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(Werke 11) Georg Lukács - Die Eigenart Des Ästhetischen 1 (1963, Luchterhand) PDF

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TRENT UNIVERSITY
LIBRARY
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in 2019 with funding from
Kahle/Austin Foundation

https://archive.org/details/asthetik0000luka
GEORG LUKACS WERKE
GEORG LUKÄCS WERKE

Ästhetik Teil I

BAND 11
GEORG LUKÄCS

Die Eigenart des Ästhetischen

1. Halbband

LUCHTERHAND
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Die Werke, in denen ich die wesentlichsten Ergebnisse meiner Entwick¬
lung zusammenzufassen gedenke, meine Ethik und meine Ästhetik,
deren erster, selbständiger Teil hier vorliegt, sollten als bescheidener
Versuch einer Danksagung für mehr als vierzig Jahre Gemeinschaft an
Leben und Denken, an Arbeit und Kampf
Gertrud Bortstieber Lukdcs, gestorben am 28. April 1963,
gewidmet sein. Jetzt kann ich sie nur ihrem Andenken widmen.

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7

Inhalt

Erster Halbband

Vorwort 13

Erstes Kapitel
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben 33
I Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 33
II Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 78

Zweites Kapitel
Die Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in
der Wissenschaft 139
I Bedeutung und Schranken der desanthropomorphisierenden
Tendenzen in der Antike 139
II Der widerspruchsvolle Aufschwung des Desanthropomorphisie-
rens in der Neuzeit 161

Drittes Kapitel
Prinzipielle Vorfragen der Loslösung der Kunst vom
Alltagsleben 207

Viertes Kapitel
Die abstrakten Formen der ästhetischen Widerspiegelung
der Wirklichkeit 253
I Rhythmus 254
II Symmetrie und Proportion 284
III Ornamentik 311

Fünftes Kapitel
Probleme der Mimesis I: 352
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
I Allgemeine Probleme der Mimesis 352
II Magie und Mimesis 377
III Das spontane Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der
magischen Mimesis 4°^
8 Inhalt

Sechstes Kapitel
Probleme der Mimesis II:
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst 442
I Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 444
II Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 469
III Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 508

Siebentes Kapitel
Probleme der Mimesis III:
Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung 532
I Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 533
II Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 550
III Vom partikularen Individuum zum Selbstbewußtsein der
Menschengattung 572

Achtes Kapitel
Probleme der Mimesis IV:
Die eigene Weit der Kunstwerke 618
I Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre
(Werk, Genre, Kunst im allgemeinen) 618
II Das homogene Medium, der ganze Mensch und der
Mensch ganz 640
III Das homogene Medium und der Pluralismus der ästhetischen
Sphäre 670

Neuntes Kapitel
Probleme der Mimesis V:
Die defetischisierende Mission der Kunst 696
I Die natürliche Umwelt des Menschen (Raum und Zeit) 700
II Die unbestimmte Gegenständlichkeit 720
III Inhärenz und Substantialität 741
IV Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 760

Zehntes Kapitel
Probleme der Mimesis VI:
Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik 778
I Der Mensch als Kern oder Schale 778
Inhalt
9

II Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 802


III Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 835

Zweiter Halbband

Elftes Kapitel
Das Signalsystem i’ n
I Die Umschreibung des Phänomens 13
II Das Signalsystem 1’ im Leben 38
III Indirekte Hinweise (Haustier, Pathologie) 76
IV Das Signalsystem i’ im ästhetischen Verhalten 99
V Dichterische Sprache und Signalsystem 1’ 161

Zwölftes Kapitel
Die Kategorie der Besonderheit 193
I Besonderheit, Vermittlung und Mitte 193
II Die Besonderheit als ästhetische Kategorie 226

Dreizehntes Kapitel
Ansich - Füruns - Fürsich 267
I Ansich und Füruns in der wissenschaftlichen Widerspiegelung 267
II Das Kunstwerk als Fürsichseiendes 294

Vierzehntes Kapitel
Grenzfragen der ästhetischen Mimesis 330
I Musik 330
II Architektur 402
III Kunstgewerbe 458
IV Garten 473
V Film 489
VI Der Problemkreis des Angenehmen 521
10 Inhalt

Fünfzehntes Kapitel
Probleme der Naturschönheit 575
I Zwischen Ethik und Ästhetik 5 76
11 Die Naturschönheit als Element des Lebens 607

Sechzehntes Kapitel
Der Befreiungskampf der Kunst 675
I Grundfragen und Hauptetappen des Befreiungskampfes 675
II Allegorie und Symbol 727
III Alltagsleben, partikulare Person und religiöses Bedürfnis 775
IV Basis und Perspektive der Befreiung 830

Personenregister 87 3
Sie wissen es nicht, aber sie tun es
Marx
13

Vorwort

Das hier der Öffentlichkeit übergebene Buch ist der erste Teil einer Ästhetik,
in deren Mittelpunkt die philosophische Begründung der ästhetischen Setzungs¬
art, die Ableitung der spezifischen Kategorie der Ästhetik, ihre Abgrenzung
von anderen Gebieten steht. Indem die Darlegungen sich auf diesen Problem¬
komplex konzentrieren und auf die konkreten Probleme der Ästhetik nur
soweit eingehen, als das zum Erhellen dieser Fragen unerläßlich ist, bildet
dieser Teil ein abgeschlossenes Ganzes und ist auch ohne die auf ihn folgenden
Teile in sich ganz verständlich.
Unerläßlich ist es, sich klar zu werden über die Stelle des ästhetischen Ver¬
haltens in der Totalität der menschlichen Aktivitäten, der menschlichen Reak¬
tionen auf die Außenwelt, über das Verhältnis der daraus entstehenden
ästhetischen Gebilde, das ihres kategorialen Aufbaus (ihrer Strukturform
usw.) zu anderen Reaktionsweisen auf die objektive Wirklichkeit. Unbefan¬
gene Beobachtung dieser Beziehungen ergibt in rohen Umrissen folgendes Bild.
Das Primäre ist das Verhalten des Menschen im Alltagsleben, ein Gebiet, das
trotz seiner zentralen Wichtigkeit für das Verständnis der höheren und
komplizierteren Reaktionsarten noch weitgehend unerforscht ist. Ohne hier
im Werk selbst ausführlich Dargelegtes vorwegnehmen zu wollen, müssen die
Grundgedanken des Aufbaus doch in aller Kürze erwähnt werden. Das All¬
tagsverhalten des Menschen ist zugleich Anfang und Endpunkt einer jeden
menschlichen Tätigkeit. D. h. wenn man sich den Alltag als einen großen
Strom vorstellt, so zweigen in höheren Aufnahme- und Reproduktionsformen
der Wirklichkeit Wissenschaft und Kunst aus diesem ab, differenzieren sich
und bilden sich ihren spezifischen Zielsetzungen entsprechend aus, erreichen
ihre reine Form in dieser - aus den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Lebens
entspringenden - Eigenart, um dann infolge ihre Wirkungen, ihrer Einwir¬
kungen auf das Leben der Menschen wieder im Strom des Alltagslebens zu
münden. Dieser bereichert sich also andauernd mit den höchsten Ergebnissen
des menschlichen Geistes, assimiliert diese seinen täglichen, praktischen Bedürf¬
nissen, woraus dann wieder, als Fragen und Forderungen, neue Abzweigungen
der höheren Objektivationsformen entstehen. Dabei müssen die komplizierten
Wechselbeziehungen zwischen der immanenten Vollendung der Werke in Wis¬
senschaft und Kunst und zwischen den gesellschaftlichen Bedürfnissen die ihre
Erwecker, die Veranlassungen ihrer Entstehung sind, eingehend untersucht
Vorwort
14

werden. Erst aus dieser Dynamik der Genesis, der Entfaltung, der Eigengesetz¬
lichkeit, des Wurzeins im Leben der Menschheit lassen sich die besonderen Kate¬
gorien und Strukturen der wissenschaftlichen und künstlerischen Reaktionen
des Menschen auf die Wirklichkeit ableiten. Die Betrachtungen dieses Werks sind
natürlich auf die Erkenntnis der Eigenart des Ästhetischen gerichtet. Da aber
die Menschen in einer einheitlichen Wirklichkeit leben und mit ihr in Wechsel¬
beziehungen stehen, kann das Wesen des Ästhetischen nur in ständigem Ver¬
gleich mit andern Reaktionsarten auch nur annähernd begriffen werden. Dabei
ist das Verhältnis zur Wissenschaft das wichtigste; es ist aber unerläßlich, auch
das Verhältnis zur Ethik und Religion aufzudecken. Sogar die hier auftauchen¬
den psychologischen Probleme ergeben sich ebenfalls als notwendige Folge von
Fragestellungen, die auf das Spezifische der ästhetischen Setzung zielen.
Selbstverständlich kann keine Ästhetik auf dieser Stufe stehen bleiben. Kant
konnte sich noch damit begnügen, die allgemein methodologische Frage des
Geltungsanspruchs der ästhetischen Urteile zu beantworten. Abgesehen davon,
daß diese Frage unseres Erachtens keine primäre, sondern für den Aufbau der
Ästhetik eine höchst abgeleitete ist, kann sich seit der Hegelsdien Ästhetik
kein Philosoph, der es mit der Klärung des Wesens des Ästhetischen ernst
nimmt, mit einem derart engbegrenzten Rahmen und einer so einseitig an
Erkenntnistheorie orientierten Problemstellung begnügen. Von den Frag¬
würdigkeiten der Hegelschen Ästhetik, sowohl in der Grundlegung wie in
den Einzelausführungen, wird im Text vielfach die Rede sein; doch bleibt
der philosophische Universalismus ihrer Konzeption, ihre historisch-syste¬
matische Art der Synthese auf Dauer beispielgebend für den Entwurf einer
jeden Ästhetik. Erst alle drei Teile dieser Ästhetik zusammen können eine
- nur teilweise - Annäherung an dies hohe Vorbild verwirklichen. Denn
ganz abgesehen von Wissen und Begabung dessen, der einen solchen Versuch
heute unternimmt, lassen sich die von der Hegelschen Ästhetik aufgestellten
Maßstäbe des Allumfassens in der Gegenwart sachlich weit schwerer als zu
Hegels Zeiten in Praxis umsetzen. So bleibt die von Hegel ausführlich behan¬
delte - ebenfalls historisch-systematische - Theorie der Künste noch außerhalb
des Bereichs, den der Plan dieses gesamten Werks umschreibt. Sein zweiter
Teil - mit dem vorläufigen Titel: »Kunstwerk und ästhetisches Verhalten« -
soll vor allem die im ersten Teil erst in größter Allgemeinheit abgeleitete und
umrissene spezifische Struktur des Kunstwerks konkretisieren; die im ersten
Teil bloß in Allgemeinheiten gewonnenen Kategorien können dann erst ihre
wahre und bestimmte Physiognomie erlangen. Probleme wie Inhalt und
Form, Weltanschauung und Formbildung, Technik und Form etc. können im
Vorwort
U

ersten Teil nur höchst allgemein, nur als Horizontfragen auftauchen; ihr
wahres konkretes Wesen kann philosophisch nur im Laufe der eingehenden
Analyse der Werkstruktur ans Licht treten. Ebenso ist es mit den Problemen
des schöpferischen und rezeptiven Verhaltens bestellt. Der erste Teil vermag
nur bis zu ihren generellen Umrissen vorzudringen, gewissermaßen den
jeweiligen methodologischen »Ort« ihrer Bestimmungsmöglichkeit abbilden.
Die realen Beziehungen zwischen Alltag einerseits, wissenschaftlichem, ethi¬
schem etc. Verhalten und ästhetischer Produktion und Reproduktion anderer¬
seits, die kategoriale Wesensart ihrer Proportionen, Wechselwirkungen, gegen¬
seitigen Beeinflussungen etc. erfordern ebenfalls auf das Konkreteste gerichtete
Analysen, die im Rahmen des auf philosophische Grundlegung eingestellten
ersten Teils prinzipiell unmöglich sind.
Ähnlich steht die Lage mit dem dritten Teil. (Sein vorläufiger Titel lautet:
»Die Kunst als gesellschaftlich-geschichtliche Erscheinung«.) Es ist zwar unver¬
meidlich, daß schon der erste Teil nicht nur einzelne historische Exkurse ent¬
hält, sondern vor allem ständig auf das originär historische Wesen eines
jeden ästhetischen Phänomens hinweist. Der historisch-systematische Charak¬
ter der Kunst erhielt, wie bereits erwähnt, seine erste ausgeprägte Gestalt in
Hegels Ästhetik. Die aus dem objektiven Idealismus entspringenden Starr¬
heiten der Hegelschen Systematisierung wurden durch den Marxismus richtig¬
gestellt. Das komplizierte Wechselverhältnis zwischen dialektischem und histo¬
rischem Materialismus ist schon an sich ein bedeutsames Zeichen dafür, daß
der Marxismus nicht historische Entwicklungsphasen aus der inneren Ent¬
wicklung der Idee deduzieren will, sondern im Gegenteil darauf ausgeht,
den wirklichen Prozeß in seinen verwickelten historisch-systematischen Be¬
stimmungen zu erfassen. Die Einheit von theoretischen (hier: ästhetischen) und
historischen Bestimmungen verwirklicht sich letzten Endes in einer äußerst
widersprüchlichen Weise und kann deshalb sowohl prinzipiell wie in den ein¬
zelnen konkreten Fällen nur durch eine ununterbrochene Zusammenarbeit von
dialektischem und historischem Materialismus ergründet werden h Im ersten
und zweiten Teil dieses Werks sind die Gesichtspunkte des dialektischen Mate¬
rialismus dominierend, da es sich darum handelt, das objektive Wesen des
Ästhetischen begrifflich auszudrücken. Es gibt dabei jedoch fast kein Problem,

1 Die den Marxismus vulgarisierenden Tendenzen der Stalinsdien Periode zeigen


sich auch darin, daß dialektischer Materialismus und historischer Materialismus
zeitweilig als voneinander unabhängige Wissenschaften behandelt und sogar »Spe¬
zialisten« für jeden dieser Zweige ausgebildet wurden.
16 Vorwort

das lösbar wäre, ohne seine historischen Aspekte - in unzerreißbarer Einheit


mit der ästhetischen Theorie - wenigstens andeutungsweise zu erhellen. Im
dritten Teil dominiert die Methode des historischen Materialismus, da darin die
historischen Bestimmungen und Eigenheiten der Genesis der Künste, ihrer Ent¬
faltung, ihrer Krisen, ihrer führenden oder dienenden Rolle etc. im Vorder¬
grund des Interesses stehen. Es soll dabei vor allem das Problem der ungleich¬
mäßigen Entwicklung in der Genesis, im ästhetischen Sein und Werken und in
der Wirkung der Künste erforscht werden. Das bedeutet zugleich jedoch einen
Bruch mit jeder »soziologischen« Vulgarisierung über Entstehen und Wirken der
Künste. Eine solche nicht unzulässig vereinfachende gesellschaftlich-geschicht¬
liche Analyse ist jedoch unmöglich, ohne die Ergebnisse der dialektisch-mate¬
rialistischen Forschungen über kategorialen Aufbau, Struktur und spezifische
Beschaffenheit einer jeden Kunst für die Erkenntnis ihres historischen Charak¬
ters ununterbrochen zu verwerten. Die permanente und lebendige Wechselwir¬
kung von dialektischem und historischem Materialismus zeigt sich also hier von
einer anderen Seite, aber nicht minder als in den beiden ersten Teilen.
Wie der Leser sieht, weicht der Aufbau dieser ästhetischen Untersuchungen
ziemlich stark von den allgemein gewohnten Konstruktionen ab. Das bedeutet
jedoch keineswegs, daß sie einen Anspruch auf Originalität der Methode
erheben könnten. Im Gegenteil: sie bezeichnen nichts anderes als eine mög¬
lichst richtige Anwendung des Marxismus auf die Probleme der Ästhetik. Soll
eine solche Aufgabenstellung nicht von vorneherein mißverstanden werden,
so muß, wenn auch nur in einigen Worten, die Lage und Beziehung dieser
Ästhetik zu der des Marxismus geklärt werden. Als ich vor ungefähr dreißig
Jahren meinen ersten Beitrag zur Ästhetik des Marxismus schrieb 1, verfocht
ich die These, daß der Marxismus eine eigene Ästhetik habe, und stieß dabei
auf vielfachen Widerstand. Der Grund dafür war, daß sich der Marxismus
vor Lenin, auch in seinen theoretisch besten Vertretern wie Plechanow oder
Mehring, fast ausschließlich auf die Probleme des historischen Materialismus
beschränkte 2. Erst seit Lenin rückte der dialektische Materialismus wieder in

1 Die Sickingendebatte zwischen Marx-Engels und Lassalle in Georg Lukacs, »Karl


Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker«, Berlin 1948, 1952.
2 F. Mehring, Gesammelte Schriften und Aufsätze, Berlin 1929; jetzt: Gesammelte
Schriften, Berlin i960 ff.; ders. Die Lessing-Legende, Stuttgart 1898, zuletzt Ber¬
lin 1953; G. W. Plechanow, Kunst und Literatur mit Vorwort von M. Rosenthal,
Redaktion und Kommentar von N. F. Beltschikow, aus dem Russischen v. J. Har-
hammer, Berlin 1955.
Vorwort 17

den Mittelpunkt des Interesses. Darum konnte Mehring, der übrigens seine
Ästhetik auf die »Kritik der Urteilskraft« gründete, in den Divergenzen
zwischen Marx-Engels und Lassalle nur einen Zusammenprall von subjek¬
tiven Geschmacksurteilen erblicken. Diese Kontroverse ist freilich längst er¬
ledigt. Seit der geistvollen Studie von M. Lifsdiitz über die Entwiddung der
ästhetischen Anschauungen von Marx, seit seiner sorgfältigen Sammlung und
Systematisierung der zerstreuten Aussprüche von Marx, Engels und Lenin
über ästhetische Fragen kann kein Zweifel mehr über Zusammenhang und
Kohärenz dieser Gedankengänge bestehen 1 2.
Diesen systematischen Zusammenhang aufzuzeigen und nachzuweisen löst
aber die Frage nach einer Ästhetik des Marxismus noch lange nicht endgültig.
Denn wäre in den gesammelten und systematisch geordneten Aussprüchen der
Klassiker des Marxismus eine Ästhetik oder zumindest ihr perfektes Skelett
bereits explicit enthalten, so wäre nichts anderes nötig als ein guter Verbin¬
dungstext und die marxistische Ästhetik stünde fertig vor uns. Davon kann
keine Rede sein! Nicht einmal eine direkte monographische Anwendung
dieses Materials auf alle Einzelfragen der Ästhetik kann, wie vielfache Erfah¬
rungen zeigen, für den Aufbau des Ganzen wissenschaftlich Ausschlaggebendes
bringen. Man steht also vor der paradoxen Situation, daß es eine marxistische
Ästhetik gleichzeitig gibt und nicht gibt, daß sie durch selbständige Forschun¬
gen erobert, ja geschaffen werden muß und daß das Resultat zugleich doch nur
etwas der Idee nach Vorhandenes begrifflich darlegt und fixiert. Die Para¬
doxie löst sich indessen von selbst auf, wenn das ganze Problem im Licht der
Methode der materialistischen Dialektik betrachtet wird. Der uralte Wortsinn
der Methode, der mit dem Weg zur Erkenntnis unlösbar verknüpft ist, ent¬
hält nämlich die Forderung an das Denken, um bestimmte Resultate zu
erzielen bestimmte Wege zu gehen. Die Richtung dieser Wege ist in der
Totalität des Weltbilds, das die Klassiker des Marxismus entworfen haben, in
zweifelsfreier Evidenz enthalten, insbesondere dadurch, daß die vorhandenen
Ergebnisse als Endpunkte solcher Wege klar vor uns stehen. Es ist also, wenn

1 M. Lifsdiitz, Lenin o kulture i isskustwe, Marksistsko-Leninskoje isskustwosnanije


2 (1932), 143 ff.; ders. Karl Marx und die Ästhetik, Internationale Literatur III/2
(1933) 127 ff.; M. Lifsdiitz und F. Schiller, Marx i Engels o isskustwe i literature,
Moskau 1933; Karl Marx - Friedrich Engels, Uber Kunst und Literatur, hrsg. v.
M. Lifsdiitz (1937), deutsche Schriftleitung Kurt Thöricht - Roderich Fechner, Ber¬
lin 1949; M. Lifsdiitz, The Philosophy of Art of Karl Marx, übers, v. T. Winn,
New York 1938; ders. Karl Marx und die Ästhetik, Dresden i960.
18 Vorwort

auch nicht unmittelbar, nicht auf den ersten Blick sichtbar, durch die Methode
des dialektischen Materialismus klar vorgezeichnet, welche Wege und wie sie
zu beschreiten sind, wenn man die objektive Wirklichkeit in ihrer wahren
Objektivität auf den Begriff bringen und das Wesen eines Einzelgebiets seiner
Wahrheit gemäß ergründen will. Erst wenn diese Methode, diese Wegrich¬
tung selbständig, durch eigene Forschung verwirklicht und eingehalten wird,
ist die Möglichkeit vorhanden, auf das Gesuchte zu stoßen, die marxistische
Ästhetik richtig aufzubauen oder wenigstens sich ihrem wahren Wesen anzu¬
nähern. Wer die Illusion hegt, mit Hilfe einer bloßen Marxinterpretation die
Wirklichkeit und zugleich damit Marxens Erfassen der Wirklichkeit gedank¬
lich zu reproduzieren, muß beides verfehlen. Nur eine unbefangene Betrach¬
tung der Wirklichkeit und ihre Aufarbeitung mittels der von Marx entdeckten
Methode kann beides erringen: Treue zur Wirklichkeit und zugleich Treue
zum Marxismus. In diesem Sinne ist diese Arbeit zwar in allen ihren Bestand¬
teilen und in ihrer Ganzheit das Ergebnis selbständiger Forschung, sie erhebt
aber dennoch keinen Anspruch auf Originalität. Denn alle Mittel, sich der
Wahrheit anzunähern, ihre ganze Methode verdankt sie dem Studium des
Gesamtwerks, das die Klassiker des Marxismus uns überliefert haben.
Die Treue zum Marxismus bedeutet aber zugleich die Anhänglichkeit an die
großen Traditionen der bisherigen gedanklichen Bewältigung der Wirklichkeit.
Es ist in der Stalinschen Periode, besonders seitens Shdanows, ausschließlich
das hervorgehoebn worden, was den Marxismus von den großen Überlieferun¬
gen des menschlichen Denkens trennt. Wenn dabei nur das qualitativ Neue
am Marxismus betont worden wäre, nämlich der Sprung, der seine Dialektik
von der seiner entwickeltsten Vorläufer, etwa von Aristoteles oder Hegel
trennt, so könnte das relativ berechtigt sein. Ein solcher Standpunkt könnte
sogar als notwendig und nützlich bewertet werden, wenn er nicht - in tief
undialektischer Weise - das radikal Neue am Marxismus einseitig, isolierend
und darum metaphysisch hervorhöbe, wenn er dabei nicht das Moment
der Kontinuität in der menschlichen Dedankenentwicklung vernachlässigte.
Die Wirklichkeit — und deshalb auch ihre gedankliche Widerspiegelung und
Wiedergabe — ist aber eine dialektische Einheit von Kontinuität und Diskon-
tiunität, von Tradition und Revolution, von allmählichen Übergängen
und Sprüngen. Der wissenschaftliche Sozialismus selbst ist etwas in der Ge¬
schichte völlig Neues und vollbringt doch zugleich die Erfüllung einer jahr¬
tausendelang lebendigen Menschheitsehnsucht, die Erfüllung dessen, was die
besten Geister zutiefst angestrebt haben. So steht es auch mit dem begriff liehen
Erfassen der Welt durch die Klassiker des Marxismus. Die tiefe und durch
Vorwort 19

keine Angriffe, durch kein Totschweigen erschütterbare Wahrheit des Marxis¬


mus beruht nicht zuletzt darauf, daß mit seiner Hilfe die sonst verborgenen
Grundtatsachen der Wirklichkeit, des menschlichen Lebens zum Vorschein
kommen, zum Inhalt des menschlichen Bewußtseins werden können. Das
Neue erhält dadurch einen gedoppelten Sinn: nicht nur infolge der früher
nicht existierenden Wirklichkeit des Sozialismus erhält das menschliche Leben
einen neuen Gehalt, einen neuen Sinn, sondern gleichzeitig rückt die mit Hilfe
der marxistischen Methode, Forschung und ihrer Ergebnisse erfolgte Ent-
fetischisierung die als bekannt betrachtete Gegenwart und Vergangenheit, das
ganze menschliche Dasein in ein neues Licht. So werden alle vergangenen
Anstrengungen, es in seiner Wahrheit zu erfassen, in einem ganz neuen Sinn
verständlich. Zukunftsperspektive, Erkenntnis der Gegenwart, Einsicht in die
Tendenzen, die sie gedanklich und praktisch herbeigeführt haben, stehen so
in einer unlösbaren Wechselbeziehung zueinander. Das einseitige Hervor¬
heben des Trennenden und Neuen beschwört die Gefahr, alles Konkrete und
Bestimmungsreiche am wahrhaft Neuen in eine abstrakte Andersheit einzu¬
engen und darin verarmen zu lassen. Die Gegenüberstellung der Kennzeichen
der Dialektik bei Lenin und Stalin zeigt die Folgen einer solchen methodologi¬
schen Differenz ganz deutlich; und die vielfachen unvernünftigen Stellungnah¬
men zum Erbe der Hegelschen Philosophie führten zu einer oft erschreckenden
Inhaltsarmut der logischen Untersuchungen in der Stalinschen Periode.
Bei den Klassikern selbst ist keine Spur eines solchen metaphysischen Kontra-
stierens von Alt und Neu zu finden. Ihr Verhältnis erscheint vielmehr in jenen
Proportionen, die die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung selbst dadurch
produziert hat, daß sie die Wahrheit in Erscheinung hat treten lassen.
Das Festhalten an dieser allein richtigen Methode ist für die Ästhetik womög¬
lich noch wichtiger als für andere Gebiete. Denn die genaue Analyse der Tat¬
sachen wird hier besonders deutlich zeigen, daß die gedankliche Bewußtheit
über das im Gebiet des Ästhetischen praktisch Geleistete immer hinter diesem
zurückgeblieben ist. Gerade darum gewinnen jene wenigen Denker, die relativ
früh zu einer Klarheit über die echten Probleme des Ästhetischen gelangt sind,
eine außerordentliche Bedeutung. Andererseits sind — wie unsere Analysen
zeigen werden - oft scheinbar weit entlegene Gedankengänge, etwa philo¬
sophische oder ethische, für das Verständnis der ästhetischen Phänomene sehr
wichtig. Um hier nicht allzuviel davon vorwegzunehmen, was erst in den
detaillierten Ausführungen richtig am Platze ist, sei nur bemerkt, daß der
ganze Aufbau und alle Detailausführungen dieses Werks - gerade weil es
seine Existenz der Marxschen Methode verdankt - aufs allertiefste von den
20
Vorwort

Ergebnissen bestimmt sind, die Aristoteles, Goethe und Hegel in ihren ver¬
schiedenen, nicht nur in den direkt auf die Ästhetik bezüglichen Schriften,
gewonnen haben. Wenn ich daneben meine Dankbarkeit gegenüber Epikur,
Bacon, Hobbes, Spinoza, Vico, Diderot, Lessing und den russischen revolu¬
tionär-demokratischen Denkern ausspreche, habe ich natürlich nur die für
midi allerwichtigsten Namen aufgezählt; die Liste der Autoren, denen ich
midi für diese Arbeit, im Ganzen wie im Detail verpflichtet fühle, ist damit
noch lange nicht erschöpft. Dieser Überzeugung entspricht die Art des Zitierens.
Es ist nicht beabsichtigt, Probleme der Geschichte der Kunst oder der Ästhetik
zu behandeln. Vielmehr kommt es nur darauf an, Tatbestände oder Entwick¬
lungslinien, die für die allgemeine Theorie von Belang sind, zu erhellen.
Darum werden, der jeweiligen theoretischen Konstellation entsprechend, ent¬
weder solche Autoren oder Werke zitiert, die etwas - richtig oder in bedeut¬
samer Weise falsch - zum erstenmal ausgesprochen haben oder deren Meinung
für eine bestimmte Sachlage als besonders charakteristisch erscheint. Nach
Vollständigkeit der literarischen Belege zu streben, mußte den Intentionen
dieser Arbeit fernliegen.
Schon aus dem bisher Dargelegten folgt, daß die polemische Spitze dieser
ganzen Arbeit gegen den philosophischen Idealismus gerichtet ist. Dabei fällt
der erkenntnistheoretische Kampf gegen ihn naturgemäß aus ihrem Rahmen
heraus; es kommt auf die spezifischen Fragen an, in denen der philosophische
Idealismus sich als Hindernis für das adäquate Begreifen spezifisch-ästhe-
tisdier Sachverhalte erweist. Uber die Verwirrungen, die sich ergeben, wenn
sich das ästhetische Interesse auf die Schönheit (und evtl, auf ihre sogenannten
Momente) konzentriert, werden wir hauptsächlich im zweiten Teil sprechen;
hier wird dieser Komplex nur episodisch gestreift. Umso wichtiger scheint es
uns, auf den notwendig hierarchischen Charakter einer jeden idealistischen
Ästhetik hinzuweisen. Wenn nämlich die verschiedenen Bewußtseinsformen
als die letzthinnigen Bestimmungsprinzipien der Gegenständlichkeit aller
untersuchten Objekte, ihrer Stelle im System etc. figurieren, und nicht - wie
im Materialismus - als Reaktionsweisen auf objektiv, unabhängig vom Be¬
wußtsein Vorhandenes und bereits konkret Geformtes auf gef aßt werden,
müssen sie sich zwangsläufig zu obersten Richtern der gedanklichen Ordnung
aufwerfen und ihr System hierarchisch aufbauen. Welche Rangstufen eine
solche Hierarchie jeweils enthält ist historisch außerordentlich verschieden.
Das soll aber hier nicht diskutiert werden, da es uns allein auf die alle Gegen¬
stände und Beziehungen verfälschende Wesensart einer jeden solchen Hierar¬
chie ankommt.
Vorwort 21

Es ist ein weit verbreitetes Mißverständnis, wenn man glaubt, daß das Welt¬
bild des Materialismus — Priorität des Seins dem Bewußtsein, des gesellschaft¬
lichen Seins dem gesellschaftlichen Bewußtsein gegenüber — ebenfalls hierar¬
chischen Charakters wäre. Für den Materialismus ist die Priorität des Seins
vor allem die Feststellung einer Tatsache: es gibt ein Sein ohne Bewußtsein,
es gibt aber kein Bewußtsein ohne Sem. Daraus folgt jedoch keinerlei hierar¬
chische Unterordnung des Bewußtseins unter das Sein. Im Gegenteil, diese
Priorität und ihre konkrete theoretische wie praktische Anerkennung durch
das Bewußtsein schafft erst die Möglichkeit, das Sein durch das Bewußtsein
real zu beherrschen. Die einfache Tatsache der Arbeit illustriert diesen Tat¬
bestand in schlagender Weise. Und wenn der historische Materialismus die
Priorität des gesellschaftlichen Sems dem gesellschaftlichen Bewußtsein gegen¬
über feststellt, handelt es sidi ebenfalls nur um die Anerkennung einer
Faktizität. Audi die gesellschaftliche Praxis ist auf das Beherrschen des gesell¬
schaftlichen Seins gerichtet, und daß sie ihre Ziele im Laufe der bisherigen
Geschichte nur sehr relativ verwirklichen konnte, schafft gleichfalls kein
hierarchisches Verhältnis zwisdien beiden, sondern bestimmt bloß jene kon¬
kreten Bedingungen, unter welchen eine erfolgreiche Praxis objektiv möglich
wird, bestimmt damit freilich zugleich ihre konkreten Grenzen, jenen Entfal¬
tungsspielraum für das Bewußtsein, den das jeweilige gesellschaftliche Sein
darbietet. So wird eine historische Dialektik in diesem Verhältnis sichtbar,
aber keinesfalls eine hierarchische Struktur. Wenn ein kleines Segelboot sich
einem Sturm gegenüber als hilflos erweist, den ein mächtiges Motorschiff ohne
Schwierigkeiten überwindet, so zeichnet sich bloß die reale Überlegenheit
oder Schranke des jeweiligen Bewußtseins dem Sein gegenüber ab, nicht aber
eine hierarchische Beziehung zwischen dem Menschen und den Naturkräften;
um so weniger, als die historische Entwicklung - und mit ihr die wachsende
Erkenntnis des Bewußtseins über die wahre Beschaffenheit des Seins - ein
ständiges Wachsen der Herrschaftsmöglichkeiten jenes über dieses hervor¬
bringt.
Radikal anders muß der philosophische Idealismus sein Weltbild entwerfen.
Es sind nicht die realen und wechselvollen Kräfteverhältnisse, die ein zeit¬
weiliges Übergewicht oder Unterlegensein im Leben schaffen; sondern von
vorneherein steht eine Hierarchie jener bewußtseinsmäßigen Potenzen fest,
die nicht nur die Gegenständlichkeitsformen und die Beziehungen zwischen
den Gegenständen hervorbringen und ordnen, sondern sich auch untereinan¬
der in hierarchischen Abstufungen befinden. Um die Lage an unserem Problem
zu beleuchten: wenn etwa Hegel die Kunst der Anschauung, die Religion
Vorwort
22

der Vorstellung, die Philosophie dem Begriff zuordnet und sie als von diesen
Bewußtseinsformen regiert auf faßt, so ist dadurch eine genaue, »ewige«,
unumstößliche Hierarchie entstanden, die, wie jeder Kenner Hegels weiß,
auch das historische Schicksal der Kunst bestimmt. (Wenn etwa der junge
Schelling die Kunst entgegengesetzt in seine hierarchische Ordnung einfügt,
so hat sidi damit an den Prinzipien nichts geändert.) Es ist evident, daß
daraus ein ganzes Knäuel von Scheinproblemen entsteht, das seit Platon eine
jede Ästhetik methodologisch verwirrt hat. Denn einerlei, ob die idealistische
Philosophie in einer bestimmten Hinsicht eine Über- oder Unterordnung der
Kunst gegenüber anderen Bewußtseinsformen statuiert, wird das Denken von
der Untersuchung der spezifischen Eigenheiten der Gegenstände abgelenkt,
diese werden — zumeist ganz unzulässig — auf einen Nenner gebracht, damit
man sie innerhalb einer hierarchischen Ordnung miteinander vergleichen und
der gewünschten hierarchischen Stufe einfügen kann. Es mag sich um Probleme
der Beziehung der Kunst zur Natur, zur Religion, zur Wissenschaft etc.
handeln, überall müssen aus den Scheinproblemen Verzerrungen der Gegen¬
ständlichkeitsformen, der Kategorien entspringen.
Die Bedeutung des Bruchs, der so mit jedem philosophischen Idealismus voll¬
zogen wird, zeigt sich in seinen Konsequenzen noch deutlicher, wenn wir
unseren materialistischen Ausgangspunkt weiter konkretisieren: wenn wir
nämlich die Kunst als eine eigenartige Erscheinungsweise der Widerspiegelung
der Wirklichkeit auffassen, die ihrerseits nur eine Unterart der universellen
sie widerspiegelnden Beziehungen des Menschen zur Wirklichkeit ist. Einer
der entscheidenden Grundgedanken dieses Werks besteht darin, daß alle Arten
der Widerspiegelung - wir analysieren vor allem die durch das Alltagsleben,
die Wissenschaft und die Kunst - stets dieselbe objektive Wirklichkeit abbil¬
den. Dieser als selbstverständlich, ja als trivial scheinende Ausgangspunkt hat
aber weittragende Konsequenzen. Da die materialistische Philosophie alle
Gegenständlichkeitsformen, alle den Gegenständen und ihren Beziehungen
zugehörigen Kategorien nicht als Produkte eines schöpferischen Bewußtseins
ansieht, wie der Idealismus, sondern in ihnen eine vom Bewußtsein unab¬
hängig existierende objektive Wirklichkeit erblickt, können sich alle Diver¬
genzen, ja Gegensätzlichkeiten in den einzelnen Widerspiegelungsarten nur
innerhalb dieser materiell und formell einheitlichen Wirklichkeit abspielen.
Um die komplizierte Dialektik in dieser Einheit der Einheit und Verschieden¬
heit begreifen zu können, muß zuerst mit der weitverbreiteten Vorstellung
einer mechanischen, photographischen Widerspiegelung gebrochen werden.
Wäre eine solche die Grundlage, aus welcher die Differenzen herauswachsen,
Vorwort
23

so müßten alle spezifischen Formen subjektive Entstellungen dieser allein


»authentischen« Reproduktion der Wirklichkeit sein, oder die Differenzierung
müßte einen rein nachträglichen, völlig unspontanen, nur bewußt-gedank¬
lichen Charakter haben. Die extensive und intensive Unendlichkeit der objek¬
tiven Welt zwingt aber allen Lebewesen, vor allem dem Menschen, eine An¬
passung, eine unbewußte Auswahl in der Widerspiegelung auf. Diese hat also
- unbeschadet ihres fundamental objektiven Charakters — auch eine unauf¬
hebbare subjektive Komponente, die auf dem tierischen Niveau rein phy¬
siologisch, beim Menschen darüber hinaus auch gesellschaftlich bedingt ist.
(Einfluß der Arbeit auf Bereicherung, Ausbreitung, Vertiefung etc. der mensch¬
lichen Fähigkeiten zur Widerspiegelung der Wirklichkeit.) Die Differenzierung
ist also - vor allem auf den Gebieten von Wissenschaft und Kunst - ein
Produkt des gesellschaftlichen Seins, der auf seinem Boden entstandenen Be¬
dürfnisse, der Anpassung des Menschen an seine Umwelt, des Wachstums
seiner Fähigkeiten in Wedaselwirkung mit dem Zwang, ganz neuartigen Auf¬
gaben gewachsen zu sein. Physiologisch und psychologisch müssen sich aller¬
dings diese Wechselwirkungen, diese Anpassungen an Neues unmittelbar in
den Einzelmenschen verwirklichen, sie erlangen aber von vorneherein eine
gesellschaftliche Allgemeinheit, da die gestellten neuen Aufgaben, die modi¬
fizierend wirkenden neuen Umstände eine allgemeine (gesellschaftliche) Be¬
schaffenheit haben und individuell-subjektive Varianten nur innerhalb des
gesellschaftlichen Spielraums zulassen.
Einen qualitativ und quantitativ ausschlaggebenden Teil der vorliegenden
Arbeit nimmt die Ausarbeitung der spezifischen Wesenszüge der ästhetischen
Widerspiegelung der Wirklichkeit ein. Diese Untersuchungen sind, der Grund¬
absicht dieses Werks entsprechend, philosophischer Art, d. h. sie konzentrieren
sich auf die Frage: welche spezifischen Formen, Beziehungen, Proportionen
etc. die jeder Widerspiegelung gemeinsame Welt der Kategorien in der ästhe-
tisdien Setzung erhält. Es ist dabei natürlich unvermeidlich auch auf psycho¬
logische Fragen einzugehen; diesen Problemen ist ein besonderes Kapitel (das
elfte) gewidmet. Weiter muß schon hier hervorgehoben werden, daß die
philosophische Grundabsicht uns notwendig vorschreibt, in sämtlichen Kün¬
sten vor allem die gemeinsamen ästhetischen Züge der Widerspiegelung heraus¬
zuarbeiten, obwohl, der pluralistischen Struktur der ästhetischen Sphäre ent¬
sprechend, die Besonderheit der einzelnen Künste bei der Behandlung der
Kategorienprobleme doch so weit als möglich in Betracht gezogen wird. Die
ganz eigenartige Erscheinungsweise der Widerspiegelung der Wirklichkeit in
Künsten wie Musik oder Architektur macht es unvermeidlich, diesen Spezial-
Vorwort
24

fällen ein besonderes Kapitel (das vierzehnte) zu widmen, hier mit dem
Bestreben, die spezifischen Differenzen so zu erhellen, daß in ihnen zugleich
die allgemeinen ästhetischen Prinzipien ihre Geltung bewahren.
Diese Universalität der Widerspiegelung der Wirklichkeit als Grundlage aller
Wechselbeziehungen des Menschen mit seiner Umwelt hat, zu Ende geführt,
sehr weitgehende weltanschauliche Folgen für die Auffassung des Ästhetischen.
Für jeden wirklich folgerichtigen Idealismus muß nämlich eine jede im mensch¬
lichen Dasein bedeutsame Bewußtseinsform - also in unserem Falle die ästhe¬
tische -, da ihr Ursprung hierarchisch im Zusammenhang einer Ideenwelt
begründet ist, von einer »überzeitlichen« »ewigen« Wesensart sein; soweit
sie geschichtlich behandelt werden kann, geschieht dies innerhalb eines solchen
metahistorischen Rahmens des »zeitlosen« Seins oder Gehens. Diese scheinbar
formal-methodologische Position muß aber notwendig ins Inhaltliche, ins
Weltanschauliche Umschlägen. Denn es folgt aus ihr notwendig, daß das
Ästhetische, sowohl produktiv wie rezeptiv, zum »Wesen« des Menschen
gehört, mag man dieses vom Standpunkt der Ideenwelt oder des Weltgeistes,
anthropologisch oder ontologisch bestimmen. Ein völlig entgegengesetztes Bild
muß unsere materialistische Betrachtungsweise ergeben. Die objektive Wirk¬
lichkeit, die in den verschiedenen Arten der Widerspiegelung erscheint, ist
nicht nur einem ununterbrochenen Wandel unterworfen, sondern dieser zeigt
sehr bestimmte Richtungen, Entwicklungslinien. Die Wirklichkeit selbst ist
also ihrer objektiven Wesensart nach historisch; die in den verschiedenen
Widerspiegelungen erscheinenden inhaltlichen wie formellen geschichtlichen
Bestimmungen sind demgemäß nur mehr oder weniger richtige Annäherungen
an diese Seite der objektiven Wirklichkeit. Eine echte Historizität kann aber
niemals in einer bloßen Veränderung der Inhalte der völlig gleichbleibenden
Formen, bei völlig unveränderlichen Kategorien bestehen. Ja gerade dieser
Wechsel der Inhalte muß notwendig modifizierend auch auf die Formen ein¬
wirken, muß vorerst bestimmte Funktionsverschiebungen innerhalb des kate-
gorialen Systems, von einem bestimmten Grad an sogar ausgesprochene Wand¬
lungen mit sich führen: das Entstehen neuer und das Verschwinden alter
Kategorien. Die Historizität der objektiven Wirklichkeit hat eine bestimmte
Historizität der Kategorienlehre zur Folge.
Freilich muß dabei sehr darauf geachtet werden, inwiefern und wieweit solche
Veränderungen von objektiver oder subjektiver Beschaffenheit sind. Denn
obgleich wir meinen, auch die Natur müsse letzten Endes historisch aufgefaßt
werden, sind die einzelnen Etappen dieser Entwicklung von einer derartigen
zeitlichen Ausdehnung, daß ihre objektiven Veränderungen für die Wissen-
Vorwort
25

Schaft kaum in Betracht kommen. Um so wichtiger ist natürlich die subjektive


Historie der Entdeckungen von Gegenständlichkeiten, Beziehungen, katego-
rialen Zusammenhängen. Nur in der Biologie könnte ein Wendepunkt in der
Entstehung der objektiven Kategorien des Lebens — wenigstens auf dem uns
bekannten Teil des Universums — und damit eine objektive Genesis festgestellt
werden. Qualitativ anders steht die Frage, wenn vom Menschen und von der
menschlichen Gesellschaft die Rede ist. Hier ist unzweifelhaft immer von der
Genesis einzelner Kategorien und kategorialen Zusammenhängen die Rede,
die unmöglich aus der bloßen Kontiumtät der bis dahin gehenden Entwick¬
lung »abgeleitet« werden können, deren Genesis also an die Erkenntnis
spezielle Anforderungen stellt. Es würde jedoch zu einer Verzerrung des
wahren Tatbestandes führen, wollte man die historische Erforschung der
Genesis von der philosophischen Analyse des dabei entstandenen Phänomens
methodologisch trennen. Die wahre kategoriale Struktur eines jeden derartigen
Phänomens hängt vielmehr aufs innigste mit seiner Genesis zusammen; das
Aufzeigen der kategorialen Struktur ist vollständig und in richtiger Propor¬
tionalität nur dann möglich, wenn die sachliche Zergliederung mit dem Erhel¬
len der Genesis organisch verknüpft wird; die Ableitung des Werts am An¬
fang des »Kapitals« von Marx ist das Musterbeispiel einer solchen historisch¬
systematischen Methode. Diese Vereinigung wird in den konkreten Dar¬
legungen dieses Werks über das Grundphänomen des Ästhetischen und in
allen seinen Abzweigungen in Detailfragen versucht. Diese Methodologie
schlägt nun insofern ins Weltansdrauliche um, als sie einen radikalen Bruch
mit allen jenen Anschauungen beinhaltet, die in der Kunst, im künstlerischen
Verhalten etwas überhistorisch Ideenhaftes oder zumindest der »Idee« des
Menschen ontologisch oder anthropologisch Zugehöriges erblicken. Wie die
Arbeit, die Wissenschaft und alle gesellschaftliche Betätigungen des Menschen,
ist auch die Kunst ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, des durch
seine Arbeit sich zum Menschen machenden Menschen.
Aber auch darüber hinaus hat die objektive Historizität des Seins und ihre
spezifisch prägnante Erscheinungsweise in der menschlichen Gesellschaft wich¬
tige Folgen für das Erfassen der prinzipiellen Eigenart des Ästhetischen. Es
wird Aufgabe unserer konkreten Ausführungen sein, zu zeigen, daß die wis¬
senschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit sich von allen anthropologi¬
schen, sinnlichen wie geistigen Determinationen zu befreien versucht, daß sie
bestrebt ist, die Gegenstände und ihre Beziehungen so abzubilden, wie sie an
sich, unabhängig vom Bewußtsein sind. Die ästhetische Widerspiegelung geht
dagegen von der Welt des Menschen aus und ist auf sie gerichtet. Das bedeutet,
Vorwort
i6

wie an seiner Stelle dargelegt werden soll, nicht einen einfachen Sub¬
jektivismus. Die Objektivität der Objekte bleibt im Gegenteil bewahrt, je¬
doch so, daß in ihr alle typischen Bezogenheiten auf das menschliche Leben
mitenthalten sind, daß sie so erscheint, wie es dem jeweiligen Stand der inne¬
ren wie äußeren Menschheitsentwicklung, die eine gesellschaftliche Entwick¬
lung ist, entspricht. Das bedeutet, daß jede ästhetische Gestaltung das histo¬
rische hic et nunc ihrer Genesis als wesentliches Moment ihrer entscheidenden
Gegenständlichkeit in sich einbezieht, sich selbst einordnet. Natürlich ist jede
Widerspiegelung sachlich von der bestimmten Stelle ihres Vollzugs deter¬
miniert. Selbst bei der Entdeckung mathematischer oder rein naturwissen¬
schaftlichen Wahrheiten ist der Zeitpunkt niemals zufällig; allerdings besitzt
er sachliche Bedeutung mehr für die Geschichte der Wissenschaften als für das
Wissen selbst, für welches man es als völlig gleichgültig betrachten kann,
wann und unter welchen - notwendigen - historischen Bedingungen etwa der
Pythagoräische Lehrsatz zum erstenmal formuliert wurde. Ohne hier auf die
kompliziertere Lage in den Gesellschaftswissenschaften eingehen zu können,
muß auch für diese festgestellt werden, daß die Einwirkungen der Zeitlage in
ihren verschiedensten Formen hindernd auf das Herausarbeiten der wirk¬
lichen Objektivität in der Reproduktion der gesellschaftlich-geschichtlichen
Tatbestände wirksam werden können. Völlig entgegengesetzt steht es mit der
ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit: ohne ein gestalterisches Le¬
bendigmachen des jeweiligen historischen hic et nunc im abgebildeten Mo¬
ment ist noch niemals ein bedeutendes Kunstwerk entstanden. Einerlei ob die
betreffenden Künstler sich dessen bewußt sind oder mit dem Glauben schaf¬
fen, etwas Überzeitliches hervorzubringen, einen früheren Stil fortzuführen,
ein aus der Vergangenheit geschöpftes »ewiges« Ideal zu verwirklichen, so¬
weit ihre Werke künstlerisch echt sind, wachsen sie aus den tiefsten Bestre¬
bungen der Zeit ihres Entstehens heraus; Inhalt und Form der wahrhaftig
künstlerischen Gestaltungen können - gerade ästhetisch - von diesem Boden
ihrer Genesis nicht getrennt werden. Die Historizität der objektiven Wirk¬
lichkeit erhält ihre subjektive wie objektive Gestalt gerade in den Werken
der Kunst.
Dieses historische Wesen der Wirklichkeit führt zu einem weiteren wichtigen
Problemkomplex, der primär ebenfalls methodologischer Art ist, jedoch, wie
jedes echte Problem einer richtig - und nicht bloß formal - aufgefaßten
Methodologie notwendig ins Weltanschauliche umschlägt. Wir meinen das
Problem der Diesseitigkeit. Rein methodologisch betrachtet ist Diesseitigkeit
eine unerläßliche Forderung der wissenschaftlichen Erkenntnis ebenso wie der
Vorwort
27

künstlerischen Gestaltung. Nur wenn ein Komplex von Phänomenen rein aus
ihren immanenten Eigenschaften, aus den auf sie wirkenden gleichfalls
immanenten Gesetzlichkeiten restlos begriffen erscheint, kann man ihn als
wissenschaftlich erkannt betrachten. Praktisch ist eine solche Vollständigkeit
natürlich immer nur approximativ; die extensive wie intensive Unendlichkeit
der Gegenstände, ihrer statischen und dynamischen Beziehungen etc. gestatten
nicht, daß irgendeine Erkenntnis in ihrer jeweils gegebenen Form je als eine
absolut endgültige aufgefaßt werden kann, daß Korrekturen, Einschränkun¬
gen, Erweiterungen etc. an ihr je als ausgeschlossen betrachtet werden können.
Dieses »Noch nicht« in der wissenschaftlichen Bewältigung der Wirklichkeit
wurde von der Magie bis zum modernen Positivismus in den verschiedenen
Weisen als Transzendenz interpretiert, unbekümmert darum, wie vieles, wo¬
rüber man einst ein »Ignorabimus« verkündet hatte, bereits längst als lösbares,
wenn auch vielleicht noch nicht praktisch gelöstes Problem in die exakte Wis¬
senschaft eingezogen ist. Die Entstehung des Kapitalismus, die neuen Be¬
ziehungen zwischen Wissenschaft und Produktion, kombiniert mit den großen
Krisen der religiösen Weltanschauungen, haben an die Stelle der naiven
Transzendenz eine kompliziertere, raffiniertere gesetzt. Schon zur Zeit der
Versuche einer ideologischen Abwehr der Kopernikanischen Theorie seitens
der Verteidiger des Christentums ist der neue Dualismus entstanden: eine
methodologische Anschauung, um die Immanenz für die gegebene Erschei¬
nungswelt mit einem Leugnen ihrer letzthinnigen Realität zu verknüpfen, um
die Kompetenz der Wissenschaft, über diese etwas Gültiges aussagen zu kön¬
nen, zu bestreiten. Auf der Oberfläche mag der Eindruck entstehen, daß diese
Entwertung der Wirklichkeit der Welt nichts ausmacht, da ja die Menschen
praktisch in der Produktion ihre unmittelbaren Aufgaben erfüllen können,
unabhängig davon, ob sie Objekt, Mittel etc. ihrer Tätigkeit für etwas Ansich-
seiendes oder für bloße Erscheinungen halten. Eine solche Anschauung ist aber
in doppelter Weise sophistisch. Erstens ist jeder handelnde Mensch in seiner
realen Praxis immer überzeugt, mit der Wirklichkeit selbst zu tun zu haben;
selbst der positivistische Physiker ist es, wenn er z. B. ein Experiment voll¬
zieht. Zweitens zersetzt eine derartige Anschauung, wenn sie - aus gesell¬
schaftlichen Gründen - tief eingewurzelt und stark verbreitet ist, die vermit-
telteren geistig-moralischen Beziehungen der Menschen zur Wirklichkeit. Die
existenzialistische Philosophie, in der der in die Welt »geworfene« Mensch
dem Nichts gegenübersteht, ist - gesellschaftlich-geschichtlich angesehen - der
notwendig ergänzende Gegenpol jener philosophischen Entwicklung, die von
Berkeley bis zu Mach oder Carnap führt.
28 Vorwort

Das eigentliche Schlachtfeld zwischen Diesseitigkeit und Jenseitigkeit ist ohne


Frage die Ethik. Darum können im Rahmen dieses Werks die entscheidenden
Bestimmungen dieser Kontroverse nur gestreift, aber nicht vollständig dar¬
gelegt werden; der Verfasser hofft in absehbarer Zeit auch seine Anschauungen
über diese Frage in systematischer Form darbieten zu können. Hier sei nur
kurz bemerkt, daß der alte Materialismus - von Demokritos bis Feuerbach -
die Immanenz der Weltstruktur nur in mechanistischer Weise auszuführen
imstande war, weshalb einerseits die Welt noch immer als ein Uhrwerk auf¬
gefaßt werden konnte, das einer - transzendenten - Einwirkung bedarf, um
es in Gang zu setzen; andererseits konnte der Mensch in einem solchen Welt¬
bild nur als notwendiges Produkt und Objekt der immanent-diesseitigen
Gesetzlichkeiten erscheinen, seine Subjektivität, seine Praxis blieben durch
diese unerklärt. Erst die Hegel-Marxsche Lehre vom Selbstschaffen des Men-
sdien durch seine eigene Arbeit, die Gordon Childe als »man makes himself«
glücklich formuliert hat1, vollendet die Diesseitigkeit des Weltbilds, schafft
die weltanschauliche Basis für eine diesseitige Ethik, deren Geist schon längst
in den genialen Konzeptionen von Aristoteles und Epikur, von Spinoza und
Goethe lebendig war. (In diesem Zusammenhang spielt natürlich die Evolu¬
tionslehre in der Lebewelt, die ständig größere Annäherung an die Ent¬
stehung des Lebens aus der Wechselwirkung physikalischer und chemischer
Gesetzlichkeiten eine wichtige Rolle.)
Für die Ästhetik ist diese Frage von höchster Bedeutung und wird demgemäß
in den konkreten Darlegungen des vorliegenden Werks ausführlich behandelt.
Es wäre zwecklos die Ergebnisse dieser Untersuchungen, die nur in der Ent¬
faltung aller dabei in Betracht kommenden Bestimmungen Überzeugungskraft
besitzen können, hier verkürzt vorwegzunehmen. Nur um den Standpunkt
des Verfassers auch im Vorwort nicht zu verschweigen, sei so viel gesagt, daß
die immanente Geschlossenheit, das Aufsichtselbstgestelltsein jedes echten
Kunstwerks - eine Art der Widerspiegelung, die auf anderen Gebieten der
menschlichen Reaktionen auf die Außenwelt keine Analogie hat - dem Gehalt
nach immer, gewollt oder ungewollt, ein Bekenntnis zur Diesseitigkeit aus¬
spricht. Darum ist der Gegensatz von Allegorie und Symbol, wie Goethe
genial gesehen hat, eine Frage von Sein oder Nichtsein für die Kunst. Darum
ist zugleich, wie in einem eigenen Kapitel (im sechzehnten) gezeigt wird, der

1 Vgl. Gordon Childe, What happened in history (1941), deutsch: Stufen der Mensch-
heitsgeschichte, 1952.
Vorwort
29

Befreiungskampf der Kunst von der Bevormundung seitens der Religion eine
fundamentale Tatsache ihrer Entstehung und Entfaltung. Die Genesis hat
eben zu zeigen, wie aus der naturgemäßen bewußtseinsmäßigen Gebundenheit
des primitiven Menschen an die Transzendenz, ohne welche anfängliche
Stadien auf jedem Gebiet unvorstellbar wären, die Kunst sich allmählich zu
einer Selbständigkeit in der Widerspiegelung der Wirklichkeit, zu ihrer eigen¬
artigen Bearbeitung durchgerungen hat. Es kommt dabei natürlich auf die
Entwicklung der objektiven ästhetischen Tatsachen an, nicht darauf, was ihre
Vollstredcer über ihr eigenes lun gedacht haben. Gerade in der künstlerischen
Piaxis ist die Divergenz zwischen Tat und Bewußtsein über sie besonders
groß. Das Marx entnommene Motto unseres ganzen Werks: »Sie wissen es
nicht, aber sie tun es«, tritt hier besonders prägnant hervor. Es ist also die
objektive kategoriale Struktur des Kunstwerks, die jede Bewegung des Be¬
wußtseins ins Transzendente, die in der Geschichte des Menschengeschlechts
naturgemäß sehr häufig ist, wieder in Diesseitigkeit verwandelt, indem es als
das was es ist, als Bestandteil des menschlidien, diesseitigen Lebens, als Sym¬
ptom seines jeweiligen Geradesoseins erscheint. Die vielfache Verwerfung der
Kunst, des ästhetischen Prinzips, von Tertullian bis Kierkegaard ist nichts
Zufälliges; vielmehr eine Anerkennung ihres wirklichen Wesens aus dem
Lager ihrer geborenen Feinde. Auch dieses Werk registriert nicht einfach diese
notwendigen Kämpfe, sondern es bezieht in ihnen resolut Stellung: für die
Kunst, gegen die Religion, im Sinne einer großen Tradition, die von Epikur
über Goethe bis Marx und Lenin reicht.
Die dialektische Entfaltung, Auseinanderlegung und Wiedervereinigung so
mannigfacher, widerspruchsvoller, konvergierender und divergierender Be¬
stimmungen von Gegenständlichkeiten und ihren Beziehungen, erfordert auch
für die Darstellung eine eigene Methode. Wenn hier ihre grundliegenden
Prinzipien kurz auseinandergesetzt werden sollen, so kann keineswegs davon
die Rede sein, im Vorwort eine Apologie der eigenen Darstellungsweise geben
zu wollen. Niemand kann ihre Grenzen und Fehler klarer sehen, als der
Verfasser. Er will hier nur für seine Intentionen geradestehen; wo er sie
angemessen, wo fehlerhaft verwirklicht hat, darüber steht ihm kein Urteil zu.
Es soll also im folgenden nur von den Prinzipien die Rede sein. Diese wurzeln
in der materialistischen Dialektik, deren konsequente Durchführung auf einem
so ausgedehnten und viel weit Auseinanderliegendes umfassenden Gebiet vor
allem einen Bruch mit den formellen, auf Definitionen und mechanischen Ab¬
grenzungen, auf »reinlichen« Scheidungen in Unterabteilungen beruhenden
Darstellungsmitteln erfordert. Wenn wir, um uns mit einem Schlag ins
3o Vorwort

Zentrum zu versetzen, von der Methode der Bestimmungen, im Gegensatz zu


der der Definitionen ausgehen, so gehen wir auf die Realitätsgrundlagen der
Dialektik zurück, auf die extensive wie intensive Unendlichkeit der Gegen¬
stände und ihrer Beziehungen. Jeder Versuch, diese Unendlichkeit gedanklidi
zu ergreifen, muß mit Unzulänglichkeiten behaftet sein. Die Definition fixiert
jedoch ihre eigene Partialität als etwas Endgültiges und muß deshalb den
Grundcharakter der Phänomene vergewaltigen. Die Bestimmung betrachtet
sich von vorneherein als etwas Vorläufiges, Ergänzungsbedürftiges, als etwas,
zu dessen Wesen es gehört, weitergeführt, weitergebildet, konkretisiert zu
werden. D. h.: wird in diesem Werk ein Gegenstand, eine Beziehung von
Gegenständlichkeiten, eine Kategorie durch ihre Bestimmung ins Licht der
Begreifbarkeit und Begrifflichkeit gerückt, so ist stets etwas Doppeltes gemeint
und beabsichtigt: das jeweilige Objekt so zu bezeichnen, daß es als Unver¬
wechselbares erkannt wird, ohne jedoch darauf Anspruch zu erheben, daß das
Erkanntwerden auf dieser Stufe seine Totalität treffen müßte und man darum
hier stehenbleiben dürfte. Dem Objekt kann man sich nur allmählich, nur
schrittweise annähern, indem dasselbe Objekt in verschiedenen Zusammen¬
hängen, in verschiedenen Beziehungen zu verschiedenen anderen Objekten
betraditet wird, indem die anfängliche Bestimmung auf solchen Wegen zwar
nicht aufgehoben wird - dann wäre sie falsch gewesen -, sondern im
Gegenteil sich ununterbrochen anreichert, sich immer näher an die Unendlich¬
keit des Gegenstandes, auf den sie gerichtet ist, man könnte sagen, heran¬
schleicht. Dieser Prozeß spielt sich in den verschiedensten Dimensionen der
gedanklichen Reproduktion der Wirklichkeit ab und kann darum prinzipiell
immer nur relativ als abgeschlossen gelten. Wird jedoch diese Dialektik richtig
durchgeführt, so entsteht ein ständig zunehmender Fortschritt an Klarheit
und Reiditum der betreffenden Bestimmung und ihres systematischen Zusam¬
menhangs ; man muß also die Wiederkehr derselben Bestimmung in verschiedenen
Konstellationen, Dimensionen von einer einfachen Wiederholung genau unter¬
scheiden. Der so erzielte Fortschritt ist aber nicht nur ein Gang nach vorwärts,
ein immer tieferes Eindringen in das Wesen der zu erfassenden Objekte, son¬
dern wird auch - wenn er wirklich richtig, wirklich dialektisch durchgeführt
ist - zugleidr den vergangenen, den bereits zurückgelegten Weg neu be¬
leuchten, ihn im tieferen Sinne erst jetzt gangbar machen. Max Weber schrieb
mir seinerzeit über meine ersten, sehr unzulänglichen so orientierten Versuche,
sie wirkten wie Ibsensche Dramen, deren Anfang man erst vom Schlüsse aus
verstehe. Ich sah darin ein feines Verständnis meiner Absichten, wenn meine
damalige Produktion auch ein solches Lob keinesfalls verdiente. Vielleicht, so
Vorwort
3i

hoffe ich, kann dieses Werk eher als Verwirklichung eines solchen Denkstils
gelten.
Endlich mag der Leser gestatten, ganz kurz auf die Entstehungsgeschichte
meiner Ästhetik hinzuweisen. Ich begann als Literaturkritiker und Essayist,
der in den Ästhetiken Kants, später Hegels theoretische Stütze suchte. Im
Winter 1911—12 entstand in Florenz der erste Plan einer selbständigen syste¬
matischen Ästhetik, an deren Ausarbeitung ich mich in den Jahren 1912—1914
in Heidelberg machte. Ich denke noch immer mit Dankbarkeit an das wohl¬
wollend-kritische Interesse, das Ernst Bloch, Emil Lask und vor allem Max
Weber meinem Versuch gegenüber zeigten. Er ist vollständig gescheitert. Und
wenn ich hier leidenschaftlich gegen den philosophischen Idealismus auftrete,
so ist diese Kritik immer auch gegen meine eigenen Jugendtendenzen gerich¬
tet. Äußerlich gesehen unterbrach der Kriegsausbruch diese Arbeit. Schon die
»Theorie des Romansx«, entstanden im ersten Kriegsjahr, richtet sich mehr
auf geschichtsphilosophische Probleme, für welche die ästhetischen nur Sym¬
ptome, Signale sein sollten. Dann traten Ethik, Geschichte, Ökonomie immer
stärker in den Mittelpunkt meiner Interessen. Ich wurde Marxist, und das Jahr¬
zehnt meiner aktiven politischen Tätigkeit ist zugleich die Periode einer inneren
Auseinandersetzung mit dem Marxismus, die seiner wirklichen Aneignung.
Als ich - um 1930 - mich wieder der intensiven Beschäftigung mit künstleri¬
schen Problemen zuwandte, stand eine systematische Ästhetik nur als sehr
ferne Perspektive an meinem Horizont. Erst zwei Jahrzehnte später, Anfang
der fünfziger Jahre, konnte ich daran denken, mit ganz anderer Weltanschau¬
ung und Methode an die Verwirklichung meines Jugendtraums heranzutreten
und ihn mit völlig anderen Inhalten, mit radikal entgegengesetzten Methoden
auszuführen.
Ich möchte dieses Buch nicht der Öffentlichkeit übergeben, ohne meinen Dank
abzustatten: an Prof. Bence Szabolcsi, der mir mit unermüdlicher Geduld
half, meine dürftige musikalische Kultur zu verbreitern und zu vertiefen;
an Frau Agnes Heller, die mein Manuskript während seines Entstehens las
und deren scharfsinnige Kritik dem endgültigen Text sehr zugute kam; an
Dr. Frank Benseler für seine Initiative beim Entstehen dieser Ausgabe, für
seine hingebende Arbeit am Manuskript und bei der Korrektur.

Budapest, Dezember 1962

1 Georg Lukäcs, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über
die Formen der großen Epik, Berlin 1920; Neuauflage Neuwied 1963.
'
Erstes Kapitel

Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

I Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens

Die hier folgenden Darlegungen erheben keinen Augenblick den Anspruch,


eine genaue und erschöpfende philosophische — speziell erkenntnistheoretische —
Analyse des Alltagsdenkens zu geben. Ebensowenig gehen sie darauf aus, eine
— wenn auch nur philosophische — Geschichte der Trennung der aus diesem
gemeinsamen Boden wachsenden künstlerischen und wissensdraftlichen Wider¬
spiegelung der Realität zu geben. Die Hauptschwierigkeit ist das Fehlen der
Vorarbeiten. Die Erkenntnistheorie hat sich bis jetzt sehr wenig um das
Alltagsdenken gekümmert. Es liegt im Wesen der Einstellung einer jeden
bürgerlichen, vor allem jeder idealistischen Erkenntnistheorie, daß sie einer¬
seits alle Fragen der Genesis des Erkennens in den Bereich der Anthropologie
etc. hinüberschiebt und andererseits bloß die Probleme der höchstentwickelten,
der reinsten Form der wissenschaftlichen Erkenntnis untersucht. Das ging so
weit, daß sogar die nichtnaturwissenschaftlichen, nicht »exakten« Wissen¬
schaftsformen, z. B. die historischen Wissenschaften, erst sehr spät einer
erkenntnistheoretischen Analyse unterworfen wurden; und dies geschah dann
zumeist in einer Weise, die infolge ihrer irrationalistischen Tendenz die
Zusammenhänge mehr verwirrte als aufklärte. Auch die Untersuchungen über
die Eigenart des Ästhetischen, die in den seltensten Fällen die ästhetische
Widerspiegelung der Wirklichkeit behandelten, liefen meist bloß darauf
hinaus, das abstrakte Anderssein des Ästhetischen Leben und Wissenschaft
gegenüber zu betonen. Gerade in solchen Fragekomplexen stellt das metaphy¬
sische Denken der Erkenntnis unübersteigbare Hindernisse in den Weg. Denn
sein Ja oder Nein leugnet die Erkenntnis von fließenden Übergängen, denen
wir sowohl im Leben, wie vor allem in den Perioden der historisch-sozialen
Genesis der Kunst als zu lösenden Problemen begegnen. Der metaphysische
Charakter der ebenfalls starren Gegenüberstellung der Fragen von Genesis
und Geltung bildet eine weitere Schranke in dieser Elinsicht. Erst der dialek¬
tische und historisdie Materialismus wird in der Lage sein, eine historisch¬
systematische Methode zur Erforsdiung solcher Probleme auszubilden.
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
34

Die allgemein methodologische Fragestellung ist auf dieser Grundlage freilich


doch ganz klar. Wieviel sie aufhellen kann, wird im Folgenden darzu¬
legen versucht. Jetzt sei nur, vorwegnehmend, der allerallgemeinste Gesichts¬
punkt kurz hervorgehoben: wissenschaftliche und ästhetische Widerspiege¬
lung der objektiven Wirklichkeit sind im Laufe der geschichtlichen Ent¬
wicklung sidi herausbildende, immer feiner differenzierte Formen der Wider¬
spiegelung, die sowohl ihre Grundlage, wie ihre letzhinnige Erfüllung im
Leben selbst findet. Ihre Eigenart konstituiert sich gerade in der Richtung,
die das immer präzisere, vollendetere Ausüben ihrer gesellschaftlichen Funk¬
tion nach Möglichkeit erfordert. Sie bilden deshalb in ihrer verhältnismäßig
spät entstandenen Reinheit, worauf ihre wissenschaftliche bzw. ästhetische
Allgemeinheit beruht, die beiden Pole der generellen Widerspiegelung der
objektiven Wirklichkeit, deren fruchtbare Mitte die des Alltagslebens bildet.
Diese hier angedeutete und später ausführlich zu behandelnde Dreiteilung
der Beziehung des Menschen zur Außenwelt wurde sehr klar von Pawlow
erkannt. In einer Untersuchung über die Typen der höheren Nerventätigkeit
schreibt er: »Die Tiere verkehrten bis zum Erscheinen des homo sapiens mit
der Umwelt nur durch die unmittelbaren Eindrücke der verschiedenen Agen¬
zien, die auf die verschiedenen Rezeptoren der Tiere einwirkten und in ent¬
sprechende Zellen des Zentralnervensystems geleitet werden. Diese Eindrücke
sind für die Tiere die einzigen Signale der Objekte der Außenwelt. Bei der
Entstehung des Menschen entstanden, entwickelten und vervollkommneten
sich außerordentliche Signale zweiter Ordnung, Signale dieser primären Signale,
in Form von gesprochenen, gehörten und sichtbaren Worten. Diese neuen Sig¬
nale bezeichneten letzten Endes alles, was die Menschen unmittelbar, sowohl
aus der äußeren als auch aus ihrer inneren Welt wahrnehmen und wurden von
ihnen nicht nur beim gegenseitigen Verkehr, sondern auch für sich allein be¬
nutzt. Ein solches Vorherrschen dieser neuen Signale war natürlich durch die
ungeheure Wichtigkeit des Wortes bedingt, obwohl Worte nur die zweiten
Signale der Wirklichkeit waren und blieben . . . Aber ohne sich weiter in dieses
wichtige und umfangreiche Thema zu vertiefen, muß man feststellen, daß in¬
folge der zwei Signalsysteme und dank der alten dauernd wirkenden verschie¬
denartigen Lebensweise die Masse der Menschen sich in einen Künstlertyp,
einen Denkertyp und einen mittleren Typ aufteilt. Der letztere verbindet die
Arbeit beider Systeme in dem notwendigen Maße. Diese Einteilung läßt sich
sowohl an einzelnen Menschen als auch an ganzen Nationen erkennen.« 1

1 Pawlow: Sämtliche Werke, Berlin 1953, III/2 S. 551.


Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens
35

Die Reinheit der wissenschaftlichen und ästhetisdien Widerspiegelung grenzt


sich also einerseits scharf von den komplizierten Mischformen des Alltags
ab, andererseits verschwimmen gleichzeitig diese Grenzen ununterbrodien,
indem beide differenzierten Widerspiegelungsformen aus den Bedürfnissen
des Alltagslebens entstehen, ihre Probleme zu beantworten berufen sind
und indem viele Ergebnisse beider sich wieder mit den Äußerungsformen
des Alltagslebens misdien, diese umfassender, differenzierter, reicher, tiefer¬
gehend etc. machen und so dieses selbst ununterbrochen höher entwickeln.
Eine wirkliche historisch-systematische Genesis der wissenschaftlichen wie
ästhetischen Widerspiegelung ist ohne das Erhellen dieser Wechselbeziehungen
einfach undenkbar. Für das philosophische Erfassen der hier entstehenden
Probleme ist es daher unerläßlich, weder die doppelte Wechselwirkung mit
dem Alltagsdenken, noch die sich herausbildende spezifische Eigenart der
beiden differenzierten Formen aus dem Blickkreis der Betrachtung zu ver¬
lieren.
Die philosophische Untersuchung der Widerspiegelung hat jedoch eine
unerläßliche Voraussetzung, die wenigstens ihren allgemeinsten Grundlagen
nach geklärt werden muß, bevor eine Auseinandersetzung mit ihren spezi¬
fischen Problemen einsetzen kann. Wenn wir nämlich die Widerspiegelung
im Alltagsleben, in Wissensdiaft und Kunst auf ihre Differenzen unter¬
suchen wollen, so müssen wir stets darüber im klaren sein, daß alle drei
Formen dieselbe Wirklichkeit abbilden. Erst im subjektiven Idealismus
entsteht die Vorstellung, als ob die verschiedenen Arten des menschlichen
Ordnens der Widerspiegelung verschiedene, selbständige, vom Subjekt ge¬
schaffene Wirklichkeiten betreffen, die sich miteinander gar nicht berühren.
Am ausgeprägtesten und konsequentesten drückt dies Simmel aus; er schreibt
z. B. über die Religion: »Das religiöse Leben schafft die Welt noch einmal,
es bedeutet, das ganze Dasein in einer besonderen Tonart, so daß es seiner
reinen Idee nach mit den nach anderen Kategorien erbauten Weltbildern
sich überhaupt nicht kreuzen, ihnen nicht widersprechen kann.« 1 Der dialek¬
tische Materialismus betrachtet dagegen die materielle Einheit der Welt als
eine unumstößliche Tatsache. Jede Widerspiegelung ist daher die dieser einen
und einheitlichen Wirklichkeit. Daraus folgt jedoch nur für den mechanischen
Materialismus, daß jedes Abbild dieser Wirklichkeit ihre einfache Photokopie
sein müßte. (Über diese Frage wird später ausführlich gehandelt. Hier möge

1 Simmel: Die Religion, Frankfurt a. M. 1906, S. n.


36 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

die Bemerkung genügen, daß die realen Widerspiegelungen in Wechselwir¬


kung zwischen Mensch und Außenwelt entstehen, ohne daß die daraus ent
stehende Auswahl, Anordnung etc. unbedingt eine subjektive Täuschung oder
Entstellung sein müßte; was sie natürlich in manchen Fällen ist.) Wenn z. B.
im Alltagsleben der Mensch seine Augen schließt, um bestimmte hörbare
Nuancen seiner Umwelt besser wahrzunehmen, so kann eine solche Aus¬
schaltung eines Teiles der zu widerspiegelnden Wirklichkeit dazu beitragen,
jenes Phänomen, an dessen Bewältigung er augenblicklich interessiert ist,
genauer, vollständiger, in besserer Annäherung zu erfassen, als es ihm ohne
dieses Absehen von der visuellen Welt möglich gewesen wäre. Von solchen
fast instinktiv vollzogenen Manipulationen führt ein sehr verschlungener
Weg zur Widerspiegelung in Arbeit, Experiment etc. bis zu Wissenschaft und
Kunst. Die so entstehenden Unterschiede, ja Gegensätze in der Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit werden wir später ausführlich behandeln. Hier muß
nur gleich ganz zu Anfang entschieden festgestellt werden, daß es sich immer
um die Widerspiegelung derselben objektiven Wirklichkeit handelt, und daß
diese Einheit des letzthinnigen Gegenstandes für die Gestaltung von Inhalt
und Form der Unterschiede und Gegensätze von entscheidender Bedeu¬
tung ist.
Wenn wir nun auf dieser Grundlage die Wechselwirkungen des Alltags mit
Wissenschaft und Kunst ins Auge fassen, so sehen wir, daß eine noch so klare
Erkenntnis der hier zu lösenden Probleme noch lange nicht bedeutet, daß sie
heute konkret beantwortet werden können. Vor allem gilt dies für die Ge¬
schichte der allmählichen, ungleichmäßigen, widerspruchsvollen Differenzie¬
rung dieser drei Abarten der Widerspiegelung. Wir können ihr unsprüng-
liches, chaotisches Ineinander in dem uns bekannten primitiven Anfangs¬
stadium der Menschheit allgemein gedanklich zweifellos festhalten. Wir
haben in der geschriebenen Geschichte der Menschheit eine hochentwickelte
und sich - wenn auch, wie wir später sehen werden, widerspruchsvoll - immer
höher entwickelnde Differenzierung vor uns. Die historische Kontinuität zwi¬
schen diesen beiden Endpunkten muß objektiv ebenso fraglos vorhanden sein.
Unser gegenwärtiges Wissen über diesen Prozeß reicht jedoch nicht entfernt
dazu aus, ihn selbst konkret zu erkennen. Dieser Mangel beruht nicht nur
auf der Unkenntnis historischer Tatsachen, sondern er ist aufs tiefste mit der
Ungeklärtheit der prinzipiellen, der philosophischen Grundfragen verbun¬
den. Wenn wir also diesen Zauberkreis des verschiedenartigen Nichtwissens
sprengen wollen, müssen wir - unserer höchst fragmentarischen Kenntnisse
stets bewußt - an die philosophische Klärung sowohl der Grundtypen wie
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 37

der entscheidenden Entwicklungsetappen der Differenzierung mutig Heran¬


gehen. So philosophisch diese unsere Methode auch sein mag, sie enthält in
sich die Prinzipien der gesellschaftlichen Sicht. Marx hat die Methode einer
solchen Annäherung an längst vergangene, oft versdiollene Epochen in bezug
auf die Geschichte der ökonomischen Formationen und Kategorien klar be¬
schrieben und bestimmt. Er sagt: »Die bürgerliche Gesellsdiaft ist die ent¬
wickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion. Die
Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliede¬
rung, gewähren daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produk¬
tionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen, mit deren
Trümmern und Elementen sie sidi aufgebaut, von denen teils nodi unüber¬
wundene Reste sich in ihr fortschleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebil¬
deten Bedeutungen entwickelt haben, etc. In der Anatomie des Menschen ist
ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf höhere in den
untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn
das höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den
Schlüssel zur antiken etc. Keineswegs aber in der Art der Ökonomen, die alle
historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die
bürgerliche sehen.« 1 Auch für unser Gebiet ist die Anatomie des Menschen
der Schlüssel zur Anatomie des Affen. Natürlich wird bei der heutigen Ent¬
wicklungshöhe unserer Einsichten und Kenntnisse nicht mehr erreichbar sein,
als das annähernde Erhellen der wichtigsten Tendenzen, der entscheidendsten
Knotenpunkte. Mehr ist aber für die Ziele unserer gegenwärtigen Unter¬
suchungen auch nicht nötig. Hoffentlich gehen davon Anregungen zu weiteren
Forschungen aus, die sicher manches an dem hier Dargelegten korrigieren
werden.
Zur allgemeinen Methode sei hier nur noch soviel bemerkt, daß unsere Unter¬
suchungen sich auf den Menschen beschränken. Schon die Vhchtigkeit des
Pawlowschen zweiten Signalsystems, der Sprache, verlangt eine deutliche
methodologische Abgrenzung von der Tierwelt, in welcher solche Signale
nicht Vorkommen. Es wird natürlich eine wichtige Aufgabe bleiben, in der
Entwicklung der Tierwelt die Entstehung und Entfaltung der bedingten
Reflexe eingehend zu studieren. Denn schon hier beginnt eine gewisse Bear¬
beitung der unmittelbar widergespiegelten objektiven Wirklichkeit, die bei den
höheren Tieren bereits einen relativ hohen Grad der Differenzierung erreicht.

1 Marx: Grundriß der politischen Ökonomie, Moskau 1939, I S. 25 f.


38 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Eine eingehende Beschäftigung mit diesem Problemkomplex liegt aber


außerhalb des Rahmens unserer Arbeit. Wir werden nur gelegentlich, um in
bestimmten konkreten Fällen Abgrenzungen zu vollziehen oder Übergänge
zu erhellen, auf ihn zurückkommen.
Freilich müssen die Feststellungen Pawlows stets im Sinne des dialektischen
Materialismus aufgefaßt und ausgelegt werden. Denn so fundamental dessen
zweites Signalsystem der Sprache für diese Abgrenzung zwischen Mensch und
Tier sein mag, seinen wirklichen Sinn und seine ausgiebige Fruchtbarkeit
erhält es erst, wenn, wie bei EngelsJ, auf das simultane Entstehen, auf die
sachliche Untrennbarkeit von Arbeit und Sprache das nötige Gewicht gelegt
wird. Daß der Mensch »etwas zu sagen« hat, was jenseits des Gebiets des
Tierischen liegt, entstammt direkt der Arbeit und entfaltet sich - direkt und
indirekt, später oft durch sehr viele Vermittlungen - im Zusammenhang mit
der Entwicklung der Arbeit. Deshalb nehmen wir hier, auch polemisch, wenig
Bezug auf die Bestrebungen Darwins, die Kategorien der Kunst bereits im
Leben der Tiere aufzufinden und ihre menschlichen Äußerungen daraus
abzuleiten. Wir glauben: die Arbeit (und mit ihr die Sprache und ihre Be¬
griffswelt) schafft hier eine so breite und tiefe Kluft, daß auch das unter
Umständen vorhandene tierische Erbe für sich betrachtet nicht entscheidend
ins Gewicht fällt; ganz sicher kann es nicht zur Erklärung der völlig neuen
Phänomene nutzbar gemacht werden. Damit wird natürlich, wie wir später
gelegentlich sehen werden, die Tatsache eines solchen Erbes keineswegs über¬
haupt geleugnet. Im Gegenteil, wir meinen, daß jene Tendenzen der neueren
Biologie und Anthropologie, die zwischen Tier und Mensch ein völliges
Anderssein statuieren, an vielen wichtigen Tatsachen achtlos vorbeiführen.
Wir benutzen aber hier bestimmte Ergebnisse der Anthropologie für genau
umgrenzte Zwecke, für deren adäquate Erkenntnis gerade die Untrennbar¬
keit von Arbeit und Sprache, also das Trennende zwischen Tier und Mensch
eine ausschlaggebende Bedeutung hat.
Wenn wir uns nun einer kursorischen Analyse des Alltagsdenkens zuwenden,
so müssen wir, neben dem bereits erwähnten Mangel an Vorarbeiten, fol¬
gende sachliche Schwierigkeiten erwähnen, die sicher, wenigstens teilweise,
ursächlich dafür sind, daß der Alltag, dieses wichtige, den größten Teil des
menschlichen Lebens umfassende Gebiet philosophisch so wenig untersucht
wurde. Vielleicht liegt die Hauptschwierigkeit darin, daß das Alltagsleben

1 Engels: Dialektik der Natur, Moskau-Leningrad 1935, S. 696.


Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens
39

keine derartig abgeschlossenen Objektivationen kennt, wie Wissenschaft und


Kunst. Das will keineswegs sagen, daß in ihm die Objektivationen überhaupt
fehlen. Ohne Objektivation ist das Leben des Menschen, sein Denken und
Fühlen, seine Praxis und seine Reflexion gar nicht vorstellbar. Abgesehen
davon, daß alle eigentlichen Objektivationen im Alltagsleben der Menschen
eine wichtige Rolle spielen, haben doch auch die von uns bereits festgestellten
Grundformen der spezifisch menschlichen Lebensweise, Arbeit und Sprache,
bereits in mancher Hinsicht wesentlich den Charakter von Objektivationen.
Arbeit kann nur als ein teleologischer Akt Zustandekommen. Marx sagt über
den spezifisch menschlichen Charakter der Arbeit: »Wir unterstellen die
Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine
Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene
beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister.
Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister von der besten Biene
auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in
Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das
beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon
ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natür¬
lichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den
er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt, und dem
er seinen Willen unterordnen muß.« 1
Untersuchen wir also auf dieser Grundlage jene Momente der Arbeit, die
diese als fundamentalen Faktor des Alltagslebens, des Alltagsdenkens, der
Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit im Alltag bestimmen. Marx
weist vor allem darauf hin, daß es sich dabei um einen historischen Prozeß
handelt, in welchem - objektiv wie subjektiv - qualitative Veränderungen
vor sich gehen. Auf deren konkrete Bedeutung werden wir später wiederholt
ausführlich zu sprechen kommen. Für uns ist jetzt nur die Tatsache wichtig,
daß Marx in abkürzenden Andeutungen drei wesentliche Perioden unterschei¬
det. Die erste wird »durch die ersten tierartig instinktiven Formen der Ar¬
beit« bezeichnet, als Vorstufe jener Ausbildung, die sie bereits auf der an
sich noch unentwickelten Stufe des einfachen Warenverkehrs überschritten
hat. Die dritte ist ihre vom Kapitalismus entwickelte Wesensart, die wir
später eingehender untersuchen müssen, in welcher das Eindringen der auf die
Arbeit angewendeten Wissenschaft entscheidende Veränderungen hervor-

1 Marx: Das Kapital, Hamburg 1914, I S. 140.


4o Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

ruft. Hier hört die Arbeit auf, primär von den eigenen körperlichen und
geistigen Kräften des Arbeitenden bestimmt zu sein. (Periode der Maschinen¬
arbeit, steigende Determination der Arbeit durch die Wissenschaften.) Da¬
zwischen liegt die Ausbildung der Arbeit auf einem weniger entwickelten,
mit den persönlichen Fähigkeiten der Menschen tief verbundenen Niveau
(Periode des Handwerks, der Nähe von Handwerk und Kunst), die historisch
die Voraussetzungen für die dritte Periode schafft.
Allen drei Perioden ist jedoch das Wesenszeichen der spezifisch menschlichen
Arbeit, des teleologischen Prinzips, gemeinsam: daß das Resultat des Arbeits¬
prozesses »beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also
schon ideell vorhanden war.« Die Möglichkeit einer solchen Aktionsweise
setzt einen bestimmten Grad der richtigen Widerspiegelung der objektiven
Wirklichkeit im Bewußtsein des Menschen voraus. Besteht doch, nach Hegel,
der diese Struktur der Arbeit klar erkannt hat und auf den sich Marx bei
diesen Betrachtungen auch beruft, ihr Wesen darin: Sie »läßt die Natur an
sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert so mit leichter Mühe das Ganze«.1
Es ist klar, daß ein solches Regieren der Naturvorgänge - selbst auf primitiv¬
ster Stufe - ihre annähernd richtige Widerspiegelung voraussetzt, auch dann,
wenn die verallgemeinernden Forderungen, die daraus gezogen werden,
falsch sind. Pareto hat den Zusammenhang von Riditigkeit im einzelnen
und Phantasmagorischem im allgemeinen treffend beschrieben, wenn er sagt:
»Man wird sagen können, daß die wirklich wirksamen Kombinationen, wie
die Entzündung von Feuer mit dem Kieselstein, den Menschen auch zum
Glauben an die Wirksamkeit eingebildeter Kombinationen treibe.« 2
Gehören jedoch solche Ergebnisse der Widerspiegelung der Wirklichkeit zum
Alltagsleben und zu dessen Denken, so ist es klar, daß die Frage der Objekti-
vationen bzw. ihre mangelhafte Ausbildung in dieser Sphäre des Lebens nur
sehr elastisch, dialektisch aufgefaßt werden darf, wenn wir die grundlegen¬
den Struktur- und Entwicklungstendenzen nicht vergewaltigen wollen.
Unzweifelhaft entsteht in der Arbeit (ebenso wie in der Sprache, die eben¬
falls ein fundamentales Moment des Alltagslebens bildet) eine Art von Ob-
jektivation. Und zwar nicht bloß im Produkt der Arbeit, worüber kein Streit
möglich ist, sondern auch im Arbeitsprozeß. Indem die Akkumulation der
täglichen Erfahrungen, die Übung, die Gewohnheit etc. dazu führen,

1 Hegel: Jenenser Realphilosophie, Leipzig 1931, II S. 198 ff.


2 Pareto: Allgemeine Soziologie, Tübingen 1955, S. 39.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens
4i

bestimmte Bewegungen, ihr quantitativ und qualitativ bestimmtes Aufeinan¬


derfolgen, Ineinandergreifen, Einander-Ergänzen und Steigern etc. in jedem
Arbeitsprozeß zu wiederholen und weiterzubilden, erhält dieser für den
Menschen, der ihn ausübt, notwendig den Charakter einer gewissen Objek-
tivation. Diese hat aber im Gegensatz zur viel stärkeren Fixiertheit der von
Kunst oder Wissenschaft geschaffenen Gebilde eine veränderlichere, fließen¬
dere Wesensart. Denn wie stark immer die Wirkung der konservierenden,
stabilisierenden Prinzipien im Arbeitsprozeß des Alltagslebens (besonders
auf den Anfangsstufen) auch sein mag - man denke an die Macht der Tradi¬
tionen in der bäuerlichen Landwirtschaft oder im vorkapitalistischen Hand-
wefk —, in jedem individuellen Arbeitsprozeß ist doch die wenigstens abstrakte
Möglichkeit vorhanden, von den vorhandenen Überlieferungen abzuweichen,
Neues zu versuchen oder unter Umständen auf noch Älteres umbildend zu¬
rückgreifen.
Ganz allgemein betrachtet ist damit noch kein wesentlicher Unterschied von
der Praxis der Wissenschaftler ausgesagt. Vor allem leben auch diese inner¬
halb des Alltagslebens der Menschen ihr eigenes Alltagsleben. Ihr indivi¬
duelles Verhalten zur Objektivation ihrer Tätigkeit muß sich also von
ihren anderen Tätigkeiten nicht prinzipiell oder qualitativ unterscheiden,
besonders bei noch unentwickelterer gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Wenn
wir jedoch den sich hier ergebenden Tatbestand nicht bloß vom Standpunkt
des handelnden Subjekts, sondern von dem des Objekts aus betrachten, er¬
geben sich schon wichtige qualitative Unterschiede. Diese liegen nicht bloß
in der Verwandelbarkeit der Ergebnisse, denn die Resultate der Wissen¬
schaft ändern sich ebenso mit der Bereicherung und Vertiefung im Prozeß der
Widerspiegelung der Wirklichkeit, wie die der Arbeit. Entscheidend ist viel¬
mehr der Abstraktionsgrad, die Entfernung von der unmittelbaren Praxis des
Alltagslebens, mit der sie freilich beide - sowohl mit ihren Voraussetzungen
wie mit ihren Folgen - verbunden bleiben. Der Zusammenhang ist aber für
die Wissenschaft ein mehr oder weniger weit und kompliziert vermittelter,
während er für die Arbeit, auch wenn sie eine Anwendung höchst komplizier¬
ter wissenschaftlicher Erkenntnisse ist, einen vorwiegend unmittelbaren Cha¬
rakter besitzt. Je unmittelbarer nun diese Beziehungen sind, was zugleich
soviel bedeutet, daß die Intention des Handelns auf einen Einzelfall des
Lebens gerichtet ist - und das ist naturgemäß in der Arbeit stets der Fall -
desto schwächer, wandelbarer, weniger fixiert ist die Objektivation. Genauer
gesagt: desto stärker sind die Möglichkeiten, daß ihre - eventuell sogar
äußerst starre - Fixierung nicht aus dem Wesen der objektiven Gegenständ-
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
42

lichkeit stammt, sondern ein subjektives, freilich oft sozial psychologisches


Fundament (Tradition, Gewöhnung etc.) hat. Das bedeutet, daß die Resul
täte der Wissenschaft strukturell viel stärker als vom Menschen unabhängige
Gebilde fixiert werden als die der Arbeit selbst. Die Entwicklung äußert sich
darin, daß das eine Gebilde, ohne seine fixierte Objektivität zu verlieren,
von einem anderen, korrigierten Gebilde abgelöst wird. Dies wird sogar in
der Praxis der Wissenschaften im allgemeinen durch betontes Hervorheben
der erfolgten Änderungen unterstrichen. In den Arbeitsprodukten können
dagegen solche Änderungen als individuelle Variationen vor sich gehen; wenn
sie - wie im Kapitalismus - oft ausdrücklich bekanntgemacht werden, so hat
das zumeist Marktgründe. Der Kapitalismus nähert überhaupt Arbeit und
Arbeitsergebnis der Struktur der Wissenschaft.
Natürlich analysieren wir hier nur die beiden Pole, ohne die Unzahl von
Ubergangsformen, die infolge der bereits angedeuteten und später ausführ¬
lich zu behandelnden Wechselwirkungen entstehen, zu berücksichtigen. Be¬
trachtet man die Totalität der menschlichen Tätigkeiten - alle Objektivatio-
nen, also nicht nur Wissenschaft und Kunst, sondern auch die gesellschaft¬
lichen Institutionen als ihren Niederschlag berücksichtigend - so treten natur¬
gemäß diese Übergänge energisch hervor. Da jedoch unsere gegenwärtige
Untersuchung nicht so weitgesteckte Ziele hat, sondern nur einige wichtige
Wesenszeichen des Alltagslebens — in ihrem Gegensatz zu Wissenschaft und
Kunst - herausarbeiten will, müssen und können wir uns mit der Feststellung
solcher Kontraste begnügen. Um so mehr, da die Arbeit als ständige Quelle
der Entwicklung der Wissenschaft (ein Gebiet, das von ihr ununterbrochen
bereichert wird), im Alltagsleben wahrscheinlich den dort höchstmöglichen
Grad der Objektivation erreicht. Dabei muß auf die eingangs angedeutete
historische Entwicklung der Arbeit selbst hingewiesen werden. Da die Wech¬
selwirkung mit der Wissenschaft eine fortdauernde, extensiv wie intensiv
immer stärker wirkende Rolle spielt, ist es klar, daß in der heutigen Arbeit
wissenschaftliche Kategorien eine viel größere Bedeutung haben, als in der
früheren. Dies hebt die sogleich auszuführende grundlegende Eigenart des
Alltagsdenkens nicht auf; die wachsende Aufnahme wissenschaftlicher Ele¬
mente verwandelt es nicht in ein wirklich wissenschaftliches Verhalten.
Das kann man am deutlichsten in der Wechselbeziehung von Wissenschaft
und moderner Industrie beobachten. In historischem Maßstabe ist es sicher
richtig, daß die Hauptlinie der Entwicklung dahin geht, die Industrie, d. h.
den Arbeitsprozeß wissenschaftlich zu durchdringen. Objektiv historisch ist
dabei festzustellen - wie dies Bernal detailliert gezeigt hat - daß einerseits
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens
43

die Abgetrenntheit bestimmter Forschungsweisen vom Leben, andererseits die


Beschränktheit, der Konservatismus etc. der Industriellen in vielen Fällen die
Anwendung bereits errungener wissenschaftlicher Ergebnisse für längere Zeit
unmöglich gemacht hat. Uns interessiert hier dieses Phänomen nicht vom
Standpunkt der Geschichte der Industrie, der Technik oder der Wissensdiaft,
bei denen zweifellos ist, »daß die ostensiblen und auch die wirklich tätigen
Beweggründe der geschichtlich handelnden Menschen keineswegs die letzten
Ursachen der geschichtlichen Ereignisse sind« 1, sondern der Alltag, in wel¬
chem eben die »ostensiblen« Motive im Vordergrund stehen; und diese zei¬
gen die - relativ - geringe Stufe der Objektivationen im Entschluß der Men¬
schen zum Flandeln, den fließenden Charakter, den viele an sich stark objek¬
tivierten Gebilde hier haben und endlich die oft ausschlaggebende Rolle von
Gewöhnung, Tradition etc. in diesen Entschlüssen. Das Bezeichnende ist,
daß im subjektiven Leben des Alltags ein ständiges Hin-und-Herwechseln
vorhanden ist zwischen Entscheidungen, die auf Motive augenblicklicher und
fließender V esensart begründet sind und zwischen solchen, die auf starren,
wenn auch gedanklich selten fixierten Grundlagen (Tradition, Gewohnheit)
beruhen.
Die Arbeit ist jedoch der der wissenschaftlichen Objektivation am nächsten
stehende Teil der Alltagswirklichkeit. Die unendlich vielfältigen Beziehun¬
gen zwischen den einzelnen Menschen (Ehe, Liebe, Familie, Freundschaft etc.),
gar nicht zu sprechen von unzähligen flüchtigen Beziehungen, die Beziehungen
der einzelnen Menschen zu den staatlichen und gesellschaftlichen Institutio¬
nen, die verschiedenen Formen der Nebenbeschäftigung, Vergnügung etc.
(z. B. Sport), Phänomene des Alltags wie Mode bestätigen die Richtigkeit
einer solchen Analyse. Es handelt sich überall um den raschen, oft plötzlichen
Wechsel zwischen konservativer Erstarrtheit in Routine oder Konvention
und Fdandlungen, Entschlüssen etc., deren Motive - wenigstens subjektiv,
was gerade für diese Untersuchungen sehr wichtig ist - einen vorwiegend
persönlichen Charakter haben. Daß besonders im Alltag der kapitalistischen
Gesellschaft, wo die Bewegungsmotive auf der individuellen Oberfläche vor¬
herrschen, objektiv-statistisch sich eine große Gleichförmigkeit zeigt, bestätigt
nur diese Feststellung. In traditionsgebundeneren vorkapitalistischen Gesell¬
schaften erscheint diese Polarisation qualitativ anders, ohne jedoch diese
wesentliche Strukturähnlichkeit aufzuheben.

1 Engels: Feuerbach, Wien-Berlin 1927, S. 57.


Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
44

Hinter allem bisher Aufgeführten steckt ein zweites Wesenszeichen des all¬
täglichen Seins und Denkens: der unmittelbare Zusammenhang zwischen
Theorie und Praxis. Diese Feststellung bedarf, um richtig verstanden zu
werden, einer gewissen Erläuterung. Es wäre nämlich total falsch anzuneh¬
men, die Gegenstände der Alltagstätigkeit wären objektiv, an sich, unmittel¬
baren Charakters. Im Gegenteil. Sie existieren nur infolge eines sehr weitver¬
zweigten, vielfältigen, komplizierten Vermittlungssystems, das im Laufe der
gesellschaftlichen Entwicklung immer komplizierter und weiterverzweigt
wird. Insofern es sich jedoch um Gegenstände des Alltagslebens handelt,
stehen diese fertig da, und das sie hervorbringende Vermittlungssystem er¬
scheint in ihrem unmittelbaren, nackten Dasein und Sosein als restlos aus¬
gelöscht. Man denke dabei nicht nur an technisch-wissenschaftliche, sondern
auch an ökonomisch sehr komplizierte Phänomene, wie Taxi, Autobus,
Straßenbahn etc., an ihren Gebrauch im Alltagsleben, an die Art, wie sie im
Alltagsleben figurieren, um diese Unmittelbarkeit klar vor sich zu sehen. Es
gehört zur notwendigen Lebensökonomie des Alltags, daß man im Durchschnitt
seine ganze Umgebung — solange sie funktioniert — nur auf Grund ihres prak¬
tischen Funktionierens (und nicht auf Grund ihres objekiven Wesens) auf¬
nimmt und beurteilt. Und sogar in sehr vielen Fällen ruft ihr Nichtfunktio-
nieren ebenfalls bloß ähnliche Reaktionen hervor. Das ist natürlich - in seiner
Reinkultur - ein Produkt der kapitalistischen Arbeitsteilung. Auf primitive¬
ren Entwicklungsstufen, wo die Mehrzahl der Geräte etc. des Alltagslebens
von den Handelnden selbst hergestellt wurden, oder wo deren Produktions¬
weise allgemein bekannt war, war gerade diese Art der Unmittelbarkeit weit
weniger entfaltet und auffällig. Erst eine hochentwickelte gesellschaftliche
Arbeitsteilung, die aus jedem Produktionszweig und aus seinen Teilmomen¬
ten eine scharfumgrenzte Spezialität macht, zwingt den durchschnittlich
Handelnden des Alltagslebens diese Unmittelbarkeit auf.
Die allgemeinere, freilich weitaus weniger entwickelte Struktur dieser Verhal¬
tensweise geht bis in die Urzeit zurück. Denn die unmittelbare Verbindung
von Theorie (d. h. Nachdenken, Widerspiegelungsart des Gegenstandes)
und Praxis ist sicher ihre allerälteste Form: die Umstände zwingen die Men¬
schen sehr oft, ja in der Mehrzahl der Fälle zu einem sofortigen Handeln.
Freilich besteht die gesellschaftliche Rolle der Kultur (vor allem die der
Wissenschaft) darin, daß sie zwischen einer voraussehbaren Situation und
der bestmöglichen Form des Handelns Vermittlungen entdeckt und dann da¬
zwischenschiebt. Jedoch wenn diese einmal vorhanden, in allgemeinen Ge¬
brauch getreten sind, verlieren sie für den im Alltag handelnden Menschen
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens
45

ihren Vermittlungscharakter, und die von uns geschilderte Unmittelbarkeit


tritt wieder in Kraft. Hier kann man klar sehen — worüber wir später aus¬
führlich sprechen werden — wie innig die Wechselwirkung zwischen Wissen¬
schaft und Alltagsleben ist: die zu lösenden Probleme der Wissenschaft ent¬
steigen unmittelbar oder vermittelt aus dem Alltagsleben und dieses bereichert
sich ununterbrochen aus den in ihm verwerteten Resultaten und Methoden, die
die Wissenschaft ausgearbeitet hat. Es reicht aber zum Verständnis dieses Zu¬
sammenhangs nicht aus, solche ununterbrochene Wechselwirkungen festzu¬
stellen. Wir müssen schon jetzt darauf hinweisen - und unsere Analyse des
Alltagsdenkens geschieht gerade in dieser Absicht -, daß zwischen Wider-
spiegelung der Wirklichkeit, ihrer denkerischen Bearbeitung in der Wissen¬
schaft und im Alltag auch qualitative Unterschiede bestehen. Diese statuieren
jedoch nicht eine schroffe, unaufhebbare Dualität, wie die bürgerliche Er¬
kenntnistheorie solche Fragen zu behandeln pflegt; die Differenzierung bis
zum qualitativen Unterschied ist vielmehr das Produkt der gesellschaftlichen
Entwicklung der Menschheit. Die Differenzierung und mit ihr die - relative
- Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Methoden von den unmittelbaren
Bedürfnissen des Alltags, ihr Bruch mit seinen Denkgewohnheiten entsteht
gerade darum, um diese besser zu bedienen, als dies bei direkter Methoden¬
einheit möglich wäre. Der Unterschied von Kunst und Alltag, ihre der all¬
gemeinsten Struktur nach ähnliche Wechselwirkung steht ebenfalls im Dienst
solcher gesellschaftlichen Bedürfnisse. Diese konkret zu behandeln würde
aber jetzt noch zu vieles voraussetzen, zu viel darstellerische Abschweifung
erfordern. Daß diese Fragen erst später behandelt werden können, bedeutet
aber nicht, daß sie historisch später auftauchen. Die Polarisation des
Alltagslebens, des Alltagsdenkens in die beiden stärker objektivierenden,
objektiv weniger unmittelbaren Sphären von Kunst und Wissenschaft ist
ebenso ein simultaner Prozeß, wie es die bisher geschilderten Wechselwirkun¬
gen sind.
Der spezifische Charakter der hier geschilderten Unmittelbarkeit des Alltags¬
lebens und -denkens drückt sich prägnant in der Art des spontanen Materia¬
lismus dieser Sphäre aus. Jede einigermaßen unbefangene und gründliche
Analyse muß zeigen, daß der Mensch des Alltagslebens auf die Gegenstände
seiner Umwelt stets spontan materialistisch reagiert, einerlei wie diese
Reaktionen vom Subjekt der Praxis nachträglich interpretiert werden. Dies
folgt schon aus dem Wesen der Arbeit. Jede Arbeit setzt einen Komplex von
Gegenständen, von Gesetzen, die sie in ihrer Art, in ihren notwendigen Be¬
wegungen, Verrichtungen etc. bestimmen, voraus, und diese werden spontan
46 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

als unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierend und funktio¬


nierend behandelt. Das Wesen der Arbeit besteht gerade darin, dieses - an
sich seiende — Sein und Werden zu beobachten, zu ergründen und auszu¬
nützen. Selbst auf der Stufe, wo der Urmensch noch keine Werkzeuge her¬
stellt, sondern nur bestimmt geformte Steine aufgreift und diese nach
Gebrauch wegwirft, muß er bereits bestimmte Beobachtungen darüber ge¬
macht haben, welche Steine nach ihrer Härte, Form etc. für bestimmte Ver¬
richtungen geeignet sind. Schon in der Tatsache, daß er unter vielen Steinen
einen passend scheinenden auswählt, schon die Art der Auswahl zeigt, daß
der Mensch mehr oder weniger dessen bewußt ist, daß er in einer von ihm
unabhängig existierenden Außenwelt zu handeln gezwungen ist, daß er des¬
halb diese von ihm unabhängig existierende Umgebung möglichst zu ergrün¬
den, gedanklich durch Beobachtung zu bewältigen versuchen muß, um existie¬
ren zu können, um den ihn bedrohenden Gefahren zu entgehen. Auch die
Gefahr als Kategorie des menschlichen Innenlebens zeigt, daß das Subjekt
sich einer von seinem Bewußtsein unabhängigen Außenwelt gegenüberzuste¬
hen mehr oder weniger bewußt ist.
Dieser Materialismus hat aber einen rein spontanen, auf die unmittelbaren
Objekte der Praxis gerichteten und darauf beschränkten Charakter. Darum
hat sich der subjektive Idealismus in seiner imperialistischen Blüte hoch¬
mütig von ihm abgewandt und ihn philosophisch völlig ignoriert. So sagt
Rickert, daß er gegen den »naiven« Realismus nichts einzuwenden habe: »Er
kennt weder ein transzendentes Wirkliches, noch das erkenntnistheoretische
Subjekt oder das überindividuelle Bewußtsein. Er ist überhaupt keine wissen¬
schaftliche Theorie, die wissenschaftlich bekämpft zu werden braucht, sondern
ein Komplex von undurchdachten und unbestimmten Meinungen, die zum
Leben ausreichen, und die man denen, die nur leben wollen, ruhig lassen
kann.« 1 In der Krisenzeit nach dem ersten Weltkrieg, als der subjektive Idea¬
lismus sich immer mehr gezwungen sieht, mit anthropologischen Argumenten
seine Positionen zu stärken, gewinnen auch für ihn die Probleme des Alltags¬
lebens, unter ihnen die des »naiven Realismus« (worunter die bürgerlichen
Idealisten zumeist den spontanen Materialismus verstehen) eine immer grö¬
ßere Bedeutung. Rothacker führt schon aus: »Die ganze Welt aber, in der
wir praktisch leben und wirken, einschließlich natürlich der politischen, wirt¬
schaftlichen, religiösen, künstlerischen Lebensbetätigungen, bewegt sich in

1 Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis, Tübingen 1928, S. 116.


Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens ^y

»Lebenskategorien«, deren Inbegriff als »vorwissenschaftliches Weltbild«


dringend expliciter Behandlung bedarf und eines der zahlreichen, kaum an¬
geschnittenen Themen der »philosophischen Anthropologie« darstellt. Hic
Rhodus, hic salta! Es kann nicht genug unterstrichen werden, daß diese Tat¬
sache, daß alle unsere großen Lebensentscheidungen in einer »naiv-realisti-
scnen Welt« fallen, daß die ganze Weltgeschichte und damit auch das Thema
aller historischen Wissenschaften und Philologien in dieser naiv-realistischen
Welt sich abspielt, ein Argument von größtem Gewicht auch für die Behand¬
lung erkenntnistheoretischer Fragen darstellt.« 1 Diese Anerkennung des Pro¬
blems dient bei Rothacker freilich nur dazu, den subjektiven Idealismus
noch konsequenter solipsistisch auszubauen, als dies früher geschah, indem
seine subjektivistische Erkenntnistheorie in der Uexküllschen Theorie der
Umwelt eine biologische Stütze zu finden meint. Der spontane Materialismus
des Alltagslebens wird in diesem Zusammenhang zu einer — freilich kompli¬
zierten - Erscheinungsweise der von den Organen bestimmten Umwelt. Mit
dieser Theorie werden wir uns bei der Behandlung des An-Sich-Problems
eingehend auseinandersetzen.
Die Stärke und die Schwäche dieser Spontaneität umschreiben von einem
anderen Aspekt deutlich die Eigenart des Alltagsdenkens. Die Stärke äußert
sich darin, daß keine noch so idealistische, ja solipsistische Weltanschauung
ihr spontanes Funktionieren im Alltagsleben und -denken verhindern kann.
Kein noch so fanatisch überzeugter Berkeleyaner hat die Empfindung, wenn
er bei einer Straßenkreuzung einem Automobil ausweicht, oder dessen Vor¬
überfahren abwartet, es bloß mit seiner eigenen Vorstellung und nicht mit
einer von seinem Bewußtsein unabhängiger Realität zu tun zu haben. Das
esse est percipi verschwindet spurlos im Alltagsleben des unmittelbar han¬
delnden Menschen. Die Schwäche dieses spontanen Materialismus äußert sich
darin, daß er sehr geringe, ja man könnte sagen überhaupt keine weltanschau¬
liche Konsequenzen hat. Er kann sogar bequem - ohne daß der Widerspruch
subjektiv auch nur aufdämmern würde - im Bewußtsein des Menschen mit
idealistischen, religiösen, abergläubischen etc. Vorstellungen koexistieren. Um
Beispiele dafür anzuführen braucht man nicht in die Urzeit der Mensch¬
heitsentwicklung zurückzugreifen, in welcher die ersten Arbeitserfahrungen
und die aus ihnen entstandenen großen Erfindungen untrennbar mit magischen
Vorstellungen verknüpft waren. Auch ein heutiger Mensch wird häufig ganz

1 Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie, Bonn 1948, S. 166.


4S Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

reale — und entsprechend spontan materialistisch erfaßte — Tatsachen des


Lebens mit abergläubischen Vorstellungen zusammenkoppeln, oft ohne des
Grotesken dieser Verknüpfung auch nur im geringsten bewußt zu sein. Frei¬
lich darf hier neben der Ähnlichkeit auch die Verschiedenheit nicht übersehen
werden. Der spontane Materialismus des primitiven Menschen erstreckt sich
auch auf Phänomene, die ihrem Wesen nach bewußtseinsartiger Natur sind.
Es genügt, wenn wir auf die Einschätzung der Träume hinweisen. Aber auch
dort, wo zu der Beobachtung der materiellen Erscheinungen »geistige« Er¬
klärungsgründe hinzutreten, werden diese auf primitiver Stufe ebenso spon¬
tan materialistisch erlebt, wie die objektive Wirklichkeit selbst. Cassirer
weist mit Recht darauf hin, daß das primitive Denken keine Grenzscheide
zwischen Wahrheit und Schein zieht, ebensowenig zwischen »dem bloß »vor¬
gestelltem und der >wirklichen< Wahrnehmung, zwischen Wunsch und Erfül¬
lung, zwischen Bild und Sache« 1. (Die philosophische Reaktion unserer Tage
will im primitiven Verhältnis von Bild und Sache ein Fundament für eine
neue Art der Weltauffassung finden; so Klages.) Und ebenso wie wir früher,
weist Cassirer auf das primitive Objektivnehmen der Träume hin. Wie tief
eingewurzelt im Alltagsleben der Menschen diese — täuschende — Traum-
»Objektivität« ist, kann daraus ersehen werden, daß diese Unterscheidung
noch in den erkenntnistheoretischen Erwägungen von Descartes eine gewisse
Rolle spielt2. Diese Homogeneität, diese falsche Vereinheitlichung nimmt
allmählich in entwickelteren Stadien ab. Zum Aberglauben des modernen
Menschen z. B., der subjektiv zuweilen tief eingewurzelt sein kann, gehört
sehr oft ein intellektuelles schlechtes Gewissen, d. h. die Bewußtheit dessen,
daß man es bloß mit einem Produkt des subjektiven Bewußtsein zu tun hat,
nicht mit einer von diesen unabhängig existierenden objektiven Wirklichkeit,
gemäß dem spontanen Materialismus des Alltags. Auf die vielen Übergänge
können wir auch hier nidit eingehen. Diese Lage findet sich auch in der Wis¬
senschaft selbst vor. Idealistische Erkenntnistheoretiker sprechen oft mit einem
ironischen Bedauern vom »naiven Realismus« (d. h. Materialismus) hervor¬
ragender Naturforscher und auf der anderen Seite stellt Lenin 3 wiederholt
fest, daß auch solche Gelehrten, die in ihrer Erkenntnistheorie dem subjektiven
Idealismus huldigen, in ihrer wissenschaftlichen Praxis spontane Materialisten
sind.

1 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1953, II S. 48.


2 Descartes: Les principes de la philosophie, Bibliotheque de la Pleiade, S. 434.
3 Lenin: Empirokritizismus, Wien-Berlin 1927, Werke Bd. XIII, S. 280 fl.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 49

Das theoretische Vernachlässigen dieses primären Faktors des Alltagslebens


und des Alltagsdenkens führt dazu, daß wichtige Tatsachen des menschlichen
Denkens unaufgeklärt bleiben. So haben verschiedene Forscher der Urzeit
eine gewisse Affinität der urwüchsigen Magie mit dem eben geschilderten
spontanen Materialismus festgestellt. Es ist allerdings ein qualitativer, histo¬
risch bedingter Unterschied, ob die idealistische (religiöse, magische, abergläu¬
bische) Ergänzung des spontanen Materialismus gewissermaßen nur am Rande
des praktischen Weltbilds erscheint, oder ob sie die von diesem festgestellten
Tatsachen gedanklich und gefühlsmäßig überwuchert. Der Weg vom letzteren
Fall zum ersten ist die wesentliche, freilich oft zickzackartige Entwicklungs-
lime der Kultur. Diese Entwicklung wird aber erst dadurch möglich, daß das
menschliche Denken die Unmittelbarkeit des Alltags im hier angegebenen
Sinn überwindet, d. h. daß die unmittelbare Verbindung zwischen Wider-
spiegelung der Wirklichkeit, ihrer gedanklichen Auslegung und der Praxis
überwunden wird, daß also zwischen dem erst dadurch zur eigentlichen
Theorie gewordenen Denken und der Praxis bewußt eine immer größere
Reihe von Vermittlungen eingeschaltet wird. Erst dadurch kann vom bloß
spontanen Materialismus des Alltagslebens ein Weg zum philosophischen
Materialismus eröffnet werden. Wie wir später sehen werden, kommt diese
Entwicklung zum erstenmal in der griechischen Antike zum klaren Ausdruck.
Der Beginn einer endgültigen Trennung von philosophischem Idealismus und
Materialismus findet erst hier mit wirklicher Entschiedenheit statt. Cassirer 1
hat Recht, wenn er den Bruch mit dem »mythischen Denken« von Leukipp
und Demokrit datiert.
Wie schwer dieser Prozeß ist zeigt sich darin, daß die ersten Versuche über
die Spontaneität des Alltagsdenkens hinauszugehen zumeist idealistische
Wesenszüge tragen. Es ist interessant, daß Cassirer von der primitiven Iden¬
tifikation von Bild und Sache ausgehend zu dem Schluß gelangt: »Man kann
es demgemäß geradezu als ein Kennzeichen des mythischen Denkens bezeich¬
nen, daß ihm die Kategorie des >Ideellen< fehlt« 2. Damit treten Wesensart
und Grenzen des primitiven, spontanen Materialismus bereits klarer hervor:
er ist in einer Periode wirksam, die das antinomische Gegenüberstehen von
Idealismus und Materialismus noch nicht kennt. Dieser entwickelt sich im
Kampf gegen den früher entstandenen philosophischen Idealismus. Der

1 Cassirer: a. a. O. S. 62.
2 Ebd. 5i.
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

spontane Materialismus des Alltagslebens bewahrt zwar manche Überreste der


primitiven Zustände, gelangt jedoch in einem Milieu zur Wirksamkeit, in
welchem diese Differenzierung bereits stattgefunden hat. Den komplizierten
Prozeß solcher Entwicklungen auch nur andeutend darzustellen, liegt völlig
außerhalb des Rahmens dieser Arbeit. Es folgen nur einige Bemerkungen über
die sozialen Ursachen dieses Entstehens des Idealismus. Er hat mannigfache
Gründe. Erstens die Unkenntnis von Natur und Gesellschaft. Deshalb ist der
primitive Mensch, sobald er über die unmittelbaren Beziehungen der ihm
direkt gegebenen gegenständlichen Welt hinauszugehen trachtet, gezwungen,
zu in den Tatsachen selbst gar nicht oder wenigstens nicht hinreichend fun¬
dierten Analogie zu greifen, wozu er naturgemäß spontan den Ausgangs¬
punkt in der eigenen Subjektivität zu wählen pflegt. Zweitens schafft erst die
beginnende gesellschaftliche Arbeitsteilung jene Schicht, die nun die notwen¬
dige Muße erhält, über derartige Probleme »professionell« nachzudenken.
Damit ist, mit der Befreiung vom Zwang immer sofort auf die Außenwelt zu
reagieren, zwar einerseits für diese Schicht die notwendige Distanz geschaf¬
fen, von welcher aus man anfangen kann, die spontane Unmittelbarkeit des
Alltags, ihre mangelnde Verallgemeinerung zu überwinden, andererseits
jedoch entfernt diese Arbeitsteilung die zum tieferen Nachdenken privilegierte
Schicht immer mehr von der Arbeit selbst. Diese ist aber die wichtigste Basis
für den spontanen Materialismus des Alltagslebens; allerdings zugleich auch
die der entstehenden idealistischen Weltanschauungstendenzen. Man erinnere
sich an die Ausführungen von Marx, daß das Resultat des Arbeitsprozesses
ideell bereits früher vorhanden war. Es ist verständlich, daß bei der Vorherr¬
schaft der Analogie vor der Kausalität und Gesetzlichkeit im primitiven
Denken die analogisierende Verallgemeinerung von hier ihren Ausgangs¬
punkt nimmt. Wenn bisher unmittelbar nicht erklärbare Gegenstands- und
Bewegungskomplexe idealistisch, religiös etc. in einen »Schöpfer« projiziert
werden, so handelt es sich zumeist um eine solche analogisierende Verall¬
gemeinerung der subjektiven Seite des Arbeitsprozesses. (Man denke, um ein
naheliegendes Beispiel anzuführen, an den Demiurgos-Handwerker der grie¬
chischen Gottesvorstellungen.) Erst auf höherer Stufe entsteht im Kampf
gegen solche Konzeptionen der philosophische Materialismus: der Versuch
alle Erscheinungen aus den Bewegungsgesetzen der vom Bewußtsein unab¬
hängigen Wirklichkeit zu begreifen. Die Schilderung seines Kampfes mit den
idealistischen Weltanschauungen gehört natürlich nicht hierher.
Wir müssen dabei nur noch auf einen einzigen Gesichtspunkt hinweisen, näm¬
lich auf den Zusammenhang der idealistischen (religiösen) Vorstellungen mit
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 51

der Denkungsart des Alltags. Jeder Schritt vorwärts, den der Materialismus
als Weltanschauung macht, beinhaltet eine Entfernung von der Betrachtungs¬
weise des unmittelbaren Alltags, eine beginnende wissenschaftliche Einsicht in
die »nicht ostensiblen« Ursachen der Phänomene und ihrer Bewegung. An
den Schranken dieser wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit,
die, wie wir sehen werden, eine Entfernung von den, eine Erhebung über die
Denkformen des Alltags bedeutet, entsteht notwendig eine Rückkehr zu
diesem. Formell mag ein solches Denken sehr hochentwickelt sein, es mag alle
Formen und Inhalte der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit
benützen, ihre Grundstruktur wird dodi stets der des Alltags sehr nahestehen.
Wenn zum Beispiel Engels die Geschichtsauffassung des mechanischen Mate¬
rialismus kritisiert und in ihr einen Rückfall in den Idealismus feststellt, so
bewegt sich seine Argumentation in der von uns beschriebenen Richtung. Er
wirft diesem Materialismus vor, daß er in der Geschichte »die dort wirksamen
ideellen Kräfte als letzte Ursachen hinnimmt, statt zu untersuchen, was denn
hinter ihnen steht, was die Triebkräfte dieser Triebkräfte sind. Nicht darin
liegt die Inkonsequenz, daß ideelle Triebkräfte anerkannt werden, sondern
darin, daß von diesen nicht weiter zurückgegangen wird auf ihre bewegenden
Ursachen.«1 Es ist klar, daß selbst hier, wo es sich um eine auf anderen Ge¬
bieten hochentwickelte philosophische Richtung handelt, das Wesen des
methodologischen Mangels darin besteht, daß der Standpunkt des unmittel¬
baren Alltagsdenkens nicht radikal genug verlassen, und die Umwandlung der
ihr zugrunde liegenden Widerspiegelung in eine wissenschaftliche nicht hin¬
reichend vollzogen wurde. Solche Beispiele zeigen auch die ununterbrochenen
Wechselwirkungen beider Sphären, hier das Hineinspielen des Alltagsdenkens
in das wissenschaftliche, während andere Fälle die umgekehrte Beeinflussung
erweisen können. Die richtige Analyse solcher Beispiele würde aber auch
zeigen, daß einerseits das reine Herausbilden der wissenschaftlichen Wider¬
spiegelung für die höhere Entwicklung der Kultur des Alltagslebens unerlä߬
lich ist, daß anderseits in der Praxis des Alltags die Ereignisse der Wissenschaft
wieder ins Gefüge des Alltagsdenkens eingegliedert werden.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß eine der wichtigsten unter den ori¬
ginären und herrschenden Formen sowohl im anfänglichen wie im ursprünglich
alltäglichen Denken, die überwiegende Art für die Verknüpfung und Trans¬
formation der unmittelbaren Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit

1 Engels: Feuerbach, a. a. O. S. 57.


Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
52

die Analogie ist. Wir haben es hier nicht mit dem logischen Problem von
Analogie und Analogieschluß zu tun; nur um unser Problem besser zu erhel¬
len, seien einige Bemerkungen Hegels angeführt. Hegel betrachtet zwar diese
Frage nicht genetisch, immerhin gibt er einige Andeutungen, die zeigen, daß
er in der Analogie und im Analogieschluß etwas mit den Anfängen des Den¬
kens Verbundenes erblickt. So spricht er, die Darlegungen der »Phänomeno¬
logie« einarbeitend, hier von dem »Instinkt der Vernunft« (also nicht von der
entfalteten Vernunft in ihrer reinen Gestalt), »welcher ahnen läßt, daß diese
oder jene empirisch auf gefundene Bestimmung in der inneren Natur unter der
Gattung eines Gegenstandes gegründet sei, und welcher darauf weiter fußt« b
Auch der Ausdruck »ahnen« unterstreicht diesen anfänglichen Charakter der
Analogie. Freilich bemerkt Hegel an der gleichen Stelle, daß einerseits die
Anwendung des Analogieverfahrens in den empirischen Wissenschaften wich¬
tige Resultate gezeitigt hat, andererseits weist er deutlich, vom Standpunkt
der entwickelten Wissenschaft darauf hin, daß die Analogie aus dem Mangel
der Induktion, aus der Unmöglichkeit, alle Einzelheiten zu erschöpfen ent¬
standen und zur Anwendung gelangt sei. Um die Wissenschaftlichkeit vor
diesen Gefahren zu schützen, weist Hegel auf die Notwendigkeit hin, zwi¬
schen »oberflächlicher und gründlicher« Analogie genau zu unterscheiden.
Erst wenn die Wissenschaft die in Analogie gebrachten Bestimmungen sehr
genau umreißt und aussondert, kann die Analogie für die Praxis fruchtbar
werden; die Naturphilosophie der Schelling-Schule ist in Hegels Augen das
Schulbeispiel für ein »nichtiges Spiel mit leeren, äußerlichen Analogien«.
Aus alledem ist die urwüchsige Eigenart der Analogie, ihre schwer zerreißbare
Verknüpftheit mit dem Alltagsdenken klar ersichtlich. Die Andeutungen
Hegels über ihren oberflächlichen Gebrauch deuten nicht nur Allgemeines an -
denn jede Schlußform kann oberflächlich oder gründlich, formell-sophistisch,
oder sachlich behandelt werden -, sondern eine tief eingewurzelte spontane
Möglichkeit zu einem Gebrauch in dieser Richtung. Ohne auf die geschichtli¬
chen Probleme des analogischen Denkens näher eingehen zu können, darf doch
festgestellt werden, daß gerade hier die bloß verbale Anwendung der Begriffe
sehr nahe liegt. Prantl weist, sich auf Schilderungen in Platons »Euthydemos«
berufend, auf den sophistischen »Grundsatz« hin, »daß der sprachliche Aus¬
druck überall auf alle Verhältnisse gleichmäßig angewendet werden müsse«,
worin er mit Recht »das Motiv aller bloß auf den Sprachausdruck gegrün-

1 Hegel: Enzyclopädie, § 190. Zusatz.


Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 53

deten Analogieschlüsse« findetb Was aber hier in rhetorischer oder sophisti¬


scher Entartung erscheint, spielt sicherlich - sehr oft ohne eine Spur von der¬
artigen Tendenzen - im Alltagsdenken eine große Rolle und zwar je weniger
die Wissensdiaft und mit ihr die kritische Behandlung von Wortbedeutungen
entwickelt ist, eine desto größere. Die Analogie ist naturgemäß ganz aus¬
schlaggebend in primitiven Zeiten, in denen sie, vor allem in der magischen
Periode, eine schlechthin dominierende Bedeutung in allen Lebensäußerun¬
gen, Mitteilungsformen, etc. erlangt. Es ist klar, daß das mystifizierte Gewicht
z. B. der Namen im primitiven Denken diesen Tendenzen starken Vorschub
leisten muß. All dies wirkt sich jedoch, wenn auch in vermindertem Ausmaße,
selbst im Alltagsdenken entwickelterer Kulturen aus; auch in diesen bleibt das
Analogisieren ein lebendiger Faktor im Alltagsleben der Mensdien. Je stärker
sich die von uns hervorgehobene unmittelbare Verbindung von Theorie und
Praxis auswirkt, je näher diese im Bewußtsein der Menschen aneinander
gerückt sind, desto mehr. Denn in solchen Fällen liefert die unmittelbare
Widerspiegelung der Wirklichkeit eine Reihe von Zügen, Merkmalen etc. in
den Gegenständen, die, mangels einer genauen Ergründung, gewisse Ähnlich¬
keiten aufweisen. Was liegt näher, als diese auch gedanklich näher - und
Kraft der verbalen Verallgemeinerung noch dichter - miteinander zu ver¬
knüpfen und aus ihnen dann unmittelbare Folgerungen zu ziehen. Goethe,
der, wie wir sehen werden, das analogisierende Denken sehr kritisch betradi-
tet, jedoch seine Unvermeidbarkeit für die Praxis des Alltags ebenfalls wieder¬
holt hervorhebt, bemerkt die eben bezeidinete Gefahr der »Nähe« in der
Praxis des Alltags auch dort, wo die Menschen über das bloße Analogisieren
hinausgehen und kausal zu denken beginnen: »Ein großer Fehler, den wir
begehen, ist, die Ursache der Wirkung immer nahe zu denken, wie die
Sehne dem Pfeil, den sie fortschnellt; und doch können wir ihn nicht ver¬
meiden, weil Ursache und Wirkung immer zusammengedacht und also im
Geiste angenähert werden.« 1 2
Das ist gerade das typische Verhalten des Alltagsmenschen. Daß das Eindrin¬
gen der Wissenschaft ins Alltagsleben konkret eine große, immer größer
werdende Reihe solcher »Kurzschlüsse« aus der Praxis entfernt, daß eine
immer größere Anzahl von wissenschafdich richtigen Sätzen die Praxis des
Alltags fundamentiert, in ihr zur Gewohnheit wird, ändert nicht seine von

1 Prantl: Geschidne der Logik im Abendlande, Berlin 1955, I S. 23.


2 Goethe: Maximen und Reflexionen, Jubiläums-Ausgabe, XXXIX S. 86.
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
54

uns hervorgehobene Grundstruktur. Am Rande solcher aus der Wissenschaft


entnommenen Gewöhnungen gedeihen für subjektiv unerledigte Phänomene
Analogie und Analogieschluß weiter und bestimmen das Verhalten und Den¬
ken des Alltags. Ist dies für die alltägliche gedankliche und praktische Aus¬
einandersetzung mit der Wirklichkeit richtig, so umsomehr für den Verkehr
der Menschen untereinander. Das, was wir im praktischen Leben Menschen¬
kenntnis nennen, ein unentbehrliches Moment eines jeden Zusammenwirkens,
beruht - insbesondere soweit es bewußt gemacht wird - in der Mehrzahl der
Fälle auf einer spontanen Anwendung von Analogien. (Mit der Psychologie
der Menschenkenntnis werden wir uns in einem späteren Kapitel ausführlich
beschäftigen.) Goethe, der zu den wenigen Denkern gehört, der auch solche
Lebensäußerungen in bezug auf ihre Kategorien untersucht hat, sagt unter
anderem über diese Rolle die Analogie: »Mitteilung durch Analogien halt
ich für so nützlich als angenehm: der analoge Fall will sich nicht auf dringen,
nichts beweisen; er stellt sich einem anderen entgegen, ohne sich mit ihm zu
verbinden. Mehrere analoge Fälle vereinigen sich nicht zu geschlossenen
Reihen, sie sind wie gute Gesellschaft, die immer mehr anregt als gibt.« 1 Oder
an anderer Stelle: »Nach Analogien denken ist nicht zu schelten: die Analogie
hat den Vorteil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes
will;...« 2
Mit alledem sind natürlich nur die extremen Pole der Wirksamkeit der
Analogie im Denken des Alltagslebens bestimmt. Die Ausfüllung des breiten
und abwechslungsreichen Zwischenraums betrachten wir hier nicht als unsere
Aufgabe. Soviel ist jedoch auch aus diesen Andeutungen ersichtlich: die
Analogie und der aus ihr entstehende Analogieschluß gehören zu jenen Kate¬
gorien, die im Alltagsleben entstehen, in ihm tief verwurzelt sind, seine Be¬
ziehung zur Wirklichkeit, die Art ihrer Widerspiegelung, deren unmittelbare
Umsetzung in Praxis spontan und oft über diese Bedürfnisse hinausreichend
adäquat ausdrücken. Sie besitzen deshalb - so wie sie an sich sind, so wie sie
aus diesem Boden herausgewachsen - notwendig einen schillernden, zwei¬
deutigen Charakter: eine gewisse Elastizität, ein Fehlen von Apodiktik,
worin schon Goethe ihre positive Bedeutung im Alltagsleben sieht, zugleich
andererseits eine Verschwommenheit, die sich sowohl begrifflich, experimen¬
tell, usw. klären läßt, und dann in die Richtung des wissenschaftlichen

1 Ebd. 87.
2 Goethe: a. a. O. IV S. 231.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 55

Denkens führt, die aber bei einem Stehenbleiben, ja bei einem willkürlichen
Fixieren in Sophismus oder leere Phantastik zu münden pflegt.
Auf eine neue Seite der Stellung der Analogie in der Widerspiegelung der
Wirklichkeit macht Goethe aufmerksam, wenn er sagt: »Jedes Existierende
ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer
zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr,
so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sidi alles ins
Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überleben¬
dig, das anderemal als getötet.« 1 Der Plauptweg zu Irrtümern liegt unmittel¬
bar in der leichtfertigen Überspannung; wir sehen aber hier, daß der Gegen¬
satz, ein pedantisches Ablehnen aller nicht bereits fundierten Ähnlichkeiten,
ebenfalls zu Verzerrungen führen kann. Das ist sowohl für die günstige Wirk¬
samkeit der Analogien im Alltagsleben, wie für die Ausbildung des wissen¬
schaftlichen Denkens bedeutsam. Diese und auch die früheren Ausführungen
Goethes weisen aber auch darauf hin, wie das Erfassen der Welt in der Form
von Analogien in die Richtung der ästhetischen Widerspiegelung führen kann.
Über das eigentliche Problem ist es bei dem gegenwärtigen Stand unserer
Einsichten noch verfrüht zu sprechen. Es kann jetzt nur darauf hingewiesen
werden, daß die von Goethe hervorgehobene Lässigkeit und Elastizität der
Analogie einen günstigen Boden für den künstlerischen Vergleich bildet.
Denn da hier die Ähnlichkeit nie ihre Bezogenheit auf das Subjekt verliert,
da die Analogie gar nicht mit dem Anspruch auftritt, zwei Gegenstände oder
Gegenstandsgruppen mit ihrer Hilfe auch nur annähernd vollständig zu be¬
stimmen, kann manches, was wissenschaftlich verwerflich wäre, hier zur
Tugend werden, obwohl natürlich auch hier eine richtige Widerspiegelung
der Wirklichkeit die Voraussetzung bildet, nur eine qualitativ andersgeartete.
Auf die ganze Frage kommen wir später zu sprechen.
Die Wichtigkeit des auf Analogieverfahren basierten Denkens für den Alltag
hat uns dazu gezwungen, schon jetzt ein Problem zu streifen, das in unseren
späteren Ausführungen eine große Rolle zu spielen berufen ist, dessen genaue
Bestimmungen jedoch auf dieser Stufe noch nicht dargelegt werden können.
Wir haben bereits allgemein darüber gesprochen, daß Alltagsdenken, Wissen¬
schaft und Kunst einerseits dieselbe objektive Wirklichkeit widerspiegeln,
andererseits daß — je nach der aus dem gesellschaftlichen Leben der Menschen
entstehenden konkreten Typen von Zielsetzungen — Inhalt und Form der

1 Goethe: a. a. O. XXXIX S. 68.


5^ Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Abbildung verschieden ausfallen können und müssen. Diese Feststellung soll


jetzt etwas weiter dahin konkretisiert werden, daß die Widerspiegelung der¬
selben Wirklichkeit die Notwendigkeit mit sich führt, überall mit denselben
Kategorien zu arbeiten. Denn im Gegensatz zum subjektiven Idealismus
betrachtet der dialektische Materialismus die Kategorien nicht als Ergebnisse
irgendeiner rätselhaften Produktivität des Subjekts, sondern als ständige,
allgemeine Formen der objektiven Wirklichkeit selbst. Ihre Widerspiegelung
kann also nur dann angemessen sein, wenn das Abbild im Bewußtsein auch
diese Formen als formende Prinzipien des reflektierten Inhalts mitenthält. Die
Objektivität dieser kategorialen Formen zeigt sich auch darin, daß sie in der
Widerspiegelung der Wirklichkeit unendlich lange Zeit gebraucht werden kön¬
nen, ohne daß die geringste Bewußtheit über ihren Charakter als Kategorien
eintritt. Diese Lage hat zur Folge, daß - allgemein - Alltagsdenken, Wissen¬
schaft und Kunst notwendigerweise nicht nur dieselben Inhalte widerspiegeln,
sondern diese auch als von denselben Kategorien geformt erfassen.
Jedoch bereits unsere Behandlung der Analogiefrage zeigt, worauf wir von
Anfang an hingewiesen haben, daß je nach der Art der gesellschaftlichen
Praxis, je nach ihren Zielsetzungen und den von diesen bedingten Methoden
der Gebrauch der Kategorien verschiedene, ja oft entgegengesetzte Aspekte
aufweisen kann. Das, was im analogisierenden Verfahren für die Poesie
bedeutende Resultate zu zeitigen vermag, kann ungünstig für die Entwick¬
lung der Wissenschaft werden etc. Mit diesem Problem werden wir bei der
Konkretisierung des ästhetischen Abbildens der Wirklichkeit viel zu tun
haben und wir werden überall wo es auftaucht sowohl die Gemeinsamkeit
wie die Verschiedenheit der einzelnen Kategorien - vor allem in Wissen¬
schaft und Kunst - ausführlich behandeln. Hier sei nur darauf hingewiesen,
daß die Kategorien nicht nur eine objektive Bedeutung haben, sondern auch
eine objektive wie subjektive Geschichte. Eine objektive, indem bestimmte
Kategorien eine bestimmte Entwicklungsstufe der Bewegung der Materie
voraussetzen. So entstehen jene spezifischen Kategorien, die die biologische
Wissenschaft gebraucht, auch objektiv erst mit dem Entstehen des Lebens; so
die spezifischen Kategorien des Kapitalismus erst in der Genesis dieser For¬
mation, wobei, wie Marx gezeigt hat, ihre Funktionen im Entstehungsprozeß
nicht vollkommen identisch sind mit denen der reifen Entfaltung. (Bestimmte
Kategorien, wie Durchschnittsprofitrate, setzen sogar einen relativ hochent¬
wickelten Kapitalismus voraus.) Die subjektive Geschichte der Kategorien ist die
ihrer Entdeckung durch das menschliche Bewußtsein. Statistische Gesetzmäßig¬
keiten z. B. waren in Natur und Gesellschaft immer und überall wirksam, wo
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 57

und wann eine genügende Anzahl von Phänomenen vorhanden war, damit sie
zur Geltung gelangen können. Es war jedoch eine jahrtausendlange Entwick¬
lung der menschlichen Erfahrungen und ihrer gedanklichen Bearbeitung nötig,
um sie zu erkennen und bewußt anzuwenden. Objektiv optisch (und darum
auch objektiv sinnesphysiologisch) hat es — wenigstens in unserer Erdatmo¬
sphäre— immer Valeurdifferenzen gegeben. Es war jedodi auch hier eine lange
künstlerische Entwicklung vonnöten, um in ihnen wichtige Formen der visuell
erscheinenden objektiven Wirklichkeit und der Beziehungen des Menschen¬
geschlechts zu ihnen wahrzunehmen und ästhetisch zu bewerten. Daß solche
Errungenschaften der wissenschaftlichen und künstlerischen Widerspiegelung
der Wirklichkeit zuerst als wenig bewußte Fragen, Bedürfnisse etc. im Alltags¬
leben auftauchen, und nach ihrer angemessenen Beantwortung durch Kunst und
Wissenschaft in dieses zurückströmen, ist ein Prozeß, auf den wir bereits hin¬
gewiesen haben und im folgenden noch vielmals hinweisen werden.
Vielleicht am plastischsten käme die Eigenart des Alltagsdenkens zum Aus¬
druck, wenn man die Sprache von diesem besonderen Standpunkt einer ein¬
gehenden Analyse unterwerfen würde. Die Sprache des Alltags zeigt vor
allem die von uns bereits hervorgehobene Eigentümlichkeit, ein an sich
kompliziertes Vermittlungssystem zu sein, zu welchem sich jedes Subjekt, das
es gebraucht, unmittelbar verhält. Diese Unmittelbarkeit erhielt ihre phy¬
siologische Erklärung in unseren Tagen, als Pawlow in der Sprache das den
Menschen von den Tieren unterscheidende zweite Signalsystem entdeckte.
Daß jedes Wort und erst recht jeder Satz über die Unmittelbarkeit hinaus¬
geht, ist ohne weitere Erörterungen einleuchtend; ist doch das gewöhnlichste
Wort, wie Beil, Stein, gehen, etc. bereits eine komplizierte Synthese von
unmittelbar untereinander verschiedenen Phänomenen, ihre abstrahierende
Zusammenfassung. Wie sehr es sich hier um einen langwierigen Prozeß der
Vermittlung und Verallgemeinerung, d. h. der Entfernung von der Unmittel¬
barkeit, der sinnlichen Wahrnehmung handelt, zeigt die Sprachgeschichte.
Betrachtet man die Sprache eines beliebigen primitiven Volks, so sieht man,
daß ihre Wortbildung unvergleichlich wahrnehmungsnäher, begriffsferner ist,
als die unsere. Schon Herder hat gesehen, daß im Wort bestimmte Merkmale
der Gegenstände fixiert werden, damit »dies der Gegenstand und kein anderer
sei«1. Es ist aber ein langwieriger historischer Weg von vielen tausenden

1 Herder: Preisschrift über den Ursprung der Sprache, Werke, Stuttgart und Tü¬
bingen 1827, II S. 40.
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
58

Jahren nötig, um die konkret sinnlichen, unmittelbar gegebenen Kennzeichen


abzustreifen und den - oft weit vermittelten - Begriff eines Gegenstandes,
eines Komplexes, einer Aktion etc. in einem Wort festzuhalten. So kennen
die Einwohner des Bismarck-Archipel (Gasellen-Halbinsel) nicht das Wort,
den Begriff von schwarz. »Das Schwarze wird nach den verschiedenen Ge¬
genständen genannt, von denen man diese Farbe gewinnt, oder man nennt
einen Gegenstand schwarz, indem man ihn mit einem anderen vergleicht.« 1
Solche Vergleiche bieten die Krähe, die verkohlte Aleuriten-Nuß, der schwarze
Kot in den Sümpfen, die Farbe des verbrannten Harzes, der verkohlten
Blätter, der Betelnüsse etc. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß solche Aus¬
drücke viel näher zur unmittelbaren Wahrnehmung stehen, als unser ein¬
faches Wort schwarz, daß aber auch diese bereits über die Verschiedenheiten
der einzelnen Wahrnehmungen abstraktiv hinausgehend und analogisierend
sich in eine Richtung auf entferntere Synthesen bewegen.
Wie immer aber auch die Sprache sich entwickelt haben mag, sicher ist, daß
auf jeder beliebigen Stufe die damals vorhandene Sprache (Wort, Satz,
Syntax etc.) von den Menschen unmittelbar genommen wurde. Ist doch die
Entstehung der Sprache aus den Bedürfnissen der Arbeit gerade darum so
epochemachend, weil durch das Benennen von Gegenständen und Vorgängen
an sich komplizierte Lagen oder Prozesse zusammengefaßt, ihre einmaligen
Differenzen eliminiert, das Gemeinsame und Wesentliche an ihnen hervor¬
gehoben und fixiert werden; damit wird das praktische Kontinuieren einer
Errungenschaft, die Gewöhnung an sie, ihr Traditionwerden außerordentlich
gefördert. Andererseits unterscheidet sich dieses Fixieren von dem der Tiere
(ausschließlich mittels der unbedingten und bedingten Reflexe) dadurch, daß
es nicht zu einer unveränderlichen oder wenigstens schwer veränderlichen
physiologischen Eigenschaft erstarrt, sondern immer seinen prinzipiell be¬
wegenden und bewegten gesellschaftlichen Charakter bewahrt. Das beruht
darauf, daß die primitivste Fixierung der Gegenstände und Zusammenhänge
durch das Wort auch die Anschauungen und Vorstellungen auf ein begriff¬
liches Niveau erhebt. Dadurch entsteht allmählich ein In-Bewußtsein-Treten
der Dialektik von Erscheinung und Wesen; natürlich vorerst und lange Zeit
unbewußt, aber die niemals völlig starre Wortbedeutung, der Sinneswandel
der Wörter im Gebrauch, weist deutlich darauf hin, daß die gedankliche
Synthese und Verallgemeinerung sinnlicher Eigenschaften im Wort notwendig

1 Levy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker, Wien und Leipzig 1921, S. 145.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 59

einen - durch die gesellschaftliche Entwicklung bestimmten - fließenden


Charakter haben muß. Daß die Menschen sich unter neuen Bedingungen viel
rascher orientieren und umstellen können als selbst die höchstentwickelten
Tiere, beruht weitgehend auf einer derartigen praktisch durchgeführten wenn
auch oft unbewußten Handhabung der Dialektik von Erscheinung und Wesen
durch das Medium der festen, aber sich doch wandelnden Wortbedeutung. Wir
wissen zwar, wie zäh die Menschen oft an das Gewohnte, an das Traditionelle
gebunden sind; da aber diese Tendenzen zur Remanenz gesellschaftlichen und
nicht physiologischen Charakters sind, können und werden sie auch gesell¬
schaftlich überwunden werden. Wo solche Tendenzen außerordentlich stark sind,
zeigt sich immer, daß bestimmte ökonomisch-soziale Überreste einer in der
Hauptlinie überholten Formation sich - freilich mit mannigfachigen Verände¬
rungen - in der neuen doch erhalten haben. So z. B. bestimmte Elemente der feu¬
dalen Landwirtschaft in allen Ländern, die in der Kapitalisierung den »preußi¬
schen« und nicht den »amerikanischen« Weg eingeschlagen haben (Lenin).
Das ist natürlich bloß der allgemeine gesellschaftliche Untergrund für die
konservativen, traditionsbewahrend wirkenden Kräfte in der Sprache. Sie
haben eine so starke Wirkung auf die Menschen, weil sie sich zur Sprache -
obwohl diese ihrem Wesen nach ein System von immer komplizierteren Ver¬
mittlungen ist - notwendig unmittelbar verhalten. Die unerhörte Verein¬
fachung, die die Sprache in den Beziehungen der Menschen zur Welt und zu
einander hervorbringt, ihre vorwärtstreibende, kulturfördernde Funktion ist
mit diesem unmittelbaren Verhalten der einzelnen Subjekte zu ihr aufs
engste verbunden. Pawlow hat diese Lage mit allen in ihr vorhandenen Ge¬
fahren in den von uns angeführten Betrachtungen scharfsinnig ausgesprochen.
Damit erhält eine uralte Erfahrung ihre wissenschaftliche Formulierung.
Schon der Mephistopheles Goethes sagt in der Schülerszene:

Im ganzen - haltet euch an Worte!


Dann geht ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein.
. . . Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Witzig-ironisch stellt diesen Tatbestand der französische Dramatiker Francois


de Curel fest. In einem seiner Stücke beklagt sich eine Dame, daß ihr Mann
6o Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

sie nicht verstehe, daß sie deshalb mit einem Psychologen angebandelt habe.
Ihre Freundin, der sie dies gesteht, sagt: »Er wird deinen Leiden einen grie¬
chischen Namen geben.«
Die Sprache im Alltagsleben zeigt also den dialektischen Widerspruch: sie
schließt den Menschen eine unvergleichlich größere und reichere Außen- und
Innenwelt auf, als dies ohne sie auch nur vorstellbar wäre, d. h. sie macht die
eigentliche menschliche Um- und Innenwelt zugänglich; zugleich jedoch macht
sie ihnen oft die unbefangene Rezeption der Innen- und Außenwelt unmög¬
lich oder ersdiwert sie wenigstens. Diese Dialektik kompliziert sich noch
dadurch, daß es sich um eine Gleichzeitigkeit der eben geschilderten Erstar¬
rung mit einer Unbestimmtheit und Verworrenheit in der Sprache handelt.
Die wissenschaftliche Termionologie geht in erster Linie darauf aus, letztere
Tendenz zu überwinden. Es wäre aber einseitig und falsch, nicht zu sehen,
daß in ihr auch stets Bestrebungen obwalten, über die Schranke der Sprach-
erstarrung hinauszukommen. Freilich zeigt die Geschichte der Wissenschaft,
wie stark auch in ihr die Kräfte zur Remanenz sein können. Dies hängt in
erster Reihe mit der Entwicklung der Produktivkräfte und in ihrer Folge mit
der wissenschaftlichen Erforschbarkeit der objektiven Wirklichkeit zusammen.
Die dadurch entstehenden Grenzen des Wissens können oft zu jahrhunderte¬
langen Erstarrungen der wissenschaftlichen Begriffsbildung und darum auch
der wissenschaftlichen Sprache führen. Man denke etwa an das lange Zeit
fetischartig erstarrte Axiom vom »horror vacui« der Natur. Solche Schran¬
ken können aber auch durch die gesellschaftliche Struktur »künstlich« fixiert
werden (Herrschaft von Priesterkasten im Orient).
In alledem zeigt sich wieder die Wechselbeziehung zwischen Alltag und Wis¬
senschaft. Nur diesmal nicht von der positiven Seite, der fruchtbringenden
Differenzierung der wissenschaftlichen Einstellung, Sprache etc. für die Ge¬
samtentwicklung der Menschheit, des ebenfalls den Fortschritt fördernden
Einwirkens der wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse auf Denken und
Praxis des Alltags; sondern auch negativ kann die doppelte Schranke des All¬
tagsdenkens, polare Reproduktion von Verschwommenheit und Erstarrung
in die wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit und ihren sprach¬
lichen Ausdruck eindringen. Da die wissenschaftliche Betätigung auch
im Leben des bewußtesten und zielstrebigsten Gelehrten in seinen eigenen
Alltag eingebettet bleibt, da auch für ihn durch dessen Vermittlung die
Grundkräfte seiner sozialen Formation auf ihn einwirken, sind solche Ein¬
schläge des Alltagsdenkens und seines Ausdrucks in die Sprache der Wissen¬
schaft vollauf verständlich. Und obwohl wir uns hier noch nicht mit der
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 61

Eigenart der ästhetischen Widerspiegelung und ihren Ausdrucksformen be¬


schäftigen können, darf doch schon jetzt die Bemerkung gemacht werden, daß
die dichterische Sprache - in ihrer eigenen Weise, radikal anders als die
wissenschaftliche - ebenfalls die Tendenz hat, die beiden Pole des Alltags¬
lebens: Verschwommenheit und Erstarrung, zu überwinden. Diese Doppelt-
heit der Uberwindungstendenzen muß sowohl für Wissenschaft wie für Dich¬
tung unterstrichen werden; denn die Trennung der »Vermögen« in der
bürgerlichen Ideologie und Ästhetik kann hier sehr leicht zu einer falschen
»Arbeitsteilung« führen, wenn der Wissenschaft nur die Exaktheit, der
Dichtung bloß das Aufheben der Erstarrung zugeschrieben wird. In Wirk¬
lichkeit kann Wissenschaft die Verschwommenheit des Alltagsdenkens
und seiner Sprache nicht überwinden, ohne die Erstarrung durch Appell
an die Realität aufzulösen; und ebensowenig vermag die Dichtung
erfolgreich das starr Fixierte der Sprache fließend zu machen, wenn sie
nicht deren konturlose Unklarheiten - wieder durch Zurückgehen auf das
Wirkliche - exakt und eindeutig (in dichterischem Sinne) zu formen unter¬
nimmt.
Bei alledem ist nicht nur der Bruch mit den Kantischen »Seelenvermögen«
und ihrer genauen »Arbeitsteilung« wichtig, sondern zugleich das Zurück¬
greifen auf die Wirklichkeit selbst. Pawlows von uns zitierte Bemerkung
weist ja gerade auf diese Lockerung der Beziehung zur Wirklichkeit als oft
auftretendes und sich unvermeidlich immer wieder reproduzierendes Phäno¬
men des Alltagslebens hin. Ohne eine Unmasse von Gewöhnungen, Tradi¬
tionen, Konventionen etc. könnte sich dieses Leben nicht glatt abwickeln,
könnte sein Denken nicht so prompt, wie oft unbedingt nötig, auf die Außen¬
welt reagieren. Das positive, lebenserhaltende Element darf also in beiden
extremen - letzten Endes die Wirklichkeitsbeziehung hemmenden - Tenden¬
zen nicht übersehen werden. Zuletzt sind jedoch - und dies gehört zur
wesentlichen Dialektik des Alltagslebens und seines Denkens - Kritik und
Korrektur durch Wissenschaft und Kunst, die aus diesem Leben und Denken
herauswachsen und in Wechselwirkung damit stehen, für einen wesentlichen
Fortschritt unerläßlich, wenn sie auch nie zur endgültigen Liquidierung
von Erstarrung und Verfließen führen können.
In dieser dynamischen Struktur der Sprache des Alltags drückt sich jene
allgemeine Wesensart der gesellschaftlichen Entwicklung, der menschlichen
Praxis aus, auf welche wir in unserem Motto zu diesem Band anspielten.
Indem die Menschen allgemein im Alltagsleben und vor allem auf seinen
primitiven Stufen auf unmittelbare Lagen mit unmittelbaren Zielsetzungen
6z Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

reagierend handeln, bringen sie eine materiell-geistige Instrumentierung her¬


vor, die in sich mehr enthält, als die Menschen unmittelbar und bewußt in sie
hineingelegt haben, die deshalb von ihren unmittelbaren Aktionen so bewegt
wird, daß das in ihr bloß implicite vorhandene allmählich explicit wird, und
die Handlungen über das direkt Beabsichtigte hinausführt. Das stammt aus
der Wediselbeziehung von objektiver und subjektiver Dialektik. Die objek¬
tive Dialektik, deren Widerspiegelung die subjektive ist, muß deshalb immer
reicher und umfassender sein als diese. Ihre eigenen, subjektiv noch nicht
erfaßten Momente werden sehr oft in einer höherführenden, über die unmit¬
telbaren subjektiven Zielsetzungen hinausweisenden Art wirksam; freilich
oft in einer krisenhaften Form. Damit ist allerdings die Beziehung zwischen
objektiver Dialektik und ihrer subjektiven Widerspiegelung noch lange nicht
umschrieben. Die objektive Wirklichkeit erhielte einen mystischen Charakter,
wenn ihre Wirkung stets und bloß auf die fortschrittfördernden Momente
gerichtet wäre. Die oben geschilderten negativen Tendenzen sind ebenfalls
mit dieser Wechselbeziehung von objektiver und subjektiver Dialektik ver¬
knüpft. Die unmittelbare Verbindung der Praxis in der Wirklichkeit mit dem
im Augenblick des Handelns vorhandenen Widerspiegelungsbild der objek¬
tiven Wirklichkeit muß oft in der von uns geschilderten Weise hemmend
wirken. Die innere Logik dieser Sachlage bewirkt, daß - in der Trendlinie
ganzer Epochen - die Erkenntnis fördernden Tendenzen ein Übergewicht
erhalten; wo dies nicht geschieht, ist die betreffende Formation zum Nieder¬
gang oder Untergang verurteilt.
Leibniz hat die aus dieser Wechselwirkung entstehenden Folgeerscheinungen
für das menschliche Denken klarer als andere erfaßt. Hinter seiner Konzep¬
tion der »verworrenen Vorstellungen« steckt unter anderem auch das von uns
hervorgehobene Problem der unbewußt selbstgeschaffenen reicheren Instru¬
mentierung der menschlichen Betätigungsformen. In einer Polemik gegen
Bayle arbeitet er sowohl die Relativität, das Ineinanderübergehen der distink-
ten und verworrenen Gedanken, wie den wichtigen - mit der Lehre von den
»Seelenvermögen« brechenden - Gesichtspunkt heraus, daß beide ein Produkt
des ganzen Menschen sind. (Daß Leibniz hier die »Arbeitsteilung« von Kör¬
per und Seele verwirft, ändert nichts an der Bedeutung seiner Ausführung,
im Gegenteil.) Leibniz sagt: »Das Bedenken stammt vielleicht daher, daß
man geglaubt hat, die verworrenen Gedanken wären toto genere von den
distinkten verschieden, wohingegen sie nur wegen ihrer Vielfältigkeit in
geringerem Grade unterschieden und entwickelt sind. Man hat daher gewisse
Bewegungen, die man jnit Recht als unwillkürliche bezeichnete, so ausschließ-
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 63

lieh auf den Körper bezogen, daß man glaubte, es gäbe in der Seele nichts,
das ihnen entsprädie: und umgekehrt hat man wieder angenommen, daß
gewisse abstrakte Gedanken auf keine Weise im Körper sich widerspiegelten.
Es sind jedoch beide Annahmen irrtümlich, wie es meist bei dieser Art Unter¬
scheidungen der Fall zu sein pflegt, weil man hierbei nur auf das Augenfällige
geachtet hat. Auch die abstraktesten Gedanken bedürfen irgendeiner sinn¬
lichen Anschauung, und wenn man erwägt, was eigentlich die verworrenen
Gedanken sind - die stets auch unsere distinktesten begleiten, wie z. B. die
Empfindungen der Farben, Gerüche, Geschmäcke, Wärme, Kälte usw. - so
erkennt man, daß sie stets ein Unendliches einschließen und nicht nur die
Vorgänge in unserem Körper, sondern durch seine Vermittlung auch alle son¬
stigen Ereignisse ausdrücken.« 1 Für unser gegenwärtiges Problem der Sprache
folgt daraus die Anerkennung der Verallgemeinerung in jedem sprach¬
lichen Ausdruck, wie auch die dialektische Relativierung der Grade dieser
Verallgemeinerung im praktischen Gebrauch. »Die allgemeinen Ausdrücke«,
sagt Leibniz, »dienen nicht allein zur Vollkommenheit der Sprachen, sondern
sind sogar notwendig, um ihr Wesen herzustellen. Denn wenn man unter den
besonderen Dingen die individuellen Dinge versteht, so würde es unmöglich
sein zu sprechen, wenn es nur Eigennamen und keine Appellativa gäbe, d. h.
wenn es nur Worte für das Individuelle gäbe, da in jeden Augenblick Neues
wiederkehrt, wenn es sich um individuelle Zufälligkeit und besonders um
Handlungen handelt, welche man gerade am meisten bezeichnet; wenn man
aber unter den besonderen Dingen die niedrigsten Arten (species infimas)
versteht, so ist es außer der häufig vorkommenden Schwierigkeit, sie fest
zu bestimmen, auch offenbar, daß sie schon auf die Ähnlichkeit begrün¬
dete allgemeine Begriffe sind. Da es sich also nur um die größere oder
geringere Ähnlichkeit handelt, je nachdem man von Gattungen oder Arten
spricht, so ist es natürlich, jede Art von Ähnlichkeit oder Übereinstimmung
zu bezeichnen und folglich allgemeine Worte jeglichen Grades anzu¬
wenden ...« 2
Diese Darlegungen von Leibniz werfen nicht nur ein Licht auf das Problem
von Denken und Sprache, sondern weisen auch auf einen anderen wichtigen
Wesenszug des Alltagslebens hin: daß nämlich darin stets der ganze Mensch

1 Leibniz: Erwiderung auf die Einwände Bayles, Philosophische Werke, Leipzig


1906, II S. 394 f.
2 Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, III. Buch Kapi¬
tel I. a. a. O. III S. 272.
64 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

engagiert ist. Dies bringt uns wieder in Gegensatz zu der in der Geschichte
der Ästhetik sehr einflußreichen Lehre von den sogenannten »Seelenver-
mögen«. Schon die Hegelsche Philosophie und Ästhetik führte einen heftigen
Kampf gegen eine solche Zerstückelung des Menschen, gegen den »Seelen¬
sack«, wie Hegel selbst sagte. Dieser Kampf konnte indessen nicht konsequent
zu Ende geführt werden, denn die im Idealismus unvermeidliche Hierarchie
führte — auf anderer, höherer Ebene — ebenfalls zu einer Zerstückelung der
dialektischen Einheit des Menschen und seiner Betätigungen. Man denke an
die Koordination von Anschauung - Kunst, Vorstellung-Religion, Begriff -
Philosophie und ihre metaphysisch-hierarchischen Konsequenzen im System
Hegels. Erst der dialektische Materialismus statuiert durch die Priorität des
Seins vor dem Bewußtsein die methodologische Grundlage für eine einheit¬
liche und dialektische Auffassung des ganzen Menschen in seinen Aktionen
und Reaktionen auf die Außenwelt. Damit wird zugleich die vom metaphy¬
sischen Materialismus angenommene mechanische Art der Widerspiegelung
der Wirklichkeit überwunden. Die große Bedeutung der Pawlowschen Lehre
besteht gerade darin, daß sie den Weg eröffnet zum Begreifen sowohl der
materiellen Einheit aller Lebensäußerungen, wie der realen materiellen Ver¬
bindung des naturhaften, physiologischen Seins des Menschen mit seinem
gesellschaftlichen Sein (zweites Signal-System als Verbindung von Sprache und
Arbeit). Der dialektische Materialismus hat aber schon viel früher die orga¬
nische Zusammenarbeit aller menschlichen Fähigkeiten (»Seelenvermögen«)
in jeder menschlichen Betätigung erkannt. Allerdings nicht in der Form einer
problemlosen gegenseitigen Förderung, einer harmonia praestabilita, sondern
in ihrer realen Widersprüchlichkeit, wo die gesellschaftliche Praxis bestimmt,
ob und wie weit ein solches wechselseitiges Sich-Unterstützen entsteht oder ob
aus der Wohltat eine Plage wird. So sagt Lenin über den Erkenntnisprozeß:
»Das Herangehen des Verstandes (des Menschen) an das einzelne Ding,
die Anfertigung eines Abdruckes (= eines Begriffes) von ihm, ist kein
einfacher, unmittelbarer, spiegelartig-toter, sondern ein komplizierter, zwie¬
spältiger, zickzackartiger Akt, der die Möglichkeit in sich schließt, daß die
Phantasie dem Leben entschwebt; damit nicht genug: die Möglichkeit der
Verwandlung (und dabei einer unmerklichen, dem Menschen nicht bewußt
werdenden Verwandlung) des abstrakten Begriffes, der Idee in eine
Phantasie (in letzter Instanz = Gott). Denn auch in der einfachsten Ver¬
allgemeinerung, in der elementarsten allgemeinen Idee (>der Tisch< über¬
haupt) steckt ein gewisses Stückchen Phantasie. (Vice versa: es ist unsinnig,
die Rolle der Phantasie auch in der strengsten Wissenschaft zu leugnen: siehe
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 65

Pissarew über den nützlichen Traum als Ansporn zur Arbeit und über
die leere Träumerei)1.«
Die Tatsache, daß die Lehre von der metaphysischen Absonderung der
»Seelenvermögen« nicht ein einfacher Irrweg der Wissenschaft, der Fehler
einzelner Denker war, sondern die - freilich idealistisch oder vulgärmateriali¬
stisch verzerrte - Widerspiegelung bestimmter Seiten der Wirklichkeit oder
Etappen ihrer Entwicklung, kann an unserem Urteil über sie nichts ändern.
Es ist allerdings richtig, daß die kapitalistische Arbeitsteilung diese unmittel¬
bare Ganzheit des Menschen zerstört, daß die Grundtendenz der Arbeit im
Kapitalismus den Menschen von sich und seiner Tätigkeit entfremdet. Das
wird freilich durch die kapitalistische Ökonomie gedanklich verborgen, und
zwar wie Marx sehr fein gerade in bezug auf unser jetziges Problem bemerkt,
dadurch »daß sie nicht das unmittelbare Verhältnis zwischen den Arbeitern
(der Arbeit) und der Produktion betrachtet.« 2 Dadurch entsteht der polare
Gegensatz zwischen dem objektiven Produkt der Arbeit und zwischen ihren
seelisch-moralischen Folgen im sich selbst entfremdeten Arbeiter. Es wäre aber
ein Irrtum zu glauben, durch diese Entfremdung würde die Lehre von
den »Seelenvermögen« bestätigt. Die - scheinbare - Unabhängigkeit der
»Seelenvermögen« von einander, ja ihre offenkundig hervortretende Wider¬
sprüchlichkeit einander gegenüber ist allerdings eine wichtige Tatsache des
kapitalistischen Alltags. Sie ist seine unmittelbare Erscheinungsform in der
Seele der Menschen dieser Periode. Der metaphysische Charakter der auf
diesem Boden entstandenen philosophischen, psychologischen, anthropologi¬
schen etc. Theorien beruht darauf daß sie den zweifellos vorhandenen
unmittelbaren Tatbestand unkritisch, in seiner Unmittelbarkeit verabsolu¬
tieren. Unkritisch bedeutet nicht unbedingt ein einfaches Hinnehmen, was
freilich oft geschieht. Die Dialektik der Erscheinungsweise kann scharf¬
sinnig kritisiert werden und auf diesem Wege können sogar widitige Kultur¬
zusammenhänge aufgedeckt werden, wie das z. B. in Schillers Kunstphilo¬
sophie geschieht. Freilich fehlt in diesem Fall nicht eine wenigstens ahnungs¬
volle Einsicht in die gesellschaftlich-geschichtliche ursächliche Bedingtheit
einer solchen Verselbständigung und Widersprüchlichkeit der »Seelenver¬
mögen« und damit eine - wenn auch rückblickend-utopische — Sehnsucht nach

1 Lenin: Aus dem philosophischen Nachlaß, Wien-Berlin 1932, 2. Aufl. Berlin 1954,
S. 299.
2 Marx: ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA III S. 84 f.
66 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

dem einheitlichen und ganzen Menschen. Jedoch erst das volle Erhellen der
sozialen Gründe vermag den Menschen als Ganzheit, die Unzertrennbarkeit
seiner physischen und psychischen Kräfte begreiflich zu machen. Marx drückt
die Perversion, die in der Entfremdung zustandekommt, außerordentlich
drastisch aus: »Essen, Trinken und Zeugen etc. sind zwar auch echt mensch¬
liche Funktionen. In der Abstraktion aber, die sie von dem übrigen Umkreis
menschlicher Tätigkeit trennt und zu letzten und alleinigen Endzwecken
macht, sind sie tierisdi.« 1 Diese Wirkungen der kapitalistischen Arbeitsteilung
hat der junge Marx hier nur in bezug auf die Arbeiterklasse festgestellt. Sehr
bald darauf, schon in der »Heiligen Familie« 2, dehnt er ihre Geltung auf die
ganze bürgerliche Gesellschaft aus und erblickt einen entscheidenden ideolo¬
gischen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat gerade darin, wie sie
auf dieselben Tendenzen der Entfremdung entgegengesetzt — bejahend bzw.
verneinend — reagieren. Später verallgemeinert Engels diesen Tatbestand auf
alle Lebensäußerungen der bürgerlichen Gesellschaft 3.
Die Klassiker des Marxismus waren sich jedoch stets klar darüber, daß diese
Wirkung des kapitalistischen Unterbaus nur eine Seite der Totalität seiner
Ausstrahlungen umfaßt. Als letzte auf Ausbeutung basierte Gesellschaft, als
jene Gesellschaft, die nicht nur die materiell-ökonomischen Vorbedingungen
zum Sozialismus schafft, sondern auch ihren eigenen Totengräber hervor¬
bringt, muß sie innerhalb der den Menschen entstellenden und verzerrenden
Kräfte auch jene produzieren, die - freilich immer bewußter gegen sie selbst
gewendet - auf die Zukunft gerichtet sind. Schon in der »Heiligen Familie«
sieht, wie oben gezeigt, Marx diesen Gegensatz in der zufriedenen bzw.
empörten Reaktion auf die kapitalistische Entfremdung des Menschen von
sich selbst. Später umreißt er auch die Konturen jener ökonomischen Bestim¬
mungen, die dieser Empörung objektiv zu Grunde liegen, die sie gestalten,
ja notwendig machen, daß sie nicht unfruchtbar subjektiv bleibt, sondern
wirklich zur Umwälzung der Gesellschaft führt. In seiner Beurteilung
Ricardos sagt Marx darüber: »Ricardo betrachtet mit Recht, für seine Zeit,
die kapitalistische Produktion als die vorteilhafteste für die Produktion
überhaupt, als die vorteilhafteste zur Erzeugung des Reichtums. Er will die
Produktion der Produktion halber, und dieses mit Recht. Wollte man

1 Ebd. 86.
2 Marx: Die Heilige Familie, ebd. S. 206.
3 Engels: Antidühring, Moskau-Leningrad 1935, S. 304.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 67

behaupten, wie es sentimentale Gegner Ricardos getan haben, daß die Produk¬
tion nidit als solche der Zweck sei, so vergißt man, daß Produktion um der
Produktions halber nichts heißt, als Entwicklung der menschlichen Produktiv¬
kräfte, also Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbst¬
zweck ... Daß diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich
sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und gewis¬
ser Menschenklassen vollzieht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und
zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die
höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozeß
erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden, wird nicht ver¬
standen.« 1
Hier wird ein weiterer Grund sichtbar, warum wir keine philosophisch fun¬
dierte Analyse des Alltagslebens und des Alltagsdenkens besitzen. Diese
müßte nämlich, direkt oder indirekt, zu der von Marx umrissenen wider¬
spruchsvollen Doppeltheit des Alltagslebens im Kapitalismus irgendwie Stel¬
lung nehmen. Wobei es ohne weiteres klar ist, daß die Widersprüchlichkeit
des Alltags, die hier einen Kulminationspunkt erreicht, in sehr variierten
Formen sich auch in manchen früheren Formationen vorfindet und sicher
nicht mit der Expropriation und Vergesellschaftung der Produktionsmittel
sofort und automatisch zu existieren aufhört. Die mit dem Sozialismus ein¬
setzende Aufhebung des antagonistischen Charakters der hier auftretenden
Widersprüche und ihre Verwandlung in nicht mehr antagonistische ist eben¬
falls ein langwieriger, ungleichmäßiger Prozeß, der bestimmte Residuen, ja
Rückfälle keineswegs ausschließt. Da nun auch die abstrakteste erkenntnis¬
theoretische oder phänomenologische Untersuchung des Alltagsdenkens an
derartigen historischen Strukturwandlungen unmöglich Vorbeigehen kann,
wenn sie nicht - durch eine antihistorische Verabsolutierung - ihren eigenen
zu erkennenden Gegenstand inhaltlich und strukturell verfälschen will, muß
sie zu den hier angedeuteten historischen Grundphänomenen so oder so Stel¬
lung nehmen. Jede Stellungnahme involviert jedoch eine historische Betrach¬
tung der hier vorkommenden Erscheinungsweisen des kapitalistischen Alltags,
andererseits eine gewisse Einsicht in die wirkliche Richtung der gesamten
historischen Entwicklung. Sonst entsteht eine Verabsolutierung und Ideali¬
sierung von Vergangenheit oder Gegenwart oder von beiden, die sowohl
einen gleich falschen positiven als auch negativen Wertakzent haben können.

1 Marx: Theorien über den Mehrwert, Stuttgart 1921, II/i, S. 309 f.


68 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Marx sieht darin ein unvermeidliches und unüberwindliches Dilemma der


bürgerlichen Beurteilung dieser Sachlage, weil diese entweder das fortschritt¬
liche oder das entfremdende und entfremdete Moment des obenbezeichneten
Widerspruchs in Einseitigkeit erstarren läßt. Er sagt: »Auf frühen Stufen der
Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es eben die Fülle
seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige
gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächer¬
lich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich
ist der Glaube bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen.« 1 In
den Anfangszeiten der Entwicklung des bürgerlichen Denkens herrschte die
Tendenz, über die Bejahung des Fortschritts seine Widersprüchlichkeit zu
übersehen; schon vor Marx trat eine romantische Gegenbewegung, die Kritik
der Entfremdung mit einer Idealisierung primitiver Entwicklungsstufen ver¬
bunden auf und heute dominiert diese - offen oder versteckt - die sowieso
spärliche philosophische Beschäftigung mit dem Alltag und dem Alltags¬
denken.
Wenn wir hier eine kurze Übersicht darüber geben, wie bei Martin Heidegger
die Probleme des alltäglichen Verhaltens und des Alltagsdenkens in einer
verarmten und entstellten Form erscheinen, so werden sida vielleicht einige
dagegen wehren, daß er unter die romantischen Kritiker der kapitalistischen
Kultur eingereiht wird. Er grenzt die Alltäglichkeit entschieden von der
Primitivität ab: »Alltäglich deckt sich nicht mit Primitivität. Alltäglichkeit
ist vielmehr ein Seinsmodus des Daseins auch dann und gerade dann, wenn sich
das Dasein in einer hochentwickelten und differenzierten Kultur bewegt.« 2
Und auch in seinen konkreten Analysen fehlt ein bejahender Appell an
irgendeine konkret vergangene Periode (wie z. B. bei Gehlen an die »prä¬
magische«). Heideggers romantischer Antikapitalismus diffamiert »bloß«
phänomenologisch-ontologisch den Alltag der Gegenwart und sein Denken;
der Maßstab dieses Urteils steckt jedoch nicht in der Struktur einer bestimmten
vergangenen Periode, sondern in dem ontologisch-hierarchischen Abstand des
Seienden vom Sein, in seinem Abfall von ihm. Die geistige Basis des Verwer-
fens ist also nicht romantisch-historisch, sondern theologisch; es ist in der -
atheistisch gewendeten - irrationalistischen Gotteslehre Kierkegaards fun¬
diert.

1 Marx: Grundriß a. a. O. I. S. 8o.


2 Heidegger: Sein und Zeit, 5. Aufl. Halle 1941, S. 50.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 69

Die Stellung Heideggers zum Alltag ist bereits in seiner Terminologie sicht¬
bar. Wenn er die hier vorkommenden Dinge »das Zeug«, das »Wer?« dieser
Sphäre »das Man«, die häufigsten typischsten Verhaltungsarten »das Gerede«,
die »Zweideutigkeit«, das »Verfallen« etc. nennt, so mag er selbst die Illu¬
sion hegen, er gäbe hier nur eine objektive Beschreibung und kein gefühls¬
betontes Werturteil; objektiv handelt es sich bei ihm doch um eine Welt der
Uneigentlichkeit, der Verfallenheit, des Abfalls vom Eigentlichen. Heidegger
selbst nennt diese >Bewegtheit< des Daseins in seinem eigenen Sein den
Absturz. »Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosig-
keit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit. Dieser Sturz aber
bleibt ihm durch die öffentliche Ausgelegtheit verborgen, so zwar, daß er
ausgelegt wird als >Aufstieg< und >konkretes Leben.<«1 Und dies weiter aus¬
legend: »Das Phänomen des Verfallens gibt auch nicht so etwas wie eine
>Nachtansicht< des Daseins, eine ontisch vorkommende Eigenschaft, die zur
Ergänzung des harmlosen Aspekts dieses Seienden dienen mag. Das Verfallen
enthüllt eine wesenhafte ontologische Struktur des Daseins selbst, die so wenig
die Nachtseite bestimmt, als sie alle seine Tage in ihrer Alltäglichkeit kon¬
stituiert.« 2
Dieser tiefe Pessimismus, der den Alltag in eine Sphäre der hoffnungslosen
Verfallenheit, der Geworfenheit »in die Öffentlichkeit des Man« 3, »der Bo-
denlosigkeit des Geredes« 4 verwandelt, muß zugleich dessen Wesen und
Struktur verarmen und entstellen: wenn die Praxis des Alltags ihre dyna¬
mische Verbundenheit mit der Erkenntnis, mit der Wissenschaft - phänomeno¬
logisch-ontologisch - verliert, wenn diese nicht aus den Fragen, die jene stellt
entsteigt, wenn jene sich nicht ständig an den Ergebnissen, die diese hervor¬
bringen bereichert, durch diese breiter und tiefer wird, so verliert der
Alltag gerade seine echte Wesensart, das, was ihn zur Quelle und zur Mün¬
dung der Erkenntnis im menschlichen Handeln macht. Indem er von diesen
Wechselbeziehungen entleert wird, erscheint er bei Heidegger als ausschlie߬
lich von den den Menschen entstellenden Kräften der Entfremdung beherrscht.
Das andere, vorwärtstreibende Moment in der und trotz der Entfremdung
verschwindet aus der ontologischen »Peinigung« der Phänomene.
Denn es besteht auch hier zweifellos ein Zusammenhang zwischen Methodologie
und Weltanschauung. Heideggers Methode, wie die der Phänomenologie und

1 Ebd. S. 178. 3 Ebd. S. 167.


2 Ebd. S. 179. 4 Ebd. S. 169.
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

der aus ihr erwachsenen ontologischen Tendenzen, konzentriert sich darin,


jede Gegenständlichkeit und jedes Verhalten zu ihr auf die einfachsten und
allgemeinsten »Urformen« zu reduzieren, um auf diese Weise ihr tiefstes
Wesen - unabhängig von jeder gesellschaftlich-geschichtlichen Varietät - ein¬
deutig herauszuarbeiten. Da jedoch die intuitive »Wesenschau« ebenfalls ein
Fundament dieser Methodologie ausmacht, muß - bewußt oder unbewußt -
das subjektive Werturteil des jeweiligen Philosophen tief auf die Bestimmung
von Inhalt und Form der phänomenologisch oder ontologisch »gereinigten«
Gegenständlichkeit einwirken und die Beziehung zwischen Erscheinung und
Wesen verwirren. So erscheinen hier Phänomene des kapitalistischen Alltags
als ontologische Wesensbestimmungen des Seienden überhaupt. So auch in
Heideggers Deskription des Alltagslebens. Niemand wird leugnen, daß hier
ein leidenschaftlicher Versuch entstanden ist, bestimmte entscheidende Seiten
des Alltagslebens und -denkens konkreter als bis jetzt herauszuarbeiten; in
dieser Hinsicht geht Heidegger weit über den Stand dieses Problems bei den
Neukantianern hinaus. So macht er einen sehr interessanten Vorstoß in der
Richtung, die spezifische Verbundenheit von Theorie und Praxis im Alltags¬
leben zu erfassen. »In solchen gebrauchenden Umgang unterstellt sich das
Besorgen dem für das jeweilige Zeug konstitutiven Um-zu; je weniger das
Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so
ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es
als das, was es ist, als Zeug. Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische
>Handlichkeit< des Hammers... Der nur >theoretisch< hinsehende Blick auf
Dinge entbehrt des Verstehens von Zuhandenheit. Der gebrauchend-han-
tierende Umgang ist aber nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das
Hantieren führt und ihm seine spezifische Dinghaftigkeit verleiht.« 1
Ohne Frage ist hier etwas von der Grundstruktur des Alltagslebens und
-denkens, von der unmittelbaren Verbindung zwischen Theorie und Praxis er¬
faßt. Jedoch setzt die Konvergenz der formal-methodologischen Verein¬
fachung und des subjektiven (antikapitalistischen) Werturteils in der »Wesen¬
schau« einen überschroffen metaphysischen Kontrast zwischen das eigentliche
theoretische Verhalten und die »Theorie« in der Alltagspraxis an Stelle der
realen widerspruchsvollen Übergänge und Wechselwirkungen. Die auf diese
Weise vollzogene abstraktive Isolierung des Alltags, seine Reduktion auf
jene Momente, die ihm ausschließlich in einer derartigen künstlichen gedank-

1 Ebd. S. 69.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 7'

liehen Abgrenzung zuzukommen scheinen, bringt, wie eingangs hervorgehoben


wurde, eine Verarmung und Entstellung dieser ganzen Sphäre hervor. Eine
Verarmung, indem - bewußt methodologisch - übersehen wird, wie tief alle
Verhaltungsweisen des Alltags mit der gesamten Kultur und der kulturellen
Entwicklung der Menschheit Zusammenhängen; eine Entstellung, indem
dadurch die den Fortschritt verbreitende und seine Ergebnisse erfüllende
Rolle des Alltags gedanklich eliminiert wird.
Diese Andeutung der theoretischen Sackgasse, die bei Heidegger sichtbar wird,
soll für uns nur dazu dienen, den von uns eingeschlagenen Weg durch den
Vergleich mit dem anderen methodologisdi zu konkretisieren; wie in anderen
ähnlichen Fällen ist hier keine Auseinandersetzung mit der Lehre Heideggers
beabsichtigt. Wenn wir hier zu einem polemischen Exkurs gezwungen waren,
so haben wir uns selbstverständlich nicht die Aufgabe gestellt, den Komplex
der hier vorhandenen Tatbestände ausführlich zu analysieren. Sie mußten
hier nur angeführt werden, damit das Problem des ganzen Menschen im Alltag
(auch in der bürgerlichen Gesellschaft, ja vor allem in ihr) wahrheitsgemäß
geschildert werden könne. In erster Reihe kommt es auch hier darauf an, das
Verhältnis des Alltags und seines Denkens zum Verhalten des Menschen in
der wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeit vorläufig zu klären. Nur
vorläufig, denn mit der Trennung der Wissenschaft vom Alltagsleben werden
wir uns bald in einem besonderen Kapitel befassen; die künstlerische Produk¬
tivität und Rezeptivität jedoch, die uns später in Anspruch nehmen wird,
kann erst im zweiten Teil, nach Aufdeckung der Struktur des Kunstwerks,
wirklich adäquat erfaßt werden. Vorläufig und späteres vorwegnehmend
kann bloß gesagt werden, daß die Verhaltensart der Menschen wesentlich
von dem Objektivationsgrad ihrer Tätigkeit abhängt. Wo diese die
höchste Stufe erreichen, also in Wissenschaft und Kunst, bestimmen deren
objektiven Gesetze das menschliche Verhalten zu diesen von ihnen selbst
geschaffenen Gebilden. D.h. alle Fähigkeiten des Menschen erhalten ein-teils
instinktives, teils bewußtes, anerzogenes - Gerichtetsein auf die Erfüllung
dieser objektiven Gesetzmäßigkeiten. Will man solche Verhaltensarten rich¬
tig verstehen und sie sowohl in ihrem Zusammenhang mit dem Alltag, wie
in ihrem Unterschied und Gegensatz zum Alltagsverhalten richtig be¬
schreiben, so muß man sich stets vor Augen halten, daß es sich in beiden
Fällen um die Beziehung des ganzen Menschen, mag er noch so sehr sich ent¬
fremdet, verzerrt sein, zur objektiven Wirklichkeit, bzw. zu den diese wider¬
spiegelnden und vermittelnden gesellschaftlich-menschlichen Objektivationen
handelt. Die Wirkung der entwickelten und ausgebauten Objektivationen,
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
7Z

wie Wissenschaft und Kunst, äußert sich vor allem darin, daß die Kriterien
für Auswahl, Gruppierung, Intensität etc. der eingesetzten subjektiven Tätig¬
keiten viel genauer umgrenzt und determiniert sind, als in sonstigen Lebens¬
äußerungen. Natürlidi gibt es hier sehr abgestufte Übergänge, so insbesondere
in der Arbeit, die ja auch objektiv im Laufe der Geschichte viele Übergänge
zur Wissenschaft und zur Kunst aufweist.
Solche Objektivationen haben nicht nur ihre - freilich erst allmählich bewußt
gemachte - innere Gesetzmäßigkeit, sondern auch ein bestimmtes Medium,
durch welches allein die betreffende Objektivation produktiv wie rezeptiv
realisiert werden kann. (Man denke an die Rolle der Mathematik in den
exakten Wissenschaften, an die Visualität in den bildenden Künsten etc.) Wer
nicht durch dieses Medium hindurch den Weg zur Objektivation einschlägt,
muß gerade an ihren entscheidenden Problemen Vorbeigehen. Diese Tatsache
ist oft beobachtet worden, jedoch fast ebenso oft wurden aus ihr falsche
Folgerungen gezogen. Indem das Medium mit der Objektivation identifiziert
wurde (so bei Konrad Fiedler bei Behandlung der Visualität, worauf wir
später in konkreter gewordenen Gedankengängen ausführlich zurückkommen
werden), wurde einer Objektivationsgruppe - trotz modernisierten Varia¬
tionen - doch ein isoliertes »Seelenvermögen« zugeordnet und die bewegte
Dynamik der Totalität des menschlichen Seelenlebens vernachlässigt oder
vollständig beseitigt. Der wirkliche Tatbestand zeigt aber, daß, weil in der
Objektivation die Rolle des Mediums gerade darin besteht, Träger einer
Totalität von Empfindungen, Gedanken, Sachzusammenhängen etc. zu sein,
die Anpassung des subjektiven Verhaltens daran ebenfalls eine Synthese
solcher Elemente sein muß. Es ist also immer wieder der ganze Mensch, der
sich in einer solchen äußersten Spezialisierung ausdrückt, nur mit jener sehr
wichtigen dynamisch-strukturellen Veränderung (im Gegensatz zum Durch¬
schnittsfall des Alltags), daß seine einheitlich mobiliserten Eigenschaften sich
gewissermaßen in jener Spitze konzentrieren, die auf die von ihm inten-
tionierte Objektivation gerichtet ist. Wir werden deshalb, wo im folgenden
von diesem Verhalten die Rede sein wird, vom »Menschen ganz« (in bezug
auf eine bestimmte Objektivation) im Gegensatz zum ganzen Menschen
des Alltags sprechen, der sich, bildlich gesprochen, mit der ganzen Ober¬
fläche seiner Existenz der Wirklichkeit zuwendet. Für uns ist naturgemäß
das ästhetische Verhalten vor allem wichtig. Darum werden wir uns in späte¬
ren Zusammenhängen mit dem ästhetischen Unterschied des ganzen Men¬
schen und des »Menschen ganz« ausführlich beschäftigen. Da das wissen¬
schaftliche Verhalten uns vor allem als kontrastierende Bestimmung zum
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 73

ästhetischen interessiert, können wir uns dabei mit ganz allgemeinen Fest¬
stellungen begnügen.
Dieser Gegensatz mußte in seinen Extremen scharf herausgearbeitet werden.
Man darf aber dabei die unübersehbar abgeschatteten Übergänge nicht ver¬
nachlässigen. Es genügt nur an die Arbeit zu denken, in welcher, je vollkom¬
mener sie wird, desto mehr, eine gewisse Tendenz zur eben analysierten
Zuspitzung auf den »Menschen ganz« ebenfalls zustandekommt. Den Uber¬
gangscharakter schafft das nicht totale Wesen der meisten Arbeitsverrichtun¬
gen. Wo die Arbeit, wie im alten Handwerk, sich der Kunst annähert, nähert
sich auch das objektive Verhalten in ihr dem künstlerischen, wo die maximale
Rationalisierung hochentwickelt ist, zuweilen dem wissenschaftlichen an. Viele
Arten der Arbeit sind also in dieser Hinsicht Übergangserscheinungen, jedoch
so fundamental sie auch für das gesamte menschliche Leben sind, so umfassen
sie trotzdem nur einen Teil des Alltagslebens. Und in den übrigen Teilen muß
naturgemäß das andere, breitere, lässigere, weniger zielgerecht den Menschen
umgruppierende Prinzip überwiegen. Natürlich gibt es auch hier Ubergangs¬
formen; Spiel, Sport (indem sein Betreiben zu einem systematisierten Training
wird), Gespräch (indem es in sachliche Diskussion übergeht) etc. können sich
dauernd oder vorübergehend leicht dem Verhaltungstyp der Arbeit annähern.
Diese große Skala von überleitenden Nuancen schafft aber doch nicht die
Entgegengesetztheit der Extreme aus der Welt. Im Gegenteil. Wir glauben
gerade dadurch wird nicht nur die Notwendigkeit des Hinüberwachsens der
Verhaltensart des ganzen Menschen in die des »Menschen ganz« klargestellt,
sondern auch die Fundiertheit dieser in jener, ihre wechselseitige Befruchtung
und Höherentwicklung. Dabei bleibt jedoch der Unterschied, ja der Gegen¬
satz bestehen. Er gründet sich einerseits auf den mehr oder weniger totalen
Charakter der erstrebten Objektivation (von seinem fast vollständigen Fehlen
bis zur Vorherrschaft über das subjektive Verhalten), andererseits und im
engen Zusammenhang damit auf die mehr oder weniger unmittelbare Be¬
ziehung von Denken und Praxis. Man denke dabei an den Sport als einfache
Körperübung, wo diese Beziehung einen rein unmittelbaren Charakter haben
kann, wie im Spaziergang und an die komplizierten, oft sehr weitgestreckten
Vermittlungen, die im systematischen Training auftauchen.
Noch deutlicher tritt dieser Gegensatz hervor, wenn wir an die politisch¬
gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen denken. Lenin hat diese Tätigkeit in
seinem Werk »Was tun?« glänzend aufgedeckt. Seine Analysen sind für uns
umso wertvoller, weil sie auf die gesellschaftlich-politischen Formen und
Inhalte konzentriert sind und die hier behandelten Probleme nur nebenbei,
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
74

fast unbeabsichtigt streifen. Lenin zeigt in bezug auf die Spontaneität der
ökonomischen Bewegungen der Arbeiterklasse, daß ihnen gerade das Be¬
wußtsein der weiteren Zusammenhänge in der Gesellschaft, die über die
Unmittelbarkeit hinausweisenden Zielsetzungen fehlen; den spontan strei¬
kenden russischen Arbeitern vom Anfang des 20. Jahrhunderts fehlte - mußte
fehlen, sagt Lenin - »die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit
ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen
Regime« 1 d. h. die Einsicht in die weiteren notwendigen Folgen ihres eigenen
Tuns. Es bedarf, glauben wir, keiner ausführlichen Erörterung, um einzusehen:
die überwältigende Mehrheit der Handlungen im Alltagsleben, einerlei ob sie
individuelle oder kollektive Aktionen sind, haben eine ähnliche Struktur,
worin die von uns früher festgestellte unmittelbare Verbindung von Denken
und Praxis klar zur Geltung gelangt. Indem nun Lenin seine politisch-soziale
Kritik der Spontaneität dahin weiterführt, daß das richtige Bewußtsein den
spontan für ihre Interessen kämpfenden Arbeiter »nur von außen beigebracht
werden« kann, »d. h. außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der
Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern«2, also
außerhalb der unmittelbaren Umwelt, der unmittelbaren Zielsetzungen der
Arbeiter, spricht er für die uns jetzt beschäftigende Frage eine doppelt wich¬
tige Erkenntnis aus. Erstens daß zur Überwindung des Alltagslebens geistige
Kräfte, denkerische Verhaltungsarten vonnöten sind, .die qualitativ über den
Horizont des Alltagsdenkens hinausgehen. Zweitens, daß - wenn wie hier
von einer richtigen Orientierung für das praktische Handeln die Rede ist -
das Leninsche »von außen« die Welt der Wissenschaft bezeichnet.
Die hiermit gewonnene Einsicht in das Alltagsdenken scheint zu beweisen,
daß seine richtige Höherentwicklung, sein Geeignetmachen zur Erkenntnis
der objektiven Wirklidikeit nur auf Wegen der Wissenschaft, auf dem Wege
des Verlassens des Alltagsdenkens möglich ist. In einer welthistorischen Trend¬
linie gesehen, ist dem auch so. Es wäre aber eine vulgarisierende, wichtige
Tatsachen der Entwicklung verfälschende Abstraktion, daraus ein überall und
ausnahmslos funktionierendes Gesetz machen zu wollen. Allerdings stehen
oft - und in sehr wichtigen Fällen - wissenschaftliches und alltägliches Den¬
ken in dieser Weise einander gegenüber. Man denke an die Kopernikanische

1 Lenin: Was tun? Werke, Wien-Berlin 1929, IV/2, S. 159 = Werke Bd. 5, Berlin
1955» S. 385.
2 Ebd. 216 f. bzw. 436.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 75

Theorie und die (unmittelbar, subjektiv) unüberwindliche täglidie »Erfah¬


rung«, daß die Sonne »untergeht« etc.; wir benützen absichtlich den Ausdruck
unüberwindlich, weil dies die spontane Reaktion audi des gebildetesten
Astronomen als Mensch des Alltagslebens auf dieses Phänomen sein muß.
Damit ist jedoch der ganze Reichtum der Wirklidikeit, der Beziehung des
Alltagsdenkens, der Wissensdiaft (und Kunst) zu ihr längst nicht umschrieben.
Es kommen nicht selten Fälle vor, in denen das Alltagsdenken - mit Recht -
gegen gewisse Objektivationsweisen der Wissenschaft (und der Kunst) prote¬
stiert und mit seinem Protest letzten Endes durchdringt. Die Dialektik einer
soldien Widersprüchlichkeit zwisdien Alltag einerseits und Wissenschaft oder
Kunst andererseits ist stets eine gesellschaftlich-geschichtliche. Es sind immer
konkrete, historisch und sozial bedingte Lagen von denen aus das Alltags¬
denken dem der höheren Objektivationen gegenüber Recht behält oder umge¬
kehrt. Aber auch die eben skizzierte Lage darf nicht metaphysisch verab¬
solutiert werden. Der - letzten Endes - siegreidie Widerstand des Alltags¬
denkens gegen eine gewisse Wissenschaft (oder Kunst) kann nur die
Spontaneität und Unmittelbarkeit des Alltagslebens besitzen. Mit diesen
gegebenen Mitteln ist jedoch nur eine Negation, eine Ablehnung erreichbar.
Soll die mit den Bedürfnissen des Lebens nicht mehr zu vereinbarende Wis¬
senschaft (oder Kunst) wirklich überwunden werden, so muß aus einer solchen
spontanen Negation ein neuer Typus von Wissenschaft (oder Kunst) ent¬
stehen, d. h. der Boden des Alltagslebens muß wieder verlassen werden. Jede
Analyse solcher Tatbestände zeigt also, daß sowohl Zusammengehörigkeit wie
Verschiedenheit dieser Sphären nur bei Berücksichtigung der ununterbrochenen
Wechselwirkungen zwischen ihnen begriffen werden können. So weit Folge¬
erscheinungen solcher Art für die Kunst wichtig werden, können sie wegen
ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Konkretheit nur im historisch-materiali¬
stischen Teil der Ästhetik behandelt werden. Hier können wir nur auf jene -
notwendig abstrakt verbleibenden - Bestimmungen hinweisen, in denen der
allgemeinste Charakter der Widerspiegelung der Wirklichkeit sich im Alltag
äußert.
Es handelt sich - abgekürzt ausgedrückt - um das Phänomen des sogenannten
gesunden Menschenverstandes. An und für sich ist dieser eine bloße, zumeist
abstrakt bleibende Verallgemeinerung der Erfahrungen des Alltagslebens.
Da, wie wir bereits gezeigt haben und später ausführlich zeigen werden, die
Ergebnisse von Wissenschaft und Kunst kontinuierlich ins Alltagsleben und
ins Alltagsdenken einströmen, es bereichern, sind diese darin sehr oft mitent¬
halten, freilich zumeist nur so weit, als sie zu ständig wirksameren Elementen
76 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

der Praxis des Alltags geworden sind. Der Form nach haben solche Ver¬
allgemeinerungen in den meisten Fällen einen apodiktischen Charakter. Die
ganze lakonische Spruchweisheit der Völker drückt sich so aus. Sie stützen sich
auf keinen Beweis, da sie eben Zusammenfassungen oft uralter Erfahrungen,
Gewöhnungen, Traditionen, Sitten etc. sind. Und gerade diese ihre Form pflegt
sie in eine unmittelbare Richtschnur zum Pfandein zu verwandeln; schon ihre
Form widerspiegelt so den fürs Alltagsdenken typischen unmittelbaren Zu¬
sammenhang zwischen Theorie und Praxis.
Gerade darin äußert sich nun die oben angegebene Widersprüchlichkeit: ob
nämlich diese apodiktisch-lakonische Weisheit den komplizierteren Objek-
tivation von Wissenschaft und Kunst gegenüber zu Recht besteht oder nicht.
Obwohl wir hier auf die konkreten Probleme gesellschaftlich-geschichtlicher
Art nicht eingehen können, ist es leicht ersichtlich, daß die positive oder nega¬
tive Funktion des gesunden Menschenverstandes, auch der Volksweisheit, mit
dem Kampf des Alten und Neuen eng verbunden ist. Überall, wo das Abster¬
bende sich durch künstlich vermittelte, dem Leben entfremdete Gedanken¬
bauten, Gefühlskonventionen etc. gegen das Entstehende verteidigt, erlangt
der gesunde Menschenverstand oft die Funktion des Gassenjungen im An-
dersenschen Märchen, der ausruft: der Kaiser hat keine Kleider an. Tsdierni-
schewskijs Ästhetik hat das große Verdienst, gegen die künstlich über¬
spannten Ansprüche der gebildeten Klasse die echten Bedürfnisse des Volks
auszusprechen.1 Die Molieresche Dienstmagd ist der oberste Kritiker des
großen Komikers, die Ästhetik und Kunstphilosophie des späten Tolstoi stellt
den einfachen Bauern als obersten Richter zur Beurteilung der Richtigkeit oder
Falschheit der Produkte von Kunst und Wissenschaft auf.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß solche Verdikte in vielen Fällen von der
Geschichte bestätigt werden. Es ist aber ebenso sicher, daß sie nicht selten nur
eine spießbürgerliche Nörgelei großen Neuerungen gegenüber vorstellen. So
richtig die Tolstoische bäuerliche Verspottung der spiritistischen Mode in
»Früchte der Aufklärung« ist, so schief müssen seine Urteile - im Namen der ein¬
fachen Bauern - im Falle der Renaissance oder Shakespeare ausfallen. Schon
Schiller hat auf die Grenzen der Urteilskompetenz der Moliereschen Dienst¬
magd hingewiesen, und ich selbst habe im Anschluß an ihn versucht, diese ganze
Problematik der Kulturbewertung des späten Tolstoi aufzudecken 2.

1 Tschernischewskij: Ausgewählte Werke, Moskau 1953, S. 408 ff.


2 Lukacs: Der russische Realismus in der Weltliteratur, Berlin 1952, S. 257 ff.
Allgemeine Charakteristik des Alltagsdenkens 77

Dieser gesellschaftlich-geschichtliche Charakter der Erklärung einzelner sol¬


cher Fälle ändert nichts daran, daß hier auch allgemeinere Gesetzlichkeiten
zum Ausdruck kommen. Einerseits der Gegensatz einer abstrakt-idealistischen
Verallgemeinerung zu dem spontanen Materialismus des Alltagsdenkens, der
sich diesem gegenüber durchsetzt. Andererseits kann ein Gegensatz der dialek¬
tischen oder mechanistischen Widerspiegelung vorliegen. Und zwar sowohl
so, daß die spontane Dialektik des Alltags gegen metaphysische Theorien
recht behält, wie daß traditionsgemäße metaphysische »Weisheiten« des All¬
tags von neuen dialektischen Erklärungen widerlegt werden. Schon hier ist
sichtbar, daß diese Reaktionen des Alltagsdenkens auf Wissenschaft und Kunst
keineswegs eindeutig sind; weder kann man sie einfach als vorwärtsweisend
oder als rückschrittlich klassifizieren, noch jene Tendenzen stets dem Neuen,
diese dem Alten zuordnen. Denn z. B. kommen bei Tolstoi, wie Lenin über¬
zeugend gezeigt hat, sowohl Stimmen zum Ausdruck, die das Sein der primi¬
tiven, zum Untergang verurteilten Bauernschaft laut werden lassen, wie auch
solche, die - freilich auf dem Niveau des Alltags - die kommende Bauern¬
revolte gegen die feudalen Überreste verkünden b Die wirkliche Rolle des
gesunden Menschenverstandes, der Volksweisheit läßt sich also nur - mit
Hilfe des historischen Materialismus - durch Untersuchung der jeweiligen
konkreten historisch-sozialen Lage ergründen.
Hier können wir nur auf die erkenntnistheoretischen, auf die objektiv und
subjektiv allgemeinen dialektischen Grundlagen dieser unaufhebbaren Zwei¬
deutigkeit des Alltagsdenkens, der Widerspiegelung der Wirklichkeit in ihr
kurz hinweisen. Die Quelle dieser unaufhebbaren Zweideutigkeit ist wieder
die von uns hervorgehobene unmittelbare Beziehung der Theorie zur Praxis.
Denn einerseits müssen Theorie wie Praxis stets von der unmittelbaren Be¬
ziehung zur Wirklichkeit ausgehen, können nie daran Vorbeigehen, nie auf¬
hören, an diese zu appellieren. Sobald die höheren, komplizierteren, weil
vermittelterenObjektivationen der Wirklichkeit einer geistigen Inzucht ver¬
fallen, bedroht sie dieselbe Gefahr der der Kaiser bei Andersen erliegt. Ande¬
rerseits ist die wirkliche Fruchtbarkeit der richtigen Widerspiegelung der
Wirklichkeit und der aus ihr entspringenden Praxis nur dann gesichert,
wenn diese Unmittelbarkeit (im Hegelschen dreifachen Sinn von Vernichten,
Aufbewahren und Auf-höheres-Niveau-heben) aufgehoben wird. Es genügt
dabei auf die Leninsche Analyse der politischen Praxis hinzuweisen, sowie -

1 Lenin: Tolstoi im Spiegel des Marxismus, Wien-Berlin 1928, S. 57 f.



Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

als Gegenbeispiel - auf die die Entwicklung von Wissenschaft und Industrie
oft hemmenden Folgen der kapitalistischen Profitspontaneität, die Bernal
untersucht hat. Daß diese Widersprüchlichkeit nur konkret, nur historisch¬
sozial zur Lösung gebracht werden kann, ist - in abstrakt allgemeiner
Form - der genaue Ausdruck dafür, daß die höheren Objektivationen von
der Menschheitsentwicklung im Interesse der reicheren und tieferen Bewäl¬
tigung der konkreten Probleme des Alltagslebens hervorgebracht wurden,
daß ihre Selbständigkeit, ihre Eigengesetzlichkeit, ihr qualitatives sich Ab¬
heben von den Widerspiegelungsformen des Alltagslebens im Dienste dieses
selben Alltags stehen, daß sie also ihre Daseinsberechtigung sowohl dann ver¬
lieren, wenn diese Verbindung - freilich nicht für den Tag, sondern im histori¬
schen Maßstabe - verlorengeht, wie dann, wenn sie auf ihre Vermitteltheit
verzichten und sich der unmittelbaren Einheit von Theorie und Praxis im All¬
tag kritiklos anpassen. Diese Widersprüchlichkeit unterstreicht also, daß das
ununterbrochene Hinauf- und Herunterströmen von Alltag zu Wissenschaft
und Kunst und zurück zwangsläufig ist, eine Bedingung des Funktionierens,
des sich Vorwärtsbewegens aller drei Lebenssphären. Zweitens kommt in
dieser Widersprüchlichkeit auch zum Ausdruck, daß die Kriterien der Richtig¬
keit der Widerspiegelung vor allem inhaltlich sind, d. h. die Richtigkeit, die
Tiefe, der Reichtum etc. in der Übereinstimmung mit dem Original, mit der
objektiven Wirklichkeit selbst besteht. Dabei können formale Momente (Tra¬
dition etc. im Alltag, immanent methodologische Vollendung in Wissenschaft
und Kunst) nur eine sekundäre Rolle spielen; von wirklichen Kriterien los¬
gelöst heftet ihnen eine unaufhebbare Problematik an. Das bedeutet keine
Unterschätzung oder gar Anullierung der Formprobleme; diese können jedoch
nur bei Aufrechterhaltung der Priorität des Inhalts innerhalb ihrer Wechsel¬
wirkung richtig gestellt und gelöst werden.

II Prinzipien und Anfänge der Differenzierung

Wenn wir die bisher erreichten, noch sehr allgemeinen Ergebnisse unserer
Analyse vom Standpunkt der Entwicklung zusammenfassen, so sehen wir,
daß im Alltagsleben und Alltagsdenken immer mehr Vermittlungen, immer
reichere, kompliziertere und weiterhergeholte erscheinen und zwar doch in
der Form ihrer charakteristischen Unmittelbarkeit. Ja, wir haben ebenfalls
festgestellt, daß die Vorwärtsbewegung der Gesellschaft allmählich Objek-
tivationssysteme herausbildet, die zwar eine betonte Unabhängigkeit vom
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 79

Alltagsleben besitzen, jedoch mit ihm in ununterbrochenen, stets reicher wer¬


denden Wechselbeziehungen stehen, so daß wir unser eigenes Alltagsleben
ohne solche Objektivationen uns garnicht vorstellen könnten. (Dem Zweck
dieser Untersuchungen entsprechend haben wir uns nur mit Wissenschaft und
Kunst beschäftigt und haben die Objektivationen institutioneilen Charakters,
wie Staat, Rechtssystem, Partei, gesellschaftliche Organisationen etc. bewußt
vernachlässigt. Ihre Berücksichtigung hätte unsere Analysen allzusehr kom¬
pliziert, hätte aber am oben angegebenen Endergebnis nidits entscheidendes
geändert.)
Wenn wir uns nun um einen weiteren Schritt unserem eigentlichen Ziele, den
prinzipiellen Momenten der Trennung der uns interessierenden Objektiva¬
tionen vom gemeinsamen Boden der Alltagswirklichkeit, dem Prozeß ihres
Selbständigwerdens nähern, so stehen wir - was das Tatsachenmaterial be¬
trifft - vor unüberwindlichen Schwierigkeiten. Nicht nur, daß der Urzustand
der Menschheit, in welchem es noch keine Objektivationen geben konnte,
unbekannt ist; er muß im Sinne der dokumentarisch erforschbaren wissen¬
schaftlichen Erkenntnis für diese Frage auch ewig unbekannt bleiben. Alle
Tatsachen, die uns Ethnographie, Archäologie etc. darbieten können, beziehen
sich auf unvergleichlich entwickeltere Zustände. Und gerade der Charakter
des primitivsten Zustands macht es so gut wie unmöglich, daß sich in Zukunft
ein hinreichendes Material dieser Entwicklungsstufe vorfinde. Denn auch bei
weitaus höheren Stadien müssen uns die direkten Tatsadien fehlen; wir kön¬
nen weder die Entstehung der Sprache, noch die des Tanzes, der Musik, der
religiös magischen Überlieferungen, der gesellschaftlichen Sitten und Ge¬
bräuche konkret weiter zurückverfolgen als bis zu den uns bekannten primi¬
tivsten Völkern, die wie gesagt sdion weit über die Anfänge hinaus¬
gewachsen sind.
Unter solchen Umständen muß die Wissenschaft sich mit rekonstruierenden
Hypothesen begnügen und aushelfen. Für die Philosophie, die sich auf die
allgemeinsten Prinzipien des Entwicklungsganges beschränkt, bleibt ebenfalls
keine andere Methode übrig. Die dabei zu befolgende haben wir bereits
umrissen: die Anatomie des Menschen ist, wie Marx sagt, der Schlüssel zur
Anatomie des Affen; aus dem höheren Gesellschaftszustand muß der niedri¬
gere, aus dem er realiter entstanden ist, rekonstruierend erschlossen werden.
Die Methode der Rekonstruktion ihrerseits wird von jenen Entwicklungs¬
tendenzen, die in der von uns tatsächlich gekannten Geschichte hervorgetreten
sind, bestimmt. Solche haben wir in unseren bisherigen Betrachtungen bereits
hervorgehoben, sdion mit Andeutungen darüber, worin sich z. B. der Alltag
8o Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

des kapitalistischen Lebens von den früherer Formationen unterscheidet, usw.


Es taucht dabei natürlich die neue Schwierigkeit auf, daß die bürgerliche
Wissenschaft sehr oft teils beim bloßen Sammeln wenig geordneter Tatsachen
stehenbleibt, teils diese durch abenteuerlich-mystische, romantisch-antikapita¬
listische Hypothesen »ordnet« (z. B. »prälogisches Denken« bei Levy-Bruhl),
teils im Anschluß an die idealistische Philosophie nicht zugeben will, daß
auch die höheren Formen der Objektivationen, wie Wissenschaft, Kunst oder
Religion nicht nur eine Geschichte, sondern auch eine Entstehungsgeschichte
haben, daß es also Menschheitsstadien gab, in denen sie sich noch nicht vom
allgemeinen Grund des Alltagslebens losgelöst und eine eigene Objektivations-
form erlangt hatten. Wenn etwa Religion oder Kunst als dem Menschen
angeborene, von seinem Wesen nicht trennbare Betätigungen aufgefaßt
werden, kann naturgemäß die Frage nach ihrer Genesis gar nicht gestellt
werden. Diese ist aber, so glauben wir, von der Erkenntnis ihres Wesens
nicht zu trennen; das Wesen der Kunst läßt sich nidit von ihren Funktio¬
nen in der Gesellschaft sollösen und kann nur im engen Zusammenhang
mit ihrer Genesis, mit deren Voraussetzungen und Bedingungen behandelt
werden.
Das Ziel unseres Rekonstruierens ist also ein Gesellschaftszustand ohne
Objektivationen. Dieser Ausdruck bedarf freilich sogleich einer Einschrän¬
kung; es soll heißen: ein Gesellschaftszustand mit einem Minimum an Objek¬
tivationen. Denn die allerprimitivsten gesellschaftlichen Lebensäußerungen
der Menschen, vor allem seine wichtigsten Unterscheidungsmerkmale vom
Tier, Sprache und Arbeit besitzen bereits, wie gezeigt, bestimmte Züge der
Objektivation. Die wirkliche Genesis der Objektivationen müßte also die
Menschwerdung des Menschen umfassen, das allmähliche Entstehen von
Sprache und Arbeit. Abgesehen davon, daß dies gerade das Gebiet ist, wo
unsere Kenntnisse hoffnungslos minimal sind, ist seine Untersuchung für
unsere Zwecke auch nicht ausschlaggebend. Denn diese Arbeit wirft ja nicht
- die an sich philosophisch äußerst wichtige - Frage auf, was Objektivationen
überhaupt für das Menschwerden und Menschsein des Menschen bedeuten; sie
beschränkt sich vielmehr auf das Problem: wie sich aus jenem gemeinsamen
Boden menschlicher Betätigungen, Beziehungen, Äußerungen etc. die höheren
Formen der Objektivationen, vor allem Wissenschaft und Kunst zu einer
relativen Selbständigkeit losgelöst haben, wie ihre Objektivationsform jene
qualitative Eigenart erhalten hat, deren Dasein und Funktionieren für uns
heute eine selbstverständliche Lebenstatsache geworden ist. Daß dies nur in
doppelseitiger Wechselbeziehung mit der Alltagswirklichkeit vor sich gehen
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 81

kann, wurde bereits gezeigt. Deshalb suchen wir als Ausgangspunkt nicht die
Genesis der Objektivationen überhaupt, sondern bloß eine Entwicklungsstufe
mit einem Minimum an Objektivationen. (Wir haben bereits betont, daß wir
uns hier nicht mit Objektivationen institutionellen Charakters beschäftigen
werden; es ist aber klar, daß dieses Entwiddungsstadium auch Gebilde, wie
Staat, Recht etc. ebenfalls noch nicht gesdiaffen hat. Sitte, Gewohnheit etc.
also Formen des Alltagslebens erfüllten dort nodr ausschließlich die jenen
später zukommenden Funktionen.)
Eine solche schon etwas näher präzisierte Fragestellung bedeutet also, daß
die Probleme der Menschwerdung außerhalb unserer Betraditungen fallen.
Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß der ursprüngliche, im Selbst¬
werden begriffene Mensch von der Natur zur Verteidigung und zum Angriff
weniger ausgestattet war, als die meisten Tiere. Indem er sich eine Kultur
der Arbeit, der Werkzeuge schuf, hat sich auch dieses Wenige rückgebildet.
Gordon Childe sagt darüber: »Einige ganz frühzeitliche >Menschen< hatten in
der Tat weiterherausragende Eckzähne in höchst massiven Kiefern, die recht
gefährliche Waffen darstellten, aber beim modernen Menschen sind sie ver¬
schwunden und sein Gebiß bringt keine tödlichen Verwundungen bei1.«
Solche Tatsachen haben für uns die Bedeutung, daß auf der Stufe, die uns
interessiert, der biologisch-anthropologische Werdegang des Menschen bereits
abgesdilossen ist. Die Entwicklungslinien, die nunmehr in Betracht kommen,
sind wesentlich gesellschaftlichen Charakters. Natürlich lassen diese auch in
der körperlich-geistigen Beschaffenheit des Menschen Spuren zurück. Es han¬
delt sich dabei aber viel mehr um die Flöherentwicklung des zentralen Nerven¬
systems, als um eine Änderung der körperlichen Beschaffenheit im eigentlichen
Sinne. Auf die Fragen, die dabei auftauchen, werden wir später oft zurück¬
kommen müssen. Hier sei nur kurz darauf hingewiesen, daß Arbeit und
Sprache die menschlichen Sinne dahin entwickeln, daß diese, ohne eme phy¬
siologische Änderung oder Verbesserung, ohne ihre an sich vorhandene Unter¬
legenheit gewissen Tierarten gegenüber zu überwinden, für menschliche Zwecke
weitaus brauchbarer werden, als sie ursprünglich waren. Schon Engels hat
festgestellt: »Der Adler sieht viel weiter als der Mensdi, aber des Menschen
Auge sieht viel mehr an den Dingen als das des Adlers. Der Hund hat eine
weit feinere Spürnase als der Mensch, aber er unterscheidet nicht den hundert¬
sten Teil der Gerüche, die für diesen bestimmte Merkmale verschiedener Dinge

1 Gordon Childe: Stufen der Kultur, Stuttgart 1952, S. n.


82 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

sind. Und der Tastsinn der beim Affen kaum in seinen rohsten Anfängen
existiert, ist erst mit der Menschenhand selbst, durch die Arbeit herausgebildet
worden.« 1
Engels weist damit auf eine der wichtigsten Fragen der Widerspiegelungs¬
theorie: auf ihren nichtmechanischen Charakter. Ob und wie weit nämlich
die Widerspiegelung physiologisch tatsächlich eine Photokopie, eine mecha¬
nische Kopie der Außenwelt ist, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Daraus
jedoch, daß ihre Genauigkeit eine Existenzbedingung eines jeden Lebewesens
ist, daß die Unfähigkeit dazu es notwendig dem Untergang entgegenführen
müßte, darf nicht gefolgert werden, daß jede Widerspiegelung zwangsläufig
auf einer Stufe der bloßen Photokopie stehenbleiben muß, ja kann. Ebenso¬
wenig, daß die Differenzierung, das Hinausgehen über eine solche unmittel¬
bare Spiegelung der Wirklichkeit ausschließlich dem Denken zukäme, daß die
Auslegung, Analyse etc. des kopiehaft Wahrgenommenen allein befugt wäre,
die wesentlichen Zusammenhänge, Bestimmungen etc. herauszuarbeiten. In
Wirklichkeit ist dieser Prozeß viel komplizierter. Wenn Engels sagt, daß der
Mensch mehr an den Dingen wahrnimmt als der Adler, so handelt es sich
darum, daß sein Auge sich daran gewöhnt hat, aus der extensiv wie intensiv
unendlichen Erscheinungswelt bestimmte Merkmale der Gegenstände, ihrer
Zusammenhänge, etc. unmittelbar visuell zu erfassen. Es erfolgt also schon in
der Gesichtswahrnehmung eine Sichtung der widergespiegelten Außenwelt,
eine Auswahl: ein verschärfter Sinn für bestimmte Merkmale, ein mehr oder
weniger entschiedenes Vernachlässigen anderer, bis dahin, daß sie auch unmit¬
telbar überhaupt nicht wahrgenommen werden. Art, Grad etc. einer solchen
Auswahl ist gesellschaftlich-geschichtlich bedingt. Die Ausbildung von neuen
Wahrnehmungsfähigkeiten ist oft mit der Rückbildung anderer verknüpft.
Ja, die Sinne des Menschen stellen geradezu Fragen an die Außenwelt; man
denke an Akte wie Hinblicken, Hinhören, etc. Freilich wenn wir hier eine
mechanische »Arbeitsteilung« zwischen Sinnlichkeit und Verstand abgelehnt
haben, so soll damit nicht geleugnet werden, daß eine solche Beschaffenheit
der menschlichen Sinne nur durch Aufspeichern und Ordnen von Erfahrungen
(also auch durch Denken) Zustandekommen kann. Das ändert aber am Ergeb¬
nis: an der von Engels geschilderten Fähigkeit der Sinne, ihrer reicheren und
- was das Wesentliche betrifft - genaueren Aufnahmefähigkeit nichts. Die
Konkretisierung dieser Frage wird uns im Späteren wiederholt beschäftigen.

1 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 697.


Prinzipien und Anfänge der Differenzierung «3

(Daß dieser Entwicklung bereits die tierische vorgearbeitet hat, scheint uns
ziemlich sidier. Ihre Behandlung hat aber mit unseren Problemen nichts
zu tun.)
Die konkrete Rolle der Arbeit in diesem Prozeß besteht gerade darin, daß
eine Arbeitsteilung unter den menschlichen Sinnen zustandekommt. Das Auge
übernimmt die verschiedensten Wahrnehmungsfunktionen des Tastens, der
Hände, wodurch diese für die eigentliche Arbeit freigesetzt werden und sich
nun ihrerseits höher entwickeln, weiter differenzieren können. So sagt Gehlen:
»Das wichtigste Resultat der höchstverwickelten Kooperation der Tast- und
Sehwahrnehmung ist zunächst, daß die Sehwahrnehmung - und beim
Menschen allein - die Erfahrungen der Tastwahrnehmung mit übernimmt.
Die entscheidende Folge ist die doppelte: unsere Hand wird von Erfahrungs¬
leistungen entlastet, also frei zu eigentlichen Arbeitsleistungen und zum Ver¬
werten der entwickelten Erfahrungen. Und die gesamte Kontrolle der Welt
und unserer Handlungen wird in erster Linie von der Sehwahrnehmung über¬
nommen oder abgelöst.« 1 Diese Funktion kann das Auge nur dadurch über¬
nehmen, daß es lernt - im Sinne von Engels — in der visuell zugänglichen
objektiven Wirklichkeit solche Merkmale wahrzunehmen, die unmittelbar
und gewöhnlich außerhalb des Bereichs des »natürlichen« Sehens liegen.
Gehlen stellt mit Recht fest, daß dabei Eigenschaften wie Härte oder Weiche,
wie Gewicht etc. visuell wahrgenommen werden, daß man, um sie abzu¬
schätzen nicht mehr an das Tasten zu appellieren braucht. Und ebenso ergeht
es im Kontext der Anhäufung von Arbeitserfahrungen, im Laufe der Fixie¬
rung dieser Erfahrungen, ihres zur Gewohnheitwerdens in der Form von
bedingten Reflexen bei anderen Sinnen 2.
So wenig wir im Allgemeinen die einzelnen Stufen dieser Entwicklung konkret
verfolgen können, bei der Beziehung des primitivsten Menschen zu seinen
Werkzeugen ergeben sich doch deutlich drei Etappen. Zuerst werden Steine
von einer bestimmten Beschaffenheit für gewisse Verrichtungen ausgewählt,
um nach dem Gebrauch wieder weggeworfen zu werden. Später werden solche
zum Gebrauch geeigneten Steine (Faustkeil) nach ihrem Auffinden bereits
aufbewahrt. Es bedarf einer langen Entwicklung bis solche Steinwerkzeuge
bereits hergestellt werden, zuerst als Nachahmungen ihrer Vorgefundenen

1 Gehlen: Der Mensch, Bonn 1950, S. 201.


2 Ebd. 67 f. Daß Gehlen dabei von Symbolen etc. spricht, ändert nichts an der
Richtigkeit seiner Beobachtungen.
84
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

geeigneten Originale, und langsam und allmählich kommt es so zur Differen¬


zierung der Werkzeuge.1
Dieser Prozeß, der zugleich der des Zusammenwirkens der Menschen in der
Arbeit, der der Entstehung der kollektiven Arbeit ist, zeigt vor allem das
Anwachsen der Vermittlungen. Natürlich ist bereits auf der primitivsten
Stufe der Arbeit das Einschalten einer Vermittlung zwischen Bedürfnis und
Bedürfnisbefriedigung vorhanden. Sie ist jedoch noch mehr oder weniger
zufälligen Charakters. Das Zurüdeweichen der Zufälligkeit beginnt freilich
schon hier, denn die bloße, wenn auch provisorische, wieder fallengelassene
Auslese der geeigneten Werkzeuge hat bereits eine, obwohl höchst primitive,
mangelhafte, dem Zufall des Findens unterworfene Überwindung der Zufäl¬
ligkeit zur objektiven, anfangs freilich wenig bewußten Grundlage. Natürlich
wird damit, wie auch auf höchstentwickelter Stufe, keineswegs die objektive
Zufälligkeit in den Naturzusammenhängen aufgehoben. Es zeigt sich viel¬
mehr, daß die menschliche Erkenntnis, durch Arbeit mittels stufenweisem
Durchschauen der wichtigen Sachbestände allmählich zur Erkenntnis der ob¬
jektiven Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit durchdringt. Die Naturschranke der
unbekannten Gesetzlichkeit, die sich für das Subjekt als undurchdringliches
Dickicht der Ununterscheidbarkeit von Notwendigkeit und Zufälligkeit äußert,
beginnt sich - sehr langsam - zu lichten. Jedoch erst im seibstverfertigten
Werkzeug, in der Differenzierung der Werkzeuge je nach Arbeitsziel tritt
zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit die Tendenz, den Zufall zu
überwinden klar hervor, zeigt sich zum erstenmal die Freiheit als erkannte
Notwendigkeit 2. Allerdings auch hier nur auf dem Niveau des Alltagsden¬
kens. D. h. so, daß die Tendenz zum faktischen Überwinden der Zufälligkeit
in der Praxis verwirklicht wird, aber - gerade wegen der unmittelbaren Ver-
knüpftheit von Denken und Praxis im Alltag - ohne daß dieser Zusammen¬
hang als solcher bewußt werden müßte. Auch dazu ist eine höhere Stufe der
Verallgemeinerung der Erfahrungen, eine Erhebung über das Alltagsdenken
unerläßlich. Immerhin sind wenigstens die Keime solcher Verallgemeinerungen
da. Man könnte sagen: die Verallgemeinerung ist an sich da, als unbewußt
gebliebenes Bedürfnis; sie muß »nur« noch in ein erkanntes Für uns verwan¬
delt werden. A^ber dieses »Nur« bezeichnet oft Entwicklungen von Jahr¬
hunderten, Jahrtausenden. Die komplizierteren weltanschaulichen Folgen, die

1 Gordon Childe: a. a. O. S. 38 f.
2 Engels: Antidührung, a. a. O. S. 117 f. Hegel: Enzyclopädie, § 47. Zusatz.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung h

solche auch auf höheren Niveau sich wiederholenden Entwicklungen der


Zufälligkeit zur Notwendigkeit zeigen, werden wir später ausführlich
behandeln.
Hier muß in erster Linie der Zusammenhang der Vermittlungen mit diesem
Erkenntnisprozeß der objektiven Wirklichkeit hervorgehoben werden. Denn
erst dadurch entsteht jene besondere Unmittelbarkeit des menschlichen All¬
tagslebens, eine Unmittelbarkeit, deren Basis auch im primitivsten Stadium
der Menschheitsentwicklung das von den Menschen selbst entdeckte und
nachgebildete System von Vermittlungen vorstellt. Ernst Fischer hat sehr
richtig darauf hingewiesen, daß eine so wichtige, so elementar scheinende
Korrelation wie die Subjekt-Objekt-Beziehung in diesem Prozeß der Ent¬
wicklung der Arbeit entstanden ist. Seine Ausführungen scheinen uns so wich¬
tig, daß wir sie hier ausführlich zitieren müssen: »Durch den Gebrauch von
Werkzeugen, durch den kollektiven Arbeitsprozeß hat sich ein Lebewesen
aus der Natur herausgelöst, im vollen Sinne des Wortes berausgearbeitet;
zum erstenmal tritt ein Lebewesen, der Mensch, der gesamten Natur als tätiges
Subjekt gegenüber. Ehe der Mensch sich selber zum Subjekt wird, wird die
Natur ihm zum Objekt. Ein Naturgegenstand wird zum Objekt nur dadurch,
daß er zum Arbeitsgegenstand oder zum Arbeitsmittel wird; nur durch die
Arbeit entsteht eine Subjekt-Objekt-Beziehung. In jedem unmittelbaren,
unvermittelten Stoffwechsel kann man wohl kaum von einer solchen Be¬
ziehung sprechen; der Sauerstoff und Kohlenstoff sind im Prozeß der Assimi¬
lation und Dissimilation keineswegs Objekte der Pflanze, und auch in der
Vereinigung des Tieres mit seiner Beute, mit dem Stück Welt, das es frißt,
kann man bestenfalls ein erstes, flüchtiges Auf dämmern einer Subjekt-Objekt-
Beziehung feststellen; im Wesen unterscheidet sich dieser StoffWechsel nicht
von jedem anderen. Erst im vermittelten Stoffwechsel, im Arbeitsprozeß ent¬
steht eine echte Subjekt-Objekt-Beziehung, die Voraussetzung jedes Bewußt¬
seins ist. Die Loslösung aus der Natur, die Entfremdung und Subjektivierung
des Menschen vollzieht sich nur allmählich in einer langwierigen wider¬
spruchsvollen Entwicklung. Der werdende und auch noch der primitive Mensch
sind weitgehend naturverbunden, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt,
zwischen Mensch und Umwelt ist lange Zeit fließend, unbestimmt, unmar¬
kiert, und die strenge Scheidung von >Ich< und >Nicht-Ich< ist eine außer¬
ordentlich späte Form des menschlichen Bewußtseins.« 1

1 Ernst Fischer: Kunst und Menschheit, Wien 1949, S. 119 f.


86 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

All dies spiegelt sich in der Sprachentwicklung wider, wobei freilich zugleich
zu bemerken ist, daß es sich keineswegs um eine Passivität des bloßen Reflek¬
tiertwerdens handelt, daß die Sprachentwicklung vielmehr eine aktive Rolle
in diesem Prozeß spielt. Diese Aktivität gründet sich auf die Untrennbarkeit
von Sprache und Denken; die sprachliche Fixierung von Verallgemeinerungen
der Erfahrungen beim Arbeitsprozeß ist ein wichtiges Vehikel nicht nur für
ihre Aufbewahrung, sondern auch — gerade auf Grund des eindeutigen Fest¬
haltens — für ihre Höherentwicklung und Weiterentfaltung. Der wichtigste
Schritt in dieser Richtung ist der von der Vorstellung zum Begriff. Denn ohne
Frage haben bereits die höheren Tiere bestimmte, mehr oder weniger deut¬
liche Vorstellungen über ihre Umwelt. Aber erst mit dem sprachlichen Aus¬
druck wird das ausgedrückte, das fixierte Abbild der Gegenstände, Vorgänge
etc. der Außenwelt von seinem unmittelbar auslösenden objektiven Anlaß
abgehoben und allgemein verwendbar gemacht. Im einfachsten, konkretesten
Wort steckt bereits eine Abstraktion; es drückt ein Merkmal des Gegenstandes
aus, wodurch ein ganzer Komplex von Erscheinungen zur Einheit synthetisiert
oder sogar einer höheren Einheit subsumiert wird (was stets einen voran¬
gegangenen Prozeß der Analyse voraussetzt). Dadurch hat sich das einfachste,
das konkreteste Wort in einer ganz anderen Weise von der unmittelbaren
Gegenständlichkeit distanziert, als dies für die höchstentwickelte Vorstellung
der höheren Tiere möglich ist. Denn erst durch diese Erhöhung der Vorstel¬
lung auf das Niveau der Begriffe kann sich das Denken (die Sprache) über
die unmittelbare Reaktion auf die Außenwelt, über das bloß vorstellungs¬
mäßige Wiedererkennen zusammengehöriger Gegenstände, Gegenstands¬
komplexe erheben. Die — freilich relative — Freiheit des Plandelns, besser
gesagt die vernünftige Auswahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten be¬
deutet ein ständig bereichertes Beherrschen der objektiv vorhandenen Ver¬
mittlungen. Durch das Schaffen des Begriffs in Denken und Sprache verliert
die Reaktion auf die Außenwelt immer stärker ihre ursprüngliche, anla߬
gebundene, rein spontane Unmittelbarkeit. Dazu kommt, daß die Vorgänge
im Innenleben des auf die Umwelt so reagierenden Subjekts erst durch den
Begriff in ihrer Eigenart, in ihrer Besonderheit und Differenziertheit erkannt,
für das Subjekt bewußt gemacht werden können, wodurch erst die obengeschil¬
derte Subjekt-Objekt-Beziehung entsteht.
Die Genesis des Selbstbewußtseins setzt eine bestimmte Höhe des Be¬
wußtseins über die objektive Wirklichkeit bereits voraus und kann sich nur
im Prozeß, in Wechselwirkung mit diesem entfalten. Wenn wir aber diesen
Prozeß in seiner wahren Beschaffenheit begreifen wollen, dürfen wir nie ver-
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 87

gessen, daß das Alltagsleben, Übung und Gewohnheit in der Arbeit, Tradi¬
tion und Sitte im Zusammenleben und Zusammenwirken der Menschen,
Fixieren dieser Erfahrungen in der Sprache zugleidi dahin wirken: die eroberte
Welt der Vermittlungen in eine neue Welt der Unmittelbarkeit zu verwan¬
deln. Diese Tendenz ist einerseits die Wegeröffnung für die weitere Eroberung
der Wirklichkeit. Denn indem das bisher Errungene zum selbstverständlichen
Besitz wird, indem jene Anstrengungen, die dazu nötig waren, durch Gewöh¬
nung etc. diesen Charakter einer Unmittelbarkeit erhalten, entstehen neue
Zusammenstöße mit der noch nicht aufgehellten objektiven Wirklichkeit, mit
den subjektiven Anschauungen, Vorstellungen und Begriffen der Menschen,
tendenziell auf einem immer höheren Niveau; sie stimulieren zum Auf decken
von Zusammenhängen, von Gesetzlichkeiten, die bis dahin unbekannt ge¬
blieben sind. Hier entstehen Erfüllungen, die immer neue Bedürfnisse nicht
nur nach Ausbreitung, sondern nach Vertiefung und Verallgemeinerung
erwecken. Andererseits jedoch - und darin spielt die Sprache, ebenso wie im
oben erwähnten Komplex eine entscheidende Rolle - kann ein jedes Fixieren
bis zum Gewohnheitwerden eine konservierende, das Weiterschreiten hem¬
mende Funktion erhalten; wir erinnern nochmals an die Beobachtung Paw-
lows darüber, daß das zweite Signalsystem der Sprache auch eine schädliche
Entfernung des Menschen von der objektiven Wirklichkeit hervorbringen
kann, nämlich nicht bloß die unerläßliche Distanzierung von auslösenden
Anlaß, sondern auch ein Steckenbleiben bei der zur neuen Unmittelbarkeit
gewordenen, von den Gegenstandsbeziehungen relativ losgelösten Welt der
Sprache. Diese Dialektik liegt jedem Widerstreit zwischen Altem und Neuem
zugrunde, sowohl in Wissenschaft und Kunst wie im Alltag.
Die Sprache ist also gleichzeitig Spiegelbild und Vehikel solcher komplizierten,
widerspruchsvollen, ungleichmäßigen Entwicklungstendenzen in der mensch¬
lichen Herrschaft über die objektive Wirklichkeit. Bei aller Zickzackartigkeit
dieser Bewegungslinien sind aber die nach Vorwärts weisenden unzweifelhaft
die herrschenden, selbstredend nur im weltgeschichtlichen Maßstab. Denn die
Herrschaft des zweiten Signalsystems in Arbeit und Sprache macht aus der
bloßen Anpassung an ein gegebenes Naturmilieu bei den Tieren eine ununter¬
brochene, gesellschaftlich determinierte Umwandlung dieser Umwelt und mit
ihr der Struktur der wandelschaffenden Gesellschaft und ihrer Mitglieder.
In dieser Bewegung selbst, in der durch sie bedingten Reproduktion der Ge¬
sellschaft, ihrer Struktur auf einer höheren Stufenleiter ist das Prinzip der
Tendenz zur Höherentwicklung implicite enthalten (im Gegensatz zur im
wesentlichen stationären Reproduktion der Tierarten). Natürlich kann hier
88 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

nur von einer Tendenz die Rede sein. In der historischen Wirklichkeit gibt es
wiederholt Fälle der Erstarrung, des Niedergangs oder sogar des Untergangs.
Daraus folgt jedoch bloß eine Vielartigkeit und Ungleichmäßigkeit der gesell¬
schaftlich-geschichtlichen Entwicklung, keineswegs eine Ausschaltung der Ten¬
denz zur Höherentwicklung, und zwar auch in der Richtung auf qualitativ
Höheren als die Zustände des jeweiligen Ansatzes.
Ohne hier auf die Details der Sprachentwicklung auch nur andeutend ein-
gehen zu können, muß doch kurz bemerkt werden, daß die Entwicklung der
Sprache die oben geschilderte Doppelbewegung, das durch Verallgemeinerung
erreichte Überwinden der Schranken der jeweiligen Unmittelbarkeit und das
Rückverwandeln des so Erreichten in eine neue Unmittelbarkeit höherer
Potenz, umfassenderen, differenzierteren Charakters genau zum Ausdruck
bringt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die primitiven Sprachen
einerseits keine Gattungsbezeichnungen besitzen, andererseits und gleichzeitig
für jede Differenz in den Gegenständen und den Vorgängen eigene Ausdrücke
haben. Levy Bruhl bringt dafür zahlreiche Beispiele; wir führen nur eines an:
»In Nordamerika haben die Indianer eine Anzahl von Ausdrücken, deren
Genauigkeit man fast wissenschaftlich nennen könnte, für die verschiedene
Wolkenbildungen, für die charakteristischen Merkmale der Physiognomie des
Himmels, die gar nicht zu übersetzen sind. Man würde in den europäischen
Sprachen vergebens entsprechendes suchen. Die Gibbeways z. B. haben für die
Sonne, die zwischen zwei Wolken durchscheint, einen besonderen Namen . . .
Auch für die kleinen blauen Flecken, die man manchmal zwischen zwei
dunklen Wolkeln am Himmel sieht. - Die Klammath-Indianer haben kein
Gattungswort für Fuchs, Eichhörnchen, Schmetterling, Frosch; aber jede Art
von Füchsen etc. hat ihren besonderen Namen. Die Substantiva der Sprache
sind unübersehbar.« 1 So sind dual, trial, quadrial aus den etwickelteren Spra¬
chen allmählich ausgestorben; so haben - wieder nach Levy-Bruhl — die
Papuas der Kiwai-Insel für Wirkung eine ganze Reihe von Suffixen um die
Unterschiede auszudrücken, ob zwei auf viele, zwei auf drei, drei auf zwei in
Gegenwart oder Vergangenheit etc. diese ausüben 2.
Für uns ist an dieser Entwicklung bemerkenswert, daß derartige, Konkret¬
heiten widerspiegelnde Sprachformen immer mehr aus der Sprache ver¬
schwinden, um den viel allgemeineren Gattungswörtern den Platz zu über-

1 Levy Bruhl: a. a. O. S. 147.


2 Ebd. S. 119.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 89

lassen. Muß aber dadurch die Fähigkeit der Sprache, jeden konkreten Gegen¬
stand konkret zu bezeichnen, unmißverständlich erkennbar zu machen,
verloren gehen? Wir glauben, daß solche oft geäußerten romantischen Vor¬
stellungen dem Wesen nach falsch sind. Freilich verliert jedes Wort, je mehr es
sich einem Gattungsbegriff annähert, an sinnlich naher, unmittelbarer Kon¬
kretheit. Man vergesse aber nicht, daß in unserer sprachlichen Beziehung zur
Wirklichkeit der Satz eine immer größere Bedeutung erhält, daß kompli¬
zierte syntaktische Verbindungen der Worte immer stärker ihren Sinn im
konkreten Anwendungszusammenhang bestimmt, daß sich immer verfei¬
nerte Sprachmittel ausbilden, um konkrete Gegenstandsbeziehungen
durch das Verhältnis der Worte zueinander im Satze sinnfällig zu machen.
In dieser Sprachentwiddung spiegelt sich also der früher philosophisdi analy¬
sierte Prozeß des Hinausgehens über eine primitivere Unmittelbarkeit und
zugleich das Fixieren des Ergebnisses in einer neuen komplizierteren Unmit¬
telbarkeit. Dabei enthält die steigende Verallgemeinerung in den einzelnen
Wörtern, die Kompliziertheit der Verbindungen und Beziehungen im Satz¬
bau ohne Frage auch eine - unbewußte - Tendenz sich über die Unmittelbar¬
keit des Alltagsdenkens zu erheben.
Diese letztere Tendenz zeigt sich auch darin, daß die hier in ihren aller¬
gemeinsten Zügen geschilderte Sprachentwicklung unbewußt ist. Der
Ausdruck unbewußt bedarf unter den gegenwärtigen Verhältnissen einer
terminologischen Aufklärung. Es kann nicht die Absicht dieser Betrachtungen
sein, sich auf eine Polemik mit den wüsten Mystifikationen der sogenannten
»Tiefenpsydiologie« einzulassen. Diese verdunkeln das Wesen des Unbe¬
wußten auch dort, wo es wirklich vorhanden und wirksam ist. Denn es ist
sicher, daß eine große Reihe der Denkprozesse, der Empfindungsentwicklun¬
gen etc. nicht im wachen Bewußtsein der Menschen abläuft, daß außerordent¬
lich häufig nur die Ergebnisse nicht bewußter Bewegungen mehr oder weniger
plötzlich ins Bewußtsein treten. Es genügt auf Phänomene wie Einfälle, Ein¬
gebungen etc. hinzuweisen, um den unmittelbaren Tatbestand klar vor sich
zu haben. Viele moderne Psychologen und Philosophen sind auch bestrebt,
daraus, z. B. aus der sogenannten Intuition, unerlaubt weitgehende Konse¬
quenzen zu ziehen, vor allem durch eine starre Entgegensetzung von Intuition
und bewußtem Denken, wobei jene stets eine - erkenntnistheoretische -
Präponderanz erhält. Es wird aber dabei der innige Zusammenhang zwi¬
schen beiden außer Acht gelassen. Die Tatsache, daß die Intuition inhalts¬
gemäß eine bewußt angefangene Denkoperation abzuschließen pflegt, bietet
sich so dar, daß dem betreffenden Menschen die Zwischenglieder seines
9o Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

eigenen Denkens nicht bewußt werden; allerdings können diese, was den Ge¬
dankengehaltbetrifft, nachträglich immer bewußt gemacht werden. Diese und
ähnliche seelische Erscheinungen weisen deutlich darauf hin, daß der Ablauf
des Seelenlebens aus einer ununterbrochenen Wechselwirkung bewußter und
nicht bewußter Prozesse besteht. Sogar wenn wir sagen, daß etwas im Ge¬
dächtnis aufgespeichert vorliegt, handelt es sich nicht um ein mechanisches
Konservieren etwa früherer Gedanken. Diese unterliegen vielmehr einerseits
ununterbrochenen Wandlungen, Verschiebungen, Umfärbungen etc.; anderer¬
seits stehen 9ie dem Menschen sehr oft nicht automatisch, nach Belieben zur Ver-
fügung; man vergißt manchmal längst Erworbenes, gerade, wenn es am nötig¬
sten wäre, zuweilen tauchen ungewollt, ja das Gegenwärtige störend, in Ver¬
gessenheit geratene Erinnerungen auf etc. Alldies zeigt deutlich, daß im Gehirn
des Menschen und demzufolge in seinem Denken, Empfinden etc. sich Prozesse
abspielen, in denen bewußte und nicht bewußte Elemente und Tendenzen
ununterbrochen ineinander übergehen; ihre bewegte Einheit macht erst die
Totalität des seelischen Lebens aus. Die Gesetzmäßigkeit dieser Prozesse sind
noch weitgehend unerforscht, vor allem, weil die ihnen zugrundeliegenden
physiologischen Tatsachen nur höchst partiell aufgedeckt sind. Die Mythen,
die daraus entspringen, daß eventuell wichtige Teilmomente, wie z. B. die
Sexualität, als alles bewegende Kräfte fetischisiert und in einem metaphy¬
sischen Gegensatz zum bewußten Leben gebracht werden, können uns hier
nicht interessieren, da sie unsere Betrachtungen sehr wenig berühren. (Die
ästhetischen Folgerungen, die etwa aus Freuds oder Jungs Psychologie gezogen
werden, sind derart exzentrisch, unfundiert und abwegig, daß eine Diskussion
mit ihnen völlig unfruchtbar bleiben müßte.) Wir haben diesen Problem¬
komplex nur darum überhaupt gestreift, weil seine sachliche Wichtigkeit für
die Psychologie im allgemeinen sehr groß ist. Wir werden zwar später auf
bestimmte spezifisch psychologische Grundlagen des ästhetischen Verhaltens
näher eingehen müssen, diese haben aber mit dem Gegensatz bewußt-unbe¬
wußt wenig zu tun.
Wenn wir nun diesen Gegensatz vom Standpunkt unserer Probleme etwas
eingehender betrachten, so zeigt sich, daß der Begriff des Unbewußten mit
dem bisher ins Auge gefaßten wenig zu tun hat: es handelt sich für uns
primär um eine gesellschaftliche Kategorie, nicht um eine psychologische im
eigentlichen Sinne. Unter bewußter Produktion verstehen wir vor allem ein
inhaltliches Problem: ob und wieweit der jeweilige Inhalt des Bewußtseins
(und demzufolge auch seiner Formen) mit der objektiven Wirklichkeit über¬
einstimmen, ob und wieweit der Gegenstand und das Verhalten zu ihm vom
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 9i

Bewußtseins angemessen reproduziert worden ist. Der eigentliche Gegensatz


ist also weniger der von bewußt und unbewußt, eher das Verhältnis des
richtigen Bewußtseins zum falschen. (Wobei selbstredend, wie dies schon Hegel
in seiner »Phänomenologie« erkannt hat, dieser Gegensatz ein relativer, und
zwar, eine gesellschaftlich-geschichtlich relativierter ist.) Engels hat dies in
einem Brief an Franz Mehring sehr genau bestimmt: »Die Ideologie ist ein
Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird,
aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihm
bewegen, bleiben ihm unbekannt ... Er bildet sich also falsche oder schein¬
bare Triebkräfte ein.« 1 Das, was man heute sehr oft - und oft sehr »tiefsin¬
nig« - als unbewußt bezeichnet, vollzieht sich gerade psychologisch angesehen
zumeist bewußt, jedoch mit einem falschen Bewußtsein, d. h. der subjektiven
Bewußtheit über den unmittelbaren Vorgang entspricht ein objektiv falsches
Bewußtsein über den wirklichen Tatbestand, über die wahre Tragweite des¬
sen, was unmittelbar-praktisch vollzogen wurde. Die Unbewußtheit des Denkens
ist dementsprechend für uns ein historisch-soziales Phänomen. Es sind gesell¬
schaftlich-geschichtliche Motive, die darüber entscheiden, ob und wieweit ein
richtiges oder falsches Bewußtsein, d. h. eine bewußte oder unbewußte gesell¬
schaftliche Tätigkeit entsteht. Damit wird zugleich die Prozeßartigkeit dieses
Phänomens angedeutet. Prinzipiell kann in jedem falschen Bewußtsein -
historisch-sozial betrachtet - die Tendenz zu einem bloß noch nicht richtigen
Bewußtsein enthalten sein; es gibt natürlich auch Fälle in denen ein falsches
Bewußtsein notwendig in einer Sackgasse mündet. Die Entwicklung der
Menschheit verwandelt immer wieder im Laufe der Eroberung der Wirklich¬
keit Falschheiten in Richtigkeiten um. Freilich - und darin drückt sich die un¬
gleichmäßige, nicht evolutionär geradelinige, sondern widerspruchsvolle Ent¬
wicklung aus - wird zuweilen auch Richtiges in Falsches rückverwandelt, aller¬
dings meistens nicht im Sinne eines einfachen Restituierens der alten Falschheit,
sondern so, daß der ungleiche Fortschritt neue Irrungen in der Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit hervorbringt (Frühmittelalter und Antike).
Mit diesem Prozeß, dessen säkulares Wesenszeichen das Noch-nicht der Rich¬
tigkeit des Bewußtseins ist, in welchem das - relativ - Richtige gemeint und
intentioniert ist, wenn es auch nie wirklich erreicht wird, läuft parallel mit
dem schon öfter hervorgehobenen Fixieren der Erfahrungen, das seinerseits
bewußte Akte ununterbrochen zu spontan unbewußten macht. Das anfangs

1 Marx-Engels: Ausgewählte Briefe, Moskau-Leningrad 1934, S. 405.


92 Probleme der 'Widerspiegelung im Alltagsleben

Bewußte verwandelt sich, gerade dadurch, daß es zum Bestandteil der


alltäglichen gesellschaftlichen Praxis wird, zu einem nicht mehr Bewußten
(zweite reale Bedeutung des Unbewußten). Auch hier handelt es sich um
reale, feststellbare Tatsachen der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung,
keineswegs um eine »Sondermeinung« der Marxisten. Die moderne bürgerliche
Psychologie hat freilich die Tendenz, die Rolle der Bewußtheit in der mensch¬
lichen Praxis herabzusetzen und das dadurch entstandene Vakuum mit einem
mystifizierten »Unbewußten« zu bevölkern. Jene moderne Anthropologie
jedoch, die auf dem Boden der echten Tatsachen und ihrer unbefangenen
Analyse steht, protestiert dagegen. So z. B. Gehlen. Er kritisiert die Thesen
Deweys »von dem nur episodischen Charakter des Bewußtseins« und be¬
schreibt richtig die wirkliche Sachlage: »Ich denke dagegen, daß es bei Men¬
schen kein bewußtloses Dasein gibt, sondern nur bewußtlos gewordenes:
Gewohnheiten, die mühsam aus Widerständen herausentwickelt wurden, und
nun in die entscheidende neue Funktion eintreten, die Basis eines entlasteten,
höheren, aber wieder bewußten Verhaltens zu werden.« 1
Dazu muß noch bemerkt werden, daß diese Art von Unbewußtheit, die wir
mit dem Terminus »Gewöhnung« zu bezeichnen pflegen, keineswegs etwas
Angeborenes ist, sondern das Produkt einer langen, oft systematischen gesell¬
schaftlichen Praxis. Die Übung (das Training) ist zum Beispiel nichts anderes
als ein Verfahren, bestimmte Bewegungen, Verhaltungsweisen etc. so stark
einzuüben, daß sie, falls die objektive Wirklichkeit eine derartige Reaktion
erfordert, ohne jede bewußte Einstellung oder Anstrengung realisiert werden
können. Schon die Spiele der höheren Tiere, der Flugunterricht und die Flug¬
übungen junger Vögel zeigen eine solche Wesensart. Das Spiel der Kinder
unterscheidet sich von diesen darin, daß es auf eine derart gesteigerte Vari-
ierung der Bewegungen, Verhaltungsweisen etc. eingestellt ist, daß daraus
bereits ein qualitativer Unterschied entsteht. Man denke bloß an die so viel¬
fältigen, zur Gewohnheit gewordenen Reaktionsweisen, die den Komplex
der sogenannten guten Manieren ausmachen, obwohl deren Ziel ebenfalls das
Erreichen eines »unbewußten« gewohnheitsmäßigen Funktionierens im gesell¬
schaftlichen Leben ist.
Die Voraussetzung einer solchen Einübung ist, daß deren Subjekt sich »in
gesicherter und müheloser Lage« befindet 2. Das ist bei dem Tier nur in der

1 Gehlen: a. a. O. S. 154.
2 Ebd. S. 220.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 93

frühesten Jugend der Fall. Die größere Differenziertheit und Beweglidrkeit


der Gewöhnung, ihre potentielle Anpassung an versdiiedene und unerwartet
wechselnde neue Situationen untersdieidet vor allem die Frühentwicklung
des Kindes von der des jungen Tieres. Damit wird aber auch die Fähigkeit des
Neuzulernens im zentralen Nervensystem ausgebildet. Die später entstehen¬
den Gewohnheiten werden vom Arbeitsprozeß, von den verschiedenen For¬
men des mensdilichen Zusammenlebens, von der Schule etc. geschaffen. Ein
Teil davon fixiert bloß Gewohnheiten, als nicht mehr bewußte Grundlagen
des Handelns für Reaktionsarten, die bereits zum Gemeingut des Menschen-
gesdrlechts geworden sind. (Bei den in Freiheit lebenden Tieren ist dies die
Regel; vom Niveauunterschied brauchen wir nicht mehr zu reden.) Teils
handelt es sich aber um das zur-Gewohnheit-machen neuer, zumindest gestei¬
gerter Fähigkeiten des Menschen. Der Arbeitsprozeß macht nicht nur ein
bereits errungenes Niveau zur Gewöhnung, sondern schafft zugleich im arbei¬
tenden Menschen die Bedingungen sein Niveau zu erhöhen; das Trainieren
im Sport, das Üben in verschiedenen Künsten haben eine derartige Tendenz.
(Diese letzteren haben keine Analogie bei den Tieren; nur unter besonderen
Umständen kann bei höheren Haustieren etwas entfernt Ähnliches entstehen,
aber auch den sich hier zeigenden Ansätzen sind so deutliche Schranken
gezogen, daß der Unterschied entscheidender bleiben muß als die Konvergenz.)
Ohne hier auf die Frage dieser Form des »Unbewußten« näher eingehen zu
können, sei nur kurz bemerkt, daß in der Regel eine Verhaltensweise durch
Gewöhnung, Übung etc. darum unbewußt wird, um dem Bewußtsein einen
freieren Spielraum in entscheidenden Fragenkomplexen zu geben; so dient die
Gewöhnung durch Training im Sport dazu, daß der betreffende Mensch im
Wettbewerb sein Bewußtsein ausschließlich auf die richtige Taktik für den
Erfolg konzentrieren kann etc. Mit dem »Unbewußtwerden« wird also der
Spielraum der Bewußtheit nicht eingeengt, sondern vielmehr erweitert.
(Daß auch hier jene allgemeine dialektische Widersprüchlidikeit wirksam ist,
nach welcher die Gewöhnung - etwa zur starren Routine geworden - die
bewußte Weiterentwicklung hemmt und nicht fördert, ist selbstverständlich.)
Um nun auch bei diesem zweiten Typus des »Unbewußten« zur Frage des
richtigen und des falschen Bewußtseins zurüdtzukehren, muß gesagt werden,
daß die oben angedeutete Dialektik des Richtigen und Falschen sich selbst¬
redend auch auf diesen zweiten Prozeß bezieht. Das Festhalten des einst
bewußt Eroberten durch Einübung, Gewöhnung Tradition etc. kann abstrakt
angesehen falsche Feststellungen und Begründungen ebenso fixieren, wie rich¬
tige. Dabei muß freilich die Relativität der Einzelvorgänge und die Haupt-
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben
94

linie der Fortschrittlichkeit des Ganzen stets im Auge gehalten werden; wenn
eine menschliche Gemeinschaft über die Wirklichkeit ausschließlich falsche
Vorstellungen hätte, würde sie unfehlbar rasch zugrundegehen. Jedes falsche
Bewußtsein muß mithin auch gewisse Elemente der Richtigkeit enthalten, auf
primitivster Stufe stärker in der Widerspiegelung der Gegenstände, Vorgänge
und Verknüpfungen selbst, als im Versuch, sie zu erklären, auf den Begriff
zu bringen, ihre Gesetzlichkeit zu erfassen.
All dies erhellt, daß das Moment der Unbewußtheit im Alltagsleben
der Haupttendenz nach stärker zu sein pflegt, als etwa in der Wissen¬
schaft. (Obwohl - ideologisch angesehen - keine entwickelte wissenschaftliche
Arbeit möglich ist ohne »Unbewußtmachen« einer ganzen Reihe von tech¬
nischen Ffilfsmaßnahmen.) Die spontan unmittelbare »Unbewußtheit« des
Alltagslebens - sie dominiert im zweiten hier beschriebenen Prozeß - ist also
als solche ein gesellschaftliches Phänomen. Den auslösenden Anlaß mögen in
unzähligen Fällen psychologisch klar bewußte individuelle Akte bilden,
indem sie jedoch zum allgemeinen gesellschaftlichen Besitz werden, werden sie
im oben angegebenen gesellschaftlichen Sinn unbewußt, und zwar nicht nur
vom Standpunkt der allgemein gesellschaftlichen Praxis, sondern auch von
dem der einzelnen Individuen, die sie nunmehr vollbringen. Diese Feststel¬
lungen beziehen sich in prägnanter Weise auf die Sprache gerade wegen ihres
gesamtgesellschaftlichen Charakters. Die Unbewußtheit der Sprachentwick¬
lung (in beiden hier angedeuteten Bedeutungen) zeigt sich am deutlichsten,
wenn die Umgangssprache, die Sprache im eigentlichen Sinn, mit spezifischen
Arten ihres Gebrauchs, z. B. mit einer wissenschaftlichen Terminologie ver¬
glichen wird. Natürlich bildet diese streng genommen keine eigene Sprache;
sie ist in der allgemeinen Syntax und im generellen Wortschatz fundiert, von
diesen getragen, die bewußte Neubildung bezieht sich auf enge Intermundien
innerhalb der eigentlichen Sprache. Jedoch ist die Entwicklungsart eines sol¬
chen partiellen Ausschnitts auch geeignet Unmittelbarkeit und Spontaneität
der eigentlichen Sprachentwicklung zu beleuchten. Ihre Befruchtung z. B.
durch einzelne Dichter beweist nichts dagegen; denn so weit eine allgemeine
Aneignung erfolgt, unterscheidet sie sich in nichts von der normalen und all¬
täglichen. Es zeigt sich bloß, was wir auf anderen Gebieten bereits angedeu¬
tet haben, daß die Sphären der ausgesprochenen Objektivationen sich auch
in ihrer Entstehungs- und Wirkungsweise von denen des Alltags abheben,
ihre Spontaneität überwinden. Dabei bleibt - mit bestimmten Modifikatio¬
nen - der Zusammenhang und Gegensatz von richtigem und falschem Be¬
wußtsein auch hier in Geltung.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 95

Damit ist jedoch, wie wir ebenfalls zu zeigen versucht haben, der gemein¬
same Boden keineswegs annulliert. Wir können dies wieder in der Haupt¬
funktion der Sprache, im Benennen der äußeren und inneren Gegenstände
deutlich sehen. Wieder erwachsen Bedürfnis und Erfüllung ursprünglich
aus dem Arbeitsprozeß. Wenn Engels über die Entstehung der Sprache rich¬
tig sagt: »Die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu
sagen hatten« x, so ist dieser zu sagende Inhalt ohne Frage primär aus dem
Arbeitsprozeß herausgewachsen; erst hier wird sowohl für Gegenstand wie
für Handlungsweise aus der bloßen Vorstellung ein Begriff und dieser kann
nur dann im Bewußtsein festgehalten werden, wenn er einen Namen erhält.
Dadurch, daß die Sprache auch den Anschauungen und Vorstellungen Namen
gibt, erhebt sie auch diese auf ein höheres Niveau der Bestimmtheit und
Eindeutigkeit, als ihr Vorkommen bei den höheren Tieren erreichen kann.
Anschauung und Vorstellung in steter dialektischer Beziehung zum Begriff,
im ständigen Aufstieg zu ihm und Abstieg von ihm, müssen etwas qualitativ
anderes werden, als sie ursprünglich ohne diese Bewegung waren. Man kann
deshalb die Bedeutung des Benennens für das geistige Leben der Menschen
nicht hoch genug schätzen: es reißt das Neue vehement aus dem bisherigen
Dunkel in die Bewußtheit. Und auch wenn das benennende Wort durch
Gewöhnung fixiert wird, wenn sein Gebrauch deshalb den Schock des Be-
wußtwerdens verliert, wenn die allmähliche Eroberung der Wirklichkeit
durch die - in unserem Sinne unbewußt wirksam gewordene - gesellschaft¬
liche Bewußtheit weit fortgeschritten ist, bleibt freilich mit sehr geändertem,
herabgemindertern Gefühlsakzent etwas von dieser frühen Schockartigkeit
des Benennens aufbewahrt. Darauf, daß die Dichtung ununterbrochen mit
der Erschütterung der richtigen Namensgebung arbeitet, kommen wir in
konkreteren Zusammenhängen später noch ausführlich zurück. Hier sei nur
darauf hingewiesen, daß es sich dabei, je entwickelter die Zustände sind
desto seltener einfach um die Benennung unbekannter Gegenstände oder
objektiver Zusammenhänge handelt, sondern zumeist darum, daß die Be¬
ziehungen der Menschen zu den Gegenständen etc. ihrer Umwelt, die durch
Gewohnheit selbstverständlich, in bewußter Weise unmerklich geworden
sind, durch die Dichtung »plötzlich« in neuer Beleuchtung, in einem neuen
gegenständlichen Verhältnis zum Menschen erscheinen. Das Benennen wächst
und schlägt oft unmerklich in Bestimmung um. Diese Struktur ist an sich schon

1 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 696.


96 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

im primitiven Benennen implicite enthalten, erlangt jedoch mit der bewußt¬


seinsmäßig immer größeren Eroberung der Wirklichkeit qualitativ neue
Nuancen. Ein solches »Plötzlich« erhält durch die dichterische Sprache eine
oft schockartige Wirkung, dahinter steckt jedoch so gut wie immer ein
Kampf des Alten mit dem Neuen, das unerwartete Bewußtwerden von bis
dahin kapillarisch sich entwickelnden neuen Beziehungen der Menschen zu
ihrer gesellschaftlich-geschichtlich verwandelten Umwelt. Hinter jeder sol¬
chen Formwirkung steht also ein Moment der inhaltlichen Veränderung als
deren entscheidende Substanz. Darum müssen solche Effekte naturgemäß
auch im Alltagsleben auftauchen; sie bilden die inhaltliche Grundlage für
solche dichterische Ausdrucksweisen. Tolstoi beschreibt einen solchen Fall
sehr schön in »Anna Karenina«. Konstantin Levin gibt im Gespräch eine für
seine Partnerin überraschende Definition der neueren französischen Malerei.
Anna lacht und sagt: »Ich lache, wie man lacht, wenn man ein sehr ähnliches
Bildnis erblickt.«
Liier ist sowohl das Fortleben der Wichtigkeit der Benennung sichtbar, wie
zugleich die praktische und deshalb gefühlsmäßige Abschwächung ihrer
Wirkung. Bei den Griechen war dieser Zusammenhang noch viel stärker
vorhanden (man denke an Platons »Kratylos«). Bei den primitiven Völkern,
wo dieser Akt die erste Eroberung der Wirklichkeit nicht nur begleitet und
zum Ausdruck bringt, sondern unmittelbar mitenthält, müssen die Gefühls¬
akzente qualitativ mächtiger werden. Und noch darüber hinaus - da, je
primitiver eine Gesellschaft ist, desto weniger in ihr Objektivationen ent¬
wickelt sein können - kann sich die mit der Benennung gewonnene neue
Erkenntnis der Wirklichkeit nicht in ein längst ausgebildetes und erprobtes
Objektivationssystem organisch einfügen. Bei der gesellschaftlich-vitalen
Notwendigkeit, nicht bei der Benennung von Einzelkomplexen stehen¬
zubleiben, sondern diese mit einander in Zusammenhang zu bringen, müs¬
sen bereits auch auf sehr anfänglichen Stufen gewisse Objektivationssysteme,
die auch diese Funktion erfüllen, Zustandekommen. Negativ sind diese durch
innere Dürftigkeit und äußerst mangelhafte Fundiertheit in der Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit charakterisiert. Positiv dadurch, daß sie die
Gefühlsbetontheit jenes Schocks, den die Benennung hervorruft, mit allen
geistigen Folgen in sich aufnehmen müssen. Daher die so stark betonte Rolle,
die die Namensgebung auf der magischen Entwicklungsstufe der Menschheit
spielt. Gordon Childe beschreibt sie wie folgt: »Es ist ein sowohl bei den
heutigen halbzivilisierten wie bei den Kulturvölkern des Altertums allge¬
mein gültiger Grundgedanke der Magie, daß der Name eines Dinges in
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 97

geheimnisvoller Weise dem Ding selbst gleichwertig ist; in der sumerischen


Mythologie >erschaffen< die Götter ein Ding, indem sie seinen Namen aus¬
sprechen. Den Namen eines Dinges zu wissen bedeutet daher für den Magier
so viel wie Macht über dieses Ding zu besitzen — mit anderen Worten, so
viel wie >seine Natur zu kennen< . . . Die sumerischen Wörterbücher haben
dementsprechend womöglich nicht nur als Wörterbücher mittelbar einen
nützlichen und notwendigen Zweck gedient, sondern selbst unmittelbar als
eine Einrichtung gegolten, um das, was darin stand, zu beherrschen; je voll¬
ständiger ein solcher Katalog war, um so größer war der Teil der Natur,
den man durch Kenntnis und Anwendung dieses Katalogs meistern konn¬
te.«1 Gordon Childe zeigt hier das Weiterleben solcher Vorstellungen auch
in relativ zivilisierteren, entwickelteren Formationen. Ursprünglich war die
Namensgebung, wie dies verschiedene Schöpfungsgeschichten, magische Ge¬
bräuche etc. zeigen, mit der Vorstellung des Beherrschens (Hervorbringens,
Vernichtens, Umwandeins etc.) des Gegenstandes untrennbar verbunden.
Das hat auch auf das persönliche Leben der Menschen einen großen Einfluß.
Frazer sagt: »Unfähig, zwischen Wörtern und Dingen deutlich zu unter¬
scheiden, bildet sich der Wilde allgemein ein, eine Verbindung zwischen
einem Namen und der damit bezeichneten Person oder Sache sei nicht eine
rein willkürliche und ideale Assoziation, sondern ein tatsächliches und
wesentliches, beide umschließendes Band, und Zauberei an einem Menschen
könne ebenso gut durch seinen Namen wie durch seine Haare, Nägel oder
irgendeinen anderen wichtigen Teil seines Körpers verübt werden. Ja, der
primitive Mensch betrachtet seinen Namen als ein ungemein wichtiges Stüde
seiner Person und hütet ihn dementsprechend.«2 Daraus folgt die von
Frazer, Levy-Bruhl und anderen beschriebene doppelte Namensgebung bei
Verheimlichung des eigentlichen Namens, Namensänderung im Alter etc. 3.
So fremdartig uns solche Vorstellungen auch sein mögen, sie sind sehr geeig¬
net die Struktur des Alltagsdenkens, die Entstehung des Alltagsbewußtseins
zu beleuchten, denn sie erwuchsen und wurden wirksam in einem Milieu,
das fast gar keine Objektivationen in unserem Sinne kannte, in welchem
also die komplizierten Wechselwirkungen des Alltagsdenkens mit diesen,
die die »reine Form« eines solchen Denkens so schwer herausarbeiten lassen,

1 Childe: a. a. O. S. i6S f.
2 Frazer: Der goldene Zweig, Leipzig 1928, S. 355.
3 Ebd. S. 356 f., Levy-Bruhl: a. a. O. S. 347 f. etc.
98 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

noch nicht vorhanden waren. Freilich müssen dabei die Ausdrücke fast und
kaum betont werden, denn schon das Wort, das Benennen hat einen keim¬
haften Objektivationscharakter. Allerdings kann selbst die entwickelteste
Sprache nie in dem selben Sinne die Objektivation repräsentieren, wie etwa
Wissenschaft, Kunst oder Religion; sie wird nie wie diese eine eigene
»Sphäre« des menschlichen Verhaltens. Gerade die Untrennbarkeit von
Sprache und Denken hat zur Folge, daß sie alle menschlichen Verhaltungs¬
und Handlungsweisen umgibt und fundamentiert, daß sie ihre Universalität
auf das gesamte Leben ausdehnt, nicht aber eine besondere »Sphäre« darin
bildet. Allerdings kann man auch sagen, daß die »Systeme« der Magie, ihre
Anschauungen, Riten etc. viel stärker mit dem Alltagsleben verwachsen
sind, als etwa die der späteren Religionen, dieses viel stärker »umgeben«
als sich von ihm abheben, um als selbständige Objektivation mit ihm in
Wechselwirkung zu treten. Die so starke Gefühlsbetontheit der Namengebung
ist zwar eines der Mittel für die Festigung der Macht der Magier, für die
Flerausbildung der magischen Lehre und Verhaltensart, als ein Moment
der anfangenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Ihre Geeignetheit zu
einem solchen Gebrauch beruht jedoch auch auf dieser völlig elementaren
und unwiderstehlichen Vorstellung des primitiven Menschen, daß Name
und Ding (Person) eine untrennbare Einheit bieten, daß aus dieser Einheit
sich die glücklichsten und verhängnisvollsten Folgen für das Individuum
ergeben können.
Es ist wieder die Marxsche Methode von der Erklärung der Anatomie des
Affen aus der des Menschen, die uns dazu verhilft, das Phänomen der
Magie historisch annähernd richtig zu erfassen, eben durch die Erkenntnis
des Weges, der von ihr zu uns geführt hat. Die richtige Erkenntnis hat auch
hier zwei falsche Extreme zu überwinden. Einerseits ist es noch heute große
Mode, den »Ursprung« zu idealisieren und eine Rückkehr zu ihm - als
Ausweg aus der sonst unlösbar scheinenden Problematik der Gegenwart -
zu predigen. Ob dies in der Form einer brutalen Demagogie, wie bei Hitler
und Rosenberg, oder in der Form von »scharfsinnigen« philosophischen
Gedankengängen, wie bei Klages oder Heidegger geschieht, ist von unserem
Standpunkt aus hier ziemlich gleichgültig, da in allen diesen Fällen gleicher¬
weise die wirkliche historische Entwicklung gedanklich annulliert wird. (Wir
werden später sehen, daß solche Einheitskonstruktionen sogar bei geistvol¬
len und progressiven Autoren viel Unheil schaffen; so in der Annäherung
der Lyrik an die Magie bei Caudwell.) Andererseits gibt es immer noch
zahlreiche Positivisten, die die Tatsachen vergangener Zeiten so interpre-
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 99

tieren, indem sie ihnen einfach heutige Gedanken und Gefühle unterschieben.
So der sonst sehr kenntnisreiche und scharfsinnige Ethnologe Boas, der z. B.
die Magie so auslegen will: »Und die Magie? Ich glaube, wenn ein Knabe
bemerken würde, daß jemand auf seine Photographie spuckt und sie zer¬
reißt, wäre er tief empört. Ich weiß, daß, wenn es in meiner Studentenzeit
passiert wäre, das Resultat ein Duell gewesen wäre...«1 Boas übersieht
»bloß«, daß kein heutiger Mensch glaubt, daß sein persönliches Schicksal
von einer solchen Aktion abhängt; er mag sich zwar beleidigt fühlen, aber
nicht in seiner physischen Existenz bedroht, gefährdet, wie der Mensch der
magischen Periode.
Die älteren Urzeitforscher waren in dieser Frage weit historischer und
realistischer. Frazer und Taylor halten die Personifikation der Naturkräfte
kraft Analogie für ein relativ spätes Stadium. Wie wir bereits hervorgehoben
haben, ist sogar die erlebnishaft festgehaltene Subjekt-Objekt-Beziehung
ein Produkt der Arbeit, der Erfahrungen des Arbeitsprozesses, denn sie setzt
sowohl die Auffassung der Umwelt als ein - relativ beherrschtes - Wir¬
kungsfeld der menschlichen Tätigkeit, wie die Person, die - bis zu einem
gewissen Grade - ihrer Fähigkeiten und Schranken in Flandlung, Anpassung
etc. bewußt ist, voraus. Deshalb müssen zur Entfaltung personifizierender
Analogieschlüsse die zur Gewohnheit gewordenen Arbeitserfahrungen be¬
reits eine beträchtliche Höhe erlangt haben. Natürlich ist der allerallge¬
meinste Teil solcher Erlebnisse allen relativ niederen Entwicklungsstufen
gemeinsam, nämlich das Auf-ein-Hindernisstoßen, das mit den vorhandenen
Kräften und Kenntnissen nicht genommen werden kann. Bei der Unmittel¬
barkeit der Gefühle und Denkformen solcher Stufen wird dahinter eine
unbekannte Kraft geahnt und es entsteht der Versuch, diese der mensch¬
lichen Tätigkeit zu unterwerfen oder sie wenigstens in einer für diese gün¬
stigen Richtung zu beeinflussen. (Die verschiedenen Formen des Aber¬
glaubens, die in den Intermundien auch unseres Alltags nisten, entstehen
fraglos auch aus solcher Unfähigkeit, die Außenwelt zu bewältigen: frei¬
lich ist es ein qualitativer Unterschied, ob es sich um episodische Inter¬
mundien oder um Breite und Tiefe des gesamten Lebens handelt.) In bezug
auf die Stadien der hier entstehenden phantasiedurchtränkten, gefühls¬
mäßig spontanen Analogien oder Analogieschlüssen ist das entscheidende
Motiv ihre Unmittelbarkeit. Frazer hebt richtig hervor, »daß der primitive

1 F. Boas: Primitive Art, New York 1951, S. 3.


100 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Magier die Zauberei nur von ihrer praktischen Seite kennt.« Daraus folgt
die weitere Charakteristik: »Er fleht keine höhere Macht an. Er sucht nicht
die Gunst irgendeines wankelmütigen und launischen Wesens zu gewinnen.
Er erniedrigt sich vor keiner furchtbaren Gottheit.« 1 Es kommt einzig und
allein darauf an, die »Regeln«, die seine Praxis der unbekannten Kraft
gegenüber einsetzt, genau und richtig anzuwenden; die geringste Nicht¬
beobachtung würde nicht nur Mißerfolg, sondern höchste Gefahr herauf¬
beschwören. Der Magier behandelt also diese »Kräfte« als »leblose Dinge«,
gewissermaßen technologisch (rituell-magisch), nicht religiös. Darin erblicken
gewisse Ethnologen (so Read) eine Art von Materialismus im Gegensatz
zum Idealismus des Animismus. Das ist freilich reichlich übertrieben, denn
es handelt sich, wie gezeigt wurde, um die Periode vor der deutlichen
Trennung und Entgegensetzung von Materialismus und Idealismus. Man
könnte eher sagen, die Eigenart der Magie im Gegensatz zur Religion ist
ein geringerer Grad der Verallgemeinerung, eine stärkere Herrschaft der
Unmittelbarkeit; die erkennbaren Grenzen von Außen- und Innenwelt sind
verschwommener, ineinander überfließender, als in der religiös-ammistischen
Periode. Das Fehlen einer ethisch-religiösen Beziehung zur Außenwelt ist
also in der Magie noch kein Keim der späteren materialistischen Weltauf¬
fassung, sondern bloß eine primitive Äußerung des uns bekannten spon¬
tanen Materialismus des Alltagslebens; dagegen erblickt Read im Ani¬
mismus richtig erste weltanschauliche Ansätze des Idealismus. In der
Magie haben sich die späteren Tendenzen der Gegensätzlichkeit noch
nicht differenziert. Alle Elemente der Weltauffassung sind in der unmittel¬
baren - alltagsartigen, nicht objektivierten - magischen Praxis konzentriert.
Wenn also Frazer die Magie ein »unechtes System« von »Naturgesetzen«
nennt, »eine falsche Wissenschaft und eine unfruchtbare Kunst«, so enthal¬
ten diese negativ wertenden Ausdrücke ebenfalls eine gewisse Modernisie¬
rung, denn das sich-Abheben von der Alltagswirklichkeit, die Tendenz zu
einer eigenen (wissenschaftlichen, respektive künstlerischen) Objektivität
muß auch der magischen Entwicklungsstufe noch fehlen. Die Termini sind
nur darum relativ statthaft, wirkliche Sachlagen beleuchtend, weil sich auf
dieser Etappe unsichere und unbewußte Ansätze zeigen, die in ihrer späte¬
ren Entfaltung eine Richtung auf Wissenschaft bzw. Kunst nehmen. Soweit
sie bereits hier eine bestimmte Objektivation erhalten haben, ist diese -

1 Frazer: a. a. O. S. 70.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung IOI

gerade wegen des eminent praktischen Charakters der Magie - mehr jenem
tendenziellen Minimum der Alltagswirklichkeit als der der selbständig
gewordenen Wissenschaft oder Kunst verwandt. So weit darin Elemente der
späteren, höheren Objektivationen enthalten sind, was ohne Frage der Fall
ist, so sind sie besonders anfangs völlig den magisch-praktizistischen Haupt¬
tendenzen untergeordnet, ihre Eigenart kann nur stellenweise, episodisch,
immer unbewußt, wenn auch nicht zufällig zur Geltung gelangen.
Wir sagen: nicht zufällig, denn die Intention auf eine richtige Widerspiege¬
lung, auf eine Erkenntnis der an sich seienden objektiven Wirklichkeit ist,
natürlich unbewußt, bereits im primitivsten Akt der Arbeit, ja des Sam¬
melns enthalten, denn eine völlige Unkenntnis der Realität, ein völliges
Vorbeigehen an ihren objektiven Zusammenhängen müßte sofort zum
Untergang führen. Die Arbeit bedeutet hier einen qualitativen Sprung in
der Richtung auf Hervortreten der Erkenntnistendenzen. Es muß aber
eine relative Höhe der Verallgemeinerungen, der Erfahrungen erreicht sein,
um die ersten Schritte in der Richtung tun zu können, sich von den herr¬
schenden magischen Tendenzen, deren Fundament gerade die Unkenntnis
der objektiven Wirklichkeit ist, zu befreien. Trotz dieser unmittelbar un¬
zertrennbaren Einheit muß die objektive Divergenz der Verallgemeinerung
in den Arbeitserfahrungen und in denen der magischen Praxis festgehalten
werden. Die ersteren führen zur späteren Wissenschaft, die letzteren hem¬
men diese Entwicklung zumeist, wie Gordon Childe richtig aufgezeigt
hat. Freilich ist diese Entgegensetzung - so richtig sie für die Trendlinie der
Entwicklung ist - keine absolute. Wechselwirkungen kommen immer wie¬
der vor, so daß Pareto, wie wir früher gezeigt haben, hier mit einem gewis¬
sen Recht auch Wechselwirkungen feststellen kann. (Über ähnliche Tenden¬
zen in der Kunst werden wir später ausführlich sprechen.) In alledem ist
eine allergemeinste Ähnlichkeit mit der Struktur des Alltagsdenkens vor¬
handen. Freilich darf dabei der grundlegende Unterschied nicht vergessen
werden, daß der Alltag der Zivilisation stets, bewußt oder unbewußt, die
Ergebnisse einer entwickelten Wissenschaft und Kunst zur Verfügung hat.
Die Unterordnung ihrer Eigenart unter die eigenen, oft augenblicklich¬
praktischen Interessen kann zwar schwere Deformationen ihres spezifi¬
schen Wesens hervorrufen, der Beherrschungsgrad der objektiven Wirklich¬
keit befindet sich aber auf einem unvergleichlich höheren, qualitativ ande¬
ren Niveau. Die jetzt hervorgehobene Strukturähnlichkeit soll also nur im
allerallgemeinsten Sinn verstanden werden und man soll sie nicht, ana-
logisierend, auf Einzelheiten anwenden.
102 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Diese primitive Wesensart der magischen Periode hat zur Folge, daß eine
Weiterentwicklung ihrer chaotisch gemischten, unmittelbar praktischen
Verhaltungsweise zur objektiven Wirklichkeit sich in idealistischer Rich¬
tung bewegt. G. Thomson gibt eine exaktere Charakteristik des magischen
Zustandes als Frazer oder Taylor. Er sagt: »Die primitive Magie beruht
auf der Vorstellung, daß, indem man die Illusion schafft, die Wirklichkeit
zu beherrschen, man sie tatsächlich beherrscht. Es ist eine illusionäre Tech¬
nik, komplementär zu den Mängeln der wirklichen Technik. Entsprechend
der niedrigen Stufe der Produktion ist das Subjekt der Außenwelt nur
unvollkommen bewußt, folglich erscheint die Ausführung eines voran¬
gehenden Ritus als Ursache des Erfolgs im wirklichen Unternehmen; gleich¬
zeitig jedoch als eine Anleitung zur Aktion, verkörpert die Magie die wert¬
volle Wahrheit, daß die Außenwelt durch das subjektive Verhalten der
Menschen wirklich verändert werden kann1.« Es ist naheliegend, daß bei
einer so geringen, mehr als lückenhaften Kenntnis der Wirklichkeit, die
jedodi in ihren objektiv wertvollen Teilen auf Arbeitserfahrungen beruht,
die subjektive Seite des Arbeitsprozesses, die zeitliche Priorität des Zielset¬
zens als Ursache und die objektiven Ergebnisse als Folge früher verallgemei¬
nert und systematisiert wurden, als die so fragmentarisch bekannten Ele¬
mente der objektiven Wirklichkeit selbst. Und da, wie bereits hervorgeho¬
ben, auf dieser Stufe die Analogie das gedankliche Hauptvehikel für Ver¬
allgemeinerung und Systematisation ist, erscheint es natürlich, daß der Schritt
über die Magie in idealistischer Richtung vor sich geht, in der Richtung auf
Personifizierung der unbekannten Kräfte nach dem Modell des Arbeits¬
prozesses: auf Animismus und Religion. Nicht die Annahme der Existenz
von »Geistern« ist entscheidend. Diese kann, wie Frazer zeigt, schon in der
Magie vorhanden sein, was, da es sich um eine elementare Verallgemeine¬
rung der subjektiven Seite des Arbeitsprozesses handelt, ohne weiteres ver¬
ständlich ist. Dieses Analogisieren in der Magie bewegt sich jedoch auf der
gleichen Ebene, wie alle sonstigen Beobachtungen; erst wenn die Personifi¬
kation mit allen Zügen der Selbstauffassung ausgestattet wird, entstehen
die neuen Beziehungen zu den Geistern; natürlich gibt es hier unzählige
Übergänge, auf die wir hier nicht eingehen müssen. Frazer weist richtig auf
den entscheidenden Unterschied: »Es ist wohl wahr, daß die Magie sich oft
mit Geistern beschäftigt, die persönlich handelnde Wesen sind, wie die

1 G. Thomson: Aeschylus and Athens, London 1946, S. 13 f.


Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 103

Religion sie annimmt. Aber überall da, wo sie dies in der üblichen Form
tut, behandelt sie diese Wesen in derselben Weise, wie sie mit leblosen Din¬
gen umgeht, d. h. sie zwingt und fesselt anstatt zu versöhnen und sich ge¬
neigt zu machen, wie die Religion es tun würde.«1 2 Daher bezeichnet das
Fehlen der ethisch-religiösen Beziehungen zur Außenwelt keine höhere
»materialistischere« Stufe im Vergleich zu den idealistischen, sich im Verlauf
der Entwicklung ethisierenden Vorstellungen, sondern ist das Wesenzeichen
der primitiven Stufe. Der Idealismus muß hier ähnlich als Fortschritt auf¬
gefaßt werden, wie die Sklaverei als Höherentwicklung im Vergleidi zum
Kannibalismus.
Es ist ein wirkliches Verdienst Frazers, daß er in seiner Analyse der magi¬
schen Theorie und Praxis die große Wichtigkeit der Nachahmung als ele¬
mentare Tatsache der Beziehung des Menschen zur objektiven Wirklichkeit
betont. Er verknüpft sie zwar ausdrücklich nur mit dem, was er im magi¬
schen Vorstellungskreis »Gesetz der Ähnlichkeit« nennt, nämlich, daß
Gleiches stets Gleiches hervorbringt. Eine genauere Betrachtung der von
ihm angenommenen anderen Art der Magie, »daß Dinge, die einmal
in Beziehung zueinander gestanden haben, fortfahren, aus der Ferne aufein¬
ander zu wirken, nachdem die physische Berührung aufgehoben wurde«
zeigt jedoch auch hier die entscheidende Rolle der Nachahmung. Das ist ver¬
ständlich. Denn die primitive, unmittelbar-praktische Reaktion auf die -
relativ — unmittelbare Widerspiegelung der Wirklichkeit, drückt sich eben
in der Nachahmung aus. Es muß eine verhältnismäßig lange Entwicklung
vor sich gehen, eine ziemlich weitgehende Entfernung von der Unmittelbar¬
keit vollzogen werden, das Analogisieren muß in eine wenn auch noch
unentfaltete Kausalbetrachtung übergehen, damit die Menschen zur Ein¬
sicht gelangen, ihre Einwirkungen auf die Natur mit Methoden zu errei¬
chen, die äußerlich unmittelbar keine Ähnlichkeit mehr mit dem widergespie¬
gelten Phänomen (wohl aber mit dessen Wesen und Gesetzlichkeit) haben.
Man denke daran, daß die allerprimitivsten Werkzeuge einfache Nachah¬
mungen der früher zufällig gefundenen, später gesammelten Steine waren.
Bei Funden der Anfangsstufen ist es gar nicht so leicht, Original von Nach¬
ahmung zu unterscheiden. Erst viel später entstehen Werkzeuge, die das
Wesentliche, den Nutzeffekt der Arbeit so erreichen, daß ihre Form aus der

1 Frazer: a. a. O. S. 74.
2 Ebd. S. 15.
104 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Erkenntnis der Beziehung von Ziel und Mittel entsteht. Je differenzierter


die Arbeit wird, desto mehr erhalten die Werkzeuge eine selbständige -
technologisch bestimmte - Form, desto mehr verschwindet auf diesem Gebiet
die Nachahmung der unmittelbar Vorgefundenen Gegenstände. Etwas
wesentlich anderes ist die Nachahmung von der subjektiven Seite: die der
in der Arbeitspraxis bewährten Bewegungen etc. Ffier bleibt - mit vielen
Variationen, mit wachsender Rationalisierung - die Nachahmung ein per¬
manentes Prinzip der Arbeit, der Kontinuität von Arbeitserfahrungen. Je
mehr also die Nachahmung auf den Menschen bezogen ist, desto fruchtbarer
kann sie auch auf höheren Stadien wirksam bleiben.
Nachahmung als unmittelbares Umsetzen der Widerspiegelung in Praxis
ist eine derart elementare Tatsache des entwickelteren Lebens, daß sie in
allgemein anerkannter Weise sich auch bei den höheren Tieren finden läßt.
Wallace hat z. B. beobachtet, daß Vögel, die nie den Gesang ihrer eigenen
Art gehört haben, die Weise jener annehmen, mit denen sie Zusammenleben.
Viele bürgerliche Forscher empfinden jedoch die Gefahr, hier ein grund¬
legendes Faktum in der Beziehung von Lebewesen und Umgebung anzu¬
nehmen; es könnte ja, fürchten sie mit Recht, zur Anerkennung der Wider¬
spiegelung als Grundlage von Wissenschaft und Kunst führen. Darum leug¬
net Groos, der die obenerwähnte Beobachtung von Wallace anführt, daß
die Spiele der Tiere etwas mit Nachahmung zu tun hätten, sie seien viel¬
mehr »der angeborenen Natur des Organismus entsprungene Reaktions¬
weisen.« 1 Mit der Deklaration des Angeborenseins soll das Problem der
Genesis dogmatisch ausgeschaltet werden. So werden einfache Tatbestände
mystifiziert und die Erkenntnis der Entwicklung des Komplizierten aus
dem Einfachen verrammelt. Gehlen bemerkt richtig, mit einem anderen
Autor polemisierend: »Die Annahme eines >Spieltriebes< ist natürlich eine
bloße Worterklärung, die nichts sagt.« 1 2
Natürlich steht der primitivste Mensch auf einer qualitativ höheren Stufe
als die entwickeltesten Tiere, schon weil der Inhalt der Widerspiegelung
und Nachahmung vom Medium der Sprache und der Arbeit getragen wird,
selbst wenn letztere erst ein Sammeln ist. Die Nachahmung ist also auch
bei den primitiven Menschen nicht mehr völlig spontan, ist oft bewußt
auf ein Ziel gerichtet und damit über die Unmittelbarkeit in bestimmter

1 K. Groos: Die Spiele der Tiere, Jena 1907, S. 13.


2 Gehlen: a. a. O. S. 222.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung i°5

Weise hinausgehend. Die Nachahmung in ihrer menschlichen Form setzt


schon eine verhältnismäßig ausgebildete Subjekt-Objekt-Beziehung voraus,
denn diese Nachahmung ist bereits klar auf ein bestimmtes Objekt, als Teil,
als Moment der Umwelt des Menschen gerichtet, es ist also darin eine
gewisse Bewußtheit darüber vorhanden, daß dieses Objekt dem Subjekt
gegenübersteht, von ihm unabhängig existiert, aber unter gewissen Umstän¬
den von der Aktivität des Subjekts modifiziert werden kann. Diese Un¬
abhängigkeit ist freilich mehr gefühlsmäßig, erlebnishaft vorhanden, z. B.
als Angst etc. Es ist die Urform dessen, was wir den spontanen Materialis¬
mus des Alltagslebens genannt haben. Je unbestimmter, empfindungshaft¬
zerfließender der Gedanke der Objektivität der Außenwelt hier erscheinen
kann, desto exakter, »vorgeschriebener« muß ihre nachahmende magische
Reproduktion werden. Sie erfaßt naturgemäß nur äußere, erscheinungs¬
artige Züge des Gegenstands, der »Gesetzmäßigkeit« seines Wandels (Fx'üh-
ling nach Winter). Infolge der Verschwommenheit der Anlage, infolge der
Dürftigkeit der Kenntnisse werden aber diese Erscheinungsarten und Züge
als wesenhafte fixiert und es wird in ihrem exakten Festhalten das magi¬
sche Mittel erblickt, vermittels der Nachahmung den gewünschten Effekt
(z. B. Rückkehr der Frühlings, gute Ernte etc.) hervorzuzaubern. Je stär¬
ker diese Nachahmungen die Zusammenarbeit vieler erfordern (gemeinsame
Tänze etc.), desto mehr wird auf die rituelle Exaktheit geachtet. Diese Lage
verführt Frazer dazu, in der »Theorie der Magie« eine »Pseudowissen¬
schaft«, in ihrer Praxis, also in der Nachahmung eine »Pseudokunst« zu
erblicken h Damit wird einerseits die unmittelbare Einheit von Theorie und
Praxis gelockert, andererseits die ganze Lage durch Anlegen eines späteren
Maßstabs modernisiert. Jene Verhaltensarten zur Wirklichkeit, die später
als Wissenschaft und Kunst selbständige Methoden erringen, sind hier noch,
zusammen mit Keimen der späteren Religion, in einer unauflösbaren
Mischung enthalten, und zwar sowohl in der Theorie wie in der Praxis. Ihre
Trennung und Gegenüberstellung ist um so irreführender, als z. B. die
Elemente der Praxis (Tanz, Gesang etc.) zwar einen Ausgangspunkt für die
Kunst bilden, ihre eigenartigen Tendenzen herauszubilden helfen, zugleich
jedoch, wie wir sehen werden, ihr Selbständigwerden, das Konstituieren
ihrer wahren Eigenart auch zu hemmen, ja zu unterdrücken pflegen. Das
ändert natürlich nichts an der Lage, daß in der konkreten Widerspiegelung

1 Frazer: a. a. O. S. 29.
io 6 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

der Wirklichkeit, in den Versuchen, das Widergespiegelte durch Nachahmung


festzuhalten, objektiv die Keime zur ästhetischen Widerspiegelung der
Wirklichkeit — wir wiederholen: mit anderen Verhaltungsarten unzertrenn¬
bar vermischt — objektiv vorhanden sind. So wichtig diese Feststellung als
Ausgangspunkt zum Verständnis der späteren Differenzierungen ist, so sehr
verwirrt sich das Bild, wenn man Wissenschaft und Kunst, auch in ver¬
zerrten Formen, in dieses Anfangsstadium der Vordifferenziertheit hinein¬
interpretieren will. Dadurch wird nicht nur, wie bereits gezeigt, das An¬
fangsstadium unzulässig modernisiert, sondern zugleich auch die Eigenart
der wissenschaftlichen und künstlerischen Widerspiegelung verzerrt. Diese
geht zwar in einigen grundlegenden Momenten (nicht in allen) von dem
nachahmenden Festhalten des Widergespiegelten aus, muß es aber qualitativ
weiterführen und umgestalten, um sich in der eigenen Selbständigkeit setzen
zu können. Und jene muß, wie bereits angedeutet wurde, und wie später
ausgeführt wird, über die ganze unmittelbar nachahmende »Methode«
hinausgehen, muß neue Wege der Zerlegung und Synthese nach objektiven
Maßstäben suchen, um die eigene Methode in der Bearbeitung des Wider¬
spiegelten finden zu können. In beiden Fällen ist es die wachsende Erobe¬
rung der objektiven Wirklichkeit und die in ihrem Laufe erworbene, er¬
höhte Beherrschung der eigenen Subjektivität, der körperlichen und geisti¬
gen Kräfte der Menschen, die das Hintersichlassen der unmittelbaren Nach¬
ahmung möglich und notwendig machen.
Erst wenn man alle diese Errungenschaften und Fähigkeiten einer viele
Jahrtausende dauernden Entwicklung, gewissermaßen durch ein Gedanken¬
experiment ausschaltet, kann man eine rekonstruktive Einsicht in die Struk¬
tur der magischen Periode erhalten, in die Formen und Inhalte ihrer Art der
Widerspiegelung der Wirklichkeit. Die größte Schwierigkeit schaffen jene
Modernisierungen, die irgendeine »tiefe« Sehnsucht des heutigen Menschen
als »Weltanschauung« in anfängliche Perioden hineinprojizieren und von
dort aus nun - kontrastierend - die Gegenwart zu verstehen vorgeben. Man
muß dagegen festhalten, daß naturgemäß gerade die »weltanschauliche«
Seite des primitiven Weltbildes die unentwickelteste war, daß auch an sich
richtige Einzelwahrnehmungen in diesen Interpretationen einen phantas-
magorischen, chaotischen Charakter erhalten. Darum ist im burschikosen
Ausdruck von Engels, der die »Weltanschauung« dieses Zustandes und ihr
teilweises Weiterleben auf höherer Stufe einen »urzuständlichen Blödsinn«
nannte, viel Berechtigtes, und er hat völlig Recht, wenn er es als pedantisch
ablehnt, für alle ihre Einzelformen etc. ökonomische Ursachen zu suchen,
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 107

obwohl er feststellt, daß natürlich auch damals »das ökonomische Bedürfnis


die Haupttriebfeder der fortschrittlichen Naturerkenntnis war1.« Für uns
ist hier nur wichtig festzustellen, daß diese Erkenntnisse, so >blödsinnig< ihre
verallgemeinernden Begründungen, Zusammenfassungen auch gewesen sind,
an sich sicher ein weit größeres Feld umfassen, als man es rein theoretisch
sich vorstellen würde. Besonders groß sind die Möglichkeiten, die anfangs
sicher höchst spärlichen Erkenntnisse auch ohne Umwälzung der Grund¬
lagen zu erweitern. M. Schmidt weist z. B. auf die überraschend große
Pflanzenkenntnis ganz primitiver, freilich längst über die Urzustände hin¬
ausgewachsener Völker hin, die sich in der Differenzierung der Nomen¬
klatur deutlich zeigt 2. Ähnliches kann man natürlich auf den verschieden¬
sten Gebieten der unmittelbar lebensnotwendigen Praxis feststellen und
zwar in einer wenn auch ungleichmäßig so doch ständig aufsteigenden Form,
indem die Sammeltätigkeit mit vielen Übergängen in eine Bearbeitung des
Bodens, in eine Züchtung von Pflanzen übergeht, indem die Jäger und Fischer
immer bessere und kompliziertere Instrumente (Wurfgeschosse, Pfeil und Bo¬
gen, Harpune etc.) herstellen. Alldies vollzieht sich jedoch ohne wesentliche,
sichtbar werdende Änderung der »Weltanschauung«, der Verallgemeine¬
rung der Erkenntnisse und Erfahrungen über die Außenwelt und über den
Menschen selbst. Hier bewahrheitet sich wieder unser Motto: die Menschen
»wissen es nicht, aber sie tun es«. Bei aller Anerkennung dieser allgemeinen
Geltung des unbewußten Handelns der Menschen (im von uns angegebenen
Sinne), die sich als Haupttendenz auch in unseren Beispielen strukturbestim¬
mend auswirkt, darf jedoch der qualitative Unterschied, ja Gegensatz
nicht übersehen werden: die Unbewußtheit des Handelns ist nur eine
formell-strukturelle Ähnlichkeit. Die reale Erkenntnis der Außenwelt und
die Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten, vor allem durch das Ent¬
stehen und Entfalten der großen Objektivationssysteme Wissenschaft und
Kunst, schafft derartige qualitative Differenzen, daß die Vergleichbarkeit
nur mit Hilfe höchster Verallgemeinerungen überhaupt möglich wird.
Die primitivste magische Entwicklungsstufe ist so durch diese Verbindung
von stets zunehmenden richtigen Einzelerkenntnissen über die Außenwelt,
von ständigem Wachsen der menschlichen Fähigkeit in ihrer Beherrschung
mit diesen durch nichts objektiv fundierten »blödsinnigen« Erklärungs-

1 Marx-Engels: Ausgewählte Briefe a. a. O. S. 381.


2 M. Schmidt: Die materielle Wirtschaft bei den Naturvölkern, Leipzig 1923, S. 33.
ioS Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

versuchen charakterisiert. Diese Diskrepanz muß sich noch steigern, wenn die
Magier, Medizinmänner, Schamanen etc. durch die gesellschaftliche Arbeits¬
teilung zu besonderen »Berufen« werden. Einerseits erfolgt diese soziale
Differenzierung, wenigstens ursprünglich, auf Grundlage der Auswahl
der Kenntnisreichsten und Erfahrensten, und so sehr die Entstehung einer
Kaste oft zur Erstarrung, zur Hemmung der weiteren Ausbildung der
Kenntnisse zu führen pflegt, ist es doch ein elementares Interesse dieser
Sdiicht, ihr privilegiertes Dasein durch gute Leistungen zu schützen und
zu befestigen. Andererseits muß dieses Privilegiertsein, das sich vor allem
in der Befreiung von der körperlichen Arbeit äußert, dahin wirken, daß
jene idealistischen Tendenzen in der Naturbetrachtung, die vom subjek¬
tiven Zielsetzen in der Arbeit ausgehen, die die Naturerscheinungen nach
dem »Modell« der so aufgefaßten Arbeit erklären, sich ständig verstärken
müssen, um so mehr als der Wegfall der unmittelbar materiellen Kon¬
trolle der Arbeitserfahrungen diese Tendenzen notwendig verstärkt. Solche
Tendenzen sind in der gesellschaftlichen Entwicklung sehr lange wirksam,
auch wenn die verschiedensten Objektivationen sich schon länger entfaltet
haben. Die Diskrepanz zwischen den immer höher werdenden Einzel¬
erkenntnissen und ihrer irrealen weltanschaulichen Verallgemeinerung
nimmt also zeitweilig notwendig zu, auch nachdem diese die Stufe des
»urzuständlichen Blödsinns« längst überholt hat, nachdem das Denken
vom bloß unmittelbaren Analogisieren zu einer mehr oder weniger ent¬
wickelten Kausalbetrachtung übergegangen ist, durch die hinter den ideali¬
stischen, hypostasierend antropomorphisierenden Hüllen bereits ein wirk¬
liches Erringen von Erkenntnissen über die Außenwelt und über den Men¬
schen immer sichtbarer wird. Mit Recht charakterisiert daher Vico dieses
Denken als ein mit »phantastischen Universalien« oder Gattungsbegriffen
arbeitendes1. Die menschlichen Kenntnisse müssen also einen verhältnis¬
mäßig hohen Grad an Breite und Tiefe erreichen, damit eine materialistische
Kritik der Mythen, der »phantastischen Universalien« etc. einsetzen kann.
Engels gibt über diese Entwicklung, über die Schwierigkeit, das idealistische
Aufdenkopfstellen der erkenntnismäßig errungenen Tatsachen und Zusam¬
menhänge zu überwinden, eine prägnante Zusammenfassung, die sich zwar
vor allem auf bereits hochentwickelte Zustände bezieht, die jedoch zugleich
gerade die für uns wichtigen Entwicklungslinie klar beleuchtet. Er sagt:

1 Vico: Die neue Wissenschaft, München 1924, S. 170.


Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 109

»Vor allen diesen Gebilden, die zunächst als Produkte des Kopfs sich dar¬
stellten, und die die menschlichen Gesellschaften zu beherrschen schienen,
traten die besdieideneren Erzeugnisse der arbeitenden Hand in den Hinter¬
grund; und zwar um so mehr als der die Arbeit planende Kopf schon auf
einer sehr frühen Entwicklungsstufe der Gesellschaft (z. B. schon in der ein¬
fachen Familie) die geplante Arbeit durch andere Hände ausführen lassen
konnte, als die seinigen. Dem Kopf, der Entwicklung und Tätigkeit des
Gehirns wurde alles Verdienst an der rasch fortschreitenden Zivilisation zu¬
geschrieben; die Mensdien gewöhnten sich daran, ihr Tun aus ihrem Den¬
ken zu erklären, statt aus ihren Bedürfnissen, (die dabei allerdings im Kopf
sich widerspiegelnd zum Bewußtsein kommen) - und so entstand mit der
Zeit jene idealistische Weltanschauung, die namentlich seit Untergang der
antiken Welt die Köpfe beherrscht hat. Sie herrscht noch so sehr, daß selbst
die materialistischsten Naturforscher der Darwinschen Schule sich noch
keine klare Vorstellung von der Entstehung des Menschen machen können,
weil sie unter jenem ideologischen Einfluß die Rolle nicht erkennen, die die
Arbeit dabei gespielt hat.« 1 Hier ist die Rolle des subjektiven Moments der
Arbeit in der Entstehung und Befestigung der idealistischen Weltanschau¬
ung deutlich sichtbar.
Die Anfangsetappen dieser Entwicklung sind heute noch wissenschaftlich
scharf umstritten. Für unsere Zwecke ist es aber nicht entscheidend, wann
und wie aus dem Chaos der Magie, aus dem Vorstellungskreis der »Kräfte«
(um ein allzu bestimmtes Wort zur Bezeichnung dieser sehr verschwom¬
menen Gedanken und Gefühle zu gebrauchen) sich »animistische« Welt¬
bilder in Mythen, in Religionen weitergebildet haben. Es genügt für uns
klar zu sehen, daß jene Formen der geistigen Arbeitsteilung der Menschheit,
die dem zivilisierten Menschen als derart selbstverständlich Vorkommen, daß
er sie kaum als historisch Gewordenes sich zu vergegenwärtigen vermag,
die die wichtigsten Philosophien zu den überzeitlichen, dem Wesen des Men¬
schen ontologisch zugehörigen Verhaltensarten und Objektivationen rech¬
neten (es genügt auf Kant hinzuweisen), dieses ihr Wesen im Laufe einer
langwierigen historischen Entwicklung allmählich erworben haben. Von
diesem Standpunkt aus ist es bemerkenswert, wie wenig die früheren Ent¬
wicklungsstufen die ethischen und eigentlich religiösen Verhaltensweisen des
Menschen zur Welt (zum Jenseits), zu sich selbst gekannt haben. Wir haben

1 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 700.


HO
Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

bereits auf eine solche Feststellung Frazers hingewiesen. Linton und Wingert
sagen über die Weltauffassung der Polynesier: »Die ganze Konzeption war
mechanisch und unpersönlich und involvierte keine Idee von Sünde oder
vorsätzlicher Strafe«; mit den Göttern wurde »manipuliert«, und die Prie¬
ster waren »geübte Handwerker« einer solchen Technik1. Auch Tylor
meint, daß Zeremonie und Ritus »Mittel des Verkehrs mit geistigen Wesen
und des Einflusses auf dieselben« sind »und als solche einen ebenso direkten
praktischen Endzweck wie irgendein chemischer oder mechanischer Pro¬
zeß ...« haben2 3. Und in bezug auf Ethik: »Der wilde Animismus ent¬
behrt ... fast gänzlich jenes ethischen Elements«, das später in den Religionen
eine so große Rolle spielt. Die Ethik entsteht »auf ihrem eigenen Boden, auf
dem Boden der Tradition und der öffentlichen Meinung und ist verhältnis¬
mäßig unabhängig von den animistischen Glaubenssätzen und Riten, welche
neben ihr existieren«. Er nennt diesen Zustand »nicht unmoralisch«, aber
»ohne Moral« s.
Tylor bestätigt hier nicht bloß die von uns nachgezogenen Entwicklungs¬
linien, sondern weist auch auf eine andere äußerst wichtige Frage hin. Dar¬
auf nämlich, daß jene Formen der Widerspiegelung der Wirklichkeit und
der menschlichen Reaktionen auf sie, die wir mit dem Terminus Ethik zu
bezeichnen pflegen, ebenfalls Produkte einer langen historischen Entwick¬
lung sind (und ebenfalls keine angeborenen oder ontologischen Eigenschaf¬
ten des Menschseins), die sich unabhängig von dem magisch-animistisch-reli-
giösen Vorstellungen entwickelt haben und erst verhältnismäßig spät in
jene - äußerst widerspruchsvolle - Union mit der Religion hineingewachsen
sind, die zu behandeln weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausginge.
Nur soviel muß auch hier bemerkt werden - während Tylor wie die meisten
bürgerlichen Forscher den Urkommunismus und seine Auflösung igno¬
riert -, daß die Notwendigkeit einer wenn auch noch so primitiven Ethik
erst mit der Entwicklung der Klassen auftaucht. Erst aus diesem Boden
erwachsen nämlich gesellschaftliche Verpflichtungen, die nicht mehr mit den
unmittelbaren Bedürfnissen und Interessen der einzelnen unmittelbar zu¬
sammenfallen, ja diesen geradezu entgegengesetzt sind. Die Pflicht, sowohl

1 R. Linton and P. S. Wingert in Collaboration with R. D’Harnocourt: Arts of the


South Seas, New York 1946, S. 12 f.
2 E. B. Tylor: Die Anfänge der Kultur, Leipzig 1873, II S. 363/4.
3 Ebd. S. 360.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 111

im rechtlichen wie ethischen Sinn, entsteht also erst mit der Auflösung des
Urkommunismus, mit der Entstehung der Klassen. Engels gibt über den
früheren Zustand gerade in bezug auf unser Problem ein sehr prägnantes
Bild: Nach innen gibt es noch keinen Unterschied zwischen Rechten und
Pflichten; die Frage, ob Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten,
Blutrache oder deren Sühnung, ein Recht oder eine Pflicht sei, besteht für
den Indianer nicht; sie würde ihm ebenso absurd Vorkommen, wie die: ob
Essen, Schlafen, Jagen ein Recht oder eine Pflicht sei b« In welchen kon¬
kreten Formen diese Entwicklung sich abgespielt hat, gehört nicht hierher.
Was hier festgestellt werden muß, ist bloß: die Vicosdien »phantastischen
Universalien«, in denen sich der Weltzusammenhang für die Menschen noch
lange äußert, sind nicht mehr bloß Widerspiegelungen der Natur, sondern
- und sogar in steigendem Maße - auch die der Gesellschaft. Zusammen¬
wirken und Zusammenleben der Menschen hat aufgehört, eine »naturhafte«
Selbstverständlichkeit zu sein, für deren Regelung die alltagsmäßig wir¬
kende Tradition, Gewohnheit, spontane öffentliche Meinung, auch in even¬
tuellen einzelnen Konfliktsfällen, ausreichen. Es ist zum Problem geworden,
zu dessen Lösung, zur widerspruchsvollen Erhaltung und Reproduktion
einer in sich widerspruchsvollen Gesellschaft, die Menschen neue Objektiva-
tionen, neue Verhaltensarten ausbilden mußten, darunter auch die Ethik.
Die Widersprüchlichkeit dieser Entwicklung zeigt sich auf allen Punkten.
Auf einen sehr interessanten weist Frazer hin, indem er in der zunehmen¬
den Erkenntnis der Menschen einen Grund des Übergangs von der magi¬
schen Vorstellungsweise zur religiösen erblickt, und zwar nicht direkt, son¬
dern im Gegenteil so, daß mit zunehmender Erkenntnis »der Mensch
deutlicher die Unendlichkeit der Natur und seine eigene Kleinheit und Ohn¬
macht ihr gegenüber einsehen« lernt. Parallel damit wächst sein Glaube an
die Macht jener Kräfte, die nach seinen Vorstellungen die Natur beherrschen,
die, wie wir gesehen, eine immer anthropomorphere, personifiziertere Gestalt
erhalten haben. Damit »gibt er zugleich die Floffnung auf, den Gang der
Natur mittels seiner eigenen, selbständigen Flilfsquellen, d. h. mit Hilfe der
Magie, zu lenken, und er sieht immer mehr zu den Göttern auf, als zu den
einzigen Bewahrern jener übernatürlichen Kräfte, die er einst mit ihnen zu
teilen behauptete. Mit der fortschreitenden Erkenntnis nehmen daher

1 Engels: Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Moskau-Lenin¬
grad 1934, S. 153.
I 12 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Gebete und Opfer die führende Stelle in dem religiösen Ritus ein und die
Magie, welche einst als gleichberechtigt galt, wird allmählich in den Hinter¬
grund gedrängt und sinkt zur schwarzen Kunst herab1.« Frazer hebt hier
richtig den Gegensatz von Magie und Religion hervor. Dazu ist jedoch zu
bemerken — worüber sowohl er wie andere sehr viel Material zusammen¬
getragen haben -, daß die Religionen zumeist die Magie als aufgehobenes
Moment in sich aufnehmen und aufbewahren. Sobald z. B. in die Beziehung
zwischen Mensch und Gott genau einzuhaltende Zeremonien, genau vor¬
geschriebene Worte, Gebärden etc. vermittelnd eingeschaltet werden, um
die Gottheit günstig zu beeinflussen, sie den Bitten geneigt zu machen, ist
es klar, daß dabei magische Tendenzen als organische Bestandteile der Reli¬
gion erscheinen. Je ausgebildeter eine Religion ist, je tiefer sie in ethische
Probleme eingreift, je innerlicher das von den Riten bestimmte Verhalten
sein soll, desto auffallender zeigt sie sich als tief eingetaucht in magische
Vorstellungen. Natürlich können diese beiden an sich gegensätzlichen Ten¬
denzen nicht immer friedlich miteinander leben; oft — im Laufe der Ge¬
schichte in zunehmender Weise - entstehen äußerst heftige Kämpfe zwischen
den Vertretern von magischen und von »rein« religiösen Vorstellungen.
Versuche zur völligen Befreiung einer Religion von ihren magischen Über¬
lieferungen bedeuten oft tiefe Krisen in der Religion selbst. Die historisch
außerordentlich verschiedenen Formen dieser Krisen, deren einige wie die
Bilderstürme, auch die magischen Grundlagen der Beziehung von Religion
und Kunst berühren, haben wir hier nicht zu untersuchen. Für uns ist bloß
wichtig, daß - trotz Widersprüchen, die in Krisen übergehen können - zwi¬
schen Magie, Animismus und Religion eine historische Kontinuität vorhan¬
den ist, in welcher als Hauptlinie der Entwicklung die ständige Steigerung
und weitere Ausbildung des Subjektivismus in der Weltanschauung, das
steigende Anthropomorphisieren der wirkenden Kräfte in Natur und Ge¬
sellschaft, die Tendenz, diese Anschauung und die aus ihnen folgenden
Gebote auf das gesamte Leben anzuwenden, vorherrschend wird.
Daneben muß natürlich der urwüchsige, nur als solcher, als Weltanschauung
nicht bewußte Materialismus der Arbeit sich ebenfalls ständig vervollkomm¬
nen. Ist doch gerade diese Periode eine der größten in der Ausdehnung der
Herrschaft des Menschen über die Natur. (Es genügt, auf die Rolle der An¬
wendung von Bronze und Eisen zu denken.) Je höher beide Richtungen sich

1 Frazer: a. a. O., S. 132 f.


Prinzipien und Anfänge der Differenzierung
”3

entwickeln, desto unvermeidlicher scheint ihr Zusammenstoß, ihr Konflikt zu


werden. Das ist aber nur ein Schein; in der historischen Wirklichkeit stumpft
sich der Konflikt zumeist ab, wird selten ernsthaft und folgerichtig ausgetra¬
gen. Wieder ist es hier nicht unsere Aufgabe, Einzelheiten zu untersuchen. Es
ist dabei nur ein Zug hervorzuheben, der für unsere Untersuchung von großer
Bedeutung ist; seine Tragweite wird erst später sich explicit zeigen. Es han¬
delt sich um den unmittelbaren stark dem Alltagsdenken angenäherten
Charakter des gedanklich-gefühlsmäßigen Bearbeitens der Widerspiegelung
der Wirklichkeit in der Religion. Wir haben bei Behandlung der Magie
diese Strukturähnlichkeit mit dem Alltag bereits hervorgehoben und dies
damit ergänzt und erweitert, daß die primitiven Vorläuferstadien der Reli¬
giosität, Magie und Animismus von dieser nicht in der Form der Vernich¬
tung überwunden werden, sondern im Sinne der Hegelschen Aufhebung,
nämlich auch in dem der Aufbewahrung.
Natürlich ist dies nicht als einfache strukturelle Identifikation von Alltag
und Religion gemeint. Vor allem schafft die Religion schon sehr früh beson¬
dere institutionelle Objektivationen; sie erstrecken sich von den fixierten
Funktionen des Medizinmanns bis zu den universalistischen Kirchen. Auch
bildet sich in manchen Religionen mit der Zeit ein genau bestimmter objek¬
tiver Zusammenhang der Dogmen, der von der Theologie weiter rationali¬
siert und systematisiert wird. So entstehen hier Objektivationen, die teils
mit den gesellschaftlichen Organisationen, teils mit der Wissenschaft for¬
mell verwandte Züge zeigen. Hier kommt es aber darauf an, die spezifische
Eigenart der religiösen Objektivationen wenigstens in ihren Hauptzügen
kurz anzudeuten, ihre strukturelle Nähe zum Alltag aufzuzeigen. Das ent¬
scheidende Moment bildet wieder die unmittelbare Verknüpfung von Theo¬
rie und Praxis. Sie ist gerade das Wesenszeichen jeder religiösen »Wahrheit«.
Die Wahrheiten der Wissenschaften haben natürlich außerordentliche prak¬
tische Konsequenzen; ihr überwiegend großer Teil ist sogar aus praktischen
Bedürfnissen entstanden. Das Praktischwerden einer wissenschaftlichen
Wahrheit ist jedoch immer ein sehr komplizierter Prozeß von Vermittlun¬
gen. Je höher sich die wissenschaftlichen Mittel entwickeln, je intensiver
daher ihre Einwirkung auf die Praxis des Alltagslebens wird, desto weit¬
verzweigter, desto komplizierter wird dieses Vermittlungssystem. Daß mit
der Ausbildung der modernen Naturwissenschaften eigene technische Wis¬
senschaften erwachsen, um die rein wissenschaftlichen Resultate theoretisch
zu konkretisieren und praktisch nutzbar zu machen, ist ein deutlicher
Beweis dieser Sachlage. Natürlich kann bei der endgültigen praktischen
114 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Verwendung (etwa bei den Arbeitern selbst) bereits wieder ein unmittelbares
Verhalten diesen - objektiv sehr weit vermittelten - Ergebnissen der Wis¬
senschaft gegenüber entstehen. So ganz gewiß bei ihren Konsumenten; der
durchschnittliche Mensch, der Medizin einnimmt, mit dem Flugzeug reist
etc., hat in den meisten Fällen keine Ahnung von den wirklichen Zusam¬
menhängen dessen, was er benutzt. Er gebraucht sie ganz einfach, gestützt
auf den »Glauben« an die Aussagen der Fachmänner, auf die empirischen
Erfahrungen über die unmittelbare Bewährung der jeweilig konkreten
Einrichtung. Natürlich ist beim aktiven Anwender (Pilot etc.) eine un¬
vergleichlich höhere Kenntnis der Zusammenhänge vorhanden. Es liegt aber
im Wesen der Sache, daß auch dieser keineswegs immer auf die prinzipiellen
wissenschaftlichen Fundamente zurückgreifen muß und tatsächlich in den
seltensten Fällen auf sie zurückgreift. Für die durchschnittliche Praxis reicht
der Empirismus im Sammeln von Erfahrungen, gestützt auf den »Glauben«
an die Autoritäten, vollkommen aus. Hier wird deutlich sichtbar, daß das
Herrschendwerden der Wissenschaft über immer größere Gefilde des Lebens
das Alltagsdenken keineswegs abschafft, es nicht durch wissenschaftliches
ersetzt, sondern im Gegenteil sich auch auf solchen Gebieten reproduziert,
in denen früher ein weit weniger unmittelbares Verhältnis zu den Gegen¬
ständen etc. des Alltagslebens bestand. Sicher haben z. B. heute prozentual
weit weniger Menschen eine fundierte Einsicht in die Beschaffenheit der
von ihnen benutzten Verkehrsmittel als in früheren Perioden. Das schließt
natürlich nicht eine bisher ungeahnte Massenverbreitung wissenschaftlicher
Erkenntnisse aus. Im Gegenteil: gerade die lebendige Dialektik dieser ein¬
ander widersprechenden Tendenzen bildet die Grundlage zur ständigen
Reproduktion des Alltagsdenkens.
Wir haben oben den Terminus »Glauben« nicht zufällig benützt. Denn zu¬
meist - und dies gilt für die überwiegende Mehrzahl der Handlungen im
Alltagsleben - wenn aus irgendeiner theoretischen Feststellung unmittelbar
praktische Konsequenzen gezogen werden können und müssen, tritt an die
Stelle des wissenschaftlichen Beweises notwendigerweise der Glauben. Tho¬
mas Mann erzählt z. B. mit viel Humor, daß es in der Chicagoer Klinik, wo
er operiert wurde, als Taktlosigkeit galt, sich über die Medizin, die man er¬
hielt, zu erkundigen; selbst wenn es sich um allbekannte Hausmittel, wie
Natron Bicarbonaticum handelt. Damit wird der »Glaube« geradezu
gezüchtet. Von gewissen Strömungen der Psychiatrie, wo quasireligiöse
Beziehungen absichtlich hervorgerufen werden, gar nicht zu reden. Und
daß das ganze moderne Reklamewesen auf das Züchten eines solchen
Prinzipien und, Anfänge der Differenzierung 115

»Glaubens« gerichtet ist, braucht nicht besonders bewiesen werden. Daß die
Wissenschaft hier so oft als Erwecker eines solchen »Glaubens« figuriert, macht
den oben angedeuteten Zusammenhang noch evidenter. Freilich ist der
Ausdruck »Glaube« für die eben geschilderten Verhältnisse nicht wirklich
exakt. Er enthält zwar den Gegensatz zu Wissen und Erkennen, vor allem
aber den Mangel an Willen, an konkreter Möglichkeit etc. zur Verifikation.
Damit kommen jedoch solche Akte dem nahe, was man in der logischen
Terminologie als Meinen, im Gegensatz zum Wissen zu bezeichnen pflegt.
Kant legt in der Abgrenzung von Meinen und Glauben gerade auf dieses
Moment der Weiterbildung zum Wissen, zur Verifikation ein großes Ge¬
wicht: »wenn aus objektiven, obzwar mit Bewußtsein unzureichenden
Gründen etwas für wahr gehalten, mithin bloß gemeint wird, so kann dieses
Meinen doch durch allmähliche Ergänzung in derselben Art von Gründen
endlich ein Wissen werden.« Dagegen entsteht nach Kant der Glaube dort,
wo ein derartiges Weiterschreiten sachlich unmöglich ist: »Aller Glaube ist
nun ein subjektiv zureichendes, objektiv aber mit Bewußtsein unzureichen¬
des Fürwahrhalten; also wird es dem Wissen entgegengesetzt.« 1 Eine solche
schroffe Entgegensetzung von Glauben und Meinen ist vom Standpunkt der
Axiomatik seines philosophischen Systems durchaus verständlich; der Zu¬
sammenhang und das systematische Ineinanderfügen von Erkenntnis, Ethik
und Religion kann für dieses System nur so konstruiert werden. Im Alltags¬
denken spielt aber nicht nur die objektive Möglichkeit von Meinen zu Wis¬
sen weiterzugehen eine wichtige Rolle, sondern zugleich auch der Wille
dazu. Einerlei, welche gesellschaftlichen Gründe hier wirksam sind - einige
haben wir bereits aufgezählt -, ihr Aktuellwerden verwandelt das Denk¬
gebilde des Meinens, das objektiv eine mögliche Vorstufe des Wissens vor¬
stellt, subjektiv, und zwar sozial-psychologisch in eine Abart des Glaubens.
Es ist z. B. heute mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung feststellbar,
daß im Lottospiel jede beliebige Kombination von fünf Zahlen die gleichen
Chancen des Gewinnens hat, der einzelne Spieler wird aber auf Grundlage
eines Traumes etc. daran »glauben«, daß seine Zahlen unbedingt gezogen
werden müssen. Die objektive Möglichkeit, das Meinen zum Wissen weiter¬
zuführen, hat auf einen solchen »Glauben« überhaupt keinen Einfluß. Das
Beispiel ist freilich ein Extrem. Es wäre aber sicher möglich, an einer Fülle

1 Kant: Was heißt sich im Denken orientieren? Werke, Phil. Bibi. Leipzig 1905,
V S. 156.
ii 6 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

von Tatsachen im Alltagsleben eine ähnliche Struktur nachzuweisen, und


diese ist, trotz der eben behandelten erkenntnistheoretischen Bedenken,
dem Wesen des subjektiven Aktes nach doch am präzisesten mit dem Ter¬
minus »Glauben« bezeichnet.
Ohne Frage tritt dabei die bereits behandelte strukturelle Verwandtschaft
zwischen magischer Periode und Alltag klar hervor. Besonders, wenn wir
daran denken, daß die Magier die transzendenten Mächte gewissermaßen
»technologisch« behandelt haben, so daß die für den Alltag festgestellte
Mischung von unbekanntem (subjektiv als transzendent erlebten) Wesen
und zur Gewohnheit gewordenem unbewußten Verhalten im konkreten
Fall hier ihr strukturelles Modell hat. Die bloß strukturelle Art der Ver¬
wandtschaft zwischen Magie und Alltag kann nicht scharf genug hervor¬
gehoben werden, denn jede inhaltliche Annäherung ist eine Mystifikation,
ein unzulässiges Analogisieren. Auch wenn ein heutiger Mensch abergläu¬
bische »Riten« befolgt (mit dem rechten Fuß zuerst auftreten etc.), haben
seine Gefühlsinhalte, Vorstellungen etc. nichts mit den Inhalten der magi¬
schen Periode gemein. Wfir könnten ja deren Empfindungs- und Gedanken¬
welt auch bei einer viel genaueren Kenntnis aller Umstände, die natürlich
im Alltagsleben nicht vorhanden ist, unmöglich reproduzieren. Nur die all¬
gemeinsten Formen des Aberglaubens können traditionell überliefert werden;
die Verwirklichung, den gelebten Inhalt liefert aber immer die Gegenwart.
Das wirkliche Problem des Glaubens entsteht jedoch erst mit der Überwin¬
dung der magischen Periode durch den Animismus, später durch die Reli¬
gion. Das Problem zeigt sich sogleich in einer bestimmten Gefühlsbetontheit
des subjektiven Verhaltens. Die gefühlsmäßige Emphase ist bei dem reli¬
giösen Glauben und bei dem, was wir im Alltagsleben mit diesem Terminus
bezeichnet haben, kaum vergleichbar. Wenn ich daran »glaube«, daß mein
Flugzeug ohne Absturz sein Ziel erreichen wird, oder daran, daß Christus
auferstanden ist, so vollziehe ich zwei weit auseinanderliegende Akte des
Denkens und des Empfindens. Ja, die Emphase im religiösen Glauben gibt
auch dem gedanklichen Element eine sonst in der Alltagspraxis nur aus¬
nahmsweise auftretende Betonung: nämlich, daß sowohl sein Inhalt, wie
seine praktischen Folgen den ganzen Menschen angehen, daß die Art der
Aufnahme dieses Inhalts wie die Reaktion darauf sein gesamtes Schicksal
bestimmen. Es handelt sich also - im Gegensatz zu den auf »Glauben« basier¬
ten partikularen Handlungen des Alltagslebens - um etwas Universelles
sowohl im subjektiven wie im objektiven Sinn der Intention. Diese Univer¬
salität, der in ihr enthaltene Verpflichtungskreis ergibt jenen emphatischen
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung ll7

Akzent des religiösen Glaubens, der ihn von ähnlichen Akten des Alltags¬
denkens so scharf unterscheidet.
Die Feststellung der Emphase und der ihr zugrunde liegenden Bezogen-
heit auf das wesentliche Schicksal des ganzen Menschen, scheint einen Ab¬
grund zwischen Alltag und Religion aufzureißen. Damit ist jedoch, wie wir
sehen werden, die wesentliche strukturelle Verwandtschaft zwischen diesen
beiden Lebenssphären nicht vernichtet. Wir verweisen dabei wieder nur
kurz auf die Verwandtschaft zwischen magischer Praxis und der des Alltags,
schon darum, weil darin das vielleicht wichtigste Kennzeichen des Alltags¬
lebens, die unmittelbare Verknüpftheit von Theorie und Praxis, deutlich
zum Ausdruck gelangt. Wenn wir dabei an die magische Auffassung der als
transzendent vorgestellten Mächte oder Kräfte denken, so tritt klar hervor,
daß Transzendenz hier einfach etwas Unbekanntes bedeutet und ihre
»Tiefe« einfach eine Modernisierung ist, indem man alle, viel später ent¬
standenen Gedanken und Gefühle, die etwa den Grund des von Kant be¬
stimmten Begriffs des Glaubens im eigentlichen Sinne (im Gegensatz zum
Meinen) bilden, durch welche das faktisch Unbekannte in ein prinzipiell
Unerkennbares verwandelt wird, ohne jede historische Berechtigung, in die
Anfangszeiten projiziert. Selbst als viel später animistische Anthropomor-
phisierungen entstehen, als die Beziehung der Menschen zu ihren Lebens¬
mächten ethische Akzente erhält, bildet sich der Gedanke — und das ihn
fundierende und begleitende Gefühl — der Transzendenz im modernen
Sinne nur sehr allmählich aus. (Man denke an die Göttervorstellungen der
Homerischen Gedichte.) Der emphatische Charakter des religiösen Verhal¬
tens kann nur dann entstehen und aufblühen, wenn es den ganzen Men¬
schen in einer Weise erfaßt, die zumindest eine ethische Komponente, einen
ethischen Unterton hat. Denn auch in der magischen Periode (und nicht sel¬
ten im späteren Alltagsleben) handelt es sich um Aktionen, Entscheidungen
etc., die über Wohl und Wehe, ja über die Existenz schlechthin des Men¬
schen entscheiden. In solchen Fällen entsteht naturgemäß eine starke Ge-
fühlsbetontheit; indem aber Erfolg oder Mißgeschick vom Anwenden
äußerlich-praktischer Regeln abhängt, fehlt den Emotionen jene Wendung
nach innen, jene Reflexion auf die inneren Fundamente der eigenen Persön¬
lichkeit, die ein wesentliches Moment der religiösen Emphase ausmacht.
(Um unsere Betrachtungen nicht allzusehr zu komplizieren, sehen wir
einerseits ab von jenen Begebenheiten des Alltagslebens, in denen eine ethi¬
sche Komponente mitwirkt, andererseits von jenen des religiösen Verhal¬
tens, in denen noch die magischen Überreste dominieren.) Die religiöse
118 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Emphase richtet sich also auf etwas prinzipiell Transzendentes, auf ein Jen¬
seits dem realen irdischen Leben gegenüber; auch wenn nicht der Tod, die
Bewahrung und das Schicksal des Ichs nach dem Tode das konkrete Thema
bildet, auch wenn der Ausgangs- und Zielpunkt des jeweiligen religiösen
Akts ein unmittelbar diesseitiger ist, schiebt sich zwischen den konkreten
ganzen Menschen und den Gegenstand seiner religiösen Intention eine prin¬
zipielle Transzendenz; nicht ein einfach Unbekanntes, sondern ein - mit
den normalen Mitteln des Lebens - prinzipiell Unerkennbares, das aber
durch ein richtiges religiöses Verhalten zum intimsten Besitz des Menschen
werden kann. Die so entstehende Spannung, deren äußerst verschiedene
Typen wir hier natürlich nicht einmal andeuten können, liegt dem empha¬
tischen Charakter des religiösen Glaubens zu Grunde. Denn so sehr in
vielen Religionen das Einhalten der Riten, Zeremonien etc. für das Erreichen
solcher Ziele als unvermeidlich aufgefaßt wird (also bestimmte, freilich oft
modifizierte, oft starr spiritualisierte Strukturform der Magie aufbewahrt
werden), bleibt diese subjektive Bezogenheit auf das Subjekt, auf den ganzen
Menschen unaufgehoben bestehen; die Beichte hat z. B. einen ritenhaften
Rahmen, die subjektive Aufrichtigkeit wird jedoch als unerläßliche Bedin¬
gung ihres transzendenten Effekts betrachtet, was in der Magie offenbar
nicht der Fall war.
Trotz dieser deutlichen Entfernung von Magie und Alltag bleibt deren
Grundstruktur, die unmittelbare Verbindung von Theorie und Praxis den¬
noch erhalten. Freilich muß dabei der Begriff der Theorie, als Gehalt und
Objekt des Glaubens noch weiter konkretisiert werden. Wir haben früher
die Rolle des »Glaubens« im Alltagsleben und Denken etwas zergliedert
und kamen dabei zum Ergebnis, daß es sich dabei um eine Modifikation des
Meinens handelt, indem die verschiedensten gesellschaftlichen Gründe, so¬
wie die dadurch bedingten subjektiven Verhaltensarten in engster Ver¬
bindung mit dem unmittelbaren Zusammenhang von Theorie und Praxis
eine Weiterbildung in der Richtung zur verifizierbaren Erkenntnis verhin¬
dern. Diese Möglichkeit ist jedoch objektiv in vielen Fällen vorhanden, nur
pflegt sie sich sehr oft aus den geschilderten Gründen so zu verwirklichen,
daß ein Weiterführen des Meinens zum Wissen doch nicht erfolgt, z. B.
wenn jemand den »Glauben« an seinen Arzt verliert und diesen nun auf
einen anderen Arzt überträgt. Natürlich gibt es im Alltag ebenfalls viele
entgegengesetzt sich auswirkende Fälle, besonders auf dem Gebiet der Ar¬
beit. Die beiden Tendenzen unterscheiden sidi aber darin, daß im zweiten
Fall etwas aus der Masse des Unbekannten erobert, zur Kenntnis gemacht
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 119

wird, während beim ersten Typus die Welt des Unbekannten wesentlich
als unverändert aufgefaßt wird. Die unmittelbare Verknüpftheit von
Theorie und Praxis im Alltagsleben ist die wichtigste Grundlage dafür, daß
das Theoretische eine solche Fassung erhält. Es ist aber dabei notwendig
festzustellen, daß gerade dadurch - von unten, aus dem Arbeitsprozeß -
Tendenzen wirksam werden, die in die Richtung von Erkenntnis, Wissen
und Wissenschaft weisen, daß diese auch dort, wo verschiedene soziale Kräfte
dieses Meinen zum »Glauben« verweisen, infolge der vitalen Zwangsläufig¬
keit eine gewisse Verifikation der Vorstellungen, die originäre Intention des
Meinens nur selten völlig verschwinden lassen.
Auch das religiöse Verhalten ist auf eine unmittelbare Beziehung von
Theorie und Praxis basiert. Das ist überall, wo magische Überreste vor¬
herrschen, ohne weiteres evident. Aber auch dort, wo bereits genuin reli¬
giöse Erlebnisse entstehen, bleibt diese Struktur aufrechterhalten. Denn es
handelt sich ja um Heil oder Untergang des ganzen Menschen bzw. dessen,
worin das Zentrum seiner letzthinnigen Existenz erblickt wird. Diese aller¬
allgemeinste Formulierung begreift sowohl Himmel und Hölle wie Nirvana
und Sansara in sich. Mit einer derartigen Setzung entstehen jene wichtigen
Modifikationen sowohl in der Konzeption der Transzendenz, wie in der
Fassung des Begriffs der Theorie für diese Sphäre. Beginnen wir mit der
Klärung des Transzendenzbegriffs. Wir haben gesehen, daß die Wissen¬
schaft, solange sie wirkliche Wissenschaft bleibt und sich nicht zur ideali¬
stisch-philosophischen oder religiös-theologischen Reflexion über Ergebnisse
und Grenzen der Wissenschaft, über ihre Stelle im Leben des Menschen,
über ihre Bedeutung für die Gesamtheit der menschlichen Existenz ent¬
wickelt, das Unbekannte bloß als ein noch Unbekanntes zu behandeln
gezwungen ist. Am deutlichsten ist dies bei Kant zu sehen. Als idealistischer
Philosoph betrachtet er die Welt der Dinge an sich als absolut transzendent;
als Theoretiker der Wissenschaftslehre hat auch bei ihm die konkrete
Eroberung des noch Unbekannten keine Grenze. (Für diese Betrachtungen
ist es nicht wichtig, daß Kant dieses Gebiet - metaphysisch - als Welt der
Erscheinungen bewertet, da seine Methodologie gerade darauf ausgeht, die
unbezweifelbare Objektivität der hier erlangbaren Erkenntnisse philo¬
sophisch zu begründen.) Die Frage selbst ist jedoch lange nicht so formal,
wie die »Kritik der reinen Vernunft« sie darstellt. Der echte Glaube - nicht
der von der reinen Ethik destillierte Glaube Kants - gestattet keine derar¬
tige Zweiteilung der Welt; wo eine solche vollzogen wird, und sie wird es
in vielen Religionen, bleibt es nicht bei einer unpathetischen Nebeneinander-
120 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Stellung von Erscheinung und Ding an sich, die beide Objekte der Er¬
kenntnis sind, sondern steigert sich emphatisch zum Gegensatz von Kreatur
und Gottheit, von Sansara und Nirvana etc. Erscheinung und Wesen sind
unmittelbar auf das sein Heil suchende Subjekt bezogen und erst durch diese
Bezogenheit erhalten sie ihre eigentliche religiöse Gegenständlichkeit. Dieser
Primat der subjektiven Bedürfnisse in der Entstehung der spezifischen Gegen¬
ständlichkeit verbindet die Religion mit der Magie, allerdings bei der bedeut¬
samen Differenz, daß die auslösenden subjektiven Affekte wie Furcht, Hoff¬
nung etc. hier von den Bedürfnissen des Alltagsmenschen, von Hunger,
physischen Gefahren etc. bestimmt sind, während dort der Grundtendenz
nach eine ethisch gefärbte Sublimierung vor sich geht, die ganz allgemein als
Heil der Seele umschrieben werden kann. Erst die so bedingte Art des Gegen¬
ständlichsetzens von Erscheinung und Wesen ergibt die Basis für das Spezi¬
fische sowohl der Transzendenz wie jener Theorie, die auch hier in unmittel¬
barer Beziehung zur Praxis steht.
Von dem Augenblick an, wo die anthropomorphisierende Verallgemei¬
nerung einen Demiurgos der Welt setzt, ist auch das Verabsolutieren der
Transzendenz vollzogen. Die Welt mag so oder so, bis zu diesem oder jenem
Grad erkennbar und von dort an unerkennbar sein, der Schöpfer ist im
allgemeinen Sinn als transzendent gesetzt; zwischen Schöpfer und Schöpfung
entwickelt sich allmählich eine Hierarchie, in welcher jener eine absolute
qualitative Superiorität über diese zugesprochen bekommt. Das ist aus der
pathetischen Verallgemeinerung des Arbeitsprozesses vom Subjekt aus
durchaus verständlich. Auch in der griechischen Philosophie, insbesondere
bei Platon und Plotin wird diese Beziehung so gewertet: der Schöpfer steht
unbedingt höher, als das von ihm Geschaffene. Es ist ein jahrtausendelanger
Prozeß, eine gewaltige Entwicklung der Werkzeuge, Geräte, ja Maschinen
nötig, um die idealistische Philosophie zu einer realistischen Umkehrung
dieses in jeder Hinsicht falsch auf gefaßten Verhältnisses zu veranlassen; so
in der Hegelschen Dialektik1. Diese Richtigstellung der Proportionen prallt
naturgemäß von der religiösen Konzeption der Welt ab, denn jeder end¬
gültige Bruch mit der bloß weltlichen Kreatürlichkeit des wirklichen Men¬
schen bedeutet eine Absage an die religiöse Weltanschauung. Die Hegelsche
Philosophie ist auch in bezug auf diese Frage äußerst mehrdeutig. Denn es
ist klar, daß die Hegelsche dialektische Auffassung des Verhältnisses vom

1 Hegel: Wissenschaft der Logik, Werke Berlin 1841, V S. 220.


Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 121

Arbeitssubjekt zum objektiven Prozeß der Arbeit jener Anthropomorphi-


sierung des subjektiven Verhaltens, auf welcher alle Demiurgos-Konzeptionen
beruhen, sowohl den theoretischen wie den gefühlsmäßigen Boden entziehen
müßte. Die religiöse Trennung von Erscheinung und Wesen, als Gegensatz des
Kreatürlichen und Göttlichen ist ohne Annahme eines Demiurgos nicht voll¬
ziehbar, auch in dem Falle nicht, wenn die religiöse Konzeption über einen all¬
mächtigen Schöpfergott hinausstrebt (wie in einzelnen gnostischen Sekten oder
im Buddhismus), wie ja auch diese Weltanschauung unmöglich mit der Kon¬
zeption einer Welt vereinbar ist, die unentstanden und unzerstörbar in Natur
und Gesellschaft rein von deren immanenten Gesetzen bewegt wird.
Der so entstehende religiöse Begriff der Transzendenz hat ein Janusgesicht.
Einerseits ist die Transzendenz für den »irdischen Verstand«, vor allem
für die Wissenschaft mit ihrer immanenten Selbstentwicklung prinzipiell
und absolut unerfaßbar. Andererseits jedoch gibt es in den meisten Reli¬
gionen einen »königlichen Weg« (oder mehrere), der die Transzendenz, ohne
ihren Charakter aufzuheben, zum vertrauten Besitz des menschlichen Sub¬
jekts machen kann. In dieser Koexistenz der beiden Extreme, die im Laufe
der Geschichte in den verschiedensten Weisen aufgetreten sind, ist der
objektive Grund für die religiösen Spannungen zu suchen: der Auslöser
jener Emphase, über deren Wichtigkeit für das religiöse Verhalten wir
bereits gesprochen haben. Es ist eine subjektive Spannung, die subjektiv
verbleibend, für die subjektiven Affekte (Furcht, Hoffnung etc.) entspre¬
chende Objekte setzt, und zwar gerade in diesem Zusammenhang von
unaufhebbarer Transzendenz und innigster Gefühlsnähe, Gefühlserfüllung;
diese kann aber nur dann ihre spezifische Intensität verwirklichen, wenn
beide Momente bis zur Untrennbarkeit ineinander übergehen. Dadurch
vereinigen sich in diesen Affekten (und in den von ihnen aus gesetzten
Objekten) die wesentlichsten Widersprüche des menschlichen Lebens; vor
allem ein Gefühl, in welchem die Nichtigkeit des Menschen, des Menschen¬
wesens vor der Unendlichkeit des menschlichen und außermenschlichen
Kosmos mit der unzerstörbaren Einzigartigkeit seines Wesens, die Wider¬
sprüchlichkeit aufbewahrend vereinigt wird. Und die gegensätzliche Einheit
von Ohnmacht und Allmacht, von Zerknirschung und Hochgefühl konkre¬
tisiert sich in den verschiedenartigsten Variationen angesichts von Lebens¬
problemen wie Tod und Liebe, Einsamkeit und brüderliche Gemeinschaft,
Verstocktheit in Schuld und innere Reinheit der Seele etc. In alledem ist die
unmittelbare Verknüpftheit des Glaubens mit seinen praktischen Folgen
(Theorie und Praxis des Alltags in emphatischer Steigerung) klar sichtbar:
122 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

der Inhalt des Glaubens, die Gefühle, Gedanken, Handlungen etc., die dar¬
aus folgen, haben - nach der religiösen Auffassung - unermeßliche Konse¬
quenzen für den sidi hier entscheidenden Menschen: für das Heil seiner
Seele. Und damit ist zugleich Gegenständlichkeit und Umkreis der Trans¬
zendenz ganz deutlich umschrieben: das Transzendente ist aus einem faktisch
Unbekannten zu einem prinzipiell Unerkennbaren geworden: die Trans¬
zendenz ist somit ein Absolutes. Es gehört zum konstituierenden Wesen
der religiösen Sphäre: für sich selbst, für ihre eigenen Verhaltensweisen,
auf deren Vielfältigkeit wir jetzt nicht eingehen können, auch die Mög¬
lichkeit einer mehr oder weniger restlosen Überwindung der Transzendenz
zu beanspruchen und zwischen dem ganzen Menschen und der religiösen
Transzendenz doch eine unmittelbare und innige Verbindung — ja zu¬
weilen eine Einheit - herzustellen. Damit erhält erst der Glaube seinen
prägnant eigenartigen Charakter; er befreit sich von jener schimmernden
Verwandtschaft mit dem abortierten Meinen, das das Alltagsleben charak¬
terisiert: er wird zur zentralen entscheidenden Verhaltungsart, indem er
radikal mit jedem Wunsch nach einer objektiven Verifizierbarkeit bricht,
die jedem Meinen letzten Endes doch zu Grunde liegt und dem anthro-
pomorphisierenden, vom Subjekt aus Objekte schaffenden Wesen der reli¬
giösen Sphäre entsprechend, die Erfüllung dezidiert ins Subjektive bzw. in
ein subjektiv-anthropomorphisierend geschaffenes Pseudo-Objektsfeld ver¬
legt. Während also das Meinen, auch in seiner alltäglichen, zum »Glau¬
ben« verzerrten Weise doch eine Art Vorform der Erkenntnis bleiben
muß, erhebt der Glauben in seinem originär religiösen Sinn den Anspruch,
Erkenntnis und Wissen zu beherrschen, eine höhere Form der Bewältigung
der wesentlichen Wirklichkeit zu sein.
Darum ist die Formel von Anselmus, das »credo ut intelligam« die klas¬
sische Form dieses Verhältnisses. Es ist für diese Betrachtungen selbstredend
unmöglich, die so außerordentlich variierten Erscheinungsweisen des Ver¬
hältnisses von Glauben und Wissen zu berücksichtigen. Jedenfalls ist es
evident, daß die klassische Form historisch eher ein Ausnahmefall als Aus¬
druck einer Regel sein kann. Denn das Vordringen der Wissenschaft macht
es oft außerordentlich schwer, sowohl die bekannte Wirklichkeit im Sinne
des Glaubens, im Sinne dessen konkreter Inhalte und impliciter Axiome zu
interpretieren, wie Inhalte und Grenzen der religiös bestimmten Trans¬
zendenz als solche dem Bereiche des bloß vorläufig Unerkennbaren zuzu¬
weisen. Wohl bildet die sich zur Kirche konstituierte Religion immer wieder
eine eigene Wissenschaft, die Theologie aus, um ihr auf dem Glauben
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 123

beruhendes Weltbild der Form nach in wissenschaftlicher Weise zu systema¬


tisieren und gegen die universalistischen Ansprüche der Wissenschaft und
der wissenschaftlichen Philosophie zu verteidigen. Audi hier kann es nicht
unsere Aufgabe sein, die Fülle der dabei auftretenden Probleme auch nur
anzudeuten. Es muß nur darauf hingewiesen werden, daß im Gegensatz
zur Wissenschaft selbst, deren Ausgangspunkte und Folgerungen stets veri¬
fizierbar sein müssen, die Theologie notwendig jene Objekte und Zusammen¬
hänge, die vom Glauben anthropomorphisierend gesetzt werden, prinzipiell
ohne Kritik sich zur Grundlage macht und bloß gedanklich verallgemeinert
und dadurch-ohne den Willen und die Fähigkeit ihre anthropomorphisierende
Wesensart aufzuheben - sie als Dogmen fixiert. Die formelle, die sozusagen
technologisch-gedankliche Behandlung mag in der Theologie formell noch so
sehr auf Logik, auf wissenschaftliche Methodik orientiert sein, die Tatsache,
daß die entscheidende Evidenz der Dogmen auf den Glauben basiert ist, an
diesen appelliert und ohne dessen In-Funktiontreten auch als Gedankenbau
zusammenbrechen muß, zeigt, daß die Theologie nicht eine eigenartige
Wissenschaft vorstellt, sondern bloß einen Bestandteil des religiösen Lebens
bildet, der mit diesem steht und fällt und keinerlei unabhängige Geltung
diesem gegenüber beanspruchen kann. Das Herausgewachsensein aus der
Magie, das Aufbewahren ihrer Überreste und - vor allem - die mit dem All¬
tag (und nicht mit Wissenschaft und Kunst) verwandte Struktur der religiösen
Sphäre wird also durch die Theologie unberührt gelassen.
Die hier entstehende unauflösbare Problematik hat N. Hartmann richtig
beschrieben. Daß er diese nicht auf die Theologie beschränkt hat, sondern
eine ganze Reihe von Philosophien bis zum Pragmatismus miteinbezieht,
hat hier für uns schon darum keine entscheidende Bedeutung, weil auch
unsere Betrachtungen immer wieder auf den kryptotheologischen Charakter
vieler Philosophien hinweisen. Hartmann geht hierbei sehr radikal vom
Unterschied des tierischen und des menschlichen Bewußtseins aus und be¬
trachtet - im wohltuenden Gegensatz zu vielen modernen Verherrlichern
des »Urtümlichen« - die unmittelbar und untrennbar auf das »Subjekt«
zentrierte Apperzeption der Welt als »geistloses Bewußtsein«, dessen »Tiefe«
in den »Niederungen« gefesselt bleibt. Und er weist mit Recht darauf, daß
die Loslösung vom »geistlosen Bewußtsein« gerade in diesen erhabensten
geistigen Gebieten am wenigsten erfolgt. »Im mythischen Denken«, führt
Hartmann aus, »herrscht die Vorstellung vom Menschen als dem Ziel der
Schöpfung vor. In religiöser und philosophischer Weltanschauung kehrt die
anthropozentrische Auffassung der Welt - meist verbunden mit der
124 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Entwertung der realen Welt — immer wieder.« 1 Der Zweck seiner Darlegun¬
gen bringt es mit sich, daß diese nicht auf die Theologie zugespitzt sind. Unsere
Ausführungen zeigen, daß gerade in ihr die höchste Aufgipfelung des
Anthropomorphisierens, des »geistlosen Bewußtseins« zu finden ist.
Da hier keine Religionsphilosophie oder Religionskritik angestrebt wird,
sondern bloß das Herausarbeiten der Beziehung der Religion zum Alltags¬
leben, kann das Festhalten dieses Primats des Glaubens vor der Beglaubigung
oder vor dem Beweis seiner Objekte, des Primats der Subjektivität vor
jedweder - faktischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen - Objektivität
für unsere Zwecke genügen. Damit bildet die Religion einen Bestandteil des
Alltagslebens der Menschen mit der großen gesellschaftlich-geschichtlichen
Variabilität von dem Beherrschen aller oder der meisten Erkenntnisse durch
den theologisch dogmatisierten Glauben bis zu dessen Rückzug auf die
reine, völlig entleerte Innerlichkeit bei Preisgabe alles objektiven Wissens
an die Wissenschaft. Das Wesentlichste, die unmittelbare Verknüpfung des
Zieles, des Heils der Seele mit der vom Glauben bestimmten »Theorie« und
ihren unmittelbar praktischen Folgen bleibt bei allen derartigen Wandlun¬
gen unverändert. Trotz dieses inneren Gleichbleibens, sind diese Verän¬
derungen für den konkreten Einfluß des Glaubens auf Wissenschaft und
Kunst sehr wichtig. Im nächsten Kapitel, in welchem wir die Entfaltung
des desanthropomorphisierenden Weltbetrachtens der Wissenschaft analy¬
sieren werden, braucht auf den konkreten Strukturwandel nur wenig Bezug
genommen werden; da der ausschließende Gegensatz von Anthropomorphi-
sieren und Desanthropomorphisieren evident ist. Einer eingehenden
Betrachtung bedarf jedoch die prinzipielle und praktische Trennung der bei¬
den anthropomorphisierenden Lebenssphären, Kunst und Religion; unser
letztes Kapitel wird dieser Untersuchung gewidmet sein. Hier muß nur noch
auf einen Gesichtspunkt hingewiesen werden, auf die enge Beziehung des
religiösen Glaubens zur konkreten Gegenständlichkeit seiner anthropomor-
phisierend geschaffenen Objekte; eine Beziehung die derart intim ist, daß das
Verblassen der Konkretheit der Objekte ein Verblassen des Glaubens mit sich
zu führen pflegt. Der dogmatische Charakter einer jeden begrifflichen Ver¬
allgemeinerung (Theologie) ist also keine Entartung wie jeder Dogmatismus
in Wissenschaft und Philosophie, sondern die notwendige Folge gerade
dieser Konkretheit. Ein wirklich religiöser Mensch glaubt nicht an Gott

1 N. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins, Berlin und Leipzig 1933, S. 97.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 125

im Allgemeinen, sondern an einen äußerst konkreten Gott, mit genau


bestimmten Eigenschaften, Taten etc. (selbst wenn dieser ein Deus abscon-
ditus ist). Das Dogma fixiert gedanklich gerade diese Konkretheit und,
solange es in Geltung bleibt, mit einer notwendig intoleranten Ausschlie߬
lichkeit. Die Abnahme der Intoleranz in solchen Fragen weist auf eine Ab¬
schwächung des Glaubens hin, nämlich darauf, daß das Heil der Seele für
den Glauben nicht mehr unzertrennlich an diese bestimmte Gegenständlich¬
keit geknüpft erscheint. Denn solange lebendig und leidenschaftlich geglaubt
wird, kann es in Hinsicht auf das »Geradesosein« der religiösen Objekte
keine Vereinbarung, keinen Kompromiß geben. Das hat Hegel in seiner
Jenaer Periode richtig erkannt: »Eine Partei ist dann, wenn sie in sich
zerfällt. So der Protestantismus, dessen Differenzen jetzt in Unionsver¬
suchen zusammenfallen sollen; - ein Beweis, daß er nicht mehr ist. Denn
im Zerfallen konstituiert sich die innere Differenz als Realität. Bei der Ent¬
stehung des Protestantismus hatten alle Schismen des Katholizismus auf¬
gehört. - Jetzt wird die Wahrheit der christlichen Religion immer bewiesen,
man weiß nicht, für wen; denn wir haben doch nicht mit Türken zu tun.« 1
Das Bedürfnis nach Religion hört natürlich auch nach solchen Wandlungen
nicht auf; es ist - wie wir Marxisten wissen - viel zu tief in der Existenz¬
weise der Menschen in den Klassengesellschaften und in den Überresten
dieser Existenzweise verankert, um infolge dieser sinkenden Intensität und
steigenden Zersetzung der gegenständlichen Konkretheit abzusterben. Ja,
die so entstehende Wandlung, die stellenweise ausschließliche Priorität der
reinen Innerlichkeit und Subjektivität (Kierkegaard) bringt mitunter ihr
wahres Wesen noch stärker zum Ausdruck als dies in ihren Blütezeiten der
Fall war. Allerdings sind dies Ausnahmefälle. Denn eine Subjektivität, die
die Fähigkeit zur Objektivation völlig verliert, kann leicht den Charakter
einer physiognomielosen Uneigentlichkeit erhalten. Das heißt, da das allge-
gemeine Bedürfnis nach Religion noch weiter wirksam bleibt, zieht sich
das religiöse Verhalten teils vollständig in eine entleerte Subjektivität
zurück, teils zerstreut es sich auf die verschiedensten Gebiete des Alltags¬
lebens und lebt sich darin aus, daß es ihnen eine religiöse »Färbung« ver¬
leiht, wobei naturgemäß die von uns wiederholt hervorgehobene Nähe zur
Struktur des Alltagslebens besonders deutlich hervortritt. Simmel gibt -
ohne jede pejorative Absicht - eine gute Beschreibung dieser Lage: »Die

1 Zitiert bei Rosenkranz: Hegels Leben, Berlin, 1844 S. 537 f.


12 6 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Beziehung des pietätvollen Kindes zu seinen Eltern; des enthusiastischen


Patrioten zu seinem Vaterland oder des ebenso bestimmten Kosmopoliten
zur Menschheit; die Beziehung des Arbeiters zu seiner sich emporhebenden
Klasse oder des adelstolzen Feudalen zu seinen Stand; die Beziehung des
Unterworfenen zu seinem Beherrscher, unter dessen Suggestion er steht,
oder des rechten Soldaten zu seiner Armee — alle diese Verhältnisse mit so
unendlich mannigfaltigem Inhalt können doch, auf die Form ihrer psychi¬
schen Seite hin angesehen, einen gemeinsamen Ton haben, den man als
religiös bezeichnen muß.« 1 Auf alle diese Fragen werden wir im letzten
Kapitel ausführlich eingehen.
Wenn wir nun das bisher Dargelegte in bezug auf Verwandtschaft und
Verschiedenheit der Religion zum Alltagsleben kurz zusammenfassen, so
kommen wir zu folgendem Ergebnis. Das religiöse Verhalten hebt sich auf
den ersten Blick durch die emphatische Betonung des Glaubens vom ge¬
wöhnlichen Alltag ab. Glaube ist hier nicht ein Meinen, eine Vorstufe des
Wissens, ein unvollkommenes, noch nicht verifiziertes Wissen, sondern im
Gegenteil ein Verhalten, das allein den Zugang zu den Tatsachen und Wahr¬
heiten der Religion eröffnet, das zugleich die Bereitschaft in sich schließt,
das auf diese Weise Errungene zur Richtschnur des Lebens, der unmittel¬
baren und sich auf den ganzen Menschen erstreckenden, ihn universell
erfüllenden Praxis zu machen. Weder die »Tatsachen«, noch die aus ihnen
gezogenen Folgerungen erfordern oder dulden eine Überprüfung ihrer
Wahrheit oder Anwendbarkeit. Die Tatsachen sind durch höhere Offen¬
barung beglaubigt und diese schreibt auch die Art des Reagierens auf sie vor.
Der Glaube ist das Medium, wodurch das Subjekt mit diesem seinem selbst¬
geschaffenen Objekt, als einem unabhängig von ihm existierenden, in Be¬
ziehung steht; dieses Medium schafft auch die Unmittelbarkeit des prak¬
tischen Konsequenzenziehens: das Leben Christi und die Nachfolge dieses
Lebens sind durch den Glauben unmittelbar miteinander verknüpft.
Die strukturelle Nähe zum Alltagsdenken kommt jedoch auch im geoffen-
barten Charakter der religiösen Wahrheiten zum Ausdruck. Das Geoffen-
barte ist nämlich für den Nichtgläubigen (auch für den Anhänger einer
anderen Offenbarung) einfach ein empirisches Faktum, das, wie jedes andere,
einer Beglaubigung bedarf; erst durch den Glauben, nicht durch seinen
Inhalt an sich, noch durch seine Beziehung zur Wirklichkeit, wird es mit

1 Simmel: Die Religion a. a. O. S. 28 f.


Prinzipien und Anfänge der Differenzierung ny

Emphase aus der unendlichen Anzahl von vielfach ähnlichen Tatsachen


zu dieser Sonderstellung emporgehoben. Gerade dadurch wird zugleich die
von uns bereits erwähnte Konkretheit des Geradesoseins, die einzigartige
Faktizität im Inhalt der Offenbarung hervorgehoben. Ob diese durch Dog¬
matik, durch Theologie auch »rational« »deduziert« wird oder im Gegen¬
teil gerade diese ihre krude Faktizität als Paradoxie in den Mittelpunkt
gerückt wird, und gerade die »Torheit« und das »Ärgernis« als ihre not¬
wendige Folge bei den Ungläubigen erscheint: beides weist gleicherweise dar¬
auf, daß die Offenbarung nur durch diese Emphase des Glaubens sich von je¬
der beliebigen empirischen Tatsache unterscheidet. Wie die reine Subjektivi¬
tät des Glaubens, so erhellt sich die empiristische Wesensart gerade in Zeiten,
die den Gegensatz von Religion und Wissenschaft bis zur Krise für jene stei¬
gern. Zur Zeit einer solchen Krise beim Versuch, die Inhalte der Religion
zu rationalisieren und auf diese Weise mit Wissenschaft und Philosophie in
Einklang zu bringen, flüchtete der späte Schelling zu einem philosophischen
Empirismus, in der Hoffnung damit für Mythologie und Offenbarung eine
entsprechende Gedankenarmatur zu finden. An seinem Versuch ist be-
reditigt: das Zusammenstellen von Empirismus und Offenbarung, in Geg¬
nerschaft zu einer rational-systematischen gedanklichen Bearbeitung der
Wirklichkeit. Ob dies nun, wie bei Schelling oder Kierkegaard, offen aus¬
gesprochen wird oder ob wie in früheren theologischen Systemen der Ver¬
einigung des Wissens und des Glaubens, wie bei Thomas von Aquino, der
begrifflich geschlossen erscheinende Zusammenhang diesen Tatbestand zu
verdecken vorgibt, die pure Faktizität von Form und Inhalt der Offen¬
barung kann nicht aus der Welt geschaffen werden. Und damit bleibt (wenn
auch durch die theologische Dogmatik noch so raffiniert verborgen) der
letzthinnige Empirismus des religiösen Verhaltens bestehen. Es ist in diesem
Zusammenhang sehr interessant, daß auch von der anderen Seite, von der
der Wissenschaft, eben der Empirismus die Menschen empfänglich für einen
Kompromiß mit der Religion macht. Engels führt in seiner Kritik der spiri¬
tistischen Tendenzen unter den Naturwissenschaftlern seiner Zeit aus: »Es
zeigt sich hier handgreiflich, welches der sicherste Weg von der Natur¬
wissenschaft zum Mystizismus ist. Nicht die überwuchernde Theorie der
Naturphilosophie, sondern die allerflachste, alle Theorie verachtende, gegen
alles Denken mißtrauische Empirie.« 1 Auch darin kommt wieder die weit-

1 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 715.


128 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

gehende strukturelle Verwandtschaft von Religion und Alltag klar zum


Ausdruck.
Die Einsicht in diese Struktur war notwendig, um die auf den ersten Augen¬
blick überraschende Tatsache des friedlichen Nebeneinanderexistierens von
zuweilen hochentwickelter Wissenschaft mit magisch-religiösen Vorstellun¬
gen, das mitunter lange Perioden überdauert, zu verstehen. Solange es sich
um rein empirisch gesammelte Erfahrungen in Jagd, Agrikultur etc. han¬
delt, ist es ohne weiteres evident, daß die auf dieser Stufe unüberwindbare
Unsicherheit des Lebens als Ganzes zu magischem Glauben, Riten, etc. führt.
Diese Lage wiederholt sich aber auch auf viel höheren Stufen. So sagt
Rüben: »Die indische Astronomie war in der Tat eine merkwürdige
Mischung von Aberglauben und Wissenschaft. Die Astronomen waren
Astrologen und Brahmanen und schleppten als solche eine Last altererbten
Aberglaubens mit sich, ohne auch nur die Absicht zu haben, sich von ihm
zu befreien.« 1 Und derselbe Autor hebt an einer anderen Stelle die hohe
Entwicklung der indischen Mathematik hervor, die vieles von den Griechen
Geleistete übertraf. »Man hat«, sagt er über ihre Art unbestimmte Glei¬
chungen zweiten Grades aufzulösen, »dies das Feinste genannt, was die
Zahlenlehre vor Lagrange geleistet hat; erst dieser Mathematiker hat diese
Methode wiedergefunden und weitergebildet. Die indischen Mathematiker
aber wurden zu solchen Problemen durch die Erfordernisse ihrer Astrologie
angeregt, mit der sie eng verbunden blieben. Dies macht es verständlich, daß
die indische Philosophie von der Mathematik ebenso wenig angeregt werden
konnte, wie von der Astronomie.« 2
Über die hier negativ angedeutete Rolle der Philosophie werden wir im
nächsten Kapitel ausführlich sprechen. Hier muß dem bisher Ausgeführten
nur noch hinzugefügt werden, daß auch der empiristische Charakter der
anfänglichen technischen Entwicklung solchen Kompromissen zweifellos
Vorschub leistete. Einerseits weil die aus empiristisch-technischen Bedürfnis¬
sen gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse eine Art von Isoliertheit an
sich tragen; die Entwicklung kann sehr leicht zum Stillstand kommen oder
zum Stillstand gebracht werden. Eine durch Konkurrenz auf Rationalität
intendierende Produktion kann ja auch ihre Grundtendenz, wie Bernal ge¬
zeigt hat, oft nur auf langen Umwegen verwirklichen. Andererseits hat das

1 W. Rüben: Einführung in die Indienkunde, Berlin 1954 S. 263.


2 Ebd. S. 272.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 129

primitive Handwerk (und auch die anfangende Wissenschaft) den sozialen


Charakter, Ergebnisse und Methoden traditionell, gewohnheitsmäßig auszu¬
bilden, ja sie als »Geheimnis« von Familien, Zünften etc. zu behandeln.
Letztere Tendenz ist naturgemäß schon bei den Magiern, Medizinmännern,
etc. die vorherrschende, sie befestigt sich aber überall, wo sich Priesterkasten
ausbilden und steht in einer sich gegenseitig bestärkenden Wechselwirkung
zu den eben zitierten Richtungen im Handwerk. All dies erklärt hinlänglich
die historische Tatsache, daß der an sich vorhandene Gegensatz von Wissen¬
schaft und Religion relativ so selten offen ausgetragen wurde. Das wissen¬
schaftliche Denken wird - trotz bedeutender Einzelleistungen - auf das Ni¬
veau des Alltagsdenkens herunternivelliert und, als Ganzes betrachtet, zum
Stillstand gebracht; d. h. es bringt nur so viel hervor, als für den Bestand
der Gesellschaft unbedingt nötig ist.
Die Tendenz, die wir hier untersucht haben, daß nämlich die gesellschaft¬
lichen Bedürfnisse die Menschen zu Abstraktionen nötigen, die nach ihrer
inneren Dialektik ausgebildet über das Denken des Alltags hinausweisen,
jedoch im Laufe der Geschichte doch im Umkreis der Alltagsgewohnheiten
stehenbleiben und ihre inneren Möglichkeiten nur sehr besdrränkt zur
Ausbildung bringen, ja deren Verallgemeinerungen dann wieder in den
Alltag zurückbilden, zeigt vielleicht am plastischsten der gesellschaftliche
Gebrauch der Zahl. Im inneren Leben kleiner, primitiver Gesellschaften
entsteht nach Zahlen, nach den mit ihrer Hilfe vollziehbaren Manipulationen
noch überhaupt kein Bedürfnis. Auch wenn von Mengen die Rede ist, die
wir, den Gewohnheiten unserer gesellschaftlichen Entwicklung entspre¬
chend, ganz spontan, noch völlig im Rahmen des Alltagsdenkens verharrend,
unbedingt mit Zahlen ausdrücken würden, werden sie von den Primitiven
als Individualitäten behandelt, die qualitativ erkannt, und so voneinander
unterschieden, so miteinander in Beziehungen gebracht werden. Levy-Bruhl
bringt dafür, nach Dobritzhoffer, ein bezeichnendes Beispiel aus dem Leben
der Abiponen: »... wenn sie im Begriff sind, zur Jagd aufzubrechen, schauen
sie, so wie sie im Sattel sitzen, um sich herum, und wenn einer der zahl¬
reichen Hunde, die sie halten, fehlen sollte, so beginnen sie ihn zu rufen ...
Ich habe es oft bewundert, wie sie, ohne zählen zu können, trotz der sehr
beträchtlichen Meute, auf der Stelle sagen konnten, daß ein Hund
dem Ruf nicht Folge geleistet habe.«1 M. Schmidt wird wohl recht haben,

1 Levy-Bruhl: a. a. O. S. 57.
I30 Probleme der WiderSpiegelung im Alltagsleben

wenn er das gesellschaftliche Bedürfnis, das dem Menschen die Zahl, das
Zählen und Messen aufgedrängt hat, im Tausch, im beginnenden Waren¬
verkehr erblickt. Auch er hebt hervor, daß in dem materiellen Wirtschafts¬
leben primitiver Völker das Zählen kein Bedürfnis ist. Dieses entsteht erst
auf einer bestimmten Stufe des Verkehrs, des Warenaustausches. Ihre Aus¬
breitung bringt es mit sich, daß bestimmte Güter in bestimmten (zahlen¬
mäßig bestimmten) Proportionen ausgetauscht werden. »Erst dadurch, daß
dann eine allgemein begehrte oder umgekehrt in Überzahl vorhandene
Art von Gegenständen mit verschiedenen anderen Arten gleichzeitig in ein
solches Tauschverhältnis eintritt, gibt sie ein Mittel ab, um auch diese
letzteren zueinander in Wertbeziehung zu setzen. Sie wird somit zunächst
für diese anderen bestimmten Arten von Gegenständen zum Wertmesser.« 1
Daß die Zahl, wenn einmal entdeckt, ebenso wie die auf dem Weg des Mes¬
sens entstandene Geometrie grenzenlose Möglichkeiten der wissenschaft¬
lichen Ausbildung in sich birgt, ändert nichts daran, daß sie sich jahr-
hunderte-, jahrtausendelang in den oben skizzierten alltäglich-religiösen
Zusammenhang widerstandslos einfügen läßt. Wenn Magie oder Religion
die Zahlen rezipiert, in ihr eigenes System einbaut, so wird diese Rückwen¬
dung durch qualitative Betrachtungsweise des Alltags noch deutlicher. Jede
Zahlenmystik, jede religiöse Verwendung von Zahlen, jede magische Beto¬
nung der Glück oder Unheil bringenden Wirkungen bestimmter Zahlen
etc., reißt die jeweilig gebrauchte Zahl (etwa 3 oder 7) aus der Zahlen¬
reihe, in der sie ihren normalen quantitativen Sinn hat und verwandelt sie
in eine bestimmte, einzigartige, gefühlsbetonte Qualität, d. h. gibt ihr eine
Stelle in der Denkstruktur des Alltagslebens.
Es scheint vielleicht, als ob wir bisher bei der strukturellen Annäherung
von Magie, Animismus und Religion an das Denken und Fühlen des Alltags
eine unzulässige Abstraktion begangen hätten. Wir haben zwar den empha¬
tischen Charakter der hier entstehenden Vorstellungsgebilde hervorgehoben,
sind aber nicht darauf eingegangen, ob nicht und wenn ja, inwiefern hier
auch eine Erhebung über den Alltag bezweckt und erreicht wird. Diese
Tendenz ist vorerst wenig gedanklich, sie wird es aber im steigenden Maße,
indem die Religionen auch Weltbilder entwickeln (Kosmologien, Geschichts¬
philosophien, Ethiken etc.), um ihre Inhalte auch in der Sprache der

1 M. Schmidt: Grundriß der ethnologischen Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1920,


I. S. 119.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 131

Wissenschaft, der Philosophie auszudrücken. Sie wollen den Mensdien mit


solchen Lehren, aber auch neben diesen mit den verschiedensten Methoden
(Askese, künstlich hervorgerufene Ekstase etc.) über Denken und Fühlen
des Alltags erheben. Es handelt sich dabei im allgemeinsten Sinne um das
Erlebbarmachen einer absoluten Transzendenz. Dabei müssen alle drei Worte
gleichermaßen betont werden. Die Praxis der Wissenschaft kennt nur eine
relative Transzendenz, d. h. das Nochnichtgewußte, die noch nicht von
wissenschaftlichen Gedanken beherrsdite, objektiv vom Bewußtsein unab¬
hängig existierende Wirklichkeit. (Es ist eine andere Frage, daß die ideali¬
stische Philosophie die Methodologie der Wissenschaften, ihre erkenntnis-
theoretischen Grundlagen im Sinne des Verabsolutierens der Transzendenz
vielfach der Theologie ähnlich auslegt; die Erörterung der verschiedenen
Nuancen dieser Auffassungen gehört nicht hierher, da, wie wir es bei Kant
gesehen haben, die Wissenschaftslehre - praktisch - doch mit einer relativen
Transzendenz arbeitet.) Da die Wirklichkeit vom menschlichen Denken
sowohl im quantitativen wie im qualitativen Sinn stets nur annähernd
bewältigt werden kann, steht am Horizont des Lebens immer ein Bereich
des Unbekannten; anfangs vor allem als die ihn umgebende Natur, nach
der Auflösung des Urkommunismus, mit der Entstehung der Klassengesell¬
schaften auch das eigene gesellschaftliche Dasein, und zwar im steigenden
Maße. Denn während die Entwicklung der Zivilisation immer mehr einstige
Transzendenzen der Natur in erfaßbares, als gesetzlich erkanntes Wissen
umwandelt, wird die eigene Existenz für den Menschen des Alltags in den
Klassengesellschaften immer undurchsichtiger, immer »transzendenter«.
Diese Lage ändert sich erst theoretisch mit der Entstehung des Marxismus,
praktisch - auch für den Alltag - mit der konkreten Ausbildung einer
sozialistischen Gesellschaft.
Religion und Alltag stehen einander auch insofern nahe, als sie beide die
Transzendenz verabsolutieren. Im Alltag geschieht dies spontan und naiv,
ebenso wie in der ursprünglichen Magie, das Nochnichtgewußte, genauer:
das unter den gegebenen konkreten Bedingungen unfaßbar Scheinende
wird als »ewig« transzendent betrachtet. Die Magie hebt sich nur insofern
vom Alltag ab, als sie auf Mittel und Wege sinnt, solche zu finden meint
oder vorgibt, die diese Transzendenz praktisch zu bewältigen scheinen. Sie
bringt insofern eine gewisse Spaltung ins Alltagsdenken hinein, als sie die
Instrumente des praktischen Beherrschen der Transzendenz als »Geheim¬
nisse« behandelt, deren Kenntnis ein Privileg der Magier etc. ist. Den Men¬
schen des Alltagslebens führt diese Spaltung jedoch zur Transzendenz, zum
132 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Glauben, zur unmittelbaren Verknüpfung der — transzendenten - Theorie


mit der Alltagspraxis zurück. Diese Struktur, die der Vermittlung der
Transzendenz durch eine Kaste von »Spezialisten«, bleibt auch im Übergang
von der Magie zur Religion erhalten, nur daß die Transzendenz und das
Verhalten zu ihr einen immer stärker angereicherten, konkreteren, auf das
gesamte menschliche Leben bezogenen Inhalt erhält. Diese historisch so
stark sich wandelnde Sphäre behält aber als Gemeinsames und Bleibendes,
daß die Transzendenz zwar von der im Alltagsleben und in der Wissenschaft
erworbenen und erwerbbaren Wirklichkeit scharf geschieden wird, daß sie
aber zugleich als unmittelbare Antwort auf die unmittelbaren Fragen des
Alltagsmenschen wirken soll.
Von Xenophanes bis Feuerbach ist die materialistische Philosophie einer Mei¬
nung über den anthropomorphisierenden Charakter eines jeden religiösen
Verhaltens, vom primitivsten Animismus bis zum modernsten religiösen
Atheismus. Es braucht deshalb hier auch nicht auf die Hauptthese dieser An¬
schauung, daß der Mensch seine Götter nach dem eigenen Ebenbild schafft,
näher eingegangen werden, da hier ja nicht der Anspruch der Religion, die
Wahrheit zu verkünden, untersucht wird, sondern die Struktur des reli¬
giösen Verhaltens in bezug auf das wissenschaftliche (und künstlerische), um
auf Genesis und Entwicklungsrichtung der letzteren ein klareres Licht zu
werfen. Die wesentlichen Momente lassen sich so zusammenfassen: vor allem
steht in jedem religiösen Verhalten der Mensch im Mittelpunkt. Einerlei,
wieweit die betreffende Religion ein kosmologisches, geschichtsphilosophi¬
sches etc. Weltbild entwirft, das Entworfene ist immer auf den Menschen
bezogen. Diese Beziehung hat aber stets einen subjektivistisch-anthro-
pomorphen Charakter, indem das so aufgebaute Weltbild teleologisch
auf den Menschen (auf sein Schicksal, auf sein Heil) zentriert ist, indem
es sich unmittelbar auf sein Verhalten zu sich selbst, zu seinen Mit¬
menschen, zur Welt bezieht. Auch wenn das religiöse Weltbild - wie im
religiösen Atheismus - eine Sinnlosigkeit des kosmischen und historischen
Weltablaufs verkündet, wenn es auf dem Standpunkt eines radikalen
Agnostizismus steht, hört diese auf den Menschen teleologisch zentrierte,
anthropomorphistische Grundeinstellung nicht auf. Die Leere, die Gott¬
verlassenheit der Welt ist hier ebensowenig eine objektive Feststellung
von Tatbeständen, wie in der Theologie das Erlösungswerk Christi oder
Buddhas, sondern eine emphatisch-unmittelbare Forderung, ein Appell an
den Menschen in der so oder so beschaffenen Welt so oder so sein Heil
zu suchen.
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung 133

Hier ist gerade der entscheidende Trennungspunkt zwischen Wissenschaft


und Religion; auch wenn die systematisierende Theologie mit dem An¬
spruch auf Wissenschaftlichkeit auftritt und sidi in Details der Methodo¬
logie, der Anerkennung von Tatsachen etc. der Wissenschaft anzunähern
bestrebt ist, bleibt diese Ähnlichkeit auf der Oberfläche. Aus dem objektiven
Weltbild der Wissenschaft folgt nämlich - direkt - keine unmittelbare
Aufforderung zu einem vorausbestimmten Handeln, zu einer im voraus
bestimmten Verhaltensweise. Natürlich bildet die Erkenntnis der Außen¬
welt die theoretische Grundlage zu jedem Handeln. Dieses entspringt (in
seinen objektiven Motiven) ebenfalls aus den Gesetzen und Tendenzen der
Wirklichkeit, wo jedoch diese Motive wissenschaftlich klargelegt werden,
kann ihr erkanntes Wesen keine unmittelbare Zuspitzung auf das Handeln
des Individuums besitzen. So entscheidend auch die wissenschaftliche Er¬
kenntnis für das Was und das Wie einer jeden Praxis sein mag, sowohl
unmittelbar, wie letzten Endes wird das menschliche Handeln vom gesell¬
schaftlichen Sein bestimmt. Die wissenschaftliche Erkenntnis dient gerade
dazu, alle solche unmittelbaren und a priori bestimmten subjektiven Folge¬
rungen aufzuheben, die Menschen dazu zu bringen, auf der Grundlage
einer unbefangenen und objektiven Erwägung der Tatsachen und Zusam¬
menhänge zu handeln. Diese Tendenz wirkt sich natürlich auch im Alltags¬
leben aus: der Zusammenstoß der beiden Einstellungen läuft hier sehr oft
im Bewußtsein der Menschen nicht als der der wissenschaftlichen und der reli¬
giösen ab, jedoch der Sinn: ob das menschliche Beherrschen der Wirklich¬
keit sich auf anthropomorphistischer, auf den Menschen teleologisch zuge¬
spitzter Grundlage vollziehen kann, oder ob zu seinem adäquaten Vollzug
eine gedankliche Entfernung dieser Momente notwendig ist, bleibt auch auf
entwickelter Stufe eine wirkliche Divergenz des Alltagsdenkens.
In alledem kommt wieder der dem Alltagsdenken nahestehende Charakter
der Religion zur Geltung. So energisch sie den Anspruch erhebt, den Boden
seines täuschenden und irreführenden Scheins weit hinter sich zu lassen,
das Fundament einer unbestreitbaren Absolutheit (Offenbarung) gefunden
zu haben, dessen Erreichen unbezweifelbare Direktiven für Handeln und
Verhalten gibt, so hat die als Abschluß entstehende Struktur der unmittel¬
baren Beziehung von Theorie und Praxis, wie gezeigt, die denkbar stärkste
Verwandtschaft zu der des Alltagslebens. Dies folgt notwendig aus dem
anthropomorphisierenden Charakter der religiös bearbeiteten Weise der
Widerspiegelung der Wirklichkeit. Wir haben nachzuweisen versucht, daß
in der alltäglichen Vhderspiegelung und Praxis bereits eine Tendenz zur
i34 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

Erkenntnis des Wesens enthalten ist. Diese wird aber erst im wissenschaft¬
lichen Verhalten zu einer bewußten Methode: zur klaren Trennung von
Erscheinung und Wesen, um von einem deutlich erkannten Wesen aus eine
Rückkehr zur Gesetzlichkeit der Erscheinungswelt möglich zu machen. Je
energischer diese Methode ausgebildet wird, desto schärfer trennt sich die
in der Wissenschaft widerspiegelte Wirklichkeit inhaltlich wie formell von
den unmittelbaren Spiegelungsarten des Alltags. Dadurch erscheint das
wissenschaftliche Spiegelbild der Wirklichkeit vom Standpunkt des Alltags
aus gesehen und gewertet oft als paradox. Marx hat - nachdem er ausführ¬
lich auseinandergesetzt hat, daß eine Erklärung des Profits nur von dem
Lehrsatz aus, daß die Waren durchschnittlich zu ihren wirklichen Werten
verkauft werden, möglich ist - dieses wichtige Ergebnis für die allgemeine
Methodologie der Wissenschaft in ihrem Verhalten zum Alltag plastisch
verallgemeinert: »Dies scheint paradox und im Widerspruch zu den täg¬
lichen Beobachtungen. Es ist auch paradox, daß die Erde sich um die Sonne
bewegt, und daß das Wasser aus zwei leicht entzündlichen Gasen besteht.
Wissenschaftliche Wahrheiten sind immer paradox, wenn man sie an der
alltäglichen Erfahrung mißt, welche nur den täuschenden Schein der Dinge
erfaßt (Marx: Lohn, Preis und Profit, Berlin 1928 S. 41).«
Über die Rückverwandlung vieler Ergebnisse der wissenschaftlichen Wider¬
spiegelung in unmittelbare Alltagspraxis haben wir bereits gesprochen. Sie
wird dadurch möglich, daß in dieser Rückverwandlung die paradoxen Be¬
ziehungen der wissenschaftlich gespiegelten Welt wieder zur Unmittelbarkeit
verblassen, ihre eigentlichen Kategorien verschwinden, Verfahren und Er¬
gebnisse werden durch Gewöhnung, Tradition etc. ins Alltagsleben ein¬
gebaut, so daß die Resultate der Wissenschaft praktisch verwendet werden
können, ohne eine sofortige fundamentale Änderung des Alltagsdenkens
hervorzurufen. Daß das gesellschaftlich-geschichtliche Kumulieren solcher
Aneignungen der Ergebnisse der Wissenschaft auch das allgemeine Weltbild
des Alltags verändert, ist selbstverständlich. Dies geschieht jedoch zumeist
vermittels auf der Oberfläche kaum merkbarer kapillarischer Änderungen,
die allmählich Horizont, Inhalte etc. des Alltagslebens und -denkens weit¬
gehend modifizieren, ihre wesentliche Struktur aber vorerst nicht grund¬
legend verwandeln. (Natürlich kommen auch Fälle der revolutionären Ver¬
wandlung vor; es genügt an den Sturz der geozentrischen Astronomie zu
denken.)
Wir sagten: ein Weg von der Erscheinung zum Wesen ist auch in der reli¬
giösen Widerspiegelung der Wirklichkeit vorhanden. Ihre Eigenart besteht
Prinzipien und, Anfänge der Differenzierung 135

jedoch gerade in ihrem anthropomorphisierenden Charakter: das, was


als Wesen aufgefaßt wird, verliert für keinen Augenblick die menschlichen
Züge. Das heißt, ob es sich um die Beschaffenheit der Natur oder um
menschliche (gesellschaftliche, ethische etc.) Probleme handelt, das Wesentliche
wird in typischen menschlichen Charakteren und Schicksalen zusam¬
mengefaßt, wobei das Typisieren (das Hervorheben des Wesentlichen) in der
Form von Mythen vollbracht wird, die dieses Wesentliche als ein Geschehen
in uralter Vergangenheit, im Jenseits, eventuell auch mitten in der Ge¬
schichte, wie die Evangelien, darstellen, wodurch eine isolierte Insel des
Mythos entsteht. Auch so weit es sich um die Natur handelt, arbeiten
diese Mythen mit personifizierenden, anthropomorphisierenden Mitteln.
Dadurch entsteht auch hier eine gewisse paradoxe Beziehung zwischen nor¬
maler Widerspiegelung der Welt im Alltag und zwischen ihren religiösen
Spiegelungen. Der grundlegende Unterschied zur eben angedeuteten Para¬
doxie der wissenschaftlichen Widerspiegelung besteht darin, daß nicht die
(stets nur annähernd erfaßte) objektive Wirklichkeit im Gegensatz zum
unmittelbar Erlebten des Alltags steht, sondern diese mit einer anderen
ebenfalls unmittelbar erlebbaren und zu erlebenden, von Anthropomor¬
phismen beherrschten Widerspiegelung kontrastiert wird. Was für Pro¬
bleme dabei entstehen, kann am besten an den verschiedenen Gott-Mensch-
Mythen studiert werden. Natürlich verwenden die Theologien viel Scharf¬
sinn darauf, diese Paradoxien auch gedanklich zu klären. Die genuin reli¬
giöse Beziehung kann aber dadurch höchstens unterstützt, niemals fundiert
werden. Sie ist eine unmittelbare, emphatische Beziehung zu einem Gott¬
menschen von dieser oder anderer Beschaffenheit. Die Entstehung dieses
genuin religiösen Verhältnisses wird davon abhängen, wie weit jeder ein¬
zelne Mensch das idealisierte oder sinnlich-unmittelbare Abbild seiner eigen¬
sten, persönlichsten Lebensprobleme (Wunsch, Angst, Sehnsucht etc.) in
diesen Mythen erkennt. Die gesellschaftlich-geschichtlichen Wandlungen der
Mythen, die sie hervorrufenden und von ihnen hervorgerufenen Gedanken
und Gefühle gehören nicht hierher. Diese pflegen seit der Herrschaft der
Magie einen den gegebenen Gesellschaftszustand konservierenden Charak¬
terzug zu haben und werden auch bewußt, vermittels theologischer Inter¬
pretationen in dieser Richtung ausgebildet. Es kommt aber auch vor, daß
sie Wunsch, Angst, Sehnsucht etc. der Unterdrückten laut werden lassen;
Vico hat dies schon bei einigen griechischen Mythen erkannt, und ohne
Frage bewegt sich z. B. die ketzerische Religiosität des Mittelalters von
Joachim de Fiore bis zu Thomas Münzer und zu den englischen Purita-
136 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

nern in dieser Richtung. Bei allen hier entstehenden, stark gegensätzlichen


gesellschaftlich-geschichtlichen Varianten bleibt aber dieselbe Grundstruk¬
tur bestehen: eine anthropomorphisierende, mehr oder weniger bildlich
sinnliche »Auslegung« der Wirklichkeit, als Erfassen ihres »Wesens«, die
sich direkt und emphatisch auf die Seele der einzelnen Menschen richtet,
um in ihnen unmittelbar in die - religiöse - Praxis umzuschlagen. Der
Ablösungsprozeß der Wissenschaft vom Alltagsleben stößt also seinem
Wesen nach auch mit der religiösen Anschauungsweise zusammen; ganz
abgesehen von den inhaltlichen Gegensätzen in der Widerspiegelung
der Wirklichkeit und deren Interpretation. Daß unter bestimmten gesell¬
schaftlichen Verhältnissen diese Gegensätze sich - auch für lange Zeit -
abstumpfen, ändert nichts an der prinzipiellen Unauflösbarkeit dieses
Gegensatzes.
Der zweite wesentliche Gesichtspunkt ist, ob den Gegenständen einer sol¬
chen anthropomorphisierenden, anthropozentrischen Widerspiegelungsart
der Wirklichkeit das Prädikat der Realität zugesprochen werden kann.
Bekanntlich steht und fällt jede Religion mit der Bejahung dieses Dilemmas.
Die Konflikte mit der Wissenschaft erhielten in der Vergangenheit zumeist
die Wendung, daß auf dem Wege der Religion eine höhere Wirklichkeit
(oder ein höheres Wissen über die Wirklichkeit) erreicht werden könne, als
auf dem der Wissenschaft. Wenn in Spätzeiten der Auflösung oder Zurück-
drängung von Religionen der Gegensatz dahin abgeschwächt wird, daß es
sich um eine »andere« Wirklichkeit (um einen »andern« Aspekt der Wirk¬
lichkeit) handelt, nicht um ein »Über«, sondern um ein »Neben« der wis¬
senschaftlichen Widerspiegelung, so ändern mit solchen Mitteln erzielte oder
erreichte weltanschauliche Kompromisse nichts an der Grundtatsache, denn
die bewußt anthropomorphisierende religiöse Widerspiegelung muß den
Anspruch erheben, die Produkte ihrer Widerspiegelung als absolute Wirk¬
lichkeiten gelten zu lassen. Sobald dieser Anspruch erlischt, hört die Reli¬
gion auf als Religion zu existieren.
Um nun später ausführlich zu Behandelndes kurz vorwegzunehmen: hier
ist das Feld der intimen Berührung, der gegenseitigen Befruchtung und zu¬
gleich des unaufhebbaren Widerspruchs von Religion und Kunst. Feuerbach,
der den Wirklichkeitscharakter der Religionen auch damit bekämpft, daß er
in ihnen bloße Produkte der menschlichen Phantasie erkennt, sagt über
diese Frage: »die Religion ist Poesie. Ja, sie ist es; aber mit dem Unter¬
schiede von der Poesie, von der Kunst überhaupt, daß die Kunst ihre Ge¬
schöpfe für nichts anderes ausgibt, als sie sind, für Geschöpfe der Kunst; die
Prinzipien und Anfänge der Differenzierung *37

Religion aber ihre eingebildeten Wesen für wirkliche Wesen ausgibt.«1


Lenin faßt diesen Gedanken in seinen Feuerbach-Konspekten so zusammen:
»Die Kunst fordert nicht die Anerkennung ihrer Werke als Wirklichkeit.« 2
Ist der Anspruch auf adäquate Widerspiegelung der Wirklichkeit das Feld,
wo Religion und Wissenschaft endlich Zusammenstößen müssen, so schafft
die gemeinsame anthropomorphisierende Methode der Widerspiegelung das
Terrain für Berührung und Konkurrenz von Religion und Kunst. Scheinbar
macht die oben zitierte Gegensätzlichkeit in bezug auf den Realitätsanspruch
der Gebilde einen Kampf hinfällig. Und tatsächlich gibt es lange und wich¬
tige Perioden, in denen eine Zusammenarbeit relativ konfliktslos möglich
war. Aber eben auch dann nur relativ. Denn die Gemeinsamkeit der an-
thropomorphisierenden Widerspiegelung verrät, daß es sich bei beiden
um die gesellschaftliche Erfüllung ähnlich gearteter Bedürfnisse handelt,
jedoch in beiden Fällen in völlig entgegengesetzter Weise, wodurch die sich
sonst nahe berührenden Inhalte und Formen eine Tendenz zur Gegensätz¬
lichkeit erhalten. Es handelt sich um viel mehr als bloß um das Bedürfnis
nach Personifikation, das auf jeder primitiven Stufe am Anfang der erken¬
nenden Bewältigung der Wirklichkeit entsteht, worin, wie wir gesehen
haben, die Grundlage des Antagonismus zwischen Wissenschaft und Reli¬
gion besteht. Wir werden später ausführlich zeigen, wie fundamentale
menschliche Bedürfnisse die anthropomorphisierende Widerspiegelung der
Wirklichkeit durch die Kunst wachgerufen haben. Diese berühren sich beson¬
ders auf primitiven Stufen sehr nahe mit denen, die die Religion befriedigt:
mit dem Schaffen des Abbilds einer dem Menschen - subjektiv wie objek¬
tiv - im höchsten Sinne angemessenen Welt.
Die oben angedeutete Differenz, daß die Kunst den so geschaffenen Gebil¬
den - im Gegensatz zur Religion - keinen objektiven Wirklichkeitscharak¬
ter zuschreibt, daß ihre tiefste objektive Intention auf bloße anthropomor¬
phisierende, anthropozentrische Abbildlichkeit des Diesseits gerichtet ist, ist
keineswegs ein Sich-Bescheiden der Religion gegenüber. Im Gegenteil. Diese
objektive Intention enthält - einerlei was Künstler oder Rezeptive zeit¬
weilig darüber denken - die Ablehnung einer jeden Transzendenz. In ihrer
objektiven Intention ist die Kunst ebenso religionsfeindlich wie die Wissen¬
schaft. Das sich-Bescheiden auf diesseitige Abbildlichkeit involviert einer-

1 Feuerbach: Sämtl. Werke, Leipzig 1851, VIII. S. 233.


2 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 316.
x38 Probleme der Widerspiegelung im Alltagsleben

seits das souveräne Recht des Schaffenden, Wirklichkeit und Mythen nach
eigenen Bedürfnissen umzumodeln. (Daß dieses Bedürfnis gesellschaftlich
bedingt und bestimmt ist, ändert nichts an diesem Tatbestand.) Anderer¬
seits wird von der Kunst jede Transzendenz - künstlerisch - in Diesseitig-
keit verwandelt, auf das gleiche Niveau als Darzustellendes gesetzt, wie
das eigentliche Diesseits. Wir werden später sehen, daß diese Tendenzen
verschiedene gegen die Kunst gerichtete Theorien (Lügenhaftigkeit etc.)
hervorrufen. Der aus diesen Antagonismen entspringende Kampf zwischen
Religion und Kunst ist dem allgemeinen Bewußtsein weit weniger gegen¬
wärtig als der zwischen Wissenschaft und Religion, obwohl freilich auch
dieser - von beiden Seiten - oft verwischt wird. Wir werden uns deshalb
in einem eigenen Kapitel damit zu beschäftigen haben, wo natürlich auch die
historischen, immer wieder auftauchenden, jedoch nicht aus dem objektiven
Wesen beider Gebiete folgenden Gegensätze zwischen Wissenschaft und
Kunst gelegentlich zur Sprache kommen.
Es ist klar, daß alle diese objektiven Antagonismen sich unmöglich im An¬
fangsstadium der Menschheit äußern konnten. In der Magie sind noch die
undifferenzierten Keime von wissenschaftlichem, künstlerischem und reli¬
giösem Verhalten vollkommen zur Einheit gemischt, und die aus der Arbeit
herauswachsenden Tendenzen der Wissenschaft können noch nicht bewußt
werden. Die Ablösung erfolgt relativ spät, je nach den spezifischen gesell¬
schaftlichen Verhältnissen äußerst ungleichmäßig. Wir haben bereits darauf
hingewiesen, daß in bestimmten Kulturen eine hohe Kunst, eine relativ
große Entwicklung gewisser Zweige und Probleme der Wissenschaften ent¬
stehen kann, ohne daß von einem künstlerischen oder wissenschaftlichen
Geist, von einem subjektiven Bewußtwerden der objektiven Intentionen
dieser Gebiete auch nur die Rede sein könnte. Wir werden im Folgenden
zuerst die Prinzipien des Selbständigwerdens der Wissenschaft kurz unter¬
suchen und die darauffolgenden Betrachtungen über einen ähnlichen Prozeß
in der Kunst mit der Darstellung ihres Befreiungskampfes schließen.
I39

Zweites Kapitel

Die Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung


in der Wissenschaft

I Bedeutung und Schranken der desanthropomorphisierenden Tendenzen


in der Antike

Wir haben gesehen, wie das Bedürfnis nach einer Erkenntnis der Wirklich¬
keit, die sich nicht nur faktisch, in einzelnen Fällen gewissermaßen zufällig,
sondern prinzipiell, methodologisch, qualitativ über das Niveau des Alltags
erhebt, aus den Lebenserfordernissen des Alltagslebens, vor allem der
Arbeit herauswächst. Andererseits haben wir auch sehen können, daß dieses
selbe Alltagsleben ununterbrochen Tendenzen hervorbringt, die eine umfas¬
sende Verallgemeinerung der Arbeitserfahrungen zur Wissenschaft hemmen
und hindern. Die Fortschritte des Menschengeschlechts auf primitiven Stufen
(und wie wir sehen werden, nicht nur auf diesen, wenn auch später mit viel ge¬
ringerer Macht des Widerstandes) bringen Widerspiegelungs- und Denkformen
hervor, die statt die spontan-naiven Personifikationen und Anthropomorphi-
sierungsformen des Alltags radikal zu überwinden, diese auf einer höheren
Stufe reproduzieren und gerade dadurch der Entwicklung des wissenschaft¬
lichen Denkens Schranken setzen. Engels gibt eine kurze Charakteristik dieser
Lage: »Schon die richtige Widerspiegelung der Natur äußerst schwer, Produkt
einer langen Erfahrungsgeschichte. Die Naturkräfte den ursprünglichen Men¬
schen Fremdes, Geheimnisvolles, Überlegenes. Auf einer gewissen Stufe, die
alle Kulturvölker durchmachen, assimiliert er sie durch Personifikation.
Dieser Personifikationstrieb schuf eben überall Götter, und der consensus
gentium des Beweises vom Dasein Gottes beweist eben nur die Allgemeinheit
dieses Personifikationstriebs als notwendiger Durchgangsstufe, also auch
der Religion. Erst die wirkliche Erkenntnis der Naturkräfte vertreibt die
Götter oder den Gott aus einer Position nach der anderen. ... Dieser Prozeß
jetzt so weit, daß er theoretisch als abgeschlossen angesehen werden kann.« 1

1 Engels: Vorarbeiten zum Anti-Dühring, a. a. O. S. 385 f.


140 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

Dieser Kampf zwischen den höheren personifizierenden Formen des Denkens


und den wissenschaftlichen hat sich in den Anfängen der Menschheitsentwick¬
lung nur in Griechenland wirklich entfaltet; nur hier erhebt er sich auf eine
prinzipielle Höhe und bringt damit eine Methodologie des wissenschaftlichen
Denkens hervor, die die Voraussetzung dafür bildet, daß diese Art der
Widerspiegelung der Wirklichkeit durch Einübung, Gewohnheit, Tradition etc.
zu einer allgemeinen, ständig funktionierenden Verhaltensweise der Menschen
wurde, daß nicht nur ihre unmittelbaren Ergebnisse bereichernd auf das All¬
tagsleben einwirkten, sondern auch ihre Methode die alltägliche Praxis beein¬
flußte, ja teilweise umgestaltete.
Entscheidend ist gerade dieser bewußte, allgemeine, prinzipielle Charakter
des Gegensatzes. Denn, wie wir bereits sehen konnten, läßt die Entfaltung
der Arbeitserfahrungen zwar vielfach einzelne, sogar hochentwickelte Wis¬
senschaften (Mathematik, Geometrie, Astronomie etc.) entstehen; wenn
jedoch die wissenschaftliche Methode nicht philosophisch verallgemeinert
und zu den anthropomorphisierenden Weltanschauungen in Gegensatz
gesetzt wird, können sich ihre einzelnen Ergebnisse den verschiedensten
magischen, religiösen Weltanschauungen anpassen, ihnen einverleibt wer¬
den, und die Wirkung des wissenschaftlichen Fortschritts einzelner Fach¬
gebiete auf das Alltagsleben wird gleich Null sein. Diese Möglichkeit
wird noch dadurch gesteigert, daß die Wissenschaft in solchen Fällen der
Monopolbesitz, das »Geheimnis« einer enggeschlossenen Kaste (zumeist von
Priestern) zu sein pflegt, die eine Verallgemeinerung der wissenschaftlichen
Methode zur Weltanschauung künstlich, institutionell verhindert.
Die spezifische Stelle Griechenlands in dieser Entwicklung, seine Verkörpe¬
rung der »normalen Kindheit« des Menschengeschlechts (Marx), hat sehr
bestimmte gesellschaftliche Grundlagen. Vor allem die besondere Form der
Auflösung der Gentilgesellschaft. Marx gibt darüber eine eingehende und
ausführliche Analyse, aus welcher wir hier bloß die allerwesentlichsten
Punkte hervorheben können. Das Wesentlichste scheint uns, daß der Ein¬
zelne Privateigentümer (und nicht nur Besitzer) seiner Parzelle wird, daß
aber gleichzeitig dieses Privateigentum an die Gemeindemitgliedschaft ge¬
bunden ist: »Voraussetzung bleibt hier für die Aneignung des Grund und
Bodens Mitglied der Gemeinde zu sein, aber als Gemeindemitglied ist der
Einzelne Privateigentümer.« Das hat für die Produktionsverhältnisse die
natürliche Folge, daß keine Staatssklaverei entsteht (wie im Orient), son¬
dern daß die Sklaven stets den Privateigentümern angehören. Es ist klar,
daß ein solches gesellschaftliches Sein auch bewußtseinsmäßig in der Rieh-
Desanthropomorphisierende Tendenzen in der Antike 141 2

tung einer gesteigerten und differenzierteren Ausbildung der Subjekt-


Objekt-Beziehung sich auswirken muß, im Vergleich zu Formationen, in
denen einerseits die urkommunistischen Gemeinsamkeitsformen des gesell¬
schaftlichen Lebens aufbewahrt bleiben und dabei, statt der in Griechenland
erwachsenen Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden, diese
unter zentralistischer, tyrannischer Herrschaft stehen (Orient). Diese Ten¬
denz der Entwicklung wird noch dadurch gesteigert und beschleunigt, daß
sie ganz eng mit der Entstehung und dem raschen Wachstum von Städten,
von städtischer Kultur verbunden ist. Diese in Griechenland ausgebildete
Form »unterstellt nicht das Land als die Basis, sondern die Stadt als schon
geschaffenen Sitz (Zentrum) der Landleute (Grundeigentümer). Der Acker
erscheint als Territorium der Stadt; nicht das Dorf als bloßes Zubehör zum
Land.« Die unauflösbare Problematik einer solchen Formation haben wir
hier nicht zu untersuchen. Nur der Abrundung wegen sei bemerkt, daß
Marx das relative Gleichbleiben der Vermögen als Grundlage der Blüte
solcher Gemeinwesen betrachtet: »Die Voraussetzung der Fortdauer des
Gemeinwesens ist die Erhaltung der Gleichheit und der seiner freien self-
sustaining peasants und die eigene Arbeit als die Bedingung der Fortdauer
ihres Eigentums.« 1
Diese Grundzüge der ökonomischen Entwicklung haben eine für unser
Problem äußerst wichtige Folge: die auf diesem Boden entstehende politi¬
sche Demokratie (selbstredend eine solche der Sklavenhalter) erstreckt sich
auch auf das Gebiet der Religion, wodurch eine frühe und weitgehende
Emanzipation der Entfaltung der Wissenschaft von den sozialen und ideo¬
logischen Bedürfnissen der Religion möglich wurde. Jacob Burckhardt stellt
diese neue Lage mit ihren wichtigsten Folgen in den Mittelpunkt seiner
Betrachtungen: »Vor allem hatte hier kein Priestertum aus Religion und
Philosophie eins gemacht, und besonders bedingte die Religion auch, wie
schon gesagt, keine Kaste, welche als gegebene Hüterin des Wissens und
Glaubens zugleich auch die Eigentümerin des Denkens hätte sein können.«
Das ist jedoch bloß die negativ-befreiende Seite für die Entwicklung einer
wissenschaftlichen Methode und Weltanschauung. Dieselben Entwicklungs-

1 Marx: Grundrisse, a. a. O. S. 378/9.


2 J. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, Leipzig, Kröners Taschenausgabe,
Band II S. 358, ähnlich: J. Belech: Griechische Geschichte, Straßburg 1893, Band I,

S. 127 f.
142 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

tendenzen der griechischen Gesellschaft, die wir eben kurz geschildert haben,
bringen auf der anderen Seite eine gesellschaftliche Verachtung der Arbeit
hervor, deren Folgen man im Laufe der Geschichte der griechischen Wissen¬
schaft und Philosophie immer wieder beobachten kann. Marx verspottet
Nassau Senior, weil dieser Moses einen »produktiven Arbeiter« nennt. Er
hebt dabei den scharfen Gegensatz der Beziehung zur Arbeit in Antike und
Kapitalismus hervor. »War es Moses von Ägypten oder Moses Mendels¬
sohn? Moses würde sich schön bei Herrn Senior bedankt haben, ein Smith¬
scher produktiver Arbeiten zu sein. Diese Menschen sind so unter ihre
fixen Bourgeois-Ideen unterjocht, daß sie glauben würden, den Aristoteles
oder den Julius Caesar zu beleidigen, wenn sie dieselben »unproduktive
Arbeiten nennten. Diese würde schon den Titel »Arbeiten als eine Beleidi¬
gung betrachtet haben1.« Damit sind erst die gesellschaftlichen Grundlagen
für die erste klare Trennung der wissenschaftlichen Widerspiegelung der
Wirklichkeit von der des Alltags sowie von der der Religion gegeben. Erst
die so errungene Selbständigkeit der Wissenschaft macht es möglich, all¬
mählich eine einheitliche wissenschaftliche Methodologie und Weltanschau¬
ung auszubilden, die Kategorien in ihrer wissenschaftlichen Eigenart und
Reinheit zu erkennen, die einzelnen Ergebnisse der Praxis und der For¬
schung zu verallgemeinern und zu systematisieren etc.
Natürlich bedeutet die so errungene Freiheit zur Selbstbewegung der Wis¬
senschaft nicht ihre konfliktlose Evolution. Im Gegenteil. Gerade dadurch
wird es erst möglich, die inhaltliche und methodologische Gegensätzlichkeit
zu Religion (auch Alltagsdenken) klar auszusprechen, wissenschaftlich zu
formulieren. Eben deshalb wäre es falsch, diese Freiheit unzulässig zu ver¬
absolutieren. Aus unserer obigen Feststellung, daß es für die griechische
Religion und Priesterschaft unmöglich war, die Wissenschaft sich zu unter¬
werfen, folgt keineswegs ein friedliches Verhältnis zwischen beiden. Das
Herausarbeiten der spezifischen Kategorien und Methoden der Wissenschaft
bedeutete zwangsläufig einen immer entschiedeneren Kampf gegen jede Art
von Personifikation und damit gegen jene Mythen, in denen die griechische
Religiosität sich objektivierte. (Aus der von uns angedeuteten historischen
Lage folgt ebenfalls notwendig, daß der Kunst, besonders der Poesie, durch
Ausbildung und Auslegung dieser Mythen eine sonst nie dagewesene Rolle
zuteil wurde; woraus denn auch die auffallend feindselige Stimmung

1 Marx: Theorien über den Mehrwert, a. a. O. Band I S. 387.


Desanthropomorphisierende Tendenzen in der Antike M3

zwischen Philosophie und Poesie als eines der Merkmale der griechischen Ent¬
wicklung zu erklären ist.) Was die Religion betrifft, so darf man das Fehlen
einer Priesterkaste nicht einfach als gesellschaftliche Machtlosigkeit der Reli¬
gion auffassen. Die ganze Struktur der Polis, die herrschende Stellung des
öffentlichen Lebens, die sich schon im Grundeigentum ausdrückt, indem
man nur als Bürger der Polis Privateigentümer seiner Parzelle sein kann,
würde dem widersprechen. Der religiöse Kultus, die Tempel etc. waren seit
Anfang einer Gesetzgebung rechtlich (und früher durch Sitte) geschützt.
Und im Verlauf der sich verschärfenden Attacken auf die personifizierende,
anthropomorphisierende Widerspiegelung der Wirklichkeit werden diese
Gesetze auch auf die theoretischen Angriffe gegen die Religion ausgedehnt.
So entstand in Athen das Gesetz gegen die »Asebeia«: »Es sollen die Leute
vor Gericht gezogen werden, die nicht an die Religion glauben oder Unter¬
richt in der Astronomie erteilen1.« So wurden z. B. Anaxagoras, Protagoras
etc. verklagt. Es ist sehr bezeichnend, daß im Gesetz selbst, wie in der An¬
klage gegen Anaxagoras, die Astronomie eine entscheidende Rolle spielt. Sie
ist und bleibt für lange Zeit das Schlachtfeld, wo anthropomorphisierende
und desanthropomorphisierende Widerspiegelungen der Wirklichkeit vor
allem Zusammenstößen. Es zeigt sich aber zugleich, daß die in den Einzel¬
heiten wissenschaftliche, auf exakte Beobachtung und Mathematik fun¬
dierte Forschung nicht genügt, um den prinzipiellen Gegensatz auszutragen.
Die in vieler Hinsicht hochentwickelte Astronomie des Orients konnte in
personifizierende Begriffssysteme eingebaut werden. Erst die methodolo¬
gische und weltanschauliche Verallgemeinerung bei den Griechen zeigt, daß
sich an dieser Frage die Wege trennen können und müssen. Die griechischen
»Asebeia«-Prozesse sind ein Vorklang jener Verfahren, die die Inquisition
gegen Giordano Bruno und Galilei geführt hat.
Die griechische Entwicklung schafft auf diese Weise die Fundamente des
wissenschaftlichen Denkens. Allerdings muß sogleich hinzugefügt werden,
daß dieselben Gesetze der griechischen Produktionsweise, die diese Möglich¬
keit hervorgebracht haben, zugleich ihrer restlosen Entfaltung, ihrem kon¬
sequenten Zu-Ende-führen unübersteigbare Hindernisse in den Weg stell¬
ten: die infolge der Sklaven Wirtschaft entstandene Verachtung der produk¬
tiven Arbeit, das, was Jacob Burckhardt das Antibanausentum nennt. Wir
können uns auch mit dieser Frage hier unmöglich eingehend beschäftigen,

1 Zitiert bei W. Nestle: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940, S. 479 f.
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
144

selbst wenn wir uns auf die hier vor allem wesentliche Frage, auf die gegen¬
seitige Befruchtung von Produktion und Theorie beschränken würden. Es
genüge, wenn wir - nach Plutarchs Biographie des Marcellus - diese Lage
kurz andeuten. Plutarch erzählt, wie Versuche, die Gesetze der Geometrie
auf den Maschinenbau anzuwenden, den heftigsten Widerstand Platons
hervorriefen, der eine Entwürdigung der Geometrie darin sah, daß sie auf
praktisch-mechanische Probleme angewendet, in die sinnlich-körperliche
Welt herabgezogen werde. Unter solchen Einflüssen trennte sich die Mecha¬
nik von der Geometrie und wurde zum Handwerk, das vor allem im Heer
angewendet wurde. Und selbst bei Archimedes hebt Plutarch hervor, daß er
die Anwendung der Mechanik als Handwerk verachtete und nur aus Patrio¬
tismus sich an der Verteidigung von Syrakusa mit seinen Erfindungen be¬
teiligte. Die Verachtung der produktiven Arbeit ist natürlich nur die ideo¬
logische Kehrseite der Lage, daß in einer Sklavenwirtschaft die Anwendung
von Maschinen (eine wissenschaftliche Rationalisierung der Arbeit) ökono¬
misch unmöglich ist. Das hat zur Folge, daß in der griechischen Entwicklung
weder die Ergebnisse der theoretischen Forschung einen ausschlaggebenden
Einfluß auf die Technik der Produktion, noch die Probleme der Produktion
eine befruchtende, weiterführende Wirkung auf die Wissenschaft haben
konnten. Es ist bezeichnend, daß die meisten geistvollen Erfindungen
Herons im Altertum bloß Spielereien blieben, und es der Wissenschaft der
Renaissance Vorbehalten blieb, aus ihnen wirklich praktische und darum
theoretische Folgerungen zu ziehen1. Diese Schranke ist in der griechischen
Wissenschaft und Philosophie überall spürbar; sie verhindert den konse¬
quenten, bis in die Details hinunterreichenden Ausbau des wissenschaftlichen
Prinzips, der wissenschaftlichen Methode in der Ausbildung der Widerspie¬
gelung der Wirklichkeit, die einheitliche Begriffsbildung in Wissenschaft und
Philosophie gerade in ihrem Gegensatz zum Alltagsdenken und zur Reli¬
gion und gleichzeitig den Ausbau eines allseitigen Zusammenhangs zwischen
Wissenschaft und Praxis des Alltags.
Innerhalb dieser Schranken hat jedoch die griechische Philosophie die ent¬
scheidenden Probleme der Eigenart der wissenschaftlichen Widerspiegelung
der Wirklichkeit nicht nur aufgeworfen, sondern vielfach zu einer vollen
Klärung gebracht. Sie hat - und damit steht die Ausbildung der Dialektik

1 P. S. Kudrawzew: Geschichte der Physik (in ungarischer Sprache), Budapest 1951,


S. 71.
Desanthropomorphisierende Tendenzen in der Antike M5

auf einem hohen Niveau im engsten Zusammenhang - sowohl die Formen


der Trennung und der Gegensätzlichkeit wissenschaftlichen und alltäglichen
(auch religiösen) Denkens, wie die Funktion der wissenschaftlichen Wider¬
spiegelung im Dienst des Lebens, ihre befruchtende Rückkehr ins Leben
herausgearbeitet. Die oben angedeutete Schranke hat zur Folge, daß die
Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Leben auf dem Gebiet der
gesellschaftlichen Erkenntnis, z. B. in der Ethik, sich viel konkreter zeigen,
als in der Methodologie der Naturwissenschaften, wo, besonders in den
späteren Entwicklungsetappen der Naturphilosophie wieder überwiegend
anthropomorphisierende Kategorien in den Mittelpunkt gestellt werden.
Die Ffauptlinie ist trotz alledem die Begründung einer wirklichen Objekti¬
vität der Erkenntnis, ihre Loslösung von jenem Subjektivismus, der inner¬
halb des Alltagslebens unüberwindlich bleibt: die Kritik der Sinnestäuschun¬
gen, der Trugschlüsse, die die Unmittelbarkeit des alltäglichen Denkens her¬
vorbringt, stehen dabei im Zentrum. Von diesem Standpunkt bedeutet die
Philosophie der Vorsokratiker einen Wendepunkt in der Geschichte des
menschlichen Denkens. Ob das Feuer oder das Wasser als die allgemeinste
Substanz bestimmt wird, aus der alle Erscheinungen der Wirklichkeit abge¬
leitet und erklärt werden sollen, ob eine auf Objektivität drängende dialek¬
tische Widersprüchlichkeit der Ruhe oder der Bewegung aufgedeckt wird:
in allen diesen Fällen geht das philosophische Bestreben darauf aus, die
menschliche Subjektivität mit ihren Grenzen, Beschränkungen, Vorurteilen
weit hinter sich zu lassen, die objektive Wirklichkeit, so wie sie an sich ist -
möglichst wenig getrübt von den Zutaten des menschlichen Bewußtseins -
mit höchster Treue widerzuspiegeln. Diese Bewegung erreicht ihren Gipfel¬
punkt im Atomismus von Demokrit und Epikur, wo bereits unsere ganze
menschliche Erscheinungswelt als gesetzmäßiges Produkt der Beziehungen und
Bewegungen der Elementarteile der Materie gefaßt wird. Wenn auch hier
überall - und insbesondere auf dieser geistigen Spitze - die von uns geschil¬
derte Schwäche, die Unmöglichkeit, das philosophisch richtig ergriffene
Prinzip zur wirklichen Forschungsmethode der Wissenschaft bis in die
Einzeluntersuchungen zu machen, stets wieder auftaucht, so ist es doch
unzweifelhaft, daß die griechische Philosophie hier das endgültige - zwar
in Einzelheiten vielfach zu korrigierende - methodologische Modell für die
Widerspiegelung der Natur gefunden hat.
Analysiert man die methodologischen Grundlagen des von Thaies bis
Demokrit-Epikur Erreichten, so lassen sich zwei grundlegende Feststellungen
machen. Erstens, daß ein wahrhaft wissenschaftliches Erfassen der objek-
146 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

tiven Wirklichkeit nur durch einen radikalen Bruch mit der personifizieren¬
den, anthropomorphisierenden Anschauungsweise möglich ist. Die wissen¬
schaftliche Art der Widerspiegelung der Wirklichkeit ist ein Desanthropo-
morphisieren sowohl des Objekts wie des Subjekts der Erkenntnis. Des
Objekts, indem sein An-sich von allen Zutaten des Anthropomorphismus
nach Möglichkeit gereinigt wird; des Subjekts, indem es sein Verhalten zur
Wirklichkeit darauf einstellt, die eigenen Anschauungen, Vorstellungen, Be¬
griffsbildungen ununterbrochen daraufhin zu kontrollieren, wo und wie
anthropomorphisierende Entstellungen der Objektivität in die Aufnahme
der Wirklichkeit eindringen können. Der konkrete Ausbau wird das Ergeb¬
nis einer späteren Entwicklung sein, die methodologischen Grundlagen sind
aber bereits hier niedergelegt: daß das Subjekt der Erkenntnis eigene Instru¬
mente, Verfahrungsweisen ersinnt, mit deren Hilfe es einerseits die Rezep¬
tion der Wirklichkeit unabhängig von den Schranken der menschlichen
Sinnlichkeit macht, andererseits aber die Selbstkontrolle sozusagen auto¬
matisiert.
Zu dieser Frage des Desanthropomorphisierens sei aber noch - zweitens -
bemerkt, daß sein Vollzug mit dem Bewußtwerden des philosophischen Mate¬
rialismus zusammengeht. Wir haben gesehen, daß der urwüchsige, spontane
Materialismus des Alltagslebens keinen gedanklichen Schutz gegen das
Vordringen, gegen die Herrschaft der idealistisch-religiösen Personifikation
aufzubieten vermag. Dementsprechend ist der auf einer relativ großen
Höhe der Kultur auftretende philosophische Materialismus keineswegs seine
direkte Weiterführung und Ausbildung. Natürlich kann er sich auch auf
solche Erlebnisse stützen, aber selbst dies geschieht in einer durchaus kritisch¬
dialektischen Weise, indem einerseits die unmittelbaren Sinneseindrücke
als Grundlage genommen und gegen idealistische Uminterpretationen ver¬
teidigt werden, andererseits jedoch ihre sich ununterbrochen verschärfende
kritische Überprüfung vollzogen wird. Die spontane Überzeugung von der
Existenz einer vom menschlichen Bewußtsein unabhängigen Außenwelt erfährt
also eine qualitative Änderung, eine qualitative Erhöhung durch ihr philo¬
sophisches Bewußtwerden, durch ihre weltanschauliche Verallgemeinerung.
Dadurch tritt erst der bewußte Kampf von Materialismus und Idealismus
in die Philosophie ein, wird zu ihrer Zentralfrage. Und die Höhe dieser
materialistischen Verallgemeinerung, die zugleich Weite und Tiefe des
Durchdringens der Wissenschaft mit der desanthropomorphisierenden
Widerspiegelung und Begriffsbildung bedingt, umreißt zugleich das Terrain
des Kampfes zwischen Materialismus und Idealismus. Es kann hier natur-
Desanthropomorphisierende Tendenzen in der Antike I47

gemäß nicht unsere Aufgabe sein, diesen Widerstreit auch nur andeutungs¬
weise zu skizzieren. Es muß nur bemerkt werden, daß im Laufe der
Geschichte der desanthropomorphisierende Materialismus immer größere
Gebiete des menschlichen Wissens erobert, die der Idealismus - nolens vo-
lens - als solche zu räumen gezwungen ist, so daß in bezug auf das Schlacht¬
feld die Möglichkeiten des Idealismus immer stärker eingeengt werden, was
selbstredend nicht eine Kapitulation, sondern zuweilen eine Verschärfung
der Zusammenstöße bedeutet, allerdings unter geänderten Bedingungen. Es
ist aber für die aus der Ökonomie der Sklavenwirtschaft stammenden
Schwächen des griechischen Materialismus, der griechischen Art der Des-
anthropomorphisierung charakteristisch, daß diese veränderten Formen
zumeist erst nach der Renaissance auftauchen. Und auch in dieser selbst
gibt es noch heftige Fehden um die anthropomorphisierende Wesensart der
gesamten Erkenntnis (Fludd gegen Kepler und Gassendi).
Es entspricht der Lage der griechischen Kultur, daß die desanthropomor¬
phisierende Tendenz der Vorsokratiker notwendig in einer Kritik der
Mythen, die Inhalt und Form des religiösen Weltbilds der Zeit bestimmen,
kulminiert. Und da die Poesie in ihrer Ausbildung, Entwicklung Uminterpreta¬
tion etc. eine ausschlaggebendere Rolle spielt, als je später in der Geschichte,
wird in dieser Kritik der Religion die Poesie mitbetroffen. Die sogenannte
Kunstfeindlichkeit der griechischen Philosophie von den Vorsokratikern bis
Platon hat hier ihre geistigen Wurzeln. In der Wiederaufnahme der des-
anthropomorphisierenden Tendenzen seit der Renaissance verschwindet
dieser Angriff auf die Kunst oder spielt wenigstens eine äußerst episodische
Rolle. Das hängt einerseits mit der Entwicklung der exakten Naturwissen¬
schaften, und mit dem Konkreterwerden der desanthropomorphisierenden
Kategorien zusammen, wodurch es möglich wird, in der Kunst eine andere,
spezifische Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit zu erkennen (man
denke an die Stellungnahme von Galilei, Bacon etc. zur Kunst). Andererseits
damit, daß die Mythenbildung und Interpretation des Mittelalters von der
Kirche vollzogen wurde; die Kunst hatte ebenfalls einen Freiheitskampf gegen
sie zu bestehen.
Ganz klar und prinzipiell tritt dieser Kampf gegen jedwedes Anthropomor-
phisieren in den bekannten Aussprüchen von Xenophanes hervor: »Doch
wähnen die Sterblichen die Götter würden geboren und hätten Gewand
und Stimme und Gestalt wie sie.« - »Doch wenn die Ochsen und Rosse und
Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke
bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen
148
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

ochsenähnliche Göttergestalten machen und solche Körper bilden, wie jede


Art gerade selbst das Aussehen hätte.« - »Die Äthiopier behaupten, ihre
Götter seien schwarz und stumpfnasig, die Thraker blauäugig und rot¬
haarig 1.« Damit ist eine äußerst wichtige Umkehrung im menschlichen Den¬
ken entstanden: das, was bis dahin von der primitiven Magie bis zur ent¬
wickelten Religion als Erklärungsgrund der Phänomene in Natur und Ge¬
sellschaft, als das zentrale Prinzip der wahrhaft objektiven Wirklichkeit
auftrat, erscheint nunmehr als ein selbst der Erklärung bedürftiges subjektives
Phänomen der menschlichen Gesellschaft. Ob das Auf werfen einer solchen
Umkehrung des Problems zu einem radikalen Leugnen der Existenz der
Götterwelt, zur wirklichen Entgottung (Desanthropomorphisierung) des Uni¬
versums führt, oder ob die gesellschaftliche Notwendigkeit der Religion, bei
Feststellung ihrer Quelle in menschlichen Bedürfnissen, in Aktivitäten der
menschlichen Phantasie, doch anerkannt wird, ist vom Standpunkt unserer
Fragestellung nicht entscheidend, so wichtig sie vom Standpunkt der all¬
gemeinen Kulturentwicklung auch sein mag. Um so mehr als eine solche Ver¬
teidigung der Religion auf der Grundlage des »consensus gentium« als Apo¬
logie gerade jener einen Religion, die geschützt werden soll, sehr wenig
nützt. Protagoras kommt gerade dadurch zu einem vollkommenen - wenn
man diesen Ausdruck für Griechenland gebrauchen darf - historischen Relati¬
vismus, nach welchem jedes Volk die ihm entsprechenden Götter besitzt und
verehrt2. Diese Tendenz kann aber noch weitergehen; sie erhält etwa bei
Kritias eine vollständig zynisch-nihilistische Form: die Religion wird als ein
geistiges Polizeimittel zur Herstellung der Ordnung ideologisch gerechtfertigt:

So vor Gewalttat schützte nun Gesetzes Macht,


Doch was nicht offen böser Sinn sich unterwand
Zu tun, versucht er heimlich, und oft glückt es ihm.
Da, mein ich, sann mit weisem Sinn ein kluger Mann
Für das Geschlecht der Menschen eine Furcht sich aus,
Ein Schrecknis für die Bösen, wenn verstohlen auch
Sie Schlimmes täten, sagten oder sännen nur:
Den Götterglauben führt er unter ihnen ein!
Es sei ein Wesen, lehrt er, über Menschenart,

1 H. Diels: Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1906, Band I S. 49.


2 Nestle: a. a. O. S. 280.
Desanthropomorpbisierende Tendenzen in der Antike 149

Blühend in ewig junger, unerschöpfter Kraft,


Das hör und sehe mit dem innern geistgen Sinn,
Und acht aufs Recht! Kein Wort des Menschen, keine Tat,
Die es nicht sehn, die es nicht hören könne. »Drum,«
So warnt er, »wenn du noch so heimlich Böses sinnst,
Es sehns die Götter. Ist ihr ganzes Wesen doch
Vernunft!« 1

Parallel zu dieser Kritik des religiösen Anthropomorphisierens entfaltet sich


in der griechischen Philosophie auch die des Alltagsdenkens. Sie ist ein
durchlaufendes Motiv ihrer ganzen Entwicklung, sie ist schon in der Dialek¬
tik des Seins und des Werdens bei den Eleaten und Heraklit vorhanden,
erhält immer entwickeltere Formen in der späteren Philosophie, wobei -
was auf dieser Stufe unvermeidlich scheint — die Kritik der subjektiven
und anthropomorphistischen Schranken des Alltagsdenkens hier in einen
halb oder ganz religiösen Idealismus umschlägt: die gesellschaftliche Ent¬
wicklung, in welcher die notwendige Sackgasse der Sklavenwirtschaft immer
deutlicher zum Ausdruck kommt, läßt für unser Problem vor allem das
hervortreten, daß das objektive Wissen von der Natur, das in dieser Periode
in den Einzelwissenschaften seinen Gipfelpunkt erreicht, weniger imstande
ist das allgemeine erkenntnismäßige Verhalten des Anthropomorphisierens
zu beeinflussen, als die weitaus lückenhafteren Kenntnisse des dezidiert
philosophischen Anfangs. Hegel hat die so entstehende Lage sehr klar er¬
blickt. Er sieht den Unterschied zwischen antikem und modernem Skep¬
tizismus (und auch den zwischen der frühen und späten Periode in der
Antike selbst) darin, daß ersterer eine Kritik des Alltagsdenkens ist, während
der zweite sich vor allem gegen die Objektivität des philosophischen Den¬
kens richtet. Es ist klar, daß für uns gerade die erste Periode, als Ergänzung
des bisher Ausgeführten, wichtig ist, während die zweite als Moment des
oben angedeuteten Rückschlags einstweilen außerhalb des Rahmens unserer
Untersuchung steht. Hegel führt über die erste folgendes aus: »Noch mehr
aber beweist der Inhalt dieser Tropen... wie sie ganz allein gegen den
Dogmatismus des gemeinen Menschenverstandes gehen; kein einziger be¬
trifft die Vernunft und ihre Erkenntnis, sondern alle durchaus nur das

1 Zitiert aus »Sokrates geschildert von seinen Schülern«, Jena 1911, Band II
S. 394 f.
I JO Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

Endliche und das Erkennen des Endlichen, den Verstand .. . Dieser Skep¬
tizismus ist demnach . . . gegen den gemeinen Menschenverstand oder das
gemeine Bewußtsein gewendet, welches das Gegebene, die Tatsache, das
Endliche (dies Endliche heiße Erscheinung oder Begriff) festhält und an
ihm als einem Gewissen, Sichern, Ewigen klebt; jene skeptischen Tropen
zeigen ihm das Unstete solcher Gewißheiten auf eine Art, welche dem
gemeinen Bewußtsein nahe liegt.« 1 Man muß nur die Ausführungen von
Sextus Empiricus über seine ersten Tropen durchlesen, um zu sehen, daß
er die - aus der Subjektivität stammenden - Irrtumsmöglichkeiten der
menschlichen Sinne analysiert, auf die daraus notwendig entstehenden
Widersprüche aufmerksam macht. Hegels Auffassung dieser Art des Skep¬
tizismus konzentriert sich darauf, daß sie »als die erste Stufe zur Philosophie
angesehen werden« kann, denn die so entstehenden Antinomien beleuch¬
ten die Unwahrheit des bloßen Alltagsdenkens. Hegel spricht dabei vom
Endlichen und hebt ausdrücklich hervor, es sei einerlei, ob dabei von Er¬
scheinung oder Begriff die Rede sei. Er sieht also das Entscheidende in der
Dialektik, die, auf dem Weg so entstehender Antinomien den Dogmatismus
(die anthropomorphisierende, subjektgebundene Unmittelbarkeit) auflöst
und infolge dieser Befreiung zur Objektivität, zur Erkenntnis der Welt an
sich führt. So zeigt er — auf wesentlich höherer Stufe, jedoch dasselbe
Problem betreffend — die Antinomien der Geometrie in Beziehung zum
Alltagsdenken: »So z. B. Punkt und Raum lassen wir unbefangen gelten.
Punkt ist ein Raum und ein Einfaches im Raum, er hat keine Dimension;
hat er keine Dimension, so ist er nicht im Raum. Insofern das Eins räumlich
ist, nennen wir es einen Punkt; wenn dies aber einen Sinn haben soll, so
muß es räumlich sein und als Räumliches Dimension haben, — so ist es aber
kein Punkt mehr. Er ist die Negation des Raums, insofern er die Grenze
des Raums ist, als solche berührt er den Raum; diese Negation hat also
einen Anteil an dem Raum, ist selbst räumlich, — ist so ein Nichtiges in sich,
ist aber damit auch ein Dialektisches in sich.« 2 Es sei hier nur beiläufig
bemerkt, daß dieses Problem bereits bei Protagoras auftaucht und auch von
Platon in seinem siebten Brief sowie von Aristoteles in der »Metaphysik«

1 Hegel: Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie, Erste Druckschriften, Leipzig


1928, S. 184. y 0
Hegel: Geschichte der Philosophie, Werke, Ausgabe Glöckner, Band XVIII
S. 579.
Desanthropomorphisierende Tendenzen in der Antike ü1

behandelt worden ist. Der Gegensatz zwischen der Geometrie im Denken


des Alltags und zwischen ihrer objektiven Wahrheit, die erst dann zur
Geltung gelangt, wenn sie von den Momenten unserer Sinnlichkeit, unserer
Verfahrungsweise etc. befreit wird, gehört also zum Gemeingut des griechi¬
schen Denkens.
Bahnbrechende Größe und unlösbare Problematik der desanthropomorphi-
sierenden Tendenzen in der griechischen Philosophie zeigen sich oft in
unauflösbarer Verschlungenheit mit dem Schicksal der Widerspiegelungs¬
theorie. Daß die Erkenntnis auf der richtigen Widerspiegelung der objek¬
tiven Wirklichkeit beruht, ist für das griechische Denken eine Selbstver¬
ständlichkeit. Eben darum wird sie als Frage bei den Vorsokratikern kaum
gestellt, auch dann nicht, wenn der Übergang zur dialektischen Widerspie¬
gelung, infolge des Problems der Objektivität des Wesens, vollzogen wird.
Aber auch der Übergang von der philosophischen Auslegung der objektiven
Wirklichkeit zu dem Überwiegen erkenntnistheoretischer Fragestellungen
rückt die Widerspiegelungstheorie keineswegs aus dem Mittelpunkt, ver¬
stärkt im Gegenteil diese ihre Position. So verschieden die Widerspiegelung
der Wirklichkeit von Platon und Aristoteles verstanden wird, ihre zentrale
Bedeutung bleibt - im Gegensatz zur modernen Philosophie - unbestritten.
Da jedoch schon die vorangegangene Entwicklung, auf der Linie der Er¬
klärung des Ansichseins, die Frage der Erkenntnis des Wesens und nicht
nur die der unmittelbar-sinnlichen Außenwelt aufgeworfen hat, muß die
Wendung auf Erkenntnistheorie gerade hier eine Antwort suchen und zwar
bei Platon vor allem in der Frage der Begriffsbildung, ein für diese mög¬
lichst exaktes Widerspiegeln der Wirklichkeit, in der Erhellung von An¬
schauung und Vorstellung.
Mit dieser Wendung zur Erkenntnistheorie wird aber der Weg zum Idealis¬
mus beschritten. Die daraus entstehende Problematik, der Gegensatz von
Aristoteles zu Platon und noch mehr zum späteien ITeuplatomsmus, vor
allem zu Plotin gehört nicht in den Rahmen unserer Betrachtungen. Hier
ist nur die Frage wichtig, daß die idealistische Duplikation der Widerspiege¬
lung (sie ist statt einfach die der Wirklichkeit, die der Ideenwelt und der Welt
der Empirie) notwendig die bisherigen Errungenschaften der Desanthropo-
morphisierung der Erkenntnis ernsthaft gefährdet. Zwar bleibt eine ganze
Reihe der fundamentalen Ergebnisse dieses Prozesses unverändert bestehen,
so Platons Stellung zu Mathematik und Geometrie. Jedoch die Trennung von
Ideenwelt und Wirklichkeit, die eigene - metaphysische - Wirklichkeit, die
jener von Platon zugesprochen wird, führt, wie Aristoteles von Anfang an
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

klar sieht und scharf kritisiert, das menschliche Denken wieder auf das
bereits verlassene Niveau des Anthropomorphismus zurück. Aristoteles
kritisiert z. B. die Wunderlichkeit und Widersprüchlichkeit der Behauptung
der platonischen Ideenlehre: »wenn man einerseits sagt, es existieren neben
den Dingen in der Welt noch gewisse andere Wesen, andererseits aber diesen
die gleiche Beschaffenheit wie den sinnlich wahrnehmbaren Dingen zuschreibt,
nur daß sie ewig sein sollen, während jene vergänglich sind.« Aber, fügt
er hinzu, über diese Antinomik hinaus führt eine solche Betrachtungsweise
notwendig zum Anthropomorphismus und damit zur Religion zurück. Er
setzt dementsprechend seinen Gedankengang so fort: »So spricht man von
dem Menschen an sich, von dem Pferde an sich und von der Gesundheit
an sich, ohne daß eine weitere Änderung im Gegenstand damit einträte;
ganz ähnlich wie wenn man zwar das Dasein von Göttern behauptet, sie
sich aber ganz menschenähnlich vorstellt. Denn in diesem Falle hat man nichts
anderes getan, als daß man Menschen mit dem Prädikat der Ewigkeit aus¬
stattet, in jenem Falle nichts anderes, als daß man sich Ideen denkt, ganz wie
sinnliche Gegenstände, aber mit dem Prädikat der Ewigkeit h«
Man sieht: die Anthropomorphisierung der Ideenwelt entspringt unmittel¬
bar daraus, daß die idealistische Philosophie dem Wesen eine eigene Existenz
neben, besser gesagt über der Erscheinungswelt zuspricht. Diese eigene
Existenz muß notwendigerweise mit eigenen Zügen ausgestattet werden,
und da diese nicht Abbildungen der materiellen Welt, der unzertrennbaren
Verbundenheit und zugleich dialektischen Widersprüchlichkeit sind - was
können sie anders sein als Proportionen des menschlichen Wesens? Das ist
natürlich nur die allgemeinste Grundlage des hier vorliegenden kompli¬
zierten Tatbestandes. Denn die idealistische Tendenz hat hier weitaus kon¬
kretere Konsequenzen, die jedoch ausnahmslos derselben Quelle entstam¬
men. Wir haben bereits früher - damals noch sehr abstrakt - darauf
hingewiesen, daß die als solche isolierte Psychologie des Arbeitsprozesses
ebenso das Modell zu den idealistischen Weltbildern abgibt, wie die Arbeit
— in ihrer wahren konkreten Totalität erfaßt — den Ausgangspunkt zur
richtigen Widerspiegelung der Wirklichkeit, damit zum Entfernen der
anthropomorphisierenden Betrachtungsweisen bildet. Dieser Gegensatz zeigt
sich am klarsten in der Beziehung von Subjektivität (Aktivität) und Materie.

Aristoteles: Metaphysik, III. Buch 2. Zitiert nach der Übersetzung von A. Lasson,
Jena 1908, S. 43.
Desantbropomorphisierende Tendenzen in der Antike 153

Es genügt vielleicht, wenn wir ihn an den Auffassungen von Aristoteles


und Plotin beleuchten. Aristoteles unterscheidet vor allem scharf zwischen
dem Hervorbringen durch die Natur und dem durch die Arbeit des Men¬
schen: »Durch die Kunst entsteht aber alles, wovon die Form zuvor im
Geiste ist . . . so geht der Gedanke immer weiter bis man zu einer letzten
Bedingung gelangt, die man selber herzustellen vermag. Die von diesem
Punkte ausgehende Bewegung, die zur Gesundheit hinführt, wird dann ein
Hervorbringen genannt. So ergibt sich, daß im gewissen Sinne die Gesund¬
heit aus der Gesundheit wird, das Haus aus einem Hause, das materielle
Haus aus einem immateriellen. Denn die Kunst des Arztes und die Kunst
des Baumeisters ist die Form der Gesundheit dort, des Hauses hier.«1
Das klare Trennen der natürlichen und künstlichen Genesis macht nicht
nur eine Erkenntnis des Wesens der Arbeit möglich, sondern verhindert
auch ihre falsche Verallgemeinerung, das unkritische Anwenden ihrer Kate¬
gorien auf die außermenschliche Wirklichkeit. Gerade dies geschieht jedoch
bei Plotin. Es gehört zum Wesen der Arbeit, daß in ihr für den Arbeitenden
die Eigenschaften der Materie als Möglichkeiten in bezug auf das von ihm
gesetzte konkrete Ziel erscheinen. Plotin verallgemeinert nun diese jeweils
konkrete und bestimmte Möglichkeit zu einer abstrakten und absoluten
und kontrastiert sie mit dem geistigen Anteil an der Arbeit, die in diesem
Zusammenhang - ebenfalls abstrakt verallgemeinert - als Aktualität im
Gegensatz zur Potentialität erscheint. »Denn«, führt er aus, »das Potentielle
kann unmöglich je zur Aktualität übergehen, wenn das Potentielle den
ersten Rang im Reiche des Seienden einnimmt. (Polemik gegen den Mate¬
rialismus, G. L.) Denn es wird sich nicht selbst in Bewegung setzen, sondern
das Aktuelle muß vor ihm sein . . . Denn sicherlich erzeugt die Materie nicht
die Form, sie die Qualitätslose, das Quäle, noch geht aus Potentialität
Aktualität hervor.« 2 Damit ist alles von der objektiven Wirklichkeit, vor
allem von der Natur Hervorgebrachte auf das Schema der Produktion durch
die Arbeit reduziert. Was zur notwendigen Folge hat, daß der Produzent
nun ebenfalls mit anthropomorphisierenden Zügen ausgestattet gedacht
werden kann. Aristoteles hat schon bei Platon die Zwangsläufigkeit dieser
Verdrehung durch das Selbständigmachen der Ideen von den Gegenständen

1 Ebd. VII. Buch 7. 105.


2 Plotin: Enneaden VI. I. Buch, Kapitel 26. Zitiert nach der Übersetzung von H. F.
Müller, Berlin 1878, Band II S. 253.
154
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

klar erblickt. Er polemisiert gegen die Auffassung, »daß die Ideen die Ur¬
sachen des Seins und des Entstehens sind. Aber gesetzt auch, die Ideen
existieren, so kann gleichwohl noch nicht das, was an ihnen Teil hat, zum
Dasein gelangen, wo es keine bewegende Ursache gibt . . . Daß die einen
ewig sind, die anderen nicht, das macht doch für die Ursächlichkeit nichts
aus.« 1 Für den objektiven Idealismus der Antike, der in der Ideenwelt das
von der Erscheinungswelt losgetrennte und selbständig gemachte Wesen
auch in einen Realgrund der Wirklichkeit verwandelte, blieb kein anderer
Weg offen, als die so statuierte Verursachung anthropomorphisierend,
mythologisierend als »Arbeitsprozeß« des Entstehens, Seins und Werdens
der Welt aufzufassen und damit allem, was die vorangegangene Philosophie
zur Desanthropologisierung der Erkenntnis, zu ihrer Begründung als Wis¬
senschaft geleistet hat, die Spitze abzubrechen.
Diese Modellrolle des Arbeitsprozesses als Grundlage des neueren Anthro-
pomorphisierens ist aber noch intimer historisch bedingt, als es in dieser
kurzen und abstrakten Darlegung den Anschein hat. Es handelt sich nämlich
nicht bloß um das Hineinprojizieren der abstrahierten Arbeit überhaupt
in die realen Kausalzusammenhänge der objektiven Wirklichkeit, sondern
darüber hinaus konkret um die ihrer spezifisch antiken Auffassung. Diese
tendiert — je stärker die Widersprüche der Sklavenwirtschaft offenbar wer¬
den, desto mehr - auf eine Verachtung der Arbeit, vor allem der körper¬
lichen. Das hat nun philosophisch zur Folge, daß die oben geschilderte
mythologisch-anthropomorphisierende Beziehung von Ideenwelt und mate¬
rieller Wirklichkeit eine hierarchische sein muß, in welcher das jeweilige
schöpferische Prinzip seinsnotwendig ontologisch höher zu stehen hat, als
das von ihm Hervorgebrachte. Plotin sagt: »Auch alles bereits Vollkom¬
mene zeugt und erzeugt ein Geringeres als es selbst ist.« 2 Diese Hierarchie,
daß das Geschaffene, aas Produzierte notwendig tieferstehen müsse, als der
Schöpfer, ist hier eine Konsequenz der griechischen Bewertung der Arbeit.
Sie folgt keineswegs unbedingt notwendig aus dem Wesen des philosophi¬
schen Idealismus, obwohl sie eine Rückkehr zur religiösen Weltanschauung
beinhaltet. Aber unter dem Einfluß der kapitalistischen Ökonomie und
ihrer Auffassung der Arbeit, bestimmt der ebenfalls objektive Idealist
Hegel diesen Zusammenhang in völlig entgegengesetzter Weise. Er sagt über

1 Aristoteles: Metaphysik, I. Buch, Kapitel 9, a. a. O. S. 31.


Plotin: Enneaden V. I. Buch Kapitel 6, a. a. O. Band II S. 147.
Desanthropomorpbisierende Tendenzen in der Antike H5

den Arbeitsprozeß und dessen Produkt: »Insofern ist das Mittel ein Höheres
als die endlichen Zwecke der äußeren Zweckmäßigkeit; - der Pflug ist ehren¬
voller als die unmittelbaren Genüsse sind, welche durch ihn bereitet werden
und die Zwecke sind. Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren
Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt
der Mensch die Macht über die äußerliche Natur, wenn er auch nach seinen
Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist.« 1 Wo auch bei Hegel der anthro-
pomorphisierende Demiurgos-Mythos einsetzt, gehört nicht hierher.
Die so in der Antike entstehende Hierarchie erlangt eine ausschlaggebende
Bedeutung für das spätere Denken. Sie kehrt allgemein inhaltlich zu den
primitiven religiösen Vorstellungen zurück; indem sie jedoch diese Wendung
auf entwickelter philosophischer Grundlage vollzieht, indem sie die Ergeb¬
nisse des wissenschaftlich-methodologischen Fortschritts teilweise sich ein¬
verleibt, schafft sie gedankliche Grundlagen für die Erhaltung der Reli¬
gion auf einer hochentwickelten Stufe der Zivilisation, der Wissenschaft. Es
erübrigt sich, detailliert auseinanderzusetzen, wie wichtig diese Tendenz ist:
die einzelnen wissenschaftlichen Ergebnisse, ja die praktisch notwendige
Methode der wissenschaftlichen Forschung (das Desanthropomorphisieren
mitinbegriffen) aufrechtzuerhalten, auszunützen, ja im einzelnen sogar
weiterzubilden, bei einem radikalen Abbrechen der weltanschaulichen Spitze:
nämlich die desanthropologisierend einsetzende wissenschaftliche Forschung
bei Behandlung der »letzten Fragen« in ein neues Anthropomorphisieren
Umschlagen zu lassen. Die platonische Ideenlehre ist hierfür ein klassisches
Beispiel; ähnliche Lösungsversuche, die wissenschaftliche Methode für die
Praxis zu retten, ihr jedoch keinen Einfluß auf die (religiösen) Welt¬
anschauungsfragen zu gestatten, tauchen natürlich auch im Orient auf. Da
aber hier zumeist das Priestertum das geistige Leben viel stärker beherrscht,
als je in Griechenland, kann dieser Einbau der Einzelwissenschaften in eine
anthropomorphisierende Mystik sich viel früher, radikaler und konflikt¬
loser vollziehen, als in der klassischen Antike, in welcher diesem Rückschlag
eine ganze Periode des prinzipiellen Desanthropomorphisierens vorangegangen
ist, in welcher die Tendenz auf Wissenschaftlichkeit ihren Boden nicht ohne
Kampf aufgibt. Andererseits bestimmt die mit Platon einsetzende Zurück¬
führung der Weltanschauung auf das Anthropomorphisieren das Schicksal
des wissenschaftlichen Denkens in Europa beinahe ein Jahrtausend lang und

1 Hegel: Wissenschaft der Logik, Werke, Berlin 1841, Band V S. 220.


Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
H 6

drängt zeitweise die wirklichen Errungenschaften der Antike fast völlig in


Vergessenheit.
Da dieser Rückschlag auf einer stolzen Höhe des desanthropomorphisierenden
Denkens einsetzt und selbst bedeutende philosophische Errungenschaften
aufweisen kann (Weiterentwicklung der Dialektik durch Platon), kann es
nicht genügen bei der einfachen Feststellung der Tatsache stehen zu bleiben,
daß die Ideenwelt anthropomorphe Züge tragen muß, auch nicht bei einem
Aufdecken ihrer gesellschaftlichen Gründe; es muß vielmehr der so ent¬
stehende Gegensatz etwas näher beleuchtet werden. Die tiefe Zweideutigkeit
der Platonischen Ideenwelt beruht darauf, daß sie gleichzeitig und untrennbar
die höchste Abstraktion, die pure Übersinnlichkeit und die lebendigste
Konkretheit sein soll. Das von den Dingen abgetrennte, selbständiggemachte
Wesen und eine schöpferische, wirksame Kraft, die die Erscheinungswelt
hervorbringt, verkörpert sich in der Ideenwelt in sinnlich-mythischen For¬
men. Bei Platon selbst ist diese Zweideutigkeit oft noch in einem latenten
Zustand, sie entfaltet jedoch alle ihre Widersprüche ganz offen im Neu¬
platonismus. Darum knüpfen wir unsere Betrachtungen an Plotin an. Dieser
spricht so über die Ideenwelt: man muß, »wenn von der intelligiblen Sub¬
stanz und den dortigen Gattungen und Prinzipien die Rede ist, eine intel-
ligible Hypostase annehmen, und zwar als wahrhaft seiend und noch in
höherem Grade eins, nach Abzug nämlich des Werdens in den Körpern
und der sinnlichen Wahrnehmung und Größen . . . h« Also kurz zusammen¬
gefaßt: die Wirklichkeit selbst, die ja Abbild und Produkt der Ideenwelt
sein soll, minus das Werden und die Quantität. Diese beiden Abstraktionen
wären — als Abstraktionen, als reine Gedankenoperationen — an sich voll¬
ziehbar, obwohl gerade das Erforschen der quantitativen Relationen für
eine rationale Erkenntnis der Objektwelt sich als unentbehrlich erwiesen
hat. Wie soll aber die von Plotin geforderte Beziehung zu dieser Welt geschaf¬
fen sein, wenn sie - was ja die Voraussetzung ist - nicht als pure Abstraktion,
gewonnen aus dem Sinnlich-Gegebenen, aufgefaßt wird? Eine existierende
Welt — und sie soll ja, wie wir wissen, die höchste Aktualität im Gegensatz
zur bloßen Potentialität der Materie sein — die gleichzeitig in sinnlich-un¬
sinnlich-übersinnlicher Unmittelbarkeit aufgenommen und als reines Wesen,
als alleinige Substanz und bewegende Kraft der eigentlichen Wirklichkeit auf¬
gefaßt wird - wie kann die Methode ihrer Rezeption formuliert werden?

1 Plotin: Enneaden VI. II. Buch, Kapitel 7, a. a. O. Band II S. 263.


Desantbropomorphisierende Tendenzen in der Antike 157

Dazu mußte die Konzeption der »intellektuellen Anschauung« erdacht


werden. (Es kommt auf den Begriff an, nicht darauf, wann und wie der
Terminus formuliert wurde.) Diese Konzeption übernimmt von der Wis¬
senschaft - freilich verzerrte - Momente des Desanthropomorpisierens.
Denn es ist klar, daß eine solche Wirklichkeit - eine der unmittelbar sinn¬
lichen entsprechende, jedoch ohne Werden und Quantität - unmöglich mit
den normalen Mitteln des Denkens begriffen werden kann. Das Hinaus¬
gehen über das Alltagsdenken kann aber hier unmöglich einfach das Fort¬
führen des wissenschaftlichen Desanthropologisierens sein. Nicht nur, weil
für dieses gerade die quantifizierende Abstraktion, das Erfassen der Gesetze
des Werdens ausschlaggebend ist, sondern weil hier die Tendenz, das reine
An sich der Erscheinungen bei möglichster Ausschaltung der Eigenschaften
der menschlichen Rezeptivität zu erfassen, vorherrschen muß, während eine
Platonische »intelligible Wirklichkeit« mit dem Wesen des Menschen als
Menschen unzertrennbar verknüpft ist. Es entsteht also die Forderung, sich
simultan über das anthropologische Niveau des Menschen zu erheben, und
dies doch - gereinigt - aufzubewahren, ja gerade durch diese Reinigung zu
sich selbst zu führen. Darin ist, wie bereits festgestellt, die tiefe Verwandt¬
schaft zum religiösen Verhalten begründet: ein Beibehalten der Unmittel¬
barkeit in der Verknüpfung von Subjekt und Objekt des Alltagslebens bei
einer emphatischen Erhebung über diese Sphäre, bei ihrem pathetischen
Verlassen und Verneinen. Der Akt einer solchen Simultaneität bewahrt
also einerseits die unmittelbare Beziehung des Alltags zwischen Theorie
und Praxis mit allen darin enthaltenen Schranken des Eindringens in die
wahre Objektivität, andererseits postuliert er ein Verlassen des normalen
menschlichen Verhaltens zur Wirklichkeit: da das Objekt (die intelligible
Wirklichkeit, die Ideenwelt) mehr als menschlich ist, muß auch das Subjekt
sich über sein eigenes Niveau erheben, um fähig zu werden, es in sich
aufzunehmen.
Scheinbar handelt es sich dabei um einen Akt der eigentlichen Mensch¬
werdung: Ideenlehre wie Religion sind darüber einig, daß die menschliche
Seele erst hier sich selbst zu finden vermag; im Gegensatz zum wissenschaft¬
lichen Verhalten, in welchem - angeblich - das Menschsein verlassen, ver¬
gewaltigt, entleert und verzerrt wird. (Diese schroffe Gegensätzlichkeit ist
freilich das Produkt einer viel späteren Entwicklung. Bei Platon sind Mathe¬
matik und Geometrie noch unabdingbare Voraussetzungen der »Einwei¬
hung«, des Antretens des Wegs zur Ideenwelt, bei den Neuplatonikern ist
der Gegensatz etwas klarer, aber noch immer vielfach latent vorhanden, er
158 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

tritt erst in der Neuzeit offen in Erscheinung, indem die »Entgötterung«


der Welt als eine Gefährdung des Menschseins des Menschen, seiner mensch¬
lichen Integrität aufgefaßt wird; so etwa bei Pascal). In Wirklichkeit ist
die Lage eine diametral entgegengesetzte. Die Desanthropomorphisierung
der Wissenschaft ist ein Instrument des Beherrschens der Welt durch den
Menschen: sie ist ein Bewußtmachen, ein Zur-Methode-Erheben jenes Ver¬
haltens, das, wie wir gezeigt haben, mit der Arbeit einsetzt, das den Men¬
schen aus dem Tiersein heraushebt, ihm dazu verhilft, sich zum Menschen zu
machen. Die Arbeit und die aus ihr herausgewachsene höchste bewußte
Form, das wissenschaftliche Verhalten ist hiermit nicht bloß ein Instrument
für die Beherrschung der Objektswelt, sondern untrennbar davon ein
Umweg, der infolge eines reicheren Entdeckern der Wirklichkeit, den Men¬
schen selbst bereichert, ihn kompletter, menschlicher macht, als er sonst sein
könnte. Jene Erhebung über den Alltag, die intellektuelle Anschauung und
Religion fordern, geht dagegen davon aus, daß der Kern des Menschen für
ihn selbst ebenso transzendent ist, wie die Ideenwelt oder die religiöse
»Wirklichkeit« vom Standpunkt der objektiven, der irdischen Welt. Alle
hier vorgeschlagenen Methoden, von der Lehre vom Eros bis zur Askese,
Ekstase etc., dienen dazu, das Streben nach diesem transzendenten Wesen
im Menschen zu erwecken und es dem wirklichen Menschen schroff aus¬
schließend, feindlich ablehnend gegenüberzustellen.
So entsteht hier ein Pseudodesanthropomorphisieren. Und zwar doppelt,
sowohl objektiv wie subjektiv. Objektiv, indem eine »übermenschliche«,
»menschenjenseitige« Welt statuiert wird, die nicht bloß unabhängig vom
menschlichen Bewußtsein existieren soll, wie die wirkliche, sondern im
wörtlichen Sinn ein Jenseits repräsentiert, etwas qualitativ Verschiedenes
und Höheres allem sonst Wahrnehmbaren und Denkbaren gegenüber; die
Totalität ihrer Momente trägt jedoch die Züge eines ins Menschenjenseitige
projizierten Anthropomorphisierens an sich. Subjektiv, indem das Subjekt
mit seinem gegebenen Menschsein, auch mit seiner moralisch geformten Per¬
sönlichkeit radikal brechen muß, um einen fruchtbaren Kontakt mit einer
solchen Welt herstellen zu können. Obwohl in der Eroslehre von Platon selbst
der Aufstieg von der menschlichen Ethik zur intellektuellen Anschauung der
Ideenwelt noch mehr Übergänge als Brüche und Sprünge zeigt, ist es gerecht¬
fertigt, den subjektiven Gegensatz zur innermenschlichen Ethik als subjektives
Moment dieses Aufstiegs so schroff zu pointieren. Denn auch hier hat die
Nachfolge nicht gezögert, aus dem latent vorhandenen Gegensatz einen offen
hervortretenden zu entwickeln.
Desanthropomorphisierende Tendenzen in der Antike 159

Es ist für jede wirkliche Ethik bezeichnend, daß sie — mag der Abstand des
ethischen Gebots vom Durchschnittsniveau der Praxis in der Alltagswelt
noch so groß sein, — an jenes Wesen im Menschen appelliert, das jeder als
Mensch, als Persönlichkeit in sich mitenthält; mag dessen Entfaltung noch
so große innere Kämpfe, noch so tiefe Krisen hervorrufen, der immanente
Kreis der menschlichen Persönlichkeit überhaupt wird doch nicht gesprengt;
das von der Ethik geforderte, noch so schwer erringbare Wesen ist doch
das Wesen eines jeden einzelnen Menschen als Menschen. Das subjektive
Moment des Aufstiegs zur Ideenwelt beinhaltet aber gerade hier einen
Bruch: auch das ethisch verwirklichte menschliche Wesen ist bloß irdisch,
materiell, kreatürlich im Vergleich zu jenem Subjekt, das würdig und fähig
ist, der intellektuellen Anschauung der Ideenwelt teilhaftig zu werden. Es
handelt sich also hier, gerade in jener Sphäre, deren Wesen das Gebunden¬
sein an die Menschlichkeit ist, um ein Desanthropomorphisieren. Es trägt
aber auch hier den Stempel des Pseudodesanthropomorphisierens. Denn an
die Stelle der wirklichen konkreten Überwindung jener Momente im Men¬
schen, die ihn an die Oberfläche des Alltags fesseln und ihn daran hindern,
das Wesentliche seiner selbst aus eigenen Kräften herauszuarbeiten, tritt eine
abstrakte Transzendenz von Forderungen, über die Grenzen des Mensch¬
lichen überhaupt hinauszugehen. Und es liegt im Wesen der Sache, daß jene
Strömungen in der Ethik, die darauf ausgehen, den - tief mit der gesell¬
schaftlichen Entwicklung verbundenen, in ihr wurzelnden - immanent
menschlichen Kern des Menschen herauszuarbeiten und zu bestimmen, sich
auch in Auffassung und Darstellung auf eine wirklich objektive wissen¬
schaftliche Begriffsbildung konzentrieren können. Dagegen muß das abstrakt¬
transzendente Hinausgehen über das Menschliche, theoretisch und praktisch
verallgemeinert, zu der Annäherung an oder gar zu der Verwirklichung
von magisch-religiösen Gebräuchen, Riten etc. treiben. Dies ist schon im
Neuplatonismus, Neupythagoreismus etc. in der Antike geschehen, lange
bevor die christliche Religionslehre diese Philosophien sich einverleibt hatte.
Also auch subjektiv entsteht hier ein Pseudodesanthropologisieren.
Nur beiläufig sei hier bemerkt, denn die ausführliche Behandlung kann erst
später stattfinden, daß das Umschlagen der Konzeption einer menschen¬
jenseitigen Ideenwelt in Anthropomorphismus notwendig eine weitgehende,
freilich oft unbewußte Rezeption ästhetischer Prinzipien beinhaltet. Ver¬
ständlicherweise: denn der übersinnlich-sinnliche Charakter einer Ideen¬
welt verleiht dieser notwendig gewisse wichtige Züge der Kunst, besser
gesagt, einer - ebenfalls ins Transzendente projizierten - Pseudoverwirk-
160 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

lichung der Prinzipien des künstlerischen Schaffens; der vollkommene oder


jedenfalls übermenschliche Demiurgos muß naturgemäß auch ein Über¬
künstler sein. Das entschiedene Verwerfen der Kunst bei Platon, das vor¬
behaltsvolle bei Plotin ist nur eine Folge dieser Position. (Der Gehalt dieser
Kunstfeindlichkeit ist also gerade das Entgegengesetzte dessen, was bei den
Vorsokratikern festgestellt wurde.) Wir führen nun einen längeren Passus
aus Plotins Darlegungen über die »intelligible Schönheit« an, damit dem
Leser die allgemeinen Umrisse dieser Problemlage klar werden. Die Konse¬
quenzen für die Ästhetik selbst können wir dann auf einer entwickelteren
Stufe unserer Analyse ziehen. Plotin sagt: »Es hat auch jeder jedes in sich
selbst und wiederum sieht er in dem anderen alles, so daß überall alles und
alles und jedes alles und unermeßlich ist der Glanz ... An einem jeden
ragt ein anderes hervor, es zeigt aber zugleich alles. Hier ist auch reine Be¬
wegung, denn sie stört auf ihrem Gange nicht eine andere von ihr ver¬
schiedene Bewegung, auch die Ruhe wird nicht erschüttert, weil sie nicht
getrübt wird durch Unbeständigkeit; und das Schöne ist schön, weil es
nicht im Schönen ist. Ein jeder schreitet nicht wie auf fremden Boden,
sondern eines jeden Stätte ist er selbst was er ist, und da sein Lauf sich nach
oben richtet, geht sein Ausgangspunkt mit, und nicht ist er selbst ein anderes
noch der Raum ein anderes . . . Hier nun (in der Sinnenwelt) geht wohl
ein anderer Teil aus dem Teil hervor und jeder Teil bleibt allein für sich;
dort aber geht aus dem Ganzen immer jeder Teil hervor und doch ist
zugleich der Teil und das Ganze. Zwar erscheint er als Teil, aber das scharfe
Auge erblickt ihn als Ganzes... Für das Schauen dort oben gibt es keine Er¬
müdung, keine Sättigung, noch Aufhören; denn es war ja kein Mangel
vorhanden, nach dessen endlicher Erfüllung man Genüge hätte, noch auch
Mannigfaltigkeit oder Verschiedenheit, daß etwa dem einen nicht gefallen
könnte, was des anderen ist: unermüdlich, unerschöpft ist alles1.« Daß hier
alle Kategorien und kategorielle Beziehungen aus der Ästhetik hypostasiert
sind - freilich in ekstatisch übertriebener Weise - ist offensichtlich.
Wir mußten uns mit dieser rückdeutenden Bewegung der Desanthropomor-
phisierungstendenzen in der griechischen Philosophie etwas ausführlicher
beschäftigen, weil ihre prinzipielle Bedeutung für die Schicksale der wissen¬
schaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit außerordentlich groß ist.
Insbesondere deshalb, weil der Rückschlag nicht von außen, nicht direkt

1 Plotin: Enneaden V. 8. Buch, Kapitel 4, a. a. O. S. 204 f.


Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 161

von jenem magisch-religiösen Vorstellungskreis aus erfolgt ist, den die


griechische Philosophie ursprünglich zu überwinden unternahm, und in
dessen Überwinden sie welthistorisch bedeutsame Schritte tat, sondern aus
der Philosophie selbst. Das bedeutet, wie wir es schon aus dem bisher Aus¬
geführten ersehen können, daß der Kampf zwischen anthropomorphi-
sierenden und desanthropomorphisierenden Tendenzen in allen Fragen der
Ausbildung und Auslegung der Widerspiegelungslehre sich auf einem
wesentlich höheren Niveau abspielen muß, als früher. Es handelt sich nun¬
mehr nicht mehr bloß um Versuche, eine primitiv anthropomorphisierende
Anschauungsweise zu überwinden, es kommt seit dieser Wendung auch
darauf an, den Widerstreit dieser Tendenzen innerhalb der höchstent-
wkkelten Philosophie und Wissenschaft zu Ende zu führen. Um so mehr als
ja der Kampf auch im spätgriechischen Denken nicht zum Stillstand gekom¬
men ist. Wir haben ja den Widerstand von Aristoteles gegen den anthropo-
morphisierenden, objektiv wissenschaftsfeindlichen Geist der Ideenlehre
kurz angedeutet, und es genügt den Namen Epikurs zu nennen, um diese
Lage von einer anderen Seite zu beleuchten. Bei Epikur ist der schroff gegen
den religiösen Glauben gerichtete Geist offenkundig; Lukrez betont die
Weltbedeutung dieses Kerns seiner Philosophie, und noch Tiegel, dessen
Ablehnung Epikur gegenüber oft bis zur völligen Verständnislosigkeit geht,
hebt in bezug auf seine Physik hervor, »daß sie sich dem Aberglauben der
Griechen und Römer entgegensetzt und die Menschen darüber erhoben
hat.« 1

II Der w iderspruchsvolle Aufschwung des Desanthropomorphisierens in


der Neuzeit

Trotz dieses Widerstandes muß festgestellt werden, daß im Ausgang der


Antike die anthropomorphisierenden Tendenzen das Übergewicht erhielten,
daß sie im wesentlichen das mittelalterliche Denken beherrschten. Der neue
Angriff auf das anthropomorphisierende Prinzip setzt im großen Stil erst
mit der Renaissance ein und gibt allen Problemen jenen Grundcharakter,
den sie - freilich mit vielen, nicht unwichtigen Variationen - bis auf unsere
Tage behalten haben. Daß diese neuere Entwicklung wesentlich andere

1 Hegel: Geschichte der Philosophie, a. a. O. S. 498.


\6i Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

Züge zeigt, hat historische Ursachen. Diese zeigen in bezug auf unser
Problem zwei Hauptströmungen.
Erstens hängt Breite, Tiefe, Intensität etc. des Vordringens der desanthro-
pomorphisierenden Richtung davon ab, wie weit Arbeit und Wissenschaft
einer Periode die objektive Wirklichkeit zu bewältigen imstande sind. Wir
haben auf die Schranken der Sklavenwirtschaft in der Antike hingewiesen,
die zur Folge hatten, daß die wissenschaftliche Basis der desanthropologi-
sierenden Widerspiegelung der Wirklichkeit von Anfang an schmal sein
mußte, ohne die gesellschaftliche Möglichkeit einer entschiedenen Aus¬
dehnung. Was wiederum dazu führen mußte, daß die genialen Verallge¬
meinerungen des Anfangs nicht imstande waren, bis in die Details der
objektiven Wirklichkeit einzudringen und sich daran, an besonderen Tat¬
sachen, Zusammenhängen, besonderen Gesetzlichkeiten etc., zu befruchten,
und dadurch sich zu einer konkreten Allgemeinheit, zu einer umfassenden
Methodologie zu erheben. Das ändert sich nach dem Zusammenbruch der
Sklavenwirtschaft im Mittelalter. Engels zeigt, wie diese »dunklen Jahr¬
hunderte« zu einer Fülle wissenschaftlicher und technischer Entdeckungen
führten, deren Existenz erst die neue Wendung zur Wissenschaftlichkeit in
der Renaissance ermöglichte h Freilich übten sie einzeln und sogleich noch
wenig Einfluß auf das von der Theologie beherrschte Denken ihrer Zeit.
Eine gewisse Kumulation, ein Umschlagen des langsamen Anwachsens der
Quantität in die neue Qualität einer neuen wissenschaftlichen Attitüde war
nötig, um diesen Umschwung hervorzubringen.
Zweitens jedoch kreuzt sich diese aus dem Stoffwechsel der Gesellschaft mit
der Natur entspringende Tendenz mit einer anderen, ebenso wichtigen:
nicht nur darauf kommt es an, ein wie großes Erkenntnismaterial und
dadurch bestimmt, wie tiefgreifende Fragestellungen eine Gesellschaft der
Wissenschaft und der Philosophie darbietet, sondern auch darauf, wieweit sie
imstande ist, jene Verallgemeinerungen, jene Wahrheiten, die aus diesem
jeweiligen Stoffgebiet wissenschaftlich gewonnen werden können, ideolo¬
gisch zu ertragen. Es ist hier nicht unsere Aufgabe diesen Problemkomplex
in Antike, Mittelalter und Neuzeit konkret zu untersuchen. Hier liegt
wieder ein Problem vor, wo die Fragen und Antworten des dialektischen
Materialismus in die des historischen Materialismus übergehen. Dieser hat
jene konkreten gesellschaftlichen Gesetzlichkeiten zu erforschen und aufzu-

1 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 645 f.


Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 163

decken, die bestimmen, warum eine soziale Formation auf einer bestimmten
Stufe ihrer Entwicklung jene Art der Widerspiegelung der objektiven Wirk¬
lichkeit, die in ihr, infolge der Höhe ihrer Produktivkräfte möglich gewor¬
den ist, schon nicht mehr erträgt, warum auf bestimmten Stufen bestimmter
Formationen noch kein Bedürfnis nach Verallgemeinerung der einzeln errun¬
genen, einzeln notwendigen und nützlichen Erfahrungen erwacht und end¬
lich warum unter bestimmten sozialen Bedingungen dieses Bedürfnis eine
unwiderstehliche Wucht erhält, etc. etc. Für uns, die wir hier mit dem
dialektisch materialistischen Problem beschäftigt sind, wie die desanthro-
pomorphisierenden Momente der wissenschaftlichen Widerspiegelung der
Wirklichkeit sich ausbilden, ist die allgemeine Kenntnisnahme dieser Zusam¬
menhänge zwar von höchster Wichtigkeit, indem sie uns auf die gesellschaft¬
lichen Motive der ungleichmäßigen Entwicklung auch auf diesem Gebiete
aufmerksam macht, indem sie bestimmte konkrete Korrelationen aufzeigt,
die für die Fortschritte und Rückschläge auch hier bezeichnend sind; alle
diese Fragen kommen jedoch für uns in erster Reihe vom Standpunkt der
dialektisch materialistischen Probleme der Widerspiegelung selbst in
Betracht.
Wenn wir also jetzt auf die Analyse der neuzeitlichen Entwicklung über¬
gehen, müssen wir vor allem die Hauptmomente des Unterschieds zur
Antike hervorheben, die spezifischen Züge dieser Periode - freilich bloß in
höchster Allgemeinheit -, wodurch sie eine neue und in bestimmtem
Sinne endgültige Wendung im Desanthropomorphisierungsprozeß der wis¬
senschaftlichen Widerspiegelung herbeiführen. Das primäre und übergrei¬
fende Moment ist dabei die Entstehung der kapitalistischen Produktions¬
weise. Diese ökonomische Formation ist nicht etwa zufällig, sondern im
Gegenteil infolge des Wesens ihrer Gesetzlichkeit, also aus einer historisch¬
systematischen Notwendigkeit die letzte Klassengesellschaft. Einerseits pro¬
duziert der Kapitalismus die materiellen Bedingungen einer Gesellschaft
ohne Ausbeutung, andererseits bringt er selbst seinen eigenen »Toten¬
gräber«, das Proletariat hervor, eine Klasse, bei welcher die »Bedingung
der Befreiung ... die Abschaffung jeder Klasse« 1 ist. Daraus entsteht, lange
bevor diese Widersprüchlichkeit des Kapitalismus offen hervorgetreten
wäre, seine Eigenart als ökonomische Formation, sein prinzipieller Unter¬
schied zu jeder vorangegangenen. Marx bestimmt diese Differenz folgender-

1 Marx: Das Elend der Philosophie, Stuttgart 1919, S. 163.


164 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

maßen: »Alle bisherigen Gesellschaftsformen gingen unter an der Entwick¬


lung des Reichtums - oder, was dasselbe ist, der gesellschaftlichen Produk¬
tivkräfte. Bei den Alten, die das Bewußtsein hatten, wird der Reichtum
daher direkt als Auflösung des Gemeinwesens denunziert. Die Feudalver¬
fassung ihrerseits ging unter an städtischer Industrie, Handel, moderner
Agrikultur (sogar an einzelnen Erfindungen, wie Pulver und Druckerpresse).
Mit der Entwicklung des Reichtums - und daher auch neuer Kräfte und
erweitertem Verkehr der Individuen — lösten sich die ökonomischen Bedin¬
gungen auf, worauf das Gemeinwesen beruhte, die politischen Verhältnisse
der verschiedenen Bestandteile des Gemeinwesens, die dem entsprachen: die
Religion, worin es idealisiert angeschaut wurde (und beides beruhte wieder
auf einem gegebenen Verhältnis zur Natur, in die sich alle Produktivkraft
auflöst); der Charakter, Anschauung etc. der Individuen . . . Allerdings
fand Entwicklung statt, nicht nur auf der alten Basis, sondern Entwicklung
dieser Basis selbst. Die höchste Entwicklung dieser Basis selbst (die Blüte,
worin sie sich verwandelt; es ist aber doch immer diese Basis, diese Pflanze,
als Blüte; daher Verwelken nach der Blüte und als Folge der Blüte) ist der
Punkt, worin sie selbst zu der Form ausgearbeitet ist, worin sie mit der
höchsten Entwicklung der Produktivkräfte vereinbar, daher auch der reich¬
sten Entwicklung der Individuen. Sobald dieser Punkt erreicht ist, erscheint
die weitere Entwicklung als Verfall und die neue Entwicklung beginnt von
einer neuen Basis.«1 Der Kapitalismus dagegen kennt keine derartige
Schranken. Natürlich besitzt er bestimmte Schranken, ja er produziert und
reproduziert diese ununterbrochen, jedoch, wie Marx sagt, als beständig
aufgehobene Schranken, nicht als »heilige Grenze«: »Die Schranke des
Kapitals ist, daß diese ganze Entwicklung gegensätzlich vor sich geht und
das Herausarbeiten der Produktivkräfte, des allgemeinen Reichtums etc.,
Wissens etc. so erscheint, daß das arbeitende Individuum selbst sich entäußert;
zu den aus ihm herausgearbeiteten, nicht als den Bedingungen seines eigenen,
sondern fremden Reichtums und seiner eigenen Armut sich verhält. Diese
gegensätzliche Form selbst aber ist verschwindend und produziert die realen
Bedingungen ihrer eigenen Aufhebung.« 2 Wie diese Eigenart der kapitali¬
stischen Entwicklung mit der Notwendigkeit und Eigenart der proletari¬
schen Revolution zusammenhängt, gehört nicht hierher.

1 Marx: Grundrisse, a. a. O. S. 438 f.


2 Ebd. S. 440.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 165

Für uns sind dabei zwei Momente wichtig. Erstens, daß die Entfaltung der
Produktivkräfte keine »heilige Grenze« im Sinne früherer Formationen
hat, sondern für sich betrachtet, die immanente Tendenz zur Schranken¬
losigkeit besitzt. Zweitens, daß die schrankenlose Erweiterung der Produk¬
tivkräfte in ständiger Wechselwirkung mit einer ebenfalls schrankenlosen
Ausbildung der wissenschaftlichen Methode, im gegenseitigen befruchten¬
den Austausch und Beeinflussen vorgeht. Mit dem Fall der Produktions¬
schranke von früheren Formationen fallen auch alle Schranken der Aus¬
breitung und Vertiefung der wissenschaftlichen Methode. Die Entwicklung
der Wissenschaft erhält erst jetzt, theoretisch und praktisch, den Charakter
eines unendlichen Progresses. Damit steht im engen Zusammenhang, daß
die Ergebnisse der Wissenschaft, vor allem durch die Umgestaltung des
Arbeitsprozesses immer stärker das Alltagsleben durchdringen, und, aller¬
dings ohne seine Grundstruktur umwälzen zu können, seine Erscheinungs¬
und Äußerungsweisen wesentlich modifizieren. Dazu gehört z. B. das immer
weitergreifende Zerreißen der jahrtausendelang bestehenden Verbunden¬
heit zwischen Handwerk und Kunst, die Verwissenschaftlichung von Sphären
des Lebens und der Arbeit, denen solche Einwirkungen bis dahin völlig
fernstanden etc.
Diese radikal neue Lage beeinflußt auch den Charakter des zweiten von uns
untersuchten gesellschaftlich hemmenden Motivs in den Entwicklung des
wissenschaftlichen Geistes. Bei den Desanthropomorphisierungstendenzen:
die Ablehnung der verallgemeinerten Ergebnisse der Wissenschaft aus Grün¬
den ihrer klassenmäßigen Untragbarkeit. Das Phänomen selbst ist natürlich
ein allgemeines: in einer solchen Untragbarkeit drückt sich immer das
Problematisch werden der Lage einer herrschenden Klasse aus; die mit Hilfe
der von ihr entfesselten Produktivkräfte entstandene Wissenschaft gerät,
wenn ihre Ergebnisse methodologisch und weltanschaulich zu Ende gedacht
werden, in Widerspruch zu den ideologischen Voraussetzungen ihrer Klas¬
senherrschaft. Die neue Lage im Kapitalismus besteht in einer Spaltung
der Interessen der herrschenden Klasse: sie will einerseits keine Bresche in
der Weltanschauung, die ihre Herrschaft unterbaut, dulden, andererseits ist
sie, bei Strafe des Untergangs gezwungen, die Produktivkräfte immer weiter
zu entwickeln und deshalb auch die Wissenschaft entsprechend zu fördern.
Diese gesellschaftlich-geschichtliche Doppelfunktion der herrschenden Klasse
in bezug auf unser Problem der Desanthropomorphisierung in der wissen¬
schaftlichen Widerspiegelung, gibt den ideologischen Rückschlägen einen
neuen Charakter.
166 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

Natürlich versucht die herrschende Klasse, besonders anfangs, in der alten


Weise auf Erneuerungen der wissenschaftlichen Methode und auf ihre neuen
Ergebnisse zu reagieren. Man sieht dies am deutlichsten in den großen
Kämpfen um die Kopernikanische Wendung in der Astronomie. Ohne
auf die Details irgendwie eingehen zu können, muß doch festgestellt
werden, daß die ideologischen Mächte der damaligen Reaktion gezwun¬
gen waren, allmählich die neuen Resultate zu akzeptieren, die Weiterarbeit
auf Grund der neuen Methode zumindest zu dulden, auch bei Ableh¬
nung, ja Verfolgung der weltanschaulichen Konsequenzen. (Man denke an
die Position des Kardinals Bellarmin.) Die späteren Zusammenstöße von
Wissenschaft und reaktionärer Ideologie zeigen noch deutlicher dasselbe
Bild.
Daraus folgt jedoch keineswegs, daß Methode und Resultat der Wissenschaft,
in der, wie wir bald sehen werden, immer bewußter und energischer das
Prinzip des Desanthropomorphisierens zur Herrschaft gelangt, für die herr¬
schende Klasse ideologisch tragbar würden. Im Gegenteil. Ihr Kampf gegen
solche Ergebnisse verstärkt sich, sie ist aber gezwungen, neue Mittel in
Anspruch zu nehmen. Diese müssen nun so beschaffen sein, daß sie den
normalen, praktisch wirksamen Entwicklungsgang der Wissenschaft (das
Desanthropomorphisieren natürlich mitinbegriffen) nicht stören und bloß
den weltanschaulichen Verallgemeinerungen dieser Ergebnisse die Spitze
abbrechen, aus ihnen solche Folgerungen ziehen, die den konservierenden
Erhaltungstendenzen des jeweiligen Gesellschaftszustandes entsprechen. Das
bedeutet sogleich eine Verengung des Kampfterrains. Während der objek¬
tive Idealismus der Spätantike dem konkreten - desanthropomorphisieren-
den - Weltbild der wissenschaftlichen Philosophie ein anderes, ebenfalls
konkretes, aber anthropomorphisierendes gegenübergestellt hat (man denke
an Gegensätze wie Demokrit-Platon, Epikur-Plotin), ziehen sich die moder¬
nen Rückschlagstendenzen zumeist auf einen erkenntnistheoretisch orien¬
tierten subjektiven Idealismus zurück. Der Sinn dieser Rückschäge besteht
darin, daß — da es unmöglich geworden ist, dem desanthropomorphisieren-
den Weltbild der Wissenschaft ein konkretes anthropomorphisierendes
gegenüberzustellen, ohne die Weiterentwicklung der Wissenschaft zu gefähr¬
den - der Anspruch der menschlichen Erkenntnis, die objektive Wirklich¬
keit zu erkennen, »kritisch« abgelehnt wird. Die Wissenschaft kann nun in
der Welt der Phänomene nach Belieben schalten und walten, denn daraus
lassen sich für die an sich seiende Welt, für die objektive Wirklichkeit über¬
haupt keine Folgerungen ziehen. Der subjektiv gewordene philosophische
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 167

Idealismus zieht sich auf die Position des bloß erkenntnistheoretischen Ver¬
bots eines objektiven Weltbilds zurück.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe die große Variabilität der möglichen, sich
hier ergebenden Stellungnahmen auch nur anzudeuten. Der auf diese Weise
entstehende Spielraum erstreckt sich von der einfachen, »erkenntnistheore¬
tischen« Rekonstituierung der Religionen bis zum religiösen Atheismus,
vom vollendeten Agnostizismus der Positivisten bis zur freien Mythen¬
bildung etc. Wir können hier auf eine detaillierte Behandlung dieser Viel¬
heit von Formen um so eher verzichten, als diese vom Aspekt unseres
Problems dieselbe Physiognomie zeigen: die das Anthropomorphisierens.
Diese Tendenz ist naturgemäß am deutlichsten sichtbar, wo es sich um die
philosophische Rettung alter Religionsvorstellungen oder um das Neuschaf¬
fen von Mythen handelt. Freilich gerät auch hier immer stärker der alte,
trügerische Glaube an die Objektivität solcher vom Menschen geschaffener
Gebilde ins Wanken. Bei Schleiermacher oder Kierkegaard ist das Bewußt¬
werden der Subjektivität bereits zum Prinzip der neuen Religiosität gewor¬
den, aber auch in anderen, weniger deutlichen Fällen ließe sich diese Orien¬
tierung nachweisen. Hat doch die ganze Tendenz zum Erhalten oder Neu¬
schaffen der Religion, gerade im betonten Gegensatz zur Wissenschaft, eine
neue Emphase erhalten. Schon bei Pascal erscheint die »Gottverlassenheit«
der Welt infolge des Vordringens der desanthropomorphisierenden Wissen¬
schaft als Schreckbild, gegen welches alle »menschlichen« (d. h. anthropomor-
phisierenden) Kräfte der Religion, des Glaubens emphatisch mobilisiert
werden sollen. Dieser Aufruf verstärkt sich im Laufe der Zeit. Je weniger
die herrschende Klasse das wahre Abbild der Wirklichkeit an sich ertragen
kann, desto stärker erhält in dieser ihrer Ideologie die Wissenschaft den We¬
senszug des Unmenschlichen, des Gegenmenschlichen. Wenn nun die Emphase
einer solchen weltanschaulichen Polemik gegen die Wissenschaftlichkeit
darauf konzentriert ist, die Methode der Wissenschaft, die Annäherung an die
objektive, an sich seiende Wirklichkeit, ihre desanthropomorphisierende
Widerspiegelung als unmenschlich zu diffamieren, so ist es klar, daß dabei
philosophisch nur eine - offen oder versteckt - anthropomorphisierende
Methode in den Vordergrund geraten kann.
Die steigende Bedeutung des Subjektivismus in diesem Prozeß muß zugleich
- einerlei ob bewußt oder nicht - die anthropomorphisierenden Tendenzen
stärken. Dies ist in der reinen Philosophie der Neuzeit vielleicht noch deut¬
licher sichtbar als in den Religionen oder auf Begründung von Religiosität
ausgehenden Weltanschauungen; diese müssen mit einem - wenn auch oft
168 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

stark abgeschwächten - Anspruch auf Objektivität auftreten, so wenig


letztere sich auch wirklich philosophisch begründen läßt. Wenn man dagegen
an die Subjektivierung der Zeit von Bergson bis Heidegger, an die des
Raumes von Scheler bis Ortega y Gasset denkt, so ist es klar, daß hier mit
philosophischer Bewußtheit das Erlebnis, das Erlebte als »wahre« Wirklich¬
keit der Objektivität, die Zutat des Subjekts, seine Weise, die Wirklichkeit
unmittelbar aufzunehmen, als »echt« der »toten« Objektivität der wissen¬
schaftlichen Erkenntnis gegenübergestellt wird. So wird für Scheler infolge
der Erlebnisse des modernen Verkehrs »die ausgedehnte Körperwelt minder
real und substantiell« 1. Ortega y Gasset sieht einen großen philosophi¬
schen Fortschritt darin: »In der Tat organisieren sich von dem Orte aus,
an dem ich mich jeweils befinde, alle übrigen Orte der Welt zu einer leben¬
digen, in ihren gemütsbewegenden Spannungen dynamischen Perspektive:
der Perspektive: Nah - Fern« 2. Hier wird in bezug auf den Raum, ebenso
wie früher bei Bergson in bezug auf die Zeit, die anthropomorphisierende
Subjektivität offen als höheres Prinzip gegen die desanthropomorphisierende
Wissenschaft ausgespielt.
Man sieht: der ideologische Rückschlag erfolgt hier nicht minder ausgeprägt
als in der Antike. Der wesentliche Unterschied besteht aber darin, daß die
im allgemeinen gleicherweise erfolgte Erschütterung des wissenschaftlichen
Geistes ganz anders, weitaus schwächer auf Methodologie und Praxis der
Wissenschaft selbst einwirkt. Im großen ganzen muß man sagen, daß das
Fortschreiten der Erkenntnis der Wirklichkeit, ihre Wirkung auf das All¬
tagsleben doch unaufhaltbar seine Wege geht. Freilich nur im großen gan¬
zen, denn es ist keine Frage, daß zwischen Weltanschauung, Erkenntnis¬
theorie etc. und praktischer Methodologie der Wissenschaften keine chine¬
sische Mauer errichtet sein kann. Das moderne Anthropomorphisieren ist
zudem so stark abstrakt abgeblaßt, so stark sublimiert, daß es leicht in die
Methodologie der Wissenschaften sich einschleichen kann, ohne an der
Oberfläche den Schein einer Wendung der Methode hervorzurufen. (Man
denke an die Unsicherheitsrelation Heisenbergs.) Andererseits drückt sich
gerade in einem solchen Funktionswechsel der anthropomorphisierenden
Weltanschauung der Wandel der Zeiten klar aus: das Desanthropomorphi-

M. Scheler: Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München-Leipzig 1924,


S. 145.
Ortega y Gasset: Der Mensch und das Maß dieser Erde, Frankfurter Allgemeine
Zeitung, Oktober 1954.
Aufschwung des Desanthropomorpbisierens in der Neuzeit 169

sieren hat in der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit einen


definitiven Sieg erfochten und seine Wirkungen breiten sich - trotz solcher
ideologischen Rückschläge - in der Praxis der Wissenschaften und des
Alltags unaufhaltsam aus.
Wir werden später an den unabweisbar notwendigen Tatsachen des Arbeits¬
prozesses detailliert aufzeigen können, daß das Desanthropomorphisieren
der wichtigsten Tätigkeiten der Menschen im Zeitalter des Kapitalismus ein
notwendiger Prozeß ist, der mit der Entwicklung der Produktivkräfte sich
unaufhaltsam steigert, mehr und mehr Verhältnisse der menschlichen Praxis
erfaßt, extensiv wie intensiv ständig wächst. Dieser Tatbestand bestimmt die
Eigenart des weltanschaulichen Widerstandes, seine Wesensart, seinen Um¬
fang und seine Grenzen; er bewirkt, daß trotz aller Anstrengungen keine
Wiederkehr eines Rückschlags in der Art des Ausgangs der Antike möglich
ist. Da der ständig wachsende Umkreis der menschlichen Praxis immer stär¬
ker mit desanthropomorphisierenden Kategorien arbeiten muß, da selbst
die Ideologen des Anthropomorphismus in weltanschaulichen Fragen dieses
Vordringen der praktischen Desanthropomorphisierung nicht nur nicht
aufhalten können, sondern auch nicht wollen, da gerade diese zur Grund¬
lage der Macht jener Klasse geworden ist, deren Ideologie die Vorkämpfer
der Anthropomorphisierung vertreten. Deshalb ist ihr ideologischer Kampf
- im Gegensatz zu Spätantike und Mittelalter - darauf beschränkt, die welt¬
anschaulichen Konsequenzen der fortschreitenden Desanthropomorphisie¬
rung der Wissenschaft, wie wir gesehen haben, anders zu interpretieren,
ohne damit am Wesen dieses Prozesses auch nur das geringste ändern zu
können. Der »freie Wille« der Atompartikel mag in manche Probleme der
Physik Verwirrung hineintragen, ihren Fortschritt zu einer rationalen
Einheitlichkeit in der Erklärung der Phänomene vielfach hemmen - die
Gedankenapparatur, mit der dabei gearbeitet wird, muß aber (trotz ein¬
gebauter anthropomorphisierender Mythologie) in der praktischen Metho¬
dologie ebenso desanthropologisierend bleiben, wie die der bekämpften
Gegner. Wie wir gesehen haben, ist also der anthropomorphisierende Rück¬
schlag gegen den neuen wissenschaftlichen Geist weniger eine Wieder¬
eroberung verlorenen Terrains, wie von Platon bis zu den Scholastikern,
sondern eher ein subjektiv-religiöser, ein »lyrischer« Trostgesang. Die eigen¬
tümliche Lage des neuzeitlichen Denkens, daß das Prinzip der Wissenschaft¬
lichkeit eine bis dahin nie gekannte Universalität erlangt und zugleich der Ge¬
gensatz zwischen ihr und der VTltanschauungsphilosophie me so schroff war,
erklärt sich gerade aus unseren bisherigen Ausführungen: daß jenes Weltbild,
I/O Desanthropomorphisierung der WiderSpiegelung in der Wissenschaft

das die desanthropomorphisierende Widerspiegelung der Wirklichkeit den


Menschen aufdrängt, praktisch-ökonomisch unentbehrlich, für die Bourgeoisie
und ihre Intelligenz ideologisch aber immer weniger tragbar erscheint.
Als allgemeine Erscheinung hängt dieses Phänomen ohne Frage mit der
wachsenden Krisenhaftigkeit der bürgerlichen Existenz, mit ihrer steigen¬
den Perspektivenlosigkeit zusammen. Das Erschrecken vor der Zertrümme¬
rung der Religion, vor der »Gottverlassenheit« der reinlich wissenschaftlich
erfaßten objektiven Wirklichkeit, setzt - vereinzelt - natürlich schon früh
ein. Pascal ist das erste große Beispiel dafür, daß man als Mathematiker und
Physiker nicht nur in Einzelergebnissen, sondern auch in der Methodologie
ein Bahnbrecher des Neuen sein kann und trotzdem gegen einen geistigen
Schock durch die selbsterarbeitete Bewältigung der Welt keineswegs gefeit
sein muß. Der letzte Grund eines solchen Verhaltens ist ein gesellschaft¬
licher. Die Entleerung des Weltbildes von anthropomorphisierenden reli¬
giösen Vorstellungen kann - wie die Geschichte des Denkens lehrt - auf die
einzelnen Menschen sowohl einen begeisternden, wie einen deprimierenden,
ja Verzweiflung bringenden Eindruck machen. Diese Wirkung ist tief im
Leben der betreffenden Menschen fundiert, in ihrer Existenz als ganze, als
lebendige Menschen des Alltags; sie ist also für den einzelnen zumeist nicht
mit wissenschaftlichen, weder logisch-methodologischen noch einzelne Tat¬
sachen oder Zusammenhänge erhellenden Gründen beweisbar, sondern ist
ein Lebensgefühl des ganzen Menschen, in seinen Erlebnissen, Emotionen,
Erfahrungen etc. fundiert; diese Existenz ist jedoch - in einer für den
einzelnen in den meisten Fällen nicht durchsichtigen Weise — objektiv von
dem gesellschaftlichen Sein des betreffenden Menschen bestimmt, von der
allgemeinen Struktur, Entwicklungsstufe etc. der Gesellschaft, in der er lebt,
von der Stelle, die er in dieser Gesellschaft einnimmt. Thomas Mann be¬
schreibt im »Zauberberg« ausgezeichnet diese zumeist ganz unbewußt
bleibende Grundlage des Lebensgefühls im kapitalistischen Alltag, die für
das hier behandelte Problem ausschlaggebend ist. Er sagt über Hans Castorp,
der nebenbei bemerkt Ingenieur ist, das Folgende: »Der Mensch lebt nicht
nur sein persönliches Leben als Einzelwesen, sondern, bewußt oder unbe¬
wußt, auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft, und sollte er die
allgemeinen und unpersönlichen Grundlagen seiner Existenz auch als
unbedingt gegeben und selbstverständlich betrachten und von dem Einfall,
Kritik daran zu üben, so weit entfernt sein, wie der gute Hans Castorp es
wirklich war, so ist doch sehr wohl möglich, daß er sein sittliches Wohl¬
befinden durch ihre Mängel vage beeinträchtigt fühlt. Dem einzelnen
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 171

Menschen mögen mancherlei persönliche Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussich¬


ten vor Augen schweben, aus denen er den Impuls zu hoher Anstrengung
und Tätigkeit schöpft; wenn das Unpersönliche um ihn her, die Zeit selbst
der Hoffnungen und Aussichten bei aller äußeren Regsamkeit im Grunde
entbehrt, wenn sie sich ihm als hoffnungslos, aussichtslos und ratlos heimlich
zu erkennen gibt, und der bewußt oder unbewußt gestellten, aber doch
irgendwie gestellten Fragen nach einem letzten, mehr als persönlichen,
unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen
entgegensetzt, so wird gerade in Fällen redlicheren Menschentums eine
gewisse lähmende Wirkung solchen Sachverhalts fast unausbleiblich sein,
die sich auf dem Wege über das Seelisch-Sittliche geradezu auf den physi¬
schen und organischen Teil des Individuums erstrecken mag. Zu bedeuten¬
der, das Maß des schlechthin Gebotenen überschreitender Leistung aufgelegt
zu sein, ohne daß die Zeit auf die Frage Wozu? eine befriedigende Antwort
wüßte, dazu gehört entweder eine sittliche Einsamkeit und Unmittelbarkeit, die
selten vorkommt und heroischer Natur ist, oder eine sehr robuste Vitalität.«
Dieses gesellschaftliche Sein ergibt nun unter den Bedingungen des Kapita¬
lismus, besonders unter denen seines Niedergangs, eine wachsende Undurch-
sichtbarkeit des Lebens (des gesellschaftlichen Lebens) als Ganzes, im schrof¬
fen Kontrast zu seiner wachsenden Erhellung in den Einzelergebnissen und
in der Methodologie der Wissenschaft. So kann sogar ein Naturwissen¬
schaftler wie Planck, der die Methodologie seiner Forschungen von allen
modernen Mythologisierungsversuchen leidenschaftlich reinhält, eine Über¬
einstimmung von Religion und Wissenschaft (bei klarer Einsicht in die des-
anthropomorphisierende Tendenz dieser und in die anthropomorphisie-
rende Wesensart jener) verkünden. Es ist dabei charakteristisch, daß er hier
den Trennungsstrich zwischen Erkennen (Wissenschaft) und Handeln (Reli¬
gion) zieht, wobei er in der letzteren Frage von der Unvollendbarkeit der
Erkenntnis ausgeht: »weil wir mit unseren Willensentscheidungen nicht
warten können, bis die Erkenntnis vollständig oder bis wir allwissend ge¬
worden sind. Denn wir stehen nicht nur im Leben und müssen in dessen
mannigfachen Anforderungen und Nöten oft sofortige Entschlüsse fassen
oder Gesinnungen betätigen, zu deren richtiger Ausgestaltung uns keine
langwierige Überlegung verhilft, sondern nur die bestimmte klare V^eisung,
die wir aus der unmittelbaren Verbindung mit Gott gewinnen1.« Es ist

1 M. Planck: Weg zur physikalischen Erkenntnis, Leipzig 1944, S. 305.


172 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

klar, daß Planck hier unter Handeln die Lebensbedingungen des Alltags
versteht. Daß ihm dabei der gesellschaftliche, ökonomisch-sozial bedingte
Charakter dieses Milieus und der darin möglichen Handlungsformen nicht be¬
wußt wird, ändert an seiner Stellungnahme nichts. Sie zeigt nur wieder unsere
frühere Feststellung, wie eng die Struktur der Religion und der Alltags¬
praxis Zusammenhängen. Darum bestätigt seine Einstellung die grund¬
legende These von Marx über die Bedingungen der Existenz und des Ab¬
sterbens der Religion: »Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann
überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Wer¬
keltagslebens der Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehun¬
gen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen
Lebensprozesses, d. h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur
ihren mythischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschaf¬
teter Menschen unter deren bewußter, planmäßiger Kontrolle steht. Dazu
ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe
materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Pro¬
dukt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind 1.«
Wir haben hier Planck als Beispiel gewählt, weil er die desanthropologisie-
rende Methode in den Wissenschaften unbefangen, spontan materialistisch
behandelt, das wachsende Unabhängigmachen der Widerspiegelung der
Wirklichkeit von den menschlichen Sinnesorganen als eine Selbstverständ¬
lichkeit ansieht: »Der Ausschaltung der spezifischen Sinnesempfindung aus
den Grundbegriffen folgte naturgemäß die Verdrängung der Sinnesorgane
durch geeignete Meßinstrumente. Das Auge wich der photographischen
Platte, das Ohr der schwingenden Membran, die wärmeempfindliche Haut
dem Thermometer. Die Einführung selbstregistrierender Apparate machte
von subjektiven Fehlerquellen noch weitergehend unabhängig 2.« Dabei fehlt
in diesen seinen Betrachtungen völlig jene Angst, daß die Desanthropomor-
phisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis, als Reflex einer »gottverlas¬
senen« Welt, subjektiv zu einem Prinzip der Unmenschhchkeit werden
könnte. Er sieht im Gegenteil klar, daß der hier entstehende Prozeß der
unendlichen Annäherung an die an sich seiende, von unserem Bewußtsein
unabhängig existierende Welt das einzig reale Mittel ist, um den Menschen
cne Erkenntnis und damit die Herrschaft über die objektiv seiende Wirk-

1 Marx: Das Kapital, Band I, a. a. O. S. 46.


2 Planck: a. a. O. S. 261 f.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 173

lichkeit zu verleihen. Darum ist sein Trotzdem der weltanschaulichen Ko¬


existenz von möglichst weitgetriebenem Desanthropomorphisieren in der wis¬
senschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit mit der Religion (als Prinzip
des Handelns, nicht mehr als Erkenntnis der Welt, als Element des Alltags¬
lebens und nicht als Leitung der Wissenschaft) so bezeichnend.
Solche Auffassungen, wie die Plancks, können nur einen schwachen Damm
gegen das Eindringen der anthropomorphisierend-mystischen Tendenzen in
die Weltanschauung und dadurch vermittelt oft in die Wissenschaft errich¬
ten. Um den Durchbruch zum neuen Prinzip in der Widerspiegelung der
Wirklichkeit, zu dem genauen und fundierten Trennen vom Anthropomorphi-
sieren des Alltagsdenkens und der Religion zu vollziehen, wie dies in
Fortführung und Konkretisierung der großen Ansätze der frühgriechischen
Entwicklung die Renaissance und ihre unmittelbare Nachfolge vollzogen
haben, gehört das Pathos einer ganz anderen weltanschaulichen Sicherheit.
Nicht nur um diese ein wenig zu beleuchten, sondern um zugleich auch die
subjektive Seite dieser Widerspiegelungsart deutlicher zu machen, ist ein
kurzer Exkurs in die Anthropologie und Ethik dieser Periode vonnöten.
Da es hier, schon aus Gründen des Umfangs, unmöglich ist, diese Probleme
ausführlich zu behandeln, beschränken wir uns auf ein, freilich zentrales
Problem. Dabei wird zugleich - diesmal von der positiven Perspektive aus
gesehen - der gesellschaftlich-geschichtliche Charakter der spontanen wie be¬
wußten Verhaltensweise des Alltagsdenkens in ihrer Wechselbeziehung zu den
differenzierten, selbstgeschaffenen, aber selbständig gewordenen Objektivatio-
nen klar zum Ausdruck kommen; auch, ja gerade dann, wenn die einzelnen
Denker, wie in den von uns zu behandelnden Fällen dieser historisch-sozialen
Determiniertheit sich keineswegs bewußt sind, wenn sie sogar - implicite oder
explicite - der Meinung sind, über solche Determinationen erhaben zu sein.
Am klarsten kommt diese Anwendung des wissenschaftlich-desanthropomorphi-
sierenden Gesichtspunkts, mit dem Akzent einer dadurch erreichten phi¬
losophischen Begründung der Herrschaft des Menschen über sein eigenes
Leben in der Gesellschaft bei Hobbes und vor allem bei Spinoza zum Aus¬
druck. Beide sind bestrebt, die für die Naturerkenntnis angebahnte »geo¬
metrische« Methode zum Ausbau von Anthropologie, Psychologie und
Ethik nutzbar zu machen1. Es ist hier nicht der Ort, eine Kritik der hier

1 Hobbes: Grundzüge der Philosophie, III. Teil, Lehre vom Bürger, Widmung,
Leipzig 1918, S. 6j, und Spinoza: Ethik, III. Teil, Leipzig i9°7> S. 99•
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
T74

vorhandenen und wirksamen methodologischen Illusionen zu geben, auf


ihre determinierenden Motive kommen wir später kurz zurück. Süchtig ist
hier nur zu betonen, daß dabei die Ablehnung einer jeden transzendenten
(also religiösen) Macht für die fruchtbare Herrschaft des Metischen über
seine eigenen Affekte, für seine Freiheit im Sinne von Hobbes und Spinoza
eine entscheidende Rolle spielt. Der große Gedanke von Spinoza: »Ein
Affekt kann nur gehemmt oder aufgehoben werden durch einen Affekt der
entgegengesetzt, und der stärker ist als der zu hemmende Affekt1.« hat,
wie eine genaue Analyse leicht zeigen könnte, die Beobachtung des Ar¬
beitsprozesses zum Modell. Während aber in dem alltäglichen und religiösen
Denken das Vorbild der planenden Teleologie in die objektive Wirklichkeit
hineinprojiziert wird, wird hier die teleologisch angewendete kausale Ge¬
setzmäßigkeit des Arbeitsprozesses selbst (die Hegel später so formuliert,
daß mit der Hilfe des Werzeuges die Natur sich selbst an sich selbst »ab¬
arbeitet«) für die Erhellung der inneren Verhaltensweise des Menschen,
seiner Beziehungen zu seinen Mitmenschen angewendet. Die Erkenntnis der
vom menschlichen Bewußtsein unabhängigen Gesetze der an sich seienden
Wirklichkeit wird also hier zu einem Vehikel des Erlangens der Freiheit des
Menschen, seiner Freiheit als Durchschauen der wirklichen objektiven
Mächte, die er nur durch adäquate Erkenntnis nutzbar machen kann, als
Entlarvung jener eingebildeten, unbewußt selbstgeschaffenen Mächte, die
er ebenfalls nur durch eine solche Erhellung ihres Wesens zu überwinden
imstande ist.
Das alles ist natürlich das Ergebnis einer jahrtausendlangen Entwicklung.
Wir haben im allgemeinen das Wirksamwerden des desanthropomorphi-
sierenden Prinzips vom Standpunkt der Veränderung des objektiven Welt¬
bilds des Menschen, der Rationalisierung seiner Praxis betrachtet. Mit
Recht, denn dieser Umwandlungsprozeß und seine Folgen repräsentieren
tatsächlich das Primäre und Ausschlaggebende an der Wirkung der wissen¬
schaftlichen Desanthropomorphisierung. Ganz vernachlässigt darf aber ihr
subjektiver Reflex, ihr Einfluß auf persönliche Weltanschauungen, auf Ethik,
auf Lebenshaltung etc. auch nicht werden. Um so weniger, als, wie wir
gesehen haben und noch wiederholt sehen werden, der weltanschauliche
Widerstand gegen dieses Prinzip der echten Wissenschaftlichkeit sich stets
um den Punkt konzentriert: Desanthropomorphisierung sei gleich mit

1 Spinoza, ebd. IV. Teil, Lehrsatz, 7. a. a. O. S. 180.


Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit
I75

Unmenschlichkeit, Entmenschung (Entgötterung der Welt), Verwandlung


des Menschen in einen Automaten, Aufhebung seiner Persönlichkeit, des
Sinnes seiner Tätigkeit etc. Solche Argumentationen tauchen in der neuesten
Zeit selbst bei Menschen auf, die nicht nur rein praktisch, sondern auch für
die Gebiete des Wissens diese Methodologie anerkennen. So sagt z. B. Geh¬
len, dessen einzelne wichtige Ergebnisse wir schon verwertet haben und
noch verwerten werden, über die Beziehung des Menschen in der »archai¬
schen« (nach Gehlen: vormagischen) Periode: »Da der Mensch wesentlich
Kulturwesen ist, seine eigene Natur bis tief ins Innere hinein eine >nature
artificielle<, ja da er sogar die objektive Natur selbst theoretisch und prak¬
tisch in dem Grade vereinseitigt, in dem er sie überhaupt erreicht, so daß
jedes >Naturbild< nur ein tendenziöser Ausschnitt ist, deshalb ist ein Mo¬
ment des Künstlichen, ja Fiktiven schlechterdings apriorisch. Die Realität
>an sich< ist daher in ihm und außer ihm durchaus transzendent, und wenn
und soweit man sie, wie in den Naturwissenschaften, doch irgendwie appro¬
ximativ erreicht, weist sie ihre Unmenschlichkeit aus, so daß dem moder¬
nen Menschen die archaische Möglichkeit genommen ist, sich in der Natur
zu verstehen.« 1 So der heute viel gelesene und viel zitierte Schriftsteller
Robert Musil: »Ich fürchte, folgender Gedanken (Nachmittag am Sofa)
gehört nicht zu meinen Essays, sondern zu meiner Biographie: Gott, nach
der gewöhnlichen Vorstellung des Verhältnisses von rotierendem Elektron
im Körperganzen; was bedeutet es dann für ihn, ob man gothisch oder
sonstwie baut? Naturgesetzlich wirken geistige Unterschiede nicht; wenn
der Mensch also nicht überflüssiger sein soll, als ein Pendel, so ist das über¬
geordnete Ganze geistig. Und zwar wahrscheinlich schon das nächst Über¬
geordnete.« 2 Solche Äußerungen ließen sich massenhaft anführen.
Dagegen ist hervorzuheben, daß seit der griechischen Antike, seit dem
ersten bewußten Auftauchen des desanthropomorphisierenden Prinzips, sich
ununterbrochen, sukzessiv, wenn auch mit Rückschlägen, oft inkonsequent,
in Zickzacklinien eine diesem entsprechende, aus ihr herauswachsende, selbst
freilich nicht desanthropomorphisierende Ethik, eine menschliche Verhal¬
tungsweise entfaltet hat, die in schroffem Gegensatz zu den oben angeführ¬
ten Stellungnahmen gerade in dieser Position den archimedischen Punkt
einer wahrhaft humanistischen, dem Menschen und seiner Würde gemäßen

1 Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S. 238.


2 R. Musil: Tagebüdrer, Aphorismen, Essays und Reden, Hamburg 1955, S. 319.
Desanthropomorphisienmg der Widerspiegelung in der Wissenschaft
i76

Weltanschauung erblickt. Eine solche Ethik beginnt also beim Menschen


und kulminiert in ihm, setzt aber eben deshalb eine desanthropomorphi-
sierend betrachtete Außenwelt voraus. Wir haben früher diese Tendenzen
in der griechischen Philosophie angedeutet. Die uns hier interessierenden
Folgen in bezug auf das Ideal des menschlichen Verhaltens faßt Marx so
zusammen, »daß der Weise Sophos, nichts ist, als der idealisierte Stoiker,
nicht der Stoiker der realisierte Weise; wo er finden wird, daß der Sophos
durchaus nicht bloß stoisch ist, sondern ebenso wie bei den Epikureern,
Neuakademikern und Skeptikern vorkommt. Übrigens ist der Sophos die
erste Gestalt, in der uns der griechische Philosophos entgegentritt; er
tritt mythisch auf in den sieben Weisen, praktisch in Sokrates und als Ideal
bei den Stoikern, Epikureern, Neuakademikern und Skeptikern. Jede die¬
ser Schulen hat natürlich einen eigenen go^oq ... Ja, Sankt Max (gemeint
ist Stirner, G. L.) kann ’le sage“ wiederfinden im achtzehnten Jahrhundert
in der Aufklärungsphilosophie und sogar bei Jean Paul in den >Weisen
Männern< wie Emanuel etc.« 1. Bei allen Differenzen, die innerhalb dieser
Typen aus historischen, sozialen und persönlichen Gründen vorhanden sein
mögen, drückt sich in ihnen ein gemeinsamer weltgeschichtlicher Zug aus;
nämlich daß gerade das wissenschaftliche Verhalten zur Wirklichkeit die
Grundlage des ethischen Verhaltens der Humanität höchster Ordnung bil¬
det. Mag Aristoteles das Überspannte an der Sokratischen Identifikation
von Wissen und Moral kritisieren, die darin ausgesprochene Ablehnung
bezieht sich nur darauf, was er für übertrieben hält, nicht auf das Prinzip
selbst.
Die so gefaßte Gemeinsamkeit - bei allen Divergenzen in noch so wichtigen
Einzelheiten - konzentriert sich auf zwei Problemkomplexe. Erstens auf die
weltanschauliche Immanenz des ethischen Verhaltens, d. h. auf jenen Zu¬
sammenhang der Freiheit mit der richtigen (wissenschaftlichen, desanthropo-
morphisierenden) Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit, über welche wir
eben gesprochen haben. Sie beinhaltet eine Ablehnung aller transzenden¬
ten Bindungen, Bezogenheiten auch für das humanistisch-moralische Ver¬
halten des Menschen. Dieser selbst also, in einer Welt lebend, die er, so wie
sie wirklich, an sich, befreit von jeder menschlichen Introjektion, ist, nach
Möglichkeit adäquat zu erkennen trachtet, hat die Aufgabe, sein Leben -
eingebettet in die gesellschaftlich-geschichtliche Menschheitsentwicklung -

1 Marx-Engels: Deutsche Ideologie, Werke (MEGA) Band V, S. 119.


Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit U7

selbst aufzubauen, den Sinn seines Lebens im Leben, in seinem Leben selbst
zu finden. Daraus folgt zweitens, daß der Mensch, als »Mikrokosmos«,
gleichfalls immanent, eigengesetzlich zu betrachten ist, ohne irgendein
Mythologisieren seiner eigenen Kräfte und Schwächen als Derivate von
Transzendenzen. Die ebenfalls schon angeführte ethische Affektentheorie
Spinozas zeigt deutlich, wohin ein solcher Weg führt. Natürlich variieren
solche Lehren sehr stark, je nachdem wie die Gesellschaft, in welcher der
Mensch als »Mikrokosmos« zu wirken hat, beschaffen ist. Wir haben ja
beobachten können, wie in unseren Tagen gerade aus dem Wesen des Kapi¬
talismus der Gegenwart, aus seiner Hypostasierung Theoreme der kos¬
mischen Transzendenz, der »ewigen« Unerkennbarkeit des Menschen er¬
wachsen. Eine derartige Entstellung ist aber keineswegs zwangsläufig.
Auch die Stoiker und Epikureer lebten in einer Gesellschaft, die sie ab¬
lehnten; diese Ablehnung hebt bei ihnen jedoch das immanente Aufsich-
gestelltsein des Menschen als »Mikrokosmos« nicht auf, sie verstärkt und
vertieft sie im Gegenteil: das Fehlen einer Erfüllbarkeit des echten Huma¬
nismus in der Gesellschaft ist gerade ein entscheidendes Motiv, um den
Typus des Weisen noch entschiedener, noch menschlich immanenter auszu¬
gestalten. Die gedanken- und gefühlsmäßige Umgestaltung der desanthro-
pomorphisiert betrachteten Welt ist also keine nihilistische oder relativisti¬
sche Enthumanisierung der menschlichen Wirklichkeit, sie ergibt keine ver¬
zweifelte Richtungslosigkeit für das menschliche Handeln. Wo dies auftritt,
haben wir, im Gegenteil, es mit einem reaktionären Mythos zu tun.
Für unsere Zwecke genügt es, wenn wir diese Problemlage an der Analyse
der Affekte Furcht und Hoffnung andeutend aufzeigen. (Natürlich ist hier
nur von den Affekten die Rede. Wenn auf höherem seelischen Niveau von
Furcht und Hoffnung die Rede ist, wenn man z. B. bei einem wichtigen
Entschluß »sich fürchtet«, ob man genügend Kraft, Entschlossenheit zur
Durchführung des Richtigen haben wird, so ist das ein Gefühlsreflex mora¬
lischer Erwägungen und kein Affekt.) Ihre polare Zusammengehörigkeit,
ihre Gebundenheit an einen bloßen Glauben hat bereits Descartes erkannt1.
Hobbes betont dabei, daß ihr Objekt ein bloß »anscheinendes« Gut, bzw.
Übel ist, es hat also einen bloß subjektiven Charakter, ist mehr Anlaß
als Ursache, kann also auch durch »etwas Unvorstellbares« ausgelöst wer¬
den, wenn dieses »nur ausgesprochen werden kann«. Hobbes weist dabei

1 Descartes: Les passions de l’äme, III. Teil, Art. 165/6, a. a. O. S. 636.


I7S Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

auf den »panischen Schrecken«, wo »ohne Kenntnis des Grundes«, Furcht


und Flucht entsteht1. Sehr ähnlich ist die Analyse dieser Affekte bei Spi¬
noza. Auch er betont den subjektivistischen Charakter dieser Affekte. Ihr
Objekt entsteht »aus dem Vorstellungsbilde eines zweifelhaften Dinges«;
ihr Charakter ist also »eine unbeständige Freude« oder eine »unbeständige
Trauer«. Deshalb betont er, daß diese Affekte »nicht an sich gut seien«; sie
zeigen »Mangel an Erkenntnis und Ohnmacht der Seele« an, weshalb auch:
»Je mehr wir daher nach der Leitung der Vernunft zu leben streben, desto
mehr streben wir, uns von der FFoffnung unabhängiger zu machen, und
von der Furcht zu befreien, dem Schicksal, soviel wir können, zu gebieten
und unsere Ffandlungen nach dem bestimmten Anraten der Vernunft zu
regeln.« 2
Die Wirkung dieser Einstellung ist eine außerordentlich große. Da wir hier
nicht auf historische Details eingehen können, genügt es, wenn wir auf
Goethe hinweisen. Im Maskenzuge in der kaiserlichen Pfalz läßt er Furcht
und Hoffnung gefesselt vorführen und die Klugheit über sie so sprechen:

Zwei der größten Menschenfeinde,


Furcht und Hoffnung, angekettet,
Halt ich ab von der Gemeinde . . .

Und mit einer sehr charakteristischen Wendung generalisiert Goethe das


Problem noch weiter; nachdem er hier die soziale Gefährlichkeit von
Furcht und Hoffnung pointiert hatte, betrachtet er diese beiden Affekte in
seinen »Sprüche in Reimen« als entscheidende Charakteristik des Philisters:

Was ist ein Philister?


Ein hohler Darm,
Mit Furcht und Hoffnung ausgefüllt,
Daß Gott erbarm.3

1 Hobbes: Grundzüge der Philosophie, II. Teil, Die Lehre vom Menschen, 12. Ka¬
pitel, a. a. O. S. 35.
Spinoza: Ethik, IV. Teil, Lehrsatz, 44. Anmerkung, a. a. O. S. 213 f.
Es ist vielleicht interessant, beiläufig zu bemerken, daß die Goethesche Definition
bei den Klassikern des Marxismus sehr populär geworden ist. Engels gebraucht sie
zur Charakteristik der Kleinbürger, wobei der Inhalt der Hoffnung zum Auf¬
stieg ins Großbürgertum, der der Furcht zum Hinabgestoßenwerden ins Proleta-
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit l79

Hier kann es nur darauf ankommen, den Zusammenhang zwischen der


Neuentdeckung, der methodologisch klaren Herausarbeitung der desanthro-
pomorphisierenden Widerspiegelung und zwischen dem Humanismus, dem
Schutz der Freiheit und Integrität des Menschen kurz anzudeuten, neben¬
bei auch darauf ein Streiflicht zu werfen, wie antiasketisch alle diese Ten¬
denzen sind. Daß die Erscheinungsformen einer erstrebten Tendenz, Freiheit
und Integrität des Menschen zu retten, historisch bedingt sind, ist eine
Selbstverständlichkeit. Ebenso daß ein solches gesellschaftlich-geschichtliches
Bedingtsein der Fragen und Antworten in Anthropologie, Ethik etc. nicht
an der Oberfläche haften bleibt, sondern sich auf die entscheidenden inhalt¬
lichen und strukturellen Probleme intim bezieht. Die Anerkennung der
humanistischen Grundtendenz in den soeben aufgezeigten Äußerungen be¬
inhaltet also keineswegs ihre »ewige Geltung«. Die »geometrische Methode«
von Hobbes oder Spinoza ist ebenso zeitbedingt, wie die stoisch-epikureisch
gefärbte Atmosphäre ihrer Ethik. Beide Formen können durch die histo¬
rische Entwicklung der Gesellschaft und in ihr der Wissenschaft als kon¬
kret überholt erscheinen, ohne damit ihre fundamentale Bedeutung zu
verlieren. Wenn etwa im Nachkriegsimperialismus der Affekt Furcht sich
von jeder Hoffnung loslöst und - im Anschluß an Kierkegaard - sich als
Angst zur universalistischen Basis der bürgerlichen Ideologie ausweitet, zur
Grundlage der religiösen Weltanschauungen (den religiösen Atheismus
mitinbegriffen) wird; wenn aber, wie schon zur Zeit der großen französi¬
schen Revolution und auf qualitativ höherem Niveau seit dem Vormarsch
des Sozialismus, die Hoffnung einen wissenschaftlichen Unterbau, die Ver¬
bundenheit mit einer erkenntnismäßigen Begründetheit und Konkretion
erhält, so ist alldies eine weitere Entwicklungsetappe der Menschheit, so ist
nicht mehr vom bloßen Affekt Hoffnung die Rede, sondern von den Ge¬
fühlsreflexen einer wissenschaftlich - philosophisch, ökonomisch etc. - be¬
gründeten Perspektive.
Wenn wir noch abschließend in einigen Bemerkungen auf die Grundlage
dieser Zusammenhänge zwischen konsequentem Desanthropomorphisieren
in der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit und dem Ver¬
halten des Menschen im Alltagsleben eingehen, so beinhaltet dies zugleich

riat konkretisiert wird. Über Goethes besonderen, von dem romantischen und
späteren abweichenden Gebrauch Begriff des Philister, vergleiche mein Buch:
Goethe und seine Zeit, Berlin 1953, S. 33.
180 Desantbropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

eine schroffe Ablehnung aller Tendenzen, die einerseits im wissenschaft¬


lichen Verhalten und erst recht in der zu Ende geführten wissenschaftlichen
Weltanschauung etwas »Unmenschliches« erblicken, die andererseits die
rein wissenschaftlich erfaßte Welt als dem Wesen des Menschen feindlich
ansehen. Um diese Lage klar zu überblicken, darf nicht nur nicht vergessen
werden, daß die desanthropomorphisierende Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit ein Instrument des Menschengeschlechts zu seiner eigenen Höher¬
entwicklung, zum Beherrschen seiner Welt ist, es muß vielmehr auch stets
daran gedacht werden, daß dieser Prozeß zugleich der der höheren Ent¬
faltung des Menschen selbst ist, eine Verbreiterung und Vertiefung, eine
Konzentration aller seiner Fähigkeiten, dessen Einwirkungen auf seine
Gesamtpersönlichkeit unermeßliche sind. Wir haben früher kurz andeu¬
tend darüber gesprochen, daß in der Beziehung zu den selbstgeschaffenen
höchsten Objektivationssystemen - Wissenschaft und Kunst — der ganze
Mensch des Alltags sich in den Menschen ganz (gerichtet auf das jeweilige
konkrete Objektivationssystem) verwandelt. Diese Frage in ihrer Beziehung
zur Kunst wird uns später vielfach und ausführlich beschäftigen; die der
Wissenschaft zugewendete Seite des Problems kann, dem Plan dieses Werks
entsprechend, nur in abgekürzter, sehr verallgemeinerter Weise behandelt
werden.
Eine höhere Objektivation kann nur entstehen, wenn alle ihre durch
Widerspiegelung gewonnenen und bearbeiteten Gegenstände, sowie deren
Beziehungen eine der Funktion der betreffenden Widerspiegelungsart ent¬
sprechende Homogeneisierung erfahren. Ohne hier auf die später ausführ¬
lich zu analysierende ästhetische Bedeutung dieses Aktes eingehen zu kön¬
nen, ist es ohne weiteres evident, daß eine der jeweiligen wissenschaftlichen
Zielsetzung entsprechende Homogeneisierung überall stattfindet, wo ein
derartiges Erfassen der Wirklichkeit erstrebt wird. Die Mathematik ist die
reinste Form einer solchen Homogeneisierung von Inhalt und Form der
gespiegelten Wirklichkeit; sie drückt auch die desanthropomorphisierende
Tendenz in dieser Umwandlung des subjektiven Verhaltens am eindeutig¬
sten aus. Es wäre aber ein Fehler, zu übersehen, daß alle Wissenschaften,
auch die gesellschaftlichen, stets ein homogenes Medium erschaffen, um
Eigenschaften, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten des von einem bestimm¬
ten Erkenntnisziel aus untersuchten Teils der ansichseienden Wirklichkeiten
besser zu erfassen und zu erhellen. Das wesentlich Gemeinsame ist, daß es
sich immer um das vom Menschen unabhängig existierende Ansich der
Wirklichkeit handelt; auch wo der Mensch selbst, biologisch oder gesell-
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 181

schaftlich-geschichtlich, untersucht wird, geht es - letzten Endes - um solche


objektive Gegenständlichkeiten oder Prozesse. Die desanthropomorphisie-
rende Grundrichtung zeigt sich auch darin - vor allem im Gegensatz zur
künstlerischen Widerspiegelung daß der zusammenhängende, unendlich¬
totale Charakter des Objekts, der ansich-seienden Wirklichkeit auch dann
tendentiell möglichst getreu aufbewahrt bleibt, wenn bewußterweise nur
ein methodologisch isoliertes Stück behandelt wird. Ein solcher Teil, sowohl
als Gegenstand wie als Aspekt, erlangt nie eine absolute Selbständigkeit,
ein in sich abgeschlossenes Aufsichgestelltsein, wie in der künstlerischen
Widerspiegelung, wird nie zu einer eigenen »Welt«, wie in dieser, sondern
bewahrt - gegenständlich und methodologisch - seinen Teilcharakter. Dar¬
aus folgt, daß jede wissenschaftliche Spiegelung der Wirklichkeit die Ergeb¬
nisse vieler anderer Versuche auch direkt und unverändert übernehmen und
verwerten kann, sogar muß; während in der ästhetischen Mimesis gerade
das homogene Medium der einzelnen Werke etwas Einzigartiges und Letztes
vorstellt, so daß die Übernahme fremder formellen oder inhaltlichen
Elemente - selbst aus eigenen Werken - für den Künstler eine Gefahr bilden
kann. Das Fundament des homogenen Mediums in der wissenschaftlichen
Widerspiegelung ist dagegen - letzten Endes, freilich nur letzten Endes -
etwas für alle Wissenszweige Einheitliches. Die Differenzen zwischen ein¬
zelnen Wissenschaften und auch zwischen einzelnen Wissenschaftlern sollen
damit nicht geleugnet werden, sie sind aber — mit der ästhetischen Sphäre
verglichen — relativen Charakters. Denn so eigene Wege die verschiedenen
Wissenschaften und in ihnen die einzelnen Forschungen auch gehen mögen,
tendenziell gibt es doch nur eine Wissenschaft, eine konvergierende Gesamt¬
annäherung an das einheitliche Ansich der Objektwelt, und keine Einzel¬
abbildung könnte Wahrheit und damit Bestand erlangen, wenn diese Ten¬
denz ihr - einerlei ob bewußt oder unbewußt - nicht innewohnen würde.
Das hebt den individuellen Charakter vieler Leistungen nicht auf, verleiht
aber der Individualität ein ganz anderes Cachet als im Bereich des Ästhe¬
tischen.
Dieser Strukturunterschied der Gegenständlichkeit — innerhalb der objek¬
tiven Einheit der widergespiegelten Welt — muß festgehalten werden, wenn
wir die Eigenart des Menschen ganz als subjektive Verhaltensart, die die
Desanthropomorphisierung im Menschen vollzieht, richtig begreifen wol¬
len. Schon die bisherigen Darlegungen zeigen, wie falsch es ist, in einem
desanthropomorphisierend entstandenen Weltbild und in dem ihm ent¬
sprechenden Verhalten unmenschliche Prinzipien zu entdecken. Das Desan-
182 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

thropomorphisieren selbst ist, wie wir es bei Behandlung der Arbeit sehen
konnten, tief im Alltagsleben des ganzen Menschen verankert und sogar
seine Instrumentur zeigt oft derart fließende Übergänge, daß die Grenze
oft schwer feststellbar ist. Denn jedes Werkzeug enthält objektiv desanthro-
pomorphisierende Grundlagen: um mit ihm für den Menschen nützliche
Verrichtungen vollziehen zu können, muß vorerst seine Wesensart, seine
Wirkungsmöglichkeit etc. durch ein Absehen von der gewöhnlichen, alltäg¬
lich-menschlichen Betrachtungsweise des ganzen Menschen aufgedeckt wer¬
den. Soweit es jedoch bloß dazu dient, die angeborenen oder gesellschaftlich
erworbenen menschlichen Fähigkeiten zu verstärken, ihre Fehlleistungen
auszugleichen, führt seine Anwendung ins Alltagsleben der ganzen Menschen
zurück. So ist hier trotz der gleitenden Übergänge doch ein Sprung zum
echten Desanthropomorphisieren der Wissenschaft vorhanden; die Brille
desanthropomorphisiert nicht, wohl aber das Teleskop oder das Mikroskop,
denn jene stellt bloß eine gestörte normale Beziehung im Alltagsleben des
ganzen Menschen her, während diese eine den menschlichen Sinnen sonst
unzugängliche Welt eröffnen. Die praktisch freilich immer von Zwischen¬
stufen verwischte Grenze wird also gerade danach gezogen, ob das Instru¬
ment in das Alltagsleben des ganzen Menschen zurückführt oder eine davon
qualitativ verschiedene Welt, die des Ansichseienden, des vom Menschen un¬
abhängig Existierenden wahrnehmbar macht. Dieser Sprung läßt die Ver¬
haltensweise des Menschen ganz entstehen. Beim Benutzen eines solchen
Instruments scheint der Übergang höchst einfach; er ist komplizierter, wenn
die Instrumentur eine vorwiegend geistige ist, wie z. B. der Gebrauch der
Mathematik, wo dem menschlichen Denken ihm sonst unbekannte Aufgaben
gestellt werden, die mit einer vom Alltagsdenken qualitativ verschiedenen
Methode gelöst werden müssen. Ihre Welt von rein quantitativen Beziehun¬
gen ist zwar jedenfalls eine Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit,
indem jedoch die Abstraktion des Quantifizierens vollzogen wurde und das
homogene Medium der reinen und ausschließlich m Betracht gezogenen
Quantität entstanden ist, blühen Begriffsbildungen und -Verknüpfungen auf,
die im Alltagsleben des ganzen Menschen keine Analogie haben, obgleich
sie füi die Erkenntnis der an sich seienden Wirklichkeit höchst fruchtbar
angewendet werden können.
Das desanthropomorphisierende Denken stellt auch den sich mit dem Men¬
schen und den menschlichen Beziehungen beschäftigenden Wissenschaften
dem Alltagsleben gegenüber völlig neue Anforderungen. Auch hier handelt
es sich darum, daß Phänomene von einer bestimmten Qualität aus dem
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 183

unmittelbaren und ungeordnet scheinenden Komplex der direkt gegebenen


Wirklichkeit herausgehoben und entsprechend homogeneisiert werden, um
ihre ansichseienden Zusammenhänge, die sonst unwahrnehmbar bleiben
müßten, zu erhellen, um diese sowohl in ihren immanenten Gesetzlich¬
keiten, wie in Wechselbeziehung zu anders gearteten Gegenstandsgruppen
objektiv untersuchen zu können. Die Ökonomie kann gewissermaßen als
Schulbeispiel für diesen Homogeneisierungsprozeß gelten. Natürlich kann
dieser nur äußerst selten die Geschlossenheit und Exaktheit der reinen
Mathematik erreichen; natürlich gab es und gibt es in den Gesellschafts¬
wissenschaften vielfach Beispiele für ein wissenschaftlich falsches Heraus¬
heben und Homogeneisieren, das ändert aber nichts Wesentliches an der
Unvermeidlichkeit und Fruchtbarkeit einer solchen Setzungsart. (Man ver¬
gesse bei Betrachtung der hier entstehenden Konfliktsmöglichkeiten nicht,
daß auch bei der Anwendung der reinen Mathematik etwa auf physikalische
Phänomene Probleme ähnlicher Art auftauchen können und auch aufge¬
taucht sind.)
Die Wesensart des »Menschen ganz« in der desanthropomorphisierenden
Widerspiegelung der Wirklichkeit ergibt sich aus dem dialektischen Zusam¬
men vom allmählichen Übergang und Sprung im Verhältnis zu diesem
homogenen Medium einerseits und zum ganzen Menschen des Alltags
andererseits. Denn es gehört zum Wesen dieses Sprunges, daß zwar eine
gewisse Entsubjektivierung stattfindet, daß aber durch sie viele der aus¬
schlaggebenden Eigenschaften, Qualitäten des ihn vollziehenden ganzen
Menschen bloß so weit aufgehoben werden, als sie der Reproduktion des
jeweiligen homogenen Mediums durch das betreffende Subjekt hindernd im
Wege stehen. Alle sonstigen Kräfte des Menschen, die moralischen selbst¬
redend mitinbegriffen, bleiben weiter in Wirksamkeit, ja pflegen am Ausbau
der desanthropomorphisierenden Widerspiegelung eine große Rolle zu
spielen. (Also nicht nur Scharfsinn, Beobachtungsgabe, Kombinationsfähig¬
keit etc., sondern auch Ausdauer, Mut, Widerstandskraft etc.) Der Sprung
zeigt sich deutlicherweise darin, daß nicht so sehr Größe oder Intensität
einzelner Gaben für das Ergebnis ausschlaggebende Bedeutung erlangen,
wie die Art, in der ihre Kombination und Proportion sich zum jeweiligen
homogenen Medium und innerhalb seines Bereichs zur jeweiligen konkreten
Aufgabe verhält. Diese Dialektik tritt besonders deutlich in den Gesell¬
schaftswissenschaften hervor. Daß die leidenschaftliche Parteinahme an und
in den Konflikten einer Periode zur Entdeckung ganz neuer Zusam¬
menhänge und zu ihrer desanthropomorphisierend richtigen, objektiven
184 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

Darstellung führen kann, läßt sich an Beispielen wie Machiavelli, Gibbon,


Thierry, Marx etc. leicht studieren. Dagegen kann man ebenfalls unschwer
beobachten, daß Inhalt, Richtung, Art etc. von bestimmten Einstellungen
und Stellungnahmen das Erfassen der ansichseienden Zusammenhänge in
der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit verhindern und eine die
desanthropomorphisierende Widerspiegelung störende, ja geradezu auf¬
hebende Wirkung ausüben können. Thomas Mann hat in der Gestalt des
Professor Cornelius in der Erzählung »Unordnung und frühes Leid« eine
solche Verhaltensweise mit feiner Ironie beschrieben und er läßt sogar die
in ihr enthaltene unauflösbare Problematik im Professor selbst auf dämmen;
dieser erwägt die Frage in einem einsamen Monolog: »Aber Parteinahme,
denkt er, ist eben auch unhistorisch; historisch allein ist die Gerechtigkeit.
Nur allerdings, eben darum und wohl überlegt. . . Gerechtigkeit ist nicht
Jugendhitze und frisch-fromm-fröhliche Entschlossenheit, sie ist Melancholie.
Da sie jedoch von Natur Melancholie ist, so sympathisiert sie auch von
Natur und insgeheim mit der melancholischen, der aussichtslosen Partei-
und Geschichtsmacht mehr als mit der frisch-fromm-fröhlichen. Am Ende
besteht sie aus solcher Sympathie und wäre ohne sie gar nicht vorhanden?
Am Ende gibt es also gar keine Gerechtigkeit? fragt sich der Professor ...«
Die Sprungartigkeit dieses Übergangs vom ganzen Menschen zum »Menschen
ganz« zeigt sich auch, wenn wir den Weg zurück von der wissenschaftlichen
Desanthropomorphisierung ins Leben bei bedeutenden Gelehrten verfolgen.
Wie häufig kommt es vor, daß diese die sich sachgemäß von selbst ergeben¬
den Folgerungen ihrer eigenen Lehre, ja ihrer epochemachenden Ent¬
deckungen nicht ziehen, daß ihre Stellungnahmen im Alltag, auch in anderen
Gebieten des Wissens, nicht nur in solchen, an denen sie sich selbst nicht
forschend beteiligt haben, sondern sogar, wo sie mit Anspruch auf eigene
Resultate engagiert sind, diesen diametral widersprechen. Es kann natürlich
nicht die Aufgabe dieser Betrachtungen sein, solche Widersprüche syste¬
matisch oder historisch zu analysieren; wir haben auf die hier auf tauchen¬
den Haupttypen der Problematik nur darum hingewiesen, um die Beziehung
des »Menschen ganz« in der desanthropomorphisierenden Widerspiegelung
zum ganzen Menschen des Alltags in ihren allerallgemeinsten Zügen anzu¬
deuten. Aber schon ein solches höchst kursorisches Bild zeigt, daß es ein
Vorurteil wäre, im Akt des Desanthropomorphisierens, in seiner univer¬
sellen Aufgipfelung, die vor allem unser Zeitalter hervorbringt, etwas
Gegenmenschliches zu erblicken. Tendenzen zur Antihumanität erwachsen
immer aus dem Boden des gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens, aus sozialen
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 185

Strukturen, aus Klassenlagen innerhalb einer Formation; diese können


auch in den Wissenschaften zur Geltung gelangen, aber - allgemein ange¬
sehen - weder mehr noch weniger als im Leben oder in der Kunst; die
konkrete Darlegung solcher Fragen ist ein Problem des historischen Mate¬
rialismus und liegt außerhalb des Aufgabenkreises, den dieses Werk sich
gestellt hat.
All dies mußte wenigstens kurz angedeutet werden, damit die zweite, große,
in Wirklichkeit entscheidende Geistesschlacht um die Desanthropomorphi-
sierung der wissenschaftlichen Widerspiegelung richtig verstanden werde.
Da bei uns auch hier methodologisch-philosophische Probleme und nicht
rein historische im Vordergrund des Interesses stehen, beschränken wir uns
wieder auf die Betrachtung einiger, grundlegend typischer Stellungnahmen.
Am klarsten ist dieses Programm bei Galilei ausgesprochen: »Die Philosophie
steht in diesem Buch geschrieben, das uns aufgeschlagen vor Augen liegt (ich
meine das Universum), das man aber nicht begreifen kann, wenn man nicht
vorher seine Sprache zu verstehen lernt und die Buchstaben zu erkennen,
mit denen es geschrieben ist. Es ist geschrieben in mathematischer Sprache
und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren,
ohne welche es menschlich unmöglich ist, auch ein einziges Wort zu ver¬
stehen; ohne sie dreht man sich ohne Nutzen in einem finsteren Labyrinth
herum.«1 Von unserem Standpunkt ist darin das Wichtigste: die Prokla-
mierung einer neuen Sprache mit neuen Buchstaben, was ein eindeutig
klares Bild für die neuen Formen der Widerspiegelung der Wirklichkeit ist,
ihrer bewußten, zur Methode erhobenen, klaren Abgrenzung von den
unmittelbaren, an die menschliche Sinnlichkeit gebundenen Erscheinungs¬
weisen der Alltagswirklichkeit. Nicht zufällig wird diese Methode im Kampf
um die Kopernikanische Astronomie entwickelt, ist doch diese der erste
schicksalhaft-entscheidende Bruch mit der geozentrischen und im engen
Zusammenhang damit unvermeidlich anthropomorphisierenden Anschau¬
ung des Kosmos. Es erübrigt sich, auf den Zusammenstoß des neuen Welt¬
bildes mit dem bis dahin herrschenden religiösen auch nur in wenigen
Bemerkungen einzugehen. Jedoch gerade wegen der von uns früher festge¬
stellten engen Verflochtenheit des Alltagslebens und der religiösen Aufnahme
der Wirklichkeit ist es vielleicht nicht ohne Interesse, kurz darauf hinzu¬
weisen, daß die neue Konzeption Galileis im bewußt-schroffen Gegensatz zu

1 Zitiert bei L. Olschki: Galilei und seine Zeit, Halle 1927, S. 465.
186 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

den Widerspiegelungsformen des Alltagsdenkens steht, daß die scharfe Ab¬


trennung von diesen im Mittelpunkt seiner methodologischen Betrachtun¬
gen steht: »Die Anschauungen von Groß und Klein, von Oben und Unten,
von Nützlich und Zweckmäßig sind auf die Natur übertragene Eindrücke
und Gewohnheiten eines menschlichen und gedankenlosen Alltags.« Darum
muß auch die »beschränkte Vorstellungskraft, die bereits bei hohen Zahlen
ihre Grenze findet«, überwunden werden; die Größe des Kosmos geht eben¬
falls über die Fassungsfähigkeiten des Alltagsdenkens hinaus h
Vom Standpunkt der Methodologie der Wissenschaft, von dem der Philo¬
sophie umfaßt der hier vollzogene Bruch ein viel weiteres Feld, als unser
Raum für seine Beschreibung es ist. Aber welche andere Frage wir
auch heranziehen würden, ob die Ablehnung der teleologischen Betrach¬
tungsweise (verbunden mit den Problemen der »Nützlichkeit«), ob die
Methodologie der Experimente etc., wir kommen immer wieder auf die
desanthropomorphisierende Weise der Widerspiegelung, auf das Verlassen
der Unmittelbarkeit des Alltagsdenkens zurück. Zum Abschluß sei noch ein
Hinweis auf die Ästhetik gestattet. Wir haben bei Behandlung der griechi¬
schen Philosophie sehen können, wie oft damals die Tendenzen zur Des¬
anthropomorphisierung ein Konkurrenzverhältnis zwischen Philosophie
(Wissenschaft) und Kunst statuiert und zur Verurteilung der Kunst geführt
haben; mit der höheren Stufe des Anthropomorphisierens in der Philosophie
verschärft sich noch, bei Platon, dieses Verhältnis. Galilei bezeichnet auch
hier eine Wendung. Gerade weil er die Widerspiegelungsart der Wissen¬
schaft klarer als alle vor ihm erkannt hat, kann er dem spezifisch
ästhetischen Wesen der Kunst gegenüber seine Vorgänger an richtiger Ein¬
sicht weit übertreffen1 2. Das ist keine bloß individuelle Eigenart Galileis;
eine ähnliche Tendenz können wir auch bei Bacon wahrnehmen. Auf die
Ursachen späterer Rückfälle ins alte Verhalten können wir in diesem
Zusammenhang nicht eingehen.
Die vielseitigste und universellste Beschreibung und Begründung der neuen
desanthropomorphisierenden Methoden finden wir bei Bacon. Will man
seine Gestalt und seine Bedeutung in dem von uns analysierten Prozeß des
zm-sich-Kommens des Denkens als annähernd adäquater Widerspiegelung
der objektiven Wirklichkeit richtig erfassen, so gilt vor allem, mit dem

1 Ebd. S. 384.
2 Ebd. S. 170 ff.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 187

schon vor Hegel vorhandenen, aber von diesem philosophisch »vertieften«


Irrtum zu brechen: Bacon sei reiner Empirist, geistiger Vater des späteren
Empirismus. Natürlich steht im Mittelpunkt seiner Philosophie die Praxis,
die Veränderung der Welt durch richtige Erkenntnis. Jedoch diese Ziel¬
setzung ist an sich keineswegs mit einem Empirismus identisch; wie wir
sehen werden, gerade bei Bacon nicht. Einer seiner neueren Biographen, der
englische Marxist Farrington, formuliert die Frage so: »Sein spezifisches
Bestreben war, die Stelle der Wissenschaft im menschlichen Leben zu be¬
stimmen.« 1 Das bedeutet aber nur, daß Bacon, wie die bedeutendsten Den¬
ker dieser Zeit, Wissenschaft und Philosophie nicht abgetrennt vom Leben
der Menschen behandeln wollte, sondern ihr besonderes Wesen gerade im
Zusammenhang mit dem Leben zu ergründen bestrebt war. Wie wenig er
dabei Empirist war, zeigt seine Klassifizierung der Experimente. Er grenzt
ihr Bereich von der - wirklich empiristischen - Praxis des Handwerks seiner
Zeit scharf ab, und fügt hinzu: »Aber auf den weiteren Fortschritt der
Wissenschaft kann man nur dann mit Recht hoffen, wenn die Naturkunde
vorzugsweise solche Versuche aufnimmt und sammelt, die zwar keine
unmittelbaren Nutzen haben, aber zur Entdeckung der Ursachen und der
Gesetze dienen. Solche Versuche nenne ich lichtbringende im Gegensatz zu
den fruchtbringenden.« 2 Das Ziel der richtigen Experimente ist also, mit
der unmittelbaren Verbindung von Theorie und Praxis des Alltags (hier
des Handwerks) zu brechen, ihre Unmittelbarkeit durch Entdecken und
Einschalten möglichst wichtiger Vermittlungen zu überwinden. Freilich
will Bacon damit keine Chinesische Mauer zwischen Wissenschaft und All¬
tagspraxis (Arbeit, Handwerk etc.) errichten. Er weist, sich auf Celsus oder
eher auf ein Celsus-Zitat berufend, darauf hin, daß außerordentlich oft die
Praxis des Alltags bedeutsame Resultate hervorbringt, allerdings »mehr
zufällig und oberflächlich«, jedenfalls ohne durch Theorie, durch Philosophie
beeinflußt, gefördert zu sein3.
Die hier zutage tretende Ironie gegen die Philosophie ist aber wiederum
keine Verherrlichung eines atheoretischen Empirismus, sondern eine Pole¬
mik gegen die Philosophie seiner Vorgänger und seiner Zeitgenossen, bei
denen er das von ihm gesuchte Zusammenwirken von desanthropomorphi-

1 B. Farrington: Francis Bacon, London 1951, S. 4.


2 Bacon: Organon, I. Buch, Artikel 99, Berlin 1870, S. 152 f.
3 Ebd. Artikel 73, S. 123 f.
188 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

sierender Widerspiegelung und Intention auf eine verallgemeinerte, syste¬


matisierte, nicht mehr unmittelbare Praxis nicht fand. Die Polemik ist also
sowohl gegen den bloß handwerklichen Praktizismus, wie gegen die praxis¬
fremde Theorie gerichtet. Beide ergeben eine Unregelmäßigkeit, eine Plan¬
losigkeit der Forschungen, vor allem der Experimente, bloßes Analogisieren
in bezug auf die Zusammenhänge. In beiden ist zugleich die Zufälligkeit
und Oberflächlichkeit des Alltagsdenkens (Bacon spricht vom Denken der
Menge) zu überwinden, die beide nach ihm - wie bei Galilei - einem
undurchsichtigen Labyrinth gegenüberstehen. »Denn das Bauwerk des Welt¬
alls erscheint in seiner Einrichtung dem es betrachtenden menschlichen
Geist wie ein Labyrinth; wie in diesem, so zeigen sich auch hier viele unge¬
wisse Dinge, viele trügerische Ähnlichkeiten zwischen Dingen und Zeichen,
viele schiefe und verwickelte Windungen und Verschlingungen der Eigen¬
schaften. Dabei führt der Weg in dem unsicheren Lichte der Sinne, was bald
aufleuchtet, bald sich verbirgt, fortwährend durch eine Unzahl von Erfah¬
rungen und einzelnen Dingen. Selbst die, welche sich, wie gesagt, zu Führern
erbieten, verirren sich und vergrößern die Zahl der Irrtümer und der
Irrenden.« 1 Bacon betont die methodologische Bedeutung von Mathematik
und Geometrie lange nicht so entschieden wie Galilei, Descartes oder
Spinoza; desto schärfer bekämpft er die Schematik des Denkens, die aus
den scholastischen Traditionen des Aristotelismus entstand; desto leiden¬
schaftlicher setzt er sich für das Schaffen eines desanthropomorphisierenden,
von dem Ansich des Objekts (und nicht vom menschlichen Subjekt) be¬
stimmten Forschungs- und Begriffsapparats ein. Diese Entschiedenheit ist vor
allem darin begründet, daß Bacon unter seinen großen Zeitgenossen, die
mit denselben Problemen rangen, derjenige war, dem der dialektische
Zusammenhang der richtigen, objektiven Erkenntnis mit der produktiven
Praxis, der realen Bewältigung der Natur am klarsten geworden ist.
Die Grenzscheidung zwischen Alltagsdenken und wissenschaftlich-objek¬
tiver Widerspiegelung der an sich seienden Wirklichkeit vollzieht Bacon
weitaus umfassender und systematischer als irgend jemand sonst in dieser
großen Begründungszeit des desanthropomorphisierenden Denkens. Es gibt
in seiner Lehre der »idola« eine systematisierte Typik jener Verhaltens¬
weisen des Alltagslebens und -denkens, die eine adäquate Widerspiegelung
der Welt an sich verhindern und verzerren. Es ist eine eigenartige Erkennt-

1 Bacon: Vorrede zur Instauration, a. a. O. S. 43.


Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 189

nistheorie. Während in der bürgerlichen Entwicklung die ausgesprochen


erkenntnistheoretisch orientierten Denker die Grenzen der adäquaten Er-
faßbarkeit des An-sich-seienden festzustellen versuchten und so das Denken
subjektivierten; während die von der Möglichkeit der Erkenntnis der objek¬
tiven Wirklichkeit überzeugten Philosophien an solchen erkenntnistheore¬
tischen Bedenken achtlos vorbeigingen oder sie ausgesprochen ablehnten
(Hegel über Kant), ist Bacons Streben darauf gerichtet, durch eine Kritik
der unmittelbaren Widerspiegelung des Alltags, ihrer Schwächen und
Schranken, die grenzenlos-annähernde Erkenntnis der Wirklichkeit an sich
zu begründen. Seine Erkenntnistheorie weicht demgemäß auch darin von
den späteren schulgemäß-fachphilosophischen ab, daß sie auf die anthro¬
pologischen und sozialen Gründe der von ihm kritisierten Schranken und
Verzerrungen des Alltagsdenkens ein entscheidendes Gewicht legt. Die
»Grenzen« der Erkenntnis sind also hier nicht »überzeitliche« Strukturver¬
hältnisse in der Subjekt-Objekt-Beziehung überhaupt, sondern von der
anthropologischen bzw. sozialen Entwicklung hervorgebrachte Hemmungen
und Irrwege, die das menschliche Denken, wenn es sich entschlossen über
das - anthropomorphisierende - Alltagsdenken erhebt, was Bacon für mög¬
lich und notwendig hält, durchaus überwinden kann. Die Art seiner Er¬
kenntniskritik steht also, wenn er auch aus ihr ganz andersgerichtete Fol¬
gerungen zieht, der älteren griechischen Skepsis viel näher als dem modern¬
bürgerlichen subjektiven Idealismus in der Gnoseologie.
Eine kurze Übersicht der »idola« kann diese Wesensart der Baconschen
Erkenntnislehre leicht beleuchten. Bacon unterscheidet hier vier große
Typen. Erstens die »idola tribus«, welche einen vorwiegend anthropolo¬
gischen Charakter haben. In deren Kritik lehnt Bacon den »gesunden Men¬
schenverstand«, das unmittelbare Denken des Alltags als unzureichend und
anthropomorphisierend ab: ». . . es ist unrichtig, daß der menschliche Sinn
das Maß der Dinge sei... Der menschliche Verstand gleicht einem Spiegel
mit unebener Fläche für die Strahlen der Gegenstände, welcher seine Natur
mit der der letzteren vermengt, sie entstellt und verunreinigt.« 1 Der zweite
Typus (»idola specus«, mit Anspielung auf Platons Höhlengleichnis, doch
mit entgegengesetzter Tendenz) soll die Fehler im Denken des einzelnen
Menschen bestimmen, wobei die anthropologische Kritik schon in eine ge¬
sellschaftliche hinüberwächst. »Denn jeder einzelne hat neben den Verir-

1 Bacon: Organon, I. Buch, Artikel 41, a. a. O. S. 94.


I^o Desanthropomorpkisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

rungen der menschlichen Natur im allgemeinen eine besondere Höhle oder


Grotte, welche das natürliche Licht bricht oder verdirbt; teils infolge der
eigentümlichen und besonderen Natur eines jeden, teils infolge der Erzie¬
hung und des Verkehrs mit anderen, teils infolge der Bücher, die er gelesen
hat und der Autoritäten, die er verehrt und bewundert, teils infolge des
Unterschiedes der Eindrücke bei einer voreingenommenen und vorurteils¬
vollen Sinnesart gegen eine ruhige und gleichmäßige Stimmung und der¬
gleichen mehr. Der menschliche Geist ist deshalb in seiner Verfassung bei
dem einzelnen ein sehr veränderliches, gestörtes und gleichsam zufälliges
Ding.« 1 Der dritte Typus (»idola fori«) entsteht bereits »infolge der gegen¬
seitigen Berührung und Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts.« Bacon
hebt hier die soziale Bedeutung der Sprache hervor, lehnt aber ihre unmit¬
telbar-alltägliche Form und die sich darin äußernde Denkweise für eine
objektive Erkenntnis als unzulänglich ab: »aber die Worte werden den
Dingen nach der Auffassung der Menge beigelegt; deshalb behindert die
schlechte und törichte Beilegung der Namen den Geist in merkwürdiger
Weise. Auch die Definitionen und Erklärungen, womit die Gelehrten sich
manchmal zu schützen und zu verteidigen pflegen, bessern die Sache keines¬
wegs.« 2 Bacon detailliert die Gefahr der Worte des Alltags (der Menge) für
die eindeutige, der objektiven Wirklichkeit gemäßen Terminologie der Wis¬
senschaften. Die Menschen meinen ihre Ausdrucksweise zu beherrschen,
»aber oft kehren die Worte ihre Kraft gegen den Geist um«. Denn sie
»werden meist nach der Auffassung der Menge den Dingen beigelegt, und
diese trennt sie nach Richtungen, welche dem gewöhnlichen Sinne am auf¬
fallendsten sind. Wenn dann ein schärferer Geist und eine genauere Beobach¬
tung diese Bestimmungen ändern und mit der Natur mehr in Überein¬
stimmung bringen will, so widerstehen die Worte .. .« 3. So entstehen zwei
gefährliche »Götzenbilder«: die Sprache des Alltags läßt nämlich eine zwie¬
fach falsche Nomenklatur entstehen: »entweder sind es Namen von Dingen,
die es nicht gibt (denn so wie es Dinge gibt, die aus Unachtsamkeit keinen
Namen bekommen haben, so gibt es Namen, wo die Philosophie getäuscht
hat und der Gegenstand fehlt), oder es sind zwar Namen von wirklichen
Dingen, aber sie sind verworren, schlecht begrenzt, voreilig und ungleich

1 Ebd. Artikel 42, a. a. O. S. 94 f.


2 Ebd. Artikel 43, a. a. O. S. 95.
3 Ebd. Artikel 59, a. a. O. S. 105.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 191

von den Dingen entlehnt.« 1 Die Wortkritik geht hier bereits in die des
unmittelbaren - zumeist analogischen - Alltagsdenkens über. Bacon warnt
an anderer Stelle: »Der menschliche Geist setzt vermöge seiner Natur leicht
eine größere Regelmäßigkeit und Gleichheit in den Dingen voraus, als er
später findet. Und obgleich in der Natur vieles nur einmal vorkommt, oder
voller Ungleichheiten ist, so legt der Geist doch den Dingen viel Gleich¬
laufendes, Übereinstimmendes und Beziehungen bei, die es nicht gibt.«2
Dem entspricht im Alltagsdenken ein achtloses Vorbeigehen am Gewohnten,
während man sich um die Ursachen dessen, was häufig geschieht, nicht zu
kümmern pflegt 3. Ebenso zäh hält sidr im Alltagsdenken, was von altersher
als wahr angenommen wird, was mit diesem übereinstimmt, und selbst wenn
die Anzahl entgegengesetzter Fälle sehr groß ist, werden diese nicht beach¬
tet, etc. Die Aufstellung des vierten Typus endlich (»idola theatri«) richtet
sich gegen die bisherigen Philosophien, denen Bacon dem Sinne nach eben
das Anthropomorphisieren vorwirft, »welche aus der Welt eine Dichtung
und eine Schaubühne gemacht haben«. Er betont dabei ausdrücklich, daß
seine Kritik sidr nicht nur auf die Philosophie im engeren Sinne bezieht,
sondern auch auf die Prinzipien der einzelwissenschaftlichen Praxis.
Die Baconsche Kritik des Alltagsdenkens richtet sich simultan gegen die
möglidien anthropomorphisierenden Fehler sowohl der Sinnlichkeit, wie
des Verstandes. »Der Fehler der Sinne« führt er aus »ist ein zwiefacher;
entweder lassen sie uns im Stich oder sie täuschen. In erster Hinsicht gibt es
vieles, was selbst den vollkommen gesunden und unbekümmerten Sinnen
entgeht, sei es, daß der Gegenstand überhaupt zu fein ist, oder die Teile zu
klein sind, oder daß die Entfernung zu groß, oder die Bewegung zu langsam
oder zu schnell ist, oder weil der Gegenstand zu bekannt ist, oder aus
anderen Gründen. Aber auch da, wo die Sinne die Sache erfassen, sind ihre
Wahrnehmungen nicht immer zuverlässig. Denn das Zeugnis und die Kund¬
gebung der Sinne geschieht immer nur in Beziehung auf den Menschen,
nicht in Beziehung auf das Weltall, und es ist ein großer Irrtum zu behaup¬
ten, daß die Sinne das Maß der Dinge seien.« 4 Instrumente und vor allem
Experimente sind die Mittel, über diese Schranken hinauszukommen: »Denn

1 Ebd. Artikel 60, a. a. O. S. 105 f.


2 Ebd. Artikel 45, a. a. O. S. 96.
3 Ebd. Artikel 119, a. a. O. S. 167.
4 Organon: Einteilung des Werks, a. a. O. S. 58.
192
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

die Feinheit der Versuche übertrifft die der Sinne, wenn sie von guten
Instrumenten unterstützt werden ... Deshalb gebe ich auf die unmittelbare
und eigentliche Sinneswahrnehmung nicht viel, sondern ich richte die Sache
so ein, daß der Sinn nur über den Versuch, der Versuch aber über die Sache
das Urteil fällt.«1 Die Baconsche Kritik des Verstandes (des Alltagsdenkens)
haben wir bereits gestreift. Die Betrachtung der bloßen Einfachheit in der
Außenwelt hemmt und schwächt den Verstand, die ihrer Zusammengesetzt¬
heit betäubt und zersetzt ihn. Bacon nimmt also hier den Kampf gegen alle
metaphysischen Einseitigkeiten und Starrheiten des Alltagsdenkens auf. Er
verlangt den Wechsel solcher Betrachtungsweisen, die den Verstand sowohl
durchdringend, als auch empfänglich machen. Die wirkliche Spitze seiner
Polemik ist aber hier auf das Problem der Vermittlungen gerichtet. Er kriti¬
siert die Philosophie - dabei Pythagoras, Platon und seine Schule hervor¬
hebend - weil sie »abstrakte Formen, Endzwecke und erste Ursachen ein¬
führt und dabei immer die mittleren überspringt.«2 Auch hier ist ein
Zweifrontenkampf gegen Abstraktion und Unmittelbarkeit vorhanden,
welche gerade im Überspringen und Vernachlässigen der Vermittlungen
einander begegnen, wobei beide an die spontanen Reaktionen des mensch¬
lichen Subjekts auf die Wirklichkeit appellieren und die Hingabe an die -
dem unmittelbaren Schein widersprechende - Welt der verborgeneren Ver¬
mittlungen vernachlässigen. Es entsteht dabei, nach Bacon, eine unzulässige
Verknüpfung des Einzelnen mit den »entlegenen und allgemeinsten Grund¬
sätzen«, nicht nur in der von der Scholastik überlieferten Syllogistik etc.,
sondern auch im Alltagsdenken, das mit Hilfe von Analogien und Analogie¬
schlüssen noch aus der Urzeit, die Gewöhnung bewahrt hat, aus Einzelheiten
allgemeine Folgerungen zu ziehen. Bacon verlangt demgegenüber ein stufen¬
weises Aufsteigen von der Beobachtung der Einzelheiten bis zu den allge¬
meinsten Grundsätzen. Die ersteren betrachtet er als vermischt mit den
unmittelbaren Erfahrungen des Alltagslebens (man denke jetzt an deren
Korrektur durch Experimente), die letzteren findet er »inhaltlos und unzu¬
verlässig«. »Dagegen sind die mittleren Sätze die wahren zuverlässigen und
lebendigen, auf denen das Leben und Wohl der Menschen beruht. Uber
diesen stehen endlich auch ganz allgemeine Grundsätze, aber solche, die
nicht inhaltlos sind und die durch jene mittleren Sätze in Schranken gehalten

1 Ebd. S. 58 f.
2 Ebd. Artikel 65, a. a. O. S. 112.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 193

werden.« 1 Zusammenfassend kann man sagen: der allgemeinste zentrale


Sinn der Erkenntnistheorie Bacons liegt, bei allen sonstigen Divergenzen, auf
derselben Linie, wie die methodologischen Bestrebungen Galileis: das
menschliche Subjekt so umzumodeln, seine unmittelbar gegebenen Schran¬
ken so zu überwinden, daß es geeignet werde, im Budi der Wirklichkeit an
sich richtig zu lesen.
Daß es sich hier um eine, sich in sehr verschiedenen Formen äußernde, aber
dem Wesen der Sache nach gemeinsame Tendenz der Zeit handelt, kann man
aus dem Frühwerk Spinozas »Von der Verbesserung des Verstandes« leicht
ersehen. Dieses Werk zeigt an vielen Stellen auffallende Parallelitäten zu
Bacon, obwohl die grundlegende philosophische Position seines Verfassers
und demzufolge auch seine Methode eine wesentlich andere ist. Aber auch
hier ist der Sinn der »Verbesserung«: Entfernung vom Alltagsdenken, von
seiner Unmittelbarkeit und seinem Anthropomorphismus, Umformung,
Umerziehung des Subjekts in der Richtung: die Gesetzmäßigkeiten der
Wirklichkeit an sich, ohne subjektiv-menschliche Verzerrungen in sich auf¬
zunehmen, diese ihrer eigenen Natur und nicht den menschlichen Affekten
entsprechend durchzudenken und in Zusammenhang zu bringen. Spinoza
betont ebenso scharf, daß die (richtig aufgefaßte) Ordnung der Gedanken
identisch ist mit der Ordnung der Dinge, wie man sich vor der Illusion
hüten muß, das, was bloß im menschlichen Verstand ist, mit der Wirklich¬
keit zu vermengen 2. Spinoza geht davon aus, daß der Mensch sehr vieles,
was er im Leben braudit, auf verschiedene Weisen sich aneignet, so durch
Hörensagen, durch unbestimmte Erfahrung etc. Es ist also, ebenso wie bei
Bacon, von einer Kritik des Alltagsdenkens die Rede. Interessanterweise
setzt gleich hier Spinozas Kampf gegen die Abstraktionen dieser Sphäre ein.
Solche Abstraktionen gehen von bloß empfindungsmäßig begründeten
Schlüssen aus, treffen nicht das wahre, das objektive Wesen der Dinge, und
ihre Folgerungen werden »sofort von der Einbildungskraft verwirrt« 3; auf
solche Weise können höchstens die Accidenzien, niemals das Wesen erfaßt
werden 4. Die große Gefahr eines solchen auf dem Niveau des Alltags blei¬
benden abstrakten Denkens ist also, daß es sich auf fingierte Ideen richtet5;

1 Ebd. Artikel 104, a. a. O. S. 155.


2 Spinoza: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, Leipzig 1907, S. 44.
3 Ebd. S. 11.
4 Ebd. S. 13.
5 Ebd. S. 22.
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
194

je allgemeiner es in dieser Abstraktion wird, desto verworrener wird das


Ergebnis1. Darum betrachtet Spinoza als entscheidend wichtig, Vorstellungs¬
und Erkenntnisvermögen genau auseinanderzuhalten. Die richtige Erkennt¬
nis wird nämlich so erlangt, daß die objektiven Wirkungen der wahren
Idee »in der Seele vor sich gehen nach dem Verhältnis der Formalität des
Objekts selbst.« Erst dann - also nach Vollzug der Desanthropomorphi¬
sierung - ist die Gefahr behoben, »das Wahre mit Falschem oder Erdichtetem
zu vermengen«; erst dann klärt sich, »warum wir manches verstehen, das in
keiner Weise unter das Vorstellungsvermögen fällt und daß (sich) wiederum
anderes in ihm findet, das dem Verstand geradezu widerstreitet . . .« 2
Die Parallelität der Grundtendenzen für unser Problem sind hier ganz
deutlich sichtbar, gerade weil viele der wichtigen philosophischen Positionen
bei Bacon und Spinoza verschieden, ja oft völlig entgegengesetzt sind. Es
handelt sich hier um das Wesen einer großen Zeitströmung, die von der
Produktion ausgeht und Leben wie Denken der Menschen gleicherweise
umwälzend erfaßt. Wir haben dabei die Polemik gegen das Alltagsdenken
in den Vordergrund gestellt, vor allem deshalb, weil diese großen denke¬
rischen Gestalten zur Religion selbst oft sehr diplomatisch Stellung genom¬
men haben (Gassendi noch mehr als Bacon); sind doch die Scheiterhaufen
von Vanini und Bruno, das Verhör Galileis vor der Inquisition noch lebhaft
im Gedächtnis eines jeden. Oft mischen sich in ihren Betrachtungen noch
Überreste der alten idealistisch-metaphysischen Anschauungen, die freilich
in Spinozas »deus sive natura« fast zur bloßen Terminologie abgeblaßt
erscheinen. Jedoch die scharfe Abgrenzung der wissenschaftlichen Wider¬
spiegelung der objektiven Wirklichkeit von der sinnlich-geistigen Unmittel¬
barkeit und Verworrenheit des Alltagslebens enthält schon implicite alle
Prinzipien einer Abgrenzung von jeder religiösen Auffassung der Welt, die
Ablehnung ihrer Geltung. Im Prinzip kommt es ja vor allem auf den scharf
herausgearbeiteten Kontrast zwischen anthropomorphisierender und desan-
thropomorphisierender Widerspiegelung an. Wenn der Mensch sich damit
über seine unmittelbaren und in ihrer Unmittelbarkeit traditionsgebun¬
denen, von der Gewohnheit geheiligten psychischen Gegebenheiten erhebt
und durch Hingabe an das vom Menschen unabhängige Ansich der Objek¬
tivität, durch Ausbildung seiner rein menschlichen, jede Transzendenz aus-

1 Ebd. S. 24.
2 Ebd. S. 41.
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit
5

schaltenden Kräfte das Diesseits der eigenen Macht zu unterwerfen ver¬


sucht, so hat er auch weltanschaulich den entscheidenden Schritt getan. Das
Befreiungswerk des menschlichen Denkens, von den Griechen revolutionär
begonnen, wiederholt sich jetzt auf einer höheren Stufe.
Damit ist der Gegensatz zu Idealismus und Religion de facto ausgesprochen.
Er läßt sich auch so formulieren: die desanthropomorphisierende Wider-
spiegelung der Wirklichkeit kennt keine Transzendenz im eigentlichen Sinne
des Wortes. Natürlich reicht die so errungene Erkenntnis nur bis zu einem
bestimmten Punkt der objektiven Wirklichkeit. Es liegt aber im Wesen
einer solchen Beziehung zum An-sich-seienden, daß die jeweilige Grenze
einerseits nur als provisorische aufgefaßt wird, die Möglichkeit, sie unter
günstigen Bedingungen, bei den nötigen Anstrengungen etc. zu überschrei¬
ten, bleibt - prinzipiell - immer offen. Darum ist andererseits das jenseits
dieser Grenze Liegende keine Transzendenz. Es mag vom qualitativ bis dahin
Erkannten noch so verschieden sein (die »Welt« der Quantenphysik im
Gegensatz zu der klassischen), dieser Unterschied bleibt einer der konkreten
Erforschung des neuen Gebiets, ist jedoch nicht erkenntnistheoretischen
Charakters: die jeweilige Grenze des Wissens ist keine Schranke der Erkenn¬
barkeit überhaupt. Wo dagegen das Subjekt - anthropomorphisierend -
die Methode des Erkennens bestimmt, muß diese Grenze notwendig eine
spezifische Gefühlsbetontheit erhalten; ist sie ja die seiner gegenwärtigen
Fähigkeit in bezug auf sein Verhalten zur Welt, seiner Beherrschung der
objektiven Wirklichkeit. Ist nun das Verhalten des Menschen subjekt¬
bezogen, wie im Alltag, in der Religion, im subjektiven Idealismus, so ist es
unvermeidlich, daß die in ihrer Unmittelbarkeit und nicht nach ihrer Stelle
zum historischen Erkenntnisprozeß aufgefaßte Grenze zur Transzendenz
verabsolutiert wird. Die Gefühlsbetontheit, die solche Setzungen zu beglei¬
ten pflegt - Demut, Angst, Resignation etc. -, ist die natürliche Folge des
unmittelbaren Verhaltens zu einer Lebenstatsache, die an sich weit vermit¬
telt und weitere Vermittlungen erfordernd ist. Diese Lage widerspiegelt sich
im Verhältnis des denkerischen Verhaltens zur Lebensweise des ganzen
Menschen. Wir haben früher einige Kostproben aus der Anthropologie
und Ethik dieser Periode angeführt. Schon diese wenigen Beispiele zeigten,
daß der Prozeß der Desanthropomorphisierung des Denkens der diametrale
Gegensatz der Inhumanisierung ist. Gerade die Entfaltung und Festigung der
menschlichen Gattungskräfte, ihr Erheben auf ein höheres Niveau ist das
Ziel. Die Diesseitigkeit des Denkens - eine notwendige Folge des Desanthro¬
pomorphisierens - ist die Steigerung der menschlichen Macht in einer immer
Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft
196

reicher werdenden, immer intensiver eroberten Welt, nicht eine Leere, ein
Abgrund, wie Pascal und viele nach ihm es erlebt und ausgedrückt haben.
Die Unwiderstehlichkeit, die Unaufhebbarkeit, Unumkehrbarkeit dieser
Bewegung - im Gegensatz zur griechischen Entwicklung - hängt mit ihrer
Fundiertheit in einem ganz andersgearteten gesellschaftlichen Sein, als die
antike Sklavenwirtschaft hatte, zusammen. Wir haben seinerzeit darauf hin¬
gewiesen, daß die Sklaverei eine rationelle Umgestaltung der Produktion
auch dort nicht gestattet hat, wo die Entwicklung der Wissenschaft es an sich
möglich gemacht hätte; die mit der Sklaverei unzertrennlich verbundene
Verachtung der Arbeit, des Banausentums, wie Jakob Burckhardt sich aus¬
drückt, verhinderte eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen materieller
Produktion und Wissenschaft, weshalb die großartigsten Errungenschaften
des sich befreienden Denkens vielfach allgemein, abstrakt, philosophisch blei¬
ben mußten, nicht ins Alltagsleben und Alltagsdenken der Menschen umwäl¬
zend eindringen konnten. Das Mittelalter hat gezeigt, wie bedeutende, vor¬
erst isolierte Vorstöße der Wissenschaft in dieser Richtung infolge des Ab¬
sterbens der Sklaverei möglich wurden. Auf dieser Basis, durch Verwerten
und Weiterbilden dieses Erbes, konnte die kapitalistische Ökonomie ihren
Siegeszug antreten.
Auch hier kann es nicht unsere Aufgabe sein, diesen Prozeß selbst bloß kur¬
sorisch zu schildern. Es kommt hier einzig darauf an, die desanthropomor-
phisierenden Tendenzen in dieser Entwicklung nachzuweisen. Darum spre¬
chen wir hier nur von den entscheidenden Wendepunkten, nicht von den
vorbereitenden Übergängen: von der Maschine, und zwar wie Marx mit
großer Entschiedenheit hervorhebt, von der Werkzeugmaschine. Marx
zitiert den Ausspruch John Wyalts über die Spinnmaschine, dessen Pro¬
gramm lautete: eine Maschine, »um ohne Finger zu spinnen« L Marx
schildert von diesem Gesichtspunkt den prinzipiellen Gegensatz zwischen
Manufaktur (auch mit hochentwickelter Arbeitsteilung) und Maschinen¬
industrie: »In der Manufaktur müssen Arbeiter, vereinzelt oder in Grup¬
pen, jeden besonderen Teilprozeß mit ihrem Handwerkzeug ausführen.
Wird der Arbeiter dem Prozeß angeeignet, so ist aber auch vorher der
Prozeß dem Arbeiter angepaßt. Dies subjektive Prinzip der Teilung fällt
weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier
objektiv, an und für sich betrachtet, in seine konstituierenden Phasen

1 Marx: Kapital, Band I, a. a. O. S. 335.


Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 197

analysiert, und das Problem, jeden Teilprozeß auszuführen und die verschie¬
denen Teilprozesse zu verbinden, durch technische Anwendung von Mechanik,
Chemie usw. gelöst.«1 Daß die nicht mehr menschliche Triebkraft diesen
Prozeß außerordentlidi beschleunigt, versteht sich von selbst. Das Wesent¬
liche ist aber, daß der Arbeitsprozeß sidi immer mehr von den subjektiven
Anlagen etc. der Arbeiter loslöst, nach den Prinzipien und Notwendigkeiten
eines objektiven An-sich geregelt wird. »Die Tätigkeit des Arbeiters, auf eine
bloße Abstraktion der Tätigkeit beschränkt, ist nach allen Seiten hin bestimmt
und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht umgekehrt.« 2 Da¬
durch erst ist die materielle Basis für die sdirankenlose Entwiddung der Wis¬
senschaft gegeben: die prinzipiell schrankenlose gegenseitige Berruchtung und
Förderung von Wissenschaft und Produktion, da ihnen beiden — zum ersten¬
mal in der Geschichte - dasselbe Prinzip, das der Desanthropomorphisierung,
zugrunde liegt.
Natürlich setzt sich dieses neue Prinzip in einer äußerst widerspruchsvollen
Weise durch. Die Schilderung dieser inneren wie äußeren Widersprüche
kann in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht unsere Aufgabe sein. Wir
haben bereits darauf hingewiesen, daß die Wechselbeziehung zwischen öko¬
nomischem Vorteil (im Kapitalismus: Profit) und technisch-wissenschaft-
licher Vervollkommnung ununterbrochen zu Gegensätzlidikeiten treibt,
die das Durchsetzen der Haupttendenz oft hemmen und hindern. Hier sei
nur noch auf einen fundamentalen Widerspruch hingewiesen. Der roman¬
tischen, nach rückwärts weisenden Kritik der hier entstehenden Entwick¬
lung gegenüber, haben wir wiederholt aufgezeigt, daß das Prinzip der
Desanthropomorphisierung im wesentlichen ein Prinzip des Fortschritts
und der Humanisierung ist. Da jedoch die treibende Kraft, das Streben nach
Profit, seinem Wesen nach widerspruchsvoll ist, muß dieses seinen Charak¬
ter auch in den grundlegenden Problemen ununterbrochen äußern, d. h. das
Prinzip der Humanisierung erscheint auch als Prinzip der äußersten Inhu¬
manität, ja Antihumanität. Marx hat, mit den bürgerlichen Apologeten
polemisierend, die diese Widersprüchlichkeit aus der Welt zu schaffen ver¬
suchten, diese Doppelseitigkeit bei der Charakteristik der Maschine sehr
scharf hervorgehoben: »Die von der kapitalistischen Anwendung der
Maschinerie untrennbaren Widersprüche und Antagonismen existieren

1 Ebd. S. 343 f.
2 Marx: Grundrisse, a. a. O., Band I, S. 584.
198 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

nicht, weil sie nicht aus der Maschinerie selbst erwachseni sondern aus ihrer
kapitalistischen Anwendung! Da also die Maschinerie an sich betrachtet
die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeits¬
tag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre
Intensität steigert, an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist,
kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an
sich den Reichtum des Produzenten vermehrt, kapitalistisch angewandt ihn
verpaupert usw., erklärt der bürgerliche Ökonom einfach, das Ansichbe-
trachten der Maschinerie beweise haarscharf, daß alle jene handgreiflichen
Widersprüche bloßer Schein der gemeinen Wirklichkeit, aber an sich, also
auch in der Theorie gar nicht vorhanden sind.«1 Das bloße Hervorheben
dieser menschenfeindlichen Äußerungsweise des ökonomischen Fortschritts
im Kapitalismus gibt aber ein einseitiges Bild. Die Marxsche Kritik darüber
haben wir bereits angeführt. Es handelt sich hier um einen grundlegenden
inneren Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft; in ihm drückt sich
die spezifische Eigenart dieser Formation aus, daß sie nämlich - und zwar
in unzertrennlicher Weise - zugleich die höchste Form aller Klassengesell¬
schaften ist, in welcher Produktion und Wissenschaft die hier gegebenen
objektiven Möglichkeiten der Entwicklung und unter »antagonistischen
Distributionsverhältnissen« maximal entfalten können, gleichzeitig jedoch
die letzte Klassengesellschaft ist, die ihren »Totengräber« selbst produziert.
Die doppelte Funktion der Desanthropomorphisierung von Arbeit und
Denken in ihrer kapitalistischen Form zeigt auf ihrer entwickelten Stufe
diese Untrennbarkeit des praktisch ökonomischen Vorwärtsdrängens und
der ideologischen Reaktion, von Niederlagen der objektiven Fundamente
eines entwickelten Humanismus und von Zerstampfen der Humanität in
der ökonomischen Praxis. Auf primitiverer Stufe, etwa bei Sismondi,
konnte dieser Widerspruch in ehrlichen und kritischen Formen erscheinen,
je entwickelter der Kapitalismus ist, desto weniger kann ein objektiv guter
Glaube in der romantischen Kritik zum Ausdruck gelangen. Das Dilemma
ist aber für das bürgerliche Bewußtsein auf keiner Stufe lösbar, wie das
Marx in einer von uns bereits zitierten Stelle klar ausspricht. Alle Beispiele,

Marx. Kapital, Band I., a. a. O. S. 406 f. Die ausführlichste Behandlung dieser


ti umanität der kapitalistischen Anwendung des Desanthropomorphisierungs-
prmzips im Arbeitsprozeß findet sich in: »Ökonomisch-Philosophische Manu¬
skripte« Werke, Band III (MEGA).
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 199

die wir in vorangegangenen Betrachtungen über moderne Religionserneue¬


rungen angeführt haben, reflektieren diesen Widerspruch; jetzt aber auf
Grundlage der Unvermeidlichkeit der kapitalistisdien Entwicklung mit
allen ihren Konsequenzen, auch für die Wissenschaft, kombiniert mit dem
Versuch, das seelische Verhalten primitiver Stufen stilisiert zu erneuern, es
als Gegengewicht gegen die weltanschaulichen Folgen der allgemeinen Des-
anthropomorphisierung in Arbeitspraxis und Wissenschaft auszuspielen.
Die Ideologie der allgemeinen Verzweiflung, der Schrecken einer »gottver¬
lassenen« Welt, die Angst vor der Technisierung von Seele, Leben und Den¬
ken, vor der »selbständig gewordenen« Technik, die zur Tyrannei über
die Menschheit erwuchs, vor »Vermassung« etc. sind nur apologetische
Variationen des in seinen Grundzügen von Marx charakterisierten Themas
unter den Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus.
Diese Widersprüchlichkeit des sozialen Seins erschwert für das bürgerliche
Denken eine konkrete und fruchtbare Anwendung der desanthropomor-
phisierenden Widerspiegelungslehre auf die Gesellschaftswissenschaften.
Die bedeutenden Ansätze der Philosophen des 17.—18. Jahrhunderts, der
klassischen Ökonomie, mußten mit vielen unüberwindlichen Abstraktionen
behaftet bleiben, vor allem darin - was ebenfalls aus dem oben angedeute¬
ten Dilemma folgt -, daß ihre Verallgemeinerungen die dynamisch vor¬
wärtstreibende, widerspruchsvolle und ungleichmäßige historische Entwick¬
lung nicht erfassen konnten. Daher war für sie die bis ans Ende folge¬
richtige methodologische Anwendung des Prinzips der Desanthiopomor-
phisierung auf die den Menschen behandelnden Vhssenschaften unmöglich
geworden. Erst recht im 19.-20. Jahrhundert, in dessen Verlauf immer stär¬
ker ein Methodendualismus sich herausbildete: entweder den gesellschaft¬
lich-geschichtlichen Prozeß mit Hilfe von — falschen, oberflächlichen — Ab¬
straktionen zu einem toten Formalismus erstarren zu lassen (Soziologie,
subjektivistische Ökonomie etc.) oder ein Bestreben, das historische »Leben«
so zu »retten«, daß die Äußerungen des menschlichen Lebens irrationalisiert
werden, was in der spätbürgerlichen Mythisierung der Geschichte zur
Proklamation eines religiösen Anthropomorphismus wurde. Das schließt
natürlich die Anwendung desanthropomorphisierender Methoden in Ein-
zelfragen der Gesellschaftswissenschaften nicht aus; z. B. der Statistik in
Ökonomie und Soziologie, ja sogar die der höheren Mathematik in der
subjektivistischen Ökonomie etc. Dadurch wurde aber an den methodolo¬
gischen und weltanschaulichen Fundamenten nichts geändert und das Um¬
schlagen in einen anthropomorphisierenden Irrationalismus ist nur desto
200 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

krasser und unvermittelter, je komplizierter und immanent entfalteter eine


solche mathematische Apparatur sein mag. Wie dieser falsche Dualismus
durch den dialektischen und historischen Materialismus überwunden wurde,
wie in ihm die desanthropomorphisierende Widerspiegelungslehre zur
Grundlage und Methode auch der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklich¬
keit in ihrem An-sich-sein wurde, kann hier nicht behandelt werden.
Unsere Zielsetzung war ja nicht, eine Erkenntnistheorie und Methodologie
des wissenschaftlichen Denkens auch nur zu skizzieren. Sie bestand nur
darin: die Trennung der desanthropomorphisierenden Widerspiegelung von
der des Alltagslebens und -denkens in ihren wichtigsten Etappen zu ent¬
werfen. Und auch das war kein Selbstzweck, vielmehr bloß eine Voraus¬
setzung dazu, unser eigentliches Problem: die Trennung der ästhetischen
Widerspiegelung von diesem Boden in richtiger Weise stellen und lösen zu
können. Die Bedeutung der Ungleichmäßigkeit und Widersprüchlichkeit
dieses Trennungsprozesses einerseits und seiner Endgültigkeit andererseits
wird in unseren kommenden Betrachtungen vielfach eine wichtige Rolle
spielen.
Um dieses Problem ganz richtig vorbereiten zu können, sind noch zwei
Bemerkungen nötig. Nämlich erstens einen Blick darauf zu werfen, wie der
Sieg der desanthropomorphisierenden Widerspiegelung in der Wissenschaft
auf das Denken des Alltagslebens zurückwirkt. Denn wir haben schon ein¬
gangs darüber gesprochen, daß die Differenzierung und das Selbständigwer-
den solcher Sphären wie Wissenschaft oder Kunst, ihre Wechselbeziehung
mit dem Alltag nicht abreißt, nicht verarmt, sondern im Gegenteil inten¬
siviert. Und zwar, wie wir wissen, in doppelter Hinsicht: sowohl durch
Beeinflussung der Fragestellungen, die an die Wissenschaft infolge von Er¬
fordernissen, die aus der Alltagspraxis entspringen, gerichtet werden, wie
durch Rückwirkung der Errungenschaften der Wissenschaften auf die all¬
tägliche Praxis. Uber die komplizierte Ungleichmäßigkeit in der ersten
Wechselwirkung haben wir bereits bei der Behandlung von kapitalistischer
Ökonomie und technischem Fortschritt andeutend gesprochen. Diese Be¬
ziehung erfährt prinzipiell einen neuen Charakter im Sozialismus, teils
dadurch, daß die Anregungen von »Unten« nicht mehr rein spontan ent¬
stehen, nicht mehr momentanen Profitinteressen subsumiert sind, sondern
organisiert gefördert werden können; teils durch die sich prinzipiell und
tendentiell durchsetzende Demokratisierung der Erziehung, die immer
größere Schichten der Arbeiterschaft dem Niveau der Konstrukteure und
Ingenieure anzunähern bestrebt ist. Daß diese Entwicklung zuweilen durch
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 201

Gegentendenzen aufgehalten, gehemmt, ja entstellt werden kann, hat mit


den Grundlinien unserer Analyse nichts zu tun. Ein Vergleich mit - schein¬
bar - analogen Erscheinungen im Kapitalismus muß darum abgelehnt
werden, weil es sich bei diesen um antagonistische Widersprüchlidikeiten
handelt, die im Wesen der Formation fundiert sind, während wir es im
Sozialismus nur mit einer Entstellung der wahren Prinzipien seines Wachs¬
tums zu tun haben, die deshalb - wenn auch nicht immer rasch und leicht,
aber doch prinzipiell - korrigierbar sind.
Die Rückwirkung der Errungenschaften der Wissenschaft in Hinsicht auf
objektive Methodik und subjektive Verhaltensweise ist ebenfalls ein
überaus komplizierter Prozeß. Es unterliegt keinem Zweifel, daß in dieser
Hinsicht der Kapitalismus etwas qualitativ Neues allen früheren Formatio¬
nen gegenüber bedeutet. Nicht nur deshalb, weil der technisch-wissenschaft¬
liche Fortschritt der letzten Jahrhunderte (und in ihnen besonders der letz¬
ten Jahrzehnte) unvergleichlich schneller, umwälzender geworden ist, als
früher in Jahrtausenden, sondern auch weil die so vollzogene Umwälzung
von Produktion und Wissenschaft auf das Alltagsleben ebenfalls unwälzend
eingewirkt hat. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, diesen Prozeß auch
nur andeutend beschreiben zu wollen. Es gilt nur festzustellen, daß die von
uns früher geschilderte Grundstruktur von Alltagspraxis und Alltagsden¬
ken auch in dieser stürmischen Umwandlung in ihren Fundamenten nicht
umgewälzt werden konnte. Es ist richtig, daß Wissenschaft und Technik
aufgehört haben, das »Geheimnis« irgendeiner Kaste zu sein, daß ihre
Ergebnisse praktisch wie propagandistisch weitgehend zum Allgemeingut
breitester Schichten wurden. Ist jedoch infolge der verschiedenartigsten
Erscheinungsweisen dieser Lage (vom »Basteln« bis zur Lektüre wissen¬
schaftlicher Popularisationen etc.) die Grundhaltung des Alltagsmenschen -
und jeder Mensch ist in bestimmten Beziehungen ein Mensch des Alltags¬
lebens - wirklich umgestülpt worden? Hat sich diese Haltung in eine wis¬
senschaftliche verwandelt? Max Weber gibt über die hier entstehende neue
Lage eine nicht unrichtige Beschreibung: »Machen wir uns zunächst klar,
was denn eigentlich diese intellektualistische Rationalisierung durch Wissen¬
schaft und wissenschaftlich orientierte Technik praktisch bedeutet. Etwa,
daß wir heute, jeder z. B., der hier im Saale sitzt, eine größere Kenntnis der
Lebensbedingungen hat, unter denen er existiert, als ein Indianer oder ein
Hottentotte? Schwerlich. Wer von uns auf der Straßenbahn fährt, hat -
wenn er nicht Fachphysiker ist - keine Ahnung, wie sie das macht, sich in
Bewegung zu setzen. Er braucht auch nichts davon zu wissen. Es genügt ihm,
202 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

daß er auf das Verhalten des Straßenbahnwagens »rechnen« kann, er orien¬


tiert sein Verhalten daran; aber wie man eine Trambahn so herstellt, daß
sie sich bewegt, davon weiß er nichts. Der Wilde weiß das von seinen Werk¬
zeugen ungleich besser.«1 Die allgemeine Richtigkeit dieser Beschreibung -
natürlich nur auf den Durchschnitt bezogen, denn individuell gibt es viele
Ausnahmen, und die große Anzahl dieser Ausnahmen bedeutet auch etwas
Neues - erhärtet sich schon durch die führende Tendenz der modernen tech¬
nischen Entwicklung, daß nämlich je komplizierter bestimmte Maschinen
werden, ihre Handhabung desto einfacher wird, desto weniger erfordert
diese eine wirkliche Kenntnis der Vorrichtungen selbst. In bezug auf die
Apparate des Tagesgebrauchs wenden die Engländer den Ausdruck »fools
proof« als Kriterium eines sich selbst regulierenden Automatismus an, der
die Handhabung ohne jedes Nachdenken oder jede Sachkenntnis selbsttätig
kontrolliert. Dadurch erlischt in der subjektiven Praxis des Alltagslebens
jene ungeheure desanthropomorphisierende Vermittlungsarbeit, die solche
Vorrichtungen hervor gebracht hat und wird der unmittelbaren Verbin¬
dung von Theorie und Praxis, von Zielsetzung und Durchsetzung des All¬
tagslebens subsumiert. Natürlich bedeutet die technische Entwicklung unse¬
rer Zeit doch eine gründliche Veränderung des Alltagslebens, aber diese
wälzt seine wesentliche Struktur noch nicht radikal um. Wieweit eine all¬
gemein verbreitete polytechnische Bildung, die Aufhebung des Gegensatzes
zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, wie ihn der Kommunismus
bringen wird, diese Lage modifiziert, gehört nicht hierher. Sicher wird
dadurch für jedes Individuum das wissenschaftliche Verhalten auch zu den
Gegenständen und Vorrichtungen des Alltagslebens außerordentlich zu¬
nehmen, daß aber dieses sich allgemein und vollkommen, universell auswirken
und die Praxis des Alltagslebens durchgehend in eine bewußt angewandte
Wissenschaft verwandeln würde, kann man heute nicht voraussehen.
Von einer anderen Seite betrachtet entsteht jedoch im Sozialismus etwas
prinzipiell Neues dem Kapitalismus gegenüber. Wir haben bereits auf die
Schranken der Anwendung der desanthropomorphisierenden Methoden
auf die Gesellschaftswissenschaften in der bürgerlichen Gesellschaft hin¬
gewiesen. Diese äußern sich vor allem darin, daß es sehr schwer zu einer
weltanschaulichen Verallgemeinerung der wissenschaftlichen Erfahrungen
im Alltagsleben kommt, daß Theorien, wie die Kopernikanische Astronomie

1 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 535.


Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 203

oder der Darwinismus sogar die Macht rein abergläubischer Vorstellun¬


gen nicht brechen können, daß die Mehrzahl der Menschen zu ihrer
sozialen Umgebung vollständig unkritisch, unmittelbar, im Sinne der
von uns geschilderten Alltagspraxis steht. Hier macht der Sozialismus
einen prinzipiellen Wandel möglich; auf dessen Folgen in bezug auf religiösen
Glauben (die sich natürlich auch nur tendentiell auswirken können) haben wir
bereits hingewiesen. Aber auch das Erhellen der gesellschaftlichen Beziehun¬
gen der Menschen bedeutet nicht ohne weiteres ein Aufsaugen des Alltags¬
verhaltens durch die wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit.
(Daß dieser Prozeß z. B. durch falsche Theorien wie die der Stalinschen
Periode aufgehalten und gehemmt werden kann, braucht hier nicht ein¬
gehend untersucht zu werden.) Die beiden Arten der spezialisiert-ver-
vollkommneten Widerspiegelung (Wissenschaft und Kunst) können zwar
die Welt der alltäglichen Praxis des Menschen viel stärker durchdringen
und beeinflussen, als dies je früher geschah, eine Welt der unmittelbaren
Reaktion auf eine noch nicht bearbeitete Wirklichkeit wird darum noch
immer übrigbleiben. Sachlich wegen der extensiven und intensiven Unend¬
lichkeit der objektiven Realität, deren Inhalt auch durch die vollendetste
Wissenschaft und Kunst nie erschöpft werden kann. Die Existenz eines
solchen unerhellten Terrains ist zugleich die Grundlage für die Weiterent¬
wicklung von Wissenschaft und Kunst. Subjektiv teils als notwendige Reak¬
tion auf die soeben geschilderte Sachlage, teils weil diese extensive wie inten¬
sive Unendlichkeit der objektiven Realität auch eine entsprechende Un-
erschöpflichkeit der Lebensprobleme eines jeden menschlichen Individuums
- auf immer höherer Stufe - hervorbringt. So wie die freie Ordnung des
Lebens in der höheren kommunistischen Phase des Sozialismus nicht eine
Wiederkehr des Urkommunismus bedeuten kann, so kann sie - auf ideolo¬
gischem Gebiet - ebenfalls nicht ein Vico’scher »Ricorso« zur undifferen¬
zierten Vermischung von wissenschaftlicher und künstlerischer Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit mit der der unmittelbaren Alltagspraxis sein.
(Also: eine Erneuerung ihrer Mischung in der Magie auf höherer Stufe.)
Fortschritt ist ohne Differenzierung und Spezialisierung nicht möglich.
Aber das sozialistische Aufheben der Antagonismen dieser Entwicklung
hebt diese Bedingungen des weiteren Fortschreitens nicht auf. Wie die dann
entstehenden Wechselwirkungen konkret aussehen werden, das scheint uns
- für heute - eine müßige Frage zu sein.
Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die historische Entwicklung des
desanthropomorphisierenden Verhaltens selbst; auf die Entdeckung neuer
204 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

Kategorien der objektiven Wirklichkeit im Laufe dieses Weges und auf die
Beziehung solcher Kategorien zu den anderen Arten der Widerspiegelung
der Wirklichkeit. Wir haben uns bis jetzt schon wiederholt mit der Einheit
und Verschiedenheit dieser Formen des Abbildens beschäftigt. Es ist ohne
weiteres klar, daß bestimmte fundamentale Kategorien der Gegenständlich¬
keit, der Beziehung der Gegenstände zueinander, der Gesetzlichkeit ihrer
Bewegungen etc. die Grundlage einer jeden wahrheitsgetreuen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit bilden müssen. Wir mußten jedoch andererseits fest¬
stellen, daß in der Anwendungsart der Kategorien die konkreten, typischen
Zielsetzungen der Menschen, der Gesellschaft eine außerordentliche Rolle
spielen, wodurch auch subjektiv eine Geschichte der Kategorien entsteht.
In dieser Entwicklung erhalten der qualitative Aufschwung des desanthropo-
morphisierenden Prinzips in der Neuzeit und die mit seiner Hilfe erzielten
theoretischen Ergebnisse eine besondere Bedeutung. Eine bloß abstrakte
Gegenüberstellung der anthropomorphisierenden Kunst und der desanthro-
pomorphisierenden Wissenschaft würde diesen Gegensatz zu einem meta¬
physischen erstarren lassen. Die Bedeutung, die die Entdeckung etwa der
Geometrie für die Kunst gehabt hat - wir werden auf diese Frage bald
ausführlich eingehen -, wäre allein schon eine drastische Widerlegung solcher
schematischen Kontrastierungen; aber auch die Zusammenarbeit von Wis¬
senschaft und Kunst im Herausarbeiten der Gesetze der Perspektive in der
Renaissance bestätigt die Warnung vor voreiligen Konstruktionen.
Bei allen diesen Vorbehalten muß das Umschlagen ins Qualitative, die die
Desanthropomorphisierung für die wissenschaftliche Widerspiegelung der
Wirklichkeit in den letzten Jahrhunderten gebracht hat, doch in seiner
spezifischen Eigenart berücksichtigt werden. Die Euklidische Geometrie z. B.
repräsentiert zweifellos bereits eine hohe Stufe der desanthropomorphisie-
renden Widerspiegelung. Dennoch bleibt ihre Wahrnehmbarkeit noch in
einem unzerreißbaren Kontakt mit dem menschlich-visuellen Erfassen der
Wirklichkeit. Die Höherentwicklung der Wissenschaften zerreißt jedoch
diese Verbindungsfäden. Der Prozeß der Befreiung der wissenschaftlichen
Widerspiegelung von der menschlichen Sinnlichkeit ist zu bekannt, um hier
geschildert werden zu müssen. Es braucht nicht einzeln aufgezählt zu
werden, wie dabei neue Kategorien und kategorielle Zusammenhänge auf¬
tauchen, die für die wissenschaftliche Begriffsbildung bedeutsam wer¬
den, welche mit der Unmittelbarkeit des Alltagslebens und der daraus
aufsteigenden ästhetischen Widerspiegelung nichts mehr zu tun haben
können. Es genügt, wenn wir an die neu entdeckte Wirksamkeit der
Aufschwung des Desanthropomorphisierens in der Neuzeit 205

Kausalität in der statistischen Wahrscheinlichkeitslehre erinnern. Mit solchen


und ähnlichen Kategorien und Zusammenhängen trennen sich die Gebiete
von Wissenschaft und Kunst nunmehr auch kategoriell. Es wird für die
Wissenschaft möglich, etwa das Risiko der Mensdrenverluste einer Schlacht
genau auszurechnen etc. Für die Kunst bleibt der einzelne Mensch im Kriegs¬
zusammenhang - natürlich auf die Höhe der Typik gesteigert - nach wie
vor Objekt und Mittel der Gestaltung. Wo es Versuche gab, das Statistische
in die Dichtung »einzumontieren« sind diese, ästhetisch notwendig, kläglich
gescheitert, ebenso wie die Versuche einzelner surrealistischer oder abstrakter
Künstler, die Ergebnisse der neuesten physikalischen Forschungen über die
innere Struktur der atomaren Welt für die Malerei nutzbar zu machen.
Daß diese neue Situation auf beiden Gebieten auch Verwirrungen gestiftet
hat - neben den eben angedeuteten Irrwegen in der Kunst - ein zeitweises
Vordringen subjektiv idealistischer Anschauungen in den Wissenschaften
(Leugnen der Kausalität in der statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung,
fetischistisch-formalistisches Überschätzen der Mathematik etc.), ändert
nichts an der epochalen Bedeutung der so entstehenden Trennung. Für uns
bleibt dabei entscheidend, daß, je erfolgreicher die Wissenschaft in der Desan-
thropomorphisierung ihrer Widerspiegelungsweise und in deren begriff¬
lichen Bearbeitung fortschreitet, die Kluft zwischen wissenschaftlicher und
ästhetischer Widerspiegelung immer unüberbrückbarer wird. Auf die Los¬
lösung der undifferenzierteren Einheit der magischen Periode folgen lange
Zeiten der parallelen Entwicklung, der gegenseitigen unmittelbaren Befruch¬
tung, des unmittelbar sichtbaren Inerscheinungtretens, daß beide dieselbe
Wirklichkeit widerspiegeln. Natürlich hört diese Wahrheit auch heute nicht
auf, eine Wahrheit zu sein: nur ist die Wissenschaft in Gebiete vorgestoßen,
die für den Anthropomorphismus der Kunst überhaupt nicht mehr erfa߬
bar sein können. Damit hört die Anteilnahme der Kunst an den wissen¬
schaftlichen Entdeckungen, wie in der Renaissance, sowie das unmittelbare
Übergehen wissenschaftlicher Ergebnisse ins Weltbild der Kunst auf. (Letz¬
teres war schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts problematisch;
man denke an die Vererbung bei Ibsen und Zola.) Es wäre aber eine meta¬
physische Starrheit, wenn man daraus ein völliges Aufhören der Wechsel¬
beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst folgern würde. Im Gegen¬
teil. Viele Tendenzen sind wirksam, die diese zu intensivieren geeignet sind;
das Aufhören einer unmittelbaren Wechselbeziehung - die bei näherer Be¬
trachtung zumeist vermittelter war, als der erste Anschein es zeigt - kann
von fruchtbareren, wenn auch vermittelteren abgelöst werden, von solchen,
20 6 Desanthropomorphisierung der Widerspiegelung in der Wissenschaft

die über die Befruchtung des allgemeinen Weltbilds der Kunst durch die
Wissenschaft und umgekehrt zur Geltung gelangen. Die detaillierte Behand¬
lung dieser Frage geht ebenfalls über den Rahmen dieser Arbeit hinaus; es
sollte hier nur der methodologische Ort der neuen Lage kurz angedeutet
werden.
207

Drittes Kapitel

Prinzipielle Vorfragen der Loslösung


der Kunst vom Alltagsleben

Wenn wir uns jetzt der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit


zuwenden, so ist das allerallgemeinste Prinzip der Differenzierung dem der
wissenschaftlichen ähnlich: beide lösen sich sehr langsam, widerspruchsvoll
und ungleichmäßig vom Leben, Denken, Empfinden etc. des Alltags ab. Es
ist eine sehr lange Entwicklung vonnöten, bis jede sich als eine besondere
Sphäre der menschlichen Tätigkeit konstituiert, selbständig macht (selbst¬
redend im Rahmen der jeweiligen gesellschaftlichen Arbeitsteilung), bis die
Eigenart der betreffenden spezifischen Widerspiegelungsweise der objek¬
tiven Wirklichkeit sich herausbildet, bis ihre Gesetzmäßigkeiten als solche
vorerst in der Praxis, später auch in der Theorie bewußt werden. Natürlich
gehört der umgekehrte Prozeß, das Zurückströmen der in der differenziert
gewordenen Widerspiegelung gesammelten Erfahrungen in den Alltag
ebenfalls hierher. Wir konnten aber bei der Analyse der wissenschaftlichen
Widerspiegelung beobachten, daß eine solche Einwirkung auf das Alltagsleben
im allgemeinen extensiv wie intensiv desto stärker ist, je energischer die betref¬
fende spezialisierte Sphäre ihre besondere Eigenart herausbilden konnte.
Trotz dieser allerallgemeinsten Gleichartigkeit zeigen die beiden Differen¬
zierungsprozesse auch sehr große Verschiedenheiten auf. Deren Gründe
können sich natürlich nur im Laufe der nun folgenden konkreten Unter¬
suchungen über die Eigenart der ästhetischen Widerspiegelung wirklich
erhellen. Hier weisen wir - vorwegnehmend - bloß auf ein Moment hin:
auf die zuweilen auftauchende, überraschende, ja überwältigende Früh¬
vollendung in gewissen Kunsttätigkeiten auf ganz primitiven Stufen
(Südfranzösische Höhlenmalerei, bestimmte primitive Ornamente etc.)
Diese Tatsachen sind um so bedeutsamer, als sie in unzertrennbarem Zusam¬
menhang mit den die Entwicklung wesentlich beherrschenden Tendenzen
stehen, daß nämlich die künstlerische Tätigkeit als Ganzes sich viel später
einheitlich konstituiert, als die Wissenschaft, daß sie sich viel langsamer und
zögernder vom allgemeinen Fonds der alltäglichen, magischen (religiösen)
Praxis ablöst, als diese.
208
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

Dieser Unterschied hat sehr handgreifliche, materielle Gründe. Das Er¬


werben von Kenntnissen über die umgebende Außenwelt, das beginnende
Erkennen ihrer Zusammenhänge ist ein derart integraler Teil der Alltags¬
praxis, daß selbst die primitivsten Menschen, bei Strafe des Untergangs,
nicht umhin konnten, diesen Weg irgendwie einzuschlagen. Mag diese be¬
ginnende Wissenschaft noch so tief im Alltag des magischen Zeitalters einge¬
bettet sein, mag das Bewußtsein darüber, was sie objektiv tun, in den Men¬
schen sich noch so langsam entfalten: die Bewegung ist doch unwiderstehlich,
da sie tief im Schutz und in der Reproduktion der nackten Existenz selbst
verankert ist. Die gesellschaftliche Notwendigkeit der Kunst hat keine
derart massiv-selbstverständliche Wurzeln. Nicht das ist das Entscheidende,
daß jede Ausübung der Kunst eine bestimmte Muße, eine - wenn auch noch
so relative - Freiheit von den Alltagssorgen, von den notgedrungenen
unmittelbaren Reaktionen des Alltags auf die elementaren Bedürfnisse
voraussetzt. Eine solche Muße setzten die allerersten, als solche bei weitem
nicht bewußt erkannten Anfänge der Wissenschaft ebenfalls voraus. Jedoch
ihr engerer und evidenterer Zusammenhang mit den Anforderungen des
Tages erzwingt die für sie notwendige Muße in doppeltem Sinne. Erstens
indem die imperative Macht dieser Alltagspostulate auf die Gemeinschaft
einwirkt, und eine noch so primitive Arbeitsteilung (mit Muße für Nach¬
denken über solche Probleme) durchsetzt; zweitens indem die so entstehende
Erkenntnis den Beginn einer Herrschaft über Umgebung, Dinge etc., vor
allem über den Menschen selbst zu Wege bringt. Es entsteht eine gewisse
Technik der Arbeit und mit ihr eine gewisse Erhebung des arbeitenden
Menschen selbst über sein früheres Niveau der Beherrschung der eigenen
körperlichen und geistigen Fähigkeiten.
All dies - eine bestimmte, wenn auch noch so bescheidene Höhe der Technik
und der Umerziehung der sie handhabenden Menschen - ist ebenfalls Voraus¬
setzung für die allerersten Anfänge einer ästhetisch noch so unbewußten künst¬
lerischen Tätigkeit. Man denke an die Steinzeit. Die Phase, in welcher geeignete
Steine gefunden und aufbewahrt wurden, involviert bereits Ansätze zu
einer solchen Widerspiegelung der Wirklichkeit, aus der später Wissensdiaft
wird. Denn es gehört bereits ein bestimmter Grad der Abstraktionsfähigkeit,
der Verallgemeinerung der Arbeitserfahrungen, ein Hinausgehen über die
rein subjektiven, wenig geordneten Eindrücke dazu, um den Zusammenhang
der Form eines bestimmten Steins mit seiner Eignung zu bestimmten Verrich¬
tungen klar erblicken zu können. Auf dieser Stufe ist jedoch ein Ansatz zur
Kunst noch unmöglich. Dazu muß vorerst der Stein nicht nur überhaupt
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 209

geschliffen oder geschabt, von der menschlichen Hand zum Werkzeug umge¬
formt werden, auch kann die dabei verwendete Technik erst auf einem ver¬
hältnismäßig hohen Niveau selbst ein bloß unbewußtes Aufnehmen künst¬
lerischer Motive gestatten. Boas weist richtig nach, daß eine verhältnismäßig
entwickelte Technik des Schabens oder Schleifens nötig ist, damit der
Stein die richtige Form erhält, damit seine abgeschabte Oberfläche nicht ein
Durcheinander der Teile, sondern deren Gleichheit, Parallelität etc. auf¬
zeige1. Dies involviert anfangs noch keinerlei ästhetische Intention; es ist
nichts mehr, als die bessere technisch-handwerkliche Adaption an den
unmittelbar-praktischen Zweck der Arbeit. Es ist aber ohne weiteres klar,
daß bevor das menschliche Auge imstande ist, Formen und Strukturen
genau wahrzunehmen, bevor die Hand vermag, die dabei notwendigen
Parallelitäten, gleichen Abstände etc. dem Stein pünktlich abzuzwingen, alle
Voraussetzungen für eine selbst allerprimitivste Ornamentik fehlen müssen.
Die objektive Höhe der Technik ist also zugleich eine Entwicklungshöhe
des arbeitenden Menschen. Engels gibt über die entscheidenden Züge dieser
Entwicklung ein sehr deutliches Bild: »Bis der erste Kiesel durch Menschen¬
hand zum Messer verarbeitet wurde, darüber mögen Zeiträume verflossen
sein, gegen die die uns bekannte geschichtliche Zeit unbedeutend erscheint.
Aber der entscheidende Schritt war getan: die Hand war frei geworden und
konnte sich nun immer neue Geschicklichkeiten erwerben, und die damit
erworbene größere Biegsamkeit vererbte und vermehrte sich von Geschlecht
zu Geschlecht. So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch
ihr Produkt«• 2. Engels weist weiter nach, daß die Ausbildung der Hand
wichtige Rückwirkungen auf den übrigen Organismus gehabt hat. Über
den Zusammenhang der Arbeit, der darin erworbenen Geschicklichkeit, der
darin entstehenden höheren Gemeinschaft mit der Sprache war bereits die
Rede. Zu erwähnen ist hier noch, daß Engels die spezifisch menschliche Ver¬
feinerung und Differenzierung der Sinne energisch hervorhebt. Es handelt
sich dabei nicht in erster Reihe um eine physiologische Vervollkommnung. Im
Gegenteil. In dieser Hinsicht sind viele Tiere dem Menschen weit überlegen.
Es kommt aber darauf an, daß die Wahrnehmungsfähigkeit der Dinge durch
die Erfahrungen der Arbeit sich qualitativ ändert, verbreitert, vertieft, ver¬
feinert. Wir haben auf diese Frage in anderen Zusammenhängen bereits

1 Boas: a. a. O. S. 21.
2 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 694 f.
210 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

hingewiesen. Auch hier betont Engels die Wechselwirkungen dieser Entwick¬


lung mit der Arbeit, mit der Sprache, mit dem Abstraktions- und Schlußver¬
mögen etc.
Eine weitere Konkretisierung des hier vorsichgehenden Differenzierungs¬
prozesses der Sinne finden wir vor allem in der Anthropologie von Gehlen,
dessen richtige Analyse bestimmter Tatsachen und Zusammenhänge für uns
um so wertvoller ist, als seine philosophischen Voraussetzungen und Folge¬
rungen den unseren oft diametral entgegengesetzt sind. Da es uns aber hier
ausschließlich auf die Feststellung einer konkreten Entwicklungstendenz
ankommt, werden wir jede ausführliche Polemik oder Kritik vermeiden.
Der Leser wird schon aus Gehlens Terminologie entnehmen können, wo
die Gegensätze zwischen einer modern-idealistischen und einer dialektisch¬
materialistischen Anthropologie sowohl prinzipiell wie im Detail liegen.
Gehlen spricht über die allmählich entstehende Arbeitsteilung der Sinne,
wobei es für uns gleichgültig ist, daß er diesen Prozeß im Entwicklungs¬
gang des Kindes beobachtet, während unserer Ansicht nach der wesentliche
Prozeß sich im Kindesalter der Menschheit abgespielt hat; wir betrachten
ja - nach Hegel und Engels - die »Entwicklung des individuellen Bewußt¬
seins durch seine verschiedenen Stufen, ... als abgekürzte Reproduktion der
Stufen, die das Bewußtsein des Menschen geschichtlich durchgemacht...«1
Gehlen also führt aus: »Der Erfolg dieser Prozesse, in denen Bewegungen je¬
der Art, besonders der Hände, mit allen Sinnen, besonders dem Auge, Zusam¬
menwirken, ist der, daß die umgebende Welt »durchgearbeitet« wird, und
zwar in der Richtung der Verfügbarkeit und der Erledigung: Die Dinge wer¬
den der Reihe nach in Umgang gezogen und abgestellt, im Zuge dieser Ver¬
fahren aber unvermerkt mit einer hochgradigen Symbolik angereichert, so
daß endlich das Auge allein, ein müheloser Sinn, sie übersieht und in ihnen
zuletzt Gebrauchs- und Umgangswerte mitsieht, welche vorher mühsam eigen¬
tätig erfahren wurden 2.« Ohne hier eine Kritik der idealistischen Auffassung
und Terminologie auch nur anzudeuten, sei nur so viel bemerkt, daß hinter
dem, was Gehlen unter Symbolik versteht, ein wesentliches Problem der
Entstehung der spezifisch menschlichen Visualität und ihrer Weiterführung
zur bildenden Kunst steckt. Hierzu muß nur so viel bemerkt werden, daß
Begriff und Ausdruck der »Symbolik« keineswegs eine »Zutat« des Subjekts

1 Engels: Feuerbach, a. a. O. S. 20.

2 Gehlen: Der Mensch, a, a. O. S. 43.


Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben zu

zu der objektiven Erscheinungsweise der Gegenstände, sondern eine Weiter-


führung, Ausbildung, Verfeinerung ihrer Widerspiegelung ist. Wenn etwa
davon die Rede sein wird, daß das ausgebildete menschliche Sehen etwa das
Gewicht, die Materialstruktur etc. visuell erfassen kann, ohne auf den
Tastsinn zurückgreifen zu müssen, so liegt der Grund dazu darin, daß die
visuellen Kennzeichen solcher Eigenschaften zwar nicht unmittelbar auf¬
fallen und darum auf primitiver Stufe für das Auge nicht wahrnehmbar
sind und deshalb vorerst allgemein durch den Tastsinn erfaßt werden. Sie
sind aber objektiv dennoch Bestandteile einer visuellen Erfaßbarkeit der
Gegenstände. Solche Entdeckungen, die der Prozeß der Arbeit, die aus ihm
entspringende Arbeitsteilung der Sinne bewerkstelligen, drückt der Idealis¬
mus mit dem Wort »Symbolik« aus und verengt dadurch das Gebiet der
visuellen Widerspiegelung, die objektive Grundlage einer solchen Arbeits¬
teilung. Die Eroberungsmöglichkeiten im engeren Gebiet der Ästhetik
gehen natürlich noch viel weiter. Wir werden später bei Behandlung ein¬
flußreicher Theorien, wie der Konrad Fiedler’schen, sehen können, daß der
philosophische Idealismus das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung einengt,
um für seine subjektivistischen Konstruktionen Raum schaffen zu können.
Das Wichtigste an Gehlens Ausführungen ist, daß er die Arbeitsteilung
zwischen Gesichts- und Tastsinn in der Arbeit energisch hervorhebt. Diese
seine Ausführungen haben wir ebenfalls bereits zitiert. Der Wert einer
solchen Analyse steckt sowohl im Prinzip wie im Detail. Im Prinzip, weil
dadurch der Abstand zwischen den arbeitenden und die Arbeitserfahrungen
weiter ausbildenden Menschen und den höchstentwickelten Tieren klar zum
Ausdruck kommt, und zwar gerade in dieser Arbeitsteilung und Koopera¬
tion der Sinne. Gehlen gibt darüber gute Beschreibungen, die vor allem
darin ergänzungsbedürftig sind, daß der Unterschied als metaphysische, von
Ewigkeit her gegebene Kluft und der Zusammenhang zwischen dem anthro¬
pologischen Wesen des Menschen und dem entgegengesetzten Tier nicht als
Produkt der Arbeit erscheinen, das heißt, daß die Ergebnisse der Arbeit - der
Menschwerdung des Menschen - nicht als Resultate dieses Prozesses, sondern
als dessen Voraussetzungen dargestellt werden.
Innerhalb der soeben aufgezeigten Schranke gibt Gehlen nun hervor¬
ragende und außerordentlich fruchtbare Beobachtungen und Beschreibun¬
gen in bezug auf den Charakter der menschlichen Visualität. Auf ihre
Bedeutung für die Kunst kommen wir später zurück. Jetzt sei nur ein
wesentlicher Abschnitt angeführt, um die Arbeitsteilung der Sinne durch
die Arbeit, die Übernahme der Funktionen des Tastsinns durch das Auge
212 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

klar zu beleuchten. Gehlen führt aus: »Zum Beispiel pflegen wir an einem
Gegenstand, etwa einer Tasse, die Glanzlichter und Schatten, sowie die
Ornamente teils ganz zu übersehen, teils nimmt sie das Auge als Andeu¬
tungshilfen für die Raum- und Gestaltsauffassung, womit also indirekt die
Rückseiten und die von uns weg orientierten Raumteile »gehabt« werden.
Überschneidungen werden ebenso ausgewertet. Dagegen wird die Material¬
struktur (»dünnes Porzellan«) und das Gewidht voll mitgesehen, doch in
einer anderen und sozusagen mehr »prädikativen« Weise als der im Vorder¬
grund zur Geltung kommende Charakter des »Gefäßes«, d. h. des Hohlen
und Runden, und wieder in anderer Weise gewisse optische Daten, z. B. der
Henkel oder die »handliche« Stelle der Gesamtform, Bewegungssuggestio¬
nen für Umgangsbewegungen. Alle diese Daten aber umfaßt das Auge mit
einem Blick. Man muß geradezu sagen, daß unser Auge gegen den Istbestand
der Empfindlichkeit, ja des jeweils hintergrundhaft Empfundenen ungemein
gleichgültig ist, dagegen höchst empfindlich für hochkomplexe Andeutun¬
gen1.« Gehlen erkennt auch ganz richtig die Rolle der Gewöhnung in
diesem Prozeß, allerdings wieder ohne dabei die Arbeit (und auf späterer
Stufe: die der Kunst) zu berücksichtigen.
Wir sind auch hier der realen Entwicklung weit vorausgeeilt und müssen
dieses Vorwegnehmen der Endresultate zwecks Beleuchtung der - un¬
bekannten und voraussichtlich nie faktisch erkennbaren — Anfangszustände
der Differenzierung, der allmählichen Ablösung der künstlerischen Wider¬
spiegelung von der des Alltagslebens, ihr Selbständigwerden nicht nur
dieser, sondern auch der der Wissenschaft (und andererseits der von Magie
und Religion) gegenüber weiter fortführen. Es handelt sich wieder um die
marxistische Methode, daß die Anatomie des Menschen den Schlüssel zur
Anatomie des Affen abgibt, daß an sich unbekannte und wissenschaftlich
unerforschbare Anfangsstadien mit Hilfe der von ihnen ausgelösten, nur
auf entwickelteren Stufen sichtbar gewordenen Impulse, in ihrer Quali¬
tät, Richtung, Tendenz etc. durch die erkennbaren Folgen rekonstruierbar
werden, indem wir die Entwicklung in ihrem bisher erreichten Endpunkt,
unter Berücksichtigung der uns vorliegenden Zwischenetappen, in um¬
gekehrter Richtung verfolgen und aus der Art der Differenzierung Rück¬
schlüsse auf den primitiven undifferenzierten Zustand, auf seine Auflösung,
auf die Zukunftskeime, die in ihm stecken, ziehen.

1 Ebd. S. 67 f.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 213

Der so - sehr problematisch - verfolgbare Differenzierungsprozeß der


künstlerischen Widerspiegelung bietet ganz besondere Schwierigkeiten auch
im Vergleich zu dem der Wissenschaft. Dies liegt vor allem in dem viel
späteren Bewußtwerden. Wir konnten schon in der griechischen Entwick¬
lung sehen, daß die bewußte weltanschaulichste Form des wissenschaft¬
lichen Verhaltens, die der Philosophie, geradezu eine Pionierrolle den
eigentlichen Einzelwissenschaften gegenüber spielt. Natürlich ist eine be¬
stimmte Entwicklungsstufe der Produktivkräfte und mit ihnen der Technik
der einzelnen Wissenschaften vonnöten, damit ein solches Nachdenken und
Bewußtmachen überhaupt zustande kommen kann. Ist es jedoch einmal da,
so geht es, vor allem in Griechenland, als Verallgemeinerung der Erfahrun¬
gen weit über den damals erreichten und bei den damaligen Produktions¬
verhältnissen erreichbaren Grad von Technik und Einzelwissenschaften
hinaus. Ja selbst in der Aufschwungsperiode in und nach der Renaissance
hört diese Funktion der Philosophie nicht auf. Engels sagt über die Rolle
der Philosophie in bezug auf die Entwicklung der Naturwissenschaften
folgendes: »Es gereicht der damaligen Philosophie zur höchsten Ehre, daß
sie sich durch den beschränkten Stand der gleichzeitigen Naturerkenntnisse
nicht beirren läßt, daß sie - von Spinoza bis zu den großen französischen
Materialisten - darauf beharrte, die Welt aus sich selbst zu erklären, und
der Naturwissenschaft der Zukunft die Rechtfertigung im Detail über¬
ließ1.« Eine solche Rolle konnte die Philosophie der Kunst, die Ästhetik,
für die Selbstbesinnung der Kunst selbst nie spielen. Sie trat immer, sogar
in so großen Gestalten wie Aristoteles, erst post festum auf, und ihre
bedeutendsten Resultate waren, wie gerade bei Aristoteles, begriffliche
Fixierungen einer bereits erreichten Stufe der Kunstentwicklung. Das ist
nicht zufällig. Denn bei aller Allmählichkeit und Widersprüchlichkeit des
Ablösungsprozesses der wissenschaftlichen Widerspiegelung von der des
Alltags (und von der von Magie und Religion) ist die Kluft zwischen ihnen
doch hinreichend augenfällig, um - unter günstigen gesellschaftlichen
Bedingungen - rasch und im wesentlichen richtig einer philosophischen
Verallgemeinerung fähig zu werden. Die Eigenart der künstlerischen
Widerspiegelung hebt sich jedoch - unmittelbar angesehen - weit weniger
scharf von dieser gemeinsamen Basis ab, produziert sehr langwährende
Übergangserscheinungen, kann noch auf hochentwickelter Stufe die engste

1 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O., S. 486.


214 Vorf ragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

Verbundenheit mit Alltag, Magie und Religion aufrechterhalten, dem


äußeren, unmittelbaren Anschein nach sich völlig mit diesen verschmelzen.
Es ist wieder lehrreich diese Konstellation auf entwickelter Stufe zu stu¬
dieren. Denken wir an die griechische Entwicklung. Wir sehen einerseits,
daß Literatur und Kunst (im Vergleich zum Orient) sich verhältnismäßig
autonom, frei von theokratischen Vorschriften entfalten können. Aber
gerade dadurch wird sichtbar, wie spät eine Ablösung von der Religion,
ein Sich-auf-eigene-Füße-stellen der Kunst erfolgt. Wenn man sie sehr früh
datiert, so kann man bis Sophokles zurückgehen, ein wirkliches Bewußtsein
der Trennung ist erst bei Euripides vorhanden. Wir haben in anderen Zu¬
sammenhängen bereits darauf hingewiesen, daß hier die geistige Grundlage
für das kritisch-ablehnende Verhalten der frühen, sich und die Wissenschaft
zu befreien bestrebten Philosophie gegenüber Kunst und Künstler liegt
(Heraklit etc.). Diese Philosophen sehen im ästhetischen Prinzip - nicht mit
Unrecht - ein anthropomorphisierendes, und da sie den Anthropomorphis¬
mus der Religion, des Mythos etc. als ihren geistigen Hauptfeind betrach¬
ten, wird in diesem Zusammenhang das Ästhetische - sehr zu Unrecht —
zum Verbündeten, zum Instrument des anthropomorphisierenden Aber¬
glaubens gestempelt. Die Schwierigkeit eines ähnlich entschiedenen Selb¬
ständigwerdens, wie hier für Philosophie und Wissenschaft erfochten wurde,
liegt nämlich darin, daß das ästhetische Prinzip - worüber im Folgenden
sehr eingehend die Rede sein wird - tatsächlich einen anthropomorphisie¬
renden Charakter hat. War es schon, wie wir gesehen haben, nicht leicht,
bedurfte es eines viele Jahrtausende umfassenden Prozesses, um das des-
anthropomorphisierende Prinzip der wissenschaftlichen Widerspiegelung
der Wirklichkeit von jedem Anthropomorphismus zu trennen, — welche
Anstrengungen mußte die Einsicht dessen kosten, daß die künstlerische
Widerspiegelung zwar dem Wesen nach anthropomorphisierend ist, jedoch
eine derartige Besonderheit dieses Prinzips repräsentiert, daß die sich - sach¬
lich und methodologisch, inhaltlich und formell - scharf sowohl von der
Widerspiegelung des Alltagslebens, wie von der der Magie oder der Religion
unterscheidet?
Hier sei bloß eine Bemerkung zur Klärung der Begriffe gestattet. Wie bereits
wiederholt hervorgehoben, spielt für uns der Gegensatz des desanthropo-
morphisierenden und des anthropomorphisierenden Prinzips der Wider-
spiegelung eine ausschlaggebende Rolle. Das Wesen des ersteren ist bereits
eindeutig bestimmt; über die Dialektik der damit verbundenen Weltan¬
schauungsfragen haben wir ebenfalls gesprochen. Bei der Anthropomorphi-
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 215

sierung sind viel mehr Zweideutigkeiten möglich. Es gibt z. B. Forscher, die


ein Anthropomorphisieren nur dort anerkennen, wo ausdrücklich und
direkt der Mensch seine eigenen Formen, Eigenschaften in den Kosmos
hineinprojiziert. So in der letzten Zeit Gehlen, der über diese Frage folgen¬
des ausführt: »die Magie ist grundsätzlich gruppenegoistisch oder gar ego¬
zentrisch und sie bedarf für ihre Technik keineswegs humanisierter anthro-
pomorpher Wesenheiten. Gerade Vorzeichen sind fast immer nicht mensch¬
lich, man bedient sich für Zauberei gerne tierischer Spirits, man holt Regen,
Wolken, die Jagdbeute heran, die Embleme der Schamanen sind der Vogel,
das Roß, der Lebensbaum usw. Erst auf der Stufe des Polytheismus wandelt
sich dies, sobald die Götter menschliche Gestalt annehmen, werden sie erst
wirklich Götter, d. h. es wird sicher, daß sie regieren ... Der anthropo-
morphe Gott ist gerade der, der nicht mehr anthropozentrisch wirkt.. A«
Gehlen verwechselt das Objekt des Anthropomorphisierens und dessen
Methode. (Auf die Gründe dieser Verwechslung, die aus seiner ganzen
Geschichtsphilosophie entspringen, können wir hier nicht eingehen.) Daß
die Götterreligionen, insbesondere der Monotheismus entwickeltere, höhere
Formen des Anthropomorphismus repräsentieren als die Magie, unterliegt
keinem Zweifel. Wenn die Welt von Gott oder von Göttern regiert wird,
so ist damit ohne Frage die eingebildete unmittelbare Beeinflussung des
Weltlaufs durch die Magie zurückgedrängt, sein vom Menschen unabhängi¬
ges Funktionieren weltanschaulich festgelegt. Ist aber damit die magische
»Weltanschauung« wirklich überholt? Gehlen selbst ist gezwungen, in An¬
schluß an Eduard Meyer und Jacob Burckhardt das Gegenteil zuzugeben:
»Überall geht mit der ethischen Vertiefung der Rückfall in die primitiv¬
sten Formen der Religion, die schon völlig überwunden schienen, Hand in
Hand1 2.« Dieses Erhaltenbleiben wichtiger Momente der Magie in den
Religionen ist kein Zufall. Es gilt nicht nur für den antiken und orientali¬
schen Polytheismus, sondern auch für die monotheistischen Religionen; erst
im Calvinismus ist ein ernster Versuch entstanden, die Überreste der Magie
radikal zu liquidieren. So sind die von Meyer und Burckhardt festgestellten
»Rückfälle« solche nur in quantitativer Beziehung; auch früher lebten sehr
viele Überreste der Magie zumeist in friedlicher Eintracht mit den neuen
Göttervorstellungen weiter. Es zeigt sich also, daß Gehlen den Gegensatz

1 Gehlen: Urmensch und Spätkultur, a. a. O. S. 274 f.


2 Ebd.
21 6 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

von Magie und Religion nicht nur überschätzt, sondern auch gerade in
bezug auf das anthropomorphisierende Prinzip einen nicht existierenden
Gegensatz in sie hineinträgt. Zugegeben, daß die Objekte der Magie sich auf
Naturerscheinungen (Tiere, Kräfte etc.) konzentrieren - woher nimmt die
Magie ihre Auffassung von deren Wesen? Zweifellos aus den damaligen
Erfahrungen des Menschen über sich selbst, über seine Beziehungen zu der
umgebenden Natur. Daß diese weniger offen »personifiziert« sind, als die
der späteren Religionen, stammt einfach daher, daß die menschliche Per¬
sönlichkeit noch weit weniger entwickelt, weit weniger ihrer selbst bewußt
war. Wenn z. B. die Gestalt des Demiurgos erst später hervortritt, so er¬
klärt sich dies zwanglos daraus, daß zur Zeit des bloßen Sammelns, der Vor¬
herrschaft von Jagd, Fischerei etc. in der Selbsterhaltung der Menschen den
»unpersönlichen Mächten« notwendigerweise eine viel größere Rolle ge¬
danklich zugesprochen wird, als in späteren Stadien, in denen der Arbeit
ein viel größerer Anteil daran zukommt. Das ändert jedoch bloß die
Objekte, die in die Außenwelt als Ursachen projiziert werden, ihre Beschaf¬
fenheit, Wesensart etc., nicht aber den Akt des Projizierens aus den inneren
Erfahrungen des Menschen in die objektive Wirklichkeit. Anthropomorphi-
sieren und Desanthropomorphisieren scheiden sich gerade hier: ob von der
objektiven Wirklichkeit ausgegangen wird, deren an sich seiende Inhalte,
Kategorien etc. ins Bewußtsein gehoben werden, oder eine Projektion von
Innen nach Außen, vom Menschen in die Natur stattfindet. Von diesem
Standpunkt ist der Kult von Tieren oder Naturkräften ebenso anthropo-
morphisierend, wie das Schaffen von menschenähnlichen Göttern.
Diese Frage des Anthropomorphisierens wird ihrer Wichtigkeit gemäß, in
unseren späteren Betrachtungen eine zentrale Rolle spielen. Hier wurde sie,
m einer notgedrungen noch sehr abstrakten, vorwegnehmenden Weise nur
darum angeführt, damit bestimmte Eigenschaften dieses Loslösungsprozes¬
ses in allgemeinen Umrissen schon sichtbar gemacht werden können. Erstens
die Schwierigkeit und Kompliziertheit des objektiven Ablösungsprozesses,
nämlich wie - unbekümmert darum, von welchem Bewußtsein er begleitet
wird - in der künstlerischen Praxis eine spezifisch ästhetische Gegenständ¬
lichkeit entsteht, die obwohl ebenfalls anthropomorphisierend, sich qualita¬
tiv dem Wesen nach von den Gegenständlichkeitsformen des Alltags, der
Magie und der Religion unterscheidet. Zweitens wird dadurch unsere
frühere Behauptung vom post-festum-Charakter des Bewußtmachens dieser
Widerspiegelungsart schon auf diesem abstrakten Niveau der Betrachtungen
etwas besser erhärtet. Es wird verständlich, daß das allgemeine Prinzip der
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 2I7

beginnenden Praxis, das »sie wissen es nicht, aber sie tun es« hier in beson¬
ders extremen Maßstäben erscheint. Die spezifische Art der ästhetischen
Gegenständlichkeit, das spezifisch ästhetische Verhalten zu ihr hat sich
bereits längst praktisch ausgebildet, bevor ein nur einigermaßen ernsthafter*
denkerischer Vorstoß bemerkbar sein konnte, die verschiedenen Formen
der anthropomorphisierenden Widerspiegelung der Wirklichkeit begrifflich
scharf, theoretisch fundiert voneinander zu trennen, wie dies in bezug auf
die desanthropomorphisierenden Widersprüche in der Philosophie geschah.
Ja es bedarf - mit wenigen Ausnahmen, zu denen freilich Aristoteles gehört -
einer jahrtausendelangen währenden Entwicklung, um aus den Kriterien
der ästhetischen »Wahrheiten« die Elemente der wissenschaftlichen zu ent¬
fernen, um die »Wahrheit« der ästhetischen Widerspiegelung - positiv wie
negativ - nicht nach diesen Maßstäben zu bewerten.
Die Schwierigkeit wächst noch dadurch, daß die ersten Ausdrucksformen
der wissenschaftlichen und philosophischen Widerspiegelung der Wirklich¬
keit ebenfalls stark mit ästhetischen Elementen gemischt auftreten. Diese
entstammen unmittelbar fraglos noch aus der magischen Periode, in welcher
die später sich differenzierenden Tendenzen noch unzertrennlich ineinander
verschlungen Vorkommen. Man denke an die altorientalische Poesie, in
welcher diese - dem sachlichen Wesen nach unorganische - Tendenz sich
noch sehr lange konserviert hat. Aber selbst in Griechenland, wo die inhalt¬
liche Trennung, ja Gegenständlichkeit sich relativ früh konstituiert, finden
wir häufig wissenschaftliche oder philosophische Produktionen, die in poeti¬
scher Sprache, zuweilen mit poetischer Anschauung geschrieben wurden; so
philosophische Gedichte bei den Vorsokratikern, so die frühen Dialoge
Platons. Ohne Frage entsteht daraus eine Doppelentwicklung, eine sehr
langsame und ungleichmäßige Differenzierung: einerseits das philosophische
Gedicht als besonderes Genre innerhalb der Lyrik (Schiller), andererseits
das Abstreifen des poetisierenden Ausdrucks in Wissenschaft und Philo¬
sophie. Jedoch selbst so gewaltige Werke wie »De rerum natura« von
Lukrez haben die klar differenzierende Trennung noch nicht vollzogen,
und sogar bei Dante finden wir noch Spuren des Ineinanderübergehens von
wissenschaftlicher und poetischer Widerspiegelung der Wirklichkeit.
Noch hartnäckiger bewahrt sich diese ursprüngliche Ungetrenntheit in
vielen Äußerungsweisen der Gesellschaftswissenschaften und des öffent¬
lichen Lebens. Es genügt, wenn wir für das letztere auf die antike Rhetorik
hinweisen. Die Antike hat diese zweifellos für eine Kunst gehalten. Es ist
hier nicht der Ort, alle Widersprüche, die sich daraus ergeben, ausführlich
2I8 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

auseinanderzusetzen. Es genügt vielleicht darauf hinzuweisen, daß einerseits


die Rhetorik durch diese Grundauffassung einen zuweilen in Manier
überschlagenden formalistischen Charakter erhält; denn eine vom Gehalt
> ausgehende formale Behandlung, die in der Poesie objektiv vorhanden,
wenn auch nicht immer bewußt erkannt war, die die eindeutige Bestimmt¬
heit der konkreten Formprobleme durch die genremäßige Determiniertheit
des konkreten Inhalts sicherstellte, muß hier fehlen. Andererseits muß die
so zustande kommende rein formalistische »ästhetische« Auffassung der
Rhetorik dazu führen, daß ihre argumentierend-»wissenschaftlichen« Ele¬
mente einen sophistischen Charakter erhalten, da sie einseitig von ihrer
unmittelbaren (emotionalen) Wirksamkeit aus betrachtet werden, da ihr
eigentlicher Wahrheitsgehalt, ihre genaue Übereinstimmung mit den Tat¬
sachen in den Hintergrund gedrängt wird, ja zuweilen vollständig ver¬
schwindet.
An dieser Frage ist es unschwer zu ersehen, daß eine genaue theoretische
Differenzierung auf diesem Gebiet noch bis heute nicht vollkommen voll¬
zogen ist. Das bedeutet eine Schwierigkeit für jede Ästhetik, die ihr Gebiet
sehr scharf, übergangslos - also metaphysisch - von den außerhalb ihres
Bereichs liegenden Lebenserscheinungen trennen will. Für unsere, bis jetzt
noch sehr abstrakt ausgedrückte, allmählich zu konkretisierende Anschauung
dagegen, die ein ständiges Hin und Her der Wechselwirkungen zwischen All¬
tag und Kunst annimmt, in der die Probleme des Lebens in spezifisch ästhe¬
tische Formen umgewandelt und ihnen entsprechend künstlerisch gelöst wer¬
den und in der die Errungenschaften der ästhetischen Eroberung der
Wirklichkeit ununterbrochen ins Alltagsleben einströmen und diese objektiv
wie subjektiv bereichern, lösen sich diese Widersprüche zwanglos auf. Denn
so wird klar, daß die forensische Rede, ebenso wie die Publizistik, die
Reportage etc. wichtige Bestandteile des praktischen Alltagslebens bilden.
Ihre Zugehörigkeit zum Alltagsleben, ihre Unfähigkeit sich zu festen, wenn
auch sich stets wandelnden Gesetzlichkeiten eines ästhetischen Genres zu
kristallisieren, beruht darauf, daß hier die unmittelbare Zusammengehörig¬
keit von Theorie und Praxis, für den Aufbau des Ganzen und für die Aus¬
gestaltung der Details die entscheidende Zwecksetzung ist. Eine Rede soll vor
allem einen bestimmten, konkreten, einzelnen Zweck erreichen: die Zuhörer
dazu zu bringen, daß X verurteilt oder freigesprochen, daß der Gesetzentwurf
Y angenommen oder abgelehnt wird etc. Das steht im Gegensatz sowohl z. B.
zur wissenschaftlichen Jurisprudenz, die jene allgemeinen Regeln untersucht,
denen ein solcher Einzelfall subsumiert werden soll, wie auch zum Drama
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 219

oder zum Roman, die in der Gestaltung eines bestimmten Einzelfalles


bestrebt sind, die darin enthaltene Typik an Charakteren und Situationen
künstlerisch herauszuarbeiten. Diese doppelseitig trennende Kluft wird weder
durch eine Anwendung von künstlerisdien, noch durch die von wissenschaft¬
lichen Mitteln überbrückt. Das für das Wesen des Ganzen ausschlaggebende
ordnende Prinzip bleibt die Zielsetzung: die unmittelbare Mobilisierung der
verschiedenartigsten, unter sich heterogensten Mittel für ein unmittelbares,
praktisches Ziel.
Schon immer hat in dieser Frage die Tatsache Verwirrung gestiftet, daß auch
die Kunst auf unmittelbare Wirkung ausgeht. Wir können jedoch leicht ein-
sehen, daß der Sinn der Unmittelbarkeit in beiden Fällen äußerst verschieden
ist. In der Rhetorik ist der höchste Zweck, etwas unmittelbar Praktischen zu
erreichen; ob die Mittel immer direkt an die Unmittelbarkeit appellieren,
bleibt dahingestellt. In der Kunst dagegen liegt der Akzent gerade auf der
durch die Gestaltungsmittel erzielten unmittelbaren Wirkung; ihre Umsetzung
ins Praktische - die erzieherische Wirkung der Kunst, über die wir später aus¬
führlich sprechen werden - ist dagegen etwas sehr kompliziert und ungleich¬
mäßig Vermitteltes. Natürlich schließen diese Abgrenzungen Ubergangsfälle
keineswegs aus. Einerseits kann in einer Rede, in einem publizistischen Auf¬
satz die wissenschaftliche Methode, der von ihr wissenschaftlich erfaßte und
gruppierte Stoff derart überwiegen, so überwältigend und bahnbrechend im
wissenschaftlichen Sinne sein, daß die Leistung wissenschaftlich ist und ihre
rhetorische oder publizistische Form als sekundäres Beiwerk erscheint. Anderer¬
seits kann eine rhetorische Leistung, eine publizistische Schrift die Typik des
behandelten Falles mit solcher Kraft herausarbeiten, daß sie - dadurch von
ihrem Anlaß weitgehend unabhängig geworden - eine künstlerische Wirkung
auslöst. Es ist aber klar, daß es sich hier um Grenzfälle handelt, in denen,-und
das ist das hier Wesentliche - der Maßstab aus der Methodologie der Wissen¬
schaft, bzw. aus der Ästhetik genommen wird; solche Ergebnisse werden
durch Überschreiten der normalen Grenzen der Rhetorik, nicht aber durch
Erfüllung ihrer Regel erzielt. Sie heben also den angegebenen Gegensatz
nicht auf, sie weisen nur - eben als Grenzfälle - erneut auf die von uns be¬
tonte Grundtatsache hin, daß zwischen Alltag und Wissenschaft wie Kunst
ununterbrochen eine doppelseitige Wechselwirkung obwaltet.
Ähnlich langsam erfolgt die Herausbildung der eigentlichen wissenschaftlichen
Weise der Widerspiegelung in der Geschichtsschreibung. Während der ganzen
antiken Entwicklung bleiben die Grenzen gegenüber einer ästhetischen Ge¬
staltung äußerst fließend, ja immer wieder kommt eine gewisse Prävalenz
220 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

des Ästhetischen zur Geltung. Die anfangs (etwa bei Herodot) vorherrschende
anekdotisch-novellistische Gruppierung und Erzählung der Ereignisse flaut
zwar immer stärker ab, jedoch besonders die Einwirkung pseudoästhetisch¬
rhetorischer Elemente bleibt - wie wir gesehen haben - durchgehend äußerst
wichtig. Die entschiedene Konstituierung der Geschichte als Wissenschaft
erfolgt erst spät, in der Neuzeit. Sie beruht darauf, daß die erstarkende
Tendenz der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit immer
energischer darauf gerichtet ist, die Tatsachen des Geschichtsablaufs nicht nur
in ihren allgemeinen Umrissen treu zu reproduzieren, sondern ihr historisches
Geradesosein ungestört durch die Subjektivität des betreffenden Historikers
als notwendig zu erfassen 1. Darin kommt, wie leicht einzusehen ist, der Sieg
des desanthropomorphisierenden Prinzips in der Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit zum Ausdruck: das Bestreben, die Tatsachen der Wirklichkeit mög¬
lichst in ihrem objektiven An-sich-Sein wiederzugeben, die menschliche Sub¬
jektivität in Erforschung, Auswahl und Anordnung der Tatsachen möglichst
auszuschalten. Diese Tendenz beruht auf der wadisenden Einsicht, daß gerade
hinter der qualitativen Veränderung der Tatsachen des Lebens, der Be¬
ziehung der Menschen zueinander, der Bedingungen ihres Handelns, ihrer
Psychologie, ihrer Moral, objektive, wissenschaftlich aufdeckbare und erklär¬
bare gesellschaftliche Kräfte wirksam sind, nämlich die Struktur der jeweili¬
gen gesellschaftlichen Gebilde, ihre Umwandlungen und deren Ursachen. Das
qualitative Geradesosein dieser Tatsachen erscheint also nicht mehr als ein¬
fache unmittelbare Gegebenheit, als abstraktes Sosein, sondern als Knoten¬
punkt, als Wechselbeziehung objektiver Gesetzmäßigkeiten. Beides hat die
antike Historiographie wenig gekannt und darum kaum beachtet. Darum
spielen in der Darstellung des Geradesoseins der Fakten und Ereignisse
künstlerische Elemente eine so wichtige Rolle. Die künstlerische Freiheit im
»Erdichten« der Reden historischer Persönlichkeiten ist nur ein auffälliges
Symptom dieser Lage. Der Vergleich, den Aristoteles in bezug auf Verall¬
gemeinerung zwischen Dichtung und Geschichte, zuungunsten der letzteren,
zieht, beleuchtet die antike Entwicklungsstufe der Differenzierung. Auf die
Probleme der Beziehung von Geschichtsphilosophie und Geschichte, die als
Übergang eine wichtige Rolle spielen, werden wir uns hier nicht einlassen, da

1 Ansätze dazu sind natürlich auch in der Antike vorhanden; Thukydides zumal
greift mit seiner Geschichte des peloponnesischen Krieges der späteren Entwick¬
lung weit vor.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 221

sie im wesentlichen ein Problem innerhalb des Bereichs der wissenschaftlichen


Widerspiegelung der Wirklichkeit bilden. Die Geschichtsschreibung konsti¬
tuiert sich als konsequente Wissenschaft erst, wenn, wie oben angedeutet, die
Tatsachen nicht nur als solche respektiert - also nidit mehr ästhetisch typisiert
oder stilisiert -, sondern als Erscheinungsweisen, Knotenpunkte, Kreuzungen,
Wechselbeziehungen etc. der Gesetzlichkeiten der historischen Entwicklung
widerspiegelt und dargestellt werden. Daß der literarische Ausdruck solcher
Zusammenhänge oft auch zu künstlerischen Mitteln greift, bestätigt von
neuer Seite das von uns bereits hervorgehobene Prinzip der gegenseitigen
Wechselwirkungen. (Wir werden im zweiten Band bei Behandlung des
Kunstwerks und der Typen des schöpferischen Verhaltens eingehend die
Rolle wissenschaftlicher Elemente in der Kunst behandeln.)
Aber diese Wechselwirkungen heben die strukturell entscheidende gegen¬
seitige Abhebung der Sphären voneinander nicht auf. Sowohl die Geschichts¬
wissenschaft kann rein wissenschaftlich (d. h. desanthropomorphisierend)
bleiben bei breiter Ausnützung ästhetischer Ausdrucksmittel in der literari¬
schen Darstellung, wie die Kunst als solche keineswegs in der Reinheit ihrer
Wirkungen gestört werden muß, wenn ihre Aneignung des Lebensstoffes sich
auch auf Methode und Resultate der Wissenschaft stützt. Die erstere Mög¬
lichkeit können wir in den historischen, ja auch in den ökonomischen Werken
von Karl Marx sehen, der in der Methodenlehre das meiste getan hat, um das
objektive desanthropomorphisierende Prinzip in den Gesellschaftswissen¬
schaften theoretisch zu begründen und praktisch durchzusetzen. Für die
zweite Möglichkeit bietet das Spätwerk Thomas Manns ein bezeichnendes
Beispiel. Die Kompliziertheit dieser Lage mußte hier darum, wenigstens an¬
deutend, gestreift werden, damit die Schwierigkeit der Ablösung der ästhe¬
tischen Sphäre vom Alltag, von Religion und auch von Wissenschaft klar
hervortrete.
Wir haben, nidit ohne Absicht, die Betrachtungen solcher Wechselbeziehun¬
gen und Übergänge an Beispielen des verbalen Ausdrucks auf relativ ent¬
wickelter Stufe zu erhellen versucht. Die Schwierigkeit der begrifflichen
Trennung der verschiedenen Sphären erscheint zwar auch hier sehr groß,
jedoch die steigende Bewußtheit, insbesondere über Wissenschaft und wissen¬
schaftlich geleitete Praxis, macht die Entwirrung doch möglich. Gerade diese
Feststellung weist jedoch sehr deutlich auf die Schwierigkeit dieser Aufgabe
in primitiven Stadien der Entwicklung. Selbstverständlich müssen uns dabei
die hier gewonnenen prinzipiellen Einsichten leiten, vor allem, daß wir
objektiv, de facto vollzogene (oder begonnene) Trennungen auch dort wahr-
222 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

nehmen, wo das Bewußtsein der Differenz noch vollständig fehlt. Dabei


muß, wenigstens mit einer Bemerkung, auf früher Angedeutetes rückverwie¬
sen werden: nämlich, daß es weit leichter ist bei den vom gesellschaftlichen
Leben hervorgebrachten Mischungen des wissenschaftlichen und künstlerischen
Prinzips die Trennung, wenigstens begrifflich, zu vollziehen, als im Falle des
Zusammengewachsenseins von Kunst und Magie bzw. Religion. Denn im
ersten Fall stehen, wie bereits gezeigt wurde, desanthropomorphisierende
und anthropomorphisierende Arten der Widerspiegelung der Wirklichkeit
einander gegenüber, während im zweiten Fall es sich um Abarten des Anthro-
pomorphisierens handelt, die zwar in ihren letzten Prinzipien einander ent¬
gegengesetzt sind, die jedoch in der Praxis jahrtausendelang miteinander ver¬
schmolzen bleiben, deren allmähliche Trennung nicht nur ein langsamer,
widerspruchsvoller, ungleichmäßiger Prozeß ist, sondern auch einer, der für
die Kunst selbst nicht ohne Problematik, nicht ohne innere Krisen abläuft.
Bevor wir von diesen einleitenden Bemerkungen zur philosophischen Analyse
des Loslösungsprozesses der Kunst aus der ursprünglichen, undifferenzierten
menschlichen Praxis übergehen, muß noch eine prinzipielle Vorbemerkung
gemacht werden. Wie bereits hervorgehoben wurde, haben wir als Beispiele
nur verbale Ausdrucksformen herangezogen, wohl wissend, daß wir damit
nicht entfernt das ganze Gebiet des Ästhetischen umrissen haben. Aber schon
auf diesem künstlich eingeengten Terrain wird sichtbar, welch ein Hinder¬
nis für das philosophische Begreifen des Wesens und der Entstehung der
Kunst das durchgehende Prinzip der meisten Ästhetiken ist: das Wesen des
Ästhetischen als etwas Ursprüngliches und von vornherein Einheitliches auf¬
zufassen; erst recht, wenn wir dabei auch an Ornamentik und bildende
Kunst, an Musik und Architektur denken.
Mit dem Aussprechen solcher Bedenken soll die letzthinnige, prinzipielle Ein¬
heit des Ästhetischen keineswegs geleugnet werden. Im Gegenteil. Das End¬
resultat unserer Betrachtungen geht gerade darauf aus, diese prinzipielle
Einheit richtig zu fundieren, sicherer als durch eine überhistorisch-apriorische
Annahme von einer »ursprünglichen« ästhetischen Fähigkeit der Menschen.
Diese Annahme muß naturgemäß in allen idealistischen Konzeptionen des
Ästhetischen vorherrschen. Jeder Idealismus geht notwendig und unkritisch
von dem gegenwärtigen Bewußtseinszustand des Menschen aus, statuiert
diesen als »ewigen«, und auch wenn er dessen faktische, historische Ent¬
stehung zugibt, ist die so konstruierte historische Entwicklung nur eine schein-
baie. Einerseits ist sie eine bloß äußerliche: der historische Prozeß ist besten¬
falls dazu da, um in der Empirie das zu »realisieren«, was a priori in der
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 223

Bewußtseinsanalyse bereits festgestellt wurde; er ist der apriorischen Deduk¬


tion gegenüber oberflächlich und zufällig. Da der subjektive Idealismus - wie
immer seine Terminologie sein mag -, von dem Gegensatz von Sein und
Geltung ausgeht, da er diese als unberührbar von der seinsmäßigen histori¬
schen Entwicklung auffaßt, können zwischen beiden keine Wechselwirkun¬
gen im Sinne der Konstituierung und Modifizierung der Geltung stattfinden.
Andererseits muß auch der objektive Idealismus - auch wenn er, wie bei
Hegel, das geschichtliche Werden, das Menschwerden des Menschen in den
Mittelpunkt der Methodologie stellt - bei der Betrachtung von Wissenschaft
und Kunst vom fertigen Begriff des Menschen (im heutigen Sinne oder
wenigstens im Sinne der bereits gesellschaftlich-geschichtlich gewordenen
Menschen) ausgehen. Bei Hegel ist zwar die sogenannte symbolische Periode
teilweise als Prolog der eigentlichen Kunstentwicklung vorangestellt. Aber
auch hier sind bereits alle Kategorien der späteren vollendeten Kunst impli-
cite als vorhanden gesetzt, die Entwicklung besteht bloß in ihrem Explicit-
Werden, ist also - gerade nach dem Hegelschen allgemein dialektischen Be¬
griff der Entwicklung - eine bloße Scheinbewegung, die kein wesentlich,
qualitativ Neues hervorbringen kann. Und der mechanische Materialismus
arbeitet mit einem derart überhistorischen Begriff des Mensdien, daß in ihm
solche Probleme der Genesis gar nicht auftauchen können. Wenn, wie bei
Darwin, die fertigen Kategorien des Ästhetischen bereits bei den höheren
Tieren vorhanden sind und so für den Menschen zu einer Erbschaft seiner
vormenschlichen Vergangenheit werden, ändert sich an dieser Lage gar nidits.
Dieses Dogma ist, wie wir gesehen haben, im bisherigen ästhetischen Denken
so stark verankert, daß, obwohl, wie wir gleich sehen werden, gerade der
Marxismus den Bruch mit ihm vollzieht, selbst ein Franz Mehring als »erstes
Erfordernis einer wissenschaftlichen Ästhetik« ansieht: »die Kunst als ein
eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nachzuweisen.x« Es ist
sicher kein Zufall, daß Mehring sich dabei auf Kant beruft.
Der Grund solcher Auffassungen lag lange Zeit in der Unkenntnis der
Menschwerdung des Menschen und im Zusammenhang damit in der Stilisie¬
rung der Urzeit, der Anfänge der Menschheitsentwicklung, zu einem »gol¬
denen Zeitalter«. Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen gesellschaft¬
lichen Grundlagen solcher - untereinander verschiedenen, ja entgegengesetz¬
ten - Anschauungen zu behandeln. Für uns ist vor allem wichtig, einen Blick

1 Mehring: Gesammelte Schriften und Aufsätze, Berlin 1929, Band II S. 260.


224 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

auf jene Auffassungen zu werfen, die sehr oft aus Opposition gegen den
kunstfeindlichen Charakter der kapitalistischen Gesellschaften entstanden
sind, die deshalb in die Anfänge der Menschheit ein urwüchsig ästhetisches
»goldenes Zeitalter« projizierten. Die aus seiner Auflösung entstandene Zivi¬
lisation hat darum für die eigene Gegenwart die Aufgabe, die einst spontan
und unbewußt erwachsenen Prinzipien bewußt zu verwirklichen. Es genügt
zur Illustration uns auf den berühmt gewordenen Aphorismus aus Hamanns
»Ästhetica in nuce« zu berufen: »Poesie ist die Muttersprache des mensch¬
lichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerei, - als
Schrift: Gesang, - als Deklamation: Gleichnisse, - als Schlüsse: Tausch, - als
Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Be¬
wegung ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinnens
oder Erstaunens saßen sie;-und taten ihren Mund auf - zu geflügelten
Sprüchen1.«
Es ist nicht allzu schwer die Selbsttäuschung Hamanns nachzuweisen. Wenn
es etwa wahr wäre, daß der Gartenbau älter ist, als der Acker, so handelt es
sich auch dann bloß um verschiedene Weisen des Landbaus; dieser Garten
hat mit dem Garten in ästhetischem Sinne noch nichts zu tun. Die Hamann-
sche Malerei (Hieroglyphen etc.) ist bildhafter Gedankenausdruck:, magischer
Zeichenkomplex, also weit davon entfernt, Vorfahre der späteren Malerei
zu sein etc. Auch wenn gewisse Analogien in Sprache und Denken bildhaft
erscheinen, so enthalten sie in sich die Keime sowohl der Gleichnisse, wie der
Schlüsse, keineswegs die »Poesie« als herrschende Ausdrucksweise einer »prä¬
logischen«, einer ästhetischen Periode. Uber die scheinbar spontane Bild¬
haftigkeit der primitiven Sprachen (obwohl wir sie alle nur auf einer relativ
entwickelteren Stufe kennen, haben wir bereits gesprochen). In ihnen eine
poetische Muttersprache der Menschheit zu erblicken, heißt soviel, wie unsere
späteren Sensationen über pittoreske Ausdrücke in die alten Worte zu proji¬
zieren, die ihrem Wesen nach ebenso abstraktiv sind, wie die späteren, ohne
jedoch zu einer wirklich verallgemeinernden Synthesis schon befähigt zu sein.
Die bedeutende einfache Schönheit alter Volkslieder, die wir mit Recht als
vorbildlich bewundern, ist in einer weitaus entwickelteren Etappe beheimatet;
in einer, wo bereits der Satz, der Zusammenhang, das einzelne - in begriff¬
licher Verallgemeinerung vervollkommnete — Wort beherrscht und kraft einer
umfassenden Stimmung poetische, pittoreske etc. Effekte hervorbringt.

1 Hamann: Sämtliche Werke, Wien 1950, Band II S. 197.


Vorf ragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 225

In Hamanns Ausführungen spürt man einen entfernten Nachklang von


Vico1. Bei diesem ist aber die ästhetische Stilisierung der Urzeit weit kriti¬
scher. Vico spricht zwar auch von einem »poetischen« Zeitalter in der Ent¬
wicklung der Menschheit; seine Auffassung schwankt zwischen einer realisti¬
schen Anerkennung ihrer wirklidien Primitivität, ihrer Undifferenziertheit
im Vergleich zu späteren Stadien und zwischen einer Identifikation dieser
sinnlich ausgedrüdcten Primitivität mit der entfalteten Poesie und Kunst.
Er verlangt, daß die Philosophen und Philologen vom echten »ersten Men¬
schen« ausgehen, also von »stumpfsinnigen, blöden und schrecklichen Bestien«;
er zieht zum Vergleich mit der primitiven Antike die Reisebesdireibungen
über die Indianer, die Berichte von Tacitus über die alten Germanen her¬
an 2. In alledem sind sehr ernste Ansätze zu einem wahrheitsgemäßen Er¬
fassen der Ausgangspunkte menschlicher Kultur vorhanden. Vico sieht auch,
daß in ihrer Anfangsperiode die späteren Tätigkeitsformen nur als Keime
enthalten, aber doch enthalten waren. So entsteht die Vicosche Konzeption
der Urzeit: »so sind wir genötigt die poetische Weisheit auf eine rohe Meta¬
physik zurückzuführen, von der, wie aus einem Stamm, sich entwickelnd auf
einem Ast Logik, Moral, Ökonomie und Politik, alle poetischer Art; auf
einem anderen Ast die ebenfalls poetische Physik; sie ist die Mutter der
Kosmographie und weiterhin der Astronomie, welche letztere ihren beiden
Töchtern, Chronologie und Geographie, die sichere Ordnung anweist3.«
Jedoch bleibt auch für Vico als unüberwindliches Hindernis, daß er die Ent¬
wicklungsdialektik der menschlichen Tätigkeit aus dem Strukturwandel der
Subjektivität abzuleiten gezwungen ist. So kommt es zu dem überbetonten
Kontrast der abstrakten, verstandesmäßigen Reaktionen späterer Zeiten, zu
denen der ersten Menschen, »die gar kein Nachdenken, aber ganz starke
Sinne und mächtige Phantasie besaßen« 4. Es ist leicht ersichtlich, daß dieser
in der bloßen Subjektivität fundierte Gegensatz auch zu einem Idealisieren
des primitiven Zustandes führt, welche Theorie freilich Vico - zu seiner Ehre
sei es gesagt - niemals so konsequent zu Ende führt, wie etwa später Ha¬
mann, bei dem das, was bei Vico ein genialer Gedanke zur Periodisierung

1 So viel ich weiß, läßt sich ein Zusammenhang zwischen Vico und Hamann philo¬
logisch nicht nachweisen, obwohl Vico’sche Anregungen z. B. durch die englische
Altertumsforschung Hamann sehr leicht erreicht haben konnten.
2 Vico: Die neue Wissenschaft, a. a. O. S. 151/2.
3 Ebd. S. 148.
4
Ebd. S. 151.
226 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

der menschlichen Kulturgeschichte war, zu einer Mythisierung, zu subjekti-


vistischer Methode herabsinkt. So in den »Sokratischen Denkwürdigkeiten«:
»Doch vielleicht ist die ganze Historie als dieser Philosoph (Bolingbroke,
G. L.) meint, und gleich der Natur ein versiegeltes Buch, ein verdecktes Zeug¬
nis, ein Rätsel, das sich nicht auflösen läßt, ohne mit einem anderen Kalbe, als
unserer Vernunft zu pflügen1.« Daß bei sehr vielen Philosophen die Dekla¬
ration des Ästhetischen als »ursprüngliches Vermögen der Menschheit« keinen
bewußt mythisierenden Gedankenausdruck enthält, ändert nichts daran, daß
die ganze These - objektiv - ein Mythos ist.
Nur die Entdeckung der Arbeit als Vehikel zur Menschwerdung des Men¬
schen kann hier eine wesentliche Wendung zur Realität herbeiführen. Be¬
kanntlich war es Hegel, der in der »Phänomenologie des Geistes« als erster
mit der Auffassung auftrat2. Diese Konzeption kann aber bei ihm wegen
seiner idealistischen Befangenheiten und Schranken nicht ihre volle Frucht¬
barkeit entfalten. Marx sagt über diese Hegelsche Theorie, in der er freilich
einen Grund der Größe der »Phänomenologie des Geistes« erblickt: »die Ar¬
beit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige 3.« Die
meisten Verkehrungen Hegels in diesem Fragenkomplex lassen sich auf diese
grundlegend idealistische Befangenheit seines Standpunktes zurückführen.
Die Entstehung, Ausbildung und Entfaltung der menschlichen Tätigkeiten
kann nur in Wechselbeziehung mit der Entwicklung der Arbeit, mit der Er¬
oberung der Umwelt des Menschen, mit der Umgestaltung des Menschen
selbst durch sie verstanden werden. Wir haben bereits die Prinzipien der
hieraus erwachsenden Wechselbeziehungen kurz skizziert, wobei sichtbar
wurde, daß heute sogar Anthropologen und Psychologen, die vom Marxis¬
mus unberührt geblieben sind, ja ihn ablehnen, diese den Menschen verwan¬
delnde Funktion der Arbeit in steigendem Maße anerkennen müssen, wenn
sie auch - gerade infolge dieser ihrer Stellung zum Marxismus - nicht fähig
sind, diesen Komplex in seiner historisch beweglichen Totalität vollständig
zu erfassen. Hier genügt es also darauf hinzuweisen, daß Marx diese Auf¬
fassung der Menschwerdung, der menschlichen Höherbildung des Menschen
bis zur gegenwärtigen Stufe auch in bezug auf das Ästhetische ausdrücklich

1 Hamann: a. a. O. S. 65.
Vergleiche darüber mein Buch »Der junge Hegel und die Probleme der kapitalisti¬
schen Gesellschaft«, Berlin 1954, S. 389 ff.
3 Marx: ökonomisch-philosophische Manuscripte, a. a. O. III S. 157.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 127

hervorhebt. Er führt z. B. in bezug auf Musik folgendes aus: »Andererseits


und subjektiv gefaßt: Wie erst die Musik den musikalischen Sinn des Men¬
schen erweckt, wie für das unmusikalische Ohr die sdiönste Musik keinen
Sinn hat, kein Gegenstand ist, weil mein Gegenstand nur die Bestätigung
einer meiner Wesenskräfte sein kann, also nur so für mich sein kann, wie
meine Wesenskraft als subjektive Fähigkeit für sich ist, weil der Sinn eines
Gegenstandes für mich (nur Sinn für einen ihm entsprechenden Sinn hat)
gerade so weit geht, als mein Sinn geht, darum sind die Sinne des gesell¬
schaftlichen Menschen andre Sinne wie die des ungesellschaftlichen; erst durch
den gegenständlich entfalteten Reichtum des mensdilichen Wesens wird der
Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches
Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschlicher
Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich betäti¬
gen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. Denn nicht nur die 5 Sinne, son¬
dern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille,
Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der
Sinne wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durdi die vermensch¬
lichte Natur. Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisheri¬
gen Weltgeschichte. Der unter dem rohen praktisdien Bedürfnis befangene
Sinn hat auch nur einen bornierten Sinn. Für den ausgehungerten Menschen
existiert nicht die menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes
Dasein als Speise: ebenso könnte sie in rohester Form vorliegen, und es ist
nicht zu sagen, wodurch sich diese Nahrungstätigkeit von der tierischen
Nahrungstätigkeit unterscheide . . . also die Vergegenständlichung des mensch¬
lichen Wesens, sowohl in theoretischer als praktischer Hinsicht gehörte dazu,
sowohl um den Sinn des Menschen menschlich zu machen, als um für den
ganzen Reichtum des mensdilichen und natürlichen Wesens entsprechenden
menschlichen Sinn zu schaffen L«
Wir haben die Darlegungen von Marx vor allem darum so ausführlich ange¬
führt, weil sie eine unmißverständlich klare Stellungnahme zu unserem ge¬
genwärtigen Problem, zur gesellschaftlich-geschiditlidien Entwicklung der
menschlichen Sinne und Denktätigkeiten enthalten und damit eine klare
Position gegen jede Auffassung von dem »ursprünglichen«, »ewigen« etc.
Kunstsinn des Menschen beziehen. Sie zeigen, daß alle diese Fähigkeiten
und die ihnen entsprechenden Gegenstände erst allmählich, historisch ent-

1 Ebd. S. 120.
228 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

standen sind. Und zwar - und dies ist ein sehr wichtiger Unterschied zur
wissenschaftlichen Widerspiegelung - muß besonders unterstrichen werden,
daß nicht nur die Empfänglichkeit, sondern auch ihre Gegenstände selbst
Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung sind. Die Gegenstände der Natur
existieren an sich, unabhängig vom menschlichen Bewußtsein, von seiner ge¬
sellschaftlichen Entwicklung; die das Bewußtsein umformende Tätigkeit der
letzteren ist allerdings notwendig, damit sie erkannt, in der wissenschaft¬
lichen Widerspiegelung aus an sich seienden Gegenständen in für uns seiende
verwandelt werden. Musik, Architektur etc. entstehen aber - auch objektiv -
erst im Laufe dieses Prozesses. Ihre Wechselbeziehung zum produzierenden
und aufnehmenden Bewußtsein muß also auch anderen Züge zeigen, als jene,
die bloß zum Für-uns-Machen des An-sich-Seienden bestimmt sind. Die wis¬
senschaftliche Erkenntnis der Gesellschaft hat zwar ebenfalls ein gesellschaft¬
lich entstandenes Objekt, wenn es aber einmal entstanden ist, hat es ebenso
einen An-sich-Charakter, wie die Gegenstände der Natur. Wie verschieden
immer ihre gegenständliche Struktur, die Gesetzlichkeiten ihrer Wirksamkeit
von denen der Natur sein mögen, ihre wissenschaftliche Widerspiegelung
geht ebenfalls den geraden Weg vom Ansich zum Füruns. Daß hier eine reine
Form der Objektivität weit schwerer zu erreichen ist, daß die Abweichung
von dieser ebenfalls von der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt ist,
ändert an dieser Lage nichts wesentliches. Der Marxismus hebt hier beide
Seiten, die identische wie die verschiedene mit gleichen Nachdruck hervor.
Einerseits zeigt die ganze Methodologie der gesellschaftswissenschaftlichen
Schriften von Marx, daß sie ihre Gegenstände als vollständig unabhängig vom
menschlichen Bewußtsein funktionierenden Prozesse auffaßt. Andererseits
weist Marx - unter Berufung auf Vico - darauf hin, daß »die Menschen¬
geschichte sich dadurch von der Naturgeschidite unterscheidet, daß wir die eine
gemacht, die andere nicht gemacht haben« L Soweit die Produkte der künstleri¬
schen Tätigkeit rein als Produkte dieser Entwicklung betrachtet werden, was
zweifellos den Tatsachen entspricht, d. h. so weit sie ausschließlich als Teile des
gesellschaftlichen Seins der Menschen betrachtet werden, gelten für die wissen¬
schaftliche Widerspiegelung dieses Seins dieselben Gesetzlichkeiten, auf die wir
eben hingewiesen haben.
Innerhalb dieses gesellschaftlichen Seins, für sich betrachtet, zeigen sie jedoch
ganz neue und eigenartige Züge, deren Herausarbeiten gerade die Haupt-

1 Marx: Kapital, Band I. a. a. O. S. 336.


Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 229

aufgabe dieser Betrachtungen sein wird. Diese jetzt aufzuzählen hieße Ge¬
dankengänge abstrakt vorwegzunehmen, die nur konkret, nur im richtigen
theoretischen und historischen Zusammenhang wirklich sinnvoll erfaßt wer¬
den können. Wir können hier nur - vorwegnehmend - darauf hinweisen, daß
die Wechselbeziehungen zwischen Objektivität und Subjektivität zum ge¬
genständlichen Wesen der Kunstwerke gehören. Nicht auf die Wirkung auf
X oder Y kommt es an, sondern auf die gegenständliche Struktur des Kunst¬
werks als so oder so Wirkendes. Was auf jedem anderen Gebiet des mensch¬
lichen Lebens ein philosophischer Idealismus wäre, nämlich daß kein Objekt
ohne Subjekt existieren könne, ist im Ästhetisdien ein Wesenszug seiner spe¬
zifischen Gegenständlichkeit. (Natürlich existiert der in der Skulptur bearbei¬
tete Marmorblock als Stück Marmor ebenso unabhängig von jedem Bewußt¬
sein, wie vor seiner Bearbeitung, wie jedes Objekt in der Natur oder in der
Gesellschaft. Erst durch die bildhauerische Arbeit und ausschließlich in bezug
auf sie besteht die von uns angezeigte und später ausführlich zu behandelnde
Subjekt-Objekt-Beziehung.)
Die von uns angeführten Darlegungen von Marx erhellen gerade diese spezi¬
fische Gegenständlichkeit des ästhetischen Gebiets; seine spezifische Wechsel¬
wirkung mit der Entstehung einer ästhetisdien Subjektivität. Im Gegensatz
zum bürgerlichen Historismus, der höchstens eine gesdiichtliche Entwicklung
der menschlichen Intelligenz anerkennt, hebt Marx mit großem Nachdruck
hervor, daß gerade die Entwicklung unserer fünf Sinne ein Ergebnis der
ganzen bisherigen Weltgeschichte sei. Diese Entwicklung umfaßt natürlich -
und das ist als Grundlage der Marxschen Betrachtungen klar ersichtlich -
viel mehr als die Entfaltung einer Empfänglidikeit für die Kunst. Gerade das
Beispiel vom Essen zeigt, daß es sich vorerst um elementare Lebensäußerun¬
gen handelt, deren objektive wie subjektive Höherbildung gleicherweise
Produkt der Entwicklung der Arbeit ist. Das ist kein gradliniger Fortgang;
Marx’ Beispiele zeigen, wie die Produktionsverhältnisse, die gesellschaftliche
Arbeitsteilung auch auf höheren Stufen Hindernisse der richtigen subjektiven
Beziehungen zu den Objekten werden können. Die Entstehungsgeschichte der
Kunst, sowohl des produktiven Sinnes, wie der künstlerischen Empfänglich¬
keit kann also nur in diesem Rahmen, in dem der Weltgeschichte der fünf
Sinne, behandelt werden. Damit wird aber das ganze ästhetisdie Prinzip zu
einem Ergebnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der Mensch¬
heit.
Man sieht aus alledem, daß von einem ursprünglichen Vermögen der Mensch¬
heit zur Kunst keine Rede sein kann. Dieses Vermögen hat sich - wie alle
230 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

anderen Fähigkeiten des Menschen - allmählich historisch ausgebildet. Jetzt,


nadi einer langen kulturellen Entwicklung, läßt es sich schon nicht mehr
auch aus dem anthropologischen Bild des Menschen wegdenken. Jedoch der
Bruch mit dem philosophischen Idealismus besteht unter anderem auch darin:
heute selbstverständlich, »naturhaft« gewordene Eigenheiten des Menschen
nicht zu abstrakten, überhistorischen Wesenheiten aufzubauschen.
Die Belehrung für uns in den Ausführungen von Marx geht also über diese
einfache Anerkennung der radikalen Historizität der Kunst, der künstleri¬
schen Empfänglichkeit etc., weit hinaus. Indem Marx diese Wechselbeziehung
zwischen den menschlichen Sinnen und ihren Gegenständen ausarbeitet, ver¬
gißt er nicht, uns darauf aufmerksam zu machen, daß die untereinander
qualitativ verschiedenen Sinne qualitativ verschiedenen Beziehungen (und
darum auch Wechselbeziehungen) zu der Welt der Gegenstände haben müssen.
»Dem Auge«, sagt Marx, »wird ein Gegenstand anders als dem Ohr und
der Gegenstand des Auges ist ein anderer als der des Ohrs h«- Das Faktum
selbst wird niemand leugnen. Man muß aber daraus die notwendigen Konse¬
quenzen ziehen. Und diese konzentrieren sich um das Problem, daß die Ent¬
stehungspunkte und -quellen der Kunst notwendig verschiedene sein müssen.
Auch hier werden vom philosophischen Idealismus in der Ästhetik alle Zu¬
sammenhänge auf den Kopf gestellt. Es scheint für diesen so, als ob das ein¬
heitliche, »ursprüngliche« (apriorische), ästhetische Prinzip sich in ein System
der Künste begrifflich differenzieren und sich so systematisieren würde, wäh¬
rend in der Wirklichkeit aus qualitativ verschiedenen Beziehungen zu ihr,
denen einerseits eine einheitliche objektive Wirklichkeit, andererseits quali¬
tativ verschiedene Empfänglichkeitsorgane und deren gesellschaftlich-ge¬
schichtliche Entwicklungen zugrunde liegen, verschiedene künstlerische Tätig¬
keiten, Gegenständlichkeiten, Empfänglichkeiten etc. entspringen. Daß diese
dann infolge der Einheitlichkeit der objektiven Wirklichkeit, sowie infolge
ihrer gesellschaftlichen Grundlagen, Funktionen etc. historisch so stark kon¬
vergieren, daß ihre entscheidend gemeinsamen Prinzipien als allgemein ästhe¬
tische erfaßt werden können, ändert nichts an diesem Tatbestand. Wir
stehen der philosophischen Begreifbarkeit der Genesis der Kunst hilflos
gegenüber, wenn wir nicht von den oben beschriebenen Tatsachen ausgehen.
Diese Frage ist auch in der idealistischen Kunstphilosophie zuweilen aufge¬
taucht, jedoch auch hier mit den typischen Verzerrungen eines dialektischen

1 Marx: ökonomisch-philosophische Manuscripte, a. a. O. III S. 119.


Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 231

Problems ins Metaphysische. Der zeitweilig in der deutschen Ästhetik sehr


einflußreiche Konrad Fiedler schreibt in der Vorbemerkung zu seinem Haupt¬
werk »Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit«: »Da es nicht eine
Kunst im allgemeinen, sondern nur Künste gibt, so kann die Frage nach dem
Ursprung des künstlerischen Vermögens auch nur auf dem Sondergebiet
einer bestimmten Kunst aufgeworfen werden1.« Fiedler läßt hier die Frage
offen, ob die Ergebnisse seiner Forschung Schlüsse auf andere Gebiete ge¬
statten; die Art seiner Behandlung weist aber darauf hin, daß er diese Mög¬
lichkeit verneint. Er vollzieht hier zwei Abstraktionen, die wegen ihrer
idealistisch-antidialektischen Wesensart das Problem verwirren und unlösbar
machen, besser gesagt: es in die Richtung einer Scheinlösung drängen. Erstens
bestreitet er die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit durch unsere
Sinne und durch unser Denken; er sieht darin ein zu überwindendes Vor¬
urteil: »Im gewöhnlichen Leben, und nicht nur da, sondern auch auf zahl¬
reichen Gebieten höherer geistiger Tätigkeit, beruhigt man sich dabei, daß
gegenständlichen Beziehungen eben Gegenstände in der Wirklichkeit ent¬
sprechen . . . 2« Es kommt also bei Fiedler nicht auf die Außenwelt, nicht auf
die Wechselwirkung dieser mit unserem Sinnesorgan an, sondern ausschlie߬
lich auf die reine Subjektivität: »Sobald man aber den Widersinn einsieht, der
darin liegt, etwas in der Außenwelt suchen zu wollen, was man nicht zunächst
in sich selbst gefunden hat. . . 3« Fiedlers konkrete Polemik richtet sich hier
gegen die notwendige Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks für das
Konkrete an den Erscheinungen. Mag er hier stellenweise Teilmomente nicht
ganz unrichtig bemängeln, er übersieht dabei vollständig den unendlichen
Annäherungsprozeß der Sprache an die immer adäquatere Widerspiegelung
der Wirklichkeit und damit die komplizierte dialektische Wechselwirkung
zwischen Objektwelt und der sie zu erfassen und zu beherrschen bestrebten
Subjektivität. Dadurch wird der Ausdruck nicht nur subjektiviert, sondern
auch fetischisiert. Die Sprache, sagt Fiedler, bedeutet nicht ein Sein (wider¬
spiegelt nicht das Sein), sondern ist ein Sinn: »Und da das, was in der sprach¬
lichen Form zur Entstehung gelangt, außerhalb dieser Form überhaupt nicht
vorhanden ist, so kann die Sprache auch immer nur sich selbst bedeuten 4.«

1 K. Fiedler: Schriften über Kunst, München 1913, Band I, S. 183.


2 Ebd. S. 201.
3 Ebd.
4 Ebd. S. 20J.
232 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

Da Fiedler diese Betrachtungen dazu braucht, um dem visuellen Ausdruck


dem sprachlichen schroff, übergangslos und ausschließend gegenüberzusetzen,
beinhaltet diese Isolierung und Fetischisierung der letzteren auch die der
ersteren.
Zweitens - und in engster Beziehung zum bisher Ausgeführten - versucht
Fiedler die Visualität als Grundlage der bildenden Kunst so streng wie mög¬
lich von der Widerspiegelung der Wirklichkeit durch andere Sinne, sowie
durch Denken, Empfinden etc. abzugrenzen und für die bildende Kunst (bei
Fiedler weniger für die Kunst als für die ebenfalls isolierte künstlerische
Tätigkeit) eine isolierte Welt der reinen Sichtbarkeit aufzufinden. Vor allem
wird diese Trennung und Isolierung in bezug auf den Tastsinn vollzogen.
Fiedler fordert ein schroffes Wegwerfen von allem, was angeblich durch sol¬
che Vermittlungen dem Menschen bewußt werden könne. Wird diese Iso¬
lierung vom Menschen vollzogen, so meint Fiedler: »Er befindet sich dem¬
gegenüber, was er Wirklichkeit zu nennen gewohnt ist, in einer sehr ver¬
änderten Stellung; alles körperlich Feste ist ihm entzogen, da es eben nichts
Sichtbares ist, und der alleinige Stoff, in dem sich sein Wirklichkeitsbewußt¬
sein gestalten kann, sind die Licht- und Farbempfindungen, die er seinem
Auge verdankt. Das ganze ungeheure Reich der sichtbaren Welt enthüllt sich
ihm nun angewiesen in seinem Bestand auf den zartesten, gleichsam unkörper¬
lichsten Stoff, in seinen Formen auf die Bildungen, zu denen der Einzelne
jenen Stoff zusammenwebt1.« Wir sehen hier sowohl den extremen Subjek¬
tivismus Fiedlers, indem das so entstehende visuelle Bild nicht eine vom
Subjekt vollzogene Verarbeitung, Synthese etc. der von dem Sinne wider¬
spiegelten objektiven Wirklichkeit ist, sondern im Geiste der Kantschen Er¬
kenntnistheorie das Produkt einer »reinen« Tätigkeit des Subjekts, wie auch
die Reduktion der visuellen Widerspiegelung auf das, was Fiedler eben als
reine (gereinigte) Visualität auffaßt. In bezug auf das Letztere genügt es, um
den extrem antidialektischen Gesichtspunkt Fiedlers klarzulegen, auf unsere
früheren Darlegungen über die - durdi die Arbeit entstandene - Arbeits¬
teilung der Sinne hinzuweisen. Visualität und Tastsinn sind nämlich nur vom
Standpunkt einer vorkantischen und kantischen »rationalen Psychologie«
voneinander metaphysisch getrennt. Die Bedeutung der Arbeit besteht in
dieser Hinsicht - schon auf einem alltäglichen, bei weitem noch nicht ästhe¬
tischen Niveau - gerade darin, daß das Auge Funktionen des Tastsinns weit-

1 Ebd. S. 2jj f.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 233

gehend übernimmt. Dadurch werden Eigensdiaften, wie Schwere, Stofflich¬


keit etc. eben visuell wahrgenommen, werden organische Bestandteile der
visuellen Art der Widerspiegelung der Wirklichkeit. Daß die künstlerische
Tätigkeit diese in der Arbeit entstandenen Tendenzen qualitativ steigert und
weiterbildet, versteht sich von selbst. Dadurdi entsteht die Universalität, der
weltumfassende Charakter des künstlerisdren Sehens und Gestaltens, wäh¬
rend Fiedler zum theoretischen Herold der gegenständlichen und ideellen
Verarmung der bildenden Künste geworden ist. Denn es ist klar, daß Fiedler
hier die Grenzen noch sdrroffer zieht; er verlangt, »daß wir auf alles Be¬
wußtsein eines Umfassenden und Allgemeinen verzichten müssen . . .« x, um
»auch nur annäherungsweise« die rein visuelle Anschauungsart des Künstleri¬
schen nacherleben zu können.
Die dialektisch-materialistische Auffassung muß mit beiden metaphysischen
Extremen, sowohl mit der apriorischen Ableitung der einzelnen Künste aus
einer angeblich ursprünglichen Quelle, aus dem »Wesen« des Menschen, wie
mit ihrer starren Isolierung voneinander gleicherweise brechen, um das wirk¬
liche Phänomen des Ästhetischen in seinem Werden und Wesen richtig zu
erfassen. Wenn wir also in der philosophischen Behandlung der Genesis der
Kunst von einer Vielheit der realen Ursprünge ausgehen und die Einheit des
Ästhetischen, des Gemeinsamen in dieser Vielheit als ein Ergebnis des gesell¬
schaftlich-geschichtlichen Entwicklung betrachten, so kommen wir zu einer
völlig anderen Auffassung, sowohl in bezug auf die Einheit des Ästhetischen,
wie in bezug auf die Differenzierung, der Selbständigkeit der einzelnen
Künste (und innerhalb ihres Bereichs der Genre) als die idealistische Philo¬
sophie.
Was vor allem die Einheit betrifft, so haben wir unsere entschiedene Ab¬
lehnung eines jeden apriorischen Prinzips bereits ausgesprochen. Engels hebt
diesen Grundsatz des dialektischen Materialismus richtig hervor: »Die allge¬
meinen Resultate der Untersuchung der Welt kommen am Ende dieser Unter¬
suchung heraus, sind also nicht Prinzipien, Ausgangspunkte, sondern Resul¬
tate, Abschlüsse1 2.« In unserem Fall gilt dieser Grundsatz in gesteigerter
Weise. Denn Engels denkt in der hier zitierten Stelle vor allem an die all¬
gemeinen Probleme der Naturwissenschaften, wo die von dem menschlichen
Bewußtsein zu entdeckenden Prinzipien an sich schon längst existierten und

1 Ebd. S. 307 auch 361 f. etc.


2 Engels: Vorarbeiten zum Anti-Dühring, a. a. O. S. 394.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben
234

wirksam waren, bevor das Denken ihre Zusammenhänge, Einheit etc., wider¬
zuspiegeln, auszulegen, zu systematisieren imstande gewesen wäre. Die
Nachträglichkeit des Prinzips liegt aber in unserem Fall nicht nur im Für-
uns, sondern auch im Ansich selbst: die Einheitlichkeit des Prinzip entsteht
im Ästhetischen allmählich, gesellschaftlich-geschichtlich, kann also natur¬
gemäß nur, den real entstandenen Stufen der Einheit entsprechend, nachträg¬
lich als solche erkannt werden.
Diese Tatsache selbst weist bereits auf einige Probleme des Gehalts hin. Schei¬
nen auch Sinne, Empfänglichkeiten etc. einander gegenüber heterogen zu sein
und sind es auch in ihrer Unmittelbarkeit, so können sie doch nicht, wie Kant
und Kantianer vom Typus Fiedler sich vorstellen, hermetisch voneinander
abgesondert werden. Sie sind stets Sinne etc. eines ganzen Menschen, der mit
seinesgleichen in einer Gesellschaft lebt, dessen elementarste Lebensäußerun¬
gen sich in dieser Gesellschaft abspielen und darum tief gemeinschaftliche
Elemente und Tendenzen mit diesen anderen Menschen haben müssen. Die
Arbeitsteilung der Sinne, die Erleichterung und Vervollkommnung der Arbeit
durch sie, die wechselseitige Beziehung eines jeden Sinnes mit der anderen
durch diese immer differenziertere Zusammenarbeit, die zunehmende Erobe¬
rung der äußeren und inneren Welt der Menschen infolge derartiger sub¬
tiler Kooperationen, die Ausbreitung und Vertiefung des Weltbildes als ihre
Folge: all dies schafft einerseits die sachlichen und seelischen Voraussetzungen
für das Entstehen und die Entwicklung der verschiedenen Künste; andererseits,
sobald sie geboren wurden, in jeder die Tendenz, sowohl die eigenen imma¬
nenten Eigenschaften immer eigenartiger auszubilden, wie ihnen eine solche
Universalität, Umfassungskraft zu verleihen, die - unbeschadet der Selbstän¬
digkeit einer jeden einzelnen Kunst - das allen Gemeinsame, das Medium des
Ästhetischen allmählich ausbildet.
Die beiden Tendenzen verbindet eine widerspruchsvolle Einheit, die Einheit
eines Widerspruchs: die simultane Einheit und Differenziertheit des in einer
Gesellschaft wirkenden ganzen Menschen, der seine Reaktionen auf Natur
und Gesellschaft, innerhalb der eigenen Subjektivität immer energischer ver¬
feinert und spezialisiert, die so spezialisierte innere Arbeitsteilung jedoch
stets auf die eigene Gesamtpersönlichkeit rückbezieht und diese dadurch um¬
fassender und reicher macht. Diese etwas umständliche Bestimmung ist auch
notwendig, um unsere Auffassung möglichst scharf von allen Theorien
abzugrenzen, die die volle und ausgebildete Persönlichkeit des Menschen
bloß als Kennzeichen primitiver Stadien betrachten und sie durch die un¬
aufhaltsam fortschreitende Arbeitsteilung als gefährdet, ja als vernichtet
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 235

ansehen. Daß insbesondere die kapitalistisdie Arbeitsteilung oft auch Ver¬


krüppelungen der Persönlichkeit durch allzu starke Differenzierungen hervor¬
ruft, ist natürlich eine Tatsache. Daß aber - im Maßstab der Entwiddung des
Menschengeschlechts - die von uns angedeutete Tendenz sich durdisetzt, ha¬
ben wir in Anlehnung an Ausführungen von Marx über Ricardo an anderer
Stelle gezeigt.
Alles bisher Ausgeführte bezieht sich noch nidit direkt auf die Kunst als
solche. Alle diese Erscheinungen treten in der Entwicklungsgeschichte der
Menschheit längst deutlich zutage, bevor das ästhetische Prinzip seine Selb¬
ständigkeit offenbart. (In der Entwicklung des einzelnen Individuums treten
diese allgemeinen Tendenzen oft ebenfalls auf, bevor es sich auf das Ästhe¬
tische besinnt. Die Wiederholung der Entwicklung des Menschengeschlechts
in der des Individuums ist jedoch keine mechanische Kopie oder Abbreviatur.
Die Tatsache der Existenz und der allgemeinen Wirkung der Kunstwerke
bedeutet viel mehr als eine bloße Abkürzung eines solchen Prozesses.) Das
spezifisch Ästhetische setzt einerseits, wie bereits aufgeführt, objektiv und
subjektiv eine relative Höhe in der Entfaltung dieser Tendenz voraus, löst
sich jedoch andererseits vom hier geschilderten allgemeinen Fonds langsam als
selbständige gesellschaftlich-menschliche Ausdrucksweise ab, da es objektiv wie
subjektiv in jeder einzelnen Äußerung einen - freilich relativen, tendenz¬
artigen - totalen Charakter, eine Intention auf Ganzheit besitzt.
Die Grundlage der Einheit solcher Tendenzen kann nur in der Materialität,
im Substrat ihres Seins liegen. Das ist natürlich das oberste allgemeine Gesetz
für jede wirkliche (nicht bloß subjektiv ausgeklügelte) Einheit. Was Engels
über die Einheit der Welt sagt1, gilt auch für ihre Teile, für alle verschiede¬
nen Weisen, diese vermittels Widerspiegelung durch das menschliche Bewußt¬
sein zu bewältigen. So auch für die Kunst. Ihre besondere Art erhebt sidi
über die generellen Formen der Bewältigung der Wirklichkeit im Alltags¬
leben dadurch, daß das materielle Substrat der menschlichen Existenz und
Tätigkeit die Gesellschaft in ihrem »Stoffwechsel mit der Natur« (Marx) ist;
die - letzten Endes - ungetrennt und doch sinnfällig, in realer Bezogenheit
auf den ganzen Menschen widerspiegelt wird. Der Ausdrude »letzten Endes«
muß besonders hervorgehoben werden. Denn einerseits spiegelt die künstle¬
rische Reproduktion der Wirklichkeit im allgemeinen unmittelbar zumeist
die jeweiligen Produktionsverhältnisse einer bestimmten Gesellschaft, am

1 Engels: Antidühring, a. a. O. S. 48.


236 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

unmittelbarsten die aus ihnen herauswachsenden gesellschaftlichen Beziehungen


der Menschen zueinander. Erst als deren Grund - also: letzten Endes - er¬
scheint auch die Widerspiegelung des Stoffwechsels der Gesellschaft mit der
Natur. Je stärker dieser extensiv wie intensiv wird, desto ausgeprägter er¬
scheint in der Kunst die Widerspiegelung der Natur selbst. Sie ist nicht An¬
fang, sondern im Gegenteil das Produkt einer höchstentwickelten Stufe dieses
Stoffwechsels. Andererseits ist aber die Widerspiegelung des Stoffwechsels
der Gesellschaft mit der Natur das abschließende, wirkliche letzthinnige
Objekt der ästhetischen Widerfpiegelung. An sich ist in diesem Stoff¬
wechsel gerade die Beziehung eines jeden Individuums zur Menschengattung
und zu ihrer Entwicklung enthalten. Dieser implicite Inhalt wird nun in
der Kunst explizit, das oft verborgene Ansich erscheint als ein plastisches
Fürsichsein.
Das ist natürlich - bis zu einem gewissen Grad in einer elementaren, sponta¬
nen Weise - auch im Alltagsleben, vor allem in der Arbeit der Fall. Diese ist
ohne eine solche Einheit in der doppelten Bezogenheit auf die vom Menschen
unabhängig existierende Natur und gleichzeitig auf den Menschen, mit seinen
gesellschaftlich entstandenen Zielsetzungen, mit seinen gesellschaftlich aus¬
gebildeten Fähigkeiten etc., unvorstellbar. Hier entsteht ja materiell dieser
Stoffwechsel. In der Arbeit selbst ist jedoch diese Einheit zugleich permanent
wirksam und wird ununterbrochen gekündigt; d. h. die subjektive und die
objektive Komponente erhalten je eine - relativ - selbständige Wirksamkeit,
werden - relativ - selbständig weitergebildet, freilich in ununterbrochenen
Wechselwirkungen. Die Weiterbildung der subjektiven Komponente scheint
ohne weiteres verständlich; die der objektiven der Natur in ihrem Stoff¬
wechsel mit der Gesellschaft, besteht dann, daß dieser Stoffwechsel immer
neue Seiten, neue Eigenschaften, neue Gesetzlichkeiten etc. der Natur für den
Menschen offenbar macht und so die Natur extensiv wie intensiv immer
stärker in diesen Stoffwechsel mit der Gesellschaft einbezieht. Das Kündigen
der Einheit bedeutet also, daß die einer bestimmten Entwicklungsstufe ver¬
lassen wird, um durch eine andere, kompliziertere, weitervermittelte, höher-
organisierte abgelöst zu werden. Dieser Prozeß steht jedoch mit der unmittel¬
bar und scheinbar von innen bewegten Entwicklung der subjektiven Kompo¬
nente in engster Wechselwirkung. Die Beziehung der Menschen zueinander,
ihr unmittelbares, wie oft weit vermitteltes, gesellschaftliches Zusammenwir¬
ken in Arbeit und Leben muß sich im Laufe des extensiven und intensiven
Wachsens des Stoffwechsels der Gesellschaft mit der Natur, den Bedürfnissen
dieses Wachstums entsprechend, ebenfalls umbilden. Das Kündigen der -
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 237

jeweiligen - Einheit ist also immer ein Moment und zwar ein bewegendes
Moment dieser Einheit selbst.
Die wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, wie es sich von
selbst versteht, ein wichtiges Moment dieser dialektischen Bewegung; so weit
sie darauf gerichtet ist, diesen Prozeß selbst gedanklidi zu erfassen, muß sie
die hier wirksamen Kategorien in ihren wirklichen objektiven Proportionen,
in ihrer wahren Beweglichkeit zu erfassen versuchen. Die ästhetische Wider¬
spiegelung muß hier andere Wege gehen. Erstens richtet sich die erstere bei
weitem nicht immer - unmittelbar - auf diesen Prozeß des Stoffwechsels
selbst. So sehr er - letzten Endes - die Entwicklung der wissenschaftlichen
Widerspiegelung der Wirklichkeit bestimmt, geht diese, je höher sie sich ent¬
faltet, auch auf eigenen Wegen, die oft nur nach sehr weiten Vermittlungen
hier wieder einmünden. Die künstlerische Widerspiegelung hat dagegen stets
die Gesellschaft in ihrem Stoffwechsel mit der Natur zur Basis und kann die
Natur nur auf dieser Grundlage mit ihren eigenen Mitteln erfassen und
gestalten. So unmittelbar die Beziehung des Künstlers (und des Rezeptiven
der sein Werk genießt) zur Natur zu sein scheint, so weit und kompliziert
ist sie objektiv vermittelt. Freilich ist diese Unmittelbarkeit, über welche
später in konkreteren Zusammenhängen noch ausführlich gesprochen werden
muß, doch kein bloßer Schein, wenigstens kein trügerischer. Diese Unmittel¬
barkeit ist ein intensiver Bestandteil der zur Gestalt gewordenen ästhetischen
Widerspiegelung, des Kunstwerks, eine ästhetische Unmittelbarkeit sui
generis. Damit ist aber die oben festgestellte objektive Vermitteltheit weder
geleugnet, noch aufgehoben. Es handelt sich hier um eine der wesentlichen,
fundamentalen und künstlerisch fruchtbaren inneren Widersprüchlichkeiten
der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Zweitens hat aber dieser
unmittelbar unlösbare Zusammenhang der ästhetischen Widerspiegelung mit
ihrer Seinsbasis eine eigenartige Inhaltlichkeit und Struktur des reflektierten
und gestalteten Objekts zur Folge. Die wissenschaftliche Widerspiegelung
muß, so sehr sie sich auch oft auf Einzelprobleme beschränken mag, stets
bestrebt sein, der extensiven wie intensiven Totalität der allgemeinen Be¬
stimmungen ihres jeweiligen Objekts nach Möglichkeit nahezukommen. Die
ästhetische Widerspiegelung richtet sich dagegen unmittelbar immer nur auf
ein partikulares Objekt. Diese unmittelbare Partikularität steigert sich noch
dadurch, daß jede Kunst - und in der unmittelbaren ästhetischen Realität gibt
es nur einzelne Künste, ja einzelne Kunstwerke, und ihre ästhetische Gemein¬
samkeit ist nur begrifflich, nicht unmittelbar künstlerisch erfaßbar-die objek¬
tive Wirklichkeit nur in ihrem eigenen Medium (Visualität, Wort etc.) wider-
23S Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

zuspiegeln imstande ist. Natürlich strömen Inhalte der gesamten Wirk¬


lichkeit in dieses Medium ein, und werden davon seiner eigenen Gesetzlich¬
keit gemäß künstlerisch verarbeitet; das Wie dieses Problems haben wir bereits
bei Behandlung der Arbeitsteilung der Sinne gestreift und werden darauf
noch ausführlidi zurückkommen. Aber auch in anderer Hinsicht kann das
Objekt der ästhetischen Widerspiegelung kein allgemeines sein: die ästhe¬
tische Verallgemeinerung ist die Erhöhung der Einzelheit ins Typische, nicht,
wie in der wissenschaftlidien, die Aufdeckung des Zusammenhangs zwischen
Einzelfall und allgemeiner Gesetzlichkeit. Das bedeutet für unser gegen¬
wärtiges Problem, daß im Kunstwerk die extensive Totalität seines letzt-
hinnigen Objekts nie direkt erscheinen kann; es wird nur durch Vermittlun¬
gen - und diese werden von der evokativen ästhetischen Unmittelbarkeit in
Bewegung gesetzt - in seiner intensiven Totalität zum Ausdruck kommen.
Daraus folgt weiter, daß die wirkliche Basis, die Gesellschaft in ihrem Stoff¬
wechsel mit der Natur, die der gesamten Widerspiegelung zugrunde liegt,
nur in der eben angedeuteten, vermittelt-unmittelbaren Weise in Erscheinung
treten kann. Ob dabei die Unmittelbarkeit eines Naturstückes (wie in der
Landschaftsmalerei) oder eines rein innermenschlichen Geschehens (wie im
Drama) das konkrete Objekt der Gestaltung wird, zeigt sich diese Wesensart
in gleicher Weise, denn in beiden Fällen ist die letzte Grundlage die gleiche,
nur das Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund, von klar Ausgespro¬
chenem und bloß Angedeutetem etc. verändert sich, bzw. kehrt sich um.
All dies zeigt, daß die entfaltete ästhetische Widerspiegelung, gerade in bezug
auf die Basis ihres Einheitsprinzips, der Gesellschaft im Stoffwechsel mit der
Natur, bereits weit entfernt von der Erscheinungsweise dieser Grundlage im
Alltag, vor allem in der Arbeit ist. In erster Linie fällt das früher erwähnte
Kündigen und Wiederherstellen der fundamentalen Einheit in dieser weg.
Und zwar vor allem deshalb, weil diese Wesensart der Arbeit aufs engste in
ihrer Wechselbeziehung mit der wissenschaftlichen Widerspiegelung begründet
ist L Freilich tritt diese Tendenz der Arbeit in voller Klarheit erst auf ihren

Hier zeigt sich, worauf schon hingewiesen wurde, daß der eigentliche scharfe
Gegensatz zwischen Kunst und Arbeit erst im Kunstwerk selbst zum klaren Aus¬
druck gelangt. Der künstlerische Schaffensprozeß hat mannigfaltige Berührungs¬
punkte sowohl mit der Arbeit selbst, wie mit der wissenschaftlichen Widerspiege-
lung der Wirklichkeit. Letztere ist ein una.ufhebba.res Moment dieses Prozesses.
Konkret können die hier auftauchenden Probleme erst im zweiten Teil, in der
Analyse der ästhetischen Verhaltensarten untersucht werden.
V orf ragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 239

entwickeltesten Stufen hervor, wenn die sich aus ihr herausbildende Wissen¬
schaft bereits eine völlig selbständige Gestalt erringt und auf sie zurückwirkt.
Dann werden die desanthropomorphisierenden Kräfte der wissensdia'ftlichen
Widerspiegelung der Wirklichkeit auf beide Komponenten der Arbeit wirk¬
sam: ihre sowohl getrennte wie auf die Wechselbeziehung bezogene wissen¬
schaftliche Analyse bezweckt das jeweils sachlich erreichbare Optimum an
Auswirkung, am Zurgeltungkommen des Objektes an sich, soweit wie mög¬
lich unabhängig gemacht von den besonderen Eigenschaften, Fähigkeiten etc.
der an der Arbeit beteiligten Menschen. Der Stoffwechsel zwischen Gesell¬
schaft und Natur liegt zwar allen diesen Analysen der Arbeit an sich zu¬
grunde, bestimmt ihre Entwickeltheit und ihre Richtung, ihre Methode und
ihre Ergebnisse, aber an ihren subjektiven Reflexen ist diese Bezogenheit
immer weniger unmittelbar ersichtlich. Das Zurückweichen der Naturschranke
wirkt sich notwendig in solcher Weise aus. Diese Struktur erscheint ganz
deutlich nur auf hochentwickelten Stufen, obwohl die Tendenz zu einer
solchen Desanthropomorphisierung mit der Arbeit selbst spontan, unbewußt
einsetzt. Sie wird jedoch auf weiten Strecken von anderen Tendenzen gekreuzt
und überdeckt. Unter diesen spielt nun die künstlerische zeitweilig eine her¬
vorragende Rolle. Wenn man beide Tendenzen gedanklich voneinander scharf
absondern will, stößt man oft auf nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten. So
decken die in der Arbeit wirksamen künstlerischen Tendenzen oft bis dahin
unbekannte Eigenschaften des Ansich auf, fördern die Arbeitsfähigkeiten (Be¬
herrschen des Materials, Verfeinern der Werkzeuge und ihrer Handhabung etc.)
ebenso wie die auf Wissenschaftlichkeit gerichteten. Ja beide können in der
Beziehung eines bewußten Bündnisses stehen, so z. B. in der Renaissance.
Trotzdem bleibt begrifflich die Scheidung zwischen Arbeit und Kunst doch
notwendig und möglich, aber man kann sie bloß aus den Objektivationen
selbst und nicht aus deren bewußtseinsmäßigen Reflexen ablesen. Die
Scheidungslinie verläuft - auf primitiver Anfangsstufe etwa bei Schmuck des
Menschen selbst, Verzierung der Werkzeuge etc. - dort, wo die unmittelbare
Nützlichkeit aufhört. Während die Entfaltung der desanthropomorphisieren¬
den Widerspiegelung immer vermitteltere Nutzbarkeiten einschaltet und da¬
mit den unmittelbaren Nutzeffekt der Arbeit erhöht, repräsentieren die
ästhetischen Elemente einen Überschuß, der nichts zum effektiven, faktischen
Nutzen der Arbeit beiträgt. (Wir kommen später darauf zu sprechen, eine wie
große Rolle der eingebildete Nutzen, entsprungen aus magischen Vorstellun¬
gen in Entstehen und Entwicklung der Kunstgebilde spielt; gerade damit wird
aber der objektive ästhetische Charakter der Gegenstände oder Verrichtungen
240
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

verdeckt.) Schon darum ist das relativ späte Auftreten des Ästnetischen der
Arbeit gegenüber erklärlich: es setzt nicht nur sachlich eine bestimmte Höhe
der Technik, sondern audi eine bestimmte durch die Erhöhung der Produk¬
tivkräfte der Arbeit herbeigeführte Muße für das Schaffen des »Über¬
flüssigen« voraus.
Fassen wir das erste - ästhetisch keineswegs eindeutige - Auftreten eines mit
dem Künstlerischen verwandten Prinzips als das Herstellen eines Arbeits¬
produkts, das ganz oder in gewisser Hinsicht nicht vom materiellen Nutzen
bestimmt wird, so ist es schon auf dieser Stufe klar, daß dieses unmöglich
auf einer desanthropomorphisierende Widerspiegelung der Wirklichkeit basie¬
ren kann. Der primitivste Nutzeffekt setzt bereits ein System von Vermitt¬
lungen in Gang, das die Bezogenheit auf den Menschen suspendiert, um seine
Zwecke effektiver verwirklichen zu können. Eine derartige Suspension findet
hier nicht statt. Natürlich muß auch diese Feststellung dialektisch verstanden
werden. Die künstlerische Tätigkeit bewahrt, nicht nur in Architektur, Plastik
oder Kunstgewerbe, bestimmte Züge der einfachen Arbeit selbst und des mit
ihr verbundenen Erforschens der objektiven Wirklichkeit, und soweit dieses
Moment wirksam ist, findet auch die Suspension notwendig statt. Und über
dieses Moment im subjektiven Hervorbringen der Kunstwerke hinaus bleibt
das Moment der Nützlichkeit eine unaufhebbare Grundlage mancher Künste,
so daß sie auch rein ästhetisch nicht zur Erfüllung gelangen können, wenn
sie nicht gleichzeitig die Zielsetzungen der praktischen Nützlichkeit verwirk¬
lichen. Je mehr sich jedoch die künstlerische Tätigkeit als solche konstituiert,
desto mehr werden solche desanthropomorphisierenden Momente zu auf¬
gehobenen Momenten; desto mehr werden sie bloße Mittel, um Zwecke grund¬
legend anderer Art zu realisieren.
Dieser Gegensatz im Prozeß des Hervorbringens und im subjektiven Ver¬
halten der Beteiligten läßt sich - ganz allgemein - am einfachsten als der von
»Bewußtsein über ...« und »Selbstbewußtsein von ...« ausdrücken. Das
Wort Selbstbewußtsein hat im Alltagsgebrauch eine zwiefache Bedeutung,
aber merkwürdigerweise ist gerade dieser Doppelsinn dazu geeignet, das hier
Gemeinte zu verdeutlichen. Es bedeutet nämlich einerseits die Festigkeit, das
sichere Auf-den-Füßen-Stehen des Menschen innerhalb seiner konkreten Um¬
welt, andererseits das Erhellen eines Bewußtseins (und des ihm zugrunde
liegenden Seins) durch die auf es selbst gerichtete eigene Geisteskraft. Es ist
eine sehr späte und das Wesen des Phänomens völlig verdunkelnde Auffas¬
sung, im Selbstbewußtsein etwas rein Innerliches, von der Welt Abstrahieren¬
des, nur auf das Subjekt Bezogenes zu erblicken. Gerade die von uns
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 241

angegebene erste, sicherlich auch ältere Bedeutung, ist ohne Beziehung auf
eine konkrete Umwelt überhaupt undenkbar. Und es ist ebenso klar, daß
Selbstbewußtsein auch im zweiten Sinne sich nur dann wirklich entwickeln
kann, wenn die subjektive, auf sich selbst bezogene Spiegelung die Inhalte
einer konkreten Umwelt, so komplett wie möglich, umfaßt. Schon Goethe
hat gegen den Begriff des Selbstbewußtseins im Sinne des »Erkenne Dich
selbst« wiederholt Stellung genommen. Seine Ausführungen in einem Ge¬
spräch mit Eckermann illustrieren sehr gut unsere Fassung des Selbstbewußt¬
seins: »Man hat zu allen Zeiten gesagt und wiederholt, man solle trachten,
sich selber zu kennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand
genügt hat, und der eigentlich auch niemand genügen soll. Der Mensch ist mit
allen seinen Sinnen und Trachten aufs Äußere angewiesen, auf die Welt um
ihn her, und er hat zu tun, diese insoweit zu kennen, und sich insoweit dienst¬
bar zu machen, als er es zu seinen Zwecken bedarf. Von sich selber weiß er
bloß, wenn er genießt oder leidet, und so wird er auch bloß durch Leiden und
Freuden über sich belehrt, was er zu suchen oder zu meiden hat h«
Goethe geht natürlich in dieser Polemik weniger vom künstlerischen Verhal¬
ten, das bei ihm ganz spontan ein der Welt zugewandtes ist, als vom Alltags¬
leben aus. Er spricht dies an einer anderen Stelle sehr deutlich aus: »Nehmen
wir sodann das bedeutende Wort vor: Erkenne dich selbst, so müssen wir es
nicht im asketischen Sinne auslegen. Es ist keineswegs die Heautognosie unse¬
rer modernen Hypochondristen, Humoristen und Heautontimorumenen da¬
mit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: Gib einigermaßen acht auf dich
selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du gewahr werdest, wie du zu
deinesgleichen und der Welt zu stehen kommst. Hierzu bedarf es keiner
psychologischen Quälereien; jeder tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es
heißen soll; es ist ein guter Rat, der einem jeden praktisch zum größten Vor¬
teil gedeiht 1 2.« Trotz dieser schroffen Ablehnung der einseitigen Wendung
nach innen, ist auch in der Goetheschen Beschreibung dieses Verhalten im
Alltagsleben die Bezogenheit auf das Subjekt, auf den wirklichen, den ganzen
Menschen deutlich sichtbar. Im Alltagsleben ist aber dieses Selbstbewußtsein
ebenso auf die unmittelbare Praxis bezogen, wie das - sich allmählich des-
anthropomorphisierende - Bewußtsein über die Außenwelt. Wir haben nun
in großen Zügen verfolgt, wie letzteres sich von der unmittelbaren Praxis

1 Goethes Gespräche mit Eckermann, 10. April 1829.


2 Goethe: Maximen und Reflexionen, a. a. O., Band IV, S. 236 f.
242 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

ablöst, eine eigene Gestalt gewinnt, eigene Methoden ausbildet, allerdings


um durch weite und verzweigte Vermittlungen die unmittelbare Praxis zu
beeinflussen, umzugestalten, auf ein höheres Niveau zu heben.
Die Entstehung des Ästhetischen ist ein ähnliches Sich-Ablösen des Selbst¬
bewußtseins von der Alltagspraxis, wie die des »Bewußtseins über...« in
dem Selbständigwerden der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit. Es ist nach allem bisher Ausgeführten klar, daß diese Ablösung keine
Aufhebung der anthropomorphisierenden Widerspiegelung ist, sondern bloß
eine eigenartige, selbständige, qualitativ andere Abart innerhalb ihres Be¬
reiches. Freilich - und darin liegt objektiv wie subjektiv (auch für das nach-
träglidie Begreifen) eine der größten Schwierigkeiten der Ablösung des
Ästhetischen vom Fonds des Alltagslebens - ist die anthropomorphisierende
Tendenz eine derart generelle, daß einzig und allein die wissenschaftliche
Widerspiegelung der Wirklichkeit einen radikalen Bruch mit ihr vollzieht.
»Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist« - sagt
Goethe fl
Anthropomorphisierend ist die Spontaneität des Alltagslebens, anthropo-
morphisierend ist auch, wie bereits ausgeführt, die Religion. Die philoso¬
phische Darstellung dieses sehr komplizierten Ablösungsprozesses wird der
Hauptgegenstand unserer späteren Ausführungen sein. Ihre Konkretheit und
Systematik kann also hier unmöglich vorweggenommen werden; ein trocke¬
nes Inhaltsverzeichnis der wesentlichen Gesichtspunkte, Momente, Etap¬
pen etc. würde deshalb in diesem Stadium unserer Einsicht eher Verwirrung
als Aufklärung stiften. Wir wollen nur — soweit wie möglich später zu Kon¬
kretisierendes vorwegnehmend - auf unseren eben bestimmten Begriff des
Selbstbewußtseins hinweisen. Sein Objekt ist, wie ebenfalls bereits angedeu¬
tet, die konkrete Umwelt des Menschen, die Gesellschaft (der Mensch in der
Gesellschaft), der Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur, freilidi ver¬
mittelt durch die Produktionsverhältnisse; all dies wird aber erlebt vom Stand¬
punkt des ganzen Menschen. D. h. hinter jeder künstlerischen Tätigkeit steckt
die Frage: wie weit ist diese Welt wirklich eine Welt des Menschen, die er als
seine eigene, als seinem Menschtum angemessene zu bejahen imstande ist?
(Spätere, konkretere Analysen werden zeigen, daß sowohl Schmuck oder
Ornamentik, wie sogar eine bittere, scharfe Kritik der Umwelt dieser Bestim¬
mung nicht widersprechen, ja sie dialektisch vertiefen und konkretisieren.)

1 Ebd. S. 210.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 243

Bis zu einem gewissen Grad ähnliche Tendenzen sind natürlich sowohl im


Alltag wie in der Religion auffindbar. Im Alltag treten sie als spontane
Bedürfnisse auf, die das Leben entweder befriedigt oder versagt. Verständ¬
licherweise, denn die unaufhebbare Zufälligkeit eines jeden Alltagslebens, die
Zufälligkeitseiner aus der eigenen Partikularität entspringenden Wünsche, etc.
kann nur zufällig Erfüllungen zulassen, obwohl es - objektiv-gesellschaft¬
lich für den Durchschnitt der Fälle - natürlich kein Zufall ist, welche Art der
subjektiven Bedürfnisse in einem konkreten Gesellschaftszustand in einer
bestimmten Klassenlage erfüllt werden kann oder unerfüllt bleiben muß.
(Die objektive Erkenntnis solcher allgemeinen Möglichkeiten, eines solchen
Spielraums der Wunscherfüllung, hebt selbstverständlich jene Zufälligkeit
nicht auf, die bei jedem partikularen Individuum wirksam wird.) Im
Alltag sind dementsprechend Wünsche und Erfüllungen auf das jeweilige
Individuum zentriert; d. h. sie entstehen einerseits aus seiner realen und
partikularen individuellen Existenz, andererseits sind sie auf eine reale, prak¬
tische Erfüllung konkreter, persönlicher Wünsche gerichtet. Ohne Frage er¬
wächst die künstlerische Gestaltung ursprünglich aus diesem Boden. Der
Schmuck des Menschen, sei es selbständiger Gegenstand oder Bemalen des
eigenen Körpers, der primitive Tanz, Gesang etc. der magischen Periode ist
der wirklichen Intention nach auf das persönliche Begehren eines konkreten
Menschen oder eines ebenso bestimmten Kollektivs, in weldiem jeder Mensch
am Gelingen unmittelbar persönlich interessiert ist, begründet. Der magische,
der religiöse Anthropomorphismus behält nur diese Gebundenheit der - wirk¬
lichen oder eingebildeten - Erfüllung an das Begehren des Individuums als
Individuum oder als Mitglied eines konkreten Kollektives fest. Daß die Er¬
füllung - zuweilen, nicht immer, besonders auf primitiver Stufe - einen jensei¬
tigen Charakter erhält, ändert an dieser Struktur nichts Wesentliches; denn
sogar die viel spätere Zielsetzung, das Heil der Seele im Jenseits ist an die
partikulare Person, gerade in ihrer Partikularität gebunden.
Es folgt nun naturgemäß aus dieser Struktur, daß das Zur-Kunstwerden von
Gegenständen, Verrichtungen, Aktionen, etc. nur unbewußt (im von uns
früher angegebenen Sinn) erfolgen kann. Es entsteht dabei eine besondere
Art der Verallgemeinerung und zugleich eine besondere Art der Gegenständ¬
lichkeit, die solche Produkte vom Alltag, von der Magie und Religion ob¬
jektiv abheben; auch in solchen Fällen, in denen Schaffender wie Rezeptiver
subjektiv ehrlich tief überzeugt sind, auf dem Boden des Alltags, der Magie
oder der Religion zu stehen. Die später konkret auszuführendes abstrakt
vorwegnehmende Art unserer gegenwärtigen Behandlung dieser Frage
244
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

gestattet nur sehr allgemeinbleibende Andeutungen. Die Verallgemeinerung


besteht - im strikten Gegensatz zum Desanthropomorphisieren der Wissen¬
schaft - darin, daß das künstlerisch Geformte sich von der bloß partikularen
Individualität und damit von der praktisch-faktischen Erfüllung des Bedürf¬
nisses, sei dieses nun diesseitig oder jenseitig, befreit, ohne jedoch den
Charakter der individuellen und unmittelbaren Erlebtheit zu verlieren. Ja,
diese Verallgemeinerung hat gerade die Tendenz, eben diese Wesensart zu
verstärken und zu vertiefen. Sie betont nämlich - bei Bewahrung der Indivi¬
dualität im Gegenstand und in dessen Aufnahme - das Gattungsmäßige und
hebt auf diese Weise die bloße Partikularität auf. Dadurch wird zugleich die
Bezogenheit des Objekts auf die Gesellschaft und deren Stoffwechsel mit der
Natur - ohne eine begriffliche Fassung zu erhalten - weitaus deutlicher, als
dies im Alltagsleben möglich ist. Dadurch wird zugleich auch die Bestimmung
des Selbstbewußtseins auf ein höheres Niveau gehoben: indem der in der
Sphäre des Ästhetischen befindliche Mensch - der Schaffende ebenso wie der
Rezeptive - auf das Gattungsmäßige reflektiert, und zwar sowohl bezüglich
des Objekts wie des Subjekts, hebt sich das Selbstbewußtsein aus der engen
und partikularen Sphäre des bloß Alltagshaften heraus und gewinnt eine
Allgemeinheit, die freilich eine ganz andere ist, als die desanthropomorphi-
sierend-wissenschaftliche. Es ist eine sinnlich-sinnfällige Verallgemeinerung
des ganzen Menschen, dem bewußt ein anthropomorphisierendes Prinzip zu¬
grunde liegt.
Die später ausführlich zu behandelnde Widersprüchlichkeit in dieser Verall¬
gemeinerung hat zur notwendigen Folge, daß das Erfüllen der Bedürfnisse,
der Wünsche, der Sehnsucht etc. seinen faktisch-praktischen Charakter ver¬
lieren muß. Es gibt - vom Standpunkt der unmittelbaren Faktizität des
Alltags gesehen - eine rein fiktive Erfüllung; besser gesagt: das Erlebnis der
Erfüllung in einem typischen Fall, losgelöst von der ihm im Leben selbst
entsprechenden faktischen Realität. Hier entsteht die - scheinbare - Nähe
zwischen Kunst und Religion. Die von dieser verkündete und geschilderte Erfül¬
lung kann nämlich, ebenfalls im Sinne der Realität des Lebens, höchstens das
suggestive, Erlebnisse erweckende Vordemonstrieren einer zukünftigen (jen¬
seitigen) Erfüllung sein. (Der Unterschied von Magie und Religion liegt in
dieser Hinsicht darin, daß jene die Erfüllung alltäglich-praktischer Wünsche
unternimmt, während in dieser, wenigstens der Regel nach, die Erfüllung
eine jenseitige, nicht auf einzelne Zielsetzungen, sondern auf das Schicksal des
ganzen Menschen orientierte ist; diesseitig erscheint bloß der subjektive Reflex
der transzendenten Erfüllung, so z. B. die Heilssicherheit im Calvinismus.
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 245

Natürlich leben in vielen Religionen magische Überreste als Glauben an


diesseitig partikulare Bedürfnisbefriedigungen weiter.) Die Verwandtschaft
erscheint als eine noch nähere dadurch, daß das hier zugrunde liegende
Prinzip ebenfalls nur ein anthropomorphisierendes sein kann. Es ist kein
Wunder, daß jahrtausendelang Kunstwerke im Glauben entstanden sind und
genossen wurden, als dienten sie bloß zur sinnlichen Verdeutlichung solcher
religiöser Erfüllungsinhalte.
Jedoch der Unterschied, ja der Gegensatz ist hier innerhalb des Anthropo-
morphisierens ebenso ausgeprägt, wie jener, den wir früher zwischen dem
Anthropomorphisieren der Religion und dem Desanthropomorphisieren der
Wissenschaft festgestellt haben. Hier konzentriert sich die Gegensätzlichkeit
auf die Bestimmung des »fiktiven« Charakters der Erfüllungsobjekte in
Kunst, bzw. in Religion. Den allgemeinen Gegensatz in bezug auf Realität
der Objekte haben wir bereits kurz behandelt und zwar gerade daraufhin,
daß der »fiktive« Charakter der Kunst stets radikal zuendegeführt wird,
während in der Religion dieses »Fiktive« stets mit dem Anspruch auftritt,
eine transzendente, wahrere Wirklichkeit als die des Alltagslebens zu sein.
Die konkreten Probleme, die aus dieser Lage entspringen, können erst später
auf entwickelterer Stufe unserer Darlegungen erörtert werden.
Nur auf eine Frage muß schon hier - ebenfalls späteres vorwegnehmend -
hingewiesen werden: auf die prinzipielle Diesseitigkeit der Kunst, auf ihren
wesentlichen, wertbetonten, irdisch-menschlichen Charakter. Dies ist natürlich
im Sinne der Objektivität gemeint, als objektiver Sinn der ästhetisch gestal¬
teten Wirklichkeit. Subjektiv mag vom Schaffenden eine Transzendenz ge¬
meint, vom Rezeptiven eine solche aufgenommen sein, und es ist durchaus
möglich, daß der - in dem gesellschaftlich-menschlichen Wesen der Kunst
fundierte - objektive Sinn des Künstlers sich erst nach Jahrhunderten, ja
Jahrtausenden durchsetzt. Denn der Verzicht des Kunstgebildes, Wirklich¬
keit zu sein, involviert objektiv eine Ablehnung der Transzendenz, der Jen¬
seitigkeit; es schafft spezifische Formen der zu bearbeitenden Widerspiegelung
der Wirklichkeit, die aus dieser entspringen, die wirkend in diese zurück¬
kehren. Sogar wenn sie über die Faktizität der in der Alltagspraxis unmittel¬
bar gegebenen Wirklichkeit hinauszugehen scheinen, tun sie es - in dieser
Hinsicht ebenso wie die wissenschaftliche Widerspiegelung - um diese wieder
zu erfassen, sie ihrer spezifischen Eigenart entsprechend besser zu beherrschen,
als dies die Alltagspraxis und ihre unmittelbare Subjektivität zu tun imstande
ist. Die Kunst ist also ebenso diesseitig wie die Wissenschaft; sie ist die
Widerspiegelung derselben Wirklichkeit, wie die wissenschaftliche. Das hier
246 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

notgedrungen nur sehr allgemein Behauptete wird später ausführlich dar¬


gelegt und bewiesen werden. Das hindert natürlich nicht, daß beide sonst
in den entscheidenden Fragen der Widerspiegelung entgegengesetzte Rich¬
tungen einschlagen. Den Weg zur Desanthropomorphisierung in der wissen¬
schaftlichen Widerspiegelung haben wir bereits skizziert. Die Aufgabe der
folgenden Betrachtungen wird sein, die spezifische Eigenart der ästhetischen,
anthropomorphisierenden Widerspiegelung herauszuarbeiten, und zwar so¬
wohl in bezug auf -die in den Kunstwerken ästhetisch reflektierte Wirklich¬
keit (die Gesellschaft in ihrem Stoffwechsel mit der Natur), wie in bezug auf
die durch diese Art der Widerspiegelung im Menschen herausgebildeten neuen
Fähigkeiten, die sich, wie wir zu zeigen versuchen werden, um die Aus¬
bildung des Selbstbewußtseins im oben angegebenen Sinn gruppieren.
Sind nun durch solche Bestimmungen die allerallgemeinsten Umrisse des
Ästhetischen klargelegt, so muß schon jetzt hinzugefügt werden, daß die
anthropomorphisierende ästhetische Widerspiegelung naturgemäß niemals
den unmittelbaren Kontakt mit der sinnlichen Aperzeption der Welt ver¬
lieren darf, wenn sie ästhetisch bleiben soll; ihre Verallgemeinerungen ver¬
wirklichen sich innerhalb der menschlichen Sinnlichkeit, ja wir werden sehen,
daß sie in bestimmter Weise eine Steigerung der sinnlichen Unmittelbarkeit
mit sich führen müssen, um den Prozeß der Verallgemeinerung ästhetisch
erfolgreich durchführen zu können. Eine Analogie zur Rolle der Mathematik
in den Wissenschaften kann es im Ästhetischen nicht geben. Daraus folgt auch
eine prinzipiell andere Art der Differenzierung in Gattungen und Arten, wie
m der Wissenschaft. In dieser bestimmt die an sich seiende Beschaffenheit des
Objekts die Differenzierung in verschiedene Wissenschaften (Physik, Biologie
etc.). Die anthropomorphisierende Art der ästhetischen Widerspiegelung hat
ihrerseits zur Folge, daß die Differenzierung in Arten und Unterarten
(Künste, Genre) an die Möglichkeit der Ausbildung der menschlichen Sinne
- dies natürlich im weitesten Sinne verstanden - gebunden ist. So sehr wir
gegen die mechanische Verselbständigung der einzelnen Sinne, wie bei Fiedler,
Stellung nehmen mußten, so sehr wir später nachweisen werden, daß die
ästhetische Ausbildung jedes einzelnen Sinnes in die Richtung der universel¬
len Widerspiegelung der Wirklichkeit geht, so entschieden muß schon hier
betont werden, daß diese Bewältigung der Wirklichkeit durch die ästhetisch
gewordene Widerspiegelung sich bei jedem Sinn selbständig, relativ unab¬
hängig von den anderen entfaltet. Das universale Prinzip in der ästhetischen
Subjektivität, das für uns als Resultat eines jahrtausendelangen Entwicklungs¬
prozesses selbstverständlich erscheint, ist auch seinem Wesen nach eben doch
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 247

Resultat. Es bereichert und vertieft sich durch die Wechselwirkung der von
den verschiedenen Künsten bereicherten und vertieften Sinne, Gefühle und
Gedanken. Aber die Voraussetzung für eine solche befruchtende Wechsel¬
beziehung war und bleibt die Selbständigkeit der einzelnen Künste und
Genres, die Selbständigkeit in der Ausbildung der einzelnen Sinne zur Uni¬
versalität. Das ästhetische Prinzip, die ästhetische Einheit der verschiedenen
Typen der ästhetischen Widerspiegelung ist also Endergebnis eines langen
Entwicklungsprozesses, und die selbständige Genesis der verschiedenen Arten
und Unterarten der Kunst, der ihnen entsprechenden ästhetischen Subjektivi¬
tät in Produktion und Rezeption ist viel mehr als eine bloß historische Tat¬
sache: sie wurzelt, wie wir später sehen werden, tief im Wesen der ästheti¬
schen Widerspiegelung der Wirklichkeit, ohne ihre Berücksichtigung verzerrt
sich das Wesen des Ästhetischen selbst.
Dabei mußten wir um der ersten Klarheit willen diese Differenzierung ein¬
facher darstellen als sie in Wirklichkeit ist. Es wäre nämlich eine Simplifikation
zu meinen, daß jedem menschlichen Sinn nur eine Kunst entsprechen kann. Es
genügt, wenn wir auf die weitgehende innere Heterogeneität der visuellen
Künste, Architektur, Plastik, Malerei etc. hinweisen. Natürlich bestehen
auch hier von Anfang an und im Laufe der Entwicklung immer intimer ein-
zreifende, tiefer und wesentlicher wirkende Wechselbeziehungen. Wir berufen
uns bloß auf das Eindringen der malerischen Anschauungen in Plastik und
Architektur unter bestimmten historischen Umständen.
Die so entstehende Lage kompliziert sich noch dadurch, daß die ästhetische
Widerspiegelung der Wirklichkeit in einem qualitativ anderen Sinne histo¬
risch, ort- und zeitgebunden ist als die wissenschaftliche. Daß jede Subjek¬
tivität gesellschaftlich-geschichtlichen Charakters ist, ist eine Selbstverständ¬
lichkeit und hat auch nicht unwesentliche Folgen in der Geschichte der Wis¬
senschaft. Jedoch die objektive Wahrheit einer wissenschaftlichen Aussage
hängt ausschließlich von ihrer - annähernden - Übereinstimmung mit jenem
Ansich, das sie in ein Füruns verwandelt, ab. Die Wahrheitsfrage hat demge¬
mäß hier mit den Problemen der Genesis nichts zu tun. Diese kann freilich
eine Erklärung dafür bieten, wie und warum die Annäherungsversuche der
wissenschaftlichen Widerspiegelung an die objektive Wirklichkeit unter be¬
stimmten gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen unvollständig sein mu߬
ten oder mehr oder weniger vollständig sein konnten. Ganz anders ist die
Lage für die Kunst. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, daß der
fundamentale Gegenstand der ästhetischen Widerspiegelung die Gesellschaft
in ihrem Stoffwechsel mit der Natur ist. Hier liegt natürlich ebenso eine vom
248 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

Bewußtsein des Individuums und der Gesellschaft unabhängig existierende


Wirklichkeit vor, wie im Ansich der Natur, es ist jedoch eine Wirklichkeit,
in welcher der Mensch notwendig immer gegenwärtig ist. Und zwar sowohl
als Objekt, wie als Subjekt. Die ästhetische Widerspiegelung vollzieht, wie
schon betont, stets eine Verallgemeinerung. Deren höchste Stufe ist jedoch das
Menschengeschlecht, das Typische für seine Höherentwicklung. Aber es er¬
scheint doch nie in einer abstrahierenden Form. Die tiefe Lebenswahrheit der
ästhetischen Widerspiegelung beruht nicht in letzter Linie darauf, daß sie
zwar immer auf das Schicksal der Menschengattung abzielt, diese aber nie
von den sie bildenden Individuen abtrennt, aus ihr nie eine von dieser un¬
abhängig existierenden Entität machen will. Die ästhetische Widerspiege¬
lung zeigt die Menschheit stets in der Form von Individuen und individu¬
ellen Schicksalen. Ihre Eigenart, von der später sehr ausführlich die Rede
sein wird, drückt sich gerade darin aus, wie diese Individuen einerseits eine
sinnliche Unmittelbarkeit besitzen, die sich von der des Alltagslebens durch
Steigerung beider Momente unterscheidet, wie ihnen andererseits - ohne diese
Unmittelbarkeit aufzuheben — die Typik der Menschengattung innewohnt.
Schon daraus folgt weiter, daß die ästhetische Widerspiegelung niemals ein
einfaches Reproduzieren der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit sein kann.
Ihre Bearbeitung beschränkt sich aber nicht auf die unerläßliche Auswahl des
Wesentlichen in den Phänomenen (das muß auch die wissenschaftliche Wider-
spiegelung der Natur besorgen), sondern im Akt der Widerspiegelung selbst
ist von ihr unabtrennbarerweise das Moment der positiven oder negativen
Stellungnahme zum ästhetisch reflektierten Objekt mitenthalten.
Es wäre aber grundfalsch in dieser elementaren, nur auf relativ späten Stufen
bewußt gewordenen unvermeidlichen Parteinahme der Kunst ein Element
des Subjektivismus oder gar eine subjektivistische Zutat zur objektiven Re¬
produktion der Wirklichkeit zu erblicken. In jeder anderen Widerspiegelung
der Wirklichkeit ist ein solcher Dualismus, der in der richtigen Praxis über¬
wunden werden muß, mitenthalten. Nur im Ästhetischen involviert das
fundamentale Objekt (die Gesellschaft im Stoffwechsel mit der Natur) in
Bezogenheit auf ein - das Selbstbewußtsein herausarbeitendes - Subjekt die
untrennbare Simultaneität von Reproduktion und Stellungnahme, von Ob¬
jektivität und Parteinahme. Das simultane Gesetztsein dieser beiden Momente
macht die unauflösbare Historizität eines jeden Kunstwerks aus. Es fixiert
nicht einfach einen an sich seienden Tatbestand, wie die Wissenschaft, sondern
verewigt ein Moment der geschichtlichen Entwicklung des Menschen¬
geschlechts. Das Erhaltenbleiben der Individualität in der Typik, der Partei-
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 249

nähme in der objektiven Tatsache etc. stellen die Momente dieser Historizität
dar. Die künstlerische Wahrheit ist also als Wahrheit eine historische; ihre
richtige Genesis ist in Konvergenz mit ihrer wahren Geltung, da diese nichts
weiter ist, als das Aufdecken und Sinnfälligmachen, zur Erlebbarkeit Erhöhen
eines Moments der Menschheitsentwicklung, das inhaltlich und formell ver¬
dient, so festgehalten zu werden.
Es wird in den folgenden Betrachtungen konkret zu zeigen sein, daß diese
enge Verschlungenheit von Subjektivität und Objektivität, die aus dem
anthropomorphisierenden Wesen, aus Objekt und Subjekt der ästhetischen
Widerspiegelung folgt, die Objektivität der Kunstwerke nicht zerstört, im
Gegenteil gerade ihre spezifische Eigenart erst begründet. Ebenso wird zu
zeigen sein, daß die Entstehung des Ästhetischen aus verschiedenen, ja auch
unmittelbar heterogenen Quellen nicht zu einem Zerfallen seiner prinzipiel¬
len Einheit, sondern zu seiner allmählichen Konstitution als konkrete Ein¬
heit führt.
Die Einheit muß natürlich auch hier dialektisch gefaßt werden. Hegel nennt
die Einheit der Wissenschaften einen »Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne
Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in
den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist. Bruch¬
stücke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften, deren jede ein Vor und
ein Nach hat, - oder genauer gesprochen, nur das Vor hat und in ihrem
Schlüsse selbst ihr Nach zeigt1.« Diese Struktur des Kreises aus Kreisen ist
im Gebiet des Ästhetischen noch ausgeprägter vorhanden. Infolge seines
Objekts, das schon von vornherein, schon bevor es zum Gegenstand der Kunst
wurde, eine Bearbeitung durch die Tätigkeit des Menschengeschlechts in sich
aufweist; infolge seines Subjekts, dessen Funktion weit darüber hinausgeht,
das vom Bewußtsein unabhängige Ansich in möglichst treuer Annäherung
als ein bewußtseinsmäßiges Füruns zu spiegeln, das vielmehr jedem Element
des Objekts (von seiner Ganzheit gar nicht zu reden) eine Bezogenheit auf
sich einprägt und im ganzen wie in allen Teilen seine Stellungnahme zu ihm
zur Geltung bringt: erhält jede Kunstgattung, ja letzten Endes ein jedes
Kunstwerk eine - relativ - selbständige Existenz, auf welche das Hegelsche
»Vor« und »Nach« nur mit sehr komplizierten Vermittlungen und Trans¬
positionen anwendbar ist. (Über die sich hieraus ergebenden Probleme wird
später noch oft und ausführlich die Rede sein.)

1 Hegel: Wissenschaft der Logik, a. a. O, Band V, S. 341.


25° Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

Während also die Differenzierung der wissenschaftlichen Widerspiegelung


der Wirklichkeit in die verschiedenen Einzelwissenschaften dem Wesen nach
vom Objekt aus bestimmt ist, spielt in der Entstehung der einzelnen Künste,
der einzelnen Genres auch das subjektive Moment eine ausschlaggebende Rolle.
Natürlich nicht die bloß partikulare Willkür des einzelnen Subjekts. Die
Kunst ist in allen ihren Phasen ein gesellschaftliches Phänomen. Ihr Objekt
ist die Grundlage der gesellschaftlichen Existenz der Menschen: die Gesell¬
schaft im Stoffwechsel der Natur, natürlich vermittelt durch die Produktions¬
verhältnisse, der durch diese bedingten Beziehungen der Menschen unterein¬
ander. Ein solches gesellschaftlich allgemeines Objekt kann unmöglich von
einer in der bloßen Partikularität beharrenden Subjektivität angemessen
gespiegelt werden; um hier ein Niveau der annähernden Adäquatheit zu
erzielen, muß das ästhetische Subjekt in sich die Momente einer menschheit-
lichen Verallgemeinerung, der Gattungsmäßigkeit ausbilden. Ästhetisch kann
es sich jedoch nicht um den abstrakten Begriff der Gattung handeln, sondern
um konkrete, sinnliche, individuelle Menschen, in deren Charakter und
Schicksal die jeweiligen Eigenschaften und die eben erreichte Entwicklungs¬
höhe der Gattung konkret und sinnlich, individuell und immanent enthalten
sind. Daraus erwächst das Problem des Typischen als eine der Zentralfragen
der Ästhetik, die uns später oft und ausführlich beschäftigen wird. Die Dif¬
ferenzierung des Ästhetischen in einzelnen Künsten und Genres, besser gesagt,
die Synthese im Ästhetischen solcher Künste und Genres, kann sich also nur
aus der Dialektik dieses Subjekt-Objekt-Verhältnisses herausbilden: nur
wenn eine bestimmte Verhaltensart der Menschengattung zur Gesellschaft
und darin zum Stoffwechsel mit der Natur einen dauernd und wesentlich
typischen Charakter besitzt oder erlangt, kann sich eine Kunst (ein Genre)
herausbilden und sich als solches erhalten.
Dieses Problem ist, wie aus dem bisher Dargelegten klar hervorgeht, primär
eine Frage des Inhalts, des ästhetischen Gehalts. Da jedoch — was ebenfalls
aus diesen Betrachtungen folgt — die ästhetische Form nicht von solcher All¬
gemeinheit ist, daß sie eine Vielheit von Inhalten gleicherweise umfassen
könnte und müßte, wie in der Wissenschaft, in welcher die einmalige, mit
dem partikularen Inhalt eng verbundene Form als die zu überwindende
Unmittelbarkeit gilt, sondern gerade dadurch ästhetisch wird, daß sie stets
als die spezifische Form eines bestimmten Inhalts erscheint, muß die Eigenart
der verschiedenen Künste und Genre auch als Formfrage behandelt werden.
Die Aufgabe wird dabei sein, aufzudecken, wie aus der ästhetischen Wider¬
spiegelung wesentlich ähnlicher Subjekt-Objekt-Beziehungen im oben ange-
Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben 251

gebenen Sinn, Formen entstehen, die als solche in aller historischen und indi¬
viduellen Varietät doch - gerade als wesentliche Formen - eine gewisse
Konstanz zeigen. Diese Frage ist deshalb zugleich eine prinzipiell ästhetische
und eine unüberwindbar historische. Nicht nur weil, infolge unserer Bestim¬
mung der Form, jedes echte Kunstwerk auch die allgemeine Form - ein¬
malig - neuschafft; nicht nur weil die großen Wendungen der gesellschaft¬
lichen Entwicklung qualitativ neue Typen auch innerhalb desselben Genres
hervorbringen (griechisches, englisches, französisches, spanisches etc. Drama);
nicht nur weil die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung einzelne Genres
radikal umgestaltet (der Roman als bürgerliche Epopöe); - dies allein würde
bloß zu einem radikalen historischen Relativismus führen - sondern, weil
die Probleme der historischen Wandlung in ihrer Wirkung auf die Kunst un¬
verstanden bleiben würden, wenn das Bleibende an den Formen nicht aus
dem Wesen der ästhetischen Widerspiegelung, also aus dem Grundprinzip
des Ästhetischen zu begreifen und abzuleiten wäre. Die richtige Lösung dieser
Frage, die in den Ästhetiken als System der Künste aufzutauchen pflegt, kann
also nur auf der simultanen Grundlage der dialektisch-materialistischen Er¬
klärung des Ästhetischen überhaupt und der historisch-materialistischen Ge¬
setze seiner geschichtlichen Wandlungen in ihrer Spezifikation befriedigend
erhellt werden.
Schon diese allgemeinen, vorläufig ziemlich abstrakt bleibenden Bemerkungen
zeigen, daß das Problem eines »Systems der Künste« in eine neue Beleuchtung
rückt. Es kann sich weder um eine Deduktion aus dem Prinzip des Ästhetischen
handeln, noch um ein empiristisches Aneinanderreihen der vorhandenen
Künste; vielmehr im Gegenteil um eine historisch-systematische Betrachtungs¬
weise. Diese verzichtet auf jede »symmetrische« Anordnung der Künste und
Genres, jedoch ohne damit ihre theoretische Fundamentierung aufzugeben. Sie
läßt die Möglichkeit des historischen Absterbens einzelner Genres, sowie des
historischen Entstehens neuer offen; wieder: ohne in beiden Fällen sich bloß
auf das Gesellschaftlich-Geschichtliche zu beschränken, ohne auf die theore¬
tische Ableitung zu verzichten. Dabei zeigen bereits unsere bisherigen Be¬
trachtungen, daß es sich nicht um eine einfach nachträgliche Synthese zweier
an sich getrennter Gesichtspunkte handelt, daß vielmehr jede dialektisch¬
materialistische Analyse auf Probleme des historischen Materialismus stößt
und vice versa. Es handelt sich bei jeder Einzelbetrachtung nur um die Prä-
ponderanz des einen oder des anderen Gesichtspunkts.
So konnte hier nur der methodologische Ort und die Methode der Lösung dieser
Fragen angedeutet werden. Die Ableitung der Formen aus den wiederkehren-
252 Vorfragen der Loslösung der Kunst vom Alltagsleben

den, ständigen und relativ stabilen Momenten der Widerspiegelung hat als
erster Lenin formuliert. In Anschluß an Hegels tiefe Feststellung, daß den
logischen Schlußformen eine objektive Wirklichkeit entspricht, schreibt er:
»Für Hegel ist das Handeln, die Praxis, ein logischer »Schluß«, eine Figur der
Logik. Und das ist wahr! Natürlich nicht in dem Sinne, daß die Figur der
Logik ihr Anderssein in der Praxis des Menschen hätte (= absoluter Idea¬
lismus), sondern daß vice versa die Praxis des Menschen sich dadurch, daß
sie sich milliardenmale wiederholt, im Bewußtsein des Menschen als logische
Figuren einprägt. Diese Figuren haben gerade (und nur) Kraft dieser milliar¬
denmaligen Wiederholung die Festigkeit eines Vorurteils und axiomatischen
Charakter1.« Das ist das methologische Vorbild für jede Theorie der Künste,
der Genres in der Ästhetik. Natürlich kann - unseren Bestimmungen über das
Wesen der ästhetischen Form entsprechend - diese Leninsche Formulierung
nicht einfach übernommen und ins Ästhetische »übersetzt« werden. Die Größe
der möglichen und notwendigen Variationen innerhalb einer Form bedeuten
etwas qualitativ Neues der Logik gegenüber. Der große Gedanke Lenins,
daß die wissenschaftlichen (logischen) Formen Widerspiegelungen des Blei¬
benden und Wiederkehrenden an den Erscheinungen sind, muß in seiner An¬
wendung auf die Ästhetik der Eigenart dieser Weise der Widerspiegelung
der Wirklichkeit entsprechend gründlich konkretisiert werden 2.

1 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 139.


Vergleich darüber, das II. Kapitel meines Buches »Der historische Roman«, Berlin
1955. S. 88 ff.
25 3

Viertes Kapitel

Die abstrakten Formen der ästhetischen Widerspiegelung der


Wirklichkeit

Es muß immer wieder betont werden: über den wirklichen historischen Ur¬
sprung der Kunst wissen wir so gut wie nichts. In vielen wichtigen Künsten,
wie Poesie, Musik, Tanz etc. ist es sogar von vorneherein aussichtslos nach
»ursprünglichen« Dokumenten zu suchen. Was uns die Ethnographie hier zu
bieten hat - auch wenn es sich um die primitivsten Völker handelt - stammt
aus einem Zustand, der längst die Anfänge hinter sich gelassen hat. Aber auch
dort, wo Archäologie und Ethnographie über Denkmäler der materiellen
Kultur verfügen, ist die Grenze zwischen vorkünstlerischen Gebilden und
Kunstwerken mit einer auch nur annähernd historischen Exaktheit nicht zu
ziehen. Der Prozeß der Loslösung des Ästhetischen vom magischen Alltag
kann also - philosophisch - auch und gerade hier nur vom bereits ästhetisch
Geformten aus nach rückwärts verfolgt werden.
Auch hier wird die Schwierigkeit, die wir früher aufzeigten, sofort sichtbar:
sie besteht in den heterogenen Quellen der Genesis der einzelnen Formen, die
wir nun zu untersuchen haben, wobei, wie in den obenerwähnten Betrachtun¬
gen bereits betont wurde, diese Fleterogeneität der Genesis keineswegs ein
hermetisches Abgeschlossensein des einen Moments vom anderen bedeutet und
noch viel weniger die historisch später entstehende ästhetische Einheit zu
verhindern vermag. Diese allgemeine Schwierigkeit vergrößert sich noch da¬
durch, daß wir es jetzt nicht mit der Entstehung von verschiedenen Künsten
oder Genres zu tun haben werden, sondern mit Prinzipien, Aufbauelementen
der künstlerischen Produktion, die in den verschiedenen Künsten eine sehr
verschiedene Rolle spielen, die für uns nur mehr in diesen äußerst variierten
Funktionen auf weitaus höheren Entwicklungsstufen gegeben sind (Rhyth¬
mus, Proportion etc.), die nur ausnahmsweise ihre ursprüngliche Selbständig¬
keit bewahrt haben (Ornamentik), ohne freilich in der Gesamtkultur je wie¬
der jene Bedeutung erlangen zu können, die sie in bestimmten Anfangsstadien
hatten.
254
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

I Rhythmus

Trotz solcher Schwierigkeiten kann das Bild der Loslösung des Ästhetischen
von der Alltagswirklichkeit dem Wesen nach philosophisch wahrheitsgemäß
nachgezeichnet werden, wenn wir unseren Ausgangspunkt im Zentrum des
Alltagslebens, in der Arbeit wählen. Darum betrachten wir den Versuch
Büchers, den Rhythmus aus der Arbeit abzuleiten, und das zum Beweis seiner
These gesammelte große und überzeugende Illustrationsmaterial als einen
wichtigen Beitrag zur Aufdeckung dieser Zusammenhänge. Natürlich gibt es
auch heute nicht wenige, die hier auf »tiefere«, auf »naturhaftere« Quellen
zurückgehen wollen1. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das biologische
Dasein der Menschen (und auch der Tiere), sowie die Begebenheiten ihrer
Umwelt nicht wenige Phänomene des Rhythmischen aufweisen. Bei diesen
müssen wir aber zwei verschiedene Reihen genau voneinander trennen. Näm¬
lich einerseits jene Elemente der Rhythmik der die Menschen umgebenden
Natur (Tag und Nacht, Jahreszeiten etc.), die in einem viel späteren, entwik-
kelteren Stadium, nachdem infolge der Arbeit der Rhythmus zu einem wich¬
tigen Moment der menschlichen Existenz geworden, sowohl im Alltag, wie
in der künstlerischen Tätigkeit eine große Rolle zu spielen berufen waren.
Die Mythen der Vorzeit weisen dagegen darauf hin, daß in primitiven Zeiten
diese rhythmische Abfolge keineswegs als so selbstverständlich erlebt und
aufgefaßt wurde, wie später. Levy-Bruhl spricht von »Zeremonien, deren
Zweck es ist, die Regelmäßigkeit der Jahreszeiten, die normale Produktion
der Ernte, den gewohnten Überfluß an Früchten, Insekten, eßbaren Tieren
zu gewährleisten 2.« Und Frazer sagt: »Wenn ich recht habe, bildet die Ge¬
schichte von Balders tragischem Ende sozusagen den Text des geistigen
Dramas, das Jahr für Jahr als magischer Ritus zu dem Zwecke aufgeführt
wurde, damit die Sonne scheine, Bäume wüchsen, die Ernte gedeihe, und
Mensch und Tier von den verderblichen Künsten der Feen und Trolle, Hexen
und Zauberer bewahrt blieben 3.« Es ist höchst wahrscheinlich, daß Mythen
wie die von Isis und Osiris, von Persephone und Demeter etc. ursprünglich
einen ähnlichen Gehalt hatten. Und es ist selbstverständlich, daß ein Rhythmus

Selbstredend liegt es nicht auf derselben Linie, daß Aristoteles den Rhythmus und
die Harmonie (ebenso wie die Nachahmung) als natürliche Anlage der Menschen
betrachtet, Poetik, Kapitel IV.
2 Levy-Bruhl: a. a. O. S. 216.
3 Frazer: a. a. O. S. 964 f.
Rhythmus *55

derartiger Erscheinungen nur dann als solcher wahrgenommen werden


kann, wenn die Abfolge, das Einander-Ablösen etc. als objektiv ganz un¬
fragwürdig, als absolut unabhängig von unserem Zutun aufgefaßt wird. Das
Erlebnis einer solchen Rhythmik in der äußeren Natur setzt also das Ge¬
fühl, die Überzeugung einer gewissen »Sekurität« in bezug auf ihr regel¬
mäßiges Funktionieren voraus.
Andererseits haben wir es mit bestimmten rhythmischen Erscheinungen in der
körperlichen Existenz des Menschen zu tun. (Atmen, Herzschlag etc.) Diese
haben notwendigerweise, mögen sie lange Zeit noch so wenig bewußt werden,
einen großen Einfluß auf sein ganzes Verhalten. Und man darf diese Tat¬
sache keineswegs auf den Menschen beschränken. Pawlow hebt z. B. bei
seinen Hundeexperimenten wiederholt die erleichternde Funktion des Rhyth¬
mus hervor. So sagt er: »Bekanntlich wird der Rhythmus zur Vereinfachung
aller Bewegungen und überhaupt zur Vereinfachung des ganzen Lebens be¬
nutzt 1.« So auch: »Aber daneben fand sich bei diesem Hunde ein prächtig aus¬
gebildeter rhythmisch bedingter Reflex, d. h. bei ständiger Aufeinanderfolge
des positiven und hemmenden Reizes bildete sich das System sehr bald 2.« Es
kommt hier für unsere Frage wenig darauf an, daß Pawlow diese Rhythmik
in seinem Experiment künstlich hervorbringt. Das zeigt höchstens, daß die An¬
lage zur rhythmischen Erleichterung im Tier nur als Anlage vorhanden ist, die
erst in der Berührung mit den Menschen, der bereits die Arbeit kennt und ihre
Ergebnisse bewußt anwendet, zum Ausdruck gelangen kann. Entscheidend ist
die Erleichterung bestimmter Leistungen durch ihre Rhythmisierung, und diese
kann bei Mensch und Tier oft - ohne Bewußtwerden - verwirklicht werden.
Rhythmus ist also ein Element in der physiologischen Existenz des Lebewesens.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß einzelne Funktionen nur dann
normal ablaufen können, wenn sie einen bestimmten Rhythmus einhalten, die
Arythmie ist ein Symptom der Störung, ja der Krankheit. Darüber hinaus
entstehen im Leben Gewohnheiten in der Bewegung, die diese Grundlagen im
Laufe einer langen Zeit zu unbedingten Reflexen ausbilden, die diese be¬
quemste, am wenigsten ermüdende Weise quasi automatisch in Erscheinung
treten lassen; Rhythmus im Flug der Vögel, im Gang der Tiere und Menschen.
Natürlich hat all dies noch nichts mit dem Rhythmus als Element der Kunst
zu tun. Scheltema sagt richtig und witzig: »Wir gehen rhythmisch, weil eine

1 Pawlow: Mittwochkolloquien, Berlin 195L Band II, S. 53.


2 Ebd. S. 500.
2 56 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

unregelmäßige Gangart viel zu anstrengend wäre, und infolge dessen bilden


auch unsere Fußspuren im nackten Sande ein regelmäßiges Muster, ohne daß
jemand daran denken würde, hier von einem Ornament zu sprechen h«
Die Anerkennung solcher aus der Physiologie herstammenden Faktoren darf
deshalb die Zentralfrage der Genesis nicht verdunkeln, vor allem nicht den
spezifisch menschlichen, von der materiellen Kultur aus bedingten Charakter
des aus der Arbeit stammenden Rhythmus. Der Mensch lebt an sich, ebenso
wie das Tier, in der Natur, ihre Wechselbeziehung ist die von gleichartigen
Potenzen, die dabei eventuell entstehenden Rhythmen heben sich deshalb
aus der Naturwelt nicht heraus. In der Arbeit reißt jedoch der Mensch ein
Stück Natur, den Arbeitsgegenstand aus seinen natürlichen Zusammenhän¬
gen heraus, unterwirft ihn einer Behandlung, in welcher die Naturgesetze in
einer menschlichen Zielsetzung teleologisch verwertet werden. Dies steigert sich
noch, wenn im Werkzeug eine derartige teleologisch transformierte »Natur«
erscheint. Es entsteht also ein Prozeß, der zwar den Naturgesetzen unterwor¬
fen ist, der jedoch als solcher nicht mehr zur Natur gehört, in welchem alle
Wechselwirkungen nur vom Arbeitsgegenstand aus naturhaft, vom Werkzeug,
vom Arbeitsprozeß aus aber gesellschaftlich sind. Dieser Seinscharakter drückt
dem hier entstehenden Rhythmus seinen Stempel auf. Während beim Tier die
physiologische Anpassung an die Umgebung unter Umständen Rhythmisches
hervorbringt, entsteht in der Arbeit der Rhythmus aus dem Stoffwechsel der
Gesellschaft mit der Natur. Wobei freilich nicht vergessen werden darf, daß
der allgemeine Zusammenhang von Erleichterung und Rhythmus aus der Na¬
tur stammt, und in der Arbeit »nur« bewußt verwertet wird. Dieses »Nur«
bezeichnet jedoch einen Sprung von welthistorischem Ausmaße. Daß die Bewe¬
gungen des arbeitenden Menschen - ein entscheidender Faktor des Arbeits¬
rhythmus - desto »künstlicher« sind, desto weniger aus physiologischer Spon¬
taneität entstehen, je entwickelter die Arbeit ist, zeigt diesen Unterschied sehr
deutlich an. Goethe hat ihn klar gesehen und so formuliert: »Das Tier wird
durch seine Organe belehrt; der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht
sie -.« Mensch bedeutet aber hier, auch für Goethe, ohne Frage den arbeitenden,
den durch Arbeit sich zum Menschen formenden und geformten Menschen.
Es muß also nochmals das Verdienst Büchers hervorgehoben werden, daß er
nicht bloß von der Arbeit, sondern konkret vom Arbeitsprozeß ausgeht, und

E. Adama van Scheltema: Die Kunst der Vorzeit, Stuttgart 1950, S. 41.
2 Goethe: Maximen und Reflexionen, a. a. O., Band IV, S. 242.
Rhythmus 257

auch dessen auf den Rhythmus bezügliche subjektive Momente analysiert.


Das für uns wichtigste Moment ist die Erleichterung der Arbeit infolge ihrer
Rhythmisierung. Bücher geht davon aus, daß die Ermüdung vor allem aus
der dauernden geistigen Anspannung während der Arbeit entsteht. Diese
kann erst durch ihr Automatisieren, durch das Mechanisch-Unwillkürlich-
Werden der Bewegungen herabgemindert werden. Dies ist aber gerade die
Funktion der Rhythmisierung. Die Erleichterung »tritt ein, wenn es gelingt,
die Kräfteausgabe bei der Arbeit so zu regulieren, daß sie in einem gewissen
Gleichmaße erfolgt, und der Beginn und das Ende einer Bewegung immer zwi¬
schen denselben räumlichen und zeitlichen Grenzen liegt. Durch die in den
gleichen Intervallen erfolgende und gleich starke Bewegung desselben Mus¬
kels, wird das hervorgebracht, was wir Übung nennen; die einmal in Tätig¬
keit gesetzte, in bestimmten zeitlichen und dynamischen Maßverhältnissen
wirkende körperliche Funktion setzt sich mechanisch fort, ohne eine neue
Willensbetätigung zu erfordern, bis sie durch das Eingreifen eines veränderten
Willensentschlusses gehemmt, unter Umständen auch beschleunigt oder ver¬
langsamt wird h« Dieses Problem der Übung brauchen wir hier nicht näher
zu untersuchen. Es ist für uns insofern von Bedeutung, als das Beherrschen
der eigenen Bewegungen, des eigenen Körpers, ebenso eine technische Vor¬
aussetzung für eine Gruppe von Künstlern (Schauspielerei, Tanz) ist, wie das
Beherrschen des zu bearbeitenden Materials für andere. Wieder sehen wir,
daß von der Genesis der Kunst überhaupt vernünftigerweise nur auf einer be¬
stimmten Höhe der menschlichen Arbeit gesprochen werden kann. Der Ge¬
dankengang Büchers führt aber noch tiefer in unser Problem ein. Die Übung
kann nur durch ein Regelmäßigwerden der Arbeit entstehen und ausgebildet
werden, und Bücher fügt hier die richtige Beobachtung ein, »daß eine Be¬
wegung sich umso leichter gleichmäßig gestalten läßt, je kürzer sie währt.
Die Messung wird hierbei erheblich dadurch erleichtert, daß jede Arbeits¬
bewegung sich aus mindestens zwei Elementen zusammensetzt, einem stär¬
keren, und einem schwächeren: Hebung und Senkung, Stoß und Zug, Strek-
kung und Einziehung usw. Sie erscheint dadurch in sich gehindert, und dies
hat zur Folge, daß die regelmäßige Wiederkehr gleich starker und in den
gleichen Zeitgrenzen verlaufender Bewegungen uns immer als Rhythmus
entgegentreten müssen 1 2.«

1 Bücher: Arbeit und Rhythmus, Leipzig und Berlin 1909, S. 22 f.


2 Ebd. S. 23.
2$8 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Damit wäre die elementare Tatsache des Rhythmus, die auf dieser Stufe
natürlich bloß ein Phänomen der Alltagspraxis ist, und - an sich - noch nicht
einmal eine unbewußte Intention auf das Ästhetische in sich enthält, in seinem
notwendigen Zusammenhang mit der Arbeit aufgezeigt. Und Bücher weist mit
Recht darauf hin, daß der verschiedene Rhythmus verschiedener Arbeiten
uns überall als Klang ins Bewußtsein tritt, wo »die Berührung des Werkzeugs
mit dem Stoff einen Ton abgibt1.« Die Verschiedenheiten dieser Rhythmen,
die nicht allein durch die körperliche Beschaffenheit des Menschen bestimmt
sind, sondern durch deren Wechselwirkung mit einer gesellschaftlichen Potenz,
mit den sachlichen Anforderungen konkreter Arbeitsweisen, die Bücher durch
eine ganze Reihe von Beispielen belegt, ist dabei von großer Wichtigkeit.
Denn dadurch rückt der gesellschaftliche Charakter des Phänomens in ein
helleres Licht. Es ist nicht einmal nötig, auf die Probleme der Kooperation
zweier und mehrerer Arbeiter ausführlich einzugehen, obwohl Bücher an sehr
anschaulichen Fällen, wie z. B. an der Zusammenarbeit zweier Schmiede
zeigt, wie der Arbeitsprozeß hier nicht nur einen sehr bestimmten Rhythmus
der einander angepaßten Bewegungen, sondern auch den der dabei hörbaren
Töne erzeugt. Das wichtigste ist jedoch, daß dieser Rhythmus nicht etwas
naturhaft Fixiertes ist, wie bei bestimmten Bewegungen im Tierreich, wo
unsere am Arbeitsrhythmus geschulten Sinne solches feststellen, vielmehr ein
stets variierter, stets vervollkommenbarer Bestandteil der spezifisch mensch¬
lichen Praxis ist. Die Grundlage bildet deshalb kein »Instinkt«, kein unwill¬
kürlicher, unbedingter Reflex, sondern ein durch Übung erworbener, beding¬
ter Reflex im Sinne Pawlows. Und gerade das Vielerlei dieser Rhythmen, die
sich schon in verhältnismäßig unentwickelten Stadien ausbilden, führt dazu,
daß das gemeinsame Grundphänomen zu einem erworbenen, in verschiede¬
nen Formen auf verschiedene Gegenstände angewandten Bestandteil des
menschlichen Alltagslebens wird.
Die Betonung des Abstands zwischen solcher Rhythmisierung durch Arbeit
und einer »natürlichen« im Leben der Tiere (und auch der Menschen) bedeu¬
tet subjektiv, daß letztere sich völlig spontan, ohne darauf reflektierendes
Bewußtsein abspielt, da sie einen organischen, angeborenen Bestandteil der
tierischen (oder menschlichen) Existenz bildet, während erstere bei jedem
Individuum das Ergebnis eines Einübungsprozesses bildet. Die Rückwirkung
auf das Selbstbewußtsein entsteht dadurch, daß etwas Angelerntes zum

1 Ebd. S. *4-
Rhythmus 259

Unwillkürlichen wird, jedoch nie in demselben Sinne, mit derselben Selbst¬


verständlichkeit, wie im eben erwähnten Fall, d. h. das durch Erfahrung,
Übung, Gewohnheit etc. sicher Erworbene behält stets den Gefühlsakzent
des Erworbenen bei. Natürlich gibt es zahlreiche Übergänge. Man muß
z. B. nach langer Krankheit das Gehen aufs neue erlernen etc. Das innere
Verhältnis zum Gehen bleibt aber doch ein anderes als zum Rudern oder
Tennisspielen.
Objektiv handelt es sich einerseits um weitaus variiertere Rhythmen, anderer¬
seits um durch die Wechselbeziehung von Arbeitsprozeß und -gegenständ
hervorgebrachte viel kompliziertere und als solche akzentuiertere Rhythmen.
Diese Beschaffenheit der objektiven Lage bestimmt die früher beschriebenen
subjektiven Momente. Es ist natürlich in hohem Maße wahrscheinlich, daß
der physiologisch bestimmte Rhythmus des Lebens Anlagen zu dieser Aus¬
bildung produziert, die im Laufe der sich entfaltenden Arbeit aus der schlum¬
mernden Potentialität sich in wirksame Aktualität erheben. Diese Frage ist
jedoch bis jetzt noch lange nicht aufgeklärt. Die Beispiele Darwins von
»ästhetischen« Phänomenen im Tierreich sind nicht überzeugend. Wenn in
letzter Zeit Bernhard Rensch 1 mit Experimenten bei Affen deren »ästheti¬
schen Sinn« zu erweisen versucht, so behandelt er die konkreten Bedingungen
sehr unkritisch. Ich spreche gar nicht davon, daß, wo die Reaktionen sehr
verschieden ausfallen, er darin ein der »Mode« analoges Phänomen erblickt,
wo doch bekanntlich auch bei Menschen die Mode nur auf ziemlich entwickelter
Stufe auftreten kann und die ästhetischen Reaktionen primitiver Menschen
oft jahrhundertelang unverändert bleiben. Er beachtet aber auch die spezi¬
fischen Bedingungen der Experimente nicht. Die in Gefangenschaft befind¬
lichen Tiere haben eine sonst nie vorhandene »Sekurität« (sowohl in bezug
auf Nahrung, wie auf Gefährdetsein des Lebens); ihre Aufmerksamkeit ent¬
faltet sich also ganz anders als unter ihren normalen Lebensbedingungen.
Zweitens reagieren sie auf ihnen fertig dargebotene Gegenstände, die sie
selbst niemals hersteilen könnten. Im interessantesten Experiment von Rensch
handelt es sich um die Reaktion auf regelmäßige und unregelmäßige Muster.
Das Bevorzugen der ersteren beweist aber höchstens die einer von uns er¬
wähnten Potentialitäten, niemals aber ein aktuelles Vorhandensein des
»ästhetischen Sinnes« bei einem unter normalen Bedingungen in Freiheit

1 B. Rensch: Aesthetisdie Faktoren bei Färb- und Formbevorzugung von Affen.


Zeitschrift für Tierpsychologie, Band XIV, Heft 1, Berlin-Hamburg 1957.
160 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

lebenden Tier. Diese Potentialität ist freilich ein interessantes Problem (auch
in bezug auf den primitiven Menschen) und ist wert eingehend erforscht zu
werden. Dazu müßten aber die Bedingungen der Experimente ganz anders
kritisch bewußt gemacht werden, als dies nicht nur bei Rensch, sondern auch
bei vielen anderen der Fall ist; das bezieht sich nicht nur auf die Lebens¬
bedingungen der Gefangenschaft, sondern auch auf die Existenzweise der
Haustiere, aus welcher ebenfalls direkte Rückschlüsse auf das Tier überhaupt
methodologisch unzulässig sind.
Wir machten diesen Exkurs um die für unser Problem höchst wichtigen metho¬
dologischen Fragen von Anfang an deutlich zu formulieren. Wenn wir nun
zum Problem von Rhythmus und Arbeit zurückkehren so ist klar, daß
diese Entwicklungsetappe an sich noch nichts mit Kunst zu tun hat. Der ästhe¬
tische Charakter des Rhythmus ist im Alltag des primitiven Menschen nur
insofern an sich vorhanden, als die relativ geringere Verausgabung von Kraft
erfordernde und zugleich bessere Ergebnisse erzeugende Art der Arbeit Lust¬
gefühle der Erleichterung, des Herrseins über sich selbst und den Arbeits¬
gegenstand, über den Arbeitsprozeß ein Selbstbewußtsein in der ersten Be¬
deutung unserer früheren Bestimmung auslöst. So lange solche Gefühle nur
als die unmittelbare Begleitung des jeweiligen Arbeitsprozesses auftreten,
bleibt dieses keimhafte An sich des Ästhetischen objektiv wie subjektiv latent
und zu seiner Entwicklung bedarf es weiterer differenzierender Momente,
die den Rhythmus aus dieser ursprünglichen untrennbaren Verbundenheit
mit jeweiligen konkreten Arbeitsprozessen herauslösen, ihm eine selbständige
Funktion im Leben der Menschen verleihen, die auf diesen Wegen seine Ver¬
allgemeinerung und Anwendung auf die verschiedensten Gebiete - schon
außerhalb der Arbeit selbst - ermöglichen.
Das erste derartige vermittelnde Moment wird wohl die Freude über Steige¬
rung und Erleichterung der Arbeit, vor allem das aus solchen Erlebnissen und
Erfahrungen herauswachsende Selbstbewußtsein der arbeitenden Menschen
sein. Dieses Gefühl, das ja auch auf viel höheren Stufen als in den Anfängen
der Arbeit immer wieder auftaucht, solange der Arbeitsprozeß von der Leistung
der Arbeitenden ausgehend verbessert und erleichtert wird 1, äußert sich wie
alle wichtigen Lebenstatsachen in dieser Periode in magischer Umhüllung. Es

Die komplizierten Erfahrungen des Maschinenzeitalters brauchen hier nicht her¬


angezogen zu werden, da dann der Arbeiter zum Annex der Maschine gewor¬
den ist.
Rhythmus 261

ist für unsere Zwecke recht gleichgültig, wie innerlich diese Verbindung mit
der Magie ist, wie weit sie - vermittelt - die Handlungen selbst bestimmt,
oder im wahren Sinne des Wortes, nur eine magische Umhüllung an sich
magiefremder Inhalte ist. Gordon Childe hat unseres Erachtens im allgemei¬
nen durchaus redit, wenn er wiederholt auf die Äußerlichkeit solcher Zusam¬
menhänge hinweist: so z. B. auf viel entwickelterer Stufe, daß etwa sumerische
Priester zwar die Schrift erfunden haben, jedoch nicht als Priester oder
Magier, sondern als Folge ihrer weltlichen, administrativen Funktionen, so
auch in Ägypten, in der Kretischen Kultur1. In einem bestimmten Sinn gilt
dies auch für primitivere Stufen, obwohl dann die magische Verhüllung sicher
dichter ist, obwohl die reale Wechselwirkung zwischen realen Arbeitserfah¬
rungen und magischem Analogisieren als ihrer Verallgemeinerung viel inniger
gewesen sein mag. Diese subjektive Verschlungenheit hebt aber die an sich
vorhandene Divergenz der Akte und Intentionen nicht auf. Die Trennung
ist also hier sicherlich viel früher und radikaler vorhanden als in der Ent¬
stehungsperiode der Kunst. Und Gordon Childe weist abschließend - eben¬
falls mit Redit - darauf hin, daß die Wissenschaft nidit direkt aus Magie
und Religion entspringen konnte, ja daß Medizin oder Astronomie, wenn
sie von der Religion annektiert wurden, dadurch als Wissenschaften steril
werden mußten2. Jedenfalls: Wissenschaft kann nur Wissenschaft werden,
wenn sie ihre spezifische - desanthropomorphisierende - Methode im
Kampf gegen Magie und Religion ausbildet. Dasselbe bezieht sidi, wie wir
ebenfalls gezeigt haben, auch auf das Ästhetische, wo allerdings dieser
Abhebungsprozeß - aus ebenfalls angegebenen Beweggründen - noch kom¬
plizierter und schwieriger ist, als der in der Wissenschaft. Bei der Frage von
Arbeit und Rhythmus muß daran festgehalten werden, daß die Entstehung
der rhythmisierten Bewegung ein Ergebnis der Verbesserung des Arbeits¬
prozesses selbst, der Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit ist, also
nidit unmittelbar, nicht direkt von der Magie bestimmt sein kann. Wenn
wir jedoch jetzt auf die auslösenden Momente für das Selbständigwerden
des Ästhetischen reflektieren, so ist der primäre Gegenstand unseres Inter¬
esses nicht so sehr der objektive Prozeß selbst, als vielmehr dessen subjek¬
tive Widerspiegelung im Bewußtsein, die beginnende Ausbildung einer
eigenartigen Widerspiegelung der Wirklichkeit.

1 Gordon Childe: Man makes himself, London 1937, S. 209.


2 Ebd. S. 255 f.
z6i Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Wenn wir früher von einer anfänglichen Entstehung des Selbstbewußtseins


infolge der mit geringerer Anstrengung erreichten größeren Arbeitsleistung
sprachen, so ist darin implicite eine Tendenz zur Ablösung des Rhythmus
von seiner konkreten Rolle in einem bestimmten Arbeitsprozeß enthalten.
Je verschiedenere Rhythmen aus der sachlichen Differenz von vielerlei
Arbeit entstehen, desto leichter geht diese Ablösung vor sich, desto ent¬
schiedener kann der Rhythmus zu einem von den ursprünglich auslösen¬
den Umständen relativ unabhängiger Bestandteil des Alltagslebens werden.
Der Prozeß solcher Ablösungen und Verallgemeinerungen ist im Alltags¬
leben etwas durchaus Gewohntes. Gehlen beschreibt solche Prozesse sehr
ausführlich. Er sieht die hier vollzogenen Abstraktionen darin, daß ein
bestimmtes sinnliches Kennzeichen von Dingen oder Vorgängen, von
Gestalt, Farbe, »das ein Anzeichen einer ganzen Dingmasse ist,... ganz eigent¬
lich >abstrakt< [ist], nämlich >weggezogen< durch die Vernachlässigung be¬
nachbarter, gleichmöglicher Eindrücke, und wenn wir ein ganz anderes
Ding, das nur das gleiche Merkmal enthält, in derselben Weise behandeln,
so abstrahieren wir wiederum, diesmal von der Gesamtverschiedenheit
beider Dinge, die wir in derselben Weise behandeln«. Und er betrachtet
dieses Abstrahieren nicht so sehr als einen Akt, als eine positive Handlung,
sondern vielmehr als »nur eine zentrale Hemmung anderer Hinsichten« 1.
Wenn nun solche analogisierende Abstraktionen auf relativ niederer Stufe
stattfinden können, ist ihre Verbreitung dort, wo es sich von vorneherein
um vom Individuum selbst fixierte bedingte Reflexe handelt, naturgemäß
viel leichter.
Wie die äußerst mannigfaltigen Übertragungen des ursprünglichen Arbeits¬
rhythmus auf die verschiedensten Äußerungsweisen der menschlichen Akti¬
vität zustandegebracht werden, darauf werden wir noch wiederholt zurück¬
kommen. Hier sei nur kurz erwähnt - was bald in der Behandlung der Orna¬
mentik eine nicht unwesentliche Rolle spielen wird -, daß der ursprünglich
raumzeitliche Rhythmus der Arbeit auf einer gewissen Ausbildungshöhe der
Technik als rein räumlicher Rhythmus am Arbeitsprodukt zur Geltung ge¬
langen kann. Boas schildert diesen Vorgang so: »Ein anderes fundamentales
Element der dekorativen Form ist die rhythmische Wiederholung. Die techni-

Gehlen. Der Mensch, a. a. O. S. 231. Daß Gehlen hier überall von »Symbolen«
spricht und das Analogische in diesen Akten verkennt, hebt die Richtigkeit der
Beschreibung selbst nicht auf.
Rhythmus 263

sehen Aktivitäten, in welchen regelmäßig wiederholte Bewegungen verwendet


werden, führen zu rhythmischen Wiederholungen in der Richtung, in
welche die Bewegung leitet1.« Natürlich ist damit nur die technische Ver¬
bindung zwischen ursprünglichem raum-zeitlichen und rein räumlichen
Rhythmus erklärt; daß aus ihr ein Element der Ästhetik wird, ist eine
andere Frage. Hier sei nur - vorwegnehmend - bemerkt, daß die im bürger¬
lichen Denken übliche fetischisiert-starre Trennung und Gegenüberstellung
von Raum und Zeit im spontanen Alltagsleben fehlt. Das ist keineswegs zu¬
fällig. Denn gerade infolge der Unmittelbarkeit der Alltagspraxis wird darin
jede Gegenständlichkeit, jeder Vorgang spontan als etwas untrennbar Raum-
Zeitliches aufgefaßt. Dieser urwüchsigen Dialektik des Alltagslebens gegen¬
über erscheint die - so oft - metaphysisch starre Trennung von Raum
und Zeit als ein denkerischer Rückschritt, als ein mangelhafteres Widerspiegeln
des Ansich der objektiven Wirklichkeit. Die Zählebigkeit solcher metaphysi¬
schen Anschauungen beruht teilweise darauf, daß es Fälle gibt, in denen eine
methodologische Trennung von Raum und Zeit notwendig, wissenschaftlich
fruchtbar ist; es genügt auf die Geometrie, eine außerordentlich früh ent¬
wickelte Wissenschaft hinzuweisen. In der von uns jetzt konkret behandelten
Angelegenheit des Rhythmus ist es klar, daß seine ursprüngliche Erscheinungs¬
form in der Arbeit eine raum-zeitliche sein mußte. So schon in dem tierischen
und primitiv menschlichen Bewegungsrhythmus, noch mehr - und schon weit¬
aus bewußter - in jedem Arbeitsrhythmus. Da es die allgemeine Tendenz des
Ästhetischen ist, die Fetischisierungen, sowohl die spontanen des Alltags, wie
die in diese eingedrungenen metaphysischen Vorurteile durch eine neue Un¬
mittelbarkeit aufzuheben, vollbringt es diese seine Funktion auch auf dem
Gebiet des Rhythmus. Die damit verbundenen komplizierten Fragen können
erst später behandelt werden. Die Darlegungen von Boas sind insofern lehr¬
reich, als sie dieses spontane Übergehen auf rein räumlichen Rhythmus
schon auf relativ primitiver Stufe durch Beispiele belegen. Auf viel höherem
Niveau, schon mimetisch findet eine bewußte Wiederherstellung der ur¬
sprünglichen Raum-Zeitlichkeit des Rhythmus im Tanz statt, auf höherem
Niveau, weil ja hier Musik und eventuell Gesang mit dem Bewegungs¬
rhythmus vereinigt wird. Gehlen beschreibt diesen Vorgang ganz richtig.
»Beim freigestalteten Tanz kommuniziert die Bewegung mit der Musik, die
beim guten Tanz nicht etwa >Begleitung< ist, sondern die Musik scheint die

1 Boas: a. a. O. S. 40.
264 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

innere Musik der Bewegungen bloß ins Hörbare fortzusetzen, und wieder
die Bewegung die an sich raumlose Musik in sich hineinzuziehen, und an
einen sichtbaren Ort zu verdichten h«
Wir haben bereits, Bücher folgend, auf die rhythmisierten und oft von¬
einander klanglich, der Stärke nach verschiedene Töne aufmerksam ge¬
macht, die bei einer derartigen Arbeit entstehen. Und Überreste der ältesten
Überlieferungen weisen darauf hin, daß das rhythmisierte Wesen der Arbeit
auf noch sehr primitiver Stufe als Begleitung des Rhythmus der Bewegun¬
gen durch - unartikulierte, aber in den Rhythmus genau eingefügte - Aus¬
rufe sich zu äußern pflegte. Bücher beschreibt diesen Zustand folgendermaßen:
»Der erste Schritt, den der primitive Mensch bei seiner Arbeit in der Rich¬
tung des Gesanges getan hat, hätte also nicht darin bestanden, daß er sinn¬
volle Worte nach einem bestimmten Gesetz des Silbenfalls aneinander
reihte, um damit Gedanken und Gefühle zu einem ihm wohlgefälligen und
anderen verständliche Ausdrucke zu bringen, sondern darin, daß er jene
halbtierisdhen Laute variierte und sie in einer bestimmten, dem Gesang der
Arbeit sich anpassenden Abfolge aneinander reihte, um das Gefühl der
Erleichterung, das ihm an und für sich jene Laute gewähren, zu verstärken,
vielleicht es zum positiven Lustgefühle zu steigern. Er baute seine ersten
Arbeitsgesänge aus dem selben Urstoff, aus dem die Sprache ihre Worte
bildete, den einfachen Naturlauten. So entstanden Gesänge, wie sie oben
noch mehrfach mitgeteilt werden konnten, die lediglich aus sinnlosen Laut¬
reihen bestehen, und bei deren Vortrag allein die musikalische Wirkung,
der Tonrhythmus, als Unterstützungsmittel des Bewegungsrhythmus in
Betracht kommt. Die Notwendigkeit, beide Arten von Rhythmen in
Übereinstimmung miteinander aufzubauen, war durch ihre gemeinsame
Abhängigkeit von der Atmung gegeben1 2.« Diese Betrachtungen zeigen
wieder, wie die »naturhaften« Elemente wirksam werden. Bücher hat
ganz Recht, wenn er auf die verbindende Rolle der Atmung aufmerksam
macht.

Natürlich besitzen wir keine echten Dokumente dieser Anfangsetappe,


ebensowenig, wie über jene, in der aus unartikulierten Lauten gefühls¬
betonte Worte, noch später inhaltlich zusammenhängende Lieder wurden.
Wir besitzen freilich Arbeitslieder und zwar solche, deren Aufbau vom

1 Gehlen: Der Mensch, a. a. O. S. 154.


2 Bücher: a. a. O. S. 359.
Rhythmus 265

Arbeitsrhythmus ausgeht, und darauf basiert ist. Die überwiegende Mehr¬


zahl solcher Arbeitslieder stammt jedoch aus der Periode des bereits auf¬
gelösten Urkommunismus; der singende Arbeitende ist also schon ein
Ausgebeuteter, sehr oft ein Sklave. Der Gefühlsgehalt soldier Lieder hat
deshalb bereits eine Kompliziertheit (Arbeit als Zwan,g, Arbeit als Aus¬
beutung, Furcht vor dem Herrn oder dem Aufseher, Klage, Aufruhr etc.),
die die einfachen Arbeitslieder einer noch klassenlosen Gesellschaft un¬
möglich haben konnten. Die primitivere Wesensart solcher anfänglicher
Arbeitslieder beruht allerdings nidit nur auf einem qualitativ weniger dif¬
ferenzierten Gehalt, sondern auch darauf, daß die Arbeitsweise einer unent¬
wickelten Gesellschaft notwendig eine relativ geringere Variation von
Rhythmen liefern konnte.
Versuchen wir nun die hier klaffende Lücke auszufüllen, so müssen wir - bei
allen früher betonten Vorbehalten - doch auf die Magie zurückgreifen.
Daß zwischen den aus den Arbeitsrhythmen entstehenden Liedern und dem
magischen Vorstellungskreis ein Zusammenhang besteht, hat Bücher an einigen
Beispielen gezeigt L Es ist sicher kein Zufall, daß eines von ihnen ein
Frauenlied vom Sichelwerfen ist, denn sowohl bei den Frauen, wie auf dem
Lande ist das Weiterleben solcher Traditionen den Umständen gemäßer als
auf anderen Gebieten. Freilich handelt es sich auch hier nicht um ein eigent¬
liches Arbeitslied, sondern um die gesangliche Begleitung eines Spiels, das
freilich aus der Arbeit herausgewachsen ist. Aber das Weiterleben solcher
Inhalte, verstärkt durch die ebenfalls herangeführten magischen Zeremo¬
nien, die von vorgeschriebenen Gesängen in vorgeschriebenen Rhythmen
vollbracht werden, zeigt, daß die Entwicklung der eigentlichen Arbeits¬
gesänge aus dem Arbeitsrhythmus mit magischen Inhalten eine enge Be¬
rührung haben mußten. Inhaltlich, weil durch unzählige Tatsachen anders¬
gearteter Lebensäußerungen deutlich hervorgeht, daß die primitiven Men¬
schen ihre Herrschaft über die Außenwelt und über ihre eigenen Fähig¬
keiten magisch ausgelegt haben; daß sie also die erhöhte Ergiebigkeit der
Arbeit und die von ihr erweckten Lustgefühle auf die Wirkung magischer
Mächte zurückzuführen gewohnt waren. Diese inhaltliche Berührung von
Rhythmik und Magie wird noch durch die erhebende, Vitalität und Selbst¬
bewußtsein steigernde Wirkung eines jeden streng eingehaltenen Rhythmus
von der Formseite vertieft und verstärkt.

1 Ebd. S. 331 ff.


266 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Ist der hier angedeutete Zusammenhang einmal da, so erscheint die Über¬
tragung des Rhythmus von einem Gebiet auf andere als ganz natürlich.
Die Rolle des Rhythmus in den unmittelbar magischen Zeremonien ist
vielfach belegt. Diese waren aber ein universelles Mittel in der Regelung
der verschiedenartigsten Lebensgebiete. Hat sich also einmal die Art der
Übertragung durchgesetzt, hat sich dadurch der Rhythmus von der kon¬
kreten Arbeit, in der er ursprünglich entstanden ist, losgelöst, so stand einer
weiteren Verallgemeinerung, einer noch breiteren Anwendung bereits nichts
mehr im Wege. Allerdings gehört dazu die - primär magisch bestimmte -
Nachahmung wirklicher Vorgänge des Lebens, um gerade dadurch das ge¬
wünschte Ziel magisch der Verwirklichung näherzubringen. Schon das
Faktum eines solchen unmittelbar praktisch nicht zweckgebundenen, besser
gesagt: auf einen phantasmagorischen Zweck; orientierten Nachahmern löst
den Rhythmus von der realen Arbeit selbst ab, gibt ihm eine sinnlich ver¬
allgemeinerte Fassung. Darauf kann hier nur kurz hingewiesen werden, da
der ganze komplizierte Komplex der Mimesis erst in den folgenden Ka¬
piteln behandelt wird. Die größte Bedeutung wird dabei der Tanz erlangt
haben. Dazu sei hier nur kurz bemerkt, daß nicht nur bei primitiven
Völkern, sondern auch in der Antike der Tanz, obwohl er bereits zur
Kunst geworden war, noch keineswegs seine ursprüngliche Verbindung mit
der Arbeit, mit Übung und Spiel, mit den Sitten des Alltagslebens verloren
hatte. Jedenfalls führt Bücher neben einer Reihe von Fällen aus dem Leben
primitiver Völker die verschiedensten Beispiele aus der Antike, z. B. aus
Xenophons »Gastmahl« an1.
Wie immer sich nun auch dieser Prozeß des Hinausgehens des Rhythmus
über die konkrete Arbeit, seine relative Loslösung von ihr, seine sinnliche
Verallgemeinerung auf die mannigfaltigsten Lebensäußerungen abgespielt
haben mag, das philosophisch Wesentliche dabei ist, daß er aus einem
Moment des realen Lebens die Widerspiegelung dieses Moments geworden
ist. Dieser Widerspiegelungscharakter auch der abstraktesten Momente des
Ästhetischen kann nicht energisch genug hervorgehoben werden. Denn die
moderne bürgerliche Ästhetik, die in jeder Widerspiegelungslehre den ver¬
haßten Materialismus wittert, ist immer bestrebt, die einfachen und ab¬
strakten — vor allem die mathematisierbaren oder geometrisierten — For¬
men und Formelemente der künstlerischen Reproduktion der Wirklichkeit

1 Ebd. S. 325 f.
Rhythmus 267

sich ausschließend gegenüberzustellen. Die einfache Reproduktion wird zu¬


meist als bloßer Naturalismus ausgelegt, und soll als solcher diffamiert oder
wenigstens zu etwas Sekundärem degradiert werden; die abstrakten Formen
erhalten dagegen ein künstliches Licht »von Oben« als Offenbarungen einer
transzendenten Macht, oder zumeist als Objektivationen der Weltflucht einer
dem Wesen nach zur ewigen Einsamkeit verurteilten Seele. Solchen Auffassun-
gen gegenüber muß die nüchterne Tatsache hervorgehoben werden, daß jeder
Gebrauch des Rhythmus außerhalb seiner unmittelbar konkreten Erscheinungs¬
form in einer bestimmten Arbeit bereits die Widerspiegelung dessen ist, was er
in der Wirklichkeit selbst real vollzieht.
Hier zeigt sich, daß unsere beiden Feststellungen: Rhythmus als Wider¬
spiegelung der objektiven Wirklichkeit und seine Genesis aus der Arbeit
eng zusammengehören. Die direkte Ableitung des Rhythmus aus den phy¬
siologischen Eigentümlichkeiten des Menschen verwischt nicht bloß seine
gesellschaftlich-menschlichen spezifischen Züge, wie dies seinerzeit bei den
Darwinisten oft geschah, sondern schafft - besonders in den letzten Jahr¬
zehnten - eine mechanische Abtrennung des Menschen von seiner gesell¬
schaftlichen Umgebung. Vielleicht am zugespitztesten wird dies von Caud-
well formuliert. Er sagt, »Poesie ist rhythmisch. Der Rhythmus behütet
die Erhöhung des physiologischen Bewußtseins, um unsere sensorische
Perzeption von der Umgebung abzuschließen. Im Rhythmus des Tanzes,
der Musik, des Gesanges werden wir selbst-bewußt an Stelle der Bewußtheit.
Der Rhythmus des Herzschlags, des Atmens, der physiologischen Periodizität
verneint den physischen Rhythmus der Umgebung. In diesem Sinne ist auch
der Schlaf rhythmisch. Der Schlafende zieht sich in die Burg des Körpers zu¬
rück und schließt die Türen1.« So wird hier, wohl unter dem Einfluß Freuds,
die Poesie auf eine Traumlinie gezogen, und der Rhythmus wird, wie bei
Freud das Träumen der Hüter des Schlafes ist, zu einem Hüter der solip-
sistischen Abgeschlossenheit des Ich; und dies alles wird als »kosmisches«
Phänomen in die Urzeit projiziert. Daß Caudwell, der sonst den gesellschaft¬
lichen Charakter der Kunst überall energisch hervorhebt und sogar im
Rhythmus eine Balance zwischen dem emotionalen Gehalt der Poesie und den
gesellschaftlichen Relationen, in denen sich dies im einzelnen verwirklicht,
erblickt, in dieser Frage in einen solchen Widerspruch mit seinen eigenen An¬
schauungen gerät, so daß bei ihm die Lyrik einen metaphysischen Gegensatz

1 Ch. Caudwell: Illusion and Reality, London 1950, S. 199.


268 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

zur Epik und Dramatik bildet, sei hier nur nebenbei erwähnt. Wichtiger ist,
daß bei ihm deshalb aus dem Selbstbewußtsein jede Beziehung zur Welt, zur
Umwelt des Menschen verschwindet, daß es nicht mehr das in der Praxis
fundierte Beziehen der Reflexe der Wirklichkeit auf den Menschen ist, son¬
dern die Flucht aus der Welt, das theoretische Begründen einer hermetischen
Absperrung des Menschen von der Außenwelt. Darin drückt sich zweifellos
das Verhalten eines großen Teils der bürgerlichen Intelligenz in der imperia¬
listischen Periode aus, es ist aber radikal antihistorisch, wenn es als »ewiges«
Prinzip in die Entwicklung der Menschheit hineininterpretiert wird. Die auf
diese Weise entstehende Mystifizierung steigert sich noch dadurch, daß Caud-
well seine These physiologisch unterbauen will. Wir haben darauf hinge¬
wiesen, daß die Rolle der physiologischen Momente nicht unterschätzt werden
darf. Ist doch der Rhythmus, der in der Arbeit entsteht, das Produkt einer
Wechselwirkung zwischen den physiologischen Gegebenheiten des Menschen
und den Forderungen einer optimalen Arbeitsleistung, wobei der ständige
Bezug auf das Physiologische eben im Bestreben, die Arbeit zu erleichtern
zur Geltung gelangt. Auch ist, wie ebenfalls betont, in späteren Entwick¬
lungsphasen der Einfluß des physiologisch bestimmten Rhythmus (Atmen in
Poesie, Gesang etc.) ein nicht unwichtiger Faktor in dessen weiterer Aus¬
bildung und Verfeinerung. Daß aber diese Momente für sich genommen, und
zwar als Negationen jedes »äußeren« Rhythmus je zu einer Poesie, zu einer
Musik hätten führen können, muß entschieden bestritten werden. Die Be¬
wältigung der rhtyhmischen Erscheinungen der Natur, z. B. des Wechsels
der Jahreszeiten erfordert bereits eine relativ hohe Kultur. Gordon Childe
weist mit Recht darauf hin, welche Schwierigkeiten in dieser Hinsicht der
ursprüngliche Mondkalender verursacht hat h Caudwell selbst zeigt in einer
an sich berechtigten Polemik gegen Wittgensteins Theorie vom »Unaussprech¬
lichen«, bei welchem ein metaphysisches Dilemma zwischen (semantischer)
Ausdrückbarkeit und mystischer Intuition konstruiert wurde, welche Rolle
die Kunst im Aussagen des Unaussprechlichen spielt, auf. Da er aber hier nur
an ein solipsistisches Selbstbewußtsein appellieren kann, ist seine Gegenüber¬
stellung - »Der Musiker ist ein introvertierter Mathematiker«1 2 - ebenso
metaphysisch und mystisch wie die Theorie des mit Recht kritisierten Witt¬
genstein.

1 Gordon Childe: Man Makes Himself, a. a. O. S. 243.


2 Caudwell, a. a. O. S. 247.
Rhythmus 269

Freilich beinhaltet eine solche Feststellung nicht nur die Stellungnahme gegen
die mystische Genesis aus dem isolierten Ich, sondern zugleich die gegen jene
Auffassungen, die die Widerspiegelung auf eine jeweilige Photokopie der
unmittelbar gegebenen Wirklichkeit reduzieren wollen. Flier treffen wir in
der Ästhetik auf die allgemeinen Schranken des heutigen bürgerlichen Den¬
kens, das die Existenz des dialektischen Materialismus nicht anerkennt, und
seine Polemik stets gegen dessen primitivere mechanische und metaphysische
Abart richtet. Der dialektische Materialismus muß sidi aber die Ausbildung
seiner eigenen Methode nicht nur dem philosophischen Idealismus, sondern
auch seinen mechanistischen Vorläufern gegenüber erkämpfen. Lenin vollzieht
auf folgende Weise die Abgrenzung vom metaphysischen Materialismus, »des¬
sen Hauptüt?el in der Unfähigkeit besteht, die Dialektik auf die Bildertheorie,
auf den Prozeß und auf die Entwicklung der Erkenntnis anzuwenden« b
Es ist freilich interessant, daß, sobald nicht von der philosophischen Theorie
der Widerspiegelung, sondern von Auslegung bestimmter Lebenstatsachen
die Rede ist, es nicht wenige Forscher gibt, die die dialektische Widerspiege¬
lungstheorie (terminologisch anders gefaßt) praktisch anwenden. Man denke
an die anthropologischen Ausführungen Gehlens, in denen er Abstraktionen
und Betonungen in der Widerspiegelung der Wirklichkeit praktisch aner¬
kennt, diese also im konkreten Fall dialektisch auffaßt, wenn er auch - be¬
fangen in den allgemeinen bürgerlichen Vorurteilen der imperialistischen
Periode - das richtig beschriebene Phänomen mit der irreführenden Etikette
des Symbols versieht. In einer ähnlichen Weise vollzieht sich die Anwendung
der Rhythmik außerhalb der konkreten Arbeit. In der Widerspiegelung der
sinnlich gegebenen Ganzheit wird eines der wichtigen Momente, eben der
Rhythmus, und zwar vorerst so wie er unmittelbar ist, besonders hervor¬
gehoben, und eben dadurch von seiner konkreten, ursprünglichen Erschei¬
nungswelt losgelöst, als selbständig erfaßtes (widerspiegeltes) Stück Wirk¬
lichkeit in den Erfahrungsschatz einverleibt, darin aufbewahrt, um ihn in
neuen Zusammenhängen neu zu verwerten. Dieser Vorgang ist im Alltags¬
leben durchaus häufig; er geschieht zumeist auf der Grundlage von Analo¬
gien oder Analogieschlüssen. Haben diese einen in der objektiven Wirklich¬
keit fundierten Keim, d. h. sind sie relativ getreue Widerspiegelungen, so
können sie zu einem dauernden Besitz des Alltagslebens werden, ja sie können
sogar Anlässe zu wissenschaftlichen Verallgemeinerungen geben; sind sie es

1 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 289.


270 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

nicht, so sterben sie ab, oder leben als Vorurteile, Aberglauben etc. weiter.
(Man denke an das Volksvorurteil gegen rothaarige Menschen.) Auch ästhe¬
tische »Halbfabrikate« des Alltags leben und wirken auf diese Weise, z. B.
echte und falsche Errungenschaften der praktischen Menschenkenntnis. Es
wird nur zumeist nicht oder ungenügend betont, daß die Widerspiegelung
der Wirklichkeit die unerläßliche Vermittlung zu jedem weiteren Schritt in
einer solchen Ausdehnung der Praxis bildet.
Für uns ist deshalb nicht dieses alltägliche Phänomen der menschlichen Praxis
das eigentliche Problem, vielmehr die Frage, wie in diesem Fall die normale
Widerspiegelung in eine ästhetische hinüberwächst. Der dialektische, nicht
mechanisch photographierende Charakter der Widerspiegelung wird sich erst
bei der Behandlung der unmittelbaren mimetisdhen Reproduktion der Wirk¬
lichkeit in seiner ganzen Kompliziertheit zeigen, wo etwa Probleme wie die
Verwandlung der extensiven und intensiven Unendlichkeit der Realität in
ein begrenztes Abbild, das aber deren intensive Unendlichkeit wiederzu¬
geben fähig ist, auftauchen. Jetzt erwachsen die Schwierigkeiten gerade aus
der - relativen - Einfachheit der Lage. Handelt es sich doch bloß darum,
daß ein Moment eines Komplexes isoliert widergespiegelt wird, damit es in
einem anderen, neuen Komplex verwendbar werde. Das ist, wie betont, in
der Alltagspraxis ein vollkommen normales Phänomen, das, wenn einmal
die dialektische Widerspiegelung in ihrer vermittelten Funktion begriffen
wurde, keine besondere Bedenken mehr erregen kann. Die Schwierigkeiten,
die jetzt vor uns stehen, haben eine doppelte Wurzel: erstens handelt es sich
um ein bloßes Moment der ästhetischen Einheit, dessen Eigenart aber gerade
darin besteht, auch isoliert - in einer bestimmten Weise - als ästhetisch be¬
trachtet werden zu können. Eine solche Isolation ist - im ästhetischen Sinne -
bei den meisten Momenten kaum oder wenigstens viel schwerer vollziehbar.
Wenn wir etwa eine Gestalt aus einer Dichtung isoliert zu betrachten ver¬
suchen, so ist das meistens nur bis zu einem äußerst relativen Grad möglich.
Sie ist in ihrem tiefsten Wesen durch ihr Schicksal, durch die Situationen, die
sie erlebt, durch die anderen Gestalten, mit denen sie in Wechselbeziehungen
steht etc., bis in ihre eigenste Qualität hinein bestimmt. Audi die isolierende
Analyse setzt diese Bindungen, wenn auch zuweilen unbewußt, voraus, und
die Betraditung mündet, gewollt oder ungewollt immer in die des konkreten
Werkganzen. Es gibt natürlich eine unendlich große Literatur über die iso¬
lierten Gestalten von Hamlet oder Faust, über den Don Quixotteismus oder
den Bovarysmus. Sie bleibt aber nur insofern ästhetisch relevant, als sie die
Gestalt nicht aus ihrer gegebenen Umwelt herausbricht. Geschieht dies, so
Rhythmus 271

handelt es sich um das Phänomen des Einströmens der künstlerischen Gestal¬


tung ins Alltagsleben, mit einem Phänomen, das mit dem jetzt behandel¬
ten nichts zu tun hat. Wir haben aber gesehen, daß dies beim Rhythmus
nicht der Fall ist. Das hängt natürlich damit zusammen, daß wir es im eben
angedeuteten Fall mit einem Inhalt-Formkomplex zu tun hatten, während
es sich hier - und das führt zum zweiten Aspekt unserer Frage - um ein rein
formelles Moment an sich, ohne konkrete inhaltliche Erfüllung handelt. Die
Unterscheidung, die sich hier ergibt, bezieht sich nicht nur auf die Inhalt-
Formkomplexe, sondern auch auf die Form-Inhaltszusammenhänge. Denn
auch an sich formale Kategorien, wie Komposition, Steigerung etc. lassen
sich nicht ohne weiteres analytisch von den konkreten Totalitäten, in denen
sie figurieren, loslösen. Wir werden im zweiten Teil dieses Werks uns aus¬
führlich damit dazu beschäftigen haben, daß diese Kategorien sich als
für die Ästhetik wichtige und fruchtbare Begriffe formulieren lassen. Hier
handelt es sich aber nicht um den Begriff, sondern um die Sache selbst,
um ihre unmittelbare, konkrete, sinnliche Widerspiegelung und ebensolche
Anwendung.
Eine solche Unterscheidung zwischen der Sache selbst und ihrem Begriff ist
für die ganze Ästhetik von großer Wichtigkeit. Eine besondere Bedeutung
erhält sie, wenn es sich, wie hier, um ein der Verselbständigung fähiges
Moment handelt, das schon dadurch der konkreten Totalität gegenüber
einen gewissen abstrakten Charakter erhält. In der konkreten Totalität des
Kunstwerks bleibt der Rhythmus der allgemein ästhetischen Formgesetzlich¬
keit unterworfen, d. h. auch er ist Form eines bestimmten (besonderen) Inhalts.
Zugleich jedoch bleibt sein abstrakter Charakter - bei ständiger konkreter
Aufgehobenheit - doch erhalten. Darum ist es hier durchaus möglich, daß
diese beiden Seiten gesondert widergespiegelt werden; freilich unter Vorbehalt
ihrer widerspruchsvollen Einheit im konkreten Werkzusammenhang. Diese
Einheit der Einheit und Verdoppelung ist ein Phänomen, das bereits im All¬
tagsleben auftaucht, sobald das gesangliche Begleiten (Unterstreichen) des
Arbeitsrhythmus eine einigermaßen konkrete Form aufnimmt. Gottfried
Keller beschreibt mit feinem Humor im »Sinngedicht« einen solchen Fall.
Ein Schustermeister verfertigt Pechdraht, und zwar bei der gesanglichen Be¬
gleitung seiner Arbeit mit Goethes »Kleine Blumen, kleine Blätter...«. »Er
sang es nach einer gefühlvollen, altväterischen Melodie mit volksmäßigen
Verzierungen, die sich aber natürlich rhythmisch seinem Vor- und Rückwärts¬
schreiten anschmiegen mußten und von den Bewegungen der Arbeit vielfach
gehemmt oder übereilt wurden.«
2/2
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Die Lage läßt sich noch besser erhellen, wenn wir einen Blick auf die Prosodie
werfen, in welcher die Elemente des Sprachrhythmus als Begriffe behandelt
werden. Ihr Nutzen als Wissenschaft - auch für die ästhetische Theorie und
Praxis - ist natürlich unbestreitbar. Wenn aber auf entwickelter Stufe Pro¬
bleme des konkreten Versrhythmus auftauchen, so ist in den meisten Fällen
ein dialektischer Gegensatz vorhanden zwischen den abstrakten Anforderun¬
gen der Prosodie, in welcher der ursprüngliche, aus der Arbeit entstandene
Rhythmus in seiner reinen Form erscheint und zwischen den Erfordernissen
des nunmehr komplizierten, echten, aus Wortsinn und Wortklang erwach¬
senen Versrhythmus, dem freilich die prosodischen Gesetze als allgemeines
Fundament zugrunde liegen. Klopstock hat wenigstens einen Teil der hier
auftauchenden Probleme plastisch beschrieben: »Wenn wir also unseren
Hexameter nach der Prosodie unserer Sprache, und nach seinen übrigen
Regeln mit Richtigkeit ausarbeiten; wenn wir in der Aussuchung harmoni¬
scher Wörter sorgfältig sind; wenn wir ferner das Verhältnis, das ein Vers
gegen den anderen in den Perioden bekömmt, verstehen; wenn wir endlich
die Mannigfaltigkeit auf viele Arten voneinander unterschiedener Perioden
nicht nur kennen, sondern auch diese abwechselnde Perioden, nach Absichten,
zu ordnen wissen: dann erst dürfen wir glauben, einen hohen Grad der poeti¬
schen Harmonie erreicht zu haben. Aber die Gedanken des Gedichts sind noch
besonders; und der Wohlklang ist auch besonders. Sie haben noch kein ande¬
res Verhältnis untereinander, als daß die Seele in eben der Zeit durch die
Empfindungen des Ohrs unterhalten wird, da sie der Gedanke des Diditers
beschäftigt. Wenn die Harmonie der Verse dem Ohr auf diese Weise gefällt,
so haben wir zwar schon viel erreicht; aber noch nicht alles, was wir erreichen
konnten. Es ist noch ein gewisser Wohlklang übrig, der mit den Gedanken
verbunden ist, und der sie ausdrücken hilft. Es ist aber nichts schwerer zu
bestimmen, als diese höchste Feinheit der Harmonie1.«
Der Gegensatz scheint oft ein abstrakt unaufhebbarer zu sein, die große Dich¬
tung besteht aber immer in einer konkret dialektischen Auflösung gerade der
zugespitztesten Widersprüche. Wir führen, um diese Lage zu beleuchten -
nicht um die Lösung auch nur anzudeuten, da diese nur in einer Genretheorie
der Lyrik möglich ist - einige besonders prägnante Ausdrücke großer Lyriker
an, die sich auch theoretisch mit dieser Frage beschäftigt haben. So hat Goethe

1 Klopstock: Von der Nachahmung der griechischen Silbenmaße im Deutschen,


Werke, Leipzig 1830, Band XV S. 10.
Rhythmus
273

stets die poetische Praxis strenger Metriker und Dogmatiker der Prosodie
abgelehnt und hat, Ratschläge solcher Kritiker beiseiteschiebend, an vielen
Stellen von »Hermann und Dorothea« seinen lässigen, oft direkt fehlerhaften
Hexameter beibehalten, um die Integrität des echt poetischen Rhythmus zu
bewahren. In diesem Sinne schreibt er an Zelter über, besser gesagt, gegen die
Sonette von Voß: »Für lauter Prosodie ist ihm die Poesie ganz entschwun¬
den h« Und der von ihm sonst in wichtigen Fragen der Lyrik so grundver¬
schiedene E. A. Poe nennt das Skandieren, d. h. das Lesen der Gedichte in
prosodischem Rhythmus geradezu den Tod der Poesie: ». . . daß der Vers eine
Sache ist und die Skandierung eine andere. Der antike Vers, laut gelesen, ist
im allgemeinen musikalisch, gelegentlich sehr musikalisch. Skandiert nach
prosodischen Regeln können wir zumeist nichts damit anfangen 1 2.« Es sei hier
nur am Rande bemerkt, daß ähnliche Widersprüche zwischen Rhythmus und
Metrik (hier Prosodie) auch in anderen Künsten vorkommt. Wölfflin weist
z. B. auf solche in der Architektur des Barock hin 3.
Es wäre das denkbar Unrichtigste, aus solchen Gegensätzlichkeiten zu folgern,
daß die prosodische Rhythmik der Gedichte etwas rein Willkürliches, bloß
akademisch Konventionelles sei. Vor allem - um bei der antiken Metrik zu
bleiben - hat Bücher nachgewiesen, daß ihre Hauptformen keineswegs will¬
kürliche »Erfindungen« von Dichtern, keineswegs erstarrte Regel ihrer Praxis
sind, sondern eben aus der Rhythmik der Arbeit allmählich zu Elementen der
Poesie wurden. Er geht dabei von dem Stampf- und Schlagrh)^thmus aus, der
die menschliche Stimme im ursprünglichen Arbeitsgesang nur zu folgen und
zu begleiten hatte. Er führt nun konkret aus: »Der Jambus und Trochaeus
sind Stampfmaße: ein schwach und ein stark auftretender Fuß. Der Sponda-
eus ist ein Schlagmetrum, überall leicht zu erkennen, wo zwei Menschen im
Wechseltakte klopfen: Daktylus und Anapäst sind Hammermetren, noch
heute in jeder Dorfschmiede zu beobachten, wo der Arbeiter einem Sdilage
auf das glühende Eisen zwei kurze Vor- oder Nachschläge auf den Amboß
vorausgehen und folgen läßt. Der Schmied nennt das >den Hammer singen
lassem.« Und so weiter. Bücher betont dann, um einer allzu wörtlichen,
mechanischen Auslegung seiner Ergebnisse vorzubeugen, daß »die Verskunst,
einmal vorhanden, ihre eigenen Bahnen verfolgt, sobald das Gedicht von

1 Goethe an Zelter, Karlsbad 22. Juni 1808.


2 E. A. Poe: The rationale of Verse, Works, New York o. J., Band IV, S. 303.
3 Wölfflin: Renaissance und Barock, München 1926, S. 64 f., 123 f. usw.
274 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Musik und Körperbewegung sich losgelöst hat, und genügend selbständig


geworden ist, um sein Sonderdasein zu führen1.« Diese Vorsicht ist auch noch
dadurch begründet, daß die antike Poesie bekanntlich sich zwar aus diesen
Elementen der Arbeitsrhythmen aufbaut, jedoch nirgends mehr den Rhyth¬
mus einer bestimmten Arbeit bewahrt, vielmehr die durch eine ganze Reihe
von grundlegend anderen Gesichtspunkten bedingte Kombinatorik dieser
Elemente gibt: während die Arbeitslieder selbst - wie dies ebenfalls Bücher,
sich auf die aufbewahrten wenigen Verse aus einem Mahllied bei Plutarch be¬
rufend, nachweist - ganz andere, der Bewegung des Mühlsteins folgende
Rhythmen zeigen 2. Ähnliche Rhythmen kann man bei aus den verschiedensten
Zeiten und Weltgegenden stammenden Arbeitsliedern feststellen.
Die Loslösung vom ursprünglichen Arbeitsrhythmus ist also sehr weit¬
gehend. Ihren genauen Weg kennen wir nicht und werden ihn wahrschein¬
lich nie genau, etappenweise kennen. Daß aber darin als beginnendes Moment
die Gedanken- und Gefühlswelt der magischen Periode eine wichtige Rolle
gespielt, daß auf späterer Stufe der Zerfall der urkommunistischen Gemein¬
schaft, die Entstehung der Klassen, das Einandergegenüberstehen von Unter¬
drücker und Unterdrückten, von Ausbeuter und Ausgebeuteten den Stoff zur
inhaltlichen, gedanken- und gefühlsmäßigen Differenzierung gegeben hat,
scheint uns unbezweifelbar. Wie immer es jedoch in den einzelnen Etappen
dieser Entwicklung gewesen sein mag, die Tatsache bleibt, daß der Rhythmus
einerseits nicht nur immer abgestufter, vielseitiger wird, sondern sich auch
ununterbrochen inhaltlich anreichert, daß er aber andererseits in diesem Prozeß
seine - relativ zu den Gedanken- und Gefühlsinhalten - ursprünglich ein¬
fache, formelle Wesensart aufbewahrt. Diese - relativ - einfache und reine
Formartigkeit ist zugleich stark und unmittelbar gefühlsbetont. Das hat
bereits Aristoteles klar gesehen. Er sieht in den Rhythmen und Melodien Ab¬
bilder der verschiedenen menschlichen Leidenschaften, des Zornes und der Sanft¬
mut, des Mutes und der Mäßigkeit, sowie die ihrer Gegensätze. Darum kommen
sie in seinen Augen den ethischen Eigenschaften und Gefühlen sehr nahe 3.
Wir haben bereits über die Erweckung von Freude und Selbstbewußt-
sem infolge der Erleichterung der körperlichen Anstrengungen durch den

1 Bücher: a. a. O. S. 369 f.
Ebd. S. 58 ff. Vergleiche auch Burckhardt: Griediische Kulturgeschichte, a. a. O.
Band II, S. 204 f.
3 Aristoteles: Politik, VIII. Buch, Kapitel 6.
Rhythmus 27 5

ursprünglichen Rhythmus in der Arbeit gesprochen, und die einfachsten Lebens¬


tatsachen, z. B. die oft bis zur Begeisterung gesteigerte Lust an Marschrhyth¬
men, beim Gehen, besonders wenn es sich um Massen handelt, geben eine
einleuchtende Bestätigung hierfür. Da es gewiß eine Anfangsperiode gab, in
der alle Siege des Menschen über die Natur, alle damit verbundenen Steige¬
rungen seiner Fähigkeiten, als Auswirkungen von magischen Kräften erklärt
wurden, besteht kein Grund, diese Ideologie des Übergangs beim Arbeits¬
rhythmus abzulehnen. Um so weniger, als seine spontanen, fast rein oder über¬
wiegend körperlichen Folgen - deren wirkliche Gründe damals natürlich
nicht durchschaut werden konnten - offenkundig eine immanente Richtung,
Betonung, Färbung etc. hatten, die parallel mit den magischen Auslegungs¬
tendenzen liefen und diese zu fördern schienen: nämlich das Beherrschen einer
Naturkraft, oder die Steigerung des Erfolgs in einer menschlichen Tätigkeit
durch eine andere Tätigkeit, die diese nachahmt, jedoch kausal mit ihr in kei¬
nem Verhältnis steht. Diese Lage ist für die Beziehung von Arbeit und Rhyth¬
mus bei den primitiven Menschen gegeben und bietet eine, man könnte sagen,
natürliche Handhabe zur magischen Auslegung. Daß die Rhythmik, wie an¬
gedeutet, in einer großen Reihe von magischen Zeremonien eine wichtige
Rolle spielt, weist noch deutlicher auf diesen Zusammenhang hin.
Natürlich geht später eine Entwicklung vor sich, die diese Gebundenheit
immer stärker ablegt. Es widerspricht dieser Tatsache keineswegs, ja macht sie
noch wahrscheinlicher, daß - wie wir sehen werden - der Rhythmus, seine
Ausbildung, seine Differenzierung etc. für die anfänglich magischen Tänze,
etc. von höchster Wichtigkeit geworden ist. Jedenfalls ist auch für den höchst¬
gebildeten Menschen der Tatbestand vorhanden, daß die Rhythmik eine Art
von »Zauber« ausübt, d. h. daß sie einerseits eine Steigerung unseres Selbst¬
bewußtseins, unserer Fähigkeit des Beherrschens der Umwelt und unseres
Selbst zustandebringt, ohne daß wir andererseits darüber im klaren wären,
woher diese ihre Macht stammt, mit welchen Mitteln sie wirkt. Platon be¬
trachtet auch noch Rhythmik und Harmonie als »Gottesgaben«, die die
Menschen den Musen und den Musenführern Apollon und Dionysos als ihren
ersten Festgenossen verdanken1. Lind bereits ganz unmythologisch drückt
Goethe diese Gefühlsgrundlage des Rhythmus aus: »Der Rhythmus hat etwas
zauberisches, sogar macht er uns glauben, das Erhabene gehöre uns an2.«

1 Platon: Gesetze, II. Buch, Kapitel i.


2 Goethe: Maximen und Reflexionen, a. a. O. Band XXXVIII, S. 257.
ij6 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Daß in unseren Tagen diese Tatbestände zuweilen ins Mystische zurück¬


gedreht werden, ist nicht überrasdiend. Caudwell, mit dessen Ansichten wir
uns bereits auseinandergesetzt haben, sieht in den Künsten, über die der Rhyth¬
mus eine sichtbare Herrschaft ausübt, in Lyrik und Musik, Rückwendungen
zur magischen Periode. »Darum ist die Poesie instinktiver, barbarischer und
primitiver als der Roman b« Dieser Ausspruch wurde keineswegs darum
zitiert, weil er besonders treffend wäre. Er ist sogar ganz schief, denn die
Tendenz zum Barbarischen und Primitiven, die in der imperialistischen
Periode zweifellos einen großen Teil der bürgerlichen Kunst und Kunsttheorie
beherrscht, findet sicherlich nicht ihren Gipfel in der Lyrik im Gegensatz
zu den epischen Formen oder zur bildenden Kunst, sondern ist eine
generelle ideologische Erscheinung. Wobei noch zu bemerken ist, daß das,
was wir in der gegenwärtigen Kultur - oft mit Recht - als barbarisch emp¬
finden, nichts mit einer Rückkehr längst vergangener Zeiten zu tun hat,
sondern ein spezifisches, ureigenes Phänomen unserer Periode ist. So, um ein
krasses Beispiel anzuführen, das ganze, sicherlich barbarische System Hitlers.
So schief diese Ansicht Caudwells ist, ist sie jedoch sehr bezeichnend für die
Macht derartiger Ideen in unserer Zeit, besonders weil Caudwells Haupt¬
bestreben auf eine marxistische Analyse der ästhetischen Phänomene gerichtet
war. Die Gefahr solcher Tendenzen drückt sich vor allem in der Interpreta¬
tion allgemeiner Kunstprobleme und ihrer gegenwärtigen Lage aus, indem
eine aus der sozialen Lage der Intellektuellen in der imperialistischen Periode
erwachsenen Gefühlsweise als »magisch«, »primitiv« ausgelegt, und zur
Grundlage des Wesens und der Genesis der Kunst gemacht wird. Aber nicht
geringer ist die Gefahr, die Probleme der Genesis durch solche »Introjektio-
nen« als primitiv getarnter hochmoderner Gefühle zu verzerren und zu ver¬
dunkeln. Gerade weil wir - historisch - der magischen Periode in der Genesis
des Ästhetischen eine beträchtliche Bedeutung zuschreiben, müssen wir uns
immer wieder gegen solche Theorien verwahren. Bei Behandlung der Orna¬
mentik werden wir auf den entscheidenden Vertreter dieser Methode, auf
Wilhelm Worringer ausführlich zurückkommen.
Unsere bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, daß diese Rekurse auf das
»Primitive« nicht nur antihistorisch sind, sondern auch nichts Wesentliches
zur Lösung der ästhetischen Probleme beitragen. Wenn wir nun zur tiefen
Aussage Goethes über den Rhythmus zurückkehren, so können wir aus seinen

1 Caudwell: a. a. O. S. 246.
Rhythmus 277

gemeinsamen Bestrebungen mit Schiller klar ersehen, wie ästhetische Fragen


dieser Art wirklich konkretisiert werden können. Schiller ist bei der Arbeit
am »Wallenstein« auf das Problem von Prosa und Vers gestoßen und bei
seiner bedeutenden Abstraktionskraft, besonders im Ästhetischen, hat er die
eigenen Produktionsschwierigkeiten bis zur Höhe der Rückwirkung des
Rhythmus auf den dichterischen Gehalt verallgemeinert. Er schreibt in diesem
Sinn an Goethe: »Ich habe noch nie so augenscheinlich mich überzeugt, als
bei meinem jetzigen Geschäft, wie genau in der Poesie Stoff und Form, selbst
äußere, Zusammenhängen. Seitdem ich meine prosaische Sprache in eine
poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz anderen
Gerichtsbarkeit als vorher; selbst viele Motive, die in der prosaischen Aus¬
führung recht gut am Platz zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr
brauchen; sie waren bloß gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen
Organ die Prosa zu sein scheint; aber der Vers fordert schlechterdings Be¬
ziehungen auf die Einbildungskraft, und so mußte ich auch in mehreren mei¬
ner Motive poetischer werden. Man sollte wirklich alles, was sich über das
Gemeine erheben muß, in Versen, wenigstens anfänglich, konzipieren, denn
das Flache kommt nirgends so ins Licht, als wenn es in gebundener Schreibart
ausgesprochen wird1.«
Wir haben es also hier - in konkreter Form - mit derselben alles erhöhen¬
den und steigernden Funktion des Rhythmus zu tun, wie im früher zitier¬
ten Aphorismus Goethes. Nur daß dieser bloß die Wirkung, den subjektiven
Reflex plastisch zusammenfaßt, während Schillers Betrachtung auf die
Wechselwirkung von Form und Inhalt gerichtet ist; sie geht von der forma¬
len Funktion des Rhythmus als von etwas Gegebenem aus, und untersucht nun
prinzipiell, in welcher Weise jeder Gehalt modifiziert (gesteigert) werden
muß, damit seine richtige, organische Einheit mit der rhythmischen Form, mit
ihren Anforderungen zustandekomme. Wir können hier alle seine sehr inter¬
essanten Gedanken unmöglich in extenso zitieren; sie zeigen wie reich, kom¬
plex und inhaltsvoll diese Wechselbeziehungen in jedem konkreten Fall
werden. Seine abschließenden Folgerungen müssen dennoch angeführt werden,
da in ihnen eine tiefe und richtige Zusammenfassung der Beziehung des
Rhythmus zum Gesamtgehalt des Wortkunstwerks enthalten ist, obwohl
Schiller hier konkret nur das Drama ins Auge faßt. Das ist für uns bedeutsam,
um den ästhetischen »Ort« des Rhythmus so genau, wie hier möglich, zu

1 Schiller an Goethe, 24. November 1797.


278 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

begreifen. Darüber hinaus weisen diese Gedankenreihen auf wichtige Fragen,


an die wir erst im nächsten Kapitel herantreten können: auf die Rolle, die die
abstrakten Elemente und Momente der ästhetischen Form in der Konstituie¬
rung der eigentlichsten, der konkreten künstlerischen Formen, die die Wider¬
spiegelung der objektiven Wirklichkeit ästhetisch gewährleisten, spielen. Die
Klärung ihres Wesens ist auf dieser abstrakten Stufe, wie wir sehen werden,
nur eine Vorarbeit, nur eine Reinigung des Terrains, um diese Frage später
adäquat stellen zu können. Der ganzen Wesensart unserer Arbeit entsprechend
handelt es sich dabei noch nicht um die konkrete Lösung der ästhetischen
Probleme selbst. Deren unvermeidliche Klärung dient auf dieser Stufe nur
dazu: die Genesis der Kunst, ihre Ablösung vom Alltagsleben und von seinen
anderen Objektivationen in philosophischer Weise zu erhellen.
Schiller schließt seine diesbezüglichen Mitteilungen an Goethe so ab: »Der
Rhythmus leistet bei einer dramatischen Produktion noch dieses Große und
Bedeutende, daß er, indem er alle Charaktere und alle Situationen nach einem
Gesetz behandelt, und sie, trotz ihres inneren Unterschiedes in einer Form
ausführt, er dadurch den Dichter und seinen Leser nötigt, von allen noch so
Charakteristisch-Verschiedenen etwas Allgemeines, rein Menschliches zu ver¬
langen. Alles soll sich in dem Geschlechtsbegriff des Poetischen vereinigen,
und diesem Gesetz dient der Rhythmus sowohl zum Repräsentanten als zum
Werkzeug, da er alles unter seinem Gesetze begreift. Er bildet auf diese
Weise die Atmosphäre für die poetische Schöpfung, das Gröbere bleibt zurück,
nur das Geistige kann von diesem dünnen Element getragen werden1.«
Schiller weist in diesen Betrachtungen vor allem auf drei wichtige Wirkungen
des Rhythmus in komplexen, gehaltvollen, inhaltserfüllten Kunstgebilden
hin. Erstens auf seine vereinigende, inhaltlich Heterogenes homogeneisierende
Funktion, zweitens auf seine Bedeutung in der Auswahl des Gewichtigen,
im Ausscheiden des nebensächlichen Details; drittens auf seine Fähigkeit,
eine einheitliche, ästhetische Atmosphäre für das Ganze eines konkreten
Werks zu schaffen. Die bloße Aufzählung solcher Gesichtspunkte reicht hin,
um zu sehen, wie weit sich der Rhythmus als konkretes Moment einer kon¬
kreten gestalterischen Totalität von seinen einfachen abstrakten Ursprüngen
entfernt hat, wie er nunmehr Funktionen zu erfüllen berufen ist, die zur
Zeit seiner Entstehung in ihm naturgemäß nicht einmal im Keime enthalten
waren.

1 Ebd.
Rhythmus 279

Trotzdem ist seine Kontinuität mit den Anfängen keineswegs eine zufällige
oder willkürliche, auch kann sie nidit bloß aus seiner formellen Wesensart
begriffen werden. Wenn wir dabei an die eben analysierten Ausführungen
Schillers denken, so wird klar, daß solche Aufgaben, wie er der ordnenden
Tätigkeit des Rhythmus zuweist, dieser nur ausführen kann, wenn er in
bestimmten Beziehungen homogen mit den von ihm geordneten anderen
Elementen der betreffenden Kunstart ist. Es unterliegt nun keinem Zweifel,
daß diese im gegebenen Fall (und auch allgemein) Widerspiegelungen der
objektiven Wirklichkeit sind. Will doch Schiller durch den bewußt angewen¬
deten Rhythmus gerade erreichen, daß in den herangezogenen Wider¬
spiegelungsbildern eine stärkere Bewegung zum Betonen des Wesenhaften
entstehe, daß sie ihre ursprüngliche Selbständigkeit einander gegenüber, als
einzelne, heterogene Widerspiegelungsstücke abstreifen, und die Homogenei-
tät eines einheitlichen dramatischen Stromes erringen. Es ist klar, daß nur
die Widerspiegelung der Wirklichkeit eine solche Funktion im Ordnen der
Widerspiegelungselemente zu einem unifizierten Abbild der Wirklichkeit im
Kunstwerk zu leisten imstande ist.
Die Verwandlung des realen Reaktionsmoments des Rhythmus, als Moment
des Arbeitsprozesses, in eine Widerspiegelung, war, wie wir gesehen haben,
bereits die unerläßliche Voraussetzung für seine Anwendung auf verschiedene
Gebiete des Alltagslebens; er erhielt aber dort, wie wir ebenfalls hervor¬
gehoben haben, gedanklich vorerst eine magische Umhüllung. In dieser waren
aber bereits die Keime seiner ästhetischen Funktion objektiv enthalten, ja
gerade hier tritt bereits sein spezifischer Charakter als ästhetische Kategorie
immer deutlicher hervor. Erstens sein formaler Charakter. Der Rhythmus ist
nunmehr zwar eine Widerspiegelung der Wirklichkeit, jedoch nicht die ihrer
konkreten Inhalte, vielmehr und im Gegensatz dazu die jener bestimmten
wesentlichen Formen, die solche Inhalte objektiv gliedern und ordnen, die sie
für den Menschen brauchbar, nützlich machen. Auch in dieser Ausbreitung
und Verallgemeinerung spielt die Magie eine gewisse Rolle. Sie entfernt die
widergespiegelten Rhythmen immer stärker von ihrem realen Ursprung, wen¬
det sie auf neue Formen von Bewegungen, Gesängen etc. an, schafft dadurch
neue Variationen und Kombinationen zwischen ihnen, ohne deshalb ihre ord¬
nende Funktion aufzugeben oder abzuschwächen. Ja im Gegenteil: gerade die
magische Bindung, das Zeremonienhafte an ihr betont noch stärker, diesmal
aber nicht aus sachlichen Gründen, sondern gefühlsbetont, Gefühle erwedcend,
evokativ, im Rhythmus das Prinzip einer vom Menschen bejahten, sein
Selbstbewußtsein erweckenden und erhöhenden Ordnung. Dabei ist nodr zu
280 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

betonen, daß dieses immer energischere Erscheinen des Rhythmus als Form eine
Form von inhaltlich (magisch-inhaltlich) bestimmten Zielsetzungen ist; je kon¬
kreter diese als solche determiniert sind, desto stärker tritt der formale Charak¬
ter des Rhythmus hervor. Daß diese Bindung an die Magie sehr oft zu einer Er¬
starrung ins streng vorgeschriebene Zeremonienhafte führt, ist unbestreitbar.
Das ändert aber nichts an ihrer Bedeutung als Überleitung, als Übergang, nur
daß dieser nicht geradlinig, sondern kampfvoll sein muß. Eine ähnliche Bewe¬
gung von der besonderen künstlerischen Inhaltlichkeit zur klaren Befestigung
des formalen Charakters, tritt - mit allen Widersprüchen, die wir früher ana¬
lysiert haben - in Erscheinung, wenn die gesellschaftliche Entwicklung die be¬
sondere Gestalt des Ästhetischen herausarbeitet. Es handelt sich also um einen
langwierigen Prozeß mit einigen Knotenpunkten, ja Sprüngen, bis aus der
Wirklichkeit des Rhythmus im Arbeitsprozeß ein wichtiges, abstrakt-formales
Element der künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit wird.
Indem etwas in der Wirklichkeit sich unzählige Male Wiederholendes in seinen
dauernden Momenten durch die Widerspiegelung fixiert und immer erneut
auf neue Tatsachen und Komplexe angewendet wird, geschieht etwas Ähn¬
liches dazu, was Lenin über die Schlußformen als Widerspiegelungen der
Wirklichkeit genial ausgesagt hat. Jedoch ist dieser Widerspiegelungscharakter
einer Form, eines mannigfaltig anwendbaren Prinzips hier von qualitativ
anderer Art, als das von Lenin beschriebene — logische — Phänomen. Eine
echtere Analogie dazu bildet der Rhythmusbegriff der Prosodie; wir haben
aber sehen können, daß dieser nicht in seiner reinen Wesenheit für die ästhe¬
tische Praxis in Betracht kommt, sondern der inhaltdurchdrängte, konkret¬
besondere Rhythmus selbst. Unsere früheren Betrachtungen haben aber auch
gezeigt, daß der prosodische »Begriff« des Rhythmus nicht einfach eine außer¬
ästhetische Abstraktion ist. Der endgültige Rhythmus eines Werks ist das
Ergebnis einer widerspruchsreich-kampfvollen Einheit beider Momente.
Dieser Unterschied leitet zum zweiten Gesichtspunkt über. Der Rhythmus-
begriff der Prosodie (oder der Musiktheorie etc.) hat in seinem begrifflichen
Wesen etwas von der Wesensart anderer Begriffe, gehört insofern auch in die
Zusammenhänge einer Wissenschaft, enthält also Tendenzen, die ebenfalls
desanthropomorphisierend wirken. Der konkret-besondere Rhythmus selbst -
als ästhetische Kategorie - ist dagegen rein anthropomorphisierend. Er ent¬
steht aus der Wechselbeziehung des arbeitenden Menschen mit der Natur,
vermittelt durch deren gesellschaftliche Beziehungen miteinander, und soweit
in der Entwicklung der Kunst rhythmische Beziehungen entdeckt werden, die
unabhängig vom Menschen und seinem Bewußtsein existieren, werden sie -
Rhythmus 281

als Gegenstände oder Ausdrucksmittel der Kunst — entsprechend anthropo-


morphisiert, auf den Menschen, auf das Mensdrengesdilecht bezogen. (Tag
und Nacht, Jahreszeiten etc.) Und wenn im Laufe der Entwicklung der
Mensch an sich selbst Rhythmen physiologischen Charakters bewußtmacht
und ästhetisch auswertet (Atmen, Puls, etc.), so dienen sie der Verfeinerung,
der Differenzierung, der Weiterbildung von bereits entstandenen Rhythmen,
ohne deren Grundcharakter entscheidend zu verändern; hauptsächlich, weil
sie schon längst - in unbewußter Weise - an der Gestaltung des Rhythmischen
mitbeteiligt waren.
Darum hat jeder Rhythmus, der ästhetisch in Betracht kommt, einen emotio¬
nalen, evokativen Charakter. Dieser ist sdion in der Realität, im Arbeits¬
prozeß keimhaft vorhanden, jedoch bloß als spontanes Nebenprodukt. Erst
wenn dieser Rhythmus - als Widerspiegelung einer Form, eines Formungs¬
prozesses im oben angegebenen Sinn - bewußt angewendet wird, wird diese
Evokation zum Ziel und seine ursprünglich rein kausale Verursachtheit kehrt
sich ins Teleologische um. Natürlich ist auch die Arbeit selbst teleologisch,
in ihr jedoch ist das reale Arbeitsprodukt das Ziel eines realen Arbeitsprozes¬
ses, in dem der Rhythmus nur ein Hilfsmittel ist; in der Widerspiegelung
dagegen (auch wenn die Arbeit selbst etwa im Tanz nachgeahmt wird) wird
die Evokation zum Telos. Dieser Übergang beginnt sich schon in der Magie
zu vollziehen. So jedoch, daß das, was in unserer Analyse als Ziel erschien,
nur als Sprungbrett, als einem höheren Ziele dienendes Zwischenziel gesetzt
wird. Hier ist also das Ästhetische bereits an sich vorhanden; um sein echtes
Für-Sich-Sein zu erringen muß es die transzendente Umklammerung ab¬
reißen, muß die Evokation des menschlichen Selbstbewußtseins als allein
wahres, als - in diesen Zusammenhängen - »letztes« Ziel setzen. Die Ent¬
stehung des Ästhetischen ist also auch hier ein Säkularisieren, ein Irdisch¬
machen, ein In-den-Mittelpunkt-Rücken des Menschen. Das anthropomorphi-
sierende Prinzip ist hier keine Beschränkung des Horizonts, kein Mangel,
keine falsche Projektion in eine magisch-fiktive Objektwelt, sondern die
Entdeckung einer neuen Welt, die des Menschen für den Menschen.
Wir mußten in den letzten Bemerkungen wieder vorgreifen. Und zwar im
doppelten Sinne. Einerseits mußte auf das allgemeine Wesen des Ästhetischen,
wenigstens abstrakt, hingewiesen werden, ohne vorläufig den ganzen Prozeß
der jeweiligen Entstehung der Kunst aus der Tiefe und Fülle des Alltags und
ihr Zurückströmen in diese auch nur andeuten zu können; der Begriff des
Ästhetischen mußte also zu eng und zugleich zu allgemein gefaßt werden.
Andererseits mußte er auch zu weit genommen werden. Denn wir sprachen
282 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

ja eben von der Kunst im Allgemeinen und nicht speziell über das ästhetische
Wesen des Rhythmus als über ein abstraktes, formelles Teilmoment des Ästhe¬
tischen. Nach dem bisher Ausgeführten können wir dieses kurz so zusammen¬
fassen: der Rhythmus ist - eben als abstrakt-formelles Teilmoment - objektiv
weltlos, wenn audi der Möglichkeit nach weltbezogen, welten-ordnend;
subjektiv angesehen subjektlos, wenn er auch in seiner Intention evokativ
stets auf das Subjekt gerichtet ist. Erst damit haben wir das Wesen solcher
abstrakten Momente des Ästhetischen einigermaßen Umrissen. Weltlosigkeit
und Subjektlosigkeit sind die inhaltlichen Kennzeichen eines Gebildes forma¬
ler Art. (Hier ist von Weltlosigkeit im allgemein ästhetischen Sinne die
Rede, als Charakteristik abstrakter Formungsmomente. Es gibt natürlich
Fälle in der Entwicklung der Kunst, in denen Kunstformen, die ihrem
Wesen nach eine »Welt« gestalten sollen, - Epik, Dramatik, Malerei etc. -
infolge bestimmter abstraktiver Tendenzen ihrer Periode weltlos werden.
Diese Möglichkeit mußte hier kurz erwähnt werden, um eine Verwechslung
der Weltlosigkeit des Rhythmus mit dieser anderen zu vermeiden.)
Deshalb sind diese Elemente des Ästhetischen einer desanthropomorphisieren-
den, wissenschaftlichen Betrachtung am direktesten zugänglich. Deshalb kön¬
nen sie auch am leichtesten formalistisch erstarren. Dies kann bereits in der
magischen Entstehungsperiode, vor dem Selbständigwerden des Ästhetischen
geschehen, indem ein zeremonienhafter Formalismus das spontan Evokative
niederhält, in Routine verwandelt, seine Entfaltung hemmt. Jedoch auch die
spätere Kunstgeschichte zeigt, wie leicht die - nicht unbedingt von der un¬
mittelbaren künstlerischen Praxis ausgehende - Verallgemeinerung und
Systematisierung des rhythmischen Ausgangspunkts zu einer akademistischen
Erstarrung, zu einer bloß formalen, im tiefsten Sinne antikünstlerischen
Virtuosität werden kann. Die Gründe derartiger Phänomene sind sehr geeig¬
net das Wesen des Rhythmus als spezifische, abstrakte, ästhetische Form zu
erhellen. Es wurde schon wiederholt ausgesprochen, und es wird in den
späteren, konkreteren Darlegungen eine ausschlaggebende Rolle spielen, daß
das entscheidendste Merkmal der Eigenart der ästhetischen Form gerade darin
besteht, stets Form eines bestimmten Inhalts zu sein. Diesem Prinzip gegen¬
über können auch die abstrakten Elemente dieser Form - letzten Endes -
keine Ausnahme bilden. Sobald ihnen eine solche Verbindung zum — stets
einmalig konkreten — künstlerischen Gehalt fehlt, tritt die oben angezeigte
Erstarrung unfehlbar ein. Und es sei hier nur nebenbei bemerkt, daß darin
sich zugleich die Kontinuität in der Entwicklung des Rhythmus aus der
Arbeit, aus der Praxis der Menschen ausdrückt. Auch dort entsteht er aus
Rhythmus 283

einer konkreten Wechselwirkung zwischen den konkreten Fähigkeiten des


Menschen und den konkreten Eigentümlichkeiten bestimmter Naturvorgänge.
Sobald die Arbeit, wie wir gesehen haben, mit der Flerrschaft der Masdiine,
nicht mehr konkret vom Menschen aus bestimmt ist, hört der Rhythmus auf,
in diesem Sinne zu existieren und zu wirken, obwohl - rein objektiv an¬
gesehen, begrifflich betrachtet - die Maschine ebenfalls einen Rhythmus der
Bewegungen haben kann. (Daß dieser ebenfalls unter Umständen künstlerisch
gestaltet werden kann, soll nicht bestritten werden. Er ist aber dann aus einer
das Objekt bestimmenden Form in ein Objekt der künstlerischen Formung
auf Grundlage der anthropomorphisierenden Rhythmenentwicklung ver¬
wandelt worden.)
Die Betonung der allgemein ästhetischen Seite des Rhythmus reicht jedoch zu
seiner vollständigen Bestimmung noch nicht aus. Wir mußten die ästhetische
Seite seiner Weltlosigkeit und Subjektlosigkeit energisch hervorheben. Da¬
durch sind aber seine ästhetischen Bestimmungen keineswegs aufgehoben,
sondern bloß näher bestimmt. Weltlosigkeit bedeutet, mit diesen Einschrän¬
kungen, also so viel, daß der Rhythmus, als Widerspiegelung eines formalen
Moments der Welt, diese inhaltlich nicht in sich begreifen kann. Er ist in
einem gewissen Sinne inhaltlos, d. h. - abstrakt angesehen - auf beliebige
Inhalte formal beziehbar. Jedoch erstens ist diese Möglichkeit der Beziehung
zu einem Inhalt zugleich ein Imperativ; ohne eine solche Beziehung ist der
Rhythmus ästhetisch nicht vorhanden. Zweitens muß die abstrakte Bestim¬
mung der Beziehbarkeit auf beliebige Inhalte dahin konkretisiert werden,
daß zwar aus der Analyse eines Rhythmus für sich niemals herausgebracht
werden kann, auf welche Inhalte er anwendbar ist; daß aber in jedem ein¬
zelnen konkreten Fall der Inhalt eine deutliche und eindeutige Affinität zu
einem bestimmten Rhythmus hat. Weltlosigkeit bedeutet also Inhaltslosigkeit
im hier dargelegten Sinn, gepaart mit einer bestimmten unaufhebbaren, wenn
auch a priori nicht bestimmbaren, passiven, vom Inhalt ausgehenden Inten¬
tion zu je einem ganz konkret bestimmten Rhythmus.
Sehr ähnlich ist es um die Subjektlosigkeit des Rhythmus bestellt. Auch hier
ist diese Art der Widerspiegelung einer Form an sich unabhängig vom schaf¬
fenden und rezeptiven Subjekt. Aber auch hier ist diese Unabhängigkeit nicht
erkenntnistheoretischer Art, wie in der Wissenschaft, sondern involviert eben¬
falls eine gewisse Intention auf die Subjektivität: auf die Evokation bestimm¬
ter konkreter Gefühle, Empfindungen etc., und zwar sowohl für das schöpfe-
rische, wie für das rezeptive Subjekt. Die Intention ist jedoch keine direkte,
sondern wird durch die zu formenden Inhalte vermittelt, aber so, daß die
284 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Form nicht in dem Sinne restlos mit dem von ihr geformten Inhalt ver¬
schmilzt, wie in den eigentlichen, mimetischen Formen, sondern bei der Not¬
wendigkeit einer konkreten und organischen Einheit, bei dem Erlebniszwang
einer aus dem Gehalt herauswachsenden Form, doch eine gewisse - evokativ
wirkende - Selbständigkeit als Moment bewahrt. Die für die Ästhetik aus¬
schlaggebende Einheit von Form und Inhalt erscheint mithin in einer modi¬
fizierten, beschränkteren Weise. Das ist ein wesentliches Kennzeichen aller
abstrakten Formen, als Widerspiegelungen bestimmter, isolierbarer, formaler
Momente der Wirklichkeit. Die für die Ästhetik außerordentlich große Be¬
deutung dieser Wesensart der abstrakten Formen werden wir detailliert erst
in der Analyse der Ornamentik behandeln können, wo solche abstrakten
Formen nicht mehr als bloße Momente eines - nicht abstrakten - Komplexes
auftreten, sondern sich zu selbständigen Kunstformen zu organisieren im¬
stande sind.

II Symmetrie und Proportion

Vom philosophischen Standpunkt aus bieten die Probleme von Symmetrie und
Proportion viel weniger Schwierigkeiten, als die des Rhythmus. Vor allem
deshalb, weil sie zwar ebenfalls abstrakt-formale Widerspiegelungen bestimm¬
ter, wesentlicher und wiederkehrender Momente der objektiven Wirklichkeit
sind, in der menschlichen Praxis und insbesondere in der künstlerischen jedoch
niemals mit jener — relativen — Selbständigkeit auftreten können, die wir
beim Rhythmus feststellen mußten. Sie bleiben stets bloße Momente eines
Komplexes, dessen entscheidende Aufbauprinzipien nicht abstrakter Wesens¬
art sind. Damit fällt bei ihnen die ganze, komplizierte Dialektik des -
relativ - selbständig wirkenden Momentes weg, sie müssen nur als Momente
untersucht werden. In bestimmtem Sinne und gleichzeitig auf höherer Stufe
kehren diese Probleme wieder zurück, wenn Symmetrie und Proportion
als Momente einer abstrakt-totalen, zur Werkhaftigkeit erhobenen Form in
der Ornamentik auftreten. Dann sind sie aber auch nur Teilmomente jener
dialektischen Widersprüchlichkeit, die das Wesen der Ornamentik in der
Ästhetik bezeichnet.
Die Verschiedenheit dieser abstrakten Kategorien vom früher behandelten
Rhythmus zeigt sich auch darin, daß jene weitaus offensichtlicher in der vom
Menschen unabhängig existierenden Natur vorhanden sind, als dieser. Es
wäre sogar sehr naheliegend in ihnen ausschließlich eine Widerspiegelung
Symmetrie und Proportion 285

solcher in der Natur vorhandenen, durch Naturgesetze hervorgebrachten


Verhältnisse zu erblicken, wie sie auch in der wissenschaftlichen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit so Vorkommen. Die Gefahr, die aus einer solchen allzu
unmittelbaren Fassung der Widerspiegelungslehre in bezug auf derartige
Gegenstände erwächst, scheint zunächst nur das Problem der Genesis zu be¬
treffen: ästhetische Gefühle, die erst auf höherentwickelten Stufen der Kultur
entstehen können, werden auf diese Weise in die Ursprünge hineinprojiziert.
Die konkreten Gefahren, die daraus entspringen, können wir erst bei der
Analyse der Ornamentik eingehend behandeln.
Hier muß nur eine methodologische — ebenfalls vorwegnehmende - Bemer¬
kung gestattet werden, die vielleicht auch darum erlaubt ist, weil sie in
unseren bisherigen Betrachtungen wenigstens implicite enthalten war, näm¬
lich, daß das theoretische Gewicht der Genesis in der künstlerischen Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit ein qualitativ anderes ist, als in der wissenschaft¬
lichen. Der Untersdiied hängt mit der bereits angedeuteten strukturellen
Historizität jener Gebilde, die die künsterische Widerspiegelung schafft, zu¬
sammen: ist das Kunstwerk seinem objektiven Wesen nach historisch, d. h. ist
seine konkrete Genesis ein objektiver, nicht wegzudenkender Bestandteil sei¬
nes ästhetischen Wesens als Kunstwerk, so lassen sich Genesis und ästhetische
Eigenart nicht in jener genauen Weise trennen, wie in der Wissenschaft, wo
der Wahrheitsgehalt eines Satzes, einer Theorie, etc. sachlich nichts mit den
Umständen seiner Entstehung zu tun hat. Wir können den historischen Ge¬
sichtspunkt gegebenenfalls als Erklärung ihrer unvollständigen Annäherung an
die richtige Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit erfolgreich heranzie¬
hen. Damit wird jedoch die Kernfrage der wissenschaftlichen Wahrheit nicht
berührt. Darin kommt aber, wie wir gesehen haben, viel mehr als eine bloß
verschiedene Proportionalität im Verhältnis von Theorie und Geschichte zum
Vorschein; der Unterschied hat vielmehr eine wichtige Bedeutung für sämt¬
liche Probleme beider Arten der Widerspiegelung der Wirklichkeit. Die hier
ausschlaggebenden Fragen können wir erst später behandeln, dort, wo wir
auf das Verhältnis des An sich zum Für uns in beiden Arten der Widerspiege¬
lung zu sprechen kommen. Jetzt mag uns der erneute Hinweis auf den
anthropomorphisierenden Charakter der ästhetischen Widerspiegelung genü¬
gen. Wir haben bereits gesehen, und werden je weiter wir in der Konkreti¬
sierung seiner Wesensart kommen, desto deutlicher erkennen, daß das
anthropomorphisierende Prinzip in der Ästhetik - und nur in ihr - keine
Subjektivierung, nicht einmal im Sinne einer gesellschaftlich notwendigen, wie
in der Religion bedeutet, sondern eine eigenartige Objektivität, die freilich
286 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

unzertrennlich mit der menschlichen Gattung, als Gegenstand und Subjekt des
Ästhetischen verbunden ist.
Dieses Anthropomorphisieren ist ein grundlegendes Phänomen für die
Symmetrie soweit sie für die Ästhetik in Betracht kommt. Schon Hegel hat
festgestellt, daß objektiv angesehen zwischen den Raumkoordinaten, die wir
mit den Ausdrücken Höhe, Länge, Breite bezeichnen, an sich keine Unter¬
schiede sind. »Die Höhe« führt er weiter aus, »hat ihre nähere Bestimmung
an der Richtung nach dem Mittelpunkt der Erde; aber diese konkretere
Bestimmung geht die Natur des Raums für sich nichts an1.« An sich ist dies
eine allgemein geozentrische und nicht speziell auf den Menschen bezogene
Konstellation. Sie erlangt ihre Besonderheit erst mit dem aufrechten Gang
des Menschen, worin, wie Darwin und Engels zeigen, ein entscheidendes
Trennungsmerkmal vom tierischen Zustand in Erscheinung tritt2. Wie sehr
dadurch alle Beziehungen zur Wirklichkeit, zur Natur umgestaltet werden,
zeigt sich schon darin, daß überall, wo die Symmetrie in der menschlichen
Produktion zum Vorschein kommt, ein Vorherrschen der vertikalen Achse
vor der horizontalen zu beobachten ist. So sagt Boas: »In der weitaus größten
Zahl der Fälle von symmetrischen Arrangement finden wir solche als rechts
und links von der vertikalen Achse, viel seltener die von über und unter einer
horizontalen 3.«
Hier ist bereits ein weiteres wichtiges Moment ausgesprochen, das von rechts
und links. Weyl hebt in seinem interessanten Buch über Symmetrie mit Recht
hervor, daß wissenschaftlich angesehen naturgemäß nicht der geringste Unter-
sdried zwischen rechts und links vorhanden sein kann. Dagegen entsteht in
der menschlichen Gesellschaft ein sehr scharfer Unterschied, ja Gegensatz
zwischen ihnen, sie entwickeln sich zu Symbolen von Gut und Böse 4. Sie
werden aber nicht nur einfach symbolisch wertbetont; die bisher angedeutete
Symbolik könnte an und für sich nur eine an rechts und links assoziierte
Allegorik sein (und ist es auch in vielen Fällen). Als solche kann sie sogar
umgekehrt werden. Man denke an das - freilich moderne - Beispiel von rechts
und links in der Politik, wo, seit dem Jacobinismus in der französischen
Revolution in sehr breitem Maße gerade das Linke die Wertbetonung des

1 Hegel: Enzyklopädie, § 255.


2 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 693 f.
2 Boas: a. a. O. S. 33.
4 Weyl: Symmetry, Princeton University Press 1952, S. 16 f. und 22.
Symmetrie und Proportion 287

Richtigen, Fortschrittlichen etc. erhält. Hier sind freilich rechts und links schon
stark entsinnlichte, allgemeine Begriffe geworden, in denen nur äußerst ab¬
geblaßte Erinnerungsbilder der ursprünglichen, unmittelbar sinnlichen Erleb¬
nisse von rechts und links sich erhalten haben.
Daß es sich aber bei rechts und links nicht nur um bloße Assoziationen
allegorischen Charakters handelt, zeigen die außerordentlich interessanten
Aufsätze Wölfflins über diese Frage. Wölfflin wirft das Problem von rechts
und links für die Komposition der Malerei auf, und auch dort nur von einer
bestimmten Entwicklungsstufe an. In ihr erhält die Bewegung des Auges beim
Beschauer, d. h. die ästhetische Wirkung der Komposition eine ausschlag¬
gebende Bedeutung auch dann, wenn das Bild im wesentlichen symmetrisch
aufgebaut ist. Wölfflin illustriert diesen Gedanken an der sixtinischen Ma¬
donna und an Holbeins Darmstädter Marienbild. Diese Bedeutung steigert
sich noch, wenn die Komposition nicht symmetrisch ist. Wölfflin beschreibt das
wesentliche Erlebnis, das sich hier aus der Komposition ergibt folgender¬
maßen: »Im weiteren Verlauf solcher Beobachtungen ergibt sich dann, daß
wir durchweg von steigenden und fallenden Schräglinien zu reden Anlaß
haben. Was im Sinn der Links-Rechts-Diagonale läuft, wird als Steigen, das
entgegengesetzte als Fallen empfunden. Dort sagen wir (wenn sonst nichts
dagegen spricht): die Treppe führt hinauf, hier: die Treppe führt hinab. Die
gleiche Berglinie wird sich emporziehen, wenn die Höhe rechts liegt, und wird
sich senken, wenn die Höhe links liegt (daher auf Abendlandschaften so
häufig die Abdachung des Berges von links nach rechts hin) h« Es kommt für
uns hier nicht darauf an, ob es Wölfflin gelungen ist, ein allgemeines Kompo¬
sitionsgesetz der Malerei auszusprechen; er selbst äußert sich darüber sehr
vorsichtig, indem er nachdrücklich hervorhebt: »wenn sonst nichts dagegen
spricht«; er versäumt auch nicht hinzuzufügen, daß seine Beobachtung auf
bestimmte Kunstgattungen beschränkt ist: »Für die Architektur spielt das
Problem des Rechts und Links im dargelegten Sinne keine Rolle, für die dar¬
stellende Kunst erst von einer bestimmten Entwicklungsstufe und auch dann
nicht gleichmäßig1 2.« Aber die Analyse von sonst sehr verschiedenen Kunst¬
werken - ich verweise nur auf eine Landschaft Rembrandts, auf die Be¬
ziehung der Raffaelschen Kartons zu den ausgeführten Teppichen - zeigt, daß
es sich hier zumindest um ein nicht zu vernachlässigendes Partialphänomen

1 Wölfflin: Gedanken zur Kunstgeschichte, Basel 1941, S. 83.


2 Ebd. S. 90.
288 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

der Bildkomposition handelt, nämlich »daß die rechte Bildseite einen anderen
Stimmungswert hat, als die linke 1.«
Für unsere Zwecke reicht so viel vollkommen aus. Denn es sollte hier bloß
angedeutet werden, daß die objektive Symmetrie der Natur, sobald sie durch
die Praxis in menschliche Widerspiegelung eingezogen wird (diese muß
keineswegs unbedingt eine künstlerische sein), stark variierenden Tendenzen
unterworfen wird. Die Wirkung dieser geht keinesfalls so weit, die Sym¬
metrie überhaupt aufzuheben. Diese bleibt bestehen, ihre ästhetische Wider¬
spiegelung nimmt aber - und zwar je entwickelter die Kunst wird, desto
stärker - den Charakter einer modifizierenden Annäherung an. Bei dieser
Bestimmung sind beide Termini gleich wichtig. Denn die Annäherung ist hier
nicht wie in der Wissenschaft der Versuch, immer näher zum Gegenstand zu
kommen, sondern bleibt, mit künstlerischer Absicht, auf einer bestimmten Stufe
stehen; auf einer Stufe, die die Symmetrie als solche für den Zuschauer sicht¬
bar und erlebbar macht, jedoch derartig gewichtige Modifikationen, Abwei¬
chungen einfügt, daß die Symmetrie niemals in ihrem wirklichen und konse¬
quent ausgedrückten Wesen zur Geltung gelangt, sondern zu einer bloßen
- freilich wichtigen - Komponente der konkreten Bildtotalität wird.
Natürlich gibt es, vor allem in der Ornamentik, Beispiele einer folgerichtig
durchgeführten Symmetrie, z. B. im sogenannten Wappenstil, wo Tiere,
Pflanzen, sogar Menschen in voller Entsprechung, ohne das hier erörterte
rechts-links-Problem auch nur anzuschneiden, rein dekorativ abgebildet wer¬
den. Es ist klar, daß daraus nur eine denkbar abstrakte, sehr geringe
Variationen, Entwicklungsmöglichkeiten zulassende Gestaltungstendenz ent¬
springen konnte. Sie spielt deshalb in den Anfängen, vor allem der orienta¬
lischen Kunst eine nicht unbeträchtliche Rolle. Später wird der Wappenstil
zum Zeichen der Erstarrung, des Niedergangs. Ein in bezug auf eventuelle
Unterschätzungen solcher Tendenzen derart unverdächtiger Zeuge wie Riegl
sagt darüber: »Das Prinzip des Wappenstils, die absolute Symmetrie hat in
der späten Antike überhaupt eine sehr maßgebende Rolle gespielt, was viel¬
leicht mit der sinkenden Schaffenskraft im Kunstleben dieser Zeit zusammen¬
hängt, da die hellenistische Kunst noch die relative Symmetrie in der
Dekoration beobachtete, und die Langweiligkeit der absoluten Symmetrie
nach Möglichkeit vermied 2.«

1 Ebd. S. 83.
2 A. Riegl: Stilfragen, Berlin 1923, S. 37.
Symmetrie und Proportion 289

Aus alledem können aber, im Gegensatz zum Rhythmus, kaum auch nur
einigermaßen sichere Schlüsse auf das Problem der Genesis gezogen werden.
Daß die Bevorzugung der rechten Seite mit der Arbeit, mit der Rolle der
rechten Hand in ihr Zusammenhängen mag, scheint auf den ersten Blidc ziem¬
lich plausibel. Dafür spricht die Ansicht Paul Sarasins, daß die keilförmigen
Sternchen und Faustkeile der Steinzeit noch teils für den Gebrauch mit der
rechten, teils für den mit der linken zugeschliffen waren, daß eine Bevor¬
zugung der rechten Hand in der Steinzeit nidit nachweisbar ist. Diese sei erst
in der Bronzezeit entstanden. Die Frage ist jedoch, soweit mir als Nicht¬
fachmann bekannt, heute noch so stark umstritten, daß es sehr gewagt wäre
Folgerungen zu ziehen. Um so mehr als, wie es scheint, die für die europäische
Kunst sehr plausible Hypothese Wölfflins in bezug auf die orientalische Kunst
stark bezweifelt wird h Wir können also nicht einmal darüber etwas auch nur
einigermaßen Wahrscheinlidies aussagen, ob es sich hier um eine rein physio¬
logische, oder um eine gesellschaftliche, die physiologische Disposition durch
die Arbeit modifizierende Tendenz handelt.
Jedenfalls ist aber hier der grundlegende Widerspruch zwischen abstrakt
geometrischen Kategorien wie Symmetrie und zwischen den Aufbaugesetzen
des organischen Lebens sichtbar geworden. Weyl weist in seinem Buch mit
Recht die Tendenz zur Asymmetrie im Dasein des Organismus auf1 2. Es handelt
sich hier um einen echten Widerspruch. Denn ebenso wie in der anorganischen
Welt die Gesetze der Materie symmetrische Gebilde hervorbringen, so vor
allem die Kristalle, über die Ernst Fischer - in richtiger Polemik gegen idea¬
listische Auffassungen - auseinandersetzt, daß auch hier der Inhalt (Struktur
und Bewegungsgesetze der Atome) die Form und nicht umgekehrt die Form
den Inhalt bestimmt 3, müssen die Fragen der Morphologie auf organischem
Niveau nach den objektiven Gesetzen der Materie beurteilt werden. Hier
tritt nun ein echter Widerspruch zutage, daß nämlich der Organismus gleich¬
zeitig und in untrennbarer Weise symmetrisch und asymmetrisch ist. Eine
ausführliche Behandlung dieser Frage gehört naturgemäß nicht hierher. Be¬
stimmte ihrer Konsequenzen wurden bereits bei Gelegenheit der redrts-links-
Frage gestreift. Wir verweisen also bloß auf ein Beispiel, das für die spätere
Kunst von höchster Wichtigkeit ist: auf die gleichzeitig symmetrische und

1 Ciba Zeitschrift, Basel, VI. Jahrgang, Nr. 62.

2 Weyl: a. a. O. S. 30.
3 E. Fischer: Kunst und Menschheit, a. a. O. S. 171-
290 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

asymmetrische Wesensart des menschlichen Gesichts. Die Tatsache ist jedem


bekannt. Und wer sidr die Mühe genommen hat, die echte Physiognomie eines
Menschen mit jenen Bildern zu vergleichen, die man aus der Verdoppelung
und Gleichmachung je einer Gesichtshälfte zusammenstellt, wird unschwer
sehen, daß einerseits diese Konstruktionen im Gegensatz zur Lebendigkeit
des wirklichen Gesichts eine unaufhebbare physiognomische Starrheit er¬
halten, daß andererseits die beiden Kombinationen sowohl untereinander,
wie im Vergleich zum Original in bezug auf Ausdruck völlig verschieden
sind. Ohne irgendeine Analyse der hier möglichen und auftauchenden Fragen
auch nur zu versuchen, ist schon der so abstrakt gestreifte Tatbestand hin¬
reichend, um einzusehen, daß jedes menschliche Gesicht (und darum natürlich
auch seine künstlerische Widerspiegelung) im Ganzen wie in allen Details
die dialektische Einheit des Widerspruchs von Symmetrie und Asymmetrie als
bewegenden Faktor in sich enthält, daß die künstlerische Lösung nicht in
einer Aufhebung dieses Widerspruchs, sondern in seinem das ganze Kunst¬
werk fundierenden, möglichst vielseitigen und vollständigen, alle Details um¬
fassenden Durchführen besteht; wobei naturgemäß die künstlerische Wider¬
spiegelung beide Seiten des Widerspruchs stärker betont, als die Wirklichkeit
selbst. Die Symmetrie wird und kann hier nicht einfach aufgehoben werden;
sie erscheint überall als eine Seite, als ein Moment des grundlegenden Wider¬
spruchs; sie ist nur im Sinne der oberflächlichen Anschauung vom rein sym¬
metrischen Charakter des Menschengesichts aufgehoben. Das heißt, es entsteht
hier ein echter Widerspruch im Sinne von Marx, daß nämlich die Widersprüche
nicht aufgehoben werden, wohl aber ihr Zusammen die Form schafft, »worin
sie sich bewegen können1.«
Eine Widersprüchlichkeit verwandter Art beherrscht das Problem der Propor¬
tionalität. Die Übergänge von einem Problem zum anderen sind in der Praxis
oft ganz unmerklich. Verständlicherweise; denn sobald die eben geschilderte
Dialektik der Symmetrie zum Vorschein kommt, sobald diese aufhört, ab¬
soluter Kanon zu sein — und dies geschieht sehr früh, nicht nur in der direkten
Wiedergabe der Gegenstände der Außenwelt, sondern auch in der Orna¬
mentik selbst — müssen andere, ergänzende Regeln aufgefunden werden, die
ein Ordnen der Erscheinungswelt, eine Unterscheidung des Richtigen und
Falschen in ihr ermöglichen. So ist es auch mit der Proportionalität bestellt.
Dazu ist aber zu bemerken, daß ihr Problem einerseits gerade daraus

1 Marx: Kapital, Band I., a. a. O. S. 68.


Symmetrie und Proportion 291

entspringt, daß das Ordnen der Widerspiegelung der Wirklichkeit über die bloße
und an sich sehr einfache Symmetrie hinausgeht und rational faßbare Prinzi¬
pien sucht, die die objektive und erscheinende Gesetzlichkeit von unmittelbar
inkommensurabel vorkommenden Phänomenen und Phänomengruppen ver¬
ständlich machen. Andererseits ist es klar - darauf kommen wir sogleidi zu
sprechen - daß die Proportionalitätsfragen mit unmittelbarer Notwendigkeit
schon aus der primitivsten Produktion entspringen. Es ist also sicher kein
Zufall, daß seit der Antike bis in die Renaissance das Problem der richtigen
Proportionen für die ganze Kunst und Kunsttheorie sehr wichtig wird. Dies
gilt vor allem für die Theorie und Praxis der Gestaltung des organischen
Lebens, des Menschen in Malerei und Skulptur (über die Architektur werden
wir bald gesondert sprechen). Man sucht mit allen möglichen theoretischen
Mitteln, mit Messung, mit Geometrie, mit Anlehnungen an Euklid etc. jene
Proportionen aufzudecken, deren bildnerische Darstellung die Schönheit des
so Gestalteten garantieren könnte. Es kann hier ebensowenig wie in den
bisher behandelten Fällen unsere Aufgabe sein, diese Problematik ausführlich
zu behandeln. Es genügt, wenn wir auf den sogenannten goldenen Schnitt
hinweisen, und nur beiläufig bemerken, daß die Proportionalitätsstudien
bedeutender Künstler, wie Leonardo oder Dürer, einen viel umfassenderen
Problemkreis zu bewältigen bestrebt waren.
Ohne Frage ist die Proportion eine Widerspiegelung der objektiven Wirk¬
lichkeit. Wenn unsere Existenz sich nicht in einer Welt voll von ihren objek¬
tiven Existenzbedingungen entsprechend proportionierten Lebewesen und
Dingen abspielen, wenn die einfachste Arbeitspraxis nicht zeigen würde, daß
kein brauchbarer Gegenstand hergestellt werden kann, der nicht, im engsten
Zusammenhang mit seiner Nutzbarkeit, dem Zweck seiner Produktion rich¬
tig proportioniert sein müßte, so wäre die Vorstellung der Proportion wohl
nie entstanden. Wie stark die Vermittlungsrolle der Arbeit in der Ent¬
deckung der Proportionalität der nicht vom Menschen geschaffenen Welt
wirksam gewesen ist, werden wir wohl nie mit voller Sicherheit wissen. Der
Zusammenhang ist hier - ebenso wie bei der Symmetrie - weniger faßbar,
als im Falle des Rhythmus. Dazu kommt, daß sowohl Symmetrie wie Pro¬
portion so wichtige Momente der Morphologie der Lebewesen, darunter
auch des Menschen sind, daß es naheliegt, anzunehmen, ihre Wirkung
auf das Erkenntnis- und Schaffensinteresse sei eine direkte, keiner Ver¬
mittlungen bedürftige gewesen. Solche Erklärungen sind sehr häufig. Ihre
Quelle in der modernen bürgerlichen Kunsttheorie ist die Scheu davor,
in der Widerspiegelung der Wirklichkeit das wesentliche Moment der
292 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Arbeit anzuerkennen. Besonders radikal formuliert diese Anschauung


Worringen Dabei ist es methodologisch nicht ausschlaggebend, daß in
der zitierten Stelle seine Polemik sich gegen die Abbildung der geome¬
trischen Formen der kristallinisch anorganischen Materie wendet. Er sagt:
»Vielmehr dürfen wir mutmaßen, daß die Schöpfung der geometrischen Ab¬
straktion eine reine Selbstschöpfung aus den Bedingungen des menschlichen
Organismus heraus war . . . Sie erscheint uns, wie gesagt, als reine Instinkt¬
schöpfung 1.«
Unsere Bedenken gehen von völlig entgegengesetzten Voraussetzungen aus.
Wir haben bereits betont, daß wir die Proportionalität für eine Widerspiege¬
lung realer Verhältnisse in der objektiven Wirklichkeit halten. Unsere Frage
richtet sich nur darauf: auf welchen Wegen die Menschen diese Widerspiege¬
lung sich bewußt gemacht haben? Ob sie unmittelbar von der direkten
Beobachtung derartiger Tatbestände in der Außenwelt ausgegangen sind,
ausgehen konnten, oder ob ein Umweg über die Praxis, über die Arbeit für
sie nötig war, um diese sachlich-objektiven Beziehungen apperzipierbar zu
machen. Die so gestellte Frage der Genesis weist aber zugleich auf ästhetische
Zusammenhänge: sie deckt das anthropomorphisierende Wesen der ästheti¬
schen Widerspiegelung der Wirklichkeit auf. Es scheint nun wenig wahr¬
scheinlich, daß der erst werdende Mensch, der seine Kultur an Werkzeugen
und Geräten noch nicht ausgebildet hat, an sich selbst oder an anderen Lebe¬
wesen so komplizierte und ohne relativ starke Verallgemeinerung nicht er¬
faßbare Bestimmungen, wie Symmetrie oder Proportion beobachtet oder
begriffen hätte. Dagegen erzwingt die Flerstellung selbst der primitivsten
Werkzeuge und Geräte ein praktisches Achten auf Symmetrie und Pro¬
portion. Die Erfahrung mußte zeigen, daß sogar beim Faustkeil die bessere
Nutzbarkeit eine wenigstens annähernde Einhaltung der Proportionen zwis¬
chen Länge, Breite und Dicke voraussetzt. Und erst recht bei komplizierteren
Produkten - sei es beim Pfeil, wo eine Symmetrie erforderlich, sei es in der
Töpferei, wo das Einhalten von genauen Proportionen für die Brauchbarkeit
unerläßlich ist — muß ein relativ hoher Grad zumindest von »Fingerspitzen¬
gefühl« für Symmetrie und Proportionalität in der Arbeit allmählich ent¬
stehen. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß solche Ffandwerker ein deut¬
liches Bewußtsein über die allgemeinen Begriffe gehabt hätten, die ihrem
Tun objektiv zugrunde lagen. Wir erinnern nur daran, wie spät sich die Zahl

1 W. Worringer: Abstraktion und Einfühlung, München 1908, S. 46.


Symmetrie und Proportion 293

im Denken der Menschen durchgesetzt hat. Diese waren schon durchaus im¬
stande, relativ große Mengen »praktisch« zu beherrschen, z. B. in einer
beträchtlichen Herde genau zu wissen, daß ein Tier fehlt. Dies geschah aber
durch das qualitative Auseinanderhalten der einzelnen Tiere als Individuali¬
täten, nidit aber durdi ihr Zählen und durch einen Vergleich der Zahlen.
Letzteres ist nachweisbar das Ergebnis einer viel späteren Entwicklung.
Darum glauben wir, daß auch vieles in der konkreten Arbeitserfahrung prak¬
tisch bereits errungen und fixiert war, lange bevor eine solche Verallgemeine¬
rung stattfand, die es gestattet hätte, die Vorstellung der Proportion etwa auf
weitere Gebiete außerhalb der Arbeit anzuwenden. Erst nachdem solche Er¬
fahrungen zu stabilen Gewohnheiten wurden, erst nachdem das Wachsen und
die Ausbildung der Produktion immer kompliziertere Probleme der Propor¬
tionalität gestellt hat, können verallgemeinertere Fragestellungen in bezug
auf Proportionalität überhaupt aufgeworfen werden; vor allem wenn die
gesellschaftliche Praxis bereits die Handhabung einer Arithmetik und Geo¬
metrie, selbst auf primitivster empiristischer Grundlage, hervorgebracht hat.
Daraus folgt sicher nicht, daß die praktisch-künstlerische Anwendung richtiger
Proportionen unbedingt so lange hätte warten müssen, bis die Theorie die
Frage der Proportionalität abstrakt gestellt hatte. Im Gegenteil. Wir haben
bereits wiederholt darauf hingewiesen, daß die künstlerische Praxis den
ästhetischen Reflexionen weit vorauszueilen pflegt. Auch hier steht es
höchstwahrscheinlich so, daß ein langes erfolgreiches Ausprobieren der Pro¬
portionen in den verschiedenen Zweigen der Produktion die Aufmerksamkeit
auf die Proportionalität auch im organischen Leben gerichtet, und vernünftige
Fragestellungen darüber ermöglicht hat. Diese haben - auch wenn sie als
theoretische Fundamentierung der künstlerischen Praxis auftreten, wie in der
Antike der verlorene Traktat Polyklets - einen überwiegend wissenschaft¬
lichen Charakter. Darin ist nichts Verwunderliches. Erstens kommt es häufig
vor, daß die künstlerische Praxis im Prozesse der Selbstbefreiung von Magie
und Religion in der Wissenschaft eine Stütze sucht; was gesellschaftlich noch
dadurch unterstützt wird, daß das soziale Ansehen der Gelehrten in diesen
Zeiten höher zu sein pflegte, als das der Künstler, weshalb sie auch aus solchen
Gründen für ihre Tätigkeit ein wissenschaftliches Fundament suchend, als
Wissenschaftler auftreten; solche Stimmungen finden wir noch in und nach
der Renaissance. Zweitens - und hier liegt der theoretisdt tiefere Grund dieses
Zusammenhangs - erscheint freilich im objektiven Kunstwerk die ästhetische
Widerspiegelung in ihrer eigentlichen und reinen Form und löst die ihr ent¬
sprechenden Erlebnisse im Rezeptiven aus. Es steht also der wissenschaftlichen
294
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Widerspiegelung selbständig und gleichwertig gegenüber. Die künstlerische


Bewältigung der objektiven Wirklichkeit im Schaffensprozeß kann aber
niemals die Ergebnisse der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Welt völlig
entbehren. Je nach Zeitalter, Kunstart, auch je nach Künstlerpersönlichkeiten
wird dieser Anteil der wissenschaftlichen Widerspiegelung am Schaffens¬
prozeß objektiv wie subjektiv sehr verschieden sein; in bestimmten Künsten,
z. B. in der Architektur, ist dieser als integrierender Bestandteil aus dem
Schaffensprozeß überhaupt nicht wegzudenken. Es kann sich dabei sowohl um
Hilfe in der Eroberung der Welt, um Vertiefung ihrer Erkenntnis, also um
inhaltliche Probleme, wie um Formfragen (so auch bei der Proportion) han¬
deln. Ein bedeutsamer Teil der schöpferischen Praxis besteht gerade darin, die
richtige Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit so weit wie möglich zu
bewahren, ja zu vertiefen, jedoch zugleich den ganzen so errungenen Gehalt
in die Formen der ästhetischen Widerspiegelungen zu erheben, aus - vorüber¬
gehend-angeeigneten und angewandten desanthropomorphisierenden Weisen
der Widerspiegelung ästhetisch anthropomorphisierende zu machen, oder jene
in diese rückzuverwandeln, wenn - wie dies bei echten Künstlern zumeist der
Fall ist - Ursprung und Ausgangspunkt des Schaffensprozesses anthropo-
morphisierender Art war.
Die echt ästhetische Problematik der Proportionalität setzt also auf verhält¬
nismäßig entwickelteren Stufen ein; ihre Gesetze werden gesucht, um für das
ästhetische Wesen der organischen Welt eine solide Grundlage aufzufinden.
Die Proportionalität der unmittelbaren Produkte der Arbeit (Werkzeug etc.)
kennt in diesem Sinne keine Problematik: sie entspringt aus der Arbeits¬
erfahrung, aus der in dieser immer höher entwickelten Fähigkeit, die für die
Brauchbarkeit unerläßlichen Proportionen richtig zu erfassen und im jeweili¬
gen Material zur Geltung zu bringen. Freilich taucht hier ebenfalls ein wich¬
tiges Problem des Ästhetischen und seiner Genesis auf. Nämlich die Frage,
wie eine solche ursprünglich rein auf die Tagespraxis gerichtete Arbeit ins
Ästhetische umschlägt. Der Übergang erfolgt sicher nicht bewußt. Die innere
Verwachsenheit von Kunst und Handwerk ist in allen vorkapitalistischen
Formationen so stark, daß viele Zweige selbst der objektiv unzweifelhaft
künstlerischen Tätigkeit im Bewußtsein der Schaffenden und der unmittel¬
bar Rezeptiven noch lange als handwerksmäßige, praktische Arbeit weiter¬
leben. Wenn wir nun hier an die Frage der Genesis des Ästhetischen philo¬
sophisch herantreten wollen, stoßen wir auf das Problem der Beziehung,
des Unterschieds (oder Gegensatzes) von Angenehmen (Nützlichen) und
Schönen.
Symmetrie und Proportion 295

Besonders Kant hat, freilich in einem viel breiteren Sinne als hier, jedoch
nicht genetisch, sondern als zeitlos grundlegend für die Ästhetik diese Frage
gestellt. Seine extrem subjektiv-idealistische und darum starr-formalistische
Antwort hat vielfachen Protest hervorgerufen; so fast unmittelbar nach dem
Erscheinen der »Kritik der Urteilskraft« bei Herder. Die Kantsche Bestim¬
mung wirft außerordentlich wichtige Fragen auf, deren Fruchtbarkeit wird
aber durch ihre metaphysische Starrheit in der Gegenüberstellung von An¬
genehm und Schön stark beeinträchtigt. Er hat das richtige Gefühl, daß die
trennende Grenze in den Wirklichkeitsbeziehungen, die beiden zugrunde
liegen, zu suchen ist. Daß dabei beim Angenehmen die konkrete Existenz
(die konkrete Nutzbarkeit) eines bestimmten Gegenstandes die ausschlag¬
gebende Rolle spielt, während der Übergang zum Ästhetischen eine - rela¬
tive - Ablösung von dieser praktischen Gebundenheit an das Alltagsleben,
an ihre Praxis beinhaltet, ist sicher riditig. Aber der subjektive Idealismus
Kants, der keine Widerspiegelung einer vom Bewußtsein unabhängig existie¬
renden Wirklichkeit anerkennt, noch anerkennen kann, muß hier zu starren
Gegensätzlichkeiten gelangen. Er betrachtet als das Wesentliche des Ästheti¬
schen: »Ob diese bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen
begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des
Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag1.«
Die metaphysische Starrheit kommt in der vollen Gleichgültigkeit der
Existenz des Gegenstandes gegenüber schroff zum Ausdruck. In der Wirklich¬
keit, wo die von Kant erwähnte Vorstellung eben die Widerspiegelung dieses
Gegenstandes ist, bedeutet der deutlich vorhandene Unterschied zwischen der
Sache selbst und ihrer Widerspiegelung keineswegs einen derartig starren
Gegensatz. Schon das Alltagsleben bringt, wie wir in anderem Zusammen¬
hang sehen konnten, mitunter gewisse Distanzierungen von der »Existenz«
des Gegenstandes, andererseits aber und vor allem ist in keiner Konzentra¬
tion des Bewußtseins auf das in der Widerspiegelung fixierte Abbild des
Gegenstandes eine völlige Gleichgültigkeit seiner Existenz gegenüber ent¬
halten. Schon daß alle in ihm wahrgenommene Bestimmungen mit dem
realen Original übereinstimmen müssen, und nur an ihm als richtige verifi¬
ziert werden können, schließt eine Gleichgültigkeit in Kantschem Sinne aus.
Natürlich - und darin liegt die wichtige, wenn auch relative Richtigkeit von
Kants Feststellung - entsteht ein ästhetisches Verhalten zum Gegenstand erst

1 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 2.


2c>6 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

dann, wenn sich das Interesse auf das Widerspiegelungsbild als solches kon¬
zentriert. Damit ist aber das Band, das den existierenden Gegenstand mit
seinem Abbild verbindet, niemals vollständig abgerissen. Wir können diese
Verbindung erst bei komplizierten Fällen der Widerspiegelung, wo dement¬
sprechend auch diese Verbindungen viel komplizierter sind, eingehend
studieren; vorwegnehmend sei nur so viel bemerkt, daß auch bei extremster
Phantastik der Gestaltung, also bei größter Entfernung der Kunst von der
faktisch gegebenen Wirklichkeit, diese Bezogenheit auf die Existenz dessen,
was abgebildet wird, doch immer erhalten bleibt. Das Erlebnis jeder »künst¬
lerischen Wirklichkeit« enthält notwendig ein Moment des Hinweises auf die
reale Wirklichkeit selbst. Mag der Abstand zwischen beiden »Wirklichkeiten«
noch so groß sein, diese Verdoppelung verschwindet nie völlig; im Mitgehen
des Rezeptiven ist immer eine Bejahung der Richtigkeit der Widerspiegelung
- Richtigkeit in weitestem Sinne und nicht als photokopiehafte Ähnlichkeit
verstanden - enthalten l.
Das äußert sich ganz deutlich in der Wirkung des Kunstwerks. Natürlich ist
diese - unmittelbar - eine volle Hingabe an die gestaltete Widerspiegelung,
so daß der Schein entsteht, als ob tatsächlich die Kantsche Gleichgültigkeit
der Existenz des Originals gegenüber entstehen würde. Und diese Unmittel¬
barkeit ist - wie wir im zweiten Teil bei Behandlung des rezeptiven Verhal¬
tens sehen werden - ein integrierendes Moment der Aufnahme des Kunst¬
werkes. Tritt diese nicht ein, so kann von ästhetischem Eindruck gar nicht
gesprochen werden. Aber auch das Verhalten der einfachen Rezeptivität
(gar nicht zu reden von dem des Kritikers, des Kunstphilosophen etc.) bleibt
dabei nicht stehen. Auch der einfache Rezeptive macht sich als ganzer Mensch
das Kunstwerk zu eigen: seine Erlebnisse, Lebenserfahrungen, etc. vor der
Wirkung, die ein gegebenes Kunstwerk auf ihn ausübt, sind dafür eine un¬
erläßliche Voraussetzung und der wirklich tiefe, echt ästhetische Eindruck
des Werks wird nunmehr zum unverlierbaren Besitz eben desselben ganzen
Menschen. Er wird nicht nur seine künftige ästhetische Empfänglichkeit
beeinflussen, sondern wirkt auf sein späteres Denken, Handeln etc. mehr oder
weniger entscheidend ein. Da nun den Gehalt des Werks gerade die Wider¬
spiegelung einer existierenden Welt ausmacht und das künstlerische Wie der

1 Aus alledem folgt eine dialektisch-materialistische Korrektur von Kants Theorie


der »Interesselosigkeit«; eine Auseinandersetzung mit ihr kann aber nur auf
entwickelterer Stufe unserer Darlegungen folgen.
Symmetrie und Proportion 297

Formung sich von der Stellungnahme des abgebildeten Inhalts nur mit einer
vergewaltigenden Abstraktion loslösen läßt, ändert der verarbeitete Eindruck
im Rezeptiven auch seine Stellung zu dieser Wirklichkeit selbst. Wie weit und
wie kompliziert vermittelt diese Nachwirkung ausfällt, wie weit sie in eine
bejahende oder verneinde Ridrtung geht, etc. ändert nichts an der Tatsache,
daß damit die Kantsche »Interesselosigkeit« aufgehoben wird, ohne daß der
Bereich des Ästhetischen verlassen worden wäre.
Wir mußten diese Kritik der Kantschen Gegensätzlichkeit zwischen An¬
genehm und Schön wenigstens andeuten, obwohl das Problem das uns jetzt
beschäftigt, ein viel engeres und primitiveres ist. Die Entdeckung der rich¬
tigen Proportionen im Arbeitsprozeß und damit die Entstehung von wohl¬
proportionierten und infolgedessen nützlichen Gegenständen ist an und für
sich noch kein ästhetisches Phänomen. Unsere Frage bezieht sich also darauf:
wie diese Gegenstände als soldie zu Objekten der Ästhetik werden können?
Die Fruchtbarkeit der relativ richtigen Einsicht Kants in dieses Phänomen
zeigt sich darin, daß eine Ablösung von der real-praktischen Nutzbarkeit des
bestehenden Arbeitsprodukts tatsächlich stattfindet. Jedoch erstens bleibt der
Träger des ästhetischen Erlebnisses hier doch der reale Gegenstand selbst;
besser gesagt, es handelt sich natürlich überall um das in der Widerspiegelung
entstandene Abbild, es ist jedoch ein großer Unterschied, ob dieses Bewußt¬
sein, das mit der Widerspiegelung der Wirklichkeit zu tun hat, sich auf die
Wirklichkeit überhaupt (freilich mit jeweiliger historischer Konkretisierung)
bezieht, wie etwa in Tizians »Himmlische und irdische Liebe« oder Tolstois
»Anna Karenina«, oder z. B. ein bestimmter vor uns stehender Krug, des¬
sen Widerspiegelungsbild unlöslich mit dem real existierenden konkreten
Gegenstand verbunden bleibt, in uns ästhetische Erlebnisse evoziert. Ob¬
wohl in beiden Fällen das ästhetische Erlebnis unmittelbar vom Widerspie¬
gelungsbild ausgeht, stellt in den früher erwähnten Fällen die gestaltete
Widerspiegelung das direkte Objekt (das Kunstwerk) vor, während im zuletzt
erwähnten Fall der Gegenstand der Gestaltung an ein reales Objekt gebun¬
den bleibt1.
Zweitens steht eben deshalb die ästhetische Verallgemeinerung hier auf einer
viel niedrigeren Stufe, ist viel abstrakter, als bei den eben hervorgehobenen

1 Es handelt sich hier um eine besondere Art der ästhetischen Widerspiegelung, de¬
ren ausführliche theoretische Behandlung erst in einem späteren Kapitel möglich
wird.
298 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Typen der Weltgestaltung. Was wir früher über die Weltlosigkeit der auf
abstrakten Widerspiegelungsformen beruhenden Gebilde ausgeführt haben,
gilt auch hier: es findet zwar eine ästhetisch-sinnliche Verallgemeinerung statt,
jedodi eine, die auf einen engen Abschnitt, auf einen schmalen Aspekt der Welt
des Menschen gerichtet ist, nicht - wenigstens der Grundtendenz nach - auf die
intensive Totalität ihrer Bestimmungen, wie in der Kunst im allgemeinen.
Und daß bei der engen Beziehung von Subjektivität und Objektivität in der
Ästhetik diese Weltlosigkeit ein Zusammenschrumpfen der Subjektivität,
eine - relative - Subjektlosigkeit mit sich führt, ergibt sich von selbst aus
diesem Tatbestand. Wenn man nun beide Gesichtspunkte, sowohl die unlös¬
bare Gebundenheit des Widerspiegelungsbildes an ein bestimmtes reales
Objekt, wie die Welt- und Subjektlosigkeit des hier möglichen subjektiven
Erlebnisses in ihren notwendigen Zusammen betrachtet, so läßt sich das
Problem der Ablösung des Ästhetischen von der Alltagswirklichkeit mit
einiger Genauigkeit philosophisch beschreiben.
Wir haben auf die praktisch ausschlaggebende Rolle der richtigen Proportio¬
nalität für Herstellung und Brauchbarkeit der Gegenstände des Alltagslebens
bereits aufmerksam gemacht. Ohne Frage drückt sich in der richtigen Bestim¬
mung dieser Proportionalitäten ein wesentliches Konstruktionsprinzip solcher
Gegenstände aus, weshalb auch ihre Erforschung notwendig zu einer zentra¬
len Aufgabe der Verallgemeinerung der Arbeitserfahrungen, des Nachdenkens
über diese (unter Umständen bei Benutzung der Ergebnisse aus Anfängen der
Wissenschaft), der Vervollkommnung der Herstellungstechnik, etc. wird. Der
Umschlag ins Ästhetische kann nur auf dem Wege erfolgen, daß diese Resul¬
tate der praktischen Konstruktion ein geschlossenes rein visuelles System
bilden, und als solches zum Gegenstand der unmittelbaren Wahrnehmung
werden. Diese muß aber auch noch nicht ästhetisch sein; sie kann noch einfach
eine visuelle Überprüfung des technischen Gelingens darstellen. Sie wird erst
ästhetisch, wenn diese Wahrnehmung ins Evokative umschlägt, d. h. wenn das
visuell verwirklichte System der Proportionen imstande ist, solche Wirkungen
auszulösen. Das hat natürlich eine lange Vorgeschichte: die Freude an der
gelungenen Arbeit, am handlichen und nützlichen Gegenstand etc. löst
bereits notwendig Lustgefühle aus, in denen sich auch eine Steigerung des
Selbstbewußtseins im von uns angegebenen ästhetischen Sinn, ohne Frage im
Keime enthalten ist. Daß hier die Übergänge außerordentlich fließende sind,
daß dieselben Gegenstände im selben Menschen eine Erlebnisskala von der
Freude am Nutzen bis zur ästhetischen Evokation auslösen können, zeigt
nicht nur — gegen Kant — daß das Angenehme und das Ästhetische keine
Symmetrie und Proportion 299

metaphysisch starren Gegensätze bilden, sondern ist auch ein Wesenszeichen


des ästhetischen Charakters dieser ganzen Sphäre1.
Was nun den evokativen Charakter eines - im konkreten Gegenstand ver¬
wirklichten - visuellen Proportionalitätssystems betrifft, so beruht seine
Eigenart darauf, daß die mit der Nutzbarkeit eng zusammenhängende Kon¬
struktion auf einen Schlag sinnlich-unmittelbar erhellt wird. Hemsterhuis hat
schon am Ende des 18. Jahrhunderts das Wesen der ästhetischen Freude darin
erblickt, daß die menschliche Seele bestrebt ist, die größte Zahl der Ideen in
einer möglichst kurzen Zeit in sich aufzunehmen 2.« Daß Hemsterhuis — in
idealistischer Weise - diesen Wunsch der Menschen darum für unerfüllbar
hält, weil deren sinnliche Beschaffenheit, Organe und Mittel nur im Nach¬
einander der Zeit und der Teile apperzipieren können, ändert die Richtigkeit
seiner Feststellung nicht entscheidend. Um so weniger, als er an anderer Stelle
es als einen großen Fortschritt der Menschheitsentwicklung bewertet, daß wir
die Gegenstände dem Wesen nach voneinander unterscheiden können durch
den Gebrauch nur eines unserer Sinne, womit das von uns behandelte Problem
der Arbeitsteilung der Sinne vorweggenommen wird. Eine solche sinnlich¬
unmittelbare Synthese sachlich-materieller Tatsachen und Zusammenhänge
löst ein Lustgefühl qualitativ anderer Art aus, als die bloße Freude an Arbeit,
an Leistung, an Gebrauch, an Besitz etc. sind. Es ist als Lustgefühl in be¬
stimmter Weise analog zu dem, das die erkenntnismäßige Einsicht in un¬
bekannte und komplizierte Zusammenhänge zu begleiten pflegt. Hier handelt
es sich aber nicht um eine Begleiterscheinung, sondern um die Sache selbst. Es
umfaßt die sinnlich-unmittelbare Einheit vor allem von Innerem und Äuße¬
ren, denn gerade die innere, »verborgene« Konstruktion des Gegenstandes
erscheint nun - visuell - in der Sichtbarkeit der sich zum System zusammen¬
fügenden Proportionen. Damit wird zugleich das Wesen eines Gegenstandes
zur unmittelbar apperzipierbaren Erscheinung. Mit einem Wort - obwohl
wir es hier nur erst mit äußerst abstrakten Formelementen zu tun haben
die wesentliche Struktur der ästhetischen Gebilde, die ihnen zugrundeliegende
spezifische Widersprüchlichkeit tritt hier schon deutlich zutage. Die von

1 Mit diesem ganzen Fragenkomplex werden wir uns erst in einem späteren Kapitel
ausführlich beschäftigen können. Dort entfällt dann auch die hier notwendige
Abstraktion, solche Gegenstände ausschließlidi vom Standpunkt der Proportio¬
nalität zu betrachten, und andere Gesiditspunkte, wie Materialität, Farbe, Schmuck
etc. können die ihnen gebührende Bedeutung erlangen.
2 Hemsterhuis: Oeuvres Philosophiques, Leuwarde 1840, I, S. 17.
300 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Hemsterhuis hervorgehobene Eigenart der ästhetischen Erlebnisse drückt


noch eine ergänzende Seite dieses Zusammenhanges aus: die Einheit des
Mannigfaltigen, und zwar nicht in einer gedanklich erarbeiteten Synthese,
sondern als unmittelbares, bewegendes und bewegtes Zusammenfallen der
widersprechenden Momente.
Dieser sachliche und strukturelle Inhalt, der solche ästhetische Erlebnisse vom
Objekt aus begründet und hervorruft, der bestimmt, daß diese nicht Aus¬
gangspunkte des weiteren Nachdenkens, sondern unmittelbare und ab¬
schließende Evokationen werden, bringt die Ablösung des Ästhetischen von
den Gedanken und Gefühlen des Alltags zustande, und grenzt sie zugleich
von der wissenschaftlichen Widerspiegelung und Erforschung der Wirklichkeit
ab. Inhalt wie Form weisen eindeutig auf die Entfaltung des Selbstbewußt¬
seins hin, in jenem Doppelsinn, in welchem wir dieses bereits bestimmt haben.
Dieses Selbstbewußtsein kann sich nur entfalten, indem es eine Objektswelt
schafft, in welcher die Welt als die der Menschen erscheint, als eine Welt, in
welcher der Mensch kein Fremder ist, die vielmehr das Wesen der von ihm
unabhängig existierenden Wirklichkeit ausspricht und zugleich ein vom Men¬
schen selbst geschaffener, seinem Wesen angemessener Kosmos ist. Wir mußten
natürlich, um die Essenz dieses Zusammenhanges klar herauszustellen, die hier
wirksamen Kategorien etwas überdeutlich fassen. Um das richtige Verhältnis
darzustellen, müssen wir erneut auf früher Ausgeführtes rückverweisen: einer¬
seits auf die Unmöglichkeit, die hier in Wirksamkeit tretende Widerspiege¬
lung von den diese auslösenden realen Objekte loszutrennen, und die
systematisierte Widerspiegelung als eigentliches ästhetisches Objekt zu kon¬
stituieren, andererseits - im engsten Zusammenhang damit - auf die Welt-
losigkeit solcher Objekte und der durch sie evozierten Erlebnisse. Erst im
Zusammenhang dieser Vorbehalte kann klar werden, wie und wieweit hier
tatsächlich das Ästhetische in seiner eigenartigen Selbständigkeit vom Alltags¬
leben sich loszulösen beginnt, und worin die — unüberschreitbaren — Schranken
der Loslösung auf diesem Gebiet bestehen, warum wir uns, auch wenn die
Loslösung von der Alltagspraxis stattgefunden hat, uns noch immer erst im
Vorhof des Ästhetischen befinden.
Dieses Problem des »Vorhofs« kann seine ausreichende Bestimmung erst in
der bald folgenden Betrachtung über Ornamentik erhalten, wo die abstrakten
Ordnungsprinzipien des Ästhetischen, wie Rhythmus, Symmetrie und Pro¬
portion zu den ausschlaggebenden, ordnenden und aufbauenden Kategorien
m sich geschlossener ästhetischer Werke werden. Bevor wir jedoch zu ihrer
Behandlung übergehen können, müssen wir das Problem der Proportionalität
Symmetrie und Proportion 301

noch von einem anderen, bereits angedeuteten Gesichtspunkt ins Auge fassen,
nämlich als abstrakte Kategorie, als abstraktes Ordnungsprinzip des künst¬
lerisch widergespiegelten organischen Lebens. Wir wissen, daß diese Frage schon
in der Antike aufgetaucht ist; ihre theoretische Behandlung und praktisch¬
künstlerische Anwendung erhält ihren Gipfelpunkt in der Renaissance, in einer
Periode, in der die wissenschaftliche Eroberung der Wirklichkeit, sachlich wie
persönlich, am innigsten mit ihrer künstlerischen Bewältigung verknüpft war.
Diese Tendenz ist natürlich weitaus umfassender, als daß sie sich bloß auf die
Frage der richtigen Proportionalität beschränken könnte. Die meisten der so
entstehenden Studien (Anatomie, Perspektive etc.) münden jedoch - wenn
auch auf dem Umweg über die Wissenschaft - so ausschließlich in reinen Ge¬
staltungsproblemen der bildenden Künste, ergeben derart rein gestaltende Pro¬
bleme, daß wir uns ruhig auf die damals mit ihnen simultan und in einer Linie
auftretenden Fragen der Proportionalität beschränken können, in denen die
spezifischen Widersprüche der abstrakten Formelemente auftreten.
Das populärste und einflußreichste unter den dabei auftretenden Problemen
ist das des sogenannten goldenen Schnitts. Es wäre aber gerade vom Stand¬
punkt unserer Fragestellung müßig, die Diskussion über sein zutreffendes
oder — wenn allzusehr verallgemeinert - irreführendes Wesen fortzu¬
führen. Um so mehr als die großen Kunsttheoretiker dieses Komplexes, wie
Leonardo da Vinci oder Dürer, darüber hinausgegangen sind, und die Bedeu¬
tung der Proportionalität überhaupt für die gesamte Kunst zu ergründen
bestrebt waren. Der goldene Schnitt ist aufs engste mit dem Problem des
Schönen, mit der schönen Darstellung des schönen Menschen verbunden,
während die Untersuchungen dieser großer Künstler die für die Kunst wich¬
tige Proportionalität für die verschiedensten Typen der darzustellenden
Menschen aufwerfen. Erst damit wird die Frage philosophisch bedeutsam:
kann das darstellerisch Wesentliche eines Menschen durch Erfassen der Pro¬
portionen seiner physischen Erscheinung zum richtigen Ausdruck gebracht
werden? Alle Messungen, Vergleiche etc. der bedeutenden Künstler-Denker
kreisen um dieses Problem. Am interessantesten zeigen sich die dabei auf¬
tauchenden unaufhebbaren Widersprüche in den theoretischen Schriften
Albrecht Dürers. Er zeigt einerseits die tiefste Verachtung für die bloßen
Flandwerker, die die Meßkunst nicht erlernen und in Anspruch nehmen, die
rein empiristisch von Fall zu Fall an die Darstellung des Menschen heran¬
treten. Ohne die richtige Proportion eines Menschentypus ergründet zu haben,
könne seine echt künstlerische Darstellung unmöglich gelingen. Andererseits
jedoch könne sich bloß daraus auch nicht die wirkliche Kunst ergeben. »Aber
302 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

unmöglich bedünkt mich«, sagt Dürer, »so Einer spricht, er wisse die besten
Maß in menschlicher Gestalt anzuzeigen1.« Und an anderer Stelle: »Aber idi
weiß nit anzuzeigen ein sunder Maß, welches zum Hübschesten macht haben 2.«
Das Finden der richtigen Proportionalität ist also für den Künstler unerlä߬
lich, es bezeichnet aber nur den Anfang seines Weges, den er zum wirklichen
Werk zurücklegen muß; und dessen echte Kriterien befinden sich jenseits der -
auch an sich vollendeten - Proportionalität, ohne jedoch deren Gewicht
aufzuheben. Diese auf den ersten Anblick widerspruchsvoll scheinende Stel¬
lungnahme Dürers deckt einen wichtigen Zusammenhang zwisdien vertiefter
künstlerischer Form und wahrer Struktur der objektiven Wirklichkeit auf.
Exakte, genau meßbare Symmetrie und Proportionalität herrschen nämlich
dort, wo die physikalischen Gesetze als solche sich rein auswirken können;
am deutlichsten in der kristallinischen Welt. Sobald das Leben als Organi¬
sationsform der Materie in der Wirklichkeit auftaucht - und je höher es
organisiert ist, desto mehr - hört zwar die Geltung der physikalischen Gesetze
nicht auf, sie werden aber zu bloßen Momenten komplizierter Komplexe, in
denen sie sich nur approximativ auswirken können. Genau dieser Tatbestand
kommt - der Erscheinungsform nach als unaufhebbarer Widerspruch - in den
Gedankengängen Dürers immer wieder zum Ausdruck: die Proportionalität
wirkt sich aus als aktives Moment eines gedanklich unaufhebbaren Wider¬
spruchs, der - im Sinne der früher zitierten Bestimmung von Marx - als
Widerspruch die künstlerische Bewegtheit des visuell gestalteten lebenden
Organismus ermöglicht.
Die hier aufgedeckte Lebenswahrheit solcher künstlerischen Widerspiegelungen
weist aber gleichzeitig auf ihren anthropomorphisierenden Charakter. Um
diese ihre Seite klarzulegen, scheint es angebracht, noch einige kurze Bemer¬
kungen darüber zu machen, wie die eben aufgezeigte Widersprüchlichkeit sich
in der Architektur äußert. Die Lage der Architektur zeigt eine gewisse Ver¬
wandtschaft zu den früher behandelten Proportionalitätsproblemen in den
vom Menschen zum Tagesgebrauch hergestellten Gegenständen, insofern als es
sich auch hier nicht um das Schaffen eines eigenartigen Widerspiegelungsbildes
handelt, sondern um einen Gebrauchsgegenstand selbst, der - praktisch wie
theoretisch untrennbar von seiner Nutzbarkeit — auch künstlerisch evokative
Widerspiegelungen hervorzubringen berufen ist. Allerdings besteht hier der

1 Dürer: Schriftlicher Nachlaß, Fialle 1893, S. 222.


2 Ebd. S. 359.
Symmetrie und Proportion 3°3

gewaltige Unterschied — dessen Gründe nur in einem späteren Kapitel behan¬


delt werden können —, daß die von den Produkten der Architektur evozierten
Widerspiegelungen weitaus konkreter, vielseitiger sind, keineswegs als welt¬
los bezeichnet werden können. Dazu sei nur beiläufig hinzugefügt, daß die
Problematik, die uns hier beschäftigen wird, ausschließlich die der Propor¬
tionalität ist. Die Architektur kennt - im großen ganzen angesehen - keine
Problematik der Symmetrie, keine Frage von rechts und links; wir haben die
diesbezüglichen Anschauungen Wölfflins bereits angeführt. Dieses Ausscheiden
einer Problematik der Symmetrie bedeutet für uns nur so viel, daß die Wider¬
sprüche der Proportionalität in voller Reinheit zum Ausdruck gelangen. Es
zeigt aber auch weiter, daß diese Widersprüchlichkeit nicht bloß in der Dia¬
lektik der Widerspiegelung des organischen Lebens verankert ist, daß ihr
Geltungskreis auch auf die unorganische Welt ausgedehnt werden muß, vor¬
ausgesetzt, daß diese in innigen und verwickelten Beziehungen zum gesell¬
schaftlichen Dasein der Menschen steht. Das, was bis jetzt als Widerspruch
von Organik und Anorganik erschien, erweitert sich zu einer Widersprüch¬
lichkeit der künstlerischen Gestaltung überhaupt, einerlei, ob ihr Gegenstand,
ihr Material etc. organisch oder unorganisch ist, vorausgesetzt, daß ihr Objekt
eine »Welt« des Menschen, das heißt, daß das Werk nicht weltlos ist.
Die Frage, die uns jetzt beschäftigt, hat Jacob Burckhardt vor ungefähr
hundert Jahren gelegentlich der Beschreibung des Tempels von Paestum klar¬
gestellt. Er sagt: »Vielleicht blickt ein scharfes Auge die einzelnen Seiten im
Profil entlang und findet, daß keine einzige mathematisch gerade Linie an
dem ganzen Bau ist. Man wird zunächst an ungeschickte Vermessung, an die
Wirkung der Erdbeben und anderes der Art denken. Allein wer z. B. sich der
rechten Ecke der Vorderseite gegenüberstellt, so daß er das obere Kranz¬
gesimse der Langseite verkürzt sieht, wird eine Ausbeugung desselben von
mehreren Zollen entdecken, die nur mit Absicht hervorgebracht sein kann.
Und Ähnliches findet sich weiter. Es sind Äußerungen desselben Gefühls,
welches die Anschwellung der Säule verlangte und auch in scheinbar mathe¬
matischen Formen überall einen Pulsschlag inneren Lebens zu offenbaren
suchte1.« Burckhardt lenkt mit Recht die Aufmerksamkeit auf die künst¬
lerische Absicht in der Abweichung von der genau mathematischen Propor¬
tionalität. Dies ist um so wichtiger, als die Ablehnung der Proportionalität
in der Neuzeit ziemlich häufig vorkommt. (Wir finden sie bereits bei Bacon

1 Burckhardt: Der Cicerone, Leipzig, Kröners Taschenausgabe, S. 7.


Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
3°4

in Polemik mit Dürer1; andererseits wollen die psychologisierenden Empiristen


die Inexaktheit auf die Ungenauigkeit unserer Gesichtswahrnehmungen zu¬
rückführen 2. Die erste Stellungnahme lenkt alles auf rein historisch fundierte
Geschmacksfragen. Es ist natürlich eine Tatsache, daß die Entfaltung der rein
malerischen Anschauungen eine Tendenz zur Auflösung, zum in-den-Hinter-
grunddrängen der Proportionalität mit sich führen kann. Die zweite be¬
schränkt die Frage auf psychologische Eigentümlichkeiten, deren allgemeiner
Wert sehr problematisch ist. Nur die Wahl des richtigen Ausgangspunkts, wie
bei Burckhardt, ist geeignet, das Problem in der Richtung auf den anthropo-
morphisierenden Charakter der ästhetischen Widerspiegelung zu verall¬
gemeinern, weil er an der Einheit der Proportionalität und ihrer Aufhebung
festhält; daß bei Burckhardt diese Folgerungen nicht bewußt auftreten, tut
nichts zur Sadie. Später taucht diese Frage bei Burdkhardt selbst und bei
vielen anderen (Woermann etc.) wiederholt und im selben Sinne auf. Ich
führe nur noch eine Stelle aus der »Griechischen Kulturgeschichte« an, weil
Burckhardt hier das Problem ästhetisch noch allgemeiner faßt. Nachdem er
ausführlich die große Variation der Verhältnisse an dem griechischen Tempel
analysiert hat, - dabei sehr energisch auf die strenge Proportionalität, auf
deren Parallelitäten und Wiederholungen eingehend - führt er aus: »Wie
weit sich daneben die von Penrose entdeckten Feinheiten als bewußt und
beabsichtigt erweisen lassen, mag dahingestellt bleiben. Wenn wirklich aus
optischen Gründen die Säulen am Peripteros eine leise Neigung einwärts
haben, die Ecksäulen etwas verstärkt und ihre Intervalle etwas schmaler sind,
der Stufenbau und ebenso die große Horizontale des Gebälkes leise aufwärts
geschwellt ist, so wäre hier ein Analogon zu den feinsten Künsten der griechi¬
schen Metrik gegeben, und es würde sich fast buchstäblich das Wort des Astro¬
logen im zweiten Teil von Goethes Faust bewähren:

Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt,


Ich glaube gar, der ganze Tempel singt.

Bei den profanen Gebäuden zeigt sich eine vereinfachte Anwendung der
nämlichen Formen3.«

1 Bacon: Essays, London 1906, S. 107.


2 So z. B. H. Home: Grundsätze der Kritik, Leipzig 1772, Band II, S. 518.
3 Burckhardt: Griedtisdie Kulturgeschichte, a. a. O., Band II, S. 134 f.
Symmetrie und Proportion 3°J

Für uns ist dabei der letzte Hinweis auf die Feinheiten der Metrik besonders
wichtig, denn damit dehnt Burckhardt den von uns analysierten Widerspruch
auch auf den Rhythmus aus und bringt die von uns dort untersuchten Pro¬
bleme mit denen der Proportionalität und - wie wir früher gesehen haben -
mit denen der Symmetrie in einen einheitlichen Zusammenhang. Alle diese
abstrakten Formen würden dann in ihrer künstlerischen Verwirklichung das
Gemeinsame haben, daß sie ihren Gegenstand nur dann vollendet künstlerisch
zu organisieren fähig sind, wenn ihre Absolutheit aufgehoben wird, wenn sie
zu bloßen Momenten eines dem Kunstwerk zugrunde liegenden - je nach
Kunstart oder Genre verschiedenen - Widerspruchs geworden sind. Diese
Verallgemeinerung erfolgt gerade auf der Linie des wesentlichsten Kenn¬
zeichens der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, auf der des not¬
wendigen Anthropomorphisierens. Ästhetisch wird zwar die Welt, so wie sie
an sich ist, widerspiegelt und gestaltet, das An-sich-Sein ist aber in unauf¬
hebbarer Weise auf den Menschen, auf seine gesellschaftlich entstandenen und
sich gesellschaftlich entfaltenden Gattungsbedürfnisse bezogen.
Die verallgemeinerte Frage der Proportionalität lautet deshalb so: das Zu¬
sammen von unabdingbarer Wichtigkeit und doch bloß annähernder, ge¬
wissermaßen verborgener, heimlich, unter der Oberfläche sich auswirkender
Wesensart der Proportionalität ist nicht nur die richtige Widerspiegelung
wesentlicher Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit, sondern auch ein
elementares Lebensbedürfnis des Menschen. Die künstlerische Wiedergabe einer
wohlproportionierten Welt (oder einer, in welcher die Abweichungen von ihr
als Verzerrungen dargestellt werden), hat neben ihrer Wahrheit als Repro¬
duktion und untrennbar von dieser den Akzent: Gestaltung einer Welt des
Menschen zu sein, einer Welt, die er als sich angemessen erleben kann, einer,
die er zu solcher Angemessenheit umzuformen bestrebt ist. Wohlverstanden:
des Menschen, der Menschengattung, nicht des Individuums X oder Y. Das
anthropomorphisierende Grundprinzip der ästhetischen Widerspiegelung hat
nichts mit einem bloßen Subjektivismus zu tun. Natürlich ist die Subjektivi¬
tät des Künstlers das unerläßliche Medium einer derartigen Widerspiegelung,
jedoch was daran nur dem Empfindungsbereich einer partikularen Subjektivi¬
tät angehört, kann unmöglich zur künstlerisch-evokativen Allgemeinheit
erwachsen, kann bloß eine künstlerisch kümmerliche Form schaffen. Anderer¬
seits darf das Menschheitliche, das Gattungsmäßige dieses widergespiegelten
Mediums der Kunst nicht abstrakt verallgemeinert werden. Das Menschheits¬
prinzip kann nur in historischer, sozialer und individueller Konkretheit für
die Kunst fruchtbar werden: es ist stets der parteinehmende Sprößling eines
3o6 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Volks und in ihm einer Klasse, der auf einer bestimmten Entwicklungsstufe
dieser seiner bestimmenden Umwelt zum Sprachrohr der Menschheit werden
kann.
Wir mußten wieder ins Gebiet der konkret künstlerischen Widerspiegelung
der Wirklichkeit vorgreifen, um den anthropomorphisierenden Charakter
eines jeden ästhetischen Reflexes der Außen- und Innenwelt des Menschen
klar heraussteilen zu können. Der Weg zurück zu der Widerspiegelung der
Proportionalität im oben angegebenen Sinn ist aber nicht allzuweit. Er
führt zu dem Grundproblem des Ästhetischen, zu der Entstehung einer Welt,
die die unsere ist, die wir in ihrer Ganzheit wie in ihren Details ununter¬
brochen auf uns selbst zu beziehen fähig sind, die eben deshalb, weil sie - die
Wirklichkeit oder ihre Momente widerspiegelnd - auf diesem Prinzip basiert,
einen evokativen Charakter haben kann und muß. Das vom Standpunkt
einer Gesetzgebung für die Malerei unlösbare Dilemma Dürers drückt - sehr
fruchtbarerweise für die künstlerische Praxis - eine elementare Grundtatsache
des menschlichen Lebens aus: nämlich daß es die widerspruchsvolle Einheit des
Geordneten und Spontanen ist, daß seine Gesetzlichkeit sich nur als Halt,
als fördernde und ordnende Kraft der bis ins bloß Individuelle herunter¬
reichenden Spontaneität auswirken kann, daß diese nur als modifizierende,
konkretisierende, Weiterbildungen hervorrufende Tendenz im Bereich jener
zur wirklichen Geltung gelangen kann. Dieses widerspruchsvolle und zugleich
intime Aufeinanderwirken von Tendenzen, die metaphysisch aufgefaßt
einander starr ausschließende Gegensätze zu bilden scheinen, ist also deshalb
ein Grundprinzip der Kunst, weil es ein Grundprinzip des menschlichen (des
gesellschaftlichen) Lebens ist. Aber während das aus historisch notwendigen
Entwicklungsgründen immer wieder stark aufkommende, oft herrschende
metaphysische Denken diese Gegensätzlichkeit in den Mittelpunkt rückt,
während Denken und Fühlen des Alltags oft ohnmächtig gegen eine solche
Vergewaltigung des Lebens protestieren, ja oft sich ihr zu unterwerfen gezwun¬
gen sind, entsteht in der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit ein Bild
des wahren Lebens, in welcher die Bewältigung der Außenwelt den inneren
Anforderungen der menschlichen Existenz angemessen erscheint.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß die Proportionalität eine gewissermaßen
lokale, spezielle Kategorie der bildenden Künste ist. Sie erscheint hier in ihrer
eigentlichen, originären Form, indem das genau Meßbare in ein dialektisches
Verhältnis zur Organik vor allem des menschlichen Körpers gesetzt wird.
In übertragener - aber keineswegs zufällig übertragener - Form spielt dieses
Problem in allen Kunstgattungen eine wichtige Rolle. Aristoteles widmet in
Symmetrie und Proportion 3 °7

seiner »Poetik« dieser Frage ein eigenes Kapitel1. Es ist natürlich für die
Verschiedenheit der Künste charakteristisch, daß der Aufbau des Dramas nur
bestimmte Proportionen verlangt, die bloß ihrem allgemeinen Umkreis nach
reguliert werden können (Aristoteles beruft sich zwar gelegentlich darauf,
daß die Zeitdauer der Tragödien mit der Uhr gemessen wurde); deren kon¬
krete Ausgestaltung jedoch - in diesem Rahmen - dem individuellen Dichter
überlassen werden muß. (Es liegt im Wesen der Sache, daß in der Filmkunst
diese Meßbarkeit der Proportionen, sowohl für das Ganze, wie für die Teile
weitaus exakter ist, als in der reinen Wortkunst des Dramas.) Die Frage der
Proportion, die natürlich nicht nur das Ganze der Werke, sondern auch die
Beziehung ihrer Teile zueinander betrifft, erscheint auf den ersten Anblick
verschwommener als in der bildenden Kunst; bei konkreter Analyse ergibt
sich freilich, daß die künstlerische Lösung der Dürerschen Dilemmas auch hier
eine der wesentlichsten Aufgaben der Komposition ist. Da aber alle Formen
Widerspiegelungen der Wirklichkeit sind, stecken hinter allen Proportionali¬
tätsfragen der Komposition Probleme der Weltanschauung: die des Schaffenden
und die der Gesellschaft, in welcher und für welche seine Werke entstehen.
So wird es uns nicht mehr überraschen, daß derselbe Aristoteles Probleme der
Proportion in den Mittelpunkt seiner Ethik rückt. Zwar gibt es auch für ihn
Fiandlungen und Verhaltungsweisen, die unbedingt verwerflich sind; wo
jedoch vom Umschlag der Tugend in ihren Gegensatz die Rede ist, taucht das
Problem der Mitte auf, die Aristoteles in diesem Kontext als ein »Äußerstes«,
also keinsewegs als toten Durchschnitt betrachtet. Und das Verfehlen ist nun
entweder ein »Nicht-Erreichen« des »Pflichtmäßigen« oder ein »Hinausgehen«
darüber. Das methodologische Zentrum seiner Ethik erweist sich als ein
Problem der richtigen Proportionalität 2.
Es wäre oberflächlich dagegen einzuwenden: die Proportion sei hier bloß eine
Metapher. Sie ist in Wahrheit viel mehr. Wo die Schönheit eine zentrale
Kategorie des Lebens und der Kunst ist, muß eine solche Verbindung ent¬
stehen: weder im Leben, noch in der Kunst kann die Schönheit auf ästhetische
oder ethische Werte vorübergehender, relativer Art basiert werden: sie muß
die Struktur des Menschen wesentlich bestimmen. Ist nun diese Bestimmung
nicht transzendenter Art (wie etwa bei Plotin), ist sie also nicht bloß der er¬
borgte Abglanz aus einem Jenseits, so bedeutet hier Struktur eine dem

1 Aristoteles: Poetik, Kap. VII.


2 Aristoteles: Nikomachische Ethik, I. Buch, Kap. 6/7.
308 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Menschen immanente, ihm von seinem Menschentume aus angehörige harmoni¬


sche Zusammenstimmung irdischer, diesseitiger Verhältnisse; mögen diese nun
ein Sichtbarwerden der Harmonie seines physischen Aufbaus oder die Offen¬
barung der Harmonie seiner geistigen und sittlichen Fähigkeiten darstellen.
Das wesentlich bestimmende Prinzip ist das gleiche und ist - letzten Endes -
das der Proportionalität. Damit geht diese Frage weit über die der abstrakten
Formelemente hinaus, und berührt - gerade philosophisch - so entscheidende
Probleme, wie die prinzipiellen Berührungspunkte von Ethik und Ästhetik.
Bei der ganzen Anlage unserer Darlegungen ist es klar, daß eine ausführlich
eingehende Behandlung dieses Problems noch nicht möglich ist. Daß selbst das
konkrete Insaugefassen der Widersprüchlichkeit, das sich daraus ergibt, vorher
einen Überblick über viele, entscheidende Gebiete der Ästhetik, vor allem die
der eigentlichen Widerspiegelung der realen objektiven Wirklichkeit, voraus¬
setzt. Vorwegnehmend sei nur so viel bemerkt, daß die Stelle der Schönheit
in der Ästhetik sehr umstritten ist, und die Beantwortung der oben
formulierten Frage naturgemäß mit der Bestimmung ihrer Stelle im System
eng zusammenhängt. Die meisten historisch bedeutsam gewordenen Systeme
stellen die Schönheit in den Mittelpunkt der ganzen Ästhetik; daran ändert
sehr wenig, wenn, wie bei vielen Modernen, eine eigene »Kunstwissenschaft«
neben die Ästhetik im traditionellen Sinne tritt. Der Verfasser dieser Betrach¬
tungen erblickt - in Einklang mit Tschernischewski - in der Schönheit einen
Spezialfall der Ästhetik, und zwar eine eigenartige Form der ästhetischen
Widerspiegelung und Gestaltung, die nur unter besonders günstigen kon¬
kreten gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen möglich ist1.
Wie immer auch auf höherer Stufe der ästhetischen Betrachtungen diese Frage
beantwortet werden kann, es ist klar, daß darin - bewußt oder unbewußt -
die anthropomorphisierende Wesensart der ästhetischen Widerspiegelung
bestätigt wird. Sie ist eine sich elementar vollziehende Tendenz. Sie ist, wie
wir gesehen haben, auch in ihren abstrakten Erscheinungsweisen eine mög¬
lichst treue Reproduktion der objektiven Wirklichkeit. So sehr jedoch die
möglichste Annäherung an diese das bewußte Ziel der gesunden künstleri¬
schen Tätigkeit ist, das Kriterium der ästhetischen Wahrheit fällt nicht not¬
wendig mit dem Grad einer solchen Annäherung ohne weiteres zusammen.
Hier kann noch nicht von dem mit der Annäherung verknüpften komplizierten

1
Vgl. darüber meinen Puschkin-Aufsatz in »Der russische Realismus usw.«, a. a. O.
S. 25 ff.
Symmetrie und Proportion 3°9

Stilproblem die Rede sein. Nur darauf kann und muß schon jetzt erneut
hingewiesen werden, daß die anthropomorphisierende Widerspiegelung im
Ästhetischen nicht einfach ein subjektives Verhalten ist, daß sie vielmehr von
ihrem Objekt in dieser Richtung bestimmt wird: von der Gesellschaft im
Stoffwechsel mit der Natur, vermittelt durch die Eigentümlichkeit der von
diesem determinierten Produktionsverhältnissen. Ihre Widerspiegelung setzt
zwar die angegebene Wirklichkeitstreue auch der Natur an sich gegenüber
voraus, das letzte ästhetische Wahrheitskriterium ist aber doch in der gesell¬
schaftlich bestimmten Wechselbeziehung mit ihr fundiert. Eine genaue
Analyse aller früher analysierten Widersprüche könnte auf diese Basis zurück¬
geführt werden. Da aber dieses Problem jetzt erst in seinen allgemein¬
sten Umrissen angedeutet und keineswegs allseitig erschöpft werden kann,
führe ich ein inhaltlich komplizierteres Beispiel an, bei dem die uns gegen¬
wärtig interessierende Seite der Frage mit sofortiger Evidenz hervortritt. Der
polnische Literaturhistoriker Jan Kott weist in einer Analyse Swifts auf
dessen Überzeugung hin, die er »mit seiner ganzen Epoche teilte, daß man
alle Eigenschaften eines Körpers unverändert erhalten kann, wenn man
proportional seine Größenmaße ändert h« Kott zeigt, sich auf Meyerson
berufend, daß dies ein Irrtum ist, daß etwa die Wespen im Lande der Riesen
in den alten Proportionen bei veränderter Größe nicht fliegen könnten, daß
die Liliputaner beim Trinken unter der Kapillarität der Gefäße gelitten
hätten, etc. etc. Ändert aber die Anerkennung dieser Tatsache, die zeigt, daß
Swift unter dem Einfluß der wissenschaftlichen Vorurteile seiner Zeit die An¬
näherung an die objektiv seiende Wirklichkeit objektiv verfehlt hat, irgend
etwas an der künstlerischen Wahrheit des »Gulliver«? Die verneinende
Antwort versteht sich von selbst. Interessanter und wichtiger als sie selbst,
ist jedoch für uns ihre Ursache: die gesellschaftliche Wahrheit der Swiftsdien
Satire, in welcher gerade das Gleidibleiben des Wesens (also auch der Propor¬
tion als dessen sinnliche Erscheinungsweise) bei kontrastierendem Format die
Grundlage der tiefen Komik bildet. Diese nicht subjektiv willkürliche,
sondern einen Weltzustand, eine entscheidende Epoche der Menschheitsent¬
wicklung festhaltende Anthropomorphisierung Swifts in der Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit verfehlt also nicht - trotz der zeitbedingten Mängel in
der Auffassung der Gesetze des An-sich-Seienden - die künstlerische Wahr¬
heit, im Gegenteil gibt ihr ein sinnlich-geistiges solides und allgemeines

1 Jan Kott: Die Schule der Klassiker, Berlin 1954, S. 100.


310 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Fundament. Kott zitiert mit Recht einen Brief Swifts, die Bewußtheit seines
künstlerischen Wahrheitssuchens hervorhebend: »Dieselben Gebrechen und
Tollheiten herrschen überall, jedenfalls in allen zivilisierten Ländern Euro¬
pas. Ein Autor, der nur für eine Stadt, eine Provinz, ein Königreich oder nur
für ein Jahrhundert schriebe, verdiente nicht kommentiert zu werden, wie er
auch nicht wert wäre, gelesen zu werden1.«
Es wäre freilich gefährlich das Ergebnis dieser Analyse ohne weiteres auf die
bildenden Künste anzuwenden. Denn die visuelle Erscheinungsform hat in
der Literatur eine weit größere Unbestimmtheit, als hier. (In Epik und
Lyrik eine größere als im Drama.) Darum ist es für Swift - freilich auf
Grundlage einer satirisch-phantastischen Gestaltungsabsicht - möglich, For¬
mate zu ändern, ohne die Proportionen anzutasten. Auf die gesellschaftlichen
(im Anthropomorphismus der Kunst fundierten) Gründe dieser Möglichkeit
haben wir bereits hingewiesen. Solche werden natürlich auch in den bilden¬
den Künsten wirksam, nur ist der Spielraum für das Abweichen von jenem
Zusammenhang des Formats mit den Proportionen, der in der Gegenständ¬
lichkeit der objektiven Wirklichkeit vorhanden ist, viel beengter. Je einfacher
gegliedert ein ästhetischer Gegenstand ist, desto größer wird dieser Spielraum
sein. (Pyramide im Vergleich zur späteren, gegliederteren griechischen Archi¬
tektur.) Der Grund ist unschwer einzusehen: schon in einer rein geometrischen
Ornamentik bedeutet die Vergrößerung des Formats zugleich die der Zwi¬
schenräume, wodurch diese in der Vergrößerung leere und tote Flächen dar¬
bieten können oder unwahrnehmbar werden, den Rhythmus zerstören etc.
Die Veränderung des Formats kann also gebieterisch auf eine Veränderung
des Musters und damit der Proportionen drängen. Selbstredend werden diese
Konsequenzen desto fühlbarer, je weniger weltlos eine Kunstgestaltung ist.
Es ist aber ebenso selbstverständlich, daß es sich hier nur um einen Spielraum
und nicht um ein starres Koordinieren handelt. Schon die Existenz einer
monumentalen Plastik, die über das menschliche Format hinausgeht, neben
einer ausgesprochenen Kleinplastik, zeigt diesen Spielraum an. Dabei ist
freilich zu bedenken, daß gewisse Bewegungsmotive von vorneherein dieses
oder jenes Format erfordern oder wenigstens bevorzugen, ln der Male¬
rei ist die Möglichkeit, das Format des Bildes zu vergrößern oder zu ver¬
kleinern, viel elastischer; schon darum, weil der Zuschauer - innerhalb von
bestimmten Grenzen - instinktiv in jedem Bild ein normal menschliches

1 Ebd. S. 102.
Ornamentik 311

Format wahrnimmt. Damit sind natürlich nicht einmal die allerallgemeinsten


Umrisse der verschiedenen Spielräume angedeutet. Es sei hier nur so viel
bemerkt, daß innerhalb der von Kunstgattungen und -arten gegebenen Ten¬
denzen es gesellschaftlich-geschichtlich bedingt ist, ob je ein solcher Spielraum
in verengender oder erweiternder (eventuell die Grenzen des Ästhetischen
überschreitenden) Weise aufgefaßt wird. In Zeiten, in denen die anthropomor-
phisierende Grundtendenz der Kunst sehr stark ist, in denen - im oben ange¬
gebenen Sinn - die Schönheit zur herrschenden Zentralkategorie der künst¬
lerischen Praxis wird, ist die Verbindung von Format und Proportion sehr eng;
so im klassischen Griechentum, so in der Renaissance. In Zeiten dagegen, in
denen — aus gesellschaftlich sehr verschiedenen, oft geradezu entgegengesetzten
Gründen - Tendenzen entstehen, die die Bezogenheit der Kunst auf den Men¬
schen transzendieren, kann sich diese Beziehung völlig lockern; so in vielen
Perioden der orientalischen Kunst, wo religiös-theologische Motive in dieser
Richtung wirksam waren, so in der modernen Architektur, wo vor allem das
Grundrentenproblem der Großstädte einen unwiderstehlichen Druck ausübt.

III Ornamentik

Wir haben bis jetzt die abstrakten Widerspiegelungsformen: Rhythmus, Sym¬


metrie, Proportion als Einzelfaktoren in ihren dialektischen Beziehungen zu
den verschiedenen, die Realität gestaltenden Künsten betrachtet, um sowohl
den abstrakten Charakter dieser Formen, wie ihr Wesen als Widerspiege¬
lungen der Wirklichkeit möglichst klar hervortreten zu lassen. Bei diesen
Analysen zeigt sich der Ursprung der dialektischen Widersprüche darin, daß
jede dieser abstrakten Formen die Tendenz in sich birgt, ein Ordnungsprin¬
zip der Widerspiegelung der Wirklichkeit, auch und sogar vor allem der
ästhetischen zu sein. Da nun, womit wir uns in den nächsten Kapiteln aus¬
führlich beschäftigen werden, die Ordnungsgesetze der konkreten und tota¬
len, der gestaltenden Widerspiegelung der Wirklichkeit nicht nur reicher und
umfassender sind, als die abstrakten, sondern auch, infolge des Wesens der
widergespiegelten Wirklichkeit, andere, ihnen gegensätzliche Tendenzen zur
Geltung zu bringen trachten, entstehen die von uns in bestimmten Einzel¬
fällen auf gezeigten Widersprüche. Diese sind jedoch, worauf wir gelegentlich
ebenfalls hingewiesen haben, dialektischer Wesensart, das heißt, gerade die
Widersprüchlichkeit wird zu einem fruchtbaren Bewegungsgesetz der künst¬
lerischen Gestaltung.
312 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Jetzt müssen wir über das bisher Erreichte in doppelter Hinsicht hinausgehen.
Erstens ist zu zeigen, daß die abstrakten Widerspiegelungsformen die Fähig¬
keit besitzen, für sich allein ästhetische Gebilde besonderer Art zu konstitu¬
ieren; daraus ergibt sich das Problem der Ornamentik, das uns in den nun fol¬
genden Darlegungen beschäftigen wird. Zweitens wirken die in der Ornamen¬
tik offenbar gewordenen ästhetischen Gesetzlichkeiten auf die Widerspiege¬
lung der konkreten und realen Wirklichkeit zurück. Es entstehen dabei dialek¬
tische Zusammenhänge, die über die Einzelbeziehungen betreffenden, teilweise
bereits untersuchten Widersprüche hinausgehen, die zu einem unaufhebbaren
Bestandteil eines jeden ästhetischen Gebildes werden müssen. Mit der Analyse
dieser Tatbestände werden wir unsere Untersuchungen über die Ornamentik
schließen, um zur Behandlung der mimetischen künstlerischen Gestaltung der
Wirklichkeit übergehen zu können. Wir werden sehen, daß gewisse histo¬
rische Tatsachen, die einer solchen Auffassung scheinbar widersprechen, sie
in Wahrheit erst recht bekräftigen.
Die Ornamentik selbst kann demgemäß so bestimmt werden, daß sie ein
ästhetisches, Evokation beabsichtigendes, in sich abgeschlossenes Gebilde ist,
dessen Aufbauelemente die abstrakten Widerspiegelungsformen Rhythmus,
Symmetrie, Proportion etc. als solche bilden, während die konkret-inhalt¬
lichen Widerspiegelungsformen aus der Gestaltung des ornamentalen Kom¬
plexes ausgeschlossen scheinen. Natürlich darf auch diese Bestimmung nicht me¬
taphysisch-starr verstanden werden. Jeder weiß, daß die Ornamentik gerade
in ihren klassischen Erscheinungsweisen wiederholt auf die Widerspiegelung
realer Gegenstände der objektiven Wirklichkeit zurückgreift (Lotos, Akanthus
etc.); von den Pflanzen- und Tiermotiven etwa der orientalischen Teppiche,
der gotischen Tempelverzierungen gar nicht zu reden. Das bedeutet natür¬
lich, worüber bald ausführlich gesprochen werden muß, daß die Grenzen
zwischen rein ornamentaler und gestaltender (konkret und inhaltlich die
Wirklichkeit widerspiegelnder Kunst) vielfach verschwimmen, daß nicht nur
aus historischer, sondern auch aus ästhetischer Notwendigkeit vielerlei Über¬
gangsformen auftreten.
So schwer dadurch oft in Einzelfällen eine exakte ästhetische Ortsbestim¬
mung fällt, so sicher sind dennoch theoretisch die Grenzen zu ziehen. Diese
entstehen eben aus der Vorherrschaft der abstrakten Widerspiegelung. Wo
nämlich die Gegenstände der konkret-realen Außenwelt in ästhetische Sy¬
steme eingebaut sind, kommt es darauf an, ob erstens solche Objekte primär
nach ihrer eigenständigen inneren Struktur reproduziert oder im Sinne der
abstrakten Formen zu Ornamenten transformiert werden, ob sie also die
Ornamentik 30

ornamentale Zweidimensionalität durch ihre existierende Tiefe sprengen oder


ihre originäre Gegenständlichkeit auf die hier notwendige abstrakte Andeu¬
tung des Wesens reduziert wird; ob zweitens die realen Objekte, die in der
Wirklichkeit und darum in ihrer konkreten Widerspiegelung unabtrennbar
von ihrer realen Umgebung existieren, in der künstlerischen Gestaltung als
Teile solcher Verknüpfungen dargestellt, oder aus diesen Relationen heraus¬
gerissen werden, um in abstrakt-dekorative Momente der abstrakten Zusam¬
menhänge verwandelt zu werden. Diese beiden Gesichtspunkte sind nur zwei
Seiten derselben Sache: die Ornamentik ist eben darum weltlos, weil sie die
Gegenständlichkeit und die Zusammenhänge der realen Welt bewußt igno¬
riert, weil sie an ihre Stelle abstrakte Verknüpfungen vorwiegend geometri¬
scher Art setzt. Die ästhetischen und weltansdiaulichen Grundlagen und
Folgen dieses Tatbestandes werden wir im folgenden ausführlich behandeln,
hier war es nur, um für diese Darlegungen ein Fundament zu erhalten, uner¬
läßlich, die grundlegende Struktur kurz zu beleuchten. Um dies auch noch
anschaulich zu illustrieren, sei der Anfang von Stefan Georges Gedicht »Der
Teppich« hierhergesetzt, wo diese Art des abstrakten Zusammenhangschaf¬
fens sinnlich-dichterisch beschrieben wird:

Flier schlingen menschen mit gewächsen tieren


Sich fremd zum bund umrahmt von seidner franze
Und blaue sidieln weiße Sterne zieren
Und queren sie in dem erstarrten tanze.

Und kahle linien ziehn in reich-gestickten


Und teil um teil ist wirr und gegenwendig
Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten . . .

Wenn wir nun - selbstredend, wie hier immer, ausschließlich vom philosophi¬
schen Standpunkt - auf die Genesis der Ornamentik übergehen, so zeigt sich
darin erneut die Richtigkeit unserer früheren Feststellung, daß nämlich die
ästhetische Praxis der Menschheit unmöglich aus einer einzigen Quelle und
vor allem nicht aus einer ästhetischen abgeleitet werden kann, daß das
Ästhetische vielmehr das Ergebnis einer nachträglichen, sich allmählich histo¬
risch entfaltenden Synthese ist. Unter den dabei wirksamen Tendenzen muß
vor allem eine elementare, vielleicht schon aus der Tierwelt stammende, an
sich von Kunst ganz unabhängige, hervorgehoben werden: die Freude am
Geschmücktsein. Nimmt man diese vorerst in seinem breitesten Sinne, so
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
314

umfaßt sie sowohl den Körper- wie den Geräteschmuck, ja auch den inneren
wie äußeren Schmuck, der in der Architektur angewendet wird. Wie wir
alsbald sehen werden, umreißt diese Zusammenfassung ein Gebiet, inner¬
halb dessen Bereich die Unterschiede zumindest ebenso wichtig sind, wie
die gemeinsamen Züge. Gemeinsam bleibt die unabtrennbare Gebunden¬
heit an ein reales Objekt, sei dies der Mensch selbst, oder ein von ihm ge¬
brauchter nützlicher Gegenstand, im Gegensatz zu den eigentlich gestalten¬
den Künsten, in denen die materiellen Substrate außer ihrer ästhetisch-evo-
kativen Funktion keinerlei Beziehungen zum menschlichen Leben besitzen
(Bild als bemalte Leinwand etc.). Innerhalb dieser Gemeinsamkeit bringt
jedoch die qualitative und für das gesellschaftliche Leben der Menschen
funktionelle Verschiedenheit solcher Objekte qualitative Verschiedenheiten
in den ästhetischen Möglichkeiten, in der Fähigkeit zur Entwicklung etc.
hervor.
Wenn wir vorerst den Selbstschmuck des Menschen betrachten, so wollen wir
uns naturgemäß nicht auf eine archäologische oder ethnographische Diskussion
einlassen, ob er unbedingt und in jedem Fall zeitlich dem Geräteschmuck vor¬
angegangen ist. Wir nehmen mit Floernes1 und anderen an, daß dies im
allgemeinen der Fall war. Dabei taucht, nunmehr auf höherem Niveau, ein
Problem auf, das uns bereits beim Rhythmus beschäftigt hat, nämlich, ob wir
es, und wenn ja, wieweit, mit einer Erbschaft aus dem tierischen Zustand zu
tun haben. Gerade hier bringt Darwin ein außerordentlich vielfältiges und im
Detail faszinierendes Material zur Erhärtung einer bejahenden Antwort auf
diese Frage. Indessen können bei genauer Betrachtung die Argumente Dar¬
wins und der Darwinisten uns doch nicht überzeugen. D. h. es wird niemand
bestreiten, daß der Drang, sich zu schmücken, als Moment des sekundären
Sexualcharakters auch beim Menschen wirksam ist. Die Seinsweise von Tier
und Mensch ist jedoch infolge der Entstehung von Arbeit und Gesellschaft qua¬
litativ so verschieden geworden, daß auch in solchen höchst primitiven Betäti¬
gungsformen neue qualitativ derart verschiedene Bestimmungen auftauchen,
daß es für diese Frage nicht mehr statthaft erscheint, das Menschliche, insbe¬
sondere in seiner Beziehung zum Ästhetischen, aus dem Tierischen direkt
genetisch abzuleiten. Allgemein gesprochen handelt es sich dabei um die Be¬
ziehung des einzelnen - in unserem Fall des geschmückten - Individuums zur

1 Hoernes-Menghin: Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa, Wien 1925,


S. 18.
Ornamentik 315

Gattung. Marx hat dieses Verhältnis, natürlich ohne auf unser Spezialpro¬
blem Bezug zu nehmen, genau beschrieben. Er sagt: »Das Tier ist unmittelbar
eins mit seiner Lebenstätigkeit. Es unterscheidet sich nicht von ihr. Es ist sie.
Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wol-
lens, und seines Bewußtseins. Er hat bewußte Lebenstätigkeit. Es ist nicht eine
Bestimmtheit, mit der er unmittelbar zusammenfließt. Die bewußte Lebens¬
tätigkeit unterscheidet den Mensdien unmittelbar von der tierischen Lebens¬
tätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen ... Das praktische Er¬
zeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur
ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens, d. h.
eines Wesens, das sich zu der Gattung als seinem eigenen Wesen oder zu sich
als Gattungswesen verhält. Zwar produziert auch das Tier. Es baut sich ein
Nest, Wohnungen wie die Biene, Biber, Ameise etc. Allein es produziert nur,
was es unmittelbar für sich oder sein Junges bedarf; es produziert einseitig,
während der Mensch universell produziert; es produziert nur unter der Herr¬
schaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch selbst
frei vom physischen Bedürfnis produziert, und erst wahrhaft produziert in
der Freiheit von demselben; es produziert nur sich selbst, während der
Mensch die ganze Natur reproduziert; sein Produkt gehört unmittelbar
zu seinem physischen Leib, während der Mensch frei seinem Produkt gegen¬
übertritt. Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der
Species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder Species
zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand an¬
zulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schön¬
heit L«
Auf dieser Grundlage ist es nicht allzuschwer für unsere Frage die Konse¬
quenzen zu ziehen. Erstens ist der Schmuck dem Tiere angeboren; es kann
daher diesen nicht mehr verbessern oder verderben. Der Mensch dagegen ist
von Natur aus gar nicht geschmückt, er schmückt sich; das Schmücken ist seine
eigene Tätigkeit, ein Ergebnis seiner Arbeit. Das Unkritische bei Darwin
besteht darin, daß er dieses entscheidende Moment übersieht. Deshalb ist
auch sein an sich so reiches Material für die Genesis des Schmudtes wenig
überzeugend. Das äußert sich auch darin, daß die - für den menschlichen
Geschmack - ornamental schönen Lebewesen im allgemeinen den niedrigen
Gattungen angehören (Pflanzen, Seetiere, Schmetterlinge, höchstens Vögel);

1 Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, a. a. O. III. S. 88.


316 Abstrakte formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

die »Ahnenlinie« hört gerade dort auf, wo sie für die Genesis beginnen
müßte. Daraus folgt zweitens, daß wie ein einzelner Mensch geschmückt ist,
sei es Tätowierung oder angelegter Schmuck, keineswegs aus seiner ange¬
borenen physiologischen Beschaffenheit folgt, sondern ein Produkt gesell¬
schaftlicher Verhältnisse und Tätigkeiten ist. Ob es sich nun darum handelt,
daß der Mensch die Embleme der engeren Gemeinschaft, der er angehört, als
Schmuck trägt, oder der Schmuck seinen Rang innerhalb einer solchen zum
Ausdruck bringt etc., jedenfalls ist die Art des Sich-Schmückens nicht ange¬
boren, sondern gesellschaftlich entstanden. Drittens lockert sich dadurch die
unmittelbare Beziehung des Schmuckes zur Sexualität oder erscheint wenig¬
stens viel weiter vermittelt. Darwin hat diesen Zusammenhang, den
»Schmuck« als sekundären Sexualcharakter, für die Tiere überzeugend nach¬
gewiesen. Gewisse moderne Psychologen haben allerdings — auch ohne Dar¬
winisten zu sein - die Neigung, die Urzeit gewissermaßen als kanonische
Periode der alles beherrschenden Sexualität aufzufassen und die Sexual¬
probleme der Menschen entwickeltester Formationen in sie hineinzuprojizie¬
ren. Demgegenüber genügt es, die Analysen von Engels anzuführen, die
gerade aus den Beobachtungen tierischer Horden und ihrer Auflösung,
zumindest ihrer Schwächung durch die Eifersucht der Männchen, also gerade
durch die Betonung des Gegensatzes zwischen menschlichen und tierischen
Horden nachweisen, daß »die sich aus der Tierwelt emporarbeitenden
Urmenschen entweder gar keine Familie kannten, oder höchstens eine, die bei
den Tieren nicht vorkommt1.« Die werdenden Menschen konnten also z. B.
die Eifersucht nicht kennen, sonst hätten ihre ersten Gemeinschaften nie
dauernde, solide werden können, sonst hätte sich »ein so waffenloses Tier,
wie der werdende Mensch« nie erhalten können.
Damit soll nicht geleugnet werden, daß zwischen dem Trieb des Menschen
sich zu schmücken und seinem sexuellen Leben nahe und intime Zu¬
sammenhänge bestehen. Wichtig ist bloß, was bei Darwins Parallelen
vernachlässigt wird, daß infolge des gesellschaftlichen Lebens beim Men¬
schen vieles zum sekundären Geschlechtsmerkmal wird, das nicht nur Produkt
der Arbeit (und also dem Menschen keineswegs angeboren) ist, sondern
geradezu aus den sozialen Beziehungen der Menschen entsteht; so Macht und
Rang, Ansehen und Reichtum etc. Daß diese Momente, besonders wenn sie
durch lange Gewöhnung fixiert sind, mehr oder weniger sekundär-sexuell

1 Engels: Ursprung der Familie, a. a. O. S. 18.


Ornamentik 3*7

wirken, ist eine historische Tatsache, ebenso daß dieses Gebiet mit der
Entwicklung der Gesellschaft immer ausgedehnter und weitverzweigter
wird. Man darf also die Genesis des Schmuckes keineswegs in einer
unmittelbaren Beziehung zum sexuellen Leben suchen. Den Ausgangspunkt
bildet sicherlich der - wahre oder allgemein eingebildete - gesellschaft¬
liche Nutzen. Plechanow hat im wesentlichen durchaus recht, mag ein
Teil seines ethnographischen Materials auch veraltet sein, wenn er von der
Tätowierung sagt: »Der Wilde sah ursprünglich den Nutzen der Tätowierung
und erst dann, - viel später - empfand er einen ästhetischen Genuß beim
Anblick der tätowierten Haut1.« Es ist dabei gar nicht wesentlich, auf welcher
Bewußtseinsstufe, mit wie falschem Bewußtsein diese Einsicht der Nützlich¬
keit erfolgt.
Die begriffliche Klärung dieser ziemlich verworrenen Zusammenhänge wird
noch dadurch erschwert, daß das Wort Schönheit, womit man sehr oft das
Ästhetische bezeichnen will, zu den vieldeutigsten Ausdrücken gehört, die die
Spradie und Terminologie kennt. Thomas Mann analysiert diesen Begriff
ironisch in der Joseph-Legende und findet, daß dessen Bedeutung vom lang¬
weiligen Akademismus bis zur sexuellen Anziehung reicht. »Wie viel Be¬
trug, Gaukelei, Fopperei ist einschlägig ins Gebiet des Schönen! Und warum?
Weil es zugleich und auf einmal das Gebiet der Liebe und des Verlangens ist;
weil das Geschlecht sich einmischt und den Begriff der Schönheit bestimmt.«
Dabei zergliedert hier Thomas Mann diesen Begriff, ohne auf seine räumlich¬
zeitliche Vieldeutigkeit Bezug zu nehmen. Diese ist aber bei den Tieren bio¬
logisch, bei den Menschen biologisch und gesellschaftlich außerordentlich
variiert. So sehr Darwin die nahe Verwandtschaft des tierischen und des
menschlichen Schönheitssinnes beweisen möchte, führt er als ehrlicher und
gewissenhafter Forscher massenhaft Beispiele an, die gerade das Gegenteil
beweisen. Es ist geradezu rührend zu lesen, wie er gelegentlich über den
»schlechten Geschmack« einzelner Vögel in bezug auf die Laute und Farben,
die bei ihnen sexuell anziehend wirken, entrüstet ist2. Oder er spricht von
bestimmten Gerüchen, die in der Paarungszeit ähnliche Wirkungen ausüben
und fügt entschuldigend hinzu: »Wir dürfen in bezug auf diesen Punkt nicht
nach unserem eigenen Geschmack urteilen 3.« Es ist also sicher mehr oder

1 Plechanow: Kunst und Literatur, Berlin 1955, S. 135.


2 Darwin: Gesammelte Werke, Stuttgart 1881, Band IV, S. 35.
3 Ebd. S. 261.
318 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

weniger zufällig, wenn auf das, was im Sexualleben der Tieie zum sekundären
Geschlechtsmerkmal wird, ästhetische Kategorien, auch im allerweitesten
Sinne, überhaupt angewendet werden können.
Dieses Moment der Zufälligkeit ist aber auch aus der gesellschaftlich-ge¬
schichtlich bestimmten Entwicklung der Menschheit nicht auszumerzen. Dar¬
um geht es nicht an, hier - willkürlich, alle sozial notwendigen Zufälle für
das Ästhetische ausschaltend - das Sich-Schmücken von vorneherein als ästhe¬
tische Kategorie zu behandeln. Das ist wieder ein Rückfall in die Auffassung
des Ästhetischen als dem Menschen »ewig« angehörenden, a priorischen oder
anthropologischen Prinzip. Dies tut z. B. Scheltema, der aus weltanschaulich
völlig entgegengesetzten Voraussetzungen als Darwin, den Körperschmuck
von vorneherein als ästhetisch, sogar als sehr kompliziert und hochstehend
ästhetisch auffaßt: »Darüber, daß diese Schmuckformen zugleich reine Kunst¬
formen sind, kann aber kein Zweifel bestehen. Denn nicht nur wurde dieser
Schmuck, etwa eine Halskette aus Muscheln, mit vollem Bewußtsein als
>schön< empfunden, und nicht nur war diese in der Natur gar nicht Vorge¬
fundene gereihte Ordnung der gleich großen Glieder ein reines Phantasie¬
produkt, sondern eben als Halsschmuck wird diese Kette von Muscheln nur
dadurch verständlich, daß sie eine gegebene, gegenständliche Form, und zwar
die des menschlichen Körpers, als reine Form deutet, d. h. künstlerisch inter¬
pretiert. Erst dadurch erhält die Halskette ihre sinnvolle, schmückende
Schönheit, daß der Reigen der Glieder den Ansatz und zugleich die gleich¬
mäßige Rundung des Halses betont und begleitet1.« Das ist sicher ein Moder¬
nisieren oder wenigstens ein Hineinprojizieren der Gefühle und Einsichten
viel späterer Entwicklungsstufen in die anfängliche. Gar nicht davon zu
reden, daß Scheltema das sicherlich ältere Tätowieren überspringt und gleich
mit dem Schmuck beginnt, der infolge der Selbständigkeit des Gegenstan¬
des eine gewisse Distanzierung von der biologisch gegebenen Existenz des
Menschen erlaubt, also weit ausgeprägte Möglichkeiten zur Loslösung des
Ästhetischen vom bloß Nützlichen und Angenehmen enthält, die für das Täto¬
wieren und andere ursprünglichen Formen des Schmuckes am Körper nicht
möglich sind. Hier ist deshalb die Zufälligkeit dessen, daß etwas in unserem
Sinne als ästhetisch betrachtet werden kann, fast ebenso stark wirksam, wie
in der Naturschönheit der Tiere. Ohne hier auf ethnographische Details ein-
zugehen, genügt es, wenn man auf die ausgebrochenen Zähne, künstlich

1 Scheltema: a. a. O. S. 38.
Ornamentik 319

verkümmerte Füße hinweist, um über die hier obwaltende Zufälligkeit des


»Schönen« Klarheit zu erlangen.
Die Vieldeutigkeit dieses Begriffs zeigt sich hier ganz deutlich. Denn seinem
unmittelbaren, äußerst verschwommenen Sinn entsprechend müßte man alles
oben Aufgezählte unzweifelhaft als »schön« bezeichnen. In einer solchen Un¬
mittelbarkeit haben wir gar kein Recht, unseren Begriff der »Schönheit« dem
der Wilden wertend gegenüberzustellen und ihre eigene Auffassung über das
von ihnen Produzierte mit einer wegwerfenden Geste beiseite zu sdiieben. Im
Gegenteil, wir müßten sagen: jede »Schönheit« ist durch den gegebenen Stand
der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt, ist folglich, um Rankes Ausdruck
zu gebrauchen, gleich unmittelbar zu Gott; und es gäbe keinen Maßstab, wo¬
nach sie positiv oder negativ gewertet werden könnte. Daß im Laufe der Ge¬
schichte jene Ästhetiken, die auf dem Begriff der »Schönheit« begründet sind,
nicht einem schrankenlosen historischen Relativismus verfallen, sondern im
Gegenteil einem überhistorischen Dogmatismus, ist ein erneutes Anzeichen für
die unüberwindliche Vieldeutigkeit dieses Begriffs, wenn man seinen Umfang,
den er im Alltagsleben besitzt, bewahren und ihn doch mit dem Prinzip des
Ästhetischen identifizieren will.
Diese Doppelseitigkeit, Verschwommenheit des Schönheitsbegriffs, die sowohl
einem Relativismus wie einem Dogmatismus Vorschub leisten kann, ist ein ern¬
stes Hindernis für das philosophische Aufdecken der historischen Genesis des
Ästhetischen, auch auf diesen Teilgebieten. Darum müssen wir auch hier auf
unsere schon in früheren Fällen bewährte Methode von Marx rekurrieren,
daß die Anatomie des Menschen den Schlüssel zur Anatomie des Affen dar¬
bietet, daß also auch hier die Genesis aus den späteren Entwicklungen rück¬
wärtstastend aufgefunden werden muß. Wenn wir den Loslösungsprozeß
des Ästhetischen von der Alltagspraxis so betrachten, sehen wir auch hier
eine Linie, die vom bloß unmittelbar Nützlichen über das dadurch vermit¬
telte oder hervorgebrachte Angenehme führt; fast alles was von Darwin bis
Scheltema mit »Schönheit« bezeichnet wird, fällt in diese Rubrik. Erst auf
dieser Stufe beginnt sich das Ästhetische als selbständiges Prinzip zu ent¬
wickeln; erst von hier aus kann die ungeheure Menge der nützlichen und
angenehmen Produkte des Anfangs nach jenen Momenten gesichtet werden, in
welchen eine mehr oder weniger klare, mehr oder weniger eindeutige Inten¬
tion aufs Ästhetische wahrnehmbar wird. Zu solchen Feststellungen in kon¬
kreten Fällen - die außerhalb der uns hier gestellten Aufgabe liegen - ist
keine einheitliche anthropologische, psychologische oder biologische Erklä¬
rungshypothese möglich. Diese Intentionen können konkret die verschiedensten
320 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Auslösungsanlässe haben. Sie tragen unaufhebbar den Stempel einer


gewissen Zufälligkeit an sich, ebenso wie wir es schon früher bei der Ent¬
stehung der Werkzeuge aus dem Auflesen und später Aufheben geeigneter
Steine, bei Marx in bezug auf die Entstehung des Wertes aus den anfangs
zufälligen Tauschakten gesehen haben. Von diesem Standpunkt entsteht die
Reihe: »kosmetischer« Körperschmuck - für den menschlichen Körper ange¬
wandte (gefundene oder hergestellte) Schmuckgegenstände - Geräteschmuck.
Es ist klar, daß in dieser Reihe die Chancen der Verwandlung des zufällig
aufs Ästhetische Intentionierenden in eine wahre Intention zur Kunst und
in ihre Erfüllung ständig zunehmen muß. Dazu muß natürlich bemerkt wer¬
den, daß, wie wir bereits früher dargelegt haben, in diesem Gebiet die
Verbundenheit des Ästhetischen mit dem Nützlichen und Angenehmen
nur in Grenzfällen (am deutlichsten bei der architektonisch angewandten
Ornamentik) gelöst werden kann.
Sobald also der Schmuck, wenn auch noch so primitiv, vom Menschen selbst
hergestellt wird, hört jede Analogie mit dem Tierischen auf, und das spezi¬
fisch Menschliche, die Arbeit tritt in ihr Recht. Wie diese neue Art von
Schmuck aus der Arbeit herauswächst, darüber fehlen uns die zuverlässigen
Daten und müssen auch fehlen, da die Dokumentationen der frühen Anfänge
und Übergänge fast vollständig verschollen sind. Daß sie aber kausal-gene¬
tisch aus der Entwicklung der Arbeitstechnik herauswachsen, scheint uns nicht
bezweifelbar. Wir haben früher, in anderen Zusammenhängen, mit Berufung
auf Boas darauf hingewiesen, daß bei ganz primitiven Schleif- und Schab¬
arbeiten aus der Steinzeit die Entwicklung der Technik selbst Parallelitäten,
Gleichmäßigkeiten etc. hervorbringt. Ähnliche Erscheinungen zeigt in bezug
auf die primitive Textiltechnik Semper auf etc. Es ist also klar, daß in
solchen Fällen nur von den technischen Voraussetzungen der Ornamentik,
nicht von ihr selbst die Rede sein kann. Darum ist die Polemik Riegls gegen
die Semper-Schule, die seinerzeit so viel Staub aufwirbelte, weitgehend
müßig und scholastisch. Sie ist müßig, weil der große technische Fortschritt
nie mehr als objektive und subjektive Voraussetzungen des Künstlerischen
schaffen kann. (Wir brauchen hier auf deren Momente, wie Erringen von
Muße, Beherrschen des Materials und der Werkzeuge, Fähigkeit das Ge¬
plante restlos zu verwirklichen etc., nicht nochmals ausführlich zurückzukom¬
men.) Sie ist scholastisch, denn das von Riegl aus der Pistole geschossene
»Kunstwollen« erklärt ebenfalls nichts, hängt bloß einen hypostasierenden
Namen dem Faktum an, daß im Laufe der Zeit eine künstlerische Ornamen¬
tik entstanden ist.
Ornamentik 321

Wir wiederholen: historisch wird der Entstehungsprozeß wohl durch die ver¬
schiedenartigsten Zufälligkeiten vermittelt sein. Unsere Beispiele zeigten, wie
zufällige Beziehungen durch quantitative Steigerung eine qualitativ neue
Form hervorgebracht haben. Wenn wir aber auch für die historische Genesis
der Ornamentik mit großer Wahrscheinlichkeit einen ähnlichen Prozeß an¬
nehmen können, so ist damit unsere philosophische Frage: wie und warum
aus diesem eine besondere Art der ästhetischen Betätigung geworden ist, noch
keineswegs befriedigend beantwortet. Freilich haben die Zufälle in der gesell¬
schaftlichen Entwicklung eine eigenartige Dialektik. Es gibt Zufälle und Zufälle;
solche, die mit den objektiven Wachstumstendenzen einer bestimmten Etappe
sachlich verbunden sind, deren »Zufälligkeit« beim ersten Auftreten eben den
Anfang von etwas Neuem signalisiert, zumeist ohne zugleich ein Bewußtsein
des Neuen in den beteiligten Menschen zu erwecken, das sich erst langsam, all¬
mählich, oft sehr ungleichmäßig entwickelt; parallel mit dem Umschlagen die¬
ser Zufälligkeit in eine gesellschaftlich allgemein gewordene Wirklichkeit, ja
Notwendigkeit entfaltet es sich zu einem mehr oder weniger adäquaten Bewußt¬
sein. Es gibt daneben aber in jeder gesellschaftlichen Entwicklung Zufälle im
engsten Sinne des Wortes, diese bleiben zwangsläufig sporadisch, sterben ab, er¬
langen selten eine auch nur vorübergehende soziale Ausbreitung. Es ist klar, daß
ohne eine solche Auffassung der Zufälligkeit jede gesellschaftliche Entwicklung
einen mystifizierten Charakter erhalten müßte. Es ist ebenfalls klar, daß hier
nur von dem ersten Typus der Zufälligkeit die Rede sein kann, aber auch in
diesem Fall bleibt der erwähnte Vorbehalt bestehen, daß auch die richtigste
historische Genesis noch keine philosophische Erklärung für die ästhetische
Wesensart ihrer, als solche notwendig erkannten, Produkte geben kann.
Wir kehren damit wieder auf das bereits gestreifte Problem der Ablösung des
Ästhetischen vom Nützlichen und Angenehmen, soweit es nicht mit Flaut
und Haaren der Alltagswirklichkeit angehört, zurück. Daß diese Ablösung
die mannigfaltigsten Übergänge solcher Gradunterschiede zeigt, die sich be¬
reits zu qualitativen Differenzen fixieren, haben wir bereits angedeutet. Jetzt,
wo wir es nicht mehr wie früher bloß mit einem abstrakten Formelement zu
tun haben, sondern mit der Kristallisierung solcher Elemente zur ästheti¬
schen Einheit, kann bereits auf die ästhetische Bedeutung dieser Verschieden¬
heiten hingewiesen werden. Es kommt dabei darauf an, welche Rolle der
ornamental verzierte Gegenstand im Leben der Menschen einnimmt. Hier
ergibt sich ein Abstand der Qualität je nachdem, ob das Ornament einen
Einzelgegenstand des alltäglichen Gebrauchs ziert, oder ob es zu einem deko¬
rativen Elemente der Architektur, d. h. des öffentlichen Lebens wird. Diese
322 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

ästhetische Unterscheidung hat ebenfalls eine historische Grundlage. Das


Verzieren von Geräten ist sicher unvergleichlich älter, als das der Architektur,
deren Anfänge nach Engels erst in der Oberstufe der Barbarei festgestellt
werden können, die in ihren Anfängen nichts als Nutzbau gewesen ist1.
Hoernes2, der die letztere Feststellung macht, warnt mit Recht davor, den
Stimmungseffekt, den gewisse Überreste dieser Architektur jetzt unter Um¬
ständen, die mit den alten nichts zu tun haben, auf uns ausüben, in die Sache
selbst hineinzuprojizieren. Diese Tendenz erscheint besonders ausgeprägt bei
Scheltema 3. Er macht den Versuch mit Hilfe eines stimmungshaften Moder-
nisierens das ästhetische Prinzip in etwas »Ewiges« zu verwandeln.
Freilich ist hinter dieser Tatsache ein reales ästhetisches Problem, das Hoer¬
nes entgeht, verborgen. Nämlich - und dies bezieht sich weit mehr auf den
Geräteschmuck als auf die Architektur selbst - bei den auf uns überkomme¬
nen Ornamenten ist der Prozeß der Ablösung von der Nutzbarkeit durch die
inzwischen verflossene Zeit, durch das Herausgerissensein der betreffenden
Geräte aus dem realen Lebenszusammenhang, in welchem sie in der Periode
ihres Entstehens und Gebrauchs figurierten, bereits vollzogen. Der Ein¬
druck, der im gegenwärtigen Rezeptiven entsteht, enthält also eine genaue
Umkehrung des Originals. Hier war die Geeignetheit zum unmittelbaren
Gebrauch das Primäre, die ästhetische Wirkung etwas Zufälliges oder Akzes¬
sorisches, dort rückt die Nutzbarkeit in den Hintergrund, sie muß aus Form¬
figurationen oft mühsam nachkonstruiert werden, oder spielt eine Rolle als
Träger, als Verstärker der ästhetischen Evokation, indem die praktische
Brauchbarkeit als zur visuell wirkenden Form Gewordenes, als Element
des Ästhetischen wirkt. Eine solche Wirkung konnten die alten Geräte ur¬
sprünglich kaum auslösen.
Indessen ist diese Gegenüberstellung nicht bloß als Mahnung zur Vorsicht,
heutige Eindrücke als Basis eines damaligen »Kunstwollens« zu betrachten,
lehrreich, sondern auch direkt und positiv. Sie zeigt nämlich - mit den not¬
wendigen Vorbehalten gebraucht - doch etwas von der Richtung an, die der
ursprüngliche Prozeß im Laufe der Ablösung des ästhetisch Evokativen vom
Gefühl der Annehmlichkeit des nützlichen Gebrauchs eingeschlagen haben
mag. Die Brauchbarkeit verschwindet niemals völlig aus dem evozierten

1 Engels: Ursprung der Familie, a. a. O. S. 9.


2 Hoernes: a. a. O. S. 83.
8 Scheltema: a. a. O. S. 54 f.
Ornamentik 323

Erlebnis, verblaßt nur zu einer Brauchbarkeit überhaupt und damit zum


Hintergrund, zur Basis h Der Grad in der Proportion dieser beiden Erlebnis¬
komponenten neigt naturgemäß in der Zeit des unmittelbaren Gebrauchs am
stärksten in die Richtung des Nützlichen, das Gegenteilige setzt eine ver¬
hältnismäßig hochausgebildete Muße und durch sie eine relativ starke Di¬
stanz zur realen Tätigkeit selbst voraus, so daß wirkliche ästhetische Erleb¬
nisse in den Anfangsstadien vielleicht überhaupt nicht, jedenfalls nur spär¬
lich, ausnahmsweise, »zufällig« (im oben bestimmten Sinne) Vorkommen
konnten. Der so entstehende Widerspruch, daß nämlich nicht bewußt ästhe¬
tisch intentionierte Tätigkeiten, deren Wirkung ebenfalls ursprünglich über¬
wiegend nicht ästhetischen Charakters war, doch ästhetische Gebilde hervor¬
bringen können, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein bloß schein¬
barer. Besser gesagt, als die Erscheinungsweise des grundlegenden Wider¬
spruchs der menschlichen Praxis überhaupt, nämlich als Äußerung jener
Struktur des menschlichen Handelns, die wir im Motto dieses Buchs mit den
Worten von Marx bezeichnet haben: »Sie wissen es nicht, aber sie tun es.«
Die objektive Ablösung des Ästhetischen vom bloß Nützlichen und darum
Angenehmen kann sich also vollziehen, ohne unmittelbar im Produzenten
und im Rezeptiven ästhetisdie Erlebnisse zu erwedten.
Eben in dieser Hinsicht ist die von uns gemachte Unterscheidung zwisdien
Geräteschmuck und dekorativer Verwendung der Ornamentik in der Archi¬
tektur von großer Bedeutung. Denn der objektive Ablösungsprozeß ist hier
prinzipiell vollzogen. Die Architektur ist nämlich, wie später ausführlich aus¬
einandergesetzt werden muß, nicht mehr weltlos. Die für sie entscheidende
Gestaltung eines inneren und äußeren eigenen Raums, der in dieser Weise in
der Natur nicht gegeben ist, den der Mensch also seinen gesellschaftlich-
geschichtlich entstandenen materiellen und seelischen Bedürfnissen ent¬
sprechend schafft, in dessen schöpferischer Intention und beabsichtigter Wir¬
kung bereits die Erlebnisevokation immanent enthalten ist, hat in ihrer
spezifischen Art die Tendenz, eine dem Menschen angemessene »Welt« her¬
vorzubringen. Damit ist die Ablösung und Distanzierung vom Alltag objek¬
tiv vollzogen, selbst wenn die bewußte Ideologie der Produktion und Rezep¬
tion noch eine magische oder religiöse ist. Denn auch die Architektur geht hier

1 Es ist klar, daß eine solche Distanzierung beim unmittelbaren Körperschmuck gar
nicht auftreten kann, erst bei dem, der vom menschlichen Körper unabhängig exi¬
stiert.
324 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

auf Evokation aus, obwohl selbstredend nicht ästhetischer Richtung; sie distan¬
ziert sich ebenfalls vom Alltag, sogar in einer weitaus auffallenderen und ek¬
latanteren Weise, als die anderen Künste, sie kann also diese Ablösung vom
Alltag objektiv ganz anders vollziehen, als der weltlose Geräteschmuck. Daß
damit das Ästhetische sich noch keineswegs als selbständig konstituiert hat,
ergibt sich schon aus diesen wenigen Bemerkungen. Seine Ablösung von einer
solchen Gemeinschaft mit Magie und Religion werden wir im letzten Kapitel
des ersten Teils ausführlich behandeln. Dort wird es sich zeigen, daß diese Ab¬
lösung zwar einen - mehr oder weniger bewußten - ideologischen Kampf
erfordert, jedoch qualitativ anderen Charakters ist, als die aus dem Ein¬
gebettetsein in die Praxis des Alltags.
Wir haben hier das Entstehen der Architektur, vielleicht etwas vereinfachend,
in die magisch-religiöse Periode verlegt. Diese Vereinfachung ist insofern be¬
rechtigt, als die ersten echten ästhetischen Verwirklichungen der Architektur
den Zwecken von Magie oder Religion dienten. Wenn es auch weltliche Ge¬
bäude (Schlösser, Paläste etc.) gab, so war einerseits anfangs auch das Herr-
schertum sehr stark magisch-religiös fundiert, was auch die Wesensart seiner
künstlerischen Äußerungen entsprechend beeinflussen mußte, andererseits han¬
delte es sich auch hier um öffentliche Gebäude, deren Form - auch als Element
des »Gebrauchs« - von vorneherein wichtige Momente des ideologisch Wirken¬
den, des Evokativen mitinbegriff. (Ausdruck, der unwiderstehlichen Madit,
Imponieren durch Monumentalität.) Das Hinüberwachsen des Bauens für
private Wohnzwecke ist - ästhetisch angesehen - das Ergebnis einer viel
späteren Entwicklung.
Die Verwendung der Ornamentik in der Architektur, also in einer Kunst,
die ihrem Wesen nadi nicht weltlos ist, hebt, wenn man jene selbst in ihrem
an-und-für-sich-Sein betrachtet, ihre Weltlosigkeit nicht auf, im Gegen¬
teil, gerade diese Kombination läßt ihre Eigenart ganz klar hervortreten.
Hier erhält das Prinzip des Schmückens seine adäquateste Gestalt: es ist nickt
mehr eine Zutat zum nützlichen Gebrauch des Alltagslebens, vielmehr kann
in diesem Zusammenhang die reine Lust am Schmuck, seine das Leben der
Menschen verschönende, Freude erweckende Funktion durch nichts abgelenkt
zur Geltung gelangen. Es gibt also eine ästhetische Reihe von Körperschmuck
über Geräteschmuck bis zu diesem Punkt, gerade als Distanzierung von der
Alltagspraxis. Daß die Rolle, die die Ornamentik hier spielt, auch eine
dienende ist, nämlich das Organisieren des Raumes durch die Architektur
zu unterstützen, die Gliederung der Flächen durch dekorative Ausgestaltun¬
gen der Teile noch anschaulicher zu machen, Knotenpunkte des Aufbaus zu
Ornamentik 325

betonen und zu beleben, etc. ändert an diesem Tatbestand nichts. Ja man


kann sagen: gerade die Weltlosigkeit der Ornamentik fordert von innen
heraus eine derartige Subsumtion unter eine gestaltende Kunst, um ihr eigenes
ästhetisches Wesen ungetrübt und vollständig entfalten zu können.
Es ist also, so glauben wir, nicht unangebracht, die ästhetischen Prinzipien
der Ornamentik gerade hier zu betraditen; die Anwendung auf die früher
berührten anderen Gebiete ergibt sidi dabei von selbst, mit der hier nicht aus¬
schlaggebenden Abweichung, daß weltlose Ornamente auch an sich weltlose
Gegenstände zieren können. Wir gehen dabei, wie ebenfalls schon früher er¬
wähnt war, von den geometrischen Formen aus, und fassen eben diese so weit,
daß die zumeist später auftretenden Pflanzen- und Tierornamente dem all¬
gemeinen Begriff des Geometrischen zugeordnet bleiben. Denn das Herr¬
schende bleibt auch hier ein - letzten Endes - geometrisdi geregeltes System
von Linien, einerlei, ob sie bloß gerade sind oder auch Windungen und
Krümmungen kennen, in welchen Pflanzen, Tiere, sogar auch Menschen nicht
unter den Bedingungen ihrer eigenen Existenz abgebildet, sondern einem linea¬
ren (oder linearfarbigen) Zusammenhang von Rhythmen, Proportionen,
Symmetrien, Entsprechungen etc. eingefügt werden, in welchen ihre Gestalt,
ihre Bewegungen etc. zum bloßen Bestandteil, zum bloßen Moment der aus
der geometrischen Anordnung entstehenden Einheit wird. Es ist dabei nicht
ausschlaggebend, ob, was die historische Entstehung im einzelnen betrifft, die
geometrische Figur die »Abkürzung« eines Gegenstandes aus dem Leben ist,
oder ob jener nachträglich eine solche allegorische Bedeutung beigefügt wird;
beides kann gleicherweise in Einzelfällen Vorkommen, berührt aber nicht
die Grundfrage, der wir uns jetzt zuwenden: warum erzeugen geometrische
Verhältnisse einen ästhetischen Genuß, warum besitzen sie eine Gefühle
evozierende Macht? (Auf die notwendige Beziehung von Allegorie und
Ornamentik kommen wir am Schluß dieser Betrachtungen gesondert zu¬
rück.)
Es ist ohne weiteres verständlich, daß man die Antwort auf diese Frage von
der geometrischen Seite gesucht hat, obwohl, wie wir sehen werden, die hier
wirksamen ästhetischen Kräfte sehr früh über das bloß Geometrische hinaus¬
wachsen und den anscheinend starren Gegensatz von Anorganisch und Orga¬
nisch überholen, indem die bloße Ornamentik, als solche die reinste Form des
weltlosen Schmückens, in das allgemein Dekorative, in eines der aufbauenden
Prinzipien des Ästhetischen überhaupt hinüberwächst. Das geometrisch
Ornamentale ist jedoch in diesem Falle viel mehr als bloßes historisches Vor¬
stadium. Die theoretischen Grundlagen der späteren, entfalteteren Stufen
326 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

offenbaren bereits hier ihr prinzipielles Wesen, so daß der Ausgang vom
Geometrischen nicht nur unmittelbar verständlich ist, sondern auch ästhetisch
richtig. Ernst Fischer formuliert das Problem in der angemessenen Richtung,
wenn er feststellt: »daß wir im Ornament die Gesetzmäßigkeit des Anorga¬
nischen und damit die Schönheit des Anorganischen widerspiegeln. Das
Ornament ist jene erstaunliche Form, in der man nur mit Vektoren, mit
gleidiartigen Abständen arbeitet... Diese Ornamentik ist offenkundig an¬
schauliche Mathematik und den Ziffern vorangegangen, so wie die Bilder¬
schrift den Budistaben; sie scheint in einem gewissen Sinn Kunst gewordene
Mathematik1.« Er sucht - mit weitgehender, wenn auch relativer Berechti¬
gung - hier eine Widerspiegelung der »Ordnung« der Natur in unserem
Bewußtsein, das ja im allgemeinen bestrebt ist, die Ordnung in der Gesell¬
schaft widerzuspiegeln2. Fischer greift hier, unseres Erachtens richtig, das
Prinzip der Ordnung als das Wesentliche im ästhetischen Lustgefühl, das die
Ornamentik erregt, heraus, und weist, in voller Übereinstimmung mit unseren
früheren Darlegungen, auf die Rolle hin, die der Rhythmus »arbeitsfördernd
und lebensfördernd« für die Menschen spielt. Was seine äußerst interessanten
Darlegungen ein wenig abstrakt macht, ist die etwas allzu schroffe Gegen¬
überstellung des Organischen und des Anorganischen einerseits, von Natur
und Gesellschaft andererseits. Das Beherrschen des Anorganischen, der Natur
durch den Menschen ist nicht nur ein gesellschaftlicher Prozeß - das spricht
Fischer ebenso entschieden aus, wie diese Betrachtungen - sondern steht auch
in unzertrennlichem Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen dieser
Gesellschaft, mit dem Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur. Der
junge Marx drückt diesen Tatbestand in außerordentlich plastischer Weise
aus: »Wie Pflanzen, Tiere, Steine, Luft, Licht etc. theoretisch einen Teil
des menschlichen Bewußtseins, teils als Gegenstände der Naturwissenschaft,
teils als Gegenstände der Kunst bilden - seine geistige unorganische Natur,
geistige Lebensmittel, die er erst zubereiten muß zum Genuß und zur
Verdauung -, so bilden sie auch praktisch einen Teil des menschlichen
Lebens und der menschlichen Tätigkeit. .. Die Natur ist der unorganische
Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher
Körper ist3.«

1 E. Fischer: a. a. O. S. 179.
2 Ebd. S. 180.
3 Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, a. a. O. III S. 87.
Ornamentik 3*7

Worauf beruht dann die frühe, frühvollendete, reiche und doch weltlose
Wesensart und Wirkung der Ornamentik? Wir glauben, daß dieses Phänomen
auf ein Grundgesetz der gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung, aus der
daraus bedingten Besonderheit der Widerspiegelung der Wirklichkeit, und
zwar sowohl in Wissenschaft wie in Kunst folgt. Hegel hat in der Vorrede
der »Phänomenologie des Geistes« als erster eine philosophisch exakte Be¬
schreibung dieses Phänomens gegeben. Er geht davon aus, daß dies sein Werk
einen neuen Weltzustand zum begrifflichen Ausdruck zu bringen hat, und
will nun daran anschließend die spezifischen Wesenszeichen im Auftreten des
Neuen in der Geschichte objektiv wie subjektiv genau bestimmen. Er geht nun
davon aus, daß dieses Neue ebensowenig »eine vollkommene Wirklichkeit«
haben kann, wie »das eben geborene Kind«. Natürlich ist das Neue ein Produkt
mannigfaltiger Bestimmungen und Tendenzen, die lange vor seinem klaren
Hervortreten im Schoße der alten Welt wirksam waren, wenn es aber nun Ge¬
stalt gewinnt, so ist diese »das aus der Sukzession wie aus seiner Ausdehnung in
sich zurückgegangene Ganze, der gewordene einfache Begriff desselben1«. Die
Widerspiegelung eines solchen historischen Tatbestandes im menschlichen Be¬
wußtsein hat deshalb notwendig einen abstrakten, esoterischen Charakter.
In der »Logik« kommt nun Hegel - diesmal rein vom Standpunkt der Er¬
kenntnis - auf dasselbe Problem zurück, wobei er jetzt nicht so sehr die
Gestalt des historisch Neuen wie die des Anfangs der gedanklichen Bewälti¬
gung der Wirklichkeit ins Auge faßt. Dieser Anfang ist das Allgemeine.
»Wenn in der Wirklichkeit«, führt Hegel aus, »es sei der Natur oder des
Geistes, die konkrete Einzelheit dem subjektiven, natürlichen Erkennen als
das Erste gegeben ist, so muß dagegen in dem Erkennen, das wenigstens in¬
sofern ein Begreifen ist, als es die Form des Begriffes zur Grundlage hat, das
Einfache, von dem Konkreten Ausgeschiedene das Erste sein, weil der Gegen¬
stand nur in dieser Form die Form des sich auf sich beziehenden Allgemeinen
und des dem Begriffe nach Unmittelbaren hat 2.« Er polemisiert gegen jene,
die hier an die Anschauung appellieren, denn der Prozeß, den er jetzt
beschreibt, hat bereits deren Standpunkt sich einverleibt, und gedanklich
überschritten. Und auch vom subjektiven Gesichtspunkte ergibt sich dieselbe
Lage: »Wenn bloß nach der Leichtigkeit gefragt wird, so erhellt ohnehin von
selbst, daß es dem Erkennen leichter ist, die abstrakte einfache Gedanken-

1 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, a. a. O., Band II, S. 11.


2 Hegel: Wissenschaft der Logik, Werke, a. a. O., Band V, S. 288 f.
328 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Bestimmung zu fassen, als das Konkrete, welches eine vielfache Verknüpfung


von solchen Gedankenbestimmungen und deren Verhältnissen ist1.« Hegel
macht hier zugleich darauf aufmerksam - was sich schon unmittelbar mit
unserem Problem berührt -, daß auch die Geometrie nicht mit der konkreten
Raumgestalt, sondern mit den einfachsten Elementen und Formen, mit Punkt,
Linie, Dreieck, Kreis etc. beginnt.
Es ist nun ebenso eine allgemein bekannte Tatsache, daß die Geometrie einer¬
seits die erste wissenschaftliche Betätigung des primitiven Menschen, die erste
Anwendung der Wissenschaft auf die Praxis (lange vor ihrer Konstituierung
als systematisierter Erkenntnis) war, daß andererseits die geometrische Orna¬
mentik in derselben Periode der entstehenden und sich ausbreitenden Land¬
wirtschaft ihre erste Blüte erlebt. Die beiden Tendenzen hängen natürlich
aufs engste zusammen. Hambidge 2 zeigt z. B. daß das Rechteck in der Land¬
messung zuerst auftaucht, dann wird es auf Tempelbau übertragen etc. Daß
dieses erste bewußte und gedankliche Beherrschen der Wirklichkeit, das vom
Standpunkt der Menschheitsentwicklung eine bleibendere Bedeutung besitzt,
als alle weitaus blendenderen künstlerischen Errungenschaften der Jägerzeit
(auch unter besonders günstigen Bedingungen, wie in Südfrankreich) einen im
oben angegebenen Hegelschen Sinn abstrakten Charakter hat, muß, so hoffen
wir, nicht eigens bewiesen werden. Diese Abstraktheit erhält jedoch ein beson¬
deres Pathos unter den Bedingungen ihres anfänglichen Erfaßtwerdens: der
primitive Mensch lebt in einer weitgehend nicht von ihm beherrschten Um¬
welt, es ist bloß ein ganz kleines Eckchen, das jetzt durch das Licht einer
wahren Erkenntnis beleuchtet wird. Daß diese Erkenntnis anfangs auch
magisch, später auch religiös oder mythisch interpretiert wurde, setzt sie trotz¬
dem nicht auf die gleiche Stufe mit irgendeinem magischen Pseudowissen.
Auch hier kann man nur aus der späteren Entwicklung Rückschlüsse auf die
frühere ziehen: man vergegenwärtige sich das Pathos der wahren Erkenntnis,
das jahrtausendelang sich fast ausschließlich an Mathematik oder Geometrie
knüpfte: von Pythagoras und Platon zieht sich diese Linie bis zum neuen
Alphabet der Natur Galileis, bis zum more geometrico Spinozas. Es ist der -
vorerst - abstrakte Ansatz zum wahren Erkennen, ganz im Sinne Hegels, in
einem noch absolut unentfalteten, unkonkreten Stadium. Jedoch gerade in
dieser Abstraktheit vereinigt es die sonst unerreichbare absolute Exaktheit der

1 Ebd. S. 289.
2 Hambidge: Dynamic Symmetry, Jale University Press 1920, S. 7 f.
Ornamentik 329

Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit mit einer sinnlich evidenten, leicht


faßbaren visuellen Anschaulichkeit. Wenn nun das in der beginnenden künst¬
lerischen Tätigkeit, die, wie wir gesehen haben, sich nodi nidit zur Selbständig¬
keit konstituiert hat, unwiderstehlidi Ausdruck verlangende ästhetisch¬
weltanschauliche Pathos in die Richtung der geometrischen Ornamentik drängt,
so ist die Ursache hier zu suchen. Diese Einheit der schon auf primitiver Stufe
erreichbaren sicheren und exakten Erkenntnis und einer unmittelbar einleuch¬
tenden sinnlichen Anschaulichkeit verbindet einerseits das hier Errungene mit
der Basis einer jeden Wissenschaft und Kunst, mit der Arbeit, andererseits
schafft dieser unteilbare Doppelcharakter von abstrakt-begrifflicher Genauig¬
keit und sinnlich-unmittelbarer Evidenz gerade in und infolge dieser Abstrakt¬
heit die Möglichkeit dazu, die so geschaffenen Gebilde aus der heterogenen Viel¬
fältigkeit der Alltagspraxis herauszuheben, ihnen ihr gegenüber jene Distanz
und Eigenart zu verleihen, wodurch sie selbständige Kunstwerke werden kön¬
nen. (Daß dies ein langwieriger Prozeß ist, haben wir bereits angedeutet.)
Erinnern wir uns jetzt daran, was Hegel bei der logischen Betrachtung dieses
Komplexes über die Leichtigkeit im Apperzipieren der Abstraktion gesagt hat.
Hier wird eben die von Hegel analysierte Abstraktion ins sinnlich Anschau¬
liche transponiert, und zwar nicht - wogegen Hegel sich dort verwahrt -
als Rückkehr zu einer vorbegrifflichen sinnlichen Unmittelbarkeit der bloßen
Wahrnehmung, sondern so, daß die gedanklichen Bestimmungen in dieser
sinnlichen Unmittelbarkeit restlos mitenthalten sind. Die Möglichkeit, daß
das Konstruieren als geometrisch-wissenschaftlicher Beweis gelten kann, zeigt,
daß hier die unmittelbare sinnliche Erscheinung das Wesen (das, was Hegel
Begriff nennt) adäquat ausdrückt, ja in bestimmter Weise ihm so nahekommt,
daß man von ihrer unmittelbaren Einheit, vom unmittelbaren Ausdruck des
Wesens durch die Erscheinung sprechen kann. Erst auf einer weitaus ent¬
wickelteren Stufe wird der sinnliche Charakter philosophisch analysiert, die
Aufmerksamkeit auf die »Dimensionslosigkeit« der Elemente der Geometrie
(Punkt etc.) gerichtet; so schon von Platon. Dann wird der desanthropo-
morphisierende Charakter auch der geometrischen Anschaulichkeit bewußt,
und die Trennung der wissenschaftlichen und künstlerischen Widerspiegelung
auch hier vollzogen. An sich ist freilich diese Dualität von Anfang an vor¬
handen, das ändert aber nichts an jener ursprünglichen, sich gefühlsmäßig
lange erhaltenden Verknüpftheit, über welche wir bis jetzt gesprochen haben.
Die Leichtigkeit der Apperzeption, der Übersicht über das Ganze, der Auf¬
nahme der Details hat also bereits einen rein ästhetischen Charakter: den
einer Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit, deren Intention jedoch
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
33°

über das möglichst adäquate Verwandeln des An sich in ein Für uns hinaus¬
geht. Dieses muß in ihr enthalten sein; man kann gerade hier nicht ent¬
schieden genug wiederholen, daß Wissenschaft und Kunst dieselbe Wirklich¬
keit widerspiegeln. In der ästhetischen Widerspiegelung entsteht aber, wie
bereits ausgeführt, ein solches Bild der Welt, in welchem die Bezogenheit auf
den Menschen das unaufhebbar begründende Prinzip bildet, das eben deshalb
mittels einer evokativen Wirkung diese Bezogenheit unmittelbar erlebbar
macht. Diese Gemeinschaft mit Arbeit und Wissenschaft, zugleich mit der
deutlichen Abhebung von ihnen, ist in der geometrischen Ornamentik fast
abtastbar gegenwärtig. Die Eigenart jenes Wirklichkeitsaspekts, die die
Methode der Geometrie bestimmt, die ihre frühe Entstehung als Wissenschaft
und als Kunst ermöglicht, liegt sowohl der Gemeinschaft wie der Verschieden¬
heit zugrunde. Die Selbständigkeit der Kunst im Erforschen und Beherrschen
der Wirklichkeit durch den Menschen äußert sich hier in einer sehr plastischen
Weise. Einerseits kommt die Verbundenheit mit der Wissenschaft, infolge des
gleichen Objekts der Widerspiegelung, darin zur Geltung, daß die geo¬
metrische Ornamentik in ihrer wirklich ausgebildeten Form, vor allem in
Ägypten, die Ergebnisse der späteren, auf hoch entwickelter Mathematik
basierten Wissenschaft praktisch um Jahrtausende vorwegnimmt. Weyl1 zeigt
auf, daß alle Typen der Variabilität der sich hier ergebenden Verhältnisse,
welche erst die Mathematik des 20. Jahrhunderts exakt wissenschaftlich er¬
forschen und ergründen konnte, in allen ihren Typen durch die ägyptische
Ornamentik bereits dargestellt und verwirklicht waren. Andererseits aber ist
diese Übereinstimmung zwar eine - an sich besonders für die Philosophie der
Kunst - außerordentlich wichtige, nachträgliche Erkenntnis, die das Wesen
des notwendig gemeinsamen Objekts der Widerspiegelung unwiderleglich
klar aufdeckt. Sie ist jedoch vom Standpunkt der Kunst als Kunst bloß eine
nachträgliche Erkenntnis, indem sie zum ästhetischen Wesen der geometri¬
schen Ornamentik nichts unmittelbar Ausschlaggebendes hinzufügen kann.
Ihre unerschöpfliche Variabilität ist die Quelle ihrer ästhetischen Wirkung,
und um diese hervorzurufen oder zu erleben war diese Erkenntnis weder not¬
wendig, noch damals historisch möglich. Die reale Wirkung enthält aller¬
dings - im von uns wiederholt angegebenen Sinn - das unbewußte Bestreben,
das unbewußte Gefühl, daß hier eine Verbindung überhaupt mit der Wirk¬
lichkeit hergestellt wurde. Sie hat als Basis, als treibenden Motor des

1 Weyl: a. a. O. S. 103 f., vgl. auch S. 49-52.


Ornamentik 33i

Schaffens und des Genießens das Erlebnis der beginnenden Herrschaft des
Menschen über die Natur, der beginnenden, vom praktisch erkennenden Men-
sdien zustande gebrachten Ordnung. Aber dieses Überhaupt genügt zur Er¬
klärung von Genesis und Wesensart vollauf. Gerade weil hier die Überein¬
stimmung in der richtigen Widerspiegelung der Wirklichkeit zwischen Kunst
und Wissensdiaft in einer so klaren Form hervortritt, weil das Ubereinstim¬
men objektiv exakt nachweisbar ist, subjektiv jedoch - ebenso exakt nach¬
weisbar - nur »unbewußte« Quellen haben kann, ergibt sich hier ein
Paradigma für das »getrennt marschieren, vereint sidi schlagen« von Kunst
und Wissenschaft: bei der direkteren und totaleren, nicht mehr weltlosen
Widerspiegelung der Wirklichkeit sind diese Wechselbeziehungen viel kompli¬
zierter. Ihre Grundlage ist aber die gleiche, und darum mußte dieses lehrreiche
Verhältnis an diesem einfachen und abstrakten Fall besonders betont werden.
Die Einfachheit und Abstraktheit der Ornamentik hat, wie wir gesehen
haben, zur Folge, daß Erscheinung und Wesen restlos zusammenzufallen
scheinen. Diese sonst im Gegenstand des Ästhetischen höchst selten derart un¬
mittelbar hervortretende Konvergenz beruht auf dem zugleich abstrakten
und sinnlichen Charakter der Erscheinung und auf der Abstraktheit des
Wesens. Letztere darf aber nicht, wie dies bei Kant geschah, mit Inhalts¬
losigkeit verwechselt werden. Kant hat, mit der Genialität seines philosophi¬
schen Blicks für ästhetische Probleme, die hier behandelte tiefgreifende
Dualität in der ästhetischen Formung klar erkannt, indem er die »freie
Schönheit« (pulchritudo vaga) von der »bloß anhängenden Schönheit«
(puldiritudo adhaerens) unterschied. Der geniale Blick wird jedoch von
seinem subjektiven Idealismus, von der daraus entspringenden Unfähigkeit,
die Rolle der Widerspiegelung der Wirklichkeit in der Ästhetik zu erkennen,
getrübt. Er hat das berechtigte Bestreben, das Wesen des Ästhetischen aus
jener unmittelbaren Abhängigkeit von der wissenschaftlich-philosophischen
Erkenntnis, wie dies bei Leibniz und seiner Schule der Fall war, zu befreien,
und seine Selbständigkeit philosophisch zu begründen. Da er aber am Phäno¬
men der Widerspiegelung achtlos vorbeigeht, kann er das Wesen, der »freien
Schönheit« nur damit begründen, daß sie »keinen Begriff von dem ..., was
der Gegenstand sein soll« voraussetzt1. Darum verwickelt er sich bei der
konkreten Auslegung dieser Lehre in unauflösliche Widersprüche. Einerseits
erklärt er die nicht immer richtig herangezogenen Naturerscheinungen

1 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 16.


Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
332

(Blumen, Vögel etc.) in einer oft fast sophistischen Weise; Ernst Fischer hat mit
Recht in seiner Behandlung der Kristalle ihre Geformtheit auf objektive
Naturgesetze und innerhalb deren Bereich auf das Bestimmtsein der Form
durch den Inhalt zurückgeführt. Andererseits, wo Kant auf die Ornamentik
selbst zu sprechen kommt, zieht er nicht nur subaltern-moderne Beispiele an
(Tapeten, Laubwerk etc.), sondern erblickt in ihnen eine pure Inhaltlosigkeit
an Stelle des von uns aufgewiesenen abstrakten Inhalts. (Daß die Konzeption
der »anhängenden Schönheit« aus denselben Gründen noch widerspruchs¬
voller ist, werden wir später sehen.) Das abstrakte Wesen der geometrischen
Ornamentik ist also keineswegs, wie Kant meint, inhaltlos, nicht »ohne
Begriff«, wenn der Begriff auch restlos in die unmittelbare sinnliche Anschau¬
lichkeit aufgesogen ist. Daß es keinen konkret gegenständlichen Inhalt hat, son¬
dern bloß den eines abstrakten Überhaupt, bringt nur einen äußerst speziali¬
sierten Charakter des Inhalts zustande, nicht aber sein vollständiges Fehlen.
Diese besondere Art der Inhaltlichkeit kommt nun vor allem darin zum Aus¬
druck, daß sich um dieses abstrakte Überhaupt eine Aura der Allegorik und
Esoterik bildet. Das Pathos, das diese Darstellungsweise, als Abbild, Element
oder Teil der Welteroberung durch die Geometrie durchdringt, setzt sich im
starken Drang, das abstrakte Überhaupt konkret zu interpretieren, es aus
seiner Ferne zur konkreten Wirklichkeit zurückzuführen, durch. Die geometri¬
schen Formen sind mit keiner konkreten Gegenständlichkeit des wirklichen
Lebens organisch verbunden; und wenn in der Ornamentik solche Gegen¬
ständlichkeitsformen (Pflanzen, Tiere, Menschen) erscheinen, so können auch
diese kein konkret-sinnliches besonderes So-Sein haben, sondern müssen bloße
Hieroglyphen ihres Sinnes, abstrakte Abbreviaturen ihrer Existenz vorstel¬
len. Dies um so mehr, als es zum Wesen der Ornamentik gehört, jedes von ihr
bearbeitete Objekt aus dem Konnex der Wechselbeziehungen seiner natür¬
lichen Umwelt herauszureißen und es in einen - von diesem Standpunkt -
künstlichen Zusammenhang zu versetzen. Darum kann der geistige Gehalt
eines rein ornamentalen Gebildes nur ein allegorischer sein; ein Sinn, der dem
konkret-sinnlichen Erscheinungsformen gegenüber völlig transzendent ist.
Eine wahrheitsgemäße Nachkonstruktion der so entstandenen, oft magisch
oder religiös esoterischen Deutungen der geometrischen Ornamentik ist für
die Ethnologie, Kunstgeschichte etc. in den meisten Fällen eine schwer zu
lösende Aufgabe. Auf ihre Schwierigkeit hat bereits Riegl1 nachdrücklich

1 Riegl: Stilfragen, a. a. O. S. 31.


Ornamentik 333

aufmerksam gemacht. Es ist ihm jedoch dabei entgangen, daß die wahre
Ursache dieser Schwierigkeit im Wesen der Allegorie selbst liegt, besonders
wenn ihre Deutung das Privileg einer geschlossenen, das Geheimnis behüten¬
den Priesterkaste ist. Das Allegorische beruht ja gerade darauf, daß zwischen
der sinnlich-sichtbaren Wesensart der dargestellten Gegenstände und ihrem
kompositionell das Ganze des Kunstwerks enthüllenden Sinn kein im Wesen
der Gegenstände selbst begründeter Zusammenhang besteht. Von dieser
Gegenständlichkeit aus gesehen, ist jede allegorische Deutung eine mehr oder
weniger, oft vollständig willkürliche. Andererseits geht die allegorische Inter¬
pretation in ihrer originären magischen oder religiösen Form gerade davon
aus, daß sämtliche Erscheinungen der Wirklidikeit die erhabene Wahrheit des
Magischen oder Religiösen prinzipiell nur inadäquat ausdrücken können,
wodurch die Willkürlichkeit der Deutung vom Gegenstand aus, also von
»unten« eine Bestätigung von »oben« erhält. Diese konvergierende Doppel¬
tendenz in der Allegorie ist so stark, daß sie sich auch in viel späteren Perio¬
den, bei nicht mehr abstrakten Beziehungen zwischen Erscheinung und Wesen
doch restlos durchsetzt. So werden im Christentum der ersten Jahrhunderte
derart prägnant sinnliche Erzählungen, wie die des Alten und Neuen Testa¬
ments von Clemens von Alexandrien, von Origines und anderen rein alle¬
gorisch interpretiert1.
Natürlich ist zwischen diesen beiden Typen der Allegorie ein qualitativer
Unterschied vorhanden. Während die zuletzt erwähnte Abart mit der alle¬
gorischen Interpretation das Wesen der künstlerischen Gegenstandsgestaltung
vergewaltigt oder seinen eigentlichen Sinn ignoriert, wächst das allegorische
Wesen der geometrischen Ornamentik gerade aus ihrer ästhetischen Eigenart
selbst organisch heraus. Die evokative Wirkung der geometrischen Ornamen¬
tik, zusammen mit ihrem Wesen als abstraktes Überhaupt bringt - auf der
Basis des weltanschaulichen Pathos, das diesen ganzen Komplex bewegt -
aus dem unmittelbaren Erlebnis heraus das Bedürfnis der allegorischen Inter¬
pretation hervor. Diese kann, wie es aus diesem Tatbestand von selbst folgt,
zwar inhaltlich angesehen nur eine willkürliche sein, jedoch eben deshalb
führt sie keinerlei Vergewaltigung des künstlerischen Wesens, der künstleri¬
schen Praxis mit sich. Boas 2 bringt eine große Anzahl von Beispielen, die

1 Hugo Ball im Vorwort zu Dionysios Aeropagita: »Die Hierarchie der Engel und
der Kirche«, München-Planegg 1955, S. 23.
2 Boas: a. a. O. S. 88 ff.
334 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

zeigen, wie eine und dieselbe geometrische Figur in der allerverschieden-


sten, allerentgegensätzlichen Weise allegorisch-inhaltlich interpretiert wurde.
Solche Wirkungen auf die Zeitgenossen lassen sich naturgemäß heute nicht
mehr nachkonstruieren. Auch bei ethnographischen Daten aus dem Leben
primitiver Völker ist der Zweifel durchaus berechtigt, ob die gegenwärtig
gegebenen Auslegungen nicht sehr abgeschwächte oder gar entstellte Formen
der alten Überlieferungen sind. Auch Scheltema spricht sich über sehr ähn¬
liche Tatbestände unmißverständlich klar aus: »Das Verständnis für den
Symbolwert einfacher geometrischer Formen ist uns so völlig verlorengegan¬
gen, daß wir uns wohl kaum eine richtige Vorstellung machen können von
der Bedeutung, die das hier erörterte Kreisschema mit betonter Mitte einmal
für unsere frühen Ahnen besaß1.«
Noch weniger kann die aktuelle lebendige Wirkung der Ornamentik auch
aus der richtigsten Rekonstruktion der ursprünglichen Intention unmittelbar
abgeleitet und verständlich gemacht werden. Das schließt jedoch eine ver¬
mittelte Erklärung keineswegs aus. Denn, wie wir zu zeigen versucht
haben, liegt diesen ursprünglichen Schaffenstendenzen eine bestimmte ob¬
jektive Struktur der entstandenen Werke zugrunde; und diese Struktur kann
die Qualität der Dauerwirkungen über Jahrtausende hinaus determinieren.
Die real vorhandene Beziehung zwischen Erscheinung und Wesen, der
Charakter des Wesens als abstraktes Überhaupt, sind diese formell-struktu¬
rellen Grundlagen. Es scheint vielleicht, als ob diese Auslegung der künst¬
lerischen Wirkung von - als Allegorie aufgefaßten - Ornamenten unserer
früheren Behauptung, daß in der Ornamentik Erscheinung und Wesen restlos
zusammenfallen, widerspräche. Indessen muß auch, später konkret
Darzulegendes vorwegnehmend, bedacht werden, daß jede Allegorie immer
und notwendig das im Kunstwerk zutage tretende Wesen verdoppelt. Es
gibt dann nämlich einerseits ein transzendentes, allegorisches, inhaltliches,
begrifflich formulierbares Wesen, worauf die Totalität des künstlerisch Ge¬
stalteten zu intendieren hat. Andererseits - wenn es sich wirklich um ein
Kunstwerk handelt - wird davon die dort sinnlich auftretende Dialektik von
Wesen und Erscheinung gar nicht berührt. Sie kann normal vorhanden sein,
wie in dem erwähnten Beispiel der Erzählungen aus dem Alten und Neuen
Testament; es ist aber ebenso möglich, daß diese Dialektik in der konkret¬
sinnlichen Gestaltung von geometrischen Ornamenten als restloses Zusammen-

1 Scheltema: a. a. O. S. 59.
Ornamentik 335

fallen zur Geltung gelangt. Aber darum wird die geometrische Ornamentik -
auch wenn ihre allegorische Bedeutung unwiederbringlich verlorengegangen
ist - keineswegs von jedem, künstlerisch relevanten Inhalt entblößt. Es bleibt
ein bedeutsamer Gehalt bestehen, der seinen Reichtum und seine Tiefe aus
jenen Quellen des Pathos der menschlichen Herrsdtaft über die Außenwelt,
aus der sinnlich erscheinenden Mühelosigkeit und Geistigkeit der so entstan¬
denen sichtbaren Ordnung schöpft, die wir früher beschrieben haben. Darin
drückt sich ein allgemeines ästhetisches Gesetz der Dauerwirkungen aus. Hier
muß nur so viel vorausgeschickt werden, daß auch im jetzt behandelten Fall
der geometrischen Ornamentik, wo die erste Evidenz bestechend dafür zu
sprechen scheint, daß die ästhetische Wirkung rein formale Fundamente hat,
die wirkliche Grundlage der Wirkung doch - letzten Endes - inhaltlich
bedingt ist. Natürlich - und dies gilt für alle ästhetischen Wirkungen - wer¬
den diese unmittelbar durch das jeweilige System der Formen vermittelt und
ausgelöst. Die Einheit von Inhalt und Form in der Ästhetik, die spezifische
Wesensart der künstlerischen Form, daß sie nämlich immer die Form eines
besonderen, einzigartigen Inhalts ist, kommt gerade in dieser unmittelbaren
Vermittlungsrolle der Form zwischen Werk und Rezeptivität zum Ausdruck,
in der Tatsache, daß der Rezeptive unmittelbar von formellen Wirkungen
affiziert wird, diese aber in seinem Erlebnis sofort ins Inhaltliche Umschlägen,
so daß er inhaltlichen Wirkungen zu erliegen meint.
Die komplizierten Wechselbeziehungen zwischen Inhalt und Form, die im
Laufe des historischen Schicksals eines Werks, eines Genres, einer Kunst etc.
wirksam werden, können wir hier unmöglich behandeln; nur darauf muß
kurz hingewiesen werden, daß in der scheinbar rein formellen Wirkung der
geometrischen Ornamentik gerade vom abstrakten Überhaupt des dargestell¬
ten Wesens, von der zugleich sinnlichen und abstrakt-geistigen Art der vor¬
handenen Erscheinungswelt infolge ihrer dialektischen Wechselwirkungen
ununterbrochen inhaltliche Wirkungen ausstrahlen. Diese können, wie gezeigt,
mit den autochtonen unmöglich identisch sein, schon weil die allegorische
Bedeutung nicht mehr entzifferbar ist, aber selbst dann, könnte sie uns
heute künstlerisch-evokativ nichts mehr sagen. Auf den Stimmungsgehalt
haben wir durch Anführen des Gedichts von Stefan George bereits hin¬
gewiesen. Aber auch dieser Stimmungsgehalt ist lange nicht derart unbestimmt,
wie er auf den ersten Augenblick erscheinen mag; über seine weltanschaulichen
Fundamente haben wir ja bereits gesprochen. Wenn er sich auch nicht - und
das gehört gerade zur ästhetischen Wesensart der Ornamentik - konkret
gegenständlich-inhaltlich fixieren kann, so liegen ihm doch sehr deutlich
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

determinierte form-inhaltliche Bestimmungen zugrunde. (Hier taucht ein für


die ganze Ästhetik sehr wichtiges Problem auf höchst abstrakter Stufe zum
ersten Male auf. Nämlich die Frage, daß der wirkende Inhalt des Kunstwerks,
was seine konkrete Gegenständlichkeit betrifft, außerordentlich unbestimmt,
sehr verschiedenartig interpretierbar sein kann, ohne daß er - im ästhetischen
Sinn - wirklich unbestimmt wäre, ja daß an seine Stelle, Kantisch, eine
Inhaltlosigkeit treten müßte. Daß diese Frage hier im Zusammenhang mit
dem allegorischen Wesen der Ornamentik auftaucht, bedeutet noch lange
nicht, daß sie in wesentlich veränderter Weise auch auf konkreter entwickel¬
teren Stufen nicht wieder entstehen könnte, so insbesondere in der Musik,
aber nicht nur in ihr.)
Die sinnlich erscheinende und in der Sinnlichkeit nur aufgehende, aber nicht
in ihr aufgehobene Abstraktheit dieser ästhetischen Bestimmungen hat zur
Folge, daß ihre begriffliche Beschreibung einen vorwiegend negativen Charak¬
ter haben muß, d. h. daß man erst von Negationen ausgehend das positiv
Ästhetische richtig umreißen kann. So war es bei der Beziehung von Erschei¬
nung und Wesen. So ist es bei dem weiteren Schritt zur Konkretisierung: die
Ornamentik hat keine Tiefe. Wir wissen: dieses Wort ist doppeldeutig, wir
hoffen jedoch, zeigen zu können, daß es im vorliegenden ästhetischen Tat¬
bestand sowohl im wörtlichen, wie im - durch lange historische Praxis all¬
gemein gültig gewordenen - metaphorischen Sinn eine wichtige Seite der
Sache selbst bezeichnet. Der wörtliche Sinn läßt sich unschwer erörtern: es
gehört zum Wesen der geometrischen Ornamentik, zweidimensional zu sein;
gerade jene unmittelbare Evidenz im Zusammenfallen von Sinn und Sinnlich¬
keit würde mit der Einbeziehung der Tiefendimension verlorengehen: das
Dreieck, der Kreis, etc. können unzertrennlich sie selbst und Teilmomente
einer dekorativ-schmückenden Fläche sein, während ein Kubus, in seiner not¬
wendig perspektivischen Wiedergabe die Widerspiegelung konkreter Gegen¬
ständlichkeit repräsentiert, wobei das wissenschaftlich-illustrierende und das
künstlerisch-gestaltende Prinzip hier bereits schroff auseinanderfallen. Wir
werden später sehen, daß das Hinüberwachsen des ornamentalen Prinzips ins
Dekorative im weitesten Sinn mit einer bestimmten Toleranz der Tiefen¬
dimension verbunden ist, daß freilich dabei ein Kampf der Widersprüche vor
sich geht, in welchem das dekorative Prinzip die Tendenz vertritt, tatsächlich
vorhandene Gestaltungen der dritten Dimension in die letzthinnige Wirkung
einer Fläche aufzuheben. Im reinen Ornament ist ein solcher kampfvoller
Widerspruch noch nicht vorhanden. Wir haben bereits darauf hingewiesen,
daß das ornamentale Verwenden von Tieren oder Pflanzen diesen ihre reale,
Ornamentik 337

lebensvolle Gegenständlichkeit nimmt, sie mit den geometrisdien Elementen


der übrigen Ornamentik, die jetzt freilich auch krumme geometrische Linien
in Anspruch nimmt, restlos homogeneisiert, sie in reine Ornamente verwandelt.
Auch diese haben hier bloß eine sichtbare Existenz überhaupt, wenn diese
auch gegenständlich etwas konkreter bestimmt ist, als die der bloß geometri¬
schen Ornamente; die Einheit, wenn die Formwirkung eine inhaltlich ver¬
mittelte ist, schlägt in eine märchenhafte Stimmung im Gegensatz zu der des
Lebens um.
Kompliziertere Fragen tauchen bei der erweiterten, metaphorischen Fassung
der Tiefe auf. Indessen haben uns unsere letzten Bemerkungen in die Nähe
ihrer Lösung gebracht, denn die Reduktion von Lebewesen auf ornamentale
Umrisse, was, wie wir bereits gesehen haben, notwendig damit verknüpft ist,
daß sie nicht mehr in ihrer natürlichen Umwelt künstlerisch widergespiegelt,
daß die Wechselbeziehungen ihres Daseins mit dieser ihrer Umwelt als nicht
existent behandelt werden, bedeutet das Ausstreichen ihrer realen Lebens¬
probleme, der realen Gegensätze des Lebens aus dem künstlerisch so gestalte¬
ten Gebilde. Damit ist aber - und das ist der springende Punkt - alles Ne¬
gative im dialektischen Sinn prinzipiell aus dem Umkreis der ornamentalen
Gestaltung entfernt. Dieser privative Tatbestand stellt aber die Wahrheit der
metaphorischen Formulierung der Tiefe bereits klar und konkret vor uns: was
betrachten wir denn in der Kunst, einerlei um welche es sich handeln mag,
als tief? Die Antwort ist sehr naheliegend: eine derartige Widerspiegelung
der Wirklichkeit, die die Widersprüchlichkeit des Lebens in allen ihren ent¬
scheidenden Bestimmungen, in deren vollentfalteter Dynamik wahrheits¬
getreu gestaltet. Je größer die zur Einheit gebrachte Spannung solcher kon¬
kreten Widersprüche ist, desto tiefer wird das Kunstwerk sein. Es ist ein
richtiger Sprachgebrauch, wenn man gerade Künstlern, die in dieser Flinsicht
rücksichtslos zu Ende gehen, das Prädikat der Tiefe zu verleihen pflegt; so
Dante und Rembrandt, so Shakespeare und Beethoven. Ein konkreter und
bewegter Widerspruch ist jedoch ohne Folgerichtigkeit in der Ausbildung des
Negativen undenkbar. Engels1 betont mit Recht - natürlich für das Gebiet
des philosophischen Denkens, seine Feststellung ist aber mühelos auch auf die
Kunst anwendbar -, daß Feuerbach im Vergleich zu Flegel flach ist, weil er
in der Behandlung des Negativen an Konkretheit und Konsequenz weit
hinter ihm zurückbleibt. In diesen Betrachtungen von Engels ist für uns vor

1 Engels: Feuerbach, a. a. O. S. 74.


338 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

allem wichtig, daß der Gegensatz von Tief und Flach unzertrennbar mit der
Behandlungsart des Negativen im Leben der Menschheit verknüpft ist. Es ist
jedoch ebenfalls erwähnenswert - da, wie man nicht oft genug wiederholen
kann, Kunst und Wissenschaft dieselbe Wirklichkeit widerspiegeln - ein wie
großes Gewicht Engels auf historische Konkretheit und Relativität des Nega¬
tiven so wie auf dessen zentrale Bedeutung in der gesellschaftlichen Entwick¬
lung legt. Keine Kunst, die die konkrete gesellschaftliche Wirklichkeit adäquat
widerspiegeln will, kann an diesem Problemkomplex Vorbeigehen, ohne
den berechtigten Vorwurf einer Seichtheit, einer Flachheit, einer Vernied¬
lichung der Wirklichkeit zu entgehen. Nur die Architektur ist eine Aus¬
nahme. Da jedoch die Gründe dafür - trotz gewisser Verwandtschaften
mit der hier behandelten Frage - dem Wesen nach anders gelagert sind,
schon weil diese Kunst, trotz ihrer Ungeeignetheit, das Negative zum Aus¬
druck zu bringen, doch keine weltlose, wie die Ornamentik, ist, können
wir das Fehlen des Negativen in der Architektur erst bei ihrer Analyse
behandeln.
Die besondere Stellung der Ornamentik beruht nun darauf, daß sie sich dies¬
seits der aus dieser Lage entspringenden Dilemmas der künstlerischen Gestal¬
tung befindet. Das Fehlen einer jeden Negativität ist hier kein Ausweichen
vor dessen Gestaltung, sondern im Gegenteil eine prinzipiell notwendige
Eigenart dieser Formungsweise. Dementsprechend enthält der daraus eben¬
falls notwendig folgende Mangel an Tiefe keine Tendenz zu einer Flachheit
oder Seichtheit, sondern drückt im Gegenteil einen ganz spezifischen Aspekt
der Wirklichkeit aus. Wir haben dessen Wesen in seinen Hauptzügen bereits
umschrieben. Jetzt treten die inhaltlichen Komponenten dieser Formgebung
noch klarer als bisher ans Tageslicht: die ebenfalls bereits erwähnte märchen¬
hafte Wirkung erhält dabei, um ein Wort Friedrich Hebbels zu gebrauchen,
den Akzent einer Schönheit vor der Dissonanz, den Abglanz einer in realer
Konkretheit so nie existierenden Wirklichkeit, die die Sagen fast aller Völker
als goldenes Zeitalter, als verlorenes Paradies beschrieben haben. Darin ist
natürlich bereits eine gewisse Verschiebung des Tonfalls dem ursprünglichen
geometrisch-erkenntnismäßigen, wirklichkeits-erobernden Pathos gegenüber
enthalten, indem das Vorwärtsweisende des letzteren den Beigeschmack einer
nur einst besessenen Harmonie erhält. Indessen ist dieser Gegensatz, der in
jeder real-gestaltenden Kunst ein unaufhebbarer wäre, hier nicht viel mehr als
ein Schaukeln zwischen gefühlsmäßig verschieden gefärbten Bestimmungen.
Dabei haben die beiden Pole eine gemeinsame Grundlage: das Heraus¬
gehobensein der Gegenstände und ihrer Zusammenhänge aus der normalen
Ornamentik 339

Wirklichkeit, indem einerseits jene ihre natürliche Umwelt verlieren, während


der unmittelbar privative Akt ihnen neue, sonst nicht vorhandene Verbin¬
dungen verleiht, indem andererseits beide einander gegenüber zur vollsten
Homogeneität abgestimmt sind, und diese Ordnung - zufällig im Verhältnis
zur realen Gegenständlichkeit des Lebens - an sich eine höchst gesetzmäßige
ist. So erscheint die Ornamentik als das wohlgeordnete Abbild eines wesent¬
lichen Aspekts der Wirklichkeit, als die sinnlich-sinnfällige Abstraktion einer
Ordnung überhaupt. Diese erhält der normalen Wirklichkeit gegenüber etwas
Schwebendes, dessen Stimmungsausdruck die oben angedeuteten Pole sind,
ohne ihren Charakter als Wirklichkeit überhaupt zu verlieren.
Dieser schwebende, wirklich-unwirkliche Charakter verstärkt sich noch, wenn
wir die Ornamentik von einem anderen, bisher unbehandelten Gesichtspunkt
betrachten, von dem ihrer Materialität. Wir haben früher auf den Streit über
ihre Entstehung zwischen Semper und Riegl angespielt und diesen als einen
scholastischen bezeichnet. Denn es ist zwar einerseits historisch richtig, daß
jede Ornamentik aus der tedmischen Arbeit herauswächst, es ist aber unmög¬
lich, ihre ästhetischen Prinzipien einfach und geradlinig aus irgendeiner Tech¬
nik abzuleiten; andererseits ist das der technischen Genesis ausschließend
gegenübergestellte »Kunstwollen« ein leerer, unhistorischer und metaphysi¬
scher Begriff, der die historischen Wechselbeziehungen (auch mit der Technik)
ignoriert, und so zum Endergebnis der realen Entwicklung eine erdachte Ur¬
sache hypostasierend hinzufügt. In Wirklichkeit ist ein jedes Ornament die
unzertrennbare Einheit der innigsten Materialechtheit und der freischwebend¬
sten Immaterialität. Das erstere ist leicht einzusehen. Denn so wenig die
Genesis der Ornamentik aus der Entwicklung der Technik allein direkt ab¬
leitbar ist, so klar ist es, daß die Durchführung geometrisch exakter Figuren
in den verschiedensten Materialien (Textilstoffe, Töpferei, Steinbearbeitung,
Elfenbeinschnitzerei, etc.) eine hohe Stufe der Stoffbeherrschung voraussetzt.
Und zwar nicht bloß eine tedmische Vollendung im allgemeinen, sondern
genaue Sorge dafür, daß die in Visualität umsetzbaren Möglichkeiten des
jeweils bearbeiteten Materials entsprechend zur Geltung gelangen. Es ent¬
steht also eine neue Nuance der Technik, die in dem Beherrschen des Stoffes
über die praktische Zweckmäßigkeit, ohne diese aufzugeben, ja sie weiter¬
bildend, qualitativ hinausgeht, indem sie in der Beschaffenheit des Mate¬
rials die optimal auf die Visualität unmittelbar wirksamen Möglichkeiten
entdeckt und ihr Herausbringen bis zur Vollendung ausbildet. Diese sind in
jedem Material verschieden, so daß die Verwirklichung des gleichen Ziels,
der geometrischen Sichtbarkeit, Übersichtlichkeit, Ordnung, Präzision etc.
340 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

verschiedene technisch-künstlerische Entwicklungslinien erfordert und hervor¬


bringt.
Das, was wir die Immaterialität der Wirkung genannt haben, enthält schein¬
bar eine Zielsetzung und Bearbeitung völlig entgegengesetzter Art. Und in
der Tat ist hier ein realer, für die Kunstentwicklung fruchtbarer, sie vor¬
wärtstreibender dialektischer Widerspruch wirksam. Die Komponente der
Materialität haben wir eben kennengelernt. Die Immaterialität hängt aufs
engste mit dem geometrischen Grundcharakter der Ornamentik, mit ihrem
bereits eingehend erörterten weltlosen Wesen zusammen. Die Grundlage des
Widerspruchs ist schon im Geometrischen selbst enthalten, nämlich als der
zwischen ihrer unmittelbaren sinnlichen Evidenz und zwischen der Erkennt¬
nis, daß die in der Realität abgebildeten, hergestellten Figuren ihren eigenen
mathematischen Definitionen prinzipiell niemals genau entsprechen kön¬
nen; darauf hat, wie wir gesehen haben, schon Platon hingewiesen. Für die
Wissenschaft ist die Lösung klar: das mathematisch formulierte Wesen ist das
allein Wahre; die sinnliche Darstellung wird immer mehr zu einer - vor¬
wiegend pädagogischen - Illustration, wobei von den notwendigen Ab¬
weichungen einfach abgesehen wird. Bei rein technischer Anwendung wird
freilich ein Maximum der Annäherung erstrebt. In der Kunst dagegen wird
die sinnliche Erscheinung zur unaufhebbaren Erscheinungsform des Wesens;
die sinnlich-unmittelbare Evidenz kümmert sich bloß darum, daß die »Idee«
des geometrischen Gebildes evokativ wachgerufen wird; die an sich vorhande¬
nen, für die Wissenschaft so wichtigen Abweichungen kommen hier überhaupt
nicht in Betracht. Aber gerade darum ist die »Ideenhaftigkeit« im sinnlichen
Gebilde immanent enthalten und verursacht ihre aus dem realen Leben her¬
ausgehobene, immaterielle Wesensart, macht sie zu jener Komponente des
dialektischen Widerspruchs in der Ästhetik des Ornaments, von welcher eben
die Rede ist.
Der ästhetische Charakter äußert sich nun darin, daß diese Tendenz auch
auf die nidit mehr rein geometrischen Elemente der Ornamentik (Pflanzen,
Tiere etc.) reibungslos ausgedehnt werden kann. Denn das homogene, homo-
geneisierende Wesen der Ornamentik konzentriert sich gerade darauf, allen
gestalteten Gegenständen eine derartige »Ideenhaftigkeit« zu verleihen. Diese
erscheint als eine visuell eindrucksvolle Reduktion auf das sparsamst Not¬
wendige in der schlichten Erkennbarkeit des betreffenden Gegenstandes, so¬
wie in seiner Isolierung von jeder natürlichen Umwelt. Jeder Gegenstand ist
rein auf sich selbst gestellt und seine kompositioneilen Verbindungen haben
prinzipiell nichts mit seiner eigenen Gegenständlichkeit als solcher zu tun. Es
Ornamentik 34i

ist klar, daß eine derartige Darstellungsweise die sdton an sidi vorhandene
»Ideenhaftigkeit« der geometrischen Formen noch steigert. Es ist aber ebenso
klar, daß ein soldies bewußt einseitiges Hervorheben des »Wesentlichen« an
den in die Komposition eingefloditenen Pflanzen oder Tieren, das höchstens
einen auffallend prägnanten Zug visuell erfaßt, jedoch gar nicht bestrebt ist,
ihr reales Wesen als solches skhtbar zu madien, das sich mit der sofortigen
suggestiven Erkennbarkeit und Einfügbarkeit in die gegenstandsfremde Ord¬
nung des Ganzen begnügt, den dematerialisierenden, entgegenständlidisten
Charakter nur noch verstärkt. Die nicht geometrischen Bestandteile des Orna¬
ments sind also zumindest ebenso »ideenhaft« wie die rein geometrischen;
besser gesagt: es entsteht ein homogenes Milieu solcher »Ideenhaftigkeit«,
einer solchen Dematerialisierung.
Es ist also hier, wie wir sehen können, der von uns angekündigte Wider¬
spruch tatsächlich vorhanden. Es kommt jetzt nur noch darauf an, seine
Wesensart etwas näher zu bestimmen. Denn er ist von ähnlichen Wider¬
sprüchen in den gestaltenden Künsten wesentlich verschieden. Will z. B. ein
Bild das freie Schweben einer Gestalt mit malerischen Mitteln sichtbar ma¬
chen (wie in der »Sixtinischen Madonna«, wie in Tizians »Assunta« etc.) so
muß es eine reale Gegenständlichkeit — mit der in ihr enthaltenen Schwere —,
eine reale Bewegung etc. so zum Ausdruck bringen, daß diese an sich un¬
mögliche Bewegungsrichtung innerhalb einer Welt von realen Gegenständen
eine sinnliche Evidenz erhält. Es handelt sich also um einen Widerspruch,
der tief in die gegenständliche Beschaffenheit eines jeden Bildelements ein¬
dringt, der deshalb, im Sinne der Hegelschen Logik, zur Dialektik des Wesens
gehört, die inneren Widersprüchlichkeiten des Ganzen und der Teile,
der Erscheinung und des Wesens etc. aufdeckt, der aus der allgemeinen Ver-
knüpftheit von allen mit allem entspringt, der den Widerspruch innerhalb
der von der Malerei selbst gestalteten Materialität aufwirft und zur Lösung
bringt. In der Ornamentik ist dagegen der Widerspruch, im Vergleich etwa
zur Malerei, äußerlich. Die ornamental zur Anschauung gebrachten Gegen¬
stände haben, wie aus dem bisher Dargelegten notwendig folgt, keine
eigene Materialität; sie besitzen nur - in einer Komposition - alle gemein¬
sam die Materialität des Ganzen (also Holz, Stein, Elfenbein etc.) und in¬
folge des Fehlens dieser eigenen Materialität der Gegenstände können jene
Spannungen nicht entstehen, die wir bei der Malerei angedeutet haben. Die
Bewegtheit, die sidi infolge der Komposition ergibt, kennt weder die Dimen¬
sionen, die Bewegungsgesetze der wirklichen Welt, noch die durch diese be¬
stimmten Richtungen; sie ist nicht mehr als ein Anleiten für das Auge des
342 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Rezeptiven, das rhythmische Abwechslungen, ein rhythmisches Schweben etc.


darbietet. Die früher geschilderte Immaterialität der Ornamentik steht also
nur zur Materialität des Stoffes (Stein, Elfenbein etc.), zu dessen material¬
echter Bearbeitung in Widerspruch, nicht zu einer gestalteten Materialität der
Gegenstände. Der Widerspruch kann deshalb eben nur ein äußerlicher sein,
ein »Übergehen in Anderes«, was Hegel1 als das Merkmal der untersten Stufe
der Dialektik, der »Sphäre des Seins« (im Gegensatz zu der des Wesens) be¬
zeichnet hat.
In der ästhetischen Sphäre der Ornamentik ist dieser Widerspruch deshalb
notwendigerweise subjektiven Charakters, d. h. nicht die subjektive Wider¬
spiegelung eines in der Gestaltung selbst an sich obwaltenden Widerspruchs,
wie in den eben angeführten Beispielen aus der Malerei, sondern einer, der
bloß in der Rezeption des Werks entsteht, freilich durch dessen objektive
Struktur notwendig hervorgebracht. Deshalb kann sich dieser zuletzt aufge¬
deckte Widerspruch restlos in die Reihe der früher Dargelegten einfügen. Ja
hier erweist es sich erst in voller Klarheit, daß alle diese Widersprüche nur
immer wieder verschiedene Seiten desselben Sachzusammenhangs bezeichnen
und ihn dadurch konkretisieren. Die Weltlosigkeit der Ornamentik erhebt
sich dadurch aus jener negativen, scheinbar bloß privativen Bedeutung, die
sie notwendigerweise bei ihrer ersten Erwähnung haben mußte. Sie zeigt sich
jetzt als eine durchaus positive, inhaltserfüllte Eigenschaft dieser Kunst, als
ihre besondere, äußerst variierte, innerlich reife, vielfältige Evokationen
erzeugende Wesensart, die sich keineswegs in einem formalistisch abstrakten
System von reinen Formbeziehungen erschöpft, deren formale Struktur
vielmehr aus dem Drang, wesentliche Inhalte mitzuteilen erwächst und dazu
geeignet wird, mannigfaltige Inhalte künstlerisch zu evozieren. Schiller, der
trotz streckenweise geglückten und wesentlichen Versuchen, die Kantsche
Ästhetik zu überwinden, doch vielfach in dieser befangen bleibt, und vor
allem die prinzipielle Inhaltlosigkeit und Materiefremdheit der »reinen
Form« nie ganz hinter sich lassen konnte, gibt im Gedicht »Das Ideal und
das Leben« eine suggestive Beschreibung dieser Schönheit des Kunstwerks. Sie
ist sachlich schief und irreführend, wenn man sie, wie Schiller will, auf die
ganze Kunst, insbesondere auf die gestaltende, bezieht. Sie gibt jedoch - un¬
beabsichtigt - eine großartige dichterische Beschreibung dessen, was wir als
den positiven Inhalt der Weltlosigkeit des Ornaments dargelegt haben:

1
Hegel: Enzyklopädie, § 161, Zusatz.
Ornamentik 343

Aber dringt bis in der Schönheit Sphäre


Und im Staube bleibt die Sdiwere
Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück.
Nicht der Masse qualvoll abgerungen,
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen,
Steht das Bild vor dem entzückten Blick.
Alle Zweifel, alle Kämpfe schweigen
In des Sieges hoher Sicherheit;
Ausgestoßen hat es jeden Zeugen
Menschlicher Bedürftigkeit.

Wir haben bereits am Anfang dieser Betrachtungen von der Frühvollendung


der Ornamentik gesprochen. Es handelt sich dabei nicht bloß um ihre frühe
Entstehung, auch nicht nur darum, daß sie, wie wir uns auf Weyl stützend
hervorgehoben haben, unter günstigen Umständen alle begrifflich möglichen
Variationen um Jahrtausende früher künstlerisch verwirklicht, als das wis¬
senschaftliche Denken sie theoretisch zu erfassen fähig war, sondern um eine
Stellung zur Wirklichkeit, um eine Art, diese ästhetisch widerzuspiegeln,
die spezifische Züge der Frühstadien der menschlichen Entwicklung an sich
trägt. Diese Auffassung wird noch durch die Besonderheit der ihr zugrunde
liegenden, ihre Eigenart bestimmenden dialektischen Widersprüche erhärtet.
Diese entspringen, wie wir gesehen haben, subjektiv jenen objektiven Wider¬
sprüchen, die auf relativ niederen Stufen der inneren Organisation der Mate¬
rie aufzutreten pflegen; die hier so wichtig gewordene Geometrie gehört
auch zu dieser Gruppe. Ffier wird in einem anderen Zusammenhang sichtbar,
was wir über die historische Konvergenz und Divergenz der wissenschaft¬
lichen und ästhetischen Kategorien innerhalb der Widerspiegelung derselben
Wirklichkeit ausgeführt haben. Dort haben wir gezeigt, daß die höheren
Stufen des Desanthropomorphisierens sich soweit vom sinnlich-menschlichen
Apperzipieren der objektiven Vhrklichkeit entfernen, daß den von ihnen
entdeckten neuen Kategorien keine ästhetischen mehr entsprechen können.
Hier dagegen haben wir es mit einem Gipfelpunkt der Konvergenz zu tun.
Bei allen von uns angedeuteten Verschiedenheiten der Funktionen, die die
Geometrie in der wissenschaftlichen, bzw. in der ästhetischen Widerspiege¬
lung erfüllt, besteht eine derartige außerordentliche, unmittelbar einleuch¬
tende Gemeinsamkeit zwischen beiden, wie sie niemals wieder bei einem an¬
deren Formelelement der Widerspiegelung zu finden sein wird. Auen dar¬
in liegt ein Motiv der Frühvollendung der geometrischen Ornamentik.
344 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Daraus erklärt sich, was wir früher ihren »primitiven« Charakter genannt
haben. Denn eine derart intime Konvergenz der wissenschaftlichen und ästhe¬
tischen Widerspiegelung kann auf einer entwickelteren Stufe nicht wieder¬
kehren. Es drückt sich darin eine urwüchsige, urtümliche Einheit der mensch¬
lichen Fähigkeiten aus, ein Nochnichtvorhandensein späterer Differenzierun¬
gen. Doch handelt es sich schon nicht mehr um eine verworrene Mischung, die
ein Ausgeliefertsein an die Umwelt anzeigt, sondern um die beginnende Herr¬
schaft über diese in all ihrer großartigen Eindeutigkeit, Exaktheit und Ab¬
straktheit.
Die gestaltenden Künste im eigentlichen Sinne, die deshalb auch die Welt-
losigkeit der bloßen Ornamentik hinter sich gelassen haben, sind von dialek¬
tischen Widersprüchen höherer Ordnung, von komplizierten Kompositions¬
prinzipien beherrscht. Da nun das ästhetische Gefühl späterer Zeiten, so¬
wohl bei den Schaffenden wie bei den Rezeptiven, durch eine solche Entwick¬
lung der Künste gebildet wurde, kommt zu den Stimmungsakzenten der
Ornamentik auch die Nuance der Primitivität (im ästhetisch positiven Sinne),
als der Kunst aus einer Kindheitsperiode der Menschheit hinzu; Kindheit hier
in einem spezifischen, noch prägnanteren Sinn gefaßt, als in der Auslegung
der griechischen Kunst bei Marx. Primitivität bedeutet also hier keine un¬
entwickelte Stufe der künstlerischen Auffassung oder gar der Technik, wie
dies bei Anfängen der gestaltenden Kunst der Fall sein kann. Im Gegenteil,
es handelt sich um eine Vollendung der Form, die man als nicht mehr wieder
erreichbar findet, deren Basis eine solche Einheit von Inhalt und Form ist,
wie man sie unter den komplizierten gesellschaftlichen und seelischen Be¬
dingungen der Spätzeit nicht mehr verwirklichen kann.
Auch dies ist eine Wirkung, die die Ornamentik auf ihre Zeitgenossen un¬
möglich ausüben konnte und die dennoch keine willkürliche ist, denn sie ent¬
stammt aus dem notwendigen Inhalt-Form-Verhältnis der Ornamentik
selbst. Diese besondere Nuance tritt infolge der historischen Entwick¬
lung, der Stelle der Ornamentik in ihr, der geschichtlichen Veränderungen der
gesellschaftlichen Umstände und ihres Einflusses auf Kunst, Kunstgenuß und
künstlerische Empfänglichkeit erst spät hervor. Solche Verschiebungen im
Stimmungsgehalt der Wirkungen sind eine allgemeine Erscheinung in der
Kunstgeschichte; ihre Ursachen, ihre Angemessenheit an das ästhetische We¬
sen der Werke oder ihre - relative - Zufälligkeit im Verhältnis zu diesem
kann nur im historisch materialistischen Teil der Ästhetik eingehend behandelt
werden. Auf bestimmte philosophische Voraussetzungen oder Folgen der¬
artiger Verschiebungen kommen wir noch später zurück. Wenn wir hier
Ornamentik 345

dennoch auf dieses Problem hinweisen, so tun wir es einerseits um zu zei¬


gen, wie stark die scheinbar so rein formale Ornamentik inhaltlidi-welt-
anschaulich bestimmt ist, andererseits, weil in den letzten Jahrzehnten die
geometrisierende Kunst wieder »in Mode« kam, jedodi vermittels einer
Theorie, die alle historischen wie ästhetischen Fragen resolut auf den Kopf
stellte, die aber als Ausdruck einflußreicher Tendenzen der modernen Deka¬
denz eine gewisse Bedeutung erlangte. Darum scheint es uns unvermeidlich,
uns mit den Gesichtspunkten dieser Kunstauffassung kurz auseinanderzu¬
setzen.
Das bekannteste und einflußreichste Werk dieser Art ist Wilhelm Worringers
»Abstraktion und Einfühlung«. Wir können hier natürlich nicht seine ge¬
samte ästhetische Anschauung analysieren; es sei nur beiläufig darauf hin¬
gewiesen, daß er mit dieser Gegenüberstellung von vornherein gegen die
Widerspiegelung der Wirklichkeit durch die Kunst Stellung nimmt, indem
bei ihm als Gegensatzbegriff der Abstraktion nicht der wirkliche künstlerische
Realismus, sondern die subjektivistisch-impressionistische »Einfühlung«
(Vischer, Lipps etc.) erscheint. An einer wichtigen Stelle kommt Worringers
schroffe Ablehnung jeder Widerspiegelung der Wirklichkeit klar zum Aus¬
druck. Er sagt: »Die banalen Nachahmungstheorien, von denen unsere
Ästhetik dank der sklavischen Abhängigkeit unseres gesamten Bildungs¬
gehaltes von Aristotelischen Begriffen nie loskam, haben uns blind gemacht für
die eigentlichen psychischen Werte, die Ausgangspunkt und Ziel aller künst¬
lerischen Produktion sind h« Die besondere modern-dekadente Postition
Worringers kommt hier darin zum Ausdruck, daß er in der »Abstraktion«
nicht nur einen Ausgangspunkt der künstlerischen Tätigkeit erblickt, was
richtig ist, sondern das Ziel aller Kunst. Kunstpolitisch ist demgemäß Wor¬
ringers Buch eine theoretische Vorwegnahme des Expressionismus, dessen
Vorkämpfer er später geworden ist. Die Dialektik der gesamten Kunstent¬
wicklung wird aber schon in diesem Buch auf einen Kampf zwischen Impres¬
sionismus und Expressionismus reduziert, wobei Worringer zugleich in die
Reihe jener imperialistischen Ideologen tritt, die Antike und Renaissance zu
»dethronisieren« trachten, um an ihre Stelle die Kunst der primitiven Völ¬
ker, die des Orients, der Gotik und des Barock zu setzen. Diese Gesamt¬
anschauung Worringers mußte in aller Kürze aufgezeigt werden, damit seine
Theorie der »Abstraktion«, die sich naturgemäß auf die geometrische Orna-

1 Worringer: Abstraktion und Einfühlung, a. a. O. S. 16S.


346 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

mentik stützt, als historisch-ästhetische Interpretation der letzteren in ihrer


ganzen Bedeutung verständlich werde.
Die theoretische Grundlage Worringers ist der Gegensatz von Heimisch-Sein
in der Welt und Furcht vor ihr; das erstere fundiert die Einfühlung, die
zweite die Abstraktion. Typus der ersten ist die klassische Antike »als eine
restlos durchgeführte Anthropomorphisierung der Weltx«. »Man war in
der Welt zu Hause und fühlte sich als ihr Mittelpunkt«, führt er an anderer
Stelle an 2. Worringer »vergißt« hier die Kleinigkeit, daß gerade die Philo¬
sophen des klassischen Hellas, wie wir gezeigt haben, die ersten bewußten
Streiter für die Desanthropomorphisierung des menschlichen Denkens waren,
daß ihre Polemik gegen die Kunst gerade hier ihre Quelle hatte. Auf solche
Kleinigkeiten kommt es freilich bei Worringer nicht an, er stellt sich ja die
große Aufgabe an die Stelle der oberflächlichen »Innerweltlichkeit (Imma¬
nenz)« der Antike »die Überweltlichkeit (Transzendenz)« der anderen, der
wahren Kunst zu setzen. Dies sind jedoch bloß die allgemein weltanschau¬
lichen Grundlagen; das Wesentliche für Worringer ist, was aus diesen sub¬
jektiv folgt. Denn seine Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt ist
in Wahrheit die zwischen Instinkt und Verstand. Und Worringer zögert
nicht, seine Entscheidung für die »transzendente« Weltanschauung im Sinne
des Irrationalismus, der Vorherrschaft des »Instinktiven« zu fällen: »Der
Instinkt des Menschen ist aber nicht Weltfrömmigkeit sondern Furcht. Nicht
jene körperliche Furcht, sondern eine Furcht des Geistes. Eine Art geistiger
Raumscheu angesichts der bunten Verworrenheit und Willkür der Erschei¬
nungswelt 3.« Damit geht nun die Worringersche Theorie gleich über eine
bloße historisch-ästhetische Erklärung der geometrischen Ornamentik hin¬
aus. Ihre Grundprinzipien sind ja die der echten, der transzendenten Kunst:
»Alle transzendentale Kunst geht also auf eine Entorganisierung des Orga¬
nischen hinaus, d. h. auf eine Übersetzung des Wechselnden und Bedingten
in unbedingte Notwendigkeitswerte. Solche Notwendigkeit aber vermag der
Mensch nur im großen Jenseits des Lebendigen, im Anorganischen, zu emp¬
finden. Das führte ihn zur starren Linie, zur toten kristallinischen Form 4.«
Die geometrische Kunst des Anorganischen ist also weitaus mehr als eine be¬
stimmte, innerhalb des Geltungsbereichs ihrer Prinzipien vollberechtigte
Abart der Kunst, sie ist vielmehr ihr schlechthinniges Vorbild: das Unorga-

1 Ebd. S. 169. 3 Ebd. S. 170 f.


2 Ebd. S. 133. 4 Ebd. S. 177.
Ornamentik 347

nische, das Lebensfeindliche ist das große Ziel, das jede echte Kunst erstrebt.
So wird hier das Antihumane als das große, leitende Prinzip von Leben und
Kunst ausgesprochen: »... in der Betrachtung eines Notwendigen und Un¬
verrückbaren erlöst zu werden vom Zufälligen des Menschseins überhaupt,
von der scheinbaren Willkür der allgemeinen organischen Existenz. Das
Leben als solches wird als Störung des ästhetischen Genusses empfunden 1.«
Worringer steht mit dieser Auffassung nicht allein; die bunte Reihe ihrer
Verkünder erstreckt sich von Paul Ernst bis Malraux. Hier seien nur einige
diarakteristische Aussprüche von Ortega y Gasset angeführt: »Und sucht
man die allgemeinsten und charakteristischsten Formen der neuen Produk¬
tion, so stößt man auf die Ablösung der Kunst vom Menschlichen 2.« Ortega
y Gasset zeigt weiter, daß die »neue Feinfühligkeit« in der Kunst »von einem
Ekel am Menschlichen« beherrscht ist 3. Und er zieht die wichtige Kon¬
sequenz aus dieser Lage, die bei seinen Vorgängern nur immanent vorhan¬
den war: »Die neue Kunst aber hat die Masse gegen sich und wird sie immer
gegen sich haben. Sie ist wesentlich volksfremd, mehr als das, sie ist volks¬
feindlich 4.« Es ist hier natürlich nicht unsere Aufgabe, uns mit dieser neuen
Kunst und ihrer Theorie auseinanderzusetzen. Immerhin wird es jedem un¬
befangenen Betrachter einleuchten, daß sehr wichtige Kunstströmungen des
20. Jahrhunderts, so Expressionismus, Kubismus, neue Sachlichkeit, abstrakte
Kunst etc. so verschieden sie sonst sein mögen, in ihren weltanschaulichen,
wie künstlerischen Voraussetzungen diesen Kunsttheorien der Antimensch¬
lichkeit außerordentlich nahestehen.
Uns interessiert hier vor allem die Frage, wie alle Entwicklungstendenzen
der Menschheit in solchen Theorien der Dekadenz verfälscht werden. Es wird
von diesen Richtungen allgemein verkündet, daß die Objektivität der Wis¬
senschaft, die objektive Widersprüchlichkeit des Seins nicht nur als menschen¬
feindliche Irrationalität aufzufassen sind, sondern auch, gerade als solche,
zum Ideal gemacht werden sollen5. Die Identifikationen des steigenden

1 Ebd. S. 31.
2 Ortega y Gasset: Die Aufgabe unserer Zeit, Zürich 1928, jetzt in: Gesammelte
Werke, Band II, Stuttgart 1950, Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst
(1925), S. 238 f. S. 126.
3 Ebd. S. 135, Werke, Band II, S. 245.
4 Ebd. S. 115, Werke, Band IV, S. 231.
5 Über diese allgemein philosophischen Richtungen vgl. mein Buch »Die Zerstö¬
rung der Vernunft« in Werke, Band 9, Neuwied 1962.
348 Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit

Desanthropomorphisierens der Erkenntnis mit einer Antihumanität der wis¬


senschaftlichen Erkenntnis überhaupt, der vom Menschlichen unabhängigen
Wesensart der objektiven Wirklichkeit mit ihrem menschenfeindlichen Cha¬
rakter sind sdion seit langer Zeit Dogmen bei jenen geworden, die vor den
Folgen der konsequent zu Ende geführten Desanthropomorphisierung in
den Wissensdiaften zurückschrecken. Diese Panik bekam zuerst in Pascal
einen Ausdruck von weiter Wirksamkeit. Nicht zufällig ist er Zeitgenosse
jener revolutionären Umwälzung der Mathematik und der Naturwissen¬
schaften, auf die wir schon früher anspielten, nicht zufällig gehört er als
Wissenschaftler zu ihren Bahnbrechern, aber auch nicht zufällig schreckt er
weltansdiaulich vor ihren Konsequenzen zurück und sucht in der christlichen
Welt eine Welt der Menschlichkeit, nachdem die Wissenschaft die Welt ent-
göttlicht, entmenschlicht hat. Damit taucht das Motiv der Furcht bereits bei
Pascal auf. Aber erst als die gesellschaftliche Entwicklung so weit fort¬
geschritten ist, daß die herrschenden Klassen und ihre Intelligenz sie bereits
als völlig entmenscht empfinden, wird die Angst zu einem Grundpfeiler der
retrograden Ideologie und ihre perverse Bejahung, ihre selbstmörderische
Idealisierung zum herrschenden Motiv im Denken und in der Kunst der De¬
kadenz. Dieses Lebensgefühl drücken Worringer und seine Gesinnungsgenos¬
sen aus.
Wir haben gesehen, wie damit die Grundlagen seiner Auffassung der abstrak¬
ten Formen, ihres ästhetischen Wesens und ihrer historischen Wirkungsart
Zusammenhängen. Die verführerische Wirkung solcher Theorien ist durch ihre
Mischung von Halbwahrheiten mit Verzerrungen bedingt, natürlich auf der
Basis eines Zum-Begriff-Erhebens, eines »Ontologisierens« der Gefühlsweise
der Dekadenz. Eine solche Einheit von Halbwahrheit und Verzerrung haben
wir eben aufgededct: das Zusammenwerfen der Desanthropomorphisierung
der Erkenntnis der Welt durch die Fortschritte der Wissenschaft mit der
furchterregenden Unmenschlichkeit der Wirklichkeit (im Kapitalismus). Eine
zweite derartige Mischung ist die Hypostasierung der Furcht zum Musageten
der echten Kunst und zugleich zum »Urgefühl« der Menschheit sowohl am
Anfang wie am Ende ihrer Laufbahn. Es ist natürlich richtig, daß die Furcht
im Leben des Urmenschen eine gewaltige Rolle gespielt hat. Es ist aber einfach
falsch und verzerrt die Tatsachen, wenn Worringer gerade in der geome¬
trischen Ornamentik (und damit indirekt in der Geometrie selbst) den origi¬
nären Ausdruck dieser Furcht erblicken lassen will. Die Überreste der Magie
zeugen beredt für die Macht einer solchen Furcht, aber, wie hier bereits gezeigt
wurde, gerade die Entdeckung der geometrischen Ordnung, der geometrischen
Ornamentik 349

Gesetzlichkeit (in Alltagspraxis, Wissenschaft und Kunst) ist ein erster


Schritt, sich von dieser Furcht, die aus der Unfähigkeit der Menschen, die
Naturkräfte zu beherrschen, entsprang, wenigstens partiell zu befreien. Die
gedanklichen und emotionalen Wirkungen dieser Befreiung erwecken, wie
wir gezeigt haben, einen Nadiklang in der Ideologie von einigen Jahr¬
tausenden, nachdem diese Befreiung sich allmählich vollzogen hat. Daß die
ersten Versuche zur Wirklichkeitsbeherrschung durch Mathematik und Geo¬
metrie auch von magischen Vorstellungen begleitet wurden, tut hier nichts
zur Sache; das ist für die erste Entwicklungsperiode der Menschheit allge¬
mein bezeichnend.
Durch Auffassungen wie die Worringers wird zugleich das Verhältnis des
Menschen zur anorganischen Welt auf den Kopf gestellt. Die Eroberung der
objektiven Wirklichkeit, deren erste Schritte sich hier abspielen, wird zur
geistigen »Raumscheu«; die anorganische Welt, nach den bereits angeführten
Worten von Marx »der unorganische Leib des Menschen«, wird zur Verkör¬
perung des den Menschen feindlichen Prinzips. Das Weltgefühl der imperia-
listisdien Dekadenz wird so in die Urzeit der Menschheitsentwicklung hin¬
einprojiziert, und die so erreichte Hypostase dient dazu, die Gefühlsweise
dieser Verfallszeit als Äußerung des editesten menschlichen Wesens, der wah¬
ren Kunst hinzustellen. Und endlich: die Worringersche Verallgemeinerung
der geometrischen Ornamentik zum Grundprinzip einer jeden wahren Kunst,
ist wieder eine Mischung von Halbwahrheit und totaler Verzerrung. Letz¬
tere haben wir bereits aufgezeigt. Die Halbwahrheit besteht darin, daß ge¬
wisse prinzipielle Errungenschaften der Ornamentik im Laufe der Entwick-
lung zu mitbestimmenden Komponenten der Kunst im allgemeinen werden.
Mit dieser Frage werden wir uns erst später konkret beschäftigen können.
Und zwar darum - und diese Begründung enthält bereits eine prinzipielle
Widerlegung der Theorie Worringers -, weil die allgemein wirksam ge¬
wordenen Tendenzen der Ornamentik im Laufe dieses Prozesses ihren eigent¬
lichen, strengen, geometrisch-anorganischen Charakter weitgehend überwin¬
den, hinter sich lassen. Sie werden zu einem künstlerisch mitbestimmenden
Faktor der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit, darin vor allem
der des Menschen und seiner Welt. Es geschieht also - auch in der Gotik, auch
im Barock, etc. - gerade das Gegenteil dessen, was Worringer annimmt: nicht
die Ornamentik zwingt ihre Gesetze des Anorganischen der organischen
(menschlichen) künstlerisch widergespiegelten Wirklichkeit auf, sondern aus
der Ornamentik herauswachsende Prinzipien schmiegen sich den Prinzipien
einer konkret-gegenständlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit an, werden
Abstrakte Formen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
35°

zu Formelementen einer nicht mehr abstrakten, nicht menr weltlosen Ivunst.


Daß auch dieser Prozeß sich nur auf der Grundlage einer dialektischen
Widersprüchlichkeit abspielen kann, versteht sich von selbst. Auf die kon¬
kreten Widersprüche können wir erst in konkret gewordenem Zusammen¬
hang zurückkommen.
Solche Fragen der Genesis und der Wesensart der Ornamentik besitzen eine
Bedeutung allgemein ästhetischer Art, also eine, die über die philosophische
Analyse ihres Entstehens hinausführt. Die Weltlosigkeit der Ornamentik,
nicht bloß der rein geometrischen, bringt nämlidi eine scheinbar einfache, in
Wirklichkeit weit kompliziertere Beziehung zu ihrer gesellschaftlichen Basis
und deren Entwicklung hervor, als die der die Wirklichkeit konkret gestal¬
tenden Künste. Für diese liefert die gesellschaftlich-geschichtliche Entwick¬
lung selbst nicht nur den jeweiligen besonderen Inhalt für die Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit, sondern auch für deren ästhetisdien Formwandel; kein
Fiomer ist denkbar, der die Möglichkeiten der Formgebung eines Thomas
Mann irgendwie vorwegnehmen könnte. Ein solches Vorwegnehmen ist je¬
doch, gerade infolge der abstrakt-weltlosen Art der Ornamentik, für diese in
weitaus höherem Maße vorhanden. Die unmittelbare Anknüpfung an frühere
Errungenschaften der Formung oder ihre spontane Reproduktion unter ver¬
änderten gesellschaftlichen Umständen, die fast unveränderte Weiterführung
alter Traditionen besaß und besitzt hier einen weitaus ausgedehnteren
Spielraum als in den anderen Künsten. Nur darf man natürlich diesen
Spielraum sich nicht als unbegrenzt vorstellen. Es sei hier nochmals nach¬
drücklich auf unsere frühere Feststellung hingewiesen, daß der menschliche
Schmuck (im Gegensatz zu dem tierischen) sozialen und nicht biologischen
Charakters ist, daß diese soziale Grundlage einen desto stärkeren Wirkungs¬
radius hat, je weiter sich das Schmücken vom Alltag entfernt, je mehr es sich
zu einer Kunstgattung konstituiert. Das hat zur Folge, daß die gesellschaft¬
liche Entwicklung die Entstehungs- und Wirkungsmöglichkeiten auch der
Ornamentik stark beeinflußt. Wann dieser Wandel für sie fruchtbar wird,
wann eine Sterilität eintreten muß, worin seine Prinzipien begründet sind,
hat die historisch materialistische Erforschung der Kunstgeschichte aufzu¬
decken. Hier muß nur darauf hingewiesen werden, daß es sich dabei um
objektive Konstellationen handelt, um objektive Möglichkeiten einer solchen
Widerspiegelungsart der Wirklichkeit und des aus ihr herauswachsenden
Formsystems. Sie hängen also keineswegs vom Wollen, vom Entschluß der
Menschen einer bestimmten Zeit ab. Wir haben ja gesehen, eine wie große
Bedeutung Worringer der Ornamentik zuweist, und wir wissen ebenfalls, daß
Ornamentik 351

die verschiedensten künstlerischen Tendenzen - seit dem »Jugendstil« -


eine neue zeitgemäße Ornamentik zu schaffen versucht haben. Mit Worrin-
gers Theorie haben wir uns bereits auseinandergesetzt, und es ist heute schon
ein Gemeinplatz, das Scheitern all dieser erwähnten Versuche festzustellen.
So bringt z. B. die sogenannte abstrakte Kunstridrtung eine Pseudoornamen¬
tik hervor: sie vulgarisiert und verzerrt die Widerspiegelung der Wirklich¬
keit ins Pseudoornamentale, ins Pseudodekorative, ohne in der eigentlichen
Ornamentik irgend etwas wirklidi Neues zu entdecken. In diesen Tatsachen
kommt die eben erwähnte Objektivität der Grundlagen klar zum Ausdruck:
eine Zeit muß die weltanschaulichen Voraussetzungen der Ornamentik aus
ihrem eigenen gesellschaftlichen Leben, aus der durch dieses bedingten spezi¬
fischen Art der Widerspiegelung der Wirklichkeit besitzen, um solche Form¬
systeme in mehr als modisch ephemeren Weisen verwirklichen zu können.
Theorien, Entschlüsse, Programme, etc. können nur dann fruchtbar werden,
wenn sie fruchtbare Tendenzen des gesellschaftlichen Lebens selbst bewußt
machen. Gerade diese Objektivität der Grundlagen zeigt an, worauf schon wie¬
derholt hingewiesen wurde, wie sehr auch diese scheinbar so reine Formkunst
letzten Endes doch vom Gehalt bestimmt ist.
352

Fünftes Kapitel

Probleme der Mimesis I


Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

I Allgemeine Probleme der Mimesis

Wenn wir nun auf die andere, die ausschlaggebende Quelle der Kunst, näm¬
lich die »Nachahmung« übergehen, so treten wir vom Standpunkt einer all¬
gemeinen Erkenntnistheorie auf kein neues Gebiet. Denn unsere Analyse der
sogenannten abstrakten Formen hat ja gezeigt, daß selbst diese Widerspiege¬
lungsweisen der objektiven Wirklichkeit sind. So bedeutsam vom Standpunkt
der Ästhetik der Unterschied dieser beiden Verhaltensarten auch sein mag,
sie bleiben doch Unterarten einer und derselben Gattung: der Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit. Gerade bei der »Nachahmung« bedarf dies kaum einer
Begründung, denn Nachahmung kann ja nichts anderes bedeuten, als die
Widerspiegelung eines Phänomens der Wirklichkeit in die eigene Praxis um¬
zusetzen. Darum ist es leicht verständlich, daß die »Nachahmung« im wei¬
testen Sinne des Wortes eine elementare und allgemein verbreitete Tatsache
eines jeden höherorganisierten Wesens ist. Wir finden sie als allgemeine Er¬
scheinung bei fast allen höheren Tieren: die Übergabe der Erfahrungen der
Älteren an die Jüngeren kann auf dieser Stufe noch gar nicht anders als in
der Form ihres Nachahmens erfolgen. Nicht nur die Spiele der jungen Tiere
beruhen auf Nachahmung der Bewegungen, der Verhaltensweise der Er¬
wachsenen in den Ernstfällen des Lebens, auch die Art, wie etwa die Schwal¬
ben vor dem Zug nach dem Süden ihre Jungen im Fliegen unterrichten, ge¬
hört in diese Rubrik. Die Nachahmung ist darum die Elementartatsache eines
jeden höherorganisierten Lebens, das in aktiver Wechselbeziehung mit seiner
Umwelt sich nicht mehr auf bloß unbedingte Reflexe beschränken kann. Paw-
low sagt, »daß das Tier selbständig mit Hilfe der unbedingten Reflexe exi¬
stieren könnte, wenn die Außenwelt konstant wäre«. Darum kann die Kon¬
servierung und Weitergabe der für das Leben der Gattung unentbehrlichen
Erfahrungen nur auf dem Wege der Nachahmung vor sich gehen. Sie wird
unentbehrlich um die bedingten Reflexe zu fixieren; denn für die Anpassung
an die Umwelt, für das Beherrschen des eigenen Körpers, der eigenen Bewe-
Allgemeine Probleme der Mimesis 353

gungen, eines der wichtigsten Mittel der Beherrschung der Umwelt, ist sie das
wirksamste Mittel.
Auf einer solchen Naturgrundlage baut sich auch beim Menschen die Nach¬
ahmung als Elementartatsache sowohl des Lebens wie auch der Kunst auf -
freilich bei letzterer durch komplizierte und weithergeholte Vermittlungen.
Die Antike, für welche die Widerspiegelungslehre noch nicht mit dem
Stigma des Materialismus versehen war, in welcher sie noch, wie bei Platon,
einen fundamentalen Bestandteil des objektiven Idealismus bildete, hat des¬
halb in ihren größten Denkern, es genügt auf Platon und Aristoteles hinzu¬
weisen, diese Elementartatsache vorbehaltlos als Fundament für Leben, Den¬
ken und künstlerische Tätigkeit anerkannt. Erst als der philosophische
Idealismus der neueren Zeit sich dem Materialismus gegenüber in eine solche
Verteidigungsposition gedrängt sah, daß er die Widerspiegelungstheorie zu
verwerfen gezwungen war, um die Priorität des Bewußtseins dem Sein ge¬
genüber - als das Produziertwerden dieses von jenem - zu retten, wurde
die Widerspiegelungslehre zu einem akademischen Tabu. Dieser fundamenta¬
len Position gegenüber ist es für unser Problem ganz gleichgültig, ob es sich
um subjektiven oder objektiven Idealismus handelt, ob das Produzieren der
Wirklichkeit durch das Bewußtsein in einer Berkeleyschen oder Humeschen,
einer Kantschen oder Husserlschen Form gedacht wird. Die Folgen einer sol¬
chen idealistischen Stellungnahme sind leicht ersichtlich. Wenn die Wider¬
spiegelung der objektiven, vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit nicht
mehr den erkenntnis-theoretischen Ausgangspunkt bildet, wird die Nach¬
ahmung etwas teils Rätselhaftes, teils Überflüssiges. Alle modernen Theorien,
die sich etwa mit den Spielen von Menschen und Tieren beschäftigen, blei¬
ben auf halbem Weg, gerade am entscheidenden Punkt stehen. Wir haben
gesehen, wie z. B. Groos diese Frage mystifiziert, um der Nachahmung
auszuweichen. Woher Vorahnungen, angeborene Reaktionen entstehen,
warum sie sich als spielerische Nachahmungen der später nützlichen Verhal¬
tensarten, als spielerische Übungen für das Beherrschen des eigenen Körpers
äußern, bleibt ein Rätsel. Da aber in der Anerkennung der Nachahmung eine
Anerkennung der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit stecken
könnte, wird im modernen Idealismus eine dogmatische Mystik der ein¬
fachen rationalen Erklärung vorgezogen.
Ein weiteres Motiv verhindert die richtige Fragestellung: in der Untersuchung
der Unterschiede zwischen Tier und Mensch wird die Arbeit beiseite gelassen.
Die moderne Anthropologie betont — im Gegensatz zu der unmittel¬
baren Nachfolge Darwins - diese Differenz sehr scharf, zuweilen bis
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
354

zu ihrer Überschätzung. Wenn aber ausschließlich die Folgeerscheinungen der


Arbeit beschrieben werden, so die Notwendigkeit für den Menschen, sich in
immer wechselnden Situationen zurechtzufinden im Gegensatz zur tenden¬
ziell stabilen Lebensweise auch der höheren Tiere, ohne auf ihre Grundlage,
auf die Arbeit zurückzugehen, so kann sich die Betrachtung, wie wir es in
anderen Zusammenhängen sehen konnten, nur auf der Oberfläche bewegen,
und muß eben wegen der Überbetonung der Unterschiede, gerade deren wich¬
tigste Momente vernachlässigen.
Diese Schwäche äußert sich vielleicht am stärksten in den auf die Ästhetik
angewendeten Theorien, die der Rolle der Arbeit in der Entwicklung der
Mensdren zum Menschen, ihre entscheidende Funktion im Menschsein un¬
richtig einschätzen. So vor allem die berühmte Theorie Schillers vom Spiel als
Grundlage des Ästhetischen: »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeu¬
tung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt L*
Es ist nicht allzuschwer, die - sehr beachtenswerten und gewichtigen -
Gründe zu verstehen, die Schiller zu dieser Theorie geführt haben: vor allem
die Kritik der kapitalistischen Arbeitsteilung mit ihren die Integrität des Men¬
schen ständig und immer mehr bedrohenden Folgen. Ein tiefer Flumanismus
liegt also Schillers Betrachtungen zugrunde und zugleich die sehr berechtigte
Angst vor den Einwirkungen der kapitalistischen Produktion und Arbeits¬
teilung auf die zeitgenössische Kunst. Trotzdem muß das Ergebnis seiner Ge¬
dankengänge letzten Endes schief werden. Nicht nur, weil, wie schon bis jetzt
wiederholt aufgezeigt wurde, die Genesis der Kunst und damit das philoso¬
phische Erhellen ihres ästhetischen Wesens so unmöglich wird, sondern auch,
weil die bei Schiller vollzogene ausschließende Isolierung der Kunst und der
künstlerischen Tätigkeit von der Arbeit, das schroffe In-Gegensatz-Setzen
beider notwendig zu einer Verengung, zu einem Inhaltlosmachen der Kunst
selbst führen muß. Schiller hat diese Gefahr in seinen konkreten Ausführun¬
gen oft tief empfunden; daß er sie - auch in Einzelbetrachtungen - nicht
immer überwinden konnte, geht auf diese verhängnisvolle feindliche Gegen¬
überstellung von Kunst und Arbeit zurück. Wie wichtig es hier ist, den rich¬
tigen Zusammenhang begrifflich richtig zu erfassen, zeigt das Beispiel Fou¬
riers. Von denselben gesellschaftlichen Erscheinungen wie Schiller - freilich
objektiv wie subjektiv auf höherer Stufe - ausgehend gelangt er in der Kri¬
tik der kapitalistischen Arbeitsteilung in ihrer Kontrastierung mit der soziali-

1 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Brief XV.


Allgemeine Probleme der Mimesis 355

stischc-n zur scheinbar völlig entgegengesetzten, methodologisch jedoch nahe


verwandten Folgerung, in der sozialistischen Gesellschaft würde die Arbeit
zum Spiel werden. Auch damit wird der fundamentale Unterschied zwischen
Selbstreproduktion und Selbstgenuß - beides im gesellschaftlichen Sinne ge¬
nommen - unrichtig aufgehoben; gerade jene spezifische Wesensart der Arbeit,
die ihre zentrale Bedeutung in der Menschheitsentwicklung begründet, wird
damit bagatellisiert, infolge einer richtigen Kritik ihrer notwendigen kapi¬
talistischen Erscheinungsweise, welche Kritik jedoch nicht nur diese, sondern
das Wesen der Arbeit aufzuheben bestrebt ist. Wenn Marx diese Auffassung
Fouriers ablehnt: »Die Arbeit kann nicht Spiel werden, wie Fourier will«,
so versäumt er nicht in seinen erläuternden Bemerkungen, neben Hervor-
heben der theoretischen Verdienste Fouriers auch auf die hier, bei richtiger
Erfassung der Arbeit, in Wirklichkeit entstehenden Folgen hinzuweisen:
»Die freie Zeit - die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist -
hat ihren Besitzer natürlich in ein anderes Subjekt verwandelt und als dies
andere Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß.
Es ist dieser zugleich Disziplin, mit Bezug auf den werdenden Menschen be¬
trachtet, wie Ausübung, Experimentalwissenschaft, materiell schöpferische in
sich vergegenständlichende Wissenschaft mit Bezug auf den gewordenen Men¬
schen, in dessen Kopf das akkumulierte Wissen existiert. Für beide, soweit
die Arbeit praktisches Handanlegen erfordert und freie Bewegung, wie in
der Agrikultur zugleich exercise h« Die wichtigsten Folgen sind gerade
jene, die außerhalb der eigentlichen Arbeit, in der Mußezeit entstehen,
jedoch nicht unabhängig von der Arbeit, und mit sehr wichtigen Konse¬
quenzen für diese. Daß Marx hier nur auf die wissenschaftliche Seite der
Frage hinweist und nicht ausdrücklich auch auf die ästhetische, tut nichts zur
Sache: die hier wesentliche Wechselbeziehung zwischen Arbeit und »höheren
Tätigkeiten« wird doch hinreichend beleuchtet.
Die Ablehnung der Widerspiegelungstheorie durch den philosophischen
Idealismus der Neuzeit, der letzte Grund der hier behandelten Verzerrung
der Probleme, hat endlich für unsere gegenwärtigen Betrachtungen noch die
wichtige Folge, daß die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit ganz
dogmatisch, ohne wirkliche Begründung oder Analyse mit einer mechanischen
Photokopie der Wirklichkeit identifiziert wird. Es ist verständlich, daß die
Theorie von der mechanischen Kopie der Wirklichkeit im Bewußtsein auch

1 Marx: Grundrisse, I. a. a. O. S. 599 f.


356 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

vom alten, nicht dialektischen Materialismus verkündet wurde. Es gehört


nun zu den landläufigen »Argumenten« gegen den dialektischen Materialis¬
mus, daß man seine Widerspiegelungslehre unbesehen und ohne Beweis mit
der Theorie der photographischen Wiedergabe der Wirklichkeit identifiziert.
Wir haben bereits auf eine polemische Stellungnahme dagegen bei Lenin
hingewiesen. An anderer Stelle führt er diesen Gedanken, noch entschie¬
dener auf den Sachgehalt selbst eingehend, aus: »Die Erkenntnis ist die
Widerspiegelung der Natur durch den Menschen. Aber das ist keine einfache,
keine unmittelbare, keine totale Widerspiegelung, sondern der Prozeß einer
Reihe von Abstraktionen, der Formulierungen, der Bildung von Begriffen,
Gesetzen etc., welche Begriffe, Gesetze etc. (Denken, Wissenschaft = dogische
Idee<) auch bedingt, annähernd die universelle Gesetzmäßigkeit der sich in
sich bewegenden und entwickelnden Natur umfassen . . . Der Mensch kann
die Natur nicht als ganze, nicht vollständig, kann nicht ihre unmittelbare
Totalitär erfassen = widerspiegeln = abbilden, er kann dem nur ewig
näherkommen, indem er Abstraktionen, Begriffe, Gesetze, ein wissenschaft¬
liches Weltbild usw. usw. schafft h« Ihren Dogmen entsprechend wird in
der bürgerlichen Kunstbetrachtung Realismus mit Naturalismus identifiziert,
oft einfach naiv-deklaratorisch, oft jedoch mit der Absicht, durch den
Popanz des Naturalismus vor jeder konkreten Untersuchung der Kunst als
Widerspiegelung der Wirklichkeit abzulenken. Welchen Aspekt im Lichte
einer echten Widerspiegelungslehre das Problem des Naturalismus erhält,
darauf kommen wir bald zurück. Für das richtige Verständnis dieser Frage
ist es jedoch unerläßlich, vorher das Dogma von der Photokopie der Wirk¬
lichkeit im Alltagsleben möglichst unabhängig von jeder künstlerischen Tätig¬
keit etwas näher zu betrachten.
Um dieses Problem, das in unseren Zusammenhängen ein erkenntnistheo¬
retisches ist, auch nur in seinen gröbsten Zügen klären zu können, müssen wir
vor allem die physiologische Frage ausschalten, wieweit die Sinneseindrücke,
etwa die Abbilder der gesehenen Gegenstände auf der Retina, wirklich Photo¬
kopien der visuell erscheinenden Wirklichkeit sind. Dieser an sich höchst
wichtige Tatbestand ist für uns deshalb nur von untergeordneter Wichtig¬
keit, weil es ja erkenntnistheoretisch darauf ankommt, wie sich das im Be¬
wußtsein entstehende Bild zur objektiven Wirklichkeit verhält. Darin spielt
aber der objektive Charakter der Sinneseindrücke nur die Rolle einer Kom-

1 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 101.


Allgemeine Probleme der Mimesis 357

ponente, freilich einer fundamentalen, den Inhalt der Sinneswahrnehmun¬


gen entscheidend bestimmenden. Jedoch das Abbild der Wirklichkeit im Be¬
wußtsein ist das Ergebnis eines sehr komplizierten (bis heute noch bei wei¬
tem nicht vollständig erhellten) Prozesses. Der Mensch kann die Eindrücke der
Wirklichkeit nicht nur einfach auf sich wirken lassen, er muß - bei Strafe des
Untergangs - auf sie reagieren, sehr oft sogar augenblicklich, spontan, ohne
Zeit zum Nachdenken oder für ein vorstellungsmäßiges oder begriffliches Aus¬
legen der Sinneseindrücke zu haben. Das hat zur Folge, daß schon auf
dem Niveau der Wahrnehmung eine auf die Wechselbeziehung zwischen
Mensch und Umwelt gestimmte Auswahl in der bewußtseinsmäßigen Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit erfolgt, das heißt, daß bestimmte Momente als
wesentliche eine starke Hervorhebung erfahren, während andere ganz oder
wenigstens teilweise vernachlässigt, in den Hintergrund gedrängt werden.
Solche spontane Reaktionen auf die Widerspiegelung eines Wirklichkeits¬
faktums finden wir bereits bei den unbedingten Reflexen, was soviel bedeu¬
tet, daß sie bereits in der Tierwelt feststellbar sind. Man denke an die Reak¬
tion des Menschen, wenn sich ein Gegenstand rasch seinem Auge nähert.
Er schließt spontan sein Auge, wendet den Kopf, um dem sich nähern¬
den Gegenstand auszuweichen. Was bedeutet das vom Standpunkt der
Widerspiegelung? Ohne Zweifel, daß im Zentralnervensystem die Schei¬
dung von Wesentlich und Unwesentlich im Bild der Widerspiegelung voll¬
zogen wird. Als wesentlich wird das Instrument, das das Auge bedroht,
gefaßt; alles andere, auch die übrigen, nicht zu dieser Funktion gehörigen
Eigenschaften des betreffenden Dings, werden zur Nebensache, zum bloßen
Hintergrund.
Natürlich hat hier das »Wesen« eine ausgesprochen subjektive Betonung, so
sehr, daß es vielleicht bedenklich erscheinen könnte, es mit diesem Terminus
zu bezeichnen. Allein, auch wenn wir kompliziertere Phänomene des All¬
tagslebens betrachten, begegnen wir einer ähnlichen Auswahl. Es gehört, wie
wir gesehen haben, zur Charakteristik des Alltagslebens, daß seine Äuße¬
rungsweisen einen unmittelbar praktischen Charakter haben müssen. Das
führt zwar einerseits zu bestimmten Beschränkungen in den hier möglichen
Verhaltensweisen — die menschliche Gesellschaft hat ja die wissenschaft¬
liche und die ästhetische Widerspiegelung gerade dazu ausgebildet, um diese
zu überwinden - andererseits enthält die hier entstehende Praxis doch das
entscheidende Moment für die Bewältigung der Umwelt durch den Menschen,
wenn auch in einer auf diesem Boden nicht vollständig entfaltbaren Weise,
nämlich das richtige Prinzip: die annähernd richtige Widerspiegelung der
35§ Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

objektiven Wirklichkeit und deren unerläßliche Wahrheitskriterien, die Er¬


probung der so erworbenen Erkenntnis durch die Praxis. Ein wenigstens grob
annäherndes bewußtseinsmäßiges Erfassen der Wirklichkeit muß auch auf
der primitivsten Stufe des Menschendaseins entstehen, sonst hätten diese
Lebewesen ihre Existenz weder bewahren, noch gar höher entwickeln kön¬
nen. Der subjektive Charakter in der Auswahl der widergespiegelten Wirklich¬
keit - wir wiederholen: auch als einfache Wahrnehmung - muß also Ten¬
denzen zu einer echteren Objektivität in sich enthalten, und zwar gerade die
Auswahl, die Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, denn
daß die Einzeltatsachen annähernd richtig widergespiegelt werden müssen,
versteht sich wohl von selbst. Das subjektive Prinzip in der Auswahl beruht auf
elementaren Lebensinteressen des Menschen, die freilich nicht immer derart
spontan zur Geltung gelangen, wie im eben angeführten Beispiel, sondern oft
Ergebnisse des Nachdenkens, der Sammlung von Erfahrungen, des Fixierens
von bedingten Reflexen etc. sind. Natürlich trifft die von diesem Prinzip aus
getroffene Auswahl nicht immer auf das wirkliche, objektive Wesen der Ge¬
genstände oder Gegenstandskomplexe auf. Wenn sie jedoch nicht wenigstens
bestimmte Momente des Wesentlichen berührt, kann der subjektive Zweck
des Menschen unmöglich verwirklicht werden; er muß scheitern, oder eine
andere, der objektiven Wirklichkeit besser angepaßte Auswahl treffen. Die
Praxis setzt sich demgemäß als Wahrheitskriterium schon auf einer Stufe
durch, auf welcher im Bewußtsein der Menschen noch nicht einmal eine
Ahnung der echten Kategorien vorhanden sein kann.
Gerade von diesem Standpunkt aus ist die Rolle der Arbeit entschei¬
dend. Denn in ihr wird, wie schon früher ausgeführt, die unmittelbare Be¬
stimmung von Zwecksetzen und Handeln suspendiert, aufgehoben. Die Ar¬
beit kann die Zielsetzungen der Menschen im Beherrschen der Umwelt eben
deshalb immer besser erfüllen, weil sie über die spontane Subjektivität, die
freilich ebenfalls spontane Elemente der Objektivität enthält, hinausgeht,
weil sie einen Umweg zur Verwirklichung der Zielsetzung einschlägt, deren
Unmittelbarkeit suspendiert, um die objektive Wirklichkeit direkt, so wie sie
an sich ist, zu erforschen. In der Arbeit muß also der Unterschied des
Wesentlichen und Unwesentlichen bereits objektiv hervortreten, er muß sich,
so wie er objektiv ist, im menschlichen Bewußtsein widerspiegeln. Wir sehen
also hier von einer neuen Seite, wie die wissenschaftliche (objektive, des-
anthropomorphisierende) Widerspiegelung der Wirklichkeit notwendig aus
der Arbeit herauswächst, im Gegensatz zu primitiveren Stadien der Existenz
(auch bei höheren Tieren), wo die Korrektur der Wirklichkeit stets nur ein
Allgemeine Probleme der Mimesis 359

besonderes, konkretes Verhalten zu ihr, wenn dieses falsch ist, zurechtrückt,


ohne die Struktur der Verhaltensweise zur Objektivität wesentlich verän¬
dern zu können. (Über die entsprechende ästhetische Entwicklung wer¬
den wir später sprechen.)
Es ist das große Verdienst von Engels, daß er im scharfen Gegensatz sowohl
zum Idealismus wie zum mechanischen Materialismus, diese Verhältnisse
klar erkannt und genau beschrieben hat. Er sagt: »Das erste, was uns bei der
Betrachtung der sich bewegenden Materie auffällt, ist der Zusammenhang
der Einzelbewegungen einzelner Körper unter sich, ihr Bedingtsein durch
einander. Wir finden aber nicht nur, daß aus einer gewissen Bewegung eine
andere folgt, sondern wir finden auch, daß wir eine bestimmte Bewegung
hervorbringen können, indem wir die Bedingungen hersteilen, unter denen sie
in der Natur vorgeht, ja daß wir Bewegungen hervorbringen können, die
in der Natur gar nicht Vorkommen (Industrie), wenigstens nicht in dieser
Weise, und daß wir diesen Bedingungen eine vorherbestimmte Richtung und
Ausdehnung geben können. Hierdurch, durch die Tätigkeit des Menschen,
begründet sich die Vorstellung von Kausalität, die Vorstellung, daß eine
Bewegung die Ursache einer anderen ist.« Und er erhebt mit Recht gegen
Naturwissenschaft und Philosophie den Vorwurf, daß sie »den Einfluß der
Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernachlässigt, sie ken¬
nen nur Natur einerseits, Gedanken andererseits« 1. Damit ist der von uns
untersuchte Prozeß in seinen entscheidenden Hauptlinien klar Umrissen.
Wir müssen vom Standpunkt unserer besonderen Fragestellung aus hin¬
zufügen, daß die Klarheit über den kausalen Charakter der hier analysier¬
ten Zusammenhänge sicher nicht den Anfang, sondern bereits ein hochent¬
wickeltes Stadium der Entwicklung bezeichnet. Für Engels kam es hier auf das
erkenntnistheoretische Problem der Kausalität an, nicht auf die Etappen der
Genesis. Wenn wir nun auf diese reflektieren, so ist es evident, daß dabei die
Sinneswahrnehmung eine viel größere Rolle spielt, als dies idealistische Den¬
ker zumeist zulassen. Feuerbach polemisiert in dieser Hinsicht richtig gegen
Leibniz, indem er nachzuweisen bestrebt ist, daß Tatbestände, die wir ge¬
danklich mit den Kategorien Ähnlichkeit, Größe, Verhältnis des Ganzen zum
Teil zu bezeichnen pflegen, uns bereits sinnlich gegeben sind und die Funk¬
tion des Verstandes sich auf ein nachträgliches Konstatieren beschränkt. »Der
Sinn gibt die Sache«, sagt er, »der Verstand aber gibt den Namen dazu her.«

1 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 615 f.


360 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Und er zieht daraus die Folgerung: »Der Verstand ist das höchste Wesen,
der Regent der Welt; aber nur dem Namen nach, nicht tatsächlich.« 1 Damit
wird natürlich die richtige Dialektik von einer anderen Seite gestört: die Be¬
wältigung der vielfältigen und wechselnden, komplizierten und doch gesetz¬
mäßigen Phänomene der Welt wäre für den Menschen unmöglich, wenn
die Tätigkeit des Verstandes auf eine bloße Namensgebung, auf ein bloßes
Registrieren der Sinneseindrücke beschränkt bliebe. Die entscheidenste Er¬
rungenschaft der wissenschaftlichen Denkmethoden, das Desanthropomor-
phisieren, wäre dann nie verwirklicht. Feuerbach ist völlig im Recht den
sinnesfeindlichen Einseitigkeiten des Idealismus gegenüber, seine Polemik
sinkt aber hier auf das Niveau eines mechanischen Materialismus herab. Das
ist schon aus einem Beispiel ersichtlich. Er hat völlig Recht in bezug auf das
Größenverhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Und wir werden
später beim Übergang von der unmittelbaren sinnlichen Nachahmung zu den
komplizierteren Formen der Widerspiegelung sehen können, eine wie große
Rolle das sinnliche Erfassen richtiger Gegenständlichkeits- und Beziehungs¬
formen der Wirklichkeit in ihrer annähernd adäquaten bewußtseinsmäßigen
Reproduktion spielt. Läßt sich aber das Problem des Ganzen und der Teile
auf solche unmittelbare Feststellungen reduzieren? Gibt es nicht eine ganze
Reihe von Fragen innerhalb dieses Komplexes, für deren Lösung der Ver¬
stand aktiv werden und weit über die unmittelbare Sinneswahrnehmung
hinausgehen muß? Und unsere gegenwärtige Untersuchung treibt gerade
einem solchen Komplex zu. Denn es ist klar, daß das begrifflich geklärte
Substrat von alledem, was gerade jetzt behandelt wurde, die Dialektik von
Erscheinung und Wesen ist. Daß viele Jahrtausende praktischer Anwendung
dieser Kategorien notwendig waren, um auch nur die ersten Schritte zur theo¬
retischen Klärung des Problems selbst tun zu können; daß der erste entschei¬
dende Ansatz zur Lösung erst in der Hegelschen Philosophie unternommen
wurde, tut nichts zur Sache.
Es kann natürlich hier nicht unsere Absicht sein, die Dialektik von Erschei¬
nung und Wesen auch nur in den gröbsten Zügen zu skizzieren. Wir müssen
uns auf einige Zentralfragen beschränken, die mit unserem Problem, dem ele¬
mentaren Charakter der Widerspiegelung dieses dialektischen Verhältnisses
eng verbunden sind. Vor allem muß darauf hingewiesen werden, daß Er¬
scheinung und Wesen gleicherweise Momente der objektiven Wirklichkeit

1 Zitiert bei Lenin: Philosophischer Nadilaß, a. a. O. S. 337 f.


Allgemeine Probleme der Mimesis 361

sind; daß also alle erkenntnistheoretischen Erwägungen fehlgehen, die eine


Rangordnung zwischen ihnen vom Standpunkt des Wirklichen bzw. Un¬
wirklichen zu stiften versuchen. Das bezieht sidt sowohl auf jeden Empiris¬
mus oder Positivismus, der allein in den unmittelbar-sinnluhen Erscheinun¬
gen eine Realität erblickt, und die Feststellung des Wesens für eine reine
subjektive Zutat des menschlichen Bewußtseins hält, wie auf jene Abarten
des Idealismus, die dem Wesen eine von den Erscheinungen gesonderte -
metaphysische - Existenz zuweisen, und die Erscheinungen zu bloß subjek¬
tiven Phänomenen degradieren. Für die dialektische Auffassung Hegels -
gar nicht zu reden vom dialektischen Materialismus - sind Wesen und Er¬
scheinung gleicherweise Realitäten, miteinander eng, dialektisch verbundene
Momente der objektiven Wirklichkeit selbst. Das hat Goethe schon klar er¬
kannt. Er läßt seine Eugenie in der »Natürlichen Tochter« sagen: »Der
Schein, was ist der, dem das Wesen fehlt? / Das Wesen wär’ es, wenn es
nicht erschiene?« Hegel führt durchaus in diesem Sinne, freilich über die ge¬
legentliche Aphoristik hinausgehend, aus: »Das Wesen kommt vom Sein
her; es ist insofern nicht unmittelbar an und für sich, sondern ein Resultat
jener Bewegung x« (nämlich der Selbstbewegung des Seins über Dasein etc.
bis zum Wesen). Darum hat sich im Wesen »das Sein erhalten . . hierdurch
ist das Wesen selbst das Sein«. Und die Wechselbeziehung bedeutet das in¬
nigste gegenseitige Sich-Durchdringen beider Momente: »Die Unmittelbar¬
keit, welche die Bestimmtheit am Scheinen gegen das Wesen hat, ist daher
nichts anderes, als die eigene Unmittelbarkeit des Wesens. Aber nicht die
seiende Unmittelbarkeit, sondern die schlechthin vermittelte oder reflektierte
Unmittelbarkeit, welche der Sdiein ist; - das Sein nicht als Sein, sondern
nur als die Bestimmtheit des Seins, gegen die Vermittlung; das Sein als Mo¬
ment1 2.« Lenin formuliert diese Weite der Dialektik - allerdings über un¬
sere Einzelfrage hinausgehend, jedoch gerade dadurch sie in einen großen Zu¬
sammenhang einfügend - so: »Die Natur ist sowohl konkret als auch ab¬
strakt, sowohl Erscheinung, als auch Wesen, sowohl Moment als auch Ver¬
hältnis 3.« Damit sind jedoch Erscheinung und Wesen keineswegs als iden¬
tisch gesetzt. Im Gegenteil. Erst von hier aus wird es möglich, ihre Gegensätz¬
lichkeit als Charakteristik der einheitlichen und widerspruchsvollen Wirk-

1 Hegel: Wissenschaft der Logik, Werke, a. a. O. IV S. 7.


2 Ebd. S. 12.
3 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 129.
362 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

lichkeit zu fassen. Darum hebt Lenin einerseits hervor: »... das Unwesent¬
liche, Scheinbare, an der Oberfläche Befindliche verschwindet öfter, hält nicht
so >dicht<, >sitzt< nicht so >fest<, wie das >Wesen<. Etwa: die Bewegung eines
Flusses - der Schaum oben und die tiefen Strömungen unten. Aber auch der
Schaum ist ein Ausdruck des Wesens M« Andererseits betont er, daß Wesen
und Gesetz »Begriffe von gleicher Ordnung« sind, hebt jedoch hervor, daß
»die Erscheinung gegen das Gesetz die Totalität« repräsentiert, »denn sie
enthält das Gesetz, aber auch noch mehr, nämlich das Moment der sich be¬
wegenden Form«. Lenin summiert hier seine Feststellungen so: »Die Er¬
scheinung ist reicher, als das Gesetz1 2.« Der bloß annähernde Charakter einer
jeden Erkenntnis ist also auch durch die Eigenart der Dialektik von Wesen
und Erscheinung erkenntnistheoretisch begründet.
Dieses erkenntnistheoretische Ergebnis ist, wie wir gesehen haben, das Pro¬
dukt einer vieltausendjährigen Entwicklung im Alltagsleben, in der Arbeit,
und in der aus ihr herauswachsenden Wissenschaft (und Kunst). Hegel unter¬
sucht - von seinem Standpunkt aus mit relativem Recht - vor allem die
am besten verallgemeinerten Kategorien der objektiven Wirklichkeit und des
Denkens. Lenin, bei dem die Verbindung mit dem Leben viel stärker aus¬
gebildet war, ergänzt diese Analysen und führt sie weiter, indem er die
philosophischen Probleme auch in ihrer elementarsten, lebensnächsten Er¬
scheinungsweise untersucht. Das hat für uns die wichtige Folge, daß er die
Rolle der Wahrnehmung, der Vorstellung, der Phantasie im Prozeß der
Widerspiegelung der Wirklichkeit nicht nur eingehender betrachtet als He¬
gel, sondern auch mit der idealistischen Hierarchie der »Seelenvermögen«
radikal bricht und den ganzen Menschen als Subjekt der Widerspiegelung
ständig vor Augen hat. So führt er, zustimmend, die eben zitierte Kritik
von Feuerbach über Leibniz an, wo jener die von diesem statuierte Objektivi¬
tät der Sinnlichkeit der Dinge erkenntnistheoretisch auf die Sinneseindrücke
zurückbezieht, und in der Ähnlichkeit eine »sinnliche Wahrheit« erblickt; so
in bezug auf Groß und Klein etc.; so analysiert er die Rolle der Phantasie
auch im simpelsten Erkenntnisprozeß. Bei dieser letzten Betrachtung scheint
es uns besonders wichtig, daß Lenin diese Rolle in doppelter Hinsicht dar¬
stellt: einerseits als unentbehrlich für den Erkenntnisprozeß, andererseits als
mögliche Quelle ihrer Abirrungen. Diese Betrachtung verallgemeinert er von

1 Ebd. S. 44.
2 Hegel: a. a. O. S. 146. Zitiert bei Lenin ebd. S. 71.
Allgemeine Probleme der Mimesis 363

der Widerspiegelung der Bewegung ausgehend, dahin, daß die Widerspiege¬


lung unmöglich vor sich gehen kann, »ohne das Kontinuierliche zu unter¬
brechen, ohne zu versimpeln, zu vergröbern, zu zerstückeln, ohne das Leben¬
dige zu töten. Die Abbildung der Bewegung durch das Denken ist immer
eine Vergröberung, eine Ertötung, und zwar nicht nur durch das Denken,
sondern auch durch die Empfindung, und nicht nur der Bewegung, sondern
auch jedweden Begriffs 1.«
So kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Widerspiegelung der dialektischen
Bewegung, der dialektischen Kategorien eine Elementartatsache des Lebens
ist, die freilich erst durch Arbeit und Wissenschaft verbreitert und vertieft,
erst durch die Philosophie bewußt gemacht werden kann. Darum gilt für un¬
ser Problem, für die Dialektik von Erscheinung und Wesen, was Engels über
einen anderen Fall der praktischen Anwendung und bewußten Erkenntnis
dialektischer Zusammenhänge gesagt hat: »Und wenn die Herren seit Jahren
Quantität und Qualität haben ineinander Umschlägen lassen, ohne zu wis¬
sen, was sie taten, so werden sie sich trösten müssen, mit Molieres >Mon-
sieur Jourdain<, der auch sein Leben lang Prosa gesprochen hatte, ohne das
Geringste davon zu ahnen 2.«
Die historische Entwicklung einer solchen Bewußtheit ist natürlich kein ge¬
radliniger Prozeß; die verschiedensten Motive können ihn fördern oder hem¬
men. Engels weist z. B. darauf hin, daß gerade der große Aufschwung der
Naturwissenschaften seit dem 15. Jahrhundert unmittelbar die Vorherr¬
schaft der metaphysischen Betrachtungsweise herbeigeführt und das dialek¬
tische Denken weitgehend zurückgedrängt hat3. Aus dieser unbezweifel-
baren Tatsache wäre es aber total falsch, auf die »Natürlichkeit« oder gar auf
eine »überzeitliche Geltung« des metaphysischen Denkens zu schließen. Da die
objektive Wirklichkeit dialektischen Charakters ist, muß sich das ganze prak¬
tische und geistige Verhalten des Menschen, seine Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit ihm anpassen; temporär siegreiche Gegentendenzen haben stets, wie
im eben angeführten Fall, spezifische historische Ursachen.
Von diesem Standpunkt muß auch die künstlerische Widerspiegelung der
Wirklichkeit beurteilt werden. Denn ist die Dialektik im allgemeinen und für
unsere gegenwärtige Betrachtung die von Wesen und Erscheinung eine unab-

1 Lenin: ebd. S. 195.


2 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 506.
3 Engels: Antidübring, a. a. O. S. 24.
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
364

weisbare Elementartatsache des Lebens, so ist es klar, daß von einer mecha¬
nischen, »photographischen« Widerspiegelung der Wirklichkeit als Grund¬
lage von Alltagsleben und Arbeit nicht die Rede sein kann. Ohne Wider¬
spiegelung der Dialektik von Ersdieinung und Wesen ist die allerprimitivste
Orientierung im Leben unmöglich, und unsere vorangegangenen Betrach¬
tungen haben gezeigt, daß hier nicht etwa »die Philosophie« die angeb¬
lich photokopiehaften Abbilder der Wirklichkeit zu dialektischen Zusammen¬
hängen erhebt, sondern daß diese in den einfachsten Wahrnehmungen ent¬
halten sind, und vom Denken nur (nicht immer) zu Bewußtheit geklärt wer¬
den. Auf der Retina mögen photokopische Abbilder der Wirklichkeit fest¬
stellbar sein, aber schon im einfachen, im primitivsten Alltagsleben, wo der
ganze Mensch auf die ihm jeweilig gegenüberstehenden Teile der ganzen
Wirklichkeit reagiert, sind die wahrgenommenen Abbilder der Wirklichkeit
keine Photokopien. Ja man kann sagen, daß für den Menschen die Photo¬
kopien der Welt erst auf einer relativ hohen Stufe der Desanthropomorphi-
sierung überhaupt auftauchen, nämlich mit der Erfindung des Photographie-
rens, und der Vervollkommnung seiner Technik. Daß die dadurch erzielten
Resultate, wissenschaftlich angesehen desanthropomorphisierenden Cha¬
rakters sind, unterliegt keinem Zweifel. Je mehr die Technik sich entwickelt,
desto mehr. Dieser Charakter der Photographie äußert sich jedoch auch im
Alltagsleben. Wenn häufig gesagt wird, eine Photographie sei nicht ähnlich,
so ist das abstrakt objektiv angesehen ein Unsinn, denn das lichtempfind¬
liche Material kann nichts anderes darbieten, als das genaueste Abbild des
Objekts im gegebenen Augenblick, unter den gegebenen Umständen. Vom
Standpunkt des Lebens ist der Ausdrude dagegen sinnvoll, drückt einen
echten Sachverhalt im Zusammenleben der Menschen aus. Es zeigt sich darin,
daß das visuelle Bild (oder Erinnerungsbild), das einer vom anderen oder von
sich selbst hat, keineswegs immer mit einer solchen photographischen Abbil¬
dung identisch sein muß. Wenn wir dabei von allen Affekten (Eitelkeit, Sym¬
pathie oder Antipathie etc.) absehen, so bleibt die Tatsache, daß die aus der
Visualität entsprungenen Kategorien wie ähnlich, charakteristisch etc. eine
Auswahl, ein »Absehen von ... « etc. beinhalten, darum auf einen Menschen
in seiner Ganzheit richtig bezogen werden können, ohne sich mit seiner un¬
mittelbar sichtbaren Erscheinung in jedem Augenblick, in jeder Lage mecha¬
nisch zu decken. Der witzige Ausspruch Max Liebermanns: »Ich habe Sie
ähnlicher gemalt, als Sie sind« drückt eine Wahrheit des Lebens aus. Noch
auffallender ist dieser Gegensatz bei den Momentphotographien von Bewe¬
gungen, die auf die Unmittelbarkeit des Alltagslebens sehr oft den Eindruck
Allgemeine Probleme der Mimesis 3<>S

des zumindest Unwahrscheinlichen, schwer Vorstellbaren machen, obwohl


ihre richtige Abbildlichkeit nicht bezweifelt werden kann. Sobald es sich da¬
gegen um die wissenschaftliche Analyse der Bewegungen (Einübung in eine
Arbeit, Trainingsmethode im Sport etc.) handelt, fällt diese objektive Wahr¬
heitstreue schwer ins Gewicht. Man sieht also, daß die photographisch treue
Kopie der Wirklichkeit das Produkt einer hochentwickelten, desanthropo-
morphisierenden Technik ist, und mit der unmittelbar sinnlichen visuellen
Apperzeption der Wirklichkeit im Alltag nichts zu tun hat, geschweige denn
daß sie ihre Basis, ihren Ausgangspunkt bilden könnte.
Solchen Feststellungen widerspricht scheinbar, daß die moderne Kunst der
Kinematographie sich gerade auf dieser Grundlage entwickelt hat. Der Wi¬
derspruch ist jedoch nur ein scheinbarer, denn die ganze künstlerische Tech¬
nik des Films beruht eben auf einer Reanthropomorphisierung des Photo-
graphierens. Fassen wir jetzt jene Momente der Auswahl, des Arrange¬
ments etc. beiseite, in welchen der Film gewisse gemeinsame Züge mit der so¬
genannten künstlerischen Photographie hat; natürlich treten diese Tenden¬
zen im Film viel stärker und entschiedener hervor, als im einfachen photo¬
graphischen Bild. Das Wesentliche ist vielmehr, daß die einzelnen Photogra¬
phien (die in ihrer Isoliertheit objektiv notwendig Photokopien sind) im
Film so aneinandergereiht, in solchem Tempo gedreht, so »geschnitten« etc.
werden, daß ihr Gesamteindrude zum normalen Sehen des Menschen
zurückführt, daß das »Unwahrscheinliche« wieder unwahrnehmbar wird,
daß das Neue, das durch diese Mittel entsteht und offenbar gemacht wird,
ebenso eine Bereicherung der visuellen Wirklichkeit und der mit ihr ver¬
knüpften Febenserfahrungen des ganzen Menschen herbeiführt, wie es jede
andere Kunst tut; natürlich, den neuen Widerspiegelungsformen ent¬
sprechend, auch mit neuem Inhalt. Auf Details können wir hier nicht ein-
gehen. Es sei nur bemerkt, daß infolge der Reanthropomorphisierung als
Grundlage und Formungstendenz des Films jede Abweichung von der hier
vorgezeichneten Verhaltungsart seinen künstlerischen Charakter sofort zer¬
stören muß. So verwandelt etwa die Anwendung der Zeitlupe den Film in
einen wissenschaftlichen, denn es handelt sich dabei um eine wissenschaft¬
lich-experimentelle (desanthropomorphisierende) Abstraktion, nicht um eine
künstlerische Ausbildung der menschlichen Visualität, die deshalb im Dienst
von Entdeckungen neuer Gegenstände und Zusammenhänge über die An¬
forderungen der menschlichen Visualität hinausgeht; daß auch diese — in¬
nerhalb bestimmter Grenzen — gesellschaftlich-geschichtlich wandelbar, aus¬
dehnbar ist, ändert nichts am Wesentlichen dieser Sachlage.
366 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Die mit der Theorie von der elementaren Photokopie eng verbundene Iden¬
tifizierung von Naturalismus und Realismus, das Aufbauschen des Natu¬
ralismus zu einer elementaren, primitiven künstlerischen (pseudokünstleri¬
schen) Verhaltensart zur Wirklichkeit, erweist sich also ebenso als eine Le¬
gende, wie dies Engels für das metaphysische Denken gezeigt hat. Auch der
Naturalismus ist eine durch die gesellschaftliche Entwicklung hervor¬
gebrachte Verzerrung der spontan dialektischen künstlerischen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit. Die Künste primitiver Zeiten kennen ihn überhaupt
nicht; wie wir sehen werden, entsteht dort im Gegenteil sehr oft eine ein¬
seitige, künstlerisdi oft falsche Überbetonung dessen, was man damals für das
Wesen hielt. Der Naturalismus kann aber nur dadurch in seiner Besonderheit
bestimmt werden, daß ihm die Tendenz innewohnt, den Gegensatz, ja sogar
den Unterschied von Wesen und Erscheinung verschwinden zu lassen, nach
Möglichkeit zu annullieren. Schon diese Bestimmung zeigt an, daß es sich beim
Naturalismus nur um eine Spättendenz der historischen Entwicklung han¬
deln kann. Solange die Bewältigung der Umwelt sich vorwiegend auf die
Natur richtet, ist ihr Pathos naturgemäß vor allem das der Entdeckung und
des Offenbarmachens des Wesentlichen; mag dies noch so naive oder un¬
beholfene Formen annehmen, als Tendenz steht sie in ausgesprochenem Ge¬
gensatz zu jedem Naturalismus. Erst das Uberwiegen der gesellschaftlichen
Momente im Alltagsleben, das »Zurückweichen der Naturschranke« schafft
die Bedingungen seines Entstehens, und zwar in Perioden, in denen die Ent¬
wicklung der Gesellschaft selbst - in bestimmten Klassen - eine Scheu vor
der Aufdeckung des Wesens produziert. Aber auch unter solchen Bedingun¬
gen (deren Erforschung die Aufgabe des historischen Materialismus ist) wird
der Naturalismus, im engeren, im eigentlichen Sinne des Wortes nur eine
der Strömungen sein, in welchen die Desorientiertheit (oder der Wille zur
Perspektivenlosigkeit) sich ausdrückt. Freilich, da die Trübung im Erfassen
der Dialektik von Erscheinung und Wesen ein Zentralproblem solcher Zei¬
ten ist, eine ausschlaggebende Tendenz, deren Wirkung auf das Fundament
der Darstellungsweise auch die Struktur scheinbar entgegengesetzter Rich¬
tungen bestimmt; so können wir in der Literatur unserer Periode den im
Grunde naturalistischen Charakter der verschiedensten Richtungen vom
Impressionismus bis zum Surrealismus deutlich beobachten L

1 Vgl. meinen Aufsatz über Expressionismus: Probleme des Realismus, Berlin 1958,
S. 146 ff. und mein Buch: Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg 1958.
Allgemeine Probleme der Mimesis 3 67

So wichtig diese Abgrenzung des Naturalismus vom Realismus für die Äs¬
thetik ist, so unerläßlich das historische Aufdecken der Gründe seines Auf¬
tretens etc. für die Kunstgeschichte ist, so sehr wäre es eine vereinfachende
Verzerrung, wenn man nun Naturalismus mit photokopisdier Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit identifizieren würde. Allerdings wird dies oft von den
Theoretikern des Naturalismus ausgesprochen; auch wird praktisch-künst¬
lerisch oft eine maximale Annäherung an die unmittelbare Erscheinungs¬
oberfläche des Alltags erstrebt, eine möglichst radikale Ausschaltung aus
der Gestaltung aller Vermittlungskategorien, die auf das Wesen hin¬
zielen: die photokopisdie Wiedergabe der objektiven Wirklichkeit bleibt
aber auch hier nur ein Ideal, keine Realität. Wer naturalistische Werke, ge¬
rade in bezug auf eine solche medianische »Treue« in der Abbildung genau
studiert, wird finden, daß nicht nur die Komposition des Ganzen ebenso
auf Auswahl, Auslassen, Betonen etc. beruht, wie die jedes Kunstwerks -
mögen dabei diese Prinzipien lässiger, weitmaschiger etc. angewendet wer¬
den als sonst sondern daß auch in jedem Einzelmoment eine solche Umfor¬
mung, die über das Photographisdie hinausgeht, feststellbar ist. Man vergleiche
nur zwei beliebige naturalistische Richtungen miteinander in bezug auf solche
stilistischen Merkmale und man wird unsere Feststellungen bestätigt finden.
Das Ergebnis dieses etwas langgeratenen Exkurses ist für uns von großer
Wichtigkeit: erkenntnistheoretisch, vom Standpunkt der Beziehung des Be¬
wußtseins zur Wirklichkeit, ist die Theorie der photokopischen Widerspiege¬
lung nicht zu halten. Die objektive Dialektik der wirklichen Welt ruft
zwangsläufig eine — freilich lange Zeit nicht bewußt gewordene — spon¬
tane subjektive Dialektik im menschlichen Bewußtsein hervor. Dieser Prozeß
der Widerspiegelung ist jedoch nicht bloß in seinem Inhalt und in seiner
Form dialektisch, sondern auch seine Ausbildung und Entfaltung ist ebenfalls
von der Dialektik der Geschichte bestimmt. Hier kann naturgemäß diese
letztere kaum angedeutet werden. Denn nicht einmal in der Geschichte der
Wissenschaft und der Philosophie besitzen wir mehr als zerstreute und höchst
fragmentarische Vorarbeiten zur Erkenntnis der Entwiddung des dialekti¬
schen Denkens, der Hemmungen, der Hindernisse, die seiner Annäherung
an die wahre Struktur der objektiven Realität im Wegen stehen. Und wir
haben bereits wiederholt darauf hingewiesen, daß die erkenntnistheoretische
Erforschung des Alltagslebens noch kaum begonnen hat, daß dieses so ent¬
scheidende Gebiet heute noch fast als terra incognita zu betrachten ist.
Trotz aller Vorbehalte, die eine solche Lage gebieterisch vorschreibt, muß
unser nächster Schritt sich doch der Widerspiegelung im Alltagsleben und in
368 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

der Arbeit zuwenden. In anderen Zusammenhängen, in den Anfangsbetrach¬


tungen dieses Werks, haben wir bereits eine Reihe von Tatsachen - z. B. über
die Arbeitsteilung der Sinne - angeführt, in denen eine ähnliche Dialektik,
wie die hier beschriebene, zum Ausdruck kam. Jetzt muß vor allem darauf
hingewiesen werden, daß im primitiven Alltagsleben das nachahmende Wort
und insbesondere die nachahmende Gebärde eine unvergleichlich größere
Rolle spielt, als auf entwickelterer Stufe. Natürlich beinhaltet ein jeder Ver¬
kehr zwischen den Menschen den Hinweis auf bestimmte Tatsachen ihrer
Umwelt und auf die sich daraus ergebenden Reaktionsweisen. Darum bildet
die annähernd richtige Widerspiegelung der Wirklichkeit dem Wesen nach
die unveränderbare Grundlage dieses Verkehrs. Aber je komplizierter die
Zusammenhänge des Alltagslebens werden, desto komprimierter und de¬
stillierter wird deren Darstellung, desto stärker muß - bis zu einer unmittel¬
baren Unkenntlichkeit - die ursprüngliche Nachahmung in der Mitteilung
verblassen. Ich führe ein möglichst einfaches Beispiel an. Wenn heute jemand
wissen will, wie lange er etwa von Wien bis Paris zu fahren hat, schlägt er
das Kursbuch auf, notiert sich Bahnhöfe, Abfahrts- und Ankunftszeiten etc.,
ohne dessen bewußt zu sein, daß alle diese abstrakt-abgekürzten Zeichen Wi¬
derspiegelungen der zu wissen gewünschten realen Vorgänge sind. Bei den
primitiven Menschen ist auch der unmittelbare Ausdruck, ja der Vorgang,
sich den Tatbestand zu vergegenwärtigen, mimetischen Charakters. Max
Schmidt beschreibt einen solchen Fall sehr plastisch. Er erzählt, daß ein In¬
dianer, über die Dauer einer Reise gefragt, »mit der Hand einen Kreisbogen
am Himmel, dem täglichen Sonnenlauf entsprechend, beschreibt, und dann
die Gebärde des Schlafes macht. Diese Gebärde wird sovielmal wiederholt,
als ganze Reisetage bis zum Ziel der Reise erforderlich sind. Die genauere
Zeit, zu welcher das Ziel am letzten Tage zu erreichen ist, wird dann in der
Weise gezeichnet, daß man mit der Hand die Höhe des Sonnenstandes und
der betreffenden Stunde der Ankunft angibt.« Die Mimesis kommt noch deut¬
licher zur Geltung, wenn man mit Schmidt annimmt, daß in der Wieder¬
holung kein Zählen der Reisetage enthalten ist, daß der Indianer »mit seiner
Gebärde wirklich den tatsächlichen Verlauf der Reise in bezug auf das Zeit¬
moment schildert. Bei jedem Male, wo er den Kreisbogen mit dem Arme be¬
schreibt, hat er den Verlauf einer ganz bestimmten Reisestrecke vor Augen,
und mit jeder einzelnen Schlafgebärde soll zunächst ein ganz bestimmter
Rastplatz zum Ausdruck gebradit werden. Erst wir addieren die Anzahl
dieser einzelnen Reisestrecken und Rastplätze und haben dann die Vorstel¬
lung einer bestimmten Zahl von Tagen. Der die Gebärde vollziehende
Allgemeine Probleme der Mimesis 369

Indianer selbst aber braucht diese Vorstellung bei seiner Angabe der Länge
der Reise nicht gehabt zu haben« L
Es zeigt sich hier sehr deutlich der von uns theoretisch statuierte Doppel¬
charakter der Widerspiegelung im Alltagsleben: einerseits ein nach Möglich¬
keit genaues Bild des jeweils in Betracht kommenden Ausschnitts der Wirk¬
lichkeit zu erlangen, andererseits in dieser Abbildung selbst - spontan oder
bewußt - jene Momente hervorzuheben, die für das jeweilige Handeln aus¬
schlaggebend sind. Insbesondere die zweite Komponente dieses Doppel¬
charakters der Widerspiegelung, deren Grundlage, wie wir gesehen haben, die
objektive Dialektik von Erscheinung und Wesen bildet, steigert sich noch,
wenn die durch die Widerspiegelung der Wirklichkeit erlangte Erfahrung
mitgeteilt, weitergegeben oder zur Grundlage eines konkreten Handelns ge¬
macht werden soll. Wir haben eben gesehen, daß die primitive Mitteilung
einen ausgeprägten, direkt mimetischen Charakter hatte. Denn sobald die Mit¬
teilung über das ursprüngliche Aufzeigen der Gegenstände, bzw. Vorgänge
hinausging, mußte sie, um die auf dieser Stufe erreichbare Eindeutigkeit zu
erlangen, die Mittel der Mimesis in Anspruch nehmen. Dabei ist jedoch be¬
merkenswert - und das von uns angeführte Beispiel zeigt dies sehr deut¬
lich —, daß die hier angewandte Nachahmung noch weniger eine Photo¬
kopie des Modells sein kann, als bei der Wahrnehmung selbst. Es ist ein
relativ hoher Grad der Abstraktion, der eindeutigen Betonung des Wesent¬
lichen nötig, um konkrete Gegenstände oder Vorgänge mit verhältnismäßig
wenigen Worten oder Gebärden zu charakterisieren, um eine solche Charak¬
teristik augenblicklich verständlich zu machen. Die oft gebrauchte Ausflucht,
daß diese Verständlichkeit auf Konvention beruht, umgeht die Frage des
Entstehens der Konvention selbst. Denn so sehr manche Konvention oft
»von oben«, etwa von Magiern oder Priesterkasten bestimmt sein mag, und
durch diese Fixierung die Worte und Gebärden zu bloßen Zeichen erstarren
macht, die grundlegende Auswahl dessen, was im Alltagsleben zur Konven¬
tion wird, bringt doch das Leben selbst hervor; gerade jene Worte oder
Gebärden werden mit der Zeit konventionell, die sich im Verkehr der Men¬
schen untereinander am besten bewährt haben.
Und diese Bewährung hat nun ihrerseits Kriterien, die für uns nicht ohne
Bedeutung sind: ein Tagesweg, um bei dem angeführten Beispiel zu bleiben,

1 Schmidt: Grundrisse der ethnologischen Volkswirtschaftslehre, a. a. O. Band I.


S. 112.
370 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

könnte an sich durch die verschiedensten mimetischen Gesten zum Ausdruck


gebracht werden. Was wird aber dabei das Prinzip der Auswahl sein? (Audi
wenn diese später in Konventionalität mündet.) Ohne Frage, die konzen¬
trierte Eindeutigkeit; diese hat aber, besonders wenn von Gebärden die Rede
ist, einen sinnlich-unmittelbaren, einen auch Gefühle evozierenden Charak¬
ter. Das bedeutet freilich keineswegs, daß dabei irgend etwas Ästhetisches
intentioniert oder auch nur mitgedacht wäre. Die Evokation von Empfin¬
dungen durch Sprache, Gebärde, Handlung etc. gehört zu den unentbehr¬
lichen Momenten des Alltagslebens, lange bevor eine Kunst entstand,
ohne notwendig die Tendenz zu haben, in Kunst umzuschlagen. Das Evo-
kative enthält allerdings normalerweise ein Moment, das zu diesem Um¬
schlagen führen kann, es muß aber durch mannigfache Vermittlungen be¬
reichert, verwandelt, entwickelt werden, um einen solchen Akt zu ermöglichen.
Auf sich selbst gestellt ist die Gefühlsevokation hier wirklich ein bloßes
Mittel, damit entweder ein konkreter Gegenstand, eine besondere Begeben¬
heit etc. möglichst genau bestimmt und fixiert, oder die Bereitschaft zu einer
konkreten Tat vorbereitet wird. Auch die mimetische Gebärde ist also an
sich - vom Standpunkt der höheren Menschheitsentwicklung betrachtet -
ein Wortersatz, und damit ein Begriffsersatz, eine unbewußte Intention auf
das begriffliche Fixieren und Ordnen der Gegenstände, Begebenheiten etc.
Der sozialen Funktion nach ist hier der Kern, das Zentrum zu suchen; mit
dem Evokativen ist bloß eine »Aura« entstanden, entweder aus der Un¬
fähigkeit, das Begriffliche verbal, begrifflich genau auszudrücken, oder aus
der Bereicherung des Objekts durch allmählich sich sammelnde und summie¬
rende Erlebnisse. Daß die später sich entwickelnde Kunst sich aus dieser Aus¬
druckskomponente herausbildet, ja daß ohne einen sehr langen, Worte, Ge¬
bärden, Handlungen mit einer solchen »Aura« umgebenden Prozeß die
Künste kein Lebensmaterial, keine aus dem Leben herauswachsende, es
durch ihre Wirkung bereichernde Form (und dazu keine Bereitschaft zu
ihrer Rezeption) hätten haben können, halten wir für selbstverständlich und
werden darauf und auf die damit verknüpften Fragen später ausführlich zu¬
rückkommen. Die oft unlösbar verschlungene Dualität von eindeutigem
Sinn (eindeutiger Objektsbezogenheit, eindeutiger, annähernd richtiger Wi¬
derspiegelung bestimmter Objekte) und einer evokativen »Aura« ist jedoch
ein allgemeines Kennzeichen der Alltagswirklichkeit, insbesondere in ihren
Anfangsstadien, in welchen die Arbeit sich noch wenig ausgebildet hat und
die einzige universell gesellschaftliche Form der Verallgemeinerung, die
Magie, diese Dualität nicht durch Differenzierung aufhebt (wie später
Allgemeine Probleme der Mimesis 371

Wissenschaft und Kunst), sondern gerade als Dualität konserviert. So sehr


aber auch das Alltagsdenken entwidcelterer Gesellschaften in seiner späteren
- gebenden wie nehmenden - Wechselwirkung mit Wissenschaft und Kunst
über das urwüchsige magische Zusammen dieser Dualität hinausgeht,
gehört es doch zu seinem Wesen, diese Komponenten in einer oft abge¬
schwächten, aber letzten Endes unaufgehobenen Weise immer neu zu re¬
produzieren. Man vergesse nicht, daß auch in der ausgebildetesten Sprache,
mit relativ hoher Eindeutigkeit des Wortsinns es unvermeidlich ist, daß
viele Wörter und Sätze von einer solchen gefühlsevokativen »Aura«
der Zustimmung oder Ablehnung, der Liebe oder des Hasses etc. umgeben
sind.
Die hier angedeutete Entwicklung tritt in ihren allgemeinsten Umrissen
noch klarer hervor, wenn wir versuchen, die zwischen der anfänglich unmit¬
telbaren »Nachahmung« und den ausgebildeteren, bereits in Inhalten
und Formen von der Wissenschaft und der Kunst gespeisten Mitteilungs-
möglidikeiten liegenden entsprechenden Übergangsformen aufzudecken. Alle
Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß empfundene oder beobachtete Ana¬
logien für die Gegenständlichkeit, die Beziehungen, die Bewegungszusammen¬
hänge etc. sich weit früher ausgebildet haben, als eine Erkenntnis von Ur¬
sache und Wirkung im später fixierten Sinn der Kausalität. Ja, man kann
sogar mit einer gewissen Berechtigung annehmen, daß die aus solchen spontan
wahrgenommenen Analogien entstandenen Analogieschlüsse älter sind, als
die exakteren und darum der Unmittelbarkeit des Alltagslebens ferner lie¬
genden anderen logischen Formen. Die primitiven, aus Wahrnehmungs- und
Empfindungsgrundlagen entsprungenen Analogien haben zweifellos einen
starken unmittelbar mimetischen Charakter. Sie bleiben mehr oder weniger
in der sinnlichen Einzelheit stecken, obwohl sie zugleich jene Momente - mi¬
metisch - hervorheben müssen, die die Grundlage, eventuell bloß den Anlaß,
zum Analogisieren ergeben. (Wie eine solche, im primitiven Alltagsleben tief
verankerte Neigung, Analogien zu entdecken und sinnfällig zu machen, mit
der Entwicklung der Poesie zusammenhängt, werden wir später behandeln).
In der Entstehung der Analogie wird also Einzelnes unmittelbar - sogar mi¬
metisch - mit einer oft sehr wenig fundierten Verallgemeinerung verknüpft.
Es ist nun sehr interessant, daß Hegel in seiner Analyse der Analogie¬
schlüsse gerade jene Momente als entscheidend hervorhebt, die unzertrennbar
mit diesem unmittelbar mimetischen Charakter der ursprünglichen Analogie
zusammengehören. Er sieht ganz klar das Problematische am Schluß der
Analogie, das aus seinem Ursprung entstand: allerdings ohne auf diese Frage
372
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

der Genesis einzugehen: »Die Analogie ist um so oberflächlicher, je mehr das


Allgemeine, in welchem die beiden Einzelnen eins sind, und nach welchem das
eine Prädikat des anderen wird, eine bloße Qualität oder wie die Qualität
subjektiv genommen wird, ein oder anderes Merkmal ist, wenn die Identität
beider hierin als eine bloße Ähnlichkeit genommen wird. Dergleichen Ober¬
flächlichkeit aber, zu der eine Verstandes- oder Vernunftform dadurch
gebracht wird, daß man sie in die Sphäre der bloßen Vorstellung herabsetzt,
sollte in der Logik gar nicht angeführt werden 1.« Es ist aber ganz klar, daß
damit Übergänge, Überreste aus jenem primitiven Zustand gemeint sind,
die wir eben betrachtet haben, die freilich auch im heutigen Alltagsdenken
ununterbrochen Vorkommen. Hegel verteidigt sogar Analogie und Induktion
gegen Vorwürfe, die aus der Überschätzung bloß formaler Schlüsse entstam¬
men; wenn ihre Inhaltlichkeit als Inhaltsbestimmung gefaßt werden kann -
was natürlich, wie wir meinen, auf die Anfänge oft nicht zutrifft, - so ist
gegen ihren Schlußcharakter nach Hegel nichts einzuwenden. Aber auch für
ihn bleibt eine gewisse Problematik vorhanden: »Dies rührt daher, daß, wie
sich ergeben hat, in dem analogischen Schlüsse die Mitte als Einzelheit,
aber unmittelbar auch als deren wahre Allgemeinheit gesetzt ist.« Daraus
folgt jene Unbestimmtheit, »ob dem einen Subjekt die Bestimmtheit, die
auch für das andere erschlossen wird, vermöge seiner Natur, oder vermöge
seiner Besonderheit zukommt2.« Die unmittelbare Einheit von Einzel¬
heit und Allgemeinheit als Mitte des Schlusses ergibt also, trotz Hegels Be¬
mühungen, diese Schlußform als vollgültige zu retten, ihre letzthin unaufheb¬
bare Problematik.
Wir haben früher in anderen Zusammenhängen gezeigt, daß die Entwick¬
lung des Denkens, wenn es auch die Analogie, besonders als Vorbereitungs¬
stadium höherer wissenschaftlicher Formen, nicht entbehren kann, doch weit
über sie hinausgehen muß. Die Analogie und die aus ihr entspringende Schlu߬
form sind nicht nur, nach aller Wahrscheinlichkeit, die ältesten Erscheinungs¬
formen des wissenschaftlichen Denkens, sondern auch jene, die in unaufheb-
barerer Weise mit dem Alltagsdenken verbunden bleiben, als andere Formen.
(Wie diese Stadien des wissenschaftlichen Denkens mit der Entwicklung der
künstlerischen Widerspiegelung Zusammenhängen, werden wir alsbald
sehen).

1 Hegel: Wissenschaft der Logik, Werke a. a. O. V. S. iji.


2 Ebd. S. 153.
Allgemeine Probleme der Mimesis 373

Kehren wir nun zu unseren früheren Betrachtungen zurück: es ist klar,


daß in allen diesen Fragen die Widerspiegelung der objektiven Dialek¬
tik von Erscheinung und Wesen mitenthalten ist. Denn wenn wir die früher
erwähnte »Aura« auf ihren Gehalt hin (und nicht nur als evokative Form)
genau betrachten, so leuchtet es ein, daß sich in ihr der Reichtum der Er¬
scheinungswelt eines bestimmten Komplexes seinem allzu abstrakt mageren,
allzu statischen etc. Wesen gegenüber subjektiv reflektiert. Diese dialektische
Art der Widerspiegelung der Wirklichkeit steigert sich in dem Maße, in
welchem sie einer die Unmittelbarkeit des Alltagslebens überholenden Praxis
dient; vor allem der Arbeit. Die objektive Seite dieses Prozesses haben wir
bereits geschildert. Wir sind sogar in anderen Zusammenhängen auch auf den
subjektiven Faktor eingegangen; es genügt vielleicht, wenn wir an unsere
Ausführungen über die Arbeitsteilung der Sinne, über die Beziehung von Ar¬
beit und Rhythmus hinweisen. In beiden Fällen handelt es sich darum, daß
die Widerspiegelung, indem sie über die Unmittelbarkeit der einfachen Wahr¬
nehmungen hinausgeht, die Dialektik von Erscheinung und Wesen (freilich
auch andere dialektische Widersprüche) stärker ausbildet, ihren objektiv
wahren Zusammenhängen näherkommt, als dies in einer einfach passiven
Rezeption der Außenwelt möglich wäre.
Das ist eine allgemeine Richtung der menschlichen Entwicklung und mit
ihr der Höherentfaltung der Widerspiegelung der Wirklichkeit. Die beiden
Tendenzen sind unzertrennbar, denn ein Wachstum des Menschen wird erst
durch die Praxis, durch die Arbeit möglich und diese setzten wiederum eine
richtigere und reichere Widerspiegelung der Wirklichkeit voraus. Es sei des¬
halb gestattet, diesen Tatbestand mit Hilfe eines anderen Moments der Pra¬
xis näher zu beleuchten, mit einem Moment, das den elementaren vor jeder
künstlerischen Tätigkeit liegenden Charakter der Mimesis klar aufzeigt, zu¬
gleich jedoch auch zu jenen Fakten des Lebens gehört, die für die Ent¬
stehung der Kunst und für ihre Wirksamkeit unentbehrlich sind. Wir meinen
jenen psychischen Vorgang, den man allgemein mit dem Ausdruck Bewe¬
gungsphantasie zu bezeichnen pflegt. Diese ist, nach Gehlen, »sozusagen das
Produkt des Abkürzungsprozesses, den eine Bewegung durchmacht, ehe sie
geformt ist, ehe sie aus den eleganten Minimumbetonungen der beherrschten
Bewegung besteht.« Gehlen hebt mit Recht ihre enge Verbindung mit frühe¬
ren Erfahrungen, mit Bewegungserinnerungen, mit vorhergeleisteten Übun¬
gen hervor und hebt ihre Rolle bei den komplizierteren, neuartigen, von
der normalen Gewohnheit abweichenden Bewegungen etwa im Sport her¬
vor. Er sagt: »Man kann, was ich meine, an der Einübung komplizierterer
374 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Bewegungen, etwa beim Sport, sehr gut beobachten: zunächst hat der Anfänger
bei Skilauf oder Reiten die große Schwierigkeit, ungewohnte Bewegungskom¬
positionen, die jederzeit auseinanderfahren, mit seiner Aufmerksamkeit zu¬
sammenzuhalten, sie werden stückweise aneinandergesetzt und mühsam unter
dauernder Kontrolle koordiniert, wobei immer die nicht beachteten Glieder
in ihre jetzt unzweckmäßigen Gewohnheiten zurückfallen. Die gekonnte Be¬
wegung holt nur noch die >Knotenpunkte< der Folge heraus, und läßt die
Zwischenphasen, von daher geführt, automatisch abgleiten. Eine richtig
aufgebaute, schwierige Bewegungskombination ist in ihrem Gesamtgelingen
davon abhängig, daß genau die richtigen Knotenpunkte herausgearbeitet
werden, von denen die harmonischen Nebenerfolge und Zusammenstimmun¬
gen automatisch abhängen, die also motorisch das Ganze repräsentieren. Auch
im motorischen Bereich gibt es erst unter dieser Voraussetzung Bewegungs-
Übersicht, wenn sehr hoch synthetische Bewegungen - Stabhochsprung z. B. -
in Koordinationen solcher fruchtbarer Momente bestehen h«
Ohne Frage ist auch hier die von uns bei der Mimesis wiederholt betonte
Dialektik von Erscheinung und Wesen vorhanden, sogar in besonders aus¬
geprägter Form. Sie reicht jedoch zum Verständnis dieses Phänomens allein
nicht aus. Gehlen, der in der Interpretation seiner oft sehr dialektischen Be¬
obachtungen sonst jede dialektische Terminologie sorgfältig vermeidet,
spricht hier von »Knotenpunkten«, womit er - unbewußt - das wiederholte
Umschlagen von Quantität in Qualität andeutet. Uns scheint jedoch, daß
auch damit das eigentliche Phänomen noch nicht hinreichend beschrieben ist,
daß man zu seinem Verständnis die von Lenin häufig benützte Kategorie
vom Ergreifen des Kettengliedes heranziehen muß. In bezug auf die organi¬
satorische und strategische Bedeutung der Gründung einer zentralen Zei¬
tung für die illegale Partei im zaristischen Rußland, exponiert Lenin in »Was
tun?« die theoretisch-praktische Seite unserer Frage, wie folgt: »Jede Frage
>bewegt sich in einem verzauberten Kreis<, denn das ganze politische Leben ist
eine endlose Kette aus einer endlosen Reihe von Gliedern. Die ganze Kunst
des Politikers besteht eben darin, gerade jenes Glied zu finden und sich fest
daran zu klammern, das ihm am wenigsten aus der Hand geschlagen werden
kann, das im gegebenen Augenblick am wichtigsten ist, das dem Besitzer dieses
Gliedes den Besitz der ganzen Kette am besten garantiert 1 2.« Daß sowohl das

1 Gehlen: Der Mensch, a. a. O. S. 205.


2 Lenin: Was tun?, Werke, a. a. O. IV. 2. S. 314.
Allgemeine Probleme der Mimesis 375

Ensemble des Handelns wie alle seine »Elemente« in der Politik unvergleich¬
lich komplizierter sind, als in einer noch so künstlichen Körperbewegung des
einzelnen Menschen, ändert die kategorielle Wesensart solcher »Kettenglieder«
nicht, ja ihre Anwendbarkeit auf höchst verwickelte Erscheinungen des Le¬
bens unterstreicht die Objektivität und Allgemeinheit dieses kategoriellen
Verhältnisses. Es zeigt sich auch hier, daß die Praxis als Kriterium der Wahr¬
heit auf die Annäherung an die Wirklichkeit in der Widerspiegelung basiert
ist, daß sie unmittelbar bloß eine Auswahl in der widergespiegelten Wirklich¬
keit trifft, aber nicht nur in der Auswahl des Richtigen und im Ausscheiden
des Falschen, sondern auch als eine Akzentverschiebung in der Direktion auf
jene Elemente und Tendenzen, die für die jeweilige Aktion ausschlaggebend
wichtig sind.
Die so in der Praxis entstehende neue Weise der Betonung des Wesentlichen
und des Unwesentlichen, der Knotenpunkte und der Folgeerscheinungen, ist
jedoch nur unmittelbar betrachtet subjektiv, d. h. von der subjektiven Ziel¬
setzung der gerade gegebenen Aufgabe bestimmt. Denn erstens ist diese selbst
auch nur unmittelbar subjektiv; jede Fragestellung an die Wirklichkeit durch
die Praxis ist vielfach objektiv begründet, und darin spielen frühere Erfah¬
rungen, frühere annähernd richtige Widerspiegelungen der objektiven Wirk¬
lichkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zweitens dringt gerade dieses ak¬
tiv-subjektive Moment tiefer in die objektive Wirklichkeit ein, als eines, das
gewissermaßen sich auslöschen, zum bloßen Spiegel der Objektivität werden
wollte. Die, wenn man den Ausdruck gestattet, Abenteuer der Subjekti¬
vität, die naturgemäß stets objektive Ursachen haben und auf der Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit basieren, führen zwar nicht selten zu Irrtü-
mern. Aber auch diese sind nicht ausschließlich negativ zu bewerten, gar nicht
zu reden davon, daß die praktisch fundierte Erfahrung über einen Irrweg
schon Elemente der positiven Erkenntnis enthalten kann, oder wenigstens
Ansätze in dieser Richtung; so ist es nicht selten, daß sie als »Nebenprodukte«
(»zufällig«) echte Erforschungen der objektiven Wirklichkeit herbeiführen.
So kann es aber geschehen, daß auf diesen Wegen solche Bestimmungen der
Realität entdeckt werden, die für die damalige bloße Kontemplation uner¬
reichbar gewesen wären und die in ihrem theoretischen Wesen in einer solchen
Lage auch gar nicht begriffen werden konnten. So geht - gerade durch ihren
betont praktischen Charakter - die Leninsche Lehre vom Kettenglied über
die der Hegelschen Knotenpunkte hinaus, bereichert deren reine Objektivität
durch das Aufdecken der lebendigen Dialektik zwischen Subjektivität und
Objektivität. Schon Hegel stellte fest, »wie verkehrt es ist, Subjektivität und
3y6 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Objektivität als einen festen und abstrakten Gegensatz zu betrachten1«.


Lenin, der unter anderem auch diese Stelle zustimmend zitiert, spricht in einem
anderen Zusammenhang diesen Gedanken noch entschiedener aus: »der Ge¬
danke der Verwandlung des Ideellen in das Reale ist tief: sehr wichtig für
die Geschichte. Aber auch im persönlichen Leben des Menschen ist es ersicht¬
lich, daß darin viel Wahrheit liegt. Gegen den vulgären Materialismus... Der
Unterschied des Ideellen vom Materiellen ist ebenfalls nicht unbedingt, nicht
überschwenglich 2«.
Es ist wichtig in allen diesen Formen der Widerspiegelung und der Mimesis
die mit dem Alltagsleben und mit der Alltagspraxis verbundenen, noch
nicht zu Wissenschaft und Kunst differenzierten Tendenzen zu betonen.
Einerseits, weil sie ursprünglich in einem untrennbaren Zusammen wirksam
waren und ihr Bewußtsein und ihre Systematisierung in der magischen Periode
nur ein Fixieren dieser unzerlegten Verschlungenheit war, weil sie auch auf
entwickelteren Stufen, nach Herausbildung von Wissenschaft und Kunst, als
das gesellschaftliche Leben stark beeinflussende Mächte, freilich in neuen For¬
men, diese Lage konservieren, immer erneut reproduzieren. Andererseits,
weil alle hier geschilderten Phänomene eine Tendenz zur Entwickelbarkeit,
zur Differenzierung sowohl in der Richtung auf Wissenschaft, wie in der
auf Kunst in sich bergen. Es genügt auf die mit der Bewegungsphantasie
verknüpften Erscheinungen hinzuweisen. In ihrem durchschnittlichen Vor¬
kommen gehören sie zweifellos dem Alltagsleben an. Es ist jedoch sehr wohl
möglich, den Prozeß der Vorwegnahme der Zergliederung der Bewegungen,
das Auffinden und Fixieren ihrer Knotenpunkte auf ein wissenschaft¬
liches Niveau zu erheben. Die spontane, wenn auch stets von einem gewissen
Nachdenken kontrollierte und geleitete Selbstbetrachtung, die Nachahmung
des anderen, die Übernahme von dessen Erfahrungen etc., er kann zum Objekt
einer wissenschaftlichen Analyse werden, die in ihrer wesentlichen Methode
desanthropomorphisierend ist, die die Bewegungen rein objektiv auf ihr mecha¬
nisch-dynamisches Optimum zerlegt, und die Bewegungsphantasie im gegebe¬
nen Moment als ein nutzbares Element des objektiven Komplexes einsetzt.
Die moderne Arbeitswissenshaft hat diese Tendenzen im Verhalten des
Menshen zur Mashine, zum Fließband etc. weit ausgebildet, aber auh
im Training, vor allem der professionellen Sportler, kann man hierfür

1 Hegel: Enzyklopädie, § 194. Zusatz I.


2 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 31.
Magie und Mimesis 377

genügend Beispiele finden. (In allen diesen Fällen begegnet man vielen Über¬
gangserscheinungen und es ist manchmal schwer zu entscheiden, wo die ein¬
fache Alltagspraxis aufhört und wo die wissenschaftlich geleitete einsetzt.
Doch ist diese Grenze in jedem Falle vorhanden.)

II Magie und Mimesis

Der Übergang solcher mimetischen Phänomene aus der Alltagspraxis ins


Gebiet der Kunst zeigt zumindest ebenso gleitende Zwischenstufen und
verwischte Grenzen. Wir haben bereits wiederholt betont, daß in der magi¬
schen Praxis die Keime der später selbständig gewordenen wissenschaftlichen
wie künstlerischen Verhaltensarten noch undifferenziert zu treffen sind. Der
Ablösungsprozeß der letzteren ist, wie ebenfalls schon hervorgehoben, der
weitaus langsamere von beiden, obwohl - oder vielleicht: weil - diese schon
auf ganz anfänglichen Stufen gewisse entscheidende Wesenszeichen ihrer
Eigenart deutlicher zu offenbaren imstande sind als jene. Damit ist nicht nur
das anthropomorphisierende Prinzip in der künstlerischen Gestaltung ge¬
meint. Dieses ist abstrakt allgemein betrachtet - wenn auch dem letzten
Gehalt nach verschieden, ja entgegengesetzt - gerade das Gemeinsame
zwischen Kunst und Magie, bzw. später zwischen Kunst und Religion.
Hier ist der Ablösungsprozeß, wie wir später sehen werden, außerordent¬
lich langsam, widersprüchlich, krisenbeladen. Worauf es jetzt ankommt, ist
die Tendenz zur Evokation, die, wie ebenfalls gezeigt, auf dem Boden des
Alltagslebens entstanden ist. Diese wird zu einem ausschlaggebenden Faktor
zugleich der magischen und der von ihr auf dieser Stufe praktisch noch nicht
trennbaren, anfänglichen künstlerischen Mimesis.
Wir haben bereits gesehen, daß die mimetischen Ausdrücke der Alltagswirk¬
lichkeit, deren Zweck eine praktische und konkrete inhaltlich bestimmte Mit¬
teilung ist, notwendig von einer »Aura« der Gefühlsevokation umgeben sind.
Diese ist nicht nur eine Folge der von begrifflichem Standpunkt aus primitiven
und wenig exakten Ausdrucksweise, obwohl diese anfangs natürlich eine aus¬
schlaggebende Komponente bildet; sie entstand vielmehr einerseits daraus,
daß jede gesellschaftliche Kommunikation vom ganzen Menschen zum gan¬
zen Menschen geht und darum sich nicht mit dem einfachen Weitergeben von
begrifflich geklärten Inhalten begnügen kann, sondern auch an das Gefühls¬
leben des Partners appelliert. Daß mit der Entwicklung der Wissenschaft eine
Abschwächung, ein Verblassen der »Aura« erfolgt, daß die gesellschaftliche
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
3/8

Arbeitsteilung die Mitteilungen immer stärker spezialisiert, ändert - das


Alltagsleben betreffend - diese Struktur nicht entscheidend. Wir können
uns also mit der beiläufigen Feststellung dieses Tatbestandes um so eher be¬
gnügen, als hier das Problem der Genesis im Vordergrund steht. Anderer¬
seits - und dies betrifft das Ganze der Mitteilung, sowohl seinen Inhalt wie
seine Form - soll in den allermeisten Fällen die Mitteilung den Partner oder
die Partner zu irgend etwas überreden, sie zu irgendeinem Handeln, Ver¬
halten etc. veranlassen, was, da die Beziehung vom ganzen Menschen zum
ganzen Menschen geht, bei jeder Kommunikation notwendig auch entspre¬
chende Elemente evokativer Art ins Leben ruft.
Die »weltanschaulich« wie praktisch-sozial zentrale Äußerungsweise der
primitiven Zeiten, die Magie, im weitesten Sinne aufgefaßt, hat stets evokative
Zielsetzungen. Nicht nur weil eine evokative, oft bis zur Ekstase gesteigerte
Wirkung auf die Gemeinde nötig ist, damit in dieser der erforderte blinde
Glaube an die magischen Zeremonien entstehe und sich erhalte, sondern
auch weil die tief in den magischen Grundanschauungen wurzelnde Bezie¬
hung zu jenen Naturmächten, die positiv oder negativ beeinflußt werden
sollen, eine evokative Intention erweckt. So werden die im Alltagsleben
reichlich vorhandenen Tendenzen von der Magie zusammengefaßt, syste¬
matisiert und weitergebildet. Dies ist um so leichtet, als zwischen dem Funk¬
tionieren des Alltagslebens und dem der Magie keinerlei Direktionswechsel,
keinerlei qualitative Änderung notwendig ist, sondern nur ein Ausweiten und
Intensivieren des bereits Vorhandenen. Es ist nun von ausschlaggebender
Wichtigkeit, daß im Mittelpunkt solcher Synthesen die Mimesis steht. Fra-
zer unterscheidet, wie wir früher gesehen haben, zwei wesentliche Überzeu¬
gungen des magischen Zeitalters: erstens, daß der Magier »durch Nachahmung
jede Wirkung hervorbringen kann, die er hervorbringen will«, zweitens,
daß »alles, was er einem stofflichen Gegenstand zufügt, ebenso auf die
Person wirkt, die einmal mit diesem Gegenstand in Berührung gestanden hat,
mag er nun ein Teil ihres Selbst gewesen sein, oder nicht1«. Natürlich sind
auch hier die Grenzen fließend, und wenn es auch sicher ist, daß die erste
Form die vorwiegend mimetische ist, so kommt in der zweiten Art, die Fra-
zer die »Ubertragungsmagie« nennt, auch häufig Nachahmung vor. Ja, Fra-
zer kommt zu dem Schluß, »daß Übertragungsmagie die Anwendung des
homöopathischen oder nachahmenden Prinzips voraussetzt, während die

1 Frazer: a. a. O. S. 16.
Magie und Mimesis 179

homöopathische oder nachahmende Magie für sich allein ausgeübt werden


kann *«. Es handelt sich also, das Allgemeinste zusammenfassend, darum,
daß durch Nachahmung von Vorgängen oder Gegenständen der Wirklich¬
keit diese selbst im gewünschten Sinne beeinflußt werden kann. Daraus folgt,
daß die Nachahmung möglichst konkret sein muß; zumindest der Aus¬
gangspunkt der mimetischen Darstellung muß die Wirklichkeit selbst sein und
nicht eine abstrahierende Widerspiegelung von bloßen Lebensmomenten wie
in der Ornamentik. Die mimetische Darstellung ist also - ihrer Intention
nach - nie weltlos wie diese; auch wenn ihr Inhalt ins Phantastische, nie
Gesehene oder Gehörte übergeht, erhebt das so Beschaffene den An¬
spruch, Wirklichkeit, ein Abbild der Welt zu sein.
Jetzt wird es dem Leser sicher verständlich werden, warum wir so großes
Gewicht darauf gelegt haben, daß selbst die primitivste Widerspiegelung im
Alltagsleben nicht den Charakter einer Photokopie der Wirklichkeit haben
kann, daß vielmehr in ihr deren dialektische Wesensart — freilich nur annä¬
hernd, aber in einem ebenfalls dialektischen Prozeß der Annäherung - zur
Geltung gelangt. Denn erst auf solcher Grundlage wird verständlich, wie
die magische mimetisch gestaltende Synthese von Lebensvorgängen, sowohl
Natur- wie Gesellschaft umfassend, auf ganz primitiver Stufe vollbracht
werden kann. Soll nämlich ein solcher Vorgang (Krieg, Jagd, Ernte etc.) nach¬
ahmend dargestellt werden, so ist ein Zusammendrängen der in der Wirklich¬
keit selbst außerordentlich zerstreuten Momente vonnöten, eine energische Be¬
tonung des Wesentlichen des zu erreichenden Zieles, ein Eliminieren der in der
Wirklichkeit unzählig vorkommenden Zufälle. Wenn nun die nachgeahmten
Wirklichkeitsstücke, aus denen eine solche Einheit zusammengefügt wird, bloß
mechanische Photokopien wären, hätte es übermenschlicher künstlerischer An¬
strengungen bedurft, um sie zu einem derartigen Ganzen zu vereinigen, und
dieses Ganze wäre für Menschen, die die Wirklichkeit in einer mechanischen
Weise zu apperzipieren gewohnt waren, völlig unverständlich geblieben. Erst
auf dem von uns gereinigten Boden wird das frühe Herauswachsen solcher Ge¬
bilde aus dem Alltagsleben, ihre tiefe evokative Wirkung verständlich.
In dieser Hinsicht gehen Nachahmungen von Vorgängen zwecks Herbeifüh¬
rung bestimmter magischer Effekte und mimetisch-künstlerischer Gestaltungen
der Wirklichkeit lange Zeit denselben Weg. Ja, man kann sagen, daß der
ursprüngliche Impuls der letzteren nur aus dem magischen Vorstellungskreis

1 Ebd. S. 17.
380 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

eines Beeinflussens der Geschehnisse der Welt durch ihre Nachahmung heraus¬
wachsen konnte. Zwar wird häufig versucht, Kunst aus Kraftüberschuß,
aus Spiel abzuleiten. Dabei ist aber zu bedenken, daß Kraftüberschuß
schon in der anfänglichen menschlichen Gesellschaft ein soziales Phänomen
ist: die Konsequenz einer Produktivität der Arbeit, die mit der freien Zeit,
der Muße, auch den Überschuß an physischen und psychischen Energien her¬
vorbringt h Zweitens ist absolut uneinsichtig, wie das bloße Spiel je zur
Kunst führen könnte. Natürlich hat das Spiel, auch schon bei den Tieren,
einen mimetischen Charakter. Jene Intention richtet sich aber — einerlei mit
welchem Grad des Bewußtseins darüber - auf die Einübung von praktischen
wichtigen Bewegungen und Verhaltensarten. Wenn der Betrachter sie als
»schön« apperzipiert, so trifft er, ebenso wie bei der Arbeit, beim Sport etc.
ein ungewolltes Nebenprodukt. Bewegung und Verhaltungsweise sind vor
allem zweckbedingt, darum - tendenziell - sparsam, aufs unbedingte Mini¬
mum reduziert. Zwischen einer solchen Zweckmäßigkeit und ihrer ästhetischen
Wirkung bestehen ohne Frage gewisse sachliche Zusammenhänge, woraus
jedoch keineswegs folgt, daß diese aus jenen genetisch entstanden wären, noch
weniger, daß die Zweckmäßigkeit an sich eine notwendige innere Intention
aufs Ästhetische in sich birgt. Die Intention auf das Ästhetische muß also be¬
reits entstanden, bis zu einem gewissen Grad verfestigt, im Gefühlsleben der
Menschen verankert sein, damit Vorgänge von nicht primär ästhetischer In¬
tention überhaupt als ästhetische apperzipiert werden können, um gar nicht
davon zu reden, daß eine ästhetische Wirkung in ihre Intentionen aufgenom¬
men werden könnte.
Das Ästhetische entsteht vielmehr auf einem komplizierten Umwege: die
schon an sich mimetischen Bewegungen, Verhaltensarten, in den täglichen
Verrichtungen des Menschen, in ihrem Verkehr miteinander werden noch¬
mals nachgeahmt; diese Widerspiegelung von in Handlungen umgesetzten
Widerspiegelungen ahmen nunmehr nicht mehr bloß zu bestimmten unmittel¬
bar praktischen Zwecken bestimmte Erscheinungen der Wirklichkeit nach,
sondern gruppieren ihre Abbilder nach völlig neuen Prinzipien: sie konzen-

1 Wenn die moderne Anthropologie großes Gewicht auf die langsame Entwicklung
des Kindes im Gegensatz zu den Jungtieren legt, so übersieht sie zumeist, daß sie
es hier nicht mit einem naturhaften Unterschied zwischen beiden zu tun hat,
sondern mit einer Folgeerscheinung der spezifischen Menschenentwicklung, also
methodologisch nicht mit einem Ausgangspunkt, sondern mit einem Resultat, vor
allem mit einem der Arbeit (natürlich schon die Sammelperiode mitinbegriffen).
Magie und Mimesis 381

trieren sich darauf, bestimmte Gedanken, Überzeugungen, Gefühle, Leiden¬


schaften etc. im Zuschauer wachzurufen. Natürlich kommt eine solche evo-
kativ-mimetische Intention auch im Alltagsleben vor; ohne eine solche »Vor¬
arbeit« könnte sie hier nicht in den Mittelpunkt der mimetischen Darstellung
rücken. Sie ist aber dort nur ein Teil, ein Moment des menschlichen Ver¬
kehrs, ist in Handlungen, Mitteilungsformen etc. unauflöslich eingebettet. Erst
hier wird sie zum Zentrum, zum organisierenden Prinzip der Widerspiege¬
lung. Wäre nun der ursprünglidie Zweck dieser eigenartigen mimetischen
Gebilde - wir sagen Gebilde, weil die Teile um diese Zielsetzungen zu
verwirklichen, eine künstlich geschaffene, im voraus bestimmte Einheit bil¬
den, während ihre auf reale Zwecke angelegten Vorbilder reale Vorgänge
sind, deren Art, Umfang, Anfang, Ende etc. von den Schwierigkeiten der rea¬
len Zweckverwirklichungen jeweils verschieden determiniert werden -, wären
also diese Gebilde aus einem »Kunstwollen« entstanden, so wäre ihr Ursprung
dem der bewaffnet aus dem Kopf des Zeus herausspringenden Pallas Athene
gleich, d. h. ihre Quelle wäre die in den meisten Ästhetiken gespensternde
»ursprüngliche«, »angeborene« ästhetische Fähigkeit des Menschen. Die Wirk¬
lichkeit zeigt ein anderes Bild. So wenig wir, wie so oft betont, über die
eigentlichen Ursprünge menschlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten genaues
wissen, tritt doch aus der Gesamtheit der Überlieferungen klar hervor, daß die
anfängliche Erscheinungsweise der von uns bis jetzt geschilderten mimetischen
Widerspiegelungen mit evokativem Zweck magischen Ursprungs war.
Es kommt deshalb bei einer philosophischen Genesis des Ästhetischen darauf
an: einerseits die gemeinsamen Prinzipien einer solchen nachahmenden
Magie und der spezifisch künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
aufzuzeigen, und damit verständlich zu machen, warum das Ästhetische für
eine so lange Zeit fast unablösbar eingehüllt im Magischen entstehen, sich aus¬
bilden, heranwadrsen konnte. Andererseits und gleichzeitig muß gezeigt wer¬
den, daß - objektiv, nicht im Bewußtsein der Menschen - das scheinbar voll¬
kommen Vereinte, ja als völlig identisch Erscheinende in objektiv divergie¬
renden Tendenzen fundiert ist, die sich sehr langsam, sehr widerspruchsvoll,
aber am Ende doch deutlich durchsetzen, und schließlich zu einer endgültigen
Trennung von Kunst und Magie führen. Die endgültige Darstellung des Ab¬
lösungsprozesses des Ästhetischen vom Magischen und Religiösen muß
einem späteren Kapitel Vorbehalten werden, denn seine begriffliche Darlegung
setzt die Kenntnis der wichtigsten Kategorien der ästhetischen Widerspiege¬
lung voraus, kann also nur auf deren Darlegung folgen. Jetzt bei der Be¬
handlung der Genesis stehen naturgemäß die Momente der Gemeinsamkeit
38z Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

im Vordergrund unseres Interesses; die der Verschiedenheit, der Gegen¬


sätzlichkeit können in diesem Stadium unserer Einsicht in das Wesen des
Ästhetischen nur höchst abstrakt angedeutet werden.
Das grundlegend gemeinsame Prinzip zwischen Kunst und Magie (Religion)
ist, daß sie alle einen anthropomorphisierenden Charakter haben. Natürlich
gibt es dabei auch Unterschiede zwischen Magie und Religion; vor allem ist
jene viel naiver, spontaner, naturwüchsiger als diese. Das Anthropomorphi-
sieren äußert sich vor allem darin, daß die bewegenden Kräfte im Subjekt
und der ihr gegenüberstehenden Objektswelt naiv identifiziert werden. Ja
die genaue Trennung des Subjektiven vom Objektiven bildet sich erst lang¬
sam aus. Die magischen Mächte müssen noch nicht, wie später, die Gestalt vom
Menschen (Göttern) erhalten, damit der vorgestellte Mechanismus, das ima-
ginierte System der objektiven Wirklichkeit als von menschlichen Motiven
bewegt erscheine. Auf Unterschiede dieser Art, welche in ihren sehr variierten
Übergängen eine breite Behandlung erfordern würde, können wir hier ruhig
verzichten. Es kommt vorerst nicht so sehr auf Art und Grad der Anthropo-
morphisierung an, als auf ihr schlichtes Vorhandensein. Darum bildet sich der
Gegensatz zur desanthropomorphisierenden Wissenschaft - relativ — früher
aus. Darum muß der gemeinsame Weg mit der Kunst — trotz aller Diver¬
genzen - viel langwieriger sein.
Wir wissen bereits aus früheren Darlegungen, daß das Anthropomorphi-
sieren in der entwickelten, selbständig gewordenen Kunst etwas ganz anderes
vorstellt, als in der Magie oder Religion. Es genügt hier den springenden
Punkt dieses Unterschiedes hervorzuheben: es gehört zum Wesen des Ästhe¬
tischen, das widergespiegelte Abbild der Wirklichkeit als Widerspiegelung auf¬
zufassen, während Magie und Religion dem System ihrer Widerspiegelungen
eine Wirklichkeit, eine objektive Realität zuschreiben und einen Glauben an
diese fordern. Dies hat für die spätere Entwicklung den entscheidenden Ge¬
gensatz zur Folge, daß die ästhetische Widerspiegelung sich als in sich ge¬
schlossenes System (als Kunstwerk) konstituiert, während jede Wider¬
spiegelung magischer oder religiöser Art auf eine transzendente Wirklichkeit
bezogen wird. Es muß dabei schon hier betont werden, daß es sich um den
objektiven Sinn der Gebilde der Kunst, bzw. der Magie oder Religion han¬
delt. Es gibt noch in Perioden der vollständig entwickelten, selbständig ge¬
wordenen Kunst Schaffende oder Rezeptive, die Werke als der Religion
dienend auffassen, den Kunstwerken magische Wirkungen zuschreiben
etc. Die Kunstwerke selbst haben jedoch - unabhängig von diesen Mei¬
nungen - die oben bestimmte objektive Struktur, und in den theoretischen
Magie und Mimesis 383

Bestimmungen des Verhältnisses beider Sphären kommt es aussdiließlich auf


die objektive innere Beschaffenheit der Produkte an. Diese objektive Rela¬
tion setzt sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit - natürlich nur als
Tendenz im welthistorischen Maßstabe - auch praktisch durch, unabhängig
davon, wie falsch gegebenenfalls das Bewußtsein einzelner über ihre eigene
Tätigkeit, über ihr eigenes Verhalten auch sein mag.
Die hier statuierte Gegenüberstellung bedarf aber noch einer weiteren Kon¬
kretisierung. Wenn wir die ästhetischen Gebilde als in sich abgeschlossene
Systeme der Widerspiegelung der Wirklichkeit bestimmt haben, so ist darin
eine eigenartige - später ausführlich zu erörternde - Dialektik enthalten: sie
sind Widerspiegelungen der objektiven Wirklichkeit, und ihr Wert, ihre Be¬
deutung, ihre Wahrheit beruht darauf, wieweit sie imstande sind, diese
richtig zu erfassen und sie zu reproduzieren, das ihnen zugrunde liegende
Wirklichkeitsbild in Rezeptiven zu evozieren. Ihre Geschlossenheit, ihre
»Immanenz«, ihre »Selbständigkeit« kann also weder eine Abgeschlossenheit
der Wirklichkeit gegenüber bedeuten, kann keine »Immanenz« eines »reinen«
Formsystems sein, noch kann diese »Immanenz« eine Gleichgültigkeit der
Wirkung gegenüber in sich schließen. Die Geschlossenheit der Gebilde ist, wie
wir später sehen werden, die spezifische ästhetische Form, um eine wahre und
darum dauernd wirksame Widerspiegelung der Wirklichkeit zustande zu
bringen.
Diese Grundrichtung der ästhetischen Widerspiegelung hat als allerallge¬
meinsten, jedem wahren Kunstwerk gemeinsamen Inhalt: die Diesseitigkeit
der Kunst, im Gegensatz zur Bezogenheit eines jeden magischen oder reli¬
giösen Gebildes auf ein Jenseits, auf eine transzendente Wirklichkeit x. Da
es aber zum Wesen entscheidender Inhalte gehört, daß sie spontan verallge¬
meinert werden müssen, eben weil sie Offenbarungen wichtigster Strömungen,
Wachstumstendenzen der Menschheit in sich bergen, erhält diese Richtung
einer jeden Kunst auf Diesseitigkeit den Stempel des Anthropozentrischen.
Der Mensch als Mittelpunkt, auf den alles bezogen wird, gibt dieser Dies¬
seitigkeit selbst einen echten Gehalt. Denn erst dann kann die künstlerisch¬
treue Abbildung der Wirklichkeit, ihr tiefschürfendes Erfassen, um eine tref¬
fende Wiedergabe zu erringen, sich verwirklichen, kann zugleich inhaltlich

1 Uber die daraus entspringende Tendenz zur Allegorik in der religiösen Kunst
werden wir dort ausführlich sprechen, wo der kampfvolle Ablösungsprozeß der
Kunst von Magie und Religion behandelt wird.
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
384

unendlich (wie die wissenschaftliche Widerspiegelung) und ästhetisch streng


begrenzt, zum abgeschlossenen Werk abgerundet werden. Wir haben früher
im anderen Zusammenhang das Selbstbewußtsein der Menschheit als die
eigentliche, tragende Subjektivität der Kunst bezeichnet und sogleich darauf
hingewiesen, daß ein solches Selbstbewußtsein nur auf der Basis einer für
den Menschen relativ durchsichtig gewordenen Welt möglich ist, daß es auf
Taten beruhen muß, die die Außen- und Innenwelt dem Menschen, der
fortschreitenden Entwicklung der Menschheit, unterworfen haben. In diesem
Selbstbewußtsein der Menschheit ist der tiefe Humanismus des Ästhetischen
mitenthalten. Er erhält einen - auch gedanklich - vollendeten Ausdruck im
berühmten Chor der Sophokleischen »Antigone«. Es ist sicher kein Zufall,
sondern die organische Koexistenz von denkerischer und dichterischer Weis¬
heit, ein Bekenntnis zum tiefsten Wesen des Ästhetischen, daß der Chor mit
einer hymnischen Beschreibung der weltbesiegenden Taten der Menschen be¬
ginnt, einer nur vom Tode begrenzten Tätigkeit, deren Grenzen jedoch der
Mensch immer weiter hinausschiebt. Und erst dort, wo der Mensch als
stadtgründend (für einen Griechen bedeutet dies Gesellschaftsgründung) ge¬
schildert wird, erscheint die zentrale innere Problematik, das große Thema
aller Kunst: die Kollisionen, die in der Polis zwischen den Menschen er¬
wachsen.
Wir glauben: es genügt, diesen fundamentalen Gehalt aller Kunst nur anzu¬
deuten, um klar zu sehen: es ist unmöglich, daß er am Anfang der Mensch¬
heitsentwicklung hervortritt. Jeder versteht - und kluge Ethnographen, An¬
thropologen haben es wiederholt gezeigt -, daß jede Kunst eine bestimmte Ent¬
wicklungshöhe der Technik voraussetzt. Jetzt erhellt es sich, daß die Vor¬
bereitungsperiode noch weiteres erfordert: eine besondere Einstellung zur
Wirklichkeit, die, auch wenn sie nicht völlig bewußt wird, nur relativ spät
zur Entfaltung gelangen kann, weil ihre Inhalte eine weitgehende Unter¬
werfung der Außenwelt und eine, im Kampf um deren Verwirklichung er¬
reichte, Selbstsicherheit des Menschen, sein Vertrauen in die eigenen Leistun¬
gen und Fähigkeiten objektiv als Basis erfordern. Wenn schon das leichter
erwerbbare Minimum an Technik das Produkt eines langwierigen Ringens
des Menschen mit der Natur war, so muß das hier in weitaus gesteigertem
Maße der Fall sein.
Das Eingehülltsein der künstlerischen Mimesis in die magische ist aber mehr
als eine bloß äußerliche Notwendigkeit des zufälligen Anfangs. Die Eigenart
der hier obwaltenden Dialektik bringt es mit sich, daß das mimetische Künst¬
lertum und die mit ihm verbundene, von ihm geförderte künstlerische Auf-
Magie und Mimesis 385

nahmefähigkeit während dieser Verstecktheit hinter der magischen Nach¬


ahmung sich ausbilden, erstarken, so daß, wenn die gesellschaftliche Entwick¬
lung die von uns geschilderten Inhalte, Verhaltungsweisen etc. in hinläng¬
licher Intensität produziert und reproduziert hat, die ästhetische Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit sich von dieser ihrem Wesen nicht entsprechen¬
den Gemeinschaft loslöst und - freilich langsam, ungleichmäßig, wider¬
spruchsvoll, oft krisenhaft - als selbständig konstituieren kann.
Wenn wir den langwierigen gemeinsamen Weg von Magie und Kunst als
nicht rein zufällig bezeichnet haben, so haben wir nicht nur das beide
Gebiete beherrschende anthropomorphisierende Prinzip der Weltauffassung
gemeint, sondern auch die auf Evokation angelegte Eigenart der Nachahmung
die man ebenfalls bei beiden als hervorstechenden Zug vorfinden kann. Wir
haben in der Analyse der Widerspiegelung im Alltagsleben vor allem im
wechselseitigen Verkehr der Menschen untereinander die Evokation von Ge¬
danken, Gefühlen etc. als wichtiges Moment erkannt. Die magische Nach¬
ahmung etwa von Handlungen unterscheidet sich in dieser Hinsicht von der
normalen Praxis des Alltags darin, daß das evokative Element radikal in den
Mittelpunkt gerückt wird. D. h. wenn z. B. im Leben ein Mensch im anderen
bestimmte Gedanken oder Gefühle hervorrufen will, so ist seine Intention
darauf gerichtet, gerade diesen Menschen von gerade dieser Sache zu über¬
zeugen; wenn dagegen ein ähnlicher Vorgang magisch nachgeahmt wird, so
kommt es bei der Darstellung darauf an, in einer Menge von Zuschauern und
Zuhörern den Eindruck zu erwecken, daß der Uberzeugungsprozeß bei¬
derseits gelungen ist; die Überzeugung und das Überzeugtwerden, die im
Leben die praktische Hauptsache bildeten, werden jetzt zu Mitteln, sie wer¬
den zu gestaltenden Inhalten und zu gestalterischen Formen, mit deren Hilfe
diese als unmittelbar sinnfällige Einheit erscheinende Begebenheit die beab¬
sichtigten Gefühle oder Gedanken hervorzurufen instand gesetzt werden
soll. Während also im Leben die leitende Struktur des Aufbaus mit der des
zeitlichen Ablaufs zusammenfällt, die Aktion sich vom Anfang ausgehend in
die Richtung des Endes bewegt, natürlich vermittels der vielen Zufälle, die
in der Wechselwirkung verschiedener Bestrebungen immer auftreten, geht
ihre mimetische Abbildung vom Endpunkt aus, gruppiert und modelt die
zu ihr führenden Bewegungen so, daß dieses Ende auf den Rezeptiven über¬
zeugend, die gewünschten Gefühle, Gedanken etc. evozierend wirkt. Das
bringt naturgemäß die Minimalforderung hervor, daß die von diesem Stand¬
punkt aus überflüssigen, ja störenden Zufälle eliminiert, daß jene Momente,
die objektiv-inhaltlich Knotenpunkte bilden, evokativ stärker betont
38 6 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

werden. In dieser Umwandlung der gespiegelten Wirklichkeit treten - vom


Erlebnisinhalt aus gesehen - noch keine radikal neuen Prinzipien auf; das
Weglassen des Überflüssigen, das Betonen der »Kettenglieder« sind, wie wir
gesehen haben, wichtige Momente des Widerspiegelungsprozesses schon im
Alltagsleben. Dadurch allerdings, daß das Ganze eines bestimmten Wider¬
spiegelungskomplexes konsequent von diesem Standpunkt aus bearbeitet
wird, schlagen die an sich bloß quantitativen Änderungen in eine neue Quali¬
tät um, entsteht objektiv ein Sprung zwischen den gewöhnlichen Mittei¬
lungsformen des Alltagslebens und dieser Umarbeitung eines ihnen entnom¬
menen, in sich abgeschlossenen, auf bestimmte evokative Wirkun¬
gen angelegten, ausgewählten Gebildes. Dieser Sprung braucht selbstredend
nicht sofort bewußt zu werden und wird es - vermutlich, da uns über diese
Anfänge die genauen Daten vollständig fehlen - höchstwahrscheinlich lange
nicht. Das Gefühl einer Steigerung des Lebens und der Reaktionen darauf
reicht vollständig aus, um Entstehung und Ausbildung solcher magisch-mime-
tischen Gebilde verständlich zu machen.
Aus alledem ist es klar ersichtlich, daß die Ausgangslinien der magischen
und der künstlerischen Mimesis vorerst fast bis zur Vereinigung konver¬
gieren; unsere folgenden auf die konstituierenden Hauptmomente gerichte¬
ten Analysen werden zeigen, wie weitgehend anfangs diese Konvergenz ist.
Bevor wir jedoch darauf näher eingehen könnten, muß aufgedeckt wer¬
den, daß einerseits die Keime der späteren Divergenzen - objektiv - auch auf
dieser Stufe vorhanden sind und daß es andererseits unmöglich ist, ihrer
schon in diesem Stadium auch nur keimhaft bewußt zu werden. Wir meinen
natürlich die Frage von der Diesseitigkeit und Jenseitigkeit des letzthinnigen
Objekts als ausschlaggebender Intention der Mimesis. Die Diesseitigkeit be¬
deutet unmittelbar so viel, daß die evokative Wirkung des Dargestellten aus¬
schließlich auf die Rezeptivität des Menschen angelegt ist, daß mit der bei
ihm erzielten evokativen Wirkung das mimetische Gebilde seinen Zweck
vollständig erfüllt hat. Die Jenseitigkeit dagegen erstrebt mit der Nachah¬
mung von Vorgängen Mächte zu beeinflussen, die jene wirklichen Konstella¬
tionen angeblich beherrschen, deren - vorwegnehmende - Reproduktion das
betreffende mimetische Gebilde ist. (Tänzerische Nachahmung von Krieg,
Jagd etc., um den Erfolg der zukünftigen entsprechenden Tätigkeit günstig
zu beeinflussen). Das Beeindrucken der wirklichen Zuhörer und Zuschauer
ist von der Warte dieser Zielsetzung aus gesehen, nur etwas Akzessorisches.
So tief jedoch - objektiv angesehen - die Kluft zwischen diesen beiden End¬
zielen auch sein mag, sie kann praktisch auf die Verwirklichung der Anfänge
Magie und, Mimesis 387

überhaupt keinen Einfluß ausüben. Denn wir haben einerseits festgestellt,


daß eine ästhetisch-diesseitige Stellung der Aufgabe auf dieser Stufe real un¬
möglich ist, andererseits ist es klar, daß die auf Beherrschen der jenseitigen
Mächte gerichtete Nachahmung unmittelbar reale Kriterien ihres Gelingens
nur in der Durchführung des mimetischen Gebildes, nur in der Wirkung auf
die menschliche Rezeptivität finden kann. Denn ob es der Nachahmung ge¬
lungen ist, die transzendenten Mächte, wie gewünscht, zu beeinflussen, erhellt
sich erst nachträglich, im tatsädilichen Erfolg oder Mißerfolg von Krieg,
Jagd etc., also lange nach dem Ablauf der mimetischen Gestaltung. Die Kon¬
sequenzen dieser Beurteilung können also höchstens für die nächsten Nach¬
ahmungen wirksam werden, wo sich dann der hier angedeutete Zirkel erneut
zeigt. Die magische Transzendenz äußert sich also praktisch in einer unmit¬
telbaren, dem Ästhetischen sehr nahekommenden Immanenz. Die nur für
eine nachträgliche Analyse - und auch für diese nicht immer - zerlegbare Ein¬
heit dieser an sich divergierenden Tendenzen muß man also bei der Praxis
der Anfänge als unaufhebbares Faktum zur Kenntnis nehmen. Auf einzelne
Punkte, wo diese Divergenz — oft ohne als solche bewußt zu werden — doch
zum Ausdruck kommt, werden wir im Laufe der Darstellung dieser Gesamt-
iage noch zurückkommen.
Nur auf eine dieser Fragen müssen wir hier etwas näher eingehen, nämlich
auf bestimmte ekstatische Tendenzen, da diese sich teilweise mit jenen, die in
magischer Hülle unbewußt in die Richtung des Ästhetischen streben, eng berüh¬
ren (Tanz), teilweise aber schon in diesem Stadium diametral entgegengesetzte
Richtungen zeigen. Wir meinen jene Riten, Gewohnheiten etc. des magischen
Zeitalters, die mit dem Hervorrufen einer Ekstase verknüpft sind. Wir kön¬
nen hier natürlich nicht den ganzen damit verbundenen Komplex behandeln,
vor allem nicht ihre Verknüpfung und Gegensätzlichkeit zur Asketik in Be¬
tracht ziehen. Nur beiläufig sei bemerkt, daß diese als lang nachwirkende
Überreste der magischen Periode zuweilen und in gewisser Hinsicht zur Er¬
kenntnis und zur Ethik ebenso in Konkurrenzverhältnis gesetzt werden, wie
die Ekstase zur Mimesis. Diese Wirkungen einer kontemplativen Asketik kön¬
nen wir nicht nur in Indien, in China etc. beobachten, sie spielen auch in der
europäischen Kultur von Plotin bis zu Ignatius von Loyola eine nicht un¬
beträchtliche Rolle. Das gemeinsame Motiv beider ist ein künstliches Hervor¬
rufen gewisser subjektiver Zustände, in welchen und über welche ein Glauben
entsteht und verbreitet wird, daß sie den Menschen in sonst unerreichbarer
Weise mit transzendenten Mächten in eine direkte Berührung zu versetzen
imstande sind.
388 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Gehlen gibt über diese Zustände eine anschauliche Beschreibung: »Tanz,


Trunkenheit, toxische Exzesse, Selbstverstümmelung usw. sind von außen
nach innen angesetzte Handlungsreihen, und die in ihnen gewollte Überstei¬
gerung und Hypertension der Affektivität und Sensibilität erreicht hödiste
Grade, weil die aufgelösten Hemmungsenergien in die Dynamik mit ein-
gehen, so zu einer als beglückend empfundenen Befreiung und Entlastung des
Menschen von sich führen. Durch den Tanz wird der Mensch in gewissem
Grade >reiner Geist< und fähig, in dieser Eigenschaft zu handeln... Es ent¬
stehen da Handlungsbereiche und Techniken, welche in der übersteigert¬
befreiten Innenwelt enden, erstrebt und erlebbar wird >la vie ä un degre
plus intense< und eine grandiose Umkehr des Lebensschwerpunktes wird er¬
möglicht ...J«. Das für uns Wesentliche an einer solchen schamanistischen
Praxis ist die Abwendung von jeder Art der Erkenntnis, ja der Zur-Kennt-
nisnahme der Außenwelt, das künstliche Aufpeitschen des Subjekts in einen
Zustand, in welchem es sich einbilden kann, der so entstehende Rausch, der
für das Subjekt die Beziehungen zur Umwelt psychologisch tatsächlich lok-
kert, ja zeitweilig annulliert, bringe es in ein direktes Verhältnis zu dem, was
die jeweilige Kultur sich als das Transzendente vorzustellen pflegt. Hier und
in gewissen analogen Erneuerungen der Askese kristallisieren sich jene Ten¬
denzen, die ausschließlich in den Illusionen, entstanden aus der primitiven
Entwicklungsstufe der materiellen und geistigen Kultur, fundiert sind, die
kurz so zusammengefaßt werden können: da das Subjekt infolge dieser Lage
nicht (objektiv: noch nicht) imstande ist, durch Widerspiegelung der objek¬
tiven Wirklichkeit, durch gedankliche Bearbeitung und praktische Anwen¬
dung des so Wahr genommenen seine reale Umwelt theoretisch und praktisch
zu beherrschen, soll dieser »Umweg« über die Erkenntnis wegfallen, soll ein
direkter Weg rein nach »Innen« eingeschlagen werden; und da das normale
Subjekt des Alltagslebens dazu ungeeignet scheint, da es durch seine Lebens¬
instinkte nach »Außen« orientiert ist, muß diese seine »Schranke« mit künst¬
lichen Mitteln gewaltsam beseitigt werden. Die Entstehung solcher Auffassun¬
gen ist in der magischen Periode selbstverständlich. Ja man kann sogar sagen,
daß der von uns - der Verständlichkeit willen - oben skizzierte Kontrast
damals sicher nicht ins Bewußtsein trat. Das heißt, die asketischen und eksta¬
tischen Methoden wurden simultan mit der Widerspiegelung der Wirklichkeit,
mit der Mimesis gebraucht und es gab sicherlich zwischen ihnen fließende

1 Gehlen: Urmensch und Spätkultur, a. a. O. S. 265 f.


Magie und Mimesis 38 9

Übergänge. Erst viel später, als die Tendenzen zur Ausbildung von Wissen¬
schaft und Kunst erstarkt sind, wird aus dem an sich von Anfang an vor¬
handenen Gegensatz ein für-sich-seiender. Besonders scharf tritt er hervor,
wenn große gesellschaftliche Krisen die Herrschaft jener Klassen zu bedrohen
beginnen, die sich ideologisch auf Magie und Religion zu stützen pflegen.
Dann treten die reaktionären Seiten dieser Tendenzen noch viel klarer zu¬
tage, als in den primitiven Anfangszeiten. Obwohl zu sagen ist, daß, während
in der magischen Periode, wie wir zu zeigen versucht haben, sich lange Zeit
- untrennbar mit den magisdien Vorstellungen selbst vermischt - Elemente,
ja bestimmte Kategorien von Wissenschaft und Kunst herauszubilden be¬
ginnen, hier die rein niederziehenden Kräfte des primitiven Zustands wirk¬
sam werden. Wenn diese, infolge der komplizierten Dialektik in der Ent¬
wicklung und Weiterbildung der Klassengesellschaft auch auf entwickelteren
Kulturstufen Einfluß erlangen, kann dies nur in reaktionärer Richtung er¬
folgen.
Ekstase und Mimesis sind also einander ausschließende Gegensätze, auch
wenn sie in der Wirklichkeit der magischen Periode zuweilen simultan auf-
treten. Ihr Gegensatz tritt auf dem Gebiet des Tanzens, über welches wir noch
ausführlich sprechen werden, klar zutage: während der mimetische Tanz die
Intention hat, durch die Nachahmung bestimmter Lebensvorgänge, bestimmte
Gefühle in dem Rezeptiven zu erwecken - die magische Wirkung der Mimesis
auf die transzendenten Mächte spielt in dieser Gegenüberstellung keine un¬
mittelbar wichtige Rolle -, ist der hier zu behandelnde Tanz dazu da, um die
Tanzenden selbst in Ekstase zu versetzen.
Erwin Rohde gibt in seiner »Psyche« eine anschauliche Schilderung der thra-
kischen Tänze zu Ehren des Dionysos: »Die Feier ging auf Berghöhen vor
sich, in dunkler Nacht, beim unstäten Licht der Fackelbrände. Lärmende Mu¬
sik erscholl, der schmetternde Schall eherner Becken, der dumpfe Donner gro¬
ßer Handpauken, und dazwischen hinein der >zum Wahnsinn lockende Ein-
klang< der tief tönenden Flöten . .. Von dieser wilden Musik erregt tanzt
mit gellendem Jauchzen die Schar der Feiernden. Wir hören nichts von Ge¬
sängen: zu diesen ließ die Gewalt des Tanzes keinen Atem. Denn dies war
nicht der gemessen bewegte Tanzschritt, in dem etwa Homers Griechen in
Paean sich vorwärtsschwingen. Sondern im wütenden, wirbelnden, stürzen¬
den Rundtanz eilt die Schar der Begeisterten über die Berghalden dahin.
Meist waren es Weiber, die bis zur Erschöpfung in diesen Wirbeltänzen sich
umschwangen; seltsam verkleidet... sonst über dem Gewände Rehfelle, auch
wohl Hörner auf dem Haupte. Wild flatterten die Haare, Schlangen . .. halten
390 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

die Hände, sie schwingen Dolche oder Thyrsosstäbe, die unter dem Efeu
die Lanzenspitze verbergen. So toben sie bis zur äußersten Aufhebung aller
Gefühle, und im >heiligen Wahnsinn< stürzen sie sich auf die zum Opfer
erkorenen Tiere, packen und zerreißen die eingeholte Beute, und reißen mit
den Zähnen das blutige Fleisch ab, das sie roh verschlingen h« Und er faßt
den Sinn dieser Gebräuche so zusammen: »Die Teilnehmer an diesen Tanz¬
feiern versetzen sich selbst in eine Art von Manie, eine ungeheure Über¬
spannung ihres Wesens; eine Verzückung ergriff sie, in der sie >rasend, be-
sessen< sich und anderen erschienen ... diese äußerste Erregung war der
Zweck, den man erreichen wollte. Einen religiösen Sinn hatte die gewaltsam
herbeigeführte Steigerung des Gefühls darin, daß nur durch solche Über¬
spannung und Ausweitung seines Wesens der Mensch in Verbindung und Be¬
rührung treten zu können schien mit Wesen einer höheren Ordnung, mit dem
Gotte und seinen Geisterscharen. Der Gott ist unsichtbar anwesend unter
seinen begeisterten Verehrern, oder er ist doch nahe, und das Getöse des
Festes dient, den Nahenden ganz heranzuziehen1 2.« Rohde selbst stand
in seiner Jugend Nietzsche zu nahe, um solchen Erscheinungen gegenüber
wirklich kritisch sein zu können. Darum summiert er sein Urteil über diese
Effekte des ekstatischen Tanzes auf die Teilnehmer so: Ȇbermenschliches und
Unmenschliches mischt sich nun auch in ihnen3«; als gewissenhafter Ge¬
lehrter versäumt er jedoch nicht, festzustellen, daß es sich hier keineswegs um
einen speziellen Wesenszug der griechischen Entwicklung handelt, sondern um
eine ganz allgemeine Erscheinung im Leben primitiver Völker, um die Praxis
der Medizinmänner, der Schamanen, usw., die sich historisch noch lange er¬
hält (Derwische)4. Die kulturellen Voraussetzungen und Folgen solcher Ten¬
denzen brauchen uns hier nicht näher zu beschäftigen. Es genügt für uns, den
ausschließenden Gegensatz zu den mimetischen Vorgängen klarzulegen. Auf
die ästhetischen Folgerungen, die Nietzsche aus diesen, unkritisch mythologi¬
sierten und modernisierten Tatsachen zog, kommen wir in anderen Zusam¬
menhängen zu sprechen.
Wenn wir nun nach diesem notwendigen Exkurs die wichtigsten Bestimmun¬
gen, die hier in der Widerspiegelung, in ihrer Transposition zu Gebilden und

1 Rohde: Psyche, Tübingen, 1910, Band II. S. 9 f.


2 Ebd. S. 11 f.
3 Ebd. S. 14 f.
4 Ebd. S. 24 ff.
Magie und, Mimesis 39*

Vorgängen mimetischer Art entstehen, etwas näher zu betrachten versuchen,


so kommt als primitivstes und allgemeinstes Moment das ihrer Heraus¬
hebung aus der normalen Kontinuität des Alltagslebens in Betracht. Mögen
einzelne Tatsachen des Lebens noch so abrupt seinen normalen Fluß unter¬
brechen, ihre Gründe und Folgen gehören doch objektiv diesem Fluß an, sie
werden deshalb auch subjektiv als Bestandteile, als Momente des einheit¬
lichen und unteilbaren Lebens von dem Menschen individuell wie gesell¬
schaftlich erlebt. Die mimetischen Gebilde der Magie dagegen - und darin
enthalten sie ein wichtiges Wesenszeichen einer jeden späteren Kunst - sind
nicht Teile der Gesamtheit des Lebens, sondern Widerspiegelungen eines
seiner Teile, jedoch zu einer Ganzheit abgerundet und vom übrigen Leben ab¬
gegrenzt. Daraus folgt, daß die Menschen, um diese Widerspiegelungen zu
apperzipieren aus der normalen Kontinuität des Lebens gewissermaßen her¬
austreten müssen; diese Folge von Abbildern des Lebens ist ihrem Wesen
nach etwas anderes, als eine normale Fortsetzung des Lebensmoments, an wel¬
ches sie sich zeitlich anschließt. Ebenso hört mit dem Abschluß eines Gebildes
dieses Heraustreten aus dem Leben auf; der Mensch kehrt in sein normales
Dasein zurück. Ekstase und Askese wollen dagegen den Menschen radikal
aus dem normalen Leben herausreißen; die transzendente Wirklichkeit, die
sie zu erzwingen beabsichtigen, soll einen absoluten Bruch mit diesem bedeuten.
Darum nimmt ein solches Verhalten keine Rücksicht auf Objektivation, auf
Evokation, Rezeptivität, während das mimetische gerade auf Objektivierung
und Evokation, auf Rezeption gerichtet ist.
Dieser an sich höchst einfache und überall leicht feststellbare Gegensatz bedarf
aber doch einer Konkretisierung, damit er nicht durch metaphysische Über¬
spannung, durch Oberschwänglichwerden seine Wahrheit verliert. Austritt
aus dem normalen Leben und Rückkehr ins normale Leben müssen nämlich
relativ, und zwar in einer besonderen Art der Relativität aufgefaßt werden:
der Form und nicht dem Inhalt nach. Was bedeutet das? Vor allem, daß das
Herausgehobensein des betreffenden Gebildes aus dem Alltagsleben keines¬
wegs einen radikalen Bruch mit dessen Inhalten bedeutet; im Gegenteil: ge¬
rade diese Inhalte (ein Teil dieser Inhalte) erhalten eine neue, spezifische Form
in dieser Widerspiegelung. Und dieser objektiven Sachlage entspricht es sub¬
jektiv, daß weder die Schaffenden, die Akteure, noch die Rezeptiven solcher
Gebilde die Totalität der Inhalte des Lebens verlassen - das könnten sie
natürlich auch dann nicht tun, wenn sie es wollten - sondern bloß für eine
bestimmte Zeitdauer ihre Einstellung zu ihnen formal verändern: ihre
Aufmerksamkeit richtet sich vorübergehend nicht auf das Leben selbst, nur
392 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

auf dessen sich hier darbietende oder dargebotene Widerspiegelung. Und mit
dem Abschluß dieser temporären Suspension der direkten Beziehung zum
Leben selbst, kehren die Menschen notwendig in dieses zurück, wobei natur¬
gemäß jene Erfahrungen und Erlebnisse, die ihnen diese Widerspiegelung
gibt, irgendwie in die Gesamtheit ihrer Erfahrungen und Erlebnisse einge¬
arbeitet werden. Diese Suspension kann also mit Recht als eine die Form be¬
treffende betraditet werden, weil das mimetische Gebilde objektiv wie sub¬
jektiv nur durch seine Form die temporäre Abtrennung von der normalen
Wirklichkeit vollzieht, nur durch seine spezifische Form die beabsichtigte
Wirkung von widergespiegelten Lebensinhalten, die als Inhalte aus dem Leben
stammen und ins Leben zurückkehren, hervorbringt. Die Ekstase dagegen ist
ein radikaler Bruch mit der Kontinuität des Alltagslebens.
Schon aus dieser Tatsache folgt viel Wichtiges für die Wesensart solcher mime¬
tischen Gebilde. Wir haben bereits wiederholt darauf hingewiesen, daß die
Eigenart dieser Form sich um ihre Fähigkeit, Gedanken, Gefühle etc. zu evo¬
zieren, konzentriert. Daß auch damit kein metaphysisch schroffes Anderssein
dem Leben gegenüber entsteht, sondern bloß ein Umschlag ins qualitativ Neue
von Äußerungsweisen, die auch das Alltagsleben kennt und nicht entbehren
kann, haben wir ebenfalls schon früher gezeigt.
Beide Seiten dieses Verhältnisses der mimetischen Gebilde zum Alltagsleben
müssen gleicherweise betont werden. Denn einerseits wäre keine Evokation
durch Mimesis denkbar, wenn die Praxis des Lebens bei bestimmten Inhal¬
ten, Worten, Gebärden etc. nicht bestimmte gefühlsauslösende Wirkungen
fixiert hätte. Diese erhalten natürlich eine formale Steigerung und damit auch
neue Qualitäten; aber die Anknüpfung an das Leben, das Herausholen der
Inhalte aus dem Leben ist unvermeidlich, wenn eine spontan evokative Wir¬
kung möglich sein soll. Dabei kann es allerdings Vorkommen, daß einzelne
solcher Elemente im Leben nur keimhaft vorhanden waren und erst durch
ihr mimetisches Hervorheben eine aktive Rolle, eine extensive und intensive
Bedeutung erhalten. Diese Wechselbeziehung kann in bezug auf diese Wir¬
kungen mimetischer Gebilde nicht energisch genug betont werden. Anderer¬
seits und gleichzeitig muß das qualitativ Neue berücksichtigt werden. Wir
haben bereits auf das Moment des - relativen - Herausgehobenseins aus dem
Fluß des Alltagslebens hingewiesen, und gleichzeitig auch darauf, daß dies
eine formale Wesensart hat. Für die dialektische Betrachtungsweise schließt
eine solche Feststellung jedoch keineswegs den inhaltlichen Charakter der
Wandlungen im mimetischen Gebilde selbst und in seinen bezweckten und
erzielten Wirkungen aus. Im Gegenteil. Hegel bestimmt das für uns hier in
Magie und, Mimesis 393

Betracht kommende Verhältnis von Form und Inhalt in richtig dialektischer


Weise so: »An sieb ist hier vorhanden das absolute Verhältnis des Inhalts
und der Form, nämlich das Umschlagen derselben ineinander, so daß der In¬
halt nichts ist, als das Umschlagen der Form in Inhalt, und die Form nichts,
als Umschlagen des Inhalts in Form 1.« Dieses Umschlagen kann auch auf
der primitivsten Stufe beobachtet werden. Denn die für die selbständig ge¬
wordene Kunst so wichtige Feststellung von Aristoteles, daß das, was im
Leben Gefühle der Unlust auslöst, in der künstlerischen Gestaltung Gefallen
erregen kann 2, ist ein unentbehrliches Moment auch der primitivsten ma-
gisch-mimetischen Gebilde. Man denke etwa an einen Kriegstanz. Die dro¬
hende Gebärde, besonders eines bewaffneten Menschen ist im Leben natür¬
licherweise furchterregend oder zumindest zur Abwehr veranlassend. Im
Tanz erweckt sie dagegen Freude, Lust und Selbstbewußtheit, weil in ihr,
durch sie - je schreckenerweckender sie ist, desto mehr - im Zuschauer das
Gefühl evoziert wird: solche Krieger können nicht besiegt werden, folglich
werden die unseren den Feind schlagen. Und ähnlich steht es mit verschiede¬
nen Gefühle auslösenden Inhalten im Leben selbst und in seiner mimetischen
Darstellung. Die Mimesis ist also, indem sie den Zuschauer und Zuhörer aus
dem Fluß des Alltagslebens heraushebt, keine »neutrale«, die Inhalte bloß
umschließende Form, sondern schlägt dialektisch ins Inhaltliche, dessen ur¬
sprünglichen Charakter relativ, aber qualitativ verändernd, um.
Dieser Wirkung des formalen Heraushebens aus dem Alltag liegt aber noch
eine Eigenschaft zugrunde, die für den - vorläufig unbewußt bleibenden -
ästhetischen Charakter der mimetischen Gebilde ausschlaggebende Bedeutung
hat. Wir meinen ihren räumlich-zeitlich abgeschlossenen, darum notwendig
konzentrierenden, die Elemente von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus
ordnenden Charakter. Kurz gefaßt: die Verwandlung der Gegebenheiten des
Lebens in eine noch so primitive Handlung, in eine Fabel. G. Thomson 3 gibt
eine gut zusammengedrängte Beschreibung darüber, wie die primitivsten
Tänze, Gesänge etc. mit dem wirtschaftlichen Verfall der ursprünglichen
Clane sich zu Darstellungen von Mythen, zu ihrer Fixierung einerseits, zu
ihrer Weiterbildung und Säkularisierung andererseits entwickelt haben. Wir

1 Hegel: Enzyklopädie, § 133. Die Priorität des Inhalts in dieser Wechselwirkung


wird uns in entwickelteren Verhältnissen noch vielfach beschäftigen. Hier kommt
es vor allem auf das wechselseitige Umschlagen ineinander an.
2 Aristoteles: Poetik, Kapitel IV.
3 Thomson: a. a. O. S. 15 und S. 103.
394 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

haben uns hier nicht mit den Einzelheiten dieses Weges zu beschäftigen. Für
uns ist vor allem wichtig, daß auch die alleranfänglichsten mimetischen Ge¬
bilde bestimmte Begebenheiten dargestellt haben; sie müssen es tun, denn
der magische Zweck, das Beeinflussenwollen jener Mächte, von denen nach
dem damaligen Glauben Erfolg oder Mißerfolg dieser Vorgänge im Leben
selbst abhing, war nach der magischen Vorstellungswelt nur so zu bewerkstel¬
ligen. Nun mußte — schon aus rein praktischen Zweckmäßigkeitsgründen —
die betreffende Begebenheit, die in der Wirklichkeit an verschiedenen Punk¬
ten eines eventuell weit ausgedehnten Raumes, mitunter tage-, sogar wochen-
oder monatelang sich abspielte, auf einen Ort und auf eine relativ kurze
Zeit zusammengedrängt werden. Das Prinzip der Konzentration - wieder
eine formale Kategorie, wie früher das Herausheben aus dem Fluß des
Alltagslebens und zwar eine, die ebenso wie diese, sofort ins Inhaltliche Um¬

schlagen muß - richtet sich notwendig vor allem auf den Ablauf der betreffen¬
den widergespiegelten Begebenheit. D. h. es wird überall das Wesentliche der
Erscheinungswelt stärker hervorgehoben, als dies im unmittelbaren Ablauf
der Geschehnisse im Alltagsleben möglich ist. Die Dialektik von Erscheinung
und Wesen tritt deshalb schärfer und ausgeprägter auf, behält jedoch jene
Form, die dem Alltagsleben eigen ist: das immanente Enthaltensein des We¬
sens in der Erscheinung, im Gegensatz zu ihrem methodologischen Trennen
und Wiedervereinen im wissenschaftlichen Denken auch auf einer primitiven
Stufe. Diese Konzentration soll also, um den magischen Zweck zu erreichen,
in verkürzter, zusammengedrängter, das Wesen energisch hervorhebender
Weise alle wichtigen Momente darbieten.
In diesem Fall bedeutet jedoch Konzentration eben das, was in der später
selbständig gewordenen Kunst als Fabel figuriert. Aristoteles1 bestimmt die
Fabel als eine kunstmäßige, richtige Zusammenstellung der Geschehnisse. Sie
ist - auch in ihrer primitivsten Form - mehr als ein bloßes Nacheinan¬
der: gerade die magische Zwecksetzung erzielt eine teleologische Anordnung
der Teile auf ein bestimmtes dargestelltes Ziel hin, wodurch nicht nur inner¬
halb gewisser Grenzen das Nacheinander in ein Auseinander, in eine kausale
Verknüpfung umschlägt (auch wenn diese Kausalität eine phantasmago-
rische ist), sondern auch bestimmte Steigerungen, Stillstände, Rückschläge etc.
im Sinne der Zwecksetzung einander angefügt und auseinander entwickelt
werden. Eine für die spätere Literatur so zentral gewordene Kategorie,

1 Aristoteles: Poetik, Kapitel VI.


Magie und Mimesis 395

wie die Fabel entsteht also mit sachlicher Notwendigkeit aus den magischen
Zielsetzungen der allerprimitivsten mimetischen Gebilde h
Natürlich unterscheidet sich diese Fabel noch gewaltig von den späteren dich¬
terischen Handlungen. Vor allem ist sie weitaus loser, der Anspruch auf zwin¬
genden Kausalzusammenhang ist noch äußerst bescheiden. (Der Tanz bleibt
- in dieser Hinsicht - auch später auf einer relativ primitiven Stufe ste¬
hen, auch wenn er in jeder anderen Beziehung schon längst über die Anfänge
hinausgewachsen ist.) Noch wichtiger ist aber ein anderes, ebenfalls aus die¬
ser Konstellation sich ergebendes Moment: das der Menschendarstellung, der
Charaktergestaltung. Auch hier ist es sehr lehrreich, einen Rückblick von einer
späteren Warte auf die Anfänge zu werfen, insbesondere wenn in reiferen
Gebilden noch gewisse Überreste früherer Traditionen, wenn auch nicht im
Sinne eines bewußten Historismus, aufbewahrt geblieben sind. Es ist schon
oft aufgefallen, wie schroff Aristoteles die Priorität der Handlung vor den
Charakteren im Drama betont: »Denn die Tragödie ist die nachahmende
Darstellung nicht von Personen, sondern von Handlung, von Leben in Glück
und Unglück 1 2.« Und er betont in den folgenden Sätzen den Primat des
Handelns im Leben mit großer Energie. Unmittelbar - praktisch wie
theoretisch für die spätere Entwicklung - folgt daraus, daß im Drama die
Handlung die Charaktere und nicht umgekehrt bestimmt und zum Aus¬
drude bringt. Wenn wir jedoch diese Betrachtungen von Aristoteles nicht in
bezug auf ihre spätere Entwicklung, sondern als Rückblick auf die Entwick¬
lung der Kunst ins Auge fassen, so zeigen sie, daß alle mimetischen Gebilde,
aus denen sich das Drama allmählich herausentwickelt hat, notwendig mit
Handlungen ohne Charaktere (in unserem Sinn) operiert haben, daß die
Charakterzeichnung als Aufgabe der Kunst ein relativ spätes Produkt ihrer
Entfaltung ist, dessen Wachstum starke Hemmungen überwinden mußte. Das
entspricht durchaus der Überlieferung, daß die Tragödie sich aus dithyram¬
bischen Chören entwickelt hat, daß ihre jambischen, eigentlich dramatische
Charaktere gestaltenden Teile später als die Chöre, aus ihnen entstanden
sind.
Hinter allen diesen Tatsachen steht aber etwas gesellschaftlich Wichtiges:
erstens, daß das soziale Substrat der Menschendarstellung, die Lebens-

1 Inwiefern der der Fabel zugrunde liegende Widerspiegelungstatbestand, ent¬


sprechend verallgemeinert und modifiziert, auch in einigen anderen Künsten eine
wichtige Rolle spielt, werden wir später sehen.
2 Aristoteles: Poetik, Kapitel VI.
396 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

tatsache, deren Widerspiegelung die dichterische Charakterzeichnung ist, in


primitiven Zuständen nicht vorhanden war, besser gesagt: sich in einem Sta¬
dium befand, in welchem seine mimetische Wiedergabe noch nicht in Betracht
kommen konnte. Natürlich waren die Menschen auch einer solchen Gesell¬
schaft individuell verschieden; mehr oder weniger geschickt, standhaft, tap¬
fer, ehrlich oder verlogen etc.; diese Eigenschaften kamen jedoch nur inso¬
fern in Betracht, als sie für die Gemeinschaft nützlich oder schädlich waren.
Wie sie sich - nach unserem Gefühl, das für diese Periode noch nicht gilt -
im »privaten« Verkehr der Menschen untereinander auswirkten, repräsen¬
tiert jedoch kein öffentlkhes Interesse. Es konnte also eventuell in seinen Wir¬
kungen dargestellt werden, ohne daß seine psychologisch-moralische »Ab¬
leitung«, die individuelle Charakteristik der Gestalt zum allgemeinen Be¬
dürfnis geworden wäre. Das Bedürfnis - sowohl im Leben wie in seiner
Widerspiegelung - nach einer individuellen Charakterisierung taucht erst
mit den Konflikten auf, die aus den Beziehungen von Individuen und Ge¬
sellschaft entspringen; also in einer viel späteren Periode, nach der Auflösung
des Urkommunismus. Und die Entwicklung des griechischen Dramas zeigt,
wie langsam auch diese Kollisionen zu einem Interesse an individueller Cha¬
rakterisierung führten. Jedenfalls zeigt sich - als Ergänzung des hier An¬
gedeuteten - daß die Kollision einerseits eine fundamentale Kategorie der
literarischen Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, sie vollzieht die eigent¬
liche Loslösung der Literatur aus ihrer ursprünglichen Einheit mit Tanz, Ge¬
sang etc.; andererseits daß auch eine solche, derart grundlegende Kategorie
nicht am Anfang steht, sondern das Produkt einer relativ fortgeschrittenen
gesellschaftlichen Entwicklung ist. Das bewahrheitet die Richtigkeit unserer
früheren Darlegung über den Mythos des »angeborenen« Charakters des
ästhetischen Verhaltens zur Wirklichkeit an einem konkreten Fall. Die ge¬
naue Ausführung der hier entstehenden konkreten Probleme ist wiederum die
Aufgabe des historisch materialistischen Teils der Ästhetik.
Zweitens kann man hier die Entstehung einer anderen fundamentalen Kate¬
gorie der Ästhetik verfolgen: die des Typischen. Jene Konzentration in der
Widerspiegelung der Begebenheiten des Lebens, die, wie wir gesehen haben,
schon mit der rein magischen Mimesis unzertrennbar verknüpft ist, kann
nur dann wirksam werden, wenn solche Geschehnisse und Reaktionen auf
solche Momente des Lebens hin ausgewählt und gruppiert werden, die die
Menschen sofort, unmittelbar als Abbilder des betreffenden Teils aus ihrem
Leben zu apperzipieren imstande sind. In diesen Bedürfnissen, worin das
später bewußt gewordene »tua res agitur« in magischer Hülle auftritt,
Magie und Mimesis 597

ist auch der Ansatz zum Typischen im Keime enthalten. Freilich wie wir es
oben in bezug auf die Handlung sehen konnten, noch ohne jene innere, frucht¬
bare Widersprüchlichkeit, die aus der widersprüchlich organischen Einheit,
von Typischem und Individuellem in den Charakteren entspringt. Darum
muß in diesem Anfangsstadium sowohl jener Spielraum für die Bewegung
der Widersprüche innerhalb des Typischen vom Durchschnittlichen bis zum
Exzentrischen, die aus der dialektischen Einheit des Individuellen und des
Typischen entspringen, fehlen, wie die dadurch bedingte freie künstlerische
Auswahl aus den widerspruchsvoll typischen Erscheinungen des Lebens, die
in der entwickelten, selbständig gewordenen Kunst so vielfältige Formen der
Problematik hervorruft. In der primitiven Typik erscheint bloß die ge-
sellsdhaftlidie Seite der späteren Einheit der Widersprüche und zwar, unse¬
ren früheren Darlegungen entsprechend, mehr als das Typische von Situatio¬
nen und Begebenheiten als das von Charakteren. Natürlich müssen audi diese
letzteren ein Minimum an Individualisiertheit besitzen; schon die persön¬
lichen Eigenschaften der beteiligten Tänzer etc. besorgen dies. Aber dieses
Minimum löst sich im gesellschaftlichen Charakter des Typischen restlos auf.
Die Grundlage ist natürlich der bereits angegebene soziale Zustand. Dieser
findet in den damals möglichen Widerspiegelungsformen einen ihm angemes¬
senen Ausdruck. Denn es ist auch aus der späteren künstlerischen Entwick¬
lung heraus evident, daß Tanz und tänzerische (halbtänzerische) Gebärden,
gesungene Verse, Musik etc. weitaus weniger individualisieren können und
müssen als das rein und bloß gesprochene Wort. Es ist kein Zufall, daß die¬
ses ein viel späteres Produkt der Entwicklung ist, ebensowenig ist es ein
Zufall, daß der Tanz - in der Hauptlinie seiner Entwicklung - auf dieser
Stufe der Typisierung verharrt, und sich als selbständige Kunstgattung kon¬
stituiert.
Aber bereits diese Eigenart der primitiven Typik, die aus der magischen
Praxis mit spontaner Notwendigkeit herauswächst, enthält in sich Keime der
Divergenz zwischen Magie und Kunst. Ursprünglich fallen wohl beide Be¬
dürfnisse restlos zusammen. Das Auseinanderstreben der beiden Tendenzen
kann erst beginnen, wenn die gesellschaftliche Entwicklung Kollisionen zwi¬
schen Individuum und Gesamtheit produziert, was natürlich, als typische
Erscheinung, nur mit dem Zerfall des Urkommunismus, mit der Entstehung
der ersten Klassendifferenzierung einsetzen kann. Gewisse objektive Momente
eines Auseinanderstrebens treten freilich früh ein. Denn so stabil und -
scheinbar - unveränderlich primitive Gesellschaften auch sein mögen, das
noch so langsame Wachsen der Produktivkräfte führt doch neue Momente ins
398 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Leben, in die Beziehungen der Menschen zueinander, in ihr Verhältnis zur


Natur ein. Diese drücken sich darin aus, daß die magisch darzustellenden
Inhalte solche Momente sich spontan einverleiben und sei es audi nur in
der Weise, daß bestimmte alte Mythen - eventuell ganz spontan und un¬
bewußt - neu interpretiert werden. Da es nun zum Wesen der ästhetischen
Form gehört, Form eines bestimmten Inhalts zu sein, da in der beabsichtig¬
ten evokativen Wirkung der magisch-mimetischen Gebilde diese Eigenart
des Ästhetischen - freilich spontan und unbewußt - implicite enthalten ist,
entstehen notwendigerweise Bewegungen in der Richtung der inhaltlichen
wie formellen Rezeption des Neuen. Magie ist aber stets und streng zeremo¬
niell. Die mimetischen Gebilde sind von der magischen Seite immer als Zau¬
ber, als Ritus gemeint. Die Tendenz: Töne, Worte, Gebärden rituell zu fixie¬
ren, folgt zwangsläufig aus dem magischen Vorstellungskreis, in welchem die
objektiven Ergebnisse, die durch den Ritus erreicht werden sollen, das Be¬
herrschen oder Beeinflussen der transzendenten Mächte, an bestimmte Worte,
Gebärden etc. in einer bestimmten Reihenfolge gebunden sind. Wir werden
auf den daraus folgenden Kampf zwischen Magie und Kunst später zu spre¬
chen kommen. Hier sei nur so viel bemerkt, daß die magische Leitung die
Tendenz hat, das primitiv Typische zum Konventionellen, zur streng
fixierten Tradition erstarren zu lassen. Dabei ist es schon aus diesen Dar¬
legungen ersichtlich, daß die strenge Gebundenheit, das Ritenhafte und
Zeremonielle der magischen (und religiösen) Intentionen aus deren Bin¬
dung an eine Transzendenz folgt. Unmittelbar und anfangs fallen die beiden
magischen Zwecksetzungen: Beeinflussen der transzendenten Mächte und un¬
mittelbar evokative Wirkung auf die Rezeptivität der Menschen zusammen.
Erst später, in den geschilderten Konfliktsfällen, die mit dem Eindringen
neuer Inhalte und in ihrer Folge von neuen Formen entstehen, treten Ten¬
denzen der Trennung dieser beiden Momente auf: die evokative Intention
ist naturgemäß, schon um der spontanen Wirkung willen zur Aufnahme des
Neuen, inhaltlich wie formal, bereit, dagegen muß die auf Transzendenz ge¬
richtete darauf dringen, die traditionell geheiligten Inhalte und Formen der
Widerspiegelung und Darstellung möglichst unverändert aufzubewahren,
denn die Wirkung auf die transzendenten Mächte ist ja an bestimmte Inhalte
und vor allem an die bestimmten Formen der Widerspiegelung und Dar¬
stellung des Lebens gebunden. Das Erstarren ins Konventionelle hat hier seine
Wurzel, keineswegs in irgendeinem »Kunstwollen«, das als solches noch gar
nicht vorhanden sein konnte, das sich höchstwahrscheinlich aus diesem Zwie¬
spalt, aus dem dialektischen Zerfallen der ursprünglichen - an sich ursprüng-
Magie und Mimesis 3 99

lieh widerspruchsvollen — Einheit herausentwickelte. Ob und wann dabei


neben den rituell-konventionellen mimetischen Gebilden auch volkstümliche
entstehen, in denen sich bereits eine diesseitige Freude an dem Abbilden der
Wirklichkeit der Menschen für den Menschen ausspricht, ob und wann sich die
Kunst als selbständige Gestalt des gesellschaftlichen Lebens herausbildet, ob
und wann ein Kompromiß zwischen Evokation und Konvention zustande
kommt, etc. etc.: sind Fragen, auf die nur von einer historisch materialisti¬
schen Ästhetik geleitete Einzelforschungen befriedigende Antworten werden
geben können. Für unsere Zwecke genügt das bloße abstrakte Vorzeigen
der hier zutage tretenden Divergenz, um diese als Etappe, als Moment der
philosophischen Genesis der Kunst zu begreifen.
Um diese Genesis nun nicht eingleisig, aus einem einzigen Widerspruch ab¬
zuleiten, sondern in der Richtung auf Vielseitigkeit des Gegenstandes vor¬
zuschreiten, müssen wir wieder auf das Stadium vor dem Zutagetreten der
Divergenz zurückgreifen und das Moment der Evokation einer eingehenderen
Analyse als bisher unterwerfen. Das nächste Problem, das wir jetzt ins Auge
fassen müssen, ist der dialektische Zusammenhang der Evokation mit dem
Mimetischen. Den Ausgangspunkt bildet zweifellos die Nachahmung als die
primitivste Form, der ursprünglichste Ausdruck von Elementartatsachen im
Verkehr des Menschen mit der Wirklichkeit. Und zwar sowohl im subjekti¬
ven wie im objektiven Sinn. Objektiv, indem die Widerspiegelung der Vor¬
gänge der Wirklichkeit unerläßlich für das Erhalten des Lebens ist. Subjek¬
tiv - und hier tritt die primitive Nachahmungsform der Wirklichkeit zum
erstenmal deutlich hervor -, indem das Kopieren »eingearbeiteter«, bewähr¬
ter Reaktionsformen auf die objektive Wirklichkeit die Fertigkeiten des
Lebewesens im Kampf für seine Existenz ausbildet, fixiert, unter Umstän¬
den auch steigert. Darum muß diese primitivste Form der Nutzbarmachung
des Widergespiegelten schon im tierischen Leben auf treten; so insbesondere, wie
bereits erwähnt, in den Spielen junger Tiere. Man kann hier sogar be¬
stimmte Distanzierungsmomente, die später im Leben der Menschen, in der
Mimesis ausschlaggebend werden, keimhaft feststellen. Es sind weniger die
offenbar sichtlichen Lustgefühle, die das Spielen erweckt - obwohl auch
darin die Spuren der Verbindung von Nachahmung und Evokation der Lust¬
gefühle vorhanden sind denn diese entspringen offenbar aus einer un¬
mittelbaren Freude an der eigenen erworbenen Geschicklichkeit, sind also un¬
zertrennlich an den Akt des Spieles gebunden. (Der Grad der Lebensnähe im
Spiele zeigt sich auch bei vielen Spielern, die bei Verlust etc. beim Spiel,
auch wenn es sich nicht um materiellen Verlust handelt, ebenso in Wut geraten,
400 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

ebenso depressiv affiziert werden, etc. können, wie bei realen Begeben¬
heiten des realen Alltagslebens; wenn man zu sagen pflegt, daß zum richtigen
Spiel, zum schmerzlosen Verlierenkönnen, etc. eine gewisse Kultur gehört,
so hat man diese vom Leben wenig scharf distanzierte Seite des Spiels richtig
gekennzeichnet.) Wichtiger ist die Distanz in der spielerischen Nachahmung
selbst; wenn etwa spielende Hunde das Beißen nur markieren, aber nicht
wirklich beißen etc., so zeigt das eine gewisse - instinktive - Abgrenzung
zwisdren nachgeahmter Wirklichkeit und widergespiegelter Nachahmung an,
und damit zugleich die dadurch zustande gekommene Evokation bestimmter
Gefühle.
In der Welt des Menschen geht aber die Nachahmung über diese Unmittel¬
barkeit hinaus. Es wird zwar oft auch auf entwickelter Stufe direkt nach¬
geahmt, jedoch auch diese direkte Nachahmung weist über ihre Unmittelbar¬
keit hinaus, strebt einer gewissen - sinnlich bleibenden — Verallgemeinerung
zu. Das spielerische Einüben wird zum Nebenprodukt, besser gesagt, einer¬
seits zur Voraussetzung, indem etwa gerade jene am Kriegstanz teilnehmen,
die alle dazugehörigen Bewegungen bereits am besten beherrschen, anderer¬
seits ist die Beziehung auf die zukünftige Wirklichkeit, in welcher aus dem
Spiel der Ernst des Lebens wird, keine instinktiv-unbestimmte, sondern
auf ein ganz bestimmtes kommendes Ereignis bezogen, z. B. auf eine be¬
stimmte bevorstehende Kriegshandlung. Diese Konkretheit beinhaltet aber
eine Verallgemeinerung höherer Art als die bloß instinktive, unbestimmte
Bezogenheit auf das Leben im allgemeinen. Natürlich liegt eine Verallge¬
meinerung schon auf sehr niedrigen Stufen vor: das fixierte Gefühl einer Ana¬
logie. Ob das Analogisieren bloß gefühlsmäßig bleibt, oder ob bereits von einer
gewissen Begrifflichkeit her zwei Gegenstände (Vorgänge) miteinander in
Verbindung gesetzt werden, die unmittelbar-äußerlich einander mehr oder
weniger ähnlich sind - ist doch der Kriegstanz eine Widerspiegelung, eine
Nachahmung der wirklichen Schlacht - ändert nichts an der analogisie-
renden Abenteuerlichkeit und Unfundiertheit des aus ihm gezogenen Schlus¬
ses: daß der in der Widerspiegelung erfochtene Sieg den in der Wirklich¬
keit herbeizuführen berufen ist.
Diese Struktur zeigt sich in der ganzen magischen Theorie und Praxis der
Nachahmung. Frazer gibt darüber eine gute und plastische Beschreibung:
»Durch seine Unkenntnis der wahren Ursachen der Erscheinungen irregelei¬
tet, glaubt der primitive Mensch, daß er die großen Phänomene der Natur,
von denen sein Leben abhängt, nur nachzuahmen braucht, um sie hervorzu¬
bringen, und daß sofort durch eine geheime Sympathie oder mystische
Magie und Mimesis 401

Beeinflussung das kleine Schauspiel, das er im Waldesschatten, in der Berg¬


schlucht, auf einsamer Heide oder an sturmumtobter Küste aufführt, von
machtvolleren Darstellern auf einer größeren Bühne aufgenommen und wie¬
derholt wird. Er bildet sich ein, wenn er sich in Laub und Blüten kleidet, so
hilft er damit der kahlen Erde, sich mit Grün zu schmücken, und meint
durch sein Spiel vom Tod und Leichenbegängnis des Winters jene düstere
Jahreszeit wirklich zu verbannen, und dem leichten Schritt des einziehenden
Frühlings den Weg dadurch zu ebnen L« Es ist leicht, wie dies auch Frazer
tut, aufzuzeigen, wie ein solches Analogisieren sachlich völlig aus der Luft
gegriffen ist. Für uns ist es jedoch hier widitiger, weldie kategorialen Mo¬
mente der Weltauffassung dahinterstecken und wie es um deren Entwickel-
barkeit - vor allem in der Richtung auf das Ästhetische - bestellt ist. Da
müssen wir uns an das früher Dargelegte über Analogie und Analogieschluß
erinnern, denn daß derartige Verallgemeinerungen der unmittelbaren Nach¬
ahmungen auf Analogien basiert sind, braucht nicht nachgewiesen zu werden.
Hegel erblickt nun, wie früher gezeigt wurde, in der den Analogieschluß
verbindenden Mitte eine unmittelbare Einheit des Allgemeinen und des Ein¬
zelnen und begründet damit, richtig, seine problematischen Seiten vom Stand¬
punkt der Logik und der Wissenschaftlichkeit. Ganz anders steht diese
Frage, wenn wir den Gebrauch der Analogie in der magischen Praxis vom
Standpunkt der Genesis des Ästhetisdien in der Umhüllung der Magie be¬
trachten. Dann hat diese Struktur der Schlußform, die eine abgekürzte, ab¬
strahierende Fassung dessen ist, was bei solchen - verallgemeinerten - Wi¬
derspiegelungen real vorhanden ist und vor sich geht, deutlich zwei Seiten.
Einerseits das gedankliche Ordnen, das inhaltliche Erfüllen in der magi¬
schen Praxis, in welcher die logische Problematik sich zweifellos auswirken
muß, jedoch, infolge der niedrigen Stufe des gesellschaftlichen Seins und Be¬
wußtseins so langsam, daß sie auf das tatsächliche Funktionieren solcher
magischen Nachahmungen kaum einen wahrnehmbaren Einfluß haben kann.
Andererseits ist die Nachahmung selbst da, unmittelbar in ihrer sinnlich¬
dynamischen Konkretheit, als die eines einzelnen Geschehens, Vorgangs etc.,
die jedoch zugleich in ihrer Gesamtheit etwas anderes, Höheres, Allgemeine¬
res bedeuten oder wenigstens auf ein solches hinweisen. Und zwar in einer
solchen Weise, daß die Bedeutung, der Hinweis nicht unbedingt als abstrakte
Verallgemeinerung erscheint, daß vielmehr der sinnlich-konkrete Vorgang

1 Frazer: a. a. O. S. 467.
402 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

als solcher die Bedeutung in sich enthalten soll. Es ist klar, daß, wenn wir
mit Lenin in den Schlußformen eine Widerspiegelung der allgemeinsten Be¬
stimmungen realer, sich konkret wiederholender Tatbestände erblicken, hier
in unmittelbar-sinnlicher Erscheinungsweise dasselbe widergespiegelt wird, was
das logische Wesen des Analogieschlusses ausmacht: eben die unmittelbare
Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit. Diese letzhinnige Identität des
Inhalts bedingt, daß auch die diese formenden Kategorien dieselben sein
müssen. Die entscheidende Divergenz setzt darin ein, daß die Kategorien,
ihre Relation zueinander, ihr Verhältnis im geformten Inhalt neue Funk¬
tionen und mit ihnen neue Strukturverhältnisse erhalten.
Wenn wir nun auf dieses Neue reflektieren, so sehen wir, daß eine solche
unmittelbare Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen sich hier nur durch
die notwendige, aus dem Wesen der Inhalt-Form-Verbindung folgende evo-
kative Intention der Mimesis verwirklichen kann. Denn im strikten Sinne
der Unmittelbarkeit ist auch in diesem Fall nur das Einzelne gegeben. Daß
in seiner mimetischen Abbildung das Allgemeine miterlebt wird - etwa
in Frazers Beispielen der Zusammenhang des Jahreszeitwechsels mit solchen
unmittelbar menschliche Vorgänge nachahmenden Darstellungen -, ist teil¬
weise eine Folge der magischen Weltauffassung und ihres Verkündigtseins, teil¬
weise aber und gerade im unmittelbaren Erlebnis, die der evokativen Wir¬
kung der mimetischen Formen. Diese beiden Seiten sind natürlich nur durch
gedankliche Analyse voneinander sauber zu trennen, im unmittelbaren Er¬
lebnis fließt jedes Moment ins andere über, sie verstärken sich gegenseitig in
diesem gelebten Einswerden.
Die Analyse darf jedoch bei dieser unmittelbaren Vereinigung nicht stehen¬
bleiben. Die strukturelle Tatsache, daß es sich um die unmittelbare Einheit
des Einzelnen mit dem Allgemeinen handelt, hat für das historische Schicksal
der Mimesis außerordentlich weittragende Konsequenzen. Vor allem haben
wir es mit einer mimetischen Struktur zu tun, die für das spätere Schicksal
der Kunst von außerordentlicher Wichtigkeit ist: mit der Allegorie. Soll
diese näher begrifflich bestimmt werden, so müssen wir wieder die oben be¬
stimmte Einheit der Identität und der Verschiedenheit ins Auge fassen. Daß
das Einzelne hier mit dem Allgemeinen unmittelbar identisch sein soll, gibt
ihm einen neuen Akzent seiner gewöhnlichen Erscheinungsweise gegenüber:
es erhält, ohne seine Einzelheit als solche aufzugeben, eine starke Bedeutungs-
belastetheit. Eine Tendenz dazu ist notwendigerweise schon in der Alltags¬
wirklichkeit vorhanden. Denn sonst wäre diese - in ihrer Erlebtheit - ein
zusammenhangloses, pulverisiertes Chaos. Es ist nur rein formallogisch
Magie und Mimesis 403

möglich, solche Einzelheiten durch rein gedankliche Relationen miteinander


zu verbinden, sie dadurch begreifbar zu machen. Wenn im Alltag die Bezie¬
hung nicht auf die Gegenstände selbst, die sie verknüpft, irgendwie abfärben
würde, wäre kein unmittelbares Wissen, kein alltäglidies Denken möglich.
(Wieweit dieses problematisch ist, steht hier nicht zur Diskussion.) Auch
wäre eine evokative Wirkung der mimetischen Gebilde nicht möglich, könnte
sie nicht auf eine so entstandene Bereitschaft zur Apperzeption der bedeu¬
tungsbelasteten Einzelheit rechnen. Die mimetisch entstandene quantitative
Steigerung bringt jedoch auch hier eine neue Qualität hervor: eine weitaus
stärkere Konkretheit jener Bedeutung, die die Einzelheit als Einzelheit un¬
mittelbar an sich trägt, und zugleich eine weitere, weiterverzweigte Verall¬
gemeinerung, eine unmittelbare Verbindung mit zumindest einer wichtigen
Macht des Lebens. Erst eine derart intensiv bedeutungsbelastete Einzelheit kann
mit der Allgemeinheit unmittelbar identisch erlebt oder gedacht werden.
Dieses Zusammenfallen der beiden Momente darf aber ihre Differenz, ihr
Auseinandergehen innerhalb der unmittelbaren Einheit nicht verdecken, denn
beide gehören nicht nur zusammen, sondern auch ihr Konvergieren und Di¬
vergieren hat einen hohen Grad der Simultaneität. Das noch so bedeutungs¬
belastete Einzelne ist nämlich an sich doch nicht das Allgemeine in seiner be¬
stimmten Begrifflichkeit, wo es allein beheimatet ist, und dieses mag sich noch
so sehr ins Sinnliche konkretisieren, es kann doch nie unmittelbar zum schlich¬
ten hic et nunc des Einzelnen herabsteigen. Dieses bewegte Auf und Ab
zwischen Identität heterogener Momente und ihrer Verwandtschaft gerade
im Akt des Entfernens bringt ihre lebendige Bewegtheit in der evokativen
Wirkung solcher allegorisch-mimetischen Widerspiegelungen der Wirklich¬
keit hervor. Goethe hat diese Wesensart der Allegorie sehr deutlich emp¬
funden und so ausgesprochen: »Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in
einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer
noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben
auszusprechen sei b«
Das bezieht sich jedoch auf einen gesellschaftlich-kulturellen Zustand, in
welchem sowohl die mimetische Erscheinungsform der Allegorie wie ihr
transzendentes Objekt gleicherweise nacherlebbar sind, in welchem die oben
beschriebene Bewegung wirklich als unmittelbare Einheit des Allgemeinen
und des Einzelnen wirkt. Darin steckt jedoch das aus ihrem eigenen Wesen

1 Goethe: Maximen und Reflexionen, a. a. O. Bd. XXXV. S. 325 f.


404
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

entspringende innere Zersetzungsprinzip der Allegorie. Wenn Hegel die


Allegorie kahl und frostig nenntx, so drückt er damit ebenso genau ihren
negativen Wirkungspol aus, wie Goethe ihren positiven bestimmt hat. Diese
Negativität entsteht aus historischer Notwendigkeit, sobald die Entwicklung
der Gesellschaft, ihre Veränderung, der im mimetischen »Schluß« enthaltenen
Allgemeinheit den unmittelbar-evokativen Charakter nimmt, diese entwe¬
der zum totalen Verschwinden bringt, oder wenigstens, wenn sie bekannt
bleibt, zur bloßen Begrifflichkeit verblassen läßt. Die dieser Verbindung be¬
raubte bedeutungsbelastete Einzelheit kann unter Umständen bis zu einem
gewissen Grade evokativ wirkend bleiben, es fehlt ihr jedoch der krönende,
der Rundheit und Vollendung bringende Abschluß; sie ragt gewissermaßen
ins Leere; mit dem Unverständlichwerden der ihr transzendenten Allge¬
meinheit ergänzt sie sich in eine wirkliche Transzendenz, ins Nichts. Natür¬
lich spielt sich dieser Prozeß bei verschiedenen mimetischen Gebilden ver¬
schieden ab. Die, wie wir gesehen haben, ebenfalls abbildende, und der ur¬
sprünglichen Absicht nach sicher in den meisten Fällen allegorische abstrakte
Ornamentik bleibt von diesem Sinnverlust für den späteren Betrachter so
gut wie unberührt. Bei echt mimetischen Gebilden gibt es eine große Skala
der Übergänge zwischen vollem Leerlauf und fast ungestörtem Wirksamblei¬
ben. (Über die ästhetischen Probleme der Allegorie wird im letzten Kapitel
die Rede sein.)
Art und konkrete Gründe der hier entstehenden Varietät gehören nicht hier¬
her, sie sind ein Problem des historisch-materialistischen Teils der Ästhetik.
Hier soll nur, abstrahierend auf ein Moment hingewiesen werden, worin ein
weiterer Schritt zur Genesis des Ästhetischen philosophisch sichtbar wird. Die¬
ser Schritt geht sowohl über die bloße Einzelheit wie über die abstrakte Allge¬
meinheit und auch über die unmittelbare Einheit beider hinaus. Er gelangt da¬
hin, daß die Einzelheit nicht mehr bloß bedeutungsbelastet wird, sondern
bedeutungserfüllt, daß die Allgemeinheit aufhört ein transzendentes, inten¬
tionales Objekt der Einzelheit zu sein, sondern diese in allen ihren Poren
durchdringt, allen ihren Atomen innewohnt, daß also aus der bloß unmittel¬
baren Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen ihre reale, organische, zur
neuen Kategorie gewordene Einheit wird: die Besonderheit. Erst wenn die¬
ser Prozeß vollendet wird, hat sich das Ästhetische als wirkliches, selbständi¬
ges Prinzip der Menschheitsentwicklung konstituiert. Hier, wo wir noch die

1
Hegel: Ästhetik, Werke, a. a. O. X. I. S. 513 f.
Magie und Mimesis 405

Wege der Genesis philosophisch aufzudecken versudren, kann dieses Problem


nur als Perspektive aufgeworfen werden. Seine Analyse und Konkretion ge¬
hört einem weiteren Stadium unserer Betraditungen an. Es mußte aber we¬
nigstens als Perspektive am Horizont erscheinen, damit sichtbar werde, wie
die das Ästhetische vorbereitenden Kategorien und Verhaltensarten aus
bestimmten Momenten der magischen Praxis herauswadisen; nur die
klare Sicht ihres Wohin kann ein Licht auf das Dunkel des Woher werfen.
Denn erst hier kann siditbar werden, wie die unzertrennbare Verknüpft-
heit des Evokativen mit dem Mimetischen eine radikal neue Art der Weltbe¬
trachtung der Widerspiegelung hervorbringt, eine andere als die wissenschaft¬
liche, aber eine gleichwertige: beide widerspiegeln dieselbe Wirklichkeit, ihre
Inhalte und die diese formenden Kategorien müssen also letzten Endes eine
Identität besitzen. Jedoch die neue Objektivität, die als evokative Wider¬
spiegelungsform auf den ganzen Menschen bezogen ist, schafft eine originelle
Umarbeitung, Umgruppierung dieser Kategorien, hilft vorhandene, verbor¬
gene (auch vor der Wissenschaft verborgene) Inhalte zu entdecken und auch
die bereits entdeckten in neuer Beleuchtung erstrahlen zu lassen.
Nachdem wir hier weit vorausgeeilt sind, um bestimmte Zusammenhänge
zwischen Alltagsleben und Genesis der Kunst richtig beschreiben zu können,
kehren wir zu den Phänomenen des ersteren zurück. Wir haben bereits bei
verschiedenen Gelegenheiten sehen können, daß die Evokation ein wichtiger
Faktor des Alltagslebens der Menschen ist. Es gibt eine unübersehbare Man¬
nigfaltigkeit der gesellschaftlichen - und innerhalb ihres Bereiches der indi¬
viduellen - menschlichen Beziehungen, in denen sie eine unentbehrliche, eine
ausschlaggebende Rolle spielt. Und zwar nicht nur dort, wo Erscheinungen in
der Natur, Begebenheiten des gesellschaftlichen und individuellen Lebens
solche Wirkungen spontan, unbeabsichtigt, hervorbringen, sondern auch als
bewußt angewandtes Mittel, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Wir ver¬
weisen dabei bloß auf die - sicher sehr frühen - Versudie, die Mitmenschen
für irgendeine Absicht zu gewinnen, eine Lebensäußerung, aus welcher später
die forensische Rede, die Kunst der Rhetorik, etc. herausgewachsen sind; es
ist eine elementare Lebenstatsache, daß das gegenseitige Beeinflussenwollen
der Menschen sich nicht auf eine rein verstandesmäßige Argumentation be¬
schränken kann, daß vielmehr ein wechselseitiges Sichunterstützen von ar¬
gumentativen und evokativen Momenten den normalen Gang der Über¬
redung ausmacht; bei beiden kommen sicherlich Anwendungen der Mimesis
mehr oder weniger häufig vor, vor allem zur Steigerung der evokativen
Wirkungen.
40 6 Die Entstehung der ästhetischen WiderSpiegelung

Die enge Verbindung des Evokativen und des Mimetischen im Alltagsver¬


kehr der Menschen hat zur Grundlage jene Ausbildung der Sinne, über welche
wir in Verbindung mit den Wirkungen der Arbeit auf die Weltauffassung
des Menschen bereits gesprochen haben. Wir verweisen nur auf zwei ent¬
scheidend wichtige Faktoren. Da ist erstens die Bewegungsphantasie. Ihre
Ausbildung macht die Menschen nicht nur geschickter in ihren tagtäglich
notwendigen Verrichtungen, sondern macht sie auch dazu fähig, bei der bloßen
Andeutung z. B. einer Gebärde, deren späteren Ablauf in der Phantasie er¬
lebend vorwegzunehmen, um gar nicht davon zu sprechen, daß die Nach¬
ahmung eines Bewegungsvorgangs imstande ist, diesen selbst in der Phanta¬
sie des Zuschauers evokativ zu reproduzieren. Dasselbe bezieht sich natür¬
lich auch auf Geräusche, auf die Bezeichnung bestimmter Aktionen durch
Worte etc. Auch hier ist die Dialektik von Erscheinung und Wesen wirksam.
Je entwickelter die Bewegungsphantasie ist, desto entferntere und weiter¬
entwickelte Erscheinungen können auf einem solchen Wege zu unmittelbar
und evokativ wirkenden Erlebnissen werden.
Zweitens muß hier kurz über die - ebenfalls durch die Arbeit entwickelte
- Arbeitsteilung der Sinne gesprochen werden. Wir haben früher gesehen,
wie z. B. Wahrnehmungen von ursprünglich (ihrer unmittelbar angesehen
natürlichen Eigenart nach) den Tastempfindungen entsprechenden Eigenschaf¬
ten der Dinge, wie z. B. Schwere, allmählich rein visuell apperzipiert wer¬
den können. Die sogenannten höheren Sinne, Gesicht und Gehör erhalten da¬
durch - im Gegensatz zu den anderen Sinnen - eine Tendenz auf Univer¬
salität, die weit über den Bereich der Arbeit hinausgeht. Der ausgebildete
Verkehr der Menschen miteinander, die in diesem Verkehr sich entfaltende
Menschenkenntnis stützen sich weitgehendst auf eine Weiterbildung dieser
Arbeitsteilung der Sinne, auf diesen tendentiellen Universalismus von Ge¬
sicht und Gehör. Denn hier entwickelt sich die Fähigkeit, Problemkomplexe,
die für den menschlichen Verkehr unentbehrlich sind, nunmehr nicht bloß
durch Vergleich der Aussagen mit der Realität, durch gedankliches Durch¬
arbeiten der Erfahrungen etc. zu beurteilen, sondern solche Erfahrungen un¬
mittelbar visuell und auditiv zu machen. (Natürlich geht zeitlich-historisch
das letztere dem ersteren vor.) Wenn jemand, um ein recht einfaches Bei¬
spiel anzuführen, seinem Gesprächspartner sagt: ich sehe Dir an, daß Du
lügst, oder: ich höre, daß Du die Unwahrheit sagst, so steckt hinter die¬
sem, alltäglich und trivial gewordenen Tatbestand eine ins äußerste aus¬
gedehnte Universalität des menschlichen Gesichts und Gehörs. Und zwar
nicht bloß eine Verfeinerung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit. Eine solche ist
Magie und Mimesis 407

auch bei den anderen Sinnen möglich, bei diesen jedoch nur innerhalb ihrer
eigentlichen angeborenen Funktionen im körperlich-seelischen Haushalt des
Menschen. Natürlich entwickelt sich auch hier mit der Verbreiterung der
Kultur die Möglichkeit einer Ausdehnung der unmittelbaren Wahrnehmun¬
gen auf fernerliegende Gebiete. Es ist z. B. möglich, durdi Riechen (etwa
eines Parfüms) festzustellen, daß eine Frau unter dem Einfluß einer bereits
vergangenen Mode steht. Aber dazu muß man - außerhalb des Bereichs des
Riechens — wissen, wie die herrschende Parfümmode ist und die Verknüp¬
fung ist deshalb bloß assoziativ, eine an die Sinneswahrnehmung sich anschlie¬
ßende gedankliche Feststellung. Die Geruchs- und Geschmacks-»Symphonien«
von Huysmans sind also abstrakte, hohle und dekadente Phantastereien, die
mit dem Wesen des Ästhetischen nichts zu tun haben.
Die Universalität von Gesicht und Gehör führt dagegen dazu, daß wir Phä¬
nomene visuell und auditiv wahrnehmen, die unmittelbar weder gesehen
noch gehört werden können; genauer gesagt: im menschlichen Gesicht und
Gehör bilden sich Empfindungsfähigkeiten aus, mit denen im visuellen bzw.
auditiven Medium sehr weit vermittelte, sehr weitliegende Gegenständlich-
keits- und Ausdrucksformen für Gesicht und Gehör nicht nur apperzipier-
bar, sondern schon in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit spontan deutbar
und bewertbar werden. Es bedarf keiner ausführlichen Erklärung, daß die
hier angedeutete Menschenkenntnis von der Praxis des Alltagslebens, deren
Bedürfnissen entsprechend, ausgebildet wird. Es ist ebenfalls evident, daß
die so entstandenen Widerspiegelungen der Wirklichkeit evokativen Charak¬
ters sind oder zumindest auch Elemente der Evokation mitenthalten. Da sie
aus der Alltagspraxis entstehen, müssen sie einerseits eine Tendenz zur an¬
nähernden Übereinstimmung mit der objektiven Wirklichkeit haben; natür¬
lich innerhalb der Grenzen dieser Fähigkeiten im Alltagsleben überhaupt,
sogar — im individuellen Leben — vielleicht mit noch größeren Fehler¬
quellen, als bei anderen Widerspiegelungssphären des Alltags. Dazu muß na¬
türlich bemerkt werden, daß die Alltagspraxis, gerade wegen ihrer Unmit¬
telbarkeit, wenn auch oft langsam und ungleichmäßig, völlig falsche Abbil¬
dungen der Wirklichkeit doch aus sich ausmerzen muß. Andererseits und zu¬
gleich hat diese Art der visuellen oder auditiven, tendentiell universellen
Widerspiegelung einen inhärenten evokativen Charakter. Wenn im früher
gegebenen Beispiel das Lügen des Gesprächspartners visuell oder auditiv fest¬
gestellt wird, so ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Gefühls¬
reaktion nicht etwas daran bloß assoziativ oder gedanklich Angeknüpftes,
sondern entspringt unmittelbar aus der sinnlichen Wahrnehmung selbst, ist
408 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

deren integrierender Teil. Die objektive Tendenz auf Universalität, die wir
für Gesicht und Gehör festgestellt haben, hat auch eine entsprechende sub¬
jektive Kehrseite: es ist der ganze Mensch, mit allen seinen Gefühlen, Lei¬
denschaften, Gedanken etc., der die Tendenz hat, auf das ihm zugängliche
Ganze der Welt so zu reagieren.

III Das spontane Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen
Mimesis

Erst von hier aus läßt sich der allmähliche Prozeß der Ablösung des Mime¬
tisch-Ästhetischen, d. h. der differenziert und selbständig gewordenen ästhe¬
tischen Widerspiegelung der Wirklichkeit vom allgemeinen Boden des All¬
tagslebens begreifen. Um hier die ersten Übergänge im Sinne einer philoso¬
phischen Genesis klarzulegen, muß noch eine Bestimmung festgehalten wer¬
den, die freilich ihrem Ursprung nach ebenfalls dem Alltag angehört: das
bewußte Leiten der evokativen Elemente einem bestimmten Zwecke zu, ihr
wohldurchdachtes Kombinieren, Arrangieren, Steigern etc. in der Richtung
auf dieses Ziel. Es ist unschwer einzusehen, daß wir es hier mit einer ele¬
mentaren Tatsache des Alltagslebens zu tun haben b In jedem Gespräch, das
mit einer materiellen, geistigen oder moralischen Absicht verbunden wird,
wird das Gesagte dementsprechend aufgebaut, es wird versucht, die sinnliche
und intellektuelle Rezeptivität des Zuhörenden in die gewünschte Richtung
zu lenken. Diese Tendenz kann sich naturgemäß im Alltagsleben nicht un¬
gehindert entfalten. Vor allem, weil der menschliche Verkehr stets die Kreu¬
zung, das Sich-aneinander-Messen verschiedener, oft antagonistischer Bestre¬
bungen ist. Das von einem Individuum versuchte Leiten der Erlebnisse und
der Gedanken des anderen wird also immer wieder von den Mitbeteiligten
unterbrochen, abgelenkt, vereitelt, aus einem Angriff in eine Verteidigung ver¬
wandelt etc. Und als bloßes Mittel bestimmter, konkret-praktischer Zwecke
hat das Leiten vom Standpunkt des Alltagslebens seine Aufgabe mit einem
solchen faktischen Erreichen oder Verfehlen erfüllt oder es hat versagt. Hierin
liegt, vom Standpunkt der Alltagspraxis aus, sein alleiniges Kriterium. Natür-

1 N. Hartmann, der auf dieses Moment der Lenkung großes Gewicht legt, übersieht
die wirklichen Verbindungen und darum auch die editen Gegensätze zwischen
Alltagsleben und Kunst: Ästhetik, Berlin 1953, S. 58 ff.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 409

lieh kann auch hier die technische Vollendung, unabhängig von der kon¬
kreten Zweckerfüllung beurteilt werden; wir sprechen von geschickten,
schlauen, beredten, etc. Menschen und von ihrem Gegenteil. Aber auch in
diesem Falle bleibt das angegebene Kriterium in Geltung; wir meinen dies¬
mal, daß die positiv beurteilten Mittel unter »normalen« Umständen ihren
Zweck erreicht hätten, bei den negativ eingeschätzten dagegen betrachten
wir den eventuell faktisch verwirklichten Zweck als Produkt eines günstigen
Zufalls.
Dazu kommt, daß im menschlichen Verkehr notwendigerweise Argumenta¬
tion und Evokation je nach Zweck, Lage etc. ununterbrochen sich abwech¬
seln, einander ablösen. Das Evokative und innerhalb seines Bereichs das
Mimetische ist nur eines der angewendeten Mittel, dessen Wert oder Unwert
- mit den eben angegebenen Beschränkungen - danach beurteilt wird,
wie effektiv es das Vollbringen der konkreten Absicht zu fördern imstande
ist. Welche dieser Komponenten, in welcher Proportion etc. angewendet
wird, ist eine rein pragmatisch-faktische Angelegenheit. Es ist darum kein
Zufall, daß, obwohl die Antike die äußerste Aufgipfelung solcher Tenden¬
zen des menschlichen Verkehrs, die forensische Beredsamkeit, als Kunst auf¬
gefaßt hat, die Rhetorik sich doch nie zu wirklichen Gesetzlichkeiten erheben
konnte; sie pendelt fast übergangslos zwischen den falschen Extremen eines -
oft sophistischen - Pragmatismus und einer - völlig abstrakten - All¬
gemeinheit hin und her.
Wie immer das Prinzip des bewußten Leitens der Evokation in den mime¬
tischen Gebilden entstanden sein mag, so ist einerseits sicher, daß eine relative
Ausbildung der obengeschilderten Tendenzen die unerläßliche Voraussetzung
der Entstehung und Wirkung eines solchen Leitens gewesen ist, andererseits
daß das neu entstandene, rein evokative Leiten einen qualitativen Sprung
gegenüber seinen Erscheinungsweisen im Alltagsleben bedeutet. Um diesen
Sprung, seinem wahren und konkreten Wesen nach zu begreifen, ist es un¬
bedingt notwendig, einige der hier entstehenden neuen Bestimmungen der
mimetischen Gebilde etwas näher ins Auge zu fassen. Die ausschlaggebendste
dieser Bestimmungen scheint auf den ersten Anblick eine reine Tautologie
vorzustellen: das mimetische Gebilde ist keine Wirklichkeit, sondern bloß
deren Widerspiegelung. Indessen löst sich der tautologische Charakter dieser
Aussage auf, wenn wir bedenken, daß der Rezeptive hier - und nur hier -
mit der Widerspiegelung und nicht mit der Wirklichkeit selbst konfrontiert
wird. Unmittelbar ist dies natürlich auch in der Alltagswirklichkeit so: in jeder
Mitteilung, die einen direkt oder indirekt mimetischen Charakter hat, wird
410 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

unmittelbar die Widerspiegelung (in Wort und Gebärden etc.) apperzi-


piert. Entscheidend jedoch ist, daß die Widerspiegelung in solchen Fällen so¬
fort mit der Wirklidikeit selbst konfrontiert wird und die Wirkung hört
augenblicklich auf, sobald dieser Vergleich ein Nichtübereinstimmen des Vor¬
bilds mit dem Abbild zeigt. Und zwar handelt es sich um den Vergleich einer
konkreten mimetischen Ausdrucksform, mit einem konkreten einzelnen Wirk-
lidikeitsstück, das es zu reproduzieren vorgibt. Der Sprung, dessen Wesen
wir hier untersuchen, besteht gerade darin, daß dieser unmittelbar-konkrete
Zusammenhang zwischen einem einzelnen Objekt der Widerspiegelung und
der ihm entsprechenden Wirklichkeit suspendiert wird. Damit wird die Ver¬
bindung mit der Wirklichkeit nicht abgerissen, denn bestimmte Vergleiche
zwischen den Details der mimetischen Gebilde und den allgemeinen Erfah¬
rungen des Rezeptiven werden ununterbrochen gezogen. Wenn dieses nicht
ununterbrochen und unmittelbar an solche Erfahrungen appellieren könnte,
wäre es um seine evokative Wirkung geschehen. Wesentlich ist jedoch, daß
im zweiten Falle es sich nicht um die eine oder andere reale Episode der Wirk¬
lichkeit (oder um deren Verknüpfung) handelt, sondern um ein konkretes
Ganzes, um ein Ensemble. Und der Rezeptive ist sich dessen bewußt, daß
dieses Ganze - als solches - nicht wirklich ist, sondern eben eine Wider¬
spiegelung der Totalität der Wirklichkeit oder die eines ihrer wesentlichen
Teile als Totalität auffaßt und darstellt.
Eine solche Beziehung zur Widerspiegelung der Wirklichkeit ist aber nur
möglich, wenn sowohl deren Elemente, wie ihre Kombination auf Evokation
angelegt sind. Jede gedankliche, begriffliche Form der Widerspiegelung for¬
dert schon im Alltagsleben einen ununterbrochenen Vergleich mit ihrem Ur¬
bild in der Wirklichkeit, und zwar sowohl den des Ganzen, wie den aller ein¬
zelnen Details. Das ist die unabweisliche und richtige Verhaltensart der
Erkenntnis, die - bei Strafe des Untergangs - sich auch im Alltagsleben
durchsetzen muß. Darum hat diese Art der Widerspiegelung, wie bereits aus¬
führlich dargelegt, eine desanthropomorphisierende Tendenz, die sich schon
in der primitivsten Arbeitspraxis durchzusetzen beginnt, d. h. eine Tendenz,
sich von subjektiven Voreingenommenheiten, von Befangenheit in der subjek¬
tiven Unmittelbarkeit etc. zu befreien. Die auf solcher Linie sich ausbildende
und sich zum Ausdruck bringende Widerspiegelung muß deshalb stets die
Intention haben: so treu wie möglich das objektive Wesen, das An-sich der
Wirklichkeit nachzubilden; die Widerspiegelung hat also zur entscheidenden
Funktion, zwischen dem Bewußtsein und der von ihm unabhängig existieren¬
den Wirklichkeit zu vermitteln, das An-sich durch die Widerspiegelung in
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 411

ein Für-uns zu verwandeln. Der Grundtendenz nach kann sich deshalb die
Widerspiegelung nicht selbständig machen und ein eigenes unmittelbares Ver¬
hältnis zum Bewußtsein statuieren. Wo dies gesdrieht - und es geschieht im
Alltagsdenken und auch in der Geschichte nidit selten - entsteht eine Ver¬
dunkelung der Wahrheit. Das ist deutlich in der Rhetorik sichtbar; sobald
die formale Forderung, um jeden Preis evokative Wirkung zu erzielen, die
Oberhand erhält über die wahre Spiegelung der Objektivität durch die Ge¬
danken, verfällt diese Disziplin in eine mehr oder weniger zynische Sophistik.
Dies zeigt das Verhältnis des durch ständigen Vergleich mit der Wirklich¬
keit kontrollierten Denkens zur Evokation ziemlich genau an. Natürlich
kann jede Erkenntnis der Wirklichkeit vehemente und tiefgehende Gefühle,
Leidenschaften etc. hervorrufen; es ist also gar keine Übertreibung, von evo-
kativen Wirkungen des Denkens zu sprechen. Sogar seine konkrete und geist¬
reiche Form kann in ähnlicher Weise wirken. Es gehört jedoch zum Wesen
der Sache, daß das Evokative in allen Lebensfunktionen, bei denen das rich¬
tige Erfassen der objektiven Wirklichkeit dominiert - auch im Alltags¬
leben -, nur eine sekundäre, akzessorische Bedeutung haben kann. Das oben
gestreifte Problem des Sophistischen in der Rhetorik bezeichnet gerade die
zugespitzteste Form jener Lagen, in denen das denkerische Erfassen der
Wirklichkeit zum Mittel einer von ihm an sich unabhängigen Evokation er¬
niedrigt wird. (Daß sich all dies auch auf die Publizistik bezieht, versteht sich
von selbst.)
Anders ist es - schon im Alltagsleben - um die Evokation und vor allem
um die evokative Mimesis bestellt. Es gibt unzählige Situationen im Verkehr
der Menschen miteinander, in denen die Aufrichtigkeit des geäußerten Ge¬
fühls, dessen evokative Wucht - mit relativem Recht - die dominierende
Rolle spielt. Wenn z. B. eine über den Verlust ihres Sohnes verzweifelte Mut¬
ter in leidenschaftliche Klagen über diesen Tod ausbricht, die Tugenden des
Verstorbenen preist, etc., so ist es eine durchaus zweitrangige Frage, ob die
dabei geäußerten Lobpreisungen einer Kontrolle der Wirklichkeit objektiv
standhalten können. Ähnlich, wenn z. B. über einen Menschen eine ihn cha¬
rakterisierende Anekdote erzählt wird; hebt diese bestimmte typische Züge
der gesellschaftlichen, der seelischen oder moralischen Wirklichkeit richtig
hervor, so wird sie evokativ wirken, und es wird - wieder mit relativem
Recht - nicht untersucht, ob die in ihr zusammengedrängte Begebenheit ein
wirkliches Faktum, dessen übertriebene Darstellung oder eine rein erfundene
Fiktion ist; der bekannte Ausspruch: »Se non e vero e ben trovato« bezeichnet
ziemlich genau unser Verhalten zu dieser Art von Lebensäußerungen.
412 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Allerdings sind in der letzteren Verhaltensweise bereits deutliche Elemente


des Ästhetischen enthalten, so daß es bei unserer Unkenntnis der Anfänge
schwer zu entscheiden ist, ob es sich in solchen Fällen um eine Keimform der
Erzählkunst oder um einen der zahlreichen Fälle handelt, in denen die
bereits entstandene Kunst das Alltagsleben befruchtet und bereichert. Jeden¬
falls ist das Verhalten in beiden angeführten Beispielen sehr verschieden.
So sehr, daß im ersten Fall die evokative Wirkung fast ausschließlich von
der subjektiven Aufrichtigkeit abhängt. Von einem bewußten Leiten der
Reaktionen des Rezipierenden im eigentlichen Sinne des Wortes kann also
hier nicht die Rede sein, ja ein Zur-Geltung-Kommen solcher Tendenzen be¬
deutet im Leben eine Abschwächung der Spontaneität, der subjektiven Auf¬
richtigkeit, also der editen Quelle der evokativen Wirkung. Eine gewisse Ten¬
denz zur Leitung der Erlebnisse des Rezeptiven ist freilich in jeder Mitteilung
implicite enthalten, auch hier, da das Erwecken eines möglichst heftigen Mit¬
gefühls als Intention jeder solchen Äußerung innewohnt. Sie bezieht sich
jedoch auf das Ganze des kommunizierten Tatsachen- und Gefühlsinhaltes
und nicht auf die Mitteilungsform, nicht auf die Details und vor allem nicht
auf ihre Anordnung.
All dies hat zur Folge, daß in den evokativen Äußerungen des Alltagslebens
das Mimetische nur ein Element der Gesamtmitteilung sein kann. Entschei¬
dend ist das Bewegtwerden der Menschen durch die Tatsachen und Begeben¬
heiten des Lebens selbst; dieses soll in möglichst unveränderter Faktizität die
Evokationen hervorrufen; auch wo Mimetisches angewendet wird, ist es ein
bloßes Mittel, um das Wirkliche selbst als solches zu einer erlebbaren Wirk¬
samkeit zu bringen. Das evokativ Mimetische ist also im Leben zwar ein -
sehr wichtiges - Vermittlungsglied im Erlebenlassen der Wirklichkeit, aber
eben nur ein Vermittlungsglied, und die unmittelbare Beziehung zur Wider¬
spiegelung wird auch hier, nicht nur in der Erkenntnis, stets und notwendiger¬
weise überschritten. Der junge Hegel hat in seinen Berner Aufzeichnungen
bei Betrachtung der griechischen Klageweiber im Peloponnesischen Krieg auf
diese Zusammenhänge hingewiesen. Er sagt über den Schmerz im Alltagsleben:
»Die größte Linderung des Schmerzes ist, ihn auszuschreien, ihn rein in
seinem ganzen Umfang gesagt zu haben. Durch die Äußerung wird der
Schmerz objektiv gemacht und das Gleichgewicht zwischen dem Subjektiven,
das allein vorhanden ist, und dem Objektiven, das im Schmerz nicht ist, her¬
gestellt ... Aber wenn das Gemüt noch voll, der Schmerz noch ganz subjek¬
tiv ist, so hat nichts anderes Platz darin. Auch die Tränen sind so eine Ent¬
ladung, so eine Äußerung, eine Objektivierung des Schmerzes. Der Schmerz
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 4i3

hat sich dann, da er subjektiv ist, und auch objektiv geworden ist, zum Bilde
gemacht. Aber da der Schmerz seiner Natur nadi subjektiv ist, so ist es ihm
sehr zuwider, aus sich herauszugehen. Nur die höchste Not kann ihn dazu
treiben 1.« Von hier aus leitet nun Hegel die evokative Wirkung der bereits
zur Kunst gewordenen Klagegesänge ab: »Aber wenn die Not vorbei, wenn
alles verloren und er (der Sdimerz, G. L.) Verzweiflung geworden ist, so
verschließt er sich in sich, und hier ist es höchst wohltätig, ihn herauszubrin¬
gen. Durch nichts Heterogenes kann dies gesdiehen. Nur indem er sich selbst
gegeben wird, hat er sich als sich selbst und als etwas zum Teil außer sich.
Ein Gemälde tut diese Wirkung nicht. Er sieht nur, aber bewegt sich nicht.
Die Rede ist die reinste Form von Objektivität für das Subjektive. Sie ist
noch nicht Objektives, aber doch die Bewegung nach Objektivität. Klage in
Gesang hat zugleich noch mehr die Form von Schönem, weil sie nach einer
Regel sich bewegt. Klagegesänge bestellter Weiber sind daher das Mensch¬
lichste für den Schmerz, für das Bedürfnis, sich seiner zu entladen, indem
man ihn am Tiefsten sich entwickelt und in seinem ganzen Umfang sich vor¬
hält. Nur dies Vorhalten allein ist der Balsam 2.« Die von uns aufgezeigten
Übergänge sind hier deutlich sichtbar, und die Übereinstimmung scheint uns
um so wertvoller, als Hegel, den Grundprinzipien seines Philosophierens ent¬
sprechend, das Moment der Mimesis vernachlässigt, und nur ganz allgemein
von Subjektivität und Objektivität spricht.
Damit ist der Umkreis der mimetischen Evokation im Alltagsleben, wenig¬
stens in seinen gröbsten Konturen, Umrissen. Es braucht wohl kaum wiederholt
zu werden, daß auch ihre zuletzt erwähnten Vorkommensweisen als Voraus¬
setzung, als Material etc. für die eigens hergestellten mimetischen Gebilde un¬
erläßlich sind. Ihre noch so kursorische Analyse zeigt jedoch schon von vorn¬
herein klar an, daß der qualitative Sprung, von welchem wir sprachen, ganz
eng auf das neue Moment des unmittelbaren und unmittelbar nicht überhol¬
baren Verhalten der Rezeptiven zu einem widergespiegelten Abbild der Wirk¬
lichkeit und nicht zu dieser selbst fundiert ist. (Über die vermittelteren Zu¬
sammenhänge der hier verwerteten Widerspiegelung mit der Wirklichkeit,
haben wir bereits gesprochen.) Erst auf diesem Boden kann sich die aus dem
Leben herauswachsende, ihm gegenüber aber qualitativ neue Funktion der
Evokation entfalten. Dazu ist noch zu bemerken, daß ein Verhalten zur

1 Zitiert nach Rosenkranz: Hegel, Berlin 1944, S. 519.


2 Ebd. S. 519 f.
414
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Widerspiegelung der Wirklichkeit und nicht zu dieser selbst noch eine andere,
entscheidend wichtige, strukturelle Konsequenz hat. Während nämlich im
Alltag, wie wir gesehen haben, auch die mimetische Mitteilung den Charak¬
ter eines Kampfes zwischen verschiedene Ziele verfolgenden Gesprächspart¬
nern hat, so daß in ihr von einem einheitlichen und zielbewußten Leiten der
Evokation nur sehr bedingt, nur in seltenen Grenzfällen die Rede sein kann,
entsteht in der mimetischen Evokation ein einheitliches Gebilde, das um die¬
ser einheitlichen Leitung willen aufgebaut ist. Mögen also sämtliche Mo¬
mente einer solchen geleiteten Einheit im Alltagsleben vorhanden sein und
funktionieren, dieses ihr Ensemble bedeutet einen qualitativen Sprung, das
Entstehen von etwas radikal Neuem. Ebenso steht die Sache in subjektiver
Hinsicht. Im Alltagsleben wird bei solchen Mitteilungen die Regel sein, daß
beide Partner sich zugleich aktiv und rezeptiv verhalten; die Rezeptivität
wird sogar sehr oft ein bloßes Sprungbrett zum aktiven Eingreifen sein; in
solchen Fällen ist die aufmerksamste Rezeptivität - zumindest: auch - dar¬
auf gerichtet, die Schwächen der Positionen im Vortrag des Gesprächspartners
zu erspähen und auszunützen. Erst wenn die Menschen einem - evokativ
mimetischen - Gebilde gegenüberstehen, das reines Widerspiegeln, ganz und
gar nicht Wirklichkeit ist, entsteht eine reinliche Scheidung der beteiligten
Subjektivitäten in Schaffende und Rezeptive. Die vielfachen und gleitenden
Übergänge mußten schon in der Erklärung der Genesis aufgezählt wer¬
den, sie dürfen aber den hier deutlich gewordenen Sprung nicht ver¬
dunkeln. Die neue Aufgabe, durch welche die eigentlich ästhetische Abbildung
der Wirklichkeit entsteht, wird, wie schon wiederholt betont wurde, durch
die magische Nachahmung gestellt. Es wurde ebenfalls auf deren Doppelseitig-
keit, deren innere Dialektik, die die spätere Trennung von Magie und Kunst
begünstigt, hingewiesen, zugleich aber auch darauf, daß in den Anfangs¬
stadien diese Widersprüchlichkeit noch nicht in Erscheinung tritt, daß viel¬
mehr die Loslösung der ästhetischen Widerspiegelung von der des Alltags sich
gerade in dem durch die Magie bestimmten Rahmen von Zielsetzungen, von
Schaffens- und Wirkungsbedingungen vollzieht, daß erst der sich in ihr voll¬
ziehende Trennungsprozeß vom Alltag der ästhetischen Widerspiegelung
die Möglichkeit darbietet, sich später von Magie (und Religion) loszulösen,
selbständig zu machen, und ihre eigentliche Funktion im Gesamtleben der
Gesellschaft zu übernehmen.
Wir kennen bereits die hier ausschlaggebenden magischen Zielsetzungen. Die
entscheidende Konvergenz mit dem Ästhetischen, die Vorbereitungsarbeit für
die Ausbildung einer spezifisch ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 4i5

seitens der Magie besteht erstens darin, daß als Ziel die Abbildung eines ein¬
heitlichen und in sich geschlossene Lebensvorgangs gesetzt wird, wodurch, wie
wir bereits gesehen haben, wichtige ästhetische Kategorien, wie die Fabel, das
Typische sich spontan herauszubilden beginnen. Das zweite wichtige Moment
ist das eben jetzt von uns Behandelte: dieser einheitliche und in sich ab¬
gerundete Lebensvorgang bildet nicht nur inhaltlidi eine geschlossene Einheit
- derartiges kann ausnahmsweise auch im Alltagsleben Vorkommen -,
sondern besteht formal aus der ausschließlichen Anwendung der Widerspie¬
gelung der Wirklichkeit und der temporären Ausschaltung der Wirklichkeit
selbst; die Rezeptiven werden also einem systematisch geordneten Gebilde
aus Widerspiegelungsbildern gegenübergestellt, deren einheitliche, evokative
Wirkung das zu erreichende Ziel ist. Daß der Vergleich mit der Wirklichkeit
nicht endgültig aufgehoben, sondern nur suspendiert ist, haben wir ebenfalls
schon hervorgehoben. Die Vergleichsbasis bilden die Wirklichkeitserfahrun¬
gen der Rezeptiven vor der Evokation durch das mimetische Gebilde, sowie
die stets - freilich in höchst verschiedenartiger Weise - nach ihrer Auf¬
nahme vollzogenen Vergleiche des wirkenden Ganzen mit der Totalität ihres
bisher erworbenen Lebensbildes, dessen eventuelle Modifikation durch diese
Eindrücke, ihr Einarbeiten in diese Totalität, ihre Bereicherung etc. durch sie.
Dies alles widerspricht keineswegs der unmittelbaren Suspension der Wirk¬
lichkeit, gehört vielmehr, wie wir später ausführlich darlegen werden, zum
Wesen des ästhetischen Verhaltens, begründet die Stelle der Kunst im Sy¬
stem der gesellschaftlichen Lebensäußerungen der Menschen.
Gerade darum ist der in der ästhetischen Literatur häufig angewendete Ter¬
minus »Illusion« so irreführend. Das Element der Täuschung oder Selbst¬
täuschung, das diesem Ausdruck unausmerzbar innewohnt, fehlt völlig in
jedem echt ästhetischen Erlebnis: es ist ein unmittelbares Sich-Hingeben an
einen einheitlidien Komplex von Widerspiegelungsbildern der Wirklichkeit,
ohne irgendwelche »Illusion«, mit der Wirklichkeit selbst zu tun zu
haben. Wenn zuweilen in der Beschreibung von ästhetischen Gebilden, von
der tiefen, echten etc. Wirklichkeit der Gestaltung die Rede ist, so ist damit
etwas völlig Verschiedenes gemeint, das nichts mit einem Vortäuschen der
Wirklichkeit selbst zu tun hat. Freilich tauchen solche Anschauungen oft auf.
Sie sind aber teils Ausdrücke einer naiven Verwunderung über große tech¬
nische Fortschritte in der künstlerischen Reproduktion der Wirklichkeit
(Typus der Zeuxisanekdote), teils Motive im Kampf um die Berechtigung
der Kunst zu einer selbständigen Existenz (Kunst als Lüge). Das wichtigste
Moment dieses Komplexes ist aber ein Residuum der magischen Mimesis.
4i 6 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Denn nur im Zusammenhang mit der beabsichtigten Wirkung des mimeti¬


schen Gebildes auf ihm gegenüber transzendente Mächte tauchen Vorstel¬
lungen auf, die ihm eine über die evokative Wirkung weit hinausgehende,
in der Wirklichkeit selbst als Wirkliches sich betätigende Funktion zuschrei¬
ben. Frazer beschreibt die Grundlage dieses Vorstellungskreises so: »Die be¬
kannteste Anwendung des Satzes, daß Gleiches wieder Gleiches hervorbringt,
ist vielleicht der Versuch, den viele Völker zu allen Zeiten gemacht haben,
nämlich einen Feind zu verwunden, zu schädigen oder zu vernichten durch
die Beschädigung oder Vernichtung eines Bildnisses von ihm, in dem Glauben,
daß geradeso wie das Bild, so auch der Mensch leide, daß er sterben muß,
wenn sein Bild vernichtet wird 1.« Es ist für diese Anschauungsweise cha¬
rakteristisch, daß die Vernichtung eines Abbildes einen ähnlichen magischen
Effekt haben soll, wie die von bestimmten Bestandteilen des Körpers selbst.
(Flaare, Nägel etc.) Natürlich handelt es sich in der rein imitativen Magie
(Kriegstänze etc.) um ähnliche Wirkungen auf transzendente Mächte. Mit
alledem dehnt sich das Aktionsfeld der mimetischen Gebilde in der Einbil¬
dung des magischen Zeitalters weit über die evokative Wirkung hinaus.
Das, was wir früher - vorläufig - als allgemeine Dualität der magischen Mime-
sis bestimmt haben, erhält so eine weitere Konkretisierung: die Bezogenheit
auf das Transzendente ist nicht nur der Grund einer späteren Divergenz
zwischen magischer und ästhetischer Widerspiegelung auf einer entwickelte¬
ren Stufe, sondern erweist sich als innere Widersprüchlichkeit der entstehen¬
den Mimesis von allem Anfang an. Unser Satz, daß in Anfangsstadien ma¬
gische und ästhetische Widerspiegelung konform gehen, daß diese sich erst
in Zusammenarbeit mit jener ausbilden, zur späteren Selbständigkeit ent¬
falten kann, wird dadurch keineswegs aufgehoben. Der soeben aufgezeigte
Widerspruch relativiert diesen Satz bloß dahin, daß von Anfang an inner¬
halb dieser Konformität auch entgegengesetzte Tendenzen wirksam werden,
die die Konstituierung der ästhetischen Widerspiegelung vielfach modifi¬
zieren, hemmen, stellenweise sogar völlig verhindern können. Ffegel weist
z. B. auf das Verbot der künstlerischen Nachahmung von Lebewesen bei den
Mohammedanern hin, mit der sicher aus der magischen Periode stammenden
Argumentation, z. B. in bezug auf die Abbildung eines Fisches: »Wenn dieser
Fisch am Jüngsten Tage gegen Dich aufstehen und sagen wird, Du hast mir
wohl einen Leib gemacht, aber keine lebendige Seele, wie wirst Du Dich dann

1 Frazer: a. a. O. S. 18.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 4i7

gegen diese Anklage rechtfertigen1?« Ähnliche magische Überreste treten


in bezug auf die wunderwirkende Madit der Kunstwerke zur Zeit des byzan¬
tinischen Bildersturmes auf, etc. Und hinter der Jahrtausende dauernden
Polemik gegen die Kunst als »Lüge«, als »Täuschung« stehen ebenfalls, wenn
auch im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung noch so variierte Resi¬
duen einer solchen magischen Anschauung. Die ausführliche Darlegung der
konkreten Folgen dieser Sachlage gehört wieder in den historisdi materialisti¬
schen Teil der Ästhetik. Für unsere Zwecke reicht es aus, den hier auftauchen¬
den Widerspruch als Moment der philosophischen Genesis der ästhetischen
Widerspiegelung ganz allgemein darzulegen.
Alle diese hemmenden Tendenzen können aber den wesentlich evoka-
tiven Charakter der in der magischen Periode entstandenen, von der magi¬
schen Weltanschauung geleiteten mimetischen Gebilde nicht aufheben. Denn
gleichviel welche auf Transzendenz gerichtete Intentionen diese mitbestim¬
men, die evokative Zwecksetzung bleibt für ihre Mehrzahl doch das unmittel¬
bar bestimmende Prinzip. Erst wenn wir die bisher getrennt analysierten
Momente: einheitliches Gebilde aus Widerspiegelungsbildern der Wirklich¬
keit, Absicht der Evokation in ihrer Auswahl und Anordnung, bewußtes Lei¬
ten der evokativen Wirkungen durch eine solche Komposition in ihrem leben¬
digen dialektischen Zusammenwirken, in ihrem wechselseitigen sich Durch¬
dringen betrachten, treten jene Tendenzen ganz klar hervor, die zur Entste¬
hung des Ästhetischen führen. Schon formal zeigt sich sogleich, daß Kompo¬
sition und Leiten zumindest zwei Seiten eines und desselben Prozesses anzeigen.
Es ist der metaphysische Fehler vieler - hauptsächlich neuzeitlicher - ästhe¬
tischer Betrachtungen, zwischen beiden eine genaue Grenze ziehen zu wollen:
als ob es einen kompositionellen Zusammenhang der Teile eines Kunstwerks
geben könnte, unabhängig von dem Bestreben, die evokativen Wirkungen
der Teile, der Details in bezug auf den Eindruck des Ganzen zu ordnen,
zu steigern, aneinander abzustimmen. Solche dem Wesen des Ästhetischen
diametral entgegengesetzte Anschauungen konnten nur im Kapitalismus auf
dem Boden einer grenzenlosen Entfremdung von Schaffen, Werk und Rezep¬
tion voneinander und von den Bedürfnissen der Menschen entstehen. Hier
entwickelt sich nämlich einerseits eine aus Erfahrungen ausgebildete »reine«
und darum geist- und seelenlose Technik des bloß formalen Effekts, einer
leeren oder verlogenen Evokation und andererseits als Abwehr dagegen,

1 Hegel: Ästhetik, Wk. a. a. O. X. I. S. 56.


418 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

die oben geschilderte Theorie eines von der Wirkung gesonderten Werkes an
sich. So sehr eine solche Entwicklung gesellschaftlich-geschichtlich verständ¬
lich ist, so sehr widerspricht sie der echten kategorialen Struktur der ästhe¬
tischen Widerspiegelung. Diese ist spontan bestrebt, bestimmte Eindrücke,
Gefühle, Leidenschaften etc. zu erwecken, und der entstehende Kunstsinn
wächst gerade aus den Erfahrungen heraus, die an den praktischen Wir¬
kungen der mimetischen Gebilde, verglichen mit den subjektiven Vorstel¬
lungen ihres Hervorbringens gemacht werden. D. h. es entwickelt sich eine
bestimmte »Technik« in der Ausführung der mimetischen Gebilde, deren
einziger Zweck ist, die inhaltlich vorgeschriebenen, also unaufhebbar gegebe¬
nen Inhalte in gewünschter Intensität zu evozieren. Diese Beziehungen wer¬
den infolge der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft gelockert, zuwei¬
len sogar vollständig zerstört. Daraus folgen die eben charakterisierten fal¬
schen Anschauungen, gegen welche die wirklichen Künstler dieser Periode
einen ununterbrochenen Kampf führen müssen. Es mag hier genügen, sich
auf Goethe zu berufen, der am Anfang dieser zur Divergenz führenden
Entwicklung steht, der es lebhaft empfindet, wie schwer es für den Schaffen¬
den ist, ohne eine solche anregende Kontrolle gerade das zutiefst Künstleri¬
sche zu treffen, wenn man diese Hilfe nicht als in der gesellschaftlichen Wirk¬
lichkeit aktiv wirkende vorfindet, sie vielmehr in der eigenen schöpferischen
Arbeit selbsttätig reproduzieren muß. Goethe sagt: »Leider werden wir Neue¬
ren wohl auch gelegentlich als Dichter geboren und wir plagen uns in der
ganzen Gattung herum, ohne recht zu wissen, woran wir eigentlich sind;
denn die spezifischen Bestimmungen sollten, wenn ich nicht irre, eigentlich
von außen kommen, und die Gelegenheit, das Talent determinieren h«
Für das Zeitalter der Entstehung des Ästhetischen ist diese Determination
von außen eine Selbstverständlichkeit. Die von der Magie hervorgerufenen
mimetischen Gebilde haben - neben der Funktion des »Zauberns«, worüber
wir schon wiederholt sprachen - die Aufgabe: durch Darstellung (»Nach¬
ahmung«) von Gegenständen oder Vorgängen in dem Menschen jene Gedan¬
ken und Gefühle zu erwecken, die ihre jeweils bestimmte praktische Ziel¬
setzung erfordert. Sie sind deshalb sowohl inhaltlich wie formal »von außen«
determiniert. Es folgt aus dem Wesen der Magie, daß diese inhaltliche Be¬
stimmtheit die »Nachahmung« genau umschriebener Lebenstatsachen oder
Lebensvorgänge bedeutet, ihre Formung ist wiederum darauf angelegt,

1 Goethe an Schiller, 27. Dezember 1797.


Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 4x9

die ebenfalls durch diese bestimmte und praktische Zielsetzung erforderten


Gedanken und Gefühle zu evozieren. Mögen also sowohl die inhaltlichen
wie die formalen Determinanten der magisch-mimetischen Gebilde unmittel¬
bar nichts mit dem Ästhetischen zu tun haben, objektiv wird gerade da¬
durch das Fundament für die Herausbildung der ästhetisdxen Widerspiegelung
der Wirklichkeit niedergelegt. Inhaltlich, indem eine Lebenstatsache oder
ein Lebensvorgang aus der bewegten Totalität des Alltags herausgehoben, so
ausgewählt und geordnet wird, daß der Inhalt gerade in seiner zweckbeding¬
ten Isoliertheit wirksam wferden könne. Formal, indem der Rezeptive nicht
mit der Wirklichkeit selbst, sondern ausschließlich mit ihrem Widerspiege¬
lungsbild konfrontiert wird, dem die Aufgabe gestellt ist, bestimmte Gedan¬
ken und Gefühle evokativ hervorzurufen. Aus einer solchen Bestimmung des
Inhalts und der Form folgt nun zwangsläufig, daß jede von beiden in ihrem
jeweiligen Geradesosein auf die andere abgestimmt sein muß, daß also die
Form spontan, ohne bewußte ästhetische Absicht, die damals noch gar nicht
vorhanden sein konnte, ohne irgendein rätselhaftes »Kunstwollen« als Form
eines bestimmten Inhalts zur Geltung gelangt. Das für uns Entscheidende ist
hierbei, daß - obwohl dieser Prozeß sich vom Standpunkt des Ästhetischen
spontan und unbewußt abspielt, und wenn in ihm eine Bewußtheit vor¬
handen ist, diese nur eine magische (oder durchführend »technische«) sein
kann - diese besondere Art von Inhalt und Form (Form eines bestimmten
Inhalts) nicht einfach eine Alltagserscheinung ist, sondern das Produkt einer
Verallgemeinerung, in der sich das Wesen der mimetisch-evokativen Wider¬
spiegelung durchsetzt.
Betrachten wir vorläufig nur die mimetischen Gebilde, die einen Zeitablauf
darstellen (aus Gründen, die sich aus der Analyse selbst erhellen werden,
kommen wir auf die räumlichen Abbildungen erst später zu sprechen). Ihr
inneres Prinzip der Anordnung muß den normalen zeitlichen Ablauf des
Alltagslebens umkehren, um ihn, erst durch diese Operation modifiziert,
für die hier bezweckten evokativen Wirkungen brauchbar zu machen. Kurz
gefaßt bedeutet dies so viel, daß die Anordnung innerhalb eines solchen Ge¬
bildes vom Abschluß, in welchem die beabsichtigte Wirkung kulminieren
soll, ausgeht. Sämtliche Teile, Details etc. werden so ausgewählt und anein¬
andergefügt, daß sie diese Wirkung in der Hauptlinie steigern, einen als
notwendig erlebbaren Weg, der zu dieser Krönung der Effekte führt, bilden
sollen. Natürlich kann dieser Weg einfach oder verschlungen sein; es ist höchst
wahrscheinlich, daß die reale Entwicklung von der schlichten Geradheit zur
Komplizierung ging; sobald jedoch die geringste Komplikation in diesem
420 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Aufbau entsteht - und dies ist wiederum nach aller Wahrscheinlichkeit sehr
früh, lange vor der Ablösung des Ästhetischen vom Magischen zustande
gekommen - müssen daraus sehr wichtig werdende ästhetische Kategorien,
wie Retardieren, Episode, Kontrast, Gegenbewegung etc. entspringen. Denn
es ist klar, daß bei einer solchen auf Evokation bestimmter, einheitlicher
Gefühle und Gedanken angelegten Komposition ein retardierendes Mo¬
ment einfach störend, die Aufmerksamkeit ablenkend, die Spannung auf¬
lösend wirken muß, wenn es nicht unmittelbare Spannungserlebnisse im Zu¬
schauer erwecken soll und erweckt; gerade dieser Umweg muß zum wirk¬
lichen Erreichen des Zieles unumgänglich notwendig sein, ja er erscheint nicht
mehr als ein bloßer Umweg, denn der Widerstand und seine Überwin¬
dung, die in ihm zum Ausdruck kommen, bereichern und vertiefen eben
jene Gefühle, deren Erweckung Zweck und Inhalt des ganzen Gebildes ist.
Solche Motive können schon auf primitiver Stufe auftauchen, so bei einem
Jagdtanz das Verlieren der Spuren und ihr Wiederauffinden, bei einem
Kriegstanz eine List des Feindes, die ihm vorübergehende Vorteile verschafft
etc. Und es ist selbstverständlich, daß solche Abweichungen von einer ganz
direkten Darstellung des Inhalts, wenn sie in der gewünschten Art wirk¬
sam werden sollen, in allen formalen Elementen der Gestaltung entsprechend
zur Geltung gelangen müssen.
Damit haben wir nur eine der wesentlichen Kategorien hervorgehoben, die
bei einer solchen Darstellung entstehen und sich ausbilden müssen. Es ist
bereits im herangezogenen Fall klar, daß die Bewegung (hier: die Kompli¬
kation) vom Inhalt ausgeht und diesem entsprechend als formales Moment,
als Variation früherer Formen sich durchsetzt. Das Gesetz, das alle
Erscheinungen dieser Art bestimmt, ist in der von uns bereits beschriebenen
doppelten Umkehrung fundiert. Denn aus dieser folgt, daß alle Momente
des Dargestellten durch ihre Verknüpfung untereinander, d. h. durch das
Erhöhen des Nacheinanders in ein Auseinander vor allem eine größere Deut¬
lichkeit erhalten müssen, als sie im Leben zu besitzen pflegen. Und zwar
nicht einfach ein gedankliches Hervorheben oder Erklären der Phänomene
und ihrer Zusammenhänge - was z. B. beim Tanz einfach physisch unmög¬
lich wäre - sondern ein unmittelbares Sinnfälligwerden, eine visuelle und
auditive, gefühls- und gedankenmäßige Evokation ihres Seins, ihrer Bewe¬
gung, ihrer kausalen Konnexe. Das bedeutet dem Alltagsleben gegenüber sehr
wesentliche Differenzen, obwohl - und damit taucht wieder eine wichtige
ästhetische Kategorie auf, - ihre sinnliche Erscheinungsweise, deren allge¬
meine Inhalte und Formen keinesfalls radikal verändert werden müssen.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 421

In der Magie tritt eben die schon so oft betonte Dialektik von Erscheinung
und Wesen zutage, nur mit der Konkretion, daß das Wesentliche hier stärker
und deutlicher wahrnehmbar wird als im Alltagsleben, und zugleich noch
inniger mit der sinnlichen Oberfläche verknüpft bleibt: die evokative Wir¬
kung besteht ja gerade darin, daß das Wesentliche unmittelbar zur Wahr¬
nehmung, zum Gefühltwerden gelangt, nicht durch gedankliche Analyse der
Begebenheiten gewonnen wird.
Das mimetische Gebilde muß deshalb von Anfang an die qualitativ deut¬
liche Stimmung ihres entscheidenden Inhalts in allen Momenten offenbaren;
der Wechsel der Stimmungen muß auf diesen Grundton der Gefühle ba¬
siert und ständig bezogen werden, auch die vorkommenden Kontraste
(man denke an das Retardieren) müssen sich in einem von dieser Basis aus
bestimmten Umkreis bewegen. Wichtige Kategorien der später ausgebilde¬
ten Ästhetik, wie z. B. die Intonation, entwickeln sich auf dieser Grundlage.
Dabei wäre es oberflächlich, die Geltung dieser Kategorien auf die Musik zu
beschränken, haben doch die Anfangszeilen eines jeden lyrischen Gedichts -
bezeichnenderweise sehr ausgeprägt in den Volksliedern und in den populären
Balladen -, die Expositionen der Dramen etc. einen solchen Charakter: die
notwendige inhaltliche Einführung in den Stoff ist unzertrennlich mit dem sug¬
gestiven Erwecken jener Stimmung verbunden, die die ganze folgende Hand¬
lung beherrschen wird. (Man denke an die Anfangsszenen bei Shakespeare).
Das Evozieren einer bestimmten Stimmung durch die Intonation ist auch in
ihren primitivsten Formen ein Träger des Wesens der künstlerischen Verallge¬
meinerung, des Erhebens der dargestellten Begebenheit auf ein höheres Niveau
der Apperzipierbarkeit als dies im Alltagsleben prinzipiell möglich ist.
Gerade hier wird sichtbar, auf wie innige Wechselwirkung Inhalt und
Form in der evokativen Wirksamkeit eines Widerspiegelungsgebildes gebracht
werden müssen. Eine, wie angedeutet, evozierte Stimmung ist unmittelbar
und vor allem ein Problem der Form: sie fügt die einzelnen Abbildungen der
Wirklichkeit in eine solche Reihe ein, gibt ihnen solche Proportionen, einen
solchen Rhythmus, sie modelt jedes einzelne Element (Wort, Ton, Gebärde
etc.) auf eine solche Wirkungsqualität hin, damit die Intonation der ge¬
wünschten Stimmung entstehen könne.
Aber, wie Lenin sagt: »Die Form ist wesentlich. Das Wesen ist so oder anders
formiert, in Abhängigkeit auch vom Wesen . . . 1« Lenin spricht hier von

1 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 61.


422 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

Form im Allgemeinen, also sowohl in der Wissenschaft, wie im Alltagsleben


oder der Kunst. Das Spezifische in unserem Fall scheint eine bloß quanti¬
tative Steigerung zu sein. Die Formung des Wesens, die Abhängigkeit jener
von diesem tritt bei der Mimesis deutlicher an die unmittelbare Oberfläche,
als auf anderen Gebieten der menschlichen Tätigkeit. Jedoch gerade darin ist
das entstehende qualitativ Neue enthalten. Während überall sonst eine
Spannung zwischen Erscheinung und Wesen obwaltet, die auf die Inhalt-
Form-Beziehung tief bestimmend einwirkt, wird im mimetischen Gebilde
das Erscheinende so gestaltet, daß es gerade in seiner unmittelbaren Phäno-
menalität zum Träger des Wesens werde. Was in der Alltagspraxis und in
der Wissenschaft mit der Widerspiegelung erstrebt wird, die möglichst enge
Verknüpfung von Erscheinung und Wesen, eine Form, die in keinerlei
Widerspruch mit ihrem Inhalt steht, erhält hier eine Erfüllung in der erleb¬
ten Unmittelbarkeit der Werkwirkung. Freilich ist diese Erfüllung eine rein
auf den Menschen bezogene; der Widerspruch von Erscheinung und Wesen
wird nicht bloß in der an sich seienden objektiven Wirklichkeit selbst aufge¬
hoben, sondern auch dem Menschen wird eine ihm gegenüberstehende, mit
allen Attributen der Objektivität versehene Widerspiegelung dargeboten,
deren Inhalt und Form in ihm die Erfüllung als Eigenschaft dieser widerge¬
spiegelten Welt wachruft. Daß eine solche Wirkung nur auf Grundlage einer -
im Wesentlichen - richtigen Widerspiegelung der Wirklichkeit entstehen
kann, haben wir bereits ausgeführt. Und wir werden auf dieses Problem noch
wiederholt zurückkommen. Sowohl die Möglichkeiten der Wirkung des mime¬
tischen Gebildes, wie der Einfluß, den es auf das weitere Leben der Menschen
ausübt, hängt sehr stark von dieser Beziehung zwischen objektiver Wirklich¬
keit und ihrer derartigen Widerspiegelung ab; eben das, was wir in der
Ästhetik das Vorher und das Nachher der Wirkung nennen. Hier müssen
wir uns mit der bloßen Feststellung genügen, daß die Verhältnisse hier viel
komplizierter sind, als in der Alltagspraxis oder Wissenschaft.
Nach diesem notwendigen Exkurs kehren wir zu den Veränderungen zurück,
die aus den beschriebenen evokativen Wirkungen der mimetischen Gebilde
notwendig folgen. Bei der Intonation ist der hier geschilderte Zusammenhang
zwischen Inhalt und Form deutlich sichtbar. Sie ist ohne Frage in erster Reihe
ein formaler Faktor: Auswahl, Gruppierung, Steigerung, Proportion etc.
der Teile und Details müssen primär aus der Formung entspringen. Da
aber die echte Form stets aufs engste mit dem Wesen verbunden ist, schlägt
dieses formale Moment sogleich ins Inhaltliche um; ist es doch nicht eine
Stimmung im Allgemeinen - so etwas gibt es gar nicht -, die erweckt werden
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 4^3

soll, sondern eine ganz konkret bestimmte, aus der konkreten Lebenslage
konkreter Menschen sich - dem Ansdrein nach - spontan, von selbst entfalten¬
de. Es ist jedoch klar, daß das Widerspiegelungsbild dieser Lebenszustände
seinerseits wiederum, schon in seiner Inhaltlichkeit, eine Intention auf eine
solche Form besitzen, die Formelemente gewissermaßen in sich tragen muß,
um für gerade diese Form der geeignete Inhalt zu sein, und so fort ins
Unendliche. Das Hegelsche ununterbrochene Umschlagen der Form in Inhalt
und vice versa, als Bestimmung des Wesens dieser Kategorien, ist gerade
hier am deutlichsten, ausgeprägter als in anderen Lebensgebieten, sichtbar.
Wenn wir früher das Leiten der Evokation als dem Wesen nach identisch
mit den objektiven Prinzipien der Komposition bestimmt haben, so hat sich
dies schon aus den bisherigen Darlegungen erhärtet. Der innere Zusammen¬
hang eines mimetischen Gebildes geht notwendig darauf aus, das Nachein¬
ander der gestalteten Gegebenheiten in eine zwingende Entwicklung des Aus¬
einander zu verwandeln. Das ist an und für sich noch nicht mehr als die
getreue Widerspiegelung der ursächlichen Struktur der objektiven Wirklich¬
keit, ihres realen Kausalzusammenhangs. Dieser muß in seiner wesentlichen
Inhaltlichkeit bewahrt bleiben, soll das mimetische Gebilde als Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit gelten können, was ja, wie wir oft bemerken konnten,
die entscheidende Voraussetzung seiner evokativen Wirkung ist. Ohne also
diese Struktur und ihre konkrete Erscheinungsweise antasten zu dürfen, müs¬
sen im mimetischen Gebilde wesentliche Veränderungen der unmittelbaren
Oberfläche des Alltagslebens gegenüber vollzogen werden. Diese folgen
schon daraus, daß ein räumlich wie zeitlich eng begrenztes Widerspiegelungs¬
bild den Eindruck des an sich unbegrenzten Lebens erwecken soll; die einzel¬
nen mimetischen Gebilde stellen zwar jeweils nur einen begrenzten Abschnitt
des Lebens dar (Krieg, Jagd, etc.) Dieser ist jedoch im Leben selbst mit
unzähligen Fäden an dessen Totalität geknüpft; die Erhebung eines Teils zu
einer - relativen - intensiven Ganzheit setzt einerseits das Abreißen, das
Vernichten einer Menge von Verbindungen, die zwischen dem ausgewählten
Teil und seiner natürlichen Umgebung sonst hin und her gingen, voraus,
andererseits die Vermehrung und Intensivierung jener Bande, die die Ele¬
mente des in der Widerspiegelung figurierenden Abschnitts miteinander
verknüpfen. Die herrschende Kausalität des Lebens wird also im Prinzip be¬
wahrt, sie erhält aber eine gesteigerte Intensität in der Nähe, verliert un¬
mittelbar einiges von ihren extensiven Weitvermitteltheiten, ergibt eine Im¬
manenz auf einem räumlich wie zeitlich beschränkten Aktionsfeld. Schon dies
bedeutet eine wesentliche Akzentverschiebung, die nur dadurch ausgeglichen,
424 Die Entstehung der ästhetischen WiderSpiegelung

in die Bahnen der treuen Widerspiegelung der Wirklichkeit gelenkt wer¬


den kann, daß das formale Zusammendrängen nie bloß formal bleibt, son¬
dern überall inhaltlich wesentliche (typische) Züge und Beziehungen
intensiviert, um dadurch im räumlich-zeitlich eigenen Spielfeld die echte
Wirklichkeit erscheinen zu lassen.
Ein solches Zusammendrängen, obwohl es ununterbrochen qualitative Ver¬
änderungen mit sich führt, wäre für sich genommen noch lange nicht die ent¬
scheidendste, notgedrungen und spontan entstehende Veränderung an der
Widerspiegelungsweise des Alltags; seine wesentliche Eigenart tritt erst her¬
vor, wenn wir daran denken, daß es alle seine inhaltlichen und formalen
Momente auf Evokation von Gefühlen und Gedanken zu konzentrieren hat.
Wiederum: die Elemente dieser Eigenart der mimetischen Gebilde sind not¬
wendig auch in der Alltagswirklichkeit enthalten. Ihre Steigerung erscheint
auch hier auf den ersten Anblick als eine bloß quantitative. Dadurch
jedoch, daß diese im ganzen Gebilde fortlaufend und konzentriert durch¬
gehalten, daß die evokative Wirkung der Teile und Details aufeinander
abgestimmt werden muß, daß das Leiten als Prinzip der Komposition -
bei allen notwendigen Umwegen — auf ein genau fixiertes Ziel zusteuert,
und jede Einzelheit, obwohl sie als solche unmittelbar und für sich zu wirken
hat, in ein bloßes Moment des Ganzen verwandelt, das aus dem voran¬
gehenden konkret, stimmungshaft herauswächst und das Folgende ebenso
konkret stimmungshaft vorzubereiten hilft, entsteht das qualitativ Neue:
die selbständig wirkende Kraft des mimetischen Gebildes.
Diese Selbständigkeit des mimetischen Gebildes, seine Ablösung von sonst
noch so tief verwandten Erscheinungen im Alltagsleben verrät sich in seinem
konkreten Werdeprozeß noch klarer als in seinem realen Funktionieren. Denn
dieses muß, als Abbild der objektiven Wirklichkeit, deren Inhalte und For¬
men in ihrem echten Zusammenhang reproduzieren, dagegen findet bei
jenem eine prinzipielle Umkehrung statt, die bei aller Paradoxie doch in
derart grundlegenden und unerläßlichen Bedürfnissen fundiert ist, daß sie
bereits bei den primitivsten mimetischen Gebilden vorhanden sein muß. Wir
meinen die Tatsache, daß im Gegensatz zur vollendeten objektiven Kompo¬
sition selbst, die das Nacheinander, die ursächliche Kette der Begebenheiten
in ihrer wirklichen Abfolge geben muß, die subjektive Komposition, der
Schaffensprozeß, wie gezeigt, dem Wesen nach vom Schluß ausgeht und alle
Momente als Weg dazu teleologisch auswählt, aneinanderfügt, gruppiert etc.
Es ist klar, daß eine solche subjektive Komposition auch den allerprimitiv¬
sten mimetischen Gebilden zugrunde liegen muß. Wenn wir etwa wieder an
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 425

den Kriegstanz erinnern, so steht von vorneherein fest, daß er mit dem Sieg
über den Feind enden muß (diesen herbeizuführen ist ja der magische Zweck
des Ganzen). Soll er aber evokativ wirken, so muß jede Episode, ja jede Be¬
wegung daraufhin ausgewählt, bestimmt, placiert werden, um diesen Schluß
entsprechend, eventuell durdi Retardationen, vorzubereiten, um ihm den
maximalen evokativen Effekt zu sichern. Von diesem teleologischen Stand¬
punkt aus wird nun in der objektiven Komposition die richtige und natürliche
Zeit- und Kausalfolge hergestellt. Wenn wir hier diesen Tatbestand beschrei¬
ben, so heben wir dabei besonders hervor, daß beide Momente, sowohl die
teleologische Umkehrung, wie die ebenfalls teleologische Wiederherstellung
des realen Ablaufs eine Distanz zur Alltagspraxis schaffen; obwohl zweifellos
Einzelvorgänge im Alltagsleben vorhanden sind, in denen Keime solcher
Verhaltensweisen stecken.
Was nun in dieser gedoppelten Komposition zustande kommt, ist auf eine
strenge Unterordnung der Teile unter das leitende Prinzip gegründet. Darin
kommt der qualitative Unterschied solcher Widerspiegelungen zum Original,
zur objektiven Wirklichkeit klar zum Ausdruck. So trivial es klingen mag, muß
es hier doch betont werden: in der Wirklichkeit selbst ist jedes Detail wirklich;
d. h. als unabhängig vom Bewußtsein Existierendes setzt es sich - natürlich
im Ausmaße seines objektiven und subjektiven Gewichts - auch im mensch¬
lichen Leben durch. Im mimetischen Gebilde gewinnt seine Widerspiegelung
aber nur dann eine »Realität« (den evokativen Eindruck einer Wirklichkeit
auf den Rezeptiven), wenn es sich reibungslos in die Leitung einfügt, wenn
es die vorher geweckten Erwartungen steigert, zu folgenden überleitet etc.
Das Plötzliche, das Unerwartete hat also eine völlig andere, ja entgegen¬
gesetzte Wirkung als im Leben. Mag der Tod eines Menschen noch so
»unvorbereitet« eintreten, das bloße Faktum des Todes hat etwas Erschüt¬
terndes, ja es kommt im Leben sogar sehr häufig vor, daß gerade die
schroffe Abruptheit, der Anschein der völligen Zufälligkeit die Erschütte¬
rung noch steigert. Im mimetischen Gebilde muß dagegen auch die Über¬
raschung vorbereitet werden. Da es sich nur um Widerspiegelung und nicht
um die Wirklichkeit selbst handelt, kann eine bloße Tatsache, ein factum bru-
tum, keine Überzeugungskraft habenl. Die sehr verwickelten Probleme,

1 Alfred Kerr schildert solche Fälle im entwickelten Drama recht anschaulich bei
Hauptmanns »Der rote Hahn« und Henry Becques »Raben«. Gesammelte Werke
Band I. S. 98 und S. 393. Daß diese Wirkung oft sogar ins Komische Umschlägen
kann, zeigt er bei Wedekind. Ebd., S. 204.
426 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

die aus der Kategorie des Vorbereitens — als Teilfrage des Leitens - folgen,
zu analysieren, ist hier natürlich nicht der Ort, um so weniger, als die wirkli¬
chen Komplikationen erst auf viel höherer Stufe, lange nach dem Selbstän¬
digwerden der Kunst auftauchten. Der Hinweis auf sie mußte aber erfolgen,
weil erst dadurch das Wesen des Leitens klar hervortritt: daß nämlich das
mimetische Gebilde einerseits nur als Ganzes eine »Realität« haben kann,
daß dieses ein Produkt des konsequent durchgeführten Leitens ist, daß ande¬
rerseits die Teile und Details unmittelbar als selbständig wirken müssen, denn
nur aus einer solchen Totalität auf sich selbst gestellter Bestandteile baut sich
die »Realität« des ganzen Gebildes auf, wobei unsere Analyse - auch für die
primitivste Stufe - ihre tiefe Abhängigkeit vom Gesamtzusammenhang, von
der Systematik des konkreten Leitens klar erweist.
Wir sehen also, wie aus den mimetischen Zielsetzungen des magischen Zeit¬
alters, die in ihrer ursprünglichen Intention noch nichts mit Kunst zu tun
haben, die spontan und direkt aus der magischen Weltauffassung heraus¬
wachsen, im mimetischen Gebilde - kraft der immanenten Notwendigkeit
seiner folgerichtigen Durchführung - die wichtigsten Aufbaukategorien der
ästhetischen Sphäre spontan entstehen. Ja, in der Art der Verbundenheit
dieser Gebilde mit der Magie ist ebenfalls eine zentrale Bestimmung des
Ästhetischen enthalten: seine Determiniertheit von »außen«, über welche wir,
mit Berufung auf Goethe, bereits gesprochen haben. Diese ist, um das bisher
Ausgeführte kurz zusammenzufassen, in unzertrennbarer Weise sowohl in¬
haltlich wie formal bindend für eine richtige Widerspiegelung der Wirklich¬
keit im Sinne der Ästhetik. Inhaltlich, weil die evokative Wirkung eine
Gemeinsamkeit des gesellschaftlichen, der menschlichen Interessen zwischen
mimetischem Gebilde und Rezeptivität voraussetzt. (Die kompliziertere
Frage, wie Inhalte einer eventuell fernen Vergangenheit ähnliche Wirkungen
auslösen können, gehört nicht hierher. Die Periode der Genesis der Kunst
bearbeitet Inhalte, die entweder unmittelbar der Gegenwart angehören, oder
- wie z. B. bei den freilich späteren Mythen - von den Menschen als ihre
unmittelbare und sie unmittelbar angehende Vergangenheit empfunden wer¬
den.) Formal, weil das in sich geschlossene System von Widerspiegelungs¬
bildern, geordnet gemäß dem Prinzip der Leitung von Evokation der Ge¬
fühle und Gedanken, gerade in seiner Geschlossenheit nur dann seinen Zweck
erfüllen kann, wenn die evozierten Gedanken und Gefühle aus dem für
das mimetische Gebilde »gegebenen« Inhalt entspringen, der Zielsetzung,
die in diesem Gegebensein mitenthalten ist, entsprechen. Mag sich diese in¬
haltliche wie formale Gebundenheit der späteren, selbständig gewordenen
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 427

Kunstwerke an einen bestimmten speziellen Auftrag mit der Entwicklung


der Gesellschaft noch so komplizieren, mag sich ihre Unmittelbarkeit noch
so sehr lockern, diese Grundstruktur der Determination »von außen« - in
engster Verbundenheit mit dem formalen In-sich-Geschlossensein der Werke -
bleibt dauernd das Fundament für jede ästhetische Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit.
Es ist also kein Zufall, daß die künstlerische Reproduktion der Welt mit der
magischen Mimesis ihren Anfang nimmt, sich innerhalb ihres Bereichs ent¬
faltet und erst auf einer bestimmten höheren Stufe der Entwicklung sich von
diesem Boden löst. Unzweifelhaft ist hier eine gewisse Parallelität zur Ent¬
stehung der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit vorhan¬
den. Jedoch deren Eigenart bedingt, wie gezeigt wurde, einen qualitativ
andersgearteten Prozeß der Trennung, des Selbständigwerdens. Vor allem
deshalb, weil die magische Weltauffassung von Anfang an in einem prin¬
zipiellen Gegensatz zu der aus der Arbeit, aus den Verallgemeinerungen ihrer
Erfahrungen sich bildenden wissenschaftlichen Widerspiegelung steht, die
deshalb immer nur trotz jener wachsen konnte, während, wie wir sehen
konnten, die Forderungen, die die Magie an die mimetischen Gebilde
stellt, sich vorerst nidit in einem so schroffen Gegensatz zur entstehenden
ästhetischen Widerspiegelung befinden, deren erste Schritte sogar befördern.
Auf die trennenden Momente haben wir bereits hingewiesen und wir werden
auch bald in die Lage kommen, deren Wirksamkeit wenigstens in ihren allge¬
meinsten Zügen zu analysieren.
Aus alledem folgt weiter, daß in diesem Stadium des seiner selbst noch nicht
bewußten Ästhetischen nidit nur - mit magischen Inhalten, unter der Hülle
des Magischen, vorläufig von diesem nicht abtrennbar - mimetische Ge¬
bilde zustande kommen, deren objektive Aufbaukategorien bereits die wich¬
tigsten Züge der ästhetischen Widerspiegelung verraten, sondern daß - eben¬
falls ohne ästhetisches Bewußtsein - auch die wichtigsten Wesenszüge des
ästhetischen Verhaltens sich auszubilden beginnen. Natürlich können wir
über diese noch weniger direkte Kenntnisse besitzen als über die mimetischen
Gebilde selbst, obwohl natürlich auch diese - es ist ja in erster Reihe von
Tanz, Musik, Gesang etc. die Rede - uns nicht in ihrer Urform überliefert
sind. Es muß also hier ebenfalls die Methode der philosophischen Erklärung
der niederen Stufe aus der ihr entsprungenen höheren angewendet werden.
Eine solche Betrachtung kann nur dann wahre Ergebnisse zeitigen, wenn
sie in den höherentwickelten Formgebilden solche Bestimmungen aufzu¬
decken vermag, die für deren Funktionieren wirklich unentbehrlich sind,
428 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

deren Vorhandensein also auch auf der niedrigsten Stufe bis zu einem gewis¬
sen Grad vorausgesetzt werden muß. Wollen wir nun von den bisher er¬
kannten objektiven Wesenszeichen der mimetischen Gebilde Rückschlüsse auf
das ästhetische Verhalten ihrer Hervorbringer ziehen, so müssen wir erneut
an die Leitung der Evokation und des Komponierens der objektiven Be¬
standteile, sowie an den bereits untersuchten Wirkungsgegensatz zwischen
der Realität selbst und ihrer auf Evokation angelegten Widerspiegelung er¬
innern.
Scheinbar kompliziert sich die Frage dadurch, daß wir zuerst unmittelbar
vom Menschen als Vollbringer der Widerspiegelung mit Hilfe seiner Bewe¬
gungen, Gebärden, Stimme etc. sprechen müssen, nicht über Gebilde, in denen
die Widerspiegelung sich vom Menschen selbst abgelöst und sich zu einem
eigengesetzlichen Formsystem objektiviert hat, wie in der Malerei, in der
Plastik, in der Wortkunst, die jedoch größtenteils sicher Produkte einer
höheren Entwicklungsphase sind, als vor allem der Tanz, der freilich da¬
mals auch noch die Keime der späteren Schauspielkunst in sich enthielt.
Es ist aber nicht allzuschwer einzusehen, daß es sich auch in diesem Fall nicht
um die Wirklichkeit selbst, sondern um ihre Widerspiegelung handelt. Das
ist nun sowohl objektiv wie demzufolge im subjektiven Verhalten des Schaf¬
fenden und des Rezeptiven in Tanz, Schauspielkunst, etc. der Fall. Daß
der Tänzer oder der Schauspieler sich keinen Augenblick für Romeo oder
Othello hält, sondern dessen bewußt ist, daß er diese Figuren spielt, bedarf
wohl keiner ausführlichen Erörterung: wenn wir zu sagen pflegen, daß er
sich mit diesen Gestalten »identifiziert«, so meinen wir, wie später ausführ¬
licher zu zeigen sein wird, eine maximale Annäherung an die Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit, nicht aber, daß er etwa meinen würde, Desdemona
wirklich zu töten, wirklich Selbstmord zu begehen etc. Ebenso klar ist
die Lage beim Rezeptiven. Die Differenz zwischen dem Leben selbst
und seiner bloßen Widerspiegelung drückt sich gerade in dem bei diesem
notwendig entstehenden wesentlich kontemplativen Verhalten aus. Die
Widerspiegelung der Wirklichkeit zwingt den Menschen auch im Leben
selbst temporär, zuweilen auf lange Strecken, ein kontemplatives Ver¬
halten auf: will er nämlich sich in der Welt auskennen - und dies muß
er erstreben, um richtig handeln zu können -, so muß er trachten, die
objektiven Tatsachen so unverfälscht wie möglich in sich aufzunehmen,
ihre Widerspiegelungen, so wie sie objektiv sind, möglichst treu zu apper-
zipieren. Dieses Verhalten wird jedoch im Leben ununterbrochen durch
die Notwendigkeit des sofortigen aktiven Eingreifens geändert; besser
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 429

gesagt: der unmittelbaren Praxis untergeordnet, da auch der handelnde


Mensch gezwungen ist - auch während des Handelns dessen Bedin¬
gungen, Umstände etc. so genau wie möglich zu beobachten. Im Leben ist
also das Verhalten des Menschen vor allem auf Praxis, auf Eingreifen in
die Wirklichkeit, auf ihr Beeinflussen, ihr Modifizieren, Verändern etc.
gerichtet.
Ganz anders ist seine Lage und dementsprechend sein Verhalten jenem in
sich geschlossenen System der Widerspiegelungsbilder gegenüber beschaffen,
die wir als mimetische Gebilde bezeichnet haben. Ein solches steht ihm
nicht nur als geschlossenes System gegenüber, sondern als etwas unveränder¬
bar Gegebenes, als etwas unabhängig von seinem Bewußtsein Existierendes,
das er zwar - im Ganzen wie in Einzelheiten - ablehnen, in dessen Ablauf
er jedoch nicht eingreifen kann. (Es ist charakteristisch, daß der Versuch
des Eingreifens, die Verwechslung von Leben und Kunstwerk im Laufe
der späteren Entwicklung oft als Motiv auftauchte, stets jedoch als komische
Wirkung der oben angedeuteten Verwechslung eines als selbstverständlich
aufgefaßten Tatbestandes.) Der Rezeptive konzentriert sich also ganz, mit
seiner in die Aufnahme des Werks zusammengedrängten, sich darin zu¬
spitzenden Persönlichkeit in die Kontemplation des Werks als Ganzheit.
Das schließt, wie ebenfalls schon hervorgehoben wurde, keineswegs die
praktischen Wirkungen dieser Kontemplation des Werks in der Praxis
des Lebens aus. Im Gegenteil. Gerade dieses Konzentrieren des Men¬
schen ganz auf die Werktotalität schafft die seelischen Bedingungen dazu, daß
der wieder im Leben stehende ganze Mensch die hier erworbenen neuen Er¬
fahrungen dort verwerte, daß die Erschütterungen, die das Werk in ihm
auslöst, sein persönliches Auftreten im Leben wesentlich ändere und vertiefe.
Gerade bei den allerprimitivsten magischen Erscheinungsweisen der Mime¬
sis ist das am deutlichsten sichtbar: die Kriegstänze dienen dazu, um den
Mut, die Standhaftigkeit der Stammesgenossen zu erhöhen, etc. Gar nicht
zu reden davon, daß nicht nur die Teilnahme an solchen Aufführungen die
Geschicklichkeit auf den Gebieten, deren Abbild die Mimesis ist, ebenfalls
erhöht, und daß die Beförderung der Bewegungsphantasie etc. bei den Zu¬
schauern, wenn auch in geringerem Maße, ähnliche Wirkungen auslöst. Die
Betonung solcher notwendigen Folgen auch bei den primitivsten mimetischen
Gebilden ist darum wichtig, weil diese, wenn der Inhalt und dementsprechend
auch die Form solcher Widerspiegelungen der Wirklichkeit extensiv wie in¬
tensiv weiter wird (z. B. individuelle, ethische, etc. Probleme aufwirft), dar¬
aus die wichtigsten ästhetischen Kategorien entspringen. Dazu gehört z. B.
430 Die Entstehung der ästhetischen WiderSpiegelung

die Katharsis, auf welche wir im späteren Ablauf dieser Betrachtungen noch
zurückkommen werden.
Worin besteht also der ästhetische Charakter, oder sagen wir vorsichtiger,
der ästhetische Wesenszug in diesen Verhaltensarten? Es ist naheliegend und
taucht im Laufe der Ausbildung des ästhetischen Bewußtseins wiederholt
auf: da die mimetischen Gebilde vor allem Gefühle, Leidenschaften etc.
zu evozieren berufen sind, muß jener, der sie direkt (im Tanz, Schau¬
spiel) oder indirekt (Dichtung, bildende Kunst etc.) hervorrufen will, diese
Gefühle und Leidenschaften denkbar intensiv erleben; die Echtheit und
Tiefe seiner Leidenschaft wird sich dann auf den Rezeptiven entsprechend
übertragen. Als Paradigma einer solchen Auffassung führen wir ein sehr
spätes Beispiel an. Matthias Claudius sagt:

Meister Arouet sagt: ich weine,


Und Shakespeare weint.

So direkt geht jedoch die Übertragung der Gefühle von Mensch zu Mensch
nicht einmal in der Alltagswirklichkeit vor sich. Sie spielt zwar hier oft
eine wichtige Rolle, es gehören jedoch besonders fördernde Umstände und
Mängel an hemmenden dazu, um solche direkte Gefühlskontakte zu be¬
werkstelligen. Die Direktheit muß in den rezeptiven Beziehungen zu den
Widerspiegelungsbildern schon darum fehlen, weil die Art der Reaktion auf
das vom Leben erweckte echte Gefühl eine völlig andere ist. Im Leben
(normalerweise) unmittelbares Mitempfinden, stets - wenn es echt ist - ver¬
bunden mit dem Drang des Helfens und Eingreifenwollens; dem mimetischen
Gebilde gegenüber ein eigenartiges Lustgefühl, worin die Einsicht in Lebens¬
zusammenhänge, die Erweiterung des Lebenshorizontes, die Vertiefung der
intensiven Welt- und Menschenkenntnis etc. den ausschlaggebenden Inhalt
bilden. Also schon Inhalt und Richtung der ausgelösten Gefühle ist wesent¬
lich anders als im Leben selbst; die bereits angeführte tiefe Feststellung von
Aristoteles, daß in der Kunst auch das Lustgefühl erregen kann, was im Leben
nur mit Unlust verbunden ist, bewahrheitet sich hier wieder mit allen ihren
weitverzweigten Folgen. Obwohl die mimetischen Gebilde die Gefühle und
Leidenschaften des Lebens, sowie ihre Erreger wiedergeben, ist ihre Er¬
weckungsfunktion eine wesentlich andere.
Darum kann die direkte Übertragung der Gefühle beim Hervorbringen der
evokativen Widerspiegelungen keineswegs die Grundlage des produktiven
Verhaltens bilden. Neben den bereits angeführten Umständen schon darum
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 43i

nicht, weil im Leben jede Gefühlseruption ihre objektiven realen Gründe


hat, die unabhängig von unserem Bewußtsein - auch vom Bewußtsein des¬
sen, der die Gefühle hat - wirksam sind und dementsprechend als Reali¬
täten auf alle Beteiligten und Zuschauer wirken. Im mimetischen Gebilde
steht aber hinter den Gefühlen keine sie derart untermauernde Realität. Ihre
Wirkung hängt ausschließlich von der vorbereitenden Leitung der Widerspie¬
gelungsbilder, die die Evokationen in eine bestimmte Richtung gelenkt haben,
sowie von jener steigernden Tendenz des Leitens ab, die aus der gestalteten
Eruption erwachsen. Diesen Tatbestand haben wir bereits bei der Analyse
des Todes auf der Bühne berührt. Jetzt muß noch hinzugefügt werden, daß
das Prinzip der Evokation nicht allein diese Verwandlung des Nacheinander
in ein Auseinander regelt und bestimmt, sondern - untrennbar von dieser
Funktion - auch jedes einzelne Moment in der Richtung auf Universalität
ausdehnt und vertieft. Dies hängt wieder mit dem Unterschied von objekti¬
ver Realität und Widerspiegelung zusammen. Die innere wie äußere Umge¬
bung einer jeden Gefühlsäußerung im Leben ist, ebenso wie dieses selbst, ob¬
jektiv real gegeben, mit jener Wirkungsqualität des Realen, die wir bereits
wiederholt analysiert haben. In einem System von Widerspiegelungen muß
diese Umwelt eines jeden einzelnen Moments der Evokation von dieser selbst
geschaffen werden. Dazu bildet die spätere Kunst die verschiedenartigsten
Mittel aus.
Hier müssen wir versuchen, das Prinzipielle an diesem Umwelt-Schaffen un¬
ter den denkbar primitivsten Umständen, wo jede Art der späteren Hilfs¬
methoden (oder Surrogate), wie z. B. Bühnendekorationen, noch vollständig
fehlen, studieren. Und dies nicht nur wegen unserer gegenwärtigen philo¬
sophisch-genetischen Bestrebungen, sondern auch deshalb, weil das eigentlich
ästhetische Prinzip, das sich unter der Hülle der magischen Welt langsam
entfaltet, nur auf diese Weise erkannt und herausgearbeitet werden kann.
Wir sprechen deshalb jetzt in erster Linie von der Tendenz zu einer intensiven
Universalität in der Gebärdensprache des Tanzes. Will man die sich hier er¬
gebenden Probleme ins Auge fassen, so darf man natürlich nicht an das mo¬
derne - aus höfischen Konventionen entstandene - Ballett denken, wo die
evokative Macht der Gebärde, von ihrer Universalität gar nicht zu reden,
fast vollständig verlorengegangen ist. Einen gewissen Anhaltspunkt bieten
vielleicht die orientalischen Tänze, in denen die archaisch-urwüchsigen Über¬
lieferungen sich viel stärker erhalten haben. Bei chinesischen Tänzern ist es
z. B. möglich, auf einer hell erleuchteten Bühne rein durch die Art der Be¬
wegungen, der Gebärden im Zuschauer das Erlebnis wachzurufen, daß die
Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung
432

Akteure in einem vollständig dunklen Raum handeln, wo sie nichts zu sehen


vermögen und den Partner nur durch Geräusche vernehmen. Oder es ist mög¬
lich - ganz ohne Kulissen und Requisiten - das Heranziehen, das Besteigen,
das Abstoßen eines Bootes, das Rudern, die durch den Strom verursachten
Schwierigkeiten etc. rein durch Gebärden zu evozieren. Das sind nun natür¬
lich nur gelegentliche Beispiele, bei denen wir nicht genau wissen können,
wie stark in ihnen die überkommene Tradition, wie stark neue Tendenzen
wirksam sind. Immerhin ist anzunehmen, daß die in solchen Tänzen zum
Ausdruck kommende Richtung (wenn auch nicht unbedingt die ganze Art
ihrer Durchführung) auf die Anfänge zurückweist, gerade weil eine noch sehr
weitgehende Verwachsenheit mit der Schauspielkunst darin sichtbar ist;
und es ist sicher, daß diese sich aus jener und nicht unabhängig von ihr ent¬
wickelt hat. Eine solche Tendenz der Tanzkunst auf evokative Universalität
ist aus der Spätantike durch Lukian bezeugt. Dieser führt nicht nur eine Reihe
von Wissenschaften an (darunter Philosophie, Ethik etc.), mit denen die
wirklichen mimetischen Tänzer bekannt sein müssen, um ihre Kunst richtig
auszuüben, sondern vergleicht sie auch mit der Redekunst, »mit welcher sie
in gewissem Sinne die Darstellung des Charakters und der Leidenschaften
gemein hat« und betrachtet als deren Hauptaufgabe und Zweck, »die Dar¬
stellung einer Empfindung, Leidenschaft oder Handlung durch Gebärden 1«.
Da Lukian in dieser Studie das Alter und die Verbreitung dieser Art des
Tanzes (auch seine Beziehungen zu Magie und Religion) auf Grund eines
großen Materials aufzeigt, kann man auch bei ihm einen Wink für das Wei¬
terleben solcher Traditionen erblicken.
Entscheidend für uns ist dabei bloß, daß neben der evokativen Verwandlung
des Nacheinanders in ein Auseinander auch eine, ebenfalls evokative, Aus¬
breitung und Intensivierung jedes einzelnen Moments in Richtung auf Uni¬
versalität im mimetischen Gebilde feststellbar ist. Wie kann nun das ästheti¬
sche Verhalten beschaffen sein, das solches hervorbringt? Es ist klar, daß wir
dabei vom - magischen - Zweck, von seinen notwendigen Mitteln zu des¬
sen Erreichen auszugehen und nicht von einem (für uns unerreichbaren) Sub¬
jekt und dessen Psychologie unseren Weg zu diesem Verhalten zu suchen
haben. Denn diese Zwecksetzung muß, da sie gesellschaftlich notwendig ist,
früher oder später, gut, mittelmäßig oder schlecht doch durchdringen, und

1 Lukian: Von der Tanzkunst, zitiert nach der Ausgabe seiner Werke, München-
Leipzig 1911, Band iy. S. 103 und S. 121.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 433

das auf diese Weise Errungene wird sich je nach den konkreten historischen
Bedürfnissen und Möglichkeiten allmählich festsetzen. Daraus ist vor allem
ersichtlich, daß eine bloße Spontaneität für diese Zwecke nicht ausreicht.
Gerade die magische Mimesis, schon weil sie den Charakter des Zauberns, des
Ritus, der Zeremonie hat, kann sich unmöglich, wenigstens auf die Dauer,
ganz auf die momentanen Eingebungen der aktiv Beteiligten verlassen. Sie
muß zumindest die wichtigsten Knotenpunkte, Momente, Übergänge etc.
der mimetischen Gebilde im voraus fixieren, muß den Akteuren mehr oder we¬
niger genau vorschreiben, welche Gefühle, in welcher Reihenfolge, mit wel¬
chen Steigerungen oder Retardationen etc. sie zu erwecken haben. Mögen also
vielleicht in allerersten Anfängen solcher Tänze spontan »naturalistisch« (im
Sinne des Nichteinstudierten, des Improvisierten) gewesen sein, dieser ihr
Charakter konnte sich gerade wegen der magischen Zwecke und der aus ihnen
folgenden Vorschriften unmöglich lange halten. Es ist nun wieder äußerst
interessant, daß sich dabei, vom Wesen der Sache diktiert, gerade ein Ver¬
halten durchsetzen muß, das für die ästhetisdie Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit eine zentrale Bedeutung hat. Es handelt sich um das Verhalten, durch
welches die objektive Wirklichkeit, die innere Welt des Menschen und deren
sinnliche Erscheinungsweise wahrheitsgetreu gespiegelt und zugleich - un¬
abtrennbar von der Wahrhaftigkeit der Widerspiegelung - auf ein Maxi¬
mum der evokativen Kraft versinnfälligt wird.
Daß darin das Wesen des schöpferischen Verhaltens in der Kunst liegt, ist
von der ästhetischen Theorie nicht oft klar ausgesprochen worden, um so
mehr wird es durch die Analyse der Werke selbst bestätigt. Das Hindernis
der klaren Erkenntnis dieses Zusammenhangs liegt in der engen Verbunden¬
heit des ästhetischen Verhaltens mit der Determination von außen, mit dem
sozialen Auftrag, den das Werk und dessen Schöpfer jeweils zu erfüllen
hat. Wir haben ja gesehen, daß die ganze Struktur des sozialen Auftrags in
der Beziehung der magischen Zwecksetzung und ihrer Verwirklichung in den
mimetischen Gebilden seine Urform hat. Ist, was jahrhunderte-, jahrtau¬
sendelang der Fall ist, der soziale Auftrag für den Schaffenden eine gesell¬
schaftlich-menschliche Selbstverständlichkeit, so entsteht keinerlei Bedürfnis,
das ästhetische Verhalten einer Analyse zu unterwerfen; die Reflexion richtet
sich fast ausschließlich darauf, wie der soziale Auftrag am allerbesten erfüllt
werden könne. Ist dagegen, was besonders im 19. und 20. Jahrhundert schroff
hervortritt, die unmittelbare Beziehung zwischen Individuum und Gesell¬
schaft stark aufgelockert (was die objektiven Determinierungen keines¬
wegs aufhebt), so setzt sich der soziale Auftrag bei den Schaffenden nur auf
434 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

sehr indirekten, weit vermittelten, bewußtseinsmäßig kaum erfaßbaren Um¬


wegen durch, so entsteht eine ununterbrochen sich vertiefende Selbstreflexion
der Schaffenden: zuerst erscheint das Künstlertum, später auch die Kunst
selbst als problematisch, und die aus dieser Lage entspringenden Reflexionen
über die menschliche Beschaffenheit, über den menschlichen Wert des künst¬
lerischen Verhaltens nehmen einen selbstquälerischen, pessimistisch gefärb¬
ten Charakter an. Die notwendig über die Spontaneität von Gefühl und
Erlebnis hinausgehende Richtung der ästhetischen Widerspiegelung der
Wirklichkeit, der Zwang, in ihren Gestalten eine Distanz zum Leben zu
schaffen und aufrechtzuerhalten, wird nicht mehr als eine einfache, sachlich
bedingte Verhaltensart des Menschen zur Wirklichkeit und ihrer richtigen Re¬
produktion aufgefaßt, sondern als die unmenschliche Wesensart des künstle¬
rischen Verhaltens selbst. Wir haben bereits erwähnt, daß vor allem in der
imperialistischen Periode ähnliche Vorwürfe auch gegen die notwendige Ob¬
jektivität der Wissenschaft und gegen das wissenschaftliche Verhalten auftau¬
chen. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß diese Tendenzen die Unter¬
suchungen über die wissenschaftliche Widerspiegelung nur von außen be¬
rühren, während sie in der inneren Kunstauffassung dieser Zeit eine gewich¬
tige Rolle spielen. Es genügt auf den späten Ibsen, auf das Werk Thomas
Manns vom »Tonio Kröger« bis zum »Doktor Faustus« hinzuweisen, um
diese historische Sachlage klar zu überblicken L
Mit den gesellschaftlich-geschichtlichen Ursachen der verschiedenen Typen in
der Auffassung und Bewertung des künstlerischen Verhaltens hat sich der
historisch materialistische Teil der Ästhetik eingehend zu befassen. Das Her¬
vorheben dieser beiden extremen Pole in der Einschätzung des künstlerischen
Verhaltens mußte hier nur darum erfolgen, damit die gesellschaftlich beding¬
ten Verdeckungen und Verzerrungen der objektiven Sachlage uns nicht den
Weg zum klaren Erfassen des Problems selbst verrammeln. Es ist sicher kein
Zufall, sondern die notwendige Folge der eben bezeichneten historischen Ent¬
wicklung dieser Problemgeschichte, daß der konsequenteste Versuch zur Lö¬
sung dieser Frage an der Wende der Zeiten, gewissermaßen am Vorabend

1 Wenn wir hier von Verzerrung der Probleme sprechen, so meinen wir dies bezüg¬
lich der objektiven Wesensart des künstlerischen Verhaltens, also vom Standpunkt
einer wissenschaftlichen Ästhetik. Die tiefe diditerische Wahrheit der Auffassung
des Künstlers bei Thomas Mann, als Problem des Menschen in der kapitalistischen
Gesellschaft wird dadurch nicht berührt. Vgl. mein Buch: Thomas Mann, Berlin
19575 jetzt in Werke Band 7: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 435

ihrer modern-bürgerlichen Verzerrung unternommen wurde: in Diderots


»Paradoxe sur le comedien«; wie es audi kein Zufall war, daß die Frage
der Determination »von außen« des Kunstwerks Goethe am klarsten formu¬
liert hat.
Diderot sucht Antwort darauf, wie, auf Grund welches subjektiven Verhal¬
tens die richtige Schauspielkunst entstehen könne. Er geht theoretisch tief
richtig vom Unterschied zwischen der Wirklichkeit selbst und deren künst¬
lerisch richtiger und effektvoller Widerspiegelung aus. Jene Person des Dia¬
logs, die seine Anschauungen vertritt, sagt darüber: »Übrigens sprechen Sie
mir von etwas Wirklichem, und idh spreche Ihnen von einer Nachahmung;
Sie sprechen mir von einem flüchtigen Moment der Natur, und ich spreche
Ihnen von einem geplanten folgerechten Kunstwerk, das Fortschritte und
Dauer hatx.« Da Diderot klar sieht, daß es sich in der Schauspielkunst nicht
um das Leben, sondern um dessen künstlerische Widerspiegelung handelt,
daß in ihr nicht von Ausdruck der Gefühle, Leidenschaften etc., sondern von
ihrer Evokation die Rede ist, lehnt er konsequent die Auffassung ab, als ob
es sich in der Schauspielkunst um eine direkte Mitteilung seelischer Emo¬
tionen handeln könnte. Wieweit der schauspielerischen Evokation ursprüng¬
lich Erlebnisse, Affekte oder Beobachtungen zugrunde liegen, ist ein Gebiet,
wo bis in die einzelnen Schauspielerindividualitäten hinein unbeschränkte
Variationen möglich sind. Wichtig ist nur, daß Emotion wie Beobachtung
gleichermaßen auf ihre evokativen Möglichkeiten hin überprüft und ge¬
sichtet werden müssen, daß die künstlerische Arbeit im Fixieren des so er¬
langten Optimum besteht. Diderot sieht im Gegenteil in dieser eine eigenartige
Widerspiegelung der Wirklichkeit, bei welcher alle Fähigkeiten des Menschen,
wie Beobachtung, Selbstkenntnis, Sammeln und Uberprüfen der Erfahrun¬
gen, Nachdenken über sie etc. zumindest ebenso wichtige Funktionen erhal¬
ten, als das unmittelbare Erleben selbst, ja dieses muß zum bloßen, ständi¬
gen Ummodelungsprozessen unterworfenen Material der eigentlichen For¬
mung werden, soll das Ziel, das Erwecken von gewollten Emotionen im Zu¬
schauer erreicht werden. Darum führt der eben zitierte Gesprächsteilnehmer
folgendes aus: »Was mich in meiner Anschauung erhält, ist die Ungleichheit
der Akteurs, die aus der Seele spielen. Erwarten Sie keine Einheit von ihnen;
ihr Spiel ist im Wechsel stark und schwach, heiß und kalt, platt und sublim.
Morgen werden sie die Stelle verfehlen, an der sie heute glänzten; hinwieder

1 Diderot: Paradoxe sur le comedien, GEuvres compl. £d. Assezat, VIII, S. 375.
436 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

werden sie an der glänzen, die sie am Vorabend verfehlt haben. Dagegen
wird der Schauspieler, der aus Reflexion spielt, aus Studium der menschlichen
Natur, in beständiger Nachahmung irgendeines idealen Musters, aus der
Einbildung, aus dem Gedächtnis einer sein, derselbe bei allen Vorstellungen,
immer gleich vollkommen. Alles ist in seinem Kopfe gemessen, kombiniert,
gelernt, geordnet. In seiner Deklamation ist weder Monotonie noch Dis¬
sonanz. Die Wärme hat Steigerung, Elan, Nachlässe, Anfang, Mitte und
äußersten Grad. Es sind die nämlichen Akzente, die nämlichen Positionen,
die nämlichen Bewegungen; wenn von einer Vorstellung zur anderen ein Un¬
terschied ist, so geschieht das meist zugunsten der letzten. Er wird nicht ver¬
änderlich sein; er ist ein Spiegel, der immer bereit ist, die Gegenstände zu
zeigen, und sie mit derselben Genauigkeit, derselben Stärke und derselben
Wahrheit zu zeigen. So wie der Poet, wird er unaufhörlich im unergründ¬
lichen Schoße der Natur schöpfen; während er bald das Ende seines eigenen
Reichtums gesehen hätte 1.«
Besonders zu betonen sind die abschließenden Darlegungen Diderots. Er geht
freilich vom spezifischen Problem der Schauspielkunst aus: von der Notwen¬
digkeit, bei jeder Aufführung denselben Effekt (oder einen immer besseren) zu
erzielen und die Wirkung nicht zufälligen Stimmungen zu überlassen. In¬
dem er jedoch das künstlerische Fixieren der maximal wahren und evokati-
ven Widerspiegelung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, zeigt
er, daß beim besonderen und paradoxen Problem der Kunst des Schauspie¬
lers das allgemeine Problem der künstlerischen Widerspiegelung zur Geltung
gelangt: eine am besten annähernde, also - relativ - endgültige ästhetische
Form für die Widerspiegelung zu erringen. Diderot sagt ausdrücklich: »Und
warum sollte der Akteur sich vom Poeten, vom Maler, vom Redner, vom
Musiker unterscheiden 2?« Die Paradoxie der Schauspielkunst besteht also
nur darin, daß Medium und Material dieser Formung der Mensch selbst ist,
und nicht etwas von ihm schon unmittelbar gegenständlich Abgehobenes, Ob¬
jektiviertes, wie in der Poesie, in den bildenden Künsten, in der Musik. Ja
seine Verallgemeinerung - gerade in bezug auf unser gegenwärtiges Problem
- geht noch weiter. Der Gegensatz von bloßer Spontaneität der Gefühle
und Leidenschaften und ihrer wahrheitsgetreuen künstlerischen Widerspiege¬
lung erscheint bei ihm als der zweier entgegengesetzter Verhaltensarten:

1 Ebd. S. 365 f.
2 Ebd. S. 367.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 437

»In der großen Komödie, der Komödie der Welt, wohin ich immer zurück¬
kehre, haben alle heißen Seelen das Theater besetzt; alle genialen Menschen
sind im Parterre. Die ersten nennen sich Narren; die zweiten, die sich damit
befassen, ihre Narrheiten nachzubilden, nennen sich Weise . .. 1« Daß also,
was das schlechte Gewissen der spätbürgerlichen Künstler begründet, was bei
ihnen als Entfernung vom Leben, als Ausgestoßensein vom Leben erscheint,
ist bei Diderot das »Natürliche«, weil gesellschaftlich richtig fundierte Ver¬
halten des Künstlers zum Leben und zu seiner Widerspiegelung in der Kunst.
Indem Diderot schon in einer Zeit lebte, in der die naive Selbstverständlich¬
keit der Beziehung zwischen sozialem Auftrag und seiner künstlerischen
Erfüllung bereits zu reißen begann, die jedoch den echten Künstlern und
Kunstdenkern eine ganz deutlich umschriebene Aufgabe im Kampf um den
Fortschritt, um die Befreiung der Menschen zuwies, konnte er diese Wesens¬
art des schöpferischen Verhaltens in der ästhetischen Widerspiegelung so ob¬
jektiv, richtig, und unsentimental beschreiben: »Die großen Poeten, die dra¬
matischen zumal, sind beständige Zuschauer dessen, was um sie her in der
physischen und moralischen Welt sich ereignet. . . Sie erraffen alles, was sie
überrascht und sammeln es. Aus diesen Sammlungen, die ohne ihr Wissen
in ihnen zustande gekommen sind, gehen so viele seltene Phänomene in ihre
Werke. Die heißen, heftigen, sensiblen Menschen sind auf der Szene; sie ge¬
währen das Spektakel, aber sie genießen es nicht. Nach ihnen macht der
geniale Mensch seine Kopie2.« Damit wird zugleich eine jede Theorie der
direkten Gefühlsübertragung für die Kunst und für das künstlerische Ver¬
halten gedanklich vernichtet, die große Sensibilität an die ihr zukommende
Stelle - auch im Leben - gerückt; sie ist, sagt Diderot »nicht die Eigen¬
schaft eines großen Genies 3«. Jedenfalls nicht dessen für die Kunst entschei¬
dender Charakterzug: Shakespeares Größe ist nicht durch das »echte« Wei¬
nen, sondern durch die wahre, umfassende und tiefe Widerspiegelung des
Weinens bestimmt.
Wir mußten wieder einen weiten Exkurs ins Gebiet der hochentwickelten
Stufen machen, um jene »Anatomie des Menschen« zu erhalten, die geeignet
ist, die Anfangsstadien zu erhellen. Diderot analysiert natürlich das künst¬
lerische Verhalten bereits auf einer entfalteten und äußerst differen-

1 Ebd. S. 368.
2 Ebd. S. 367 f.
3 Ebd. S. 368.
438 Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

zierten Stufe. Die Bestimmungen jedoch, die als Ergebnis dieser Untersuchung
klar zum Vorschein kommen, betreffen die allerallgemeinste Verhaltensart
im Hervorbringen einer jeden evokativen Widerspiegelung: ihre Indirekt¬
heit, ihre Distanz vom Leben selbst, um auf diese Weise im Rezeptiven das
Erlebnis der intensiven Totalität der Wirklichkeit zu erwecken. Das Fixie¬
ren des Widerspiegelungsbildes gerade auf jener qualitativen Höhe, die den
größten Reichtum in konzentriertester Form zusammenfaßt und darum eine
solche Wirkung zu garantieren imstande ist, ist die objektive Grundlage die¬
ses Verhaltens, mögen seine Äußerungsweisen noch so primitiv oder noch
so kompliziert sein. Wir haben bereits angedeutet, daß die magisdie Deter¬
mination »von außen« notwendig ein derartiges Fixieren durchsetzen muß,
und zwar je stärker sie die mimetischen Gebilde als rituelle, als Zauberformen
etc. faßt, desto entschiedener. Wenn wir die Genesis des Ästhetischen in einer
rein spontanen Volkskunst suchen würden, so wäre gerade das Herauswach-
sen des künstlerisch bewußten Verhaltens aus einer solchen Spontaneität völ¬
lig rätselhaft. Gerade weil die Ablösung des künstlerischen Verhaltens aus
der spontanen Gefühlswelt des Alltags nicht von der Kunst selbst ausgeht,
sondern ihr gegenüber »von außen«, infolge der Bedürfnisse der Magie er¬
folgt, kann sich dieses Verhalten - bis zu einem gewissen Grade - in die¬
sem Rahmen entfalten, so bestimmt, vielfältig, umfassend, reich und tief
werden, daß es sich später der Magie (und der Religion) gegenüber auf eigene
Füße zu stellen vermag, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, nunmehr ohne
diesen Halt in die alltägliche, künstlerisch angesehen formlose Spontaneität
zurückzufallen. In dieser Hinsicht, im Herausbilden des ästhetischen Verhal¬
tens, das selbstredend für eine unendlich lange scheinende Zeit seiner selbst
nicht bewußt werden kann, zeigt sich ganz deutlich, wie die subjektiven und
objektiven Bestimmungen des Ästhetischen ihren Ursprung im magischen
Zeitalter haben.
Das determinierende Prinzip ist der Inhalt. Die künstlerische Form entsteht
als das Mittel, einen gesellschaftlich notwendigen Inhalt so auszudrücken, daß
eine, ebenfalls ein gesellschaftliches Bedürfnis bildende, konkrete und allge¬
meine evokative Wirkung entstehe. Es ist dabei ganz gleichgültig, daß dieser
Inhalt, daß dieses Bedürfnis objektiv betrachtet weitgehend phantasmago-
rischen Charakters ist. Unter den damals gegebenen gesellschaftlichen Um¬
ständen handelte es sich um reale soziale Bedürfnisse, die in diesen Formen
durch die Entstehung und Ausbildung dieser Formen eine reale Erfüllung
erhalten konnten. Inwiefern die so erwachsenen Widerspiegelungs- und Aus¬
drucksformen bereits viele der wichtigsten ästhetischen Kategorien unter
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 439

einer magischen Hülle enthalten, haben wir gezeigt. Und es folgt mit einer
gewissen Notwendigkeit aus der Inhalt-Form-Beziehung in der Ästhetik,
daß, solange die gesellschaftliche Entwicklung keine neue inhaltliche Proble¬
matik zustande bringt, solange die magischen Inhalte eine soziale Alleinherr¬
schaft ausüben können, auch formal von einem Scheiden der Wege nicht die
Rede sein kann. Erst wenn - worüber sogleich die Rede sein wird - gesell¬
schaftlich neue Inhalte entstehen, die in der magischen »Weltanschauung«
keinen Platz haben, oder ihr sogar widersprechen, beginnt die reale Tren¬
nung, das Abreißen der magischen Hüllen.
Es ist also aus der Analyse der wesentlichen Tatsachen klar ersichtlich, daß
die Ablösung hier einen ganz anderen Charakter haben muß, als in der Wis¬
senschaft. Gordon Childe besteht mit Recht darauf, daß die Wissenschaft sich
unmöglich direkt aus Magie oder Religion entwickeln konnte. Sie entstand
aus der Arbeit, aus dem Handwerk, wie Gordon Childe sagt und war ur¬
sprünglich identisch mit den rein praktischen Handwerksweisen 1. Seine Be¬
schreibungen neolithischer Zustände geben darüber ein deutliches Bild. Er
lehnt den Ausdruck »neolithische Wissenschaft« ab und will nur »Wissens-
Schätze« dieser Zeit anerkennen, Kenntnisse aus der Chemie in der Töpferei,
aus der Botanik in der Landwirtschaft usw., bei welchen die handhabenden
Frauen »kaum zwischen dem wesentlichen Gehalt und dem zufälligen Bei¬
werk unterschieden haben2«.
Daraus folgt naturgemäß, daß eine solche Verfahrensweise sich unmöglich so¬
gleich von dem damals allgemein und unbestritten herrschenden magischen
Vorstellungskreis loslösen konnte. Die entstehende ideologische Einheit ist
jedoch kein wechselseitiges Einanderdurchdringen zweier Strömungen, son¬
dern bloß ein gesellschaftlich bedingtes noch untrennbares Nebeneinander.
Gordon Childe setzt die von uns angeführten Betrachtungen so fort: »Die
praktisch technischen Gebrauchsanweisungen der Barbaren waren ganz be¬
stimmt unentwirrbar verknüpft mit einer Menge sinnloser Zauberformeln.
Selbst die intelligenten und hochzivilisierten Griechen glaubten an einen
bösen Geist, der die Töpfe beim Brennen zerspringen ließ, weswegen sie am
Brennofen ein abscheuliches Gorgonenbild anbrachten, um ihn zu verscheu¬
chen3.« Es ist hier zugleich sichtbar, wie dieses Nebeneinander sich dahin

1 Gordon Childe: Man Makes Himself, a. a. O. S. 256.


2 Gordon Childe: Stufen der Kultur, a. a. O. S. 78.
3 Ebd.
44° Die Entstehung der ästhetischen Widerspiegelung

entwickelt, daß die weiterlebenden magischen Vorstellungen als Formen des


Aberglaubens immer stärker in eine sie ständig vertiefende Isolation von den
realen Verrichtungen und von den sie theoretisch fundierenden Gedanken
geraten. So zeigt Gordon Childe für entwickeltere Stufen, daß Schrift und
Mathematik vielfach in Priesterkasten entstanden sind. Er fügt jedoch hinzu:
»Zugegeben, daß die sumerische Schrift von gewissen Priestern erfunden und
anfangs ausschließlich gebraucht wurde. Aber die sumerischen Priester haben
die Schrift nicht als Organe des Aberglaubens erfunden, sondern als Admi¬
nistratoren weltlicher Institutionen b« Es kann hier unmöglich unsere Auf¬
gabe sein, diesen Prozeß noch so kursorisch zu verfolgen. Wichtig bleibt nur
die Feststellung, daß die echte Quelle der Wissenschaft die Arbeit ist, daß
also der vollen Loslösung vom Standpunkt dieser inneren Dialektik nichts
entgegenwirkt, daß also die gesellschaftlich unvermeidliche Wechselbezie¬
hung zwischen Wissenschaft und Magie (und Religion) auf jene vor allem
hemmend wirkt. Das schließt natürlich nicht aus, daß bestimmte konkrete
Aufgaben, Aufträge etc., die ein Priesterregime an die Wissenschaft stellt,
diese bis zu einem gewissen Grade zu fördern vermögen. Es ist aber sicher
kein Zufall, daß der wirkliche große Weg der wissenschaftlichen Entwicklung
von der Antike über die Renaissance ins kapitalistische Europa führt. Die
komplizierten Wechselbeziehungen von Förderungen oder Hemmungen, die
im Orient wirksam waren, werden erst nach vollständiger Erforschung der
Entwicklung von indischen, chinesischen etc. Wissenschaften im Zusammen¬
hang mit dem Wachstum der betreffenden Gesellschaft wirklich übersehbar
werden; auf einige Beispiele aus der indischen Entwicklung haben wir frü¬
her bereits hingewiesen. Für unser Problem ist das bis jetzt Dargelegte aus¬
reichend.
Wir haben gesehen, daß die Wechselwirkungen zwischen Kunst und Magie
wesentlich anders beschaffen sind. Bis zu einem gewissen Grad können echte
und wesentliche ästhetische Kategorien auch unter magischer Hülle zur Ent¬
faltung gelangen. Der später unabwendbare Ablösungsprozeß geht vom In¬
halt aus, von gesellschaftlichen Inhalten, die ihrer Natur nach auf mimetische
Evokation intentioniert sind, die deshalb an die in der Periode der Magie
ausgebildeten ästhetischen Formen anknüpfen, diese für ihre eigenen Zwecke
übernehmen und entsprechend ummodeln und so die im magischen Zeitalter
ausgebildeten ideologischen Waffen gegen die Magie selbst kehren. Dies ist

1 Gordon Childe: Man, Makes Himself, S. 209, über Mathematik, ebd. S. 218.
Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis 441

natürlich ein Grenzfall. Sicher entsteht sehr oft eine einfache Säkularisation
der in der magischen Periode ausgebildeten Formen; ein großer Teil dessen,
was uns als Volkskunst überliefert ist, hat einen solchen Charakter. Am häu¬
figsten wird die Lage entstehen, daß die die Magie ablösenden religiösen
Ideologien, die unter magischen Bedingungen entstandenen künstlerischen
Ausdrucksmittel für ihre eigenen Zwecke in Anspruch nehmen. Scheinbar än¬
dert sich dadurch nichts Wesentliches an der gesellschaftlichen Stelle und
Funktion der Kunst. Aber doch nur scheinbar, denn es ist nicht dasselbe, ob
die Kunst der mit selbstverständlicher Zwangsläufigkeit herrsdienden alten
Weltauffassung dient oder ob sie von einer entstehenden und mit der alten
kämpfenden als Verbündeter in Anspruch genommen wird. Unzweifelhaft
entsteht im letzteren Fall eine gewisse Lockerung, ein bestimmter Spielraum
für Selbständigkeitsbestrebungen des Ästhetischen. Und selbst wenn nach dem
Sieg der neuen Ideologie diese ebenfalls erstarrt, ebenfalls rigide Vorschrif¬
ten dem Inhalt und der Form der Kunst gegenüber einführt: den ursprüng¬
lichen Zustand der naturwüchsig-unbestrittenen Herrschaft der magischen
Ideologie kann sie schwer vollständig wieder durchsetzen. Uber die hier auf¬
tauchenden Probleme werden wir im letzten Kapitel dieses Teiles ausführ¬
lich sprechen. Hier kam es nur darauf an, die prinzipiellen, philosophisch
relevanten Unterschiede zwischen Selbständigwerden von Wissenschaft und
Kunst klar herauszustellen.
442

Sechstes Kapitel

Probleme der Mimesis II


Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Unsere bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, wie das ästhetische Prinzip


die Elemente seiner selbständigen Gestalt, die Tendenz ihrer Ausbildung
in einer Periode der Menschheitsentwicklung zu sammeln und zu verwirk¬
lichen beginnt, in welcher niemand auch nur ahnen konnte, um was es objek¬
tiv in seinen eigenen Handlungen geht. Wir haben an Hand eines späten
- auch bis jetzt nicht allgemein verstandenen - Bewußtwerdens gezeigt,
was in dem inhaltlich wie formal magisch determinierten, in seiner magischen
Bestimmtheit noch keineswegs problematisch gewordenen Tanz objektiv
steckt. Der Akzent liegt vorerst auf einer gewissen Distanzierung des hier
handelnden Menschen zu sich selbst im eigenen Tun, im Tanzen. Darin allein
wäre natürlich noch nicht die für unsere Frage ausschlaggebende Distanz ge¬
schaffen. Denn die bewußte (und durch Einübung und Gewohnheit wieder
spontan gewordene) Auswahl der wirkungsvollen Bewegungen, ihr Fixieren
mit Hilfe der Bewegungsphantasie etc. fängt sicherlich schon auf relativ frü¬
hen Stufen der Arbeit (auch Jagen, Fisdien etc.) sich auszubilden an. Die
wichtige Rolle, die das gedanklich-gefühlsmäßige Vorwegnehmen von Hand¬
griffen etc., ihre zweckmäßige Anwendung mit Hilfe der Bewegungsphanta¬
sie, der Arbeitsteilung der Sinne in solchen Verrichtungen spielt, zeigt an,
daß schon im Alltagsleben, ganz unabhängig von magischen Zielsetzungen,
das körperliche Tun des Menschen eine gewisse Distanz zu sich selbst haben
muß. Daß in sehr vielen, ja in den meisten Fällen, das anfänglich bewußt
Distanzierte durch Gewöhnung zum »Instinktiven« wird, ändert am grund¬
legenden Tatbestand einer gewissen Distanzierung nichts Wesentliches. Denn
es kann sich hier nur um die Ausbildung bedingter Reflexe handeln. Pawlow
sagt richtig: »Der bedingte Reflex ist das Prinzip der Vorwegnahme tat¬
sächlicher Erscheinungen b« Deshalb ist für unser Problem sehr wichtig, daß
er gerade ihre Beweglichkeit, ihre rasche oder langsame Umstellbarkeit auf

1 Pawlow: Mittwochkolloquien, a. a. O. II. 39.


Der Weg zur Weltbaftigkeit der Kunst 443

die sich wandelnden Umstände ihrer Auslösung, audi wenn dieser Wandel
nur als Änderung des Tempos, der Reihenfolge vorhanden ist, untersucht. Das
Resultat wird bei ihm so zusammengefaßt: »Das unterstreicht und bestä¬
tigt . . . die Theorie, daß die Beweglichkeit der Nervenprozesse eine selb¬
ständige und primäre Besonderheit der Nerventätigkeit istL«
Es ist nun ohne weiteres klar, daß zu den wichtigen Unterscheidungsmerk¬
malen zwischen Mensch und Tier gerade das ins Qualitative Umschlagen einer
Steigerung der Beweglichkeit gehören muß, schon weil selbst sehr primitive Le¬
bensumstände bei jenem eine sofortige Anpassung an viel rascher sich ändernde
Lebenszustände mit weit größerer Variation der neuen Inhalte und Formen
notwendig machen als bei diesem. Es sei hier nur beiläufig bemerkt, daß in
Pawlows Experimenten, wie dies bei exakten Tierversuchen gar nicht anders
sein kann, die Erreger der Reflexe nicht aus ihrem normalen Lebenskreis ge¬
nommen sind. Die Beweglichkeit müßte unter solchen Bedingungen, z. B. beim
Jagdhund auf der Jagd, in der Beziehung des Pferdes zum Reiter, größer
sein, als bei Experimenten mit Metronom, Knarre etc. Dieser Unterschied
muß darum hervorgehoben werden, weil überall in diesen Untersuchungen
von solchen menschlichen Reflexen die Rede ist, die aus dem Leben selbst ent¬
springen, aus den Wechselbeziehungen der persönlichen Tätigkeit - Arbeit
etc. - zu jenen Naturobjekten, -umständen, technischen Verrichtungen, ge¬
sellschaftlichen Beziehungen etc., die mit jener normalerweise verknüpft sind.
Diese Grundlage ist natürlich auch bei den von uns ausgeführten Tierbeispie¬
len nicht vorhanden; bei ihnen bestimmt der Mensch den Spielraum der ent¬
stehenden bedingten Reflexe für die Tiere, während es sich bei ihm selbst
- parallel mit der Entstehung der Zivilisation - um einen immer stärker
selbstgeschaffenen Spielraum handelt; wenn man Jagd, Landbau, Handwerk
von diesem Standpunkt aus miteinander vergleicht, so zeigt sich sofort die
qualitativ zunehmende Bedeutung des Selbstgeschaffenen im Spielraum der
geforderten Anpassung.
Das bedeutet kein Übergewicht des Subjektiven, denn die Eigenschaft des
Werkzeugs, des zu bearbeitenden Materials, die gesellschaftlich entstehenden
Beziehungen zwischen den Menschen etc. sind dem persönlichen Bewußtsein
gegenüber ebenso eine objektive, von ihm unabhängig existierende Außen¬
welt, wie der Wald und seine Tierwelt für den Jäger. Der Unterschied
ist aber doch gewaltig, indem die Proportionen der selbstgeschaffenen

i Ebd. III. 93.


444 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Anlässe der Reaktion auf die Wirklichkeit zugunsten des Gesellschaftlich-


Menschlichen verschoben wurde, und ferner, indem die gesellschaftlichen Be¬
dingungen des Handelns zwar erkenntnistheoretisch ebenso objektive bleiben
wie die naturhaften, jedoch von der menschlichen Praxis und ihrer Entwickel-
barkeit aus gesehen dennoch den Charakter des Selbstgeschaffenen besitzen.
Deshalb kann man von diesem Standpunkt aus feststellen, daß die Natur¬
schranke zurückgewichen ist. Dementsprechend ist ein derartiger Wandel der
Bedingungen keine Minderung, sondern eine Steigerung der Beweglichkeit
im Bilden und Abbauen bedingter Reflexe und damit zugleich der Verstär¬
kung der Distanz zum einzelnen auslösenden Anlaß, der kritischen Distanz
zu ihm. Denn gerade in der durch die Wechselbeziehung zwischen Objekt
und subjektiver Reaktion bedingten Beweglichkeit und Distanziertheit liegt
der Grund für die Entwicklungsrichtung der Reflexe. Sind diese Tenden¬
zen sehr schwach, so kann unter Umständen eine Fixierung einst be¬
dingter Reflexe zu unbedingten eintreten oder es entsteht gar kein Zwang
zur Ausbildung bedingter Reflexe. Pawlow sagt, das Tier könnte »selbständig
mit Hilfe der unbedingten Reflexe existieren, wenn die Außenwelt konstant
wäre 1«. Und andererseits hat gerade die Kompliziertheit der genannten
Wechselbeziehungen, entstanden vor allem durch die Arbeit, die Entwick¬
lung von Widerspiegelungs- und Reaktionsformen höherer Ordnung herbei¬
geführt. Es ist vielleicht überflüssig, abermals darauf hinzuweisen, daß das
Wort (und mit ihm der Begriff im Gegensatz zur bloßen Vorstellung) gerade
infolge der Verallgemeinerung, die es auch auf seiner primitivsten Stufe be¬
sitzt, eine gewisse Distanz zum unmittelbar wahrgenommenen Reaktions¬
erreger beinhaltet.

I Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit

Wenn wir nun auf dieser Grundlage die im vorhergehenden Kapitel analy¬
sierte Distanz des Menschen zu sich selbst, zu seinen eigenen Bewegungen, zu
ihrer Aufeinander- und Auseinanderfolge im magischen Tanz näher betrach¬
ten, so sehen wir die hier herangezogenen Merkmale des menschlichen Reak¬
tionssystems auf die Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grad mitenthalten,
wenngleich mit wesentlichen Modifikationen. Diese bringen eine doppelte

1 Ebd. II. 434.


Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 445

Paradoxie hervor. Einerseits stellt das so entstandene Gebilde, als Ganzes,


eine über das Alltägliche gesteigerte Distanzierung dar. Denn jene praktische
Rückbeziehung auf die objektive Wirklichkeit, die jeder Komplex von Be¬
wegungen in ihr hat, fällt hier weg. Wird nämlich in der Wirklichkeit etwa
ein Speer geworfen, so bilden alle Bewegungsmomente zusammen eine Ein¬
heit, deren Wert durch die Effektivität ihrer Gesamtheit gemessen wird
(1 reffen des Zieles, Weite des Wurfs, etc.). Hier dagegen knüpft sich ein sol¬
cher Bewegungskomplex an den früheren an und bereitet einen auf ihn fol¬
genden vor, wobei an die Stelle der wirklichen Effektivität die Evokation des
jeweiligen Inhalts tritt, so daß mitunter das Erwecken des Eindrucks, daß
etwas mißlungen sei, als Gelingen gelten kann. Daß mit alledem die Distanz
zum Einzelauslöser einer Reaktion größer wird, unterliegt keinem Zweifel.
Andererseits verlangt die Richtigkeit einer jeden Bewegung - und insbeson¬
dere ihrer Verknüpfung - eine größere und differenziertere Beweglichkeit
als das Alltagsleben sie in der Regel ermöglicht; da, wie wir gesehen haben,
ihre Auswirkung sehr kompliziert ist: ihr Schwerpunkt liegt nicht auf
dem sachlich Richtigen, sondern auf der hervorgebrachten unmittelbaren Evo¬
kation. Diese Beweglichkeit der Auswahl muß aber kritisch gestoppt, nach
dem Auffinden jeweils endgültig fixiert werden. Das Fixieren kennt natür¬
lich auch das Alltagsleben. Da es jedoch als praktisches Optimum in bezug
auf ein reales Ziel geschieht, muß es jedesmal, wenn die Objekte, bzw. die
Umstände ihres Vorkommens sich ändern, gekündigt werden; die Möglichkeit
einer eventuellen Änderung führt die potentielle Beweglichkeit ins Fixierte
ein, während beim Tanz - der Idee nach - das Fixieren etwas Endgül¬
tiges ist.
Mit alledem wird bloß der Gebildecharakter des Tanzes erneut umschrieben:
alles, was er mimetisch reproduziert, ist noch kein Gebilde. Dies wird er erst
in der so fixierten Widerspiegelung. Indem ein solches Aufsichselbstgestelltsein
eines Widerspiegelungskomplexes entsteht - mag die magische Hülle lange
Zeit unabtrennbar bleiben, mag das dem ästhetischen Gebilde entsprechende
ästhetische Bewußtsein völlig fehlen, besser gesagt, eben von dieser magischen
Hülle völlig verdeckt sein - so ist damit doch das Ästhetische als objektives
Prinzip vorhanden. Wir haben eine ähnliche Genesis bei Gelegenheit der Ent¬
stehung des Ornaments aufgezeigt und schon dort darauf hingewiesen, daß
das wirkliche ästhetische Gesetztsein auch verhältnismäßig spät in reiner Form
erscheint. Der Weg über Körperschmuck und Geräteschmuck zum reinen Or¬
nament ist lang, während wir hier das Auftreten der rein ästhetischen Form
auf einer relativ früheren Stufe der Genesis feststellen können. Dazu kommt
446 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

noch das Problem der Schöpfung einer eigenen Welt im ästhetischen Gebilde,
in welcher Frage, wie wir sehen werden, beide Momente: die Qualität der
Eigenheit wie das Entstehen einer »Welt« - im Gegensatz zur bereits behan¬
delten Weltlosigkeit der Ornamentik - gleich wichtig sind. Obwohl die Aus¬
bildung einer »Welt« im ästhetischen Sinne ein langer Prozeß ist - und alle
Kennzeichen, die sie bestimmen, können wir erst jetzt ausführlich behan¬
deln muß schon hier festgestellt werden, daß der primitivste Tanz bereits
auf ein »Weltschaffen« gerichtet ist, während das vollendetste Ornament
seinem Wesen nach, dieses Vollendetsein nicht aufhebend, sondern bestätigend,
prinzipiell weltlos sein muß.
Es ist also selbstverständlich, daß die nächste, höhere Etappe in der Richtung
auf das Entstehen einer eigenen Welt im ästhetischen Sinne die Loslösung der
ästhetischen Gebilde von der körperlichen Aktivität und vom unmittelbaren
Beteiligtsein des Menschen selbst ist, ihre Verwandlung in ein wahrhaft selb¬
ständiges Gebilde, das dem Menschen als ein auf sich selbst gestelltes An¬
sich gegenübersteht. Das ist ein sehr langwieriger, vielfach verschlungener,
komplizierter und prinzipiell nie ganz vollziehbarer Prozeß. Schon darum,
weil es auch bei vollkommener Loslösung doch Künste gibt, und geben muß,
bei denen diese Trennung prinzipiell nicht stattfinden kann: der Tanz selbst
und die Schauspielkunst. Andererseits wird in der Entwicklung dieser
Künste deutlich, daß sie ihre zentrale Bedeutung, die sie in der Genesis
der Kunst besaßen, immer mehr verlieren. Beim Tanz ist evident, daß
er immer stärker von anderen Künsten in bezug auf das Weltschaffen
notwendig überholt und aus der anfangs eingenommenen Zentralstelle in
der ästhetischen Betätigung der Menschheit verdrängt werden muß. (Es liegt
im später noch detaillierter darzulegenden Wesen des Ästhetischen, daß der
Tanz damit als Kunst keineswegs verschwindet, sondern eine vollendete
Kunst bleiben kann.) Komplizierter ist die Lage für die Schauspielkunst.
Zweifellos rückt mit der Entwicklung der Wortkunst der unmittelbare Vor¬
trag durch die menschliche Stimme und Gebärde immer stärker in den Hinter¬
grund. Für Lyrik und Epik hat er praktisch schon jede direkte Bedeutung ver¬
loren, und auch für das Drama ist die Lostrennung vom Aufgeführtwerden,
die Wirkung durch bloße Lektüre immer dominierender geworden. Es wäre
natürlich eine gefährliche und falsche Vereinfachung, ja eine Verzerrung der
wahren Tatbestände, anzunehmen, es habe hier eine radikale Trennung statt¬
gefunden. Das ist selbst bei Lyrik und Epik nicht der Fall. Allerdings hat
das wirkliche Vorlesen, Vortragen von Werken als praktische Vermittlung so
gut wie völlig aufgehört. Die Vorlesbarkeit, die Möglichkeit einer auditiven
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 447

Wirkung durch die menschliche Stimme ist dennoch als Kriterium für
Rhythmus und innere Gliederung etc. in Geltung geblieben. Obgleich die
Theateraufführung längst nicht mehr die Bedeutung hat wie in der Antike
oder in Shakespeares Zeiten, so ist die Aufführbarkeit, ciie Steigerung der
Effekte bei der Transformation ins Szenisdre noch entsdiiedener das Krite¬
rium der dramatischen Gestaltung geblieben als bei Lyrik und Epik. Der Auf¬
bau der einzelnen Szenen, ihr künstlerisches Verhältnis zueinander, sowie
Steigerung, Retardation, Aufgipfelung etc. werden bei der Lektüre auch als
phantasiehafte Vorwegnahme einer idealen Aufführung apperzipiert.
Diese Beziehungen, der Wechsel und die Remanenz in ihnen, haben eine prin¬
zipielle Bedeutung für Genesis und Entfaltung des ästhetischen Prinzips. Es
spielt sich fast überall - freilich keineswegs gleichmäßig - ein Prozeß des
Sich-Entfernens von der unmittelbaren Wahrnehmung und ihrer überwie¬
gend physiologischen Determination ab. Die Bewegung in einer solchen
Richtung ist für die Konstituierung des ästhetischen Prinzips, insbesondere
für die Ausbildung der Welthaftigkeit der künstlerischen Gebilde sehr wich¬
tig. Immer stärker umfaßt die Kunstgestaltung - quantitativ wie qualitativ -
Inhalte, die für ihre Anfänge unerreichbar gewesen wären. Sie wird da¬
durch immer umfassender im Sinne des Widerspiegelns der Totalität der Be¬
stimmungen, und zwar sowohl als Intensivierung ihrer inneren Wesensart,
wie als Ausdehnung des Bereichs der für die ästhetische Widerspiegelung re¬
levanten und ausdrückbaren Bestimmungen. Nach dem bisher Ausgeführten
versteht sich bereits von selbst, daß eine derartige extensive wie intensive
Bereicherung des ästhetischen Gehalts zwangsläufig eine Verfeinerung der
Formen, eine Ausbreitung ihres Geltungskreises, eine Vertiefung ihres Auf¬
treffens auf die Wirklichkeit zur Folge hat. Ohne diesen Aspekt kann die tat¬
sächlich stattgefundene künstlerische Entwicklung kunstphilosophisch nicht
begriffen werden. Dies ist aber nur eine Seite. Die Loslösung von der ur¬
sprünglich überwiegenden physiologischen Bedingtheit bedeutet keinen voll¬
ständigen Bruch mit ihr. Die gesellschaftliche Entwicklung, das Zurück¬
weichen der Naturschranke im geistig-seelischen Leben des Menschen selbst,
basiert unaufhebbar auf diesen Bedingtheiten. Man kann nicht einmal sagen
- wozu romantische Kritiker der späten Zivilisationen neigen -, daß diese
naturhaft-sinnliche Komponente im Abnehmen begriffen ist. Weit eher trifft
es zu, daß das Gebiet des vom Menschen im Leben und in der Kunst Er¬
fahrenen im Vergleich zu den Anfängen so gewaltig geworden ist, daß der
Anteil des Ursprünglichen in dieser Totalität geringer wird, selbst wenn er für
sich genommen an Intensität zunimmt.
448
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Sicher ließen sich ähnliche Tendenzen auch in der Geschichte der Musik auf¬
zeigen, jedoch ihrem Wesen entsprechend mit völlig verschiedenen Pro¬
blemen und Entwicklungstendenzen. Am deutlichsten und prägnantesten
äußert sich diese Tendenz in den bildenden Künsten, deren Entstehung ja von
vornherein die hier geschilderte Loslösung voraussetzt. Denn in Malerei und
Plastik entstehen zuerst und in reinster Form mimetische Gebilde, für welche
der Mensch selbst nur als Schöpfer figuriert, ohne in der von ihm gestalteten
Welt der Widerspiegelung anders vorzukommen denn als - eventuelles -
Objekt der künstlerischen Reproduktion der objektiven Wirklichkeit. Hier
ist also die oben analysierte Ablösung vom unmittelbar gegebenen Menschen,
dessen Selbstobjektivation in der Widerspiegelung, die in manchen Künsten
nur bis zu einer inneren Distanzierung des Menschen von sich selbst gedeihen
kann, von vornherein, uno actu mit der Entstehung von Werken überhaupt
vorhanden. Wenn im Geräteornament eine Bindung an das für praktische
Zwecke nützliche Werkzeug etc. unaufhebbar da ist, so ist diese anderen Cha¬
rakters. In ihm kann die Mimesis sich nie zur Würde einer eigenen Welt er¬
heben. Der Charakter der weltlosen Ornamentik ist hier so aus dem Wesen
der Sache selbst heraus gesetzt, daß auch dort, wo die ursprüngliche Intention
vorwiegend mimetischen Charakters war, wie bei den Jägern der Altsteinzeit,
die Wirkung sehr oft mehr die eines unvollständig gelungenen Ornaments, als
einer einseitig-ausschließlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit ist (sehr im
Gegensatz zur Malerei dieser Periode, auf welche wir bald zu sprechen kom¬
men werden). Es ist eine hohe Entwicklungsstufe der gesamten Kunst not¬
wendig, damit mimetisch-realistische Motive zu organischen Elementen einer
Ornamentik werden, wie in Rom. Bilder oder Statuen - natürlich letzten
Endes ebenso Werke der Wortkunst oder der Musik - lassen eine dem Men¬
schen gegenüberstehende, selbständige, wenngleich vom Menschen geschaffene
Welt entstehen, eine autonome »Wirklichkeit«, die das ganze Gedanken- und
Gefühlsleben des Menschen in sich aufnimmt, es erhöht, steigert, vertieft,
intensiviert. Und dies nicht als Nebenprodukt - was immer wieder auch aus
zu anderen Zwecken geschaffenen Gebilden, entstandenen Beziehungen etc.
hervorgebracht werden kann - sondern als ausschließliche Funktion einer
solchen »Wirklichkeit«. Diese »existiert« nur insofern, als sie derartige evo-
kative Wirkungen hervorzubringen vermag; darüber hinaus ist sie ein Stück
Stein oder Holz, das zu nichts brauchbar ist.
Das Ausgeführte betrifft natürlich bloß den objektiven Sinn des von uns
analysierten Prozesses der Genesis. Wir haben wiederholt darauf hingewie¬
sen, daß alle diese ,Gefühle ursprünglich innerhalb eines von der Magie
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 449

beherrschten Milieus und im Dienste magischer Zwecke entstanden sind; ihre


evokative Wirkung hat unmittelbar magische Inhalte. Wir haben ebenfalls
gezeigt, daß auf dieser Stufe der Entwicklung ein realer, gesellschaftlicher
wahrnehmbarer und darum austragbarer Konflikt zwischen magischem
Zweck und Inhalt und der unter magischer Hülle entstandenen ästhetischen
Eigenart der Gebilde praktisch unmöglidi, ja unvorstellbar war. Daß aber
diese innere Gegensätzlichkeit zweier an sich heterogener Prinzipien objek¬
tiv vorhanden war, beweisen die Höhlenmalereien aus der Altsteinzeit. Bei
ihrer Entdeckung imponierte ihr gewaltiger Realismus derart, daß manche
sogar an moderne Fälschungen dachten, so wenig schien eine soldie durch¬
schlagend evokative Naturtreue mit den konventionellen Vorstellungen über
frühe Kunst vereinbar. Es ist höchstwahrsdieinlich, daß der überwältigende
Eindruck auf einzelne Forscher dazu veranlaßt hat, den magischen Charakter
dieser Malereien zu leugnen und in ihnen die erste Erscheinungsweise des
ursprünglidien »reinen« Kunsttriebs der Menschen zu erblicken. Indessen
gerät eine solche Auffassung sofort in unauflösbare Widersprüche zu anderen
fundamentalen Kennzeichen dieser Kunst. Die Werke sind fast unsichtbar,
d. h. dem Betrachter so schwer und umständlich zugänglich, daß es ausge¬
schlossen ist, daß das Erwecken eines unmittelbar visuellen Eindrucks oder
gar eines visuellen Genusses, das treibende Motiv ihrer Entstehung hätte sein
können. Scheltema beschreibt von diesem Standpunkt die Umstände ganz
richtig, wenn er bemerkt: »Wesentlich ist auch, daß die Höhlenmalereien sich
offenbar völlig indifferent zum gegebenen Grund, zu der Höhlenwand ver¬
halten. Es soll hier bloß an die wirre Häufung der Tierbilder in Altamira, an
die kaum sichtbaren eingeritzten Zeichnungen von Combarelles erinnert wer¬
den, oder an die Tatsache, daß einzelne Deckenbilder nur zu sehen sind, wenn
man sich, auf dem Rücken liegend, in die Schläuche und Winkel der Höhle
hineinschiebt h« Und Hoernes sagt: »Es erschien bedenklich, daß die Räume,
in denen viele Bilder lagen, schwer zugänglich und vollkommen dunkel
waren1 2.« Auch wenn wir heute wissen, daß Lampen zur Erleuchtung der
Höhlen dienten, vor allem, damit vor den Bildern durch Tänze eine Beschwö¬
rung stattfinden könne, so ändert das gar nichts an der Grundtatsache, daß
diese Bilder nicht aus der Absicht entstanden sind, eine visuelle Evokation
im Zuschauer hervorzurufen 3.

1 Scheltema: a. a. O. S. 35.
2 Hoernes: a. a. O. S. ijo.
3 H. Kühn: Eiszeitmalerei, München 1956 S. 10.
4JO Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Gerade die paradoxe Kombination dieser einander widersprechenden Ten¬


denzen, der magischen Absicht des Gelingens der Jagd durch ein Abbilden
des Wildes auf der einen und der Naturwahrheit, der evokativen Macht des
Bildes, auf der anderen Seite zeigen die reale Situation dieser Etappe: eine
hohe Kunst, die aber unter Bedingungen geschaffen wird, bei denen ihre evo-
kative Wirkung nur an sich, nur potentiell vorhanden sein, praktisch aber
gar nicht zur Geltung gelangen konnte. Bei Gordon Childe finden wir eine
genaue Beschreibung beider Momente, die um so wertvoller ist, als die uns
hier beschäftigende Widersprüchlichkeit der Lage für seine Problemstellung
gar nicht in Frage kommt und daher unerwähnt bleibt. Er sagt: »Im tiefsten
Inneren von Kalksteinhöhlen, wohl drei Kilometer tief in der Erde, nur mit
einem schwachen, aus irdener Lampe mit Moosdocht gespeisten Licht, das
undurchdringliche Dunkel zu erhellen, und oft auf Felsflächen, die nur von
den Schultern eines Helfers aus erreichbar waren, malten oder ritzten sie,
Maler und Zauberer zugleich, das Nashorn, das Mammut, den Wisent, das
Renntier, von dem sie lebten. So sicher, wie das Abbild eines Wisents vom
Künstler mit geschickten Strichen auf die Höhlenwand gezaubert wurde, so
sicher würde ein wirklicher Wisent auftauchen, um von dem Genossen des
Künstlers getötet und gespeist zu werden. Die Tierdarstellungen sind außer¬
ordentlich individualisiert, keine abstrakten Kurzschriftzeichen, sondern
regelrechte Porträts, die eine genaue und verläßliche Beobachtung wirklicher
Vorbilder erkennen lassen 1.« Hier ist in evidenter Weise sichtbar, wie aus
den magischen Bedürfnissen eine hohe Kunst entstehen konnte, ohne daß ihre
ästhetische Wesensart überhaupt ins Bewußtsein der Zeitgenossen hätte treten
können.
Es zeigt sich zugleich, daß vom Standpunkt der Erfordernisse der Magie der
ästhetische Charakter, der künstlerische Wert, sehr viel Zufälliges an sich hat.
Die Verbindung des Magischen und des Ästhetischen ist an sich freilich keines¬
wegs zufällig. Vom Standpunkt der Magie aus ist in bestimmten Fällen die
intensive evokative Wirkung, die die Geschlossenheit und Selbständigkeit
des künstlerischen Gebildes voraussetzt und fordert, unbewußt obligatorisch,
z. B. beim Tanz. Darum ist es klar, daß die magische Zielsetzung für die
entstehende Kunst eben jenes Bestimmtsein »von außen« bedeutet, über
welches wir bereits im Anschluß an Goethe gesprochen haben. Dieser Zu¬
sammenhang zwischen magischer und aus ihr herauswachsender ästhetischer

1 Gordon Childe: Stufen der Kultur, a. a. O. S. 50 f.


Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 45i

Evokation enthält zugleich — und ebenso notwendig — das Moment der Zu¬
sammengehörigkeit, wie mannigfache Momente der bloß zufälligen Ver¬
bindung. Diese Zufälligkeit kann sich in verschiedener Weise äußern.
Einerseits sind evokative Effekte möglich, in denen die magischen Inhalte
ein derartiges Übergewicht den ästhetischen Inhalt-Form-Elementen gegen¬
über haben, daß diese in den Gebilden selbst fast oder völlig fehlen. Ein
ungeheures archäologisch-ethnographisches Material zeugt für das reale Vor¬
handensein dieser Möglichkeit. Andererseits - und dies ist der Fall bei
der Höhlenmalerei - kann aus den magischen Anforderungen etwas voll¬
wertig Ästhetisches entstehen, ohne daß dies für die magische Gegenwarts¬
praxis etwas wirklich Wesentliches bedeutet hätte; die künstlerische Höhe der
visuellen Gestaltung war ja hier fast unwahrnehmbar und kam, wie wir ge¬
sehen haben, evokativ gar nicht in Frage.
Diese spezifische Einheit des Notwendigen und Zufälligen in der magisch
produzierten Evokation muß ständig im Auge behalten werden, will man
die Genesis des ästhetischen Prinzips richtig verstehen. Sie erklärt vor allem
die außerordentliche Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung vieler Künste
und Kunstgattungen, sowie dieselbe Tendenz innerhalb eines gleichen Genres.
Hier kann natürlich nur der allgemeinste Grund des Phänomens aufgedeckt
werden; die Spezifikation gehört in den historisch-materialistischen Teil der
Ästhetik. Diese Einheit wirft aber zugleich ein Licht auf die besondere Be¬
ziehung der magisch-inhaltlichen Determination zu den durch ihre Formung
hervorgebrachten ästhetischen Gebilden. Wir haben bei der Behandlung der
Ornamentik sehen können, daß diese ihrem allgemeinsten Charakter nach
allegorisch ist, jedoch in einer ganz eigenartigen Weise. Denn in den
späteren allegorisch-ästhetischen Gebilden hat der transzendente Inhalt
immer einen gewissen - größeren oder kleineren - Einfluß auf die Gestal¬
tungsart jener Gegenstände, die zu ästhetischen Trägern des transzendent¬
allegorischen Sinnes bestimmt werden. In der Ornamentik dagegen ist dieser
Inhalt dem Gestalteten gegenüber derart transzendent, ein derart unabhängig
von jeder Gegenständlichkeit gesetzter Gehalt, daß er, wie wir gesehen
haben, leicht austauschbar wird. Hierdurch ist die Möglichkeit gegeben, daß
die ornamentale Gegenständlichkeit, das ornamentale Beziehungssystem vi¬
suell vollständig verständlich, ästhetisch restlos deutbar bleibt, auch wenn der
allegorische Sinn völlig verloren oder unentwirrbar vieldeutig geworden ist.
Die weitaus stärkere gegenständliche Eindeutigkeit der mimetischen Gebilde,
das weitaus größere Gewicht von realen Widerspiegelungsbildern der Wirk¬
lichkeit in ihnen erschwert in solchen Fällen eine derart reinliche Scheidung
452 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

des gestalteten Inhalts vom transzendent-allegorischen. Schon die ersten Re¬


gungen zur Gestaltung einer »Welt« schaffen innere Beziehungen zwischen
den beiden Inhaltskomplexen, so daß - oft —, wenn der transzendent-magi¬
sche Sinn verschwunden ist, am darstellerischen Gebilde manches unverständ¬
lich wird, und dies nicht, wie beim Ornament als ein verlorengegangener
(und ästhetisch gar nicht mehr gesuchter) Inhalt einfach nicht da ist, sondern
als Lücke, als ein wenigstens partielles Unverständlich-Werden des Form¬
zusammenhangs selbst. Das ist aber hier doch nur eine erste Tendenz. Erst
wenn die transzendenten Mächte bereits anthropomorphisierend personifi¬
ziert werden, entfalten sich die eben angedeuteten Spannungen, die später
zur Problematik der Allegorie führen. Je primitiver ein magischer Zustand
ist, desto geringer wird diese Spannung. Denn ob es sich, nach Frazers Ein¬
teilung, um imitative oder Ubertragungsmagie handelt: die transzendenten
Mächte selbst bleiben gestaltlos. Die magische Zauberei offenbart sich ent¬
weder in der Mimesis irdischer Gestalten zu Gegenständen, oder in deren
Manipulation, wie z. B. beim Zerstören des Abbilds jenes Menschen, der ma¬
gisch zugrunde gerichtet werden soll. Jedesmal kann sich die Zufälligkeit in
der Einheit von magischer und ästhetischer Mimesis ausdrücken. Stärker
höchstwahrscheinlich in der Übertragungsmagie, wo der evokative Charakter
der Widerspiegelung notwendig eine geringere Rolle spielt, als in der imi¬
tativen, obwohl auch in dieser sicherlich eine große Stufenleiter von bloß an¬
deutenden, abstrakt gewordenen Erinnerungsbildern bis zur Darstellungs¬
höhe der Höhlenmalerei zu finden ist. Jedenfalls ist auch hier die Bindung der
auf transzendente Wirkung intentionierten Darstellung an das transzendente
Ziel selbst - gerade darstellerisch - viel lockerer als in den späteren religiös
bestimmten Allegorien, in denen das konkrete Widerspiegelungsbild als sol¬
ches gleichzeitig die Mimesis eines diesseitigen Gegenstandes und seines jen¬
seitigen Urbilds sein soll.
Da dies in der bildnerischen Darstellung der Wirklichkeit prägnanter zum
Ausdruck gelangt als etwa im Tanz, ist die Tendenz zum - ästhetischen -
Säkularisieren der Magie, zur Konstitution der Selbständigkeit des ästheti¬
schen Prinzips in jener deutlicher als in diesem. Den qualitativen Unter¬
schied zwischen Tanz und bildender Kunst haben manche Forscher der Ent¬
stehungsperiode der Kunst bemerkt und festgestellt. So A. Gehlen, der im
ersteren »die mimische Darstellung in vivo, eine Versetzung des Menschen
in dieses Wesen, eine Identifikation«, erblickt, »die plastisch und handelnd
durchgeführt wird.« Dagegen sagt er über das Bild: »Noch vollendeter gibt
das Bild die Wesenheit wieder. Das Bild eines Tieres ist die zur festen Außen-
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 453

weit gewordene Darstellung, in ihm wird zwingend die dauernde virtuelle


Erfüllung dauernder virtueller Bedürfnisse anschaulich, also die Stabi¬
lität der sympathetischen Zuordnung von Welt und Mensch 1.« Die richtige
Feststellung einer bedeutsamen Tatsache muß hier von ihrer idealistisch-meta-
physischen Auslegung scharf getrennt werden. Erstens ist der beim Tanz ge¬
brauchte Ausdrude »Versetzung des Menschen in dieses Wesen« (»Tierwesen,
Mondwesen etc.«) ungenau, vieldeutig: er schwankt zwischen der modernen,
nichtssagenden »Einfühlung« und zwischen einer mystischen Identifikation. Das
Evozieren der letzteren wird freilich nicht selten magisdi oder religiös ange¬
strebt; gelingt es, so entstehen spezifisch magisch-religiöse Erlebnisse, wie z. B.
die Ekstase, hauptsächlich die orgiastische, denn die apathische bedarf zu ihrem
Hervorbringen ganz anderer, vorwiegend mit der Kunst nicht einmal in Be¬
ziehung stehender Mittel. So sehr mimetisch-magische Tanzerlebnisse zuweilen
mit orgiastischen konvergieren konnten, ist gerade hier die Differenzierung sehr
deutlich: während diese in erster Linie in den Tanzenden selbst die Ekstase her-
vorrufen wollen (Schamanen, Derwische etc.), entsteht bei jenen — um auf die
Zuschauer zu wirken — jene Distanzierung zu sich selbst, die wir bereits auch
in ihren theoretischen Konsequenzen ausführlich geschildert haben.
Gehlen hat also durchaus recht, wenn er die bildliche als »zur festen Außen¬
welt gewordene Darstellung« dem Tanz gegenüber hervorhebt. Es ist auch
richtig, wenn dabei der Akzent darauf gelegt wird, daß »dauernd virtuelle
Bedürfnisse« eine »dauernd virtuelle Erfüllung« erhalten. Jene besondere
Form der Distanzierung vom Alltagsleben, in welcher der Abstand vergrö¬
ßert wird, jedoch simultan mit einer Steigerung der sinnlich-unmittelbaren,
bewußt zum Zweck gewordenen Macht zur Evokation, ist im Bild dem Tanz
gegenüber fraglos gesteigert. Dadurch erhält die dem ganzen zugrunde lie¬
gende Widerspiegelung der Wirklichkeit unvergleichlich größere Perspektiven
der Entfaltung: sie kann ausgebreiteter, vermittelter, vertiefter, intensiver
etc. werden. Daß dabei das Moment der orgiastischen Ekstase in den Hinter¬
grund gedrängt wird, ja - tendentiell - verschwindet, ist ebenfalls ein
Zeichen dieser erstarkten Distanzierung. Gehlen verabsolutiert und verzerrt
jedoch sogleich die dabei entstehenden Erlebnisse der »Stabilität der sympa¬
thetischen Zuordnung von Welt und Mensch«, indem er sie als »General¬
thema der archaischen Metaphysik2« deutet. Seitdem es eine gedankliche

1 Gehlen: Urmensch und Spätkultur, a. a. O. S. 200.


2 Ebd.
454 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Selbstbesinnung der Menschen auf ihre künstlerischen Erlebnisse gibt, tauchen


Bestimmungen des Ästhetischen auf, die diese gegenseitige Angemessenheit
von Mensch und Welt zueinander betonen. (Man kann sagen, von Sir Philipp
Sidney bis Stendhal.) Sie enthalten fraglos ein wichtiges Moment seines
Wesens. Bei Gehlen wird aber gerade das Richtige falsch interpretiert, denn
er will darin nicht eine Determination der Kunst erblicken, sondern das
»Generalthema der archaischen Metaphysik«.
Ohne uns hier mit der weitabliegenden Frage einer solchen Metaphysik be¬
schäftigen zu können - wir halten diese Theorie, die eine Zentralstelle in
Gehlens Buch einnimmt, für eine reine Konstruktion, entstanden aus dem
Geist des heutigen, verzweifelten romantischen Antikapitalismus -, muß da¬
gegen folgendes kurz eingewendet werden: Sie verzerrt die Menschheits¬
entwicklung vollständig, wenn sie, nach Gehlens eigenen Worten, »die alten
Mythen beim Wort nimmt1« und mit der Hilfe einer solchen Methode aus
ideologischen Begleiterscheinungen treibende Kräfte herauszaubern zu kön¬
nen meint: wenn er etwa die Tierzucht nicht aus der Entwicklung der Pro¬
duktivkräfte, sondern aus den magisch-rituellen ideologischen Formen dieser
Zeit ableitet. Um den Kapitalismus unserer Tage kulturell zu kritisieren
(wozu er allen Grund hat), setzt Gehlen die wirtschaftliche Praxis, die er »ra¬
tionale Praxis« nennt - eine Terminologie, die nur dann eine gewisse Berech¬
tigung haben könnte, wenn sie ausschließlich den objektiven Sinn der Praxis
und nicht deren Bewußtseinsformen meinte -, in ihrer historischen Bedeu¬
tung herab, um die Wirksamkeit- rein ideologischer (hier magisch-ritueller)
Faktoren ins völlig Unangemessene zu überspannen und dadurch die von
ihm selbst in anderen Zusammenhängen richtig wahrgenommenen Phäno¬
mene zu verdunkeln und zu verzerren. Dies wird u. a. an folgender Argumen¬
tation deutlich: ». . . daß die Hege großer Tiere wieder nicht aus deren bloßer -
Beobachtung und aus praktischer Ausnutzung von Beobachtungen folgen
konnte, das beweisen die Eiszeitjäger selber: es gab niemals, wie ihre Höhlen¬
malereien beweisen, bessere Beobachter, und gerade sie erfanden die Tierhege
nicht, die wieder nur aus einem kultisch-darstellerischen Verhalten heraus zu
entwickeln war2.« Daß die spezifischen Qualitäten der Höhlenmalerei, dar¬
unter die außerordentliche Beobachtungsgabe, mit dem Jägertum der Wilden
Zusammenhängen, unterliegt keinem Zweifel. Warum aber aus einer Fähig-

1 Ebd. S. 282.
2 Ebd. S. 281.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 455

keit, die Tiere (zu Jagdzwecken) scharf und richtig zu beobachten, ein Über¬
gang zur Tierzucht folgen mußte, so daß, wenn dieser nicht eintrat, man die
Tierzucht nur aus magisch-rituellem Verhalten erklären müßte, bleibt ein
Geheimnis Gehlens. Er, ein sonst sehr guter Beobachter, will hier offenbar
nicht zur Kenntnis nehmen, daß die einzelnen menschlichen Fähigkeiten inner¬
halb verschiedener Produktionsweisen sich verschieden entwickeln. Die ein¬
mal erworbene Schärfe der Beobachtungsgabe mag bleiben, sie ist aber auf
andere Gegenstände und Zusammenhänge gerichtet. Das Ende der Eiszeit hat
eben andere Methoden der Nahrungssuche und der Produktion erfordert, die
eine radikale Umstellung aller Fähigkeiten zustande brachte; Einzelergebnisse
mögen z. B. künstlerisch weit hinter derPföhe der Jägerzeit Zurückbleiben; die
Gesamtkultur war jedoch eine prinzipiell entwickeltere. In solchen Zusammen¬
hängen entstanden Landbau und Viehzucht1. Gordon Childe weist auch dar¬
auf hin, daß in gewissen Jägergesellschaften der mittleren Steinzeit der Hund
bereits als Haustier bekannt war; d. h. jene Zähmung, die innerhalb des Hori¬
zontes einer von der Jagd lebenden Mensdhengruppe lag, konnte auch dort ver¬
wirklicht werden 2. Eine qualitative Änderung, wie Tierzucht, hatte eben eine
gründliche Änderung aller Produktionsverhältnisse zur Voraussetzung.
Diese und andere falsche Interpretationen der historischen Zusammenhänge
ändern nidits daran, daß Gehlen in der Bestimmung des Bildwerks als der
höheren - sachlich aufs Ästhetische gerichteten - Objektivationsstufe dem
Tanz gegenüber recht hat. Freilich ist auch der hier vollzogene Übergang
vom Einfacheren zum Entwickelteren keineswegs direkt und geradlinig. Es
ist sogar sehr wahrscheinlich, daß eine große Anzahl der ersten Bildwerke
einen reinen oder überwiegend magischen Nutzcharakter hatte, der sich nur
allmählich dahin differenzierte, daß das mimetische Element, die Konzentra¬
tion auf ein echtes Widerspiegelungsbild der Wirklichkeit, das entscheidende
Übergewicht erhielt. Denn für die imitativen Zwecke der Magie, für ihre
rituellen Manipulationen reicht oft ein kaum andeutendes, gewisse abstrakt
isolierte Züge des Wirklichkeitsvorbilds hervorhebendes Verfahren aus; be¬
sonders wenn es sich, nach Frazers Ausdruck, um Ubertragungsmagie handelt.
Aber auch dort, wo eine Art Nachahmung direkt bezweckt wird, herrscht,
wie wir bereits theoretisch gezeigt haben, ein vielfach von Zufällen bestimm¬
ter Zusammenhang zwischen den magischen Bedürfnissen und den aus ihnen

1 Vgl. Gordon Childe: Stufen der Kultur, a. a. O. S. 61.


2 Ebd. S. 54.
456 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

herauswachsenden ästhetischen Anforderungen. Gordon Childe beschreibt


solche Fälle bei den Jägern der Altsteinzeit folgendermaßen: »Die Gravet-
tier pflegten kleine Frauenfiguren aus Stein oder Mammutelfenbein zu
schnitzen, oder in Ton und Asche zu modellieren. Die Archäologen bezeich¬
nen diese Figuren mit dem Namen »Venus«, aber sie sind in der Regel scheu߬
lich: die meisten haben keine Gesichter, doch sind die Geschlechtsmerkmale
stets besonders hervorgehoben. Sicherlich wurden sie zu irgendeinem Frucht¬
barkeitsritus gebraucht, um die Vermehrung des Wildes zu sichern . . . Auf
jeden Fall müssen sie bedeuten, daß die Gravettier die weibliche Rolle bei
der Entstehung des Lebens begriffen und auf die Tiere und Pflanzen, von
denen sie sich ernährten, magisch ausdehnten h«
Wenn man die Bedeutung solcher Aussagen würdigt, muß man sich nicht un¬
bedingt dem summarischen ästhetischen Urteil Gordon Childes anschließen.
Hoernes1 2 weist richtig auf die auffallende Ungleichheit vom Standpunkt
einer künstlerischen Auffassung und Durcharbeitung in den Kleinplastikfun¬
den dieser Zeit hin. Das außerordentlich lange Nebeneinanderbestehen solcher
Tendenzen ist nur eine Bestätigung dessen, was wir bis jetzt über die Rolle des
Zufalls im Ablauf der Genesis des Ästhetischen ausgeführt haben. (Man denke
daran, wie stark auch in der religiösen Kunst ganz unkünstlerische, ja anti-
künstlerische Bildwerke - vom Standpunkt der Religion - in friedlicher
Koexistenz mit bedeutenden Kunstleistungen wirksam sein konnten. Daß be¬
stimmte Stufen der Entwicklung, man könnte sagen: physisch unfähig waren,
etwas ästhetisch Wertloses zu produzieren, ändert nichts an der Richtigkeit
dieses Gedankengangs.) Auch hier erfolgt die Loslösung des dem Wesen nach
ästhetisch Geformten vom bloßen Ritual- oder Zaubermittel der Magie
nicht als irgendeine »Erklärung« der Selbständigkeit der Kunst, sondern
so, daß es sich - infolge der Gleichgültigkeit der neuen Züge vom Stand¬
punkt der magischen Zielsetzungen - vorerst rein innerhalb der Gedanken-
und Gefühlswelt der Magie ausbildet. Erst allmählich entsteht unter den
Menschen eine gewisse »Gewöhnung« an das Weltschaffen der Kunst: In der
Regel dann, wenn die gesellschaftliche Entwicklung jene Gedanken und Ge¬
fühle, die dadurch erweckt und vertieft werden, allgemein erstarken läßt,
und damit eine Loslösung des Ästhetischen, der Eigenart der künstlerischen
Widerspiegelung der Wirklichkeit de facto ermöglicht. Selbstverständlich ist

1 Ebd. S. jo.
2 Hoernes: a. a. O. S. 16z ff.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 457

dies nicht nur ein allmählicher, sondern auch ein sehr ungleichmäßiger Pro¬
zeß, da seine komplizierten Beziehungen bei der Differenziertheit des Her-
austretens aus dem Urkommunismus äußerst verschieden zur Geltung ge¬
langen. Diese Ungleichmäßigkeit erstarkt auch dadurch, daß nicht nur die
gesellschaftlichen Bedürfnisse, die die Determination des Ästhetischen »von
außen« bestimmen, sehr unterschiedlidi sind, sondern ebenso weil die verschie¬
denen Künste, Kunstgattungen etc. auf diese mannigfaltigen Determinations¬
tendenzen sehr verschieden reagieren. Die hierbei entstehenden Entwicklungs¬
möglichkeiten oder -hemmungen auch nur anzudeuten liegt außerhalb des
Rahmens unserer Arbeit. Wie bereits wiederholt hervorgehoben, sind diese
Bedingungen in Hellas am allergünstigsten, gerade wegen der am allerwenig¬
sten theologisch und kastenmäßig fixierten gesellschaftlichen Art der Religion.
Jedenfalls zeigen diese Betrachtungen, daß die Loslösung in den bildenden
Künsten (und natürlidi auch in der Wortkunst) sich auf einem höheren Ni¬
veau abspielt als beim Tanz. Negativ dadurch, daß die Möglichkeit des Nach-
Innen-Wirkens, des Hervorbringens einer orgiastischen Ekstase im Tanzen¬
den selbst, bei diesen Künsten von vorneherein nicht in Frage kommt. In
verschiedener Weise, aber der Grundtendenz nach doch konvergierend,
drängen beide auf ein unmittelbar kontemplatives Verhalten als Wirkung,
was schon das subjektive Korrelat zum Weltschaffen bildet. Positiv dadurch,
daß in ihnen, entfalteter und reicher als im Tanz, der Drang zum Weltschaf¬
fen lebendig wird, wodurch subjektiv Gedanken und Gefühle evoziert wer¬
den, die dem Wesen nach von der Magie unabhängig sein müssen, auch wenn
diese Differenz beim Auftreten und noch lange Zeit nachher als solche nicht
bewußt werden kann. Formal drückt sich dieses Weltschaffen in der inneren
Abgerundetheit und Vollendung des künstlerischen Gebildes aus. Es ist jedoch
ohne weiteres klar, daß ein derartiger formaler Charakter nur der unmittel¬
bare Ausdruck für die gediegene Totalität des Gehalts sein kann, mag
dessen inhaltlicher Umfang noch so eng oder begrenzt erscheinen. Diese
gediegene Totalität des Gehalts macht das Weltmäßige, das in seiner inne¬
ren Komplettheit auf sich selbst Gestellte der Kunstwerke aus. Indessen ist
auch eine vom Gehalt ausgehende Bestimmung noch zu formal, um das
Allerwesentlichste klar zu bezeichnen. Die Gediegenheit hat hier eine dop¬
pelte Bedeutung: eine objektive und eine subjektive. Sie verweist in sub¬
jektiver Hinsicht darauf, daß die dargestellte Welt eine in unaufhebbarer
Weise und ausschließlich auf den Menschen bezogene ist. Die synthetische
Kraft seiner Sinne und deren wachsende Differenziertheit macht solche Wider¬
spiegelungen der Wirklichkeit möglich, in welchen deren objektive Wesens-
458 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Zeichen wahrheitsgetreu, in richtiger Proportion vorhanden sind. Gerade in


diesem Treffen der objektiven Realität offenbaren sie eine dem Menschen
angemessene Welt. Das objektive Korrelat dieser Sachlage besteht darin, daß
die Gediegenheit des Gestalteten die intensive Totalität der abgebildeten
Wirklichkeit, ihre wesentlichen Bestimmungen, ihre Gegenstände und deren
Beziehungen reflektiert. Indem so der intensiv gewordene ganze Mensch auf
diese intensive Totalität bezogen wird, kann sich aus dieser Gediegenheit der
Weltcharakter des Kunstwerks konstituieren.
Wir werden uns in den folgenden Betrachtungen ausführlich mit den viel¬
fachen Bestimmungen dieser Zusammenhänge beschäftigen. Um den Über¬
gang von dem Zustand der Genesis zu dem der Werkvollendung gedank¬
lich deutlich zu machen, sei vorerst das Problem von Gegenstand und Bezie¬
hungen kurz erörtert. Wir erinnern dabei an unsere Analyse der Weltlosigkeit
der Ornamentik. Ein wesentliches Moment dieser ihrer Eigenart war, daß,
soweit Widerspiegelungsbilder der objektiven Wirklichkeit (Pflanzen, Tiere
etc.) in ihr überhaupt vorkamen, sie aus ihrer natürlichen Umgebung heraus¬
gerissen und in Zusammenhänge eingefügt werden mußten, die mit ihrem
eigenen gegenständlichen Wesen nichts zu tun hatten. Derselbe Akt ließ zu¬
gleich ihre eigene Gegenständlichkeit zu einer dekorativen Zeichenhaftigkeit
verkümmern. Daß aus dieser gedoppelten Aufhebung aller intensiven Tota¬
lität in Gegenstand, Umwelt und Beziehung ein anderes, rein in sich voll¬
endetes Gegenstands- und Beziehungssystem, nämlich das der Ornamentik
entstand - und nur so entstehen konnte - ist die eine Seite der Sache. Un¬
sere Analyse, die in diesem Zusammenhang jetzt ausschließlich das Privative
hervorhebt, beinhaltet deshalb kein Werturteil. Umgekehrt wird freilich das
Werturteil mit positivem Inhalt, wie das unter modernen Kunsthistorikern
gang und gäbe ist, abgelehnt. Wir haben bereits über Worringer gesprochen.
Scheltema schreibt: wenn »die beobachteten Gegenstände nicht mehr in ihrer
ursprünglichen Gestalt dem optischen Gedächtnis erscheinen, setzt das höhere
Bewußtsein ein, indem es die nicht mehr gesehenen, sondern gewußten Formen,
soweit es möglich und erforderlich ist, wieder herstellt1«. Er will also nicht
den ungleichmäßigen historischen Übergang seit der Jungsteinzeit historisch
begreifen, sondern ein absolutes künstlerisches Ideal wenigstens für die ger¬
manische Kunst aufstellen. Damit wird die uns hier beschäftigende wichtige
Frage umgangen. Wenn wir die philosophische Genesis des Ästhetischen

1 Scheltema: a. a. O. S. 72.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 459

aufzudecken trachten, muß die richtige Bestimmung der Höhlenmalerei der


Altsteinzeit in ihrer ganzen Paradoxie geklärt werden. Einerseits ihre groß-
aitige realistische Wucht, andererseits die prinzipielle Unmöglichkeit, sie fort¬
zusetzen, sodann die zugleich historische und ästhetische Notwendigkeit für die
Kunstentwicklung, die Widerspiegelung der Wirklichkeit — Jahrtausende nach
solchen Gipfelleistungen - gewissermaßen von vorne anzufangen. Da wir hier
keine Kunstgeschichte schreiben, sondern philosophisch an die Genesis des
ästhetischen Prinzips heranzutreten trachten, gehen wir nicht nur von der all¬
gemein anerkannten Tatsache aus, daß die Gipfelleistungen der Höhlenmalerei
erst in unseren Tagen bekanntgeworden sind. Diese kunsthistorische Tatsache
ist ja nur eine Folge jener Katastrophe, die diese ganze Kultur vom Erdboden
weggewischt und die Menschen gezwungen hat, wirtschaftlich (und darum auch
künstlerisch) neu anzufangen. Wenn gerade Scheltema nachweisen will, daß
die ägyptische Kunst bei dieser ersten großen Kunst unmittelbar angeknüpft
hat, so wirkt das - ästhetisch - gar nicht überzeugend 1. Weder die realistische,
noch die stilisierende Kunst Ägyptens hat mit dem spezifischen Wesen der
großen Periode der Höhlenmalerei etwas zu tun: alle ihre Richtungen - aus¬
genommen natürlich die reine Ornamentik — sind bestimmt von der Tendenz,
eine Welt zu schaffen, und bedeuten in dieser Hinsicht einen Bruch mit dieser
einmaligen, unwiederholbaren Frühvollendung.
Die Höhlenmalerei der Jägerzeit ist nämlich zugleich realistisch und welt¬
los. Faktisch wird dies heute ziemlich allgemein anerkannt, nur in der äs¬
thetischen wie historischen Interpretation und Bewertung des Phänomens sind
große Differenzen vorhanden. Der Tatbestand wird von Hoernes richtig wie
folgt beschrieben: »Eine seltsame Unabhängigkeit bewahrten diese Künstler
auch darin, daß es ihnen nicht durchaus nötig schien, ihre im übrigen korrekt
ausgeführten Tierfiguren an den Höhlenwänden so hinzustellen, wie wir es
allein zulässig finden, nämlich mit abwärtsgekehrten Beinen und aufwärts¬
gewendeten Rücken. Wir begreifen, daß sie den Einzelfiguren keinen Rah¬
men gaben, und auch keine Bodenlinie zeichneten, nicht aber, daß sie die
Tiere, die allerdings zumeist auf einer idealen Horizontallinie stehen, ge¬
legentlich auch anders stellten. In dem großen >Tiergewimmel< von Altamira
entfernt sich die ideale Basislinie der Figuren von der horizontalen oft um
45 bis 90 °. Die schönsten ruhenden Bisonfiguren dieser pele-mele haben
als Basis eine senkrechte Linie, die meisten anderen schräge Linien von

1 Ebd. S. 77.
460 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

verschiedener Neigung und kaum eine Figur steht auf der Horizontalen. Ähn¬
liche Freiheiten nahmen sich die Maler der Höhlen Font-de-Gaume, beson¬
ders in der salle des petits bisons, die der Höhle von Niaux u. a. ... Diese
Willkür der Orientierung verstärkt noch den Eindruck, daß man nichts als
einzelne, untereinander in keiner Beziehung stehende Figuren vor sich hat b«
Es gehört zu den tief eingewurzelten ästhetischen Vorurteilen der spätkapita¬
listischen Kunsttheorie, daß sie jedem Realismus gegenüber - den sie zumeist
terminologisch mit dem Naturalismus gleichsetzt - eine mehr oder weniger
offene Verachtung hegt. Das äußert sich auch in bezug auf die Höhlen¬
malerei. Verworn z. B. läßt sie einfach aus einer Spielerei der Mußestun¬
den herauswachsen. »Die Technik des plastischen Knochenschnitzens und
Linienkratzens, wie sie bei der Herstellung der Knochenwerkzeuge und ihrer
Ornamentierung geübt wurde, mußte wie alle Technik zum Spielen heraus¬
fordern und was lag näher, als diejenigen Vorstellungen im Spiel zu ver¬
werten, die das ganze Vorsteilungsleben des paläolitischen Jägers über¬
haupt erfüllten, die Vorstellungen der Jagdsphäre1 2.« Bei genauerer und
vorurteilsfreierer Betrachtung der Lage erscheint diese jedoch viel kompli¬
zierter. Gordon Childe weist nicht bloß auf das hohe technische Niveau dieser
Bilder hin, sondern zeigt in den Funden selbst die deutlichen Spuren auf, die
ein solches handwerkliches Können ermöglicht haben: »von dem Magdalenien-
Fundort Limeuil in der Dordogne besitzen wir geradezu eine Mustersamm¬
lung von Steinplättchen und Kieseln, auf die so etwas wie verkleinerte
Probeskizzen für die Höhlenbilder geritzt sind; einige von ihnen zeigen Kor¬
rekturen, wie von eines Meisters Hand. Die Sammlung kann so etwas wie
lose Blätter aus den Skizzenbüchern einer Künstlerschule darstellen.« Er geht
sogar so weit, daß er hier »das Auftauchen der ersten Spezialisten« in der
Geschichte erblickt, die wegen ihrer für die Gemeinschaft unentbehrlichen
Tätigkeit von den unmittelbaren Produzenten erhalten wurden. Dieser
Nutzen liegt selbstredend im Gebiet der Magie, den man als ebenso wertvoll
betrachtete »wie den Scharfsinn des Fährtensuchers, die Treffsicherheit des
Löwenschützen, und den Mut des Jägers 3«.
Ein solches Berufskünstlertum kann naturgemäß nur auf dem Boden der ge¬
gebenen Formation gedeihen. Nun liegt hier aber zweifellos ein exzeptioneller

1 Hoernes: a. a. O. S. 124 f.
2 Verworn: Die Anfänge der Kunst, Jena 1909, S. 248.
3 Gordon Childe: Stufen der Kultur, a. a. O. S. 51.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 461

Fall vor: eine relativ hohe Kultur auf der Basis des Jagens, Fischens und
Sammelns, also auf einer sehr niedrigen Stufe der ökonomisch-sozialen Ent¬
wicklung. »Aber diese kulturelle Blüte«, sagt Gordon Childe, »dieser Bevöl¬
kerungszuwachs wurde nur ermöglicht durch die Nahrungsversorgung, die
durch die besonderen eiszeitlichen Umweltsbedingungen und eine einseitig auf
deren Ausbeutung zugeschnittene Wirtschaftsweise reichlich gewährleistet
wurde. Mit dem Ende der Eiszeit gingen auch diese Umweltsbedingungen
dahin. Als die Gletscher abschmolzen, rückte der Wald in Tundren und Step¬
pen vor, und die Herden der Mammuts, Renntiere, Wisente und Pferde
wanderten ab oder starben aus. Mit ihrem Verschwinden welkten auch die
Kulturen dahin, die von ihnen gelebt hatten 1.« Daraus erklärt sich sowohl die
Blüte, wie die Unmöglichkeit einer - unmittelbaren - Fortsetzung.
Die vom Standpunkt der Ästhetik einzigartige Wesensart dieser Kunst beruht,
was wir eingangs hervorhoben, auf der zugleich realistischen, die objektive
Wirklichkeit treu, richtig, das Wesentliche hervorhebenden Widerspiege¬
lungsart, die aber dennoch eine weltlose ist. Letztere Bestimmung ist nur in
diesem Konnex der Grund für ihre Unfortsetzbarkeit; die Ornamentik ist,
wie gezeigt wurde, ihrem ästhetischen Wesen nach weltlos. Dennoch ist die¬
ser ihr Charakter geradezu ein Motor für ihre frühe Hochentwicklung; zu¬
gleich aber ein Grund dafür, daß sie in jeder Kultur, die nur gewisse Daseins¬
bedingungen für sie schafft, erhalten bleiben oder sich weiterentfalten kann.
Realismus und Weltlosigkeit sind aber ästhetisch gesehen einander ausschlie¬
ßende Gegensätze: jede Widerspiegelung der Wirklichkeit, die nicht an einer
naturalistisch-unmittelbaren Oberfläche haftenbleibt, die also auf die Repro¬
duktion der intensiven Totalität, der Totalität der wesentlichen, der sinnlich
in Erscheinung tretenden Bestimmungen der Gegenstände gerichtet ist,
schafft - mit oder ohne Absicht - eine Art von Welt. Die Paradoxie in
den Gipfelleistungen der Höhlenmalerei aus der Altsteinzeit besteht darin,
daß die abgebildeten Tiere, als vereinzelte Gegenstände betrachtet, diese
intensive Totalität der Bestimmungen, also eine innere Intention auf Welt-
haftigkeit zu besitzen scheinen, zugleich jedoch vollkommen isoliert, in ihrem
abstrakten Fürsichsein dargestellt werden, als ob ihre Existenz nicht einmal
mit dem sie unmittelbar umgebenden Raum, geschweige denn mit ihrer natür¬
lichen Umwelt in Wechselbeziehungen stünde. Sie stehen also - künstlerisch -
außerhalb einer jeden Welt, ihre Gestaltung ist letzten Endes weltlos.

1 Ebd. S. 54.
462 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Damit ist keine motivische Isolation gemeint. Eine solche kommt in der spä¬
teren Malerei sehr häufig vor, sie ist aber dort eben immer ein bewußt ge¬
wähltes Motiv, wobei die Beziehungen zur Umwelt entweder direkt als
Wechselbeziehungen zur unmittelbaren Umgebung, auch wenn diese bloßer
Hintergrund zu sein scheint, oder indirekt, etwa im Gesichtsausdruck, in den
Gesten etc. eines Porträts zum Ausdruck gelangen. Das alles fehlt in dieser
Malerei noch völlig. Selbst wenn man Kühn recht gibt, daß im späten Mag-
dalenien etwa kämpfende Bisons dargestellt wurden, so handelt es sich
bestenfalls um ein motivisches (ikonographisches) Zusammenkomponieren. In
der künstlerischen Durchführung ist keine Spur einer Mehrfigurenkomposi¬
tion enthalten 1. Und trotzdem kann von keinem bloßen Naturalismus, von
keiner bloß — photographisch — treuen Nachahmung der einzelnen Modelle
die Rede sein. Die Darstellung ist - wir sprechen natürlich immer nur von
den Spitzenleistungen - stets energisch auf das Typische gerichtet und die
naturwahren Details sind der sich daraus ergebenden realistisch-künstleri¬
schen Hierarchie untergeordnet; ihre Naturnähe ist nur ein Vehikel, um diese
Typik visuell, malerisch zum Ausdruck zu bringen.
Wie ist dies möglich? Unsere Art, die Welt visuell aufzunehmen, auf visuelle
Darstellungen der Welt spontan zu reagieren, hat den Zugang zu dieser
Art von »malerischer Weltanschauung« bereits verloren. Und es ist das Zei¬
chen der sich hier offenbarenden großen Kunst, daß sie überhaupt - und
zwar sehr stark - auf uns zu wirken imstande ist. (Dabei ist es höchstwahr¬
scheinlich, daß wir in der Rezeption dieser Werke, auch wenn wir uns ihre
Einzigartigkeit bewußt machen und so erlebend anerkennen, sie - spontan¬
unbewußt - unseren später ausgebildeten Wahrnehmungs- und Einbildungs¬
weisen viel stärker annähern, als dies in der objektiven Intention ihres Ge¬
staltetseins angelegt war.) Jedes abgebildete Tier existiert malerisch in einem
absoluten, isolierten Fürsichsein und vereinigt in sich doch alle Bestimmungen,
die es — objektiv, in der Wirklichkeit — aus den unendlichen Wechselwirkungen
mit seiner Umwelt erworben hat. Es besitzt diese jedoch so, daß ein solcher Be¬
sitz der Bestimmungen mit strikter Ausschließlichkeit auf das isolierte Einzel¬
exemplar zentriert ist und dieses - gerade durch eine derartige inselhafte Ver¬
einzelung — aus der Einzelheit heraushebt, zum Urbild seiner selbst macht.
Wenn wir die Möglichkeit dieses paradoxen Falls gedanklich klären wollen,
so müssen wir vor allem an die niedrige Stufe der materiellen Kultur der

1 Kühn: a. a. O. S. 14.
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 463

Entstehungszeit denken. Diese zeigt sich im Alltagsleben des Subjekts so, daß
eine außergewöhnliche, die späteren Kulturen weit übertreffende sinnliche
Beobachtungs- und Fixierungsgabe der Einzelheiten der Umwelt vorhanden
war. Ich erinnere an unsere frühere Feststellung, daß etwa Hirten - einer
freilich späteren Entwicklungsstufe — zwar ihre Herde nicht zu zählen im¬
stande waren, jedoch jedes einzelne Tierindividuum so scharf und individua¬
lisiert im Gedächtnis eingeprägt mit sich trugen, daß sie augenblicklich fest¬
stellen konnten: dieses oder jenes Tier wird vermißt. So sprechen Spencer
und Gillen von der wunderbaren Fähigkeit primitiver Völker für die Spuren
eines jeden Tieres, so erkennen sie Weg und Richtung in den Wäldern, etc.1.
Verworn nennt, von solchen Tatsachen ausgehend, diese Kunst eine »physio-
plastische«, »die nur das wirkliche Objekt selbst oder sein unmittelbares Er¬
innerungsbild, aber keinerlei Spekulation darüber, keinerlei Reflexion und
Überlegung zum Ausdruck bringt«. Er kontrastiert sie mit der späteren
Kunst, indem er selbst die fratzenhaftesten Kinderzeichnungen als »ideo-
plastische Kunst« höherstellt, da sie über eine solche Unmittelbarkeit und
Gedankenlosigkeit hinaus sind 2. Auch hier mischt sich — in einer für uns
lehrreichen Weise - Richtiges mit Falschem. In der Feststellung der geistigen
Entwicklungshöhe hat Verworn zweifellos recht. Er begeht aber den typi¬
schen, modern-bürgerlichen, idealistischen Irrtum, die Menschen in »Seelen¬
vermögen« zu zerlegen, und diese dann auf die verschiedenen historischen
Etappen zu verteilen, während es in Wirklichkeit immer um die Entwicklung
des ganzen Menschen ging, und die Änderungen des subjektiven Faktors sich
innerhalb der Einheit dieses Ganzen abspielen müssen. Gerade deshalb erhal¬
ten aber die Unterschiede und Gegensätze der Perioden, wenn sie in Verworns
Art gefaßt werden, einen starren metaphysischen Charakter, so in der eben
zitierten Gegenüberstellung, die nach alten literaturhistorischen Schemen
(etwa: Aufklärung als ausschließliche Herrschaft des Verstandes, Sturm und
Drang als ausschließliche Revolte des Gefühls gegen den Verstand, als »Prä¬
romantik« etc.) die Perioden abstrakt und infolge der steifen Abstraktion ver¬
zerrt gegeneinander ausspielen. Wenn die Menschen der Jägerkultur bloß die
isolierten Objekte oder ihre ebenso isolierten Erinnerungsbilder besessen hät¬
ten, wären sie zweifellos elend verhungert. Schon unser früher angeführtes
Beispiel von ihrer glänzenden Orientierungsfähigkeit in den Wäldern zeigt,

1 Zitiert bei Levy-Bruhl a. a. O. S. 88 f.


2 Verworn: a. a. O. S. 50.
464 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

daß ihre scharfen Wahrnehmungen miteinander organisch verbunden waren,


und untereinander gewisse konkrete Ganzheiten gebildet haben. Daß dabei
die Reflexion eine geringere Rolle gespielt hat, als in späteren Zeiten, sogar
bei den Bauern und Viehzüchtern der jüngeren Steinzeit, unterliegt keinem
Zweifel. Jedoch um auf unsere isolierten Tierbilder zurückzukommen: wenn
der magische Glaube verbreitet war, die richtige Abbildung eines Tieres
garantiere den Erfolg seines Jagens: was ist dies anderes, als die Reflexion
über einen Zusammenhang der Gegenstände? Sogar eine Reflexion, die über
das sinnlich Gegebene abstrahierend hinausgeht. (Hier ist nicht von der sach¬
lichen Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Reflexionen die Rede, sondern von
ihrem Reflexionscharakter.)
Die Jäger der Altsteinzeit haben also sowohl sinnlich-unmittelbar, wie in ge¬
danklichen Reflexionen die Gegenstände miteinander verknüpft wie
entsteht dennoch das isolierte Tierbild in ihrer Malerei? Vor allem darf
man nie vergessen, daß die Umwelt für Mensch und Tier nie isolierte Gegen¬
stände, sondern immer nur deren konkretes Ensemble darbietet. Es ist ein
sehr interessantes Moment in Pawlows Hundeexperimenten, daß die ein¬
ander völlig heterogenen und - sowohl sachlich angesehen wie vom Stand¬
punkt des Hundes - zufällig aufeinanderfolgenden Auslöser von Reflexen
oder Hemmungen (Metronom, Säure, etc.) nach einer gewissen Anzahl von
Wiederholungen vom Hund als konkret zusammengehörig apperzipiert wer¬
den und zwar so, daß die Fixierung der bedingten Reflexe von ihrer Reihen¬
folge, von ihren zeitlichen Abständen etc. bedingt wird. Änderungen, auch
nur einer Komponente, können zeitweilige, mitunter sogar dauerhafte Stö¬
rungen, ja Nervenkrisen hervorrufen. Mit Recht benutzen Pawlow und seine
Mitarbeiter diese Experimente dazu, um die verschiedenen Typen und Arten
der Beweglichkeit in der Anpassung bei den Versuchstieren zu ergründen h
Wenn solche Verknüpfungen bei Tieren auch dann entstehen, wenn der Zu¬
sammenhang der sich ablösenden Reize ein bloßes factum brutum ohne im¬
manenten objektiven Sinn ist und an sich in keinem Zusammenhang zu ihrem
normalen Leben steht, wie sollten sie bei höheren Tieren in ihrer naturhaften
Umgebung oder gar bei Menschen fehlen?
Es handelt sich um ein mehr oder weniger bewegliches und doch fixiertes
System von bedingten Reflexen. Natürlich hat gerade Pawlow gezeigt, daß
bei den Menschen durch Ausbildung der Sprache (und fügen wir hinzu: der

1 Pawlow: Mittwochkolloquien, a. a. O. II. S. 338-340, III. S. 95, 258-260 usw.


Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 465

Arbeit) ein höheres, zweites Signalsystem entsteht, das zur Grundlage der
wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit erwächst, das diese in
ihrer Gegenständlichkeit, in ihren Beziehungen und Zusammenhängen, in
ihren relativen und immer größer und umfassender wahrgenommenen Tota¬
litäten der Umwelt bis zur Totalität der Welt selbst erfaßt. Es wird die Auf¬
gabe eines späteren Kapitels sein, zu zeigen, daß die Synthesen der Kunst,
darunter vor allem das Widerspiegeln der Wirklichkeit als evokative »Welt«
ein höheres Signalsystem sui generis erfordern und hervorbringen. Dieses teilt
mit dem Pawlowschen zweiten Signalsystem den umfassenderen und das We¬
sen darstellenden Charakter den gewöhnlichen bedingten Reflexen gegenüber,
zugleich jedoch nimmt es nicht unbedingt die eindeutige BegrifTlichkeit des
zweiten Signalsystems in Anspruch, um Synthesen weit höherer Ordnung als
die bedingten Reflexe zu vollbringen, mit denen es eine gewisse Gebun¬
denheit an die unmittelbar-sinnlichen Erreger teilt. Dieser vorwegnehmende
Hinweis war darum notwendig, um wenigstens den »logischen Ort« und da¬
mit die Methodologie der Lösung der hier auftauchenden Probleme anzu¬
deuten. Ebenso vorwegnehmend muß jetzt schon bemerkt werden, daß die
verschiedenen Reflex- und Signalsysteme sich zwar ihrem Wesen nach von¬
einander unterscheiden, jedoch keineswegs übergangslos voneinander getrennt
sind. Es ist bekannt, daß eine Bewegung hin und her zwischen bedingten und
unbedingten Reflexen im Laufe der Evolution eintreten kann und muß, noch
mehr zwischen den hier aufgezählten verschiedenen Systemen. Hier müssen
diese vorläufigen, vorwegnehmend andeutenden Bemerkungen genügen; eine
einigermaßen exakte Darlegung muß dem dieser Frage gewidmeten Kapitel
Vorbehalten werden.
Diese Vorwegnahme war darum notwendig, weil nur mit ihrer Hilfe ge¬
wisse Probleme einer ungleichmäßigen Entwicklung beleuchtet und jene Feh¬
ler vermieden werden können, daß man — in unserem Fall - vergangenen
Zeiten entweder die Struktur unseres Seelenlebens unterschiebt, was einige
begeisterte Verehrer dieser Malerei taten, oder daß man, wie z. B. Verworn,
ihre Primitivität in pejorativem Sinne stilisiert, und damit homunculi schafft,
die in der Wirklichkeit keinen Augenblick zu existieren fähig wären. Unsere
Betrachtungen gehen dagegen darauf aus, zu zeigen, wie einerseits eine der¬
artig außergewöhnliche Werkvollendung auf ökonomisch-sozial höchst un¬
entwickelter Stufe, infolge exzeptionell günstiger Umstände möglich wurde,
wie diese künstlerische Höhe andererseits gerade in ihrem ästhetischen
Wesen sich nicht über jenes Niveau erheben konnte, das auf dieser
Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung objektiv und subjektiv möglich
466 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

war. Wir haben bereits, im Anschluß an die Forschungen Gordon Childes, auf
diese außergewöhnlichen Umstände hingewiesen. Sie drücken sich vor allem
darin aus, daß hier, als strikte Ausnahme auf dieser Stufe, eine Art Berufs¬
künstlertum möglich wurde, wodurch die ganze Intensität der vorhandenen
visuell-sinnlichen Aufnahme der Wirklichkeit in einer großen Malerei sich
ausformen konnte, während diese Fähigkeiten bei nur ein wenig geringerer
Gunst der Umstände in der normalen Alltagspraxis der Wilden steckengeblie¬
ben sind und gar keine oder ästhetisch nicht in Betracht kommende Spuren
hinterlassen konnten. Diese künstlerische Realisierung ist jedoch nur das Ak¬
tuellwerden von potentiell vorhandenen, in der gesellschaftlichen Lebensweise
fundierten Fähigkeiten, kein Überschreiten des Horizonts, den dieses gesell¬
schaftliche Sein dem Bewußtsein der darin lebenden Menschen imperativ auf¬
erlegt.
Natürlich ist auch diese Gunst der Umstände unter den Verhältnissen der
Jäger aus der Altsteinzeit weitaus einfacher, als auf entwickelterer Stufe.
Jedodi gerade dadurch wird sichtbar, daß auch unter weitaus komplizier¬
teren gesellschaftlichen Bedingungen bestimmte - freilich viel verwickeltere
- Konstellationen dazu gehören, um aus den normalen, gesellschaftlich zu¬
stande gekommenen Fähigkeiten der Menschen eine Kunst überhaupt und gar
eine große Kunst entstehen zu lassen. Und es zeigt sich auch, daß diese Be¬
dingungen - je entwickelter die Kultur ist, desto mehr - für die verschie¬
denen Künste prinzipiell verschiedene sind; auch hier waren die fördernden
Tendenzen nur der Entfaltung einer bestimmten Art der Malerei günstig. Die
Gebundenheit der Menschen und mit ihnen der Künstler an den Horizont
der jeweiligen materiellen und geistigen Kultur ist ebenfalls nur in dieser
höchsten Abstraktion absolut wahr. Sobald wir diese Bindung in verschiede¬
nen gesellschaftlichen Strukturen konkret ins Auge fassen, zeigt es sich, daß
deren jeweilige konkrete Dynamik darüber entscheidet, ob die hier ent¬
stehenden Schranken starr oder elastisch sind. Die besondere, exzeptionelle
Höhe dieser Jägerkultur war wörtlich genommen ein Ausnahmefall, der nicht
einmal abstrakte Möglichkeiten einer Weiterführung, geschweige denn einer
immanenten Höherführung in eine entwickeltere Formation gestattete. Das
hängt vor allem mit dem überwiegenden Naturcharakter der Wandlung in
der materiellen Basis zusammen. Das Ende der Eiszeit mähte dem außer¬
ordentlichen Wildreichtum ein Ende, und mit dieser Änderung verschwand
dieser ganze kulturelle Aufshwung shon in der mittleren Steinzeit. Natür¬
lich gibt es Formationen, deren innere Dialektik die auf sie folgenden aus
diesen selbst entstehen läßt (Feudalismus-Kapitalismus, noh deutliher
Die Weltlosigkeit der Höhlenbilder aus der Altsteinzeit 467

Kapitalismus-Sozialismus); in solchen Fällen kann auf der gegebenen Basis


ein »prophetisches Gestalten« entstehen, ohne daß dadurch die von uns auf¬
gezeigte inhaltliche und strukturelle Gebundenheit an die ökonomisch-sozia¬
len Fundamente aufgehoben wäre. Das zeigt wieder, wie in allen solchen
Fragen, daß die methodologischen Gesichtspunkte des dialektischen und
historischen Materialismus ineinander übergehen, daß keine einzige Frage
eines solchen Problemkomplexes ohne eine ergänzende Inanspruchnahme bei¬
der wirklich lösbar ist.
So kommen wir dazu, aus dem Aufdecken der realen Basis der Höhlenmalerei
ihr paradoxes künstlerisches Wesen näher zu bestimmen. Die subjektive An¬
lage war die - unsere weit übertreffende - Beobachtungsgabe visueller
Phänomene in ihrer Einzigartigkeit und in ihrer damit aufs engste verbunde¬
nen Typik. Denn, wenn wir z. B. den früher angegebenen Fall der genauen
Wahrnehmungen der Fußspuren von diesem Standpunkt näher betrachten,
so sehen wir, daß die äußerste Feinfühligkeit für den Einzelfall in seiner
äußersten Differenziertheit (junges oder altes Tier, verwundet etc.) die
unmittelbare sinnliche Subsumtion unter etwas Allgemeines (Fußspur dieser
Tiergattung) voraussetzt. Das Zusammenfallen von Individualität und
Typik in dieser Malerei ist also nur eine Steigerung von visuellen Wahr¬
nehmungsfertigkeiten ins Künstlerische, die die Widerspiegelungspraxis im
Alltag des Jägerlebens notwendig ausbildet. Die konkrete Möglichkeit zu
einer Umsetzung dieser in der Alltagspraxis unentbehrlidien Fähigkeiten ins
Künstlerische entsteht, wie wir gesehen haben, vermittels der gesellschaft¬
lichen Arbeitsteilung, der »Entstehung eines Berufskünstlertums«, wo sich
bereits die späteren Unterschiede an Begabung und Können keimhaft zu
zeigen beginnen. Die magische Zielsetzung dieser Widerspiegelungen der
Wirklichkeit ist nun eine für das Kunstschaffen aller Zeiten bezeichnende
Determination »von außen«: sowohl inhaltlich, als Konzentration auf die
damals wichtigsten Objekte des Lebens, auf das zu erlegende Wild, wie for¬
mal als pathetische Aufforderung, diese Gegenstände in ihrer wirklichen,
naturhaften Beschaffenheit, also individuell und typisch zugleich visuell zu
gestalten.
Das »von außen«, das hier rein magisch ist, nämlich Mimesis der Wirklichkeit,
um die »hinter ihnen« wirkenden Kräfte in einer für die Gemeinschaft gün¬
stigen Weise zu beeinflussen, schafft die für uns so paradox wirkende Inten¬
tion eines hochwertigen Realismus einzelner Gestaltungen bei völligem und
radikalem Außerachtlassen aller Beziehungen des betreffenden Gegenstandes
zu seiner Umwelt, ja selbst zu dem ihn unmittelbar umgebenden Raum. Aus
468 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

der magischen Determination der evokativen Zielsetzung wird auch diese


Paradoxie verständlich: die wesentliche, den Erfolg bestimmende Verbindung
hat hier eine Ubiquität, d. h. die Mimesis muß sich bloß auf das isolierte
Objekt beziehen, kann aber auf diese Weise ihre Wirkung auf jedes einzelne
Exemplar der mimetisch nachgebildeten Gattung unter welchen Umständen
immer ausüben.
Das Pathos dieser Konzentration auf ein außerhalb jeder Umgebung abge¬
bildetes, aber gerade darum realistisch-typisch aufgefaßtes Objekt hat noch
tiefere Gründe als das damals unbedingt herrschende »falsche Bewußtsein«
der Magie. Besser gesagt: deren Wirkung wird durch ihre Fundiertheit in
absolut primären Forderungen des Lebens verstärkt und vertieft. Boas macht,
Gesänge und Erzählungen primitiver Völker untersuchend, mit Recht darauf
aufmerksam, daß in diesen ganz andere Emotionen das entscheidende Ge¬
wicht besitzen als bei uns. Er verweist dabei vor allem auf den Hunger:
»Für einen primitiven Menschen ist der Hunger etwas völlig Verschiedenes,
als für uns, die gewöhnlich seine Qual nicht kennen, die wir uns die Schrecken
des Verhungerns nicht vorstellen können 1.« Die magisch bestimmte Mime¬
sis sublimiert solche Emotionen zur Fähigkeit, die Objekte realistisch-typisch
darzustellen, deren Intensität jedoch genauso wie ihr Gerichtetsein auf das
einzelne Tier bei voller Gleichgültigkeit für seine Umwelt, die von uns be¬
schriebene Richtung dieses »Kunstwollens« verstärkt.
Indem nun die spezifischen visuellen Fähigkeiten der primitiven Jäger
einerseits aufs Evokative gerichtet und künstlerisch ausgebildet wurden, in¬
dem andererseits ihre Tätigkeit durch solche Aufgaben eine derart bestimmte
Konzentration erhielt, verliert zwar die Paradoxie nicht ihren ästhetisch
paradoxen Charakter, erscheint jedoch als sozial-historisch hinreichend deter¬
miniert. Es ist hier nicht vom normalen Kindheitsalter der Menschheitsent¬
wicklung die Rede, die Marx bei Homer hervorhebt, wohl aber von einer
vorzeitigen isolierten Eruption der realistisch-mimetischen Fähigkeiten und
Möglichkeiten der Menschen, die zwar weder unmittelbar geschichtlich eine
Nachfolge, einen Anschluß, eine Weiterbildung erfahren, noch mit der späte¬
ren Entwicklung in evolutionäre Verbindung gesetzt werden können, in denen
aber trotz alledem eine fundamentale Tatsache jeder Kunst deutlich zum
Vorschein kommt: die unlösbare Zusammengehörigkeit der evokativen Mi¬
mesis mit dem künstlerischen Realismus. Die eine Seite der Mimesis, das

1 Boas: a. a. O. S. 325.
Die Voraussetzungen der Weltbaftigkeit der Kunstwerke 469

Weltschaffen, fehlt hier, aus den dargelegten Gründen, ebenso vollständig,


wie die andere, das realistische Gegenstandsschaffen in Vollendung vor uns
steht. Und darin drückt sich zugleich die doppelte Bestimmung einer jeden
großen Kunst aus: die Untrennbarkeit ihres historischen Wesens von ihrer
für die ganze Menschheitsgeschichte geltenden Erfüllung der ästhetischen
Norm. Gerade indem sich hier die Geistesart einer ganz anfänglichen, höchst
primitiven Etappe zur Kunst erhebt, wird diese ästhetische Einheit verwirk¬
licht: die der unlösbaren gesellschaftlich-geschichtlichen Gebundenheit an den
Entstehungsboden mit der - in jeder echten Kunst - unwahrscheinlich und
doch unmittelbar überzeugend wirkenden Erhebung über das Gedanken- und
Gefühlsniveau jenes Alltags, dessen Boden sie hervorgebracht hat.

II Die Voraussetzungen der Weltbaftigkeit der Kunstwerke

Wenn wir auf den Unterschied dieser Kunst mit jener, die als die einer nor¬
malen Kindheit bezeichnet wurde, reflektieren, so kann uns eine andere Be¬
stimmung der Genesis des Ästhetischen bewußt werden, die auch später in
ihrer Weiterentwicklung eine wichtige Rolle spielt: die Überwindung der
Naturschranken, die Dominanz der aus dem gesellschaftlichen Zusammen¬
schluß der Menschen stammenden Bestimmungen, die ihre Existenz auf die
Beziehungen der Menschen zueinander und auf deren - gesellschaftlich be¬
dingten - immer reicher werdenden Stoffwechsel mit der Natur zurück¬
führen. Das Unnachahmliche Homers besteht nicht zuletzt darin, daß dieses
Zurückweichen der Naturschranke schon begonnen hat, daß aber zugleich
das nachdrängende gesellschaftliche Leben des Menschen doch als eine neue,
als eine vom Menschen für den Menschen erschaffene »Natur« sich offenbart.
In der paradoxen Schönheit der Höhlenbilder waltet noch dieses Eingehüllt¬
sein; die Naturschranke erscheint noch nicht als solche, vielmehr als angebo¬
rener Umriß des menschlichen Lebens selbst. Objektiv hat der Mensch natür¬
lich mit seinem ersten Arbeitshandgriff, mit seinem ersten den Begriff mei¬
nenden, artikulierten Wort die volle Naturgebundenheit gekündigt. Es be¬
darf jedoch eines unerhört langen Weges, um beim Heraustreten aus der Na¬
tur dieses Ansich in ein bewußtes Fürsich zu verwandeln. Gerade die Magie
als »Weltanschauung«, die die ersten Schritte dieses Zurückweichens der Na¬
turschranken im Bewußtsein der Menschen post festum begleitet — sie zu¬
gleich erhellend und verdunkelnd —, macht ein zur Gestalt werdendes Für
sich sowohl im Gedanken wie im Gestalten unmöglich. Das Normale an den
47° Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Kindheitszügen Homers beruht eben darauf, daß kein derartiger Einfluß


mehr die Besinnung des Menschen auf sich selbst verhindern kann, während
für die meisten anderen Produkte dieser Etappe solche Mächte noch wirksam
bleiben; darum gilt für sie das Wort von Marx: »Es gibt ungezogene Kinder
und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorie 1.«
Natürlich ist dieses Zurückweichen der Naturschranke etwas Relatives, und
diese Relativität enthält einen unaufhebbaren und gerade darum äußerst
fruchtbaren Widerspruch. Der Mensch kann ja objektiv wie subjektiv nie
völlig aus der Natur heraustreten. Objektiv, weil das entscheidende Feld sei¬
ner gesellschaftlichen Tätigkeit immer der Stoffwechsel der Gesellschaft mit
der Natur bleiben muß. Er mag diese noch so sehr seinen Zielsetzungen unter¬
werfen, er mag sie noch so sehr beherrschen: mit dieser Herrschaft selbst ist
die Unaufhebbarkeit der Natur als Objekt seiner Praxis gesetzt. Subjektiv,
weil der noch so sehr vergesellschaftete Mensch biologisch immer als Natur¬
wesen existieren muß. Als Mensch ist er zwar das Produkt seiner eigenen
Arbeit, damit kann er jedoch seine tierisch-biologischen Gegebenheiten bloß
energisch umformen, in vieler Hinsicht etwas in der Natur vor diesem Selbst¬
schöpfungsprozeß noch nicht Vorhandenes hervorbringen; die unauflösliche
Bindung auch der höchsten, von der Natur entferntesten Fähigkeiten an ihre
biologische Basis bleibt dennoch unaufhebbar. Damit relativiert sich der
grundlegende Widerspruch weiter und reproduziert sich auf immer höherer
Stufe. Denn einerseits erleidet das anthropologische Wesen des Menschen
seit seiner Menschwerdung keine wesenhafte, qualitative Änderung, anderer¬
seits fixieren sich im Laufe der Entwicklung gesellschaftlich produzierte
Eigenschaften und Vorstellungsweisen derart, daß sie jedem entstehenden
Neuen gegenüber in ihrer unmittelbaren Wirkung »naturhaft« auftreten,
eine Art »zweite Natur« bilden. In der realen Evolution ist deshalb das
Zurückweichen der wirklichen Naturschranke oft ununterscheidbar mit einem
Kampf gegen die aus der gesellschaftlichen Gewöhnung entstandenen »zwei¬
ten Natur« verschlungen.
Die Dialektik eines solchen mühevollen und streiterfüllten Wegs nach oben
ist aber für die ästhetische Widerspiegelung von besonderer Wichtigkeit.
Die aus der Arbeit direkt entsprungene und diese oft direkt beeinflussende
wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit muß ihrer desanthropo-
morphisierenden Wesensart entsprechend einen frontalen Kampf gegen die

1 Marx: Grundrisse, I. a. a. O. S. 31.


Die Voraussetzungen der Weltbaftigkeit der Kunstwerke 47*

biologisch-anthropologischen Schranken des Mensdien führen. Die Entwick¬


lung des ästhetischen Prinzips muß in diesem Komplex der Widersprüdie eine
viel kompliziertere Position einnehmen. Denn sowohl das Festhalten an den
zur »zweiten Natur« sich zusammenziehenden und sich dort konstituierenden
Kräften, wie das Bündnis mit dem Neuen, das diese zweite Natur zerstören
oder wenigstens umzumodeln versudrt, kann - je nach der Lage, oft sogar
je nach der Künstlerpersönlichkeit — für die Entwicklung der Kunst günstig
oder ungünstig sein. In weiter historischer Perspektive betrachtet wird na¬
türlich im Allgemeinen — auch hier nicht unbedingt — das vorwärtstreibende,
gegen eine erstarrte »zweite Natur« Stellung nehmende Prinzip recht behal¬
ten. Denn das Zurückweichen der Naturschranke ist ein allgemeines Gesetz
der Menschheitsentwicklung, und so ungleichmäßig auch die Kunst dieser
folgt oder ihr Wegweiserdienste leistet, muß hier letzten Endes doch eine
Konvergenz entstehen.
Denn - um auf unser gegenwärtiges Problem zurückzukommen - der
Gehalt der mimetisch gestalteten Welt wächst ununterbrochen im Laufe dieser
Bewegung. Nur der verbale Ausdruck im Zurückweichen der Naturschran¬
ken ist negativ; in Wirklichkeit handelt es sich dabei stets um ein Intensiver-
und Reicherwerden des Stoffwechsels der Gesellschaft mit der Natur, woraus
zwangsläufig folgt, daß das Subjekt dieses Prozesses, die Menschen, die die
Gesellschaft bilden, vermehrte und vielfältigere Beziehungen auch zu¬
einander ausbilden müssen, was auch ihre inneren Bestimmungen vermehren,
vervielfältigen und verfeinern wird. Wann und unter weldien Umständen
eine solche Entwicklung auf die Kultur im Allgemeinen und auf die Künste im
Besonderen einen fördernden oder verwirrenden, hemmenden etc. Einfluß
ausübt, ist ein Problem, das sowohl in konkreten Einzelfällen, wie in ver¬
allgemeinerter Weise vom historischen Materialismus gelöst werden muß.
Jedenfalls entstehen dabei im Alltagsleben der Menschen neue Probleme,
erwachsen neue Inhalte, mit denen sich die ästhetische Mimesis, die künst¬
lerische Formgebung auseinandersetzen muß. So — wiederum in weiter histo¬
rischer Perspektive betrachtet — wird die endgültige Ausgestaltung der eige¬
nen Welt der Kunstwerke, der Reichtum und der umfassende Charakter ihrer
Welthaftigkeit ein Ergebnis dieser Entwicklung sein. Die vorwärtstreibende
Kraft der Kunstentwicklung ist eben - letzten Endes — diese ihre Bezie¬
hung zum Alltagsleben; die neuen Probleme, die dieses für die Kunst auf¬
wirft, muß sie in künstlerischem Sinn lösen.
Ob nun diese neuen Probleme direkt von der Seite des Inhalts gestedt wer¬
den, oder ob bei der Einwirkung eines solchen sozialen Auftrags seitens des
4 72 Der Weg zur Weltbaftigkeit der Kunst

Alltagslebens an die Kunst sofort und scheinbar direkt Erneuerungsversuche


der Formen auftreten, ist wieder eine konkret-historische Frage, die uns hier
nicht näher zu beschäftigen braucht. Prinzipiell ist dazu bloß zu sagen, daß
die in ihrer unmittelbaren Erscheinungsweise formalsten ästhetischen Frage¬
stellungen - letzten Endes - immer auf eine neue objektive Konstellation
in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, auf deren Erlebnisreflexe im Alltags¬
leben zurückzuführen sind; auch wenn die Künstler dabei eine extreme Pio¬
nierrolle spielen, indem sie nur ansatzweise, nur keimhaft wirkende Tenden¬
zen gleich in Verwandlungen der Formen umsetzen. Hier wollen wir, um
die Genesis der Welthaftigkeit der mimetischen Kunstwerke im philosophi¬
schen Sinne noch weiter zu klären, auf ein Problem hinweisen, bei welchem
es sich scheinbar um eine reine Formfrage handelt: um die Entstehung der
Lokalfarbe in der Malerei. Zeitlich entfernen wir uns natürlich wieder ein¬
mal sehr stark von den früher behandelten Höhlenbildern; da aber auf den
Zusammenbruch der sie gebärenden exzeptionellen Kultur eine lange Periode
der Vorherrschaft der weltlosen Ornamentik gefolgt ist, können wir, wie es
auch bis jetzt geschah, die Probleme der philosophischen Genesis durchaus
prinzipiell und nicht streng chronologisch behandeln, um so mehr als von
Umwandlungsarten die Rede sein wird, die sich ihrer letzten Struktur nach
im Verlauf der Geschichte, freilich stets in verschiedener Weise, immer wie¬
derholen.
Wickhoff hat diese Frage in der griechisch-römischen Kunst untersucht. Er
kommt auf Grund breiter historischer Analysen zu dem Resultat, daß die Far¬
benbehandlung sogar bei einem verhältnismäßig so späten Werk wie dem
Alexandersarkophag rein dekorativ war, d. h. sie baute sich auf die Ge¬
setze der physiologischen Farbenauswahl auf Grund der Komplementär¬
farben auf. (Hellgelb und violett, purpur und grün, etc.) Wickhoff sagt:
»Auf den Beschauer, der ja unter den gleichen physiologischen Bedingungen
lebt, wie der Maler, brachte die Beobachtung dieses Gesetzes, sowie etwa
einfache mathematische Verhältnisse in der Architektur, ohne daß es ihm
bewußt wurde, einen erfreulich beruhigenden Eindruck hervor h« Erst sehr
allmählich treten in Einzelheiten (Gesicht, Körper, Waffen etc.) richtige
Lokalfarben auf, vorerst ohne das Wesen der Farbenkomposition auf neue
Grundlagen zu stellen. Wickhoff findet den Grund für diese in der Geschichte
der Malerei bahnbrechende Änderung darin, daß das Bedürfnis entstand,

1 Wickhoff: Römische Kunst, Berlin 1912, S. 100.


Die Voraussetzungen der Weltbaftigkeit der Kunstwerke 473

die Gegenstände unlösbar verbunden mit dem Raum, der sie umgibt, darzu¬
stellen: »Sobald die Durchbildung des Hintergrundes, sei es als Landschaft
oder als Innenraum vollzogen war, war eine freie Willkür in der Verteilung
der Farben nicht mehr möglich, oder doch ganz anders beschränkt, als in
der vorhergehenden Periode. Die Landschaft und der Himmel darüber, Meer
und Flüsse, Gebäude innen und außen mit den Teppichen und Geräten waren
in ihrem Zusammenhänge nur verständlich, wenn sie mit Nachbildung ihrer
natürlichen Farben dargestellt waren, und das mußte schnell zu völlig
natürlicher Darstellung der sich in dieser Umgebung bewegenden Figuren
führen 1.«
Man sieht: diese Frage schließt sich, wenn auch nicht unmittelbar historisch,
so doch dem ästhetischen Wesen nach, jenen Problemen an, die wir früher bei
den Höhlenmalereien aus der Altsteinzeit behandelt haben: an die der Welt-
haftigkeit der Malerei. Denn es ist ohne weiteres klar, daß die malerische
Mimesis der sichtbaren Wirklichkeit nur dann den Charakter einer »Welt«
erhalten kann, wenn die dargestellten Objekte in einer aus ihrer Gegenständ¬
lichkeit selbst folgenden wirklichen Wechselbeziehung zueinander und zu
ihrer Umgebung stehen. Der malerisch gestaltete Raum als sinnlich-geistige
konkrete Einheit solcher Beziehungskomplexe ist allein imstande, die Existenz
einer Welt künstlerisch zu evozieren. Sobald diese widerspruchsvolle, kon¬
krete Einheit fehlt, muß dem Bild jene Tiefe, die wir seinerzeit beim Orna¬
ment umschrieben haben, fehlen, muß es der künstlerischen Intention nach
dekorativ-ornamental bleiben, wie z. B. die Bilder der Buschmänner, ja
schon manche Höhlenbilder aus der Altsteinzeit in Südspanien im Gegensatz
zu den von uns analysierten Tierdarstellungen. Es ist dabei wahrscheinlich
kein Zufall, daß jene in ihrer Farbengebung sich sehr stark der rein physiolo¬
gischen Bedingtheit zuneigen, auch wenn einzelne Gegenstände - abstrakt
gesehen — den Wirklichkeitsmodellen entsprechend koloriert sind, während
diese trotz ihrer sehr beschränkten Farbenskala mehr den Lokalfarben an¬
genähert sind. Und es wird ebenfalls nicht zufällig sein, daß im ersten Fall
auch beim leidenschaftlichsten Gestalten der Figuren, auch bei ihrer stärksten
dramatischsten Bezogenheit aufeinander nur flache Umrisse entstehen, im
zweiten dagegen eine innere plastische Bewegtheit, bei welcher man den Ein¬
druck haben könnte, der Raum, in welchem das Tier lebt, sei entfernt wor¬
den, im Gegensatz zum ersten Fall, wo ein Raum, auch wenn Menschen und

1 Ebd. S. 102 f.
474 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Tiere aktionsmäßig zueinander in Beziehung gesetzt sind, überhaupt nicht


vorhanden ist und nicht vorhanden sein kann.
Selbstverständlich haben die sonst sehr verschieden entwickelten Menschen
praktisch den sie unmittelbar umgebenden Raum genau beherrscht (und
darum gekannt). Es handelt sich also keineswegs um eine »Entdeckung« des
Raumes, wenn das Bedürfnis seiner malerischen Mimesis auftaucht. Die von
Wickhoff beschriebene »raumlose« Malerei mit physiologisch-dekorativer
Farbenkomposition ragt ja in Zeiten hinein, in denen die griechisch-römische
Kultur die geometrische Beherrschung des Raumes schon längst über die ur¬
sprünglich rein empirisch-praktischen Anfänge hinausgeführt hatte, ja ihr be¬
reits einen theoretischen Ausdruck zu geben vermochte. Es entwickelt sich dabei
nun ein neues, vom Leben diktiertes Bedürfnis und nicht bloß eine neue Art
der Naturbeobachtungen, geschweige denn eine bloße Entwicklung der Tech¬
nik. Wenn bei Wickhoff von einem violetten Hintergrund gelber Weinreben
die Rede ist, so haben weder Schaffende noch Rezeptive geglaubt, es handle
sich dabei um die Wiedergabe eines Farbenverhältnisses in der Wirklichkeit.
Gerade die Simultaneität der neuen malerischen Fragestellung: nämlich Lo¬
kalfarbe der Gegenstände und Gestaltung eines konkreten objekterfüllten
Raums, zeigt, daß das aus dem Alltagsleben auf steigende Bedürfnis eher auf
das Ensemble dieser beiden Bestimmungen als auf eine neue Qualität in der
künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit gerichtet war. Die dadurch
geförderte schärfere Naturbeobachtung der Lokalfarben, das Bestreben, die
Raumgestaltung technisch zu bewältigen (Perspektive etc.) sind Folgeerschei¬
nungen, nicht eigentliche Ausgangspunkte zum Neuen.
Leonardo da Vinci hat den ästhetisch-philosophischen Grund jener neuen
Bedürfnisse, die solche Form und Inhalt der Kunst umwälzende Veränderun¬
gen hervorrufen, richtig Umrissen: »Wenn die Poesie die Moralphilosophie
berührt, ist die Malerei mitten in der Philosophie der Natur; beschreibt jene
die Operationen des Geistes, der betrachtet, operiert diese mit dem Geist in
den Bewegungen1.« Man muß nur, durchaus im Geiste Leonardos, dem Begriff
der Bewegung eine ganz weite Bedeutung verleihen, so daß er sämtliche
Wechselbeziehungen des Menschen mit seiner visuell wahrnehmbaren Um¬
gebung (auch jene prinzipiell im weitesten Sinne gefaßt) in sich enthält. Man
muß weiter darüber im klaren sein, daß solche visuellen Bedürfnisse nicht
nur spontan entstehen, sondern vom Standpunkt der künstlerischen Aktivität

1 Leonardo da Vinci: Der Denker, Forscher und Poet, Jena 1906, S. 156.
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 475

und Rezeptivität sogar bis zu einem bestimmten Grad bewußt sein können,
selbst wenn die ästhetisch - aktiv und passiv - Beteiligten nicht imstande
sind, das, was sie erleben und tun, begrifflich zu formulieren. Endlich muß es
auch darüber Klarheit geben, daß der so entstehende Mangel an begrifflicher
Verdeutlichung keineswegs den von Leonardo richtig erkannten tiefen Zu¬
sammenhang zwischen bildender Kunst und Naturphilosophie zunichte macht.
Natürlich muß in der letzten Frage sowohl die Parallelität wie die Divergenz
festgehalten werden. Die Wechselbeziehung zwischen Naturphilosophie und
bildender Kunst war in Leonardos Zeiten nidit nur intensiver, sondern auch
bewußter als in der Antike. Die Tatsadie jedoch, daß die Künstler, auch vor
Leonardo, Ergebnisse und Methoden der Naturforschung, die in dieser Zeit
viel inniger mit der Naturphilosophie verknüpft waren als später, für ihre
künstlerische Praxis verwerteten, ist unbezweifelbar. Eine solche, freilich lo¬
sere und weniger bewußte Verbindung war audi in der Antike vorhanden.
Mit der Feststellung derartiger bewußter und halbbewußter Beziehungen ist
jedoch das Problem der objektiven Zusammenhänge weder historisch noch
ästhetisch erschöpft. Wir gehen ja stets davon aus, daß das Alltagsleben einer¬
seits Wissenschaft und Kunst bestimmte Fragen stellt, sie zur Lösung be¬
stimmter Aufgaben veranlaßt - auch wenn diese bewußt überhaupt nicht
oder in falschen Formen zum Ausdruck kommen - und andererseits alle
Ergebnisse beider objektivierenden Gebiete durch die verschiedenartigsten
Vermittlungen das Alltagsleben bereichern, sein Denken, seine Empfindungs¬
weise weiter, tiefer, umfassender machen, wodurch wieder Wissenschaft und
Kunst zu Neufassungen ihres Tätigkeitsfeldes gezwungen werden usw. usw.
Erst von reichlich verwickelten Entwicklungsbedingungen her kann unser
malerisches Raumproblem verständlich werden. Ohne Frage erhält die All¬
tagspraxis in den ersten Stadien des entstehenden, von magischen und später
religiösen Vorurteilen sich befreienden wissenschaftlichen (naturphilosophi¬
schen) Denkens von diesem entscheidende Impulse; wir haben bereits auf die
Wichtigkeit der Geometrie wiederholt hingewiesen. Die vorerst auf Anschau¬
ung und Vorstellung basierte Raumauffassung erhebt sich damit auf das Ni¬
veau der reinen Begrifflichkeit, wodurch für das Leben der Menschen bis dahin
unvorstellbare Perspektiven eröffnet werden, es genügt, wenn wir dabei an
den Weg denken, der von der Schutzsuche in Flöhlen etc. zum Bau von ge¬
sicherten und ständigen Heimstätten führt. Indem die Menschen auf solche
Weise den sie umgebenden Raum gedanklich und praktisch zu beherrschen er¬
lernen, entsteht in ihnen ein ganz neuer Erlebniskomplex, der in der Periode
der Wildheit notwendig völlig unbekannt sein mußte: das Erlebnis des unbe-
476 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

dingten Herrseins über ihre Umgebung, über ihre Umwelt, das Erlebnis der
Welt als Heimat des Menschen. Die materielle Grundlage dafür entwickelt
sich im Laufe vieler Jahrtausende: das Bewußtsein eines gewissen Gesichert¬
seins des Lebens, der Sicherheit ols objektiver und subjektiver Form der nor¬
malen Existenz. Dabei muß das Wort normal besonders hervorgehoben wer¬
den, denn Erschütterungen, Katastrophen etc. lassen sich aus dem objektiven
Weltbild und darum aus dessen Erlebbarkeit nicht eliminieren. Jedoch die
Tatsache einer objektiven »Sekurität« des normalen menschlichen Lebens,
mag deren Umkreis anfangs noch so eng begrenzt sein, bedeutet eine Revo¬
lution in der menschlichen Empfindungsweise, die heute bereits derart zur
Selbstverständlichkeit geworden ist, daß ihr wirklicher, strikter Gegensatz
kaum mehr nacherlebbar ist1.
Das bedeutet jedoch keineswegs, daß wenigstens gewisse Knotenpunkte dieser
Linie nicht historisch mehr oder weniger exakt feststellbar wären. Wir be¬
trachten nun kurz den hier beschriebenen Sprung in der Geschichte der Ma¬
lerei, die Raumgestaltung im Bilde, als eine wichtige Etappe dieses Entwick¬
lungsprozesses. Erst nachdem die praktischen, wirtschaftlichen, sozialen und
technischen Erfolge einen bestimmten Grad der Sicherheit ins normale Leben
der Menschen gebracht hatten, erst nachdem das wissenschaftliche Denken die
Raumzusammenhänge theoretisch und praktisch auf eine relative Höhe ge¬
führt hatte, konnte das Gefühl entstehen: der den Menschen umgebende Raum
sei nicht etwas ihm prinzipiell Fremdes, ja Feindliches, vielmehr im Gegenteil
seine eigene Welt, etwas, das ihm zugehört, das - in einem bestimmten Sinn,
bis zu einem bestimmten Grad - eine Erweiterung seiner eigenen Persönlich¬
keit bildet. Mit dem Geräteschmuck etwa hat der Mensch, unvordenkliche
Zeiten früher, einzelne Gegenstände, die praktisch-technisch schon vorher
eine Verlängerung seines subjektiven Aktionsradius gebildet hatten, auch in
diesem neuen Sinn für sich erobert, zum Bestandteil einer Erweiterung seines
Ichs gemacht. Die allgemeine Verbreitung des Geräteschmucks bei den pri¬
mitiven Völkern zeigt, daß es sich hier um eine elementare Tatsache des Le¬
bens handelt. Indessen darf, bei aller Würdigung dieses wichtigen Sdirittes
in der Richtung, daß der Mensch in sich und um sich eine eigene, ihm ange-

1 Es ist bezeichnend, daß audi die extremsten Verzweiflungsphilosophien der Neu¬


zeit von Schopenhauer bis Heidegger den Kampf gegen dieses Sekuritätsgefühl,
gegen seine angebliche Blindheit, Borniertheit, gegen den »Verfall«, der sich darin
äußert, als eine ihrer polemischen Hauptaufgaben betrachten.
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 477

messene Welt zu schaffen beginnt, nicht vergessen werden, daß auch eine
noch so große Anhäufung derartiger Gegenstände, solange dieses Niveau
bleibt, nie imstande sein kann, in ihrer Gesamtheit eine Welt des Menschen
zu konstituieren, ebensowenig, wie auch auch der schönste Körperschmuck ihn
nicht zur wirklichen Persönlichkeit erheben konnte. Dazu ist ein höherer
Grad des Durchdringens der unmittelbaren Umwelt des Menschen von den
Lebensprinzipien seines Daseins her vonnöten, und gerade dies geschieht in der
Entwicklung, die wir eben andeuten.
Es ist sicher, daß dabei ein Bruch mit der Unmittelbarkeit vor sich geht, eine
gewisse Distanzierung des Mensdren von sich selbst, von seiner eigenen Tätig¬
keit und von seiner eigenen Existenz. In der Arbeit entsteht die erste wirkliche
Subjekt-Objekt-Beziehung und damit erst entsteht dann ein Subjekt im
echten Sinne des Wortes. Schon Hegel hat richtig darauf hingewiesen, daß
damit die unmittelbare Distanzlosigkeit der bloßen Begierde und ihrer blo¬
ßen Erfüllung aufhört: »Im Werkzeug macht das Subjekt eine Mitte, zwi¬
schen Sich und das Objekt, und diese Mitte ist die reale Vernünftigkeit der
Arbeit b« Es ist ohne weiteres klar, daß der Geräteschmuck eine weitere
Steigerung dieser Distanzierung ist, und zwar - gerade das ist hier für uns
wesentlich - in einer anderen Richtung, wie wir oben kurz untersucht haben.
Das Bild gibt schon durch sein bloßes Gesetztsein dieser neuen Distanz eine
neue, qualitativ betonte Steigerung: es entsteht ein vom Menschen erschaffe¬
nes Gebilde, das ausschließlich dem Ziele dient: den Menschen durch Wider¬
spiegelung seiner Innenwelt und Umwelt über sich selbst aufzuklären und
ihn damit über sich selbst, wie er für sich selbst im Alltagsleben gegeben ist,
zu erhöhen, ihm zum Selbstbewußtsein zu verhelfen. Der Mensch wird wahr¬
haftig er selbst, indem er in der von ihm widergespiegelten Welt seine eigene
Welt erschafft und sie sich zu eigen macht.
Die unmittelbar rein technisch scheinende Frage der Malerei: durch Auffin¬
den der Lokalfarbe aller Dinge ihr Ensemble als einen konkreten Raum mi¬
metisch darzustellen, wird zu einem reifen Paradigma dieses Lebensgefühls
im Ästhetischen: des Schaffens einer eigenen Welt des Menschen. Das Wort
eigen hat hier drei Bedeutungen und alle drei sind für die Erkenntnis
dieses Phänomens gleich wichtig. Es ist erstens von einer Welt die Rede, die
der Mensch für sich selbst, für das Menschheitlich-Fortschrittliche in ihm
selbst erschaffen hat; zweitens von einer, in welcher die Eigenheit der Welt,

1 Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, Leipzig 1923, S. 428.


4 78 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

der objektiven Wirklichkeit, im Spiegelbild erscheint, so jedoch, daß ihr un¬


vermeidlich kleiner Ausschnitt, der den unmittelbaren Inhalt des Bildes aus¬
macht, zu einer intensiven Totalität der jeweils ausschlaggebenden Bestim¬
mungen erwächst und damit ein an sich vielleicht zufälliges Zusammen von
Gegenständen zu einer in sich notwendigen Welt erhöht; drittens von einer
- im Sinne der Kunst - eigenen Welt, in unserem Fall von einer visuell-eige¬
nen, in welcher Inhalte und Bestimmungen der objektiven Wirklichkeit nur so
weit mimetisch evoziert, zur ästhetischen Existenz erweckt werden und zum
Vorschein kommen können, als sie in reine Visualität umgesetzt werden. Das
Kunstwerk und seine intensive Totalität der Bestimmungen setzt also ein
solches homogenes Medium seiner sinnlich-geistigen Erscheinungsweise vor¬
aus. Die Pluralität der Künste ist deshalb kein Ergebnis der Differenzierung
eines einheitlich ästhetischen Prinzips (der ästhetischen Idee bei den großen
idealistischen Philosophen); sie ist vielmehr das Urfaktum des Ästhetischen,
und das ästhetische Prinzip kann - gedanklich, nicht mehr auf der Ebene des
unmittelbar Ästhetischen - nur gewonnen werden, indem man philosophisch
das Gemeinsame dieser homogenen Medien ins Bewußtsein hebt. Auch die
systematische Zusammengehörigkeit ist nicht einfach aus einem solchen Prinzip
ableitbar, entspringt vielmehr aus dem System jener Bedürfnisse des mensch¬
lichen Lebens, welche eine Weiterbildung ins Ästhetische ermöglichen und
fordern.
Mit den mimetischen Problemen, die aus den so verstandenen eigenen Welten
der Kunstwerke entstehen, werden wir uns später beschäftigen. Die Vorweg¬
nahme des Ausgangspunktes mußte hier deshalb erfolgen, weil das Aufzeigen
der Genesis der Kunst auf dem höchsten Niveau ihrer Objektivation, ihres
Auf-sich-selbst-Gestelltseins, sonst unverständlich geblieben wäre. Wir kehren
also zu den philosophischen Problemen der Genesis zurück. Wenn wir den
Übergang von einer wesentlich physiologischen Farbengebung zur Gegen¬
standstreue der Lokalfarben philosophisch betrachten, so zeigt er sich vorerst
als ein Kündiger der Unmittelbarkeit und damit - nach Hegels richtiger
Auffassung - als ein Weg vom Abstrakten ins Konkrete, »denn Unmittelbar
und Abstrakt sind gleich 1«. Die Wahrheit dieser Hegelschen Feststellung
hat sich bereits in unserer Behandlung der Ornamentik gezeigt. Um dabei
die Dialektik richtig zu behandeln, muß auch hier die Relativität dieser Be¬
stimmungen in Betracht gezogen werden. Denn jede Unmittelbarkeit ist zwar

1 Hegel: Philosophie der Religion, Wk. a. a. O. Band XI. S. 313.


Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 479

abstrakt im Vergleich zu dem Konkretisieren, das in ihrer Aufhebung zur


Geltung gelangt; der Ausbau der Welthaftigkeit der Kunstwerke schlägt
- in welthistorischer Perspektive gesehen, von der Ungleichmäßigkeit der Ent¬
wicklung, von ihren Rückfällen etc. in diesem Zusammenhang abgesehen - un¬
zweifelhaft eine solche Richtung ein. Darin drückt sich also ein allgemeines
Gesetz der Kunstentwicklung aus. Dem widerspricht jedoch nicht, daß ge¬
wisse Verwirklichungen der Unmittelbarkeit gerade in bezug auf ihre Iden¬
tität und Abstraktheit eine bevorzugte Stellung einnehmen. So gerade die
Ornamentik, in welcher das totale Einswerden von Unmittelbarkeit und Ab¬
straktion zum konstituierenden Prinzip ihrer Eigenart, ihrer Stelle im Sy¬
stem der Künste wird. Jedoch auch dort, wo keine derartige endgültige
Fixierung zustande kommt, wie in dem jetzt behandelten Fall der physio¬
logisch bedingten Farbengebung, nehmen die Anfänge eine besondere Stelle
ein: einerseits bedeutet die Überwindung ihrer Alleinherrsdiaft einen derart
qualitativen Sprung in der Entwicklung, daß die Geschichte der eigentlichen
mimetischen Malerei strikt angesehen hier einsetzt; andererseits enthält, wie
wir später detailliert sehen werden, diese Aufhebung ein entschiedenes Mo¬
ment der Aufbewahrung, der Erhebung auf ein höheres Niveau im neuen
Zusammenhang. All dies kompliziert allerdings die Hegelsche Identifikation
von Unmittelbarkeit und Abstraktheit, aber mindert ihre allgemeine Wahr¬
heit in keiner Hinsicht. Wir können gerade in der Malerei der neuesten Zeit
sehen, daß jeder entschiedene Versuch der Rückkehr zur abstrakten Unmittel¬
barkeit eine Abstraktion, eine Weltlosigkeit herbeiführt, ebenso wie Tenden¬
zen zur reinen Abstraktheit eine vorgegenständliche, weltlose Unmittelbar¬
keit zur notwendigen Folge haben.
So würde man von der hier gedanklich fixierten Dialektik sofort abweichen,
würde man in ihrer Allgemeinheit einen einmaligen, endgültigen Akt er¬
blicken. Jedes Unmittelbare ist objektiv vermittelt und die weitestverzweigten
Vermittlungen bringen immer wieder neue Unmittelbarkeiten hervor. So
auch hier; denn die Unmittelbarkeit des Gebrauchs der physiologischen Far¬
benzusammenstellungen zu dekorativ-künstlerischen Zwecken ist natürlich
durch eine lange und komplizierte Reihe von Vermittlungen aus den bloßen
physiologischen Bedürfnissen des Lebens abgeleitet. Sie ist im Gebiet der Far¬
bigkeit ebensowenig ein Anfang, wie das Wahrnehmen von Umrissen und
Flächen noch keine Ornamentik ergibt. Und wenn es in der Entwicklung
des Ästhetischen eine richtige Parallele zur physiologisch bestimmten Farben¬
gebung gibt, so ist diese gerade hier zu finden. Wickhoff hat in der von uns
zitierten Stelle über »die einfachen mathematischen Verhältnisse der Archi-
480 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

tektur« als aufklärende Analogie der Wirkung gesprochen; wir glauben, der
Vergleich mit der Ornamentik wäre noch treffender, um so mehr, als beide
künstlerische Darstellungsweisen oft auch zusammen, einander wechselseitig
verstärkend aufzutreten pflegen, z. B. in den orientalischen Teppichen. Ande¬
rerseits sei nur kurz darauf hingewiesen, daß in der späteren Entwicklung
der Malerei die Lokalfarbe nicht selten die Rolle einer zu überwindenden
Unmittelbarkeit spielt, wie bei dem Entstehen des Helldunkels, oder noch
mehr beim Aufkommen der Freilichtmalerei.
Diese unaufhebbare Relativität von Unmittelbarkeit und Vermittlung ist ein
allgemeines Gesetz der objektiven wie der subjektiven Dialektik. In der
Ästhetik tritt - bei Geltendbleiben dieses allgemeinen Gesetzes - noch das
für ihr Gebiet Spezifische hinzu, daß jedes Kunstwerk prinzipiell eine Un¬
mittelbarkeit repräsentiert, daß also das künstlerische Schaffen ausschließlich
deshalb alte Unmittelbarkeiten des Lebens zerstört, sich von ihnen lossagt,
um im Werk, die neuen Verwicklungen des Lebens in sich aufnehmend, eine
neue Unmittelbarkeit herzustellen. In unserem Fall der Lokalfarben haben
wir dies eben angedeutet. Als Ergänzung der sich hier äußernden konkreten
Dialektik sei noch bemerkt, daß es durchaus falsch wäre, aus der Tatsache
der physiologischen Bedingtheit der von der Lokalfarbe überwundenen ur¬
sprünglichen Koloristik auf ihre absolute Unmittelbarkeit zu schließen, zu
glauben, daß sie etwa aus der physiologischen Beschaffenheit des Menschen
als Naturwesen direkt ableitbar wäre. Kant hat bereits darauf aufmerksam
gemacht, daß die reinen Farben des Spektrums nicht bloß »Sinnengefühl«
enthalten, »sondern auch Reflexion über die Form dieser Modifikationen der
Sinne verstatten1« und dadurch unmittelbar, in ihrem Geradesosein zu
deren Ausdruck werden können. Hier begnügen wir uns mit dem Hinweis
auf diese Meinung Kants, die für das jetzt behandelte Problem nicht ohne
Bedeutung ist. Da Kant selbst in dieser unmittelbaren Ideenhaftigkeit der
Farben ein Problem der Naturschönheit erblickt, werden wir uns mit seiner
Theorie bei Behandlung dieses Fragenkomplexes ausführlich beschäftigen. Es
sei nur so viel bemerkt, daß Kant die gefühlsmäßige Verbindung moralischer
Inhalte mit den reinen Farben durch eine Einwirkung der Natur auf den
Menschen erklären will. Vom Standpunkt eines ästhetischen Erhellens der
Frage, wie rein physiologische Eindrücke zu Trägern menschlicher, morali¬
scher, gesellschaftlicher Inhalte und deshalb zu Vehikeln einer mimetischen

1 Kam: Kritik der Urteilskraft, § 42.


Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 481

Aktivität und Rezeptivität werden können, besagt dies wenig. Denn dann
wäre diese moralische Bedeutung ebenso physiologisch unmittelbar, wie die
Wirkung der reinen Farbe selbst, was allen anthropologischen Erfahrungen
über die Entstehung sowohl moralischer wie ästhetischer Gefühle wider¬
spricht.
Wesentlich konkreter nimmt Goethe in seiner »Farbenlehre« zu diesem Pro¬
blem Stellung, indem er unserer Frage einen ganzen Abschnitt mit dem be¬
zeichnenden Titel »die sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe« widmet. Goethes
Betrachtungen gehen insofern weit über die Kants hinaus, als er die von
beiden festgestellte Einigung naturhafter und gesellschaftlicher Inhalte nicht
einfach von ihrer physiologischen Seite nimmt und diese direkt ins Moralische
umschlagen läßt, sondern wenigstens in seinen Beispielen, wenn auch nicht
bewußt methodologisch herausgearbeitet, eine Wechselwirkung der beiden
Komponenten ahnen läßt. So spricht er »von der Eifersucht der Regenten
auf den Purpur1 2«; so sagt er: »Die schwarze Farbe sollte den Veneziani¬
schen Edelmann an die republikanische Gleichheit erinnern«, usw. Ja, bei
der Behandlung des allegorischen Gebrauchs der Farben hebt er hervor: »Bei
diesem ist mehr Zufälliges und Willkürliches, ja, man kann sagen, Konven¬
tionelles, indem uns erst der Sinn des Zeichens überliefert werden muß, ehe
wir wissen, was es bedeuten soll, wie es sich z. B. mit der grünen Farbe ver¬
hält, die man der Hoffnung zugeteilt hat 3.« Sind aber derartige »sinnlich¬
sittliche Wirkungen der Farben« möglich - und die Ethnographie zeigt,
daß solche schon sehr früh auftreten -, so ist es klar, daß die Zuordnung
der beiden an sich heterogenen Komponenten keineswegs eindeutig sein muß.
Wir wissen z. B., daß die Farbe der Trauer zwar bei vielen Völkern die schwarze
ist, bei nicht wenigen tritt jedoch die weiße an ihre Stelle, und auch andere
Farben können die sinnlich-sittliche Wirkung der Trauer unmittelbar aus-
lösen. Goethe bleibt in seiner »Farbenlehre« allerdings nicht bei der Wirkung
einfacher Farben und ihrer Komplementarität stehen. Er geht auch darin
weit über Kant hinaus, daß für ihn keine Farbe eine endgültige metaphysische
Einheit bildet. Vielmehr können geringfügige Nuancen, ja, die Beschaffen¬
heit des Materials, worauf die Farbe aufgetragen wird, auch die »sittliche« Wir¬
kung ins Gegenteil umschlagen lassen. Als Beispiel genüge seine Ausführung

1 Goethe: Farbenlehre, Didaktischer Teil, Nr. 797.


2 Ebd. Nr. 843.
3 Ebd. Nr. 917.
482 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

über das Gelbe: »Durch eine geringe und unmerkliche Bewegung wird
der schöne Eindruck des Feuers und Goldes in die Empfindung des Kotigen
verwandelt, und die Farbe der Ehre und Wonne zur Farbe der Schande, des
Abscheus und Mißbehagens umgekehrt1.« Aus alledem folgt, daß die ein¬
zelnen Farben schon im Stadium der physiologischen Farbengebung nicht ein¬
fach und direkt physiologisch wirken, sondern, infolge der gesellschaftlichen
Entwicklung des Volks, das sie gebraucht, in verschiedener Weise bedeutungs¬
belastet werden. Die Komplementarität, als ihre normale Kompositionsweise,
ist zwar physiologisch fundiert; doch ist es klar, daß die durch gesellschaftliche
Gewöhnung und Sitte fixierten Assoziationen bei ihrer Wirkung eine nicht
zu vernachlässigende Rolle spielen müssen.
Mag dieser unmittelbare Anfang an sich noch so vielfältig vermittelt, sein
physiologisches Wesen von noch so vielen gesellschaftlichen Bestimmungen
durchsetzt sein: der Übergang zur Lokalfarbe und zur malerischen Raum¬
gestaltung bleibt doch ein Sprung. Die inhaltliche Seite, den sozialen Auf¬
trag, den die Malerei hier erhielt: die Schöpfung einer eigenen Welt für den
Menschen, haben wir bereits kurz angedeutet. Die hieraus erwachsenden Pro¬
bleme der Form konzentrieren sich um die mimetische Wiedergabe einer in¬
tensiven Totalität, woraus die Aufgabe entsteht, daß alle einzelnen Elemente
der Form und erst recht jede Beziehung zwischen ihnen simultan, ihre un¬
mittelbare Einfachheit als Teile des Ganzen vollständig bewahrend, zum
Träger verschiedener, vielfältig evokativer Wirkungen werden. Eine Welt
kann ja im Kunstwerk nur entstehen, wenn im Betrachter sowohl die Einzel¬
heiten wie ihre Verbindungen das Erlebnis einer den Gegenständen und ihren
Wechselbeziehungen im wirklichen Leben vergleichbare Unerschöpflichkeit
hervorrufen, ja diese Emotion muß diesem gegenüber wesentlich kondensiert
und gesteigert sein. Denn in der Wirklichkeit beweist jedes Objekt, seine
Relationen zu den anderen, das seine Bewegtheit etc. regelnde Gesetz, seine
Existenz - eben durch diese Existenz selbst; besser gesagt: sie bedarf keines
Beweises, denn der Mensch des Alltags lernt an seinem eigenen Schaden, das
Sein eines Seienden zu achten. Das Erkennen oder Erleben der Unendlichkeit
der Bestimmungen an den Gegenständen, ihren Beziehungen etc. ist zwar
auch im Alltagsleben eine wichtige Komponente für das richtige Verhältnis
der Menschen zur objektiven Wirklichkeit. Aber erst in der Kunst - und nur
in ihr — wird diese Unerschöpflichkeit der Eigenschaften, der Beziehungen,

1 Ebd. Nr. 771.


Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 483

etc. zum konstituierenden Prinzip und zugleich zum Kriterium der Existenz
(im Sinne der Ästhetik). Denn erst die Evokation solcher Beschaffenheiten
bringt die Doppeltheit der künstlerisch-gestalteten Welt (ihren Weltcharak¬
ter) hervor: es ist eine Welt, die von mir unabhängig und für mich uner¬
schöpflich mir gegenübersteht und doch - uno actu mit dieser Selbständigkeit
- als meine Welt erlebt wird.
Natürlich ist auch diese intensive Unendlichkeit weitgehend gesellschaftlich¬
geschichtlich bestimmt. Den Inhalt, die Qualität, den Reichtum der hier zusam¬
mengefaßten Bestimmungen determiniert das Leben selbst und setzt sie dem
Künstler als formales Programm des sozialen Auftrags vor. Es kann also in
dieser Kategorie historisch eine Verarmung oder eine Bereicherung, ein Zu¬
nehmen oder Abnehmen der Intensität vor sich gehen. Wenn wir gewisse frü¬
here Produkte der Kunst als primitiv etc. erlebnishaft ablehnen, oder von
ihrem Erleben unbefriedigt bleiben, so liegt der Grund zumeist darin, daß sie
sich in diesem Prozeß auf einem absteigenden Ast befinden oder gerade jene
Bestimmungen, die eine jeweilige Gegenwart für die ästhetische Existenz im
Kunstwerk für ausschlaggebend hält, vernachlässigen. Aus der Perspektive
einer Weltgeschichte der Kunst gesehen ist aber diese Linie aufsteigend.
Darum spricht in unserem Fall nichts gegen den qualitativen Sprung, wenn in
dem Schaffen einer eigenen Welt der Malerei neben der Lokalfarbe und
Raumgestaltung noch einige visuelle Bestimmungen fehlen, die im Laufe der
späteren Geschichte der Malerei für diese Wendepunkte Anlässe zu revolutio¬
nären Umwandlungen bilden werden. Der physiologisch-dekorativen Farben¬
auffassung gegenüber ist dieser qualitative Sprung zweifellos vorhanden.
Denn auch bei dem, was Goethe die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben
nannte, handelt es sich bloß um eine durch gesellschaftliche Gewöhnung aus¬
gebildete Art der Assoziationen (der bedingten Reflexe); deshalb mußte auf
solcher Grundlage das kompositioneile Zusammenfügen der Farben mehr oder
weniger direkt auf die physiologisch bestimmte Komplementarität rekurrie¬
ren. Bei Behandlung der Kompositionsprobleme der Ornamentik haben
wir bereits auf deren Einfachheit, - relative - Unmittelbarkeit und Ab¬
straktheit hingewiesen. Indem die Gegenstände ihre Lokalfarbe erhalten, und
damit das malerische Problem ihrer stofflichen Beschaffenheit, ihrer Härte
oder Weichheit, ihrer Schwere oder Leichtigkeit usf. auftaucht, muß auch in
der Komposition die - physiologische - Naturschranke zurückweichen. Je
mehr Eigenschaften eines Gegenstandes die ihn gestaltende Farbengebung
offenbart, desto komplexer muß auch die kompositioneile Verknüpfung der
Farben werden, auf desto größeren Umwegen kann sich ihre letzthinnige
484 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Harmonie in der Totalität des Bildes verwirklichen, desto mehr entfernt sie
sich von einem bloßen Zusammenklingen auf der Grundlage der Komplemen¬
tarität. Auch hier geht der visuell-sinnliche Gehalt und seine malerische For¬
mung weit über den Geltungsbereich der bedingten Reflexe hinaus, fordert
eine visuell-sinnliche synthetische Fähigkeit vom Betrachter und erst recht
vom Schaffenden, die, es in keiner unmittelbaren Weise transzendierend, doch
das Niveau der Begrifflichkeit an synthetischer Umfassungsfähigkeit und
Präzision erreicht. (Auch diese Frage kann erst in einem folgenden Kapitel
ausführlich behandelt werden.) Es handelt sich hier um eine allgemeine, prin¬
zipiell im Wesen des Ästhetischen selbst begründete Phase des Selbständig¬
werdens der Kunst. Daß wir sie auf dem Gebiet der Malerei dargestellt
haben, geschah nur aus Gründen einer leichteren Exemplifikation. Übergänge
dieser Art sind sicher in allen Kunstarten nachweisbar l.
Wir wollen hier nur ganz kurz auf eine in jeder konkreten Hinsicht ver¬
schiedene, doch hinsichtlich unseres genetischen Problems analoge Lage in der
Wortkunst hinweisen. Es wurde bereits in anderen Zusammenhängen hervor¬
gehoben, daß viele ursprüngliche Wortbildungen für uns einen sozusagen
naturwüchsig pittoresken Charakter zu haben scheinen, indem sie auch sinn¬
liche Eindruckskomplexe, z. B. Farben, nicht mit einem begriffsartigen Wort
bezeichnen, sondern gleichnisweise, auf dem Niveau einer in Vorstellung
übergehenden Wahrnehmung; man denke an unsere dort angeführten Bei¬
spiele, daß statt schwarz »so wie eine Krähe«, etc. gesagt wird. Schon dort
haben wir gegen die kulturkritisch-romantische Richtung polemisiert, die in
dieser Art des sprachlichen Ausdrucks etwas »Poetischeres« erblickt und sie
der späteren, auf begriffliche Eindeutigkeit tendierenden Sprache gegenüber¬
stellen möchte. In Wirklichkeit kann eine echte poetische Sprache nur ent¬
stehen, wenn diese primitive, die Außen- und Innenwelt bloß unmittelbar,
»naturhaft« widerspiegelnden Ausdrucksweise radikal überwunden ist. Dies
ist erst der Fall, wenn jedes Wort, auch den Verlust der unmittelbaren Sinn¬
lichkeit mit inbegriffen, sich auf das Niveau des Begriffs erhoben hat, wenn
die Evokation durch die im Satz syntaktisch vereinigten Wörter, also durch
ein Ensemble von einzelnen, aufeinander abgetönten, einander in ihrer

1 Ich verweise nur auf die ausgezeichnete Analyse Riegls: »Zur kunsthistorischen
Stellung der Becher von Vafio« über die Raumgestaltung und den Realismus im
Relief. Gesammelte Aufsätze, Augsburg-Wien 1929, S. 71 ff. Daß Riegl unser
Problem der Genesis ganz fernlag, macht die Übereinstimmung in der Analyse
der Tatsachen um so wertvoller.
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 485

Wirkung wechselseitig bestärkenden oder abdämpfenden verbalen Widerspie¬


gelungszeichen vollzogen wird. Die ästhetische Analogie zu dem eben behan¬
delten Farbenproblem tritt hier deutlich zutage, wenn wir uns dessen bewußt
werden, daß eine solche »sinnlich-sitthdie Wirkung« von syntaktisch synthe¬
tisierten Ganzheiten in untrennbarer Simultaneität mit der Vielfältigkeit
der evokativen Funktion all ihrer Elemente gesetzt ist. Gerade dadurch wird
jene »Prosa«, die das Wort durch die begriffliche Eindeutigkeit seiner Bedeu¬
tung erlangt, poetisch aufgehoben, und zwar so, daß das Poetischwerden kei¬
neswegs die gedanklidie Schärfe des Wortes oder des Satzes vernichtet, im
Gegenteil, ihr Aufbewahren ist ebenfalls ein Motiv im System der vielfachen
Bedeutungen und Bedeutungsbeziehungen, das solche Totalitäten zu Totali¬
täten im ästhetischen Sinne erhöht. Man darf nie vergessen, daß in der Reihe
der sprachlichen Evokationsmittel, das, was Goethe den Lakonismus der
Volkspoesie nennt, der aufs absolut Unerläßliche reduzierte, oft äußerlich der
Definition angenäherte Ausdruck, eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt. Der
begriffliche Charakter des Wortes wird also nicht einfach in ein Evokations¬
zeichen von sinnlichen Wahrnehmungen rückverwandelt; dies geschieht auch,
ist aber ebenso wie das Aufbewahren des logisch-gegenständlichen Sinn¬
gehalts nur ein Moment unter vielen. Erst alle diese Momente zusammen: die
vielseitige Funktionsbeladenheit eines jeden Wortes, einer jeden syntaktischen
Wortverbindung, einer jeden logisch-rhythmischen, malerisch-plastisdien Syn¬
these im einzelnen Satz und in der Verknüpfung der Sätze, die zur neuen
Unmittelbarkeit erhobene organische Einheit von Bedeutungen und Stim¬
mungen evozierenden Klangs, das Abstreifen von konventionell gewordenen
leeren Hülsen vom Wort und damit das Erwecken seiner ursprünglichen, ge¬
danklich und sinnfällig gleich frischen Bedeutung etc. etc.: alle diese Momente
in ihrem Zusammenwirken erst werden imstande sein, ein Wortgefüge zu
schaffen, dessen evokative Wirkung - auch im kürzesten Gedicht - eine
eigene Welt hervorzaubert, eigen in ihrer gehaltsmäßigen wie formalen
(verbalen) Beschaffenheit.
Es ist also zutiefst unwahr, daß die - notwendigerweise auf logische Ein¬
deutigkeit und Präzision tendierende - Entwicklung der Sprache ihre sinn¬
liche Durchschlagskraft abschwächen müßte. Das geschieht freilich weit¬
gehend im Alltagsleben entwickelter Gesellschaften, wo die Sprache oft zum
rein technizistischen Verkehrsmittel erstarrt und dadurch weitgehend schema¬
tisiert wird; und fraglos geschieht es in solchen Fällen nicht selten, daß auch
die Sprache der Poesie sich ins Klischeehafte verzerrt, oder daß infolge eines
sich nur abstrakt dagegen richtenden Prozesses, der nicht auf die Wurzel der
486 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Problematik zurückgeht, überall bloß — pour epater le bourgeois — die


Vorzeichen verkehrt und gesuchte Schemen an die Stelle der abgegriffenen
gesetzt werden. Auch hier können wir uns mit einem bloßen Hinweis auf
solche Rückfälle begnügen, denn die welthistorische Linie der dichterischen
Sprachentwicklung verläuft in der oben skizzierten Weise des Weltschaffens
auf der Grundlage einer wachsenden Polyphonie der aus Zusammenhängen
entstehenden Bedeutungen mit der wachsenden Vielseitigkeit im Evozieren
rhythmischer, klanglicher, malerischer etc. Wirkungen; in ihrer Synthese
kommen die immer komplizierteren objektiven Beziehungen der Menschen in
der Gesellschaft und deren Reflexe im Seelenleben zum Ausdruck. Es wäre
aber ein Verkennen der historisch entstandenen und entstehenden ästhetischen
Sadflage, wenn man über die wachsende Kompliziertheit des Gehalts und
demzufolge seiner Ausdrucksmittel die vereinfachende, in der Synthese eine
neue Unmittelbarkeit schaffende Wesensart der dichterischen Sprache ver¬
nachlässigen würde. Gerade in solchen sich verfeinernden Zusammenhängen
können die einfachsten großen Gefühle einen entsprechenden Ausdruck von
höchster Einfachheit erhalten, können sdreinbar abgegriffene, trivial gewor¬
dene Worte oder Wendungen Träger von neuen bedeutsamen menschlichen
Verhaltensweisen werden und diese — gerade in ihrer alltäglichen Wort¬
gestalt - dichterisch angemessen, Welten schaffend, gestalten. Es genügt,
wenn wir hier an die berühmten Schlußrepliken des Goetheschen Thoas in
der »Iphigenie«, an die Worte »So geht!« und »Lebt wohl!« erinnern.
Mit alledem wurden einige der wesentlichsten Züge der Werkstruktur wenig¬
stens angedeutet und damit der terminus ad quem der Loslösung des Ästheti¬
schen aus dem Alltagsleben klarer als bisher fixiert. Es kam aber vor allem
darauf an, die prinzipielle Richtung dieses Prozesses, in welchem das Äs¬
thetische sich selbst findet, und als selbständiges Gebilde objektiviert wird, zu
erhellen. Das hier weitgehend abstrakt Dargelegte wird in den folgenden
Erörterungen in bezug auf die philosophisch ausschlaggebenden Kategorien
weiter konkretisiert werden. Da jedoch dieser ganze erste Teil darauf kon¬
zentriert ist, die Eigenart des Ästhetischen nach der Methode des dialektischen
Materialismus herauszustellen, kann das Ergebnis seiner Totalität nur sein,
das Kunstwerk als zentrales Gebilde der ästhetischen Sphäre historisch-syste¬
matisch in seiner Notwendigkeit aufzuzeigen. Sein konkreter kategorieller
Aufbau im einzelnen - freilich auch da noch nicht in der Konkretisierung
bis zu den einzelnen Genres, Stilen etc. herunterreichend - wird den Gegen¬
stand unseres zweiten Teiles bilden. Daß wir hier, in der Untersuchung der
Genesis, mit den letzten Betrachtungen so weit vorangeeilt sind, folgt aus
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 487

unserer allgemeinen Methode, die die Entwicklungstendenzen, die geneti¬


schen Ansätze der Anfangsstufen aus den vollentfalteten Objektivationen
zu begreifen unternimmt. Die Zentralfrage der gegenwärtigen Betrachtun¬
gen bleibt aber noch immer die Genesis des Ästhetischen.
Um alles bisher Aufgezählte zusammenzufassen, und genetisch einen Schritt
weiterzuführen, sei ein kurzer Rückblick auf den bisherigen Weg vom Blick¬
punkt des gegenwärtigen Problems gestattet. Mit unseren letzten Unter¬
suchungen über die Welthaftigkeit der mimetischen Widerspiegelung der
Wirklichkeit sind wir zu gewissen Problemen der Komposition geführt wor¬
den, vorerst in der einfachsten, ursprünglichsten Form: der Verknüpfung von
Widerspiegelungen verschiedener Gegenstände zur erlebbaren, das Erlebnis
erzwingenden Einheit einer gestalteten Welt. In der Form einer archäologisch¬
historischen Zusammenfassung der Gruppenbildung in den bildenden Kün¬
sten gibt Hoernes eine lehrreiche Zusammenfassung der Lage, die auf der von
uns bis jetzt behandelten Stufe der Entwicklung entsteht. Natürlich handelt
es sich nur um die Feststellung entwicklungsgeschichtlicher Tatsachen. Auf die
Begründungen und Wertungen von Hoernes können wir hier nicht eingehen.
»Die ältesten überlieferten Werke der bildenden Kunst enthalten unzählige
Zeugnisse des Unvermögens zur einfachsten Gruppenbildung. Diese Unfähig¬
keit herrscht sowohl im Bereiche der bildlichen, wie in den unbildlichen For¬
men. Rhythmus und Symmetrie, Prinzipien, die man sich gern schon am An¬
fang der Entwicklung ausschlaggebend wirksam denkt, spielen da eine er¬
staunlich geringe Rolle. Das einzelne Bild, das einzelne Zeichen führen in den
allermeisten jener Werke ein, für unsere Begriffe, unsere Gewöhnung höchst
merkwürdiges und fremdartiges Sonderdasein, eine störrige Existenz ohne
gegenseitige Verknüpfung, Bei- oder Unterordnung, Hervorhebung des einen
durch das andere und dergleichen. Das ist einer der wesentlichen Charakter¬
züge der paläolithischen oder diluvialen Bildnerei. Ganz anders, geradezu
entgegengesetzt verhält sich die nachdiluviale Kunst. Die führende Richtung
dieser letzteren, die Ornamentik ist völlig auf die einfachsten Gesetze des
Rhythmus und der Symmetrie gegründet L« Wir wählen zur Exemplifizie-
rung dieser Sachlage wieder die Malerei, weil dort der jetzt entscheidende
Zusammenhang in der direktesten und klarsten Form erscheint; über die
weitaus vermittelteren Fragen in den anderen Künsten werden wir später
sprechen.

1 Hoernes: a. a. O. S. $82 f.
488 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Es handelt sich also darum, daß die in unseren vorangehenden Betrachtun¬


gen analysierten beiden weltlosen, magisch verhüllten Strömungen der - zu¬
meist unbewußten - ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, die Mi-
mesis vereinzelter Gegenstände und die abstrakte Ornamentik, sich treffen
und zu einer gewissen synthetischen Einheit erhoben werden. Selbstverständ¬
lich wird ein solcher Gedanke völlig unwahr, schematisch, wenn man, wie das
oft in der Kunstgeschichte und in der Ästhetik geschieht, die einzelnen Rich¬
tungen des Kunstschaffens zu dynamischen Entitäten fetischisiert; so gefaßt
würden die primitive Mimesis und die reine Ornamentik sich gegenseitig radi¬
kal ausschließend, einander gegenüberstehen und ihre synthetische Vereini¬
gung könnte nur durch einen theoretischen Salto mortale bewerkstelligt wer¬
den. Wir wissen jedoch, daß in der wirklichen Welt des wirklichen Menschen
solche fetischisierten Fixierungen höchstens in der Einbildung bestehen. Das,
was wir eine künstlerische Tendenz nennen, entspringt ja immer aus der All¬
tagswirklichkeit der Menschen; das wesentliche Bestreben, die Art, wie eine
solche Tendenz die Wirklichkeit evokativ widerspiegelt, ist dem Gehalt nach
nicht das Ergebnis eines rätselhaften »Kunstwollens«, sondern wird in der
Form von der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie diese im Alltag
bewußtseinsmäßig erscheint, produziert; und zwar in der Form von Be¬
dürfnissen, die in ihrer positiven Erscheinungsweise ganz verschwommen,
konturlos, unbestimmt hervortreten, die die Menschen des Alltagslebens nur
in extremen Ausnahmefällen irgendwie zu formulieren imstande wären, die
jedoch gerade dem wesentlichen Gehalt nach sehr bestimmte Intentionen
besitzen. Das äußert sich in der großen Entschiedenheit ihrer Negativität,
ihrer Fähigkeit zur Abwehr: wenn die Antwort der Kunst auf die so fühlbar
gewordenen sozialen Aufträge nicht im Sinne der - falsch oder überhaupt
nicht formulierten - Fragestellung ausfällt, so erfährt sie eine resolute, oft
gar keine Schwankungen kennende Ablehnung. Natürlich darf man sich hier
keinen untrüglich richtig funktionierenden Mechanismus vorstellen. Auch die
hier geschilderte negative Sicherheit wird nur als eine gesellschaftlich-geschicht¬
liche Tendenz, mit sehr vielen Ungleichmäßigkeiten und Schwankungen wirk¬
sam, die freilich jeweils in konkreten Fällen vermittels einer konkreten Ana¬
lyse der jeweiligen historischen Lage erhellt werden kann. Abgesehen nun
von dem allgemeinen Auf und Ab in der Klarheit der Äußerungsweise
solcher den Weg der Kunst beeinflussenden Bedürfnisse muß noch darauf
hingewiesen werden, daß der sich hier offenbarende Wunsch naturgemäß eine
»Forderung des Tages« ist. Die künstlerische Antwort auf diese kann aber -
jene miteinbegreifend - auf die Bedeutung des betreffenden Gegenwarts-
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 489

moments in der Menschheitsentwicklung gerichtet sein: in solchen Fällen kann


sehr leicht ein Verkennen der wirklichen Bedeutung stattfinden, d. h. die Lei¬
stung wird nur als Tageserfüllung anerkannt, während der wirkliche Wert
erst viel später bewußt wird (Wirkung Shakespeares in seiner Zeit) oder es
kann sogar zu einem völligen Ablehnen oder Verkennen kommen. Alle diese
Komplikationen, deren Art, Zahl etc. noch stark vermehrt werden könnte,
ändern nichts daran, daß wir es hier mit einem grundlegenden strukturellen
Tatbestand in der Entstehung von künstlerischen Strömungen zu tun haben.
Dies um so mehr, als die fundamentalen Wesenszeichen dieser Sachlage viel
allgemeiner sind, als die bloße Beziehung zwischen Kunstschaffen und geistig¬
menschlichen Bedürfnissen des Alltags. Es handelt sich vielmehr um die Ent¬
stehungsweise eines jeden Neuen, sei es in theoretischer oder praktischer Hin¬
sicht, sei es in Wissenschaft oder Politik, Moral oder Kunst. Hegel hat be¬
stimmte Momente solcher Situationen gut beschrieben: »Es ist der verborgene
Geist, der an die Gegenwart pocht, der nodi unterirdisch, der noch nicht zu
einem gegenwärtigen Dasein gediehen ist, und heraus will, dem die gegen¬
wärtige Welt nur eine Schale ist, die einen anderen Kern in sich schließt, als
der zur Schale gehörte ... Zu wissen, was man will, ist schwer; man kann in
der Tat etwas wollen und man steht doch auf dem negativen Standpunkt,
ist nicht zufrieden; das Bewußtsein des Affirmativen kann sehr wohl man¬
geln L« Die idealistische Konzeption des Weltgeistes spiegelt sich offensicht¬
lich darin, daß die neue Idee als Geist die Initiative hat, statt von den Be¬
dürfnissen des historischen Augenblicks hervorgebracht zu werden. Der histo¬
rische Materialismus, der derartige Veränderungen und Wendungen aus den
Wandlungen des Unterbaus, aus der Notwendigkeit für den Überbau, diesen
Änderungen gemäß zu werden, ableitet, gibt erst eine adäquate Erklärung
dieses Problems. Vom Standpunkt unserer Frage ist es wichtig, einerseits
das in allen Sphären der gesellschaftlich-menschlichen Betätigungen Gemein¬
same zu betonen: die Lust- oder Unlustgefühle, das Behagen oder Unbehagen
dem gerade Seienden gegenüber, die Sehnsucht nach Neuem etc.; und hinter
allen diesen, untereinander oft sehr heterogenen subjektiven Akten steht je¬
weils ein gemeinsamer sozialer Gehalt, aus welchem sie aufsteigen und auf
welchen sie gerichtet sind. Um der Einfachheit der Darlegung willen werden
die klassenmäßigen Komplikationen nicht herangezogen. Die hier gegebene
Beschreibung gilt stets etwa für eine Klasse, die im gegebenen historischen

1 Hegel: Die Vernunft in der Geschidite, Leipzig 1917, S. 75 und 77.


49° Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Augenblick entscheidend ist. Der Riß zwischen Sein und Bewußtsein wird
sich in den meisten Fällen auf alle Klassen beziehen, so daß zumeist überall
neue Bedürfnisse etc. hervortreten. Ihr Inhalt, ihre Richtung etc. wird aber
verschieden, ja entgegengesetzt sein 1.
Andererseits drückt sich die Befriedigung dieses gemeinsamen Bedürfnisses
auf den verschiedenen Gebieten der menschlichen Betätigung ganz unter¬
schiedlich aus. Es entstehen neue wissenschaftliche Methoden und Ergebnisse,
neue politische Parolen, Organisationsformen, Zielsetzungen, neue ethische
Normen und moralische Vorbilder, neue Sitten und Verhaltensarten im
Alltagsleben etc. etc. In der Kunst ist dies die Geburtsstunde neuer Formen.
Natürlich können wir hier den äußerst komplizierten Prozeß der Entstehung
der Formen aus den Inhalten nicht schildern (auch dies ist eine der Zentral¬
fragen unseres zweiten Teiles). Es muß nur darauf hingewiesen werden,
daß — geradeso, wie das ganze Leben der Menschen jeweils in derselben
objektiven Wirklichkeit abläuft — der aus der Veränderung der gesellschaft¬
lichen Struktur aufsteigende neue Gehalt auf den verschiedenen sozialen
Betätigungsfeldern letzten Endes derselbe sein muß. Das Spezifische der
künstlerischen Form besteht »bloß« darin, daß sie auf ein aus dieser Lage
entstehendes Lebensbedürfnis zu antworten hat, es zu befriedigen bestimmt
ist. Gerade die umfassende neue Inhaltlichkeit, die alle Lebenssphären um¬
faßt, die im ganzen Menschen qualitative Veränderungen hervorruft, bringt
eine solche Universalität der neuen Erlebnisbedürfnisse hervor, denen — im
allgemeinen — viele ältere Evokationsformen aufnahmeunfähig gegen¬
überstehen. Da es nun gerade die Künstler sind, deren Empfindlichkeit sich
in dieser Richtung berufsmäßig entwickelt, werden sie naturgemäß auf solche
Veränderungen besonders feinfühlig reagieren; daß es immer wieder auch
Künstler gibt, die unverändert in der alten Weise die Wirklichkeit künstle¬
risch aufnehmen und darstellen, bei denen diese Fialtung zur bereits uner¬
schütterlichen Gewöhnung geworden ist, kann an dieser grundlegenden Tat¬
sache nichts ändern. Indem die Künstler nun auf die neuen Phänomene der
gesellschaftlichen Veränderung in ihrer eigenen Weise antworten, entsteht
bei ihnen selbst die Illusion, es handle sich bloß um eine neue, reine Form¬
frage, die aus der Entwicklung der Kunst selbst, aus den Bedürfnissen ihrer
eigenen künstlerischen Selbstverwirklichung etc. herausgewachsen wäre.

Vgl. Marx über die Wirkungen der Selbstentfremdung bei Bourgeoisie und Prole¬
tariat, Wk. a. a. O. Band III. S. 206.
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 491

Unmittelbar und subjektiv ist dies ja auch relativ richtig; es ist aber nur eine
unmittelbare und subjektive Wahrheit, die nicht bis zum Durdrschauen der
objektiven Ursachen des eigenen Verhaltens vorzudringen imstande ist. Und
es ist sicher kein Zufall, daß nicht selten — freilidr keineswegs immer —
gerade die großen Künstler wenigstens eine gewisse Ahnung davon besitzen,
welcher soziale Auftrag ihre spezifische Formgebung ins Leben rief. (Wie¬
weit diese Ahnung gedanklich formuliert, ein falsches Bewußtsein vorstellt,
hat uns hier nicht zu beschäftigen.) Endlich sei noch hinzugefügt, daß die
Veränderungen der Basis mit ihren hier geschilderten ideologischen Konse¬
quenzen ebenfalls eine ungleichmäßige Entwicklung zeigen. Für unsere
Zwecke sei aus diesem unersdröpfhchen Komplex nur so viel herausgehoben,
daß der Wandel in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zuein¬
ander, im Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur, jene Erlebniskomplexe,
die die Grundlagen für die Evokationsart der verschiedenen Künste und
Kunstgattungen unmittelbar beeinflussen, notwendig mit verschiedener Inten¬
sität affiziert. Das hat zur Folge, daß die hier geschilderten Formänderungen
selten auf dem ganzen Gebiet der Kunst gleidizeitig, mit gleicher Wucht auf-
treten, daß dieselbe gesellschaftliche Entwicklung bald auf die eine, bald auf
die andere Kunst oder Kunstgattung günstig bzw. ungünstig einwirkt.
Die eigentliche Entstehung der Malerei, in dem Sinn, den sie bei allen histo¬
rischen Änderungen bis heute bewahrt hat, kann also prinzipiell aus dem
Sich-Treffen und Vereinigen von mimetischen und dekorativ ornamentalen
Tendenzen verstanden werden. Unsere unmittelbar vorangegangenen Bemer¬
kungen zeigen, in welcher Weise eine solche Begegnung ursprünglich völlig
heterogener künstlerischer Bestrebungen stattgefunden haben mag. Die Pa¬
radoxie dieser Lage, die unaufhebbar scheint, solange die eine ausgebildete
Kunstrichtung einer anderen ebenso gearteten gegenübersteht, hebt sich erst
auf, wenn der Ausgangspunkt vom Bedürfnis, entstanden auf Grundlage
gesellschaftlich-geschichtlicher Veränderungen im Leben der Menschen, in
ihren Beziehungen zueinander, im Stoffwechsel der betreffenden Gesellschaft
mit der Natur genommen wird. Das, was in der zur fertigen Gestaltung ge¬
ronnenen Fixierung als ausschließender Gegensatz zutage tritt, kann sehr
wohl vom chaotischen Bedürfnis des Alltags in Element und Bewegung des
Lebens selbst rückverwandelt, ganz ohne Paradoxie in neuei Einheitlichkeit
als neue Forderung des Tages hervortreten. In solchen Prozessen wird die
lebendige und fruchtbare Wechselbeziehung zwischen künstlerischer Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit einerseits und Alltagsleben und -denken anderer¬
seits deutlich sichtbar. Das, was die Kunst, die Welt in ihrer Weise reprodu-
492 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

zierend, gestaltet, hebt vor allem Tatbestände der gesellschaftlich-mensch¬


lichen Existenz auf eine weit höhere Stufe der Klarheit und Bewußtheit, als
dies mit den eigenen Mitteln des Alltags für die Menschen dieser Sphäre
möglich sein könnte. Diese Wirkung entfaltet sich in zwei eng miteinander
verknüpften Richtungen: erstens schlägt der evokative Eindruck, der das
künstlerische Formgebilde in dem Rezeptiven, in dem Menschen des Alltags
zum Erlebnis macht, je tiefer dieses ist, desto stärker, ins Inhaltliche um. Die
neue Vürkhchkeit, die das Kunstwerk durch seine evokative ^Widerspiegelung
allgemein erlebbar macht, wird dadurch zu einem — bereichernden, die
Horizonte erweiternden, die Wahrnehmungsfähigkeit für neue Tatsachen
und Zusammenhänge des Lebens verstärkenden - Bestandteil des Alltags¬
lebens. Es wäre aber, zweitens, eine unerlaubte Vereinfachung, über den Pri¬
mat der inhaltlichen Wirklichkeit, den direkten oder indirekten Einfluß der
neuen Formen auf die Alltagswirklichkeit zu vernachlässigen. Die Höherent¬
faltung der Aufnahmefähigkeit für das Neue kann unmöglich stattfinden,
ohne daß der Mensch des Alltagslebens auch die Formen seiner Beobachtun¬
gen, und ihres Ordnens, seines Inbeziehungsetzens der Fakten und ihrer Rela¬
tionen weiter entwickeln würde.
So groß auch die Spannung zwischen derartigen Apperzeptionen im Alltag
und ihrem Formwerden in der Kunst sein mag, so handelt es sich in beiden
Fällen doch um die Widerspiegelung derselben objektiven Wirklichkeit, ja um
dieselben neuen Strukturen und Tendenzen in ihr. Da nun die bisherige Kunst
in solcher Weise auf den Alltag einwirkte, seine Menschen derart umwan¬
delte, ist es unschwer einzusehen, daß, wenn das gesellschaftliche Leben Neues
produziert und dieses Neue das Verhalten der Menschen, ihre Gefühle, Ge¬
danken etc. entsprechend verändert, in den neuen Bedürfnissen, die hierbei
entstehen, die eben geschilderten Einflüsse der bisherigen Kunst mitenthalten
sind; unbekümmert darum, ob die Menschen, die nun solche Forderungen er¬
heben, sich dessen bewußt sind oder nicht. Aus der früher eingehend^nter-
suchten Wesensart des Alltags folgt naturgemäß, daß die Wechselbeziehungen
zwischen ihm und der Kunst sich niemals auf diese beiden Sphären beschrän¬
ken kann. Abgesehen von den direkten Einwirkungen, die die Ergebnisse der
Arbeit, der Technik, der Wissenschaft etc. auf die Kunstentwicklung ausüben,
ist es selbstverständlich, daß auch diese die im Alltag entstehenden Bedürfnisse
und damit den sozialen Auftrag an die Kunst keineswegs unberührt lassen
können. Die formlos scheinende Forderung des Tages entsteht also aus der Ge¬
samtheit der neuen Erfahrungen, wobei freilich in ihrer spezifischen Intention
auf neue Kunst die eben geschilderten, aus der früheren Kunstübung stammen-
Die Voraussetzungen der Weltbaftigkeit der Kunstwerke 493

den Momente ebenfalls eine wichtige Rolle spielen müssen. (Daß Kunsterfah¬
rungen der Vergangenheit in diesem Prozeß auch eine konservative, das Neue
hemmende Funktion haben können, versteht sich von selbst. Das Eingehen
auf die hieraus erwachsenden Komplikationen gehört bereits zur historisch¬
materialistischen Betrachtung der tatsädilichen Kunstentwicklung.)
Wir haben bei der Behandlung der Ornamentik auf ihre Frühvollendung
und auf die relative Zeitlosigkeit ihrer späteren Wirkungen bereits hingewie¬
sen. Wir haben ebenfalls zu zeigen versucht, wie diese ihre Art und Faszina¬
tion mit der ersten großartigen gedanklichen Beherrschung der objektiven
Wirklichkeit, mit der gesetzlidien Ordnung ihrer Phänomene durch die Geo¬
metrie zusammenhängt. Da es sich hier nicht nur um eine vieltausendjährige
Periode der Menschheitsentwicklung handelt, sondern auch um die vielleicht
entscheidendste Wendung in ihr: um das Übergehen von der Sammler- zur
Produktionsperiode, müssen solche Wirkungen langdauernde sein. Die Pro¬
duktion mag anfangs noch so unentwickelt sein: objektiv ist doch ein quali¬
tativer Sprung eingetreten, der sich früher oder später auf die ganze mate¬
rielle und geistige Kultur der Menschen auswirken, ihr ständiges Fundament
ausmachen mußte. Das Auftreten und das immer stärkere Vorherrschen der
Ordnungsprinzipien, als Widerspiegelung und zugleich Förderungsmittel der
neuen Naturbeherrschung, ihre Erhebung zu Aufbauelementen der sich von
den magisch-religiösen Bindungen immer mehr befreienden Weltanschau¬
ungen, zeigt sich ästhetisch in der lange Zeit währenden, führenden, ja zum
Monopol gewordenen Wirksamkeit der Ornamentik. Die Überreste der
Mimesis aus der Jägerzeit weisen höchstwahrscheinlich keine Kontinuität zu
den einstigen, aus einer exzeptionellen, nie wiederholbaren Lage entsprunge¬
nen Leistungen auf. Gordon Childe sagt richtig über den Übergang zur neuen
Formation: »Andere Völker, die keine derart brillanten Andenken hin¬
terlassen haben, haben die neue Nahrungsmittel produzierende Wirtschaft
geschaffen.« Und er weist ebenfalls richtig darauf hin, daß der mimetisch¬
realistische Gipfelpunkt auch in der Jägerzeit nicht von Dauer sein konnte.
Nach der Eiszeit entwickelte sich die Darstellung auf eine Konventionalität
hin: »Der Künstler war nicht mehr bestrebt, einen individuellen lebenden
Hirsch abzubilden, oder wenigstens auf einen solchen hinzudeuten; er be¬
gnügt sich mit den wenigst möglichen Strichen, um die wesentlichen Attribute
anzugeben, wonach man einen Hirsch erkennen kann x.«

1 Gordon Childe: Man Makes Himself, a. a. O. S. 72 und 73.


494 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Die Befestigung der neuen Formation wirkte naturgemäß noch stärker in


diese Richtung. Scheltema hat recht, wenn er von einer völligen »Umstellung
vom geschauten Gedächtnisbild zum konstruierten >Gedankenbild<, das sich
auf die bloße Mitteilung, die Kennbarmachung der fraglichen Gegenstände
beschränkt,« spricht h Er versucht auch nachzuweisen, daß, als die bereits
sich im Süden entfaltende Plastik nach Nord-Europa kam, sie hier »gleich¬
sam auf ein Nichts stieß«; »nach anfänglicher Nachahmung wird die fremde
figurale Form entnaturalisiert, bis sie schließlich zum bildlosen, geometrischen
Schema erstarren kann 1 2.« Solche Feststellungen haben für uns einen gewis¬
sen Wert, indem sie zeigen, wie fest verwurzelt in der Kultur primitiver
Landbebauer und Züchter die abstrakt geometrische ornamentale Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit war: selbst wenn sie mit Werken entwickelterer
Kulturen in Berührung kamen, lehnte das Alltagsleben die dort zum Aus¬
druck gelangende Mimesis mit spontaner Selbstverständlichkeit ab, paßte sie
instinktiv den eigenen ästhetischen Bedürfnissen an, d. h. vollzog eine Rück¬
verwandlung der Mimesis in abstrakte Ornamentik. (Auch ein solches nega¬
tives Beispiel bestätigt unsere früheren Darlegungen über die Beziehungen
zwischen Struktur und Entwicklungstendenz im Alltag und den entsprechen¬
den Kunstströmungen.) Das Richtige in einzelnen Tatsachenfeststellungen bei
Scheltema wird jedoch dadurch verzerrt, daß er dieses Stadium der Entwick¬
lung einerseits zu einem absoluten Vorbild stilisiert, insofern er ausführt:
»Es wird sich noch deutlicher zeigen, daß die Ornamentik auf Grund ihrer
eigentümlichen Treue zum Objekt nur grundsätzlich abstrakt-geometrisch
sein kann. Schon hier versteht sich aber, daß das altnordische Ornament aus
den angeführten Gründen niemals naturdarstellend und nur selten auch sym¬
bolisch geartet sein kann.« Andererseits soll aus dieser »Sachlage« die Not¬
wendigkeit folgen, den mimetischen Realismus, vor allem den der Antike,
ästhetisch herabzusetzen: aus dem rein historisch verständlichen Sichwehren
einer organisch gewachsenen, und sich organisch entwickelnden niedrige¬
ren Kultur gegen Einflüsse einer höheren, für welche in ihr noch keine
gesellschaftlichen und darum auch keine ästhetischen Grundlagen vor¬
handen waren, soll ein höheres »germanisches« Kunstprinzip abgeleitet
werden. Nach Scheltema »kann auch hier, bei dieser reinen Ornamentik,
unter Umständen sehr wohl von einer Ablehnung des südlichen >Anthro-

1 Scheltema: a. a. O. S. 72.
2 Ebd. S. 87.
Die Voraussetzungen der Weltbaftigkeit der Kunstwerke 495

pomorphismus< gesprochen werden1.« Die sich hier zeigende Geschichts¬


philosophie wird konsequent zu Ende geführt. Wie dies seit Chamber-
lain und Spengler große Mode geworden ist, wird eine Attacke »gegen
die sinnlose Gliederung des Geschichtsablaufs in Antike, Mittelalter und
Neuzeit2« geritten, woraus für die Kunstgeschichte die Folgerung gezogen
wird, die mittelalterliche Kunst schließe sich unmittelbar an die Vorzeit
an, was nicht nur die Rolle der Antike annulliert, sondern audt die
mimetisch-realistischen Tendenzen des Mittelalters willkürlich aus der
Welt schafft.
Solche modischen Geschidrtsphilosophien, wie auch die von uns früher kriti¬
sierte Worringers, verwischen und verwirren gerade die wichtigsten Entwick¬
lungstatsachen der Kunst. In diesem Fall das Problem der wirklich entfalte¬
ten, weltschaffenden Mimesis, das wirkliche Entstehen der Kunst als Kunst.
Die Ornamentik primitiver Bauernvölker ist ein organisches Produkt ihrer
Produktionsstufe. Sie steht, weltgeschichtlich betrachtet, insofern höher, als
die ausnahmsweise begünstigten Anfänge der urwüchsigen Mimesis, da sie
bereits - der ihr zugrunde liegenden höheren Produktionsweise entspre¬
chend - das Problem der Einheit, der Ordnung, der Hierarchie, des Neben-
und Unterordnens aufwerfen und lösen kann, und damit nicht nur an sich
Hochstehendes zu schaffen imstande ist, sondern Prinzipien in die Welt setzt,
die ein unverlierbares Besitztum jeder späteren Kunst werden müssen. Es
kommt nun darauf an, einzusehen, - und dagegen wehren sich, jeder in sei¬
ner Weise, Worringer, Scheltema und ihnen nahestehende Autoren -, daß
die Menschheit objektiv, ökonomisch-sozial über diesen Zustand einer pri¬
mitiven Landwirtschaft und Viehzucht hinweggeschritten ist und deshalb
auch in der Kunst das abstrakt ordnende Prinzip mit konkret ordnenden
Prinzipien vertauschen mußte. Das ist keine von irgendeiner Philosophie an
die Kunst gestellte Forderung. Es handelt sich vielmehr um eine ganz ein¬
fache, für eine unbefangene Betrachtung leicht einsehbare Lebenstatsache. Das
primitive Leben kann auch als Leben mit wenigen Ordnungsprinzipien aus-
kommen. Das Leben innerhalb einer solchen Gesellschaft, die Beziehung der
Menschen zueinander und zu ihrer konkreten Gemeinsdiaft ist im Stadium
des Urkommunismus noch ohne innere Problematik. Der Stoffwechsel der
Gesellschaft mit der Natur ist noch höchst einfach, die Herrschaft über die

1 Ebd. S. ioi.
2 Ebd. S. 188.
496 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Natur ist äußerlich wie innerlich auf einen winzigen Umkreis beschränkt.
Darum konnte das abstrakte, aber in seinem abstrakten Geltungsbereich ab¬
solute und unfehlbare Prinzip des Geometrischen, wie wir seinerzeit nach¬
gewiesen haben, auch in der künstlerischen Praxis eine so mächtige und pathe¬
tische Bedeutung erlangen, daß sie für Jahrtausende Kunstschaffen und Ge¬
nießen beherrschen konnte. Die scheinbar überraschende historische Reihen¬
folge von weltloser Mimesis, weltloser Ornamentik und weltschaffender
Kunst klärt sich auf, wenn bedacht wird, daß erst durch die Universalität der
Arbeit in der Gesellschaft etwa der Rhythmus (aber auch Symmetrie oder
Proportion) eine alle Lebensäußerungen durchdringende Macht erhält. Diese
fehlt noch im Dasein der Jäger und Sammler, trotz der Bedeutung des Rhyth¬
mus für den Tanz; er bleibt lange Zeit, bei aller Ausbreitung auf Abstraktheit
beschränkt. Erst die wachsende Universalität der Arbeit schafft die seinshafte
Möglichkeit, die realen Gegenständlichkeiten und Gegenstandbeziehungen
ebenfalls in rhythmischer Ordnung, nach Symmetrie und Proportion geregelt,
mimetisch zu reproduzieren.
Jedoch gerade weil die Grundlage dieser neolithischen Gesellschaft eine fort-
setzbare und höher entwickelbare Produktionsweise gebildet hat, mußte die
Gesellschaft, wenigstens an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten,
immer weiter über diese Stadien hinwegschreiten. Gordon Childe spricht rich¬
tig einerseits von einer »neolithischen Revolution«, fügt aber ebenso richtig
hinzu, daß auf dieser Basis eine zweite, wie er sie nennt, eine »urbane Revo¬
lution« folgen mußte. Diese zweite Revolution unterscheidet sich von der
ersten vor allem darin, daß sie nicht, wie diese, dem Sammeln gegenüber
einen Neuanfang bedeutet, sondern gerade in dem qualitativen Sprung, den
sie vollbringt, zugleich eine Fortsetzung und Weiterführung der älteren For¬
mation vorstellt. Uns interessieren hier die auf dieser Basis im Alltagsleben
entstehenden neuen Bedürfnisse, jene Forderungen des Tages, die die neue
Gesellschaft an die Kunst stellt. Auf der einen Seite ist der Zerfall des Ur¬
kommunismus das Ausschlaggebende: die urwüchsige Gesellschaft löst sich
auf, das Problem der Widersprüchlichkeit zwischen der Gesellschaft und den
sie bildenden Individuen wird vom Leben selbst aufgeworfen. Wir haben
bereits früher, unter Berufung auf Marx, darauf hingewiesen, daß Inhalt und
Form, Struktur und Entwicklung etc. dieser Umwälzung sehr verschie¬
dene Wege einschlagen können; so ist insbesondere der Unterschied sowohl
zwischen Griechenland und Ägypten, Vorderasien, etc., wie zwischen beiden
und den germanischen Völkern ausschlaggebend. Die entscheidende Bedeu¬
tung der griechischen Antike liegt - für unsere Betrachtungen - vor allem
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 497

darin, daß ein System von antagonistischen Widersprüchen zwischen Gesell¬


schaft und Individuen erst hier eine zu Ende geführte, alle Bestimmungen
dieses Problemkomplexes umfassende Ausbildung erhalten konnte. Das
unterscheidet bereits die Homerischen Epen von analogen Dichtungen des
Orients; das kommt vor allem im Entstehen der Tragödie als Genre zum
Ausdruck. Die Einführung des Dialogs durch den zweiten Schauspieler bei
Aischylos ist der formal-künstlerische Ausdruck dafür, daß das dialektisch¬
dialogische Prinzip im Drama das Fundament eines mimetischen Welt¬
schaffens geworden ist. Und die allgemein bekannte Tatsache, daß der
Inhalt dieser völlig neuen Kunstgattung, wenigstens anfangs, eben die Aus¬
einandersetzung der aus dem Zerfall der alten Gentilgesellschaft entstande¬
nen neuen mit ihrem eigenen Ursprung ist, bestätigt unsere bisherigen Dar¬
legungen: der dialektische Widerspruch zwischen gestern und heute, die
Charakteristik des Heute als das Ergebnis solcher Kämpfe ist eine völlig
neue Konzeption der Welt, in der der Mensch zu leben hat. Die neue Form
des Dramas ist die Erfüllung des sozialen Auftrags, den die sich stürmisch
wandelnde gesellschaftliche Wirklichkeit in chaotisch-formloser Weise an
die Kunst gerichtet hat.
Da das Drama als weltschaffende Kunstgattung nur auf dem Boden einer
bereits ihrer selbst als Öffentlichkeit bewußten gesellschaftlichen Stufe mög¬
lich ist, sind die genetischen Zusammenhänge, die zu seiner Entstehung bei¬
trugen, relativ leicht durchschaubar. Schwieriger ist die Lage für das von uns
untersuchte Raumschaffen und dadurch Weltschaffen der Malerei. Hier han¬
delt es sich um das Entstehen von Bedürfnissen, deren Wurzeln viel stärker
im Privatleben des Alltags Stedten und darum weit schwerer eindeutig an¬
weisbar sind, als die allen offenkundigen Tatsachen des öffentlichen Lebens.
Immerhin sei es gestattet, auf einige Momente kurz hinzuweisen. Von der
Schutzsuche des Menschen in Höhlen bis zu den Städtegründungen spielt sich
ein langer Prozeß ab, in welchem die wachsende Sicherheit des Lebens und
mit ihr die zunehmende Muße und Kultur - wenn wir hier von Bedürfnissen
des Alltags sprechen, so tun wir es so gut wie ausnahmslos in bezug auf die
bereits* entschieden herausgebildeten herrschenden und ausbeutenden Klassen -
aus dem rettenden Obdach ein geschmücktes Heim zu schaffen haben. Auch
um das Heim herum entstehen - öffentlich wie privat - von den Menschen
zuerst bloß ausgewählte, später sogar eigens ausgebildete Stücke der Natur,
in welchen diese bereits derart unterworfen erscheint, daß das, worin sie zum
Träger menschlicher Erlebnisse, Gefühle etc. geworden ist, die dominierende
Rolle zu spielen beginnt (Haine, Gärten usw.). Mögen etwa zur Zeit Homers
498 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

auch die prunkhaftesten Gärten im wesentlichen Nutzgärten gewesen sein 1,


ihre Beschreibungen bei Homer zeigen, daß die Beziehungen der Menschen
zu ihnen nicht ausschließlich auf ihr materielles Fruchtbringen beschränkt
waren; sie evozierten vielmehr die verschiedensten Erlebnisse. Noch entschie¬
dener ist es um die Wirkung der den Göttern oder Heroen gewidmeten Haine
bestellt; und daß die dabei erweckten Gefühle auch religiösen Inhalts sind,
ändert nichts an dieser Sachlage.
Solche Tatsachen könnte man noch lange aufzählen. Für unsere Zwecke ge¬
nügt es jedoch, festzustellen, daß die Menschen von einer bestimmten Kultur¬
stufe an beginnen, konkrete, gegenstandserfüllte Räume als ihre natürliche,
ständige Umwelt lustvoll zu erleben, Räume deren visueller Bemächtigung
gegenüber eine bloße, noch so ornamental gewordene Geometrie sich als zum
evokativen Ausdruck machtlos erweisen müßte. Diese Lage erscheint in noch
schärferer Beleuchtung, wenn man daran denkt, daß solche Tempel, Schlös¬
ser, Haine, für die Phantasietätigkeit mit den mythischen Erinnerungen an
Heroen, Götter, Halbgötter usw. erfüllt sind, daß die an solche Orte gebun¬
denen Begebenheiten aus deren Leben mit zu der Wirkung gehören, die z. B.
ein Hain auslöst. Aus solchen und ähnlichen seelischen Tatsachen des Alltags¬
lebens entsteht die von uns untersuchte Forderung des Tages an die Malerei:
nach mimetischer Abbildung eines jeweils konkreten Raumes, der von
Gegenständen ebenfalls konkreter Art erfüllt ist, der sowohl die Gestalten
und Objekte so zu umfassen hat, daß diese in ihr den einzig angemessenen
Ort ihres Daseins zu haben scheinen, als auch für den Betrachter die Erschei¬
nungsform haben müssen, das sichtbar und übersichtlich gewordene Abbild
der eigenen Welt des Menschen zu sein. Die oben skizzierten Bedürfnisse,
die solche Forderungen hervorrufen, bedingen jedoch zugleich den Raum¬
schmuckcharakter der mimetischen Darstellung. Diese widerspiegelt also nicht
bloß einen konkreten belebten Raum, sie hat zugleich die Funktion, einen
realen und konkreten Raum zu beleben, ihn für die Menschen noch mehr zur
Heimat, zur eigenen Welt zu machen.
Die Simultaneität dieser beiden Forderungskomplexe bestimmt die entschei¬
denden Wesenszeichen der hier entstehenden, neuen visuell-künstlerischen
Synthese: die Untrennbarkeit von Zwei- und Dreidimensionalität des male¬
rischen Kunstschaffens. Erinnern wir uns: für die höchstentwickelte mimeti¬
sche Malerei der Altsteinzeit gab es keinerlei Art von Zweidimensionalität.

1 M. L. Gothein: Geschichte der Gartenkunst, Jena 1926, Band I. S. 7.


Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 4 99

Alle Beobachter der Höhlenmalerei beschreiben die Tatsadie, daß die Dar¬
stellung keinerlei Rücksicht auf die Wand nimmt, worauf sie gemalt wurde.
Und diese ausschließliche Konzentration auf die Individualität eines mime¬
tischen Gegenstandes hat die doppelte negative Folge: das Fehlen der Zwei-
dimensionalität des Bildes lösdrt zugleich die Beziehung des dargestellten
Gegenstandes zu anderen Gegenständen im Raum und zu irgendeinem kon¬
kreten Raum selbst aus. Es ist sicher nicht zufällig, daß, wenn, wie wir ge¬
sehen haben, eine derartige beziehungsvolle Mehrgegenständlichkeit zu ent¬
stehen beginnt, mit ihr zugleich das Wunder der singulären Individuation
erlischt, und die verknüpften Gestalten sich einer ornamentalen Verein¬
fachung und Abstraktion annähern. Und das andere Extrem der Vergangen¬
heit, die Ornamentik, läßt ihrerseits die dritte Dimension völlig ver¬
schwinden; auch wenn infolge einer reliefartigen Bearbeitung materiell¬
faktisch eine solche vorhanden ist, kommt sie für die visuell-künstlerische
Wirkung nicht in Frage. Die dargestellten Objekte sind ohne mimetische
Fülle, sie sind bloß gerade erkennbare Chiffren einer Geheimschrift, um
so mehr, als ja, wie wir ebenfalls gesehen haben, die Beziehungen der Regel
nach nicht aus dem Wesen der Gegenständlichkeit des Dargestellten ent¬
springen.
Es wäre sehr einfach und nach der Methode einer idealistischen Dialektik
auch folgerichtig, in dem uns jetzt beschäftigenden Form-Inhalt-Komplex
eine Synthese zu erblicken, die aus der rein mimetischen These und der rein
ornamentalen Antithese entsteht. Die Dialektik der Wirklichkeit ist aber weit
komplizierter als derartige Schemata. Wir haben ja gesehen, daß die von
uns geschilderten künstlerischen Richtungen und die ihnen entsprechenden
Werkstrukturen nicht auseinander entstanden, sondern ästhetische Wider¬
spiegelungen und Ausdrucksformen einer komplizierten historischen Entwick¬
lung sind. Die hier am Schluß erscheinende Negation der Negation soll also,
wie Engels über Marx’ Darstellung der Negation der Negation im »Kapital«
sagt, nicht als »Beweis« einer historischen Notwendigkeit auftreten: »Im
Gegenteil: nachdem er geschichtlich bewiesen hat, daß der Vorgang in der
Tat teils sich ereignet hat, teils noch sich ereignen muß, bezeichnet er ihn zu¬
dem als einen Vorgang, der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz
vollzieht1.« Dies gilt in gesteigerter Weise für den hier behandelten Fall,
da es sich in ihm nicht um eine primäre Bewegung des gesellschaftlichen

1 Engels: Anti-Dühring, a. a. O. S. 137.


JOO Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Lebens, um die Bewegung der Ökonomie handelt, sondern um eine im


Überbau, wo jede Veränderung, wie wir nachzuweisen bemüht waren, aus
den fundamentalen ökonomischen Veränderungen folgt. Die Beziehung der
»Negation der Negation« zu den vorangehenden Momenten zeigt diese
Struktur sehr deutlich. Einerseits darin, daß das Erwachen der Mimesis
keinen historischen Zusammenhang mit der der Altsteinzeit hat; sie ent¬
steht nicht nur spontan aus den neuen Lebensverhältnissen, sondern ist
auch qualitativ von jener so tief verschieden, daß sie keineswegs als deren
Fortsetzung betrachtet werden kann. Andererseits bedeutet auch die Re¬
zeption des ornamental-dekorativen Prinzips nicht eine unveränderte Auf¬
nahme in die neue Synthese. Vielmehr werden bloß die langen künstleri¬
schen Erfahrungen, die bei der Anwendung dieses Ordnungsprinzips der
evokativen Visualität gemacht wurden, in einer abermals qualitativ ver¬
änderten Weise zu wesentlichen Bestandteilen der neuen künstlerischen
Weltbetrachtung.
Kurz gefaßt könnte man sagen: sie waren in der weltlosen Ornamentik die
allein entscheidenden Prinzipien des künstlerischen Ordnens. Im neuen Zu¬
sammenhang einer auf Universalität gerichteten Mimesis, in welcher nicht
nur die dargestellten Objekte selbst, sondern auch ihre Beziehungen zuein¬
ander und zum Raum, der sie umgibt, den sie erfüllen, der durch das so ge¬
schaffene System von komplizierten Wechselbeziehungen zu einem konkret
evokativen, sinnlich individualisierten Raum wird, nicht mehr, oder höch¬
stens in sekundärer Weise von abstrakt geometrischen Kategorien bestimmt
werden können, müssen die ausschlaggebenden Ordnungsprinzipien ebenfalls
mimetischen Charakters sein. Das heißt, im Hauptstrom der Entwicklung
entsteht eine Komposition, deren Prinzipien aus der dreidimensionalen Ko¬
existenz von Gestalten und Gegenständen, aus der Art ihrer Beziehungen
(etwa ihrer Dramatik, wie in verschiedener Weise bei Michelangelo oder Rem-
brandt, oder einer repräsentativen Funktion wie oft bei Raffael usw.) ab¬
geleitet werden können. Und diese Prinzipien haben bereits, auch in den An¬
fängen, die Physiognomie des ausgebildeten Ästhetischen: sie sind im Kon¬
kreten - ohne dem Kunstwert Abbruch zu tun - unwiederholbar, d. h. sie
müssen in jedem einzelnen Fall aus dem Geradesosein des zu gestaltenden In¬
halts organisch herauswachsen, seine Einzigartigkeit in der spezifischen Weise
der Kunst verallgemeinern. Darum ist die historische und individuelle Varia¬
bilität so entstandener Kompositionen unerschöpflich. Das bedeutet jedoch
unter keinen Umständen eine subjektivistische Willkür. Einerseits sind die
Prinzipien der Komposition jeweils durch den Inhalt bestimmt. Dieser
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 501

wiederum entspringt aus den gesellschaftlichen Bedürfnissen eines kon¬


kreten Volks, einer konkreten Klasse in einer konkreten Zeit und schlägt,
durch die Weltanschauung des Künstlers, durch seine Stellungnahme zu den
hier aufsteigenden Problemen vermittelt, in visuelle Formung um. So kann
die gestaltende Subjektivität zwar sehr weitgehend frei walten, sie ist jedoch
zugleich durch Art, Umfang usw. des so entstehenden inhaltlich-formalen
Spielraums begrenzt, und wird dadurch in bestimmte Richtungen, zu be¬
stimmten Ausdrucksweisen und Ausdrucksmitteln usw. gedrängt. Anderer¬
seits wird die schöpferische Subjektivität durch den aus diesen Komponenten
determinierten Weg geleitet. Der Folgerichtigkeit im Zuendeführen des ein¬
mal so oder so Begonnenen kann sidr ein Künstler - wenn er Künstler blei¬
ben will - unmöglich entziehen, da der ästhetisdre Wert seiner Subjektivi¬
tät ihre Berechtigung gerade darin erweist, daß sie einen künstlerisch gang¬
baren, wenn auch noch so kühnen und ungewohnten Weg einschlagen und
diesen bis zu den letzten Konsequenzen verfolgen kann.
Das ist jedoch bloß die eine Seite des Kompositionsproblems: die Einheit der
dreidimensionalen, konkreten, visuell-evokativen Gegenständlichkeit. Jedes
Bild verwirklicht aber - unabtrennbar von der in ihm geschaffenen kon¬
kret-räumlichen Einheit des Mannigfaltigen - auch eine zweidimensionale
Einheit des Mannigfaltigen. Man kann sich das Zusammenfallen dieser beiden
- abstrakt-gedanklich gesehen - verschiedenen, ja heterogenen Systeme nicht
vollständig, nicht intim genug vorstellen. Jeder Stridi eines Bildes, jede
Farbe, jede Linie, jeder Schatten usw. muß seine notwendige - die Evoka¬
tion richtig leitende - Funktion sowohl in der zweidimensionalen wie in
der dreidimensionalen Einheit und Systematik restlos erfüllen. Die Welthaf¬
tigkeit der Malerei entsteht nicht zuletzt durch diese Konvergenz. Denn die
intensive Unendlichkeit des dargestellten Ensembles, sowie seiner sämtlichen
Teile ist sehr stark daran gebunden, daß jedes Element des Bildes unüber¬
sehbar viele Aufgaben in der Einzelgestaltung wie in der kompositionellen
Verknüpfung zu erfüllen hat und so in jedem Augenblick neue und neue
Seiten zu offenbaren imstande sein muß. Eine solche Tendenz ist bereits in
der anfänglichen Form der Mimesis keimhaft enthalten, sie wird aber auf
eine qualitativ höhere Stufe erhoben, verbreitert, vertieft, intensiviert
durch die untrennbare Einheit der räumlich-gegenständlichen, auf konkrete
Totalität drängenden Mimesis mit dieser neuen Form des Dekorativ-Orna¬
mentalen. Die unauflösliche Aufeinanderbezogenheit wirkt modifizierend auf
beide Faktoren ein. Der Drang nach Totalität, nach Abschließen oft auf
Extensität gerichteter Tendenzen in einen relativ kleinen Raum, nach Inten-
502 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

sität des Beziehungssystems zwischen den Objekten der Darstellung muß in


dieser Wechselbeziehung noch erstarken. Das dekorativ-ornamentale Prinzip
verliert dagegen viel von seiner Abstraktheit und Inhaltlosigkeit (oder trans¬
zendenten Inhaltlichkeit, was dasselbe besagt). Indem jedoch seine Arbeit im
Dienste des Ganzen sich darauf reduziert, konkrete Gegenstände und ihre
ebenso konkreten Beziehungen miteinander in zweidimensionale Zusammen¬
hänge zu bringen, d. h. ihre dekorativen Möglichkeiten zur Wirklichkeit zu
erwecken, erhält das Privative an diesem Prinzip einen positiven Akzent.
Es wird zum Prinzip der endgültigen Vollendung eines Strebens nach kon¬
kreter Totalität, nach gediegener Inhaltlichkeit, nach einer eigenen Welt der
Kunst für den Menschen.
Der Leser sei hier an unsere Analyse der abstrakten Formen der Widerspie¬
gelung erinnert. Wir haben dort gezeigt, daß - mit Ausnahme der ganz rein
geometrischen Ornamentik - alle abstrakten Widerspiegelungsformen bei
mimetischer Gestaltung der Wirklichkeit einen bloß annähernden Charakter
besitzen. Indem solche Formen (Rhythmus, Proportion, Symmetrie usw.) als
Ordnungsprinzipien einer real gegenständlichen, einer welthaften Wirklich¬
keit erscheinen, ist ihre Anwendbarkeit zugleich eine Erfüllung und eine
Selbstauflösung. Je welthafter ein mimetisches Gebilde wird, desto entschie¬
dener muß dieser bloße Annäherungscharakter der abstrakten Formen wer¬
den. Das bedeutet jedoch zugleich eine qualitative Wendung im ganzen In-
halt-Form-Verhältnis. Das Geometrische erscheint jetzt bloß als eine äußerste
Grenze der mimetischen Konzentration, fast als eine »regulative Idee« im
Sinne Kants, indem es zugleich alles und nichts an der realen Gegenständlich¬
keit bestimmt. Es genügt vielleicht, an eines der berühmtesten Beispiele sol¬
cher Kompositionsarten, an Leonardos »Anna selbdritt« (Louvre), zu erin¬
nern. Wölfflin hat die ganze Komposition als ein gleichschenkliges Dreieck
umschrieben: Bei Leonardo seien »alle Figuren... konzentrierend bewegt
und die widerstreitenden Richtungen zu geschlossenen Formen zusammen¬
geballt«; er versuche »auf immer kleinerem Raum immer mehr Bewegungs¬
inhalte unterzubringen« usw. b Es ist wohl keine besondere Darlegung
nötig, um die Gegensätzlichkeit der künstlerischen Funktion eines solchen
Dreiecks zu einem in der wirklichen abstrakten Ornamentik deutlich zu
machen. Hier zeigt sich konkret, was früher nur allgemein behauptet werden
konnte: daß die abstrakten Ordnungsprinzipien - infolge der Universalität

1 Wölfflin: Die klassische Kunst, München 1904, S. 35 f.


Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 5°3

der Arbeit im Leben der Menschen - zu Kategorien der konkreten Gegen¬


ständlichkeit umgearbeitet werden müssen.
Wenn hier von dekorativ-ornamentalen Tendenzen im Bild gesprochen wird,
so handelt es sich, wie die bisherigen Darlegungen bereits klar zeigten,
keineswegs mehr um reine Geometrie. Ja man kann sagen: je weiter die
Malerei sich entwickelt, sich als Kunst findet, eine desto größere Bedeutung
erhält der dekorative Zusammenklang der Farben, das letzthinnige Fundieren
ihrer kompliziertesten, Gegenständlichkeit und Räumlichkeit bildenden
Funktionen (Helldunkel, Schatten, Luftperspektive, Valeur etc.) auf ihre
physiologische Harmonie. Diese erscheint, je ausgebildeter die Malerei als
solche ist, in desto vermittelteren, versteckteren Formen, sie muß aber doch
als Basis immer vorhanden sein, sonst wird die Totalität des Zweidimensio¬
nalen bunt, charakterlos, verworren usw. Diese Suprematie des rein Maleri¬
schen beschränkt sich freilich nicht auf die Farbengebung allein, sondern
durchdringt alle Momente der Komposition. Eine Zeichnung in Schwarz-
Weiß kann im rein malerischen Sinn entworfen sein und in farbigen Bildern
kann sehr wohl die Zeichnung dominieren, so daß die Farben zum Akzesso¬
rischen herabgesetzt werden. (Man denke einerseits an Rembrandt, anderer¬
seits an Botticelli.) Mögen jedoch diese Bestimmungen noch so kompliziert,
verwickelt, verborgen wirkend werden, es entsteht trotzdem jeweils eine
zweidimensionale Harmonie des Bildes, sein Geordnet- und Beherrschtsein
von dekorativen Prinzipien. Freilich wird dies nicht immer sogleich zur Gel¬
tung gelangen. Gerade die Geschichte der neuzeitlichen Malerei zeigt, daß oft
neue Richtungen so gut wie ausschließlich begeistert aufgenommen oder lei¬
denschaftlich abgelehnt wurden, je nachdem wie die spezifische Mimesis der
Gegenwart - mit den aus ihr entsprungenen Forderungen des Tages in bezug
auf Gestaltung der dreidimensionalen eigenen Welt - ausgefallen war. Erst
nachdem diese Kämpfe längst abgeschlossen waren, rückte das schmückende,
das dekorative Wesen solcher Bilder ins allgemein ästhetische Bewußtsein.
Diese und ähnliche Tatsachen, verstärkt durch die subjektivistischen und for¬
malistischen Tendenzen, die der philosophische Idealismus in der spätbürger¬
lichen Kunstbetrachtung fördert, führen dazu, daß so viele bedeutende
Kunstkenner das Dekorative in der Malerei mit dem Künstlerischen einfach
gleichsetzen; Bernhard Berenson unterscheidet z. B. in der Malerei zwischen
Illustration, worunter er jeden »außerkünstlerischen«, gleich ob der äuße¬
ren Welt oder dem inneren Geiste angehörigen Inhalt versteht, und zwischen
den dekorativen Prinzipien, die er für die allein künstlerischen erklärt. Es
bleiben, führt er abschließend aus, »alle dekorativen Elemente, welche meiner
S°4 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Ansicht nach das Wesentlichste im Kunstwerk sind, über Umwälzungen der


Mode und des Geschmacks erhaben *«.
Eine derart schroffe Trennung des angeblich völlig außerkünstlerischen In¬
halts von der ebenso angeblich allein künstlerischen Form zerreißt die leben¬
dige Einheit des Kunstwerks. Sie ist in der Kunstbetrachtung des letzten
Jahrhunderts sehr verbreitet, auch wenn das Verständnis und die Analyse
bei begabten Historikern viel besser ist als die ihr unterlegten theoretischen
Betrachtungen. So will auch Riegl Inhalt und Form einander ausschließend
gegenüberstellen. »Der ikonographische Inhalt ist eben durchaus verschieden
von dem künstlerischen, der (auf Erweckung bestimmter Vorstellungen ge¬
richtete) Zweck, dem der erstere dient, ist ein äußerer, gleich dem Gebrauchs¬
zwecke der kunstgewerblichen und architektonischen Werke, während der
eigentliche Kunstzweck lediglich darauf gerichtet ist, die Dinge in Umriß und
Farbe, in Ebene und Raum derart darzustellen, daß sie das erlösende Wohl¬
gefallen des Beschauers erregen.« Riegl unterscheidet sich darin vorteilhaft von
vielen anderen Kunsthistorikern, daß er, wenigstens als Problem, den Zusam¬
menhang zwischen künstlerischem und ikonographischem Inhalt wahrnimmt:
»Denn es kann keinen Zweifel leiden, daß zwischen den Vorstellungen, die
der Mensch im Kunstwerk versinnlicht schauen will, und der Haltungsweise,
wie er die sinnfälligen Mittel dazu (die Figuren etc.) behandelt sehen will, ein
inniger Zusammenhang existiert1 2.« Daß die Behandlung des ikonographischen
Inhalts sehr oft sich völlig von den ästhetischen Fragen der Gestaltung loslöst,
daß auf der anderen Seite ebensooft im Inhalt nur ein Vorwand erblickt
wird, um malerische, dekorative Effekte unabhängig von Raum und Zeit der
Geschichte zum Ausdruck zu bringen, ist natürlich eine Tatsache. Auf der bis
jetzt erreichten Stufe der Erhellung des Ästhetischen kann auch noch nicht die
ausgeführte Dialektik von Inhalt und Form mit ihren mechanischen Ent¬
gegensetzungen völlig überzeugend, weil konkret, in allen Details kontrastiert
werden. (Audi dies wird eine Aufgabe unseres zweiten Teiles sein.)
Prinzipiell muß jedoch schon hier darauf hingewiesen werden, daß das, was
man ikonographischen Inhalt zu nennen pflegt, ein Teil jener Forderung ist,
die das Leben jeweils an die Kunst stellt. Er umfaßt bestimmte menschliche
Situationen, sie vorbereitende und aus ihr folgende Handlungen, bestimmte
Charaktere, Schicksale, Beziehungen zwischen Menschen, usw. Indem nun ein

1 Berenson: Mittelitalienische Malerei, München 1925, S. 27 f.


2 Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1927, S. 229.
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 50$

solcher Komplex als Mythos, Sage, heiliges oder weltliches Schrifttum die in¬
haltliche Forderung der künstlerischen Darstellung gegenüber ausmacht, so
ist er bei aller inhaltlichen Bestimmtheit, selbst bei einer theologisdi tiefsinni¬
gen exakten Formulierung, vom Standpunkt des Künstlers aus ein Rohstoff
chaotischen, formlosen Charakters. Richtung und Geformtheit entstehen erst,
wenn der Künstler das ihm so als Postulat, als sozialen Auftrag Entgegen¬
gestellte in einen künstlerisch konkreten Bildinhalt verwandelt, denn die
malerische Formgebung kann - sowohl die dekorative, wie die mimetische,
wie auch ihre Einheit im Zusammenfallen der dreidimensionalen Komposi¬
tionsprinzipien und -elemente mit den zweidimensionalen - nur als beson¬
dere Form dieses nunmehr zum Besonderen und nicht mehr bloß ikonogra-
phisch allgemeinen Inhalts zur Geltung gelangen. Natürlich muß diese Be¬
ziehung in der dialektisch richtigen Proportion verstanden werden. Weder ist
die Malerei ein einfaches Verwirklichen des ikonographisch gestellten sozia¬
len Auftrags, noch ist dieser ein simpler Anlaß, aus dem die Kunst Beliebiges
machen kann. Sein Wesen ist am besten als Spielraum umschrieben: konkret,
indem er die Wünsche des Alltags irgendwie zusammenfaßt, ihnen eine ge¬
wisse Gestalt, eine gewisse Richtung usw. verleiht; abstrakt, indem erst die
künstlerisch formende Tätigkeit, die in ihm schlummernden, oft wider¬
spruchsvollen Möglichkeiten eindeutig verwirklicht. Riegl selbst gibt ein sehr
anschauliches und lehrreiches Beispiel für die hier entstehenden, überaus ver¬
wickelten Beziehungen. Er zeigt, daß bestimmte derartige Inhalte zwar im
Durchschnitt eine gewisse Konvergenz zu bestimmten Formlösungen besitzen,
daß aber dabei keine eindeutige oder gar zwingende Bindung vorliegt, daß also
verschiedene Lösungswege im Bereich des Möglichen liegen, ohne die funda¬
mentale Inhaltlichkeit völlig aufzuheben, wenn sie dadurch auch beträchtlichen
Variationen unterliegt. Es handelt sich bei Riegl um die sogenannten Regen¬
tenbilder, um ein, in sozial wohlbegründeter Weise beliebtes Thema der hol¬
ländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Riegl zeigt nun nicht nur theoretisch,
sondern an Hand eines großen Tatsachenmaterials, daß dieses Thema »natur¬
gemäß« eine auf koordinierte Aufmerksamkeit gerichtete Kompositionsweise
fordert und hervorbringt. Er zeigt aber zugleich, wie Rembrandt in seinen
»Staalmeesters« an die Stelle der Koordination eine Subordination setzte, da
er auch hier den Grundsatz seiner Weltanschauung befolgte, die »in seinen
Vorwürfen stets nach dem Keime eines dramatischen Konflikts begehrte1«.

1 Riegl: Das holländische Gruppenporträt, Wien 1931, Textband S. 209.


jo 6 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Mit den weiteren Details dieser Frage brauchen wir uns hier nicht beschäftigen.
Es bleiben bloß zwei Feststellungen wichtig: erstens, daß der »ikonographi-
sche« soziale Auftrag einen bestimmten kompositioneilen Spielraum für die
Künstler darbietet, auch wenn die dabei auftretenden Unterschiede sich nicht
immer zu der hier zutage tretenden Gegensätzlichkeit zuspitzen; zweitens,
daß dabei Prinzipien auftreten, die in ihrer Unmittelbarkeit sowohl die zwei-
wie die dreidimensionale Komposition formal zu ordnen berufen sind
(Koordination und Subordination), die jedoch, sobald sie in künstlerische
Praxis umgesetzt werden, eine für die Qualität der evokativen Wirkung des
Bildes ausschlaggebende inhaltliche Richtung einschlagen (hier: ruhige Zu-
ständlichkeit oder innere Dramatik). Diese zusammenhängende Doppel¬
bestimmung zeigt einerseits die sowohl feste wie elastische, dialektische
Wedaselwirkung zwischen den inhaltlichen und formalen Momenten des
Kunstwerks, andererseits, wie die Stellungnahme des Künstlers zu den großen
Fragen seiner Zeit zugleich Ausgangspunkt und krönenden Abschluß der Ge¬
staltung, gerade in bezug auf die scheinbar rein formale Frage des letzthin
dekorativen Formprinzips im Bilde bedeutet. Rembrandts überwältigende
Größe beruht nicht zuletzt darauf, daß er im aufsteigenden bürgerlichen
Holland, wo künstlerisch hochstehende Zeitgenossen wesentlich eine von
ihnen bejahte Sekurität der bürgerlichen Gesellschaft erlebten, immer wieder
auf deren dramatische Widersprüchlichkeit gestoßen wird; auch der hier be¬
handelte kompositioneile Gegensatz zwischen Koordination und Subordina¬
tion hat seine Quelle darin. Beiläufig bemerkt: es wäre ein großer - schema¬
tisch-formalistischer — Fehler, den Kontrast solcher Kompositionsprinzipien
mit den hier angedeuteten weltanschaulichen Gegensätzen einfach zu iden¬
tifizieren. Subordination kann sehr wohl Ruhe und Gleichgewicht ausdrük-
ken, wie in der Madonna von Castelfranco Giorgiones, aber wenn etwa
Pieter Brueghel die Kreuztragung Christi so »koordiniert« gestaltet, daß die¬
ser in der unendlichen Flut der Opfer (nämlich des Regimes von Alba in
Flandern) fast verschwindet, so handelt es sich um eine bis dahin unbekannte,
großartige Steigerung des dramatisch-tragischen Prinzips. Und es ist ohne
weiteres klar, daß das hier Ausgeführte in allen Fällen der Anwendung deko-
rativ-kompositioneller Prinzipien für das letzthinnige formale Zusammen¬
fassen mimetisch-welthafter Gebilde gültig bleibt.
Unsere bisherigen Darlegungen haben gezeigt, daß die abstrakten Wider-
spiegelungsformen, die die weltschaffende Mimesis sich einverleibt, nicht nur
in keinem antinomischen Gegensatz zu den mimetisch-realistischen Tendenzen
stehen, sondern infolge ihrer fruchtbaren Widersprüchlichkeit gerade diese
Die Voraussetzungen der Welthaftigkeit der Kunstwerke 5°7

zu verstärken berufen sind. Diese Feststellung ist für uns nicht neu. Schon
bei der Betrachtung des Rhythmus haben wir Schillers Worte darüber ange¬
führt, wie dessen bewußt fundierende Anwendung im Wortkunstwerk vor
allem dazu dient, die realistische Widerspiegelung der Wirklichkeit auf ein
höheres Niveau zu erheben. Eine gewisse scheinbare Paradoxie entsteht nur
dort, wo ornamentale Elemente, die auf einer anfänglichen Stufe für sich
allein dazu ausreichen, eine große, freilich weltlose, aber gerade in dieser
Weltlosigkeit innerlich vollendete Kunstart zu schaffen, deren Gültigkeit
nicht aufgehört hat und nicht aufhören wird, Bestandteile einer mimetischen
Gestaltung in der Malerei werden. Es war notwendig, ihre Funktion
in der neuen weltschaffenden Malerei ausführlich darzulegen, weil sie ja
gerade hier - und mit Ausnahme der Reliefplastik nur hier - solche Funk¬
tionen erhielt. Überall sonst sind die abstrakten Formen von vorneherein
bloße Momente der Gesamtgestaltung, ohne die Fähigkeit, selbständig ab¬
geschlossene ästhetische Systeme zu formen; und in den anderen Künsten,
in Literatur oder Musik, ist das dekorativ-ornamentale Prinzip nur im über¬
tragenen, indirekten Sinne wirksam. (Wir werden alsbald sehen, daß hinter
einer solchen scheinbar bloß metaphorischen Bedeutung reale ästhetische Pro¬
bleme verborgen sind, obwohl man diese keineswegs mit den hier behandel¬
ten gleichsetzen darf.)
Eben deshalb mußte die Scheinparadoxie gerade durch Behandlung der Male¬
rei aufgelöst und damit gezeigt werden, daß die ornamental-dekorativen
Tendenzen in der Malerei ihrem ästhetischen Wesen nach im Dienst der voll¬
endet künstlerischen Gestaltung der Mimesis stehen. (Daß im Laufe der Ge¬
schichte oft Bilder entstehen, in denen das Vorherrschen des dekorativen
Prinzips zur Flachheit oder Leere, oder das des mimetischen zu einer Un-
geordnetheit im künstlerischen Sinne führt, ändert nichts an der Gültigkeit
dieser Feststellung.) Dieser Dienst besteht im wesentlichen darin, daß die Ab¬
geschlossenheit und damit vor allem der typische Charakter der Gestalten
und Situationen eine sonst nicht erreichbare Steigerung erhält. Wir haben ja
soeben darauf hingewiesen, daß die dem Anschein nach abstrakt-formalsten
dekorativen Ordnungsprinzipien im Kontext der mimetischen Darstellung
einen konkret-inhaltlichen Stimmungswert, eine konkret-gehaltvolle evoka-
tive Macht erlangen, wodurch rein kompositionell-positionell das in der
wahrheitsgetreuen Widerspiegelung richtig Angelegte über seine an sich vor¬
handene Typik weit hinausgetrieben werden kann. Das dekorativ-ornamen¬
tale Arrangement - wiederum erst in dieser unzertrennbaren Einheit mit
dem mimetisch Zutreffenden - kann auch dazu dienen, Individualität, hier-
508 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

archischen Zusammenhang, Stelle in der dramatischen Szene etc. klarer als


sonst zur Anschauung zu bringen. Wölfflin hat durchaus recht, wenn er solche
Vorzüge von Leonardos »Abendmahl« etwa Ghirlandaio gegenüber hervor¬
hebt 1. Gerade die mit der Bildfläche parallele Lage des Tisches, die abso¬
lute Mittelpunktstellung Christi, die auf jeder Seite in zwei Dreiergruppen
placierten Apostel ermöglichen eine solche klassisch klare Typik, eine derart
repräsentative Dramatik. Große Vorgänger wie Giotto, bei dem die Teil¬
nehmer rund um den Tisch sitzen, bedeutende Nachfolger, wie Tintoretto,
wo der Tisch in die Tiefe des Bildhintergrundes weist, können eine vielleicht
noch pathetischere Dramatik erreichen, ohne jedoch diese Synthese von Ein¬
heit und geordnet-individualisierter, klar gegliederter und reicher Typik zu
verwirklichen. Dieser letztere Vergleich ist kein Werturteil. Wölfflin kann in
Ghirlandaio einen weniger gelungenen Anlauf zur Vollendung Leonardos er¬
blicken; Giotto oder Tintoretto streben völlig anderen Wirkungen zu. Der
Vergleich ist nur insofern lehrreich, als der Zusammenhang zwischen dekora¬
tiver Bildordnung und geistigem Stimmungsgehalt noch deutlicher zutage
tritt. Weiter bringt die hier untersuchte Einheit eine Steigerung der intensiven
Unendlichkeit aller Einzelheiten und des ihre Beziehungen umfassenden
Ganzen hervor. Schon das Wachsen der Funktionen, deren Träger jedes ein¬
zelne Detail ist, treibt in diese Richtung: je betonter eine solche Komposition
ist, desto energischer.

III Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke

Hier kommt es nicht darauf an, den Versuch zu machen, alle diese Relations¬
systeme aufzuzählen und zu zergliedern. Das bisher Angeführte genügt wohl,
um die wechselseitige Stärkung des Mimetischen und des Dekorativen in der
Malerei als Basis ihres Weltschaffens ins Licht zu stellen. Und da beide Prin¬
zipien der sinnlich-visuellen Widerspiegelung der Wirklichkeit sind, entsteht
aus ihrem vereinten Wirken nicht nur eine Welt überhaupt, sondern eine,
deren sämtliche Bestimmungen unmittelbar im homogenen Medium der rei¬
nen Sichtbarkeit verwurzelt sind, die außerhalb seines Bereichs keine ästheti¬
sche Existenz, keine ästhetische Geltung beanspruchen können. Wenn hier der
Ausdruck »unmittelbar« gebraucht wurde, so geschah es in einem doppelten

1 Wölfflin: Die klassische Kunst, a. a. O. S. 257.


Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 509

Sinn: es ist erstens vom unmittelbaren Ausgangspunkt dieser Mimesis die


Rede, die die Widerspiegelung der Wirklichkeit auf das visuell Wahrnehm¬
bare beschränkt, die aus der zu schaffenden Gegenständlichkeit alles ausschei¬
det, was nur durch andere Sinnesorgane oder durch Begrifflichkeit, Schließen
etc. das Bewußtsein affiziert oder von ihm produziert wird. Der so irre¬
führende Fehler Konrad Fiedlers besteht nicht in der Betonung dieses Mo¬
ments, als vielmehr darin, daß er hier ein Stehenbleiben dekretiert und dieses
Stadium zur Kunst überhaupt verabsolutiert. Denn das von allen nicht visu¬
ellen Momenten gereinigte System der visuellen Widerspiegelungsbilder der
Wirklichkeit enthält - ins rein Visuelle transponiert - sämtliche Bestim¬
mungen des physischen und des gesellschaftlichen, des geistigen und des mora¬
lischen Lebens der Menschen. Wie die Arbeitsteilung der Sinne etc. schon im
Alltagsleben wichtige Vorarbeiten dazu leistet, haben wir seinerzeit dar¬
gestellt. Jetzt muß nun das Wiedererscheinen dieser Fülle der Lebensinhalte
in unablösbarem Eingebettetsein ins rein Visuelle festgestellt werden. Indem
das Kunstwerk diese zweite Unmittelbarkeit zustande bringt, kann diese erst
in ihm eine wirklich eigene Welt konstituieren: das Weltumfassende, das
Universelle im homogenen Medium der reinen Sichtbarkeit verwirklichen.
Jene die ästhetische Formgebung erschaffende fruchtbare Widersprüchlichkeit
und die von dieser hervorgebrachte Spannung im Ganzen des Werks und in
allen seinen Elementen zeigt sich hier als der aufgehobene Gegensatz von
Unendlichkeit (der Bestimmungen) und Begrenztheit des Raums für diese.
Die regulative Funktion der dekorativ-ornamentalen Prinzipien in einer
weltschaffenden Mimesis besteht - negativ angesehen - in einer ausschei¬
denden, reduzierenden, zusammendrängenden Tendenz. Diese schlägt jedoch
ins Positive um, indem sie die ausschlaggebenden Relationen des Typischen
zu einer augenfälligen dekorativ-ornamentalen Sonderposition erhöht und
die entscheidenden Bewegungsformen des Mimetischen als ein solches ge¬
schlossenes System von dekorativ-ornamentalen Verbindungen auf die
Oberfläche bringt. Erst damit erscheint die räumliche Beschränkung des
Bildes nicht als Verzicht, sondern als pathetische Erfüllung der intensiven
Unendlichkeit in der ästhetischen Gestaltung, als eigene Welt der visuellen
Kunst, als Steigerung der wirklichen Welt durch ihre evokativ-mimetische
Widerspiegelung.
Erst dadurch vollendet sich die Objektivität des Kunstwerks. (Denn es ist
klar, daß die vorangehende Analyse der Malerei nicht nur wegen ihrer spezi¬
fischen Probleme vollzogen wurde, sondern um die wesentliche Struktur der
weltschaffenden Kunst überhaupt klarzulegen. Die pluralistische Seinsweise
5IO Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

der Künste bringt es mit sich, daß solche allgemeine Darlegungen konkreter
werden können, wenn sie unmittelbar an die besonderen Probleme einer be¬
stimmten Kunst anknüpfen. Mutatis mutandis war aber hier von jeder welt¬
schaffenden Kunst die Rede.) Die strenge Gesetzlichkeit, die das so kompli¬
zierte Beziehungs- und Gegenständlichkeitssystem der Kunstwerke durch¬
dringt, macht aus jedem ein Objekt sui generis, das in einem unaufhebbaren
Ansichsein jedem Subjekt gegenübersteht, dessen - ästhetische - Existenz
von diesem Subjekt völlig unabhängig in Geltung bleibt. Das ist eine weitere
Seite des Kunstwerks als eigener Welt. Jedoch diese seine — ästhetische -
Existenz ist restlos anthropomorphen Charakters. Es ist ein Gebilde, geschaf¬
fen durch die menschlich-sinnliche (hier: visuelle) Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit. Seine - ästhetische — Existenz beruht ausschließlich auf seiner
Macht der Evokation einer Welt in den aufnehmenden Subjekten. Es ist also
eine eigene Welt nicht nur für sich, sondern zugleich und untrennbar davon die
eigene Welt des Menschen. Alles, was bis jetzt über den Anthropomorphismus
der ästhetischen Sphäre gesagt wurde, erreicht hier seine echte Erfüllung. Das
Vordringen der sich vertiefenden Widerspiegelung der Wirklichkeit und
ihrer den Gesetzlichkeiten der Ästhetik angemessenen Bearbeitung geht nicht
in die Richtung einer Entfernung von den Gegebenheiten des menschlichen
Lebens; ihre Tendenz auf Objektivität ist also nicht desanthropomorphisie-
rend, wie wir dies für die wissenschaftliche Widerspiegelung feststellen
konnten. Der Weg zur Objektivität führt hier vielmehr - gerade beim Er¬
reichen des Zieles - in das Subjekt des Menschen zurück. Die eigene Welt
der Kunst in diesem Doppelsinn, einerseits als Eigenheit der in sich ab¬
geschlossenen, vom Subjekt unabhängigen Objektivität und andererseits als
tiefste Enthüllung dessen, was am Subjekt wirklich wesenhaft ist, drückt
diese fundamentale, fruchtbare und bewegende Widersprüchlichkeit des Äs¬
thetischen prägnant aus. Der Widerspruch kann aber nur dann fruchtbar
werden, wenn seine beiden Pole voll ausgebildet sind und als solche zuein¬
ander in ein derart unaufhebbares Verhältnis treten. Indem also das mensch¬
liche Leben (im weitesten Sinne des Wortes gefaßt) zum Objekt und der
lebendige, seines Menschseins würdige Mensch zum Subjekt des Ästhetischen
werden, drückt die Struktur des Kunstwerks diese Einheit in der Form der
absoluten Identität des Innern und des Äußern aus. Auch diese Bestimmung
ist unmittelbar gesehen eine formale, denn das sinnlich-evokativ Werden
einer jeden Innerlichkeit im homogenen Medium der betreffenden Kunstart
bedeutet, daß alles, was am Menschen, an seinen Beziehungen, dem Inneren
angehört, - ästhetisch - nur so weit existent werden kann, als es in den
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 5”

spezifischen Formen dieser Kunstgattung zu einer sinnlichen, zu einer rein


äußeren formalen Wirksamkeit ausgebildet wird. Doch wie wir immer
wieder sehen konnten: dieser formale Zusammenhang ist bloß der unmittel¬
bare Ausdruck einer tieferen Inhaltlichkeit, nämlich der großen Wahrheit
des Lebens, daß der Mensch sich selbst nur erkennen kann, indem er die Welt,
die ihn umgibt, in der er zu leben und zu wirken hat, so wie sie wirklich ist,
zu erkennen vermag. Diese Wahrheit des Ästhetischen macht aus der Selbst¬
erkenntnis und Welterkenntnis eine Kreisbewegung: der richtige Drang zum
»Erkenne dich selbst!« führt den Menschen in die Welt ein, macht ihn mit
seinen Mitmensdien, mit der Gesellschaft, in der sie tätig sind, mit der Natur,
dem Aktionsfeld und der Basis ihrer Aktivität bekannt, und damit führt ihn
diese Wendung nach außen. Dieses Suchen nach Objektivität, nach Verwirk¬
lichung sachlicher Zielsetzungen macht aber zugleich den Menschen mit den
tiefsten Schichten seines eigenen Wesens bekannt, zu denen er durch den Ver¬
such einer »reinen« Selbsterforschung nie hätte Zugang finden können. Diese
Weisheit, die im Alltagsleben, in der Welterfahrung und Menschenkenntnis, in
Ethik und Philosophie immer wieder auftaucht, erscheint als Inhalt jener
zweiten Unmittelbarkeit, mit der sich jedes echte Kunstwerk dem Menschen
zuwendet. Bei aller Offenheit eines solchen Unmittelbarwerdens für jeden, der
sich ihm hingibt, ist es für die zerstreute Aufmerksamkeit, für das allzunahe
und zugleich allzuferne durchschnittliche Zielsetzen des Alltags ein verschlei¬
ertes Bild zu Sais. Nur in dem Sinn, den wir hier Umrissen haben, gilt für
sein richtiges Erleben der Vers des Novalis:

Einem gelang es -, er hob den Schleier der Göttin zu Sais -


Aber was sah er? er sah - Wunder des Wunders, sich selbst.

So erhöht die künstlerische Form den Menschen. Die eigene Welt der Kunst
ist weder im subjektiven noch im objektiven Sinn etwas Utopisches, etwas,
das über den Menschen und seine Welt transzendierend hinausweisen würde.
Sie ist die eigene Welt des Menschen, wie wir gezeigt haben, im subjektiven
wie im objektiven Sinne, und zwar so, daß die höchsten konkreten Möglich¬
keiten von Mensch und Welt in sinnlich unmittelbarer Verwirklichung seiner
besten Bestrebungen real und ihm zutiefst eigen vor ihm stehen. Auch wenn
die Kunst - etwa in der Poesie oder Musik - scheinbar eine Welt des Sollens
dem Menschen gegenübergestellt, nimmt diese in ihr die Form eines erfüllten
Seins an, und der die zweite Unmittelbarkeit des Werks erlebende Mensch
kann mit ihr als mit seiner eigenen Welt in Verkehr treten. Erst im »Nachher«
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
512

der Wirkung tritt der Sollenscharakter wieder auf; aber auch hier rücken die
großen Kunstwerke - einerlei ob ihr Gehalt ein Sollen beinhaltet oder nicht
- wieder zusammen: auch das idyllischste Lied oder das einfachste Stilleben
drückt in einem bestimmten Sinn ein Sollen aus: es richtet sich an den Men¬
schen des Alltags mit der Aufforderung, jene Einheit und Höhe, die im Werk
verwirklicht erscheint, ebenfalls zu erreichen. Es ist das Sollen jeden erfüllten
Lebens.
Die komplizierte Dialektik, die in solchen Formulierungen evident wird,
kann bei richtiger Analyse die Eigenart des Kunstwerks, der einzig adäquaten
Verwirklichungsform des Ästhetischen, deutlicher machen. Es zeigt sich näm¬
lich, daß bestimmte Begriffe, die für das Aufdecken des Wesentlichen in ein¬
zelnen Sphären der menschlichen Aktivität vollständig unentbehrlich sind
- wie Erkenntnis für die Wissenschaft, wie Sollen für die individuelle Moral -
bei dem Versuch, die entscheidende Eigentümlichkeit des Ästhetischen zu um¬
reißen, eine doppelte Rolle spielen: einerseits erweist sich ihre Anwendung
auf das Ästhetische, vor allem auf das Kunstwerk, als inadäquat. Das Objek¬
tivieren aller Erscheinungen in den Werken der Kunst deckt zwar manche,
bis dahin oft unerreichbare Bestimmungen des Seins und des Wesens auf,
geht also hier, ebenso wie im Erforschen der Bestimmungen des menschlichen
Innenlebens parallel mit der Wissenschaft; trotzdem fühlt jeder sofort,
daß dieses Vermehren, Bereichern, Vertiefen unseres Wissens von der Welt
und vom Menschen mit dem Begriff Erkenntnis inadäquat umschrieben ist.
Das vom Kunstwerk Gebotene kann zugleich mehr und weniger sein als Er¬
kenntnis. Es ist insofern mehr, als die Kunst oft imstande ist, Tatbestände
aufzudecken, die bis dahin der Erkenntnis unzugänglich waren und sie kann
dies sogar in einer Weise tun, daß das Umsetzen in die desanthropomorphi-
sierende Kenntnis noch lange Zeit unmöglich bleibt, ja es kann sich um Erwei¬
terungen unserer Kenntnis der Welt und der Selbsterkenntnis handeln, die
- aus verschiedenen Gründen — nie eine genaue Umschreibung im Sinne dieser
Begriffssysteme erfahren werden. Es ist weniger, weil das bei ihr Dargebotene,
aus der Perspektive und Methodologie der Wissenschaft gesehen, immer nur
den Charakter einer Faktizität haben kann. Der künstlerisch und ästhetisch
unbedingt geforderte »Nachweis« ihrer Notwendigkeit kann sich, rein wis¬
senschaftlich gesehen, nie über das Niveau erheben, das Moment der Not¬
wendigkeit im Geradesosein eines Phämomens oder eines Komplexes von
Phänomenen unmittelbar evident zu machen. Vom Standpunkt der Erkennt¬
nis im eigentlichen Sinne rücken also Alltagsleben und Kunst eng zusammen,
als ein gewaltiges Reservoir von Fragestellungen und Beobachtungen, die für
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 5i3

die Entwicklung der Wissenschaft außerordentlidi wichtig sein können, die


jedoch ihre wirkliche Vollendung, ihre Erhebung zur objektiven Begrifflich-
keit und Gesetzlichkeit erst in der Wissenschaft selbst zu erfahren imstande
sind. Daß es immer wieder Erkenntnistheorien gab und gibt, die gerade diese
Art der sinnlich verallgemeinerten Widerspiegelung der Wirklichkeit höher
als die »normale« wissenschaftliche Methode stellen - Intuitionstheorien in
den irrationalistischen Strömungen ist nur ein Beweis mehr für die Rich¬
tigkeit unserer Gegenüberstellung.
Die Lage wäre sehr einfach, wenn wir aus alledem die Folgerung ziehen
könnten: man solle in bezug auf Kunst den Terminus Erkenntnis einfach über¬
haupt nicht gebrauchen. Das wäre jedoch wiederum eine unzulässige Sim-
plifikation. Sicher kann die Erkenntnis nur in der Wissenschaft ihre ganz
angemessene Methode finden. Sie erscheint aber auch dort, wo vorbereitend
Probleme oder Forderungen aufgeworfen werden. Und im Alltagsleben gibt
es stets - häufig erst experimentierend gebrauchte und ihre Verallgemeinerung
selbst in Frage stellende - Anläufe zu Erkenntnissen. Und wenn hier auch
deutliche Grenzen zwischen angemessenen und unangemessenen Formen ge¬
zogen werden können, muß doch von einer letzten Endes einheitlichen Bewe¬
gung zur Erkenntnis gesprochen werden, in welcher freilich die Grenzlinien
praktisch oft verschwimmen. Es ist klar, daß die von der Kunst produzierten
und propagierten Erkenntnisse in diese Reihe gehören. In dieser Auffassung
verschwindet die Sonderstellung der Kunst oder verblaßt bis zur Unkenntlich¬
keit. Auch in der letzten Tatsache darf man nicht nur das Negative sehen; sie
bezeugt, wie stark die Kunst, obzwar Ergebnis der durch die Entwicklung der
Arbeit errungenen Muße, doch kein Luxusprodukt der Zivilisation ist. Das
Leugnen der rein negativen Bewertung solcher sozialen Tatsachen bedeutet
freilich noch lange nicht ihre Anerkennung als adäquate Bewertung der Wirk¬
samkeit der Kunst oder auch nur der erkenntnisartigen Elemente in ihr. Denn
nur im Flinblick auf die wissenschaftliche Erweiterung und Befestigung der
Erkenntnis rücken Kunst und Alltag derart zusammen. An sich ist ihr Ab¬
stand, trotz oder eher infolge der von uns häufig analysierten ^Vechselbeziehun-
gen, gewaltig, aber selbstverständlich auch hier, ohne zu einer metaphysischen
Gegensätzlichkeit zu erstarren. Schon der von uns häufig an entscheidenden
Stellen gebrauchte Begriff des sozialen Auftrags weist auf diese Zusammen¬
hänge hin, darauf, daß die künstlerische Gestaltung aus dem Alltagsleben
herauswächst und — dem ersten Anschein nach — seine Unmittelbarkeit teilt.
In Wirklichkeit ist die vom Kunstwerk geschaffene zweite Unmittelbarkeit
im entscheidenden Sinne geradezu sein Gegenteil. Denn ihr Gebundensein an
514 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

ein jeweiliges homogenes Medium, ihr Konzentrieren der Totalität der Be¬
stimmungen in je eine sinnlich-evokative Erscheinungsweise, die diesem ent¬
springt, bringt als notwendige Voraussetzung des Wirkens auch eine Subjek¬
tivität hervor, die über die Schranken des bloßen Alltags, wenigstens der
Intention nach, hinausragt.
Erst von diesem Standpunkt wird das spezifische Wesen der im Kunstwerk
widergespiegelten und mimetisch gestalteten Erkenntnis verständlich. Sie ist
und bleibt noch viel entschiedener als im Alltagsleben subjektbezogen. Was
jedoch hier nur spontan und höchstens bei einigen Individuen bewußt geschieht,
wird dort zur Zentralaufgabe, nämlich, daß die Bezogenheit auf das Subjekt
im Sinne seiner Höherentwicklung angelegt ist. Über eine Seite dieser Forde¬
rung haben wir bereits gesprochen: über die Zusammengehörigkeit von Selbst¬
erkenntnis und Weltkenntnis. Ein weiterer Zug dieser Intention ist gegen
jede schematisierende Routine, gegen jede Fetischisierung gerichtet. Das
künstlerische Betrachten der Wirklichkeit, die Voraussetzung für jede echte
Mimesis, will jeden Gegenstand, so wie er wirklich ist, so wie er im konkret
gegebenen Zusammenhang notwendig erscheint, so wie ihn das homogene Me¬
dium gesteigert zur Anschauung bringt, erblicken; d. h. ganz neu, ganz von
Anfang an, als ob über diesen Gegenstand noch nie eine Vorstellung, eine
Meinung usw. existiert hätte. (Wieviel Erkenntnis und Wissen nötig ist,
so zu sehen und das Gesehene so zu versinnbildlichen, gehört nicht hierher.)
Das ist eine bedeutsame Befreiung von den Schranken des Praktizismus des
Alltagslebens, in welchem gerade infolge des unmittelbar praktischen Verhal¬
tens zu den meisten Gegenständen (Menschen und menschliche Beziehungen
mitinbegriffen) diese sehr oft zu abstrakten Vorstellungen verblassen, sogar
zu solchen, die nicht aus erster Hand, nicht vom Subjekt überprüft entstanden
sind, sondern als praktisch brauchbare Klischees unbesehen von Hand zu
Hand gehen. Die wahre Kunst ist als solche ein heilsamer Bruch mit diesen
im Alltagsleben weitgehend unvermeidlichen Gewohnheiten, die aber dem
Menschsein des Menschen doch Abbruch tun können und oft tun.
Die Kunst entdeckt jedoch nicht bloß diese neue Unmittelbarkeit, sondern
verfestigt sie auch. Sie wird damit nicht nur zum sehenden, hörenden, emp¬
findenden Organon der Menschheit — der Menschheit in jedem einzelnen
Menschen —, sie ist zugleich auch ihr Gedächtnis. Wieder muß an den Kon¬
trast mit dem Alltag gedacht werden: an die unendlich vielen flüchtig und
zeitweilig fixierten Gedächtnisbilder, die in ihrer Mehrzahl mehr mnemo¬
technische Erinnerungszeichen als noch so abstrakte Widerspiegelungen wirk¬
lich konkreter Gegenstände sind, an das Invergessenheitgeraten wichtiger
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 515

Ereignisse, Personen, Situationen, Beziehungen etc., die sehr oft, wenn ihre
unmittelbar praktische Bedeutung vorbei ist, im Bewußtsein total verschwin¬
den und, selbst wenn gewollt, nicht mehr verlebendigt werden können, an
die Belastung des Gedächtnisses mit störend überflüssigen Fakten, etc. etc.
Die Kunst leistet hier ein Doppeltes: einerseits wird das der Erinnerung Wür¬
dige in einer dieser Werthaftigkeit entsprechenden Form künstlerisch fest¬
gehalten; ob der einzelne subjektive Akt der Aufnahme zu einem Erinnert¬
werden führt, verliert jenen entscheidenden Akzent, den er im Alltagsleben
hat, denn er kann ja - dem Prinzip nach - immer aufs neue evoziert wer¬
den. Wie immer auch der so fixierte Gegenstand aus den einzelnen Gedächt¬
nissen entschwinden mag: im Gedächtnis der Menschheit ist er - dem Prinzip
nach - permanent festgehalten. Andererseits wird eben das der Erinnerung
Würdige in dieses Gedächtnis einverleibt: das, was unseren Begriff vom Men¬
schen, von seinen Beziehungen, von der Natur, mit der er verbunden ist,
erweitert, bereichert, vertieft. Beständigkeit, d. h. immer neue Reproduzier¬
barkeit vereinigt sich hier in untrennbarer Weise mit der richtigen Auswahl:
das Gedächtnis der Menschheit hält nur das Wichtige fest und belastet sich
nicht mit Überflüssigem.
Natürlich ist dieser Tatbestand samt seinen Folgen keineswegs jedem Men¬
schen im Alltag bewußt. Dennoch haben die Traurigkeit des Vergessens, die
Angst vor dem Vergessenwerden eine sehr große Allgemeinheit. Ihre ver¬
breitetste, unmittelbarste Form ist Angst, eine objektiv unerfüllbare Sehn¬
sucht, auf die deshalb auch die Kunst keine Antwort zu geben imstande ist.
In und hinter dieser Sehnsucht, befreit von den leeren Versprechungen ein¬
zelner Religionen, die auf diese Weise die Enge der Personengebundenheit
des Alltags verewigen, ist eine tiefere verborgen: das Gefühl der Menschheit
in den einzelnen Individuen, der Wunsch, das ihr Angemessene für sie zu
retten. Goethe hat dieses Gefühl in seiner konkreten, normal-unmittelbaren
Verkörperung, es ins Wesentliche, Objektive, Menschheitliche steigernd, in
der Elegie »Euphrosyne« gestaltet. Er läßt die scheidende, die dem Hades
zueilende Euphrosyne folgende Worte an den Dichter richten:

Lebe wohl! schon zieht mich’s dahin in schwankendem Eilen.


Einen Wunsch nur vernimm, freundlich gewähre mir ihn:
Laß nicht ungerühmt mich zu den Schatten hinabgehn!
Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod.
Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneia’s
Reiche, massenweis’, Schatten vom Namen getrennt;
5i6 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Wen der Dichter aber gerühmt, der wandelt, gestaltet,


Einzeln, gesellet dem Chor aller Heroen sich zu.
Freudig tret’ ich einher, von deinem Liede verkündet,
Und der Göttin Blick weilet gefällig auf mir.
Mild empfängt sie mich dann, und nennt mich; es winken
die hohen
Göttlichen Frauen mich an, immer die nächsten am Thron.
Penelopeia redet zu mir, die treuste der Weiber,
Auch Euadne, gelehnt auf den geliebten Gemahl.

Mit echt poetischer Plastik wird hier der Name mit der Würdigkeit, im Ge¬
dächtnis der Menschheit weiterzuleben, gleichgesetzt, zugleich jedoch die ent¬
scheidende Rolle der Kunst hervorgehoben. Das Nennen des Namens bedeu¬
tet hier: Gestalten der wesentlichen Typik. Der Materialist Goethe meint, der
Mensch, wenn er gestorben ist, »gehört den Elementen an«. Ob er gleich
selbst zuweilen mit dem Einfall, die bedeutendsten Entelechien würden sich
erhalten, ein geistvolles Gedankenspiel treibt und kaum berührt davon, daß er
nicht nur in der zitierten Elegie, sondern auch im Abschluß der Helenatragödie
dieses Aufbewahrtseins im Gedächtnis der Menschheit als ein Weiterleben
der Gestalt im Hades gestaltet, tritt das von uns theoretisch Gefaßte über die
Mission der Kunst als Gedächtnis der Menschheit bei Goethe in poetischer
Weise ganz klar hervor. Er ist zutiefst überzeugt, daß alles Echte und Ver¬
wirklichte am Menschlichen, unabhängig davon, was es als Begabung und
Leistung vorstellt, letzten Endes gleich ist, und einer Verewigung durch die
Kunst würdig bleibt. Darum läßt er am Schluß der Helenaszene, wo die von
uns zitierten Worte von der Auflösung des Menschen in die Elemente der
Natur fallen, die Chorführerin sagen: »Nicht nur Verdienst, auch Treue
wahrt uns die Person.« Wobei nach den bisherigen Darlegungen klar ist, daß
der Begriff »Person« nur eine dem Alltagsdenken entsprechende, aber mytho¬
logisiert sinnfällig gemachte Erscheinungsform der Aufbewahrung im —
von der Kunst betreuten - Gedächtnis der Menschheit ist. Mit der anonymen
Treue wird der demokratische Grundgedanke, die Unabhängigkeit einer
solchen »Verewigung« von Genie, Leistung etc. hervorgehoben.
Die letzten Erörterungen sind bereits mit dem jetzt zu behandelnden zweiten
Komplex eng verbunden: mit dem Problem des Sollens in der evokativ-
mimetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit und ihrer adäquaten Wir¬
kung. Die zuletzt behandelten Fragen sind ihrem inhaltlichen Wesen nach
ethische. Schon deshalb ist es ohne weiteres klar, daß die Auswahl, die das
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 517

Gedächtnis der Menschheit trifft, in der Intention auf Würdigkeit - einerlei


ob diese sich im Schaffensprozeß der Kunstwerke äußert oder bloß in
der Wirkung der fertigen Kunstwerke auf die Menschen - ebenso ein viel¬
fach paradoxes Berührungsgebiet zwischen Ethik und Ästhetik entstehen
läßt, wie früher in bezug auf das Problem der Erkenntnis zwischen Wissen¬
schaft und Kunst. Bei einer konkreten Behandlung dieser Frage muß vor
allem darüber Klarheit herrschen, daß der Sinn des Sollens allgemeiner ist,
als seine prägnanteste und populärste Erscheinungsweise in der Moral. Dieser
Aspekt ist für die Ästhetik besonders wichtig. Man denke an die berühmte
Stelle in der Poetik des Aristoteles: »... wie auch Sophokles sagte, er
dichte die Menschen, wie sie sein sollten, Euripides aber, wie sie seien1.« Auf
den ersten Anblick scheint hier etwas dem Ethischen recht Naheliegendes aus¬
gesprochen zu sein. Wird aber, wie hier notwendig, dieser Ausspruch im äs¬
thetischen Sinn verallgemeinert, so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß
die Verfasser von Jago und Richard III., von Tartuffe und Vautrin in ihrer
Gestaltung den Sophokleischen Weg verfolgt haben. (Ob diese Feststellung in
bezug auf Euripides gerecht ist, gehört nicht hierher.) Das Sollen in dieser
Verallgemeinerung ist nichts weiter, als eine Bewegung auf das Typische zu,
ohne jede Rücksicht darauf, ob dies ethisch bejahenswert oder verwerflich
ist. Hier ist also jede Inhaltlichkeit im ethischen Sinne ausgeschaltet. Es ist
aber trotzdem nicht formal in jener Richtung, die diesem Begriff die Kan-
tische Ethik gibt. Freilich wird in ihr das Problem der Inhaltlichkeit um¬
gangen: indem Kant die Geltung der ethischen Postulate auf einen Spezial¬
fall, auf den Gegensatz des rein ethischen (intelligiblen) Ich und der gesamten
sonstigen »kreatürlichen« Persönlichkeit des Menschen einengt, kann er der
Illusion verfallen, der kategorische Imperativ könne konfliktlos alle morali¬
schen Probleme auch inhaltlich lösen. Daß hier eine Illusion Kants vorliegt,
hat bereits der junge Hegel klar aufgezeigt.
Wenn wir von einem Entfernen der Inhaltlichkeit aus dem Sollen im Bereich
des Ästhetischen sprechen, so meinen wir ausschließlich die Inhaltlichkeit der
ethischen Postulate. Die Tendenz auf Typik in jeder Kunstgestaltung ist uni¬
versell; in ihr kommt unmittelbar das Problem von Gut und Böse überhaupt
nicht vor. Dieses Sollen richtet sich unmittelbar-ausschließend auf das Sicht¬
barmachen aller Möglichkeiten, die an einem historisch bestimmten Ort, in
einer ebenfalls historisch bestimmten Zeit in den Menschen vorhanden sind;

1 Aristoteles: Poetik, Kapitel XXV.


5i8 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

und zwar, wie wir gesehen haben, auf ein solches Sichtbarwerden, worin,
untrennbar vom historischen hic et nunc, gerade dieses unaufhebbar festhal¬
tend, das zum Ausdruck gelangt, wodurch gerade dieses Phänomen als we¬
sentliches Moment in die Entwicklung der Menschheit eingeht, und als solches
durch das Kunstwerk in ihr Gedächtnis einverleibt werden kann. Wir haben
bei dieser Bestimmung die bloße Unmittelbarkeit in diesem scheinbaren Amo¬
ralismus der Kunst hervorgehoben. Tatsächlich herrscht diese Spannung zwi¬
schen Alltagsleben und Kunst in der Gestalt Tartuffes oder Jagos ebenso wie
in der von Brutus oder Horatios, in einer Karikatur Daumiers ebenso wie in
den Prophetenbildern der Sixtinischen Kapelle. Bereits diese Beispiele zei¬
gen, daß damit für die Kunst kein ethischer Neutralismus proklamiert wird.
Im Gegenteil. Ihre elementare Parteilichkeit, die sich darin äußert, daß jeder
Akt einer Mimesis zugleich eine positive oder negative Stellungnahme zum
dargestellten Objekt mitenthält, bestätigt sich auch hier: die Beispiele von
Moliere und Shakespeare, von Daumier und Michelangelo sprechen eine so
deutliche Sprache, daß sie jeden Kommentar überflüssig machen. Der mikro¬
kosmische Charakter des Kunstwerks enthält die Intention, auch das ge¬
samte ethische Leben des Menschen, das Böse ebenso wie das Gute, in einer
solchen Widerspiegelung evokativ zu machen, jedoch so, daß darin das Blei¬
bende, das in die Kontinuität der Menschheitsentwicklung Eingehende in der
richtigen, dauernden Dynamik und Proportionalität gestaltet werde. Das
wenigstens annähernde Gelingen dieser Intention ist ein wichtiges Moment
der Wirkung bzw. des Veraltens der Kunstwerke. Da aber die Menschheits¬
entwicklung auch in dieser Hinsicht einen sehr verschlungenen Weg geht, er¬
klären sich daraus zugleich die oft Jahrtausende währenden Schwankungen
des Lebendigbleibens und des Invergessenheitgeratens von Autoren und
Werken.
Wir sehen also sowohl bei der Erkenntnis wie beim Sollen eine merkwürdige
Mischung von Konvergenz und Divergenz dieser Kategorien in den ver¬
schiedenen Sphären. Die scheinbaren Paradoxien, die sich dabei ergeben, lösen
sich leicht auf, wenn man bedenkt, daß Wissenschaft, Ethik und Ästhetik
einerseits ihrem Prinzip nach universell, auf das ganze Leben der Menschen
angelegt sind. Andererseits müssen sich diese Bereiche im Laufe der Mensch¬
heitsentwicklung, infolge der verschiedenen, aber gleich unentbehrlichen
Funktionen, die jede von ihnen erfüllt, stark differenzieren und eigenartige
Strukturen, Kategoriensysteme, Verhaltensarten etc. ausbilden. In diesem
Sinne muß immer wieder daran erinnert werden, daß die Selbständigkeit
einer jeden solchen Sphäre relativ ist. Sie kann zwar ihre Funktion in der
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 519

Gesamtheit des menschlichen Lebens nur dann richtig erfüllen, wenn sie diese
Selbständigkeit bewahrt und ausbildet. Aber ihre bestimmenden Probleme
steigen doch aus der breiten Basis des Alltagslebens auf und ihre Ergebnisse
münden in sie zurück. Dieses Grundfaktum darf nie außer acht gelassen wer¬
den, wenn ihre Beziehungen zueinander zu betrachten sind. Sonst ent¬
steht die Gefahr einer metaphysischen Überspannung der Selbständigkeit
solcher Sphären. Wirkliche Paradoxien würden also erst entstehen, was frei¬
lich im Laufe der Geschichte des menschlichen Denkens oft geschehen ist, wenn
man entweder ihre notwendige Konvergenz zur Identiät übersteigern würde,
oder die vorhandenen wichtigen Differenzen, die bereditigten Tendenzen zur
autonomen Geltung, in eine metaphysische Trennung und absolute Selbstän¬
digkeit erstarren ließe. Sobald diese beiden falschen Extreme vermieden
sind, lassen sich die oft komplizierten Beziehungen unschwer konkretisieren
und in ihrer Konkretheit ohne Paradoxie erklären. So, wie wir gesehen
haben, der angebliche Amoralismus der Kunst und, wie wir noch sehen wer¬
den, der Versuch einer unmittelbaren Anwendung ästhetischer Kategorien
auf das moralische Leben der Menschen.
Für das uns jetzt beschäftigende Problem der eigenen Welt der Kunstwerke
folgt vor allem ein inhaltlicher Universalismus. Das bedeutet keineswegs, daß
jedes Werk die Verpflichtung hätte, alle Phänomene seines historischen Stand¬
orts widerzuspiegeln. Es handelt sich auch hier um eine Universalität im in¬
tensiven Sinne; d. h. um die unversalistische Auffassung und Wiedergabe
jenes konkreten Komplexes, der gerade zum Thema eines bestimmten Werks
geworden ist. Auch diese universalistische Tendenz ist je nach Kunstart und
Kunstgattung enger oder umfassender, aber die Richtung auf Allseitigkeit in
bezug auf die Möglichkeiten des konkreten Vorwurfs bleibt bei allen diesen
qualitativen Unterschieden bestehen. Den Zusammenhang einer solchen
formbedingten intensiven Unendlichkeit mit dem Kunstwerk als eigener
Welt haben wir bereits gesehen. Daraus, daß dadurch die wichtigsten Er-
scheinungs- und Wesensformen anderer gleichwertiger Gebiete zum bloßen,
nach souverän gesetzten eigenen Gesetzen behandelten Stoff werden, ent¬
stehen aber keine notwendigen Konflikte. Freilich nur dann, wenn begriffen
wird, daß jedes solche Gebiet seine Stoffe aus dem Leben nimmt, wo in dessen
unmittelbarer Praxis alle Ergebnisse der differenzierenden, Objektivierungen
schaffenden Sphären vereint vorhanden sind, und in dieser Vereintheit auf
diese zurückwirken. Es wird also nicht die Ethik an sich zum Stoff der Äs¬
thetik etc., sondern beide entnehmen ihren Stoff aus dem durch sie befruchte¬
ten Alltagsleben.
520 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Die Spannung, die aus der Zusammenfassung aller solcher Bestimmungen zur
eigenen Welt der Kunstwerke entsteht, ist letzten Endes die zwischen Mensch
und Menschheit. Sie liegt der objektiven Gestaltung zugrunde und äußert sich
nicht nur im Prozeß, der zu ihr führt, sondern in ihr selbst. Wären die Typen
der Kunst einfache Verallgemeinerungen, so würde natürlich diese Spannung
fehlen, mit ihr jedoch auch das unendlich kreisende Leben des Werks und sei¬
ner Teile. Erst dadurch, daß sowohl das Ganze wie jedes Detail in dieser
Spannung, von dieser Spannung lebt, daß beide gleichzeitig zur äußersten
Einzelheit und zur größten Verallgemeinerung streben, entsteht die erhöhte
und gediegene Lebendigkeit des Typischen. (Wie aus dieser Beschaffenheit der
ästhetischen Gebilde die Zentralstelle der Kategorie der Besonderheit ent¬
springt, und was sie für das ästhetische Prinzip bedeutet, werden wir später
in einem eigenen Kapitel darstellen.) Liegt also schon objektiv eine der¬
artige Spannung zwischen Mensch und Menschheit der Struktur des Werks
zugrunde, so äußert sich diese noch offenkundiger in der ästhetischen Wir¬
kung. Daß diese eine Erhöhung, eine Erweiterung und Vertiefung des gan¬
zen Menschen mit sich führt, ist so evident, daß diese Züge, freilich sehr ver¬
schieden interpretiert, in fast allen Beschreibungen wiederkehren.
Jedoch häufig in einer Weise, die diesen Charakter verzerrt widerspiegelt.
Es kann die so entstehende Wirkung einfach verflacht werden. So in allen
Theorien, die den evokativen Effekt der mimetischen Widerspiegelung mit
»Illusion« oder mit »Einfühlung« umschreiben. Im ersten Fall wird das Ver¬
halten zur Kunst auf das Niveau des Alltags herabgeschraubt. Dort (und mit
manchen Änderungen auch in der wissenschaftlichen Erkenntnis) kommt es
ausschließlich auf die Realität des Objekts an, auf das genaue Wissen, wie¬
weit der Vorstellung eines Objekts eine Realität entspricht. Illusion, wie
bereits ausgeführt, ist im eigentlichen Sinne eine Täuschung in dieser Hin¬
sicht. Wir wissen aber bereits, daß in der Kunst diese ganze Dualität fehlt:
der Rezeptive verhält sich von vornherein zu einem Widerspiegelungsbild
und ist sich - dem Prinzip nach - darüber auch im klaren. In einer vermit-
telteren Weise nivelliert auch die Theorie der Einfühlung das ästhetische Er¬
lebnis auf die Ebene des Alltags. Einfühlung ist dort ein spontan entstehen¬
des, sehr verbreitetes Verhalten. Angefangen damit, daß viele etwa die Ge¬
räusche der Lokomotive gefühlsmäßig als Ungeduld empfinden — hier zeigt
sich klar, daß die Einfühlung ihrem Wesen nach etwas der Analogie im Den¬
ken empfindungsmäßig Entsprechendes ist -, und darin endend, daß eben¬
falls viele den Mitmenschen danach beurteilen, was sie selbst an seiner Stelle
in der gegebenen Lage tun würden, zeigt sich die Einfühlung schon im
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 521

Alltagsdenken als eine unbeholfene und grob vereinfadiende Art des Reagie-
rens auf die objektive Wirklichkeit. Schon die entwickeltere Menscheirkennt-
nis des Alltags geht, von Erfahrungen gewitzigt, weit darüber hinaus; sie
versucht die Voraussetzungen, Grundsätze, Empfindungsweisen, Gewohn¬
heiten etc. des Mitmenschen zu erforschen, um auf einer annähernd sadi-
lichen Basis Urteile über sein Tun und Lassen zu bilden. Es zeigt sidr also,
daß sobald der Sinn für die Objektivität der Außenwelt erwacht, die Ein¬
fühlung auch in der Praxis des Alltags in den Hintergrund gedrängt wird.
Damit wird ihre Rolle im Alltagsleben nicht bestritten; wir erinnern daran,
was wir über die positiven Seiten des Analogisierens ausgeführt haben. Frei¬
lich ist die Einfühlung immer auf das Subjekt (und auf seine Empfindungen)
bezogen; was in der Analogie keineswegs unbedingt der Fall ist. Die nega¬
tiven Seiten der Analogie treten also in der Einfühlung viel krasser hervor,
als in dieser selbst. Es ist kein Zufall, daß diese Kategorie in der Ästhetik
erst dann - freilich vorübergehend - eine zentrale Stelle einnimmt, wenn
in der bürgerlidien Philosophie der subjektive Idealismus den objektiven
verdrängt, wenn in der theoretischen Begründung der künstlerischen Praxis
subjektivistische Tendenzen die Oberhand erhalten. (Theorien des Impres¬
sionismus, teilweise auch schon des Naturalismus am Ende des 19. Jahr¬
hunderts.) Durch all dies wird in der ästhetischen Anwendung nicht nur die
subjektivistische Wesensart der Einfühlung entscheidend, sondern auch das
Herunterziehen der Kunst selbst und ihres Erlebens auf das Niveau des All¬
tags. Daß dies vielfach in berechtigter Opposition gegen einen lebensfremd
gewordenen Akademismus geschah, daß die Reaktion auf die Einfühlung in
noch subjektivistischeren, reaktionäreren Formen erfolgte, kann dieses Urteil
nicht abschwächen.
Noch gefährlicher und irreführender ist die fast gleichzeitig mit der Ein¬
fühlung auftretende Theorie Nietzsches vom dionysischen Rausch als Grund¬
lage der echten Beziehung des Menschen zur Kunst. Wie wir dies in der
ästhetischen Theorie und in der künstlerischen Praxis der imperialistischen
Periode oft beobachten konnten, löst die seelenlose, abstumpfende Monotonie
des Alltagslebens, die die Seele verdinglichende und vertrocknende Gewöh¬
nung an es als Gegenbewegung - die jedoch diesen objektiven Rahmen nicht
sprengt -, das Bedürfnis nach starken Reizen aus L

1 Vgl. darüber meinen Aufsatz »Volkstribun oder Bürokrat« in: »Marx und Engels
als Literaturhistoriker«, Berlin 1952, S. 141, S. 155.
522 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Nietzsches Theorie vom dionysischen Rausch stellt dieses an sich verzweifelte


und zutiefst unfruchtbare Verlangen in den Mittelpunkt der Ästhetik. Die
ethnographischen Tatsachen, an die er anknüpft, haben wir bereits im An¬
schluß an die Beschreibungen Rohdes kennengelernt und gewürdigt. Auch hier
kommt es nicht darauf an, sich mit der ganzen Theorie auseinanderzusetzen.
Es gilt lediglich zu sehen, daß für diese Auffassung der dionysische - wie wir
durch Rohde erfahren haben, der schamanenhafte, der derwischistische -
Rausch, die künstlerische Objektivität, die Mimesis verdrängt. Nietzsche sagt:
»Die Verzauberung (d. h. der Rausch, G. L.) ist die Voraussetzung aller dra¬
matischen Kunst.« Darum ist für ihn der Chor nicht nur, wie historisch rich¬
tig, ursprünglicher als das Drama, sondern »wichtiger als die eigentliche
>Aktion< *«, die von Nietzsche in ironische Anführungszeichen gesetzt wird;
trotz aller »apollinischen« Vorbehalte wird das eigentliche Dramatische zum
bloßen Schein degradiert. Dionysos, der Träger, der Exponent, der Auslöser
des Rausches ist der eigentliche Held eines jeden griechischen Dramas, so »daß
alle berühmten Figuren der griechischen Bühne, Prometheus, Ödipus usw. nur
Masken jenes ursprünglichen Helden, Dionysos sind«. »Die Philosophie der
wilden und nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der Home¬
rischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit an: sie erbleichen, sie
zittern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin - bis sie die mächtige Faust
des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt 1 2.«
Daß Nietzsche alsbald aus der Schopenhauer-Wagnerschen Form des Rau¬
sches erwacht ist, daß er später seine Wagnersche Form, das Urbild seines
Jugendwerks für leer und überspannt, für schädlich, ja für komisch hielt, soll
hier nicht als argumentum ad hominem figurieren, sondern nur als Charak¬
teristik seiner ganzen Rauschtheorie. Sie ist, so könnte man sagen, die dritte
Phase des Schamanismus. Auf die erste, die naturwüchsig-primitive, folgte
die des religiösen Gegenschlags gegen Fortschrittstendenzen, um schließlich
zur Komplementärerscheinung der Öde und Langeweile des Alltags im im¬
perialistischen Kapitalismus herabzusinken, zur kopflosen Flucht aus dieser
trostlosen Wüste. Dieser Rausch ist nur ein verzweifeltes Umsichschlagen von
Menschen, die keine Richtung und keinen Inhalt in ihrem Leben finden kön¬
nen. Die »Transzendenz«, die sie in ihm zu erfassen meinen, ist das Nichts
ihrer eigenen zerstörten und verstümmelten Persönlichkeit, die Leere ihrer

1 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Wk. Leipzig 1895, Band I. S. 61 f.


2 Ebd. S. 73 und 75.
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 523

Beziehungen zur Welt. Wenn sie deren Aufnahme, vermittels der Wissen¬
schaft oder der Mimesis mit erheucheltem Stolz ablehnen, so bilden sie sich
bloß ein, ihre Impotenz vor sich selbst verbergen zu können. Der Absturz aus
dem Rausch in den noch entleerter erscheinenden Alltag gibt ihr doch das ihr
zukommende Recht. Waren die Rauschmittel in der magisdien Ekstase In¬
strumente einer subjektiv erlangten Erfüllung, so ist der literatenhaft-meta¬
phorische Rausch der Modernen wirklich bloß ein mißratenes Gegenstück
zum ordinären Schnapsrausdi des Spießbürgers. Ob Hitler ein ganzes Volk
zeitweilig in einen solchen Rausdi versetzt, oder Aldous Huxley sich aus der
Apotheke eine bestimmte Droge holt, um eine unmittelbare Beziehung zur
Transzendenz zu erkaufen - überall ist eine solche Scheinerhebung über
den Alltag sichtbar: die spießerisch-offene Einfühlung bleibt einfach auf des¬
sen Niveau stehen, die neuen Schamanen kehren erst in ihrem Katzenjammer
in diese ihre Heimat zurück.
Die echt ästhetische Spannung hat weder mit dem flachen, noch mit dem
»tiefen« oder trunkenen Philistertum etwas zu schaffen. Objektiv entspringt
sie im Kunstwerk aus dem gestalteten Verhältnis zwischen Mensch und
Menschheit, aus dem Emporwachsen der Gestalten und Gegenstände zu we¬
sentlichen Momenten ihres Gegenwartgewordenseins; subjektiv im Erlebnis der
Rezeptivität aus jenem tiefen Bedürfnis nach der Dauer des Wesentlichen, das
wir bereits beschrieben haben. Daß dieses sich fast immer noch mit einem fal¬
schen Bewußtsein äußert, daß es sich in den meisten Fällen rein inhaltlich
(Gestalten als Vorbilder, Lieblinge, etc.), seltener rein formal, als Freude an
der vollendet gelungenen Erscheinung zum Ausdruck kommt, ändert an die¬
ser fundamentalen Tatsache nichts. Wer Augen und Ohren, wer einen leben¬
digen Sinn für wirklich vorhandene echte Zusammenhänge von Mensch und
Welt hat, für den besitzt dieses Zugeordnetsein alles Besten, was im Leben
wirksam ist, an der Realität der Menschheit eine sichere Evidenz.
Wir sagten Realität, denn nachdem die Menschheit am Horizont der Men¬
schen bewußt erschienen ist, nahm sie lange Zeit und häufig die Form eines
bloßen Ideals, eines Postulats an. Es ist die Größe unserer Zeit, daß das
Menschheitsschicksal als Realität immer stärker ins Bewußtsein der Menschen
tritt, daß die Menschen sich in der Gegenwart als Teile der Menschheit zu
erleben lernen, daß ihnen die Vergangenheit als der von ihr zurückgelegte
Weg immer klarer vor Augen tritt. Insofern beginnen sich die Nebel des
falschen Bewußtseins zu zersetzen, die den Menschen nicht gestattet haben,
ihre eigene, an sich selbst vollzogene Verallgemeinerung anders als bloß in
der Mitgliedschaft bei einem Stamm, höchstens einer Nation denkend und
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst
524

gefühlsmäßig zu erfassen. Natürlich hören damit solche engeren Bindungen


nicht auf, zu sein und zu wirken, ja sie werden oft noch intensiver; wie ja das
Entstehen des nationalen Bewußtseins die Beziehungen zu Familie und Klasse
nicht aufgehoben, eher intensiviert hat. Es ist aber rückblickend klar, daß
lange vor dem Bewußtwerden der Zugehörigkeit des Menschen zur Mensch¬
heit, in den Gedanken und Gefühlen der Besten diese mitgemeint und vor
allem in der Kunst mitgestaltet wurde. Die Tatsache, daß gerade in der Zeit,
die diese gewaltige Erweiterung des Lebenshorizonts ermöglicht, der Wider¬
stand gegen den Gedanken des Fortschritts am stärksten ist und zugleich die
Proklamierung der ontologischen Einsamkeit des Individuums, der Sinnlosig¬
keit des Geschichtsverlaufs, die Aufblähung des nationalen Gefühls bis zur
Negation der Menschheit, die Verzerrung des Menschheitsbegriffs zur Negation
der Vaterländer etc. etc. gerade den Gipfelpunkt erreichten, darf ebenfalls
nicht überraschen. Der so entstehende heftige Kampf sowohl in der gesell¬
schaftlichen Wirklichkeit wie im geistigen Leben ist ein Zeichen dafür, daß der
historische Augenblick einer großen Wende eingetreten ist.
Es handelt sich um eine Erweiterung und Vertiefung, um ein Konkreter¬
werden der Persönlichkeit, wenn diese ihr Teilhaben am Leben der Mensch¬
heit als ein organisches Moment ihrer selbst zu erleben und bewußt zu fühlen
imstande ist. Die Dialektik der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung
macht das Subjekt des Menschen immer individueller, unmittelbar gesehen
immer autonomer. Indem es sich aus engen und angeborenen, unmittelbaren
Bindungen auf diese Weise herauslöst, wädist es simultan in breitere, höher¬
geartete hinein, widerspiegelt es in seinem Gedanken- und Gefühlsleben,
wenn auch nicht immer mit adäquatem Bewußtsein, die neu entstandene ge¬
schichtliche Lage, seine neue Position in ihr. Auch dieser Weg ist objektiv wie
subjektiv sehr ungleichmäßig und widerspruchsvoll und das Moment der
wachsenden Autonomie der Persönlichkeit hat dabei ein ebenso entscheiden¬
des Gewicht wie die extensiv-intensive Zunahme ihrer höheren gesellschaft¬
lichen Bindungen (Klasse, Nation). Bei aller notwendigen Widersprüchlich¬
keit dieses Verhältnisses handelt es sich doch letzten Endes um eine Einheit,
nicht nur von seiten der wachsenden sozialen Synthese, sondern zugleich auch
von seiten der menschlichen Persönlichkeit. Marx sagt, daß »alsdann die Be¬
freiung jedes einzelnen Individuums in demselben Maße durchgesetzt wird, in
dem die Geschichte sich vollständig in Weltgeschichte verwandelt« L Für uns

1 Marx-Engels: Die deutsche Ideologie, Wk. a. a. O. V. S. 26.


Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 52$

ist an dieser Feststellung die Dialektik des inneren Reichtums der Persönlich¬
keit und des Reichtums ihrer wirklichen gesellschaftlichen Beziehungen das
Wichtigste. Sie bestätigt das von uns früher allgemein Dargelegte: der Weg
zur wirklichen Ausbildung und Selbsterkenntnis des Menschen geht über seine
Eroberung der Außenwelt. Er muß diese - sei sie eine gesellschaftlich-mensch¬
liche oder eine durch sie vermittelte naturhafte - gedanklich und gefühls¬
mäßig erobern, in seine eigene Welt verwandeln. Nur so kann er sich als
Persönlichkeit erweitern und vertiefen. Die von Marx erwähnten Beziehun¬
gen existieren an sich, unabhängig von seinem Bewußtsein. Ihre Verwandlung
in ein Füruns hebt ihre Objektivität nicht auf. Dieser Prozeß jedoch, der
sich hier abspielt, kann vom Standpunkt der Persönlichkeit aus je sehr ver¬
schieden ausfallen. Die geänderten Beziehungen müssen natürlich irgendwie
zur Kenntnis genommen werden, können aber weiter-wenigstens zeitweilig-
in starrer Ausschließlichkeit dem menschlichen Innenleben gegenüberstehen
oder sie werden auch subjektiv so intensiv bearbeitet, daß der neuen Be¬
ziehung der Außenwelt eine neue oder wenigstens angemessen erneuerte
Eigenschaft in der Innerlichkeit des Menschen zu entsprechen beginnt. Im
Laufe solcher Anpassungsprozesse verwandelt sich die Bereicherung der
Außenwelt auch in eine solche der Persönlichkeit.
Hier ist das äußerste Extrem in der Entwicklung von Tierwelt und Menschen¬
welt sichtbar. Die Dialektik der Anpassung an neue Verhältnisse und die
Vererbung der so entstandenen neuen Reaktionsweisen auf die Außenwelt
regelt objektiv die Entwicklung der Tierarten. Daß im Leben der Menschen
in steigendem Maße die innere Dialektik ihrer Zusammenarbeit (die Ent¬
wicklung der Produktivkräfte) den Veränderungen Inhalt und Richtung
gibt, ist schon objektiv ein qualitativer Unterschied. Daß dabei die Struktur
jener Gesellschaft, die in Stoffwechsel mit der Natur tritt, sich differenziert,
höhere Formen aufnimmt und deshalb diesen Stoffwechsel extensiv wie in¬
tensiv wachsen läßt, ist eine weitere Steigerung der objektiven Seite dieses
Unterschiedes. Die von uns geschilderte subjektive Umwandlung vollendet
die spezifisch humane Seite dieses Entwicklungsprinzips. Eben die Tatsache,
daß die für den Menschen entscheidenden höheren Gemeinschaftsformen
(Klasse, Nation, Menschheit) nicht aus der - menschlich gesehen - Außen¬
welt stammen, sondern, wenn auch unbewußt geschaffene, eigene Hervor¬
bringungen der Menschen sind, zeigt diesen Gegensatz der tierischen und
menschlichen Entwicklung am klarsten. Darum kann nicht energisch genug
betont werden, daß das Aufsteigen des Bewußtseins von der Zugehörigkeit
des Individuums zur Menschengattung die gesellschaftlichen Bindungen zur
J2Ö Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Klasse, zur Nation nicht aufhebt, sondern ihnen einen reicheren Inhalt, ein
tieferes Pathos verleiht. Das Bewußtsein des Proletariats von seiner Mission,
die Ausbeutung und Unterdrückung im Weltmaßstab aufzuheben und damit
erst die Realität der Menschheit zu ersdiaff en, ist die deutlichste Erscheinungs¬
form dieser Lage.
In diesem Prozeß spielt die Kunst eine bedeutende, selten in ihrem vollen
Gewicht anerkannte Rolle. Wir konnten bereits feststellen: die dialektische
Tendenz auf Identität von Äußerlichkeit und Innerlichkeit ist ein entschei¬
dendes Moment einer jeden künstlerischen Formgebung. Unmittelbar ist ihre
Quelle die evokative Wirkung der Kunstwerke. Die neue Unmittelbarkeit,
zu der sich das Werk konstituiert, kann nur dann effektiv werden, wenn das
Innerlichste eine sofort apperzipierbare, seinem tiefsten Wesen adäquate,
sinnlich-äußerliche Erscheinungsform erhält, und wenn andererseits nichts
Äußerliches in der Welt der Werke Vorkommen kann, dem nicht etwas in
der menschlichen Innerlichkeit korrespondieren würde. Eine solche Art der
Formgebung, entstanden aus magischen, mimetisch-evokativen Bedürfnissen,
muß, wenn sie in entwickelteren Formationen erhalten bleiben soll, sich mit
den neuen Inhalten, die diese Evokationen hervorbringen, füllen. Sie muß
sich diesen Inhalten gemäß ständig erweitern, verbreitern, vertiefen und ver¬
feinern, ja es müssen, wenn die neuen Bedürfnisse nach Evokation einen radi¬
kal anderen Gehalt fordern, auf derselben Grundlage radikal neue For¬
mungssysteme der Evokation entstehen. Wir haben ebenfalls gesehen, daß
eine der wichtigsten formalen Konstanten solcher bewußt abgerundeten in¬
tensiven Gestaltungen das Aufdiespitzetreiben der entscheidenden Bestim¬
mungen der jeweils ausschlaggebenden Gegenständlichkeit ist; das, was wir
mit ästhetischer Typik zu bezeichnen pflegen. Diese Tendenz auf das Typische
entsteht spontan, ohne irgendeine ästhetische Bewußtheit noch im Schoße der
magischen Mimesis. Da jedoch die Gestaltungsbedingungen einer evokativen
Typik sowohl in bezug auf Inhalt, wie auf Form außerordentlich empfindlich
sind, haben sie unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten auch unter völlig ver¬
änderten gesellschaftlichen Voraussetzungen. Der ästhetische Grund dieser
Empfindlichkeit entspringt daraus, daß jede solche typische Gestaltung - und
sei sie bloß ein Kriegstanz der magischen Periode-die unzertrennbare Einheit
von sinnlicher Unmittelbarkeit und Einzelheit mit weitgehender Verallgemei¬
nerung zustande bringt. Daß diese bei grundlegender Veränderung und Ver¬
wicklung der Lebensumstände, der aus ihnen entstammenden Bedürfnisse sich
radikal ändern, ist selbstverständlich, ist zumeist ein weitgehend spontaner
Prozeß, weshalb auch diese Seite keiner eingehenden Analyse bedarf.
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 5*7

Anders ist es um diese Art der Verallgemeinerung bestellt. Einerseits muß sie
auf die dauerhaften, nicht momentanen, nicht an die bloßen Einzelfälle ge¬
bundenen Züge der dargestellten Gegenstände orientiert sein, andererseits
darf sie die unmittelbare Einheit mit dem Einzelnen nie kündigen. Vom
Standpunkt des jetzt behandelten Problems folgt aus einer solchen Einheit
der Gegensätze, daß bei der Darstellung des Menschenlebens, seiner Konflikte
etc. diejenigen Gestalten den Prinzipien der Typenbildung am meisten ent¬
sprechen, also den günstigsten Stoff für die künstlerische Praxis darbieten, bei
denen, im oben angeführten Sinne von Marx, die entstehenden oder entstan¬
denen Beziehungen auch bereits als Charaktereigenschaften erscheinen.
Schon die griechische Tragödie hat ein hohes Bewußtsein dieser ästhetischen
Lage besessen. Wie bewußt erhält z. B. Antigone bei Sophokles Ismene als
Kontrastgestalt, worin noch deutlicher als durch bloß direkte Darstellung
erhellt wird, daß jene die neuen, konfliktsvollen Beziehungen zu ihrer Gegen¬
wart bereits als Charakterzug, als Teil ihrer eigenen Innerlichkeit besitzt,
während dieselben Beziehungen bei dieser rein als Äußeres, als der Persönlich¬
keit Fremdes gegenüberstehen. Im Ödipus erhält diese Gestaltungsweise,
gerade infolge der tiefen Paradoxie des Schicksals, einen nie übertroffenen
Gipfelpunkt. Diese Beispiele, diese Tendenzen - mutatis mutandis bei allen
späteren großen Künstlern sich wiederholend - zeigen einen wesentlichen, in¬
haltlichen Zug im Weltschaffen der Kunstwerke: was in der Durchschnittlidi-
keit des Alltagslebens als bloß äußeres Faktum, als factum brutum vor den
Menschen steht, erscheint hier in seiner tiefsten Notwendigkeit; nicht nur die
objektive, gesellschaftlich-geschichtliche Notwendigkeit wird aufgedeckt
- das vermag die Wissenschaft oft noch besser zu bewerkstelligen -, sondern
gerade die Beziehung dieser Notwendigkeit zum Menschen selbst, zu dessen
eigener Entwicklung, eigenem inneren Reichtum und zu seiner eigenen Größe.
So wird die Notwendigkeit, ohne etwas von ihrem objektiven Charakter zu
verlieren, zu einer inneren: die tiefe Wahrheit des Lebens, daß die umgebende
Welt, die aus ihr stammenden Konflikte und Geschicke für den Menschen
keinen rohen und äußerlichen Zufall repräsentieren, sondern daß die Gesamt¬
heit dieser Phänomene erst die echtesten und wichtigsten inneren Möglich¬
keiten des Menschen zur Entfaltung bringt, und ihn, wenn auch zuweilen in
tragischer Weise, zu dem macht, was er eigentlich - zugleich als Produkt
einer weltgeschichtlichen Entwicklung - im Innersten ist.
Ein so gestaltetes Leben stellt die Kunst dem Menschen des Alltags gegenüber.
Die Nichtidentität der von ihr geschaffenen Welt mit der durchschnittlichen
eines jeden Alltags bringt die von uns früher erwähnte Spannung hervor.
J28 Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

Diese kann jedoch nur darum entstehen, fruchtbar und fördernd werden,
weil beide ihrer Momente unablösbare Bestandteile eines jeden menschlichen
Lebens sind, weil die äußerste Polarisation beider doch innerhalb der mensch¬
lichen Lebensimmanenz bleibt, weil die gewaltigste Erhöhung bloß irgendwie
vorhandene Möglichkeiten zur Wirklichkeit erweckt. Solchen Gipfeln des
Lebens gegenüber - die die Kunst natürlich nur darum überhaupt gestalten
kann, weil sie Elemente und Tendenzen der realen menschlichen Existenz
sind - gilt die Faustische Sehnsucht vom »verweile doch ...«. Diese Momente
sind es, die den glühenden Wunsch nach Dauer und Wiederkehr wachrufen.
Sie sind zugleich die Verknüpfungspunkte zwischen Mensch und Menschheit,
sei es in der künstlerischen Objektivation, sei es in der Faktizität des gelebten
Lebens selbst. Objektiv sind alle wesentlichen Schritte in der gesellschaftlich¬
geschichtlichen Entwicklung aus Zusammenarbeit, aus Kampf und Leiden der
Menschen entstanden. Objektiv bildet ihr Ganzes von den Ursprüngen bis
heute und über das Heute hinaus in die Zukunft eine große, von Gesetzen
beherrschte Kontinuität. Diese kann und soll durch die Wissenschaft auf¬
gedeckt werden. In dieser Kontinuität hat sich die Menschheit als solche her¬
ausgebildet, indem die Menschen zugleich als Objekte und Subjekte dieses
Ganges figurieren. In diese Kontinuität wird jeder Mensch hineingeboren; in
ihr spielt sich sein Leben ab, gleichviel, ob er sich dessen bewußt wird oder
nicht, ob sein Bewußtsein darüber ein richtiges oder falsches ist, ob er die in
ihr ihm zugemessene Lebensstrecke als eigen oder fremd empfindet.
Auch Form und Inhalt der Kunst, ihre Gestaltung und Wirkung gehören die¬
ser Kontinuität an. Die besondere Mission der Kunst in dieser Kontinuität ist
die von uns eben beschriebene: sie vermag jene Momente (Menschen und
Schicksale, auslösende Ursachen und Anlässe, sowie Gefühlsreaktionen auf
sie etc. etc.), die in ihrer individuellen Einzelheit diese unlösbare Verknüp¬
fung mit dem Allgemeinen und Dauernden verkörpern; in denen es unmittel¬
bar evident wird, daß der Mensch in diesem Kontext seine eigene, von ihm,
d. h. von der Menschheit, deren Teil er ist, mitproduzierte Welt nicht nur
erkennt, sondern sie als seine eigene erlebt, für die ganze Menschheit als
Momente ihrer Entwicklung, als Momente des Menschwerdens des Menschen
festzuhalten. Als Wesentliches, nunmehr Unverlierbares in dieser Kontinuität
fixiert sein: das ist das Dauerhafte an den Kunstwerken, ihre Dauer schaf¬
fende Wirkung; das ist der eigentliche Sinn dessen, daß die Kunstwerke die
eigene Welt der Menschen gestalten.
Die Spannung, die die künstlerische Mimesis ins Leben bringt, führt also nicht
aus der menschlichen Welt hinaus in irgendeine transzendente Wirklichkeit,
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 529

wie dies die unmittelbare Absicht der Magie war, wie es die Religion später
immer wieder der Kunst aufzuzwingen versuchte; sie beginnt und endet im
Menschen selbst. Freilich so, daß die dadurch statuierte humane Immanenz
den Menschen keineswegs unverändert läßt, sondern ihn in intensiver Hin¬
sicht weit über sein gewöhnliches Durchschnittsniveau erhöht. Diese Span¬
nung hat aber auch ein extensives Moment: die unmittelbare spannungsvolle
Koinzidenz von Mensch und Mensdiheit im Werk und im ästhetischen Erleb¬
nis verleiht nicht nur der Gegenwart eine Dauer, sie verwandelt auch das
Wesentliche am Vergangenen der Menschheitsentwicklung in ein aktuell er¬
lebbares Hier und Jetzt. Auch diese Seite der Kunst tritt relativ früh auf.
Die Stoffbehandlung der griechischen Tragödie ist bereits ein solches Ver¬
gegenwärtigen der in Mythenform überlieferten und stets erneuerten, als
zum eigenen Leben gehörig erfaßten weit abliegenden Vergangenheit. Die
Ausdehnung des Begriffs des Menschen, die die Geschichte objektiv und sub¬
jektiv, die Kunst mit einem Akzent auf das Subjektive vollzieht, ist zugleich
eine steigende Historisierung des menschlichen Bewußtseins, der Bewußtheit
des Menschen über sich selbst als historischen Produzenten seiner selbst. Die
Wissenschaft deckt den objektiven Verlauf dieses Prozesses auf und macht ihn
dadurch zum Besitz des Bewußtseins. Indem die Werke und ihre ästhetische
Wirkung eine räumlich und zeitlich immer ausgedehntere Vergangenheit -
ohne ihren Charakter als Vergangenes aufheben zu wollen - in erlebte
Gegenwart verwandeln, erwecken und entwickeln sie im Menschen das Selbst¬
bewußtsein der Menschheit, das zugleich seine Bewußtheit darüber ist: in
einer Welt zu leben, die seine eigene ist, die er selbst, als Teil der Menschheit,
geschaffen hat und zu schaffen nicht aufhören wird. Die ästhetische Evokation
der Vergangenheit ist also das Erlebnis dieser Kontinuität, nicht das von
irgendeinem überzeitlichen angeblichen »allgemein Menschlichen«. Die Span¬
nung, daß wir der zeitlich-historischen Entfernung bewußt bleiben und uns
doch in längst verschwundenen Schicksalen, Menschen, etc. ein nostra causa
agitur unmittelbar entgegentritt, bezeichnet diese zeitlich-historische Seite des
Ästhetischen als Selbstbewußtsein der Menschheit: es ist, wie wir schon früher
gezeigt haben, zugleich ihr Gedächtnis. Während aber dieses im Alltags¬
leben die verschiedensten Funktionen ausübt, unter anderem das bloße Regi¬
strieren und Bereithalten von Tatsachen, die für den betreffenden Menschen
eventuell praktisch wichtig werden können, ist hier ausschließlich seine zen¬
tral aktualisierende Funktion wirksam: jene, die das Gedächtnis mit dem
Gewissen teilt. Diese Konvergenz offenbart einen tiefen Zusammenhang zwi¬
schen Ästhetik und Ethik, die Tatsache, daß keine wirklich tiefgehende ästhe-
530
Der Weg zur Welthaftigkeit der Kunst

tische Evolution ohne intime Bezugnahme auf ethische Probleme und


Gefühle möglich ist; nur bleiben diese Gefühle im Bereich des Ästhetischen
kontemplativ (sie können sich erst im Nachher des ästhetischen Erlebnisses in
ethisdie Praxis umsetzen), weshalb auch die Probleme Probleme bleiben,
»bloß« den menschlichen Horizont erweitern, sonst unbekannt bleibende
Voraussetzungen und Folgen aufdecken, ohne sich unmittelbar in Praxis um¬
zusetzen.
Mit alledem ist die Universalität der eigenen Welt der Kunst noch längst
nicht adäquat umschrieben. Gerade diese Universalität macht ihr Gebiet zu
einer intensiven Unendlichkeit, zu etwas - mit fremden Mitteln - Un¬
erschöpflichem. Es soll hier nur hervorgehoben werden, daß die beiden Seiten
der eigenen Welt der Kunstwerke: das eben analysierte universal-huma¬
nistische Prinzip und das des früher untersuchten homogenen Mediums gerade
in dieser Hinsicht einander steigern und fördern. Jene Steigerung und Diffe¬
renzierung der Aufnahme- und Ausdrucksfähigkeit, die wir im Alltagsleben
durch die Arbeitsteilung der Sinne etc. feststellen konnten, hat in bezug
auf das intensivste Erfassen eines Phänomens in einem intensiv-unendlichen
Zusammenhang doch deutlich bestimmte Grenzen. Nicht nur wegen der un-
mittelbar-praktischen Orientiertheit des Alltagslebens, sondern auch deshalb,
weil die Rezeptivitätsfläche des ganzen Menschen, solange er als solcher mit
der ganzen objektiven Wirklichkeit konfrontiert ist, zugleich Zerstreuungen
der Aufmerksamkeit und mit ihr der Aufnahmefähigkeit in sich trägt. Erst
das homogene Medium produziert, schöpferisch wie rezeptiv, eine derartige
Konzentration, daß alle im jeweiligen konkreten Phänomen schlummern¬
den objektiven Möglichkeiten und Bestimmungen in sinnfälliger Weise ak¬
tuell zu werden vermögen. Auch hier ist es der ganze Mensch, der eine solche
eigene Welt im homogenen Medium erschafft oder aufnimmt. Er ist aber
durch die Nichtexistenz des homogenen Mediums - im Sinne der unmittel¬
baren Praxis -, durch seinen reinen Widerspiegelungscharakter einerseits zum
kontemplativen Verhalten gezwungen, und andererseits entsteht infolge
der Verengerung der Widerspiegelung der Welt, der Mimesis auf ein einziges
Organ (Visualität etc.) jene Konzentration alles Interesses, jene Verwand¬
lung des ganzen Menschen des Alltags in den >Menschen ganz<, die zur Auf¬
nahme einer intensiven Unendlichkeit, zu ihrem Nachschaffen, zu ihrem an¬
gemessenen Genießen fähig macht.
Wir sagten: unsere reichlich lang gewordene Umschreibung ist keineswegs
erschöpfend. Darum gestatte uns der Leser, als Abschluß die Beschreibung
dieses Phänomens mit Mitteln der Kunst hierher zu setzen. Keats beschreibt
Die Voraussetzungen der eigenen Welt der Kunstwerke 531

es in seiner berühmten Ode an eine griechische Urne. Die für das ästhetische
Prinzip entscheidende Stelle lautet:

Fair youth, beneath the trees, thou canst not leave


Thy song, nor ever can those trees be bare;
Bold Lover, never, never canst thou kiss,
Though winning near the goal - yet, do not grieve;
She cannot fade, though thou hast not thy bliss,
For ever wilt thou love, and she be fair!

Ah, happy, happy boughs! that cannot shed


Your leaves, nor ever bid the Spring adieu;
And, happy melodist, unwearied,
For ever piping songs for ever new;
More happy love! More happy, happy love!
For ever warm and still to be enjoy’d.
For ever panting and for ever young;. ..

Und er zieht die Folgerungen in den Schlußzeilen:

When old age shall this generation waste,


Thou shalt remain, in midst of other woe
Than ours, a friend to man, to whom thou say’st,
’Beauty is truth, truth beauty’, - that is all
Ye know on earth, and all ye need to know.

Die Identität des Schönen und des Wahren ist wirklich der unmittelbare Sinn
des reinen ästhetischen Erlebnisses und darum ein ewiges Thema einer jeden
Reflexion über die Kunst. Daß, sobald die Kunst und ihre Wirkung im
umfassenden Zusammenhang des gesamten gesellschaftlich-geschichtlichen
menschlichen Lebens betrachtet werden, um jeden dieser Betriffe und erst
recht um ihren Zusammenhang eine gewaltige und verwickelte Problematik
entsteht, wird uns noch oft beschäftigen müssen. Das ändert aber nichts an
der schlicht unmittelbaren Evidenz dieses Ausspruchs in der Unmittelbarkeit
des rein Ästhetischen.
532

Siebentes Kapitel

Probleme der Mimesis III


Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Je energischer und folgerichtiger die Eigenart des Ästhetischen herausgearbei¬


tet wird, desto paradoxer scheinende Widersprüche ergeben sich, und seine
philosophische Begründung kann nur darin bestehen, aufzuzeigen, wo, wie¬
weit und inwiefern es sich hier um bloß scheinbare Paradoxien handelt,
die bei richtigem und gründlichem Aufhellen der fundamentalen Tatbestände
sich auflösen und eine nicht mehr paradoxe Sachlage zurücklassen. Zugleich
jedoch muß ebenso deutlich festgestellt werden, wo, wieweit und inwiefern
hier von echten Widersprüchlichkeiten die Rede sein kann, von bewegenden
Widersprüchen bestimmter Phänomengruppen, die gerade nur in und aus
dieser ihrer Dialektik begriffen werden können, deren Wesen gerade in einer
solchen Widersprüchlichkeit ihrer bewegenden Kräfte, ihrer strukturellen und
dynamischen Komponenten besteht. Alles, was bis jetzt am Ästhetischen zer¬
gliedert wurde, sollte das Material für eine Synthese dieser Art Zusammen¬
tragen. Wird diese nicht, soweit wie heute möglich, erschöpfend vollzogen, so
ist es unvermeidlich, daß das Ästhetische entweder zu einer - mehr oder
weniger unvollkommenen, mehr oder weniger nützlichen - Vorform der Er¬
kenntnis herabsinkt, wie bei Leibniz oder Hegel, eventuell sogar als schädliche
Abweichung gilt, wie bei Platon (wenn die Vorformartigkeit auf Religion, statt
auf Erkenntnis intentioniert ist, wird die Lage natürlich nicht besser, selbst¬
redend auch dann nicht, wenn bei Umkehrung dieser Fragestellung die Er¬
kenntnis als untergeordnete Vorform des Ästhetischen erscheint, wie bei
Schelling). Oder es wird das Ästhetische zwar als selbständig erkannt, es
verliert jedoch gerade dadurch jede Verbindung mit dem gesellschaftlich¬
geschichtlichen Leben der Menschheit und sein Aufsichselbstgestelltsein kann
nur die Begründung eines »Naturschutzparks« für seine völlige Isolation her¬
beiführen, wie dies in vielen modernen Theorien der Fall ist. Das Wesen des
Ästhetischen kann mithin nur dann befriedigend bestimmt werden, wenn
seine Stellung im System der Beziehungen zwischen Mensch und Außenwelt
ebenfalls befriedigend bestimmt ist. Ein fruchtbarer, ein bewegender Wider¬
spruch ist immer nur ein solcher, der die Bewegungsrichtung, die Bewegungs-
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 533

gesetzhchkeit einer hier entstehenden wesentlichen und unentbehrlichen


Beziehung gerade in seiner Widersprüchlichkeit regelt und erfüllt.

I Vorfragen der ästhetischen Subjektivität

Alle unsere bisherigen Betrachtungen konzentrierten sich darauf, das an-


thropomorphisierende, ja anthropozentrische Prinzip jeden ästhetischen
Setzens klarzulegen. Wenn wir jetzt die bisherigen zerstreuten und teil¬
weise gelegentlichen Feststellungen zusammenzufassen und zu systematisie¬
ren versuchen, stoßen wir auf den Widerspruch zwischen anthropomorphisie-
renden Akten sowohl im Schaffen wie in der Aufnahme der Kunst und
ihrem unbedingten Anspruch auf objektive Geltung. Diese Widersprüch¬
lichkeit scheint sich noch dadurch zu verschärfen, daß es sich nicht einfach um
anthropomorphisierende Tendenzen handelt, sondern daß das so geartete
Fundieren des Ästhetischen notwendig immer und überall das ihm innewoh¬
nende subjektive Moment in den Mittelpunkt rückt. Daraus ergibt sich von
selbst die erste Aufgabe: die Klärung des Wesens der ästhetischen Subjekti¬
vität. Vor allem ist eine - aus den bisherigen Betrachtungen bereits bekannte -
Feststellung zu machen: sie ist keineswegs einfach mit der Subjektivität
des Alltagslebens identisch. Zugleich muß jedoch - ebenfalls nicht zum
erstenmal - festgestellt werden: dieses Hinausgehen über den Alltag be¬
inhaltet keineswegs das Setzen oder Anerkennen irgendeiner transzendenten
Macht oder Substanz. Diese dem ästhetischen Prinzip wesenhaft innewoh¬
nende Diesseitigkeit ist so stark, daß selbst bei Kant neben dem theoretischen
»Bewußtsein überhaupt« und dem praktischen »homo noumenon« in der
Ästhetik kein Subjekt dieser Art auftaucht. Die Frage ist also, wie, welchen
Bedürfnissen entsprechend, von welchen Kräften geleitet eine solche Steige¬
rung der Subjektivität entsteht, die bereits als qualitatives Anderssein der
Subjektivität des Alltags gelten kann? Und welche Rolle spielt die ästheti¬
sche Sphäre in dieser Entwicklung? Darin ist auch unsere bisher behandelte
Frage der Genesis enthalten; denn ihr wirklicher Inhalt ist, das Ästhetische
als eine menschliche Setzungsweise aufzuzeigen, die von bestimmten, von
einer gewissen Stufe ab kontinuierlich vorhandenen und von ihrem Entstehen
an sich kontinuierlich steigernden Bedürfnissen hervorgebracht wird.
Wenn sich unsere gegenwärtige Reflexion auf den für die Philosophie aus¬
schlaggebenden Kern dieser Bedürfnisse richtet, also auf das subjektive Mo¬
ment dieser Subjektivität und vorerst nicht auf die Art jener Objekte, die sie
Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
534

zu erschaffen oder zu erfassen bestrebt ist, so wird damit das für uns ent¬
scheidende Subjekt-Objekt-Verhältnis, um die andere Seite des Problems
besser zu beleuchten, nur vorübergehend in den Hintergrund geschoben; die
Tatsache, daß wir in der Mimesis das ästhetische Grundphänomen erblicken,
genügt, um diese unsere Position klarzustellen. Das Bedürfnis, das der Kunst
zugrunde liegt, hat - gerade von der uns jetzt vor allem interessierenden
Seite, nämlich von der der Subjektivität - Klopstock mit großer Klarheit
und Entschiedenheit ausgesprochen. Unmittelbar bezieht sich seine Aussage
zwar bloß auf die Poesie, ihr Sinn zeigt jedoch deutlich, daß in ihr das ganze
Gebiet des Ästhetischen mitgemeint ist. Klopstock sagt: »Das Wesen der
Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hilfe der Sprache, eine gewisse An¬
zahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten,
von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unserer Seele in einem
so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andere wirkt, und dadurch die
ganze Seele in Bewegung setzt.« Er erläutert im weiteren die einzelnen
Momente seiner Bestimmung. Für uns ist hier nur noch wichtig, was er über
den Ausdruck »beschäftigt« ausführt: »Die tiefsten Geheimnisse der Poesie
liegen in der Aktion, in welche sie unsere Seele setzt. Überhaupt ist uns
Aktion zu unserem Vergnügen wesentlich. Gemeine Dichter wollen, daß wir
mit ihnen ein Pflanzenleben führen sollen 1.«
Vom Standpunkt des Verständnisses für das Bedürfnis, das der Kunst zu¬
grunde liegt, ist in diesen Ausführungen entscheidend der Hinweis auf ein
Inbewegungsetzen der ganzen Seele des Menschen. Natürlich ist in gewissem
Sinne auch im Alltagsleben stets der ganze Mensch aktiv. So sehr die Ent¬
wicklung seiner Tätigkeit sich immer stärker spezialisiert, kann von einem
vollendet durchgeführten Parzellieren seiner Fähigkeiten, von einer totalen
Ausschaltung bestimmter Eigenschaften, bei ausschließlicher Verwendung
anderer, im strikten Sinne kaum gesprochen werden. Wohl aber - und mit
der Entwicklung der Zivilisation im steigenden Maße - davon, daß seine
Tätigkeit bestimmte Seiten seiner Gesamtpersönlichkeit, sei es im physischen,
sei es im geistigen Sinne, einseitig ausbildet, andere dagegen zeitweilig ver¬
nachlässigt, ja sogar dauernd verkümmern läßt. Das Bedürfnis eines Aus¬
gleichs, einer Richtungnahme auf Gleichgewicht, auf Harmonie, auf Propor¬
tionalität in Gang zu bringen, ist auf einer gewissen Stufe des materiellen

1 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Leipzig 1830, Werke Band XVI.
S. 36 f.
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 535

Wohlstands, der Muße etc. eine Massenerscheinung. (Die hier aufgezählten


Kategorien sind an sich die des Alltagslebens und in ihrem originären und
tatsächlich-durchschnittlichen Vorkommen nodi keineswegs ästhetisch.)
Wenn wir früher die Sehnsucht nach Ganzheit und Integrität des Menschen
als allgemein gesellschaftliches Bedürfnis in den Mittelpunkt stellten, so müs¬
sen wir auch hier, wie bereits früher, uns von der romantisch-antikapitalisti¬
schen Kritik der Arbeitsteilung scharf abgrenzen. Diese sieht nämlich in ihr
ausschließlich das Negative, bloß die Zerstückelung und Verkümmerung des
Menschen, ohne zu berücksichtigen, daß es sich dabei nicht nur um eine
unvermeidliche Stufe in der Höherentwicklung der Menschheit handelt,
sondern daß die Arbeitsteilung selbst - bei allen ihren den Menschen
zerstörenden und erniedrigenden Erscheinungsweisen im Kapitalismus — zu¬
gleich ununterbrochen Eigenschaften, Fähigkeiten etc. im Menschen erweckt,
ja zur Entfaltung bringt, die den Begriff seiner Ganzheit erweitern und be¬
reichern. Darum kann selbst die für den ganzen Menschen ungünstigste
Etappe des Kapitalismus keinen Verzicht auf den ganzen Menschen hervor¬
bringen. Im Gegenteil. Je stärker sich die zerstückelnden Tendenzen ent¬
falten, desto stärker pflegt die Gegenbewegung auszufallen.
So bleibt das, wovon Klopstock spricht, ein grundlegendes Bedürfnis des
Menschen. Natürlich äußert es sich nicht nur im Alltagsleben selbst, sondern
auch in den Objektivierungen, die aus diesem in den verschiedensten Formen
herauswachsen, so in Religion, Mythos, Dichtung, Philosophie, Ethik etc.
Es erwächst zu einer Bewußtheit des Strebens nur dann, wenn die Entwick¬
lung der Produktivkräfte und ihr Sichdurchsetzen in den Produktionsverhält¬
nissen dieser Ganzheit und Integrität der menschlichen Persönlichkeit zugleich
maximale Möglichkeiten darbieten und sie subjektiv am offensichtlichsten zu
bedrohen scheinen. Dann entsteht - auch bewußterweise - die Sehnsucht
nach Erfüllung durch die Kunst, wie sie eben Klopstock ausgedrückt hat. Es
ist aber offenkundig, daß das Bedürfnis schon viel früher da war, allerdings
oft ganz ohne objektivierten Ausdruck oder, soweit bewußt, auf ganz
andere Ziele gerichtet. Das hat, wie wir gesehen haben, vor allem gesellschaft¬
liche Gründe, eben die von uns bereits hervorgehobenen zunehmenden
Widersprüche der Arbeitsteilung.
Eine nähere Analyse muß jedoch zeigen, daß es sich dabei nicht bloß um auf
eine historische Entwicklungsetappe beschränkte Motive handelt, sondern
auch um allgemeinere, die freilich, trotz ihrer Universalität, trotz ihrer un¬
mittelbar und scheinbar anthropologischen Fundiertheit nicht aufhören, ge¬
sellschaftlichen Charakters zu sein. Nur ist ihre Basis nicht diese oder jene
j3 6 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

besondere soziale Formation — diese bestimmt nur Art und Grad ihres In-
erscheinungtretens sondern die Wesensart des vergesellschafteten Men¬
schen überhaupt. Natürlich wäre es eine metaphysische Erstarrung, zwischen
Anthropologischem und Sozialem immer ganz genau sichtbare Grenzen an¬
zunehmen; wie überall sind diese oft verschwommen, ja verschwindend, sie
sind aber trotzdem vorhanden. Nur wenn die Anthropologie, wie z. B. im
Existenzialismus, den Menschen als »ontologisch« einsames, rein auf sich
selbst gestelltes Wesen faßt, das erst »später« - sei es »ontologisch« zufällig
oder notwendig - in gesellschaftliche Bindungen »eintritt«, kann eine solche
metaphysisch »reinliche« Scheidung des Anthropologischen vom Sozialen er¬
folgen. Wir haben wiederholt auf die faktische und philosophische Unhalt¬
barkeit eines solchen Dualismus hingewiesen. Der Mensch ist in unseren
Augen schon in seinem Menschwerden und erst recht in seinem Dasein als
Mensch ein gesellschaftliches Wesen. Während aber mit dem Abschluß des
Prozesses seiner Menschwerdung seine anthropologische Beschaffenheit in
ihren wichtigsten Bestimmungen, in ihrer Hauptsache sich fixiert, und keinen
qualitativ entscheidenden Veränderungen mehr unterworfen wird, bringt die
gesellschaftliche Entwicklung prinzipiell ununterbrochen Neues hervor, und
zwar nicht bloß in bezug auf das Verhältnis der Menschen zueinander, zur
Natur etc., sondern auch für die innere Beschaffenheit des Einzelmenschen.
Diese letztere Feststellung ist für die gegenwärtigen Betrachtungen höchst
wichtig, denn wir wissen ja, daß erst mit der Arbeit die Subjekt-Objekt-
Beziehung dem Menschen, selbst in der primitivsten Form, ins Bewußtsein
treten kann, daß erst die Auflösung des Urkommunismus die Grundlagen für
eine noch so primitive Bewußtheit der Einzelpersönlichkeit schafft usw. usw.
Mögen also bestimmte in diesem Entwicklungsprozeß entstehende Bedürfnisse
und ihre Befriedigungsweise von ihrer Entstehung an Bewußtseinsbestandteile
der Menschheit bleiben, ihre Genesis ist doch gesellschaftlichen und nicht
anthropologischen Charakters.
Hinter der Klopstockschen Forderung steht ursprünglich die Trennung des
Wesentlichen und des Unwesentlichen im Menschen selbst, in seiner Subjekti¬
vität. Diese Trennung muß er von Anfang an in bezug auf die Außenwelt
vollziehen, sonst ist er außerstande, diese im Interesse der eigenen Existenz zu
bewältigen. Daß in bezug auf sich selbst eine ähnliche Frage auftauchen kann
und muß, daß sie eine Frage besonderer Art ist, ist das Ergebnis höherer, eben
angedeuteter Entwicklungsstufen. Wir haben gesehen, daß die Versuche, die
Außenwelt zu beherrschen, anfangs in der magischen Hülle, die Keime so¬
wohl der wissenschaftlichen, wie der künstlerischen Widerspiegelung der
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 537

Wirklichkeit in sich enthaltend, vor sich gehen. Auch in der Wendung


nach innen spielen Bedürfnisse sehr verschiedener Art wichtige Rollen, und
zwar nicht nur, wie im Fall der Bewältigung der Außenwelt, für die An¬
fangszeit als eine magisch-chaotische Mischung, sondern dauernd für die
ganze spätere Entwicklung. Ganz abgesehen davon, daß die Subjektivität des
Menschen Objekt einer rein wissenschaftlichen Betrachtung werden kann und
soll - hier kommt naturgemäß das rein wissenschaftliche Prinzip der des-
anthropomorphisierenden Widerspiegelung und Deutung der Wirklichkeit am
spätesten und schwersten zur Geltung - entsteht, simultan mit der gesell¬
schaftlichen, relativen Ablösung der Einzelpersönlichkeit von der Gemein¬
schaft, das Bedürfnis der Ethik, des Rechts, der Religion etc. Wenn sich nun
das Ästhetische auch auf dieser Stufe nur sehr allmählich zur Selbständigkeit
erhebt, so ist doch die hier einsetzende Differenzierung prinzipiell anders
beschaffen, als die ursprüngliche der magischen Periode. Es ist z. B. sehr be¬
zeichnend, daß noch in der hochentwickelten antiken Kultur, auch als es
bereits eine Ästhetik gab, Geschichtsschreibung, Rhetorik etc. als dem Wesen
nach ästhetisch aufgefaßt wurden.
Es kann auch hier natürlich nicht unsere Aufgabe sein, die Abweichungen der
Wege auch nur in ihren gröbsten Umrissen zu skizzieren. Es kommt auch
hier bloß darauf an, die allgemeinsten Prinzipien der Scheidungspunkte phi¬
losophisch aufzuzeichnen. Gerade darum kommt der Klopstockschen Ganz¬
heitsforderung eine grundlegende Bedeutung zu. Während nämlich die wis¬
senschaftlichen, religiösen, ethischen etc. Strömungen in der anfangs er¬
wähnten Frage des Verhältnisses von Wesen und Erscheinung im Menschen
selbst auch genaue Scheidungen, ja Entgegensetzungen bringen, ist die Eigen¬
art des in solchen allgemeinen Tendenzen versteckten, ohne klares Bewußtsein
wirksamen Richtungsnehmens auf das Ästhetische das Bestreben, in der
Erscheinung das Gegenwärtigsein, das tiefe Innewohnen des Wesentlichen
zu suchen und aufzufinden. Schon aus dieser Lage wird es verständlich, daß
solche Intentionen nur relativ spät eine Bewußtheit, eine geistige Selbständig¬
keit erlangen können. Man denke an die berühmte Inschrift des Delphischen
Apollotempels: »Erkenne Dich selbst«, an ihre Interpretation durch Sokra¬
tes und andere Philosophen, an das Ideal des Weisen bei den Stoikern und
auch in der Schule Epikurs, an die schroffe Trennung des »Einen« von allem,
was an die Kreatur erinnert bei Plotin etc. Hier ist freilich bereits eine auf¬
steigende Linie des schroffen Scheidens von Wesen und Erscheinung, verur¬
sacht durch die Vernichtung des urwüchsigen öffentlichen Lebens der Polis-
demokratie sichtbar. Aber nur die Schärfe ist eine Folge der Änderungen der
538 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

gesellschaftlichen Grundlage. Doch darf diese Tendenz nicht als völlig zeit¬
bedingt aufgefaßt werden. Es ist selbstverständlich, daß jede Religion auf
eine genaue Scheidung von Wesen und Erscheinung drängen muß. Diese liegt
auch der Methodologie der völlig entgegengesetzt orientierten Wissenschaft
zugrunde. Daß diese reinliche Trennung nur ein Umweg ist, um die Erschei¬
nung in ihrem Ansich, in ihren objektiven Beziehungen und Proportionen
möglichst adäquat zu erfassen, hebt die unmittelbare Trennung nicht auf,
zeigt aber ihre Stelle in der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklich¬
keit. Endlich muß jede Ethik ebenfalls mit einer derartigen Scheidung an¬
fangen. Ob sie dabei stehenbleibt wie Kant, ob sie zu einer - vielfach ästhe¬
tisch beeinflußten - Wiedervereinigung der Gesamtpersönlichkeit strebt,
wie Goethe und Schiller in der Weimarer Zeit, kann hier nicht behandelt
werden. Die Trennung ist aber überall qualitativ schärfer als im Ästhetischen.
Dabei ist die Zusammengehörigkeit von Erscheinung und Wesen ein elemen¬
tares und unaufhebbares Erlebnis, dessen Wurzeln noch tiefer zurückgehen,
als das Bewußtwerden der Persönlichkeit. Wenn die sogenannte sympathe¬
tische Magie davon ausgeht, daß alles, was mit dem Menschen je in Berüh¬
rung stand, sein Schicksal beeinflussen kann, in der magischen Praxis vor
allem das, was seiner physischen Person angehört (Eiaare, Nägel etc.), so
steckt dahinter unzweifelhaft das Gefühl, daß den Menschen - in irgend¬
einem Sinn - alles wesentlich mitbestimmt, was in einer noch so fernen oder
oberflächlichen Beziehung zu seinem physischen Dasein steht. Das drückt sich
auch in den überall verbreiteten magischen Vorstellungen über die Beziehung
des Menschen zu seinem Namen deutlich aus. »Der Indianer sieht seinen
Namen ... als einen deutlichen Teil seiner Individualität, nicht anders, als
seine Augen oder seine Zähne. Er glaubt, daß er durch einen böswilligen Ge¬
brauch seines Namens ebenso gewiß werde leiden müssen, als durch eine
einem Körperteil zugefügte Wundex« - sagt Levy-Bruhl. Wie in allen
Fragen, die unter magischen Bedingtheiten auftauchen, sind auch hier die
Grenzen zwischen Subjektivität und Objektwelt noch höchst verschwom¬
men. Erst wenn mit der Auflösung des Urkommunismus auf der Grundlage
der neuen Basis und der ihr entsprechenden neuen Bewußtseinsformen die
Einzelpersönlichkeit sich objektiv und subjektiv — freilich nur relativ —
gesellschaftlich absondert, erhalten die hier beschriebenen, tief eingewurzelten
Gefühle eine wesentlich deutlichere Physiognomie. Nicht nur viele der magi-

1 Levy-Bruhl: a. a. O. S. 34 f.
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 539

sehen Vorstellungen lösen sich völlig auf (einige bleiben freilich in ab¬
geschwächter Form als Aberglaube noch lange lebendig, wobei allerdings ihr
Einfluß auf die Entfaltung der weltanschaulichen Fragen allmählich immer
mehr abnimmt), sondern es wirken vor allem die neuen Lebensverhältnisse
und die aus ihnen entstandenen neuen Objektivationsweisen stark auf Inhalt
und Form der überkommenen Selbstbetrachtung der Subjektivität.
Denn von ihr ist hier die Rede. Was die magischen »Verursachungen« betrifft,
so werden diese relativ leicht widerlegt und zum Aberglauben erniedrigt.
Daß aber der Mensch mit allen seinen - zentralen und bloß oberflächlichen -
Eigenschaften ein lebendiges, bewegtes, in der Bewegtheit sich erhaltendes
Ganzes bildet, ist das Erbe aus urzeitlicher Vergangenheit, in welchem diese
Zusammengehörigkeit von Wesen und Erscheinung auf neue Weise zum Aus¬
druck kommt. Es wäre natürlich falsch zu meinen, diese neuen Zusammen¬
hänge wären erst durch die Kunst entdeckt und ins Bewußtsein gehoben wor¬
den. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn Alltagsleben und Alltagspraxis, und,
daraus herauswachsend, Sitte und Recht, Moralität und Ethik den Umsatz
dieser Erlebnisse nicht in begrifflicher Reflexion bearbeitet und weitergebildet
hätten, würden sie kaum eine zentrale Stelle im Gedanken- und Empfindungs¬
leben der Menschen einnehmen, könnten sie nicht - als Bedürfnisse des
Lebens - eine Intention auf Kunst erhalten. Denn die Frage, ob die mensch¬
liche Persönlichkeit ein Ganzes bildet, ob diese Ganzheit sich im Zeitablauf
erhält, was an ihr wesentlich und was bloße Erscheinung ist, taucht gebiete¬
risch in allen Betätigungen der Menschen immer wieder auf. Um nur ein
gewöhnliches Beispiel anzuführen: man könnte ohne diese Frage überhaupt
nicht von der Verantwortlichkeit des Individuums sprechen; bekanntlich hat
sich diese erst allmählich aus Kollektivverantwortungen der Sippen etc. her¬
ausentwickelt, wurde aber dann zu einer Grundlage des Alltagsverkehrs der
Menschen untereinander. Und zweifellos - damit kehren wir zu früher
Ausgeführtem zurück - wird in der Verantwortung die Kontinuität der
Person, ihr Sicherhalten im Wandel der Zeiten bejaht. Wenn der Mensch für
eine von ihm begangene Einzeltat, ja unter Umständen für einen bestimmten
Gedanken gerade zu stehen hat, so wird von seinen Mitmenschen und von
ihm selbst die Tatsache anerkannt, daß die Ganzheit seiner Persönlichkeit sich
im Zeitablauf mit einer gewissen stabilen Identität erhalten hat. Ähnliche
Beispiele könnten noch massenhaft aufgezählt werden.
Die darin enthaltene Anerkennung der Totalität, der Kontinuität der
Individualität des Menschen, der Zusammengehörigkeit von Wesen und
Erscheinung in ihr, enthält jedoch einen - für das Subjekt unbedingt auf-
540 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

zulösenden - Widerspruch. Die Bejahung ist nämlich zugleich eine Vernei¬


nung. Jedesmal wird ein Moment (Handlung, Begebenheit, Gedanke etc.)
sowohl aus dem kontinuierlichen Fluß wie aus dem Aufbau der Ganzheit
herausgenommen und dem Individuum entgegengehalten, als etwas, was es
- im Guten oder im Bösen - fundamental repräsentiert, was sein Wesen in
sich birgt. Dabei wird für diesen Fall alles andere als bloß nebensächlich,
bloß erscheinungshaft, als irrelevant beiseite geschoben. Das ist für die
Moral, wie für jede Regelung der Welt der Praxis eine Selbstverständlichkeit.
Aber auch wenn der Mensch das Gebot Apollos, das »Erkenne Dich selbst«
theoretisch zu erfüllen bestrebt ist, muß zu einer ähnlichen Verhaltensweise
gegenüber der menschlichen Ganzheit gegriffen werden. Und es wäre eine
unzulässige Vereinfachung, in der hier zutage tretenden Verneinung einfach
eine abstrakte Negation zu erblicken. Ganz im Gegenteil. Eine solche Nega¬
tion ist wesentlich ein Festmachen, ein eigentliches Konstituieren der Persön¬
lichkeit; wo sie fehlt, wie in Perioden, deren gesellschaftlichen Kräfte die
ethischen Normen zerstören, dem Wissen eine allgemeine Skepsis gegenüber¬
stellen, zerflattert auch die Persönlichkeit in ein Neben- und Nacheinander
beziehungsloser Augenblicke. Hofmannsthal hat diesen Zustand des Ich präzis
und schön beschrieben:

Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,


Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt

Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,


Herüberglitt aus einem kleinen Kind
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.

So sehr also diese Art von Verneinung, im Sinne Spinozas, zugleich eine Be¬
stimmung, etwas Positives, gerade auf das Wesentliche Weisendes ist, so sehr
sie im Leben eine völlig unersetzliche Funktion ausübt, kann sie doch nicht
alle Bedürfnisse befriedigen, die das Leben, die Persönlichkeit immer stärker
entwickelnd, hervorruft. Hier erhält die Religion eine bedeutende Rolle.
Teils indem viele Religionen die Aufbewahrung der ganzen Persönlichkeit im
Jenseits in Aussicht stellen, so daß der Glaube an eine solche Fortdauer als
nächstliegende und populärste Erfüllung dieses Bedürfnisses auftritt, teils
indem mystisch orientierte Askese und Ekstase — jede in ihrer Art — eine
Flucht vor dem Individuellen und seiner Problematik, eine Selbstauflösung
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 54i

im Transzendenten oder Kosmischen zustande zu bringen vorspiegeln. Ohne


Frage ist die Kunstentwicklung auf lange Zeit nach dem Übergang der Magie
in Religion mit der ersten Tendenz aufs allerengste verknüpft und entwik-
kelt sich vielfach ebenso in ihre Kategorien eingehüllt, wie anfangs in denen
der magischen Zeit. Was die verschiedenen Arten und Unterarten der zweiten
Tendenz betrifft, so sind wir schon in der magischen Periode auf ihre im
wesentlichen antikünstlerische, letzten Endes kunstfeindliche Richtung ge¬
stoßen; daß es historisch konkrete Verhältnisse geben kann und gegeben hat,
wo - wie schon in der Magie - ein Nebeneinanderexistieren, ja eine gewisse
wechselseitige Beeinflussung entsteht, hat uns hier, da dies nicht in der Haupt¬
linie der Entwicklung liegt, nicht näher zu beschäftigen. Die Aufbewahrung
der Persönlichkeit im Jenseits schafft eine sich lange hinziehende Berührungs¬
fläche zwischen Kunst und Religion, schon darum, weil für beide eine Art von
Mimesis notwendig wurde, die Reproduktion der menschlichen Totalität, um
dieses Bedürfnis nach Dauer zu befriedigen. (Wir haben hier bewußt nur
eine Seite des religiösen Lebens behandelt; daß die Darstellung der Götter¬
welt selbst sachlich eng mit diesem Komplex verbunden ist, versteht sich von
selbst. Daß ihr Zurgeltungbringen in der mimetischen Darstellung ebenfalls
ein gemeinsames Gebiet zwischen Religion und Kunst schafft, ist unmittelbar
einleuchtend.)
Doch die Religion verspricht eine wirkliche Erfüllung; und zwar in einem
Jenseits, worin die Existenz auf eine höhere Stufe gehoben, unabhängig ge¬
macht wird von der ständigen Selbstreproduktion des Lebens, von Werden
und Vergehen, und damit eine endgültige Verwirklichung erfährt. Daß
das Ausdrucksmittel dieser zweiten Wirklichkeit eine Art Mimesis der irdi¬
schen ist, hat bereits die vorsokratische Philosophie erkannt. Darum kann die
Religion so leicht die Künste in ihren Dienst stellen: indem sie eine Mimesis
des Diesseitigen schaffen, kann sie als ein Versprechen, als eine Garantie, als
ein Abbild des Jenseitigen gelten. Freilich ist gerade in dieser Benutzbarkeit
der Kunst für die Religion zugleich - gewissermaßen uno actu - das Prin¬
zip der inneren Scheidung der beiden Wege enthalten. Denn sehr oft, gerade
dann, wenn es scheint, als ob die Kunst sich restlos dem Ausdruck religiöser
Inhalte hingegeben hätte, ist in den objektiven Gebilden die Ablösung von
diesem am deutlichsten sichtbar: das Kunstwerk drückt den religiösen Inhalt
so restlos aus, daß dieser in einer solchen Vollkommenheit sich ins Luftig-
Unfaßbare auflöst und das Gestaltete, das als Mittel und Vermittlung zum
Jenseitigen Gemeinte, eine abgeschlossene Diesseitigkeit erhält und, unab¬
hängig geworden vom auslösenden Anlaß, in sich vollendet, alles Jenseitige
Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
542

durch seine Formgeschlossenheit ausschließend, dasteht. In der klassi¬


schen griechisdien Kunst verwirklicht sich diese Scheidung in der reinsten
Form; aber jede Entwicklung — auch die orientalische — kennt solche, selten
bewußt ausgetragenen Kämpfe und seltene Vollendungen der Scheidung in
ihnen h Dieses sinnliche Verdrängen des Religiösen durch die ihm zum Mit¬
tel bestimmte künstlerische Gestaltung ist nicht zufällig. Gerade weil die Reli¬
gion einen wirklich existenten Gott, einen wirklich zur ewigen Seligkeit
erlösten Menschen meint, muß in der rein religiösen Vorstellung gerade jenes
Gleichgewicht von Erscheinung und Wesen, das das Ästhetische charakteri¬
siert, fehlen. Dieser Mangel stammt vor allem daher, daß die religiöse Jen¬
seitsvorstellung den Menschen - einerlei ob sie ihn als Gott, als Heros,
oder als in die ewige Erlösung oder Verdammung versetzten Sterblichen abzu¬
bilden versucht - aus seiner natürlichen Umwelt herausreißen muß, aus
seiner Persönlichkeit die mit der Wechselbeziehung zu ihr verknüpften
seelischen Reflexe verschwinden zu lassen gezwungen ist. Tut sie es nicht,
wie dies in großen, religiös beeinflußten Kunstperioden der Fall zu sein
pflegt, d. h. versetzt sie ihn spontan in eine, wenn auch religiös noch so
idealisierte menschliche Umwelt, so ist der oben geschilderte Sieg des dies¬
seitig Menschlichen über das Jenseits unvermeidlich, wie dies in der Antike
und im wesentlichen sogar im Mittelalter der Fall war. Aber darüber
hinaus, wenn auch damit eng verbunden, wird das rein religiöse Erhal¬
ten und Aufbewahren des Menschlichen die Erscheinungsseite, das Konkrete
und Reiche an ihm verkümmern lassen müssen. Es kommt ja in den religiösen
Vorstellungen nie vor, daß der Mensch, so wie er auf der Erde ist, eine Un¬
sterblichkeit im Jenseits erhält. Die Religion schafft nicht nur eine strenge
Auswahl unter seinen persönlichen Eigenschaften, sondern macht ihn auch
notwendig völlig einsam: jeder steht allein vor seinem jenseitigen Richter.
Wenn seine Taten, seine Werke zählen, so lösen sie sich streng objektiviert
von seinem unmittelbaren Subjekt ab; zählt bloß seine Gesinnung, so erhält
diese eine vom sonstigen Leben getrennte eigene Gestalt.
Es scheint also, als ob die nach dem religiösen Glauben sich erhaltende, ins
ewige Jenseits gerettete Persönlichkeit des Menschen mit der seines gewöhn-

1 Daß in bestimmten Fällen die Tendenz auf diesseitige Erfüllung bewußterweise


von einer Ideologie getragen wird, die sich ebenfalls als religiös empfindet, jedoch
von der herrschenden Religion abweidit, zeigt nur an, wie wichtig die Theorie des
»falsdien Bewußtseins« für Probleme dieser Art ist. Einzelanalysen, z. B. der El
Amarna-Kunst Ägyptens, würden über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen.
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 543

liehen Alltagslebens wenig Gemeinsames hätte. Bei näherer Betrachtung


ändert sich aber dieses Bild gerade in seinen wesentlichsten Zügen. Was vor
allem abfällt, ist das, was der Mensdi aus eigenen Kräften aus sidi gemacht
hat; seine Umbildung durch Arbeit, Wissenschaft, Kunst, durdi irdisdi-dies-
seitige Sittlichkeit erscheint als Produkt einer verwerflichen kreatürlidien
Anmaßung, insofern es vom Mensdien als sein eigenes Werk, unabhängig von
der Hilfe der jeweiligen transzendenten Macht aufgefaßt wird. Im Begriff
des Kreatürlichen versdimilzt all dies mit der unmittelbar gegebenen partiku¬
laren Person, soweit die Tendenzen zur Selbständigkeit es nicht verwerflicher
als das bloß Partikulare erscheinen lassen. Diese Partikularität dagegen er¬
scheint als das von Gott, von der transzendenten Macht geschaffene, echte
Wesen des Menschen, das er zwar nicht völlig unverändert zu konservieren
hat - es ist ja ebenfalls etwas bloß Kreatürliches - das er aber in demüti¬
gem Gehorsam den transzendenten Geboten gegenüber als das, was es ist,
weiterzuentfalten verpflichtet ist. Franz Baader 1 sagt, im Anschluß an ältere
Mystiker über diese Frage: »Wie nämlich Hoffart und Niederträchtigkeit
zwar äußerlich aneinander gebunden, nicht aber auch innerlich und wahrhaft
vereinbar sind, und gleichsam nur in einer wilden lieblosen Ehe Zusammen¬
leben können, wie denn die Hoffart nur die Karikatur des einen Elementes
der Liebe, nämlich der Erhabenheit, die Niederträchtigkeit jene des zweiten
Elementes oder der Demut ist, so vermag nur die Religion der Liebe, indem
sie die Hoffart demütigt und das Niederträchtige erhebt, jene wilde Ehe auf¬
zuheben und ihr die Weihe des Sakraments zu geben.« Über diese Richtung
im religiösen Verhalten wird im letzten Kapitel ausführlich die Rede sein. Hier
genügt es, festzustellen, daß das Bedürfnis der Selbsterhaltung besonders in
gewissen Zeiten so stark und zugleich so unbestimmt ist, daß vor dem Erhal¬
tenbleiben überhaupt jedes Wie völlig verblaßt. Für uns ist ja auf dieser Stufe
nur die einfache Feststellung der Konvergenz und Divergenz der grundlegen¬
den religiösen und ästhetischen Tendenzen wichtig: der Abgrund, der zwischen
Dauerverleihen der Totalität des Menschen in beiden Sphären klafft.
Die der Religion dienende Kunst erhält vielfach die Aufgabe, diesen Abgrund
zu überbrücken. Sie erfüllt diese Pflicht oft mit großer Hingabe, Anpassungs¬
fähigkeit und Gewandtheit; oft sogar mit dem Bewußtsein, wirklich bloß
Dienerin des Glaubens zu sein. In Wirklichkeit - unabhängig von den
persönlichen Gedanken und Gefühlen der einzelnen Künstler-handelt es sich

1 F. Baader: Schriften zur Gesellschaftsphilosophic, Jena 1925, S. 109.


Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung
544

hier für die Kunst immer wieder bloß um die uns bereits bekannte, fruchtbare
Goethesdie »Determination von außen«. Die Religion, das religiöse Gefühl,
das sozial lebendige und allgemeine religiöse Bedürfnis stellen die Kunst vor
konkrete Aufgaben, die sie jedoch nur in ihrer eigenen Weise zu lösen vermag,
wodurch darin - unabhängig davon, was die Künstler und ihr Publikum
meinen - objektiv das prinzipielle Auseinandergehen, die Entgegengesetztheit
des Religiösen und des Ästhetischen zum Ausdruck gelangen. Das bezieht sich
nicht nur auf Giotto oder Tizian, sondern auch auf Fra Angelico und Grüne¬
wald. Das tiefe Mißtrauen, das ganze religiöse Kulturen und andere in be¬
stimmten Perioden gegen das künstlerische Gestalten hegen, hat hier seinen
Grund. (Natürlich spielen dabei auch Überreste magischer Vorstellungen, die
sich an die Kunstwerke knüpfen, und der religiöse Kampf gegen diese Residuen
oft eine nicht unbeträchtliche Rolle.) Wir werden uns mit diesem Problem¬
komplex im letzten Kapitel noch ausführlich auseinandersetzen; hier können
wir nur so weit gehen, zu zeigen, daß einerseits dieser Gegensatz den Grund
dafür aufdeckt, warum für das im Klopstockzitat angedeutete Bedürfnis das
Ästhetische allein als Erfüllung in Frage kommt, und daß andererseits mit dem
Austritt aus der magischen Periode das vollständige Selbständigwerden des
Ästhetischen keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Daß hier Probleme ganz
anderer Art, viel höherer Ordnung vorliegen als in der Genesis der Kunst
innerhalb der Magie, ist schon aus diesen wenigen Bemerkungen ersichtlich.
Wir haben der religiösen, immer rigorosen Auswahl gegenüber auf die Eigen¬
art des Ästhetischen hingewiesen, nämlich daß es eine die sinnliche Erschei¬
nungswelt miteinbegreifende Totalität des Menschen zu erwecken bestrebt ist,
daß es sich deshalb in der Mimesis auf einen gediegen geordneten Reichtum
der Wirklichkeit richtet. Auch diese Seite des Ästhetischen ist vielfach erkannt
und ausgesprochen worden. So vielleicht am entschiedensten von Hemster-
huis, der in einem solchen Reichtum das ausschlaggebende Kennzeichen des
Ästhetischen erblickt. »Die Seele will«, sagt er, »natürlicherweise eine große
Anzahl von Ideen in möglichst kleinstem Zeitraum sich zu eigen machen.«
Schon dieser Ausspruch betont das Moment der Intensität; denn nicht an sich
steht die große Anzahl der Ideen im Mittelpunkt, sondern gerade ihre
jeweilige Konzentration in der Zeit, d. h. die Intensität des Erlebnisses als
Kennzeichen dafür, daß das mimetisch erfaßte Objekt — für Hemsterhuis
ist es selbstverständlich, daß die Hauptaufgabe der Kunst die Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit ist - diesen Reichtum auf den Beschauer ausstrahlt.
Darin ist freilich nur ein formales Kriterium der Mimesis ausgesprochen.
Diesen formalen Charakter unterstreicht Hemsterhuis noch energischer, in-
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 545

dem er die Art der sinnlichen Aufnahmefähigkeit der Welt und die ihrer
Reproduktion im Kunstwerk eingehender analysiert und dabei zu Resultaten
gelangt, die entschiedene Vorläufer jener Erkenntnis sind, die wir im Leben
als Arbeitsteilung der Sinne, in bezug auf die Ästhetik als homogenes Medium
der Kunstarten und Kunstwerke bezeichnet haben und die wir im Folgenden
noch ausführlicher analysieren werden. Hemsterhuis hebt hervor: »daß wir
durch eine langwährende Praxis und mit Hilfe des gleichzeitigen Gebrauchs
aller unserer Sinne dahin gelangt sind, die Objekte wesentlich voneinander
zu unterscheiden, indem wir nur einen unserer Sinne in Anspruch nehmen 1«.
Wie überall bei richtig gestellten ästhetischen Fragen, ist auch hier der for¬
male Charakter bloß scheinbar. Denn es ist klar - und das ist ganz sicher
auch die Meinung von Hemsterhuis - daß nicht jeder beliebige Reich¬
tum der Idee, jede beliebige Intensität oder Konzentration die hier gewünsch¬
ten Wirkungen hervorbringen könnte. Schon ein Blick auf das Leben reicht
aus, um dies einzusehen. Denn fraglos besitzt jedes Objekt der Wirklichkeit
an sich jene Unendlichkeit der Eigenschaften und Beziehungen, deren mime¬
tische Wiedergabe eben den von Hemsterhuis gewünschten Effekt hervorbrin¬
gen soll, und wir haben bereits hervorgehoben, daß für ihn die Abbildung
der objektiven Möglichkeit das erste Ziel war. Allerdings fügt er sofort
hinzu: »das zweite ist, die Natur zu übertreffen, indem Effekte geschaffen
werden, die diese nicht leicht hervorbringen kann oder zu produzieren im¬
stande ist2«. Diese letzte Betrachtung führt uns - nach ihm - zur Er¬
kenntnis des Schönen. Die Aufgabe sei also erstens, das Wie einer solchen
Nachahmung zu untersuchen, zweitens zu bestimmen, worin dieses Uber¬
treffen bestehe. Das Ergebnis dieser Analyse ist nun die von uns angeführte
Konzentration und Intensivierung: die größte Zahl der Ideen im geringsten
Zeitraum, womit für ihn der Begriff des Schönen bestimmt ist.
Damit ist eine, die formale Seite des ästhetischen Eindrucks (und damit seines
Erweckers, des Kunstwerks) nicht unrichtig umschrieben, besser gesagt: ein
entscheidend wichtiges Moment dieses formalen Faktors. Was bei Hemster¬
huis fehlt, ist die Hierarchie, das überordnende Prinzip dieses Reichtums;
seine Bestimmung trifft bloß dessen Neben- oder Nacheinander. Es ist aber
sein methodologisch richtiger Instinkt, der ihn innerhalb dieses Gedankengangs
eine weitere Konkretion vermeiden läßt; diese müßte nämlich ein Um-

1 Hemsterhuis: a. a. O. Band I. S. 19. und 14.


2 Ebd. S. 14.
546 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

schlagen dieses Intensitäts- und Reichtumsbegriffs ins Inhaltliche sein. Und


ein solcher Umschlag kann unmöglich spontan und direkt von der Form¬
seite her erfolgen; er repräsentiert nicht - innerhalb einer rein ästhetischen
Struktur - die Goethesche »Determination von außen«, als ein Moment
jener gesellschaftlich bedingten, aus dem Alltagsleben aufsteigenden Inhalte,
die als Bedürfnisse, als vom Volk gestellte Fragen der Kunst jeweilig gegen¬
überstehen, auf welche die konkrete Form stets die fällige, endgültige, Dauer
verleihende Antwort zu geben hat. Wir haben bereits früher auf die beson¬
dere Art der hier auftauchenden Bedürfnisse hingewiesen. Es sei jetzt bloß
ergänzend hinzugefügt, daß jene Allgemeinheit dieser Bedürfnisse, von denen
wir dort sprachen, stets in einer konkreten, gesellschaftlich-geschichtlich de¬
terminierten Form auftritt, und zwar so, daß sie eine unmittelbare und -
für Künstler und Publikum - unauflösbare Einheit entstehen läßt, in
welcher - wieder unmittelbar - die Allgemeinheit in der konkreten Zeit¬
bedingtheit völlig aufzugehen, ja zu verschwinden scheint. Dies geschieht
jedoch so, daß das letzthin ausschlaggebende Kriterium für das Gelingen den¬
noch gerade in dem Beantworten jener Fragen besteht, die unter der Hülle
des Konkreten verborgen eben diese Allgemeinheit an den Künstler stellt.
(Wir haben hier den typischen, den normalen Fall auf die wirkenden Kate¬
gorien hin betrachtet. Natürlich gibt es auch historische und soziale Konstella¬
tionen, in denen die Allgemeinheit das Konkrete zu verdecken scheint. Die
daraus entspringende Problematik gehört ebenfalls in den historisch-mate¬
rialistischen Teil der Ästhetik.) Natürlich ist diese Allgemeinheit nur dem
ihm zugehörigen, gesellschaftlich-geschichtlich Konkreten gegenüber, in
Relation dazu, allgemein. An und für sich betrachtet ist sie von höchster
Konkretheit: sie enthält die grundlegendsten Bestimmungen des Verhältnisses
von Mensch und Welt, vom menschlichen Subjekt und von den Kräften, die
sein Schicksal, sein Wohl und Wehe gesetzmäßig entscheiden.
Auch diese Determinante des subjektiven ästhetischen Bedürfnisses ist längst
bekannt und klar ausgesprochen worden. Schon Bacon, der einer der ersten
war, die das desanthropomorphisierende Wesen der wissenschaftlichen Wi¬
derspiegelung der Wirklichkeit klar darstellten, hat auch den entscheidenden
Gehalt des hier entstehenden Bedürfnisses richtig beschrieben und in seiner
Berechtigung erkannt. Wie damals üblich, spricht auch Bacon über die Poesie;
das Wesentliche seiner Ausführungen gilt jedoch für das Ästhetische im allge¬
meinen. Bacon nennt die Poesie eine »fingierte Geschichtsschreibung«. Diese
gibt »dem menschlichen Geist in jenen Punkten den Schatten einer Befriedi¬
gung, in welchen die Natur der Dinge ihm diese verweigert; da die Welt ver-
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 547

hältnismäßig tieferstehend ist als die Seele, ist deshalb für den menschlichen
Geist eine uneingeschränktere Größe, eine genauere Güte, eine absolutere Va¬
riabilität, als in der Natur der Dinge zu finden ist, angenehm«. Bacon zählt
nun die Kennzeichen einer solchen, die normale objektive Wirklichkeit - den
verschiedenen Bedürfnissen entsprechend - an Größe, Gerechtigkeit, Abwechs¬
lung etc. übertreffenden Gestaltungsart auf. »Darum leuchtet es ein«, sagt er
abschließend, »daß die Poesie der Hochherzigkeit, der Moralität und der
Delektation dient und diese fördert. Darum glaubte man immer, daß sie
etwas an dem Göttlichen teil hat, denn sie erhebt und erhöht den Geist,
indem sie die Erscheinung der Dinge den Wünschen des Geistes unterordnet,
während der Verstand den Geist zu der Natur der Dinge niederbeugt1.«
Sehr ähnlich haben schon vor ihm Sir Philipp Sidney und andere die Berech¬
tigung der Literatur (der Kunst) aus ihrer die Natur übertreffenden Mimesis
abgeleitet und ihre Eigenberechtigung den Wissenschaften gegenüber verfoch¬
ten. Kurz gefaßt lassen sich solche, untereinander recht verschiedenen Ge¬
dankengänge dahin vereinigen, daß die Kunst eine dem Menschen und der
Menschheit angemessene Welt zu schaffen berufen ist.
Es ist sehr wichtig, daß diese Fragestellung bei ihren konsequenten Vertre¬
tern in unabtrennbarer Verbundenheit mit der Mimesis erscheint. Denn falls
die Widerspiegelungslehre in mechanisch-materialistischer Form auftritt, ver¬
schwimmen die Grenzen zwischen der desanthropomorphisierenden Wissen¬
schaft und der Kunst, und die Eigenart des Ästhetischen muß verschwinden
oder zumindest verblassen. Wenn andererseits eine - kritisch oft berechtigte
- idealistische Opposition gegen solche »folgerichtigen Nachahmungstheo¬
rien« die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit über Bord wirft,
verzerrt sich das Wesen der Kunst entweder wie im subjektiven Idealismus
zu einer leeren Subjektivität oder wie im objektiven zu einer mystischen
Einheit von Subjekt und Objekt. (Auf diese beiden Entstellungen des Ästhe¬
tischen kommen wir bald zu sprechen.)
Erst in der letzten Entwicklungsetappe des vordialektischen Materialismus,
bei den russischen revolutionären Demokraten, beginnt das bewußte Heraus¬
arbeiten des unlösbaren Zusammenhangs zwischen ästhetischer Widerspiege¬
lung der objektiven Wirklichkeit und anthropozentrischem Wesen der Kunst.
Tschernischewski, der im Kampf gegen Hegel selbst und vor allem gegen den
Hegelianer Vischer die Widerspiegelungslehre am energischsten verficht, sagt

1 Bacon: Advancement of Learning, London 1906, S. 250.


548 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

über die künstlerische Widerspiegelung der Wirklichkeit: »Man muß aber


hinzufügen, daß der Mensch die Natur überhaupt mit den Augen des Besit¬
zers betrachtet, und daß auf der Erde ihm ebenfalls das als schön erscheint,
was mit dem Glück und dem Wohlleben des Menschen verbunden ist.« Er
betont dabei, daß auch nach Hegel »das Naturschöne nur als Hinweis auf den
Menschen die Bedeutung des Schönen hat — ein großer, tiefer Gedanke! Oh,
wie schön wäre die Ästhetik Hegels, wenn er diesen in ihr so großartig ent¬
wickelten Gedanken zum Grundgedanken gemacht hätte, statt sich auf die
phantastische Suche nach der vollkommen in Erscheinung tretenden Idee zu
begeben1«! Uber das Problem der Naturschönheit werden wir in einem
eigenen Kapitel sprechen und werden dort Gelegenheit haben, uns mit den
diesbezüglichen Anschauungen Hegels und Tschernischewskis auseinanderzu¬
setzen. Hier sei nur soviel bemerkt, daß Tschernischewski einerseits die Ver¬
knüpfung der Mimesis - er benutzt statt des Terminus »Nachahmung«,
deren Problematik er klar sieht, den der »Reproduktion« der Wirklichkeit -
mit dem anthropozentrischen Wesen des Ästhetischen nicht als eine Neue¬
rung betrachtet, die er in die Ästhetik einführen würde, sondern als uraltes
Gedankengut, als den natürlichen Gesichtspunkt der Betrachtung des Ästheti¬
schen. Darum weist er nicht nur, wie wir eben gesehen haben, auf die inkon¬
sequenten Ansätze Eiegels in dieser Richtung hin, sondern stellt mit Recht
fest, daß die antike Ästhetik, vor allem die von Platon und Aristoteles, schon
auf dieser Grundlage errichtet wurde. In seiner Studie über die »Poetik«
des Aristoteles hebt er hervor, daß bei diesem wie bei Platon nie der
Ausdruck »Nachahmung der Natur« vorkommt. Er führt aus: »Tatsächlich
gilt sowohl für Platon, als auch für Aristoteles als wahrer Inhalt der Kunst
und insbesondere der Dichtung durchaus nicht die Natur, sondern das Leben
des Menschen. Ihnen gebührt die hohe Ehre, vom Inhalt der Kunst genau
dasselbe zu denken, was später erst wieder Lessing ausgesprochen hat, und
was alle ihre Nachfolger nicht verstehen konnten. In der >Poetik< des Aristo¬
teles ist mit keinem Worte von der Natur die Rede, er erwähnt als Gegen¬
stände, die die Dichtung nachahmt, Menschen, ihre Handlungen und Vor¬
gänge unter Menschen 2.« Und er legt ein großes Gewicht darauf, daß, wenn
bildende Künstler der Antike wie Lysippus nach der Erzählung von Plinius
über Nachahmung der Natur sprechen, sie dann nicht dasselbe meinen wie die

1 Tschernischewski: Ausgewählte Philosophische Schriften, Moskau 1953, S. 374.


2 Ebd. S. 569 f.
Vorfragen der ästhetischen Subjektivität 54 9

modernen Pseudoklassiker; so daß die berechtigte Polemik gegen die so¬


genannte Nachahmungstheorie eigentlich nur diese, nicht die Widerspiege-
lungstheorie selbst trifft. Andererseits geht Tschernischewski doch über seine
Vorgänger hinaus, indem er, in dem früher zitierten Ausspruch, sich nicht
damit begnügt, die subjektiv wie objektiv zentrale Stelle des Menschen in
der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit hervorzuheben, sondern
davon spricht, daß der »Mensch die Natur überhaupt mit den Augen des
Besitzers betrachtet«, womit er - bestimmte Ahnungen Hegels weiterführend
und konkretisierend - bereits den Weg zum dialektischen Materialismus be¬
tritt, der, wie wir oft angedeutet haben, im Stoffwechsel der Gesellschaft mit
der Natur das Objekt des Ästhetischen und zugleich jenes Fundament er¬
blickt, woraus die subjektiven Bedürfnisse gegenüber der Kunst und die Arten
ihrer Befriedigung entspringen.
Dieser bedeutsame Schritt vorwärts führt nur darum bloß zur Schwelle der
richtigen Lösung, und nicht zu ihr selbst, weil Tschernischewski diese ökono¬
mische Verbindung der Menschheit mit der Natur ebenfalls, wenn auch in
bestimmter Hinsicht deutlicher als Hegel, bloß ahnt aber nicht klar erkennt.
Und weil er die objektive Dialektik der Menschheitsentwicklung, die aus der
Entwicklung der Produktivkräfte entspringt, nicht klar sieht, wird bei ihm
auch die ästhetische Beziehung des Menschen zur Natur utopisch-unproble¬
matisch, undialektisch. Seine Einzelbetrachtungen und Beispiele zeigen, daß
er im allgemeinen eine ästhetische Beziehung nur dort sieht und an¬
erkennt, wo der Mensch wirklich als Beherrscher der Natur zur Wirklichkeit
ein unproblematisch-positives Verhältnis haben kann. Und wo Tscherni¬
schewski, wie beim Tragischen, doch gezwungen ist, dialektische Tat¬
bestände zu behandeln, verfällt er in unzulässige Vereinfachungen L

1 Vgl. darüber meine Studie über Tschernischewskis Ästhetik in: Beiträge zur Ge¬
schichte der Ästhetik, Berlin 1954, S. 135 ff., wo auch die gesellschaftlich-geschicht¬
lichen Gründe dieser seiner Position auseinandergesetzt werden. Die theoretische
Korrektur erfolgt erst auf dem Boden des dialektischen Materialismus, obwohl be¬
reits Aristoteles darüber im klaren war, daß die prinzipielle Angemessenheit des
Objekts, der »Welt« an den Menschen in der Kunst die ganze dialektische Proble¬
matik des Menschenlebens, des Menschengeschlechts in sich begreift; obwohl die
Gipfelpunkte der Aufklärung, insbesondere Diderot und Lessing, vor allem aber
die der deutschen Klassik, so Goethe und Hegel, diese Dialektik wiederholt klar
erfaßt haben, allerdings ohne Kenntnis ihrer sozialen Basis. Vgl. darüber meine
Faust-Studien in: Goethe und seine Zeit, Berlin 1955, S. 186 ff.
55° Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Wir haben hier wiederholt nachgewiesen, daß alle Kriterien und Bestimmun¬
gen, deren Ausgangspunkt eine möglichst reingehaltene Subjektivität bildet
(eine Subjektivität, die von der Objektwelt methodologisch absieht) in einen
Formalismus münden müssen. Wenn wir trotzdem ähnlich scheinende An¬
schauungen (Klopstock, Hemsterhuis etc.) eingehend analysiert haben, so
war dies deshalb notwendig, weil dabei - trotz des scheinbaren Formalismus
- einige der wichtigsten Bestimmungen des Ästhetischen zum Vorschein
kamen. Sie sind wichtig gerade vom Standpunkt jener Bedürfnisse, die im
Alltagsleben der Menschen wirksam werden und zur Entstehung des Ästheti¬
schen führen. Es ist daher berechtigt, ihre Beschaffenheit zu untersuchen, um
die richtige Objektivität der Kunst konkret zu erfassen, um diese von einer
eingebildeten, abstrakten, »reinen« Subjektivität klar zu trennen und zu¬
gleich - im Gegensatz zur wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklich¬
keit - die wertbezogene, wertschaffende Unaufhebbarkeit des subjektiven
Moments in dieser Objektivität zu erkennen. Wenn von einem Formalismus
im Prinzip der »reinen« Subjektivität gesprochen wurde, so liegt der Kern
dieses Problems darin, daß diese als isolierte eben etwas Abstraktes ist, ein
Abstrahieren von jener Objektwelt, die die Subjektivität determiniert, die ihr
erst ihren Reichtum, ihre Tiefe etc. verliehen hat, und welche gerade von ihrer
entscheidenden Qualität, von ihrem spezifischen und individuellsten Gerade¬
sosein unabtrennbar bleiben muß. Von dieser Abstraktion, gerade weil ihr
Ursprung in den Eindrücken der Objektwelt zu suchen ist, weil sie einen
von dort erborgten und subjektiv bearbeiteten Stoff auf formal-subjektive
Momente reduziert, führt kein direkter Weg zur Konkretheit; dieser For¬
malismus kann nicht direkt in Inhaltlichkeit rückverwandelt werden. Die Ab¬
straktion muß vielmehr aufgehoben werden; sie muß wieder in eine konkrete
Subjekt-Objekt-Beziehung aufgehen, und zwar muß die ursprünglich-spontane
zu einer bewußten umgeformt werden. Erst dann erscheint das wirklich
Wesentliche an den Bestimmungen der Subjektivität als das, was es an sich
ist: als entscheidendes, unentbehrliches Moment der ästhetischen Setzung.

II Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt

In Hegelscher Terminologie würden die letzten Ausführungen den Titel füh¬


ren: die Entäußerung und die Zurücknahme dieser Entäußerung ins Subjekt.
Die Anwendung dieser Kategorie für die grundlegenden Akte der ästheti¬
schen Setzung ist viel mehr als ein bloßes Spiel mit dialektischen Formen und
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 5 51

Ausdrücken. So viel auch in dieser Hegelschen Lehre problematisch sein mag 1,


sie gibt - obwohl Hegel selbst anscheinend nicht ihre Anwendung auf das
Ästhetische beabsichtigt hat - die zutreffendste Beschreibung der Subjekt-
Objekt-Beziehung in dieser Sphäre. Um die hier entstehenden Zusammen¬
hänge richtig zu verstehen, ist es ratsam, von der entsprechenden Struktur in
der menschlichen Arbeit auszugehen. In ihr müssen Subjektivität und Objek¬
tivität untrennbar vereint sein: die Durchschlagskraft der vom Subjekt ge¬
setzten Teleologie hängt ausschließlich davon ab, ob das Ansichsein des
Arbeitsgegenstandes und des Werkzeugs richtig widergespiegelt wird. Ande¬
rerseits bleibt deren Objektivität tot, menschenfremd, unfruditbar, wenn sie
nicht von der sich von sich selbst entfremdenden und aus dieser Entfremdung
wieder zu sich zurückkehrenden Subjektivität gespeist wird. Dennoch spie¬
gelt sich diese Einheit selten als Einheit im Bewußtsein. Es herrscht zumeist
entweder das Ansichsein des Objekts vor - sei es als bedingungslose Hin¬
gebung an die objektive Arbeit, sei es, wie dies auf entwickelter Stufe oft der
Fall ist, als eine Verlorenheit in der Objektwelt, zu der der Arbeitende sich
verurteilt fühlt - oder eine eingebildete Allmacht der Zwecke setzenden
Subjektivität. Hier kommt es weder darauf an, bei der ersten dieser beiden
entgegengesetzten Seiten das Moment der gesellschaftlich bedingten Entfrem¬
dung herauszuanalysieren, noch die mythologiebildende Tendenz bei der
zweiten aufzuzeigen. (Es genügt, erneut auf die Mythengestalt des Demi-
urgen hinzuweisen, der diesen zweiten bewußtseinsmäßigen Reflex der Arbeit
verkörpert.) Und es ist ohne weiteres verständlich, daß bei indirekteren,
komplizierteren Objektivationen der menschlichen Tätigkeit, z. B. bei ökono¬
mischen Kategorien wie Ware, Geld, etc. die Entfremdung eine noch gestei¬
gerte Macht erhält: die von menschlicher Tätigkeit geschaffenen Beziehungen
zwischen den Menschen erscheinen im Alltagsbewußtsein als Dinge, zu denen
der Mensch sich unmittelbar ebenso verhält, wie zu den nicht selbstgeschaf¬
fenen der Natur, obwohl sein Gefühl immer wieder gegen solche Einstellun¬
gen protestiert2.

1 Ich habe diese Frage, sowohl die Hegelsche Auffassung wie ihre Marxsche Kritik,
ausführlich behandelt in meinem Buch: Der junge Hegel und die Probleme der
kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1955, S. 614 ff. Dort wird auch auf drei ver¬
schiedene Bedeutungen der Entäußerung hingewiesen. Für den hier zu behandeln¬
den Zusammenhang kommt es vor allem auf die erste Gruppe, auf den Zusammen¬
hang mit dem Arbeitsprozeß an.
2 Die klassische Darlegung dieses Tatbestandes findet man im ersten Kapitel des
ersten Bandes von Marx: Kapital, a. a. O. S. 37 ff.
552 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Es ist nicht nur das Alltagsdenken, das hier keinen Ausweg findet und mit
dem natürlichen Gefühl der Menschen in Gegensatz geraten muß. Marx
hat in seiner berühmten Kritik der Hegelschen Lehre von der Entfremdung,
die diese Frage zum ersten Male konkret aufgeworfen hat, jene Lebenstat¬
sachen aufgezeigt, die eine rationale Aufklärung dieser Sachlage darbieten
können. Die erste Tatsache klärt das ursprüngliche Gefühl der Subjektivität
in der Arbeit (und in jeder gesellschaftlichen Tätigkeit) und wendet sich da¬
mit gegen ihre Aufblähung, gegen alle idealistisch-demiurgischen Gedanken¬
mythen. Den Kern dieser Abrechnung bildet ein philosophisches Ei des
Kolumbus - die Ursprünglichkeit, die Unableitbarkeit der gegenständlichen
Struktur der Wirklichkeit: »Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als
Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräf¬
ten, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte exi¬
stieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe;. . . d. h. die Gegen¬
stände seiner Triebe existieren außer ihm, d. h. als von ihm unabhängige
Gegenstände, aber diese Gegenstände sind Gegenstände seines Bedürfnisses,
zur Betätigung und Bestätigung seiner Wesenskräfte unentbehrliche, wesent¬
liche Gegenstände. Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges,
wirkliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ist, heißt, daß er . . . nur an
wirklichen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann. Gegenständlich,
natürlich, sinnlich sein und sowohl Gegenstand, Natur, Sinn außer sich haben
oder selbst Gegenstand, Natur, Sinn für ein drittes sein, ist identisch.« Und
Marx gibt im Folgenden eine noch allgemeinere philosophische Bestimmung
dieser für den Menschen so fundamentalen Beschaffenheit seiner Beziehung
zur Außenwelt, der Bedingung seiner Arbeit und Praxis: »Ein Wesen,
welches seine Natur nicht außer sich hat, ist kein fiatürliches Wesen, nimmt
nicht teil am Wesen der Natur. Ein Wesen, welches keinen Gegenstand außer
sich hat, ist kein gegenständliches Wesen. Ein Wesen, welches nicht selbst
Gegenstand für ein drittes Wesen ist, hat kein Wesen zu seinem Gegenstand,
d. h. verhält sich nicht gegenständlich, sein Sein ist kein gegenständliches.
Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen . . . Aber ein ungegenständ¬
liches Wesen ist ein unwirkliches, unsinnliches, nur gedachtes, d. h. nur ein¬
gebildetes Wesen, ein Wesen der Abstraktion h«
Damit ist ein für allemal der Demiurgentraum ausgeträumt. Das Umwäl¬
zende an der Arbeit kann unmöglich im Schaffen einer Gegenständlichkeit aus

1 Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Wk. a. a. O. Band III. S. 160 f.


Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 553

dem Nichts, aus einem - ebenfalls mythischen - Chaos bestehen: sie ist
»nur« - aber dieses Nur umfaßt die gesamte Menschheitsgeschichte - die
den menschlichen Zwecken entsprechende Verwandlung der an sich vorhan¬
denen Gegenständlichkeitsformen durch zweckmäßige Erkenntnis und An¬
wendung der ihnen innewohnenden Gesetze.
Das Subjekt, das dieser gegenständlichen Welt aktiv oder leidend, als eben¬
falls gegenständlich gegenübersteht und in ihr wirksam wird, ist letzten Endes
die menschliche Gattung. Wo Marx das Verdienst Hegels bei der Entdeckung
des Sich-selbst-Schaffens des Menschen durch die Arbeit behandelt, sagt er
über diesen Zusammenhang von Arbeit und Menschengattung: »Das wirk¬
liche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die Be¬
tätigung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d. h. als menschlichen
Wesens ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte -
was wieder nur durdi das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als
Resultat der Geschichte - herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen ver¬
hält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist1.«
Unabhängig von der Hegelschen Auffassung, deren idealistischen Kern, die
Identifikation von Entfremdung und Gegenständlichkeit, er scharf kritisiert,
bestimmt er im ökonomischen Teil desselben Werks die Beziehung von Arbeit
und Gattung so: »Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt
sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen. Diese Produktion
ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein
Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Ver-
gegenständlichung des Gattungslebens des Menschen: indem er sich nicht nur
wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt, und
sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut.« Die Entfrem¬
dung ist so wenig mit diesem Verhältnis einfach identisch wie es Hegel meint,
daß gerade sie - nämlich die konkrete, durch die konkrete Arbeitsteilung
der Klassengesellschaften, vor allem die des Kapitalismus, hervorgebrachte
Entfremdung - das Gattungsleben für das Individuum trübt, ja zuweilen
zerstört. »Indem aber«, so führt Marx diesen Gedankengang fort, »die ent¬
fremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt,
entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlich¬
keit 2.«

1 Ebd. S. 156.
2 Ebd. S. 88 f.
554 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Damit sind die Umrisse der Marxschen Auffassung deutlich hingestellt. Es


wird aus ihnen zugleich klar, daß wir es hier mit der allgemeinsten Form
der Begründung jenes Bedürfnisses nach dem Ästhetischen zu tun haben, das
wir von den verschiedensten Aspekten her bereits wiederholt analysierten. Es
ist das Bedürfnis, eine Welt zu erleben, die real und objektiv ist, und zugleich
den tiefsten Anforderungen des Menschseins (des Menschengeschlechts) an¬
gemessen ist. Die zwar unbewußt bleibende, aber faktisch wirksame Dialektik
dieses Bedürfnisses geht dem Wesen nach in der Praxis der großen Kunst über
jene einseitigen Bestimmungen hinaus, in die ein metaphysisches Denken
über das Ästhetische sie jeweils zu zwängen versucht. So wird oft, um nur
ein sehr bezeichnendes Beispiel anzuführen, entweder die bedingungslose
Hingabe an die Wirklichkeit einseitig hervorgehoben oder eine Unzufrieden¬
heit mit ihr, der Versuch über sie hinauszugehen, sie zu übertreffen. Die meta¬
physische Einseitigkeit entsteht in beiden Fällen daraus, daß ein Akt, der
gerade als Einheit des Widersprüchlichen seine Eigenart und Berechtigung
hat, in separierte, widersprechende und vereinseitigte Momente getrennt und
dann jedes zu Unrecht selbständig gemachte Moment wertend der Wirklich¬
keit gegenübergestellt wird. Der originär ästhetische Akt aber kennt keine
solchen einseitigen Werturteile. Bedingungslose Hingebung an die Wirklich¬
keit und leidenschaftlicher Wunsch, sie zu übertreffen, gehören zusammen,
denn das letztere ist nicht das Aufzwingenwollen eines von wo immer her¬
geholten »Ideals«, sondern das Herausheben jener Züge aus der Wirklich¬
keit, die ihr an sich innewohnen, in denen aber ihre Angemessenheit an den
Menschen deutlich sichtbar wird, in denen die Fremdheit und Gleichgültigkeit
ihm gegenüber zur Aufhebung gelangt, ohne damit das Wesen ihrer Objekti¬
vität anzutasten, geschweige denn vernichten zu wollen. Denn das Bedürfnis
drängt ja gerade zu einer dem Menschen angemessenen Objektivität. (Natür¬
lich können gesellschaftlich-geschichtliche Entfremdungstendenzen diese Ein¬
heit trüben; so eine akademisch-idealistische Verachtung der gegebenen Wirk¬
lichkeit, so ein naturalistischer Kult zufälliger, dem Menschen unangemesse¬
ner Details.) Die Einheit dieses Akts ist eben ein höheres, geistigeres und be¬
wußteres Niveau der Arbeit selbst, in welcher die den Arbeitsgegenstand ver¬
wandelnde Teleologie untrennbar mit dem Erlauschen der Geheimnisse der
gegebenen Materie verknüpft ist. Während es sich jedoch in der Arbeit um
eine rein praktische Beziehung des Subjekts zur objektiven Wirklichkeit han¬
delt, weshalb auch die Einheit des Akts nur das zusammenhaltende Prinzip
des Arbeitsprozesses selbst ist und deshalb mit dessen Vollendung ihre Be¬
deutung verliert, um sie erst im nächsten wieder zu erlangen, erhält diese
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 555

Einheit in der Kunst eine eigene Objektivation; sowohl -der Akt selbst, als das
gesellschaftliche Bedürfnis, das ihn hervorruft, tendieren auf ein solches Fest¬
halten, Fixieren, Verewigen dieser Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit,
auf das Schaffen einer objektivierten Gegenständlichkeit, in der sich diese Ein¬
heit sinnlich-sinnfällig, gerade diesen Eindruck evozierend, verkörpern soll.
In dieser Widersprüchlichkeit als Motor der ästhetischen Setzung (und des
gesellschaftlichen Bedürfnisses, das sie ins Leben ruft) kommt bereits ihr phi¬
losophisch vielleicht wesentlichster Zug zum Vorschein: die simultane Stei¬
gerung sowohl von Subjektivität wie von Objektivität über das Niveau des
Alltags hinaus. Der Akzent liegt wieder auf der Simultaneität im einheit¬
lichen ästhetischen Akt und vor allem im abgeschlossenen ästhetischen Ge¬
bilde. Indem wir das Problem derMimesis in den Mittelpunkt dieser Betrach¬
tungen gerückt haben, haben wir bereits die Umrisse der Fragestellung und
Lösung skizziert. Daß die Mimesis eine Intention auf Objektivität beinhal¬
tet, versteht sich von selbst, ebenso daß der bereits wiederholte anthropo-
morphisierende Charakter der ästhetischen Setzung, ihr Gerichtetsein auf
Evokation eine Tendenz auf Subjektivität ausspricht.
Will man jedoch die Wesensart dieser Einheit richtig verstehen, so muß
nicht bloß diese selbst stets festgehalten werden, sondern auch die Eigenart
der hier zur Wirksamkeit gelangenden Subjektivität und Objektivität. Diese
hat in gewisser Hinsicht eine andere Beschaffenheit als die desanthropomor-
phisierende der Wissenschaft und die diese vorbereitenden Phänomene des
Alltagslebens (vor allem die Arbeit); jene bringt dem Alltagsleben gegenüber
eine bestimmte Verallgemeinerung, der Moralität gegenüber eine kontempla¬
tiv gerichtete Breite zum Ausdruck. Wir haben bereits darauf hingewiesen,
daß die ästhetische Objektivität keineswegs ein Kündigen der Wirklichkeit
bedeutet, einen notwendig abstrakt bleibenden Versuch, von irgendeiner sub¬
jektiven Forderung (Vollkommenheit, Entsprechen einem Ideal) diktiert,
über diese hinauszugehen. Es kommt vielmehr darauf an, in der Objektivität
selbst jene Momente zu entdecken, und aus ihr zu entwickeln, in welchen
ihre Angemessenheit an den Menschen sichtbar wird. Eine solche Angemessen¬
heit kann aber das einzelne partikuläre Subjekt unmöglich hervorbringen;
seine derartigen Forderungen, soweit sie nur solche bleiben, können nie über
ein ohnmächtiges Sehnen, über ein unfruchtbar-gegenstandloses Wünschen
und Meinen hinausgehen. Denn die Angemessenheit, von der hier die Rede
ist, ist nur das Sinnfälligwerden jener Arbeit, die die Menschheit in ihrer ge¬
samten Geschichte an der Natur, an den Wechselbeziehungen zwischen
Mensch und Natur, an den Menschen selbst geleistet hat, ist das, was wir
5j6 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

früher mit Worten von Marx als Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur
bezeichnet haben. Dieser ist selbstredend zuallererst ein materieller; eine den
Bedürfnissen der Menschen entsprechende Umwandlung der Erdoberfläche.
(Daß darin die Naturgesetze - bewußt oder unbewußt - nur benutzt, aber
ebensowenig wie in der Einzelarbeit aufgehoben werden können, versteht sich
von selbst.) Der Umkreis dieses Stoffwechsels ist jedoch viel weiter als das
materielle Durchdringen und Verwandeln der konkreten Natur durch Arbeit
und Kampf der Gesellschaft. Denn dieser Prozeß hat ja den Menschen nicht
nur geschaffen, sondern vielfach umgemodelt, bereichert, erhöht und vertieft.
Auch diese Wandlung ist ein Anderswerden der Wirklichkeit, äußerlich wie
innerlich. Und wenn hier von einer Angemessenheit an den Menschen die
Rede ist, so ist die extensive wie intensive Gesamtheit gemeint, von dem Ur¬
barmachen früherer Wüsten und von der Verkarstung einst waldbedeckter
Berge bis zum Landschaft-Werden bestimmter Naturmomente, die früher
gleichgültig oder gar gefahrdrohend erschienen sind. Von der Idylle bis zur
Tragödie umfaßt dieser Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur alle
Lebensphänomene der Welt der Menschen, ihre Umgebung, die Naturgrund¬
lage ihrer Existenz und deren gesellschaftliche Folgen. Diese Angemessen¬
heit hat mit ihren primitiv teleologischen Formulierungen in theologischen
oder weltlichen Theodiceen nichts gemein. Auch nichts mit der Fragestellung
Kants nach der Angemessenheit der Natur an »unseren« Verstand, um die
besonderen Naturgesetze zu erkennen. Ich habe an anderer Stelle ausgeführt,
daß diese falsche Fragestellung Kants einerseits von der erkenntnistheore¬
tischen Enge des subjektiven Idealismus, andererseits von seinem genialen
aber doch vergeblichen Versuch, zu einem dialektischen Denken zu gelangen,
bestimmt ist b
Die uns vorschwebende Angemessenheit ist diesseitig, immanent, und zwar in
doppelter Hinsicht: erstens kann die hier entstehende, radikale Änderungen
produzierende Bewegung sich nur im Erfüllungsrahmen der an sich seienden
Naturgesetze abspielen, zweitens sind sämtliche, mit richtigem oder falschem
Bewußtsein vollzogene Zwecksetzungen der Menschen ebenfalls von den
objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt. So kann
Lenin, als Ergänzung zu Hegels Ausführungen über die Arbeitsteleologie,

1 Vgl. meinen Aufsatz: Über die Besonderheit als ästhetische Kategorie, in: Deut¬
sche Zeitschrift für Philosophie, IV. Jahrgang, Heft 3/4 (15156), in Buchform:
Prolegomeni a un’estetica marxista, Roma 1957, S. 145 ff.
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 557

sagen: »In Wirklichkeit werden die menschlichen Zwecke durch die objektive
Welt erzeugt - und setzen sie voraus finden sie als das Gegebene, Vor¬
handene, vor. Aber dem Menschen scheint es, daß seine Zwecke von außer¬
halb der Welt stammen, von der Welt unabhängig sind h« Es handelt sich
also immer um ein ins Bewußtseinheben des An-sich-Seienden, nicht um ein
demiurgisch subjektives Schaffen aus dem Nichts.
Aus alledem wird ersichtlich, daß die Angemessenheit der ästhetischen Ge¬
bilde an die Bedürfnisse des Mensdiengesdiledits keinerlei Subjektivismus
beinhaltet, daß im Gegenteil gerade darin der spezifische Charakter der äs¬
thetischen Mimesis zum Ausdruck gelangt, daß also das ästhetische Setzen
einer solchen Angemessenheit nur ein besonderer Fall der Widerspiegelung
der vom Bewußtsein unabhängigen objektiven Wirklichkeit sein muß. Trotz¬
dem oder gerade darum bedarf der hier entstehende Begriff der Subjektivität
einer erkenntnistheoretischen Klärung. Denn in der Geschichte der Ästhetik
erwuchsen die verschiedenartigsten Mißdeutungen teils daraus, daß man sie
einfach nach dem Schema der Erkenntnistheorie betrachtete (Kunst als
»Lüge«, »Illusion« etc.), teils daraus, daß man ihre Eigenart der der Er¬
kenntnis mechanisch ausschließend entgegensetzte (irrationalistische Genie¬
lehre etc.). Die Erkenntnistheorie des Materialismus nimmt in der Frage des
Subjekts eine ganz klare Position ein: kein Subjekt ohne Objekt; es gehört
zum Wesen der objektiven Wirklichkeit, unabhängig vom Bewußtsein zu
existieren. Objekt ohne Subjekt ist also nicht nur möglich, sondern Axiom
des Wirklichseins. Allerdings beschränkt der dialektische Materialismus diese
scharfe Trennung auf die reine Erkenntnistheorie. Lenin sagt, an die Fest¬
stellung der Objektivität des Scheins (nicht nur des Wesens) anknüpfend:
»Ein Unterschied zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven ist vorhan¬
den, aber auch er hat seine Grenzen 1 2.« Und er zitiert zustimmend in einem
noch allgemeineren Zusammenhang Hegel: ». . . verkehrt ist es, Subjektivi¬
tät und Objektivität als einen festen und abstrakten Gegensatz zu betrachten.
Beide sind schlechthin dialektisch 3.« Hegel beendet nun den Gedankengang,
auf den hier angespielt wird, mit der Warnung: »Wer mit den Bestimmungen
der Subjektivität und Objektivität nicht vertraut ist und dieselben in ihrer
Abstraktion festhalten will, dem geschieht es, daß ihm diese abstrakten

1 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 108.


2 Ebd. S. 18.
3 Ebd. S. 103.
558 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Bestimmungen, ehe er sich dessen versieht, durch die Finger laufen, und er
grade das Gegenteil von dem sagt, was er hat sagen wollen 1.«
Es kann hier unmöglidi unsere Aufgabe sein, alle jene Fälle vor allem im
Alltagsleben aufzuzählen oder auch nur anzudeuten, in denen derartige dia¬
lektische Übergänge Vorkommen. Die Stellung der ästhetischen Gebilde ist
auch hier eine spezifische. Während die anderen Übergangsformen an der
Schärfe der erkenntnistheoretischen Scheidung von Subjektivität und Objek¬
tivität nichts ändern, nur deutlicher machen, daß diese nicht durch meta¬
physische, unzulässige Verallgemeinerung überstarr vollzogen werden darf,
tauchen hier neuartige Probleme auf. Um gleich den wesentlichsten Punkt
hervorzuheben: der Satz »kein Objekt ohne Subjekt«, der erkenntnistheore¬
tisch eine rein idealistische Bedeutung hat, ist fundamental für die Subjekt-
Objekt-Beziehung in der Ästhetik. Natürlich ist an sich auch jedes ästhetische
Objekt etwas unabhängig vom Subjekt Existierendes. So aufgefaßt ist es aber
nur etwas materiell Seiendes, kein Ästhetisches. Tritt seine ästhetische Ge¬
setztheit in Geltung, so ist damit simultan auch ein solches Subjekt gesetzt,
denn seine ästhetische Wesensart besteht ja, wie wir wiederholt dargelegt
haben, gerade darin, vermittels derMimesis, einer spezifischen Art der Wider¬
spiegelung der objektiven Wirklichkeit, im rezeptiven Subjekt gewisse Erleb¬
nisse zu evozieren. Davon abgesehen hört das ästhetische Gebilde als solches
zu existieren auf; es ist ein Steinblock, ein Stück Leinwand, ein Objekt wie
jedes andere, das selbstredend als derartiges Objekt unabhängig von jedem
Bewußtsein, von jeder Subjektivität existiert. Der Satz: kein Objekt ohne
Subjekt bezieht sich also ausschließlich auf die ästhetische Beschaffenheit
solcher Gebilde.
Es wäre naheliegend, dem entgegenzuhalten, daß diese Struktur auch die
eines jeden gesellschaftlich verfertigten und angewendeten Gegenstands ist,
daß dieser sich gerade dadurch von den Naturgegenständen unterscheidet.
Und in der Tat, ein Fluß bleibt ein Fluß, unabhängig davon, ob er Mühlen
treibt oder Schiffe trägt; ein Werkzeug oder eine Maschine aber, wenn sie
etwa durch einen Schiffbruch an eine unbewohnte Küste geworfen werden,
hören auf, Werkzeug oder Maschine zu sein. Ist hier also zu ihrem bestimm¬
ten Objektsein das Subjekt nicht ebenso unerläßlich wie in der Ästhetik?
Wir glauben: erkenntnistheoretisch - und das ist das Terrain unserer jetzi¬
gen Untersuchung - handelt es sich um etwas Verschiedenes. Durch den Schiff¬
bruch werden Werkzeug und Maschine faktisch aus jenem ökonomisch-

1 Hegel: Enzyclopädie, § 194. Zusatz 1.


Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 559

technisch-sozialen Kontext herausgerissen, in welchem sie allein als Werk¬


zeug oder Maschine funktionieren können; und da ihre Gegenständlichkeit
als Werkzeug oder Maschine an ein solches Funktionieren gebunden ist (we¬
nigstens an dessen Möglichkeit, denn z. B. das noch nicht verkaufte Werkzeug
ist ebenso ein Werkzeug, wie das bereits in den Gebrauch eingeführte), so
hört es mit dem Schiffbruch auf, Werkzeug oder Maschine zu sein, wenig¬
stens sobald die Möglichkeit aufhört, wieder in den »natürlichen« Wir¬
kungszusammenhang eingefügt zu werden. Diese Gebundenheit der spezi¬
fischen Gegenständlichkeit an die mögliche technisch-ökonomisch-soziale
Funktion ist jedoch gesellschaftlich gesehen ebenso etwas rein Objektives wie
der Umstand, daß jeder Naturgegenstand für seine besondere Existenz an
eine bestimmte Stelle im Naturprozeß gebunden ist und, daraus entfernt,
dieses Sein gleichfalls verlieren muß. (Daß die beiden Prozesse untereinander
qualitativ verschieden sind, ändert an der allgemeinen Gleichheit im Gebun¬
densein des konkreten Objektseins an sie nichts.) Der Arbeiter, der ein Werk¬
zeug anwendet oder eine Maschine bedient, ist eben nicht im erkenntnis¬
theoretischen Sinne das Subjekt dieses Objekts, und erst recht kann die bloße
Existenz eines solchen Objekts nicht von jenem »Subjekt« abhängen. Sie sind
beide zusammen Teile eines objektiven technisch-ökonomisch-sozialen Pro¬
zesses, und die Subjektivität des Arbeiters gegenüber dem Werkzeug-Objekt,
ist eine praktische, aber keine erkenntnistheoretische.
Natürlich ist gerade nach der hier wiederholt dargelegten Auffassung auch
das ästhetische Gebilde Moment eines gesellschaftlichen Prozesses. Der
große Unterschied besteht aber darin, daß seine gesellschaftliche Funktion
gerade die mimetische Evokation ist, also gerade das Schaffen eines eigen¬
artigen Subjekt-Objekt-Verhältnisses, in welchem es erst zu einem ästheti¬
schen Objekt werden kann. (Es versteht sich von selbst, daß auch hier wie im
früheren Fall die Kategorie der Möglichkeit eingeschaltet werden muß, daß
die bloße FFerstellbarkeit einer solchen Subjekt-Objekt-Beziehung zum Kon¬
stituieren eines ästhetischen Objekts ausreicht.) Schon dieses bloße Faktum
hat weitgehende philosophische Folgen. Uber die negativen, nämlich über
den Verlust des Spezifischen an der ästhetischen Gegenständlichkeit entweder
infolge einer überspannten Verallgemeinerung der wissenschaftlichen Kate¬
gorien oder infolge des Fferabgleitens in einen Irrationalismus, haben wir
bereits andeutend gesprochen. Aber auch umgekehrte Konsequenzen ge¬
hören zu den Tatsachen des menschlichen Denkens; es kann nämlich die
ästhetische Subjekt-Objekt-Beziehung ebenfalls unzulässig verallgemeinert und
zur Erklärung der Objektivität im Alltagsleben, in der Wissenschaft, in der
560 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Philosophie und speziell in der Erkenntnistheorie angewendet werden. In


diesem Fall werden aus Kategorien, die im Ästhetischen sinnvoll und unent¬
behrlich sind, Stützpunkte für eine idealistische Verzerrung der Wirklichkeit;
so hat der Satz »kein Objekt ohne Subjekt«, der z. B. im subjektiven Idealis¬
mus, sowohl im Kantschen, wie im Berkeley-Humeschen, stets eine große
Rolle gespielt. Damit soll keineswegs behauptet werden, daß in allen solchen
Fällen ästhetische Strukturen unkritisch auf den Erkenntnisprozeß angewen¬
det werden. In den soeben erwähnten Fällen ist das sogar mehr als unwahr¬
scheinlich; wohl aber, glauben wir, wäre unschwer nachzuweisen, daß die
besonderen Nuancen, in denen etwa Schopenhauer oder Nietzsche mit dem
Satz »kein Objekt ohne Subjekt« operieren, weitgehend von ästhetischen
Erlebnissen und ihrer unzulässigen Verallgemeinerung auf andere Gebiete
bestimmt sind.
Es wäre auch einer Untersuchung wert, zu sehen, wieweit die Annahme die¬
ses Satzes auch in der Sphäre der Religion eine Problematik herbeiführt.
Denn für die genuine Religiosität, für die Religionen in ihrer Blütezeit ist
die Existenz der höchsten religiösen Objekte, vor allem Gottes, ohne Frage
als unabhängig vom Subjekt gemeint. Wo eine Zusammenkoppelung beider
Kategorien, ihre Interdependenz, vollzogen wird, wie vor allem in ver¬
schiedenen Strömungen der Mystik, in denen die Existenz Gottes untrennbar
an das entrückende Erlebnis des sich über die kreatürliche Wirklichkeit er¬
hebenden Subjekts gebunden erscheint, wird die Objektivität der Existenz
Gottes - auch religiös gesehen - fraglich gemacht. Darin kommt - ihr
selbst natürlich zumeist völlig unbewußt - eine philosophische Selbstkritik
der ganzen religiösen Setzungsart zum Vorschein; mit umgekehrtem, das
Religiöse prinzipiell kritisierendem Vorzeichen tritt jene Tendenz auf, die
von Xenophanes bis Feuerbach in den Gegenständen der Religion vom Men¬
schen geschaffene Projektionen ihres eigenen Lebens erblickt hat. Es ist des¬
halb interessant und lehrreich, daß der Feuerbach-Schüler Gottfried Keller
sich über die mystischen Anschauungen des Angelus Silesius so äußert: »Glaubt
man nicht unseren Ludwig Feuerbach zu hören, wenn wir die Verse lesen:

Ich bin so groß als Gott, Er ist als ich so klein,


Er kann nicht über midi, ich unter Ihm nicht sein?«

Daß solche Tendenzen schon seit Schleiermacher und der Romantik un¬
gewollt zu einer Auflösung der Religion, in die Richtung eines religiösen
Atheismus drängen, ist bekannt.
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 561

Das Problem, das hier vor uns steht, hat jedoch eine viel größere philo¬
sophische Breite als die oben behandelte Anwendung eines freilich fundamen¬
talen Satzes auf für seine Geltung unzulässige Gebiete. Daß in der spekula¬
tiven Philosophie, insbesondere bei Plotin, ästhetische Kategorien die Funk¬
tion erhalten, eine religiös gefärbte, metaphysische Transzendenz deutlich
zu machen, haben wir bereits behandelt. Freilich wird diese Vermengung
der Sphären zumeist mehr oder weniger unbewußt vollzogen. Schelling ist
vielleicht der einzige bedeutende Philosoph, der, wenigstens in seiner
Jugend, bewußt das Ästhetische als »Organon« des echten philosophischen
Denkens statuiert. Im ersten ausgearbeiteten Systementwurf seiner Jugend
sagt er darüber: »Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste,
weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprüng¬
licher Vereinigung gleichsam in einer Flamme brennt, was in der Natur und
Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im
Denken, ewig sich fliehen muß. Die Ansicht, welche der Philosoph von der
Natur künstlich sich macht, ist für die Kunst die ursprüngliche und natür¬
liche. Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer
Schrift verschlossen liegt L« Hegel hat gegen diese Konzeption, gegen ihre
Grundlagen und Folgen (intellektuelle Anschauung etc.) immer wieder scharf
polemisiert.
Da er jedoch ebenfalls auf dem Boden eines objektiven Idealismus stand, da
auch für ihn das identische Subjekt-Objekt Grundlage und Abschluß der
Systematisierung bedeutete, war es unvermeidlich, daß bestimmte Schranken
des Schellingschen Denkens, darunter diese ästhetisierende Tendenz, auch für
seine Philosophie unüberschreitbar blieben 1 2. Es genügt hier auf das Zen¬
tralproblem der für uns jetzt so wichtigen Entäußerungslehre hinzuweisen.
Die Hegelsche Fassung des identischen Subjekts-Objekts ist am prägnante¬
sten in der »Phänomenologie des Geistes« zum Ausdruck gekommen, aber
dem Wesen der Sache nach bedeutet auch im späteren System die Verwand¬
lung der Substanz ins Subjekt seine Grundlage und seine Krönung. Das hat
zur Folge, daß jene Wissenschaft, in welcher die Bewegung der »Gestalten
des Bewußtseins« kulminiert, die »Phänomenologie«, nicht bloß die höchste,

1 Schelling: System des transzendentalen Idealismus, Wk. Stuttgart und Augsburg


1958, I. Abt. III. S. 628.
2 In meinem Buch über den jungen Hegel habe ich an verschiedenen Stellen, in ver¬
schiedenen Zusammenhängen auf diese Grenze Hegels hingewiesen. So a. a. O.
S. 418 f., 428, 448 ff. usw.
JÖ2 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

klarste Erkenntnis dessen ist, was die niedrigeren Stufen des Bewußtseins,
jede auf ihre Weise, als Wirklichkeitserfahrung gesammelt haben, sondern
zugleich eine Selbsterkenntnis der Welt, eine pseudo-objektivierte Form des
subjektiv idealistischen Ich-Ich. Es ist nicht ein ins Bewußtseinheben der
Substanz, die dadurch zum Besitz des Subjekts geworden wäre, sondern eben
ihre Verwandlung ins Subjekt: das Selbstbewußtsein als höchstes, als allein
angemessenes Niveau der Erkenntnis. »Diese Substanz aber«, sagt Hegel, »die
der Geist ist, ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist; und erst als dies
sich in sich reflektierende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist. Er ist
an sich Bewegung, die das Erkennen ist -, die Verwandlung jenes Ansichs
in das Fürsich, der Substanz in das Subjekt, des Gegenstandes des Bewußt¬
seins in Gegenstand des Selbstbewußtseins, d. h. in ebensosehr aufgehobenen
Gegenstand oder in den Begriff. Sie ist der in sich zurückgehende Kreis, der
seinen Anfang voraussetzt und ihn nur im Ende erreicht k«
Die erkenntnistheoretische Kritik dieser Position Hegels durch Marx ist uns
bereits bekannt. Wir zählen nur kurz die - natürlich unbewußt gebliebenen,
aber aus dem Wesen des Hegelschen objektiven Idealismus notwendig fol¬
genden - aus der Struktur der Ästhetik »geliehenen« Momente auf. Schon
der letzte Satz, das kreisartige dynamische Zusammengehören von Anfang
und Ende gibt dem hier angedeuteten System etwas vom Charakter eines
Kunstwerks, da die Geschlossenheit, selbst eines idealistischen, nicht offenen,
nicht als vorläufig, als ergänzungsbedürftig, als zur Weiterbildung bestimmt
gedachten Systems keineswegs denknotwendig eine Rückkehr zum Anfang
beinhaltet. Der im Gedanken der Rückkehr zum Anfang enthaltene echt wis¬
senschaftliche Gedanke, der methodologische Sinn der Negation der Negation
ist, wie Lenin es richtig ausdrückt, bloß »die scheinbare Rückkehr zum
Alten1 2«. Wenn Hegel hier daraus etwas Vollständiges macht, hebt er eine
der wichtigsten Errungenschaften seiner dialektischen Methode selbst auf.
Dagegen spielt dieser Gesichtspunkt in der Ästhetik, besonders in der für
Hegel stets sehr wichtigen Theorie des Dramas, eine entscheidende Rolle, ja
er ist die wesentliche formale Grundlage der dramatischen Charakteristik.
Diese Konstanz, diese Rückkehr zum Anfang in der Tragödie wie in der
Komödie ist derart ausgesprochen ästhetischen Charakters, daß sie von vielen
im Namen der Naturwahrheit angegriffen wurde (z. B. vom jungen Strind-

1 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Wk. a. a. O. Band II S. 605.


2 Lenin: Philosophischer Nachlaß, a. a. O. S. 145.
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 5^3

berg), jedoch ohne daß sie sich ästhetisch hätten durchsetzen können. Ebenso
ist es mit dem damit fast synonymen Werden zu dem, was etwas an sich
ist, bestellt, ja diese Rückkehr ist für das System das - pseudo-ästhe¬
tische - Zurücknehmen einer wesentlichen Errungenschaft der Hegelschen
dialektischen Methode, nämlich der philosophischen Klärung des Ent¬
stehens von etwas radikal Neuem; in der Darlegung der »Knotenlinie der
Maßverhältnisse« spottet Hegel selbst über jene, die den hier entstehen¬
den Sprung ins bisher nicht Vorhandene zur Kenntnis zu nehmen unfähig
sind 1.
Schließlich und hauptsächlich ist für Hegel in der von uns zitierten wichtigen
Stelle von entscheidender Bedeutung, daß der »Gegenstand des Bewußtseins
in einen Gegenstand des Selbstbewußtseins« verwandelt wird. Wir haben in
vergangenen Darlegungen von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu zeigen
versucht, daß das Selbstbewußtsein als Subjekt, im Gegensatz zum Bewußt¬
sein, die ästhetische Widerspiegelung in ihrem Unterschied von der wissen¬
schaftlichen charakterisiert, daß in dieser Gegenüberstellung die Differenz der
desanthropomorphisierenden und anthropomorphisierenden Methoden zur
Geltung gelangt. Nur das Bewußtsein kann den dialektischen Annäherungs¬
prozeß in der Verwandlung des Ansich zum Füruns adäquat vollziehen, denn
gerade seine Trennung vom Selbstbewußtsein kann den Ausgangspunkt zur
Desanthropomorphisierung bilden, während das Selbstbewußtsein - nicht
nur in seiner ästhetischen Erscheinungsweise, sondern auch im Alltagsleben,
in der Moralität etc. - eine entgegengesetzte Richtung einschlagen muß.
Diese äußert sich jedoch am reinlichsten und prägnantesten gerade in der
ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Das hier angeführte Ausspie¬
len des Selbstbewußtseins gegen das Bewußtsein ist natürlich unmittelbar von
der Lehre des identischen Subjekt-Objekts bestimmt, es trägt jedoch unver¬
meidlicherweise wichtige Setzungsmomente des Ästhetischen in das wissen¬
schaftliche (philosophische) Denken hinein.
Wenn wir nun nach diesem Exkurs, der für die Klärung des Unterschieds
zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Widerspiegelung auf diesem
Niveau unserer Einsicht in ihr Wesen unentbehrlich war, uns nochmals der
Verwertung von Kategorien wie der Entäußerung und ihrer Rücknahme für
die Ästhetik widmen, so deuten schon die für die Philosophie störenden und
verwirrenden ästhetischen Elemente darauf hin, daß hier ein für die Ästhetik

1 Hegel: Wissenschaft der Logik, Wk. a. a. O. III. S. 432.


4 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

wesentlicher Tatbestand vorliegt. Diese beiden Akte bilden freilich miteinan¬


der ununterbrochen und unaufhebbar verflochtene Momente eines dem Wesen
nach einheitlichen Aktes; sie sind nicht wie in der »Phänomenologie« selbst
zwei deutlich voneinander getrennte Akte, die gerade in ihrer Entgegen¬
gesetztheit zusammengehören. Allerdings muß in dieser Anwendung auf die
Ästhetik der Gegensatz der Richtung bestehen bleiben: Entäußerung bedeutet
den Weg vom Subjekt in die Objektwelt, unter Umständen ganz bis zu sei¬
nem Sichverlieren in ihr; die Rücknahme einer solchen Entäußerung stellt
dagegen das vollständige Durchdrungensein einer jeden so entstandenen
Gegenständlichkeit von der besonderen Qualität des Subjekts dar. Wer nur
die elementarsten Vorstellungen von Entstehung, Struktur und Wirkung der
Kunstwerke hat, muß klar sehen, daß dieser Akt, gerade in der Einheit
seiner widersprechenden Komponenten, sich mit den für die ästhetische
Gegenständlichkeit ausschlaggebenden Tendenzen wesentlich deckt. Das
Schelling-Hegelsche identische Subjekt-Objekt selbst ist viel stärker mystisch
als ästhetisch orientiert; es führt zu einer Auflösung ins Nichts sowohl des
Objekts wie des Subjekts, denn mit der - eingebildeten - Aufhebung
einer jeden Gegenständlichkeit überhaupt löst sich auch das Subjekt not¬
wendig auf.
Die Untrennbarkeit von Subjektivität und Objektivität in der Ästhetik geht
dagegen darauf aus, beide gerade durch ihre Verflechtung intensiver zu
machen, in jeder ihre spezifische Eigenart plastischer herauszuarbeiten. Die
Tendenz zum Verschwinden der Subjektivität in ihrer Entäußerung, in
ihrer Hingabe an die an sich seiende Objektivität der Gegenstände ist eben
dazu bestimmt, das für die Menschheit jeweils Wichtige in der Objektwelt
zu entdecken und sinnfällig zu machen. Da nun die Grundlage dazu das vom
Bewußtsein unabhängige Ansich der Objekte ist, ist für die ästhetische Rezep¬
tion der Außenwelt ihre möglichst genaue und erschöpfende Apperzeption
unerläßlich. Hier zeigt sich wieder, daß jede Widerspiegelung der Wirklich¬
keit - allgemein gesprochen - dasselbe Objekt hat, jedoch jede der Arbeit,
der Praxis, dienende Widerspiegelung muß sich, bei Strafe des Mißlingens,
auf das Ansich selbst in möglichst subjektbefreiter Reinheit konzentrieren;
daher die uns bereits hinlänglich bekannte Tendenz des Desanthropomor-
phisierens. Die fruchtbare Widersprüchlichkeit in der ästhetischen Wider¬
spiegelung besteht dagegen darin, daß sie einerseits jedes Objekt und vor
allem die Gesamtheit der Objekte stets in untrennbarem, wenn auch nicht di¬
rekt ausgesprochenem Zusammenhang mit der menschlichen Subjektivität zu
erfassen bestrebt ist — über den Charakter dieses Subjekts haben wir bereits
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 565

gesprochen und werden darüber später noch ausführlich sprechen daß


andererseits die Objektwelt nicht nur in ihrem Wesen, sondern auch in ihrer
unmittelbaren Erscheinungsform fixiert und sinnfällig gemacht wird, daß die
Dialektik von Ersdreinung und Wesen nicht nur in ihrer allgemeinen Gesetz¬
mäßigkeit zur Geltung gelangt, sondern gerade in ihrer Unmittelbarkeit, so
wie sie sich dem Menschen im Leben darbietet.
Daraus folgt in der ästhetischen Sphäre die enge Einheit von Entäußerung
und ihrer Rücknahme: in der Entäußerung wird die Subjektivität, in der
Rücknahme die Objektivität so aufgehoben, daß das Moment des Aufbewah-
rens und zugleich Auf-höhere-Stufe-Hebens eine Präponderanz im Akt der
Aufhebung erhält. Das Zusammenwirken der beiden Bewegungen ergibt also
etwas Einheitliches: eine gestaltete Objektwelt, als Widerspiegelung der
Wirklichkeit, die in ihrer Intention deren Objektivität noch energischer be¬
tont, als sie in den Eindrücken und Erlebnissen des Alltags wirksam ist, denn
es steht ja immer nur eine relativ kleine Gruppe von Gegenständen dem
Betrachter oder Leser gegenüber und dieser Aussdmitt soll doch die Wirk¬
lichkeit als eine objektive abgeschlossene »Welt« in ihm evozieren; und zwar
unter Umständen, die für die Wirkung der Objektivität im Vergleich zum
Alltag insofern ungünstiger zu sein scheinen, als ihnen die Überzeugungskraft
des bloß Tatsächlichen, des factum brutum fehlen muß, als sie unaufhebbar
nur als Widerspiegelungen, als mimetische Gebilde gesetzt sind, die aus¬
schließlich durch ihren Gehalt und ihre Form eine Objektivität erzwingen
können. Die Hingabe des Subjekts an die Wirklichkeit in der Entäußerung,
ein Aufgehen in ihr bringt auf diese Weise eine innerlich intensiv gesteigerte
Objektivität hervor. Diese ist aber - und das ist der Sinn der Rücknahme
ins Subjekt - in allen Poren ihrer Gegenständlichkeit von Subjektivität, und
zwar von einer bestimmten konkreten Subjektivität durchdrungen. Im echt¬
geborenen mimetischen Gebilde ist diese Subjektivität keine Zutat, kein Kom¬
mentar, nickt einmal eine die Gegenstände umgebende Stimmung, sondern
ein integrierendes Aufbaumoment ihrer Objektivität selbst, ein unlösbarer
Bestandteil, ja das Fundament ihres Geradesoseins.
Wird die bisher durchgeführte Bewegungs- und Strukturanalyse dieses
Aktes etwas weiter konkretisiert, so stößt man auf zwei Fundamentalsätze
der Ästhetik, die schon einige Male gestreift wurden, die aber in späteren Be¬
trachtungen eine noch genauere, durchgeführtere Behandlung erhalten müssen.
Der erste folgt aus dem mimetischen Charakter jeder weltschaffenden Kunst.
Er ist formal nur eine andere Fassung des Mimetischen selbst, jedoch diese
Neuformulierung bringt zugleich neue Inhalte zum Vorschein. Es handelt
j 66 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

sich um die realistische Wesensart einer jeden Kunst, um die oft dargelegte
Bestimmung, daß Realismus in der konkreten Kunstentwicklung nicht ein
Stil unter vielen anderen ist, sondern die grundlegende Charakteristik der
gestaltenden Kunst überhaupt; daß die verschiedenen Stile nur innerhalb sei¬
nes Bereichs zur Differenzierung gelangen können. Das inhaltlich Neue, das
dabei zum Ausdruck kommt, ist vor allem die Weite des Realismusbegriffs. Er
umspannt sowohl jene maximale Annäherung an die an sich seiende Gegen¬
ständlichkeit der Objektwelt, die wir hier als Gehalt des Entäußerungsaktes
feststellen konnten, wie das ebenfalls daraus folgende Festhalten der sinn¬
lichen Unmittelbarkeit der Erscheinungen. Damit sind natürlich nur zwei
Pole der Universalität des Realismus im Kosmos der Kunst fixiert: nämlich
einerseits die Treue zum Sein und Wesen des Objekts, seinem jeweiligen Zu¬
sammenhang, seiner jeweiligen Totalität, andererseits die Rückkehr zur Un¬
mittelbarkeit des Lebens, insofern als jeder Gegenstand untrennbar von seiner
unmittelbar-sinnlichen Erscheinungsweise zur Gestaltung gelangt. Soweit nur
von der Analyse dieses Akts ausgegangen wird, entstehen im positiven
Sinne noch weitgehend unbestimmte Determinanten, die über die konkreten
Intentionen der verschiedenen Stile sehr wenig aussagen können. Im negati¬
ven Sinne entstehen jedoch insofern klarere Bestimmungen, als damit bloß
die Gebundenheit des Mimetischen an eine Gegenständlichkeit in ihrer Exi¬
stenz, an eine sinnlich-sinnfällige Erscheinungsoberfläche ausgesprochen wird.
Also eine neuerliche Bestätigung dessen, daß die Mimesis an sich nur eine
konkret-sinnvolle Gegenständlichkeit und ihre sinnlich-sinnfällige Erschei¬
nungsweise erfordert, nicht aber an das jeweilige hic et nunc jener Gegen¬
ständlichkeit gebunden ist, die sie unmittelbar abbildet. Die abstrakt- ästheti¬
sche Analyse bestätigt also jene Feststellungen, die die Untersuchung des All¬
tags und der Genesis der Kunst über den nicht mechanisch-photographischen
Charakter der Widerspiegelung überhaupt und der ästhetischen im besonde¬
ren feststellen konnte. Auf die Richtungen der konkreten Inhaltserfüllung
dieser negativen Abgrenzung kommen wir später ausführlich zu sprechen;
wir haben ihre Probleme in anderen Zusammenhängen bereits wiederholt
gestreift.
Als zweiter Satz folgt aus der hier dargelegten Struktur, daß jede
ästhetische Gegenständlichkeit — schon als bloße ästhetische Gegenständlich¬
keit - eine Parteinahme pro oder contra mitenthält, daß also nicht wie im
Alltagsleben der Mensch einer Tatsache gegenübersteht, die er vom Stand¬
punkt seiner Interessen — dieses Wort jetzt im weitesten Sinne ge¬
nommen - bejaht oder verneint, begrüßt oder verwirft etc. Dabei ist es im
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 567

Alltagsleben klar, daß Faktum und Werturteil - relativ - voneinander


unabhängig sind; obwohl die Stellungnahme des Subjekts wesentlich von
der Beschaffenheit der sie auslösenden Tatsache bedingt ist, ist die Beschaffen¬
heit des Subjekts eine praktisch ebenso wichtige Komponente im Entstehen
der Bejahung oder der Verneinung wie das Objekt selbst. Darum ist auch das
Verhalten des Menschen in einer solchen Lage vorerst und unmittelbar sub¬
jektiven Charakters. Es erhält Objektivität, wenn Ablauf und Kontext der
Tatsachen die Richtigkeit des Reagierens bestätigen; aber auch in diesem Fall
bleibt die ursprüngliche Dualität: objektive Tatsache und subjektives Urteil
darüber bestehen. Ganz anders ist die Lage beim mimetischen Gebilde.
Als wir früher bei der Rücknahme der Entäußerung über die Subjektdurch¬
drungenheit der gestalteten Objekte sprachen, haben wir gerade die hier
analysierte Dualität des Alltagslebens für diese Gegenstände abgelehnt.
Selbstredend ist diese Struktur nicht allein dadurch bestimmt. Ja man
kann geradezu sagen: das von uns jetzt untersuchte Phänomen ist nur
die prägnanteste Aufgipfelung eines noch allgemeineren. Denn das Gerade¬
sosein aller mimetisch dargestellten Gegenstände, die Art ihrer Verbindung
miteinander, also das allgemeinste Prinzip der hier entstehenden Gegenständ¬
lichkeit überhaupt, basiert auf der vollendeten Subjektdurchdrungenheit
der Objekte als Folge der Rücknahme der Entäußerung ins Subjekt. Auch
hier besteht derselbe Gegensatz zum Alltagsleben, in dem der Mensch,
sobald er auf seine Eindrücke reflektiert, diese nicht einfach unmittelbar hin¬
nimmt, sondern mehr oder weniger genau zwischen dem Objekt und dessen
Reflex in seinem Bewußtsein unterscheidet (oder wenigstens zu unter¬
scheiden bestrebt ist). Dagegen gehört im mimetischen Gebilde der Ein¬
druck, den ein Gegenstand auslöst, zu seiner Gegenständlichkeit selbst,
seine spezifische Eigenart, sein Geradesosein ist eben durch diese Einheit
bestimmt.
Innerhalb dieses Gesamtphänomens, dessen konkrete Entfaltung uns noch
eingehend beschäftigen wird, nimmt die oben behandelte Einbezogenheit der
subjektiven Stellungnahme in die Objektivität der gegenständlichen Beschaf¬
fenheit aller Objekte doch eine bevorzugte Stellung ein. Denn einerseits ist im
Leben selbst die Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität hier am
stärksten, andererseits bestehen in bezug auf die Kunst hier tief eingewurzelte
Vorurteile. Jeder wird anerkennen, daß die Stimmung eines Kunstwerks zu
dessen gegenständlicher Gestaltung gehört. Daß jedoch darum ein jeder
Gegenstand - und selbstverständlich auch seine Zusammenhänge, ihre Totali¬
tät — von der schöpferischen Gesinnung eines Pro oder Contra bestimmt ist,
5 68 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

wird vielfach als Paradoxie empfunden: sowohl bei denen, für die jede
Kunst eine so »hohe Warte« einnimmt, daß sie niemals mit einer derartigen
eingeborenen Parteilichkeit vereint werden könnte, wie bei denen, die nur
in der minderwertigen, sogenannten Tendenzkunst, die die Dualität von
Tatsächlichkeit und Urteil darüber aus dem Alltagsleben mechanisch
kopiert, eine derartige Struktur zu erblicken gewohnt sind. Auch jene
Theoretiker des sozialistischen Realismus, die in der Parteilichkeit seine
spezifisch unterscheidende Eigentümlichkeit erblicken, im starren Gegen¬
satz zum »Objektivismus« aller anderen Arten, tragen zu dieser Ver¬
irrung bei.
Dabei ist die Sachlage bei einigermaßen unbefangener Beurteilung höchst ein¬
fach: die Auswahl einer zusammengehörigen Gruppe von Gegenständen, ihr
Zurweltmachen durch die mimetische Abbildung und Formung ist unmöglich
ohne Stellungnahme zu jenem Gehalt und zu seinen Zusammenhängen, die
das Geradesosein des ausgewählten Teiles der Welt und seine Erhebung zu
einer ästhetischen »Welt« ausmacht. Es ist nicht wahr, daß die Einsicht der
Wichtigkeit, der Bedeutsamkeit des Stückes Wirklichkeit dazu ausreicht. Oft
wird das behauptet, aber das Schicksal von Theorien wie der Flaubertschen
»Impassibilite«, um eine der bedeutendsten anzuführen, beweist leicht das
Gegenteil; nicht nur sind die Werke, die angeblich auf der Grundlage dieser
Auffassung entstanden sind, eine lebendige Widerlegung, sondern auch die
Theorie selbst, so wie sie in Flauberts Briefen erscheint, hebt sich selbst auf,
erweist sich überall als eine sehr entschiedene Stellungnahme zu jener Wirk¬
lichkeit, deren Beschaffenheit nämlich die Auswahl, Komposition, Gestal¬
tungsart, etc. Flauberts bestimmt hat. Oder: der bekannte Kunsthistoriker
Berenson 1 will den Typus einer unpersönlichen, einer gleichmütigen Kunst
in der Piero della Francescas aufzeigen; wenn er über Unpersönlichkeit als
Methode spricht, spricht er nur längst selbstverständlich Gewordenes aus,
ähnlich dem, das wir bei der Behandlung von Diderots »Paradoxe sur le
com^dien« gesehen haben. Aber der Gleichmut seines Künstlers gehe dar¬
über hinaus, erstrecke sich auf die Gestaltung selbst. So in den drei großen,
ganz unbeteiligten, das eigentliche Drama der Geißelung Christi verdecken¬
den Vordergrundgestalten des berühmten Bildes in Urbino. Jedoch gerade
diese Komposition ist eine deutliche Stellungnahme ebenso wie - von uns be¬
reits erwähnt - das Beinahe-Verschwinden des kreuz tragenden Christus in der

1 Berenson: Mittelitalienische Malerei, a. a. O. S. 113 ff.


Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt 569

Masse der zur Folterung und Hinrichtung Geführten bei Brueghel. Es ist
allerdings eine Stellungnahme mit entgegengesetztem Vorzeichen gegenüber
jenen Malern, bei denen in solchen Fällen der Akzent auf Qual oder Größe
liegt. Alle enthalten aber, ästhetisch betrachtet, übereinstimmend eine Stel¬
lungnahme zu dem dargestellten Gegenstandkomplex, und zwar eine, die
überall in gleicher Weise Komposition und Einzelgestaltung unmittelbar und
wesentlich bestimmt. Die Parteinahme der Künstler ist nicht selten sehr kom¬
pliziert, aber je mehr sie alle Momente der Gestaltung durchdringt, je mehr
sie einer jeden mimetischen Gegenständlichkeit immanent bleibt, desto stärker
ist die Stellungnahme und wirkt als solche.
Es ist ein modernes Vorurteil anzunehmen, daß diese Allgegenwart der
Stellungnahme, der Parteilidikeit die Kunstwerke subjektiviert. Der Weg,
über die Entäußerung zu ihrer Rücknahme ist das strikte Gegenteil eines Sub¬
jektivismus. Ein solcher entsteht nur dann, wenn das Subjekt unfähig oder
nicht gewillt ist, den Umweg zu sich selbst über die Entäußerung, über ein
Sichverlieren in der Objektwelt, über ein bedingungsloses Sichhingeben an
sie einzuschlagen. Eine derartige reine Äußerungsweise der Subjektivität löst
nicht nur das Ästhetische in ein Nichts auf. Wie überall, ist auch hier das
Ästhetische bloß eine gesteigerte - das Wesentliche steigernde und deutlicher
hervorhebende - Äußerungsweise des Lebens selbst. Hegel, der das Problem
der Entäußerung und ihrer Rücknahme, wie wir wissen, vor allem auf das
gesellschaftliche Leben und auf die im Laufe der Menschheitsentwicklung er¬
worbene und entfaltete Erkenntnis angewendet hat, analysiert wiederholt
jene Entstellungen, die eine Subjektivität, die sich rein auf sich selbst verlas¬
sen will, die auf die Notwendigkeit einer sich hingebenden Rezeption der
Außenwelt, der Objektwelt verzichten zu können meint, hervorruft. Am
deutlichsten zeigt er dies am Weltbild der sogenannten »schönen Seele«. Ihr
Verhalten ist nach der Hegelschen Beschreibung derart: »Die absolute Gewi߬
heit seiner selbst schlägt ihr also als Bewußtsein unmittelbar in ein Austönen,
in Gegenständlichkeit seines Fürsichseins um; aber diese erschaffene Welt ist
seine Rede, die es ebenso unmittelbar vernommen, und deren Echo nur zu ihm
zurückkommt.« Einer solchen Subjektivität entspricht genau jene Objekt¬
welt, die in einer derart verzerrten Widerspiegelung der objektiven Wirklich¬
keit zwangsläufig entsteht: »Der hohle Gegenstand, den es sich erzeugt, er¬
füllt es daher nun mit dem Bewußtsein der Leerheit; sein Tun ist das Sehnen,
das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstand sich nur verliert,
und über diesen Verlust hinaus und zurück zu sich fallend sich nur als Ver¬
lorenes findet; - in dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine
57° Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich, und schwindet als
ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst L«
In der »Phänomenologie« selbst wird, dem Plan des Werkes entsprechend,
das jeweilige Weltbild aus dem Wandel des Subjekts, der »Gestalt des Be¬
wußtseins« entwickelt; dort, wo Kunstwerke behandelt werden, wie der
»Neveu de Rameau«, wie die von Homer, Sophokles oder Aristophanes
sind nur solche als repräsentativ ausgewählt, in denen von einer Problematik
dieser Art von vorneherein keine Rede sein kann. Im früheren Essay »Glau¬
ben und Wissen« kommt aber Hegel auf die damals erschienenen »Reden
über die Religion« zu sprechen und in der Kritik von Schleiermachers auf
reine Innerlichkeit orientierten Schrift streift er auch das Problem der Kunst.
Er sieht die ästhetenhaften Züge in dieser objektlosen Religiosität und ver¬
spottet Schleiermachers Tendenz »die Kunst ohne Kunstwerke perennieren« 1 2
lassen zu wollen. Wir haben gesehen, daß das Problem, das bei der Anwen¬
dung dieser Hegelschen Kategorie auf die Ästhetik sichtbar wird, subtiler ist,
als die einer ästhetisierenden Subjektivität ohne Objektivierung in Kunstwer¬
ken; es handelt sich eben um die Selbstauflösung der mit solcher Gesinnung
geschaffenen, als Kunstwerke intentionierten Gebilde. (Die zuletzt angeführte
Hegelsche Kritik ist unmittelbar gegen eine andere subjektivistische Verzer¬
rung gerichtet, nämlich gegen die sogenannte »Lebenskunst«. Mit dieser
Frage werden wir uns erst im Kapitel über Naturschönheit beschäftigen
können.) Wir haben gesehen, daß Hegel das Problem der wirklich schöpfe¬
rischen Subjektivität, ihren Weg zu sich selbst über das richtige und ver¬
tiefte Erfassen der Objektwelt ganz allgemein faßt; das Ästhetische fungiert
dabei nur als ein selten erwähnter Anwendungsfall. Gerade darum ist es eine
interessante Bestätigung unserer Auslegung seiner Theorie von der Entäuße¬
rung und ihrer Rücknahme ins Subjekt, daß er in der Behandlung der
»Kunstreligion« - im ästhetischen Teil der »Phänomenologie« - über die
»sittliche Substanz« des Menschen sagen kann: »Sie ist reine Form, weil der
Einzelne im sittlichen Gehorsam und Dienste sich alles bewußtlose Dasein
und feste Bestimmung so abgearbeitet hat, wie die Substanz selbst dies flüssige

1 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Wk. a. a. O. II. S. 496. Ganz ähnlich wird das
»unglückliche Bewußtsein«, das in diesem Werk bei der Entstehung des Christen¬
tums eine große Rolle spielt, behandelt, ebd. 165 ff. Hegel gibt an beiden Stellen
— mehr als ein Jahrhundert vor ihrer Entdeckung — eine vernichtende Kritik der
modernen Introvertiertheit.
2 Hegel: Erste Druckschriften, Leipzig 1928 S. 331.
Die Entäußerung und ihre Rücknahme ins Subjekt S71

Wesen geworden ist. Diese Form ist die Nacht, worin die Substanz verraten
ward, und sich zum Subjekte machte; aus dieser Nacht der reinen Gewißheit
seiner selbst ist es, daß der sittliche Geist als die von der Natur und seinem
unmittelbaren Dasein befreite Gestalt aufersteht1.« Darin ist ein klares posi¬
tives Gegenbild zur privativen Beschreibung der »schönen Seele« gegeben.
Man sieht: die Analyse der ästhetischen Objektbeziehungen führt von selbst
dazu, die Beschaffenheit des Subjekts in dieser Sphäre genauer zu unter¬
suchen. Wenn sich nun unser Interesse auf dieses Subjekt konzentriert, sto¬
ßen wir wieder auf eine der vielen fruchtbaren und bewegenden Wider¬
sprüchlichkeiten, die den Bereich der Kunst konkret bestimmen. Dieser Wider¬
spruch läßt sich vorläufig und kurz gefaßt so aussprechen: unmittelbar an¬
gesehen sieht es aus, als ob sich die ästhetische Subjektivität der des Alltags¬
lebens sehr nähern würde. Ja, soweit sie, wie wir schon wiederholt hervor¬
gehoben haben, sich von dieser unterscheidet, scheint diese Differenz wesent¬
lich in einer bloßen Steigerung ihrer Unmittelbarkeit zu bestehen. Wie wir
bereits sehen konnten, trügt dieser Schein, und wenn unsere bisherigen Be¬
trachtungen die wirkliche Eigenart, die spezifische Beschaffenheit dieser Sub¬
jektivität auch noch nicht hinreichend aufhellen konnten, so viel ist bereits
sichtbar: der Unterschied zur Unmittelbarkeit der Subjektivität im Alltags¬
leben erwächst im Ästhetischen zu einer qualitativen Differenz, ohne freilich
das Gebundensein an die Persönlichkeit, den subjektiven Charakter der Sub¬
jektivität aufzuheben; ja die Richtung der differenzierenden Bewegung ist
eine entgegengesetzte, nämlich ein Verstärken, ein Intensivieren der ursprüng¬
lich gegebenen Subjektivität. Diese Bewegung, wie wir ebenfalls gesehen ha¬
ben, geht einen, der wissenschaftlichen Erkenntnis diametral entgegengesetz¬
ten Weg. Naturgemäß muß auch hier die Persönlichkeit des Wissen¬
schaftlers, seine subjektive Beschaffenheit und Eigenart, der direkte Träger
des bewußtseinsmäßigen Prozesses der Verwandlung des Ansich in ein Für-
uns sein. Naturgemäß kann diese Verwandlung nur stattfinden, wenn der
ganze Mensch, mit allen seinen Fähigkeiten, nicht nur mit den rein intellek¬
tuellen, sondern auch mit Willenskraft, Moralität, Phantasie etc. sich für ihre
Verwirklichung einsetzt. Jedoch - und dies ist der fruchtbare, der bewegende
Widerspruch der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit -
setzt der Prozeß der Objektivation schon im Subjekt der Erkenntnis selbst
ein: es handelt sich um das uns bereits bekannte, desanthropomorphisierende

1 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Wk. a. a. O. II. S. 529 f.


J72 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Prinzip dieser Widerspiegelungsart. Denn daß das Desanthropomorphisieren


ein gewisses Entsubjektivisieren mitenthält, versteht sich von selbst. Die
ästhetische Sphäre ist aber, auch in ihren objektivierenden Gebilden, anthro-
pomorphisierend. Kann es also hier ein Prinzip geben, das das Subjekt über
die bloße Subjektivität des Alltags, über die Partikularität ihrer Einzelheit
(jedes Subjekt ist in seinem ursprünglich gegebenen Geradesosein etwas un¬
vergleichlich Einzelnes) hinaustreibt, ohne dadurch ihre Subjektivität als
solche aufzuheben? Und wenn ja: worin besteht dieses Prinzip?

III Vom partikularen Individuum zum Selbstbewußtsein


der Menschengattung

Unsere Untersuchungen über die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ent¬


äußerung und ihrer Rücknahme bezeichnen die Richtung, in welcher die rich¬
tige Fragestellung und ihre Beantwortung gesucht werden müssen. Diese
Richtung scheint uns dadurch bestimmt, daß sowohl im Produkt wie im Pro¬
zeß der Arbeit (Beziehung des arbeitenden Subjekts zu ihr und zu ihren Er¬
gebnissen) erkannt werden muß, welche Rolle das Verhältnis des Individu¬
ums zur Gattung, und zwar in subjektiver und objektiver Hinsicht, in ihnen
spielt. Wir haben bereits am Anfang unserer Betrachtungen über das jetzt zu
behandelnde Thema wichtige Äußerungen des jungen Marx angeführt. Diese
Stellen in bezug auf das Subjektproblem rücken - mit Recht - die Beziehung
des individuellen Subjekts zur Menschengattung in den Mittelpunkt. Es macht
große gedankliche Schwierigkeiten, dieses Verhältnis, dessen kursorische
Analyse wir gleich beginnen werden, dialektisch richtig zu erfassen, doch da¬
von abgesehen muß auch hier vor allem das objektive Moment daran in
den Vordergrund des Interesses gerückt werden. Marx protestiert gegen die
vor ihm herrschende Art, die »nur das allgemeine Dasein des Menschen, die
Religion, oder die Geschichte in ihrem abstrakt-allgemeinen Wesen, als Poli¬
tik, Kunst, Literatur etc. als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte und
als menschliche Gattungsakte zu fassen wußte«. Er gibt zugleich ein Gegen¬
bild: »die Geschichte der Industrie und das gewordene gegenständliche Dasein
der Industrie, ist das auf geschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die
sinnlich vorliegende menschliche Psychologie b« Er verlangt also, daß wenn

1 Marx: ökonomisch-philosophische Manuskripte, Wk. a. a. O. Band III. S. 11.


Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 573

von der menschlichen Gattung in ihrem Werden und Sein die Rede ist, auf
dieses ihr Urphänomen, als konkrete Grundlage für das Verstehen der ab¬
strakteren Phänomene, zurückzugreifen ist, und diese aus jenem (und nicht
umgekehrt) erklärt werde.
Die tiefe Wahrheit, die in dieser Feststellung des jungen Marx steckt, hat die
spätere Entwicklung der Wissenschaften vollauf erwiesen. Ohne Marxisten
zu sein, ja, zumeist ohne Marx auch nur dem Namen nach zu kennen, haben
die Archäologen aus den Werkzeugen und Arbeitsprodukten der prähistori¬
schen Zeit viel und Gewichtiges über die reale Entwicklung des Menschen¬
geschlechts, der menschlichen Gattung aufgedeckt (und - meines Erachtens -
wäre das vorhandene Material noch viel mehr und viel tiefer erhellt worden,
wenn die archäologischen Untersuchungen die Marxsche Methode als Grund¬
lage genommen hätten). Die allgemein anerkannte Lage, daß aus den
Werkzeugen und Arbeitsprodukten Zustand und Entwicklungsrichtung einer
Gesellschaft, über die wir sonst nichts oder kaum etwas wissen, sowie die
Lebensbedingungen und Wechselbeziehungen der in ihr lebenden Menschen
abgelesen werden können, daß solche Tatbestände auch in höheren Formatio¬
nen des menschlichen Zusammenlebens als Schlüssel dazu dienen können, um
Grundlagen und Wesen von Komplexen, die in ihren unmittelbar-ideologi¬
schen Erscheinungsweisen rätselhaft blieben, eindeutig zu erklären, hat allge¬
mein philosophisch und für unser gegenwärtiges Problem im besonderen
wichtige Konsequenzen. Hier ist vor allem hervorzuheben, daß dadurch nicht
nur die Realität der Gattung klar vor uns steht, sondern auch die Art ihres
Existierens, ihr wesentlich historischer Charakter. Diese Feststellung ist einer¬
seits dem mechanischen Materialismus gegenüber wichtig, der aus der Gat¬
tung eine tote, unbewegliche Allgemeinheit macht; so kritisiert Marx Feuer¬
bachs folgende These: »das Wesen kann daher nur als >Gattung<, als innere,
stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt
werden L« Darin ist zugleich eine Kritik jener Auffassungen enthalten, die
den Gattungsbegriff des Menschen allzusehr nach dem Modell der Tierwelt
fassen. In ihr kann diese Feuerbachsche stumme Allgemeinheit als eine An¬
näherung zur Wirklichkeit gelten. Marx sagt über diesen Unterschied: »Die
besonderen Eigenschaften der verschiedenen Rassen einer Tierart sind von
Natur schärfer, als die Verschiedenheit menschlicher Anlage und Tätigkeit.
Weil die Tiere aber nicht auszutauschen vermögen, nützt keinem Tierindivi-

1 Marx: Thesen über Feuerbach, Wk. a. a. O. Band V. S. 535.


574 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

duum die unterschiedene Eigenschaft eines Tiers von derselben Art, aber von
verschiedener Rasse. Die Tiere vermögen nicht die unterschiedenen Eigen¬
schaften ihrer Species zusammenzulegen; sie vermögen nichts zum gemein¬
schaftlichen Vorteil und Bequemlichkeit ihrer Species beizutragen 1.« Es ist
interessant, daß ungefähr um dieselbe Zeit Balzac aus derselben Lage ähn¬
liche Konsequenzen gezogen hat: »Wenn Buffon den Löwen geschildert
hatte, so war er mit der Löwin nach ein paar Sätzen fertig; in der Gesell¬
schaft dagegen zeigt sich die Frau nicht immer als das Weibchen des Männ¬
chens.« Und von dieser elementaren Tatsache ausgehend zeigt er die Unter¬
schiede in den differenzierteren Beziehungen. »Die soziale Stellung ist Zufäl¬
len unterworfen, wie die Natur sie sich nicht erlaubt, denn sie ergibt sich aus
der Natur plus der Gesellschaft. Die Schilderung der sozialen Art umfaßt also
zumindest das Doppelte der tierischen Arten, wenn man nämlich auch nur
auf die beiden Geschlechter Rücksicht nahm. Schließlich spielen sich zwi¬
schen den Tieren wenig Dramen ab; nie gerät Verwirrung unter sie; sie stel¬
len sich gegenseitig nach, das ist alles. Auch die Menschen stellen sich freilich
gegenseitig nach, aber ihre mehr oder minder große Intelligenz macht den
Kampf ganz bedeutend komplizierter ... So steht es fest, daß der Krämer
manchmal Pair von Frankreich wird, während der Adelige zuweilen in die
letzte soziale Reihe zurücksinkt2.« Die Anerkennung der biologisch-anthro¬
pologischen Grundlagen der Gattung, auch beim Menschen darf also nie die
gesellschaftlich-geschichtliche Fundiertheit ihrer spezifischen Kategorien ver¬
dunkeln.
Andererseits fixiert der philosophische Idealismus den Begriff des »allgemein
Menschlichen« ebenfalls in einer unzulässig-überhistorischen Weise, indem be¬
stimmte (jeweils aus den ideologischen Bedürfnissen einer gegebenen ge¬
schichtlichen Lage entsprungene und so verallgemeinerte) Züge der Menschen
diese begriffliche Weihe erhalten und den besonderen oder partikularen
Eigenschaften, Beschaffenheiten etc. der Menschen mechanistisch-starr gegen¬
übergestellt werden. Das bezieht sich in der Kunst gleicherweise auf Akade¬
mismus wie auf Avantgardismus. Ob eine verabsolutiert-vulgarisierte Fas¬
sung der »edlen Einfalt und stillen Größe« oder eine existenzialistisch-nihi-
hstische »condition humaine« diese metaphysisch verzerrte Kriterienrolle er¬
hält, läuft aufs gleiche hinaus und zeigt, philosophisch angesehen, dieselbe

1 Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Wk. a. a. O. Band III. S. 142.


2 Balzac: CEuvres Completes, Paris 1869, I. S. 3.
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 5 75

Methodologie. Was dagegen Marx als Gattung bezeichnet, ist vor allem
etwas sich gesellschaftlich-geschichtlich ununterbrochen Wandelndes, ist weder
in ertötender Allgemeinheit aus dem Entwicklungsprozeß herausgehoben,
noch eine Abstraktion, die der Einzelheit und der Besonderheit ausschließend
gegenübersteht; die Gattung befindet sich also subjektiv wie objektiv un¬
unterbrochen inmitten eines Prozesses, sie ist ein niemals gleichbleibendes
Ergebnis der Wechselbeziehungen zwischen größeren und kleineren, mehr
oder weniger naturhaften oder höher organisierten menschlichen Gemein¬
schaften bis hinunter zu den Taten, Gedanken und Gefühlen eines jeden
Einzelnen, die alle - das Endergebnis modifizierend, daran bildend - in
dieses einmünden. Marx hebt diese Einheit von Individuum und Gattungs¬
wesen energisch hervor. In den diesbezüglichen Betrachtungen, die wir bereits
in anderen Zusammenhängen zitiert haben, sagt er: »Das individuelle
und das Gattungsleben des Mensdien sind nicht verschieden, so sehr auch -
und dies notwendig - die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr
besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je
mehr das Gattungsleben ein mehr besonderes oder allgemeines individuelles
Leben ist. Als Gattungsbewußtsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesell¬
schaftsleben und wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Denken, wie um¬
gekehrt das Gattungssein sich im Gattungsbewußtsein bestätigt und in seiner
Allgemeinheit als denkendes Wesen, für sich ist1.«
Es handelt sich in diesem Prozeß um eine Dialektik der Einzelheit
und ihrer Verallgemeinerung in den Objektivationen der Tätigkeit der Ein¬
zelnen; vor allem also in der Arbeit. Ein jedes Arbeitsprodukt entsteht aus
Leistungen von Einzelnen, sein Wesen ist jedoch auf objektive Notwendig¬
keiten materieller und gesellschaftlicher Natur begründet. Ist es nicht diesen
gemäß hervorgebracht, so ist der ganze Arbeitsprozeß vertan, man kann es
im genauen Sinn gar nicht mehr als Arbeitsprodukt betrachten, obwohl es in
subjektiver Hinsicht ein solches ist. Darum kann, wie früher angedeutet,
die Archäologie aus Arbeitsprodukten verschollener Kulturen deren Inhalte,
Formen, Wesen, Struktur etc. entziffern. Denn sie zeigen in objektivierter
Gestalt das Entscheidende an den objektiv vorhandenen gesellschaftlichen
Bedürfnissen und an der Weise ihrer jeweils möglichen optimalen Befriedi¬
gung. Ihr Wandel ist der beste Kompaß, um die aufwärts oder abwärts füh¬
renden Wege, die Epochen der Stagnation etc. in diesen Kulturen zu entdecken.

1 Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Wk. a. a. O. Band III. S. 117.


J76 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Bis zu leisen Nuancen lassen sich aus ihnen deren Verwandtschaften und Ab¬
weichungen ablesen. All dies zeigt uns von einer neuen Seite die uns bereits
bekannte Rolle des Subjekts in solchen Arbeitsprozessen; sie ist eine objek¬
tivierende, eine von der Partikularität des Subjekts wegführende: die beson¬
deren Fähigkeiten, Eigenschaften, etc. des Subjekts sind für diesen Prozeß
immer unentbehrlich, zuweilen von höchster Wichtigkeit, sie können sogar
unter bestimmten Umständen die unmittelbaren Vehikel des Fortschritts, der
Weiterbildung der Gattung sein, jedoch stets nur insofern, als sie sich restlos
in die gerade damals ausschlaggebende Objektivität umzusetzen imstande
sind, als sie in der Objektivation die Spuren ihrer Partikularität ablegen.
Und es ist klar, daß die aus der Arbeit sich entwickelnde Wissenschaft diesen
Charakter noch ausgeprägter aufweist. Die stimulierende, Leistungen aus¬
lösende Funktion der gesellschaftlichen Bedürfnisse und der Zwang, das An¬
sich des Seins, seine vom Bewußtsein unabhängige Beschaffenheit in getreuer
Annäherung zu erfassen und darzustellen, äußert sich noch prägnanter. So
viel Genialität auch zur Entdeckung gewisser Wahrheiten nötig ist, diese
selbst tragen keine Spuren mehr davon an sich; sie sind wahr gerade in ihrer
von jeder Subjektivität gereinigten Objektiviertheit, sie können erst gerade
dadurch zu einem Fortschritt der menschlichen Gattung führen.
Von diesen Kontrastbildern aus gesehen erscheint das Wesen der ästhetischen
Subjektivität in einer klareren Beleuchtung als bisher: wie in anderen
Wesenskomplexen so spitzt sich auch in der Existenz als Gattungswesen der
Unterschied zwischen Tier und Mensch in dem Gegensatz zu, daß bei jenem
die Gattung nur ein objektives Sein hat, während sie bei diesem nicht nur
mehr oder weniger deutlich ins Bewußtsein treten kann, sondern auch dieses
Bewußtsein zu einem immer wesentlicheren Moment des objektiven Seins der
Gattung wird. Natürlich ist die Bewußtheit in allen bisher erwähnten Gat¬
tungstätigkeiten der Menschen als unerläßlicher Bestandteil mitenthalten, da
jedoch überall, wie gezeigt wurde, die Objektivität übergreifend wirken muß,
kann der subjektiven Bewußtheit im Endergebnis keine entscheidende Be¬
deutung zufallen; sie ist unentbehrlich für die Genesis der menschlich¬
gattungsmäßigen Gebilde, hat aber damit ihre Rolle ausgespielt; diese sind
gerade in ihrer Objektivität Träger und Weiterführer dessen, was wir
menschliche Gattung nennen. Eine qualitativ andere Rolle spielt die Subjek¬
tivität in Ethik und Ästhetik. Jene - um für unsere jetzigen Betrachtungen
Ethik und Moralität einheitlich zusammenzufassen - regelt ja gerade die sub¬
jektive Seite der menschlichen Praxis. Es versteht sich von selbst, daß jede Tat
ethischen Charakters eine Intention auf Bewahrung und Weiterbildung des
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 577

Menschengeschlechts hat; einerlei, wieweit diese Bezogenheit im jeweiligen


Handelnden bewußt wird. Denn Pflichtgefühl oder Pflichtverletzung,
Tugend oder Laster etc. gehören durch die von ihnen ausgelösten Folgen zu
den Aufbausteinen jenes Gebäudes, das die Gattung für die Menschen vor¬
stellt. Indem sie nun auf diese Weise positive oder negative, weitertreibende
oder retardierende Spuren hinterlassen, kommen sie in eine unmittelbare
Nähe solcher Gebilde wie Recht, Staat etc., in denen die inneren Kämpfe der
Menschheit jeweils eine bestimmte Entwicklungsetappe fixieren, die, wenn
auch in einem abgezogeneren, vermittelten Sinn, ebenfalls zu jenen Objekti-
vationen gehören, die uns ein Ablesen und Deuten dessen ermöglichen, was
die menschliche Gattung war und ist. Ein Unterschied ist freilich da, wenn
auch die Grenzen oft verschwimmen, die nähere Erforschung ist aber hier
nicht unsere Aufgabe.
Vielleicht noch klarer ist die Beziehung der Gesinnungsseite der Moral zur
Gattung als Subjekt. In der moralischen Gesinnung als solcher ist einerseits
eine Intention auf Verallgemeinerung enthalten - theoretisch wurde diese
ihre Wesensart am prägnantesten von Kant ausgearbeitet -, und da die
Richtung des Hinausgehens über die unmittelbare Partikularität des Subjekts
doch im Bereich der Gesinnung, der Subjektivität bleiben muß, ist es klar,
daß die Intention, mit größerer oder geringerer Deutlichkeit, auf das Ge¬
meinsame in den menschlichen Gesinnungen, auf das Gattungsmäßige in
ihnen zielen muß. Andererseits ist das wesentliche Moment, der Knotenpunkt
dieser Sphäre, die moralische Entscheidung, doch unlösbar in der Persönlich¬
keit des Einzelmenschen verankert. Diese nirgends völlig aufhebbare Polari¬
tät des partikular Individuellen und des gattungsmäßig Allgemeinen im
moralisch handelnden Subjekt ergibt eines der fundamentalen Probleme der
Ethik. Wir können uns hier nicht auf die äußerst verschiedenen Lösungen, die
die gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung produziert hat, auch nur an¬
deutend einlassen. Um so weniger, als die Feststellung der Tatsache, daß eine
derartige Polarität und Spannung die Eigenart eines so wichtigen Lebens¬
gebiets, wie das des moralischen Handelns, weitgehend beherrscht, für unsere
gegenwärtigen Erkenntnisziele vollständig genügt.
Es handelt sich also schon hier nicht darum, daß die Subjektivität in die Ob¬
jektivität aufgehoben werden würde, wie in Arbeit oder Wissenschaft, son¬
dern darum, daß die partikulare Individualität, sich dem Gattungsmäßigen
nähernd, eine Verallgemeinerung an sich selbst vollzieht und erfährt, jedoch
eine solche, die zwar teilweise ihre bloß partikularen Züge abstreift oder
wenigstens neutralisiert, ohne jedoch damit die wirkliche Eigenart der Indivi-
578 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

dualität zu vernichten, ja im Gegenteil dieser - ihrem Wesen - eine Ver¬


stärkung, eine Intensivierung gibt. Diese entscheidende strukturelle Eigenart
erscheint oft in einer verzerrten Form. Bei Kant darum, weil er aus der hier
vorhandenen dialektischen Spannung und Widersprüchlichkeit einen meta¬
physisch starren Gegensatz zwischen empirischem und intelligiblem Ich macht;
bei romantischen Ethikern, wie beim jungen Schleiermacher, oder bei den
Existenzialisten, weil sie vor einer dialektischen Aufhebung des bloß Partiku¬
laren zurückschrecken.
Die hier gemeinte spezifische Art der Verallgemeinerung, diese besondere
Art der Aufhebung der Subjektivität, in welcher sie - gerade als Subjektivi¬
tät - auf eine höhere Stufe gehoben wird, muß ins Auge gefaßt werden,
wenn wir die subjektive Seite der Beziehung von Individuum und Gattung im
Ästhetischen begreifen wollen. Wir haben bereits gesehen, daß die Lage im
Ästhetischen paradoxer ist, als im Gebiet der ethischen Praxis: diese bleibt
ihrer Struktur nach auf die Subjektivität zentriert, denn selbst, wenn das
Subjekt für die Folgen seiner Tat sich als verantwortlich weiß, ist in diesem
Akt ganz deutlich eine Rücknahme des objektiven Tatbestandes (freilich mit
seiner gesamten objektiven Dialektik) in das ethische Subjekt enthalten. Diese
Rücknahme läßt jedoch die objektive Welt völlig unberührt. Ja gerade die
moralische Verantwortung involviert das Postulat für das Subjekt: diese, so
wie sie an sich ist, zu erkennen. Der Vorwurf, der im Akt der Verantwort¬
lichkeit oft und notwendig auftaucht: »das oder das hätte ich wissen müssen«,
zeigt, daß selbst die extremste Gesinnungsethik nicht von der Pflicht, die ob¬
jektive Wirklichkeit, so wie sie ist, zu erkennen, dispensiert werden kann.
Daß sie dann die der Tendenz nach, den moralischen Verpflichtungen ent¬
sprechend, möglichst richtig erkannte gesellschaftliche Wirklichkeit bejahen
oder verneinen kann, ändert nichts an dieser Beschaffenheit des ethischen
Verhaltens.
Das ästhetische Subjekt als solches kann aber ohne entsprechende Objekt¬
beziehung gar nicht zustande kommen. Eine solche temporäre Umwandlung
des ganzen Menschen, die dieses Subjekt in ihm aktuell macht, aus dem
Schlummer der Potentialität erweckt, kann sich nur in der lebendigen Bezie¬
hung zum Kunstwerk realisieren, sei es im Gerichtetsein auf ein Werdendes,
wie im schöpferischen Verhalten, sei es als Rezeption des bereits ästhetisch
Geformten. Jedoch als Verwirklichungen der ästhetischen Subjektivität er¬
scheinen beide subjektiven Akte doch als bloß abgeleitete: erst das Kunst¬
werk selbst ist ihre adäquate, echtgeborene Verwirklichung. Damit zeigt sich
wiederum die Mimesis als das Urphänomen auch der ästhetischen Subjektiv!-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 579

tat. Dieser mimetische Grundcharakter scheidet Gebilde und Akte in Ästhe¬


tischen vom moralischen Subjektverhalten; in diesem ist die richtige Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit nur Mittel zu einer ethisdien Praxis, in jenem
wird die ganze menschlidie Praxis, die moralische natürlich mitinbegriffen,
zum bloßen Stoff, höchstens zu einem der Formelemente der ästhetischen
Mimesis.
Von diesem Gesichtspunkt muß die Beziehung der ästhetischen Subjektivität
zum Gattungsbewußtsein betrachtet werden. Sie unterscheidet sich von jeder
bisher behandelten dadurch, daß sie nidit unmittelbar, auch nicht objektiv an
der Ausbildung und Weiterbildung der Gattung selbst mitwirkt, sondern
ausschließlich an der des Gattungsbewußtseins. Was auf anderen Gebieten nur
episodisch ins Bewußtsein tritt, daß nämlich alles, was die Menschheit voll¬
bracht, die Erkenntnis, die Nutzbarmachung, die Unterwerfung der Natur,
der Ausbau der Beziehungen der Menschen zueinander, die Höherentwick¬
lung und das Humanisieren des Menschen, daß all dies das Produkt der Men¬
schen selbst ist, wird hier mit unmittelbarer Evidenz in den Mittelpunkt ge¬
hoben. Wie in allen unseren bisherigen Untersuchungen kommt es auch hier
mehr auf die Sache selbst an, als auf ihre unmittelbaren, bewußtseinsmäßigen
Reflexe, die, wie wir sehen konnten, auch falsch sein können, ohne daß damit
die fundamentalen Tatbestände umgestoßen würden. Diese Sache selbst ist im
jetzt behandelten Fall die spezifische dialektische Einheit, d. h. die Einheit der
Einheit und Verschiedenheit, wie Hegel es ausdrückt, der individuellen Sub¬
jektivität mit der Gattung. Schon in bezug auf das Leben selbst protestiert
Marx gegen ein trennendes Einandergegenüberstellen von Individuum und
Gattung: »Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht
verschieden, so sehr auch - und dies notwendig - die Daseinsweise des indivi¬
duellen Lebens eine mehr besondere oder mehr allgemeine Weise des Gat¬
tungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besonderes oder
allgemeines individuelles Leben ist1.« Daraus folgt, daß auch im Alltags¬
leben diese Dialektik vom konkreten Inhalt diktiert ist: der Inhalt der
Taten, Gedanken, Gefühle, etc. des jeweiligen Menschen in der jeweiligen
gesellschaftlich-geschichtlich bestimmten Situation entscheidet darüber, ob
diese Komponenten einer widerspruchsvollen Einheit konvergierende oder
divergierende Richtungen einschlagen und welche von ihnen zum übergreifen¬
den Moment wird. Wir haben gesehen, daß die bloße Tatsache der mora-

1 Ebd.
580 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

lischen Intention ein Gerichtetsein auf das Gattungsmäßige im Menschen mit¬


enthält. Das Spezifische der ästhetischen Subjektivität besteht nun darin, daß
diese Intention sich primär nicht bloß im Subjekt selbst verwirklicht, viel¬
mehr als in einer »Welt« objektiviert erscheint. Alles, was diese bildet, was in
ihr vorkommt, was mit ihr direkt oder indirekt in Beziehung steht, muß eine
tiefe, objektive (jede Gegenständlichkeit inhaltlich wie formell bestimmende)
Sinnhaftigkeit besitzen, die jedoch immer und überall im Menschen selbst ver¬
ankert ist. Es ist klar, daß das Subjekt einer solchen »Welt« unmöglich das
Individuum in seiner unmittelbaren Partikularität sein kann. Dieses entwirft
zwar auch im Alltagsleben immer wieder Bilder von solchen »Welten«; man
denke etwa an Tagträume, etc. Solche Einbildungen sind jedoch bei jedem
normalen Menschen des Alltags ausdrücklich als rein subjektive charakteri¬
siert, ihnen vom Subjekt aus Objektivität zuzusprechen ist bereits ein Ab¬
gleiten ins Pathologische. Ernst Bloch hat solche Tagträume am sorgfältigsten
analysiert, und indem er die so entstehenden Wünsche scharf vom Begehren
unterscheidet, zieht er von einem anderen Gesichtspunkt aus dieselbe Grenze,
wie wir es eben taten: der Wunsch bleibt vollständig im - partikularen -
Subjekt stecken, das Begehren dagegen ist auf eine Tat in der objektiven
Wirklichkeit gerichtet, d. h. deren Unabhängigkeit vom Subjekt ist, mehr
oder weniger bewußt, in beiden Fällen gleicherweise, wenn auch durchaus
verschieden, mitgesetzt. Bloch führt aus: »Das Verlangen des Wunsches steigt
gerade mit der Vorstellung des Besseren, gar Vollkommenen seines erfüllen¬
den Etwas. . . Wo also die Vorstellung eines Besseren, schließlich wohl
Vollkommenen, da findet Wünschen statt, gegebenenfalls ungeduldiges,
forderndes. Die bloße Vorstellung wird so zu einem Wunschbild, sie ist
mit dem Cachet versehen: So sollte es sein. Aber hierbei ist das Wünschen,
so heftig es auch sei, vom eigentlichen >Wollen< durch seine passive, dem
Sehnen noch verwandte Art unterschieden. Im Wünschen liegt noch nichts von
Arbeit oder Tätigkeit, alles Wollen ist dagegen ein Tunwollen. Man kann
wünschen, daß morgen schönes Wetter sei, obwohl man nicht das mindeste
dazu tun kann. Wünsche können sogar völlig unvernünftig sein, sie kön¬
nen darauf gehen, daß X oder Y noch am Leben sei; es ist gegebenenfalls
sinnvoll, das zu wünschen, aber sinnlos es zu wollen. Daher bleibt der
Wunsch auch dort, wo der Wille nichts mehr ändern kann. Der Reumütige
wünscht, daß er eine Handlung nicht vollbracht hätte, er kann dies nicht
eben wollen. Auch der Mutlose, der Zauderer, der oft Enttäuschte, der
Willenschwache, sie haben Wünsche, sogar besonders starke, ohne daß sie
zum Tunwollen bewegen. Ferner läßt sich Verschiedenes wünschen, die Wahl
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 581

ist hier eine Qual, aber nur eines davon läßt sich wollen; der Wollende da¬
gegen hat bereits vorgezogen, er weiß, was er lieber will, die Wahl liegt
hinter ihm 1.«
Erst ein Hinausgehen über die Partikularität des Subjekts kann die subjektiv
bearbeiteten mimetischen Gebilde in die spezifische Objektivität des Ästhe¬
tischen erheben, wodurch sie nicht mehr als rein subjektive Reaktionen auf eine
von der Subjektivität unberührte Außenwelt dieser gegenüberstehen, sondern
sich zu einer selbständigen Objektivität sui generis konstituieren. (Darin kann
man auch von dieser Seite einen der widitigsten Unterschiede zwischen Künst¬
ler und Dilettant oder Stümper finden.) Dieses Hinausgehen über die parti¬
kulare Subjektivität des Alltagsleben ist dem Wesen nach zumindest ebenso
entschieden wie in der Wissenschaft oder Moral, obwohl die Art seiner Ver¬
wirklichung lange nicht so radikal zu sein scheint. Denn während sowohl der
Akt des Desanthropomorphisierens im wissenschaftlichen Verhalten wie
- wenigstens sehr oft - das Wirken der moralischen Gebote eine deutliche
Abgrenzung gegenüber der Partikularität des Subjekts zustande bringen, schei¬
nen im Ästhetischen die Grenzen vollständig zu verschwimmen, ja es scheint,
als ob im Vollzug der ästhetischen Setzung (im Werk, im Schaffen, in der
Rezeption) eine ausschließliche und reine Subjektivität entstehen würde. Und
das ist nicht bloß ein Schein, denn es gibt keine menschliche Tätigkeit, in
welcher die Subjektivität, die Individualität in derart unmittelbarer Evidenz
zum Ausdruck käme, keine in welcher das persönliche Moment eine derartige
jede Gegenständlichkeit konstituierende, für alle Zusammenhänge ausschlag¬
gebende Bedeutung hätte, wie in der Sphäre des Ästhetischen. Gerade darum
ist jedoch der Übergang ins Gattungsmäßige, die Erhebung über die bloße
Partikularität des Menschen in seiner alltäglichen Unmittelbarkeit hier
ebenso unerläßlich, wie in der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit, wie in der moralischen Praxis.
Die besondere Art dieser Wandlung des Subjekts ist durch den Charakter der
Objektivation bestimmt. Überall sonst bleibt nämlich die Objektivität der
Objektwelt unberührt; dadurch daß sie möglichst adäquat erkannt und
durch menschliche Praxis verändert wird, wird an ihrer Objektivität nicht
gerüttelt, ja, wie wir gesehen haben, setzen sogar die subjektiven Wünsche,
Tagträume etc. gerade diese ihre Unerschütterbarkeit voraus. Einzig und
allein die Kunst schafft - mit Hilfe der Mimesis - ein objektiviertes Gegen-

1 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Berlin 1954, Band I. S. 58 f.


582 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

bild zur wirklichen Welt, das sich selbst zu einer »Welt« abrundet, das
in dieser Selbstvollendung ein Fürsichsein besitzt, in welcher die Subjektivität
zwar aufgehoben wird, wobei aber das Aufbewahren und das Erheben auf
eine höhere Stufe die übergreifenden Momente bleiben. Die derart aufgeho¬
bene Subjektivität erweckt nun das Gattungsbewußtsein, das jeder mensch¬
lichen Persönlichkeit, mehr oder weniger bewußt, stets immanent ist. Das
erklärt die Eigenart dieser Wandlung der Subjektivität: sie wird echter und
tiefer subjektiv, die Persönlichkeit gewinnt ein erweitertes und fester um-
rissenes Herrschaftsgebiet als im Alltagsleben, und zugleich geht sie über
die ihr darin eigene Partikularität weit hinaus. Die »Welt« des Kunst¬
werks, in welcher diese die Subjektivität derart bewahrende Objektiva-
tion vor sich geht, ist eben eine Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit,
eine Mimesis, welche die dem Menschen gegebene - sowohl die von ihm ge¬
schaffene und geformte wie die von ihm unabhängig existierende - Welt
vom Standpunkt dieses schöpferischen Prozesses betrachtet und reproduziert.
Die Wandlung des Subjekts, seine Überwindung der Partikularität des All¬
tagslebens ist der Prozeß, es selbst so umzuformen, daß es fähig werde, ein
»Spiegel der Welt« zu sein, wie Heine von Goethe sagt. Die Tiefe der rich¬
tigen Welterkenntnis und des richtigen Icherlebens fallen hier zu einer neuen
Unmittelbarkeit zusammen.
Die Umsetzung dieses Tatbestandes in eine philosophische Terminologie mag
streckenweise paradox klingen. Ihre Schwierigkeit liegt nicht zuletzt darin,
daß Kategorien und deren Beziehungen angewendet werden müssen, die, auf
die objektive Wirklichkeit selbst bezogen, als Kategorien der Erkenntnis eine
idealistische Verzerrung hervorbringen müßten. Über dieses Problem im all¬
gemeinen wurde hier bereits gesprochen. Jetzt handelt es sich um die
- ästhetisch-rationale - Urform der zentralen Kategorie des modernen
objektiven Idealismus, um das identische Subjekt-Objekt. Über ihre die Er¬
kenntnis verzerrenden Folgen habe ich in anderen Werken gesprochen 1. Hier
ist deutlich sichtbar, daß es sich in der Ästhetik nicht um ein identisches
Subjekt-Objekt im strikten Sinne handelt. Der ästhetische Tatbestand selbst
ist an sich höchst einfach und wird durch unzählige Fakten der Geschichte
belegt. Immer wieder erfahren wir im Laufe der Kunstentwicklung - wo es
uns möglich ist, die Privatpersönlichkeit der Künstler zu kennen daß ihre
in ihren Werken objektivierte Individualität mit jener identisch und zugleich

1 Vgl. mein Buch über den jungen Hegel.


Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 583

nicht identisch ist, daß jene in diese in der von uns kategoriell geschilderten
Weise aufgehoben wurde.
Die Schwierigkeit, diesen Prozeß begrifflich zu fassen, ist eine doppelte.
Erstens kann es für diese Selbstaufhebung der Partikularität kein konkretes
Kriterium geben, wie dies in der wissenschaftlidien Widerspiegelung oder in
der ethischen Praxis doch vorhanden ist. (Die in diesen Gebieten entstehen¬
den Probleme können hier nicht behandelt werden. Es ist aber klar, daß
das Prinzip des Desanthropomorphisierens bzw. die ethischen Normen, bei
aller Problematik in ihrer Anwendung auf konkrete Einzelfälle, doch einen
deutlichen Kriteriumscharakter besitzen.) Aber trotz dieses Fehlens von
konkreten Maßstäben herrscht hier keine Willkür. Das partikulare Subjekt
des Künstlers muß sich - in Hinsicht auf die Verwandlung seiner Subjek¬
tivität — ä corps perdu in den Schaffensprozeß werfen. Dessen Gelingen
hängt - Begabung vorausgesetzt - gerade davon ab, ob und wieweit er
fähig ist, in sich das bloß Partikulare abzustreifen und in sich selbst das Gat¬
tungsmäßige nicht nur zu finden und klarzulegen, es vielmehr als das Wesen
gerade seiner Persönlichkeit, als das organisierende Zentrum ihrer Beziehun¬
gen zur Welt, zur Geschichte, zum gegebenen Moment im Entwicklungs¬
prozeß der Menschheit und zu ihrer Bewegungsperspektive - und zwar als
tiefsten Ausdruck der Widerspiegelung der Welt selbst - erlebbar zu machen.
Es ist klar, daß es prinzipiell unmöglich ist, in den unmittelbaren oder in den
künstlerischen Erlebnissen ein apriorisches Kriterium aufzufinden, das mit
untrüglicher Sicherheit darüber befinden könnte, welche erlebt und evokativ
gemachte Widerspiegelung der Wirklichkeit, welche Gruppierung solcher Er¬
lebnisse, welche Bewertung ihres Wesens und ihrer Zusammenhänge der parti¬
kularen Subjektivität und welche dem Gattungsbewußtsein angehört. Das nie
zu Ruhe kommende, bei jedem Zug der künstlerischen Arbeit immer wieder
einsetzende Ringen der großen Künstler um das, was sie sehr oft einfach
treue Wiedergabe der Natur nennen, besteht, subjektiv angesehen, gerade
darin: die Wirklichkeit von der Warte der Menschengattung zu betrachten.
Denn abstrakt angesehen ist sehr vieles naturwahr, was diese Höhe nicht er¬
reicht; das Ausgeschiedene, Verworfene etc. ist oft, rein als Widerspiegelung
eines Stückes der Wirklichkeit, ebenso wahr, wie das, was in den Werken als
endgültig stehenbleibt.
Worin besteht also das Prinzip des Weglassens? In sehr vielen Fällen - und
diese sind eben für unser Problem wichtig - darin, daß die hier gemeinte,
unmittelbar subjektiv bleibende Objektivität, d. h. die Subjektivität des Gat¬
tungsbewußtseins gerade durch eine solche Wahl gefördert wird, während im
J84 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

entgegengesetzten Fall bloß die Subjektivität des partikularen Subjekts (»le


monsieur« nannte es mit grimmiger Selbtironie Flaubert) zur Geltung ge¬
langt. Tolstoi, der sich mit dieser Frage viel beschäftigt hat, sagt einmal zu
Gorki: »Wir sind alle schreckliche >Erfinder<. Ich auch. Manchmal beim
Schreiben tut mir plötzlich jemand leid, ich verleihe der Gestalt rasch einen
besseren Zug, und einer anderen nehme ich einen fort, damit ihre Umgebung
nicht allzu schwarz wird . . . Man schildert nicht das wirkliche Leben, so wie
es ist, sondern was man selbst vom Leben denkt. Wer hat einen Nutzen
davon, zu wissen, wie ich diesen Turm sehe, oder das Meer, oder den Tataren
da? Was ist daran interessant oder notwendig1?« Ebenso bewußt stellt
Theodor Fontane diesen Widerspruch bei sich selbst dar. Er nennt ihn den
von »unserer Natur« und »unserem Geschmack« und sagt: »Soll unser Ge¬
schmack . . . unsere Produktion bestimmen, so läßt uns die Natur, die andere
Wege ging, im Stich, und wir scheitern. Wir haben dann unseren Willen ge¬
habt, aber das Geborene ist tot2.« Die Beispiele ließen sich beliebig ver¬
mehren.
Es ist jedoch wahrscheinlich nützlicher, diese Sachlage auch von einer anderen
Seite zu betrachten. Da zeigt sich einerseits - worauf der Briefwechsel zwi¬
schen Schiller und Goethe das größte Gewicht legt - die entscheidende Be¬
deutung der Wahl des Motivs, des Themas für das Schicksal des ganzen
Werks; beide sind der Ansicht, daß ein Mißlingen bei dieser Wahl selbst die
größte Begabung, die bewußteste Kunst zum Scheitern verurteilt. Darin
kommt vor allem die uns gut bekannte mimetische Objektgebundenheit einer
jeden ästhetischen Subjektivität zum Vorschein. Aber darüber hinaus, da
diese bloß einen Zusammenhang überhaupt bestimmt, muß die Frage auf¬
tauchen: warum das eine Thema oder Motiv günstig, das andere ungünstig
auf das Schaffen wirkt? Die Antwort kann nur dahingehend lauten, daß das
fördernde Prinzip in einer ästhetischen Verallgemeinerung liegt; d. h. daß
bereits die Wahl des Themas oder des Motivs das schöpferische Subjekt dem
Gattungsbewußtsein näherrückt oder es von ihm entfernt, ihm in der Über¬
windung der eigenen Partikularität hilft oder seine Anstrengungen, darüber

1 Gorki: Erinnerungen, Berlin 1928, S. 71.


2 Zitiert in meinem Buch: Die deutschen Realisten des 19. Jahrh., S. 260. (Jetzt in:
Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten, Werke Band 7.) In den weiteren Aus¬
führungen dieses Aufsatzes wird auch gezeigt, wie das Heruntersinken des echt
realistischen Dichters Fontane auf das Niveau einer guten Belletristik zuweilen
zustande kommt, was selbstredend nur die objektive Werkseite des hier von der
Seite des Subjekts behandelten Dilemmas ist.
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 585

hinauszugelangen, hemmt. Andererseits - jedoch im engen Zusammenhang


mit dem eben Ausgeführten — soll daran erinnert werden, wie oft in den
Selbstbetrachtungen bedeutender Künstler die Beobachtung auftaucht: das
von ihnen entworfene oder begonnene Werk lebe ein Eigenleben, unabhängig
von ihrem Wollen und Wünschen. Wenn der Künstler die Gesetze verletzt,
wonach das entstehende Werk angetreten ist, verurteilt er sich abermals zum
Scheitern. Die aus dieser Lage erwachsenden Widersprüche sind äußerst man¬
nigfaltig. Es kann sich um Umfang oder Genre handeln. Thomas Mann
schreibt z. B., daß er den »Zauberberg« als Erzählung, gewissermaßen als
Pendant zum »Tod in Venedig« entworfen hat; gegen seine ursprüngliche
Absicht wurde daraus unter seinen Händen ein großer Zeitroman. Es kann
sich um Konflikte jenes Typs handeln, wie wir sie eben an den Beispielen
von Tolstoi und Fontane aufzeigten. Und derartige Widersprüche können
bis in das Zentrum der Weltanschauung hineinragen, wie dies Engels bei Bal¬
zac nachwies. Gerade damit steht das Problem in voller Deutlichkeit vor uns:
die partikulare Subjektivität Balzacs war die eines normal intelligenten
Legitimisten; von hier aus wäre es unmöglich gewesen, eine »menschliche Ko¬
mödie« zu schaffen, eine widitige Ubergangskrise der Menschengattung um¬
fassend und endgültig darzustellen. Die seit Bestehen der Kunst immer wie¬
der auftauchenden Mythen und Theorien über höhere Inspiriertheit des
künstlerischen Schaffens enthalten - freilich neben den in späten Stadien immer
wieder auftauchenden subjektivistisch-irrationalistischer Auslegungen - et¬
was vom Wesen dieser Sachlage, wenn auch in einer oft stark verzerrenden
Form.
Die zweite Schwierigkeit im Erfassen der Beziehung zwischen individuellem
und gattungsmäßigem Bewußtsein liegt darin, daß letzteres subjektiv-unmit¬
telbar überhaupt nicht oder höchstens vorwegnehmend utopisch gegeben ist.
Die Menschen erleben unmittelbar gesellschaftliche Bindungen, wie Familie,
Klan, Kaste, Stamm, Klasse, Nation etc., aber nicht oder höchst selten un¬
mittelbar die Menschheit als Einheit der Gattung (und auch dann zumeist mit
falschem Bewußtsein). Diese kann erst im Zustand einer sozialistisch geeinten
Menschheit zum unmittelbaren Erlebnis des Alltags werden. Objektiv ist sie
freilich seit dem Menschwerden des Menschen vorhanden und entwickelt sich
extensiv wie intensiv immer stärker. Anfangs ist sie nur als reines Ansich, als
die gleiche anthropologische Beschaffenheit vorhanden; mit dem Wachstum
und dem Reicherwerden der gesellschaftlichen Beziehungen entwickeln sich
immer größere Einheiten, die die Menschen als Grundlagen ihrer - physischen
und geistigen - individuellen Existenz zu erleben gezwungen sind. Mit dem
586 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Kapitalismus entsteht der Weltmarkt und auf seiner Basis eine reelle Welt¬
geschichte: zwar noch immer ein Ansich der Menschengattung, aber natürlich
ein Ansich qualitativ höherer Ordnung als das ursprünglich bloß anthropolo-
gisdte, weil damals die Zusammengehörigkeit nur als Ergebnis von Kata¬
strophen, als »Schicksal« erlebt wurde, während jetzt die menschliche Praxis,
bei Strafe des Untergangs, gezwungen ist, sich ununterbrochen mit der konkret
gewordenen Totalität der Menschen auseinanderzusetzen, und weil die Zahl
jener, bei denen dieses Ansich der Gattung zu einem bejahten Füruns wird, in
ständigem Wachsen begriffen ist, ebenso wie die Zahl jener - wenn auch in ge¬
ringerem Maßstabe -, die ihre volle Realisierung bereits aktiv erstreben.
Trotz einer derartig eindeutigen Entwicklungslinie besteht für die ästhetische
Subjektivität das bereits angedeutete Problem. Denn es gehört zum Wesen
der Kunst, nicht utopisch zu sein. Für die überwältigende Mehrheit der
Künste, Kunstarten und Werke ist es unmöglich, die Perspektive der Zukunft
anders darzustellen, als in der Form einer angedeuteten, mehr oder weniger
sichtbar gemachten Bewegungsrichtung der gestalteten Gegenwart. Philoso¬
phie, Wissenschaft oder Publizistik waren und sind imstande, in abstrakten
Voraussagen eine Verwirklichung ihrer Perspektiven begrifflich vorweg¬
zunehmen. Das mag inhaltlich wie formal noch so utopisch ausfallen, die
Tatsachen der Geschichtsentwicklung mögen noch so oft und noch so kraß
die Unrichtigkeit der meisten Details zur Anschauung bringen - wenn der
utopische Gedanke, in einem großen welthistorischen Sinn, die Richtung jenes
Entwicklungsweges einschlägt, den die Menschengattung geht, erwächst die
utopische Vorwegnahme zu einer progressiven geistigen Macht. So bereits im
Naturrecht und in der Ethik der Stoa, so in den Erklärungen der Menschen¬
rechte der großen bürgerlichen Revolutionen, so in den Zukunftsaussagen der
bedeutenden Utopisten von Morus bis Fourier. Und in qualitativ höherer
Weise bei Marx, Engels und Lenin. Für die Wissenschaft ist es freilich prinzi¬
piell möglich, wahre Perspektiven der Zukunftsentwicklung aufzudecken. Es
genügt dabei, auf die Bestimmung der zwei Perioden des Sozialismus in der
»Kritik des Gothaer Programms« von Marx hinzuweisen. Es geht freilich
schon aus dem bisher Ausgeführten klar hervor, daß der Inhalt solcher Aus¬
sagen nur das Allerallgemeinste treffen kann; sobald sie auf Konkretes ein-
gehen, entsteht selbst bei hervorragenden Denkern, die vieles auf dem Niveau
der Allgemeinheit genial vorwegnehmen, eine absurde, oft unsinnige Phanta¬
stik (man denke z. B. an Fourier).
ns war unvermeidlich, daß auch die ästhetische Theorie von solchen Ge¬
dankenströmungen beeinflußt wurde. Ihr Zurückbleiben hinter der künstleri-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 587

sehen Praxis wird gerade bei einem solchen Thema klar sichtbar, insbesondere
darum, weil, wie wir bereits gesehen haben, gerade der spezifische Charakter
der künstlerischen Verallgemeinerung verkannt und nach dem Muster der
wissenschaftlichen oder philosophischen aufgefaßt wurde. Die gesellschaftlich-
geschichtlich notwendige Ungeklärtheit in der Auffassung der Realität der
Menschengattung paart sich nun in der ästhetischen Theorie mit ihrer
eigenen Unklarheit bezüglich der künstlerischen Verallgemeinerung. Das
bringt die verworrene und irreleitende Kategorie des »allgemein Mensch¬
lichen« hervor. Uber deren problematisches Wesen haben wir bereits gespro¬
chen. Für unsere jetzt zu behandelnde Frage hat die Idee des »allgemein
Menschlichen« in der ästhetischen Theorie und Praxis zur Folge, daß die
Menschheit darin zu den konkreten Formen der menschlichen Beziehungen,
vor allem zu Klasse und Nation, in einen ausschließenden metaphysischen
Gegensatz gesetzt wird. Indem nun diese konkreten Bindungen und Ver¬
bindungen der Menschheit, deren Einwirkungen auf das konkrete Was und
Wie einer jeden Persönlichkeit, jeder menschlichen Beziehung, jeden Schicksals
etc. unermeßlich sind, auf ein Niveau des Sekundären, des gedanklich zu ver¬
nachlässigenden herabgesetzt werden, entsteht zwangsläufig eine blasse, ab¬
gezogene, blutlose Konzeption vom Menschen selbst. Und auch die Konflikte,
die das Leben der Menschen erfüllen, die von ihnen ausgelösten Taten und
Gefühle sind wesentliche Bestandteile einer jeden konkreten Individualität.
Fallen sie weg, werden sie übersprungen, in den Hintergrund gedrängt, so
steigert sich die Abstraktheit des »allgemein Menschlichen« noch mehr. Es ist
kein Zufall, daß diese Leere desto stärker herrscht, je mehr Kunst und Kunst¬
theorie sich vom Leben ihrer Gegenwart entfernen und im schlechten Sinne
akademisch werden (um Mißverständnisse zu verhüten: es gibt auch
einen dekadenten, avantgardistischen Akademismus, man denke an die »Oh
Mensch!« - Periode des Expressionismus, an die Abstraktion der »Condition
humaine« etc.). Künstlerisch muß ein solcher aus Prinzip entleerter Gehalt
zu einem abstrakt-gekünstelten Formalismus führen, einerlei ob dieser klas¬
sizistisch oder surrealistisch ist. Und der einer jeden Konkretheit, eines jeden
lebenswahren Gehalts beraubte Inhalt kann nur einen konturlosen Kosmopo¬
litismus, ein solipsistisches Verzweiflungsbild etc. ergeben. Die einseitige, die
realen Verwicklungen ausschaltende, direkte Orientierung auf das Gattungs¬
mäßige im Menschen muß also auch den Begriff und das Bild gerade auch der
Menschheit verarmen und verzerren.
Die Richtigkeit dieses Gedankengangs schließt natürlich nicht die Möglichkeit
aus, jene Erlebnisse der Existenz der Menschengattung, deren gedankliche
588 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Reflexe wir früher analysiert haben, auch zur künstlerischen Gestalt zu er¬
heben. Will man dies ästhetisch begreifen, so muß man sich vor Augen halten,
daß eine konkret-utopische künstlerische Darstellung an sich noch unlösbarere
Widersprüche enthält als eine begriffliche Vorwegnahme der Zukunft. Die
Steigerung liegt darin, daß ein gedankliches Erfassen bestimmter auf das
Kommende bezüglicher Gesetze und Tendenzen prinzipiell nicht unmöglich
ist, aber für die Widerspiegelungsart der Kunst nur sehr ausnahmsweise
Bedeutung erlangen kann. Hier stößt gerade die ästhetische Mimesis gegen¬
über einer Gegenstandswelt, deren Inhalte, Zusammenhänge, Beziehungen
etc. uns in ihrer Konkretheit verschlossen sind, auf unüberwindbare Hinder¬
nisse. Die Kunst hat also einen viel entschiedeneren anti-utopischen Charak¬
ter, als die Wissenschaft oder die Philosophie. Wenn man sich gegen diese
Behauptung auf Schillers, Shelleys oder Blakes »prophetische« Gedichte, auf
den Schluß der IX. Symphonie etc. beruft, so ist dagegen zu bemerken:
solche Werke drücken primär nicht eine zukünftige, seiende Wirklich¬
keit selbst aus, sondern das Sehnen des Subjekts nach ihr, seine Voraus¬
sicht dessen, was kommen soll, seine subjektive Beziehung zum Menschen¬
geschlecht - mag diese noch so verallgemeinert sein und nicht dessen
objektives Sein. Die konkreten Züge der Gestaltung haben also ihre Wurzel
und ihren Gegenstand im Subjekt und dieses ist konkretes Produkt, konkreter
Bestandteil seiner eigenen Gegenwart, seines konkreten gesellschaftlich¬
geschichtlichen hic et nunc.
Die objektiviert-künstlerische Gestaltung eines utopischen Verhaltens ist des¬
halb - ästhetisch betrachtet - keine Utopie. Natürlich ist sie eine Darstel¬
lungsweise sui generis, deren detaillierte Analyse wir hier nicht vornehmen
können. Es sei nur so viel bemerkt, daß es eine fehlerhafte, vorschnelle Ver¬
allgemeinerung wäre, in dieser Frage die lyrischen Gestaltungsformen starr
den direkt objektivierenden gegenüberzustellen. Es handelt sich vielmehr um
eine besondere Unterart dessen, was Schiller als »sentimentalisch« im Gegen¬
satz zum »Naiven« bestimmt hat. Das Elegische, Idyllische und Satirische
sind die Gesinnungsformen, mit deren Hilfe der hier gemeinte Tatbestand zur
Gestaltung gelangen kann; womit freilich keineswegs behauptet wird, daß
diese spezifischen Inhalte den ganzen Umkreis dieser Gesinnungen erschöpfen.
Sie lassen aber eine Gestaltung zu, in welcher die noch nicht seiende, noch
subjektive Realität des Menschengeschlechts einen wichtigen Aspekt seines
Fürunsseins zum Ausdruck gelangen lassen kann, gerade weil die letzte
Wahrheit solcher Darstellungen — auch wenn sie nicht ausgesprochen lyri¬
schen Charakters sind, sondern unmittelbar eine objektivere Gegenstands-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 589

weit evozieren - doch im Subjekt liegt. Dostojewskis schöne Beschreibung


von Claude Lorrains »Acis und Galathea« zeigt plastisch, was hier ge¬
meint ist. Von Dostojewskis Schilderung der Erinnerungen, Gedanken und
Gefühle Werssilows ist für unsere Frage wesentlich: »In diesem Bilde
hat die europäische Menschheit die Erinnerung an ihre Wiege festgehalten,
und der Gedanke daran erfüllte audi meine Seele wie mit Heimatliebe.
Hier war einmal das irdische Paradies der Mensdiheit. . . Das Goldene Zeit¬
alter ist von allen Illusionen, die die Menschheit jemals gehabt hat, die
allerunwahrscheinlichste, und doch haben die Menschen in sie ihr Leben
und alle ihre Kräfte hingegeben, für sie sind Propheten getötet worden
und gestorben, ohne sie können die Menschen nicht leben, ja, nicht
einmal sterben!« Es kommt hier wenig darauf an, wieweit Dostojewski
durch seinen Romanhelden den objektiven malerisch-seelischen Gehalt
des Bildes adäquat wiedergibt. Entscheidend ist nur, daß dieses überhaupt
zum indirekten Ausdruck solcher Erlebnisse werden kann; daß also
elegische, idyllische oder satirische Gegenstandsgestaltungen zu Trägern dieses
subjektiven Reflexes des Gattungsschicksals erhoben werden können.
Swift ist ein deutliches Beispiel für die satirischen Möglichkeiten in dieser
Hinsicht.
Mit alledem sind wir jedoch erst in die Vorhalle unseres eigentlichen Pro¬
blems gelangt. Dieses besteht darin, daß die überwältigende Mehrheit der
Kunstwerke unmittelbar jene Beziehungen und Beschaffenheiten der Men¬
schen widerspiegelt, die in den jeweils vorhandenen Gesellschaften ihr Schick¬
sal direkt beeinflussen. Die Persönlichkeit eines jeden gestalteten Menschen,
die Wesensart eines jeden künstlerisch zum Ausdruck gelangenden Gefühls ist
aus diesen Sphären herausgewachsen, ist mit den konkreten Fäden des wahr¬
haft gelebten Lebens an dieses unmittelbare Gebiet jeder menschlichen Exi¬
stenz, jeder menschlichen Betätigung gebunden. Wenn wir hier erneut an den
nicht-utopischen Charakter der ästhetischen Mimesis erinnern, taucht berech¬
tigterweise die Frage auf: wo bleibt hier ein Raum für die Gestaltung der
Probleme des Menschengeschlechts? Will man die hier waltende Dialektik rich¬
tig verstehen, so muß an die unmittelbar gegebenen menschlichen Beziehungen
von der Familie bis zur Klasse und Nation in ihrer Erscheinungsweise ver¬
mittels individueller Leidenschaften konkreter Persönlichkeiten gedacht wer¬
den. Indem die wirksam vorhandenen Beziehungen zwischen den Menschen
jedes Individuum so tief formen, daß sie von seinem konkreten Geradesosein
nicht wegzudenken sind, entsteht im Leben selbst jene Dialektik, die die
Kunst dann mimetisch evoziert: die im Individuum wirksamen Folgen seines
590 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Geformtseins durch Familie, Klasse, Nation etc. sind nie einfach Einwirkun¬
gen von außen, nicht einmal »Schichten« innerhalb seiner Persönlichkeit,
sondern einander im wesentlichen gleichgeartete Affekte (freilich je nachdem,
wer es ist, von verschiedener Qualität, Intensität etc.). In jedem Menschen
werden die durch diese Konstellation hervorgerufenen Kämpfe zu inneren
Kämpfen seiner eigenen Leidenschaften. Diese im Leben entstandene Sach¬
lage wird von der ästhetischen Mimesis nicht nur treu widergespiegeit, son¬
dern, ihrer von uns oft geschilderten Wesensart entsprechend, gesteigert,
intensiviert. Die bedeutende Wahrheit Spinozas, daß im Individuum gegen
Affekte nur Affekte erfolgreich eingesetzt werden können, pflegt zwar in der
Ästhetik nicht angeführt zu werden, um so mehr ist sie das - unausge¬
sprochene, implicite - Axiom einer jeden echt mimetischen Gestaltung. Denn
gerade dadurch kann der im Leben äußerst komplizierte Anteil von außen
und innen, von Gesellschaftlichkeit und Persönlichkeit im Schicksal des Men¬
schen deutlich und erschütternd (sei es im tragischen, sei es im komischen
Sinne) zum Ausdruck gelangen. Da die »äußeren«, die gesellschaftlichen
Kräfte ihre Macht durch die Leidenschaften, die sie in den einzelnen Men¬
schen entfachen, erhalten, zugleich jedoch ihre »äußere«, ihre gesellschaftliche
Macht auch rein auszudrücken imstande sind, kann das Bild der Beziehung
des Menschen zu seinen sozialen Bedingungen sowohl fetischisiert wie defeti-
schisiert erscheinen. Das Phänomen der Fetischisierung hat Marx in bezug auf
die Ware plastisch bestimmt: »Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Ver¬
hältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form
eines Verhältnisses von Dingen annimmt L« Es ist nun eine der großen Lei¬
stungen der Kunst, über welche noch viel zu sagen sein wird, solche Fetische
aufzulösen, d. h. die gesellschaftlichen Verhältnisse eindeutig als Beziehungen
der Menschen zueinander auszudrücken. Erst so kann die widerspruchs¬
volle dialektische Einheit des Äußeren und des Inneren, des Gesellschaft¬
lichen und des Persönlichen in wahrheitsgemäßen Proportionen evoka-
tiv zum Ausdruck gelangen. Hegel hat diese Einheit des Inneren und des
Äußeren in der Hexenszene des «Macbeth« richtig dargestellt und die tref¬
fende Folgerung gezogen: »Die allgemeinen Mächte nun endlich, welche nicht
nur für sich in ihrer Selbständigkeit auftreten, sondern ebensosehr in der
Menschenbrust lebendig sind, und das menschliche Gemüt in seinem Innersten
bewegen, kann man nach den Alten mit dem Ausdruck rraOoc bezeichnen .. .

1
Marx: Kapital, Band I. a. a. O. S. 39.
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 59i

Das Pathos in diesem Sinne ist eine in sich selbst berechtigte Macht des Ge¬
müts, ein wesentlicher Gehalt der Vernünftigkeit und des freien Willens 1.«
Mit alledem ist unmittelbar bloß jene Dialektik beschrieben, in welcher der
Widerspruch zwischen dem Individuum und den real vorhandenen gesell¬
schaftlich-geschichtlichen Mächten und vor allem die Einheit dieser Wider¬
sprüche künstlerisch zum Ausdruck gelangen kann. Damit ist aber zugleich
der Schlüssel für unser jetziges Problem gegeben. Objektiv, indem bei richtig
aufgefaßten und dargestellten realen gesellsdiaftlichen Mächten unbedingt
auch ihre inneren — geschichtlich allerdings noch nicht bewußt gewordenen
oder sich bewußtseinsmäßig falsch spiegelnden — Beziehungen zur Entwick¬
lung der Menschengattung mitgestaltet werden müssen. Die Erscheinungs¬
weise ist naturgemäß je nach der Phase in der Evolution, je nach Nation,
Klasse etc. schon im Leben so außerordentlich verschieden, daß wohl - nach
eingehender Erforschung der Details - ein Aufdecken der hier waltenden
Gesetze, nicht aber ihre abstrakte Systematisierung möglich ist. Dieser Hin¬
weis auf das Gattungsmäßige, bei Anerkennung der eben jetzt angedeuteten,
fast unbeschränkten Variabilität, steckt im Funktionieren einer jeden gesell¬
schaftlichen Beziehung. Jede hat in dieser Hinsicht ein Doppelgesicht: die
Taten, die Lebensfragen etc. werden für jeden Menschen von hier aus gestellt,
aber diese Taten können ihre Intention rein auf Forderungen des Tages rich¬
ten oder können, ohne diese Gebundenheit aufzugeben, sich zugleich in die
Richtung der Gattungsprobleme wenden; die Lebensfragen können das
Niveau einer bloß partikularen Nützlichkeit nie verlassen und können - be¬
wußte, falschbewußte oder gänzlich unbewußte - Hinweise auf diese
höchste Allgemeinheit des Menschenlebens mitenthalten. Schon diese Sachlage
kann die Quelle unzähliger Kollisionen sein. Scheinbar ist der Familiensinn
(Verehrung der Mutter), die Liebe zur Vaterstadt bei Coriolanus harmonisch
mit seinem Aristokratismus. Jedoch die Entfaltung solcher oft bloß latent
vorhandenen Widersprüche löst die flache Scheinharmonie des »normalen«
Alltags in schroffe Widersprüchlichkeit auf, und erst ihr dynamischer Zu¬
sammenhang, ihre tragische Kulmination enthüllt das, was in diesen Bezie¬
hungen der Menschen vollständig an das partikulare hic et nunc gebunden ist
und was mit der Entwicklung des Menschengeschlechts direkt oder indirekt
zusammenhängt, was ein bleibendes Moment der Kontinuität dieser Entwick¬
lung werden kann.

1 Hegel: Ästhetik, Wk. a. a. O. X. I. S. 297 f.


Der Weg des Subjekts zur ästhetischen WiderSpiegelung

Es ist also für das Vorhandensein und für die Gestaltbarkeit von Wider¬
sprüchen zwischen Individuen und gesellschaftlichen Verhältnissen und erst
recht für deren Bezogenheit auf Probleme der Menschengattung keineswegs
notwendig, daß die dialektischen Gegensätzlichkeiten in den handelnden und
leidenden Menschen bewußt werden. Auch hier gilt unser Marxsches Motto:
»Sie wissen es nicht, aber sie tun es.« Wir konnten diese Struktur schon im
obigen Beispiel von Shakespeares Coriolanus andeuten. Wir erinnern auch an
ein längeres Zitat aus Thomas Manns »Zauberberg«, das wir früher in ande¬
ren Zusammenhängen angeführt haben. Dieses zeigt, daß unsere marxistische
Auslegung auch hier nichts weiter ist, als ein Bewußtmachen dessen, -was in
der Praxis der großen Künstler stets ausgeübt wird. Diese Lage ist - als
praktische Grundlage der ästhetischen Mimesis - überall vorhanden. Im
Falle Thomas Manns erhalten wir die Charakteristik solcher Wechselbezie¬
hungen für ein äußerst problematisches Zeitalter, der methodologische Sinn
für die ästhetische Praxis ist aber derselbe, wie etwa der der Marxschen Ana¬
lyse der »heroischen Illusionen« der großen Französischen Revolution. Ein
Buch, wie »Les dieux ont soif« von Anatole France, sicherlich ohne direkte
Einwirkungen solcher Feststellungen entstanden, ist ein deutliches Beispiel,
wie in einer bedeutenden Dichtung die lebendigen Widersprüche (und ihre
Einheit) als Komplex aus individuellen Leidenschaften, ihrer Bedingtheit
durch die gesellschaftlich-geschichtliche Beschaffenheit einer Entwicklungs¬
phase und ihrer Bedeutung für die Entfaltung des Gattungsmäßigen zum
Ausdruck gelangen können.
Es ist kein Zufall, daß hier überall die Widersprüche (und ihre Einheit) in
den Vordergrund der Betrachtungen gerückt werden mußten. Denn die in der
Geschichte vor sich gehende Entwicklung des Gattungsmäßigen kann nur da¬
durch zum Vorschein kommen und zur Geltung gelangen, daß das Neue in
den Persönlichkeiten, Beziehungen etc. der Menschen zu den alten Institutio¬
nen, Verbindungen, Gedanken, Gefühlen etc. in Gegensatz gerät. Freilich
können die so entstehenden Kollisionen 9ich dann auf ein rein lokales und
temporäres hic et nunc beschränken, und sie tun es auch in der überwiegenden
Mehrzahl, die Möglichkeit einer Erhebung darüber zum Gattungsmäßigen ist
jedoch in jeder solchen Kollision latent enthalten, es ist nur die Frage, wie¬
weit sie sich - objektiv oder subjektiv - zu verdeutlichen imstande ist. Hier
hat die große welthistorische Mission der Kunst ihre Wurzel: sie vermag das
Latente zur Aktualität zu erheben, dem in der Wirklichkeit Stummbleiben¬
den einen deutlichen evokativ-verständlichen Ausdruck zu verleihen. Das
Goethesche: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 593

ein Gott, zu sagen, was ich leide« kann, ohne seine Intention unzulässig zu
verallgemeinern, durchaus in diesem Sinne gedeutet werden h
Die Widersprüche, von denen eben die Rede war, zeigen nicht selten schon in
ihren unmittelbaren Erscheinungsformen eine Struktur, die auf das von uns
Ausgeführte hindeutet. Man denke an die radikalen Verallgemeinerungen in
den Forderungen der bürgerlich-demokratischen Revolutionen (an die »heroi¬
schen Illusionen«), an den ständigen Kampf zwischen den großen, welthisto¬
rischen und momentan-transitorischen Interessen des Proletariats etc.; die
reformistische Bewegung, signalisiert von E. Bernsteins Scheidung von »End¬
ziel« und »Bewegung«, war und ist z. B. ein Versuch, mit Hilfe meta¬
physischer Gegenüberstellung der grundlegenden und der vorübergehen¬
den Interessen des Proletariats alles aus der Theorie und Praxis der Arbeiter¬
bewegung auszurotten, was echt menschheitlich ist, was über kleine Reformen
innerhalb des Kapitalismus hinausweist. Es wäre jedoch eine oberflächliche
Vereinfachung der Frage, wenn wir jeder Verallgemeinerung, die die Men¬
schen in ihren gesellschaftlichen Kämpfen vollziehen, eine direkte Beziehung
zum Menschheitlichen zusprechen und jedem sich an den Tatsachen orientie-

1 Es ist merkwürdig, daß diese konsequente und tiefsinnige Änderung der Tasso-
Worte: »Wie ich leide«, von Emil Staiger einfach als »entstelltes Zitat« behandelt
wird. Die Begründung ist die folgende: »>Sagen, was ich leide< liegt näher als >wie
ich leide<; doch >wie ich leide< ist schmerzlicher, ichbefangener gleichsam; es gibt
die Art und den Grad des Leidens, jenes nur den Inhalt an.« Emil Staiger: Die
Kunst der Interpretation, Zürich 1955, S. 163. Über die darin enthaltene suojektive
Werthierarchie soll hier nicht gestritten werden. Zweifellos gilt die Priorität des
»Wie« noch für die Tasso-Periode Goethes, es fragt sich nur, wie der alte Goethe
zu diesem Problem stand. Er hat das Gedicht: »An Werther« nach der »Elegie«
geschrieben, und ihre Schlußzeile, die Ansprache an den Wertherdichter: »Geb’
ihm ein Gott zu sagen, was er duldet«, ist ohne Frage mit ihrem postulativen
Charakter eine - nachträglich geschaffene - ideelle Vorbereitung für das Motto
der Elegie; und da diese Vorbereitung kein Zitat, sondern eine Paraphrase ist,
kommt dafür ein »Gedächtnisfehler« überhaupt nicht in Betracht, wohl aber ein
Wandel der Weltanschauung und darin der der Mission des Dichters. Im »Tasso«
drückt das »Wie« bloß den Versuch des Helden aus, die eigene Dichterexistenz
subjektiv zu retten, während jetzt bereits von der allgemeinen Berufung des Dich¬
ters die Rede ist, im Namen der Menschheit, für die Menschheit das erlösende Wort
auszusprechen. Und daß der alte Goethe Werther und Tasso als dem gleichen Typus
zugehörig beurteilte, zeigt seine Zustimmung zum Urteil des französischen Kriti¬
kers Ampere, der Tasso einen »gesteigerten Werther« nannte. Wir glauben also, das
volle Recht zu haben, das »Was« des Mottos als Altersweisheit Goethes und nicht
als »entstelltes Zitat« zu betrachten.
594 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

renden Realismus diese absprechen würden. Der von uns hervorgehobene


Gegensatz ist nur ein deutlicher Hinweis auf diese Konstellation, seine Aus¬
wirkungen können aber außerordentlich mehrdeutig sein. Es genügt, einer¬
seits an das hier bereits herangezogene Beispiel des Antigone-Kreon Konflikts
zu denken, um das Menschheitliche im Festhalten an Gebilden »niederer Ord¬
nung« (Familie versus Staat) zu erblicken, und andererseits an manche sub-
jektivistisch-dogmatischen Abstraktionen Stalins und seiner Schule, um klar
zu sehen, daß nicht jede Verallgemeinerung der gesellschaftlichen Kämpfe das
Gattungsmäßige an ihnen zu treffen imstande ist.
Die Verallgemeinerung der unmittelbaren Vorgänge, die als Widersprüche
einer bestimmten Formation entspringen, geht auch insofern eigenartige
Wege, als sie die wesentlichen Züge der konkreten Lage aufbewahrt, ohne sich
unbedingt an die konkreten Details ihrer normalen, ihres faktischen Vorkom¬
mens zu halten. Hegels Fehler in der Beurteilung von »Macbeth« ist hier be¬
sonders lehrreich. Er bemängelt, daß Shakespeare die Berechtigung seines
Helden zur Krone, das Unrecht, das ihm dabei geschehen ist, ganz fortgelas¬
sen hat b Shakespeare hat Motive dieser Art im Zyklus der Königsdramen,
die den unmittelbaren Prozeß der Selbstzerfleischung des Feudalismus gestal¬
teten, in Hülle und Fülle angewendet. Die großen späten Tragödien - auch
»König Lear« gehört in diese Reihe - halten dagegen nur das fest, was aus
diesem Auflösungsprozeß restlos ins Bild des Gattungsmäßigen als auf¬
bewahrt eingehen kann; er konkretisiert also die Bedingungen und Ver¬
hältnisse nur so weit, als dies für die moralische Plastik der Ereignisse un¬
bedingt notwendig ist. Das von Hegel geforderte Motiv würde dieses Niveau
des Werks erheblich senken. Auch hier darf aber die Auswahl und Gestal¬
tungsweise Shakespeares in dieser Periode nicht als Schema, als allein be¬
rechtigte Methode zur Betonung des Gattunghaften aufgefaßt werden. Die
Art etwa, wie in Gorkis »Mutter« oder in Andersen Nexös »Pelle der Er¬
oberer« die Arbeiterbewegung dargestellt wird, zeigt - bei aller Verschie¬
denheit der beiden Werke - immer wieder das Hinüberwachsen detailliert
geschilderter Alltagsszenen in jene Gattungsmäßigkeit, die dem hier darge¬
stellten Klassenkampfe als der historischen Mission der Arbeiterklasse inne¬
wohnt. Diese Beispiele mögen genügen; es ist ja unmöglich, die hier entstehen¬
den Formen der Dialektik auch nur skizzenhaft darzustellen. Zur Ergänzung
des bisher Ausgeführten seien nur zwei Bemerkungen gestattet. Erstens kann

1 Hegel: Ästhetik, Wk. a. a. O. X. I. S. z6y.


Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 595

der verallgemeinernde Hinweis auf das Gattungsmäßige gerade in seiner


Widersprüchlichkeit und Problematik seinen Gegenstand treffen und verdeut¬
lichen; es genügt auf den bereits erwähnten Revolutionsroman von Anatole
France hinzuweisen. Zweitens bewegt sich das Gattungsmäßige klar auf einer
in die Höhe führenden Bahn; diese enthält aber nicht nur viele Umwege und
Rückfälle, sondern die Gattungsmäßigkeit selbst ist viel mehr als eine Auf¬
bewahrung von positiven Errungenschaften. Jede bedeutsame Negativität, die
als wichtige und dauernde Hemmung auf ihrem Wege eine Rolle gespielt hat,
gehört hierher: Tartuffe ebenso wie Faust, und die satirischen Bilder Goyas
und Daumiers sind nicht minder Ausdrücke des Gattungsmäßigen als die Six¬
tinische Kapelle.
Das Erscheinen der Gattungsmäßigkeit in den gesellschaftlichen Beziehungen
der Menschen ist also keine schroffe, metaphysische Gegenüberstellung von
»bloß geschichtlichen« und »überzeitlichen« Prinzipien der Menschenschick¬
sale, es ist kein Verlassen ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Bestimmtheiten,
keine Erhebung über diese in eine andere, »reinere« Sphäre der Existenz, son¬
dern ist ein apriori ununterscheidbares Moment dieser Verhältnisse, das sich
gerade in ihren - historisch - vorwärtstreibenden Widersprüchen als Er¬
gebnis ihrer Kämpfe durchsetzt.
Schon daraus ist der Gegensatz einer so verstandenen Gattungsmäßigkeit zur
Konzeption des »allgemein Menschlichen« deutlich wahrnehmbar. Einerseits
ist sie nichts ein für allemal Gegebenes, sondern das Resultat gesellschaftlich¬
geschichtlicher Auseinandersetzungen und deshalb etwas sich ununterbrochen
Wandelndes, sich Entwickelndes, andererseits besteht in diesem Prozeß eine
- freilich sehr ungleichmäßige, viele Unterbrechungen erleidende — Konti¬
nuität. Und gerade das in einer derartigen Kontinuität sich Erhaltende bildet
für den jeweilig lebenden und handelnden Menschen objektiv einen wichtigen
Gehalt der Gattungsmäßigkeit, natürlich neben jenen Inhalten, mit denen die
aktuellen Taten, Gedanken, Gefühle etc. zu ihrem zukünftigen Gang beitra¬
gen. Aus einer solchen historisch-dialektischen Auffassung der Gattungs¬
mäßigkeit folgt weiter, daß die Aufhebung der überwundenen Phasen oder
Etappen ebenfalls sehr verschiedenartig ist: geradezu zentrale Eigenschaften
können im Laufe der Entwicklung völlig verschwinden, andere bleiben, even¬
tuell nach mitunter langen Perioden des Vergessenseins, doch in der Kontinui¬
tät erhalten, selbstverständlich sehr oft mit großen Veränderungen ihrer In¬
halte und ihrer Formen.
Dieser objektive Prozeß des Aufhebens (die Aufbewahrung mitinbegrif¬
fen) hat jedoch auch die Eigenart, daß die historisch entschwundenen Vor-
5^6 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

aussetzungen, Fundamentierungen etc. des gegenwärtigen Gattungsbewußt¬


seins, in der Form einer aktuell gebliebenen Vergangenheit aufgehoben, er¬
halten bleiben. Der lebende und handelnde Mensch ist - wenn es erlaubt
ist, den berühmten Ausspruch von Aristoteles zu variieren - ein »histori¬
sches Tier«. Er ist es für sein individuelles Leben; er ist es für jene gesell¬
schaftlichen Gebilde, die unmittelbar seine Geschicke bestimmen. Und da die
Inhalte der Gattungsmäßigkeit sich in deren Entwicklung ausbilden, muß das
eben Festgestellte auch für sie gelten. Natürlich sollte ergänzend und präzi¬
sierend hinzoigefügt werden: er wird zu einem »historischen Tier.« Denn ob¬
wohl schon auf sehr primitiven Stufen das Bedürfnis eines solchen historisch¬
bewußtseinsmäßigen Festhaltens des Wesentlichen in der eigenen Vergangen¬
heit auftaucht - schon gewisse magische Zeremonien, von den Mythen gar
nicht zu reden, zeugen dafür -, bildet sich ein solches Bewußtsein im Laufe
der Geschichte sehr langsam, ungleichmäßig und widerspruchsvoll, wenn auch
ständig aufsteigend aus. Das bezieht sich schon auf das Individuum. Gorki
schildert z. B. sehr schön, wie bei einer verprügelten, mißhandelten, alten
Arbeiterin die Berührung mit den Revolutionären, die steigende Bewußtheit
in der Betrachtung der Gegenwart zugleich die eigene, in Vergessenheit ver¬
sunkene Vergangenheit erweckt und erhellt, aus ihr einen sichtbaren Weg zu
ihrem Heute macht. Das, was wir als die Ungleichmäßigkeit, das Stockende,
ja Sich-zu-verlieren-Scheinende des Geschichtsverlaufs beschrieben haben, er¬
scheint bei Hegel in den Schlußgedanken der Phänomenologie geradezu als
Antwort auf die hier gestellte Frage. Er nennt die Geschichte den »an die Zeit
entäußerten Geist« und sagt über dessen einzelne Phasen: »Dies Werden stellt
eine träge Bewegung und Aufeinanderfolgen von Geistern dar, eine Galerie
von Bildern, deren jedes mit dem vollständigen Reichtume des Geistes aus¬
gestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen
Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat.« Aber, fügt
er hinzu, »die Er-lnnerung hat sie aufbewahrt und ist das Innere und die in
der Tat höhere Form der Substanz. Wenn also dieser Geist seine Bildung, von
sich nur auszugehen scheinend, wieder von vorn anfängt, so ist es zugleich auf
einer höheren Stufe, daß er anfängt1.«
Der, nach dem Ausdruck von Engels, auf dem Kopf stehende Materialismus
Hegels zeigt sich hier in handgreiflicher Deutlichkeit. Wir stehen ja hier auf
dem Erfüllungsgipfel des absoluten Idealismus: die Substanz ist im Begriff,

1 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Wk. a. a. O. II. S. 611.


Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 597

sich ins Subjekt zu verwandeln, das identisdie Subjekt-Objekt sidi zu ver¬


wirklichen. Allein, wenn die »Er-Innerung« den Akt dieses Einswerdens dar¬
stellt oder zumindest vorbereiten soll, so geht aus Hegels eigenen Dar¬
legungen klar hervor, daß die Erinnerung doch nur das Spiegelbild der
Substanz und nicht diese selbst sich zum inneren Besitz machen kann; sogar
wenn sie als »Er-Innerung« gefaßt wird, so bleibt das in ihr aus der Ent¬
äußerung ins Subjekt zurückgenommene Innere doch nur das Bewußtsein
über ein davon unabhängig existierendes Sein. Ist also diese Hegelsche Fas¬
sung des Phänomens als Beschreibung des realen und objektiven Prozesses
ärger als zweideutig, so ergibt sich aus ihr als Darstellung des Menschheit-
lichen, so wie es in der Erinnerung und in dem Erlebnis der Menschen zum
Ausdruck kommt, insbesondere, wie es sich in den Gestaltungen der Kunst
darbietet, ein treffendes Bild des wahren Tatbestandes. Die »Er-Innerung«
ist wirklich jene Form der Verinnerlichung, in welcher und durch welche der
einzelne Mensch - und in ihm die Menschheit - Vergangenheit und
Gegenwart als eigenes Werk, als ihm zukommendes Schicksal sich zu eigen
machen kann. Sie evoziert eine objektive Wirklichkeit, jedoch eine, die in
allen ihren Fasern von menschlicher Tätigkeit durchdrungen ist, in deren
sämtlichen Gegenständen der menschliche Verstand, das menschliche Gefühl
sein Bestes investiert hat, sich in diesem Prozeß des Gebens und Han¬
delns innerlich bereichernd. Wenn nun diese - vergangene und gegenwärtige
- Tätigkeit der Menschen innerhalb der Objektwelt durch die »Er-Inne¬
rung« ins Subjekt zurückgenommen wird, so ist es zwar eine Einbildung des
absoluten Idealismus, daß dadurch die Substanz zum Subjekt werden könne,
wohl aber wird darin Genesis und Entfaltung des Menschen als sein eigenes
Werk, als seine eigene Geschichte zur plastisch-evokativen Deutlichkeit er¬
hoben. Was der Mensch in den verschiedenen Formen der Entäußerung an
die objektive Wirklichkeit (auch an die seiner selbst und seinesgleichen) hin¬
gebend verschenkt hat, wodurch er die ihm eigene Fülle von Gedanken und
Gefühlen besitzt, wird hier in das Subjekt zurückgenommen und die Welt
als eigene Welt des Menschen, als ein unverlierbarer Besitz erlebt. In diesen
beiden - untrennbaren - Akten entsteht, verbreitert und vertieft sich das
menschliche Selbstbewußtsein. Diese untrennbaren Akte vereinigen sich
adäquat, in vollendeter Reinheit nur in der Kunst. Hegel hat, wie schon
früher angedeutet, in vielen seiner absolut-idealistisch verzerrten Auslegun¬
gen der objektiven Wirklichkeit die spezifische Eigenart der ästhetischen Set¬
zung treffend geschildert. (Wieweit im Laufe der gesellschaftlich-geschicht¬
lichen Entwicklung der Menschheit die Gegenständlichkeit des Gesellschaft-
55>S Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

lich-Menschlichen aus bloßer Substantialität in bewußte Subjektivität ver¬


wandelt wird, besser gesagt, wieweit eine solche Subjektivität in ihrer Wech¬
selbeziehung mit der objektiven Substantialität des Gesellschaftlichen eine
Tendenz zur Präponderanz erhält, kann hier nicht geklärt werden. Dieses
wichtige Problem sei hier nur angedeutet.)
Die Bestimmung der ästhetischen Subjektivität, vor allem wie sie in ihrer
adäquaten Verwirklichung, im Kunstwerk, erscheint, als Selbstbewußtsein
der menschlichen Gattung (als »Er-Innerung« des in ihrer Entwicklung zu¬
rückgelegten Weges und dessen Etappen) bestätigt und konkretisiert unsere
bisher erzielten Ergebnisse über ihre Wesensart. Die ausführliche Analyse der
Entäußerung als notwendiger Etappe zum Erlangen der wahren ästhetischen
Subjektivität zeigt, wie falsch jene Theorien sind, die den Weg, der hierher
leitet, in einer bloßen Vertiefung der Subjektivität in sich selbst suchen. Noch
entschiedener als in der Ethik, wo eine solche Auffassung des »Erkenne Dich
selbst!« leicht zu einer unfruchtbar-selbstzerfleischenden Hypochondrie zu
führen pflegt, ist es eine fundamentale Tatsache der Ästhetik, daß Reichtum
und Tiefe der Subjektivität nur durch vertiefte Aneignung einer realen Ob¬
jektwelt zu erzielen ist. Im Gegensatz zu modernen Theorien wie der »Intro¬
version«, zu modernen Autoren, selbst zu solchen wie Caudwell, die sich zum
Marxismus bekennen, aber doch meinen, das ästhetisch gewordene Selbst¬
bewußtsein sei eine Wegwendung von der Außenwelt x, betont die ältere,
selbst die idealistische Ästhetik diesen Zusammenhang zwischen Innerlich¬
keit und Beziehung zur Außenwelt; »die Originalität ist. . . identisch mit der
wahren Objektivität«, sagt Hegel 1 2.
Es ist eine der allerallgemeinsten Erfahrungen, daß die unzerreißbare Ge¬
bundenheit an die Objektwelt eine Aufhebung der unmittelbaren und in
dieser Unmittelbarkeit aufs äußerste, bis zum Solipsismus zugespitzten Ein¬
zigartigkeit der Subjektivität erwirkt. Die Feststellung einer solchen Beschaf¬
fenheit des Subjekts geht schon auf die griechische Skepsis zurück, und zwar

1 Caudwell sagt über Lyrik: »So zerstört und verneint die Spradie der Poesie konti¬
nuierlich die Struktur der Realität, um die Struktur des Selbst hervorzuheben.«
Illusion and Reality a. a. O. S. 199. Daß Caudwell für Epik und Dramatik die
Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit anerkennt, gehört nicht hierher. Es
sei nur die kuriose Folge dieser Theorie kurz erwähnt, aus den obenerwähnten
Gründen kenne der Roman keinen Rhythmus, keinen Stil, er sei nidrt aus Worten,
sondern aus Szenen aufgebaut. Ebd. S. 200.
2 Hegel: Ästhetik, a. a. O. X. I. S. 379.
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 599

als grundlegende qualitative Verschiedenheit des Individuellen bei allen


Lebewesen, nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere. Daraus wurde
seinerzeit die Folgerung der Unerkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit
gezogen L Uns interessieren hier die erkenntnistheoretischen Konsequenzen
sehr wenig. Denn es ist klar, daß sie in der Alltagspraxis von deren naivem
Materialismus vollständig ignoriert werden; die Menschen des Alltags han¬
deln so, verkehren miteinander so, als ob eine solche Schranke ihrer Verstän¬
digung nicht vorhanden wäre. Die verallgemeinernde Funktion der Sprache,
auch in bezug auf die Sinneseindrücke, Wahrnehmungen etc. schafft hier eine
hinreichende Grundlage für die Praxis, nicht nur zwischen den Menschen,
sondern auch zwischen Menschen und Tieren (Jäger und Jagdhund etc.). In
der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit, ebenso wie in den
Formen der Arbeit, die diese vorbereiten bzw. anwenden, sorgt die desan-
thropomorphisierende Umwandlung für ein gemeinsames Terrain der Ver¬
ständigung der Menschen untereinander, freilich vor allem dadurch, daß alle
Äußerungsweisen der unmittelbaren Partikularität des Subjekts in den Hin¬
tergrund gedrängt werden und eine an den Objekten orientierte Sprache
(Mathematik, Geometrie etc.) ausgebildet wird.
Die erkenntnistheoretische Absurdität des Solipsismus kann aber die Tatsache
nicht aus der Welt schaffen, daß eine Spannung zwischen den Verallgemeine¬
rungen einer jeden Sprache und der auf unmittelbare Subjekte beschränkten
spezifischen Qualität der unmittelbaren Erlebnisse besteht und auch im All¬
tagsleben zum Ausdruck gelangen kann. Wenn etwa zwei Menschen sich nicht
oder nicht mehr verstehen, so kommt in ihrem Dialog oft zum Ausdruck, daß
dasselbe Wort für beide nicht mehr denselben Erlebnisinhalt hat. Starke, in¬
dividuell gefühlsbeladene Tendenzen können also den hier latent vorhan¬
denen, im normalen Verkehr praktisch verschwindenden Abstand geradezu
als einen Abgrund zwischen zwei Menschen, als die Unmöglichkeit, sich zu ver¬
ständigen erscheinen lassen. Dieses Phänomen darf nicht damit verwechselt
werden, daß in einzelnen gesellschaftlichen Gruppen dasselbe Wort - etwa
Streik - ganz entgegengesetzte Gefühlsbetonungen erhalten kann, ganz ent¬
gegengesetzte Assoziationen erweckt etc. Hier geht die Divergenz primär
vom Objekt aus, allerdings bestimmt durch die Divergenz von Interessen,
aber auch hier durch etwas Objektives; ihre Quelle ist zudem das Gemein¬
same bei den Mitgliedern der Gruppe, nicht die partikulare Qualität der

1 Sextus Empiricus: Pyrrhoneische Grundzüge, Erstes Buch, Kap. XIV.


6oo Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Individuen. Die Widersinnigkeit in der Semantik besteht unter anderem


darin, daß sie einerseits diese heterogenen Phänomene als einheitliche behan¬
delt, andererseits, daß sie reale gesellschaftliche Kontroversen durch eine an¬
geblich objektiv-wissenschaftliche Definition aus der Welt schaffen zu können
vermeint. Bei diesen Kontroversen ist es ja nicht mehr als ein oberflächliches
Symptom, -daß demselben Wort verschiedene Bedeutungen zugesprochen
werden - was beiläufig bemerkt nicht stimmt, denn der unterschiedliche Ge¬
fühlsinhalt des Wortes »Streik« stammt gerade daher, daß Kapitalisten und
Arbeiter dasselbe Phänomen meinen.
Das Gefühl der Menschen kann unter Umständen das früher genannte Phä¬
nomen zu einem an die Grundstruktur der menschlichen Existenz unablösbar
gebundenen verallgemeinern. So in der bekannten Zeile Schillers: »Spricht
die Seele, so spricht, ach schon die Seele nicht mehr.« Es ist nicht hier der Ort
darüber zu diskutieren, ob und wieweit dieses Phänomen in Wirklichkeit so
fundamental und allgemein ist, wie Schiller es darstellt. Schon für seine
Lebzeiten muß gesagt werden, daß weder Lessing noch Goethe darin etwas
generell Charakteristisches für die menschliche Existenz gesehen haben.
Andererseits gewinnt eine solche Auffassung ein immer größeres Terrain in
der bürgerlichen Ideologie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in
unsere Tage. Hier wird immer stärker - hymnisch oder elegisch, tragisch
oder satirisch — die partikulare, auf das Partikularste zugespitzte Qualität
der Individuen ins Zentrum gerückt und immer wieder gezeigt, daß zwi¬
schen solchen in sich abgesonderten Qualitäten kein Verkehr möglich ist; ist
zuweilen sein Schein vorhanden, so kommt das Illusionäre darin alsbald zum
Tageslicht. So entsteht, im Sinne Heraklits * (»Die Vkichenden haben eine
gemeinsame Welt, doch jeder Schlummernde wendet sich nur an die eigene«),
eine Welt von Schlafenden, die das Wachsein als Daseinsform leugnen oder
ablehnen, -die immer tiefer in die Welt ihrer einsamen Träume versinken und
von dort aus selbstredend keinen Weg in die Träume eines anderen Schlafen¬
den finden können. Man kann also sehr wohl als Tatsache anerkennen, daß
die spezifische Qualität der Erlebensart, so wie sie auf dem Niveau der reinen
Unmittelbarkeit erscheint, nicht adäcjuat mitteilbar ist, ohne damit zu einem
unaufhebbaren Solipsismus zu gelangen. Und zwar nicht bloß für die Praxis
des Alltagslebens, wo dies unbezweifelbar ist, sondern auch für den kompli¬
zierteren Verkehr der Menschen untereinander. Natürlich wird diese Un-

1 Diels: Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1906, Band I. S. 75. Fragment Nr. 89.
Vom hidividuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 601

mittelbarkeit des bloß Partikularen, da es seelisch im Zusammenhang der


ganzen Persönlichkeit erscheint, die Quelle vieler Konflikte sein. Welches
Gewicht diese im gesamten Zeitbild erhalten, ändert sich je nach Periode und
vor allem je nach Klassenaspekt. Dazu gehört natürlich die Überbetonung
solcher Kollisionen in unserer Zeit. Es wäre natürlich falsdi, wie es oft ge¬
schah, Schillers Vers einfach in diesem Sinne auszulegen. Schiller kennt und
bejaht das Wachsein und die in ihm notwendig vorhandene Gemeinschaft. Er
spannt nur - wie zuweilen, so auch hier - die Bedingungen ihrer Möglichkeit
außerordentlich hoch und anerkennt nur den Geist als ein adäquates Niveau
ihrer Verwirklichung. Dazu kommt noch, daß für ihn das, was hier Seele
genannt wird, ein dynamisches, kein stationäres Prinzip ist, das deshalb die
Möglichkeit, Geist zu werden, in sich trägt. Dieses Schillersche Leugnen der
adäquaten Ausdrückbarkeit der Seele, des angemessenen Verkehrs der Seelen
miteinander setzt eine unvergleichlich höhere Ebene der menschlich-morali¬
schen Beziehungen voraus, als die oben angedeuteten Einsamkeitsideologien.
Es kommt in hochgespannten idealistischen Weltanschauungen oft zum Aus¬
druck, so bei Platon und den Neuplatonikern, so in der Gnosis als Unter¬
scheidung der Psychiker von den Pneumatikern, wobei dort das Alltäglich-
Durchschnittliche mit dem Terminus Elyliker bezeichnet wird. Und es führt
normalerweise zu einer Ablehnung der im ästhetischen Bereich wirksam wer¬
denden Subjektivität. So weit geht Schiller weder in der Theorie, noch in der
Praxis; was er als menschlichen Verkehr zwischen Posa, Carlos und Elisabeth,
zwischen Max Piccolomini und Thekla zu gestalten unternimmt, beruht ge¬
rade darauf, daß die Seele zu »sprechen« imstande ist.
Damit ist hier ein reales Problem, gerade für die Ästhetik vorhanden. Es
handelt sich darum, daß die einzigartige, unmittelbar nicht mitteilbare Er¬
lebnisart, Wahrnehmungsqualität etc. der partikularen Individualität gerade
in ihrer qualitativen Singularität gesteigert und zugleich, ohne diese Intensi¬
vierung zu stören oder zu hemmen, doch verallgemeinert wird. Im Sinne des
Schillersdaen Verses muß also die ästhetisch gewordene Seele sprechen kön¬
nen, ohne jene ihre Wesensart zu verlieren, die sie zur Mitteilung unfähig
zu machen scheint. Damit steht Schiller im schroffen Gegensatz zur modernen
Seele-Geist-Kontrastierung (Rathenau, Klages etc.), die diese Unfähigkeit der
Seele, sich rational zu objektivieren, als Grundlage ihrer »Überlegenheit«
über den Geist auffaßt. Daß dieser Prozeß in der schöpferischen Subjektivi¬
tät vor sich geht, ist eine allgemein bekannte und anerkannte Tatsache.
Doch auch das rezeptive Erleben der Kunst hat dieselbe Beschaffenheit.
T. S. Eliot beschreibt diese Tatsache in ihrer unmittelbaren Gegebenheit ganz
602 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

richtig: »Selbst wenn zwei Personen von Geschmack dieselbe Poesie lieben,
wird diese Poesie in ihrem Gemüt leicht verschiedene Modelle zeigen; unser
individueller Geschmack in der Poesie trägt unzerstörbare Spuren unseres
individuellen Lebens mit allen seinen angenehmen und schmerzlichen Erfah¬
rungen ... Es gibt vielleicht keine zwei Leser, die an die Poesie mit densel¬
ben Anforderungen herantreten L« All das trifft für die Unmittelbarkeit
der ästhetischen Rezeption zu. Wenn man jedoch bei dieser Unmittelbarkeit
stehenbleiben müßte, so würde das Ästhetische nicht nur den Solipsismus der
Erlebniswelt endgültig fixieren, sondern für diese die eigentliche, adäquate
Sphäre der Verwirklichung sichern. Wenn um die Jahrhundertwende Oscar
Wilde und Alfred Kerr die Kritik zur Kunst deklarierten, so haben sie
eigentlich dies gemeint: Kritik als »Gestaltung«, als »künstlerische« Mittei¬
lungsform dieser Eigenart, dieser direkten Nichtmitteilbarkeit der Erlebnisse
Kunstwerken gegenüber; so haben sie eine zweite Etage über die ebenso ver¬
standene Beziehung des Künstlers zur Wirklichkeit gebaut. Der solipsistische
Subjektivismus wird klar ausgesprochen: »Nicht auf die Werke kommt es
also an, die hier besprochen sind. Sondern auf das, was darüber gesagt ist 1 2.«
Wenn solche Prinzipien konsequent durchgeführt werden könnten, müßte die
»schlechte Unendlichkeit« eines unendlichen Prozesses entstehen, denn der
Eindruck und die Beurteilung eines solchen »kritischen Kunstwerks« müßten
wieder eine ebensolche subjektgebundene »Gestaltung« der Kritik der Kritik
sein und sofort ins Unendliche. Aber Kerr muß seine eigenen Prinzipien ver¬
leugnen: »Ein Nur-Impressionist könnte sich als Kritiker begraben lassen.
Impressionismus ist nicht Kritik, es gibt auch sachliche Förderungen 3.« Hier
haben wir uns mit den Problemen, die sich aus diesen Prämissen ergeben, nur
insofern zu beschäftigen, als sie sich auf die Wesensarten der ästhetischen
Subjektivität überhaupt beziehen; die nähere Untersuchung des kritischen
Verhaltens zur Kunst und seiner Methoden kann erst im zweiten Teil dieses
Werks durchgeführt werden, wo seine Stellung in der Typik der ästhetischen
Verhaltensweisen bestimmt werden wird.
Das eigentliche Problem, wie ohne radikale Aufhebung, ja durch eine Stei¬
gerung der partikularen - unmittelbar in sidi selbst verschlossenen - Sub¬
jektivität doch der Boden einer bestimmten Objektivität und der Ge-

1 T. S. Eliot: The Use of Poetry, London 1934, S. 141.


2 Kerr: Wk. a. a. O. Band I. S. XVII.
3 Ebd. S. VIII.
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 603

meinsamkeit (ein ästhetisches Hinausgeben über den Solipsismus der reinen


Partikularität) erreicht werden könne, hat Kant formuliert. Kant hat recht,
wenn er als Bedingung einer Mitteilbarkeit und Notwendigkeit der ästheti¬
schen Urteile einen »Gemeinsinn (sensus communis)« postuliert. Er unterschei¬
det die so entstehende Notwendigkeit einerseits von der Mitteilung »des blo¬
ßen Sinnengeschmacks«, wo es überhaupt keine Notwendigkeit dieser Art
geben kann, andererseits von jenem Gemeinsinn, welcher »jederzeit nach Be¬
griffen« urteilt, mögen diese Prinzipien nur »dunkel vorgestellte« sein; wo¬
mit Kant gewisse Erscheinungsformen des Alltags nicht unrichtig charakteri¬
siert 1. Bei der Ableitung des Gemeinsamen selbst jedoch verwirren die subjek¬
tiv-idealistischen Voraussetzungen Kants die richtige Lösung. Denn erstens ist
bei ihm der Gemeinsinn doch nur auf der Grundlage einer begrifflich-rationa¬
len Erkenntnis möglich. Zweitens wird eine »Stimmung der Erkenntniskräfte
zu einer Erkenntnis überhaupt« postuliert, welche »durch das Gefühl (nicht
nach Begriffen) bestimmt« ist. Indem nun Kant aus der Mitteilbarkeit der
Erkenntnis auf die der »Stimmung«, auf die des »Gefühls derselben (bei
einer gegebenen Vorstellung)« rückschließt, meint er den »sensus communis«
abgeleitet zu haben 2. In Wirklichkeit hat er bloß die Mitteilbarkeit der Er¬
kenntnis, an der sowieso nicht gezweifelt wird, von Folge auf Ursache schlie¬
ßend, also höchst problematisch bewiesen, während er an seinem aktuellen
Ziel, an der Mitteilbarkeit in der ästhetischen Sphäre vollständig vorbeigeht.
Die Eigenart der Kantschen Philosophie, daß sie auf der einen Seite - mit
der Konzeption: »ohne Begriff« - aus der Ästhetik jede Ratio austreibt, auf
der anderen Seite das ästhetische »Urphänomen« nicht in den originären
ästhetischen Akten, sondern in dem viel abgeleiteteren »Geschmacksurteil«
erblickt, macht hier jede befriedigende Lösung unmöglich, obwohl schon das
Aufwerfen der Frage nach dem »sensus communis« hier, wie an vielen Stel¬
len der »Kritik der Urteilskraft«, für die Fülle der genialen Ahnungen ihres
Verfassers zeugt.
Von den oben angegebenen Gründen abgesehen, kann Kant diesen Gemein¬
sinn auch darum nicht zutreffend beschreiben, geschweige denn richtig zer¬
gliedern, weil er - subjektiv idealistisch - von einer formalen Analyse des
nicht in die Objektwelt eingesenkten Subjekts ausgeht. Die bestimmenden
Zusammenhänge sind jedoch, wie die vorangegangenen Betrachtungen ge-

1 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 20.


2 Ebd. § 24.
604 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

zeigt haben, primär inhaltlichen Charakters und entspringen aus der ästhe¬
tischen Mimesis der an sich vom Subjekt unabhängig existierenden Objekt¬
welt, welche freilich in allen Details ihrer Gegenständlichkeit die Spuren der
Tätigkeit des Menschengeschlechts zeigt und in einer Weise widergespiegelt
wird, die gerade diesen Charakter der Wirklichkeit, das Inerscheinungtreten
des Stoffwechsels der Gesellschaft mit der Natur, in den Mittelpunkt des
Interesses rückt. Das Medium dieser Widerspiegelung der Wirklichkeit ist je¬
doch an die unmittelbar qualitativ einzigartige Partikularität des Subjekts
gebunden. Dieser Stoffwechsel ist nämlich eine objektive Tatsache, an welcher
es unmittelbar nicht immer wahrnehmbar sein muß, daß ihre spezifischen
Qualitäten dieser Quelle entspringen; sie können freilich vermittels der
wissenschaftlichen Widerspiegelung und ihrer begrifflichen Weiterführung ge¬
danklich aufgedeckt werden. Die ästhetische Mimesis strebt jedoch, obwohl sie
die Objektivität möglichst treu zu reflektieren verpflichtet ist, einem ande¬
ren Ziel zu: solche Zusammenhänge als Taten und Leiden, als Erfolge und
Niederlagen, als Aufschwünge und Verzerrungen der Menschen (des Men¬
schengeschlechts) erlebbar zu machen. Die daraus entstehende Doppelheit der
Aufgabe, nämlich eine objektive Konstellation, ohne ihre Objektivität auf¬
zuheben, subjektiv, evokativ wirken zu lassen, bestimmt die hier notwendig
werdende Doppelheit des Subjektverhaltens, vor allem das der im Werk
verkörperten Subjektivität: das Aufbewahren der sinnlich-sinnfälligen Un¬
mittelbarkeit des Erlebens und des Erlebbarmachens, wobei in der Aufhebung
etwas von der Partikularität, der Einzigartigkeit, Unvergleichlichkeit des
Subjekts aufbewahrt bleibt.
Diese untrennbare Vereinigung von Einzigartigkeit und Verallgemeinerung
des Subjekts drückt sich darin aus, daß das hier entstehende Bewußtsein pri¬
mär nicht ein subjektives Bewußtsein über eine von ihm unabhängige, ihm
gegenüberstehende Objektwelt ist, vielmehr eine ganz eigenartige Form des
Selbstbewußtseins. Hegel gibt in der »Phänomenologie des Geistes« eine
interessante Beschreibung seines Entstehens und Wesens, und zwar gerade in
statu nascendi, in welchem es »erst für sich geworden« und noch nicht seine
Stelle im Gesamtbereich des Bewußtseins erlangt hat. (Natürlich hat diese
Beschreibung Hegels auf unsere ästhetischen Probleme keinen direkten oder
beabsichtigten Bezug.) Er sagt also über das Selbstbewußtsein: »es ist für sich
selbst, es ist Unterscheiden des Unterschiedenen, oder Selbstbewußtsein. Ich
unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, daß
dies Unterschiedene nicht unterschieden ist. Ich, das Gleichnamige, stoße mich
von mir selbst ab; aber dies Unterschiedene, Ungleichgesetzte ist unmittel-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 605

bar, indem es unterschieden ist, kein Unterschied für mich 1.« Dadurch, daß
in jenem Selbstbewußtsein, das als ästhetisch bestimmt werden kann, das
Subjektive immer als in ein Medium der Objektwelt versenkt, diese ordnend,
ihr Akzente verteilend, ihre Gegenständlichkeit mit besonderer Qualität fär¬
bend etc. zum Ausdruck kommt, entsteht insofern eine Modifikation gegen¬
über Hegels Beschreibung, als die fließende Grenze des vom Subjekt Unter¬
schiedenen und nicht Unterscheidbaren auch für die künstlerisch gestaltete
Außenwelt gilt. Die bei der Entäußerung und ihrer Rücknahme dargestellte
Bewegung der Subjektivität: die Hingabe des Subjekts an die Außenwelt,
zwecks deren vollendeter Durchdringung mit ihrer eigenen Qualität, die Aus¬
dehnung des Subjekts durch Aufnahme und Bearbeitung der von ihm wider¬
gespiegelten Objektivität bildet auch hier die Grundlage für das Spezifische
seiner ästhetischen Erscheinungsweise.
Bei allen Unterschieden, die das ins Ästhetische entfaltete Selbstbewußtsein
im Vergleich zu seinem einfachen und abstrakten Auftauchen in Hegels »Phä¬
nomenologie« aufweist, bleibt die von ihm hervorgehobene Dialektik des
Unterschiedenen und nicht Unterschiedenen ein äußerst wichtiges Moment für
das Auftreten der ästhetischen Subjektivität als Selbstbewußtsein der mensch¬
lichen Gattung. Wir haben bereits bei Behandlung der objektiven Seite dieses
Zusammenhangs darauf hingewiesen, daß die verschiedenen »Schichten« der
Beziehungen der Menschen zueinander (von der Familie bis hinauf zur
Menschheit) nicht metaphysisch starr voneinander geschieden sind, nicht ge¬
trennte »Stockwerke« der Subjektivität bilden, sondern von fließenden Gren¬
zen umgeben sind, die wie die Meere in der Geographie die einzelnen Gebiete
gleichzeitig trennen und verbinden. Auch dort, wo reale Konflikte vorhan¬
den sein können und sind (Nation - Menschheit, Nation - Klasse, Klasse -
Menschheit etc.), entstehen diese objektiv auf einem gemeinsamen Boden, las¬
sen sie objektive innere Widersprüche der Menschheitsentwicklung zutage
treten, offenbaren widersprüchliche Tendenzen der Weltgeschichte, die in bei¬
den der gegensätzlich in Erscheinung tretenden »Schichten« immanent vor¬
handen sind. Man denke etwa an die Konflikte, die zwischen den revolutio¬
nären Propagandakriegen des Zeitalters der Französischen Revolution und
ihren nationalistischen Expansionstendenzen wirksam wurden. Nicht nur
ist in manchen Einzelfällen ungewiß, wo das übergreifende Moment objektiv
zu finden ist, sondern auch die von den Eroberungsfeldzügen hervorgerufenen

1 Hegel: Phänomenologie des Geistes, Wk. a. a. O. Band II. S. 128 f.


6o6 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

nationalen Befreiungskämpfe haben in ihrem Keim derartige Widersprüche.


»Alle gegen Frankreich geführten Unabhängigkeitskriege« sagt Marx »tragen
den gemeinsamen Stempel einer Regeneration, die sich mit Reaktion paart1.«
Und es genügt bei Heine oder Raabe über Deutschland, bei Stendhal oder
Nievo über Norditalien nachzulesen, um diese Widersprüchlichkeit in ihrer
vollen Ausbreitung und Tiefe zu erblicken.
Es ist naturgemäß die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, solche Wider¬
sprüche detailliert zu untersuchen. Für uns kommt es hier ausschließlich dar¬
auf an, zu zeigen, daß die künstlerische Gestaltung, die ihr zugrunde liegende,
die in ihr verkörperte, sowie die von ihr ausgelöste Subjektivität diese Struk¬
tur der objektiven gesellschaftlidi-geschichtlichen Wirklichkeit, ihre wahren
Proportionen bewahrend, jedoch mit gesteigerter Intensität, wiedergibt.
Daraus folgt, daß die verschwimmenden Grenzen der objektiven Wirklich¬
keit, das Ineinanderübergehen ihrer Widersprüche subjektive Verhaltenswei¬
sen erfordern und ausbilden, die geeignet sind, gerade diese ihre Beschaffen¬
heit in sich aufzunehmen und gestaltend oder rezeptiv zu reproduzieren.
Unsere frühere Formulierung, daß das Subjekt sich in diese Welt der Men¬
schengattung als Subjekt ä corps perdu stürzen muß, wird dadurch bestätigt
und konkretisiert. Hier gewinnt die Hegelsche Dialektik des Ununterschiede-
nen und Unterschiedenen eine besondere Bedeutung. Denn es entscheidet sich
innerhalb des schaffenden Subjekts, wo und wie trennende Linien, distanzie¬
rende Setzungen, vereinigende Synthesen etc. angebracht werden sollen, um
jene konkreten, sinnlich-sinnfälligen Verallgemeinerungen am Wirklichkeits¬
stoff zu vollziehen, die aus seiner Objektivität — ohne ihr echtes Ansich zu
zerstören - ein beseeltes Abbild des Menschen und seiner Taten zu machen
imstande sind. In diesem schöpferischen Subjekt entscheidet es sich, auf wel¬
chem Niveau das Einswerden von rein subjektiver Qualität und gesellschaft¬
lich-geschichtlicher Wahrheit vollzogen wird, ob es ein bloßer Reflex der
Partikularität bleibt, oder in sich die umfassenderen Lebensformen der Sub¬
jektivität (von Familie bis Menschheit) wachruft. Und es ist klar, daß in der
rezeptiven Subjektivität - mutatis mutandis - sich Prozesse ähnlicher Art
abspielen müssen, freilich mit dem qualitativen Unterschied, daß das Subjekt
hier nicht einer künstlerisch erst zu formenden Wirklichkeit gegenübersteht,
sondern Einwirkungen unterworfen wird, die ein geformtes, die Erlebnisse
leitendes Werk ausstrahlt. Die Niveauunterschiede der Subjektivität sind also

1 Marx-Engels: Gesammelte Schriften (1852-62), Stuttgart 1920, Band II. S. 421.


\ om Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 607

im Werk gesetzt, und nicht vom Betrachter der Wirklichkeit abgerungen; es


ist jedoch durchaus möglich, daß in seinen Erlebnissen dieses Niveau nicht
erreicht wird, oder daß diese ins Werk etwas idarin nicht Geleistetes erlebnis¬
haft oder interpretativ hineintragen. Mag nun dieser Aufnahmeprozeß
adäquat sein oder eine Bewegung nach oben bzw. nach unten dem Werk
gegenüber zeigen, er wird im Subjekt - wieder: mutatis mutandis - eine
ähnliche Struktur zeigen müssen.
Die Unklarheiten, die in dieser Frage weit verbreitet sind, stammen, wenig¬
stens größtenteils, daher, daß die Analysen der ästhetischen Verhaltens¬
weisen nicht in deren originär ästhetischen Wesensart begründet zu sein
pflegen, um erst von hier aus die sekundären, abgeleiteten Erscheinungen zu
begreifen. (Unser zweiter Teil wird eine ausführliche Typologie dieser Ver¬
haltensarten bringen. Hier müssen wir uns auf ganz allgemeine und darum
abstrakt bleibende Bemerkungen beschränken.) Wir haben z. B. gesehen, daß
Kant im ästhetischen Urteil das »Urphänomen« des ästhetischen Verhaltens
erblickt, wo es doch bei unbefangener Betrachtung evident sein muß, daß
solche Urteile nur ein Begrifflichmachen der ursprünglich ästhetischen Erleb¬
nisse sind, d. h. daß ihre inhaltliche Richtigkeit von deren Beschaffenheit ab¬
hängig ist, worauf Kant überhaupt nicht eingeht, indem er ausschließlich for¬
male Kriterien der Geltung aufzudecken sucht. Natürlich ist dieses Begriff¬
lichmachen keine einfache mechanische Transposition, es muß eine Klärung
- oder wenigstens einen Klärungsversuch - der allgemeinen Ursachen des
ästhetischen Erlebnisses in sich enthalten. Eine Analyse der aus dieser Lage
entspringenden allgemein logischen und spezifisch-ästhetischen Probleme
kann, wie gesagt, erst später erfolgen; der Hinweis war jedoch notwendig,
weil jene Dialektik im Subjekt, die uns hier beschäftigt, im ästhetischen Erleb¬
nis ihre wirklich eigenartige Form erhält; es muß also auf dieses zurück¬
gegriffen werden, um das Phänomen selbst in seiner Reinheit zu erfassen.
Ergänzend sei hier nur noch so viel bemerkt, daß derartige verwickelte Be¬
ziehungen zwischen originär und abgeleitet Ästhetischem auch im Schaffens¬
prozeß zu finden sind; auch in diesem spielen Züge, die sich weitgehend mit
den Widerspiegelungsformen des Alltags und der Wissenschaft berühren, ja
streckenweise mit ihnen identisch sind, eine oft sehr beträchtliche Rolle. Auch
hier möge diese Andeutung der Problematik genügen.
Die Verzerrung - vom ästhetischen Standpunkt - stammt in den meisten
solchen Fällen daher, daß Zusammenhänge, die originär-ästhetisch sich zu
einer unzertrennbaren, organischen Einheit konzentrieren, zerrissen und die
so entstehenden Momente oft als selbständige Entitäten einander gegenüber-
6 o8 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

gestellt werden. Das geschieht zumeist in der Richtung, daß das partikulare
Subjekt des Schöpfers, die spezifisch-individuelle Qualität des Werks, die
klassenmäßige Parteinahme und Wirklichkeitsabbildung in ihm, sein natio¬
nales und zeitgeschichtliches Kolorit, seine Manifestation des Menschheitlichen,
die, im Werk selbst unaufhebbar verbunden, eine - freilich dialektisch
widerspruchsvolle — Einheit bilden, nunmehr je ein Eigenleben erhalten oder
wenigstens als voneinander unabhängige Tendenzen einander gegenüber¬
gestellt werden. Es sei hier nebenbei bemerkt: natürlich hat eine historische
Einzelforschung als solche methodologisch durchaus das Recht, etwa Kunst¬
werke auf ihre Treue der Geschichte gegenüber zu untersuchen, und solche
Forschungen können mitunter sogar zur Erkenntnis künstlerischer Probleme
beitragen. Der Forscher ist jedoch aus der ästhetischen Sphäre herausgetreten,
er schaut die Kunst von außen, nicht von innen an, das Ästhetische wird für
ihn zum bloßen Stoff einer wissenschaftlichen Betrachtung, das Kunstwerk zu
einem bloßen Dokument. Solange nun Bewußtheit darüber herrscht, daß
solche verschiedenen Aspekte der Einheit der objektiven ästhetischen Gebilde
gegenüber bloß Aspekte bleiben, ist auch keine Gefahr vorhanden, daß die
Einheitlichkeit des ästhetischen Subjekts zerstückelt werde. Die Bestimmtheit
des Individuums durch diese oder jene wichtige Form der gesellschaftlichen
Beziehungen der Menschen, hebt ja die Einheit der Individualität nicht auf,
gibt ihr bloß neue Akzente, bereichert und vertieft sie. Wird etwa ein Arbei¬
ter klassenbewußt, so treten zwar neue Bewußtseinsinhalte in seiner Persön¬
lichkeit auf, vollbringen in ihr unter Umständen große Veränderungen, ge¬
waltige Wendungen etc., doch bleibt die qualitative Kontinuität der Persön¬
lichkeit in jedem Saulus, mag er noch so plötzlich zum Paulus geworden sein,
immer erhalten. Dasselbe bezieht sich natürlich auch auf die wechselseitige
Beziehung zwischen gesellschaftlichen Formen aufeinander und insbesondere
darauf, wie sie die Persönlichkeit der Menschen, ihre Entwicklung, Konflikte
etc. bestimmen. Und diese Wahrheit des Lebens wird durch die Kunst bestä¬
tigt, ja gesteigert. Denn diese reproduziert Natur und Geschichte vom Stand¬
punkt der in ihnen tätigen Menschen, muß also selbst dort, wo Kontinuität
und Diskretwerden ihre dialektische Widersprüchlichkeit bis zum Sprung in
eine neue Qualität entfalten, das Moment der Kontinuität nicht nur bewah¬
ren, sondern es sogar als Ubergreifendes behandeln.
All dies scheint für die Einwirkungen von real vorhandenen, gesellschaftlich¬
geschichtlich wirksamen Beziehungen der Menschen zueinander ohne weiteres
einzuleuchten. Komplizierter wird die Frage, wenn von der Entfaltung des
Menschheitsstandpunkts die Rede ist, eben weil dieser in keiner bisher exi-
V om Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 609

stierenden Gesellschaft eine in menschlichen Beziehungen objektivierte Ge¬


stalt erhalten hat, und so Taten und Gedanken der Menschen noch niemals
direkt bestimmen konnte. Man darf aber nie vergessen, daß die Ausbildung
und Entfaltung dessen, was in der Geschichte als dem Menschengeschlecht
Angehöriges, es Charakterisierendes entstanden, primär nicht ein Ergebnis des
menschlichen Denkens und Fühlens war und ist, sondern aus dem Spiel der
objektiven Kräfte dieser Entwicklung entsprang und entspringt. Damit wird
die Wichtigkeit solcher Gedanken und Gefühle keineswegs bestritten, im
Gegenteil, sie erlangen durch Fixieren und Aufbewahren der Erfahrungen und
Errungenschaften, die der objektive Prozeß den Menschen aufdrängt, eine be¬
trächtliche Wichtigkeit. Jedoch wie alle Gedanken und Gefühle sind auch sie
Reflexe dessen, was in der objektiven Wirklichkeit tatsächlich geschieht. Wir
haben bereits hervorgehoben, daß diese Momente, in denen das der Entwick¬
lung des Menschengeschlechts Eigentümliche zum Ausdruck kommt, immer
untrennbar an die Geschichte der Gemeinschaftsformen (Klasse, Nation, etc.)
gebunden sind; daß ihr Gattungscharakter immer nur als ein Zug, als eine
Nuance, als eine Tendenz etc. der Bewegung solcher Gemeinschaftsformen
eine Existenz erhalten kann. Die Untrennbarkeit dieser Zusammenhänge als
die Ort- und Zeitgebundenheit, das nationale und das klassenmäßige Wesen
jeder Erscheinung des Menschheitlichen ist also eine objektive Tatsache der
Geschichte. Ihre subjektive Manifestation, das Selbstbewußtsein dieser Pro¬
zesse muß deshalb - als ihre Widerspiegelung - eine entsprechende Beschaf¬
fenheit und Struktur besitzen.
Selbstredend muß die ästhetische Widerspiegelung einer so gearteten Wirk¬
lichkeit die in ihr an sich vorhandene Tendenz zur Untrennbarkeit der einzel¬
nen Momente noch energischer betonen. Denn wie wir wiederholt feststellen
konnten, beruht das Wesen der ästhetischen Widerspiegelung gerade darauf,
die sinnlich-sinnfällige Einheit des Menschlichen und seinen ganzen wider¬
spruchsvollen Reichtum zu einer evokativen Wirkung zu erheben. Diese qua¬
litative Umbildung des unmittelbar gebundenen Lebensstoffes ist bestrebt, die
Erlebnisse der Rezeption so zu lenken, daß die menschliche Einheitlichkeit
des Inhalts - und mag diese noch so widerspruchsvoll sein - durch eine ver¬
einheitlichende Formbildung in einer gesteigerten Einheitlichkeit zum Aus¬
druck gelange. Damit erhält in der subjektiven Dialektik die Hegelsche Ein¬
heit und Trennung von Unterschiedenem und nicht Unterschiedenem einen
besonderen Aspekt: das Selbstbewußtsein, das für den ganzen, ununterschie-
denen Komplex der menschlichen Äußerungsweise als Betrachtung sich von
sich selbst unterscheidet, in ihm sich selbst erkennt und diese Selbstreflexion
6 io Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

objektiviert, ist bestrebt die höchstmögliche Verallgemeinerung zu erringen,


d. h. dem ästhetischen Gebilde die denkbar intensivste und dauerhafteste
Wirkung zu verleihen. Die Orientierung der ästhetischen Widerspiegelung
auf das gattungsmäßig Menschheitliche muß deshalb keineswegs bewußt
werden. Die in dieser Hinsicht objektiv im Werk erreichte Höhe hängt von
Reichtum, Tiefe und Richtigkeit der Wirklichkeitsgestaltung ab; sie kann
diese Erhebung ins Gattungsmäßige realisieren, auch bei einem bewußt-un¬
mittelbaren Richtungnehmen auf das hic et nunc des gegebenen gesellschaft¬
lich-geschichtlichen Augenblicks, und sie kann daran scheitern, bei dem hei¬
ßesten Bemühen, gerade das »allgemein Menschliche« künstlerisch zu erfassen.
Das zeigt, daß wir es bei diesem Phänomen mit einem zugespitzten Fall der
Form-Inhalt-Einheit im Kunstwerk zu tun haben. Die sich in dieser offen¬
barende Gattungsmäßigkeit ist vor allem ein inhaltliches Problem: aus der
unendlichen Anzahl der in einer bestimmten Zeit, unter bestimmten Verhält¬
nissen möglichen (und sogar typischen) Charaktere, Züge, Taten, Kollisionen
etc. werden solche ausgewählt, und kompositioneil angeordnet, daß ihr
Ensemble etwas sinnfällig macht, was im Gedächtnis der Menschheit weiter¬
zuleben wert ist und was die Menschen in zeitlich und räumlich weiten Ent¬
fernungen, unter historisch völlig veränderten Umständen mit dem Gefühls¬
akzent: nostra causa agitur erleben können. Das ist jedoch mit einer daraus
folgenden Gewichtigkeit ein Problem der Form. Denn diese Auswahl, diese
Gruppierung ergibt zwar, als fundamentalen Gehalt, die Basis zu einer so ge¬
arteten Wirkung; ob jedoch diese überhaupt aktuell wird und gar die Aktua¬
lität jahrhunderte-, ja jahrtausendelang bewahrt, kann nur durch spezi¬
fische Qualitäten der Form gewährleistet werden. Natürlich muß hier Form
in einem sehr umfassenden Sinn gedacht werden: die echten und großen Er¬
neuerungen der Form, oder die Entstehung von neuen Formen, die zum blei¬
benden Besitz der Menschheit werden, entspringen daraus, daß das Spezi¬
fische eines solchen gewichtig neuen Gehalts einen radikalen Umbau der vor¬
handenen Formen oder das Erfinden von neuen gebieterisch erfordert, wie
vielleicht am augenfälligsten bei der Einführung des zweiten Schauspielers
durch Aischylos; aber auch die malerische Dramatik Giottos, die Farben¬
gebung Rembrandts, die Harmonik Beethovens und vieles mehr zeugen für
einen solchen Zusammenhang.
Die untrennbare Einheit von menschlicher Verallgemeinerung und sinnlich¬
sinnfälligem Bewahren, Verewigen des gesellschaftlich-geschichtlichen sowie
des rein persönlichen hic et nunc scheint nur dann paradox, wenn man
die Maßstäbe der wissenschaftlichen Widerspiegelung der Wirklichkeit der
\ om Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 6 ii

ästhetischen aufzudrängen trachtet. Gerade in der hier angedeuteten Eigenart


des Ästhetischen zeigt sich der Unterschied zwischen einem Bewußtsein über
die Wirklichkeit (auch wenn es sich gelegentlich um das Ich des Menschen han¬
delt) und dem Selbstbewußtsein der Menschheit (auch wenn es sich etwa in
einer Landschaft, einem Stilleben ohne Menschen objektiviert), wie es in
großen Werken der Kunst in Erscheinung tritt. Dieses Selbstbewußtsein hat
das Dauernde, das — positiv oder negativ — Bedeutsame im menschlichen
Leben, in der Entwicklung des Menschengeschlechts zum Inhalt, und so wie
dieser Inhalt alles für das Leben Wichtige, von der partikularen Persönlich¬
keit bis zum Menschheitlichen, in dieses letztere aufbewahrend aufhebt, so
schafft seine Form eine dieser Beziehung angemessene Einheit des Aller-
persönlichsten mit der höchsten Verallgemeinerung, die hier eine Evokations¬
fähigkeit über die Schranken von Ort und Zeit hinaus bedeutet. Auch das
Bewußtsein über die objektive Wirklichkeit muß natürlich Tatsachen, Persön¬
lichkeiten, Zeiten, örtliche Bedingtheiten etc. in ihrer konkreten Eigenart fest-
halten, sie sind jedoch - je stärker das Bewußtsein entwickelt ist, desto mehr
- Ausgangspunkte, Sprungbretter, um die in ihnen waltenden allgemeinen
Gesetze zu erfassen oder sich ihnen wenigstens anzunähern, um so, wo es
möglich ist, auch das Einzelne als Einzelnes beherrschen zu können. Nur im
Ästhetischen hat diese persönliche Qualität — und zwar in doppelter Hin¬
sicht: als persönliche Qualität des dargestellten Gegenstandes und als die der
Darstellungsweise selbst - einen Eigenwert; sie ist der Träger, der Erwek-
ker des Selbstbewußtseins: als Gedächtnis, als »Er-Innerung« des Weges,
den die Menschengattung ging und gehen wird, der Personen und Situatio¬
nen, der Tugenden und Laster, der Innen- und Außenwelt der Menschen, aus
deren dynamischer Entfaltung, aus deren dialektischer Widersprüchlichkeit
die Menschengattung sich zu dem erhoben hat, was sie heute ist und morgen
sein wird. Mag dieses Aufbewahren im Einzelfall etwas Punktuelles schei¬
nen, etwa eine Landschaft in der bestimmten Beleuchtung einer bestimmten
Stunde, ja eines Augenblicks, ihre Wirkung ist in diesem Sinne doch eine
historische, denn sie wird als Etappe dieses Weges erlebt; sie geht aber zu¬
gleich über das bloß Historische hinaus, indem der fixierte Augenblick sich
unmittelbar zu unverlierbarem Besitz der Menschheit in einer sich wandeln¬
den, reicher und tiefer werdenden Kontinuität erhöht.
Erst die Erkenntnis dieser Zusammenhänge erhellt das Wesen des Subjekts,
durch welches die künstlerische Rücknahme der künstlerischen Entäußerung
erfolgt. Es ist und bleibt untrennbar an die Partikularität der schöpferischen
Subjektivität gebunden, und auch das Erleben des Werks kann unmöglich
612 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

mit der Partikularität des rezeptiven Subjekts brechen. Gleichzeitig voll¬


zieht sich in beiden eine Erhebung über diese bloße Partikularität: bei Be¬
wahrung der Signatur ihrer qualitativen Einzigartigkeit verschwindet aus
ihnen alles, oder wird wenigstens in den Hintergrund gedrängt, was im Leben
selbst diese Einzigartigkeit in ein Abgesperrtsein in sich selbst zu verwan¬
deln pflegt, was subjektiv in einem gesellschaftlich-pejorativen Sinne ist: alles,
was zwischen Ich und Welt eine Schranke errichtet, oder die Welt, ohne in
ihren Kern einzudringen, bloß mit Farben von partikularer Qualität ober¬
flächlich übertüncht. Der Weg von hier bis zur Wiederkehr in sich selbst aus
einem so tiefen Versenktsein in die Welt, daß alles an ihr - bei gesteigerter,
objektivierter Gegenständlichkeit - zum innerlichsten Besitz der mensch¬
lichen Subjektivität wird, ist sehr langwierig und etappenreich; er ist aber
dem Wesen nach ein Weg von der bloß partikularen Subjektivität der un¬
mittelbar vorhandenen Persönlichkeit zur Verwirklichung der Gattungs¬
mäßigkeit im eigenen Ich. Es handelt sich also vom Subjekt aus gesehen um
einen Prozeß, der zugleich eine Reinigung und Intensivierung, eine Bereiche¬
rung und Vertiefung vollbringt.
Wenn früher betont wurde, daß das Erreichen einer Höhe des Menschheit-
lichen in der Gestaltung nicht von der Bewußtheit in der darauf gerichteten
Intention abhängt, so muß erneut an den hier gebrauchten Sinn der Bewußt¬
heit erinnert werden. Es handelt sich deshalb nicht etwa um das mysteriöse
und mystifizierte Unbewußte unserer Tage. Eine nicht bewußte Intention
kann nach unserer Auffassung mit der allerhöchsten Bewußtheit verknüpft
sein, und zwar nicht bloß in bezug auf die anzuwendenden künstlerischen
Mittel (das würden auch manche Vertreter des »Unbewußten« zugeben),
sondern -auch lin bezug auf das inhaltlich gestellte Ziel. Das - mögliche -
Fehlen der Bewußtheit bezieht sich hier darauf, daß kein Zeitgenosse mit
apodiktischer Sicherheit voraussehen kann, welche Eigenschaften der mit ihm
lebenden Menschen - im positiven oder negativen Sinne - bloß zeitbedingt¬
vorübergehende sind und welche von der Zukunft in den entstehenden »Cor¬
pus« des Gattungsmäßigen einverleibt werden. Gerade hier kann es kein
weltanschauliches Sicherstellen für das künstlerische Gestalten geben. Selbst
der Marxismus vermag zwar die allgemeinsten Entwicklungstendenzen der
Gesellschaft auf große Strecken vorauszusehen, er vermag für kürzere Zeit¬
spannen konkrete — aber noch immer notwendig allgemein gehaltene — Per¬
spektiven aufzeigen, er kann und will sich aber gar nicht die Aufgabe stellen,
alle »Schlauheiten« (Lenin) des Entwicklungsweges im voraus gedanklich
präzis vorw-egzunehmen. Die gelungene oder verfehlte Gestaltung des
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 613

Menschheitlichen hängt jedoch gerade vom Verständnis resp. von der Blind-
heit gegenüber solchen Momenten des Entwicklungsganges ab. Die wissen¬
schaftliche Richtigkeit einer Voraussage, einer Perspektive bewahrheitet sich
an der Massenhaftigkeit der realen Tatsachen und Tendenzen; selbst beträcht¬
liche Abweichungen in den Details müssen ihr Zutreffen nicht aufheben. Die
künstlerische Richtigkeit im Zurgestaltbringen des Gattungsmäßigen bewährt
sich oder versagt dagegen zumeist gerade in dem Bereich, der wissenschaftlich
als bloßes Detail bezeichnet zu werden pflegt. So in den »prophetischen Ge¬
staltungen« Balzacs, der bestimmte typische Züge der Menschen im zweiten
Kaiserreich aus ihren Keimen zur Zeit des Bürgerkönigtums herausentwickeln
und als Realität darstellen konnte b So bei Euripides in der Gestalt der
Phaedra, bei Vergil in der Didos, die die individuelle Liebesleidenschaft ins
Gattungsmäßige, zum Besitz des Selbstbewußtseins der Menschheit erhoben,
lange bevor diese zu einer gesellschaftlich allgemeinen Erscheinung geworden
wäre.
Daraus entsteht für das ästhetische Subjekt - für das schaffende in der
Produktion, für das rezeptive in der Aufnahme der Werke - jene Lage, die
wir bereits wiederholt so bezeichnet haben, daß es sich ä corps perdu in die
Welt dieser Phänomene stürzen muß. Diese Struktur hat naturgemäß zur
Folge, daß in die - scheinbaren - Lücken der begrifflichen Ableitbarkeit
sich irrationalistische Theorien einnisten konnten; diese werden nicht wider¬
legt, sondern gewinnen an Hartnäckigkeit, wenn versucht wird, sie mit
Hilfe von pseudo-rationalen Gedankengängen zu widerlegen. Tatsächlich
waltet hier eine deutlich ablesbare Ratio, nur kann sie in den meisten Fällen
erst nachträglich festgestellt und erklärt werden. Die Grenze der Voraussag-
barkeit liegt im Wirklichkeitsstoffe selbst. Dies gründet sich nicht nur in der
bis jetzt analysierten Beziehung des Gattungsmäßigen zu den anderen Auf¬
baumomenten der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, nicht nur in den spezi¬
fischen Aufgaben, die daraus für Auswahl des Gehalts und für die Form¬
gebung der Kunst erwachsen. Es liegt auch, worauf schon früher hingewiesen
wurde, an der Verschlungenheit des historischen Weges selbst, an der Un¬
gleichmäßigkeit dieser Entwicklung und vor allem daran - was für die Wir¬
kung der Kunst ausschlaggebend ist -, daß jede Gegenwart von den eigenen
Bedürfnissen und Perspektiven aus die Vergangenheit betrachtet und sie, ins-

1 Lafargue: Uber Marx in: Karl Marx. Eine Sammlung von Erinnerungen, Moskau-
Leningrad 1934, S. 128.
6i4 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

besondere bezüglich des in der Kunst zum Ausdruck kommenden Selbst¬


bewußtseins, bewertet. Es genügt vielleicht, wenn wir erneut auf die wechsel¬
vollen Kämpfe um den Nachruhm Homers und Vergils hinweisen. Daß
jedoch alle diese Kämpfe nachträglich völlig rational erklärt werden können,
zeigt die objektive Haltlosigkeit einer jeden irrationalistischen Auslegung
dieses Tatbestandes; zeigt, daß es zwar kein abstraktes Axiom geben kann,
das eine direkte Ableitung der einzelnen Phänomene gestatten würde, wohl
aber jedes einzelne Phänomen auf seine gesellschaftlich-geschichtlichen Wur¬
zeln, auf die Beschaffenheit seiner ästhetischen Struktur hin, restlos rational
analysiert werden kann. Wir haben es also hier mit einem Fall jener wissen¬
schaftlichen Erklärung zu tun, die Marx in bezug auf die ungleichmäßige
Entwicklung der Kunst im allgemeinen so formuliert hat: »Die Schwierigkeit
besteht in der allgemeinen Fassung dieser Widersprüche. Sobald sie spezifi¬
ziert werden, sind sie schon erklärt h«
Diese Wesensart des Ästhetischen als adäquateste Form für die Äußerung
des Selbstbewußtseins der Menschheit muß festgehalten werden, wenn wir
ihre Eigenart richtig würdigen wollen. Dabei wurde hier oft an ein Zurück¬
gehen auf seine originäre Erscheinungsweise appelliert und die Versuche,
solche ästhetischen Phänomene ohne weiteres und direkt durch Anwendung
von Kategorien der wissenschaftlichen Widerspiegelung zu erklären, energisch
abgewiesen. Daraus folgt natürlich weder eine Ablehnung der wissenschaft¬
lichen Erklärung ästhetischer Phänomene - unsere ganze Untersuchung soll
ja eine solche sein - noch eine metaphysisch starre Gegenüberstellung von
Wissenschaft und Kunst, von Bewußtsein und Selbstbewußtsein der Mensch¬
heit. Die erste Frage kann, wie bereits hervorgehoben, erst im zweiten Teil
dieses Werks behandelt werden. In bezug auf die zweite wurde hier wieder¬
holt betont, daß Wissenschaft und Kunst (und auch das Alltagsdenken) die¬
selbe Wirklichkeit widerspiegeln. Die Eigenart einer jeden Widerspiegelung
bildet sich im Laufe der Geschichte als eine äußerst wichtige Form der gesell¬
schaftlichen Arbeitsteilung im allgemeinen Sinne aus, als eine Arbeitsteilung,
die nicht bloß über die einzelnen Menschen und Menschengruppen innerhalb
der Gesellschaft ihren Bedürfnissen entsprechend disponiert, sondern vor
allem eine Arbeitsteilung der Sinne, des Verstandes und der Vernunft in
jedem einzelnen Menschen vollbringt. Die Arbeitsteilung zwischen Wissen¬
schaft und Kunst ist eine elementare Notwendigkeit des Lebens, ohne welche

1 Marx: Grundrisse I. a. a. O. S. 30.


Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung 615

die gesellschaftliche Arbeitsteilung im objektiven Sinne nie hätte erfolgreich


vollzogen und zum Funktionieren gebracht werden können. Das undifferen¬
zierte Verhalten des Alltags, in welchem alles auf eine unmittelbare Praxis
eingestellt ist, wäre außerstande, die mit der Entwicklung der Produktiv¬
kräfte immer komplizierter werdenden Probleme befriedigend zu lösen. Wir
haben bereits gezeigt, wie unter dem Druck solcher Verhältnisse die völlige
Undifferenziertheit der magischen Periode sich auflösen muß und die von uns
geschilderten Hauptrichtungen einer solchen Arbeitsteilung: wissenschaftliche
und ästhetische Widerspiegelungen der Wirklichkeit entstehen. Wir haben
auch darauf hingewiesen, daß diese differenzierteren Formen der Widerspie¬
gelung aus gesellschaftlichen Bedürfnissen des Alltags entstehen, ihre spezi¬
fischen Wesensarten - um diese Bedürfnisse optimal zu befriedigen - in
möglichster Reinheit ausbilden, daß aber dadurch, letzten Endes, keine Iso¬
lierung von der Praxis des Alltags zustande kommt. Im Gegenteil strömen
die subjektiven wie objektiven Ergebnisse der wissenschaftlichen und ästheti¬
schen Widerspiegelung ununterbrochen ins Alltagsleben, in die Alltagspraxis
zurück, bereichern und vertiefen diese, ohne freilich ihren Alltagscharakter
aufzuheben; weshalb auch das ständig sich erhöhende Niveau des Alltags
die Bedürfnisse nach weiterer Differenzierung der wissenschaftlichen und
künstlerischen Widerspiegelung der Wirklichkeit nicht absterben, sondern
extensiv wie intensiv zunehmen läßt.
Von dieser Basis aus wird erst die Arbeitsteilung zwischen Bewußtsein und
Selbstbewußtsein völlig klar. Das Bewußtsein erobert die an sich seiende Welt
für den Menschen. Indem es ihr Ansich in ein Füruns verwandelt, schafft es
den eigentlichen realen Spielraum für die welterobernde Praxis, für die Ver¬
wandlung der Wirklichkeit in ein fruchtbringendes Tätigkeitsfeld der Men¬
schen. Seine gesellschaftliche Notwendigkeit ist also unmittelbar evident. Es
gehört jedoch - mit der Entfaltung der Kultur in steigendem Maße - zum
Besitzergreifen der Welt durch den Menschen, daß er die faktisch und prak¬
tisch beherrschte Außenwelt auch zu sich selbst in Beziehung bringe, daß er
mit dieser Eroberung auch eine Heimat erwerbe. Dieses Bedürfnis ist ebenso
elementar, wie jenes, das zur selbständigen Ausbildung der Wissenschaften
geführt hat. Daß die Mittel zu seiner Befriedigung nicht ausschließlich die der
Kunst waren und auch noch nicht sind, kann keinen Beweis gegen diese
menschheitliche Funktion der Kunst ergeben. Denn auch die Wissenschaft hat
auf ihrem Gebiet keine exklusive Monopolstellung; sie ist »nur« die
adäquateste Form einer bestimmten Erfüllung gesellschaftlicher Erforder¬
nisse, und neben diesen, diese anregend, von ihnen angeregt, erwächst erst die
6i6 Der Weg des Subjekts zur ästhetischen Widerspiegelung

Wissenschaft zu ihrer eigenen Reinheit und Reife. Mag nun die Beziehung
der Kunst zum Leben noch viel komplizierter sein, als die an sich ebenfalls
nicht einfache der Wissenschaft, sie erringt sich im Laufe der historischen Ent¬
wicklung in dem von ihr am adäquatesten ausgedrückten Löbenskomplex eine
ähnliche Stellung als Gipfelgestalt. Wir haben einen Teil dieser Verbunden¬
heit der Kunst mit dem menschlichen Dasein, ihrer Loslösung von seinen
unangemessenen Ausdrucksformen, ihrer Rückkehr zum Leben in angemesse¬
ner Expression und Evokation bei ihrer Beziehung zu den primitiven Aus¬
drucksformen der Menschlichkeit, vor allem in ihrem Verhältnis zur Magie
beobachten können. Wir werden an verschiedenen Zusammenhängen - so
bei der Behandlung der Naturschönheit, im Kampf der Befreiung des
Ästhetischen vom Religiösen - auf diese Probleme noch ausführlich zurück¬
kommen.
Hier galt es bloß, die Tatsache, daß -die Kunst die angemessenste und höchste
Äußerungsweise des Selbstbewußtseins der Menschheit ist, etwas konkreter
aufzuhellen als es bisher möglich war. Es galt zu zeigen, daß unsere rein
ästhetischen Thesen von der Eigenart dieser Widerspiegelung der Wirklich¬
keit (so die Priorität des Inhalts vor der Form, so der evokativ-leitende Cha¬
rakter der Form, so ihr Wesen als Form eines bestimmten Inhalts, etc.) nur
auf das Menschhaitliche bezogen, nur durch das Hinüberwachsen ins
Selbstbewußtseinhafte der Widerspiegelung der Wirklichkeit ihren wirklichen
Sinn erhalten können. Alle im Laufe einer vieltausendjährigen Entwicklung
gemachten Vorwürfe von der »Täuschung und Lüge« der Kunst angefangen
bis zur Wesenlosigkeit der Reproduktion von etwas, das sowieso schon da
ist, erhalten eine - sehr bedingte - Berechtigung in bestimmten historischen
Konstellationen nur dadurch, daß einige Kritiker (und unter bestimmten
Umständen die Künstler und ihre Werke selbst) diesen Zusammenhang außer
acht oder in Vergessenheit geraten ließen. Denn die siegreiche eigene Welt der
Kunstwerke, ihre Welthaftigkeit, die Unwiderstehlichkeit ihrer evokativen
Macht gründen sich gerade auf diese Entfaltung des konkret Menschheitlichen.
Verschwindet dieses, so ist die echteste »Nachahmung« der Wirklichkeit, die
virtuoseste Beherrschung der Formen, das geistreichste Erfinden von neuen
Wirkungsmöglichkeiten nur »ein tönend Erz und eine klingende Schelle«.
Das künstlerische Offenbaren dieses Gehalts macht erst die Mimesis zur
Grundtatsache des Ästhetischen: zu einer Widerspiegelung der vom mensch¬
lichen Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit, jedoch zu einer, in welcher,
dem Prinzip nach, nur das vorkommt, was diese Entwicklung fördert oder
hemmt, in welcher jeder Gegenstand, jede Emotion erst in diesem Zusammen-
Vom Individuum zum Selbstbewußtsein der Menschengattung bij

hang zum Objekt erhoben werden kann. Alle Umwandlungen, die die ästhe¬
tische Widerspiegelung an der unmittelbaren Erscheinungswelt vollzieht,
verlieren erst durch diese Bezogenheit einen jeden formal-willkürlichen
Charakter, und andererseits wird die Treue dieser Widerspiegelungsart der
Wirklichkeit, auch in ihrer unmittelbaren Erscheinungsweise, erst durdi das
Auftreffen auf diese höchste Realität des Menschseins letzthin gerechtfertigt.
So kann nur die - viele Widersprüdie in sich bergende - Annahme des
Selbstbewußtseins des Menschengesdiledits die Eigenart der ästhetischen
Widerspiegelung philosophisch begründen. Gerade die in diesem Begriff
konzentrierte Widersprüchlichkeit - höchste Objektivität bei hödister Sub-
jektbezogenheit -, eine Subjektivität als Kriterium, die in der objektiv vor¬
handenen Außen- und Innenwelt nur verborgen, nur »unbewußt«, eventuell
utopisch vorhanden ist, dabei das Schaffen einer Welt der Kunst, die nichts
Utopisches an sich haben muß das ist, als Basis des originär Ästhetischen,
die schlichte Beschreibung der ästhetisch gespiegelten Wirklichkeit.
6iS

Achtes Kapitel

Probleme der Mimesis IV


Die eigene Welt der Kunstwerke

I Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre


(Werk, Genre, Kunst im allgemeinen)

Wenn wir die Kunst als Selbstbewußtsein der Menschheitsentwicklung be¬


stimmt haben, so ist damit das Moment der Kontinuität in den Mittelpunkt
gerückt. Einerseits weil nur dadurch 'die statische, idealistische Annahme eines
»allgemein Menschlichen« vermieden werden kann: es handelt sich nicht um
die Verwirklichung einer (in der Idee) apriori gegebenen Menschlichkeit, auch
nicht um die dialektische Entfaltung einer solchen »Idee«, wobei, wie im
Hegelschen System, das Ende als konkrete Erfüllung alles in sich enthält,
was am Anfang bereits in abstrakter Form vorhanden war. Die hier gemeinte
Kontinuität hat keinen derartigen teleologischen Charakter. Sie ist - genau
im wörtlichen Sinn - eine faktisch abgelaufene reale Entwicklung in ihrem
realen Auf und Ab, mit ihren realen Abzweigungen, Anläufen, Rückfällen
etc. Andererseits muß bedacht werden, daß hier in erster Linie von der Kon¬
tinuität des Selbstbewußtseins der Menschengattung die Rede ist, also vom
subjektiven, wenn auch nicht partikular-individuellen Aspekt dessen, was tat¬
sächlich geschehen ist. Die vorangegangenen Analysen haben hoffentlich mit
hinreichender Deutlichkeit gezeigt, daß das subjektive Moment des Selbst¬
bewußtseins, der Hegelschen »Er-Innerung«, keinen Subjektivismus bedeutet,
keine idealistisch eingebildete »Unabhängigkeit« vom realen Ablauf oder gar
die demiurgisch-schöpferische Tätigkeit eines wie immer gearteten Subjekts.
Die richtige Widerspiegelung der vom Bewußtsein unabhängig existierenden
Wirklichkeit, das Versenktsein des Subjekts in diese, ist vielmehr die uner¬
läßliche Voraussetzung eines jeden so gearteten Selbstbewußtseins. Die Sub¬
jektivität beschränkt sich also, wie wir gesehen haben, darauf, daß das so ent¬
stehende Widerspiegelungsbild darauf angelegt ist, die an sich seiende Wirk¬
lichkeit auf den Menschen orientiert (auf seine Tätigkeit, auf seine Beziehun¬
gen etc.) zu reproduzieren. Die Kontinuität der Menschheitsentwicklung bil¬
det das letzthinnige Substrat einer jeden solchen Spiegelung, muß also in jeder
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 619

einzelnen irgendwie enthalten sein, obwohl zumeist eine jede für sich betrach¬
tet das konkrete hic et nunc eines gegebenen Moments unmittelbar als
Gegenstand setzt.
Damit ist die normale Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität (Punk-
tualität) gegeben. In jeder wirklichen oder geometrisch abstrahierten Linie
stößt man auf diesen unaufhebbaren, für die Erkenntnis höchst fruchtbaren
Widerspruch. Natürlich audi in der Betrachtung der objektiven Menschheits¬
entwicklung; die konkreten Ersdieinungsformen der beiden Pole dieser
Widersprüchlichkeit aufzudecken und in ihrer Gesetzlichkeit darzustellen, ist
eine Aufgabe der Geschichtswissenschaft, sie braucht uns deshalb hier nicht
zu beschäftigen. Die Dialektik, die in unserem Fall auftritt, geht aber darüber
hinaus. Wir haben schon wiederholt auf jene Wesensart der ästhetischen Set¬
zung hingewiesen, wonach deren originäre Form nur die höchste Punktualität
des einzelnen Künstlers (und deren Aufnahme durch das einzelne Subjekt des
Rezeptiven) sein kann. Alle Zusammenfassungen in einer verallgemeinerten
Weise, so schon als Kunst einer Periode, Kunstgattung etc., bringen diese
ursprüngliche und unverfälschte Beschaffenheit auf den Begriff, versetzen sie
also in eine andere, für sie neue Sphäre; daß ein solches Verfahren nicht not¬
wendig eine Verfälschung oder Verzerrung des echt Ästhetischen mit sich
führt-obwohl auch dies häufig vorkommt-, können wir erst im zweiten Teil
bei Behandlung der Typologie des ästhetischen Verhaltens mit philosophi¬
scher Genauigkeit nachweisen. Immerhin kann schon jetzt gesagt werden, daß
derartige Aussagen so viel Wahrheit enthalten, wie sie von der originär
ästhetischen Struktur ihrer Gegenstände unversehrt und unverzerrt ins Begriff¬
liche umzusetzen imstande sind. Das klingt vorerst als Selbstverständlichkeit,
ja Trivialität. Denn dem Wahrheitsgehalt eines jeden Begriffs (Urteils, Schlus¬
ses etc.) gegenüber muß ebenfalls eine ähnliche Forderung gestellt werden.
Wo jedoch die an sich seiende Wirklichkeit wissenschaftlich widergespie¬
gelt wird, kann und muß ihre begriffliche Formulierung verallgemeinernd
über die unmittelbare Gegenständlichkeitsstruktur hinausgehen; indem sie die
Verhältnisse, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten etc. richtig zum Ausdruck
bringt, kommt für das Einzelne nur das Problem einer jeweiligen fehlerfreien
Subsumierbarkeit unter den allgemeinen Zusammenhang in Betracht. Das ist,
unter komplizierteren Bedingungen, auch für die Gesellschaftswissenschaften
der Fall.
Die Verallgemeinerung eines originär ästhetischen Tatbestandes darf jedoch
über die Singularität des jeweils vorhandenen Werks nur so weit hinausgehen,
daß diese Singularität in ihrer begrifflichen Aufhebung möglichst unversehrt
620 Die eigene Welt der Kunstwerke

aufbewahrt bleibt. In dieser Forderung ist viel mehr inbegriffen, als in


deskriptiv-morphologischen Verallgemeinerungen von sonstigen Natur- oder
Gesellschaftswissenschaften. Auf den Flauptgrund des Unterschiedes haben
wir bereits aufmerksam gemacht: das echte Kunstwerk — und nur dieses
kann zur Basis einer fruchtbaren historischen oder ästhetischen Verallgemei¬
nerung werden - erfüllt die ästhetischen Gesetze, indem es sie zugleich er¬
weitert und vertieft; eine einfache Subsumtion des Einzelnen unter das All¬
gemeine, des »Falles« unter das Gesetz kommt hier nicht in Frage. Die
Möglichkeit der Rückkehr vom Gesetz zum Einzelfall charakterisiert natür¬
lich jede wissenschaftliche Verallgemeinerung. Das tatsächliche Herunter¬
steigen zu ihm ist jedoch sehr oft sinnlos oder überflüssig, wie z. B. wenn
jemand von den statistisch ausgedrückten Tendenzen der Bevölkerungs¬
bewegung sich der Frage zuwenden würde, warum gerade der Peter die
Marie geheiratet hat. Die verallgemeinerten Begriffe etwa einer Geschichte
der Renaissancemalerei müssen jedoch so beschaffen sein, daß sie die Er¬
kenntnis der Eigenart Raffaels oder Tizians (oder beliebiger Bilder von ihnen)
zn konkretisieren und zu fördern imstande sind.
Die Andeutung einer solchen Struktur der Verallgemeinerung war nötig, um
das spezifische Wesen der hier waltenden Dialektik von Kontinuität und
Punktualität klarzulegen. Wenn wir wieder zum originär Ästhetischen zu¬
rückkehren, so sehen wir einerseits, daß der Repräsentant des punktuellen
Prinzips im Werk nicht bloß einen mehr oder weniger abstrakten »Punkt«
der Entwicklung zur Erscheinung bringt, sondern daß dieser »Punkt« eine
qualitativ eigenartige, ein geschlossenes System der ausschlaggebenden Be¬
stimmungen enthaltende »Welt« ist, deren unmittelbar-intensives, konkret¬
vertieftes Erleben das Wesen des ästhetischen Verhaltens ausmacht. Anderer¬
seits kommt das Prinzip der Kontinuität in den Werken und ihrer Aufnahme
nur indirekt, zumeist höchst indirekt zum Vorschein. Ob Homer oder Defoes
»Moll Flanders«, Giorgiones Madonna von Castel Franco oder eine Land¬
schaft van Goghs etc. das Objekt eines ästhetischen Erlebnisses ist, sein
Akzent liegt auf der restlosen Aufnahme und Aneignung dessen, was in die¬
sem konkreten Werk - und nur in diesem - konkret zum Ausdruck
kommt, was und wie darin mit unwiederholbarer Eigenart aus der objektiven
Wirklichkeit widergespiegelt wird. Scheinbar ist also aus der unmittelbaren
Struktur und der der angemessenen Wirkung des Werks das Moment der
Kontinuität ganz verschwunden. Das ist jedoch nur ein Schein der als solcher
fixierten Unmittelbarkeit. Denn das bloße Faktum eines so gearteten Erlebens
kann ohne das Moment des nostra causa agitur unmöglich zur Verwirk-
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 6 21

lichung gelangen. Und darin ist — einerlei ob in einer dem Schöpfer oder dem
Rezeptiven bewußten Weise — das Moment der Kontinuität der Mensch¬
heitsentwicklung mitgesetzt. Dieses Dasein der Kontinuität ist sowohl inten¬
siver und unvertilgbarer als die gewöhnliche Kontinuität des Historischen
wie auch verborgener, weniger unmittelbar evident als diese. Es ist nämlich
an sich möglich, einen gegebenen historischen Abschnitt von der Gesamtent¬
wicklung methodologisch abzusondern und für sich allein zu betrachten. Das
kann natürlich zur Quelle mannigfaltiger Irrtümer werden, ist jedoch oft un¬
vermeidlich, wenn bestimmte Details ganz genau erforscht werden sollen. In
der originär ästhetischen Beziehung zur Wirklichkeit und in ihrer evokativen
Vermittlung durch die Unmittelbarkeit der Kunstwerke ist dagegen diese
Beziehung zur Kontinuität des historischen Prozesses objektiv immer gegen¬
wärtig, ohne allerdings bewußt gegenwärtig werden zu müssen. Sein Bewußt¬
werden kann - soll es ästhetisch bleiben - das Moment der Spontaneität
im nostra causa agitur nicht überspringen; die Kontinuität ist gerade an die
Tiefe dieses unmittelbaren Sich-Aneignens gebunden. Bei oberflächlichem
Eindruck, wobei das räumlich, zeitlich und gesellschaftlich Entfernte oft den
Charakter des Exotischen anzunehmen pflegt, kann eventuell ein sachlich
nicht unrichtiges Konstatieren entstehen; in diesem ist jedoch die Kontinuität
bestenfalls an sich, nicht für uns enthalten, geschweige denn, daß ihr Für-
sichsein erreicht wäre. Hier zeigt sich besonders deutlich der von uns wieder¬
holt hervorgehobene Gegensatz von »Bewußtsein über . . .« und »Selbst¬
bewußtsein von . . .«; beim Exotischen steht man einer Wirklichkeit gegen¬
über, zu der man, bei allem Interesse und eventuellen Wissen, wobei sogar
das Bewußtsein einer unüberbrückbaren Fremdheit vorherrscht, keine inner¬
lich menschliche Beziehung hat, während das Selbstbewußtsein - auch wenn
das sachliche Wissen fehlt - gerade auf einem solchen innerlichen Verhältnis
basiert. Das beinhaltet keine Identifikation, da ja die Verschiedenheit des
erlebten Objekts an Inhalt, Struktur etc. vom erlebenden Subjekt eine der
Voraussetzungen der das Selbstbewußtsein hervorrufenden Beziehungen ist.
Trotzdem oder gerade darum wird aber das Zentrum der Menschlichkeit aufs
tiefste getroffen, als von etwas, das irgendwie zur eigenen Vergangenheit
gehört oder mit deren Subjekt irgendwie nahe verwandt ist. Es kann also
etwas bloß exotisch Scheinendes unter Umständen zum Element des Selbst¬
bewußtseins werden und umgekehrt. Die Möglichkeit solcher Umschläge wird
vor allem von der künstlerischen Höhe der Bearbeitung abhängen, aber
natürlich spielt dabei die objektiv geschichtliche Entwicklung, die mit
ihr zusammenhängende Ausbreitung und Vertiefung der Kultur etc. eine
6ii Die eigene Welt der Kunstwerke

beträchtliche Rolle. Der erste, hauptsächliche Gesichtspunkt zeigt wieder die


zentrale Stelle, die das menschheitliche Moment im Wesen des Ästhetischen
einnimmt.
Damit sind wir aber erst an die Schwelle der Dialektik von Kontinuität und
Diskontinuität in der ästhetischen Sphäre angelangt. Denn abgesehen von der
eben geschilderten grundlegenden Konstellation, steht jedes Kunstwerk,
gerade was seine entscheidende ästhetische Eigenart bestimmt, in der Konti¬
nuität jener Kunstgattung, jenes Genres, der es angehört. Wenn oben von
Gesetz und von der spezifischen Weise seiner Erfüllung im Ästhetischen die
Rede war, so muß dies vorerst im Sinne dieses Zusammenhanges verstanden
werden, als die Beziehung etwa einer Tragödie zu den Gesetzen der Drama¬
turgie etc. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß auch hier die
Beziehung eines Werks zu seinem Genre und zu seinen Gesetzen niemals die
einer Subsumtion eines Einzelfalles unter eine wesenhafte Allgemeinheit sein
kann, daß mit dem Entstehen eines jeden Werks, das diesen Namen ästhetisch
verdient, Inhalt und Form der für es gültigen Gesetze zumindest eine Modi¬
fikation erfahren, wenn nicht, wie dies bei epochalen Gestaltungen zu sein
pflegt, ihre entscheidende Umwälzung erfolgt. Es muß natürlich auch hinzu¬
gefügt werden, daß die Genres - was die allgemeinsten grundlegenden
Prinzipien betrifft - zwar dem historischen Wandel unterworfen sind,
aber sich in diesem Wandel erhalten, daß sie sich in solchen »Revolutionen«
innerlich als Genre bereichern und vertiefen. (Es ist ein großes theoretisches
Verdienst Lessings, dies in bezug auf das antike Drama und Shakespeare
begrifflich dargelegt zu haben.)
Diese Dialektik von Kontinuität und Punktualität ist jedoch - auf höherer
Stufe - auch im Gesamtgebiet des Ästhetischen wirksam. Die einzelnen
Genres stehen einander weit selbständiger gegenüber als die einzelnen Wissen¬
schaften in der desanthropomorphisierenden Widerspiegelung der Wirklich¬
keit und bilden weit mehr abgeschlossene, voneinander unabhängige
Bereiche, als es dort möglich ist. Natürlich darf auch dieser Gegensatz nicht
zur metaphysischen Erstarrung versteift und verzerrt werden. Denn einerseits
ist die - relative - Selbständigkeit der einzelnen Wissenschaften ebenfalls
eine unbestreitbare Tatsache. Sie ist vor allem durch die - relative -
Selbständigkeit ihres materiellen Substrats bestimmt; der Differenzierung der
einzelnen Wissenschaften liegt also die der objektiven Wirklichkeit zugrunde.
Diese ist jedoch notwendigerweise eine relative. Wie die sachlichen Verschie¬
denheiten dem methodologischen Unterschied der einzelnen Wissenschaften
zugrunde liegen, so schaffen die mannigfachen Wechselwirkungen und
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 623

Wechselbeziehungen zwischen diesen wieder neuartige Verbindungen. Letzten


Endes bringt allerdings die Einheit der materiellen Beschaffenheit der Welt
notwendig immer wieder das Ideal einer einheitlichen Wissenschaft hervor.
Wurde dieses auch bis jetzt nie verwirklicht, so hat die Tendenz zur Ver-
einneitlichung besonders in den exakten Naturwissenschaften ungeheure Fort¬
schritte gemacht; Gebiete, die jahrhundertelang als selbständige galten, ge¬
wannen durch Rückführung von unmittelbar divergenten Erscheinungen auf
einheitliche Prinzipien sehr viel an Erkenntnisfähigkeit. Das schließt die -
nunmehr bewußt relative — Selbständigkeit von Untersuchungsgebieten nicht
aus, mit der Annäherung an die an sich seiende materielle Einheit der objek¬
tiven Wirklichkeit verstärkt sich aber jede vernünftige, aus dem Wesen der
Sache stammende Integration. Gerade die — teilweise — entgegengesetzte
Richtung, die viele Gesellschaftswissenschaften im 19. Jahrhundert einschlu¬
gen, beweist die wissenschaftliche Richtigkeit dieser Tendenz. Die - gesell¬
schaftlich bedingte — »reinliche« Trennung etwa von Ökonomie, Soziologie,
Geschichte etc. war für alle diese Wissenschaften höchst nachteilig. Ihre Zu¬
sammengehörigkeit, die ebenfalls von der Einheitlichkeit ihres Substrats
bedingt ist, schließt zwar streng spezialisierte Untersuchungen nicht aus,
jedoch kein wesentliches Problem dieser Wissenschaften kann ohne ununter¬
brochene und detaillierte Bezugnahme auf die Zusammenhänge, die sich aus
dem gemeinsamen Stoff ergeben, befriedigend gelöst werden. Das so ent¬
stehende einheitliche System der Wissenschaften - diese Form nimmt das
Ideal der einheitlichen Wissenschaft auf - zeigt nur dort sprunghafte
Trennungen, die ebenfalls nicht absolut sind, wo die materielle Grundlage
selbst ebenfalls Sprünge aufweist (Organisches und Unorganisches, etc.,
jedoch ebenfalls mit Übergängen, Relativierungen). Die systematische Gliede¬
rung erfolgt ebenfalls aus der Wesensart des gedanklich abgebildeten Ansich.
Wenn die Wissenschaftslehre des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß des
subjektiven Idealismus von subjektiven Interessen aus die Methodologie auf¬
zubauen bestrebt war (besonders ausgeprägt in der Schule von Windelband
und Rickert), stiftete sie nur Verwirrungen. Die Existenz der sogenannten
angewandten Wissenschaft, mit ihrer auch teleologisch bedingten Methode,
widerspricht dieser Ablehnung der subjektivistischen Begründung nicht. Denn
etwa die ökonomischen Zielsetzungen der technologischen Wissenschaften sind
ebenso objektiv, auf einem realen Substrat fußend, wie jene Erkenntnisse (der
Physik, der Chemie etc.), die sie dabei anwenden oder sogar weiterbilden.
All dies mußten wir wenigstens kursorisch andeuten, damit es klar sichtbar
werde, daß die »Differenzierung« der Kunst in verschiedene Künste, Kunst-
Die eigene Welt der Kunstwerke
62 4

arten etc. etwas qualitativ anderes ist, als die wirkliche Differenzierung der
Erkenntnis in verschiedene Einzelwissenschaften. Diese bilden bei aller
Differenzierung letzten Endes eine sachliche Erkenntniseinheit, während die
Kunst iim allgemeinen zwar ein synthetisches Zusammenfassen des Gemein¬
samen in den einzelnen Künsten ist, die Art des Zusammenhangs zwischen
einzelnen Künsten und Kunst im allgemeinen unterscheidet sich jedoch, wie
wir alsbald sehen werden, qualitativ von dem zwischen Einzelwissenschaften
und einheitlicher Gesamtwissenschaft. Darum haben wir das Wort Differen¬
zierung in Anführungszeichen gesetzt, da es, wie schon früher angeführt, ein
schädliches Vorurteil der idealistischen Ästhetiken ist, das System der Künste
als »Differenzierung« der »ästhetischen Idee«, der »Schönheit« etc. aufzu¬
fassen. Jede Kunst, ja jedes Genre ist in Wirklichkeit eine Welt für sich, hat
ein originäres ästhetisches Prinzip zur Grundlage, das mit keinem Prinzip
einer anderen Kunst oder eines anderen Genres identisch, ja von diesen in
vielfacher Hinsicht qualitativ verschieden ist. Diese Einsicht, die bei den
Künstlern selbst in ihrer Praxis und in der theoretischen Formulierung der
eigenen Erfahrungen längst zur allgemeinen Meinung geworden ist, wurde
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach zur Grundlage der ästhe¬
tischen Erkenntnis gemacht. Wir haben die diesbezüglichen Anschauungen
Konrad Fiedlers, die eine große Verbreitung erhielten, daß es keine Kunst,
sondern nur einzelne Künste gebe, bereits angeführt; später entstand unter
diesem Einfluß neben der Ästhetik eine sogenannte allgemeine Kunstwissen¬
schaft. Auf die Kritik ihrer methodologischen Fundamente brauchen wir
hier nicht einzugehen. Es sei nur so viel bemerkt, daß, indem dabei die
Ästhetik in der alten idealistischen Weise aufgefaßt und die Kunstwissen¬
schaft von ihr metaphysisch getrennt wurde, diese mangels allgemeiner äs¬
thetischer Prinzipien einen empiristisch-positivistischen Charakter erhalten
und das Gesamtgebiet der Ästhetik in zwei methodologisch heterogene Teile
zerfallen mußte.
Wenn wir diese selbständige Existenz der einzelnen Künste, Genres etc. fest¬
stellen, so muß - um die Dialektik der Kontinuität in diesem Bereich weiter
zu konkretisieren -, folgendes bemerkt werden. Vor allem zeigt sich histo¬
risch, daß einzelne Künste zuweilen eine derart kontinuierliche, man könnte
sagen, logische Entwicklung, in welcher die eine Lösung aus den früheren
Problemen herauswächst, aufweisen, daß man dazu verführt werden könnte,
in ihren inneren, künstlerischen Problemen die treibende Kraft ihrer Bewe¬
gung zu erblicken: so bei der florentinischen oder venezianischen Malerei des
T4-/15 - Jahrhunderts, so beim französischen oder russischen Roman des
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 625

19. Jahrhunderts etc. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indessen, daß
solche Phänomene nur für relativ kurze Strecken auftauchen, daß sie - um
uns der Deutlichkeit halber bewußt übertrieben auszudrücken — zuweilen
aus einem künstlerischen Nichts entspringen oder in einem solchen enden. Das
beweist einerseits, daß auch hier historisch eine Dialektik der Kontinuität
und Diskontinuität waltet, daß aber andererseits diese Dialektik selbst gesell¬
schaftlich-geschichtlich bestimmt ist: die Kontinuität, das organische Ausein-
anderherauswachsen der gesellschaftlichen Probleme, deren kontinuierliche
Einwirkung - als sozialer Auftrag - auf die Entstehung der einzelnen
Kunstwerke ist das reale Grundprinzip dieser Dialektik (die dabei wirk¬
samen aus der gesellschaftlichen Entwicklung aufsteigenden Widersprüche
objektiver Art und die in der Reaktion der Persönlichkeiten subjektiver Art
auf sie, können wir hier nicht analysieren). In solchen Fällen ist die noch so
»logisch«, noch so »geschichtsphilosophisch« sich entfaltende Kunst oder
Kunstart eben zumeist die herrschende, die repräsentative ihrer Periode.
Auch hier ist die Basis objektiv: die auf der Entwicklung der Produktivkräfte
basierende Gesamtentwicklung ist der Grund, warum in der einen Periode
eine Kunst oder ein Genre, in einer anderen eine andere oder ein anderes eine
solche dominierende Rolle spielen. Diese gesellschaftlich-geschichtliche Deter¬
miniertheit ist so stark, daß sie sogar zum Absterben gewisser Genres (Kunst¬
epos), oder zur Entstehung von neuen (Roman) führen kann. Die Dialektik
von Kontinuität und Diskontinuität hat also in diesem Gebiet der ästheti¬
schen Sphäre eine eigene Physiognomie, die jedoch nur im Rahmen der all¬
gemeinen gesellschaftlich-geschichtlichen Dialektik zur Geltung gelangen
kann.
So wichtig nun die auch diesmal festgestellte Tatsache von der Möglichkeit
und Wirklichkeit des Entstehens von neuen und des Verschwindens von alt¬
eingebürgerten Genres ist, ergibt doch die Betrachtung der Totalität des Ent¬
wicklungsganges der Kunst einen neuen Aspekt. Nämlich den einer außer¬
ordentlichen Stabilität der Kunstarten. Selbstverständlich gibt es, wie bereits
gezeigt wurde, keine einheitliche Genesis einer einheitlichen Kunst, die sich
dann differenzieren würde, sondern die verschiedenen Künste und Kunst¬
gattungen entstehen voneinander historisch unabhängig, bestimmt von
konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Bedürfnissen, die sie ins Leben rufen.
Es ist aber eine ebenso unbestreitbare Tatsache, daß sie, wenn einmal konsti¬
tuiert, eine ungeheure Zähigkeit, Remanenz und zugleich Entwicklungsfähig¬
keit ihrer grundlegenden Prinzipien zeigen. Literatur, bildende Künste,
Musik, Tanz, Schauspielkunst bilden seit unvordenklichen Zeiten jene Welt,
626 Die eigene Welt der Kunstwerke

die wir mit dem Ausdruck Kunst zusammenzufassen pflegen. Ja auch inner¬
halb der Künste haben die Genres eine unverwüstliche Lebensfähigkeit.
Neben Lyrik, Epik und Dramatik ist keine neue Literaturgattung, neben
Malerei, Plastik und Architektur keine neue bildende Kunst etc. entstanden.
(Die einzig wirklich neue Kunst ist die des Films.) Diese Feststellung hebt die
frühere über die Neugeburt des Genres in jedem bedeutenden Werk keines¬
wegs auf. Im Gegenteil. Daß das Drama als Genre sich in dem ununter¬
brochenen Wandel von Aischylos bis Tschechow, Brecht und O’Neill er¬
halten konnte, bildet gerade den uns jetzt interessierenden Tatbestand.
Eben hier ist die lebendige Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität
in der ästhetischen Sphäre mit Händen zu greifen. Würde bei jeder großen
historischen Wendung ein völlig neues Genre entstehen, oder würde die
ästhetische Form eine derartige Stabilität zeigen, wie - trotz allen neuen
Entdeckungen - die Euklidische Geometrie, würden wir nicht vor einem
Problem von qualitativer Neuartigkeit stehen: daß bestimmte Verhaltens¬
weisen gegenüber der Wirklichkeit, die die Eigenart der Künste und Genres
bestimmen, diese dialektische Einheit von Stabilität der Prinzipien und un¬
endlicher Entwickelbarkeit der wesentlichen wie oberflächlichen Bestimmun¬
gen aufweisen.
Das Problem der Ästhetik ist hier ein doppeltes. Erstens müßte das Wesen
dieser dialektischen Einheit selbst begriffen und analysiert werden. Und zwar
wieder von einem doppelten und gerade in der Doppelheit zusammengehöri¬
gen Aspekt aus. Nämlich einerseits als die notwendige Reaktion auf bestimmte
infolge der Entwicklung der Gesellschaft und infolge der dadurch bedingten
Entwicklung der Menschen und ihrer Beziehungen zueinander und zur Natur
etc. entstandene Bedürfnisse. Andererseits, wie uns bereits bekannt ist, als
die Herausbildung von spezifisch ästhetischen Kategorien, die als optimale
Mittel dieser Bedürfnisbefriedigung zugleich den spezifisch ästhetischen Cha¬
rakter der einzelnen Verhaltensweisen und der in ihrer Umsetzung in künst¬
lerische Praxis zustande kommenden Werke zur ästhetischen Geschlossenheit
und Selbständigkeit erwachsen lassen. In der Erforschung dieser Tatbestände
und ihrer Zusammenhänge steht unsere Wissenschaft noch am Anfang des
Anfangs. Es gibt zwar einzelne, darunter auch glänzende, Anläufe dazu, um
die genrebestimmende Wesensart solcher Verhaltensweisen genau zu begrei¬
fen. Vor allem muß dabei an die von Goethe zusammengefaßte gemeinsame
Leistung Schillers und seiner selbst erinnert werden, die in den Gestalten des
Rhapsoden und des Mimen eine vorbildliche Beschreibung jener Haltungen
umnssen hat, welche für das künstlerische Zustandekommen epischer bzw.
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 6zy

dramatischer »Welten« unerläßlich sind 1. Hierher gehören die Anstrengun¬


gen des Mareeskreises (Fiedler, Hildebrand) in bezug auf die bildenden
Künste, manches aus der Theorie der Musik etc. Abgesehen von jener Enge,
die wir bei Fiedler kritisiert haben und noch kritisieren werden, muß aber
gesagt werden, daß solche Untersuchungen zumeist bloß das ästhetische
Wesen der mit den Kunstarten verbundenen Verhaltensweisen zum Gegen¬
stand nehmen, während das gesellschaftliche Bedürfnis zumeist fehlt oder
höchstens in einer äußerst abstrakten Form erscheint. Das ist kein Wunder.
Denn erst der Marxismus hat die spezifische Art einer Widerspiegelung der
Wirklichkeit mit der Entwicklung der Gesellschaft in Zusammenhang ge¬
bracht. Hegel, der ähnliche Verknüpfungen der Geltung mit der Historizität
suchte, mußte die erstere auf den Mythos des identischen Subjekt-Objekts
basieren, und die zweite in einer so allgemeinen Weise fassen, daß seine Nach¬
folge, soweit eine solche entstand, in der Sackgasse der Geistesgeschichte mün¬
den mußte. Dazu kam, daß in der Fortführung der genialen Anregungen
von Marx lange Zeit eine Methode vorherrschte, die sich mit der sozialen
(ja »soziologischen«) Ableitung der ideologischen Phänomene begnügte, ohne
diese Genesis zur sachlichen Untersuchung ihrer spezifischen Wesensart etc. zu
erweitern. Erst bei Lenin wird die unlösbare Zusammengehörigkeit und Zu¬
sammenarbeit von dialektischem und historischem Materialismus zu einer der
Zentralfragen der marxistischen Methode. Aus Gründen, die zu erörtern
hier zu weit von unserem Thema wegführen würde, ist diese von Lenin
geforderte Einheit wieder in Vergessenheit geraten, und nur allzuoft wurden
subjektiv-dogmatische ästhetische Urteile unorganisch an vulgarisiert »sozio¬
logische« Darlegungen der Genesis angehängt.
All dies hat zur notwendigen Folge, daß der hier in Frage kommende Kom¬
plex der Zusammenhänge noch so gut wie völlig unerforscht ist. Das Problem
jedoch, das in der Geschichte der Ästhetik als System der Künste aufzutau¬
chen pflegt, kann nur auf diesem Weg befriedigend gelöst werden. Es war
und bleibt ein reales, ja ein zentrales Problem der Ästhetik, da die einzelnen
Künste tatsächlich Zusammenhängen, oft einander ergänzen, miteinander in
Wechselbeziehungen treten, etc., da diese Entsprechungen und Verbindungen
nicht zufälliger Art sind, nicht einmal in dem Sinne, daß bloß historische Er¬
scheinungen einem theoretischen System gegenüber, wie die Ästhetik es ist,
einen mehr oder weniger zufälligen Charakter aufweisen können. Der Zu-

1 Goethe an Schiller, 23. XII. 1797. Beilage: Uber epische und dramatische Dichtung.
6i 8 Die eigene Welt der Kunstwerke

sammenhang ist vielmehr systematischen Wesens, nur daß sein principium


differentiationis nicht aus der ästhetischen »Idee« (der Schönheit) abgeleitet
werden kann, sondern aus dem System jener - letzten Endes - gesellschaft¬
lichen Bedürfnisse, die das Entstehen und Bestehen der einzelnen Künste de¬
terminieren. Diese bilden daher ein System, das freilich nicht einfach aus dem
anthropologischen Wesen des Menschen abgeleitet werden kann, sondern aus
dem seiner gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung. Dieses System der
Künste ist also von historisch-systematischer Beschaffenheit. Das gesell¬
schaftlich-geschichtliche Entstehen und Vergehen der Kunstarten steht des¬
halb zu einer derartigen Systematik nicht im Widerspruch; um so weniger, als
es in vielen Fällen nachweisbar ist, daß entstehende, bzw. verschwindende
Genres - wir verweisen erneut auf Roman und Kunstepos - in ausschlag¬
gebenden Prinzipienfragen eng miteinander verbunden sind; die beide be¬
stimmende Verhaltensweise läßt sich z. B. in diesem Falle zwanglos auf den
Goetheschen Rhapsoden zurückführen.
Die zweite hier auftauchende wichtige Frage ist die der Einheit des Ästheti¬
schen. Die Grundlage dieser Einheit bildet die deutliche und wesentliche Kon¬
vergenz der unmittelbar so außerordentlich verschiedenen Bedürfnisse, die
Entstehen und Wirksamwerden der Kunst zugrunde liegen. Der Weg zum
Erhellen ihrer genetischen, inhaltlichen und formalen Eigenart muß also
zugleich die Prinzipien ihrer Einheit klarlegen. Es handelt sidi dabei vor
allem um eine doppelte Frage inhaltlicher Art: einerseits ist jede der indivi¬
duell wie genremäßig differenzierten künstlerischen Reaktionen eine Reak¬
tion auf dieselbe Wirklichkeit, wobei diese nicht nur allgemein als Realität
überhaupt verstanden werden muß, sondern als höchst konkretes Moment
der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung, Zeit, Ort, Umstände etc.
mitinbegriffen. Andererseits wird jede solche Reaktion von Menschen (und
für Menschen) vollzogen, die von der eben angegebenen Wirklichkeit geformt,
bei denen die Qualitäten des Denkens, Empfindens, Erlebens etc. mit un¬
zähligen Fäden an diese Wirklichkeit geknüpft sind, ihr entstammen, in ihr
münden. Damit werden die oft außergewöhnlichen Unterschiede, ja Gegen¬
sätze nicht geleugnet oder gar verwischt. Niemand wird bestreiten, daß etwa
ein reicher Aristokrat aus der Provinz und ein Sansculotte aus den Pariser
Vorstädten die große Französische Revolution verschieden erleben, über sie
verschieden denken mußten. Trotzdem werden die Widerspiegelungen dieser
Ereignisse bei beiden in vielfacher Weise auch gemeinsame Züge aufweisen,
die - ohne der klassenmäßigen und individuellen Verschiedenheit Abbruch
zu tun - daraus entspringen, daß die dialektische Einheit und Totalität
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 629

derselben Gesellschaft in demselben historischen Augenblick auf ihre Psycho¬


logie in dieser Richtung mächtig einwirkt. Das bezieht sich auf sämtliche
Äußerungen des gesellschaftlichen wie des privaten Lebens, also auch auf jene
Bedürfnisse, die in einer gegebenen Gesellschaft, zu einem gegebenen Zeit¬
punkt das Entstehen der neuen künstlerischen Produktion hervorrufen, die
die Art, das Übergewicht, das Zurückgedrängtwerden etc. der einzelnen
Kunstarten fördern oder hemmen, die die jeweilige Auswahl zum Aktuell-
und Wirksamwerden zeitlich oder örtlich entfernter Kunstwerke, Richtun¬
gen etc. bestimmen. Die Tatsache, daß in derselben Gesellschaft die Kunst der
verschiedenen Klassen sehr verschiedene Merkmale aufweist, widerlegt den
eben ausgesprochenen Satz keineswegs. Denn die Einheit der Gesellschaft, die
auf ihrer widerspruchsvoll-einheitlichen ökonomischen Basis beruht, setzt sich
auch in dieser Widersprüchlichkeit durch. Ganz abgesehen davon, daß ja die
Klassen gar nicht derart hermetisch voneinander getrennt sein können, daß
Wechselwirkungen verschiedenster Art völlig ausgeschlossen wären. Schon
die bloße Tatsache des scharfen Kampfes fordert gemeinsame Gebiete, eine
gemeinsame »Sprache«, da ja der Sieg der einen Klasse, das Unterwerfen
der einen unter die andere die ideologischen Mittel des Beeinflussens un¬
möglich entbehren kann. Das bezieht sich nicht nur auf die Literatur,
sondern ist in der Wirkung von Architektur oder Musik ebenfalls genau
zu verfolgen.
Damit ist allerdings nur etwas Gemeinsames überhaupt in den Grundlagen
der verschiedenen Künste aufgezeigt. Und wenn man bedenkt, daß sie alle
- freilich in verschiedener Weise - Widerspiegelungen derselben objektiven
Wirklichkeit sind, Reaktionen, ausgelöst durch deren Einwirkungen auf die
Menschen, und weiter sieht, daß die verschiedenen Künste dieses Reagieren
mit dem Zweck festhalten und gestalten, verschiedene Arten von evokativen
Wirkungen auf (dieselben) Menschen auszuüben, so erscheint diese ihre Ge¬
meinsamkeit zunächst als eine selbstverständliche, aber höchst dürftige Ab¬
straktion. Diese Abstraktheit ist natürlich eine unaufhebbare Tatsache. Im
Vergleich zur reichen, unübersehbaren, inhaltlich-formalen Fülle, in welcher
das Ästhetische sich im konkreten Kunstwerk offenbart, erscheint schon das
Genre und erst recht die Kunst im allgemeinen als eine magere Verallgemei¬
nerung. Man darf aber dabei nicht vergessen, daß die hier jeweils zum Vor¬
schein kommende Allgemeinheit nicht einfach ein begriffliches Fixieren von
gemeinsamen Zügen, Eigenschaften, Zusammenhängen etc. ist, also ein direk¬
tes Heraustreten aus der ästhetischen Sphäre in die der logisch-wissenschaft¬
lichen Abstraktion. Was bestimmte Werke zu einem bestimmten Genre ver-
630 Die eigene Welt der Kunstwerke

einigt, ist vielmehr selbst ästhetischen Charakters. D. h. in der Verallgemei¬


nerung wird nicht einfach ein ästhetischer Inhalt ins Begriffliche umgesetzt
- das geschieht in jeder Verallgemeinerung und keine kann richtig sein,
wenn sie nicht die den Phänomenen wirklich gemeinsamen Züge etc. in der
Verallgemeinerung aufbewahrt -, sondern die Verallgemeinerung selbst
geht vom Ästhetischen aus, ist in der Struktur des Werks selbst sowie in der
des ästhetischen Verhaltens zu ihm immanent enthalten; ihre logisch-begriff¬
liche Form geht nicht über einen Schutz gegen undialektische Widersprüche
hinaus; ihr Wahrheitsgehalt ist jedoch rein ästhetisch fundiert.
Dieser im ersten Augenblick paradox scheinende Tatbestand mag vorerst
negativ erläutert werden. Die akademistische Ästhetik bearbeitete ihren Stoff
nach dem Muster einer beschreibenden Naturwissenschaft, sie beschränkte sich
darauf, die gemeinsamen Eigenschaften, man könnte sagen ä la Linn4, zu
katalogisieren. Nun ist aber demzufolge ihr Ergebnis ein Vorbeigehen an
allen entscheidenden ästhetischen Genrefragen: bedeutende Kunstleistungen
bleiben außerhalb des von ihr gesteckten Rahmens, Pseudogestaltungen er¬
füllen dagegen sämtliche im Katalog der Merkmale ausgesprochenen Forde¬
rungen. Positiv gewendet kann man an diesen Tatbestand so herantreten:
jede ästhetische Subjektivität, die - im ästhetischen Sinne - bewußt wird,
also sich über die Spontaneität des bloßen Eindrucks, des bloß evokativen
Affiziertseins erhebt, erlebt in der Aufnahme des einzelnen Kunstwerks zu¬
gleich dessen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Genre; nicht nur ein einzel¬
nes Bild, sondern dessen konkretisierte Bildhaftigkeit, sein Wesen als Malerei,
seine Zugehörigkeit zur Malerei; und genauso in Literatur, Musik, etc. Wir
haben diese Bewußtheit eine ästhetische genannt, denn sie gründet sich auf
eine sinnliche Verallgemeinerung, nicht auf ein begriffliches Abstrahieren; sie
bedeutet keinerlei Distanzierung vom Erlebnis des gegebenen einzelnen
Werks (also nicht: seine Betrachtung als Exemplar einer Gattung). Sie geht
über das spontan-evokative Beeindrucktsein nur insofern hinaus, als in diesem
die evokative Kraft der künstlerischen Formung dabei stehenbleibt, den
künstlerischen Gehalt als solchen erlebbar zu machen, während hier die ästhe¬
tische Beschaffenheit, die ästhetische Wirksamkeit der Formung selbst zum
wichtigen Moment des künstlerisch evozierten Erlebnisses wird. Die ästhe¬
tische Bewußtheit entfernt sich deshalb nicht vom einzelnen Werk, sondern
nähert sich ihm im Gegenteil noch stärker als das rein spontane Erleben, in¬
dem sie seine objektive Struktur, die in ihm obwaltende dialektische Dyna¬
mik in das ästhetische Erlebnis organisch einbezieht. Die ästhetische Bewußt¬
heit ist mithin im Wesen des Werks selbst fundiert. Sie ist ebenso originär
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 631

ästhetisch, wie das spontane Erleben, nur zugleich eine größere Annäherung
an jenen objektiven Form-Inhalt-Komplex, den das Werk an sich darstellt.
Ähnlich, wenn auch vielleicht etwas komplizierter ist die Beziehung der
Werke und der Genres zur Kunst im allgemeinen. Auch hier muß davon aus¬
gegangen werden, daß die Genres ebensowenig Exemplare oder Unterarten
der Gattung Kunst sind wie die einzelnen Werke die der Genres, daß viel¬
mehr mit jedem Genre in seiner Besonderheit und gerade in dieser die Kunst
im allgemeinen unzertrennbar organisch verbunden mitgesetzt ist, ebenso
- und dies ist der hier entscheidende Gesichtspunkt - mit dem Setzen eines
jeden einzelnen Kunstwerks. Es ist ein Verhältnis der Inhärenz und nicht der
Subsumtion. Die Inhärenz ist eine Kategorie, der die moderne Logik wenig
Aufmerksamkeit widmet. Es kann hier natürlich nicht unsere Aufgabe sein,
den Versuch zu machen, diese Lücke irgendwie auszufüllen. Wir begnügen
uns mit einem kurzen Hinweis auf die Hegelsche Logik, in welcher diese für
uns wichtigen Fragen wenigstens angedeutet sind. Es ist dabei auffallend, daß
diese Kategorie bei Hegel immer am Anfang jener Analysen auftaucht, denen
er die Formen von Urteil und Schluß unterwirft. In der »Philosophischen
Propädeutik« werden beide Abschnitte mit der Untersuchung des Qualitati¬
ven begonnen, als Urteile bzw. Schlüsse der Inhärenz. Hegel sagt dort über
das Prädikat: »Allgemeinheit, das Prädikat, hat hier nur die Bedeutung einer
unmittelbaren (oder sinnlichen) Allgemeinheit und der bloßen Gemeinschaft¬
lichkeit mit anderen1.« Und der zweite Abschnitt schließt konsequenter¬
weise mit der »Aufhebung des Qualitativen«, mit dem Übergang zu den
»Schlüssen der Quantität oder Reflexion 2«. In der großen Logik verliert die
Inhärenz ihre Bedeutung für den Schluß. Am Anfang der Lehre vom Urteil
steht zwar noch immer die Inhärenz, indem sie das »Urteil des Daseins«
charakterisiert, wo »das Prädikat die Form eines Unselbständigen, das am
Subjekt seine Grundlage hat«, annimmt3. Der Schluß des Daseins, als Prä¬
ludium der Untersuchung der Schlüsse, basiert dagegen bereits auf der
doppelten Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine und des Allge¬
meinen unter das Einzelne4. Ja, im weiteren wird gegen Aristoteles der
Vorwurf erhoben, daß er sich »mehr an das bloße Verhältnis der Inhärenz

1 Hegel: Philosophische Propädeutik, Begriffslehre § 15.


2 Ebd. § 42-43.
3 Hegel: Wissenschaft der Logik, Wk. a. a. O. Band V. S. 74.
4 Ebd. S. 118.
6}z Die eigene Welt der Kunstwerke

gehalten« hat1. Es ist hier nicht der Ort, näher zu betrachten, wieweit
dieser Vorwurf zutrifft. Prantl hebt wenigstens hervor, daß Aristoteles zwi¬
schen dem »artmachenden Unterschied« und »der bloßen Inhärenz« klar
unterscheidet 2.
Diese hier nicht austragbare Kontroverse weist auf das für uns so wichtige
Problem von Gattung, Art, Individuum hin, das ja, wie wir gesehen haben,
eine gewisse, sogar ziemlich weitgehende strukturelle Ähnlichkeit mit dem
von Kunst, Genre und Werk zeigt. Wir haben nicht nur in den unmittelbar
vorangegangenen Bemerkungen feststellen können, daß im originär ästheti¬
schen Verhalten (und in seiner objektiven Grundlage, im Kunstwerk) ein
Verhältnis der Inhärenz wirksam ist, auch die Darlegung über die mensch-
heitliche Fundiertheit von Werk und Wirkung hatte für die Existenz des
Menschen als Individuum, als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe, als
Teilhaber an der Entwicklung der Menschengattung auf eine so geartete Be¬
schaffenheit der Beziehungen hingewiesen. Was also die logische Kategorie
der Inhärenz ausdrückt, ist die Widerspiegelung einer Seinstatsache, die in
Natur und Gesellschaft auf verschiedenen Stufen, in verschiedener Weise
immer wieder auftaucht. Die Berechtigung von Hegels Stellungnahme zu die¬
sem Problemkomplex gründet sich auf dem notwendigen Objektivismus jeder
desanthropomorphisierenden Widerspiegelung der Wirklichkeit. Von diesem
Standpunkt betrachtet erscheinen jene Beziehungen, die in der Kategorie der
Inhärenz deutlich werden, zwar als Tatsachen, als unbestreitbar vorhandene
Beziehungen in der objektiven Wirklichkeit, zugleich aber als deren bloß
unmittelbare Erscheinungsweisen. Die Wissenschaft muß konkret und real,
die Logik im Auf decken der allgemeinsten Formzusammenhänge weitergehen,
will sie sich der objektiven Dialektik der Wirklichkeit gedanklich annähern.
Die Aufhebung der Inhärenz bei Hegel, sein Hinausgehen über sie geht dar¬
auf aus, diese erste, unmittelbare, darum logisch primitive Bestimmung durch
kompliziertere, die Bewegung, den Wandel, die Entwicklung besser ausdrük-
kende Bestimmungen zu ergänzen oder zu ersetzen. Darum werden bei der
Behandlung des Lebens in der »Enzyklopädie« zum Verständnis der Gat¬
tung immer konkretere, verallgemeinernd höherstehende, historischere Kate¬
gorien eingeführt3, neben welchen die Inhärenz als ärmlich-unmittelbare
Abstraktion des Anfangs wirken muß, obwohl nirgends geleugnet wird, daß

1 Ebd. S. 120.
2 Prantl, Geschichte der Logik, a. a. O. Band I. S. 233, 263.
3 Hegel: Enzyklopädie, § 370.
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 633

sie ebenfalls eine der vielen Bestimmungen dieses Verhältnisses ist. (Daß die
konkreten Kategorien der heutigen Wissenschaften weit über die Konkreti¬
sierungsmöglichkeiten Hegels hinausgehen, muß wohl nicht besonders betont
werden, ändert jedoch nichts an der hier allem richtigen, methodologischen
Seite der Frage.)
Es ist klar, daß eine Kategorie, die reale Verhältnisse der objektiven Wirk¬
lichkeit widerspiegelt, auch in der ästhetischen Widerspiegelung Vorkommen
kann und muß. Die Eigenart des Ästhetischen zeigt sich in solchen Fällen
darin, daß die Stellung der Kategorie in der Totalität der Widerspiegelung
und ihre Funktion in deren Dynamik einer Änderung unterworfen wird, die
allerdings am Grundcharakter der betreffenden Kategorie nichts verfälschen
darf. Das haben wir bereits angedeutet - und werden es später noch detail¬
lierter schildern - in bezug auf die Anwendung der Analogie; das haben
wir in bezug auf die Kategorie der Besonderheit ausführlich auseinander¬
gesetzt, und im Laufe der folgenden Darlegungen werden wir auf einen
Funktionswandel dieser Art auch bei anderen Kategorien zu sprechen kom¬
men. Das Problem der Inhärenz beinhaltet somit nichts prinzipiell Neues
für unsere Betrachtungen. Freilich muß sogleich, einleitend, hervorgehoben
werden, daß es selbstredend kein Transpositionsschema zwischen den Kate¬
gorien in Logik und Ästhetik gibt noch geben kann. Es handelt sich ja gar
nicht darum, daß eine logische Kategorie ins Ästhetische versetzt wird, viel¬
mehr immer und ausschließlich darum, daß infolge der Identität der objekti¬
ven Wirklichkeit, die Wissenschaft und Kunst jede in ihrer Art widerspiegeln,
dieselben Tatbestände, Gegenständlichkeitsformen, Bestimmungen etc. in bei¬
den eine - der spezifischen Methode der Annäherung an die Wirklichkeit,
die jede von beiden hat - angemessene Funktion erhalten. Die Untersuchung
der Ähnlichkeit und der Verschiedenheit im Funktionieren der einzelnen
Kategorien muß deshalb für jede einzelne separat vollzogen werden. Erst
wenn dies für alle Kategorien durchgeführt wurde, erst wenn auf diesem
Wege auch die neuen Zusammenhänge zwischen den neuen Funktionen und
dadurch - relativ - veränderten Wesenheiten erhellt sind, erst wenn diese
Zusammenhänge ein System ergeben, kann davon die Rede sein, daß wir die
Eigenart der ästhetischen Widerspiegelung vollständig erfüllt haben. Wie be¬
reits einleitend gesagt wurde, erheben diese Betrachtungen nicht den Anspruch
einer derartigen Vollständigkeit. Bei dem heutigen Stand der Kunstphiloso¬
phie wäre sie auch kaum möglich. Uns kommt es nur darauf an, an einigen
entscheidenden Fällen den Weg, die Methode aufzuweisen, die zu einer solchen
Erfassung der Eigenart des Ästhetischen führen könnte und müßte.
Die eigene Welt der Kunstwerke
634

Wenn wir uns nun der Kategorie der Inhärenz zuwenden, so müssen wir
nochmals darauf zurückkommen, daß sie - logisch-'wissenschaftlich betrach¬
tet - auf einer niedrigen Stufe der Desanthropomorphisiertheit steht, d. h.
daß sie zu jenen Kategorien gehört, die unmittelbar erfaßbare Momente der
Außenwelt widerspiegeln, in deren Wesensart sowohl die enge Verknüpfung
mit der Sinnlichkeit wie ein Haftenbleiben an der Subjektivität bemerkbar
bleibt. Wir haben gesehen, daß Hegel in den von uns angeführten Sätzen
diese beiden Seiten der Inhärenz betont; die erste in der »Philosophischen
Propädeutik«, die zweite in der »Logik«. Daran ist vor allem interessant,
daß diese Wesensart der Kategorie auf ihr Bewußtwerden als solche ein Licht
wirft. In der Inhärenz sind nämlich manche Momente des Teilhabens
(Partizipation) enthalten, die noch in der platonischen Philosophie eine nicht
unbeträchtliche Rolle spielt. Der Ursprung dieser Momente geht jedoch in
prähistorische Zeiten zurück. Levy-Bruhl erblickt gerade in der Partizipation
das zentrale Wesen dessen, was er »prälogisches« Denken nennt. »Ich möchte
sagen«, führt er aus, »daß in den Kollektivvorstellungen des primitiven
Denkens die Gegenstände, Wesen, Erscheinungen auf eine uns unverständliche
Weise sie selbst und zugleich etwas anderes als sie selbst sein können L« Un¬
abhängig von den höchst problematischen Folgerungen, die L4vy-Bruhl aus
dem »Gesetz der Partizipation« zieht, ist hier ein grundlegendes Element der
magischen Weltanschauung berührt, und zwar eines, das während der magi¬
schen Periode sich meistens auf Zusammenhänge bezieht, die im Lichte einer
entwickelteren und vernünftigeren Erfahrung sich vielfach als völlig sinnlos
erweisen, die aber in bestimmten Fällen doch auch teilweise richtige Spiege¬
lungen der Wirklichkeit erreichen können. Die Kategorie der Inhärenz ist aus
der Feststellung von Zusammenhängen zwischen Realitäten verschiedener Be¬
schaffenheit, nach allmählichem Abstreifen des magisch Sinnwidrigen entstan¬
den, als Bezeichnung bestimmter Verhältnisse, die unmittelbar und vorerst
gar nicht anders zu bezeichnen gewesen wären. Es ist kein Zufall, daß sie in
der Klassifikation der Phänomene (Art, Gattung etc.) so wichtig wird, denn
es bedarf noch im Folgenden einer langwierigen wissenschaftlichen Entwick-
lung, bis die Klassifikation sich in eine kausal etc. bestimmte Evolutionslehre
umwandeln kann.
Der auffallende Gegensatz in dieser Entwicklung ist nun, daß im Ästheti¬
schen die Inhärenz als Kategorie äußerer und innerer Zusammenhänge nie

1 Levy-Bruhl: a. a. O. S. 58.
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 635

eine derartige Überwindung erleidet, im Gegenteil sich als unentbehrliches


Mittel der Gestaltung fixiert und sich als solches immer breiter, tiefer und
reicher entfaltet. Es genügt, wenn wir erneut an die Beziehung von Indivi¬
duum, gesellschaftlicher Gruppe und Menschheit erinnern. Natürlich gab es
immer wieder Theorien, die solche Verhältnisse im Sinne einer Wissenschaft¬
lichkeit auch für die künstlerische Praxis zu erfassen bestrebt waren und die
jene einfache, unmittelbare und sinnlich-sinnfällige Inhärenz, die - um nur
einen wichtigen Fall hervorzuheben - das Individuum als Mitglied einer
Klasse oder Nation erscheinen läßt, etwa durch eine rein kausale Ableitung
dieses Verhältnisses ersetzen wollten. (Von der wirklichen Rolle der Kausali¬
tät in der künstlerischen Gestaltung wird später die Rede sein.) Das Ergebnis
war ein Fetischisieren der menschlichen Beziehungen, indem ihre wirkende
Gesamtheit zu dem zugleich unpoetischen und »mythischen«, unwahren Ge¬
bilde des sogenannten Milieus erstarrte. Die Inhärenz als Kategorie der Ge¬
staltung bedeutet aber eine unzertrennbar-organische Einheit des Indivi¬
duums, in dem und um welches gesellschaftliche Kräfte wirksam werden, die
trotzdem unmittelbar gleicherweise als Momente seiner Psychologie erschei¬
nen. Sie sind jedoch weder dem Inhalt, noch dem Gewicht oder der Richtung
nach gleichwertig, und diese Beschaffenheit äußert sich nicht in einem stati¬
schen Gleichgewicht oder in einem Zustand seiner Gestörtheit, sondern als
ununterbrochener Kampf der verschiedenen Tendenzen, als ununterbrochenes
Herstellen oder Aufheben des psychischen Gleichgewichts der Personen. Die
sich hier offenbarende dynamische Heterogeneität von unmittelbar homogen
scheinenden seelischen Momenten zeigt eben die Wirksamkeit der Kategorie
der Inhärenz, indem das Teilhaben der Personen an Beziehungen von ver¬
schiedenen Ordnungen - der Wahrheit des Lebens entsprechend - als eine
Komponente ihrer Psychologie erscheint, der die Widerspiegelung dieser Ver¬
hältnisse inhäriert. Unbeschadet ihrer Existenz als Mächte des vom Bewußt¬
sein unabhängigen objektiven Seins der Gesellschaft bleiben sie der Psycholo¬
gie des Individuums immanent. In der künstlerischen Gestaltung herrscht
also die naturwüchsig unmittelbare Einheit der Persönlichkeit vor; die Be¬
ziehungen zu den objektiven Tendenzen der Gesellschaft erscheinen eben in
der Kategorie der Inhärenz. Diese Einheit kann sich natürlich konkret als
Konflikt, als Zerrissenheit etc. äußern. Sie wird aber - soll die Gestaltung
eine echte künstlerische bleiben - auch in der äußersten Zersetzung die Ein¬
heit der Substanz des Menschen zum Ausdruck bringen, und gerade dafür ist
die Anwendung der Kategorie der Inhärenz unentbehrlich. Wo damit ge¬
brochen wird, entsteht ein Bruch mit der Wahrheit des Lebens und der Kunst,
636 Die eigene Welt der Kunstwerke

wie dort, wo, dem modernen Vorurteil entsprechend, die Pathologie »das Mo¬
dell« zum Verständnis des normalen Menschen darbietet und etwa schizo¬
phrene Spaltungen des Bewußtseins nicht als pathologische Ausnahmefälle,
sondern als »condition humaine« dargestellt werden.
Diese fundamentale Tatsache der künstlerischen Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit hat viel Verwirrung sowohl in der Kunsttheorie wie in der Wissen¬
schaftslehre verursacht. In der ersteren wird nicht selten diese kategoriell
»primitive«, »urwüchsige«, »urtümliche« Art der Wiedergabe der Wirklich¬
keit dazu überspannt (und damit ins Absurde gesteigert), die Kunst
reproduziere - angeblich - eine Rückkehr ins Magische. Auf die grund¬
legende Falschheit solcher Anschauungen haben wir bereits hingewiesen
und gezeigt, daß dabei der wirkliche Tatbestand sowohl von Magie wie von
Kunst verzerrt wird (Worringer, Caudwell, etc.). Die »Primitivität« in der
Kategorie der Inhärenz (und ähnlicherweise auch in der künstlerischen An¬
wendung der Analogie) knüpft einerseits an ein Entwicklungsstadium an,
das das Magische schon längst weit hinter sich gelassen hat und das aus¬
schließlich mit im Leben real vorhandenen Inhärenzbestimmungen operiert;
ein Stadium, in welchem die phantasmagorische Subjektivität der Magie -
besser gesagt: ihre Unfähigkeit, zwischen subjektiv und objektiv zu unter¬
scheiden -, bereits einer überwundenen Vergangenheit angehört. Anderer¬
seits bleibt die künstlerische Entwicklung bei der schlichten, unanalysierten
Konzeption der Inhärenz nicht stehen, geschweige denn daß sie sich von hier
aus historisch nach rückwärts bewegen würde; in den Verhältnissen und Be¬
ziehungen, die man verallgemeinert als Kategorie der Inhärenz zusammen¬
fassen kann, steckt nämlich ein echtes Material des menschlichen Lebens, das
sich mit der historischen Entwicklung der Gesellschaft ununterbrochen weiter¬
bildet, und in dessen Klarlegen und gestalteten Elerausstellen die Kunst eine
Pionierrolle spielt. Schon als diese Kategorie in den Werken der Antike er¬
scheint, hat sie mit den magischen Anfängen nur noch wenig zu tun, und gerade
in Hinsicht auf die hier entstehenden Probleme hat die spätere Kunst einen
langen Weg der Verbreiterung, Vertiefung und Bereicherung zurückgelegt.
Auf die verwirrenden Folgen, die aus methodologischen Mißverständnissen
dieser Sachlage in den Wissenschaften entstehen, können wir nur ganz kurz
und kursorisch eingehen. Es handelt sich in erster Linie um die Methode der
Psychologie als Wissenschaft. Die idealistische Psychologie des Positivismus
ist an der Jahrhundertwende in eine Krise geraten; ihre Unfähigkeit, die
Phänomene konkret zu erfassen, ist immer deutlicher sichtbar geworden.
Statt nun aber die idealistischen Grundlagen zu kritisieren, die es z. B. nicht
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 637

gestatten von den Assoziationen zu deren materiell-physiologischen Grund¬


lagen herunterzusteigen und mit Hilfe der dort gefundenen Gesetze sich den
Phänomenen besser anzunähern, entstand die Sehnsucht nach einer Psycho¬
logie, die sich der Konkretheit und Sinnfälligkeit der künstlerischen, vor
allem der dichterischen Gestaltung annähert und in deren Art ihre Probleme
behandelt. Seit Diltheys Forderung einer »beschreibenden Psychologie« an¬
stelle einer bloß »zergliedernden«, (d. h. wissenschaftlichen) schlägt diese Be-
wegung immer größere Wellen. Es kann natürlich hier nicht unsere Aufgabe
sein, uns mit diesen verschiedenen Strömungen auseinanderzusetzen. Uns auf
eine einzige methodologische Bemerkung beschränkend, können wir nur sa¬
gen: solche Tendenzen stellen der Psychologie Aufgaben, die nur die Kunst,
die ästhetische Widerspiegelung der Wirklichkeit, befriedigend lösen kann;
schlägt die Wissenschaft solche Pfade ein, so verzichtet sie auf ihr eigenstes
Vesen: auf das Auf decken jener objektiven Gesetzmäßigkeiten und Zusam¬
menhänge, die den Gegenstand der Psychologie - objektiv - bestimmen, und
deren man nur mit einer desanthropomorphisierenden Art der Widerspiege¬
lung richtig habhaft werden kann. Der Materialist Pawlow hat wichtige
Richtlinien für solche Untersuchungen aufgezeigt, leider bis jetzt auf psycholo¬
gischem Gebiet mit geringer Nachfolge. In einem späteren Kapitel werden
wir die Richtung, in der diese Methode für unsere Probleme ausgenützt wer¬
den kann, anzudeuten versuchen.
Unsere früheren Bemerkungen - mit Rückbeziehung darauf, was über den
menschheitlichen Charakter der Kunst gesagt wurde - haben darauf hin¬
gewiesen, daß das originär Ästhetische in wichtigen Punkten mit der Kate¬
gorie der Inhärenz zu arbeiten gezwungen ist. Daraus wird auch ersicht¬
lich, daß man in den Beziehungen von Kunstwerk, Genre und Kunst im all¬
gemeinen der Kategorie der Inhärenz ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu¬
messen muß. Das erscheint von vornherein als höchst wahrscheinlich, da ihre
formale Beziehung zueinander manche Ähnlichkeit zu der von Einzelwesen,
Art, Gattung aufweist. Hier kommt es jedoch mehr auf die Unterschiede an.
Man würde das Verhältnis von Werk, Genre und Kunst in wesentlichen Mo¬
menten verzerren, wenn man es einfach analog zu dem von Einzelwesen, Art,
Gattung behandeln würde. Wieder rückt hier das Problem der Inhärenz in
den Mittelpunkt. Denn wir haben ja gesehen, daß sie zwar für das ursprüng¬
liche Erfassen der mit der menschlichen Gattung verknüpften Begriffe unent¬
behrlich war, daß jedoch eine entwickeltere wissenschaftliche Betrachtung
über sie hinausgehen mußte. Hingegen ist für diese ästhetischen Verhältnisse
das Festhalten und das immanente Entfalten der Inhärenz das eigentlich
Die eigene Welt der Kunstwerke
63 8

Charakteristische. Mit Bezug auf die Darstellung des zentralen Gegenstandes


der Kunst, des Menschen, haben wir dies bereits angedeutet, aber auch unsei e
Darlegungen über die Entäußerung und ihre Rücknahme in das Subjekt sind
um dieses Problem gekreist. Es kommt nun bloß darauf an, die notwendigen
Folgerungen für die uns jetzt beschäftigende Frage zu ziehen. Überall im
Ästhetischen ergibt sich eine gewisse Substanzialität des Subjekts, besser ge¬
sagt: die Evokation des Erlebens seiner Substanzialität. Das hat nichts mit
der Hegelschen Verwandlung der Substanz ins Subjekt zu tun; mit deren
mystischem Wesen haben wir uns hier um so weniger zu beschäftigen, als wir
in diesen Betrachtungen bereits ihren - ästhetischen, nicht philosophisch-
wissenschaftlichen — rationalen Kern aufzudecken bestrebt waren. Diese
Substanzialität bezeichnet vorerst die Tiefe, die Organik in der Einheit des
Subjekts. Wenn früher von einem anderen Aspekt die innige Zusammen¬
gehörigkeit, ja Verwachsenheit von Wesen und Erscheinung betont wurde,
so weist dies ebenfalls in diese Richtung. Während wissenschaftlich Er¬
scheinung und Wesen sauber getrennt werden müssen, damit die Erkenntnis
der Gesetze zu den von ihnen erhellten Erscheinungen zurückkehren könne,
statuiert das Kunstwerk eine sinnlich-sinnfällige Untrennbarkeit von Er¬
scheinung und Wesen; dieses ist nur insofern ästhetisch vorhanden, als es rest¬
los mit der Erscheinungswelt verschmolzen ist, und jene kann nur als das be¬
stimmte und konkrete Wesen einer bestimmten und konkreten Erscheinung
unmittelbar zur Geltung gelangen. Allerdings zugleich in einer sinnlich-sinn¬
fälligen Verallgemeinerung; die das Wesen zugleich als fürsichseiend und den
Erscheinungen immanent innewohnend zum Ausdruck bringt.
Diese originär ästhetische Struktur der Werke muß in den von der Sache
selbst geschaffenen Verallgemeinerungen, wie Genre und Kunst im allgemei¬
nen aufbewahrt bleiben, wollen diese nicht das Wesen des Ästhetischen ver¬
gewaltigen, die - ästhetische - Inhärenz zu einer logischen Subsumtion ver¬
zerren. Dadurch werden erst Ähnlichkeit und Unterschied zu Art und Gat¬
tung deutlich sichtbar. Hier repräsentiert nämlich, wie bereits erwähnt, schon
die einfache, vielfach künstliche und starre Klassifikation auf subsumtiver
Grundlage eine höhere Stufe der Wissenschaftlichkeit als die unmittelbare
Zurkenntnisnahme der Inhärenz. Und auch wo diese Kategorie auf höherem
Niveau auftritt, wie etwa in vergleichend morphologischen Versuchen, die
Phänomene systematisch zu ordnen, dominieren Kategorien komplizierterer,
entwickelterer Ordnungen über die bloße Inhärenz. In der ästhetischen
Sphäre bleibt dagegen die Inhärenz unaufhebbar in Geltung: ob es sich um
die objektive Beschaffenheit der Werke oder um die schöpferischen wie rezep-
Kontinuität und Diskontinuität der ästhetischen Sphäre 639

tiven Verhaltensweisen zu ihnen handelt, das einzelne Werk und das Genre,
zu dem es gehört, werden notwendig uno actu gesetzt. Weder im Schaffen
oder Aufnehmen noch selbst in der ästhetischen Reflexion darüber darf hier
eine scharfe Grenze gezogen werden. Sogar in der - der Form nach begriff¬
lichen — Analyse eines Kunstwerks bewegt sich Erleben und Denken un¬
unterbrochen in jenem gemeinsamen Fluidum, das das Werk mit seinem
Genre vereinigt. Wenn etwa von den malerischen Qualitäten eines Land¬
schaftsbildes die Rede ist, so ist in der Erfassung der spezifisch-individuellen
Eigenheit dieses bestimmten Bildes ebenso die Problematik des Malerischen
überhaupt enthalten wie im umgekehrten Fall. Die von uns wiederholt her¬
vorgehobene Art der Erfüllung der Gesetzlichkeit seines Genres durch ein
Kunstwerk in der Weise, daß dieses zugleich eine Erweiterung der Gesetze
miteinbegreift, ist ein unzweideutiger Beweis dafür, daß dieses Verhältnis der
wechselseitigen Inhärenz zwischen Einzelwerk und Genre zum Wesen des
Ästhetischen gehört. Ebenso ist es mit der Beziehung von Werk und Genre
zur Kunst im allgemeinen bestellt. Darum sind Genre und Kunst dem allein
für sich bestehenden Werk gegenüber nicht Allgemeinbegriffe.
Ein gewisses Umsetzen ins Begriffliche ist innerhalb bestimmter Grenzen un¬
vermeidlich und geschieht auch ununterbrochen. Wird es jedoch vorschnell
und starr vollzogen, so haben wir es, wie so oft im Laufe der Geschichte, mit
toten Regeln zu tun, die bestenfalls am Ästhetischen unbemerkt Vorbeigehen,
häufig jedoch ertötende Wirkungen auf Sinn und Schaffen ausüben. Es han¬
delt sich vielmehr - wir wiederholen - um sinnlich-sinnhafte Verallge¬
meinerungen, die dieser ihrer Wesenheit entsprechend jenem uns bereits be¬
kannten ästhetischen Prozeß dienen, der die bloße Partikularität des jeweili¬
gen schaffenden wie rezeptiven Subjektes aufhebt, damit die Subjektivität
sich bis ins Gattungsmäßige, ins Menschheitliche steigere, ohne die Parti¬
kularität vollständig zu vernichten, ohne von ihr mehr abzustreifen, als für
einen solchen Aufstieg unerläßlich ist. Die Inhärenz drückt sich also darin aus,
daß in jedem Künstler - sowohl objektiv wie subjektiv - Genre und Kunst
im allgemeinen stets simultan gegenwärtig sind. Freilich wenn hier vom
Gegenwärtigsein in der ästhetischen Subjektivität die Rede ist, so ist damit
keineswegs eine sich begrifflich äußernde Bewußtheit gemeint, allerdings
noch weniger ein »tiefenpsychologisches« Unbewußtes; unser »sie wissen es
nicht, aber sie tun es« gilt auch hier. Hegel hat seinerzeit prägnant formuliert,
daß der Gattung die Negation der unmittelbaren Einzelheit, der »Tod des
Individuums« zukommt. In unserem Falle entsteht das Entgegengesetzte:
indem das, nach Hegels Ausdrude, unmittelbar Einzelne, das einzelne Kunst-
Die eigene Welt der Kunstwerke
640

werk sich verwirklicht, und sich, was aus dem Wesen des Ästhetischen folgt,
als Dauerndes, als Bleibendes konstituiert, kommt erst darin, wieder nach
Hegels Ausdruck, »die Gattung zu sich selber« K Der Prozeß hat also in
bezug auf Einzelnes, Art und Gattung einen geradezu entgegengesetzten
Charakter. Selbsterhaltung, Wachstum, Entwicklung von Genre und Kunst
im allgemeinen hängen in unmittelbarer und zwingender Notwendigkeit von
einer Realisation der einzelnen Kunstwerke ab, die absterbenden (veralten¬
den) Gestaltungen dagegen fallen aus dem ästhetischen Gattungsprozeß her¬
aus, werden zu einem — ästhetischen — Nichts. (Was sie dabei unter Um¬
ständen als gesellschaftlich^geschichtliche Phänomene bedeuten, berührt nicht
diese Frage.)

II Das homogene Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz

Es sei also festgestellt: mit dem ästhetischen Setzen des einzelnen Werks wer¬
den simultan, uno actu, Genre und Kunst im allgemeinen mitgesetzt. Wenn
wir uns nun einem wesensbestimmenden Problem der einzelnen Künste, dem
Genre zuwenden und für eine gewisse Strecke aus Gründen der klaren Metho¬
dologie die Kunst im allgemeinen etwas zu vernachlässigen scheinen, so ist
dies, wie aus den vorangegangenen Darlegungen klar hervorgeht, ein bloßer
Schein, denn bei jeder richtigen ästhetischen Betrachtung eines Genres wer¬
den auch die Probleme der Kunst im allgemeinen mitgedacht; es handelt sich
hier bloß um die methodologische Frage, wieweit diese vorläufig unausge¬
sprochen bleiben und nur als Hintergrund figurieren. Schon wenn wir das hier
gemeinte Problem, das in früheren Betrachtungen oft herangezogene homo¬
gene Medium jeder Kunstart (und innerhalb ihres Bereichs: jedes Kunstwerks),
auch nur anschneiden, wird dieser Zusammenhang sichtbar. Denn das kon¬
krete homogene Medium - z. B. reine Sichtbarkeit in den bildenden Kün¬
sten - ist auch eine Bestimmung der Kunstart. Es kann sich nach Genres
differenzieren, den sicher bedeutet reine Sichtbarkeit in der Malerei in man¬
cher Hinsicht nicht genau dasselbe wie in der Plastik; das Medium der dichte¬
rischen Sprache hat in Lyrik, Epik oder Dramatik eine ganze Reihe von spezi¬
fischen Kennzeichen etc. Gar nicht zu reden davon, daß das homogene Me¬
dium seine originäre Verwirklichungsweise natürlich erst im einzelnen Kunst-

1 Hegel: Enzyklopädie, § 367, Zusatz.


Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 641

werk erhält, in welchem seine zugleich individuelle und verallgemeinerte Be¬


handlungsweise die grundlegendste formale ästhetische Bestimmung bildet.
Trotzdem kann mit gutem Recht gesagt werden, daß das Problem des homo¬
genen Mediums gerade im Bereich von Kunstart und Genre eigentlich behei¬
matet ist. Hier hat seine Allgemeinheit gegenüber den einzelnen Werken
noch einen sehr weitgehenden originär ästhetischen Charakter. Das ist viel
weniger der Fall, wenn wir von Kunst im allgemeinen sprechen. Die Aussage,
daß jede Kunstart oder jedes Genre eine eigene Form von homogenem Me¬
dium als Grundlage besitzt, ist bereits eine Verallgemeinerung, die die
wesentlichen gemeinsamen Züge voneinander qualitativ verschiedener Me¬
dien auf den Begriff bringt. Dagegen ist - im Sinne unserer früheren Aus¬
führungen - jedem homogenen Medium der innerliche Hinweis auf die
Kunst im allgemeinen, die Beziehung im Sinne der Inhärenz zu ihr in einer
originär ästhetischen Weise innewohnend. Durch das Festhalten dieser struk¬
turellen Tendenz von unten nach oben kann der soeben angezeigte begriff¬
liche Charakter von oben nach unten korrigiert und das Wesentliche des
ästhetisdien Gehalts annähernd unversehrt ins Begriffliche transponiert wer¬
den. Diese Gedankengänge geben uns aber das methodologische Recht, die
Untersuchung des homogenen Mediums vom Blickpunkt der Kunstarten oder
der Genres in Angriff zu nehmen.
Bevor die mit dem homogenen Medium verknüpften Hauptprobleme behan¬
delt werden können, ist es nötig, über dessen Charakter Klarheit zu schaffen.
Seine eigentliche Verwirklichung liegt in den Kunstwerken vor und dort ist
es tatsächlich ein Medium im strikten Sinne des Wortes. Dieses Medium ist
jedoch nicht eine von der Tätigkeit der Menschen unabhängig vorhandene ob¬
jektive Realität wie eine Tatsache, ein Zusammenhang in Natur oder Gesell¬
schaft, sondern ein besonderes Formungsprinzip der Gegenständlichkeiten
und ihrer Verknüpfungen, die von der Praxis der Menschen eigens hervorge¬
bracht wurden. Und zwar nicht in dem Sinne, wie die gesellschaftlich-
geschichtlichen facta Produkte der menschlichen Tätigkeit sind. Selbst wenn
diese mit einem annähernd richtigen Bewußtsein hervorgebracht werden,
bilden die in ihnen wirksamen Gesetze und Tendenzen, die von diesen ge¬
schaffenen Tatsachen und Zusammenhänge einen Teil der objektiven, vom
menschlichen Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit. Das auf ihre richtige
Widerspiegelung gegründete Handeln muß also ständig beeinflussend, kon¬
trollierend, korrigierend eingreifen, damit ein solcher Komplex sich nicht in
einer Richtung bewege, die die Ergebnisse eines richtigen Handelns in die
eines unrichtigen, die eines bewußten in die eines bewußtlosen verwandelt.
642
Die eigene Welt der Kunstwerke

Denn die so entstehenden Tatsachen sind, auch wenn sie von den Menschen
mit Bewußtsein produziert oder beeinflußt werden, Tatsachen der vom Be¬
wußtsein unabhängig existierenden und wirkenden objektiven Wirklichkeit,
unterliegen deren Gesetzmäßigkeiten, die der Mensch nur durch ihre richtige
Erkenntnis und deren richtige Anwendung auf sie zu leiten imstande ist. Das
von der menschlichen Tätigkeit Hervorgebrachte hat in unserem Fall einen
völlig anderen Sinn: den der Endgültigkeit. Im homogenen Medium der
Kunstart entstehen Formgebilde, die nur dadurch ihre spezifische »Wirklich¬
keit« erlangen, daß sie die objektive Wirklichkeit ästhetisch widerspiegeln.
Ihre »Wirklichkeit« besteht bloß darin, daß sie das in ihnen festgehaltene
künstlerische Abbild der objektiven Wirklichkeit evozieren können, daß sie
die Erlebnisse der Menschen zu einer inneren Reproduktion des in ihnen ver¬
körperten Abbilds zu leiten, zu lenken vermögen.
Das homogene Medium muß also, obwohl seine konkrete Beschaffenheit
(Hörbarkeit, Sichtbarkeit, Sprache, Gebärde) ein Element des menschlichen
Lebens, der menschlichen Praxis bildet, etwas aus dem ununterbrochenen Fluß
der Wirklichkeit Herausgehobenes sein. Es wird zur Grundlage der Praxis im
künstlerischen Schaffen, wo das Sichversetzen des Künstlers in das homogene
Medium seiner Kunstart, durch dessen Verwirklichung in der spezifischen
Qualität der eigenen Persönlichkeit die Möglichkeit des - von uns bereits
untersuchten - Schaffens einer eigenen »Welt« als ästhetischer Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit eröffnet. Allgemein und abstrakt gesprochen ist das
Zustandekommen eines homogenen Mediums in der Widerspiegelung der ob¬
jektiven Wirklichkeit, im Prozeß der Verwandlung des Ansich in ein Füruns
kein absolutes Novum. Es genügt an die Rolle der Mathematik in den exak¬
ten Wissenschaften zu erinnern. Dabei tritt jedoch sogleich der qualitative
Unterschied in der Widerspiegelung der dem objektiven Wesen nach gleichen
Wirklichkeit zwischen Wissenschaft und Kunst deutlich hervor. Ein homoge¬
nes Medium der Wissenschaft kann nur aus einer bereits - relativ - er¬
faßten Realität selbst gewonnen werden. Seine Grundlage bilden Elemente
und Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit selbst, deren abstrahierende
Bearbeitung, eben das Schaffen eines solchen homogenen Mediums, vor allem
darin besteht, das objektiv Seiende von jeder an die Subjektivität gebunde¬
nen, anthropomorphisierende Tendenzen enthaltenden, Betrachtungsweise
nach Möglichkeit zu reinigen. Es besteht demzufolge aus Elementen und
deren Verbindungen, Gesetzlichkeiten etc., die das jeweils erreichbare Objek¬
tive an den Gegenständen aussprechen. Die wahre Objektivität ist natürlich
einer ununterbrochenen Kontrolle der Realität unterstellt. So muß z. B. jede
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 643

Modellvorstellung eines sonst gedanklich nicht zugänglichen Phänomens ver¬


worfen werden, sobald wichtige Einzelheiten seiner Erscheinungsweise wider¬
sprechen; andererseits ist es möglich, daß eine mathematische Formel, Ablei¬
tung etc. mehr Eigenschaften der Wirklichkeit enthält, als man ursprünglich
bei ihrer Entdeckung meinte. So entsteht durch das homogene Medium in der
wissenschaftlichen Widerspiegelung ein Pfad zum objektiven Ansichsein der
Gegenstände und deren Zusammenhängen, eine tendenziell sich stets vervoll¬
kommnende Ausschaltung der menschlichen Subjektivität1.
Daß das homogene Medium in der ästhetischen Widerspiegelung unaufheb¬
bar subjektgebunden ist, ja gerade aus diesem Verankertsein in der mensch¬
lichen Persönlichkeit seine Bedeutung erlangt, wissen wir bereits aus früheren
Darlegungen. Auch vom konkreten Charakter der hier zur Geltung gelangen¬
den Subjektivität ist schon die Rede gewesen. Wir wissen also, daß ihr unaus¬
schaltbares Wesen keineswegs mit einem Leugnen, ja nicht einmal mit einem
Abschwächen der Objektivität, der Wirklichkeitstreue der ästhetischen Form¬
gebilde identisch ist, daß im Gegenteil der subjektbetonte Charakter der
ästhetischen Widerspiegelung ein Hauptvehikel ihrer Annäherung an die ob¬
jektive Wirklichkeit bildet; daß die spezifisdie Beschaffenheit des Gegenstan¬
des der ästhetischen Widerspiegelung die Welt in Wechselbeziehung zur
menschlichen Tätigkeit bringt und eine bestimmte Subjektivität ihres Ver¬
mittlungsorgans gebieterisch vorschreibt. Das homogene Medium hat nun hier
eine - den verschiedenen Aufgaben entsprechend abgeänderte - ähnliche
Funktion wie in der Erkenntnis: nämlich Organ der Annäherung der Wider¬
spiegelung an die objektive Wirklichkeit zu sein. Es kommt in beiden Fäl¬
len darauf an, durch das homogene Medium eine Reduktion des Objekts auf
das Wesentliche zu erleichtern und zu ermöglichen, damit aus seiner Unmittel¬
barkeit jene Bestimmungen in den Vordergrund treten, die mit dem Ziel
des Widerspiegelungsaktes sachlich eng Zusammenhängen, und jene vernach¬
lässigt, ja unter Umständen völlig beiseite geschoben werden, die sich mit
diesem bloß in einem losen, zufälligen Zusammenhang befinden, eventuell
überhaupt nicht verbunden sind. Ein derartiges Medium kann dazu noch die
Eigenheit besitzen - man denke an die Mathematik -, daß eine eigene Lö¬
sung entfaltet werden kann, die freilich, wenn auch zuweilen sehr weit ver¬
mittelt, ihre Wahrheit ebenfalls aus der richtigen Spiegelung der objektiven

1 Daß dieser Weg vielfach auch problematisch werden kann, so im Falle des mathe¬
matischen Formalismus, braucht uns hier nicht zu beschäftigen.
644
Die eigene Welt der Kunstwerke

Wirklichkeit schöpft, jedoch den einzelnen Beobachtungen, den aus ihnen un¬
mittelbar gezogenen Folgerungen gegenüber als Prinzip der Kritik, der Rich¬
tigstellung auftreten kann. Dieser allerallgemeinst formalen Ähnlichkeit
muß aber sogleich die ebenso wichtige Verschiedenheit entgegengestellt wer¬
den. Die wissenschaftliche Widerspiegelung ist, wie wir wissen, eine desan-
thropomorphisierende, was eine dieser Einstellung entsprechende Objektivi¬
tät ihres homogenen Mediums vorschreibt; sein Wirken, seine Wesensart ist
rein durch die Beschaffenheit des jeweiligen Objekts bestimmt. Da nun der
Gegenstand der ästhetischen Widerspiegelung die Welt der Menschen, ihre
Beziehungen zueinander und zur Natur ist, muß die Art und die Differen¬
zierung des homogenen Mediums hier ganz anders beschaffen sein.
Das Objekt dieser Widerspiegelung soll nämlich nicht nur so, wie es an sich
ist, sondern auch als Moment der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und
Natur, ihren Gründen und Folgen in der Gesellschaft erscheinen. Im Setzen
der Gegenstände ist also das menschliche Verhältnis zu ihnen, das menschliche
Reagieren auf sie mitenthalten. Soll nun, wie früher nachgewiesen wurde,
diese höchst aktive Rolle des Subjekts nicht zu einer subjektivistischen Will¬
kür führen, vielmehr eine neue, aber wohlfundierte Art der Objektivität be¬
gründen helfen, so darf einerseits die schöpferische Subjektivität nicht einer
ihr völlig fremden Welt gegenüberstehen, zu der sie bloß nachträglich Stel¬
lung nehmen könnte. Denn so entstandene Urteile bleiben hier unfehlbar mit
dem Makel eines hohlen Subjektivismus behaftet. Das Subjekt muß im
Gegenteil an dem Geradesosein von Inhalt und Form der abgebildeten Welt
aktiv mitbeteiligt sein. Wenn das einzelne schöpferische Subjekt dem einzel¬
nen zu schaffenden Werk gegenüber sich eine solche Demiurgenrolle anmaßt,
so handelt es sich keineswegs um eine unbegründete Aufblähung seiner selbst,
sondern um die innere, abgekürzte und konzentrierte Reproduktion des
Weges der menschlichen Gattung: die Gegenstände, die in der ästhetischen
Widerspiegelung abgebildet und festgehalten werden, sind ja formal wie
inhaltlich Eigebnisse dieses Prozesses. Selbst wenn sie, wie die Gegenstände
der Natur, an sich eine von der Menschengattung unabhängige Existenz
haben, ist ihre Existenzweise in sehr vielen Fällen von diesem Prozeß objek¬
tiv aufs tiefste modifiziert (abgeholzte Wälder, geregelte Flüsse etc.) und
auch wo dies nicht der Fall ist, kann ihre Erscheinungsweise nicht abgetrennt
von diesem Entwicklungsweg vorgestellt werden (hohe Berge, Meer etc. als
Gegenstände der Kunst). Es zeigt sich also erneut, diesmal von einem ande¬
ren Gesichtspunkt, daß die Berechtigung der ästhetischen Subjektivität in
ihrer Beziehung zum Menschengeschlecht fundiert ist. Erst dadurch kann sie
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 645

eine eigenartige Objektivität erlangen, ohne ihren subjektiven Charakter zu


verlieren, aber auch ohne einem Subjektivismus verfallen zu müssen.
Aus dieser Eigenart folgt nun andererseits, daß das Prinzip der Differenzie¬
rung für die verschiedenen homogenen Medien nicht bloß in der Beschaffen¬
heit der abgebildeten Objektwelt liegen kann, wie in den Wissenschaften,
sondern auch in den Verhaltensarten des menschlichen Subjekts, die einen Zu¬
gang zu den wichtigen und dauernden Aspekten einer solchen Wirklichkeit
ermöglichen. Es liegt also im objektiven Stoff von Natur und Gesellschaft, ob
und wieweit ihrer wissenschaftlichen Widerspiegelung, etwa dem homogenen
Medium der Mathematik, eine herrschende Bedeutung zukommt. Ob
wiederum ein bestimmter Vorgang in der Gesellschaft episdr oder drama¬
tisch gestaltet werden soll, entscheidet in erster Linie die Einstellung des
Subjekts, sein Verhalten zur Welt, zu den Problemen der Widerspiegelung
und Gestaltung. Daß hinter einem solchen subjektiven Verhalten, einer sol¬
chen subjektiven »Entscheidung« stets objektive, gesellschaftlich-geschichtliche
Kräfte stehen, daß also diese Subjektivität fast als bloßer Stauungspunkt
objektiver Notwendigkeit sdieinen mag, wurde hier schon öfter angedeutet;
der ganze Problemkomplex kann nur im historisch-materialistischen Teil die¬
ser Arbeit konkret behandelt werden.
Das homogene Medium erscheint nun in dieser Sicht vorerst als ein Einengen
der Apperzeption der Welt, als die Reduktion ihrer Elemente, Gegenständ-
lichkeits- und Zusammenhangsformen auf das, was vom Standort eines sol¬
chen Verhaltens wahrnehmbar ist, und zwar nicht nur in bezug auf das Was
des Aufgenommenen und Dargestellten, sondern auch in bezug auf das Wie
seiner Erscheinungsweise. Formal angesehen scheint hier eine subjektive Will¬
kür zu obwalten, darin nämlich, was ein solches Verhalten ist, und welches
homogene Medium demzufolge entsteht. Es muß jedoch bedacht werden,
daß nicht aus jeder beliebigen Einstellung und aus einem ihr entsprechenden
- angeblichen - homogenen Medium eine für die Menschheit bedeutsame
Widerspiegelung der Wirklichkeit überhaupt möglich ist. Es ist ja historisch
bekannt, daß von den Sinnen nur Gesicht und Gehör es auszubilden fähig
sind. »Geruchsymphonien« etc. bleiben eine leere Spielerei. Schon diese ele¬
mentare Tatsache zeigt, daß die eben hervorgehobene Beschränkung auf das
in das homogene Medium unmittelbar Einbeziehbare nur scheinbar bloß un¬
mittelbar ist. Ein homogenes Medium im Sinne der Ästhetik kann nur gebil¬
det werden, wenn das anfängliche Einengen der Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit und das, was durch diesen spezifischen Sinn wahrnehmbar ist, nur
ein Mittel dazu bildet, einen zugleich spezifischen und totalen Aspekt der
646 Die eigene Welt der Kunstwerke

Welt in der so entstandenen neuartigen Weise abzubilden und sinnbildlich


festzuhalten. Ist also das ursprüngliche Einengen des Wahrnehmbaren auf
das im jeweiligen homogenen Medium Mögliche nicht ein »reculer pour mieux
sauter« im Sinne des ästhetischen Welterfassens, so kann von einem homo¬
genen Medium überhaupt keine Rede sein.
Das homogene Medium ist deshalb nur in seiner ersten Unmittelbarkeit ein
bloß formales Prinzip. Neben der Musiktheorie, für welche ein solcher Ge¬
danke schon darum nahelag, weil ihrem Medium des Weltschaffens unmittel¬
bar nichts in der Wirklichkeit von Natur und Gesellschaft entspricht, wäh¬
rend der Widerspiegelungscharakter der visuellen Künste und der Wortkunst
von Anfang an als evident erschien, war es Konrad Fiedler, der mit dem
größten Nachdruck auf die Anerkennung einer solchen eigenen Welt der
Visualität drang, aus welcher alles mit methodologischer Reinheit und Kon¬
sequenz entfernt werden sollte, was nicht unmittelbar sichtbar ist. Auf die
Widersprüche, die aus dieser Position folgen, haben wir bereits in anderen
Zusammenhängen hingewiesen und gezeigt, daß sie, folgerichtig zu Ende ge¬
führt, eine Verarmung, nicht eine Bereicherung der Visualität des Alltags¬
lebens herbeiführt, daß damit große Errungenschaften der alltäglichen
Arbeitspraxis, wie die Arbeitsteilung der Sinne und dadurch eine extensive
Ausbreitung und intensive Verfeinerung der Visualität, dogmatisch verwor¬
fen werden. Es ist darum kein Zufall, daß gewisse Gedankengänge Fiedlers
ihn dahin führen, in der ganzen künstlerischen Tätigkeit nur eine spezifische
Abart der Erkenntnis zu erblicken. Er lehnt damit die ästhetische Wirkung,
die »ebensogut von einem Naturprodukt ausgehen« kann, ab und kommt
zur Bestimmung, »daß die Kunst nichts anderes sei, als eine Sprache, mittels
deren gewisse Dinge in die Sphäre des menschlich erkennenden Bewußtseins
gebracht werden. Betrachtet man als Ziel der Kunst die Erkenntnis einer ge¬
wissen Kategorie von Dingen, so muß man auch ihre Wirkungen mit denen
der Erkenntnis überhaupt gleichstellen. Alle Wirkungen der Kunst als sol¬
cher dürfen nur aus der Erkenntnis abgeleitet werden; denn wenn z. B. ein
Werk der bildenden Kunst eine ästhetische Wirkung hat, so hat es diese nicht
als Kunstwerk 1.«
Die in den letzten Jahrzehnten aufgekommene literaturtheoretische und
-historische Richtung der sogenannten Interpretation ist in ihren Prinzipien
nicht so paradox radikal wie Fiedler und seine Anhänger (z. B. der Bild—

1 Fiedler: Schriften über Kunst, a. a. O. II. S. 45.


Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 647

hauer Hildebrand). In die immanente Interpretation einzelner Schriftwerke


werden biographische Tatsachen aus dem Leben der Autoren etc. einverleibt,
um die Analyse über den unmittelbaren ersten Eindruck hinauszuführen. Ein
gewisser, freilich höchst relativer Fortschritt ist also der dogmatischen Enge
Fiedlers gegenüber vorhanden. Die Relativität drückt sich auch in der philo¬
sophischen Begründung aus. Während Fiedler auf einem orthodoxen neukan-
tischen Standpunkt steht und deshalb die Objektivität der Außenwelt und
die künstlerische Berechtigung ihrer Widerspiegelung zu verneinen gezwun¬
gen ist, wurde diese Richtung sehr wesentlich vom Existentialismus Heideg¬
gers, der selbst Studien dieser Art veröffentlicht hat, beeinflußt. All dies hat
zur Folge, daß auch hier der wesentliche Reichtum und die gesetzlichen Zu¬
sammenhänge sowohl des realen Originals wie seiner künstlerischen Abbil¬
dung, die gesellschaftliche Grundlage des Werks, seine künstlerische Synthese
der in ihm wirkenden Bestimmungen, der gesellschaftliche Charakter der
Wirkung prinzipiell ausgeschaltet werden. Das hat zur Folge, daß die Ana¬
lyse, deren subjektive Intention auf das Erfassen der Formkategorien gerich¬
tet ist, tatsächlich an den entscheidenden Fragen der dichterischen Formung
achtlos vorbeigeht L
Eine theoretische Frage der Funktion des homogenen Mediums im Ästheti¬
schen muß vor allem jene formalistische Enge vermeiden, die in den eben be¬
handelten Richtungen notwendig hervortrat. Indessen wäre es ebenso irre¬
führend, wenn man nun die auch von uns als fundamental richtig aner¬
kannte Priorität des Inhalts ähnlich überspannen und dadurch ins Absurde
führen würde, wie wir dies bei der Formseite des Problems eben beobachten
konnten. Das geschah wiederholt und geschieht auch heute, wenn das Prinzip
der Inhaltlichkeit zum alleinigen Kriterium erhoben und der künstlerischen
Formung nur eine akzessorische Rolle zugesprochen wird, nur eine des mehr
oder weniger gewandten Ausdrucks von etwas, was schon im Inhalt selbst,
unabhängig vom Gelingen oder Mißlingen des Formalen, fertig vorliegt.
Natürlich wird dieser Standpunkt nur äußerst selten konsequent formuliert
(z. B. von Upton Sinclair), wenn man aber das pseudotheoretische Gerede

1 Vgl. darüber den Aufsatz: »I limiti della critica stilistica« von Cesare Cases.
Societa, 1955 Nr. I. und II., sowie die hervorragende Studie von Michael Lif-
schitz: »Bei Gelegenheit des Artikels von S. Widmar: Aus meinem Tagebuch.« Novi
Mir, 1957 Nr. IX. Der letztere Aufsatz untersucht zwar nicht direkt diese Schule,
seine Analysen enthalten jedoch eine tiefschürfende indirekte Kritik ihrer Prin¬
zipien und Praxis.
648 Die eigene Welt der Kunstwerke

solcher Ausführungen zu Ende denkt, auf den Begriff bringt, kommt etwas
sehr Ähnliches heraus. Das tertium datur, das beiden falschen Extremen
gegenüber ausgesprochen werden muß, darf aber keine eklektische »Mitte«
sein, sondern soll die dialektische Einheit von Inhalt und Form (bei Beibehal¬
ten der Priorität des Inhalts in der Bestimmung der Form als die eines kon¬
kreten Inhalts, bei ihrer Anerkennung als unmittelbarer Träger der ästheti¬
schen Evokation etc.) in all ihrer Kompliziertheit festhalten und begrifflich
formulieren. Wenn nun in der analysierenden Darlegung dies zuweilen nur
auf Umwegen über - methodologisch - gesonderte Inhalt- und Formkom¬
ponenten möglich ist, so bedeutet dies nicht die geringste Konzession an die
soeben verworfene Eklektik einer hier nicht existierenden »Mitte«, denn in
jeder getrennten Betrachtung sind diese dialektischen Verflochtenheiten
immanent mitgedacht.
Bei gewissen - sei es elementaren, sei es verwickelten — Momenten des
homogenen Mediums tritt die Dialektik von Inhalt und Form so evidenter¬
weise an die Oberfläche, daß man oft schwer unterscheiden kann, ob man es
mit einem formalen oder mit einem inhaltlichen Problem zu tun hat. So
gleich bei der Frage, die sachlich gewiß eine einleitende Funktion zu erfüllen
hat, welche Funktion das homogene Medium im Annäherungsprozeß des
ästhetischen Verhaltens an die objektive Wirklichkeit besitzt. Die Attitüde
des ganzen Menschen zu der ihn umgebenden gesamten Wirklichkeit im
Alltagsleben, seine Rezeption ihrer Impulse, seine sie umwandelnde Tätig¬
keit haben — trotz einer großen Skala von Differenzen in verschiedenen
Verhaltensarten, Situationen etc. - den gemeinsamen Zug der praktischen
Zuwendung auf einzelne Objekte, die unter Umständen mit größter
Schärfe und Exaktheit beobachtet werden, deren Zusammenhänge jedoch
nur so weit in den Wahrnehmungskreis fallen, als gewisse ihrer Eigen¬
schaften für das gesetzte Ziel, positiv oder negativ, von Belang sind. Das
bezieht sich natürlich nicht bloß auf die Sinneseindrücke und Vorstellun¬
gen, sondern auch auf die daraus entspringenden, die Praxis leitenden oder
aus ihr herrührenden Gedanken. Die Schranke, die hier zwischen Wahr¬
nehmung und objektivem Sein des Wahrgenommenen erriditet ist und die im
Faufe der Entwicklung — wenn auch ungleichmäßig — immer weiter gerückt
wird, ist infolge des Verhältnisses von Wirklichkeit und Bewußtsein prinzi¬
piell unaufhebbar. Auch wenn sich aus der Alltagspraxis, vor allem aus der
Arbeit, die wissenschaftliche Widerspiegelung herausbildet und die höchste
Differenziertheit erlangt, bleibt in vielfach modifizierter Weise noch immer
eine solche Schranke für die Erkenntnis errichtet.
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 649

Lenin gibt ein exaktes Bild dieser Frage, das wir bereits in anderen Zu¬
sammenhängen angeführt haben und aus dem wir jetzt das Wesentliche her¬
vorheben, daß nämlich jede Abbildung eine Vergröberung bedeutet, und
zwar nicht nur die durch das Denken, sondern auch die durch das Empfinden.
Den Ausweg für die Wissenschaft, die Möglichkeit einer gesteigerten Annähe¬
rung an die Wirklichkeit bietet nach Lenin eben die höchste Form des wissen¬
schaftlichen Denkens, die Dialektik. Das dialektische Denken hat gerade die
Aufgabe, jene Hindernisse in der erkenntnismäßigen Annäherung an die
Wirklichkeit, die vom Denken selbst hervorgebracht werden, zu überwinden.
In einer Darstellung der Philosophie Zenons, die Lenin unmittelbar vor den
von uns früher zitierten Sätzen zustimmend anführt, sagt Hegel: »denn was
allein Schwierigkeit macht, ist immer das Denken, weil es die in der Wirk¬
lichkeit verknüpften Momente eines Gegenstandes in ihrer Unterscheidung
auseinanderhält. Es hat den Sündenfall hervorgebracht, indem der Mensch
vom Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen, es heilt aber auch
diesen Schaden« 1. Darum betrachtet Lenin in Fortführung seines Gedan¬
kens, die »Einheit, Identität der Gegensätze« als das Wesen der Dialektik,
als den Ausweg aus diesem Dilemma.
All dies ist für das Problem der Annäherung der ästhetischen Widerspiege¬
lung an die Wirklichkeit sehr lehrreich. In dieser Hinsicht ist besonders her¬
vorzuheben, daß das Urteil über die »Vergröberung« über die »Ertötung«,
etwa der Bewegung, nicht nur für das Denken, sondern ausdrücklich auch für
die Empfindung ausgesprochen wird. Das ist vom Standpunkt unseres Pro¬
blems schon darum wichtig, weil In neuerer Zeit in bezug auf Ästhetik (und
freilich auch auf Philosophie überhaupt) immer wieder Stimmen laut werden,
die dem mechanischen, vergröbernden Denken gegenüber an die Feinheit,
Richtigkeit, Schmiegsamkeit etc. der Empfindungen und Gefühle, der
Instinkte appellieren. Demgegenüber scheint es uns wichtig zu betonen, daß
- an sich - die Empfindungen die reale Bewegtheit der abzuspiegelnden
Außenwelt ebenso »ertöten«, wie das Denken. Hier setzt nun für die Kunst
die spezielle Bedeutung des homogenen Mediums ein. Wir haben bereits über
das Anfangsmoment der Verengerung gesprochen. Dies ist natürlich ein Ver¬
halten, das allgemein betrachtet auch im Alltagsleben vorkommt, und in
dessen Praxis oft eine beträchtliche Rolle erhält. Wir sagen nicht selten: »Ich
bin ganz Auge« oder »ganz Ohr« und meinen damit eine - vorüber-

1 Hegel: Geschichte der Philosophie, Wk. a. a. O. Band XIII. S. 296.


6jo Die eigene Welt der Kunstwerke

gehende - Konzentration des ganzen Menschen auf die Rezeption jener


Eindrücke, Signale, Zeichen etc., die er nur durch die Vermittlung eines spezi¬
fischen Sinnes erhalten kann. Es unterliegt keinem Zweifel, daß eine solche,
zielbewußte Verengerung, eine solche Ausschaltung alles Heterogenen, be¬
sonders wenn sie systematisch geübt wird, die Aufnahmefähigkeit des betref¬
fenden Sinnes außerordentlich verschärfen kann, daß Gegenstände visuell er¬
faßbar, Geräusche hörbar werden, an denen der Mensch sonst achtlos vorbei¬
gegangen wäre. Die Verengerung des Bewußtseins kann also auf diese Weise
eine Widerspiegelung der Wirklichkeit hervorrufen, die jener, bei der der
Mensch gewissermaßen mit der ganzen Fläche seiner Rezeptivität sich der
Außenwelt zuwendet, überlegen ist. So deutlich hier die fördernde Wirkung
der Konzentration für die Widerspiegelung hervortritt, für uns sind jetzt die
Unterschiede zu dem, was wir homogenes Medium nennen, wichtiger. Erstens
handelt es sich im Alltag um einen prinzipiell vorübergehenden Zustand.
Denn nachdem der Mensch das so gesichtete Signal vernommen hat, wendet
er sich wieder als ganzer Mensch der Wirklichkeit zu. Zweitens und im engen
Zusammenhang damit, ist die Konzentration von einem bestimmten konkre¬
ten, praktischen Ziel her bestimmt. Der Gegenstand, der so erfaßt werden
soll - z. B. die so beobachtete Spur, das so gehörte ferne Geräusch - hört,
sobald seine Existenz, seine Bewegung, etc. durch die Konzentration auf
einen Sinn festgestellt wird, für den Betreffenden auf, Gegenstand dieses
einen Sinnes zu sein; wenn etwa der Jäger sein Ohr auf die Erde legt, um
das Nahen einer Herde zu vernehmen, löst unmittelbar nach dem Bewußt¬
werden der Tatsache das Gesicht etc. die führende Rolle des Gehörs ab.
Drittens die Konzentration auf eine reine und differenzierte Rezeption wird
ebenfalls sogleich von einer zielstrebigen Aktion des ganzen Menschen ab¬
gelöst.
Soll dagegen ein homogenes Medium im Sinne der Ästhetik entstehen, so ist
einerseits eine gewisse relative Permanenz des menschlichen Verhaltens un¬
erläßlich, andererseits muß eine temporäre Suspension einer jeden unmittel¬
bar praktischen Zielsetzung erfolgen. Scheinbar unterscheidet sich das letztere
Moment nur quantitativ von den eben beschriebenen Tatsachen des Alltags¬
lebens; wobei es in extremen Fällen durchaus möglich ist, daß ein solches von
uns angedeutetes Beobachten länger dauert, als etwa das Entwerfen einer
künstlerischen Skizze. Der durchschnittlich vorhandene quantitative Unter¬
schied ist jedoch hier nur die Erscheinungsweise eines qualitativen. Dieser
qualitative Unterschied liegt in der Art der Suspension des unmittelbar prak¬
tischen Zieles. Das darin enthaltene Problem hat Kant in seinen bekannten
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 651

Darlegungen über die »Interesselosigkeit« des ästhetischen Verhaltens viel¬


leicht am schärfsten, jedenfalls am einflußreichsten formuliert; allerdings dar¬
in auch die Frage verwirrt. Denn im Laufe der Entwicklung wurde - wie
dies häufig zu geschehen pflegt - die idealistische Verzerrung von Nachfol¬
gern und Auslegern weit über die ursprüngliche Darstellung hinaus gesteigert.
Es entstand für die Kunst, von Kants Autorität gedeckt, das Postulat einer
absoluten Interesselosigkeit; Ästhetik wurde auf vollständig reine Kontem¬
plation festgelegt. Und in verständlicher Opposition dagegen wurde nun in
verschiedenen Richtungen, von der vulgären Tendenzkunst und der soge¬
nannten »litterature engagee«, bis zur Auffassung vieler Theoretiker der so¬
zialistischen Parteilichkeit - sehr zum Schaden des Verständnisses dessen, was
an der Kunst wirklich künstlerisch ist - das relativ Berechtigte der Interesse¬
losigkeit als Moment im ästhetischen Gesamtprozeß einfach eliminiert. Will
man zu einer richtigen Anschauung der realen Problemlage gelangen, so muß
die Suspension der unmittelbar-praktischen Zielsetzungen - vorläufig unab¬
hängig von Kants Fragestellung und Antwort - als Moment der Widerspie¬
gelung der objektiven Wirklichkeit und ihrer Verwertung in der mensch¬
lichen Praxis betrachtet werden.
In dieser Hinsicht herrscht eine gewisse nicht unrichtige und zufällige Ähn¬
lichkeit zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Widerspiegelung. Beide
heben sich von Alltagsdenken und Alltagspraxis gerade dadurch ab, daß eine
solche Suspension als unerläßliche Vorbedingung für jene differenziertere -
und darum effektivere - Widerspiegelung der Wirklichkeit auftritt; beide
legen sie - ihren spezifischen Zielsetzungen entsprechend und darum entspre¬
chend verschieden - dem eigenen Verhalten zugrunde. Es kann hier natürlich
nicht unsere Aufgabe sein, diese Frage in bezug auf die Wissenschaften aus¬
führlich zu behandeln. Jedoch, schon der flüchtigste Blick muß zeigen, daß
einerseits die Ausbildung und Entfaltung der Wissenschaft - letzten Endes -
von den praktischen Zielsetzungen bedingt ist, daß auch die abstrakteste und
scheinbar lebensfernste wissenschaftliche Wahrheit früher oder später, direkt
oder indirekt in die gesellschaftliche Praxis mündet, daß aber andererseits
jede wissenschaftliche Arbeit eine Art Suspension der ihr zugrunde liegenden,
eventuell sie unmittelbar in Bewegung setzenden Zielsetzung gebieterisch
vorschreibt. Ein Umgehen dieses Aktes der Suspension während der Lösung
der durch die Widerspiegelung der Wirklichkeit aufgegebenen Probleme ent¬
fernt das Denken vom Wesen der Wirklichkeit, stört seine Annäherung an
sie. So sehr das Pathos der Zielsetzung zum Aufwerfen großer ungelöster
Fragen, zu ihrem kühnen und richtigen Beantworten anleiten kann, muß es
652
Die eigene Welt der Kunstwerke

doch zur Hemmung, ja zur totalen Verhinderung der Zielerfüllung führen,


wenn das Zwischenstadium der Suspension vorzeitig unterbrochen wird.
Die Konzentration auf die objektive Tatsächlichkeit verbindet diese Suspen¬
sion mit der früher geschilderten aus dem Alltagsleben. Dadurch jedoch, daß
hier nicht ein einzelnes bestimmtes Faktum wahrgenommen wird, um aus
seinem Vorhanden- oder Nichtvorhandensein eine augenblicklich praktische
Folgerung für eine bestimmte einzelne Handlung zu ziehen, daß vielmehr
ein Komplex einer - relativen - Totalität von Fakten nicht bloß auf Sein
oder Nichtsein, sondern auf Zusammenhang, Gesetzlichkeit, etc. untersucht
wird (auch wo etwa ein Philologe oder Historiker die Realität einer isolier¬
ten Tatsache feststellen will, hat diese durch ihre Beziehungen mit anderen
Interesse für ihn), daß die aus dem Wahrheitsfinden sich ergebenden Folgerun¬
gen nicht bloß auf einen Einzelfall bezogen werden, sondern eine — wieder:
relative - Universalität beanspruchen: dadurch entsteht zwischen beiden
Suspensionen der Praxis ein qualitativer Unterschied.
In diesen 'allerallgemeinsten Zügen besteht eine weitgehende Parallelität
zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Widerspiegelung, deren Grund¬
lage, wie oft betont, die Tatsache bildet, daß sie dieselbe Wirklichkeit wider¬
spiegeln. Die Verschiedenheit zeigt sich in denselben beiden Punkten, wo die
wissenschaftliche Widerspiegelung sich von der des Alltagslebens .abhebt. Also
erstens darin, daß das Objekt der Wahrnehmung für und insbesondere durch
die ästhetische Widerspiegelung in einer qualitativ anderen Weise einen Tota¬
litätscharakter besitzen muß, als in der wissenschaftlichen. Bei dieser handelt
es sich zwar, wie wir gesehen haben, stets um einen Komplex von Tatsachen,
Zusammenhängen und Gesetzlichkeiten. Da jedoch dieser objektiv immer nur
einen Teil von ausgedehnteren und komplexeren Zusammenhängen etc. bil¬
det, da die wissenschaftliche Widerspiegelung stets das reine Ansich der objek¬
tiven Wirklichkeit in ein möglichst unverfälschtes Füruns zu verwandeln be¬
strebt ist, darf die Aufmerksamkeit, die sich auf den betreffenden Teil richtet,
niemals die wirklichen, objektiv vorhandenen Beziehungen der Tatsachen
gänzlich zerreißen und dadurch vergewaltigen. Die Abgeschlossenheit, die sich
in je einem Abbild der Wirklichkeit für die wissenschaftliche Widerspiegelung
darbietet, ist also prinzipiell relativ, ist bloß vorläufig, methodologisch von
seiner Umwelt abgegrenzt. Denn die Einheit der objektiven Wirklichkeit,
basierend auf der Einheit der Materie, muß jeder wissenschaftlichen Wider-
spiegelung zugrunde liegen (einerlei, ob das vollziehende Subjekt persönlich
Materialist oder Idealist ist); ihre von uns früher ausführlich geschilderte
desanthropomorphisierende Tendenz hat unter anderem auch die Funktion:
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 6 53

jene Trennungen oder Abgrenzungen aufzuheben, die nicht aus dem Ansich,
sondern aus den Verhaltensweisen der menschlichen Subjektivität ent¬
stammen.
Selbstverständlich ist diese objektive Verknüpftheit von allem mit allem
auch für die ästhetische Widerspiegelung als Beschaffenheit ihres Gegenstan¬
des bindend. Dieser ist aber, wie wir wissen, nicht einfach das Ansichsein der
Welt, sondern das der Welt des Menschen, selbstredend in ihrer vom Bewußt¬
sein unabhängigen Objektivität, einer Welt, in der die Spuren der mensch¬
lichen Tätigkeit objektiviert, zu Objekten geworden erscheinen, jedoch so,
daß diese ihre Objektivität, ohne aufgehoben zu werden, auf den Menschen
rückbezogen wird. Durch diese doppelte Bestimmtheit muß der Aspekt der
Betrachtung der Welt, von dem aus erst sowohl die Objektivität wie das
Rückbezogensein wahrnehmbar werden können, Abbilder der Welt zustande
bringen, in denen die Außenwelt auch tendentiell nicht nur in ihrer rein objek¬
tiven Ganzheit, sondern auch in dieser Beziehung in Erscheinung tritt; also
Abbilder, deren jedes für sich selbst bestehen kann und muß, keine Ergänzung
durch andere fordert oder duldet. Die Garantie dafür, daß eine solche Iso¬
liertheit der einzelnen Widerspiegelungen der Wirklichkeit, deren Objektivi¬
tät nicht zerstört, sondern im Gegenteil gesteigert zum Ausdruck bringt, liegt
darin, daß jedes Kunstwerk die Bestimmungen, die für den gestalteten
Aspekt der Welt ausschlaggebend sind, zur Grundlage der abgebildeten inten¬
siven Totalität macht. So wird jedes Kunstwerk zum Abbild der ganzen
Welt, von einem wichtigen menschlichen Gesichtspunkt aus gesehen; seine
Totalität und die der ihm zugrunde liegenden Bestimmungen ist also pri¬
mär keine formale, sondern eine inhaltliche; diese kann aber nur dann eine
Objektivität erlangen, wenn sie ästhetisch wird, d. h. restlos in die sie evo¬
zierende Welt der Formen eingeht (sonst bleibt ein mehr oder weniger will¬
kürlich gewählter Ausschnitt der Wirklichkeit übrig). Diese Umsetzung der
extensiven und intensiven Unendlichkeit der objektiven Welt in die intensiv¬
unendliche Totalität der Kunstwerke hat Lessing in bezug auf Weltlauf und
Tragödie prägnant geschildert: »Das wirklich geschehen ist? es sei: so wird es
seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhänge aller Dinge
haben. In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die
der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus
diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet,
wo eines aus dem andern sich völlig erklärt, wo keine Schwierigkeit aufstößt,
derentwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie
außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen müssen; das Ganze
6^4 Die eigene Welt der Kunstwerke

dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen
Schöpfers sein; . ..1«
So radikal hier der Unterschied zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer
Widerspiegelung hervortritt, so klar bleibt es, daß sie in bezug auf die Sus¬
pension einer jeden Zielsetzung, die mit einem Faktum des menschlichen Le¬
bens unmittelbar verknüpft ist, auf einem ähnlichen Boden stehen, daß beide
sich von den entsprechenden Verhaltensweisen der Alltagspraxis ähnlicher¬
weise qualitativ abheben. Ebenso ist es um den zweiten in dieser Frage
wesentlichen Gesichtspunkt, um die Universalität des durch die Suspension
der unmittelbaren Zielsetzung Erreichten, bestellt. Natürlich ist diese Univer¬
salität in beiden differenzierten Widerspiegelungsarten qualitativ verschie¬
den. Wie dies in der Wissenschaft steht, haben wir soeben dargelegt: die
Suspension der unmittelbar praktischen Zielsetzung ermöglicht — früher
oder später, direkt oder indirekt - ein weitaus besseres Verwirklichen von
weitaus allgemeineren praktischen Aufgaben. Auch die Suspension des un¬
mittelbaren Interesses in der ästhetischen Setzung mündet ins praktische Le¬
ben des menschlichen Alltags. Jedoch im scharfen Unterschied zur wissen¬
schaftlichen Widerspiegelung entsteht hier nur ausnahmsweise ein unmittel¬
bares Fördern oder Hemmen einzelner bestimmter praktischer Aufgaben.
Selbst wo Kunstwerke im gesellschaftlichen Leben eine derartig wichtige
Rolle gespielt haben - es genügt an die Marseillaise, an den Roman Beecher-
Stowes zu erinnern -, zeigt eine nähere Betrachtung sogleich die Eigenart
ihrer Wirkung: sie rufen in den Menschen Leidenschaften hervor, geben die¬
sen bestimmte Inhalte, bestimmte Richtungen etc., wodurch dann die Men¬
schen fähig werden, praktisch in das gesellschaftliche Leben einzugreifen,
für oder gegen bestimmte gesellschaftliche Tatsachen zu kämpfen. Daß diese
Tatsachen in den Kunstwerken direkt als solche kenntlich gemacht werden, ist
freilich ein - theoretisch wie praktisch außerordentlich wichtiger - Grenz¬
fall. Aber selbst, wo dies eintritt, geht die künstlerische Wirkung weit über
den Einzelfall hinaus: »Onkel Toms Hütte« ruft nicht zur Hilfe für die dort
geschilderten Sklaven auf, die ja in einem solchen Geradesosein vielleicht gar
nicht existierten und jedenfalls für den durch die Evokation des Werks be¬
wegten Leser praktisch gar nicht zugänglich waren, sondern erweckt Gefühle
und Leidenschaften, für die Befreiung aller Sklaven (aller klassenmäßig
Unterdrückten) zu streiten. Es entsteht also eine menschliche Bereitschaft,

1 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 79. Stück.


Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 6 55

die, um sich praktisch zu verwirklichen, um wirklich zur Tat zu werden, die


konkreten Mittel etc. im Leben selbst (eventuell auch in der Wissenschaft)
auffinden muß. In der Musik ist eine so gerichtete Verallgemeinerung schon
durch ihr Wesen als Kunstart gegeben. (Von den Gründen dieser Lage, daß
die Bestimmungen der ästhetischen Widerspiegelung hier in ihren allgemein¬
sten und reinsten Form erscheinen, wird später die Rede sein.) Jedenfalls ist es
auch hier sichtbar, daß die Verallgemeinerung der Zielsetzungen, die infolge
der Suspension des unmittelbar praktischen Interesses im Ästhetischen ent¬
stehen, nicht die Wirklichkeit an sich zum Gegenstand hat, sondern die
menschliche Welt, die Welt, wie sie in bezug auf den Menschen objektiv vor¬
handen ist.
Das ist auch dann der Fall, wenn das Kunstwerk in seiner subjektiv bewußten
Intention auf die Verteidigung oder Zerstörung von etwas Bestimmtem in der
Welt des Menschen gerichtet ist. Das ist jedoch in der überwältigenden Mehr¬
zahl der ästhetischen Gebilde nicht so. Daraus folgt, daß ihre Beziehung zur
Interesselosigkeit eine doppelte falsche Beurteilung erhält. Einerseits, viel¬
fach in direktem Anschluß an Kant, wurde jedes Abrücken von der Interesse¬
losigkeit als ein Bruch mit dem Prinzip des Ästhetischen beurteilt, anderer¬
seits entstand, wie bereits gezeigt, ein entgegengesetzter falscher Pol von An¬
schauungen, die ausschließlich in der direkt vom Kunstwerk ausgelösten un-
mittelbar-gesellschaftlichen Praxis eine soziale Berechtigung der Kunst über¬
haupt erblickten. Die Falschheit beider Extreme ist leicht ersichtlich. Beide
Auffassungen übersehen, daß jedes Kunstwerk aus den gesellschaftlichen Er¬
fahrungen der Menschen aufsteigt, diese widerspiegelt und bearbeitet, und
zwar in einer Weise, daß, wie schon gezeigt, bereits das Erfassen jedes Gegen¬
standes untrennbar mit seiner Bejahung oder Verneinung verknüpft ist.
Natürlich bezieht sich dies in noch stärkerem Ausmaße auf das Werk als
Ganzes. Wenn also das Werk eine evokative Wirkung ausübt, muß in dieser
- bewußt oder unbewußt bleibend, direkt oder eventuell sehr weit ver¬
mittelt - diese Parteinahme miterweckt werden. Die wirkliche Stärke
und Tiefe der künstlerischen Evokation ist jedoch vor allem auf das
Innere der Menschen gerichtet, d. h. vor allem werden in ihm neue Erleb¬
nisse wachgerufen, die sein Bild über sich selbst, über die Welt, mit der er
- im weitesten Sinne des Wortes - zu tun hat, ausbreiten und vertiefen. Seit
der antiken Katharsis ist diese Wirkung der Kunst vom gesunden sozialen
Empfinden der Menschen anerkannt; die Katharsis im engeren Sinne be¬
zeichnet freilich nur eine bestimmte Art dieser Wirkungen, die bestimmte
Kunstwerke ausüben; ihr wirklicher Spielraum ist unvergleichlich ausgedehn-
Die eigene Welt der Kunstwerke
656

ter, ist je nach den gesellschaftlich-geschichtlichen Umständen, je nach den


Kunstarten außerordentlich variiert. Der wesentlich gemeinsame Zug ist
aber, daß diese Art der ästhetischen Wirkung zum Nachher des eigentlich
Künstlerischen gehört; Grenzfälle, wie die erwähnte Marseillaise, wo der Um¬
schlag aus dem Kunstgenuß in das sozial-ethische Nachher sofort erfolgt,
können diesen Grundcharakter nicht ändern. Das hat einerseits die Einsicht
zur Folge, daß, im Gegensatz zu beiden obenerwähnten Extremen, - wirk¬
liche Kunstwerke vorausgesetzt — es keine Kunst geben kann, deren Erlebnis
in einer wirklich interesselosen Kontemplation beharren könnte. Anderer¬
seits, daß - wieder wirkliche Kunstwerke vorausgesetzt - selbst solche, die un¬
mittelbar bloß auf eine sachliche Änderung eines konkreten gesellschaftlichen
Tatbestandes gerichtet sind und deren Pathos daraus entsteigt, als ästhe¬
tische Gebilde über diesen Einzelfall hinauswachsen und mit der Mensch¬
heitsentwicklung, mit dem Wesen der Menschengattung mehr und tiefer Ver¬
bundenes evozieren, als in ihren unmittelbaren Zielsetzungen, in direkt aus¬
gesprochener Weise enthalten war. Fehlt ihnen dieser Zug, so verschwinden
sie rasch aus dem Gedächtnis der Menschheit. (Man denke an die einst so er¬
folgreiche, jetzt total vergessene Tendenzdramatik von Dumas fils, Augier,
Sardou, etc.)
Die hier vertretene Anschauung, daß die sogenannte Interesselosigkeit ein
bloßes, wenn auch unerläßliches Moment des Ästhetischen bildet, daß es sich
also nicht um Interesselosigkeit als Wesen des ästhetischen Verhaltens handelt,
sondern bloß um eine notwendige, aber doch nur vorübergehende Suspension
der unmittelbaren Zielsetzungen der Menschen, diese Anschauung steht der
wirklichen Intention der Kantschen Ästhetik nicht so diametral entgegen, wie
es im ersten Augenblick den Anschein hat. Freilich übersteigert Kant diesen
Begriff, weil er als subjektiver Idealist den wirklichen, ganzen, tätigen, mate¬
riellen Menschen aus dem Bereich der Philosophie prinzipiell ausschalten
will. Das Ästhetische soll gerade dadurch eine philosophische Würde erhalten,
daß es metaphysisch schroff, ohne dialektische Übergänge von allen Lebens¬
äußerungen des Alltags getrennt wird 1. Zugleich soll jedoch das Ästhetische
als etwas allzu Irdisches und Materielles dem Ethischen gegenüber den ihm
gebührenden bescheidenen Rang in der Hierarchie des Systems einnehmen 2.
Die Zwischenstelle, die die ästhetische Interesselosigkeit in Kants System über

1 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 3.


2 Ebd. § 4.
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 657

den niedrigen Interessen des Alltags, aber unter den allein menschenwürdi¬
gen der Ethik einnimmt, ist ein starr hierarchisch bestimmter Ort; kein Ver¬
mittlungsglied einer dialektischen Bewegung wird dabei geduldet; erst Schil¬
ler hat versucht, diese Starrheit in dialektische Bewegung aufzulösen. Nur im
Verhältnis zur Natur ist bei Kant ein Ansatz vorhanden, das Ästhetische
dialektisch ins menschliche Leben zurückzuführen und mit den höchsten
Interessen der Menschheit zu verbinden. So sagt Kant in bezug auf das Er¬
lebnis der Natur: »nicht allein ihr Produkt der Form nach, sondern auch das
Dasein desselben, gefällt ihm, ohne daß ein Sinnenreiz daran Anteil hätte,
oder er auch irgendeinen Zweck damit verbände1.« Es wäre nicht un¬
interessant auf Kants fast Rousseausches Mißtrauen der Kunst gegenüber
näher einzugehen. Es entspringt sicher aus den Klassenkämpfen des 18. Jahr¬
hunderts, aus der Verneinung der feudal-absolutistischen Kultur, die infolge
der Minderwertigkeit und Verkommenheit ihrer deutschen Erscheinungsweise
sowie infolge der Ohnmacht des deutschen Bürgertums eine besondere Form
angenommen hat. Mit den konkreten philosophischen Folgen dieser Annahme
vom »intellektuellen Interesse am Schönen« werden wir uns im Kapitel über
Naturschönheit ausführlich auseinandersetzen. Dieses - von seinem Stand¬
punkt höchst wichtige - Moment der Ästhetik Kants mußte hier schon dar¬
um erwähnt werden, weil darin, ungewollt, eine Selbstaufhebung der bloßen
Interesselosigkeit gesetzt wird, da auf eine durch ihre Suspension verwan¬
delte universelle (bei Kant: moralische) Praxis hingezielt wird. Allerdings in
einer allzu spezifizierten Weise. Wenn etwa Lessing die Aristotelische
Katharsis so auslegt, daß »diese Reinigung in nichts anders beruht, als in der
Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten 2«, so verengt
zwar auch er das Problem auf das rein Moralische, ist jedoch in seiner Frage¬
stellung weit universeller als Kant.
Unsere bisherigen Betrachtungen zeigen vorläufig zwei miteinander eng ver¬
knüpfte Verhaltensarten, nämlich ein Verengen des Gerichtetseins auf die
Außenwelt, sein Sichzusammenziehen darauf, was durch einen der Sinne er¬
lebbar, oder wenigstens auf das, was von einem genau bestimmten Aspekt
aus wahrnehmbar ist, und andererseits die Suspension der unmittelbar prak¬
tischen Zielsetzungen. Beides zusammen und zusammenarbeitend ist da, um
die Wahrnehmung von Gegenständen in einer Weise erfaßbar zu machen, die

1 Ebd. § 42.
2 Lessing: Hamburgische Dramarturgie, 78. Stück.
658 Die eigene Welt der Kunstwerke

für den normalen ganzen Menschen des Alltags unerreichbar wäre. Das homo¬
gene Medium verdankt dieser Verhaltensart seine Möglichkeit. Wenn es je¬
doch zu einer fruchtbaren Verwirklichung kommen soll, muß sich die Ver¬
engung in einen bloß einleitenden Akt verwandeln, muß den ganzen Men¬
schen wieder zu Worte kommen lassen, allerdings dem Alltag gegenüber in
einer wesentlich modifizierten Form. Wir haben es hier mit der ästhetischen
Widerspiegelung -der Wirklichkeit zu tun. (Über die Eigenart dieser Um¬
wandlung des Verhaltens in der wissenschaftlichen Widerspiegelung haben
wir bereits ausführlich gesprochen.) Hier ist sowohl das Was wie das Wie des
Wahrgenommenen und erst recht des Gestalteten unlösbar mit dem hervor¬
bringenden Subjekt verbunden. Die Echtheit der ästhetischen Objektivität ist
eine direkte Funktion seiner Breite und Tiefe. Wenn wir im Laufe dieser
Betrachtungen auch einige Theoretiker kritisiert haben, die die entscheidende
Wichtigkeit des homogenen Mediums für jede Kunst verfochten, so taten wir
es vor allem deshalb, weil sie dessen Beschaffenheit und Wirkungskreis in un¬
zulässiger Weise verengten, weil sie - wie vor allem Fiedler - oft den Akt
des Ausgangs, das Zusammenziehen und die Konzentration der Aufnahme
der Welt, perennieren ließen und die ganze Frage des homogenen Mediums
auf diesen Akt reduzierten. Wenn schon in der Alltagspraxis eine Arbeitstei¬
lung der Sinne entsteht, so daß wir in ganz selbstverständlicher Weise Eigen¬
schaften der Dinge spontan-visuell wahrnehmen, die ursprünglich Tastempfin¬
dungen waren, und wenn uns die Beobachtung der wissenschaftlidien Tätig¬
keit dazu zwingt, anzuerkennen, daß sogar in der desanthropomorphisieren-
den Widerspiegelung der Wirklichkeit z. B. die Phantasie oft eine beträcht¬
liche Rolle spielt - wie könnten wir dann im Ästhetischen bei dem bloßen
Akt der Reduktion der Aufmerksamkeit auf das homogene Medium stehen¬
bleiben?
Alles bisher Dargelegte hat im Gegenteil als Charakteristikum des Ästheti¬
schen unzweideutig klar gezeigt, daß für Inhalt und Form seiner Gebilde
das Geradesosein des jeweiligen ganzen Menschen, von seiner rein indivi¬
duellen Partikularität bis zu seiner Anteilnahme an der Konstituierung des
Menschheitlichen (mit allen notwendigen Zwischenbestimmungen), von ent¬
scheidender Wichtigkeit ist. Und zwar nicht bloß in genetischer Hinsicht, wie
im Alltag oder in der Wissenschaft, wo sehr oft das, dessen Entstehen z. B.
eine gewaltige Phantasie erfordert, dieser in seiner theoretischen Reproduk¬
tion und praktischen Anwendung nicht mehr bedarf und z-um normal brauch¬
baren Bestandteil der theoretischen oder praktischen Sphäre wird. Im
Ästhetischen dagegen gehen die Impulse des schöpferischen ganzen Menschen
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 659

in das Kunstwerk über, werden zu dessen objektiven Aufbauelementen, zu


Bestimmungen des Was und des Wie seiner Gegenständlichkeit, so daß keiner¬
lei Wirkung, keinerlei Rezeption möglich ist, ohne eine Reproduktion der
Totalität solcher Impulse, die sich im Werk zum Ganzen, zur Einheit runden.
Indem also der ganze Mensch sich in das homogene Medium seiner Kunstart
versetzt, geht sein Reichtum an Bestimmungen und Tendenzen nicht verloren,
erhält bloß in der Konzentration auf das Entstehen und Bewahren des homo¬
genen Mediums, in dessen Ausbau zum Träger einer »Welt«, zum Organon
der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit eine neue Gestalt. Auch
davon war schon in anderen Zusammenhängen die Rede; wir sprachen im
Gegensatz zum ganzen Menschen des Alltags vom »Menschen ganz« im schöp¬
ferischen und rezeptiven Verhältnis zur Kunst. Erst durch letzteren kann
das homogene Medium seine ästhetische Funktion erfüllen.
Wie immer, wenn in der ästhetischen Sphäre etwas zu einer wirklichen und
dauerhaften Bedeutsamkeit gelangt, handelt es sich auch hier um eine Weiter¬
bildung vermittels Transpositionen längst vorhandener und wirksamer Ten¬
denzen der Alltagspraxis. Auf die Arbeitsteilung der Sinne in der Arbeit
wurde bereits wiederholt hingewiesen, auch darauf, daß es für den Verkehr
der Menschen untereinander unerläßlich ist, daß rein visuelle oder auditive
Eindrücke als Signale für die Innerlichkeit der Menschen figurieren und als
solche ununterbrochen, mehr oder weniger richtig, spontan dechiffriert wer¬
den. Es ist auch selbstverständlich und tritt bereits in der anfänglichen Kunst
der magischen Periode deutlich hervor, daß Ausrufe, Gesten, etc. spontan als
Träger seelischer Inhalte apperzipiert und gedeutet werden. Ja, bereits diese
ersten Ansätze zur ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit zeigen, daß
etwa im homogenen Medium des Tanzes die zusammenhaltende und verein¬
heitlichende Macht des Rhythmus Intensivierungen und Steigerungen hervor¬
zubringen fähig ist, die für die Gebärdensprache des Alltags normalerweise
unerreichbar bleiben. Wir sagen: normalerweise, weil es natürlich als Aus¬
nahme immer wieder Vorkommen kann, daß auch das Leben derartige Auf¬
wärtsbewegungen von Gesten, die Emotionen auslösen, produziert, wenn da¬
bei auch das ordnende, homogenisierende und dadurch zugleich die Kon¬
traste einander anpassende und es auf Kulmination anlegende Prinzip der
Rhythmik fehlen muß, wenn auch bei Emotionen, die als Selbstausdruck
spontan entstehen, ihre ästhetische Systematik nur einen zufälligen Charak¬
ter haben kann. Die Ubergangsformen der magischen Zeit, in der das Ästhe¬
tische noch nicht zur Eigenständigkeit ausgebildet ist, zeigen auch, daß das
homogene Medium in denselben Gebieten zustande kommt oder wegbleibt,
Die eigene Welt der Kunstwerke
66o

je nachdem, ob die aus der Magie herauswachsenden Entstehungsbedingungen


dafür oder dagegen wirken; man denke an die von uns behandelten orgiasti-
schen Ekstasen, in denen das homogene Medium des Tanzes subjektiv nicht
beabsichtigt und darum objektiv nur zufällig erzielt wird, oder an die soge¬
nannten Venus-Statuetten der Paläolithzeit, bei denen die Sexualorgane voll¬
ständig dominieren, wo also kein homogenes Medium der plastischen Visuali-
tät erstrebt und erzielt wird, sondern davon ganz unabhängige Motive die
»Komposition« der Statuetten bestimmen. (Es ist natürlich möglich, daß in
entwickelteren Stadien ähnliche Motive mit ästhetischen Mitteln, in einem
eigenartig visuellen homogenen Medium verwirklicht werden, das hat aber
mit dem hier berührten Problem nichts mehr zu schaffen.)
Die unmittelbare Quelle des Hineinströmens aller Fähigkeiten, Eigen¬
heiten, die den ganzen Menschen in seinem sonstigen Leben bilden, in das
homogene Medium einer Kunstart entspringt aus seiner doppelten Beschaffen¬
heit. Es ist nämlich zugleich und in untrennbarer Weise einerseits aufs höchste
persönlich, bis hinunter zur subjektiven Partikularität, andererseits ein
System von autochtonen, überindividuellen Gesetzmäßigkeiten der betreff en¬
den Kunstart, die befolgt werden müssen, soll das ästhetische Setzen nicht
vollständig scheitern. Die hier betonte Untrennbarkeit kann man sich nicht
streng und intim genug vorstellen. Es handelt sich stets um einen und den¬
selben einheitlichen Akt. Es ist prinzipiell unmöglich, das homogene Medium
irgendeiner Kunstart zu setzen, sich in ihm frei und fruchtbar zu bewegen,
wenn dieses Setzen, diese Bewegung nicht durch und durch persönlichen Cha¬
rakters ist, wenn nicht sämtliche Momente den unverkennbaren Stempel der
setzenden Individualität an sich tragen. Es ist aber ebenso unmöglich, die
schöpferische Persönlichkeit im homogenen Medium einer Kunstart zum Aus¬
druck zu bringen, wenn ihr Sichauslösen nicht mit der Erfüllung der objekti¬
ven Gesetzlichkeiten, die das homogene Medium imperativ vorschreibt, un¬
mittelbar, Evokation erweckend zusammenfällt. Hier können wieder zwei
Eigentümlichkeiten des Ästhetischen handgreiflich erfaßt werden. Denn die
Notwendigkeit dieser absoluten Konvergenz weist erneut darauf hin, daß die
ästhetischen Gesetze nur durch ihre Erweiterung erfüllt werden können. Ein
Gesetz, dessen Bestand rein auf objektiven Zusammenhängen basiert, wird
erreicht, erfährt eine Annäherung, wird verfehlt etc. Das geschieht in sub¬
jektiven Akten, deren Träger der ganze Mensch ist, die Entscheidung jedoch,
sowohl im positiven wie im negativen Sinne, hängt damit nur genetisch, nicht
sachlich zusammen. Ist dagegen die objektive Erfüllung selbst an die Persön¬
lichkeit gebunden, ist in ihr das Wesen des iganzen Menschen nicht ausge-
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 661

loscht, so kann keine Erfüllung der anderen gleichen, jede muß nicht nur fak¬
tisch-empirisch, sondern auch in wertbestimmender Weise einen solchen per¬
sönlichen Charakter haben.
Wenn nun durch diese Gebundenheit des künstlerischen Prinzips an die im
Werk verkörperte Individualität nicht ein völliger Nihilismus entstehen soll,
nicht die Anarchie einer kriteriumslosen Gleichheit jeder beliebigen Persön-
lichkeitsaußerung, muß als Maßstab, als Prinzip der ästhetischen Rangord¬
nung die Erfüllung der Postulate der jeweiligen Kunstart (und in ihnen der
Kunst im allgemeinen) theoretisch gesichert sein. Dann aber kann das Maß
des Erreichens oder Scheiterns nur darin gesucht und gefunden werden, ob
und wieweit eine solche im Werk verkörperte Emanation einer Persönlichkeit
diese Postulate erhöht oder senkt, vertieft oder verflacht, verbreitert oder ver¬
engt etc. Die Notwendigkeit einer solchen Konzeption, die die Gesetze einer
Kunstart (und in Ihnen die der Kunst überhaupt) mit dem Ausdruck der
schöpferischen Persönlichkeit in Verbindung setzt, hat die vielfältigsten Wur¬
zeln. Hier zeigt sie sich vom eben angedeuteten Aspekt; ihre stärkste Basis ist
jedoch der mimetische Grundcharakter einer jeden Kunst. Auch die Gesetze
der Kunstart und mit ihnen diese selbst würden einer schrankenlosen Willkür
anheimfallen, wären sie nicht notwendige Vermittlungen dazu: die Welt der
Menschheit von einem bestimmten und für diese wesentlichen Standort aus
möglichst adäquat zu erfassen. Und diese Basis verliert sogleidi ihre Abstrakt¬
heit (und mit ihr die Reste einer dogmatischen Willkür, die sie in einer
bloß abstrakten Fassung noch an sich trägt), wenn ihrer Geschichtlichkeit
gedacht wird, nämlich der Tatsache, daß jede Konkretisierung des homo¬
genen Mediums nicht nur die Individualität des Schöpfers verwirklicht
und erlebbar macht, sondern uno actu auch das gegebene historische Ent¬
wicklungsstadium der Menschheit (und in diesem den Standpunkt einer
Klasse, einer Nation etc.) sowie jenen sich in den Gesetzen der betreffenden
Kunstart objektivierenden Ausblick, der dazu geeignet macht, von hier
aus bestimmte Momente der Wirklichkeit in bezug auf den Menschen
und die Entwicklung der Menschengattung vollständiger und tiefschürfender
zu erhellen, als es der ganze Mensch in seinem Alltagsdenken zu tun be¬
fähigt ist.
Diese Betrachtungen leiten dazu an, das Verhältnis des ganzen Menschen
zum »Menschen ganz« genauer ins Auge zu fassen. Dazu wäre zuallererst zu
sagen, daß es sich dabei nicht um eine Wendung nach innen, nicht um eine
einseitige Steigerung der Innerlichkeit handelt, nicht einmal bei einem Genre
wie der Lyrik, wie dies in den modernen Theorien so gerne behauptet wird.
662 Die eigene Welt der Kunstwerke

Es sei gestattet, an unsere früheren Darlegungen über Entäußerung und ihre


Rücknahme ins Subjekt zu erinnern. Dort wurde gezeigt, daß in der Kunst -
ebenso wie im Leben — Reichtum und Tiefe der Subjektivität nur über eine
Eroberung der Außenwelt erzielbar ist. Und selbst die innerlichste Lyrik,
eine, die - direkt - nur Seelenzustände zum Ausdruck bringt, könnte sich
ohne Anlehnung an eine Widerspiegelung der Außenwelt, ohne deren Ab¬
bild, wenn auch nur als Anlaß oder als fernen (zuweilen abstrakt verschwin¬
denden) Horizont zu beschwören, unmöglich zur Form kristallisieren. Der
aus der Psychopathologie entliehene Ausdruck »Introversion« ist nicht nur
aus dem allgemeinen Grund irreführend, daß man den kranken Menschen
rationalerweise - auch im Sinne und für das Gebiet des Ästhetischen -
bloß aus dem Verständnis des Normalen begreiflich machen kann und nicht
umgekehrt, sondern auch infolge der konkreten Struktur des Ästhetischen.
Selbst wenn das lyrische Subjekt hochmütig auf sich selbst gestellt zu sein
scheint, wenn es in ausdrücklichen Worten oder durch die stillschweigend ver¬
ächtliche Sprache seiner Bilder die Außenwelt zu eliminieren vermeint und
nur die eigenständlichste eigene Innerlichkeit als wahrhaft und authentisch
anerkennt, so ist dies doch immer bloß eine, freilich nicht unwesentliche,
Oberfläche. Im Gehalt, im Wesen und darum auch in der Form des so Schei¬
nenden ist eine tiefe und innige - freilich oft negative - Beziehung zur
Außenwelt enthalten, sogar, wenn auch sehr häufig nicht offen ausgespro¬
chen, zur realen sozialen Außenwelt der eigenen Zeit, zu deren Vergangenheit
und Zukunft. Erst ein solcher höchst intensiver Beziehungsreichtum vermag
dem lyrischen Gedicht Plastik und Tiefe zu verleihen. Die wirkliche Introver¬
sion dagegen, wie sie bei den Geisteskranken hervortritt, ist eine Verzerrung
der Persönlichkeit, die tatsächlich - und nicht nur polemisch, utopisch
etc. wie in der »introvertierten« Lyrik - die Verbindungsfäden zwischen
dem Ich und seiner Umwelt zerschneidet und das Innenleben in eine völlige
Verödung und Entleerung führt. Die Eigenart der lyrischen Widerspiege¬
lung -der Wirklichkeit, die - im Vergleich zur Epik und erst recht zur Dra¬
matik - spezifisch aktive Rolle, -die 'das Ich, die Außenwelt spiegelnd, in
ihr spielt, müßte natürlich genau analysiert und auf den Begriff gebracht
werden. Da hier nicht der Ort ist, dieses Thema auch nur in andeutender
Weise erschöpfend zu behandeln, sei es mir gestattet, erstens eine Strophe
von T. S. Eliot anzuführen, der sicher zu denen gehört, unter deren Ägide
der Widerspiegelungscharakter der Lyrik geleugnet wird, um zu zeigen,
daß auch das Innerlichste nur durch Spiegelung der Außenwelt gestalt¬
bar ist.
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 66 3

This is che dead land


This is cactus land
Here che stone images
Are raised, here they receive
The supplication of a dead man’s hand
Under che twinkle of a fading star.

Zweitens erlaube ich mir zur kurzen theoretischen Illustrierung der Sachlage,
der Richtung in der Fragestellung und Beantwortung, die Schlußsätze eines
freilich ebenfalls kursorischen Versudis, das Wesen der Widerspiegelung in
der Lyrik zu formulieren, hier anzuführen: das Spezifische der lyrischen
Form besteht dann, daß in ihr der Prozeß der Widerspiegelung »auch künst¬
lerisch als Prozeß in Erscheinung tritt; die gestaltete Wirklichkeit entwickelt
sich vor uns gewissermaßen in statu nascendi, während die Formen der Epik
und Dramatik - ebenfalls auf Grundlage der Wirksamkeit der subjektiven
Dialektik - bloß die objektive Dialektik von Erscheinung und Wesen in der
dichterisch widergespiegelten Wirklichkeit darstellen. Was in Epik und Dra¬
matik als natura naturata in ihrer objektiv dialektischen Bewegtheit entwik-
kelt wird, gebiert sich in der Lyrik vor uns als natura naturans 1«.
Damit ist jedoch bloß eine negative Abgrenzung erreicht, wenn auch frei¬
lich eine wichtige. Denn die hier vollzogene Ablehnung der rein in sich ge¬
kehrten Innerlichkeit als einer Repräsentanz des ganzen Menschen und als
Grundlage zu seiner Umwandlung in den »Menschen ganz« der ästhetischen
Sphäre ist auch in ihrer Negativität insofern richtungweisend, als sie er¬
neut die Weltverbundenhait, die Verwurzeltheit in der Welt zur Vorausset¬
zung des Weltschaffens der Kunst macht. Die modischen Verherrlichungen der
Introversion übersehen nämlich, daß das von ihnen Erstrebte, die Intensivie¬
rung der menschlichen Innerlichkeit, geradezu einen diametralen Gegensatz
zur wirklichen, zur pathologischen Introversion bildet. Der Punkt der Ver¬
wechslung liegt darin, daß diesen modernen Tendenzen objektiv eine Oppo¬
sition gegen bestimmte gesellschaftliche Tendenzen des entwickelten Kapita¬
lismus zugrunde liegt. Diese Wendung nach innen ist mithin der Ausdruck
des Ablehnens konkreter gesellschaftlicher Konstellationen oder Tatsachen,
auch dann, wenn diese im subjektiven Bewußtsein zu einem ewig mensch¬
lichen Verhältnis zwischen Innerlichkeit und Außenwelt mystifiziert werden.

1 G. Lukäcs: Schicksalswende, Berlin 1956, S. 231.


664
Die eigene Welt der Kunstwerke

Und die wahrhafte künstlerische Intensität des Ausdrucks, die ästhetische


Verkörperung einer echten Innerlichkeit kann erst dann entstehen, wenn
— und sei es mit einem falschen Bewußtsein — diese Beziehung zur Gegen¬
ständlichkeitswelt, die die Wendung nach innen auslöst, irgendwie, mit wel¬
chem Pathos der Ablehnung immer, im Werk erlebbar wird. Die Überlegen¬
heit Franz Kafkas über seine zeitgenössischen Mitstrebenden hat gerade hier
ihre Grundlage L In solchen Fällen hat also die Innerlichkeit als Grundzug
der künstlerischen Subjektivität überhaupt keine Beziehung mehr zum ästhe¬
tisch irreführenden Unbegriff der Introversion.
Soll nun die reale Verwandlung des ganzen Menschen in den »Menschen
ganz« und seine fruchtbare Beziehung zum homogenen Medium der Kunst¬
arten begriffen werden, so müssen wir für einen Augenblick zu jenen Tat¬
sachen des Alltagslebens, von denen unsere Betrachtungen ausgingen, zurück¬
kehren und sowohl Ähnlichkeiten wie Unterschiede zur Lage im Ästhetischen
etwas näher ins Auge fassen. Wir haben gesehen, daß dort die Verengung
des Bewußtseins auf das visuelle oder auditive Beobachten eines bestimmten
Phänomens mit einer starken Konzentration verbunden war. Alle Eigen¬
schaften des betreffenden Menschen, alle seine bisherigen Wahrnehmungen
und Kenntnisse erscheinen in diesem Akt zusammengeballt, damit das in
diesen Lichtkreis gerückte Phänomen nicht nur in seinem aktuellen Geradeso¬
sein möglichst exakt erfaßt werde, sondern simultan seine Einordnung in das
System der Erfahrungen des betreffenden Menschen erfolgen könne. Ohne
Frage ist das Einsetzen solcher Akte dem von uns jetzt untersuchten Verhal¬
ten nicht unähnlich, insbesondere die Konzentration und die Unterordnung
aller Beziehungsmöglichkeiten des Menschen unter diese gewissermaßen ein¬
gleisige Aufmerksamkeit. Der Unterschied, der hier noch wichtiger ist, be¬
steht darin, daß im Alltag mit dem Erfassen des gesuchten Phänomens die
normale Struktur des ganzen Menschen wieder in ihre Rechte tritt, während
das Setzen des homogenen Mediums im Ästhetischen einerseits von vornherein
nicht bloß auf einen bestimmten und durch seine Bestimmtheit isolierten
Gegenstand gerichtet ist; die im Vergleich zum Alltagsdurchschnitt wesent¬
lich verschärfte Wahrnehmung von Einzelheiten erstarrt nie zu einer Isolie¬
rung der Phänomene, im Gegenteil, das Detail gewinnt seine Deutlichkeit
und Bedeutsamkeit gerade aus seiner Stelle in einem tendenziell allseitigen
Zusammenhang. Andererseits ist dieser Akt der Verengung und Konzentra-

1 G. Lukacs: Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg 1958, S. 45 f., 86 f.


Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 665

tion ein perennierender. Besser gesagt: dem Menschen ganz eignet gerade jene
Verhaltensart, die aus der Einbeziehung aller Fähigkeiten, Empfindungen,
Kenntnisse, Erfahrungen etc. in die Konzentration auf das homogene Me¬
dium einer jeweiligen Kunstart entspringt. Während also im Alltagsleben
der ganze Mensch seine Einheit und Ganzheit der Tendenz nach bewahrt,
auch wenn er seine eigenen Kräfte den verschiedensten Lebensaufgaben ent¬
sprechend in verschiedenster Weise einsetzt (bzw. in Reserve hält), verwirk¬
licht sich der Mensch ganz immer nur in bezug auf das homogene Medium
einer bestimmten Kunstart. Die Berechtigung eines solchen Verhaltens ist
darin begründet, daß mit seiner Hilfe dieselbe Wirklichkeit, mit der der
Mensch sich in allen seinen Lebensäußerungen auseinanderzusetzen hat, letz¬
ten Endes um dieser vielfach differenzierten Gesamtpraxis willen wider¬
gespiegelt wird, daß jedoch durch die Umstellung auf diese Art des Verhal¬
tens zur Welt neue, wichtige Züge und Zusammenhänge in die Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit eintreten, die für den ganzen Menschen des Alltags
ohne sie unerreichbar geblieben wären.
Diese Fruchtbarkeit des homogenen Mediums, vermittelt durch den darauf
gerichteten Menschen ganz, zeigt sich in einer Reihe von bewegenden Wider¬
sprüchen, die hier das produktive Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt
konstituieren. Der erste Komplex der Widersprüche ist uns bereits bekannt,
erscheint jetzt nur in einer konkreteren Gestalt als bisher. Jedes homogene
Medium entsteht aus dem Bedürfnis der Menschen, die für sie objektiv ge¬
gebene Welt, die zugleich die Welt ihrer Freuden und Leiden, vor allem aber
die Welt ihrer Tätigkeit, des Ausbaus ihres eigenen Innenlebens und ihrer
Wirklichkeitsbewältigung ist, von einem bestimmten wesentlichen Gesichts¬
punkt aus näher und konkreter, intensiver und tiefer, umfassender und de¬
taillierter zu ergreifen, als dies für das Alltagsleben möglich ist, und sich ihr
von einer Problematik aus anzunähern, an der die desanthropomorphisie-
rende Widerspiegelung methodologisch notwendig Vorbeigehen muß. Natür¬
lich umreißt diese Bestimmung den Zustand einer bereits vollzogenen Diffe¬
renzierung der menschlichen Verhaltensarten zu der ihnen gemeinsam gegen¬
überstehenden Wirklichkeit. Da wir jedoch die spontanen Tendenzen, die in
der Periode der magisch-undifferenzierten Einheit zur ästhetischen Setzung
drängten, bereits geschildert haben, da die historische Beziehung der Kunst
zur Religion in einem eigenen Kapitel behandelt wird, ist es hier nicht nötig,
diese Lage historisch weiter zu differenzieren. Entscheidend ist, vom
neuen Blickpunkt aus, auf die große historische Stabilität dieser Ver¬
haltensarten und der in ihrer Folge entstandenen homogenen Medien hinzu-
666
Die eigene Welt der Kunstwerke

weisen. Natürlich unterscheidet sich die Lyrik Rimbauds qualitativ von der
Sapphos, das Malerische bei Cezanne von dem der chinesischen Landschaf¬
ten etc., trotzdem wird jede unbefangene, nicht durch überspannten Historis¬
mus irregeführte Anschauung diese allgemeine Gemeinsamkeit des jeweili¬
gen homogenen Mediums und seiner Gesetze spontan feststellen. (Daß die
historische Entwicklung eine ununterbrochene Bereicherung, freilich in wider-
spruchsvoll-ungleichmäßiger Weise, hervorbringt, versteht sich für uns bereits
von selbst.) Die Hingabe des Menschen ganz an sein jeweiliges homogenes
Medium hat also einen solchen fruchtbaren Widerspruch zur Folge: einer¬
seits entsteht in dieser Subjekt-Objekt-Beziehung ein gewaltiges Vehikel zur
Eroberung der Wirklichkeit. Dinge, Beziehungen, Verhältnisse etc. werden
sichtbar - um beim Exempel der Malerei zu bleiben -, die vorher niemand
wahrgenommen hätte. Und indem diese Entdeckungen, langsamer oder ra¬
scher zum Gemeingut der Menschen werden, verbreitert und vertieft sich für
sie die Welt, in der sie leben und wirken. Die Möglichkeit der Entdeckung er-
wädrst aus dieser Subjekt-Objekt-Beziehung, aus der Konzentration auf
einen bestimmten Weg der Weltauffassung, aus der radikalen Ausschaltung
aller Abzweigungen und Ablenkungen, denen der ganze Mensch im Alltag
ununterbrochen ausgesetzt, ja preisgegeben ist. Es ist sicher nicht notwendig,
diese Feststellung durch Beispiele zu belegen; jeder weiß, was die Periode der
Renaissance für die Entdeckung der Struktur und Bewegtheit des mensch¬
lichen Körpers, das 19. Jahrhundert für die Beziehung von Licht und Farbe
der Dinge bedeutet. Ihren unerschöpflichen künstlerischen Reichtum mag
die Erinnerung Condivis an Michelangelo illustrieren: »Obwohl er aber so
viele tausend Gestalten malte, wie wir sie sehen, hat er doch nie eine ge¬
macht, die der anderen ähnlich wäre oder die gleiche Bewegung machte. Im
Gegenteil, ich habe ihn sagen hören, er ziehe nie eine Linie, ohne sich zu ver¬
gegenwärtigen, ob er sie schon je so zog, in welchem Falle er sie dann wieder
auslöscht, wenn die Arbeit für die Öffentlichkeit bestimmt ist1.«
Diese Tendenzen wurden zuweilen allzu nahe zu den wissenschaftlichen ge¬
sehen; verständlicherweise, denn die wissenschaftlichen Anstrengungen von
Renaissance-Künstlern wie Piero della Francesca oder Leonardo, sind allge¬
mein bekannt, aber trotzdem ihren künstlerischen Produkten nicht adäquat.
Denn jede künstlerische Entdeckung hat, auch wenn sie abstrakt-inhaltlich mit
den wissenschaftlichen Ergebnissen konvergiert, etwas spezifisch darüber Hin-

A. Condivi: Das Leben Michelangelos, Kapitel 58.


Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 66y

ausgehendes und gerade dies macht aus dem bloßen Wahrnehmen einer bisher
noch nicht beobachteten Tatsache eine künstlerische Neuerung. Die entschei¬
dende inhaltliche Seite dieser Konstellation ist sehr verwidtelt; der Gehalt sol¬
cher Entdeckungen reicht von neuen Aufhellungen der Seele des Menschen bis
zum Erblicken neuer Wege der Menschheitsentwicklung. Schon unsere bisheri¬
gen Betrachtungen haben diese Vielfalt, diese Vielschichtigkeit des öfteren ge¬
streift und auch die jetzt folgenden werden wiederholt diesen Komplex auf¬
greifen. Darum mag ein einziger Hinweis genügen, um den gesellschaftlich-ge¬
schichtlichen, auf den Menschen bezogenen Gehalt unmittelbar als rein künst¬
lerisch erscheinender Neuerungen etwas zu verdeutlichen. Natürlich ist das
auch bei dem Bewegungsreichtum Michelangelos ohne weiteres einleuchtend.
Es sei aber gestattet, eine Beobachtung R. M. Rilkes über die Stilleben von Ce-
zanne anzuführen. Er sah zusammen mit Emil Preetorius eines seiner Apfelstil¬
leben: »Rilke betrachtete die großartige Malerei lange versonnen und bemerkte
dann unvermittelt: aber essen könne man diese Äpfel nicht mehr. Auf meine
scherzhafte Frage, ob man überhaupt ölfarbene Äpfel essen könne, antwortete
er leise wie immer, aber dennoch bestimmt, ernst und ohne Zögern: die von Char¬
din gewiß, auch noch die von Manet, aber bei Cezanne sei’s damit zu Ende E«
Die im ersten Augenblick grotesk und abwegig scheinende Bemerkung Rilkes
wirft ein grelles Licht auf die ganze gesellschaftlich-geschichtliche Proble¬
matik, die bei dem großen Künstler Cezanne das Ringen um Neues um¬
gibt: auf seine Versuche, sowohl alle subjektivistischen Tendenzen wie jene,
die zu einer Auflösung der Bildeinheit bei seinen bedeutendsten Zeitgenos¬
sen führen, zu vermeiden. Sie beleuchtet Cezannes tragischen Sisyphuskampf,
den Gegenstand zugleich naturwahrer und komponierter zu erfassen, als es
jenen infolge ihrer Vision und Methode möglich war. Rilke weist mit seiner
scheinnaiven Beobachtung auf die historische Sackgasse, die Cezanne tragisch¬
vergeblich in einen breiten Weg zu verwandeln versuchte: auf die Entfernung
von der Menschlichkeit, die ihm durch die Zeit aufgezwungen wurde, auf die
Anfänge einer unmenschlichen Kunst, die er in solchen subjektiv tief humani¬
stischen inneren Kämpfen sehr gegen seinen Willen initiierte. So ist bei jeder
Entdeckung, die der Mensch ganz in Hingabe an das homogene Medium seiner
Kunst vollbringt, gleichzeitig und untrennbar etwas Neuentdecktes in der ob¬
jektiven Wirklichkeit selbst enthalten, die die gegenständliche Umwelt des
Menschen bildet, und in den Beziehungen der Menschen zu ihr. Diese dialek-

1 Der Monat, Nr. 81. Januar 1955 S. 248.


66 8 Die eigene Welt der Kunstwerke

tische Wechselbeziehung, deren Wirksamkeit objektiv dem Leben eines jeden


Menschen zugrunde liegt, kann durch diese Hingabe nunmehr einen sinnlich¬
sinnfälligen Ausdruck erhalten, zum evokativ spontan wirksamen Besitz aller
Menschen, zum Vehikel der Entwicklung ihres Selbstbewußtseins werden.
Werfen wir nun einen Blick auf die andere Seite des Widerspruchs, die wir
bis jetzt nur von einem Gesichtspunkt aus betrachtet haben. Diese andere
Seite verkörpert sich in der inneren Gesetzlichkeit des homogenen Mediums
selbst, in der Art, wie es mit dem Wollen des schöpferischen Individuums
eine Auseinandersetzung erzwingt. Die einfachste Folge dieser Wechselbezie¬
hung haben wir soeben beobachten können. Aber dieses Anleiten zum Finden
von Neuland ist zugleich ein fruchtbares Grenzensetzen. Gegen Theoretiker,
die den Gehaltsumfang des homogenen Mediums auf seine rein sinnliche Un¬
mittelbarkeit beschränken wollen, mußte gezeigt werden, welch unendlicher
Reichtum der möglichen Beziehungen des Menschen zu seiner gesamten Wirk¬
lichkeit etwa in die rein visuelle, malerische Gestaltung eines Apfels eingehen
kann; daß dessen malerisches Abbild, ohne die Grenze des Malerischen zu
überschreiten, entscheidende gesellschaftlich-geschichtliche, weltanschauliche
Situationen des Menschen und seiner Stellungnahme zu ihnen offenbaren
kann. Dieses Einströmen des vielfältigen Lebensgehalts des ganzen Menschen
in die durch die Gesetze des homogenen Mediums streng umzäunte Aus¬
druckswelt des Menschen wird aber durch dieses ebenso befördert, wie in
bestimmte Schranken gewiesen. Daß diese Schranken sich im Laufe der Ent¬
wicklung verschieben, daß vieles artikulierbar wird, was dereinst nicht ein¬
mal als Ahnung bekannt war oder höchstens stammelnd geäußert werden
konnte, hebt weder die Existenz der Schranken noch ihre fördernde Wir¬
kung auf Weite und Tiefe des künstlerischen Gehalts und der künstlerischen
Gestalt auf. Die echte Begabung, an deren Bestimmen man fehlerhaft heran¬
geht, wenn man sie in verallgemeinerten Einzeleigenschaften des Menschen
(und in ihrer Synthese) sucht, ist eben die richtige Beziehung des Menschen ganz
zu seinem homogenen Medium, die Fähigkeit, in der Auswahl des um Aus¬
druck ringenden totalen Lebensgehalts jenes Was und jenes Wie zu finden,
deren Inhalt und Form so beschaffen ist, daß gerade dieses homogene Me¬
dium zur Grundlage seiner eigenen konkreten Form werden könne.
Die einzelnen Gesetze, die vom homogenen Medium aus diese Wechselbezie¬
hungen von Subjekt und Objekt, von Inhalt und Form, von Reichtum und
Einheit etc. regeln, sind naturgemäß in jeder Kunstart, in jedem Genre ver¬
schieden, können also nur in deren Theorie und nicht in der Prinzipienlehre
der ästhetischen Widerspiegelung behandelt werden. Jedoch schon das aller-
Homogenes Medium, der ganze Mensch und der Mensch ganz 669

allgemeinste Kennzeichen diesen Mediums, nämlich seine Homogeneität, muß,


wenn sie richtig verstanden werden soll, nicht als eine abstrakte, negative
Eigenschaft, sondern als etwas Positives und konkret Wirksames begriffen
werden. Audi hier handelt es sich nicht um eine Sachlage, eine Struktur, die
aussdiließlich dem Ästhetischen eigen wäre, die man um seinetwillen »erfun¬
den« hätte, sondern um ein allgemeines Problem der Widerspiegelung der
Wirklichkeit, die aber hier eine eigenartige, besondere Form erhält, eine
qualitative Steigerung erfährt. In der Hegelschen Logik ist für die dialek¬
tische Entwicklung die Rolle, die die Negation in diesem Prozeß spielt, von
höchster Wichtigkeit. Ein wirklicher, konkreter und bewegter Zusammen¬
hang kann nur entstehen, wenn Affirmation und Negation, Bestimmung und
Verneinung eine derartig intime Relation erhalten, daß für die Bestimmung
die Negation als ihre eigene Negation sichtbar wird. (Hier geht Hegel über
die berühmte und von ihm vielfach ausgewertete Bestimmung Spinozas:
»Omnis determinatio est negatio« hinaus.) So z. B. in dem Zusammenhang
des Eins mit der Leere: »Die Leere ist Grund der Bewegung nur als die
negative Beziehung des Eins auf sein Negatives 1.« Engels hat diese dialek¬
tische Konzeption der Negation, ohne welche man unmöglich zu einer Nega¬
tion der Negation gelangen könnte, oft populär dargestellt, insbesondere in
einer plastisch formulierten Polemik gegen die vulgär-metaphysische Auffas¬
sung der Negation. Diese wendet sich gegen die genaue Hegelsche Bestim¬
mung des für jede Setzung geltenden eigenen Negativen. Man pflegt, sagt
Engels, in diesem Sinne zu sagen »ich negiere den Satz: die Rose ist eine Rose,
wenn ich sage: die Rose ist keine Rose«. In seinen weiteren Darlegungen
zeigt er jene höchst einfachen Tatbestände in der Wirklichkeit und in ihrer
richtigen Widerspiegelung auf, die notwendig zu der Hegelschen Konzeption
des dialektischen Negierens führen müssen. (Daß damit das Problem der
Negation der Negation gestellt ist, braucht uns in diesem Augenblick nicht
zu beschäftigen.) Engels sagt: »Negieren in der Dialektik heißt nicht einfach
nein sagen, oder ein Ding für nicht bestehend erklären oder es in beliebiger
Weise zerstören . . . Und ferner ist die Art der Negation hier bestimmt,
erstens durch die allgemeine, und zweitens die besondere Natur des Pro¬
zesses ... Jede Art von Dingen hat also ihre eigentümliche Art, so negiert zu
werden, daß eine Entwicklung dabei herauskommt, und ebenso jede Art von
Vorstellungen und Begriffen. In der Infinitesimalrechnung wird anders

1 Hegel: Wissenschaft der Logik, Wk. a. a. O. Band III. S. 177 f.


670 Die eigene Welt der Kunstwerke

negiert, als in der Herstellung positiver Potenzen aus negativen Wurzeln b«


Die Hegelsche Klärung der dialektischen Negation, insbesondere in ihren Er¬
läuterungen durch Engels, zeigt eine Differenzierung des Verhältnisses der
Pole Ja und Nein (Erhalten und Zerstören) in der Wirklichkeit selbst und in
ihrem annähernd adäquaten Erfassen 'durch die richtige Widerspiegelung.
Daran ist für uns das Wichtigste, daß die dialektische Negation einen von der
Wirklichkeit selbst hervorgebrachten Spezialfall der abstrakt allgemeinen
Negation vorstellt. Schon das Alltagsleben ist ununterbrochen gezwungen,
sich mit diesem Unterschied auseinanderzusetzen, da seine praktischen Folgen
außerordentlich weittragend sind. Das spontane Streben der wissenschaft¬
lichen Widerspiegelung der Wirklichkeit, die mit der philosophischen Klar¬
heit über die grundlegende Bedeutung der dialektischen Methode keineswegs
einfach identisch ist, ja in Einzelfällen, sogar in wissenschaftlich methodolo¬
gischen Feststellungen, sehr wohl auch dann auftreten kann und nicht selten
auftritt, wenn das philosophische Denken in der Metaphysik steckenbleibt
und die Dialektik strikt ablehnt, geht darauf aus, für jedes Gebiet in der ihm
entsprechenden Weise die reale Beziehung von Bestimmung und Negation kon¬
kret herauszuarbeiten. Von der Erkenntnis der Entwicklung des Lebens bis zur
Rolle des Negativen (des »Bösen«) in Ethik, Geschichte etc. ist die Erkenntnis
solcher Zusammenhänge unentbehrlich für ein richtiges Abbilden der Wirklich¬
keit, wie sie an sich ist. In der genauen Trennung der beiden Hauptarten der
Negation muß also auch die ästhetische Widerspiegelung den Weg gehen, den
unabhängig von ihr Alltag und Wissenschaft eingeschlagen haben. Wie über¬
all sonst, beruht auch hier diese Ähnlichkeit darauf, daß alle drei Verhaltens¬
arten mit derselben Wirklichkeit konfrontiert werden, daß die unerläßliche
Bedingung dafür, daß sie ihre sozialen Funktionen erfüllen, eben das richtige
Erfassen der wesentlichen Bestimmungen dieses gemeinsamen Objekts ist.

III Das homogene Medium und der Pluralismus der ästhetischen Sphäre

Wir haben bisher schon sehen können, in welcher besonderen Richtung die
ästhetische Widerspiegelung über die hier festgestellte — und in ihrer Praxis
festgehaltene — Gemeinsamkeit hinausgeht. Der entscheidende Gehalt dieser

1 Engels: Antidühring, a. a. O. S. 144 f.


Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 67i

Differenz besteht dann, daß im Gegensatz zu der letzten Endes moni¬


stischen Tendenz der wissenschaftlichen Widerspiegelung (tendenzielle Ein¬
heit und letzten Endes Zusammenhang aller Wissenschaften), die ästhetische
Widerspiegelung ihrem Wesen nach pluralistisch ist. Dieser Charakter kul¬
miniert in dem Aufsichselbstgestelltsein eines jeden Kunstwerks, für dessen
normative Wirkung kein anderes Werk eine Hilfe, eine Ergänzung darbie¬
ten kann; darum ist auch, wie wir gesehen haben, jenes umfassendere Kate¬
goriensystem, das jetzt behandelte homogene Medium der Pluralität gerade
ästhetisch selbständigen Kunstarten und Genres zugeordnet. Damit erscheint
jedoch der uns bereits bekannte fundamentale Widerspruch des Ästhetischen,
daß die sowohl inhaltlich wie formal partiellen Setzungen der Kunstwerke
(ein Stück, ein Ausschnitt aus der Totalität der Wirklichkeit, gestaltet vom
»einseitigen« Gesichtspunkt eines konkreten homogenen Mediums) notwendig
den Anspruch erheben und verwirklichen, eine »Welt«, eine vollendete und
geschlossene Totalität zu repräsentieren. Die wirkliche Aufhebung dieses
Widerspruchs besteht - abermals widersprüchlicherweise - im evokativen,
Erlebnisse der Welt erweckenden Charakter der Kunstwerke, wo die formale
Abrundung, das Aufsichselbstgestelltsein eines jeden ästhetischen Gebildes
zum Träger einer Weltbetrachtung vom Standpunkt des Menschengeschlechts
wird, zum Träger des Selbstbewußtseins der Menschengattung. Diese Pro¬
bleme wurden bereits behandelt und müssen später weiter konkretisiert
werden. Hier mußte ihrer wenigstens kurz gedacht werden, damit die be¬
griffliche Konkretisierung des homogenen Mediums in der richtigen Per¬
spektive erscheint.
Wenn das Kunstwerk eine intensive Totalität jener wesentlichen Bestimmun¬
gen sein soll, die sich vom Aspekt des homogenen Mediums aus ergeben, so ist
es unerläßlich, alle zufälligen, peripherischen, flüchtigen Zusammenhänge,
deren kompliziertes Aufeinanderwirken im Leben die Trendlinie der Not¬
wendigkeit bildet, aus dem ästhetisch gespiegelten, auf intensive Totalität
ausgerichteten Abbild der Wirklichkeit zu entfernen. Erst das Zusammen¬
spiel dieser Betonung und dieses Auslassens kann aus dem formal wie inhalt¬
lich beschränkten, isolierten ästhetischen Gebilde eine »Welt« machen. Wenn
die Kunst diese Prinzipien auf das eben untersuchte Problem von Bestim¬
mung und Negation anwendet, so zeigt sich dem Leben gegenüber sehr genau
die Steigerung ins qualitativ Neue, die im Ästhetischen vollzogen wird: in¬
dem jede vorkommende Negation dialektisch wesentlich mit den gestalteten
Positivitäten verbunden ist, ihre eigene Negation und nichts weiter ist, ent¬
steht ein System aus ausschließlich wesentlidien Momenten, etwas, was im
672 Die eigene Welt der Kunstwerke

Leben selbst prinzipiell nicht Vorkommen kann, und was doch das Aller¬
wesentlichste über das Leben aussagt. Hier wird - beiläufig bemerkt - wie¬
der sichtbar, daß die ästhetische Widerspiegelung nichts mit einer mechani¬
schen Photokopie zu tun haben kann. In der Musik ist die eben beschriebene
Lage am augenfälligsten: das Sich-Aufeinander-Beziehen der Töne, die Nega¬
tion als eigene Negation jeder konkreten Bestimmung, kann nur auf diesem
Prinzip aufgebaut sein, und die Musik müßte unweigerlich zum bloßen Ge¬
räusch, ja zum Lärm herabsinken, wenn in ihr ein Bruch mit dieser
Alleinherrschaft des Wesentlichen, mit dieser strengen und ausschließlich Auf-
einanderbezogenheit der Wesenheiten vollzogen wäre. Es ist kein Zufall, daß
Hegel bei der Behandlung der Dialektik Heraklits, auf Einwände dagegen
antwortend, an das Wesen der musikalischen Harmonie appelliert. Gegen den
Eryximachos des Platonischen »Symposion«, der die Harmonie als flache
Homogeneität ohne Negation und Widerspruch auffaßt, führt er aus: »Das
Einfache, die Wiederholung des einen Tones ist keine Harmonie. Zur Har¬
monie gehört der Unterschied; es muß wesentlich, schlechthin ein Unterschied
sein. Diese Harmonie ist eben das absolute Werden, Verändern - nicht
Anderswerden, jetzt dieses und dann ein Anderes. Das Wesentliche ist, daß
jedes Verschiedene, Besondere verschieden ist von einem Anderen, - aber
nicht abstrakt irgendeinem Anderen, sondern seinem Anderen; jedes ist nur,
insofern kein Anderes an sich in seinem Begriffe enthalten ist. .. So auch bei
den Tönen; sie müssen verschieden sein, aber so, daß sie auch einig sein
können, - und dies sind die Töne an sich. Zur Harmonie gehört bestimmter
Gegensatz, sein Entgegengesetztes, wie bei der Farbenharmonie 1.«
In einem bestimmten Sinne könnte man freilich sagen, daß die Zuspitzung
dieses Problems auf die eigene Negativität - eben bloß eine Zuspitzung ist.
Das ist im striktesten Sinne des Wortes auch richtig. Es handelt sich jedoch
um die Zuspitzung von real wirksamen Tendenzen. So wie in der wissen¬
schaftlichen Widerspiegelung (ebenfalls eine bedeutende Entdeckung Hegels)
vom einfachen Unterschied eine ununterbrochene Steigerung, freilich mit
qualitativen Sprüngen, zum Widerspruch und zum Gegensatz führt, so auch
im Ästhetischen von der Nuance zum Kontrast. Mfit der Feststellung der tie¬
fen Zusammengehörigkeit auch des Gegensätzlichsten ist also für unser jetzi¬
ges Problem auch die letzthinnige Homogeneität des weniger Entfernten be¬
antwortet. Daß es sich dabei um ein universelles Prinzip einer jeden Kunstge-

1 Hegel: Geschichte der Philosophie, Wk. a. a. O. Band XIII S. 308.


Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre
<V3

staltung handelt, hat, soviel ich weiß, als erster mein jung verstorbener Freund
Leo Popper ausgesprochen. Bei der Analyse der Gestaltungsart Pieter Brueg-
hels des Älteren, spricht er von der Rolle des Zusammenwirkens von fester
Körperlichkeit und Luft, »die den Körper gegen die Welt abschließt... und
die ihn doch wieder ganz tief der Welt vermählt. Aber mit der Kraft, mit
dei diese Körper die Luft in sich einverleiben, zogen sie auch einander an,
aßen einander, verdauten und aßen einander wieder, bis sie wie ein Stoff
wurden, und alle einander verwandt. Die Blume hatte etwas vom Wasser,
das Wasser von der Straße, das Erz vom Himmel, und nichts war, das nicht
wie von allen gewesen wäre. So entstand der Urstoff dieser Malerei. Ganz
homogen, ganz aus den Dingen gefertigt und doch zuletzt wie ein Stück des
Stoffes, aus dem der Maler selbst gemacht war. Jede Malerei gab seit jeher
statt der Mannigfaltigkeit der Stoffe, die alle verschieden schwer sind, ein be¬
sonderes Material von einheitlichem spezifischem Gewicht; einen leichten oder
schweren Stoff, dem unfreiwillig die mystische Rolle zufiel, zu einen, was
Gott getrennt hatte, der aber, wenn er schön war, in tiefstem Ernst dieser
Aufgabe gerecht werden und als ein >Allteig< alle Stoffe ausdrücken
durfte 1«.
Leo Popper beschreibt hier richtig und pittoresk eine Grundtatsache der
Kunst. Denn es ist ohne weiteres klar - wir werden darauf noch zurück¬
kommen -, daß in diesem »Allteig« die Differenzen des Stoffes weder der
Intention, noch dem Resultat nach, spurlos untergegangen sind. Im Gegen¬
teil: diese ihre letzthinnige Homogeneität hebt die Unterschiede bis hinauf
zur Gegensätzlichkeit nicht auf, sie macht bloß eine ganz tiefe Verwandtschaft,
eine innige Zusammengehörigkeit des im Leben Fremdesten sinnfällig evi¬
dent und schafft damit für alle in einem Werk gestalteten Beziehungen bis
zum tragischen Dramatismus eine einheitliche Atmosphäre, die den Gegen¬
ständen nicht äußerlich ist und sie nicht gleichgültig umgibt, sondern die
eigentliche Schicksalsatmosphäre ihres Geradesoseins, ihres innersten Wesens
zur Anschauung bringt. Gerade die größte und echteste Kunst offenbart diese
Spannung zwischen höchster Einheit und höchster Verschiedenheit, wobei das
Aufrechterhalten der letzthinnigen Homogeneität des energisch Divergieren¬
den künstlerisch das übergreifende Moment bleibt. Der Reichtum der Shake-
spearschen Welt an verschiedenartigsten Menschen ist zum Gemeinplatz

1 Leo Popper: Pieter Brueghel der Ältere, Kunst und Künstler, Jg. VIII. Berlin
1910, S. 600.
6/4 Die eigene Welt der Kunstwerke

geworden. Aber gerade die Tiefe seiner Tragik wäre unvorstellbar, wenn hin¬
ter dieser Mannigfaltigkeit nicht eine solche Homogeneität transparent durch¬
schiene, eine Homogeneität, die aus der Gegensätzlichkeit von Othello,
Desdemona und Jago etwas aufeinander Abgestimmtes, etwas untrenn¬
bar Vereintes macht, eine Homogeneität der unendlichen Vielfältigkeit,
die der Einheit des Mannigfaltigen in der erkenntnismäßigen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit ästhetisch -entspricht.
Die Einheitlichkeit, die so entsteht - die innigste und organischste, die das
menschliche Bewußtsein kennt -, ist, wie hier sichtbar wurde, an sich wider¬
spruchsvollen Charakters, eine Einheit von sich ausschließenden Gegensätzen,
deren Gegensätzlichkeit in ihr aufbewahrt bleibt. Diese ihre objektive Be¬
schaffenheit hat zur notwendigen Folge, daß der subjektiv-schöpferische
Prozeß, der sie hervorbringt, ebenfalls widersprüchlich sein muß. Diese sub¬
jektive Seite der Widersprüchlichkeit taucht gerade -bei der Homogeneität des
Mediums der Kunstart (des Kunstwerks) am deutlichsten auf. Wir zitierten
Leo Poppers ausgezeichnete Beschreibung vom Fazit des Schaffensprozesses in
Brueghels Werk. Popper sieht klar, daß dieses Ergebnis - auch im Fall der
großen künstlerischen Bewußtheit Brueghels - unmöglich der Gegenstand
seiner Absicht sein konnte, sondern geradezu aus deren Scheitern entstand.
Er schreibt wieder richtig: »woran der Maler dachte, war gerade das Gegen¬
teil, war ein ganz freies Eingehen auf die Art der einzelnen Stoffe. Wir sehen,
wie Haare, Schnee, Samt und Holz mit größter Liebe in ihrer eigenen Weise
verstanden sind, und wie alles geschieht, um ihnen einzeln gerecht zu wer¬
den. Aber wir sehen auch, daß alles vergebens ist, weil die Luft und das
eigene Material der Malerei, die Farbe, -eine Einheit schafft, die alle letzten
Unterschiede ertränkt.« So entsteht die unvergleichliche Größe dieser Male¬
rei aus einem unlösbaren Widerspruch. Leo Popper faßt das Prinzip der
letzten Einheit ebenfalls richtig so zusammen: »Und nie hätte der Maler es
erreicht, ohne diese hoffnungslose Absicht: das Eigenste wiederzugeben 1.«
Der Fall Brueghels ist natürlich ein besonderer und eigenartiger. Nichts
wäre irreführender, als eine hier gewonnene Einsicht ohne weiteres auf
andere große Künstler, auf die Beziehung ihrer Intentionen und Werkvoll¬
endungen anzuwenden. Denn infolge der Vielfältigkeit der Subjektver¬
hältnisse zur Welt und zur Kunst; infolge ihrer Niveauunterschiede von
bloßer Partikularität -bis zum Selbstbewußtsein des Menschengesdilechts;

1 Ebd. S. 600 f.
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 67$

infolge der prinzipiellen Pluralität der Künste, die naturgemäß nicht bloß
eine der Form oder gar des Materials, des Stoffes ist, sondern unabtrennbar
von deren spezifischen Gesetzlichkeiten auch als die des künstlerischen Ge¬
halts, der Weltanschauung, der Form wirkt; infolge der gesellschaftlich-ge¬
schichtlichen Bedingtheit einer jeden künstlerischen Setzung, die ihre eigene
historische Genesis und deren Bedeutung für die Entwicklung des Menschen¬
geschlechts in die Werkvollendung mit sich nimmt: entsteht in jedem bedeut¬
samen Werk eine eigenartige und einzigartige Einheit der bestimmten — der
jeweils wichtigsten - Gegensätze. Und es ist nach dem bisher Ausgeführten
evident, daß das künstlerisdie synthetische Prinzip, daß diese Einheit und
Aufhebung der Widersprüche — auch im Sinne des Aufbewahrens und des
Erhebens auf höheres Niveau —, daß eben das homogene Medium der einzel¬
nen Kunstarten jeweils in der persönlichen Qualität der einzelnen Werke ver¬
körpert sein muß.
In dieser Lage zeigt sich der schrankenlose Pluralismus der ästhetischen
Sphäre. Das bedeutet freilich nicht, daß allgemeine Bestimmungen für das
ganze Gebiet fehlen, nur muß bei ihrer Anwendung auf eine Kunstart
oder gar auf eine Werkindividualität dieser pluralistische Charakter immer
die Grundlage bilden. So jetzt bei der Beziehung der schöpferischen Sub¬
jektivität zum homogenen Medium. Jene Diskrepanz zwischen Absicht und
Erreichtem, auf die wir Leo Popper folgend aufmerksam gemacht haben, ist
ein allgemeines Phänomen eines jeden künstlerischen Schaffens, in welchem
die Objektivität, die objektive Gesetzlichkeit der Kunstarten (der Kunst)
dem individuellen Willen gegenüber zur Geltung gelangt. Die Kehrseite, das
Scheitern im wörtlichen Sinne des Wortes überall dort, wo ein Bestreben
- und sei es menschlich, ethisch, gesellschaftlich etc. noch so hochstehend und
achtenswert - wegen seines antikünstlerischen Wesens oder seiner antikünst¬
lerischen Komponenten etwas hervorbringt, das ganz oder teilweise aus dem
Bereich des Ästhetischen herausfällt, ist allgemein bekannt. Auch dabei han¬
delt es sich um die Beziehung der schaffenden Subjektivität zu den Gesetzen
der Kunstart (der Kunst). Es entsteht aber das einfache Verhältnis von un¬
zureichender Begabung, von falschen Intentionen etc. zur ästhetischen Ob¬
jektivität, weshalb auch solche Fehlleistungen sich nicht prinzipiell von denen
des Alltagslebens und der Wissenschaft unterscheiden. Anders im ersten hier
behandelten Fall. Natürlich ist die schon von Hegel ausführlich analysierte
Lage wohlbekannt, daß das gesellschaftlich-geschichtliche Handeln der Men¬
schen anderes, oft mehr und qualitativ Höherstehendes hervorbringt, als in
den bewußten Zielsetzungen enthalten war, und es ist ebenso selbstverständ-
6y6 Die eigene Welt der Kunstwerke

lieh, daß diesem Verhältnis objektive Gesetze des sozialen Werdens zugrunde
liegen. Abstrakt angesehen kommt also dem Ästhetischen keine Sonderstel¬
lung zu. Jedoch schon von der Subjektseite her zeigt sich der nicht un¬
wesentliche Unterschied, daß die hier in Wirksamkeit tretende »List der
Vernunft«, um Hegels Ausdruck zu gebrauchen, stets eine Reinigung und
Erhöhung der Subjektivität zur Folge hat, was in den parallelen Lebens¬
erscheinungen keineswegs zum Wesen des Geschehens gehört, obwohl es
natürlich ausnahmsweise, vom historischen Standpunkt zufällig, Vorkom¬
men kann.
Diese Erhöhung ist vor allem das Abstreifen dessen, was an der Persönlich¬
keit bloß partikular ist, jedoch ohne daß deshalb der Weg zur Überwin¬
dung des Persönlichen eingeschlagen würde. Im Gegenteil: es zeigt sich, daß
gerade dieses Wegfallen partikularer Velleitäten den Kern der Indivi¬
dualität stärker herausarbeitet, plastischer macht. Der so einsetzende Prozeß
des Ablegens von Vorurteilen, von zur Routine gewordenen Einsichten oder
Gefühlen, von Gedanken und Empfindungen, die man nur hegen kann, wenn
man nicht gewillt ist, -sie zu Ende zu führen etc.: das alles entsteht aus dem
Widerstand des homogenen Mediums gegen Halbheiten, gegen Erstarrtes. Es
ist ein Scheidewasser: das Gesunde entfaltet sich in ihm, lebt zu einer im
voraus ungeahnten Intensität empor, das Kranke stirbt ab, verschwindet. Je¬
doch all dies soll man nicht als einen Zusammenstoß zwischen Ich und ich-
fremder Außenwelt auffassen. Eine Wechselbeziehung zwischen Schaffendem
und homogenem Medium ist nur dadurch möglich, daß dem Konflikt, der
Unfähigkeit, etwas Beabsichtigtes diesem Medium gegenüber durchzusetz-en,
ein Appell an eine tiefere und umfassendere Schicht in der Persönlichkeit
selbst innewohnt. Die Dialektik von Absicht und Ergebnis ist die von Wider¬
sprüchen bewegte Aufwärtsbewegung der schöpferischen Individualität selbst.
Auch in einem so bedeutenden Beispiel wie dem eben angeführten Brueghels.
Was er wollte, ist bereits -eine hohe Abart des echten Erfassens der Gegen¬
ständlichkeit; indem er jedoch daran scheiterte, entstand ein seltenes Pa¬
radigma des tiefsten weltanschaulichen Ausdrucks, zu dem die Malerei über¬
haupt fähig ist: das Paradigma der auf den Menschen bezogenen und doch
objektiven, in den Dingen fundierten Einheit der Welt. In dieser Einheit
wird alles freudig Bunte und lässig Zufällige der unmittelbarsten Erschei¬
nungswirklichkeit aufbewahrt; sie muß nicht um dieser Einheitlichkeit wil¬
len von der Seele durchdrungen zu einem Stoff des Seelisch-Moralischen ver¬
dichtet werden, wie bei Rembrandt. Und dennoch ist ihre Einheitlichkeit
kein Erstes, kein Anfang, nicht ein bloßes Bilderbuch der Oberfläche, sondern
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 677

ein Oberflächewerden von wesentlichsten Kräften und Bezügen, das die naive
Lebenslust ebenso zur Sache der Menschheit machen kann wie Rembrandt die
endlose Kette der tiefsten und fürchterlichsten Tragödien.
Diese Erhöhung des Subjekts ist ethisch gesehen der Weg von der Begabtheit
zur Genialität, von origineller Talentiertheit zur bleibenden Festlegung einer
Etappe der Menschheitsentwicklung. Während aber der Widerspruch zwi¬
schen Absicht und Ergebnis ein allgemein anerkannter Tatbestand ist, wird
die Bewegung nach oben sehr oft von romantischen Mythen verzerrt. Die
Ursache ist leicht einzusehen. Da die echten Gipfel der Kunst wichtige Mo¬
mente des Ganges der Menschengattung offenbaren, muß die Überzeugung von
diesem Wege vorhanden sein, um die Richtung, die hierher führt, als Aufstieg
zu begreifen; wo diese Einsicht fehlt, muß der Widerspruch - romantisch -
als abstrakter und in der Abstraktheit krasse und gräßliche Dissonanzen aus¬
lösender aufgefaßt werden. Es ist sicher kein Zufall, daß dieser Betrachtungs¬
weise der Kunst bei Kierkegaard ihren stärksten Ausdruck erhalten hat. Er
sagt: »Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in
seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber laute Seufzer entströmen, die dem
fremden Ohr wie schöne Musik ertönen. Es geht ihm, wie einst jenen Un¬
glücklichen, die in Phalaris’ Stier durch ein matt brennendes Feuer langsam
gemartert wurden und deren Schreie nicht bis zu den Ohren des Tyrannen
dringen konnte, ihn zu erschrecken, ihm klangen sie wie heitere Musik. Und
die Menschen umschwirren den Dichter und sprechen zu ihm: Sing uns bald
wieder ein Lied, das heißt, mögen neue Leiden deine Seele martern, und mö¬
gen deine Lippen bleiben, wie sie bisher gewesen; dein Schreien würde uns
nur ängstigen, aber die Musik, ja, die ist lieblich. Und die Rezensenten treten
herzu und sprechen: So ist’s recht; so muß es nach den Regeln der Ästhetik
gehen b« Darin sind eigentlich schon alle Themen eines sich als unmensch¬
lich empfindenden Zeitalters gedanklich vorweggenommen. Nur daß Kierke¬
gaards konkreter eigener Kunstgeschmack an die »Kunstperiode«, an Klas¬
sik und Romantik gebunden bleibt. Indem er aber die reale und darum
fruchtbringende Widersprüchlichkeit zwischen subjektiv intentioniertem und
im Werk objektiviertem Ausdruck in einen starren, unüberbrückbaren Gegen¬
satz verwandelt, wird bei ihm die dialektische Genesis der Kunstwerke zu
einem irrationalistischen Mythos des Abgrunds, das Ästhetische am Werk zu
einem vernunftwidrigen Rätsel.

1 Kierkegaard: Entweder Oder, Dresden und Leipzig o. J., S. 15.


6/8 Die eigene Welt der Kunstwerke

Die widerspruchsvolle Bewegung nach oben, die wir betrachtet haben, führt
zum wirkenden Werk, sie kann aber nur dann als sinnvoll begriffen werden,
wenn das Werk selbst und seine Wirkung in der Totalität der menschlichen
Betätigungen, in der Entwicklungslinie der Menschengattung eine sinnvolle
Stelle einnimmt. Das wird in diesen Betrachtungen ununterbrochen voraus¬
gesetzt, als Tatsache erkannt und anerkannt und zugleich ebenso ununter¬
brochen gedanklich nachzuweisen versucht. Darum können wir uns jetzt da¬
mit begnügen, die Auffassung Kierkegaards als Symptom einer einflußreichen
Tendenz einfach zu registrieren, und können uns dem eigentlichen Problem
des homogenen Mediums wieder zuwenden. Diesmal aber betrachten wir es
nicht mehr als Ziel subjektiver Bestrebungen und als Gegenstand ihrer inne¬
ren Dialektik, sondern so wie es objektiv in seinen, auf welchen Wegen im¬
mer erreichten, totalen oder partiellen Vollendungen in Wirksamkeit tritt.
Will man hier aus Sein und Funktion des jedem Werk zugrunde liegenden
homogenen Mediums sein Wesen ganz allgemein bestimmen, so kommt man
zu dem Begriff des Leitens. Ein Kunstwerk kann als solches nur dann aner¬
kannt werden, wenn es permanent die Möglichkeit in sich birgt, den Rezep¬
tiven zu seiner Aufnahme anzuleiten. L’art pour l’art-Tendenzen kürzlich
vergangener Jahrzehnte zeigten allerdings eine Tendenz: die objektiv
daseiende »Schönheit« (ästhetische Beschaffenheit) der Werke unabhängig
von jeder Wirkung zu setzen. Dahinter steckt eine - weitgehend subjektiv
verständliche, ja berechtigte - Ablehnung der zeitgenössischen Durchschnitts¬
beurteilung; die Größe Michelangelos oder Beethovens soll nicht vom Ge¬
schmacksurteil des Philisters X oder Y abhängig sein. So berechtigt solche
Gefühle auch sein mögen, ihre Begründung ist doch auf schwache Analogien
gestützt. Denn unbewußt schwebt solchen Gedankengängen das Beispiel der
wissenschaftlichen Wahrheiten vor. Wenn jedoch gesagt wird, die Wahrheit
etwa der Kopernikanischen Theorie sei unabhängig davon, ob und wann sie
anerkannt wurde, so ist damit objektiv gemeint, daß die Erde sich wirk¬
lich um die Sonne dreht, unabhängig davon, ob die Menschen diesen Tat¬
bestand wahrnehmen oder erkennen. Die Begründung der Objektivität
im Ästhetischen kann aber nicht mit solchen Argumenten operieren. Die
Beziehung, sagen wir, einer Tizianischen Venus zu der in ihr widergespie-
geiten Wirklichkeit läßt sich mit dem Verhältnis des Abbilds zum Original
im Kopernikanischen Beispiel nicht vergleichen. Diese Theorie ist wissen¬
schaftlich wahr, weil sie in großer Annäherung ein Ansichseiendes in ein
Füruns verwandelt hat. Jene ist eine Verwirklichung der ästhetischen Prinzi¬
pien, weil die Art, wie sie die Wirklichkeit widerspiegelt, als Totalität der
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 679

künstlerischen Bestimmungen ein treues Abbild jener Totalität von Bestim¬


mungen gibt, die in diesem Fall für die Entwicklung des Menschengeschlechts
bedeutsam sind; weil diese Art der Widerspiegelung prinzipiell imstande ist,
eine solche Totalität in den Menschen zu evozieren. Während also die wis¬
senschaftliche Objektivität in der Unabhängigkeit des Ansichseins selbst vom
Bewußtsein begründet ist, läßt sich die ästhetische Objektivität auch begriff¬
lich nicht vom Menschen, von seinen Gedanken, Gefühlen etc. lostrennen.
Daß dabei nicht Meinung und Geschmack des Philisters X oder Y den Aus¬
schlag geben, daß diese Gebundenheit vielmehr als das Selbstbewußtsein der
Menschheit ihre Objektivität zur Geltung bringt, ist uns in allgemeinen Zü¬
gen bereits bekannt b
Darum hat das Wie des Ausdrucks im Ästhetischen eine qualitativ andere
Bedeutung als in der Wissenschaft. Niemand wird leugnen, daß auch hier die
Darlegung des Füruns klar oder verworren, elegant oder schwerfällig etc.
sein kann und daß sie dementsprechend das Durchdringen neuer Ideen be¬
schleunigen oder hemmen, verlangsamen kann. Es ist aber abwegig hier eine
Analogie zur Ästhetik zu erblicken, wie dies in der Gegenwart - diesmal als
Opposition zu einer gehaltlosen Gefühlsseligkeit - nicht selten der Fall ist.
Die Ästhetisierung von Wissenschaft und Philosophie in der Romantik oder
am Ende des 19. Jahrhunderts hat diametral entgegengesetzte Motive, geht
aber ähnlicherweise an dem eigentlichen Problem vorbei. Die heute herr¬
schende Meinung drückt Bertolt Brecht in seinem »Kleinen Organon für das
Theater« folgendermaßen aus: »Es könnte ja heute sogar eine Ästhetik der
exakten Wissenschaften geschrieben werden. Galilei schon spricht von der Ele¬
ganz bestimmter Formeln und dem Witz der Experimente. Einstein schreibt
dem Schönheitssinn eine entdeckerische Funktion zu, und der Atomphysiker
R. Oppenheimer preist die wissenschaftliche Haltung, die >ihre Schönheit
hat und der Stellung der Menschen auf Erden wohl angemessen scheint< 1 2.«
Eine solche Art des Analogisierens stiftet deshalb Verwirrungen, weil sie die
Inhalt-Form-Beziehung in der Ästhetik verzerrt. Denn denkt man sie kon¬
sequent zu Ende - was Brecht in seiner reifen künstlerischen Praxis glück¬
licherweise zumeist vermeidet -, so müßte eine Konzeption des künstleri¬
schen Gehalts entstehen, die diesen als dem Wesen nach unabhängig vom

1 Eine ausführliche Behandlung der sich hieraus ergebenden konkreten Probleme


kann erst im zweiten Teil dieses Werks stattfinden.
2 B. Brecht: Versuche Heft 12, Berlin 1953, S. 110.
6 8o Die eigene Welt der Kunstwerke

geformten Ausdruck faßt und damit die Funktion der Form zu etwas wirklich
Nützlichem, jedoch letzten Endes Sekundärem herabsetzt. Indessen ist es
evident - und auch Brechts Praxis geht im wesentlichen diesen Weg daß
der künstlerische Ausdruck vom ästhetischen Gehalt untrennbar ist. Selbst
dort, wo dieser tief gedanklicher Art ist wie in den philosophischen Gedich¬
ten Goethes oder Schillers, wie in der Malerei des späten Rembrandt usw.
können wir - im ästhetischen Sinn - keine derartige Trennung vollziehen.
Gerade jene Worte, gerade jene Verhältnisse von Licht und Dunkel machen
auch die gedankliche Tiefe solcher ästhetischen Gebilde aus. Die Änderung
einer Wortfolge, die Verschiebung einer Valeurnuance würde hier genügen,
um aus der Tiefe eine Trivialität zu machen. Während der Gehalt der Theo¬
rien Galileis oder Einsteins durch größere oder geringere Prägnanz ihrer For¬
mulierungen, durch Vereinfachung oder Komplizierung ihrer Ableitungen
nur dann gewinnt oder verliert, wenn hierdurch seine Annäherung an den
vom Bewußtsein unabhängigen, an sich seienden Tatbestand modifiziert
wird. Der Gehalt eines ästhetischen Gebildes - auch wenn er wesentlich
gedanklicher Art ist - besteht nicht nur in einer solchen Bezogenheit
auf das Ansich, obwohl natürlich diese ein wesentliches Moment seiner
Totalität bildet, sondern ist zugleich und untrennbar davon eine persönliche
Stellungnahme zu diesem Widerspiegelungskomplex. Die in ihr enthaltene
tragische Erschütterung, optimistische Gläubigkeit, ironische Kritik etc. hat
keine geringere Bedeutsamkeit als der Gedankengehalt selbst. Damit ist die
Objektivität nicht aufgehoben, sie erhält nur einen neuen Akzent: es
kommt darauf an, welches Gewicht der Gehalt und die Stellungnahme zu
ihm für die Entwicklung der Menschheit besitzt und wie beide zum Besitz
des Menschengeschlechts werden können.
Dadurch erwächst das Wirken zu einem objektiven und zentralen Wesens¬
zeichen des Werks; ja, unmittelbar und darum abstrahierend betrachtet, ist
es das spezifische Wesenszeichen seiner ästhetischen Existenz. Von hier aus er¬
gibt sich die Beschaffenheit und die Bedeutung dessen, was wir eben das Lei¬
ten genannt haben, nämlich die die Erlebnisse des Rezeptiven evokativ ord¬
nende, systematisierende Macht des Werks: seiner Komposition. Dieses Iden¬
tifizieren der Komposition mit der Fähigkeit zum Leiten der rezeptiven Er¬
lebnisse kann möglicherweise im ersten Augenblick als Überspitzung befrem¬
den. Ist doch die Komposition eines Dramas oder einer Symphonie ein ob¬
jektiver, in sich geschlossener, auf intensive Totalität Anspruch erhebender
Zusammenhang. Und es ist nicht zu bezweifeln, daß dieser Zusammenhang
objektiv existiert, d. h. unabhängig davon, ob ihn X oder Y wahrnimmt
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 681

oder anerkennt; daß ihm objektive, genau formulierbare Gesetze zugrunde


liegen, die ebenfalls unabhängig von der Meinung von X oder Y gelten. Be¬
trachtet man aber diesen Zusammenhang und seine Gesetzlichkeit etwas näher
und konkreter, so taucht von dieser Seite erneut das Problem auf, das wir so¬
eben als Verschiedenheit der Beziehung von Inhalt und Form in der wissen¬
schaftlichen und ästhetischen Widerspiegelung festgestellt haben. Es zeigt sich
sogleich, daß man Zusammenhang und Gesetzlichkeit in den Kunstwerken
ohne Bezugnahme auf die ästhetische Wirkung gar nicht eindeutig fassen
und vernünftig konkretisieren kann. Solche abstrakt - also unabhängig von
der evokativen Macht - formulierten oder angewendeten Gesetze können
nämlich vollständig erfüllt werden und das so entstehende Gebilde hat doch
nichts mit einer ästhetischen Setzung zu tun. Wie viele Dramen wurden ge¬
nau nach den - richtigen - Vorschriften des Aristoteles und anderer Klas¬
siker verfaßt, wie viele Musikwerke unter strengster und genauester Befol¬
gung der kodifizierten Theorie komponiert, ohne deshalb wirkliche Dramen
oder Symphonien zu ergeben. Dadurch entsteht aber nicht nur in der
künstlerischen Praxis ein seelenloser Akademismus, sondern es wird auch
theoretisch das richtige ästhetische Verhältnis von Form und Inhalt vernich¬
tet. Theodor Storm hat die Scheidung der Wege in dieser Frage in einem
Epigramm, das offenbar gegen Emanuel Geibel gerichtet ist, präzis formuliert:

Lyrische Form

Poeta laureatus:
Es sei die Form ein Goldgefäß,
In das man goldnen Inhalt gießt!
Ein anderer:
Die Form ist nichts als der Kontur,
Der den lebend’gen Leib beschließt.

Was hier das echt Ästhetische vom Surrogat unterscheidet, ist eben die evo-
kative Kraft: die Komposition nicht nur als korrektes und abstraktes Zu¬
sammenfügen vom Standpunkt der Menschheitsentwicklung gleichgültiger
Elemente, sondern als Erwecker von tiefen Emotionen, die - durch wesent¬
liche Beziehungen von Mensch und Gesellschaft, von Gesellschaft und Natur
vermittelt - auf den allerverschiedensten Wegen, in unendlich verschiede¬
nen Weisen das Zentrum des Menschseins aufrühren und erwecken.
Eine Komposition kann also nur dann im ästhetischen Sinne, d. h. nicht bloß

I
682 Die eigene Welt der Kunstwerke

abstrakt-formal zur Vollendung gedeihen, wenn ihr dieses Pathos der Evo¬
kation im Ganzen und in allen Details zu eigen ist. Darum gehört die Fähig¬
keit zum Leiten der rezeptiven Emotionen zum Wesen der künstlerischen
Komposition; sie ist nicht bloß eine einfache, wenn auch notwendige
Folgeerscheinung der kompositionellen Prämissen, sondern bestimmt die
Komposition - um einen modischen Ausdruck zu gebrauchen - ontologisch.
Natürlich wird das Gedanken- und Gefühlsleben des Menschen auch in der
Wirklichkeit ununterbrochen geleitet. Er lebt ja in -einer von seinem Bewußt¬
sein unabhängig existierenden Umwelt, die seine Gedanken und Gefühle
ohne Unterlaß wachruft und infolge ihrer Kontinuität auch leitet. Der ent¬
scheidende Unterschied zwischen Leben und Kunst besteht in dieser Hinsicht
darin: Erstens, die im Leben wirksame Kontinuität ist sowohl an sich wie
erst recht vom Standpunkt des individuellen Bewußtseins aus planlos, wäh¬
rend das Kunstwerk planvoll auf das Erwecken einer solchen Kontinuität
angelegt ist. Zweitens, daß der Mensch im Leben auf die einströmenden
Eindrücke - bei Strafe des Untergangs - aktiv zu reagieren gezwungen
ist, während er dem Kunstwerk als etwas Unveränderlichem gegenübersteht,
als einer Gegenstandswelt, zu der er sich nur aufnehmend verhalten kann und
soll. (Über das Problem der Suspension der Aktivität, der »Interesselosig¬
keit«, über die Bedeutung des künstlerischen Erlebnisses für sein eigenes
»Nachher« haben wir bereits gesprochen und werden auf diese Frage noch
einigemal zurückkommen.) Drittens - und dies ist für das jetzt zu Behan¬
delnde von großer Wichtigkeit - steht der Mensch des Alltags in einem Stru¬
del heterogener Tendenzen, während hier das homogene Medium des Kunst¬
werks (der Kunstart, der Kunst), das auf ihn einwirkt, seine Erlebnisse von
vornherein in eine bestimmte Richtung kanalisiert, ihnen ein bestimmtes Feld
der Aufmerksamkeit und des Sich-Auslebens zuweist. Er verwandelt sich
also vorübergehend aus einem ganzen Menschen des Alltags in den Men¬
schen ganz, dessen aktive und passive Fähigkeiten durch eine solche Konzen¬
tration, vermittelt durch das homogene Medium, durch das Einströmen aller
Erlebnisse in dieses Flußbett, durch ihre Umarbeitung darin schon von allem
Anfang an in eine bestimmte Richtung gelenkt werden.
Es ist zweifellos -ein Verdienst Nicolai Hartmanns, daß er in seiner »Ästhe¬
tik« dieser Frage einen breiten Raum gegönnt und in ihrer konkreten Be¬
schreibung auf wichtige Bestimmungen hingewiesen hat. So hebt er über
Musik hervor, daß im Hören notwendig eine Einheit entsteht, trotz des Aus¬
einandergezogenseins -der Töne in der Zeit: »Der Satz braucht Zeit, er zieht
an unserem Ohr vorüber, er hat seine Dauer; in jedem Augenblick ist dem
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 683

Hörenden nur ein Bruchstück präsent. Und dennoch wird er dem Hörer nicht
auseinandergerissen, sondern wird als Zusammenhang, als Ganzes erfaßt. So
wenigstens im echten >musikalischen< Hören: er wird ungeachtet seines
Auseinandergezogenseins in die Zeitstadien doch als ein Beisammensein auf¬
gefaßt — nicht zwar als ein zeitlich Simultanes, wohl aber als ein Zusammen¬
gehöriges, als Einheit. Diese Einheit ist zwar immer noch eine zeitliche, aber
kein Zugleichsein b« Und weiter: »Das Tonwerk zwingt den Hörenden
vorauszuhören und nachzuhören, in jedem Stadium des Hörens die Erwar¬
tung des Kommenden zu haben, den bestimmten, musikalisch geforderten
Fortgang zu antizipieren. Das gilt auch dort, wo der wirkliche Fortgang
des Tonstückes sich dann als ein anderer herausstellt. Denn die Lösung
der entstandenen Spannung kann immer auch eine andere sein als die
erwartete; und die Auswertung der unerwarteten (neuartigen) musikalischen
Möglichkeit ist hierbei gerade ein Wesenszeichen der Überraschung und Be¬
reicherung. Das ist in der Musik nicht anders als in der Dichtung (anderer
Fortgang der Handlung im Roman und im Drama) .. . Denn musikalisch
weist jede Phase über sich hinaus, und zwar vorwärts wie rückwärts1 2.«
Ähnlich über Architektur: »Das Ganze der Komposition ist von keinem
Punkte aus gegeben - wenigstens nicht sinnlich. Dennoch hat der Be¬
trachter ein intuitives Bewußtsein dieses Ganzen; und es wächst sich sehr
schnell und selbstverständlich aus, wenn man die verschiedenen Teilräume
des Bauwerks entlangwandert, oder wenn man in der Betrachtung des ein¬
heitlichen Innenraumes, resp. der äußeren Gestalt den Standort wechselt und
so die verschiedenen Durchblicke, Seiten und Teilformen nacheinander erfaßt
werden. Das Nacheinander ist hier zwar ein willkürliches, nicht ein Geführt¬
werden in objektiv gegebener Folge, wie bei der Musik; aber es bleibt doch
immer ein zeitliches sukzessives Sichablösen der einzelnen, ob auch sehr ver¬
schiedenen Bilder. Das ästhetische Schauen aber besteht darin, daß sich aus den
wechselnden, visuellen Aspekten ein Ganzes mit objektiver Gliederung heraus¬
hebt, eine gegenständlich einheitliche Komposition, die als solche nicht visuell
gegeben ist, und auch von keinem Punkte aus sichtbar wird, sondern erst in der
synthetisch arbeitenden Vorstellung auftritt und insofern >sinnlich irreab ist3.«
Hartmanns - trotz objektivistischer Bestrebungen doch letzten Endes von

1 N. Hartmann: Ästhetik, Berlin 1953, S. 117.


2 Ebd. S. 119.
3 Ebd. S. 125 f.
6 84 Die eigene Welt der Kunstwerke

Kant 'bestimmter - Idealismus verwirrt aber oft seine theoretisch zumeist


klug ausgelegten richtigen Beobachtungen. Vor allem deshalb, weil er weder
beim musikalischen Hören noch beim architektonischen Sehen eine sinnliche
Synthese der einzelnen unmittelbar sinnlichen Wahrnehmungen anerkennen
will. Damit verschiebt sich das ästhetische Problem in ein Außerhalb der
Kunst; so etwa wenn Hartmann in der Fortführung seines zweiten von uns
zitierten Ausspruchs schreibt, daß das Ganze des Bauwerks zwar »ontisch
real« ist, aber sinnlich nicht mit einem Blick sichtbar wird. Die letzte
Bemerkung ist zwar unmittelbar richtig, trotzdem ist aber die ästhetische
Einheit einer Architektur nicht ontischen, sondern visuellen Charakters. Die
Komposition besteht gerade darin, daß von verschiedenen Blickpunkten ver¬
schiedene, aber immerfort weitertreibende Aspekte des Ganzen für den sich
bewegenden Betrachter entstehen, die eben in ihren ununterbrochenen In¬
einanderübergehen, Aufeinanderhinweisen, Einanderüberschneiden etc. eine
sinnliche Synthese, ein sinnliches Erleben des Ganzen ermöglichen. Eine bloß
vorsrellungsmäßige Zusammenfassung kann zwar wichtige Ergänzungen
bringen, die sowohl zur Vorbereitung des unmittelbaren Sehens wie zur
nachträglichen erinnerungsmäßigen Zusammenfassung der Eindrücke wich¬
tig und nützlich sind; sie kann aber die entstehende sinnlich fundierte Syn¬
these, auch wenn sie immer nur eine annähernde ist, nicht ersetzen. Die Archi¬
tektur evoziert Raumerlebnisse, deren notwendiges Nacheinander eben in¬
folge ihrer ununterbrochenen Aufbewahrung in der Veränderung mehr ist
als ein bloßes Nacheinander von einzelnen selbständigen sinnlichen Raum¬
bildern. Hartmann unterschätzt den dialektischen Charakter der sinnlichen
Rezeptivität, ebenso wie — aus ganz anderen, fast entgegengesetzten, Mo¬
tiven - Edgar A. Poe, der die ästhetische Existenz von längeren Poemen leug¬
net: »Was wir ein langes Poem nennen, ist tatsächlich bloß eine Abfolge von
kurzen - d. h. von kurzen poetischen Effekten1.«
Darum hat Hartmann auch darin nur für die erste Unmittelbarkeit recht,
daß das Nacheinander willkürlich ist. Es ist richtig, daß in keiner räumlichen
Kunst die Abfolge durch die Form so eindeutig unaufhebbar gegeben sein
kann wie in Musik, Literatur, Tanz oder Kino, wo der zeitliche Ablauf selbst
ein konstitutives Moment der Komposition ist. Es ist auch richtig, daß das
Nacheinander des Mit-dem-Blick-Folgen in Malerei und Plastik vorgeschrie¬
bener ist, leitungsmäßiger scheint als in der Architektur. Es ist jedoch auch

1 E. A. Poe: Philosophy of Composition, a. a. O. V. S. 4.


Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 68j

hier für jedes Werk ein neu zu fundierendes Optimum da und ein solches
ist, freilich schwerer entdeckbar, auch für die Architektur vorhanden. Mögen
die einzelnen Aspekte bloße Aspekte sein, sie sind doch zugleich ihrem Wesen
nach Aspekte dieses besonderen Ganzen, und ihr Geradesosein hängt direkt
vom Geradesosein dieses Ganzen ab. Aber diese Gebundenheit an das be¬
sondere Ganze besteht nicht nur für die einzelnen Aspekte, sondern auch für
ihr Übergehen ineinander, für ihre Abfolge. Es ist in Wirklichkeit das je¬
weilige architektonische Gebilde, das hier die Funktion des Leitens, des Hin-
überwachsens in die allmählich entstehende Synthese, in die Apperzeption des
Ganzen vollzieht.
Das Geleitetwerden ist deshalb in einer für jede Kunstart (und innerhalb
ihres Bereichs für jedes Kunstwerk) verschiedenen Weise die einzige Mög¬
lichkeit für den Rezeptiven, das in der Komposition intentioneil Enthaltene
nachzuerleben, die Art also, in welcher die Komposition selbst aus Absicht zur
Wirklichkeit wird, sich zu offenbaren imstande ist. Da zeigt sich nun die for¬
male Funktion des homogenen Mediums, sein dialektisch-widerspruchsvoller
Charakter in voller Deutlichkeit. Flartmann hebt in seinen von uns zitierten
Ausführungen über Musik das Moment der Überraschung hervor. Mit Recht,
denn eine immer adäquat erfüllte Erwartung wäre inhaltlich leer, formal,
linear, könnte sich niemals zur Mehrdimensionalität einer gestalteten und
erlebbaren »Welt« erheben. Ja, man könnte sagen, daß jedes echte Kunst¬
werk die von ihm selbst hervorgerufenen Erwartungen stets zugleich erfüllt
und nicht erfüllt. Denn es handelt sich nicht bloß darum, wie Hartmann an¬
deutet, daß die gestaltete Lösung eine andere ist, als die erwartete. Schon
hier müßte ergänzend hinzugefügt werden, daß jede Art von Überraschung
inhaltlich wie formal sich innerhalb eines Spielraums bewegt, den das ho¬
mogene Medium des Werks (und der Kunstart) imperativ vorschreibt; frei¬
lich so, daß dieser vorgezeichnete Spielraum vielfache Möglichkeiten der
überraschenden Erfüllungen freigibt. Die Täuschung der Erwartung muß
also eine bestimmte Qualität besitzen, die sie, trotz ihres kontrastierenden
Wesens mit der geweckten Erwartung verbindet. Wenn sie als bloße, krude
Überraschung erlebt werden muß, wenn nicht - aposteriori - trotz ihrer
eventuellen Plötzlichkeit ein Gefühl des irgendwie doch Erwartethabens
evoziert wird, ist die Kontinuität der Leitung unterbrochen, die Einheit des
Werks gestört. Und andererseits ist auch die Erfüllung des geweckten Erwar¬
tens niemals ein einfaches Erfüllen des Erwarteten, sondern enthält in echten
Kunstwerken stets ein Moment des Unerwarteten, einer Übererfüllung der
Erwartungen. Das also, was wir früher in abstrakt-kategorieller Weise
686 Die eigene Welt der Kunstwerke

formuliert haben, daß jede Negation die spezifische, eigene Negation des eigens
Bestimmten sein muß, zeigt sich hier in einer weit konkreteren Form, obwohl
die Gegenüberstellung von Erwartung und Überraschung (Negation der Er¬
wartung) noch immer eine weitgehend abstrahierte Fassung der ästheti¬
schen Tatbestände ist. Wirklich konkret könnte diese Frage nur in einer
Genretheorie behandelt werden, wo gezeigt werden müßte, wie jene Stel¬
lung zur Welt, die das homogene Medium des betreffenden Genres hervor¬
bringt, den Spielraum, die Qualität, die Intensität, die Häufigkeit etc. der in
ihm möglichen Überraschungen konkret bestimmt. So viel zeigen jedoch auch
diese abstrakten Betrachtungen, daß die Spannung zwischen Erwartung und
Erfüllung von der Qualität des homogenen Mediums abhängt. Die indivi¬
duelle Eigenheit eines jeden echten Kunstwerks umschreibt diese Qualität
nicht nur genau, sondern gibt von allem Anfang an - in diesem Sinne gilt
die Kategorie der Intonation für alle Künste, vor allem für jene, die sich
zeitlich abwickeln - Spielraum und Qualität der Erfüllungen, Überraschun¬
gen etc. sinnfällig an und evoziert gewissermaßen eine Atmosphäre, die in
dieser Hinsicht unendlich viele, aber doch nur ganz bestimmte Möglichkeiten
zuläßt.
Scheinbar handelt es sich hier um rein formale Fragen. Jedoch ihre rein for¬
male Betrachtung würde uns wieder jenen Antinomien gegenüberstellen,
würde erneut jene Verzerrungen des ästhetischen Formbegriffs zustande brin¬
gen, denen wir bereits wiederholt begegnet sind. Es bedarf keines allzu ver¬
tieften Überdenkens dieser Probleme, um einzusehen, daß schon die eben be¬
handelten Fragen primär inhaltliche gewesen sind und daß erst durch deren
Lösung im Sinne der ästhetischen Prinzipien die künstlerische Formgebung
befruchtet werden konnte. Aber die Dialektik von Inhalt und Form greift
auch insofern tiefer, als nicht bloß der krude Stoff der erlebten Wirklichkeit
durch das homogene Medium vorerst in ein ästhetisches Halbfabrikat ver¬
wandelt wird, sondern eine solche Umarbeitung auch die allgemeinsten For¬
men ihrer Widerspiegelung, die Kategorien, betrifft. Bei der Behandlung ein¬
zelner Probleme sind wir bereits auf solche Umwandlungen gestoßen, und
in späteren Erörterungen werden wir uns noch sehr ausführlich mit einigen
von ihnen beschäftigen müssen. Die faktische Grundlage dafür haben wir
ebenfalls an ihrer Stelle behandelt: Alltag, Wissenschaft und Kunst wider¬
spiegeln dieselbe objektive Wirklichkeit; darum haben sie nicht nur den
Lebensstoff (je nach ihren Bedürfnissen, je nach Richtung und Grad der Auf¬
nahmefähigkeit) gemein, sondern auch die diese formenden Kategorien. Die
besonderen Aufgaben jedoch, die vor jedem dieser Gebiete (und vor ihren
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 6 8/

Teilgebieten) stehen, bringen es zwangsläufig mit sich, daß die objektiven


Verhältnisse zwar von denselben Kategorien geformt werden, diese jedoch in
den verschiedenen Sphären eine Veränderung ihrer Erscheinungsweise
— Gruppiertheit, Ausgeführt- oder Abgekürztsein, proportionelles Verhält¬
nis zu anderen Kategorien etc. — erleiden. Die Umformung, die das homo¬
gene Medium in der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit durch¬
setzt, muß sich also, sogar in sehr wesentlicher Weise, auch auf solche Kate¬
gorien beziehen. Dieser Akt ist naturgemäß zunächst wieder ein formaler.
Jedoch nur im unmittelbarsten, allgemeinsten Sinn. Denn seine Folgen für
die konkrete Ausbildung im homogenen Medium sind - ästhetisch ange¬
sehen — inhaltlichen Charakters: die spezifische Formung durch solche ge¬
wissermaßen umfunktionierten Kategorien läßt erst den künstlerischen In¬
halt entstehen, und dessen Formung bleibt eben die Aufgabe des künstleri¬
schen Formungsprozesses. Freilich muß dabei bedacht werden, daß diese
philosophisch dargestellte Genesis der Gegenständlichkeitsformen des ästheti¬
schen Inhalts infolge des Wesens der ästhetischen Setzung Art und Wirksam¬
keit der Formen aufs tiefste beeinflußt.
Dieser Funktionswechsel der Kategorien im Ästhetischen bei Fortbestehen des¬
sen, was ihrem Ansich in der objektiven Wirklichkeit entspricht, was sie all¬
gemein formal abbilden, ist eine der Zentralfragen der Erkenntnis dessen,
worin die Eigenart des Ästhetischen besteht. Trotzdem fehlt ihre Behandlung
so gut wie völlig in der Geschichte der Ästhetik. Zumeist verwechselt man
einfach die wissenschaftliche Widerspiegelung durch die Kategorien mit ihrem
objektiven Ansich oder - was ebenfalls häufig geschieht - man begnügt sich
damit, dem ästhetischen Gebiet bloß ein abstraktes Anderssein verglichen mit
der Begriffswelt der Wissenschaft zuzuschreiben: das Niveau der Anschauung
bei Hegel, das Denken in Bildern bei Belinskij. Wie in vielen anderen Fra¬
gen, ist auch hier Aristoteles der einzige, der dieses Problem klar erblickt hat.
Allerdings - soweit wir heute genau wissen können, denn seine ästhetischen
Schriften sind ja nicht vollständig erhalten - nur für den Unterschied von
Erkenntnis und Rhetorik;. Das ändert aber -nichts an der prinzipiellen Be¬
deutung seiner Position, denn bekanntlich hat die Antike die Rhetorik zu
den Künsten gezählt, so daß Aristoteles sich hier berechtigt fühlen konnte,
etwas über den Unterschied der Kategorien in der reinen Erkenntnis und im
Ästhetischen auszusagen. Und dies um so mehr, als er bei der Behandlung
des Übergangs der einzelnen Sinnsprüche in ihre Verbindung zu Enthyme-
men (so nennt er diese Erscheinungsform des Syllogismus), die spezifische
Eigenart der ersteren darin erblickt, daß sie »sich auf das Gebiet der mensch-
688 Die eigene Welt der Kunstwerke

liehen Handlungen und auf das beziehen, was wir beim Handeln zu wählen
und zu meiden haben 1«. Damit ist die Scheidungslinie in der Richtung auf
die anthropomorphisierende Wesensart der Kunst klar ausgesprochen. Aristo¬
teles trennt tatsächlich die beiden Gebiete von Apodeiktik und Rhetorik (die
Zwischenstelle, die bei ihm hier die Dialektik einnimmt, braucht uns nicht zu
beschäftigen) objektiv dadurch, daß die erstere mit dem Wahren, letztere mit
dem Wahrscheinlichen zu tun habe, subjektiv, daß die Rhetorik »das Wahr¬
scheinliche und Glaubhafte in Hinblick auf die Charaktere und Empfindungen
der Menschen ('/fit] und Ttcdb)) zum Gegenstand hat 2«. Aus alledem wird deut¬
lich sichtbar, daß Aristoteles die Trennungslinie dort zieht, wo im Gegen¬
satz zur 'desanthropomorphisierenden, rein auf objektive Wahrheit ausge¬
richteten Apodeiktik die Rhetorik mit den Charakteren und Gesinnungen
der Menschen zu tun hat und auf diese einzuwirken bestrebt ist. Uns ist da¬
bei klar, daß diese Beziehung in der Rhetorik weitaus direkter, unvermittel¬
ter ist, als in der Kunst selbst. Für die Antike schien diese letztere Differenz
viel geringfügiger zu sein, als für uns; nicht nur weil die Rhetorik als Kunst
galt, sondern weil die Beziehungen der Kunst selbst zur gesellschaftlichen
Praxis der Menschen viel unmittelbarer waren und gedacht wurden, als in
unseren Tagen. (Wenn die Zuspitzung in der letzteren Hinsicht die Fassung
der Rhetorik als Kunst erleichtert, so soll doch nicht vergessen werden, daß
diese Kunstauffassung auch in einer solchen Obertriebenheit ihrer gesell¬
schaftlichen Bezüge das Wesen der Kunst weitaus tiefer erfaßt als der mo¬
derne fetischisierte Individualismus.) Jedenfalls geht Aristoteles von zwei so
fundamentalen Denkformen wie Induktion und Syllogismus aus und wendet
diese Einsicht so auf die Rhetorik an: »Ich nenne aber Enthymem einen
rhetorischen Syllogismus, Beispiel eine rhetorische Induktion. Alle Redner
aber gewinnen ihre Uberzeugungsmittel dadurch, daß sie entweder Beispiele
oder Enthymeme beibringen, und man kann sagen, daß damit der Bereich
erschöpft ist 3.«

1 Aristoteles: Rhetorik, II. Buch, 22. Kapitel. Zitiert nach der Übersetzung von
A. Stahr. Es ist interessant zu bemerken, daß auch Goethe — ohne die Beziehung
zur Ästhetik besonders hervorzuheben — als Eigenart dieser Kategorie feststellt,
sie bestimme das Allgemeine als »was uns an viele Fälle erinnert und das zusam¬
menknüpft, was wir schon einzeln erkannten«. Maximen und Reflexionen, a. a. O.
XXXIX. ui. Goethe zielt also ebenfalls auf die evokativen Funktionen der hier
vollzogenen Synthese.
2 Prantl: a. a. O. Band I, S. 103.
3 Aristoteles: Rhetorik, I. Buch, Kapitel 2.
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 689

Für uns ist dabei vor allem wichtig, daß es sich um fundamentale Formen der
beiden Gebiete handelt, die bei ausdrücklicher Bewahrung ihrer gemeinsamen
Wurzeln im objektiven Sein — es ist nicht entscheidend, wieweit es sich bei
Aristoteles um zwei verschiedene Fälle der Widerspiegelung der Wirklichkeit
handelt — je nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen verschiedene Formen
aufnehmen. Und es ist besonders wichtig, daß die Transformation ins Ästhe¬
tische in beiden Fällen auf die Geeignetheit zur Evokation von Gefühlen,
Leidenschaften etc. gerichtet ist. Aristoteles gibt davon in seiner großartig¬
praktischen Matter-of-fact-Weise eine prägnante Beschreibung: »InEnthyme-
men darl man nämlich weder von einem fernliegenden Satze ausgehen, noch
alle Mittelglieder ausführlich beibnngen; denn das erstere führt zur Undeut¬
lichkeit, weil der auffassende Verstand einen zu langen Weg zu machen hat,
und das letztere wird Geschwätzigkeit, weil man Dinge sagt, die von selbst
einleuchten h« Beim Beispiel (Paradeigma) ist die direkte Beziehung auf das
Ästhetische noch einleuchtender. Aristoteles geht auch hier davon aus, daß
das Beispiel eine für die Rhetorik geschaffene Analogie zur Induktion ist. In
der konkreten Behandlung geht er aber sehr bald über die etwas analogisie-
rende Art des Beispiels im Leben hinaus und analysiert die Brauchbarkeit von
bereits ausgeprägt dichterischen Formen wie der Parabel oder der Fabel. Man
sieht also, daß sogar direkte dichterische Gattungen etwas der Induktion im
Erkenntnisprozeß ästhetisch Entsprechendes repräsentieren können. Es ist da¬
bei charakteristisch, daß das Paradeigma eine gewisse Rückbewegung auf idie
Analogie hin zeigt, indem es den langen Weg -der Induktion im Interesse -der
sinnfälligen Prägnanz abkürzt, ja statt ihres Weges, statt ihres Prozesses, der
in verschiedenen Einzelerscheinungen das gesetzlich Gemeinsame aussucht,
diese Gemeinsamkeit auf einen Fall reduziert und konzentriert. Es ist aber
doch viel mehr -als Analogie. In ihm soll -das Typische einer Erscheinung oder
Erscheinungsgruppe zusammengefaßt werden, das durch seine unmittelbare
Form - direkt oder abschattend oder kontrastierend - das Typische ihrer
selbst oder einer anderen Gestalt evokativ einleuchtend machen soll.
Ebenso erhellt die früher angeführte Aristotelische Darlegung der Wirksam¬
keit des Enthymems, das Weglassen der logischen Vermittlungen aus dem
Schluß, das Hinzielen auf eine lakonische Gedrungenheit, -daß es auch hier
darauf ankommt, das Typische -einer Lage, eines Falles, -einer Beziehung etc.
mit einem Schlage, mit unmittelbarer Evidenz, also -evokativ zusa-mmenzu-

1 Ebd. II. Buch, Kapitel 22.


690 Die eigene Welt der Kunstwerke

fassen. Die pseudoästhetische Wesensart des Rhetorischen, in die sich Aristo¬


teles wie in alle Formen oder 'Gegenstandsgeibiete, die er jeweils behandelt,
energisch einarbeitet und die er bei aller Kritik stets von innen betrachtet,
hindert ihn daran, aus dieser schon in der Rhetorik leise sichtbaren Wen¬
dung vom diskursiv Auseinandergelegten, die Gesetzlichkeit Suchenden zum
unmittelbar erscheinenden Typischen alle Konsequenzen zu ziehen. Dieser
Vorbehalt, der die Absichten von Aristoteles gar nicht trifft, da er in diesem
Werk nicht unnötig über das Rhetorische hinausging, war nur notwendig,
um die Berechtigung unserer Erweiterung seiner Analyse zu erhärten. Denn
in der Rhetorik sind Paradeigma und Enthymem nur Mittel, wenn auch ent¬
scheidend wichtige, um bestimmte konkrete Ziele mittels der Rede zu er¬
reichen. Sie können sich deshalb hier noch nicht bis zu den letzten Möglich¬
keiten ihres immanenten Kerns entfalten. Das ist nur in der Dichtung mög¬
lich, wo sie, wie wir später in anderen Zusammenhängen sehen werden, für
sich stehen, nicht im Interesse eines ihrer Beschaffenheit fremden Zieles aus¬
genützt und deshalb zum Ausleben ihres eigenen Wesens befähigt und ge¬
nötigt werden. Diese zentral ästhetische Eigenart ist nun, wie gezeigt wurde,
der Drang zum unmittelbar evident Typischen. Dieser Drang führt im Ästhe¬
tischen nicht nur zur adäquaten Vollendung eines jeden einzelnen Paradeig-
mas oder Enthymems, sondern zu Kettenverbindungen, Kettenwirkungen, in
denen das eine das andere fördert und steigert. Das kann unter Umständen
in der Form scharfer Kontraste geschehen, aber wir wissen bereits, daß auch
Kontraste zu tragenden Momenten einer einheitlichen elementaren Bewe¬
gung werden können, wenn diese Bewegung von vorneherein auf ein solches
wechselseitiges Sich-Aufeinanderstützen angelegt ist, wenn sie sich in einem
homogenen Medium abspielt oder besser gesagt: wenn diese Bewegung das
homogene Medium konstituiert.
Wir werden in einem späteren Kapitel ausführlich über die notwendige Kon¬
vergenz des Typischen mit der Transformation der Kategorien in der ästheti¬
schen Widerspiegelung sprechen und dabei - um das Wesentliche in einem
Wort vorwegzunehmen - auf die Konvergenz der ästhetischen Zentral¬
kategorie der Besonderheit mit der ästhetischen Fassung des Typischen detail¬
liert eingehen. Hier müssen wir uns damit begnügen, ein einziges entscheiden¬
des Moment dieses Komplexes zu betonen, ohne noch die Wichtigkeit der
Kategorie der Besonderheit aufzeigen zu können. Es handelt sich dabei um die
Pluralität des Typischen in der Kunst, wobei - der Grundstruktur der ästheti¬
schen Sphäre entsprechend - jedes Werk in bezug auf dieses Problem den plu¬
ralistischen Charakter des ganzen Gebiets spontan reproduziert. Der Pluralis-
Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 691

mus des Typischen ist eine Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit, eine
Art dieses Ausdrucks, die das Ästhetische dem Wissenschaftlichen scharf
gegeniiberstellt. Lenin, der in dem Herausarbeiten des Widerspiegelungs¬
charakters der Kategorien die bis jetzt radikalsten Vorstöße gemacht hat,
und — um ein sehr bezeichnendes Beispiel anzuführen - die Hegelsche
Ahnung vom objektiven Charakter des Syllogismus in die Feststellung, daß
dieser eine Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, 'weitergebildet hat, betont
auch den hier behandelten Unterschied des Typischen in Wissenschaft und
Kunst rmt großer Klarheit und Energie. So hebt er während des ersten
imperialistischen Weltkriegs in einem Brief an Sinowjew den Gedanken
hervor, daß es in jeder Phänomengruppe für die Wissenschaft nur eine typi¬
sche Erscheinung geben kann. Er spricht von den falschen Anschauungen vie¬
ler seiner damaligen Mitstreiter, daß in der imperialistischen Periode natio¬
nale Kriege unmöglich seien, und fügt hinzu: »Das ist ein offenbarer Irrtum,
und zwar ein historischer, politischer und logischer Irrtum (denn eine Periode
ist die Summe verschiedener Erscheinungen, in welcher außer dem Typischen
sich immer auch anderes vorfindet) b« Dieses Fixieren der Dualität des
einen Typischen neben der Menge des Atypischen in der Empirie bezeichnet
klar die richtige Auffassung der Wissenschaft. So hat schon Hegel betont:
»Es gibt nur einen Typus des Tieres, und alles Verschiedene ist nur Modifika¬
tion desselben1 2.« Und selbst, wo die Materie eine gewisse, beschränkte
Anzahl von Typen für die Wissenschaft vorschreibt (Typen von Tempera¬
menten, von Krankheiten etc.), bleibt der von Lenin eben formulierte
Gegensatz von typischen und atypischen Erscheinungen für die Wissenschaft
bestehen.
Ganz anders in der Kunst! Wo in ihr diese Auffassung der Menschen und
ihrer Verhaltensweise gestalterisch zum Ausdruck kommt, haben wir es im
besten Fall mit einem tendenziösen Naturalismus zu tun, zumeist jedoch mit
einer einfachen Kolportage, in der - je nach sozialem Standort - die eige¬
nen guten Eigenschaften als typisch, die schlechten als atypisch dargestellt
werden; und beim Gegner soll alles umgekehrt sein. In der echten Kunst hat
dagegen alles, was in der Gestaltung Platz bekommt, einen mehr oder weni¬
ger typisierenden Charakter. Was also wissenschaftlich nicht als typisch be-

1 Lenin: Brief an Sinowjew, August 1916, Wk. Vierte Ausgabe, Band XXXV, S. 209
(ungarische Ausgabe).
2 Hegel: Enzyklopädie § 370 Zusatz.
692 Die eigene Welt der Kunstwerke

trachtet werden kann, erscheint in der Kunst als typisch. Darin steht die Kunst
dem Alltagsleben näher als der Wissenschaft, denn dessen Praxis schreibt den
Menschen in ihrem Verkehr miteinander auch die Notwendigkeit einer unun¬
terbrochenen Typisierung vor. Nur wird diese zumeist subsumtiv vollzogen
und hat deshalb zumeist einen schematischen, die individuelle Eigenart verge¬
waltigenden Charakter. Falsche Tendenzen in der Auffassung des künstlerisch
Typischen stützen sich deshalb sehr oft auf diese entgegengesetzten, aber
gleich kunstfeindlichen Tendenzen, die der Kunst als direkt angewandte wis¬
senschaftliche Prinzipien oder als der Alltagspraxis entsprechende Anschau¬
ungen aufgezwungen werden. Lenin enthielt sich, im strikten Gegensatz zu
vielen seiner angeblichen Schüler, von solchen unbefugten Vermischungen he¬
terogener Gebiete. Es ist z. B. interessant zu lesen, daß er im ersten Weltkrieg
eine gründliche Diskussion mit der nahe befreundeten Inessa Armand über
eine von dieser geplanten Broschüre führte, die die sexuelle Frage behandeln
sollte. Er bestand leidenschaftlich darauf, daß die Schrift sich auf das klas¬
senmäßig Typische konzentrieren solle. Und als seine Diskussionspartnerin um
jeden Preis den Kontrast der schmutzigen Küsse in vielen Ehen zu den reinen
in manchem flüchtigen Verhältnis in den Mittelpunkt rücken wollte, schlug
er ihr vor, einen Roman zu schreiben. »Denn«, so führt er aus, »darin ist die
Essenz des ganzen Falles die individuelle Lage, die Analyse des Charakters
und das Herausheben der betreffenden Typen 1.« Darin ist eine klare An¬
erkennung der ästhetischen Typisierung im Gegensatz zur wissenschaftlichen
enthalten.
Formal hängt all dies mit der evokativen Wesensart der künstlerischen
Komposition zusammen. Denn der reine Einzelfall bleibt in Hinsicht auf jede
sinnfällig unmittelbare Mitteilung stumm. Ein Echo des Gestalteten kann im
Rezeptiven nur erweckt werden, wenn ein Appell an die Welt seiner eigenen
Vorstellungen, Gefühle, Erfahrungen etc. erfolgt, mag dieser noch so weit
vermittelt sein, mag er diesen Kreis noch so sehr erweitern, die Intensität der
subjektiven Momente unermeßlich vertiefen. Schon dieser formale Wille zur
Wirkung - dessen Richtung und Inhalt je nach Kunstart verschieden ist -
drängt auf eine Gestaltung, die vom Prinzip des Typischen beherrscht wird.
Natürlich sind diese Typen — und darin kommt die Priorität des Inhalt¬
lichen zur Geltung - untereinander in der Art und im Grad, in der Qualität
und Intensität ihrer Typik außerordentlich verschieden. Jedoch, mag eine

1 Lenin: Brief an Inessa Armand, 1916, a. a. O. S. 162.


Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 693

noch so groteske oder sonderlingshafte Gestalt in der Kunst auftreten, ihr


Sonderlingstum wird stets ins Typische erhoben, indem evokativ das Erlebnis
erweckt wird, daß sie bestimmte Tendenzen im Zusammenleben der Men¬
schen auf einer bestimmten Stufe repräsentiert. Erst dadurch kann sie - im
künstlerischen Sinne — verstanden werden, und erst ein so gewecktes Ver¬
ständnis macht sie nacherlebbar. Indem auf diese Weise in jedem Kunstwerk,
das mehrere Gestalten miteinander verknüpft, eine Hierarchie der Typen ent¬
steht, aus welcher ihr Rang, ihre Bedeutung, das Bejahens- oder Verneinens-
werte ihrer Existenz unmittelbar evident werden, gibt die Kunst ein umfas¬
sendes Bild von der Welt des Menschen, stellt eine Welt der Menschen dar,
die einerseits reicher an erfaßbaren Bestimmungen des Menschenlebens ist als
die im Alltag vom Alltagsmenschen wahrgenommene, andererseits zugleich
klarer, geordneter, übersichtlicher. Reichtum und Ordnung sind inhaltliche
Bestimmungen, die von der ins Werk einströmenden Weltanschauung des
Künstlers bedingt sind, sie können aber nur durch das homogene Medium,
gewissermaßen auf einen Nenner, auf eine gemeinsame Qualität gebracht,
untereinander eine derartige wohlaufgebaute Hierarchie bilden. Die allge¬
meinen Prinzipien dieser Umwandlung haben wir bereits an der Hand von
Leo Poppers Brueghel-Analyse aufgezeigt. Wenn wir jetzt auf Shakespeares
»Hamlet« hinweisen und an die wechselseitige, oft durch starke Kontraste
hervorgebrachte Abgestimmtheit von Hamlet, Horatio, Fortinbras und Laer-
tes denken, so haben wir eine solche Synthese von Ordnung und Reichtum
vor uns, die formal vom homogenen Medium, inhaltlich von der Pluralität
und Universalität des Typischen bestimmt ist; selbstredend auf der Grund¬
lage jenes Werkpluralismus, der ein entscheidendes Wesenszeichen des ästhe¬
tischen Setzens bildet.
Soweit wir uns scheinbar von den tiefen und weitreichenden Anregungen
des Aristoteles entfernt haben, handelt es sich stets um sein Problem: um
die Transformation der Gegenständlichkeit der Kategorien der objektiven
Wirklichkeit zu einem System von Evokationen, worin der ausschlaggebende
Gehalt der Objektivität bewahrt bleibt, jedoch in einer Form, die ununter¬
brochen und unmittelbar auf den Menschen bezogen ist, die ihm die Wirklich¬
keit als seine Welt widerspiegelt. Alle Freude, die an der Kunst empfunden
wird, hat letzten Endes darin ihre Wurzeln, daß in ihr eben diese dem Men¬
schen zugehörige, dem Menschen angemessene Welt erlebt wird. Das hat
- objektiv angesehen - nichts mit einer direkten Freude an dem dargebotenen
Inhalt zu tun. Wo die Kunst sich eine solche Aufgabe, gewollt oder not¬
gedrungen, stellt, ist sie - sehr spezifische Ausnahmefälle abgerechnet - als
694 Die eigene Welt der Kunstwerke

Kunst verloren: einerlei ob der Inhalt diesen Forderungen gemäß gesiebt oder
ein beliebiger Inhalt an sie angeglichen wird. Schon Aristoteles1 hat anderswo
ausgesprochen, daß die künstlerische Freude an einem Gegenstand, sein freu¬
diges Erleben in der Rezeptivität nichts mit der Frage zu tun hat, ob wir
seine konkrete Verwirklichung (Mensch, Situation, Begebenheit, etc.) im
Leben als Realität bejahen würden. Gerade daß der Mensch das, was er im
Leben ablehnt, wovor er flieht, wogegen er Abscheu oder wovor er Angst
empfindet etc. in der künstlerischen Gestaltung widerstandslos, ja begeistert
aufnimmt, macht das Wesentliche der ästhetischen Gebilde und ihrer Wir¬
kung aus. Die von Aristoteles erkannte Umwandlung der Kategorien ist die
tiefste Ursache der Fähigkeit der Werke, den Rezeptiven zu leiten. Sie führen
ihn in eine Welt ein, sie lassen ihn sich in dieser scheinbar frei bewegen, ob¬
wohl jeder Schritt seiner Erlebnisse vom homogenen Medium des Werks ge¬
lenkt wird. Die Angemessenheit des gestalteten Inhalts an die Form erscheint
ihm dann als die Angemessenheit der Werkwelt an sich selbst, an die Forde¬
rungen, die der Mensch unwillkürlich und ununterbrochen seiner Umwelt
gegenüber erhebt. Daraus entsteht die Freude, eine solche Welt (auch eine
tragische) miterleben zu können.
Die tiefste Problematik der Kunst bestimmter Perioden, darunter der unsri-
gen, besteht darin, daß weder die Künstler in der Welt etwas finden können,
dessen ästhetische Widerspiegelung diese Freude an der Angemessenheit,
diese Behaglichkeit des Miterlebenkönnens ausstrahlt, noch die Rezep¬
tiven die Bereitschaft besitzen, sich solchen Erlebnismöglichkeiten freudig
hinzugeben. Da nun diese Problematik heute von sehr vielen als seelisch-
weltanschauliche Basis einer radikal neuen ästhetischen Anschauung verherr¬
licht wird, da auf diese Weise aus der gesellschaftlichen Not der Kunst eine
neue ästhetische Tugend gemacht werden soll, ist es vielleicht nicht ohne Nut¬
zen, eine selbstkritische Anmerkung des gerade als solcher Neuerer gefeierten
Robert Musil anzuführen, in welcher dieser immer ehrliche Schriftsteller,
der sich möglichst wenig vormachte, die hier angedeutete Problematik als das,
was sie ist, als künstlerisches Versagen der »modernen« Kunstmittel bezeich-
nete. In seinem Tagebuch steht: »ZurTechnik: Etwas, was ältere Romanschrei¬
ber gut konnten, haben wir heute fast ganz verlernt: Spannen! Wir fesseln
nur unsere Hörer. Das heißt, wir suchen geistreich zu schreiben und lang¬
weilige Stellen zu vermeiden. Wir ziehen auf allen Wegen den Hörer mit.

1 Aristoteles: Poetik, Kapitel IV.


Homogenes Medium und Pluralismus der ästhetischen Sphäre 695

Spannen heißt aber den Hörer das Kommende erwarten machen. Ihn mit¬
denken lassen, ihn auf dem gezeigten Wege allein gehen lassen. Ein gewisses
Gefühl der Behaglichkeit, mit dabeizusein. Der humoristische Roman lebt
von diesen Gefühlen. Man deutet eine kommende Situation an, und der Ge¬
danke entsteht: was wird denn unser guter X jetzt wieder machen? Es er¬
fordert viel Kleinmalerei in den Typen. Aber so antiquiert es aussieht, so ist
es doch ein Stüde künstlerischer Wirkung im Gegensatz zu den Wirkungen
des Philosophen und Essayisten 1.« Es ist vom Standpunkt des hier Aus¬
geführten lehrreich, daß Musil den Zusammenhang zwischen dem richtigen
Leiten der Rezeptivität und dem in dessen Folge entstandenen Erlebnis der
»Behaglichkeit« klar sieht und zugleich in den zeitgemäßen Methoden ein
Herausfallen aus dem Ästhetischen in die Wirkungen des Essayistischen er¬
blickt. Auf die tieferen Gründe dieser Problematik, die von der Seite der
Widerspiegelung her ebenfalls mit Kategorienproblemen Zusammenhängen,
können wir erst im letzten Kapitel dieses Teiles näher eingehen. Es handelt
sich dabei um die Wirkung, die - aus gesellschaftlichen Gründen - der stei¬
gende Ausbau des desanthropomorphisierenden Wesens der wissenschaftlichen
Widerspiegelung auf die Kunstanschauung ausübt. Am Anfang des vorigen
Jahrhunderts hat sich Goethe, haben sich, in ihrer Weise, die Romantiker
gegen die Anfänge solcher Tendenzen gewehrt. In Gegenwart und jüngster
Vergangenheit spielt sich eine Kapitulation vieler Künstler und Kunstrichtun¬
gen in dieser Frage ab, ein Aufgeben der Eigenart und Selbständigkeit der
ästhetischen Widerspiegelung um des Phantoms der zeitgemäßen Wissen¬
schaftlichkeit willen.

1 R. Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, Hamburg 1953, S. 71.


696

Neuntes Kapitel

Probleme der Mimesis V


Die defetischisierende Mission der Kunst

Marx hat im »Kapital« den Prozeß des aus notwendigen gesellschaftlichen


Entwicklungstendenzen und aus von ihnen hervorgebrachten gesellschaft¬
lichen Strukturen entstehenden Warenfetischismus exakt dargestellt: »Das
Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Men¬
schen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständ¬
liche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigen¬
schaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Ver¬
hältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes
gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies quid pro quo
werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaft¬
liche Dinge ... Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Men¬
schen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhält¬
nisses von Dingen annimmt1.« Das für unsere Zwecke Entscheidende ist
dabei, daß die defetischisierende Erkenntnis etwas dem unmittelbaren An¬
schein nach Dinghaftes in das rückverwandelt, was es an sich ist: in eine
Beziehung zwischen den Menschen. Die hier vollzogene, den wahren Tat¬
bestand in seine Rechte zurückführende Bewegung ist also eine doppelte:
erstens ist sie die Entlarvung eines irreführenden Scheines, der, obwohl er
gesellschaftlich notwendig entstanden ist — hier infolge einer hochentwickel¬
ten Ökonomie, in anderen Fällen infolge einer Rückständigkeit doch das
wahre Wesen der Wirklichkeit entstellt. Zweitens ist diese Richtigstellung zu¬
gleich die Rettung der Rolle des Menschen in der Geschichte. Der Schein hat
die Bedeutung des Menschen herabgesetzt: »Ihre eigene gesellschaftliche Be¬
wegung besitzt für sie die Form der Bewegung von Sachen, unter deren Kon¬
trolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren 2.« Die Wahrheit verwandelt die
scheinbar existierenden und herrschenden Dinge in Beziehungen der Menschen

1 Marx: Kapital, a. a. O. S. 38 f.
2 Ebd. S. 41.
Die defetischisierende Mission der Kunst 697

zueinander, die sie - in bestimmten Fällen - zu kontrollieren und zu be¬


herrschen imstande sein können; jedoch auch wenn das nicht möglidi ist, er¬
scheint ein scheinbar aus der Natur der Dinge folgendes »Schicksal« als Pro¬
dukt der Menschheitentwicklung selbst, also von diesem Standpunkt als
das selbsthervorgebrachte Sdricksal der Menschen. Für die wissenschaftliche
Erkenntnis sind beide Momente dieser Gedankenbewegung in der Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit gleich widitig; wenn eines als allgemeines und
fundamentales eine Suprematie beanspruchen könnte, so wäre es das
erste.
Für die Kunst entsteht eine etwas veränderte Lage. Das erste Moment be¬
hält zwar seinen fundamentalen Charakter, denn ohne eine gewisse Einsicht
in diesen grundlegenden Tatbestand würden alle Folgerungen in der Luft
schweben. Die ausschlaggebende Bedeutung erhält jedodi in der ästhetischen
V iderspiegelung das zweite Moment. Denn das Zentrum ihrer reproduzieren¬
den Bewegung in der Widerspiegelung der Wirklichkeit bildet stets das Er¬
fassen des Menschen, des Menschheitlichen, die Vindikation der Rechte des
Menschen in der Gesellschaft wie in der Natur. Diese Bewegung kann sich
auf das bloße Abbilden der Wirklichkeit beschränken; doch auch in diesem
Fall wird das Was und das Wie der Abbildung eine Stellungnahme in dieser
Richtung erhalten; natürlich kann diese Stellungnahme in ein offenes Partei¬
nehmen Umschlagen und tut es sehr oft, gerade in den hervorragendsten
Kunstwerken. M. Arnold hat also ganz recht, wenn er sagt, daß die Poesie im
Grunde eine »Kritik des Lebens« istL Diese Kritik hat je nach Kunstart,
Periode, Nation und Klasse verschiedene Inhalte und verschiedene Aus¬
drucksweisen. V enn man aber das Allgemeinste daran zusammenfassen will,
so kommt man zu der eben genannten Rückforderung der Rechte des Men¬
schen. Von diesem Standpunkt hat die Marxsche Entdeckung eine ungeheure
Bedeutung für die Theorie der Kunst. Fast jeder bedeutende Künstler des
19. und 20. Jahrhunderts hat sich irgendwie mit diesem Problem herumge¬
schlagen; allerdings - was wieder für das Verhältnis von Theorie und Kunst
bezeichnend ist - fast immer ohne die erste Entlarvungstendenz von Marx
auch nur zu kennen und die zweite vorwiegend spontan in ihren menschlichen
Folgen ergreifend. Daran ist nichts Überraschendes; die Kunst folgt hier ein¬
fach dem normalen Gang des Lebens. Marx sagt ja sogar über die wissen¬
schaftliche Erkenntnis dieses Phänomens: »Das Nachdenken über die Formen

1 M. Arnold: Essays in Criticism, London 1905, Band II, S. 143.


698 Die dejetiscbisierende Mission der Kunst

des menschlichen Lebens, also auch ihre wissenschaftliche Analyse, schlägt


überhaupt einen der wirklichen Entwicklung entgegengesetzten Weg ein. Es
beginnt post festum und daher mit den fertigen Resultaten des Entwick¬
lungsprozesses 1.«
Balzac und (in bezug auf bestimmte Lebensgebiete) Tolstoi gehören zu den
wenigen, bei denen diese Tendenz ihr ganzes Werk durchdringt. Der Kampf
für die Integrität des Menschen, gegen jeden Schein und jede Erscheinungs¬
weise seiner Deformation bildet — wie freilich auch bei anderen bedeutenden
Künstlern - den wesentlichen Inhalt ihrer Werke. Erst wenn, wie in nicht
unwichtigen Teilen der spätbürgerlichen Kunst der imperialistischen Periode,
eine Kapitulation vor dem Fetischismus entsteht, muß die Kunst auf ihren
Hauptgehalt, auf diesen Kampf um die Integrität des Menschen, auf die
Kritik des Lebens von diesem Standpunkt verzichten. Die Stellungnahme
zum Fetischismus - einerlei ob dieser als solcher erkannt wird - wird zur
Wasserscheide zwischen progressiver und reaktionärer Kunstpraxis. Es ist
charakteristisch, daß T. S. Eliot über die eben angeführte Bestimmung der
Poesie von Arnold folgendes sagt: »Wenn wir das Leben als Ganzes
meinen... von oben bis unten, kann etwas, was wir darüber, über dieses
schreckliche Mysterium letzthin zu sagen imstande sind, noch Kritik genannt
werden2?« Das zentrale Problem dieser Kapitulation besteht darin, daß
sie bei der Unmittelbarkeit der fetischisierten Lebensformen stehenbleibt und,
selbst wenn deren Unmenschlichkeit völlig evident wird, sich nicht auf das
Wesen zu bewegt, um die wahren Zusammenhänge aufzudecken, sondern die
fetischisierte Oberfläche als letzte Wahrheit widerstandslos hinnimmt. Die
subjektiven Reaktionsformen dieses Verhaltens können außerordentlich ver¬
schieden sein; doch ob sich darin Nihilismus, Zynismus, Verzweiflung, Angst,
Mystifikation, Selbstzufriedenheit etc. ausdrücken, hat für die hier entschei¬
dende Frage nur sekundäre Bedeutung. Es kommt darauf an, ob im gegebenen
Fall die Bewegungsrichtung in den Widerspiegelungsversuchen der Wirklich¬
keit eine defetischisierende oder das Fetischhafte in der Gesellschaft pseudo¬
künstlerisch verewigende ist 3.

1 Marx: Kapital, Band I, a. a. O. S. 42.


2 T. S. Eliot: The Use of Poetry, a. a. O. S. in.
Vgl. über den hier entstehenden Doppelsinn der Unmittelbarkeit meinen Brief¬
wechsel mit Anna Seghers in: Probleme des Realismus, a. a. O. S. 250 ff., sowie die
beiden ersten Kapitel meines Buches: Wider den mißverstandenen Realismus,
Hamburg 1958.
Die defetiscbisierende Mission der Kunst
6 99

Schon diese Anwendbarkeit .auf die ästhetische Widerspiegelung zeigt, daß


die Marxsche Erkenntnis der Fetischisierung universale Bedeutung hat. Er
hat die Universalität des Warenfetischismus auch für alle Erscheinungs¬
formen der kapitalistischen Gesellschaft ausführlich dargelegt. Auf diese
umfassende Anwendung des Fetischgedankens brauchen wir hier nicht
näher einzugehen; auch darauf nicht, daß Marx das gesellschaftlich-geschicht¬
liche Geltungsgebiet des Warenfetischismus scharf umgrenzt und z. B. den
nicht fetischisierten Charakter der feudalen Ausbeutung in dieser Flinsicht
klar aufzeigt. Trotzdem wäre es - vor allem vom Standpunkt unserer
Untersuchungen aus — falsch, das allgemeine Phänomen der Fetischisierung
auf die Ökonomie des kapitalistischen Warenverkehrs zu beschränken. Ob¬
wohl Marx im »Kapital« nur diese Frage, freilich in ihrer Universalität, be¬
handelt, gibt er unmißverständliche Andeutungen darüber, daß es sich um eine
Eigentümlichkeit der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit han¬
delt, deren prägnant ökonomisches und ideologisches Auftreten im Kapita¬
lismus ihrer Wirksamkeit in der gesamten Menschheitsgeschichte nicht Ab¬
bruch tut. Es ist von diesem Standpunkt aus sehr interessant, daß Marx
gerade im Fetischismuskapitel auf die Verwandtschaft einer derartigen Ver¬
zerrung der Wirklichkeit mit den religiösen Vorstellungen zu sprechen
kommt. Nach der Feststellung des Zusammenhangs ihrer primitiven Stufen
mit einer Bedingtheit »durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktiv¬
kräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen
innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und
zur Natur 1«, gibt er eine Analyse der Gesamtheit dieser Verhaltensweisen
und der gesellschaftlichen Voraussetzungen ihres Absterbens. In diesem Fall
werden also primitive (vorkapitalistische) und entwickelt-kapitalistische Ideo¬
logien von einem bestimmten, im Wesen der Sache begründeten Standpunkt
als bei aller Verschiedenheit zusammengehörige Phänomene in eine einheit¬
liche Synthesis des historischen Entstehens und Vergehens erhoben.
Wir meinen deshalb, im Sinne der Marxschen Methode vorzugehen, wenn
wir im Folgenden ähnliche Synthesen in bezug auf wichtige Kategorien¬
komplexe der Weltauffassung der Menschen als Probleme ihrer Fetischisie¬
rung und Entfetischisierung erarbeiten und dabei vor allem auf die spon¬
tane, selten bewußte Tendenz der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklich¬
keit hinweisen: Fetische oder Fetischkomplexe, die im Laufe der Mensch-

1 Marx: Kapital Band I, a. a. O. S. 46.


700
Die defetischisierende Mission der Kunst

heitsentwicklung auftauchen und sowohl in der Praxis des Alltags wie in


Wissenschaft und Philosophie wirksam werden, aufzulösen, den wirk¬
lichen Gegenstandsbeziehungen die ihnen geziemende Stelle im Weltbild
der Menschen zurückzugeben und dadurch die infolge solcher Verzerrun¬
gen herabgedrückte Bedeutung des Menschen weltanschaulich wiederherzu¬
stellen. Dadurch entsteht für diese Betrachtung ein breiterer Begriff der Feti¬
schisierung: sie bedeutet, daß - aus gesellschaftlich-geschichtlich jeweils ver¬
schiedenen Gründen — in den allgemeinen Vorstellungen selbständig gewor¬
dene Gegenständlichkeiten gesetzt werden, die weder an sich, noch in bezug
auf die Menschen wirklich solche sind. Natürlich haben wir es hier nicht mit
diesem Komplex als ganzem zu tun; das würde ja große Teile der Geschichte
von Wissenschaft, Philosophie, Alltagsdenken umfassen und würde dadurch
den Rahmen dieser Untersuchungen sprengen. Wir stellen uns hier eine weit¬
aus bescheidenere Aufgabe: wir werden zu zeigen versuchen, daß der echten
Kunst ihrem Wesen nach eine defetischisierende Tendenz - im oben angegebe¬
nen Sinn - innewohnt, auf die sie bei Strafe der Selbstauflösung nicht verzich¬
ten darf. Es kann dabei nur auf die Demonstration dieser Haupttendenz an¬
kommen, so daß es ausreicht, wenn das Faktum und die Wirkungsart ihrer
ästhetischen Geltung an einigen wesentlichen Komplexen, die die Beziehungen
des Menschen zu seiner Umwelt entscheidend bestimmen, aufgezeigt werden.

I Die natürliche Umwelt des Menschen (Raum und Zeit)

Die Kunst stellt also die »natürliche« Umwelt des Menschen in ihren »na¬
türlichen« Beziehungen zu ihm dar. Das Wort natürlich mußte hier in An¬
führungszeichen gesetzt werden, denn es ist klar, daß diese Funktion der
Kunst sie in Konflikte mit den Gewohnheiten, Vorstellungen etc. des All¬
tagslebens bringen kann und oft bringt, daß solche Gegensätze ebenso gegen¬
über Wissenschaft und Philosophie auftreten können. Wenn also der hier
gebrauchte Begriff der Natürlichkeit die Bedeutung einer Übereinstimmung
mit irgendeinem Ideal erhalten würde, käme es zu einem Rückfall der
Ästhetik in den Platonismus, entstünde in ihr eine Formbestimmung, die
schon Aristoteles in der Polemik gegen die platonische Ideenlehre überzeu¬
gend widerlegt hat. Das Natürliche — ohne Anführungszeichen — muß also
eine Bedeutung erlangen, die es vor solchen Verwechslungen und Vieldeutig¬
keiten erfolgreich zu beschützen imstande ist. Wir haben bereits bei Behänd-
Die natürliche Umwelt des Menschen 7°i

lung der Alltagswirklichkeit vom spontanen Materialismus des Menschen, der


m ihr lebt, gesprochen. Wir haben dabei hervorgehoben, daß dann nodi
keinerlei Verallgemeinerung in weltanschaulicher Hinsicht enthalten ist. Es
drückt sich darin bloß jene elementare Notwendigkeit der Alltagspraxis aus,
daß der Mensch, um sich erfolgreich in seiner Umwelt behaupten und betäti¬
gen zu können, ja um in ihr und durch sie nidit vernichtet zu werden, mög¬
lichst genau zu unterscheiden lernen muß, was bloß in seiner Vorstellung vor¬
handen ist und was unabhängig von seinem Bewußtsein existiert.
Natürlich bezieht sich das bloß auf das Alltagsleben im engsten Sinne. So¬
bald Verallgemeinerungen vollzogen, weiterliegende oder tiefere Ursachen
gesucht, der Sinn des Lebens und des Schicksals des Menschen erforscht wer¬
den, muß dieser spontane Materialismus des Alltags versagen, und den be¬
wußtseinsmäßigen Lösungsversuchen solcher Probleme wird eine reale Exi¬
stenz zugesprochen, die für den Menschen des Alltags ebenso fest fundiert zu
sein scheint wie die der objektiven Außenwelt. Wie sich solche Vorstellungen
zu einem Wirklichkeitsglauben verhärten, ja mit der Glorie einer mystischen
Transzendenz umgehen werden, haben wir teilweise bei Behandlung des
magischen Zeitalters gestreift, teils werden wir uns mit ihnen im letzten
Kapitel beschäftigen. Es ist nun klar, daß jeder Künstler Sohn seiner Zeit,
seiner Klasse und seiner Nation ist, und deshalb nur in ganz exzeptionellen
Fällen zu diesen Fragenkomplexen kritisch auflösend Stellung nehmen kann.
Hier ist keineswegs gemeint, die Kunst nehme eine philosophisch-materialisti¬
sche Position ein. Es handelt sich bloß darum, daß - innerhalb der Grenzen
des jeweils gesellschaftlich-geschichtlich Möglichen - in der echten Kunst¬
praxis eine spontane defetisdiisierende Tendenz zum Ausdruck kommt, die
darauf ausgeht, nur die wirkliche, objektiv existierende Außenwelt anzu¬
erkennen und die in sie fetischistisch hineinprojizierten Vorstellungen aufzu¬
lösen, sie in ihrer Realität darzustellen. Andererseits handelt es sich darum,
daß die bloße, aber konsequent künstlerische Darstellungsweise - ohne es
zu wollen, ja oft gegen den bewußten Willen, der ihr zugrunde liegt - die
Tendenz hat, alles Gestaltete auf eine irdische Ebene zu projizieren und
jede Transzendenz in eine mensdiliche Immanenz zu verwandeln. Schon in
der Antike wurden die Homerischen Epen wegen dieser ihrer Eigenart von
einzelnen Denkern kritisiert. Aber auch wenn man sidr an Dante, an die
Malerei des Trecento oder Quatrocento (sogar an Simone Martini oder Fra
Angelico) erinnert, wird diese vermenschlichende, den Himmel auf die Erde
projizierende Richtung der Kunst deutlidi sichtbar. Obwohl die vorsokrati-
schen Philosophen oft gegen die Götterdarstellung der Poesie Stellung
702 Die defetiscbisierende Mission der Kunst

nahmen, ist es klar, daß jene anthropomorphisierende Tendenz, die Xeno-


phanes am radikalsten kritisiert hat, sich gerade in ihren Werken und in
denen der bildenden Kunst dieser Zeit mit großer Prägnanz und Plastik
offenbart.
Ebenso wichtig wie der spontane Materialismus der Kunst ist ihr spontan
dialektischer Charakter. Um ihn zu verstehen, muß man wieder im Alltags¬
leben seinen Ausgangspunkt nehmen. Wir haben gesehen: die Lage ist hier
womöglich noch entschiedener so, daß, wie Engels gelegentlich gesagt hat,
die Menschen ununterbrochen dialektisch gedacht haben, ohne es zu wissen,
ebenso wie Molares Monsieur Jourdain sein Leben lang in Prosa sprach,
ohne sich dessen bewußt zu werden. Auch hier ist aber die künstlerische
Praxis ebensowenig eine einfache Fortführung der des Alltagslebens wie im
gerade analysierten Fall. Rein praktisch, besonders wenn er einer ihm be¬
kannten Wirklichkeit gegenübersteht, wendet der Mensch des Alltagslebens
oft spontan die Dialektik an, auch in solchen Fällen, in denen die Wissen¬
schaft seiner Zeit in metaphysischen Vorurteilen befangen ist. Freilich hat
auch diese Spontaneität darin ihre Schranken, daß sie bei einer praktizistischen
Verwertung der dialektischen Tatbestände stehenbleibt und oft gleichzeitig
über denselben Gegenstand die verallgemeinerten Theorien des metaphysi¬
schen Denkens anerkennt. (Man denke an die Unzahl von Beispielen, die
Darwin über die Veränderung der Pflanzen und Tierarten aus der Praxis
der Züchter anführt, deren überwältigende Mehrheit nie daran gedacht hat,
aus den selbsterzielten Ergebnissen irgendeine theoretisch allgemeine Folge¬
rung zu ziehen.) Diese Schranken des Alltagsdenkens werden dadurch noch
fester, daß einerseits unter Umständen das Überhandnehmen der metaphysi¬
schen Denkweise in bestimmten Wissenschaften - freilich bloß vorüber¬
gehend - dem Fortschritt dienen kann; und daß andererseits - darauf
weist Engels in bezug auf die Philosophie hin — durch eine solche Betrach¬
tung der Dinge wesentliche Entstellungen der wahren Gegenständlichkeit,
der wahren Zusammenhänge entstehen: »sie hat«, führt Engels aus, »uns
ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge
in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs aufzu¬
fassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als
wesentlich veränderlich, sondern als feste Bestände, nicht in ihrem Leben,
sondern in ihrem Tod h«

1 Engels: Antidühring, a. a. O. S. 23 f.
Die natürliche Umwelt des Menschen
7°3

Hier har die Praxis der Kunst eine eindeutige Angriffslinie, die gegen diese
Art der Auffassung der Welt und der Umwelt des Menschen gerichtet ist. Die
naive »Natürlichkeit« des Alltagslebens, die die Dinge spontan im Zusam¬
menhang und in ihrer Bewegtheit wahrnimmt, erwächst hier sogar zu einer
»Weltanschauung«, deren Inhalt die Rettung gerade dieser Zusammenhänge,
dieser Bewegtheit ist. Mögen die gesellsdiaftlich bedingten Fetischisierungen
den Alltag selbst noch so stark durchdringen, die Praxis der Kunst (nicht un¬
bedingt die bewußte Weltanschauung der Künstler) bekämpft mit ihren
eigenen Mitteln diese Tendenzen, die die sinnliche und menschliche Umwelt
des Menschen zu schematisieren und damit zur Erstarrung zu bringen drohen.
Wenn wir diese Eigenart der Kunst eine spontane Dialektik nennen, so muß
dabei das Wort spontan besonders unterstrichen werden. Denn es handelt sich
hier ausdrücklich um den schlichten Sinn der ästhetischen Widerspiegelung
selbst. Die subjektive Dialektik als sich denkerisch annähernde Widerspiege¬
lung der objektiven Wirklichkeit hat sich philosophisch und auch in der kon¬
kreten Methodologie der Wissenschaften, trotz eines jahrtausendelang
dauernden Prozesses des Bewußtwerdens von Heraklit bis Lenin, nur sehr
partiell durchgesetzt; in konkreten Fragen der einzelnen Wissenschaften
allerdings öfters als man gewöhnlich annimmt. Da dies letztere jedoch zu¬
meist aus einer gewissen von der Bewegung des Stoffes diktierten Spon¬
taneität geschieht, bleiben die Folgen sogar methodologisch hochstehen¬
der Leistungen selbst in ihren unmittelbarsten Nachbargebieten unbekannt
oder unverstanden, können also selten einen bewußten Weg der Verallge¬
meinerung gehen. Hier wiederholt sich gewissermaßen die Struktur des All¬
tagsdenkens für die Wissenschaft. Die Spontaneität der in Praxis umgesetzten
Dialektik hat jedoch für die Sphäre der Kunst eine andere Bedeutung. Gerade
weil es sich hier nicht darum handelt, die objektive Dialektik der Wirklich¬
keit in eine subjektive Dialektik der Begriffe, Urteile und Schlüsse zu ver¬
wandeln, sondern »bloß« darum, jene möglichst treu und vollständig abzubil¬
den (auch wenn das Medium der Widerspiegelung die Sprache ist), ist die er¬
zielte Dialektik der Gegenständlichkeit, der Zusammenhänge etc. nicht so
sehr Methode als vielmehr Ergebnis der Bestrebung zur wahrheitsgemäßen
Widerspiegelung der Wirklichkeit. Gerade darum kann die Kunst in der Auf¬
lösung erstarrter, fetischisierter Gegebenheiten des Lebens in naiver Selbst¬
verständlichkeit viel weiter gehen, viel radikaler sein, als die zeitgenös¬
sische Wissenschaft oder Philosophie. Das Kind in Andersens Märchen, das
naiv-überrascht ausruft: der Kaiser hat gar keine Kleider an, ist in dieser
Hinsicht ein Symbol ihrer Handlungsweise. Dabei ist es natürlich möglich,
704
Die defetischisierende Mission der Kunst

daß dieser spontan entlarvende und fetischezerschlagende Blick der Kunst


dort Positives als Wert hinstellt, wo die von der Fetischisierung geblendete
Betrachtungsweise des Alltags nichts oder sogar Wertwidriges wahrzuneh¬
men gewohnt ist.
Die augenfälligste Erscheinungsweise solcher Fetischisierungen ist die vor
allem in der neueren Gedankenentwicklung wichtig gewordene Trennung
von Raum und Zeit. Ohne daß wir hier auf die Geschichte des Problems
eingehen könnten, sei nur so viel bemerkt, daß diese fetischisierende, meta¬
physische Trennung von Raum und Zeit vor allem seit der »transzenden¬
talen Ästhetik« in Kants »Kritik der reinen Vernunft« herrschend geworden
ist. Das Fetischisierende an dieser Trennung erlangt eine geradezu ins Mythi¬
sche umschlagende Starrheit, seit an der letzten Jahrhundertwende Bergson
durch Wertbetonung die künstlich Geschiedenen in einander feindlich gegen¬
überstehende kosmische Mächte verwandelte. Für unsere Frage sind Details
und Abwandlungen dieses fetischisierten Mythos gleichgültig; ob bei Heideg-
ger, Klages und anderen die Zeit alsOrmuzd und der Raum als Ahriman auf-
tritt, oder bei Möller van den Bruck und Hermann Broch dieser Gegensatz
umgekehrt wird, hat wenig zu bedeuten. Festzustellen ist bloß, daß solche
Anschauungen auch in das Denken des Alltags und in die sogenannte avant¬
gardistische Kunst eingedrungen sind. Als solche Tendenz des Lebens ist diese
Trennung für uns untersuchenswert.
Dazu sei gleich bemerkt, daß weder im Leben noch im philosophischen Den¬
ken diese Tendenz je eine vollständige Alleinherrschaft erlangt. Nach Kant
hat zwar Schopenhauer die Trennung noch über seinen Meister hinaus feti-
schisiert, die Hegelsche Philosophie nahm aber immer energisch Stellung
gegen sie. Es ist für ihre Position charakteristisch, daß die ganze Frage von
Zeit und Raum nicht als allgemein erkenntnistheoretisches Problem behan¬
delt wird — bei Kant bildet es die Einleitung zur Erkenntnistheorie —,
sondern den allgemeinen Teil der Naturphilosophie bildet. Es ist hier selbst¬
redend unmöglich, die Gedankengänge Hegels auch nur andeutend wieder¬
zugeben. Wichtig für uns ist nur, daß sein Grundmotiv die dialektisch-wider¬
spruchsvolle Einheit von Raum und Zeit ist und daß diese Einheit nicht in
einer abstrakten Abgetrenntheit von der Wirklichkeit (als formell-subjektives
Apriori) zur Wirksamkeit gelangen kann, sondern nur in untrennbarer Ver-
knüpftheit mit Materie und Bewegung, die ebenfalls nicht voneinander los¬
lösbar sind. Hegel sagt: »daß die Materie das Reale an Raum und Zeit ist.
Aber diese müssen uns, wegen ihrer Abstraktion hier als das Erste Vorkom¬
men; und dann muß sich zeigen, 'daß die Materie ihre Wahrheit ist. Wie es
Die natürliche Umwelt des Menschen 7°5

keine Bewegung ohne Materie gibt, so auch keine Materie ohne Bewegung.
Die Bewegung ist der Prozeß, das Übergehen von Zeit in Raum und umge¬
kehrt: die Materie dagegen die Beziehung von Raum und Zeit, als ruhende
Identität h« Diese untrennbare Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit
ist dialektisch. Darin wird natürlich die Möglichkeit der aus dem Wesen der
Sache folgenden separaten wissenschaftlichen Behandlung von Raum- und
Zeitproblemen durchaus anerkannt. So hebt Hegel selbst die Geometrie als
einen solchen Fall hervor, zugleich betonend: »Der Wissenschaft des Raums,
der Geometrie, steht keine solche Wissenschaft der Zeit gegenüber 1 2«, während
Kant, seine fetischisierende Trennung konsequent weiter ausbauend, die Zahl
(und damit die Arithmetik) aus der isolierten Zeit ableitet 3.
Hier ist die naturgemäße Konvergenz der spontanen und der philosophisch
bewußten Dialektik handgreiflich erfaßbar. Denn es ist ohne weiteres klar,
daß die Alltagspraxis und deshalb auch das mit ihr eng verbunden bleibende
Alltagsdenken sich in einer Welt der sich bewegenden Materie, der bewegten
Dinge befinden und ohne besonders darauf zu reflektieren ihre Zusam¬
mengehörigkeit als selbstverständlich, als ohne weiteres evident annehmen.
Das ließe sich an den einfachsten Tatsachen des Alltagslebens leicht nach-
weisen. Nehmen wir einen solchen von Marx deutlich beschriebenen Vor¬
gang: »Betrachtet man ein bestimmtes Quantum Rohmaterial, z. B. von
Lumpen in der Papiermanufaktur oder Draht in der Nadelmanufaktur, so
durchläuft es in den Händen der verschiedenen Teilarbeiter eine zeitliche
Stufenfolge von Produktionsphasen bis zu seiner Schlußgestaltung. Betrach¬
tet man dagegen die Werkstatt als einen Gesamtmechanismus, so befindet sich
das Rohmaterial gleichzeitig in allen seinen Produktionsphasen auf einmal.
Mit einem Teil seiner vielen instrumentbewaffneten Hände zieht der aus den
Detailsarbeitern kombinierte Gesamtarbeiter den Draht, während er gleich¬
zeitig mit anderen Händen und Werkzeugen ihn streckt, mit anderen schnei¬
det, spitzt, etc. Aus einem zeitlichen Nacheinander sind die verschiedenen
Stufenprozesse in ein räumliches Nebeneinander verwandelt. Daher Liefe¬
rung von mehr fertiger Ware in demselben Zeitraum4.« Man sieht: Zweck
dieser Darstellung ist keineswegs, die dialektische Einheit von Raum und

1 Hegel: Enzyklopädie, § 261 Zusatz.


2 Ebd. § 259.
3 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Reclam-Ausgabe, S. 145 f.
4 Marx: Kapital Band I, a. a. O. S. 309.
yo6 Die defetiscbisierende Mission der Kunst

Zeit philosophisch nachzuweisen, sondern die Steigerung von Produktion und


Produktivität der Arbeit durch die Arbeitsteilung in der Manufaktur darzu¬
legen. Indem jedoch ein solcher Vorgang gedanklich richtig wiedergegeben
und zerlegt wird, entsteht von selbst das Abbild jener dialektischen Zusam¬
mengehörigkeit von Raum und Zeit, die Hegel philosophisch analysiert hat.
Und es ist selbstverständlich, daß dieser Tatbestand für jeden Teilnehmer
eines solchen Arbeitsprozesses ebenso spontan zur Grundlage seines gewohn¬
ten Handelns wird, wenn er auch nicht imstande ist und gar nicht das Be¬
dürfnis empfindet, in seiner Klärung begrifflich so weit zu gehen, wie Marx
es tat.
Dieses ständige Zugleich-Exiscieren von Raum und Zeit, die - wenn auch
sehr selten bewußtgemachte - Gewohnheit einer solchen Grundlage für Sein,
Werden und Wirken hinterläßt natürlich die tiefsten Spuren im Gefühls¬
leben der Menschen. Wiederum ohne Bewußtsein der fundamentalsten Tat¬
bestände und Wechselbeziehungen durchdringt diese Zusammengehörigkeit
auch das Nachdenken über die Phänomene des Lebens und veranlaßt die
Menschen dazu, ihre Konzeptionen von Raum und Zeit zu erweitern, ihnen
einen übertrageneren Sinn zu verleihen, ohne deshalb das Wesentliche und
Wahre an ihnen gedanklich vergewaltigen zu müssen. So entstehen schon im
Sprachgebrauch des Alltags und in der Terminologie der Gesellschaftswis¬
senschaften Widerspiegelungen wichtiger Tatbestände des Lebens, die man
- wie wir glauben - am besten mit den Ausdrücken Quasiraum und Quasi¬
zeit bezeichnen könnte. Es sei auch hier gestattet, eine solche Sachlage in der
Formulierung von Marx anzuführen: »Die Zeit ist der Raum für die mensch¬
liche Entwicklung. Ein Mensch, der keine freie Zeit zur Verfügung hat, dessen
ganze Lebenszeit, abgesehen von den bloß physisdien Unterbrechungen durch
Schlaf, Mahlzeit usw., durch seine Arbeit für den Kapitalismus in Anspruch
genommen wird, ist weniger als ein Lasttier. Er ist eine bloße Maschine zur
Erzeugung von fremdem Reiditum, körperlich gebrochen und geistig ver¬
tiert b« Ist das Wort »Raum« hier eine bloße Metapher? Sicher ist es viel
mehr. Denn der freilich ebenfalls bildliche Gesamtausdruck »der Raum für
die mensddiche Entwicklung« trifft die allerwesentlichsten objektiven Bestim¬
mungen der Zeit, allerdings nicht der Zeit, wie sie künstlich isoliert an sich
ist, sondern wie dieses Ansich auf die Welt der Menschen bezogen sich aus¬
wirkt. So ist damit keine Subjektivierung des Zeitbegriffs vollzogen; nicht

1 Marx: Lohn, Preis und Profit, Berlin 1928, S. 58.


Die natürliche Umwelt des Menschen
7°7

nur weil das Ansich bei einer solchen Anreicherung unverzerrt bleibt, son¬
dern weil seine so vollzogene Ergänzung und Erweiterung in einem objekti¬
ven Tatbestand des Lebens begründet ist. Es handelt sich einfach darum, daß
der Begriff der Bewegung der Materie, dessen Bedeutung für das rich¬
tige Erkennen des objektiven Wesens von Raum und Zeit wir soeben bei
Hegel kennengelernt haben, auf den gesellschaftlichen Menschen angewendet
objektiv eine inhaltliche Ausdehnung erfährt, da die in der Gesellschaft sich
vollziehende Bewegung der Materie von viel komplizierterer Beschaffenheit
ist als etwa die in der Physik. Solche Komplikationen verändern das Wesen
des Ansich nicht. Es ist aber trotzdem notwendig und berechtigt, sie in der
Darstellung gesellschaftlich-menschlicher Verhältnisse in Betracht zu ziehen.
Es ist wichtig, in diesem Fall die Objektivität hervorzuheben. Denn das ge¬
sellschaftliche Leben produziert ununterbrochen und mit Notwendigkeit auch
subjektive Reflexe der Beziehungen von Raum und Zeit, die bereits nicht
mehr oder nicht vollständig das wirkliche Ansich treffen, deren Wahrheit nur
mehr in ihrer menschlichen, in ihrer subjektiven Notwendigkeit liegen kann.
Hier muß in konkreten Fällen eine genaue kritische Scheidung vor sich
gehen, denn auf dem Boden der — freilich gesellschaftlich bedingten — Sub¬
jektivität ist eine fetischisierende Tendenz ebenso möglich wie eine defeti-
schisierende. Diese große Skala der Unterschiede muß sorgfältig in Betracht
gezogen werden, wenn wir auf das Gebiet des Ästhetischen übergehen, und
die Bedeutung von Kategorien wie Quasizeit und Quasiraum daraufhin
untersuchen, welche Rolle sie in der sich zum Werk organisierenden Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit spielen. In der Periode, als die Kantsche
fetischisierende und metaphysische Trennung von Raum und Zeit die Philo¬
sophie beherrschte, war es Sitte, die Künste nach diesem Schema in Raum¬
künste und Zeitkünste einzuteilen. Eine Polemik dagegen erübrigt sich hier,
die Frage mußte nur darum überhaupt erwähnt werden, weil für eine ober¬
flächliche Betrachtung sich der Anschein ergeben könnte, als hätte die Wichtig¬
keit, die wir dem homogenen Medium in dem Prozeß des Zum-Kunstwerk-
Werden der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit zuschreiben, etwas
mit einem solchen Systematisierungsprinzip der Künste zu tun.
Es ist freilich wahr, daß jedes homogene Medium - gänzlich oder über¬
wiegend - entweder einen räumlichen oder einen zeitlichen Charakter hat.
Ja der Reinigungsprozeß, den es an den unmittelbaren Wahrnehmungen des
ganzen Menschen der Alltagswirklichkeit vollzieht, wirkt - unmittelbar
und vorerst - in dieser Richtung. Wir haben jedoch Kantianische Vertreter
solcher Anschauungen, wie Fiedler, gerade deswegen kritisiert, weil sie bei
708 Die defetischisierende Mission der Kunst

dieser Unmittelbarkeit des homogenen Mediums stehengeblieben sind und


seine erste Unmittelbarkeit zum letzten Prinzip erstarren ließen. Wenn wir
gegen solche Anschauungen polemisierend von einem Einströmen der konkret
möglichen Totalität der Inhalte und Kategorien in das homogene Medium
sprachen, so meinten wir nicht zuletzt auch dieses Moment; daß nämlich
etwa die räumlich-visuelle Homogeneität des malerischen oder die zeitlich¬
auditive des musikalischen Mediums nicht eine starr-metaphysische Gegen¬
überstellung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit in der Weise in sich schließt,
daß, wenn die eine als Basis der Homogeneität gesetzt ist, damit die andere
gänzlich aus der Sphäre des Gestaltens ausscheiden müßte. Im Gegenteil. Die
Hauptforderung an alle nicht auf abstrakten Formprinzipien basierenden,
also mehr als bloß dekorativen Künste ist das Schaffen einer »Welt«, ein sol¬
ches Fixieren der widergespiegelten Wirklichkeit, daß die das Werk aufbauen¬
den, vollendenden Bestimmungen zu einem abgeschlossenen und abgerundeten
konkreten und sinnfälligen Abbild der Totalität der objektiven Bestimmun¬
gen der Wirklichkeit werden. Natürlich führt das homogene Medium einer
jeden Kunstart zu einer quantitativen und qualitativen Auswahl, die die
Reproduktion gewisser Bestimmungen ausschließt, ihnen verschiedene Funk¬
tionen zuweist. (Man denke an den Unterschied der Rolle des Zufalls in No¬
velle und Drama.) Diese Möglichkeit der Auswahl, des Ausscheidens und des
Hervorhebens hat aber einerseits bei einer jeden Kunstart einen anders ge¬
arteten konkreten Spielraum und andererseits gibt es bestimmte Kategorien,
ohne welche eine »Welt« überhaupt nicht gestaltet werden könnte, die des¬
halb bei aller Verschiedenheit an Betonung, Funktion, hierarchischer Stelle
etc. aus keinem homogenen Medium völlig ausgeschaltet werden können.
Dazu gehört auch der raum-zeitliche Charakter der objektiven Wirklichkeit.
Es ist also ein fruchtbarer dialektischer Widerspruch, daß jedes primär und
unmittelbar räumlich-visuelle homogene Medium ebenso eine Quasizeit in die
Totalität seiner Welt einzufügen hat, wie es kein zeitliches Medium gibt,
das ohne Spuren eines Quasiraums seine »Welt« aufzubauen imstande ist.
Für Malerei und Skulptur hat Lessing im Laokoon dieses Problem aufge¬
worfen. Er geht dabei von dem fruchtbaren Widerspruch der bildenden
Künste aus, daß sie aus der »immer veränderlichen Natur nie mehr als einen
einzigen Augenblick« wiedergeben können. Er behandelt dabei — seiner kon¬
kreten Aufgabe entsprechend - zwei Themen. Das erste ist die Ablehnung
des Erfüllungsmoments als Gegenstands der Darstellung. Diese höchst interes¬
sante Frage wird uns noch in anderen Zusammenhängen beschäftigen; sie ist
auch viel allgemeiner als jene, mit der wir es jetzt zu tun haben. (Goethe
Die natürliche Umwelt des Menschen
7°9

behandelt sie als Gegenstand der Dichtung, 'bezeichnenderweise ganz in dem¬


selben Sinn wie Lessing für die Plastik.) Das zweite Thema ist aber unser
gegenwärtiges. Lessing sagt: »Erhält dieser einzige Augenblick durch die
Kunst eine unveränderliche Dauer, so muß er nichts ausdrücken, was sich
nicht anders als transitorisch denken läßt1.« Die Einheit der Gegensätze,
die Malerei und Skulptur in ihrem Weltschaffen verwirklichen, ist also eine
derartige Aufhebung der Zeitlichkeit, daß in der allein zur Gestalt werden¬
den Gegenwart deren konkretes Wesen als Ergebnis der Vergangenheit und
als Ausgangspunkt der Zukunft aufbewahrt bleibe.
Im philosophischen Denken ist dieses Problem bei den Eleaten, in den Anti¬
nomien Zenons, aufgetaucht, und Hegel hat darin, mit Recht, den Anfang der
Dialektik, der Widersprüchlichkeit der Bewegung, erblickt. Eine klare dialek¬
tische Fassung erhielt das Problem gedanklich erst, als es von Zenon auf philo¬
sophische Höhe erhoben wurde, und die Geschichte der Philosophie zeigt, wie
oft es später ins starr Metaphysische heruntergezerrt wurde. Aber auch vom
Standpunkt der unmittelbaren Visualität ist die Frage keineswegs so einfach
und selbstverständlich, wie unser praktisches Alltagsleben es sich zumeist vor¬
stellt. Da man es dort überall mit sich bewegenden Gegenständen zu tun hat,
da man von Sekunde zu Sekunde den Übergang von Vergangenheit über
Gegenwart in die Zukunft erlebt, sieht man den dabei auftretenden Wider¬
spruch der sichtbaren Unmittelbarkeit des Augenblicks nicht. Wir haben in
früheren Darlegungen, bei der Ablehnung der photographischen Widerspiege¬
lung schon im Alltag, darauf hingewiesen, wie fremd, starr und unlebendig,
ja unwirklich die meisten Photographien erscheinen, obwohl sie - ebenso wie
die Abbilder, die sich auf der Retina spiegeln - mechanisch treue Kopien des
betreffenden Augenblicks sind. Noch deutlicher wird dies sichtbar, wenn man
an Momentphotographien schneller Bewegungen denkt, deren Mehrzahl als
geradezu grotesk »unmöglich« wirkt, obwohl an der mechanischen Treue der
Widerspiegelung kein Zweifel möglich ist. Das ist der unmittelbar sinnliche,
der visuelle Aspekt des Ausspruchs von Zenon: »Der fliegende Pfeil steht.«
Der von Hegel immer wieder betonte abstrakte Charakter der sinnlichen Un¬
mittelbarkeit äußert sich hier darin, daß der einzelne, bloß unmittelbar vi¬
suell wahrgenommene Augenblick seine wesentlichen objektiven Bestimmun¬
gen, seine Genesis aus der Vergangenheit, seine genetische Funktion für die
Zukunft in dieser seiner sinnlich-sichtbaren Unmittelbarkeit nicht notwendig

1 Lessing: Laokoon, I. Teil, Kapitel 3.


7i° Die defetischisierende Mission der Kunst

zu offenbaren imstande ist, d. h. daß es zufällig ist, ob diese Bestimmungen


an seiner unmittelbaren Erscheinung visuell hervortreten oder verborgen
bleiben. Als Reproduktion der Totalität des Phänomens, diesmal des Augen¬
blicks als Moment der Bewegung, läßt die Photographie, bei aller mechani-
schen Treue und Exaktheit in ihrer Fixierung, gerade die entscheidenden ob¬
jektiven Komponenten versdiwinden. (Die sogenannte künstlerische Photo¬
graphie ist bestrebt, jene - mehr oder weniger seltenen - Augenblicke aus¬
zuwählen und festzuhalten, in denen diese Bewegung sinnlich sichtbar wird.)
Will die bildende Kunst zu einer Widerspiegelung der objektiven Wirklich¬
keit gelangen, so muß im abgebildeten sichtbaren Augenblick die Totalität
jener Bestimmungen, die die Bewegung konstituieren, enthalten sein, d. h.
es muß im homogenen Medium der reinen Sichtbarkeit eine entsprechende
Aufhebung des Widerspruchs gefunden werden. Die Bewegung muß also eine
Darstellung erhalten, in welcher ihr Woher und ihr Wohin, ohne das allein
gestaltbare Momentane des Augenblicks zu zerstören, unmittelbar erlebbar,
ihre Qualität, Richtung und ihr Wesen evozierend sinnfällig werden. Erst
wenn alle diese Biastimmungen in das homogene Medium der Sichtbarkeit
ainströmen und von ihm zu eigenen organischen Bestandteilen verarbeitet
werden, kann es - nach Aufhebung der ersten Unmittelbarkeit - jene
zweite ästhetische Unmittelbarkeit -erschaffen, in welcher alle ferisdiisierten
Formen des Alltags und des Denkens in bezug auf die Bewegung vernichtet
sind. Daß Lessing in der Beschreibung dieses Phänomens mit erkenntnis¬
theoretischen und psychologischen Kategorien des 18. Jahrhunderts arbeitet,
vermindert nicht sein Verdienst, diese Frage klargestellt zu haben; sogar sein
Terminus vom »fruchtbaren Augenblick« bleibt auch heute brauchbar und
richtungsweisend h Denn die Fruchtbarkeit des gestalteten Augenblicks ist
- und zwar sowohl für den Schöpfer wie für den Rezeptiven - nur die
subjektive Seite der objektiv im Werk zu erreichenden Totalität der Bestim¬
mungen. In dieser Totalität der Bestimmungen spielt aber, wie unsere Ana-
lyse gezeigt hat, die Umsetzung der Quasizeit in das homogene Medium der
reinen Sichtbarkeit eine nicht unbeträchtliche Rolle.
Dies ist die objektive Seite unseres Problems. Die bildenden Künste zeigen
aber auch einen subjektiven Aspekt, der so eng mit der Struktur des Werks,
mit seiner Funktion, die Evokation zu leiten, zusammenhängt, daß wir ihm

1 »Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken. Je mehr wir dazu den¬
ken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.« Ebd.
Die natürliche Umwelt des Menschen
711

hier unbedingt einige Worte widmen müssen. Auch Lessing kommt darauf zu
sprechen, wenn er am mehrmals angeführten Ort sagt, daß die Werke der bil¬
denden Kunst nicht nur erblickt, sondern lange und wiederholt betrachtet
werden. Schon der Ausdruck betrachtet bringt ein Moment der Zeitlichkeit
zumindest in die ästhetisch notwendige Rezeptivität hinein. Lessings Zeit¬
genosse Hemsterhuis analysiert die physiologisch-psychologische Notwendig¬
keit einer soldien die Zeitlichkeit involvierenden rezeptiven Verhaltensart bei
Werken der bildenden Kunst. »Sie wissen, mein Herr«, schreibt er in seinem
»Brief über die Skulptur«, »daß infolge der Anwendung der Gesetze der Op¬
tik auf die Struktur unseres Auges, wir in einem Augenblick eine distinkte Idee
fast nur von einem sichtbaren Punkt haben können, der sich auf unserer Retina
klar abbildet; wenn ich also eine distinkte Idee von einem ganzen Objekt ha¬
ben will, muß ich mein Auge entlang der Kontur des betreffenden Objekts
gleiten lassen, damit alle Punkte, die diese Kontur bilden, sukzessiv vom
Auge mit Klarheit wahrgenommen werden; am Schluß verbindet die Seele
alle diese elementaren Punkte und erwirbt die Idee der gesamten Kontur.
Nun aber ist es sicher, daß diese Verbindung ein Akt ist, zu welchem die Seele
Zeit braucht, und zwar desto mehr Zeit, je weniger das Auge geübt ist, Ob¬
jekte so wahrzunehmen L« Daß Hemsterhuis den Prozeß etwas vereinfacht
(gewissermaßen geometrisch) beschreibt, daß er eine Synthese nur für den Ab¬
schluß anerkennt und das permanente Synthetisieren während des Sehens ver¬
nachlässigt etc., ändert nichts daran, daß hier das Grundphänomen, von wel¬
chem Lessing spricht, seinem zentralen Wesen nach richtig beschrieben ist.
Aber lange vor beiden hat bereits Leonardo da Vinci, allerdings vom Stand¬
punkt des Schaffenden und nicht des Rezeptiven, sich mit diesem Problem
befaßt. Er gibt »dem Malerjungen« die folgende Lehre: »Wir wissen klar,
daß das Sehen eine der schnellsten Tätigkeiten ist, die es gibt und in einem
Punkte zahllose Formen wahrnimmt; nichtsdestoweniger faßt es nicht mehr
als eine Sache auf einmal... So sage ich auch zu Dir, den die Natur zu dieser
Kunst hinneigt, wenn du wahre Kenntnis von den Formen der Dinge haben
willst, beginne bei den Einzelheiten von ihnen, und nicht zur zweiten gehe,
ehe Du die erste gut im Gedächtnis und in der Übung hast, und wenn Du
anders tust, wirst Du die Zeit wegwerfen und wahrhaftig sehr das Studium
verlängern1 2.« Obwohl es sich hier um dasselbe Problem der Beziehung der

1 Hemsterhuis: a. a. O. Band I, S. 17.


2 Leonardo da Vinci: a. a. O. S. 164 f.
712 Die defetiscbisierende Mission der Kunst

menschlichen Visualität zum fixierten Abbild eines Augenblicks handelt,


könnte man vielleicht einwenden: das Werk verewige eben einen solchen
Augenblick und es sei ästhetisch völlig gleichgültig, wie es entstanden sei; es
sei zwar empirisch feststellbar, daß die Entstehung eines jeden Werks Zeit
erfordere, dies habe jedoch nichts mit dem ästhetischen Wesen des Werks zu
tun. Solche Einwände erweisen sich jedoch als hinfällig, wenn man bedenkt,
daß im schöpferischen Prozeß dieselbe Beziehung des Menschen zur sicht¬
baren Wirklichkeit zum Ausdruck kommt wie in dem der Rezeptivität, daß
also den einander ergänzenden Beschreibungen von Leonardo und Hemster-
huis von entgegengesetzten Aspekten aus derselbe fundamentale Tatbestand
zugrunde liegt. Darum muß die Komposition des Werks selbst diesen Prozeß
nicht nur in Betracht ziehen, sondern ihren ganzen Aufbau, ihr ganzes Be¬
ziehungssystem darauf gründen.
Wir haben dieses Problem bereits gestreift, als wir von dem tiefgreifenden
Zusammenhang zwischen der Komposition und ihrer Funktion, die evokative
Wirkung bei dem Rezeptiven entsprechend zu leiten, sprachen. Man erinnere
9ich an das damals über die Architektur Gesagte, nämlich, daß die Ganzheit
eines Architekturwerks prinzipiell nicht mit einem Blick simultan wahrnehm¬
bar ist, daß also die künstlerische Komposition (nicht die bloß technische, die
man an Abrissen etc. studieren kann) und die visuelle Gestaltung eines
Außen- und Innenraums und ihrer organischen Beziehung zueinander sich
nur aus der Kontinuität und Synthese solcher zeitlich aufeinanderfolgenden
Aufnahmeakte zusammensetzen kann. Es ist deshalb - wir wiederholen es -
nicht eine äußerliche oder gar zufällige Konsequenz der architektonischen
Komposition, daß man sie sich nur so aneignen kann, sondern ihre wesent¬
liche Beschaffenheit ist gerade darauf angelegt, eine solche ineinander über¬
gehende, einander stärkende, vertiefende Folge von einzelnen Raumerleb¬
nissen zu evozieren, von jedem einzelnen Punkte aus dieser Erlebnisse so zu
leiten, daß die sinnliche Synthese des Ganzen, als Gestalt eines äußeren und
inneren Raumes in -einer bestimmten visuell-emotionellen Qualität und Ein¬
zigartigkeit im Rezeptiven entstehe.
Diese Erkenntnis des Leitens muß auch den Betrachtungen von Lessäng und
Hemsterhuis in bezug auf Malerei und Plastik hinzugefügt werden, um ihre
richtig fundierenden Bemerkungen abzurunden. Ja man kann sagen, daß in
diesen Künsten die Funktion des Leitens womöglich noch deutlicher zutage
tritt als in der Architektur. Denn es gehört zum Wesen der Architektur, die
die künstlerische Raumgestaltung stets mit dem Schaffen eines realen Raums
für konkrete gesellschaftliche Zwecke vereinigt, daß ihre Gebilde, von den
Die natürliche Umwelt des Menschen
7i3

■verschiedensten Ausgangspunkten beginnend, sich mitunter auf tief verschie¬


dene Teilaspekte beschränkend, doch evokative Wirkungen hervorzubringen
vermögen. Bild und Plastik schreiben aber dem Rezeptiven weitaus impera¬
tiver vor, wie er an sie heranzutreten hat, und diese Bestimmung des General¬
aspekts diktiert zugleich eine bestimmtere, wenn auch keine in allgemeine
Regeln zusammenfaßbare Reihenfolge jener Einzelakte der Betrachtung, die
im Gesamterlebnis dieser Werke visuell-synthetisch zur Einheit erhoben wer¬
den, um zur rezeptiv-ästhetischen Reproduktion der objektiven Komposition
des betreffenden Werks zu gelangen.
Wir haben in unseren bisherigen Betrachtungen zwar bloß die einfache Be¬
wegung in ihrer objektiv dialektischen Struktur untersucht, es ist jedoch ohne
weiteres einleuchtend, daß in den komplizierteren Komplexen und Systemen
von aufeinander bezogenen Bewegungen letzten Endes derselbe fruchtbare
Widerspruch obwaltet, daß also bei einer näheren Analyse solcher verwickel-
teren Strukturen für den uns jetzt allein interessierenden Gesichtspunkt sich
philosophisch nichts wesentlich Neues ergibt. Natürlich erwächst daraus ein
zentrales Problem der konkreten Untersuchung für die visuell gestaltenden
Kunstarten, für die spezifischen Unterschiede von Malerei, Rundplastik, Re¬
lief etc. in bezug auf die für jede besonders geltenden Gesetze des Leitens;
für unser gegenwärtiges Problem muß jedoch der bloße Hinweis auf solche
Differenzierungen genügen. Nur um an einem Beispiel Inhalt und Richtung
derartiger Zergliederungen anzudeuten, sei an die von uns in anderen Zu¬
sammenhängen angeführte Betrachtung Wölfflins über das Links-Rechts-
Problem in der Malerei erinnert.
Hervorzuheben ist ferner, daß dieser ganze Komplex von Gesichtspunkten
sich auf die Gegenständlichkeiten reproduzierende, »Welten« schaffende bil¬
dende Kunst bezieht. Die subjektive, aber als subjektiv notwendige, in der
objektiven Werkstruktur fundierte Quasizeit gehört wesentlich diesem Ge¬
biet an. Die abstrakten - geometrisdien oder auf der Weiterbildung des
Geometrischen basierenden - Gestaltungen der Visualität gehen wesentlich
auf eine mehr oder weniger rein dekorative Wirkung aus. In einer solchen ist
das simultane Erfassen des Werks in seiner Ganzheit qualitativ weitaus voll¬
kommener möglich, als bei einer aus Gegenständen und aus ihren real gegen¬
ständlichen Beziehungen geschaffenen »Welt«. Das Verfolgen der einzelnen
Details, das naturgemäß auch hier notwendig und berechtigt ist, hat also bei
den geometrischen Ornamenten keinen Quasizeitcharakter. Sowohl das Ganze
wie seine Teile sind, schon durch ihre wesentliche Fundiertheit im Geometri¬
schen, durch die dekorative Wesensart ihrer Verknüpfung und Totalität aus
Die defetiscbisierende Mission der Kunst
714

dem Fluß der Zeit herausgehoben. Daß jedem Gebilde der visuellen Künste
auch eine solche mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zur dekorativen
Wirkung innewohnt, kompliziert freilich das Problem des Leitens in ihnen,
da die beiden Aspekte, der dekorative und der eine »Welt« von Gegenstän¬
den schaffende, zur völligen Einheit konvergieren müssen; 'die konkrete Ana¬
lyse dieser Zusammenhänge gehört jedoch in die Theorie dieser Kunstarten
und muß dort für jede besonders aufgeworfen und gelöst werden. Fiier kam
es bloß auf die allgemeine Formulierung dieses Problems an, auf den Nach¬
weis der Existenz von objektiver wie subjektiver Quasizeit, auf ihre Funk¬
tion im Weltschaffen dieser Künste, auf ihren Anteil - freilich vor allem
der objektiven Quasizeit - an der defetisdiisierenden Wirksamkeit der Kunst.
Das Problem des Leitens der Rezeptivität wirft für die Künste, deren homo¬
genes Medium zeitlich ist, das Problem des Quasiraums auf. Der erste An¬
schein würde nun dafür sprechen, daß, im Gegensatz zu der eben behandel¬
ten Lage, wo es sowohl eine objektive wie eine subjektive Quasizeit gab, wir
es hier nur mit einem 'Subjektiven Quasiraum zu tun hätten. Wir glauben je¬
doch, daß man in solchen Fällen sich nicht von einem Analogisieren leiten
lassen und die Entsprechungen, auch wenn sie Kontraste sind, nicht mecha¬
nisch überspannen darf. Da der Zeit gegenüber die Widersprüche der Be¬
wegung anscheinend nicht in Erscheinung treten, muß hier eine Entsprechung
zu der von uns festgestellten objektiven Quasizeit der bildenden Künste feh¬
len. Es sei hier nur ergänzend bemerkt, daß man in keiner Kunst, deren
homogenes Medium wesentlich zeitlich ist, etwas der geometrischen Ornamen¬
tik Analoges vorfinden kann. Der Quasiraum, mit dem wir es hier zu tun
haben, kann dementsprechend nur einen subjektiven Charakter besitzen: er
ist eine notwendige Folge jenes Leitens 'der Rezeptivität, mit der eine sich im
homogenen Medium der Zeit bewegende künstlerische Komposition unbe¬
dingt arbeiten muß. Indessen ist dieser Widerspruch hier doch nicht voll¬
ständig verschwunden. Der von Zenon formulierte unmittelbare Wider¬
spruch von Ruhe und Bewegung in der Bewegung ist ein derart fundamen¬
taler Tatbestand, daß er auch von seinem zeitlichen Aspekt aus wahrnehmbar
bleiben muß. Der Unterschied ist vielleicht am besten so faßbar: vom Raume
aus betrachtet scheint das Moment der Ruhe, der Beharrlichkeit das Über¬
gewicht zu haben, und die dialektische Einheit kann erst durch die künstle¬
rische Einführung des Vorher und des Nachher ihre wahrheitsgemäße Gestalt
erlangen. Dagegen erreicht rein zeitlich betrachtet die Bewegtheit eine abso¬
lute, unbeschränkte Geltung. Man stößt hier in der ästhetischen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit auf den Widerspruch von Flerakht: »Man kann nicht
Die natürliche Umwelt des Menschen
7U

zweimal in denselben Fluß steigen.« Die Aufgabe der ästhetischen Wider-


spiegelung ist hier, den Momenten der Ruhe (der Beharrlichkeit, der Konti¬
nuität) im Wechsel zu ihrem Rechte zu verhelfen. Der Unterschied der
Aspekte und der homogenen Medien, in denen die ästhetische Widerspiege¬
lung den Widerspruch und seine Lösung in Anschauung bringt, hat zur Folge,
daß räumlich betrachtet eine objektive Quasizeit entsteht, während ihre
Erscheinungsweise in der Zeitlichkeit einen subjektiven Charakter erhält.
Damit bleibt jedoch der objektive Ursprung aufbewahrt: diese Subjektivi¬
tät trifft die objektiven letzten Kompositionsprinzipien des Werks selbst,
während jene bloß eine rein rezeptive Aneignung der fertigen Struktur des
Werks ist. Die innere Zusammengehörigkeit von subjektivem Quasiraum
und reiner Zeitlichkeit wie objektiver Quasizeit in der entsprechenden
Räumlichkeit beruht darauf, daß die entgegengesetzt formulierten Wider¬
sprüche von Zenon und Fferaklit - letzten Endes - auf denselben Sachgehalt
gerichtet sind, daß sie von entgegengesetzten Gesichtspunkten, mit ent¬
gegengesetzten Voraussetzungen doch dieselben Fetischisierungen der Un¬
mittelbarkeit dialektisch auflösen. Eine ähnliche Aufgabe ist - getrennt
marschierend, vereint schlagend - dem räumlichen und zeitlichen homo¬
genen Medium in der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit ge¬
stellt.
Die hier fundamentale Tatsache, daß die Rezeptivität einer zeitlichen Kunst
- nehmen wir vor allem die Musik, das dabei Auszuführende kann aber,
mutatis mutandis, auch auf die Literatur angewendet werden - unmöglich
aus einem bloßen Nacheinander der Erlebnisse bestellen kann, ist selbstver¬
ständlich und wurde dementsprechend fast immer hervorgehoben. Wir erin¬
nern bloß an unsere Bezugnahme auf N. Fiartmanns Anschauungen, der das
Problem des Leitens gerade für die Musik sehr genau ins Auge faßt und
darum die immer zugleich vorwärts- und rückwärtsweisende Beschaffenheit
seiner einzelnen momentanen Elemente richtig in den Vordergrund stellt.
Selbstverständlich sucht er auch die dabei notwendig entstehende Einheit; er
will aber als Idealist, wie wir gesehen haben, nicht anerkennen, daß sie etwas
mit dem sinnlichen Floren zu tun haben könnte. Wenn er nun sagt: »diese
Einheit ist zwar immer noch eine zeitliche, aber kein Zugleichsein J«, so hat
er eine bestimmte und wichtige Seite des Phänomens richtig berührt. Er er¬
kennt richtig, daß die Einheit eine zeitliche bleiben muß - auch die Quasi-

1 N. Hartmann: Ästhetik, a. a. O. S. 117.


7i6 Die defetischisierende Mission der Kunst

zeit der bildenden Künste bewegt sich im Medium der Räumlichkeit und
bleibt dieser inhärent, aber das glatte Leugnen des Zugleichseins entfernt die
lebeneinflößende Dialektik aus seinen Darlegungen: es handelt sich dabei
nämlich um die Einheit des Zugleichseins und des Nichtzugleichseins. Für das
Subjekt, das sich so vom Werk geleitet in der Zeit bewegt, entstehen, frei¬
lich mit wichtigen Modifikationen, ähnliche Widersprüchlichkeiten wie bei
jeder Bewegung. Als Entsprechungen, die auf sehr tiefe Parallelitäten weisen,
deren Charakter als Verstärkung, Abschwächung oder Vorbehalt, als Pathos
oder Ironie etc. nur im strengsten Aufeinanderbezogensein zeitlich getrennter
Momente zur Geltung gelangen kann (und zwar so, daß die zeitliche Tren¬
nung, ihr Nacheinander, die Stelle eines jeden in diesem Nacheinander ebenso
zu ihrem Wesen gehört wie das durch diese intime Bezogenheit geschaffene
Nebeneinander), müssen sie eine widerspruchsvolle Synthese des Nachein¬
ander und des Nebeneinander ununterbrochen produzieren, evokativ machen.
Daß in dieser Einheit der Widersprüche das Moment des Nacheinander das
Übergreifende ist, daß das Vorher und Nachher der Momente - ohne ihr
Wesen zu vernichten - unaufhebbar, unaustauschbar bleiben muß, zeigt
eben an, daß dieses Nebeneinander nicht die Widerspiegelung eines realen
Raumes sein kann, sondern bloß ein Quasiraum innerhalb des zeitlichen
homogenen Mediums der Musik.
Es ist, so glauben wir, nützlich, wenn wir diesen Widerspruch dadurch be¬
leuchten, daß wir einen extrem entgegengesetzten Versuch seiner Lösung her¬
anziehen. Hermann Broch betrachtet es als seine denkerische Aufgabe, die
Zeit, die er als mit dem Tode verknüpft auffaßt, zu vernichten. Diese nach
seiner Anschauung tiefste Bestrebung des Menschen drückt auch die Musik
aus: »Denn was immer der Mensch tut, er tut es, um die Zeit zu vernichten,
um sie aufzuheben, und diese Aufhebung heißt Raum. Selbst die Musik, -die
bloß in der Zeit ist und die Zeit erfüllt, wandelt die Zeit z-um Raume . . .1«
Die Bedeutung der Musik liegt darin begründet, daß »hier die unmittelbare
Transformation der Zeit in den Raum, die Transformation des Zeitablaufes
in ein räumlich-architektonisches Gebilde stärker denn anderswo zu Bewußt¬
sein kommt«. Diese Zeitaufhebung »ist das Erkenntniszentrum -der Musik.
Denn die Architekturierung des Zeitablaufes, wie sie von der Musik voll¬
zogen wird, diese unmittelbare Aufhebung der zum Tode hineilenden Zeit,
ist auch die unmittelbare Aufhebung des Todes im Bewußtsein -der Mensch-

1 H. Broch: Essays, Zürich 1955, Band II, S. 10.


Die natürliche Umwelt des Menschen 7l7

heitx.« Es ist hier nicht unsere Aufgabe, uns mit der Weltanschauung von
Broch ausainanderzusetzen. Wir können hier bloß feststellen, daß seine Ten¬
denz, die Musik philosophisch als reine Räumlichkeit zu interpretieren, ein
Höhepunkt der modernen fetischisierenden Tendenzen ist. Denn das, was
wir den Quasiraum der Musik nennen, will gerade die Universalität der
Musik in der Widerspiegelung der Wirklichkeit hervorheben; will zeigen,
daß die unmittelbar auf reines Hören, auf reine Zeitlichkeit angelegte Mu¬
sik ihrem Wesen nach doch ein Abbild der Totalität der Wirklichkeit ist, eine
»Welt« im strikt ästhetischen Sinn. Quasiraum in der Musik (und Literatur),
Quasizeit in den bildenden Künsten zerstören also bereits in der Vorhalle,
wo die Entfaltung der gesamten künstlerischen Welt vor sich geht, in der
ästhetischen Reproduktion des Verhältnisses, in dem der Mensch mit seinen
Sinnen zu seiner Umwelt, zu ihren Einwirkungen auf seine Innerlichkeit
steht, die fetischistische Trennung von Raum und Zeit, die gerade in unseren
Tagen infolge der Struktur- und Bewegungstendenzen der kapitalistischen
Gesellschaft auf die Spitze getrieben wird. Der scheinbare Tiefsinn Brochs ist
nur eine avantgardistische Kehrseite jenes akademistischen Formalismus, der
jeden Gehalt aus der Musik entfernen will. So wie im Leben, nach Gottfried
Kellers Worten, sich nüchterne und trunkene Philister herumtreiben - und
keiner ist besser als der andere -, so treffen sich in der heutigen Kunsttheorie
Akademismus und Avantgardismus als objektive Verbündete dabei, Fetischi¬
sierungen in das ästhetische Denken hineinzutragen.
Der Gedanke des Quasiraums in der Musik und in der Literatur hat also
nichts mit jenen uralten Tendenzen zu tun, die, von gewissen mathemati¬
schen Elementen in der Theorie der Musik ausgehend, ihr Wesen in einem
mystischen Geometrisieren suchen. Für die Entwicklung von Pythagoras bis
Keppler war dies aus den damaligen Wachstumsbedingungen der Theorie
historisch verständlich; man suchte für die stark empfundene, aber philoso¬
phisch nicht fundierbare Objektivität der Musik eine kosmische Begründung.
Schon bei Schelling sind Vergleiche wie: »Die Architektur bildet notwendig
nach arithmetischen, oder weil sie die Musik im Raume ist, nach geometrischen
Verhältnissen« nicht mehr als ein geistreiches, aber leeres Gedankenspiel, das
im bekannten Aphorismus von der Architektur als »erstarrter Musik«
gipfelt2. Hegel hat richtig gezeigt, daß für die Zeit keine Geometrie als

1 Ebd. S. 99.
2 Schelling, Wk. a. a. O. I. V. S. 576 und 593.
7i8 Die defetiscbisierende Mission der Kunst

dasanthropomorphisierende Widerspiegelung möglich ist, und hat damit sol¬


chem Analogisieren den philosophischen Boden entzogen. Daß es heute immer
wieder auftaucht, hat die oben angedeuteten gesellschaftlichen Gründe. Und es
ist eine große Freude für den Verfasser, darauf hinweisen zu können, daß
Thomas Mann im »Faustus« solche bei der Hauptfigur nicht selten auftre¬
tenden Experimente wie z. B. die einer »kosmischen Ordnung« für eine nicht
hörbare Musik stets mit überlegener Ironie als Symptome solcher abwegigen
modernen Tendenzen 'behandelt.
Der Quasiraum der Musik kann also nur dann einen ästhetischen Sinn erhal¬
ten, nur dann die Mission der Fetischzerstörung auf seinem Gebiet erfüllen,
wenn das von ihm geschaff ene Nebeneinander eben nur als Moment des zeit¬
lichen Nacheinander wirksam wird. Eine solche Beschränkung bedeutet aber
unvergleichlich mehr als das von uns eingangs erwähnte Moment der Stelle im
zeitlichen Ablauf, das Wirksamwerden der Unumkehrbarkeit der Zeit. Wir
haben früher in anderen Zusammenhängen das Wort von Marx »Die Zeit ist
der Raum der menschlichen Entwicklung« zitiert und betont, daß es sich da¬
bei nicht bloß um eine Metapher handelt. Die der Zeit innewohnende ein¬
deutige Richtung beinhaltet schon für die unorganische Natur die Unumkehr¬
barkeit bestimmter Vorgänge; für die organische Natur und erst recht für
die Welt des Menschen schlägt diese Tendenz ins Qualitative um: das zeit¬
lich Spätere enthält in sich die Bestimmungen des Vorangegangenen, jedoch
in einer aufgearbeiteten, bereicherten, vertieften Weise, so daß die faktische
oder erinnerungsmäßige Wiederkehr eines früheren Moments, die Kontra-
stierung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen den spezifischen Gehalt
einer Entwicklung, im Gegensatz zu einer bloßen Bewegung erhält. Diese
Grundtatsache der Rolle der Zeit im Leben der Menschen spiegelt sich in den
Künsten mit einem zeitlich homogenen Medium, nämlich Musik und Litera¬
tur, ab. In dieser Entwicklung, also im Zeitablauf, besteht das übergreifende
Moment der Widerspiegelung, da er ja ein bestimmender Faktor des Lebens
ist. Um aber eine solche Entwicklung bewußt machen zu können - und ihr
Selbstbewußtsein gestaltet ja die Kunst-müssen die Meilensteine und Wende¬
punkte dieses Weges sinnfällig evokativ deutlich werden. Indem der Quasi¬
raum dieser Künste, der — wir wiederholen — ein bloßes Moment der Zeit¬
lichkeit, des zeitlichen Ablaufs der Entwicklung bleibt, das zeitliche Nach¬
einander innerhalb seiner Reichweite als ein Nebeneinander erscheinen läßt,
schafft er jene Vergleichsmöglichkeiten, jene Kontraste zwischen Vorher, Jetzt
und Zukunftsperspektive, an denen man das Wesen des aus der Entwick¬
lung entsprungenen Neuen wirklich und allseitig als solches erkennen und
Die natürliche Umwelt des Menschen
7i9

erleben kann. Wenn also in der Musik ein Motiv, eine Melodie wiederkehrt, so
ist das me eine Wiederkehr schlechthin; vielmehr ist das Gegenwärtigwerden
seiner früheren Erscheinungsweise nur ein Sprungbrett dazu, um das radikal
Neue und Veränderte in der neugeschaffenen Lage unzweideutig erscheinen
zu lassen. Adorno hat diesen Charakter des Quasiraums in der Musik, ohne
diesen Terminus zu gebrauchen, gut beschrieben: »Aber solange Musik über¬
haupt in der Zeit verläuft, ist sie dynamisch derart, daß das Identische durch
den Verlauf zum Nichtidentischen wird, so wie umgekehrt Nichtidentisches,
etwa eine verkürzte Reprise, zum Identischen werden kann. Was man an
der traditionellen großen Musik Architektur nennt, beruht eben darauf, nicht
auf bloß geometrischen Symmetrieverhältnissen. Die mächtigsten Formwir¬
kungen Beethovens hängen daran, daß ein Wiederkehrendes, das einmal als
Thema bloß da war, nun als Resultat sich enthüllt, und damit [ganz ver¬
änderten Sinn annimmt. Oftmals wird durch solche Wiederkunft auch die
Bedeutung des Vorhergehenden erst nachträglich gestiftet h«
Damit wird das Gemeinsame an Quasiraum und Quasizeit — einerlei ob sie
subjektiv oder objektiv sind - ganz deutlich. Für jede weltschaffende Kunst
ist es eine Frage von schicksalhafter Bedeutung, daß sie wirklich die Welt als
Ganzes widerspiegle, daß deren dialektische Einheit und Vielfältigkeit nicht
nur im gestalteten Inhalt, sondern auch in den gestaltenden Formen zum
Ausdruck gelange; daß das Werk, das mit dem Anspruch, eine »Welt« zu
sein, auftritt, sich nicht auf einen inhaltlich fetischisierten Ausschnitt oder
auf einen formal fetischisierten Aspekt beschränke. Über bestimmte kompli¬
zierte Kategorien, deren ästhetische Umarbeitung eine solche Funktion für
das Werk garantiert, haben wir bereits, wenn auch nicht ausdrücklich auf
dieses Problem bezogen, gesprochen und werden wir in späteren Betrachtun¬
gen noch ausführlich sprechen. Hier sei nur noch hervorgehoben, daß, eben
weil die Kunst in ihren weltschaffenden Tendenzen auf sinnliche Evokation
eingestellt sein muß, gerade solche elementaren Kategorien wie Raum, Zeit
und Bewegung als unerläßliche Vorbedingungen einer jeden möglichen Wir¬
kung in Betracht zu ziehen sind. Jede Kunst ist das Abbild des Menschen¬
lebens, der Entwicklung der Menschheit. Und da die raum-zeitliche Bestimmt¬
heit des Daseins, die Koexistenz beider in jeder Lebensäußerung die objek¬
tive Grundlage einer jeden menschlichen Existenz ist, da andererseits die
homogenen Medien der Künste eine Differenzierung nach Räumlichkeit und

1 Th. W. Adorno: Dissonanzen, Göttingen 1956, S. 110 f.


720
Die defetischisierende Mission der Kunst

Zeitlichkeit imperativ vorschreiben, müssen diese Medien selbst dafür sor¬


gen, daß ihre Differenzierung nicht wieder in eine fetischhafte Trennung
ausarte.

II Die unbestimmte Gegenständlichkeit

Die weitaus bestimmtere Inhaltlichkeit der Literatur macht die konkrete Er¬
scheinungsweise des Quasiraums in ihr viel komplizierter. Da jedoch hierbei,
philosophisch angesehen, keine prinzipiell neuen Fragen auftauchen, ver¬
zichten wir auf ihre Analyse und wenden uns jenem Problem zu, das wir in
der Formulierung dieser Differenz bereits angedeutet haben, dem Problem
der Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit der Gegenständlichkeit in der ästhe¬
tischen Sphäre. Das Problem selbst in seiner allgemeinsten Fassung ist auch
hier, wie in allen inhaltlich wichtigen Fällen, kein spezifisch ästhetisches. Für
das alltägliche und sogar für das wissenschaftliche Denken hat jede Bestim¬
mung einen doppelten Charakter: einerseits muß sie die wesentlichen Mo¬
mente des betreffenden Gegenstandes annähernd richtig widerspiegeln und
möglichst unzweideutig auf den Begriff bringen, andererseits wird unter der
unendlichen Anzahl der Eigenschaften etc. der Objekte eine Auswahl nicht
nur nach ihrem sachlich-objektiven Gewicht getroffen. Die Art der Auswahl
wird auch von jenem praktischen oder erkenntnismäßigen Ziel determiniert,
dem die betreffende Bestimmung zu dienen hat. Natürlich hängt die Richtig¬
keit der Bestimmung vor allem von dem Erfüllen der ersten Bedingung ab,
aber die Praxis der Wissenschaften zeigt wiederholt, daß sie gezwungen sein
können, auch objektiv richtige Bestimmungen umzuarbeiten, weil sie für die
betreffende Wissenschaft teils überflüssige Züge, Merkmale etc. enthalten, teils
gerade jene ungenügend umreißen, die für die jeweils wichtigen Problem¬
komplexe entscheidend sind. Im Alltagsdenken, das nur allzuoft mit Bestim¬
mungen ad hoc zu arbeiten gezwungen ist, tritt diese Komponente verständ¬
licherweise noch deutlicher hervor.
Zusammenfassend bedeutet all dies, daß jede richtige Bestimmung, ohne ihre
Deutlichkeit und Eindeutigkeit einzubüßen, ja geradezu als Schutz für diese,
auch Elemente der Unbestimmtheit an sich haben muß. Die Überbestimmtheit
kann sehr wohl zum Flindernis der Theorie und Praxis werden, während eine
richtige Unbestimmtheit zwar die Irrwege abschneidet, aber mit demselben
Akte einen sonst schwer erreichbaren Spielraum für künftige Entwicklungen
Die unbestimmte Gegenständlichkeit 7 21

schafft, em fetischistisches Erstarren zu Dogma und Vorurteil verhindert.


Lenin hat im »Empiriokritizismus« sehr klar über diese Art der Bestimmung
gesprochen. Er faßt seine Betrachtungen über relative und absolute Wahrheit
zusammen und zieht daraus die hier für uns wichtigen methodologischen
Konsequenzen: »Kurz gesagt, geschichtlich bedingt ist jede Ideologie, aber
unbedingt ist, daß jeder wissenschaftlichen Ideologie (im Unterschied z. B.
zur religiösen Ideologie) eine objektive Wahrheit entspricht, eine absolute
Natur. Ihr werdet sagen: diese Unterscheidung zwischen relativer und ab¬
soluter Wahrheit sei unbestimmt. Ich antworte darauf: diese Unterscheidung
ist gerade >unbestimmt< genug, um die Verwandlung der Wissenschaft in
ein Dogma im schlechten Sinne dieses Wortes, d. h. in etwas Totes, Erstarrtes,
Versteinertes zu verhindern, sie ist aber zugleich >bestimmt< genug, um sich
auf das Entschiedenste und Unwiderruflichste von Fideismus und Agnostizis¬
mus, vom philosophischen Idealismus und von der Sophistik der Nachfolger
Kants und Elumes abzugrenzen b«
Man sieht: es handelt sich hier um eine grundlegende Tatsache der Wider-
spiegelung der Wirklichkeit, die sich aus der Widersprüchlichkeit zwischen der
unendlichen Zahl der Bestimmungen der objektiv seienden Gegenstände und
Zusammenhänge und zwischen ihrer Bezogenheit auf jene Beschränkungen
ergibt, die die Grenzen seiner eigenen Natur sowie die Begrenztheiten seiner
praktischen Zielsetzungen dem Menschen diktieren. Es ist wiederum selbst¬
verständlich, daß eine derart fundamentale Konstellation auch in der ästhe¬
tischen Widerspiegelung eine entsprechende Rolle zu spielen hat. Ja, sie muß
hier womöglich noch bedeutsamer werden, weil der Kunst das relative
Überschreiten der anthropologischen Bedingtheiten der menschlichen Wider¬
spiegelung der Wirklichkeit durch die desanthropomorphisierende Methode
der Wissenschaften prinzipiell versperrt ist. Und zwar nicht bloß als fak¬
tische Schwäche, wie dies im Alltagsleben oft der Fall ist, sondern gerade als
Quelle der spezifischen Leistungsfähigkeit der Kunst. Die anthropologischen
Grenzen des Menschen müssen in ihr zu positiven, fruchtbaren Kräften wer¬
den; jene Entwicklung, die in unserer ästhetisch transformierten Sinnlichkeit
unzweifelhaft stattgefunden hat, stellt immer eine Intensivierung etc. inner¬
halb ihres Bereichs dar. Weiter muß als wichtiger Unterschied zu Wissen¬
schaft und Alltag auf den prinzipiell definitiven Charakter eines jeden Kunst¬
werks hingewiesen werden. Die Bestimmungen in Wissenschaft und Alltags-

1 Lenin: Werke, a. a. O. Band XIII, S. 124 f.


722 Die defetischisierende Mission der Kunst

leben werden durch die Praxis ununterbrochen kontrolliert und korrigiert,


die Fixierungen haben deshalb - ebenfalls prinzipiell - stets einen provi¬
sorischen, umwälzende oder partielle Veränderungen einkalkulierenden
Charakter. Natürlich ist das Entstehen der Kunstwerke ebenfalls einem sol¬
chen Prozeß unterworfen, das ist aber eine Spezialfrage des schöpferischen
ästhetischen Verhaltens, die wir im zweiten Teil ausführlich untersuchen wer¬
den. Ist jedoch das Kunstwerk einmal entstanden, so ist es seinem Wesen
nach etwas Endgültiges, oder es ist als Kunstwerk gar nicht vorhanden. Das
bedeutet, daß die Anforderung an das genaue Funktionieren der Bestimmun¬
gen noch höher gespannt sind, als in anderen Gebieten. Endlich müssen wir
das ganze Problem auch vom Gesichtspunkt des Pluralismus der Kunstarten
und der Kunstwerke ins Auge fassen. Die qualitative Verschiedenheit der
homogenen Medien in den Kunstarten, bis hinunter zu ihrer individuellen
Beschaffenheit in jedem einzelnen Kunstwerk, bringt hier spezifische Diffe¬
renzierungen hervor. Um bereits oft Ausgeführtes in neuem Zusammenhang
kurz zusammenzufassen: die Art der Bestimmungen in der ästhetischen
Sphäre weist zwar genau formulierbare Prinzipien auf, kennt aber keine
allgemeine, allgemein anwendbare Regel.
In einem Brief an Goethe hat Schiller diese Frage in bezug auf die Literatur
sehr klar aufgeworfen: »Vorderhand scheint mir, daß man mit großem Vor¬
teile von dem Begriff der absoluten Bestimmtheit des Gegenstandes aus¬
gehen könnte. Es würde sich nämlich zeigen, daß alle, durch eine ungeschickte
Wahl des Gegenstandes, verunglückte Kunstwerke an einer solchen Unbe¬
stimmtheit und daraus folgender Willkürlichkeit leiden . . . Verbindet man
mit diesem Satz nun den anderen, daß die Bestimmung des Gegenstandes
jedesmal durch die Mittel geschehen muß, welche einer Kunstgattung eigen
sind, daß sie innerhalb der besonderen Grenzen einer jeden Kunstspecies ab¬
solviert werden muß, so hätte man, deucht mir, ein hinlängliches Kriterium,
um in der Wahl der Gegenstände nicht irregeleitet zu werden1.« Daß
Schiller hier von der Gegenstandswahl spricht, die sowohl dem Schaffens¬
prozeß wie erst recht dem fertigen Werk vorhergeht, vermindert nicht das
Verdienstvolle seines Gedankengangs, im Gegenteil steigert es. Denn er weist
damit auf die Wahrheit hin, daß die richtige ästhetische Widerspiegelung der
Wirklichkeit früher ansetzen muß, als bei der künstlerischen Arbeit im eigent¬
lichen Sinne, sie muß schon in der Auswahl des Stoffes, ja im »vorkünstleri¬
schen« Erleben der Wirklichkeit eine aktive Rolle spielen, damit der Formungs-

1 Schiller an Goethe, 15. IX. 1797.


Die unbestimmte Gegenständlichkeit
7* 3

prozeß brauchbare Halbfabrikate vorfinde. Das Wichtige und Bahnbrechende


in diesen Bemerkungen Schillers ist vor allem, daß er die »absolute Bestimmt¬
heit des Gegenstandes« an die spezifischen Bedingungen der einzelnen Kunst¬
arten knüpft, d. h. daß nach seinen Anschauungen die »absolute Bestimmtheit
des Gegenstandes« in der Dramatik etwas qualitativ anderes bedeutet als in
der Epik, im Roman etwas anderes als in der Novelle usw. Es ist leicht zu
erkennen, daß wir darin dieselbe Struktur der Bestimmungen wiederfinden,
die wir soeben ganz allgemein für jede Widerspiegelung und für jede an
sie anschließende Praxis feststellen konnten. Indem Schiller die Möglichkei¬
ten und Anforderungen der einzelnen Kunstarten an jene Stelle setzt, die im
Alltag das teleologische Moment des Handels einnimmt, hat er die spezifische
Methodik der Bestimmungen in der ästhetischen Sphäre genau Umrissen.
Freilich ist ihm in dieser Frage Lessing vorangegangen. Ist doch ein wesent¬
licher Inhalt seines »Laokoon« die Grenzsetzung zwischen Literatur und
bildender Kunst in dieser Hinsicht. Wenn bei ihm das Problem der Beschrei¬
bung und ihr Bekämpfen als Ausdrucksmittel der Literatur im Vordergrund
steht, so ist es nicht schwer, darin die Bezüge auf das uns jetzt Interessierende
zu entdecken. Nimmt man die berühmtesten Beispiele aus seiner Argumen¬
tation - den Szepter des Agamemnon, den Schild des Achilles, Helena und
die trojanischen Greise —, so sieht man seine Hauptabsicht vollkommen
klar: ein Gegenstand der Literatur, der in der Malerei mit allen Eigen¬
tümlichkeiten seines unmittelbaren, dinghaften, sinnlichen Daseins erschei¬
nen müßte, wird literarisch zum bloßen Element einer bestimmten Hand¬
lung. Das bedeutet nun vor allem, daß die Gegenstände in der Literatur nicht
in ihrem einfachen Ansich Vorkommen dürfen, sondern als gegenständliche
Vermittlungen der menschlichen Beziehungen, der sie verwirklichenden
Handlungen; dies ist insbesondere bei der Analyse des Szepters deutlich
sichtbar. Schon hier ist es klar, daß Lessing, ohne noch unseren Fetischbegriff
zu kennen, hier gegen die Fetischisierung der literarisch widergespiegelten
Wirklichkeit kämpft. Denn in der Literatur stehen Mensch und menschliche
Beziehungen im Mittelpunkt der von ihr geschaffenen Welt. Nicht nur in
jener längst veralteten und vergessenen beschreibenden Literatur, gegen
welche Lessing seine unmittelbaren Angriffe richtet, verschwindet das Wesent¬
liche des menschlichen Daseins und Schicksals im Unkraut der fetischgewor¬
denen Objekte seines Tuns, der Begebenheiten seines Lebens, sondern auch im
modernen Naturalismus der Zolaschule, bei Adalbert Stifter, bis zu den
avantgardistischen Vorkämpfern der Montage einer verdinglichten Welt wie
Dos Passos und bis zum allerneuesten »Dingroman« vom Typus Alain Robbe-
Die defetischisierende Mission der Kunst
724

Grillet. Diese Polemik trifft also ein künstlerisches Zentrum der ent-
fetischisierenden Mission der Literatur. Aber diese Funktion hängt zugleich
unmittelbar mit unserem jetzt behandelten Problem der Bestimmtheit oder
Unbestimmtheit der gestalteten Gegenständlichkeit zusammen. Das Szepter
Agamemnons bleibt seiner sinnlich unmittelbaren Gegenständlichkeit nach
weitgehend unbestimmt, dagegen haben wir, infolge der Geschichte seines
Entstehens, seiner Rolle im Leben der Gesellschaft etc. und einiger weniger
Lichtstrahlen, die sein sinnliches Sein andeuten, ein für die evokative Repro¬
duktion der Gesamtlage hinreichend deutliches Bild auch von seiner Objekt¬
beschaffenheit.
Vielleicht noch klarer tritt die Dialektik von Bestimmtheit und Unbestimmt¬
heit in der von Lessing analysierten Helenaszene zutage. Hier hebt er be¬
sonders hervor, daß sich bei Homer überhaupt nichts Konkretes über das
Aussehen Helenas vorfindet; dieser stellt bloß dar, wie ihre Schönheit auf
die trojanischen Greise wirkt. Wenn dies nun etwas verallgemeinert wird
- und wir werden gleich sehen, daß wir dazu das volle Recht haben -, so
stehen wir vor der auf den ersten Anblick paradoxen Lage, daß gerade das
große Gedicht, dessen Dauerwirkung sicher in erster Linie auf dem Sinn¬
fälligmachen des menschlichen Innenlebens beruht, auf die Gestaltung der
äußeren Erscheinungsweise seiner Gestalten einfach verzichten kann, selbst
in solchen Fällen, in denen, wie gerade bei Helena, die Schönheit der ent¬
scheidende Faktor des sich in der Handlung verkörpernden Schicksals ist.
Diese scheinbare Paradoxie verliert etwas von ihrer anfänglichen Härte,
wenn man bedenkt, daß das Drama, mit Ausnahme des letzten Halbjahr¬
hunderts, nie Beschreibungen seiner Gestalten gab, diese aber dennoch über
Jahrtausende hindurch im Bewußtsein der Menschheit lebendig blieben. Ja
sogar, um von den modernen Szenenanweisungen gar nicht zu sprechen, in
den seltenen Fällen, wo der Dialog die äußere Erscheinung der Helden an¬
gibt, konnte diese sich nicht immer jenem Bild gegenüber, das aus der Hand¬
lung selbst entsprang, durchsetzen; die Königin sagt über Hamlet im letzten
Aufzug: »Er ist fett und kurz von Atem«, ohne damit das lebendige Hamlet¬
bild im geringsten beeinflussen zu können. Scheinbar ist die moderne Art der
Epik, mit ihren breiten und ausführlichen Beschreibungen über die von Les-
sing geschilderte Art Homers hinausgegangen. Wenn man aber die Sachlage
genau untersuchte, würde man zu überraschenden Resultaten gelangen
und finden, daß etwa die Anziehungskraft der Romanfiguren, wo sie
wirklich lebendig gestaltet sind, der der Homerischen Helena oft nahe¬
kommt, allerdings — was dem nicht widerspricht — durch einige sinnliche
Die unbestimmte Gegenständlichkeit 725

Blitzlichter etwas konkreter sinnfällig gemacht. Aber auch ein so bewußt


produzierender, so stark versinnlichender Erzähler wie Thomas Mann, hat es
in seinem »Faustus« strikt abgelehnt, die beiden Hauptgestalten äußerlich
erkennbar zu machen. Er gibt darüber eine auch theoretisch sehr interessante
Erklärung in seiner Studie über die Entstehung dieses Romans: ». . . merk¬
würdigerweise, gab ich ihm kaum ein Aussehen, eine Erscheinung, einen Kör¬
per. Die Meinen wollten immer, daß ich ihn (beschreibe, daß ich, wenn schon
der Narrator nur ein gutes Herz und eine zitternd aufzeichnende Hand
bleiben müsse, doch wenigstens seinen und meinen Helden sichtbar machen,
physisch individualisieren, anschaulich wandeln lassen sollte. Wie leicht wäre
das gewesen! Und wie geheimnisvoll unzulässig, in einem noch nie erfahrenen
Sinn unmöglich war es doch wieder! Unmöglich auf andere Art, als es die
Selbstbeschreibung Zeitbloms gewesen wäre. Ein Verbot war hier einzuhal¬
ten - oder doch dem Gebot größter Zurückhaltung zu gehorchen bei einer
äußeren Verlebendigung, die sofort den seelischen Fall und seine Symbol¬
würde, seine Repräsentanz mit Herabsetzung, Banalisierung bedrohte 1.« Es
ist dabei bemerkenswert, daß Thomas Mann für die Nebenfiguren desselben
Romans ein Beschreiben »im pittoresken Sinn« zugibt.
Nichts wäre falscher, als aus solchen gewichtigen Tatsachen eine unsinnliche
Abstraktheit der Dichtung zu folgern. Die wenigen Beispiele aus der bedeu¬
tendsten Dichtung, die wirklich von solcher Beschaffenheit sind (etwa Alfieri),
können keine allgemeine Beweiskraft haben. Heute ist sich bereits jeder dar¬
über im klaren, daß eine solche Auffassung der griechischen Literatur den
ästhetischen Tatbeständen nicht entspricht. Es wäre lächerlich, die sinnliche
Gestaltungsmacht Homers oder der Tragiker in Zweifel zu ziehen. Dann
taucht jedoch die Frage auf: woher die Lebendigkeit der Gestalten, wenn
ihre sinnliche Erscheinung unbestimmt bleibt? Die negative Kehrseite gibt
darauf noch keine Antwort, obwohl durch diese der Spielraum einer solchen
Lebendigkeit bis zu einem gewissen Grade konkreter wird. Das 19. Jahr¬
hundert hat insbesondere die literarische Darstellung des sinnlichen Äußeren
auf eine hohe Stufe der technischen Vollendung erhoben. Wenn wir jedoch
die Gegenfrage stellen, welche Gestalten Zolas, der ein echter Virtuose in der
Beschreibung dieses sinnlichen Äußeren war, noch heute lebendig im Bewußt¬
sein der Menschen leben, so werden wir sicher die Antwort erhalten: gar
keine; höchstens Nana bleibt in Erinnerung als eine flach-pittoreske Allegorie

1 Thomas Mann: Gesammelte Werke, Berlin 1955, Band XII, S. 237.


yz6 Die defetischisierende Mission der Kunst

des Paris im zweiten Kaiserreich. Es zeigt sich also vorerst - was bereits bei
der Fettheit und Kurzatmigkeit Hamlets erhellt wurde daß in sehr vielen
Fällen eine derartige genaue Darstellung keine wirkliche Bestimmung ist,
vielmehr eine - überflüssige - Uberbestimmung.
Solche kommen natürlich auch im Alltag und in der Wissenschaft vor. In
diesen können sie zu Hemmungen oder Störungen des weiteren Forschens
werden. Auch im Alltag wirkt sich die Überbestimmung negativ aus, zumeist
jedoch als einfache Überflüssigkeit, die die Praxis oft beiseite wirft. Dasselbe
geschieht natürlich auch in der Fiteratur. Da jedoch die Uberbestimmtheit,
mit allen Folgen des Überflüssigen, einen festen Bestandteil des Werks, ja
zuweilen ein Prinzip seiner Gestaltungsweise bildet, ist diese Frage lange
nicht so einfach wie im Alltag. Das, was für das Kunstwerk - freilich in
einem sehr weiten Sinne — nicht notwendig ist, ist in den meisten Fällen
nicht einfach überflüssig sondern belastend, ja störend. Auch hier darf man
sich freilich keinen metaphysisch-starren Gegensatz vorstellen. Wir haben
früher an Hand einer selbstkritischen Äußerung Musils über den Unterschied
von Spannen und Fesseln in der den Rezeptiven leitenden Funktion des
Kunstwerks gesprochen. Musil selbst erkennt an, daß das bloße Fesseln in
weitaus schwächerer Weise das Feiten des Rezeptiven zu bewerkstelligen im¬
stande ist als das Spannen. Auch hier ist die Ursache unschwer feststellbar:
die Spannung ist die seelische Form, in welche das homogene Medium der
epischen und dramatischen Dichtungsarten den Rezeptiven versetzt, welche
sein Verhalten als ganzen Menschen der objektiven Wirklichkeit gegenüber
in das des Menschen ganz des konkreten Kunstwerks überführen soll. Wenn
er von dem Werk bloß gefesselt wird, steht er zu ihm als zu einem heraus¬
gerissenen Stück der Wirklichkeit, d. h. er gibt sich nicht dem Strom der
Dichtung hin - da ein solcher ja gar nicht vorhanden ist -, erlebt nicht eine
»Welt« des Dichterischen, ein gestaltetes Abbild der Wirklichkeit in ihrer
Totalität (sub specie des gegebenen homogenen Mediums) und so das Zentral¬
problem des jeweiligen konkreten Kunstwerks. Dieses zerfällt vielmehr in
bloß kausal mehr oder weniger locker verbundene Stücke, auf die der Rezep¬
tive — je nach ihrem geistig-künstlerischen Niveau — interessiert, gleich¬
gültig oder ablehnend reagiert. Das Erreichen des Musilschen Fesselns könnte
also bestenfalls eine Permanenz der Interessiertheit erzielen, nicht die evo-
kative Kontinuität der echt künstlerischen Wirkung.
Wir befinden uns mit diesen Betrachtungen noch immer im Bereich der Pro¬
blems der Bestimmtheit oder Unbestimmtheit der Gegenstände der Literatur.
Nur muß sein konkreter Inhalt noch etwas mehr verallgemeinert werden.
Die unbestimmte Gegenständlichkeit 7*7

Wir sind von Lessings Beispielen ausgegangen, in denen dieses Problem als
das der sinnlichen Darstellung der äußeren Erscheinungsweise der Objekte
gefaßt wurde. Es ist aber ohne weiteres einleuchtend, daß die dabei erzielten
künstlerischen Ergebnisse für die gesamte Gegenstands- und Formwelt der
Dichtung gelten. Es handelt sich, bei vollzogener Verallgemeinerung, um die
Philosophie der Details in der Literatur. Und zwar sowohl in quantitativer
wie in qualitativer Hinsicht. Wir erinnern dabei an die von Lenin hervor¬
gehobene Funktion der Unbestimmtheit in einer dem Wesen nach richtig
gefaßten Bestimmung: an die Vermeidung des Dogmas, der Erstarrung (der
Fetischisierung) bei genauer Grenzenziehung dort, wo dies der Gehalt der
betreffenden Bestimmung vorschreibt. Künstlerisch angesehen hat diese Lage
die Folge, daß alle jene Fragen, die mit der zentralen Absicht des wesent¬
lichen Problems nicht organisch Zusammenhängen, aus der Darstellung ein¬
fach ausscheiden, selbst dann, wenn sie rein logisch oder rein historisch be¬
trachtet diesem zugehören würden. Diese Feststellung gibt uns die Möglich¬
keit, den Umkreis des Behandelten weiter zu ziehen, als es die bisher betrach¬
teten Lessingschen Beispiele tun. So tadelt Hegel, wie wir gesehen haben,
an Shakespeare, daß er die Thronberechtigung Macbeths - die in den Chroni¬
ken enthalten ist - fortläßt. Nun hat Shakespeare in seinen großen Tragö¬
dien die Auflösung der feudalen Welt gestaltet; nicht die Tatsachen, die Be¬
gebenheiten, die konkret-kausalen Zusammenhänge - das war der Inhalt
des Zyklus über den Krieg der Rosen -, sondern die großen Typen des
Untergangs, ihre Leidenschaften und Schicksale, den großen historischen Hin¬
tergrund und Untergrund des Verfalls, die Konturen des kommenden neuen
Menschen: die Geschichtsphilosophie und nicht die Chronik des absterbenden
Feudalismus. Darum spielen keine persönlich subalternen Ursachen, die Hegel
ihm unterschiebt, eine Rolle dafür, daß Macbeths Legitimität im Dunkeln
bleibt, sondern der gewichtige geschichtsphilosophische Grund, daß von der
Warte aus, von der Shakespeare diesen Prozeß überblickt, ein kleinlicher Ge¬
sichtspunkt wie die Legitimität überhaupt nicht Vorkommen kann.
Hegels Bemerkung ist nicht so sehr als konkretes Fehlurteil interessant, viel¬
mehr als ein erstes Auftauchen einer höchst problematischen Gedankenrich¬
tung des 19. Jahrhunderts: der Übermotivierung. Wie und wieweit die darin
sich ausdrückenden Tendenzen für die Wissenschaft mitunter auch fruchtbar
werden konnten, hat uns hier nicht zu beschäftigen. Sicher ist, daß die
Literatur mit überbestimmten (und dichterisch überflüssigen) Motivierungen
belastet wurde, die der Komposition des Ganzen und der Teile ihre Schlank¬
heit nehmen mußten, ohne den dichterischen Gehalt wirklich schwerwiegen-
7i% Die defetischisierende Mission der Kunst

der zu machen. Wir werden uns wieder auf ein Beispiel beschränken. Romeo
erblickt Julia - und die Tragödie ist da; keinem Menschen fällt es ein, die
Frage aufzuwerfen, warum er sich gerade in sie verliebt hat. Ein so bedeuten¬
der Dramatiker wie Hebbel wirft aber bei ähnlicher Gelegenheit diese Frage
doch auf. Er vergeudet einen ganzen Akt seiner »Agnes Bernauer« darauf,
die unwiderstehliche Schönheit seiner Heldin »zu motivieren«, wo doch -
dramatisch betrachtet - die schlichte Tatsache, daß der bayerische Herzog
Albert sich in das schöne Bürgermädchen verliebt und sie heiratet, als Grund¬
lage für den Konflikt vollständig genügt hätte. Noch deutlicher ist diese Lage
in Zolas »Germinal«. Wenn dort inmitten des Grubenunglücks Etienne Lan-
tier Chaval totschlägt, so wäre ihre Rivalität, die Zerstörung des Lebens¬
glücks von Etienne durch Chaval unter diesen Umständen eine völlig hin¬
reichende Motivierung der Tat. Daß Zola hier den erblichen Alkoholismus
Etiennes als entscheidendes Motiv bringt, verwandelt, eben wegen der Über¬
bestimmtheit, die Tragödie in einen Schulfall der Pathologie. Mit solchen
Übermotivierungen, Uberbestimmtheiten der dichterischen Gegenständlich¬
keit ist die Literatur seither voll. Wenn wir sagen, daß damit die Schlank¬
heit der Linienführung gestört wird, so drücken wir uns in einer einseitig
formalen Weise aus. Das Fehlen dieser Schlankheit resultiert daraus, daß die
Schriftsteller den echt dichterischen, entfetischisierenden Blick über das ganze
Leben verloren haben, daß sie deshalb unter die entscheidenden Ordnungs¬
prinzipien ihrer Werkwelten Bestimmungen aufnehmen, die den fetischisti¬
schen Vorurteilen ihrer Zeit angehören — wie die Allmacht der pathologi¬
schen Vererbung bei Zola — und deshalb ein konsequentes künstlerisches
Zuendegestalten der widergespiegelten Welt immer wieder hemmen oder
geradezu verhindern. Solche fetischisierenden Vorurteile sind natürlich
je nach Periode verschieden; zur Zeit ihrer Herrschaft und allgemeinen Ver¬
breitung werden sie geradezu als Gestaltungsersatz verwendet, indem ihr
einfaches Vorhandensein Illusionen über eine oft gar nicht vorhandene ästhe¬
tische Bestimmtheit erweckt. Mehr oder weniger rasch treten aber andere
Fetische in den Vordergrund und die »große« oder »avantgardistische« Kunst
von gestern erscheint heute als starr, leblos und leer. Natürlich ist das ent¬
gegengesetzte Extrem ebenso schädlich. Das prinzipielle und völlige Fehlen
der Motivierung, wie in der »action gratuite« Gides ergibt zwar eine for¬
male Schlankheit, aber zugleich eine nihilistische Unbestimmtheit der gesam¬
ten weltanschaulichen Atmosphäre des Werks, eine Konturlosigkeit der Ge¬
stalten und Situationen etc. Bestimmtheit und Unbestimmtheit sind also
Funktionen der jeweiligen konkreten intensiven Totalität des Werks (des
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
7*9

Genres), lassen sich ebensowenig auf »Regeln« zurückführen wie andere echt
ästhetische Kategorien, ohne deshalb ihre eindeutige Gesetzmäßigkeit zu ver¬
lieren.

Neben solchen qualitativen Momenten der Bestimmtheit oder Unbestimmt¬


heit rnuß nun kurz auch der quantitativen gedacht werden. Hier tritt das
Problem des Details noch offenkundiger in den Vordergrund, obwohl es
klai ist, daß die bisher angeführten Beispiele mit dieser Frage ebenfalls eng
Zusammenhängen. Denn es genügt, an die frühere Gegenüberstellung von
Shakespeare und Hebbel zu denken, um einzusehen, daß die Art, in welcher
jeder von ihnen die Entstehung einer großen Liebe im Konflikt mit der Ge¬
sellschaft darstellt, auf Quantität und Qualität der Details den stärksten Ein¬
fluß ausüben muß. Wenn wir jetzt auf die Quantität der Details eingehen,
so ist ebenfalls klar, daß von einer einfachen quantitativen Vergleichung nie
die Rede sein kann. Stile und Künstlerpersönlichkeiten unterscheiden sich
darin in höchst ausgeprägter Weise, und es gibt Fälle, in denen ein großer
Reichtum an Details, wie etwa bei Dickens oder Gottfried Keller, im künst¬
lerischen Sinne als genau abgewogen gelten kann, während bei anderen, die
in bezug auf Details viel zurückhaltender sind, sich ein Überschuß im Sinne
der Überflüssigkeit vorfinden kann, wie bei Hebbel und zuweilen bei Schil¬
ler. Das führt wieder zur Philosophie der Details zurück. Ein Detail ist nur
dann künstlerisch völlig berechtigt, wenn es einen Charakter, eine Situa¬
tion etc. von einer neuen, mit dem Hauptproblem, wenn auch noch so ver¬
mittelt, zusammenhängenden Seite beleuchtet, wenn es etwas von ihrem We¬
sen zur Erscheinung bringt, das sonst verhüllt geblieben wäre. Die Quantität
wird also nur auf die letzten Intentionen des Werks bezogen ästhetisch sinn¬
voll. Sie läßt sich in dieser Bezogenheit sehr wohl ästhetisch rational behan¬
deln, und die Entscheidung über richtige Proportioniertheit, dürftige Bestimmt¬
heit oder falschen Überfluß kann jeweils aus den Prinzipien eindeutig abge¬
leitet werden. Aber - um bereits Gesagtes zu wiederholen - gerade die
ästhetische Rationalität der Prinzipien schließt den Pluralismus der Stile und
Werke ein und schließt eben deshalb jede abstrakt-allgemeine Regel apriori
aus.
Daß diese letzten Feststellungen für Malerei und Plastik vollständig gelten,
bedarf wohl keines ausführlichen Beweises. Gerade hier ist auf den ersten
Blick evident, daß es z. B. bei van Eyck ebensowenig überflüssige Details gibt
wie bei Manet. Ebenso klar ist es, daß überall die allgemeine Konzeption der
Zeit, des Stiles, des Künstlers darüber entscheidet, welche Details als be¬
stimmend für die Gegenständlichkeit im Kunstwerk betrachtet werden und
Die defetiscbisierende Mission der Kunst
73°

andererseits welche realen Bestimmungen der wirklichen Gegenständlichkeit


für das Kunstwerk in Unbestimmtheit verbleiben können, ja sollen. Diese
allgemeine Konzeption der Gegenständlichkeit, die jeweils von den verschie¬
densten Faktoren determiniert ist (ihre Skala bewegt sich von der Welt¬
anschauung bis zur momentan erzielten technischen Fertigkeit), schließt in
konkreten Fällen ganze Komplexe der abstrakt möglichen Details aus, z. B.
den modifizierenden Einfluß von momentanen Beleuchtungseffekten auf die
Farbgebung, die die sichtbare Gegenständlichkeit konstituiert, während gleich¬
zeitig und von der jeweiligen Konzeption dem Wesen nach bestimmt, andere
Komplexe in den Vordergrund treten müssen. Ist mit alledem immer wieder
dem Künstler ein verschieden großer Spielraum der möglichen Detailgestal¬
tungen aufgegeben, so ist selbstverständlich, daß das, was wir das quanti¬
tative Problem des Details genannt haben, immer nur innerhalb eines solchen
realen Spielraums auftauchen kann.
Dieser unmittelbar gegebene Problemkomplex zeigt jedoch beim näheren Zu¬
sehen allgemeinere Aspekte des Problems von Bestimmtheit und Unbestimmt¬
heit der Objekte in den bildenden Künsten. Ganz allgemein formuliert lautet
die Frage so: während in der Literatur die Dialektik des Äußeren und Inne¬
ren sehr kompliziert und verschlungen erscheint und darum weder als Deter¬
minante noch als Kriterium figurieren kann, erblicken wir jetzt dieses Ver¬
hältnis in einer von der Sache selbst höchst vereinfachten Weise; nämlich so,
daß die bildenden Künste unmittelbar nur das Äußere zu gestalten imstande
sind, was sie jedoch seit jeher so tun, daß das künstlerische Formwerden des
Äußeren zwangsläufig das Innere evoziert. Das ist bereits bei den Abbildun¬
gen zu magischen Zwecken der Fall, und das Entstehen von bildenden Kün¬
sten, die sich von den magischen oder religiösen Zielsetzungen, von der Evo¬
kation magischer oder religiöser Inhalte emanzipierten, kann an diesem ab¬
strakt allgemein betrachteten Tatbestand nichts Wesentliches ändern. Wenn
allerdings die Verallgemeinerung nicht ganz abstrakt vollzogen wird, wird
der sehr wesentliche Unterschied von allegorischer oder immanent gestalten¬
der (nach der Terminologie der Goethe-Zeit: symbolischer) Darstellung sicht¬
bar: je nachdem, ob das Innere des Gehalts mit dem Äußeren der Gestaltung,
mit dem sichtbar gewordenen System von Figuren, Gegenständen etc. unmit¬
telbar identisch ist, so daß nach Flegels Worten »was innerlich ist, auch äußer¬
lich vorhanden ist und umgekehrt1«, oder das Innerliche den Anspruch

1 Hegel: Enzyklopädie, § 139.


Die unbestimmte Gegenständlichkeit
731

auf eine selbständige Existenz erhebt, unabhängig von seiner visuellen Ver¬
körperung, mit dieser nur mehr oder weniger locker verknüpft. Wir betrach¬
ten hier immer den ersten Weg als normal für das Ästhetische und das Alle-
gorisieren als ein Abweichen von seinen wesentlidien Normen. Eine philoso¬
phische Begründung dieser These kann erst das letzte Kapitel bringen.
Mag aber das Verhältnis des Äußeren zum Inneren als noch so eng und intim
gefaßt werden, für die bildenden Künste bleibt die Lage bestehen, daß ihr
homogenes Medium nur dem Äußeren eine völlig bestimmte Gestalt zu geben
vermag, wobei diese Bestimmtheit aller oben angedeuteten oft an sich tief¬
greifenden Unterschiede in ihrem Sinnfälligwerden von dieser Warte aus als
bloße Unterarten zusammengefaßt werden müssen. Das Innere kann nur
durch das Äußere vermittelt zum Ausdruck kommen und muß so einer unauf¬
hebbaren Unbestimmtheit anheimfallen. Will man dieses Verhältnis ästhe¬
tisch richtig begreifen, so muß man sich klarmachen, daß damit die voll¬
ständige ästhetische Bestimmtheit des Kunstwerks unangetastet bleibt. Die
Mona Lisa Leonardos oder eine Landschaft Ruysdaels sind gleicherweise
künstlerisch völlig bestimmt, obwohl über den inneren Gehalt besonders
der ersteren ganze Bibliotheken verschiedener Auslegungen vorliegen.
Und es wäre oberflächlich, beschränkt-artistisch auf alle diese diver¬
genten Interpretationen hochmütig herabzublicken und zu -vermeinen, die
visuell-malerische Bestimmtheit käme ästhetisch allein in Betracht. Freilich ist
ein großer Teil solcher Auslegungen feuilletonistisches Geschwätz, voll von
falschem Lyrismus und leerem »Tiefsinn«. Man darf aber nicht vergessen,
daß auch dies eine unvermeidliche Folge der ästhetisch notwendigen evoka-
tiven Wirkung der Kunst ist. Es gilt genau zu unterscheiden, die Kriterien zu
finden und herauszuarbeiten, wo es sich dabei bloß um eine Selbstdarstellung
der rezeptiven Individualität handelt und wo um legitime Versuche, sich
jenem Spielraum der unbestimmten Bestimmungen gedanklich anzunähern
- den, wie wir gesehen haben und noch sehen werden, die Gestaltungsweise
einer jeden Kunst notwendig zustande bringt -, also um Versuche, die Ob¬
jektivität des Werks, seinen wirklichen Gehalt so vollständig wie möglich
gedanklich und gefühlsmäßig zu erfassen. Es gehört zum Wesen der Kunst
und zu ihrer ästhetischen Wirkung, daß letztere an Bestimmtheit notwendig
gespalten ist; daß der visuellen Bestimmtheit des Äußeren eine menschlich¬
seelische Unbestimmtheit des Inneren entsprechen muß, die freilich, wie schon
dargelegt, objektiv keineswegs völlig unbestimmt ist, sondern sich innerhalb
eines künstlerisch konkret umschriebenen Spielraums bewegt. Und es ist zu
sagen, daß Werke, denen das letztere völlig oder weitgehend fehlt, bei aller
732 Die defetischisierende Mission der Kunst

eventuellen technischen Vollendung doch leer wirken, während es anderer¬


seits für die größten Werke charakteristisch ist, daß dieser ihr Spielraum der
Unbestimmtheit des Inneren weiterausgreift, energischer in die Tiefe weist,
als der der durchschnittlichen Werke. Man braucht gar nicht an Hamlet oder
Faust zu denken; auch in der bildenden Kunst ist es keineswegs zufällig,
daß diese Tendenzen gerade bei Leonardo, Michelangelo und Rembrandt am
deutlichsten wahrnehmbar sind.
Will man diesen Zusammenhang richtig verstehen, so muß man wieder einen
Blick auf die Gedanken und Gefühle des Alltags werfen. Wäre das dialek¬
tische Verhältnis des Äußeren und Inneren, ihre letzthinnige Identität bei aller
Widersprüchlichkeit ihrer Erscheinungsweisen nicht eine objektive Tatsache
des Lebens, so wäre ein Verkehr unter den Menschen unmöglich. Ihre Wider¬
spiegelung im Bewußtsein des Menschen muß naturgemäß auch ein mehr
oder weniger angemessenes Abbild der objektiv dialektischen Struktur enthal¬
ten. Das Moment der Unbestimmtheit, das für die Beziehungen der Menschen
untereinander in der Deutung des Äußeren (hier natürlich Taten, Äußerun¬
gen etc. mitinbegriffen), im Versuch, daraus das Innere zu ergründen, exi¬
stiert, bleibt darum unaufhebbar. Das, was man im Alltag Menschenkennt¬
nis nennt, ist in vielen Fällen etwas äußerst Unsicheres, und wo sie Ergebnisse
liefert, ist deren Quelle eine durch Kumulierung von Erfahrungen und Be¬
obachtungen erreichte synthetische individuelle Fähigkeit in der Behandlung
von Einzelfällen. (Über die psychologische Seite dieser Frage wird in ande¬
ren Zusammenhängen noch ausführlich die Rede sein.) Die bisherigen Ver¬
allgemeinerungen, von Lavater bis Klages, sind ziemlich ergebnislos verlau¬
fen, aber auch wenn eine wirklich wissenschaftliche Verallgemeinerung ent¬
stehen würde, könnte sie nur den Spielraum der Unbestimmtheit einengen, in
ihm konkrete Orientierungspunkte aufzeigen; die kategorielle Vorherrschaft
der Einzelheiten bliebe aber doch unaufhebbar. Denn die Lage ist hier eine
etwas andere als in der Anwendung der Ergebnisse der biologischen und me¬
dizinischen Wissenschaft auf den ärztlich zu diagnostizierenden Einzelfall.
Hier, wo der einzelne Kranke Objekt einer Subsumtion wird, wird seine Ein¬
zelheit mit der Entwicklung der Wissenschaft immer mehr einem Grenzwert
angenähert. Obwohl aber seine persönliche Einzelheit gewissermaßen die
Rolle einer permanenten Fehlerquelle den allgemeinen Gesetzen und Typen¬
feststellungen gegenüber zu spielen scheint, bleibt sie doch das letzthinnige
Objekt der praktischen Medizin. Im Alltag ist aber die partikulare Singulari¬
tät des Menschen Subjekt seiner Taten, an denen er mit seiner Persönlichkeit
als Ganzes beteiligt ist. Und diese steht anderen, ebenso beschaffenen, aus
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
733

ebensolchen Quellen heraus reagierenden Menschen, ihren Taten, ihren Re¬


aktionen auf Taten des anderen etc. gegenüber. Es ist also unvermeidlich und
unaufhebbar, daß im Leben eine derartige Unbestimmtheit des Inneren ent¬
steht, in manchen Fällen sogar dem eigenen Inneren gegenüber.
Das sind die groben Umrisse des Lebensfonds, von welchem aus die Unbe¬
stimmtheit des Inneren in der bildenden Kunst beurteilt werden kann. Na¬
türlich erleidet diese Lebensgrundlage wesentliche Modifikationen durch die
Kunst. Erstens ist das Äußere auf das rein Visuelle reduziert; alles andere,
was im Leben diese Äußerlichkeit bildet, ist hier einfach nicht vorhanden.
Zweitens hat das Verhältnis des Äußeren zum Inneren einen wesentlich ver¬
allgemeinerten Charakter. Im Leben knüpft sich dabei alles an konkrete,
freilich zuweilen weit vermittelte praktische Zielsetzungen - selbst wenn
von den subtilsten Fragen der Freundschaft oder Liebe die Rede ist dem
Kunstwerk gegenüber tritt aber eine Suspension solcher Setzungen teleologi¬
schen Charakters ein. Natürlich können die Gestalten des Werks zueinander
in den dramatischsten Beziehungen stehen, der Zuschauer bleibt aber, im Sinne
der unmittelbaren Praxis, doch bloßer Zuschauer. Schon dadurch verliert
jenes Innere, das durch das visuell gestaltete Äußere erlebbar wird, viel von
seiner individuellen Partikularität; es wird in die Atmosphäre einer bestimm¬
ten Verallgemeinerung erhoben, und die künstlerische Arbeit des Typisierens
findet in diesem \ erhalten der Rezeptivität eine echter gewordene Bereit¬
schaft. Drittens tritt der Rezeptive auch zu der gestalteten Gegenstandswelt
(Landschaft, Tiere, Pflanzen, Interieurs etc.) in eine ähnliche Beziehung wie
im Leben zu den Menschen. Die anthropomorphisierende Wesensart der Kunst
kommt darin am deutlichsten zum Ausdruck, daß sie alle ihre Objeke nicht
in ihrem reinen Ansichsein, sondern in ihrer Bezogenheit auf den Menschen
gestaltet. Wir wissen bereits: das bedeutet keine Subjektivierung. Diese ist
ein Kennzeichen der im Alltag auftretenden Stimmungen. Eine solche Stim¬
mung umgibt etwa eine Landschaft oder ein Zimmer und sie ist natürlich teil¬
weise von ihrer eigenen objektiven - zumeist momentanen, transitorischen -
Beschaffenheit veranlaßt, ihren entscheidenden Gehalt gibt ihr jedoch das
menschliche Erleben, das sich darin oder darum abspielt, dessen Vorspiel,
Nachspiel oder Erinnerung sich an diese Umgebung mehr oder weniger zu¬
fällig, anlaßartig knüpft. Wenn wir nun sagen, daß die bildliche Darstellung
der nichtmenschlichen Umwelt in der Kunst vermenschlicht erscheint, so ist
eine derartige Beziehung in ihr nicht selten eine Voraussetzung ihrer Genesis
(noch öfters eine Folge ihrer Wirkung): es wäre jedoch eine vulgarisierende
Vereinfachung, hier direkte Verbindungslinien zu ziehen. Denn im strikten
Die defetischisierende Mission der Kunst
734

Gegensatz zu den Stimmungen des Lebens ist das Menschliche hier den
Gegenständen (ihrer Verknüpfung, ihrem konkreten Ensemble) inhärent.
Ein beträchtlicher Teil des künstlerischen Ringens um die Wiedergabe des Ob¬
jekts ist gerade vom Bestreben erfüllt, diese anthropomorphisierende Bezie¬
hung des Mensdien zur Objektwelt darzustellen, jedoch so, daß diese Bezie¬
hungen rein als visuelle Eigenschaften der dargestellten Objekte, als ihre
visuellen Verhältnisse zueinander in Erscheinung treten. Auch hier gilt unser
Motto: sie wissen es nicht, aber sie tun es. Ob das bewußte Streben des
Künstlers auf genaue Reproduktion der Objekte gerichtet ist, ob auf die
einer Stimmung, auf Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit etc., kommt für
dieses Problem unmittelbar nicht in Betracht. In dieser Hinsicht ist zwischen
einem Interieur von Cima da Cinegliano und Vuillard kein prinzipieller
Unterschied.
All dies hat zur Folge, daß das, was im Leben vereinzelt, in praktische Be¬
strebungen verstrickt erscheint, sich in den bildenden Künsten zur Universali¬
tät erhebt und damit in jedem Werk zur Darstellung einer in sich geschlos¬
senen und vollendeten »Welt« wird. Die unbestimmte Gegenständlichkeit
erhält aber dadurch einen qualitativ anders bestimmten Spielraum der kon¬
kreten Inhaltlichkeit als im Leben: dem Rezeptiven steht - in der Form der
reinen Sichtbarkeit - eine genau bestimmte gegenständliche Welt, freilich
eine Welt des Menschen, gegenüber, und die inhaltliche Beschaffenheit sowie
vor allem die Art ihres visuellen Geformtseins läßt nicht bloß für jedes ein¬
zelne Werk einen verschiedenen Spielraum von Bestimmtheit und Un¬
bestimmtheit dieses Inhalts entstehen, sondern es entspringen daraus jeweils
spezifische Qualitäten dessen, was notwendig unbestimmt bleiben muß. Es
ist also in der Kunst nicht mehr darum unbestimmt, weil der im Lebens¬
komplex engagierte zielstrebige Mensch seinen besonderen Inhalt nicht oder
nicht vollständig zu ergründen vermag. Die Unbestimmtheit hat vielmehr
eine sehr deutliche, freilich in den konkreten Fällen immer verschiedene Be¬
stimmtheit: sie ist vor allem - schon in der gröbsten Inhaltlichkeit - vom
inhaltlichen Wesen des gestalteten Objektkomplexes determiniert. Die Rolle
des Inhalts geht aber weit über dieses abstrakt-massive Richtunggeben hin¬
aus. Die Bestimmbarkeit des Unbestimmten ist bei einer Landschaft etwas
anderes als bei einem Stilleben oder einer religiösen Szene. Und die spezi¬
fische Qualität der Formgebung schlägt erst recht genauer konstituierend
im Inhalt um. Es genügt, an den früher herangezogenen Ausspruch Rilkes zu
erinnern, daß man die Äpfel Cezannes nicht essen könnte; die grob inhalt¬
liche Determination des Apfelstillebens konkretisiert sich zu einem scharf um-
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
735

rissenen Gedanken- und Empfindungswert, wobei aber nicht zu vergessen


ist, daß auch diese Betrachtung Rilkes doch nur auf eine unbestimmte Gegen¬
ständlichkeit auftrifft. Natürlich wird diese Frage nodi komplizierter, wenn
das konkrete »Sujet« des sichtbar Dargestellten einen konkreten und be¬
stimmten Inhalt hat. Ein ganzer Zweig der Kunstgeschichte, die sogenannte
Ikonographie, beschäftigt sich mit diesem Problem; freilich in einer höchst
abstrakten \veise. Denn wird der ikonographische Inhalt von der realen
künstlerischen Gestaltung abgesondert, so wird der dadurch gewonnene In¬
halt, die in den ästhetisch wirkenden Werken zur Geltung gelangende unbe¬
stimmte Innerlichkeit zu einer abstrakten Äußerlichkeit. Hegel sagt über
solche abstrahierenden Trennungen richtig: »Was daher nur ein Innerliches
ist, ist auch damit nur ein Äußerliches1.« Das vom Wesen ablenkende
Abstrahieren besteht also hier darin, daß die sich allzu selbständig machende
Ikonographie vergißt: der von ihr behandelte Inhalt hat nur insofern eine
Bedeutung für die Kunst, als er zu einem konkret determinierenden Faktor
der konkreten Formgebung wird, wie das in stark inhaltlich bestimmten Ent¬
wicklungen der bildenden Künste, so im Mittelalter, der Fall war. Der Inhalt
wird dann zu einer konkreten kompositionellen Aufgabe; er spaltet sich in
Momente, die restlos in die Komposition, ins System der evokativen Formen
eingehen, und in solche, die als Folge einer solchen Komposition - von ihr
dem Umfang, der Intensität, der Qualität etc. nach zu einem konkreten
Spielraum der inhaltlichen Erlebbarkeit des Kunstwerks gemacht — der so
determinierten Unbestimmtheit anheimfallen. Diese ist aber dann keine Un¬
bestimmtheit schlechthin mehr, sondern das dem visuell geformten Äußeren
notwendig, dialektisch-widerspruchsvoll zugeordnete und ihm angehörige
Innere.
Ob eine solche bestimmte Unbestimmtheit des innerlich gewordenen Inhalts
überhaupt entstehen kann und wie sie entsteht, hängt ausschließlich von der
Gewalt und der Art des Geformtseins in der visuellen Welt des bestimmten
Äußeren ab. Eine darin obwaltende Unbestimmtheit - die freilich eine
künstlerische Unfähigkeit, einen Dilettantismus etc. verrät - vernichtet
geradezu auch die Sphäre des Innerlichen, läßt sie der völligen subjektivisti-
schen Feere oder Willkür anheimfallen, indem damit die Fähigkeit des
Leitens verlorengehen muß. Andererseits birgt die Uberbestimmtheit der
visuellen Bestimmungen ebenfalls ernste Gefahren für das unbestimmt Inner-

1 Ebd. § 140.
Die defetischisierende Mission der Kunst
7 56

liehe in sich, vor allem die des Verarmens und Austrocknens. Eine solche
Überbestimmtheit kann, freilich untereinander eng verknüpfte, inhaltliche
und formale Grundlagen haben. Inhaltliche, indem jener Lebensinhalt, den
das Bild als Ganzes ausdrückt, allzu stark konkretisiert wird. Der Vorteil
der religiösen Thematik für die bildende Kunst bestand nicht zuletzt darin,
daß die gestellten Aufgaben - trotz allen ikonographischen Vorschriften -
letzten Endes doch so vage und allgemein gehalten waren, daß keine Uber¬
bestimmtheit entstehen mußte: die verschiedenen Pietagruppen Michelange¬
los zeigen, welch weiter Spielraum der Unbestimmtheit des Inneren dabei
offenbleibt und wirksam wird. Erst die spätere Entwicklung, in welcher diese
Inhaltlichkeit Gegenstand einer freien Wahl wird, zeigt deutlich, wo die
Wege sich scheiden. Giorgiones »Drei Weisen« ist z. B. ein Bild, dessen
ikonographischer Inhalt nicht bekannt ist. Dennoch ergibt die Komposition
nicht nur linear, koloristisch etc. eine völlige visuelle Eindeutigkeit und Ab¬
geschlossenheit, sondern zugleich einen ungeheuren Poesiereichtum des Un¬
bestimmten. Noch deutlicher ist dies dort zu sehen, wo der Bildinhalt unmit¬
telbar dem Alltagsleben entnommen wird. Es genügt, auf Vermeer zu ver¬
weisen, um diese Lage deutlich zu machen. Dagegen zeigt die Malerei des
19. Jahrhunderts in solcher Thematik oft eine Uberbestimmtheit, die sich der
Pointe von Novellen oder Anekdoten nähert. Das Resultat ist das oben
bezeichnete Verarmen und Austrocknen: die sichtbare Welt wird zur bloßen
Illustration eines dem Wesen nach literarischen »Themas«. Wenn bedeu¬
tende Maler in der Zeit - es genügt an Leibi zu erinnern - diese falsche
Tendenz, die eine flache Ablegerin des Allegorisierens ist, nicht mitmachen,
so zeigt sich ihre malerische Überlegenheit auch in der inhaltlichen Unbe¬
stimmtheit des »Sujets«.
Darin ist aber auch der Übergang ins Formale sichtbar. Wir haben im Zu¬
sammenhang mit der Quasizeit in den bildenden Künsten den Lessingschen
Begriff des fruchtbaren Moments herangezogen. Wir haben auch gezeigt,
daß der Wahl solcher Momente eine defetischisierende Tendenz zugrunde
liegt: sie richtet sich zugleich auf das Erfassen der Bewegung an Stelle des
Stillstandes und auf eine bewegte Totalität konkreter Bestimmungen an
Stelle eines einzelnen isolierten Aspekts. Es erweist sich nun - wie überall,
wo wir dem Problem der Entfetischisierung begegnen -, daß diese Tendenz
der Gestaltung auch in die Richtung weist, der sichtbaren Gegenständlichkeit
eine solche Art von bewegter und lebendiger Bestimmtheit zu verleihen, die
die notwendig unbestimmt bleibenden innerlichen Momente reich, tief und
poetisch macht. Am deutlichsten ist dieser Zusammenhang vielleicht am
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
737

Reiterstandbild Marc Aurels in Rom sichtbar, im Gegensatz zu den akade¬


mischen Varianten eines äußerlich ähnlichen Motivs, wo das pathetische Er¬
füllungsmoment in der Bewegung das Ganze in eine frostige Allegorie
jener hohlen Pomphaftigkeit, die die Monarchie des 19. Jahrhunderts eben
vorgestellt hat, verwandelt. Wir sind — in einer historisch berichtigten
V eise — daran gewöhnt, den Allegorismus vor allem in primitiven religiö¬
sen Phasen der Kunst zu suchen. Aber die von der sichtbaren Gegenständlich¬
keit unabhängige Transzendenz des Inhalts und sein gedanklicher, nicht
evokativer Charakter ist, ästhetisch angesehen, weder an eine religiöse Ge¬
nesis, noch an einen spekulativen (echten oder unechten) Tiefsinn gebunden.
Genrehaftigkeit und dekorativer Akademismus sind in dieser Hinsicht eben¬
so allegorisch wie viele Werke der avantgardistischen Kunst, deren trans¬
zendenter Gehalt freilich ein »nichtendes« - oder nicht einmal nichtendes -
Nichts ist. Mit den besonderen Problemen der Allegorie werden wir uns aus¬
führlich im letzten Kapitel beschäftigen, hier müssen wir uns mit diesem
Hinweis auf die historisch wie ästhetisch weitverzweigte Variabilität im
Allegorisieren begnügen.
Mit einer diametral entgegengesetzten Lage haben wir es in der Musik zu tun.
In ihr, in der gestalteten Tonwelt, erwächst das Innere zur denkbar höch¬
sten Bestimmtheit, während jenes Äußere, das, wie überall, Ursache oder
wenigstens Anlaß zu seinem Entstehen war, in höchster Unbestimmtheit ver¬
harren muß. Der Kontrast, der hier entsteht, ist so kraß, daß er immer wieder
im Mittelpunkt der Diskussionen über das Wesen der Musik stand. Extreme
Formalisten zerschneiden diesen Gordischen Knoten mit der Erklärung, daß
es ein solches Moment des Unbestimmten in der Musik gar nicht gibt. Am
extremsten wurde diese Auffassung von Eduard Hanslick formuliert: »Jeder
von uns hat als Kind sich wohl an dem wechselnden Farben- und Formen¬
spiel eines Kaleidoskops ergötzt. Ein solches Kaleidoskop auf inkommen¬
surabel höherer Erscheinungsstufe ist die Musik. Sie bringt in stets sich ent¬
wickelnder Abwechslung schöne Formen und Farben, sanft übergehend,
scharf kontrastierend, immer symmetrisch und in sich erfüllt. Der Haupt¬
unterschied ist, daß solch unserem Ohr vorgeführtes Tonkaleidoskop sich
als unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes gibt, jenes
sichtbare aber als ein sinnreich-mechanisches Spielzeug1.« Der Verfassser

1 Zitiert bei H. Pfrogner. Musik. Geschichte ihrer Deutung, Freiburg-München 1954,


S. 301 f.
Die defetischisierende Mission der Kunst
738

dieser Zeilen hält sich nicht für kompetent, über konkret ästhetische Probleme
der Musik eine fundierte Aussage zu fällen. Man braucht jedoch kein Musik¬
kenner zu sein, um die Absurdität einer solchen Anschauung einzusehen.
So ist es Hanslick keineswegs gelungen, das Ästhetische an der Musik
vom sinnlos-zufälligen Spiel abzugrenzen. Es wäre vergeblich, sich dabei
auf das strenge System der in der Musik wirksamen Gesetze zu berufen. Zu¬
gegeben, daß das mit dem Kaleidoskop spielende Kind, im Gegensatz zum
Musiker, die physikalischen Gesetze, die die vor ihm in Wirkung tretenden
wechselvollen Kombinationen hervorbringen, weder kennt noch beherrscht.
Aber nicht wenige Spiele bilden auch ein System von mehr oder weniger
beherrschten »Gesetzen« (besser Spielregeln), und doch wäre es abwegig, sie
mit einer Kunst im ästhetischen Sinne zu vergleichen, und zwar gerade des¬
halb, weil das Wirken der Spielregel in den Spielen diesen immanent bleibt,
während in jeder Kunst ein solches System der Gesetze (Perspektive, Pro¬
portion in den visuellen Künsten, Prosodie in der Dichtung) nur ein Mittel ist,
um einerseits in der Abbildung der Wirklichkeit sich dieser anzunähern, die
spezifische Gegenständlichkeit der betreffenden Kunstart zu intensivieren,
andererseits um die evokative Macht des Werks zu steigern, seine leitende
Funktion sicherer und vielseitiger zu machen. Wie immer man zu der Frage,
daß auch die Musik eine Abart der Widerspiegelung der Wirklichkeit ist,
Stellung nimmt (wovon in einem späteren Kapitel die Rede sein wird), die
zur Evokation leitende Rolle der musikalischen Komposition wird niemand
bestreiten, der nur eine Ahnung von der historischen Rolle der Musik besitzt.
Die antike Ästhetik stellt, auch bei sonst so entgegengesetzten Vertretern wie
Platon und Aristoteles, ihre sozialpädagogische Wirkung resolut in den Mit¬
telpunkt der Betrachtungen und es ist wieder kein Zufall, daß in unserer
Epoche Tolstois »Kreutzersonate« auf diese Auffassung zurückweist, daß
Thomas Manns »Faustus« in der Anerkennung eines solchen für das Schicksal
der Musik entscheidenden Zusammenhangs gipfelt.
Wie immer also auch das Wesen der Musik konkret gefaßt wird, die Tat¬
sache ihrer über das rein Formale hinausgehenden ästhetisch legitimen Wir¬
kung wird ernsthaft kaum bestritten, wenn auch natürlich sehr verschieden
ausgelegt. Und das genügt zur Klärung unserer gegenwärtigen Problemlage.
Wenn wir deshalb das auf reine Hörbarkeit eingestellte homogene Medium
der Musik als ein dynamisches Ordnen, Leiten und deshalb geordnetes Sich-
auslebenlassen der Innerlichkeit (der Gefühle, Empfindungen, der in diesen
aufgelösten Gedanken etc.) auffassen, so steht der formalen Bestimmtheit,
die viel exakter ist als in jeder anderen Kunst, eine Unbestimmtheit bezüg-
Die unbestimmte Gegenständlichkeit
739

lieh des Objekts dieser Erlebnisse gegenüber, die ebenfalls die aller anderen
Künste übertrifft. Natürlich ist der exzeptionell hohe Grad dieser Unbe¬
stimmtheit, die geradezu in einen qualitativen Gegensatz zu allen anderen
Künsten umzuschlagen scheint, ein Produkt der gesellschaftlich-geschicht¬
lichen Entwicklung. Wenn Hanslick ausschließlich in der Instrumental¬
musik ihre »reine« Erscheinung anerkennt, so stellt er eines ihrer relativ
späten, freilich ästhetisch hochwertigen Produkte fast der ganzen Vergangen¬
heit und wichtigen Tendenzen der Gegenwart metaphysisch starr-ausschlie-
ßend gegenüber. Denn daß die Musik nicht nur zur Zeit ihrer magisch be¬
dingten Genesis, sondern auch in langen und von jeder Primitivität bereits
weit entfernten Perioden an mimetische Tendenzen von Wort und Gebärde
gebunden blieb, ist eine unbestreitbare Tatsache. Die ganz »reine« Musik ist
ein relativ spätes Ergebnis der Geschichte. Und niemand wird bestreiten, daß
auch die moderne Musik mit dieser Gebundenheit an das Mimetische nie
radikal gebrochen hat. Um die Oper und die Blütezeit des Liedes im 19. Jahr¬
hundert gar nicht zu erwähnen, kann in der Verbindung der Höhepunkte
symphonischer Kompositionen mit einem — inhaltlich eindeutig bestimmten
und durch diese Bestimmtheit auf die Musik rückwirkenden — Gesangstext
(von der IX. Symphonie bis zum »Lied von der Erde« Mahlers) einfach ein
Zufall oder eine individuelle Laune erblickt werden? Der Verfasser möchte
hier nochmals betonen, daß er sich nicht für kompetent hält, die hier auf¬
tauchenden, oft sehr verwickelten musikästhetischen Fragen konkret zu ana¬
lysieren und für sie Lösungen vorzuschlagen. Man braucht jedoch kein Spe¬
zialist in der Musiktheorie zu sein, um das offenkundige historisch gegebene
Faktum anzuerkennen, daß die Musik sich nie (oder - vorsichtig aus¬
gedrückt - nie vollständig) von ihrer anfänglichen inhaltlich-mimetischen
Gebundenheit befreit hat, ja befreien wollte. Daß deren früher herrschende
Strenge in den letzten Jahrhunderten sich entschieden gelockert hat, ist eine
allgemeine gesellschaftlich-geschichtliche Tatsache der gesamten Kunstentwick¬
lung; obwohl z. B. die Liedkomposition seit Schubert viel inniger an Form
und Inhalt des Textes gebunden ist als noch bei Mozart oder Beethoven. Die
Emanzipation von einer sozial genau vorgeschriebenen Thematik ist für alle
mimetischen Künste gleich charakteristisch; das Sich-Entfernen von einer lite¬
rarisch umschriebenen Inhaltlichkeit kann, wie wir gesehen haben, auch für
die bildenden Künste der neuesten Zeit festgestellt werden.
Wir haben jedoch ebenfalls gesehen, daß solche an sich sehr wesentlichen
Veränderungen in Art, Umfang, Qualität etc. des künstlerisch bearbeiteten In¬
halts die entscheidenden Form-Inhalt-Probleme nicht grundlegend umwälzen,
Die defetischisierende Mission der Kunst
740

im gegebenen Falle also auch nicht die der bestimmten und unbestimmten
Gegenständlichkeit. Allerdings werden die immer vorhandenen Gefahren¬
momente der künstlerischen Gestaltung, die Unbestimmtheit bzw. die Über¬
bestimmtheit der sinnlich bestimmten Sphäre, mit allen Folgen für die ko¬
ordinierte unbestimmte Gegenständlichkeit immer drohender, da die sozial
untermauerte instinktive Widerstandskraft des Schaffenden diesen Gefahren
gegenüber abnimmt, parallel damit, daß auch die kontrollierende, geregelte
Bereitschaft der Rezeptiven immer desorientierter wird. Die sogenannte
Programmusik ist vielleicht der typischste Fall einer solchen Überbestimmt¬
heit. Selbst dort, wo die Musik an das Wort, ja an ein Wortkunstwerk ge¬
bunden auftritt, bezieht sie sich viel weniger auf dessen einzelne, die Wirk¬
lichkeit in ihrer Einzelheit spiegelnde Momente, als - stets energisch ver¬
allgemeinernd - auf das Ganze: die Verallgemeinerung, die die Musik voll¬
zieht, besteht vor allem darin, daß dieses Ganze, sei es ein Lied, eine Szene
etc. auf eine als aktuell erlebte, sich vollständig auswirkende Gefühlshöhe er¬
hoben wird, die das Wortkunstwerk, wenn es wirklich eines ist, bestenfalls
andeuten und in die ihm zukommende unbestimmte Gegenständlichkeit über¬
leiten kann, die aber ihre vollständige Erfüllung erst in der Musik erhält.
Ganz mittelmäßige, ja schlechte Texte können in einem solchen Zusammen¬
hang sich eine ungeahnte Empfindungsresonanz, eine Gefühlsaura aneignen.
Die durchgeführte Programmusik kann dagegen die zarte Bestimmtheit dieses
großartig unbestimmten Komplexes zerstören. Sollen die einzelnen Momente
eines Musikstücks unbedingt mit einzelnen Tatsachen des Lebens ins direkte
Verhältnis der gegenständlichen Entsprechung gestellt werden, so muß teils
eine direkte auditive Nachahmung einzelner Lebensvorgänge zur Grundlage
des musikalischen Aufbaus werden, teils müssen einzelne isolierte Motive
einzelnen Gestalten, Ereignissen etc. permanent zugeordnet werden (Richard
Wagner), teils muß die Gliederung des Ganzen in relativ selbständige Teile
dem Nacheinander von Begebenheiten der Außenwelt entsprechen etc. Da¬
mit ist natürlich das Wörterbuch und die Grammatik der Programmusik
keineswegs erschöpft. Das Prinzip, das hier überall zur Geltung gelangt, ent¬
hält aber die Gefahr der Überbestimmtheit. Jene die tiefsten musikalischen
Erlebnisse veranlassende Sphäre des Lebens, die die Musik in der unbestimm¬
ten Spiegelung, einer Spiegelung, die sie selbst in ihrer Form und Gefühls¬
bestimmtheit vorstellt, bloß andeuten kann, soll eine Deutlichkeit, eine Ein¬
deutigkeit erlangen. Ihretwillen kann der vom homogenen Medium evozierte
Lebensstrom verlassen werden, kann ein prinzipiell Unbestimmbares in die
Prosa einer gestaltlos flachen Begrifflichkeit umgesetzt werden. Mit anderen
Inhärenz und Substantialität 74i

Worten und in konkreter Entsprechung zu dem Gang der bildenden Künste


und der Literatur: es entsteht, wie dies Adorno bei Wagner richtig feststellt,
ein Allegorisieren *; freilich wie früher dargelegt, in einer spezifischen, mo¬
dern-bürgerlichen Variante. Analyse und Abgrenzung muß naturgemäß den
hier kompetenten Musikästhetikern überlassen werden. Zur Klärung des an¬
gedeuteten Prinzips sei nur noch bemerkt, daß das hier aufgezeigte Scheiden
der Wege keineswegs mit einer metaphysischen Trennungslinie identisch ist.
Die Bestimmtheit der musikalischen Formenwelt lebt zwar in organischer
Koexistenz mit einer ihr zugeordneten, von ihr evozierten Welt der unbe¬
stimmten Gegenständlichkeit. Auch hier gilt, daß diese keine Unbestimmt¬
heit schlechthin ist, sondern eine konkrete, eine bis zu einem gewissen Grad
bestimmte Unbestimmtheit; daß diese dementsprechend sehr unterschiedliche
Stufen der Erscheinungsweise haben kann, ohne das Allegorisieren der Pro¬
grammusik auch nur zu streifen, ist selbstverständlich. Werke wie die »Eroica«
oder die »Pastorale« zeigen, wieweit diese Grenzen vorgesdioben sein kön¬
nen, ohne in jenes Extrem umzuschlagen. Aus solchen Werken wird aber
zugleidi evident, wie gleitend das Wesen dieser bestimmten Unbestimmtheit
ist: es gibt keine allgemein angebbare Grenze, die diese Werke von jenen
trennt, in denen die Unbestimmtheit keinerlei derartig konkrete Deter¬
mination erhält 1 2.

III Inhärenz und Substantialität

Unsere bisherigen Betrachtungen gingen darauf aus, die defetischisierende


Wirkung der echten Kunst für die unmittelbar sinnliche Innenwelt und Um¬
welt des Menschen aufzudecken und gleichzeitig zu zeigen, daß es sich überall
um Steigerungen der unmittelbaren sinnlichen Universalität der homogenen
Medien der einzelnen Kunstarten handelt, deren jede eine in sich vollendete
komplette Welt des Menschen zum Ausdruck bringt; um einen Kampf gegen

1 T. W. Adorno: Versuch über Richard Wagner, Berlin und Frankfurt 1952, S. 126
und 130.
2 Wie gleitend diese Grenzen sind, zeigt Debussys scharfe Ablehnung der Pastorale
als schlechte Programmusik. Musiker über Musik, ausgewählt von Josef Rufer,
Darmstadt 1956 S. 135 f.
742 Die defetischisierende Mission der Kunst

das Ersetzen oder gegen den Versuch des Ersetzens der jeweiligen sinnlichen
Universalität der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit durch Be¬
stimmungen, die an die Stelle dieser Universalität eine direkte begriffliche
Beziehung setzen. Die idealistische Philosophie pflegt im allgemeinen die
Verwandlung in Begrifflichkeit als eine Erhöhung der Wahrnehmungen,
Vorstellungen etc. aufzufassen. Das ist für das Alltagsleben und für den Über¬
gang von Erfahrungen und Beobachtungen ins wissenschaftliche Denken in
den meisten Fällen sicher richtig. Aber schon Pawlow hat darauf aufmerk¬
sam gemacht, daß das Wort (und natürlich der Begriff ebenso) uns von der
Wirklichkeit auch entfernen kann. Und es gehört zum Wesen des gesell¬
schaftlichen Lebens, solche fiktiven, von der Wirklichkeit abgerissenen, ver¬
balen Ersatzbeziehungen zwischen Mensch und Wirklichkeit zu stiften und
aufrechtzuerhalten. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, solche Tendenzen
zur Entfernung des Denkens von der Realität ausführlich zu analysieren und
zu systematisieren. Es genügt, wenn wir auf einzelne weitverbreitete Grup¬
pen einer derartigen verbal-begrifflichen Entstellung in der Widerspiegelung
der Wirklichkeit hinweisen: so auf das Noch-Nichtbewältigen der Wirklich¬
keit im primitiven und später im idealistischen, religiösen etc. Denken, wobei
die unvollständige oder gar falsche Abbildung den Charakter eines Dogmas
erhalten kann; so auf verschiedene Formen der modernen Skepsis von der
sogenannten Sprachkritik bis zur Semantik, die alle davon ausgehen, daß
zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Wortgebrauch und wirklichem
Sinn der Gegenstände ein unüberbrückbarer Abgrund klafft; so auf Konven¬
tionen verschiedenster Art; auf das gedankliche, zuweilen sogar wissenschaft¬
liche Fixieren von Fakten, Zusammenhängen, Strukturen, wie sie sich in der
bloßen Unmittelbarkeit darbieten, wodurch das Vordringen zu ihrem Wesen
durch einen solchen Gedankenapparat selbst gehemmt und gehindert wird
(der Warenfetisch im strikten Sinn); usw. usw. Niemand kann leugnen, daß
das Alltagsdenken der Menschen und darum ihre Praxis, ihre Empfindungs¬
weise etc. durch derartige »Idola«, um Bacons Ausdruck zu gebrauchen, per¬
manent - natürlich in verschiedenen Formationen, Perioden in verschiedener
Weise - von der Wirklichkeit abgelenkt wird.
Hier setzt die entfetischisierende Mission des Ästhetischen ein. Wir haben be¬
reits darauf hingewiesen, daß die Kunstwerke den Menschen ihre »natür¬
liche« Umwelt und Innenwelt sinnlich und sinnfällig Vorhalten und damit
- ohne daß eine ausführliche Polemik gegen das Fetischhafte im Alltag not¬
wendig wäre, ja ohne daß die Entgegengesetztheit beider Konzeptionen be¬
wußt kontrastiert werden müßte — die Fetischisierung von Alltag und Denken
Inhärenz und Substantialität 743

zerstören, dem Menschen die Wirklichkeit, so wie diese sich ihm jeweils
darbietet, aufdecken, sie zum Eigentum seiner Sinne, Empfindungen und
seines Denkens machen.
Wie früher haben wir auch jetzt das Wort natürlich in Anführungszeichen
gesetzt. Und es muß auch hier wiederholt werden, daß nicht von einer Rück¬
kehr zur Natur die Rede ist, weder im Sinne des Enthüllens dessen, was die
Natur an sich ist - das ist die Aufgabe der Wissenschaft -, noch als ein
Wiedererstehen überholter, weniger gekünstelter Gesellschaftszustände. In der
Kunst ist überhaupt nie von einer Rückwendung die Rede; wenn wir soeben
von einem jeweils entstehenden defetischisierenden Abbild der Wirklichkeit
gesprochen haben, so sollte damit auf den schon oft hervorgehobenen histo¬
risdien Charakter einer jeden Kunst in diesem neuen Zusammenhang hinge¬
deutet werden. Nicht ein abstraktes Gegenüberstellen etwa von Gefühl und
Denken ist also gemeint, sondern das jeweilige, jeweils konkret gesellschaft¬
lich-geschichtlich bestimmte, auf den konkreten Menschen dieses Ortes, dieser
Zeit, dieser Entwicklungsstufe bezogene, für ihn »natürliche« Abbild der
Wirklichkeit, welches, eben wegen seiner »Natürlichkeit«, die Auflösung der
konkreten Fetischisierungen organisch mit sich bringt.
Der »natürliche« Charakter dieser von der Kunst abgebildeten Welt, die im
Werk zur abgeschlossenen und in sich vollendeten »Welt« wird, zeigt also
einen dreifachen Aspekt: Erstens entfetisdiisiert sie die äußere Welt, die den
Menschen umgibt, die er im Leben formt und von der er geformt wird. Die
Schemata, die das Alltagsdenken (und zuweilen auch die Wissenschaft) ver¬
fälschend zwischen Welt und Abbildung schiebt, zerfallen. Der Mensch nimmt
die Wirklichkeit wahr, und zwar so, wie sie sich unter den gegebenen gesell¬
schaftlich-geschichtlichen Umständen ihm als Menschen objektiv darbieten
kann. Die »Natürlichkeit« dieses Weltbildes ist also keine absolute Wahrheit
an sich; sie bleibt unzertrennbar an die jeweilige Entwicklungsstufe der
Menschheit gebunden, erreicht aber innerhalb dieser konkret bestimmten
Grenzen ein Maximum der Annäherung an die wahre Objektivität. Darum
ist nichts Fetischistisches in der Götterwelt Homers; der Leser späterer Zeiten
glaubt nicht mehr an ihre Existenz, erlebt sie aber als lebendige Bestandteile
eines Stadiums im Wachstum des Menschengeschlechts, so wie dies in Wahr¬
heit gewesen ist. Zweitens gestaltet das Kunstwerk gerade dadurch diese
Welt als Welt des Menschen in einer bestimmten Etappe seiner inneren Ent¬
faltung. Das Zusammenwirken beider Aspekte kann erst das rechte Entfeti-
schisieren zustande bringen. Wird die Beschaffenheit der Welt, in der der
Mensch lebt, von ihm abgetrennt, erhält die Welt den Schein eines völlig
744 Die defetischisierende Mission der Kunst

selbständigen Daseins, in welchem der Mensch nur ein flüchtiger Gast, ein
durchfahrender Reisender ist, und andererseits, als notwendiger Gegenpol zu
einer solchen Tendenz, löst sich das menschliche Subjekt von seiner Umwelt
ab, bildet es sich ein, ein rein auf sich selbst gestelltes Leben führen zu können,
ja dies auch nur zu versuchen imstande zu sein, so entsteht ein doppelter
Fetischismus, sowohl in der seelenlos gewordenen Objektivität wie in der von
jedem Gehalt entblößten »reinen« Innerlichkeit. Indem jede echte Kunst mit
diesem Fetisch des trennbaren Außen und Innen bricht, indem sie die für das
Leben zutiefst problematische, aber für die Kunst ebenso tief wahre An¬
schauung von Novalis verwirklicht, daß Schicksal und Gemüt letzten Endes
identisch sind, schafft sie diese dem Menschen »natürliche« Welt, seine
»natürliche« Heimat.
Aus alledem folgt - als dritter Aspekt - die inhaltliche (und darum
formale) Universalität der Kunst in dieser dialektischen Synthese von
Außen und Innen, in diesem Abbilden einer dem Menschen angemessenen
Welt. Hätte nämlich diese Angemessenheit eine inhaltliche Grenze, bestimmt
durch unmittelbar hedonistische Postulate des Alltagsmenschen, so würde
gerade dem von fetischisierter Erstarrung am stärksten bedrohten Lebens¬
gebiet und den von ihm diktierten Gedanken, Gefühlen etc. eine Schiedsrich¬
terfunktion in der Auswahl der Inhalte und, durch diese vermittelt, der Form¬
gebung zufallen. (Die spontane Quelle des Kitsches ist weitgehend hier zu
finden.) Gerade der Bruch mit solchen bloß unmittelbaren, hedonistischen
Neigungen eröffnet den Weg dieser wirklichen universellen Angemessenheit
der »Welt« der Kunst an die tiefsten Bedürfnisse des Menschen. Diese Ange¬
messenheit umfaßt also auch die schrecklichsten Katastrophen, die tiefsten
Tragödien, die beschämendsten Entlarvungen der menschlichen Existenz. Erst
indem auch in der grausamsten Gleichgültigkeit des kausalen Ablaufs der
Außenwelt menschlichen Wünschen und Vorstellungen gegenüber, in den un¬
auflösbarsten Konflikten des gesellschaftlich-geschichtlichen Menschseins diese
Angemessenheit sichtbar und — letzten Endes bejaht — erlebbar wird, kann
die Kunst jene Masken, die scheinbar mit dem Leben der Menschen verwach¬
sen, aber doch nur entstellende Masken seines Wesens als Mensch sind, herab¬
reißen, und sein wahres Wesen als Grund und Einheitsprinzip seiner Existenz
offenbaren. Schon bei Homer treten diese Bestimmungen in unzweideutiger
Klarheit hervor und bleiben seither Fundamente einer jeden echten künstleri¬
schen Gestaltung. Das Entfetischisieren geschieht uno acto mit der künstleri¬
schen Rettung des bleibenden, der Aufbewahrung würdigen Wesens der Men¬
schengattung.
Inhärenz und Substantialität 745

Das Entfetischisieren ist primär etwas Inhaltliches, da es eine Auswahl unter


den Lebenserscheinungen hervorbringt, einige als Verzerrungen der Wahr¬
heit entfernt oder entlarvt, andere an die ihnen zukommende Stelle versetzt.
Nicht so sehr in der Verwandlung der Details, wie sie an sich sind, vollzieht
sich der Bruch zwischen ästhetischer und photographischer Widerspiegelung,
sondern die Auswahl ist es, die die Proportionalität der künstlerisch erschei¬
nenden Widerspiegelung im Vergleich zu der der Unmittelbarkeit des All¬
tagslebens verschiebt. Dieser Akt involviert bereits einen Funktionswandel
der ausschlaggebenden Kategorien, in welchen, durdi welche je eine solche
Wirklichkeit geformt wird. Dieser spontane Umschlag der Inhaltlichkeit in
eine Formfrage bleibt jedoch - ästhetisch betraditet - noch immer auf der
Seite des Inhalts. Das künstlerische Formungsproblem setzt erst hier ein. Das
bedeutet keineswegs eine ästhetische Gleichgültigkeit dieses Umformungs¬
prozesses. Im Gegenteil: die Frage, ob der künstlerisch zu bearbeitende Stoff
(Thema, Motiv etc. mitinbegriffen) ein günstiger oder ungünstiger sein wird,
entscheidet sich gerade hier, auf einer sozusagen vorkünstlerischen Stufe; die
ausführliche Behandlung auch dieses Problems gehört in den zweiten Teil
dieses Werks. Es ist aber schon hier notwendig, zu bemerken, daß der pro¬
saische oder poetische Grundcharakter eines Werks - die Frage, ob es durch
und durch, in allen seinen Poren poetisch ist, oder ob in ihm bloß einem
prosaischen Stück Leben ein poetischer (pittoresker etc.) Mantel umgehängt
wird - gerade von den Ergebnissen dieser vorkünstlerischen Etappe ab¬
hängt. Darauf waren z. B., ohne daß sie das Problem genau in dieser Weise
gestellt hätten, Goethes und Schillers Bemühungen um das Ästhetische ge¬
richtet. Sie erkannten, daß die im Alltagsdenken und -fühlen zum Ausdruck
gelangenden Tendenzen der Zeit, der gesellschaftlichen Kollisionen ihrer
Periode etc. in dieser Fiinsicht ungünstig waren, daß deshalb eine sehr be¬
wußte Klärung der ästhetischen Gestaltungsprinzipien, der Gesetze der
Kunstarten vonnöten war, um aus der Lebenssphäre Stoffe, Motive etc. zu
erhalten, die nicht der künstlerischen Bearbeitung von vornherein wider¬
strebten. In der Kunst des sich noch stärker entfaltenden Kapitalismus nimmt
diese Ungunst - die Fetischisierung der Lebensformen und -inhalte - weiter
zu und parallel damit nimmt bei einem beträchtlichen Teil der Künstler die
Wachsamkeit ihren verderblichen Folgen gegenüber stark ab. Ein großer Teil
der Formproblematik, die in der neuesten Kunst offenbar wird, kann also
auch auf das unkritische Verhalten vieler Künstler dieser vorkünstlerischen
Stufe gegenüber zurückgeführt werden. Die Tatsache, daß die formal-künst¬
lerischen Probleme der letzten Ausarbeitung in den Mittelpunkt der Aufmerk-
746 Die defetischisierende Mission der Kunst

samkeit gerückt werden, ist die Kehrseite dieser Konstellation. Daraus erklärt
sich auch, daß immer fiktiver werdende Analysen stilistischer, ja rein tech¬
nischer Fragen zugleich mit einer wachsenden Gleichgültigkeit den entschei¬
denden Formfragen der Kunstarten gegenüber auftreten. Daß diese Tendenzen
vor allem gesellschaftlich-geschichtliche Gründe haben, versteht sich von selbst.
Ihre ausführliche Analyse gehört in den historisch-materialistischen Teil der
Ästhetik.
Eine systematisch vollendete Ästhetik müßte also sämtliche Kategorien, die
in der Widerspiegelung der Wirklichkeit überhaupt eine Rolle spielen, aus¬
führlich behandeln und ihren Funktionswandel schon in diesem vorkünstleri¬
schen Stadium, ihre dadurch entstehenden Positionsverschiebungen erschöpfend
untersuchen. Wir haben bereits im Vorwort auseinandergesetzt, daß unsere
Zielsetzung weitaus bescheidener ist: an einigen der wichtigsten Fälle soll
durch deren konkrete Analyse der methodologische Weg zur Lösung dieser
Zentralfrage freigelegt werden. Dementsprechend haben wir bis jetzt einzelne
wichtige Kategorienprobleme untersucht und werden dies auch später tun.
In diesem Sinne nehmen wir nun die bereits begonnene Behandlung der Kate¬
gorie der Inhärenz wieder auf. Wir haben gesehen, daß diese Kategorie
im begrifflichen Erfassen der Wirklichkeit die Bestimmung des Verhält¬
nisses von Selbständigkeit innerhalb höher gearteter Zusammenhänge, die
Dialektik des relativen Aufgehens in diese, die relative Aufbewahrung in
jener gedanklich zum Ausdruck bringt. Diese Beschaffenheit der Kategorie
der Inhärenz hat zur notwendigen Folge, daß die gedankliche Analyse einer¬
seits zu einer immer stärkeren Differenzierung der hier entstehenden Verhält¬
nisse drängt. Sollen z. B. in der Beziehung von Substanz und Akzidenz - im
typischen Fall des Gebrauchs dieser Kategorien — die Seinsarten genau be¬
stimmt werden, so entsteht bei Kant die folgende Formulierung: »Die Be¬
stimmungen einer Substanz, die nichts anderes sind, als besondere Arten der¬
selben, zu existieren, heißen Accidenzen. Sie sind jederzeit real, weil sie das
Dasein der Substanz betreffen ... Wenn man nun diesem Realen an der Sub¬
stanz ein besonderes Dasein beilegt (z. B. der Bewegung als einem Accidenz
der Materie), so nennt man dieses Dasein die Inhärenz, zum Unterschiede
vom Dasein der Substanz, das man Subsistenz nennt1.« Aber Kant selbst
macht sogleich auf die Schwierigkeiten logischer Art aufmerksam, die aus
dieser seiner Definition folgen. Mit Recht, denn er sieht, daß bei der Verände-

1 Kant: Kritik der reinen Vernunft, a. a. O. S. 178.


Inhärenz und Substantialität
747

rung der Verhältnisse, die die ununterbrochene, neue Qualitäten schaffende


Bewegung der Materie mit sich bringt, allen solchen Kategorien (und ihrer
Verneinung) etwas Problematisches anhaften muß. Das Differenzieren zwi¬
schen Subsistenz und Inhärenz betrachtet also Kant sowohl als notwendig
wie als vielfach fragwürdig. Andererseits ergeben sich derartige notwendige
kategorielle Gegenüberstellungen von den verschiedensten Aspekten aus, von
welchen der Mensch - objektiv wie subjektiv zwangsläufig - die an sich
seiende Wirklichkeit gedanklich widerspiegelt, auslegt und erklärt. Es ist
z. B. unvermeidlich, daß die Gegenüberstellung von Substanz und Akzidenz
sich vielfach mit anderen kontrastierenden Kategorien, die wesentliche Ver¬
hältnisse abbilden, kreuzen muß; so mit denen von Wesen und Erscheinung,
vom Ganzen und Teilen.
Die Kompliziertheit, die Verschlungenheit solcher Verhältnisse produziert
ununterbrochen die Gefahr des Fetischisierens für das Denken. Und zwar in
doppelter Richtung. Erstens besteht die Gefahr, daß die Allgemeines aus¬
drückende Kategorie in der — idealistischen — Philosophie eine selbständige
Gestalt erhält, aus der inneren Verbundenheit mit der Besonderheit und
Einzelheit herausgerissen und dadurch zu einer für sich seienden Wesenheit
hypostasiert wird. (Dieser Terminus der spätantiken Philosophie ist, etwas
respektlos gesprochen, nur ein höfliches Synonym für das Fetischisieren.)
Aristoteles hat diese Gefahr rechtzeitig erkannt und polemisierte deshalb so
leidenschaftlich gegen Platons Ideenlehre. Zweitens ist aber auch eine ent¬
gegengesetzte Fetischisierung möglich und typisch, die in den so entstehenden
Verallgemeinerungen ausschließlich ein Produkt des menschlichen Denkens
erblickt, etwas dem Wesen nach bloß Subjektives, wodurch nun die ganze
Welt der Erscheinungen eine entgegengesetzte Fetischisierung erleidet; wie
beim Positivismus in seinen verschiedenen Abarten. Ist jedoch einmal dieser
oder jener Begriff fetischisiert gesetzt, so ist es klar, daß damit zugleich alle
Verhältnisse, in denen er bestimmend figuriert, ebenfalls eine Fetischisierung
erleiden müssen. Es ist nicht möglich, die Idee zum Fetisch der höchsten, der
allein wahren Wirklichkeit zu hypostasieren, ohne damit zugleich aus der
realen Erscheinungswelt einen fetischhaften Kosmos von schattenhaften Ab¬
bildern zu machen. Ebenso ist es unmöglich, das existierende Wesen zu einem
bloß denktechnischen Instrument subjektiven Charakters zu erniedrigen und
dabei doch die reale Beschaffenheit der Erscheinungen zu bewahren, sie nicht
in eine rein unmittelbare Subjektivität aufzulösen. Je mehr die verschiedenen
Aspekte, aus denen Kategorienzusammenhänge wahrgenommen werden, der¬
art rein subjektiv-utilitaristisch aufgefaßt werden, desto stärker wird diese
748
Die defetischisierende Mission der Kunst

Fetischisierung. Und ob nun dabei eine hierarchische Erstarrung oder eine


äußerste Pulverisierung als Grundqualität zustande kommt, an der hier ent¬
stehenden - fetischisierten - fundamentalen Konstellation ändert sich nichts
Entscheidendes.
Diese Betrachtungen bezogen sich auf die gesamte Welt der Kategorien. In
bezug auf die Inhärenz haben wir schon früher hervorgehoben, daß sie als
Widerspiegelung relativ primitiver Verhältnisse (im sachlichen, nicht im
historischen Sinn) in der entwickelten Wissenschaftslehre eine immer gerin¬
gere Rolle spielt. Das hängt teilweise damit zusammen, daß in der modernen
Philosophie die Kategorie der Substanz, die, wie wir gesehen haben, eng mit
der Inhärenz zusammenhängt, immer mehr in den Hintergrund gedrängt
wird. Die philosophisch unbewußte Anwendung dialektischer Kategorien
führt im Idealismus in die Richtung einer Auflösung des Substanzbegriffes
(und zwar nicht bloß im Machismus, auch bei Kantianern wie Cassirer). Diese
Tendenz erhält eine Stütze auch in der Methodologie der modernen Natur¬
wissenschaften; selbst dort, wo die Inhärenz früher als höchst wichtig er¬
schien, in den Beziehungen von Art, Gattung etc., wird sie im Laufe der
Entwicklung der Wissenschaften immer entschiedener von dynamischeren
Kategorien verdrängt. Einen ähnlichen Prozeß der Dynamisierung können
wir auch in der ästhetischen Widerspiegelung beobachten; dieser Prozeß
spielt sich jedoch hier nicht in der Form des Übergangs von einer Kategorie
zur anderen ab wie im Denken, sondern als Entdecken von dynamischen
Elementen in der Kategorie selbst. (Eine ähnliche Entwicklung ist in der
dialektischen Philosophie Hegels zu beobachten. Allerdings bloß in bezug
auf die Substanz, damit schrumpft aber, wie wir gesehen haben, bei ihm auch
die Bedeutung der Inhärenz ein.) Der Unterschied beruht naturgemäß darauf,
daß beide Widerspiegelungsarten verschiedenen, gleich notwendigen mensch¬
lichen Aktivitäten dienen. Die gemeinsame Grenzbestimmung basiert in bei¬
den darauf, daß keine dieser verschiedenen Widerspiegelungsarten eine Ent¬
stellung der objektiven Wirklichkeit im jeweiligen Abbild hervorbringen
darf. Der Unterschied liegt in der desanthropomorphisierenden bzw. anthro-
pomorphisierenden Art der Widerspiegelung. Für jene kann das bloße Ver¬
hältnis der Inhärenz als eine anfängliche Annäherung an den vom Bewußt¬
sein unabhängig existierenden Tatbestand und darum auf entwickelter Stufe
der Desanthropomorphisierung als etwas zu Überwindendes, als etwas durch
objektivere und zugleich beweglichere, von der Unmittelbarkeit schärfer ab¬
gehobene Kategorien zu Ersetzendes erscheinen. Dagegen kann für die
anthropomorphisierende Widerspiegelung gerade die Unmittelbarkeit, die
Inhärenz und Substantialität 7 49

Gebundenheit an das sinnlich Wahrnehmbare und Erlebbare, also die »Primi¬


tivität« der Kategorie der Inhärenz die wahren Tatbestände in einer - ob¬
jektiv angesehen - anfänglichen, »naiven« Annäherung widerspiegeln und
den Ansatzpunkt dazu bilden, diese Kategorie im Sinne einer ihr spezifisch
gemäßen Annäherung immanent weiterzubilden. Die gemeinsame Wirklich¬
keit, der beide Weisen des Abbildens gegenübergestellt sind, setzt sich dem¬
entsprechend nicht mechanisch-gleichmacherisch durch. Natürlich ist anfangs,
als die Wissenschaft noch in anthropomorphisierenden Kinderschuhen steckte,
die Nähe, die unmittelbare Korrelation sehr stark, obwohl - wie wir es bei
einer so entscheidenden Kategorie wie der Besonderheit sehen werden - auch
damals schon qualitative Differenzen auftauchen können. Mit der Entfaltung
des Desanthropomorphisierens wird aber die Kluft immer größer. Allmählich
treten in der wissenschaftlichen Widerspiegelung Kategorien auf, die im not¬
wendig auf den Menschen bezogenen Ästhetischen gar kein Äquivalent mehr
haben können. (Es genügt, wenn wir an die Kategorien der mathematisch er¬
faßten statistischen Methode erinnern.) Das Schicksal der Inhärenz liegt in
der Mitte zwischen solchen Extremen.
Natürlich wäre der oben aufgezeigte Weg zur Dynamik der Inhärenz nicht
gangbar, wenn nicht in der Kategorie selbst, so wie sie in jedweder Wider¬
spiegelung erscheint, Ansätze zu ihr vorhanden wären. Das hat Aristoteles,
der sich mit ihr selbstredend nur vom Standpunkt der Erkenntnis beschäf¬
tigte, bereits klar gesehen. Da seine Anschauungen für uns nur einen Aus¬
gangspunkt zu den ästhetischen bilden, sei es gestattet, statt einer Reihe seiner
verschiedenen Aussprüche über dieses Thema nur eine gute Zusammenfassung
Prantls zu zitieren. In der Analyse der individuellen Substanz bei Aristoteles
spricht dieser davon, »daß der artmachende Unterschied gegenüber der indi¬
viduellen Wesens-Bestimmtheit als ein Qualitatives bezeichnet werden
müßte«. Er setzt seine Darlegungen so fort: »Außer diesem aber tritt die in¬
dividuelle Wesenheit auch noch ferner in ihrem bestimmten Dasein mit mehr¬
fachen Determinationen auf, welche durch die Wesenheit bedingt, aber nicht
die Wesenheit selbst sind; d. h. die Wesenheit hat Inhärenzien an sich, welche
nur durch den Wesenheits-Begriff desjenigen, worin sie Vorkommen, verstan¬
den werden können, aber nie selbständige Wesen sind; und in dieser substan¬
tiellen Unselbständigkeit besitzen diese Inhärenzien die Möglichkeit zum
Übergange bis in das schlechthin Zufällige hinab 1.« D. h. Aristoteles sieht eine

1 Prantl: a. a. O. Band I, S. 253.


750 Die defetischisierende Mission der Kunst

Bewegungsmöglichkeit in den Inhärenzien als Bestimmungen, die durch die


Wesenheit bedingt sind, bis hinab zu dem rein zufälligen Partikular-Indivi¬
duellen.
Diese Skala der Bewegungen vom Wesen zur Zufälligkeit wird für die
ästhetische Widerspiegelung ausschlaggebend. Wir wissen, einen wie langen
Weg das wissenschaftliche wie philosophische Denken zurücklegen mußte,
ehe es nur einigermaßen imstande war, in dieser Frage eine gedankliche Ord¬
nung zu schaffen. Für die ästhetische Widerspiegelung existiert eine starre
Antinomie von vorneherein nicht. Der Zufall, der große Störenfried des
Denkens, lebt hier von vorneherein in einer freundschaftlichen und frucht¬
baren Koexistenz mit allen höheren Zwang, Ordnung und Notwendigkeit
ausdrückenden Kategorien. Auch das ist ein wichtiges Moment der Angemes¬
senheit der von den Kunstwerken geschaffenen »Welten« an die Bedürfnisse
der Menschen, ein Moment ihrer »Natürlichkeit«. Diese konkrete Bedeutung
der Zufälligkeit in der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit werden
wir alsbald bei Behandlung der Kausalität näher betrachten. Hier mußte
darauf nur deshalb hingewiesen werden, weil die Inhärenz, wie wir bereits
feststellen konnten, gerade jene Kategorie ist, in welcher das Verhältnis des
einzigartig Individuellen zu jenen höheren Ordnungen, denen es angehört
(Art, Gattung, etc.) sichtbar wird; weil in der ästhetischen Widerspiegelung,
wie wir ebenfalls gesehen haben, in solchen Verhältnissen auch das Partikular-
Zufällige an der Individualität und mit ihr das Moment der Zufälligkeit nie
völlig verschwinden darf. Dieses ist für die wissenschaftliche Widerspiegelung
entweder ein Grenzbegriff für die Annäherung an die empirische Wirklich¬
keit oder eine in Kalkulation zu ziehende Fehlerquelle. Für die künstlerische
Widerspiegelung dagegen ist die gegebene, von der Mitbestimmtheit durch
Zufälle unablösbare Individualität des dargestellten Menschen, der mensch¬
lichen Beziehungen, Gegenstände etc. geradezu das konkrete Fundament für
jede ästhetische Verallgemeinerung. Die Kategorie der Inhärenz, so wie sie
von Aristoteles richtig beschrieben wurde, schafft gerade jenen Spielraum, in
welchem dieses Gleiten zwischen Wesensbestimmung und Zufälligkeit, ohne
die Einheit und Individualität der Gegenstände zerlegen zu müssen, sich un¬
gestört entfalten kann. Gerade jene »Primitivität« der Kategorie der In-
häienz, die die Wissenschaft dazu zwingt, über sie hinauszugehen, macht sie
zu einem geeigneten Ausgangspunkt für die ästhetische Widerspiegelung der
Wirklichkeit.

Werfen wir einen kurzen Blick auf diese Notwendigkeit des Zufalls im Be¬
griff der gesellschaftlichen Persönlichkeit des Menschen. Da diese das - frei-
Inhärenz und Snbstantialität 751

lieh oft ohne klares Bewußtsein gebrauchte — »Modell« für die künstlerische
Darstellungsweise überhaupt bildet, ist mit ihrer Analyse auch das Grund¬
prinzip der ästhetischen Gegenständlichkeit bestimmt. Bei Marx finden wir
ausführliche Darlegungen über ein in dieser Hinsicht ausschlaggebendes Ver¬
hältnis, über das von Individuum und Klasse in der kapitalistischen Gesell¬
schaft. Ganz allgemein wird dabei festgehalten, daß es sich in der Geschichte
stets um Gemeinschaften handelt, »der diese Individuen nur als Durchschnitts¬
individuen angehören«. In der kapitalistischen Gesellschaft erfährt dieses
Verhältnis eine Steigerung ins Qualitative: » . . . im Lauf der historischen Ent¬
wicklung und gerade durch die innerhalb der Teilung der Arbeit unvermeid¬
liche Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt ein Unter¬
schied heraus zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich
ist, und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazuge¬
hörigen Bedingungen subsumiert ist.«
In dieser Gesellschaft tritt daher eine neue - illusionäre - Vorstellung der
Freiheit der Individuen hervor, »weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufäl¬
lig sind 1«. So bringt die gesellsdiaftlich-geschichtliche Entwicklung auf die¬
sem Gebiet ins Qualitative gesteigerte Unterschiede hervor, die für die künst¬
lerische Praxis und für die theoretische Auffassung des Ästhetischen bedeu¬
tungsvoll geworden sind. Jedoch die fundamentale dialektische Situation,
nämlich die objektiv begründete Widersprüchlichkeit zwischen konkreter Per¬
sönlichkeit und klassenmäßigem Durchschnittsindividuum - mag sie oft noch
so stark in Latenz verharren - bleibt in jedem Wandel der Geschichte be¬
stehen. Da jedes Individuum seinem Wesen nach verschiedenen überindividuel¬
len Gemeinschaften (Stamm, Familie, Stand, Nation, Klasse etc.) angehört,
da die in dieser Verschiedenheit obwaltende Widersprüchlichkeit - seit dem
Austritt aus dem Urkommunismus - wenn auch in latenter Weise immer
wirksam ist, da auch bei äußerster Zuspitzung solcher Widersprüche die Ein¬
heit der Individualität des Menschen in der Kunst (wie im Leben) nicht auf¬
gehoben werden kann, entsteht für die ästhetische Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit das unabwendbare Problem: diese Einheit der Widersprüche als
sinnlich-sinnfällige Einheit darzustellen. Schon hier zeigt sich eine andere
Seite der Wichtigkeit, die der Kategorie der Inhärenz in der ästhetischen
Sphäre zukommt, nämlich ihre enge Verbundenheit mit der Substantialität.
Das entscheidende Moment in der aufbewahrenden Aufhebung der Zufällig-

1 Marx-Engels: Die deutsche Ideologie, Wk. a. a. O. Band V, S. 6\ und 66.


7 52 Die defetischisierende Mission der Kunst

keit im Ästhetischen ist das Beharren der Substanz, einerlei ob es sich um


eine menschliche Gestalt oder um eine dinghafte Gegenständlichkeit handelt.
Hier wird nochmals der Gegensatz zwischen wissenschaftlicher und ästheti-
sdier Widerspiegelung in der wahrheitsgemäßen Abbildung derselben Wirk¬
lichkeit deutlich sichtbar. Für die Wissenschaft ist diese Einheit in bestimm¬
tem Sinne ein Grenzbegriff. D. h. die Einheit der Individualität soll nach
einer genauen Analyse der einzelnen Beziehungskomponenten und ihrer
Wechselwirkung untereinander als ihr jeweils konkreter Kreuzungspunkt, je
nach dem Erkenntnisziel der betreffenden Wissenschaft, in Erscheinung tre¬
ten. Für die Kunst dagegen ist diese Einheit das A und O der Weltgestaltung;
darum ist die Substantialität hier so wichtig. Eben deshalb dürfen alle ob¬
jektiven Mächte des Lebens - deren wahrheitsgemäße Schilderung freilich
an sich ebenso bedeutsam ist wie das Persönliche - nur in Personen, in deren
persönlichen Eigenschaften, in den Beziehungen eines konkreten Menschen
zu einem ebenso konkreten anderen etc. verkörpert, als organische Bestand¬
teile einheitlicher Individuen dargestellt werden. Das ist weitgehend die
Methode auch der antiken Geschichtsschreibung, die darum der Kunst viel¬
fach näherstand als der Wissenschaft. Es wäre interessant zu analysieren,
welche Rolle dabei die Unentwickeltheit in der Erkenntnis der objektiven
Mächte des gesellschaftlichen Lebens und das noch mangelnde Bewußtsein
über ihre Objektivität und soziale Beschaffenheit gespielt hat. Wo dieses
Prinzip aufhört, das herrschende zu sein, entsteht - ästhetisch angesehen -
eine die Gestaltung sprengende Fetischisierung, wie in der Literatur der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in welcher als selbständig betrachtete
objektive Mächte des Lebens wie Milieu oder Vererbung zu solchen lebens¬
zerstörenden Fetischen erstarren.
So erlangt die Kategorie der Inhärenz ihre primäre Funktion in der ästheti¬
schen Widerspiegelung: diese Einheit der gestalteten Menschen sinnfällig zum
Ausdruck zu bringen und dabei ihr Eingeordnetsein in gesellschaftliche Grup¬
pen oder Zusammenhänge in den richtigen Proportionen - sowohl objektiv
wie in bezug auf die individuellen Charaktere — abzubilden; d. h. so, daß
dieses Einfügen in solche Ordnungen das individuelle Leben der Einzelper¬
sönlichkeit nicht abschwäche, sondern intensiviere. Gerade die Inhärenz
drückt ein solches Verhältnis aus. Ein Mensch wird also nicht von seinem
»Milieu« als einer äußeren Macht kausal beeinflußt oder gar restlos be¬
stimmt, vielmehr nimmt seine wesentliche individuelle Existenz teil an einer
solchen höheren gesellschaftlichen Ordnung (oder an mehreren), und dieses
Teilhaben bildet ein wesentliches, oft schlechthin entscheidendes Moment des
Inhärenz und Substantialität 753

Kerns, der Substanz seiner Persönlichkeit. Aber dieses Verhältnis ist relativ,
umkehrbar, und darin äußert sich eine entscheidende dynamische Modifika¬
tion, die von der ästhetischen Widerspiegelung an der Kategorie der In¬
härenz vollzogen wird. In der an sich seienden Wirklidikeit kann natürlich
das Verhältnis von Substanz und Akzidenz nie umkehrbar sein; mag die
Auffassung von der Substanz oft ein Auf-den-Kopf-stellen der wahren Ver¬
hältnisse sein, die Setzung — wahr oder falsch — schafft hier doch eine sta¬
bile Hierarchie, die vom entwickelteren Denken zwar sachlich überwunden,
jedoch stets von einer Setzung ähnlicher Struktur abgelöst wird. Der anthro-
pomorphisierende, anthropozentrische Charakter der ästhetischen Widerspie¬
gelung schafft dagegen eine qualitativ stark modifizierte Struktur. Einerlei,
wie der Künstler die objektive Wirklichkeit auffaßt und in ihr - setzungs¬
notwendig - eine absolute Substanz vorfindet, das Wesen der ästhetischen
Widerspiegelung zwingt ihn dazu, auch im Menschen selbst eine Substanz zu
entdecken und zu setzen, um alles, was mit ihm in Verbindung steht, was ihn
und sein Schicksal bestimmt, als deren Akzidenzen aufzufassen. Dadurch ent¬
steht jedoch in der ästhetischen Abbildung kein antagonistischer Dualismus
oder Pluralismus von Substanzen, wie dies in einzelnen Weltanschauungen
vorkommt; es handelt sich im Gegenteil um eine permanente dynamische
Relativierung von Substanz und Akzidenz. Den Untergrund und Hinter¬
grund des Werks als Totalität muß selbstredend die objektive Substanz der
Wirklichkeit selbst ausmachen; selbstverständlich in jener Spiegelung und Fas¬
sung, die dem Künstler seine Zeit, sein Volk, seine Klasse, seine Persönlichkeit
vorschreiben. So weit würde kein wesentlicher Unterschied zwischen dem
Weltbild eines Künstlers und dem eines Philosophen bestehen. Indem aber
jener Menschen oder wenigstens Menschliches gestaltet, kehrt sich dieses Ver¬
hältnis um; der Kern des Menschen (des Menschlichen) wird zur Substanz: es
ist weniger er, der an der objektiven Substantialität teilhat, ihr inhäriert,
vielmehr erscheint diese als seinem in sich selbst begründeten Menschsein
inhärierend, dessen teilhaftig. Und es muß wiederholt werden, diese beiden
Aspekte der Substantialität stehen einander nicht antinomisch gegenüber
wie das gute und das böse Weltprinzip in dualistischen Weltanschauun¬
gen, sondern es entsteht im Kunstwerk ein Schaukeln zwischen beiden Aspek¬
ten von Substantialität und Inhärenz der Akzidenzen. Dadurch erhält die
Totalität, in welcher die objektive Substanz herrschend ist, etwas Schwe¬
bendes; die bewegte Reichhaltigkeit, die lebendige Widersprüchlichkeit der
auf den Menschen bezogenen Welt wird gerade so zur eigenen Welt des
Menschen, zu einer ihm angemessenen Welt. Diese kategorielle Analyse ver-
754 Die defetischisierende Mission der Kunst

setzt unsere früheren Darlegungen über das homogene Medium in eine neue
Beleuchtung. Hinter seiner formal vereinheitlichenden Funktion steht kate-
goriell die hier behandelte Einheit der Substanz; hinter ihrer bewegten Rela¬
tivierung von absoluter Einheit des Ganzen und vollendetem Sichausleben
der einzelnen Gegenständlichkeiten die soeben beschriebene Relativierung der
Substantialität.
Um diesen Gedanken klar auszudrücken, haben wir jenes Verhältnis, das wir
das Relative an der Substantialität genannt haben, notgedrungen etwas ver¬
einfacht. Der aufmerksame Leser wird sicher bemerkt haben, daß unsere Be¬
trachtungen nicht bloß zwei Substantialitäten in ihren Wechselbeziehungen
umreißen, sondern daß jede von ihnen nur den Endpol einer Kette bildet, die
aus lauter solchen substanzartigen, untereinander ebenfalls relativierten Sub-
stanz-Akzidenz-Verhältnissen besteht. Das Hauptziel bei unserer Einführung
der Kategorie der Inhärenz in die Analyse der ästhetischen Widerspiegelung
war ja gerade der Versuch, das gestaltungsmäßige Verhältnis von Indi¬
viduum und gesellschaftlicher Ordnung (Klasse, Nation etc.) begreiflich zu
machen. Die Vereinfachung, die wir in unseren bisherigen Erörterungen voll¬
zogen haben, war deshalb das vorläufige Übergehen der Tatsache, daß in der
ästhetischen Widerspiegelung die beiden Verhältnispaare: Substanz-Akzidenz
und Wesen-Erscheinung ineinander übergehen und zu einer dialektisch¬
widerspruchsvollen Einheit konvergieren. Auch diese Konvergenz ist durch¬
aus keine »Erfindung« des ästhetischen Widerspiegelns, sie ist vielmehr
ebenfalls eine Tatsache des Lebens; Substanz und Wesen, Akzidenz und Er¬
scheinung erscheinen hier einander stark angenähert. Das philosophische Den¬
ken muß hier eine mehr oder weniger scharfe Differenzierung hervorbringen.
Es kann natürlich nicht unsere Aufgabe sein, Geschickte und Methodologie
dieses Problems auch nur andeutend darzulegen. Nur so viel sei bemerkt, daß
viele scharfe Differenzierungen bei diesen Kategorien aus Bedürfnissen des
philosophischen Idealismus entstanden sind, der sehr stark daran interessiert
ist, z. B. zwischen Substanz und Wesen eine tief trennende Kluft aufzu¬
reißen. Andere philosophische Strömungen, die etwa das Wesen subjektivieren,
der Substanz eine vom übrigen Kosmos abgetrennte Seinswürde verleihen,
seien — ohne Prätention der Vollständigkeit — nur kurz erwähnt. Dazu
kommen notwendige methodologische Erwägungen, indem das Denken beide
Gegenüberstellungen von verschiedenen Aspekten aus vollzieht, und die da¬
bei gewonnenen Unterschiede können auch sachlich wertvolle Ergebnisse lie¬
fern etc. Daß im Alltagsleben eine spontane Konvergenz dieser Kategorien
vorhanden ist, muß nochmals erwähnt werden, wenn dort auch bloß in den
Inhärenz und Substantialität
75 5

seltensten Fällen ein einigermaßen klares Bewußtsein über ihre Beschaffen¬


heit aufzutreten pflegt. Darin und in der magischen Objektivation solcher
Widerspiegelungen steckt zweifellos die Wurzel der - dem Wesen der Sache
nach, also künstlerisch — bewußten Konvergenz dieser Kategorien in der
ästhetischen Widerspiegelung.
Wenn wir an den oft hervorgehobenen naiven Materialismus der künstleri¬
schen Attitüde zur W irklichkeit denken, so müssen wir bemerken, daß darin
die Wertbegriffe stets einen Seinscharakter besitzen. Wo Konflikte, Kolli¬
sionen auftreten, kämpft stets eine Wirklichkeit gegen die andere, nicht bloß
ein Wertbewußtsein gegen etwas Seinhaftes wie in der idealistischen Philo¬
sophie. Daß bei den verschiedensten Dichtern, von Shakespeare (Hexenszene
in »Macbeth«) über Goethe und Dostojewski bis zu Thomas Mann
(»Faustus«) die moralische Verführung eine menschlich-dämonische Verkör¬
perung erhält, ist ein deutlicher Beweis dieses spontan künstlerischen Bedürf¬
nisses. So wird mit instinktiver philosophischer Richtigkeit in der ästhetischen
Widerspiegelung das Wesentliche als ein Sein höherer Ordnung, als ein sei-
enderes Sein gefaßt, und schon dies gibt dem Wesen, wie es in der ästhetischen
Widerspiegelung figuriert, den Akzent von etwas Substantiellem. Und umge¬
kehrt: kein Künstler vermag ein Seiendes zu gestalten, ohne ihm einen
- positiv oder negativ wertbetonten - Charakter des Wesenhaften zu ge¬
ben. Wenn seine Gestaltung sich auf die Substantialität zu bewegt, so nähert
sich diese, oft bis zum Einswerden, dem Wesen.
Dieser spontane Materialismus erhält eine Ergänzung und Verstärkung durch
die spontane Dialektik in der ästhetischen Widerspiegelung. Im Denken war
es Hegel Vorbehalten, die Dialektik in der höheren Entfaltung des Seins
(über Dasein etc. bis zur Wirklichkeit) auszuarbeiten. Für die Kunst ist dies
stets etwas spontan Selbstverständliches gewesen. Man denke nochmals an
die Kollision. Wir haben gesehen, daß in ihr stets Verkörperungen des Seins
Zusammenstößen, jedoch in der Gestaltung nie so, daß einfach das größere
quantitative Gewicht eines Seinsmoments über ein Moment eines gleicharti¬
gen Seins den Sieg davontragen würde. Immer kämpfen Seinsstufen nicht nur
von verschiedener quantitativer Macht, sondern auch von verschiedener
Seinshöhe, die natürlich von ihrer Wesensverbundenheit, Wesensdurchdrun¬
genheit oder -enthöhltheit nicht zu trennen sind, miteinander, und jedes
echte Kunstwerk gibt in der Gestaltung eine genau erlebbare Seinshierarchie.
Diese fällt mit der quantitativen Macht sehr oft nicht zusammen, und gerade
das ist für den dialektischen Charakter der ästhetischen Widerspiegelung be¬
zeichnend. (Daß diese Dialektik schon in den griechischen Tragödien, wie in
Die dejetischisierende Mission der Kunst
756

der Orestie, in der Antigone, oft historisch ist, erhöht nur das Dialek¬
tische in ihr; eine Behandlung dieser Seite der Dialektik gehört nicht hier¬
her.) Diese dialektische Abgestuftheit des Seins und des mit ihm eng verbun¬
denen Wesens macht es erst möglich, das Teilhaben des Individuums an ver¬
schiedenen Ordnungen von verschiedener Existenz und Würde in seiner Per¬
sönlichkeit organisch zu verschmelzen, das Teilhaben zu einem Moment der
inneren Wesenhaftigkeit zu verinnerlichen. Erst indem durch diese spontane
Dialektik die ästhetische Widerspiegelung aus nichts anderem besteht als aus
solchen wesentlichen Beziehungen von Menschen zueinander und anderer¬
seits die gesellschaftlichen Formationen in den Menschen als ihre tiefsten Lei¬
denschaften erscheinen, kann die Kunst auch auf diesem Gebiet jede Feti¬
schisierung entfernen und das Gesellschaftliche in freudige und leidvolle, in
positiv oder negativ wesentliche menschliche Beziehungen auflösen.
Damit sind wir von einer anderen Seite her wieder bei der Philosophie des
Details in der Kunst angelangt. Ihre vollständige Behandlung wird erst im
zweiten Teil möglich, wo in der Analyse der Struktur des Kunstwerks die
Kategorie der Totalität, das Problem des Ganzen und der Teile in den Mit¬
telpunkt der Betrachtung rückt. Aber die Konvergenz von Substanz und
Wesen muß auch noch vom Aspekt der Konvergenz von Akzidenz und Er¬
scheinung ins Auge gefaßt werden, und es ist ohne weiteres klar, daß wir da¬
mit dem Problem des künstlerischen Details sehr nahekommen. Auch im
Leben kann jede Gegenständlichkeit und jede Beziehung von Objekten un¬
mittelbar nur von den Details her erfaßt werden. Schon hier, insbesondere in
der Arbeit, aber nicht bloß in ihr (man denke etwa an die Menschenkenntnis
im Verkehr der Menschen untereinander), muß sofort eine scharfe Schei¬
dung zwischen mehr oder weniger bloß zufälligen Details gemacht werden
und zwischen solchen, die ihrerseits mehr oder weniger deutlich auf die wahre
Beschaffenheit des betreffenden Gegenstandes etc. hinweisen und die für des¬
sen Beschaffenheit kennzeichnend, symptomatisch sind. Ist diese Unterschei¬
dung im Leben zumeist empiristischen Charakters und darum großen Schwan¬
kungen unterworfen, so entsteht für die wissenschaftliche Widerspiegelung
der Wirklichkeit - und als Übergang zu ihr schon für die Arbeit - die Not¬
wendigkeit einer sehr genauen, möglichst systematischen Sichtung, um die De¬
tails, die nur transitorisch, flüchtig, zufällig auftauchen von jenen abzuson¬
dern, deren Vorkommen mit dem Wesen der Sache in enger Verbindung
steht. Es gehört naturgemäß dazu, daß das Feststellen des bloßen Zusammen¬
auftretens nicht genügt, daß auch dessen kausale Gründe möglichst vollstän¬
dig erforscht werden müssen. Abstrakt angesehen geht auch in der ästheti-
Inhärenz und Substantialität 757

sehen Widerspiegelung ein ähnliches Unterscheiden vor sich. Sie schlägt je¬
doch in doppelter Hinsicht völlig andere Wege ein als die wissenschaftliche:
einerseits ist die Auswahl viel strenger und zugleich endgültiger, denn alles,
was sich vom Gestaltungsziel aus nicht als notwendig erweist, scheidet völ¬
lig aus der »Welt« des Kunstwerks aus, andererseits will die Gestaltung den
Anschein des Lebens erwecken, d. h. die mit größter Sorgfalt gesichteten De¬
tails sollen so dargebracht, so gruppiert etc. werden, daß in ihnen zugleich
die Wahllosigkeit des Lebens mit allen seinen Zufälligkeiten zum Ausdruck
gelange. Daß diese innig verschlungene Doppeltendenz sich in verschiedenen
Kunstarten, Stilen, bei verschiedenen Künstlerpersönlichkeiten auf verschie¬
dene Weise durchsetzt, ändert nichts daran, daß sie in dieser Allgemeinheit
das Prinzip einer jeden künstlerischen Wiedergabe des Details bildet.
Auch darin äußert sich der spontane Materialismus und die spontane Dialek¬
tik der künstlerischen Praxis. Denn philosophisch ausgedrückt bedeutet sie
eine Bejahung der Objektivität der Erscheinung, zugleich mit der der
Objektivität des Wesens unter notwendiger widerspruchsvoller Verbun¬
denheit beider miteinander. Die strenge Auswahl der Details wiederum ist
eine der wirksamsten Verkörperungen jener Angemessenheit der Kunst an die
tiefsten Lebensbedürfnisse der Menschheit, von der bereits wiederholt die
Rede war. Auch hier zeigt sich deren spezifische Beschaffenheit darin, daß das
Kunstwerk den Phänomenen des Lebens ihre brutale Faktizität, ihre leere
Zufälligkeit nimmt und das gestaltete Stück Wirklichkeit nicht nur formal
zu einem Ganzen abrundet, sondern als Voraussetzung dieser Tendenz die
dargestellten Phänomene als organische Bestandteile eines sinnvollen Zusam¬
menhangs hinstellt. Daß diese Sinnerfüllung nicht einfach mit einem Zufrie¬
denstellen hedonistischer Wünsche identisch ist, haben wir bereits gezeigt.
Hier ist nun die Konvergenz der Inhärenz mit der Dialektik der Erscheinun¬
gen handgreiflich faßbar. Der Zweifel an ihrer Objektivität entsteht eben in
den meisten Fällen infolge ihres flüchtigen, transitorischen, unfesten, oft un¬
zusammenhängenden Charakters, was Hegel so ausdrückt, daß die Erschei¬
nung in ihrem Verhältnis zum Wesen sich unmittelbar als Schein darstellt und
deswegen das »Moment des Nichtdaseins« in sich enthält L Die innere Dia¬
lektik von Erscheinung und Wesen treibt von diesem bloß unmittelbaren Aus¬
gangspunkt zum Offenbarwerden der innig verbundenen Objektivität beider.
Diesen Weg geht auch die abbildende subjektive Dialektik der Wissenschaft.

1 Hegel: Logik, Wk. a. a. O. Band V, S. io.


758 Die defetischisierende Mission der Kunst

Die künstlerische Praxis ist letzten Endes in tiefer Übereinstimmung mit


dieser Sachlage und ihrer Widerspiegelung durch die Wissenschaft, ihre Me¬
thode ist aber eine abkürzende und konzentrierende. Dies hat, wie wir ge¬
zeigt haben, schon Aristoteles bei der Behandlung von Enthymem und
Schluß, von Paradeigma und Induktion festgestellt. Bei den Details liegt die
Kürzung und Konzentration in der Auswahl der wesentlichen, direkt auf das
Wesen hinweisenden, zusammen mit einer Darstellungsweise, die das Auf¬
gelockerte und Unfixierte der normalen Erscheinungswelt als unmittelbare
Oberfläche festhält. Jedes echt künstlerische Detail ist also eine widerspruchs¬
volle Einheit von Wesen und Erscheinung und enthält in sich in intensiver
Weise alle dialektischen Bestimmungen und Verhältnisse, die in der objekti¬
ven Wirklichkeit in extensiver Unendlichkeit zum Vorschein kommen. Es ist
also nicht wirklich, es ist überwirklich, indem es objektiv-sachlich eine so
enge und eindeutige Verbundenheit von Wesen und Erscheinung zeigt, wie
sie in der Wirklichkeit nur als äußerst seltener Grenzfall Vorkommen kann;
es hat aber den Anschein einer vollkommenen Wirklichkeit, indem seine Er¬
scheinungsweise die der objektiven Wirklichkeit aufbewahrt. Dieser Anschein
steigert sich noch dadurch, daß die Details in einem echten Kunstwerk zwar
ausnahmslos diese enge und strenge Wesensbezogenheit besitzen, unterein¬
ander aber sich keineswegs auf der gleichen Ebene der Bedeutsamkeit be¬
finden. Zwischen ihnen besteht eine genaue Anordnung in bezug auf Wesens¬
nähe und Intensität im blitzartigen, aber zugleich tiefen und umfassenden
Aufdecken des Wesens. Die Details widerspiegeln also nicht nur einzeln die
Struktur von Wesen und Erscheinung in der objektiven Wirklichkeit, son¬
dern tun es auch in ihrer Verschiedenheit innerhalb dieses einheitlichen Ni¬
veaus. Sie sind voneinander an Stabilität oder Flüchtigkeit, an Festigkeit
oder Lockerheit etc. außerordentlich unterschieden. In der Bewegtheit dieser
Differenzierung erscheint nun ihr Einheitspunkt, das Wesen, nicht mehr als
statisches Zentrum, sondern als bewegende und bewegte Substanz.
Eine bewegende und bewegte Substanz: das ist vielleicht der allgemeinste
Ausdruck dafür, was die Widerspiegelung der Wirklichkeit im Kunstwerk
evokativ hervorruft. Wir haben schon in anderem Zusammenhang auf diese
einheitliche, dem ganzen Werk zugrunde liegende, die Qualität der Gegen¬
ständlichkeit eines jeden Teilganzen in ihm bestimmende Substanz hingewie¬
sen, auch darauf, daß in zeitlich ablaufenden Einheiten etwa Intonation oder
Exposition die wichtige Funktion haben, im Flörer jenes Qualitätserlebnis zu
erwecken, durch welches er in die Lage versetzt wird, die einheitliche Sub¬
stanz des Werks in sich aufzunehmen. Es ist klar, daß jedem Detail im Ent-
Inhärenz und Substantialität 759

stehen und Evokativwerden dieser einheitlichen Substanz eine genau be¬


stimmte Rolle zugeteilt ist, daß die obenerwähnte Hierarchie der Details
nicht bloß in deren Beziehung zum jeweiligen konkreten Wesen besteht, son¬
dern - freilich untrennbar davon - auch darin, daß jedes zum Glied eines Lei-
tens wird, durch welches diese Substanz zuerst als Gesamteindruck oder ein¬
leitende Stimmung, dann als entfalteter Gehalt und Formkomplex des Werks
aufgenommen werden kann. Diese Stellung in der Reihe der leitenden Mo¬
mente konkretisiert erst Auswahl, Betonung und Rangordnung der Details;
sie haben isoliert genommen gar keinen Wert, denn weder die Richtigkeit der
Beobachtung noch eine an sich noch so vollendete Geformtheit kann sie dazu
erheben. Erst indem sie am richtigen Ort ihrer Vorherbestimmung gemäß das
Sichausleben und Offenbarwerden der Substanz des Ganzen entfalten, kann
ihr Gelingen (oder Mißlingen) ernsthaft diskutiert werden. Diese einheitliche
Substanz ist aber überall gegenwärtig und darum - in dieser Einheitlichkeit -
nirgends vorhanden; sie besteht gerade darin, daß die Gesamtheit der Details
sich zu einer solchen Einheit zusammenfügt; abgetrennt von ihnen existiert
sie überhaupt nicht.
Gerade hier tritt das Verhältnis Substanz-Akzidenz in der ästhetischen
Widerspiegelung klar hervor, und die von uns hervorgehobene Konvergenz
von Wesen und Substanz, von Erscheinung und Akzidenz erhält eine neue
Beleuchtung. Es wird jetzt wohl nicht mehr paradox oder gekünstelt klingen,
wenn wir bei den Details von einem Teilhaben an der Substanz sprechen,
davon, daß sie deren Inhärenzien sind. Die Kategorie der Inhärenz durch¬
dringt somit die Struktur des Kunstwerks in mannigfacher Weise: durch sie
nimmt das Einzelne, ohne seine Individualität zu verlieren, an höheren Ord¬
nungen teil; durch sie erscheinen diese Ordnungen entfetischisiert, als Bezie¬
hungen von Menschen, als Gegenstände, die diese Beziehungen vermitteln;
durch sie erhalten endlich die Details ihr Gewicht in der Komposition des
Ganzen. Im Entstehen der ästhetischen Einheit des Mannigfaltigen des Kunst¬
werks, dessen Werkindividualität in der substantiellen Einheit von höchst
individuellen und doch vereinheitlichten Gegenstandsindividualitäten besteht,
kommt gerade der Kategorie der Inhärenz eine entscheidende Rolle zu. Wo
sie fehlt, wo sie etwa durch bloß kausale Bedingtheiten oder durch bloße
Wechselwirkungen ersetzt wird, verschwindet die lebendige Einheit des
Kunstwerks und ihre evokative Macht sinkt, wie wir früher nur erst all¬
gemein andeuten konnten, zu einem bloßen Erregen des inhaltlichen Interes¬
ses, zu einem bloßen Fesseln herab, erfaßt und erschüttert also nicht den Men¬
schen ganz, um diese Erschütterung zu einem neuen Lebensgehalt des ins
y6o Die defetischisierende Mission der Kunst

Alltagsleben zurückkehrenden ganzen Menschen zu machen, sondern bleibt


eine isolierte Anregung, welche er auch ohne jede Kunst hätte erhalten
können.

IV Kausalität, Zufall und Notwendigkeit

Es wirkt vielleicht für heutige Denkgewohnheiten paradox, daß wir die


Notwendigkeit, die die wichtigste Komponente dessen ist, was als Angemes¬
senheit an die Bedürfnisse der Menschheit bezeichnet wurde, auf Kategorien
wie Substantialität und Wesentlichkeit zurückzuführen trachteten, statt den
normalen Gang dieser Gewohnheiten zu gehen und hier wie überall die
Kausalität als alles entscheidende, ja allein Verbindungen herstellende Kate¬
gorie zu betrachten. Hier ist es unmöglich, eine Problemgeschichte dieser
Kategorie in der Philosophie auch nur anzudeuten. Es muß der Hinweis
genügen, daß große dialektische Denker wie Hegel dieser denkerischen
Sitte nie Konzessionen machen. In seinen Glossen zu Hegels Logik bemerkt
Lenin mit Recht: »Wenn man bei Hegel über die Kausalität liest, so erscheint
es auf den ersten Blick sonderbar, warum er sich bei diesem, bei den Kantia¬
nern so beliebten Thema so verhältnismäßig wenig aufhielt. Warum? Nun,
deshalb, weil für ihn die Kausalität nur eine von den Bestimmungen des
universellen Zusammenhangs ist, den er schon früher in seiner ganzen Dar¬
legung, weitaus tiefer und allseitiger erfaßte, stets und von allem Anfang an
diesen Zusammenhang, die wechselseitigen Übergänge etc. etc. unterstrei¬
chend L« Die auf Hegel folgende bürgerliche Philosophie hat dann, schon
mit Schopenhauer, die Kausalität in ihre kategorielle Alleinherrschaft wieder
eingesetzt. Als Folge wurde eine - sich polarisierende - Fetischisierung
fixiert. Den einen Pol bildet eine rein kausale, mechanische, fatalistische Auf¬
fassung der Notwendigkeit, den anderen eine Abart des Irrationalismus, wo
diese Art von Notwendigkeit geleugnet oder in Zweifel gezogen wird. In
beiden Fällen wird das Wirklichkeitsbild fetischistisch entstellt. Im ersten,
weil darin jede Grenze zwischen notwendig und zufällig niedergerissen wird,
da ja abstrakt angesehen auch jeder Zufall kausal bedingt ist. Im zweiten
Fall wird mit dem Bezweifeln oder Leugnen der kausalen Determination

1 Lenin: Philosophische Hefte, a. a. O. S. 82 f.


Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 76 x

ein jeder rationale Zusammenhang der Tatsachen in Frage gestellt: die Tore
des Denkens sind für den Irrationalismus weit geöffnet. Diese fetischistische
Antinomik hat sich natürlich im Laufe der Geschichte in den verschiedensten
Formen gezeigt, ohne jedoch diese Polarität je überwinden zu können.
Auch in dieser Frage hat die Kunstentwicklung die spontan dialektische und
entfetischisierende Tendenz der ästhetischen Widerspiegelung deutlich gezeigt.
Da in der Literatur das Problem der Kausalität die größte und sichtbarste
Rolle spielt, scheint es nützlich, mit unseren Analysen hier einzusetzen und
auf andere Künste erst dort zu spredien zu kommen, wo die für sie spezi¬
fischen Kategorien hervortreten. Wenn von einer entfetischisierenden Ten¬
denz der Literatur in dieser Hinsicht die Rede sein soll, so versteht sich von
selbst, daß diese keineswegs ein Leugnen, einen Versuch zur Eliminierung
der Kausalität sich als Ziel setzen darf, denn das wäre ja nur der eine Pol
der fetischistischen Antinomik, sondern bloß danach strebt, dieser Kategorie
in der Totalität der ästhetisch widergespiegelten Welt die ihr zukommende
Stelle zuzuweisen. Diesen Weg ist philosophisch auch Hegel gegangen. Nach¬
dem er die »Nichtigkeit und Inhaltslosigkeit« jener Denkrichtungen kriti¬
siert, die mit Möglichkeit und Wirklichkeit einen scholastischen Spuk trei¬
ben, sagt er zusammenfassend, es käme an »auf die Totalität der Momente
der Wirklichkeit, welche sich in ihrer Entfaltung als die Notwendigkeit er¬
weist 1«. Diese Beurteilung der Lage, nämlich die Totalität der Momente,
kann auch für uns als Ausgangspunkt dienen, obwohl, wie wiederholt her¬
vorgehoben, die Beschaffenheit der Totalität und der aus ihr folgenden kon¬
kreten Probleme in der ästhetischen Widerspiegelung eine eingehende Be¬
handlung erst im zweiten Teil dieses Werkes, bei der Zergliederung der
Struktur des Kunstwerks erfahren kann. Immerhin tendiert die enge Kon¬
vergenz der verschiedenen Kategorien so stark auf die Totalität, daß wir,
auch ohne ihre ausführliche Untersuchung, mit dem Begriff der Totalität der
Momente unsere gegenwärtigen Probleme zu erhellen imstande sein werden;
um so mehr, als ja die Frage der intensiven Unendlichkeit der Momente schon
wiederholt in unsere Betrachtungen einbezogen wurde.
Wenn wir uns nun den konkreten Problemen der Literatur zuwenden, so
muß von der allgemein bekannten und nur ausnahmsweise nicht anerkannten
Tatsache ausgegangen werden, daß die Literatur eine Widerspiegelung der
Handlungen, Begebenheiten der sie begleitenden, von ihnen hervorgerufenen

1 Hegel: Enzyklopädie, § 143 Zusatz.


762 Die defetischisierende Mission der Kunst

Gedanken und Gefühle der Menschen in der Gesellschaft ist. Es kann also
keinem Zweifel unterliegen, daß die Verbindung der Handlungen, Be¬
gebenheiten, Gefühle etc. unmittelbar, aber auch objektiv kausalen Charak¬
ters ist. Es fragt sich bloß: ist eine sogar lückenlose kausale Verknüpftheit
zwischen diesen Bestandteilen eines Dichtwerks für dessen Vollendung als
treue und evokative Widerspiegelung der Wirklichkeit ausreichend? Diese
Frage hat die Ästhetik, vor allem die Dramaturgie, seit langer Zeit beschäf¬
tigt, freilich zumeist ohne daß die philosophische Frage nach der Geltungs¬
art der Kausalität in der Literatur direkt aufgeworfen wurde. Indirekt ist
dieses Problem freilich oft fühlbar, so in Lessings kritischen Zergliederungen
Corneilles oder Voltaires, so in Schillers Klagen über das Prosaische in der
historisch strengen Motiviertheit des Wallenstein-Stoffes, so in zahlreichen
Betrachtungen über die Rolle des Zufalls. Schelling war meines Wissens der
erste, der für die Motivierung des Dramas diese Frage philosophisch stellte,
wenn auch bei ihm nur die negative Seite, die Kritik der empirischen Kausali¬
tät, wie er sie bezeichnet, klar zum Ausdruck kommt. Er sagt: »Da selbst alle
empirische Notwendigkeit nur empirisch Notwendigkeit, an sich betrachtet
aber Zufälligkeit ist, so kann die echte Tragödie auch nicht auf empirische
Notwendigkeit gegründet sein. Alles, was empirisch notwendig ist, ist, weil
ein anderes ist, wodurch es möglich ist, aber dieses andere selbst ist ja nicht
an sich notwendig, sondern wieder durch ein anderes. Die empirische Not¬
wendigkeit würde aber die Zufälligkeit nicht aufheben. Diejenige Notwen¬
digkeit, die in der Tragödie erscheint, kann demnach einzig absoluter Art
und eine solche sein, die empirisch viel mehr unbegreiflich als begreiflich ist.
Inwiefern selbst, um die Verstandesseite nicht zu vernachlässigen, eine empi¬
rische Notwendigkeit in der Aufeinanderfolge der Gegebenheiten eingeführt
wird, muß diese doch selbst nicht wieder empirisch, sondern nur absolut be¬
griffen werden können. Die empirische Notwendigkeit muß als Werkzeug
der höheren und absoluten erscheinen; sie muß nur dienen, für die Erschei¬
nung herbeizuführen, was in dieser schon geschehen ist1.« Der schwache
Punkt in der Argumentation Schellings ist leicht einzusehen; es ist ein Appell
an eine »absolute Kausalität«, also ein Verschieben des Problems ins
Transzendente und damit eine bloße Verdoppelung der falschen Frage an
Stelle einer wirklichen konkreten Antwort. Gesteigert wird diese Unzuläng¬
lichkeit dadurch, daß Schellings transzendente Scheinlösung ins Irrationali-

1 Schelling: Werke a. a. O., I. V. S. 700.


Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 763

stische hinüberschillert, da sie für ihn »viel mehr unbegreiflich als begreiflich
ist«. Schellings Kompromiß, seine scheinbar absolute, aber doch bloß als
absolut hingestellte empirische Notwendigkeit, weicht der eigentlichen Frage,
der ästhetischen Rationalität (Notwendigkeit) der Dichtwerke aus.
Immerhin stellt er richtig die Identität von empirischer Notwendigkeit und
Zufälligkeit fest. Engels hat diese Identität in der objektiven Wirklichkeit
mit humorvoller Drastik illustriert. Er zeigt, wie diese Art von Determinis¬
mus aus dem französischen Materialismus in die Naturwissenschaften über¬
ging (und weist später auch darauf hin, daß religiöse Konzeptionen, wie die
von Augustinus oder Calvin, auf dasselbe hinauslaufen): »Nach dieser Auf¬
fassung herrscht in der Natur nur die einfache direkte Notwendigkeit. Daß
diese Erbsenschote fünf Erbsen enthält und nicht vier oder sechs . . . daß
mich vorige Nacht ein Floh um vier Uhr morgens gebissen hat und nicht um
drei oder fünf, und zwar auf die rechte Schulter, nicht aber auf die linke
Wade, alles das sind Tatsachen, die durch eine unverrückbare Verkettung
von Ursache und Wirkung, durch eine unerschütterliche Notwendigkeit her¬
vorgebracht sind, so zwar, daß bereits der Gasball, aus dem das Sonnen¬
system hervorging, derart angelegt war, daß diese Ereignisse sidi so und
nicht anders zutragen mußten b« Es ist klar, daß auf solche Weise das Ver¬
hältnis von Zufall und Notwendigkeit objektiv und vor allem für die ästhe¬
tische Widerspiegelung vollständig vernichtet werden würde. Denn wie be¬
reits gezeigt wurde, besteht zwischen allen literarisch widergespiegelten Tat¬
sachen eine Flierarchie. Wir haben über diese im Zusammenhang mit den
Kategorien Substanz-Akzidenz und Wesen-Erscheinung gesprochen, es be¬
darf jedoch keiner eingehenden Analyse, um zu sehen, daß diese ihrerseits
aus zwangsläufigen Gründen der Komposition zu dem Gegensatzpaar Not¬
wendigkeit-Zufälligkeit konvergieren, daß ihre Hierarchie auch dieses zum
Inhalt haben muß. Diese hierarchische Forderung ist keineswegs formalen
Charakters, es kommt in ihr im Gegenteil das Allerwesentlichste des dichte¬
rischen Gehalts zum Vorschein, nämlich das Bestreben, das Leben selbst im
Zusammen seiner Kompliziertheit und Gesetzlichkeit treu abzubilden. Diese
Treue besteht jedoch nur in der Beziehung der Totalität des Werks zur Ganz¬
heit des Lebens, und diese muß, infolge des bereits oft hervorgehobenen Plu¬
ralismus der Kunstarten, immer innerhalb der Bedürfnisse eines bestimmten
Genres betrachtet werden; erinnern wir uns an die Feststellung Schillers, der

1 Engels: Dialektik der Natur, a. a. O. S. 657 f.


Die defetischisierende Mission der Kunst
76 4

die Bestimmtheit des dargestellten Gegenstandes mit dem Genre, in welchem


er auftritt, unzertrennlich verknüpft dachte. Der formalen Differenzierung
der Genres liegt aber eine Differenz des dichterischen Gehalts, der in ihm zum
Ausdruck gelangenden Weltanschauung zugrunde. Ohne hier auf die jetzt
noch nicht zur Behandlung reife Differenzierung der Genres überhaupt näher
eingehen zu können, muß kurz darauf hingewiesen werden, daß Lyrik, Dra¬
matik und Epik schon durch ihre Formen etwas weltanschaulich äußerst
Verschiedenes bedeuten, und zwar schon in einer solchen Verallgemeinerung,
daß es nicht sinnlos ist, von einer Weltanschauung des Dramas, des Romans
etc. zu sprechen. (Die ungeheuren und primären Unterschiede der Zeiten,
Ziele, Persönlichkeiten, Werke sollen damit nicht abgeschwächt werden.)
Wenn wir aber auf derart verallgemeinertem Niveau von Weltanschauungen
der verschiedenen Genres sprechen, so stehen wir im Zentrum des jetzt zu
behandelnden Problems. Denn diese Unterschiede zeigen sich am allerdeut¬
lichsten darin, wie in jedem das Verhältnis von Notwendigkeit und Zufällig¬
keit konkret erfaßt wird. Das Bild des Lebens in seiner Ganzheit kann ohne
ein Evidentwerden seiner Notwendigkeit letzten Endes nicht zustande kom¬
men. Es ist ebenfalls nicht zu verwirklichen, wenn es nicht auch jene Zufälle
deutlich macht, in deren - unmittelbar, aber bloß unmittelbar - schein¬
barem Chaos die konkrete Notwendigkeit sich konkret durchsetzt. Da nun
die verschiedenen literarischen Genres gerade für lange Zeit stabile, unter
sich verschiedene Aspekte dieser allgemeinen Konstellation geben, erscheint
in jedem von ihnen diese Dialektik von Notwendigkeit und Zufälligkeit in
verschiedener Form. Aber irgendwie erscheint sie in jedem dennoch. Und
darum muß es für die Literatur eine Methode geben, das fetischistische Gleich¬
setzen von notwendig und zufällig beiseite zu schieben, um — einerlei auf
welcher Stufe der Bewußtheit - zugleich ihr dialektisches Ineinander und
Auseinander Gestalt werden zu lassen.
Es ist also ein ästhetisches Kriterium nötig, das in einer lückenlosen Kausal¬
kette die Notwendigkeit, in einer anderen ebenso lückenlosen die Zufälligkeit
aufweist. Ja, für ein richtiges Kriterium ist die bloße Zweiteilung in not¬
wendig und zufällig bei weitem nicht ausreichend; es muß fähig sein, die
unendlich vielen Abstufungen und Übergänge deutlich zu machen, die in der
Wirklichkeit in diesem Verhältnis wirksam sind und die in der Kunst selbst¬
redend sich noch deutlicher offenbaren müssen. Formal angesehen, ergibt
natürlich die Totalität des jeweiligen Kunstwerks (und die seiner Kunst¬
art) dieses Kriterium, denn jedes Werk reproduziert ja einen konkreten
Lebenszusammenhang, einen konkreten Lebensprozeß und dessen Eigenart,
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 765

wobei der Gehalt darüber entscheidet, was in ihm als notwendig, was als zu¬
fällig zu gelten hat. Diese Bestimmung - in ihrer so allgemeinen Fassung -
könnte aber ohne sofortige Konkretisierung leicht in einen Widersinn oder in
eine formalistische Leere Umschlägen. Denn einerseits hängt es nicht vom sub¬
jektiven Belieben des Dichters ab, was er als notwendig, was er als zufällig
auffassen möchte. Da sein Werk die Widerspiegelung der Wirklichkeit von
einem Aspekt aus ist, den der Lebensprozeß objektiv darbietet, ist er - bei
Strafe des Mißlingens in der Gestaltung — an die großen Linien der objektiven
Entwicklung selbst gebunden; daß diese ihm einen weiten Spielraum der Aus¬
wahl und der Auslegung darbieten, hebt diese Bindung keineswegs auf. Ande¬
rerseits und innerhalb des eben bezeichneten Spielraums muß sich die Totalität
des jeweiligen Werks inhaltlich wie kategoriell weiter konkretisieren, um als
Kriterium in der richtigen Weise wirksam werden zu können. Dies geschieht
auf der von uns bereits bezeichneten Linie der Substantialität. In der konkre¬
ten Totalität eines jeden Werks entsteht eine einheitliche, alle seine Pole
durchdringende Substanz, innerhalb deren Homogeneität alle Personen, Be¬
ziehungen, Gegenstände etc. ihre spezifische Substanz erhalten. Dieser Kom¬
plex von Substanzen, teilhabend an dem fundamentalen Ganzen, ergibt nun
das Kriterium für den Charakter der überall durchlaufenden Kausalketten.
Das erhellt schon für den ersten Anblick etwas sehr Wichtiges: jene Kausal¬
verbindungen, die geeignet sind, die Substanz einer Gestalt klarer hervor¬
treten zu lassen oder gar ihre innere Entfaltung, ihren Gang zur Selbsterfül¬
lung zu fördern, verlieren dadurch den Charakter der bloßen, nackten Zu¬
fälligkeit. D. h. an sich bleiben sie, was sie sind, sie stehen jedoch infolge
dieser ihrer Funktion innerhalb der Dynamik der Totalität nicht mehr in
einem antagonistischen Widerspruch zur Notwendigkeit, die sich in der
Komposition des Ganzen äußert. Die Aufgabe des Dichters besteht also nicht
darin, durch sorgfältige Motivierung den zufälligen Charakter solcher Kau¬
salverbindungen abzuschwächen oder gar aufzuheben; die Rolle, die sie auf
einer Etappe der Komposition in dieser Hinsicht spielen, reicht für ihre eben
geschilderte Aufhebung aus, und ein Mehr als diese bloße Tatsache, in all
ihrer Zufälligkeit, ist eine Belastung, keine Hilfe. Darum ist es ein Wesens¬
zeichen großer, an Lebensgehalt reicher und tiefer Dichter, daß sie mit sou¬
veräner Unbekümmertheit derartige Zufälle handhaben. Man denke an Tol¬
stois »Krieg und Frieden«. Als der schwerverwundete Andrej Bolkonski auf
den Operationstisch gelegt wird, sieht er im selben Zimmer Anatol Kuragin,
seinen Rivalen, den Zerstörer seines Lebensglücks, dem gerade ein Bein ampu¬
tiert wird. Dieses zeitliche und örtliche Zusammentreffen ist an sich ein
y66 Die defetischisierende Mission der Kunst

brutaler Zufall. Dessen Abstraktheit wird aber dadurch - und nur dadurch -
aufgehoben, daß der Anblick Kuragins den Anfang jener letzten Reinigungs¬
krise Bolkonskis auslöst, die den eigentlichen dichterischen Gehalt des folgen¬
den Teiles ausmacht. Indem die Gegenwart Kuragins zu einem solchen aus¬
lösenden Anlaß reduziert wird, hebt sich hier dichterisch der Gegensatz von
Notwendigkeit und Zufall auf. Tolstoi schreckt aber auf dem menschlich und
dichterisch notwendigen letzten Entwicklungsweg Andrej Bolkonskis auch
vor dem Heranziehen weiterer Zufälle nicht zurück: bei seinem Transport
ins Hinterland wird Bolkonski - zufällig - gerade ins Haus der Rostows
getragen, und zwar - zufällig - gerade in dem Augenblick, als diese sich zur
Abfahrt rüsten. Das ist wieder zur Kulmination, zur endgültigen Klärung der
Beziehungen von Andrej Bolkonski und Nastascha Rostowa dichterisch not¬
wendig. Indem nun Tolstoi auf diesem Weg den Leser zur endgültigen Klärung
des Verhältnisses zweier entscheidender Hauptfiguren führt, indem die hier ent¬
stehende Katharsis zu einem wichtigen Moment der endgültigen Perspektive
des ganzen Werkes wird, stehen diese (und andere mit derselben Souveräni¬
tät mobilisierten) Zufälligkeiten dichterisch in keinerlei antagonistischem Ver¬
hältnis mehr zur historisch-menschlichen Notwendigkeit, die von der Totali¬
tät des Werks ausstrahlt. Im Gegenteil: gerade solche Zufälle nehmen dieser
Notwendigkeit alles Kalte und Konstruierte, verleihen ihr die Wärme der
Lebensnähe, einer Abbildung des gesamten Lebensprozesses mit seiner Ver¬
wirrtheit in den Einzelheiten, mit seiner Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit
als Ganzes, aber nur als Ganzes.
Wir mußten dieses Beispiel etwas ausführlicher zerlegen, damit deutlich sicht¬
bar werde: es ist gerade die Substantialität des ganzen Werks und in ihm die
Beschaffenheit der einzelnen Substanzen, die als Auswahlprinzip, als Krite¬
rium im Widerstreit von Notwendigkeit und Zufälligkeit die Entscheidung
fällen. Um diese Lage besser zu klären, muß aber die Beziehung zwischen
Substantialität, und zwar sowohl im Ganzen wie in den Teilen, und zwi¬
schen Kausalität auch in ihren höchsten Formen als Gesetzlichkeit noch kon¬
kreter erfaßt werden. Eine wichtige Tendenz zur Entfetischisierung besteht
im Ästhetischen darin, daß keine Gesetzlichkeit in ihrer reinen, an sich seien¬
den Objektivität zur Darstellung gelangt; »das Gesetz, wonach du angetre¬
ten«, sagt Goethe, und darin ist die in immer neuen Aspekten erscheinende
Doppelseitigkeit der ästhetischen Widerspiegelung klar ausgedrückt. Nämlich
einerseits, daß Inhalt, Form, Geltungsart, etc. des objektiven Gesetzes restlos
aufbewahrt bleiben, da ja im Ästhetischen dieselbe Wirklichkeit mit dem An¬
spruch auf Treue widergespiegelt wird wie in allen Sphären des menschlichen
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit
767

Daseins. Andererseits wird jedes Gesetz auf den Menschen, auf die mensch¬
lichen Verhältnisse, auf die diese vermittelnden Gegenstände bezogen, d. h.
das annähernd richtig reproduzierte Gesetz erscheint nicht in seinem gesam¬
ten objektiven Umkreis, in seinen gesamten objektiven Verzweigungen etc.
— darauf ist das Interesse der wissensdiaftlichen Widerspiegelung gerich¬
tet —, sondern es wird als wirkende Macht in die Welt der menschlichen
Schicksale einverleibt, es kommt von ihm nur so viel und nur auf solche
Weise zum Ausdruck, wie es für deren immanente Dialektik entscheidend
wird und wie diese entscheidende Rolle beschaffen ist.
Wie überall, wo wir derartige methodologische Abweichungen der ästheti¬
schen Widerspiegelung von der wissenschaftlichen beobachten, offenbart sich
auch hier nie ein Minus, vielmehr stets eine wichtige Wahrheit des Lebens.
Mit ihrer spontanen Dialektik ist deshalb die ästhetische Widerspiegelung
nicht selten in der Lage, wichtige dialektische Sachverhalte zum Ausdruck zu
bringen, die die philosophische Reflexion über die Methodologie der Wis¬
senschaften erst später zur Bewußtheit erhebt. So auch im Fall der Gesetzlich¬
keit. Die allmähliche Entdeckung dieser Kategorie und insbesondere die der
konkreten Gesetze war eine derart entscheidende Ereignisreihe in der Fort¬
entwicklung der Menschheit, daß oft, sogar für längere Perioden, der Begriff
des Gesetzes verabsolutiert (und damit zuweilen fetischisiert) wurde; daß da¬
gegen metaphysisch, irrationalistisch opponierende Strömungen dieses Feti-
schisieren mit verkehrtem Vorzeichen nur steigern, versteht sich für uns be¬
reits von selbst. Auch hier ist es Flegels Verdienst gewesen, mit der Fetischi¬
sierung des Gesetzesbegriffs denkerisch-dialektisch zu brechen. Für seine Auf¬
fassung ist »das Reich der Gesetze . . . das ruhige Abbild der existierenden
oder erscheinenden Welt«. Diesem »ruhigen Inhalt« gegenüber hebt Flegel
die Bedeutung hervor, die die Erscheinungswelt im Gegensatz zur »einfachen
Identität« des Gesetzes besitzt. Sie hat denselben Inhalt wie das Gesetz,
»aber sich im unruhigen Wechsel und als die Reflexion in anderes darstel¬
lend. Sie ist das Gesetz als die negative sich schlechthin verändernde Exi¬
stenz, die Bewegung des Übergehens in das Entgegengesetzte, des sich Auf¬
hebens und des Zurückgehens in die Einheit. Diese Seite der unruhigen Form
oder Negativität enthält das Gesetz nicht; die Erscheinung ist daher gegen
das Gesetz die Totalität, denn sie enthält das Gesetz, aber noch mehr, näm¬
lich das Moment der sich selbst bewegenden Form L«

1 Hegel: Logik, Wk. a. a. O. Band IV, S. 145 f.


76 8 Die defetisckisieren.de Mission der Kunst

Erst auf dieser Grundlage wird es für den dialektischen Materialismus mög¬
lich, die Gesetzlichkeit im Kontext der an sich seienden Welt und ihrer wis¬
senschaftlichen Widerspiegelung in den richtigen Proportionen, entfetischi-
siert, aufzufassen. Das bedeutet unter keinen Umständen ein Unterschätzen
der realen und erkenntnismäßigen Bedeutung der Gesetze, selbst in Fällen,
in denen ihre »reine« Verwirklichung theoretisch und praktisch gar nicht in
Frage kommen kann. In einem Brief an Conrad Schmidt kommt Engels auf
den Feudalismus zu sprechen. Er weist nach, daß dieser sich im Laufe der
Geschichte nirgendwo und niemals in reiner Form verwirklicht hat, mit Aus¬
nahme im »Eintagekönigreich Jerusalem«. Er fügt aber zugleich hinzu:
»War diese Ordnung deswegen eine Fiktion, weil sie nur in Palästina eine
kurzlebige Existenz in voller Klassizität zustande brachte, und auch das nur
größtenteils - auf dem Papier1?« Dieselbe Lage für die Erkenntnis unter¬
sucht Lenin vom Standpunkt der Geltungsart solcher »Reinheit«; in einem
polemischen Kriegsaufsatz schreibt er: »>Reine< Erscheinungen gibt es
weder in der Natur, noch in der Gesellschaft und kann es auch nicht geben -
das lehrt gerade die Marxsche Dialektik; und zwar zeigt sie uns, daß der Be¬
griff der Reinheit selber eine gewisse Beschränktheit und Einseitigkeit der
menschlichen Erkenntnis ist, die den Gegenstand nicht in seiner ganzen Kom¬
pliziertheit bis zu Ende erfaßt2.«
Diese Einsicht in das reale dialektische Verhältnis von Gesetz und Erschei¬
nung, die sich die wissenschaftliche Widerspiegelung der Wirklichkeit und ihr
methodologisches Bewußtsein in der Philosophie durch ein jahrtausendelan¬
ges Ringen mühsam erobert hat, ist für die spontane Dialektik der großen
Kunst von Anfang an etwas Selbstverständliches. Würde man Homer oder
die griechischen Tragiker in bezug auf das Abbilden dieser Beziehungen ana¬
lysieren, so könnte man überall - natürlich ohne theoretische Begründung
und sicher ohne theoretische Bewußtheit über die eigene Praxis - dieses dia¬
lektische Verhältnis vorfinden. Dieses »sie wissen es nicht, aber sie tun es«
darf uns aber auch hier nicht dazu verführen, bei diesem Tatbestand als bei
einem der Vernunft unzugänglichen »je ne sais quoi« stehenzubleiben. Wir
müssen vielmehr bestrebt sein, das, was die ästhetische Widerspiegelung in
Kunstwerken realisiert, auf den Begriff zu bringen. Wir müssen deshalb den

1 Engels: An C. Schmidt, 12. III. 1895. Ausgewählte Briefe, Moskau-Leningrad


1934, S. 422.
2 Lenin: Werke, a. a. O. Band XVIII, S. 345.
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 769

bisher angeführten dialektischen Feststellungen noch eine hinzufügen. Hegel


nennt im Anschluß an die früher zitierten Stellen das Gesetz die »positive
Wesentlichkeit der Erscheinung« und versieht diese Bestimmung mit dem
Zusatz, daß es »nur« dies sei. Daraus folgt nun für ihn: »Das Gesetz ist da¬
her wohl die wesentliche Form, aber nodi nicht die in ihre Seiten als Inhalt
reflektierte, reale Form b« All dies ergibt für uns einen doppelten Aspekt.
Einerseits bestätigt sich nochmals, was wir im Ansdiluß an Hegel und Lenin
dargelegt haben, nämlich daß die kausale Bestimmtheit der Dinge, Beziehun¬
gen und Ereignisse nur einen Teil der wahren Determinationen der Wirklich¬
keit bildet, daß sie also ihren wahren Sinn, ihre unverfälschte Bedeutung nur
im totalen Zusammenhang der Inhalte und Formen erhalten kann. Anderer¬
seits muß die Hegelsche Feststellung, daß das Gesetz das Wesentliche der Er¬
scheinung oder, wie er an anderer Stelle derselben Ausführungen sagt, die
wesentliche Erscheinung ist, unseren früheren Betrachtungen nähergeführt
werden. Wir haben früher über die Konvergenz von Substanz und Wesen in
der ästhetischen Widerspiegelung gesprochen. Jetzt sehen wir, daß die Unter¬
ordnung der einzelnen Kausalketten unter die Substantialität - sei es des
ganzen Werks, sei es eines seiner Teile - dem Verhältnis der Gesetzlichkeit
nicht nur nicht widerspricht, sondern eines ihrer ausschlaggebenden Momente
bestätigt. Denn das Gesetz als wesentliche Erscheinung (ästhetisch: »das Ge¬
setz, wonach du angetreten«) konvergiert seinem innersten objektiven Wesen
nach sowohl den Kategorien Substantialität und Wesentlichkeit zu, wie es
auch eine widersprüchliche, aber gerade darum unzertrennbare Beziehung zu
den Erscheinungen hat und diese damit als einen eigenen inneren Gehalt be¬
sitzt.
So wird der Kausalität im künstlerisch gestalteten Weltbild der ästhetischen
Widerspiegelung die ihr im Kontext der Wirklichkeit objektiv gebührende
Stelle zugewiesen. Die wichtige Rolle, die in dieser Ordnung die Substantiali¬
tät spielt, führt weg von jeder fetischistischen Erstarrung oder Verabsolutie¬
rung. Wir haben ja bereits darauf hingewiesen, daß die Konvergenz der
Substanz zum Wesen (und damit zum Gesetz) eventuelle Tendenzen zur
Starrheit relativierend aufzulösen geeignet ist, obwohl die in die ästhetische
Abbildung eingehende Substantialität als solche innerhalb der jeweiligen kon¬
kreten Totalität ihren perennierenden Charakter bewahrt. Die Beweglich¬
keit, die hier entsteht, ist eine doppelte: erstens enthüllt sich die Substanz

1 Hegel: Logik, Wk. a. a. O. Band IV, S. 147.


77° Die defetischisierende Mission der Kunst

notwendigerweise nur allmählich, im Laufe jenes Prozesses, der den Inhalt


der jeweiligen Dichtung ausmacht. Die Enthüllung kann aber unter Umstän¬
den sehr verwickelt sein. Während es sich in vielen Fällen einfach darum
handelt, daß die durch Intonation stimmungshaft evozierten abstrakt-quali¬
tativen Konturen sich Schritt für Schritt mit realem Inhalt erfüllen, reicher
und immer reicher an den ihnen inhärierenden Bestimmungen werden, kann
für andere, nicht minder zahlreiche Fälle gelten, daß die Enthüllungen eine
solche im wörtlichen Sinne ist, d. h. daß die als erster Eindruck exponierte
Substantialität als unwahre entlarvt und an ihre Stelle die wahre gesetzt
wird. Dieses Schwanken und Schweben kann auch eine deutliche Mitte, einen
Übergang zur Bestätigung der Substantialität des Anfangs bilden (Todes¬
furchtszenen im »Prinz von Homburg«). Damit ist der Übergang zum zwei¬
ten Typus gegeben, der durch die Richtung der Bewegtheit, durch die Ent-
wickelbarkeit der Substanz charakterisiert ist; allerdings durch eine Entwick¬
lung, die zugleich die Aufbewahrung und Höherbildung bestimmter grund¬
legenden Qualitäten der Substanz in sich enthält, ja gerade auf deren Festig¬
keit und Beharren begründet ist. Alle Kausalsetzungen, die derartige Ent¬
hüllungen oder Verwandlungen fördern oder hemmen, erhalten ihre Not¬
wendigkeit oder Zufälligkeit aus der Art ihrer Verbundenheit mit dieser
Hauptfrage; wieweit in ihnen selbst, immanent betrachtet, eine strenge Ge¬
schlossenheit oder der Schein einer lose-zufälligen Willkür sichtbar werden,
ist für diese ihre Beschaffenheit etwas durchaus Sekundäres.
Dadurch, daß die Kausalität in der Welt der Dichtung an die ihr gebührende
Stelle versetzt wird, sind jene Tendenzen zur Fetischisierung, die ihre Allein¬
herrschaft in Leben und Wissenschaft verursachen können, überwindbar ge¬
worden. Die von Schelling und anderen geforderte tiefere Notwendigkeit als
die der bloßen Kausalketten läßt sich also ganz ohne Ausflüge in irgendeine
Transzendenz oder Mystik verständlich machen. Im Gegenteil: gerade durch
die kategorielle Ordnung der Lebensgehalte, die die Dichtung spontan, nur
mit ästhetischer Bewußtheit anwendet, entsteht eine Notwendigkeit, die den
Zufall nicht ausschließt, sondern in ihr Reich einverleibt; die deshalb der
trockenen Inhumanität eines wie immer gefaßten Fatalismus völlig fern¬
steht, die die Wärme der Lebensnähe mit der Gegenwart großer Zusammen¬
hänge und Perspektiven vereinigt; die sich nicht mechanisch, sondern, wie
Lenin zu sagen pflegt, mit einer Schlauheit durchsetzt und darum das Welt¬
bild bereichert abbildet. Gerade darum kann die entfetischisierende Wesens¬
art der echten Dichtung zugleich mit der mechanischen Alleinherrschaft der
Kausalität auch deren Gegenpol, den Irrationalismus spontan-unpolemisch
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 77i

überwinden. Alle diese Probleme der Einheitlichkeit und reichen Variiertheit


des Gehalts drücken sich vom Standpunkt der stilistischen Einheitlichkeit der
einzelnen Werke so aus, daß die Qualität der leitenden Zusammenhänge
einen einheitlichen, wenn auch freilich manches Auf und Ab in sich bergenden
Rhythmus besitzt; Engmaschigkeit oder lose Verknüpftheit der jeweiligen
Kausalketten wird so zu einem bloßen Bestandteil dieser Einheit. Dabei ist
auch zu bemerken, daß diese stilistische Einheitlichkeit nichts als die formale
Zusammenfassung der Leitungsfunktion des Werks ist, daß sie deshalb völ¬
lig unwirksam bleiben müßte, wenn in ihrer spezifischen Eigenart, in ihren
spezifischen Qualitäten nicht das Wesen des künstlerischen Gehalts, seine Auf-
gipfelung und Krönung, sein Umschlagen in Formvollendung enthalten sein
würde.
Dieser Zusammenhang gibt erst die Möglichkeit, das bisher für die Literatur
Ausgeführte weiter zu verallgemeinern. Es ist klar, daß in Malerei oder Pla¬
stik die Kausalität unmittelbar eine viel geringfügigere Rolle spielt als dort.
Schon dadurch, daß infolge der qualitativen Beschaffenheit des visuellen ho¬
mogenen Mediums die Kausalketten aus der Unmittelbarkeit fast völlig ver¬
schwinden, daß bloß die visuell fixierten Bewegungen auch eine kausale
Determiniertheit aufweisen müssen. Für diese gilt nun evidenterweise das,
was wir über das hierarchische Verhältnis der spezifischen Substantialität und
der einzelnen Kausalverbindungen für die Literatur nachgewiesen haben:
Notwendigkeit oder Zufälligkeit einer Bewegung hängt davon ab, wieweit
sie die Substantialität, das Wesen der ganzen Gestalt unterbaut oder zersetzt
oder eventuell sich zu ihr neutral verhält. Gerade das Beispiel der aller¬
größten Künstler wie Michelangelo zeigt, daß Bewegungen, die vom Stand¬
punkt des Alltagslebens als »übertrieben« (also: als zufällig) zu gelten hätten,
aus dieser Quelle eine überwältigend tiefe Notwendigkeit erhalten, während
die »sorgfältig begründeten« Bewegungen der akademischen Kunst sich nie¬
mals über das Niveau der Zufälligkeit erheben können. Daß auch am anderen
Pol, bei den Exzentrikern, mangels einer echten Substantialität der Gesamt¬
gestalt ebenfalls der Zufall herrscht, bestätigt nur diese Feststellung. Noch
deutlicher ist diese Lage in der Musik, wo die Verknüpftheit der Töne mit¬
einander nie einfach oder empirisch kausal ist, sondern unmittelbar von genau
formulierbaren Gesetzen determiniert wird. Trotzdem oder besser: eben des¬
halb kann das genaueste Begründetsein durch solche Gesetze oder Regeln
allein niemals eine musikalische Notwendigkeit ins Leben rufen. Erst da¬
durch, daß ihre Erfüllung in den Dienst der Substantialität des betreffenden
konkreten Werks gestellt wird, kann jene Zufälligkeit, die einer immanent
772 Die defetischisierende Mission der Kunst

musikalisch noch so regelrechten Tonfolge anhaftet, künstlerisch aufgehoben


werden. Und andererseits zeigt die Musikgeschichte unzählige Beispiele da¬
für, daß Tonzusammensetzungen, die bestimmten gegebenen Regeln strikt
widersprechen und die man deshalb als zufällige auffassen müßte, als Mo¬
mente der Substantialität eines Werks von völlig neuer Gesinnung nicht nur
als deren Träger zu Notwendigkeiten erhoben werden, sondern sogar die
Grundlage zu neuen Gesetzen bilden können.
Komplizierter, aber noch lehrreicher ist die Lage in der malerischen Kompo¬
sition (auch das Relief, die skulpturelle Gruppe gehört ästhetisch hierher).
Wir wollen nicht von den sogenannten ikonographischen Fragen sprechen, die
wir im Zusammenhang mit dem Problem der unbestimmten Gegenständlich¬
keit behandelt haben, da aus der dort vorhandenen Sachlage bereits die
Unterordnung der bloß kausalen Verbindungen unter die Substantialität des
ganzen Werks evidenterweise folgt. Die Bestimmungen einer solchen Gegen¬
ständlichkeitsform schlagen jedoch in jedem echten Kunstwerk in formal-
kompositionelle um, und diese eröffnen ihrerseits neue Aspekte des jetzt zu
behandelnden Problems. Jede visuell-evokative Komposition setzt nämlich
ein System von ineinander verschlungenen Bewegungen. Dieses wechselseitige
Ubergehen der gestalteten Bewegungen ineinander ist aber äußerst verwickelt
und führt insbesondere in die für das Werk geltende Kausalität viele Kom¬
plikationen ein. Die Lage ist relativ einfach, wenn die Bewegungen verschie¬
dener Gestalten inhaltlich-psychische Reaktionen ihrer Träger aufeinander
enthalten, wie etwa im Fresko Giottos »Die Erweckung der Drusilla«
(Santa Croce, Florenz). In solchen Werken könnte man die im Bild auf¬
einander bezogenen Bewegungen verschiedener Figuren als kausale Folgen
des im Thema gegebenen visuell abgebildeten Dramas auffassen. Eine solche
Interpretation wäre aber - ähnlich wie im eben behandelten Fall der Erfül¬
lung musikalischer Gesetzlichkeiten — eng und ginge darum am Problem
vorüber. Denn aus der Unzahl von dramatisch-kausal möglichen, auf diesem
Niveau sogar strikt begründeten Bewegungen werden von echten Künstlern
jene gewählt, die untereinander ein doppeltes System bilden: nämlich einer¬
seits eines der zweidimensionalen dekorativen Zusammenhänge der Bild¬
fläche, andererseits eines der linearen, koloristischen, valeurmäßigen etc.
innerhalb der Raumgestaltung des Gemäldes; in echten Kunstwerken fallen
beide Bezugssynthesen zusammen oder konvergieren wenigstens so stark ein¬
ander zu, daß sie eine spannungsvolle Einheit, eine Einheit der Bildsubstanz
zu bilden scheinen. Jede Bewegung einer gemalten Gestalt wird erst ästhetisch
sinnhaft, wenn sie alle hierdurch aufgestellten Bedingungen, die weit über die
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 773

bloße kausale Richtigkeit hinausgehen, erfüllt. Ein solches Drama, im weiten


malerischen Sinne genommen, umfaßt natürlich zugleich alle im Bild vor¬
kommenden Gegenstände; so wiederholt und verstärkt im von uns erwähn¬
ten Fresko Giottos die den Hintergrund bildende Architektur den Bewegungs¬
rhythmus der eigentlichen dramatischen Szene im Vordergrund.
Wir haben absichtlich eine möglichst einfache Komposition als Beispiel ge¬
wählt. Mit den Kartons Leonardos und Michelangelos setzen im Bildgestal¬
ten Bewegungssysteme ein, die, wenn auch von denselben letzten ästhetischen
Prinzipien geleitet, Giotto gegenüber etwas qualitativ Neues an verwickel¬
ten Systemen der Bildzusammenhänge vorstellen. Es würde genügen, eine
große Komposition von Rubens daraufhin zu analysieren, um dieses ästhe¬
tische Hinausgehen über die kausale Einzelbegründung von Bewegungen klar
zu erblicken. Die Richtigkeit gewisser Bewegungen wird hier durch komposi¬
tioneile Zusammenhänge mit anderen Bewegungen, die unmittelbar inhalt¬
lich mit ihnen gar nichts zu tun haben, begründet. Dann bringt der Koloris-
mus der Spätrenaissance und der Barockzeit noch neue Momente hinzu. Die
Gegenständlichkeit eines Dinges oder einer Gestalt im Vordergrund kann
etwa durch einen bestimmten Farbzusammenklang mit dem Hintergrund
(oder eines Farbenfleckes in ihm) malerisch begründet sein usw. usw. Es würde
zu weit führen, wenn wir nun, zur Literatur zurückkehrend, die in ihr wirk¬
same Rolle derartiger Parallelitäten, Entsprechungen, Kontraste etc. näher
untersuchten. Natürlich kann ihre kompositionelle Bedeutung niemals
derart ausschlaggebend werden wie in der Malerei; das liegt am Unterschied
von realem Raum in der einen und Quasiraum in der anderen Kunst. Je¬
doch kann man diese Kompositionsweise gerade bei den größten Schriftstel¬
lern, innerhalb der für die Eigenart der Genres gezogenen Grenzen, deutlich
beobachten. Man denke nur an die Art, wie Shakespeare das Spezifische an
Hamlets oder Lears Charakter durch Parallelitäten und Kontraste nicht nur
hervorhebt, sondern stellenweise seinen Helden gerade durch diese tiefer
charakterisiert. Bei großen Erzählern wie Tolstoi oder Keller können natürlich
mit genremäßigen und persönlichen Variationen ähnliche Kunstmittel fest¬
gestellt werden. Auch hier ist an einer derartigen künstlerischen Praxis das
philosophisch Entscheidende, daß die ästhetische Begründung über die bloße
Kausalität hinausgeht und ihre Kräfte aus dem totalen Gehalt der Kompo¬
sition, aus der Substantialität des Ganzen und der Teile schöpft.
Um nochmals auf die bildende Kunst zurückzukommen: scheinbar wider¬
spricht die eben gewonnene Erkenntnis ihrer anderen auffallenden Methode,
die Existenz ihrer Gegenstände evident zu machen. Es ist wieder nicht zu
774 Die defetiscbisierende Mission der Kunst

leugnen, daß das einfache Hinstellen eines malerischen oder plastischen


Gegenstandes, wenn wir von der bereits behandelten Bewegung absehen,
unzählige Momente der kausalen Zusammenhänge enthalten muß. Es begreift
aber in sich auch anderes, solches, das weit über das bloß kausale Begründet¬
sein hinausgeht. Man nehme einen beliebigen malerisch gestalteten Gegen¬
stand, sagen wir, einen Baum. Sein Wurzeln in der Erde, die Art seines
Stammes, dessen Verhältnis zu den Zweigen etc. sind zweifellos kausal be¬
stimmt. Ohne die eben erwähnten Einschränkungen dieser Kausalbeziehun¬
gen zu wiederholen, müssen wir aber nochmals betonen: ein wirklich male¬
risch gestalteter Baum ist anderes und mehr als Summe und System solcher
Zusammenhänge. Er ist, er existiert und zwingt dem Zuschauer das spezi¬
fische Erlebnis der Eigenart einer Existenz auf, die mit ihrer Existenz über¬
haupt ihr Geradesosein, mit diesem Geradesosein ihre Existenz evident und
erlebbar macht. Diese Macht der Tatsächlichkeit ist eine Wahrheit des
Lebens, ein wichtiges Vehikel des äußeren Fortschritts, der inneren Entwick¬
lung der Menschheit. Im Leben und in der Wissenschaft bildet die Erschüt¬
terung, verursacht durch das Gewahrwerden einer solchen Tatsächlichkeit, in
vielen Fällen den Ausgangspunkt des Entdeckens neuer Wahrheiten bzw. der
Revision, der Erweiterung oder Einschränkung des Alten. Dieser Fortschritt
hat naturgemäß das Zerlegen des dem Bewußtsein als existierend aufgedrun¬
genen Phänomens zur Voraussetzung; die Bedingungen, Zusammenhänge etc.
(darunter natürlich auch die kausalen) müssen erforscht und mit dem gelten¬
den System der Erkenntnisse in Einklang gebracht werden.
In der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit dagegen wird diese
Einheit der Existenz, dieses Geradesosein des Phänomens nicht zerlegt. Das
bedeutet jedoch keineswegs, daß die Kunst bei der nackten Unmittelbarkeit
eines factum brutum stehenbleiben müßte. Die neue, die wiederhergestellte
Unmittelbarkeit der Kunst besteht gerade darin, daß in der Form der inner¬
lich gewordenen Unmittelbarkeit, die das Leiten der Evokation durch die
künstlerische Gestaltung hervorbringt, die intensive Unendlichkeit der Gegen¬
stände, die Totalität ihrer wesentlichen Bestimmungen erlebbar wird. Damit
gewinnt das Sein, die einfache Existenz eine Bedeutung, die sie im Leben
selbst höchstens in äußersten Grenzfällen erringen kann. Aber auch darin ist,
wie bei allen »Wundern« der Kunst, nichts Irrationales enthalten; philoso¬
phisch gesprochen bedeutet dies das Folgende: die Dialektik hat es Hegel er¬
möglicht, diese unterschiedlichen Seinshöhen — nachdem bis dahin die ver¬
schiedenen Abstufungen des Seins voneinander metaphysisch getrennt, ja zu¬
einander in einen metaphysischen Gegensatz gebracht wurden - in ihrem
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 775

wahren Zusammenhang, als Identität der Identität und Nichtidentität zu


begreifen. So hat Hegel den Aufstieg vom - an sich abstrakten - Sein über
Dasein, Existenz, Realität bis zur konkret-inhaltserfüllten, bestimmungs¬
gesättigten Wirklichkeit in der dialektischen Logik dargelegt, wobei jede
dieser durch mannigfache Vermittlungen entstandenen Kategorien immer
auch in der Form der Unmittelbarkeit erscheint. Die echt wissenschaftliche
Widerspiegelung der Wirklichkeit reproduziert, wenn auch nicht immer philo¬
sophisch bewußt, immer wieder diese Kategorienreihe. Die ästhetische Wider¬
spiegelung in den bildenden Künsten zieht infolge ihrer Herstellung einer
neuen, höheren Unmittelbarkeit diesen für das Denken notwendig ausein¬
andergelegten Prozeß rein in das sichtbare Bild des Gegenstandes zusammen,
so daß das in diesem erscheinende Sein kein abstraktes mehr ist, auch nicht
ein bloß unmittelbares (und darum ebenfalls abstraktes) Geradesosein einer
Einzelheit, sondern das ästhetisch unmittelbare In-Erscheinung-Treten des
Zusammenhangs seiner Bestimmungen, das ist: seiner Wirklichkeit. Die Be¬
ziehungen, die einen solchen Gegenstand mit seiner Umwelt verknüpfen,
sind ihm deshalb nicht mehr äußerlich - wie im abstrakten Sein oder im un¬
mittelbaren Geradesosein -, sondern werden von seiner Gegenständlichkeit
aufgesogen und ihr einverleibt. So kommt es, daß in der bildenden Kunst
diese in sich vollendeten Wirklichkeiten nicht voneinander abgeschlossen be¬
stehen, daß sie sich vielmehr miteinander zu einer echten Komposition orga¬
nisch verbinden können; darum setzt eine echte Komposition gerade diese
Wirklichkeit, dieses unmittelbare Auf-Sich-Selbst-Gestelltsein der sie bilden¬
den einzelnen Gegenstände voraus; darum ist sie, ebenfalls nach Hegels Wor¬
ten, ein Kreis, dessen Peripherie aus lauter Kreisen besteht b
Wir haben dieses Phänomen in den bildenden Künsten dargestellt, weil es
sich hier in seiner reinsten Form zeigt. Es ist aber klar, daß eine künstlerische
Komposition auch in der Literatur ohne solche oder wenigstens ähnliche
kategorielle Verhältnisse unmöglich wäre. Nur kann die hier geschilderte
Wirklichkeit des Ganzen und seiner Teile in zeitlicher Auseinandergezogen-
heit und darum in einem notwendig sukzessiven Sichentfalten unmöglich eine
derartige Konzentriertheit der augenblicklichen Durchschlagskraft der Sub-
stantialität besitzen. Wenn wir jedoch den von uns bereits in verschiedenen
Zusammenhängen betrachteten und bereits - freilich etwas modifiziert -
auch auf die Literatur angewendeten Begriff der Intonation von diesem

1 Hegel: Geschichte der Philosophie, Wk. a. a. O. Band XIII, S. 40.


776 Die defetischisieren.de Mission der Kunst

Gesichtspunkt aus erneut ins Auge fassen, so zeigen sich in ihm deutliche Ele¬
mente dessen, was soeben über seine Wirklichkeit in den bildenden Künsten
analysiert wurde. In der Intonation, wie wir sie literarisch aufgefaßt haben,
ist dieses plötzliche, sinnlich unmittelbare Hinstellen und zur Hinnahme
Evozieren eines qualitativen Geradesoseins zweifellos enthalten. Die Wucht,
mit welcher die spezifische Substantialität in einer dichterischen Exposition
- wir verweisen erneut auf die Anfangsszenen des »Hamlet« — ohne jede
Begründung oder wenigstens mit sehr unwesentlichem Gewicht des Be¬
gründetseins sich durchsetzt, hat eine tiefe ästhetische Ähnlichkeit mit jenen
malerischen Phänomenen, die eben beschrieben wurden. Auch hier erscheint
in der Form der Unmittelbarkeit eine Gestalt, eine Situation etc. in ihrem
Geradesosein, und die Wirkung der Intonation beruht unmittelbar auf ihrer
substantiellen Durchschlagskraft, auf der Evokation eines qualitativ einzig¬
artig bestimmten Seins. Mit der Intonation ist aber dieser Typus der Wir¬
kung keineswegs erschöpft. Wir erinnern an frühere Ausführungen in anderen
Zusammenhängen, in denen wir auf den Schock aufmerksam machten, der
durch das richtige, einzigartig treffende Benennen eines Gegenstandes, einer
Situation etc. entsteht. Das, was man oft die »Magie« der Lyrik nennt, be¬
ruht darauf, obwohl diese »Magie« mit der wirklichen natürlich nichts zu
tun hat. Hier beruhte die — eingebildete — Wirkung auf dem Namen
schlechthin, dort ist es immer ein Wortzusammenhang, der einen Komplex
in seiner schlicht-evidenten Substantialität evoziert. Die Gegenständlichkeit
erweckende Macht der Sprache macht hier etwas, das dem früher analysier¬
ten, sich selbst beweisenden Wirklichkeitserlebnis der bildenden Künste ent¬
spricht, natürlich innerhalb jener Differenzen, die durch die Eigenart der ver¬
schiedenen Künste gesetzt sind. Der Unterschied (und die Ähnlichkeit) drückt
sich in dem aus, was wir früher den Quasiraum der Literatur genannt haben.
Indem die von der Intonation etc. evozierte Substantialität in ihrer Entfal¬
tung, die der zeitliche Ablauf der Dichtung mit sich bringt, sich als identisch
behauptet, indem jedes zeitliche Moment der Evolution nicht nur nach vor¬
wärts weist und leitet, sondern zugleich das Abgelaufene konserviert, be¬
reichert, neue Seiten an ihm erlebbar macht, entsteht in der Totalität des
Schriftwerks etwas, das - bei allen durch die Verschiedenheiten der homoge¬
nen Medien bedingten Differenzen - in den letzten, allgemeinsten ästhetischen
Prinzipien der Gestaltung, freilich nur in diesen, den bildenden Künsten recht
nahekommt.
Das Spezifische an der Literatur ist hier, daß dabei eine nachträgliche Be¬
gründung, eine Motivierung des Anfangs durch den Schluß sichtbar wird. Es
Kausalität, Zufall und Notwendigkeit 777

handelt sich auch hier nicht einfach um das umgekehrte Erlebnis einer Kausal¬
reihe. Dieses ist natürlich darin mitenthalten, reicht aber zum Verständnis des
Phänomens nicht aus. Vor allem wäre es allein für sich genommen eine höchst
prosaische Einsicht, das bloß intellektuelle Feststellen einer ursächlichen Ver¬
knüpfung. Was entsteht, ist jedoch weit eher ein platonisches Staunen, das nur
nicht, wie in den bildenden Künsten, als subjektive Reaktion simultan mit
dem Werk gesetzt ist, das vielmehr erst am Abschluß vollendet werden kann
und das seinen Gegenstand und die notwendige Reaktion darauf in gedop¬
pelter Art zeigt. Es zeigt sie als Erschüttertsein über den nicht vorausseh¬
baren, nicht einmal der Ahnung und der Phantasie zugänglichen unendlichen
Reichtum einer Welt, entstanden aus den Verknüpfungen von Menschen,
ihren Taten, sie berührenden Begebenheiten und zugleich als eine unzertrenn¬
bare Einheit der Substanz, wo das Ende dem Wesen nach im Anfang bereits
enthalten war, sich jedoch zum Schluß als etwas ungeahnt Neues offenbart.
Die Ganzheit der geschichtlichen Welt kann im Leben, bei großen Wendun¬
gen, beim Abschluß schicksalsreicher Perioden ähnliche, gedoppelte Ausblicke
darbieten. Das Staunen ist aber dann nur ein Ausgangspunkt, ein Ansatz zur
Analyse, um Erkenntnis und Praxis zu fördern. In der ästhetischen Wider¬
spiegelung erscheint diese Verdoppelung als etwas, das - dem Prinzip nach -
jedem Lebensphänomen innewohnen könnte; sie wird aber aus einer abstrak¬
ten Möglichkeit zur konkreten Wirklichkeit nur durch die ästhetische Wider¬
spiegelung dieses selben Lebens erhoben. Hier ist die unterschiedliche Rolle,
die die Kategorie der Substantialität in der wissenschaftlichen und in der
ästhetischen Widerspiegelung spielt, deutlich sichtbar. In jener ist sie der Aus¬
gangspunkt für bestimmte Untersuchungen, in dieser die Einheit von intonie¬
rendem Anfang und krönendem Abschluß. (In den bildenden Künsten bilden
diese beiden Momente eine unmittelbare Einheit, in der nur die nachträgliche
Analyse - subjektiv - diese beiden Momente auseinanderlegen kann.)
778

Zehntes Kapitel

Probleme der Mimesis VI


Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

I Der Mensch als Kern oder Schale

Die Dichtung ist zugleich Entdeckung des Lebenskerns und Kritik des Le¬
bens. Diese Doppeltheit kann nicht energisch genug betont werden. Denn
das von uns beschriebene Phänomen ist ja allgemein bekannt und taucht in
den ästhetischen Betrachtungen immer wieder auf. Unter den besonderen
ideologischen Bedingungen verschiedener Perioden wird jedoch die allein
richtige ganze Wahrheit, das Festhalten der dynamischen Totalität aller
wesentlichen Bestimmungen, oft in eine Halbwahrheit, d. h. in eine ganze
Falschheit verzerrt. Denn gleichviel, ob man aus diesem Komplex die Ob¬
jektivität, die annähernd richtige Widerspiegelung der Wirklichkeit, wie sie
an sich ist, eliminiert, oder ob man das ästhetische Abbild der Welt von seiner
Bezogenheit auf den Menschen (auf die Menschheit) zu befreien versucht, die
Verzerrung ist gleicherweise unvermeidlich. Ich habe in verschiedenen Stu¬
dien zu zeigen versucht, daß der ideologische Verfall einer Klasse, das, was
wir Dekadenz nennen, sich am prägnantesten in einer Gestörtheit der Sub¬
jekt-Objekt-Beziehung zu äußern pflegt, und zwar als ein oft simultan auf¬
tretender falscher Subjektivismus und falscher Objektivismusb In der
Periode vor dem ersten Weltkrieg hat die erste Tendenz geherrscht. Ihren
vielleicht plastischsten Ausdruck erhielt sie in Hugo von Hofmannsthals be¬
rühmt gewordenem Brief des Lord Chandos an Baco von Verulam. Der
Briefschreiber beklagt sich, wie bekannt, daß ihm jede Fähigkeit des zusam¬
menhängendes Denkens, der zusammenhängenden Apperzeption der Außen¬
welt abhanden gekommen ist. Als Ersatz dafür erhält er die Gabe zu seltenen
Erlebnissen: »Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum
Benennbares, das, in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner all¬
täglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie

G. Lukacs: Marx und Engels als Literaturhistoriker, Berlin 1952, S. 110 f.


Der Mensch als Kern oder Schale 779

ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet. Ich kann nicht erwarten, daß Sie
mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Albern¬
heit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene
Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines
Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder
dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein
Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich
plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in
meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das
auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen 1.« Es ist klar, daß es sich hier
in erster Linie nicht um die bloße Unaussprechbarkeit solcher Erlebnisse han¬
delt. Ihr Objekt ist von vornherein aus allen Zusammenhängen herausge¬
rissen; es ist auch nicht seine gegenständliche Ganzheit, die das Erlebnis her¬
vorruft. Vielmehr gerät eine desorientierte, weltverlorene Seele mit einem
zufälligen Moment eines zufälligen Gegenstandes in eine zufällig-singuläre,
rein partikulare Beziehung, die darum - prinzipiell und nicht bloß indi¬
viduell-psychologisch - unaussprechbar bleiben muß.
Diese hypertrophierte und darum auf das Nichts orientierte falsche Subjek¬
tivität wird später, schon nach dem Ende des ersten Weltkriegs von einer
ebenso hypertrophierten und darum ebenso falschen Objektivität abgelöst.
Auch hier können wir nur ein Beispiel anführen. Der französische Schrift¬
steller Alain Robbe-Grillet schreibt in einem programmatischen Artikel über
den Roman der Zukunft: »An Stelle dieses Universums von >Bedeutungen<
(psychologischen, sozialen, funktionellen) müßte man versuchen, eine solidere,
unmittelbarere Welt zu konstruieren. Es wäre vor allem notwendig, daß die
Gegenstände, die Gesten durch ihre Gegenwart wirken, und daß diese Gegen¬
wart auch später herrschend bleibe gegenüber jeder erklärenden Theorie, die
sie in irgendein sentimentales, soziologisches, freudisches, metaphysisches oder
anderes Beziehungssystem einsperren würde. In diesem zukünftigen romanti¬
schen Universum werden die Gebärden und die Gegenstände >da< sein,
bevor sie >etwas< sind; und sie werden auch später so bleiben, hart, unver¬
änderlich gegenwärtig für immer und sich über ihren eigenen Sinn lustig
machend, der vergebens sie zu prekären Nutzbarkeiten herabsetzen will,
zwischen einer formlosen Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft2.«

1 H. von Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Berlin 1934, Band III, S. 196.


2 Alain Robbe-Grillet: Une voie pour le roman futur. La Nouvelle Revue Fran-
caise, Jg. 1956, S. 82 f.
y8o Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Man sieht hier deutlich den Gegenpol zur Fetischisierung des Subjekt-Objekt-
Verhältnisses bei Hofmannsthal. Bei diesem wurde alles zu einem rein zu¬
fälligen Anlaß, um irrationale seelische Kräfte freizusetzen, bei Robbe-Gril-
let sollen die Gegenstände und sogar die Äußerungsweisen der Menschen
(Gebärden) jede Verbundenheit mit dem gesellschaftlichen Leben, ja selbst
mit dem Innenleben des Menschen als Ganzem verlieren; es ist eine Tendenz
zur totalen Enthumanisierung der Wirklichkeit, die schon früher bei bekann¬
ten Schriftstellern auf getreten ist (man denke an die Zentralstelle des »Phalli-
schen« bei D. H. Lawrence).
Um nach diesem Exkurs, der notwendig war zur genauen Bestimmung unse¬
res Phänomens, zu seiner reinlichen Scheidung von solchen, die nur abstrakt¬
unmittelbar, ja fast nur verbal ihm analog scheinen, zur Sache selbst zurück¬
zukehren, sei vor allem als Überleitung an ein Naturerlebnis Goethes wäh¬
rend seiner italienischen Reise erinnert. Er betrachtet in Venedig verschiedene
Seetiere, Seeschnecken und Taschenkrebse und ruft begeistert aus: »Was ist
doch ein Lebendiges für ein köstlich herrliches Ding! Wie abgemessen zu
seinem Zustande, wie wahr! wie seiend M« Dieses Goethesche »Staunen« hat
natürlich seiner Persönlichkeit entsprechend einen doppelten Aspekt: es kann
als Ausgangspunkt zu naturwissenschaftlichen Forschungen ausgelegt wer¬
den - und sicher spielt das hier ausgedrückte Verhalten, der sich hier zei¬
gende Blick für die Methodologie der Studien Goethes eine große Rolle -,
es offenbart jedoch gleichzeitig seine dichterisch-künstlerische Attitüde zur
Wirklichkeit; daß bei Goethe beide Züge sehr stark konvergieren, ist eine all¬
gemein bekannte, auch durch viele Selbstbekenntnisse belegte Tatsache. Wir
haben hier nicht die Aufgabe, seine wissenschaftliche Methodologie zu unter¬
suchen, für uns ist bloß wichtig, daß bei einer scheinbar so geringfügigen Ge¬
legenheit der Einheitspunkt zwischen Leben, Kunst und Wissenschaft, die Iden¬
tität der von diesen widergespiegelten Welt sichtbar wird, und zwar in einem
Stadium des »Staunens«, in welchem die Wege von Wissenschaft und Kunst
sich noch nicht getrennt haben. Daran ist für die künstlerische Widerspiegelung
höchst wichtig, daß das auslösende Objekt bereits in einer deutlichen Bestimmt¬
heit erscheint und daß es dementsprechend eine Verzerrung des Phänomens,
seine Fetischisierung ist, wenn — wie in den eben aufgezeigten polar entgegen¬
gesetzten Beispielen - die weitere künstlerische Arbeit entweder subjektivistisch
oder objektivistisch den Reichtum an Beziehungen auszulöschen bestrebt ist.

1 Goethe: Italienische Reise, Venedig, 9. Oktober 1786.


Der Mensch als Kern oder Schale 781

Doch gerade dieser Reichtum an Beziehungen bildet die Grundlage nicht


nur für das Erfassen des Objekts in seiner ganzen Konkretheit, sondern auch
für die echte und fruchtbare Entfaltung des Subjekts, das zum Träger, Or¬
ganisator, Zusammenfasser der wahrgenommenen Gegenständlichkeit zu
einer »Welt« wird. In Goethes Ausspruch ist diese Einheit noch auf einer vor¬
wissenschaftlichen und vorkünstlerischen Stufe vorhanden. Darum ist er für
Ähnlichkeit und Differenz beider so lehrreich. Denn für das wissenschaftliche
Verhalten bleibt die bedingungslose Hingabe an die Objektivität des Ob¬
jekts ausschlaggebend; daß zu ihrem wahrheitsgemäßen Herausarbeiten viel
mehr als dies gehört, nämlich eine von jeder Subjektivität wegstrebende Er¬
findungsgabe, die den unendlichen Reiditum des Objekts klar, gegliedert, in
deutlicher Gesetzmäßigkeit hervortreten läßt, ändert an den Grundlagen
dieses Tatbestandes nichts Wesentliches. Die bei Goethe auch vorkünstlerisch
hervortretende Objektivität hat aber auf die Kunst bezogen einen völlig
anderen Charakter: die Subjektivität muß sich selbst - simultan - bis zum
völligen Verschwinden aufheben, um ein Spiegel zu sein, in dem alle wichti¬
gen Bestimmungen des Objekts unverfälscht erscheinen, und sie muß sich zu¬
gleich innerlich aufs extremste steigern, wenn dieses Abbild kein zu Tode er¬
starrtes bleiben soll. Die Gedoppeltheit des ästhetischen Objekts, ein ansich-
seiendes und gleichzeitig, unablösbar davon, ein nur für den Menschen existie¬
rendes zu sein, setzt diese Gedoppeltheit des ihm zugeordneten Subjekts
durch. Diese untrennbare Gebundenheit von Aufheben und Steigern der Sub¬
jektivität ist zwar in einer solchen Konzentration auf einen Akt etwas spezi¬
fisch Ästhetisches, das ihr inhaltlich zugrunde liegende Verhalten, das sich
freilich als nachträgliche Vereinigung, als wechselseitige Ergänzung entgegen¬
gesetzt gerichteter Akte äußern kann, spielt aber auch im Alltagsleben der
Menschen eine wichtige, freilich oft unterschätzte Rolle. Ganz allgemein ge¬
sprochen, liegt dem der unaufhebbare Tatbestand zugrunde, daß eine wirk¬
liche Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit nur in der Welt, in un¬
unterbrochenen Wechselbeziehungen zu ihr möglich ist, daß sowohl ein
Mensch, der sich tendenziell ganz in sich verschließt, wie einer, der sich wehr¬
los seiner Umgebung ausliefert und sich ihr bedingungslos anpaßt, letzten
Endes ein seelischer Krüppel werden muß. Der Drang nach einer Komplett¬
heit im Menschlichen lebt mehr oder weniger bewußt in den meisten Men¬
schen, soweit die gesellschaftliche Struktur ihrer Zeit sie innerlich nicht der¬
art entstellt hat, daß sie die eigene Verzerrtheit als unerläßliche Vorbedin¬
gung einer jeden Existenz empfinden. Allerdings ist dieser Drang und die
Fähigkeit, ihn zu verwirklichen, auch in den verschiedenen Personen derselben
782 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Zeit, derselben Klasse sehr verschieden; vom Kampf um die tatsächliche


Realisierung dehnt sich die Skala über ohnmächtiges Revoltieren bis zu einer
stumpfsinnigen, ja sogar selbstgefälligen Anpassung an eines der falschen
Extreme aus.
Die Kunst ist ihrem Wesen nach stets eine Gegenkraft solcher Entartungs¬
tendenzen, stets das Vorbild für den Aufstand wider ihre Einflüsse, das Ideal
einer inneren Gesundheit. Daß ihre einzelnen Gestaltungen fast immer auch
eine konkrete - positive oder negative - Vorbildlichkeit in einer bestimm¬
ten Hinsicht besitzen, mindert diese ihre allgemeine Wirkung nicht, ja ver¬
stärkt sie: Vorbild für ein dem Menschsein würdigen Verhaltens zu sein, die
Objektivität der Welt so zu erfassen und zu gestalten, daß darin eine solche
Subjekt-Objekt-Beziehung zum Ausdruck gelange. Das bedeutet aber für das
schaffende Subjekt die Notwendigkeit, ein entsprechendes Verhalten zur Welt
in sich auszubilden. Auch darin ist - je nach Periode, Klasse, Nation, Indi¬
vidualität - eine unendliche konkrete Variabilität möglich, ja unerläßlich,
doch ist die oben angedeutete allgemeinste Form in der Ausbildung der
schöpferischen Subjektivität der einzige Weg für ein gültiges Inslebensetzen
derartiger ästhetischer Gebilde. Das, was man berechtigterweise eine künstle¬
rische Persönlichkeit nennt, beruht gerade auf solchen Beziehungen zur
Wirklichkeit. Natürlich ist es formal möglich, auf anderen psychischen
Grundlagen Kunstwerke hervorzubringen; das exzessive Übergewicht einer
weltlosen Subjektivität oder ihre seelenlos-unmenschliche Unterdrückung
überträgt aber zwangsläufig die menschliche Fragwürdigkeit eines solchen Zu¬
stands auf das Werk und bringt darin eine unaufhebbare Problematik her¬
vor. Die reale Verbindung zwischen Werk und schöpferischer Persönlichkeit
ist selbstredend höchst verwickelt und zeigt die verschiedensten Formen des
dialektischen Umschlags. In diesem Wechsel bleibt aber — wenn es sich um
echte Kunstwerke handelt - ein immer wiederkehrender Mittelpunkt be¬
stehen: eben das hier geschilderte Verhältnis zur Wirklichkeit selbst, dessen
Bewegungsrichtungen wir als Entäußerung des Subjekts an die Objektwelt
und als Rücknahme des so Erworbenen ins Subjekt in anderen Zusammen¬
hängen bereits geschildert haben. Die jetzigen Beschreibungen gehen über die
früheren nur insofern hinaus, als einerseits die Substantialität des schaffen¬
den Subjekts als unabdingbare Voraussetzung zur gediegenen Substantiali¬
tät des Werks erscheint und andererseits jene auf einer Wirklichkeitsbezie¬
hung beruht, in der das Subjekt durch Hingabe an die Außenwelt, durch
Widerspiegeln ihrer wichtigsten Bestimmungen sich selbst als Substanz findet,
bereichert und vertieft.
Der Mensch als Kern oder Schale
783

Aus alledem folgt wieder die absolute Notwendigkeit für das ästhetische
Setzen: auf Grund einer dialektischen Widerspiegelung der Wirklichkeit die
Beziehung zu ihr zu finden. Natürlich ist diese Dialektik, wie wir in vielen
Fällen bereits sehen konnten, auch in der Alltagspraxis deutlich sichtbar;
auch in dieser wäre es unmöglich zu existieren und erfolgreich zu handeln,
wenn die für den Menschen seelisch in Betradrt kommende Widerspiegelung
einen bloß photographischen Charakter hätte. Das aktive Beteiligtsein des
Subjekts an Art und Ergebnis der Widerspiegelung wird jedoch in der Arbeit
und in der sonstigen unmittelbaren Praxis des Alltags mehr oder weniger
spontan, in der Wissenschaft bewußt, vermittels des desanthropomorphisieren-
den Verhaltens korrigiert. Man darf aber nicht vergessen, daß in diesem sub¬
jektiven Faktor der Widerspiegelung zwei Elemente der Beziehung zur Wirk¬
lichkeit in ihrer Unmittelbarkeit ungetrennt enthalten sind: erstens jene Mo¬
mente der Erscheinungswelt, die einfach subjektive Zutaten zur Widerspie¬
gelung bilden (Wirkung der spezifisch menschlichen Sinnesorgane etc.), zwei¬
tens der objektive Anteil der Menschengattung (und der sie bildenden Indivi¬
duen) an der Beschaffenheit, Struktur etc. der Wirklichkeit selbst, ihre aus
dem Wesen der Sache folgende Bezogenheit auf das Menschsein der Men¬
schen. Diese unmittelbare Einheit wird von der desanthropomorphisierenden
Widerspiegelung aufgehoben und in ihre wahrhaft objektiven Komponenten
aufgelöst, um eine neue Synthese der rein objektiven, an sich seienden Zu¬
sammenhänge erfassen und festhalten zu können.
Das zweite Motiv spielt im ethischen Verhalten der Menschen eine wichtige
Rolle. Eine menschliche Entschließung kann nämlich aus dem Kausalnexus
des gesellschaftlich-geschichtlichen Ablaufs nicht herausgehoben werden, aber
dennoch besitzt sie, ethisch angesehen, einen besonderen Wirklichkeitsakzent,
den der Verantwortlichkeit des sie fassenden Individuums. Diese kann frei¬
lich auch für die hervorbringenden Ursachen und aus den hervorgebrachten
Folgen entstehen; aber darin ist ein qualitativer Unterschied von der eigent¬
lichen Verantwortung vorhanden: bei dieser ist der Entschluß selbst ihr eige¬
ner Gegenstand, bei jener die subjektive Verpflichtung, gewisse Tendenzen
der Wirklichkeit erkannt, gewisse ihrer Konsequenzen vorausgesehen zu
haben. Es ist natürlich hier nicht der Ort, die so entstehende Dialektik näher
zu verfolgen. Sicher ist aber, daß die oben aufgezeigten falschen Extreme
- mutatis mutandis - auch im Bereich der Ethik von entscheidender Bedeu¬
tung sind: das vollständige Ignorieren der objektiven Außenwelt kann die
reinsten und selbstlosesten moralischen Gesinnungen in eine Donquixotterie
verwandeln, während das widerstandslose Hinnehmen der Begebenheiten der
Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik
78 4

Umwelt das Subjekt in ein Philistertum herabdrückt. Ob dieses als wahllose


Anpassung an die jeweils gegebene Außenwelt vor sich geht oder als passive
Stimmungsreaktion, die unter Umständen zur inneren Empörung heranwach¬
sen kann, ohne sich in Taten umzusetzen, macht ethisch keinen ausschlag¬
gebenden Unterschied aus; innerhalb des Philistertums gibt es große Skalen
von der wesenlosen Verfeinerung bis zur Roheit, von der richtungslosen
Empfindsamkeit bis zur fühllosen Verhärtung etc. Eine wirkliche ethische
Substanz entsteht im Menschen, besser gesagt, der Mensch wächst zu einer
ethischen Substantialität nur dann heran, wenn es ihm gelingt, die richtige
Proportion von Innen und Außen, von Objektwelt und Subjektivität, von
Notwendigkeit und Freiheit in seinen Entscheidungen und Taten zu reali¬
sieren. Die Darlegung, welche Stelle diese Substantialität der Persön¬
lichkeit im Gesamtbereich der Ethik einnimmt, würde den Rahmen dieser
Betrachtungen sprengen.
Immerhin zeigen schon diese allgemeinen Umrisse, daß ethisches und ästhe¬
tisches Verhalten zueinander in einer innigen, wenn auch komplizierten und
widerspruchsvollen Beziehung stehen. Die Basis der Differenzen, ja Gegen¬
sätze, liegt in ihrem Grundcharakter: die Ethik ist praktisch auf die mensch¬
liche Wirklichkeit selbst gerichtet, die Ästhetik erstrebt kontemplativ eine
Widerspiegelung der für den Menschen wesentlichen Welt. Die Dialektik der
ästhetischen Widerspiegelung, die über Treue und Tiefe, über Wahrheit und
Reichtum, über Welthaftigkeit und Evokationskraft der Kunstwerke ent¬
scheidet, geht vor allem von der hier analysierten Wechselbeziehung von
Objektivität und Subjektivität aus. Nur wenn das schöpferische Subjekt
fähig ist, die Bezogenheit der Objekte auf den Menschen (auf die Menschen¬
gattung) als deren eigene inhärente Bestimmungen zu erfassen und auf der
anderen Seite die Reaktionen der Menschen auf ihre Umwelt aus einer ein¬
heitlich wirkenden Substanz, die beide umfaßt, organisch herauswachsen zu
lassen, kann dieses spannungsvolle Gleichgewicht von Subjektivität und Ob¬
jektivität als neue, einheitliche und unmittelbare, substantielle und evo-
kative ästhetische Synthese entstehen. So kompliziert auch ihre Genesis aus
dem schöpferischen Subjekt sein mag, so sehr ein qualitativer Sprung Schaf¬
fen und Werk zugleich verbindet und trennt, in den subjektiven Voraussetzun¬
gen müssen sehr weitgehend der Werkstruktur entsprechende, zu ihr konver¬
gierende Tendenzen vorhanden sein, soll der Sprung zu einem echten Kunst¬
werk führen. Diese Entsprechung, diese Gemeinschaft beruht gerade auf der
richtigen Beziehung des Subjekts zur Objektwelt in Wirklichkeit wie Kunst.
Der nichtmechanische, dialektische Charakter der ästhetischen Widerspiege-
Der Mensch als Kern oder Schale 785

lung kommt darin zur Geltung, daß sie entscheidend von der Beschaffenheit
ihres Subjekts abhängt. Nur aus einem reichen Leben kann eine echte und
reiche Kunst entstehen, sagte gelegentlich Gorki. Dieser Reichtum muß sich
natürlich nicht unbedingt in einer äußerlichen Bewegtheit des Lebens offen¬
baren, er muß aber im Erleben der Welt lebendig vorhanden sein, muß in¬
folge der richtigen Proportionalität von Subjektivität und Objektivität aus
dem Subjekt ein Substantielles formen, damit das Werk die für seine Echt¬
heit unerläßliche Substanz besitze. Die Frage: wer widerspiegelt die Wirk¬
lichkeit? läßt sich von der Frage, was und wie widergespiegelt wird, prinzi¬
piell gar nicht trennen. Das scheinbar phantastischste, weltentrückteste
Werk kann — in diesem Sinne — eine echte Widerspiegelung der Wirklich¬
keit sein; und es muß, wenn die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit
die Beziehung von Subjektivität und Objektivität trübt und verwirrt, auch
die Welt der Werke substanzlos werden.
Die Verwirrung, von der eben die Rede war, zeigt sich zumeist als ein volles
oder partielles Leugnen des Widerspiegelungscharakters der Kunst. Das hat
freilich alte philosophiegeschichtliche Traditionen. Da bis zu Marx der Mate¬
rialismus nur eine mechanische Widerspiegelung gekannt hat, konnten selbst¬
redend die komplizierteren Fragen der Ästhetik von hier aus unmöglich ge¬
löst werden. Bedeutende Materialisten wie Diderot halfen sich, indem sie in
Einzelbetrachtungen - per nefas - dialektische Momente in die mechani¬
sche Theorie der Widerspiegelung einschmuggelten; idealistische Dialektiker
wie Hegel haben - ebenfalls per nefas - in Konzeptionen wie dem identi¬
schen Subjekt-Objekt oft im einzelnen richtig erfaßte, unbewußte Anwen¬
dungen der dialektischen Widerspiegelungslehre eingebaut. Das bezieht sich
jedoch nur auf die hervorragendsten Denker. Es ist nach solchen Voraus¬
setzungen verständlich, daß in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte eine
Ablehnung der Widerspiegelungstheorie herrschend wurde. Richtungen wie
Expressionismus oder Surrealismus versuchen die ganze Kunst aus einer rätsel¬
haften Selbsttätigkeit des weltlosen Subjekts abzuleiten, und selbst scharf¬
sinnige Denker, wie der von uns bereits kritisierte Caudwell, wollen eine
solche, auf angebliche magische Überreste zurückgreifende reine Subjektivi¬
tät wenigstens für die Lyrik retten. Alledem gegenüber ist es bemerkenswert,
daß, wo bedeutende Künstler über ihr Handwerk nachdenken, sie immer
wieder bei einer Rückkehr zur Widerspiegelung der Wirklichkeit landen.
Wir wollen gar nicht von Tolstoi sprechen, der, wo er philosophisch zu den¬
ken versucht, immer unter den Einfluß subjektiver Idealisten gerät, jedoch
da, wo er einen echten Künstler gestaltet (wie z. B. beim Maler Michailow in
786 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

»Anna Karenina«), dessen Theorie und Praxis immer schlicht auf die Wider
spiegelungslehre zurückführt. Aber selbst ein Schriftsteller wie Proust kann
nicht umhin, auf die Widerspiegelung zurückzugreifen, wenn er sich die Lyrik
eines so modern-subjektivistischen Dichters wie Mallarme, der in den mo¬
dernen Theorien ein Vorbild der »reinen«, also nicht widerspiegelnden Sub¬
jektivität vorstellt, zu verdeutlichen sucht. Er schreibt in einem Jugendbrief
über Mallarme: » .. . möchte ich ... von diesem Dichter im allgemeinen
sagen, daß dessen dunkle und leuchtende Bilder zweifellos noch Abbilder von
Dingen sind, denn wir können uns nichts anderes vorstellen; aber sozusagen
widerspiegelt von der glatten und dunklen Fläche des schwarzen Marmors h«
In diesem Fall ist nicht bloß die von der Logik der Dinge erzwungene An¬
erkennung der Widerspiegelungslehre wichtig, sondern das geistvoll und tref¬
fend hingestellte Bild vom subjektiven Medium der Widerspiegelung. Und
damit sind wir mitten in unserem gegenwärtigen Problem. Die Widerspiege¬
lungstheorie des dialektischen Materialismus wie jede ihrer Anwendungen
auf Gebiete, wo der Mensch als Subjekt figuriert, ist weit entfernt davon,
Rolle und Bedeutung der Subjektivität herabzusetzen, geschweige denn zu
leugnen. Ja, man kann im Gegenteil ruhig behaupten, daß gerade er im¬
stande ist, diese weitaus konkreter zu fassen als irgendeine extrem sub-
jektivistische moderne Theorie. Denn in diesen Theorien erscheint die Sub¬
jektivität als etwas derart abstrakt Unmittelbares, daß darin alle echten
Bestimmungen und Unterscheidungen verschwinden oder verkümmern müs¬
sen; daß der Subjektivität abstrakt-emphatisch ein ungeheures, ihr nicht
gebührendes, von ihr nicht zu tragendes Gewicht zugesprochen wird; daß
sie sich - in ihrer partikularen Einzelheit - zum alleinigen Demiurgen
jedes Schöpferischen deklarativ erhöht. So kann hier dem Wesen der Sache
nach nichts Konkretes über die Subjektivität ausgesagt werden. Der dialek¬
tische Materialismus dagegen, gerade weil er von der realen Funktion der
Subjektivität in der ästhetischen Widerspiegelung (und in der Ethik, in der
geschichtlichen Praxis etc.) ausgeht, kann die Subjektivität in einer weitaus
reicheren und tieferen Differenzierung erhellen, als diese Lehren. Wenn wir
nun bei der ästhetischen Widerspiegelung bleiben, aber bedenken, welch große
und komplizierte Aufgaben diese dem schöpferischen Subjekt aufbürdet, wird
es klar, daß eine Analyse auf dieser Grundlage Probleme der Differenzie¬
rung aufwirft, in welchen die ästhetische Geeignetheit des Subjekts zu einer

1 Proust an Reynaldo Hahn, Paris, August 1896. Neue Rundschau 1957, II. S. 316.
Der Mensch als Kern oder Schale 787

solchen Widerspiegelung der Wirklichkeit den schöpferischen Menschen in


seiner bewegten Totalität, in seiner ganzen Persönlichkeit erfaßt, also auch
seinen Intellekt, seine Moral etc. So hat Gorki diese Frage nicht allzulange
Zeit nach Proust gestellt. Er schreibt in seinem Essay »Die Zerstörung der
Persönlichkeit«: »Für die alten Schriftsteller typisdi sind ein weites Auffas¬
sungsvermögen, harmonische Weltanschauung, intensive Lebensempfindung;
in ihrem Gesichtsfeld liegt die ganze Welt. Die >Persönlichkeit< des Autors
der Gegenwart ist - seine Art zu schreiben; das andere: die Gesamtheit von
Gefühlen und Gedanken wird immer unfaßbarer, nebelhafter und die Wahr¬
heit zu sagen, kläglicher. Der Schriftsteller ist nicht mehr Spiegel der Welt,
sondern ein kleiner Splitter; die soziale Amalgamschicht ist heruntergewischt
und im Straßenstaub der Großstadt hat er nicht mehr die Fähigkeit, mit
seinen Bruchstücken das große Leben der Welt widerzuspiegeln, und gibt nur
Fragmente des Straßenlebens, kleine Reste erdrückter Seelen wieder 1.«
Es gehört nicht allzuviel Scharfsinn dazu, um eine gewisse Verwandtschaft
im Prinzip beider Fragestellungen zu erblicken: die Tatsache der Widerspie¬
gelung als solche hingenommen, interessieren sich beide Schriftsteller dafür,
wie jener Spiegel beschaffen sein müsse, in welchem ein dichterisches Ab¬
bild der Welt erscheinen könne. Während aber Proust bei der geistvollen
Feststellung eines bizarren Faktums stehenbleibt, nämlich dabei, daß die
Oberfläche des schwarzen Marmors nur eine interessant-verschwommene,
stimmungsvolle, aber kontur- und körperlose Reproduktion der Umwelt im
menschlichen Subjekt zuläßt, geht Gorki direkt auf das zentrale Problem los
und zeigt, daß die Zerstörung der subjektiven Verbundenheit des Menschen
seiner Zeit mit dem gesellschaftlichen Leben und mit dessen Problemen im
Subjekt das Instrument der ästhetischen Widerspiegelung zerschlägt und die
zerbrochenen Stücke in den Straßenstaub schmeißt. Diese Differenz der
Auffassungen mindert aber nicht im geringsten die Bedeutung dessen, daß
sich zwei so hervorragende Vertreter von extrem entgegengesetzten Auffas¬
sungen über die Literatur nicht nur in bezug auf das Faktum ihres Wider¬
spiegelungscharakters einig sind, sondern auch darin, daß die spezifische
Eigenart des dichterischen Subjekts auf die Qualität der Spiegelung entschei¬
dend einwirkt. Bei Gorki wird, wie wir gesehen haben, auch der soziale
Untergrund dieser Qualität deutlich. Bewußte Verbundenheit mit der Gesell¬
schaft oder Einbildung des Aufsichgestelltseins des Subjekts sind aber nicht

1 M. Gorki: Die Zerstörung der Persönlichkeit, Berlin o. J., S. 112.


788 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

— wie die meisten bürgerlichen Denker meinen — bloß »soziologische«


Unterschiede, sondern treffen im Gegenteil gerade das Wesen des Menschen
und damit seine ästhetischen Fähigkeiten. Wir haben in anderen Zusammen¬
hängen bereits diese Frage berührt und uns dabei philosophisch mit Ari¬
stoteles zur primär gesellschaftlichen Beschaffenheit des Menschen bekannt.
Die Wichtigkeit einer solchen Entscheidung liegt darin, daß, wenn dieser
Unterschied ein bloß »soziologischer« wäre, der Mensch sich nach Belieben
von den gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit isolieren, als »Atom« leben
könnte, ohne sein Wesen und damit seine Fähigkeit zur richtigen Reproduk¬
tion der Außen- und Innenwelt zu beschädigen oder zu verzerren. Wenn der
Mensch dagegen seinem »ontologischen« Wesen nach gesellschaftlich ist, so ist
diese Existenz als »Atom« eine bloß eingebildete, innerlich unwahre, ihrer
eigenen objektiven Basis widersprechende, und eine solche Diskrepanz kann
unmöglich dauernd bestehen, ohne das Subjekt als solches ernsthaft zu be¬
schädigen L Robert Musil, der sich von der Mehrzahl der avantgardisti¬
schen Schriftsteller durch eine oft unerschrockene Aufrichtigkeit der eigenen
Persönlichkeit und der eigenen Produktion gegenüber vorteilhaft unterschei¬
det, schreibt über sich selbst: »Zarathustra der Einsame in den Bergen wider¬
spricht irgendwie meiner Gesinnung. Wie muß man sich aber stellen, um mit
einer Welt fertig zu werden, die keinen festen Punkt hat? Ich begreife sie
nicht, das ist es 2.«
Die Widersprüchlichkeit, die sich hier für die ganze Sphäre der ästhetischen
Widerspiegelung äußert, läßt sich kurzgefaßt so aussprechen: auf der einen
Seite zeigt jede eingehende Analyse ihrer kategoriellen Struktur einen
außerordentlich großen — unmittelbar angesehen sogar schrankenlosen —
Spielraum der Ausdrucksmöglichkeiten. Gerade die richtige Auffassung der
Stelle der Kausalität im System der Kategorien befreit die ästhetische Wider¬
spiegelung aus der sklavischen Abhängigkeit sowohl von der als unmittel¬
barer Schein aufgefaßten gegebenen Wirklichkeit wie von jener — eben¬
falls unmittelbaren — Erklärungsweise, die sie in ein fertiges Netz aus Kau¬
salketten verwandelt. Das ästhetische Vordringen zum Wesen, zu den Geset¬
zen des menschlichen Lebens, zur Substanz des Menschseins kann dadurch
- inhaltlich wie formal - eine unbeschränkte Variabilität erhalten, kann

Marx zeigt in der »Heiligen Familie« sehr klar die Unwahrheit und Brüchigkeit
solcher Vorstellungen über den Menschen als »Atom«. Wk. a. a. O. Bd. III, S. 296.
2 R. Musil: Tagebücher etc. a. a. O. S. 303.
Der Mensch als Kern oder Schale 789

von der unmittelbar wahrgenommenen Oberfläche des Alltagslebens noch so


radikal abweichen, kann mit ihm verglichen noch so phantastisch oder gro¬
tesk scheinen, ohne deshalb sein Wesen als wahres Abbild der Wirklichkeit
verlieren zu müssen. Auf der anderen Seite jedodi schafft gerade diese Frei¬
heit, diese Ablehnung jeder im voraus fertigen Regel eine außerordentlich
rigorose Auswahl, die eine große Masse der ästhetisch intentionierten Ver¬
suche aus dem Bereich der Kunst hinausfegt. Es gehört zum Wesen der
ästhetischen Widerspiegelung, daß in ihr alle Kategorien nur in der Gesamt¬
heit ihrer Wechselbeziehungen über Gelingen oder Mißlingen entscheiden;
aus der Totalität des Gehalts und seiner spezifischen Formung entsteht jene
künstlerische Struktur der einzelnen Werke, von deren Beschaffenheit es
abhängt, ob das Werk zur Kunst gezählt werden kann oder nicht. Alle Fra¬
gen, die aus dieser Konstellation entspringen, deuten darauf (was deren aus¬
führliche Untersuchung erweisen kann), daß der Primat von Einheit und To¬
talität vor der Analyse der Einzelheiten keineswegs die ästhetische Rationali¬
tät aufhebt; ja er wird geradezu zum Fundament ihrer spezifischen Beschaf¬
fenheit.
Diese Fragen können erst im zweiten Teil dieses Werks konkret gestellt und
beantwortet werden. Ff ier müssen und können wir vorgreifend bloß die Rolle
der Subjektivität als des eigenartigen Vermittlungsgliedes zwischen einer
ästhetisch neutralen objektiven Wirklichkeit und einem rein und ausschlie߬
lich auf ästhetisch transformierten Kategorien basierten Werk kurz streifen.
Natürlich hat auch im Alltagsleben und in der Wissenschaft das Subjekt eine
vielfach ähnliche Vermittlungsrolle; es gehört zu den landläufigen, völlig
unbegründeten Vorurteilen dem Materialismus gegenüber, ihm das Leugnen
solcher Vermittlungen zuzuschreiben. Umfang, Intensität, Bedeutung etc.
einer solchen Vermittlung auf den verschiedenen Betätigungsfeldern der Men¬
schen sind allerdings außerordentlich verschieden, und es kann nicht unsere
Aufgabe sein, auch nur andeutend die Mannigfaltigkeit der hier erwachsen¬
den Probleme zu erörtern. Nur so viel muß bemerkt werden, daß sowohl in
einem großen Teil des Alltagslebens, überall dort, wo es auf Leistungen an¬
kommt, wie in der Wissenschaft, das Subjekt eine Vermittlungsrolle im wört¬
lichen Sinne zu spielen hat. Obwohl nämlich weder das Arbeitsprodukt noch
die wissenschaftliche Widerspiegelung ohne den Einsatz des ganzen Menschen
zustande kommen könnten, ist diese seine Funktion in der vollendeten, in
der im Leben funktionierenden Objektivation weitgehend ausgelöscht. D. h.
wir können z. B. wissen - und es ist wichtig, daß wir es wissen -, was für
gewaltige intellektuelle, moralische etc. Energien notwendig waren, um das
79 o Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

wissenschaftliche Werk Galileis oder Newtons zustande zu bringen; diese


Werke selbst erfüllen aber ihre Mission im Leben der Menschheit, ohne auf
diese ihre Genesis rekurrieren zu müssen. (Wenn wir etwa die Differential¬
rechnung anwenden, ist es uns gleichgültig, ob Newton oder Leibniz ihr Ent¬
decker war.) Das Kunstwerk jedoch, das Ergebnis der ästhetischen Wider¬
spiegelung ist auch als Werk etwas Persönliches, eine Werkindividualität.
Mögen wir ihren Autor (oder ihre Autoren) nicht kennen, dieser Persönlich¬
keitscharakter ist dem Werk unauslöschlich aufgeprägt. Die Frage nach dem
schöpferischen Subjekt ist also auch aus der sachlichsten Analyse des Kunst¬
werks nicht eliminierbar.
Diese allgemeinste Feststellung hat sich schon vorher in der Analyse der
Widerspiegelung bestätigt; die Antworten Prousts und insbesondere Gorkis
zeigen, welch weite Horizonte für das Verständnis der objektiven Werkpro¬
bleme der Ästhetik und sogar für das ihrer gesellschaftlichen Genesis eine
solche Fragestellung eröffnet. Sie führt aber immer wieder zu dem zurück,
was wir vorher als Problem der Substantialität im Werk und als ihre un¬
umgängliche Fundiertheit in der menschlichen Substantialität des Schaffen¬
den dargelegt haben. Nur auf diesem Weg kann die Kunst ihre menschheit-
liche Mission erfüllen, indem jedes Werk mit einer echten Substanz für den
Rezeptiven zu einem Aufruf wird, der an dessen eigene Substantialität appel¬
liert oder seinen inneren Abstand von einer solchen evokativ ins Bewußtsein
hebt. Wie überall, ist auch hier das spezifisch ästhetische Problem die - frei¬
lich qualitativ betonte — Kulmination eines allgemeinen Lebensphänomens.
Dieses hat Goethe in seinem Gedicht »Ultimatum« als Zentrum dieser Pro¬
blematik treffend auf gezeigt:

Und so sag’ ich zum letzten Male:


Natur hat weder Kern noch Schale;
Du prüfe dich nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seyst!

Unmittelbar beziehen sich diese Zeilen auf die Naturerkenntnis, und des-
nalb ist die persönliche Ermahnung der letzten Zeilen ebenfalls unmittelbar
an die Naturforscher gerichtet. Jedoch einerseits bei dem intimen Zusammen¬
hang zwischen Goethes Naturforschung und künstlerischer Praxis, anderer¬
seits bei seiner Auffassung der Naturwissenschaften, die, wie wir seinerzeit
gezeigt haben, historisch angesehen ein Nachhutgefecht gegen das siegreiche
Aufsteigen der desanthropomorphisierenden Methoden war, glauben wir, das
Der Mensch als Kern oder Schale 791

Recht zu besitzen, das Epigramm vor allem auf unser ästhetisches Subjekt¬
problem anzuwenden. Wir sind dazu um so berechtigter, als der Abschluß
des Gedichts zwar Goethes naturphilosophisdres Credo enthält, objektiv sich
jedoch nur auf die ästhetische, nicht auf die naturwissenschaftliche Wider¬
spiegelung der Natur beziehen kann. Diese Schlußworte Goethes lauten:
»Ist nicht der Kern der Natur / Menschen im Herzen?«
Hier wendet sich Goethes Gedanke sachlich - gegen seinen weltanschau¬
lichen Willen - von der ansichseienden Natur ab und wendet sich entschieden
dem Ästhetischen zu. Denn diese Natur, deren Kern im Herzen des Menschen
ist, könnte philosophisch nur durch eine idealistische Konstruktion erlang¬
bar sein, die Goethe vollständig fremd war. Dagegen ist, wie bisher oft ge¬
zeigt wurde, gerade das Zusammen von Objektivität und Zentriertsein auf
das Wesentlichste und Innerlichste im Menschen das entscheidende Kenn¬
zeichen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit. Der berechtigte
und fruchtbare Anteil der menschlichen Subjektivität an dieser Mimesis be¬
steht gerade im Setzen dieser Bezogenheit, freilich nicht als subjektive Zutat
zu einer an sich subjektfremden Objektwelt, sondern so, daß dieses Geriditet-
sein auf den Menschen als inhärente, ansichseiende Eigenschaft der wider¬
gespiegelten Gegenstände in Erscheinung trete. Gerade hierfür gewinnt die
Goethesche Unterscheidung von Kern und Schale eine ausschlaggebende Be¬
deutung. Wir haben früher auf Beziehungen zur Ethik in der Entwicklung
des Menschen zur Substantialität hingewiesen, auf die Rolle, die darin das
richtige Verhältnis in Aufnahme und Aufarbeitung der Außenwelt spielt.
Jetzt, im Sinne der Goetheschen Zweiteilung der Menschen nach ihrer
Beschaffenheit als Kern oder Schale, erscheint der Rückgriff auf die Ethik
in einem klareren Licht: es handelt sich nicht so sehr um die ethischen Katego¬
rien im eigenen Sinne - diese sind, allgemein prinzipiell gesprochen, für alle
Menschen in gleicher Weise verpflichtend -, als vielmehr um ein Resultat,
das die für die betreffenden Menschen zu Fleisch und Blut gewordene Ethik
und das in reicher Wechselwirkung mit der Welt geführte Leben in ihnen
hervorbringt, um ihre allgemeine Verhaltensweise, um ihre innere Beschaffen¬
heit als ganze Menschen. Diese Auffassung kommt in »Wilhelm Meister«, in
den Briefen Goethes und Schillers über diesen Roman ganz klar zum Aus¬
druck als eine Ethik der Menschen ihrem Sein nach, im Gegensatz zu den
rigorosen moralischen Postulaten Kants. Und wenn die Kernhaftigkeit des
Menschen dabei mitunter allzu eng an das Harmonische der Individualität
geknüpft wird, ist damit doch der Mittelpunkt dieser ihrer Bestimmtheit ge¬
troffen. Ohne auch hier in der Lage zu sein, die ethischen Verästelungen
79 * Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziebung in der Ästhetik

dieses Problemkreises weiter zu verfolgen, kann über seine uns vor allem
interessierende ästhetische Seite gesagt werden: die Frage, ob der Mensch
Kern oder Schale sei, heißt, ob er - menschlich gesprochen - würdig und
darum fähig sei zur angemessenen Widerspiegelung der Welt, ob seine Per¬
sönlichkeit geeignet sei, »Spiegel der Welt« zu sein. (Heine über Goethe.)
Mit dem rezeptiven Verhalten zu den Kunstwerken werden wir uns alsbald
eingehend beschäftigen. Hier muß nur, vorwegnehmend, gesagt werden, daß
auch beim Rezeptiven das Problem der Verbindung von Kernhaftigkeit des
Menschen und seiner Fähigkeit, die Welt angemessen zu spiegeln, notwendig
auftaucht und, freilich in abgewandelten Formen, zum Wesen seines ästheti¬
schen Erlebnisses gehört.
Damit ist eine neue Genielehre ausgesprochen, deren Wesen sich sogleich
- vorerst negativ - darin äußert, daß sie jeden Irrationalismus an der
Genialität weit von sich weist. Natürlich ist auch hier eine Ausführung, die
die notwendigen Kennzeichen des Genies umschreiten würde, eine Aufzäh¬
lung seiner entscheidenden Eigenschaften, eine Feststellung ihrer unerlä߬
lichen Proportion etc. von vornherein unmöglich. Jedes Genie (auch jedes Ta¬
lent) stellt eine einmalige, selbst in entfernter Ähnlichkeit unmöglich wieder¬
kehrende Beziehung zwischen Mensch und Zeitalter, Mensch und gesellschaft¬
licher Wirklichkeit, Mensch und Mitmensch, Mensch und Natur dar. Aber
eine solche völlig unaufhebbare Einmaligkeit kann doch zum Begriff erhoben
werden, wenn sie nicht, wie dies häufig geschieht, bloß in ihrer isolierten Be¬
gebenheit betrachtet wird, sondern, wie hier vorgeschlagen, in der obigen
Wechselbeziehung mit ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Umwelt. Die un¬
vergleichliche Einmaligkeit von Genie (und Talent) erscheint darin in einem
konkreten historischen Konnex, wobei es möglich wird, ganz allgemeine
- und nur in dieser Allgemeinheit variiert wiederkehrende - Bestimmun¬
gen aufzudecken und auszusprechen. Diese Frage kann hier nicht in ihrer
wirklichen Breite und Tiefe behandelt werden; es ist aber klar, daß das, was
in diesen Zusammenhängen als Kernhaftigkeit des Menschen bezeichnet
wurde, eine wichtige, ja unerläßliche Basis für Genie (und Talent) im Men¬
schen ist. Wir wissen, welche weiten und verzweigten Vermittlungen zwischen
Einzelmenschen und Menschengattung in Wirksamkeit treten müssen, damit
in den Kunstwerken die jeweilige Etappe der Menschheitsentwicklung un-
vei fälscht echt und evokativ evident werde. Nun zeigen unsere bisherigen Er¬
örterungen, daß das, was hier der Kern im Menschen genannt wurde, gerade
das wichtigste Vermittlungsglied zwischen der menschlichen Persönlichkeit
und der Menschheit in ihm, zwischen ihren inneren und äußeren Emanatio-
Der Mensch als Kern oder Schale 793

nen ist; während die im Menschen als Schale bezeichneten Tendenzen not¬
wendig durch die Herrschaft der falschen Extreme in Subjektivität und Ob¬
jektivität vom Zentrum zur Peripherie, zur bloßen Partikularität und zur
sie polar ergänzenden Abstraktheit drängen. Mit alledem schließen wir bloß
an unsere früheren Betrachtungen an, indem wir freilich diese auf ein höheres
und - dem Wesen des Ästhetischen entsprechend - menschlicheres Niveau
heben. Wir haben schon früher das jetzt Ausgeführte an die Entäußerung
und ihre Rücknahme ins Subjekt angeknüpft, jetzt können wir einen ähn¬
lichen Zusammenhang mit der defetisdiisierenden Mission erblicken. Man
kann also in dieser Hinsicht den Sinn der Goetheschen Verse so zusammen¬
fassen, daß das Kern-Sein des Menschen mit einem entfetischisierenden Blick
auf die Welt, das Schale-Sein mit einem Sich-Beugen vor fetischisierenden
Vorurteilen simultan gesetzt ist. Goethe führt uns damit ins Zentrum dieses
ganzen Problemkomplexes ein. Je tiefer wir verstehen lernen, daß die ästhe¬
tische Widerspiegelung imstande ist, die Welt des Menschen von fetischisti¬
schen Vorurteilen befreit zu erfassen und zu reproduzieren, lernen, daß dieser
Akt nicht mit einer gedanklich-bewußten Einsicht in die wissenschaftlichen
oder philosophischen Aspekte dieses Komplexes verbunden auftreten muß,
desto wesentlicher erscheint der hier gegebene geniale Hinweis Goethes.
Damit konkretisiert sich aber diese Anschauung Goethes noch weiter. In
seinen Konfessionen über die eigene Naturanschauung tritt neben dem sub¬
jektiven Gegensatz von Kern und Schale immer stärker der von Innen und
Außen in den Vordergrund, die Subjektauffassung konsequenterweise von
der Seite der Objektstruktur, der Subjekt-Objekt-Beziehung aus ergänzend.
So sagt er: »Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; / Denn was innen, das ist
außen.« Und auf das Subjekt rückverweisend: »Wir denken: Ort für Ort/
Sind wir im Innern.« Und er führt endlich dieses Problem wieder zum Aus¬
gangspunkt, zu den Polen von Kern und Schale zurück, wenn er, wie be¬
reits angeführt, sagt: »Ist nicht der Kern der Natur / Menschen im Herzen?«
Erst der letzte Ausspruch Goethes weist - unbeabsichtigt, aber sachlich aus¬
drücklich - auf das Ästhetische hin. Unmittelbar mag im spinozistischen
Sinn die letzthinnige Einheit von Denken und Sein im Verhältnis des Men¬
schen zur Natur, deren Produkt und Teil er eben ist, gemeint gewesen sein.
Ästhetisch konkretisiert sich das Innere dahin, daß die von der Tätigkeit
des Menschengeschlechts durchdrungene Natur - die Natur im Stoffwechsel
mit der Gesellschaft - ein derartiges Verhältnis von Innen und Außen ver¬
wirklicht, daß alle Erscheinungen der Natur in innigem Zusammenhang mit
der Existenz des Menschen stehen, daß deshalb, ganz wörtlich, nicht mehr
794 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

metaphorisch, ihr Kern unmittelbar die Seele des Menschen berührt, ihr inne¬
wohnt: der echte Künstler muß »bloß« diese objektiv überall vorhandene
Einheit von Innen und Außen bis zur ästhetischen Substantialität steigern,
ihre absolute Einheit evokativ bewußt machen. Von hier aus rückblickend
erhält der Standpunkt Goethes: »Natur hat weder Kern noch Schale« erst
seinen richtigen Sinn: die Einheit von Innen und Außen in der Natur bedeu¬
tet für sie selbst die Hinfälligkeit einer Unterscheidung zwischen Kern und
Schale; eine soldie ist ein rein menschliches Problem, das seine Lösung aller¬
dings erst im Verhalten des Menschen zu seiner Welt, zur Natur finden kann,
und zwar in dem Sinne, daß die Kernhaftigkeit des Menschen sich in seiner
Fähigkeit, Innen und Außen in ihrer Einheit wahrzunehmen, zu denken und
zu empfinden, äußert; daß seine Kernhaftigkeit zugleich die Voraussetzung
und die Folge einer solchen Sicht ist, während umgekehrt die Beschaffenheit
des Menschen als Schale mit dem Zerreißen der Verbindung zwischen Innen
und Außen in einem ähnlich notwendigen Verhältnis steht.
Obwohl wir, wie wiederholt hervorgehoben, die komplizierteren Beziehun¬
gen von Inhalt und Form erst im zweiten Teil eingehend behandeln können,
muß schon hier auf die ästhetische Konvergenz dieses Kategorienpaares mit
dem von Innen und Außen erneut hingewiesen werden. Die absolute Zu¬
sammengehörigkeit von Innen und Außen, ihre Tendenz zur Identität ist
eine Tatsache des Lebens, ebenso wie ihre relative Divergenz, ja - in Grenz¬
fällen - deren Zuspitzung zur Gegensätzlichkeit. Wäre aber das erste Mo¬
ment nicht das dialektisch übergreifende, so wäre ein Verkehr der Menschen
miteinander von vornherein unmöglich. Dieser setzt, gewissermaßen als
implizites Axiom des gesellschaftlichen Lebens, einen wesentlichen Zusam¬
menhang zwischen Innerem und Äußerem voraus. Dazu kommt, daß in vie¬
len Fällen bloß der Schein einer Spannung zwischen ihnen besteht, weil das
jeweilige Subjekt ihre wesentliche objektive Einheit nicht erkennt und zwi¬
schen dem falsch ausgelegten Äußeren und darum unerhellt gebliebenen Inne¬
ren eine Diskrepanz erblickt. In bezug auf die Welt der Natur kommt über¬
haupt nur diese Form des Sich-Widersprechens in Betracht. Hegel sagt: »Das
Äußere ist nach dieser Bestimmung dem Inneren, dem Inhalte nach nicht nur
gleich, sondern beide sind nur Eine Sache ... die Sache ist selbst nichts ande¬
res, als die Einheit beider 1.« Das ist eine derart elementare Tatsache des
Lebens, daß weniger ihr selbst gegenüber Zweifel berechtigt sind, als daß

1 Hegel: Logik, Wk. a. a. O. Band IV, S. 172.


Der Mensch als Kern oder Schale 795

man dazu getrieben wird, dort, wo dieser innige Zusammenhang des Äuße¬
ren und des Inneren in Zweifel gezogen oder geleugnet wird, den gesell¬
schaftlichen Gründen einer so offenkundigen Verirrung nachzugehen. In der
Wissenschaft ist sie höchst einfach. Denn wenn z. B. der subjektive Idealismus
ein unerkennbares »Innere« setzt, wie das Ding an sich Kants, die Wirklich¬
keit selbst, das riditige Verhältnis von Innerem und Äußerem aber beibehält
(nur daß eben — gedanklich - hinter diese Totalität ein beziehungsloses
Inneres projiziert wird), bleibt dies für die reale konkrete Erkenntnis völlig
bedeutungslos; die weltanschaulichen Folgen dieser Position brauchen wir
nicht zu untersuchen.
Für die Ästhetik ist das Leugnen der letzthinnigen Identität von Innerem und
Äußerem weitaus wichtiger, weil damit die Beziehung von Mensch und
Menschengeschlecht verdunkelt wird. Denn so sehr die Einheit von Innen und
Außen eine Grundtatsache des menschlichen Lebens ist, sie wirkt sich auf
dem Niveau der Partikularität nur tendenziell aus. Je stärker die auf Allge¬
meinheit drängenden Wesensformen (Klasse, Nation etc.) in der jeweiligen
Gesellschaft sichtbar zu Wirksamkeit gelangen, desto klarer tritt diese Ten¬
denz hervor. Die wachsende Bedeutung der Individualität hebt dieses Ver¬
hältnis nicht auf, obwohl es dadurch immer komplizierter wird. Es müssen
besondere gesellschaftliche Bedingungen auftreten, damit die Entwicklung
des persönlichen Lebens auch eine Richtung auf Ausschließlichkeit erhalte,
die Verbindung des Menschen mit den allgemeinen Mächten des Lebens ver¬
dunkle und dadurch den Schein erwecke, die Partikularität sei die alles be¬
stimmende Potenz eines jeden menschlichen Daseins. So bricht in das moderne
Denken diese Tendenz als Kierkegaards Lehre vom unaufhebbaren Inkognito
des Menschen ein, das auf einer sophistischen Polemik mit der hier angege¬
benen Auffassung Flegels basiert. Die ästhetische Wichtigkeit dieser objektiv
philosophisch unhaltbaren, weil allen objektiven Tatsachen des menschlichen
Lebens widersprechenden Theorie liegt darin, daß dasselbe gesellschaftliche
Sein, das die Kierkegaardsche Philosophie pionierhaft vorgeschickt hat, im¬
mer ausgebreiteter und tiefer zur weltanschaulichen Grundlage der künstle¬
rischen Praxis begabter Persönlichkeiten und einflußreicher Richtungen wurde.
Die Fetischisierung der menschlichen Umwelt zu einem irrationalen »System«
von sinnlos-antihumanen Mächten, der mensdffichen Innerlichkeit zu einer
hermetisch in sich abgeschlossenen und eingesperrten fensterlosen Monade,
deren Äußerung von den anderen Menschen notwendig mißverstanden
wird und die jede Äußerung der anderen Menschen ihrerseits nicht verstehen
kann, verarmt den Gehalt, verzerrt die Form in derartigem Ausmaße, daß es
796 Allgemeine 2iige der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

sogar unmöglich wird, das Abbild des Modells: die Menschenfeindlichkeit des
gegenwärtigen Kapitalismus, die totale Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens
in ihm künstlerisch auszudrücken. Denn wie in der objektiven gesellschaft¬
lichen Wirklichkeit der Mensch sich nur in der Gesellschaft vereinsamen kann,
so setzt objektiv selbst die konkrete Unausdrückbarkeit eines seelischen Zu¬
stands die normale, wenn auch im gegebenen Fall noch so gestörte Beziehung
von Innen und Außen voraus. Das unterscheidet etwa Kafkas »Prozeß« von
Becketts »Molloy«; bei jenem erscheint das absolute Inkognito des partiku¬
laren Menschen als empörende und Empörung evozierende Abnormität der
menschlichen Existenz, also - wenn auch negativ - doch auf der Basis des
Gattungsschicksals, während dieser sich selbstgefällig in der fetischisiert ver¬
absolutierten Partikularität niederläßt. Da es sich in der spontanen Anerken¬
nung der Identität von Innen und Außen um eine elementare Voraussetzung
des menschlichen Lebens, des Zusammenlebens der Menschen überhaupt han¬
delt, bestätigt dieser Gegensatz erneut die Goethesche Konzeption von Kern
und Schale. Die scheinbare Tiefe eines Beckett ist nichts weiter als ein Kle¬
benbleiben an gewissen Symptomen einer unmittelbaren Oberfläche, die der
Kapitalismus unserer Tage darbietet. Und was ist das anderes als das, was
Goethe als Schale bezeichnet hat?
Inhalt und Inneres konvergieren nicht nur ästhetisch; auch hier drückt das
ästhetische Verhältnis etwas Objektives, allerdings wie immer auf den Men¬
schen bezogen, aus. In den eben zitierten Gedankengängen nennt Hegel die
Identität des Inneren und des Äußeren »Inhalt und Totalität, welche das
Innere ist, das ebensosehr äußerlich wird 1«. Diese Identität erhält in der
ästhetischen Widerspiegelung eine weitere Intensivierung infolge der die re¬
zeptiven Erlebnisse leitenden, sie evozierenden Funktion der künstlerischen
Form. Das Künstlerische an jedem Inhalt hat zur Zeit der Entstehung des
Ästhetischen aus der noch undifferenzierten, chaotischen Einheitlichkeit der
magischen Lebensäußerungen und der Auseinandersetzungen mit ihrer Um¬
welt noch eine völlig spontane Erscheinungsweise. Die Menschen meinten
magische Zielsetzungen zu verwirklichen, als sie auf manchem Gebiet und in
vieler Hinsicht bereits hohe Kunst realisierten. Es ist selbstverständlich, daß
in dieser Periode eine begriffliche Trennung von Inhalt und Form, eine ge¬
sonderte Reflexion über die künstlerische Form in keiner Weise in ihr Be¬
wußtsein treten konnte. Natürlich haben sich die Schaffenden auch damals

1 Ebd.
Der Mensch als Kern oder Schale 797

Gedanken über die technische Vollendung ihrer Leistungen gemadit, und die
Logik der Sache mußte diese auch auf ästhetische Formprobleme überführen,
ohne daß sie deshalb als solche bewußt werden mußten, ja konnten. Unsere
Erfahrungen viel späterer Entwicklungsstufen zeigen, wie oft bedeutende
Künstler höchst wichtige Erkenntnisse über Formfragen als bloße technische
Neuerungen, Bedenken etc. formulierten. Das Ineinanderfließen von Technik
und Form gehört zum Wesen des schöpferischen Verhaltens - in der Litera¬
tur etwas weniger entschieden als in den bildenden Künsten und in der
Musik -, und ihre genaue begriffliche Unterscheidung bleibt eine Aufgabe
der Ästhetik.
Diese Tendenz wird noch dadurdr verstärkt, daß die ästhetische Form, wie
bereits wiederholt aufgezeigt, stets die Form eines bestimmten Inhalts ist.
Diese ihre Eigenart hat ihr ästhetisches Bewußtwerden entschieden erschwert.
Für den Schaffenden versdiwimmen, wie von der Seite seiner Aktivität Tech¬
nik und Form, von der Seite der jeweiligen konkreten Aufgabe Material, In¬
halt, Stoff etc. als Gegenstände des Formungsprozesses ineinander. Und ins¬
besondere, solange die gesellschaftliche Struktur dem Kunstwerk sehr be¬
stimmte Vorschriften sowohl für Inhalt wie Form gibt, ist es natürlich, daß
sich kein ästhetisch-philosophisches Nachdenken über das Verhältnis von
Form und Inhalt ausbildet, selbst wenn die Kunst schon längst zu einem
selbständigen sozialen Phänomen geworden ist. Der urwüchsige Materialis¬
mus und die spontane Dialektik im anfänglichen Denken verschmelzen sich
hier mit diesen in der ästhetischen Praxis ebenfalls notwendig wirksamen
Tendenzen. Erst die Herrschaft der idealistischen Philosophie drängt auf ge¬
nauere Trennungen, auf entschiedenere Stellungnahme. Der militante Anti¬
materialismus Platons und insbesondere die Ausbildung dieser seiner Denk¬
richtung ins Mystisch-Theologische bei seinen Nachfolgern führen zu einer
scharfen Absonderung von Inhalt und Form. Je mehr sich die auf der mythi¬
schen Spitze des Systems sich selbst aufhebende Form entmaterialisiert, desto
mehr steht sie zu den konkreten - den materiellen und irdischen - Inhalten
im Verhältnis einer scharf abgrenzenden Dualität. Da diese Formkonzep¬
tionen (und ihre theoretischen Folgen) mit der Allegorie im engsten Zusam¬
menhang stehen, werden wir sie im letzten Kapitel ausführlicher behandeln.
Für die gegenwärtige Problemlage ist sowieso die neue Abart des philoso¬
phischen Idealismus, der sich insbesondere unter Kants Einfluß ausgebreitet
hat, wichtiger. So stark er sich sonst vom antiken und mittelalterlichen Idealis¬
mus unterscheidet, er hat mit diesem doch die gemeinsame Tendenz, eine
tiefe Kluft zwischen Form und Inhalt aufzureißen. Schiller, der, wie der
798 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Verfasser in anderen Studien zu zeigen versucht hat, so wenig orthodoxer


Kantianer war, daß seine Ästhetik schon die Wege zu Schelling und Hegel
bahnt, sagt über die Transzendentalphilosophie, daß in ihr »alles darauf an¬
kommt, die Form von dem Inhalt zu befreien«, worin er bezeichnenderweise
zugleich eine Trennung der Notwendigkeit vom Zufall erblickt; er sieht
klar, daß damit die Tendenz verbunden ist, »das Materielle sich bloß als
Hindernis zu denken« und die Sinnlichkeit »in einem notwendigen Wider¬
spruch mit der Vernunft vorzustellen«. Daß diese Stellungnahme nach Schil¬
ler nur dem Buchstaben, nicht dem Geist des Kantschen Systems entspricht,
schafft ihren sehr weitgehenden Einfluß - sogar auf Schillers Ästhetik -
nicht aus der Welt ff
Es ist deshalb sehr lehrreich, auf Schillers Standpunkt zu der Form-Inhalt-
Beziehung einen Blick zu werfen, um zu sehen, welche theoretischen Ver¬
irrungen der philosophische Idealismus in dieser Frage auch bei einem Denker
stiften kann, der zugleich ein großer Dichter ist und darum - seinen theore¬
tischen Grundkonzeptionen zum Trotz - auch theoretisch ganz tiefe Einblicke
ins Zentrum des Problems gewinnen kann. Schiller sagt über die Bezie¬
hung von Form und Inhalt in den Dichtwerken folgendes: »In einem wahr¬
haft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn
durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt
hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben, und
weltumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist,
und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten. Darin also
besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch
die Form vertilgt: und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff
an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vor¬
drängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem
Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurück¬
zwingt, und über diesen die Herrschaft behauptet. Das Gemüt des Zu¬
schauers und Zuhörers muß völlig frei und unverletzt bleiben, es muß aus
dem Zauberkreise des Künstlers rem und vollkommen wie aus den Händen
des Schöpfers gehen 1 2.« Die Gedankenführung Schillers zeigt deutlich seine

1 Schiller: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Brief XIII. Über
meine Kritik der Kant-Schillerschen Auffassung vgl. mein Buch: Beiträge zur
Geschichte der Ästhetik, Berlin 1954, S. 11 ff.
2 Ebd. Brief XXII.
Der Mensch als Kern oder Schale 799

Befangenheit in der Transzendentalphilosophie und sogar an entscheidenden


Stellen darin, was er selbst als ihren bloßen Buchstaben im Gegensatz zu
ihrem Geist genannt hat. Wenn er sagt, daß nur die Form auf den ganzen
Menschen wirkt, der Inhalt aber nur einzelne Kräfte erweckt, daß jeder In¬
halt, auch der umfassendste, einschränkend auf den Geist wirke, so flüchtet
er in die Kantsche Trennung von Form und Inhalt, weil er mit einer in seiner
Zeit seltenen hellseherischen Intensität erlebt hat, wie die fetischisierten In¬
halte und die fetischistisch erstarrten Formen der bürgerlichen Gesellschaft
zerstückelnd auf das Seelenleben der Menschen einwirken. Die Illusionen
einer Heilung dieser Krankheit, die Schiller infolge des vorrevolutionären
und revolutionären Aufschwungs der deutschen Literatur hegte, konzentrie¬
ren sich verständlicherweise auf die erzieherische Mission der künstlerischen
Form und erhalten eine — freilich sachlich höchst problematische - philo¬
sophische Stütze im Denken Kants und des jungen Fichte.
Das erklärt jedoch nur historisch die Stellungnahme Schillers zum Inhalt-
Form-Problem, besagt aber nichts über die sachliche Richtigkeit oder Falsch¬
heit seiner Antwort. Es ist für uns nicht schwer zu sehen, daß der ganze
Mensch im Alltagsleben nicht dadurch zerstückelt wird, daß er primär In¬
halte (freilich - im Gegensatz zu Kant gesagt - immer geformte, wenn
auch nicht künstlerisch geformte) in sich aufnimmt und auf diese praktisch
reagiert, sondern bloß durch die spezifische Struktur bestimmter gesellschaft¬
lichen Formationen, die auf die Inhalt-Form-Beziehung in der Unmittelbar¬
keit des Alltagslebens entstellend einwirken. Ebenso selbstverständlich ist es
- außerhalb des Bereichs der Transzendentalphilosophie -, daß Alltag und
Kunst sich nicht als Herrschaftsgebiete des Inhalts bzw. der Form vonein¬
ander unterscheiden, sondern infolge der qualitativen Verschiedenheit in der
Inhalt-Form-Beziehung in beiden.
Schiller fühlt auch, daß in dieser Ableitung etwas nicht in Ordnung ist, denn
er springt ohne jede Vermittlung vom allgemeinen Gegensatz zwischen Form
und Inhalt zu dem besonderen zwischen Form und Stoff in der Kunst. Nun
ist aber Stoff eine bereits stark spezifizierte und differenzierte Erscheinungs¬
weise des allumfassend allgemeinen Inhaltes: Stoff ist jener Teil des erfah¬
renen und erlebten Lebensinhalts, den ein Dichter daraus heraushebt, um
ihn zum Inhalt seines jeweiligen Werks umzuformen. Eine solche Auswahl
erfolgt bei echten Dichtern niemals zufällig; der Stoff muß etwas enthalten,
das seinen bestimmten dichterischen Zielsetzungen, Stimmungen etc. in
irgendeiner Weise entspricht, weshalb auch im bloßen Faktum der Stoffwahl
bereits eine Art der künstlerischen Vorgeformtheit mitenthalten ist. Ja, die
8oo Allgemeine lüge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

dichterische Arbeit besteht im wesentlichen darin, diesen für den Dichter


wesentlichen Gehalt aus dem Stoff herauszuentwickeln, diesen so zu formen,
als ob seine Inhalte, deren Ablauf, Proportionen und Steigerungen aus ihm
organisch herauswachsen würden, als ob die vom Dichter gewählte und durch¬
geführte Form dem Stoff vom Ursprung an innegewohnt hätte. Der Tol-
stoische Maler Michailow aus der »Anna Karenina«, der hier sicherlich ein
Sprachrohr seines Dichters ist, drückt dies so aus, der Maler müsse von seinen
Gestalten die sie noch bedeckenden Hüllen entfernen, müsse dies aber so tun,
daß er dabei die Gestalten selbst nicht beschädige; Fehler entstünden, wenn
man diese Hüllen unvorsichtig entferne. Schiller selbst war auch als Dichter
viel zu bewußt und gewaltsam, um eine derart organische Methode anzu¬
wenden; jedoch seine Briefe aus der Zeit der Arbeit am »Wallenstein« bezeu¬
gen, daß das allgemeinste, letzte Prinzip seiner Schaffensweise ihm trotz¬
dem eine ähnliche Richtung wies.
Damit ist bereits der Umkreis des Wahren und des Falschen in Schillers be¬
rühmter Formel gekennzeichnet. Das Falsche ist am leichtesten aufzuzeigen:
würde Schiller nur das gemeint haben, was der Wortsinn seiner Aussage ist,
so wäre er, wie das auch nicht selten behauptet wurde, der Theoretiker einer
»reinen« Formenkunst, ein Ahnherr des l’art pour l’art. Dieser falsche Schein
entsteht aus Schillers transzendentalphilosophischer Terminologie, von der er
sich auch hier nicht zu befreien vermag; wäre nämlich die Welt der Inhalte
wirklich etwas an sich Amorphes, dem ausschließlich die Form eine distinkte
Gegenständlichkeit zu verleihen vermag, wäre deshalb jeder wirkliche Sinn
- mag er theoretisch, ethisch oder ästhetisch sein - nur in den Formen ent¬
halten, so würde diese berühmte Formel auch stimmen. Da aber in der ob¬
jektiven Wirklichkeit und darum in jeder ihrer richtigen Widerspiegelungen
eine untrennbare Einheit von Inhalt und Form, ihr ununterbrochenes Um¬
schlagen ineinander herrscht, sinkt der Satz Schillers haltlos in sich zusam¬
men, ebenso wie die sonstigen Wirklichkeitsaussagen der Transzendental¬
philosophie. Real angesehen ist der Stoff der Dichtung, ebenso wie jeder
Inhalt, ein bereits geformter, freilich noch nicht in einem ästhetischen Sinn.
Die dichterische Leistung besteht also nicht darin, etwas an sich Formloses
zur Formhaftigkeit zu erheben, sondern die lebenhaft-unmittelbare Formung
des Stoffes zu zerbrechen und für seinen in dieser Arbeit herausgeschälten
Kern die ihm spezifisch angemessene ästhetische Form, die Form dieses be¬
stimmten Inhalts, die Form einer neuen evokativen Unmittelbarkeit zu
finden. In der Bestimmung dieser Form kommt deshalb naturgemäß dem Ge¬
halt des Stoffes eine ausschlaggebende Bedeutung zu; allerdings nicht in einer
Der Mensch als Kern oder Schale 801

abstrakten Objektivität, sondern im Sinne der Intention des Dichters in der


Stoffwahl und der objektiven Intentioniertheit des Stoffes auf eine solche
Bearbeitung. (Das ist es, was der Tolstoische Michailow mit dem vorsichtigen
Entfernen der Hüllen meint.) Die formende Arbeit des Schaffenden ist des¬
halb eine widersprüchliche: er muß einerseits diese Formen in einem be¬
stimmten Sinne zerstören, denn die Wirklichkeit selbst ist ästhetisch neutral,
die Anordnung und die Hierarchie ihrer Kategorien ist der der ästhetischen
zutiefst fremd, die Gegenständlichkeit der Objekte, ihr Beziehungssystem etc.
ist etwas ganz anderes, als was die Gesetze der einzelnen Kunstarten in bezug
auf Gegenständlichkeit, auf ihre Verbindungen etc. erfordern. Andererseits
ist die ästhetische Widerspiegelung doch eine Reproduktion der Wirklichkeit,
wie sie objektiv, an sich ist, und zwar wie sie bestimmt und konkret in
jenem Stück Wirklichkeit, das zum Stoff geworden ist, erscheint. Das Zer¬
schlagen der unmittelbar gegebenen Formen der Realität hat also auch das
Moment der Treue der Wirklichkeit gegenüber in sich; auch dieses Zerschlagen
ist ein dialektisches Aufheben, das das Aufbewahren und Höhererheben bei
Strafe des Scheiterns nicht vernachlässigen darf. Erst das sehr komplizierte
Wechselspiel dieser entgegengesetzten Tendenzen, erst ihre äußerste Zuspit¬
zung kann zur Identität von Inhalt und Form im vollendeten Werk führen.
Darum müßte der Satz Schillers, daß der Stoff durch die Form »vertilgt«
wird, durch den polar gegensätzlichen, daß der gestaltete Stoff die Form
»vertilgt«, ergänzt werden, um wirklich die Wahrheit zu treffen. Ja man
kann sogar sagen, daß im originär ästhetischen Sinn der kontrastierende
zweite Satz, auch für sich genommen, den echten ästhetischen Tatbeständen
näherkommt, als der in seiner Isoliertheit von ihnen wegführende erste.
Denn die künstlerische Form, als die eines bestimmten Inhalts, schafft stets
eine fürsichseiende »Welt«, die ihr eigenes Fürsichsein selbsttätig zu evozie¬
ren berufen ist. In der evokativen Wirkung auf den Rezeptiven erscheint
deshalb notwendig eine »Welt«, d. h. die zusammenhängende, in sich ge¬
schlossene, organisierte und organische Einheit von Inhalten. Unmittelbar, in
der echt überwältigenden Wirkung auf den Rezeptiven wird von diesem eine
solche konkrete, an sich und für ihn bedeutsame »Welt« erlebt. Dieses rest¬
lose Aufgehen der Form im von ihr gestalteten Inhalt beruht nicht zuletzt auf
der von uns analysierten Konvergenz der beiden Gegensatzpaare Inhalt-
Form und Innen-Außen. Denn die intensiv unendliche Welthaftigkeit des
Werks hat auch ein solches Identischwerden von Innen und Außen zur Vor¬
aussetzung: ihre im Leben selbst bloß tendentielle Einheit kommt hier als
vollendete Transparenz eines jeden Gegenstandes, jeder Figur, jeder Situa-
802 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

tion etc. zur Geltung; jede von ihnen strahlt gerade durch ihre äußere Er¬
scheinung ihr adäquates Innere unmittelbar-evokativ restlos aus. Die Er¬
kenntnis, daß diese »Welt« ihr ästhetisches Existieren der siegreichen Macht
der Formen verdankt, ist eine darauffolgende, allerdings auf ihr aufgebaute,
sie voraussetzende Reflexion.
Schiller trifft insofern den richtigen Zusammenhang der Kategorien, als der
Schaffensprozeß tatsächlich ein Weg vom gegebenen Stoff zu dessen vollen¬
detem Formwerden ist; genauer: das bloß lebenhafte Inhalt-Form-Verhält-
nis des Stoffes wird durch die künstlerische Arbeit dahin verwandelt, daß
für den reinen und wesentlichen Gehalt des Stoffes eine Form gefunden und
gestaltet wird, die wahrhaftig die Form dieses einzigartig bestimmten In¬
halts ist. Das ist aber nur die Bestimmung des Schaffensprozesses. Sein Ge¬
lingen drückt sich gerade darin aus, daß ein vollendet in sich geschlossenes
Werk entsteht, dessen evokative Wirkung auf den Rezeptiven aber bereits,
wie wir wiederholt gesehen haben, einen inhaltlichen Charakter hat: der
vom »Wallenstein« hingerissene Zuschauer bewundert unmittelbar nicht die
Weisheit Schillers, mit der er diesen herben Stoff entsprechend gegliedert,
aufgebaut, gesteigert etc. hat, sondern er wird vom Schicksal Wallensteins,
von den historisch-menschlichen Untergründen seiner Tragödie beeindruckt.
Daß diese Art von Wirkung bei Shakespeare noch stärker ist, ist ein Wink
für die ästhetische Rangbestimmung beider Dichter; man kann überhaupt be¬
obachten, daß diese Art der Wirkung gerade bei den Allergrößten - Homer,
Shakespeare, Cervantes, Tolstoi - aufzutreten pflegt, und daß eine sofortige,
spontan überwiegende Formwirkung - man denke etwa an Hofmannsthal,
an Valery etc. - zumeist ein Zeichen der geringeren weltumfassenden Sub-
stantialität der Dichterpersönlichkeit ist. Und damit führt auch diese Analyse
zur Bestätigung des Goetheschen Einordnens der Menschen nach ihrem Wesen
als Kern oder Schale; daß es dabei innerhalb dieser Pole eine unerschöpfliche
Variabilität an Zwischenstufen gibt und geben muß, ändert an der funda¬
mentalen Bedeutung dieser Bestimmung nichts.

II Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik

Die Wirkung des Werks geht den entgegengesetzten Weg. Es ist natürlich
auch hier unmöglich, das sehr komplizierte Bild der Rezeptivität analytisch
zu zergliedern und seine verschiedene Abstufungen, Niveauunterschiede etc.
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 803

vom schlichten Auf nehmen des Werks bis zu den höheren Graden der ästhe¬
tischen Bewußtheit typologisch aufzuzeigen; auch dies gehört zum Aufgaben¬
kreis des zweiten Teiles. Diese notgedrungen vorausgeschickten Bemerkungen
müssen sich also auf die Wirkung des Werks im unmittelbarsten Sinne be¬
schränken; nur um eventuelle Mißverständnisse zu verhüten, sei schon hier,
später zu Sagendes vorwegnehmend, festgestellt, daß die in der Rezeptivität
entstehende ästhetische Bewußtheit auch einen begrifflichen Charakter hat:
unmittelbar ein Reflektieren über Gründe und Voraussetzungen der Not¬
wendigkeit des ästhetischen Erlebnisses. Wesensart, Entwicklung etc. dieser
Reflexionen können jedenfalls erst später dargelegt werden; so viel kann
man aber schon jetzt über sie aussagen, daß in ihnen unmöglich die Identität
selbst von Form und Inhalt im Werk ästhetisch reproduziert werden kann,
auch nicht der Weg zu ihr, wie er als Aufgabe des schöpferischen Prozesses
erscheint, sondern bloß eine gedankliche, begriffliche Klärung des Verhält¬
nisses von Form und Inhalt. Wenn also auf diesem Niveau von der Identität
des Inhalts mit der Form die Rede ist, so ist ihre genuine Identität im Werk
hier nur das Objekt der Reflexion; die reale Verwirklichung kann nur im
gestalteten Werk selbst erfolgen. (Kritik als Kunst ist ein modernes Vor¬
urteil.) In den folgenden Betrachtungen wird also nur von der schlicht un¬
mittelbaren Wirkung des Werks die Rede sein. Alle Entwicklungen, die
daraus folgen, alle Komplikationen, die sich dabei ergeben, müssen einer spä¬
teren Analyse überlassen werden.
Mit dieser Einschränkung kann nunmehr wiederholt werden, daß die Wir¬
kung des Werks den entgegengesetzten Weg geht wie der Schaffensprozeß:
dieser führt die ästhetisch gereinigten und ästhetisch homogen gemachten
Lebensinhalte zur Formvollendung, zur Identität von Inhalt und Form, zur
Aufgipfelung des Inhalts in die konkrete Form des Werks; jene leitet mit
Hilfe des das Formsystem unterbauenden und ermöglichenden homogenen
Mediums den Rezeptiven in die Welt des Werks: die Form schlägt hier in
Inhalt um. Will man diese einfachste und unmittelbarste Beziehung der Re¬
zeptivität gedanklich richtig erfassen, so muß ihre doppelte Bestimmtheit
festgehalten werden: einerseits der rein oder vorwiegend inhaltliche Charak¬
ter des Erlebnisses. Ob Dichtung oder Malerei, Architektur oder Musik: der
Rezeptive wird in eine ihm neue und doch alsbald vertraute Welt eingeführt.
Wenn dieses Vertrautwerden mit der Welt des Werks nicht zustande kommt,
entsteht keine echt ästhetische Wirkung; das bloße Gefesseltsein, um Musils
Ausdruck zu wiederholen, schafft eine überwiegend gedankliche Beziehung
zum Inhalt - allerdings auch hier hauptsächlich zum Inhalt - und eine
804 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Bewunderung für die technische Vollendung; diese wird nur dann ästhetisch,
wenn sie aus dem Evoziertwerden des Inhalts bewußt herauswächst. An die¬
sen vom Werk hervorgerufenen Erlebnissen einer neuen Welt kann man ästhe¬
tisch nicht Vorbeigehen, und deren Hauptinhalt ist: die Aneignung eines be¬
stimmten Inhalts. Andererseits kann dieses Erlebnis nur dann ästhetisch wer¬
den, wenn es von den Formen des Kunstwerks evoziert wird. Die bloße Mit¬
teilung eines wenn auch noch so stark gefühlsbeladenen Inhalts, ohne eine
solche vermittelnd-evozierende Rolle der Form, bleibt ein Inhalt des Lebens,
der natürlich, wie dort, Emotionen, Gedanken etc. erwecken kann, jedoch
ohne die für das Ästhetische spezifische Gedoppeltheit: diese ist ein Heraus¬
gehobensein aus dem Leben des Alltags, jedoch ohne dadurch den Kontakt
mit der Wirklichkeit verloren zu haben; das, was wir die Welthaftigkeit der
Kunstwerke genannt haben, besteht gerade in einem solchen Konfrontieren
des Rezeptiven mit dem Wesen der Wirklichkeit selbst, das eben deshalb un¬
möglich das unmittelbare Leben selbst sein kann, sondern »bloß« seine künst¬
lerische Widerspiegelung. Wie im Schaffensprozeß der Inhalt immer form¬
gesättigter wird, bis er die Identität von Form und Inhalt als Werkstruktur
verwirklicht, so ist jener Inhalt, jene »Welt«, die das Objekt des schlicht re¬
zeptiven Erlebnisses bildet, von vornherein und bis in alle seine Poren hinein
das Produkt jener besonderen Form, die den jeweiligen konkreten Inhalt des
Werks geprägt hat.
Die Formbestimmtheit des dem Wesen nach inhaltlichen »naiv«-rezeptiven
Erlebnisses erklärt sich aus jener Beschaffenheit der ästhetischen Widerspiege¬
lung der Wirklichkeit, die bereits früher dargelegt wurde: aus der Eigenart
des jeder Kunstart, jedem Kunstwerk zugrunde liegenden homogenen Medi¬
ums und aus der damit unzertrennlich verbundenen, die Erlebnisse leitenden
Funktion der künstlerischen Formung. Die verschiedenen homogenen Medien
mögen nicht nur nach Kunstarten, sondern auch nach Persönlichkeiten der
Künstler, sogar nach den Werkindividualitäten, geschaffen von demselben
Künstler, noch so verschieden sein, sie haben doch den gemeinsamen Zug,
daß sie den Rezeptiven in die besondere »Welt« des jeweiligen Werks ver¬
setzen — man denke an Formelemente wie Intonation, Exposition etc. —
und ihn gerade durch ihre Homogeneität, durch ihr Angelegtsein auf ein
planvolles Leiten der evozierten Erlebnisse darin festhalten. Das Versagen
der Formung kann vernünftigerweise nur so verstanden werden, daß es
dem Künstler nicht gelungen ist, seinem Werk die von ihm beabsichtigte welt¬
umfassende Homogeneität und darum die diesem immanent-inhärierende
Macht des Leitens zu verleihen. Ob dies die Künstler selbst oder die Kenner,
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 805

Kritiker etc. von der künstlerischen Absicht, von der Einheitlidikeit des
Kunstwollens etc. aus formulieren, ist gleichgültig, da der objektive Sinn
solcher Aussagen stets das Mißlingen der Intention auf eine solche inhalts¬
erfüllte Homogeneität ist; und diese wäre, wie in anderen Zusammenhängen
bereits nachgewiesen wurde, eine bedeutungslose Spielerei, wenn ihr keine
derartige eine homogene »Welt« aufbauende Tendenz innewohnen würde.
Cezanne war sicher ein um den unmittelbaren Erfolg wenig bekümmerter
Künstler. Dennoch zeigt es sich auch bei ihm sehr deutlich, daß sein immer
wiederholter Begriff des »Realisierens« gerade das von uns Angezeigte
meint. Wir zitieren einige Bemerkungen aus seinem Gespräch mit dem Mu¬
seumsdirektor Osthaus: »>Die Hauptsache bei einem Bild< sagte er, >ist, das
Räumliche zu treffen. Daran erkennt man das Talent eines Malers<. Als er
das sagte, folgten seine Finger den Begrenzungslinien der verschiedenen
Pläne auf seinen Gemälden. Er zeigte genau, wo es ihm gelungen war,
Tiefe zu suggerieren, und wo die Lösung noch nicht gefunden war. Hier sei
die Farbe Farbe geblieben, ohne Ausdruck für das Räumliche zu werden 1.«
Schon daß Cezanne das Gestalten eines konkreten Raums als Zentral¬
absicht seiner Landschaften bezeichnet, zeigt, wie wenig hier von einem
rein artistischen Bestreben die Rede sein kann; der Ausspruch »die Farbe
(ist) Farbe geblieben«, ist ein deutlicher Beweis gegen ein angebliches Vor¬
herrschen derartiger Velleitäten. Wie umfassend und geistig diese Tendenz
zur »Realisierung« gemeint ist, ist aus seinem Urteil über Courbet im selben
Gespräch deutlich wahrnehmbar. Aus anderen Äußerungen ist klar ersicht¬
lich, wie sehr er dessen Realisierungskraft bewundert. Auch in diesem Ge¬
spräch sagt er über ihn: »Er schätzte in ihm das unbeschränkte Talent, für
das es keine Schwierigkeiten gibt. >Groß wie Michelangelos sagte er, aber
mit der Einschränkung — >es fehlt ihm die höhere Geistigkeit<2.« Für
den rein malerisch denkenden Cezanne kann Geistigkeit in diesem Zu¬
sammenhang nichts anderes bedeuten, als einen Hinweis auf die Univer¬
salität im Gegenstandschaffen der Formen. Die leitende Funktion des homo¬
genen Mediums konzentriert also das rezeptive Erleben nicht nur auf ein
qualitativ bestimmtes Gebiet der Erlebbarkeit der Welt (hier auf reine
Visualität), sondern auch innerhalb ihres Bereichs auf bestimmte Momente
ihrer konkreten Erlebbarkeit (hier auf den Raum, ausgedrückt durch

1 Hans Gräber: Cezanne, Basel 1942, S. 267 f.


2 Ebd. S. 268.
8o6 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Farbengebung). Und durch all das soll eine »Welt«, ein konkret qualitatives
Abbild der Universalität in der Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit
abgebildet werden, das alle Fähigkeiten des Menschen in seiner intensiven
Unendlichkeit vereinigt und konzentriert (hier als Problem der Geistigkeit,
die Cezanne offenbar bei Courbet - ob mit Recht oder Unrecht, ist hier
nebensächlich - deshalb vermißt, weil er sie selbst für die eigenen Werke
erstrebt).
Wenn man nun diese Lage vom Standpunkt des rezeptiven Erlebnisses be¬
trachtet, so kommt man auf das bereits früher behandelte Problem der Ver¬
wandlung des ganzen Menschen in einen Menschen ganz (auf die Universali¬
tät eines homogenen Mediums gerichtet) zurück. Der menschliche Gehalt
dieser Umwandlung läßt sich so aussprechen, daß der Mensch sich von dem
unmittelbaren und vermittelten Kontext des Lebens - wie wir sogleich sehen
werden: relativ — entfernt, sich von ihm loslöst, um sich der Betrachtung
eines konkreten Lebensaspektes, der die Welt als eine intensive Totalität ihrer
- von einer gewissen Warte sich ergebenden - entscheidenden Bestimmun¬
gen abbildet, temporär ausschließlich zuzuwenden. Der Unterschied zu der
entsprechenden Verhaltensweise des Schaffensprozesses ergibt sich aus der
Sache selbst: in dieser ist das aktive Prinzip das herrschende, die Rezeptivität
der Welt gegenüber ist zwar ein ununterbrochen wirksames, objektiv völlig
unentbehrliches Moment dieser Verhaltensweise; das Moment der Aktivität,
der allmählichen Verwandlung von Lebensinhalt in die Inhalt-Form-Identi-
tät des Werks muß dabei doch das übergreifende sein und bleiben. In der
unmittelbar dem vollendeten Werk gegenübergestellten Rezeption überwiegt
ebenso naturgemäß das Moment der Hinnahme, ja dieses Verhalten ist un¬
mittelbar und zunächst ausschließlich rezeptiv, aufnehmend. Wenn dabei
etwa die Phantasie aktiv wird, ergänzend, interpretierend auftritt, so hebt
dies die Grundhaltung des Aufnehmens nicht auf, ja gerade in dieser Helfer¬
rolle jeder seelischen Aktivität kommt der Primat der Kontemplation ganz
rein zum Ausdruck. Wie schon früher gezeigt, ist eine solche Suspension der
aktiven Tendenzen im Menschen, des Willens zum effektiven Eingreifen
in die konkreten Gegebenheiten der Umwelt, auch im Alltagsdenken ein
oft unentbehrliches Vermittlungsstadium zwischen der Zielsetzung selbst
und ihrer konkreten Realisierung; daß die wissenschaftliche Forschung dieses
Verhalten als Moment ebenfalls nicht missen kann, versteht sich von
selbst.

Die ästhetische Rezeptivität unterscheidet sich qualitativ von beiden. Von der
eisten vor allem darin, daß gerade das selbstgesteckte, konkret bestimmte
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 807

Ziel als Motiv zur Suspension der Aktivität fehlt. Weiter darin, daß die
Suspension der konkreten Aktivitäten im Leben aus den angegebenen Grün¬
den die Intention auf Aktivität nicht aufhebt; sie ist nichts weiter, als ein
reculer pour mieux sauter, so daß das Subjekt, der ganze Mensch, vor, nach
und während dieser Suspension unverändert derselbe bleibt. (Auf den Unter¬
schied zur Lage in der wissenschaftlichen Widerspiegelung brauchen wir nicht
näher einzugehen; er ist durch den Gegensatz der desanthropomorphisieren-
den zu den anthropomorphisierenden Tendenzen bestimmt.) Indem für die
ästhetische Rezeptivität die Suspension von Aktivität und Zielsetzung zu¬
gleich bewußt vorübergehend und absolut ist, entsteht die Notwendigkeit der
Umwandlung des ganzen Menschen in den Menschen ganz. Die leitend¬
evozierende Macht des homogenen Mediums bricht in das Seelenleben des
Rezeptiven ein, unterjocht seine gewohnte Art, die Welt zu betrachten, zwingt
ihm vor allem eine neue »Welt« auf, erfüllt ihn mit neuen oder neugesehe¬
nen Inhalten, und gerade dadurch wird er dazu veranlaßt, diese »Welt« mit
erneuerten, mit verjüngten Sinnesorganen und Denkweisen in sich aufzuneh¬
men. Die Verwandlung des ganzen Menschen in den Menschen ganz bewirkt
also hier eine sowohl inhaltliche wie formale, sowohl tatsächliche wie poten¬
tielle Erweiterung und Bereicherung seiner Psyche. Neue Inhalte strömen auf
ihn ein, die seinen Schatz an Erlebnissen vergrößern. Indem er durch das
homogene Medium des Werks angeleitet wird, sie aufzunehmen, das inhalt¬
lich Neue an ihnen sich anzueignen, entwickelt sich damit simultan seine
Wahrnehmungsfähigkeit, neue Gegenstandsformen, Beziehungen etc. als
solche zu erkennen und zu genießen.
Eine solche Auffassung des rezeptiven Verhaltens enthält an sich wenig
Neues. Wollen wir es aber wirklich richtig verstehen und bewerten, so müs¬
sen wir es - was in der modernen Ästhetik selten geschieht - im Zusam¬
menhang des ganzen menschlichen Lebens ins Auge fassen. Man verkennt es
nämlich, wenn man, wie dies häufig geschieht, bei der Wirkung des Werks den
Rezeptiven als eine seelische tabula rasa ansieht, als eine noch unbenutzte
Grammophonplatte, der die Wirkung Beliebiges aufprägen könnte. Anderer¬
seits ist es ebenso mangelhaft und führt Verwirrung herbei, wenn man die
ästhetische Wirkung mit ihrer eigenen Unmittelbarkeit einfach gleichsetzt,
ohne daran zu denken, wie sie im Rezeptiven nach ihrem Aufhören nach¬
klingt und nachwirkt. Wir glauben: ohne dieses Vorher und Nachher des
eigentlichen ästhetischen Eindrucks kann man sein eigenes Wesen nicht voll¬
ständig und darum den Tatsachen entsprechend beschreiben. Vor allem sei
betont: nie ist ein Rezeptiver dem Kunstwerk gegenüber ein weißes Blatt,
8o8 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

worauf beliebige Chiffren aufgezeichnet würden. Er kommt vielmehr, selbst


als Kind, aus dem Leben: mit Eindrücken, Erlebnissen, Gedanken und Erfah¬
rungen mehr oder weniger beladen, die in ihm infolge der Einwirkung der
Zeit, der Natur, der Klasse usw. mehr oder weniger festgeworden sind, unter
Umständen freilich sich in einem individuellen oder sozialen Krisenzustand
des Übergangs befinden können. Es war unseres Erachtens richtig, früher den
Ausdrude zu gebrauchen, daß das homogene Medium einen Einbruch in das
Seelenleben des jeweilig zum Rezeptiven gewordenen ganzen Menschen
vollziehen muß, will es aus ihm einen wirklichen ästhetisch Rezeptiven ma¬
chen, einen Menschen, der unter Suspension seiner sonstigen konkreten Be¬
strebungen sich ganz der Wirkung des Werks hingibt. Die so entstehenden
Konflikte sind derart vielfältig sowohl im persönlichen Sinn, wie innerhalb
des direkt gesellschaftlichen, klassenmäßig bestimmten Bereichs, daß wir hier
unmöglich auch nur auf den Versuch einer vorläufigen Typisierung eingehen
könnten. Nur so viel sei bemerkt, daß eine absolute soziale Einschränkung
der Wirkungsmöglichkeiten der Kunstwerke, etwa derart, daß ein auf pro¬
letarischer Klassengrundlage entstandenes Werk im Bürgertum überhaupt
nicht wirken könnte und umgekehrt, flach und abwegig ist; viele Beispiele
(Beaumarchais »Figaro«, in der Gegenwart Werke Gorkis, der Potem-
kin-Film, Brecht etc.) zeugen lebhaft dagegen. Aber es wäre auch eine un¬
zulässige Vereinfachung, wenn wir annehmen würden, in solchen persön¬
lich-sozial bedingten Widerständen der rezeptiven Fiingabe drücke sich ein¬
fach eine antikünstlerische Tendenz aus; es ist im Gegenteil durchaus mög¬
lich, daß gerade ein lebhafter, ja leidenschaftlicher Kunstsinn, das Vorgefühl
seines unfehlbaren Wirksamwerdens in Konflikt mit den Lebensaufgaben des
ganzen Menschen der Wirklichkeit gerät. Gorki beschreibt in seinen Erinne¬
rungen an Lenin höchst anschaulich einen solchen Konflikt. Er erzählt, daß
Lenin in einer Gesellschaft Beethoven-Sonaten gehört hat und sich wie folgt
äußerte: »>Ich kenne nichts Schöneres, als die Appassionata und könnte sie
jeden Tag hören. Eine wunderbare, nicht mehr menschliche Musik! Ich denke
immer, mit vielleicht naivem, kindlichem Stolz, daß Menschen solche Wunder
schaffen könnend Dann kniff er die Augen zu, lächelte und setzte unfroh
hinzu: >Aber allzuoft kann ich Musik doch nicht hören. Sie wirkt auf die
Nerven, man möchte lieber Dummheiten reden und Menschen den Kopf strei¬
cheln, die in schmutziger Hölle leben und trotzdem solche Schönheit schaffen
können. Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln - die
Hand wird einem sonst abgebissen. Schlagen muß man auf die Köpfe, un¬
barmherzig schlagen - obwohl wir im Ideal gegen jede Vergewaltigung der
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 809

Menschen sind. Hm, hm, - unser Amt ist höllisch sdiwer<l.« Dieser Fall,
der nur durch die höchste Intensität beider Pole, durch die klare Bewußt¬
heit über den Konflikt ein Grenzfall ist, gibt ein klares Bild darüber, welche
Widerstände die Umwandlung des ganzen Menschen in den Menschen ganz
zuweilen zu überwinden hat, freilich zugleich auch darüber, daß die echte
Kunst über eine - prinzipiell - unwiderstehliche Macht verfügt, die Men¬
schen zur Rezeptivität zu zwingen, sie sich als ihr zugewandte Menschen
ganz zu unterwerfen. (Selbstverständlich tauchen ähnlich geartete Kollisio¬
nen auch im Schaffensprozeß auf. Da diese sich aber nicht auf das als voll¬
endet wirkende Werk beziehen - soweit der Künstler selbst solchen gegen¬
übersteht, ist er wesentlich, wenn auch mit nicht unwichtigen Abwandlungen,
ein Rezeptiver -, sondern auf ein sich in statu nascendi befindliches ge¬
richtet sind, da hier der künstlerischen Aktivität eine entscheidende Rolle
zukommt etc., müssen wir ihre Behandlung dem zweiten Teil über¬
lassen).
Nicht minder wichtig und nicht weniger theoretisch vernachlässigt ist die Be¬
ziehung der ästhetischen Rezeptivität zum Nachher der Wirkung. Die Sus¬
pension der konkreten Aktivität, der konkreten Zielsetzungen des ganzen
Menschen unterscheidet sich im Ästhetischen vom Alltag vor allem dadurch,
daß in diesem gerade das auf höherem Niveau fortgesetzt, gerade jenes Ziel
konkret erstrebt wird, um dessentwillen die Suspension erfolgte, während
die Rückkehr aus der ästhetischen Suspension ins Leben eine Rückkehr zu
jenen Aktivitäten ist, deren Kontinuität durch das künstlerische Erlebnis
unterbrochen wurde. Dieses selbst steht in den seltensten Fällen in einer un¬
mittelbaren Beziehung zu ihnen und auch dann ist der Zusammenhang vom
ästhetischen Charakter des Erlebnisses aus gesehen meistens ein zufälliger
oder zumindest ein mehr oder weniger vermittelter. Diese vom Leben iso¬
liert scheinende Wesensart der künstlerischen Erlebnisse führt in vielen idea¬
listischen Ästhetiken dazu, sie vollständig oder so gut wie vollständig vom
normalen Dasein der Menschen abzugrenzen; am prägnantesten erscheint
diese Tendenz in Kants Lehre von der »Interesselosigkeit« des ästhetischen
Verhaltens, die wir in anderen Zusammenhängen bereits gestreift haben.
Daraus scheint eine wesentliche Abgerissenheit des Ästhetischen vom aktiven
Leben zu folgen, die jedoch nur dann auch nur abstrakt konstruierbar ist,
wenn man das konkrete Nachher der ästhetischen Wirkung völlig verkennt.

1 M. Gorki: Erinnerungen, Berlin 1928, S. 245 f.


8 io Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Lebendige und progressive Richtungen in der Ästhetik, wie die der Antike,
der Aufklärung, der revolutionären Demokraten in Rußland etc., haben stets
die große gesellschaftliche Rolle der Kunst in den Vordergrund gestellt, die
nicht nur durch eine jahrtausendlange Praxis erwiesen, sondern auch theore¬
tisch aus dem Wesen der Kunst überzeugend ableitbar ist, vorausgesetzt, daß
die Beziehung zwischen dem ästhetischen Erlebnis und seinem Nachher im
Leben unbefangen und hinreichend erklärt wird. Die antike Ästhetik hat
dieses Problem sehr klar gesehen, als sie in allen Kunstfragen öffentliche
Angelegenheiten, Fragen der Sozialpädagogik erblickt hat. Ihr gegenüber
stellt - mit wenigen Ausnahmen - die moderne Ästhetik einen Rückschritt
vor. Teils indem diese Weise der künstlerischen Wirkung völlig, sogar prinzi¬
piell vernachlässigt und die Rezeption der Kunst dem Wesen nach auf ein
Atelierkennertum reduziert wird, teils indem man einen solchen gesellschaft¬
lichen Einfluß in ihr zwar anerkennt, diesen jedoch in einer allzu direkten,
allzu konkret-inhaltlichen Weise darstellt, ungefähr so, ais ob die Kunst dazu
da wäre, die Durchführung bestimmter, konkret gesellschaftlicher Aufgaben
unmittelbar zu erleichtern.
Beiden falschen Extremen gegenüber nimmt die antike Ästhetik (und ihre
wenigen würdigen Nachfolger in der Neuzeit) eine Position ein, die der
wirklichen gesellschaftlichen Rolle der Kunst weitgehend gerecht wird. Sie
anerkennt die den Menschen stark beeinflussende, ja ihn unter Umständen
sogar transformierende Macht der ästhetischen Erlebnisse; insofern lehnt sie
im voraus jede solche Theorie ab, die das Ästhetische vom gesellschaftlichen
Leben zu isolieren beabsichtigt. Die antike Ästhetik sieht jedoch diese gesell¬
schaftliche Funktion nicht als eine Dienstleistung für diese oder jene konkret¬
aktuelle Zielsetzung an, sondern erblickt ihre Bedeutung darin, daß eine be¬
stimmte Ausübung bestimmter Künste zu den formenden Kräften des mensch¬
lichen und dadurch des gesellschaftlichen Lebens gehört; daß die Kunst geeig¬
net ist, die Menschen in jener Richtung zu beeinflussen, die für die Ausbildung
bestimmter Menschentypen fördernd oder hemmend wirkt. Aristoteles unter¬
scheidet daher die bloß sinnlichen Genuß bringende Wirkung der Musik von
ihrer damit freilich tief verbundenen sittlichen, wodurch sie »auch den Cha¬
rakter und die Seele beeinflußt«. Diese sittliche Wirkung, das Hervorrufen
sittlicher Gefühle in der Seele durch die Begeisterung, betrachtet er als das zen¬
trale Problem: »Die Begeisterung aber ist ein Affekt der Seele als Trägerin des
ethischen Lebens. Audi erzeugt schon die bloße mimische Darstellung ohne
Rhythmen und Gesänge in aller Herzen ein gleichstimmiges Gefühl. Da es
aber der Musik eigen ist, uns zu ergötzen, wie der Tugend, sich recht zu freuen,
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 811

zu lieben und zu hassen, so muß man offenbar bei ihrem Betriebe nichts so sehr
lernen und sich angewöhnen als das richtige sittliche Gefühl und die Freude
an tugendhaften Sitten und edeln Taten. Die Rhythmen und Melodien kom¬
men als Abbilder dem wahren Wesen des Zornes und der Sanftmut, sowie des
Mutes und der Mäßigkeit wie ihrer Gegenteile, nebst der eigentümlichen Na¬
tur der anderen ethischen Gefühle und Eigenschaften sehr nahe. Das zeigt
die Erfahrung. Wir hören solche Weisen und unser Gemüt wird umgestimmt.
Nun ist aber von der angenommenen Gewohnheit, sich über das Ähnliche zu
betrüben oder zu erfreuen, nicht weit bis zu dem gleichen Verhalten gegen¬
über der Wirklichkeit1.« Dasselbe stellt er in den dann folgenden Betrach¬
tungen für die bildende Kunst fest, und daß er in bezug auf die Literatur
ebenso denkt, ist allzu bekannt, als daß es hier näher belegt werden müßte.
Die gesellschaftliche Wirkung, die deshalb die antike Philosophie von der
Kunst erwartet, läßt sich vielleicht am besten in den von uns bereits ange¬
führten Worten Lessings zusammenfassen, der nicht nur diese Grundtendenz
zeitgemäß zu erneuern bestrebt war, sondern sich überall von den Erfahrun¬
gen der Antike, hauptsächlich von der Katharsistheorie des Aristoteles, lei¬
ten ließ. Die fundamentale gesellschaftliche Zielsetzung formuliert nun Les¬
sing als »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten2«.
Lessing sagt dies in einer Polemik gegen falsche Auslegungen der Katharsis¬
lehre von Aristoteles. Es ist eine allgemeine Sitte in der ästhetischen Litera¬
tur, diese, so wie sie tatsächlich bei Aristoteles niedergelegt ist, ausschließlich
auf die Tragödie, auf die Affekte von Furcht und Mitleid anzuwenden. Wir
glauben dagegen, daß der Begriff der Katharsis viel ausgedehnter ist. Wie
bei allen wichtigen Kategorien der Ästhetik ist diese primär nicht aus der
Kunst ins Leben, sondern aus dem Leben in die Kunst gekommen. Weil die
Katharsis ein ständiges und bedeutsames Moment des gesellschaftlichen Lebens
war und ist, muß ihre Widerspiegelung nicht nur ein immer wieder neu auf¬
genommenes Motiv der künstlerischen Gestaltung werden, sondern sie er¬
scheint sogar unter den formenden Kräften der ästhetischen Abbildung der
Wirklichkeit. In meinem Essay über Makarenko habe ich diese Wechselbezie¬
hung zwischen Lebenstatsache, Abbildung und bewußter Anwendung auf das
Leben in bezug auf seine Pädagogik ausführlich geschildert 3. Ich habe dort

1 Aristoteles: Politik, VIII. Buch, Kapitel 5.


2 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 82. Stück.
3 G. Lukacs: Der russische Realismus in der Weltliteratur, Berlin 1952, S. 423 ff.;
Werke Band 5: Probleme des Realismus II.
8 12 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziebung in der Ästhetik

auch zu zeigen versucht, daß das Phänomen der Katharsis zwar schon im
Leben selbst eine gewisse Affinität zum Tragischen zeigt und sich darum
ästhetisch am prägnantesten dort objektiviert, daß es aber inhaltlich einen
weiteren Umkreis als nur dieses umfaßt. Wenn wir nun vor die Frage gestellt
sind, ob diese Feststellung eine noch weitere Verallgemeinerung zuläßt, müs¬
sen wir an unsere früheren Darlegungen über den defetischisierenden Charak¬
ter des Ästhetischen erinnern und im Zusammenhang damit auch an dessen
positiven Inhalt: jede Kunst, jede künstlerische Wirkung enthält ein Evo¬
zieren des menschlichen Lebenskerns - worin für jeden Rezeptiven die
Goethesche Frage aufgeworfen wird, ob er selbst Kern oder Schale sei - und
zugleich untrennbar damit vereinigt eine Kritik des Lebens (der Gesellschaft,
der von ihr geschaffenen Beziehungen zur Natur). Da nun, wie gezeigt wurde,
das rezeptive Erlebnis unmittelbar ein inhaltliches sein muß, offenbart es
diesen Problemkomplex als zentralen Gehalt jener »Welt«, die das Kunst¬
werk in ihm zur Evidenz erweckt. Da jedes Kunstwerk dem Rezeptiven sich
als einzigartige Werkindividualität offenbart, als einzigartiger konkreter In¬
halt, tritt dieser Problemkomplex nur in den seltensten Fällen direkt hervor.
Er ist jedoch in unsichtbarer Weise allgegenwärtig. Die Art, wie die ästhe¬
tische Form ihren Inhalt bearbeitet, ihn im und durch das homogene Me¬
dium wirksam werden läßt, zeigt diesen allgemeinsten Gehalt aller echten
Kunstwerke an und schafft in der die Erlebnisse des Rezeptiven leitenden
Kraft der Formen eine Intention, die auf dieses Zentrum gerichtet ist. Die
Verwandlung des ganzen Menschen des Alltags in den Menschen ganz des
jeweiligen Rezeptiven eines konkreten Kunstwerks strebt gerade in die Rich¬
tung einer solchen aufs äußerste individualisierten und zugleich allerallge¬
meinsten Katharsis.
Das Recht, den Begriff der Katharsis in diesem Ausmaße zu verallgemei¬
nern, entstand also nicht einfach aus der Beschaffenheit des Kunstwerks für
sich betrachtet. Dieses konzentriert in seiner Form-Inhalt-Identität zwei
wichtige Beziehungskomplexe: den seiner selbst zur objektiven Wirklichkeit
als Totalität, dem es seine Entstehung verdankt und den einer Wirkungs¬
möglichkeit auf die Seele des Rezeptiven. Je tiefere und umfassendere In¬
halte die künstlerische Form zur Identität mit sich selbst bringt, desto weiter
gezogen und tiefer ausholend sind diese Beziehungskreise. Daß die Fähig¬
keit dazu mit der Kritik des Lebens aufs engste zusammenhängt, bedarf
wohl keiner ausführlichen Erörterung. Höchstens müßte begründet werden,
warum wir von einer Kritik des Lebens statt von einer Kritik der Gesell¬
schaft sprechen, obwohl beide Ausdrücke beinahe gleichbedeutend sind,
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 813

obwohl evidenterweise die jeweilige konkrete Ersdreinungsform des Lebens


- und die Kunst gestaltet gerade diese Konkretheit und Besonderheit - ihr
reales Fundament in dem jeweiligen geschichtlichen Stand der Gesellschaft
hat. Der Ersatz des Wortes Gesellschaft durch das des Lebens will an dieser
Verbundenheit und ihrem Wohlbegründetsein nicht rütteln. Es soll damit
unsere Aufmerksamkeit bloß darauf gerichtet werden, daß das, was im
Kunstwerk unmittelbar ersdieint, es in der Form des Lebens tut; die gesell¬
schaftliche Bedingtheit etwa einer Landschaft oder eines Liebesgefühls, einer
Melodie oder einer Kuppel kann in sehr vielen Fällen nur durch oft weit
vermittelte und komplizierte Analysen aufgedeckt werden, während ihre
künstlerische Wirkung ohne bewußt gedanklich wahrnehmbare, aber doch
sehr real fundierende Vermittlung der gesellschaftlichen Bestimmungen vor
sich geht. Darum kann mit dem Ausdruck Leben die Universalität der In¬
halte, die die Kunst evoziert, verständlicher - und nunmehr keine Mißver¬
ständnisse erweckend - umschrieben werden. Dazu kommt noch, daß die
Kunst, wie wiederholt auseinandergesetzt wurde, als primären Akt des Set¬
zens bereits die Stellungnahme, also auch die Kritik ihres Inhalts, des
Lebens in sich faßt. Die in diesem Akt innewohnende Bejahung oder Vernei¬
nung bestimmter Seiten, Formen, Erscheinungsweisen etc. des Lebens kann
also eine aufrüttelnde Wirkung ausüben, auch wenn das soziale Fundament
weder für den Schaffenden noch für den Rezeptiven bewußt wird; aber in¬
folge des objektiv gesellschaftlichen Charakters seiner Substantialität strahlt
diese Wirkung notwendig ins Gesellschaftliche ein.
Um Wirkungen dieser Art noch besser zu verstehen, müssen wir an eine wei¬
tere, wichtige, uns bereits vielfach bekannte Wesensart der ästhetischen
Sphäre erinnern: an ihren prinzipiellen Pluralismus. Wir haben diese Frage
bis jetzt von der Seite der Entstehungs- und Wirkungsbedingungen der Kunst
aus betrachtet. Jetzt tritt dabei ihre gesellschaftliche, ihre menschheitliche
Funktion im gesamten Dasein der Menschen in den Vordergrund. Die ur¬
sprüngliche, aber eben darum äußerst beschränkte Einheit des Menschen,
seine unmittelbare Existenz als ganzer Mensch muß durch die Entwicklung
der Zivilisation - freilich nur relativ - mehr oder weniger untergraben
werden. Ohne die romantische Kritik an der Zerstückelung des Menschen,
an seiner Parzellierung in verschiedene Spezialitäten anzunehmen: es ist
nicht zu leugnen, daß in manchen entwickelten Gesellschaften, vor allem in
der kapitalistischen, Tendenzen in solchen Richtungen effektiv werden.
Wenn wir uns so ausführlich mit der entfetischisierenden Mission der Kunst
auseinandergesetzt haben, so haben wir bereits gezeigt, daß ihr in diesem
814 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Prozeß die Rolle eines Regulators, eines Arztes gewisser Krankheiten des Fort¬
schritts zukommt. Der normale Zustand, die Gesundheit der Menschen ist die
Möglichkeit ihrer allseitigen Entfaltung, die einzelne Perioden der Entwick¬
lung wenigstens für einen Teil der herrschenden Klassen realisiert haben und
die die revolutionär demokratischen und sozialistischen Richtungen für die
ganze Menschheit fordern und dem Prinzip nach auch zu verwirklichen im¬
stande sind. Vom Standpunkt des Individuums ist nun diese Allseitigkeit in
der Entfaltung aller Fähigkeiten, aller möglichen lebendigen Beziehungen
zum Leben ein Ideal; darin ist sowohl das Erstrebenswerte wie der Zustand
eines bloßen Erstrebens gleicherweise mitgemeint. Jedes Kunstwerk, jede
Kunstart wendet sich, wie wir wissen, an den Menschen ganz, worin bereits
klar die Lage sichtbar wird, daß die Einheit und Ganzheit, die sich hier ver¬
wirklichen, obwohl sie so echt und intensiv Einheit und Ganzheit sind, wie
sonst nie und nirgends im Leben, doch nur einen Aspekt des allseitigen
Menschen aktuell werden zu lassen fähig sind. In der Pluralität der Kunst¬
arten und der Werkindividualitäten objektiviert sich die wahre Einheit und
Ganzheit des allseitigen Menschen: ihre Existenz und ihre potentiell immer
vorhandene Wirksamkeit zeigt, daß dieses Ideal zwar noch nirgends voll¬
ständig verwirklicht wurde, jedoch nichts Transzendentes (auch kein
transzendentales Sollen) in sich enthält, vielmehr die Widerspiegelung der
realen Existenz, der realen Entwicklung der Menschheit ist. Die Pluralität
der Kunstarten und Werkindividuahtäten drückt einerseits die innere Voll¬
endung der einzelnen derartigen Beziehungen zur Wirklichkeit aus, ihre
intensive Unendlichkeit und damit ihr Gerichtetsein auf die Totalität des
Menschen, eben in der Form des Menschen ganz, andererseits und zugleich
die Tatsache, daß der Mensch jeweils nur eine solche Beziehung verwirklichen
kann, daß die allgemeine Art ihrer Verwirklichung außerordentlich vielfäl¬
tig, die konkrete dagegen einfach unendlich ist. So sehr also jedes Kunstwerk
als Realisation des Ideals vollendet ist, so sehr in seiner Rezeption eine rest¬
lose Erfüllung möglich wird - womit der Begriff des Ideals aufgehoben
scheint -, so sehr ist die faktische Realisation des allseitigen Menschen in der
Fülle solcher Akte vollständig nie erreichbar; insofern muß für den Menschen
seine eigene Allseitigkeit in gewissem Sinne doch ein Ideal, konkreter: das
Ziel eines unendlichen Annäherungsprozesses bleiben.
Formal folgt aus dem eben geschilderten Pluralismus der ästhetischen Sphäre,
daß die Verwandlung des ganzen Menschen des Alltags in den Menschen ganz
der Rezeption einer Werkindividualität jedesmal, wenn es sich um die echte
Aufnahme eines echten Kunstwerks handelt, einen Annäherungsschritt in der
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 815

Richtung auf die Allseitigkeit des Menschen bedeutet. Es ist aber klar, daß
dieser Prozeß von der formalen Seite niemals ausreidiend charakterisiert
werden kann. Wollen wir ihm von seinem Gehalt aus näherkommen, so ist
vor allem das Zusammenfallen von Kritik des Lebens in den Kunstwerken
mit dem Goetheschen Dilemma von Kern oder Schale ins Augen zu fassen.
Wie überall ist auch hier das Verhältnis beider nicht primär ästhetisch. Die
Kunst bringt bloß eine im Leben vorhandene, in ihr jedoch ins Qualitative
umschlagende Intensivierung hervor. Die dieser Lage zugrunde liegende ge¬
sellschaftliche, philosophische oder anthropologische Tatsache wirkt nur für
jene modernen Richtungen überraschend, die das Wesen des Menschen in
einem absoluten, einsamen Aufsichgestelltsein erblicken. Wird dagegen, wie
dies hier immer geschehen ist, der Mensch seinem menschlichen Wesen nach
als gesellschaftlich aufgefaßt, so leuchtet es ohne weiteres ein, daß das
Goethesche Dilemma vom persönlichen Sein als Kern oder Schale aufs aller¬
engste mit seiner sozialen Lebensführung, mit dem Vorhandensein einer Kri¬
tik des Lebens in ihr, mit Richtung und Kraft dieser Kritik verbunden ist.
Diese Präge stellt das Leben selbst ununterbrochen, man könnte sagen, in
jedem Augenblick des Handelns oder der Reflexion darüber vor oder nach
der Aktion. Der wesentliche Inhalt der hier entstehenden Wechselwirkun¬
gen läßt sich am besten vorerst darin zusammenfassen, daß eine Kernhaftig-
keit des Individuums nur aus subjektiv echten Beziehungen zur Wirklichkeit
entstehen kann; sind diese verlogen, so muß sich der Mensch selbst, auch als
Persönlichkeit, zu einer bloßen Summe von Schalen erniedrigen. Die moderne
Literatur hat sachlich unzählige Male solche Degradierungen geschildert; Ib¬
sens »Peer Gynt« gibt in einer Szene des umfassenden Rückblicks auf sein gan¬
zes Leben eine unbeabsichtigte und vielleicht darum um so überzeugendere Be¬
stätigung des Goetheschen Satzes. Unmittelbar, aber nur unmittelbar ist diese
subjektiv-ehrliche Attitüde schlechthin entscheidend, an sich völlig unab¬
hängig davon, wie das subjektiv richtig gemeinte Verhältnis zur Welt ob¬
jektiv beschaffen ist: man denke an die »Kernhaftigkeit« der Gestalt Don
Quixotes. Näher betrachtet zeigt sich freilich, daß die objektive Richtigkeit
der Beziehung zur Außenwelt, die Richtigkeit der Kritik des Lebens ein un¬
möglich ausschaltbares Motiv bleibt. Natürlich fällt bei Don Quixote im
Gegensatz zu Peer Gynt die subjektive Ehrlichkeit gewichtig in die Waag¬
schale; wenn jedoch seine Kritik des Lebens nicht auch ein großes Ausmaß
objektiver Wahrheit enthielte, müßte auch sein Kern sich auf ein Aufeinander¬
geschichtetsein von Schalen reduzieren. Weiter: alle diese subjektiven Fak¬
toren - und nicht nur die Gesinnung - können zwar den Kern über-
816 Allgemeine lüge der Subjekt-Objekt-Beziebung in der Ästhetik

haupt retten, er ist jedoch in diesem Fall weit davon entfernt, Ansatzpunkt,
Triebkraft zu einer Annäherung an den allseitigen Menschen zu werden; er
ist weit mehr ein Kerker, der Don Quixote in eine unwahre, von ihm selbst
fetisdhisierte Welt einsperrt.
Wir konnten hier auf diesen Problemkomplex nur mit Hilfe einiger Bei¬
spiele etwas Licht werfen, seine Rolle im Leben ist viel breiter, verzweigter
und umfassender, als daß er in einer Ästhetik systematisch behandelt werden
könnte; er ist ja weit mehr ethischen als ästhetischen Charakters. Es mußte
darauf nur hingewiesen werden, um den Lebensgrund, aus dem die gesell¬
schaftlichen Forderungen an die Kunst entsteigen, den Lebensfluß, in den sie
münden, wenigstens in gröbsten Umrissen anzudeuten. Zu einer so begrenz¬
ten Konkretisierung seien noch einige ergänzende Bemerkungen gestattet. Wie
im ethischen Verhalten ein sehr kompliziertes Verhältnis herrscht, so auch
in der intellektuellen und kulturellen Entwickeltheit des Menschen. Goethe
nimmt auch hier - im Gegensatz zum heute vielfach herrschenden irratio¬
nalistischen Aristokratismus - einen weit vorgeschobenen demokratischen
Standpunkt ein. Er sagt: »Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn
er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt L«
Diese Feststellung ist vor allem deshalb nicht mißverstehbar, weil sie von
Goethe stammt, weil sie deshalb keine Tendenz enthalten kann, primitive
Zustände romantisch zu idealisieren oder sie gar entwickelteren polemisch¬
kritisch als Vorbilder gegenüberzustellen. Goethe will hier nur auf diese
Möglichkeit als Möglichkeit hinweisen, ohne deshalb die Notwendigkeit,
über diese Stufe hinauszugehen, je in Zweifel zu ziehen. Im Gegenteil, für
ihn ist gerade jene Mission der Kunst am wichtigsten, die auf hochentwickel¬
ten Kulturstufen zu der von ihm geforderten Kernhaftigkeit des Menschen
führt, die die Lebenstendenzen dazu bewußt macht, stärkt und fördert, die
befähigt ist, die entgegengesetzten zu hemmen, ja zu unterdrücken. Dafür
ist bei ihm immer wieder das richtige Verhältnis zur Außenwelt entschei¬
dend, und für seine eigenen Entwicklungsbedingungen formuliert er die hier
auftauchenden ästhetisch-ethischen Postulate sehr oft im Zusammen¬
hang mit der Methodologie der Naturforschung, deren nahe Beziehung zur
Ästhetik wir bei ihm bereits behandelt haben. So im Gedicht »Epirrhema«,
das thematisch dem von uns angeführten »Ultimatum« recht nahe¬
steht:

1 Goethe: Maximen und Reflexionen, a. a. O. Band IV. S. 226.


Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 817

Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen, das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.

Der Gedanke der Identität von Innen und Außen ist unseren Darlegungen
lange vertraut. Und die Folgerung, daß jenes Verhältnis zur Welt, das den
Menschen dazu verhilft, in ihrer Persönlidikeit einen wahren Kern auszu¬
bilden, eben mit ihren derartigen Betrachtungen aufs engste zusammenhängt,
wird jetzt niemanden mehr überraschen; noch weniger die Feststellung, daß
diese Art, die Welt anzusehen, aufs Ästhetische intendiert, daß das Kunst¬
werk gerade jene Widerspiegelung der Welt darbietet, in der allein diese Ten¬
denz zur konkreten Vollendung gedeihen kann. Goethe selbst spricht jene Be-
zogenheit auf den Menschen, jenes Zentrieren der Objektwelt auf ihn wieder¬
holt in einer über das Ästhetische hinausgehenden, freilich gerade darin, aber
nur darin philosophisch nicht immer stichhaltigen Weise aus. So z. B.: »Wir
wissen von keiner Welt als in bezug auf den Menschen; wir wollen keine
Kunst als die ein Abdruck dieses Bezugs ist b« Die bloße Feststellung dieser
anthropomorphisierenden Betrachtungsweise - wichtig für die Kunst, mehr
als problematisch für die Beziehung zur Welt, zur Natur, für die Widerspie¬
gelung ihres wahren Ansichseins - findet Goethe mit Recht als nicht ausrei¬
chend. Er sagt: »Die bildende Kunst ist auf das Sichtbare angewiesen, auf die
äußere Erscheinung des Natürlichen 1 2.« Er erkennt aber sogleich, daß im Be¬
griff des Natürlichen nicht nur etwas visuell Objektives, sondern zugleich et¬
was Menschliches, und zwar Sittliches, d. h. gesellschaftlich Moralisches enthal¬
ten ist. Wenn wir nun an die Auffassung der Sittlichkeit dieser Periode, von
der Kritik der Kantschen subjektivistischen Ethik bei Goethe und Schiller
etwa in der Entstehungszeit des »Wilhelm Meister« bis zur Vollendung
dieser Tendenz in der Gegenüberstellung von Moralität und Sittlichkeit in
Hegels »Rechtsphilosophie«, denken, so sehen wir klar, daß hier die gesell¬
schaftlich aktive Tätigkeit des Menschen gemeint ist. Darum gewinnt die den
eben angeführten Aphorismus ergänzende Bemerkung Goethes, daß jeder

1 Ebd. Band XXXV S. 320.


2 Ebd. S. 303.
818 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Gegenstand der Kunst nach seiner Geeignetheit zu beurteilen ist, »ein sitt¬
licher Ausdruck des Natürlichen« zu sein, ein besonderes Gewicht.
Goethe hat damit das philosophische Fundament unserer Verallgemeinerung
der Katharsis für die Kunst überhaupt und speziell für die bildende Kunst
niedergelegt. Wenn nämlich die visuelle Beziehung des Menschen zu den Na¬
turgegenständen, zu ihrem Ensemble eine sittliche ist - wir erinnern erneut
an das, was wir über die Widerspiegelung des Stoffwechsels der Gesellschaft
mit der Natur ausgeführt haben -, so bricht in die Wirkung, die ihr künst¬
lerisches Abbild hervorruft, auch eine mit Fug als sittlich charakterisierbare
Erschütterung ein. Unmittelbar mischt sich der Ergriffenheit des Rezeptiven
über das Neue, das die jeweilige Werkindividualität in ihm auslöst, ein ne¬
gativ begleitendes Gefühl bei: ein Bedauern, ja eine Art Scham darüber,
etwas, das sich so »natürlich« in der Gestaltung darbietet, in der Wirklichkeit,
im eigenen Leben nie wahrgenommen zu haben. Daß in dieser Kontrastie-
rung und Erschütterung eine vorhergehende fetischisierende Betrachtung der
Welt, ihre Zerstörung durch ihr entfetischisiertes Bild im Kunstwerk, und die
Selbstkritik der Subjektivität enthalten ist, braucht, glauben wir, nicht
mehr ausführlich auseinandergesetzt zu werden. Rilke gibt einmal die
dichterische Beschreibung eines archaischen Appollotorsos. Das Gedicht
kulminiert - ganz im Sinne unserer vorangegangenen Darlegungen - in
dem Appell der Statue an den Betrachter: »Du mußt dein Leben ändern.«
Die Bereicherung und Vertiefung, die jedes echte Werk der bildenden Kunst
wachruft, wodurch - dies beiläufig gesagt - der Kunstsinn der Menschen
erweckt und entwickelt wird, ist ohne einen solchen Vergleich und mag er
nur ein kaum bewußtes Begleitgefühl sein, mag seine emotionelle Betont-
heit stärker oder schwächer wirken, kaum vorstellbar. (Flier zeigt sich er¬
neut, daß das rezeptive Kunsterlebnis ohne ein Inbetrachtziehen des Vorher
nicht begriffen werden kann.) Der Vorwurf an das Vorher, die Beförde-
rung für das Nachher — und mögen beide in der Unmittelbarkeit des Er¬
lebnisses selbst fast ausgelöscht erscheinen — bilden einen wesentlichen In¬
halt dessen, was wir früher als die verallgemeinertste Form der Katharsis
bezeichnet haben: ein derartiges Durchrütteln der Subjektivität des Rezep¬
tiven, daß seine im Leben sich betätigenden Leidenschaften neue Inhalte, eine
neue Richtung erhalten, daß sie derart gereinigt, zu einer seelischen Grund¬
lage von »tugendhaften Fertigkeiten« werden.
Ohne jetzt über die konkreten Thesen von Aristoteles über Furcht und
Mitleid als Inhalte der tragischen Katharsis diskutieren zu wollen,
sei hier nur bemerkt, daß einerseits den Inhalt der Tragödie die zuge-
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 819

spitztesten Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt bilden, daß die


darin sich offenbarende äußerste Widersprüchlidikeit seiner Existenz mit
einer diesem Inhalt entsprechenden Vehemenz und Intensität auf sein Selbst¬
bewußtsein einwirkt und dementsprediend die klassische Form der Katharsis
hervorbringt. Es ist deshalb gar nidit überraschend, daß zuerst diese Theorie
eingehend gedanklich zerlegt und ausgelegt wurde, daß ihrer Wudit gegen¬
über alle anderen Äußerungsweisen mehr oder weniger in den Hintergrund
gedrängt wurde. Wenn wir jedoch an die von uns angeführten sozialpäd¬
agogischen Bemerkungen von Aristoteles über die Musik denken - und man
kann vom Standpunkt des methodologischen Herantretens an diese Frage
bei allen sonstigen Differenzen ruhig die von Platon als ähnlich intentioniert
auffassen so sehen wir, daß auch hier, wenn auch mit anderen Inhalten,
mit verschiedener Tiefe, Intensität etc., auf die Entwicklung anderer »tugend¬
hafter Fertigkeiten« gerichtete kathartische Wirkungen gemeint sind; das¬
selbe bezieht sich nach deutlichen Hinweisen der antiken Ästhetik auch auf
die bildenden Künste.
Andererseits darf man bei der Analyse der Tragödie auch daran nicht Vor¬
beigehen, daß ihr Inhalt und ihre spezifische Formung gerade auf die Einheit
von Außen und Innen gegründet ist. Indem die tragische Leidenschaft als
unwiderstehliche Macht aus der Seele hervorbricht, wird sie vom Standpunkt
des normal-alltäglichen Bewußtseins ihr gegenüber zu etwas »Äußerem«,
während zugleich das Schicksal, das aus der Umwelt sich zusammenbraut,
sich im Laufe der tragischen Verwicklung zu einer eigenen Notwendigkeit
der betroffenen Person, zu ihrem eigenen Schicksal entwickelt. Entsteht keine
derart intime Affinität zwischen Held und Geschick, so muß auch die tiefste
tragische Erschütterung fehlen; das Tragische wird wie oft im Laufe der Ge¬
schichte ins sinnlos Fürchterliche verzerrt oder zur alltäglichen Rührseligkeit
verflacht. Und es ist klar, daß die ästhetische - und davon unzertrennlich die
ethische und soziale - Bedeutung der Tragödie, gerade hier liegt, in jener
Wahrheit des Lebens, die die Kunst gereinigt und gesteigert widerspiegelt.
Daraus folgt, daß die Echtheit der Individualität sich erst in der Erprobung
durch das Äußerste erweisen kann, daß die Frage, ob sie Kern oder Schale
sei, nur hier eine letzthin angemessene Antwort erhalten kann. Darum bringt
die Tragödie die prägnanteste, die eigentlichste Form der Katharsis hervor.
Da jedoch die Auflösung des Dilemmas von Außen und Innen als Lebens¬
problem überall auftaucht - und überall im engsten Zusammenhang mit
der Kernhaftigkeit der Person -, da infolge der pluralistischen Struktur der
ästhetischen Sphäre auf jeden Fragetypus des Lebens ein Antworttypus der
820 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Kunst mit gesellschaftlicher Notwendigkeit entstand und immer wieder neu


entsteht, glauben wir, daß unser Verallgemeinern des Katharsisbegriffes keine
Konstruktion ist, sondern das Wesen des Ästhetischen von einer bestimmten
Seite auszusprechen hilft.
Bei einer solchen, wie wir glauben, voll berechtigten Ausdehnung des Kathar¬
siserlebnisses auf die wahrhaft tiefen Wirkungen einer jeden echten Kunst
müssen sogleich einschränkende Vorbehalte gemacht werden, damit keine
undialektische Verallgemeinerung der ästhetisch-ethischen Konkretheit
dieses Begriffs seine Schärfe und Bestimmtheit vernichte oder zumindest ab¬
stumpfe. Zuallererst muß davon ausgegangen werden, daß jede ästhetische
Katharsis eine bewußt hervorgebrachte konzentrierende Widerspiegelung
von Erschütterungen ist, deren Original immer im Leben selbst aufgefunden
werden kann, hier freilich spontan aus dem Verlauf von Aktionen und Be¬
gebenheiten herauswachsend. Es ist darum notwendig, festzustellen, daß die
von der Kunst hervorgerufene kathartische Krise im Rezeptiven die wesent¬
lichsten Züge solcher Lebenskonstellationen widerspiegelt. Im Leben handelt
es sich dabei immer um ein ethisches Problem, das deshalb auch den Ge¬
haltskern des ästhetischen Erlebnisses ausmachen muß. Nun ist es klar, daß
in der Regelung des menschlichen Lebens durch die Ethik die kathartische
Wendung nur einen spezifischen Grenzfall im System der möglichen ethischen
Entscheidungen bildet; es sind daneben — um nur eine Hauptfrage hervor¬
zuheben - völlig emotionslose Beschlüsse möglich, die ebensolche, ja in vie¬
len Fällen stärkere, dauerhaftere, standhaftere ethische Einstellungen her-
vorrufen als die kathartischen Erschütterungen. Es gehört ja zum Wesen des
Ethischen, daß darin gerade das konsequente Durchhalten hierarchisch höher¬
steht als jeder noch so leidenschaftliche, noch so aufrichtige und tief empfun¬
dene Enthusiasmus. Mit Recht besteht also in der Ethik ein permanentes
kritisches Mißtrauen diesem gegenüber, das Dostojewskij mit der Bezeich¬
nung »schnelle Heldentat« treffend formuliert hat. Ein solches ethisches Mi߬
trauen drückt auch die Dichtung wiederholt aus, es genügt, an die großartige
Beschreibung zu erinnern, die Tolstoi den Figuren von Karenin, Anna und
Wronski widmet, die alle an Annas Krankenbett eine tief empfundene echte
ivatharsis erlebten, aufrichtig überzeugt waren, die Grundlagen ihrer Lebens¬
führung umwälzen zu können, um allmählich, unwiderstehlich vom Strom
ihres seelischen Alltags in ihre alten Existenzformen zurückgeschwemmt zu
werden. Ist also schon im sittlichen Leben der Menschen der ethische Ver¬
dacht den kathartisch ausgelösten »schnellen Heldentaten« gegenüber durch¬
aus gerechtfertigt, obwohl selbstredend gar nicht so selten aus solchen Krisen
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 821

wirkliche ethische Neugeburten folgen, so ist diese Zweideutigkeit in den


künstlerischen Abbildungen der Wirklichkeit noch augenfälliger. Wir werden
in späteren Darlegungen ausführlich darauf eingehen, daß der Mensch im
Leben sich notwendig auf bestimmte einzelne Handlungen, Entschlüsse etc.
richtet, während in seiner Einstellung zum Kunstwerk gerade diese Gebun¬
denheit der Erlebnisse an solche konkreten Erscheinungen der Wirklichkeit
zeitweilig suspendiert wird, so daß er sich mit seiner Gesamtpersönlichkeit
dem jeweiligen ästhetischen Eindruck hingibt und die ethischen Folgen dieser
Wirkungen sich erst im Nachher der Rezeptivität zeigen können, weshalb sie
auch noch mehrdeutiger, mehrschichtiger sein müssen, als die Einwirkungen,
die das praktische Leben selbst auslöst.
Diese Mehrdeutigkeit erfährt noch dadurch eine weitere Steigerung, daß die
Katharsis auch - wiederum in vielfacher Hinsicht — eine negative sein
kann. Wir sprechen gar nicht davon, daß ihre Wirkung zuweilen, beabsich¬
tigterweise, eine das Böse enthüllende, eine abschreckende ist, wie vor allem
in den großen Komödien. Gogol hat im »Revisor« diese negativ kathartische
Wirkung des Lachens, des Auslachens gestaltet, als der Polizeimeister inmit¬
ten seiner Entlarvung durch die abgewickelte Handlung sich mit den Wor¬
ten: »Was lacht Ihr? Ihr lacht über euch selber!« an die Zuschauer wendet.
Aber darüber hinaus kann die kathartische Wirkung - unabhängig nicht
nur von der Absicht des Autors, sondern auch vom Gehalt des Werks - eine
ethisch problematische, ja negative Richtung einschlagen. Es ist noch ein re¬
lativ einfacher Fall, wenn die Rezeptivität sich an bestimmte unmittelbare
Erscheinungsformen klammert und an der Totalität des Beabsichtigten und
Verwirklichten vorbeigeht. Das kann gerade bei heftig, bei durchschlagend
wirkenden Werken häufig Vorkommen und die Katharsis auf abweichende,
moralisch bedenkliche Wege führen. Goethe hat diese Tendenz sehr bald
nach dem Erscheinen seines »Werther« bemerkt; sein kleines Gedicht, das die
Grundlage der Popularität des Werks mit leichter Hand skizziert, endet mit
den Worten, die der geliebte und vielfach nachgeahmte Held an seine
Leser richtet: »Sei ein Mann, und folge mir nicht nach.«
Das Umschlagen der kathartischen Wirkung kann aber auch bis zur reinen
moralischen Negativität gesteigert werden. Es ist im Rahmen dieser Betrach¬
tungen nicht möglich, die so entstehenden Probleme bis in ihre sehr kompli¬
zierten realen Verzweigungen zu verfolgen, denn dazu müßten die hier aus¬
schlaggebenden ethischen Kategorien eingehend bestimmt und zueinander ins
richtige Verhältnis gebracht werden. Hier können wir bloß zwei wichtige Um¬
stände und auch diese nur äußerst kursorisch hervorheben. Erstens die Histo-
8 22 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

rizität und damit die historische Relativität und Widersprüchlichkeit in der


konkreten Erscheinungsweise solcher Kategorien; so äußert sich sehr oft das
gesellschaftlich-geschichtlich Neue und Fortschrittliche als Bruch mit den herr¬
schenden ethischen Anschauungen und darum als Böses, was noch dadurch er¬
gänzt wird, daß das Neue und Fortschrittliche selbst in sehr widerspruchs¬
vollen Formen zum Ausdruck gelangen und sogar vom menschheitlichen
Standpunkt tief widerspruchsvoll sein kann. Das ist primär natürlich eine
Frage des Febens selbst. Man denke etwa an die Gestalt Napoleons und an
den Einfluß seiner Persönlichkeit auf so verschiedene Gestalten wie Rasti-
gnac, Julien Sorel oder Raskolmkow (diese seien hier als Typen konkreter und
realer gesellschaftlicher Lagen genommen). Es ist ohne weiteres evident, daß
die kathartische Wirkung, die von der Widerspiegelung ihrer Schicksale aus¬
geht, senr leicht ins moralisch Zwiespältige, ja rein Negative Umschlagen
kann; man denke an die Spiegelung der Raskolnikow-Tragödie beim späte¬
ren Sozialrevolutionären Schriftsteller Sawinkow-Ropschin. Die Möglichkeit
solcher Wirkungen wird — zweitens — noch dadurch fundiert und verstärkt,
daß das moralisch Verwerfliche keineswegs immer ein »kreatürliches« Ver¬
sagen der Menschen der Majestät der moralischen Normen gegenüber sein
muß, sondern sich bis zu einem Setzen böser Maximen steigern kann. In sol¬
chen Fällen handelt es sich nicht um ein Zurückschrecken der Menschen vor
den Geboten der Moral, nicht um ihr Herabsinken in ein Chaos des bloß
Unmittelbaren, Gewohnten, Instinktiven etc., vielmehr im Gegenteil um ein
Sicherheben über dieses Niveau, um eine - formal - ähnliche Selbstbearbei¬
tung der eigenen Partikularität, um ein Sichselbststeigern des Menschen, wie
es im moralischen Handeln zu erringen ist. Der Inhalt der Maxime, nicht ihre
Kraft des Menschenmodelns unterscheidet hier zwischen Gut und Böse. Da
nun die ästhetische Katharsis unmittelbar vor allem eine Erhöhung des Men¬
schen über seine eigene Alltäglichkeit hervorbringt, ist eine Wendung zu
einem derartigen Verhalten prinzipiell keineswegs ausgeschlossen, und die
früher angedeutete historische Dialektik und Widersprüchlichkeit erleichtert
in manchen Fällen seine Realisierung.
So einleuchtend also - im welthistorischen Sinn - die Lessingsche Ausle¬
gung. der Katharsislehre von Aristoteles auch sein mag, eine Analyse der
Praxis kann in ihren Auswirkungen sehr leicht Zweifel und Bedenken in
bezug auf ihre ethische Eindeutigkeit auslösen. Der alte Goethe hat solche
in seiner spaten »Nachlese zu Aristoteles’ Poetik« ausgedrückt: »Wer nun
auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen inneren Ausbildung fortschreitet,
wird empfinden und gestehen, daß Tragödien und tragische Romane den
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 823

Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüt und das, was wir Herz
nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen, unbestimmten Zustande ent¬
gegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher für solche Produktionen
leidenschaftlich eingenommen 1.« Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf
Goethes Interpretation der ganzen Katharsisauffassung einzugehen, insbe¬
sondere nicht auf seine äußerst problematische These, daß die Katharsis sich
nicht als Wirkung des Werks im Rezeptiven abspielt, sondern als Versöh¬
nung den Abschluß, die Krönung des Werks selbst bildet. Der oben zitierte
Zweifel in bezug auf die Möglichkeit von kathartisch-ethischen Wirkungen
verknüpft sich auf diese Weise mit dem Zweifel am moralischen Einfluß der
Kunst überhaupt. Die innere Abgeschlossenheit des Kunstwerks, seine alles
umfassende, in sich abgerundete Totalität beinhaltet also hier ein Zerreißen
der notwendigen Verbindung zwischen Ästhetik und Ethik, ihre Beschrän¬
kung auf eine »Zufälligkeit«, wobei der wesentliche Akzent auf eine »Milde¬
rung der Sitten« gelegt wird, die ebenfalls in »Weichlichkeit« ausarten
kann. Wir enthalten uns einer Polemik vor allem deshalb, weil die hier aus¬
gesprochene Auffassung im System der Gesamtanschauungen Goethes - auch
des alten Goethe - in dieser Zugespitztheit einen episodischen Charakter
hat, nur die Verteidigung der Abgeschlossenheit des Werks, die Abwehr unmit¬
telbar moralisierender Einwirkungen fügt sich organisch in dieses System ein.
Goethes Bedenken gegen eine direkt und eindeutig moralische Wirkung der
Katharsis sind um so gewichtiger, als sie auch im Laufe der späteren Ent¬
wicklung in verschiedenen Formen immer wieder auftauchen. Seine Betrach¬
tungen sind vor allem auf die Tragödie gerichtet, sie haben aber schon bei
ihm eine Bezogenheit auf alle Künste, vor allem auf die Musik. Bei dieser
- sowie bei den bildenden Künsten, wenn auch in anderen Formen - stei¬
gert sich nämlich die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit im geistigen und
moralischen Sinn weit über die von uns für die Literatur geschilderte hin¬
aus. Thomas Mann gibt - vom »Tristan« bis zum »Faustus« - eine sehr
eingehende Darstellung dieser Problematik, aber auch der viel mildere und
geistig weniger scharfe Hermann Hesse greift z. B. in seinem »Steppenwolf«
die Fragwürdigkeit der ethischen Wirkung der Musik auf. Sein Held ver¬
bindet diese Reflexionen mit einem Nachdenken über die deutsche Entwick¬
lung und sagt in einem leidenschaftlich selbstkritischen Monolog: »Wir Gei¬
stigen, statt uns mannhaft dagegen zu wehren und dem Geist, dem Logos,

1 Goethe: Nachlese zu Aristoteles’ Poetik Wk. a. a. O. Band XXXVIII S. 81.


824 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziebung in der Ästhetik

dem Wort Gehorsam zu leisten und Gehör zu verschaffen, träumen alle von
einer Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestalt¬
bare darstellt. Statt sein Instrument möglichst treu und redlich zu spielen,
hat der geistige Deutsche stets gegen das Wort und gegen die Vernunft
frondiert und mit der Musik geliebäugelt. Und in der Musik, in wunder¬
baren seligen Tongebilden, in wunderbaren holden Gefühlen und Stimmun¬
gen, welche nie zur Verwirklichung gedrängt wurden, hat der deutsche Geist
sich ausgeschwelgt und die Mehrzahl seiner tatsächlichen Aufgaben versäumt.«
Hier ist das Umschlagen ins Entgegengesetzte deutlich sichtbar. Man mag
an der Darstellung Richard Wagners in Heinrich Manns »Untertan« Vor¬
beigehen, da hier zugleich eine Kritik an Wagners Kunst selbst zumindest
mitgemeint ist, aber man denke an den schönen Sowjetfilm über das Leben
des Partisanenführers Tschapajew, in welchem ein grausamer, blutrünstiger
weißer General auftritt, der in seinen Mußestunden begeistert und gar nicht
schlecht Beethoven spielt, um diese Vieldeutigkeit klar vor Augen zu be¬
halten.
Wenn man alle diese Bedenken nebeneinander stellt, so scheint das Wesen
der Katharsis selbst in der Tragödie - von der Musik gar nicht zu reden
- einer Selbstauflösung entgegenzugehen. Besonders scharf ist dieser Gegen¬
satz, wenn man sich abermals auf die höchst eindeutige Stellungnahme der
antiken Ästhetik bei Platon und Aristoteles besinnt. Dabei ist diese bereits
eine Auflösungserscheinung der Polis, in deren Blütezeit die Verbindung von
Ästhetik und Ethik sicherlich noch viel geradliniger und unabdingbarer war.
(Platons Ablehnung der Kunst ist ja selbst ein Produkt dieser Auflösungs¬
krise der Polis.) Indessen scheint uns, daß dieser Gegensatz doch kein aus¬
schließender ist. Die enge Verbindung von Staatsbürgertum und Ethik (und
damit von Ästhetik und Ethik) in der Blütezeit der Polis war eine ein¬
malige Konstellation in der Weltgeschichte. Das Gewicht des individuellen
Privatlebens, das bereits in der Stoa und bei Epikur deutlich fühlbar wird,
kommt im Laufe der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung immer stär¬
ker zur Geltung und macht die Verbundenheit zwischen Einzelpersönlich¬
keit und Menschengattung mit allen sie verbindenden Vermittlungen immer
komplizierter, ohne sie freilich aufzuheben, im Gegenteil, um sie immer stär¬
ket mit neuen Inhalten zu bereichern. Die fast antike Stellungnahme Lessings
gehört bereits zur Periode der »heroischen Illusionen« über eine wieder¬
zuerweckende Polis, die in der großen Französischen Revolution ihren Kulmi¬
nationspunkt erreicnt. Das Zerstieben dieser Illusionen schafft jenen Zustand
von Gesellschaft, Individuum und Ideologie (im weitesten Sinne genom-
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 825

men), der die von uns analysierten verwickelten und vieldeutigen Phäno¬
mene hervorbringt. Damit ist aber die Verbindung zwischen ästhetischer
Katharsis und ethischem Verhalten bloß komplizierter geworden, hat jedoch
keineswegs aufgehört zu existieren. Ein Verzicht auf sie wäre einer auf jed¬
wede hohe Kunst. Ein solcher kommt natürlich in unseren Tagen häufig vor
und ist eine der Kräfte, die die echte Kunst zu einer gefälligen oder fes¬
selnden Belletristik erniedrigen. Bei einem großen Künstler-Moralisten wie
Brecht ist das Festhalten am Kern der Katharsis, bei tiefem Mißtrauen
gegenüber jeder bloß emotionalen Wirksamkeit der Kunst, deutlich sicht¬
bar. Der Verfremdungseffekt, dessen ästhetische Problematik an anderen
Stellen dieses Werks zur Sprache kommt, will die bloß unmittelbare, er¬
lebnishafte Katharsis ausschalten, um Raum zu schaffen für eine, die durch
eine vernunftmäßige Erschütterung des ganzen Menschen des Alltags ihn zu
einer wirklichen Umkehr zwingt. Bei aller polaren Gegensätzlichkeit zu
Rilke ist also dessen: »Du mußt dein Leben ändern« auch das Axiom für das
künstlerische Wollen Brechts.
Obwohl wir also überzeugt sind, daß die von uns vollzogene Verallgemeine¬
rung des Katharsisbegriffs berechtigt ist, müssen wir noch einen Vorbehalt
hinzufügen, um auch den ästhetischen Charakter unserer Argumentation ins
richtige Licht zu rücken. Genuin ästhetisch gehen bei allen Rezeptionen echter
Kunstwerke dem Wesen nach ähnliche Erschütterungen vor sich. Sie sind je¬
doch zugleich voneinander qualitativ verschieden. Nicht nur in dem Sinn,
daß, wie selbstverständlich, jedes Kunstwerk andersgeartete Emotionen aus¬
löst, daß diese sogar bei den verschiedenen Rezeptiven desselben Werks
divergieren müssen, sondern auch auf einer allgemeineren Ebene: die ver¬
schiedenen Künste und Kunstarten evozieren prinzipiell Verschiedenartiges,
so daß die unendliche Variabilität der einzelnen Emotionen sich in einem
pluralistisch gegliederten Universum abspielt. Man mag manches an Beet¬
hoven, Rembrandt oder Michelangelo mit vollem Recht tragisch nennen,
wenn man sie aber innerhalb ihrer allgemeinsten, letzthinnigen Einheit mit
Sophokles oder Shakespeare vergleicht, so zeigt sich zugleich ihre ebenso tief¬
greifende, spezifische, qualitative Andersartigkeit. Trotz dieser Vorbehalte
meinen wir, daß das Hervorheben auch des allen Gemeinsamen berechtigt
war. Denn erst die Spannung dieser Pole, ihre simultane Existenz und Wirk¬
samkeit ergibt den echten ästhetischen Gehalt.
Im Vergleich zur Aufhebung der Unmittelbarkeit in der wissenschaftlichen
Widerspiegelung mußte die Unmittelbarkeit der ästhetischen betont werden,
jedoch im Verhältnis zur Unmittelbarkeit im Alltagsleben ist die ästhetische
8i6 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

ebenfalls eine aufgehobene; daß dieses Aufheben im Herstellen einer neuen,


sonst nirgends auffindbaren Unmittelbarkeit besteht, macht eben die Beson¬
derheit des ästhetischen Setzens aus. In der Unmittelbarkeit des Alltags¬
lebens ist das Wesen, das Allgemeine zwar latent überall vorhanden, muß
aber - gerade mit Hilfe ihrer Aufhebung - aus der Verborgenheit aus¬
gegraben werden. In der Unmittelbarkeit des Kunstwerks ist das Wesen, die
Allgemeinheit zugleich verborgen und offenkundig. So entsteht im Kunstwerk
eine »Welt«, die einerseits in ihrer Erscheinungsform von der existierenden
(und von der wissenschaftlich erkannten) Wirklichkeit qualitativ, prinzipiell
verschieden ist, die aber andererseits deren wesentliche Struktur, ihren kate-
goriellen Aufbau beibehält; sie vollzieht an ihr nur eine solche Umgruppie¬
rung, einen solchen Funktionswandel, daß sie der menschlichen Aufnahme¬
fähigkeit, den menschlichen Erlebnisbedürfnissen angemessen wird. Auch
dieses Problem ist bereits wiederholt gestreift worden; nicht nur wo aus¬
drücklich von einer solchen Angemessenheit die Rede war und deren hedo¬
nistisch-unmittelbare Aufhebung abgelehnt wurde, sondern auch dort, wo im
Anschluß an Goethe die Natürlichkeit dieser »Welt« zur Sprache kam. Beide
Umschreibungen beziehen sich auf dasselbe: auf die hier angedeutete Span-
nung von Unmittelbarkeit und Smnbeladenheit; auf das Innewerden des
Wesens in der Erscheinung; auf eine immanente Vollendung und gediegene
Komplettheit der künstlerischen Welt, die in dieser Hinsicht - aber aus¬
schließlich in dieser - über die dem Menschen gegebene objektive Wirklich¬
keit hinausgeht, die gerade durch ein solches Überschreiten ihrer gewohnten
Grenzen ihre Diesseitigkeit, die alleinige Realität ihrer Existenz bestätigt.
Gottfried Keller gibt, wie wir gesehen haben, eine gute Beschreibung der
Welt Shakespeares, die diese Lage prägnant ins Licht stellt.
Kellers Stellungnahme ist für uns auch insofern bedeutsam, als er der richti¬
gen Beschreibung des Tatbestandes auch die einer unrichtigen Stellungnahme
hinzufügt, und damit ungewollt die gute Kritik einer falschen Auffassung
der Wirklichkeit der ästhetischen Widerspiegelung gibt. Wir meinen die so¬
genannte Illusionstheorie. Kellers Pankraz sagt nämlich: »Weil nun alles
übrige so trefflich wahr und ganz erschien und ich es für die eigentliche und
richtige Welt hielt, so verließ ich mich... ganz auf ihn ...« Pankraz ver¬
wandelt so die Shakespearesche treue Widerspiegelung der Wirklichkeit in
eine Illusion, ähnlich wie Don Quixote die Ritterromane, und erleidet viel¬
fach ein ähnliches Schicksal. Damit ist bereits eine Kritik der Illusionstheorie
gegeben. Die große Entstehungszeit der modernen Philosophie war sehr hart
in der Beurteilung der Illusionen; man nannte sie einfach Irrtümer, Träume,
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 827

Verfehlen der Ziele und Methoden der Erkenntnis der Welt; in dieser Hin¬
sicht herrschte zwischen Bacon, Descartes und Spinoza volle Übereinstim¬
mung. Wenn damit auch die praktischen Folgen der Illusionen vielfach über¬
sehen wurden, so haben die großen Revolutionen des 17.-19. Jahrhunderts
wichtige Erfahrungen gebradrt, vor allem über den Untersdfied von welt¬
historisch fortschrittlidaen und subjektiv bleibenden leeren Illusionen; Marx
hat diese Lehre der Revolutionen am prägnantesten bearbeitet. Erst als auch
diese Periode vorbei war, als die Illusionen bereits zu bloß tatenlosen Träu¬
mereien wurden, als die Donquixoterie sich in ein Oblomowtum verwan¬
delte, versuchte man das Geheimnis der ästhetisch widergespiegelten Welt in
einer - »bewußten« — Illusion zu finden. Unsere bisherigen Darlegungen
zeigen, ohne weitere Polemik, die Unhaltbarkeit dieses Standpunkts. Wir
erwähnten hier diese Theorie überhaupt nur deshalb, weil sie als Kontrast
das von uns aufgezeigte Verhältnis von Wirklichkeit und ästhetischer Wider¬
spiegelung beleuchtet. Die Illusion ist erstens rein subjektiven Charakters,
zweitens will sie von dieser Subjektivität aus die objektive Wirklichkeit
korrigieren, besser gesagt, ihr eine aus subjektiven Träumen gewobene »bes¬
sere« Wirklichkeit gegenüberstellen. Die modernen subjektivistischen Er¬
kenntnistheorien helfen ebenfalls in der Ausbildung solcher Konzeptionen.
Das ändert nichts an ihrer Haltlosigkeit. Daß die ästhetischen Gebilde als
Widerspiegelungen der Wirklichkeit die Subjektivität nicht ausschalten wol¬
len und können, schafft die mit der Hilfe ihrer Vermittlung entstehende spe¬
zifische Objektivität nicht aus der Welt; daß sich der Schaffende wie Rezep¬
tive-des Widerspiegelungscharakters der ästhetischen Akte und Gebilde be¬
wußt sind, hat mit dem Wesen der Illusion nichts gemein. Freilich nicht in
dem Sinne, daß diese Akte ohne Beziehung zur gesellschaftlichen Aktivität
vollziehbar wären. Über die hier entstehenden Probleme werden wir als¬
bald, bei Behandlung des Nachhers der ästhetischen Rezeptivität, ausführ¬
licher sprechen. Jetzt aber kann schon gesagt werden, daß die ästhetische
Widerspiegelung ihrem Wesen nach nicht die unmittelbare Basis der gesell¬
schaftlichen Aktivität werden kann, wie die Illusion, deren Wesen gerade
darin besteht, daß sie - fälschlicherweise - mit einem wahren und prak¬
tisch verwertbaren Abbild der Wirklichkeit verwechselt wird. Die sogenannte
bewußte Illusion erniedrigt die Kunst auf das Niveau eines Tagtraums, ent¬
fernt aus der Reihe ihrer Wirkungsmöglichkeiten gerade jene, deren prä¬
gnanteste Form eben die von uns geschilderte Katharsis ist: nämlich die Wir¬
kung, die der Zusammenstoß der ästhetisch gespiegelten objektiven Wirk¬
lichkeit mit der bloßen Subjektivität des Alltags auslöst.
Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Diese Allgemeingeltung der Katharsis und die Ablehnung jeder Illusions¬


theorie weisen von verschiedenen Seiten auf dasselbe Grundphänomen des
Ästhetischen hin: auf die Simultaneität einer restlos vollendeten Diesseitig-
keit in seinen Gebilden mit ihrem Übertreffen der unmittelbar-alltäglichen
Wirklichkeit an Intensität, an sinnfälliger Unendlichkeit der wesentlichen
Bestimmungen, an Konvergenz bis zur engsten Berührung von Erscheinung
und Wesen, an absoluter Identität von Inhalt und Form. Diese Gedoppelt-
heit und Einheit von, abstrakt angesehen, divergierenden, ja entgegengesetz¬
ten Tendenzen spricht sich im Erlebnis der Katharsis aus, deren Eintreffen
und Erfüllung deshalb ebenfalls eine vereinte Gedoppeltheit aufweist: sie
ist ein entscheidendes Kriterium der künstlerischen Vollendung des jeweiligen
Werks und zugleich das bestimmende Prinzip für die wichtige soziale Funk¬
tion der Kunst, für die Beschaffenheit des Nachher ihrer Wirkungen, ihrer
Ausbreitung ins Leben, der Rückkehr des ganzen Menschen ins Leben, nach¬
dem er als Mensch ganz sich der Wirkung eines Kunstwerks hingegeben und
die katharsische Erschütterung erlebt hatte. Beide Fragen gehören dem
Wesen nach den Problemkomplexen des zweiten Teils an; hier können wir
nur einige dieser unerläßlichen Prinzipien kurz streifen. Es wurde bis jetzt
wiederholt auf die Priorität des Inhalts der Form gegenüber hingewiesen.
Auch wenn wir nun bloß auf das Prinzipiellste eingehen, wird sich in gro¬
ßen Linien erneut zeigen, daß diese Priorität des Inhalts die Bedeutung der
Formen keineswegs herabsetzt, im Gegenteil noch schärfer hervorhebt, als
ein einseitiger Formalismus dazu imstande wäre. Denn erst von hier aus
kann man ihre spezifischen Funktionen richtig würdigen, ihre wirklichen
Meister von bloßen Virtuosen klar unterscheiden. Diese spezifischen Funk¬
tionen der Formen konzentrieren sich darauf, einen für die Menschheit be¬
deutsamen Inhalt allgemein erlebbar zu machen. Die Wege der echtgebore¬
nen großen Künstler trennen sich nun vor allem darin von denen der gerin-
geien, daß jene in dem sich ihnen darbietenden Lebensstoff diesen gedie¬
genen Gehalt, seine Affinität zu bestimmten Formen — und wenn nötig, zu
ihrei konkreten Erneuerung — mit unfehlbarer Sicherheit erkennen und ver¬
wirklichen, während die geringeren hier mehr oder weniger haltlos herum¬
irren, und in der Begegnung mit einem wahrhaft gediegenen Gehalt vielfach
dem Zufall ausgeliefert sind.
Findet nun ein solches Zusammentreffen von Gehalt und Form nicht statt
- wir sprechen hier von wirklichen Künstlern - so entsteht das, was man
in der Literatur ganz richtig als bloße Belletristik zu bezeichnen pflegt; ähn¬
liche Erscheinungen sind natürlich in den bildenden Künsten und in der
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 829

Musik ebenfalls zu beobachten. Diese Belletristik kann rein formal - in


Stil, Aufbau, Psychologie etc. - auf achtenswerter Höhe stehen, sie wird
aber in ihren Dauerwirkungen nie über ein bloßes Fesseln oder Unterhal¬
ten, eventuell über ein unerfülltes Spannen hinausgehen; sie wirkt oft ange¬
nehm, weil sie im Rezeptiven bereits vorhandene Erfahrungen bestätigt, oder
eventuell durch stoffliche Neuheit diese quantitativ erweitert, bringt jedoch
nie jene wahrhafte Ausweitung und Vertiefung des menschlichen Gesichts¬
kreises, die wir eben im Erlebnis der Katharsis beobachten konnten. Wenn
man an die Gesamtheit der Werke von wirklich hervorragenden Schriftstel¬
lern wie Theodor Fontane, Joseph Conrad, oder Sinclair Lewis denkt,
so kann man im Gegensatz zu ihren Meisterwerken in einem Teil ihrer Pro¬
duktion sehr deutlich dieses Herabsinken der hohen Kunst zu bloßer Belle¬
tristik beobachten; mit diesem minderen Teil ihrer Produktion streifen sie
jene großen Massen der Schriftwerke, deren Bereich bis zum völlig hohlen
Amüsement hinunterreicht. Der klare Blick über diese Sphäre wird immer
wieder durch Zeittendenzen getrübt. Unter dem Einfluß gegenwärtiger Er¬
eignisse kann unter Umständen eine sie gut oder geschickt wiedergebende
Belletristik mitunter sogar tiefe Erschütterungen auslösen. Erst die histo¬
rische Entwicklung zeigt, manchmal sogar ziemlich rasch, daß es sich doch
nur um Belletristik gehandelt hat. Solche Wirkungen können mitunter sogar
künstlerisch wertlose Produkte hervorbringen, wenn sie einem überaus
gewichtigen sozialen Auftrag entgegenkommen. Man denke etwa an die Ent¬
stehungszeit des bürgerlichen Dramas und dabei an Lillos »London Mer-
chant«. Gerade hier ist die Bedeutung der gediegenen Identität von Form
und Inhalt klar sichtbar: erst ein mit dem Schicksal der Menschheit irgend¬
wie innig verknüpfter Gehalt kann eine wirklich tiefgreifende Formung aus¬
lösen, da ja, wie wir wissen, die künstlerische Form stets die Form eines be¬
stimmten Inhalts ist, während, wenn diese Beziehung fehlt, auch die virtuose¬
ste Formbehandlung, die getreueste Erfüllung des sozialen Auftrags nicht zu
dieser Identität führt und bloß eine vorübergehende, rasch veraltende stoffliche
Wirkung auszulösen imstande ist. Wir wiederholen: das Phänomen der Belletri¬
stik ist keineswegs ein nur literarisches, sondern ein Gemeingut aller Künste1.
Ein weiterer Typus dieser Art ist das, was wir Kitsch zu nennen gewohnt
sind. Während aber das als Belletristik bezeichnete Phänomen ein mehr oder

1 Alban Berg hat in bezug auf die Musik auf dieses Phänomen deutlich hingewiesen.
Vgl. seinen Aufsatz: Verbindliche Antwort auf eine unverbindliche Rundfrage.
Zitiert aus: Musiker über Musik, a. a. O. S. 211 f.
830 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

weniger immer vorkommendes ist, obwohl es in verschiedenen sozialen For¬


mationen sehr verschiedene Erscheinungsweisen haben kann, ist der Kitsch
die Spezialität späterer Entwicklungsstufen und ist in langwährenden Perio¬
den so gut wie vollständig unbekannt; in den letzten beiden Jahrhunderten
tritt er besonders penetrant hervor. Er ist darum offenkundig und allgemein
anerkannt eine gesellschaftlich-geschichtliche Erscheinung und gehört deshalb
in den historisch-materialistischen Teil der Ästhetik. Hier sollen nur jene
seiner Aspekte behandelt werden, die mit unserer gegenwärtigen Frage in
enger Beziehung stehen. Seine unmittelbare und entschiedene gesellschaft¬
liche Determiniertheit sei nur eingangs erwähnt, vor allem deshalb, weil
auch jene Kreise, die die gesellschaftliche Bedingtheit der Kunst abzulehnen
pflegen, hier gerade auf diese Verursachung rekurrieren. So gibt Hermann
Broch eine richtige Einleitung zur sozialen Analyse des Kitsches: »Denn
Kitsch könnte weder entstehen, noch bestehen, wenn es nicht den Kitsch-
Menschen gäbe, der den Kitsch liebt, ihn als Kunstproduzent erzeugen will,
und als Kunstkonsument bereit ist, ihn zu kaufen und sogar gut zu bezahlen.
Kunst ist, wird sie im weitesten Sinne genommen, immer Abbild des jeweili¬
gen Menschen, und wenn der Kitsch Lüge ist - als welche er oft und mit
Recht bezeichnet wird -, so fällt der Vorwurf auf den Menschen zurück, der
solche Lügen - und Verschönerungsspiegel braucht, um sich darin zu erkennen
und mit gewissermaßen ehrlichem Vergnügen sich zu seinen Lügen zu be¬
kennen 1.« Das, was Broch »Kitsch-Mensch« nennt, hat, wie er richtig sieht,
die Lüge zum Fundament: eine zumeist wenig bewußte, verlogene, auf Illu¬
sionen beruhende Vorstellung über die Beziehung des Menschen zur gesell¬
schaftlichen Wirklichkeit, über die Stellung zu seiner Klasse, zu seinem Schick¬
sal in ihr und demzufolge über die Beschaffenheit und über das angemessene
Geschick der eigenen Persönlichkeit. (Hier erscheint mit handgreiflicher Evi¬
denz, daß die Bewußtheit über den Widerspiegelungscharakter der ästheti¬
schen Gebilde nichts mit Illusionen gemein hat.) Im Fall des Kitsches handelt
es sich also darum, daß das Herantreten an die Widerspiegelung der Wirk¬
lichkeit und an deren Formung - einerlei, wieweit subjektiv bewußt —
auf Grundlage einer objektiv verlogenen »Weltanschauung« geschieht, so daß
die Intention des Schaffens nicht darauf gerichtet ist, durch wahrheitstreue
Wiedei gäbe der Welt zum Wesen des Menschen zurückzufinden, sondern im
Gegenteil darauf, diese so zurechtzurücken, ihre Inhalte, Proportionen so zu

1 H. Broch: Essays, a. a. O. Band I. S. 295.


Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 831

verbiegen und zu verzerren, daß sie den sachlich unberechtigten Wünschen


und Illusionen entspreche, sie illustriere. Die ästhetische Eigenart der Form,
daß sie nur die besondere Form eines besonderen Inhalts ist, erprobt sich
schlagend in solchen negativen Konstellationen: sie wird ebenfalls verlogen
und verzerrt; ganz unabhängig davon, wieviel tedinisches Können, forma¬
listische Invention, etc. im Subjekt des Produzenten aufgespeichert und auf
die Produktion verschwendet wird. Die unendlich konkrete Variabilität des
Kitsches, ob er etwa ordinär oder raffiniert, »gesund« oder dekadent, for¬
mal gut oder schlecht, begabt oder unbegabt hergestellt ist, welche klassen¬
mäßige Basis seine Verlogenheit hat, kann hier nicht einmal angedeutet wer¬
den. Sie braucht es auch nicht, denn es ist klar, daß von unserem Standpunkt
der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit zwischen einer als Renais¬
sance- oder Barockpalais maskierten Mietskaserne und den Romanen einer
Courths-Mahler oder einem Film, in welchem der Millionärssohn die Steno¬
typistin heiratet, prinzipiell gar kein Unterschied besteht.
Der dritte Typ des Abweichens vom ästhetischen Prinzip, mit dem wir uns
hier kurz zu befassen haben, begleitet die Entwicklung der Kunst von ihren
Anfängen bis zu unseren Tagen. Dabei interessiert uns hier nur der Einbruch
rhetorisch-publizistischer Tendenzen in die Kunst; daß Rhetorik und Publi¬
zistik sehr häufig die Hilfe einzelner ästhetischer Mittel in Anspruch nehmen,
gehört zu jenen sozialen Ausstrahlungen der Kunst überhaupt, die uns hier
nicht zu beschäftigen brauchen. Wir haben in anderen Zusammenhängen be¬
reits die antike Auffassung von Rhetorik und Geschichtsschreibung als Kunst
erwähnt; wir haben auch gesehen, daß Aristoteles sogar im pseudoästheti¬
schen Element der Rhetorik wichtige ästhetische Kategorien entdeckt hat. In
der Blütezeit der Antike hat diese Klassifizierung auch kein Eindringen
kunstfremder Tendenzen ins Gebiet des Ästhetischen herbeigeführt. Das blieb
der Neuzeit Vorbehalten. Natürlich ist damit nicht gemeint, daß etwa die
ersten Utopisten gewisse äußerliche Eigenschaften der erzählenden Formen
literarisch gebraucht haben; man muß nur die »Utopia« von Morus neben
den »Gulliver« stellen, um zu sehen, wie in diesem die - positiv und nega¬
tiv - utopischen Beschreibungen nur einen Stoff für seine dichterisch-sati¬
rische, ästhetische Welt ergeben, während bei jener das Erzählerische nur eine
technisch-publizistisch geeignete Einkleidung für die verständliche und popu¬
läre, publizistisch-wissenschaftliche Mitteilung von Erkenntnissen ist. Natür¬
lich sind - ebenso wie in der Antike, angefangen bei den »Persern« von
Aischylos und den Komödien von Aristophanes — auch spontan immer wie¬
der Werke entstanden, die unmittelbar in die Klassenkämpfe ihrer Tage ein-
832 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

greifen wollten; es genügt an Milton oder Bunyan zu erinnern. Natürlich ist


aus diesen und verwandten Gründen das rhetorische Element oft sehr stark in
die Kunst eingedrungen. Und zwar nicht wie bei Shakespeare, wo das Rheto¬
rische etwa bei Brutus und Antonius zum bloßen Mittel des Charakterisierens
wird, sondern es bildet selbst bei bedeutenden Dichtern wie Schiller oder Vic¬
tor Hugo geradezu das homogene Medium ihrer Gestaltungsweise oder
wenigstens eine ihrer wichtigen Komponenten, ohne deshalb den ästhetischen
Charakter ihrer Werke aufzuheben; wo dies doch geschieht, liegt der Grund
darin, daß das Rhetorische das homogene Medium sprengt und als solches
zur eigenen Wirkung gelangt. Damit ist das Moment des Übergangs bereits
bezeichnet. Vom 19. Jahrhundert an gibt es in immer größerer Anzahl
Werke, deren ästhetisdres Niveau bestenfalls jenes erreicht, das wir früher
als Belletristik bezeichnet haben, und die das Fehlen von künstlerischer Sub¬
stanz durch ein unorganisches Einfügen direkt wirkender, rhetorischer oder
publizistischer Elemente ersetzen. Im 20. Jahrhundert erwuchs daraus sogar
eine eigene - Montage genannte - »schöpferische Methode«. Wenn wir
nun das einheitliche Prinzip solcher Bestrebungen vom Standpunkt der Ästhe¬
tik suchen, so stoßen wir darauf, daß hier überall die spezifisch ästhetische
Widerspiegelungsart beiseite geschoben oder bestenfalls zum Hilfsmittel er¬
niedrigt wird, daß das homogene Medium aufhört, die dargestellte »Welt«
zusammenzuhalten, zu vereinheitlichen, die Erlebnisse der Rezeptivität zu
leiten (zur Zeit des Aufkommens der Montage wird dieser Mangel als neues
ästhetisches Prinzip ausgesprochen), daß demzufolge die Wirkung nicht an
den ästhetisch gerichteten Rezeptiven, an den Menschen ganz appelliert und
in ihm ästhetische Erlebnisse zu evozieren versucht, sondern einfach auf den
im praktischen Alltagsleben stehenden ganzen Menschen orientiert ist, um
ihn direkt zu einer unmittelbar praktischen Stellungnahme für oder gegen
eine aktuelle Erscheinung des Lebens zu veranlassen.
Mit dieser Gegenüberstellung befinden wir uns bereits mitten in der Pro¬
blematik des Nachher der ästhetischen Wirkung. Um jedoch hier nicht zu
einem voreiligen Entscheiden zu gelangen, muß einleitend bemerkt werden,
daß das bisher Gesagte und nunmehr zu Sagende sich ausschließlich auf die
Werke bezieht, die subjektiven Aussagen der Autoren und ihrer Kritiker
aber außerhalb unserer Betrachtungen bleiben. Es kann nämlich geschehen,
daß entweder die von uns beschriebene Überwucherung des Künstlerischen
durch Rhetorik und Publizistik vom Bewußtsein begleitet wird, eine neue
echte ästhetische Ära einzuleiten, oder die ganze bisherige Ästhetik theore¬
tisch beiseite geschoben wird, dabei jedoch — der neuen Theorie zum Trotz —
Die Katharsis als allgemeine Kategorie der Ästhetik 833

ästhetisch bedeutende Kunstwerke entstehen (man denke an die reife Pro¬


duktion von Bertolt Brecht). Uns werden also im Folgenden nur die Werke
selbst beschäftigen. Die Analyse dieser drei Typen zeigt uns, daß man den
Begriff der Katharsis, der Erschütterung des Rezeptiven durch das Werk,
durch das Neue, das bisher wahrgenommene Sein Erweiternde und Vertie¬
fende nicht konkret genug fassen kann. Wenn nämlich wie bei der Belle¬
tristik der Gehalt flach wird, oder wie beim Kitsdi das zum Ausdruck kom¬
mende Gefühl ein falsches, ja ein verlogenes ist, kann der rezeptive Eindruck
höchstens in formalen Äußerlichkeiten dem genuin Ästhetischen ähneln.
Komplizierter ist der Fall bei dem zuletzt behandelten Typus. Hier kann
nämlich sowohl die dem Werk zugrunde liegende Gefühlswelt eine echte und
aufrichtige sein wie auch das dargebotene Wirklichkeitsbild ein wahrheits¬
getreues, ohne daß eine ästhetische Wirkung - vorherbestimmt durch Ge¬
halt und Struktur des Werkes - eintreten würde. Um diesem Phänomen
näherzukommen, betrachten wir vorerst extreme Beispiele. Der seinerzeit
bekannte französische Dramatiker Brieux hat für den gesellschaftlichen Tages¬
gebrauch aktuelle und nützliche Themen aufgegriffen, so die Mißbräuche in
der Ammenwirtschaft, den schädlichen Einfluß der Syphilis auf die Ehe. Wie¬
weit eine derartige Produktion in praktischer Hinsicht einen wesentlichen
Nutzen gebracht hat, hat uns hier nicht zu beschäftigen. Die Erlebnisse, die
sie erzielt, sind jedenfalls dem Wesen nach nicht ästhetisch. Jede Lebens¬
tatsache, die hier zu erfahren wäre, jeder Ausblick auf bisher vernachlässigte
Tatsachen, ist auf anderen Wegen weitaus besser: klarer, exakter, übersicht¬
licher, umfassender, zugleich allgemeiner und an Einzelheiten belegter zu er¬
zielen. Nicht umsonst bauen derartige Vertreter der Montage statistische,
aktenmäßig bewiesene Einzeltatsachen etc. in ihre Werke ein. Wo das dich¬
terisch Überzeugende fehlt, sollen gesammelte Fakten dafür einspringen. Der
einzige Vorteil, den die literarische Form haben kann, ist, daß sie, etwa in¬
folge der theatralischen Effekte, eine Zuhörerschaft erzwingen mag, die für
eine einfache Publizistik nicht zu erreichen wäre. Das sind aber extreme
Fälle, aus denen nur Pedanten des Akademismus eine Ablehnung der Tages¬
fragen für die Kunst abzuleiten versuchen können.
Nehmen wir zur besseren Beleuchtung das andere Extrem: man denke an
Gedichte von Petöfi, Majakowski oder Eluard, an Bilder und Blätter von
Goya und Daumier und man sieht sogleich, daß das unmittelbare Eingreifen
in die aktuellsten Kämpfe zum Träger einer hohen Kunst werden kann. Und
man darf dabei die Rolle des auslösenden Anlasses nicht unterschätzen, ihn
keineswegs als bloßen Anlaß auffassen, der irgend etwas von ihm ästhetisch
834 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Loslösbares in die Welt gesetzt hätte. Solche Werke sind - gerade im ästhe¬
tischen Sinne - untrennbar mit jenen »Forderungen des Tages« verwachsen,
die sie ins Leben rufen. Eben weil sie diesen Augenblick der Geschichte in
seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit zugleich mit seiner typischen, gesell¬
schaftlichen und menschlichen Bedeutung ergreifen und gestalten, können sie
eine sofortige Wirkung von sonst unvorstellbarer Wucht und Intensität er¬
langen, jedoch eine, die mit dem Vorbeigehen, mit dem Verblassen, ja in
Vergessenheit-Geraten des fruchtbringenden Augenblicks nichts von ihrer
schlagkräftigen Intensität verlieren muß.
Die Gedoppeltheit in der Genesis, im gestalteten Sein, sowie in der Wirkung
und Nachwirkung spricht das ästhetische Prinzip im Gegensatz zu jeder Publi¬
zistik in äußerlichem Kunstgewand aus. Diese bleibt einerseits an der Parti-
kularität von vereinzelten oder abstrakt verbundenen Tatsachen kleben,
andererseits springt sie von dort direkt zu Allgemeinheiten, die an sich rich¬
tige oder falsche, tiefe oder flache Abstraktionen sein mögen, keinesfalls aber
auf das Menschsein des Menschen bezogen sind. Der Unterschied liegt also,
wie schon wiederholt gesagt, nicht darin, daß eine solche Darstellung, Grup¬
pierung, Verallgemeinerung von Tatsachen keine Emotionen auslösen könnte.
Unter Umständen sind dazu die abstraktesten, rein wissenschaftlichen Theo¬
rien fähig, ohne die Sphäre der Kunst auch von weitem zu streifen; man
denke an die Weltkrise, die die kopernikanische Theorie ausgelöst hat, die
ihre Märtyrer und Henker hatte, an die Wirkung des »Contrat Social« in
der Französischen Revolution, an die des Marxismus in der Arbeiterbewe¬
gung und bei ihren Feinden. Noch weniger wird man leugnen können, daß
die Tatsachen des Lebens auch unabhängig von einer publizistischen Bearbei-
tung, sogar bei einer sehr schlechten, ganz vehemente Gefühlsausbrüche ver¬
ursachen können. Es ist also nicht von Emotion überhaupt, nicht von ihrem
Gegensatz zur bloß verstandesmäßigen Apperzeption die Rede, sondern von
der Beziehung der besonderen ästhetischen Emotion zu beiden. Diese kann
natürlich auch bei Einbau und Benützung publizistischer Ausdrucksmittel in
ein ästhetisches Gefüge entstehen; wir haben uns früher in bezug auf Rhe¬
torik auf Schiller und Victor Hugo berufen, es möge hier genügen, daß wir
die Romane Tschernischewskis erwähnen K Entscheidend sind also auch die

Vgl. darüber meine Studie über den Roman »Was tun?«, wo ich auch auf andere
ähnliche Erscheinungen in der Weltliteratur hingewiesen habe. Der russische
Realismus in der Weltliteratur, a. a. O. S. 125 ff.; in Werke Band 5.
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 835

angewendeten darstellerischen Mittel nicht, die Zugehörigkeit zur Ästhetik


entscheidet sich vielmehr danadi, wie umfassend und intensiv die Bezug¬
nahme des Werks auf das Menschsein des Menschen ist. Tsdiernischewskis
Roman unterscheidet sich von den übrigen publizistisdren Romanen und Dra¬
men gerade darin, daß in ihm die Unhaltbarkeit und Unmenschlichkeit der
zaristischen Reaktion und der in ihr herrschenden Sitten sowie die Gegen¬
bewegung der Revolutionäre sich in individuellen Menschentypen verkör¬
pern, daß deren zutiefst persönlich bestimmten Schicksale das Pro und Contra
in sich konzentrieren. Ebenso steht es, wenn man eine pamphletistische Zeich¬
nung Daumiers mit einer noch so fortschrittlich gesinnten rein publizistischen
Karikatur vergleicht: hier eine partikulare, oft sogar bloß verzerrt-photo¬
graphische Verneinung, dort spricht sich in der künstlerischen Linienführung
und Komposition die Verachtung einer ganzen Epoche in der menschlichen
und gesellschaftlichen Unwürdigkeit ihrer typischen Gestaltung aus.

III Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses

Aus alledem treten bereits die allgemeinen Konturen des Nadiher der ästhe¬
tischen Wirkung etwas deutlicher hervor. Dabei ist natürlich der objektive
Charakter der im Werk gestalteten ästhetischen Widerspiegelung hervorzu¬
heben, die wir früher von verschiedenen Aspekten aus gründlich analysiert und
deren negative Abgrenzung von formal oder angeblich ähnlichen Widerspie¬
gelungsarten wir gerade vollzogen haben. Unmittelbar schließt sich das Nach¬
her notwendigerweise dem ästhetischen Erlebnis der Rezeption des Werks an.
Auch bei dieser haben wir ein entscheidendes Moment schon früher hervor¬
gehoben, nämlich die Eigenart des Ästhetischen in der Suspension der kon¬
kreten Zielsetzungen des Alltagslebens. Wir erinnern daran, daß im Gegen¬
satz zu solchen Suspensionen im Alltag selbst, wo nicht die praktisch aktuelle
Zielsetzung selbst in Schwebe gelassen wird, bloß ihre tatsächliche momen¬
tane Verwirklichung, wo die Suspension nichts weiter sein soll, als eine tech¬
nische Vorbereitung zum besseren Vollbringen der unveränderten konkreten
Absicht, das ästhetische Erlebnis der Rezeptivität eine temporäre Suspension
sämtlicher faktischer Zielsetzungen des Alltags mit sich führt, und zwar so,
daß diese - prinzipiell - nur für die Dauer dieses Akts aufgeschoben wer¬
den und mit seinem Ablauf ihre alten Rechte wieder erlangen - prinzipiell
und für die überwiegende Mehrzahl der Fälle auch faktisch -, ohne eine
836 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

Veränderung zu erleiden, die praktisch in Betracht kommen könnte. Aus


dieser Sachlage, deren allgemeine Richtigkeit nicht zu bezweifeln ist, folgern
die Vertreter der verschiedenen Abstufungen des Bart pour Bart, des Akade¬
mismus etc., daß die Kunsterlebnisse ohne Einfluß auf das praktische Alltags¬
leben der Menschen sind. Ein schwerer Irrtum, dessen Realgrund natürlich in
den Klassenlagen und Klasseninteressen zu suchen ist, dessen Beweisführung
aber darauf beruht, daß man bei einer ganz allgemeinen Beschreibung des
Phänomens stehenbleibt, nur die negative Seite des Gegensatzes zwischen
ästhetischem Erlebnis und Alltag in Betracht zieht, die positive Seite,
seine Besonderheit dagegen nicht zur Kenntnis nimmt. Die früher herange¬
zogenen Grenzfälle (Petöfi, Majakowski etc.) wären an sich schon eine Wider¬
legung solcher metaphysischen Konstruktionen. Denn wenn von einem wah¬
ren Kunstwerk unmittelbare praktische Wirkungen überhaupt ausgehen kön¬
nen, die seinen ästhetischen Charakter nicht aufheben, ja gerade dessen spezi¬
fische Eigenart bilden, von dieser ästhetisch unabtrennbar sind - ein Gedicht
von Petöfi, eine Lithographie von Daumier etc. wären auch rein künstlerisch
nicht, was sie sind, wenn ihre tiefsten Intentionen, ihr Aufbau, ihre Form¬
gebung und Technik nicht auf eine derartige Wirkung angelegt wäre —,
zeigt sich, daß die völlige Konsequenzenlosigkeit der ästhetischen Wirkung
das Leben eine abstrakte Konstruktion ist, keine auch nur teilweise rich-
tige gedankliche Reproduktion des wirklichen Tatbestandes.
Die angeführten Beispiele sind natürlich Grenzfälle. Niemand wird behaup¬
ten, daß aus dem ästhetischen Wesen eines Freskos von Raffael, der Liebes¬
gedichte von Goethe, eines concerto grosso von Vivaldi unmittelbar konkrete
praktische Handlungen in den sie Rezipierenden folgen könnten. Die Grenz¬
fälle verlieren jedoch - wenigstens bis zu einem bestimmten Grade - ihre
zugespitzte Gegensätzlichkeit, wenn man an ihre Dauerwirkungen denkt.
Petöfis Gedichte oder Daumiers Lithographien haben über ein Jahrhundert
hindurch ihre frische Schlagkraft bewahrt, ohne allerdings ihre erste unmit¬
telbar-praktische explosive Wirksamkeit unverändert zu reproduzieren. Denn
diese war an einen bestimmten historischen Augenblick, an die konkrete Ein¬
maligkeit seiner Probleme, an die konkrete Einzigartigkeit der aus diesen
aufsteigenden konkreten Aktionen gebunden. Insofern bringt - wie immer
m der Kunst - die Dauerwirkung mit sich, daß der künstlerische Gehalt sich
als Moment in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit, als Moment der
Entfaltung ihres Selbstbewußtseins einfügt. Das bedeutet jedoch niemals eine
Nivellierung, ein Projizieren aller Kunstwerke auf dieselbe Ebene: Daumier
nimmt in diese historische »Ewigkeit« die aufreizende Aggressivität seiner
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 837

zu laten aufrufenden Satire ebenso mit wie Raffael die wohlgerundete Ruhe
und Feierlichkeit seiner Fresken. So betrachtet — und wir glauben: so muß
ästhetisch betrachtet werden — verlieren die Grenzfälle vieles von ihrer Ex¬
tremität, fügen sich reibungslos in den unendlich vielstimmigen Chor der
Kunstwerke ein und unterstreichen gerade durch das Aufbewahren ihres ur¬
sprünglichen Charakters den prinzipiellen Pluralismus der ästhetischen
Sphäre. Ist damit die innerliche Einheitlichkeit auch zwischen den äußersten
Polen hergestellt, so ist trotzdem ein weiterer Schritt in der Richtung des
Konkretisierens vonnöten, um den Gehalt der Gemeinsamkeit näher zu be¬
stimmen. Auch hier können und müssen wir auf die früher vollzogene Fest¬
stellung zurückgreifen: wir haben die Kunst als Selbstbewußtsein der Mensch¬
heitsentwicklung aufgefaßt und als den allgemeinsten Begriff ihres Gehalts
das Menschheitliche bezeichnet, das jedem Werk in unmittelbarer Immanenz
innewohnt, unmittelbar als Abbild seiner Gegenwart oder als der von ihr
aus gesehenen Vergangenheit.
Wenn wir nun diese Immanenz auf ihre spezifisch ästhetische Eigenart hin
ins Auge fassen, so zeigt sich, wie schon in vielen Fällen, daß die ästhetische
Widerspiegelung stets eine Wahrheit des Lebens ausdrückt, daß ihr besonde¬
res Wesen darin besteht, diese Wahrheit und ihre gegenständliche Struktur
auf den Menschen zu beziehen, d. h. das, was in ihr an sich vorhanden und
für die Menschheitentwicklung wichtig ist, so zu ordnen, daß dieses Moment
zum herrschenden werde, sowohl bezüglich des Gehalts, der das im Leben
Zerstreute konzentriert, der das in den Einzelheiten des Lebens ungeordnet
erscheinende Spiel von Zufall und Notwendigkeit, von Faktizität und Bedeut¬
samkeit zu einer konkret widersprüchlichen - eventuell tragischen - Har¬
monie zusammenfaßt, wie bezüglich der Form, die zum leitenden Prinzip
je eines solchen konkret-totalen und einzigartigen Mikrokosmos erwächst.
Audi im Leben bilden jene Wesensschichten, die die wissenschaftliche Er¬
kenntnis nur darum begrifflich übereinander oder hintereinander gruppieren
kann, weil sie in den unmittelbaren Erscheinungen selbst objektiv in eine
verborgene, nur unter bestimmten Umständen sich offenbarende Hierarchie
zusammengefügt sind, eine unmittelbar untrennbare Einheit. Die ästhe¬
tische Widerspiegelung macht sowohl diese Einheit der Einheit und der Ver¬
schiedenheit, wie ihre Unmittelbarkeit zu ihrem leitenden Prinzip. Ihre Un¬
mittelbarkeit ist jedoch, wie hier wiederholt dargestellt, eine neugeschaffene,
eine zweite Unmittelbarkeit, in der das Inerscheinungtreten der hierarchi¬
schen Wesensschichten, das Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit mehr
oder weniger - je nach den Gesetzen der Genres, ja nach den Künstlerper-
838 Allgemeine Züge der Subjekt-Objckt-Beziehung in der Ästhetik

sönlichkeiten - so zum Vorschein kommt wie im Leben; dessen Unmittel¬


barkeit also auf dieser höheren Stufe der bewußten Organisiertheit aufbe¬
wahrt, jedoch eben in dieser und durch diese Organisiertheit eine leitende
Funktion der rezeptiven Erlebnisse ausübt, durch welche auch das Tiefste und
Verborgenste des Lebensgehalts sinnfällig an die Oberfläche tritt.
Erst von solchen Einsichten aus kann der Prozeß der rezeptiven Erleb¬
nisse in seiner dynamischen Einheit und Ganzheit begriffen werden. Wir
haben bereits darüber gesprochen, daß das homogene Medium - eben dank
der Wucht seiner Homogeneität - in die Erlebniswelt des ganzen Menschen
embricht, ihn in einem gewissen Sinn zur Aufnahme der im Werk gestalte¬
ten »Welt« zwingt und gerade durch diesen Zwang, uno actu mit ihm, den
ganzen Menschen des Alltags in den Menschen ganz der Rezeptivität — ge¬
richtet auf die jeweilige Besonderheit des jeweiligen besonderen Werks -
verwandelt. Was oben als innere, immanente Struktur des Werks erschien,
tritt jetzt als eine Änderung, als eine Erweiterung und Vertiefung der Er¬
lebnisse des Rezeptiven und in ihrer Folge seiner Erlebnisfähigkeit hervor.
Die Katharsis, die das Werk in ihm zustande bringt, beschränkt sich also
nicht darauf, neue Tatsachen des Lebens oder bekannte und bis dahin unbe¬
wußte in völlig neuem Licht aufzuzeigen, sondern die qualitative Neuheit
der so entstandenen Sicht ändert die Wahrnehmung und Kapazität, macht sie
zur Apperzeption neuer Dinge, gewohnter Objekte in neuer Beleuchtung,
neuer Zusammenhänge, neuer Beziehungen dieser auf ihn selbst fähig. Dabei
bleiben, wie bereits ebenfalls festgestellt wurde, seine früheren Entschlüsse,
Zielsetzungen etc. - dem Prinzip nach - unverändert, sie werden nur für
die Dauer der Wirkung des Werks suspendiert. (Daß dieses Vorher nicht ohne
Einfluß auf die Rezeptivität ist, haben wir bereits berührt; ein Gegensatz
zwischen den früheren Erfahrungen und dem Weltbild des Werks, einer
zwischen dessen innerer Richtung und den früheren Zielsetzungen kann oft
die Wirkung überhaupt unterbinden; es muß aber nochmals betont werden
daß es sich um ein Kann, nicht um ein Muß handelt; es gibt nicht selten Fälle’
in denen ein solcher Widerstand von der Wucht des homogenen Mediums
niedergerannt wird. Es kann sogar Vorkommen, daß gerade dieser Kontrast
zwischen Vorher und Werkwelt eine besonders tiefe Erschütterung verursacht.)
Es fragt sich nun, wie das Verhältnis zwischen Vorher und Nachher der
Wirkung beschaffen ist. Ganz allgemein gesprochen, kehrt der Mensch nach
dem Werkerlebnis mit unveränderten konkreten Zielsetzungen ins Leben
zuruck. Die besondere Art ihrer Suspension bei der Verwandlung des ganzen
Menschen des Alltags in den Menschen ganz einer spezifischen Rezeptivität
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 83 9

bezieht sich ja nicht direkt auf jene Bestrebungen. Freilich ist diese Bezie-
hungslosigkeit eine bloß unmittelbare. Da die »Welt« der Kunstwerke eine
Widerspiegelung der Wirklichkeit ist, ist es unvermeidlich, daß zwischen bei¬
den Welten unzählige Fäden der subjektiven und objektiven Analogien,
Entsprechungen etc. hin und her laufen. Das Kunstwerk ist ja nicht bloß an
und für sich eine eigene »Welt«, sondern höchst konkret eine soldie, welche
gerade in ihrer Eigenheit und Abgeschlossenheit auf den Rezeptiven als eine
auf ihn bezogene, in bestimmtem Sinne als seine eigene wirkt. Dieses rezep¬
tive Erkennen seiner selbst und seiner eigenen Welt im Kunstwerk kann unter
Umständen ein unmittelbares sein, ist jedoch der Regel nach ein mehr oder
weniger weit vermitteltes. Je tiefer und universeller das Werk ist, desto
reicher sind diese Verbindungslinien, freilich zugleich auch desto weiter und
komplizierter vermittelt. Bei Werken, die aus der Vergangenheit stammen,
werden diese Vermittlungen einerseits noch verwickelter, da das unmittel¬
bare Erlebnis einer endgültig versunkenen Welt, gesehen von einer ebenfalls
endgültig verschwundenen Warte, als Erlebnispostulat dem Rezeptiven ent¬
gegentritt; andererseits - freilich nur in den bedeutendsten Fällen - offen¬
bart sich der menschheitliche Kern insofern noch reiner, als die konkreten
gesellschaftlichen Bestimmungen durch die dazwischenliegende historische
Entwicklung notwendig verblassen, von ihrer unmittelbaren Konkretheit,
mit der sie auf ihre Zeitgenossen gewirkt haben, viel einbüßen müssen. Man
denke an die Wirkung Homers, der Sophokleischen Antigone, etc. auf uns.
Die zuletzt angedeutete Verschiebung berührt eines der wichtigsten Probleme
für das Verständnis des Nachher. Wir erinnern dabei an unsere Behandlung
der Kategorie der Inhärenz. Die wissenschaftliche Widerspiegelung und ihre
begriffliche Analyse kann und muß in jedem Menschen verschiedene »Schich¬
ten« unterscheiden: die seiner angeborenen und vom Leben gemodelten Per¬
sönlichkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder Gruppe
seiner Gesellschaft, seiner Bestimmtheit durch relativ dauernde oder vorüber¬
gehende Zeittendenzen etc. (Dasselbe bezieht sich, mit den notwendigen Mo¬
difikationen, auch auf die Gegenstandswelt, die die gesellschaftlichen Bezie¬
hungen der Menschen vermittelt.) Einer solchen Analyse liegen objektiv rich¬
tige Tatbestände zugrunde. Sie ist für die Wissenschaft unerläßlich, da diese
»Schichten« im Leben eine unmittelbar unzertrennliche Einheit bilden, aus
welcher bei verschiedenen Gelegenheiten verschiedene Komponenten, einzeln
oder vereint, manchmal unerwartet plötzlich sich Geltung verschaffen. Die
zweite Unmittelbarkeit der ästhetischen Widerspiegelung macht aus dieser
scheinbar ungeordneten Fülle und ebenso scheinbar mechanisch-gewaltsam
840 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

zusammengefügten Einheit das, was sie an sich ist, was im Leben selbst sich
meistens nur tendenziell verwirklicht: einen organischen Mikrokosmos, bei
welchem die eigenen inneren Bewegungsgesetze und die der gesellschaft¬
lichen Umwelt, die jene leiten und modeln, vernünftig konvergieren, wenn
diese Vernunft auch eine sich in Widersprüchen bewegende, die Möglichkeit
einer Steigerung zur tragischen Gegensätzlichkeit in sich begreifende ist.
Durch eine solche gediegen sinnfällige Vernünftigkeit, durch dieses Gesetzt¬
sein als Mikrokosmos, das im ähnlich vernunftvollen Zusammen mit ebenso
gearteten Monaden den Mikrokosmos des Werks bildet, durch ein solches Ab¬
bild der Wirklichkeit sub specie Komplettheit und Ganzheit, entsteht im Re¬
zeptiven die Katharsis, deren Erschütterung ihn hellhörig und hellsichtig in
bezug auf jene »Welt« macht, deren Eintritt in seine Seele das homogene
Medium erzwingt und in ihr festhält. In alledem ist notwendigerweise eine
Erfahrung über die Umwelt des Menschen und vor allem eine über ihn selbst
enthalten; eine wichtige, aber eine eigenartige. Denn der Rezeptive ist
stumpfsinnig, wenn alle diese Erfahrungen im ästhetischen Erlebnis stecken¬
bleiben, und überhaupt nicht auf sein Nachher umwandelnd ausstrahlen; er
ist aber ein Doktrinär oder ein Pedant, wenn er solche Erfahrungen immer
unmittelbar auf das Leben anzuwenden versucht. Die Mitte zwischen solchen
Extiemen ist keineswegs ein »goldener Mittelweg«, ein Abstumpfen der Ex¬
treme, sondern ein neu eröffneter Zugang zur Wirklichkeit; zur Wesentlich¬
keit des in ihm erscheinenden Daseins, der erscheinenden Sinnfälligkeit ihres
Keines, ein synthetisches Zusammensehen zur Einheit, das scharfäugiger zer¬
legt und kühner zusammenfaßt, als es für den Menschen des Alltags mög¬
lich ist.

Die Einheit einer solchen wohlgegliederten, homogen gemachten Mannigfal¬


tigkeit ermöglicht, daß jedes echte Kunstwerk von den verschiedensten Seiten
zugänglich ist. Das naive und genuine ästhetische Erlebnis ist ein inhaltliches.
Die Allmacht der Formen äußert sich gerade darin, daß sie in der katharti-
schen Erschütterung des Rezeptiven als solche völlig zu verschwinden schei¬
nen, obwohl ihre Allmacht sich gerade darin geoffenbart hat, daß sie eine
solche unendlich vielfältige und doch homogen einheitliche, eine zum völligen
Eigenleben objektivierte und doch im Ganzen und in den Teilen auf das
aufnehmende Subjekt bezogene »Welt« entstehen ließen, die als »Welt«,
also als Gehalt wirken konnte. (Der Zugang von der Form her zum Inhalt
ist ein komplizierterer Typus der Rezeptivität, den wir erst im zweiten Teil
werden behandeln können.) Die vorangegangenen Betrachtungen haben je¬
doch gezeigt, daß der gestaltete Gehalt des vollendeten, wirklich geformten
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 841

Kunstwerks außerordentlich vielschichtig und darum von den verschiedensten


Seiten zugänglich ist. Es hängt weitgehend vom Vorher des Rezeptiven ab,
welche »Schicht« des Werks auf ihn die direkteste Wirkung ausüben wird;
es hängt wiederum von der Universalität und Intensität der Gestaltung ab,
wieviel andere »Sdiichten« in diesem unmittelbaren Eindruck - möglicher¬
weise unbewußt bleibend - mitschwingen.
Die Schwädre der publizistischen oder rhetorisdien Gestaltungsweise - auch
wenn sie von wirklichen Künstlern stammt - liegt gerade in der von diesem
Verhalten notwendig bedingten Eingleisigkeit. Es genügt, wenn man, jetzt
nur vom Standpunkt dieser geradlinigen oder vielfältigen Zugänglichkeit,
etwa Schiller mit Shakespeare, einen Upton Sinclair mit Gorki vergleicht,
um diesen Unterschied klar vor Augen zu haben. Natürlich darf man auch
solche Kontrastbeispiele nicht einfach identifizieren. Schiller ist bei allen sei¬
nen rhetorischen Neigungen ein großer Dichter, den man zwar mit Shake¬
speare verglichen als eingleisig und vereinfachend empfinden kann, dessen
Werke aber auf ihren Höhepunkten dennoch zu echt künstlerischer Viel¬
fältigkeit und intensiver Unendlichkeit neigen (je nach Drama, zuweilen je
nach Szene mit verschiedenem Gelingen). Der Typus Upton Sinclair dagegen
ist wirklich einschichtig. Er hat ein bestimmtes Problem, das - vom Stand¬
punkt der gesellschaftlichen Praxis aus gesehen — eine mehr oder weniger
aktuelle Bedeutung haben kann; er beschränkt sich jedoch darauf, Menschen,
Situationen, Begebenheiten etc. ausschließlich auf diese hin zuzuschneiden.
Gestaltung bedeutet hier, alles, was sich in bezug auf diesen Komplex direkt
ergibt, in möglichst wirksamer Weise zu gruppieren, um den Leser zu einem
Pro dem Bejahenswerten und zu einem Kontra dem der Verneinung Würdi¬
gen gegenüber zu veranlassen. Gestalten, Situationen etc. enthalten gerade
so viel Individualität, daß sie überhaupt erkennbar werden und diesen In¬
halt tragen können. Die menschheitlichen Beziehungen fehlen, wenigstens in
dichterischer Hinsicht, völlig; sie werden gegebenenfalls, um die Bedeutung
des Falles zu heben, begrifflich ausgesprochen. Damit entsteht ein Gebilde,
dessen Zweck die Anleitung zu einer konkret-aktuellen gesellschaftlichen Stel¬
lungnahme ist, das weder in die Tiefe des persönlichen Lebens hinuntergräbt,
um das Problem daraus herauswachsen zu lassen, noch die aktuelle Stellung¬
nahme mit den großen menschheitlichen Fragen der Gattungsentwicklung
dichterisch verknüpft. Diese Richtung mag sich mit voller Bewußtheit als das
»Neue« proklamieren, wie oft im Naturalismus oder in der »neuen Sach¬
lichkeit«. Mögen ihre Vertreter die Ansicht verkünden, daß die Gestalten
»neben« ihren gesellschaftlichen Funktionen »auch« individuelle Züge, Schick-
842 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

sale etc. haben sollen, die ganze Einstellung beinhaltet aber objektiv einen
Verzicht auf die spezifische Universalität und intensive Unendlichkeit der
ästhetischen Widerspiegelung; positiv gewendet: ihre restlose Einfügung in
das System der Alltagspraxis mit deren unmittelbar aktuellen Zielsetzungen.
Einflußreiche künstlerische Stellungnahmen unserer Zeit haben diese Tendenz
zu begründen, ihr ein ästhetisches Fundament zu geben versucht. So der be¬
rühmte und zum Dogma erhobene Ausspruch Stalins, daß die Schriftsteller
»Ingenieure der Seele« sein sollen. Nun ist das Ingenieurtum gerade jenes
Produkt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in welchem die spezifische
Suspension der aktuellen Zielsetzung des Alltags sich am prägnantesten ver¬
körpert: alle Ergebnisse der Wissenschaft und der Arbeitserfahrung werden
bewußt darauf konzentriert, für eine gegebene konkret-praktische Aufgabe
die technisch und ökonomisch optimale Lösung zu finden. Indem daraus ein
Ideal für die Einstellung des Künstlers zu seinem Werk und dessen Wirksam¬
keit gemacht wird, entsteht als Zielsetzung für das Werk: ausschließlich einer
bestimmten, aktuellen Aufgabe des Lebens zu dienen; die Macht der Kunst
auf die Seelen der Menschen beschränkt sich ebenfalls auf diese unmittelbare
Aktualität. So wie der Ingenieur eine Maschine erfindet oder durchführen
läßt, damit bestimmte Verrichtungen besser, praktischer, kraftsparender etc.
funktionieren können, so soll die Kunst die Seelen der Menschen für be¬
stimmte aktuelle und praktische Zielsetzungen der Gesellschaft in optimaler
Weise »umfunktionieren«. Ohne Frage engt diese Formulierung den Wir¬
kungskreis der Kunst außerordentlich ein, nimmt ihm seine Unbegrenztheit,
seine Universalität; ja sie enthält - bewußt oder unbewußt, gewollt oder
ungewollt - die Tendenz, aus der Kunst eine bloße Dienerin aktuell-prak¬
tischer Aufgaben zu machen und dadurch diese vorbehaltlos und restlos in
das System der sozialen Tagespraxis einzufügen, ohne sich um deren Beson¬
derheit viel zu kümmern.

Natürlich ist in unserer Gegenformulierung eine gewisse Zuspitzung enthal¬


ten: Stalin will ja aus dem Künstler nicht einen Ingenieur überhaupt, son¬
dern einen der menschlichen Seele machen. Und in der Interpretation seines
Ausspruchs war häufig auch ein Bestreben lebendig, das von ihm Gemeinte so
aufzufassen, daß dadurch das Wesen der Kunst doch nicht allzusehr einge¬
engt werde. An sich ist in solchen Gedankengängen der richtige Impuls ent¬
halten, daß in der sozialistischen Gesellschaft die Fähigkeit steckt, das be¬
wußt gesellschaftliche Element der Kunst, das z. B. die antike Kunst in ihrer
Weise besaß, das in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft fast verloren¬
gegangen ist, wieder in seine Rechte einzusetzen; dies jedoch auf höherem
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 843

Niveau, da die Gesellschaft im Sozialismus alle Menschen erfaßt, nicht bloß


eine relativ dünne Schicht der freien Bürger. Die Weltanschauung des dialek¬
tischen Materialismus bietet die Möglidrkeit, diese Verbindung von Gesell¬
schaft und Kunst auf der Grundlage eines richtigen und nicht mehr — wie noch
in der Antike und in Klassengesellschaften überhaupt — auf der eines fal¬
schen Bewußtseins zu verwirklichen. Aber gerade weil die objektiven so¬
zialen Bedingungen so günstig stehen, müssen die Wege, die von der Mög¬
lichkeit zur Verwirklichung führen, um so genauer untersucht werden, damit
die neuen Momente fördernd und nicht hemmend auf die gesellschaftlichen
Beziehungen der Kunst und dadurch vermittelt auf diese selbst einwirken.
Die Theorie vom Künstler als »Ingenieur der Seele« enthält in sich theoretisch
diese Gefahr, und ihre Umsetzung in die Praxis hat auch vielfach solche Folgen
gezeigt. Die offenkundige Beziehung der Gesellschaftlichkeit der Kunst und
die Möglichkeit eines richtigen Bewußtseins darüber, beinhaltet naturgemäß
noch keinen Zwang zur unzulässigen Vereinfachung der Eigenart der ästhe¬
tischen Widerspiegelung. Erst der Stalinschen Formulierung wohnt die Ten¬
denz inne, die Struktur der Praxis im Alltagsleben und die ihr zugrunde
liegende Widerspiegelungsart ohne Vorbehalt direkt auf die Kunst anzu¬
wenden.
Dabei geht vor allem die Universalität, die Vielschichtigkeit der Werke ver¬
loren, sie wird zumindest aufs Ernsthafteste gefährdet, sogar beschädigt.
Die bürgerliche Kritik der Theorie und Praxis Stalins leidet darunter, daß
sie seiner verengenden Konzeption eine ähnlich geartete gegenüberstellt, bald
eine avantgardistische, bald eine akademische: man will die künstlerische
Darstellung entweder auf das bloß partikular Individuelle oder auf ein ab¬
straktes »allgemein Menschliches« beschränken, während bei Stalin das
aktuell Gesellschaftliche zu einer die Kunst einschnürenden Alleinherrschaft
erhoben wird. Nun ist es Tatsache - und dies sei gegen die bürgerlichen
Kritiker Stalins gesagt daß es noch nie eine echte Kunst gab, die nicht
von den großen, letzten Endes immer gesellschaftlichen Problemen der
Epoche ihren Ausgangspunkt genommen, in der nicht die Stellungnahme zu
diesen Problemen das Pathos der Darstellung entzündet hätte. Shakespeares
Dramen, die holländischen Landschaften oder Stilleben, die Symphonien
Beethovens stehen in dieser Hinsicht auf der gleichen Ebene. Es fragt sich
aber stets, wieweit das Kunstwerk in seiner Intention auf Universalität
einerseits sich in die Tiefen der Individualität einsenkt, indem es sich aus
den Eigenheiten, Geschicken etc. des Individuellen zum gesellschaftlichen
Allgemeinen organisch emporentwickelt, als dessen innerlich notwendiges
844 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziebung in der Ästhetik

Ergebnis erscheint und nicht, wie z. B. bei kompromißhaften Anhängern der


Stalinschen Theorie, zu einer solchen gesellschaftlichen Allgemeinheit indivi¬
duelle »Belege«, Beispiele, Illustrationsmaterial etc. sucht. Andererseits ist an
sich jeder gesellschaftliche Konflikt - oft freilich in einer weit und ver¬
wickelt vermittelten Weise - mit den großen Fragen der Gattungsentwick¬
lung der Menschheit verbunden, und diese Verbindung kann ebenfalls als
»unbestimmte Gegenständlichkeit« der Gestaltung innewohnen, kann ihr
völlig fehlen oder kann ihr bloß begrifflich angehängt werden. Die wirkliche
Universalität der Kunst kann nur in einer organisch gewachsenen Einheit
dieser Mannigfaltigkeit, in einer solchen »Vielschichtigkeit« verwirklicht
werden. Der gesellschaftliche Ausgangspunkt bewahrt dabei die zentrale Be¬
deutung dieser »Schicht« im Aufbau und in der Wirkung des Werks, wozu
es freilich keineswegs notwendig ist, sie mit extremer Ausschließlichkeit
direkt in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Bestimmungen können ihre über¬
wältigende Zentralrolle durchaus behaupten, auch wenn sie nicht in allen
Details vorherrschend sind, auch wenn sie auf indirekten Wegen ihre Gel¬
tung erlangen. Schiller hat eine derartige ästhetische Wesensart bei Shake¬
speares »Richard III.« aufgezeigt1, wozu noch zu bemerken wäre, daß
die späten Dramen wie »Hamlet« oder »Lear« in weitaus indirekterer Weise,
aber noch überwältigender diesen Konflikt, die Selbstzerfleischung und Auf¬
lösung des Feudalismus als Totalität aussprechen. In jeder Tendenz, die diese
Universalität auflöst, die irgendeine »Schicht« — sei sie die isolierte Partiku-
larität des Individuellen, sei sie die künstlerisch abstrakte, praktische Aus¬
schließlichkeit des Gesellschaftlichen — zur alleinigen Substanz des Werks
macht, kommt eine Nuance des heute herrschenden Fetischismus zum Aus¬
druck, das Zerreißen dessen, was in der Wirklichkeit einheitlich ist, die Ein¬
heit konkreter Widersprüche, dessen, was als Einheit über das alltäglich
Wirkliche hinaus im Selbstbewußtsein der Menschen durchzusetzen eben die
Mission der Kunst ist.
Erst von dieser Universalität des Werks aus kann das Nachher der Wir¬
kung auf den Rezeptiven konkreter als bis jetzt erfaßt werden. Wir haben
festgestellt, daß die vom Werk ausgelöste kathartische Wirkung gerade die
Folge einer solchen vollendet gestalteten Universalität, einer solchen intensi¬
ven Totalität ist. Das Werk bringt eine »Welt« hervor, die nicht nur je nach
Werkindividualität eine prinzipiell besondere ist, sondern von der Gesetz-

1 Schiller an Goethe, 28. XI. t-797-


Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 845

lichkeit jeder Kunst oder Kunstart aus prinzipiell und qualitativ verschiedene
Seiten der wirklichen Welt ästhetisch abbildet, so daß die menschliche All¬
seitigkeit in der von der Kunst dargebotenen Weise nur in der Totalität aller
Künste und Werkindividualitäten zu verwirklichen ist. (Von hier aus
gesehen, ergibt die pseudoästhetische Auslegung der Staiinsdien Theorie,
daß von jedem — prinzipiell verengten — Einzelkunstwerk in abstrakter
Weise das gefordert wird, was konkret nur die Totalität der Kunst zu lei¬
sten imstande ist, also eine weitere Verengung des ästhetischen Wesens der
einzelnen Werke.) In diesem Sinne ist, wie bereits gezeigt, die Allseitigkeit
für den einzelnen Menschen nur ein Ideal, das nur eine Annäherung, nicht
aber eine vollendete Erfüllung gestattet. Darin kommt die eine Seite der
pluralistischen Struktur der ästhetischen Sphäre zur Geltung. Ihre andere
Seite, die ebenfalls aus diesem Pluralismus folgt: daß die Künste und
Werkindividualitäten im Annäherungsprozeß an das Ideal der menschlichen
Allseitigkeit sich nicht addieren, sich nicht im unmittelbar-wörtlichen Sinn
ergänzen, sondern jede eine in sich abgeschlossene »Welt«, eine in sich voll¬
endete intensive Totalität ist, die als solche nicht aufgehoben werden kann.
Der Annäherungsprozeß spielt sich - prinzipiell - so ab, daß die ästhe¬
tische Erschütterung im Nachher des jeweiligen rezeptiven Erlebnisses zum
Besitz des so wiederhergestellten ganzen Menschen des Lebens wird, dessen
Seele bereichert, erweitert und vertieft und mit allen diesen umwandelnden
Wirkungen zum festen Bestandteil des Lebens und damit des Vorher für die
folgenden Kunsterlebnisse wird.
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses läßt sich also - vereinfacht - so
beschreiben: der Einbruch des homogenen Mediums der Werkindividualität
in die Erlebnisse des ganzen Menschen macht ihn erst zum eigentlichen Re¬
zeptiven, richtet seine konzentrierte Aufnahmefähigkeit auf das ihm jeweils
Dargebotene; so wird er zum Menschen ganz der Rezeptivität. Die evoka-
tive Macht der Formen, vermittelt durch das homogene Medium, hält diesen
im Zauber der neuen »Welt« fest, prägt ihm ihr Wesen als eine neue und
eigene Inhaltlichkeit ein. Das Nachher besteht nun darin, wie der ganze
Mensch, nunmehr befreit von dieser Suggestion, das so Erworbene verarbei¬
tet. Dieses ist unmittelbar Inhalt und stellt dem Menschen deshalb die Auf¬
gabe, diesen Inhalt in sein bisheriges Weltbild einzufügen oder dieses, an ihn
angepaßt, entsprechend zu verändern. Es handelt sich aber nur im unmittel¬
baren Sinn einfach um Inhalt; da dieser an sich die dem Rezeptiven zuge¬
kehrte Seite einer Form-Inhalt-Identität bildet, kommt deren Formkompo¬
nente nicht bloß in ihrer Hochspannung und Intensität zur Geltung, was
846 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

uns bereits bekannt ist, sondern ihre Neuheit wirkt auch formal, insofern
jeder Inhalt dem Rezeptiven etwas von der Methode seiner Wahrnehmbar¬
keit, vom Zugang zu ihm selbst mitteilt; insofern ist das Gewahrwerden der
neuen Inhalte zugleich eine Anleitung dazu, das ihnen Analoge auch im
Leben zu erkennen und sich anzueignen. Auf solchen Wegen geschieht die
Überleitung des rezeptiven Menschen ganz in den ganzen Menschen des Alltags.
Natürlich sind diese Erschütterungen und Übergänge bei den verschiedenen
Menschen gegenüber den verschiedenen Kunstwerken an Inhalt, Umfang,
Tiefe, Dauer etc. außerordentlich verschieden. Der Pluralismus der ästheti¬
schen Sphäre wirkt sich ja gerade in einer so entstehenden Vielfältigkeit aus.
Oft bleibt die Wirkung eines Werks auf das Nachher des Menschen so gut
wie völlig unmerklich und erst eine ganze Fülle ähnlicher Eingriffe zeigt
einen sichtbaren Wandel bezüglich Verhalten, Kultur etc.; oft freilich kann
eine einzige Werkindividualität eine völlige Umkehr im Leben eines Men¬
schen bedeuten.
Jedoch in all dieser schrankenlosen Variabilität der Beziehung des ästheti¬
schen Etlebmsses zu seinem Nachher gibt es doch etwas Gemeinsames: näm¬
lich, daß dem Wesen nach nicht die unmittelbar praktischen Zielsetzungen
des Menschen, die während des ästhetischen Erlebnisses suspendiert waren,
sich primär verändern; die Änderung — sichtbar oder völlig unterirdisch,
bewußt werdend oder unbewußt bleibend - betrifft vor allem den ganzen
Menschen, sein Verhältnis und Verhalten zur Welt, zum Leben, zur Gesell¬
schaft, und erst wenn diese Wirkung genügend erstarkt ist, erfolgen daraus
veränderte konkrete Zielsetzungen, die zwar auch im unmittelbar inhalt¬
lichen Sinn vermittelte, mitverursachte Folgen eines bestimmten Werkerleb¬
nisses sein können, es jedoch keineswegs unbedingt direkt sein müssen. So¬
gar wenn der Einfluß eines Werks lange Zeit vorwiegend politisch-publi¬
zistisch war, wie im bereits hervorgehobenen Beispiel der Tschernischewski-
schen Romane, besteht ihre Wirkung nicht so sehr in einer einfachen Ver¬
standes-, gefühls- und handlungsmäßigen Reproduktion des Werkgehalts,
sondern in der vermittelteren Nachwirkung typischer, menschlicher Verhal¬
tensweisen und in der Weiterführung dieser Tendenzen zur Ausbildung eines
Menschentypus, dessen vorläuferhafte, eventuell beispielgebende Veranlas¬
sung zwar diese Romane waren, der aber seinem wesentlichen Gehalt nach
10 den konkreten Kämpfen der Zeit wurzelt, in welche die betreffenden
Menschen als ganze Menschen des Lebens konkret verwickelt sind. Die von
uns untersuchten Grenzfälle (Petöfi, etc.) widersprechen keineswegs einer sol¬
chen Auffassung. Nicht nur, weil, wie bereits gezeigt, eine genaue Analyse
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 847

ihre gemeinsamen Züge mit den anderen ästhetisdien Erlebnissen auf weist;
nicht nur wegen der Gesetze der Dauerwirkung, denen zufolge der das Pa¬
thos eines solchen Werks auslösende Anlaß im Laufe der Geschidite an ur¬
sprünglicher, aktueller Stärke verblassen und einer allgemeineren, dem all¬
gemeinen Kunsteindruck angenäherteren Evokation weidten muß, sondern
vor allem deshalb, weil bei echten Kunstwerken auch der originale Appell
vorwiegend auf die Veränderung des generellen Verhaltens der Menschen
gerichtet ist. Die Spezialität solcher Werke besteht darin, daß in akut zuge¬
spitzten Krisenmomenten der Wandel im gesellschaftlich-menschlichen Ver¬
halten und der Versuch, bestimmte konkrete Ziele zu verwirklichen, stärker
konvergieren, als im »normalen« Gesdrichtsablauf, ja sie können sogar unter
Umständen direkt zusammenfallen.
All dies hebt den gemeinsamen Zug aller echten Kunstwerke im Nadrher der
ästhetischen Wirkung klar hervor: der verändernde Einfluß ist überwiegend
auf das allgemeine Verhalten des ganzen Menschen im Leben gerichtet. Sämt¬
liche Eigenheiten des Werks, die durdr das homogene Medium auf den Men¬
schen ganz einwirken: Identität von Form und Inhalt, Einheit von Wesen und
Erscheinung, Universalität und intensive Unendlichkeit des Gehalts, Kunst
als Kritik des Lebens, Pluralismus der Künste und Werke, kathartische Wand¬
lung des ganzen Menschen aus dem Vorher in den Menschen ganz der Rezep-
tivität wirken sich in dieser Richtung aus, indem sie manchmal leise, kaum
merklich, manchmal das Wesentlichste sichtbar erschütternde Wirkungen auf
Zentrum und Peripherie des ganzen Menschen ausüben. Dieser Satz bedarf
insofern einer Korrektur, als die Alternative von Zentrum und Peripherie
sich hier auf einen unmittelbaren und darum bloß formalen Charakter
reduziert: Eindrücke, die nur peripherische Äußerungen des Lebens
zu treffen scheinen, können sich leicht zu allerwesentlichsten akkumulieren
und das ästhetisch in Bewegung gebrachte menschliche Zentrum verliert nie
seine innige Verbundenheit mit der Peripherie des Lebens. Gerade dadurch
richtet sich die den Menschen umwandelnde Macht des Ästhetischen immer
auf den ganzen Menschen, wobei der bereits betonte Vorbehalt bezüglich der
Pluralität der Künste und des Ideals des allseitigen Menschen in dieser Hin¬
sicht keine Einschränkung, sondern bloß eine nähere Konkretisierung be¬
deutet. Indem so das ständig auf die Peripherie ausstrahlende Wesenszentrum
des ganzen Menschen berührt wird und dadurch sein zugleich konkretes und
allgemeines Verhalten zum Leben als Ganzes in Bewegung gerät, entstehen
die beiden extremen - und in ihrer Extremheit gleicherweise falschen - An¬
schauungen, einmal daß die Kunst die entscheidende wandelschaffende Kraft
848 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

der gesellschaftlichen Entwicklung sei und zum anderen, sie habe gar keinen
wirklichen Einfluß auf die soziale Praxis der Menschen.
Die Wahrheit ist hier eine »Mitte« nur im Sinne eines tertium datur: ohne
Verwandlung des Verhaltens der Menschen zum Leben kann keine ernst¬
hafte Änderung der Gesellschaft, kein wirklicher sozialer Fortschritt ent¬
stehen. Dieser wird jedoch primär von der Änderung der Produktionsver¬
hältnisse, verursacht durch das Wachstum der Produktivkräfte bewerkstelligt.
Jedes Anderswerden der Produktionsverhältnisse schafft neue Lebensbedin¬
gungen für die Menschen, und zwar in ihrem gesamten Alltagsleben, auch in
jenen Beziehungen, die eventuell weit und kompliziert vermittelt mit der
eigentlichen Produktionssphäre Zusammenhängen. Wissenschaft und prak¬
tische Tätigkeit (hier vor allem die politische mitinbegriffen) können, durch
das richtige oder falsche Bewußtmachen des Neuen, den Prozeß der Anpas¬
sung und Gewöhnung an die neuen Lebensbedingungen beschleunigen oder
verlangsamen, können ihre Erzeugung sogar direkt oder indirekt herbei¬
führen helfen. Indem die Kunst an diesem Prozeß nur ausnahmsweise direkt
beteiligt ist, kann der heute in bürgerlichen Kreisen weit verbreitete An¬
schein ihrer sozialen Einflußlosigkeit entstehen. (Welche Tendenzen der
spätbürgerlichen Kunst diese falsche Beurteilung praktisch unterstützen, kann
hier nicht näher analysiert werden.) Die soziale Rolle der Kunst ist also
»bloß« - wie dies die Griechen richtig sahen - eine seelische Vorbereitung
für die neuen Formen des Lebens, mit der Nebenwirkung, daß in ihr alle
menschlichen Werte der Vergangenheit erlebbar aufgespeichert sind, daß sie
also die sich auf der historischen Bühne in ihrer menschlichen Totalität total
wandelnden Gestalten am deutlichsten zu zeigen imstande ist, und damit
aussagen kann: welche menschlichen Werte ausgebildet, welche aufbewahrt
und eventuell weitergefördert zu werden verdienen, und welchen mit Recht
ein Orkus des Vergessenwerdens zukommt.
Man kann bei dieser Feststellung den Ausdruck Totalität nicht genügend
eindringlich hervorheben. Denn jede reale historische Wandlung muß sich
in ihrer unmittelbaren Verwirklichung auf einen entscheidenden Punkt oder
höchstens auf einige Punkte des ökonomischen, sozialen, politischen Lebens
konzentrieren. (Gleichheit der Rechte in der bürgerlichen Revolution, Ver¬
staatlichung der Produktion in der sozialistischen.) Ähnlich ist die Lage bei
überwiegend ökonomischen Umwälzungen (industrielle Revolution). Objek¬
tiv erhalt damit allerdings das gesamte menschliche Leben stets eine neue
Physiognomie. Aber einerseits bedarf es Jahrzehnte, zuweilen Jahrhunderte,
bis das, was in solchen entscheidenden konzentrierten Akten objektiv impli-
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 849

eite enthalten war, auch subjektiv explicit zum seelischen Besitz aller Men¬
schen wird. Andererseits beschränkt sich natürlich der Umwälzung bringende
soziale Akt niemals auf eine derartige einfache Einmaligkeit. Hegel spricht
in der »Phänomenologie« mit Recht von dem abstrakten Charakter dessen,
was am Anfang bei jeder derartigen Wendung im Leben der Menschengat¬
tung auftritt. Das System der neuen menschlichen Beziehungen, das aus den
neuen Produktionsverhältnissen folgt, wird je nach den Umständen revolu¬
tionär oder evolutionär aufgebaut, bis es sich auf alle Verhältnisse des Le¬
bens erstreckt. Im Überzeugen der Menschen, daß all dies dem Portschritt
dient, spielen Wissenschaft, Publizistik etc. eine wichtige Rolle. Allein, es
gehört zum Wesen der Sache, daß die Menschen, die all dies praktisch durch¬
führen, als ganze Menschen betrachtet, in der Totalität ihres Gedanken¬
lebens, ihres Weltbilds, ihrer Wahrnehmungs- und Empfindungsweise etc.
noch lange nicht immer das wirklich Neue repräsentieren; sie verwirklichen
es, bleiben aber zugleich mit einem beträchtlichen Teil ihres Wesens in der
abgelebten Wirklichkeit verwurzelt. (Dieser Zustand ist von den früher er¬
wähnten, von der Pähigkeit aus der alten Kultur das Lebensfähige auszu¬
sondern und es für Gegenwart und Zukunft nutzbar zu machen, scharf zu
unterscheiden.)
Erst wenn wir, wenn auch in abstraktesten Zügen, uns einen solchen Umriß
der sozialen Aktivitäten vor Augen halten, wird der Spielraum für das
Nachher der ästhetischen Rezeptivität konkreter erfaßbar. Obwohl von den
objektiven und subjektiven Tendenzen der Zeit stets aufs stärkste beeinflußt,
kann die Kunst, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will, auf ihren univer¬
salistischen Humanismus, dem natürlich die schärfste klassenmäßige Entschei¬
dung zugrunde liegen kann, nicht verzichten. D. h. unbekümmert um Breite
und Tiefe dieser Einflüsse, im Gegenteil an sie anknüpfend, sie weiterfüh¬
rend, kritisierend etc., erweitert die Kunst den Kreis der Gedanken und Ge¬
fühle der Menschen, indem sie all das, was in einer historischen Lage objektiv
enthalten ist, auf die Oberfläche der Erlebbarkeit bringt. Ob das ein Liebes¬
gedicht oder ein Stilleben, eine Melodie oder eine Häuserfassade ist: es bringt
das auf den Menschen Bezogene der Geschichte zum Ausdruck; das was sonst
vielleicht stummes Geschehen, dumpf hingenommene Faktizität gewesen und
geblieben wäre, erhält dadurch seine deutlich vernehmbare vox humana:
spricht die Wahrheit des historischen Moments für das Leben der Menschen
aus. Ja darüber hinaus hat dieses Stimmewerden etwas noch direkter Vor¬
wärtstreibendes. Wir haben in anderen Zusammenhängen darüber gespro¬
chen, daß die Kunst imstande ist, auf gesellschaftlich-geschichtlich nur keim-
850 Allgemeine Züge der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Ästhetik

haft Vorhandenes produktiv zu reagieren, und da es zu ihrem ästhetischen


Wesen gehört, das von ihr Ergriffene der Formvollendung zuzuführen, kann
dieses bloß in statu nascendi Befindliche in der Gestaltung stärker, überzeu¬
gender wirken, als das von ihr widergespiegelte Lebensoriginal es zu tun ver¬
möchte. Es gibt hier ein unendlich weitverzweigtes kapillares System von
Beziehungen, die aus dem Leben in die Kunst und aus der Kunst ins Leben
führen; ein kapillares System, dessen Bedeutung für die Bewußtseinsentwick¬
lung der Menschen, der Klassen, der Nationen wir heute noch kaum in den
gröbsten Umrissen kennengelernt haben. Nur die dialektische Theorie der
ästhetischen Widerspiegelung vermag wenigstens die prinzipiellen Richtungen
anzudeuten, in denen diese komplizierten und vielfältigen Bewegungen sich
im Lebensprozeß der Menschengattung auswirken.
Es führt also ein langer und verschlungener Weg von den vorkünstlerischen
Erfahrungen des Schaffenden, von wo aus das Leben seine Fragen und For¬
derungen an die Kunst richtet, bis zu diesem Nachher der Rezeptivität, wo
das durch die ästhetische Widerspiegelung der Wirklichkeit, durch die künst¬
lerische Gestaltung Errungene wieder ins Leben der Menschen zurückströmt.
Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Widerspiegelung, in welcher die mög¬
lichst starke Annäherung an das Ansich das ausschließliche Kriterium für
Richtigkeit oder Falschheit bildet, muß in der ästhetischen dieser Kreislauf
vom Leben zum Leben mitberücksichtigt werden. Natürlich existiert ein sol¬
cher auch für die Wissenschaft: es ist z. B. allgemein bekannt, wie wichtig die
Bedürfnisse der Produktion für die Entwicklung der Naturwissenschaften ge¬
worden sind und noch mehr, welche große Rolle ihre Ergebnisse im Alltags¬
leben der Menschen spielen. Die hier entstehende Wanderung läßt jedoch
die Grundstruktur der Widerspiegelung unverändert: diese bleibt die Ver¬
wandlung des Ansich in ein Füruns, mögen auch auf dem Wege verschiedene
neue Gesichtspunkte, neue Kriterien auftauchen (Wirtschaftlichkeit in der
technischen Anwendung naturwissenschaftlicher Ergebnisse), mögen die
Wahrheiten im Alltagsgebrauch eine vielfach vereinfachte, im technischen Ver¬
fahren eine den konkreten Zielsetzungen angemessene Differenzierung er-
fahien, an der Grundstruktur kann und darf nicht gerüttelt werden.
Die ästhetische Widerspiegelung ist freilich ebenfalls ein Abbild derselben ob¬
jektiven Wirklichkeit, sie ist aber eine menschliche Wahrheit für die Men¬
schen und deshalb muß das Problem Ansich-Füruns eine neue Physiognomie
erhalten. Mit dem Wesen dieses ästhetisch gespiegelten und festgehaltenen
Ansich werden wir uns später in einem eigens ihm gewidmeten Kapitel be¬
schäftigen. liier kann und muß nur so viel bemerkt werden, daß der eben
Das Nachher des rezeptiven Erlebnisses 851

geschilderte Kreislauf seine Notwendigkeit aus der anthropozentrischen


Wesensart der ästhetischen Widerspiegelung schöpft. Das Leben der Men¬
schen als Ausgangs- und Endpunkt dieses Kreislaufs ist also im Wesen der
ästhetischen Verwandlung des Ansich in ein Füruns begründet. Die Objek¬
tivität des Ansich zeigt sich darin, daß nicht jedes Wegfallen oder jedes Ein¬
treten der Wirkung eines Werks unbedingt für oder gegen seinen Wert zeugen
muß. Aber erst mit ihrer praktischen Verwirklichung kann das, was am Ansich
ästhetisch ist, in seine Rechte treten. Denn die Kunst ist, wie bereits wieder¬
holt festgestellt, nicht einfach das Bewußtsein der Menschen über ein Etwas,
das an sich unabhängig davon existiert. Dieses Moment ist natürlich in der
ästhetischen Widerspiegelung ebenfalls enthalten. Es bleibt aber hier doch
nur ein Moment, und das spezifisdr Ästhetische an dieser Widerspiegelung
besteht darin: Selbstbewußtsein der Menschheit zu sein. Dieses bereitet sich
von den vorkünstlerischen Erlebnissen des Schaffenden bis zum Entstehen des
Werks vor, es vollendet sich in den gestalteten Werkindividualitäten, es ent¬
hält seine gesellschaftliche Erfüllung im ästhetischen Erlebnis der Rezeptivi-
tät und in seinem Nachher. Die Eroberung der objektiven Wirklichkeit,
die ebenfalls wiederholt als unerläßliches Fundament jeder Kunst dargelegt
wurde, die intensive Unendlichkeit des Gehalts, die Kritik des Lebens, die
Universalität des Ästhetischen, die sich im Pluralismus der Künste und Werke
offenbart: alle diese Momente sind Wege zu einem solchen Selbstbewußt¬
sein der Menschen. Die für den Menschen an sich stumme Welt, seine eigene
Stummheit ihr und sich selbst gegenüber löst sich erst in diesem Selbstbewußt¬
sein zu einer neuen Ausdrucksfähigkeit auf. Es umfaßt alles, was der Mensch
an Freuden und Leiden der Welt gegenüber erfahren und erleben kann und
erhält in den Werken jene Stimme, die diese spezifische Stummheit zur
Sprache des Selbstbewußtseins erhebt und gliedert. Goethe hat zwar direkt
nur über die Dichtung und nur über die Leiden der Menschen gesprochen,
aber diese Universalität aller Kunst bildet den Inhalt seines Mottos zur
»Marienbader Elegie«:

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,


Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.
Alle Rechte Vorbehalten (c) Hermann Luchterhand Verlag GmbH, Neuwied
am Rhein, Berlin Spandau 1963. Ausstattung von Christian Honig. Gesetzt
aus der Borgis Garamond. Gesamtherstellung: Druck- und Verlags-Gesell¬
schaft mbH Darmstadt. Printed in Germany, Juni 1963.
Date Due
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CAT. NO. 23 233 PRINTEO .


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TRENT UNIVERSITY

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Lukäcs, György
Ästhetik

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