundierten Keim, d. h. sind sie relativ getreue Widerspiegelungen, so
können sie zu einem dauernden Besitz des Alltagslebens werden, ja sie können
sogar Anlässe zu wissenschaftlichen Verallgemeinerungen geben; sind sie es
nicht, so sterben sie ab, oder leben als Vorurteile, Aberglauben etc. weiter.
(Man denke an das Volksvorurteil gegen rothaarige Menschen.) Auch ästhe¬
tische »Halbfabrikate« des Alltags leben und wirken auf diese Weise, z. B.
echte und falsche Errungenschaften der praktischen Menschenkenntnis. Es
wird nur zumeist nicht oder ungenügend betont, daß die Widerspiegelung
der Wirklichkeit die unerläßliche Vermittlung zu jedem weiteren Schritt in
einer solchen Ausdehnung der Praxis bildet.
Für uns ist deshalb nicht dieses alltägliche Phänomen der menschlichen Praxis
das eigentliche Problem, vielmehr die Frage, wie in diesem Fall die normale
Widerspiegelung in eine ästhetische hinüberwächst. Der dialektische, nicht
mechanisch photographierende Charakter der Widerspiegelung wird sich erst
bei der Behandlung der unmittelbaren mimetisdhen Reproduktion der Wirk¬
lichkeit in seiner ganzen Kompliziertheit zeigen, wo etwa Probleme wie die
Verwandlung der extensiven und intensiven Unendlichkeit der Realität in
ein begrenztes Abbild, das aber deren intensive Unendlichkeit wiederzu¬
geben fähig ist, auftauchen. Jetzt erwachsen die Schwierigkeiten gerade aus
der - relativen - Einfachheit der Lage. Handelt es sich doch bloß darum,
daß ein Moment eines Komplexes isoliert widergespiegelt wird, damit es in
einem anderen, neuen Komplex verwendbar werde. Das ist, wie betont, in
der Alltagspraxis ein vollkommen normales Phänomen, das, wenn einmal
die dialektische Widerspiegelung in ihrer vermittelten Funktion begriffen
wurde, keine besondere Bedenken mehr erregen kann. Die Schwierigkeiten,
die jetzt vor uns stehen, haben eine doppelte Wurzel: erstens handelt es sich
um ein bloßes Moment der ästhetischen Einheit, dessen Eigenart aber gerade
darin besteht, auch isoliert - in einer bestimmten Weise - als ästhetisch be¬
trachtet werden zu können. Eine solche Isolation ist - im ästhetischen Sinne -
bei den meisten Momenten kaum oder wenigstens viel schwerer vollziehbar.
Wenn wir etwa eine Gestalt aus einer Dichtung isoliert zu betrachten ver¬
suchen, so ist das meistens nur bis zu einem äußerst relativen Grad möglich.
Sie ist in ihrem tiefsten Wesen durch ihr Schicksal, durch die Situationen, die
sie erlebt, durch die anderen Gestalten, mit denen sie in Wechselbeziehungen
steht etc., bis in ihre eigenste Qualität hinein bestimmt. Audi die isolierende
Analyse setzt diese Bindungen, wenn auch zuweilen unbewußt, voraus, und
die Betraditung mündet, gewollt oder ungewollt immer in die des konkreten
Werkganzen. Es gibt natürlich eine unendlich große Literatur über die iso¬
lierten Gestalten von Hamlet oder Faust, über den Don Quixotteismus oder
den Bovarysmus. Sie bleibt aber nur insofern ästhetisch relevant, als sie die
Gestalt nicht aus ihrer gegebenen Umwelt herausbricht. Geschieht dies, so
Rhythmus 271
Die Lage läßt sich noch besser erhellen, wenn wir einen Blick auf die Prosodie
werfen, in welcher die Elemente des Sprachrhythmus als Begriffe behandelt
werden. Ihr Nutzen als Wissenschaft - auch für die ästhetische Theorie und
Praxis - ist natürlich unbestreitbar. Wenn aber auf entwickelter Stufe Pro¬
bleme des konkreten Versrhythmus auftauchen, so ist in den meisten Fällen
ein dialektischer Gegensatz vorhanden zwischen den abstrakten Anforderun¬
gen der Prosodie, in welcher der ursprüngliche, aus der Arbeit entstandene
Rhythmus in seiner reinen Form erscheint und zwischen den Erfordernissen
des nunmehr komplizierten, echten, aus Wortsinn und Wortklang erwach¬
senen Versrhythmus, dem freilich die prosodischen Gesetze als allgemeines
Fundament zugrunde liegen. Klopstock hat wenigstens einen Teil der hier
auftauchenden Probleme plastisch beschrieben: »Wenn wir also unseren
Hexameter nach der Prosodie unserer Sprache, und nach seinen übrigen
Regeln mit Richtigkeit ausarbeiten; wenn wir in der Aussuchung harmoni¬
scher Wörter sorgfältig sind; wenn wir ferner das Verhältnis, das ein Vers
gegen den anderen in den Perioden bekömmt, verstehen; wenn wir endlich
die Mannigfaltigkeit auf viele Arten voneinander unterschiedener Perioden
nicht nur kennen, sondern auch diese abwechselnde Perioden, nach Absichten,
zu ordnen wissen: dann erst dürfen wir glauben, einen hohen Grad der poeti¬
schen Harmonie erreicht zu haben. Aber die Gedanken des Gedichts sind noch
besonders; und der Wohlklang ist auch besonders. Sie haben noch kein ande¬
res Verhältnis untereinander, als daß die Seele in eben der Zeit durch die
Empfindungen des Ohrs unterhalten wird, da sie der Gedanke des Diditers
beschäftigt. Wenn die Harmonie der Verse dem Ohr auf diese Weise gefällt,
so haben wir zwar schon viel erreicht; aber noch nicht alles, was wir erreichen
konnten. Es ist noch ein gewisser Wohlklang übrig, der mit den Gedanken
verbunden ist, und der sie ausdrücken hilft. Es ist aber nichts schwerer zu
bestimmen, als diese höchste Feinheit der Harmonie1.«
Der Gegensatz scheint oft ein abstrakt unaufhebbarer zu sein, die große Dich¬
tung besteht aber immer in einer konkret dialektischen Auflösung gerade der
zugespitztesten Widersprüche. Wir führen, um diese Lage zu beleuchten -
nicht um die Lösung auch nur anzudeuten, da diese nur in einer Genretheorie
der Lyrik möglich ist - einige besonders prägnante Ausdrücke großer Lyriker
an, die sich auch theoretisch mit dieser Frage beschäftigt haben. So hat Goethe
stets die poetische Praxis strenger Metriker und Dogmatiker der Prosodie
abgelehnt und hat, Ratschläge solcher Kritiker beiseiteschiebend, an vielen
Stellen von »Hermann und Dorothea« seinen lässigen, oft direkt fehlerhaften
Hexameter beibehalten, um die Integrität des echt poetischen Rhythmus zu
bewahren. In diesem Sinne schreibt er an Zelter über, besser gesagt, gegen die
Sonette von Voß: »Für lauter Prosodie ist ihm die Poesie ganz entschwun¬
den h« Und der von ihm sonst in wichtigen Fragen der Lyrik so grundver¬
schiedene E. A. Poe nennt das Skandieren, d. h. das Lesen der Gedichte in
prosodischem Rhythmus geradezu den Tod der Poesie: ». . . daß der Vers eine
Sache ist und die Skandierung eine andere. Der antike Vers, laut gelesen, ist
im allgemeinen musikalisch, gelegentlich sehr musikalisch. Skandiert nach
prosodischen Regeln können wir zumeist nichts damit anfangen 1 2.« Es sei hier
nur am Rande bemerkt, daß ähnliche Widersprüche zwischen Rhythmus und
Metrik (hier Prosodie) auch in anderen Künsten vorkommt. Wölfflin weist
z. B. auf solche in der Architektur des Barock hin 3.
Es wäre das denkbar Unrichtigste, aus solchen Gegensätzlichkeiten zu folgern,
daß die prosodische Rhythmik der Gedichte etwas rein Willkürliches, bloß
akademisch Konventionelles sei. Vor allem - um bei der antiken Metrik zu
bleiben - hat Bücher nachgewiesen, daß ihre Hauptformen keineswegs will¬
kürliche »Erfindungen« von Dichtern, keineswegs erstarrte Regel ihrer Praxis
sind, sondern eben aus der Rhythmik der Arbeit allmählich zu Elementen der
Poesie wurden. Er geht dabei von dem Stampf- und Schlagrh)^thmus aus, der
die menschliche Stimme im ursprünglichen Arbeitsgesang nur zu folgen und
zu begleiten hatte. Er führt nun konkret aus: »Der Jambus und Trochaeus
sind Stampfmaße: ein schwach und ein stark auftretender Fuß. Der Sponda-
eus ist ein Schlagmetrum, überall leicht zu erkennen, wo zwei Menschen im
Wechseltakte klopfen: Daktylus und Anapäst sind Hammermetren, noch
heute in jeder Dorfschmiede zu beobachten, wo der Arbeiter einem Sdilage
auf das glühende Eisen zwei kurze Vor- oder Nachschläge auf den Amboß
vorausgehen und folgen läßt. Der Schmied nennt das >den Hammer singen
lassem.« Und so weiter. Bücher betont dann, um einer allzu wörtlichen,
mechanischen Auslegung seiner Ergebnisse vorzubeugen, daß »die Verskunst,
einmal vorhanden, ihre eigenen Bahnen verfolgt, sobald das Gedicht von
1 Bücher: a. a. O. S. 369 f.
Ebd. S. 58 ff. Vergleiche auch Burckhardt: Griediische Kulturgeschichte, a. a. O.
Band II, S. 204 f.
3 Aristoteles: Politik, VIII. Buch, Kapitel 6.
Rhythmus 27 5
1 Caudwell: a. a. O. S. 246.
Rhythmus 277
1 Ebd.
Rhythmus 279
Trotzdem ist seine Kontinuität mit den Anfängen keineswegs eine zufällige
oder willkürliche, auch kann sie nidit bloß aus seiner formellen Wesensart
begriffen werden. Wenn wir dabei an die eben analysierten Ausführungen
Schillers denken, so wird klar, daß solche Aufgaben, wie er der ordnenden
Tätigkeit des Rhythmus zuweist, dieser nur ausführen kann, wenn er in
bestimmten Beziehungen homogen mit den von ihm geordneten anderen
Elementen der betreffenden Kunstart ist. Es unterliegt nun keinem Zweifel,
daß diese im gegebenen Fall (und auch allgemein) Widerspiegelungen der
objektiven Wirklichkeit sind. Will doch Schiller durch den bewußt angewen¬
deten Rhythmus gerade erreichen, daß in den herangezogenen Wider¬
spiegelungsbildern eine stärkere Bewegung zum Betonen des Wesenhaften
entstehe, daß sie ihre ursprüngliche Selbständigkeit einander gegenüber, als
einzelne, heterogene Widerspiegelungsstücke abstreifen, und die Homogenei-
tät eines einheitlichen dramatischen Stromes erringen. Es ist klar, daß nur
die Widerspiegelung der Wirklichkeit eine solche Funktion im Ordnen der
Widerspiegelungselemente zu einem unifizierten Abbild der Wirklichkeit im
Kunstwerk zu leisten imstande ist.
Die Verwandlung des realen Reaktionsmoments des Rhythmus, als Moment
des Arbeitsprozesses, in eine Widerspiegelung, war, wie wir gesehen haben,
bereits die unerläßliche Voraussetzung für seine Anwendung auf verschiedene
Gebiete des Alltagslebens; er erhielt aber dort, wie wir ebenfalls hervor¬
gehoben haben, gedanklich vorerst eine magische Umhüllung. In dieser waren
aber bereits die Keime seiner ästhetischen Funktion objektiv enthalten, ja
gerade hier tritt bereits sein spezifischer Charakter als ästhetische Kategorie
immer deutlicher hervor. Erstens sein formaler Charakter. Der Rhythmus ist
nunmehr zwar eine Widerspiegelung der Wirklichkeit, jedoch nicht die ihrer
konkreten Inhalte, vielmehr und im Gegensatz dazu die jener bestimmten
wesentlichen Formen, die solche Inhalte objektiv gliedern und ordnen, die sie
für den Menschen brauchbar, nützlich machen. Auch in dieser Ausbreitung
und Verallgemeinerung spielt die Magie eine gewisse Rolle. Sie entfernt die
widergespiegelten Rhythmen immer stärker von ihrem realen Ursprung, wen¬
det sie auf neue Formen von Bewegungen, Gesängen etc. an, schafft dadurch
neue Variationen und Kombinationen zwischen ihnen, ohne deshalb ihre ord¬
nende Funktion aufzugeben oder abzuschwächen. Ja im Gegenteil: gerade die
magische Bindung, das Zeremonienhafte an ihr betont noch stärker, diesmal
aber nicht aus sachlichen Gründen, sondern gefühlsbetont, Gefühle erwedcend,
evokativ, im Rhythmus das Prinzip einer vom Menschen bejahten, sein
Selbstbewußtsein erweckenden und erhöhenden Ordnung. Dabei ist nodr zu
280 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
betonen, daß dieses immer energischere Erscheinen des Rhythmus als Form eine
Form von inhaltlich (magisch-inhaltlich) bestimmten Zielsetzungen ist; je kon¬
kreter diese als solche determiniert sind, desto stärker tritt der formale Charak¬
ter des Rhythmus hervor. Daß diese Bindung an die Magie sehr oft zu einer Er¬
starrung ins streng vorgeschriebene Zeremonienhafte führt, ist unbestreitbar.
Das ändert aber nichts an ihrer Bedeutung als Überleitung, als Übergang, nur
daß dieser nicht geradlinig, sondern kampfvoll sein muß. Eine ähnliche Bewe¬
gung von der besonderen künstlerischen Inhaltlichkeit zur klaren Befestigung
des formalen Charakters, tritt - mit allen Widersprüchen, die wir früher ana¬
lysiert haben - in Erscheinung, wenn die gesellschaftliche Entwicklung die be¬
sondere Gestalt des Ästhetischen herausarbeitet. Es handelt sich also um einen
langwierigen Prozeß mit einigen Knotenpunkten, ja Sprüngen, bis aus der
Wirklichkeit des Rhythmus im Arbeitsprozeß ein wichtiges, abstrakt-formales
Element der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit wird.
Indem etwas in der Wirklichkeit sich unzählige Male Wiederholendes in seinen
dauernden Momenten durch die Widerspiegelung fixiert und immer erneut
auf neue Tatsachen und Komplexe angewendet wird, geschieht etwas Ähn¬
liches dazu, was Lenin über die Schlußformen als Widerspiegelungen der
Wirklichkeit genial ausgesagt hat. Jedoch ist dieser Widerspiegelungscharakter
einer Form, eines mannigfaltig anwendbaren Prinzips hier von qualitativ
anderer Art, als das von Lenin beschriebene — logische — Phänomen. Eine
echtere Analogie dazu bildet der Rhythmusbegriff der Prosodie; wir haben
aber sehen können, daß dieser nicht in seiner reinen Wesenheit für die ästhe¬
tische Praxis in Betracht kommt, sondern der inhaltdurchdrängte, konkret¬
besondere Rhythmus selbst. Unsere früheren Betrachtungen haben aber auch
gezeigt, daß der prosodische »Begriff« des Rhythmus nicht einfach eine außer¬
ästhetische Abstraktion ist. Der endgültige Rhythmus eines Werks ist das
Ergebnis einer widerspruchsreich-kampfvollen Einheit beider Momente.
Dieser Unterschied leitet zum zweiten Gesichtspunkt über. Der Rhythmus-
begriff der Prosodie (oder der Musiktheorie etc.) hat in seinem begrifflichen
Wesen etwas von der Wesensart anderer Begriffe, gehört insofern auch in die
Zusammenhänge einer Wissenschaft, enthält also Tendenzen, die ebenfalls
desanthropomorphisierend wirken. Der konkret-besondere Rhythmus selbst -
als ästhetische Kategorie - ist dagegen rein anthropomorphisierend. Er ent¬
steht aus der Wechselbeziehung des arbeitenden Menschen mit der Natur,
vermittelt durch deren gesellschaftliche Beziehungen miteinander, und soweit
in der Entwicklung der Kunst rhythmische Beziehungen entdeckt werden, die
unabhängig vom Menschen und seinem Bewußtsein existieren, werden sie -
Rhythmus 281
ja eben von der Kunst im Allgemeinen und nicht speziell über das ästhetische
Wesen des Rhythmus als über ein abstraktes, formelles Teilmoment des Ästhe¬
tischen. Nach dem bisher Ausgeführten können wir dieses kurz so zusammen¬
fassen: der Rhythmus ist - eben als abstrakt-formelles Teilmoment - objektiv
weltlos, wenn audi der Möglichkeit nach weltbezogen, welten-ordnend;
subjektiv angesehen subjektlos, wenn er auch in seiner Intention evokativ
stets auf das Subjekt gerichtet ist. Erst damit haben wir das Wesen solcher
abstrakten Momente des Ästhetischen einigermaßen Umrissen. Weltlosigkeit
und Subjektlosigkeit sind die inhaltlichen Kennzeichen eines Gebildes forma¬
ler Art. (Hier ist von Weltlosigkeit im allgemein ästhetischen Sinne die
Rede, als Charakteristik abstrakter Formungsmomente. Es gibt natürlich
Fälle in der Entwicklung der Kunst, in denen Kunstformen, die ihrem
Wesen nach eine »Welt« gestalten sollen, - Epik, Dramatik, Malerei etc. -
infolge bestimmter abstraktiver Tendenzen ihrer Periode weltlos werden.
Diese Möglichkeit mußte hier kurz erwähnt werden, um eine Verwechslung
der Weltlosigkeit des Rhythmus mit dieser anderen zu vermeiden.)
Deshalb sind diese Elemente des Ästhetischen einer desanthropomorphisieren-
den, wissenschaftlichen Betrachtung am direktesten zugänglich. Deshalb kön¬
nen sie auch am leichtesten formalistisch erstarren. Dies kann bereits in der
magischen Entstehungsperiode, vor dem Selbständigwerden des Ästhetischen
geschehen, indem ein zeremonienhafter Formalismus das spontan Evokative
niederhält, in Routine verwandelt, seine Entfaltung hemmt. Jedoch auch die
spätere Kunstgeschichte zeigt, wie leicht die - nicht unbedingt von der un¬
mittelbaren künstlerischen Praxis ausgehende - Verallgemeinerung und
Systematisierung des rhythmischen Ausgangspunkts zu einer akademistischen
Erstarrung, zu einer bloß formalen, im tiefsten Sinne antikünstlerischen
Virtuosität werden kann. Die Gründe derartiger Phänomene sind sehr geeig¬
net das Wesen des Rhythmus als spezifische, abstrakte, ästhetische Form zu
erhellen. Es wurde schon wiederholt ausgesprochen, und es wird in den
späteren, konkreteren Darlegungen eine ausschlaggebende Rolle spielen, daß
das entscheidendste Merkmal der Eigenart der ästhetischen Form gerade darin
besteht, stets Form eines bestimmten Inhalts zu sein. Diesem Prinzip gegen¬
über können auch die abstrakten Elemente dieser Form - letzten Endes -
keine Ausnahme bilden. Sobald ihnen eine solche Verbindung zum — stets
einmalig konkreten — künstlerischen Gehalt fehlt, tritt die oben angezeigte
Erstarrung unfehlbar ein. Und es sei hier nur nebenbei bemerkt, daß darin
sich zugleich die Kontinuität in der Entwicklung des Rhythmus aus der
Arbeit, aus der Praxis der Menschen ausdrückt. Auch dort entsteht er aus
Rhythmus 283
Form nicht in dem Sinne restlos mit dem von ihr geformten Inhalt ver¬
schmilzt, wie in den eigentlichen, mimetischen Formen, sondern bei der Not¬
wendigkeit einer konkreten und organischen Einheit, bei dem Erlebniszwang
einer aus dem Gehalt herauswachsenden Form, doch eine gewisse - evokativ
wirkende - Selbständigkeit als Moment bewahrt. Die für die Ästhetik aus¬
schlaggebende Einheit von Form und Inhalt erscheint mithin in einer modi¬
fizierten, beschränkteren Weise. Das ist ein wesentliches Kennzeichen aller
abstrakten Formen, als Widerspiegelungen bestimmter, isolierbarer, formaler
Momente der Wirklichkeit. Die für die Ästhetik außerordentlich große Be¬
deutung dieser Wesensart der abstrakten Formen werden wir detailliert erst
in der Analyse der Ornamentik behandeln können, wo solche abstrakten
Formen nicht mehr als bloße Momente eines - nicht abstrakten - Komplexes
auftreten, sondern sich zu selbständigen Kunstformen zu organisieren im¬
stande sind.
Vom philosophischen Standpunkt aus bieten die Probleme von Symmetrie und
Proportion viel weniger Schwierigkeiten, als die des Rhythmus. Vor allem
deshalb, weil sie zwar ebenfalls abstrakt-formale Widerspiegelungen bestimm¬
ter, wesentlicher und wiederkehrender Momente der objektiven Wirklichkeit
sind, in der menschlichen Praxis und insbesondere in der künstlerischen jedoch
niemals mit jener — relativen — Selbständigkeit auftreten können, die wir
beim Rhythmus feststellen mußten. Sie bleiben stets bloße Momente eines
Komplexes, dessen entscheidende Aufbauprinzipien nicht abstrakter Wesens¬
art sind. Damit fällt bei ihnen die ganze, komplizierte Dialektik des -
relativ - selbständig wirkenden Momentes weg, sie müssen nur als Momente
untersucht werden. In bestimmtem Sinne und gleichzeitig auf höherer Stufe
kehren diese Probleme wieder zurück, wenn Symmetrie und Proportion
als Momente einer abstrakt-totalen, zur Werkhaftigkeit erhobenen Form in
der Ornamentik auftreten. Dann sind sie aber auch nur Teilmomente jener
dialektischen Widersprüchlichkeit, die das Wesen der Ornamentik in der
Ästhetik bezeichnet.
Die Verschiedenheit dieser abstrakten Kategorien vom früher behandelten
Rhythmus zeigt sich auch darin, daß jene weitaus offensichtlicher in der vom
Menschen unabhängig existierenden Natur vorhanden sind, als dieser. Es
wäre sogar sehr naheliegend in ihnen ausschließlich eine Widerspiegelung
Symmetrie und Proportion 285
unzertrennlich mit der menschlichen Gattung, als Gegenstand und Subjekt des
Ästhetischen verbunden ist.
Dieses Anthropomorphisieren ist ein grundlegendes Phänomen für die
Symmetrie soweit sie für die Ästhetik in Betracht kommt. Schon Hegel hat
festgestellt, daß objektiv angesehen zwischen den Raumkoordinaten, die wir
mit den Ausdrücken Höhe, Länge, Breite bezeichnen, an sich keine Unter¬
schiede sind. »Die Höhe« führt er weiter aus, »hat ihre nähere Bestimmung
an der Richtung nach dem Mittelpunkt der Erde; aber diese konkretere
Bestimmung geht die Natur des Raums für sich nichts an1.« An sich ist dies
eine allgemein geozentrische und nicht speziell auf den Menschen bezogene
Konstellation. Sie erlangt ihre Besonderheit erst mit dem aufrechten Gang
des Menschen, worin, wie Darwin und Engels zeigen, ein entscheidendes
Trennungsmerkmal vom tierischen Zustand in Erscheinung tritt2. Wie sehr
dadurch alle Beziehungen zur Wirklichkeit, zur Natur umgestaltet werden,
zeigt sich schon darin, daß überall, wo die Symmetrie in der menschlichen
Produktion zum Vorschein kommt, ein Vorherrschen der vertikalen Achse
vor der horizontalen zu beobachten ist. So sagt Boas: »In der weitaus größten
Zahl der Fälle von symmetrischen Arrangement finden wir solche als rechts
und links von der vertikalen Achse, viel seltener die von über und unter einer
horizontalen 3.«
Hier ist bereits ein weiteres wichtiges Moment ausgesprochen, das von rechts
und links. Weyl hebt in seinem interessanten Buch über Symmetrie mit Recht
hervor, daß wissenschaftlich angesehen naturgemäß nicht der geringste Unter-
sdried zwischen rechts und links vorhanden sein kann. Dagegen entsteht in
der menschlichen Gesellschaft ein sehr scharfer Unterschied, ja Gegensatz
zwischen ihnen, sie entwickeln sich zu Symbolen von Gut und Böse 4. Sie
werden aber nicht nur einfach symbolisch wertbetont; die bisher angedeutete
Symbolik könnte an und für sich nur eine an rechts und links assoziierte
Allegorik sein (und ist es auch in vielen Fällen). Als solche kann sie sogar
umgekehrt werden. Man denke an das - freilich moderne - Beispiel von rechts
und links in der Politik, wo, seit dem Jacobinismus in der französischen
Revolution in sehr breitem Maße gerade das Linke die Wertbetonung des
Richtigen, Fortschrittlichen etc. erhält. Hier sind freilich rechts und links schon
stark entsinnlichte, allgemeine Begriffe geworden, in denen nur äußerst ab¬
geblaßte Erinnerungsbilder der ursprünglichen, unmittelbar sinnlichen Erleb¬
nisse von rechts und links sich erhalten haben.
Daß es sich aber bei rechts und links nicht nur um bloße Assoziationen
allegorischen Charakters handelt, zeigen die außerordentlich interessanten
Aufsätze Wölfflins über diese Frage. Wölfflin wirft das Problem von rechts
und links für die Komposition der Malerei auf, und auch dort nur von einer
bestimmten Entwicklungsstufe an. In ihr erhält die Bewegung des Auges beim
Beschauer, d. h. die ästhetische Wirkung der Komposition eine ausschlag¬
gebende Bedeutung auch dann, wenn das Bild im wesentlichen symmetrisch
aufgebaut ist. Wölfflin illustriert diesen Gedanken an der sixtinischen Ma¬
donna und an Holbeins Darmstädter Marienbild. Diese Bedeutung steigert
sich noch, wenn die Komposition nicht symmetrisch ist. Wölfflin beschreibt das
wesentliche Erlebnis, das sich hier aus der Komposition ergibt folgender¬
maßen: »Im weiteren Verlauf solcher Beobachtungen ergibt sich dann, daß
wir durchweg von steigenden und fallenden Schräglinien zu reden Anlaß
haben. Was im Sinn der Links-Rechts-Diagonale läuft, wird als Steigen, das
entgegengesetzte als Fallen empfunden. Dort sagen wir (wenn sonst nichts
dagegen spricht): die Treppe führt hinauf, hier: die Treppe führt hinab. Die
gleiche Berglinie wird sich emporziehen, wenn die Höhe rechts liegt, und wird
sich senken, wenn die Höhe links liegt (daher auf Abendlandschaften so
häufig die Abdachung des Berges von links nach rechts hin) h« Es kommt für
uns hier nicht darauf an, ob es Wölfflin gelungen ist, ein allgemeines Kompo¬
sitionsgesetz der Malerei auszusprechen; er selbst äußert sich darüber sehr
vorsichtig, indem er nachdrücklich hervorhebt: »wenn sonst nichts dagegen
spricht«; er versäumt auch nicht hinzuzufügen, daß seine Beobachtung auf
bestimmte Kunstgattungen beschränkt ist: »Für die Architektur spielt das
Problem des Rechts und Links im dargelegten Sinne keine Rolle, für die dar¬
stellende Kunst erst von einer bestimmten Entwicklungsstufe und auch dann
nicht gleichmäßig1 2.« Aber die Analyse von sonst sehr verschiedenen Kunst¬
werken - ich verweise nur auf eine Landschaft Rembrandts, auf die Be¬
ziehung der Raffaelschen Kartons zu den ausgeführten Teppichen - zeigt, daß
es sich hier zumindest um ein nicht zu vernachlässigendes Partialphänomen
der Bildkomposition handelt, nämlich »daß die rechte Bildseite einen anderen
Stimmungswert hat, als die linke 1.«
Für unsere Zwecke reicht so viel vollkommen aus. Denn es sollte hier bloß
angedeutet werden, daß die objektive Symmetrie der Natur, sobald sie durch
die Praxis in menschliche Widerspiegelung eingezogen wird (diese muß
keineswegs unbedingt eine künstlerische sein), stark variierenden Tendenzen
unterworfen wird. Die Wirkung dieser geht keinesfalls so weit, die Sym¬
metrie überhaupt aufzuheben. Diese bleibt bestehen, ihre ästhetische Wider¬
spiegelung nimmt aber - und zwar je entwickelter die Kunst wird, desto
stärker - den Charakter einer modifizierenden Annäherung an. Bei dieser
Bestimmung sind beide Termini gleich wichtig. Denn die Annäherung ist hier
nicht wie in der Wissenschaft der Versuch, immer näher zum Gegenstand zu
kommen, sondern bleibt, mit künstlerischer Absicht, auf einer bestimmten Stufe
stehen; auf einer Stufe, die die Symmetrie als solche für den Zuschauer sicht¬
bar und erlebbar macht, jedoch derartig gewichtige Modifikationen, Abwei¬
chungen einfügt, daß die Symmetrie niemals in ihrem wirklichen und konse¬
quent ausgedrückten Wesen zur Geltung gelangt, sondern zu einer bloßen
- freilich wichtigen - Komponente der konkreten Bildtotalität wird.
Natürlich gibt es, vor allem in der Ornamentik, Beispiele einer folgerichtig
durchgeführten Symmetrie, z. B. im sogenannten Wappenstil, wo Tiere,
Pflanzen, sogar Menschen in voller Entsprechung, ohne das hier erörterte
rechts-links-Problem auch nur anzuschneiden, rein dekorativ abgebildet wer¬
den. Es ist klar, daß daraus nur eine denkbar abstrakte, sehr geringe
Variationen, Entwicklungsmöglichkeiten zulassende Gestaltungstendenz ent¬
springen konnte. Sie spielt deshalb in den Anfängen, vor allem der orienta¬
lischen Kunst eine nicht unbeträchtliche Rolle. Später wird der Wappenstil
zum Zeichen der Erstarrung, des Niedergangs. Ein in bezug auf eventuelle
Unterschätzungen solcher Tendenzen derart unverdächtiger Zeuge wie Riegl
sagt darüber: »Das Prinzip des Wappenstils, die absolute Symmetrie hat in
der späten Antike überhaupt eine sehr maßgebende Rolle gespielt, was viel¬
leicht mit der sinkenden Schaffenskraft im Kunstleben dieser Zeit zusammen¬
hängt, da die hellenistische Kunst noch die relative Symmetrie in der
Dekoration beobachtete, und die Langweiligkeit der absoluten Symmetrie
nach Möglichkeit vermied 2.«
1 Ebd. S. 83.
2 A. Riegl: Stilfragen, Berlin 1923, S. 37.
Symmetrie und Proportion 289
Aus alledem können aber, im Gegensatz zum Rhythmus, kaum auch nur
einigermaßen sichere Schlüsse auf das Problem der Genesis gezogen werden.
Daß die Bevorzugung der rechten Seite mit der Arbeit, mit der Rolle der
rechten Hand in ihr Zusammenhängen mag, scheint auf den ersten Blidc ziem¬
lich plausibel. Dafür spricht die Ansicht Paul Sarasins, daß die keilförmigen
Sternchen und Faustkeile der Steinzeit noch teils für den Gebrauch mit der
rechten, teils für den mit der linken zugeschliffen waren, daß eine Bevor¬
zugung der rechten Hand in der Steinzeit nidit nachweisbar ist. Diese sei erst
in der Bronzezeit entstanden. Die Frage ist jedoch, soweit mir als Nicht¬
fachmann bekannt, heute noch so stark umstritten, daß es sehr gewagt wäre
Folgerungen zu ziehen. Um so mehr als, wie es scheint, die für die europäische
Kunst sehr plausible Hypothese Wölfflins in bezug auf die orientalische Kunst
stark bezweifelt wird h Wir können also nicht einmal darüber etwas auch nur
einigermaßen Wahrscheinlidies aussagen, ob es sich hier um eine rein physio¬
logische, oder um eine gesellschaftliche, die physiologische Disposition durch
die Arbeit modifizierende Tendenz handelt.
Jedenfalls ist aber hier der grundlegende Widerspruch zwischen abstrakt
geometrischen Kategorien wie Symmetrie und zwischen den Aufbaugesetzen
des organischen Lebens sichtbar geworden. Weyl weist in seinem Buch mit
Recht die Tendenz zur Asymmetrie im Dasein des Organismus auf1 2. Es handelt
sich hier um einen echten Widerspruch. Denn ebenso wie in der anorganischen
Welt die Gesetze der Materie symmetrische Gebilde hervorbringen, so vor
allem die Kristalle, über die Ernst Fischer - in richtiger Polemik gegen idea¬
listische Auffassungen - auseinandersetzt, daß auch hier der Inhalt (Struktur
und Bewegungsgesetze der Atome) die Form und nicht umgekehrt die Form
den Inhalt bestimmt 3, müssen die Fragen der Morphologie auf organischem
Niveau nach den objektiven Gesetzen der Materie beurteilt werden. Hier
tritt nun ein echter Widerspruch zutage, daß nämlich der Organismus gleich¬
zeitig und in untrennbarer Weise symmetrisch und asymmetrisch ist. Eine
ausführliche Behandlung dieser Frage gehört naturgemäß nicht hierher. Be¬
stimmte ihrer Konsequenzen wurden bereits bei Gelegenheit der redrts-links-
Frage gestreift. Wir verweisen also bloß auf ein Beispiel, das für die spätere
Kunst von höchster Wichtigkeit ist: auf die gleichzeitig symmetrische und
2 Weyl: a. a. O. S. 30.
3 E. Fischer: Kunst und Menschheit, a. a. O. S. 171-
290 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
entspringt, daß das Ordnen der Widerspiegelung der Wirklichkeit über die bloße
und an sich sehr einfache Symmetrie hinausgeht und rational faßbare Prinzi¬
pien sucht, die die objektive und erscheinende Gesetzlichkeit von unmittelbar
inkommensurabel vorkommenden Phänomenen und Phänomengruppen ver¬
ständlich machen. Andererseits ist es klar - darauf kommen wir sogleidi zu
sprechen - daß die Proportionalitätsfragen mit unmittelbarer Notwendigkeit
schon aus der primitivsten Produktion entspringen. Es ist also sicher kein
Zufall, daß seit der Antike bis in die Renaissance das Problem der richtigen
Proportionen für die ganze Kunst und Kunsttheorie sehr wichtig wird. Dies
gilt vor allem für die Theorie und Praxis der Gestaltung des organischen
Lebens, des Menschen in Malerei und Skulptur (über die Architektur werden
wir bald gesondert sprechen). Man sucht mit allen möglichen theoretischen
Mitteln, mit Messung, mit Geometrie, mit Anlehnungen an Euklid etc. jene
Proportionen aufzudecken, deren bildnerische Darstellung die Schönheit des
so Gestalteten garantieren könnte. Es kann hier ebensowenig wie in den
bisher behandelten Fällen unsere Aufgabe sein, diese Problematik ausführlich
zu behandeln. Es genügt, wenn wir auf den sogenannten goldenen Schnitt
hinweisen, und nur beiläufig bemerken, daß die Proportionalitätsstudien
bedeutender Künstler, wie Leonardo oder Dürer, einen viel umfassenderen
Problemkreis zu bewältigen bestrebt waren.
Ohne Frage ist die Proportion eine Widerspiegelung der objektiven Wirk¬
lichkeit. Wenn unsere Existenz sich nicht in einer Welt voll von ihren objek¬
tiven Existenzbedingungen entsprechend proportionierten Lebewesen und
Dingen abspielen, wenn die einfachste Arbeitspraxis nicht zeigen würde, daß
kein brauchbarer Gegenstand hergestellt werden kann, der nicht, im engsten
Zusammenhang mit seiner Nutzbarkeit, dem Zweck seiner Produktion rich¬
tig proportioniert sein müßte, so wäre die Vorstellung der Proportion wohl
nie entstanden. Wie stark die Vermittlungsrolle der Arbeit in der Ent¬
deckung der Proportionalität der nicht vom Menschen geschaffenen Welt
wirksam gewesen ist, werden wir wohl nie mit voller Sicherheit wissen. Der
Zusammenhang ist hier - ebenso wie bei der Symmetrie - weniger faßbar,
als im Falle des Rhythmus. Dazu kommt, daß sowohl Symmetrie wie Pro¬
portion so wichtige Momente der Morphologie der Lebewesen, darunter
auch des Menschen sind, daß es naheliegt, anzunehmen, ihre Wirkung
auf das Erkenntnis- und Schaffensinteresse sei eine direkte, keiner Ver¬
mittlungen bedürftige gewesen. Solche Erklärungen sind sehr häufig. Ihre
Quelle in der modernen bürgerlichen Kunsttheorie ist die Scheu davor,
in der Widerspiegelung der Wirklichkeit das wesentliche Moment der
292 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
im Denken der Menschen durchgesetzt hat. Diese waren schon durchaus im¬
stande, relativ große Mengen »praktisch« zu beherrschen, z. B. in einer
beträchtlichen Herde genau zu wissen, daß ein Tier fehlt. Dies geschah aber
durch das qualitative Auseinanderhalten der einzelnen Tiere als Individuali¬
täten, nidit aber durdi ihr Zählen und durch einen Vergleich der Zahlen.
Letzteres ist nachweisbar das Ergebnis einer viel späteren Entwicklung.
Darum glauben wir, daß auch vieles in der konkreten Arbeitserfahrung prak¬
tisch bereits errungen und fixiert war, lange bevor eine solche Verallgemeine¬
rung stattfand, die es gestattet hätte, die Vorstellung der Proportion etwa auf
weitere Gebiete außerhalb der Arbeit anzuwenden. Erst nachdem solche Er¬
fahrungen zu stabilen Gewohnheiten wurden, erst nachdem das Wachsen und
die Ausbildung der Produktion immer kompliziertere Probleme der Propor¬
tionalität gestellt hat, können verallgemeinertere Fragestellungen in bezug
auf Proportionalität überhaupt aufgeworfen werden; vor allem wenn die
gesellschaftliche Praxis bereits die Handhabung einer Arithmetik und Geo¬
metrie, selbst auf primitivster empiristischer Grundlage, hervorgebracht hat.
Daraus folgt sicher nicht, daß die praktisch-künstlerische Anwendung richtiger
Proportionen unbedingt so lange hätte warten müssen, bis die Theorie die
Frage der Proportionalität abstrakt gestellt hatte. Im Gegenteil. Wir haben
bereits wiederholt darauf hingewiesen, daß die künstlerische Praxis den
ästhetischen Reflexionen weit vorauszueilen pflegt. Auch hier steht es
höchstwahrscheinlich so, daß ein langes erfolgreiches Ausprobieren der Pro¬
portionen in den verschiedenen Zweigen der Produktion die Aufmerksamkeit
auf die Proportionalität auch im organischen Leben gerichtet, und vernünftige
Fragestellungen darüber ermöglicht hat. Diese haben - auch wenn sie als
theoretische Fundamentierung der künstlerischen Praxis auftreten, wie in der
Antike der verlorene Traktat Polyklets - einen überwiegend wissenschaft¬
lichen Charakter. Darin ist nichts Verwunderliches. Erstens kommt es häufig
vor, daß die künstlerische Praxis im Prozesse der Selbstbefreiung von Magie
und Religion in der Wissenschaft eine Stütze sucht; was gesellschaftlich noch
dadurch unterstützt wird, daß das soziale Ansehen der Gelehrten in diesen
Zeiten höher zu sein pflegte, als das der Künstler, weshalb sie auch aus solchen
Gründen für ihre Tätigkeit ein wissenschaftliches Fundament suchend, als
Wissenschaftler auftreten; solche Stimmungen finden wir noch in und nach
der Renaissance. Zweitens - und hier liegt der theoretisdt tiefere Grund dieses
Zusammenhangs - erscheint freilich im objektiven Kunstwerk die ästhetische
Widerspiegelung in ihrer eigentlichen und reinen Form und löst die ihr ent¬
sprechenden Erlebnisse im Rezeptiven aus. Es steht also der wissenschaftlichen
294
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
Besonders Kant hat, freilich in einem viel breiteren Sinne als hier, jedoch
nicht genetisch, sondern als zeitlos grundlegend für die Ästhetik diese Frage
gestellt. Seine extrem subjektiv-idealistische und darum starr-formalistische
Antwort hat vielfachen Protest hervorgerufen; so fast unmittelbar nach dem
Erscheinen der »Kritik der Urteilskraft« bei Herder. Die Kantsche Bestim¬
mung wirft außerordentlich wichtige Fragen auf, deren Fruchtbarkeit wird
aber durch ihre metaphysische Starrheit in der Gegenüberstellung von An¬
genehm und Schön stark beeinträchtigt. Er hat das richtige Gefühl, daß die
trennende Grenze in den Wirklichkeitsbeziehungen, die beiden zugrunde
liegen, zu suchen ist. Daß dabei beim Angenehmen die konkrete Existenz
(die konkrete Nutzbarkeit) eines bestimmten Gegenstandes die ausschlag¬
gebende Rolle spielt, während der Übergang zum Ästhetischen eine - rela¬
tive - Ablösung von dieser praktischen Gebundenheit an das Alltagsleben,
an ihre Praxis beinhaltet, ist sicher riditig. Aber der subjektive Idealismus
Kants, der keine Widerspiegelung einer vom Bewußtsein unabhängig existie¬
renden Wirklichkeit anerkennt, noch anerkennen kann, muß hier zu starren
Gegensätzlichkeiten gelangen. Er betrachtet als das Wesentliche des Ästheti¬
schen: »Ob diese bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen
begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des
Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag1.«
Die metaphysische Starrheit kommt in der vollen Gleichgültigkeit der
Existenz des Gegenstandes gegenüber schroff zum Ausdruck. In der Wirklich¬
keit, wo die von Kant erwähnte Vorstellung eben die Widerspiegelung dieses
Gegenstandes ist, bedeutet der deutlich vorhandene Unterschied zwischen der
Sache selbst und ihrer Widerspiegelung keineswegs einen derartig starren
Gegensatz. Schon das Alltagsleben bringt, wie wir in anderem Zusammen¬
hang sehen konnten, mitunter gewisse Distanzierungen von der »Existenz«
des Gegenstandes, andererseits aber und vor allem ist in keiner Konzentra¬
tion des Bewußtseins auf das in der Widerspiegelung fixierte Abbild des
Gegenstandes eine völlige Gleichgültigkeit seiner Existenz gegenüber ent¬
halten. Schon daß alle in ihm wahrgenommene Bestimmungen mit dem
realen Original übereinstimmen müssen, und nur an ihm als richtige verifi¬
ziert werden können, schließt eine Gleichgültigkeit in Kantschem Sinne aus.
Natürlich - und darin liegt die wichtige, wenn auch relative Richtigkeit von
Kants Feststellung - entsteht ein ästhetisches Verhalten zum Gegenstand erst
dann, wenn sich das Interesse auf das Widerspiegelungsbild als solches kon¬
zentriert. Damit ist aber das Band, das den existierenden Gegenstand mit
seinem Abbild verbindet, niemals vollständig abgerissen. Wir können diese
Verbindung erst bei komplizierten Fällen der Widerspiegelung, wo dement¬
sprechend auch diese Verbindungen viel komplizierter sind, eingehend
studieren; vorwegnehmend sei nur so viel bemerkt, daß auch bei extremster
Phantastik der Gestaltung, also bei größter Entfernung der Kunst von der
faktisch gegebenen Wirklichkeit, diese Bezogenheit auf die Existenz dessen,
was abgebildet wird, doch immer erhalten bleibt. Das Erlebnis jeder »künst¬
lerischen Wirklichkeit« enthält notwendig ein Moment des Hinweises auf die
reale Wirklichkeit selbst. Mag der Abstand zwischen beiden »Wirklichkeiten«
noch so groß sein, diese Verdoppelung verschwindet nie völlig; im Mitgehen
des Rezeptiven ist immer eine Bejahung der Richtigkeit der Widerspiegelung
- Richtigkeit in weitestem Sinne und nicht als photokopiehafte Ähnlichkeit
verstanden - enthalten l.
Das äußert sich ganz deutlich in der Wirkung des Kunstwerks. Natürlich ist
diese - unmittelbar - eine volle Hingabe an die gestaltete Widerspiegelung,
so daß der Schein entsteht, als ob tatsächlich die Kantsche Gleichgültigkeit
der Existenz des Originals gegenüber entstehen würde. Und diese Unmittel¬
barkeit ist - wie wir im zweiten Teil bei Behandlung des rezeptiven Verhal¬
tens sehen werden - ein integrierendes Moment der Aufnahme des Kunst¬
werkes. Tritt diese nicht ein, so kann von ästhetischem Eindruck gar nicht
gesprochen werden. Aber auch das Verhalten der einfachen Rezeptivität
(gar nicht zu reden von dem des Kritikers, des Kunstphilosophen etc.) bleibt
dabei nicht stehen. Auch der einfache Rezeptive macht sich als ganzer Mensch
das Kunstwerk zu eigen: seine Erlebnisse, Lebenserfahrungen, etc. vor der
Wirkung, die ein gegebenes Kunstwerk auf ihn ausübt, sind dafür eine un¬
erläßliche Voraussetzung und der wirklich tiefe, echt ästhetische Eindruck
des Werks wird nunmehr zum unverlierbaren Besitz eben desselben ganzen
Menschen. Er wird nicht nur seine künftige ästhetische Empfänglichkeit
beeinflussen, sondern wirkt auf sein späteres Denken, Handeln etc. mehr oder
weniger entscheidend ein. Da nun den Gehalt des Werks gerade die Wider¬
spiegelung einer existierenden Welt ausmacht und das künstlerische Wie der
Formung sich von der Stellungnahme des abgebildeten Inhalts nur mit einer
vergewaltigenden Abstraktion loslösen läßt, ändert der verarbeitete Eindruck
im Rezeptiven auch seine Stellung zu dieser Wirklichkeit selbst. Wie weit und
wie kompliziert vermittelt diese Nachwirkung ausfällt, wie weit sie in eine
bejahende oder verneinde Ridrtung geht, etc. ändert nichts an der Tatsache,
daß damit die Kantsche »Interesselosigkeit« aufgehoben wird, ohne daß der
Bereich des Ästhetischen verlassen worden wäre.
Wir mußten diese Kritik der Kantschen Gegensätzlichkeit zwischen An¬
genehm und Schön wenigstens andeuten, obwohl das Problem das uns jetzt
beschäftigt, ein viel engeres und primitiveres ist. Die Entdeckung der rich¬
tigen Proportionen im Arbeitsprozeß und damit die Entstehung von wohl¬
proportionierten und infolgedessen nützlichen Gegenständen ist an und für
sich noch kein ästhetisches Phänomen. Unsere Frage bezieht sich also darauf:
wie diese Gegenstände als soldie zu Objekten der Ästhetik werden können?
Die Fruchtbarkeit der relativ richtigen Einsicht Kants in dieses Phänomen
zeigt sich darin, daß eine Ablösung von der real-praktischen Nutzbarkeit des
bestehenden Arbeitsprodukts tatsächlich stattfindet. Jedoch erstens bleibt der
Träger des ästhetischen Erlebnisses hier doch der reale Gegenstand selbst;
besser gesagt, es handelt sich natürlich überall um das in der Widerspiegelung
entstandene Abbild, es ist jedoch ein großer Unterschied, ob dieses Bewußt¬
sein, das mit der Widerspiegelung der Wirklichkeit zu tun hat, sich auf die
Wirklichkeit überhaupt (freilich mit jeweiliger historischer Konkretisierung)
bezieht, wie etwa in Tizians »Himmlische und irdische Liebe« oder Tolstois
»Anna Karenina«, oder z. B. ein bestimmter vor uns stehender Krug, des¬
sen Widerspiegelungsbild unlöslich mit dem real existierenden konkreten
Gegenstand verbunden bleibt, in uns ästhetische Erlebnisse evoziert. Ob¬
wohl in beiden Fällen das ästhetische Erlebnis unmittelbar vom Widerspie¬
gelungsbild ausgeht, stellt in den früher erwähnten Fällen die gestaltete
Widerspiegelung das direkte Objekt (das Kunstwerk) vor, während im zuletzt
erwähnten Fall der Gegenstand der Gestaltung an ein reales Objekt gebun¬
den bleibt1.
Zweitens steht eben deshalb die ästhetische Verallgemeinerung hier auf einer
viel niedrigeren Stufe, ist viel abstrakter, als bei den eben hervorgehobenen
1 Es handelt sich hier um eine besondere Art der ästhetischen Widerspiegelung, de¬
ren ausführliche theoretische Behandlung erst in einem späteren Kapitel möglich
wird.
298 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
Typen der Weltgestaltung. Was wir früher über die Weltlosigkeit der auf
abstrakten Widerspiegelungsformen beruhenden Gebilde ausgeführt haben,
gilt auch hier: es findet zwar eine ästhetisch-sinnliche Verallgemeinerung statt,
jedodi eine, die auf einen engen Abschnitt, auf einen schmalen Aspekt der Welt
des Menschen gerichtet ist, nicht - wenigstens der Grundtendenz nach - auf die
intensive Totalität ihrer Bestimmungen, wie in der Kunst im allgemeinen.
Und daß bei der engen Beziehung von Subjektivität und Objektivität in der
Ästhetik diese Weltlosigkeit ein Zusammenschrumpfen der Subjektivität,
eine - relative - Subjektlosigkeit mit sich führt, ergibt sich von selbst aus
diesem Tatbestand. Wenn man nun beide Gesichtspunkte, sowohl die unlös¬
bare Gebundenheit des Widerspiegelungsbildes an ein bestimmtes reales
Objekt, wie die Welt- und Subjektlosigkeit des hier möglichen subjektiven
Erlebnisses in ihren notwendigen Zusammen betrachtet, so läßt sich das
Problem der Ablösung des Ästhetischen von der Alltagswirklichkeit mit
einiger Genauigkeit philosophisch beschreiben.
Wir haben auf die praktisch ausschlaggebende Rolle der richtigen Proportio¬
nalität für Herstellung und Brauchbarkeit der Gegenstände des Alltagslebens
bereits aufmerksam gemacht. Ohne Frage drückt sich in der richtigen Bestim¬
mung dieser Proportionalitäten ein wesentliches Konstruktionsprinzip solcher
Gegenstände aus, weshalb auch ihre Erforschung notwendig zu einer zentra¬
len Aufgabe der Verallgemeinerung der Arbeitserfahrungen, des Nachdenkens
über diese (unter Umständen bei Benutzung der Ergebnisse aus Anfängen der
Wissenschaft), der Vervollkommnung der Herstellungstechnik, etc. wird. Der
Umschlag ins Ästhetische kann nur auf dem Wege erfolgen, daß diese Resul¬
tate der praktischen Konstruktion ein geschlossenes rein visuelles System
bilden, und als solches zum Gegenstand der unmittelbaren Wahrnehmung
werden. Diese muß aber auch noch nicht ästhetisch sein; sie kann noch einfach
eine visuelle Überprüfung des technischen Gelingens darstellen. Sie wird erst
ästhetisch, wenn diese Wahrnehmung ins Evokative umschlägt, d. h. wenn das
visuell verwirklichte System der Proportionen imstande ist, solche Wirkungen
auszulösen. Das hat natürlich eine lange Vorgeschichte: die Freude an der
gelungenen Arbeit, am handlichen und nützlichen Gegenstand etc. löst
bereits notwendig Lustgefühle aus, in denen sich auch eine Steigerung des
Selbstbewußtseins im von uns angegebenen ästhetischen Sinn, ohne Frage im
Keime enthalten ist. Daß hier die Übergänge außerordentlich fließende sind,
daß dieselben Gegenstände im selben Menschen eine Erlebnisskala von der
Freude am Nutzen bis zur ästhetischen Evokation auslösen können, zeigt
nicht nur — gegen Kant — daß das Angenehme und das Ästhetische keine
Symmetrie und Proportion 299
1 Mit diesem ganzen Fragenkomplex werden wir uns erst in einem späteren Kapitel
ausführlich beschäftigen können. Dort entfällt dann auch die hier notwendige
Abstraktion, solche Gegenstände ausschließlidi vom Standpunkt der Proportio¬
nalität zu betrachten, und andere Gesiditspunkte, wie Materialität, Farbe, Schmuck
etc. können die ihnen gebührende Bedeutung erlangen.
2 Hemsterhuis: Oeuvres Philosophiques, Leuwarde 1840, I, S. 17.
300 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
noch von einem anderen, bereits angedeuteten Gesichtspunkt ins Auge fassen,
nämlich als abstrakte Kategorie, als abstraktes Ordnungsprinzip des künst¬
lerisch widergespiegelten organischen Lebens. Wir wissen, daß diese Frage schon
in der Antike aufgetaucht ist; ihre theoretische Behandlung und praktisch¬
künstlerische Anwendung erhält ihren Gipfelpunkt in der Renaissance, in einer
Periode, in der die wissenschaftliche Eroberung der Wirklichkeit, sachlich wie
persönlich, am innigsten mit ihrer künstlerischen Bewältigung verknüpft war.
Diese Tendenz ist natürlich weitaus umfassender, als daß sie sich bloß auf die
Frage der richtigen Proportionalität beschränken könnte. Die meisten der so
entstehenden Studien (Anatomie, Perspektive etc.) münden jedoch - wenn
auch auf dem Umweg über die Wissenschaft - so ausschließlich in reinen Ge¬
staltungsproblemen der bildenden Künste, ergeben derart rein gestaltende Pro¬
bleme, daß wir uns ruhig auf die damals mit ihnen simultan und in einer Linie
auftretenden Fragen der Proportionalität beschränken können, in denen die
spezifischen Widersprüche der abstrakten Formelemente auftreten.
Das populärste und einflußreichste unter den dabei auftretenden Problemen
ist das des sogenannten goldenen Schnitts. Es wäre aber gerade vom Stand¬
punkt unserer Fragestellung müßig, die Diskussion über sein zutreffendes
oder — wenn allzusehr verallgemeinert - irreführendes Wesen fortzu¬
führen. Um so mehr als die großen Kunsttheoretiker dieses Komplexes, wie
Leonardo da Vinci oder Dürer, darüber hinausgegangen sind, und die Bedeu¬
tung der Proportionalität überhaupt für die gesamte Kunst zu ergründen
bestrebt waren. Der goldene Schnitt ist aufs engste mit dem Problem des
Schönen, mit der schönen Darstellung des schönen Menschen verbunden,
während die Untersuchungen dieser großer Künstler die für die Kunst wich¬
tige Proportionalität für die verschiedensten Typen der darzustellenden
Menschen aufwerfen. Erst damit wird die Frage philosophisch bedeutsam:
kann das darstellerisch Wesentliche eines Menschen durch Erfassen der Pro¬
portionen seiner physischen Erscheinung zum richtigen Ausdruck gebracht
werden? Alle Messungen, Vergleiche etc. der bedeutenden Künstler-Denker
kreisen um dieses Problem. Am interessantesten zeigen sich die dabei auf¬
tauchenden unaufhebbaren Widersprüche in den theoretischen Schriften
Albrecht Dürers. Er zeigt einerseits die tiefste Verachtung für die bloßen
Flandwerker, die die Meßkunst nicht erlernen und in Anspruch nehmen, die
rein empiristisch von Fall zu Fall an die Darstellung des Menschen heran¬
treten. Ohne die richtige Proportion eines Menschentypus ergründet zu haben,
könne seine echt künstlerische Darstellung unmöglich gelingen. Andererseits
jedoch könne sich bloß daraus auch nicht die wirkliche Kunst ergeben. »Aber
302 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
unmöglich bedünkt mich«, sagt Dürer, »so Einer spricht, er wisse die besten
Maß in menschlicher Gestalt anzuzeigen1.« Und an anderer Stelle: »Aber idi
weiß nit anzuzeigen ein sunder Maß, welches zum Hübschesten macht haben 2.«
Das Finden der richtigen Proportionalität ist also für den Künstler unerlä߬
lich, es bezeichnet aber nur den Anfang seines Weges, den er zum wirklichen
Werk zurücklegen muß; und dessen echte Kriterien befinden sich jenseits der -
auch an sich vollendeten - Proportionalität, ohne jedoch deren Gewicht
aufzuheben. Diese auf den ersten Anblick widerspruchsvoll scheinende Stel¬
lungnahme Dürers deckt einen wichtigen Zusammenhang zwisdien vertiefter
künstlerischer Form und wahrer Struktur der objektiven Wirklichkeit auf.
Exakte, genau meßbare Symmetrie und Proportionalität herrschen nämlich
dort, wo die physikalischen Gesetze als solche sich rein auswirken können;
am deutlichsten in der kristallinischen Welt. Sobald das Leben als Organi¬
sationsform der Materie in der Wirklichkeit auftaucht - und je höher es
organisiert ist, desto mehr - hört zwar die Geltung der physikalischen Gesetze
nicht auf, sie werden aber zu bloßen Momenten komplizierter Komplexe, in
denen sie sich nur approximativ auswirken können. Genau dieser Tatbestand
kommt - der Erscheinungsform nach als unaufhebbarer Widerspruch - in den
Gedankengängen Dürers immer wieder zum Ausdruck: die Proportionalität
wirkt sich aus als aktives Moment eines gedanklich unaufhebbaren Wider¬
spruchs, der - im Sinne der früher zitierten Bestimmung von Marx - als
Widerspruch die künstlerische Bewegtheit des visuell gestalteten lebenden
Organismus ermöglicht.
Die hier aufgedeckte Lebenswahrheit solcher künstlerischen Widerspiegelungen
weist aber gleichzeitig auf ihren anthropomorphisierenden Charakter. Um
diese ihre Seite klarzulegen, scheint es angebracht, noch einige kurze Bemer¬
kungen darüber zu machen, wie die eben aufgezeigte Widersprüchlichkeit sich
in der Architektur äußert. Die Lage der Architektur zeigt eine gewisse Ver¬
wandtschaft zu den früher behandelten Proportionalitätsproblemen in den
vom Menschen zum Tagesgebrauch hergestellten Gegenständen, insofern als es
sich auch hier nicht um das Schaffen eines eigenartigen Widerspiegelungsbildes
handelt, sondern um einen Gebrauchsgegenstand selbst, der - praktisch wie
theoretisch untrennbar von seiner Nutzbarkeit — auch künstlerisch evokative
Widerspiegelungen hervorzubringen berufen ist. Allerdings besteht hier der
Bei den profanen Gebäuden zeigt sich eine vereinfachte Anwendung der
nämlichen Formen3.«
Für uns ist dabei der letzte Hinweis auf die Feinheiten der Metrik besonders
wichtig, denn damit dehnt Burckhardt den von uns analysierten Widerspruch
auch auf den Rhythmus aus und bringt die von uns dort untersuchten Pro¬
bleme mit denen der Proportionalität und - wie wir früher gesehen haben -
mit denen der Symmetrie in einen einheitlichen Zusammenhang. Alle diese
abstrakten Formen würden dann in ihrer künstlerischen Verwirklichung das
Gemeinsame haben, daß sie ihren Gegenstand nur dann vollendet künstlerisch
zu organisieren fähig sind, wenn ihre Absolutheit aufgehoben wird, wenn sie
zu bloßen Momenten eines dem Kunstwerk zugrunde liegenden - je nach
Kunstart oder Genre verschiedenen - Widerspruchs geworden sind. Diese
Verallgemeinerung erfolgt gerade auf der Linie des wesentlichsten Kenn¬
zeichens der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, auf der des not¬
wendigen Anthropomorphisierens. Ästhetisch wird zwar die Welt, so wie sie
an sich ist, widerspiegelt und gestaltet, das An-sich-Sein ist aber in unauf¬
hebbarer Weise auf den Menschen, auf seine gesellschaftlich entstandenen und
sich gesellschaftlich entfaltenden Gattungsbedürfnisse bezogen.
Die verallgemeinerte Frage der Proportionalität lautet deshalb so: das Zu¬
sammen von unabdingbarer Wichtigkeit und doch bloß annähernder, ge¬
wissermaßen verborgener, heimlich, unter der Oberfläche sich auswirkender
Wesensart der Proportionalität ist nicht nur die richtige Widerspiegelung
wesentlicher Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit, sondern auch ein
elementares Lebensbedürfnis des Menschen. Die künstlerische Wiedergabe einer
wohlproportionierten Welt (oder einer, in welcher die Abweichungen von ihr
als Verzerrungen dargestellt werden), hat neben ihrer Wahrheit als Repro¬
duktion und untrennbar von dieser den Akzent: Gestaltung einer Welt des
Menschen zu sein, einer Welt, die er als sich angemessen erleben kann, einer,
die er zu solcher Angemessenheit umzuformen bestrebt ist. Wohlverstanden:
des Menschen, der Menschengattung, nicht des Individuums X oder Y. Das
anthropomorphisierende Grundprinzip der ästhetischen Widerspiegelung hat
nichts mit einem bloßen Subjektivismus zu tun. Natürlich ist die Subjektivi¬
tät des Künstlers das unerläßliche Medium einer derartigen Widerspiegelung,
jedoch was daran nur dem Empfindungsbereich einer partikularen Subjektivi¬
tät angehört, kann unmöglich zur künstlerisch-evokativen Allgemeinheit
erwachsen, kann bloß eine künstlerisch kümmerliche Form schaffen. Anderer¬
seits darf das Menschheitliche, das Gattungsmäßige dieses widergespiegelten
Mediums der Kunst nicht abstrakt verallgemeinert werden. Das Menschheits¬
prinzip kann nur in historischer, sozialer und individueller Konkretheit für
die Kunst fruchtbar werden: es ist stets der parteinehmende Sprößling eines
3o6 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
Volks und in ihm einer Klasse, der auf einer bestimmten Entwicklungsstufe
dieser seiner bestimmenden Umwelt zum Sprachrohr der Menschheit werden
kann.
Wir mußten wieder ins Gebiet der konkret künstlerischen Widerspiegelung
der Wirklichkeit vorgreifen, um den anthropomorphisierenden Charakter
eines jeden ästhetischen Reflexes der Außen- und Innenwelt des Menschen
klar heraussteilen zu können. Der Weg zurück zu der Widerspiegelung der
Proportionalität im oben angegebenen Sinn ist aber nicht allzuweit. Er
führt zu dem Grundproblem des Ästhetischen, zu der Entstehung einer Welt,
die die unsere ist, die wir in ihrer Ganzheit wie in ihren Details ununter¬
brochen auf uns selbst zu beziehen fähig sind, die eben deshalb, weil sie - die
Wirklichkeit oder ihre Momente widerspiegelnd - auf diesem Prinzip basiert,
einen evokativen Charakter haben kann und muß. Das vom Standpunkt
einer Gesetzgebung für die Malerei unlösbare Dilemma Dürers drückt - sehr
fruchtbarerweise für die künstlerische Praxis - eine elementare Grundtatsache
des menschlichen Lebens aus: nämlich daß es die widerspruchsvolle Einheit des
Geordneten und Spontanen ist, daß seine Gesetzlichkeit sich nur als Halt,
als fördernde und ordnende Kraft der bis ins bloß Individuelle herunter¬
reichenden Spontaneität auswirken kann, daß diese nur als modifizierende,
konkretisierende, Weiterbildungen hervorrufende Tendenz im Bereich jener
zur wirklichen Geltung gelangen kann. Dieses widerspruchsvolle und zugleich
intime Aufeinanderwirken von Tendenzen, die metaphysisch aufgefaßt
einander starr ausschließende Gegensätze zu bilden scheinen, ist also deshalb
ein Grundprinzip der Kunst, weil es ein Grundprinzip des menschlichen (des
gesellschaftlichen) Lebens ist. Aber während das aus historisch notwendigen
Entwicklungsgründen immer wieder stark aufkommende, oft herrschende
metaphysische Denken diese Gegensätzlichkeit in den Mittelpunkt rückt,
während Denken und Fühlen des Alltags oft ohnmächtig gegen eine solche
Vergewaltigung des Lebens protestieren, ja oft sich ihr zu unterwerfen gezwun¬
gen sind, entsteht in der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit ein Bild
des wahren Lebens, in welcher die Bewältigung der Außenwelt den inneren
Anforderungen der menschlichen Existenz angemessen erscheint.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß die Proportionalität eine gewissermaßen
lokale, spezielle Kategorie der bildenden Künste ist. Sie erscheint hier in ihrer
eigentlichen, originären Form, indem das genau Meßbare in ein dialektisches
Verhältnis zur Organik vor allem des menschlichen Körpers gesetzt wird.
In übertragener - aber keineswegs zufällig übertragener - Form spielt dieses
Problem in allen Kunstgattungen eine wichtige Rolle. Aristoteles widmet in
Symmetrie und Proportion 3 °7
seiner »Poetik« dieser Frage ein eigenes Kapitel1. Es ist natürlich für die
Verschiedenheit der Künste charakteristisch, daß der Aufbau des Dramas nur
bestimmte Proportionen verlangt, die bloß ihrem allgemeinen Umkreis nach
reguliert werden können (Aristoteles beruft sich zwar gelegentlich darauf,
daß die Zeitdauer der Tragödien mit der Uhr gemessen wurde); deren kon¬
krete Ausgestaltung jedoch - in diesem Rahmen - dem individuellen Dichter
überlassen werden muß. (Es liegt im Wesen der Sache, daß in der Filmkunst
diese Meßbarkeit der Proportionen, sowohl für das Ganze, wie für die Teile
weitaus exakter ist, als in der reinen Wortkunst des Dramas.) Die Frage der
Proportion, die natürlich nicht nur das Ganze der Werke, sondern auch die
Beziehung ihrer Teile zueinander betrifft, erscheint auf den ersten Anblick
verschwommener als in der bildenden Kunst; bei konkreter Analyse ergibt
sich freilich, daß die künstlerische Lösung der Dürerschen Dilemmas auch hier
eine der wesentlichsten Aufgaben der Komposition ist. Da aber alle Formen
Widerspiegelungen der Wirklichkeit sind, stecken hinter allen Proportionali¬
tätsfragen der Komposition Probleme der Weltanschauung: die des Schaffenden
und die der Gesellschaft, in welcher und für welche seine Werke entstehen.
So wird es uns nicht mehr überraschen, daß derselbe Aristoteles Probleme der
Proportion in den Mittelpunkt seiner Ethik rückt. Zwar gibt es auch für ihn
Fiandlungen und Verhaltungsweisen, die unbedingt verwerflich sind; wo
jedoch vom Umschlag der Tugend in ihren Gegensatz die Rede ist, taucht das
Problem der Mitte auf, die Aristoteles in diesem Kontext als ein »Äußerstes«,
also keinsewegs als toten Durchschnitt betrachtet. Und das Verfehlen ist nun
entweder ein »Nicht-Erreichen« des »Pflichtmäßigen« oder ein »Hinausgehen«
darüber. Das methodologische Zentrum seiner Ethik erweist sich als ein
Problem der richtigen Proportionalität 2.
Es wäre oberflächlich dagegen einzuwenden: die Proportion sei hier bloß eine
Metapher. Sie ist in Wahrheit viel mehr. Wo die Schönheit eine zentrale
Kategorie des Lebens und der Kunst ist, muß eine solche Verbindung ent¬
stehen: weder im Leben, noch in der Kunst kann die Schönheit auf ästhetische
oder ethische Werte vorübergehender, relativer Art basiert werden: sie muß
die Struktur des Menschen wesentlich bestimmen. Ist nun diese Bestimmung
nicht transzendenter Art (wie etwa bei Plotin), ist sie also nicht bloß der er¬
borgte Abglanz aus einem Jenseits, so bedeutet hier Struktur eine dem
1
Vgl. darüber meinen Puschkin-Aufsatz in »Der russische Realismus usw.«, a. a. O.
S. 25 ff.
Symmetrie und Proportion 3°9
Stilproblem die Rede sein. Nur darauf kann und muß schon jetzt erneut
hingewiesen werden, daß die anthropomorphisierende Widerspiegelung im
Ästhetischen nicht einfach ein subjektives Verhalten ist, daß sie vielmehr von
ihrem Objekt in dieser Richtung bestimmt wird: von der Gesellschaft im
Stoffwechsel mit der Natur, vermittelt durch die Eigentümlichkeit der von
diesem determinierten Produktionsverhältnissen. Ihre Widerspiegelung setzt
zwar die angegebene Wirklichkeitstreue auch der Natur an sich gegenüber
voraus, das letzte ästhetische Wahrheitskriterium ist aber doch in der gesell¬
schaftlich bestimmten Wechselbeziehung mit ihr fundiert. Eine genaue
Analyse aller früher analysierten Widersprüche könnte auf diese Basis zurück¬
geführt werden. Da aber dieses Problem jetzt erst in seinen allgemein¬
sten Umrissen angedeutet und keineswegs allseitig erschöpft werden kann,
führe ich ein inhaltlich komplizierteres Beispiel an, bei dem die uns gegen¬
wärtig interessierende Seite der Frage mit sofortiger Evidenz hervortritt. Der
polnische Literaturhistoriker Jan Kott weist in einer Analyse Swifts auf
dessen Überzeugung hin, die er »mit seiner ganzen Epoche teilte, daß man
alle Eigenschaften eines Körpers unverändert erhalten kann, wenn man
proportional seine Größenmaße ändert h« Kott zeigt, sich auf Meyerson
berufend, daß dies ein Irrtum ist, daß etwa die Wespen im Lande der Riesen
in den alten Proportionen bei veränderter Größe nicht fliegen könnten, daß
die Liliputaner beim Trinken unter der Kapillarität der Gefäße gelitten
hätten, etc. etc. Ändert aber die Anerkennung dieser Tatsache, die zeigt, daß
Swift unter dem Einfluß der wissenschaftlichen Vorurteile seiner Zeit die An¬
näherung an die objektiv seiende Wirklichkeit objektiv verfehlt hat, irgend
etwas an der künstlerischen Wahrheit des »Gulliver«? Die verneinende
Antwort versteht sich von selbst. Interessanter und wichtiger als sie selbst,
ist jedoch für uns ihre Ursache: die gesellschaftliche Wahrheit der Swiftsdien
Satire, in welcher gerade das Gleidibleiben des Wesens (also auch der Propor¬
tion als dessen sinnliche Erscheinungsweise) bei kontrastierendem Format die
Grundlage der tiefen Komik bildet. Diese nicht subjektiv willkürliche,
sondern einen Weltzustand, eine entscheidende Epoche der Menschheitsent¬
wicklung festhaltende Anthropomorphisierung Swifts in der Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit verfehlt also nicht - trotz der zeitbedingten Mängel in
der Auffassung der Gesetze des An-sich-Seienden - die künstlerische Wahr¬
heit, im Gegenteil gibt ihr ein sinnlich-geistiges solides und allgemeines
Fundament. Kott zitiert mit Recht einen Brief Swifts, die Bewußtheit seines
künstlerischen Wahrheitssuchens hervorhebend: »Dieselben Gebrechen und
Tollheiten herrschen überall, jedenfalls in allen zivilisierten Ländern Euro¬
pas. Ein Autor, der nur für eine Stadt, eine Provinz, ein Königreich oder nur
für ein Jahrhundert schriebe, verdiente nicht kommentiert zu werden, wie er
auch nicht wert wäre, gelesen zu werden1.«
Es wäre freilich gefährlich das Ergebnis dieser Analyse ohne weiteres auf die
bildenden Künste anzuwenden. Denn die visuelle Erscheinungsform hat in
der Literatur eine weit größere Unbestimmtheit, als hier. (In Epik und
Lyrik eine größere als im Drama.) Darum ist es für Swift - freilich auf
Grundlage einer satirisch-phantastischen Gestaltungsabsicht - möglich, For¬
mate zu ändern, ohne die Proportionen anzutasten. Auf die gesellschaftlichen
(im Anthropomorphismus der Kunst fundierten) Gründe dieser Möglichkeit
haben wir bereits hingewiesen. Solche werden natürlich auch in den bilden¬
den Künsten wirksam, nur ist der Spielraum für das Abweichen von jenem
Zusammenhang des Formats mit den Proportionen, der in der Gegenständ¬
lichkeit der objektiven Wirklichkeit vorhanden ist, viel beengter. Je einfacher
gegliedert ein ästhetischer Gegenstand ist, desto größer wird dieser Spielraum
sein. (Pyramide im Vergleich zur späteren, gegliederteren griechischen Archi¬
tektur.) Der Grund ist unschwer einzusehen: schon in einer rein geometrischen
Ornamentik bedeutet die Vergrößerung des Formats zugleich die der Zwi¬
schenräume, wodurch diese in der Vergrößerung leere und tote Flächen dar¬
bieten können oder unwahrnehmbar werden, den Rhythmus zerstören etc.
Die Veränderung des Formats kann also gebieterisch auf eine Veränderung
des Musters und damit der Proportionen drängen. Selbstredend werden diese
Konsequenzen desto fühlbarer, je weniger weltlos eine Kunstgestaltung ist.
Es ist aber ebenso selbstverständlich, daß es sich hier nur um einen Spielraum
und nicht um ein starres Koordinieren handelt. Schon die Existenz einer
monumentalen Plastik, die über das menschliche Format hinausgeht, neben
einer ausgesprochenen Kleinplastik, zeigt diesen Spielraum an. Dabei ist
freilich zu bedenken, daß gewisse Bewegungsmotive von vorneherein dieses
oder jenes Format erfordern oder wenigstens bevorzugen, ln der Male¬
rei ist die Möglichkeit, das Format des Bildes zu vergrößern oder zu ver¬
kleinern, viel elastischer; schon darum, weil der Zuschauer - innerhalb von
bestimmten Grenzen - instinktiv in jedem Bild ein normal menschliches
1 Ebd. S. 102.
Ornamentik 311
III Ornamentik
Jetzt müssen wir über das bisher Erreichte in doppelter Hinsicht hinausgehen.
Erstens ist zu zeigen, daß die abstrakten Widerspiegelungsformen die Fähig¬
keit besitzen, für sich allein ästhetische Gebilde besonderer Art zu konstitu¬
ieren; daraus ergibt sich das Problem der Ornamentik, das uns in den nun fol¬
genden Darlegungen beschäftigen wird. Zweitens wirken die in der Ornamen¬
tik offenbar gewordenen ästhetischen Gesetzlichkeiten auf die Widerspiege¬
lung der konkreten und realen Wirklichkeit zurück. Es entstehen dabei dialek¬
tische Zusammenhänge, die über die Einzelbeziehungen betreffenden, teilweise
bereits untersuchten Widersprüche hinausgehen, die zu einem unaufhebbaren
Bestandteil eines jeden ästhetischen Gebildes werden müssen. Mit der Analyse
dieser Tatbestände werden wir unsere Untersuchungen über die Ornamentik
schließen, um zur Behandlung der mimetischen künstlerischen Gestaltung der
Wirklichkeit übergehen zu können. Wir werden sehen, daß gewisse histo¬
rische Tatsachen, die einer solchen Auffassung scheinbar widersprechen, sie
in Wahrheit erst recht bekräftigen.
Die Ornamentik selbst kann demgemäß so bestimmt werden, daß sie ein
ästhetisches, Evokation beabsichtigendes, in sich abgeschlossenes Gebilde ist,
dessen Aufbauelemente die abstrakten Widerspiegelungsformen Rhythmus,
Symmetrie, Proportion etc. als solche bilden, während die konkret-inhalt¬
lichen Widerspiegelungsformen aus der Gestaltung des ornamentalen Kom¬
plexes ausgeschlossen scheinen. Natürlich darf auch diese Bestimmung nicht me¬
taphysisch-starr verstanden werden. Jeder weiß, daß die Ornamentik gerade
in ihren klassischen Erscheinungsweisen wiederholt auf die Widerspiegelung
realer Gegenstände der objektiven Wirklichkeit zurückgreift (Lotos, Akanthus
etc.); von den Pflanzen- und Tiermotiven etwa der orientalischen Teppiche,
der gotischen Tempelverzierungen gar nicht zu reden. Das bedeutet natür¬
lich, worüber bald ausführlich gesprochen werden muß, daß die Grenzen
zwischen rein ornamentaler und gestaltender (konkret und inhaltlich die
Wirklichkeit widerspiegelnder Kunst) vielfach verschwimmen, daß nicht nur
aus historischer, sondern auch aus ästhetischer Notwendigkeit vielerlei Über¬
gangsformen auftreten.
So schwer dadurch oft in Einzelfällen eine exakte ästhetische Ortsbestim¬
mung fällt, so sicher sind dennoch theoretisch die Grenzen zu ziehen. Diese
entstehen eben aus der Vorherrschaft der abstrakten Widerspiegelung. Wo
nämlich die Gegenstände der konkret-realen Außenwelt in ästhetische Sy¬
steme eingebaut sind, kommt es darauf an, ob erstens solche Objekte primär
nach ihrer eigenständigen inneren Struktur reproduziert oder im Sinne der
abstrakten Formen zu Ornamenten transformiert werden, ob sie also die
Ornamentik 30
Wenn wir nun - selbstredend, wie hier immer, ausschließlich vom philosophi¬
schen Standpunkt - auf die Genesis der Ornamentik übergehen, so zeigt sich
darin erneut die Richtigkeit unserer früheren Feststellung, daß nämlich die
ästhetische Praxis der Menschheit unmöglich aus einer einzigen Quelle und
vor allem nicht aus einer ästhetischen abgeleitet werden kann, daß das
Ästhetische vielmehr das Ergebnis einer nachträglichen, sich allmählich histo¬
risch entfaltenden Synthese ist. Unter den dabei wirksamen Tendenzen muß
vor allem eine elementare, vielleicht schon aus der Tierwelt stammende, an
sich von Kunst ganz unabhängige, hervorgehoben werden: die Freude am
Geschmücktsein. Nimmt man diese vorerst in seinem breitesten Sinne, so
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
314
umfaßt sie sowohl den Körper- wie den Geräteschmuck, ja auch den inneren
wie äußeren Schmuck, der in der Architektur angewendet wird. Wie wir
alsbald sehen werden, umreißt diese Zusammenfassung ein Gebiet, inner¬
halb dessen Bereich die Unterschiede zumindest ebenso wichtig sind, wie
die gemeinsamen Züge. Gemeinsam bleibt die unabtrennbare Gebunden¬
heit an ein reales Objekt, sei dies der Mensch selbst, oder ein von ihm ge¬
brauchter nützlicher Gegenstand, im Gegensatz zu den eigentlich gestalten¬
den Künsten, in denen die materiellen Substrate außer ihrer ästhetisch-evo-
kativen Funktion keinerlei Beziehungen zum menschlichen Leben besitzen
(Bild als bemalte Leinwand etc.). Innerhalb dieser Gemeinsamkeit bringt
jedoch die qualitative und für das gesellschaftliche Leben der Menschen
funktionelle Verschiedenheit solcher Objekte qualitative Verschiedenheiten
in den ästhetischen Möglichkeiten, in der Fähigkeit zur Entwicklung etc.
hervor.
Wenn wir vorerst den Selbstschmuck des Menschen betrachten, so wollen wir
uns naturgemäß nicht auf eine archäologische oder ethnographische Diskussion
einlassen, ob er unbedingt und in jedem Fall zeitlich dem Geräteschmuck vor¬
angegangen ist. Wir nehmen mit Floernes1 und anderen an, daß dies im
allgemeinen der Fall war. Dabei taucht, nunmehr auf höherem Niveau, ein
Problem auf, das uns bereits beim Rhythmus beschäftigt hat, nämlich, ob wir
es, und wenn ja, wieweit, mit einer Erbschaft aus dem tierischen Zustand zu
tun haben. Gerade hier bringt Darwin ein außerordentlich vielfältiges und im
Detail faszinierendes Material zur Erhärtung einer bejahenden Antwort auf
diese Frage. Indessen können bei genauer Betrachtung die Argumente Dar¬
wins und der Darwinisten uns doch nicht überzeugen. D. h. es wird niemand
bestreiten, daß der Drang, sich zu schmücken, als Moment des sekundären
Sexualcharakters auch beim Menschen wirksam ist. Die Seinsweise von Tier
und Mensch ist jedoch infolge der Entstehung von Arbeit und Gesellschaft qua¬
litativ so verschieden geworden, daß auch in solchen höchst primitiven Betäti¬
gungsformen neue qualitativ derart verschiedene Bestimmungen auftauchen,
daß es für diese Frage nicht mehr statthaft erscheint, das Menschliche, insbe¬
sondere in seiner Beziehung zum Ästhetischen, aus dem Tierischen direkt
genetisch abzuleiten. Allgemein gesprochen handelt es sich dabei um die Be¬
ziehung des einzelnen - in unserem Fall des geschmückten - Individuums zur
Gattung. Marx hat dieses Verhältnis, natürlich ohne auf unser Spezialpro¬
blem Bezug zu nehmen, genau beschrieben. Er sagt: »Das Tier ist unmittelbar
eins mit seiner Lebenstätigkeit. Es unterscheidet sich nicht von ihr. Es ist sie.
Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wol-
lens, und seines Bewußtseins. Er hat bewußte Lebenstätigkeit. Es ist nicht eine
Bestimmtheit, mit der er unmittelbar zusammenfließt. Die bewußte Lebens¬
tätigkeit unterscheidet den Mensdien unmittelbar von der tierischen Lebens¬
tätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen ... Das praktische Er¬
zeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur
ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens, d. h.
eines Wesens, das sich zu der Gattung als seinem eigenen Wesen oder zu sich
als Gattungswesen verhält. Zwar produziert auch das Tier. Es baut sich ein
Nest, Wohnungen wie die Biene, Biber, Ameise etc. Allein es produziert nur,
was es unmittelbar für sich oder sein Junges bedarf; es produziert einseitig,
während der Mensch universell produziert; es produziert nur unter der Herr¬
schaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch selbst
frei vom physischen Bedürfnis produziert, und erst wahrhaft produziert in
der Freiheit von demselben; es produziert nur sich selbst, während der
Mensch die ganze Natur reproduziert; sein Produkt gehört unmittelbar
zu seinem physischen Leib, während der Mensch frei seinem Produkt gegen¬
übertritt. Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der
Species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder Species
zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand an¬
zulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schön¬
heit L«
Auf dieser Grundlage ist es nicht allzuschwer für unsere Frage die Konse¬
quenzen zu ziehen. Erstens ist der Schmuck dem Tiere angeboren; es kann
daher diesen nicht mehr verbessern oder verderben. Der Mensch dagegen ist
von Natur aus gar nicht geschmückt, er schmückt sich; das Schmücken ist seine
eigene Tätigkeit, ein Ergebnis seiner Arbeit. Das Unkritische bei Darwin
besteht darin, daß er dieses entscheidende Moment übersieht. Deshalb ist
auch sein an sich so reiches Material für die Genesis des Schmudtes wenig
überzeugend. Das äußert sich auch darin, daß die - für den menschlichen
Geschmack - ornamental schönen Lebewesen im allgemeinen den niedrigen
Gattungen angehören (Pflanzen, Seetiere, Schmetterlinge, höchstens Vögel);
die »Ahnenlinie« hört gerade dort auf, wo sie für die Genesis beginnen
müßte. Daraus folgt zweitens, daß wie ein einzelner Mensch geschmückt ist,
sei es Tätowierung oder angelegter Schmuck, keineswegs aus seiner ange¬
borenen physiologischen Beschaffenheit folgt, sondern ein Produkt gesell¬
schaftlicher Verhältnisse und Tätigkeiten ist. Ob es sich nun darum handelt,
daß der Mensch die Embleme der engeren Gemeinschaft, der er angehört, als
Schmuck trägt, oder der Schmuck seinen Rang innerhalb einer solchen zum
Ausdruck bringt etc., jedenfalls ist die Art des Sich-Schmückens nicht ange¬
boren, sondern gesellschaftlich entstanden. Drittens lockert sich dadurch die
unmittelbare Beziehung des Schmuckes zur Sexualität oder erscheint wenig¬
stens viel weiter vermittelt. Darwin hat diesen Zusammenhang, den
»Schmuck« als sekundären Sexualcharakter, für die Tiere überzeugend nach¬
gewiesen. Gewisse moderne Psychologen haben allerdings — auch ohne Dar¬
winisten zu sein - die Neigung, die Urzeit gewissermaßen als kanonische
Periode der alles beherrschenden Sexualität aufzufassen und die Sexual¬
probleme der Menschen entwickeltester Formationen in sie hineinzuprojizie¬
ren. Demgegenüber genügt es, die Analysen von Engels anzuführen, die
gerade aus den Beobachtungen tierischer Horden und ihrer Auflösung,
zumindest ihrer Schwächung durch die Eifersucht der Männchen, also gerade
durch die Betonung des Gegensatzes zwischen menschlichen und tierischen
Horden nachweisen, daß »die sich aus der Tierwelt emporarbeitenden
Urmenschen entweder gar keine Familie kannten, oder höchstens eine, die bei
den Tieren nicht vorkommt1.« Die werdenden Menschen konnten also z. B.
die Eifersucht nicht kennen, sonst hätten ihre ersten Gemeinschaften nie
dauernde, solide werden können, sonst hätte sich »ein so waffenloses Tier,
wie der werdende Mensch« nie erhalten können.
Damit soll nicht geleugnet werden, daß zwischen dem Trieb des Menschen
sich zu schmücken und seinem sexuellen Leben nahe und intime Zu¬
sammenhänge bestehen. Wichtig ist bloß, was bei Darwins Parallelen
vernachlässigt wird, daß infolge des gesellschaftlichen Lebens beim Men¬
schen vieles zum sekundären Geschlechtsmerkmal wird, das nicht nur Produkt
der Arbeit (und also dem Menschen keineswegs angeboren) ist, sondern
geradezu aus den sozialen Beziehungen der Menschen entsteht; so Macht und
Rang, Ansehen und Reichtum etc. Daß diese Momente, besonders wenn sie
durch lange Gewöhnung fixiert sind, mehr oder weniger sekundär-sexuell
wirken, ist eine historische Tatsache, ebenso daß dieses Gebiet mit der
Entwicklung der Gesellschaft immer ausgedehnter und weitverzweigter
wird. Man darf also die Genesis des Schmuckes keineswegs in einer
unmittelbaren Beziehung zum sexuellen Leben suchen. Den Ausgangspunkt
bildet sicherlich der - wahre oder allgemein eingebildete - gesellschaft¬
liche Nutzen. Plechanow hat im wesentlichen durchaus recht, mag ein
Teil seines ethnographischen Materials auch veraltet sein, wenn er von der
Tätowierung sagt: »Der Wilde sah ursprünglich den Nutzen der Tätowierung
und erst dann, - viel später - empfand er einen ästhetischen Genuß beim
Anblick der tätowierten Haut1.« Es ist dabei gar nicht wesentlich, auf welcher
Bewußtseinsstufe, mit wie falschem Bewußtsein diese Einsicht der Nützlich¬
keit erfolgt.
Die begriffliche Klärung dieser ziemlich verworrenen Zusammenhänge wird
noch dadurch erschwert, daß das Wort Schönheit, womit man sehr oft das
Ästhetische bezeichnen will, zu den vieldeutigsten Ausdrücken gehört, die die
Spradie und Terminologie kennt. Thomas Mann analysiert diesen Begriff
ironisch in der Joseph-Legende und findet, daß dessen Bedeutung vom lang¬
weiligen Akademismus bis zur sexuellen Anziehung reicht. »Wie viel Be¬
trug, Gaukelei, Fopperei ist einschlägig ins Gebiet des Schönen! Und warum?
Weil es zugleich und auf einmal das Gebiet der Liebe und des Verlangens ist;
weil das Geschlecht sich einmischt und den Begriff der Schönheit bestimmt.«
Dabei zergliedert hier Thomas Mann diesen Begriff, ohne auf seine räumlich¬
zeitliche Vieldeutigkeit Bezug zu nehmen. Diese ist aber bei den Tieren bio¬
logisch, bei den Menschen biologisch und gesellschaftlich außerordentlich
variiert. So sehr Darwin die nahe Verwandtschaft des tierischen und des
menschlichen Schönheitssinnes beweisen möchte, führt er als ehrlicher und
gewissenhafter Forscher massenhaft Beispiele an, die gerade das Gegenteil
beweisen. Es ist geradezu rührend zu lesen, wie er gelegentlich über den
»schlechten Geschmack« einzelner Vögel in bezug auf die Laute und Farben,
die bei ihnen sexuell anziehend wirken, entrüstet ist2. Oder er spricht von
bestimmten Gerüchen, die in der Paarungszeit ähnliche Wirkungen ausüben
und fügt entschuldigend hinzu: »Wir dürfen in bezug auf diesen Punkt nicht
nach unserem eigenen Geschmack urteilen 3.« Es ist also sicher mehr oder
weniger zufällig, wenn auf das, was im Sexualleben der Tieie zum sekundären
Geschlechtsmerkmal wird, ästhetische Kategorien, auch im allerweitesten
Sinne, überhaupt angewendet werden können.
Dieses Moment der Zufälligkeit ist aber auch aus der gesellschaftlich-ge¬
schichtlich bestimmten Entwicklung der Menschheit nicht auszumerzen. Dar¬
um geht es nicht an, hier - willkürlich, alle sozial notwendigen Zufälle für
das Ästhetische ausschaltend - das Sich-Schmücken von vorneherein als ästhe¬
tische Kategorie zu behandeln. Das ist wieder ein Rückfall in die Auffassung
des Ästhetischen als dem Menschen »ewig« angehörenden, a priorischen oder
anthropologischen Prinzip. Dies tut z. B. Scheltema, der aus weltanschaulich
völlig entgegengesetzten Voraussetzungen als Darwin, den Körperschmuck
von vorneherein als ästhetisch, sogar als sehr kompliziert und hochstehend
ästhetisch auffaßt: »Darüber, daß diese Schmuckformen zugleich reine Kunst¬
formen sind, kann aber kein Zweifel bestehen. Denn nicht nur wurde dieser
Schmuck, etwa eine Halskette aus Muscheln, mit vollem Bewußtsein als
>schön< empfunden, und nicht nur war diese in der Natur gar nicht Vorge¬
fundene gereihte Ordnung der gleich großen Glieder ein reines Phantasie¬
produkt, sondern eben als Halsschmuck wird diese Kette von Muscheln nur
dadurch verständlich, daß sie eine gegebene, gegenständliche Form, und zwar
die des menschlichen Körpers, als reine Form deutet, d. h. künstlerisch inter¬
pretiert. Erst dadurch erhält die Halskette ihre sinnvolle, schmückende
Schönheit, daß der Reigen der Glieder den Ansatz und zugleich die gleich¬
mäßige Rundung des Halses betont und begleitet1.« Das ist sicher ein Moder¬
nisieren oder wenigstens ein Hineinprojizieren der Gefühle und Einsichten
viel späterer Entwicklungsstufen in die anfängliche. Gar nicht davon zu
reden, daß Scheltema das sicherlich ältere Tätowieren überspringt und gleich
mit dem Schmuck beginnt, der infolge der Selbständigkeit des Gegenstan¬
des eine gewisse Distanzierung von der biologisch gegebenen Existenz des
Menschen erlaubt, also weit ausgeprägte Möglichkeiten zur Loslösung des
Ästhetischen vom bloß Nützlichen und Angenehmen enthält, die für das Täto¬
wieren und andere ursprünglichen Formen des Schmuckes am Körper nicht
möglich sind. Hier ist deshalb die Zufälligkeit dessen, daß etwas in unserem
Sinne als ästhetisch betrachtet werden kann, fast ebenso stark wirksam, wie
in der Naturschönheit der Tiere. Ohne hier auf ethnographische Details ein-
zugehen, genügt es, wenn man auf die ausgebrochenen Zähne, künstlich
1 Scheltema: a. a. O. S. 38.
Ornamentik 319
Wir wiederholen: historisch wird der Entstehungsprozeß wohl durch die ver¬
schiedenartigsten Zufälligkeiten vermittelt sein. Unsere Beispiele zeigten, wie
zufällige Beziehungen durch quantitative Steigerung eine qualitativ neue
Form hervorgebracht haben. Wenn wir aber auch für die historische Genesis
der Ornamentik mit großer Wahrscheinlichkeit einen ähnlichen Prozeß an¬
nehmen können, so ist damit unsere philosophische Frage: wie und warum
aus diesem eine besondere Art der ästhetischen Betätigung geworden ist, noch
keineswegs befriedigend beantwortet. Freilich haben die Zufälle in der gesell¬
schaftlichen Entwicklung eine eigenartige Dialektik. Es gibt Zufälle und Zufälle;
solche, die mit den objektiven Wachstumstendenzen einer bestimmten Etappe
sachlich verbunden sind, deren »Zufälligkeit« beim ersten Auftreten eben den
Anfang von etwas Neuem signalisiert, zumeist ohne zugleich ein Bewußtsein
des Neuen in den beteiligten Menschen zu erwecken, das sich erst langsam, all¬
mählich, oft sehr ungleichmäßig entwickelt; parallel mit dem Umschlagen die¬
ser Zufälligkeit in eine gesellschaftlich allgemein gewordene Wirklichkeit, ja
Notwendigkeit entfaltet es sich zu einem mehr oder weniger adäquaten Bewußt¬
sein. Es gibt daneben aber in jeder gesellschaftlichen Entwicklung Zufälle im
engsten Sinne des Wortes, diese bleiben zwangsläufig sporadisch, sterben ab, er¬
langen selten eine auch nur vorübergehende soziale Ausbreitung. Es ist klar, daß
ohne eine solche Auffassung der Zufälligkeit jede gesellschaftliche Entwicklung
einen mystifizierten Charakter erhalten müßte. Es ist ebenfalls klar, daß hier
nur von dem ersten Typus der Zufälligkeit die Rede sein kann, aber auch in
diesem Fall bleibt der erwähnte Vorbehalt bestehen, daß auch die richtigste
historische Genesis noch keine philosophische Erklärung für die ästhetische
Wesensart ihrer, als solche notwendig erkannten, Produkte geben kann.
Wir kehren damit wieder auf das bereits gestreifte Problem der Ablösung des
Ästhetischen vom Nützlichen und Angenehmen, soweit es nicht mit Flaut
und Haaren der Alltagswirklichkeit angehört, zurück. Daß diese Ablösung
die mannigfaltigsten Übergänge solcher Gradunterschiede zeigt, die sich be¬
reits zu qualitativen Differenzen fixieren, haben wir bereits angedeutet. Jetzt,
wo wir es nicht mehr wie früher bloß mit einem abstrakten Formelement zu
tun haben, sondern mit der Kristallisierung solcher Elemente zur ästheti¬
schen Einheit, kann bereits auf die ästhetische Bedeutung dieser Verschieden¬
heiten hingewiesen werden. Es kommt dabei darauf an, welche Rolle der
ornamental verzierte Gegenstand im Leben der Menschen einnimmt. Hier
ergibt sich ein Abstand der Qualität je nachdem, ob das Ornament einen
Einzelgegenstand des alltäglichen Gebrauchs ziert, oder ob es zu einem deko¬
rativen Elemente der Architektur, d. h. des öffentlichen Lebens wird. Diese
322 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
1 Es ist klar, daß eine solche Distanzierung beim unmittelbaren Körperschmuck gar
nicht auftreten kann, erst bei dem, der vom menschlichen Körper unabhängig exi¬
stiert.
324 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
auf Evokation aus, obwohl selbstredend nicht ästhetischer Richtung; sie distan¬
ziert sich ebenfalls vom Alltag, sogar in einer weitaus auffallenderen und ek¬
latanteren Weise, als die anderen Künste, sie kann also diese Ablösung vom
Alltag objektiv ganz anders vollziehen, als der weltlose Geräteschmuck. Daß
damit das Ästhetische sich noch keineswegs als selbständig konstituiert hat,
ergibt sich schon aus diesen wenigen Bemerkungen. Seine Ablösung von einer
solchen Gemeinschaft mit Magie und Religion werden wir im letzten Kapitel
des ersten Teils ausführlich behandeln. Dort wird es sich zeigen, daß diese Ab¬
lösung zwar einen - mehr oder weniger bewußten - ideologischen Kampf
erfordert, jedoch qualitativ anderen Charakters ist, als die aus dem Ein¬
gebettetsein in die Praxis des Alltags.
Wir haben hier das Entstehen der Architektur, vielleicht etwas vereinfachend,
in die magisch-religiöse Periode verlegt. Diese Vereinfachung ist insofern be¬
rechtigt, als die ersten echten ästhetischen Verwirklichungen der Architektur
den Zwecken von Magie oder Religion dienten. Wenn es auch weltliche Ge¬
bäude (Schlösser, Paläste etc.) gab, so war einerseits anfangs auch das Herr-
schertum sehr stark magisch-religiös fundiert, was auch die Wesensart seiner
künstlerischen Äußerungen entsprechend beeinflussen mußte, andererseits han¬
delte es sich auch hier um öffentliche Gebäude, deren Form - auch als Element
des »Gebrauchs« - von vorneherein wichtige Momente des ideologisch Wirken¬
den, des Evokativen mitinbegriff. (Ausdruck, der unwiderstehlichen Madit,
Imponieren durch Monumentalität.) Das Hinüberwachsen des Bauens für
private Wohnzwecke ist - ästhetisch angesehen - das Ergebnis einer viel
späteren Entwicklung.
Die Verwendung der Ornamentik in der Architektur, also in einer Kunst,
die ihrem Wesen nadi nicht weltlos ist, hebt, wenn man jene selbst in ihrem
an-und-für-sich-Sein betrachtet, ihre Weltlosigkeit nicht auf, im Gegen¬
teil, gerade diese Kombination läßt ihre Eigenart ganz klar hervortreten.
Hier erhält das Prinzip des Schmückens seine adäquateste Gestalt: es ist nickt
mehr eine Zutat zum nützlichen Gebrauch des Alltagslebens, vielmehr kann
in diesem Zusammenhang die reine Lust am Schmuck, seine das Leben der
Menschen verschönende, Freude erweckende Funktion durch nichts abgelenkt
zur Geltung gelangen. Es gibt also eine ästhetische Reihe von Körperschmuck
über Geräteschmuck bis zu diesem Punkt, gerade als Distanzierung von der
Alltagspraxis. Daß die Rolle, die die Ornamentik hier spielt, auch eine
dienende ist, nämlich das Organisieren des Raumes durch die Architektur
zu unterstützen, die Gliederung der Flächen durch dekorative Ausgestaltun¬
gen der Teile noch anschaulicher zu machen, Knotenpunkte des Aufbaus zu
Ornamentik 325
offenbaren bereits hier ihr prinzipielles Wesen, so daß der Ausgang vom
Geometrischen nicht nur unmittelbar verständlich ist, sondern auch ästhetisch
richtig. Ernst Fischer formuliert das Problem in der angemessenen Richtung,
wenn er feststellt: »daß wir im Ornament die Gesetzmäßigkeit des Anorga¬
nischen und damit die Schönheit des Anorganischen widerspiegeln. Das
Ornament ist jene erstaunliche Form, in der man nur mit Vektoren, mit
gleidiartigen Abständen arbeitet... Diese Ornamentik ist offenkundig an¬
schauliche Mathematik und den Ziffern vorangegangen, so wie die Bilder¬
schrift den Budistaben; sie scheint in einem gewissen Sinn Kunst gewordene
Mathematik1.« Er sucht - mit weitgehender, wenn auch relativer Berechti¬
gung - hier eine Widerspiegelung der »Ordnung« der Natur in unserem
Bewußtsein, das ja im allgemeinen bestrebt ist, die Ordnung in der Gesell¬
schaft widerzuspiegeln2. Fischer greift hier, unseres Erachtens richtig, das
Prinzip der Ordnung als das Wesentliche im ästhetischen Lustgefühl, das die
Ornamentik erregt, heraus, und weist, in voller Übereinstimmung mit unseren
früheren Darlegungen, auf die Rolle hin, die der Rhythmus »arbeitsfördernd
und lebensfördernd« für die Menschen spielt. Was seine äußerst interessanten
Darlegungen ein wenig abstrakt macht, ist die etwas allzu schroffe Gegen¬
überstellung des Organischen und des Anorganischen einerseits, von Natur
und Gesellschaft andererseits. Das Beherrschen des Anorganischen, der Natur
durch den Menschen ist nicht nur ein gesellschaftlicher Prozeß - das spricht
Fischer ebenso entschieden aus, wie diese Betrachtungen - sondern steht auch
in unzertrennlichem Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen dieser
Gesellschaft, mit dem Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur. Der
junge Marx drückt diesen Tatbestand in außerordentlich plastischer Weise
aus: »Wie Pflanzen, Tiere, Steine, Luft, Licht etc. theoretisch einen Teil
des menschlichen Bewußtseins, teils als Gegenstände der Naturwissenschaft,
teils als Gegenstände der Kunst bilden - seine geistige unorganische Natur,
geistige Lebensmittel, die er erst zubereiten muß zum Genuß und zur
Verdauung -, so bilden sie auch praktisch einen Teil des menschlichen
Lebens und der menschlichen Tätigkeit. .. Die Natur ist der unorganische
Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher
Körper ist3.«
1 E. Fischer: a. a. O. S. 179.
2 Ebd. S. 180.
3 Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, a. a. O. III S. 87.
Ornamentik 3*7
Worauf beruht dann die frühe, frühvollendete, reiche und doch weltlose
Wesensart und Wirkung der Ornamentik? Wir glauben, daß dieses Phänomen
auf ein Grundgesetz der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung, aus der
daraus bedingten Besonderheit der Widerspiegelung der Wirklichkeit, und
zwar sowohl in Wissenschaft wie in Kunst folgt. Hegel hat in der Vorrede
der »Phänomenologie des Geistes« als erster eine philosophisch exakte Be¬
schreibung dieses Phänomens gegeben. Er geht davon aus, daß dies sein Werk
einen neuen Weltzustand zum begrifflichen Ausdruck zu bringen hat, und
will nun daran anschließend die spezifischen Wesenszeichen im Auftreten des
Neuen in der Geschichte objektiv wie subjektiv genau bestimmen. Er geht nun
davon aus, daß dieses Neue ebensowenig »eine vollkommene Wirklichkeit«
haben kann, wie »das eben geborene Kind«. Natürlich ist das Neue ein Produkt
mannigfaltiger Bestimmungen und Tendenzen, die lange vor seinem klaren
Hervortreten im Schoße der alten Welt wirksam waren, wenn es aber nun Ge¬
stalt gewinnt, so ist diese »das aus der Sukzession wie aus seiner Ausdehnung in
sich zurückgegangene Ganze, der gewordene einfache Begriff desselben1«. Die
Widerspiegelung eines solchen historischen Tatbestandes im menschlichen Be¬
wußtsein hat deshalb notwendig einen abstrakten, esoterischen Charakter.
In der »Logik« kommt nun Hegel - diesmal rein vom Standpunkt der Er¬
kenntnis - auf dasselbe Problem zurück, wobei er jetzt nicht so sehr die
Gestalt des historisch Neuen wie die des Anfangs der gedanklichen Bewälti¬
gung der Wirklichkeit ins Auge faßt. Dieser Anfang ist das Allgemeine.
»Wenn in der Wirklichkeit«, führt Hegel aus, »es sei der Natur oder des
Geistes, die konkrete Einzelheit dem subjektiven, natürlichen Erkennen als
das Erste gegeben ist, so muß dagegen in dem Erkennen, das wenigstens in¬
sofern ein Begreifen ist, als es die Form des Begriffes zur Grundlage hat, das
Einfache, von dem Konkreten Ausgeschiedene das Erste sein, weil der Gegen¬
stand nur in dieser Form die Form des sich auf sich beziehenden Allgemeinen
und des dem Begriffe nach Unmittelbaren hat 2.« Er polemisiert gegen jene,
die hier an die Anschauung appellieren, denn der Prozeß, den er jetzt
beschreibt, hat bereits deren Standpunkt sich einverleibt, und gedanklich
überschritten. Und auch vom subjektiven Gesichtspunkte ergibt sich dieselbe
Lage: »Wenn bloß nach der Leichtigkeit gefragt wird, so erhellt ohnehin von
selbst, daß es dem Erkennen leichter ist, die abstrakte einfache Gedanken-
1 Ebd. S. 289.
2 Hambidge: Dynamic Symmetry, Jale University Press 1920, S. 7 f.
Ornamentik 329
über das möglichst adäquate Verwandeln des An sich in ein Für uns hinaus¬
geht. Dieses muß in ihr enthalten sein; man kann gerade hier nicht ent¬
schieden genug wiederholen, daß Wissenschaft und Kunst dieselbe Wirklich¬
keit widerspiegeln. In der ästhetischen Widerspiegelung entsteht aber, wie
bereits ausgeführt, ein solches Bild der Welt, in welchem die Bezogenheit auf
den Menschen das unaufhebbar begründende Prinzip bildet, das eben deshalb
mittels einer evokativen Wirkung diese Bezogenheit unmittelbar erlebbar
macht. Diese Gemeinschaft mit Arbeit und Wissenschaft, zugleich mit der
deutlichen Abhebung von ihnen, ist in der geometrischen Ornamentik fast
abtastbar gegenwärtig. Die Eigenart jenes Wirklichkeitsaspekts, die die
Methode der Geometrie bestimmt, die ihre frühe Entstehung als Wissenschaft
und als Kunst ermöglicht, liegt sowohl der Gemeinschaft wie der Verschieden¬
heit zugrunde. Die Selbständigkeit der Kunst im Erforschen und Beherrschen
der Wirklichkeit durch den Menschen äußert sich hier in einer sehr plastischen
Weise. Einerseits kommt die Verbundenheit mit der Wissenschaft, infolge des
gleichen Objekts der Widerspiegelung, darin zur Geltung, daß die geo¬
metrische Ornamentik in ihrer wirklich ausgebildeten Form, vor allem in
Ägypten, die Ergebnisse der späteren, auf hoch entwickelter Mathematik
basierten Wissenschaft praktisch um Jahrtausende vorwegnimmt. Weyl1 zeigt
auf, daß alle Typen der Variabilität der sich hier ergebenden Verhältnisse,
welche erst die Mathematik des 20. Jahrhunderts exakt wissenschaftlich er¬
forschen und ergründen konnte, in allen ihren Typen durch die ägyptische
Ornamentik bereits dargestellt und verwirklicht waren. Andererseits aber ist
diese Übereinstimmung zwar eine - an sich besonders für die Philosophie der
Kunst - außerordentlich wichtige, nachträgliche Erkenntnis, die das Wesen
des notwendig gemeinsamen Objekts der Widerspiegelung unwiderleglich
klar aufdeckt. Sie ist jedoch vom Standpunkt der Kunst als Kunst bloß eine
nachträgliche Erkenntnis, indem sie zum ästhetischen Wesen der geometri¬
schen Ornamentik nichts unmittelbar Ausschlaggebendes hinzufügen kann.
Ihre unerschöpfliche Variabilität ist die Quelle ihrer ästhetischen Wirkung,
und um diese hervorzurufen oder zu erleben war diese Erkenntnis weder not¬
wendig, noch damals historisch möglich. Die reale Wirkung enthält aller¬
dings - im von uns wiederholt angegebenen Sinn - das unbewußte Bestreben,
das unbewußte Gefühl, daß hier eine Verbindung überhaupt mit der Wirk¬
lichkeit hergestellt wurde. Sie hat als Basis, als treibenden Motor des
Schaffens und des Genießens das Erlebnis der beginnenden Herrschaft des
Menschen über die Natur, der beginnenden, vom praktisch erkennenden Men-
sdien zustande gebrachten Ordnung. Aber dieses Überhaupt genügt zur Er¬
klärung von Genesis und Wesensart vollauf. Gerade weil hier die Überein¬
stimmung in der richtigen Widerspiegelung der Wirklichkeit zwischen Kunst
und Wissensdiaft in einer so klaren Form hervortritt, weil das Ubereinstim¬
men objektiv exakt nachweisbar ist, subjektiv jedoch - ebenso exakt nach¬
weisbar - nur »unbewußte« Quellen haben kann, ergibt sich hier ein
Paradigma für das »getrennt marschieren, vereint sidi schlagen« von Kunst
und Wissenschaft: bei der direkteren und totaleren, nicht mehr weltlosen
Widerspiegelung der Wirklichkeit sind diese Wechselbeziehungen viel kompli¬
zierter. Ihre Grundlage ist aber die gleiche, und darum mußte dieses lehrreiche
Verhältnis an diesem einfachen und abstrakten Fall besonders betont werden.
Die Einfachheit und Abstraktheit der Ornamentik hat, wie wir gesehen
haben, zur Folge, daß Erscheinung und Wesen restlos zusammenzufallen
scheinen. Diese sonst im Gegenstand des Ästhetischen höchst selten derart un¬
mittelbar hervortretende Konvergenz beruht auf dem zugleich abstrakten
und sinnlichen Charakter der Erscheinung und auf der Abstraktheit des
Wesens. Letztere darf aber nicht, wie dies bei Kant geschah, mit Inhalts¬
losigkeit verwechselt werden. Kant hat, mit der Genialität seines philosophi¬
schen Blicks für ästhetische Probleme, die hier behandelte tiefgreifende
Dualität in der ästhetischen Formung klar erkannt, indem er die »freie
Schönheit« (pulchritudo vaga) von der »bloß anhängenden Schönheit«
(puldiritudo adhaerens) unterschied. Der geniale Blick wird jedoch von
seinem subjektiven Idealismus, von der daraus entspringenden Unfähigkeit,
die Rolle der Widerspiegelung der Wirklichkeit in der Ästhetik zu erkennen,
getrübt. Er hat das berechtigte Bestreben, das Wesen des Ästhetischen aus
jener unmittelbaren Abhängigkeit von der wissenschaftlich-philosophischen
Erkenntnis, wie dies bei Leibniz und seiner Schule der Fall war, zu befreien,
und seine Selbständigkeit philosophisch zu begründen. Da er aber am Phäno¬
men der Widerspiegelung achtlos vorbeigeht, kann er das Wesen, der »freien
Schönheit« nur damit begründen, daß sie »keinen Begriff von dem ..., was
der Gegenstand sein soll« voraussetzt1. Darum verwickelt er sich bei der
konkreten Auslegung dieser Lehre in unauflösliche Widersprüche. Einerseits
erklärt er die nicht immer richtig herangezogenen Naturerscheinungen
(Blumen, Vögel etc.) in einer oft fast sophistischen Weise; Ernst Fischer hat mit
Recht in seiner Behandlung der Kristalle ihre Geformtheit auf objektive
Naturgesetze und innerhalb deren Bereich auf das Bestimmtsein der Form
durch den Inhalt zurückgeführt. Andererseits, wo Kant auf die Ornamentik
selbst zu sprechen kommt, zieht er nicht nur subaltern-moderne Beispiele an
(Tapeten, Laubwerk etc.), sondern erblickt in ihnen eine pure Inhaltlosigkeit
an Stelle des von uns aufgewiesenen abstrakten Inhalts. (Daß die Konzeption
der »anhängenden Schönheit« aus denselben Gründen noch widerspruchs¬
voller ist, werden wir später sehen.) Das abstrakte Wesen der geometrischen
Ornamentik ist also keineswegs, wie Kant meint, inhaltlos, nicht »ohne
Begriff«, wenn der Begriff auch restlos in die unmittelbare sinnliche Anschau¬
lichkeit aufgesogen ist. Daß es keinen konkret gegenständlichen Inhalt hat, son¬
dern bloß den eines abstrakten Überhaupt, bringt nur einen äußerst speziali¬
sierten Charakter des Inhalts zustande, nicht aber sein vollständiges Fehlen.
Diese besondere Art der Inhaltlichkeit kommt nun vor allem darin zum Aus¬
druck, daß sich um dieses abstrakte Überhaupt eine Aura der Allegorik und
Esoterik bildet. Das Pathos, das diese Darstellungsweise, als Abbild, Element
oder Teil der Welteroberung durch die Geometrie durchdringt, setzt sich im
starken Drang, das abstrakte Überhaupt konkret zu interpretieren, es aus
seiner Ferne zur konkreten Wirklichkeit zurückzuführen, durch. Die geometri¬
schen Formen sind mit keiner konkreten Gegenständlichkeit des wirklichen
Lebens organisch verbunden; und wenn in der Ornamentik solche Gegen¬
ständlichkeitsformen (Pflanzen, Tiere, Menschen) erscheinen, so können auch
diese kein konkret-sinnliches besonderes So-Sein haben, sondern müssen bloße
Hieroglyphen ihres Sinnes, abstrakte Abbreviaturen ihrer Existenz vorstel¬
len. Dies um so mehr, als es zum Wesen der Ornamentik gehört, jedes von ihr
bearbeitete Objekt aus dem Konnex der Wechselbeziehungen seiner natür¬
lichen Umwelt herauszureißen und es in einen - von diesem Standpunkt -
künstlichen Zusammenhang zu versetzen. Darum kann der geistige Gehalt
eines rein ornamentalen Gebildes nur ein allegorischer sein; ein Sinn, der dem
konkret-sinnlichen Erscheinungsformen gegenüber völlig transzendent ist.
Eine wahrheitsgemäße Nachkonstruktion der so entstandenen, oft magisch
oder religiös esoterischen Deutungen der geometrischen Ornamentik ist für
die Ethnologie, Kunstgeschichte etc. in den meisten Fällen eine schwer zu
lösende Aufgabe. Auf ihre Schwierigkeit hat bereits Riegl1 nachdrücklich
aufmerksam gemacht. Es ist ihm jedoch dabei entgangen, daß die wahre
Ursache dieser Schwierigkeit im Wesen der Allegorie selbst liegt, besonders
wenn ihre Deutung das Privileg einer geschlossenen, das Geheimnis behüten¬
den Priesterkaste ist. Das Allegorische beruht ja gerade darauf, daß zwischen
der sinnlich-sichtbaren Wesensart der dargestellten Gegenstände und ihrem
kompositionell das Ganze des Kunstwerks enthüllenden Sinn kein im Wesen
der Gegenstände selbst begründeter Zusammenhang besteht. Von dieser
Gegenständlichkeit aus gesehen, ist jede allegorische Deutung eine mehr oder
weniger, oft vollständig willkürliche. Andererseits geht die allegorische Inter¬
pretation in ihrer originären magischen oder religiösen Form gerade davon
aus, daß sämtliche Erscheinungen der Wirklidikeit die erhabene Wahrheit des
Magischen oder Religiösen prinzipiell nur inadäquat ausdrücken können,
wodurch die Willkürlichkeit der Deutung vom Gegenstand aus, also von
»unten« eine Bestätigung von »oben« erhält. Diese konvergierende Doppel¬
tendenz in der Allegorie ist so stark, daß sie sich auch in viel späteren Perio¬
den, bei nicht mehr abstrakten Beziehungen zwischen Erscheinung und Wesen
doch restlos durchsetzt. So werden im Christentum der ersten Jahrhunderte
derart prägnant sinnliche Erzählungen, wie die des Alten und Neuen Testa¬
ments von Clemens von Alexandrien, von Origines und anderen rein alle¬
gorisch interpretiert1.
Natürlich ist zwischen diesen beiden Typen der Allegorie ein qualitativer
Unterschied vorhanden. Während die zuletzt erwähnte Abart mit der alle¬
gorischen Interpretation das Wesen der künstlerischen Gegenstandsgestaltung
vergewaltigt oder seinen eigentlichen Sinn ignoriert, wächst das allegorische
Wesen der geometrischen Ornamentik gerade aus ihrer ästhetischen Eigenart
selbst organisch heraus. Die evokative Wirkung der geometrischen Ornamen¬
tik, zusammen mit ihrem Wesen als abstraktes Überhaupt bringt - auf der
Basis des weltanschaulichen Pathos, das diesen ganzen Komplex bewegt -
aus dem unmittelbaren Erlebnis heraus das Bedürfnis der allegorischen Inter¬
pretation hervor. Diese kann, wie es aus diesem Tatbestand von selbst folgt,
zwar inhaltlich angesehen nur eine willkürliche sein, jedoch eben deshalb
führt sie keinerlei Vergewaltigung des künstlerischen Wesens, der künstleri¬
schen Praxis mit sich. Boas 2 bringt eine große Anzahl von Beispielen, die
1 Hugo Ball im Vorwort zu Dionysios Aeropagita: »Die Hierarchie der Engel und
der Kirche«, München-Planegg 1955, S. 23.
2 Boas: a. a. O. S. 88 ff.
334 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
1 Scheltema: a. a. O. S. 59.
Ornamentik 335
fallen zur Geltung gelangt. Aber darum wird die geometrische Ornamentik -
auch wenn ihre allegorische Bedeutung unwiederbringlich verlorengegangen
ist - keineswegs von jedem, künstlerisch relevanten Inhalt entblößt. Es bleibt
ein bedeutsamer Gehalt bestehen, der seinen Reichtum und seine Tiefe aus
jenen Quellen des Pathos der menschlichen Herrsdtaft über die Außenwelt,
aus der sinnlich erscheinenden Mühelosigkeit und Geistigkeit der so entstan¬
denen sichtbaren Ordnung schöpft, die wir früher beschrieben haben. Darin
drückt sich ein allgemeines ästhetisches Gesetz der Dauerwirkungen aus. Hier
muß nur so viel vorausgeschickt werden, daß auch im jetzt behandelten Fall
der geometrischen Ornamentik, wo die erste Evidenz bestechend dafür zu
sprechen scheint, daß die ästhetische Wirkung rein formale Fundamente hat,
die wirkliche Grundlage der Wirkung doch - letzten Endes - inhaltlich
bedingt ist. Natürlich - und dies gilt für alle ästhetischen Wirkungen - wer¬
den diese unmittelbar durch das jeweilige System der Formen vermittelt und
ausgelöst. Die Einheit von Inhalt und Form in der Ästhetik, die spezifische
Wesensart der künstlerischen Form, daß sie nämlich immer die Form eines
besonderen, einzigartigen Inhalts ist, kommt gerade in dieser unmittelbaren
Vermittlungsrolle der Form zwischen Werk und Rezeptivität zum Ausdruck,
in der Tatsache, daß der Rezeptive unmittelbar von formellen Wirkungen
affiziert wird, diese aber in seinem Erlebnis sofort ins Inhaltliche Umschlägen,
so daß er inhaltlichen Wirkungen zu erliegen meint.
Die komplizierten Wechselbeziehungen zwischen Inhalt und Form, die im
Laufe des historischen Schicksals eines Werks, eines Genres, einer Kunst etc.
wirksam werden, können wir hier unmöglich behandeln; nur darauf muß
kurz hingewiesen werden, daß in der scheinbar rein formellen Wirkung der
geometrischen Ornamentik gerade vom abstrakten Überhaupt des dargestell¬
ten Wesens, von der zugleich sinnlichen und abstrakt-geistigen Art der vor¬
handenen Erscheinungswelt infolge ihrer dialektischen Wechselwirkungen
ununterbrochen inhaltliche Wirkungen ausstrahlen. Diese können, wie gezeigt,
mit den autochtonen unmöglich identisch sein, schon weil die allegorische
Bedeutung nicht mehr entzifferbar ist, aber selbst dann, könnte sie uns
heute künstlerisch-evokativ nichts mehr sagen. Auf den Stimmungsgehalt
haben wir durch Anführen des Gedichts von Stefan George bereits hin¬
gewiesen. Aber auch dieser Stimmungsgehalt ist lange nicht derart unbestimmt,
wie er auf den ersten Augenblick erscheinen mag; über seine weltanschaulichen
Fundamente haben wir ja bereits gesprochen. Wenn er sich auch nicht - und
das gehört gerade zur ästhetischen Wesensart der Ornamentik - konkret
gegenständlich-inhaltlich fixieren kann, so liegen ihm doch sehr deutlich
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
allem wichtig, daß der Gegensatz von Tief und Flach unzertrennbar mit der
Behandlungsart des Negativen im Leben der Menschheit verknüpft ist. Es ist
jedoch ebenfalls erwähnenswert - da, wie man nicht oft genug wiederholen
kann, Kunst und Wissenschaft dieselbe Wirklichkeit widerspiegeln - ein wie
großes Gewicht Engels auf historische Konkretheit und Relativität des Nega¬
tiven so wie auf dessen zentrale Bedeutung in der gesellschaftlichen Entwick¬
lung legt. Keine Kunst, die die konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit adäquat
widerspiegeln will, kann an diesem Problemkomplex Vorbeigehen, ohne
den berechtigten Vorwurf einer Seichtheit, einer Flachheit, einer Vernied¬
lichung der Wirklichkeit zu entgehen. Nur die Architektur ist eine Aus¬
nahme. Da jedoch die Gründe dafür - trotz gewisser Verwandtschaften
mit der hier behandelten Frage - dem Wesen nach anders gelagert sind,
schon weil diese Kunst, trotz ihrer Ungeeignetheit, das Negative zum Aus¬
druck zu bringen, doch keine weltlose, wie die Ornamentik, ist, können
wir das Fehlen des Negativen in der Architektur erst bei ihrer Analyse
behandeln.
Die besondere Stellung der Ornamentik beruht nun darauf, daß sie sich dies¬
seits der aus dieser Lage entspringenden Dilemmas der künstlerischen Gestal¬
tung befindet. Das Fehlen einer jeden Negativität ist hier kein Ausweichen
vor dessen Gestaltung, sondern im Gegenteil eine prinzipiell notwendige
Eigenart dieser Formungsweise. Dementsprechend enthält der daraus eben¬
falls notwendig folgende Mangel an Tiefe keine Tendenz zu einer Flachheit
oder Seichtheit, sondern drückt im Gegenteil einen ganz spezifischen Aspekt
der Wirklichkeit aus. Wir haben dessen Wesen in seinen Hauptzügen bereits
umschrieben. Jetzt treten die inhaltlichen Komponenten dieser Formgebung
noch klarer als bisher ans Tageslicht: die ebenfalls bereits erwähnte märchen¬
hafte Wirkung erhält dabei, um ein Wort Friedrich Hebbels zu gebrauchen,
den Akzent einer Schönheit vor der Dissonanz, den Abglanz einer in realer
Konkretheit so nie existierenden Wirklichkeit, die die Sagen fast aller Völker
als goldenes Zeitalter, als verlorenes Paradies beschrieben haben. Darin ist
natürlich bereits eine gewisse Verschiebung des Tonfalls dem ursprünglichen
geometrisch-erkenntnismäßigen, wirklichkeits-erobernden Pathos gegenüber
enthalten, indem das Vorwärtsweisende des letzteren den Beigeschmack einer
nur einst besessenen Harmonie erhält. Indessen ist dieser Gegensatz, der in
jeder real-gestaltenden Kunst ein unaufhebbarer wäre, hier nicht viel mehr als
ein Schaukeln zwischen gefühlsmäßig verschieden gefärbten Bestimmungen.
Dabei haben die beiden Pole eine gemeinsame Grundlage: das Heraus¬
gehobensein der Gegenstände und ihrer Zusammenhänge aus der normalen
Ornamentik 339
ist klar, daß eine derartige Darstellungsweise die sdton an sidi vorhandene
»Ideenhaftigkeit« der geometrischen Formen noch steigert. Es ist aber ebenso
klar, daß ein soldies bewußt einseitiges Hervorheben des »Wesentlichen« an
den in die Komposition eingefloditenen Pflanzen oder Tieren, das höchstens
einen auffallend prägnanten Zug visuell erfaßt, jedoch gar nicht bestrebt ist,
ihr reales Wesen als solches skhtbar zu madien, das sich mit der sofortigen
suggestiven Erkennbarkeit und Einfügbarkeit in die gegenstandsfremde Ord¬
nung des Ganzen begnügt, den dematerialisierenden, entgegenständlidisten
Charakter nur noch verstärkt. Die nicht geometrischen Bestandteile des Orna¬
ments sind also zumindest ebenso »ideenhaft« wie die rein geometrischen;
besser gesagt: es entsteht ein homogenes Milieu solcher »Ideenhaftigkeit«,
einer solchen Dematerialisierung.
Es ist also hier, wie wir sehen können, der von uns angekündigte Wider¬
spruch tatsächlich vorhanden. Es kommt jetzt nur noch darauf an, seine
Wesensart etwas näher zu bestimmen. Denn er ist von ähnlichen Wider¬
sprüchen in den gestaltenden Künsten wesentlich verschieden. Will z. B. ein
Bild das freie Schweben einer Gestalt mit malerischen Mitteln sichtbar ma¬
chen (wie in der »Sixtinischen Madonna«, wie in Tizians »Assunta« etc.) so
muß es eine reale Gegenständlichkeit — mit der in ihr enthaltenen Schwere —,
eine reale Bewegung etc. so zum Ausdruck bringen, daß diese an sich un¬
mögliche Bewegungsrichtung innerhalb einer Welt von realen Gegenständen
eine sinnliche Evidenz erhält. Es handelt sich also um einen Widerspruch,
der tief in die gegenständliche Beschaffenheit eines jeden Bildelements ein¬
dringt, der deshalb, im Sinne der Hegelschen Logik, zur Dialektik des Wesens
gehört, die inneren Widersprüchlichkeiten des Ganzen und der Teile,
der Erscheinung und des Wesens etc. aufdeckt, der aus der allgemeinen Ver-
knüpftheit von allen mit allem entspringt, der den Widerspruch innerhalb
der von der Malerei selbst gestalteten Materialität aufwirft und zur Lösung
bringt. In der Ornamentik ist dagegen der Widerspruch, im Vergleich etwa
zur Malerei, äußerlich. Die ornamental zur Anschauung gebrachten Gegen¬
stände haben, wie aus dem bisher Dargelegten notwendig folgt, keine
eigene Materialität; sie besitzen nur - in einer Komposition - alle gemein¬
sam die Materialität des Ganzen (also Holz, Stein, Elfenbein etc.) und in¬
folge des Fehlens dieser eigenen Materialität der Gegenstände können jene
Spannungen nicht entstehen, die wir bei der Malerei angedeutet haben. Die
Bewegtheit, die sidi infolge der Komposition ergibt, kennt weder die Dimen¬
sionen, die Bewegungsgesetze der wirklichen Welt, noch die durch diese be¬
stimmten Richtungen; sie ist nicht mehr als ein Anleiten für das Auge des
342 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
1
Hegel: Enzyklopädie, § 161, Zusatz.
Ornamentik 343
Daraus erklärt sich, was wir früher ihren »primitiven« Charakter genannt
haben. Denn eine derart intime Konvergenz der wissenschaftlichen und ästhe¬
tischen Widerspiegelung kann auf einer entwickelteren Stufe nicht wieder¬
kehren. Es drückt sich darin eine urwüchsige, urtümliche Einheit der mensch¬
lichen Fähigkeiten aus, ein Nochnichtvorhandensein späterer Differenzierun¬
gen. Doch handelt es sich schon nicht mehr um eine verworrene Mischung, die
ein Ausgeliefertsein an die Umwelt anzeigt, sondern um die beginnende Herr¬
schaft über diese in all ihrer großartigen Eindeutigkeit, Exaktheit und Ab¬
straktheit.
Die gestaltenden Künste im eigentlichen Sinne, die deshalb auch die Welt-
losigkeit der bloßen Ornamentik hinter sich gelassen haben, sind von dialek¬
tischen Widersprüchen höherer Ordnung, von komplizierten Kompositions¬
prinzipien beherrscht. Da nun das ästhetische Gefühl späterer Zeiten, so¬
wohl bei den Schaffenden wie bei den Rezeptiven, durch eine solche Entwick¬
lung der Künste gebildet wurde, kommt zu den Stimmungsakzenten der
Ornamentik auch die Nuance der Primitivität (im ästhetisch positiven Sinne),
als der Kunst aus einer Kindheitsperiode der Menschheit hinzu; Kindheit hier
in einem spezifischen, noch prägnanteren Sinn gefaßt, als in der Auslegung
der griechischen Kunst bei Marx. Primitivität bedeutet also hier keine un¬
entwickelte Stufe der künstlerischen Auffassung oder gar der Technik, wie
dies bei Anfängen der gestaltenden Kunst der Fall sein kann. Im Gegenteil,
es handelt sich um eine Vollendung der Form, die man als nicht mehr wieder
erreichbar findet, deren Basis eine solche Einheit von Inhalt und Form ist,
wie man sie unter den komplizierten gesellschaftlichen und seelischen Be¬
dingungen der Spätzeit nicht mehr verwirklichen kann.
Auch dies ist eine Wirkung, die die Ornamentik auf ihre Zeitgenossen un¬
möglich ausüben konnte und die dennoch keine willkürliche ist, denn sie ent¬
stammt aus dem notwendigen Inhalt-Form-Verhältnis der Ornamentik
selbst. Diese besondere Nuance tritt infolge der historischen Entwick¬
lung, der Stelle der Ornamentik in ihr, der geschichtlichen Veränderungen der
gesellschaftlichen Umstände und ihres Einflusses auf Kunst, Kunstgenuß und
künstlerische Empfänglichkeit erst spät hervor. Solche Verschiebungen im
Stimmungsgehalt der Wirkungen sind eine allgemeine Erscheinung in der
Kunstgeschichte; ihre Ursachen, ihre Angemessenheit an das ästhetische We¬
sen der Werke oder ihre - relative - Zufälligkeit im Verhältnis zu diesem
kann nur im historisch materialistischen Teil der Ästhetik eingehend behandelt
werden. Auf bestimmte philosophische Voraussetzungen oder Folgen der¬
artiger Verschiebungen kommen wir noch später zurück. Wenn wir hier
Ornamentik 345
nische, das Lebensfeindliche ist das große Ziel, das jede echte Kunst erstrebt.
So wird hier das Antihumane als das große, leitende Prinzip von Leben und
Kunst ausgesprochen: »... in der Betrachtung eines Notwendigen und Un¬
verrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt,
von der scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz. Das
Leben als solches wird als Störung des ästhetischen Genusses empfunden 1.«
Worringer steht mit dieser Auffassung nicht allein; die bunte Reihe ihrer
Verkünder erstreckt sich von Paul Ernst bis Malraux. Hier seien nur einige
diarakteristische Aussprüche von Ortega y Gasset angeführt: »Und sucht
man die allgemeinsten und charakteristischsten Formen der neuen Produk¬
tion, so stößt man auf die Ablösung der Kunst vom Menschlichen 2.« Ortega
y Gasset zeigt weiter, daß die »neue Feinfühligkeit« in der Kunst »von einem
Ekel am Menschlichen« beherrscht ist 3. Und er zieht die wichtige Kon¬
sequenz aus dieser Lage, die bei seinen Vorgängern nur immanent vorhan¬
den war: »Die neue Kunst aber hat die Masse gegen sich und wird sie immer
gegen sich haben. Sie ist wesentlich volksfremd, mehr als das, sie ist volks¬
feindlich 4.« Es ist hier natürlich nicht unsere Aufgabe, uns mit dieser neuen
Kunst und ihrer Theorie auseinanderzusetzen. Immerhin wird es jedem un¬
befangenen Betrachter einleuchten, daß sehr wichtige Kunstströmungen des
20. Jahrhunderts, so Expressionismus, Kubismus, neue Sachlichkeit, abstrakte
Kunst etc. so verschieden sie sonst sein mögen, in ihren weltanschaulichen,
wie künstlerischen Voraussetzungen diesen Kunsttheorien der Antimensch¬
lichkeit außerordentlich nahestehen.
Uns interessiert hier vor allem die Frage, wie alle Entwicklungstendenzen
der Menschheit in solchen Theorien der Dekadenz verfälscht werden. Es wird
von diesen Richtungen allgemein verkündet, daß die Objektivität der Wis¬
senschaft, die objektive Widersprüchlichkeit des Seins nicht nur als menschen¬
feindliche Irrationalität aufzufassen sind, sondern auch, gerade als solche,
zum Ideal gemacht werden sollen5. Die Identifikationen des steigenden
1 Ebd. S. 31.
2 Ortega y Gasset: Die Aufgabe unserer Zeit, Zürich 1928, jetzt in: Gesammelte
Werke, Band II, Stuttgart 1950, Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst
(1925), S. 238 f. S. 126.
3 Ebd. S. 135, Werke, Band II, S. 245.
4 Ebd. S. 115, Werke, Band IV, S. 231.
5 Über diese allgemein philosophischen Richtungen vgl. mein Buch »Die Zerstö¬
rung der Vernunft« in Werke, Band 9, Neuwied 1962.
348 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
Fünftes Kapitel
Wenn wir nun auf die andere, die ausschlaggebende Quelle der Kunst, näm¬
lich die »Nachahmung« übergehen, so treten wir vom Standpunkt einer all¬
gemeinen Erkenntnistheorie auf kein neues Gebiet. Denn unsere Analyse der
sogenannten abstrakten Formen hat ja gezeigt, daß selbst diese Widerspiege¬
lungsweisen der objektiven Wirklichkeit sind. So bedeutsam vom Standpunkt
der Ästhetik der Unterschied dieser beiden Verhaltensarten auch sein mag,
sie bleiben doch Unterarten einer und derselben Gattung: der Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit. Gerade bei der »Nachahmung« bedarf dies kaum einer
Begründung, denn Nachahmung kann ja nichts anderes bedeuten, als die
Widerspiegelung eines Phänomens der Wirklichkeit in die eigene Praxis um¬
zusetzen. Darum ist es leicht verständlich, daß die »Nachahmung« im wei¬
testen Sinne des Wortes eine elementare und allgemein verbreitete Tatsache
eines jeden höherorganisierten Wesens ist. Wir finden sie als allgemeine Er¬
scheinung bei fast allen höheren Tieren: die Übergabe der Erfahrungen der
Älteren an die Jüngeren kann auf dieser Stufe noch gar nicht anders als in
der Form ihres Nachahmens erfolgen. Nicht nur die Spiele der jungen Tiere
beruhen auf Nachahmung der Bewegungen, der Verhaltensweise der Er¬
wachsenen in den Ernstfällen des Lebens, auch die Art, wie etwa die Schwal¬
ben vor dem Zug nach dem Süden ihre Jungen im Fliegen unterrichten, ge¬
hört in diese Rubrik. Die Nachahmung ist darum die Elementartatsache eines
jeden höherorganisierten Lebens, das in aktiver Wechselbeziehung mit seiner
Umwelt sich nicht mehr auf bloß unbedingte Reflexe beschränken kann. Paw-
low sagt, »daß das Tier selbständig mit Hilfe der unbedingten Reflexe exi¬
stieren könnte, wenn die Außenwelt konstant wäre«. Darum kann die Kon¬
servierung und Weitergabe der für das Leben der Gattung unentbehrlichen
Erfahrungen nur auf dem Wege der Nachahmung vor sich gehen. Sie wird
unentbehrlich um die bedingten Reflexe zu fixieren; denn für die Anpassung
an die Umwelt, für das Beherrschen des eigenen Körpers, der eigenen Bewe-
Allgemeine Probleme der Mimesis 353
gungen, eines der wichtigsten Mittel der Beherrschung der Umwelt, ist sie das
wirksamste Mittel.
Auf einer solchen Naturgrundlage baut sich auch beim Menschen die Nach¬
ahmung als Elementartatsache sowohl des Lebens wie auch der Kunst auf -
freilich bei letzterer durch komplizierte und weithergeholte Vermittlungen.
Die Antike, für welche die Widerspiegelungslehre noch nicht mit dem
Stigma des Materialismus versehen war, in welcher sie noch, wie bei Platon,
einen fundamentalen Bestandteil des objektiven Idealismus bildete, hat des¬
halb in ihren größten Denkern, es genügt auf Platon und Aristoteles hinzu¬
weisen, diese Elementartatsache vorbehaltlos als Fundament für Leben, Den¬
ken und künstlerische Tätigkeit anerkannt. Erst als der philosophische
Idealismus der neueren Zeit sich dem Materialismus gegenüber in eine solche
Verteidigungsposition gedrängt sah, daß er die Widerspiegelungstheorie zu
verwerfen gezwungen war, um die Priorität des Bewußtseins dem Sein ge¬
genüber - als das Produziertwerden dieses von jenem - zu retten, wurde
die Widerspiegelungslehre zu einem akademischen Tabu. Dieser fundamenta¬
len Position gegenüber ist es für unser Problem ganz gleichgültig, ob es sich
um subjektiven oder objektiven Idealismus handelt, ob das Produzieren der
Wirklichkeit durch das Bewußtsein in einer Berkeleyschen oder Humeschen,
einer Kantschen oder Husserlschen Form gedacht wird. Die Folgen einer sol¬
chen idealistischen Stellungnahme sind leicht ersichtlich. Wenn die Wider¬
spiegelung der objektiven, vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit nicht
mehr den erkenntnis-theoretischen Ausgangspunkt bildet, wird die Nach¬
ahmung etwas teils Rätselhaftes, teils Überflüssiges. Alle modernen Theorien,
die sich etwa mit den Spielen von Menschen und Tieren beschäftigen, blei¬
ben auf halbem Weg, gerade am entscheidenden Punkt stehen. Wir haben
gesehen, wie z. B. Groos diese Frage mystifiziert, um der Nachahmung
auszuweichen. Woher Vorahnungen, angeborene Reaktionen entstehen,
warum sie sich als spielerische Nachahmungen der später nützlichen Verhal¬
tensarten, als spielerische Übungen für das Beherrschen des eigenen Körpers
äußern, bleibt ein Rätsel. Da aber in der Anerkennung der Nachahmung eine
Anerkennung der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit stecken
könnte, wird im modernen Idealismus eine dogmatische Mystik der ein¬
fachen rationalen Erklärung vorgezogen.
Ein weiteres Motiv verhindert die richtige Fragestellung: in der Untersuchung
der Unterschiede zwischen Tier und Mensch wird die Arbeit beiseite gelassen.
Die moderne Anthropologie betont — im Gegensatz zu der unmittel¬
baren Nachfolge Darwins - diese Differenz sehr scharf, zuweilen bis
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
354
Und er zieht daraus die Folgerung: »Der Verstand ist das höchste Wesen,
der Regent der Welt; aber nur dem Namen nach, nicht tatsächlich.« 1 Damit
wird natürlich die richtige Dialektik von einer anderen Seite gestört: die Be¬
wältigung der vielfältigen und wechselnden, komplizierten und doch gesetz¬
mäßigen Phänomene der Welt wäre für den Menschen unmöglich, wenn
die Tätigkeit des Verstandes auf eine bloße Namensgebung, auf ein bloßes
Registrieren der Sinneseindrücke beschränkt bliebe. Die entscheidenste Er¬
rungenschaft der wissenschaftlichen Denkmethoden, das Desanthropomor-
phisieren, wäre dann nie verwirklicht. Feuerbach ist völlig im Recht den
sinnesfeindlichen Einseitigkeiten des Idealismus gegenüber, seine Polemik
sinkt aber hier auf das Niveau eines mechanischen Materialismus herab. Das
ist schon aus einem Beispiel ersichtlich. Er hat völlig Recht in bezug auf das
Größenverhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Und wir werden
später beim Übergang von der unmittelbaren sinnlichen Nachahmung zu den
komplizierteren Formen der Widerspiegelung sehen können, eine wie große
Rolle das sinnliche Erfassen richtiger Gegenständlichkeits- und Beziehungs¬
formen der Wirklichkeit in ihrer annähernd adäquaten bewußtseinsmäßigen
Reproduktion spielt. Läßt sich aber das Problem des Ganzen und der Teile
auf solche unmittelbare Feststellungen reduzieren? Gibt es nicht eine ganze
Reihe von Fragen innerhalb dieses Komplexes, für deren Lösung der Ver¬
stand aktiv werden und weit über die unmittelbare Sinneswahrnehmung
hinausgehen muß? Und unsere gegenwärtige Untersuchung treibt gerade
einem solchen Komplex zu. Denn es ist klar, daß das begrifflich geklärte
Substrat von alledem, was gerade jetzt behandelt wurde, die Dialektik von
Erscheinung und Wesen ist. Daß viele Jahrtausende praktischer Anwendung
dieser Kategorien notwendig waren, um auch nur die ersten Schritte zur theo¬
retischen Klärung des Problems selbst tun zu können; daß der erste entschei¬
dende Ansatz zur Lösung erst in der Hegelschen Philosophie unternommen
wurde, tut nichts zur Sache.
Es kann natürlich hier nicht unsere Absicht sein, die Dialektik von Erschei¬
nung und Wesen auch nur in den gröbsten Zügen zu skizzieren. Wir müssen
uns auf einige Zentralfragen beschränken, die mit unserem Problem, dem ele¬
mentaren Charakter der Widerspiegelung dieses dialektischen Verhältnisses
eng verbunden sind. Vor allem muß darauf hingewiesen werden, daß Er¬
scheinung und Wesen gleicherweise Momente der objektiven Wirklichkeit
lichkeit zu fassen. Darum hebt Lenin einerseits hervor: »... das Unwesent¬
liche, Scheinbare, an der Oberfläche Befindliche verschwindet öfter, hält nicht
so >dicht<, >sitzt< nicht so >fest<, wie das >Wesen<. Etwa: die Bewegung eines
Flusses - der Schaum oben und die tiefen Strömungen unten. Aber auch der
Schaum ist ein Ausdruck des Wesens M« Andererseits betont er, daß Wesen
und Gesetz »Begriffe von gleicher Ordnung« sind, hebt jedoch hervor, daß
»die Erscheinung gegen das Gesetz die Totalität« repräsentiert, »denn sie
enthält das Gesetz, aber auch noch mehr, nämlich das Moment der sich be¬
wegenden Form«. Lenin summiert hier seine Feststellungen so: »Die Er¬
scheinung ist reicher, als das Gesetz1 2.« Der bloß annähernde Charakter einer
jeden Erkenntnis ist also auch durch die Eigenart der Dialektik von Wesen
und Erscheinung erkenntnistheoretisch begründet.
Dieses erkenntnistheoretische Ergebnis ist, wie wir gesehen haben, das Pro¬
dukt einer vieltausendjährigen Entwicklung im Alltagsleben, in der Arbeit,
und in der aus ihr herauswachsenden Wissenschaft (und Kunst). Hegel unter¬
sucht - von seinem Standpunkt aus mit relativem Recht - vor allem die
am besten verallgemeinerten Kategorien der objektiven Wirklichkeit und des
Denkens. Lenin, bei dem die Verbindung mit dem Leben viel stärker aus¬
gebildet war, ergänzt diese Analysen und führt sie weiter, indem er die
philosophischen Probleme auch in ihrer elementarsten, lebensnächsten Er¬
scheinungsweise untersucht. Das hat für uns die wichtige Folge, daß er die
Rolle der Wahrnehmung, der Vorstellung, der Phantasie im Prozeß der
Widerspiegelung der Wirklichkeit nicht nur eingehender betrachtet als He¬
gel, sondern auch mit der idealistischen Hierarchie der »Seelenvermögen«
radikal bricht und den ganzen Menschen als Subjekt der Widerspiegelung
ständig vor Augen hat. So führt er, zustimmend, die eben zitierte Kritik
von Feuerbach über Leibniz an, wo jener die von diesem statuierte Objektivi¬
tät der Sinnlichkeit der Dinge erkenntnistheoretisch auf die Sinneseindrücke
zurückbezieht, und in der Ähnlichkeit eine »sinnliche Wahrheit« erblickt; so
in bezug auf Groß und Klein etc.; so analysiert er die Rolle der Phantasie
auch im simpelsten Erkenntnisprozeß. Bei dieser letzten Betrachtung scheint
es uns besonders wichtig, daß Lenin diese Rolle in doppelter Hinsicht dar¬
stellt: einerseits als unentbehrlich für den Erkenntnisprozeß, andererseits als
mögliche Quelle ihrer Abirrungen. Diese Betrachtung verallgemeinert er von
1 Ebd. S. 44.
2 Hegel: a. a. O. S. 146. Zitiert bei Lenin ebd. S. 71.
Allgemeine Probleme der Mimesis 363
weisbare Elementartatsache des Lebens, so ist es klar, daß von einer mecha¬
nischen, »photographischen« Widerspiegelung der Wirklichkeit als Grund¬
lage von Alltagsleben und Arbeit nicht die Rede sein kann. Ohne Wider¬
spiegelung der Dialektik von Ersdieinung und Wesen ist die allerprimitivste
Orientierung im Leben unmöglich, und unsere vorangegangenen Betrach¬
tungen haben gezeigt, daß hier nicht etwa »die Philosophie« die angeb¬
lich photokopiehaften Abbilder der Wirklichkeit zu dialektischen Zusammen¬
hängen erhebt, sondern daß diese in den einfachsten Wahrnehmungen ent¬
halten sind, und vom Denken nur (nicht immer) zu Bewußtheit geklärt wer¬
den. Auf der Retina mögen photokopische Abbilder der Wirklichkeit fest¬
stellbar sein, aber schon im einfachen, im primitivsten Alltagsleben, wo der
ganze Mensch auf die ihm jeweilig gegenüberstehenden Teile der ganzen
Wirklichkeit reagiert, sind die wahrgenommenen Abbilder der Wirklichkeit
keine Photokopien. Ja man kann sagen, daß für den Menschen die Photo¬
kopien der Welt erst auf einer relativ hohen Stufe der Desanthropomorphi-
sierung überhaupt auftauchen, nämlich mit der Erfindung des Photographie-
rens, und der Vervollkommnung seiner Technik. Daß die dadurch erzielten
Resultate, wissenschaftlich angesehen desanthropomorphisierenden Cha¬
rakters sind, unterliegt keinem Zweifel. Je mehr die Technik sich entwickelt,
desto mehr. Dieser Charakter der Photographie äußert sich jedoch auch im
Alltagsleben. Wenn häufig gesagt wird, eine Photographie sei nicht ähnlich,
so ist das abstrakt objektiv angesehen ein Unsinn, denn das lichtempfind¬
liche Material kann nichts anderes darbieten, als das genaueste Abbild des
Objekts im gegebenen Augenblick, unter den gegebenen Umständen. Vom
Standpunkt des Lebens ist der Ausdrude dagegen sinnvoll, drückt einen
echten Sachverhalt im Zusammenleben der Menschen aus. Es zeigt sich darin,
daß das visuelle Bild (oder Erinnerungsbild), das einer vom anderen oder von
sich selbst hat, keineswegs immer mit einer solchen photographischen Abbil¬
dung identisch sein muß. Wenn wir dabei von allen Affekten (Eitelkeit, Sym¬
pathie oder Antipathie etc.) absehen, so bleibt die Tatsache, daß die aus der
Visualität entsprungenen Kategorien wie ähnlich, charakteristisch etc. eine
Auswahl, ein »Absehen von ... « etc. beinhalten, darum auf einen Menschen
in seiner Ganzheit richtig bezogen werden können, ohne sich mit seiner un¬
mittelbar sichtbaren Erscheinung in jedem Augenblick, in jeder Lage mecha¬
nisch zu decken. Der witzige Ausspruch Max Liebermanns: »Ich habe Sie
ähnlicher gemalt, als Sie sind« drückt eine Wahrheit des Lebens aus. Noch
auffallender ist dieser Gegensatz bei den Momentphotographien von Bewe¬
gungen, die auf die Unmittelbarkeit des Alltagslebens sehr oft den Eindruck
Allgemeine Probleme der Mimesis 3<>S
Die mit der Theorie von der elementaren Photokopie eng verbundene Iden¬
tifizierung von Naturalismus und Realismus, das Aufbauschen des Natu¬
ralismus zu einer elementaren, primitiven künstlerischen (pseudokünstleri¬
schen) Verhaltensart zur Wirklichkeit, erweist sich also ebenso als eine Le¬
gende, wie dies Engels für das metaphysische Denken gezeigt hat. Auch der
Naturalismus ist eine durch die gesellschaftliche Entwicklung hervor¬
gebrachte Verzerrung der spontan dialektischen künstlerischen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit. Die Künste primitiver Zeiten kennen ihn überhaupt
nicht; wie wir sehen werden, entsteht dort im Gegenteil sehr oft eine ein¬
seitige, künstlerisdi oft falsche Überbetonung dessen, was man damals für das
Wesen hielt. Der Naturalismus kann aber nur dadurch in seiner Besonderheit
bestimmt werden, daß ihm die Tendenz innewohnt, den Gegensatz, ja sogar
den Unterschied von Wesen und Erscheinung verschwinden zu lassen, nach
Möglichkeit zu annullieren. Schon diese Bestimmung zeigt an, daß es sich beim
Naturalismus nur um eine Spättendenz der historischen Entwicklung han¬
deln kann. Solange die Bewältigung der Umwelt sich vorwiegend auf die
Natur richtet, ist ihr Pathos naturgemäß vor allem das der Entdeckung und
des Offenbarmachens des Wesentlichen; mag dies noch so naive oder un¬
beholfene Formen annehmen, als Tendenz steht sie in ausgesprochenem Ge¬
gensatz zu jedem Naturalismus. Erst das Uberwiegen der gesellschaftlichen
Momente im Alltagsleben, das »Zurückweichen der Naturschranke« schafft
die Bedingungen seines Entstehens, und zwar in Perioden, in denen die Ent¬
wicklung der Gesellschaft selbst - in bestimmten Klassen - eine Scheu vor
der Aufdeckung des Wesens produziert. Aber auch unter solchen Bedingun¬
gen (deren Erforschung die Aufgabe des historischen Materialismus ist) wird
der Naturalismus, im engeren, im eigentlichen Sinne des Wortes nur eine
der Strömungen sein, in welchen die Desorientiertheit (oder der Wille zur
Perspektivenlosigkeit) sich ausdrückt. Freilich, da die Trübung im Erfassen
der Dialektik von Erscheinung und Wesen ein Zentralproblem solcher Zei¬
ten ist, eine ausschlaggebende Tendenz, deren Wirkung auf das Fundament
der Darstellungsweise auch die Struktur scheinbar entgegengesetzter Rich¬
tungen bestimmt; so können wir in der Literatur unserer Periode den im
Grunde naturalistischen Charakter der verschiedensten Richtungen vom
Impressionismus bis zum Surrealismus deutlich beobachten L
1 Vgl. meinen Aufsatz über Expressionismus: Probleme des Realismus, Berlin 1958,
S. 146 ff. und mein Buch: Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg 1958.
Allgemeine Probleme der Mimesis 3 67
So wichtig diese Abgrenzung des Naturalismus vom Realismus für die Äs¬
thetik ist, so unerläßlich das historische Aufdecken der Gründe seines Auf¬
tretens etc. für die Kunstgeschichte ist, so sehr wäre es eine vereinfachende
Verzerrung, wenn man nun Naturalismus mit photokopisdier Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit identifizieren würde. Allerdings wird dies oft von den
Theoretikern des Naturalismus ausgesprochen; auch wird praktisch-künst¬
lerisch oft eine maximale Annäherung an die unmittelbare Erscheinungs¬
oberfläche des Alltags erstrebt, eine möglichst radikale Ausschaltung aus
der Gestaltung aller Vermittlungskategorien, die auf das Wesen hin¬
zielen: die photokopisdie Wiedergabe der objektiven Wirklichkeit bleibt
aber auch hier nur ein Ideal, keine Realität. Wer naturalistische Werke, ge¬
rade in bezug auf eine solche medianische »Treue« in der Abbildung genau
studiert, wird finden, daß nicht nur die Komposition des Ganzen ebenso
auf Auswahl, Auslassen, Betonen etc. beruht, wie die jedes Kunstwerks -
mögen dabei diese Prinzipien lässiger, weitmaschiger etc. angewendet wer¬
den als sonst sondern daß auch in jedem Einzelmoment eine solche Umfor¬
mung, die über das Photographisdie hinausgeht, feststellbar ist. Man vergleiche
nur zwei beliebige naturalistische Richtungen miteinander in bezug auf solche
stilistischen Merkmale und man wird unsere Feststellungen bestätigt finden.
Das Ergebnis dieses etwas langgeratenen Exkurses ist für uns von großer
Wichtigkeit: erkenntnistheoretisch, vom Standpunkt der Beziehung des Be¬
wußtseins zur Wirklichkeit, ist die Theorie der photokopischen Widerspiege¬
lung nicht zu halten. Die objektive Dialektik der wirklichen Welt ruft
zwangsläufig eine — freilich lange Zeit nicht bewußt gewordene — spon¬
tane subjektive Dialektik im menschlichen Bewußtsein hervor. Dieser Prozeß
der Widerspiegelung ist jedoch nicht bloß in seinem Inhalt und in seiner
Form dialektisch, sondern auch seine Ausbildung und Entfaltung ist ebenfalls
von der Dialektik der Geschichte bestimmt. Hier kann naturgemäß diese
letztere kaum angedeutet werden. Denn nicht einmal in der Geschichte der
Wissenschaft und der Philosophie besitzen wir mehr als zerstreute und höchst
fragmentarische Vorarbeiten zur Erkenntnis der Entwiddung des dialekti¬
schen Denkens, der Hemmungen, der Hindernisse, die seiner Annäherung
an die wahre Struktur der objektiven Realität im Wegen stehen. Und wir
haben bereits wiederholt darauf hingewiesen, daß die erkenntnistheoretische
Erforschung des Alltagslebens noch kaum begonnen hat, daß dieses so ent¬
scheidende Gebiet heute noch fast als terra incognita zu betrachten ist.
Trotz aller Vorbehalte, die eine solche Lage gebieterisch vorschreibt, muß
unser nächster Schritt sich doch der Widerspiegelung im Alltagsleben und in
368 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
Indianer selbst aber braucht diese Vorstellung bei seiner Angabe der Länge
der Reise nicht gehabt zu haben« L
Es zeigt sich hier sehr deutlich der von uns theoretisch statuierte Doppel¬
charakter der Widerspiegelung im Alltagsleben: einerseits ein nach Möglich¬
keit genaues Bild des jeweils in Betracht kommenden Ausschnitts der Wirk¬
lichkeit zu erlangen, andererseits in dieser Abbildung selbst - spontan oder
bewußt - jene Momente hervorzuheben, die für das jeweilige Handeln aus¬
schlaggebend sind. Insbesondere die zweite Komponente dieses Doppel¬
charakters der Widerspiegelung, deren Grundlage, wie wir gesehen haben, die
objektive Dialektik von Erscheinung und Wesen bildet, steigert sich noch,
wenn die durch die Widerspiegelung der Wirklichkeit erlangte Erfahrung
mitgeteilt, weitergegeben oder zur Grundlage eines konkreten Handelns ge¬
macht werden soll. Wir haben eben gesehen, daß die primitive Mitteilung
einen ausgeprägten, direkt mimetischen Charakter hatte. Denn sobald die Mit¬
teilung über das ursprüngliche Aufzeigen der Gegenstände, bzw. Vorgänge
hinausging, mußte sie, um die auf dieser Stufe erreichbare Eindeutigkeit zu
erlangen, die Mittel der Mimesis in Anspruch nehmen. Dabei ist jedoch be¬
merkenswert - und das von uns angeführte Beispiel zeigt dies sehr deut¬
lich —, daß die hier angewandte Nachahmung noch weniger eine Photo¬
kopie des Modells sein kann, als bei der Wahrnehmung selbst. Es ist ein
relativ hoher Grad der Abstraktion, der eindeutigen Betonung des Wesent¬
lichen nötig, um konkrete Gegenstände oder Vorgänge mit verhältnismäßig
wenigen Worten oder Gebärden zu charakterisieren, um eine solche Charak¬
teristik augenblicklich verständlich zu machen. Die oft gebrauchte Ausflucht,
daß diese Verständlichkeit auf Konvention beruht, umgeht die Frage des
Entstehens der Konvention selbst. Denn so sehr manche Konvention oft
»von oben«, etwa von Magiern oder Priesterkasten bestimmt sein mag, und
durch diese Fixierung die Worte und Gebärden zu bloßen Zeichen erstarren
macht, die grundlegende Auswahl dessen, was im Alltagsleben zur Konven¬
tion wird, bringt doch das Leben selbst hervor; gerade jene Worte oder
Gebärden werden mit der Zeit konventionell, die sich im Verkehr der Men¬
schen untereinander am besten bewährt haben.
Und diese Bewährung hat nun ihrerseits Kriterien, die für uns nicht ohne
Bedeutung sind: ein Tagesweg, um bei dem angeführten Beispiel zu bleiben,
Bewegungen, etwa beim Sport, sehr gut beobachten: zunächst hat der Anfänger
bei Skilauf oder Reiten die große Schwierigkeit, ungewohnte Bewegungskom¬
positionen, die jederzeit auseinanderfahren, mit seiner Aufmerksamkeit zu¬
sammenzuhalten, sie werden stückweise aneinandergesetzt und mühsam unter
dauernder Kontrolle koordiniert, wobei immer die nicht beachteten Glieder
in ihre jetzt unzweckmäßigen Gewohnheiten zurückfallen. Die gekonnte Be¬
wegung holt nur noch die >Knotenpunkte< der Folge heraus, und läßt die
Zwischenphasen, von daher geführt, automatisch abgleiten. Eine richtig
aufgebaute, schwierige Bewegungskombination ist in ihrem Gesamtgelingen
davon abhängig, daß genau die richtigen Knotenpunkte herausgearbeitet
werden, von denen die harmonischen Nebenerfolge und Zusammenstimmun¬
gen automatisch abhängen, die also motorisch das Ganze repräsentieren. Auch
im motorischen Bereich gibt es erst unter dieser Voraussetzung Bewegungs-
Übersicht, wenn sehr hoch synthetische Bewegungen - Stabhochsprung z. B. -
in Koordinationen solcher fruchtbarer Momente bestehen h«
Ohne Frage ist auch hier die von uns bei der Mimesis wiederholt betonte
Dialektik von Erscheinung und Wesen vorhanden, sogar in besonders aus¬
geprägter Form. Sie reicht jedoch zum Verständnis dieses Phänomens allein
nicht aus. Gehlen, der in der Interpretation seiner oft sehr dialektischen Be¬
obachtungen sonst jede dialektische Terminologie sorgfältig vermeidet,
spricht hier von »Knotenpunkten«, womit er - unbewußt - das wiederholte
Umschlagen von Quantität in Qualität andeutet. Uns scheint jedoch, daß
auch damit das eigentliche Phänomen noch nicht hinreichend beschrieben ist,
daß man zu seinem Verständnis die von Lenin häufig benützte Kategorie
vom Ergreifen des Kettengliedes heranziehen muß. In bezug auf die organi¬
satorische und strategische Bedeutung der Gründung einer zentralen Zei¬
tung für die illegale Partei im zaristischen Rußland, exponiert Lenin in »Was
tun?« die theoretisch-praktische Seite unserer Frage, wie folgt: »Jede Frage
>bewegt sich in einem verzauberten Kreis<, denn das ganze politische Leben ist
eine endlose Kette aus einer endlosen Reihe von Gliedern. Die ganze Kunst
des Politikers besteht eben darin, gerade jenes Glied zu finden und sich fest
daran zu klammern, das ihm am wenigsten aus der Hand geschlagen werden
kann, das im gegebenen Augenblick am wichtigsten ist, das dem Besitzer dieses
Gliedes den Besitz der ganzen Kette am besten garantiert 1 2.« Daß sowohl das
Ensemble des Handelns wie alle seine »Elemente« in der Politik unvergleich¬
lich komplizierter sind, als in einer noch so künstlichen Körperbewegung des
einzelnen Menschen, ändert die kategorielle Wesensart solcher »Kettenglieder«
nicht, ja ihre Anwendbarkeit auf höchst verwickelte Erscheinungen des Le¬
bens unterstreicht die Objektivität und Allgemeinheit dieses kategoriellen
Verhältnisses. Es zeigt sich auch hier, daß die Praxis als Kriterium der Wahr¬
heit auf die Annäherung an die Wirklichkeit in der Widerspiegelung basiert
ist, daß sie unmittelbar bloß eine Auswahl in der widergespiegelten Wirklich¬
keit trifft, aber nicht nur in der Auswahl des Richtigen und im Ausscheiden
des Falschen, sondern auch als eine Akzentverschiebung in der Direktion auf
jene Elemente und Tendenzen, die für die jeweilige Aktion ausschlaggebend
wichtig sind.
Die so in der Praxis entstehende neue Weise der Betonung des Wesentlichen
und des Unwesentlichen, der Knotenpunkte und der Folgeerscheinungen, ist
jedoch nur unmittelbar betrachtet subjektiv, d. h. von der subjektiven Ziel¬
setzung der gerade gegebenen Aufgabe bestimmt. Denn erstens ist diese selbst
auch nur unmittelbar subjektiv; jede Fragestellung an die Wirklichkeit durch
die Praxis ist vielfach objektiv begründet, und darin spielen frühere Erfah¬
rungen, frühere annähernd richtige Widerspiegelungen der objektiven Wirk¬
lichkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zweitens dringt gerade dieses ak¬
tiv-subjektive Moment tiefer in die objektive Wirklichkeit ein, als eines, das
gewissermaßen sich auslöschen, zum bloßen Spiegel der Objektivität werden
wollte. Die, wenn man den Ausdruck gestattet, Abenteuer der Subjekti¬
vität, die naturgemäß stets objektive Ursachen haben und auf der Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit basieren, führen zwar nicht selten zu Irrtü-
mern. Aber auch diese sind nicht ausschließlich negativ zu bewerten, gar nicht
zu reden davon, daß die praktisch fundierte Erfahrung über einen Irrweg
schon Elemente der positiven Erkenntnis enthalten kann, oder wenigstens
Ansätze in dieser Richtung; so ist es nicht selten, daß sie als »Nebenprodukte«
(»zufällig«) echte Erforschungen der objektiven Wirklichkeit herbeiführen.
So kann es aber geschehen, daß auf diesen Wegen solche Bestimmungen der
Realität entdeckt werden, die für die damalige bloße Kontemplation uner¬
reichbar gewesen wären und die in ihrem theoretischen Wesen in einer solchen
Lage auch gar nicht begriffen werden konnten. So geht - gerade durch ihren
betont praktischen Charakter - die Leninsche Lehre vom Kettenglied über
die der Hegelschen Knotenpunkte hinaus, bereichert deren reine Objektivität
durch das Aufdecken der lebendigen Dialektik zwischen Subjektivität und
Objektivität. Schon Hegel stellte fest, »wie verkehrt es ist, Subjektivität und
3y6 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
genügend Beispiele finden. (In allen diesen Fällen begegnet man vielen Über¬
gangserscheinungen und es ist manchmal schwer zu entscheiden, wo die ein¬
fache Alltagspraxis aufhört und wo die wissenschaftlich geleitete einsetzt.
Doch ist diese Grenze in jedem Falle vorhanden.)
1 Frazer: a. a. O. S. 16.
Magie und Mimesis 179
1 Ebd. S. 17.
380 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
eines Beeinflussens der Geschehnisse der Welt durch ihre Nachahmung heraus¬
wachsen konnte. Zwar wird häufig versucht, Kunst aus Kraftüberschuß,
aus Spiel abzuleiten. Dabei ist aber zu bedenken, daß Kraftüberschuß
schon in der anfänglichen menschlichen Gesellschaft ein soziales Phänomen
ist: die Konsequenz einer Produktivität der Arbeit, die mit der freien Zeit,
der Muße, auch den Überschuß an physischen und psychischen Energien her¬
vorbringt h Zweitens ist absolut uneinsichtig, wie das bloße Spiel je zur
Kunst führen könnte. Natürlich hat das Spiel, auch schon bei den Tieren,
einen mimetischen Charakter. Jene Intention richtet sich aber — einerlei mit
welchem Grad des Bewußtseins darüber - auf die Einübung von praktischen
wichtigen Bewegungen und Verhaltensarten. Wenn der Betrachter sie als
»schön« apperzipiert, so trifft er, ebenso wie bei der Arbeit, beim Sport etc.
ein ungewolltes Nebenprodukt. Bewegung und Verhaltungsweise sind vor
allem zweckbedingt, darum - tendenziell - sparsam, aufs unbedingte Mini¬
mum reduziert. Zwischen einer solchen Zweckmäßigkeit und ihrer ästhetischen
Wirkung bestehen ohne Frage gewisse sachliche Zusammenhänge, woraus
jedoch keineswegs folgt, daß diese aus jenen genetisch entstanden wären, noch
weniger, daß die Zweckmäßigkeit an sich eine notwendige innere Intention
aufs Ästhetische in sich birgt. Die Intention auf das Ästhetische muß also be¬
reits entstanden, bis zu einem gewissen Grad verfestigt, im Gefühlsleben der
Menschen verankert sein, damit Vorgänge von nicht primär ästhetischer In¬
tention überhaupt als ästhetische apperzipiert werden können, um gar nicht
davon zu reden, daß eine ästhetische Wirkung in ihre Intentionen aufgenom¬
men werden könnte.
Das Ästhetische entsteht vielmehr auf einem komplizierten Umwege: die
schon an sich mimetischen Bewegungen, Verhaltensarten, in den täglichen
Verrichtungen des Menschen, in ihrem Verkehr miteinander werden noch¬
mals nachgeahmt; diese Widerspiegelung von in Handlungen umgesetzten
Widerspiegelungen ahmen nunmehr nicht mehr bloß zu bestimmten unmittel¬
bar praktischen Zwecken bestimmte Erscheinungen der Wirklichkeit nach,
sondern gruppieren ihre Abbilder nach völlig neuen Prinzipien: sie konzen-
1 Wenn die moderne Anthropologie großes Gewicht auf die langsame Entwicklung
des Kindes im Gegensatz zu den Jungtieren legt, so übersieht sie zumeist, daß sie
es hier nicht mit einem naturhaften Unterschied zwischen beiden zu tun hat,
sondern mit einer Folgeerscheinung der spezifischen Menschenentwicklung, also
methodologisch nicht mit einem Ausgangspunkt, sondern mit einem Resultat, vor
allem mit einem der Arbeit (natürlich schon die Sammelperiode mitinbegriffen).
Magie und Mimesis 381
1 Uber die daraus entspringende Tendenz zur Allegorik in der religiösen Kunst
werden wir dort ausführlich sprechen, wo der kampfvolle Ablösungsprozeß der
Kunst von Magie und Religion behandelt wird.
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
384
Übergänge. Erst viel später, als die Tendenzen zur Ausbildung von Wissen¬
schaft und Kunst erstarkt sind, wird aus dem an sich von Anfang an vor¬
handenen Gegensatz ein für-sich-seiender. Besonders scharf tritt er hervor,
wenn große gesellschaftliche Krisen die Herrschaft jener Klassen zu bedrohen
beginnen, die sich ideologisch auf Magie und Religion zu stützen pflegen.
Dann treten die reaktionären Seiten dieser Tendenzen noch viel klarer zu¬
tage, als in den primitiven Anfangszeiten. Obwohl zu sagen ist, daß, während
in der magischen Periode, wie wir zu zeigen versucht haben, sich lange Zeit
- untrennbar mit den magisdien Vorstellungen selbst vermischt - Elemente,
ja bestimmte Kategorien von Wissenschaft und Kunst herauszubilden be¬
ginnen, hier die rein niederziehenden Kräfte des primitiven Zustands wirk¬
sam werden. Wenn diese, infolge der komplizierten Dialektik in der Ent¬
wicklung und Weiterbildung der Klassengesellschaft auch auf entwickelteren
Kulturstufen Einfluß erlangen, kann dies nur in reaktionärer Richtung er¬
folgen.
Ekstase und Mimesis sind also einander ausschließende Gegensätze, auch
wenn sie in der Wirklichkeit der magischen Periode zuweilen simultan auf-
treten. Ihr Gegensatz tritt auf dem Gebiet des Tanzens, über welches wir noch
ausführlich sprechen werden, klar zutage: während der mimetische Tanz die
Intention hat, durch die Nachahmung bestimmter Lebensvorgänge, bestimmte
Gefühle in dem Rezeptiven zu erwecken - die magische Wirkung der Mimesis
auf die transzendenten Mächte spielt in dieser Gegenüberstellung keine un¬
mittelbar wichtige Rolle -, ist der hier zu behandelnde Tanz dazu da, um die
Tanzenden selbst in Ekstase zu versetzen.
Erwin Rohde gibt in seiner »Psyche« eine anschauliche Schilderung der thra-
kischen Tänze zu Ehren des Dionysos: »Die Feier ging auf Berghöhen vor
sich, in dunkler Nacht, beim unstäten Licht der Fackelbrände. Lärmende Mu¬
sik erscholl, der schmetternde Schall eherner Becken, der dumpfe Donner gro¬
ßer Handpauken, und dazwischen hinein der >zum Wahnsinn lockende Ein-
klang< der tief tönenden Flöten . .. Von dieser wilden Musik erregt tanzt
mit gellendem Jauchzen die Schar der Feiernden. Wir hören nichts von Ge¬
sängen: zu diesen ließ die Gewalt des Tanzes keinen Atem. Denn dies war
nicht der gemessen bewegte Tanzschritt, in dem etwa Homers Griechen in
Paean sich vorwärtsschwingen. Sondern im wütenden, wirbelnden, stürzen¬
den Rundtanz eilt die Schar der Begeisterten über die Berghalden dahin.
Meist waren es Weiber, die bis zur Erschöpfung in diesen Wirbeltänzen sich
umschwangen; seltsam verkleidet... sonst über dem Gewände Rehfelle, auch
wohl Hörner auf dem Haupte. Wild flatterten die Haare, Schlangen . .. halten
390 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
die Hände, sie schwingen Dolche oder Thyrsosstäbe, die unter dem Efeu
die Lanzenspitze verbergen. So toben sie bis zur äußersten Aufhebung aller
Gefühle, und im >heiligen Wahnsinn< stürzen sie sich auf die zum Opfer
erkorenen Tiere, packen und zerreißen die eingeholte Beute, und reißen mit
den Zähnen das blutige Fleisch ab, das sie roh verschlingen h« Und er faßt
den Sinn dieser Gebräuche so zusammen: »Die Teilnehmer an diesen Tanz¬
feiern versetzen sich selbst in eine Art von Manie, eine ungeheure Über¬
spannung ihres Wesens; eine Verzückung ergriff sie, in der sie >rasend, be-
sessen< sich und anderen erschienen ... diese äußerste Erregung war der
Zweck, den man erreichen wollte. Einen religiösen Sinn hatte die gewaltsam
herbeigeführte Steigerung des Gefühls darin, daß nur durch solche Über¬
spannung und Ausweitung seines Wesens der Mensch in Verbindung und Be¬
rührung treten zu können schien mit Wesen einer höheren Ordnung, mit dem
Gotte und seinen Geisterscharen. Der Gott ist unsichtbar anwesend unter
seinen begeisterten Verehrern, oder er ist doch nahe, und das Getöse des
Festes dient, den Nahenden ganz heranzuziehen1 2.« Rohde selbst stand
in seiner Jugend Nietzsche zu nahe, um solchen Erscheinungen gegenüber
wirklich kritisch sein zu können. Darum summiert er sein Urteil über diese
Effekte des ekstatischen Tanzes auf die Teilnehmer so: Ȇbermenschliches und
Unmenschliches mischt sich nun auch in ihnen3«; als gewissenhafter Ge¬
lehrter versäumt er jedoch nicht, festzustellen, daß es sich hier keineswegs um
einen speziellen Wesenszug der griechischen Entwicklung handelt, sondern um
eine ganz allgemeine Erscheinung im Leben primitiver Völker, um die Praxis
der Medizinmänner, der Schamanen, usw., die sich historisch noch lange er¬
hält (Derwische)4. Die kulturellen Voraussetzungen und Folgen solcher Ten¬
denzen brauchen uns hier nicht näher zu beschäftigen. Es genügt für uns, den
ausschließenden Gegensatz zu den mimetischen Vorgängen klarzulegen. Auf
die ästhetischen Folgerungen, die Nietzsche aus diesen, unkritisch mythologi¬
sierten und modernisierten Tatsachen zog, kommen wir in anderen Zusam¬
menhängen zu sprechen.
Wenn wir nun nach diesem notwendigen Exkurs die wichtigsten Bestimmun¬
gen, die hier in der Widerspiegelung, in ihrer Transposition zu Gebilden und
auf dessen sich hier darbietende oder dargebotene Widerspiegelung. Und mit
dem Abschluß dieser temporären Suspension der direkten Beziehung zum
Leben selbst, kehren die Menschen notwendig in dieses zurück, wobei natur¬
gemäß jene Erfahrungen und Erlebnisse, die ihnen diese Widerspiegelung
gibt, irgendwie in die Gesamtheit ihrer Erfahrungen und Erlebnisse einge¬
arbeitet werden. Diese Suspension kann also mit Recht als eine die Form be¬
treffende betraditet werden, weil das mimetische Gebilde objektiv wie sub¬
jektiv nur durch seine Form die temporäre Abtrennung von der normalen
Wirklichkeit vollzieht, nur durch seine spezifische Form die beabsichtigte
Wirkung von widergespiegelten Lebensinhalten, die als Inhalte aus dem Leben
stammen und ins Leben zurückkehren, hervorbringt. Die Ekstase dagegen ist
ein radikaler Bruch mit der Kontinuität des Alltagslebens.
Schon aus dieser Tatsache folgt viel Wichtiges für die Wesensart solcher mime¬
tischen Gebilde. Wir haben bereits wiederholt darauf hingewiesen, daß die
Eigenart dieser Form sich um ihre Fähigkeit, Gedanken, Gefühle etc. zu evo¬
zieren, konzentriert. Daß auch damit kein metaphysisch schroffes Anderssein
dem Leben gegenüber entsteht, sondern bloß ein Umschlag ins qualitativ Neue
von Äußerungsweisen, die auch das Alltagsleben kennt und nicht entbehren
kann, haben wir ebenfalls schon früher gezeigt.
Beide Seiten dieses Verhältnisses der mimetischen Gebilde zum Alltagsleben
müssen gleicherweise betont werden. Denn einerseits wäre keine Evokation
durch Mimesis denkbar, wenn die Praxis des Lebens bei bestimmten Inhal¬
ten, Worten, Gebärden etc. nicht bestimmte gefühlsauslösende Wirkungen
fixiert hätte. Diese erhalten natürlich eine formale Steigerung und damit auch
neue Qualitäten; aber die Anknüpfung an das Leben, das Herausholen der
Inhalte aus dem Leben ist unvermeidlich, wenn eine spontan evokative Wir¬
kung möglich sein soll. Dabei kann es allerdings Vorkommen, daß einzelne
solcher Elemente im Leben nur keimhaft vorhanden waren und erst durch
ihr mimetisches Hervorheben eine aktive Rolle, eine extensive und intensive
Bedeutung erhalten. Diese Wechselbeziehung kann in bezug auf diese Wir¬
kungen mimetischer Gebilde nicht energisch genug betont werden. Anderer¬
seits und gleichzeitig muß das qualitativ Neue berücksichtigt werden. Wir
haben bereits auf das Moment des - relativen - Herausgehobenseins aus dem
Fluß des Alltagslebens hingewiesen, und gleichzeitig auch darauf, daß dies
eine formale Wesensart hat. Für die dialektische Betrachtungsweise schließt
eine solche Feststellung jedoch keineswegs den inhaltlichen Charakter der
Wandlungen im mimetischen Gebilde selbst und in seinen bezweckten und
erzielten Wirkungen aus. Im Gegenteil. Hegel bestimmt das für uns hier in
Magie und, Mimesis 393
haben uns hier nicht mit den Einzelheiten dieses Weges zu beschäftigen. Für
uns ist vor allem wichtig, daß auch die alleranfänglichsten mimetischen Ge¬
bilde bestimmte Begebenheiten dargestellt haben; sie müssen es tun, denn
der magische Zweck, das Beeinflussenwollen jener Mächte, von denen nach
dem damaligen Glauben Erfolg oder Mißerfolg dieser Vorgänge im Leben
selbst abhing, war nach der magischen Vorstellungswelt nur so zu bewerkstel¬
ligen. Nun mußte — schon aus rein praktischen Zweckmäßigkeitsgründen —
die betreffende Begebenheit, die in der Wirklichkeit an verschiedenen Punk¬
ten eines eventuell weit ausgedehnten Raumes, mitunter tage-, sogar wochen-
oder monatelang sich abspielte, auf einen Ort und auf eine relativ kurze
Zeit zusammengedrängt werden. Das Prinzip der Konzentration - wieder
eine formale Kategorie, wie früher das Herausheben aus dem Fluß des
Alltagslebens und zwar eine, die ebenso wie diese, sofort ins Inhaltliche Um¬
schlagen muß - richtet sich notwendig vor allem auf den Ablauf der betreffen¬
den widergespiegelten Begebenheit. D. h. es wird überall das Wesentliche der
Erscheinungswelt stärker hervorgehoben, als dies im unmittelbaren Ablauf
der Geschehnisse im Alltagsleben möglich ist. Die Dialektik von Erscheinung
und Wesen tritt deshalb schärfer und ausgeprägter auf, behält jedoch jene
Form, die dem Alltagsleben eigen ist: das immanente Enthaltensein des We¬
sens in der Erscheinung, im Gegensatz zu ihrem methodologischen Trennen
und Wiedervereinen im wissenschaftlichen Denken auch auf einer primitiven
Stufe. Diese Konzentration soll also, um den magischen Zweck zu erreichen,
in verkürzter, zusammengedrängter, das Wesen energisch hervorhebender
Weise alle wichtigen Momente darbieten.
In diesem Fall bedeutet jedoch Konzentration eben das, was in der später
selbständig gewordenen Kunst als Fabel figuriert. Aristoteles1 bestimmt die
Fabel als eine kunstmäßige, richtige Zusammenstellung der Geschehnisse. Sie
ist - auch in ihrer primitivsten Form - mehr als ein bloßes Nacheinan¬
der: gerade die magische Zwecksetzung erzielt eine teleologische Anordnung
der Teile auf ein bestimmtes dargestelltes Ziel hin, wodurch nicht nur inner¬
halb gewisser Grenzen das Nacheinander in ein Auseinander, in eine kausale
Verknüpfung umschlägt (auch wenn diese Kausalität eine phantasmago-
rische ist), sondern auch bestimmte Steigerungen, Stillstände, Rückschläge etc.
im Sinne der Zwecksetzung einander angefügt und auseinander entwickelt
werden. Eine für die spätere Literatur so zentral gewordene Kategorie,
wie die Fabel entsteht also mit sachlicher Notwendigkeit aus den magischen
Zielsetzungen der allerprimitivsten mimetischen Gebilde h
Natürlich unterscheidet sich diese Fabel noch gewaltig von den späteren dich¬
terischen Handlungen. Vor allem ist sie weitaus loser, der Anspruch auf zwin¬
genden Kausalzusammenhang ist noch äußerst bescheiden. (Der Tanz bleibt
- in dieser Hinsicht - auch später auf einer relativ primitiven Stufe ste¬
hen, auch wenn er in jeder anderen Beziehung schon längst über die Anfänge
hinausgewachsen ist.) Noch wichtiger ist aber ein anderes, ebenfalls aus die¬
ser Konstellation sich ergebendes Moment: das der Menschendarstellung, der
Charaktergestaltung. Auch hier ist es sehr lehrreich, einen Rückblick von einer
späteren Warte auf die Anfänge zu werfen, insbesondere wenn in reiferen
Gebilden noch gewisse Überreste früherer Traditionen, wenn auch nicht im
Sinne eines bewußten Historismus, aufbewahrt geblieben sind. Es ist schon
oft aufgefallen, wie schroff Aristoteles die Priorität der Handlung vor den
Charakteren im Drama betont: »Denn die Tragödie ist die nachahmende
Darstellung nicht von Personen, sondern von Handlung, von Leben in Glück
und Unglück 1 2.« Und er betont in den folgenden Sätzen den Primat des
Handelns im Leben mit großer Energie. Unmittelbar - praktisch wie
theoretisch für die spätere Entwicklung - folgt daraus, daß im Drama die
Handlung die Charaktere und nicht umgekehrt bestimmt und zum Aus¬
drude bringt. Wenn wir jedoch diese Betrachtungen von Aristoteles nicht in
bezug auf ihre spätere Entwicklung, sondern als Rückblick auf die Entwick¬
lung der Kunst ins Auge fassen, so zeigen sie, daß alle mimetischen Gebilde,
aus denen sich das Drama allmählich herausentwickelt hat, notwendig mit
Handlungen ohne Charaktere (in unserem Sinn) operiert haben, daß die
Charakterzeichnung als Aufgabe der Kunst ein relativ spätes Produkt ihrer
Entfaltung ist, dessen Wachstum starke Hemmungen überwinden mußte. Das
entspricht durchaus der Überlieferung, daß die Tragödie sich aus dithyram¬
bischen Chören entwickelt hat, daß ihre jambischen, eigentlich dramatische
Charaktere gestaltenden Teile später als die Chöre, aus ihnen entstanden
sind.
Hinter allen diesen Tatsachen steht aber etwas gesellschaftlich Wichtiges:
erstens, daß das soziale Substrat der Menschendarstellung, die Lebens-
ist auch der Ansatz zum Typischen im Keime enthalten. Freilich wie wir es
oben in bezug auf die Handlung sehen konnten, noch ohne jene innere, frucht¬
bare Widersprüchlichkeit, die aus der widersprüchlich organischen Einheit,
von Typischem und Individuellem in den Charakteren entspringt. Darum
muß in diesem Anfangsstadium sowohl jener Spielraum für die Bewegung
der Widersprüche innerhalb des Typischen vom Durchschnittlichen bis zum
Exzentrischen, die aus der dialektischen Einheit des Individuellen und des
Typischen entspringen, fehlen, wie die dadurch bedingte freie künstlerische
Auswahl aus den widerspruchsvoll typischen Erscheinungen des Lebens, die
in der entwickelten, selbständig gewordenen Kunst so vielfältige Formen der
Problematik hervorruft. In der primitiven Typik erscheint bloß die ge-
sellsdhaftlidie Seite der späteren Einheit der Widersprüche und zwar, unse¬
ren früheren Darlegungen entsprechend, mehr als das Typische von Situatio¬
nen und Begebenheiten als das von Charakteren. Natürlich müssen audi diese
letzteren ein Minimum an Individualisiertheit besitzen; schon die persön¬
lichen Eigenschaften der beteiligten Tänzer etc. besorgen dies. Aber dieses
Minimum löst sich im gesellschaftlichen Charakter des Typischen restlos auf.
Die Grundlage ist natürlich der bereits angegebene soziale Zustand. Dieser
findet in den damals möglichen Widerspiegelungsformen einen ihm angemes¬
senen Ausdruck. Denn es ist auch aus der späteren künstlerischen Entwick¬
lung heraus evident, daß Tanz und tänzerische (halbtänzerische) Gebärden,
gesungene Verse, Musik etc. weitaus weniger individualisieren können und
müssen als das rein und bloß gesprochene Wort. Es ist kein Zufall, daß die¬
ses ein viel späteres Produkt der Entwicklung ist, ebensowenig ist es ein
Zufall, daß der Tanz - in der Hauptlinie seiner Entwicklung - auf dieser
Stufe der Typisierung verharrt, und sich als selbständige Kunstgattung kon¬
stituiert.
Aber bereits diese Eigenart der primitiven Typik, die aus der magischen
Praxis mit spontaner Notwendigkeit herauswächst, enthält in sich Keime der
Divergenz zwischen Magie und Kunst. Ursprünglich fallen wohl beide Be¬
dürfnisse restlos zusammen. Das Auseinanderstreben der beiden Tendenzen
kann erst beginnen, wenn die gesellschaftliche Entwicklung Kollisionen zwi¬
schen Individuum und Gesamtheit produziert, was natürlich, als typische
Erscheinung, nur mit dem Zerfall des Urkommunismus, mit der Entstehung
der ersten Klassendifferenzierung einsetzen kann. Gewisse objektive Momente
eines Auseinanderstrebens treten freilich früh ein. Denn so stabil und -
scheinbar - unveränderlich primitive Gesellschaften auch sein mögen, das
noch so langsame Wachsen der Produktivkräfte führt doch neue Momente ins
398 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
ebenso depressiv affiziert werden, etc. können, wie bei realen Begeben¬
heiten des realen Alltagslebens; wenn man zu sagen pflegt, daß zum richtigen
Spiel, zum schmerzlosen Verlierenkönnen, etc. eine gewisse Kultur gehört,
so hat man diese vom Leben wenig scharf distanzierte Seite des Spiels richtig
gekennzeichnet.) Wichtiger ist die Distanz in der spielerischen Nachahmung
selbst; wenn etwa spielende Hunde das Beißen nur markieren, aber nicht
wirklich beißen etc., so zeigt das eine gewisse - instinktive - Abgrenzung
zwisdren nachgeahmter Wirklichkeit und widergespiegelter Nachahmung an,
und damit zugleich die dadurch zustande gekommene Evokation bestimmter
Gefühle.
In der Welt des Menschen geht aber die Nachahmung über diese Unmittel¬
barkeit hinaus. Es wird zwar oft auch auf entwickelter Stufe direkt nach¬
geahmt, jedoch auch diese direkte Nachahmung weist über ihre Unmittelbar¬
keit hinaus, strebt einer gewissen - sinnlich bleibenden — Verallgemeinerung
zu. Das spielerische Einüben wird zum Nebenprodukt, besser gesagt, einer¬
seits zur Voraussetzung, indem etwa gerade jene am Kriegstanz teilnehmen,
die alle dazugehörigen Bewegungen bereits am besten beherrschen, anderer¬
seits ist die Beziehung auf die zukünftige Wirklichkeit, in welcher aus dem
Spiel der Ernst des Lebens wird, keine instinktiv-unbestimmte, sondern
auf ein ganz bestimmtes kommendes Ereignis bezogen, z. B. auf eine be¬
stimmte bevorstehende Kriegshandlung. Diese Konkretheit beinhaltet aber
eine Verallgemeinerung höherer Art als die bloß instinktive, unbestimmte
Bezogenheit auf das Leben im allgemeinen. Natürlich liegt eine Verallge¬
meinerung schon auf sehr niedrigen Stufen vor: das fixierte Gefühl einer Ana¬
logie. Ob das Analogisieren bloß gefühlsmäßig bleibt, oder ob bereits von einer
gewissen Begrifflichkeit her zwei Gegenstände (Vorgänge) miteinander in
Verbindung gesetzt werden, die unmittelbar-äußerlich einander mehr oder
weniger ähnlich sind - ist doch der Kriegstanz eine Widerspiegelung, eine
Nachahmung der wirklichen Schlacht - ändert nichts an der analogisie-
renden Abenteuerlichkeit und Unfundiertheit des aus ihm gezogenen Schlus¬
ses: daß der in der Widerspiegelung erfochtene Sieg den in der Wirklich¬
keit herbeizuführen berufen ist.
Diese Struktur zeigt sich in der ganzen magischen Theorie und Praxis der
Nachahmung. Frazer gibt darüber eine gute und plastische Beschreibung:
»Durch seine Unkenntnis der wahren Ursachen der Erscheinungen irregelei¬
tet, glaubt der primitive Mensch, daß er die großen Phänomene der Natur,
von denen sein Leben abhängt, nur nachzuahmen braucht, um sie hervorzu¬
bringen, und daß sofort durch eine geheime Sympathie oder mystische
Magie und Mimesis 401
1 Frazer: a. a. O. S. 467.
402 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
als solcher die Bedeutung in sich enthalten soll. Es ist klar, daß, wenn wir
mit Lenin in den Schlußformen eine Widerspiegelung der allgemeinsten Be¬
stimmungen realer, sich konkret wiederholender Tatbestände erblicken, hier
in unmittelbar-sinnlicher Erscheinungsweise dasselbe widergespiegelt wird, was
das logische Wesen des Analogieschlusses ausmacht: eben die unmittelbare
Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit. Diese letzhinnige Identität des
Inhalts bedingt, daß auch die diese formenden Kategorien dieselben sein
müssen. Die entscheidende Divergenz setzt darin ein, daß die Kategorien,
ihre Relation zueinander, ihr Verhältnis im geformten Inhalt neue Funk¬
tionen und mit ihnen neue Strukturverhältnisse erhalten.
Wenn wir nun auf dieses Neue reflektieren, so sehen wir, daß eine solche
unmittelbare Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen sich hier nur durch
die notwendige, aus dem Wesen der Inhalt-Form-Verbindung folgende evo-
kative Intention der Mimesis verwirklichen kann. Denn im strikten Sinne
der Unmittelbarkeit ist auch in diesem Fall nur das Einzelne gegeben. Daß
in seiner mimetischen Abbildung das Allgemeine miterlebt wird - etwa
in Frazers Beispielen der Zusammenhang des Jahreszeitwechsels mit solchen
unmittelbar menschliche Vorgänge nachahmenden Darstellungen -, ist teil¬
weise eine Folge der magischen Weltauffassung und ihres Verkündigtseins, teil¬
weise aber und gerade im unmittelbaren Erlebnis, die der evokativen Wir¬
kung der mimetischen Formen. Diese beiden Seiten sind natürlich nur durch
gedankliche Analyse voneinander sauber zu trennen, im unmittelbaren Er¬
lebnis fließt jedes Moment ins andere über, sie verstärken sich gegenseitig in
diesem gelebten Einswerden.
Die Analyse darf jedoch bei dieser unmittelbaren Vereinigung nicht stehen¬
bleiben. Die strukturelle Tatsache, daß es sich um die unmittelbare Einheit
des Einzelnen mit dem Allgemeinen handelt, hat für das historische Schicksal
der Mimesis außerordentlich weittragende Konsequenzen. Vor allem haben
wir es mit einer mimetischen Struktur zu tun, die für das spätere Schicksal
der Kunst von außerordentlicher Wichtigkeit ist: mit der Allegorie. Soll
diese näher begrifflich bestimmt werden, so müssen wir wieder die oben be¬
stimmte Einheit der Identität und der Verschiedenheit ins Auge fassen. Daß
das Einzelne hier mit dem Allgemeinen unmittelbar identisch sein soll, gibt
ihm einen neuen Akzent seiner gewöhnlichen Erscheinungsweise gegenüber:
es erhält, ohne seine Einzelheit als solche aufzugeben, eine starke Bedeutungs-
belastetheit. Eine Tendenz dazu ist notwendigerweise schon in der Alltags¬
wirklichkeit vorhanden. Denn sonst wäre diese - in ihrer Erlebtheit - ein
zusammenhangloses, pulverisiertes Chaos. Es ist nur rein formallogisch
Magie und Mimesis 403
1
Hegel: Ästhetik, Werke, a. a. O. X. I. S. 513 f.
Magie und Mimesis 405
auch bei den anderen Sinnen möglich, bei diesen jedoch nur innerhalb ihrer
eigentlichen angeborenen Funktionen im körperlich-seelischen Haushalt des
Menschen. Natürlich entwickelt sich auch hier mit der Verbreiterung der
Kultur die Möglichkeit einer Ausdehnung der unmittelbaren Wahrnehmun¬
gen auf fernerliegende Gebiete. Es ist z. B. möglich, durdi Riechen (etwa
eines Parfüms) festzustellen, daß eine Frau unter dem Einfluß einer bereits
vergangenen Mode steht. Aber dazu muß man - außerhalb des Bereichs des
Riechens — wissen, wie die herrschende Parfümmode ist und die Verknüp¬
fung ist deshalb bloß assoziativ, eine an die Sinneswahrnehmung sich anschlie¬
ßende gedankliche Feststellung. Die Geruchs- und Geschmacks-»Symphonien«
von Huysmans sind also abstrakte, hohle und dekadente Phantastereien, die
mit dem Wesen des Ästhetischen nichts zu tun haben.
Die Universalität von Gesicht und Gehör führt dagegen dazu, daß wir Phä¬
nomene visuell und auditiv wahrnehmen, die unmittelbar weder gesehen
noch gehört werden können; genauer gesagt: im menschlichen Gesicht und
Gehör bilden sich Empfindungsfähigkeiten aus, mit denen im visuellen bzw.
auditiven Medium sehr weit vermittelte, sehr weitliegende Gegenständlich-
keits- und Ausdrucksformen für Gesicht und Gehör nicht nur apperzipier-
bar, sondern schon in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit spontan deutbar
und bewertbar werden. Es bedarf keiner ausführlichen Erklärung, daß die
hier angedeutete Menschenkenntnis von der Praxis des Alltagslebens, deren
Bedürfnissen entsprechend, ausgebildet wird. Es ist ebenfalls evident, daß
die so entstandenen Widerspiegelungen der Wirklichkeit evokativen Charak¬
ters sind oder zumindest auch Elemente der Evokation mitenthalten. Da sie
aus der Alltagspraxis entstehen, müssen sie einerseits eine Tendenz zur an¬
nähernden Übereinstimmung mit der objektiven Wirklichkeit haben; natür¬
lich innerhalb der Grenzen dieser Fähigkeiten im Alltagsleben überhaupt,
sogar — im individuellen Leben — vielleicht mit noch größeren Fehler¬
quellen, als bei anderen Widerspiegelungssphären des Alltags. Dazu muß na¬
türlich bemerkt werden, daß die Alltagspraxis, gerade wegen ihrer Unmit¬
telbarkeit, wenn auch oft langsam und ungleichmäßig, völlig falsche Abbil¬
dungen der Wirklichkeit doch aus sich ausmerzen muß. Andererseits und zu¬
gleich hat diese Art der visuellen oder auditiven, tendentiell universellen
Widerspiegelung einen inhärenten evokativen Charakter. Wenn im früher
gegebenen Beispiel das Lügen des Gesprächspartners visuell oder auditiv fest¬
gestellt wird, so ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Gefühls¬
reaktion nicht etwas daran bloß assoziativ oder gedanklich Angeknüpftes,
sondern entspringt unmittelbar aus der sinnlichen Wahrnehmung selbst, ist
408 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
deren integrierender Teil. Die objektive Tendenz auf Universalität, die wir
für Gesicht und Gehör festgestellt haben, hat auch eine entsprechende sub¬
jektive Kehrseite: es ist der ganze Mensch, mit allen seinen Gefühlen, Lei¬
denschaften, Gedanken etc., der die Tendenz hat, auf das ihm zugängliche
Ganze der Welt so zu reagieren.
III Das spontane Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen
Mimesis
Erst von hier aus läßt sich der allmähliche Prozeß der Ablösung des Mime¬
tisch-Ästhetischen, d. h. der differenziert und selbständig gewordenen ästhe¬
tischen Widerspiegelung der Wirklichkeit vom allgemeinen Boden des All¬
tagslebens begreifen. Um hier die ersten Übergänge im Sinne einer philoso¬
phischen Genesis klarzulegen, muß noch eine Bestimmung festgehalten wer¬
den, die freilich ihrem Ursprung nach ebenfalls dem Alltag angehört: das
bewußte Leiten der evokativen Elemente einem bestimmten Zwecke zu, ihr
wohldurchdachtes Kombinieren, Arrangieren, Steigern etc. in der Richtung
auf dieses Ziel. Es ist unschwer einzusehen, daß wir es hier mit einer ele¬
mentaren Tatsache des Alltagslebens zu tun haben b In jedem Gespräch, das
mit einer materiellen, geistigen oder moralischen Absicht verbunden wird,
wird das Gesagte dementsprechend aufgebaut, es wird versucht, die sinnliche
und intellektuelle Rezeptivität des Zuhörenden in die gewünschte Richtung
zu lenken. Diese Tendenz kann sich naturgemäß im Alltagsleben nicht un¬
gehindert entfalten. Vor allem, weil der menschliche Verkehr stets die Kreu¬
zung, das Sich-aneinander-Messen verschiedener, oft antagonistischer Bestre¬
bungen ist. Das von einem Individuum versuchte Leiten der Erlebnisse und
der Gedanken des anderen wird also immer wieder von den Mitbeteiligten
unterbrochen, abgelenkt, vereitelt, aus einem Angriff in eine Verteidigung ver¬
wandelt etc. Und als bloßes Mittel bestimmter, konkret-praktischer Zwecke
hat das Leiten vom Standpunkt des Alltagslebens seine Aufgabe mit einem
solchen faktischen Erreichen oder Verfehlen erfüllt oder es hat versagt. Hierin
liegt, vom Standpunkt der Alltagspraxis aus, sein alleiniges Kriterium. Natür-
1 N. Hartmann, der auf dieses Moment der Lenkung großes Gewicht legt, übersieht
die wirklichen Verbindungen und darum auch die editen Gegensätze zwischen
Alltagsleben und Kunst: Ästhetik, Berlin 1953, S. 58 ff.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 409
lieh kann auch hier die technische Vollendung, unabhängig von der kon¬
kreten Zweckerfüllung beurteilt werden; wir sprechen von geschickten,
schlauen, beredten, etc. Menschen und von ihrem Gegenteil. Aber auch in
diesem Falle bleibt das angegebene Kriterium in Geltung; wir meinen dies¬
mal, daß die positiv beurteilten Mittel unter »normalen« Umständen ihren
Zweck erreicht hätten, bei den negativ eingeschätzten dagegen betrachten
wir den eventuell faktisch verwirklichten Zweck als Produkt eines günstigen
Zufalls.
Dazu kommt, daß im menschlichen Verkehr notwendigerweise Argumenta¬
tion und Evokation je nach Zweck, Lage etc. ununterbrochen sich abwech¬
seln, einander ablösen. Das Evokative und innerhalb seines Bereichs das
Mimetische ist nur eines der angewendeten Mittel, dessen Wert oder Unwert
- mit den eben angegebenen Beschränkungen - danach beurteilt wird,
wie effektiv es das Vollbringen der konkreten Absicht zu fördern imstande
ist. Welche dieser Komponenten, in welcher Proportion etc. angewendet
wird, ist eine rein pragmatisch-faktische Angelegenheit. Es ist darum kein
Zufall, daß, obwohl die Antike die äußerste Aufgipfelung solcher Tenden¬
zen des menschlichen Verkehrs, die forensische Beredsamkeit, als Kunst auf¬
gefaßt hat, die Rhetorik sich doch nie zu wirklichen Gesetzlichkeiten erheben
konnte; sie pendelt fast übergangslos zwischen den falschen Extremen eines -
oft sophistischen - Pragmatismus und einer - völlig abstrakten - All¬
gemeinheit hin und her.
Wie immer das Prinzip des bewußten Leitens der Evokation in den mime¬
tischen Gebilden entstanden sein mag, so ist einerseits sicher, daß eine relative
Ausbildung der obengeschilderten Tendenzen die unerläßliche Voraussetzung
der Entstehung und Wirkung eines solchen Leitens gewesen ist, andererseits
daß das neu entstandene, rein evokative Leiten einen qualitativen Sprung
gegenüber seinen Erscheinungsweisen im Alltagsleben bedeutet. Um diesen
Sprung, seinem wahren und konkreten Wesen nach zu begreifen, ist es un¬
bedingt notwendig, einige der hier entstehenden neuen Bestimmungen der
mimetischen Gebilde etwas näher ins Auge zu fassen. Die ausschlaggebendste
dieser Bestimmungen scheint auf den ersten Anblick eine reine Tautologie
vorzustellen: das mimetische Gebilde ist keine Wirklichkeit, sondern bloß
deren Widerspiegelung. Indessen löst sich der tautologische Charakter dieser
Aussage auf, wenn wir bedenken, daß der Rezeptive hier - und nur hier -
mit der Widerspiegelung und nicht mit der Wirklichkeit selbst konfrontiert
wird. Unmittelbar ist dies natürlich auch in der Alltagswirklichkeit so: in jeder
Mitteilung, die einen direkt oder indirekt mimetischen Charakter hat, wird
410 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
ein Für-uns zu verwandeln. Der Grundtendenz nach kann sich deshalb die
Widerspiegelung nicht selbständig machen und ein eigenes unmittelbares Ver¬
hältnis zum Bewußtsein statuieren. Wo dies gesdrieht - und es geschieht im
Alltagsdenken und auch in der Geschichte nidit selten - entsteht eine Ver¬
dunkelung der Wahrheit. Das ist deutlich in der Rhetorik sichtbar; sobald
die formale Forderung, um jeden Preis evokative Wirkung zu erzielen, die
Oberhand erhält über die wahre Spiegelung der Objektivität durch die Ge¬
danken, verfällt diese Disziplin in eine mehr oder weniger zynische Sophistik.
Dies zeigt das Verhältnis des durch ständigen Vergleich mit der Wirklich¬
keit kontrollierten Denkens zur Evokation ziemlich genau an. Natürlich
kann jede Erkenntnis der Wirklichkeit vehemente und tiefgehende Gefühle,
Leidenschaften etc. hervorrufen; es ist also gar keine Übertreibung, von evo-
kativen Wirkungen des Denkens zu sprechen. Sogar seine konkrete und geist¬
reiche Form kann in ähnlicher Weise wirken. Es gehört jedoch zum Wesen
der Sache, daß das Evokative in allen Lebensfunktionen, bei denen das rich¬
tige Erfassen der objektiven Wirklichkeit dominiert - auch im Alltags¬
leben -, nur eine sekundäre, akzessorische Bedeutung haben kann. Das oben
gestreifte Problem des Sophistischen in der Rhetorik bezeichnet gerade die
zugespitzteste Form jener Lagen, in denen das denkerische Erfassen der
Wirklichkeit zum Mittel einer von ihm an sich unabhängigen Evokation er¬
niedrigt wird. (Daß sich all dies auch auf die Publizistik bezieht, versteht sich
von selbst.)
Anders ist es - schon im Alltagsleben - um die Evokation und vor allem
um die evokative Mimesis bestellt. Es gibt unzählige Situationen im Verkehr
der Menschen miteinander, in denen die Aufrichtigkeit des geäußerten Ge¬
fühls, dessen evokative Wucht - mit relativem Recht - die dominierende
Rolle spielt. Wenn z. B. eine über den Verlust ihres Sohnes verzweifelte Mut¬
ter in leidenschaftliche Klagen über diesen Tod ausbricht, die Tugenden des
Verstorbenen preist, etc., so ist es eine durchaus zweitrangige Frage, ob die
dabei geäußerten Lobpreisungen einer Kontrolle der Wirklichkeit objektiv
standhalten können. Ähnlich, wenn z. B. über einen Menschen eine ihn cha¬
rakterisierende Anekdote erzählt wird; hebt diese bestimmte typische Züge
der gesellschaftlichen, der seelischen oder moralischen Wirklichkeit richtig
hervor, so wird sie evokativ wirken, und es wird - wieder mit relativem
Recht - nicht untersucht, ob die in ihr zusammengedrängte Begebenheit ein
wirkliches Faktum, dessen übertriebene Darstellung oder eine rein erfundene
Fiktion ist; der bekannte Ausspruch: »Se non e vero e ben trovato« bezeichnet
ziemlich genau unser Verhalten zu dieser Art von Lebensäußerungen.
412 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
hat sich dann, da er subjektiv ist, und auch objektiv geworden ist, zum Bilde
gemacht. Aber da der Schmerz seiner Natur nadi subjektiv ist, so ist es ihm
sehr zuwider, aus sich herauszugehen. Nur die höchste Not kann ihn dazu
treiben 1.« Von hier aus leitet nun Hegel die evokative Wirkung der bereits
zur Kunst gewordenen Klagegesänge ab: »Aber wenn die Not vorbei, wenn
alles verloren und er (der Sdimerz, G. L.) Verzweiflung geworden ist, so
verschließt er sich in sich, und hier ist es höchst wohltätig, ihn herauszubrin¬
gen. Durch nichts Heterogenes kann dies gesdiehen. Nur indem er sich selbst
gegeben wird, hat er sich als sich selbst und als etwas zum Teil außer sich.
Ein Gemälde tut diese Wirkung nicht. Er sieht nur, aber bewegt sich nicht.
Die Rede ist die reinste Form von Objektivität für das Subjektive. Sie ist
noch nicht Objektives, aber doch die Bewegung nach Objektivität. Klage in
Gesang hat zugleich noch mehr die Form von Schönem, weil sie nach einer
Regel sich bewegt. Klagegesänge bestellter Weiber sind daher das Mensch¬
lichste für den Schmerz, für das Bedürfnis, sich seiner zu entladen, indem
man ihn am Tiefsten sich entwickelt und in seinem ganzen Umfang sich vor¬
hält. Nur dies Vorhalten allein ist der Balsam 2.« Die von uns aufgezeigten
Übergänge sind hier deutlich sichtbar, und die Übereinstimmung scheint uns
um so wertvoller, als Hegel, den Grundprinzipien seines Philosophierens ent¬
sprechend, das Moment der Mimesis vernachlässigt, und nur ganz allgemein
von Subjektivität und Objektivität spricht.
Damit ist der Umkreis der mimetischen Evokation im Alltagsleben, wenig¬
stens in seinen gröbsten Konturen, Umrissen. Es braucht wohl kaum wiederholt
zu werden, daß auch ihre zuletzt erwähnten Vorkommensweisen als Voraus¬
setzung, als Material etc. für die eigens hergestellten mimetischen Gebilde un¬
erläßlich sind. Ihre noch so kursorische Analyse zeigt jedoch schon von vorn¬
herein klar an, daß der qualitative Sprung, von welchem wir sprachen, ganz
eng auf das neue Moment des unmittelbaren und unmittelbar nicht überhol¬
baren Verhalten der Rezeptiven zu einem widergespiegelten Abbild der Wirk¬
lichkeit und nicht zu dieser selbst fundiert ist. (Über die vermittelteren Zu¬
sammenhänge der hier verwerteten Widerspiegelung mit der Wirklichkeit,
haben wir bereits gesprochen.) Erst auf diesem Boden kann sich die aus dem
Leben herauswachsende, ihm gegenüber aber qualitativ neue Funktion der
Evokation entfalten. Dazu ist noch zu bemerken, daß ein Verhalten zur
Widerspiegelung der Wirklichkeit und nicht zu dieser selbst noch eine andere,
entscheidend wichtige, strukturelle Konsequenz hat. Während nämlich im
Alltag, wie wir gesehen haben, auch die mimetische Mitteilung den Charak¬
ter eines Kampfes zwischen verschiedene Ziele verfolgenden Gesprächspart¬
nern hat, so daß in ihr von einem einheitlichen und zielbewußten Leiten der
Evokation nur sehr bedingt, nur in seltenen Grenzfällen die Rede sein kann,
entsteht in der mimetischen Evokation ein einheitliches Gebilde, das um die¬
ser einheitlichen Leitung willen aufgebaut ist. Mögen also sämtliche Mo¬
mente einer solchen geleiteten Einheit im Alltagsleben vorhanden sein und
funktionieren, dieses ihr Ensemble bedeutet einen qualitativen Sprung, das
Entstehen von etwas radikal Neuem. Ebenso steht die Sache in subjektiver
Hinsicht. Im Alltagsleben wird bei solchen Mitteilungen die Regel sein, daß
beide Partner sich zugleich aktiv und rezeptiv verhalten; die Rezeptivität
wird sogar sehr oft ein bloßes Sprungbrett zum aktiven Eingreifen sein; in
solchen Fällen ist die aufmerksamste Rezeptivität - zumindest: auch - dar¬
auf gerichtet, die Schwächen der Positionen im Vortrag des Gesprächspartners
zu erspähen und auszunützen. Erst wenn die Menschen einem - evokativ
mimetischen - Gebilde gegenüberstehen, das reines Widerspiegeln, ganz und
gar nicht Wirklichkeit ist, entsteht eine reinliche Scheidung der beteiligten
Subjektivitäten in Schaffende und Rezeptive. Die vielfachen und gleitenden
Übergänge mußten schon in der Erklärung der Genesis aufgezählt wer¬
den, sie dürfen aber den hier deutlich gewordenen Sprung nicht ver¬
dunkeln. Die neue Aufgabe, durch welche die eigentlich ästhetische Abbildung
der Wirklichkeit entsteht, wird, wie schon wiederholt betont wurde, durch
die magische Nachahmung gestellt. Es wurde ebenfalls auf deren Doppelseitig-
keit, deren innere Dialektik, die die spätere Trennung von Magie und Kunst
begünstigt, hingewiesen, zugleich aber auch darauf, daß in den Anfangs¬
stadien diese Widersprüchlichkeit noch nicht in Erscheinung tritt, daß viel¬
mehr die Loslösung der ästhetischen Widerspiegelung von der des Alltags sich
gerade in dem durch die Magie bestimmten Rahmen von Zielsetzungen, von
Schaffens- und Wirkungsbedingungen vollzieht, daß erst der sich in ihr voll¬
ziehende Trennungsprozeß vom Alltag der ästhetischen Widerspiegelung
die Möglichkeit darbietet, sich später von Magie (und Religion) loszulösen,
selbständig zu machen, und ihre eigentliche Funktion im Gesamtleben der
Gesellschaft zu übernehmen.
Wir kennen bereits die hier ausschlaggebenden magischen Zielsetzungen. Die
entscheidende Konvergenz mit dem Ästhetischen, die Vorbereitungsarbeit für
die Ausbildung einer spezifisch ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 4i5
seitens der Magie besteht erstens darin, daß als Ziel die Abbildung eines ein¬
heitlichen und in sich geschlossene Lebensvorgangs gesetzt wird, wodurch, wie
wir bereits gesehen haben, wichtige ästhetische Kategorien, wie die Fabel, das
Typische sich spontan herauszubilden beginnen. Das zweite wichtige Moment
ist das eben jetzt von uns Behandelte: dieser einheitliche und in sich ab¬
gerundete Lebensvorgang bildet nicht nur inhaltlidi eine geschlossene Einheit
- derartiges kann ausnahmsweise auch im Alltagsleben Vorkommen -,
sondern besteht formal aus der ausschließlichen Anwendung der Widerspie¬
gelung der Wirklichkeit und der temporären Ausschaltung der Wirklichkeit
selbst; die Rezeptiven werden also einem systematisch geordneten Gebilde
aus Widerspiegelungsbildern gegenübergestellt, deren einheitliche, evokative
Wirkung das zu erreichende Ziel ist. Daß der Vergleich mit der Wirklichkeit
nicht endgültig aufgehoben, sondern nur suspendiert ist, haben wir ebenfalls
schon hervorgehoben. Die Vergleichsbasis bilden die Wirklichkeitserfahrun¬
gen der Rezeptiven vor der Evokation durch das mimetische Gebilde, sowie
die stets - freilich in höchst verschiedenartiger Weise - nach ihrer Auf¬
nahme vollzogenen Vergleiche des wirkenden Ganzen mit der Totalität ihres
bisher erworbenen Lebensbildes, dessen eventuelle Modifikation durch diese
Eindrücke, ihr Einarbeiten in diese Totalität, ihre Bereicherung etc. durch sie.
Dies alles widerspricht keineswegs der unmittelbaren Suspension der Wirk¬
lichkeit, gehört vielmehr, wie wir später ausführlich darlegen werden, zum
Wesen des ästhetischen Verhaltens, begründet die Stelle der Kunst im Sy¬
stem der gesellschaftlichen Lebensäußerungen der Menschen.
Gerade darum ist der in der ästhetischen Literatur häufig angewendete Ter¬
minus »Illusion« so irreführend. Das Element der Täuschung oder Selbst¬
täuschung, das diesem Ausdruck unausmerzbar innewohnt, fehlt völlig in
jedem echt ästhetischen Erlebnis: es ist ein unmittelbares Sich-Hingeben an
einen einheitlidien Komplex von Widerspiegelungsbildern der Wirklichkeit,
ohne irgendwelche »Illusion«, mit der Wirklichkeit selbst zu tun zu
haben. Wenn zuweilen in der Beschreibung von ästhetischen Gebilden, von
der tiefen, echten etc. Wirklichkeit der Gestaltung die Rede ist, so ist damit
etwas völlig Verschiedenes gemeint, das nichts mit einem Vortäuschen der
Wirklichkeit selbst zu tun hat. Freilich tauchen solche Anschauungen oft auf.
Sie sind aber teils Ausdrücke einer naiven Verwunderung über große tech¬
nische Fortschritte in der künstlerischen Reproduktion der Wirklichkeit
(Typus der Zeuxisanekdote), teils Motive im Kampf um die Berechtigung
der Kunst zu einer selbständigen Existenz (Kunst als Lüge). Das wichtigste
Moment dieses Komplexes ist aber ein Residuum der magischen Mimesis.
4i 6 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
1 Frazer: a. a. O. S. 18.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 4i7
die oben geschilderte Theorie eines von der Wirkung gesonderten Werkes an
sich. So sehr eine solche Entwicklung gesellschaftlich-geschichtlich verständ¬
lich ist, so sehr widerspricht sie der echten kategorialen Struktur der ästhe¬
tischen Widerspiegelung. Diese ist spontan bestrebt, bestimmte Eindrücke,
Gefühle, Leidenschaften etc. zu erwecken, und der entstehende Kunstsinn
wächst gerade aus den Erfahrungen heraus, die an den praktischen Wir¬
kungen der mimetischen Gebilde, verglichen mit den subjektiven Vorstel¬
lungen ihres Hervorbringens gemacht werden. D. h. es entwickelt sich eine
bestimmte »Technik« in der Ausführung der mimetischen Gebilde, deren
einziger Zweck ist, die inhaltlich vorgeschriebenen, also unaufhebbar gegebe¬
nen Inhalte in gewünschter Intensität zu evozieren. Diese Beziehungen wer¬
den infolge der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft gelockert, zuwei¬
len sogar vollständig zerstört. Daraus folgen die eben charakterisierten fal¬
schen Anschauungen, gegen welche die wirklichen Künstler dieser Periode
einen ununterbrochenen Kampf führen müssen. Es mag hier genügen, sich
auf Goethe zu berufen, der am Anfang dieser zur Divergenz führenden
Entwicklung steht, der es lebhaft empfindet, wie schwer es für den Schaffen¬
den ist, ohne eine solche anregende Kontrolle gerade das zutiefst Künstleri¬
sche zu treffen, wenn man diese Hilfe nicht als in der gesellschaftlichen Wirk¬
lichkeit aktiv wirkende vorfindet, sie vielmehr in der eigenen schöpferischen
Arbeit selbsttätig reproduzieren muß. Goethe sagt: »Leider werden wir Neue¬
ren wohl auch gelegentlich als Dichter geboren und wir plagen uns in der
ganzen Gattung herum, ohne recht zu wissen, woran wir eigentlich sind;
denn die spezifischen Bestimmungen sollten, wenn ich nicht irre, eigentlich
von außen kommen, und die Gelegenheit, das Talent determinieren h«
Für das Zeitalter der Entstehung des Ästhetischen ist diese Determination
von außen eine Selbstverständlichkeit. Die von der Magie hervorgerufenen
mimetischen Gebilde haben - neben der Funktion des »Zauberns«, worüber
wir schon wiederholt sprachen - die Aufgabe: durch Darstellung (»Nach¬
ahmung«) von Gegenständen oder Vorgängen in dem Menschen jene Gedan¬
ken und Gefühle zu erwecken, die ihre jeweils bestimmte praktische Ziel¬
setzung erfordert. Sie sind deshalb sowohl inhaltlich wie formal »von außen«
determiniert. Es folgt aus dem Wesen der Magie, daß diese inhaltliche Be¬
stimmtheit die »Nachahmung« genau umschriebener Lebenstatsachen oder
Lebensvorgänge bedeutet, ihre Formung ist wiederum darauf angelegt,
Aufbau entsteht - und dies ist wiederum nach aller Wahrscheinlichkeit sehr
früh, lange vor der Ablösung des Ästhetischen vom Magischen zustande
gekommen - müssen daraus sehr wichtig werdende ästhetische Kategorien,
wie Retardieren, Episode, Kontrast, Gegenbewegung etc. entspringen. Denn
es ist klar, daß bei einer solchen auf Evokation bestimmter, einheitlicher
Gefühle und Gedanken angelegten Komposition ein retardierendes Mo¬
ment einfach störend, die Aufmerksamkeit ablenkend, die Spannung auf¬
lösend wirken muß, wenn es nicht unmittelbare Spannungserlebnisse im Zu¬
schauer erwecken soll und erweckt; gerade dieser Umweg muß zum wirk¬
lichen Erreichen des Zieles unumgänglich notwendig sein, ja er erscheint nicht
mehr als ein bloßer Umweg, denn der Widerstand und seine Überwin¬
dung, die in ihm zum Ausdruck kommen, bereichern und vertiefen eben
jene Gefühle, deren Erweckung Zweck und Inhalt des ganzen Gebildes ist.
Solche Motive können schon auf primitiver Stufe auftauchen, so bei einem
Jagdtanz das Verlieren der Spuren und ihr Wiederauffinden, bei einem
Kriegstanz eine List des Feindes, die ihm vorübergehende Vorteile verschafft
etc. Und es ist selbstverständlich, daß solche Abweichungen von einer ganz
direkten Darstellung des Inhalts, wenn sie in der gewünschten Art wirk¬
sam werden sollen, in allen formalen Elementen der Gestaltung entsprechend
zur Geltung gelangen müssen.
Damit haben wir nur eine der wesentlichen Kategorien hervorgehoben, die
bei einer solchen Darstellung entstehen und sich ausbilden müssen. Es ist
bereits im herangezogenen Fall klar, daß die Bewegung (hier: die Kompli¬
kation) vom Inhalt ausgeht und diesem entsprechend als formales Moment,
als Variation früherer Formen sich durchsetzt. Das Gesetz, das alle
Erscheinungen dieser Art bestimmt, ist in der von uns bereits beschriebenen
doppelten Umkehrung fundiert. Denn aus dieser folgt, daß alle Momente
des Dargestellten durch ihre Verknüpfung untereinander, d. h. durch das
Erhöhen des Nacheinanders in ein Auseinander vor allem eine größere Deut¬
lichkeit erhalten müssen, als sie im Leben zu besitzen pflegen. Und zwar
nicht einfach ein gedankliches Hervorheben oder Erklären der Phänomene
und ihrer Zusammenhänge - was z. B. beim Tanz einfach physisch unmög¬
lich wäre - sondern ein unmittelbares Sinnfälligwerden, eine visuelle und
auditive, gefühls- und gedankenmäßige Evokation ihres Seins, ihrer Bewe¬
gung, ihrer kausalen Konnexe. Das bedeutet dem Alltagsleben gegenüber sehr
wesentliche Differenzen, obwohl - und damit taucht wieder eine wichtige
ästhetische Kategorie auf, - ihre sinnliche Erscheinungsweise, deren allge¬
meine Inhalte und Formen keinesfalls radikal verändert werden müssen.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 421
In der Magie tritt eben die schon so oft betonte Dialektik von Erscheinung
und Wesen zutage, nur mit der Konkretion, daß das Wesentliche hier stärker
und deutlicher wahrnehmbar wird als im Alltagsleben, und zugleich noch
inniger mit der sinnlichen Oberfläche verknüpft bleibt: die evokative Wir¬
kung besteht ja gerade darin, daß das Wesentliche unmittelbar zur Wahr¬
nehmung, zum Gefühltwerden gelangt, nicht durch gedankliche Analyse der
Begebenheiten gewonnen wird.
Das mimetische Gebilde muß deshalb von Anfang an die qualitativ deut¬
liche Stimmung ihres entscheidenden Inhalts in allen Momenten offenbaren;
der Wechsel der Stimmungen muß auf diesen Grundton der Gefühle ba¬
siert und ständig bezogen werden, auch die vorkommenden Kontraste
(man denke an das Retardieren) müssen sich in einem von dieser Basis aus
bestimmten Umkreis bewegen. Wichtige Kategorien der später ausgebilde¬
ten Ästhetik, wie z. B. die Intonation, entwickeln sich auf dieser Grundlage.
Dabei wäre es oberflächlich, die Geltung dieser Kategorien auf die Musik zu
beschränken, haben doch die Anfangszeilen eines jeden lyrischen Gedichts -
bezeichnenderweise sehr ausgeprägt in den Volksliedern und in den populären
Balladen -, die Expositionen der Dramen etc. einen solchen Charakter: die
notwendige inhaltliche Einführung in den Stoff ist unzertrennlich mit dem sug¬
gestiven Erwecken jener Stimmung verbunden, die die ganze folgende Hand¬
lung beherrschen wird. (Man denke an die Anfangsszenen bei Shakespeare).
Das Evozieren einer bestimmten Stimmung durch die Intonation ist auch in
ihren primitivsten Formen ein Träger des Wesens der künstlerischen Verallge¬
meinerung, des Erhebens der dargestellten Begebenheit auf ein höheres Niveau
der Apperzipierbarkeit als dies im Alltagsleben prinzipiell möglich ist.
Gerade hier wird sichtbar, auf wie innige Wechselwirkung Inhalt und
Form in der evokativen Wirksamkeit eines Widerspiegelungsgebildes gebracht
werden müssen. Eine, wie angedeutet, evozierte Stimmung ist unmittelbar
und vor allem ein Problem der Form: sie fügt die einzelnen Abbildungen der
Wirklichkeit in eine solche Reihe ein, gibt ihnen solche Proportionen, einen
solchen Rhythmus, sie modelt jedes einzelne Element (Wort, Ton, Gebärde
etc.) auf eine solche Wirkungsqualität hin, damit die Intonation der ge¬
wünschten Stimmung entstehen könne.
Aber, wie Lenin sagt: »Die Form ist wesentlich. Das Wesen ist so oder anders
formiert, in Abhängigkeit auch vom Wesen . . . 1« Lenin spricht hier von
soll, sondern eine ganz konkret bestimmte, aus der konkreten Lebenslage
konkreter Menschen sich - dem Ansdrein nach - spontan, von selbst entfalten¬
de. Es ist jedoch klar, daß das Widerspiegelungsbild dieser Lebenszustände
seinerseits wiederum, schon in seiner Inhaltlichkeit, eine Intention auf eine
solche Form besitzen, die Formelemente gewissermaßen in sich tragen muß,
um für gerade diese Form der geeignete Inhalt zu sein, und so fort ins
Unendliche. Das Hegelsche ununterbrochene Umschlagen der Form in Inhalt
und vice versa, als Bestimmung des Wesens dieser Kategorien, ist gerade
hier am deutlichsten, ausgeprägter als in anderen Lebensgebieten, sichtbar.
Wenn wir früher das Leiten der Evokation als dem Wesen nach identisch
mit den objektiven Prinzipien der Komposition bestimmt haben, so hat sich
dies schon aus den bisherigen Darlegungen erhärtet. Der innere Zusammen¬
hang eines mimetischen Gebildes geht notwendig darauf aus, das Nachein¬
ander der gestalteten Gegebenheiten in eine zwingende Entwicklung des Aus¬
einander zu verwandeln. Das ist an und für sich noch nicht mehr als die
getreue Widerspiegelung der ursächlichen Struktur der objektiven Wirklich¬
keit, ihres realen Kausalzusammenhangs. Dieser muß in seiner wesentlichen
Inhaltlichkeit bewahrt bleiben, soll das mimetische Gebilde als Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit gelten können, was ja, wie wir oft bemerken konnten,
die entscheidende Voraussetzung seiner evokativen Wirkung ist. Ohne also
diese Struktur und ihre konkrete Erscheinungsweise antasten zu dürfen, müs¬
sen im mimetischen Gebilde wesentliche Veränderungen der unmittelbaren
Oberfläche des Alltagslebens gegenüber vollzogen werden. Diese folgen
schon daraus, daß ein räumlich wie zeitlich eng begrenztes Widerspiegelungs¬
bild den Eindruck des an sich unbegrenzten Lebens erwecken soll; die einzel¬
nen mimetischen Gebilde stellen zwar jeweils nur einen begrenzten Abschnitt
des Lebens dar (Krieg, Jagd, etc.) Dieser ist jedoch im Leben selbst mit
unzähligen Fäden an dessen Totalität geknüpft; die Erhebung eines Teils zu
einer - relativen - intensiven Ganzheit setzt einerseits das Abreißen, das
Vernichten einer Menge von Verbindungen, die zwischen dem ausgewählten
Teil und seiner natürlichen Umgebung sonst hin und her gingen, voraus,
andererseits die Vermehrung und Intensivierung jener Bande, die die Ele¬
mente des in der Widerspiegelung figurierenden Abschnitts miteinander
verknüpfen. Die herrschende Kausalität des Lebens wird also im Prinzip be¬
wahrt, sie erhält aber eine gesteigerte Intensität in der Nähe, verliert un¬
mittelbar einiges von ihren extensiven Weitvermitteltheiten, ergibt eine Im¬
manenz auf einem räumlich wie zeitlich beschränkten Aktionsfeld. Schon dies
bedeutet eine wesentliche Akzentverschiebung, die nur dadurch ausgeglichen,
424 Die Entstehung der ästhetischen WiderSpiegelung
den Kriegstanz erinnern, so steht von vorneherein fest, daß er mit dem Sieg
über den Feind enden muß (diesen herbeizuführen ist ja der magische Zweck
des Ganzen). Soll er aber evokativ wirken, so muß jede Episode, ja jede Be¬
wegung daraufhin ausgewählt, bestimmt, placiert werden, um diesen Schluß
entsprechend, eventuell durdi Retardationen, vorzubereiten, um ihm den
maximalen evokativen Effekt zu sichern. Von diesem teleologischen Stand¬
punkt aus wird nun in der objektiven Komposition die richtige und natürliche
Zeit- und Kausalfolge hergestellt. Wenn wir hier diesen Tatbestand beschrei¬
ben, so heben wir dabei besonders hervor, daß beide Momente, sowohl die
teleologische Umkehrung, wie die ebenfalls teleologische Wiederherstellung
des realen Ablaufs eine Distanz zur Alltagspraxis schaffen; obwohl zweifellos
Einzelvorgänge im Alltagsleben vorhanden sind, in denen Keime solcher
Verhaltensweisen stecken.
Was nun in dieser gedoppelten Komposition zustande kommt, ist auf eine
strenge Unterordnung der Teile unter das leitende Prinzip gegründet. Darin
kommt der qualitative Unterschied solcher Widerspiegelungen zum Original,
zur objektiven Wirklichkeit klar zum Ausdruck. So trivial es klingen mag, muß
es hier doch betont werden: in der Wirklichkeit selbst ist jedes Detail wirklich;
d. h. als unabhängig vom Bewußtsein Existierendes setzt es sich - natürlich
im Ausmaße seines objektiven und subjektiven Gewichts - auch im mensch¬
lichen Leben durch. Im mimetischen Gebilde gewinnt seine Widerspiegelung
aber nur dann eine »Realität« (den evokativen Eindruck einer Wirklichkeit
auf den Rezeptiven), wenn es sich reibungslos in die Leitung einfügt, wenn
es die vorher geweckten Erwartungen steigert, zu folgenden überleitet etc.
Das Plötzliche, das Unerwartete hat also eine völlig andere, ja entgegen¬
gesetzte Wirkung als im Leben. Mag der Tod eines Menschen noch so
»unvorbereitet« eintreten, das bloße Faktum des Todes hat etwas Erschüt¬
terndes, ja es kommt im Leben sogar sehr häufig vor, daß gerade die
schroffe Abruptheit, der Anschein der völligen Zufälligkeit die Erschütte¬
rung noch steigert. Im mimetischen Gebilde muß dagegen auch die Über¬
raschung vorbereitet werden. Da es sich nur um Widerspiegelung und nicht
um die Wirklichkeit selbst handelt, kann eine bloße Tatsache, ein factum bru-
tum, keine Überzeugungskraft habenl. Die sehr verwickelten Probleme,
1 Alfred Kerr schildert solche Fälle im entwickelten Drama recht anschaulich bei
Hauptmanns »Der rote Hahn« und Henry Becques »Raben«. Gesammelte Werke
Band I. S. 98 und S. 393. Daß diese Wirkung oft sogar ins Komische Umschlägen
kann, zeigt er bei Wedekind. Ebd., S. 204.
426 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
die aus der Kategorie des Vorbereitens — als Teilfrage des Leitens - folgen,
zu analysieren, ist hier natürlich nicht der Ort, um so weniger, als die wirkli¬
chen Komplikationen erst auf viel höherer Stufe, lange nach dem Selbstän¬
digwerden der Kunst auftauchten. Der Hinweis auf sie mußte aber erfolgen,
weil erst dadurch das Wesen des Leitens klar hervortritt: daß nämlich das
mimetische Gebilde einerseits nur als Ganzes eine »Realität« haben kann,
daß dieses ein Produkt des konsequent durchgeführten Leitens ist, daß ande¬
rerseits die Teile und Details unmittelbar als selbständig wirken müssen, denn
nur aus einer solchen Totalität auf sich selbst gestellter Bestandteile baut sich
die »Realität« des ganzen Gebildes auf, wobei unsere Analyse - auch für die
primitivste Stufe - ihre tiefe Abhängigkeit vom Gesamtzusammenhang, von
der Systematik des konkreten Leitens klar erweist.
Wir sehen also, wie aus den mimetischen Zielsetzungen des magischen Zeit¬
alters, die in ihrer ursprünglichen Intention noch nichts mit Kunst zu tun
haben, die spontan und direkt aus der magischen Weltauffassung heraus¬
wachsen, im mimetischen Gebilde - kraft der immanenten Notwendigkeit
seiner folgerichtigen Durchführung - die wichtigsten Aufbaukategorien der
ästhetischen Sphäre spontan entstehen. Ja, in der Art der Verbundenheit
dieser Gebilde mit der Magie ist ebenfalls eine zentrale Bestimmung des
Ästhetischen enthalten: seine Determiniertheit von »außen«, über welche wir,
mit Berufung auf Goethe, bereits gesprochen haben. Diese ist, um das bisher
Ausgeführte kurz zusammenzufassen, in unzertrennbarer Weise sowohl in¬
haltlich wie formal bindend für eine richtige Widerspiegelung der Wirklich¬
keit im Sinne der Ästhetik. Inhaltlich, weil die evokative Wirkung eine
Gemeinsamkeit des gesellschaftlichen, der menschlichen Interessen zwischen
mimetischem Gebilde und Rezeptivität voraussetzt. (Die kompliziertere
Frage, wie Inhalte einer eventuell fernen Vergangenheit ähnliche Wirkungen
auslösen können, gehört nicht hierher. Die Periode der Genesis der Kunst
bearbeitet Inhalte, die entweder unmittelbar der Gegenwart angehören, oder
- wie z. B. bei den freilich späteren Mythen - von den Menschen als ihre
unmittelbare und sie unmittelbar angehende Vergangenheit empfunden wer¬
den.) Formal, weil das in sich geschlossene System von Widerspiegelungs¬
bildern, geordnet gemäß dem Prinzip der Leitung von Evokation der Ge¬
fühle und Gedanken, gerade in seiner Geschlossenheit nur dann seinen Zweck
erfüllen kann, wenn die evozierten Gedanken und Gefühle aus dem für
das mimetische Gebilde »gegebenen« Inhalt entspringen, der Zielsetzung,
die in diesem Gegebensein mitenthalten ist, entsprechen. Mag sich diese in¬
haltliche wie formale Gebundenheit der späteren, selbständig gewordenen
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 427
deren Vorhandensein also auch auf der niedrigsten Stufe bis zu einem gewis¬
sen Grad vorausgesetzt werden muß. Wollen wir nun von den bisher er¬
kannten objektiven Wesenszeichen der mimetischen Gebilde Rückschlüsse auf
das ästhetische Verhalten ihrer Hervorbringer ziehen, so müssen wir erneut
an die Leitung der Evokation und des Komponierens der objektiven Be¬
standteile, sowie an den bereits untersuchten Wirkungsgegensatz zwischen
der Realität selbst und ihrer auf Evokation angelegten Widerspiegelung er¬
innern.
Scheinbar kompliziert sich die Frage dadurch, daß wir zuerst unmittelbar
vom Menschen als Vollbringer der Widerspiegelung mit Hilfe seiner Bewe¬
gungen, Gebärden, Stimme etc. sprechen müssen, nicht über Gebilde, in denen
die Widerspiegelung sich vom Menschen selbst abgelöst und sich zu einem
eigengesetzlichen Formsystem objektiviert hat, wie in der Malerei, in der
Plastik, in der Wortkunst, die jedoch größtenteils sicher Produkte einer
höheren Entwicklungsphase sind, als vor allem der Tanz, der freilich da¬
mals auch noch die Keime der späteren Schauspielkunst in sich enthielt.
Es ist aber nicht allzuschwer einzusehen, daß es sich auch in diesem Fall nicht
um die Wirklichkeit selbst, sondern um ihre Widerspiegelung handelt. Das
ist nun sowohl objektiv wie demzufolge im subjektiven Verhalten des Schaf¬
fenden und des Rezeptiven in Tanz, Schauspielkunst, etc. der Fall. Daß
der Tänzer oder der Schauspieler sich keinen Augenblick für Romeo oder
Othello hält, sondern dessen bewußt ist, daß er diese Figuren spielt, bedarf
wohl keiner ausführlichen Erörterung: wenn wir zu sagen pflegen, daß er
sich mit diesen Gestalten »identifiziert«, so meinen wir, wie später ausführ¬
licher zu zeigen sein wird, eine maximale Annäherung an die Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit, nicht aber, daß er etwa meinen würde, Desdemona
wirklich zu töten, wirklich Selbstmord zu begehen etc. Ebenso klar ist
die Lage beim Rezeptiven. Die Differenz zwischen dem Leben selbst
und seiner bloßen Widerspiegelung drückt sich gerade in dem bei diesem
notwendig entstehenden wesentlich kontemplativen Verhalten aus. Die
Widerspiegelung der Wirklichkeit zwingt den Menschen auch im Leben
selbst temporär, zuweilen auf lange Strecken, ein kontemplatives Ver¬
halten auf: will er nämlich sich in der Welt auskennen - und dies muß
er erstreben, um richtig handeln zu können -, so muß er trachten, die
objektiven Tatsachen so unverfälscht wie möglich in sich aufzunehmen,
ihre Widerspiegelungen, so wie sie objektiv sind, möglichst treu zu apper-
zipieren. Dieses Verhalten wird jedoch im Leben ununterbrochen durch
die Notwendigkeit des sofortigen aktiven Eingreifens geändert; besser
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 429
die Katharsis, auf welche wir im späteren Ablauf dieser Betrachtungen noch
zurückkommen werden.
Worin besteht also der ästhetische Charakter, oder sagen wir vorsichtiger,
der ästhetische Wesenszug in diesen Verhaltensarten? Es ist naheliegend und
taucht im Laufe der Ausbildung des ästhetischen Bewußtseins wiederholt
auf: da die mimetischen Gebilde vor allem Gefühle, Leidenschaften etc.
zu evozieren berufen sind, muß jener, der sie direkt (im Tanz, Schau¬
spiel) oder indirekt (Dichtung, bildende Kunst etc.) hervorrufen will, diese
Gefühle und Leidenschaften denkbar intensiv erleben; die Echtheit und
Tiefe seiner Leidenschaft wird sich dann auf den Rezeptiven entsprechend
übertragen. Als Paradigma einer solchen Auffassung führen wir ein sehr
spätes Beispiel an. Matthias Claudius sagt:
So direkt geht jedoch die Übertragung der Gefühle von Mensch zu Mensch
nicht einmal in der Alltagswirklichkeit vor sich. Sie spielt zwar hier oft
eine wichtige Rolle, es gehören jedoch besonders fördernde Umstände und
Mängel an hemmenden dazu, um solche direkte Gefühlskontakte zu be¬
werkstelligen. Die Direktheit muß in den rezeptiven Beziehungen zu den
Widerspiegelungsbildern schon darum fehlen, weil die Art der Reaktion auf
das vom Leben erweckte echte Gefühl eine völlig andere ist. Im Leben
(normalerweise) unmittelbares Mitempfinden, stets - wenn es echt ist - ver¬
bunden mit dem Drang des Helfens und Eingreifenwollens; dem mimetischen
Gebilde gegenüber ein eigenartiges Lustgefühl, worin die Einsicht in Lebens¬
zusammenhänge, die Erweiterung des Lebenshorizontes, die Vertiefung der
intensiven Welt- und Menschenkenntnis etc. den ausschlaggebenden Inhalt
bilden. Also schon Inhalt und Richtung der ausgelösten Gefühle ist wesent¬
lich anders als im Leben selbst; die bereits angeführte tiefe Feststellung von
Aristoteles, daß in der Kunst auch das Lustgefühl erregen kann, was im Leben
nur mit Unlust verbunden ist, bewahrheitet sich hier wieder mit allen ihren
weitverzweigten Folgen. Obwohl die mimetischen Gebilde die Gefühle und
Leidenschaften des Lebens, sowie ihre Erreger wiedergeben, ist ihre Er¬
weckungsfunktion eine wesentlich andere.
Darum kann die direkte Übertragung der Gefühle beim Hervorbringen der
evokativen Widerspiegelungen keineswegs die Grundlage des produktiven
Verhaltens bilden. Neben den bereits angeführten Umständen schon darum
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 43i
1 Lukian: Von der Tanzkunst, zitiert nach der Ausgabe seiner Werke, München-
Leipzig 1911, Band iy. S. 103 und S. 121.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 433
das auf diese Weise Errungene wird sich je nach den konkreten historischen
Bedürfnissen und Möglichkeiten allmählich festsetzen. Daraus ist vor allem
ersichtlich, daß eine bloße Spontaneität für diese Zwecke nicht ausreicht.
Gerade die magische Mimesis, schon weil sie den Charakter des Zauberns, des
Ritus, der Zeremonie hat, kann sich unmöglich, wenigstens auf die Dauer,
ganz auf die momentanen Eingebungen der aktiv Beteiligten verlassen. Sie
muß zumindest die wichtigsten Knotenpunkte, Momente, Übergänge etc.
der mimetischen Gebilde im voraus fixieren, muß den Akteuren mehr oder we¬
niger genau vorschreiben, welche Gefühle, in welcher Reihenfolge, mit wel¬
chen Steigerungen oder Retardationen etc. sie zu erwecken haben. Mögen also
vielleicht in allerersten Anfängen solcher Tänze spontan »naturalistisch« (im
Sinne des Nichteinstudierten, des Improvisierten) gewesen sein, dieser ihr
Charakter konnte sich gerade wegen der magischen Zwecke und der aus ihnen
folgenden Vorschriften unmöglich lange halten. Es ist nun wieder äußerst
interessant, daß sich dabei, vom Wesen der Sache diktiert, gerade ein Ver¬
halten durchsetzen muß, das für die ästhetisdie Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit eine zentrale Bedeutung hat. Es handelt sich um das Verhalten, durch
welches die objektive Wirklichkeit, die innere Welt des Menschen und deren
sinnliche Erscheinungsweise wahrheitsgetreu gespiegelt und zugleich - un¬
abtrennbar von der Wahrhaftigkeit der Widerspiegelung - auf ein Maxi¬
mum der evokativen Kraft versinnfälligt wird.
Daß darin das Wesen des schöpferischen Verhaltens in der Kunst liegt, ist
von der ästhetischen Theorie nicht oft klar ausgesprochen worden, um so
mehr wird es durch die Analyse der Werke selbst bestätigt. Das Hindernis
der klaren Erkenntnis dieses Zusammenhangs liegt in der engen Verbunden¬
heit des ästhetischen Verhaltens mit der Determination von außen, mit dem
sozialen Auftrag, den das Werk und dessen Schöpfer jeweils zu erfüllen
hat. Wir haben ja gesehen, daß die ganze Struktur des sozialen Auftrags in
der Beziehung der magischen Zwecksetzung und ihrer Verwirklichung in den
mimetischen Gebilden seine Urform hat. Ist, was jahrhunderte-, jahrtau¬
sendelang der Fall ist, der soziale Auftrag für den Schaffenden eine gesell¬
schaftlich-menschliche Selbstverständlichkeit, so entsteht keinerlei Bedürfnis,
das ästhetische Verhalten einer Analyse zu unterwerfen; die Reflexion richtet
sich fast ausschließlich darauf, wie der soziale Auftrag am allerbesten erfüllt
werden könne. Ist dagegen, was besonders im 19. und 20. Jahrhundert schroff
hervortritt, die unmittelbare Beziehung zwischen Individuum und Gesell¬
schaft stark aufgelockert (was die objektiven Determinierungen keines¬
wegs aufhebt), so setzt sich der soziale Auftrag bei den Schaffenden nur auf
434 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
1 Wenn wir hier von Verzerrung der Probleme sprechen, so meinen wir dies bezüg¬
lich der objektiven Wesensart des künstlerischen Verhaltens, also vom Standpunkt
einer wissenschaftlichen Ästhetik. Die tiefe diditerische Wahrheit der Auffassung
des Künstlers bei Thomas Mann, als Problem des Menschen in der kapitalistischen
Gesellschaft wird dadurch nicht berührt. Vgl. mein Buch: Thomas Mann, Berlin
19575 jetzt in Werke Band 7: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 435
1 Diderot: Paradoxe sur le comedien, GEuvres compl. £d. Assezat, VIII, S. 375.
436 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
werden sie an der glänzen, die sie am Vorabend verfehlt haben. Dagegen
wird der Schauspieler, der aus Reflexion spielt, aus Studium der menschlichen
Natur, in beständiger Nachahmung irgendeines idealen Musters, aus der
Einbildung, aus dem Gedächtnis einer sein, derselbe bei allen Vorstellungen,
immer gleich vollkommen. Alles ist in seinem Kopfe gemessen, kombiniert,
gelernt, geordnet. In seiner Deklamation ist weder Monotonie noch Dis¬
sonanz. Die Wärme hat Steigerung, Elan, Nachlässe, Anfang, Mitte und
äußersten Grad. Es sind die nämlichen Akzente, die nämlichen Positionen,
die nämlichen Bewegungen; wenn von einer Vorstellung zur anderen ein Un¬
terschied ist, so geschieht das meist zugunsten der letzten. Er wird nicht ver¬
änderlich sein; er ist ein Spiegel, der immer bereit ist, die Gegenstände zu
zeigen, und sie mit derselben Genauigkeit, derselben Stärke und derselben
Wahrheit zu zeigen. So wie der Poet, wird er unaufhörlich im unergründ¬
lichen Schoße der Natur schöpfen; während er bald das Ende seines eigenen
Reichtums gesehen hätte 1.«
Besonders zu betonen sind die abschließenden Darlegungen Diderots. Er geht
freilich vom spezifischen Problem der Schauspielkunst aus: von der Notwen¬
digkeit, bei jeder Aufführung denselben Effekt (oder einen immer besseren) zu
erzielen und die Wirkung nicht zufälligen Stimmungen zu überlassen. In¬
dem er jedoch das künstlerische Fixieren der maximal wahren und evokati-
ven Widerspiegelung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, zeigt
er, daß beim besonderen und paradoxen Problem der Kunst des Schauspie¬
lers das allgemeine Problem der künstlerischen Widerspiegelung zur Geltung
gelangt: eine am besten annähernde, also - relativ - endgültige ästhetische
Form für die Widerspiegelung zu erringen. Diderot sagt ausdrücklich: »Und
warum sollte der Akteur sich vom Poeten, vom Maler, vom Redner, vom
Musiker unterscheiden 2?« Die Paradoxie der Schauspielkunst besteht also
nur darin, daß Medium und Material dieser Formung der Mensch selbst ist,
und nicht etwas von ihm schon unmittelbar gegenständlich Abgehobenes, Ob¬
jektiviertes, wie in der Poesie, in den bildenden Künsten, in der Musik. Ja
seine Verallgemeinerung - gerade in bezug auf unser gegenwärtiges Problem
- geht noch weiter. Der Gegensatz von bloßer Spontaneität der Gefühle
und Leidenschaften und ihrer wahrheitsgetreuen künstlerischen Widerspiege¬
lung erscheint bei ihm als der zweier entgegengesetzter Verhaltensarten:
1 Ebd. S. 365 f.
2 Ebd. S. 367.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 437
»In der großen Komödie, der Komödie der Welt, wohin ich immer zurück¬
kehre, haben alle heißen Seelen das Theater besetzt; alle genialen Menschen
sind im Parterre. Die ersten nennen sich Narren; die zweiten, die sich damit
befassen, ihre Narrheiten nachzubilden, nennen sich Weise . .. 1« Daß also,
was das schlechte Gewissen der spätbürgerlichen Künstler begründet, was bei
ihnen als Entfernung vom Leben, als Ausgestoßensein vom Leben erscheint,
ist bei Diderot das »Natürliche«, weil gesellschaftlich richtig fundierte Ver¬
halten des Künstlers zum Leben und zu seiner Widerspiegelung in der Kunst.
Indem Diderot schon in einer Zeit lebte, in der die naive Selbstverständlich¬
keit der Beziehung zwischen sozialem Auftrag und seiner künstlerischen
Erfüllung bereits zu reißen begann, die jedoch den echten Künstlern und
Kunstdenkern eine ganz deutlich umschriebene Aufgabe im Kampf um den
Fortschritt, um die Befreiung der Menschen zuwies, konnte er diese Wesens¬
art des schöpferischen Verhaltens in der ästhetischen Widerspiegelung so ob¬
jektiv, richtig, und unsentimental beschreiben: »Die großen Poeten, die dra¬
matischen zumal, sind beständige Zuschauer dessen, was um sie her in der
physischen und moralischen Welt sich ereignet. . . Sie erraffen alles, was sie
überrascht und sammeln es. Aus diesen Sammlungen, die ohne ihr Wissen
in ihnen zustande gekommen sind, gehen so viele seltene Phänomene in ihre
Werke. Die heißen, heftigen, sensiblen Menschen sind auf der Szene; sie ge¬
währen das Spektakel, aber sie genießen es nicht. Nach ihnen macht der
geniale Mensch seine Kopie2.« Damit wird zugleich eine jede Theorie der
direkten Gefühlsübertragung für die Kunst und für das künstlerische Ver¬
halten gedanklich vernichtet, die große Sensibilität an die ihr zukommende
Stelle - auch im Leben - gerückt; sie ist, sagt Diderot »nicht die Eigen¬
schaft eines großen Genies 3«. Jedenfalls nicht dessen für die Kunst entschei¬
dender Charakterzug: Shakespeares Größe ist nicht durch das »echte« Wei¬
nen, sondern durch die wahre, umfassende und tiefe Widerspiegelung des
Weinens bestimmt.
Wir mußten wieder einen weiten Exkurs ins Gebiet der hochentwickelten
Stufen machen, um jene »Anatomie des Menschen« zu erhalten, die geeignet
ist, die Anfangsstadien zu erhellen. Diderot analysiert natürlich das künst¬
lerische Verhalten bereits auf einer entfalteten und äußerst differen-
1 Ebd. S. 368.
2 Ebd. S. 367 f.
3 Ebd. S. 368.
438 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
zierten Stufe. Die Bestimmungen jedoch, die als Ergebnis dieser Untersuchung
klar zum Vorschein kommen, betreffen die allerallgemeinste Verhaltensart
im Hervorbringen einer jeden evokativen Widerspiegelung: ihre Indirekt¬
heit, ihre Distanz vom Leben selbst, um auf diese Weise im Rezeptiven das
Erlebnis der intensiven Totalität der Wirklichkeit zu erwecken. Das Fixie¬
ren des Widerspiegelungsbildes gerade auf jener qualitativen Höhe, die den
größten Reichtum in konzentriertester Form zusammenfaßt und darum eine
solche Wirkung zu garantieren imstande ist, ist die objektive Grundlage die¬
ses Verhaltens, mögen seine Äußerungsweisen noch so primitiv oder noch
so kompliziert sein. Wir haben bereits angedeutet, daß die magisdie Deter¬
mination »von außen« notwendig ein derartiges Fixieren durchsetzen muß,
und zwar je stärker sie die mimetischen Gebilde als rituelle, als Zauberformen
etc. faßt, desto entschiedener. Wenn wir die Genesis des Ästhetischen in einer
rein spontanen Volkskunst suchen würden, so wäre gerade das Herauswach-
sen des künstlerisch bewußten Verhaltens aus einer solchen Spontaneität völ¬
lig rätselhaft. Gerade weil die Ablösung des künstlerischen Verhaltens aus
der spontanen Gefühlswelt des Alltags nicht von der Kunst selbst ausgeht,
sondern ihr gegenüber »von außen«, infolge der Bedürfnisse der Magie er¬
folgt, kann sich dieses Verhalten - bis zu einem gewissen Grade - in die¬
sem Rahmen entfalten, so bestimmt, vielfältig, umfassend, reich und tief
werden, daß es sich später der Magie (und der Religion) gegenüber auf eigene
Füße zu stellen vermag, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, nunmehr ohne
diesen Halt in die alltägliche, künstlerisch angesehen formlose Spontaneität
zurückzufallen. In dieser Hinsicht, im Herausbilden des ästhetischen Verhal¬
tens, das selbstredend für eine unendlich lange scheinende Zeit seiner selbst
nicht bewußt werden kann, zeigt sich ganz deutlich, wie die subjektiven und
objektiven Bestimmungen des Ästhetischen ihren Ursprung im magischen
Zeitalter haben.
Das determinierende Prinzip ist der Inhalt. Die künstlerische Form entsteht
als das Mittel, einen gesellschaftlich notwendigen Inhalt so auszudrücken, daß
eine, ebenfalls ein gesellschaftliches Bedürfnis bildende, konkrete und allge¬
meine evokative Wirkung entstehe. Es ist dabei ganz gleichgültig, daß dieser
Inhalt, daß dieses Bedürfnis objektiv betrachtet weitgehend phantasmago-
rischen Charakters ist. Unter den damals gegebenen gesellschaftlichen Um¬
ständen handelte es sich um reale soziale Bedürfnisse, die in diesen Formen
durch die Entstehung und Ausbildung dieser Formen eine reale Erfüllung
erhalten konnten. Inwiefern die so erwachsenen Widerspiegelungs- und Aus¬
drucksformen bereits viele der wichtigsten ästhetischen Kategorien unter
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 439
einer magischen Hülle enthalten, haben wir gezeigt. Und es folgt mit einer
gewissen Notwendigkeit aus der Inhalt-Form-Beziehung in der Ästhetik,
daß, solange die gesellschaftliche Entwicklung keine neue inhaltliche Proble¬
matik zustande bringt, solange die magischen Inhalte eine soziale Alleinherr¬
schaft ausüben können, auch formal von einem Scheiden der Wege nicht die
Rede sein kann. Erst wenn - worüber sogleich die Rede sein wird - gesell¬
schaftlich neue Inhalte entstehen, die in der magischen »Weltanschauung«
keinen Platz haben, oder ihr sogar widersprechen, beginnt die reale Tren¬
nung, das Abreißen der magischen Hüllen.
Es ist also aus der Analyse der wesentlichen Tatsachen klar ersichtlich, daß
die Ablösung hier einen ganz anderen Charakter haben muß, als in der Wis¬
senschaft. Gordon Childe besteht mit Recht darauf, daß die Wissenschaft sich
unmöglich direkt aus Magie oder Religion entwickeln konnte. Sie entstand
aus der Arbeit, aus dem Handwerk, wie Gordon Childe sagt und war ur¬
sprünglich identisch mit den rein praktischen Handwerksweisen 1. Seine Be¬
schreibungen neolithischer Zustände geben darüber ein deutliches Bild. Er
lehnt den Ausdruck »neolithische Wissenschaft« ab und will nur »Wissens-
Schätze« dieser Zeit anerkennen, Kenntnisse aus der Chemie in der Töpferei,
aus der Botanik in der Landwirtschaft usw., bei welchen die handhabenden
Frauen »kaum zwischen dem wesentlichen Gehalt und dem zufälligen Bei¬
werk unterschieden haben2«.
Daraus folgt naturgemäß, daß eine solche Verfahrensweise sich unmöglich so¬
gleich von dem damals allgemein und unbestritten herrschenden magischen
Vorstellungskreis loslösen konnte. Die entstehende ideologische Einheit ist
jedoch kein wechselseitiges Einanderdurchdringen zweier Strömungen, son¬
dern bloß ein gesellschaftlich bedingtes noch untrennbares Nebeneinander.
Gordon Childe setzt die von uns angeführten Betrachtungen so fort: »Die
praktisch technischen Gebrauchsanweisungen der Barbaren waren ganz be¬
stimmt unentwirrbar verknüpft mit einer Menge sinnloser Zauberformeln.
Selbst die intelligenten und hochzivilisierten Griechen glaubten an einen
bösen Geist, der die Töpfe beim Brennen zerspringen ließ, weswegen sie am
Brennofen ein abscheuliches Gorgonenbild anbrachten, um ihn zu verscheu¬
chen3.« Es ist hier zugleich sichtbar, wie dieses Nebeneinander sich dahin
1 Gordon Childe: Man, Makes Himself, S. 209, über Mathematik, ebd. S. 218.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 441
natürlich ein Grenzfall. Sicher entsteht sehr oft eine einfache Säkularisation
der in der magischen Periode ausgebildeten Formen; ein großer Teil dessen,
was uns als Volkskunst überliefert ist, hat einen solchen Charakter. Am häu¬
figsten wird die Lage entstehen, daß die die Magie ablösenden religiösen
Ideologien, die unter magischen Bedingungen entstandenen künstlerischen
Ausdrucksmittel für ihre eigenen Zwecke in Anspruch nehmen. Scheinbar än¬
dert sich dadurch nichts Wesentliches an der gesellschaftlichen Stelle und
Funktion der Kunst. Aber doch nur scheinbar, denn es ist nicht dasselbe, ob
die Kunst der mit selbstverständlicher Zwangsläufigkeit herrsdienden alten
Weltauffassung dient oder ob sie von einer entstehenden und mit der alten
kämpfenden als Verbündeter in Anspruch genommen wird. Unzweifelhaft
entsteht im letzteren Fall eine gewisse Lockerung, ein bestimmter Spielraum
für Selbständigkeitsbestrebungen des Ästhetischen. Und selbst wenn nach dem
Sieg der neuen Ideologie diese ebenfalls erstarrt, ebenfalls rigide Vorschrif¬
ten dem Inhalt und der Form der Kunst gegenüber einführt: den ursprüng¬
lichen Zustand der naturwüchsig-unbestrittenen Herrschaft der magischen
Ideologie kann sie schwer vollständig wieder durchsetzen. Uber die hier auf¬
tauchenden Probleme werden wir im letzten Kapitel dieses Teiles ausführ¬
lich sprechen. Hier kam es nur darauf an, die prinzipiellen, philosophisch
relevanten Unterschiede zwischen Selbständigwerden von Wissenschaft und
Kunst klar herauszustellen.
442
Sechstes Kapitel
die sich wandelnden Umstände ihrer Auslösung, audi wenn dieser Wandel
nur als Änderung des Tempos, der Reihenfolge vorhanden ist, untersucht. Das
Resultat wird bei ihm so zusammengefaßt: »Das unterstreicht und bestä¬
tigt . . . die Theorie, daß die Beweglichkeit der Nervenprozesse eine selb¬
ständige und primäre Besonderheit der Nerventätigkeit istL«
Es ist nun ohne weiteres klar, daß zu den wichtigen Unterscheidungsmerk¬
malen zwischen Mensch und Tier gerade das ins Qualitative Umschlagen einer
Steigerung der Beweglichkeit gehören muß, schon weil selbst sehr primitive Le¬
bensumstände bei jenem eine sofortige Anpassung an viel rascher sich ändernde
Lebenszustände mit weit größerer Variation der neuen Inhalte und Formen
notwendig machen als bei diesem. Es sei hier nur beiläufig bemerkt, daß in
Pawlows Experimenten, wie dies bei exakten Tierversuchen gar nicht anders
sein kann, die Erreger der Reflexe nicht aus ihrem normalen Lebenskreis ge¬
nommen sind. Die Beweglichkeit müßte unter solchen Bedingungen, z. B. beim
Jagdhund auf der Jagd, in der Beziehung des Pferdes zum Reiter, größer
sein, als bei Experimenten mit Metronom, Knarre etc. Dieser Unterschied
muß darum hervorgehoben werden, weil überall in diesen Untersuchungen
von solchen menschlichen Reflexen die Rede ist, die aus dem Leben selbst ent¬
springen, aus den Wechselbeziehungen der persönlichen Tätigkeit - Arbeit
etc. - zu jenen Naturobjekten, -umständen, technischen Verrichtungen, ge¬
sellschaftlichen Beziehungen etc., die mit jener normalerweise verknüpft sind.
Diese Grundlage ist natürlich auch bei den von uns ausgeführten Tierbeispie¬
len nicht vorhanden; bei ihnen bestimmt der Mensch den Spielraum der ent¬
stehenden bedingten Reflexe für die Tiere, während es sich bei ihm selbst
- parallel mit der Entstehung der Zivilisation - um einen immer stärker
selbstgeschaffenen Spielraum handelt; wenn man Jagd, Landbau, Handwerk
von diesem Standpunkt aus miteinander vergleicht, so zeigt sich sofort die
qualitativ zunehmende Bedeutung des Selbstgeschaffenen im Spielraum der
geforderten Anpassung.
Das bedeutet kein Übergewicht des Subjektiven, denn die Eigenschaft des
Werkzeugs, des zu bearbeitenden Materials, die gesellschaftlich entstehenden
Beziehungen zwischen den Menschen etc. sind dem persönlichen Bewußtsein
gegenüber ebenso eine objektive, von ihm unabhängig existierende Außen¬
welt, wie der Wald und seine Tierwelt für den Jäger. Der Unterschied
ist aber doch gewaltig, indem die Proportionen der selbstgeschaffenen
Wenn wir nun auf dieser Grundlage die im vorhergehenden Kapitel analy¬
sierte Distanz des Menschen zu sich selbst, zu seinen eigenen Bewegungen, zu
ihrer Aufeinander- und Auseinanderfolge im magischen Tanz näher betrach¬
ten, so sehen wir die hier herangezogenen Merkmale des menschlichen Reak¬
tionssystems auf die Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grad mitenthalten,
wenngleich mit wesentlichen Modifikationen. Diese bringen eine doppelte
noch das Problem der Schöpfung einer eigenen Welt im ästhetischen Gebilde,
in welcher Frage, wie wir sehen werden, beide Momente: die Qualität der
Eigenheit wie das Entstehen einer »Welt« - im Gegensatz zur bereits behan¬
delten Weltlosigkeit der Ornamentik - gleich wichtig sind. Obwohl die Aus¬
bildung einer »Welt« im ästhetischen Sinne ein langer Prozeß ist - und alle
Kennzeichen, die sie bestimmen, können wir erst jetzt ausführlich behan¬
deln muß schon hier festgestellt werden, daß der primitivste Tanz bereits
auf ein »Weltschaffen« gerichtet ist, während das vollendetste Ornament
seinem Wesen nach, dieses Vollendetsein nicht aufhebend, sondern bestätigend,
prinzipiell weltlos sein muß.
Es ist also selbstverständlich, daß die nächste, höhere Etappe in der Richtung
auf das Entstehen einer eigenen Welt im ästhetischen Sinne die Loslösung der
ästhetischen Gebilde von der körperlichen Aktivität und vom unmittelbaren
Beteiligtsein des Menschen selbst ist, ihre Verwandlung in ein wahrhaft selb¬
ständiges Gebilde, das dem Menschen als ein auf sich selbst gestelltes An¬
sich gegenübersteht. Das ist ein sehr langwieriger, vielfach verschlungener,
komplizierter und prinzipiell nie ganz vollziehbarer Prozeß. Schon darum,
weil es auch bei vollkommener Loslösung doch Künste gibt, und geben muß,
bei denen diese Trennung prinzipiell nicht stattfinden kann: der Tanz selbst
und die Schauspielkunst. Andererseits wird in der Entwicklung dieser
Künste deutlich, daß sie ihre zentrale Bedeutung, die sie in der Genesis
der Kunst besaßen, immer mehr verlieren. Beim Tanz ist evident, daß
er immer stärker von anderen Künsten in bezug auf das Weltschaffen
notwendig überholt und aus der anfangs eingenommenen Zentralstelle in
der ästhetischen Betätigung der Menschheit verdrängt werden muß. (Es liegt
im später noch detaillierter darzulegenden Wesen des Ästhetischen, daß der
Tanz damit als Kunst keineswegs verschwindet, sondern eine vollendete
Kunst bleiben kann.) Komplizierter ist die Lage für die Schauspielkunst.
Zweifellos rückt mit der Entwicklung der Wortkunst der unmittelbare Vor¬
trag durch die menschliche Stimme und Gebärde immer stärker in den Hinter¬
grund. Für Lyrik und Epik hat er praktisch schon jede direkte Bedeutung ver¬
loren, und auch für das Drama ist die Lostrennung vom Aufgeführtwerden,
die Wirkung durch bloße Lektüre immer dominierender geworden. Es wäre
natürlich eine gefährliche und falsche Vereinfachung, ja eine Verzerrung der
wahren Tatbestände, anzunehmen, es habe hier eine radikale Trennung statt¬
gefunden. Das ist selbst bei Lyrik und Epik nicht der Fall. Allerdings hat
das wirkliche Vorlesen, Vortragen von Werken als praktische Vermittlung so
gut wie völlig aufgehört. Die Vorlesbarkeit, die Möglichkeit einer auditiven
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 447
Wirkung durch die menschliche Stimme ist dennoch als Kriterium für
Rhythmus und innere Gliederung etc. in Geltung geblieben. Obgleich die
Theateraufführung längst nicht mehr die Bedeutung hat wie in der Antike
oder in Shakespeares Zeiten, so ist die Aufführbarkeit, ciie Steigerung der
Effekte bei der Transformation ins Szenisdre noch entsdiiedener das Krite¬
rium der dramatischen Gestaltung geblieben als bei Lyrik und Epik. Der Auf¬
bau der einzelnen Szenen, ihr künstlerisches Verhältnis zueinander, sowie
Steigerung, Retardation, Aufgipfelung etc. werden bei der Lektüre auch als
phantasiehafte Vorwegnahme einer idealen Aufführung apperzipiert.
Diese Beziehungen, der Wechsel und die Remanenz in ihnen, haben eine prin¬
zipielle Bedeutung für Genesis und Entfaltung des ästhetischen Prinzips. Es
spielt sich fast überall - freilich keineswegs gleichmäßig - ein Prozeß des
Sich-Entfernens von der unmittelbaren Wahrnehmung und ihrer überwie¬
gend physiologischen Determination ab. Die Bewegung in einer solchen
Richtung ist für die Konstituierung des ästhetischen Prinzips, insbesondere
für die Ausbildung der Welthaftigkeit der künstlerischen Gebilde sehr wich¬
tig. Immer stärker umfaßt die Kunstgestaltung - quantitativ wie qualitativ -
Inhalte, die für ihre Anfänge unerreichbar gewesen wären. Sie wird da¬
durch immer umfassender im Sinne des Widerspiegelns der Totalität der Be¬
stimmungen, und zwar sowohl als Intensivierung ihrer inneren Wesensart,
wie als Ausdehnung des Bereichs der für die ästhetische Widerspiegelung re¬
levanten und ausdrückbaren Bestimmungen. Nach dem bisher Ausgeführten
versteht sich bereits von selbst, daß eine derartige extensive wie intensive
Bereicherung des ästhetischen Gehalts zwangsläufig eine Verfeinerung der
Formen, eine Ausbreitung ihres Geltungskreises, eine Vertiefung ihres Auf¬
treffens auf die Wirklichkeit zur Folge hat. Ohne diesen Aspekt kann die tat¬
sächlich stattgefundene künstlerische Entwicklung kunstphilosophisch nicht
begriffen werden. Dies ist aber nur eine Seite. Die Loslösung von der ur¬
sprünglich überwiegenden physiologischen Bedingtheit bedeutet keinen voll¬
ständigen Bruch mit ihr. Die gesellschaftliche Entwicklung, das Zurück¬
weichen der Naturschranke im geistig-seelischen Leben des Menschen selbst,
basiert unaufhebbar auf diesen Bedingtheiten. Man kann nicht einmal sagen
- wozu romantische Kritiker der späten Zivilisationen neigen -, daß diese
naturhaft-sinnliche Komponente im Abnehmen begriffen ist. Weit eher trifft
es zu, daß das Gebiet des vom Menschen im Leben und in der Kunst Er¬
fahrenen im Vergleich zu den Anfängen so gewaltig geworden ist, daß der
Anteil des Ursprünglichen in dieser Totalität geringer wird, selbst wenn er für
sich genommen an Intensität zunimmt.
448
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Sicher ließen sich ähnliche Tendenzen auch in der Geschichte der Musik auf¬
zeigen, jedoch ihrem Wesen entsprechend mit völlig verschiedenen Pro¬
blemen und Entwicklungstendenzen. Am deutlichsten und prägnantesten
äußert sich diese Tendenz in den bildenden Künsten, deren Entstehung ja von
vornherein die hier geschilderte Loslösung voraussetzt. Denn in Malerei und
Plastik entstehen zuerst und in reinster Form mimetische Gebilde, für welche
der Mensch selbst nur als Schöpfer figuriert, ohne in der von ihm gestalteten
Welt der Widerspiegelung anders vorzukommen denn als - eventuelles -
Objekt der künstlerischen Reproduktion der objektiven Wirklichkeit. Hier
ist also die oben analysierte Ablösung vom unmittelbar gegebenen Menschen,
dessen Selbstobjektivation in der Widerspiegelung, die in manchen Künsten
nur bis zu einer inneren Distanzierung des Menschen von sich selbst gedeihen
kann, von vornherein, uno actu mit der Entstehung von Werken überhaupt
vorhanden. Wenn im Geräteornament eine Bindung an das für praktische
Zwecke nützliche Werkzeug etc. unaufhebbar da ist, so ist diese anderen Cha¬
rakters. In ihm kann die Mimesis sich nie zur Würde einer eigenen Welt er¬
heben. Der Charakter der weltlosen Ornamentik ist hier so aus dem Wesen
der Sache selbst heraus gesetzt, daß auch dort, wo die ursprüngliche Intention
vorwiegend mimetischen Charakters war, wie bei den Jägern der Altsteinzeit,
die Wirkung sehr oft mehr die eines unvollständig gelungenen Ornaments, als
einer einseitig-ausschließlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit ist (sehr im
Gegensatz zur Malerei dieser Periode, auf welche wir bald zu sprechen kom¬
men werden). Es ist eine hohe Entwicklungsstufe der gesamten Kunst not¬
wendig, damit mimetisch-realistische Motive zu organischen Elementen einer
Ornamentik werden, wie in Rom. Bilder oder Statuen - natürlich letzten
Endes ebenso Werke der Wortkunst oder der Musik - lassen eine dem Men¬
schen gegenüberstehende, selbständige, wenngleich vom Menschen geschaffene
Welt entstehen, eine autonome »Wirklichkeit«, die das ganze Gedanken- und
Gefühlsleben des Menschen in sich aufnimmt, es erhöht, steigert, vertieft,
intensiviert. Und dies nicht als Nebenprodukt - was immer wieder auch aus
zu anderen Zwecken geschaffenen Gebilden, entstandenen Beziehungen etc.
hervorgebracht werden kann - sondern als ausschließliche Funktion einer
solchen »Wirklichkeit«. Diese »existiert« nur insofern, als sie derartige evo-
kative Wirkungen hervorzubringen vermag; darüber hinaus ist sie ein Stück
Stein oder Holz, das zu nichts brauchbar ist.
Das Ausgeführte betrifft natürlich bloß den objektiven Sinn des von uns
analysierten Prozesses der Genesis. Wir haben wiederholt darauf hingewie¬
sen, daß alle diese ,Gefühle ursprünglich innerhalb eines von der Magie
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 449
1 Scheltema: a. a. O. S. 35.
2 Hoernes: a. a. O. S. ijo.
3 H. Kühn: Eiszeitmalerei, München 1956 S. 10.
4JO Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Evokation enthält zugleich — und ebenso notwendig — das Moment der Zu¬
sammengehörigkeit, wie mannigfache Momente der bloß zufälligen Ver¬
bindung. Diese Zufälligkeit kann sich in verschiedener Weise äußern.
Einerseits sind evokative Effekte möglich, in denen die magischen Inhalte
ein derartiges Übergewicht den ästhetischen Inhalt-Form-Elementen gegen¬
über haben, daß diese in den Gebilden selbst fast oder völlig fehlen. Ein
ungeheures archäologisch-ethnographisches Material zeugt für das reale Vor¬
handensein dieser Möglichkeit. Andererseits - und dies ist der Fall bei
der Höhlenmalerei - kann aus den magischen Anforderungen etwas voll¬
wertig Ästhetisches entstehen, ohne daß dies für die magische Gegenwarts¬
praxis etwas wirklich Wesentliches bedeutet hätte; die künstlerische Höhe der
visuellen Gestaltung war ja hier fast unwahrnehmbar und kam, wie wir ge¬
sehen haben, evokativ gar nicht in Frage.
Diese spezifische Einheit des Notwendigen und Zufälligen in der magisch
produzierten Evokation muß ständig im Auge behalten werden, will man
die Genesis des ästhetischen Prinzips richtig verstehen. Sie erklärt vor allem
die außerordentliche Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung vieler Künste
und Kunstgattungen, sowie dieselbe Tendenz innerhalb eines gleichen Genres.
Hier kann natürlich nur der allgemeinste Grund des Phänomens aufgedeckt
werden; die Spezifikation gehört in den historisch-materialistischen Teil der
Ästhetik. Diese Einheit wirft aber zugleich ein Licht auf die besondere Be¬
ziehung der magisch-inhaltlichen Determination zu den durch ihre Formung
hervorgebrachten ästhetischen Gebilden. Wir haben bei der Behandlung der
Ornamentik sehen können, daß diese ihrem allgemeinsten Charakter nach
allegorisch ist, jedoch in einer ganz eigenartigen Weise. Denn in den
späteren allegorisch-ästhetischen Gebilden hat der transzendente Inhalt
immer einen gewissen - größeren oder kleineren - Einfluß auf die Gestal¬
tungsart jener Gegenstände, die zu ästhetischen Trägern des transzendent¬
allegorischen Sinnes bestimmt werden. In der Ornamentik dagegen ist dieser
Inhalt dem Gestalteten gegenüber derart transzendent, ein derart unabhängig
von jeder Gegenständlichkeit gesetzter Gehalt, daß er, wie wir gesehen
haben, leicht austauschbar wird. Hierdurch ist die Möglichkeit gegeben, daß
die ornamentale Gegenständlichkeit, das ornamentale Beziehungssystem vi¬
suell vollständig verständlich, ästhetisch restlos deutbar bleibt, auch wenn der
allegorische Sinn völlig verloren oder unentwirrbar vieldeutig geworden ist.
Die weitaus stärkere gegenständliche Eindeutigkeit der mimetischen Gebilde,
das weitaus größere Gewicht von realen Widerspiegelungsbildern der Wirk¬
lichkeit in ihnen erschwert in solchen Fällen eine derart reinliche Scheidung
452 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
1 Ebd. S. 282.
2 Ebd. S. 281.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 455
keit, die Tiere (zu Jagdzwecken) scharf und richtig zu beobachten, ein Über¬
gang zur Tierzucht folgen mußte, so daß, wenn dieser nicht eintrat, man die
Tierzucht nur aus magisch-rituellem Verhalten erklären müßte, bleibt ein
Geheimnis Gehlens. Er, ein sonst sehr guter Beobachter, will hier offenbar
nicht zur Kenntnis nehmen, daß die einzelnen menschlichen Fähigkeiten inner¬
halb verschiedener Produktionsweisen sich verschieden entwickeln. Die ein¬
mal erworbene Schärfe der Beobachtungsgabe mag bleiben, sie ist aber auf
andere Gegenstände und Zusammenhänge gerichtet. Das Ende der Eiszeit hat
eben andere Methoden der Nahrungssuche und der Produktion erfordert, die
eine radikale Umstellung aller Fähigkeiten zustande brachte; Einzelergebnisse
mögen z. B. künstlerisch weit hinter derPföhe der Jägerzeit Zurückbleiben; die
Gesamtkultur war jedoch eine prinzipiell entwickeltere. In solchen Zusammen¬
hängen entstanden Landbau und Viehzucht1. Gordon Childe weist auch dar¬
auf hin, daß in gewissen Jägergesellschaften der mittleren Steinzeit der Hund
bereits als Haustier bekannt war; d. h. jene Zähmung, die innerhalb des Hori¬
zontes einer von der Jagd lebenden Mensdhengruppe lag, konnte auch dort ver¬
wirklicht werden 2. Eine qualitative Änderung, wie Tierzucht, hatte eben eine
gründliche Änderung aller Produktionsverhältnisse zur Voraussetzung.
Diese und andere falsche Interpretationen der historischen Zusammenhänge
ändern nidits daran, daß Gehlen in der Bestimmung des Bildwerks als der
höheren - sachlich aufs Ästhetische gerichteten - Objektivationsstufe dem
Tanz gegenüber recht hat. Freilich ist auch der hier vollzogene Übergang
vom Einfacheren zum Entwickelteren keineswegs direkt und geradlinig. Es
ist sogar sehr wahrscheinlich, daß eine große Anzahl der ersten Bildwerke
einen reinen oder überwiegend magischen Nutzcharakter hatte, der sich nur
allmählich dahin differenzierte, daß das mimetische Element, die Konzentra¬
tion auf ein echtes Widerspiegelungsbild der Wirklichkeit, das entscheidende
Übergewicht erhielt. Denn für die imitativen Zwecke der Magie, für ihre
rituellen Manipulationen reicht oft ein kaum andeutendes, gewisse abstrakt
isolierte Züge des Wirklichkeitsvorbilds hervorhebendes Verfahren aus; be¬
sonders wenn es sich, nach Frazers Ausdruck, um Ubertragungsmagie handelt.
Aber auch dort, wo eine Art Nachahmung direkt bezweckt wird, herrscht,
wie wir bereits theoretisch gezeigt haben, ein vielfach von Zufällen bestimm¬
ter Zusammenhang zwischen den magischen Bedürfnissen und den aus ihnen
1 Ebd. S. jo.
2 Hoernes: a. a. O. S. 16z ff.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 457
dies nicht nur ein allmählicher, sondern auch ein sehr ungleichmäßiger Pro¬
zeß, da seine komplizierten Beziehungen bei der Differenziertheit des Her-
austretens aus dem Urkommunismus äußerst verschieden zur Geltung ge¬
langen. Diese Ungleichmäßigkeit erstarkt auch dadurch, daß nicht nur die
gesellschaftlichen Bedürfnisse, die die Determination des Ästhetischen »von
außen« bestimmen, sehr unterschiedlidi sind, sondern ebenso weil die verschie¬
denen Künste, Kunstgattungen etc. auf diese mannigfaltigen Determinations¬
tendenzen sehr verschieden reagieren. Die hierbei entstehenden Entwicklungs¬
möglichkeiten oder -hemmungen auch nur anzudeuten liegt außerhalb des
Rahmens unserer Arbeit. Wie bereits wiederholt hervorgehoben, sind diese
Bedingungen in Hellas am allergünstigsten, gerade wegen der am allerwenig¬
sten theologisch und kastenmäßig fixierten gesellschaftlichen Art der Religion.
Jedenfalls zeigen diese Betrachtungen, daß die Loslösung in den bildenden
Künsten (und natürlidi auch in der Wortkunst) sich auf einem höheren Ni¬
veau abspielt als beim Tanz. Negativ dadurch, daß die Möglichkeit des Nach-
Innen-Wirkens, des Hervorbringens einer orgiastischen Ekstase im Tanzen¬
den selbst, bei diesen Künsten von vorneherein nicht in Frage kommt. In
verschiedener Weise, aber der Grundtendenz nach doch konvergierend,
drängen beide auf ein unmittelbar kontemplatives Verhalten als Wirkung,
was schon das subjektive Korrelat zum Weltschaffen bildet. Positiv dadurch,
daß in ihnen, entfalteter und reicher als im Tanz, der Drang zum Weltschaf¬
fen lebendig wird, wodurch subjektiv Gedanken und Gefühle evoziert wer¬
den, die dem Wesen nach von der Magie unabhängig sein müssen, auch wenn
diese Differenz beim Auftreten und noch lange Zeit nachher als solche nicht
bewußt werden kann. Formal drückt sich dieses Weltschaffen in der inneren
Abgerundetheit und Vollendung des künstlerischen Gebildes aus. Es ist jedoch
ohne weiteres klar, daß ein derartiger formaler Charakter nur der unmittel¬
bare Ausdruck für die gediegene Totalität des Gehalts sein kann, mag
dessen inhaltlicher Umfang noch so eng oder begrenzt erscheinen. Diese
gediegene Totalität des Gehalts macht das Weltmäßige, das in seiner inne¬
ren Komplettheit auf sich selbst Gestellte der Kunstwerke aus. Indessen ist
auch eine vom Gehalt ausgehende Bestimmung noch zu formal, um das
Allerwesentlichste klar zu bezeichnen. Die Gediegenheit hat hier eine dop¬
pelte Bedeutung: eine objektive und eine subjektive. Sie verweist in sub¬
jektiver Hinsicht darauf, daß die dargestellte Welt eine in unaufhebbarer
Weise und ausschließlich auf den Menschen bezogene ist. Die synthetische
Kraft seiner Sinne und deren wachsende Differenziertheit macht solche Wider¬
spiegelungen der Wirklichkeit möglich, in welchen deren objektive Wesens-
458 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
1 Scheltema: a. a. O. S. 72.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 459
1 Ebd. S. 77.
460 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
verschiedener Neigung und kaum eine Figur steht auf der Horizontalen. Ähn¬
liche Freiheiten nahmen sich die Maler der Höhlen Font-de-Gaume, beson¬
ders in der salle des petits bisons, die der Höhle von Niaux u. a. ... Diese
Willkür der Orientierung verstärkt noch den Eindruck, daß man nichts als
einzelne, untereinander in keiner Beziehung stehende Figuren vor sich hat b«
Es gehört zu den tief eingewurzelten ästhetischen Vorurteilen der spätkapita¬
listischen Kunsttheorie, daß sie jedem Realismus gegenüber - den sie zumeist
terminologisch mit dem Naturalismus gleichsetzt - eine mehr oder weniger
offene Verachtung hegt. Das äußert sich auch in bezug auf die Höhlen¬
malerei. Verworn z. B. läßt sie einfach aus einer Spielerei der Mußestun¬
den herauswachsen. »Die Technik des plastischen Knochenschnitzens und
Linienkratzens, wie sie bei der Herstellung der Knochenwerkzeuge und ihrer
Ornamentierung geübt wurde, mußte wie alle Technik zum Spielen heraus¬
fordern und was lag näher, als diejenigen Vorstellungen im Spiel zu ver¬
werten, die das ganze Vorsteilungsleben des paläolitischen Jägers über¬
haupt erfüllten, die Vorstellungen der Jagdsphäre1 2.« Bei genauerer und
vorurteilsfreierer Betrachtung der Lage erscheint diese jedoch viel kompli¬
zierter. Gordon Childe weist nicht bloß auf das hohe technische Niveau dieser
Bilder hin, sondern zeigt in den Funden selbst die deutlichen Spuren auf, die
ein solches handwerkliches Können ermöglicht haben: »von dem Magdalenien-
Fundort Limeuil in der Dordogne besitzen wir geradezu eine Mustersamm¬
lung von Steinplättchen und Kieseln, auf die so etwas wie verkleinerte
Probeskizzen für die Höhlenbilder geritzt sind; einige von ihnen zeigen Kor¬
rekturen, wie von eines Meisters Hand. Die Sammlung kann so etwas wie
lose Blätter aus den Skizzenbüchern einer Künstlerschule darstellen.« Er geht
sogar so weit, daß er hier »das Auftauchen der ersten Spezialisten« in der
Geschichte erblickt, die wegen ihrer für die Gemeinschaft unentbehrlichen
Tätigkeit von den unmittelbaren Produzenten erhalten wurden. Dieser
Nutzen liegt selbstredend im Gebiet der Magie, den man als ebenso wertvoll
betrachtete »wie den Scharfsinn des Fährtensuchers, die Treffsicherheit des
Löwenschützen, und den Mut des Jägers 3«.
Ein solches Berufskünstlertum kann naturgemäß nur auf dem Boden der ge¬
gebenen Formation gedeihen. Nun liegt hier aber zweifellos ein exzeptioneller
1 Hoernes: a. a. O. S. 124 f.
2 Verworn: Die Anfänge der Kunst, Jena 1909, S. 248.
3 Gordon Childe: Stufen der Kultur, a. a. O. S. 51.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 461
Fall vor: eine relativ hohe Kultur auf der Basis des Jagens, Fischens und
Sammelns, also auf einer sehr niedrigen Stufe der ökonomisch-sozialen Ent¬
wicklung. »Aber diese kulturelle Blüte«, sagt Gordon Childe, »dieser Bevöl¬
kerungszuwachs wurde nur ermöglicht durch die Nahrungsversorgung, die
durch die besonderen eiszeitlichen Umweltsbedingungen und eine einseitig auf
deren Ausbeutung zugeschnittene Wirtschaftsweise reichlich gewährleistet
wurde. Mit dem Ende der Eiszeit gingen auch diese Umweltsbedingungen
dahin. Als die Gletscher abschmolzen, rückte der Wald in Tundren und Step¬
pen vor, und die Herden der Mammuts, Renntiere, Wisente und Pferde
wanderten ab oder starben aus. Mit ihrem Verschwinden welkten auch die
Kulturen dahin, die von ihnen gelebt hatten 1.« Daraus erklärt sich sowohl die
Blüte, wie die Unmöglichkeit einer - unmittelbaren - Fortsetzung.
Die vom Standpunkt der Ästhetik einzigartige Wesensart dieser Kunst beruht,
was wir eingangs hervorhoben, auf der zugleich realistischen, die objektive
Wirklichkeit treu, richtig, das Wesentliche hervorhebenden Widerspiege¬
lungsart, die aber dennoch eine weltlose ist. Letztere Bestimmung ist nur in
diesem Konnex der Grund für ihre Unfortsetzbarkeit; die Ornamentik ist,
wie gezeigt wurde, ihrem ästhetischen Wesen nach weltlos. Dennoch ist die¬
ser ihr Charakter geradezu ein Motor für ihre frühe Hochentwicklung; zu¬
gleich aber ein Grund dafür, daß sie in jeder Kultur, die nur gewisse Daseins¬
bedingungen für sie schafft, erhalten bleiben oder sich weiterentfalten kann.
Realismus und Weltlosigkeit sind aber ästhetisch gesehen einander ausschlie¬
ßende Gegensätze: jede Widerspiegelung der Wirklichkeit, die nicht an einer
naturalistisch-unmittelbaren Oberfläche haftenbleibt, die also auf die Repro¬
duktion der intensiven Totalität, der Totalität der wesentlichen, der sinnlich
in Erscheinung tretenden Bestimmungen der Gegenstände gerichtet ist,
schafft - mit oder ohne Absicht - eine Art von Welt. Die Paradoxie in
den Gipfelleistungen der Höhlenmalerei aus der Altsteinzeit besteht darin,
daß die abgebildeten Tiere, als vereinzelte Gegenstände betrachtet, diese
intensive Totalität der Bestimmungen, also eine innere Intention auf Welt-
haftigkeit zu besitzen scheinen, zugleich jedoch vollkommen isoliert, in ihrem
abstrakten Fürsichsein dargestellt werden, als ob ihre Existenz nicht einmal
mit dem sie unmittelbar umgebenden Raum, geschweige denn mit ihrer natür¬
lichen Umwelt in Wechselbeziehungen stünde. Sie stehen also - künstlerisch -
außerhalb einer jeden Welt, ihre Gestaltung ist letzten Endes weltlos.
1 Ebd. S. 54.
462 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Damit ist keine motivische Isolation gemeint. Eine solche kommt in der spä¬
teren Malerei sehr häufig vor, sie ist aber dort eben immer ein bewußt ge¬
wähltes Motiv, wobei die Beziehungen zur Umwelt entweder direkt als
Wechselbeziehungen zur unmittelbaren Umgebung, auch wenn diese bloßer
Hintergrund zu sein scheint, oder indirekt, etwa im Gesichtsausdruck, in den
Gesten etc. eines Porträts zum Ausdruck gelangen. Das alles fehlt in dieser
Malerei noch völlig. Selbst wenn man Kühn recht gibt, daß im späten Mag-
dalenien etwa kämpfende Bisons dargestellt wurden, so handelt es sich
bestenfalls um ein motivisches (ikonographisches) Zusammenkomponieren. In
der künstlerischen Durchführung ist keine Spur einer Mehrfigurenkomposi¬
tion enthalten 1. Und trotzdem kann von keinem bloßen Naturalismus, von
keiner bloß — photographisch — treuen Nachahmung der einzelnen Modelle
die Rede sein. Die Darstellung ist - wir sprechen natürlich immer nur von
den Spitzenleistungen - stets energisch auf das Typische gerichtet und die
naturwahren Details sind der sich daraus ergebenden realistisch-künstleri¬
schen Hierarchie untergeordnet; ihre Naturnähe ist nur ein Vehikel, um diese
Typik visuell, malerisch zum Ausdruck zu bringen.
Wie ist dies möglich? Unsere Art, die Welt visuell aufzunehmen, auf visuelle
Darstellungen der Welt spontan zu reagieren, hat den Zugang zu dieser
Art von »malerischer Weltanschauung« bereits verloren. Und es ist das Zei¬
chen der sich hier offenbarenden großen Kunst, daß sie überhaupt - und
zwar sehr stark - auf uns zu wirken imstande ist. (Dabei ist es höchstwahr¬
scheinlich, daß wir in der Rezeption dieser Werke, auch wenn wir uns ihre
Einzigartigkeit bewußt machen und so erlebend anerkennen, sie - spontan¬
unbewußt - unseren später ausgebildeten Wahrnehmungs- und Einbildungs¬
weisen viel stärker annähern, als dies in der objektiven Intention ihres Ge¬
staltetseins angelegt war.) Jedes abgebildete Tier existiert malerisch in einem
absoluten, isolierten Fürsichsein und vereinigt in sich doch alle Bestimmungen,
die es — objektiv, in der Wirklichkeit — aus den unendlichen Wechselwirkungen
mit seiner Umwelt erworben hat. Es besitzt diese jedoch so, daß ein solcher Be¬
sitz der Bestimmungen mit strikter Ausschließlichkeit auf das isolierte Einzel¬
exemplar zentriert ist und dieses - gerade durch eine derartige inselhafte Ver¬
einzelung — aus der Einzelheit heraushebt, zum Urbild seiner selbst macht.
Wenn wir die Möglichkeit dieses paradoxen Falls gedanklich klären wollen,
so müssen wir vor allem an die niedrige Stufe der materiellen Kultur der
1 Kühn: a. a. O. S. 14.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 463
Entstehungszeit denken. Diese zeigt sich im Alltagsleben des Subjekts so, daß
eine außergewöhnliche, die späteren Kulturen weit übertreffende sinnliche
Beobachtungs- und Fixierungsgabe der Einzelheiten der Umwelt vorhanden
war. Ich erinnere an unsere frühere Feststellung, daß etwa Hirten - einer
freilich späteren Entwicklungsstufe — zwar ihre Herde nicht zu zählen im¬
stande waren, jedoch jedes einzelne Tierindividuum so scharf und individua¬
lisiert im Gedächtnis eingeprägt mit sich trugen, daß sie augenblicklich fest¬
stellen konnten: dieses oder jenes Tier wird vermißt. So sprechen Spencer
und Gillen von der wunderbaren Fähigkeit primitiver Völker für die Spuren
eines jeden Tieres, so erkennen sie Weg und Richtung in den Wäldern, etc.1.
Verworn nennt, von solchen Tatsachen ausgehend, diese Kunst eine »physio-
plastische«, »die nur das wirkliche Objekt selbst oder sein unmittelbares Er¬
innerungsbild, aber keinerlei Spekulation darüber, keinerlei Reflexion und
Überlegung zum Ausdruck bringt«. Er kontrastiert sie mit der späteren
Kunst, indem er selbst die fratzenhaftesten Kinderzeichnungen als »ideo-
plastische Kunst« höherstellt, da sie über eine solche Unmittelbarkeit und
Gedankenlosigkeit hinaus sind 2. Auch hier mischt sich — in einer für uns
lehrreichen Weise - Richtiges mit Falschem. In der Feststellung der geistigen
Entwicklungshöhe hat Verworn zweifellos recht. Er begeht aber den typi¬
schen, modern-bürgerlichen, idealistischen Irrtum, die Menschen in »Seelen¬
vermögen« zu zerlegen, und diese dann auf die verschiedenen historischen
Etappen zu verteilen, während es in Wirklichkeit immer um die Entwicklung
des ganzen Menschen ging, und die Änderungen des subjektiven Faktors sich
innerhalb der Einheit dieses Ganzen abspielen müssen. Gerade deshalb erhal¬
ten aber die Unterschiede und Gegensätze der Perioden, wenn sie in Verworns
Art gefaßt werden, einen starren metaphysischen Charakter, so in der eben
zitierten Gegenüberstellung, die nach alten literaturhistorischen Schemen
(etwa: Aufklärung als ausschließliche Herrschaft des Verstandes, Sturm und
Drang als ausschließliche Revolte des Gefühls gegen den Verstand, als »Prä¬
romantik« etc.) die Perioden abstrakt und infolge der steifen Abstraktion ver¬
zerrt gegeneinander ausspielen. Wenn die Menschen der Jägerkultur bloß die
isolierten Objekte oder ihre ebenso isolierten Erinnerungsbilder besessen hät¬
ten, wären sie zweifellos elend verhungert. Schon unser früher angeführtes
Beispiel von ihrer glänzenden Orientierungsfähigkeit in den Wäldern zeigt,
Arbeit) ein höheres, zweites Signalsystem entsteht, das zur Grundlage der
wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit erwächst, das diese in
ihrer Gegenständlichkeit, in ihren Beziehungen und Zusammenhängen, in
ihren relativen und immer größer und umfassender wahrgenommenen Tota¬
litäten der Umwelt bis zur Totalität der Welt selbst erfaßt. Es wird die Auf¬
gabe eines späteren Kapitels sein, zu zeigen, daß die Synthesen der Kunst,
darunter vor allem das Widerspiegeln der Wirklichkeit als evokative »Welt«
ein höheres Signalsystem sui generis erfordern und hervorbringen. Dieses teilt
mit dem Pawlowschen zweiten Signalsystem den umfassenderen und das We¬
sen darstellenden Charakter den gewöhnlichen bedingten Reflexen gegenüber,
zugleich jedoch nimmt es nicht unbedingt die eindeutige BegrifTlichkeit des
zweiten Signalsystems in Anspruch, um Synthesen weit höherer Ordnung als
die bedingten Reflexe zu vollbringen, mit denen es eine gewisse Gebun¬
denheit an die unmittelbar-sinnlichen Erreger teilt. Dieser vorwegnehmende
Hinweis war darum notwendig, um wenigstens den »logischen Ort« und da¬
mit die Methodologie der Lösung der hier auftauchenden Probleme anzu¬
deuten. Ebenso vorwegnehmend muß jetzt schon bemerkt werden, daß die
verschiedenen Reflex- und Signalsysteme sich zwar ihrem Wesen nach von¬
einander unterscheiden, jedoch keineswegs übergangslos voneinander getrennt
sind. Es ist bekannt, daß eine Bewegung hin und her zwischen bedingten und
unbedingten Reflexen im Laufe der Evolution eintreten kann und muß, noch
mehr zwischen den hier aufgezählten verschiedenen Systemen. Hier müssen
diese vorläufigen, vorwegnehmend andeutenden Bemerkungen genügen; eine
einigermaßen exakte Darlegung muß dem dieser Frage gewidmeten Kapitel
Vorbehalten werden.
Diese Vorwegnahme war darum notwendig, weil nur mit ihrer Hilfe ge¬
wisse Probleme einer ungleichmäßigen Entwicklung beleuchtet und jene Feh¬
ler vermieden werden können, daß man — in unserem Fall - vergangenen
Zeiten entweder die Struktur unseres Seelenlebens unterschiebt, was einige
begeisterte Verehrer dieser Malerei taten, oder daß man, wie z. B. Verworn,
ihre Primitivität in pejorativem Sinne stilisiert, und damit homunculi schafft,
die in der Wirklichkeit keinen Augenblick zu existieren fähig wären. Unsere
Betrachtungen gehen dagegen darauf aus, zu zeigen, wie einerseits eine der¬
artig außergewöhnliche Werkvollendung auf ökonomisch-sozial höchst un¬
entwickelter Stufe, infolge exzeptionell günstiger Umstände möglich wurde,
wie diese künstlerische Höhe andererseits gerade in ihrem ästhetischen
Wesen sich nicht über jenes Niveau erheben konnte, das auf dieser
Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung objektiv und subjektiv möglich
466 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
war. Wir haben bereits, im Anschluß an die Forschungen Gordon Childes, auf
diese außergewöhnlichen Umstände hingewiesen. Sie drücken sich vor allem
darin aus, daß hier, als strikte Ausnahme auf dieser Stufe, eine Art Berufs¬
künstlertum möglich wurde, wodurch die ganze Intensität der vorhandenen
visuell-sinnlichen Aufnahme der Wirklichkeit in einer großen Malerei sich
ausformen konnte, während diese Fähigkeiten bei nur ein wenig geringerer
Gunst der Umstände in der normalen Alltagspraxis der Wilden steckengeblie¬
ben sind und gar keine oder ästhetisch nicht in Betracht kommende Spuren
hinterlassen konnten. Diese künstlerische Realisierung ist jedoch nur das Ak¬
tuellwerden von potentiell vorhandenen, in der gesellschaftlichen Lebensweise
fundierten Fähigkeiten, kein Überschreiten des Horizonts, den dieses gesell¬
schaftliche Sein dem Bewußtsein der darin lebenden Menschen imperativ auf¬
erlegt.
Natürlich ist auch diese Gunst der Umstände unter den Verhältnissen der
Jäger aus der Altsteinzeit weitaus einfacher, als auf entwickelterer Stufe.
Jedodi gerade dadurch wird sichtbar, daß auch unter weitaus komplizier¬
teren gesellschaftlichen Bedingungen bestimmte - freilich viel verwickeltere
- Konstellationen dazu gehören, um aus den normalen, gesellschaftlich zu¬
stande gekommenen Fähigkeiten der Menschen eine Kunst überhaupt und gar
eine große Kunst entstehen zu lassen. Und es zeigt sich auch, daß diese Be¬
dingungen - je entwickelter die Kultur ist, desto mehr - für die verschie¬
denen Künste prinzipiell verschiedene sind; auch hier waren die fördernden
Tendenzen nur der Entfaltung einer bestimmten Art der Malerei günstig. Die
Gebundenheit der Menschen und mit ihnen der Künstler an den Horizont
der jeweiligen materiellen und geistigen Kultur ist ebenfalls nur in dieser
höchsten Abstraktion absolut wahr. Sobald wir diese Bindung in verschiede¬
nen gesellschaftlichen Strukturen konkret ins Auge fassen, zeigt es sich, daß
deren jeweilige konkrete Dynamik darüber entscheidet, ob die hier ent¬
stehenden Schranken starr oder elastisch sind. Die besondere, exzeptionelle
Höhe dieser Jägerkultur war wörtlich genommen ein Ausnahmefall, der nicht
einmal abstrakte Möglichkeiten einer Weiterführung, geschweige denn einer
immanenten Höherführung in eine entwickeltere Formation gestattete. Das
hängt vor allem mit dem überwiegenden Naturcharakter der Wandlung in
der materiellen Basis zusammen. Das Ende der Eiszeit mähte dem außer¬
ordentlichen Wildreichtum ein Ende, und mit dieser Änderung verschwand
dieser ganze kulturelle Aufshwung shon in der mittleren Steinzeit. Natür¬
lich gibt es Formationen, deren innere Dialektik die auf sie folgenden aus
diesen selbst entstehen läßt (Feudalismus-Kapitalismus, noh deutliher
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 467
1 Boas: a. a. O. S. 325.
Die Voraussetzungen der Weltbaftigkeit der Kunstwerke 469
Wenn wir auf den Unterschied dieser Kunst mit jener, die als die einer nor¬
malen Kindheit bezeichnet wurde, reflektieren, so kann uns eine andere Be¬
stimmung der Genesis des Ästhetischen bewußt werden, die auch später in
ihrer Weiterentwicklung eine wichtige Rolle spielt: die Überwindung der
Naturschranken, die Dominanz der aus dem gesellschaftlichen Zusammen¬
schluß der Menschen stammenden Bestimmungen, die ihre Existenz auf die
Beziehungen der Menschen zueinander und auf deren - gesellschaftlich be¬
dingten - immer reicher werdenden Stoffwechsel mit der Natur zurück¬
führen. Das Unnachahmliche Homers besteht nicht zuletzt darin, daß dieses
Zurückweichen der Naturschranke schon begonnen hat, daß aber zugleich
das nachdrängende gesellschaftliche Leben des Menschen doch als eine neue,
als eine vom Menschen für den Menschen erschaffene »Natur« sich offenbart.
In der paradoxen Schönheit der Höhlenbilder waltet noch dieses Eingehüllt¬
sein; die Naturschranke erscheint noch nicht als solche, vielmehr als angebo¬
rener Umriß des menschlichen Lebens selbst. Objektiv hat der Mensch natür¬
lich mit seinem ersten Arbeitshandgriff, mit seinem ersten den Begriff mei¬
nenden, artikulierten Wort die volle Naturgebundenheit gekündigt. Es be¬
darf jedoch eines unerhört langen Weges, um beim Heraustreten aus der Na¬
tur dieses Ansich in ein bewußtes Fürsich zu verwandeln. Gerade die Magie
als »Weltanschauung«, die die ersten Schritte dieses Zurückweichens der Na¬
turschranken im Bewußtsein der Menschen post festum begleitet — sie zu¬
gleich erhellend und verdunkelnd —, macht ein zur Gestalt werdendes Für
sich sowohl im Gedanken wie im Gestalten unmöglich. Das Normale an den
47° Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
die Gegenstände unlösbar verbunden mit dem Raum, der sie umgibt, darzu¬
stellen: »Sobald die Durchbildung des Hintergrundes, sei es als Landschaft
oder als Innenraum vollzogen war, war eine freie Willkür in der Verteilung
der Farben nicht mehr möglich, oder doch ganz anders beschränkt, als in
der vorhergehenden Periode. Die Landschaft und der Himmel darüber, Meer
und Flüsse, Gebäude innen und außen mit den Teppichen und Geräten waren
in ihrem Zusammenhänge nur verständlich, wenn sie mit Nachbildung ihrer
natürlichen Farben dargestellt waren, und das mußte schnell zu völlig
natürlicher Darstellung der sich in dieser Umgebung bewegenden Figuren
führen 1.«
Man sieht: diese Frage schließt sich, wenn auch nicht unmittelbar historisch,
so doch dem ästhetischen Wesen nach, jenen Problemen an, die wir früher bei
den Höhlenmalereien aus der Altsteinzeit behandelt haben: an die der Welt-
haftigkeit der Malerei. Denn es ist ohne weiteres klar, daß die malerische
Mimesis der sichtbaren Wirklichkeit nur dann den Charakter einer »Welt«
erhalten kann, wenn die dargestellten Objekte in einer aus ihrer Gegenständ¬
lichkeit selbst folgenden wirklichen Wechselbeziehung zueinander und zu
ihrer Umgebung stehen. Der malerisch gestaltete Raum als sinnlich-geistige
konkrete Einheit solcher Beziehungskomplexe ist allein imstande, die Existenz
einer Welt künstlerisch zu evozieren. Sobald diese widerspruchsvolle, kon¬
krete Einheit fehlt, muß dem Bild jene Tiefe, die wir seinerzeit beim Orna¬
ment umschrieben haben, fehlen, muß es der künstlerischen Intention nach
dekorativ-ornamental bleiben, wie z. B. die Bilder der Buschmänner, ja
schon manche Höhlenbilder aus der Altsteinzeit in Südspanien im Gegensatz
zu den von uns analysierten Tierdarstellungen. Es ist dabei wahrscheinlich
kein Zufall, daß jene in ihrer Farbengebung sich sehr stark der rein physiolo¬
gischen Bedingtheit zuneigen, auch wenn einzelne Gegenstände - abstrakt
gesehen — den Wirklichkeitsmodellen entsprechend koloriert sind, während
diese trotz ihrer sehr beschränkten Farbenskala mehr den Lokalfarben an¬
genähert sind. Und es wird ebenfalls nicht zufällig sein, daß im ersten Fall
auch beim leidenschaftlichsten Gestalten der Figuren, auch bei ihrer stärksten
dramatischsten Bezogenheit aufeinander nur flache Umrisse entstehen, im
zweiten dagegen eine innere plastische Bewegtheit, bei welcher man den Ein¬
druck haben könnte, der Raum, in welchem das Tier lebt, sei entfernt wor¬
den, im Gegensatz zum ersten Fall, wo ein Raum, auch wenn Menschen und
1 Ebd. S. 102 f.
474 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
1 Leonardo da Vinci: Der Denker, Forscher und Poet, Jena 1906, S. 156.
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 475
und Rezeptivität sogar bis zu einem bestimmten Grad bewußt sein können,
selbst wenn die ästhetisch - aktiv und passiv - Beteiligten nicht imstande
sind, das, was sie erleben und tun, begrifflich zu formulieren. Endlich muß es
auch darüber Klarheit geben, daß der so entstehende Mangel an begrifflicher
Verdeutlichung keineswegs den von Leonardo richtig erkannten tiefen Zu¬
sammenhang zwischen bildender Kunst und Naturphilosophie zunichte macht.
Natürlich muß in der letzten Frage sowohl die Parallelität wie die Divergenz
festgehalten werden. Die Wechselbeziehung zwischen Naturphilosophie und
bildender Kunst war in Leonardos Zeiten nidit nur intensiver, sondern auch
bewußter als in der Antike. Die Tatsadie jedoch, daß die Künstler, auch vor
Leonardo, Ergebnisse und Methoden der Naturforschung, die in dieser Zeit
viel inniger mit der Naturphilosophie verknüpft waren als später, für ihre
künstlerische Praxis verwerteten, ist unbezweifelbar. Eine solche, freilich lo¬
sere und weniger bewußte Verbindung war audi in der Antike vorhanden.
Mit der Feststellung derartiger bewußter und halbbewußter Beziehungen ist
jedoch das Problem der objektiven Zusammenhänge weder historisch noch
ästhetisch erschöpft. Wir gehen ja stets davon aus, daß das Alltagsleben einer¬
seits Wissenschaft und Kunst bestimmte Fragen stellt, sie zur Lösung be¬
stimmter Aufgaben veranlaßt - auch wenn diese bewußt überhaupt nicht
oder in falschen Formen zum Ausdruck kommen - und andererseits alle
Ergebnisse beider objektivierenden Gebiete durch die verschiedenartigsten
Vermittlungen das Alltagsleben bereichern, sein Denken, seine Empfindungs¬
weise weiter, tiefer, umfassender machen, wodurch wieder Wissenschaft und
Kunst zu Neufassungen ihres Tätigkeitsfeldes gezwungen werden usw. usw.
Erst von reichlich verwickelten Entwicklungsbedingungen her kann unser
malerisches Raumproblem verständlich werden. Ohne Frage erhält die All¬
tagspraxis in den ersten Stadien des entstehenden, von magischen und später
religiösen Vorurteilen sich befreienden wissenschaftlichen (naturphilosophi¬
schen) Denkens von diesem entscheidende Impulse; wir haben bereits auf die
Wichtigkeit der Geometrie wiederholt hingewiesen. Die vorerst auf Anschau¬
ung und Vorstellung basierte Raumauffassung erhebt sich damit auf das Ni¬
veau der reinen Begrifflichkeit, wodurch für das Leben der Menschen bis dahin
unvorstellbare Perspektiven eröffnet werden, es genügt, wenn wir dabei an
den Weg denken, der von der Schutzsuche in Flöhlen etc. zum Bau von ge¬
sicherten und ständigen Heimstätten führt. Indem die Menschen auf solche
Weise den sie umgebenden Raum gedanklich und praktisch zu beherrschen er¬
lernen, entsteht in ihnen ein ganz neuer Erlebniskomplex, der in der Periode
der Wildheit notwendig völlig unbekannt sein mußte: das Erlebnis des unbe-
476 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
dingten Herrseins über ihre Umgebung, über ihre Umwelt, das Erlebnis der
Welt als Heimat des Menschen. Die materielle Grundlage dafür entwickelt
sich im Laufe vieler Jahrtausende: das Bewußtsein eines gewissen Gesichert¬
seins des Lebens, der Sicherheit ols objektiver und subjektiver Form der nor¬
malen Existenz. Dabei muß das Wort normal besonders hervorgehoben wer¬
den, denn Erschütterungen, Katastrophen etc. lassen sich aus dem objektiven
Weltbild und darum aus dessen Erlebbarkeit nicht eliminieren. Jedoch die
Tatsache einer objektiven »Sekurität« des normalen menschlichen Lebens,
mag deren Umkreis anfangs noch so eng begrenzt sein, bedeutet eine Revo¬
lution in der menschlichen Empfindungsweise, die heute bereits derart zur
Selbstverständlichkeit geworden ist, daß ihr wirklicher, strikter Gegensatz
kaum mehr nacherlebbar ist1.
Das bedeutet jedoch keineswegs, daß wenigstens gewisse Knotenpunkte dieser
Linie nicht historisch mehr oder weniger exakt feststellbar wären. Wir be¬
trachten nun kurz den hier beschriebenen Sprung in der Geschichte der Ma¬
lerei, die Raumgestaltung im Bilde, als eine wichtige Etappe dieses Entwick¬
lungsprozesses. Erst nachdem die praktischen, wirtschaftlichen, sozialen und
technischen Erfolge einen bestimmten Grad der Sicherheit ins normale Leben
der Menschen gebracht hatten, erst nachdem das wissenschaftliche Denken die
Raumzusammenhänge theoretisch und praktisch auf eine relative Höhe ge¬
führt hatte, konnte das Gefühl entstehen: der den Menschen umgebende Raum
sei nicht etwas ihm prinzipiell Fremdes, ja Feindliches, vielmehr im Gegenteil
seine eigene Welt, etwas, das ihm zugehört, das - in einem bestimmten Sinn,
bis zu einem bestimmten Grad - eine Erweiterung seiner eigenen Persönlich¬
keit bildet. Mit dem Geräteschmuck etwa hat der Mensch, unvordenkliche
Zeiten früher, einzelne Gegenstände, die praktisch-technisch schon vorher
eine Verlängerung seines subjektiven Aktionsradius gebildet hatten, auch in
diesem neuen Sinn für sich erobert, zum Bestandteil einer Erweiterung seines
Ichs gemacht. Die allgemeine Verbreitung des Geräteschmucks bei den pri¬
mitiven Völkern zeigt, daß es sich hier um eine elementare Tatsache des Le¬
bens handelt. Indessen darf, bei aller Würdigung dieses wichtigen Sdirittes
in der Richtung, daß der Mensch in sich und um sich eine eigene, ihm ange-
messene Welt zu schaffen beginnt, nicht vergessen werden, daß auch eine
noch so große Anhäufung derartiger Gegenstände, solange dieses Niveau
bleibt, nie imstande sein kann, in ihrer Gesamtheit eine Welt des Menschen
zu konstituieren, ebensowenig, wie auch auch der schönste Körperschmuck ihn
nicht zur wirklichen Persönlichkeit erheben konnte. Dazu ist ein höherer
Grad des Durchdringens der unmittelbaren Umwelt des Menschen von den
Lebensprinzipien seines Daseins her vonnöten, und gerade dies geschieht in der
Entwicklung, die wir eben andeuten.
Es ist sicher, daß dabei ein Bruch mit der Unmittelbarkeit vor sich geht, eine
gewisse Distanzierung des Mensdren von sich selbst, von seiner eigenen Tätig¬
keit und von seiner eigenen Existenz. In der Arbeit entsteht die erste wirkliche
Subjekt-Objekt-Beziehung und damit erst entsteht dann ein Subjekt im
echten Sinne des Wortes. Schon Hegel hat richtig darauf hingewiesen, daß
damit die unmittelbare Distanzlosigkeit der bloßen Begierde und ihrer blo¬
ßen Erfüllung aufhört: »Im Werkzeug macht das Subjekt eine Mitte, zwi¬
schen Sich und das Objekt, und diese Mitte ist die reale Vernünftigkeit der
Arbeit b« Es ist ohne weiteres klar, daß der Geräteschmuck eine weitere
Steigerung dieser Distanzierung ist, und zwar - gerade das ist hier für uns
wesentlich - in einer anderen Richtung, wie wir oben kurz untersucht haben.
Das Bild gibt schon durch sein bloßes Gesetztsein dieser neuen Distanz eine
neue, qualitativ betonte Steigerung: es entsteht ein vom Menschen erschaffe¬
nes Gebilde, das ausschließlich dem Ziele dient: den Menschen durch Wider¬
spiegelung seiner Innenwelt und Umwelt über sich selbst aufzuklären und
ihn damit über sich selbst, wie er für sich selbst im Alltagsleben gegeben ist,
zu erhöhen, ihm zum Selbstbewußtsein zu verhelfen. Der Mensch wird wahr¬
haftig er selbst, indem er in der von ihm widergespiegelten Welt seine eigene
Welt erschafft und sie sich zu eigen macht.
Die unmittelbar rein technisch scheinende Frage der Malerei: durch Auffin¬
den der Lokalfarbe aller Dinge ihr Ensemble als einen konkreten Raum mi¬
metisch darzustellen, wird zu einem reifen Paradigma dieses Lebensgefühls
im Ästhetischen: des Schaffens einer eigenen Welt des Menschen. Das Wort
eigen hat hier drei Bedeutungen und alle drei sind für die Erkenntnis
dieses Phänomens gleich wichtig. Es ist erstens von einer Welt die Rede, die
der Mensch für sich selbst, für das Menschheitlich-Fortschrittliche in ihm
selbst erschaffen hat; zweitens von einer, in welcher die Eigenheit der Welt,
tektur« als aufklärende Analogie der Wirkung gesprochen; wir glauben, der
Vergleich mit der Ornamentik wäre noch treffender, um so mehr, als beide
künstlerische Darstellungsweisen oft auch zusammen, einander wechselseitig
verstärkend aufzutreten pflegen, z. B. in den orientalischen Teppichen. Ande¬
rerseits sei nur kurz darauf hingewiesen, daß in der späteren Entwicklung
der Malerei die Lokalfarbe nicht selten die Rolle einer zu überwindenden
Unmittelbarkeit spielt, wie bei dem Entstehen des Helldunkels, oder noch
mehr beim Aufkommen der Freilichtmalerei.
Diese unaufhebbare Relativität von Unmittelbarkeit und Vermittlung ist ein
allgemeines Gesetz der objektiven wie der subjektiven Dialektik. In der
Ästhetik tritt - bei Geltendbleiben dieses allgemeinen Gesetzes - noch das
für ihr Gebiet Spezifische hinzu, daß jedes Kunstwerk prinzipiell eine Un¬
mittelbarkeit repräsentiert, daß also das künstlerische Schaffen ausschließlich
deshalb alte Unmittelbarkeiten des Lebens zerstört, sich von ihnen lossagt,
um im Werk, die neuen Verwicklungen des Lebens in sich aufnehmend, eine
neue Unmittelbarkeit herzustellen. In unserem Fall der Lokalfarben haben
wir dies eben angedeutet. Als Ergänzung der sich hier äußernden konkreten
Dialektik sei noch bemerkt, daß es durchaus falsch wäre, aus der Tatsache
der physiologischen Bedingtheit der von der Lokalfarbe überwundenen ur¬
sprünglichen Koloristik auf ihre absolute Unmittelbarkeit zu schließen, zu
glauben, daß sie etwa aus der physiologischen Beschaffenheit des Menschen
als Naturwesen direkt ableitbar wäre. Kant hat bereits darauf aufmerksam
gemacht, daß die reinen Farben des Spektrums nicht bloß »Sinnengefühl«
enthalten, »sondern auch Reflexion über die Form dieser Modifikationen der
Sinne verstatten1« und dadurch unmittelbar, in ihrem Geradesosein zu
deren Ausdruck werden können. Hier begnügen wir uns mit dem Hinweis
auf diese Meinung Kants, die für das jetzt behandelte Problem nicht ohne
Bedeutung ist. Da Kant selbst in dieser unmittelbaren Ideenhaftigkeit der
Farben ein Problem der Naturschönheit erblickt, werden wir uns mit seiner
Theorie bei Behandlung dieses Fragenkomplexes ausführlich beschäftigen. Es
sei nur so viel bemerkt, daß Kant die gefühlsmäßige Verbindung moralischer
Inhalte mit den reinen Farben durch eine Einwirkung der Natur auf den
Menschen erklären will. Vom Standpunkt eines ästhetischen Erhellens der
Frage, wie rein physiologische Eindrücke zu Trägern menschlicher, morali¬
scher, gesellschaftlicher Inhalte und deshalb zu Vehikeln einer mimetischen
Aktivität und Rezeptivität werden können, besagt dies wenig. Denn dann
wäre diese moralische Bedeutung ebenso physiologisch unmittelbar, wie die
Wirkung der reinen Farbe selbst, was allen anthropologischen Erfahrungen
über die Entstehung sowohl moralischer wie ästhetischer Gefühle wider¬
spricht.
Wesentlich konkreter nimmt Goethe in seiner »Farbenlehre« zu diesem Pro¬
blem Stellung, indem er unserer Frage einen ganzen Abschnitt mit dem be¬
zeichnenden Titel »die sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe« widmet. Goethes
Betrachtungen gehen insofern weit über die Kants hinaus, als er die von
beiden festgestellte Einigung naturhafter und gesellschaftlicher Inhalte nicht
einfach von ihrer physiologischen Seite nimmt und diese direkt ins Moralische
umschlagen läßt, sondern wenigstens in seinen Beispielen, wenn auch nicht
bewußt methodologisch herausgearbeitet, eine Wechselwirkung der beiden
Komponenten ahnen läßt. So spricht er »von der Eifersucht der Regenten
auf den Purpur1 2«; so sagt er: »Die schwarze Farbe sollte den Veneziani¬
schen Edelmann an die republikanische Gleichheit erinnern«, usw. Ja, bei
der Behandlung des allegorischen Gebrauchs der Farben hebt er hervor: »Bei
diesem ist mehr Zufälliges und Willkürliches, ja, man kann sagen, Konven¬
tionelles, indem uns erst der Sinn des Zeichens überliefert werden muß, ehe
wir wissen, was es bedeuten soll, wie es sich z. B. mit der grünen Farbe ver¬
hält, die man der Hoffnung zugeteilt hat 3.« Sind aber derartige »sinnlich¬
sittliche Wirkungen der Farben« möglich - und die Ethnographie zeigt,
daß solche schon sehr früh auftreten -, so ist es klar, daß die Zuordnung
der beiden an sich heterogenen Komponenten keineswegs eindeutig sein muß.
Wir wissen z. B., daß die Farbe der Trauer zwar bei vielen Völkern die schwarze
ist, bei nicht wenigen tritt jedoch die weiße an ihre Stelle, und auch andere
Farben können die sinnlich-sittliche Wirkung der Trauer unmittelbar aus-
lösen. Goethe bleibt in seiner »Farbenlehre« allerdings nicht bei der Wirkung
einfacher Farben und ihrer Komplementarität stehen. Er geht auch darin
weit über Kant hinaus, daß für ihn keine Farbe eine endgültige metaphysische
Einheit bildet. Vielmehr können geringfügige Nuancen, ja, die Beschaffen¬
heit des Materials, worauf die Farbe aufgetragen wird, auch die »sittliche« Wir¬
kung ins Gegenteil umschlagen lassen. Als Beispiel genüge seine Ausführung
über das Gelbe: »Durch eine geringe und unmerkliche Bewegung wird
der schöne Eindruck des Feuers und Goldes in die Empfindung des Kotigen
verwandelt, und die Farbe der Ehre und Wonne zur Farbe der Schande, des
Abscheus und Mißbehagens umgekehrt1.« Aus alledem folgt, daß die ein¬
zelnen Farben schon im Stadium der physiologischen Farbengebung nicht ein¬
fach und direkt physiologisch wirken, sondern, infolge der gesellschaftlichen
Entwicklung des Volks, das sie gebraucht, in verschiedener Weise bedeutungs¬
belastet werden. Die Komplementarität, als ihre normale Kompositionsweise,
ist zwar physiologisch fundiert; doch ist es klar, daß die durch gesellschaftliche
Gewöhnung und Sitte fixierten Assoziationen bei ihrer Wirkung eine nicht
zu vernachlässigende Rolle spielen müssen.
Mag dieser unmittelbare Anfang an sich noch so vielfältig vermittelt, sein
physiologisches Wesen von noch so vielen gesellschaftlichen Bestimmungen
durchsetzt sein: der Übergang zur Lokalfarbe und zur malerischen Raum¬
gestaltung bleibt doch ein Sprung. Die inhaltliche Seite, den sozialen Auf¬
trag, den die Malerei hier erhielt: die Schöpfung einer eigenen Welt für den
Menschen, haben wir bereits kurz angedeutet. Die hieraus erwachsenden Pro¬
bleme der Form konzentrieren sich um die mimetische Wiedergabe einer in¬
tensiven Totalität, woraus die Aufgabe entsteht, daß alle einzelnen Elemente
der Form und erst recht jede Beziehung zwischen ihnen simultan, ihre un¬
mittelbare Einfachheit als Teile des Ganzen vollständig bewahrend, zum
Träger verschiedener, vielfältig evokativer Wirkungen werden. Eine Welt
kann ja im Kunstwerk nur entstehen, wenn im Betrachter sowohl die Einzel¬
heiten wie ihre Verbindungen das Erlebnis einer den Gegenständen und ihren
Wechselbeziehungen im wirklichen Leben vergleichbare Unerschöpflichkeit
hervorrufen, ja diese Emotion muß diesem gegenüber wesentlich kondensiert
und gesteigert sein. Denn in der Wirklichkeit beweist jedes Objekt, seine
Relationen zu den anderen, das seine Bewegtheit etc. regelnde Gesetz, seine
Existenz - eben durch diese Existenz selbst; besser gesagt: sie bedarf keines
Beweises, denn der Mensch des Alltags lernt an seinem eigenen Schaden, das
Sein eines Seienden zu achten. Das Erkennen oder Erleben der Unendlichkeit
der Bestimmungen an den Gegenständen, ihren Beziehungen etc. ist zwar
auch im Alltagsleben eine wichtige Komponente für das richtige Verhältnis
der Menschen zur objektiven Wirklichkeit. Aber erst in der Kunst - und nur
in ihr — wird diese Unerschöpflichkeit der Eigenschaften, der Beziehungen,
etc. zum konstituierenden Prinzip und zugleich zum Kriterium der Existenz
(im Sinne der Ästhetik). Denn erst die Evokation solcher Beschaffenheiten
bringt die Doppeltheit der künstlerisch-gestalteten Welt (ihren Weltcharak¬
ter) hervor: es ist eine Welt, die von mir unabhängig und für mich uner¬
schöpflich mir gegenübersteht und doch - uno actu mit dieser Selbständigkeit
- als meine Welt erlebt wird.
Natürlich ist auch diese intensive Unendlichkeit weitgehend gesellschaftlich¬
geschichtlich bestimmt. Den Inhalt, die Qualität, den Reichtum der hier zusam¬
mengefaßten Bestimmungen determiniert das Leben selbst und setzt sie dem
Künstler als formales Programm des sozialen Auftrags vor. Es kann also in
dieser Kategorie historisch eine Verarmung oder eine Bereicherung, ein Zu¬
nehmen oder Abnehmen der Intensität vor sich gehen. Wenn wir gewisse frü¬
here Produkte der Kunst als primitiv etc. erlebnishaft ablehnen, oder von
ihrem Erleben unbefriedigt bleiben, so liegt der Grund zumeist darin, daß sie
sich in diesem Prozeß auf einem absteigenden Ast befinden oder gerade jene
Bestimmungen, die eine jeweilige Gegenwart für die ästhetische Existenz im
Kunstwerk für ausschlaggebend hält, vernachlässigen. Aus der Perspektive
einer Weltgeschichte der Kunst gesehen ist aber diese Linie aufsteigend.
Darum spricht in unserem Fall nichts gegen den qualitativen Sprung, wenn in
dem Schaffen einer eigenen Welt der Malerei neben der Lokalfarbe und
Raumgestaltung noch einige visuelle Bestimmungen fehlen, die im Laufe der
späteren Geschichte der Malerei für diese Wendepunkte Anlässe zu revolutio¬
nären Umwandlungen bilden werden. Der physiologisch-dekorativen Farben¬
auffassung gegenüber ist dieser qualitative Sprung zweifellos vorhanden.
Denn auch bei dem, was Goethe die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben
nannte, handelt es sich bloß um eine durch gesellschaftliche Gewöhnung aus¬
gebildete Art der Assoziationen (der bedingten Reflexe); deshalb mußte auf
solcher Grundlage das kompositioneile Zusammenfügen der Farben mehr oder
weniger direkt auf die physiologisch bestimmte Komplementarität rekurrie¬
ren. Bei Behandlung der Kompositionsprobleme der Ornamentik haben
wir bereits auf deren Einfachheit, - relative - Unmittelbarkeit und Ab¬
straktheit hingewiesen. Indem die Gegenstände ihre Lokalfarbe erhalten, und
damit das malerische Problem ihrer stofflichen Beschaffenheit, ihrer Härte
oder Weichheit, ihrer Schwere oder Leichtigkeit usf. auftaucht, muß auch in
der Komposition die - physiologische - Naturschranke zurückweichen. Je
mehr Eigenschaften eines Gegenstandes die ihn gestaltende Farbengebung
offenbart, desto komplexer muß auch die kompositioneile Verknüpfung der
Farben werden, auf desto größeren Umwegen kann sich ihre letzthinnige
484 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Harmonie in der Totalität des Bildes verwirklichen, desto mehr entfernt sie
sich von einem bloßen Zusammenklingen auf der Grundlage der Komplemen¬
tarität. Auch hier geht der visuell-sinnliche Gehalt und seine malerische For¬
mung weit über den Geltungsbereich der bedingten Reflexe hinaus, fordert
eine visuell-sinnliche synthetische Fähigkeit vom Betrachter und erst recht
vom Schaffenden, die, es in keiner unmittelbaren Weise transzendierend, doch
das Niveau der Begrifflichkeit an synthetischer Umfassungsfähigkeit und
Präzision erreicht. (Auch diese Frage kann erst in einem folgenden Kapitel
ausführlich behandelt werden.) Es handelt sich hier um eine allgemeine, prin¬
zipiell im Wesen des Ästhetischen selbst begründete Phase des Selbständig¬
werdens der Kunst. Daß wir sie auf dem Gebiet der Malerei dargestellt
haben, geschah nur aus Gründen einer leichteren Exemplifikation. Übergänge
dieser Art sind sicher in allen Kunstarten nachweisbar l.
Wir wollen hier nur ganz kurz auf eine in jeder konkreten Hinsicht ver¬
schiedene, doch hinsichtlich unseres genetischen Problems analoge Lage in der
Wortkunst hinweisen. Es wurde bereits in anderen Zusammenhängen hervor¬
gehoben, daß viele ursprüngliche Wortbildungen für uns einen sozusagen
naturwüchsig pittoresken Charakter zu haben scheinen, indem sie auch sinn¬
liche Eindruckskomplexe, z. B. Farben, nicht mit einem begriffsartigen Wort
bezeichnen, sondern gleichnisweise, auf dem Niveau einer in Vorstellung
übergehenden Wahrnehmung; man denke an unsere dort angeführten Bei¬
spiele, daß statt schwarz »so wie eine Krähe«, etc. gesagt wird. Schon dort
haben wir gegen die kulturkritisch-romantische Richtung polemisiert, die in
dieser Art des sprachlichen Ausdrucks etwas »Poetischeres« erblickt und sie
der späteren, auf begriffliche Eindeutigkeit tendierenden Sprache gegenüber¬
stellen möchte. In Wirklichkeit kann eine echte poetische Sprache nur ent¬
stehen, wenn diese primitive, die Außen- und Innenwelt bloß unmittelbar,
»naturhaft« widerspiegelnden Ausdrucksweise radikal überwunden ist. Dies
ist erst der Fall, wenn jedes Wort, auch den Verlust der unmittelbaren Sinn¬
lichkeit mit inbegriffen, sich auf das Niveau des Begriffs erhoben hat, wenn
die Evokation durch die im Satz syntaktisch vereinigten Wörter, also durch
ein Ensemble von einzelnen, aufeinander abgetönten, einander in ihrer
1 Ich verweise nur auf die ausgezeichnete Analyse Riegls: »Zur kunsthistorischen
Stellung der Becher von Vafio« über die Raumgestaltung und den Realismus im
Relief. Gesammelte Aufsätze, Augsburg-Wien 1929, S. 71 ff. Daß Riegl unser
Problem der Genesis ganz fernlag, macht die Übereinstimmung in der Analyse
der Tatsachen um so wertvoller.
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 485
1 Hoernes: a. a. O. S. $82 f.
488 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Augenblick entscheidend ist. Der Riß zwischen Sein und Bewußtsein wird
sich in den meisten Fällen auf alle Klassen beziehen, so daß zumeist überall
neue Bedürfnisse etc. hervortreten. Ihr Inhalt, ihre Richtung etc. wird aber
verschieden, ja entgegengesetzt sein 1.
Andererseits drückt sich die Befriedigung dieses gemeinsamen Bedürfnisses
auf den verschiedenen Gebieten der menschlichen Betätigung ganz unter¬
schiedlich aus. Es entstehen neue wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse,
neue politische Parolen, Organisationsformen, Zielsetzungen, neue ethische
Normen und moralische Vorbilder, neue Sitten und Verhaltensarten im
Alltagsleben etc. etc. In der Kunst ist dies die Geburtsstunde neuer Formen.
Natürlich können wir hier den äußerst komplizierten Prozeß der Entstehung
der Formen aus den Inhalten nicht schildern (auch dies ist eine der Zentral¬
fragen unseres zweiten Teiles). Es muß nur darauf hingewiesen werden,
daß — geradeso, wie das ganze Leben der Menschen jeweils in derselben
objektiven Wirklichkeit abläuft — der aus der Veränderung der gesellschaft¬
lichen Struktur aufsteigende neue Gehalt auf den verschiedenen sozialen
Betätigungsfeldern letzten Endes derselbe sein muß. Das Spezifische der
künstlerischen Form besteht »bloß« darin, daß sie auf ein aus dieser Lage
entstehendes Lebensbedürfnis zu antworten hat, es zu befriedigen bestimmt
ist. Gerade die umfassende neue Inhaltlichkeit, die alle Lebenssphären um¬
faßt, die im ganzen Menschen qualitative Veränderungen hervorruft, bringt
eine solche Universalität der neuen Erlebnisbedürfnisse hervor, denen — im
allgemeinen — viele ältere Evokationsformen aufnahmeunfähig gegen¬
überstehen. Da es nun gerade die Künstler sind, deren Empfindlichkeit sich
in dieser Richtung berufsmäßig entwickelt, werden sie naturgemäß auf solche
Veränderungen besonders feinfühlig reagieren; daß es immer wieder auch
Künstler gibt, die unverändert in der alten Weise die Wirklichkeit künstle¬
risch aufnehmen und darstellen, bei denen diese Fialtung zur bereits uner¬
schütterlichen Gewöhnung geworden ist, kann an dieser grundlegenden Tat¬
sache nichts ändern. Indem die Künstler nun auf die neuen Phänomene der
gesellschaftlichen Veränderung in ihrer eigenen Weise antworten, entsteht
bei ihnen selbst die Illusion, es handle sich bloß um eine neue, reine Form¬
frage, die aus der Entwicklung der Kunst selbst, aus den Bedürfnissen ihrer
eigenen künstlerischen Selbstverwirklichung etc. herausgewachsen wäre.
Vgl. Marx über die Wirkungen der Selbstentfremdung bei Bourgeoisie und Prole¬
tariat, Wk. a. a. O. Band III. S. 206.
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 491
Unmittelbar und subjektiv ist dies ja auch relativ richtig; es ist aber nur eine
unmittelbare und subjektive Wahrheit, die nicht bis zum Durdrschauen der
objektiven Ursachen des eigenen Verhaltens vorzudringen imstande ist. Und
es ist sicher kein Zufall, daß nicht selten — freilidr keineswegs immer —
gerade die großen Künstler wenigstens eine gewisse Ahnung davon besitzen,
welcher soziale Auftrag ihre spezifische Formgebung ins Leben rief. (Wie¬
weit diese Ahnung gedanklich formuliert, ein falsches Bewußtsein vorstellt,
hat uns hier nicht zu beschäftigen.) Endlich sei noch hinzugefügt, daß die
Veränderungen der Basis mit ihren hier geschilderten ideologischen Konse¬
quenzen ebenfalls eine ungleichmäßige Entwicklung zeigen. Für unsere
Zwecke sei aus diesem unersdröpfhchen Komplex nur so viel herausgehoben,
daß der Wandel in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zuein¬
ander, im Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur, jene Erlebniskomplexe,
die die Grundlagen für die Evokationsart der verschiedenen Künste und
Kunstgattungen unmittelbar beeinflussen, notwendig mit verschiedener Inten¬
sität affiziert. Das hat zur Folge, daß die hier geschilderten Formänderungen
selten auf dem ganzen Gebiet der Kunst gleidizeitig, mit gleicher Wucht auf-
treten, daß dieselbe gesellschaftliche Entwicklung bald auf die eine, bald auf
die andere Kunst oder Kunstgattung günstig bzw. ungünstig einwirkt.
Die eigentliche Entstehung der Malerei, in dem Sinn, den sie bei allen histo¬
rischen Änderungen bis heute bewahrt hat, kann also prinzipiell aus dem
Sich-Treffen und Vereinigen von mimetischen und dekorativ ornamentalen
Tendenzen verstanden werden. Unsere unmittelbar vorangegangenen Bemer¬
kungen zeigen, in welcher Weise eine solche Begegnung ursprünglich völlig
heterogener künstlerischer Bestrebungen stattgefunden haben mag. Die Pa¬
radoxie dieser Lage, die unaufhebbar scheint, solange die eine ausgebildete
Kunstrichtung einer anderen ebenso gearteten gegenübersteht, hebt sich erst
auf, wenn der Ausgangspunkt vom Bedürfnis, entstanden auf Grundlage
gesellschaftlich-geschichtlicher Veränderungen im Leben der Menschen, in
ihren Beziehungen zueinander, im Stoffwechsel der betreffenden Gesellschaft
mit der Natur genommen wird. Das, was in der zur fertigen Gestaltung ge¬
ronnenen Fixierung als ausschließender Gegensatz zutage tritt, kann sehr
wohl vom chaotischen Bedürfnis des Alltags in Element und Bewegung des
Lebens selbst rückverwandelt, ganz ohne Paradoxie in neuei Einheitlichkeit
als neue Forderung des Tages hervortreten. In solchen Prozessen wird die
lebendige und fruchtbare Wechselbeziehung zwischen künstlerischer Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit einerseits und Alltagsleben und -denken anderer¬
seits deutlich sichtbar. Das, was die Kunst, die Welt in ihrer Weise reprodu-
492 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
den Momente ebenfalls eine wichtige Rolle spielen müssen. (Daß Kunsterfah¬
rungen der Vergangenheit in diesem Prozeß auch eine konservative, das Neue
hemmende Funktion haben können, versteht sich von selbst. Das Eingehen
auf die hieraus erwachsenden Komplikationen gehört bereits zur historisch¬
materialistischen Betrachtung der tatsädilichen Kunstentwicklung.)
Wir haben bei der Behandlung der Ornamentik auf ihre Frühvollendung
und auf die relative Zeitlosigkeit ihrer späteren Wirkungen bereits hingewie¬
sen. Wir haben ebenfalls zu zeigen versucht, wie diese ihre Art und Faszina¬
tion mit der ersten großartigen gedanklichen Beherrschung der objektiven
Wirklichkeit, mit der gesetzlidien Ordnung ihrer Phänomene durch die Geo¬
metrie zusammenhängt. Da es sich hier nicht nur um eine vieltausendjährige
Periode der Menschheitsentwicklung handelt, sondern auch um die vielleicht
entscheidendste Wendung in ihr: um das Übergehen von der Sammler- zur
Produktionsperiode, müssen solche Wirkungen langdauernde sein. Die Pro¬
duktion mag anfangs noch so unentwickelt sein: objektiv ist doch ein quali¬
tativer Sprung eingetreten, der sich früher oder später auf die ganze mate¬
rielle und geistige Kultur der Menschen auswirken, ihr ständiges Fundament
ausmachen mußte. Das Auftreten und das immer stärkere Vorherrschen der
Ordnungsprinzipien, als Widerspiegelung und zugleich Förderungsmittel der
neuen Naturbeherrschung, ihre Erhebung zu Aufbauelementen der sich von
den magisch-religiösen Bindungen immer mehr befreienden Weltanschau¬
ungen, zeigt sich ästhetisch in der lange Zeit währenden, führenden, ja zum
Monopol gewordenen Wirksamkeit der Ornamentik. Die Überreste der
Mimesis aus der Jägerzeit weisen höchstwahrscheinlich keine Kontinuität zu
den einstigen, aus einer exzeptionellen, nie wiederholbaren Lage entsprunge¬
nen Leistungen auf. Gordon Childe sagt richtig über den Übergang zur neuen
Formation: »Andere Völker, die keine derart brillanten Andenken hin¬
terlassen haben, haben die neue Nahrungsmittel produzierende Wirtschaft
geschaffen.« Und er weist ebenfalls richtig darauf hin, daß der mimetisch¬
realistische Gipfelpunkt auch in der Jägerzeit nicht von Dauer sein konnte.
Nach der Eiszeit entwickelte sich die Darstellung auf eine Konventionalität
hin: »Der Künstler war nicht mehr bestrebt, einen individuellen lebenden
Hirsch abzubilden, oder wenigstens auf einen solchen hinzudeuten; er be¬
gnügt sich mit den wenigst möglichen Strichen, um die wesentlichen Attribute
anzugeben, wonach man einen Hirsch erkennen kann x.«
1 Scheltema: a. a. O. S. 72.
2 Ebd. S. 87.
Die Voraussetzungen der Weltbaftigkeit der Kunstwerke 495
1 Ebd. S. ioi.
2 Ebd. S. 188.
496 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Natur ist äußerlich wie innerlich auf einen winzigen Umkreis beschränkt.
Darum konnte das abstrakte, aber in seinem abstrakten Geltungsbereich ab¬
solute und unfehlbare Prinzip des Geometrischen, wie wir seinerzeit nach¬
gewiesen haben, auch in der künstlerischen Praxis eine so mächtige und pathe¬
tische Bedeutung erlangen, daß sie für Jahrtausende Kunstschaffen und Ge¬
nießen beherrschen konnte. Die scheinbar überraschende historische Reihen¬
folge von weltloser Mimesis, weltloser Ornamentik und weltschaffender
Kunst klärt sich auf, wenn bedacht wird, daß erst durch die Universalität der
Arbeit in der Gesellschaft etwa der Rhythmus (aber auch Symmetrie oder
Proportion) eine alle Lebensäußerungen durchdringende Macht erhält. Diese
fehlt noch im Dasein der Jäger und Sammler, trotz der Bedeutung des Rhyth¬
mus für den Tanz; er bleibt lange Zeit, bei aller Ausbreitung auf Abstraktheit
beschränkt. Erst die wachsende Universalität der Arbeit schafft die seinshafte
Möglichkeit, die realen Gegenständlichkeiten und Gegenstandbeziehungen
ebenfalls in rhythmischer Ordnung, nach Symmetrie und Proportion geregelt,
mimetisch zu reproduzieren.
Jedoch gerade weil die Grundlage dieser neolithischen Gesellschaft eine fort-
setzbare und höher entwickelbare Produktionsweise gebildet hat, mußte die
Gesellschaft, wenigstens an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten,
immer weiter über diese Stadien hinwegschreiten. Gordon Childe spricht rich¬
tig einerseits von einer »neolithischen Revolution«, fügt aber ebenso richtig
hinzu, daß auf dieser Basis eine zweite, wie er sie nennt, eine »urbane Revo¬
lution« folgen mußte. Diese zweite Revolution unterscheidet sich von der
ersten vor allem darin, daß sie nicht, wie diese, dem Sammeln gegenüber
einen Neuanfang bedeutet, sondern gerade in dem qualitativen Sprung, den
sie vollbringt, zugleich eine Fortsetzung und Weiterführung der älteren For¬
mation vorstellt. Uns interessieren hier die auf dieser Basis im Alltagsleben
entstehenden neuen Bedürfnisse, jene Forderungen des Tages, die die neue
Gesellschaft an die Kunst stellt. Auf der einen Seite ist der Zerfall des Ur¬
kommunismus das Ausschlaggebende: die urwüchsige Gesellschaft löst sich
auf, das Problem der Widersprüchlichkeit zwischen der Gesellschaft und den
sie bildenden Individuen wird vom Leben selbst aufgeworfen. Wir haben
bereits früher, unter Berufung auf Marx, darauf hingewiesen, daß Inhalt und
Form, Struktur und Entwicklung etc. dieser Umwälzung sehr verschie¬
dene Wege einschlagen können; so ist insbesondere der Unterschied sowohl
zwischen Griechenland und Ägypten, Vorderasien, etc., wie zwischen beiden
und den germanischen Völkern ausschlaggebend. Die entscheidende Bedeu¬
tung der griechischen Antike liegt - für unsere Betrachtungen - vor allem
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 497
Alle Beobachter der Höhlenmalerei beschreiben die Tatsadie, daß die Dar¬
stellung keinerlei Rücksicht auf die Wand nimmt, worauf sie gemalt wurde.
Und diese ausschließliche Konzentration auf die Individualität eines mime¬
tischen Gegenstandes hat die doppelte negative Folge: das Fehlen der Zwei-
dimensionalität des Bildes lösdrt zugleich die Beziehung des dargestellten
Gegenstandes zu anderen Gegenständen im Raum und zu irgendeinem kon¬
kreten Raum selbst aus. Es ist sicher nicht zufällig, daß, wenn, wie wir ge¬
sehen haben, eine derartige beziehungsvolle Mehrgegenständlichkeit zu ent¬
stehen beginnt, mit ihr zugleich das Wunder der singulären Individuation
erlischt, und die verknüpften Gestalten sich einer ornamentalen Verein¬
fachung und Abstraktion annähern. Und das andere Extrem der Vergangen¬
heit, die Ornamentik, läßt ihrerseits die dritte Dimension völlig ver¬
schwinden; auch wenn infolge einer reliefartigen Bearbeitung materiell¬
faktisch eine solche vorhanden ist, kommt sie für die visuell-künstlerische
Wirkung nicht in Frage. Die dargestellten Objekte sind ohne mimetische
Fülle, sie sind bloß gerade erkennbare Chiffren einer Geheimschrift, um
so mehr, als ja, wie wir ebenfalls gesehen haben, die Beziehungen der Regel
nach nicht aus dem Wesen der Gegenständlichkeit des Dargestellten ent¬
springen.
Es wäre sehr einfach und nach der Methode einer idealistischen Dialektik
auch folgerichtig, in dem uns jetzt beschäftigenden Form-Inhalt-Komplex
eine Synthese zu erblicken, die aus der rein mimetischen These und der rein
ornamentalen Antithese entsteht. Die Dialektik der Wirklichkeit ist aber weit
komplizierter als derartige Schemata. Wir haben ja gesehen, daß die von
uns geschilderten künstlerischen Richtungen und die ihnen entsprechenden
Werkstrukturen nicht auseinander entstanden, sondern ästhetische Wider¬
spiegelungen und Ausdrucksformen einer komplizierten historischen Entwick¬
lung sind. Die hier am Schluß erscheinende Negation der Negation soll also,
wie Engels über Marx’ Darstellung der Negation der Negation im »Kapital«
sagt, nicht als »Beweis« einer historischen Notwendigkeit auftreten: »Im
Gegenteil: nachdem er geschichtlich bewiesen hat, daß der Vorgang in der
Tat teils sich ereignet hat, teils noch sich ereignen muß, bezeichnet er ihn zu¬
dem als einen Vorgang, der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz
vollzieht1.« Dies gilt in gesteigerter Weise für den hier behandelten Fall,
da es sich in ihm nicht um eine primäre Bewegung des gesellschaftlichen
solcher Komplex als Mythos, Sage, heiliges oder weltliches Schrifttum die in¬
haltliche Forderung der künstlerischen Darstellung gegenüber ausmacht, so
ist er bei aller inhaltlichen Bestimmtheit, selbst bei einer theologisdi tiefsinni¬
gen exakten Formulierung, vom Standpunkt des Künstlers aus ein Rohstoff
chaotischen, formlosen Charakters. Richtung und Geformtheit entstehen erst,
wenn der Künstler das ihm so als Postulat, als sozialen Auftrag Entgegen¬
gestellte in einen künstlerisch konkreten Bildinhalt verwandelt, denn die
malerische Formgebung kann - sowohl die dekorative, wie die mimetische,
wie auch ihre Einheit im Zusammenfallen der dreidimensionalen Komposi¬
tionsprinzipien und -elemente mit den zweidimensionalen - nur als beson¬
dere Form dieses nunmehr zum Besonderen und nicht mehr bloß ikonogra-
phisch allgemeinen Inhalts zur Geltung gelangen. Natürlich muß diese Be¬
ziehung in der dialektisch richtigen Proportion verstanden werden. Weder ist
die Malerei ein einfaches Verwirklichen des ikonographisch gestellten sozia¬
len Auftrags, noch ist dieser ein simpler Anlaß, aus dem die Kunst Beliebiges
machen kann. Sein Wesen ist am besten als Spielraum umschrieben: konkret,
indem er die Wünsche des Alltags irgendwie zusammenfaßt, ihnen eine ge¬
wisse Gestalt, eine gewisse Richtung usw. verleiht; abstrakt, indem erst die
künstlerisch formende Tätigkeit, die in ihm schlummernden, oft wider¬
spruchsvollen Möglichkeiten eindeutig verwirklicht. Riegl selbst gibt ein sehr
anschauliches und lehrreiches Beispiel für die hier entstehenden, überaus ver¬
wickelten Beziehungen. Er zeigt, daß bestimmte derartige Inhalte zwar im
Durchschnitt eine gewisse Konvergenz zu bestimmten Formlösungen besitzen,
daß aber dabei keine eindeutige oder gar zwingende Bindung vorliegt, daß also
verschiedene Lösungswege im Bereich des Möglichen liegen, ohne die funda¬
mentale Inhaltlichkeit völlig aufzuheben, wenn sie dadurch auch beträchtlichen
Variationen unterliegt. Es handelt sich bei Riegl um die sogenannten Regen¬
tenbilder, um ein, in sozial wohlbegründeter Weise beliebtes Thema der hol¬
ländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Riegl zeigt nun nicht nur theoretisch,
sondern an Hand eines großen Tatsachenmaterials, daß dieses Thema »natur¬
gemäß« eine auf koordinierte Aufmerksamkeit gerichtete Kompositionsweise
fordert und hervorbringt. Er zeigt aber zugleich, wie Rembrandt in seinen
»Staalmeesters« an die Stelle der Koordination eine Subordination setzte, da
er auch hier den Grundsatz seiner Weltanschauung befolgte, die »in seinen
Vorwürfen stets nach dem Keime eines dramatischen Konflikts begehrte1«.
Mit den weiteren Details dieser Frage brauchen wir uns hier nicht beschäftigen.
Es bleiben bloß zwei Feststellungen wichtig: erstens, daß der »ikonographi-
sche« soziale Auftrag einen bestimmten kompositioneilen Spielraum für die
Künstler darbietet, auch wenn die dabei auftretenden Unterschiede sich nicht
immer zu der hier zutage tretenden Gegensätzlichkeit zuspitzen; zweitens,
daß dabei Prinzipien auftreten, die in ihrer Unmittelbarkeit sowohl die zwei-
wie die dreidimensionale Komposition formal zu ordnen berufen sind
(Koordination und Subordination), die jedoch, sobald sie in künstlerische
Praxis umgesetzt werden, eine für die Qualität der evokativen Wirkung des
Bildes ausschlaggebende inhaltliche Richtung einschlagen (hier: ruhige Zu-
ständlichkeit oder innere Dramatik). Diese zusammenhängende Doppel¬
bestimmung zeigt einerseits die sowohl feste wie elastische, dialektische
Wedaselwirkung zwischen den inhaltlichen und formalen Momenten des
Kunstwerks, andererseits, wie die Stellungnahme des Künstlers zu den großen
Fragen seiner Zeit zugleich Ausgangspunkt und krönenden Abschluß der Ge¬
staltung, gerade in bezug auf die scheinbar rein formale Frage des letzthin
dekorativen Formprinzips im Bilde bedeutet. Rembrandts überwältigende
Größe beruht nicht zuletzt darauf, daß er im aufsteigenden bürgerlichen
Holland, wo künstlerisch hochstehende Zeitgenossen wesentlich eine von
ihnen bejahte Sekurität der bürgerlichen Gesellschaft erlebten, immer wieder
auf deren dramatische Widersprüchlichkeit gestoßen wird; auch der hier be¬
handelte kompositioneile Gegensatz zwischen Koordination und Subordina¬
tion hat seine Quelle darin. Beiläufig bemerkt: es wäre ein großer - schema¬
tisch-formalistischer — Fehler, den Kontrast solcher Kompositionsprinzipien
mit den hier angedeuteten weltanschaulichen Gegensätzen einfach zu iden¬
tifizieren. Subordination kann sehr wohl Ruhe und Gleichgewicht ausdrük-
ken, wie in der Madonna von Castelfranco Giorgiones, aber wenn etwa
Pieter Brueghel die Kreuztragung Christi so »koordiniert« gestaltet, daß die¬
ser in der unendlichen Flut der Opfer (nämlich des Regimes von Alba in
Flandern) fast verschwindet, so handelt es sich um eine bis dahin unbekannte,
großartige Steigerung des dramatisch-tragischen Prinzips. Und es ist ohne
weiteres klar, daß das hier Ausgeführte in allen Fällen der Anwendung deko-
rativ-kompositioneller Prinzipien für das letzthinnige formale Zusammen¬
fassen mimetisch-welthafter Gebilde gültig bleibt.
Unsere bisherigen Darlegungen haben gezeigt, daß die abstrakten Wider-
spiegelungsformen, die die weltschaffende Mimesis sich einverleibt, nicht nur
in keinem antinomischen Gegensatz zu den mimetisch-realistischen Tendenzen
stehen, sondern infolge ihrer fruchtbaren Widersprüchlichkeit gerade diese
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 5°7
zu verstärken berufen sind. Diese Feststellung ist für uns nicht neu. Schon
bei der Betrachtung des Rhythmus haben wir Schillers Worte darüber ange¬
führt, wie dessen bewußt fundierende Anwendung im Wortkunstwerk vor
allem dazu dient, die realistische Widerspiegelung der Wirklichkeit auf ein
höheres Niveau zu erheben. Eine gewisse scheinbare Paradoxie entsteht nur
dort, wo ornamentale Elemente, die auf einer anfänglichen Stufe für sich
allein dazu ausreichen, eine große, freilich weltlose, aber gerade in dieser
Weltlosigkeit innerlich vollendete Kunstart zu schaffen, deren Gültigkeit
nicht aufgehört hat und nicht aufhören wird, Bestandteile einer mimetischen
Gestaltung in der Malerei werden. Es war notwendig, ihre Funktion
in der neuen weltschaffenden Malerei ausführlich darzulegen, weil sie ja
gerade hier - und mit Ausnahme der Reliefplastik nur hier - solche Funk¬
tionen erhielt. Überall sonst sind die abstrakten Formen von vorneherein
bloße Momente der Gesamtgestaltung, ohne die Fähigkeit, selbständig ab¬
geschlossene ästhetische Systeme zu formen; und in den anderen Künsten,
in Literatur oder Musik, ist das dekorativ-ornamentale Prinzip nur im über¬
tragenen, indirekten Sinne wirksam. (Wir werden alsbald sehen, daß hinter
einer solchen scheinbar bloß metaphorischen Bedeutung reale ästhetische Pro¬
bleme verborgen sind, obwohl man diese keineswegs mit den hier behandel¬
ten gleichsetzen darf.)
Eben deshalb mußte die Scheinparadoxie gerade durch Behandlung der Male¬
rei aufgelöst und damit gezeigt werden, daß die ornamental-dekorativen
Tendenzen in der Malerei ihrem ästhetischen Wesen nach im Dienst der voll¬
endet künstlerischen Gestaltung der Mimesis stehen. (Daß im Laufe der Ge¬
schichte oft Bilder entstehen, in denen das Vorherrschen des dekorativen
Prinzips zur Flachheit oder Leere, oder das des mimetischen zu einer Un-
geordnetheit im künstlerischen Sinne führt, ändert nichts an der Gültigkeit
dieser Feststellung.) Dieser Dienst besteht im wesentlichen darin, daß die Ab¬
geschlossenheit und damit vor allem der typische Charakter der Gestalten
und Situationen eine sonst nicht erreichbare Steigerung erhält. Wir haben ja
soeben darauf hingewiesen, daß die dem Anschein nach abstrakt-formalsten
dekorativen Ordnungsprinzipien im Kontext der mimetischen Darstellung
einen konkret-inhaltlichen Stimmungswert, eine konkret-gehaltvolle evoka-
tive Macht erlangen, wodurch rein kompositionell-positionell das in der
wahrheitsgetreuen Widerspiegelung richtig Angelegte über seine an sich vor¬
handene Typik weit hinausgetrieben werden kann. Das dekorativ-ornamen¬
tale Arrangement - wiederum erst in dieser unzertrennbaren Einheit mit
dem mimetisch Zutreffenden - kann auch dazu dienen, Individualität, hier-
508 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Hier kommt es nicht darauf an, den Versuch zu machen, alle diese Relations¬
systeme aufzuzählen und zu zergliedern. Das bisher Angeführte genügt wohl,
um die wechselseitige Stärkung des Mimetischen und des Dekorativen in der
Malerei als Basis ihres Weltschaffens ins Licht zu stellen. Und da beide Prin¬
zipien der sinnlich-visuellen Widerspiegelung der Wirklichkeit sind, entsteht
aus ihrem vereinten Wirken nicht nur eine Welt überhaupt, sondern eine,
deren sämtliche Bestimmungen unmittelbar im homogenen Medium der rei¬
nen Sichtbarkeit verwurzelt sind, die außerhalb seines Bereichs keine ästheti¬
sche Existenz, keine ästhetische Geltung beanspruchen können. Wenn hier der
Ausdruck »unmittelbar« gebraucht wurde, so geschah es in einem doppelten
der Künste bringt es mit sich, daß solche allgemeine Darlegungen konkreter
werden können, wenn sie unmittelbar an die besonderen Probleme einer be¬
stimmten Kunst anknüpfen. Mutatis mutandis war aber hier von jeder welt¬
schaffenden Kunst die Rede.) Die strenge Gesetzlichkeit, die das so kompli¬
zierte Beziehungs- und Gegenständlichkeitssystem der Kunstwerke durch¬
dringt, macht aus jedem ein Objekt sui generis, das in einem unaufhebbaren
Ansichsein jedem Subjekt gegenübersteht, dessen - ästhetische - Existenz
von diesem Subjekt völlig unabhängig in Geltung bleibt. Das ist eine weitere
Seite des Kunstwerks als eigener Welt. Jedoch diese seine — ästhetische -
Existenz ist restlos anthropomorphen Charakters. Es ist ein Gebilde, geschaf¬
fen durch die menschlich-sinnliche (hier: visuelle) Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit. Seine - ästhetische — Existenz beruht ausschließlich auf seiner
Macht der Evokation einer Welt in den aufnehmenden Subjekten. Es ist also
eine eigene Welt nicht nur für sich, sondern zugleich und untrennbar davon die
eigene Welt des Menschen. Alles, was bis jetzt über den Anthropomorphismus
der ästhetischen Sphäre gesagt wurde, erreicht hier seine echte Erfüllung. Das
Vordringen der sich vertiefenden Widerspiegelung der Wirklichkeit und
ihrer den Gesetzlichkeiten der Ästhetik angemessenen Bearbeitung geht nicht
in die Richtung einer Entfernung von den Gegebenheiten des menschlichen
Lebens; ihre Tendenz auf Objektivität ist also nicht desanthropomorphisie-
rend, wie wir dies für die wissenschaftliche Widerspiegelung feststellen
konnten. Der Weg zur Objektivität führt hier vielmehr - gerade beim Er¬
reichen des Zieles - in das Subjekt des Menschen zurück. Die eigene Welt
der Kunst in diesem Doppelsinn, einerseits als Eigenheit der in sich ab¬
geschlossenen, vom Subjekt unabhängigen Objektivität und andererseits als
tiefste Enthüllung dessen, was am Subjekt wirklich wesenhaft ist, drückt
diese fundamentale, fruchtbare und bewegende Widersprüchlichkeit des Äs¬
thetischen prägnant aus. Der Widerspruch kann aber nur dann fruchtbar
werden, wenn seine beiden Pole voll ausgebildet sind und als solche zuein¬
ander in ein derart unaufhebbares Verhältnis treten. Indem also das mensch¬
liche Leben (im weitesten Sinne des Wortes gefaßt) zum Objekt und der
lebendige, seines Menschseins würdige Mensch zum Subjekt des Ästhetischen
werden, drückt die Struktur des Kunstwerks diese Einheit in der Form der
absoluten Identität des Innern und des Äußern aus. Auch diese Bestimmung
ist unmittelbar gesehen eine formale, denn das sinnlich-evokativ Werden
einer jeden Innerlichkeit im homogenen Medium der betreffenden Kunstart
bedeutet, daß alles, was am Menschen, an seinen Beziehungen, dem Inneren
angehört, - ästhetisch - nur so weit existent werden kann, als es in den
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 5”
So erhöht die künstlerische Form den Menschen. Die eigene Welt der Kunst
ist weder im subjektiven noch im objektiven Sinn etwas Utopisches, etwas,
das über den Menschen und seine Welt transzendierend hinausweisen würde.
Sie ist die eigene Welt des Menschen, wie wir gezeigt haben, im subjektiven
wie im objektiven Sinne, und zwar so, daß die höchsten konkreten Möglich¬
keiten von Mensch und Welt in sinnlich unmittelbarer Verwirklichung seiner
besten Bestrebungen real und ihm zutiefst eigen vor ihm stehen. Auch wenn
die Kunst - etwa in der Poesie oder Musik - scheinbar eine Welt des Sollens
dem Menschen gegenübergestellt, nimmt diese in ihr die Form eines erfüllten
Seins an, und der die zweite Unmittelbarkeit des Werks erlebende Mensch
kann mit ihr als mit seiner eigenen Welt in Verkehr treten. Erst im »Nachher«
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
512
der Wirkung tritt der Sollenscharakter wieder auf; aber auch hier rücken die
großen Kunstwerke - einerlei ob ihr Gehalt ein Sollen beinhaltet oder nicht
- wieder zusammen: auch das idyllischste Lied oder das einfachste Stilleben
drückt in einem bestimmten Sinn ein Sollen aus: es richtet sich an den Men¬
schen des Alltags mit der Aufforderung, jene Einheit und Höhe, die im Werk
verwirklicht erscheint, ebenfalls zu erreichen. Es ist das Sollen jeden erfüllten
Lebens.
Die komplizierte Dialektik, die in solchen Formulierungen evident wird,
kann bei richtiger Analyse die Eigenart des Kunstwerks, der einzig adäquaten
Verwirklichungsform des Ästhetischen, deutlicher machen. Es zeigt sich näm¬
lich, daß bestimmte Begriffe, die für das Aufdecken des Wesentlichen in ein¬
zelnen Sphären der menschlichen Aktivität vollständig unentbehrlich sind
- wie Erkenntnis für die Wissenschaft, wie Sollen für die individuelle Moral -
bei dem Versuch, die entscheidende Eigentümlichkeit des Ästhetischen zu um¬
reißen, eine doppelte Rolle spielen: einerseits erweist sich ihre Anwendung
auf das Ästhetische, vor allem auf das Kunstwerk, als inadäquat. Das Objek¬
tivieren aller Erscheinungen in den Werken der Kunst deckt zwar manche,
bis dahin oft unerreichbare Bestimmungen des Seins und des Wesens auf,
geht also hier, ebenso wie im Erforschen der Bestimmungen des menschlichen
Innenlebens parallel mit der Wissenschaft; trotzdem fühlt jeder sofort,
daß dieses Vermehren, Bereichern, Vertiefen unseres Wissens von der Welt
und vom Menschen mit dem Begriff Erkenntnis inadäquat umschrieben ist.
Das vom Kunstwerk Gebotene kann zugleich mehr und weniger sein als Er¬
kenntnis. Es ist insofern mehr, als die Kunst oft imstande ist, Tatbestände
aufzudecken, die bis dahin der Erkenntnis unzugänglich waren und sie kann
dies sogar in einer Weise tun, daß das Umsetzen in die desanthropomorphi-
sierende Kenntnis noch lange Zeit unmöglich bleibt, ja es kann sich um Erwei¬
terungen unserer Kenntnis der Welt und der Selbsterkenntnis handeln, die
- aus verschiedenen Gründen — nie eine genaue Umschreibung im Sinne dieser
Begriffssysteme erfahren werden. Es ist weniger, weil das bei ihr Dargebotene,
aus der Perspektive und Methodologie der Wissenschaft gesehen, immer nur
den Charakter einer Faktizität haben kann. Der künstlerisch und ästhetisch
unbedingt geforderte »Nachweis« ihrer Notwendigkeit kann sich, rein wis¬
senschaftlich gesehen, nie über das Niveau erheben, das Moment der Not¬
wendigkeit im Geradesosein eines Phämomens oder eines Komplexes von
Phänomenen unmittelbar evident zu machen. Vom Standpunkt der Erkennt¬
nis im eigentlichen Sinne rücken also Alltagsleben und Kunst eng zusammen,
als ein gewaltiges Reservoir von Fragestellungen und Beobachtungen, die für
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 5i3
ein jeweiliges homogenes Medium, ihr Konzentrieren der Totalität der Be¬
stimmungen in je eine sinnlich-evokative Erscheinungsweise, die diesem ent¬
springt, bringt als notwendige Voraussetzung des Wirkens auch eine Subjek¬
tivität hervor, die über die Schranken des bloßen Alltags, wenigstens der
Intention nach, hinausragt.
Erst von diesem Standpunkt wird das spezifische Wesen der im Kunstwerk
widergespiegelten und mimetisch gestalteten Erkenntnis verständlich. Sie ist
und bleibt noch viel entschiedener als im Alltagsleben subjektbezogen. Was
jedoch hier nur spontan und höchstens bei einigen Individuen bewußt geschieht,
wird dort zur Zentralaufgabe, nämlich, daß die Bezogenheit auf das Subjekt
im Sinne seiner Höherentwicklung angelegt ist. Über eine Seite dieser Forde¬
rung haben wir bereits gesprochen: über die Zusammengehörigkeit von Selbst¬
erkenntnis und Weltkenntnis. Ein weiterer Zug dieser Intention ist gegen
jede schematisierende Routine, gegen jede Fetischisierung gerichtet. Das
künstlerische Betrachten der Wirklichkeit, die Voraussetzung für jede echte
Mimesis, will jeden Gegenstand, so wie er wirklich ist, so wie er im konkret
gegebenen Zusammenhang notwendig erscheint, so wie ihn das homogene Me¬
dium gesteigert zur Anschauung bringt, erblicken; d. h. ganz neu, ganz von
Anfang an, als ob über diesen Gegenstand noch nie eine Vorstellung, eine
Meinung usw. existiert hätte. (Wieviel Erkenntnis und Wissen nötig ist,
so zu sehen und das Gesehene so zu versinnbildlichen, gehört nicht hierher.)
Das ist eine bedeutsame Befreiung von den Schranken des Praktizismus des
Alltagslebens, in welchem gerade infolge des unmittelbar praktischen Verhal¬
tens zu den meisten Gegenständen (Menschen und menschliche Beziehungen
mitinbegriffen) diese sehr oft zu abstrakten Vorstellungen verblassen, sogar
zu solchen, die nicht aus erster Hand, nicht vom Subjekt überprüft entstanden
sind, sondern als praktisch brauchbare Klischees unbesehen von Hand zu
Hand gehen. Die wahre Kunst ist als solche ein heilsamer Bruch mit diesen
im Alltagsleben weitgehend unvermeidlichen Gewohnheiten, die aber dem
Menschsein des Menschen doch Abbruch tun können und oft tun.
Die Kunst entdeckt jedoch nicht bloß diese neue Unmittelbarkeit, sondern
verfestigt sie auch. Sie wird damit nicht nur zum sehenden, hörenden, emp¬
findenden Organon der Menschheit — der Menschheit in jedem einzelnen
Menschen —, sie ist zugleich auch ihr Gedächtnis. Wieder muß an den Kon¬
trast mit dem Alltag gedacht werden: an die unendlich vielen flüchtig und
zeitweilig fixierten Gedächtnisbilder, die in ihrer Mehrzahl mehr mnemo¬
technische Erinnerungszeichen als noch so abstrakte Widerspiegelungen wirk¬
lich konkreter Gegenstände sind, an das Invergessenheitgeraten wichtiger
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 515
Ereignisse, Personen, Situationen, Beziehungen etc., die sehr oft, wenn ihre
unmittelbar praktische Bedeutung vorbei ist, im Bewußtsein total verschwin¬
den und, selbst wenn gewollt, nicht mehr verlebendigt werden können, an
die Belastung des Gedächtnisses mit störend überflüssigen Fakten, etc. etc.
Die Kunst leistet hier ein Doppeltes: einerseits wird das der Erinnerung Wür¬
dige in einer dieser Werthaftigkeit entsprechenden Form künstlerisch fest¬
gehalten; ob der einzelne subjektive Akt der Aufnahme zu einem Erinnert¬
werden führt, verliert jenen entscheidenden Akzent, den er im Alltagsleben
hat, denn er kann ja - dem Prinzip nach - immer aufs neue evoziert wer¬
den. Wie immer auch der so fixierte Gegenstand aus den einzelnen Gedächt¬
nissen entschwinden mag: im Gedächtnis der Menschheit ist er - dem Prinzip
nach - permanent festgehalten. Andererseits wird eben das der Erinnerung
Würdige in dieses Gedächtnis einverleibt: das, was unseren Begriff vom Men¬
schen, von seinen Beziehungen, von der Natur, mit der er verbunden ist,
erweitert, bereichert, vertieft. Beständigkeit, d. h. immer neue Reproduzier¬
barkeit vereinigt sich hier in untrennbarer Weise mit der richtigen Auswahl:
das Gedächtnis der Menschheit hält nur das Wichtige fest und belastet sich
nicht mit Überflüssigem.
Natürlich ist dieser Tatbestand samt seinen Folgen keineswegs jedem Men¬
schen im Alltag bewußt. Dennoch haben die Traurigkeit des Vergessens, die
Angst vor dem Vergessenwerden eine sehr große Allgemeinheit. Ihre ver¬
breitetste, unmittelbarste Form ist Angst, eine objektiv unerfüllbare Sehn¬
sucht, auf die deshalb auch die Kunst keine Antwort zu geben imstande ist.
In und hinter dieser Sehnsucht, befreit von den leeren Versprechungen ein¬
zelner Religionen, die auf diese Weise die Enge der Personengebundenheit
des Alltags verewigen, ist eine tiefere verborgen: das Gefühl der Menschheit
in den einzelnen Individuen, der Wunsch, das ihr Angemessene für sie zu
retten. Goethe hat dieses Gefühl in seiner konkreten, normal-unmittelbaren
Verkörperung, es ins Wesentliche, Objektive, Menschheitliche steigernd, in
der Elegie »Euphrosyne« gestaltet. Er läßt die scheidende, die dem Hades
zueilende Euphrosyne folgende Worte an den Dichter richten:
Mit echt poetischer Plastik wird hier der Name mit der Würdigkeit, im Ge¬
dächtnis der Menschheit weiterzuleben, gleichgesetzt, zugleich jedoch die ent¬
scheidende Rolle der Kunst hervorgehoben. Das Nennen des Namens bedeu¬
tet hier: Gestalten der wesentlichen Typik. Der Materialist Goethe meint, der
Mensch, wenn er gestorben ist, »gehört den Elementen an«. Ob er gleich
selbst zuweilen mit dem Einfall, die bedeutendsten Entelechien würden sich
erhalten, ein geistvolles Gedankenspiel treibt und kaum berührt davon, daß er
nicht nur in der zitierten Elegie, sondern auch im Abschluß der Helenatragödie
dieses Aufbewahrtseins im Gedächtnis der Menschheit als ein Weiterleben
der Gestalt im Hades gestaltet, tritt das von uns theoretisch Gefaßte über die
Mission der Kunst als Gedächtnis der Menschheit bei Goethe in poetischer
Weise ganz klar hervor. Er ist zutiefst überzeugt, daß alles Echte und Ver¬
wirklichte am Menschlichen, unabhängig davon, was es als Begabung und
Leistung vorstellt, letzten Endes gleich ist, und einer Verewigung durch die
Kunst würdig bleibt. Darum läßt er am Schluß der Helenaszene, wo die von
uns zitierten Worte von der Auflösung des Menschen in die Elemente der
Natur fallen, die Chorführerin sagen: »Nicht nur Verdienst, auch Treue
wahrt uns die Person.« Wobei nach den bisherigen Darlegungen klar ist, daß
der Begriff »Person« nur eine dem Alltagsdenken entsprechende, aber mytho¬
logisiert sinnfällig gemachte Erscheinungsform der Aufbewahrung im —
von der Kunst betreuten - Gedächtnis der Menschheit ist. Mit der anonymen
Treue wird der demokratische Grundgedanke, die Unabhängigkeit einer
solchen »Verewigung« von Genie, Leistung etc. hervorgehoben.
Die letzten Erörterungen sind bereits mit dem jetzt zu behandelnden zweiten
Komplex eng verbunden: mit dem Problem des Sollens in der evokativ-
mimetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit und ihrer adäquaten Wir¬
kung. Die zuletzt behandelten Fragen sind ihrem inhaltlichen Wesen nach
ethische. Schon deshalb ist es ohne weiteres klar, daß die Auswahl, die das
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 517
und zwar, wie wir gesehen haben, auf ein solches Sichtbarwerden, worin,
untrennbar vom historischen hic et nunc, gerade dieses unaufhebbar festhal¬
tend, das zum Ausdruck gelangt, wodurch gerade dieses Phänomen als we¬
sentliches Moment in die Entwicklung der Menschheit eingeht, und als solches
durch das Kunstwerk in ihr Gedächtnis einverleibt werden kann. Wir haben
bei dieser Bestimmung die bloße Unmittelbarkeit in diesem scheinbaren Amo¬
ralismus der Kunst hervorgehoben. Tatsächlich herrscht diese Spannung zwi¬
schen Alltagsleben und Kunst in der Gestalt Tartuffes oder Jagos ebenso wie
in der von Brutus oder Horatios, in einer Karikatur Daumiers ebenso wie in
den Prophetenbildern der Sixtinischen Kapelle. Bereits diese Beispiele zei¬
gen, daß damit für die Kunst kein ethischer Neutralismus proklamiert wird.
Im Gegenteil. Ihre elementare Parteilichkeit, die sich darin äußert, daß jeder
Akt einer Mimesis zugleich eine positive oder negative Stellungnahme zum
dargestellten Objekt mitenthält, bestätigt sich auch hier: die Beispiele von
Moliere und Shakespeare, von Daumier und Michelangelo sprechen eine so
deutliche Sprache, daß sie jeden Kommentar überflüssig machen. Der mikro¬
kosmische Charakter des Kunstwerks enthält die Intention, auch das ge¬
samte ethische Leben des Menschen, das Böse ebenso wie das Gute, in einer
solchen Widerspiegelung evokativ zu machen, jedoch so, daß darin das Blei¬
bende, das in die Kontinuität der Menschheitsentwicklung Eingehende in der
richtigen, dauernden Dynamik und Proportionalität gestaltet werde. Das
wenigstens annähernde Gelingen dieser Intention ist ein wichtiges Moment
der Wirkung bzw. des Veraltens der Kunstwerke. Da aber die Menschheits¬
entwicklung auch in dieser Hinsicht einen sehr verschlungenen Weg geht, er¬
klären sich daraus zugleich die oft Jahrtausende währenden Schwankungen
des Lebendigbleibens und des Invergessenheitgeratens von Autoren und
Werken.
Wir sehen also sowohl bei der Erkenntnis wie beim Sollen eine merkwürdige
Mischung von Konvergenz und Divergenz dieser Kategorien in den ver¬
schiedenen Sphären. Die scheinbaren Paradoxien, die sich dabei ergeben, lösen
sich leicht auf, wenn man bedenkt, daß Wissenschaft, Ethik und Ästhetik
einerseits ihrem Prinzip nach universell, auf das ganze Leben der Menschen
angelegt sind. Andererseits müssen sich diese Bereiche im Laufe der Mensch¬
heitsentwicklung, infolge der verschiedenen, aber gleich unentbehrlichen
Funktionen, die jede von ihnen erfüllt, stark differenzieren und eigenartige
Strukturen, Kategoriensysteme, Verhaltensarten etc. ausbilden. In diesem
Sinne muß immer wieder daran erinnert werden, daß die Selbständigkeit
einer jeden solchen Sphäre relativ ist. Sie kann zwar ihre Funktion in der
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 519
Gesamtheit des menschlichen Lebens nur dann richtig erfüllen, wenn sie diese
Selbständigkeit bewahrt und ausbildet. Aber ihre bestimmenden Probleme
steigen doch aus der breiten Basis des Alltagslebens auf und ihre Ergebnisse
münden in sie zurück. Dieses Grundfaktum darf nie außer acht gelassen wer¬
den, wenn ihre Beziehungen zueinander zu betrachten sind. Sonst ent¬
steht die Gefahr einer metaphysischen Überspannung der Selbständigkeit
solcher Sphären. Wirkliche Paradoxien würden also erst entstehen, was frei¬
lich im Laufe der Geschichte des menschlichen Denkens oft geschehen ist, wenn
man entweder ihre notwendige Konvergenz zur Identiät übersteigern würde,
oder die vorhandenen wichtigen Differenzen, die bereditigten Tendenzen zur
autonomen Geltung, in eine metaphysische Trennung und absolute Selbstän¬
digkeit erstarren ließe. Sobald diese beiden falschen Extreme vermieden
sind, lassen sich die oft komplizierten Beziehungen unschwer konkretisieren
und in ihrer Konkretheit ohne Paradoxie erklären. So, wie wir gesehen
haben, der angebliche Amoralismus der Kunst und, wie wir noch sehen wer¬
den, der Versuch einer unmittelbaren Anwendung ästhetischer Kategorien
auf das moralische Leben der Menschen.
Für das uns jetzt beschäftigende Problem der eigenen Welt der Kunstwerke
folgt vor allem ein inhaltlicher Universalismus. Das bedeutet keineswegs, daß
jedes Werk die Verpflichtung hätte, alle Phänomene seines historischen Stand¬
orts widerzuspiegeln. Es handelt sich auch hier um eine Universalität im in¬
tensiven Sinne; d. h. um die unversalistische Auffassung und Wiedergabe
jenes konkreten Komplexes, der gerade zum Thema eines bestimmten Werks
geworden ist. Auch diese universalistische Tendenz ist je nach Kunstart und
Kunstgattung enger oder umfassender, aber die Richtung auf Allseitigkeit in
bezug auf die Möglichkeiten des konkreten Vorwurfs bleibt bei allen diesen
qualitativen Unterschieden bestehen. Den Zusammenhang einer solchen
formbedingten intensiven Unendlichkeit mit dem Kunstwerk als eigener
Welt haben wir bereits gesehen. Daraus, daß dadurch die wichtigsten Er-
scheinungs- und Wesensformen anderer gleichwertiger Gebiete zum bloßen,
nach souverän gesetzten eigenen Gesetzen behandelten Stoff werden, ent¬
stehen aber keine notwendigen Konflikte. Freilich nur dann, wenn begriffen
wird, daß jedes solche Gebiet seine Stoffe aus dem Leben nimmt, wo in dessen
unmittelbarer Praxis alle Ergebnisse der differenzierenden, Objektivierungen
schaffenden Sphären vereint vorhanden sind, und in dieser Vereintheit auf
diese zurückwirken. Es wird also nicht die Ethik an sich zum Stoff der Äs¬
thetik etc., sondern beide entnehmen ihren Stoff aus dem durch sie befruchte¬
ten Alltagsleben.
520 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Die Spannung, die aus der Zusammenfassung aller solcher Bestimmungen zur
eigenen Welt der Kunstwerke entsteht, ist letzten Endes die zwischen Mensch
und Menschheit. Sie liegt der objektiven Gestaltung zugrunde und äußert sich
nicht nur im Prozeß, der zu ihr führt, sondern in ihr selbst. Wären die Typen
der Kunst einfache Verallgemeinerungen, so würde natürlich diese Spannung
fehlen, mit ihr jedoch auch das unendlich kreisende Leben des Werks und sei¬
ner Teile. Erst dadurch, daß sowohl das Ganze wie jedes Detail in dieser
Spannung, von dieser Spannung lebt, daß beide gleichzeitig zur äußersten
Einzelheit und zur größten Verallgemeinerung streben, entsteht die erhöhte
und gediegene Lebendigkeit des Typischen. (Wie aus dieser Beschaffenheit der
ästhetischen Gebilde die Zentralstelle der Kategorie der Besonderheit ent¬
springt, und was sie für das ästhetische Prinzip bedeutet, werden wir später
in einem eigenen Kapitel darstellen.) Liegt also schon objektiv eine der¬
artige Spannung zwischen Mensch und Menschheit der Struktur des Werks
zugrunde, so äußert sich diese noch offenkundiger in der ästhetischen Wir¬
kung. Daß diese eine Erhöhung, eine Erweiterung und Vertiefung des gan¬
zen Menschen mit sich führt, ist so evident, daß diese Züge, freilich sehr ver¬
schieden interpretiert, in fast allen Beschreibungen wiederkehren.
Jedoch häufig in einer Weise, die diesen Charakter verzerrt widerspiegelt.
Es kann die so entstehende Wirkung einfach verflacht werden. So in allen
Theorien, die den evokativen Effekt der mimetischen Widerspiegelung mit
»Illusion« oder mit »Einfühlung« umschreiben. Im ersten Fall wird das Ver¬
halten zur Kunst auf das Niveau des Alltags herabgeschraubt. Dort (und mit
manchen Änderungen auch in der wissenschaftlichen Erkenntnis) kommt es
ausschließlich auf die Realität des Objekts an, auf das genaue Wissen, wie¬
weit der Vorstellung eines Objekts eine Realität entspricht. Illusion, wie
bereits ausgeführt, ist im eigentlichen Sinne eine Täuschung in dieser Hin¬
sicht. Wir wissen aber bereits, daß in der Kunst diese ganze Dualität fehlt:
der Rezeptive verhält sich von vornherein zu einem Widerspiegelungsbild
und ist sich - dem Prinzip nach - darüber auch im klaren. In einer vermit-
telteren Weise nivelliert auch die Theorie der Einfühlung das ästhetische Er¬
lebnis auf die Ebene des Alltags. Einfühlung ist dort ein spontan entstehen¬
des, sehr verbreitetes Verhalten. Angefangen damit, daß viele etwa die Ge¬
räusche der Lokomotive gefühlsmäßig als Ungeduld empfinden — hier zeigt
sich klar, daß die Einfühlung ihrem Wesen nach etwas der Analogie im Den¬
ken empfindungsmäßig Entsprechendes ist -, und darin endend, daß eben¬
falls viele den Mitmenschen danach beurteilen, was sie selbst an seiner Stelle
in der gegebenen Lage tun würden, zeigt sich die Einfühlung schon im
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 521
Alltagsdenken als eine unbeholfene und grob vereinfadiende Art des Reagie-
rens auf die objektive Wirklichkeit. Schon die entwickeltere Menscheirkennt-
nis des Alltags geht, von Erfahrungen gewitzigt, weit darüber hinaus; sie
versucht die Voraussetzungen, Grundsätze, Empfindungsweisen, Gewohn¬
heiten etc. des Mitmenschen zu erforschen, um auf einer annähernd sadi-
lichen Basis Urteile über sein Tun und Lassen zu bilden. Es zeigt sidr also,
daß sobald der Sinn für die Objektivität der Außenwelt erwacht, die Ein¬
fühlung auch in der Praxis des Alltags in den Hintergrund gedrängt wird.
Damit wird ihre Rolle im Alltagsleben nicht bestritten; wir erinnern daran,
was wir über die positiven Seiten des Analogisierens ausgeführt haben. Frei¬
lich ist die Einfühlung immer auf das Subjekt (und auf seine Empfindungen)
bezogen; was in der Analogie keineswegs unbedingt der Fall ist. Die nega¬
tiven Seiten der Analogie treten also in der Einfühlung viel krasser hervor,
als in dieser selbst. Es ist kein Zufall, daß diese Kategorie in der Ästhetik
erst dann - freilich vorübergehend - eine zentrale Stelle einnimmt, wenn
in der bürgerlidien Philosophie der subjektive Idealismus den objektiven
verdrängt, wenn in der theoretischen Begründung der künstlerischen Praxis
subjektivistische Tendenzen die Oberhand erhalten. (Theorien des Impres¬
sionismus, teilweise auch schon des Naturalismus am Ende des 19. Jahr¬
hunderts.) Durch all dies wird in der ästhetischen Anwendung nicht nur die
subjektivistische Wesensart der Einfühlung entscheidend, sondern auch das
Herunterziehen der Kunst selbst und ihres Erlebens auf das Niveau des All¬
tags. Daß dies vielfach in berechtigter Opposition gegen einen lebensfremd
gewordenen Akademismus geschah, daß die Reaktion auf die Einfühlung in
noch subjektivistischeren, reaktionäreren Formen erfolgte, kann dieses Urteil
nicht abschwächen.
Noch gefährlicher und irreführender ist die fast gleichzeitig mit der Ein¬
fühlung auftretende Theorie Nietzsches vom dionysischen Rausch als Grund¬
lage der echten Beziehung des Menschen zur Kunst. Wie wir dies in der
ästhetischen Theorie und in der künstlerischen Praxis der imperialistischen
Periode oft beobachten konnten, löst die seelenlose, abstumpfende Monotonie
des Alltagslebens, die die Seele verdinglichende und vertrocknende Gewöh¬
nung an es als Gegenbewegung - die jedoch diesen objektiven Rahmen nicht
sprengt -, das Bedürfnis nach starken Reizen aus L
1 Vgl. darüber meinen Aufsatz »Volkstribun oder Bürokrat« in: »Marx und Engels
als Literaturhistoriker«, Berlin 1952, S. 141, S. 155.
522 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Beziehungen zur Welt. Wenn sie deren Aufnahme, vermittels der Wissen¬
schaft oder der Mimesis mit erheucheltem Stolz ablehnen, so bilden sie sich
bloß ein, ihre Impotenz vor sich selbst verbergen zu können. Der Absturz aus
dem Rausch in den noch entleerter erscheinenden Alltag gibt ihr doch das ihr
zukommende Recht. Waren die Rauschmittel in der magisdien Ekstase In¬
strumente einer subjektiv erlangten Erfüllung, so ist der literatenhaft-meta¬
phorische Rausch der Modernen wirklich bloß ein mißratenes Gegenstück
zum ordinären Schnapsrausdi des Spießbürgers. Ob Hitler ein ganzes Volk
zeitweilig in einen solchen Rausdi versetzt, oder Aldous Huxley sich aus der
Apotheke eine bestimmte Droge holt, um eine unmittelbare Beziehung zur
Transzendenz zu erkaufen - überall ist eine solche Scheinerhebung über
den Alltag sichtbar: die spießerisch-offene Einfühlung bleibt einfach auf des¬
sen Niveau stehen, die neuen Schamanen kehren erst in ihrem Katzenjammer
in diese ihre Heimat zurück.
Die echt ästhetische Spannung hat weder mit dem flachen, noch mit dem
»tiefen« oder trunkenen Philistertum etwas zu schaffen. Objektiv entspringt
sie im Kunstwerk aus dem gestalteten Verhältnis zwischen Mensch und
Menschheit, aus dem Emporwachsen der Gestalten und Gegenstände zu we¬
sentlichen Momenten ihres Gegenwartgewordenseins; subjektiv im Erlebnis der
Rezeptivität aus jenem tiefen Bedürfnis nach der Dauer des Wesentlichen, das
wir bereits beschrieben haben. Daß dieses sich fast immer noch mit einem fal¬
schen Bewußtsein äußert, daß es sich in den meisten Fällen rein inhaltlich
(Gestalten als Vorbilder, Lieblinge, etc.), seltener rein formal, als Freude an
der vollendet gelungenen Erscheinung zum Ausdruck kommt, ändert an die¬
ser fundamentalen Tatsache nichts. Wer Augen und Ohren, wer einen leben¬
digen Sinn für wirklich vorhandene echte Zusammenhänge von Mensch und
Welt hat, für den besitzt dieses Zugeordnetsein alles Besten, was im Leben
wirksam ist, an der Realität der Menschheit eine sichere Evidenz.
Wir sagten Realität, denn nachdem die Menschheit am Horizont der Men¬
schen bewußt erschienen ist, nahm sie lange Zeit und häufig die Form eines
bloßen Ideals, eines Postulats an. Es ist die Größe unserer Zeit, daß das
Menschheitsschicksal als Realität immer stärker ins Bewußtsein der Menschen
tritt, daß die Menschen sich in der Gegenwart als Teile der Menschheit zu
erleben lernen, daß ihnen die Vergangenheit als der von ihr zurückgelegte
Weg immer klarer vor Augen tritt. Insofern beginnen sich die Nebel des
falschen Bewußtseins zu zersetzen, die den Menschen nicht gestattet haben,
ihre eigene, an sich selbst vollzogene Verallgemeinerung anders als bloß in
der Mitgliedschaft bei einem Stamm, höchstens einer Nation denkend und
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
524
ist an dieser Feststellung die Dialektik des inneren Reichtums der Persönlich¬
keit und des Reichtums ihrer wirklichen gesellschaftlichen Beziehungen das
Wichtigste. Sie bestätigt das von uns früher allgemein Dargelegte: der Weg
zur wirklichen Ausbildung und Selbsterkenntnis des Menschen geht über seine
Eroberung der Außenwelt. Er muß diese - sei sie eine gesellschaftlich-mensch¬
liche oder eine durch sie vermittelte naturhafte - gedanklich und gefühls¬
mäßig erobern, in seine eigene Welt verwandeln. Nur so kann er sich als
Persönlichkeit erweitern und vertiefen. Die von Marx erwähnten Beziehun¬
gen existieren an sich, unabhängig von seinem Bewußtsein. Ihre Verwandlung
in ein Füruns hebt ihre Objektivität nicht auf. Dieser Prozeß jedoch, der
sich hier abspielt, kann vom Standpunkt der Persönlichkeit aus je sehr ver¬
schieden ausfallen. Die geänderten Beziehungen müssen natürlich irgendwie
zur Kenntnis genommen werden, können aber weiter-wenigstens zeitweilig-
in starrer Ausschließlichkeit dem menschlichen Innenleben gegenüberstehen
oder sie werden auch subjektiv so intensiv bearbeitet, daß der neuen Be¬
ziehung der Außenwelt eine neue oder wenigstens angemessen erneuerte
Eigenschaft in der Innerlichkeit des Menschen zu entsprechen beginnt. Im
Laufe solcher Anpassungsprozesse verwandelt sich die Bereicherung der
Außenwelt auch in eine solche der Persönlichkeit.
Hier ist das äußerste Extrem in der Entwicklung von Tierwelt und Menschen¬
welt sichtbar. Die Dialektik der Anpassung an neue Verhältnisse und die
Vererbung der so entstandenen neuen Reaktionsweisen auf die Außenwelt
regelt objektiv die Entwicklung der Tierarten. Daß im Leben der Menschen
in steigendem Maße die innere Dialektik ihrer Zusammenarbeit (die Ent¬
wicklung der Produktivkräfte) den Veränderungen Inhalt und Richtung
gibt, ist schon objektiv ein qualitativer Unterschied. Daß dabei die Struktur
jener Gesellschaft, die in Stoffwechsel mit der Natur tritt, sich differenziert,
höhere Formen aufnimmt und deshalb diesen Stoffwechsel extensiv wie in¬
tensiv wachsen läßt, ist eine weitere Steigerung der objektiven Seite dieses
Unterschiedes. Die von uns geschilderte subjektive Umwandlung vollendet
die spezifisch humane Seite dieses Entwicklungsprinzips. Eben die Tatsache,
daß die für den Menschen entscheidenden höheren Gemeinschaftsformen
(Klasse, Nation, Menschheit) nicht aus der - menschlich gesehen - Außen¬
welt stammen, sondern, wenn auch unbewußt geschaffene, eigene Hervor¬
bringungen der Menschen sind, zeigt diesen Gegensatz der tierischen und
menschlichen Entwicklung am klarsten. Darum kann nicht energisch genug
betont werden, daß das Aufsteigen des Bewußtseins von der Zugehörigkeit
des Individuums zur Menschengattung die gesellschaftlichen Bindungen zur
J2Ö Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Klasse, zur Nation nicht aufhebt, sondern ihnen einen reicheren Inhalt, ein
tieferes Pathos verleiht. Das Bewußtsein des Proletariats von seiner Mission,
die Ausbeutung und Unterdrückung im Weltmaßstab aufzuheben und damit
erst die Realität der Menschheit zu ersdiaff en, ist die deutlichste Erscheinungs¬
form dieser Lage.
In diesem Prozeß spielt die Kunst eine bedeutende, selten in ihrem vollen
Gewicht anerkannte Rolle. Wir konnten bereits feststellen: die dialektische
Tendenz auf Identität von Äußerlichkeit und Innerlichkeit ist ein entschei¬
dendes Moment einer jeden künstlerischen Formgebung. Unmittelbar ist ihre
Quelle die evokative Wirkung der Kunstwerke. Die neue Unmittelbarkeit,
zu der sich das Werk konstituiert, kann nur dann effektiv werden, wenn das
Innerlichste eine sofort apperzipierbare, seinem tiefsten Wesen adäquate,
sinnlich-äußerliche Erscheinungsform erhält, und wenn andererseits nichts
Äußerliches in der Welt der Werke Vorkommen kann, dem nicht etwas in
der menschlichen Innerlichkeit korrespondieren würde. Eine solche Art der
Formgebung, entstanden aus magischen, mimetisch-evokativen Bedürfnissen,
muß, wenn sie in entwickelteren Formationen erhalten bleiben soll, sich mit
den neuen Inhalten, die diese Evokationen hervorbringen, füllen. Sie muß
sich diesen Inhalten gemäß ständig erweitern, verbreitern, vertiefen und ver¬
feinern, ja es müssen, wenn die neuen Bedürfnisse nach Evokation einen radi¬
kal anderen Gehalt fordern, auf derselben Grundlage radikal neue For¬
mungssysteme der Evokation entstehen. Wir haben ebenfalls gesehen, daß
eine der wichtigsten formalen Konstanten solcher bewußt abgerundeten in¬
tensiven Gestaltungen das Aufdiespitzetreiben der entscheidenden Bestim¬
mungen der jeweils ausschlaggebenden Gegenständlichkeit ist; das, was wir
mit ästhetischer Typik zu bezeichnen pflegen. Diese Tendenz auf das Typische
entsteht spontan, ohne irgendeine ästhetische Bewußtheit noch im Schoße der
magischen Mimesis. Da jedoch die Gestaltungsbedingungen einer evokativen
Typik sowohl in bezug auf Inhalt, wie auf Form außerordentlich empfindlich
sind, haben sie unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten auch unter völlig ver¬
änderten gesellschaftlichen Voraussetzungen. Der ästhetische Grund dieser
Empfindlichkeit entspringt daraus, daß jede solche typische Gestaltung - und
sei sie bloß ein Kriegstanz der magischen Periode-die unzertrennbare Einheit
von sinnlicher Unmittelbarkeit und Einzelheit mit weitgehender Verallgemei¬
nerung zustande bringt. Daß diese bei grundlegender Veränderung und Ver¬
wicklung der Lebensumstände, der aus ihnen entstammenden Bedürfnisse sich
radikal ändern, ist selbstverständlich, ist zumeist ein weitgehend spontaner
Prozeß, weshalb auch diese Seite keiner eingehenden Analyse bedarf.
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 5*7
Anders ist es um diese Art der Verallgemeinerung bestellt. Einerseits muß sie
auf die dauerhaften, nicht momentanen, nicht an die bloßen Einzelfälle ge¬
bundenen Züge der dargestellten Gegenstände orientiert sein, andererseits
darf sie die unmittelbare Einheit mit dem Einzelnen nie kündigen. Vom
Standpunkt des jetzt behandelten Problems folgt aus einer solchen Einheit
der Gegensätze, daß bei der Darstellung des Menschenlebens, seiner Konflikte
etc. diejenigen Gestalten den Prinzipien der Typenbildung am meisten ent¬
sprechen, also den günstigsten Stoff für die künstlerische Praxis darbieten, bei
denen, im oben angeführten Sinne von Marx, die entstehenden oder entstan¬
denen Beziehungen auch bereits als Charaktereigenschaften erscheinen.
Schon die griechische Tragödie hat ein hohes Bewußtsein dieser ästhetischen
Lage besessen. Wie bewußt erhält z. B. Antigone bei Sophokles Ismene als
Kontrastgestalt, worin noch deutlicher als durch bloß direkte Darstellung
erhellt wird, daß jene die neuen, konfliktsvollen Beziehungen zu ihrer Gegen¬
wart bereits als Charakterzug, als Teil ihrer eigenen Innerlichkeit besitzt,
während dieselben Beziehungen bei dieser rein als Äußeres, als der Persönlich¬
keit Fremdes gegenüberstehen. Im Ödipus erhält diese Gestaltungsweise,
gerade infolge der tiefen Paradoxie des Schicksals, einen nie übertroffenen
Gipfelpunkt. Diese Beispiele, diese Tendenzen - mutatis mutandis bei allen
späteren großen Künstlern sich wiederholend - zeigen einen wesentlichen, in¬
haltlichen Zug im Weltschaffen der Kunstwerke: was in der Durchschnittlidi-
keit des Alltagslebens als bloß äußeres Faktum, als factum brutum vor den
Menschen steht, erscheint hier in seiner tiefsten Notwendigkeit; nicht nur die
objektive, gesellschaftlich-geschichtliche Notwendigkeit wird aufgedeckt
- das vermag die Wissenschaft oft noch besser zu bewerkstelligen -, sondern
gerade die Beziehung dieser Notwendigkeit zum Menschen selbst, zu dessen
eigener Entwicklung, eigenem inneren Reichtum und zu seiner eigenen Größe.
So wird die Notwendigkeit, ohne etwas von ihrem objektiven Charakter zu
verlieren, zu einer inneren: die tiefe Wahrheit des Lebens, daß die umgebende
Welt, die aus ihr stammenden Konflikte und Geschicke für den Menschen
keinen rohen und äußerlichen Zufall repräsentieren, sondern daß die Gesamt¬
heit dieser Phänomene erst die echtesten und wichtigsten inneren Möglich¬
keiten des Menschen zur Entfaltung bringt, und ihn, wenn auch zuweilen in
tragischer Weise, zu dem macht, was er eigentlich - zugleich als Produkt
einer weltgeschichtlichen Entwicklung - im Innersten ist.
Ein so gestaltetes Leben stellt die Kunst dem Menschen des Alltags gegenüber.
Die Nichtidentität der von ihr geschaffenen Welt mit der durchschnittlichen
eines jeden Alltags bringt die von uns früher erwähnte Spannung hervor.
J28 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
Diese kann jedoch nur darum entstehen, fruchtbar und fördernd werden,
weil beide ihrer Momente unablösbare Bestandteile eines jeden menschlichen
Lebens sind, weil die äußerste Polarisation beider doch innerhalb der mensch¬
lichen Lebensimmanenz bleibt, weil die gewaltigste Erhöhung bloß irgendwie
vorhandene Möglichkeiten zur Wirklichkeit erweckt. Solchen Gipfeln des
Lebens gegenüber - die die Kunst natürlich nur darum überhaupt gestalten
kann, weil sie Elemente und Tendenzen der realen menschlichen Existenz
sind - gilt die Faustische Sehnsucht vom »verweile doch ...«. Diese Momente
sind es, die den glühenden Wunsch nach Dauer und Wiederkehr wachrufen.
Sie sind zugleich die Verknüpfungspunkte zwischen Mensch und Menschheit,
sei es in der künstlerischen Objektivation, sei es in der Faktizität des gelebten
Lebens selbst. Objektiv sind alle wesentlichen Schritte in der gesellschaftlich¬
geschichtlichen Entwicklung aus Zusammenarbeit, aus Kampf und Leiden der
Menschen entstanden. Objektiv bildet ihr Ganzes von den Ursprüngen bis
heute und über das Heute hinaus in die Zukunft eine große, von Gesetzen
beherrschte Kontinuität. Diese kann und soll durch die Wissenschaft auf¬
gedeckt werden. In dieser Kontinuität hat sich die Menschheit als solche her¬
ausgebildet, indem die Menschen zugleich als Objekte und Subjekte dieses
Ganges figurieren. In diese Kontinuität wird jeder Mensch hineingeboren; in
ihr spielt sich sein Leben ab, gleichviel, ob er sich dessen bewußt wird oder
nicht, ob sein Bewußtsein darüber ein richtiges oder falsches ist, ob er die in
ihr ihm zugemessene Lebensstrecke als eigen oder fremd empfindet.
Auch Form und Inhalt der Kunst, ihre Gestaltung und Wirkung gehören die¬
ser Kontinuität an. Die besondere Mission der Kunst in dieser Kontinuität ist
die von uns eben beschriebene: sie vermag jene Momente (Menschen und
Schicksale, auslösende Ursachen und Anlässe, sowie Gefühlsreaktionen auf
sie etc. etc.), die in ihrer individuellen Einzelheit diese unlösbare Verknüp¬
fung mit dem Allgemeinen und Dauernden verkörpern; in denen es unmittel¬
bar evident wird, daß der Mensch in diesem Kontext seine eigene, von ihm,
d. h. von der Menschheit, deren Teil er ist, mitproduzierte Welt nicht nur
erkennt, sondern sie als seine eigene erlebt, für die ganze Menschheit als
Momente ihrer Entwicklung, als Momente des Menschwerdens des Menschen
festzuhalten. Als Wesentliches, nunmehr Unverlierbares in dieser Kontinuität
fixiert sein: das ist das Dauerhafte an den Kunstwerken, ihre Dauer schaf¬
fende Wirkung; das ist der eigentliche Sinn dessen, daß die Kunstwerke die
eigene Welt der Menschen gestalten.
Die Spannung, die die künstlerische Mimesis ins Leben bringt, führt also nicht
aus der menschlichen Welt hinaus in irgendeine transzendente Wirklichkeit,
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 529
wie dies die unmittelbare Absicht der Magie war, wie es die Religion später
immer wieder der Kunst aufzuzwingen versuchte; sie beginnt und endet im
Menschen selbst. Freilich so, daß die dadurch statuierte humane Immanenz
den Menschen keineswegs unverändert läßt, sondern ihn in intensiver Hin¬
sicht weit über sein gewöhnliches Durchschnittsniveau erhöht. Diese Span¬
nung hat aber auch ein extensives Moment: die unmittelbare spannungsvolle
Koinzidenz von Mensch und Mensdiheit im Werk und im ästhetischen Erleb¬
nis verleiht nicht nur der Gegenwart eine Dauer, sie verwandelt auch das
Wesentliche am Vergangenen der Menschheitsentwicklung in ein aktuell er¬
lebbares Hier und Jetzt. Auch diese Seite der Kunst tritt relativ früh auf.
Die Stoffbehandlung der griechischen Tragödie ist bereits ein solches Ver¬
gegenwärtigen der in Mythenform überlieferten und stets erneuerten, als
zum eigenen Leben gehörig erfaßten weit abliegenden Vergangenheit. Die
Ausdehnung des Begriffs des Menschen, die die Geschichte objektiv und sub¬
jektiv, die Kunst mit einem Akzent auf das Subjektive vollzieht, ist zugleich
eine steigende Historisierung des menschlichen Bewußtseins, der Bewußtheit
des Menschen über sich selbst als historischen Produzenten seiner selbst. Die
Wissenschaft deckt den objektiven Verlauf dieses Prozesses auf und macht ihn
dadurch zum Besitz des Bewußtseins. Indem die Werke und ihre ästhetische
Wirkung eine räumlich und zeitlich immer ausgedehntere Vergangenheit -
ohne ihren Charakter als Vergangenes aufheben zu wollen - in erlebte
Gegenwart verwandeln, erwecken und entwickeln sie im Menschen das Selbst¬
bewußtsein der Menschheit, das zugleich seine Bewußtheit darüber ist: in
einer Welt zu leben, die seine eigene ist, die er selbst, als Teil der Menschheit,
geschaffen hat und zu schaffen nicht aufhören wird. Die ästhetische Evokation
der Vergangenheit ist also das Erlebnis dieser Kontinuität, nicht das von
irgendeinem überzeitlichen angeblichen »allgemein Menschlichen«. Die Span¬
nung, daß wir der zeitlich-historischen Entfernung bewußt bleiben und uns
doch in längst verschwundenen Schicksalen, Menschen, etc. ein nostra causa
agitur unmittelbar entgegentritt, bezeichnet diese zeitlich-historische Seite des
Ästhetischen als Selbstbewußtsein der Menschheit: es ist, wie wir schon früher
gezeigt haben, zugleich ihr Gedächtnis. Während aber dieses im Alltags¬
leben die verschiedensten Funktionen ausübt, unter anderem das bloße Regi¬
strieren und Bereithalten von Tatsachen, die für den betreffenden Menschen
eventuell praktisch wichtig werden können, ist hier ausschließlich seine zen¬
tral aktualisierende Funktion wirksam: jene, die das Gedächtnis mit dem
Gewissen teilt. Diese Konvergenz offenbart einen tiefen Zusammenhang zwi¬
schen Ästhetik und Ethik, die Tatsache, daß keine wirklich tiefgehende ästhe-
530
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
es in seiner berühmten Ode an eine griechische Urne. Die für das ästhetische
Prinzip entscheidende Stelle lautet:
Die Identität des Schönen und des Wahren ist wirklich der unmittelbare Sinn
des reinen ästhetischen Erlebnisses und darum ein ewiges Thema einer jeden
Reflexion über die Kunst. Daß, sobald die Kunst und ihre Wirkung im
umfassenden Zusammenhang des gesamten gesellschaftlich-geschichtlichen
menschlichen Lebens betrachtet werden, um jeden dieser Betriffe und erst
recht um ihren Zusammenhang eine gewaltige und verwickelte Problematik
entsteht, wird uns noch oft beschäftigen müssen. Das ändert aber nichts an
der schlicht unmittelbaren Evidenz dieses Ausspruchs in der Unmittelbarkeit
des rein Ästhetischen.
532
Siebentes Kapitel
zu erschaffen oder zu erfassen bestrebt ist, so wird damit das für uns ent¬
scheidende Subjekt-Objekt-Verhältnis, um die andere Seite des Problems
besser zu beleuchten, nur vorübergehend in den Hintergrund geschoben; die
Tatsache, daß wir in der Mimesis das ästhetische Grundphänomen erblicken,
genügt, um diese unsere Position klarzustellen. Das Bedürfnis, das der Kunst
zugrunde liegt, hat - gerade von der uns jetzt vor allem interessierenden
Seite, nämlich von der der Subjektivität - Klopstock mit großer Klarheit
und Entschiedenheit ausgesprochen. Unmittelbar bezieht sich seine Aussage
zwar bloß auf die Poesie, ihr Sinn zeigt jedoch deutlich, daß in ihr das ganze
Gebiet des Ästhetischen mitgemeint ist. Klopstock sagt: »Das Wesen der
Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hilfe der Sprache, eine gewisse An¬
zahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten,
von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unserer Seele in einem
so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andere wirkt, und dadurch die
ganze Seele in Bewegung setzt.« Er erläutert im weiteren die einzelnen
Momente seiner Bestimmung. Für uns ist hier nur noch wichtig, was er über
den Ausdruck »beschäftigt« ausführt: »Die tiefsten Geheimnisse der Poesie
liegen in der Aktion, in welche sie unsere Seele setzt. Überhaupt ist uns
Aktion zu unserem Vergnügen wesentlich. Gemeine Dichter wollen, daß wir
mit ihnen ein Pflanzenleben führen sollen 1.«
Vom Standpunkt des Verständnisses für das Bedürfnis, das der Kunst zu¬
grunde liegt, ist in diesen Ausführungen entscheidend der Hinweis auf ein
Inbewegungsetzen der ganzen Seele des Menschen. Natürlich ist in gewissem
Sinne auch im Alltagsleben stets der ganze Mensch aktiv. So sehr die Ent¬
wicklung seiner Tätigkeit sich immer stärker spezialisiert, kann von einem
vollendet durchgeführten Parzellieren seiner Fähigkeiten, von einer totalen
Ausschaltung bestimmter Eigenschaften, bei ausschließlicher Verwendung
anderer, im strikten Sinne kaum gesprochen werden. Wohl aber - und mit
der Entwicklung der Zivilisation im steigenden Maße - davon, daß seine
Tätigkeit bestimmte Seiten seiner Gesamtpersönlichkeit, sei es im physischen,
sei es im geistigen Sinne, einseitig ausbildet, andere dagegen zeitweilig ver¬
nachlässigt, ja sogar dauernd verkümmern läßt. Das Bedürfnis eines Aus¬
gleichs, einer Richtungnahme auf Gleichgewicht, auf Harmonie, auf Propor¬
tionalität in Gang zu bringen, ist auf einer gewissen Stufe des materiellen
1 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Leipzig 1830, Werke Band XVI.
S. 36 f.
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 535
besondere soziale Formation — diese bestimmt nur Art und Grad ihres In-
erscheinungtretens sondern die Wesensart des vergesellschafteten Men¬
schen überhaupt. Natürlich wäre es eine metaphysische Erstarrung, zwischen
Anthropologischem und Sozialem immer ganz genau sichtbare Grenzen an¬
zunehmen; wie überall sind diese oft verschwommen, ja verschwindend, sie
sind aber trotzdem vorhanden. Nur wenn die Anthropologie, wie z. B. im
Existenzialismus, den Menschen als »ontologisch« einsames, rein auf sich
selbst gestelltes Wesen faßt, das erst »später« - sei es »ontologisch« zufällig
oder notwendig - in gesellschaftliche Bindungen »eintritt«, kann eine solche
metaphysisch »reinliche« Scheidung des Anthropologischen vom Sozialen er¬
folgen. Wir haben wiederholt auf die faktische und philosophische Unhalt¬
barkeit eines solchen Dualismus hingewiesen. Der Mensch ist in unseren
Augen schon in seinem Menschwerden und erst recht in seinem Dasein als
Mensch ein gesellschaftliches Wesen. Während aber mit dem Abschluß des
Prozesses seiner Menschwerdung seine anthropologische Beschaffenheit in
ihren wichtigsten Bestimmungen, in ihrer Hauptsache sich fixiert, und keinen
qualitativ entscheidenden Veränderungen mehr unterworfen wird, bringt die
gesellschaftliche Entwicklung prinzipiell ununterbrochen Neues hervor, und
zwar nicht bloß in bezug auf das Verhältnis der Menschen zueinander, zur
Natur etc., sondern auch für die innere Beschaffenheit des Einzelmenschen.
Diese letztere Feststellung ist für die gegenwärtigen Betrachtungen höchst
wichtig, denn wir wissen ja, daß erst mit der Arbeit die Subjekt-Objekt-
Beziehung dem Menschen, selbst in der primitivsten Form, ins Bewußtsein
treten kann, daß erst die Auflösung des Urkommunismus die Grundlagen für
eine noch so primitive Bewußtheit der Einzelpersönlichkeit schafft usw. usw.
Mögen also bestimmte in diesem Entwicklungsprozeß entstehende Bedürfnisse
und ihre Befriedigungsweise von ihrer Entstehung an Bewußtseinsbestandteile
der Menschheit bleiben, ihre Genesis ist doch gesellschaftlichen und nicht
anthropologischen Charakters.
Hinter der Klopstockschen Forderung steht ursprünglich die Trennung des
Wesentlichen und des Unwesentlichen im Menschen selbst, in seiner Subjekti¬
vität. Diese Trennung muß er von Anfang an in bezug auf die Außenwelt
vollziehen, sonst ist er außerstande, diese im Interesse der eigenen Existenz zu
bewältigen. Daß in bezug auf sich selbst eine ähnliche Frage auftauchen kann
und muß, daß sie eine Frage besonderer Art ist, ist das Ergebnis höherer, eben
angedeuteter Entwicklungsstufen. Wir haben gesehen, daß die Versuche, die
Außenwelt zu beherrschen, anfangs in der magischen Hülle, die Keime so¬
wohl der wissenschaftlichen, wie der künstlerischen Widerspiegelung der
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 537
gesellschaftlichen Grundlage. Doch darf diese Tendenz nicht als völlig zeit¬
bedingt aufgefaßt werden. Es ist selbstverständlich, daß jede Religion auf
eine genaue Scheidung von Wesen und Erscheinung drängen muß. Diese liegt
auch der Methodologie der völlig entgegengesetzt orientierten Wissenschaft
zugrunde. Daß diese reinliche Trennung nur ein Umweg ist, um die Erschei¬
nung in ihrem Ansich, in ihren objektiven Beziehungen und Proportionen
möglichst adäquat zu erfassen, hebt die unmittelbare Trennung nicht auf,
zeigt aber ihre Stelle in der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklich¬
keit. Endlich muß jede Ethik ebenfalls mit einer derartigen Scheidung an¬
fangen. Ob sie dabei stehenbleibt wie Kant, ob sie zu einer - vielfach ästhe¬
tisch beeinflußten - Wiedervereinigung der Gesamtpersönlichkeit strebt,
wie Goethe und Schiller in der Weimarer Zeit, kann hier nicht behandelt
werden. Die Trennung ist aber überall qualitativ schärfer als im Ästhetischen.
Dabei ist die Zusammengehörigkeit von Erscheinung und Wesen ein elemen¬
tares und unaufhebbares Erlebnis, dessen Wurzeln noch tiefer zurückgehen,
als das Bewußtwerden der Persönlichkeit. Wenn die sogenannte sympathe¬
tische Magie davon ausgeht, daß alles, was mit dem Menschen je in Berüh¬
rung stand, sein Schicksal beeinflussen kann, in der magischen Praxis vor
allem das, was seiner physischen Person angehört (Eiaare, Nägel etc.), so
steckt dahinter unzweifelhaft das Gefühl, daß den Menschen - in irgend¬
einem Sinn - alles wesentlich mitbestimmt, was in einer noch so fernen oder
oberflächlichen Beziehung zu seinem physischen Dasein steht. Das drückt sich
auch in den überall verbreiteten magischen Vorstellungen über die Beziehung
des Menschen zu seinem Namen deutlich aus. »Der Indianer sieht seinen
Namen ... als einen deutlichen Teil seiner Individualität, nicht anders, als
seine Augen oder seine Zähne. Er glaubt, daß er durch einen böswilligen Ge¬
brauch seines Namens ebenso gewiß werde leiden müssen, als durch eine
einem Körperteil zugefügte Wundex« - sagt Levy-Bruhl. Wie in allen
Fragen, die unter magischen Bedingtheiten auftauchen, sind auch hier die
Grenzen zwischen Subjektivität und Objektwelt noch höchst verschwom¬
men. Erst wenn mit der Auflösung des Urkommunismus auf der Grundlage
der neuen Basis und der ihr entsprechenden neuen Bewußtseinsformen die
Einzelpersönlichkeit sich objektiv und subjektiv — freilich nur relativ —
gesellschaftlich absondert, erhalten die hier beschriebenen, tief eingewurzelten
Gefühle eine wesentlich deutlichere Physiognomie. Nicht nur viele der magi-
1 Levy-Bruhl: a. a. O. S. 34 f.
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 539
sehen Vorstellungen lösen sich völlig auf (einige bleiben freilich in ab¬
geschwächter Form als Aberglaube noch lange lebendig, wobei allerdings ihr
Einfluß auf die Entfaltung der weltanschaulichen Fragen allmählich immer
mehr abnimmt), sondern es wirken vor allem die neuen Lebensverhältnisse
und die aus ihnen entstandenen neuen Objektivationsweisen stark auf Inhalt
und Form der überkommenen Selbstbetrachtung der Subjektivität.
Denn von ihr ist hier die Rede. Was die magischen »Verursachungen« betrifft,
so werden diese relativ leicht widerlegt und zum Aberglauben erniedrigt.
Daß aber der Mensch mit allen seinen - zentralen und bloß oberflächlichen -
Eigenschaften ein lebendiges, bewegtes, in der Bewegtheit sich erhaltendes
Ganzes bildet, ist das Erbe aus urzeitlicher Vergangenheit, in welchem diese
Zusammengehörigkeit von Wesen und Erscheinung auf neue Weise zum Aus¬
druck kommt. Es wäre natürlich falsch zu meinen, diese neuen Zusammen¬
hänge wären erst durch die Kunst entdeckt und ins Bewußtsein gehoben wor¬
den. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn Alltagsleben und Alltagspraxis, und,
daraus herauswachsend, Sitte und Recht, Moralität und Ethik den Umsatz
dieser Erlebnisse nicht in begrifflicher Reflexion bearbeitet und weitergebildet
hätten, würden sie kaum eine zentrale Stelle im Gedanken- und Empfindungs¬
leben der Menschen einnehmen, könnten sie nicht - als Bedürfnisse des
Lebens - eine Intention auf Kunst erhalten. Denn die Frage, ob die mensch¬
liche Persönlichkeit ein Ganzes bildet, ob diese Ganzheit sich im Zeitablauf
erhält, was an ihr wesentlich und was bloße Erscheinung ist, taucht gebiete¬
risch in allen Betätigungen der Menschen immer wieder auf. Um nur ein
gewöhnliches Beispiel anzuführen: man könnte ohne diese Frage überhaupt
nicht von der Verantwortlichkeit des Individuums sprechen; bekanntlich hat
sich diese erst allmählich aus Kollektivverantwortungen der Sippen etc. her¬
ausentwickelt, wurde aber dann zu einer Grundlage des Alltagsverkehrs der
Menschen untereinander. Und zweifellos - damit kehren wir zu früher
Ausgeführtem zurück - wird in der Verantwortung die Kontinuität der
Person, ihr Sicherhalten im Wandel der Zeiten bejaht. Wenn der Mensch für
eine von ihm begangene Einzeltat, ja unter Umständen für einen bestimmten
Gedanken gerade zu stehen hat, so wird von seinen Mitmenschen und von
ihm selbst die Tatsache anerkannt, daß die Ganzheit seiner Persönlichkeit sich
im Zeitablauf mit einer gewissen stabilen Identität erhalten hat. Ähnliche
Beispiele könnten noch massenhaft aufgezählt werden.
Die darin enthaltene Anerkennung der Totalität, der Kontinuität der
Individualität des Menschen, der Zusammengehörigkeit von Wesen und
Erscheinung in ihr, enthält jedoch einen - für das Subjekt unbedingt auf-
540 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
So sehr also diese Art von Verneinung, im Sinne Spinozas, zugleich eine Be¬
stimmung, etwas Positives, gerade auf das Wesentliche Weisendes ist, so sehr
sie im Leben eine völlig unersetzliche Funktion ausübt, kann sie doch nicht
alle Bedürfnisse befriedigen, die das Leben, die Persönlichkeit immer stärker
entwickelnd, hervorruft. Hier erhält die Religion eine bedeutende Rolle.
Teils indem viele Religionen die Aufbewahrung der ganzen Persönlichkeit im
Jenseits in Aussicht stellen, so daß der Glaube an eine solche Fortdauer als
nächstliegende und populärste Erfüllung dieses Bedürfnisses auftritt, teils
indem mystisch orientierte Askese und Ekstase — jede in ihrer Art — eine
Flucht vor dem Individuellen und seiner Problematik, eine Selbstauflösung
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 54i
hier für die Kunst immer wieder bloß um die uns bereits bekannte, fruchtbare
Goethesdie »Determination von außen«. Die Religion, das religiöse Gefühl,
das sozial lebendige und allgemeine religiöse Bedürfnis stellen die Kunst vor
konkrete Aufgaben, die sie jedoch nur in ihrer eigenen Weise zu lösen vermag,
wodurch darin - unabhängig davon, was die Künstler und ihr Publikum
meinen - objektiv das prinzipielle Auseinandergehen, die Entgegengesetztheit
des Religiösen und des Ästhetischen zum Ausdruck gelangen. Das bezieht sich
nicht nur auf Giotto oder Tizian, sondern auch auf Fra Angelico und Grüne¬
wald. Das tiefe Mißtrauen, das ganze religiöse Kulturen und andere in be¬
stimmten Perioden gegen das künstlerische Gestalten hegen, hat hier seinen
Grund. (Natürlich spielen dabei auch Überreste magischer Vorstellungen, die
sich an die Kunstwerke knüpfen, und der religiöse Kampf gegen diese Residuen
oft eine nicht unbeträchtliche Rolle.) Wir werden uns mit diesem Problem¬
komplex im letzten Kapitel noch ausführlich auseinandersetzen; hier können
wir nur so weit gehen, zu zeigen, daß einerseits dieser Gegensatz den Grund
dafür aufdeckt, warum für das im Klopstockzitat angedeutete Bedürfnis das
Ästhetische allein als Erfüllung in Frage kommt, und daß andererseits mit dem
Austritt aus der magischen Periode das vollständige Selbständigwerden des
Ästhetischen keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Daß hier Probleme ganz
anderer Art, viel höherer Ordnung vorliegen als in der Genesis der Kunst
innerhalb der Magie, ist schon aus diesen wenigen Bemerkungen ersichtlich.
Wir haben der religiösen, immer rigorosen Auswahl gegenüber auf die Eigen¬
art des Ästhetischen hingewiesen, nämlich daß es eine die sinnliche Erschei¬
nungswelt miteinbegreifende Totalität des Menschen zu erwecken bestrebt ist,
daß es sich deshalb in der Mimesis auf einen gediegen geordneten Reichtum
der Wirklichkeit richtet. Auch diese Seite des Ästhetischen ist vielfach erkannt
und ausgesprochen worden. So vielleicht am entschiedensten von Hemster-
huis, der in einem solchen Reichtum das ausschlaggebende Kennzeichen des
Ästhetischen erblickt. »Die Seele will«, sagt er, »natürlicherweise eine große
Anzahl von Ideen in möglichst kleinstem Zeitraum sich zu eigen machen.«
Schon dieser Ausspruch betont das Moment der Intensität; denn nicht an sich
steht die große Anzahl der Ideen im Mittelpunkt, sondern gerade ihre
jeweilige Konzentration in der Zeit, d. h. die Intensität des Erlebnisses als
Kennzeichen dafür, daß das mimetisch erfaßte Objekt — für Hemsterhuis
ist es selbstverständlich, daß die Hauptaufgabe der Kunst die Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit ist - diesen Reichtum auf den Beschauer ausstrahlt.
Darin ist freilich nur ein formales Kriterium der Mimesis ausgesprochen.
Diesen formalen Charakter unterstreicht Hemsterhuis noch energischer, in-
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 545
dem er die Art der sinnlichen Aufnahmefähigkeit der Welt und die ihrer
Reproduktion im Kunstwerk eingehender analysiert und dabei zu Resultaten
gelangt, die entschiedene Vorläufer jener Erkenntnis sind, die wir im Leben
als Arbeitsteilung der Sinne, in bezug auf die Ästhetik als homogenes Medium
der Kunstarten und Kunstwerke bezeichnet haben und die wir im Folgenden
noch ausführlicher analysieren werden. Hemsterhuis hebt hervor: »daß wir
durch eine langwährende Praxis und mit Hilfe des gleichzeitigen Gebrauchs
aller unserer Sinne dahin gelangt sind, die Objekte wesentlich voneinander
zu unterscheiden, indem wir nur einen unserer Sinne in Anspruch nehmen 1«.
Wie überall bei richtig gestellten ästhetischen Fragen, ist auch hier der for¬
male Charakter bloß scheinbar. Denn es ist klar - und das ist ganz sicher
auch die Meinung von Hemsterhuis - daß nicht jeder beliebige Reich¬
tum der Idee, jede beliebige Intensität oder Konzentration die hier gewünsch¬
ten Wirkungen hervorbringen könnte. Schon ein Blick auf das Leben reicht
aus, um dies einzusehen. Denn fraglos besitzt jedes Objekt der Wirklichkeit
an sich jene Unendlichkeit der Eigenschaften und Beziehungen, deren mime¬
tische Wiedergabe eben den von Hemsterhuis gewünschten Effekt hervorbrin¬
gen soll, und wir haben bereits hervorgehoben, daß für ihn die Abbildung
der objektiven Möglichkeit das erste Ziel war. Allerdings fügt er sofort
hinzu: »das zweite ist, die Natur zu übertreffen, indem Effekte geschaffen
werden, die diese nicht leicht hervorbringen kann oder zu produzieren im¬
stande ist2«. Diese letzte Betrachtung führt uns - nach ihm - zur Er¬
kenntnis des Schönen. Die Aufgabe sei also erstens, das Wie einer solchen
Nachahmung zu untersuchen, zweitens zu bestimmen, worin dieses Uber¬
treffen bestehe. Das Ergebnis dieser Analyse ist nun die von uns angeführte
Konzentration und Intensivierung: die größte Zahl der Ideen im geringsten
Zeitraum, womit für ihn der Begriff des Schönen bestimmt ist.
Damit ist eine, die formale Seite des ästhetischen Eindrucks (und damit seines
Erweckers, des Kunstwerks) nicht unrichtig umschrieben, besser gesagt: ein
entscheidend wichtiges Moment dieses formalen Faktors. Was bei Hemster¬
huis fehlt, ist die Hierarchie, das überordnende Prinzip dieses Reichtums;
seine Bestimmung trifft bloß dessen Neben- oder Nacheinander. Es ist aber
sein methodologisch richtiger Instinkt, der ihn innerhalb dieses Gedankengangs
eine weitere Konkretion vermeiden läßt; diese müßte nämlich ein Um-
hältnismäßig tieferstehend ist als die Seele, ist deshalb für den menschlichen
Geist eine uneingeschränktere Größe, eine genauere Güte, eine absolutere Va¬
riabilität, als in der Natur der Dinge zu finden ist, angenehm«. Bacon zählt
nun die Kennzeichen einer solchen, die normale objektive Wirklichkeit - den
verschiedenen Bedürfnissen entsprechend - an Größe, Gerechtigkeit, Abwechs¬
lung etc. übertreffenden Gestaltungsart auf. »Darum leuchtet es ein«, sagt er
abschließend, »daß die Poesie der Hochherzigkeit, der Moralität und der
Delektation dient und diese fördert. Darum glaubte man immer, daß sie
etwas an dem Göttlichen teil hat, denn sie erhebt und erhöht den Geist,
indem sie die Erscheinung der Dinge den Wünschen des Geistes unterordnet,
während der Verstand den Geist zu der Natur der Dinge niederbeugt1.«
Sehr ähnlich haben schon vor ihm Sir Philipp Sidney und andere die Berech¬
tigung der Literatur (der Kunst) aus ihrer die Natur übertreffenden Mimesis
abgeleitet und ihre Eigenberechtigung den Wissenschaften gegenüber verfoch¬
ten. Kurz gefaßt lassen sich solche, untereinander recht verschiedenen Ge¬
dankengänge dahin vereinigen, daß die Kunst eine dem Menschen und der
Menschheit angemessene Welt zu schaffen berufen ist.
Es ist sehr wichtig, daß diese Fragestellung bei ihren konsequenten Vertre¬
tern in unabtrennbarer Verbundenheit mit der Mimesis erscheint. Denn falls
die Widerspiegelungslehre in mechanisch-materialistischer Form auftritt, ver¬
schwimmen die Grenzen zwischen der desanthropomorphisierenden Wissen¬
schaft und der Kunst, und die Eigenart des Ästhetischen muß verschwinden
oder zumindest verblassen. Wenn andererseits eine - kritisch oft berechtigte
- idealistische Opposition gegen solche »folgerichtigen Nachahmungstheo¬
rien« die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit über Bord wirft,
verzerrt sich das Wesen der Kunst entweder wie im subjektiven Idealismus
zu einer leeren Subjektivität oder wie im objektiven zu einer mystischen
Einheit von Subjekt und Objekt. (Auf diese beiden Entstellungen des Ästhe¬
tischen kommen wir bald zu sprechen.)
Erst in der letzten Entwicklungsetappe des vordialektischen Materialismus,
bei den russischen revolutionären Demokraten, beginnt das bewußte Heraus¬
arbeiten des unlösbaren Zusammenhangs zwischen ästhetischer Widerspiege¬
lung der objektiven Wirklichkeit und anthropozentrischem Wesen der Kunst.
Tschernischewski, der im Kampf gegen Hegel selbst und vor allem gegen den
Hegelianer Vischer die Widerspiegelungslehre am energischsten verficht, sagt
1 Vgl. darüber meine Studie über Tschernischewskis Ästhetik in: Beiträge zur Ge¬
schichte der Ästhetik, Berlin 1954, S. 135 ff., wo auch die gesellschaftlich-geschicht¬
lichen Gründe dieser seiner Position auseinandergesetzt werden. Die theoretische
Korrektur erfolgt erst auf dem Boden des dialektischen Materialismus, obwohl be¬
reits Aristoteles darüber im klaren war, daß die prinzipielle Angemessenheit des
Objekts, der »Welt« an den Menschen in der Kunst die ganze dialektische Proble¬
matik des Menschenlebens, des Menschengeschlechts in sich begreift; obwohl die
Gipfelpunkte der Aufklärung, insbesondere Diderot und Lessing, vor allem aber
die der deutschen Klassik, so Goethe und Hegel, diese Dialektik wiederholt klar
erfaßt haben, allerdings ohne Kenntnis ihrer sozialen Basis. Vgl. darüber meine
Faust-Studien in: Goethe und seine Zeit, Berlin 1955, S. 186 ff.
55° Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
Wir haben hier wiederholt nachgewiesen, daß alle Kriterien und Bestimmun¬
gen, deren Ausgangspunkt eine möglichst reingehaltene Subjektivität bildet
(eine Subjektivität, die von der Objektwelt methodologisch absieht) in einen
Formalismus münden müssen. Wenn wir trotzdem ähnlich scheinende An¬
schauungen (Klopstock, Hemsterhuis etc.) eingehend analysiert haben, so
war dies deshalb notwendig, weil dabei - trotz des scheinbaren Formalismus
- einige der wichtigsten Bestimmungen des Ästhetischen zum Vorschein
kamen. Sie sind wichtig gerade vom Standpunkt jener Bedürfnisse, die im
Alltagsleben der Menschen wirksam werden und zur Entstehung des Ästheti¬
schen führen. Es ist daher berechtigt, ihre Beschaffenheit zu untersuchen, um
die richtige Objektivität der Kunst konkret zu erfassen, um diese von einer
eingebildeten, abstrakten, »reinen« Subjektivität klar zu trennen und zu¬
gleich - im Gegensatz zur wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklich¬
keit - die wertbezogene, wertschaffende Unaufhebbarkeit des subjektiven
Moments in dieser Objektivität zu erkennen. Wenn von einem Formalismus
im Prinzip der »reinen« Subjektivität gesprochen wurde, so liegt der Kern
dieses Problems darin, daß diese als isolierte eben etwas Abstraktes ist, ein
Abstrahieren von jener Objektwelt, die die Subjektivität determiniert, die ihr
erst ihren Reichtum, ihre Tiefe etc. verliehen hat, und welche gerade von ihrer
entscheidenden Qualität, von ihrem spezifischen und individuellsten Gerade¬
sosein unabtrennbar bleiben muß. Von dieser Abstraktion, gerade weil ihr
Ursprung in den Eindrücken der Objektwelt zu suchen ist, weil sie einen
von dort erborgten und subjektiv bearbeiteten Stoff auf formal-subjektive
Momente reduziert, führt kein direkter Weg zur Konkretheit; dieser For¬
malismus kann nicht direkt in Inhaltlichkeit rückverwandelt werden. Die Ab¬
straktion muß vielmehr aufgehoben werden; sie muß wieder in eine konkrete
Subjekt-Objekt-Beziehung aufgehen, und zwar muß die ursprünglich-spontane
zu einer bewußten umgeformt werden. Erst dann erscheint das wirklich
Wesentliche an den Bestimmungen der Subjektivität als das, was es an sich
ist: als entscheidendes, unentbehrliches Moment der ästhetischen Setzung.
1 Ich habe diese Frage, sowohl die Hegelsche Auffassung wie ihre Marxsche Kritik,
ausführlich behandelt in meinem Buch: Der junge Hegel und die Probleme der
kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1955, S. 614 ff. Dort wird auch auf drei ver¬
schiedene Bedeutungen der Entäußerung hingewiesen. Für den hier zu behandeln¬
den Zusammenhang kommt es vor allem auf die erste Gruppe, auf den Zusammen¬
hang mit dem Arbeitsprozeß an.
2 Die klassische Darlegung dieses Tatbestandes findet man im ersten Kapitel des
ersten Bandes von Marx: Kapital, a. a. O. S. 37 ff.
552 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
Es ist nicht nur das Alltagsdenken, das hier keinen Ausweg findet und mit
dem natürlichen Gefühl der Menschen in Gegensatz geraten muß. Marx
hat in seiner berühmten Kritik der Hegelschen Lehre von der Entfremdung,
die diese Frage zum ersten Male konkret aufgeworfen hat, jene Lebenstat¬
sachen aufgezeigt, die eine rationale Aufklärung dieser Sachlage darbieten
können. Die erste Tatsache klärt das ursprüngliche Gefühl der Subjektivität
in der Arbeit (und in jeder gesellschaftlichen Tätigkeit) und wendet sich da¬
mit gegen ihre Aufblähung, gegen alle idealistisch-demiurgischen Gedanken¬
mythen. Den Kern dieser Abrechnung bildet ein philosophisches Ei des
Kolumbus - die Ursprünglichkeit, die Unableitbarkeit der gegenständlichen
Struktur der Wirklichkeit: »Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als
Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräf¬
ten, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte exi¬
stieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe;. . . d. h. die Gegen¬
stände seiner Triebe existieren außer ihm, d. h. als von ihm unabhängige
Gegenstände, aber diese Gegenstände sind Gegenstände seines Bedürfnisses,
zur Betätigung und Bestätigung seiner Wesenskräfte unentbehrliche, wesent¬
liche Gegenstände. Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges,
wirkliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ist, heißt, daß er . . . nur an
wirklichen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann. Gegenständlich,
natürlich, sinnlich sein und sowohl Gegenstand, Natur, Sinn außer sich haben
oder selbst Gegenstand, Natur, Sinn für ein drittes sein, ist identisch.« Und
Marx gibt im Folgenden eine noch allgemeinere philosophische Bestimmung
dieser für den Menschen so fundamentalen Beschaffenheit seiner Beziehung
zur Außenwelt, der Bedingung seiner Arbeit und Praxis: »Ein Wesen,
welches seine Natur nicht außer sich hat, ist kein fiatürliches Wesen, nimmt
nicht teil am Wesen der Natur. Ein Wesen, welches keinen Gegenstand außer
sich hat, ist kein gegenständliches Wesen. Ein Wesen, welches nicht selbst
Gegenstand für ein drittes Wesen ist, hat kein Wesen zu seinem Gegenstand,
d. h. verhält sich nicht gegenständlich, sein Sein ist kein gegenständliches.
Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen . . . Aber ein ungegenständ¬
liches Wesen ist ein unwirkliches, unsinnliches, nur gedachtes, d. h. nur ein¬
gebildetes Wesen, ein Wesen der Abstraktion h«
Damit ist ein für allemal der Demiurgentraum ausgeträumt. Das Umwäl¬
zende an der Arbeit kann unmöglich im Schaffen einer Gegenständlichkeit aus
dem Nichts, aus einem - ebenfalls mythischen - Chaos bestehen: sie ist
»nur« - aber dieses Nur umfaßt die gesamte Menschheitsgeschichte - die
den menschlichen Zwecken entsprechende Verwandlung der an sich vorhan¬
denen Gegenständlichkeitsformen durch zweckmäßige Erkenntnis und An¬
wendung der ihnen innewohnenden Gesetze.
Das Subjekt, das dieser gegenständlichen Welt aktiv oder leidend, als eben¬
falls gegenständlich gegenübersteht und in ihr wirksam wird, ist letzten Endes
die menschliche Gattung. Wo Marx das Verdienst Hegels bei der Entdeckung
des Sich-selbst-Schaffens des Menschen durch die Arbeit behandelt, sagt er
über diesen Zusammenhang von Arbeit und Menschengattung: »Das wirk¬
liche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Be¬
tätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d. h. als menschlichen
Wesens ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte -
was wieder nur durdi das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als
Resultat der Geschichte - herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen ver¬
hält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist1.«
Unabhängig von der Hegelschen Auffassung, deren idealistischen Kern, die
Identifikation von Entfremdung und Gegenständlichkeit, er scharf kritisiert,
bestimmt er im ökonomischen Teil desselben Werks die Beziehung von Arbeit
und Gattung so: »Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt
sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen. Diese Produktion
ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein
Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Ver-
gegenständlichung des Gattungslebens des Menschen: indem er sich nicht nur
wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt, und
sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut.« Die Entfrem¬
dung ist so wenig mit diesem Verhältnis einfach identisch wie es Hegel meint,
daß gerade sie - nämlich die konkrete, durch die konkrete Arbeitsteilung
der Klassengesellschaften, vor allem die des Kapitalismus, hervorgebrachte
Entfremdung - das Gattungsleben für das Individuum trübt, ja zuweilen
zerstört. »Indem aber«, so führt Marx diesen Gedankengang fort, »die ent¬
fremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt,
entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlich¬
keit 2.«
1 Ebd. S. 156.
2 Ebd. S. 88 f.
554 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
Einheit in der Kunst eine eigene Objektivation; sowohl -der Akt selbst, als das
gesellschaftliche Bedürfnis, das ihn hervorruft, tendieren auf ein solches Fest¬
halten, Fixieren, Verewigen dieser Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit,
auf das Schaffen einer objektivierten Gegenständlichkeit, in der sich diese Ein¬
heit sinnlich-sinnfällig, gerade diesen Eindruck evozierend, verkörpern soll.
In dieser Widersprüchlichkeit als Motor der ästhetischen Setzung (und des
gesellschaftlichen Bedürfnisses, das sie ins Leben ruft) kommt bereits ihr phi¬
losophisch vielleicht wesentlichster Zug zum Vorschein: die simultane Stei¬
gerung sowohl von Subjektivität wie von Objektivität über das Niveau des
Alltags hinaus. Der Akzent liegt wieder auf der Simultaneität im einheit¬
lichen ästhetischen Akt und vor allem im abgeschlossenen ästhetischen Ge¬
bilde. Indem wir das Problem derMimesis in den Mittelpunkt dieser Betrach¬
tungen gerückt haben, haben wir bereits die Umrisse der Fragestellung und
Lösung skizziert. Daß die Mimesis eine Intention auf Objektivität beinhal¬
tet, versteht sich von selbst, ebenso daß der bereits wiederholte anthropo-
morphisierende Charakter der ästhetischen Setzung, ihr Gerichtetsein auf
Evokation eine Tendenz auf Subjektivität ausspricht.
Will man jedoch die Wesensart dieser Einheit richtig verstehen, so muß
nicht bloß diese selbst stets festgehalten werden, sondern auch die Eigenart
der hier zur Wirksamkeit gelangenden Subjektivität und Objektivität. Diese
hat in gewisser Hinsicht eine andere Beschaffenheit als die desanthropomor-
phisierende der Wissenschaft und die diese vorbereitenden Phänomene des
Alltagslebens (vor allem die Arbeit); jene bringt dem Alltagsleben gegenüber
eine bestimmte Verallgemeinerung, der Moralität gegenüber eine kontempla¬
tiv gerichtete Breite zum Ausdruck. Wir haben bereits darauf hingewiesen,
daß die ästhetische Objektivität keineswegs ein Kündigen der Wirklichkeit
bedeutet, einen notwendig abstrakt bleibenden Versuch, von irgendeiner sub¬
jektiven Forderung (Vollkommenheit, Entsprechen einem Ideal) diktiert,
über diese hinauszugehen. Es kommt vielmehr darauf an, in der Objektivität
selbst jene Momente zu entdecken, und aus ihr zu entwickeln, in welchen
ihre Angemessenheit an den Menschen sichtbar wird. Eine solche Angemessen¬
heit kann aber das einzelne partikuläre Subjekt unmöglich hervorbringen;
seine derartigen Forderungen, soweit sie nur solche bleiben, können nie über
ein ohnmächtiges Sehnen, über ein unfruchtbar-gegenstandloses Wünschen
und Meinen hinausgehen. Denn die Angemessenheit, von der hier die Rede
ist, ist nur das Sinnfälligwerden jener Arbeit, die die Menschheit in ihrer ge¬
samten Geschichte an der Natur, an den Wechselbeziehungen zwischen
Mensch und Natur, an den Menschen selbst geleistet hat, ist das, was wir
5j6 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
früher mit Worten von Marx als Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur
bezeichnet haben. Dieser ist selbstredend zuallererst ein materieller; eine den
Bedürfnissen der Menschen entsprechende Umwandlung der Erdoberfläche.
(Daß darin die Naturgesetze - bewußt oder unbewußt - nur benutzt, aber
ebensowenig wie in der Einzelarbeit aufgehoben werden können, versteht sich
von selbst.) Der Umkreis dieses Stoffwechsels ist jedoch viel weiter als das
materielle Durchdringen und Verwandeln der konkreten Natur durch Arbeit
und Kampf der Gesellschaft. Denn dieser Prozeß hat ja den Menschen nicht
nur geschaffen, sondern vielfach umgemodelt, bereichert, erhöht und vertieft.
Auch diese Wandlung ist ein Anderswerden der Wirklichkeit, äußerlich wie
innerlich. Und wenn hier von einer Angemessenheit an den Menschen die
Rede ist, so ist die extensive wie intensive Gesamtheit gemeint, von dem Ur¬
barmachen früherer Wüsten und von der Verkarstung einst waldbedeckter
Berge bis zum Landschaft-Werden bestimmter Naturmomente, die früher
gleichgültig oder gar gefahrdrohend erschienen sind. Von der Idylle bis zur
Tragödie umfaßt dieser Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur alle
Lebensphänomene der Welt der Menschen, ihre Umgebung, die Naturgrund¬
lage ihrer Existenz und deren gesellschaftliche Folgen. Diese Angemessen¬
heit hat mit ihren primitiv teleologischen Formulierungen in theologischen
oder weltlichen Theodiceen nichts gemein. Auch nichts mit der Fragestellung
Kants nach der Angemessenheit der Natur an »unseren« Verstand, um die
besonderen Naturgesetze zu erkennen. Ich habe an anderer Stelle ausgeführt,
daß diese falsche Fragestellung Kants einerseits von der erkenntnistheore¬
tischen Enge des subjektiven Idealismus, andererseits von seinem genialen
aber doch vergeblichen Versuch, zu einem dialektischen Denken zu gelangen,
bestimmt ist b
Die uns vorschwebende Angemessenheit ist diesseitig, immanent, und zwar in
doppelter Hinsicht: erstens kann die hier entstehende, radikale Änderungen
produzierende Bewegung sich nur im Erfüllungsrahmen der an sich seienden
Naturgesetze abspielen, zweitens sind sämtliche, mit richtigem oder falschem
Bewußtsein vollzogene Zwecksetzungen der Menschen ebenfalls von den
objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt. So kann
Lenin, als Ergänzung zu Hegels Ausführungen über die Arbeitsteleologie,
1 Vgl. meinen Aufsatz: Über die Besonderheit als ästhetische Kategorie, in: Deut¬
sche Zeitschrift für Philosophie, IV. Jahrgang, Heft 3/4 (15156), in Buchform:
Prolegomeni a un’estetica marxista, Roma 1957, S. 145 ff.
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 557
sagen: »In Wirklichkeit werden die menschlichen Zwecke durch die objektive
Welt erzeugt - und setzen sie voraus finden sie als das Gegebene, Vor¬
handene, vor. Aber dem Menschen scheint es, daß seine Zwecke von außer¬
halb der Welt stammen, von der Welt unabhängig sind h« Es handelt sich
also immer um ein ins Bewußtseinheben des An-sich-Seienden, nicht um ein
demiurgisch subjektives Schaffen aus dem Nichts.
Aus alledem wird ersichtlich, daß die Angemessenheit der ästhetischen Ge¬
bilde an die Bedürfnisse des Mensdiengesdiledits keinerlei Subjektivismus
beinhaltet, daß im Gegenteil gerade darin der spezifische Charakter der äs¬
thetischen Mimesis zum Ausdruck gelangt, daß also das ästhetische Setzen
einer solchen Angemessenheit nur ein besonderer Fall der Widerspiegelung
der vom Bewußtsein unabhängigen objektiven Wirklichkeit sein muß. Trotz¬
dem oder gerade darum bedarf der hier entstehende Begriff der Subjektivität
einer erkenntnistheoretischen Klärung. Denn in der Geschichte der Ästhetik
erwuchsen die verschiedenartigsten Mißdeutungen teils daraus, daß man sie
einfach nach dem Schema der Erkenntnistheorie betrachtete (Kunst als
»Lüge«, »Illusion« etc.), teils daraus, daß man ihre Eigenart der der Er¬
kenntnis mechanisch ausschließend entgegensetzte (irrationalistische Genie¬
lehre etc.). Die Erkenntnistheorie des Materialismus nimmt in der Frage des
Subjekts eine ganz klare Position ein: kein Subjekt ohne Objekt; es gehört
zum Wesen der objektiven Wirklichkeit, unabhängig vom Bewußtsein zu
existieren. Objekt ohne Subjekt ist also nicht nur möglich, sondern Axiom
des Wirklichseins. Allerdings beschränkt der dialektische Materialismus diese
scharfe Trennung auf die reine Erkenntnistheorie. Lenin sagt, an die Fest¬
stellung der Objektivität des Scheins (nicht nur des Wesens) anknüpfend:
»Ein Unterschied zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven ist vorhan¬
den, aber auch er hat seine Grenzen 1 2.« Und er zitiert zustimmend in einem
noch allgemeineren Zusammenhang Hegel: ». . . verkehrt ist es, Subjektivi¬
tät und Objektivität als einen festen und abstrakten Gegensatz zu betrachten.
Beide sind schlechthin dialektisch 3.« Hegel beendet nun den Gedankengang,
auf den hier angespielt wird, mit der Warnung: »Wer mit den Bestimmungen
der Subjektivität und Objektivität nicht vertraut ist und dieselben in ihrer
Abstraktion festhalten will, dem geschieht es, daß ihm diese abstrakten
Bestimmungen, ehe er sich dessen versieht, durch die Finger laufen, und er
grade das Gegenteil von dem sagt, was er hat sagen wollen 1.«
Es kann hier unmöglidi unsere Aufgabe sein, alle jene Fälle vor allem im
Alltagsleben aufzuzählen oder auch nur anzudeuten, in denen derartige dia¬
lektische Übergänge Vorkommen. Die Stellung der ästhetischen Gebilde ist
auch hier eine spezifische. Während die anderen Übergangsformen an der
Schärfe der erkenntnistheoretischen Scheidung von Subjektivität und Objek¬
tivität nichts ändern, nur deutlicher machen, daß diese nicht durch meta¬
physische, unzulässige Verallgemeinerung überstarr vollzogen werden darf,
tauchen hier neuartige Probleme auf. Um gleich den wesentlichsten Punkt
hervorzuheben: der Satz »kein Objekt ohne Subjekt«, der erkenntnistheore¬
tisch eine rein idealistische Bedeutung hat, ist fundamental für die Subjekt-
Objekt-Beziehung in der Ästhetik. Natürlich ist an sich auch jedes ästhetische
Objekt etwas unabhängig vom Subjekt Existierendes. So aufgefaßt ist es aber
nur etwas materiell Seiendes, kein Ästhetisches. Tritt seine ästhetische Ge¬
setztheit in Geltung, so ist damit simultan auch ein solches Subjekt gesetzt,
denn seine ästhetische Wesensart besteht ja, wie wir wiederholt dargelegt
haben, gerade darin, vermittels derMimesis, einer spezifischen Art der Wider¬
spiegelung der objektiven Wirklichkeit, im rezeptiven Subjekt gewisse Erleb¬
nisse zu evozieren. Davon abgesehen hört das ästhetische Gebilde als solches
zu existieren auf; es ist ein Steinblock, ein Stück Leinwand, ein Objekt wie
jedes andere, das selbstredend als derartiges Objekt unabhängig von jedem
Bewußtsein, von jeder Subjektivität existiert. Der Satz: kein Objekt ohne
Subjekt bezieht sich also ausschließlich auf die ästhetische Beschaffenheit
solcher Gebilde.
Es wäre naheliegend, dem entgegenzuhalten, daß diese Struktur auch die
eines jeden gesellschaftlich verfertigten und angewendeten Gegenstands ist,
daß dieser sich gerade dadurch von den Naturgegenständen unterscheidet.
Und in der Tat, ein Fluß bleibt ein Fluß, unabhängig davon, ob er Mühlen
treibt oder Schiffe trägt; ein Werkzeug oder eine Maschine aber, wenn sie
etwa durch einen Schiffbruch an eine unbewohnte Küste geworfen werden,
hören auf, Werkzeug oder Maschine zu sein. Ist hier also zu ihrem bestimm¬
ten Objektsein das Subjekt nicht ebenso unerläßlich wie in der Ästhetik?
Wir glauben: erkenntnistheoretisch - und das ist das Terrain unserer jetzi¬
gen Untersuchung - handelt es sich um etwas Verschiedenes. Durch den Schiff¬
bruch werden Werkzeug und Maschine faktisch aus jenem ökonomisch-
Daß solche Tendenzen schon seit Schleiermacher und der Romantik un¬
gewollt zu einer Auflösung der Religion, in die Richtung eines religiösen
Atheismus drängen, ist bekannt.
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 561
Das Problem, das hier vor uns steht, hat jedoch eine viel größere philo¬
sophische Breite als die oben behandelte Anwendung eines freilich fundamen¬
talen Satzes auf für seine Geltung unzulässige Gebiete. Daß in der spekula¬
tiven Philosophie, insbesondere bei Plotin, ästhetische Kategorien die Funk¬
tion erhalten, eine religiös gefärbte, metaphysische Transzendenz deutlich
zu machen, haben wir bereits behandelt. Freilich wird diese Vermengung
der Sphären zumeist mehr oder weniger unbewußt vollzogen. Schelling ist
vielleicht der einzige bedeutende Philosoph, der, wenigstens in seiner
Jugend, bewußt das Ästhetische als »Organon« des echten philosophischen
Denkens statuiert. Im ersten ausgearbeiteten Systementwurf seiner Jugend
sagt er darüber: »Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste,
weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprüng¬
licher Vereinigung gleichsam in einer Flamme brennt, was in der Natur und
Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im
Denken, ewig sich fliehen muß. Die Ansicht, welche der Philosoph von der
Natur künstlich sich macht, ist für die Kunst die ursprüngliche und natür¬
liche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer
Schrift verschlossen liegt L« Hegel hat gegen diese Konzeption, gegen ihre
Grundlagen und Folgen (intellektuelle Anschauung etc.) immer wieder scharf
polemisiert.
Da er jedoch ebenfalls auf dem Boden eines objektiven Idealismus stand, da
auch für ihn das identische Subjekt-Objekt Grundlage und Abschluß der
Systematisierung bedeutete, war es unvermeidlich, daß bestimmte Schranken
des Schellingschen Denkens, darunter diese ästhetisierende Tendenz, auch für
seine Philosophie unüberschreitbar blieben 1 2. Es genügt hier auf das Zen¬
tralproblem der für uns jetzt so wichtigen Entäußerungslehre hinzuweisen.
Die Hegelsche Fassung des identischen Subjekts-Objekts ist am prägnante¬
sten in der »Phänomenologie des Geistes« zum Ausdruck gekommen, aber
dem Wesen der Sache nach bedeutet auch im späteren System die Verwand¬
lung der Substanz ins Subjekt seine Grundlage und seine Krönung. Das hat
zur Folge, daß jene Wissenschaft, in welcher die Bewegung der »Gestalten
des Bewußtseins« kulminiert, die »Phänomenologie«, nicht bloß die höchste,
klarste Erkenntnis dessen ist, was die niedrigeren Stufen des Bewußtseins,
jede auf ihre Weise, als Wirklichkeitserfahrung gesammelt haben, sondern
zugleich eine Selbsterkenntnis der Welt, eine pseudo-objektivierte Form des
subjektiv idealistischen Ich-Ich. Es ist nicht ein ins Bewußtseinheben der
Substanz, die dadurch zum Besitz des Subjekts geworden wäre, sondern eben
ihre Verwandlung ins Subjekt: das Selbstbewußtsein als höchstes, als allein
angemessenes Niveau der Erkenntnis. »Diese Substanz aber«, sagt Hegel, »die
der Geist ist, ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist; und erst als dies
sich in sich reflektierende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist. Er ist
an sich Bewegung, die das Erkennen ist -, die Verwandlung jenes Ansichs
in das Fürsich, der Substanz in das Subjekt, des Gegenstandes des Bewußt¬
seins in Gegenstand des Selbstbewußtseins, d. h. in ebensosehr aufgehobenen
Gegenstand oder in den Begriff. Sie ist der in sich zurückgehende Kreis, der
seinen Anfang voraussetzt und ihn nur im Ende erreicht k«
Die erkenntnistheoretische Kritik dieser Position Hegels durch Marx ist uns
bereits bekannt. Wir zählen nur kurz die - natürlich unbewußt gebliebenen,
aber aus dem Wesen des Hegelschen objektiven Idealismus notwendig fol¬
genden - aus der Struktur der Ästhetik »geliehenen« Momente auf. Schon
der letzte Satz, das kreisartige dynamische Zusammengehören von Anfang
und Ende gibt dem hier angedeuteten System etwas vom Charakter eines
Kunstwerks, da die Geschlossenheit, selbst eines idealistischen, nicht offenen,
nicht als vorläufig, als ergänzungsbedürftig, als zur Weiterbildung bestimmt
gedachten Systems keineswegs denknotwendig eine Rückkehr zum Anfang
beinhaltet. Der im Gedanken der Rückkehr zum Anfang enthaltene echt wis¬
senschaftliche Gedanke, der methodologische Sinn der Negation der Negation
ist, wie Lenin es richtig ausdrückt, bloß »die scheinbare Rückkehr zum
Alten1 2«. Wenn Hegel hier daraus etwas Vollständiges macht, hebt er eine
der wichtigsten Errungenschaften seiner dialektischen Methode selbst auf.
Dagegen spielt dieser Gesichtspunkt in der Ästhetik, besonders in der für
Hegel stets sehr wichtigen Theorie des Dramas, eine entscheidende Rolle, ja
er ist die wesentliche formale Grundlage der dramatischen Charakteristik.
Diese Konstanz, diese Rückkehr zum Anfang in der Tragödie wie in der
Komödie ist derart ausgesprochen ästhetischen Charakters, daß sie von vielen
im Namen der Naturwahrheit angegriffen wurde (z. B. vom jungen Strind-
berg), jedoch ohne daß sie sich ästhetisch hätten durchsetzen können. Ebenso
ist es mit dem damit fast synonymen Werden zu dem, was etwas an sich
ist, bestellt, ja diese Rückkehr ist für das System das - pseudo-ästhe¬
tische - Zurücknehmen einer wesentlichen Errungenschaft der Hegelschen
dialektischen Methode, nämlich der philosophischen Klärung des Ent¬
stehens von etwas radikal Neuem; in der Darlegung der »Knotenlinie der
Maßverhältnisse« spottet Hegel selbst über jene, die den hier entstehen¬
den Sprung ins bisher nicht Vorhandene zur Kenntnis zu nehmen unfähig
sind 1.
Schließlich und hauptsächlich ist für Hegel in der von uns zitierten wichtigen
Stelle von entscheidender Bedeutung, daß der »Gegenstand des Bewußtseins
in einen Gegenstand des Selbstbewußtseins« verwandelt wird. Wir haben in
vergangenen Darlegungen von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu zeigen
versucht, daß das Selbstbewußtsein als Subjekt, im Gegensatz zum Bewußt¬
sein, die ästhetische Widerspiegelung in ihrem Unterschied von der wissen¬
schaftlichen charakterisiert, daß in dieser Gegenüberstellung die Differenz der
desanthropomorphisierenden und anthropomorphisierenden Methoden zur
Geltung gelangt. Nur das Bewußtsein kann den dialektischen Annäherungs¬
prozeß in der Verwandlung des Ansich zum Füruns adäquat vollziehen, denn
gerade seine Trennung vom Selbstbewußtsein kann den Ausgangspunkt zur
Desanthropomorphisierung bilden, während das Selbstbewußtsein - nicht
nur in seiner ästhetischen Erscheinungsweise, sondern auch im Alltagsleben,
in der Moralität etc. - eine entgegengesetzte Richtung einschlagen muß.
Diese äußert sich jedoch am reinlichsten und prägnantesten gerade in der
ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Das hier angeführte Ausspie¬
len des Selbstbewußtseins gegen das Bewußtsein ist natürlich unmittelbar von
der Lehre des identischen Subjekt-Objekts bestimmt, es trägt jedoch unver¬
meidlicherweise wichtige Setzungsmomente des Ästhetischen in das wissen¬
schaftliche (philosophische) Denken hinein.
Wenn wir nun nach diesem Exkurs, der für die Klärung des Unterschieds
zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Widerspiegelung auf diesem
Niveau unserer Einsicht in ihr Wesen unentbehrlich war, uns nochmals der
Verwertung von Kategorien wie der Entäußerung und ihrer Rücknahme für
die Ästhetik widmen, so deuten schon die für die Philosophie störenden und
verwirrenden ästhetischen Elemente darauf hin, daß hier ein für die Ästhetik
sich um die realistische Wesensart einer jeden Kunst, um die oft dargelegte
Bestimmung, daß Realismus in der konkreten Kunstentwicklung nicht ein
Stil unter vielen anderen ist, sondern die grundlegende Charakteristik der
gestaltenden Kunst überhaupt; daß die verschiedenen Stile nur innerhalb sei¬
nes Bereichs zur Differenzierung gelangen können. Das inhaltlich Neue, das
dabei zum Ausdruck kommt, ist vor allem die Weite des Realismusbegriffs. Er
umspannt sowohl jene maximale Annäherung an die an sich seiende Gegen¬
ständlichkeit der Objektwelt, die wir hier als Gehalt des Entäußerungsaktes
feststellen konnten, wie das ebenfalls daraus folgende Festhalten der sinn¬
lichen Unmittelbarkeit der Erscheinungen. Damit sind natürlich nur zwei
Pole der Universalität des Realismus im Kosmos der Kunst fixiert: nämlich
einerseits die Treue zum Sein und Wesen des Objekts, seinem jeweiligen Zu¬
sammenhang, seiner jeweiligen Totalität, andererseits die Rückkehr zur Un¬
mittelbarkeit des Lebens, insofern als jeder Gegenstand untrennbar von seiner
unmittelbar-sinnlichen Erscheinungsweise zur Gestaltung gelangt. Soweit nur
von der Analyse dieses Akts ausgegangen wird, entstehen im positiven
Sinne noch weitgehend unbestimmte Determinanten, die über die konkreten
Intentionen der verschiedenen Stile sehr wenig aussagen können. Im negati¬
ven Sinne entstehen jedoch insofern klarere Bestimmungen, als damit bloß
die Gebundenheit des Mimetischen an eine Gegenständlichkeit in ihrer Exi¬
stenz, an eine sinnlich-sinnfällige Erscheinungsoberfläche ausgesprochen wird.
Also eine neuerliche Bestätigung dessen, daß die Mimesis an sich nur eine
konkret-sinnvolle Gegenständlichkeit und ihre sinnlich-sinnfällige Erschei¬
nungsweise erfordert, nicht aber an das jeweilige hic et nunc jener Gegen¬
ständlichkeit gebunden ist, die sie unmittelbar abbildet. Die abstrakt- ästheti¬
sche Analyse bestätigt also jene Feststellungen, die die Untersuchung des All¬
tags und der Genesis der Kunst über den nicht mechanisch-photographischen
Charakter der Widerspiegelung überhaupt und der ästhetischen im besonde¬
ren feststellen konnte. Auf die Richtungen der konkreten Inhaltserfüllung
dieser negativen Abgrenzung kommen wir später ausführlich zu sprechen;
wir haben ihre Probleme in anderen Zusammenhängen bereits wiederholt
gestreift.
Als zweiter Satz folgt aus der hier dargelegten Struktur, daß jede
ästhetische Gegenständlichkeit — schon als bloße ästhetische Gegenständlich¬
keit - eine Parteinahme pro oder contra mitenthält, daß also nicht wie im
Alltagsleben der Mensch einer Tatsache gegenübersteht, die er vom Stand¬
punkt seiner Interessen — dieses Wort jetzt im weitesten Sinne ge¬
nommen - bejaht oder verneint, begrüßt oder verwirft etc. Dabei ist es im
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 567
wird vielfach als Paradoxie empfunden: sowohl bei denen, für die jede
Kunst eine so »hohe Warte« einnimmt, daß sie niemals mit einer derartigen
eingeborenen Parteilichkeit vereint werden könnte, wie bei denen, die nur
in der minderwertigen, sogenannten Tendenzkunst, die die Dualität von
Tatsächlichkeit und Urteil darüber aus dem Alltagsleben mechanisch
kopiert, eine derartige Struktur zu erblicken gewohnt sind. Auch jene
Theoretiker des sozialistischen Realismus, die in der Parteilichkeit seine
spezifisch unterscheidende Eigentümlichkeit erblicken, im starren Gegen¬
satz zum »Objektivismus« aller anderen Arten, tragen zu dieser Ver¬
irrung bei.
Dabei ist die Sachlage bei einigermaßen unbefangener Beurteilung höchst ein¬
fach: die Auswahl einer zusammengehörigen Gruppe von Gegenständen, ihr
Zurweltmachen durch die mimetische Abbildung und Formung ist unmöglich
ohne Stellungnahme zu jenem Gehalt und zu seinen Zusammenhängen, die
das Geradesosein des ausgewählten Teiles der Welt und seine Erhebung zu
einer ästhetischen »Welt« ausmacht. Es ist nicht wahr, daß die Einsicht der
Wichtigkeit, der Bedeutsamkeit des Stückes Wirklichkeit dazu ausreicht. Oft
wird das behauptet, aber das Schicksal von Theorien wie der Flaubertschen
»Impassibilite«, um eine der bedeutendsten anzuführen, beweist leicht das
Gegenteil; nicht nur sind die Werke, die angeblich auf der Grundlage dieser
Auffassung entstanden sind, eine lebendige Widerlegung, sondern auch die
Theorie selbst, so wie sie in Flauberts Briefen erscheint, hebt sich selbst auf,
erweist sich überall als eine sehr entschiedene Stellungnahme zu jener Wirk¬
lichkeit, deren Beschaffenheit nämlich die Auswahl, Komposition, Gestal¬
tungsart, etc. Flauberts bestimmt hat. Oder: der bekannte Kunsthistoriker
Berenson 1 will den Typus einer unpersönlichen, einer gleichmütigen Kunst
in der Piero della Francescas aufzeigen; wenn er über Unpersönlichkeit als
Methode spricht, spricht er nur längst selbstverständlich Gewordenes aus,
ähnlich dem, das wir bei der Behandlung von Diderots »Paradoxe sur le
com^dien« gesehen haben. Aber der Gleichmut seines Künstlers gehe dar¬
über hinaus, erstrecke sich auf die Gestaltung selbst. So in den drei großen,
ganz unbeteiligten, das eigentliche Drama der Geißelung Christi verdecken¬
den Vordergrundgestalten des berühmten Bildes in Urbino. Jedoch gerade
diese Komposition ist eine deutliche Stellungnahme ebenso wie - von uns be¬
reits erwähnt - das Beinahe-Verschwinden des kreuz tragenden Christus in der
Masse der zur Folterung und Hinrichtung Geführten bei Brueghel. Es ist
allerdings eine Stellungnahme mit entgegengesetztem Vorzeichen gegenüber
jenen Malern, bei denen in solchen Fällen der Akzent auf Qual oder Größe
liegt. Alle enthalten aber, ästhetisch betrachtet, übereinstimmend eine Stel¬
lungnahme zu dem dargestellten Gegenstandkomplex, und zwar eine, die
überall in gleicher Weise Komposition und Einzelgestaltung unmittelbar und
wesentlich bestimmt. Die Parteinahme der Künstler ist nicht selten sehr kom¬
pliziert, aber je mehr sie alle Momente der Gestaltung durchdringt, je mehr
sie einer jeden mimetischen Gegenständlichkeit immanent bleibt, desto stärker
ist die Stellungnahme und wirkt als solche.
Es ist ein modernes Vorurteil anzunehmen, daß diese Allgegenwart der
Stellungnahme, der Parteilidikeit die Kunstwerke subjektiviert. Der Weg,
über die Entäußerung zu ihrer Rücknahme ist das strikte Gegenteil eines Sub¬
jektivismus. Ein solcher entsteht nur dann, wenn das Subjekt unfähig oder
nicht gewillt ist, den Umweg zu sich selbst über die Entäußerung, über ein
Sichverlieren in der Objektwelt, über ein bedingungsloses Sichhingeben an
sie einzuschlagen. Eine derartige reine Äußerungsweise der Subjektivität löst
nicht nur das Ästhetische in ein Nichts auf. Wie überall, ist auch hier das
Ästhetische bloß eine gesteigerte - das Wesentliche steigernde und deutlicher
hervorhebende - Äußerungsweise des Lebens selbst. Hegel, der das Problem
der Entäußerung und ihrer Rücknahme, wie wir wissen, vor allem auf das
gesellschaftliche Leben und auf die im Laufe der Menschheitsentwicklung er¬
worbene und entfaltete Erkenntnis angewendet hat, analysiert wiederholt
jene Entstellungen, die eine Subjektivität, die sich rein auf sich selbst verlas¬
sen will, die auf die Notwendigkeit einer sich hingebenden Rezeption der
Außenwelt, der Objektwelt verzichten zu können meint, hervorruft. Am
deutlichsten zeigt er dies am Weltbild der sogenannten »schönen Seele«. Ihr
Verhalten ist nach der Hegelschen Beschreibung derart: »Die absolute Gewi߬
heit seiner selbst schlägt ihr also als Bewußtsein unmittelbar in ein Austönen,
in Gegenständlichkeit seines Fürsichseins um; aber diese erschaffene Welt ist
seine Rede, die es ebenso unmittelbar vernommen, und deren Echo nur zu ihm
zurückkommt.« Einer solchen Subjektivität entspricht genau jene Objekt¬
welt, die in einer derart verzerrten Widerspiegelung der objektiven Wirklich¬
keit zwangsläufig entsteht: »Der hohle Gegenstand, den es sich erzeugt, er¬
füllt es daher nun mit dem Bewußtsein der Leerheit; sein Tun ist das Sehnen,
das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstand sich nur verliert,
und über diesen Verlust hinaus und zurück zu sich fallend sich nur als Ver¬
lorenes findet; - in dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine
57° Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich, und schwindet als
ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst L«
In der »Phänomenologie« selbst wird, dem Plan des Werkes entsprechend,
das jeweilige Weltbild aus dem Wandel des Subjekts, der »Gestalt des Be¬
wußtseins« entwickelt; dort, wo Kunstwerke behandelt werden, wie der
»Neveu de Rameau«, wie die von Homer, Sophokles oder Aristophanes
sind nur solche als repräsentativ ausgewählt, in denen von einer Problematik
dieser Art von vorneherein keine Rede sein kann. Im früheren Essay »Glau¬
ben und Wissen« kommt aber Hegel auf die damals erschienenen »Reden
über die Religion« zu sprechen und in der Kritik von Schleiermachers auf
reine Innerlichkeit orientierten Schrift streift er auch das Problem der Kunst.
Er sieht die ästhetenhaften Züge in dieser objektlosen Religiosität und ver¬
spottet Schleiermachers Tendenz »die Kunst ohne Kunstwerke perennieren« 1 2
lassen zu wollen. Wir haben gesehen, daß das Problem, das bei der Anwen¬
dung dieser Hegelschen Kategorie auf die Ästhetik sichtbar wird, subtiler ist,
als die einer ästhetisierenden Subjektivität ohne Objektivierung in Kunstwer¬
ken; es handelt sich eben um die Selbstauflösung der mit solcher Gesinnung
geschaffenen, als Kunstwerke intentionierten Gebilde. (Die zuletzt angeführte
Hegelsche Kritik ist unmittelbar gegen eine andere subjektivistische Verzer¬
rung gerichtet, nämlich gegen die sogenannte »Lebenskunst«. Mit dieser
Frage werden wir uns erst im Kapitel über Naturschönheit beschäftigen
können.) Wir haben gesehen, daß Hegel das Problem der wirklich schöpfe¬
rischen Subjektivität, ihren Weg zu sich selbst über das richtige und ver¬
tiefte Erfassen der Objektwelt ganz allgemein faßt; das Ästhetische fungiert
dabei nur als ein selten erwähnter Anwendungsfall. Gerade darum ist es eine
interessante Bestätigung unserer Auslegung seiner Theorie von der Entäuße¬
rung und ihrer Rücknahme ins Subjekt, daß er in der Behandlung der
»Kunstreligion« - im ästhetischen Teil der »Phänomenologie« - über die
»sittliche Substanz« des Menschen sagen kann: »Sie ist reine Form, weil der
Einzelne im sittlichen Gehorsam und Dienste sich alles bewußtlose Dasein
und feste Bestimmung so abgearbeitet hat, wie die Substanz selbst dies flüssige
1 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Wk. a. a. O. II. S. 496. Ganz ähnlich wird das
»unglückliche Bewußtsein«, das in diesem Werk bei der Entstehung des Christen¬
tums eine große Rolle spielt, behandelt, ebd. 165 ff. Hegel gibt an beiden Stellen
— mehr als ein Jahrhundert vor ihrer Entdeckung — eine vernichtende Kritik der
modernen Introvertiertheit.
2 Hegel: Erste Druckschriften, Leipzig 1928 S. 331.
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt S71
Wesen geworden ist. Diese Form ist die Nacht, worin die Substanz verraten
ward, und sich zum Subjekte machte; aus dieser Nacht der reinen Gewißheit
seiner selbst ist es, daß der sittliche Geist als die von der Natur und seinem
unmittelbaren Dasein befreite Gestalt aufersteht1.« Darin ist ein klares posi¬
tives Gegenbild zur privativen Beschreibung der »schönen Seele« gegeben.
Man sieht: die Analyse der ästhetischen Objektbeziehungen führt von selbst
dazu, die Beschaffenheit des Subjekts in dieser Sphäre genauer zu unter¬
suchen. Wenn sich nun unser Interesse auf dieses Subjekt konzentriert, sto¬
ßen wir wieder auf eine der vielen fruchtbaren und bewegenden Wider¬
sprüchlichkeiten, die den Bereich der Kunst konkret bestimmen. Dieser Wider¬
spruch läßt sich vorläufig und kurz gefaßt so aussprechen: unmittelbar an¬
gesehen sieht es aus, als ob sich die ästhetische Subjektivität der des Alltags¬
lebens sehr nähern würde. Ja, soweit sie, wie wir schon wiederholt hervor¬
gehoben haben, sich von dieser unterscheidet, scheint diese Differenz wesent¬
lich in einer bloßen Steigerung ihrer Unmittelbarkeit zu bestehen. Wie wir
bereits sehen konnten, trügt dieser Schein, und wenn unsere bisherigen Be¬
trachtungen die wirkliche Eigenart, die spezifische Beschaffenheit dieser Sub¬
jektivität auch noch nicht hinreichend aufhellen konnten, so viel ist bereits
sichtbar: der Unterschied zur Unmittelbarkeit der Subjektivität im Alltags¬
leben erwächst im Ästhetischen zu einer qualitativen Differenz, ohne freilich
das Gebundensein an die Persönlichkeit, den subjektiven Charakter der Sub¬
jektivität aufzuheben; ja die Richtung der differenzierenden Bewegung ist
eine entgegengesetzte, nämlich ein Verstärken, ein Intensivieren der ursprüng¬
lich gegebenen Subjektivität. Diese Bewegung, wie wir ebenfalls gesehen ha¬
ben, geht einen, der wissenschaftlichen Erkenntnis diametral entgegengesetz¬
ten Weg. Naturgemäß muß auch hier die Persönlichkeit des Wissen¬
schaftlers, seine subjektive Beschaffenheit und Eigenart, der direkte Träger
des bewußtseinsmäßigen Prozesses der Verwandlung des Ansich in ein Für-
uns sein. Naturgemäß kann diese Verwandlung nur stattfinden, wenn der
ganze Mensch, mit allen seinen Fähigkeiten, nicht nur mit den rein intellek¬
tuellen, sondern auch mit Willenskraft, Moralität, Phantasie etc. sich für ihre
Verwirklichung einsetzt. Jedoch - und dies ist der fruchtbare, der bewegende
Widerspruch der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit -
setzt der Prozeß der Objektivation schon im Subjekt der Erkenntnis selbst
ein: es handelt sich um das uns bereits bekannte, desanthropomorphisierende
von der menschlichen Gattung in ihrem Werden und Sein die Rede ist, auf
dieses ihr Urphänomen, als konkrete Grundlage für das Verstehen der ab¬
strakteren Phänomene, zurückzugreifen ist, und diese aus jenem (und nicht
umgekehrt) erklärt werde.
Die tiefe Wahrheit, die in dieser Feststellung des jungen Marx steckt, hat die
spätere Entwicklung der Wissenschaften vollauf erwiesen. Ohne Marxisten
zu sein, ja, zumeist ohne Marx auch nur dem Namen nach zu kennen, haben
die Archäologen aus den Werkzeugen und Arbeitsprodukten der prähistori¬
schen Zeit viel und Gewichtiges über die reale Entwicklung des Menschen¬
geschlechts, der menschlichen Gattung aufgedeckt (und - meines Erachtens -
wäre das vorhandene Material noch viel mehr und viel tiefer erhellt worden,
wenn die archäologischen Untersuchungen die Marxsche Methode als Grund¬
lage genommen hätten). Die allgemein anerkannte Lage, daß aus den
Werkzeugen und Arbeitsprodukten Zustand und Entwicklungsrichtung einer
Gesellschaft, über die wir sonst nichts oder kaum etwas wissen, sowie die
Lebensbedingungen und Wechselbeziehungen der in ihr lebenden Menschen
abgelesen werden können, daß solche Tatbestände auch in höheren Formatio¬
nen des menschlichen Zusammenlebens als Schlüssel dazu dienen können, um
Grundlagen und Wesen von Komplexen, die in ihren unmittelbar-ideologi¬
schen Erscheinungsweisen rätselhaft blieben, eindeutig zu erklären, hat allge¬
mein philosophisch und für unser gegenwärtiges Problem im besonderen
wichtige Konsequenzen. Hier ist vor allem hervorzuheben, daß dadurch nicht
nur die Realität der Gattung klar vor uns steht, sondern auch die Art ihres
Existierens, ihr wesentlich historischer Charakter. Diese Feststellung ist einer¬
seits dem mechanischen Materialismus gegenüber wichtig, der aus der Gat¬
tung eine tote, unbewegliche Allgemeinheit macht; so kritisiert Marx Feuer¬
bachs folgende These: »das Wesen kann daher nur als >Gattung<, als innere,
stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt
werden L« Darin ist zugleich eine Kritik jener Auffassungen enthalten, die
den Gattungsbegriff des Menschen allzusehr nach dem Modell der Tierwelt
fassen. In ihr kann diese Feuerbachsche stumme Allgemeinheit als eine An¬
näherung zur Wirklichkeit gelten. Marx sagt über diesen Unterschied: »Die
besonderen Eigenschaften der verschiedenen Rassen einer Tierart sind von
Natur schärfer, als die Verschiedenheit menschlicher Anlage und Tätigkeit.
Weil die Tiere aber nicht auszutauschen vermögen, nützt keinem Tierindivi-
duum die unterschiedene Eigenschaft eines Tiers von derselben Art, aber von
verschiedener Rasse. Die Tiere vermögen nicht die unterschiedenen Eigen¬
schaften ihrer Species zusammenzulegen; sie vermögen nichts zum gemein¬
schaftlichen Vorteil und Bequemlichkeit ihrer Species beizutragen 1.« Es ist
interessant, daß ungefähr um dieselbe Zeit Balzac aus derselben Lage ähn¬
liche Konsequenzen gezogen hat: »Wenn Buffon den Löwen geschildert
hatte, so war er mit der Löwin nach ein paar Sätzen fertig; in der Gesell¬
schaft dagegen zeigt sich die Frau nicht immer als das Weibchen des Männ¬
chens.« Und von dieser elementaren Tatsache ausgehend zeigt er die Unter¬
schiede in den differenzierteren Beziehungen. »Die soziale Stellung ist Zufäl¬
len unterworfen, wie die Natur sie sich nicht erlaubt, denn sie ergibt sich aus
der Natur plus der Gesellschaft. Die Schilderung der sozialen Art umfaßt also
zumindest das Doppelte der tierischen Arten, wenn man nämlich auch nur
auf die beiden Geschlechter Rücksicht nahm. Schließlich spielen sich zwi¬
schen den Tieren wenig Dramen ab; nie gerät Verwirrung unter sie; sie stel¬
len sich gegenseitig nach, das ist alles. Auch die Menschen stellen sich freilich
gegenseitig nach, aber ihre mehr oder minder große Intelligenz macht den
Kampf ganz bedeutend komplizierter ... So steht es fest, daß der Krämer
manchmal Pair von Frankreich wird, während der Adelige zuweilen in die
letzte soziale Reihe zurücksinkt2.« Die Anerkennung der biologisch-anthro¬
pologischen Grundlagen der Gattung, auch beim Menschen darf also nie die
gesellschaftlich-geschichtliche Fundiertheit ihrer spezifischen Kategorien ver¬
dunkeln.
Andererseits fixiert der philosophische Idealismus den Begriff des »allgemein
Menschlichen« ebenfalls in einer unzulässig-überhistorischen Weise, indem be¬
stimmte (jeweils aus den ideologischen Bedürfnissen einer gegebenen ge¬
schichtlichen Lage entsprungene und so verallgemeinerte) Züge der Menschen
diese begriffliche Weihe erhalten und den besonderen oder partikularen
Eigenschaften, Beschaffenheiten etc. der Menschen mechanistisch-starr gegen¬
übergestellt werden. Das bezieht sich in der Kunst gleicherweise auf Akade¬
mismus wie auf Avantgardismus. Ob eine verabsolutiert-vulgarisierte Fas¬
sung der »edlen Einfalt und stillen Größe« oder eine existenzialistisch-nihi-
hstische »condition humaine« diese metaphysisch verzerrte Kriterienrolle er¬
hält, läuft aufs gleiche hinaus und zeigt, philosophisch angesehen, dieselbe
Methodologie. Was dagegen Marx als Gattung bezeichnet, ist vor allem
etwas sich gesellschaftlich-geschichtlich ununterbrochen Wandelndes, ist weder
in ertötender Allgemeinheit aus dem Entwicklungsprozeß herausgehoben,
noch eine Abstraktion, die der Einzelheit und der Besonderheit ausschließend
gegenübersteht; die Gattung befindet sich also subjektiv wie objektiv un¬
unterbrochen inmitten eines Prozesses, sie ist ein niemals gleichbleibendes
Ergebnis der Wechselbeziehungen zwischen größeren und kleineren, mehr
oder weniger naturhaften oder höher organisierten menschlichen Gemein¬
schaften bis hinunter zu den Taten, Gedanken und Gefühlen eines jeden
Einzelnen, die alle - das Endergebnis modifizierend, daran bildend - in
dieses einmünden. Marx hebt diese Einheit von Individuum und Gattungs¬
wesen energisch hervor. In den diesbezüglichen Betrachtungen, die wir bereits
in anderen Zusammenhängen zitiert haben, sagt er: »Das individuelle
und das Gattungsleben des Mensdien sind nicht verschieden, so sehr auch -
und dies notwendig - die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr
besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je
mehr das Gattungsleben ein mehr besonderes oder allgemeines individuelles
Leben ist. Als Gattungsbewußtsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesell¬
schaftsleben und wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Denken, wie um¬
gekehrt das Gattungssein sich im Gattungsbewußtsein bestätigt und in seiner
Allgemeinheit als denkendes Wesen, für sich ist1.«
Es handelt sich in diesem Prozeß um eine Dialektik der Einzelheit
und ihrer Verallgemeinerung in den Objektivationen der Tätigkeit der Ein¬
zelnen; vor allem also in der Arbeit. Ein jedes Arbeitsprodukt entsteht aus
Leistungen von Einzelnen, sein Wesen ist jedoch auf objektive Notwendig¬
keiten materieller und gesellschaftlicher Natur begründet. Ist es nicht diesen
gemäß hervorgebracht, so ist der ganze Arbeitsprozeß vertan, man kann es
im genauen Sinn gar nicht mehr als Arbeitsprodukt betrachten, obwohl es in
subjektiver Hinsicht ein solches ist. Darum kann, wie früher angedeutet,
die Archäologie aus Arbeitsprodukten verschollener Kulturen deren Inhalte,
Formen, Wesen, Struktur etc. entziffern. Denn sie zeigen in objektivierter
Gestalt das Entscheidende an den objektiv vorhandenen gesellschaftlichen
Bedürfnissen und an der Weise ihrer jeweils möglichen optimalen Befriedi¬
gung. Ihr Wandel ist der beste Kompaß, um die aufwärts oder abwärts füh¬
renden Wege, die Epochen der Stagnation etc. in diesen Kulturen zu entdecken.
Bis zu leisen Nuancen lassen sich aus ihnen deren Verwandtschaften und Ab¬
weichungen ablesen. All dies zeigt uns von einer neuen Seite die uns bereits
bekannte Rolle des Subjekts in solchen Arbeitsprozessen; sie ist eine objek¬
tivierende, eine von der Partikularität des Subjekts wegführende: die beson¬
deren Fähigkeiten, Eigenschaften, etc. des Subjekts sind für diesen Prozeß
immer unentbehrlich, zuweilen von höchster Wichtigkeit, sie können sogar
unter bestimmten Umständen die unmittelbaren Vehikel des Fortschritts, der
Weiterbildung der Gattung sein, jedoch stets nur insofern, als sie sich restlos
in die gerade damals ausschlaggebende Objektivität umzusetzen imstande
sind, als sie in der Objektivation die Spuren ihrer Partikularität ablegen.
Und es ist klar, daß die aus der Arbeit sich entwickelnde Wissenschaft diesen
Charakter noch ausgeprägter aufweist. Die stimulierende, Leistungen aus¬
lösende Funktion der gesellschaftlichen Bedürfnisse und der Zwang, das An¬
sich des Seins, seine vom Bewußtsein unabhängige Beschaffenheit in getreuer
Annäherung zu erfassen und darzustellen, äußert sich noch prägnanter. So
viel Genialität auch zur Entdeckung gewisser Wahrheiten nötig ist, diese
selbst tragen keine Spuren mehr davon an sich; sie sind wahr gerade in ihrer
von jeder Subjektivität gereinigten Objektiviertheit, sie können erst gerade
dadurch zu einem Fortschritt der menschlichen Gattung führen.
Von diesen Kontrastbildern aus gesehen erscheint das Wesen der ästhetischen
Subjektivität in einer klareren Beleuchtung als bisher: wie in anderen
Wesenskomplexen so spitzt sich auch in der Existenz als Gattungswesen der
Unterschied zwischen Tier und Mensch in dem Gegensatz zu, daß bei jenem
die Gattung nur ein objektives Sein hat, während sie bei diesem nicht nur
mehr oder weniger deutlich ins Bewußtsein treten kann, sondern auch dieses
Bewußtsein zu einem immer wesentlicheren Moment des objektiven Seins der
Gattung wird. Natürlich ist die Bewußtheit in allen bisher erwähnten Gat¬
tungstätigkeiten der Menschen als unerläßlicher Bestandteil mitenthalten, da
jedoch überall, wie gezeigt wurde, die Objektivität übergreifend wirken muß,
kann der subjektiven Bewußtheit im Endergebnis keine entscheidende Be¬
deutung zufallen; sie ist unentbehrlich für die Genesis der menschlich¬
gattungsmäßigen Gebilde, hat aber damit ihre Rolle ausgespielt; diese sind
gerade in ihrer Objektivität Träger und Weiterführer dessen, was wir
menschliche Gattung nennen. Eine qualitativ andere Rolle spielt die Subjek¬
tivität in Ethik und Ästhetik. Jene - um für unsere jetzigen Betrachtungen
Ethik und Moralität einheitlich zusammenzufassen - regelt ja gerade die sub¬
jektive Seite der menschlichen Praxis. Es versteht sich von selbst, daß jede Tat
ethischen Charakters eine Intention auf Bewahrung und Weiterbildung des
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 577
1 Ebd.
580 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
ist hier eine Qual, aber nur eines davon läßt sich wollen; der Wollende da¬
gegen hat bereits vorgezogen, er weiß, was er lieber will, die Wahl liegt
hinter ihm 1.«
Erst ein Hinausgehen über die Partikularität des Subjekts kann die subjektiv
bearbeiteten mimetischen Gebilde in die spezifische Objektivität des Ästhe¬
tischen erheben, wodurch sie nicht mehr als rein subjektive Reaktionen auf eine
von der Subjektivität unberührte Außenwelt dieser gegenüberstehen, sondern
sich zu einer selbständigen Objektivität sui generis konstituieren. (Darin kann
man auch von dieser Seite einen der widitigsten Unterschiede zwischen Künst¬
ler und Dilettant oder Stümper finden.) Dieses Hinausgehen über die parti¬
kulare Subjektivität des Alltagsleben ist dem Wesen nach zumindest ebenso
entschieden wie in der Wissenschaft oder Moral, obwohl die Art seiner Ver¬
wirklichung lange nicht so radikal zu sein scheint. Denn während sowohl der
Akt des Desanthropomorphisierens im wissenschaftlichen Verhalten wie
- wenigstens sehr oft - das Wirken der moralischen Gebote eine deutliche
Abgrenzung gegenüber der Partikularität des Subjekts zustande bringen, schei¬
nen im Ästhetischen die Grenzen vollständig zu verschwimmen, ja es scheint,
als ob im Vollzug der ästhetischen Setzung (im Werk, im Schaffen, in der
Rezeption) eine ausschließliche und reine Subjektivität entstehen würde. Und
das ist nicht bloß ein Schein, denn es gibt keine menschliche Tätigkeit, in
welcher die Subjektivität, die Individualität in derart unmittelbarer Evidenz
zum Ausdruck käme, keine in welcher das persönliche Moment eine derartige
jede Gegenständlichkeit konstituierende, für alle Zusammenhänge ausschlag¬
gebende Bedeutung hätte, wie in der Sphäre des Ästhetischen. Gerade darum
ist jedoch der Übergang ins Gattungsmäßige, die Erhebung über die bloße
Partikularität des Menschen in seiner alltäglichen Unmittelbarkeit hier
ebenso unerläßlich, wie in der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit, wie in der moralischen Praxis.
Die besondere Art dieser Wandlung des Subjekts ist durch den Charakter der
Objektivation bestimmt. Überall sonst bleibt nämlich die Objektivität der
Objektwelt unberührt; dadurch daß sie möglichst adäquat erkannt und
durch menschliche Praxis verändert wird, wird an ihrer Objektivität nicht
gerüttelt, ja, wie wir gesehen haben, setzen sogar die subjektiven Wünsche,
Tagträume etc. gerade diese ihre Unerschütterbarkeit voraus. Einzig und
allein die Kunst schafft - mit Hilfe der Mimesis - ein objektiviertes Gegen-
bild zur wirklichen Welt, das sich selbst zu einer »Welt« abrundet, das
in dieser Selbstvollendung ein Fürsichsein besitzt, in welcher die Subjektivität
zwar aufgehoben wird, wobei aber das Aufbewahren und das Erheben auf
eine höhere Stufe die übergreifenden Momente bleiben. Die derart aufgeho¬
bene Subjektivität erweckt nun das Gattungsbewußtsein, das jeder mensch¬
lichen Persönlichkeit, mehr oder weniger bewußt, stets immanent ist. Das
erklärt die Eigenart dieser Wandlung der Subjektivität: sie wird echter und
tiefer subjektiv, die Persönlichkeit gewinnt ein erweitertes und fester um-
rissenes Herrschaftsgebiet als im Alltagsleben, und zugleich geht sie über
die ihr darin eigene Partikularität weit hinaus. Die »Welt« des Kunst¬
werks, in welcher diese die Subjektivität derart bewahrende Objektiva-
tion vor sich geht, ist eben eine Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit,
eine Mimesis, welche die dem Menschen gegebene - sowohl die von ihm ge¬
schaffene und geformte wie die von ihm unabhängig existierende - Welt
vom Standpunkt dieses schöpferischen Prozesses betrachtet und reproduziert.
Die Wandlung des Subjekts, seine Überwindung der Partikularität des All¬
tagslebens ist der Prozeß, es selbst so umzuformen, daß es fähig werde, ein
»Spiegel der Welt« zu sein, wie Heine von Goethe sagt. Die Tiefe der rich¬
tigen Welterkenntnis und des richtigen Icherlebens fallen hier zu einer neuen
Unmittelbarkeit zusammen.
Die Umsetzung dieses Tatbestandes in eine philosophische Terminologie mag
streckenweise paradox klingen. Ihre Schwierigkeit liegt nicht zuletzt darin,
daß Kategorien und deren Beziehungen angewendet werden müssen, die, auf
die objektive Wirklichkeit selbst bezogen, als Kategorien der Erkenntnis eine
idealistische Verzerrung hervorbringen müßten. Über dieses Problem im all¬
gemeinen wurde hier bereits gesprochen. Jetzt handelt es sich um die
- ästhetisch-rationale - Urform der zentralen Kategorie des modernen
objektiven Idealismus, um das identische Subjekt-Objekt. Über ihre die Er¬
kenntnis verzerrenden Folgen habe ich in anderen Werken gesprochen 1. Hier
ist deutlich sichtbar, daß es sich in der Ästhetik nicht um ein identisches
Subjekt-Objekt im strikten Sinne handelt. Der ästhetische Tatbestand selbst
ist an sich höchst einfach und wird durch unzählige Fakten der Geschichte
belegt. Immer wieder erfahren wir im Laufe der Kunstentwicklung - wo es
uns möglich ist, die Privatpersönlichkeit der Künstler zu kennen daß ihre
in ihren Werken objektivierte Individualität mit jener identisch und zugleich
nicht identisch ist, daß jene in diese in der von uns kategoriell geschilderten
Weise aufgehoben wurde.
Die Schwierigkeit, diesen Prozeß begrifflich zu fassen, ist eine doppelte.
Erstens kann es für diese Selbstaufhebung der Partikularität kein konkretes
Kriterium geben, wie dies in der wissenschaftlidien Widerspiegelung oder in
der ethischen Praxis doch vorhanden ist. (Die in diesen Gebieten entstehen¬
den Probleme können hier nicht behandelt werden. Es ist aber klar, daß
das Prinzip des Desanthropomorphisierens bzw. die ethischen Normen, bei
aller Problematik in ihrer Anwendung auf konkrete Einzelfälle, doch einen
deutlichen Kriteriumscharakter besitzen.) Aber trotz dieses Fehlens von
konkreten Maßstäben herrscht hier keine Willkür. Das partikulare Subjekt
des Künstlers muß sich - in Hinsicht auf die Verwandlung seiner Subjek¬
tivität — ä corps perdu in den Schaffensprozeß werfen. Dessen Gelingen
hängt - Begabung vorausgesetzt - gerade davon ab, ob und wieweit er
fähig ist, in sich das bloß Partikulare abzustreifen und in sich selbst das Gat¬
tungsmäßige nicht nur zu finden und klarzulegen, es vielmehr als das Wesen
gerade seiner Persönlichkeit, als das organisierende Zentrum ihrer Beziehun¬
gen zur Welt, zur Geschichte, zum gegebenen Moment im Entwicklungs¬
prozeß der Menschheit und zu ihrer Bewegungsperspektive - und zwar als
tiefsten Ausdruck der Widerspiegelung der Welt selbst - erlebbar zu machen.
Es ist klar, daß es prinzipiell unmöglich ist, in den unmittelbaren oder in den
künstlerischen Erlebnissen ein apriorisches Kriterium aufzufinden, das mit
untrüglicher Sicherheit darüber befinden könnte, welche erlebt und evokativ
gemachte Widerspiegelung der Wirklichkeit, welche Gruppierung solcher Er¬
lebnisse, welche Bewertung ihres Wesens und ihrer Zusammenhänge der parti¬
kularen Subjektivität und welche dem Gattungsbewußtsein angehört. Das nie
zu Ruhe kommende, bei jedem Zug der künstlerischen Arbeit immer wieder
einsetzende Ringen der großen Künstler um das, was sie sehr oft einfach
treue Wiedergabe der Natur nennen, besteht, subjektiv angesehen, gerade
darin: die Wirklichkeit von der Warte der Menschengattung zu betrachten.
Denn abstrakt angesehen ist sehr vieles naturwahr, was diese Höhe nicht er¬
reicht; das Ausgeschiedene, Verworfene etc. ist oft, rein als Widerspiegelung
eines Stückes der Wirklichkeit, ebenso wahr, wie das, was in den Werken als
endgültig stehenbleibt.
Worin besteht also das Prinzip des Weglassens? In sehr vielen Fällen - und
diese sind eben für unser Problem wichtig - darin, daß die hier gemeinte,
unmittelbar subjektiv bleibende Objektivität, d. h. die Subjektivität des Gat¬
tungsbewußtseins gerade durch eine solche Wahl gefördert wird, während im
J84 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
Kapitalismus entsteht der Weltmarkt und auf seiner Basis eine reelle Welt¬
geschichte: zwar noch immer ein Ansich der Menschengattung, aber natürlich
ein Ansich qualitativ höherer Ordnung als das ursprünglich bloß anthropolo-
gisdte, weil damals die Zusammengehörigkeit nur als Ergebnis von Kata¬
strophen, als »Schicksal« erlebt wurde, während jetzt die menschliche Praxis,
bei Strafe des Untergangs, gezwungen ist, sich ununterbrochen mit der konkret
gewordenen Totalität der Menschen auseinanderzusetzen, und weil die Zahl
jener, bei denen dieses Ansich der Gattung zu einem bejahten Füruns wird, in
ständigem Wachsen begriffen ist, ebenso wie die Zahl jener - wenn auch in ge¬
ringerem Maßstabe -, die ihre volle Realisierung bereits aktiv erstreben.
Trotz einer derartig eindeutigen Entwicklungslinie besteht für die ästhetische
Subjektivität das bereits angedeutete Problem. Denn es gehört zum Wesen
der Kunst, nicht utopisch zu sein. Für die überwältigende Mehrheit der
Künste, Kunstarten und Werke ist es unmöglich, die Perspektive der Zukunft
anders darzustellen, als in der Form einer angedeuteten, mehr oder weniger
sichtbar gemachten Bewegungsrichtung der gestalteten Gegenwart. Philoso¬
phie, Wissenschaft oder Publizistik waren und sind imstande, in abstrakten
Voraussagen eine Verwirklichung ihrer Perspektiven begrifflich vorweg¬
zunehmen. Das mag inhaltlich wie formal noch so utopisch ausfallen, die
Tatsachen der Geschichtsentwicklung mögen noch so oft und noch so kraß
die Unrichtigkeit der meisten Details zur Anschauung bringen - wenn der
utopische Gedanke, in einem großen welthistorischen Sinn, die Richtung jenes
Entwicklungsweges einschlägt, den die Menschengattung geht, erwächst die
utopische Vorwegnahme zu einer progressiven geistigen Macht. So bereits im
Naturrecht und in der Ethik der Stoa, so in den Erklärungen der Menschen¬
rechte der großen bürgerlichen Revolutionen, so in den Zukunftsaussagen der
bedeutenden Utopisten von Morus bis Fourier. Und in qualitativ höherer
Weise bei Marx, Engels und Lenin. Für die Wissenschaft ist es freilich prinzi¬
piell möglich, wahre Perspektiven der Zukunftsentwicklung aufzudecken. Es
genügt dabei, auf die Bestimmung der zwei Perioden des Sozialismus in der
»Kritik des Gothaer Programms« von Marx hinzuweisen. Es geht freilich
schon aus dem bisher Ausgeführten klar hervor, daß der Inhalt solcher Aus¬
sagen nur das Allerallgemeinste treffen kann; sobald sie auf Konkretes ein-
gehen, entsteht selbst bei hervorragenden Denkern, die vieles auf dem Niveau
der Allgemeinheit genial vorwegnehmen, eine absurde, oft unsinnige Phanta¬
stik (man denke z. B. an Fourier).
ns war unvermeidlich, daß auch die ästhetische Theorie von solchen Ge¬
dankenströmungen beeinflußt wurde. Ihr Zurückbleiben hinter der künstleri-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 587
sehen Praxis wird gerade bei einem solchen Thema klar sichtbar, insbesondere
darum, weil, wie wir bereits gesehen haben, gerade der spezifische Charakter
der künstlerischen Verallgemeinerung verkannt und nach dem Muster der
wissenschaftlichen oder philosophischen aufgefaßt wurde. Die gesellschaftlich-
geschichtlich notwendige Ungeklärtheit in der Auffassung der Realität der
Menschengattung paart sich nun in der ästhetischen Theorie mit ihrer
eigenen Unklarheit bezüglich der künstlerischen Verallgemeinerung. Das
bringt die verworrene und irreleitende Kategorie des »allgemein Mensch¬
lichen« hervor. Uber deren problematisches Wesen haben wir bereits gespro¬
chen. Für unsere jetzt zu behandelnde Frage hat die Idee des »allgemein
Menschlichen« in der ästhetischen Theorie und Praxis zur Folge, daß die
Menschheit darin zu den konkreten Formen der menschlichen Beziehungen,
vor allem zu Klasse und Nation, in einen ausschließenden metaphysischen
Gegensatz gesetzt wird. Indem nun diese konkreten Bindungen und Ver¬
bindungen der Menschheit, deren Einwirkungen auf das konkrete Was und
Wie einer jeden Persönlichkeit, jeder menschlichen Beziehung, jeden Schicksals
etc. unermeßlich sind, auf ein Niveau des Sekundären, des gedanklich zu ver¬
nachlässigenden herabgesetzt werden, entsteht zwangsläufig eine blasse, ab¬
gezogene, blutlose Konzeption vom Menschen selbst. Und auch die Konflikte,
die das Leben der Menschen erfüllen, die von ihnen ausgelösten Taten und
Gefühle sind wesentliche Bestandteile einer jeden konkreten Individualität.
Fallen sie weg, werden sie übersprungen, in den Hintergrund gedrängt, so
steigert sich die Abstraktheit des »allgemein Menschlichen« noch mehr. Es ist
kein Zufall, daß diese Leere desto stärker herrscht, je mehr Kunst und Kunst¬
theorie sich vom Leben ihrer Gegenwart entfernen und im schlechten Sinne
akademisch werden (um Mißverständnisse zu verhüten: es gibt auch
einen dekadenten, avantgardistischen Akademismus, man denke an die »Oh
Mensch!« - Periode des Expressionismus, an die Abstraktion der »Condition
humaine« etc.). Künstlerisch muß ein solcher aus Prinzip entleerter Gehalt
zu einem abstrakt-gekünstelten Formalismus führen, einerlei ob dieser klas¬
sizistisch oder surrealistisch ist. Und der einer jeden Konkretheit, eines jeden
lebenswahren Gehalts beraubte Inhalt kann nur einen konturlosen Kosmopo¬
litismus, ein solipsistisches Verzweiflungsbild etc. ergeben. Die einseitige, die
realen Verwicklungen ausschaltende, direkte Orientierung auf das Gattungs¬
mäßige im Menschen muß also auch den Begriff und das Bild gerade auch der
Menschheit verarmen und verzerren.
Die Richtigkeit dieses Gedankengangs schließt natürlich nicht die Möglichkeit
aus, jene Erlebnisse der Existenz der Menschengattung, deren gedankliche
588 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
Reflexe wir früher analysiert haben, auch zur künstlerischen Gestalt zu er¬
heben. Will man dies ästhetisch begreifen, so muß man sich vor Augen halten,
daß eine konkret-utopische künstlerische Darstellung an sich noch unlösbarere
Widersprüche enthält als eine begriffliche Vorwegnahme der Zukunft. Die
Steigerung liegt darin, daß ein gedankliches Erfassen bestimmter auf das
Kommende bezüglicher Gesetze und Tendenzen prinzipiell nicht unmöglich
ist, aber für die Widerspiegelungsart der Kunst nur sehr ausnahmsweise
Bedeutung erlangen kann. Hier stößt gerade die ästhetische Mimesis gegen¬
über einer Gegenstandswelt, deren Inhalte, Zusammenhänge, Beziehungen
etc. uns in ihrer Konkretheit verschlossen sind, auf unüberwindbare Hinder¬
nisse. Die Kunst hat also einen viel entschiedeneren anti-utopischen Charak¬
ter, als die Wissenschaft oder die Philosophie. Wenn man sich gegen diese
Behauptung auf Schillers, Shelleys oder Blakes »prophetische« Gedichte, auf
den Schluß der IX. Symphonie etc. beruft, so ist dagegen zu bemerken:
solche Werke drücken primär nicht eine zukünftige, seiende Wirklich¬
keit selbst aus, sondern das Sehnen des Subjekts nach ihr, seine Voraus¬
sicht dessen, was kommen soll, seine subjektive Beziehung zum Menschen¬
geschlecht - mag diese noch so verallgemeinert sein und nicht dessen
objektives Sein. Die konkreten Züge der Gestaltung haben also ihre Wurzel
und ihren Gegenstand im Subjekt und dieses ist konkretes Produkt, konkreter
Bestandteil seiner eigenen Gegenwart, seines konkreten gesellschaftlich¬
geschichtlichen hic et nunc.
Die objektiviert-künstlerische Gestaltung eines utopischen Verhaltens ist des¬
halb - ästhetisch betrachtet - keine Utopie. Natürlich ist sie eine Darstel¬
lungsweise sui generis, deren detaillierte Analyse wir hier nicht vornehmen
können. Es sei nur so viel bemerkt, daß es eine fehlerhafte, vorschnelle Ver¬
allgemeinerung wäre, in dieser Frage die lyrischen Gestaltungsformen starr
den direkt objektivierenden gegenüberzustellen. Es handelt sich vielmehr um
eine besondere Unterart dessen, was Schiller als »sentimentalisch« im Gegen¬
satz zum »Naiven« bestimmt hat. Das Elegische, Idyllische und Satirische
sind die Gesinnungsformen, mit deren Hilfe der hier gemeinte Tatbestand zur
Gestaltung gelangen kann; womit freilich keineswegs behauptet wird, daß
diese spezifischen Inhalte den ganzen Umkreis dieser Gesinnungen erschöpfen.
Sie lassen aber eine Gestaltung zu, in welcher die noch nicht seiende, noch
subjektive Realität des Menschengeschlechts einen wichtigen Aspekt seines
Fürunsseins zum Ausdruck gelangen lassen kann, gerade weil die letzte
Wahrheit solcher Darstellungen — auch wenn sie nicht ausgesprochen lyri¬
schen Charakters sind, sondern unmittelbar eine objektivere Gegenstands-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 589
Geformtseins durch Familie, Klasse, Nation etc. sind nie einfach Einwirkun¬
gen von außen, nicht einmal »Schichten« innerhalb seiner Persönlichkeit,
sondern einander im wesentlichen gleichgeartete Affekte (freilich je nachdem,
wer es ist, von verschiedener Qualität, Intensität etc.). In jedem Menschen
werden die durch diese Konstellation hervorgerufenen Kämpfe zu inneren
Kämpfen seiner eigenen Leidenschaften. Diese im Leben entstandene Sach¬
lage wird von der ästhetischen Mimesis nicht nur treu widergespiegeit, son¬
dern, ihrer von uns oft geschilderten Wesensart entsprechend, gesteigert,
intensiviert. Die bedeutende Wahrheit Spinozas, daß im Individuum gegen
Affekte nur Affekte erfolgreich eingesetzt werden können, pflegt zwar in der
Ästhetik nicht angeführt zu werden, um so mehr ist sie das - unausge¬
sprochene, implicite - Axiom einer jeden echt mimetischen Gestaltung. Denn
gerade dadurch kann der im Leben äußerst komplizierte Anteil von außen
und innen, von Gesellschaftlichkeit und Persönlichkeit im Schicksal des Men¬
schen deutlich und erschütternd (sei es im tragischen, sei es im komischen
Sinne) zum Ausdruck gelangen. Da die »äußeren«, die gesellschaftlichen
Kräfte ihre Macht durch die Leidenschaften, die sie in den einzelnen Men¬
schen entfachen, erhalten, zugleich jedoch ihre »äußere«, ihre gesellschaftliche
Macht auch rein auszudrücken imstande sind, kann das Bild der Beziehung
des Menschen zu seinen sozialen Bedingungen sowohl fetischisiert wie defeti-
schisiert erscheinen. Das Phänomen der Fetischisierung hat Marx in bezug auf
die Ware plastisch bestimmt: »Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Ver¬
hältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form
eines Verhältnisses von Dingen annimmt L« Es ist nun eine der großen Lei¬
stungen der Kunst, über welche noch viel zu sagen sein wird, solche Fetische
aufzulösen, d. h. die gesellschaftlichen Verhältnisse eindeutig als Beziehungen
der Menschen zueinander auszudrücken. Erst so kann die widerspruchs¬
volle dialektische Einheit des Äußeren und des Inneren, des Gesellschaft¬
lichen und des Persönlichen in wahrheitsgemäßen Proportionen evoka-
tiv zum Ausdruck gelangen. Hegel hat diese Einheit des Inneren und des
Äußeren in der Hexenszene des «Macbeth« richtig dargestellt und die tref¬
fende Folgerung gezogen: »Die allgemeinen Mächte nun endlich, welche nicht
nur für sich in ihrer Selbständigkeit auftreten, sondern ebensosehr in der
Menschenbrust lebendig sind, und das menschliche Gemüt in seinem Innersten
bewegen, kann man nach den Alten mit dem Ausdruck rraOoc bezeichnen .. .
1
Marx: Kapital, Band I. a. a. O. S. 39.
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 59i
Das Pathos in diesem Sinne ist eine in sich selbst berechtigte Macht des Ge¬
müts, ein wesentlicher Gehalt der Vernünftigkeit und des freien Willens 1.«
Mit alledem ist unmittelbar bloß jene Dialektik beschrieben, in welcher der
Widerspruch zwischen dem Individuum und den real vorhandenen gesell¬
schaftlich-geschichtlichen Mächten und vor allem die Einheit dieser Wider¬
sprüche künstlerisch zum Ausdruck gelangen kann. Damit ist aber zugleich
der Schlüssel für unser jetziges Problem gegeben. Objektiv, indem bei richtig
aufgefaßten und dargestellten realen gesellsdiaftlichen Mächten unbedingt
auch ihre inneren — geschichtlich allerdings noch nicht bewußt gewordenen
oder sich bewußtseinsmäßig falsch spiegelnden — Beziehungen zur Entwick¬
lung der Menschengattung mitgestaltet werden müssen. Die Erscheinungs¬
weise ist naturgemäß je nach der Phase in der Evolution, je nach Nation,
Klasse etc. schon im Leben so außerordentlich verschieden, daß wohl - nach
eingehender Erforschung der Details - ein Aufdecken der hier waltenden
Gesetze, nicht aber ihre abstrakte Systematisierung möglich ist. Dieser Hin¬
weis auf das Gattungsmäßige, bei Anerkennung der eben jetzt angedeuteten,
fast unbeschränkten Variabilität, steckt im Funktionieren einer jeden gesell¬
schaftlichen Beziehung. Jede hat in dieser Hinsicht ein Doppelgesicht: die
Taten, die Lebensfragen etc. werden für jeden Menschen von hier aus gestellt,
aber diese Taten können ihre Intention rein auf Forderungen des Tages rich¬
ten oder können, ohne diese Gebundenheit aufzugeben, sich zugleich in die
Richtung der Gattungsprobleme wenden; die Lebensfragen können das
Niveau einer bloß partikularen Nützlichkeit nie verlassen und können - be¬
wußte, falschbewußte oder gänzlich unbewußte - Hinweise auf diese
höchste Allgemeinheit des Menschenlebens mitenthalten. Schon diese Sachlage
kann die Quelle unzähliger Kollisionen sein. Scheinbar ist der Familiensinn
(Verehrung der Mutter), die Liebe zur Vaterstadt bei Coriolanus harmonisch
mit seinem Aristokratismus. Jedoch die Entfaltung solcher oft bloß latent
vorhandenen Widersprüche löst die flache Scheinharmonie des »normalen«
Alltags in schroffe Widersprüchlichkeit auf, und erst ihr dynamischer Zu¬
sammenhang, ihre tragische Kulmination enthüllt das, was in diesen Bezie¬
hungen der Menschen vollständig an das partikulare hic et nunc gebunden ist
und was mit der Entwicklung des Menschengeschlechts direkt oder indirekt
zusammenhängt, was ein bleibendes Moment der Kontinuität dieser Entwick¬
lung werden kann.
Es ist also für das Vorhandensein und für die Gestaltbarkeit von Wider¬
sprüchen zwischen Individuen und gesellschaftlichen Verhältnissen und erst
recht für deren Bezogenheit auf Probleme der Menschengattung keineswegs
notwendig, daß die dialektischen Gegensätzlichkeiten in den handelnden und
leidenden Menschen bewußt werden. Auch hier gilt unser Marxsches Motto:
»Sie wissen es nicht, aber sie tun es.« Wir konnten diese Struktur schon im
obigen Beispiel von Shakespeares Coriolanus andeuten. Wir erinnern auch an
ein längeres Zitat aus Thomas Manns »Zauberberg«, das wir früher in ande¬
ren Zusammenhängen angeführt haben. Dieses zeigt, daß unsere marxistische
Auslegung auch hier nichts weiter ist, als ein Bewußtmachen dessen, -was in
der Praxis der großen Künstler stets ausgeübt wird. Diese Lage ist - als
praktische Grundlage der ästhetischen Mimesis - überall vorhanden. Im
Falle Thomas Manns erhalten wir die Charakteristik solcher Wechselbezie¬
hungen für ein äußerst problematisches Zeitalter, der methodologische Sinn
für die ästhetische Praxis ist aber derselbe, wie etwa der der Marxschen Ana¬
lyse der »heroischen Illusionen« der großen Französischen Revolution. Ein
Buch, wie »Les dieux ont soif« von Anatole France, sicherlich ohne direkte
Einwirkungen solcher Feststellungen entstanden, ist ein deutliches Beispiel,
wie in einer bedeutenden Dichtung die lebendigen Widersprüche (und ihre
Einheit) als Komplex aus individuellen Leidenschaften, ihrer Bedingtheit
durch die gesellschaftlich-geschichtliche Beschaffenheit einer Entwicklungs¬
phase und ihrer Bedeutung für die Entfaltung des Gattungsmäßigen zum
Ausdruck gelangen können.
Es ist kein Zufall, daß hier überall die Widersprüche (und ihre Einheit) in
den Vordergrund der Betrachtungen gerückt werden mußten. Denn die in der
Geschichte vor sich gehende Entwicklung des Gattungsmäßigen kann nur da¬
durch zum Vorschein kommen und zur Geltung gelangen, daß das Neue in
den Persönlichkeiten, Beziehungen etc. der Menschen zu den alten Institutio¬
nen, Verbindungen, Gedanken, Gefühlen etc. in Gegensatz gerät. Freilich
können die so entstehenden Kollisionen 9ich dann auf ein rein lokales und
temporäres hic et nunc beschränken, und sie tun es auch in der überwiegenden
Mehrzahl, die Möglichkeit einer Erhebung darüber zum Gattungsmäßigen ist
jedoch in jeder solchen Kollision latent enthalten, es ist nur die Frage, wie¬
weit sie sich - objektiv oder subjektiv - zu verdeutlichen imstande ist. Hier
hat die große welthistorische Mission der Kunst ihre Wurzel: sie vermag das
Latente zur Aktualität zu erheben, dem in der Wirklichkeit Stummbleiben¬
den einen deutlichen evokativ-verständlichen Ausdruck zu verleihen. Das
Goethesche: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 593
ein Gott, zu sagen, was ich leide« kann, ohne seine Intention unzulässig zu
verallgemeinern, durchaus in diesem Sinne gedeutet werden h
Die Widersprüche, von denen eben die Rede war, zeigen nicht selten schon in
ihren unmittelbaren Erscheinungsformen eine Struktur, die auf das von uns
Ausgeführte hindeutet. Man denke an die radikalen Verallgemeinerungen in
den Forderungen der bürgerlich-demokratischen Revolutionen (an die »heroi¬
schen Illusionen«), an den ständigen Kampf zwischen den großen, welthisto¬
rischen und momentan-transitorischen Interessen des Proletariats etc.; die
reformistische Bewegung, signalisiert von E. Bernsteins Scheidung von »End¬
ziel« und »Bewegung«, war und ist z. B. ein Versuch, mit Hilfe meta¬
physischer Gegenüberstellung der grundlegenden und der vorübergehen¬
den Interessen des Proletariats alles aus der Theorie und Praxis der Arbeiter¬
bewegung auszurotten, was echt menschheitlich ist, was über kleine Reformen
innerhalb des Kapitalismus hinausweist. Es wäre jedoch eine oberflächliche
Vereinfachung der Frage, wenn wir jeder Verallgemeinerung, die die Men¬
schen in ihren gesellschaftlichen Kämpfen vollziehen, eine direkte Beziehung
zum Menschheitlichen zusprechen und jedem sich an den Tatsachen orientie-
1 Es ist merkwürdig, daß diese konsequente und tiefsinnige Änderung der Tasso-
Worte: »Wie ich leide«, von Emil Staiger einfach als »entstelltes Zitat« behandelt
wird. Die Begründung ist die folgende: »>Sagen, was ich leide< liegt näher als >wie
ich leide<; doch >wie ich leide< ist schmerzlicher, ichbefangener gleichsam; es gibt
die Art und den Grad des Leidens, jenes nur den Inhalt an.« Emil Staiger: Die
Kunst der Interpretation, Zürich 1955, S. 163. Über die darin enthaltene suojektive
Werthierarchie soll hier nicht gestritten werden. Zweifellos gilt die Priorität des
»Wie« noch für die Tasso-Periode Goethes, es fragt sich nur, wie der alte Goethe
zu diesem Problem stand. Er hat das Gedicht: »An Werther« nach der »Elegie«
geschrieben, und ihre Schlußzeile, die Ansprache an den Wertherdichter: »Geb’
ihm ein Gott zu sagen, was er duldet«, ist ohne Frage mit ihrem postulativen
Charakter eine - nachträglich geschaffene - ideelle Vorbereitung für das Motto
der Elegie; und da diese Vorbereitung kein Zitat, sondern eine Paraphrase ist,
kommt dafür ein »Gedächtnisfehler« überhaupt nicht in Betracht, wohl aber ein
Wandel der Weltanschauung und darin der der Mission des Dichters. Im »Tasso«
drückt das »Wie« bloß den Versuch des Helden aus, die eigene Dichterexistenz
subjektiv zu retten, während jetzt bereits von der allgemeinen Berufung des Dich¬
ters die Rede ist, im Namen der Menschheit, für die Menschheit das erlösende Wort
auszusprechen. Und daß der alte Goethe Werther und Tasso als dem gleichen Typus
zugehörig beurteilte, zeigt seine Zustimmung zum Urteil des französischen Kriti¬
kers Ampere, der Tasso einen »gesteigerten Werther« nannte. Wir glauben also, das
volle Recht zu haben, das »Was« des Mottos als Altersweisheit Goethes und nicht
als »entstelltes Zitat« zu betrachten.
594 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
1 Caudwell sagt über Lyrik: »So zerstört und verneint die Spradie der Poesie konti¬
nuierlich die Struktur der Realität, um die Struktur des Selbst hervorzuheben.«
Illusion and Reality a. a. O. S. 199. Daß Caudwell für Epik und Dramatik die
Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit anerkennt, gehört nicht hierher. Es
sei nur die kuriose Folge dieser Theorie kurz erwähnt, aus den obenerwähnten
Gründen kenne der Roman keinen Rhythmus, keinen Stil, er sei nidrt aus Worten,
sondern aus Szenen aufgebaut. Ebd. S. 200.
2 Hegel: Ästhetik, a. a. O. X. I. S. 379.
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 599
1 Diels: Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1906, Band I. S. 75. Fragment Nr. 89.
Vom hidividuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 601
richtig: »Selbst wenn zwei Personen von Geschmack dieselbe Poesie lieben,
wird diese Poesie in ihrem Gemüt leicht verschiedene Modelle zeigen; unser
individueller Geschmack in der Poesie trägt unzerstörbare Spuren unseres
individuellen Lebens mit allen seinen angenehmen und schmerzlichen Erfah¬
rungen ... Es gibt vielleicht keine zwei Leser, die an die Poesie mit densel¬
ben Anforderungen herantreten L« All das trifft für die Unmittelbarkeit
der ästhetischen Rezeption zu. Wenn man jedoch bei dieser Unmittelbarkeit
stehenbleiben müßte, so würde das Ästhetische nicht nur den Solipsismus der
Erlebniswelt endgültig fixieren, sondern für diese die eigentliche, adäquate
Sphäre der Verwirklichung sichern. Wenn um die Jahrhundertwende Oscar
Wilde und Alfred Kerr die Kritik zur Kunst deklarierten, so haben sie
eigentlich dies gemeint: Kritik als »Gestaltung«, als »künstlerische« Mittei¬
lungsform dieser Eigenart, dieser direkten Nichtmitteilbarkeit der Erlebnisse
Kunstwerken gegenüber; so haben sie eine zweite Etage über die ebenso ver¬
standene Beziehung des Künstlers zur Wirklichkeit gebaut. Der solipsistische
Subjektivismus wird klar ausgesprochen: »Nicht auf die Werke kommt es
also an, die hier besprochen sind. Sondern auf das, was darüber gesagt ist 1 2.«
Wenn solche Prinzipien konsequent durchgeführt werden könnten, müßte die
»schlechte Unendlichkeit« eines unendlichen Prozesses entstehen, denn der
Eindruck und die Beurteilung eines solchen »kritischen Kunstwerks« müßten
wieder eine ebensolche subjektgebundene »Gestaltung« der Kritik der Kritik
sein und sofort ins Unendliche. Aber Kerr muß seine eigenen Prinzipien ver¬
leugnen: »Ein Nur-Impressionist könnte sich als Kritiker begraben lassen.
Impressionismus ist nicht Kritik, es gibt auch sachliche Förderungen 3.« Hier
haben wir uns mit den Problemen, die sich aus diesen Prämissen ergeben, nur
insofern zu beschäftigen, als sie sich auf die Wesensarten der ästhetischen
Subjektivität überhaupt beziehen; die nähere Untersuchung des kritischen
Verhaltens zur Kunst und seiner Methoden kann erst im zweiten Teil dieses
Werks durchgeführt werden, wo seine Stellung in der Typik der ästhetischen
Verhaltensweisen bestimmt werden wird.
Das eigentliche Problem, wie ohne radikale Aufhebung, ja durch eine Stei¬
gerung der partikularen - unmittelbar in sidi selbst verschlossenen - Sub¬
jektivität doch der Boden einer bestimmten Objektivität und der Ge-
zeigt haben, primär inhaltlichen Charakters und entspringen aus der ästhe¬
tischen Mimesis der an sich vom Subjekt unabhängig existierenden Objekt¬
welt, welche freilich in allen Details ihrer Gegenständlichkeit die Spuren der
Tätigkeit des Menschengeschlechts zeigt und in einer Weise widergespiegelt
wird, die gerade diesen Charakter der Wirklichkeit, das Inerscheinungtreten
des Stoffwechsels der Gesellschaft mit der Natur, in den Mittelpunkt des
Interesses rückt. Das Medium dieser Widerspiegelung der Wirklichkeit ist je¬
doch an die unmittelbar qualitativ einzigartige Partikularität des Subjekts
gebunden. Dieser Stoffwechsel ist nämlich eine objektive Tatsache, an welcher
es unmittelbar nicht immer wahrnehmbar sein muß, daß ihre spezifischen
Qualitäten dieser Quelle entspringen; sie können freilich vermittels der
wissenschaftlichen Widerspiegelung und ihrer begrifflichen Weiterführung ge¬
danklich aufgedeckt werden. Die ästhetische Mimesis strebt jedoch, obwohl sie
die Objektivität möglichst treu zu reflektieren verpflichtet ist, einem ande¬
ren Ziel zu: solche Zusammenhänge als Taten und Leiden, als Erfolge und
Niederlagen, als Aufschwünge und Verzerrungen der Menschen (des Men¬
schengeschlechts) erlebbar zu machen. Die daraus entstehende Doppelheit der
Aufgabe, nämlich eine objektive Konstellation, ohne ihre Objektivität auf¬
zuheben, subjektiv, evokativ wirken zu lassen, bestimmt die hier notwendig
werdende Doppelheit des Subjektverhaltens, vor allem das der im Werk
verkörperten Subjektivität: das Aufbewahren der sinnlich-sinnfälligen Un¬
mittelbarkeit des Erlebens und des Erlebbarmachens, wobei in der Aufhebung
etwas von der Partikularität, der Einzigartigkeit, Unvergleichlichkeit des
Subjekts aufbewahrt bleibt.
Diese untrennbare Vereinigung von Einzigartigkeit und Verallgemeinerung
des Subjekts drückt sich darin aus, daß das hier entstehende Bewußtsein pri¬
mär nicht ein subjektives Bewußtsein über eine von ihm unabhängige, ihm
gegenüberstehende Objektwelt ist, vielmehr eine ganz eigenartige Form des
Selbstbewußtseins. Hegel gibt in der »Phänomenologie des Geistes« eine
interessante Beschreibung seines Entstehens und Wesens, und zwar gerade in
statu nascendi, in welchem es »erst für sich geworden« und noch nicht seine
Stelle im Gesamtbereich des Bewußtseins erlangt hat. (Natürlich hat diese
Beschreibung Hegels auf unsere ästhetischen Probleme keinen direkten oder
beabsichtigten Bezug.) Er sagt also über das Selbstbewußtsein: »es ist für sich
selbst, es ist Unterscheiden des Unterschiedenen, oder Selbstbewußtsein. Ich
unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, daß
dies Unterschiedene nicht unterschieden ist. Ich, das Gleichnamige, stoße mich
von mir selbst ab; aber dies Unterschiedene, Ungleichgesetzte ist unmittel-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 605
bar, indem es unterschieden ist, kein Unterschied für mich 1.« Dadurch, daß
in jenem Selbstbewußtsein, das als ästhetisch bestimmt werden kann, das
Subjektive immer als in ein Medium der Objektwelt versenkt, diese ordnend,
ihr Akzente verteilend, ihre Gegenständlichkeit mit besonderer Qualität fär¬
bend etc. zum Ausdruck kommt, entsteht insofern eine Modifikation gegen¬
über Hegels Beschreibung, als die fließende Grenze des vom Subjekt Unter¬
schiedenen und nicht Unterscheidbaren auch für die künstlerisch gestaltete
Außenwelt gilt. Die bei der Entäußerung und ihrer Rücknahme dargestellte
Bewegung der Subjektivität: die Hingabe des Subjekts an die Außenwelt,
zwecks deren vollendeter Durchdringung mit ihrer eigenen Qualität, die Aus¬
dehnung des Subjekts durch Aufnahme und Bearbeitung der von ihm wider¬
gespiegelten Objektivität bildet auch hier die Grundlage für das Spezifische
seiner ästhetischen Erscheinungsweise.
Bei allen Unterschieden, die das ins Ästhetische entfaltete Selbstbewußtsein
im Vergleich zu seinem einfachen und abstrakten Auftauchen in Hegels »Phä¬
nomenologie« aufweist, bleibt die von ihm hervorgehobene Dialektik des
Unterschiedenen und nicht Unterschiedenen ein äußerst wichtiges Moment für
das Auftreten der ästhetischen Subjektivität als Selbstbewußtsein der mensch¬
lichen Gattung. Wir haben bereits bei Behandlung der objektiven Seite dieses
Zusammenhangs darauf hingewiesen, daß die verschiedenen »Schichten« der
Beziehungen der Menschen zueinander (von der Familie bis hinauf zur
Menschheit) nicht metaphysisch starr voneinander geschieden sind, nicht ge¬
trennte »Stockwerke« der Subjektivität bilden, sondern von fließenden Gren¬
zen umgeben sind, die wie die Meere in der Geographie die einzelnen Gebiete
gleichzeitig trennen und verbinden. Auch dort, wo reale Konflikte vorhan¬
den sein können und sind (Nation - Menschheit, Nation - Klasse, Klasse -
Menschheit etc.), entstehen diese objektiv auf einem gemeinsamen Boden, las¬
sen sie objektive innere Widersprüche der Menschheitsentwicklung zutage
treten, offenbaren widersprüchliche Tendenzen der Weltgeschichte, die in bei¬
den der gegensätzlich in Erscheinung tretenden »Schichten« immanent vor¬
handen sind. Man denke etwa an die Konflikte, die zwischen den revolutio¬
nären Propagandakriegen des Zeitalters der Französischen Revolution und
ihren nationalistischen Expansionstendenzen wirksam wurden. Nicht nur
ist in manchen Einzelfällen ungewiß, wo das übergreifende Moment objektiv
zu finden ist, sondern auch die von den Eroberungsfeldzügen hervorgerufenen
gestellt werden. Das geschieht zumeist in der Richtung, daß das partikulare
Subjekt des Schöpfers, die spezifisch-individuelle Qualität des Werks, die
klassenmäßige Parteinahme und Wirklichkeitsabbildung in ihm, sein natio¬
nales und zeitgeschichtliches Kolorit, seine Manifestation des Menschheitlichen,
die, im Werk selbst unaufhebbar verbunden, eine - freilich dialektisch
widerspruchsvolle — Einheit bilden, nunmehr je ein Eigenleben erhalten oder
wenigstens als voneinander unabhängige Tendenzen einander gegenüber¬
gestellt werden. Es sei hier nebenbei bemerkt: natürlich hat eine historische
Einzelforschung als solche methodologisch durchaus das Recht, etwa Kunst¬
werke auf ihre Treue der Geschichte gegenüber zu untersuchen, und solche
Forschungen können mitunter sogar zur Erkenntnis künstlerischer Probleme
beitragen. Der Forscher ist jedoch aus der ästhetischen Sphäre herausgetreten,
er schaut die Kunst von außen, nicht von innen an, das Ästhetische wird für
ihn zum bloßen Stoff einer wissenschaftlichen Betrachtung, das Kunstwerk zu
einem bloßen Dokument. Solange nun Bewußtheit darüber herrscht, daß
solche verschiedenen Aspekte der Einheit der objektiven ästhetischen Gebilde
gegenüber bloß Aspekte bleiben, ist auch keine Gefahr vorhanden, daß die
Einheitlichkeit des ästhetischen Subjekts zerstückelt werde. Die Bestimmtheit
des Individuums durch diese oder jene wichtige Form der gesellschaftlichen
Beziehungen der Menschen, hebt ja die Einheit der Individualität nicht auf,
gibt ihr bloß neue Akzente, bereichert und vertieft sie. Wird etwa ein Arbei¬
ter klassenbewußt, so treten zwar neue Bewußtseinsinhalte in seiner Persön¬
lichkeit auf, vollbringen in ihr unter Umständen große Veränderungen, ge¬
waltige Wendungen etc., doch bleibt die qualitative Kontinuität der Persön¬
lichkeit in jedem Saulus, mag er noch so plötzlich zum Paulus geworden sein,
immer erhalten. Dasselbe bezieht sich natürlich auch auf die wechselseitige
Beziehung zwischen gesellschaftlichen Formen aufeinander und insbesondere
darauf, wie sie die Persönlichkeit der Menschen, ihre Entwicklung, Konflikte
etc. bestimmen. Und diese Wahrheit des Lebens wird durch die Kunst bestä¬
tigt, ja gesteigert. Denn diese reproduziert Natur und Geschichte vom Stand¬
punkt der in ihnen tätigen Menschen, muß also selbst dort, wo Kontinuität
und Diskretwerden ihre dialektische Widersprüchlichkeit bis zum Sprung in
eine neue Qualität entfalten, das Moment der Kontinuität nicht nur bewah¬
ren, sondern es sogar als Ubergreifendes behandeln.
All dies scheint für die Einwirkungen von real vorhandenen, gesellschaftlich¬
geschichtlich wirksamen Beziehungen der Menschen zueinander ohne weiteres
einzuleuchten. Komplizierter wird die Frage, wenn von der Entfaltung des
Menschheitsstandpunkts die Rede ist, eben weil dieser in keiner bisher exi-
V om Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 609
Menschheitlichen hängt jedoch gerade vom Verständnis resp. von der Blind-
heit gegenüber solchen Momenten des Entwicklungsganges ab. Die wissen¬
schaftliche Richtigkeit einer Voraussage, einer Perspektive bewahrheitet sich
an der Massenhaftigkeit der realen Tatsachen und Tendenzen; selbst beträcht¬
liche Abweichungen in den Details müssen ihr Zutreffen nicht aufheben. Die
künstlerische Richtigkeit im Zurgestaltbringen des Gattungsmäßigen bewährt
sich oder versagt dagegen zumeist gerade in dem Bereich, der wissenschaftlich
als bloßes Detail bezeichnet zu werden pflegt. So in den »prophetischen Ge¬
staltungen« Balzacs, der bestimmte typische Züge der Menschen im zweiten
Kaiserreich aus ihren Keimen zur Zeit des Bürgerkönigtums herausentwickeln
und als Realität darstellen konnte b So bei Euripides in der Gestalt der
Phaedra, bei Vergil in der Didos, die die individuelle Liebesleidenschaft ins
Gattungsmäßige, zum Besitz des Selbstbewußtseins der Menschheit erhoben,
lange bevor diese zu einer gesellschaftlich allgemeinen Erscheinung geworden
wäre.
Daraus entsteht für das ästhetische Subjekt - für das schaffende in der
Produktion, für das rezeptive in der Aufnahme der Werke - jene Lage, die
wir bereits wiederholt so bezeichnet haben, daß es sich ä corps perdu in die
Welt dieser Phänomene stürzen muß. Diese Struktur hat naturgemäß zur
Folge, daß in die - scheinbaren - Lücken der begrifflichen Ableitbarkeit
sich irrationalistische Theorien einnisten konnten; diese werden nicht wider¬
legt, sondern gewinnen an Hartnäckigkeit, wenn versucht wird, sie mit
Hilfe von pseudo-rationalen Gedankengängen zu widerlegen. Tatsächlich
waltet hier eine deutlich ablesbare Ratio, nur kann sie in den meisten Fällen
erst nachträglich festgestellt und erklärt werden. Die Grenze der Voraussag-
barkeit liegt im Wirklichkeitsstoffe selbst. Dies gründet sich nicht nur in der
bis jetzt analysierten Beziehung des Gattungsmäßigen zu den anderen Auf¬
baumomenten der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, nicht nur in den spezi¬
fischen Aufgaben, die daraus für Auswahl des Gehalts und für die Form¬
gebung der Kunst erwachsen. Es liegt auch, worauf schon früher hingewiesen
wurde, an der Verschlungenheit des historischen Weges selbst, an der Un¬
gleichmäßigkeit dieser Entwicklung und vor allem daran - was für die Wir¬
kung der Kunst ausschlaggebend ist -, daß jede Gegenwart von den eigenen
Bedürfnissen und Perspektiven aus die Vergangenheit betrachtet und sie, ins-
1 Lafargue: Uber Marx in: Karl Marx. Eine Sammlung von Erinnerungen, Moskau-
Leningrad 1934, S. 128.
6i4 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
Wissenschaft zu ihrer eigenen Reinheit und Reife. Mag nun die Beziehung
der Kunst zum Leben noch viel komplizierter sein, als die an sich ebenfalls
nicht einfache der Wissenschaft, sie erringt sich im Laufe der historischen Ent¬
wicklung in dem von ihr am adäquatesten ausgedrückten Löbenskomplex eine
ähnliche Stellung als Gipfelgestalt. Wir haben einen Teil dieser Verbunden¬
heit der Kunst mit dem menschlichen Dasein, ihrer Loslösung von seinen
unangemessenen Ausdrucksformen, ihrer Rückkehr zum Leben in angemesse¬
ner Expression und Evokation bei ihrer Beziehung zu den primitiven Aus¬
drucksformen der Menschlichkeit, vor allem in ihrem Verhältnis zur Magie
beobachten können. Wir werden an verschiedenen Zusammenhängen - so
bei der Behandlung der Naturschönheit, im Kampf der Befreiung des
Ästhetischen vom Religiösen - auf diese Probleme noch ausführlich zurück¬
kommen.
Hier galt es bloß, die Tatsache, daß -die Kunst die angemessenste und höchste
Äußerungsweise des Selbstbewußtseins der Menschheit ist, etwas konkreter
aufzuhellen als es bisher möglich war. Es galt zu zeigen, daß unsere rein
ästhetischen Thesen von der Eigenart dieser Widerspiegelung der Wirklich¬
keit (so die Priorität des Inhalts vor der Form, so der evokativ-leitende Cha¬
rakter der Form, so ihr Wesen als Form eines bestimmten Inhalts, etc.) nur
auf das Menschhaitliche bezogen, nur durch das Hinüberwachsen ins
Selbstbewußtseinhafte der Widerspiegelung der Wirklichkeit ihren wirklichen
Sinn erhalten können. Alle im Laufe einer vieltausendjährigen Entwicklung
gemachten Vorwürfe von der »Täuschung und Lüge« der Kunst angefangen
bis zur Wesenlosigkeit der Reproduktion von etwas, das sowieso schon da
ist, erhalten eine - sehr bedingte - Berechtigung in bestimmten historischen
Konstellationen nur dadurch, daß einige Kritiker (und unter bestimmten
Umständen die Künstler und ihre Werke selbst) diesen Zusammenhang außer
acht oder in Vergessenheit geraten ließen. Denn die siegreiche eigene Welt der
Kunstwerke, ihre Welthaftigkeit, die Unwiderstehlichkeit ihrer evokativen
Macht gründen sich gerade auf diese Entfaltung des konkret Menschheitlichen.
Verschwindet dieses, so ist die echteste »Nachahmung« der Wirklichkeit, die
virtuoseste Beherrschung der Formen, das geistreichste Erfinden von neuen
Wirkungsmöglichkeiten nur »ein tönend Erz und eine klingende Schelle«.
Das künstlerische Offenbaren dieses Gehalts macht erst die Mimesis zur
Grundtatsache des Ästhetischen: zu einer Widerspiegelung der vom mensch¬
lichen Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit, jedoch zu einer, in welcher,
dem Prinzip nach, nur das vorkommt, was diese Entwicklung fördert oder
hemmt, in welcher jeder Gegenstand, jede Emotion erst in diesem Zusammen-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung bij
hang zum Objekt erhoben werden kann. Alle Umwandlungen, die die ästhe¬
tische Widerspiegelung an der unmittelbaren Erscheinungswelt vollzieht,
verlieren erst durch diese Bezogenheit einen jeden formal-willkürlichen
Charakter, und andererseits wird die Treue dieser Widerspiegelungsart der
Wirklichkeit, auch in ihrer unmittelbaren Erscheinungsweise, erst durdi das
Auftreffen auf diese höchste Realität des Menschseins letzthin gerechtfertigt.
So kann nur die - viele Widersprüdie in sich bergende - Annahme des
Selbstbewußtseins des Menschengesdiledits die Eigenart der ästhetischen
Widerspiegelung philosophisch begründen. Gerade die in diesem Begriff
konzentrierte Widersprüchlichkeit - höchste Objektivität bei hödister Sub-
jektbezogenheit -, eine Subjektivität als Kriterium, die in der objektiv vor¬
handenen Außen- und Innenwelt nur verborgen, nur »unbewußt«, eventuell
utopisch vorhanden ist, dabei das Schaffen einer Welt der Kunst, die nichts
Utopisches an sich haben muß das ist, als Basis des originär Ästhetischen,
die schlichte Beschreibung der ästhetisch gespiegelten Wirklichkeit.
6iS
Achtes Kapitel
einzelnen irgendwie enthalten sein, obwohl zumeist eine jede für sich betrach¬
tet das konkrete hic et nunc eines gegebenen Moments unmittelbar als
Gegenstand setzt.
Damit ist die normale Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität (Punk-
tualität) gegeben. In jeder wirklichen oder geometrisch abstrahierten Linie
stößt man auf diesen unaufhebbaren, für die Erkenntnis höchst fruchtbaren
Widerspruch. Natürlich audi in der Betrachtung der objektiven Menschheits¬
entwicklung; die konkreten Ersdieinungsformen der beiden Pole dieser
Widersprüchlichkeit aufzudecken und in ihrer Gesetzlichkeit darzustellen, ist
eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft, sie braucht uns deshalb hier nicht
zu beschäftigen. Die Dialektik, die in unserem Fall auftritt, geht aber darüber
hinaus. Wir haben schon wiederholt auf jene Wesensart der ästhetischen Set¬
zung hingewiesen, wonach deren originäre Form nur die höchste Punktualität
des einzelnen Künstlers (und deren Aufnahme durch das einzelne Subjekt des
Rezeptiven) sein kann. Alle Zusammenfassungen in einer verallgemeinerten
Weise, so schon als Kunst einer Periode, Kunstgattung etc., bringen diese
ursprüngliche und unverfälschte Beschaffenheit auf den Begriff, versetzen sie
also in eine andere, für sie neue Sphäre; daß ein solches Verfahren nicht not¬
wendig eine Verfälschung oder Verzerrung des echt Ästhetischen mit sich
führt-obwohl auch dies häufig vorkommt-, können wir erst im zweiten Teil
bei Behandlung der Typologie des ästhetischen Verhaltens mit philosophi¬
scher Genauigkeit nachweisen. Immerhin kann schon jetzt gesagt werden, daß
derartige Aussagen so viel Wahrheit enthalten, wie sie von der originär
ästhetischen Struktur ihrer Gegenstände unversehrt und unverzerrt ins Begriff¬
liche umzusetzen imstande sind. Das klingt vorerst als Selbstverständlichkeit,
ja Trivialität. Denn dem Wahrheitsgehalt eines jeden Begriffs (Urteils, Schlus¬
ses etc.) gegenüber muß ebenfalls eine ähnliche Forderung gestellt werden.
Wo jedoch die an sich seiende Wirklichkeit wissenschaftlich widergespie¬
gelt wird, kann und muß ihre begriffliche Formulierung verallgemeinernd
über die unmittelbare Gegenständlichkeitsstruktur hinausgehen; indem sie die
Verhältnisse, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten etc. richtig zum Ausdruck
bringt, kommt für das Einzelne nur das Problem einer jeweiligen fehlerfreien
Subsumierbarkeit unter den allgemeinen Zusammenhang in Betracht. Das ist,
unter komplizierteren Bedingungen, auch für die Gesellschaftswissenschaften
der Fall.
Die Verallgemeinerung eines originär ästhetischen Tatbestandes darf jedoch
über die Singularität des jeweils vorhandenen Werks nur so weit hinausgehen,
daß diese Singularität in ihrer begrifflichen Aufhebung möglichst unversehrt
620 Die eigene Welt der Kunstwerke
lichung gelangen. Und darin ist — einerlei ob in einer dem Schöpfer oder dem
Rezeptiven bewußten Weise — das Moment der Kontinuität der Mensch¬
heitsentwicklung mitgesetzt. Dieses Dasein der Kontinuität ist sowohl inten¬
siver und unvertilgbarer als die gewöhnliche Kontinuität des Historischen
wie auch verborgener, weniger unmittelbar evident als diese. Es ist nämlich
an sich möglich, einen gegebenen historischen Abschnitt von der Gesamtent¬
wicklung methodologisch abzusondern und für sich allein zu betrachten. Das
kann natürlich zur Quelle mannigfaltiger Irrtümer werden, ist jedoch oft un¬
vermeidlich, wenn bestimmte Details ganz genau erforscht werden sollen. In
der originär ästhetischen Beziehung zur Wirklichkeit und in ihrer evokativen
Vermittlung durch die Unmittelbarkeit der Kunstwerke ist dagegen diese
Beziehung zur Kontinuität des historischen Prozesses objektiv immer gegen¬
wärtig, ohne allerdings bewußt gegenwärtig werden zu müssen. Sein Bewußt¬
werden kann - soll es ästhetisch bleiben - das Moment der Spontaneität
im nostra causa agitur nicht überspringen; die Kontinuität ist gerade an die
Tiefe dieses unmittelbaren Sich-Aneignens gebunden. Bei oberflächlichem
Eindruck, wobei das räumlich, zeitlich und gesellschaftlich Entfernte oft den
Charakter des Exotischen anzunehmen pflegt, kann eventuell ein sachlich
nicht unrichtiges Konstatieren entstehen; in diesem ist jedoch die Kontinuität
bestenfalls an sich, nicht für uns enthalten, geschweige denn, daß ihr Für-
sichsein erreicht wäre. Hier zeigt sich besonders deutlich der von uns wieder¬
holt hervorgehobene Gegensatz von »Bewußtsein über . . .« und »Selbst¬
bewußtsein von . . .«; beim Exotischen steht man einer Wirklichkeit gegen¬
über, zu der man, bei allem Interesse und eventuellen Wissen, wobei sogar
das Bewußtsein einer unüberbrückbaren Fremdheit vorherrscht, keine inner¬
lich menschliche Beziehung hat, während das Selbstbewußtsein - auch wenn
das sachliche Wissen fehlt - gerade auf einem solchen innerlichen Verhältnis
basiert. Das beinhaltet keine Identifikation, da ja die Verschiedenheit des
erlebten Objekts an Inhalt, Struktur etc. vom erlebenden Subjekt eine der
Voraussetzungen der das Selbstbewußtsein hervorrufenden Beziehungen ist.
Trotzdem oder gerade darum wird aber das Zentrum der Menschlichkeit aufs
tiefste getroffen, als von etwas, das irgendwie zur eigenen Vergangenheit
gehört oder mit deren Subjekt irgendwie nahe verwandt ist. Es kann also
etwas bloß exotisch Scheinendes unter Umständen zum Element des Selbst¬
bewußtseins werden und umgekehrt. Die Möglichkeit solcher Umschläge wird
vor allem von der künstlerischen Höhe der Bearbeitung abhängen, aber
natürlich spielt dabei die objektiv geschichtliche Entwicklung, die mit
ihr zusammenhängende Ausbreitung und Vertiefung der Kultur etc. eine
6ii Die eigene Welt der Kunstwerke
arten etc. etwas qualitativ anderes ist, als die wirkliche Differenzierung der
Erkenntnis in verschiedene Einzelwissenschaften. Diese bilden bei aller
Differenzierung letzten Endes eine sachliche Erkenntniseinheit, während die
Kunst iim allgemeinen zwar ein synthetisches Zusammenfassen des Gemein¬
samen in den einzelnen Künsten ist, die Art des Zusammenhangs zwischen
einzelnen Künsten und Kunst im allgemeinen unterscheidet sich jedoch, wie
wir alsbald sehen werden, qualitativ von dem zwischen Einzelwissenschaften
und einheitlicher Gesamtwissenschaft. Darum haben wir das Wort Differen¬
zierung in Anführungszeichen gesetzt, da es, wie schon früher angeführt, ein
schädliches Vorurteil der idealistischen Ästhetiken ist, das System der Künste
als »Differenzierung« der »ästhetischen Idee«, der »Schönheit« etc. aufzu¬
fassen. Jede Kunst, ja jedes Genre ist in Wirklichkeit eine Welt für sich, hat
ein originäres ästhetisches Prinzip zur Grundlage, das mit keinem Prinzip
einer anderen Kunst oder eines anderen Genres identisch, ja von diesen in
vielfacher Hinsicht qualitativ verschieden ist. Diese Einsicht, die bei den
Künstlern selbst in ihrer Praxis und in der theoretischen Formulierung der
eigenen Erfahrungen längst zur allgemeinen Meinung geworden ist, wurde
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach zur Grundlage der ästhe¬
tischen Erkenntnis gemacht. Wir haben die diesbezüglichen Anschauungen
Konrad Fiedlers, die eine große Verbreitung erhielten, daß es keine Kunst,
sondern nur einzelne Künste gebe, bereits angeführt; später entstand unter
diesem Einfluß neben der Ästhetik eine sogenannte allgemeine Kunstwissen¬
schaft. Auf die Kritik ihrer methodologischen Fundamente brauchen wir
hier nicht einzugehen. Es sei nur so viel bemerkt, daß, indem dabei die
Ästhetik in der alten idealistischen Weise aufgefaßt und die Kunstwissen¬
schaft von ihr metaphysisch getrennt wurde, diese mangels allgemeiner äs¬
thetischer Prinzipien einen empiristisch-positivistischen Charakter erhalten
und das Gesamtgebiet der Ästhetik in zwei methodologisch heterogene Teile
zerfallen mußte.
Wenn wir diese selbständige Existenz der einzelnen Künste, Genres etc. fest¬
stellen, so muß - um die Dialektik der Kontinuität in diesem Bereich weiter
zu konkretisieren -, folgendes bemerkt werden. Vor allem zeigt sich histo¬
risch, daß einzelne Künste zuweilen eine derart kontinuierliche, man könnte
sagen, logische Entwicklung, in welcher die eine Lösung aus den früheren
Problemen herauswächst, aufweisen, daß man dazu verführt werden könnte,
in ihren inneren, künstlerischen Problemen die treibende Kraft ihrer Bewe¬
gung zu erblicken: so bei der florentinischen oder venezianischen Malerei des
T4-/15 - Jahrhunderts, so beim französischen oder russischen Roman des
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 625
19. Jahrhunderts etc. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indessen, daß
solche Phänomene nur für relativ kurze Strecken auftauchen, daß sie - um
uns der Deutlichkeit halber bewußt übertrieben auszudrücken — zuweilen
aus einem künstlerischen Nichts entspringen oder in einem solchen enden. Das
beweist einerseits, daß auch hier historisch eine Dialektik der Kontinuität
und Diskontinuität waltet, daß aber andererseits diese Dialektik selbst gesell¬
schaftlich-geschichtlich bestimmt ist: die Kontinuität, das organische Ausein-
anderherauswachsen der gesellschaftlichen Probleme, deren kontinuierliche
Einwirkung - als sozialer Auftrag - auf die Entstehung der einzelnen
Kunstwerke ist das reale Grundprinzip dieser Dialektik (die dabei wirk¬
samen aus der gesellschaftlichen Entwicklung aufsteigenden Widersprüche
objektiver Art und die in der Reaktion der Persönlichkeiten subjektiver Art
auf sie, können wir hier nicht analysieren). In solchen Fällen ist die noch so
»logisch«, noch so »geschichtsphilosophisch« sich entfaltende Kunst oder
Kunstart eben zumeist die herrschende, die repräsentative ihrer Periode.
Auch hier ist die Basis objektiv: die auf der Entwicklung der Produktivkräfte
basierende Gesamtentwicklung ist der Grund, warum in der einen Periode
eine Kunst oder ein Genre, in einer anderen eine andere oder ein anderes eine
solche dominierende Rolle spielen. Diese gesellschaftlich-geschichtliche Deter¬
miniertheit ist so stark, daß sie sogar zum Absterben gewisser Genres (Kunst¬
epos), oder zur Entstehung von neuen (Roman) führen kann. Die Dialektik
von Kontinuität und Diskontinuität hat also in diesem Gebiet der ästheti¬
schen Sphäre eine eigene Physiognomie, die jedoch nur im Rahmen der all¬
gemeinen gesellschaftlich-geschichtlichen Dialektik zur Geltung gelangen
kann.
So wichtig nun die auch diesmal festgestellte Tatsache von der Möglichkeit
und Wirklichkeit des Entstehens von neuen und des Verschwindens von alt¬
eingebürgerten Genres ist, ergibt doch die Betrachtung der Totalität des Ent¬
wicklungsganges der Kunst einen neuen Aspekt. Nämlich den einer außer¬
ordentlichen Stabilität der Kunstarten. Selbstverständlich gibt es, wie bereits
gezeigt wurde, keine einheitliche Genesis einer einheitlichen Kunst, die sich
dann differenzieren würde, sondern die verschiedenen Künste und Kunst¬
gattungen entstehen voneinander historisch unabhängig, bestimmt von
konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Bedürfnissen, die sie ins Leben rufen.
Es ist aber eine ebenso unbestreitbare Tatsache, daß sie, wenn einmal konsti¬
tuiert, eine ungeheure Zähigkeit, Remanenz und zugleich Entwicklungsfähig¬
keit ihrer grundlegenden Prinzipien zeigen. Literatur, bildende Künste,
Musik, Tanz, Schauspielkunst bilden seit unvordenklichen Zeiten jene Welt,
626 Die eigene Welt der Kunstwerke
die wir mit dem Ausdruck Kunst zusammenzufassen pflegen. Ja auch inner¬
halb der Künste haben die Genres eine unverwüstliche Lebensfähigkeit.
Neben Lyrik, Epik und Dramatik ist keine neue Literaturgattung, neben
Malerei, Plastik und Architektur keine neue bildende Kunst etc. entstanden.
(Die einzig wirklich neue Kunst ist die des Films.) Diese Feststellung hebt die
frühere über die Neugeburt des Genres in jedem bedeutenden Werk keines¬
wegs auf. Im Gegenteil. Daß das Drama als Genre sich in dem ununter¬
brochenen Wandel von Aischylos bis Tschechow, Brecht und O’Neill er¬
halten konnte, bildet gerade den uns jetzt interessierenden Tatbestand.
Eben hier ist die lebendige Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität
in der ästhetischen Sphäre mit Händen zu greifen. Würde bei jeder großen
historischen Wendung ein völlig neues Genre entstehen, oder würde die
ästhetische Form eine derartige Stabilität zeigen, wie - trotz allen neuen
Entdeckungen - die Euklidische Geometrie, würden wir nicht vor einem
Problem von qualitativer Neuartigkeit stehen: daß bestimmte Verhaltens¬
weisen gegenüber der Wirklichkeit, die die Eigenart der Künste und Genres
bestimmen, diese dialektische Einheit von Stabilität der Prinzipien und un¬
endlicher Entwickelbarkeit der wesentlichen wie oberflächlichen Bestimmun¬
gen aufweisen.
Das Problem der Ästhetik ist hier ein doppeltes. Erstens müßte das Wesen
dieser dialektischen Einheit selbst begriffen und analysiert werden. Und zwar
wieder von einem doppelten und gerade in der Doppelheit zusammengehöri¬
gen Aspekt aus. Nämlich einerseits als die notwendige Reaktion auf bestimmte
infolge der Entwicklung der Gesellschaft und infolge der dadurch bedingten
Entwicklung der Menschen und ihrer Beziehungen zueinander und zur Natur
etc. entstandene Bedürfnisse. Andererseits, wie uns bereits bekannt ist, als
die Herausbildung von spezifisch ästhetischen Kategorien, die als optimale
Mittel dieser Bedürfnisbefriedigung zugleich den spezifisch ästhetischen Cha¬
rakter der einzelnen Verhaltensweisen und der in ihrer Umsetzung in künst¬
lerische Praxis zustande kommenden Werke zur ästhetischen Geschlossenheit
und Selbständigkeit erwachsen lassen. In der Erforschung dieser Tatbestände
und ihrer Zusammenhänge steht unsere Wissenschaft noch am Anfang des
Anfangs. Es gibt zwar einzelne, darunter auch glänzende, Anläufe dazu, um
die genrebestimmende Wesensart solcher Verhaltensweisen genau zu begrei¬
fen. Vor allem muß dabei an die von Goethe zusammengefaßte gemeinsame
Leistung Schillers und seiner selbst erinnert werden, die in den Gestalten des
Rhapsoden und des Mimen eine vorbildliche Beschreibung jener Haltungen
umnssen hat, welche für das künstlerische Zustandekommen epischer bzw.
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 6zy
1 Goethe an Schiller, 23. XII. 1797. Beilage: Uber epische und dramatische Dichtung.
6i 8 Die eigene Welt der Kunstwerke
ästhetisch, wie das spontane Erleben, nur zugleich eine größere Annäherung
an jenen objektiven Form-Inhalt-Komplex, den das Werk an sich darstellt.
Ähnlich, wenn auch vielleicht etwas komplizierter ist die Beziehung der
Werke und der Genres zur Kunst im allgemeinen. Auch hier muß davon aus¬
gegangen werden, daß die Genres ebensowenig Exemplare oder Unterarten
der Gattung Kunst sind wie die einzelnen Werke die der Genres, daß viel¬
mehr mit jedem Genre in seiner Besonderheit und gerade in dieser die Kunst
im allgemeinen unzertrennbar organisch verbunden mitgesetzt ist, ebenso
- und dies ist der hier entscheidende Gesichtspunkt - mit dem Setzen eines
jeden einzelnen Kunstwerks. Es ist ein Verhältnis der Inhärenz und nicht der
Subsumtion. Die Inhärenz ist eine Kategorie, der die moderne Logik wenig
Aufmerksamkeit widmet. Es kann hier natürlich nicht unsere Aufgabe sein,
den Versuch zu machen, diese Lücke irgendwie auszufüllen. Wir begnügen
uns mit einem kurzen Hinweis auf die Hegelsche Logik, in welcher diese für
uns wichtigen Fragen wenigstens angedeutet sind. Es ist dabei auffallend, daß
diese Kategorie bei Hegel immer am Anfang jener Analysen auftaucht, denen
er die Formen von Urteil und Schluß unterwirft. In der »Philosophischen
Propädeutik« werden beide Abschnitte mit der Untersuchung des Qualitati¬
ven begonnen, als Urteile bzw. Schlüsse der Inhärenz. Hegel sagt dort über
das Prädikat: »Allgemeinheit, das Prädikat, hat hier nur die Bedeutung einer
unmittelbaren (oder sinnlichen) Allgemeinheit und der bloßen Gemeinschaft¬
lichkeit mit anderen1.« Und der zweite Abschnitt schließt konsequenter¬
weise mit der »Aufhebung des Qualitativen«, mit dem Übergang zu den
»Schlüssen der Quantität oder Reflexion 2«. In der großen Logik verliert die
Inhärenz ihre Bedeutung für den Schluß. Am Anfang der Lehre vom Urteil
steht zwar noch immer die Inhärenz, indem sie das »Urteil des Daseins«
charakterisiert, wo »das Prädikat die Form eines Unselbständigen, das am
Subjekt seine Grundlage hat«, annimmt3. Der Schluß des Daseins, als Prä¬
ludium der Untersuchung der Schlüsse, basiert dagegen bereits auf der
doppelten Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine und des Allge¬
meinen unter das Einzelne4. Ja, im weiteren wird gegen Aristoteles der
Vorwurf erhoben, daß er sich »mehr an das bloße Verhältnis der Inhärenz
gehalten« hat1. Es ist hier nicht der Ort, näher zu betrachten, wieweit
dieser Vorwurf zutrifft. Prantl hebt wenigstens hervor, daß Aristoteles zwi¬
schen dem »artmachenden Unterschied« und »der bloßen Inhärenz« klar
unterscheidet 2.
Diese hier nicht austragbare Kontroverse weist auf das für uns so wichtige
Problem von Gattung, Art, Individuum hin, das ja, wie wir gesehen haben,
eine gewisse, sogar ziemlich weitgehende strukturelle Ähnlichkeit mit dem
von Kunst, Genre und Werk zeigt. Wir haben nicht nur in den unmittelbar
vorangegangenen Bemerkungen feststellen können, daß im originär ästheti¬
schen Verhalten (und in seiner objektiven Grundlage, im Kunstwerk) ein
Verhältnis der Inhärenz wirksam ist, auch die Darlegung über die mensch-
heitliche Fundiertheit von Werk und Wirkung hatte für die Existenz des
Menschen als Individuum, als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe, als
Teilhaber an der Entwicklung der Menschengattung auf eine so geartete Be¬
schaffenheit der Beziehungen hingewiesen. Was also die logische Kategorie
der Inhärenz ausdrückt, ist die Widerspiegelung einer Seinstatsache, die in
Natur und Gesellschaft auf verschiedenen Stufen, in verschiedener Weise
immer wieder auftaucht. Die Berechtigung von Hegels Stellungnahme zu die¬
sem Problemkomplex gründet sich auf dem notwendigen Objektivismus jeder
desanthropomorphisierenden Widerspiegelung der Wirklichkeit. Von diesem
Standpunkt betrachtet erscheinen jene Beziehungen, die in der Kategorie der
Inhärenz deutlich werden, zwar als Tatsachen, als unbestreitbar vorhandene
Beziehungen in der objektiven Wirklichkeit, zugleich aber als deren bloß
unmittelbare Erscheinungsweisen. Die Wissenschaft muß konkret und real,
die Logik im Auf decken der allgemeinsten Formzusammenhänge weitergehen,
will sie sich der objektiven Dialektik der Wirklichkeit gedanklich annähern.
Die Aufhebung der Inhärenz bei Hegel, sein Hinausgehen über sie geht dar¬
auf aus, diese erste, unmittelbare, darum logisch primitive Bestimmung durch
kompliziertere, die Bewegung, den Wandel, die Entwicklung besser ausdrük-
kende Bestimmungen zu ergänzen oder zu ersetzen. Darum werden bei der
Behandlung des Lebens in der »Enzyklopädie« zum Verständnis der Gat¬
tung immer konkretere, verallgemeinernd höherstehende, historischere Kate¬
gorien eingeführt3, neben welchen die Inhärenz als ärmlich-unmittelbare
Abstraktion des Anfangs wirken muß, obwohl nirgends geleugnet wird, daß
1 Ebd. S. 120.
2 Prantl, Geschichte der Logik, a. a. O. Band I. S. 233, 263.
3 Hegel: Enzyklopädie, § 370.
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 633
sie ebenfalls eine der vielen Bestimmungen dieses Verhältnisses ist. (Daß die
konkreten Kategorien der heutigen Wissenschaften weit über die Konkreti¬
sierungsmöglichkeiten Hegels hinausgehen, muß wohl nicht besonders betont
werden, ändert jedoch nichts an der hier allem richtigen, methodologischen
Seite der Frage.)
Es ist klar, daß eine Kategorie, die reale Verhältnisse der objektiven Wirk¬
lichkeit widerspiegelt, auch in der ästhetischen Widerspiegelung Vorkommen
kann und muß. Die Eigenart des Ästhetischen zeigt sich in solchen Fällen
darin, daß die Stellung der Kategorie in der Totalität der Widerspiegelung
und ihre Funktion in deren Dynamik einer Änderung unterworfen wird, die
allerdings am Grundcharakter der betreffenden Kategorie nichts verfälschen
darf. Das haben wir bereits angedeutet - und werden es später noch detail¬
lierter schildern - in bezug auf die Anwendung der Analogie; das haben
wir in bezug auf die Kategorie der Besonderheit ausführlich auseinander¬
gesetzt, und im Laufe der folgenden Darlegungen werden wir auf einen
Funktionswandel dieser Art auch bei anderen Kategorien zu sprechen kom¬
men. Das Problem der Inhärenz beinhaltet somit nichts prinzipiell Neues
für unsere Betrachtungen. Freilich muß sogleich, einleitend, hervorgehoben
werden, daß es selbstredend kein Transpositionsschema zwischen den Kate¬
gorien in Logik und Ästhetik gibt noch geben kann. Es handelt sich ja gar
nicht darum, daß eine logische Kategorie ins Ästhetische versetzt wird, viel¬
mehr immer und ausschließlich darum, daß infolge der Identität der objekti¬
ven Wirklichkeit, die Wissenschaft und Kunst jede in ihrer Art widerspiegeln,
dieselben Tatbestände, Gegenständlichkeitsformen, Bestimmungen etc. in bei¬
den eine - der spezifischen Methode der Annäherung an die Wirklichkeit,
die jede von beiden hat - angemessene Funktion erhalten. Die Untersuchung
der Ähnlichkeit und der Verschiedenheit im Funktionieren der einzelnen
Kategorien muß deshalb für jede einzelne separat vollzogen werden. Erst
wenn dies für alle Kategorien durchgeführt wurde, erst wenn auf diesem
Wege auch die neuen Zusammenhänge zwischen den neuen Funktionen und
dadurch - relativ - veränderten Wesenheiten erhellt sind, erst wenn diese
Zusammenhänge ein System ergeben, kann davon die Rede sein, daß wir die
Eigenart der ästhetischen Widerspiegelung vollständig erfüllt haben. Wie be¬
reits einleitend gesagt wurde, erheben diese Betrachtungen nicht den Anspruch
einer derartigen Vollständigkeit. Bei dem heutigen Stand der Kunstphiloso¬
phie wäre sie auch kaum möglich. Uns kommt es nur darauf an, an einigen
entscheidenden Fällen den Weg, die Methode aufzuweisen, die zu einer solchen
Erfassung der Eigenart des Ästhetischen führen könnte und müßte.
Die eigene Welt der Kunstwerke
634
Wenn wir uns nun der Kategorie der Inhärenz zuwenden, so müssen wir
nochmals darauf zurückkommen, daß sie - logisch-'wissenschaftlich betrach¬
tet - auf einer niedrigen Stufe der Desanthropomorphisiertheit steht, d. h.
daß sie zu jenen Kategorien gehört, die unmittelbar erfaßbare Momente der
Außenwelt widerspiegeln, in deren Wesensart sowohl die enge Verknüpfung
mit der Sinnlichkeit wie ein Haftenbleiben an der Subjektivität bemerkbar
bleibt. Wir haben gesehen, daß Hegel in den von uns angeführten Sätzen
diese beiden Seiten der Inhärenz betont; die erste in der »Philosophischen
Propädeutik«, die zweite in der »Logik«. Daran ist vor allem interessant,
daß diese Wesensart der Kategorie auf ihr Bewußtwerden als solche ein Licht
wirft. In der Inhärenz sind nämlich manche Momente des Teilhabens
(Partizipation) enthalten, die noch in der platonischen Philosophie eine nicht
unbeträchtliche Rolle spielt. Der Ursprung dieser Momente geht jedoch in
prähistorische Zeiten zurück. Levy-Bruhl erblickt gerade in der Partizipation
das zentrale Wesen dessen, was er »prälogisches« Denken nennt. »Ich möchte
sagen«, führt er aus, »daß in den Kollektivvorstellungen des primitiven
Denkens die Gegenstände, Wesen, Erscheinungen auf eine uns unverständliche
Weise sie selbst und zugleich etwas anderes als sie selbst sein können L« Un¬
abhängig von den höchst problematischen Folgerungen, die L4vy-Bruhl aus
dem »Gesetz der Partizipation« zieht, ist hier ein grundlegendes Element der
magischen Weltanschauung berührt, und zwar eines, das während der magi¬
schen Periode sich meistens auf Zusammenhänge bezieht, die im Lichte einer
entwickelteren und vernünftigeren Erfahrung sich vielfach als völlig sinnlos
erweisen, die aber in bestimmten Fällen doch auch teilweise richtige Spiege¬
lungen der Wirklichkeit erreichen können. Die Kategorie der Inhärenz ist aus
der Feststellung von Zusammenhängen zwischen Realitäten verschiedener Be¬
schaffenheit, nach allmählichem Abstreifen des magisch Sinnwidrigen entstan¬
den, als Bezeichnung bestimmter Verhältnisse, die unmittelbar und vorerst
gar nicht anders zu bezeichnen gewesen wären. Es ist kein Zufall, daß sie in
der Klassifikation der Phänomene (Art, Gattung etc.) so wichtig wird, denn
es bedarf noch im Folgenden einer langwierigen wissenschaftlichen Entwick-
lung, bis die Klassifikation sich in eine kausal etc. bestimmte Evolutionslehre
umwandeln kann.
Der auffallende Gegensatz in dieser Entwicklung ist nun, daß im Ästheti¬
schen die Inhärenz als Kategorie äußerer und innerer Zusammenhänge nie
1 Levy-Bruhl: a. a. O. S. 58.
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 635
wie dort, wo, dem modernen Vorurteil entsprechend, die Pathologie »das Mo¬
dell« zum Verständnis des normalen Menschen darbietet und etwa schizo¬
phrene Spaltungen des Bewußtseins nicht als pathologische Ausnahmefälle,
sondern als »condition humaine« dargestellt werden.
Diese fundamentale Tatsache der künstlerischen Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit hat viel Verwirrung sowohl in der Kunsttheorie wie in der Wissen¬
schaftslehre verursacht. In der ersteren wird nicht selten diese kategoriell
»primitive«, »urwüchsige«, »urtümliche« Art der Wiedergabe der Wirklich¬
keit dazu überspannt (und damit ins Absurde gesteigert), die Kunst
reproduziere - angeblich - eine Rückkehr ins Magische. Auf die grund¬
legende Falschheit solcher Anschauungen haben wir bereits hingewiesen
und gezeigt, daß dabei der wirkliche Tatbestand sowohl von Magie wie von
Kunst verzerrt wird (Worringer, Caudwell, etc.). Die »Primitivität« in der
Kategorie der Inhärenz (und ähnlicherweise auch in der künstlerischen An¬
wendung der Analogie) knüpft einerseits an ein Entwicklungsstadium an,
das das Magische schon längst weit hinter sich gelassen hat und das aus¬
schließlich mit im Leben real vorhandenen Inhärenzbestimmungen operiert;
ein Stadium, in welchem die phantasmagorische Subjektivität der Magie -
besser gesagt: ihre Unfähigkeit, zwischen subjektiv und objektiv zu unter¬
scheiden -, bereits einer überwundenen Vergangenheit angehört. Anderer¬
seits bleibt die künstlerische Entwicklung bei der schlichten, unanalysierten
Konzeption der Inhärenz nicht stehen, geschweige denn daß sie sich von hier
aus historisch nach rückwärts bewegen würde; in den Verhältnissen und Be¬
ziehungen, die man verallgemeinert als Kategorie der Inhärenz zusammen¬
fassen kann, steckt nämlich ein echtes Material des menschlichen Lebens, das
sich mit der historischen Entwicklung der Gesellschaft ununterbrochen weiter¬
bildet, und in dessen Klarlegen und gestalteten Elerausstellen die Kunst eine
Pionierrolle spielt. Schon als diese Kategorie in den Werken der Antike er¬
scheint, hat sie mit den magischen Anfängen nur noch wenig zu tun, und gerade
in Hinsicht auf die hier entstehenden Probleme hat die spätere Kunst einen
langen Weg der Verbreiterung, Vertiefung und Bereicherung zurückgelegt.
Auf die verwirrenden Folgen, die aus methodologischen Mißverständnissen
dieser Sachlage in den Wissenschaften entstehen, können wir nur ganz kurz
und kursorisch eingehen. Es handelt sich in erster Linie um die Methode der
Psychologie als Wissenschaft. Die idealistische Psychologie des Positivismus
ist an der Jahrhundertwende in eine Krise geraten; ihre Unfähigkeit, die
Phänomene konkret zu erfassen, ist immer deutlicher sichtbar geworden.
Statt nun aber die idealistischen Grundlagen zu kritisieren, die es z. B. nicht
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 637
tiven Verhaltensweisen zu ihnen handelt, das einzelne Werk und das Genre,
zu dem es gehört, werden notwendig uno actu gesetzt. Weder im Schaffen
oder Aufnehmen noch selbst in der ästhetischen Reflexion darüber darf hier
eine scharfe Grenze gezogen werden. Sogar in der - der Form nach begriff¬
lichen — Analyse eines Kunstwerks bewegt sich Erleben und Denken un¬
unterbrochen in jenem gemeinsamen Fluidum, das das Werk mit seinem
Genre vereinigt. Wenn etwa von den malerischen Qualitäten eines Land¬
schaftsbildes die Rede ist, so ist in der Erfassung der spezifisch-individuellen
Eigenheit dieses bestimmten Bildes ebenso die Problematik des Malerischen
überhaupt enthalten wie im umgekehrten Fall. Die von uns wiederholt her¬
vorgehobene Art der Erfüllung der Gesetzlichkeit seines Genres durch ein
Kunstwerk in der Weise, daß dieses zugleich eine Erweiterung der Gesetze
miteinbegreift, ist ein unzweideutiger Beweis dafür, daß dieses Verhältnis der
wechselseitigen Inhärenz zwischen Einzelwerk und Genre zum Wesen des
Ästhetischen gehört. Ebenso ist es mit der Beziehung von Werk und Genre
zur Kunst im allgemeinen bestellt. Darum sind Genre und Kunst dem allein
für sich bestehenden Werk gegenüber nicht Allgemeinbegriffe.
Ein gewisses Umsetzen ins Begriffliche ist innerhalb bestimmter Grenzen un¬
vermeidlich und geschieht auch ununterbrochen. Wird es jedoch vorschnell
und starr vollzogen, so haben wir es, wie so oft im Laufe der Geschichte, mit
toten Regeln zu tun, die bestenfalls am Ästhetischen unbemerkt Vorbeigehen,
häufig jedoch ertötende Wirkungen auf Sinn und Schaffen ausüben. Es han¬
delt sich vielmehr - wir wiederholen - um sinnlich-sinnhafte Verallge¬
meinerungen, die dieser ihrer Wesenheit entsprechend jenem uns bereits be¬
kannten ästhetischen Prozeß dienen, der die bloße Partikularität des jeweili¬
gen schaffenden wie rezeptiven Subjektes aufhebt, damit die Subjektivität
sich bis ins Gattungsmäßige, ins Menschheitliche steigere, ohne die Parti¬
kularität vollständig zu vernichten, ohne von ihr mehr abzustreifen, als für
einen solchen Aufstieg unerläßlich ist. Die Inhärenz drückt sich also darin aus,
daß in jedem Künstler - sowohl objektiv wie subjektiv - Genre und Kunst
im allgemeinen stets simultan gegenwärtig sind. Freilich wenn hier vom
Gegenwärtigsein in der ästhetischen Subjektivität die Rede ist, so ist damit
keineswegs eine sich begrifflich äußernde Bewußtheit gemeint, allerdings
noch weniger ein »tiefenpsychologisches« Unbewußtes; unser »sie wissen es
nicht, aber sie tun es« gilt auch hier. Hegel hat seinerzeit prägnant formuliert,
daß der Gattung die Negation der unmittelbaren Einzelheit, der »Tod des
Individuums« zukommt. In unserem Falle entsteht das Entgegengesetzte:
indem das, nach Hegels Ausdrude, unmittelbar Einzelne, das einzelne Kunst-
Die eigene Welt der Kunstwerke
640
werk sich verwirklicht, und sich, was aus dem Wesen des Ästhetischen folgt,
als Dauerndes, als Bleibendes konstituiert, kommt erst darin, wieder nach
Hegels Ausdruck, »die Gattung zu sich selber« K Der Prozeß hat also in
bezug auf Einzelnes, Art und Gattung einen geradezu entgegengesetzten
Charakter. Selbsterhaltung, Wachstum, Entwicklung von Genre und Kunst
im allgemeinen hängen in unmittelbarer und zwingender Notwendigkeit von
einer Realisation der einzelnen Kunstwerke ab, die absterbenden (veralten¬
den) Gestaltungen dagegen fallen aus dem ästhetischen Gattungsprozeß her¬
aus, werden zu einem — ästhetischen — Nichts. (Was sie dabei unter Um¬
ständen als gesellschaftlich^geschichtliche Phänomene bedeuten, berührt nicht
diese Frage.)
II Das homogene Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz
Es sei also festgestellt: mit dem ästhetischen Setzen des einzelnen Werks wer¬
den simultan, uno actu, Genre und Kunst im allgemeinen mitgesetzt. Wenn
wir uns nun einem wesensbestimmenden Problem der einzelnen Künste, dem
Genre zuwenden und für eine gewisse Strecke aus Gründen der klaren Metho¬
dologie die Kunst im allgemeinen etwas zu vernachlässigen scheinen, so ist
dies, wie aus den vorangegangenen Darlegungen klar hervorgeht, ein bloßer
Schein, denn bei jeder richtigen ästhetischen Betrachtung eines Genres wer¬
den auch die Probleme der Kunst im allgemeinen mitgedacht; es handelt sich
hier bloß um die methodologische Frage, wieweit diese vorläufig unausge¬
sprochen bleiben und nur als Hintergrund figurieren. Schon wenn wir das hier
gemeinte Problem, das in früheren Betrachtungen oft herangezogene homo¬
gene Medium jeder Kunstart (und innerhalb ihres Bereichs: jedes Kunstwerks),
auch nur anschneiden, wird dieser Zusammenhang sichtbar. Denn das kon¬
krete homogene Medium - z. B. reine Sichtbarkeit in den bildenden Kün¬
sten - ist auch eine Bestimmung der Kunstart. Es kann sich nach Genres
differenzieren, den sicher bedeutet reine Sichtbarkeit in der Malerei in man¬
cher Hinsicht nicht genau dasselbe wie in der Plastik; das Medium der dichte¬
rischen Sprache hat in Lyrik, Epik oder Dramatik eine ganze Reihe von spezi¬
fischen Kennzeichen etc. Gar nicht zu reden davon, daß das homogene Me¬
dium seine originäre Verwirklichungsweise natürlich erst im einzelnen Kunst-
Denn die so entstehenden Tatsachen sind, auch wenn sie von den Menschen
mit Bewußtsein produziert oder beeinflußt werden, Tatsachen der vom Be¬
wußtsein unabhängig existierenden und wirkenden objektiven Wirklichkeit,
unterliegen deren Gesetzmäßigkeiten, die der Mensch nur durch ihre richtige
Erkenntnis und deren richtige Anwendung auf sie zu leiten imstande ist. Das
von der menschlichen Tätigkeit Hervorgebrachte hat in unserem Fall einen
völlig anderen Sinn: den der Endgültigkeit. Im homogenen Medium der
Kunstart entstehen Formgebilde, die nur dadurch ihre spezifische »Wirklich¬
keit« erlangen, daß sie die objektive Wirklichkeit ästhetisch widerspiegeln.
Ihre »Wirklichkeit« besteht bloß darin, daß sie das in ihnen festgehaltene
künstlerische Abbild der objektiven Wirklichkeit evozieren können, daß sie
die Erlebnisse der Menschen zu einer inneren Reproduktion des in ihnen ver¬
körperten Abbilds zu leiten, zu lenken vermögen.
Das homogene Medium muß also, obwohl seine konkrete Beschaffenheit
(Hörbarkeit, Sichtbarkeit, Sprache, Gebärde) ein Element des menschlichen
Lebens, der menschlichen Praxis bildet, etwas aus dem ununterbrochenen Fluß
der Wirklichkeit Herausgehobenes sein. Es wird zur Grundlage der Praxis im
künstlerischen Schaffen, wo das Sichversetzen des Künstlers in das homogene
Medium seiner Kunstart, durch dessen Verwirklichung in der spezifischen
Qualität der eigenen Persönlichkeit die Möglichkeit des - von uns bereits
untersuchten - Schaffens einer eigenen »Welt« als ästhetischer Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit eröffnet. Allgemein und abstrakt gesprochen ist das
Zustandekommen eines homogenen Mediums in der Widerspiegelung der ob¬
jektiven Wirklichkeit, im Prozeß der Verwandlung des Ansich in ein Füruns
kein absolutes Novum. Es genügt an die Rolle der Mathematik in den exak¬
ten Wissenschaften zu erinnern. Dabei tritt jedoch sogleich der qualitative
Unterschied in der Widerspiegelung der dem objektiven Wesen nach gleichen
Wirklichkeit zwischen Wissenschaft und Kunst deutlich hervor. Ein homoge¬
nes Medium der Wissenschaft kann nur aus einer bereits - relativ - er¬
faßten Realität selbst gewonnen werden. Seine Grundlage bilden Elemente
und Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit selbst, deren abstrahierende
Bearbeitung, eben das Schaffen eines solchen homogenen Mediums, vor allem
darin besteht, das objektiv Seiende von jeder an die Subjektivität gebunde¬
nen, anthropomorphisierende Tendenzen enthaltenden, Betrachtungsweise
nach Möglichkeit zu reinigen. Es besteht demzufolge aus Elementen und
deren Verbindungen, Gesetzlichkeiten etc., die das jeweils erreichbare Objek¬
tive an den Gegenständen aussprechen. Die wahre Objektivität ist natürlich
einer ununterbrochenen Kontrolle der Realität unterstellt. So muß z. B. jede
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 643
1 Daß dieser Weg vielfach auch problematisch werden kann, so im Falle des mathe¬
matischen Formalismus, braucht uns hier nicht zu beschäftigen.
644
Die eigene Welt der Kunstwerke
Wirklichkeit schöpft, jedoch den einzelnen Beobachtungen, den aus ihnen un¬
mittelbar gezogenen Folgerungen gegenüber als Prinzip der Kritik, der Rich¬
tigstellung auftreten kann. Dieser allerallgemeinst formalen Ähnlichkeit
muß aber sogleich die ebenso wichtige Verschiedenheit entgegengestellt wer¬
den. Die wissenschaftliche Widerspiegelung ist, wie wir wissen, eine desan-
thropomorphisierende, was eine dieser Einstellung entsprechende Objektivi¬
tät ihres homogenen Mediums vorschreibt; sein Wirken, seine Wesensart ist
rein durch die Beschaffenheit des jeweiligen Objekts bestimmt. Da nun der
Gegenstand der ästhetischen Widerspiegelung die Welt der Menschen, ihre
Beziehungen zueinander und zur Natur ist, muß die Art und die Differen¬
zierung des homogenen Mediums hier ganz anders beschaffen sein.
Das Objekt dieser Widerspiegelung soll nämlich nicht nur so, wie es an sich
ist, sondern auch als Moment der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und
Natur, ihren Gründen und Folgen in der Gesellschaft erscheinen. Im Setzen
der Gegenstände ist also das menschliche Verhältnis zu ihnen, das menschliche
Reagieren auf sie mitenthalten. Soll nun, wie früher nachgewiesen wurde,
diese höchst aktive Rolle des Subjekts nicht zu einer subjektivistischen Will¬
kür führen, vielmehr eine neue, aber wohlfundierte Art der Objektivität be¬
gründen helfen, so darf einerseits die schöpferische Subjektivität nicht einer
ihr völlig fremden Welt gegenüberstehen, zu der sie bloß nachträglich Stel¬
lung nehmen könnte. Denn so entstandene Urteile bleiben hier unfehlbar mit
dem Makel eines hohlen Subjektivismus behaftet. Das Subjekt muß im
Gegenteil an dem Geradesosein von Inhalt und Form der abgebildeten Welt
aktiv mitbeteiligt sein. Wenn das einzelne schöpferische Subjekt dem einzel¬
nen zu schaffenden Werk gegenüber sich eine solche Demiurgenrolle anmaßt,
so handelt es sich keineswegs um eine unbegründete Aufblähung seiner selbst,
sondern um die innere, abgekürzte und konzentrierte Reproduktion des
Weges der menschlichen Gattung: die Gegenstände, die in der ästhetischen
Widerspiegelung abgebildet und festgehalten werden, sind ja formal wie
inhaltlich Eigebnisse dieses Prozesses. Selbst wenn sie, wie die Gegenstände
der Natur, an sich eine von der Menschengattung unabhängige Existenz
haben, ist ihre Existenzweise in sehr vielen Fällen von diesem Prozeß objek¬
tiv aufs tiefste modifiziert (abgeholzte Wälder, geregelte Flüsse etc.) und
auch wo dies nicht der Fall ist, kann ihre Erscheinungsweise nicht abgetrennt
von diesem Entwicklungsweg vorgestellt werden (hohe Berge, Meer etc. als
Gegenstände der Kunst). Es zeigt sich also erneut, diesmal von einem ande¬
ren Gesichtspunkt, daß die Berechtigung der ästhetischen Subjektivität in
ihrer Beziehung zum Menschengeschlecht fundiert ist. Erst dadurch kann sie
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 645
1 Vgl. darüber den Aufsatz: »I limiti della critica stilistica« von Cesare Cases.
Societa, 1955 Nr. I. und II., sowie die hervorragende Studie von Michael Lif-
schitz: »Bei Gelegenheit des Artikels von S. Widmar: Aus meinem Tagebuch.« Novi
Mir, 1957 Nr. IX. Der letztere Aufsatz untersucht zwar nicht direkt diese Schule,
seine Analysen enthalten jedoch eine tiefschürfende indirekte Kritik ihrer Prin¬
zipien und Praxis.
648 Die eigene Welt der Kunstwerke
solcher Ausführungen zu Ende denkt, auf den Begriff bringt, kommt etwas
sehr Ähnliches heraus. Das tertium datur, das beiden falschen Extremen
gegenüber ausgesprochen werden muß, darf aber keine eklektische »Mitte«
sein, sondern soll die dialektische Einheit von Inhalt und Form (bei Beibehal¬
ten der Priorität des Inhalts in der Bestimmung der Form als die eines kon¬
kreten Inhalts, bei ihrer Anerkennung als unmittelbarer Träger der ästheti¬
schen Evokation etc.) in all ihrer Kompliziertheit festhalten und begrifflich
formulieren. Wenn nun in der analysierenden Darlegung dies zuweilen nur
auf Umwegen über - methodologisch - gesonderte Inhalt- und Formkom¬
ponenten möglich ist, so bedeutet dies nicht die geringste Konzession an die
soeben verworfene Eklektik einer hier nicht existierenden »Mitte«, denn in
jeder getrennten Betrachtung sind diese dialektischen Verflochtenheiten
immanent mitgedacht.
Bei gewissen - sei es elementaren, sei es verwickelten — Momenten des
homogenen Mediums tritt die Dialektik von Inhalt und Form so evidenter¬
weise an die Oberfläche, daß man oft schwer unterscheiden kann, ob man es
mit einem formalen oder mit einem inhaltlichen Problem zu tun hat. So
gleich bei der Frage, die sachlich gewiß eine einleitende Funktion zu erfüllen
hat, welche Funktion das homogene Medium im Annäherungsprozeß des
ästhetischen Verhaltens an die objektive Wirklichkeit besitzt. Die Attitüde
des ganzen Menschen zu der ihn umgebenden gesamten Wirklichkeit im
Alltagsleben, seine Rezeption ihrer Impulse, seine sie umwandelnde Tätig¬
keit haben — trotz einer großen Skala von Differenzen in verschiedenen
Verhaltensarten, Situationen etc. - den gemeinsamen Zug der praktischen
Zuwendung auf einzelne Objekte, die unter Umständen mit größter
Schärfe und Exaktheit beobachtet werden, deren Zusammenhänge jedoch
nur so weit in den Wahrnehmungskreis fallen, als gewisse ihrer Eigen¬
schaften für das gesetzte Ziel, positiv oder negativ, von Belang sind. Das
bezieht sich natürlich nicht bloß auf die Sinneseindrücke und Vorstellun¬
gen, sondern auch auf die daraus entspringenden, die Praxis leitenden oder
aus ihr herrührenden Gedanken. Die Schranke, die hier zwischen Wahr¬
nehmung und objektivem Sein des Wahrgenommenen erriditet ist und die im
Faufe der Entwicklung — wenn auch ungleichmäßig — immer weiter gerückt
wird, ist infolge des Verhältnisses von Wirklichkeit und Bewußtsein prinzi¬
piell unaufhebbar. Auch wenn sich aus der Alltagspraxis, vor allem aus der
Arbeit, die wissenschaftliche Widerspiegelung herausbildet und die höchste
Differenziertheit erlangt, bleibt in vielfach modifizierter Weise noch immer
eine solche Schranke für die Erkenntnis errichtet.
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 649
Lenin gibt ein exaktes Bild dieser Frage, das wir bereits in anderen Zu¬
sammenhängen angeführt haben und aus dem wir jetzt das Wesentliche her¬
vorheben, daß nämlich jede Abbildung eine Vergröberung bedeutet, und
zwar nicht nur die durch das Denken, sondern auch die durch das Empfinden.
Den Ausweg für die Wissenschaft, die Möglichkeit einer gesteigerten Annähe¬
rung an die Wirklichkeit bietet nach Lenin eben die höchste Form des wissen¬
schaftlichen Denkens, die Dialektik. Das dialektische Denken hat gerade die
Aufgabe, jene Hindernisse in der erkenntnismäßigen Annäherung an die
Wirklichkeit, die vom Denken selbst hervorgebracht werden, zu überwinden.
In einer Darstellung der Philosophie Zenons, die Lenin unmittelbar vor den
von uns früher zitierten Sätzen zustimmend anführt, sagt Hegel: »denn was
allein Schwierigkeit macht, ist immer das Denken, weil es die in der Wirk¬
lichkeit verknüpften Momente eines Gegenstandes in ihrer Unterscheidung
auseinanderhält. Es hat den Sündenfall hervorgebracht, indem der Mensch
vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen, es heilt aber auch
diesen Schaden« 1. Darum betrachtet Lenin in Fortführung seines Gedan¬
kens, die »Einheit, Identität der Gegensätze« als das Wesen der Dialektik,
als den Ausweg aus diesem Dilemma.
All dies ist für das Problem der Annäherung der ästhetischen Widerspiege¬
lung an die Wirklichkeit sehr lehrreich. In dieser Hinsicht ist besonders her¬
vorzuheben, daß das Urteil über die »Vergröberung« über die »Ertötung«,
etwa der Bewegung, nicht nur für das Denken, sondern ausdrücklich auch für
die Empfindung ausgesprochen wird. Das ist vom Standpunkt unseres Pro¬
blems schon darum wichtig, weil In neuerer Zeit in bezug auf Ästhetik (und
freilich auch auf Philosophie überhaupt) immer wieder Stimmen laut werden,
die dem mechanischen, vergröbernden Denken gegenüber an die Feinheit,
Richtigkeit, Schmiegsamkeit etc. der Empfindungen und Gefühle, der
Instinkte appellieren. Demgegenüber scheint es uns wichtig zu betonen, daß
- an sich - die Empfindungen die reale Bewegtheit der abzuspiegelnden
Außenwelt ebenso »ertöten«, wie das Denken. Hier setzt nun für die Kunst
die spezielle Bedeutung des homogenen Mediums ein. Wir haben bereits über
das Anfangsmoment der Verengerung gesprochen. Dies ist natürlich ein Ver¬
halten, das allgemein betrachtet auch im Alltagsleben vorkommt, und in
dessen Praxis oft eine beträchtliche Rolle erhält. Wir sagen nicht selten: »Ich
bin ganz Auge« oder »ganz Ohr« und meinen damit eine - vorüber-
jene Trennungen oder Abgrenzungen aufzuheben, die nicht aus dem Ansich,
sondern aus den Verhaltensweisen der menschlichen Subjektivität ent¬
stammen.
Selbstverständlich ist diese objektive Verknüpftheit von allem mit allem
auch für die ästhetische Widerspiegelung als Beschaffenheit ihres Gegenstan¬
des bindend. Dieser ist aber, wie wir wissen, nicht einfach das Ansichsein der
Welt, sondern das der Welt des Menschen, selbstredend in ihrer vom Bewußt¬
sein unabhängigen Objektivität, einer Welt, in der die Spuren der mensch¬
lichen Tätigkeit objektiviert, zu Objekten geworden erscheinen, jedoch so,
daß diese ihre Objektivität, ohne aufgehoben zu werden, auf den Menschen
rückbezogen wird. Durch diese doppelte Bestimmtheit muß der Aspekt der
Betrachtung der Welt, von dem aus erst sowohl die Objektivität wie das
Rückbezogensein wahrnehmbar werden können, Abbilder der Welt zustande
bringen, in denen die Außenwelt auch tendentiell nicht nur in ihrer rein objek¬
tiven Ganzheit, sondern auch in dieser Beziehung in Erscheinung tritt; also
Abbilder, deren jedes für sich selbst bestehen kann und muß, keine Ergänzung
durch andere fordert oder duldet. Die Garantie dafür, daß eine solche Iso¬
liertheit der einzelnen Widerspiegelungen der Wirklichkeit, deren Objektivi¬
tät nicht zerstört, sondern im Gegenteil gesteigert zum Ausdruck bringt, liegt
darin, daß jedes Kunstwerk die Bestimmungen, die für den gestalteten
Aspekt der Welt ausschlaggebend sind, zur Grundlage der abgebildeten inten¬
siven Totalität macht. So wird jedes Kunstwerk zum Abbild der ganzen
Welt, von einem wichtigen menschlichen Gesichtspunkt aus gesehen; seine
Totalität und die der ihm zugrunde liegenden Bestimmungen ist also pri¬
mär keine formale, sondern eine inhaltliche; diese kann aber nur dann eine
Objektivität erlangen, wenn sie ästhetisch wird, d. h. restlos in die sie evo¬
zierende Welt der Formen eingeht (sonst bleibt ein mehr oder weniger will¬
kürlich gewählter Ausschnitt der Wirklichkeit übrig). Diese Umsetzung der
extensiven und intensiven Unendlichkeit der objektiven Welt in die intensiv¬
unendliche Totalität der Kunstwerke hat Lessing in bezug auf Weltlauf und
Tragödie prägnant geschildert: »Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es
seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhänge aller Dinge
haben. In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die
der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus
diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet,
wo eines aus dem andern sich völlig erklärt, wo keine Schwierigkeit aufstößt,
derentwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie
außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen müssen; das Ganze
6^4 Die eigene Welt der Kunstwerke
dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen
Schöpfers sein; . ..1«
So radikal hier der Unterschied zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer
Widerspiegelung hervortritt, so klar bleibt es, daß sie in bezug auf die Sus¬
pension einer jeden Zielsetzung, die mit einem Faktum des menschlichen Le¬
bens unmittelbar verknüpft ist, auf einem ähnlichen Boden stehen, daß beide
sich von den entsprechenden Verhaltensweisen der Alltagspraxis ähnlicher¬
weise qualitativ abheben. Ebenso ist es um den zweiten in dieser Frage
wesentlichen Gesichtspunkt, um die Universalität des durch die Suspension
der unmittelbaren Zielsetzung Erreichten, bestellt. Natürlich ist diese Univer¬
salität in beiden differenzierten Widerspiegelungsarten qualitativ verschie¬
den. Wie dies in der Wissenschaft steht, haben wir soeben dargelegt: die
Suspension der unmittelbar praktischen Zielsetzung ermöglicht — früher
oder später, direkt oder indirekt - ein weitaus besseres Verwirklichen von
weitaus allgemeineren praktischen Aufgaben. Auch die Suspension des un¬
mittelbaren Interesses in der ästhetischen Setzung mündet ins praktische Le¬
ben des menschlichen Alltags. Jedoch im scharfen Unterschied zur wissen¬
schaftlichen Widerspiegelung entsteht hier nur ausnahmsweise ein unmittel¬
bares Fördern oder Hemmen einzelner bestimmter praktischer Aufgaben.
Selbst wo Kunstwerke im gesellschaftlichen Leben eine derartig wichtige
Rolle gespielt haben - es genügt an die Marseillaise, an den Roman Beecher-
Stowes zu erinnern -, zeigt eine nähere Betrachtung sogleich die Eigenart
ihrer Wirkung: sie rufen in den Menschen Leidenschaften hervor, geben die¬
sen bestimmte Inhalte, bestimmte Richtungen etc., wodurch dann die Men¬
schen fähig werden, praktisch in das gesellschaftliche Leben einzugreifen,
für oder gegen bestimmte gesellschaftliche Tatsachen zu kämpfen. Daß diese
Tatsachen in den Kunstwerken direkt als solche kenntlich gemacht werden, ist
freilich ein - theoretisch wie praktisch außerordentlich wichtiger - Grenz¬
fall. Aber selbst, wo dies eintritt, geht die künstlerische Wirkung weit über
den Einzelfall hinaus: »Onkel Toms Hütte« ruft nicht zur Hilfe für die dort
geschilderten Sklaven auf, die ja in einem solchen Geradesosein vielleicht gar
nicht existierten und jedenfalls für den durch die Evokation des Werks be¬
wegten Leser praktisch gar nicht zugänglich waren, sondern erweckt Gefühle
und Leidenschaften, für die Befreiung aller Sklaven (aller klassenmäßig
Unterdrückten) zu streiten. Es entsteht also eine menschliche Bereitschaft,
den niedrigen Interessen des Alltags, aber unter den allein menschenwürdi¬
gen der Ethik einnimmt, ist ein starr hierarchisch bestimmter Ort; kein Ver¬
mittlungsglied einer dialektischen Bewegung wird dabei geduldet; erst Schil¬
ler hat versucht, diese Starrheit in dialektische Bewegung aufzulösen. Nur im
Verhältnis zur Natur ist bei Kant ein Ansatz vorhanden, das Ästhetische
dialektisch ins menschliche Leben zurückzuführen und mit den höchsten
Interessen der Menschheit zu verbinden. So sagt Kant in bezug auf das Er¬
lebnis der Natur: »nicht allein ihr Produkt der Form nach, sondern auch das
Dasein desselben, gefällt ihm, ohne daß ein Sinnenreiz daran Anteil hätte,
oder er auch irgendeinen Zweck damit verbände1.« Es wäre nicht un¬
interessant auf Kants fast Rousseausches Mißtrauen der Kunst gegenüber
näher einzugehen. Es entspringt sicher aus den Klassenkämpfen des 18. Jahr¬
hunderts, aus der Verneinung der feudal-absolutistischen Kultur, die infolge
der Minderwertigkeit und Verkommenheit ihrer deutschen Erscheinungsweise
sowie infolge der Ohnmacht des deutschen Bürgertums eine besondere Form
angenommen hat. Mit den konkreten philosophischen Folgen dieser Annahme
vom »intellektuellen Interesse am Schönen« werden wir uns im Kapitel über
Naturschönheit ausführlich auseinandersetzen. Dieses - von seinem Stand¬
punkt höchst wichtige - Moment der Ästhetik Kants mußte hier schon dar¬
um erwähnt werden, weil darin, ungewollt, eine Selbstaufhebung der bloßen
Interesselosigkeit gesetzt wird, da auf eine durch ihre Suspension verwan¬
delte universelle (bei Kant: moralische) Praxis hingezielt wird. Allerdings in
einer allzu spezifizierten Weise. Wenn etwa Lessing die Aristotelische
Katharsis so auslegt, daß »diese Reinigung in nichts anders beruht, als in der
Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten 2«, so verengt
zwar auch er das Problem auf das rein Moralische, ist jedoch in seiner Frage¬
stellung weit universeller als Kant.
Unsere bisherigen Betrachtungen zeigen vorläufig zwei miteinander eng ver¬
knüpfte Verhaltensarten, nämlich ein Verengen des Gerichtetseins auf die
Außenwelt, sein Sichzusammenziehen darauf, was durch einen der Sinne er¬
lebbar, oder wenigstens auf das, was von einem genau bestimmten Aspekt
aus wahrnehmbar ist, und andererseits die Suspension der unmittelbar prak¬
tischen Zielsetzungen. Beides zusammen und zusammenarbeitend ist da, um
die Wahrnehmung von Gegenständen in einer Weise erfaßbar zu machen, die
1 Ebd. § 42.
2 Lessing: Hamburgische Dramarturgie, 78. Stück.
658 Die eigene Welt der Kunstwerke
für den normalen ganzen Menschen des Alltags unerreichbar wäre. Das homo¬
gene Medium verdankt dieser Verhaltensart seine Möglichkeit. Wenn es je¬
doch zu einer fruchtbaren Verwirklichung kommen soll, muß sich die Ver¬
engung in einen bloß einleitenden Akt verwandeln, muß den ganzen Men¬
schen wieder zu Worte kommen lassen, allerdings dem Alltag gegenüber in
einer wesentlich modifizierten Form. Wir haben es hier mit der ästhetischen
Widerspiegelung -der Wirklichkeit zu tun. (Über die Eigenart dieser Um¬
wandlung des Verhaltens in der wissenschaftlichen Widerspiegelung haben
wir bereits ausführlich gesprochen.) Hier ist sowohl das Was wie das Wie des
Wahrgenommenen und erst recht des Gestalteten unlösbar mit dem hervor¬
bringenden Subjekt verbunden. Die Echtheit der ästhetischen Objektivität ist
eine direkte Funktion seiner Breite und Tiefe. Wenn wir im Laufe dieser
Betrachtungen auch einige Theoretiker kritisiert haben, die die entscheidende
Wichtigkeit des homogenen Mediums für jede Kunst verfochten, so taten wir
es vor allem deshalb, weil sie dessen Beschaffenheit und Wirkungskreis in un¬
zulässiger Weise verengten, weil sie - wie vor allem Fiedler - oft den Akt
des Ausgangs, das Zusammenziehen und die Konzentration der Aufnahme
der Welt, perennieren ließen und die ganze Frage des homogenen Mediums
auf diesen Akt reduzierten. Wenn schon in der Alltagspraxis eine Arbeitstei¬
lung der Sinne entsteht, so daß wir in ganz selbstverständlicher Weise Eigen¬
schaften der Dinge spontan-visuell wahrnehmen, die ursprünglich Tastempfin¬
dungen waren, und wenn uns die Beobachtung der wissenschaftlidien Tätig¬
keit dazu zwingt, anzuerkennen, daß sogar in der desanthropomorphisieren-
den Widerspiegelung der Wirklichkeit z. B. die Phantasie oft eine beträcht¬
liche Rolle spielt - wie könnten wir dann im Ästhetischen bei dem bloßen
Akt der Reduktion der Aufmerksamkeit auf das homogene Medium stehen¬
bleiben?
Alles bisher Dargelegte hat im Gegenteil als Charakteristikum des Ästheti¬
schen unzweideutig klar gezeigt, daß für Inhalt und Form seiner Gebilde
das Geradesosein des jeweiligen ganzen Menschen, von seiner rein indivi¬
duellen Partikularität bis zu seiner Anteilnahme an der Konstituierung des
Menschheitlichen (mit allen notwendigen Zwischenbestimmungen), von ent¬
scheidender Wichtigkeit ist. Und zwar nicht bloß in genetischer Hinsicht, wie
im Alltag oder in der Wissenschaft, wo sehr oft das, dessen Entstehen z. B.
eine gewaltige Phantasie erfordert, dieser in seiner theoretischen Reproduk¬
tion und praktischen Anwendung nicht mehr bedarf und z-um normal brauch¬
baren Bestandteil der theoretischen oder praktischen Sphäre wird. Im
Ästhetischen dagegen gehen die Impulse des schöpferischen ganzen Menschen
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 659
loscht, so kann keine Erfüllung der anderen gleichen, jede muß nicht nur fak¬
tisch-empirisch, sondern auch in wertbestimmender Weise einen solchen per¬
sönlichen Charakter haben.
Wenn nun durch diese Gebundenheit des künstlerischen Prinzips an die im
Werk verkörperte Individualität nicht ein völliger Nihilismus entstehen soll,
nicht die Anarchie einer kriteriumslosen Gleichheit jeder beliebigen Persön-
lichkeitsaußerung, muß als Maßstab, als Prinzip der ästhetischen Rangord¬
nung die Erfüllung der Postulate der jeweiligen Kunstart (und in ihnen der
Kunst im allgemeinen) theoretisch gesichert sein. Dann aber kann das Maß
des Erreichens oder Scheiterns nur darin gesucht und gefunden werden, ob
und wieweit eine solche im Werk verkörperte Emanation einer Persönlichkeit
diese Postulate erhöht oder senkt, vertieft oder verflacht, verbreitert oder ver¬
engt etc. Die Notwendigkeit einer solchen Konzeption, die die Gesetze einer
Kunstart (und in Ihnen die der Kunst überhaupt) mit dem Ausdruck der
schöpferischen Persönlichkeit in Verbindung setzt, hat die vielfältigsten Wur¬
zeln. Hier zeigt sie sich vom eben angedeuteten Aspekt; ihre stärkste Basis ist
jedoch der mimetische Grundcharakter einer jeden Kunst. Auch die Gesetze
der Kunstart und mit ihnen diese selbst würden einer schrankenlosen Willkür
anheimfallen, wären sie nicht notwendige Vermittlungen dazu: die Welt der
Menschheit von einem bestimmten und für diese wesentlichen Standort aus
möglichst adäquat zu erfassen. Und diese Basis verliert sogleidi ihre Abstrakt¬
heit (und mit ihr die Reste einer dogmatischen Willkür, die sie in einer
bloß abstrakten Fassung noch an sich trägt), wenn ihrer Geschichtlichkeit
gedacht wird, nämlich der Tatsache, daß jede Konkretisierung des homo¬
genen Mediums nicht nur die Individualität des Schöpfers verwirklicht
und erlebbar macht, sondern uno actu auch das gegebene historische Ent¬
wicklungsstadium der Menschheit (und in diesem den Standpunkt einer
Klasse, einer Nation etc.) sowie jenen sich in den Gesetzen der betreffenden
Kunstart objektivierenden Ausblick, der dazu geeignet macht, von hier
aus bestimmte Momente der Wirklichkeit in bezug auf den Menschen
und die Entwicklung der Menschengattung vollständiger und tiefschürfender
zu erhellen, als es der ganze Mensch in seinem Alltagsdenken zu tun be¬
fähigt ist.
Diese Betrachtungen leiten dazu an, das Verhältnis des ganzen Menschen
zum »Menschen ganz« genauer ins Auge zu fassen. Dazu wäre zuallererst zu
sagen, daß es sich dabei nicht um eine Wendung nach innen, nicht um eine
einseitige Steigerung der Innerlichkeit handelt, nicht einmal bei einem Genre
wie der Lyrik, wie dies in den modernen Theorien so gerne behauptet wird.
662 Die eigene Welt der Kunstwerke
Zweitens erlaube ich mir zur kurzen theoretischen Illustrierung der Sachlage,
der Richtung in der Fragestellung und Beantwortung, die Schlußsätze eines
freilich ebenfalls kursorischen Versudis, das Wesen der Widerspiegelung in
der Lyrik zu formulieren, hier anzuführen: das Spezifische der lyrischen
Form besteht dann, daß in ihr der Prozeß der Widerspiegelung »auch künst¬
lerisch als Prozeß in Erscheinung tritt; die gestaltete Wirklichkeit entwickelt
sich vor uns gewissermaßen in statu nascendi, während die Formen der Epik
und Dramatik - ebenfalls auf Grundlage der Wirksamkeit der subjektiven
Dialektik - bloß die objektive Dialektik von Erscheinung und Wesen in der
dichterisch widergespiegelten Wirklichkeit darstellen. Was in Epik und Dra¬
matik als natura naturata in ihrer objektiv dialektischen Bewegtheit entwik-
kelt wird, gebiert sich in der Lyrik vor uns als natura naturans 1«.
Damit ist jedoch bloß eine negative Abgrenzung erreicht, wenn auch frei¬
lich eine wichtige. Denn die hier vollzogene Ablehnung der rein in sich ge¬
kehrten Innerlichkeit als einer Repräsentanz des ganzen Menschen und als
Grundlage zu seiner Umwandlung in den »Menschen ganz« der ästhetischen
Sphäre ist auch in ihrer Negativität insofern richtungweisend, als sie er¬
neut die Weltverbundenhait, die Verwurzeltheit in der Welt zur Vorausset¬
zung des Weltschaffens der Kunst macht. Die modischen Verherrlichungen der
Introversion übersehen nämlich, daß das von ihnen Erstrebte, die Intensivie¬
rung der menschlichen Innerlichkeit, geradezu einen diametralen Gegensatz
zur wirklichen, zur pathologischen Introversion bildet. Der Punkt der Ver¬
wechslung liegt darin, daß diesen modernen Tendenzen objektiv eine Oppo¬
sition gegen bestimmte gesellschaftliche Tendenzen des entwickelten Kapita¬
lismus zugrunde liegt. Diese Wendung nach innen ist mithin der Ausdruck
des Ablehnens konkreter gesellschaftlicher Konstellationen oder Tatsachen,
auch dann, wenn diese im subjektiven Bewußtsein zu einem ewig mensch¬
lichen Verhältnis zwischen Innerlichkeit und Außenwelt mystifiziert werden.
tion ein perennierender. Besser gesagt: dem Menschen ganz eignet gerade jene
Verhaltensart, die aus der Einbeziehung aller Fähigkeiten, Empfindungen,
Kenntnisse, Erfahrungen etc. in die Konzentration auf das homogene Me¬
dium einer jeweiligen Kunstart entspringt. Während also im Alltagsleben
der ganze Mensch seine Einheit und Ganzheit der Tendenz nach bewahrt,
auch wenn er seine eigenen Kräfte den verschiedensten Lebensaufgaben ent¬
sprechend in verschiedenster Weise einsetzt (bzw. in Reserve hält), verwirk¬
licht sich der Mensch ganz immer nur in bezug auf das homogene Medium
einer bestimmten Kunstart. Die Berechtigung eines solchen Verhaltens ist
darin begründet, daß mit seiner Hilfe dieselbe Wirklichkeit, mit der der
Mensch sich in allen seinen Lebensäußerungen auseinanderzusetzen hat, letz¬
ten Endes um dieser vielfach differenzierten Gesamtpraxis willen wider¬
gespiegelt wird, daß jedoch durch die Umstellung auf diese Art des Verhal¬
tens zur Welt neue, wichtige Züge und Zusammenhänge in die Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit eintreten, die für den ganzen Menschen des Alltags
ohne sie unerreichbar geblieben wären.
Diese Fruchtbarkeit des homogenen Mediums, vermittelt durch den darauf
gerichteten Menschen ganz, zeigt sich in einer Reihe von bewegenden Wider¬
sprüchen, die hier das produktive Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt
konstituieren. Der erste Komplex der Widersprüche ist uns bereits bekannt,
erscheint jetzt nur in einer konkreteren Gestalt als bisher. Jedes homogene
Medium entsteht aus dem Bedürfnis der Menschen, die für sie objektiv ge¬
gebene Welt, die zugleich die Welt ihrer Freuden und Leiden, vor allem aber
die Welt ihrer Tätigkeit, des Ausbaus ihres eigenen Innenlebens und ihrer
Wirklichkeitsbewältigung ist, von einem bestimmten wesentlichen Gesichts¬
punkt aus näher und konkreter, intensiver und tiefer, umfassender und de¬
taillierter zu ergreifen, als dies für das Alltagsleben möglich ist, und sich ihr
von einer Problematik aus anzunähern, an der die desanthropomorphisie-
rende Widerspiegelung methodologisch notwendig Vorbeigehen muß. Natür¬
lich umreißt diese Bestimmung den Zustand einer bereits vollzogenen Diffe¬
renzierung der menschlichen Verhaltensarten zu der ihnen gemeinsam gegen¬
überstehenden Wirklichkeit. Da wir jedoch die spontanen Tendenzen, die in
der Periode der magisch-undifferenzierten Einheit zur ästhetischen Setzung
drängten, bereits geschildert haben, da die historische Beziehung der Kunst
zur Religion in einem eigenen Kapitel behandelt wird, ist es hier nicht nötig,
diese Lage historisch weiter zu differenzieren. Entscheidend ist, vom
neuen Blickpunkt aus, auf die große historische Stabilität dieser Ver¬
haltensarten und der in ihrer Folge entstandenen homogenen Medien hinzu-
666
Die eigene Welt der Kunstwerke
weisen. Natürlich unterscheidet sich die Lyrik Rimbauds qualitativ von der
Sapphos, das Malerische bei Cezanne von dem der chinesischen Landschaf¬
ten etc., trotzdem wird jede unbefangene, nicht durch überspannten Historis¬
mus irregeführte Anschauung diese allgemeine Gemeinsamkeit des jeweili¬
gen homogenen Mediums und seiner Gesetze spontan feststellen. (Daß die
historische Entwicklung eine ununterbrochene Bereicherung, freilich in wider-
spruchsvoll-ungleichmäßiger Weise, hervorbringt, versteht sich für uns bereits
von selbst.) Die Hingabe des Menschen ganz an sein jeweiliges homogenes
Medium hat also einen solchen fruchtbaren Widerspruch zur Folge: einer¬
seits entsteht in dieser Subjekt-Objekt-Beziehung ein gewaltiges Vehikel zur
Eroberung der Wirklichkeit. Dinge, Beziehungen, Verhältnisse etc. werden
sichtbar - um beim Exempel der Malerei zu bleiben -, die vorher niemand
wahrgenommen hätte. Und indem diese Entdeckungen, langsamer oder ra¬
scher zum Gemeingut der Menschen werden, verbreitert und vertieft sich für
sie die Welt, in der sie leben und wirken. Die Möglichkeit der Entdeckung er-
wädrst aus dieser Subjekt-Objekt-Beziehung, aus der Konzentration auf
einen bestimmten Weg der Weltauffassung, aus der radikalen Ausschaltung
aller Abzweigungen und Ablenkungen, denen der ganze Mensch im Alltag
ununterbrochen ausgesetzt, ja preisgegeben ist. Es ist sicher nicht notwendig,
diese Feststellung durch Beispiele zu belegen; jeder weiß, was die Periode der
Renaissance für die Entdeckung der Struktur und Bewegtheit des mensch¬
lichen Körpers, das 19. Jahrhundert für die Beziehung von Licht und Farbe
der Dinge bedeutet. Ihren unerschöpflichen künstlerischen Reichtum mag
die Erinnerung Condivis an Michelangelo illustrieren: »Obwohl er aber so
viele tausend Gestalten malte, wie wir sie sehen, hat er doch nie eine ge¬
macht, die der anderen ähnlich wäre oder die gleiche Bewegung machte. Im
Gegenteil, ich habe ihn sagen hören, er ziehe nie eine Linie, ohne sich zu ver¬
gegenwärtigen, ob er sie schon je so zog, in welchem Falle er sie dann wieder
auslöscht, wenn die Arbeit für die Öffentlichkeit bestimmt ist1.«
Diese Tendenzen wurden zuweilen allzu nahe zu den wissenschaftlichen ge¬
sehen; verständlicherweise, denn die wissenschaftlichen Anstrengungen von
Renaissance-Künstlern wie Piero della Francesca oder Leonardo, sind allge¬
mein bekannt, aber trotzdem ihren künstlerischen Produkten nicht adäquat.
Denn jede künstlerische Entdeckung hat, auch wenn sie abstrakt-inhaltlich mit
den wissenschaftlichen Ergebnissen konvergiert, etwas spezifisch darüber Hin-
ausgehendes und gerade dies macht aus dem bloßen Wahrnehmen einer bisher
noch nicht beobachteten Tatsache eine künstlerische Neuerung. Die entschei¬
dende inhaltliche Seite dieser Konstellation ist sehr verwidtelt; der Gehalt sol¬
cher Entdeckungen reicht von neuen Aufhellungen der Seele des Menschen bis
zum Erblicken neuer Wege der Menschheitsentwicklung. Schon unsere bisheri¬
gen Betrachtungen haben diese Vielfalt, diese Vielschichtigkeit des öfteren ge¬
streift und auch die jetzt folgenden werden wiederholt diesen Komplex auf¬
greifen. Darum mag ein einziger Hinweis genügen, um den gesellschaftlich-ge¬
schichtlichen, auf den Menschen bezogenen Gehalt unmittelbar als rein künst¬
lerisch erscheinender Neuerungen etwas zu verdeutlichen. Natürlich ist das
auch bei dem Bewegungsreichtum Michelangelos ohne weiteres einleuchtend.
Es sei aber gestattet, eine Beobachtung R. M. Rilkes über die Stilleben von Ce-
zanne anzuführen. Er sah zusammen mit Emil Preetorius eines seiner Apfelstil¬
leben: »Rilke betrachtete die großartige Malerei lange versonnen und bemerkte
dann unvermittelt: aber essen könne man diese Äpfel nicht mehr. Auf meine
scherzhafte Frage, ob man überhaupt ölfarbene Äpfel essen könne, antwortete
er leise wie immer, aber dennoch bestimmt, ernst und ohne Zögern: die von Char¬
din gewiß, auch noch die von Manet, aber bei Cezanne sei’s damit zu Ende E«
Die im ersten Augenblick grotesk und abwegig scheinende Bemerkung Rilkes
wirft ein grelles Licht auf die ganze gesellschaftlich-geschichtliche Proble¬
matik, die bei dem großen Künstler Cezanne das Ringen um Neues um¬
gibt: auf seine Versuche, sowohl alle subjektivistischen Tendenzen wie jene,
die zu einer Auflösung der Bildeinheit bei seinen bedeutendsten Zeitgenos¬
sen führen, zu vermeiden. Sie beleuchtet Cezannes tragischen Sisyphuskampf,
den Gegenstand zugleich naturwahrer und komponierter zu erfassen, als es
jenen infolge ihrer Vision und Methode möglich war. Rilke weist mit seiner
scheinnaiven Beobachtung auf die historische Sackgasse, die Cezanne tragisch¬
vergeblich in einen breiten Weg zu verwandeln versuchte: auf die Entfernung
von der Menschlichkeit, die ihm durch die Zeit aufgezwungen wurde, auf die
Anfänge einer unmenschlichen Kunst, die er in solchen subjektiv tief humani¬
stischen inneren Kämpfen sehr gegen seinen Willen initiierte. So ist bei jeder
Entdeckung, die der Mensch ganz in Hingabe an das homogene Medium seiner
Kunst vollbringt, gleichzeitig und untrennbar etwas Neuentdecktes in der ob¬
jektiven Wirklichkeit selbst enthalten, die die gegenständliche Umwelt des
Menschen bildet, und in den Beziehungen der Menschen zu ihr. Diese dialek-
III Das homogene Medium und der Pluralismus der ästhetischen Sphäre
Wir haben bisher schon sehen können, in welcher besonderen Richtung die
ästhetische Widerspiegelung über die hier festgestellte — und in ihrer Praxis
festgehaltene — Gemeinsamkeit hinausgeht. Der entscheidende Gehalt dieser
Leben selbst prinzipiell nicht Vorkommen kann, und was doch das Aller¬
wesentlichste über das Leben aussagt. Hier wird - beiläufig bemerkt - wie¬
der sichtbar, daß die ästhetische Widerspiegelung nichts mit einer mechani¬
schen Photokopie zu tun haben kann. In der Musik ist die eben beschriebene
Lage am augenfälligsten: das Sich-Aufeinander-Beziehen der Töne, die Nega¬
tion als eigene Negation jeder konkreten Bestimmung, kann nur auf diesem
Prinzip aufgebaut sein, und die Musik müßte unweigerlich zum bloßen Ge¬
räusch, ja zum Lärm herabsinken, wenn in ihr ein Bruch mit dieser
Alleinherrschaft des Wesentlichen, mit dieser strengen und ausschließlich Auf-
einanderbezogenheit der Wesenheiten vollzogen wäre. Es ist kein Zufall, daß
Hegel bei der Behandlung der Dialektik Heraklits, auf Einwände dagegen
antwortend, an das Wesen der musikalischen Harmonie appelliert. Gegen den
Eryximachos des Platonischen »Symposion«, der die Harmonie als flache
Homogeneität ohne Negation und Widerspruch auffaßt, führt er aus: »Das
Einfache, die Wiederholung des einen Tones ist keine Harmonie. Zur Har¬
monie gehört der Unterschied; es muß wesentlich, schlechthin ein Unterschied
sein. Diese Harmonie ist eben das absolute Werden, Verändern - nicht
Anderswerden, jetzt dieses und dann ein Anderes. Das Wesentliche ist, daß
jedes Verschiedene, Besondere verschieden ist von einem Anderen, - aber
nicht abstrakt irgendeinem Anderen, sondern seinem Anderen; jedes ist nur,
insofern kein Anderes an sich in seinem Begriffe enthalten ist. .. So auch bei
den Tönen; sie müssen verschieden sein, aber so, daß sie auch einig sein
können, - und dies sind die Töne an sich. Zur Harmonie gehört bestimmter
Gegensatz, sein Entgegengesetztes, wie bei der Farbenharmonie 1.«
In einem bestimmten Sinne könnte man freilich sagen, daß die Zuspitzung
dieses Problems auf die eigene Negativität - eben bloß eine Zuspitzung ist.
Das ist im striktesten Sinne des Wortes auch richtig. Es handelt sich jedoch
um die Zuspitzung von real wirksamen Tendenzen. So wie in der wissen¬
schaftlichen Widerspiegelung (ebenfalls eine bedeutende Entdeckung Hegels)
vom einfachen Unterschied eine ununterbrochene Steigerung, freilich mit
qualitativen Sprüngen, zum Widerspruch und zum Gegensatz führt, so auch
im Ästhetischen von der Nuance zum Kontrast. Mfit der Feststellung der tie¬
fen Zusammengehörigkeit auch des Gegensätzlichsten ist also für unser jetzi¬
ges Problem auch die letzthinnige Homogeneität des weniger Entfernten be¬
antwortet. Daß es sich dabei um ein universelles Prinzip einer jeden Kunstge-
staltung handelt, hat, soviel ich weiß, als erster mein jung verstorbener Freund
Leo Popper ausgesprochen. Bei der Analyse der Gestaltungsart Pieter Brueg-
hels des Älteren, spricht er von der Rolle des Zusammenwirkens von fester
Körperlichkeit und Luft, »die den Körper gegen die Welt abschließt... und
die ihn doch wieder ganz tief der Welt vermählt. Aber mit der Kraft, mit
dei diese Körper die Luft in sich einverleiben, zogen sie auch einander an,
aßen einander, verdauten und aßen einander wieder, bis sie wie ein Stoff
wurden, und alle einander verwandt. Die Blume hatte etwas vom Wasser,
das Wasser von der Straße, das Erz vom Himmel, und nichts war, das nicht
wie von allen gewesen wäre. So entstand der Urstoff dieser Malerei. Ganz
homogen, ganz aus den Dingen gefertigt und doch zuletzt wie ein Stück des
Stoffes, aus dem der Maler selbst gemacht war. Jede Malerei gab seit jeher
statt der Mannigfaltigkeit der Stoffe, die alle verschieden schwer sind, ein be¬
sonderes Material von einheitlichem spezifischem Gewicht; einen leichten oder
schweren Stoff, dem unfreiwillig die mystische Rolle zufiel, zu einen, was
Gott getrennt hatte, der aber, wenn er schön war, in tiefstem Ernst dieser
Aufgabe gerecht werden und als ein >Allteig< alle Stoffe ausdrücken
durfte 1«.
Leo Popper beschreibt hier richtig und pittoresk eine Grundtatsache der
Kunst. Denn es ist ohne weiteres klar - wir werden darauf noch zurück¬
kommen -, daß in diesem »Allteig« die Differenzen des Stoffes weder der
Intention, noch dem Resultat nach, spurlos untergegangen sind. Im Gegen¬
teil: diese ihre letzthinnige Homogeneität hebt die Unterschiede bis hinauf
zur Gegensätzlichkeit nicht auf, sie macht bloß eine ganz tiefe Verwandtschaft,
eine innige Zusammengehörigkeit des im Leben Fremdesten sinnfällig evi¬
dent und schafft damit für alle in einem Werk gestalteten Beziehungen bis
zum tragischen Dramatismus eine einheitliche Atmosphäre, die den Gegen¬
ständen nicht äußerlich ist und sie nicht gleichgültig umgibt, sondern die
eigentliche Schicksalsatmosphäre ihres Geradesoseins, ihres innersten Wesens
zur Anschauung bringt. Gerade die größte und echteste Kunst offenbart diese
Spannung zwischen höchster Einheit und höchster Verschiedenheit, wobei das
Aufrechterhalten der letzthinnigen Homogeneität des energisch Divergieren¬
den künstlerisch das übergreifende Moment bleibt. Der Reichtum der Shake-
spearschen Welt an verschiedenartigsten Menschen ist zum Gemeinplatz
1 Leo Popper: Pieter Brueghel der Ältere, Kunst und Künstler, Jg. VIII. Berlin
1910, S. 600.
6/4 Die eigene Welt der Kunstwerke
geworden. Aber gerade die Tiefe seiner Tragik wäre unvorstellbar, wenn hin¬
ter dieser Mannigfaltigkeit nicht eine solche Homogeneität transparent durch¬
schiene, eine Homogeneität, die aus der Gegensätzlichkeit von Othello,
Desdemona und Jago etwas aufeinander Abgestimmtes, etwas untrenn¬
bar Vereintes macht, eine Homogeneität der unendlichen Vielfältigkeit,
die der Einheit des Mannigfaltigen in der erkenntnismäßigen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit ästhetisch -entspricht.
Die Einheitlichkeit, die so entsteht - die innigste und organischste, die das
menschliche Bewußtsein kennt -, ist, wie hier sichtbar wurde, an sich wider¬
spruchsvollen Charakters, eine Einheit von sich ausschließenden Gegensätzen,
deren Gegensätzlichkeit in ihr aufbewahrt bleibt. Diese ihre objektive Be¬
schaffenheit hat zur notwendigen Folge, daß der subjektiv-schöpferische
Prozeß, der sie hervorbringt, ebenfalls widersprüchlich sein muß. Diese sub¬
jektive Seite der Widersprüchlichkeit taucht gerade -bei der Homogeneität des
Mediums der Kunstart (des Kunstwerks) am deutlichsten auf. Wir zitierten
Leo Poppers ausgezeichnete Beschreibung vom Fazit des Schaffensprozesses in
Brueghels Werk. Popper sieht klar, daß dieses Ergebnis - auch im Fall der
großen künstlerischen Bewußtheit Brueghels - unmöglich der Gegenstand
seiner Absicht sein konnte, sondern geradezu aus deren Scheitern entstand.
Er schreibt wieder richtig: »woran der Maler dachte, war gerade das Gegen¬
teil, war ein ganz freies Eingehen auf die Art der einzelnen Stoffe. Wir sehen,
wie Haare, Schnee, Samt und Holz mit größter Liebe in ihrer eigenen Weise
verstanden sind, und wie alles geschieht, um ihnen einzeln gerecht zu wer¬
den. Aber wir sehen auch, daß alles vergebens ist, weil die Luft und das
eigene Material der Malerei, die Farbe, -eine Einheit schafft, die alle letzten
Unterschiede ertränkt.« So entsteht die unvergleichliche Größe dieser Male¬
rei aus einem unlösbaren Widerspruch. Leo Popper faßt das Prinzip der
letzten Einheit ebenfalls richtig so zusammen: »Und nie hätte der Maler es
erreicht, ohne diese hoffnungslose Absicht: das Eigenste wiederzugeben 1.«
Der Fall Brueghels ist natürlich ein besonderer und eigenartiger. Nichts
wäre irreführender, als eine hier gewonnene Einsicht ohne weiteres auf
andere große Künstler, auf die Beziehung ihrer Intentionen und Werkvoll¬
endungen anzuwenden. Denn infolge der Vielfältigkeit der Subjektver¬
hältnisse zur Welt und zur Kunst; infolge ihrer Niveauunterschiede von
bloßer Partikularität -bis zum Selbstbewußtsein des Menschengesdilechts;
1 Ebd. S. 600 f.
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 67$
infolge der prinzipiellen Pluralität der Künste, die naturgemäß nicht bloß
eine der Form oder gar des Materials, des Stoffes ist, sondern unabtrennbar
von deren spezifischen Gesetzlichkeiten auch als die des künstlerischen Ge¬
halts, der Weltanschauung, der Form wirkt; infolge der gesellschaftlich-ge¬
schichtlichen Bedingtheit einer jeden künstlerischen Setzung, die ihre eigene
historische Genesis und deren Bedeutung für die Entwicklung des Menschen¬
geschlechts in die Werkvollendung mit sich nimmt: entsteht in jedem bedeut¬
samen Werk eine eigenartige und einzigartige Einheit der bestimmten — der
jeweils wichtigsten - Gegensätze. Und es ist nach dem bisher Ausgeführten
evident, daß das künstlerisdie synthetische Prinzip, daß diese Einheit und
Aufhebung der Widersprüche — auch im Sinne des Aufbewahrens und des
Erhebens auf höheres Niveau —, daß eben das homogene Medium der einzel¬
nen Kunstarten jeweils in der persönlichen Qualität der einzelnen Werke ver¬
körpert sein muß.
In dieser Lage zeigt sich der schrankenlose Pluralismus der ästhetischen
Sphäre. Das bedeutet freilich nicht, daß allgemeine Bestimmungen für das
ganze Gebiet fehlen, nur muß bei ihrer Anwendung auf eine Kunstart
oder gar auf eine Werkindividualität dieser pluralistische Charakter immer
die Grundlage bilden. So jetzt bei der Beziehung der schöpferischen Sub¬
jektivität zum homogenen Medium. Jene Diskrepanz zwischen Absicht und
Erreichtem, auf die wir Leo Popper folgend aufmerksam gemacht haben, ist
ein allgemeines Phänomen eines jeden künstlerischen Schaffens, in welchem
die Objektivität, die objektive Gesetzlichkeit der Kunstarten (der Kunst)
dem individuellen Willen gegenüber zur Geltung gelangt. Die Kehrseite, das
Scheitern im wörtlichen Sinne des Wortes überall dort, wo ein Bestreben
- und sei es menschlich, ethisch, gesellschaftlich etc. noch so hochstehend und
achtenswert - wegen seines antikünstlerischen Wesens oder seiner antikünst¬
lerischen Komponenten etwas hervorbringt, das ganz oder teilweise aus dem
Bereich des Ästhetischen herausfällt, ist allgemein bekannt. Auch dabei han¬
delt es sich um die Beziehung der schaffenden Subjektivität zu den Gesetzen
der Kunstart (der Kunst). Es entsteht aber das einfache Verhältnis von un¬
zureichender Begabung, von falschen Intentionen etc. zur ästhetischen Ob¬
jektivität, weshalb auch solche Fehlleistungen sich nicht prinzipiell von denen
des Alltagslebens und der Wissenschaft unterscheiden. Anders im ersten hier
behandelten Fall. Natürlich ist die schon von Hegel ausführlich analysierte
Lage wohlbekannt, daß das gesellschaftlich-geschichtliche Handeln der Men¬
schen anderes, oft mehr und qualitativ Höherstehendes hervorbringt, als in
den bewußten Zielsetzungen enthalten war, und es ist ebenso selbstverständ-
6y6 Die eigene Welt der Kunstwerke
lieh, daß diesem Verhältnis objektive Gesetze des sozialen Werdens zugrunde
liegen. Abstrakt angesehen kommt also dem Ästhetischen keine Sonderstel¬
lung zu. Jedoch schon von der Subjektseite her zeigt sich der nicht un¬
wesentliche Unterschied, daß die hier in Wirksamkeit tretende »List der
Vernunft«, um Hegels Ausdruck zu gebrauchen, stets eine Reinigung und
Erhöhung der Subjektivität zur Folge hat, was in den parallelen Lebens¬
erscheinungen keineswegs zum Wesen des Geschehens gehört, obwohl es
natürlich ausnahmsweise, vom historischen Standpunkt zufällig, Vorkom¬
men kann.
Diese Erhöhung ist vor allem das Abstreifen dessen, was an der Persönlich¬
keit bloß partikular ist, jedoch ohne daß deshalb der Weg zur Überwin¬
dung des Persönlichen eingeschlagen würde. Im Gegenteil: es zeigt sich, daß
gerade dieses Wegfallen partikularer Velleitäten den Kern der Indivi¬
dualität stärker herausarbeitet, plastischer macht. Der so einsetzende Prozeß
des Ablegens von Vorurteilen, von zur Routine gewordenen Einsichten oder
Gefühlen, von Gedanken und Empfindungen, die man nur hegen kann, wenn
man nicht gewillt ist, -sie zu Ende zu führen etc.: das alles entsteht aus dem
Widerstand des homogenen Mediums gegen Halbheiten, gegen Erstarrtes. Es
ist ein Scheidewasser: das Gesunde entfaltet sich in ihm, lebt zu einer im
voraus ungeahnten Intensität empor, das Kranke stirbt ab, verschwindet. Je¬
doch all dies soll man nicht als einen Zusammenstoß zwischen Ich und ich-
fremder Außenwelt auffassen. Eine Wechselbeziehung zwischen Schaffendem
und homogenem Medium ist nur dadurch möglich, daß dem Konflikt, der
Unfähigkeit, etwas Beabsichtigtes diesem Medium gegenüber durchzusetz-en,
ein Appell an eine tiefere und umfassendere Schicht in der Persönlichkeit
selbst innewohnt. Die Dialektik von Absicht und Ergebnis ist die von Wider¬
sprüchen bewegte Aufwärtsbewegung der schöpferischen Individualität selbst.
Auch in einem so bedeutenden Beispiel wie dem eben angeführten Brueghels.
Was er wollte, ist bereits -eine hohe Abart des echten Erfassens der Gegen¬
ständlichkeit; indem er jedoch daran scheiterte, entstand ein seltenes Pa¬
radigma des tiefsten weltanschaulichen Ausdrucks, zu dem die Malerei über¬
haupt fähig ist: das Paradigma der auf den Menschen bezogenen und doch
objektiven, in den Dingen fundierten Einheit der Welt. In dieser Einheit
wird alles freudig Bunte und lässig Zufällige der unmittelbarsten Erschei¬
nungswirklichkeit aufbewahrt; sie muß nicht um dieser Einheitlichkeit wil¬
len von der Seele durchdrungen zu einem Stoff des Seelisch-Moralischen ver¬
dichtet werden, wie bei Rembrandt. Und dennoch ist ihre Einheitlichkeit
kein Erstes, kein Anfang, nicht ein bloßes Bilderbuch der Oberfläche, sondern
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 677
ein Oberflächewerden von wesentlichsten Kräften und Bezügen, das die naive
Lebenslust ebenso zur Sache der Menschheit machen kann wie Rembrandt die
endlose Kette der tiefsten und fürchterlichsten Tragödien.
Diese Erhöhung des Subjekts ist ethisch gesehen der Weg von der Begabtheit
zur Genialität, von origineller Talentiertheit zur bleibenden Festlegung einer
Etappe der Menschheitsentwicklung. Während aber der Widerspruch zwi¬
schen Absicht und Ergebnis ein allgemein anerkannter Tatbestand ist, wird
die Bewegung nach oben sehr oft von romantischen Mythen verzerrt. Die
Ursache ist leicht einzusehen. Da die echten Gipfel der Kunst wichtige Mo¬
mente des Ganges der Menschengattung offenbaren, muß die Überzeugung von
diesem Wege vorhanden sein, um die Richtung, die hierher führt, als Aufstieg
zu begreifen; wo diese Einsicht fehlt, muß der Widerspruch - romantisch -
als abstrakter und in der Abstraktheit krasse und gräßliche Dissonanzen aus¬
lösender aufgefaßt werden. Es ist sicher kein Zufall, daß dieser Betrachtungs¬
weise der Kunst bei Kierkegaard ihren stärksten Ausdruck erhalten hat. Er
sagt: »Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in
seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber laute Seufzer entströmen, die dem
fremden Ohr wie schöne Musik ertönen. Es geht ihm, wie einst jenen Un¬
glücklichen, die in Phalaris’ Stier durch ein matt brennendes Feuer langsam
gemartert wurden und deren Schreie nicht bis zu den Ohren des Tyrannen
dringen konnte, ihn zu erschrecken, ihm klangen sie wie heitere Musik. Und
die Menschen umschwirren den Dichter und sprechen zu ihm: Sing uns bald
wieder ein Lied, das heißt, mögen neue Leiden deine Seele martern, und mö¬
gen deine Lippen bleiben, wie sie bisher gewesen; dein Schreien würde uns
nur ängstigen, aber die Musik, ja, die ist lieblich. Und die Rezensenten treten
herzu und sprechen: So ist’s recht; so muß es nach den Regeln der Ästhetik
gehen b« Darin sind eigentlich schon alle Themen eines sich als unmensch¬
lich empfindenden Zeitalters gedanklich vorweggenommen. Nur daß Kierke¬
gaards konkreter eigener Kunstgeschmack an die »Kunstperiode«, an Klas¬
sik und Romantik gebunden bleibt. Indem er aber die reale und darum
fruchtbringende Widersprüchlichkeit zwischen subjektiv intentioniertem und
im Werk objektiviertem Ausdruck in einen starren, unüberbrückbaren Gegen¬
satz verwandelt, wird bei ihm die dialektische Genesis der Kunstwerke zu
einem irrationalistischen Mythos des Abgrunds, das Ästhetische am Werk zu
einem vernunftwidrigen Rätsel.
Die widerspruchsvolle Bewegung nach oben, die wir betrachtet haben, führt
zum wirkenden Werk, sie kann aber nur dann als sinnvoll begriffen werden,
wenn das Werk selbst und seine Wirkung in der Totalität der menschlichen
Betätigungen, in der Entwicklungslinie der Menschengattung eine sinnvolle
Stelle einnimmt. Das wird in diesen Betrachtungen ununterbrochen voraus¬
gesetzt, als Tatsache erkannt und anerkannt und zugleich ebenso ununter¬
brochen gedanklich nachzuweisen versucht. Darum können wir uns jetzt da¬
mit begnügen, die Auffassung Kierkegaards als Symptom einer einflußreichen
Tendenz einfach zu registrieren, und können uns dem eigentlichen Problem
des homogenen Mediums wieder zuwenden. Diesmal aber betrachten wir es
nicht mehr als Ziel subjektiver Bestrebungen und als Gegenstand ihrer inne¬
ren Dialektik, sondern so wie es objektiv in seinen, auf welchen Wegen im¬
mer erreichten, totalen oder partiellen Vollendungen in Wirksamkeit tritt.
Will man hier aus Sein und Funktion des jedem Werk zugrunde liegenden
homogenen Mediums sein Wesen ganz allgemein bestimmen, so kommt man
zu dem Begriff des Leitens. Ein Kunstwerk kann als solches nur dann aner¬
kannt werden, wenn es permanent die Möglichkeit in sich birgt, den Rezep¬
tiven zu seiner Aufnahme anzuleiten. L’art pour l’art-Tendenzen kürzlich
vergangener Jahrzehnte zeigten allerdings eine Tendenz: die objektiv
daseiende »Schönheit« (ästhetische Beschaffenheit) der Werke unabhängig
von jeder Wirkung zu setzen. Dahinter steckt eine - weitgehend subjektiv
verständliche, ja berechtigte - Ablehnung der zeitgenössischen Durchschnitts¬
beurteilung; die Größe Michelangelos oder Beethovens soll nicht vom Ge¬
schmacksurteil des Philisters X oder Y abhängig sein. So berechtigt solche
Gefühle auch sein mögen, ihre Begründung ist doch auf schwache Analogien
gestützt. Denn unbewußt schwebt solchen Gedankengängen das Beispiel der
wissenschaftlichen Wahrheiten vor. Wenn jedoch gesagt wird, die Wahrheit
etwa der Kopernikanischen Theorie sei unabhängig davon, ob und wann sie
anerkannt wurde, so ist damit objektiv gemeint, daß die Erde sich wirk¬
lich um die Sonne dreht, unabhängig davon, ob die Menschen diesen Tat¬
bestand wahrnehmen oder erkennen. Die Begründung der Objektivität
im Ästhetischen kann aber nicht mit solchen Argumenten operieren. Die
Beziehung, sagen wir, einer Tizianischen Venus zu der in ihr widergespie-
geiten Wirklichkeit läßt sich mit dem Verhältnis des Abbilds zum Original
im Kopernikanischen Beispiel nicht vergleichen. Diese Theorie ist wissen¬
schaftlich wahr, weil sie in großer Annäherung ein Ansichseiendes in ein
Füruns verwandelt hat. Jene ist eine Verwirklichung der ästhetischen Prinzi¬
pien, weil die Art, wie sie die Wirklichkeit widerspiegelt, als Totalität der
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 679
geformten Ausdruck faßt und damit die Funktion der Form zu etwas wirklich
Nützlichem, jedoch letzten Endes Sekundärem herabsetzt. Indessen ist es
evident - und auch Brechts Praxis geht im wesentlichen diesen Weg daß
der künstlerische Ausdruck vom ästhetischen Gehalt untrennbar ist. Selbst
dort, wo dieser tief gedanklicher Art ist wie in den philosophischen Gedich¬
ten Goethes oder Schillers, wie in der Malerei des späten Rembrandt usw.
können wir - im ästhetischen Sinn - keine derartige Trennung vollziehen.
Gerade jene Worte, gerade jene Verhältnisse von Licht und Dunkel machen
auch die gedankliche Tiefe solcher ästhetischen Gebilde aus. Die Änderung
einer Wortfolge, die Verschiebung einer Valeurnuance würde hier genügen,
um aus der Tiefe eine Trivialität zu machen. Während der Gehalt der Theo¬
rien Galileis oder Einsteins durch größere oder geringere Prägnanz ihrer For¬
mulierungen, durch Vereinfachung oder Komplizierung ihrer Ableitungen
nur dann gewinnt oder verliert, wenn hierdurch seine Annäherung an den
vom Bewußtsein unabhängigen, an sich seienden Tatbestand modifiziert
wird. Der Gehalt eines ästhetischen Gebildes - auch wenn er wesentlich
gedanklicher Art ist - besteht nicht nur in einer solchen Bezogenheit
auf das Ansich, obwohl natürlich diese ein wesentliches Moment seiner
Totalität bildet, sondern ist zugleich und untrennbar davon eine persönliche
Stellungnahme zu diesem Widerspiegelungskomplex. Die in ihr enthaltene
tragische Erschütterung, optimistische Gläubigkeit, ironische Kritik etc. hat
keine geringere Bedeutsamkeit als der Gedankengehalt selbst. Damit ist die
Objektivität nicht aufgehoben, sie erhält nur einen neuen Akzent: es
kommt darauf an, welches Gewicht der Gehalt und die Stellungnahme zu
ihm für die Entwicklung der Menschheit besitzt und wie beide zum Besitz
des Menschengeschlechts werden können.
Dadurch erwächst das Wirken zu einem objektiven und zentralen Wesens¬
zeichen des Werks; ja, unmittelbar und darum abstrahierend betrachtet, ist
es das spezifische Wesenszeichen seiner ästhetischen Existenz. Von hier aus er¬
gibt sich die Beschaffenheit und die Bedeutung dessen, was wir eben das Lei¬
ten genannt haben, nämlich die die Erlebnisse des Rezeptiven evokativ ord¬
nende, systematisierende Macht des Werks: seiner Komposition. Dieses Iden¬
tifizieren der Komposition mit der Fähigkeit zum Leiten der rezeptiven Er¬
lebnisse kann möglicherweise im ersten Augenblick als Überspitzung befrem¬
den. Ist doch die Komposition eines Dramas oder einer Symphonie ein ob¬
jektiver, in sich geschlossener, auf intensive Totalität Anspruch erhebender
Zusammenhang. Und es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser Zusammenhang
objektiv existiert, d. h. unabhängig davon, ob ihn X oder Y wahrnimmt
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 681
Lyrische Form
Poeta laureatus:
Es sei die Form ein Goldgefäß,
In das man goldnen Inhalt gießt!
Ein anderer:
Die Form ist nichts als der Kontur,
Der den lebend’gen Leib beschließt.
Was hier das echt Ästhetische vom Surrogat unterscheidet, ist eben die evo-
kative Kraft: die Komposition nicht nur als korrektes und abstraktes Zu¬
sammenfügen vom Standpunkt der Menschheitsentwicklung gleichgültiger
Elemente, sondern als Erwecker von tiefen Emotionen, die - durch wesent¬
liche Beziehungen von Mensch und Gesellschaft, von Gesellschaft und Natur
vermittelt - auf den allerverschiedensten Wegen, in unendlich verschiede¬
nen Weisen das Zentrum des Menschseins aufrühren und erwecken.
Eine Komposition kann also nur dann im ästhetischen Sinne, d. h. nicht bloß
I
682 Die eigene Welt der Kunstwerke
abstrakt-formal zur Vollendung gedeihen, wenn ihr dieses Pathos der Evo¬
kation im Ganzen und in allen Details zu eigen ist. Darum gehört die Fähig¬
keit zum Leiten der rezeptiven Emotionen zum Wesen der künstlerischen
Komposition; sie ist nicht bloß eine einfache, wenn auch notwendige
Folgeerscheinung der kompositionellen Prämissen, sondern bestimmt die
Komposition - um einen modischen Ausdruck zu gebrauchen - ontologisch.
Natürlich wird das Gedanken- und Gefühlsleben des Menschen auch in der
Wirklichkeit ununterbrochen geleitet. Er lebt ja in -einer von seinem Bewußt¬
sein unabhängig existierenden Umwelt, die seine Gedanken und Gefühle
ohne Unterlaß wachruft und infolge ihrer Kontinuität auch leitet. Der ent¬
scheidende Unterschied zwischen Leben und Kunst besteht in dieser Hinsicht
darin: Erstens, die im Leben wirksame Kontinuität ist sowohl an sich wie
erst recht vom Standpunkt des individuellen Bewußtseins aus planlos, wäh¬
rend das Kunstwerk planvoll auf das Erwecken einer solchen Kontinuität
angelegt ist. Zweitens, daß der Mensch im Leben auf die einströmenden
Eindrücke - bei Strafe des Untergangs - aktiv zu reagieren gezwungen
ist, während er dem Kunstwerk als etwas Unveränderlichem gegenübersteht,
als einer Gegenstandswelt, zu der er sich nur aufnehmend verhalten kann und
soll. (Über das Problem der Suspension der Aktivität, der »Interesselosig¬
keit«, über die Bedeutung des künstlerischen Erlebnisses für sein eigenes
»Nachher« haben wir bereits gesprochen und werden auf diese Frage noch
einigemal zurückkommen.) Drittens - und dies ist für das jetzt zu Behan¬
delnde von großer Wichtigkeit - steht der Mensch des Alltags in einem Stru¬
del heterogener Tendenzen, während hier das homogene Medium des Kunst¬
werks (der Kunstart, der Kunst), das auf ihn einwirkt, seine Erlebnisse von
vornherein in eine bestimmte Richtung kanalisiert, ihnen ein bestimmtes Feld
der Aufmerksamkeit und des Sich-Auslebens zuweist. Er verwandelt sich
also vorübergehend aus einem ganzen Menschen des Alltags in den Men¬
schen ganz, dessen aktive und passive Fähigkeiten durch eine solche Konzen¬
tration, vermittelt durch das homogene Medium, durch das Einströmen aller
Erlebnisse in dieses Flußbett, durch ihre Umarbeitung darin schon von allem
Anfang an in eine bestimmte Richtung gelenkt werden.
Es ist zweifellos -ein Verdienst Nicolai Hartmanns, daß er in seiner »Ästhe¬
tik« dieser Frage einen breiten Raum gegönnt und in ihrer konkreten Be¬
schreibung auf wichtige Bestimmungen hingewiesen hat. So hebt er über
Musik hervor, daß im Hören notwendig eine Einheit entsteht, trotz des Aus¬
einandergezogenseins -der Töne in der Zeit: »Der Satz braucht Zeit, er zieht
an unserem Ohr vorüber, er hat seine Dauer; in jedem Augenblick ist dem
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 683
Hörenden nur ein Bruchstück präsent. Und dennoch wird er dem Hörer nicht
auseinandergerissen, sondern wird als Zusammenhang, als Ganzes erfaßt. So
wenigstens im echten >musikalischen< Hören: er wird ungeachtet seines
Auseinandergezogenseins in die Zeitstadien doch als ein Beisammensein auf¬
gefaßt — nicht zwar als ein zeitlich Simultanes, wohl aber als ein Zusammen¬
gehöriges, als Einheit. Diese Einheit ist zwar immer noch eine zeitliche, aber
kein Zugleichsein b« Und weiter: »Das Tonwerk zwingt den Hörenden
vorauszuhören und nachzuhören, in jedem Stadium des Hörens die Erwar¬
tung des Kommenden zu haben, den bestimmten, musikalisch geforderten
Fortgang zu antizipieren. Das gilt auch dort, wo der wirkliche Fortgang
des Tonstückes sich dann als ein anderer herausstellt. Denn die Lösung
der entstandenen Spannung kann immer auch eine andere sein als die
erwartete; und die Auswertung der unerwarteten (neuartigen) musikalischen
Möglichkeit ist hierbei gerade ein Wesenszeichen der Überraschung und Be¬
reicherung. Das ist in der Musik nicht anders als in der Dichtung (anderer
Fortgang der Handlung im Roman und im Drama) .. . Denn musikalisch
weist jede Phase über sich hinaus, und zwar vorwärts wie rückwärts1 2.«
Ähnlich über Architektur: »Das Ganze der Komposition ist von keinem
Punkte aus gegeben - wenigstens nicht sinnlich. Dennoch hat der Be¬
trachter ein intuitives Bewußtsein dieses Ganzen; und es wächst sich sehr
schnell und selbstverständlich aus, wenn man die verschiedenen Teilräume
des Bauwerks entlangwandert, oder wenn man in der Betrachtung des ein¬
heitlichen Innenraumes, resp. der äußeren Gestalt den Standort wechselt und
so die verschiedenen Durchblicke, Seiten und Teilformen nacheinander erfaßt
werden. Das Nacheinander ist hier zwar ein willkürliches, nicht ein Geführt¬
werden in objektiv gegebener Folge, wie bei der Musik; aber es bleibt doch
immer ein zeitliches sukzessives Sichablösen der einzelnen, ob auch sehr ver¬
schiedenen Bilder. Das ästhetische Schauen aber besteht darin, daß sich aus den
wechselnden, visuellen Aspekten ein Ganzes mit objektiver Gliederung heraus¬
hebt, eine gegenständlich einheitliche Komposition, die als solche nicht visuell
gegeben ist, und auch von keinem Punkte aus sichtbar wird, sondern erst in der
synthetisch arbeitenden Vorstellung auftritt und insofern >sinnlich irreab ist3.«
Hartmanns - trotz objektivistischer Bestrebungen doch letzten Endes von
hier für jedes Werk ein neu zu fundierendes Optimum da und ein solches
ist, freilich schwerer entdeckbar, auch für die Architektur vorhanden. Mögen
die einzelnen Aspekte bloße Aspekte sein, sie sind doch zugleich ihrem Wesen
nach Aspekte dieses besonderen Ganzen, und ihr Geradesosein hängt direkt
vom Geradesosein dieses Ganzen ab. Aber diese Gebundenheit an das be¬
sondere Ganze besteht nicht nur für die einzelnen Aspekte, sondern auch für
ihr Übergehen ineinander, für ihre Abfolge. Es ist in Wirklichkeit das je¬
weilige architektonische Gebilde, das hier die Funktion des Leitens, des Hin-
überwachsens in die allmählich entstehende Synthese, in die Apperzeption des
Ganzen vollzieht.
Das Geleitetwerden ist deshalb in einer für jede Kunstart (und innerhalb
ihres Bereichs für jedes Kunstwerk) verschiedenen Weise die einzige Mög¬
lichkeit für den Rezeptiven, das in der Komposition intentioneil Enthaltene
nachzuerleben, die Art also, in welcher die Komposition selbst aus Absicht zur
Wirklichkeit wird, sich zu offenbaren imstande ist. Da zeigt sich nun die for¬
male Funktion des homogenen Mediums, sein dialektisch-widerspruchsvoller
Charakter in voller Deutlichkeit. Flartmann hebt in seinen von uns zitierten
Ausführungen über Musik das Moment der Überraschung hervor. Mit Recht,
denn eine immer adäquat erfüllte Erwartung wäre inhaltlich leer, formal,
linear, könnte sich niemals zur Mehrdimensionalität einer gestalteten und
erlebbaren »Welt« erheben. Ja, man könnte sagen, daß jedes echte Kunst¬
werk die von ihm selbst hervorgerufenen Erwartungen stets zugleich erfüllt
und nicht erfüllt. Denn es handelt sich nicht bloß darum, wie Hartmann an¬
deutet, daß die gestaltete Lösung eine andere ist, als die erwartete. Schon
hier müßte ergänzend hinzugefügt werden, daß jede Art von Überraschung
inhaltlich wie formal sich innerhalb eines Spielraums bewegt, den das ho¬
mogene Medium des Werks (und der Kunstart) imperativ vorschreibt; frei¬
lich so, daß dieser vorgezeichnete Spielraum vielfache Möglichkeiten der
überraschenden Erfüllungen freigibt. Die Täuschung der Erwartung muß
also eine bestimmte Qualität besitzen, die sie, trotz ihres kontrastierenden
Wesens mit der geweckten Erwartung verbindet. Wenn sie als bloße, krude
Überraschung erlebt werden muß, wenn nicht - aposteriori - trotz ihrer
eventuellen Plötzlichkeit ein Gefühl des irgendwie doch Erwartethabens
evoziert wird, ist die Kontinuität der Leitung unterbrochen, die Einheit des
Werks gestört. Und andererseits ist auch die Erfüllung des geweckten Erwar¬
tens niemals ein einfaches Erfüllen des Erwarteten, sondern enthält in echten
Kunstwerken stets ein Moment des Unerwarteten, einer Übererfüllung der
Erwartungen. Das also, was wir früher in abstrakt-kategorieller Weise
686 Die eigene Welt der Kunstwerke
formuliert haben, daß jede Negation die spezifische, eigene Negation des eigens
Bestimmten sein muß, zeigt sich hier in einer weit konkreteren Form, obwohl
die Gegenüberstellung von Erwartung und Überraschung (Negation der Er¬
wartung) noch immer eine weitgehend abstrahierte Fassung der ästheti¬
schen Tatbestände ist. Wirklich konkret könnte diese Frage nur in einer
Genretheorie behandelt werden, wo gezeigt werden müßte, wie jene Stel¬
lung zur Welt, die das homogene Medium des betreffenden Genres hervor¬
bringt, den Spielraum, die Qualität, die Intensität, die Häufigkeit etc. der in
ihm möglichen Überraschungen konkret bestimmt. So viel zeigen jedoch auch
diese abstrakten Betrachtungen, daß die Spannung zwischen Erwartung und
Erfüllung von der Qualität des homogenen Mediums abhängt. Die indivi¬
duelle Eigenheit eines jeden echten Kunstwerks umschreibt diese Qualität
nicht nur genau, sondern gibt von allem Anfang an - in diesem Sinne gilt
die Kategorie der Intonation für alle Künste, vor allem für jene, die sich
zeitlich abwickeln - Spielraum und Qualität der Erfüllungen, Überraschun¬
gen etc. sinnfällig an und evoziert gewissermaßen eine Atmosphäre, die in
dieser Hinsicht unendlich viele, aber doch nur ganz bestimmte Möglichkeiten
zuläßt.
Scheinbar handelt es sich hier um rein formale Fragen. Jedoch ihre rein for¬
male Betrachtung würde uns wieder jenen Antinomien gegenüberstellen,
würde erneut jene Verzerrungen des ästhetischen Formbegriffs zustande brin¬
gen, denen wir bereits wiederholt begegnet sind. Es bedarf keines allzu ver¬
tieften Überdenkens dieser Probleme, um einzusehen, daß schon die eben be¬
handelten Fragen primär inhaltliche gewesen sind und daß erst durch deren
Lösung im Sinne der ästhetischen Prinzipien die künstlerische Formgebung
befruchtet werden konnte. Aber die Dialektik von Inhalt und Form greift
auch insofern tiefer, als nicht bloß der krude Stoff der erlebten Wirklichkeit
durch das homogene Medium vorerst in ein ästhetisches Halbfabrikat ver¬
wandelt wird, sondern eine solche Umarbeitung auch die allgemeinsten For¬
men ihrer Widerspiegelung, die Kategorien, betrifft. Bei der Behandlung ein¬
zelner Probleme sind wir bereits auf solche Umwandlungen gestoßen, und
in späteren Erörterungen werden wir uns noch sehr ausführlich mit einigen
von ihnen beschäftigen müssen. Die faktische Grundlage dafür haben wir
ebenfalls an ihrer Stelle behandelt: Alltag, Wissenschaft und Kunst wider¬
spiegeln dieselbe objektive Wirklichkeit; darum haben sie nicht nur den
Lebensstoff (je nach ihren Bedürfnissen, je nach Richtung und Grad der Auf¬
nahmefähigkeit) gemein, sondern auch die diese formenden Kategorien. Die
besonderen Aufgaben jedoch, die vor jedem dieser Gebiete (und vor ihren
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 6 8/
liehen Handlungen und auf das beziehen, was wir beim Handeln zu wählen
und zu meiden haben 1«. Damit ist die Scheidungslinie in der Richtung auf
die anthropomorphisierende Wesensart der Kunst klar ausgesprochen. Aristo¬
teles trennt tatsächlich die beiden Gebiete von Apodeiktik und Rhetorik (die
Zwischenstelle, die bei ihm hier die Dialektik einnimmt, braucht uns nicht zu
beschäftigen) objektiv dadurch, daß die erstere mit dem Wahren, letztere mit
dem Wahrscheinlichen zu tun habe, subjektiv, daß die Rhetorik »das Wahr¬
scheinliche und Glaubhafte in Hinblick auf die Charaktere und Empfindungen
der Menschen ('/fit] und Ttcdb)) zum Gegenstand hat 2«. Aus alledem wird deut¬
lich sichtbar, daß Aristoteles die Trennungslinie dort zieht, wo im Gegen¬
satz zur 'desanthropomorphisierenden, rein auf objektive Wahrheit ausge¬
richteten Apodeiktik die Rhetorik mit den Charakteren und Gesinnungen
der Menschen zu tun hat und auf diese einzuwirken bestrebt ist. Uns ist da¬
bei klar, daß diese Beziehung in der Rhetorik weitaus direkter, unvermittel¬
ter ist, als in der Kunst selbst. Für die Antike schien diese letztere Differenz
viel geringfügiger zu sein, als für uns; nicht nur weil die Rhetorik als Kunst
galt, sondern weil die Beziehungen der Kunst selbst zur gesellschaftlichen
Praxis der Menschen viel unmittelbarer waren und gedacht wurden, als in
unseren Tagen. (Wenn die Zuspitzung in der letzteren Hinsicht die Fassung
der Rhetorik als Kunst erleichtert, so soll doch nicht vergessen werden, daß
diese Kunstauffassung auch in einer solchen Obertriebenheit ihrer gesell¬
schaftlichen Bezüge das Wesen der Kunst weitaus tiefer erfaßt als der mo¬
derne fetischisierte Individualismus.) Jedenfalls geht Aristoteles von zwei so
fundamentalen Denkformen wie Induktion und Syllogismus aus und wendet
diese Einsicht so auf die Rhetorik an: »Ich nenne aber Enthymem einen
rhetorischen Syllogismus, Beispiel eine rhetorische Induktion. Alle Redner
aber gewinnen ihre Uberzeugungsmittel dadurch, daß sie entweder Beispiele
oder Enthymeme beibringen, und man kann sagen, daß damit der Bereich
erschöpft ist 3.«
1 Aristoteles: Rhetorik, II. Buch, 22. Kapitel. Zitiert nach der Übersetzung von
A. Stahr. Es ist interessant zu bemerken, daß auch Goethe — ohne die Beziehung
zur Ästhetik besonders hervorzuheben — als Eigenart dieser Kategorie feststellt,
sie bestimme das Allgemeine als »was uns an viele Fälle erinnert und das zusam¬
menknüpft, was wir schon einzeln erkannten«. Maximen und Reflexionen, a. a. O.
XXXIX. ui. Goethe zielt also ebenfalls auf die evokativen Funktionen der hier
vollzogenen Synthese.
2 Prantl: a. a. O. Band I, S. 103.
3 Aristoteles: Rhetorik, I. Buch, Kapitel 2.
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 689
Für uns ist dabei vor allem wichtig, daß es sich um fundamentale Formen der
beiden Gebiete handelt, die bei ausdrücklicher Bewahrung ihrer gemeinsamen
Wurzeln im objektiven Sein — es ist nicht entscheidend, wieweit es sich bei
Aristoteles um zwei verschiedene Fälle der Widerspiegelung der Wirklichkeit
handelt — je nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen verschiedene Formen
aufnehmen. Und es ist besonders wichtig, daß die Transformation ins Ästhe¬
tische in beiden Fällen auf die Geeignetheit zur Evokation von Gefühlen,
Leidenschaften etc. gerichtet ist. Aristoteles gibt davon in seiner großartig¬
praktischen Matter-of-fact-Weise eine prägnante Beschreibung: »InEnthyme-
men darl man nämlich weder von einem fernliegenden Satze ausgehen, noch
alle Mittelglieder ausführlich beibnngen; denn das erstere führt zur Undeut¬
lichkeit, weil der auffassende Verstand einen zu langen Weg zu machen hat,
und das letztere wird Geschwätzigkeit, weil man Dinge sagt, die von selbst
einleuchten h« Beim Beispiel (Paradeigma) ist die direkte Beziehung auf das
Ästhetische noch einleuchtender. Aristoteles geht auch hier davon aus, daß
das Beispiel eine für die Rhetorik geschaffene Analogie zur Induktion ist. In
der konkreten Behandlung geht er aber sehr bald über die etwas analogisie-
rende Art des Beispiels im Leben hinaus und analysiert die Brauchbarkeit von
bereits ausgeprägt dichterischen Formen wie der Parabel oder der Fabel. Man
sieht also, daß sogar direkte dichterische Gattungen etwas der Induktion im
Erkenntnisprozeß ästhetisch Entsprechendes repräsentieren können. Es ist da¬
bei charakteristisch, daß das Paradeigma eine gewisse Rückbewegung auf idie
Analogie hin zeigt, indem es den langen Weg -der Induktion im Interesse -der
sinnfälligen Prägnanz abkürzt, ja statt ihres Weges, statt ihres Prozesses, der
in verschiedenen Einzelerscheinungen das gesetzlich Gemeinsame aussucht,
diese Gemeinsamkeit auf einen Fall reduziert und konzentriert. Es ist aber
doch viel mehr -als Analogie. In ihm soll -das Typische einer Erscheinung oder
Erscheinungsgruppe zusammengefaßt werden, das durch seine unmittelbare
Form - direkt oder abschattend oder kontrastierend - das Typische ihrer
selbst oder einer anderen Gestalt evokativ einleuchtend machen soll.
Ebenso erhellt die früher angeführte Aristotelische Darlegung der Wirksam¬
keit des Enthymems, das Weglassen der logischen Vermittlungen aus dem
Schluß, das Hinzielen auf eine lakonische Gedrungenheit, -daß es auch hier
darauf ankommt, das Typische -einer Lage, eines Falles, -einer Beziehung etc.
mit einem Schlage, mit unmittelbarer Evidenz, also -evokativ zusa-mmenzu-
mus des Typischen ist eine Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit, eine
Art dieses Ausdrucks, die das Ästhetische dem Wissenschaftlichen scharf
gegeniiberstellt. Lenin, der in dem Herausarbeiten des Widerspiegelungs¬
charakters der Kategorien die bis jetzt radikalsten Vorstöße gemacht hat,
und — um ein sehr bezeichnendes Beispiel anzuführen - die Hegelsche
Ahnung vom objektiven Charakter des Syllogismus in die Feststellung, daß
dieser eine Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, 'weitergebildet hat, betont
auch den hier behandelten Unterschied des Typischen in Wissenschaft und
Kunst rmt großer Klarheit und Energie. So hebt er während des ersten
imperialistischen Weltkriegs in einem Brief an Sinowjew den Gedanken
hervor, daß es in jeder Phänomengruppe für die Wissenschaft nur eine typi¬
sche Erscheinung geben kann. Er spricht von den falschen Anschauungen vie¬
ler seiner damaligen Mitstreiter, daß in der imperialistischen Periode natio¬
nale Kriege unmöglich seien, und fügt hinzu: »Das ist ein offenbarer Irrtum,
und zwar ein historischer, politischer und logischer Irrtum (denn eine Periode
ist die Summe verschiedener Erscheinungen, in welcher außer dem Typischen
sich immer auch anderes vorfindet) b« Dieses Fixieren der Dualität des
einen Typischen neben der Menge des Atypischen in der Empirie bezeichnet
klar die richtige Auffassung der Wissenschaft. So hat schon Hegel betont:
»Es gibt nur einen Typus des Tieres, und alles Verschiedene ist nur Modifika¬
tion desselben1 2.« Und selbst, wo die Materie eine gewisse, beschränkte
Anzahl von Typen für die Wissenschaft vorschreibt (Typen von Tempera¬
menten, von Krankheiten etc.), bleibt der von Lenin eben formulierte
Gegensatz von typischen und atypischen Erscheinungen für die Wissenschaft
bestehen.
Ganz anders in der Kunst! Wo in ihr diese Auffassung der Menschen und
ihrer Verhaltensweise gestalterisch zum Ausdruck kommt, haben wir es im
besten Fall mit einem tendenziösen Naturalismus zu tun, zumeist jedoch mit
einer einfachen Kolportage, in der - je nach sozialem Standort - die eige¬
nen guten Eigenschaften als typisch, die schlechten als atypisch dargestellt
werden; und beim Gegner soll alles umgekehrt sein. In der echten Kunst hat
dagegen alles, was in der Gestaltung Platz bekommt, einen mehr oder weni¬
ger typisierenden Charakter. Was also wissenschaftlich nicht als typisch be-
1 Lenin: Brief an Sinowjew, August 1916, Wk. Vierte Ausgabe, Band XXXV, S. 209
(ungarische Ausgabe).
2 Hegel: Enzyklopädie § 370 Zusatz.
692 Die eigene Welt der Kunstwerke
trachtet werden kann, erscheint in der Kunst als typisch. Darin steht die Kunst
dem Alltagsleben näher als der Wissenschaft, denn dessen Praxis schreibt den
Menschen in ihrem Verkehr miteinander auch die Notwendigkeit einer unun¬
terbrochenen Typisierung vor. Nur wird diese zumeist subsumtiv vollzogen
und hat deshalb zumeist einen schematischen, die individuelle Eigenart verge¬
waltigenden Charakter. Falsche Tendenzen in der Auffassung des künstlerisch
Typischen stützen sich deshalb sehr oft auf diese entgegengesetzten, aber
gleich kunstfeindlichen Tendenzen, die der Kunst als direkt angewandte wis¬
senschaftliche Prinzipien oder als der Alltagspraxis entsprechende Anschau¬
ungen aufgezwungen werden. Lenin enthielt sich, im strikten Gegensatz zu
vielen seiner angeblichen Schüler, von solchen unbefugten Vermischungen he¬
terogener Gebiete. Es ist z. B. interessant zu lesen, daß er im ersten Weltkrieg
eine gründliche Diskussion mit der nahe befreundeten Inessa Armand über
eine von dieser geplanten Broschüre führte, die die sexuelle Frage behandeln
sollte. Er bestand leidenschaftlich darauf, daß die Schrift sich auf das klas¬
senmäßig Typische konzentrieren solle. Und als seine Diskussionspartnerin um
jeden Preis den Kontrast der schmutzigen Küsse in vielen Ehen zu den reinen
in manchem flüchtigen Verhältnis in den Mittelpunkt rücken wollte, schlug
er ihr vor, einen Roman zu schreiben. »Denn«, so führt er aus, »darin ist die
Essenz des ganzen Falles die individuelle Lage, die Analyse des Charakters
und das Herausheben der betreffenden Typen 1.« Darin ist eine klare An¬
erkennung der ästhetischen Typisierung im Gegensatz zur wissenschaftlichen
enthalten.
Formal hängt all dies mit der evokativen Wesensart der künstlerischen
Komposition zusammen. Denn der reine Einzelfall bleibt in Hinsicht auf jede
sinnfällig unmittelbare Mitteilung stumm. Ein Echo des Gestalteten kann im
Rezeptiven nur erweckt werden, wenn ein Appell an die Welt seiner eigenen
Vorstellungen, Gefühle, Erfahrungen etc. erfolgt, mag dieser noch so weit
vermittelt sein, mag er diesen Kreis noch so sehr erweitern, die Intensität der
subjektiven Momente unermeßlich vertiefen. Schon dieser formale Wille zur
Wirkung - dessen Richtung und Inhalt je nach Kunstart verschieden ist -
drängt auf eine Gestaltung, die vom Prinzip des Typischen beherrscht wird.
Natürlich sind diese Typen — und darin kommt die Priorität des Inhalt¬
lichen zur Geltung - untereinander in der Art und im Grad, in der Qualität
und Intensität ihrer Typik außerordentlich verschieden. Jedoch, mag eine
Kunst verloren: einerlei ob der Inhalt diesen Forderungen gemäß gesiebt oder
ein beliebiger Inhalt an sie angeglichen wird. Schon Aristoteles1 hat anderswo
ausgesprochen, daß die künstlerische Freude an einem Gegenstand, sein freu¬
diges Erleben in der Rezeptivität nichts mit der Frage zu tun hat, ob wir
seine konkrete Verwirklichung (Mensch, Situation, Begebenheit, etc.) im
Leben als Realität bejahen würden. Gerade daß der Mensch das, was er im
Leben ablehnt, wovor er flieht, wogegen er Abscheu oder wovor er Angst
empfindet etc. in der künstlerischen Gestaltung widerstandslos, ja begeistert
aufnimmt, macht das Wesentliche der ästhetischen Gebilde und ihrer Wir¬
kung aus. Die von Aristoteles erkannte Umwandlung der Kategorien ist die
tiefste Ursache der Fähigkeit der Werke, den Rezeptiven zu leiten. Sie führen
ihn in eine Welt ein, sie lassen ihn sich in dieser scheinbar frei bewegen, ob¬
wohl jeder Schritt seiner Erlebnisse vom homogenen Medium des Werks ge¬
lenkt wird. Die Angemessenheit des gestalteten Inhalts an die Form erscheint
ihm dann als die Angemessenheit der Werkwelt an sich selbst, an die Forde¬
rungen, die der Mensch unwillkürlich und ununterbrochen seiner Umwelt
gegenüber erhebt. Daraus entsteht die Freude, eine solche Welt (auch eine
tragische) miterleben zu können.
Die tiefste Problematik der Kunst bestimmter Perioden, darunter der unsri-
gen, besteht darin, daß weder die Künstler in der Welt etwas finden können,
dessen ästhetische Widerspiegelung diese Freude an der Angemessenheit,
diese Behaglichkeit des Miterlebenkönnens ausstrahlt, noch die Rezep¬
tiven die Bereitschaft besitzen, sich solchen Erlebnismöglichkeiten freudig
hinzugeben. Da nun diese Problematik heute von sehr vielen als seelisch-
weltanschauliche Basis einer radikal neuen ästhetischen Anschauung verherr¬
licht wird, da auf diese Weise aus der gesellschaftlichen Not der Kunst eine
neue ästhetische Tugend gemacht werden soll, ist es vielleicht nicht ohne Nut¬
zen, eine selbstkritische Anmerkung des gerade als solcher Neuerer gefeierten
Robert Musil anzuführen, in welcher dieser immer ehrliche Schriftsteller,
der sich möglichst wenig vormachte, die hier angedeutete Problematik als das,
was sie ist, als künstlerisches Versagen der »modernen« Kunstmittel bezeich-
nete. In seinem Tagebuch steht: »ZurTechnik: Etwas, was ältere Romanschrei¬
ber gut konnten, haben wir heute fast ganz verlernt: Spannen! Wir fesseln
nur unsere Hörer. Das heißt, wir suchen geistreich zu schreiben und lang¬
weilige Stellen zu vermeiden. Wir ziehen auf allen Wegen den Hörer mit.
Spannen heißt aber den Hörer das Kommende erwarten machen. Ihn mit¬
denken lassen, ihn auf dem gezeigten Wege allein gehen lassen. Ein gewisses
Gefühl der Behaglichkeit, mit dabeizusein. Der humoristische Roman lebt
von diesen Gefühlen. Man deutet eine kommende Situation an, und der Ge¬
danke entsteht: was wird denn unser guter X jetzt wieder machen? Es er¬
fordert viel Kleinmalerei in den Typen. Aber so antiquiert es aussieht, so ist
es doch ein Stüde künstlerischer Wirkung im Gegensatz zu den Wirkungen
des Philosophen und Essayisten 1.« Es ist vom Standpunkt des hier Aus¬
geführten lehrreich, daß Musil den Zusammenhang zwischen dem richtigen
Leiten der Rezeptivität und dem in dessen Folge entstandenen Erlebnis der
»Behaglichkeit« klar sieht und zugleich in den zeitgemäßen Methoden ein
Herausfallen aus dem Ästhetischen in die Wirkungen des Essayistischen er¬
blickt. Auf die tieferen Gründe dieser Problematik, die von der Seite der
Widerspiegelung her ebenfalls mit Kategorienproblemen Zusammenhängen,
können wir erst im letzten Kapitel dieses Teiles näher eingehen. Es handelt
sich dabei um die Wirkung, die - aus gesellschaftlichen Gründen - der stei¬
gende Ausbau des desanthropomorphisierenden Wesens der wissenschaftlichen
Widerspiegelung auf die Kunstanschauung ausübt. Am Anfang des vorigen
Jahrhunderts hat sich Goethe, haben sich, in ihrer Weise, die Romantiker
gegen die Anfänge solcher Tendenzen gewehrt. In Gegenwart und jüngster
Vergangenheit spielt sich eine Kapitulation vieler Künstler und Kunstrichtun¬
gen in dieser Frage ab, ein Aufgeben der Eigenart und Selbständigkeit der
ästhetischen Widerspiegelung um des Phantoms der zeitgemäßen Wissen¬
schaftlichkeit willen.
Neuntes Kapitel
1 Marx: Kapital, a. a. O. S. 38 f.
2 Ebd. S. 41.
Die defetischisierende Mission der Kunst 697
Die Kunst stellt also die »natürliche« Umwelt des Menschen in ihren »na¬
türlichen« Beziehungen zu ihm dar. Das Wort natürlich mußte hier in An¬
führungszeichen gesetzt werden, denn es ist klar, daß diese Funktion der
Kunst sie in Konflikte mit den Gewohnheiten, Vorstellungen etc. des All¬
tagslebens bringen kann und oft bringt, daß solche Gegensätze ebenso gegen¬
über Wissenschaft und Philosophie auftreten können. Wenn also der hier
gebrauchte Begriff der Natürlichkeit die Bedeutung einer Übereinstimmung
mit irgendeinem Ideal erhalten würde, käme es zu einem Rückfall der
Ästhetik in den Platonismus, entstünde in ihr eine Formbestimmung, die
schon Aristoteles in der Polemik gegen die platonische Ideenlehre überzeu¬
gend widerlegt hat. Das Natürliche — ohne Anführungszeichen — muß also
eine Bedeutung erlangen, die es vor solchen Verwechslungen und Vieldeutig¬
keiten erfolgreich zu beschützen imstande ist. Wir haben bereits bei Behänd-
Die natürliche Umwelt des Menschen 7°i
1 Engels: Antidühring, a. a. O. S. 23 f.
Die natürliche Umwelt des Menschen
7°3
Hier har die Praxis der Kunst eine eindeutige Angriffslinie, die gegen diese
Art der Auffassung der Welt und der Umwelt des Menschen gerichtet ist. Die
naive »Natürlichkeit« des Alltagslebens, die die Dinge spontan im Zusam¬
menhang und in ihrer Bewegtheit wahrnimmt, erwächst hier sogar zu einer
»Weltanschauung«, deren Inhalt die Rettung gerade dieser Zusammenhänge,
dieser Bewegtheit ist. Mögen die gesellsdiaftlich bedingten Fetischisierungen
den Alltag selbst noch so stark durchdringen, die Praxis der Kunst (nicht un¬
bedingt die bewußte Weltanschauung der Künstler) bekämpft mit ihren
eigenen Mitteln diese Tendenzen, die die sinnliche und menschliche Umwelt
des Menschen zu schematisieren und damit zur Erstarrung zu bringen drohen.
Wenn wir diese Eigenart der Kunst eine spontane Dialektik nennen, so muß
dabei das Wort spontan besonders unterstrichen werden. Denn es handelt sich
hier ausdrücklich um den schlichten Sinn der ästhetischen Widerspiegelung
selbst. Die subjektive Dialektik als sich denkerisch annähernde Widerspiege¬
lung der objektiven Wirklichkeit hat sich philosophisch und auch in der kon¬
kreten Methodologie der Wissenschaften, trotz eines jahrtausendelang
dauernden Prozesses des Bewußtwerdens von Heraklit bis Lenin, nur sehr
partiell durchgesetzt; in konkreten Fragen der einzelnen Wissenschaften
allerdings öfters als man gewöhnlich annimmt. Da dies letztere jedoch zu¬
meist aus einer gewissen von der Bewegung des Stoffes diktierten Spon¬
taneität geschieht, bleiben die Folgen sogar methodologisch hochstehen¬
der Leistungen selbst in ihren unmittelbarsten Nachbargebieten unbekannt
oder unverstanden, können also selten einen bewußten Weg der Verallge¬
meinerung gehen. Hier wiederholt sich gewissermaßen die Struktur des All¬
tagsdenkens für die Wissenschaft. Die Spontaneität der in Praxis umgesetzten
Dialektik hat jedoch für die Sphäre der Kunst eine andere Bedeutung. Gerade
weil es sich hier nicht darum handelt, die objektive Dialektik der Wirklich¬
keit in eine subjektive Dialektik der Begriffe, Urteile und Schlüsse zu ver¬
wandeln, sondern »bloß« darum, jene möglichst treu und vollständig abzubil¬
den (auch wenn das Medium der Widerspiegelung die Sprache ist), ist die er¬
zielte Dialektik der Gegenständlichkeit, der Zusammenhänge etc. nicht so
sehr Methode als vielmehr Ergebnis der Bestrebung zur wahrheitsgemäßen
Widerspiegelung der Wirklichkeit. Gerade darum kann die Kunst in der Auf¬
lösung erstarrter, fetischisierter Gegebenheiten des Lebens in naiver Selbst¬
verständlichkeit viel weiter gehen, viel radikaler sein, als die zeitgenös¬
sische Wissenschaft oder Philosophie. Das Kind in Andersens Märchen, das
naiv-überrascht ausruft: der Kaiser hat gar keine Kleider an, ist in dieser
Hinsicht ein Symbol ihrer Handlungsweise. Dabei ist es natürlich möglich,
704
Die defetischisierende Mission der Kunst
keine Bewegung ohne Materie gibt, so auch keine Materie ohne Bewegung.
Die Bewegung ist der Prozeß, das Übergehen von Zeit in Raum und umge¬
kehrt: die Materie dagegen die Beziehung von Raum und Zeit, als ruhende
Identität h« Diese untrennbare Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit
ist dialektisch. Darin wird natürlich die Möglichkeit der aus dem Wesen der
Sache folgenden separaten wissenschaftlichen Behandlung von Raum- und
Zeitproblemen durchaus anerkannt. So hebt Hegel selbst die Geometrie als
einen solchen Fall hervor, zugleich betonend: »Der Wissenschaft des Raums,
der Geometrie, steht keine solche Wissenschaft der Zeit gegenüber 1 2«, während
Kant, seine fetischisierende Trennung konsequent weiter ausbauend, die Zahl
(und damit die Arithmetik) aus der isolierten Zeit ableitet 3.
Hier ist die naturgemäße Konvergenz der spontanen und der philosophisch
bewußten Dialektik handgreiflich erfaßbar. Denn es ist ohne weiteres klar,
daß die Alltagspraxis und deshalb auch das mit ihr eng verbunden bleibende
Alltagsdenken sich in einer Welt der sich bewegenden Materie, der bewegten
Dinge befinden und ohne besonders darauf zu reflektieren ihre Zusam¬
mengehörigkeit als selbstverständlich, als ohne weiteres evident annehmen.
Das ließe sich an den einfachsten Tatsachen des Alltagslebens leicht nach-
weisen. Nehmen wir einen solchen von Marx deutlich beschriebenen Vor¬
gang: »Betrachtet man ein bestimmtes Quantum Rohmaterial, z. B. von
Lumpen in der Papiermanufaktur oder Draht in der Nadelmanufaktur, so
durchläuft es in den Händen der verschiedenen Teilarbeiter eine zeitliche
Stufenfolge von Produktionsphasen bis zu seiner Schlußgestaltung. Betrach¬
tet man dagegen die Werkstatt als einen Gesamtmechanismus, so befindet sich
das Rohmaterial gleichzeitig in allen seinen Produktionsphasen auf einmal.
Mit einem Teil seiner vielen instrumentbewaffneten Hände zieht der aus den
Detailsarbeitern kombinierte Gesamtarbeiter den Draht, während er gleich¬
zeitig mit anderen Händen und Werkzeugen ihn streckt, mit anderen schnei¬
det, spitzt, etc. Aus einem zeitlichen Nacheinander sind die verschiedenen
Stufenprozesse in ein räumliches Nebeneinander verwandelt. Daher Liefe¬
rung von mehr fertiger Ware in demselben Zeitraum4.« Man sieht: Zweck
dieser Darstellung ist keineswegs, die dialektische Einheit von Raum und
nur weil das Ansich bei einer solchen Anreicherung unverzerrt bleibt, son¬
dern weil seine so vollzogene Ergänzung und Erweiterung in einem objekti¬
ven Tatbestand des Lebens begründet ist. Es handelt sich einfach darum, daß
der Begriff der Bewegung der Materie, dessen Bedeutung für das rich¬
tige Erkennen des objektiven Wesens von Raum und Zeit wir soeben bei
Hegel kennengelernt haben, auf den gesellschaftlichen Menschen angewendet
objektiv eine inhaltliche Ausdehnung erfährt, da die in der Gesellschaft sich
vollziehende Bewegung der Materie von viel komplizierterer Beschaffenheit
ist als etwa die in der Physik. Solche Komplikationen verändern das Wesen
des Ansich nicht. Es ist aber trotzdem notwendig und berechtigt, sie in der
Darstellung gesellschaftlich-menschlicher Verhältnisse in Betracht zu ziehen.
Es ist wichtig, in diesem Fall die Objektivität hervorzuheben. Denn das ge¬
sellschaftliche Leben produziert ununterbrochen und mit Notwendigkeit auch
subjektive Reflexe der Beziehungen von Raum und Zeit, die bereits nicht
mehr oder nicht vollständig das wirkliche Ansich treffen, deren Wahrheit nur
mehr in ihrer menschlichen, in ihrer subjektiven Notwendigkeit liegen kann.
Hier muß in konkreten Fällen eine genaue kritische Scheidung vor sich
gehen, denn auf dem Boden der — freilich gesellschaftlich bedingten — Sub¬
jektivität ist eine fetischisierende Tendenz ebenso möglich wie eine defeti-
schisierende. Diese große Skala der Unterschiede muß sorgfältig in Betracht
gezogen werden, wenn wir auf das Gebiet des Ästhetischen übergehen, und
die Bedeutung von Kategorien wie Quasizeit und Quasiraum daraufhin
untersuchen, welche Rolle sie in der sich zum Werk organisierenden Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit spielen. In der Periode, als die Kantsche
fetischisierende und metaphysische Trennung von Raum und Zeit die Philo¬
sophie beherrschte, war es Sitte, die Künste nach diesem Schema in Raum¬
künste und Zeitkünste einzuteilen. Eine Polemik dagegen erübrigt sich hier,
die Frage mußte nur darum überhaupt erwähnt werden, weil für eine ober¬
flächliche Betrachtung sich der Anschein ergeben könnte, als hätte die Wichtig¬
keit, die wir dem homogenen Medium in dem Prozeß des Zum-Kunstwerk-
Werden der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit zuschreiben, etwas
mit einem solchen Systematisierungsprinzip der Künste zu tun.
Es ist freilich wahr, daß jedes homogene Medium - gänzlich oder über¬
wiegend - entweder einen räumlichen oder einen zeitlichen Charakter hat.
Ja der Reinigungsprozeß, den es an den unmittelbaren Wahrnehmungen des
ganzen Menschen der Alltagswirklichkeit vollzieht, wirkt - unmittelbar
und vorerst - in dieser Richtung. Wir haben jedoch Kantianische Vertreter
solcher Anschauungen, wie Fiedler, gerade deswegen kritisiert, weil sie bei
708 Die defetischisierende Mission der Kunst
1 »Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken. Je mehr wir dazu den¬
ken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.« Ebd.
Die natürliche Umwelt des Menschen
711
hier unbedingt einige Worte widmen müssen. Auch Lessing kommt darauf zu
sprechen, wenn er am mehrmals angeführten Ort sagt, daß die Werke der bil¬
denden Kunst nicht nur erblickt, sondern lange und wiederholt betrachtet
werden. Schon der Ausdruck betrachtet bringt ein Moment der Zeitlichkeit
zumindest in die ästhetisch notwendige Rezeptivität hinein. Lessings Zeit¬
genosse Hemsterhuis analysiert die physiologisch-psychologische Notwendig¬
keit einer soldien die Zeitlichkeit involvierenden rezeptiven Verhaltensart bei
Werken der bildenden Kunst. »Sie wissen, mein Herr«, schreibt er in seinem
»Brief über die Skulptur«, »daß infolge der Anwendung der Gesetze der Op¬
tik auf die Struktur unseres Auges, wir in einem Augenblick eine distinkte Idee
fast nur von einem sichtbaren Punkt haben können, der sich auf unserer Retina
klar abbildet; wenn ich also eine distinkte Idee von einem ganzen Objekt ha¬
ben will, muß ich mein Auge entlang der Kontur des betreffenden Objekts
gleiten lassen, damit alle Punkte, die diese Kontur bilden, sukzessiv vom
Auge mit Klarheit wahrgenommen werden; am Schluß verbindet die Seele
alle diese elementaren Punkte und erwirbt die Idee der gesamten Kontur.
Nun aber ist es sicher, daß diese Verbindung ein Akt ist, zu welchem die Seele
Zeit braucht, und zwar desto mehr Zeit, je weniger das Auge geübt ist, Ob¬
jekte so wahrzunehmen L« Daß Hemsterhuis den Prozeß etwas vereinfacht
(gewissermaßen geometrisch) beschreibt, daß er eine Synthese nur für den Ab¬
schluß anerkennt und das permanente Synthetisieren während des Sehens ver¬
nachlässigt etc., ändert nichts daran, daß hier das Grundphänomen, von wel¬
chem Lessing spricht, seinem zentralen Wesen nach richtig beschrieben ist.
Aber lange vor beiden hat bereits Leonardo da Vinci, allerdings vom Stand¬
punkt des Schaffenden und nicht des Rezeptiven, sich mit diesem Problem
befaßt. Er gibt »dem Malerjungen« die folgende Lehre: »Wir wissen klar,
daß das Sehen eine der schnellsten Tätigkeiten ist, die es gibt und in einem
Punkte zahllose Formen wahrnimmt; nichtsdestoweniger faßt es nicht mehr
als eine Sache auf einmal... So sage ich auch zu Dir, den die Natur zu dieser
Kunst hinneigt, wenn du wahre Kenntnis von den Formen der Dinge haben
willst, beginne bei den Einzelheiten von ihnen, und nicht zur zweiten gehe,
ehe Du die erste gut im Gedächtnis und in der Übung hast, und wenn Du
anders tust, wirst Du die Zeit wegwerfen und wahrhaftig sehr das Studium
verlängern1 2.« Obwohl es sich hier um dasselbe Problem der Beziehung der
dem Fluß der Zeit herausgehoben. Daß jedem Gebilde der visuellen Künste
auch eine solche mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zur dekorativen
Wirkung innewohnt, kompliziert freilich das Problem des Leitens in ihnen,
da die beiden Aspekte, der dekorative und der eine »Welt« von Gegenstän¬
den schaffende, zur völligen Einheit konvergieren müssen; 'die konkrete Ana¬
lyse dieser Zusammenhänge gehört jedoch in die Theorie dieser Kunstarten
und muß dort für jede besonders aufgeworfen und gelöst werden. Fiier kam
es bloß auf die allgemeine Formulierung dieses Problems an, auf den Nach¬
weis der Existenz von objektiver wie subjektiver Quasizeit, auf ihre Funk¬
tion im Weltschaffen dieser Künste, auf ihren Anteil - freilich vor allem
der objektiven Quasizeit - an der defetisdiisierenden Wirksamkeit der Kunst.
Das Problem des Leitens der Rezeptivität wirft für die Künste, deren homo¬
genes Medium zeitlich ist, das Problem des Quasiraums auf. Der erste An¬
schein würde nun dafür sprechen, daß, im Gegensatz zu der eben behandel¬
ten Lage, wo es sowohl eine objektive wie eine subjektive Quasizeit gab, wir
es hier nur mit einem 'Subjektiven Quasiraum zu tun hätten. Wir glauben je¬
doch, daß man in solchen Fällen sich nicht von einem Analogisieren leiten
lassen und die Entsprechungen, auch wenn sie Kontraste sind, nicht mecha¬
nisch überspannen darf. Da der Zeit gegenüber die Widersprüche der Be¬
wegung anscheinend nicht in Erscheinung treten, muß hier eine Entsprechung
zu der von uns festgestellten objektiven Quasizeit der bildenden Künste feh¬
len. Es sei hier nur ergänzend bemerkt, daß man in keiner Kunst, deren
homogenes Medium wesentlich zeitlich ist, etwas der geometrischen Ornamen¬
tik Analoges vorfinden kann. Der Quasiraum, mit dem wir es hier zu tun
haben, kann dementsprechend nur einen subjektiven Charakter besitzen: er
ist eine notwendige Folge jenes Leitens 'der Rezeptivität, mit der eine sich im
homogenen Medium der Zeit bewegende künstlerische Komposition unbe¬
dingt arbeiten muß. Indessen ist dieser Widerspruch hier doch nicht voll¬
ständig verschwunden. Der von Zenon formulierte unmittelbare Wider¬
spruch von Ruhe und Bewegung in der Bewegung ist ein derart fundamen¬
taler Tatbestand, daß er auch von seinem zeitlichen Aspekt aus wahrnehmbar
bleiben muß. Der Unterschied ist vielleicht am besten so faßbar: vom Raume
aus betrachtet scheint das Moment der Ruhe, der Beharrlichkeit das Über¬
gewicht zu haben, und die dialektische Einheit kann erst durch die künstle¬
rische Einführung des Vorher und des Nachher ihre wahrheitsgemäße Gestalt
erlangen. Dagegen erreicht rein zeitlich betrachtet die Bewegtheit eine abso¬
lute, unbeschränkte Geltung. Man stößt hier in der ästhetischen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit auf den Widerspruch von Flerakht: »Man kann nicht
Die natürliche Umwelt des Menschen
7U
zeit der bildenden Künste bewegt sich im Medium der Räumlichkeit und
bleibt dieser inhärent, aber das glatte Leugnen des Zugleichseins entfernt die
lebeneinflößende Dialektik aus seinen Darlegungen: es handelt sich dabei
nämlich um die Einheit des Zugleichseins und des Nichtzugleichseins. Für das
Subjekt, das sich so vom Werk geleitet in der Zeit bewegt, entstehen, frei¬
lich mit wichtigen Modifikationen, ähnliche Widersprüchlichkeiten wie bei
jeder Bewegung. Als Entsprechungen, die auf sehr tiefe Parallelitäten weisen,
deren Charakter als Verstärkung, Abschwächung oder Vorbehalt, als Pathos
oder Ironie etc. nur im strengsten Aufeinanderbezogensein zeitlich getrennter
Momente zur Geltung gelangen kann (und zwar so, daß die zeitliche Tren¬
nung, ihr Nacheinander, die Stelle eines jeden in diesem Nacheinander ebenso
zu ihrem Wesen gehört wie das durch diese intime Bezogenheit geschaffene
Nebeneinander), müssen sie eine widerspruchsvolle Synthese des Nachein¬
ander und des Nebeneinander ununterbrochen produzieren, evokativ machen.
Daß in dieser Einheit der Widersprüche das Moment des Nacheinander das
Übergreifende ist, daß das Vorher und Nachher der Momente - ohne ihr
Wesen zu vernichten - unaufhebbar, unaustauschbar bleiben muß, zeigt
eben an, daß dieses Nebeneinander nicht die Widerspiegelung eines realen
Raumes sein kann, sondern bloß ein Quasiraum innerhalb des zeitlichen
homogenen Mediums der Musik.
Es ist, so glauben wir, nützlich, wenn wir diesen Widerspruch dadurch be¬
leuchten, daß wir einen extrem entgegengesetzten Versuch seiner Lösung her¬
anziehen. Hermann Broch betrachtet es als seine denkerische Aufgabe, die
Zeit, die er als mit dem Tode verknüpft auffaßt, zu vernichten. Diese nach
seiner Anschauung tiefste Bestrebung des Menschen drückt auch die Musik
aus: »Denn was immer der Mensch tut, er tut es, um die Zeit zu vernichten,
um sie aufzuheben, und diese Aufhebung heißt Raum. Selbst die Musik, -die
bloß in der Zeit ist und die Zeit erfüllt, wandelt die Zeit z-um Raume . . .1«
Die Bedeutung der Musik liegt darin begründet, daß »hier die unmittelbare
Transformation der Zeit in den Raum, die Transformation des Zeitablaufes
in ein räumlich-architektonisches Gebilde stärker denn anderswo zu Bewußt¬
sein kommt«. Diese Zeitaufhebung »ist das Erkenntniszentrum -der Musik.
Denn die Architekturierung des Zeitablaufes, wie sie von der Musik voll¬
zogen wird, diese unmittelbare Aufhebung der zum Tode hineilenden Zeit,
ist auch die unmittelbare Aufhebung des Todes im Bewußtsein -der Mensch-
heitx.« Es ist hier nicht unsere Aufgabe, uns mit der Weltanschauung von
Broch ausainanderzusetzen. Wir können hier bloß feststellen, daß seine Ten¬
denz, die Musik philosophisch als reine Räumlichkeit zu interpretieren, ein
Höhepunkt der modernen fetischisierenden Tendenzen ist. Denn das, was
wir den Quasiraum der Musik nennen, will gerade die Universalität der
Musik in der Widerspiegelung der Wirklichkeit hervorheben; will zeigen,
daß die unmittelbar auf reines Hören, auf reine Zeitlichkeit angelegte Mu¬
sik ihrem Wesen nach doch ein Abbild der Totalität der Wirklichkeit ist, eine
»Welt« im strikt ästhetischen Sinn. Quasiraum in der Musik (und Literatur),
Quasizeit in den bildenden Künsten zerstören also bereits in der Vorhalle,
wo die Entfaltung der gesamten künstlerischen Welt vor sich geht, in der
ästhetischen Reproduktion des Verhältnisses, in dem der Mensch mit seinen
Sinnen zu seiner Umwelt, zu ihren Einwirkungen auf seine Innerlichkeit
steht, die fetischistische Trennung von Raum und Zeit, die gerade in unseren
Tagen infolge der Struktur- und Bewegungstendenzen der kapitalistischen
Gesellschaft auf die Spitze getrieben wird. Der scheinbare Tiefsinn Brochs ist
nur eine avantgardistische Kehrseite jenes akademistischen Formalismus, der
jeden Gehalt aus der Musik entfernen will. So wie im Leben, nach Gottfried
Kellers Worten, sich nüchterne und trunkene Philister herumtreiben - und
keiner ist besser als der andere -, so treffen sich in der heutigen Kunsttheorie
Akademismus und Avantgardismus als objektive Verbündete dabei, Fetischi¬
sierungen in das ästhetische Denken hineinzutragen.
Der Gedanke des Quasiraums in der Musik und in der Literatur hat also
nichts mit jenen uralten Tendenzen zu tun, die, von gewissen mathemati¬
schen Elementen in der Theorie der Musik ausgehend, ihr Wesen in einem
mystischen Geometrisieren suchen. Für die Entwicklung von Pythagoras bis
Keppler war dies aus den damaligen Wachstumsbedingungen der Theorie
historisch verständlich; man suchte für die stark empfundene, aber philoso¬
phisch nicht fundierbare Objektivität der Musik eine kosmische Begründung.
Schon bei Schelling sind Vergleiche wie: »Die Architektur bildet notwendig
nach arithmetischen, oder weil sie die Musik im Raume ist, nach geometrischen
Verhältnissen« nicht mehr als ein geistreiches, aber leeres Gedankenspiel, das
im bekannten Aphorismus von der Architektur als »erstarrter Musik«
gipfelt2. Hegel hat richtig gezeigt, daß für die Zeit keine Geometrie als
1 Ebd. S. 99.
2 Schelling, Wk. a. a. O. I. V. S. 576 und 593.
7i8 Die defetiscbisierende Mission der Kunst
erleben kann. Wenn also in der Musik ein Motiv, eine Melodie wiederkehrt, so
ist das me eine Wiederkehr schlechthin; vielmehr ist das Gegenwärtigwerden
seiner früheren Erscheinungsweise nur ein Sprungbrett dazu, um das radikal
Neue und Veränderte in der neugeschaffenen Lage unzweideutig erscheinen
zu lassen. Adorno hat diesen Charakter des Quasiraums in der Musik, ohne
diesen Terminus zu gebrauchen, gut beschrieben: »Aber solange Musik über¬
haupt in der Zeit verläuft, ist sie dynamisch derart, daß das Identische durch
den Verlauf zum Nichtidentischen wird, so wie umgekehrt Nichtidentisches,
etwa eine verkürzte Reprise, zum Identischen werden kann. Was man an
der traditionellen großen Musik Architektur nennt, beruht eben darauf, nicht
auf bloß geometrischen Symmetrieverhältnissen. Die mächtigsten Formwir¬
kungen Beethovens hängen daran, daß ein Wiederkehrendes, das einmal als
Thema bloß da war, nun als Resultat sich enthüllt, und damit [ganz ver¬
änderten Sinn annimmt. Oftmals wird durch solche Wiederkunft auch die
Bedeutung des Vorhergehenden erst nachträglich gestiftet h«
Damit wird das Gemeinsame an Quasiraum und Quasizeit — einerlei ob sie
subjektiv oder objektiv sind - ganz deutlich. Für jede weltschaffende Kunst
ist es eine Frage von schicksalhafter Bedeutung, daß sie wirklich die Welt als
Ganzes widerspiegle, daß deren dialektische Einheit und Vielfältigkeit nicht
nur im gestalteten Inhalt, sondern auch in den gestaltenden Formen zum
Ausdruck gelange; daß das Werk, das mit dem Anspruch, eine »Welt« zu
sein, auftritt, sich nicht auf einen inhaltlich fetischisierten Ausschnitt oder
auf einen formal fetischisierten Aspekt beschränke. Über bestimmte kompli¬
zierte Kategorien, deren ästhetische Umarbeitung eine solche Funktion für
das Werk garantiert, haben wir bereits, wenn auch nicht ausdrücklich auf
dieses Problem bezogen, gesprochen und werden wir in späteren Betrachtun¬
gen noch ausführlich sprechen. Hier sei nur noch hervorgehoben, daß, eben
weil die Kunst in ihren weltschaffenden Tendenzen auf sinnliche Evokation
eingestellt sein muß, gerade solche elementaren Kategorien wie Raum, Zeit
und Bewegung als unerläßliche Vorbedingungen einer jeden möglichen Wir¬
kung in Betracht zu ziehen sind. Jede Kunst ist das Abbild des Menschen¬
lebens, der Entwicklung der Menschheit. Und da die raum-zeitliche Bestimmt¬
heit des Daseins, die Koexistenz beider in jeder Lebensäußerung die objek¬
tive Grundlage einer jeden menschlichen Existenz ist, da andererseits die
homogenen Medien der Künste eine Differenzierung nach Räumlichkeit und
Die weitaus bestimmtere Inhaltlichkeit der Literatur macht die konkrete Er¬
scheinungsweise des Quasiraums in ihr viel komplizierter. Da jedoch hierbei,
philosophisch angesehen, keine prinzipiell neuen Fragen auftauchen, ver¬
zichten wir auf ihre Analyse und wenden uns jenem Problem zu, das wir in
der Formulierung dieser Differenz bereits angedeutet haben, dem Problem
der Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit der Gegenständlichkeit in der ästhe¬
tischen Sphäre. Das Problem selbst in seiner allgemeinsten Fassung ist auch
hier, wie in allen inhaltlich wichtigen Fällen, kein spezifisch ästhetisches. Für
das alltägliche und sogar für das wissenschaftliche Denken hat jede Bestim¬
mung einen doppelten Charakter: einerseits muß sie die wesentlichen Mo¬
mente des betreffenden Gegenstandes annähernd richtig widerspiegeln und
möglichst unzweideutig auf den Begriff bringen, andererseits wird unter der
unendlichen Anzahl der Eigenschaften etc. der Objekte eine Auswahl nicht
nur nach ihrem sachlich-objektiven Gewicht getroffen. Die Art der Auswahl
wird auch von jenem praktischen oder erkenntnismäßigen Ziel determiniert,
dem die betreffende Bestimmung zu dienen hat. Natürlich hängt die Richtig¬
keit der Bestimmung vor allem von dem Erfüllen der ersten Bedingung ab,
aber die Praxis der Wissenschaften zeigt wiederholt, daß sie gezwungen sein
können, auch objektiv richtige Bestimmungen umzuarbeiten, weil sie für die
betreffende Wissenschaft teils überflüssige Züge, Merkmale etc. enthalten, teils
gerade jene ungenügend umreißen, die für die jeweils wichtigen Problem¬
komplexe entscheidend sind. Im Alltagsdenken, das nur allzuoft mit Bestim¬
mungen ad hoc zu arbeiten gezwungen ist, tritt diese Komponente verständ¬
licherweise noch deutlicher hervor.
Zusammenfassend bedeutet all dies, daß jede richtige Bestimmung, ohne ihre
Deutlichkeit und Eindeutigkeit einzubüßen, ja geradezu als Schutz für diese,
auch Elemente der Unbestimmtheit an sich haben muß. Die Überbestimmtheit
kann sehr wohl zum Flindernis der Theorie und Praxis werden, während eine
richtige Unbestimmtheit zwar die Irrwege abschneidet, aber mit demselben
Akte einen sonst schwer erreichbaren Spielraum für künftige Entwicklungen
Die unbestimmte Gegenständlichkeit 7 21
Grillet. Diese Polemik trifft also ein künstlerisches Zentrum der ent-
fetischisierenden Mission der Literatur. Aber diese Funktion hängt zugleich
unmittelbar mit unserem jetzt behandelten Problem der Bestimmtheit oder
Unbestimmtheit der gestalteten Gegenständlichkeit zusammen. Das Szepter
Agamemnons bleibt seiner sinnlich unmittelbaren Gegenständlichkeit nach
weitgehend unbestimmt, dagegen haben wir, infolge der Geschichte seines
Entstehens, seiner Rolle im Leben der Gesellschaft etc. und einiger weniger
Lichtstrahlen, die sein sinnliches Sein andeuten, ein für die evokative Repro¬
duktion der Gesamtlage hinreichend deutliches Bild auch von seiner Objekt¬
beschaffenheit.
Vielleicht noch klarer tritt die Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmt¬
heit in der von Lessing analysierten Helenaszene zutage. Hier hebt er be¬
sonders hervor, daß sich bei Homer überhaupt nichts Konkretes über das
Aussehen Helenas vorfindet; dieser stellt bloß dar, wie ihre Schönheit auf
die trojanischen Greise wirkt. Wenn dies nun etwas verallgemeinert wird
- und wir werden gleich sehen, daß wir dazu das volle Recht haben -, so
stehen wir vor der auf den ersten Anblick paradoxen Lage, daß gerade das
große Gedicht, dessen Dauerwirkung sicher in erster Linie auf dem Sinn¬
fälligmachen des menschlichen Innenlebens beruht, auf die Gestaltung der
äußeren Erscheinungsweise seiner Gestalten einfach verzichten kann, selbst
in solchen Fällen, in denen, wie gerade bei Helena, die Schönheit der ent¬
scheidende Faktor des sich in der Handlung verkörpernden Schicksals ist.
Diese scheinbare Paradoxie verliert etwas von ihrer anfänglichen Härte,
wenn man bedenkt, daß das Drama, mit Ausnahme des letzten Halbjahr¬
hunderts, nie Beschreibungen seiner Gestalten gab, diese aber dennoch über
Jahrtausende hindurch im Bewußtsein der Menschheit lebendig blieben. Ja
sogar, um von den modernen Szenenanweisungen gar nicht zu sprechen, in
den seltenen Fällen, wo der Dialog die äußere Erscheinung der Helden an¬
gibt, konnte diese sich nicht immer jenem Bild gegenüber, das aus der Hand¬
lung selbst entsprang, durchsetzen; die Königin sagt über Hamlet im letzten
Aufzug: »Er ist fett und kurz von Atem«, ohne damit das lebendige Hamlet¬
bild im geringsten beeinflussen zu können. Scheinbar ist die moderne Art der
Epik, mit ihren breiten und ausführlichen Beschreibungen über die von Les-
sing geschilderte Art Homers hinausgegangen. Wenn man aber die Sachlage
genau untersuchte, würde man zu überraschenden Resultaten gelangen
und finden, daß etwa die Anziehungskraft der Romanfiguren, wo sie
wirklich lebendig gestaltet sind, der der Homerischen Helena oft nahe¬
kommt, allerdings — was dem nicht widerspricht — durch einige sinnliche
Die unbestimmte Gegenständlichkeit 725
des Paris im zweiten Kaiserreich. Es zeigt sich also vorerst - was bereits bei
der Fettheit und Kurzatmigkeit Hamlets erhellt wurde daß in sehr vielen
Fällen eine derartige genaue Darstellung keine wirkliche Bestimmung ist,
vielmehr eine - überflüssige - Uberbestimmung.
Solche kommen natürlich auch im Alltag und in der Wissenschaft vor. In
diesen können sie zu Hemmungen oder Störungen des weiteren Forschens
werden. Auch im Alltag wirkt sich die Überbestimmung negativ aus, zumeist
jedoch als einfache Überflüssigkeit, die die Praxis oft beiseite wirft. Dasselbe
geschieht natürlich auch in der Fiteratur. Da jedoch die Uberbestimmtheit,
mit allen Folgen des Überflüssigen, einen festen Bestandteil des Werks, ja
zuweilen ein Prinzip seiner Gestaltungsweise bildet, ist diese Frage lange
nicht so einfach wie im Alltag. Das, was für das Kunstwerk - freilich in
einem sehr weiten Sinne — nicht notwendig ist, ist in den meisten Fällen
nicht einfach überflüssig sondern belastend, ja störend. Auch hier darf man
sich freilich keinen metaphysisch-starren Gegensatz vorstellen. Wir haben
früher an Hand einer selbstkritischen Äußerung Musils über den Unterschied
von Spannen und Fesseln in der den Rezeptiven leitenden Funktion des
Kunstwerks gesprochen. Musil selbst erkennt an, daß das bloße Fesseln in
weitaus schwächerer Weise das Feiten des Rezeptiven zu bewerkstelligen im¬
stande ist als das Spannen. Auch hier ist die Ursache unschwer feststellbar:
die Spannung ist die seelische Form, in welche das homogene Medium der
epischen und dramatischen Dichtungsarten den Rezeptiven versetzt, welche
sein Verhalten als ganzen Menschen der objektiven Wirklichkeit gegenüber
in das des Menschen ganz des konkreten Kunstwerks überführen soll. Wenn
er von dem Werk bloß gefesselt wird, steht er zu ihm als zu einem heraus¬
gerissenen Stück der Wirklichkeit, d. h. er gibt sich nicht dem Strom der
Dichtung hin - da ein solcher ja gar nicht vorhanden ist -, erlebt nicht eine
»Welt« des Dichterischen, ein gestaltetes Abbild der Wirklichkeit in ihrer
Totalität (sub specie des gegebenen homogenen Mediums) und so das Zentral¬
problem des jeweiligen konkreten Kunstwerks. Dieses zerfällt vielmehr in
bloß kausal mehr oder weniger locker verbundene Stücke, auf die der Rezep¬
tive — je nach ihrem geistig-künstlerischen Niveau — interessiert, gleich¬
gültig oder ablehnend reagiert. Das Erreichen des Musilschen Fesselns könnte
also bestenfalls eine Permanenz der Interessiertheit erzielen, nicht die evo-
kative Kontinuität der echt künstlerischen Wirkung.
Wir befinden uns mit diesen Betrachtungen noch immer im Bereich der Pro¬
blems der Bestimmtheit oder Unbestimmtheit der Gegenstände der Literatur.
Nur muß sein konkreter Inhalt noch etwas mehr verallgemeinert werden.
Die unbestimmte Gegenständlichkeit 7*7
Wir sind von Lessings Beispielen ausgegangen, in denen dieses Problem als
das der sinnlichen Darstellung der äußeren Erscheinungsweise der Objekte
gefaßt wurde. Es ist aber ohne weiteres einleuchtend, daß die dabei erzielten
künstlerischen Ergebnisse für die gesamte Gegenstands- und Formwelt der
Dichtung gelten. Es handelt sich, bei vollzogener Verallgemeinerung, um die
Philosophie der Details in der Literatur. Und zwar sowohl in quantitativer
wie in qualitativer Hinsicht. Wir erinnern dabei an die von Lenin hervor¬
gehobene Funktion der Unbestimmtheit in einer dem Wesen nach richtig
gefaßten Bestimmung: an die Vermeidung des Dogmas, der Erstarrung (der
Fetischisierung) bei genauer Grenzenziehung dort, wo dies der Gehalt der
betreffenden Bestimmung vorschreibt. Künstlerisch angesehen hat diese Lage
die Folge, daß alle jene Fragen, die mit der zentralen Absicht des wesent¬
lichen Problems nicht organisch Zusammenhängen, aus der Darstellung ein¬
fach ausscheiden, selbst dann, wenn sie rein logisch oder rein historisch be¬
trachtet diesem zugehören würden. Diese Feststellung gibt uns die Möglich¬
keit, den Umkreis des Behandelten weiter zu ziehen, als es die bisher betrach¬
teten Lessingschen Beispiele tun. So tadelt Hegel, wie wir gesehen haben,
an Shakespeare, daß er die Thronberechtigung Macbeths - die in den Chroni¬
ken enthalten ist - fortläßt. Nun hat Shakespeare in seinen großen Tragö¬
dien die Auflösung der feudalen Welt gestaltet; nicht die Tatsachen, die Be¬
gebenheiten, die konkret-kausalen Zusammenhänge - das war der Inhalt
des Zyklus über den Krieg der Rosen -, sondern die großen Typen des
Untergangs, ihre Leidenschaften und Schicksale, den großen historischen Hin¬
tergrund und Untergrund des Verfalls, die Konturen des kommenden neuen
Menschen: die Geschichtsphilosophie und nicht die Chronik des absterbenden
Feudalismus. Darum spielen keine persönlich subalternen Ursachen, die Hegel
ihm unterschiebt, eine Rolle dafür, daß Macbeths Legitimität im Dunkeln
bleibt, sondern der gewichtige geschichtsphilosophische Grund, daß von der
Warte aus, von der Shakespeare diesen Prozeß überblickt, ein kleinlicher Ge¬
sichtspunkt wie die Legitimität überhaupt nicht Vorkommen kann.
Hegels Bemerkung ist nicht so sehr als konkretes Fehlurteil interessant, viel¬
mehr als ein erstes Auftauchen einer höchst problematischen Gedankenrich¬
tung des 19. Jahrhunderts: der Übermotivierung. Wie und wieweit die darin
sich ausdrückenden Tendenzen für die Wissenschaft mitunter auch fruchtbar
werden konnten, hat uns hier nicht zu beschäftigen. Sicher ist, daß die
Literatur mit überbestimmten (und dichterisch überflüssigen) Motivierungen
belastet wurde, die der Komposition des Ganzen und der Teile ihre Schlank¬
heit nehmen mußten, ohne den dichterischen Gehalt wirklich schwerwiegen-
7i% Die defetischisierende Mission der Kunst
der zu machen. Wir werden uns wieder auf ein Beispiel beschränken. Romeo
erblickt Julia - und die Tragödie ist da; keinem Menschen fällt es ein, die
Frage aufzuwerfen, warum er sich gerade in sie verliebt hat. Ein so bedeuten¬
der Dramatiker wie Hebbel wirft aber bei ähnlicher Gelegenheit diese Frage
doch auf. Er vergeudet einen ganzen Akt seiner »Agnes Bernauer« darauf,
die unwiderstehliche Schönheit seiner Heldin »zu motivieren«, wo doch -
dramatisch betrachtet - die schlichte Tatsache, daß der bayerische Herzog
Albert sich in das schöne Bürgermädchen verliebt und sie heiratet, als Grund¬
lage für den Konflikt vollständig genügt hätte. Noch deutlicher ist diese Lage
in Zolas »Germinal«. Wenn dort inmitten des Grubenunglücks Etienne Lan-
tier Chaval totschlägt, so wäre ihre Rivalität, die Zerstörung des Lebens¬
glücks von Etienne durch Chaval unter diesen Umständen eine völlig hin¬
reichende Motivierung der Tat. Daß Zola hier den erblichen Alkoholismus
Etiennes als entscheidendes Motiv bringt, verwandelt, eben wegen der Über¬
bestimmtheit, die Tragödie in einen Schulfall der Pathologie. Mit solchen
Übermotivierungen, Uberbestimmtheiten der dichterischen Gegenständlich¬
keit ist die Literatur seither voll. Wenn wir sagen, daß damit die Schlank¬
heit der Linienführung gestört wird, so drücken wir uns in einer einseitig
formalen Weise aus. Das Fehlen dieser Schlankheit resultiert daraus, daß die
Schriftsteller den echt dichterischen, entfetischisierenden Blick über das ganze
Leben verloren haben, daß sie deshalb unter die entscheidenden Ordnungs¬
prinzipien ihrer Werkwelten Bestimmungen aufnehmen, die den fetischisti¬
schen Vorurteilen ihrer Zeit angehören — wie die Allmacht der pathologi¬
schen Vererbung bei Zola — und deshalb ein konsequentes künstlerisches
Zuendegestalten der widergespiegelten Welt immer wieder hemmen oder
geradezu verhindern. Solche fetischisierenden Vorurteile sind natürlich
je nach Periode verschieden; zur Zeit ihrer Herrschaft und allgemeinen Ver¬
breitung werden sie geradezu als Gestaltungsersatz verwendet, indem ihr
einfaches Vorhandensein Illusionen über eine oft gar nicht vorhandene ästhe¬
tische Bestimmtheit erweckt. Mehr oder weniger rasch treten aber andere
Fetische in den Vordergrund und die »große« oder »avantgardistische« Kunst
von gestern erscheint heute als starr, leblos und leer. Natürlich ist das ent¬
gegengesetzte Extrem ebenso schädlich. Das prinzipielle und völlige Fehlen
der Motivierung, wie in der »action gratuite« Gides ergibt zwar eine for¬
male Schlankheit, aber zugleich eine nihilistische Unbestimmtheit der gesam¬
ten weltanschaulichen Atmosphäre des Werks, eine Konturlosigkeit der Ge¬
stalten und Situationen etc. Bestimmtheit und Unbestimmtheit sind also
Funktionen der jeweiligen konkreten intensiven Totalität des Werks (des
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
7*9
Genres), lassen sich ebensowenig auf »Regeln« zurückführen wie andere echt
ästhetische Kategorien, ohne deshalb ihre eindeutige Gesetzmäßigkeit zu ver¬
lieren.
auf eine selbständige Existenz erhebt, unabhängig von seiner visuellen Ver¬
körperung, mit dieser nur mehr oder weniger locker verknüpft. Wir betrach¬
ten hier immer den ersten Weg als normal für das Ästhetische und das Alle-
gorisieren als ein Abweichen von seinen wesentlidien Normen. Eine philoso¬
phische Begründung dieser These kann erst das letzte Kapitel bringen.
Mag aber das Verhältnis des Äußeren zum Inneren als noch so eng und intim
gefaßt werden, für die bildenden Künste bleibt die Lage bestehen, daß ihr
homogenes Medium nur dem Äußeren eine völlig bestimmte Gestalt zu geben
vermag, wobei diese Bestimmtheit aller oben angedeuteten oft an sich tief¬
greifenden Unterschiede in ihrem Sinnfälligwerden von dieser Warte aus als
bloße Unterarten zusammengefaßt werden müssen. Das Innere kann nur
durch das Äußere vermittelt zum Ausdruck kommen und muß so einer unauf¬
hebbaren Unbestimmtheit anheimfallen. Will man dieses Verhältnis ästhe¬
tisch richtig begreifen, so muß man sich klarmachen, daß damit die voll¬
ständige ästhetische Bestimmtheit des Kunstwerks unangetastet bleibt. Die
Mona Lisa Leonardos oder eine Landschaft Ruysdaels sind gleicherweise
künstlerisch völlig bestimmt, obwohl über den inneren Gehalt besonders
der ersteren ganze Bibliotheken verschiedener Auslegungen vorliegen.
Und es wäre oberflächlich, beschränkt-artistisch auf alle diese diver¬
genten Interpretationen hochmütig herabzublicken und zu -vermeinen, die
visuell-malerische Bestimmtheit käme ästhetisch allein in Betracht. Freilich ist
ein großer Teil solcher Auslegungen feuilletonistisches Geschwätz, voll von
falschem Lyrismus und leerem »Tiefsinn«. Man darf aber nicht vergessen,
daß auch dies eine unvermeidliche Folge der ästhetisch notwendigen evoka-
tiven Wirkung der Kunst ist. Es gilt genau zu unterscheiden, die Kriterien zu
finden und herauszuarbeiten, wo es sich dabei bloß um eine Selbstdarstellung
der rezeptiven Individualität handelt und wo um legitime Versuche, sich
jenem Spielraum der unbestimmten Bestimmungen gedanklich anzunähern
- den, wie wir gesehen haben und noch sehen werden, die Gestaltungsweise
einer jeden Kunst notwendig zustande bringt -, also um Versuche, die Ob¬
jektivität des Werks, seinen wirklichen Gehalt so vollständig wie möglich
gedanklich und gefühlsmäßig zu erfassen. Es gehört zum Wesen der Kunst
und zu ihrer ästhetischen Wirkung, daß letztere an Bestimmtheit notwendig
gespalten ist; daß der visuellen Bestimmtheit des Äußeren eine menschlich¬
seelische Unbestimmtheit des Inneren entsprechen muß, die freilich, wie schon
dargelegt, objektiv keineswegs völlig unbestimmt ist, sondern sich innerhalb
eines künstlerisch konkret umschriebenen Spielraums bewegt. Und es ist zu
sagen, daß Werke, denen das letztere völlig oder weitgehend fehlt, bei aller
732 Die defetischisierende Mission der Kunst
Gegensatz zu den Stimmungen des Lebens ist das Menschliche hier den
Gegenständen (ihrer Verknüpfung, ihrem konkreten Ensemble) inhärent.
Ein beträchtlicher Teil des künstlerischen Ringens um die Wiedergabe des Ob¬
jekts ist gerade vom Bestreben erfüllt, diese anthropomorphisierende Bezie¬
hung des Mensdien zur Objektwelt darzustellen, jedoch so, daß diese Bezie¬
hungen rein als visuelle Eigenschaften der dargestellten Objekte, als ihre
visuellen Verhältnisse zueinander in Erscheinung treten. Auch hier gilt unser
Motto: sie wissen es nicht, aber sie tun es. Ob das bewußte Streben des
Künstlers auf genaue Reproduktion der Objekte gerichtet ist, ob auf die
einer Stimmung, auf Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit etc., kommt für
dieses Problem unmittelbar nicht in Betracht. In dieser Hinsicht ist zwischen
einem Interieur von Cima da Cinegliano und Vuillard kein prinzipieller
Unterschied.
All dies hat zur Folge, daß das, was im Leben vereinzelt, in praktische Be¬
strebungen verstrickt erscheint, sich in den bildenden Künsten zur Universali¬
tät erhebt und damit in jedem Werk zur Darstellung einer in sich geschlos¬
senen und vollendeten »Welt« wird. Die unbestimmte Gegenständlichkeit
erhält aber dadurch einen qualitativ anders bestimmten Spielraum der kon¬
kreten Inhaltlichkeit als im Leben: dem Rezeptiven steht - in der Form der
reinen Sichtbarkeit - eine genau bestimmte gegenständliche Welt, freilich
eine Welt des Menschen, gegenüber, und die inhaltliche Beschaffenheit sowie
vor allem die Art ihres visuellen Geformtseins läßt nicht bloß für jedes ein¬
zelne Werk einen verschiedenen Spielraum von Bestimmtheit und Un¬
bestimmtheit dieses Inhalts entstehen, sondern es entspringen daraus jeweils
spezifische Qualitäten dessen, was notwendig unbestimmt bleiben muß. Es
ist also in der Kunst nicht mehr darum unbestimmt, weil der im Lebens¬
komplex engagierte zielstrebige Mensch seinen besonderen Inhalt nicht oder
nicht vollständig zu ergründen vermag. Die Unbestimmtheit hat vielmehr
eine sehr deutliche, freilich in den konkreten Fällen immer verschiedene Be¬
stimmtheit: sie ist vor allem - schon in der gröbsten Inhaltlichkeit - vom
inhaltlichen Wesen des gestalteten Objektkomplexes determiniert. Die Rolle
des Inhalts geht aber weit über dieses abstrakt-massive Richtunggeben hin¬
aus. Die Bestimmbarkeit des Unbestimmten ist bei einer Landschaft etwas
anderes als bei einem Stilleben oder einer religiösen Szene. Und die spezi¬
fische Qualität der Formgebung schlägt erst recht genauer konstituierend
im Inhalt um. Es genügt, an den früher herangezogenen Ausspruch Rilkes zu
erinnern, daß man die Äpfel Cezannes nicht essen könnte; die grob inhalt¬
liche Determination des Apfelstillebens konkretisiert sich zu einem scharf um-
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
735
1 Ebd. § 140.
Die defetischisierende Mission der Kunst
7 56
liehe in sich, vor allem die des Verarmens und Austrocknens. Eine solche
Überbestimmtheit kann, freilich untereinander eng verknüpfte, inhaltliche
und formale Grundlagen haben. Inhaltliche, indem jener Lebensinhalt, den
das Bild als Ganzes ausdrückt, allzu stark konkretisiert wird. Der Vorteil
der religiösen Thematik für die bildende Kunst bestand nicht zuletzt darin,
daß die gestellten Aufgaben - trotz allen ikonographischen Vorschriften -
letzten Endes doch so vage und allgemein gehalten waren, daß keine Uber¬
bestimmtheit entstehen mußte: die verschiedenen Pietagruppen Michelange¬
los zeigen, welch weiter Spielraum der Unbestimmtheit des Inneren dabei
offenbleibt und wirksam wird. Erst die spätere Entwicklung, in welcher diese
Inhaltlichkeit Gegenstand einer freien Wahl wird, zeigt deutlich, wo die
Wege sich scheiden. Giorgiones »Drei Weisen« ist z. B. ein Bild, dessen
ikonographischer Inhalt nicht bekannt ist. Dennoch ergibt die Komposition
nicht nur linear, koloristisch etc. eine völlige visuelle Eindeutigkeit und Ab¬
geschlossenheit, sondern zugleich einen ungeheuren Poesiereichtum des Un¬
bestimmten. Noch deutlicher ist dies dort zu sehen, wo der Bildinhalt unmit¬
telbar dem Alltagsleben entnommen wird. Es genügt, auf Vermeer zu ver¬
weisen, um diese Lage deutlich zu machen. Dagegen zeigt die Malerei des
19. Jahrhunderts in solcher Thematik oft eine Uberbestimmtheit, die sich der
Pointe von Novellen oder Anekdoten nähert. Das Resultat ist das oben
bezeichnete Verarmen und Austrocknen: die sichtbare Welt wird zur bloßen
Illustration eines dem Wesen nach literarischen »Themas«. Wenn bedeu¬
tende Maler in der Zeit - es genügt an Leibi zu erinnern - diese falsche
Tendenz, die eine flache Ablegerin des Allegorisierens ist, nicht mitmachen,
so zeigt sich ihre malerische Überlegenheit auch in der inhaltlichen Unbe¬
stimmtheit des »Sujets«.
Darin ist aber auch der Übergang ins Formale sichtbar. Wir haben im Zu¬
sammenhang mit der Quasizeit in den bildenden Künsten den Lessingschen
Begriff des fruchtbaren Moments herangezogen. Wir haben auch gezeigt,
daß der Wahl solcher Momente eine defetischisierende Tendenz zugrunde
liegt: sie richtet sich zugleich auf das Erfassen der Bewegung an Stelle des
Stillstandes und auf eine bewegte Totalität konkreter Bestimmungen an
Stelle eines einzelnen isolierten Aspekts. Es erweist sich nun - wie überall,
wo wir dem Problem der Entfetischisierung begegnen -, daß diese Tendenz
der Gestaltung auch in die Richtung weist, der sichtbaren Gegenständlichkeit
eine solche Art von bewegter und lebendiger Bestimmtheit zu verleihen, die
die notwendig unbestimmt bleibenden innerlichen Momente reich, tief und
poetisch macht. Am deutlichsten ist dieser Zusammenhang vielleicht am
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
737
dieser Zeilen hält sich nicht für kompetent, über konkret ästhetische Probleme
der Musik eine fundierte Aussage zu fällen. Man braucht jedoch kein Musik¬
kenner zu sein, um die Absurdität einer solchen Anschauung einzusehen.
So ist es Hanslick keineswegs gelungen, das Ästhetische an der Musik
vom sinnlos-zufälligen Spiel abzugrenzen. Es wäre vergeblich, sich dabei
auf das strenge System der in der Musik wirksamen Gesetze zu berufen. Zu¬
gegeben, daß das mit dem Kaleidoskop spielende Kind, im Gegensatz zum
Musiker, die physikalischen Gesetze, die die vor ihm in Wirkung tretenden
wechselvollen Kombinationen hervorbringen, weder kennt noch beherrscht.
Aber nicht wenige Spiele bilden auch ein System von mehr oder weniger
beherrschten »Gesetzen« (besser Spielregeln), und doch wäre es abwegig, sie
mit einer Kunst im ästhetischen Sinne zu vergleichen, und zwar gerade des¬
halb, weil das Wirken der Spielregel in den Spielen diesen immanent bleibt,
während in jeder Kunst ein solches System der Gesetze (Perspektive, Pro¬
portion in den visuellen Künsten, Prosodie in der Dichtung) nur ein Mittel ist,
um einerseits in der Abbildung der Wirklichkeit sich dieser anzunähern, die
spezifische Gegenständlichkeit der betreffenden Kunstart zu intensivieren,
andererseits um die evokative Macht des Werks zu steigern, seine leitende
Funktion sicherer und vielseitiger zu machen. Wie immer man zu der Frage,
daß auch die Musik eine Abart der Widerspiegelung der Wirklichkeit ist,
Stellung nimmt (wovon in einem späteren Kapitel die Rede sein wird), die
zur Evokation leitende Rolle der musikalischen Komposition wird niemand
bestreiten, der nur eine Ahnung von der historischen Rolle der Musik besitzt.
Die antike Ästhetik stellt, auch bei sonst so entgegengesetzten Vertretern wie
Platon und Aristoteles, ihre sozialpädagogische Wirkung resolut in den Mit¬
telpunkt der Betrachtungen und es ist wieder kein Zufall, daß in unserer
Epoche Tolstois »Kreutzersonate« auf diese Auffassung zurückweist, daß
Thomas Manns »Faustus« in der Anerkennung eines solchen für das Schicksal
der Musik entscheidenden Zusammenhangs gipfelt.
Wie immer also auch das Wesen der Musik konkret gefaßt wird, die Tat¬
sache ihrer über das rein Formale hinausgehenden ästhetisch legitimen Wir¬
kung wird ernsthaft kaum bestritten, wenn auch natürlich sehr verschieden
ausgelegt. Und das genügt zur Klärung unserer gegenwärtigen Problemlage.
Wenn wir deshalb das auf reine Hörbarkeit eingestellte homogene Medium
der Musik als ein dynamisches Ordnen, Leiten und deshalb geordnetes Sich-
auslebenlassen der Innerlichkeit (der Gefühle, Empfindungen, der in diesen
aufgelösten Gedanken etc.) auffassen, so steht der formalen Bestimmtheit,
die viel exakter ist als in jeder anderen Kunst, eine Unbestimmtheit bezüg-
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
739
lieh des Objekts dieser Erlebnisse gegenüber, die ebenfalls die aller anderen
Künste übertrifft. Natürlich ist der exzeptionell hohe Grad dieser Unbe¬
stimmtheit, die geradezu in einen qualitativen Gegensatz zu allen anderen
Künsten umzuschlagen scheint, ein Produkt der gesellschaftlich-geschicht¬
lichen Entwicklung. Wenn Hanslick ausschließlich in der Instrumental¬
musik ihre »reine« Erscheinung anerkennt, so stellt er eines ihrer relativ
späten, freilich ästhetisch hochwertigen Produkte fast der ganzen Vergangen¬
heit und wichtigen Tendenzen der Gegenwart metaphysisch starr-ausschlie-
ßend gegenüber. Denn daß die Musik nicht nur zur Zeit ihrer magisch be¬
dingten Genesis, sondern auch in langen und von jeder Primitivität bereits
weit entfernten Perioden an mimetische Tendenzen von Wort und Gebärde
gebunden blieb, ist eine unbestreitbare Tatsache. Die ganz »reine« Musik ist
ein relativ spätes Ergebnis der Geschichte. Und niemand wird bestreiten, daß
auch die moderne Musik mit dieser Gebundenheit an das Mimetische nie
radikal gebrochen hat. Um die Oper und die Blütezeit des Liedes im 19. Jahr¬
hundert gar nicht zu erwähnen, kann in der Verbindung der Höhepunkte
symphonischer Kompositionen mit einem — inhaltlich eindeutig bestimmten
und durch diese Bestimmtheit auf die Musik rückwirkenden — Gesangstext
(von der IX. Symphonie bis zum »Lied von der Erde« Mahlers) einfach ein
Zufall oder eine individuelle Laune erblickt werden? Der Verfasser möchte
hier nochmals betonen, daß er sich nicht für kompetent hält, die hier auf¬
tauchenden, oft sehr verwickelten musikästhetischen Fragen konkret zu ana¬
lysieren und für sie Lösungen vorzuschlagen. Man braucht jedoch kein Spe¬
zialist in der Musiktheorie zu sein, um das offenkundige historisch gegebene
Faktum anzuerkennen, daß die Musik sich nie (oder - vorsichtig aus¬
gedrückt - nie vollständig) von ihrer anfänglichen inhaltlich-mimetischen
Gebundenheit befreit hat, ja befreien wollte. Daß deren früher herrschende
Strenge in den letzten Jahrhunderten sich entschieden gelockert hat, ist eine
allgemeine gesellschaftlich-geschichtliche Tatsache der gesamten Kunstentwick¬
lung; obwohl z. B. die Liedkomposition seit Schubert viel inniger an Form
und Inhalt des Textes gebunden ist als noch bei Mozart oder Beethoven. Die
Emanzipation von einer sozial genau vorgeschriebenen Thematik ist für alle
mimetischen Künste gleich charakteristisch; das Sich-Entfernen von einer lite¬
rarisch umschriebenen Inhaltlichkeit kann, wie wir gesehen haben, auch für
die bildenden Künste der neuesten Zeit festgestellt werden.
Wir haben jedoch ebenfalls gesehen, daß solche an sich sehr wesentlichen
Veränderungen in Art, Umfang, Qualität etc. des künstlerisch bearbeiteten In¬
halts die entscheidenden Form-Inhalt-Probleme nicht grundlegend umwälzen,
Die defetischisierende Mission der Kunst
740
im gegebenen Falle also auch nicht die der bestimmten und unbestimmten
Gegenständlichkeit. Allerdings werden die immer vorhandenen Gefahren¬
momente der künstlerischen Gestaltung, die Unbestimmtheit bzw. die Über¬
bestimmtheit der sinnlich bestimmten Sphäre, mit allen Folgen für die ko¬
ordinierte unbestimmte Gegenständlichkeit immer drohender, da die sozial
untermauerte instinktive Widerstandskraft des Schaffenden diesen Gefahren
gegenüber abnimmt, parallel damit, daß auch die kontrollierende, geregelte
Bereitschaft der Rezeptiven immer desorientierter wird. Die sogenannte
Programmusik ist vielleicht der typischste Fall einer solchen Überbestimmt¬
heit. Selbst dort, wo die Musik an das Wort, ja an ein Wortkunstwerk ge¬
bunden auftritt, bezieht sie sich viel weniger auf dessen einzelne, die Wirk¬
lichkeit in ihrer Einzelheit spiegelnde Momente, als - stets energisch ver¬
allgemeinernd - auf das Ganze: die Verallgemeinerung, die die Musik voll¬
zieht, besteht vor allem darin, daß dieses Ganze, sei es ein Lied, eine Szene
etc. auf eine als aktuell erlebte, sich vollständig auswirkende Gefühlshöhe er¬
hoben wird, die das Wortkunstwerk, wenn es wirklich eines ist, bestenfalls
andeuten und in die ihm zukommende unbestimmte Gegenständlichkeit über¬
leiten kann, die aber ihre vollständige Erfüllung erst in der Musik erhält.
Ganz mittelmäßige, ja schlechte Texte können in einem solchen Zusammen¬
hang sich eine ungeahnte Empfindungsresonanz, eine Gefühlsaura aneignen.
Die durchgeführte Programmusik kann dagegen die zarte Bestimmtheit dieses
großartig unbestimmten Komplexes zerstören. Sollen die einzelnen Momente
eines Musikstücks unbedingt mit einzelnen Tatsachen des Lebens ins direkte
Verhältnis der gegenständlichen Entsprechung gestellt werden, so muß teils
eine direkte auditive Nachahmung einzelner Lebensvorgänge zur Grundlage
des musikalischen Aufbaus werden, teils müssen einzelne isolierte Motive
einzelnen Gestalten, Ereignissen etc. permanent zugeordnet werden (Richard
Wagner), teils muß die Gliederung des Ganzen in relativ selbständige Teile
dem Nacheinander von Begebenheiten der Außenwelt entsprechen etc. Da¬
mit ist natürlich das Wörterbuch und die Grammatik der Programmusik
keineswegs erschöpft. Das Prinzip, das hier überall zur Geltung gelangt, ent¬
hält aber die Gefahr der Überbestimmtheit. Jene die tiefsten musikalischen
Erlebnisse veranlassende Sphäre des Lebens, die die Musik in der unbestimm¬
ten Spiegelung, einer Spiegelung, die sie selbst in ihrer Form und Gefühls¬
bestimmtheit vorstellt, bloß andeuten kann, soll eine Deutlichkeit, eine Ein¬
deutigkeit erlangen. Ihretwillen kann der vom homogenen Medium evozierte
Lebensstrom verlassen werden, kann ein prinzipiell Unbestimmbares in die
Prosa einer gestaltlos flachen Begrifflichkeit umgesetzt werden. Mit anderen
Inhärenz und Substantialität 74i
1 T. W. Adorno: Versuch über Richard Wagner, Berlin und Frankfurt 1952, S. 126
und 130.
2 Wie gleitend diese Grenzen sind, zeigt Debussys scharfe Ablehnung der Pastorale
als schlechte Programmusik. Musiker über Musik, ausgewählt von Josef Rufer,
Darmstadt 1956 S. 135 f.
742 Die defetischisierende Mission der Kunst
das Ersetzen oder gegen den Versuch des Ersetzens der jeweiligen sinnlichen
Universalität der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit durch Be¬
stimmungen, die an die Stelle dieser Universalität eine direkte begriffliche
Beziehung setzen. Die idealistische Philosophie pflegt im allgemeinen die
Verwandlung in Begrifflichkeit als eine Erhöhung der Wahrnehmungen,
Vorstellungen etc. aufzufassen. Das ist für das Alltagsleben und für den Über¬
gang von Erfahrungen und Beobachtungen ins wissenschaftliche Denken in
den meisten Fällen sicher richtig. Aber schon Pawlow hat darauf aufmerk¬
sam gemacht, daß das Wort (und natürlich der Begriff ebenso) uns von der
Wirklichkeit auch entfernen kann. Und es gehört zum Wesen des gesell¬
schaftlichen Lebens, solche fiktiven, von der Wirklichkeit abgerissenen, ver¬
balen Ersatzbeziehungen zwischen Mensch und Wirklichkeit zu stiften und
aufrechtzuerhalten. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, solche Tendenzen
zur Entfernung des Denkens von der Realität ausführlich zu analysieren und
zu systematisieren. Es genügt, wenn wir auf einzelne weitverbreitete Grup¬
pen einer derartigen verbal-begrifflichen Entstellung in der Widerspiegelung
der Wirklichkeit hinweisen: so auf das Noch-Nichtbewältigen der Wirklich¬
keit im primitiven und später im idealistischen, religiösen etc. Denken, wobei
die unvollständige oder gar falsche Abbildung den Charakter eines Dogmas
erhalten kann; so auf verschiedene Formen der modernen Skepsis von der
sogenannten Sprachkritik bis zur Semantik, die alle davon ausgehen, daß
zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Wortgebrauch und wirklichem
Sinn der Gegenstände ein unüberbrückbarer Abgrund klafft; so auf Konven¬
tionen verschiedenster Art; auf das gedankliche, zuweilen sogar wissenschaft¬
liche Fixieren von Fakten, Zusammenhängen, Strukturen, wie sie sich in der
bloßen Unmittelbarkeit darbieten, wodurch das Vordringen zu ihrem Wesen
durch einen solchen Gedankenapparat selbst gehemmt und gehindert wird
(der Warenfetisch im strikten Sinn); usw. usw. Niemand kann leugnen, daß
das Alltagsdenken der Menschen und darum ihre Praxis, ihre Empfindungs¬
weise etc. durch derartige »Idola«, um Bacons Ausdruck zu gebrauchen, per¬
manent - natürlich in verschiedenen Formationen, Perioden in verschiedener
Weise - von der Wirklichkeit abgelenkt wird.
Hier setzt die entfetischisierende Mission des Ästhetischen ein. Wir haben be¬
reits darauf hingewiesen, daß die Kunstwerke den Menschen ihre »natür¬
liche« Umwelt und Innenwelt sinnlich und sinnfällig Vorhalten und damit
- ohne daß eine ausführliche Polemik gegen das Fetischhafte im Alltag not¬
wendig wäre, ja ohne daß die Entgegengesetztheit beider Konzeptionen be¬
wußt kontrastiert werden müßte — die Fetischisierung von Alltag und Denken
Inhärenz und Substantialität 743
zerstören, dem Menschen die Wirklichkeit, so wie diese sich ihm jeweils
darbietet, aufdecken, sie zum Eigentum seiner Sinne, Empfindungen und
seines Denkens machen.
Wie früher haben wir auch jetzt das Wort natürlich in Anführungszeichen
gesetzt. Und es muß auch hier wiederholt werden, daß nicht von einer Rück¬
kehr zur Natur die Rede ist, weder im Sinne des Enthüllens dessen, was die
Natur an sich ist - das ist die Aufgabe der Wissenschaft -, noch als ein
Wiedererstehen überholter, weniger gekünstelter Gesellschaftszustände. In der
Kunst ist überhaupt nie von einer Rückwendung die Rede; wenn wir soeben
von einem jeweils entstehenden defetischisierenden Abbild der Wirklichkeit
gesprochen haben, so sollte damit auf den schon oft hervorgehobenen histo¬
risdien Charakter einer jeden Kunst in diesem neuen Zusammenhang hinge¬
deutet werden. Nicht ein abstraktes Gegenüberstellen etwa von Gefühl und
Denken ist also gemeint, sondern das jeweilige, jeweils konkret gesellschaft¬
lich-geschichtlich bestimmte, auf den konkreten Menschen dieses Ortes, dieser
Zeit, dieser Entwicklungsstufe bezogene, für ihn »natürliche« Abbild der
Wirklichkeit, welches, eben wegen seiner »Natürlichkeit«, die Auflösung der
konkreten Fetischisierungen organisch mit sich bringt.
Der »natürliche« Charakter dieser von der Kunst abgebildeten Welt, die im
Werk zur abgeschlossenen und in sich vollendeten »Welt« wird, zeigt also
einen dreifachen Aspekt: Erstens entfetisdiisiert sie die äußere Welt, die den
Menschen umgibt, die er im Leben formt und von der er geformt wird. Die
Schemata, die das Alltagsdenken (und zuweilen auch die Wissenschaft) ver¬
fälschend zwischen Welt und Abbildung schiebt, zerfallen. Der Mensch nimmt
die Wirklichkeit wahr, und zwar so, wie sie sich unter den gegebenen gesell¬
schaftlich-geschichtlichen Umständen ihm als Menschen objektiv darbieten
kann. Die »Natürlichkeit« dieses Weltbildes ist also keine absolute Wahrheit
an sich; sie bleibt unzertrennbar an die jeweilige Entwicklungsstufe der
Menschheit gebunden, erreicht aber innerhalb dieser konkret bestimmten
Grenzen ein Maximum der Annäherung an die wahre Objektivität. Darum
ist nichts Fetischistisches in der Götterwelt Homers; der Leser späterer Zeiten
glaubt nicht mehr an ihre Existenz, erlebt sie aber als lebendige Bestandteile
eines Stadiums im Wachstum des Menschengeschlechts, so wie dies in Wahr¬
heit gewesen ist. Zweitens gestaltet das Kunstwerk gerade dadurch diese
Welt als Welt des Menschen in einer bestimmten Etappe seiner inneren Ent¬
faltung. Das Zusammenwirken beider Aspekte kann erst das rechte Entfeti-
schisieren zustande bringen. Wird die Beschaffenheit der Welt, in der der
Mensch lebt, von ihm abgetrennt, erhält die Welt den Schein eines völlig
744 Die defetischisierende Mission der Kunst
selbständigen Daseins, in welchem der Mensch nur ein flüchtiger Gast, ein
durchfahrender Reisender ist, und andererseits, als notwendiger Gegenpol zu
einer solchen Tendenz, löst sich das menschliche Subjekt von seiner Umwelt
ab, bildet es sich ein, ein rein auf sich selbst gestelltes Leben führen zu können,
ja dies auch nur zu versuchen imstande zu sein, so entsteht ein doppelter
Fetischismus, sowohl in der seelenlos gewordenen Objektivität wie in der von
jedem Gehalt entblößten »reinen« Innerlichkeit. Indem jede echte Kunst mit
diesem Fetisch des trennbaren Außen und Innen bricht, indem sie die für das
Leben zutiefst problematische, aber für die Kunst ebenso tief wahre An¬
schauung von Novalis verwirklicht, daß Schicksal und Gemüt letzten Endes
identisch sind, schafft sie diese dem Menschen »natürliche« Welt, seine
»natürliche« Heimat.
Aus alledem folgt - als dritter Aspekt - die inhaltliche (und darum
formale) Universalität der Kunst in dieser dialektischen Synthese von
Außen und Innen, in diesem Abbilden einer dem Menschen angemessenen
Welt. Hätte nämlich diese Angemessenheit eine inhaltliche Grenze, bestimmt
durch unmittelbar hedonistische Postulate des Alltagsmenschen, so würde
gerade dem von fetischisierter Erstarrung am stärksten bedrohten Lebens¬
gebiet und den von ihm diktierten Gedanken, Gefühlen etc. eine Schiedsrich¬
terfunktion in der Auswahl der Inhalte und, durch diese vermittelt, der Form¬
gebung zufallen. (Die spontane Quelle des Kitsches ist weitgehend hier zu
finden.) Gerade der Bruch mit solchen bloß unmittelbaren, hedonistischen
Neigungen eröffnet den Weg dieser wirklichen universellen Angemessenheit
der »Welt« der Kunst an die tiefsten Bedürfnisse des Menschen. Diese Ange¬
messenheit umfaßt also auch die schrecklichsten Katastrophen, die tiefsten
Tragödien, die beschämendsten Entlarvungen der menschlichen Existenz. Erst
indem auch in der grausamsten Gleichgültigkeit des kausalen Ablaufs der
Außenwelt menschlichen Wünschen und Vorstellungen gegenüber, in den un¬
auflösbarsten Konflikten des gesellschaftlich-geschichtlichen Menschseins diese
Angemessenheit sichtbar und — letzten Endes bejaht — erlebbar wird, kann
die Kunst jene Masken, die scheinbar mit dem Leben der Menschen verwach¬
sen, aber doch nur entstellende Masken seines Wesens als Mensch sind, herab¬
reißen, und sein wahres Wesen als Grund und Einheitsprinzip seiner Existenz
offenbaren. Schon bei Homer treten diese Bestimmungen in unzweideutiger
Klarheit hervor und bleiben seither Fundamente einer jeden echten künstleri¬
schen Gestaltung. Das Entfetischisieren geschieht uno acto mit der künstleri¬
schen Rettung des bleibenden, der Aufbewahrung würdigen Wesens der Men¬
schengattung.
Inhärenz und Substantialität 745
samkeit gerückt werden, ist die Kehrseite dieser Konstellation. Daraus erklärt
sich auch, daß immer fiktiver werdende Analysen stilistischer, ja rein tech¬
nischer Fragen zugleich mit einer wachsenden Gleichgültigkeit den entschei¬
denden Formfragen der Kunstarten gegenüber auftreten. Daß diese Tendenzen
vor allem gesellschaftlich-geschichtliche Gründe haben, versteht sich von selbst.
Ihre ausführliche Analyse gehört in den historisch-materialistischen Teil der
Ästhetik.
Eine systematisch vollendete Ästhetik müßte also sämtliche Kategorien, die
in der Widerspiegelung der Wirklichkeit überhaupt eine Rolle spielen, aus¬
führlich behandeln und ihren Funktionswandel schon in diesem vorkünstleri¬
schen Stadium, ihre dadurch entstehenden Positionsverschiebungen erschöpfend
untersuchen. Wir haben bereits im Vorwort auseinandergesetzt, daß unsere
Zielsetzung weitaus bescheidener ist: an einigen der wichtigsten Fälle soll
durch deren konkrete Analyse der methodologische Weg zur Lösung dieser
Zentralfrage freigelegt werden. Dementsprechend haben wir bis jetzt einzelne
wichtige Kategorienprobleme untersucht und werden dies auch später tun.
In diesem Sinne nehmen wir nun die bereits begonnene Behandlung der Kate¬
gorie der Inhärenz wieder auf. Wir haben gesehen, daß diese Kategorie
im begrifflichen Erfassen der Wirklichkeit die Bestimmung des Verhält¬
nisses von Selbständigkeit innerhalb höher gearteter Zusammenhänge, die
Dialektik des relativen Aufgehens in diese, die relative Aufbewahrung in
jener gedanklich zum Ausdruck bringt. Diese Beschaffenheit der Kategorie
der Inhärenz hat zur notwendigen Folge, daß die gedankliche Analyse einer¬
seits zu einer immer stärkeren Differenzierung der hier entstehenden Verhält¬
nisse drängt. Sollen z. B. in der Beziehung von Substanz und Akzidenz - im
typischen Fall des Gebrauchs dieser Kategorien — die Seinsarten genau be¬
stimmt werden, so entsteht bei Kant die folgende Formulierung: »Die Be¬
stimmungen einer Substanz, die nichts anderes sind, als besondere Arten der¬
selben, zu existieren, heißen Accidenzen. Sie sind jederzeit real, weil sie das
Dasein der Substanz betreffen ... Wenn man nun diesem Realen an der Sub¬
stanz ein besonderes Dasein beilegt (z. B. der Bewegung als einem Accidenz
der Materie), so nennt man dieses Dasein die Inhärenz, zum Unterschiede
vom Dasein der Substanz, das man Subsistenz nennt1.« Aber Kant selbst
macht sogleich auf die Schwierigkeiten logischer Art aufmerksam, die aus
dieser seiner Definition folgen. Mit Recht, denn er sieht, daß bei der Verände-
Werfen wir einen kurzen Blick auf diese Notwendigkeit des Zufalls im Be¬
griff der gesellschaftlichen Persönlichkeit des Menschen. Da diese das - frei-
Inhärenz und Snbstantialität 751
lieh oft ohne klares Bewußtsein gebrauchte — »Modell« für die künstlerische
Darstellungsweise überhaupt bildet, ist mit ihrer Analyse auch das Grund¬
prinzip der ästhetischen Gegenständlichkeit bestimmt. Bei Marx finden wir
ausführliche Darlegungen über ein in dieser Hinsicht ausschlaggebendes Ver¬
hältnis, über das von Individuum und Klasse in der kapitalistischen Gesell¬
schaft. Ganz allgemein wird dabei festgehalten, daß es sich in der Geschichte
stets um Gemeinschaften handelt, »der diese Individuen nur als Durchschnitts¬
individuen angehören«. In der kapitalistischen Gesellschaft erfährt dieses
Verhältnis eine Steigerung ins Qualitative: » . . . im Lauf der historischen Ent¬
wicklung und gerade durch die innerhalb der Teilung der Arbeit unvermeid¬
liche Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt ein Unter¬
schied heraus zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich
ist, und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazuge¬
hörigen Bedingungen subsumiert ist.«
In dieser Gesellschaft tritt daher eine neue - illusionäre - Vorstellung der
Freiheit der Individuen hervor, »weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufäl¬
lig sind 1«. So bringt die gesellsdiaftlich-geschichtliche Entwicklung auf die¬
sem Gebiet ins Qualitative gesteigerte Unterschiede hervor, die für die künst¬
lerische Praxis und für die theoretische Auffassung des Ästhetischen bedeu¬
tungsvoll geworden sind. Jedoch die fundamentale dialektische Situation,
nämlich die objektiv begründete Widersprüchlichkeit zwischen konkreter Per¬
sönlichkeit und klassenmäßigem Durchschnittsindividuum - mag sie oft noch
so stark in Latenz verharren - bleibt in jedem Wandel der Geschichte be¬
stehen. Da jedes Individuum seinem Wesen nach verschiedenen überindividuel¬
len Gemeinschaften (Stamm, Familie, Stand, Nation, Klasse etc.) angehört,
da die in dieser Verschiedenheit obwaltende Widersprüchlichkeit - seit dem
Austritt aus dem Urkommunismus - wenn auch in latenter Weise immer
wirksam ist, da auch bei äußerster Zuspitzung solcher Widersprüche die Ein¬
heit der Individualität des Menschen in der Kunst (wie im Leben) nicht auf¬
gehoben werden kann, entsteht für die ästhetische Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit das unabwendbare Problem: diese Einheit der Widersprüche als
sinnlich-sinnfällige Einheit darzustellen. Schon hier zeigt sich eine andere
Seite der Wichtigkeit, die der Kategorie der Inhärenz in der ästhetischen
Sphäre zukommt, nämlich ihre enge Verbundenheit mit der Substantialität.
Das entscheidende Moment in der aufbewahrenden Aufhebung der Zufällig-
Kerns, der Substanz seiner Persönlichkeit. Aber dieses Verhältnis ist relativ,
umkehrbar, und darin äußert sich eine entscheidende dynamische Modifika¬
tion, die von der ästhetischen Widerspiegelung an der Kategorie der In¬
härenz vollzogen wird. In der an sich seienden Wirklidikeit kann natürlich
das Verhältnis von Substanz und Akzidenz nie umkehrbar sein; mag die
Auffassung von der Substanz oft ein Auf-den-Kopf-stellen der wahren Ver¬
hältnisse sein, die Setzung — wahr oder falsch — schafft hier doch eine sta¬
bile Hierarchie, die vom entwickelteren Denken zwar sachlich überwunden,
jedoch stets von einer Setzung ähnlicher Struktur abgelöst wird. Der anthro-
pomorphisierende, anthropozentrische Charakter der ästhetischen Widerspie¬
gelung schafft dagegen eine qualitativ stark modifizierte Struktur. Einerlei,
wie der Künstler die objektive Wirklichkeit auffaßt und in ihr - setzungs¬
notwendig - eine absolute Substanz vorfindet, das Wesen der ästhetischen
Widerspiegelung zwingt ihn dazu, auch im Menschen selbst eine Substanz zu
entdecken und zu setzen, um alles, was mit ihm in Verbindung steht, was ihn
und sein Schicksal bestimmt, als deren Akzidenzen aufzufassen. Dadurch ent¬
steht jedoch in der ästhetischen Abbildung kein antagonistischer Dualismus
oder Pluralismus von Substanzen, wie dies in einzelnen Weltanschauungen
vorkommt; es handelt sich im Gegenteil um eine permanente dynamische
Relativierung von Substanz und Akzidenz. Den Untergrund und Hinter¬
grund des Werks als Totalität muß selbstredend die objektive Substanz der
Wirklichkeit selbst ausmachen; selbstverständlich in jener Spiegelung und Fas¬
sung, die dem Künstler seine Zeit, sein Volk, seine Klasse, seine Persönlichkeit
vorschreiben. So weit würde kein wesentlicher Unterschied zwischen dem
Weltbild eines Künstlers und dem eines Philosophen bestehen. Indem aber
jener Menschen oder wenigstens Menschliches gestaltet, kehrt sich dieses Ver¬
hältnis um; der Kern des Menschen (des Menschlichen) wird zur Substanz: es
ist weniger er, der an der objektiven Substantialität teilhat, ihr inhäriert,
vielmehr erscheint diese als seinem in sich selbst begründeten Menschsein
inhärierend, dessen teilhaftig. Und es muß wiederholt werden, diese beiden
Aspekte der Substantialität stehen einander nicht antinomisch gegenüber
wie das gute und das böse Weltprinzip in dualistischen Weltanschauun¬
gen, sondern es entsteht im Kunstwerk ein Schaukeln zwischen beiden Aspek¬
ten von Substantialität und Inhärenz der Akzidenzen. Dadurch erhält die
Totalität, in welcher die objektive Substanz herrschend ist, etwas Schwe¬
bendes; die bewegte Reichhaltigkeit, die lebendige Widersprüchlichkeit der
auf den Menschen bezogenen Welt wird gerade so zur eigenen Welt des
Menschen, zu einer ihm angemessenen Welt. Diese kategorielle Analyse ver-
754 Die defetischisierende Mission der Kunst
setzt unsere früheren Darlegungen über das homogene Medium in eine neue
Beleuchtung. Hinter seiner formal vereinheitlichenden Funktion steht kate-
goriell die hier behandelte Einheit der Substanz; hinter ihrer bewegten Rela¬
tivierung von absoluter Einheit des Ganzen und vollendetem Sichausleben
der einzelnen Gegenständlichkeiten die soeben beschriebene Relativierung der
Substantialität.
Um diesen Gedanken klar auszudrücken, haben wir jenes Verhältnis, das wir
das Relative an der Substantialität genannt haben, notgedrungen etwas ver¬
einfacht. Der aufmerksame Leser wird sicher bemerkt haben, daß unsere Be¬
trachtungen nicht bloß zwei Substantialitäten in ihren Wechselbeziehungen
umreißen, sondern daß jede von ihnen nur den Endpol einer Kette bildet, die
aus lauter solchen substanzartigen, untereinander ebenfalls relativierten Sub-
stanz-Akzidenz-Verhältnissen besteht. Das Hauptziel bei unserer Einführung
der Kategorie der Inhärenz in die Analyse der ästhetischen Widerspiegelung
war ja gerade der Versuch, das gestaltungsmäßige Verhältnis von Indi¬
viduum und gesellschaftlicher Ordnung (Klasse, Nation etc.) begreiflich zu
machen. Die Vereinfachung, die wir in unseren bisherigen Erörterungen voll¬
zogen haben, war deshalb das vorläufige Übergehen der Tatsache, daß in der
ästhetischen Widerspiegelung die beiden Verhältnispaare: Substanz-Akzidenz
und Wesen-Erscheinung ineinander übergehen und zu einer dialektisch¬
widerspruchsvollen Einheit konvergieren. Auch diese Konvergenz ist durch¬
aus keine »Erfindung« des ästhetischen Widerspiegelns, sie ist vielmehr
ebenfalls eine Tatsache des Lebens; Substanz und Wesen, Akzidenz und Er¬
scheinung erscheinen hier einander stark angenähert. Das philosophische Den¬
ken muß hier eine mehr oder weniger scharfe Differenzierung hervorbringen.
Es kann natürlich nicht unsere Aufgabe sein, Geschickte und Methodologie
dieses Problems auch nur andeutend darzulegen. Nur so viel sei bemerkt, daß
viele scharfe Differenzierungen bei diesen Kategorien aus Bedürfnissen des
philosophischen Idealismus entstanden sind, der sehr stark daran interessiert
ist, z. B. zwischen Substanz und Wesen eine tief trennende Kluft aufzu¬
reißen. Andere philosophische Strömungen, die etwa das Wesen subjektivieren,
der Substanz eine vom übrigen Kosmos abgetrennte Seinswürde verleihen,
seien — ohne Prätention der Vollständigkeit — nur kurz erwähnt. Dazu
kommen notwendige methodologische Erwägungen, indem das Denken beide
Gegenüberstellungen von verschiedenen Aspekten aus vollzieht, und die da¬
bei gewonnenen Unterschiede können auch sachlich wertvolle Ergebnisse lie¬
fern etc. Daß im Alltagsleben eine spontane Konvergenz dieser Kategorien
vorhanden ist, muß nochmals erwähnt werden, wenn dort auch bloß in den
Inhärenz und Substantialität
75 5
der Orestie, in der Antigone, oft historisch ist, erhöht nur das Dialek¬
tische in ihr; eine Behandlung dieser Seite der Dialektik gehört nicht hier¬
her.) Diese dialektische Abgestuftheit des Seins und des mit ihm eng verbun¬
denen Wesens macht es erst möglich, das Teilhaben des Individuums an ver¬
schiedenen Ordnungen von verschiedener Existenz und Würde in seiner Per¬
sönlichkeit organisch zu verschmelzen, das Teilhaben zu einem Moment der
inneren Wesenhaftigkeit zu verinnerlichen. Erst indem durch diese spontane
Dialektik die ästhetische Widerspiegelung aus nichts anderem besteht als aus
solchen wesentlichen Beziehungen von Menschen zueinander und anderer¬
seits die gesellschaftlichen Formationen in den Menschen als ihre tiefsten Lei¬
denschaften erscheinen, kann die Kunst auch auf diesem Gebiet jede Feti¬
schisierung entfernen und das Gesellschaftliche in freudige und leidvolle, in
positiv oder negativ wesentliche menschliche Beziehungen auflösen.
Damit sind wir von einer anderen Seite her wieder bei der Philosophie des
Details in der Kunst angelangt. Ihre vollständige Behandlung wird erst im
zweiten Teil möglich, wo in der Analyse der Struktur des Kunstwerks die
Kategorie der Totalität, das Problem des Ganzen und der Teile in den Mit¬
telpunkt der Betrachtung rückt. Aber die Konvergenz von Substanz und
Wesen muß auch noch vom Aspekt der Konvergenz von Akzidenz und Er¬
scheinung ins Auge gefaßt werden, und es ist ohne weiteres klar, daß wir da¬
mit dem Problem des künstlerischen Details sehr nahekommen. Auch im
Leben kann jede Gegenständlichkeit und jede Beziehung von Objekten un¬
mittelbar nur von den Details her erfaßt werden. Schon hier, insbesondere in
der Arbeit, aber nicht bloß in ihr (man denke etwa an die Menschenkenntnis
im Verkehr der Menschen untereinander), muß sofort eine scharfe Schei¬
dung zwischen mehr oder weniger bloß zufälligen Details gemacht werden
und zwischen solchen, die ihrerseits mehr oder weniger deutlich auf die wahre
Beschaffenheit des betreffenden Gegenstandes etc. hinweisen und die für des¬
sen Beschaffenheit kennzeichnend, symptomatisch sind. Ist diese Unterschei¬
dung im Leben zumeist empiristischen Charakters und darum großen Schwan¬
kungen unterworfen, so entsteht für die wissenschaftliche Widerspiegelung
der Wirklichkeit - und als Übergang zu ihr schon für die Arbeit - die Not¬
wendigkeit einer sehr genauen, möglichst systematischen Sichtung, um die De¬
tails, die nur transitorisch, flüchtig, zufällig auftauchen von jenen abzuson¬
dern, deren Vorkommen mit dem Wesen der Sache in enger Verbindung
steht. Es gehört naturgemäß dazu, daß das Feststellen des bloßen Zusammen¬
auftretens nicht genügt, daß auch dessen kausale Gründe möglichst vollstän¬
dig erforscht werden müssen. Abstrakt angesehen geht auch in der ästheti-
Inhärenz und Substantialität 757
sehen Widerspiegelung ein ähnliches Unterscheiden vor sich. Sie schlägt je¬
doch in doppelter Hinsicht völlig andere Wege ein als die wissenschaftliche:
einerseits ist die Auswahl viel strenger und zugleich endgültiger, denn alles,
was sich vom Gestaltungsziel aus nicht als notwendig erweist, scheidet völ¬
lig aus der »Welt« des Kunstwerks aus, andererseits will die Gestaltung den
Anschein des Lebens erwecken, d. h. die mit größter Sorgfalt gesichteten De¬
tails sollen so dargebracht, so gruppiert etc. werden, daß in ihnen zugleich
die Wahllosigkeit des Lebens mit allen seinen Zufälligkeiten zum Ausdruck
gelange. Daß diese innig verschlungene Doppeltendenz sich in verschiedenen
Kunstarten, Stilen, bei verschiedenen Künstlerpersönlichkeiten auf verschie¬
dene Weise durchsetzt, ändert nichts daran, daß sie in dieser Allgemeinheit
das Prinzip einer jeden künstlerischen Wiedergabe des Details bildet.
Auch darin äußert sich der spontane Materialismus und die spontane Dialek¬
tik der künstlerischen Praxis. Denn philosophisch ausgedrückt bedeutet sie
eine Bejahung der Objektivität der Erscheinung, zugleich mit der der
Objektivität des Wesens unter notwendiger widerspruchsvoller Verbun¬
denheit beider miteinander. Die strenge Auswahl der Details wiederum ist
eine der wirksamsten Verkörperungen jener Angemessenheit der Kunst an die
tiefsten Lebensbedürfnisse der Menschheit, von der bereits wiederholt die
Rede war. Auch hier zeigt sich deren spezifische Beschaffenheit darin, daß das
Kunstwerk den Phänomenen des Lebens ihre brutale Faktizität, ihre leere
Zufälligkeit nimmt und das gestaltete Stück Wirklichkeit nicht nur formal
zu einem Ganzen abrundet, sondern als Voraussetzung dieser Tendenz die
dargestellten Phänomene als organische Bestandteile eines sinnvollen Zusam¬
menhangs hinstellt. Daß diese Sinnerfüllung nicht einfach mit einem Zufrie¬
denstellen hedonistischer Wünsche identisch ist, haben wir bereits gezeigt.
Hier ist nun die Konvergenz der Inhärenz mit der Dialektik der Erscheinun¬
gen handgreiflich faßbar. Der Zweifel an ihrer Objektivität entsteht eben in
den meisten Fällen infolge ihres flüchtigen, transitorischen, unfesten, oft un¬
zusammenhängenden Charakters, was Hegel so ausdrückt, daß die Erschei¬
nung in ihrem Verhältnis zum Wesen sich unmittelbar als Schein darstellt und
deswegen das »Moment des Nichtdaseins« in sich enthält L Die innere Dia¬
lektik von Erscheinung und Wesen treibt von diesem bloß unmittelbaren Aus¬
gangspunkt zum Offenbarwerden der innig verbundenen Objektivität beider.
Diesen Weg geht auch die abbildende subjektive Dialektik der Wissenschaft.
ein jeder rationale Zusammenhang der Tatsachen in Frage gestellt: die Tore
des Denkens sind für den Irrationalismus weit geöffnet. Diese fetischistische
Antinomik hat sich natürlich im Laufe der Geschichte in den verschiedensten
Formen gezeigt, ohne jedoch diese Polarität je überwinden zu können.
Auch in dieser Frage hat die Kunstentwicklung die spontan dialektische und
entfetischisierende Tendenz der ästhetischen Widerspiegelung deutlich gezeigt.
Da in der Literatur das Problem der Kausalität die größte und sichtbarste
Rolle spielt, scheint es nützlich, mit unseren Analysen hier einzusetzen und
auf andere Künste erst dort zu spredien zu kommen, wo die für sie spezi¬
fischen Kategorien hervortreten. Wenn von einer entfetischisierenden Ten¬
denz der Literatur in dieser Hinsicht die Rede sein soll, so versteht sich von
selbst, daß diese keineswegs ein Leugnen, einen Versuch zur Eliminierung
der Kausalität sich als Ziel setzen darf, denn das wäre ja nur der eine Pol
der fetischistischen Antinomik, sondern bloß danach strebt, dieser Kategorie
in der Totalität der ästhetisch widergespiegelten Welt die ihr zukommende
Stelle zuzuweisen. Diesen Weg ist philosophisch auch Hegel gegangen. Nach¬
dem er die »Nichtigkeit und Inhaltslosigkeit« jener Denkrichtungen kriti¬
siert, die mit Möglichkeit und Wirklichkeit einen scholastischen Spuk trei¬
ben, sagt er zusammenfassend, es käme an »auf die Totalität der Momente
der Wirklichkeit, welche sich in ihrer Entfaltung als die Notwendigkeit er¬
weist 1«. Diese Beurteilung der Lage, nämlich die Totalität der Momente,
kann auch für uns als Ausgangspunkt dienen, obwohl, wie wiederholt her¬
vorgehoben, die Beschaffenheit der Totalität und der aus ihr folgenden kon¬
kreten Probleme in der ästhetischen Widerspiegelung eine eingehende Be¬
handlung erst im zweiten Teil dieses Werkes, bei der Zergliederung der
Struktur des Kunstwerks erfahren kann. Immerhin tendiert die enge Kon¬
vergenz der verschiedenen Kategorien so stark auf die Totalität, daß wir,
auch ohne ihre ausführliche Untersuchung, mit dem Begriff der Totalität der
Momente unsere gegenwärtigen Probleme zu erhellen imstande sein werden;
um so mehr, als ja die Frage der intensiven Unendlichkeit der Momente schon
wiederholt in unsere Betrachtungen einbezogen wurde.
Wenn wir uns nun den konkreten Problemen der Literatur zuwenden, so
muß von der allgemein bekannten und nur ausnahmsweise nicht anerkannten
Tatsache ausgegangen werden, daß die Literatur eine Widerspiegelung der
Handlungen, Begebenheiten der sie begleitenden, von ihnen hervorgerufenen
Gedanken und Gefühle der Menschen in der Gesellschaft ist. Es kann also
keinem Zweifel unterliegen, daß die Verbindung der Handlungen, Be¬
gebenheiten, Gefühle etc. unmittelbar, aber auch objektiv kausalen Charak¬
ters ist. Es fragt sich bloß: ist eine sogar lückenlose kausale Verknüpftheit
zwischen diesen Bestandteilen eines Dichtwerks für dessen Vollendung als
treue und evokative Widerspiegelung der Wirklichkeit ausreichend? Diese
Frage hat die Ästhetik, vor allem die Dramaturgie, seit langer Zeit beschäf¬
tigt, freilich zumeist ohne daß die philosophische Frage nach der Geltungs¬
art der Kausalität in der Literatur direkt aufgeworfen wurde. Indirekt ist
dieses Problem freilich oft fühlbar, so in Lessings kritischen Zergliederungen
Corneilles oder Voltaires, so in Schillers Klagen über das Prosaische in der
historisch strengen Motiviertheit des Wallenstein-Stoffes, so in zahlreichen
Betrachtungen über die Rolle des Zufalls. Schelling war meines Wissens der
erste, der für die Motivierung des Dramas diese Frage philosophisch stellte,
wenn auch bei ihm nur die negative Seite, die Kritik der empirischen Kausali¬
tät, wie er sie bezeichnet, klar zum Ausdruck kommt. Er sagt: »Da selbst alle
empirische Notwendigkeit nur empirisch Notwendigkeit, an sich betrachtet
aber Zufälligkeit ist, so kann die echte Tragödie auch nicht auf empirische
Notwendigkeit gegründet sein. Alles, was empirisch notwendig ist, ist, weil
ein anderes ist, wodurch es möglich ist, aber dieses andere selbst ist ja nicht
an sich notwendig, sondern wieder durch ein anderes. Die empirische Not¬
wendigkeit würde aber die Zufälligkeit nicht aufheben. Diejenige Notwen¬
digkeit, die in der Tragödie erscheint, kann demnach einzig absoluter Art
und eine solche sein, die empirisch viel mehr unbegreiflich als begreiflich ist.
Inwiefern selbst, um die Verstandesseite nicht zu vernachlässigen, eine empi¬
rische Notwendigkeit in der Aufeinanderfolge der Gegebenheiten eingeführt
wird, muß diese doch selbst nicht wieder empirisch, sondern nur absolut be¬
griffen werden können. Die empirische Notwendigkeit muß als Werkzeug
der höheren und absoluten erscheinen; sie muß nur dienen, für die Erschei¬
nung herbeizuführen, was in dieser schon geschehen ist1.« Der schwache
Punkt in der Argumentation Schellings ist leicht einzusehen; es ist ein Appell
an eine »absolute Kausalität«, also ein Verschieben des Problems ins
Transzendente und damit eine bloße Verdoppelung der falschen Frage an
Stelle einer wirklichen konkreten Antwort. Gesteigert wird diese Unzuläng¬
lichkeit dadurch, daß Schellings transzendente Scheinlösung ins Irrationali-
stische hinüberschillert, da sie für ihn »viel mehr unbegreiflich als begreiflich
ist«. Schellings Kompromiß, seine scheinbar absolute, aber doch bloß als
absolut hingestellte empirische Notwendigkeit, weicht der eigentlichen Frage,
der ästhetischen Rationalität (Notwendigkeit) der Dichtwerke aus.
Immerhin stellt er richtig die Identität von empirischer Notwendigkeit und
Zufälligkeit fest. Engels hat diese Identität in der objektiven Wirklichkeit
mit humorvoller Drastik illustriert. Er zeigt, wie diese Art von Determinis¬
mus aus dem französischen Materialismus in die Naturwissenschaften über¬
ging (und weist später auch darauf hin, daß religiöse Konzeptionen, wie die
von Augustinus oder Calvin, auf dasselbe hinauslaufen): »Nach dieser Auf¬
fassung herrscht in der Natur nur die einfache direkte Notwendigkeit. Daß
diese Erbsenschote fünf Erbsen enthält und nicht vier oder sechs . . . daß
mich vorige Nacht ein Floh um vier Uhr morgens gebissen hat und nicht um
drei oder fünf, und zwar auf die rechte Schulter, nicht aber auf die linke
Wade, alles das sind Tatsachen, die durch eine unverrückbare Verkettung
von Ursache und Wirkung, durch eine unerschütterliche Notwendigkeit her¬
vorgebracht sind, so zwar, daß bereits der Gasball, aus dem das Sonnen¬
system hervorging, derart angelegt war, daß diese Ereignisse sidi so und
nicht anders zutragen mußten b« Es ist klar, daß auf solche Weise das Ver¬
hältnis von Zufall und Notwendigkeit objektiv und vor allem für die ästhe¬
tische Widerspiegelung vollständig vernichtet werden würde. Denn wie be¬
reits gezeigt wurde, besteht zwischen allen literarisch widergespiegelten Tat¬
sachen eine Flierarchie. Wir haben über diese im Zusammenhang mit den
Kategorien Substanz-Akzidenz und Wesen-Erscheinung gesprochen, es be¬
darf jedoch keiner eingehenden Analyse, um zu sehen, daß diese ihrerseits
aus zwangsläufigen Gründen der Komposition zu dem Gegensatzpaar Not¬
wendigkeit-Zufälligkeit konvergieren, daß ihre Hierarchie auch dieses zum
Inhalt haben muß. Diese hierarchische Forderung ist keineswegs formalen
Charakters, es kommt in ihr im Gegenteil das Allerwesentlichste des dichte¬
rischen Gehalts zum Vorschein, nämlich das Bestreben, das Leben selbst im
Zusammen seiner Kompliziertheit und Gesetzlichkeit treu abzubilden. Diese
Treue besteht jedoch nur in der Beziehung der Totalität des Werks zur Ganz¬
heit des Lebens, und diese muß, infolge des bereits oft hervorgehobenen Plu¬
ralismus der Kunstarten, immer innerhalb der Bedürfnisse eines bestimmten
Genres betrachtet werden; erinnern wir uns an die Feststellung Schillers, der
wobei der Gehalt darüber entscheidet, was in ihm als notwendig, was als zu¬
fällig zu gelten hat. Diese Bestimmung - in ihrer so allgemeinen Fassung -
könnte aber ohne sofortige Konkretisierung leicht in einen Widersinn oder in
eine formalistische Leere Umschlägen. Denn einerseits hängt es nicht vom sub¬
jektiven Belieben des Dichters ab, was er als notwendig, was er als zufällig
auffassen möchte. Da sein Werk die Widerspiegelung der Wirklichkeit von
einem Aspekt aus ist, den der Lebensprozeß objektiv darbietet, ist er - bei
Strafe des Mißlingens in der Gestaltung — an die großen Linien der objektiven
Entwicklung selbst gebunden; daß diese ihm einen weiten Spielraum der Aus¬
wahl und der Auslegung darbieten, hebt diese Bindung keineswegs auf. Ande¬
rerseits und innerhalb des eben bezeichneten Spielraums muß sich die Totalität
des jeweiligen Werks inhaltlich wie kategoriell weiter konkretisieren, um als
Kriterium in der richtigen Weise wirksam werden zu können. Dies geschieht
auf der von uns bereits bezeichneten Linie der Substantialität. In der konkre¬
ten Totalität eines jeden Werks entsteht eine einheitliche, alle seine Pole
durchdringende Substanz, innerhalb deren Homogeneität alle Personen, Be¬
ziehungen, Gegenstände etc. ihre spezifische Substanz erhalten. Dieser Kom¬
plex von Substanzen, teilhabend an dem fundamentalen Ganzen, ergibt nun
das Kriterium für den Charakter der überall durchlaufenden Kausalketten.
Das erhellt schon für den ersten Anblick etwas sehr Wichtiges: jene Kausal¬
verbindungen, die geeignet sind, die Substanz einer Gestalt klarer hervor¬
treten zu lassen oder gar ihre innere Entfaltung, ihren Gang zur Selbsterfül¬
lung zu fördern, verlieren dadurch den Charakter der bloßen, nackten Zu¬
fälligkeit. D. h. an sich bleiben sie, was sie sind, sie stehen jedoch infolge
dieser ihrer Funktion innerhalb der Dynamik der Totalität nicht mehr in
einem antagonistischen Widerspruch zur Notwendigkeit, die sich in der
Komposition des Ganzen äußert. Die Aufgabe des Dichters besteht also nicht
darin, durch sorgfältige Motivierung den zufälligen Charakter solcher Kau¬
salverbindungen abzuschwächen oder gar aufzuheben; die Rolle, die sie auf
einer Etappe der Komposition in dieser Hinsicht spielen, reicht für ihre eben
geschilderte Aufhebung aus, und ein Mehr als diese bloße Tatsache, in all
ihrer Zufälligkeit, ist eine Belastung, keine Hilfe. Darum ist es ein Wesens¬
zeichen großer, an Lebensgehalt reicher und tiefer Dichter, daß sie mit sou¬
veräner Unbekümmertheit derartige Zufälle handhaben. Man denke an Tol¬
stois »Krieg und Frieden«. Als der schwerverwundete Andrej Bolkonski auf
den Operationstisch gelegt wird, sieht er im selben Zimmer Anatol Kuragin,
seinen Rivalen, den Zerstörer seines Lebensglücks, dem gerade ein Bein ampu¬
tiert wird. Dieses zeitliche und örtliche Zusammentreffen ist an sich ein
y66 Die defetischisierende Mission der Kunst
brutaler Zufall. Dessen Abstraktheit wird aber dadurch - und nur dadurch -
aufgehoben, daß der Anblick Kuragins den Anfang jener letzten Reinigungs¬
krise Bolkonskis auslöst, die den eigentlichen dichterischen Gehalt des folgen¬
den Teiles ausmacht. Indem die Gegenwart Kuragins zu einem solchen aus¬
lösenden Anlaß reduziert wird, hebt sich hier dichterisch der Gegensatz von
Notwendigkeit und Zufall auf. Tolstoi schreckt aber auf dem menschlich und
dichterisch notwendigen letzten Entwicklungsweg Andrej Bolkonskis auch
vor dem Heranziehen weiterer Zufälle nicht zurück: bei seinem Transport
ins Hinterland wird Bolkonski - zufällig - gerade ins Haus der Rostows
getragen, und zwar - zufällig - gerade in dem Augenblick, als diese sich zur
Abfahrt rüsten. Das ist wieder zur Kulmination, zur endgültigen Klärung der
Beziehungen von Andrej Bolkonski und Nastascha Rostowa dichterisch not¬
wendig. Indem nun Tolstoi auf diesem Weg den Leser zur endgültigen Klärung
des Verhältnisses zweier entscheidender Hauptfiguren führt, indem die hier ent¬
stehende Katharsis zu einem wichtigen Moment der endgültigen Perspektive
des ganzen Werkes wird, stehen diese (und andere mit derselben Souveräni¬
tät mobilisierten) Zufälligkeiten dichterisch in keinerlei antagonistischem Ver¬
hältnis mehr zur historisch-menschlichen Notwendigkeit, die von der Totali¬
tät des Werks ausstrahlt. Im Gegenteil: gerade solche Zufälle nehmen dieser
Notwendigkeit alles Kalte und Konstruierte, verleihen ihr die Wärme der
Lebensnähe, einer Abbildung des gesamten Lebensprozesses mit seiner Ver¬
wirrtheit in den Einzelheiten, mit seiner Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit
als Ganzes, aber nur als Ganzes.
Wir mußten dieses Beispiel etwas ausführlicher zerlegen, damit deutlich sicht¬
bar werde: es ist gerade die Substantialität des ganzen Werks und in ihm die
Beschaffenheit der einzelnen Substanzen, die als Auswahlprinzip, als Krite¬
rium im Widerstreit von Notwendigkeit und Zufälligkeit die Entscheidung
fällen. Um diese Lage besser zu klären, muß aber die Beziehung zwischen
Substantialität, und zwar sowohl im Ganzen wie in den Teilen, und zwi¬
schen Kausalität auch in ihren höchsten Formen als Gesetzlichkeit noch kon¬
kreter erfaßt werden. Eine wichtige Tendenz zur Entfetischisierung besteht
im Ästhetischen darin, daß keine Gesetzlichkeit in ihrer reinen, an sich seien¬
den Objektivität zur Darstellung gelangt; »das Gesetz, wonach du angetre¬
ten«, sagt Goethe, und darin ist die in immer neuen Aspekten erscheinende
Doppelseitigkeit der ästhetischen Widerspiegelung klar ausgedrückt. Nämlich
einerseits, daß Inhalt, Form, Geltungsart, etc. des objektiven Gesetzes restlos
aufbewahrt bleiben, da ja im Ästhetischen dieselbe Wirklichkeit mit dem An¬
spruch auf Treue widergespiegelt wird wie in allen Sphären des menschlichen
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit
767
Daseins. Andererseits wird jedes Gesetz auf den Menschen, auf die mensch¬
lichen Verhältnisse, auf die diese vermittelnden Gegenstände bezogen, d. h.
das annähernd richtig reproduzierte Gesetz erscheint nicht in seinem gesam¬
ten objektiven Umkreis, in seinen gesamten objektiven Verzweigungen etc.
— darauf ist das Interesse der wissensdiaftlichen Widerspiegelung gerich¬
tet —, sondern es wird als wirkende Macht in die Welt der menschlichen
Schicksale einverleibt, es kommt von ihm nur so viel und nur auf solche
Weise zum Ausdruck, wie es für deren immanente Dialektik entscheidend
wird und wie diese entscheidende Rolle beschaffen ist.
Wie überall, wo wir derartige methodologische Abweichungen der ästheti¬
schen Widerspiegelung von der wissenschaftlichen beobachten, offenbart sich
auch hier nie ein Minus, vielmehr stets eine wichtige Wahrheit des Lebens.
Mit ihrer spontanen Dialektik ist deshalb die ästhetische Widerspiegelung
nicht selten in der Lage, wichtige dialektische Sachverhalte zum Ausdruck zu
bringen, die die philosophische Reflexion über die Methodologie der Wis¬
senschaften erst später zur Bewußtheit erhebt. So auch im Fall der Gesetzlich¬
keit. Die allmähliche Entdeckung dieser Kategorie und insbesondere die der
konkreten Gesetze war eine derart entscheidende Ereignisreihe in der Fort¬
entwicklung der Menschheit, daß oft, sogar für längere Perioden, der Begriff
des Gesetzes verabsolutiert (und damit zuweilen fetischisiert) wurde; daß da¬
gegen metaphysisch, irrationalistisch opponierende Strömungen dieses Feti-
schisieren mit verkehrtem Vorzeichen nur steigern, versteht sich für uns be¬
reits von selbst. Auch hier ist es Flegels Verdienst gewesen, mit der Fetischi¬
sierung des Gesetzesbegriffs denkerisch-dialektisch zu brechen. Für seine Auf¬
fassung ist »das Reich der Gesetze . . . das ruhige Abbild der existierenden
oder erscheinenden Welt«. Diesem »ruhigen Inhalt« gegenüber hebt Flegel
die Bedeutung hervor, die die Erscheinungswelt im Gegensatz zur »einfachen
Identität« des Gesetzes besitzt. Sie hat denselben Inhalt wie das Gesetz,
»aber sich im unruhigen Wechsel und als die Reflexion in anderes darstel¬
lend. Sie ist das Gesetz als die negative sich schlechthin verändernde Exi¬
stenz, die Bewegung des Übergehens in das Entgegengesetzte, des sich Auf¬
hebens und des Zurückgehens in die Einheit. Diese Seite der unruhigen Form
oder Negativität enthält das Gesetz nicht; die Erscheinung ist daher gegen
das Gesetz die Totalität, denn sie enthält das Gesetz, aber noch mehr, näm¬
lich das Moment der sich selbst bewegenden Form L«
Erst auf dieser Grundlage wird es für den dialektischen Materialismus mög¬
lich, die Gesetzlichkeit im Kontext der an sich seienden Welt und ihrer wis¬
senschaftlichen Widerspiegelung in den richtigen Proportionen, entfetischi-
siert, aufzufassen. Das bedeutet unter keinen Umständen ein Unterschätzen
der realen und erkenntnismäßigen Bedeutung der Gesetze, selbst in Fällen,
in denen ihre »reine« Verwirklichung theoretisch und praktisch gar nicht in
Frage kommen kann. In einem Brief an Conrad Schmidt kommt Engels auf
den Feudalismus zu sprechen. Er weist nach, daß dieser sich im Laufe der
Geschichte nirgendwo und niemals in reiner Form verwirklicht hat, mit Aus¬
nahme im »Eintagekönigreich Jerusalem«. Er fügt aber zugleich hinzu:
»War diese Ordnung deswegen eine Fiktion, weil sie nur in Palästina eine
kurzlebige Existenz in voller Klassizität zustande brachte, und auch das nur
größtenteils - auf dem Papier1?« Dieselbe Lage für die Erkenntnis unter¬
sucht Lenin vom Standpunkt der Geltungsart solcher »Reinheit«; in einem
polemischen Kriegsaufsatz schreibt er: »>Reine< Erscheinungen gibt es
weder in der Natur, noch in der Gesellschaft und kann es auch nicht geben -
das lehrt gerade die Marxsche Dialektik; und zwar zeigt sie uns, daß der Be¬
griff der Reinheit selber eine gewisse Beschränktheit und Einseitigkeit der
menschlichen Erkenntnis ist, die den Gegenstand nicht in seiner ganzen Kom¬
pliziertheit bis zu Ende erfaßt2.«
Diese Einsicht in das reale dialektische Verhältnis von Gesetz und Erschei¬
nung, die sich die wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit und ihr
methodologisches Bewußtsein in der Philosophie durch ein jahrtausendelan¬
ges Ringen mühsam erobert hat, ist für die spontane Dialektik der großen
Kunst von Anfang an etwas Selbstverständliches. Würde man Homer oder
die griechischen Tragiker in bezug auf das Abbilden dieser Beziehungen ana¬
lysieren, so könnte man überall - natürlich ohne theoretische Begründung
und sicher ohne theoretische Bewußtheit über die eigene Praxis - dieses dia¬
lektische Verhältnis vorfinden. Dieses »sie wissen es nicht, aber sie tun es«
darf uns aber auch hier nicht dazu verführen, bei diesem Tatbestand als bei
einem der Vernunft unzugänglichen »je ne sais quoi« stehenzubleiben. Wir
müssen vielmehr bestrebt sein, das, was die ästhetische Widerspiegelung in
Kunstwerken realisiert, auf den Begriff zu bringen. Wir müssen deshalb den
Gesichtspunkt aus erneut ins Auge fassen, so zeigen sich in ihm deutliche Ele¬
mente dessen, was soeben über seine Wirklichkeit in den bildenden Künsten
analysiert wurde. In der Intonation, wie wir sie literarisch aufgefaßt haben,
ist dieses plötzliche, sinnlich unmittelbare Hinstellen und zur Hinnahme
Evozieren eines qualitativen Geradesoseins zweifellos enthalten. Die Wucht,
mit welcher die spezifische Substantialität in einer dichterischen Exposition
- wir verweisen erneut auf die Anfangsszenen des »Hamlet« — ohne jede
Begründung oder wenigstens mit sehr unwesentlichem Gewicht des Be¬
gründetseins sich durchsetzt, hat eine tiefe ästhetische Ähnlichkeit mit jenen
malerischen Phänomenen, die eben beschrieben wurden. Auch hier erscheint
in der Form der Unmittelbarkeit eine Gestalt, eine Situation etc. in ihrem
Geradesosein, und die Wirkung der Intonation beruht unmittelbar auf ihrer
substantiellen Durchschlagskraft, auf der Evokation eines qualitativ einzig¬
artig bestimmten Seins. Mit der Intonation ist aber dieser Typus der Wir¬
kung keineswegs erschöpft. Wir erinnern an frühere Ausführungen in anderen
Zusammenhängen, in denen wir auf den Schock aufmerksam machten, der
durch das richtige, einzigartig treffende Benennen eines Gegenstandes, einer
Situation etc. entsteht. Das, was man oft die »Magie« der Lyrik nennt, be¬
ruht darauf, obwohl diese »Magie« mit der wirklichen natürlich nichts zu
tun hat. Hier beruhte die — eingebildete — Wirkung auf dem Namen
schlechthin, dort ist es immer ein Wortzusammenhang, der einen Komplex
in seiner schlicht-evidenten Substantialität evoziert. Die Gegenständlichkeit
erweckende Macht der Sprache macht hier etwas, das dem früher analysier¬
ten, sich selbst beweisenden Wirklichkeitserlebnis der bildenden Künste ent¬
spricht, natürlich innerhalb jener Differenzen, die durch die Eigenart der ver¬
schiedenen Künste gesetzt sind. Der Unterschied (und die Ähnlichkeit) drückt
sich in dem aus, was wir früher den Quasiraum der Literatur genannt haben.
Indem die von der Intonation etc. evozierte Substantialität in ihrer Entfal¬
tung, die der zeitliche Ablauf der Dichtung mit sich bringt, sich als identisch
behauptet, indem jedes zeitliche Moment der Evolution nicht nur nach vor¬
wärts weist und leitet, sondern zugleich das Abgelaufene konserviert, be¬
reichert, neue Seiten an ihm erlebbar macht, entsteht in der Totalität des
Schriftwerks etwas, das - bei allen durch die Verschiedenheiten der homoge¬
nen Medien bedingten Differenzen - in den letzten, allgemeinsten ästhetischen
Prinzipien der Gestaltung, freilich nur in diesen, den bildenden Künsten recht
nahekommt.
Das Spezifische an der Literatur ist hier, daß dabei eine nachträgliche Be¬
gründung, eine Motivierung des Anfangs durch den Schluß sichtbar wird. Es
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 777
handelt sich auch hier nicht einfach um das umgekehrte Erlebnis einer Kausal¬
reihe. Dieses ist natürlich darin mitenthalten, reicht aber zum Verständnis des
Phänomens nicht aus. Vor allem wäre es allein für sich genommen eine höchst
prosaische Einsicht, das bloß intellektuelle Feststellen einer ursächlichen Ver¬
knüpfung. Was entsteht, ist jedoch weit eher ein platonisches Staunen, das nur
nicht, wie in den bildenden Künsten, als subjektive Reaktion simultan mit
dem Werk gesetzt ist, das vielmehr erst am Abschluß vollendet werden kann
und das seinen Gegenstand und die notwendige Reaktion darauf in gedop¬
pelter Art zeigt. Es zeigt sie als Erschüttertsein über den nicht vorausseh¬
baren, nicht einmal der Ahnung und der Phantasie zugänglichen unendlichen
Reichtum einer Welt, entstanden aus den Verknüpfungen von Menschen,
ihren Taten, sie berührenden Begebenheiten und zugleich als eine unzertrenn¬
bare Einheit der Substanz, wo das Ende dem Wesen nach im Anfang bereits
enthalten war, sich jedoch zum Schluß als etwas ungeahnt Neues offenbart.
Die Ganzheit der geschichtlichen Welt kann im Leben, bei großen Wendun¬
gen, beim Abschluß schicksalsreicher Perioden ähnliche, gedoppelte Ausblicke
darbieten. Das Staunen ist aber dann nur ein Ausgangspunkt, ein Ansatz zur
Analyse, um Erkenntnis und Praxis zu fördern. In der ästhetischen Wider¬
spiegelung erscheint diese Verdoppelung als etwas, das - dem Prinzip nach -
jedem Lebensphänomen innewohnen könnte; sie wird aber aus einer abstrak¬
ten Möglichkeit zur konkreten Wirklichkeit nur durch die ästhetische Wider¬
spiegelung dieses selben Lebens erhoben. Hier ist die unterschiedliche Rolle,
die die Kategorie der Substantialität in der wissenschaftlichen und in der
ästhetischen Widerspiegelung spielt, deutlich sichtbar. In jener ist sie der Aus¬
gangspunkt für bestimmte Untersuchungen, in dieser die Einheit von intonie¬
rendem Anfang und krönendem Abschluß. (In den bildenden Künsten bilden
diese beiden Momente eine unmittelbare Einheit, in der nur die nachträgliche
Analyse - subjektiv - diese beiden Momente auseinanderlegen kann.)
778
Zehntes Kapitel
Die Dichtung ist zugleich Entdeckung des Lebenskerns und Kritik des Le¬
bens. Diese Doppeltheit kann nicht energisch genug betont werden. Denn
das von uns beschriebene Phänomen ist ja allgemein bekannt und taucht in
den ästhetischen Betrachtungen immer wieder auf. Unter den besonderen
ideologischen Bedingungen verschiedener Perioden wird jedoch die allein
richtige ganze Wahrheit, das Festhalten der dynamischen Totalität aller
wesentlichen Bestimmungen, oft in eine Halbwahrheit, d. h. in eine ganze
Falschheit verzerrt. Denn gleichviel, ob man aus diesem Komplex die Ob¬
jektivität, die annähernd richtige Widerspiegelung der Wirklichkeit, wie sie
an sich ist, eliminiert, oder ob man das ästhetische Abbild der Welt von seiner
Bezogenheit auf den Menschen (auf die Menschheit) zu befreien versucht, die
Verzerrung ist gleicherweise unvermeidlich. Ich habe in verschiedenen Stu¬
dien zu zeigen versucht, daß der ideologische Verfall einer Klasse, das, was
wir Dekadenz nennen, sich am prägnantesten in einer Gestörtheit der Sub¬
jekt-Objekt-Beziehung zu äußern pflegt, und zwar als ein oft simultan auf¬
tretender falscher Subjektivismus und falscher Objektivismusb In der
Periode vor dem ersten Weltkrieg hat die erste Tendenz geherrscht. Ihren
vielleicht plastischsten Ausdruck erhielt sie in Hugo von Hofmannsthals be¬
rühmt gewordenem Brief des Lord Chandos an Baco von Verulam. Der
Briefschreiber beklagt sich, wie bekannt, daß ihm jede Fähigkeit des zusam¬
menhängendes Denkens, der zusammenhängenden Apperzeption der Außen¬
welt abhanden gekommen ist. Als Ersatz dafür erhält er die Gabe zu seltenen
Erlebnissen: »Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum
Benennbares, das, in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner all¬
täglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie
ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet. Ich kann nicht erwarten, daß Sie
mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Albern¬
heit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene
Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines
Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder
dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein
Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich
plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in
meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das
auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen 1.« Es ist klar, daß es sich hier
in erster Linie nicht um die bloße Unaussprechbarkeit solcher Erlebnisse han¬
delt. Ihr Objekt ist von vornherein aus allen Zusammenhängen herausge¬
rissen; es ist auch nicht seine gegenständliche Ganzheit, die das Erlebnis her¬
vorruft. Vielmehr gerät eine desorientierte, weltverlorene Seele mit einem
zufälligen Moment eines zufälligen Gegenstandes in eine zufällig-singuläre,
rein partikulare Beziehung, die darum - prinzipiell und nicht bloß indi¬
viduell-psychologisch - unaussprechbar bleiben muß.
Diese hypertrophierte und darum auf das Nichts orientierte falsche Subjek¬
tivität wird später, schon nach dem Ende des ersten Weltkriegs von einer
ebenso hypertrophierten und darum ebenso falschen Objektivität abgelöst.
Auch hier können wir nur ein Beispiel anführen. Der französische Schrift¬
steller Alain Robbe-Grillet schreibt in einem programmatischen Artikel über
den Roman der Zukunft: »An Stelle dieses Universums von >Bedeutungen<
(psychologischen, sozialen, funktionellen) müßte man versuchen, eine solidere,
unmittelbarere Welt zu konstruieren. Es wäre vor allem notwendig, daß die
Gegenstände, die Gesten durch ihre Gegenwart wirken, und daß diese Gegen¬
wart auch später herrschend bleibe gegenüber jeder erklärenden Theorie, die
sie in irgendein sentimentales, soziologisches, freudisches, metaphysisches oder
anderes Beziehungssystem einsperren würde. In diesem zukünftigen romanti¬
schen Universum werden die Gebärden und die Gegenstände >da< sein,
bevor sie >etwas< sind; und sie werden auch später so bleiben, hart, unver¬
änderlich gegenwärtig für immer und sich über ihren eigenen Sinn lustig
machend, der vergebens sie zu prekären Nutzbarkeiten herabsetzen will,
zwischen einer formlosen Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft2.«
Man sieht hier deutlich den Gegenpol zur Fetischisierung des Subjekt-Objekt-
Verhältnisses bei Hofmannsthal. Bei diesem wurde alles zu einem rein zu¬
fälligen Anlaß, um irrationale seelische Kräfte freizusetzen, bei Robbe-Gril-
let sollen die Gegenstände und sogar die Äußerungsweisen der Menschen
(Gebärden) jede Verbundenheit mit dem gesellschaftlichen Leben, ja selbst
mit dem Innenleben des Menschen als Ganzem verlieren; es ist eine Tendenz
zur totalen Enthumanisierung der Wirklichkeit, die schon früher bei bekann¬
ten Schriftstellern auf getreten ist (man denke an die Zentralstelle des »Phalli-
schen« bei D. H. Lawrence).
Um nach diesem Exkurs, der notwendig war zur genauen Bestimmung unse¬
res Phänomens, zu seiner reinlichen Scheidung von solchen, die nur abstrakt¬
unmittelbar, ja fast nur verbal ihm analog scheinen, zur Sache selbst zurück¬
zukehren, sei vor allem als Überleitung an ein Naturerlebnis Goethes wäh¬
rend seiner italienischen Reise erinnert. Er betrachtet in Venedig verschiedene
Seetiere, Seeschnecken und Taschenkrebse und ruft begeistert aus: »Was ist
doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding! Wie abgemessen zu
seinem Zustande, wie wahr! wie seiend M« Dieses Goethesche »Staunen« hat
natürlich seiner Persönlichkeit entsprechend einen doppelten Aspekt: es kann
als Ausgangspunkt zu naturwissenschaftlichen Forschungen ausgelegt wer¬
den - und sicher spielt das hier ausgedrückte Verhalten, der sich hier zei¬
gende Blick für die Methodologie der Studien Goethes eine große Rolle -,
es offenbart jedoch gleichzeitig seine dichterisch-künstlerische Attitüde zur
Wirklichkeit; daß bei Goethe beide Züge sehr stark konvergieren, ist eine all¬
gemein bekannte, auch durch viele Selbstbekenntnisse belegte Tatsache. Wir
haben hier nicht die Aufgabe, seine wissenschaftliche Methodologie zu unter¬
suchen, für uns ist bloß wichtig, daß bei einer scheinbar so geringfügigen Ge¬
legenheit der Einheitspunkt zwischen Leben, Kunst und Wissenschaft, die Iden¬
tität der von diesen widergespiegelten Welt sichtbar wird, und zwar in einem
Stadium des »Staunens«, in welchem die Wege von Wissenschaft und Kunst
sich noch nicht getrennt haben. Daran ist für die künstlerische Widerspiegelung
höchst wichtig, daß das auslösende Objekt bereits in einer deutlichen Bestimmt¬
heit erscheint und daß es dementsprechend eine Verzerrung des Phänomens,
seine Fetischisierung ist, wenn — wie in den eben aufgezeigten polar entgegen¬
gesetzten Beispielen - die weitere künstlerische Arbeit entweder subjektivistisch
oder objektivistisch den Reichtum an Beziehungen auszulöschen bestrebt ist.
Aus alledem folgt wieder die absolute Notwendigkeit für das ästhetische
Setzen: auf Grund einer dialektischen Widerspiegelung der Wirklichkeit die
Beziehung zu ihr zu finden. Natürlich ist diese Dialektik, wie wir in vielen
Fällen bereits sehen konnten, auch in der Alltagspraxis deutlich sichtbar;
auch in dieser wäre es unmöglich zu existieren und erfolgreich zu handeln,
wenn die für den Menschen seelisch in Betradrt kommende Widerspiegelung
einen bloß photographischen Charakter hätte. Das aktive Beteiligtsein des
Subjekts an Art und Ergebnis der Widerspiegelung wird jedoch in der Arbeit
und in der sonstigen unmittelbaren Praxis des Alltags mehr oder weniger
spontan, in der Wissenschaft bewußt, vermittels des desanthropomorphisieren-
den Verhaltens korrigiert. Man darf aber nicht vergessen, daß in diesem sub¬
jektiven Faktor der Widerspiegelung zwei Elemente der Beziehung zur Wirk¬
lichkeit in ihrer Unmittelbarkeit ungetrennt enthalten sind: erstens jene Mo¬
mente der Erscheinungswelt, die einfach subjektive Zutaten zur Widerspie¬
gelung bilden (Wirkung der spezifisch menschlichen Sinnesorgane etc.), zwei¬
tens der objektive Anteil der Menschengattung (und der sie bildenden Indivi¬
duen) an der Beschaffenheit, Struktur etc. der Wirklichkeit selbst, ihre aus
dem Wesen der Sache folgende Bezogenheit auf das Menschsein der Men¬
schen. Diese unmittelbare Einheit wird von der desanthropomorphisierenden
Widerspiegelung aufgehoben und in ihre wahrhaft objektiven Komponenten
aufgelöst, um eine neue Synthese der rein objektiven, an sich seienden Zu¬
sammenhänge erfassen und festhalten zu können.
Das zweite Motiv spielt im ethischen Verhalten der Menschen eine wichtige
Rolle. Eine menschliche Entschließung kann nämlich aus dem Kausalnexus
des gesellschaftlich-geschichtlichen Ablaufs nicht herausgehoben werden, aber
dennoch besitzt sie, ethisch angesehen, einen besonderen Wirklichkeitsakzent,
den der Verantwortlichkeit des sie fassenden Individuums. Diese kann frei¬
lich auch für die hervorbringenden Ursachen und aus den hervorgebrachten
Folgen entstehen; aber darin ist ein qualitativer Unterschied von der eigent¬
lichen Verantwortung vorhanden: bei dieser ist der Entschluß selbst ihr eige¬
ner Gegenstand, bei jener die subjektive Verpflichtung, gewisse Tendenzen
der Wirklichkeit erkannt, gewisse ihrer Konsequenzen vorausgesehen zu
haben. Es ist natürlich hier nicht der Ort, die so entstehende Dialektik näher
zu verfolgen. Sicher ist aber, daß die oben aufgezeigten falschen Extreme
- mutatis mutandis - auch im Bereich der Ethik von entscheidender Bedeu¬
tung sind: das vollständige Ignorieren der objektiven Außenwelt kann die
reinsten und selbstlosesten moralischen Gesinnungen in eine Donquixotterie
verwandeln, während das widerstandslose Hinnehmen der Begebenheiten der
Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
78 4
lung kommt darin zur Geltung, daß sie entscheidend von der Beschaffenheit
ihres Subjekts abhängt. Nur aus einem reichen Leben kann eine echte und
reiche Kunst entstehen, sagte gelegentlich Gorki. Dieser Reichtum muß sich
natürlich nicht unbedingt in einer äußerlichen Bewegtheit des Lebens offen¬
baren, er muß aber im Erleben der Welt lebendig vorhanden sein, muß in¬
folge der richtigen Proportionalität von Subjektivität und Objektivität aus
dem Subjekt ein Substantielles formen, damit das Werk die für seine Echt¬
heit unerläßliche Substanz besitze. Die Frage: wer widerspiegelt die Wirk¬
lichkeit? läßt sich von der Frage, was und wie widergespiegelt wird, prinzi¬
piell gar nicht trennen. Das scheinbar phantastischste, weltentrückteste
Werk kann — in diesem Sinne — eine echte Widerspiegelung der Wirklich¬
keit sein; und es muß, wenn die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit
die Beziehung von Subjektivität und Objektivität trübt und verwirrt, auch
die Welt der Werke substanzlos werden.
Die Verwirrung, von der eben die Rede war, zeigt sich zumeist als ein volles
oder partielles Leugnen des Widerspiegelungscharakters der Kunst. Das hat
freilich alte philosophiegeschichtliche Traditionen. Da bis zu Marx der Mate¬
rialismus nur eine mechanische Widerspiegelung gekannt hat, konnten selbst¬
redend die komplizierteren Fragen der Ästhetik von hier aus unmöglich ge¬
löst werden. Bedeutende Materialisten wie Diderot halfen sich, indem sie in
Einzelbetrachtungen - per nefas - dialektische Momente in die mechani¬
sche Theorie der Widerspiegelung einschmuggelten; idealistische Dialektiker
wie Hegel haben - ebenfalls per nefas - in Konzeptionen wie dem identi¬
schen Subjekt-Objekt oft im einzelnen richtig erfaßte, unbewußte Anwen¬
dungen der dialektischen Widerspiegelungslehre eingebaut. Das bezieht sich
jedoch nur auf die hervorragendsten Denker. Es ist nach solchen Voraus¬
setzungen verständlich, daß in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte eine
Ablehnung der Widerspiegelungstheorie herrschend wurde. Richtungen wie
Expressionismus oder Surrealismus versuchen die ganze Kunst aus einer rätsel¬
haften Selbsttätigkeit des weltlosen Subjekts abzuleiten, und selbst scharf¬
sinnige Denker, wie der von uns bereits kritisierte Caudwell, wollen eine
solche, auf angebliche magische Überreste zurückgreifende reine Subjektivi¬
tät wenigstens für die Lyrik retten. Alledem gegenüber ist es bemerkenswert,
daß, wo bedeutende Künstler über ihr Handwerk nachdenken, sie immer
wieder bei einer Rückkehr zur Widerspiegelung der Wirklichkeit landen.
Wir wollen gar nicht von Tolstoi sprechen, der, wo er philosophisch zu den¬
ken versucht, immer unter den Einfluß subjektiver Idealisten gerät, jedoch
da, wo er einen echten Künstler gestaltet (wie z. B. beim Maler Michailow in
786 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
»Anna Karenina«), dessen Theorie und Praxis immer schlicht auf die Wider
spiegelungslehre zurückführt. Aber selbst ein Schriftsteller wie Proust kann
nicht umhin, auf die Widerspiegelung zurückzugreifen, wenn er sich die Lyrik
eines so modern-subjektivistischen Dichters wie Mallarme, der in den mo¬
dernen Theorien ein Vorbild der »reinen«, also nicht widerspiegelnden Sub¬
jektivität vorstellt, zu verdeutlichen sucht. Er schreibt in einem Jugendbrief
über Mallarme: » .. . möchte ich ... von diesem Dichter im allgemeinen
sagen, daß dessen dunkle und leuchtende Bilder zweifellos noch Abbilder von
Dingen sind, denn wir können uns nichts anderes vorstellen; aber sozusagen
widerspiegelt von der glatten und dunklen Fläche des schwarzen Marmors h«
In diesem Fall ist nicht bloß die von der Logik der Dinge erzwungene An¬
erkennung der Widerspiegelungslehre wichtig, sondern das geistvoll und tref¬
fend hingestellte Bild vom subjektiven Medium der Widerspiegelung. Und
damit sind wir mitten in unserem gegenwärtigen Problem. Die Widerspiege¬
lungstheorie des dialektischen Materialismus wie jede ihrer Anwendungen
auf Gebiete, wo der Mensch als Subjekt figuriert, ist weit entfernt davon,
Rolle und Bedeutung der Subjektivität herabzusetzen, geschweige denn zu
leugnen. Ja, man kann im Gegenteil ruhig behaupten, daß gerade er im¬
stande ist, diese weitaus konkreter zu fassen als irgendeine extrem sub-
jektivistische moderne Theorie. Denn in diesen Theorien erscheint die Sub¬
jektivität als etwas derart abstrakt Unmittelbares, daß darin alle echten
Bestimmungen und Unterscheidungen verschwinden oder verkümmern müs¬
sen; daß der Subjektivität abstrakt-emphatisch ein ungeheures, ihr nicht
gebührendes, von ihr nicht zu tragendes Gewicht zugesprochen wird; daß
sie sich - in ihrer partikularen Einzelheit - zum alleinigen Demiurgen
jedes Schöpferischen deklarativ erhöht. So kann hier dem Wesen der Sache
nach nichts Konkretes über die Subjektivität ausgesagt werden. Der dialek¬
tische Materialismus dagegen, gerade weil er von der realen Funktion der
Subjektivität in der ästhetischen Widerspiegelung (und in der Ethik, in der
geschichtlichen Praxis etc.) ausgeht, kann die Subjektivität in einer weitaus
reicheren und tieferen Differenzierung erhellen, als diese Lehren. Wenn wir
nun bei der ästhetischen Widerspiegelung bleiben, aber bedenken, welch große
und komplizierte Aufgaben diese dem schöpferischen Subjekt aufbürdet, wird
es klar, daß eine Analyse auf dieser Grundlage Probleme der Differenzie¬
rung aufwirft, in welchen die ästhetische Geeignetheit des Subjekts zu einer
1 Proust an Reynaldo Hahn, Paris, August 1896. Neue Rundschau 1957, II. S. 316.
Der Mensch als Kern oder Schale 787
Marx zeigt in der »Heiligen Familie« sehr klar die Unwahrheit und Brüchigkeit
solcher Vorstellungen über den Menschen als »Atom«. Wk. a. a. O. Bd. III, S. 296.
2 R. Musil: Tagebücher etc. a. a. O. S. 303.
Der Mensch als Kern oder Schale 789
Unmittelbar beziehen sich diese Zeilen auf die Naturerkenntnis, und des-
nalb ist die persönliche Ermahnung der letzten Zeilen ebenfalls unmittelbar
an die Naturforscher gerichtet. Jedoch einerseits bei dem intimen Zusammen¬
hang zwischen Goethes Naturforschung und künstlerischer Praxis, anderer¬
seits bei seiner Auffassung der Naturwissenschaften, die, wie wir seinerzeit
gezeigt haben, historisch angesehen ein Nachhutgefecht gegen das siegreiche
Aufsteigen der desanthropomorphisierenden Methoden war, glauben wir, das
Der Mensch als Kern oder Schale 791
Recht zu besitzen, das Epigramm vor allem auf unser ästhetisches Subjekt¬
problem anzuwenden. Wir sind dazu um so berechtigter, als der Abschluß
des Gedichts zwar Goethes naturphilosophisdres Credo enthält, objektiv sich
jedoch nur auf die ästhetische, nicht auf die naturwissenschaftliche Wider¬
spiegelung der Natur beziehen kann. Diese Schlußworte Goethes lauten:
»Ist nicht der Kern der Natur / Menschen im Herzen?«
Hier wendet sich Goethes Gedanke sachlich - gegen seinen weltanschau¬
lichen Willen - von der ansichseienden Natur ab und wendet sich entschieden
dem Ästhetischen zu. Denn diese Natur, deren Kern im Herzen des Menschen
ist, könnte philosophisch nur durch eine idealistische Konstruktion erlang¬
bar sein, die Goethe vollständig fremd war. Dagegen ist, wie bisher oft ge¬
zeigt wurde, gerade das Zusammen von Objektivität und Zentriertsein auf
das Wesentlichste und Innerlichste im Menschen das entscheidende Kenn¬
zeichen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Der berechtigte
und fruchtbare Anteil der menschlichen Subjektivität an dieser Mimesis be¬
steht gerade im Setzen dieser Bezogenheit, freilich nicht als subjektive Zutat
zu einer an sich subjektfremden Objektwelt, sondern so, daß dieses Geriditet-
sein auf den Menschen als inhärente, ansichseiende Eigenschaft der wider¬
gespiegelten Gegenstände in Erscheinung trete. Gerade hierfür gewinnt die
Goethesche Unterscheidung von Kern und Schale eine ausschlaggebende Be¬
deutung. Wir haben früher auf Beziehungen zur Ethik in der Entwicklung
des Menschen zur Substantialität hingewiesen, auf die Rolle, die darin das
richtige Verhältnis in Aufnahme und Aufarbeitung der Außenwelt spielt.
Jetzt, im Sinne der Goetheschen Zweiteilung der Menschen nach ihrer
Beschaffenheit als Kern oder Schale, erscheint der Rückgriff auf die Ethik
in einem klareren Licht: es handelt sich nicht so sehr um die ethischen Katego¬
rien im eigenen Sinne - diese sind, allgemein prinzipiell gesprochen, für alle
Menschen in gleicher Weise verpflichtend -, als vielmehr um ein Resultat,
das die für die betreffenden Menschen zu Fleisch und Blut gewordene Ethik
und das in reicher Wechselwirkung mit der Welt geführte Leben in ihnen
hervorbringt, um ihre allgemeine Verhaltensweise, um ihre innere Beschaffen¬
heit als ganze Menschen. Diese Auffassung kommt in »Wilhelm Meister«, in
den Briefen Goethes und Schillers über diesen Roman ganz klar zum Aus¬
druck als eine Ethik der Menschen ihrem Sein nach, im Gegensatz zu den
rigorosen moralischen Postulaten Kants. Und wenn die Kernhaftigkeit des
Menschen dabei mitunter allzu eng an das Harmonische der Individualität
geknüpft wird, ist damit doch der Mittelpunkt dieser ihrer Bestimmtheit ge¬
troffen. Ohne auch hier in der Lage zu sein, die ethischen Verästelungen
79 * Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziebung in der Ästhetik
dieses Problemkreises weiter zu verfolgen, kann über seine uns vor allem
interessierende ästhetische Seite gesagt werden: die Frage, ob der Mensch
Kern oder Schale sei, heißt, ob er - menschlich gesprochen - würdig und
darum fähig sei zur angemessenen Widerspiegelung der Welt, ob seine Per¬
sönlichkeit geeignet sei, »Spiegel der Welt« zu sein. (Heine über Goethe.)
Mit dem rezeptiven Verhalten zu den Kunstwerken werden wir uns alsbald
eingehend beschäftigen. Hier muß nur, vorwegnehmend, gesagt werden, daß
auch beim Rezeptiven das Problem der Verbindung von Kernhaftigkeit des
Menschen und seiner Fähigkeit, die Welt angemessen zu spiegeln, notwendig
auftaucht und, freilich in abgewandelten Formen, zum Wesen seines ästheti¬
schen Erlebnisses gehört.
Damit ist eine neue Genielehre ausgesprochen, deren Wesen sich sogleich
- vorerst negativ - darin äußert, daß sie jeden Irrationalismus an der
Genialität weit von sich weist. Natürlich ist auch hier eine Ausführung, die
die notwendigen Kennzeichen des Genies umschreiten würde, eine Aufzäh¬
lung seiner entscheidenden Eigenschaften, eine Feststellung ihrer unerlä߬
lichen Proportion etc. von vornherein unmöglich. Jedes Genie (auch jedes Ta¬
lent) stellt eine einmalige, selbst in entfernter Ähnlichkeit unmöglich wieder¬
kehrende Beziehung zwischen Mensch und Zeitalter, Mensch und gesellschaft¬
licher Wirklichkeit, Mensch und Mitmensch, Mensch und Natur dar. Aber
eine solche völlig unaufhebbare Einmaligkeit kann doch zum Begriff erhoben
werden, wenn sie nicht, wie dies häufig geschieht, bloß in ihrer isolierten Be¬
gebenheit betrachtet wird, sondern, wie hier vorgeschlagen, in der obigen
Wechselbeziehung mit ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Umwelt. Die un¬
vergleichliche Einmaligkeit von Genie (und Talent) erscheint darin in einem
konkreten historischen Konnex, wobei es möglich wird, ganz allgemeine
- und nur in dieser Allgemeinheit variiert wiederkehrende - Bestimmun¬
gen aufzudecken und auszusprechen. Diese Frage kann hier nicht in ihrer
wirklichen Breite und Tiefe behandelt werden; es ist aber klar, daß das, was
in diesen Zusammenhängen als Kernhaftigkeit des Menschen bezeichnet
wurde, eine wichtige, ja unerläßliche Basis für Genie (und Talent) im Men¬
schen ist. Wir wissen, welche weiten und verzweigten Vermittlungen zwischen
Einzelmenschen und Menschengattung in Wirksamkeit treten müssen, damit
in den Kunstwerken die jeweilige Etappe der Menschheitsentwicklung un-
vei fälscht echt und evokativ evident werde. Nun zeigen unsere bisherigen Er¬
örterungen, daß das, was hier der Kern im Menschen genannt wurde, gerade
das wichtigste Vermittlungsglied zwischen der menschlichen Persönlichkeit
und der Menschheit in ihm, zwischen ihren inneren und äußeren Emanatio-
Der Mensch als Kern oder Schale 793
nen ist; während die im Menschen als Schale bezeichneten Tendenzen not¬
wendig durch die Herrschaft der falschen Extreme in Subjektivität und Ob¬
jektivität vom Zentrum zur Peripherie, zur bloßen Partikularität und zur
sie polar ergänzenden Abstraktheit drängen. Mit alledem schließen wir bloß
an unsere früheren Betrachtungen an, indem wir freilich diese auf ein höheres
und - dem Wesen des Ästhetischen entsprechend - menschlicheres Niveau
heben. Wir haben schon früher das jetzt Ausgeführte an die Entäußerung
und ihre Rücknahme ins Subjekt angeknüpft, jetzt können wir einen ähn¬
lichen Zusammenhang mit der defetisdiisierenden Mission erblicken. Man
kann also in dieser Hinsicht den Sinn der Goetheschen Verse so zusammen¬
fassen, daß das Kern-Sein des Menschen mit einem entfetischisierenden Blick
auf die Welt, das Schale-Sein mit einem Sich-Beugen vor fetischisierenden
Vorurteilen simultan gesetzt ist. Goethe führt uns damit ins Zentrum dieses
ganzen Problemkomplexes ein. Je tiefer wir verstehen lernen, daß die ästhe¬
tische Widerspiegelung imstande ist, die Welt des Menschen von fetischisti¬
schen Vorurteilen befreit zu erfassen und zu reproduzieren, lernen, daß dieser
Akt nicht mit einer gedanklich-bewußten Einsicht in die wissenschaftlichen
oder philosophischen Aspekte dieses Komplexes verbunden auftreten muß,
desto wesentlicher erscheint der hier gegebene geniale Hinweis Goethes.
Damit konkretisiert sich aber diese Anschauung Goethes noch weiter. In
seinen Konfessionen über die eigene Naturanschauung tritt neben dem sub¬
jektiven Gegensatz von Kern und Schale immer stärker der von Innen und
Außen in den Vordergrund, die Subjektauffassung konsequenterweise von
der Seite der Objektstruktur, der Subjekt-Objekt-Beziehung aus ergänzend.
So sagt er: »Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; / Denn was innen, das ist
außen.« Und auf das Subjekt rückverweisend: »Wir denken: Ort für Ort/
Sind wir im Innern.« Und er führt endlich dieses Problem wieder zum Aus¬
gangspunkt, zu den Polen von Kern und Schale zurück, wenn er, wie be¬
reits angeführt, sagt: »Ist nicht der Kern der Natur / Menschen im Herzen?«
Erst der letzte Ausspruch Goethes weist - unbeabsichtigt, aber sachlich aus¬
drücklich - auf das Ästhetische hin. Unmittelbar mag im spinozistischen
Sinn die letzthinnige Einheit von Denken und Sein im Verhältnis des Men¬
schen zur Natur, deren Produkt und Teil er eben ist, gemeint gewesen sein.
Ästhetisch konkretisiert sich das Innere dahin, daß die von der Tätigkeit
des Menschengeschlechts durchdrungene Natur - die Natur im Stoffwechsel
mit der Gesellschaft - ein derartiges Verhältnis von Innen und Außen ver¬
wirklicht, daß alle Erscheinungen der Natur in innigem Zusammenhang mit
der Existenz des Menschen stehen, daß deshalb, ganz wörtlich, nicht mehr
794 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
metaphorisch, ihr Kern unmittelbar die Seele des Menschen berührt, ihr inne¬
wohnt: der echte Künstler muß »bloß« diese objektiv überall vorhandene
Einheit von Innen und Außen bis zur ästhetischen Substantialität steigern,
ihre absolute Einheit evokativ bewußt machen. Von hier aus rückblickend
erhält der Standpunkt Goethes: »Natur hat weder Kern noch Schale« erst
seinen richtigen Sinn: die Einheit von Innen und Außen in der Natur bedeu¬
tet für sie selbst die Hinfälligkeit einer Unterscheidung zwischen Kern und
Schale; eine soldie ist ein rein menschliches Problem, das seine Lösung aller¬
dings erst im Verhalten des Menschen zu seiner Welt, zur Natur finden kann,
und zwar in dem Sinne, daß die Kernhaftigkeit des Menschen sich in seiner
Fähigkeit, Innen und Außen in ihrer Einheit wahrzunehmen, zu denken und
zu empfinden, äußert; daß seine Kernhaftigkeit zugleich die Voraussetzung
und die Folge einer solchen Sicht ist, während umgekehrt die Beschaffenheit
des Menschen als Schale mit dem Zerreißen der Verbindung zwischen Innen
und Außen in einem ähnlich notwendigen Verhältnis steht.
Obwohl wir, wie wiederholt hervorgehoben, die komplizierteren Beziehun¬
gen von Inhalt und Form erst im zweiten Teil eingehend behandeln können,
muß schon hier auf die ästhetische Konvergenz dieses Kategorienpaares mit
dem von Innen und Außen erneut hingewiesen werden. Die absolute Zu¬
sammengehörigkeit von Innen und Außen, ihre Tendenz zur Identität ist
eine Tatsache des Lebens, ebenso wie ihre relative Divergenz, ja - in Grenz¬
fällen - deren Zuspitzung zur Gegensätzlichkeit. Wäre aber das erste Mo¬
ment nicht das dialektisch übergreifende, so wäre ein Verkehr der Menschen
miteinander von vornherein unmöglich. Dieser setzt, gewissermaßen als
implizites Axiom des gesellschaftlichen Lebens, einen wesentlichen Zusam¬
menhang zwischen Innerem und Äußerem voraus. Dazu kommt, daß in vie¬
len Fällen bloß der Schein einer Spannung zwischen ihnen besteht, weil das
jeweilige Subjekt ihre wesentliche objektive Einheit nicht erkennt und zwi¬
schen dem falsch ausgelegten Äußeren und darum unerhellt gebliebenen Inne¬
ren eine Diskrepanz erblickt. In bezug auf die Welt der Natur kommt über¬
haupt nur diese Form des Sich-Widersprechens in Betracht. Hegel sagt: »Das
Äußere ist nach dieser Bestimmung dem Inneren, dem Inhalte nach nicht nur
gleich, sondern beide sind nur Eine Sache ... die Sache ist selbst nichts ande¬
res, als die Einheit beider 1.« Das ist eine derart elementare Tatsache des
Lebens, daß weniger ihr selbst gegenüber Zweifel berechtigt sind, als daß
man dazu getrieben wird, dort, wo dieser innige Zusammenhang des Äuße¬
ren und des Inneren in Zweifel gezogen oder geleugnet wird, den gesell¬
schaftlichen Gründen einer so offenkundigen Verirrung nachzugehen. In der
Wissenschaft ist sie höchst einfach. Denn wenn z. B. der subjektive Idealismus
ein unerkennbares »Innere« setzt, wie das Ding an sich Kants, die Wirklich¬
keit selbst, das riditige Verhältnis von Innerem und Äußerem aber beibehält
(nur daß eben — gedanklich - hinter diese Totalität ein beziehungsloses
Inneres projiziert wird), bleibt dies für die reale konkrete Erkenntnis völlig
bedeutungslos; die weltanschaulichen Folgen dieser Position brauchen wir
nicht zu untersuchen.
Für die Ästhetik ist das Leugnen der letzthinnigen Identität von Innerem und
Äußerem weitaus wichtiger, weil damit die Beziehung von Mensch und
Menschengeschlecht verdunkelt wird. Denn so sehr die Einheit von Innen und
Außen eine Grundtatsache des menschlichen Lebens ist, sie wirkt sich auf
dem Niveau der Partikularität nur tendenziell aus. Je stärker die auf Allge¬
meinheit drängenden Wesensformen (Klasse, Nation etc.) in der jeweiligen
Gesellschaft sichtbar zu Wirksamkeit gelangen, desto klarer tritt diese Ten¬
denz hervor. Die wachsende Bedeutung der Individualität hebt dieses Ver¬
hältnis nicht auf, obwohl es dadurch immer komplizierter wird. Es müssen
besondere gesellschaftliche Bedingungen auftreten, damit die Entwicklung
des persönlichen Lebens auch eine Richtung auf Ausschließlichkeit erhalte,
die Verbindung des Menschen mit den allgemeinen Mächten des Lebens ver¬
dunkle und dadurch den Schein erwecke, die Partikularität sei die alles be¬
stimmende Potenz eines jeden menschlichen Daseins. So bricht in das moderne
Denken diese Tendenz als Kierkegaards Lehre vom unaufhebbaren Inkognito
des Menschen ein, das auf einer sophistischen Polemik mit der hier angege¬
benen Auffassung Flegels basiert. Die ästhetische Wichtigkeit dieser objektiv
philosophisch unhaltbaren, weil allen objektiven Tatsachen des menschlichen
Lebens widersprechenden Theorie liegt darin, daß dasselbe gesellschaftliche
Sein, das die Kierkegaardsche Philosophie pionierhaft vorgeschickt hat, im¬
mer ausgebreiteter und tiefer zur weltanschaulichen Grundlage der künstle¬
rischen Praxis begabter Persönlichkeiten und einflußreicher Richtungen wurde.
Die Fetischisierung der menschlichen Umwelt zu einem irrationalen »System«
von sinnlos-antihumanen Mächten, der mensdffichen Innerlichkeit zu einer
hermetisch in sich abgeschlossenen und eingesperrten fensterlosen Monade,
deren Äußerung von den anderen Menschen notwendig mißverstanden
wird und die jede Äußerung der anderen Menschen ihrerseits nicht verstehen
kann, verarmt den Gehalt, verzerrt die Form in derartigem Ausmaße, daß es
796 Allgemeine 2iige der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
sogar unmöglich wird, das Abbild des Modells: die Menschenfeindlichkeit des
gegenwärtigen Kapitalismus, die totale Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens
in ihm künstlerisch auszudrücken. Denn wie in der objektiven gesellschaft¬
lichen Wirklichkeit der Mensch sich nur in der Gesellschaft vereinsamen kann,
so setzt objektiv selbst die konkrete Unausdrückbarkeit eines seelischen Zu¬
stands die normale, wenn auch im gegebenen Fall noch so gestörte Beziehung
von Innen und Außen voraus. Das unterscheidet etwa Kafkas »Prozeß« von
Becketts »Molloy«; bei jenem erscheint das absolute Inkognito des partiku¬
laren Menschen als empörende und Empörung evozierende Abnormität der
menschlichen Existenz, also - wenn auch negativ - doch auf der Basis des
Gattungsschicksals, während dieser sich selbstgefällig in der fetischisiert ver¬
absolutierten Partikularität niederläßt. Da es sich in der spontanen Anerken¬
nung der Identität von Innen und Außen um eine elementare Voraussetzung
des menschlichen Lebens, des Zusammenlebens der Menschen überhaupt han¬
delt, bestätigt dieser Gegensatz erneut die Goethesche Konzeption von Kern
und Schale. Die scheinbare Tiefe eines Beckett ist nichts weiter als ein Kle¬
benbleiben an gewissen Symptomen einer unmittelbaren Oberfläche, die der
Kapitalismus unserer Tage darbietet. Und was ist das anderes als das, was
Goethe als Schale bezeichnet hat?
Inhalt und Inneres konvergieren nicht nur ästhetisch; auch hier drückt das
ästhetische Verhältnis etwas Objektives, allerdings wie immer auf den Men¬
schen bezogen, aus. In den eben zitierten Gedankengängen nennt Hegel die
Identität des Inneren und des Äußeren »Inhalt und Totalität, welche das
Innere ist, das ebensosehr äußerlich wird 1«. Diese Identität erhält in der
ästhetischen Widerspiegelung eine weitere Intensivierung infolge der die re¬
zeptiven Erlebnisse leitenden, sie evozierenden Funktion der künstlerischen
Form. Das Künstlerische an jedem Inhalt hat zur Zeit der Entstehung des
Ästhetischen aus der noch undifferenzierten, chaotischen Einheitlichkeit der
magischen Lebensäußerungen und der Auseinandersetzungen mit ihrer Um¬
welt noch eine völlig spontane Erscheinungsweise. Die Menschen meinten
magische Zielsetzungen zu verwirklichen, als sie auf manchem Gebiet und in
vieler Hinsicht bereits hohe Kunst realisierten. Es ist selbstverständlich, daß
in dieser Periode eine begriffliche Trennung von Inhalt und Form, eine ge¬
sonderte Reflexion über die künstlerische Form in keiner Weise in ihr Be¬
wußtsein treten konnte. Natürlich haben sich die Schaffenden auch damals
1 Ebd.
Der Mensch als Kern oder Schale 797
Gedanken über die technische Vollendung ihrer Leistungen gemadit, und die
Logik der Sache mußte diese auch auf ästhetische Formprobleme überführen,
ohne daß sie deshalb als solche bewußt werden mußten, ja konnten. Unsere
Erfahrungen viel späterer Entwicklungsstufen zeigen, wie oft bedeutende
Künstler höchst wichtige Erkenntnisse über Formfragen als bloße technische
Neuerungen, Bedenken etc. formulierten. Das Ineinanderfließen von Technik
und Form gehört zum Wesen des schöpferischen Verhaltens - in der Litera¬
tur etwas weniger entschieden als in den bildenden Künsten und in der
Musik -, und ihre genaue begriffliche Unterscheidung bleibt eine Aufgabe
der Ästhetik.
Diese Tendenz wird noch dadurdr verstärkt, daß die ästhetische Form, wie
bereits wiederholt aufgezeigt, stets die Form eines bestimmten Inhalts ist.
Diese ihre Eigenart hat ihr ästhetisches Bewußtwerden entschieden erschwert.
Für den Schaffenden versdiwimmen, wie von der Seite seiner Aktivität Tech¬
nik und Form, von der Seite der jeweiligen konkreten Aufgabe Material, In¬
halt, Stoff etc. als Gegenstände des Formungsprozesses ineinander. Und ins¬
besondere, solange die gesellschaftliche Struktur dem Kunstwerk sehr be¬
stimmte Vorschriften sowohl für Inhalt wie Form gibt, ist es natürlich, daß
sich kein ästhetisch-philosophisches Nachdenken über das Verhältnis von
Form und Inhalt ausbildet, selbst wenn die Kunst schon längst zu einem
selbständigen sozialen Phänomen geworden ist. Der urwüchsige Materialis¬
mus und die spontane Dialektik im anfänglichen Denken verschmelzen sich
hier mit diesen in der ästhetischen Praxis ebenfalls notwendig wirksamen
Tendenzen. Erst die Herrschaft der idealistischen Philosophie drängt auf ge¬
nauere Trennungen, auf entschiedenere Stellungnahme. Der militante Anti¬
materialismus Platons und insbesondere die Ausbildung dieser seiner Denk¬
richtung ins Mystisch-Theologische bei seinen Nachfolgern führen zu einer
scharfen Absonderung von Inhalt und Form. Je mehr sich die auf der mythi¬
schen Spitze des Systems sich selbst aufhebende Form entmaterialisiert, desto
mehr steht sie zu den konkreten - den materiellen und irdischen - Inhalten
im Verhältnis einer scharf abgrenzenden Dualität. Da diese Formkonzep¬
tionen (und ihre theoretischen Folgen) mit der Allegorie im engsten Zusam¬
menhang stehen, werden wir sie im letzten Kapitel ausführlicher behandeln.
Für die gegenwärtige Problemlage ist sowieso die neue Abart des philoso¬
phischen Idealismus, der sich insbesondere unter Kants Einfluß ausgebreitet
hat, wichtiger. So stark er sich sonst vom antiken und mittelalterlichen Idealis¬
mus unterscheidet, er hat mit diesem doch die gemeinsame Tendenz, eine
tiefe Kluft zwischen Form und Inhalt aufzureißen. Schiller, der, wie der
798 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
1 Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Brief XIII. Über
meine Kritik der Kant-Schillerschen Auffassung vgl. mein Buch: Beiträge zur
Geschichte der Ästhetik, Berlin 1954, S. 11 ff.
2 Ebd. Brief XXII.
Der Mensch als Kern oder Schale 799
tion etc. zur Geltung; jede von ihnen strahlt gerade durch ihre äußere Er¬
scheinung ihr adäquates Innere unmittelbar-evokativ restlos aus. Die Er¬
kenntnis, daß diese »Welt« ihr ästhetisches Existieren der siegreichen Macht
der Formen verdankt, ist eine darauffolgende, allerdings auf ihr aufgebaute,
sie voraussetzende Reflexion.
Schiller trifft insofern den richtigen Zusammenhang der Kategorien, als der
Schaffensprozeß tatsächlich ein Weg vom gegebenen Stoff zu dessen vollen¬
detem Formwerden ist; genauer: das bloß lebenhafte Inhalt-Form-Verhält-
nis des Stoffes wird durch die künstlerische Arbeit dahin verwandelt, daß
für den reinen und wesentlichen Gehalt des Stoffes eine Form gefunden und
gestaltet wird, die wahrhaftig die Form dieses einzigartig bestimmten In¬
halts ist. Das ist aber nur die Bestimmung des Schaffensprozesses. Sein Ge¬
lingen drückt sich gerade darin aus, daß ein vollendet in sich geschlossenes
Werk entsteht, dessen evokative Wirkung auf den Rezeptiven aber bereits,
wie wir wiederholt gesehen haben, einen inhaltlichen Charakter hat: der
vom »Wallenstein« hingerissene Zuschauer bewundert unmittelbar nicht die
Weisheit Schillers, mit der er diesen herben Stoff entsprechend gegliedert,
aufgebaut, gesteigert etc. hat, sondern er wird vom Schicksal Wallensteins,
von den historisch-menschlichen Untergründen seiner Tragödie beeindruckt.
Daß diese Art von Wirkung bei Shakespeare noch stärker ist, ist ein Wink
für die ästhetische Rangbestimmung beider Dichter; man kann überhaupt be¬
obachten, daß diese Art der Wirkung gerade bei den Allergrößten - Homer,
Shakespeare, Cervantes, Tolstoi - aufzutreten pflegt, und daß eine sofortige,
spontan überwiegende Formwirkung - man denke etwa an Hofmannsthal,
an Valery etc. - zumeist ein Zeichen der geringeren weltumfassenden Sub-
stantialität der Dichterpersönlichkeit ist. Und damit führt auch diese Analyse
zur Bestätigung des Goetheschen Einordnens der Menschen nach ihrem Wesen
als Kern oder Schale; daß es dabei innerhalb dieser Pole eine unerschöpfliche
Variabilität an Zwischenstufen gibt und geben muß, ändert an der funda¬
mentalen Bedeutung dieser Bestimmung nichts.
Die Wirkung des Werks geht den entgegengesetzten Weg. Es ist natürlich
auch hier unmöglich, das sehr komplizierte Bild der Rezeptivität analytisch
zu zergliedern und seine verschiedene Abstufungen, Niveauunterschiede etc.
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 803
vom schlichten Auf nehmen des Werks bis zu den höheren Graden der ästhe¬
tischen Bewußtheit typologisch aufzuzeigen; auch dies gehört zum Aufgaben¬
kreis des zweiten Teiles. Diese notgedrungen vorausgeschickten Bemerkungen
müssen sich also auf die Wirkung des Werks im unmittelbarsten Sinne be¬
schränken; nur um eventuelle Mißverständnisse zu verhüten, sei schon hier,
später zu Sagendes vorwegnehmend, festgestellt, daß die in der Rezeptivität
entstehende ästhetische Bewußtheit auch einen begrifflichen Charakter hat:
unmittelbar ein Reflektieren über Gründe und Voraussetzungen der Not¬
wendigkeit des ästhetischen Erlebnisses. Wesensart, Entwicklung etc. dieser
Reflexionen können jedenfalls erst später dargelegt werden; so viel kann
man aber schon jetzt über sie aussagen, daß in ihnen unmöglich die Identität
selbst von Form und Inhalt im Werk ästhetisch reproduziert werden kann,
auch nicht der Weg zu ihr, wie er als Aufgabe des schöpferischen Prozesses
erscheint, sondern bloß eine gedankliche, begriffliche Klärung des Verhält¬
nisses von Form und Inhalt. Wenn also auf diesem Niveau von der Identität
des Inhalts mit der Form die Rede ist, so ist ihre genuine Identität im Werk
hier nur das Objekt der Reflexion; die reale Verwirklichung kann nur im
gestalteten Werk selbst erfolgen. (Kritik als Kunst ist ein modernes Vor¬
urteil.) In den folgenden Betrachtungen wird also nur von der schlicht un¬
mittelbaren Wirkung des Werks die Rede sein. Alle Entwicklungen, die
daraus folgen, alle Komplikationen, die sich dabei ergeben, müssen einer spä¬
teren Analyse überlassen werden.
Mit dieser Einschränkung kann nunmehr wiederholt werden, daß die Wir¬
kung des Werks den entgegengesetzten Weg geht wie der Schaffensprozeß:
dieser führt die ästhetisch gereinigten und ästhetisch homogen gemachten
Lebensinhalte zur Formvollendung, zur Identität von Inhalt und Form, zur
Aufgipfelung des Inhalts in die konkrete Form des Werks; jene leitet mit
Hilfe des das Formsystem unterbauenden und ermöglichenden homogenen
Mediums den Rezeptiven in die Welt des Werks: die Form schlägt hier in
Inhalt um. Will man diese einfachste und unmittelbarste Beziehung der Re¬
zeptivität gedanklich richtig erfassen, so muß ihre doppelte Bestimmtheit
festgehalten werden: einerseits der rein oder vorwiegend inhaltliche Charak¬
ter des Erlebnisses. Ob Dichtung oder Malerei, Architektur oder Musik: der
Rezeptive wird in eine ihm neue und doch alsbald vertraute Welt eingeführt.
Wenn dieses Vertrautwerden mit der Welt des Werks nicht zustande kommt,
entsteht keine echt ästhetische Wirkung; das bloße Gefesseltsein, um Musils
Ausdruck zu wiederholen, schafft eine überwiegend gedankliche Beziehung
zum Inhalt - allerdings auch hier hauptsächlich zum Inhalt - und eine
804 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
Bewunderung für die technische Vollendung; diese wird nur dann ästhetisch,
wenn sie aus dem Evoziertwerden des Inhalts bewußt herauswächst. An die¬
sen vom Werk hervorgerufenen Erlebnissen einer neuen Welt kann man ästhe¬
tisch nicht Vorbeigehen, und deren Hauptinhalt ist: die Aneignung eines be¬
stimmten Inhalts. Andererseits kann dieses Erlebnis nur dann ästhetisch wer¬
den, wenn es von den Formen des Kunstwerks evoziert wird. Die bloße Mit¬
teilung eines wenn auch noch so stark gefühlsbeladenen Inhalts, ohne eine
solche vermittelnd-evozierende Rolle der Form, bleibt ein Inhalt des Lebens,
der natürlich, wie dort, Emotionen, Gedanken etc. erwecken kann, jedoch
ohne die für das Ästhetische spezifische Gedoppeltheit: diese ist ein Heraus¬
gehobensein aus dem Leben des Alltags, jedoch ohne dadurch den Kontakt
mit der Wirklichkeit verloren zu haben; das, was wir die Welthaftigkeit der
Kunstwerke genannt haben, besteht gerade in einem solchen Konfrontieren
des Rezeptiven mit dem Wesen der Wirklichkeit selbst, das eben deshalb un¬
möglich das unmittelbare Leben selbst sein kann, sondern »bloß« seine künst¬
lerische Widerspiegelung. Wie im Schaffensprozeß der Inhalt immer form¬
gesättigter wird, bis er die Identität von Form und Inhalt als Werkstruktur
verwirklicht, so ist jener Inhalt, jene »Welt«, die das Objekt des schlicht re¬
zeptiven Erlebnisses bildet, von vornherein und bis in alle seine Poren hinein
das Produkt jener besonderen Form, die den jeweiligen konkreten Inhalt des
Werks geprägt hat.
Die Formbestimmtheit des dem Wesen nach inhaltlichen »naiv«-rezeptiven
Erlebnisses erklärt sich aus jener Beschaffenheit der ästhetischen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit, die bereits früher dargelegt wurde: aus der Eigenart
des jeder Kunstart, jedem Kunstwerk zugrunde liegenden homogenen Medi¬
ums und aus der damit unzertrennlich verbundenen, die Erlebnisse leitenden
Funktion der künstlerischen Formung. Die verschiedenen homogenen Medien
mögen nicht nur nach Kunstarten, sondern auch nach Persönlichkeiten der
Künstler, sogar nach den Werkindividualitäten, geschaffen von demselben
Künstler, noch so verschieden sein, sie haben doch den gemeinsamen Zug,
daß sie den Rezeptiven in die besondere »Welt« des jeweiligen Werks ver¬
setzen — man denke an Formelemente wie Intonation, Exposition etc. —
und ihn gerade durch ihre Homogeneität, durch ihr Angelegtsein auf ein
planvolles Leiten der evozierten Erlebnisse darin festhalten. Das Versagen
der Formung kann vernünftigerweise nur so verstanden werden, daß es
dem Künstler nicht gelungen ist, seinem Werk die von ihm beabsichtigte welt¬
umfassende Homogeneität und darum die diesem immanent-inhärierende
Macht des Leitens zu verleihen. Ob dies die Künstler selbst oder die Kenner,
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 805
Kritiker etc. von der künstlerischen Absicht, von der Einheitlidikeit des
Kunstwollens etc. aus formulieren, ist gleichgültig, da der objektive Sinn
solcher Aussagen stets das Mißlingen der Intention auf eine solche inhalts¬
erfüllte Homogeneität ist; und diese wäre, wie in anderen Zusammenhängen
bereits nachgewiesen wurde, eine bedeutungslose Spielerei, wenn ihr keine
derartige eine homogene »Welt« aufbauende Tendenz innewohnen würde.
Cezanne war sicher ein um den unmittelbaren Erfolg wenig bekümmerter
Künstler. Dennoch zeigt es sich auch bei ihm sehr deutlich, daß sein immer
wiederholter Begriff des »Realisierens« gerade das von uns Angezeigte
meint. Wir zitieren einige Bemerkungen aus seinem Gespräch mit dem Mu¬
seumsdirektor Osthaus: »>Die Hauptsache bei einem Bild< sagte er, >ist, das
Räumliche zu treffen. Daran erkennt man das Talent eines Malers<. Als er
das sagte, folgten seine Finger den Begrenzungslinien der verschiedenen
Pläne auf seinen Gemälden. Er zeigte genau, wo es ihm gelungen war,
Tiefe zu suggerieren, und wo die Lösung noch nicht gefunden war. Hier sei
die Farbe Farbe geblieben, ohne Ausdruck für das Räumliche zu werden 1.«
Schon daß Cezanne das Gestalten eines konkreten Raums als Zentral¬
absicht seiner Landschaften bezeichnet, zeigt, wie wenig hier von einem
rein artistischen Bestreben die Rede sein kann; der Ausspruch »die Farbe
(ist) Farbe geblieben«, ist ein deutlicher Beweis gegen ein angebliches Vor¬
herrschen derartiger Velleitäten. Wie umfassend und geistig diese Tendenz
zur »Realisierung« gemeint ist, ist aus seinem Urteil über Courbet im selben
Gespräch deutlich wahrnehmbar. Aus anderen Äußerungen ist klar ersicht¬
lich, wie sehr er dessen Realisierungskraft bewundert. Auch in diesem Ge¬
spräch sagt er über ihn: »Er schätzte in ihm das unbeschränkte Talent, für
das es keine Schwierigkeiten gibt. >Groß wie Michelangelos sagte er, aber
mit der Einschränkung — >es fehlt ihm die höhere Geistigkeit<2.« Für
den rein malerisch denkenden Cezanne kann Geistigkeit in diesem Zu¬
sammenhang nichts anderes bedeuten, als einen Hinweis auf die Univer¬
salität im Gegenstandschaffen der Formen. Die leitende Funktion des homo¬
genen Mediums konzentriert also das rezeptive Erleben nicht nur auf ein
qualitativ bestimmtes Gebiet der Erlebbarkeit der Welt (hier auf reine
Visualität), sondern auch innerhalb ihres Bereichs auf bestimmte Momente
ihrer konkreten Erlebbarkeit (hier auf den Raum, ausgedrückt durch
Farbengebung). Und durch all das soll eine »Welt«, ein konkret qualitatives
Abbild der Universalität in der Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit
abgebildet werden, das alle Fähigkeiten des Menschen in seiner intensiven
Unendlichkeit vereinigt und konzentriert (hier als Problem der Geistigkeit,
die Cezanne offenbar bei Courbet - ob mit Recht oder Unrecht, ist hier
nebensächlich - deshalb vermißt, weil er sie selbst für die eigenen Werke
erstrebt).
Wenn man nun diese Lage vom Standpunkt des rezeptiven Erlebnisses be¬
trachtet, so kommt man auf das bereits früher behandelte Problem der Ver¬
wandlung des ganzen Menschen in einen Menschen ganz (auf die Universali¬
tät eines homogenen Mediums gerichtet) zurück. Der menschliche Gehalt
dieser Umwandlung läßt sich so aussprechen, daß der Mensch sich von dem
unmittelbaren und vermittelten Kontext des Lebens - wie wir sogleich sehen
werden: relativ — entfernt, sich von ihm loslöst, um sich der Betrachtung
eines konkreten Lebensaspektes, der die Welt als eine intensive Totalität ihrer
- von einer gewissen Warte sich ergebenden - entscheidenden Bestimmun¬
gen abbildet, temporär ausschließlich zuzuwenden. Der Unterschied zu der
entsprechenden Verhaltensweise des Schaffensprozesses ergibt sich aus der
Sache selbst: in dieser ist das aktive Prinzip das herrschende, die Rezeptivität
der Welt gegenüber ist zwar ein ununterbrochen wirksames, objektiv völlig
unentbehrliches Moment dieser Verhaltensweise; das Moment der Aktivität,
der allmählichen Verwandlung von Lebensinhalt in die Inhalt-Form-Identi-
tät des Werks muß dabei doch das übergreifende sein und bleiben. In der
unmittelbar dem vollendeten Werk gegenübergestellten Rezeption überwiegt
ebenso naturgemäß das Moment der Hinnahme, ja dieses Verhalten ist un¬
mittelbar und zunächst ausschließlich rezeptiv, aufnehmend. Wenn dabei
etwa die Phantasie aktiv wird, ergänzend, interpretierend auftritt, so hebt
dies die Grundhaltung des Aufnehmens nicht auf, ja gerade in dieser Helfer¬
rolle jeder seelischen Aktivität kommt der Primat der Kontemplation ganz
rein zum Ausdruck. Wie schon früher gezeigt, ist eine solche Suspension der
aktiven Tendenzen im Menschen, des Willens zum effektiven Eingreifen
in die konkreten Gegebenheiten der Umwelt, auch im Alltagsdenken ein
oft unentbehrliches Vermittlungsstadium zwischen der Zielsetzung selbst
und ihrer konkreten Realisierung; daß die wissenschaftliche Forschung dieses
Verhalten als Moment ebenfalls nicht missen kann, versteht sich von
selbst.
Die ästhetische Rezeptivität unterscheidet sich qualitativ von beiden. Von der
eisten vor allem darin, daß gerade das selbstgesteckte, konkret bestimmte
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 807
Ziel als Motiv zur Suspension der Aktivität fehlt. Weiter darin, daß die
Suspension der konkreten Aktivitäten im Leben aus den angegebenen Grün¬
den die Intention auf Aktivität nicht aufhebt; sie ist nichts weiter, als ein
reculer pour mieux sauter, so daß das Subjekt, der ganze Mensch, vor, nach
und während dieser Suspension unverändert derselbe bleibt. (Auf den Unter¬
schied zur Lage in der wissenschaftlichen Widerspiegelung brauchen wir nicht
näher einzugehen; er ist durch den Gegensatz der desanthropomorphisieren-
den zu den anthropomorphisierenden Tendenzen bestimmt.) Indem für die
ästhetische Rezeptivität die Suspension von Aktivität und Zielsetzung zu¬
gleich bewußt vorübergehend und absolut ist, entsteht die Notwendigkeit der
Umwandlung des ganzen Menschen in den Menschen ganz. Die leitend¬
evozierende Macht des homogenen Mediums bricht in das Seelenleben des
Rezeptiven ein, unterjocht seine gewohnte Art, die Welt zu betrachten, zwingt
ihm vor allem eine neue »Welt« auf, erfüllt ihn mit neuen oder neugesehe¬
nen Inhalten, und gerade dadurch wird er dazu veranlaßt, diese »Welt« mit
erneuerten, mit verjüngten Sinnesorganen und Denkweisen in sich aufzuneh¬
men. Die Verwandlung des ganzen Menschen in den Menschen ganz bewirkt
also hier eine sowohl inhaltliche wie formale, sowohl tatsächliche wie poten¬
tielle Erweiterung und Bereicherung seiner Psyche. Neue Inhalte strömen auf
ihn ein, die seinen Schatz an Erlebnissen vergrößern. Indem er durch das
homogene Medium des Werks angeleitet wird, sie aufzunehmen, das inhalt¬
lich Neue an ihnen sich anzueignen, entwickelt sich damit simultan seine
Wahrnehmungsfähigkeit, neue Gegenstandsformen, Beziehungen etc. als
solche zu erkennen und zu genießen.
Eine solche Auffassung des rezeptiven Verhaltens enthält an sich wenig
Neues. Wollen wir es aber wirklich richtig verstehen und bewerten, so müs¬
sen wir es - was in der modernen Ästhetik selten geschieht - im Zusam¬
menhang des ganzen menschlichen Lebens ins Auge fassen. Man verkennt es
nämlich, wenn man, wie dies häufig geschieht, bei der Wirkung des Werks den
Rezeptiven als eine seelische tabula rasa ansieht, als eine noch unbenutzte
Grammophonplatte, der die Wirkung Beliebiges aufprägen könnte. Anderer¬
seits ist es ebenso mangelhaft und führt Verwirrung herbei, wenn man die
ästhetische Wirkung mit ihrer eigenen Unmittelbarkeit einfach gleichsetzt,
ohne daran zu denken, wie sie im Rezeptiven nach ihrem Aufhören nach¬
klingt und nachwirkt. Wir glauben: ohne dieses Vorher und Nachher des
eigentlichen ästhetischen Eindrucks kann man sein eigenes Wesen nicht voll¬
ständig und darum den Tatsachen entsprechend beschreiben. Vor allem sei
betont: nie ist ein Rezeptiver dem Kunstwerk gegenüber ein weißes Blatt,
8o8 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
Menschen sind. Hm, hm, - unser Amt ist höllisch sdiwer<l.« Dieser Fall,
der nur durch die höchste Intensität beider Pole, durch die klare Bewußt¬
heit über den Konflikt ein Grenzfall ist, gibt ein klares Bild darüber, welche
Widerstände die Umwandlung des ganzen Menschen in den Menschen ganz
zuweilen zu überwinden hat, freilich zugleich auch darüber, daß die echte
Kunst über eine - prinzipiell - unwiderstehliche Macht verfügt, die Men¬
schen zur Rezeptivität zu zwingen, sie sich als ihr zugewandte Menschen
ganz zu unterwerfen. (Selbstverständlich tauchen ähnlich geartete Kollisio¬
nen auch im Schaffensprozeß auf. Da diese sich aber nicht auf das als voll¬
endet wirkende Werk beziehen - soweit der Künstler selbst solchen gegen¬
übersteht, ist er wesentlich, wenn auch mit nicht unwichtigen Abwandlungen,
ein Rezeptiver -, sondern auf ein sich in statu nascendi befindliches ge¬
richtet sind, da hier der künstlerischen Aktivität eine entscheidende Rolle
zukommt etc., müssen wir ihre Behandlung dem zweiten Teil über¬
lassen).
Nicht minder wichtig und nicht weniger theoretisch vernachlässigt ist die Be¬
ziehung der ästhetischen Rezeptivität zum Nachher der Wirkung. Die Sus¬
pension der konkreten Aktivität, der konkreten Zielsetzungen des ganzen
Menschen unterscheidet sich im Ästhetischen vom Alltag vor allem dadurch,
daß in diesem gerade das auf höherem Niveau fortgesetzt, gerade jenes Ziel
konkret erstrebt wird, um dessentwillen die Suspension erfolgte, während
die Rückkehr aus der ästhetischen Suspension ins Leben eine Rückkehr zu
jenen Aktivitäten ist, deren Kontinuität durch das künstlerische Erlebnis
unterbrochen wurde. Dieses selbst steht in den seltensten Fällen in einer un¬
mittelbaren Beziehung zu ihnen und auch dann ist der Zusammenhang vom
ästhetischen Charakter des Erlebnisses aus gesehen meistens ein zufälliger
oder zumindest ein mehr oder weniger vermittelter. Diese vom Leben iso¬
liert scheinende Wesensart der künstlerischen Erlebnisse führt in vielen idea¬
listischen Ästhetiken dazu, sie vollständig oder so gut wie vollständig vom
normalen Dasein der Menschen abzugrenzen; am prägnantesten erscheint
diese Tendenz in Kants Lehre von der »Interesselosigkeit« des ästhetischen
Verhaltens, die wir in anderen Zusammenhängen bereits gestreift haben.
Daraus scheint eine wesentliche Abgerissenheit des Ästhetischen vom aktiven
Leben zu folgen, die jedoch nur dann auch nur abstrakt konstruierbar ist,
wenn man das konkrete Nachher der ästhetischen Wirkung völlig verkennt.
Lebendige und progressive Richtungen in der Ästhetik, wie die der Antike,
der Aufklärung, der revolutionären Demokraten in Rußland etc., haben stets
die große gesellschaftliche Rolle der Kunst in den Vordergrund gestellt, die
nicht nur durch eine jahrtausendlange Praxis erwiesen, sondern auch theore¬
tisch aus dem Wesen der Kunst überzeugend ableitbar ist, vorausgesetzt, daß
die Beziehung zwischen dem ästhetischen Erlebnis und seinem Nachher im
Leben unbefangen und hinreichend erklärt wird. Die antike Ästhetik hat
dieses Problem sehr klar gesehen, als sie in allen Kunstfragen öffentliche
Angelegenheiten, Fragen der Sozialpädagogik erblickt hat. Ihr gegenüber
stellt - mit wenigen Ausnahmen - die moderne Ästhetik einen Rückschritt
vor. Teils indem diese Weise der künstlerischen Wirkung völlig, sogar prinzi¬
piell vernachlässigt und die Rezeption der Kunst dem Wesen nach auf ein
Atelierkennertum reduziert wird, teils indem man einen solchen gesellschaft¬
lichen Einfluß in ihr zwar anerkennt, diesen jedoch in einer allzu direkten,
allzu konkret-inhaltlichen Weise darstellt, ungefähr so, ais ob die Kunst dazu
da wäre, die Durchführung bestimmter, konkret gesellschaftlicher Aufgaben
unmittelbar zu erleichtern.
Beiden falschen Extremen gegenüber nimmt die antike Ästhetik (und ihre
wenigen würdigen Nachfolger in der Neuzeit) eine Position ein, die der
wirklichen gesellschaftlichen Rolle der Kunst weitgehend gerecht wird. Sie
anerkennt die den Menschen stark beeinflussende, ja ihn unter Umständen
sogar transformierende Macht der ästhetischen Erlebnisse; insofern lehnt sie
im voraus jede solche Theorie ab, die das Ästhetische vom gesellschaftlichen
Leben zu isolieren beabsichtigt. Die antike Ästhetik sieht jedoch diese gesell¬
schaftliche Funktion nicht als eine Dienstleistung für diese oder jene konkret¬
aktuelle Zielsetzung an, sondern erblickt ihre Bedeutung darin, daß eine be¬
stimmte Ausübung bestimmter Künste zu den formenden Kräften des mensch¬
lichen und dadurch des gesellschaftlichen Lebens gehört; daß die Kunst geeig¬
net ist, die Menschen in jener Richtung zu beeinflussen, die für die Ausbildung
bestimmter Menschentypen fördernd oder hemmend wirkt. Aristoteles unter¬
scheidet daher die bloß sinnlichen Genuß bringende Wirkung der Musik von
ihrer damit freilich tief verbundenen sittlichen, wodurch sie »auch den Cha¬
rakter und die Seele beeinflußt«. Diese sittliche Wirkung, das Hervorrufen
sittlicher Gefühle in der Seele durch die Begeisterung, betrachtet er als das zen¬
trale Problem: »Die Begeisterung aber ist ein Affekt der Seele als Trägerin des
ethischen Lebens. Audi erzeugt schon die bloße mimische Darstellung ohne
Rhythmen und Gesänge in aller Herzen ein gleichstimmiges Gefühl. Da es
aber der Musik eigen ist, uns zu ergötzen, wie der Tugend, sich recht zu freuen,
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 811
zu lieben und zu hassen, so muß man offenbar bei ihrem Betriebe nichts so sehr
lernen und sich angewöhnen als das richtige sittliche Gefühl und die Freude
an tugendhaften Sitten und edeln Taten. Die Rhythmen und Melodien kom¬
men als Abbilder dem wahren Wesen des Zornes und der Sanftmut, sowie des
Mutes und der Mäßigkeit wie ihrer Gegenteile, nebst der eigentümlichen Na¬
tur der anderen ethischen Gefühle und Eigenschaften sehr nahe. Das zeigt
die Erfahrung. Wir hören solche Weisen und unser Gemüt wird umgestimmt.
Nun ist aber von der angenommenen Gewohnheit, sich über das Ähnliche zu
betrüben oder zu erfreuen, nicht weit bis zu dem gleichen Verhalten gegen¬
über der Wirklichkeit1.« Dasselbe stellt er in den dann folgenden Betrach¬
tungen für die bildende Kunst fest, und daß er in bezug auf die Literatur
ebenso denkt, ist allzu bekannt, als daß es hier näher belegt werden müßte.
Die gesellschaftliche Wirkung, die deshalb die antike Philosophie von der
Kunst erwartet, läßt sich vielleicht am besten in den von uns bereits ange¬
führten Worten Lessings zusammenfassen, der nicht nur diese Grundtendenz
zeitgemäß zu erneuern bestrebt war, sondern sich überall von den Erfahrun¬
gen der Antike, hauptsächlich von der Katharsistheorie des Aristoteles, lei¬
ten ließ. Die fundamentale gesellschaftliche Zielsetzung formuliert nun Les¬
sing als »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten2«.
Lessing sagt dies in einer Polemik gegen falsche Auslegungen der Katharsis¬
lehre von Aristoteles. Es ist eine allgemeine Sitte in der ästhetischen Litera¬
tur, diese, so wie sie tatsächlich bei Aristoteles niedergelegt ist, ausschließlich
auf die Tragödie, auf die Affekte von Furcht und Mitleid anzuwenden. Wir
glauben dagegen, daß der Begriff der Katharsis viel ausgedehnter ist. Wie
bei allen wichtigen Kategorien der Ästhetik ist diese primär nicht aus der
Kunst ins Leben, sondern aus dem Leben in die Kunst gekommen. Weil die
Katharsis ein ständiges und bedeutsames Moment des gesellschaftlichen Lebens
war und ist, muß ihre Widerspiegelung nicht nur ein immer wieder neu auf¬
genommenes Motiv der künstlerischen Gestaltung werden, sondern sie er¬
scheint sogar unter den formenden Kräften der ästhetischen Abbildung der
Wirklichkeit. In meinem Essay über Makarenko habe ich diese Wechselbezie¬
hung zwischen Lebenstatsache, Abbildung und bewußter Anwendung auf das
Leben in bezug auf seine Pädagogik ausführlich geschildert 3. Ich habe dort
auch zu zeigen versucht, daß das Phänomen der Katharsis zwar schon im
Leben selbst eine gewisse Affinität zum Tragischen zeigt und sich darum
ästhetisch am prägnantesten dort objektiviert, daß es aber inhaltlich einen
weiteren Umkreis als nur dieses umfaßt. Wenn wir nun vor die Frage gestellt
sind, ob diese Feststellung eine noch weitere Verallgemeinerung zuläßt, müs¬
sen wir an unsere früheren Darlegungen über den defetischisierenden Charak¬
ter des Ästhetischen erinnern und im Zusammenhang damit auch an dessen
positiven Inhalt: jede Kunst, jede künstlerische Wirkung enthält ein Evo¬
zieren des menschlichen Lebenskerns - worin für jeden Rezeptiven die
Goethesche Frage aufgeworfen wird, ob er selbst Kern oder Schale sei - und
zugleich untrennbar damit vereinigt eine Kritik des Lebens (der Gesellschaft,
der von ihr geschaffenen Beziehungen zur Natur). Da nun, wie gezeigt wurde,
das rezeptive Erlebnis unmittelbar ein inhaltliches sein muß, offenbart es
diesen Problemkomplex als zentralen Gehalt jener »Welt«, die das Kunst¬
werk in ihm zur Evidenz erweckt. Da jedes Kunstwerk dem Rezeptiven sich
als einzigartige Werkindividualität offenbart, als einzigartiger konkreter In¬
halt, tritt dieser Problemkomplex nur in den seltensten Fällen direkt hervor.
Er ist jedoch in unsichtbarer Weise allgegenwärtig. Die Art, wie die ästhe¬
tische Form ihren Inhalt bearbeitet, ihn im und durch das homogene Me¬
dium wirksam werden läßt, zeigt diesen allgemeinsten Gehalt aller echten
Kunstwerke an und schafft in der die Erlebnisse des Rezeptiven leitenden
Kraft der Formen eine Intention, die auf dieses Zentrum gerichtet ist. Die
Verwandlung des ganzen Menschen des Alltags in den Menschen ganz des
jeweiligen Rezeptiven eines konkreten Kunstwerks strebt gerade in die Rich¬
tung einer solchen aufs äußerste individualisierten und zugleich allerallge¬
meinsten Katharsis.
Das Recht, den Begriff der Katharsis in diesem Ausmaße zu verallgemei¬
nern, entstand also nicht einfach aus der Beschaffenheit des Kunstwerks für
sich betrachtet. Dieses konzentriert in seiner Form-Inhalt-Identität zwei
wichtige Beziehungskomplexe: den seiner selbst zur objektiven Wirklichkeit
als Totalität, dem es seine Entstehung verdankt und den einer Wirkungs¬
möglichkeit auf die Seele des Rezeptiven. Je tiefere und umfassendere In¬
halte die künstlerische Form zur Identität mit sich selbst bringt, desto weiter
gezogen und tiefer ausholend sind diese Beziehungskreise. Daß die Fähig¬
keit dazu mit der Kritik des Lebens aufs engste zusammenhängt, bedarf
wohl keiner ausführlichen Erörterung. Höchstens müßte begründet werden,
warum wir von einer Kritik des Lebens statt von einer Kritik der Gesell¬
schaft sprechen, obwohl beide Ausdrücke beinahe gleichbedeutend sind,
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 813
Prozeß die Rolle eines Regulators, eines Arztes gewisser Krankheiten des Fort¬
schritts zukommt. Der normale Zustand, die Gesundheit der Menschen ist die
Möglichkeit ihrer allseitigen Entfaltung, die einzelne Perioden der Entwick¬
lung wenigstens für einen Teil der herrschenden Klassen realisiert haben und
die die revolutionär demokratischen und sozialistischen Richtungen für die
ganze Menschheit fordern und dem Prinzip nach auch zu verwirklichen im¬
stande sind. Vom Standpunkt des Individuums ist nun diese Allseitigkeit in
der Entfaltung aller Fähigkeiten, aller möglichen lebendigen Beziehungen
zum Leben ein Ideal; darin ist sowohl das Erstrebenswerte wie der Zustand
eines bloßen Erstrebens gleicherweise mitgemeint. Jedes Kunstwerk, jede
Kunstart wendet sich, wie wir wissen, an den Menschen ganz, worin bereits
klar die Lage sichtbar wird, daß die Einheit und Ganzheit, die sich hier ver¬
wirklichen, obwohl sie so echt und intensiv Einheit und Ganzheit sind, wie
sonst nie und nirgends im Leben, doch nur einen Aspekt des allseitigen
Menschen aktuell werden zu lassen fähig sind. In der Pluralität der Kunst¬
arten und der Werkindividualitäten objektiviert sich die wahre Einheit und
Ganzheit des allseitigen Menschen: ihre Existenz und ihre potentiell immer
vorhandene Wirksamkeit zeigt, daß dieses Ideal zwar noch nirgends voll¬
ständig verwirklicht wurde, jedoch nichts Transzendentes (auch kein
transzendentales Sollen) in sich enthält, vielmehr die Widerspiegelung der
realen Existenz, der realen Entwicklung der Menschheit ist. Die Pluralität
der Kunstarten und Werkindividuahtäten drückt einerseits die innere Voll¬
endung der einzelnen derartigen Beziehungen zur Wirklichkeit aus, ihre
intensive Unendlichkeit und damit ihr Gerichtetsein auf die Totalität des
Menschen, eben in der Form des Menschen ganz, andererseits und zugleich
die Tatsache, daß der Mensch jeweils nur eine solche Beziehung verwirklichen
kann, daß die allgemeine Art ihrer Verwirklichung außerordentlich vielfäl¬
tig, die konkrete dagegen einfach unendlich ist. So sehr also jedes Kunstwerk
als Realisation des Ideals vollendet ist, so sehr in seiner Rezeption eine rest¬
lose Erfüllung möglich wird - womit der Begriff des Ideals aufgehoben
scheint -, so sehr ist die faktische Realisation des allseitigen Menschen in der
Fülle solcher Akte vollständig nie erreichbar; insofern muß für den Menschen
seine eigene Allseitigkeit in gewissem Sinne doch ein Ideal, konkreter: das
Ziel eines unendlichen Annäherungsprozesses bleiben.
Formal folgt aus dem eben geschilderten Pluralismus der ästhetischen Sphäre,
daß die Verwandlung des ganzen Menschen des Alltags in den Menschen ganz
der Rezeption einer Werkindividualität jedesmal, wenn es sich um die echte
Aufnahme eines echten Kunstwerks handelt, einen Annäherungsschritt in der
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 815
Richtung auf die Allseitigkeit des Menschen bedeutet. Es ist aber klar, daß
dieser Prozeß von der formalen Seite niemals ausreidiend charakterisiert
werden kann. Wollen wir ihm von seinem Gehalt aus näherkommen, so ist
vor allem das Zusammenfallen von Kritik des Lebens in den Kunstwerken
mit dem Goetheschen Dilemma von Kern oder Schale ins Augen zu fassen.
Wie überall ist auch hier das Verhältnis beider nicht primär ästhetisch. Die
Kunst bringt bloß eine im Leben vorhandene, in ihr jedoch ins Qualitative
umschlagende Intensivierung hervor. Die dieser Lage zugrunde liegende ge¬
sellschaftliche, philosophische oder anthropologische Tatsache wirkt nur für
jene modernen Richtungen überraschend, die das Wesen des Menschen in
einem absoluten, einsamen Aufsichgestelltsein erblicken. Wird dagegen, wie
dies hier immer geschehen ist, der Mensch seinem menschlichen Wesen nach
als gesellschaftlich aufgefaßt, so leuchtet es ohne weiteres ein, daß das
Goethesche Dilemma vom persönlichen Sein als Kern oder Schale aufs aller¬
engste mit seiner sozialen Lebensführung, mit dem Vorhandensein einer Kri¬
tik des Lebens in ihr, mit Richtung und Kraft dieser Kritik verbunden ist.
Diese Präge stellt das Leben selbst ununterbrochen, man könnte sagen, in
jedem Augenblick des Handelns oder der Reflexion darüber vor oder nach
der Aktion. Der wesentliche Inhalt der hier entstehenden Wechselwirkun¬
gen läßt sich am besten vorerst darin zusammenfassen, daß eine Kernhaftig-
keit des Individuums nur aus subjektiv echten Beziehungen zur Wirklichkeit
entstehen kann; sind diese verlogen, so muß sich der Mensch selbst, auch als
Persönlichkeit, zu einer bloßen Summe von Schalen erniedrigen. Die moderne
Literatur hat sachlich unzählige Male solche Degradierungen geschildert; Ib¬
sens »Peer Gynt« gibt in einer Szene des umfassenden Rückblicks auf sein gan¬
zes Leben eine unbeabsichtigte und vielleicht darum um so überzeugendere Be¬
stätigung des Goetheschen Satzes. Unmittelbar, aber nur unmittelbar ist diese
subjektiv-ehrliche Attitüde schlechthin entscheidend, an sich völlig unab¬
hängig davon, wie das subjektiv richtig gemeinte Verhältnis zur Welt ob¬
jektiv beschaffen ist: man denke an die »Kernhaftigkeit« der Gestalt Don
Quixotes. Näher betrachtet zeigt sich freilich, daß die objektive Richtigkeit
der Beziehung zur Außenwelt, die Richtigkeit der Kritik des Lebens ein un¬
möglich ausschaltbares Motiv bleibt. Natürlich fällt bei Don Quixote im
Gegensatz zu Peer Gynt die subjektive Ehrlichkeit gewichtig in die Waag¬
schale; wenn jedoch seine Kritik des Lebens nicht auch ein großes Ausmaß
objektiver Wahrheit enthielte, müßte auch sein Kern sich auf ein Aufeinander¬
geschichtetsein von Schalen reduzieren. Weiter: alle diese subjektiven Fak¬
toren - und nicht nur die Gesinnung - können zwar den Kern über-
816 Allgemeine lüge der Subjekt-Objekt-Beziebung in der Ästhetik
haupt retten, er ist jedoch in diesem Fall weit davon entfernt, Ansatzpunkt,
Triebkraft zu einer Annäherung an den allseitigen Menschen zu werden; er
ist weit mehr ein Kerker, der Don Quixote in eine unwahre, von ihm selbst
fetisdhisierte Welt einsperrt.
Wir konnten hier auf diesen Problemkomplex nur mit Hilfe einiger Bei¬
spiele etwas Licht werfen, seine Rolle im Leben ist viel breiter, verzweigter
und umfassender, als daß er in einer Ästhetik systematisch behandelt werden
könnte; er ist ja weit mehr ethischen als ästhetischen Charakters. Es mußte
darauf nur hingewiesen werden, um den Lebensgrund, aus dem die gesell¬
schaftlichen Forderungen an die Kunst entsteigen, den Lebensfluß, in den sie
münden, wenigstens in gröbsten Umrissen anzudeuten. Zu einer so begrenz¬
ten Konkretisierung seien noch einige ergänzende Bemerkungen gestattet. Wie
im ethischen Verhalten ein sehr kompliziertes Verhältnis herrscht, so auch
in der intellektuellen und kulturellen Entwickeltheit des Menschen. Goethe
nimmt auch hier - im Gegensatz zum heute vielfach herrschenden irratio¬
nalistischen Aristokratismus - einen weit vorgeschobenen demokratischen
Standpunkt ein. Er sagt: »Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn
er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt L«
Diese Feststellung ist vor allem deshalb nicht mißverstehbar, weil sie von
Goethe stammt, weil sie deshalb keine Tendenz enthalten kann, primitive
Zustände romantisch zu idealisieren oder sie gar entwickelteren polemisch¬
kritisch als Vorbilder gegenüberzustellen. Goethe will hier nur auf diese
Möglichkeit als Möglichkeit hinweisen, ohne deshalb die Notwendigkeit,
über diese Stufe hinauszugehen, je in Zweifel zu ziehen. Im Gegenteil, für
ihn ist gerade jene Mission der Kunst am wichtigsten, die auf hochentwickel¬
ten Kulturstufen zu der von ihm geforderten Kernhaftigkeit des Menschen
führt, die die Lebenstendenzen dazu bewußt macht, stärkt und fördert, die
befähigt ist, die entgegengesetzten zu hemmen, ja zu unterdrücken. Dafür
ist bei ihm immer wieder das richtige Verhältnis zur Außenwelt entschei¬
dend, und für seine eigenen Entwicklungsbedingungen formuliert er die hier
auftauchenden ästhetisch-ethischen Postulate sehr oft im Zusammen¬
hang mit der Methodologie der Naturforschung, deren nahe Beziehung zur
Ästhetik wir bei ihm bereits behandelt haben. So im Gedicht »Epirrhema«,
das thematisch dem von uns angeführten »Ultimatum« recht nahe¬
steht:
Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.
Der Gedanke der Identität von Innen und Außen ist unseren Darlegungen
lange vertraut. Und die Folgerung, daß jenes Verhältnis zur Welt, das den
Menschen dazu verhilft, in ihrer Persönlidikeit einen wahren Kern auszu¬
bilden, eben mit ihren derartigen Betrachtungen aufs engste zusammenhängt,
wird jetzt niemanden mehr überraschen; noch weniger die Feststellung, daß
diese Art, die Welt anzusehen, aufs Ästhetische intendiert, daß das Kunst¬
werk gerade jene Widerspiegelung der Welt darbietet, in der allein diese Ten¬
denz zur konkreten Vollendung gedeihen kann. Goethe selbst spricht jene Be-
zogenheit auf den Menschen, jenes Zentrieren der Objektwelt auf ihn wieder¬
holt in einer über das Ästhetische hinausgehenden, freilich gerade darin, aber
nur darin philosophisch nicht immer stichhaltigen Weise aus. So z. B.: »Wir
wissen von keiner Welt als in bezug auf den Menschen; wir wollen keine
Kunst als die ein Abdruck dieses Bezugs ist b« Die bloße Feststellung dieser
anthropomorphisierenden Betrachtungsweise - wichtig für die Kunst, mehr
als problematisch für die Beziehung zur Welt, zur Natur, für die Widerspie¬
gelung ihres wahren Ansichseins - findet Goethe mit Recht als nicht ausrei¬
chend. Er sagt: »Die bildende Kunst ist auf das Sichtbare angewiesen, auf die
äußere Erscheinung des Natürlichen 1 2.« Er erkennt aber sogleich, daß im Be¬
griff des Natürlichen nicht nur etwas visuell Objektives, sondern zugleich et¬
was Menschliches, und zwar Sittliches, d. h. gesellschaftlich Moralisches enthal¬
ten ist. Wenn wir nun an die Auffassung der Sittlichkeit dieser Periode, von
der Kritik der Kantschen subjektivistischen Ethik bei Goethe und Schiller
etwa in der Entstehungszeit des »Wilhelm Meister« bis zur Vollendung
dieser Tendenz in der Gegenüberstellung von Moralität und Sittlichkeit in
Hegels »Rechtsphilosophie«, denken, so sehen wir klar, daß hier die gesell¬
schaftlich aktive Tätigkeit des Menschen gemeint ist. Darum gewinnt die den
eben angeführten Aphorismus ergänzende Bemerkung Goethes, daß jeder
Gegenstand der Kunst nach seiner Geeignetheit zu beurteilen ist, »ein sitt¬
licher Ausdruck des Natürlichen« zu sein, ein besonderes Gewicht.
Goethe hat damit das philosophische Fundament unserer Verallgemeinerung
der Katharsis für die Kunst überhaupt und speziell für die bildende Kunst
niedergelegt. Wenn nämlich die visuelle Beziehung des Menschen zu den Na¬
turgegenständen, zu ihrem Ensemble eine sittliche ist - wir erinnern erneut
an das, was wir über die Widerspiegelung des Stoffwechsels der Gesellschaft
mit der Natur ausgeführt haben -, so bricht in die Wirkung, die ihr künst¬
lerisches Abbild hervorruft, auch eine mit Fug als sittlich charakterisierbare
Erschütterung ein. Unmittelbar mischt sich der Ergriffenheit des Rezeptiven
über das Neue, das die jeweilige Werkindividualität in ihm auslöst, ein ne¬
gativ begleitendes Gefühl bei: ein Bedauern, ja eine Art Scham darüber,
etwas, das sich so »natürlich« in der Gestaltung darbietet, in der Wirklichkeit,
im eigenen Leben nie wahrgenommen zu haben. Daß in dieser Kontrastie-
rung und Erschütterung eine vorhergehende fetischisierende Betrachtung der
Welt, ihre Zerstörung durch ihr entfetischisiertes Bild im Kunstwerk, und die
Selbstkritik der Subjektivität enthalten ist, braucht, glauben wir, nicht
mehr ausführlich auseinandergesetzt zu werden. Rilke gibt einmal die
dichterische Beschreibung eines archaischen Appollotorsos. Das Gedicht
kulminiert - ganz im Sinne unserer vorangegangenen Darlegungen - in
dem Appell der Statue an den Betrachter: »Du mußt dein Leben ändern.«
Die Bereicherung und Vertiefung, die jedes echte Werk der bildenden Kunst
wachruft, wodurch - dies beiläufig gesagt - der Kunstsinn der Menschen
erweckt und entwickelt wird, ist ohne einen solchen Vergleich und mag er
nur ein kaum bewußtes Begleitgefühl sein, mag seine emotionelle Betont-
heit stärker oder schwächer wirken, kaum vorstellbar. (Flier zeigt sich er¬
neut, daß das rezeptive Kunsterlebnis ohne ein Inbetrachtziehen des Vorher
nicht begriffen werden kann.) Der Vorwurf an das Vorher, die Beförde-
rung für das Nachher — und mögen beide in der Unmittelbarkeit des Er¬
lebnisses selbst fast ausgelöscht erscheinen — bilden einen wesentlichen In¬
halt dessen, was wir früher als die verallgemeinertste Form der Katharsis
bezeichnet haben: ein derartiges Durchrütteln der Subjektivität des Rezep¬
tiven, daß seine im Leben sich betätigenden Leidenschaften neue Inhalte, eine
neue Richtung erhalten, daß sie derart gereinigt, zu einer seelischen Grund¬
lage von »tugendhaften Fertigkeiten« werden.
Ohne jetzt über die konkreten Thesen von Aristoteles über Furcht und
Mitleid als Inhalte der tragischen Katharsis diskutieren zu wollen,
sei hier nur bemerkt, daß einerseits den Inhalt der Tragödie die zuge-
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 819
Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüt und das, was wir Herz
nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen, unbestimmten Zustande ent¬
gegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher für solche Produktionen
leidenschaftlich eingenommen 1.« Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf
Goethes Interpretation der ganzen Katharsisauffassung einzugehen, insbe¬
sondere nicht auf seine äußerst problematische These, daß die Katharsis sich
nicht als Wirkung des Werks im Rezeptiven abspielt, sondern als Versöh¬
nung den Abschluß, die Krönung des Werks selbst bildet. Der oben zitierte
Zweifel in bezug auf die Möglichkeit von kathartisch-ethischen Wirkungen
verknüpft sich auf diese Weise mit dem Zweifel am moralischen Einfluß der
Kunst überhaupt. Die innere Abgeschlossenheit des Kunstwerks, seine alles
umfassende, in sich abgerundete Totalität beinhaltet also hier ein Zerreißen
der notwendigen Verbindung zwischen Ästhetik und Ethik, ihre Beschrän¬
kung auf eine »Zufälligkeit«, wobei der wesentliche Akzent auf eine »Milde¬
rung der Sitten« gelegt wird, die ebenfalls in »Weichlichkeit« ausarten
kann. Wir enthalten uns einer Polemik vor allem deshalb, weil die hier aus¬
gesprochene Auffassung im System der Gesamtanschauungen Goethes - auch
des alten Goethe - in dieser Zugespitztheit einen episodischen Charakter
hat, nur die Verteidigung der Abgeschlossenheit des Werks, die Abwehr unmit¬
telbar moralisierender Einwirkungen fügt sich organisch in dieses System ein.
Goethes Bedenken gegen eine direkt und eindeutig moralische Wirkung der
Katharsis sind um so gewichtiger, als sie auch im Laufe der späteren Ent¬
wicklung in verschiedenen Formen immer wieder auftauchen. Seine Betrach¬
tungen sind vor allem auf die Tragödie gerichtet, sie haben aber schon bei
ihm eine Bezogenheit auf alle Künste, vor allem auf die Musik. Bei dieser
- sowie bei den bildenden Künsten, wenn auch in anderen Formen - stei¬
gert sich nämlich die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit im geistigen und
moralischen Sinn weit über die von uns für die Literatur geschilderte hin¬
aus. Thomas Mann gibt - vom »Tristan« bis zum »Faustus« - eine sehr
eingehende Darstellung dieser Problematik, aber auch der viel mildere und
geistig weniger scharfe Hermann Hesse greift z. B. in seinem »Steppenwolf«
die Fragwürdigkeit der ethischen Wirkung der Musik auf. Sein Held ver¬
bindet diese Reflexionen mit einem Nachdenken über die deutsche Entwick¬
lung und sagt in einem leidenschaftlich selbstkritischen Monolog: »Wir Gei¬
stigen, statt uns mannhaft dagegen zu wehren und dem Geist, dem Logos,
dem Wort Gehorsam zu leisten und Gehör zu verschaffen, träumen alle von
einer Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestalt¬
bare darstellt. Statt sein Instrument möglichst treu und redlich zu spielen,
hat der geistige Deutsche stets gegen das Wort und gegen die Vernunft
frondiert und mit der Musik geliebäugelt. Und in der Musik, in wunder¬
baren seligen Tongebilden, in wunderbaren holden Gefühlen und Stimmun¬
gen, welche nie zur Verwirklichung gedrängt wurden, hat der deutsche Geist
sich ausgeschwelgt und die Mehrzahl seiner tatsächlichen Aufgaben versäumt.«
Hier ist das Umschlagen ins Entgegengesetzte deutlich sichtbar. Man mag
an der Darstellung Richard Wagners in Heinrich Manns »Untertan« Vor¬
beigehen, da hier zugleich eine Kritik an Wagners Kunst selbst zumindest
mitgemeint ist, aber man denke an den schönen Sowjetfilm über das Leben
des Partisanenführers Tschapajew, in welchem ein grausamer, blutrünstiger
weißer General auftritt, der in seinen Mußestunden begeistert und gar nicht
schlecht Beethoven spielt, um diese Vieldeutigkeit klar vor Augen zu be¬
halten.
Wenn man alle diese Bedenken nebeneinander stellt, so scheint das Wesen
der Katharsis selbst in der Tragödie - von der Musik gar nicht zu reden
- einer Selbstauflösung entgegenzugehen. Besonders scharf ist dieser Gegen¬
satz, wenn man sich abermals auf die höchst eindeutige Stellungnahme der
antiken Ästhetik bei Platon und Aristoteles besinnt. Dabei ist diese bereits
eine Auflösungserscheinung der Polis, in deren Blütezeit die Verbindung von
Ästhetik und Ethik sicherlich noch viel geradliniger und unabdingbarer war.
(Platons Ablehnung der Kunst ist ja selbst ein Produkt dieser Auflösungs¬
krise der Polis.) Indessen scheint uns, daß dieser Gegensatz doch kein aus¬
schließender ist. Die enge Verbindung von Staatsbürgertum und Ethik (und
damit von Ästhetik und Ethik) in der Blütezeit der Polis war eine ein¬
malige Konstellation in der Weltgeschichte. Das Gewicht des individuellen
Privatlebens, das bereits in der Stoa und bei Epikur deutlich fühlbar wird,
kommt im Laufe der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung immer stär¬
ker zur Geltung und macht die Verbundenheit zwischen Einzelpersönlich¬
keit und Menschengattung mit allen sie verbindenden Vermittlungen immer
komplizierter, ohne sie freilich aufzuheben, im Gegenteil, um sie immer stär¬
ket mit neuen Inhalten zu bereichern. Die fast antike Stellungnahme Lessings
gehört bereits zur Periode der »heroischen Illusionen« über eine wieder¬
zuerweckende Polis, die in der großen Französischen Revolution ihren Kulmi¬
nationspunkt erreicnt. Das Zerstieben dieser Illusionen schafft jenen Zustand
von Gesellschaft, Individuum und Ideologie (im weitesten Sinne genom-
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 825
men), der die von uns analysierten verwickelten und vieldeutigen Phäno¬
mene hervorbringt. Damit ist aber die Verbindung zwischen ästhetischer
Katharsis und ethischem Verhalten bloß komplizierter geworden, hat jedoch
keineswegs aufgehört zu existieren. Ein Verzicht auf sie wäre einer auf jed¬
wede hohe Kunst. Ein solcher kommt natürlich in unseren Tagen häufig vor
und ist eine der Kräfte, die die echte Kunst zu einer gefälligen oder fes¬
selnden Belletristik erniedrigen. Bei einem großen Künstler-Moralisten wie
Brecht ist das Festhalten am Kern der Katharsis, bei tiefem Mißtrauen
gegenüber jeder bloß emotionalen Wirksamkeit der Kunst, deutlich sicht¬
bar. Der Verfremdungseffekt, dessen ästhetische Problematik an anderen
Stellen dieses Werks zur Sprache kommt, will die bloß unmittelbare, er¬
lebnishafte Katharsis ausschalten, um Raum zu schaffen für eine, die durch
eine vernunftmäßige Erschütterung des ganzen Menschen des Alltags ihn zu
einer wirklichen Umkehr zwingt. Bei aller polaren Gegensätzlichkeit zu
Rilke ist also dessen: »Du mußt dein Leben ändern« auch das Axiom für das
künstlerische Wollen Brechts.
Obwohl wir also überzeugt sind, daß die von uns vollzogene Verallgemeine¬
rung des Katharsisbegriffs berechtigt ist, müssen wir noch einen Vorbehalt
hinzufügen, um auch den ästhetischen Charakter unserer Argumentation ins
richtige Licht zu rücken. Genuin ästhetisch gehen bei allen Rezeptionen echter
Kunstwerke dem Wesen nach ähnliche Erschütterungen vor sich. Sie sind je¬
doch zugleich voneinander qualitativ verschieden. Nicht nur in dem Sinn,
daß, wie selbstverständlich, jedes Kunstwerk andersgeartete Emotionen aus¬
löst, daß diese sogar bei den verschiedenen Rezeptiven desselben Werks
divergieren müssen, sondern auch auf einer allgemeineren Ebene: die ver¬
schiedenen Künste und Kunstarten evozieren prinzipiell Verschiedenartiges,
so daß die unendliche Variabilität der einzelnen Emotionen sich in einem
pluralistisch gegliederten Universum abspielt. Man mag manches an Beet¬
hoven, Rembrandt oder Michelangelo mit vollem Recht tragisch nennen,
wenn man sie aber innerhalb ihrer allgemeinsten, letzthinnigen Einheit mit
Sophokles oder Shakespeare vergleicht, so zeigt sich zugleich ihre ebenso tief¬
greifende, spezifische, qualitative Andersartigkeit. Trotz dieser Vorbehalte
meinen wir, daß das Hervorheben auch des allen Gemeinsamen berechtigt
war. Denn erst die Spannung dieser Pole, ihre simultane Existenz und Wirk¬
samkeit ergibt den echten ästhetischen Gehalt.
Im Vergleich zur Aufhebung der Unmittelbarkeit in der wissenschaftlichen
Widerspiegelung mußte die Unmittelbarkeit der ästhetischen betont werden,
jedoch im Verhältnis zur Unmittelbarkeit im Alltagsleben ist die ästhetische
8i6 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
Verfehlen der Ziele und Methoden der Erkenntnis der Welt; in dieser Hin¬
sicht herrschte zwischen Bacon, Descartes und Spinoza volle Übereinstim¬
mung. Wenn damit auch die praktischen Folgen der Illusionen vielfach über¬
sehen wurden, so haben die großen Revolutionen des 17.-19. Jahrhunderts
wichtige Erfahrungen gebradrt, vor allem über den Untersdfied von welt¬
historisch fortschrittlidaen und subjektiv bleibenden leeren Illusionen; Marx
hat diese Lehre der Revolutionen am prägnantesten bearbeitet. Erst als auch
diese Periode vorbei war, als die Illusionen bereits zu bloß tatenlosen Träu¬
mereien wurden, als die Donquixoterie sich in ein Oblomowtum verwan¬
delte, versuchte man das Geheimnis der ästhetisch widergespiegelten Welt in
einer - »bewußten« — Illusion zu finden. Unsere bisherigen Darlegungen
zeigen, ohne weitere Polemik, die Unhaltbarkeit dieses Standpunkts. Wir
erwähnten hier diese Theorie überhaupt nur deshalb, weil sie als Kontrast
das von uns aufgezeigte Verhältnis von Wirklichkeit und ästhetischer Wider¬
spiegelung beleuchtet. Die Illusion ist erstens rein subjektiven Charakters,
zweitens will sie von dieser Subjektivität aus die objektive Wirklichkeit
korrigieren, besser gesagt, ihr eine aus subjektiven Träumen gewobene »bes¬
sere« Wirklichkeit gegenüberstellen. Die modernen subjektivistischen Er¬
kenntnistheorien helfen ebenfalls in der Ausbildung solcher Konzeptionen.
Das ändert nichts an ihrer Haltlosigkeit. Daß die ästhetischen Gebilde als
Widerspiegelungen der Wirklichkeit die Subjektivität nicht ausschalten wol¬
len und können, schafft die mit der Hilfe ihrer Vermittlung entstehende spe¬
zifische Objektivität nicht aus der Welt; daß sich der Schaffende wie Rezep¬
tive-des Widerspiegelungscharakters der ästhetischen Akte und Gebilde be¬
wußt sind, hat mit dem Wesen der Illusion nichts gemein. Freilich nicht in
dem Sinne, daß diese Akte ohne Beziehung zur gesellschaftlichen Aktivität
vollziehbar wären. Über die hier entstehenden Probleme werden wir als¬
bald, bei Behandlung des Nachhers der ästhetischen Rezeptivität, ausführ¬
licher sprechen. Jetzt aber kann schon gesagt werden, daß die ästhetische
Widerspiegelung ihrem Wesen nach nicht die unmittelbare Basis der gesell¬
schaftlichen Aktivität werden kann, wie die Illusion, deren Wesen gerade
darin besteht, daß sie - fälschlicherweise - mit einem wahren und prak¬
tisch verwertbaren Abbild der Wirklichkeit verwechselt wird. Die sogenannte
bewußte Illusion erniedrigt die Kunst auf das Niveau eines Tagtraums, ent¬
fernt aus der Reihe ihrer Wirkungsmöglichkeiten gerade jene, deren prä¬
gnanteste Form eben die von uns geschilderte Katharsis ist: nämlich die Wir¬
kung, die der Zusammenstoß der ästhetisch gespiegelten objektiven Wirk¬
lichkeit mit der bloßen Subjektivität des Alltags auslöst.
Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
1 Alban Berg hat in bezug auf die Musik auf dieses Phänomen deutlich hingewiesen.
Vgl. seinen Aufsatz: Verbindliche Antwort auf eine unverbindliche Rundfrage.
Zitiert aus: Musiker über Musik, a. a. O. S. 211 f.
830 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
Loslösbares in die Welt gesetzt hätte. Solche Werke sind - gerade im ästhe¬
tischen Sinne - untrennbar mit jenen »Forderungen des Tages« verwachsen,
die sie ins Leben rufen. Eben weil sie diesen Augenblick der Geschichte in
seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit zugleich mit seiner typischen, gesell¬
schaftlichen und menschlichen Bedeutung ergreifen und gestalten, können sie
eine sofortige Wirkung von sonst unvorstellbarer Wucht und Intensität er¬
langen, jedoch eine, die mit dem Vorbeigehen, mit dem Verblassen, ja in
Vergessenheit-Geraten des fruchtbringenden Augenblicks nichts von ihrer
schlagkräftigen Intensität verlieren muß.
Die Gedoppeltheit in der Genesis, im gestalteten Sein, sowie in der Wirkung
und Nachwirkung spricht das ästhetische Prinzip im Gegensatz zu jeder Publi¬
zistik in äußerlichem Kunstgewand aus. Diese bleibt einerseits an der Parti-
kularität von vereinzelten oder abstrakt verbundenen Tatsachen kleben,
andererseits springt sie von dort direkt zu Allgemeinheiten, die an sich rich¬
tige oder falsche, tiefe oder flache Abstraktionen sein mögen, keinesfalls aber
auf das Menschsein des Menschen bezogen sind. Der Unterschied liegt also,
wie schon wiederholt gesagt, nicht darin, daß eine solche Darstellung, Grup¬
pierung, Verallgemeinerung von Tatsachen keine Emotionen auslösen könnte.
Unter Umständen sind dazu die abstraktesten, rein wissenschaftlichen Theo¬
rien fähig, ohne die Sphäre der Kunst auch von weitem zu streifen; man
denke an die Weltkrise, die die kopernikanische Theorie ausgelöst hat, die
ihre Märtyrer und Henker hatte, an die Wirkung des »Contrat Social« in
der Französischen Revolution, an die des Marxismus in der Arbeiterbewe¬
gung und bei ihren Feinden. Noch weniger wird man leugnen können, daß
die Tatsachen des Lebens auch unabhängig von einer publizistischen Bearbei-
tung, sogar bei einer sehr schlechten, ganz vehemente Gefühlsausbrüche ver¬
ursachen können. Es ist also nicht von Emotion überhaupt, nicht von ihrem
Gegensatz zur bloß verstandesmäßigen Apperzeption die Rede, sondern von
der Beziehung der besonderen ästhetischen Emotion zu beiden. Diese kann
natürlich auch bei Einbau und Benützung publizistischer Ausdrucksmittel in
ein ästhetisches Gefüge entstehen; wir haben uns früher in bezug auf Rhe¬
torik auf Schiller und Victor Hugo berufen, es möge hier genügen, daß wir
die Romane Tschernischewskis erwähnen K Entscheidend sind also auch die
Vgl. darüber meine Studie über den Roman »Was tun?«, wo ich auch auf andere
ähnliche Erscheinungen in der Weltliteratur hingewiesen habe. Der russische
Realismus in der Weltliteratur, a. a. O. S. 125 ff.; in Werke Band 5.
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 835
Aus alledem treten bereits die allgemeinen Konturen des Nadiher der ästhe¬
tischen Wirkung etwas deutlicher hervor. Dabei ist natürlich der objektive
Charakter der im Werk gestalteten ästhetischen Widerspiegelung hervorzu¬
heben, die wir früher von verschiedenen Aspekten aus gründlich analysiert und
deren negative Abgrenzung von formal oder angeblich ähnlichen Widerspie¬
gelungsarten wir gerade vollzogen haben. Unmittelbar schließt sich das Nach¬
her notwendigerweise dem ästhetischen Erlebnis der Rezeption des Werks an.
Auch bei dieser haben wir ein entscheidendes Moment schon früher hervor¬
gehoben, nämlich die Eigenart des Ästhetischen in der Suspension der kon¬
kreten Zielsetzungen des Alltagslebens. Wir erinnern daran, daß im Gegen¬
satz zu solchen Suspensionen im Alltag selbst, wo nicht die praktisch aktuelle
Zielsetzung selbst in Schwebe gelassen wird, bloß ihre tatsächliche momen¬
tane Verwirklichung, wo die Suspension nichts weiter sein soll, als eine tech¬
nische Vorbereitung zum besseren Vollbringen der unveränderten konkreten
Absicht, das ästhetische Erlebnis der Rezeptivität eine temporäre Suspension
sämtlicher faktischer Zielsetzungen des Alltags mit sich führt, und zwar so,
daß diese - prinzipiell - nur für die Dauer dieses Akts aufgeschoben wer¬
den und mit seinem Ablauf ihre alten Rechte wieder erlangen - prinzipiell
und für die überwiegende Mehrzahl der Fälle auch faktisch -, ohne eine
836 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
zu laten aufrufenden Satire ebenso mit wie Raffael die wohlgerundete Ruhe
und Feierlichkeit seiner Fresken. So betrachtet — und wir glauben: so muß
ästhetisch betrachtet werden — verlieren die Grenzfälle vieles von ihrer Ex¬
tremität, fügen sich reibungslos in den unendlich vielstimmigen Chor der
Kunstwerke ein und unterstreichen gerade durch das Aufbewahren ihres ur¬
sprünglichen Charakters den prinzipiellen Pluralismus der ästhetischen
Sphäre. Ist damit die innerliche Einheitlichkeit auch zwischen den äußersten
Polen hergestellt, so ist trotzdem ein weiterer Schritt in der Richtung des
Konkretisierens vonnöten, um den Gehalt der Gemeinsamkeit näher zu be¬
stimmen. Auch hier können und müssen wir auf die früher vollzogene Fest¬
stellung zurückgreifen: wir haben die Kunst als Selbstbewußtsein der Mensch¬
heitsentwicklung aufgefaßt und als den allgemeinsten Begriff ihres Gehalts
das Menschheitliche bezeichnet, das jedem Werk in unmittelbarer Immanenz
innewohnt, unmittelbar als Abbild seiner Gegenwart oder als der von ihr
aus gesehenen Vergangenheit.
Wenn wir nun diese Immanenz auf ihre spezifisch ästhetische Eigenart hin
ins Auge fassen, so zeigt sich, wie schon in vielen Fällen, daß die ästhetische
Widerspiegelung stets eine Wahrheit des Lebens ausdrückt, daß ihr besonde¬
res Wesen darin besteht, diese Wahrheit und ihre gegenständliche Struktur
auf den Menschen zu beziehen, d. h. das, was in ihr an sich vorhanden und
für die Menschheitentwicklung wichtig ist, so zu ordnen, daß dieses Moment
zum herrschenden werde, sowohl bezüglich des Gehalts, der das im Leben
Zerstreute konzentriert, der das in den Einzelheiten des Lebens ungeordnet
erscheinende Spiel von Zufall und Notwendigkeit, von Faktizität und Bedeut¬
samkeit zu einer konkret widersprüchlichen - eventuell tragischen - Har¬
monie zusammenfaßt, wie bezüglich der Form, die zum leitenden Prinzip
je eines solchen konkret-totalen und einzigartigen Mikrokosmos erwächst.
Audi im Leben bilden jene Wesensschichten, die die wissenschaftliche Er¬
kenntnis nur darum begrifflich übereinander oder hintereinander gruppieren
kann, weil sie in den unmittelbaren Erscheinungen selbst objektiv in eine
verborgene, nur unter bestimmten Umständen sich offenbarende Hierarchie
zusammengefügt sind, eine unmittelbar untrennbare Einheit. Die ästhe¬
tische Widerspiegelung macht sowohl diese Einheit der Einheit und der Ver¬
schiedenheit, wie ihre Unmittelbarkeit zu ihrem leitenden Prinzip. Ihre Un¬
mittelbarkeit ist jedoch, wie hier wiederholt dargestellt, eine neugeschaffene,
eine zweite Unmittelbarkeit, in der das Inerscheinungtreten der hierarchi¬
schen Wesensschichten, das Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit mehr
oder weniger - je nach den Gesetzen der Genres, ja nach den Künstlerper-
838 Allgemeine Züge der Subjekt-Objckt-Beziehung in der Ästhetik
bezieht sich ja nicht direkt auf jene Bestrebungen. Freilich ist diese Bezie-
hungslosigkeit eine bloß unmittelbare. Da die »Welt« der Kunstwerke eine
Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, ist es unvermeidlich, daß zwischen bei¬
den Welten unzählige Fäden der subjektiven und objektiven Analogien,
Entsprechungen etc. hin und her laufen. Das Kunstwerk ist ja nicht bloß an
und für sich eine eigene »Welt«, sondern höchst konkret eine soldie, welche
gerade in ihrer Eigenheit und Abgeschlossenheit auf den Rezeptiven als eine
auf ihn bezogene, in bestimmtem Sinne als seine eigene wirkt. Dieses rezep¬
tive Erkennen seiner selbst und seiner eigenen Welt im Kunstwerk kann unter
Umständen ein unmittelbares sein, ist jedoch der Regel nach ein mehr oder
weniger weit vermitteltes. Je tiefer und universeller das Werk ist, desto
reicher sind diese Verbindungslinien, freilich zugleich auch desto weiter und
komplizierter vermittelt. Bei Werken, die aus der Vergangenheit stammen,
werden diese Vermittlungen einerseits noch verwickelter, da das unmittel¬
bare Erlebnis einer endgültig versunkenen Welt, gesehen von einer ebenfalls
endgültig verschwundenen Warte, als Erlebnispostulat dem Rezeptiven ent¬
gegentritt; andererseits - freilich nur in den bedeutendsten Fällen - offen¬
bart sich der menschheitliche Kern insofern noch reiner, als die konkreten
gesellschaftlichen Bestimmungen durch die dazwischenliegende historische
Entwicklung notwendig verblassen, von ihrer unmittelbaren Konkretheit,
mit der sie auf ihre Zeitgenossen gewirkt haben, viel einbüßen müssen. Man
denke an die Wirkung Homers, der Sophokleischen Antigone, etc. auf uns.
Die zuletzt angedeutete Verschiebung berührt eines der wichtigsten Probleme
für das Verständnis des Nachher. Wir erinnern dabei an unsere Behandlung
der Kategorie der Inhärenz. Die wissenschaftliche Widerspiegelung und ihre
begriffliche Analyse kann und muß in jedem Menschen verschiedene »Schich¬
ten« unterscheiden: die seiner angeborenen und vom Leben gemodelten Per¬
sönlichkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder Gruppe
seiner Gesellschaft, seiner Bestimmtheit durch relativ dauernde oder vorüber¬
gehende Zeittendenzen etc. (Dasselbe bezieht sich, mit den notwendigen Mo¬
difikationen, auch auf die Gegenstandswelt, die die gesellschaftlichen Bezie¬
hungen der Menschen vermittelt.) Einer solchen Analyse liegen objektiv rich¬
tige Tatbestände zugrunde. Sie ist für die Wissenschaft unerläßlich, da diese
»Schichten« im Leben eine unmittelbar unzertrennliche Einheit bilden, aus
welcher bei verschiedenen Gelegenheiten verschiedene Komponenten, einzeln
oder vereint, manchmal unerwartet plötzlich sich Geltung verschaffen. Die
zweite Unmittelbarkeit der ästhetischen Widerspiegelung macht aus dieser
scheinbar ungeordneten Fülle und ebenso scheinbar mechanisch-gewaltsam
840 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
zusammengefügten Einheit das, was sie an sich ist, was im Leben selbst sich
meistens nur tendenziell verwirklicht: einen organischen Mikrokosmos, bei
welchem die eigenen inneren Bewegungsgesetze und die der gesellschaft¬
lichen Umwelt, die jene leiten und modeln, vernünftig konvergieren, wenn
diese Vernunft auch eine sich in Widersprüchen bewegende, die Möglichkeit
einer Steigerung zur tragischen Gegensätzlichkeit in sich begreifende ist.
Durch eine solche gediegen sinnfällige Vernünftigkeit, durch dieses Gesetzt¬
sein als Mikrokosmos, das im ähnlich vernunftvollen Zusammen mit ebenso
gearteten Monaden den Mikrokosmos des Werks bildet, durch ein solches Ab¬
bild der Wirklichkeit sub specie Komplettheit und Ganzheit, entsteht im Re¬
zeptiven die Katharsis, deren Erschütterung ihn hellhörig und hellsichtig in
bezug auf jene »Welt« macht, deren Eintritt in seine Seele das homogene
Medium erzwingt und in ihr festhält. In alledem ist notwendigerweise eine
Erfahrung über die Umwelt des Menschen und vor allem eine über ihn selbst
enthalten; eine wichtige, aber eine eigenartige. Denn der Rezeptive ist
stumpfsinnig, wenn alle diese Erfahrungen im ästhetischen Erlebnis stecken¬
bleiben, und überhaupt nicht auf sein Nachher umwandelnd ausstrahlen; er
ist aber ein Doktrinär oder ein Pedant, wenn er solche Erfahrungen immer
unmittelbar auf das Leben anzuwenden versucht. Die Mitte zwischen solchen
Extiemen ist keineswegs ein »goldener Mittelweg«, ein Abstumpfen der Ex¬
treme, sondern ein neu eröffneter Zugang zur Wirklichkeit; zur Wesentlich¬
keit des in ihm erscheinenden Daseins, der erscheinenden Sinnfälligkeit ihres
Keines, ein synthetisches Zusammensehen zur Einheit, das scharfäugiger zer¬
legt und kühner zusammenfaßt, als es für den Menschen des Alltags mög¬
lich ist.
sale etc. haben sollen, die ganze Einstellung beinhaltet aber objektiv einen
Verzicht auf die spezifische Universalität und intensive Unendlichkeit der
ästhetischen Widerspiegelung; positiv gewendet: ihre restlose Einfügung in
das System der Alltagspraxis mit deren unmittelbar aktuellen Zielsetzungen.
Einflußreiche künstlerische Stellungnahmen unserer Zeit haben diese Tendenz
zu begründen, ihr ein ästhetisches Fundament zu geben versucht. So der be¬
rühmte und zum Dogma erhobene Ausspruch Stalins, daß die Schriftsteller
»Ingenieure der Seele« sein sollen. Nun ist das Ingenieurtum gerade jenes
Produkt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in welchem die spezifische
Suspension der aktuellen Zielsetzung des Alltags sich am prägnantesten ver¬
körpert: alle Ergebnisse der Wissenschaft und der Arbeitserfahrung werden
bewußt darauf konzentriert, für eine gegebene konkret-praktische Aufgabe
die technisch und ökonomisch optimale Lösung zu finden. Indem daraus ein
Ideal für die Einstellung des Künstlers zu seinem Werk und dessen Wirksam¬
keit gemacht wird, entsteht als Zielsetzung für das Werk: ausschließlich einer
bestimmten, aktuellen Aufgabe des Lebens zu dienen; die Macht der Kunst
auf die Seelen der Menschen beschränkt sich ebenfalls auf diese unmittelbare
Aktualität. So wie der Ingenieur eine Maschine erfindet oder durchführen
läßt, damit bestimmte Verrichtungen besser, praktischer, kraftsparender etc.
funktionieren können, so soll die Kunst die Seelen der Menschen für be¬
stimmte aktuelle und praktische Zielsetzungen der Gesellschaft in optimaler
Weise »umfunktionieren«. Ohne Frage engt diese Formulierung den Wir¬
kungskreis der Kunst außerordentlich ein, nimmt ihm seine Unbegrenztheit,
seine Universalität; ja sie enthält - bewußt oder unbewußt, gewollt oder
ungewollt - die Tendenz, aus der Kunst eine bloße Dienerin aktuell-prak¬
tischer Aufgaben zu machen und dadurch diese vorbehaltlos und restlos in
das System der sozialen Tagespraxis einzufügen, ohne sich um deren Beson¬
derheit viel zu kümmern.
lichkeit jeder Kunst oder Kunstart aus prinzipiell und qualitativ verschiedene
Seiten der wirklichen Welt ästhetisch abbildet, so daß die menschliche All¬
seitigkeit in der von der Kunst dargebotenen Weise nur in der Totalität aller
Künste und Werkindividualitäten zu verwirklichen ist. (Von hier aus
gesehen, ergibt die pseudoästhetische Auslegung der Staiinsdien Theorie,
daß von jedem — prinzipiell verengten — Einzelkunstwerk in abstrakter
Weise das gefordert wird, was konkret nur die Totalität der Kunst zu lei¬
sten imstande ist, also eine weitere Verengung des ästhetischen Wesens der
einzelnen Werke.) In diesem Sinne ist, wie bereits gezeigt, die Allseitigkeit
für den einzelnen Menschen nur ein Ideal, das nur eine Annäherung, nicht
aber eine vollendete Erfüllung gestattet. Darin kommt die eine Seite der
pluralistischen Struktur der ästhetischen Sphäre zur Geltung. Ihre andere
Seite, die ebenfalls aus diesem Pluralismus folgt: daß die Künste und
Werkindividualitäten im Annäherungsprozeß an das Ideal der menschlichen
Allseitigkeit sich nicht addieren, sich nicht im unmittelbar-wörtlichen Sinn
ergänzen, sondern jede eine in sich abgeschlossene »Welt«, eine in sich voll¬
endete intensive Totalität ist, die als solche nicht aufgehoben werden kann.
Der Annäherungsprozeß spielt sich - prinzipiell - so ab, daß die ästhe¬
tische Erschütterung im Nachher des jeweiligen rezeptiven Erlebnisses zum
Besitz des so wiederhergestellten ganzen Menschen des Lebens wird, dessen
Seele bereichert, erweitert und vertieft und mit allen diesen umwandelnden
Wirkungen zum festen Bestandteil des Lebens und damit des Vorher für die
folgenden Kunsterlebnisse wird.
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses läßt sich also - vereinfacht - so
beschreiben: der Einbruch des homogenen Mediums der Werkindividualität
in die Erlebnisse des ganzen Menschen macht ihn erst zum eigentlichen Re¬
zeptiven, richtet seine konzentrierte Aufnahmefähigkeit auf das ihm jeweils
Dargebotene; so wird er zum Menschen ganz der Rezeptivität. Die evoka-
tive Macht der Formen, vermittelt durch das homogene Medium, hält diesen
im Zauber der neuen »Welt« fest, prägt ihm ihr Wesen als eine neue und
eigene Inhaltlichkeit ein. Das Nachher besteht nun darin, wie der ganze
Mensch, nunmehr befreit von dieser Suggestion, das so Erworbene verarbei¬
tet. Dieses ist unmittelbar Inhalt und stellt dem Menschen deshalb die Auf¬
gabe, diesen Inhalt in sein bisheriges Weltbild einzufügen oder dieses, an ihn
angepaßt, entsprechend zu verändern. Es handelt sich aber nur im unmittel¬
baren Sinn einfach um Inhalt; da dieser an sich die dem Rezeptiven zuge¬
kehrte Seite einer Form-Inhalt-Identität bildet, kommt deren Formkompo¬
nente nicht bloß in ihrer Hochspannung und Intensität zur Geltung, was
846 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
uns bereits bekannt ist, sondern ihre Neuheit wirkt auch formal, insofern
jeder Inhalt dem Rezeptiven etwas von der Methode seiner Wahrnehmbar¬
keit, vom Zugang zu ihm selbst mitteilt; insofern ist das Gewahrwerden der
neuen Inhalte zugleich eine Anleitung dazu, das ihnen Analoge auch im
Leben zu erkennen und sich anzueignen. Auf solchen Wegen geschieht die
Überleitung des rezeptiven Menschen ganz in den ganzen Menschen des Alltags.
Natürlich sind diese Erschütterungen und Übergänge bei den verschiedenen
Menschen gegenüber den verschiedenen Kunstwerken an Inhalt, Umfang,
Tiefe, Dauer etc. außerordentlich verschieden. Der Pluralismus der ästheti¬
schen Sphäre wirkt sich ja gerade in einer so entstehenden Vielfältigkeit aus.
Oft bleibt die Wirkung eines Werks auf das Nachher des Menschen so gut
wie völlig unmerklich und erst eine ganze Fülle ähnlicher Eingriffe zeigt
einen sichtbaren Wandel bezüglich Verhalten, Kultur etc.; oft freilich kann
eine einzige Werkindividualität eine völlige Umkehr im Leben eines Men¬
schen bedeuten.
Jedoch in all dieser schrankenlosen Variabilität der Beziehung des ästheti¬
schen Etlebmsses zu seinem Nachher gibt es doch etwas Gemeinsames: näm¬
lich, daß dem Wesen nach nicht die unmittelbar praktischen Zielsetzungen
des Menschen, die während des ästhetischen Erlebnisses suspendiert waren,
sich primär verändern; die Änderung — sichtbar oder völlig unterirdisch,
bewußt werdend oder unbewußt bleibend - betrifft vor allem den ganzen
Menschen, sein Verhältnis und Verhalten zur Welt, zum Leben, zur Gesell¬
schaft, und erst wenn diese Wirkung genügend erstarkt ist, erfolgen daraus
veränderte konkrete Zielsetzungen, die zwar auch im unmittelbar inhalt¬
lichen Sinn vermittelte, mitverursachte Folgen eines bestimmten Werkerleb¬
nisses sein können, es jedoch keineswegs unbedingt direkt sein müssen. So¬
gar wenn der Einfluß eines Werks lange Zeit vorwiegend politisch-publi¬
zistisch war, wie im bereits hervorgehobenen Beispiel der Tschernischewski-
schen Romane, besteht ihre Wirkung nicht so sehr in einer einfachen Ver¬
standes-, gefühls- und handlungsmäßigen Reproduktion des Werkgehalts,
sondern in der vermittelteren Nachwirkung typischer, menschlicher Verhal¬
tensweisen und in der Weiterführung dieser Tendenzen zur Ausbildung eines
Menschentypus, dessen vorläuferhafte, eventuell beispielgebende Veranlas¬
sung zwar diese Romane waren, der aber seinem wesentlichen Gehalt nach
10 den konkreten Kämpfen der Zeit wurzelt, in welche die betreffenden
Menschen als ganze Menschen des Lebens konkret verwickelt sind. Die von
uns untersuchten Grenzfälle (Petöfi, etc.) widersprechen keineswegs einer sol¬
chen Auffassung. Nicht nur, weil, wie bereits gezeigt, eine genaue Analyse
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 847
ihre gemeinsamen Züge mit den anderen ästhetisdien Erlebnissen auf weist;
nicht nur wegen der Gesetze der Dauerwirkung, denen zufolge der das Pa¬
thos eines solchen Werks auslösende Anlaß im Laufe der Geschidite an ur¬
sprünglicher, aktueller Stärke verblassen und einer allgemeineren, dem all¬
gemeinen Kunsteindruck angenäherteren Evokation weidten muß, sondern
vor allem deshalb, weil bei echten Kunstwerken auch der originale Appell
vorwiegend auf die Veränderung des generellen Verhaltens der Menschen
gerichtet ist. Die Spezialität solcher Werke besteht darin, daß in akut zuge¬
spitzten Krisenmomenten der Wandel im gesellschaftlich-menschlichen Ver¬
halten und der Versuch, bestimmte konkrete Ziele zu verwirklichen, stärker
konvergieren, als im »normalen« Gesdrichtsablauf, ja sie können sogar unter
Umständen direkt zusammenfallen.
All dies hebt den gemeinsamen Zug aller echten Kunstwerke im Nadrher der
ästhetischen Wirkung klar hervor: der verändernde Einfluß ist überwiegend
auf das allgemeine Verhalten des ganzen Menschen im Leben gerichtet. Sämt¬
liche Eigenheiten des Werks, die durdr das homogene Medium auf den Men¬
schen ganz einwirken: Identität von Form und Inhalt, Einheit von Wesen und
Erscheinung, Universalität und intensive Unendlichkeit des Gehalts, Kunst
als Kritik des Lebens, Pluralismus der Künste und Werke, kathartische Wand¬
lung des ganzen Menschen aus dem Vorher in den Menschen ganz der Rezep-
tivität wirken sich in dieser Richtung aus, indem sie manchmal leise, kaum
merklich, manchmal das Wesentlichste sichtbar erschütternde Wirkungen auf
Zentrum und Peripherie des ganzen Menschen ausüben. Dieser Satz bedarf
insofern einer Korrektur, als die Alternative von Zentrum und Peripherie
sich hier auf einen unmittelbaren und darum bloß formalen Charakter
reduziert: Eindrücke, die nur peripherische Äußerungen des Lebens
zu treffen scheinen, können sich leicht zu allerwesentlichsten akkumulieren
und das ästhetisch in Bewegung gebrachte menschliche Zentrum verliert nie
seine innige Verbundenheit mit der Peripherie des Lebens. Gerade dadurch
richtet sich die den Menschen umwandelnde Macht des Ästhetischen immer
auf den ganzen Menschen, wobei der bereits betonte Vorbehalt bezüglich der
Pluralität der Künste und des Ideals des allseitigen Menschen in dieser Hin¬
sicht keine Einschränkung, sondern bloß eine nähere Konkretisierung be¬
deutet. Indem so das ständig auf die Peripherie ausstrahlende Wesenszentrum
des ganzen Menschen berührt wird und dadurch sein zugleich konkretes und
allgemeines Verhalten zum Leben als Ganzes in Bewegung gerät, entstehen
die beiden extremen - und in ihrer Extremheit gleicherweise falschen - An¬
schauungen, einmal daß die Kunst die entscheidende wandelschaffende Kraft
848 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
der gesellschaftlichen Entwicklung sei und zum anderen, sie habe gar keinen
wirklichen Einfluß auf die soziale Praxis der Menschen.
Die Wahrheit ist hier eine »Mitte« nur im Sinne eines tertium datur: ohne
Verwandlung des Verhaltens der Menschen zum Leben kann keine ernst¬
hafte Änderung der Gesellschaft, kein wirklicher sozialer Fortschritt ent¬
stehen. Dieser wird jedoch primär von der Änderung der Produktionsver¬
hältnisse, verursacht durch das Wachstum der Produktivkräfte bewerkstelligt.
Jedes Anderswerden der Produktionsverhältnisse schafft neue Lebensbedin¬
gungen für die Menschen, und zwar in ihrem gesamten Alltagsleben, auch in
jenen Beziehungen, die eventuell weit und kompliziert vermittelt mit der
eigentlichen Produktionssphäre Zusammenhängen. Wissenschaft und prak¬
tische Tätigkeit (hier vor allem die politische mitinbegriffen) können, durch
das richtige oder falsche Bewußtmachen des Neuen, den Prozeß der Anpas¬
sung und Gewöhnung an die neuen Lebensbedingungen beschleunigen oder
verlangsamen, können ihre Erzeugung sogar direkt oder indirekt herbei¬
führen helfen. Indem die Kunst an diesem Prozeß nur ausnahmsweise direkt
beteiligt ist, kann der heute in bürgerlichen Kreisen weit verbreitete An¬
schein ihrer sozialen Einflußlosigkeit entstehen. (Welche Tendenzen der
spätbürgerlichen Kunst diese falsche Beurteilung praktisch unterstützen, kann
hier nicht näher analysiert werden.) Die soziale Rolle der Kunst ist also
»bloß« - wie dies die Griechen richtig sahen - eine seelische Vorbereitung
für die neuen Formen des Lebens, mit der Nebenwirkung, daß in ihr alle
menschlichen Werte der Vergangenheit erlebbar aufgespeichert sind, daß sie
also die sich auf der historischen Bühne in ihrer menschlichen Totalität total
wandelnden Gestalten am deutlichsten zu zeigen imstande ist, und damit
aussagen kann: welche menschlichen Werte ausgebildet, welche aufbewahrt
und eventuell weitergefördert zu werden verdienen, und welchen mit Recht
ein Orkus des Vergessenwerdens zukommt.
Man kann bei dieser Feststellung den Ausdruck Totalität nicht genügend
eindringlich hervorheben. Denn jede reale historische Wandlung muß sich
in ihrer unmittelbaren Verwirklichung auf einen entscheidenden Punkt oder
höchstens auf einige Punkte des ökonomischen, sozialen, politischen Lebens
konzentrieren. (Gleichheit der Rechte in der bürgerlichen Revolution, Ver¬
staatlichung der Produktion in der sozialistischen.) Ähnlich ist die Lage bei
überwiegend ökonomischen Umwälzungen (industrielle Revolution). Objek¬
tiv erhalt damit allerdings das gesamte menschliche Leben stets eine neue
Physiognomie. Aber einerseits bedarf es Jahrzehnte, zuweilen Jahrhunderte,
bis das, was in solchen entscheidenden konzentrierten Akten objektiv impli-
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 849
eite enthalten war, auch subjektiv explicit zum seelischen Besitz aller Men¬
schen wird. Andererseits beschränkt sich natürlich der Umwälzung bringende
soziale Akt niemals auf eine derartige einfache Einmaligkeit. Hegel spricht
in der »Phänomenologie« mit Recht von dem abstrakten Charakter dessen,
was am Anfang bei jeder derartigen Wendung im Leben der Menschengat¬
tung auftritt. Das System der neuen menschlichen Beziehungen, das aus den
neuen Produktionsverhältnissen folgt, wird je nach den Umständen revolu¬
tionär oder evolutionär aufgebaut, bis es sich auf alle Verhältnisse des Le¬
bens erstreckt. Im Überzeugen der Menschen, daß all dies dem Portschritt
dient, spielen Wissenschaft, Publizistik etc. eine wichtige Rolle. Allein, es
gehört zum Wesen der Sache, daß die Menschen, die all dies praktisch durch¬
führen, als ganze Menschen betrachtet, in der Totalität ihres Gedanken¬
lebens, ihres Weltbilds, ihrer Wahrnehmungs- und Empfindungsweise etc.
noch lange nicht immer das wirklich Neue repräsentieren; sie verwirklichen
es, bleiben aber zugleich mit einem beträchtlichen Teil ihres Wesens in der
abgelebten Wirklichkeit verwurzelt. (Dieser Zustand ist von den früher er¬
wähnten, von der Pähigkeit aus der alten Kultur das Lebensfähige auszu¬
sondern und es für Gegenwart und Zukunft nutzbar zu machen, scharf zu
unterscheiden.)
Erst wenn wir, wenn auch in abstraktesten Zügen, uns einen solchen Umriß
der sozialen Aktivitäten vor Augen halten, wird der Spielraum für das
Nachher der ästhetischen Rezeptivität konkreter erfaßbar. Obwohl von den
objektiven und subjektiven Tendenzen der Zeit stets aufs stärkste beeinflußt,
kann die Kunst, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will, auf ihren univer¬
salistischen Humanismus, dem natürlich die schärfste klassenmäßige Entschei¬
dung zugrunde liegen kann, nicht verzichten. D. h. unbekümmert um Breite
und Tiefe dieser Einflüsse, im Gegenteil an sie anknüpfend, sie weiterfüh¬
rend, kritisierend etc., erweitert die Kunst den Kreis der Gedanken und Ge¬
fühle der Menschen, indem sie all das, was in einer historischen Lage objektiv
enthalten ist, auf die Oberfläche der Erlebbarkeit bringt. Ob das ein Liebes¬
gedicht oder ein Stilleben, eine Melodie oder eine Häuserfassade ist: es bringt
das auf den Menschen Bezogene der Geschichte zum Ausdruck; das was sonst
vielleicht stummes Geschehen, dumpf hingenommene Faktizität gewesen und
geblieben wäre, erhält dadurch seine deutlich vernehmbare vox humana:
spricht die Wahrheit des historischen Moments für das Leben der Menschen
aus. Ja darüber hinaus hat dieses Stimmewerden etwas noch direkter Vor¬
wärtstreibendes. Wir haben in anderen Zusammenhängen darüber gespro¬
chen, daß die Kunst imstande ist, auf gesellschaftlich-geschichtlich nur keim-
850 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
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