0% fanden dieses Dokument nützlich (0 Abstimmungen)
2K Ansichten930 Seiten

Kosiek Rolf U Rose Olaf Der Grosse Wendig Richtigstellungen Zur Zeitgeschichte Band 3

Das Dokument ist eine Sammlung von 631 kurzen Artikeln, die verschiedene Aspekte der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts thematisieren. Die Artikel behandeln Ereignisse wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Weimarer Republik und das Dritte Reich. Sie stellen oft alternative Sichtweisen auf historische Ereignisse dar und ziehen etablierte Deutungen in Zweifel.

Hochgeladen von

grumma
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
0% fanden dieses Dokument nützlich (0 Abstimmungen)
2K Ansichten930 Seiten

Kosiek Rolf U Rose Olaf Der Grosse Wendig Richtigstellungen Zur Zeitgeschichte Band 3

Das Dokument ist eine Sammlung von 631 kurzen Artikeln, die verschiedene Aspekte der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts thematisieren. Die Artikel behandeln Ereignisse wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Weimarer Republik und das Dritte Reich. Sie stellen oft alternative Sichtweisen auf historische Ereignisse dar und ziehen etablierte Deutungen in Zweifel.

Hochgeladen von

grumma
Copyright
© © All Rights Reserved
Wir nehmen die Rechte an Inhalten ernst. Wenn Sie vermuten, dass dies Ihr Inhalt ist, beanspruchen Sie ihn hier.
Verfügbare Formate
Als PDF, TXT herunterladen oder online auf Scribd lesen
Sie sind auf Seite 1/ 930

Veröffentlichungen

des Institutes für deutsche Nachkriegsgeschichte


BAND XLI

In Verbindung mit zahlreichen Gelehrten des In- und Auslandes


herausgegeben von Wigbert Grabert
DER
GROSSE
WENDIG
Richtigstellungen
zur
Zeitgeschichte
herausgegeben von
Rolf Kosiek und Olaf Rose

GRABERT-TÜBINGEN
Druck und Bindung: Kösel, Almsried
Gesamtgestaltung: Claude Michel, Rottenburg/N.
Umschlagmotiv, Rückseite: Französischer Tank,
Gemälde von François Flameng, 1918.

Herausgegeben von Dr. Rolf Kosiek und Dr. Olaf Ruse


unter Mitwirkung von:
Dr. Fred Duswald, Götz Eberbach, Hans Flink, Philippe Gautier,
Friedrich Georg, Wolfgang Hackert, Michael Klotz, Dankwart Kluge,
Dr. Hans Meiser, Andreas Naumann, Dr, Claus Nordbruch,
Friedrich Karl Pohl, Dr. Walter Post, Karl Richter, Detlev Rose,
Günter Stübiger, Michael Winkler.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Der Große Wendig: Richtigstellungen zur Zeitgeschichte/


herausgegeben von Dr. Rolf Kosiek und Dr. Olaf Rose
Tübingen: Grabert-Verlag, 2008
(Veröffentlichungen des Institutes für deutsche
Nachkriegsgeschichte ; Bd. 41
ISBN 978-3-87847-235-3
NE: Der Große Wendig: [Sammlung];
Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte <Tübingen >
Veröffentlichungen des Institutes. . .

ISBN 978-3-87847-235-3

© 2008 by Grabert-Verlag
Postfach 1629, D-72006 Tübingen
www.grabert-verlag. d e

Gedruckt in Deutschland

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen vorbehal-


ten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages sind Vervielfältigungen
dieses Buches oder von Buchteilen auf fotomechanischem Weg (Fotokopie,
Mikrokopie) nicht gestattet.
Inhaltsverzeichnis

Vorwort •13
Statt einer Einleitung:
Professor Dr. Barnes - Vorkämpfer
des modernen historischen Revisionismus •19
Kaiserreich • 29
495 Zur Grablege Napoleons III. • 31
496 Die Legende um die Pariser Kommune 1871 •33
497 Zur Krankheit Kaiser Friedrichs III, •35
498 Der Helgoland-Sansibar-Vertrag 1890 •37
499 Deutsche Prinzen auf Europas Throne gewählt •39
500 SPD-Chef Bebel verübte Landesverrat vor 1914 •42
501 Antisemitismus in Polen im 19. und 20. Jahrhundert •45
502 Polens Nationalismus und die Oder-Neiße-Linie •47
503 Französisches >Gelbbuch< aus der Fälscherwerkstatt •51
504 Wissen um Kriegsbeginn 1914 in den USA •58
505 Die belgischen Franctireurs 1914 - keine Legende •59
506 Alliierte Kriegsverbrcchen im Ersten Weltkrieg •64
507 Deutsche versenkten nicht britisches Lazarettschiff 1916•69
508 Die Gallipoli-Invasion 1915 •70
509 Armeniermord — Geschichtsklitterung •2005
im Deutschen Bundestag • 76
510 Die Balfour- Erklärung von 1917 und ihre Foigen •83
511 Winston Churchill und der »jüdische Bolschewismus« • 88
512 Wäre die Entente 1919 am Ende ihrer Kraft gewesen? •92
513 Englands falsche Kriege gegen Deutschland •95
514 Franzosen zerstörten deutsche Denkmäler
in Elsaß-Lothringenl918 100
515 Kaiser Wilhelm II. zur Kriegsschuld von 1914 •102
Weimarer Zeit • 107
516 Der letzte Kaiser • 109
517 Zur >Dolchstoßlegende< von 1918 •114
518 Der Boykott der deutschen Sprache nach dem
Ersten Weltkrieg •122

5
519 Sowjetische Vertragsbrüche•125
520 Sowjets bereiten schon 1918 das Prinzip der »verbrannten Erde<
vor•127
521 Alliierte wollten keine Abrüstung nach 1918 •130
522 Aufruf zur Volksgemeinschaft gegen Ruhrbesetzung 1923•132
523 Die Thule-Gesellschaft - das »magische Zentrum« des
Nationalsozialismus? •134
524 Die rätselhafte >Vril-Gesellschaft« • 142
525 Coudenhove-Kalergi •146
526 Zur Harzburger Front • 149
527 Manipulation der preußischen Landtagsgeschäftsordnung
1932 150
528 Kommunisten verübten die meisten Überfalle 1932 • 152
529 Zum Widerstand der SPD 1933 •154
530 Wurde Hider von der Ostküste finanziert? •156
Drittes Reich•159
531 Der jüdische Krieg< 1933 •161
532 Zur >Kristallnacht< 1938 •164
533 Zum Schicksal von Synagogen in der Kristallnacht •171
534 Alliierte Bomber zerstörten Berliner Hauptsynagoge • 173
535 Jochen von Lang und die HJ • 175
536 Der BDM und vorehelicher Sex •179
537 Das Dritte Reich und das Rauchen • 181
538 Kein Verbot von Religionsunterricht • 186
539 Volksempfänger konnte Auslandssender empfangen • 190
540 Hits unter Hitler •191
541 Gustav Fröhlich ohrfeigte nicht Goebbels •194
542 Wie dachten Normalbürger unter dem Nationalsozialismus? •196
543 Hitler war kein »lausiger Maler« •201
544 »Entartete Kunst« kein >Nazi-Jargon< •205
545 Wie fromm war Hitler? •207
546 Kirchenbau und Kirchenliquidierung vor siebzig Jahren
und heute •214
547 Okkulte NS-Verbindungen nach Tibet? •217
548 Statt 11000 höchstens 250 Tote in Guernica • 225
549 Deutsche Marine im internationalen Auftrag 1937 und 2007 •227
550 Keine Blutorgie nach Österreich-Anschluß 1938 •231

6
551 Die Blomberg-Fritsch-Affäre •232
552 Falsche Deutung der Hitler-Rede 1939 236
553 Geheimer Teil der britischen Polengarantie von 1939 •238
554 Zur Rückkehr des Memellandes 1939 •240
555 Der gescheiterte britisch-französische Militärpakt mit Stalin
1939 • 243
556 Deutschland unterstützte Selbständigkeit der Balten •250
Zweiter Weltkrieg •255
557 Britische Kriegsziele •257
558 Hitler unterstellte Worte •260
559 Fälschung der NS->Parole der Woche< •262
560 Gab es zu Hitlers Kriegführung einen Generalplan? •263
561 Überfiel die Wehrmacht Dänemark? •270
562 Pétain wendet sich gegen Verräter •274
563 Der >Greer<-Zwischenfall 1941 - >Akt deutscher Piraterie<? •277
564 Als Stalin 1939 die Maske fallen ließ -281
565 Was führte Stalin 1939-1941 wirklich im Schilde? •285
566 Was bezweckte Schukows Aufmarschplan von 1941? •298
567 Stalins Reaktion auf den 22. Juni 1941 •306
568 Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion • 312
569 Der deutsche Angriff stürzte 1941 die Rote Armee ins Chaos •315
570 Stalin verliert die Nerven und flüchtet aufs Land? • 319
571 Die Befehlslage bei Planung und Durchführung
vom Unternehmen Barbarossa•323
572 Machte die Wehrmacht 1941 Rußland dem Erdboden gleich? • 331
573 Wehrmacht und Hungerwaffe •337
574 Zur angeblichen Brutalität des deutschen Heeres ••342
575 Die Juden-Massaker von Kaunas (Kowno) in Litauen •346
576 Das Juden-Massaker 1941 in Tarnopol in der Ukraine •348
577 Tarnopol-Juli 1941 und die >Gewissenserforschung< des Grafen
Kageneck 1996 •352
578 Die Lemberger Juden-Massaker 1941 •356
579 Massaker 1941 in Sambor und Dubno, Drohobycz, Czortkow und
Zloczöw •362
580 Die Massaker von Jassy, Czernowitsch, Belcy und Kischinjow
1941 •364
581 Pogrome in Luzk oder anderswo in Polen und in der Ukraine • 368

7
582 Babij Jar - Ort des Grauens oder ein Mythos? •370
583 Meutereien und Aufstände der Ost-Legionen
in der Wehrmacht • 376
584 Der Untergang der >Struma< •382
585 Russische Opferzahlen für Zweiten Weltkrieg •384
586 Unternehmen Barbarossa« im Spiegel der Zeitkntik •386
587 Zur Kriegsgefangenenpost aus Rußland •390
588 Kein Freudentanz Hiders bei Frankreichs Zusammenbruch •392
589 Die >Befreiung< von Paris •393
590 Statt 75000 nur 4000 erschossene Franzosen • 397
591 Zur Zahl der französischen Opfer während der >Epurarion<
(Säuberung) •399
592 Zur Wehrmachtgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg •403
593 Die deutschen Atomwaffenversuche im März 1945 •407
594 Der Mythos vom Straßburger >Roten Haust •427
595 Die Versenkung der >Mefkure< •435
596 Potsdamer Protokoll kein Vertrag •437
597 Verteidigte Amerika Westeuropa vor Sowjets? • 439
598 Churchill wollte 1945 mit Deutschen gegen Stalin kämpfen •441
599 Worte Winston S. Churchills •444
Widerstand und Verrat
600 Zu Landes- und Hochverrat • 449
601 Der angebliche Widerständler Rommel •459
602 Legenden zum Attentat vom 20. Juli 1944 •467
603 Weitere Legenden zum 20. Juli 1944 •473
604 >Mord< und >Fleischerhaken< nach 20. Juli 1944 • 480
605 Zur Person Dietrich Bonhoeffers • 486
606 Zum Schicksal der Geschwister Scholl •490
607 Waren Deserteure Widerstandskämpfer? •492
608 Mit Pistole zu Hitler • 494
Konzentrationslager
609 Hatte Hitler keinen Holocaust-Plan? •495
610 Keine Massenvergasungen in Dachau • 496
611 Dachau-Vergasung auf Friedhofs-Gedenktafel •500
612 Angebliche Vergasungen im KZ Neuengamme •501
613 Bordelle in Konzentrationslagern •503
614 Jazz im KL •508

8
615 Priester als Apfelzüchter im KL Dachau •514
616 Neubauten und Authentizität im KL Mauthausen •516
617 Verbrechen befreiter KL-Häftlinge •520
618 Überhöhte Zahlen bei Homo-Opfern •525
619 Zum Schicksal der Zigeuner •529
620 Der Auschwitz-Prozeß - kein rechtsstaadiches Verfahren •533
621 Der Tod des KL-Kommandanten Baer •53S
622 Der Fall des >KZ-Bewachers< Otto Hoppe •540
623 Falsche Opferzahlen des Maximilian-Kolbe-Werkes •543
624 Zahl von Mauthausen-Opfern vervielfacht •545
625 Revision der Opferzahlen für KL Majdanek •547
626 Legende um KL in Reismühle bei Triest •548
627 Falsche Tafel in Esterwegen enthüllt • 549
628 Martin Gray - ein falscher KZ-Zeuge • 552
629 Was haben die Deutschen von Kriegsverbrechen gewußt? •554
630 Wahrheitswidrige Behauptungen zum KL-Außenkommando
Calw •558
631 Zum Kl .-Außenkommando Hailfingen/Tail fingen •561
632 Ist Massenmord durch Dieselabgase möglich? •565
633 Die Tragödie der Cap Arcona •568
634 Pressestimmen zum Holocaust •57i
635 Frühe Angaben jüdischer Opferzahlen • 574
636 Aus 13 Opfern wurden Tausende •578
637 Stalin-Opfer als »KZ-Opfen • 580
638 >Edelweißpiraten< und Widerstand •581
639 Angebliche Versuchstote waren Kriegsopfer •585
Verbrechen der Sieger
640 Dcutschenseelsorger auf Verschieppungsmarsch
in Polen 1939 -587
641 Das Massaker in Abbeville 1940 •591
642 Das Massaker in Grand-Bornand •595
643 Britische Deportation der Templer •598
644 Alliierte bombardierten die neutrale Schweiz •600
645 USA verweigerten 1944 DDT gegen Fleckfieber • 605
646 Holzschnitzer Warnecke im Tieffliegerbeschuß • 607
647 War Dresden für Atombombe vorgesehen? •610
648 Zu den Terrorangriffen auf Dresden •611

9
649 Dresden: Verrat im Spiel? • 616
650 Gefangenen-Erschießungen bei der Geiselberger Mühle •622
651 Deutsche Gefangene auf Insel Rab eingemauert •624
652 Zur Vertreibung der Ungarndeutschen •626
653 »Operation Weichsel*. Die polnische Vertreibung der Lemken •629
654 Die Zerstörung des Kaiser Wilhelm-Denkmals
am Deutschen Eck • 633
655 Als Gefangener beim US-Kunstraub •637
656 Wer lockte die >Wilhelm Gusdoff< in die Falle? •639
657 Die Tragödie der >Goya< • 644
658 Die NKWD-Todesmärsche in Richtung Osten 1941 -647
659 Das Massaker von Marzabotto •650
660 Greise, Kinder und Säuglinge im Soldatenfriedhof • 657
Nachkriegszeit • 661
661 Deutsche als polnische Opfer mitgezählt • 663
662 Generalfeldmarschaü Milch sollte erpreßt werden • 667
663 Erpreßte Zeugen vor alliierten Militärgerichten • 670
664 Protokoll des Nürnberger IMT wurde gefälscht •675
665 Alliierte und deutsche Urteile gegen Kriegsverbrecher •678
666 Urteile über die Nürnberger Siegerjustiz •680
667 Der Fall Schörner •684
668 Zur Einbehaltung deutscher Kriegsgefangener 1945 •689
669 Gefangen im Londoner Folterzentrum • 692
670 Zwangsarbeit Deutscher in England nach 1945 •694
671 England verschleppte deutsche Forscher 1945 •696
672 Ein kanadischer Kriegsgerichtsvorsitzender urteilt •699
673 US-General Wedemeyer zur alliierten Kriegspolitik • 701
674 Alliierte Gerichtsurteile 1945 am Beispiel Pinnebergs • 703
675 Englischer Offizier stahl Brillanten •707
676 Zur Französisierung Südwestdeutschlands 1945 • 709
677 Frankreich verhinderte die deutsche Einheit nach 1945 • 712
678 Polen täuschen ostdeutsche Kirchenvertreter 1945 • 716
679 Zahlen von Internierungen vor und nach 1945 • 726
680 Alliierte Presse in Deutschland 1945 • 727
681 Die größte Büchervernichtung aller Zeiten • 734
682 Zum Schicksal Stettins 1945 •738
683 Morgenthau- Plan - keine Legende • 741

10
Bundesrepublik -745
684 Adenauer wollte scharfe Entnazifizierung • 747
685 AA vernachlässigt verurteilte deutsche Kriegsgefangene • 749
686 Bonn sperrte Kriegsgefangenen-Dokumentation • 753
687 Bundesregierung verhindert Feststellung der KZ-Opferzahl • 757
688 Zur Person Eugen Gerstenmaiers • 760
689 Franz-Josef Strauß und seine Haltung zur DDR • 764
690 Die Kampagne gegen den >KZ-Baumeister< Heinrich Lübke • 767
691 Abendroth verschwieg Verbindung zu Ulbricht • 771
692 Eschenburgs Deutschlandplan • 773
693 Linke als Brandstifter • 778
694 Die Ermordung von Siegfried Buback • 779
695 Die Zerstörung der Kunst durch die 68er • 784
696 Willy Brandt in Selbstzeugnissen • 787
697 Lafontaine fälschte Foto • 792
698 Hanna Reitsch stellt Hitler-Film richtig • 793
699 Historiker verschweigen Germanengröße •796
700 Keine Dokumentationsstelle für Verbrechen an Deutschen • 799
701 Das >Deutsche< in der Bayernhymne •801
702 War Kardinal Frings ein Antisemit? •804
703 Fortbestehen der Tschechoslowakei und Gültigkeit
des Münchner Abkommens •806
704 Tschechen-Grenzschikane auf Benesch-Basis • 809
705 Walesas Erklärung zur Vernichtung Deutschlands •811
706 Deutsche Parteien sponserten spanische Linke •813
707 US-Streitkräfte lernen von der Wehrmacht •815
708 Das >ganz besondere Verhältnis* der BRD zu Israel •819
709 Deutsche Waffenlieferungen an Israel •825
710 Hessischer Rundfunk weigert sich, Lügen richtigzustellen •834
711 Bezeichnende Falschmeldungen der Medien •836
712 Historiker fälscht Foto •838
713 WDR fälscht mit Hitlerbild •840
714 Karl May und der Nationalsozialismus • 843
715 Gustav Freytag - ein Opfer der Vergangenheitsbewältigung •845
716 8. Mai- und Holocaust-Gedcnken •847
717 Geschichtsfehler im Breker-Katalog •849
718 Schindler — ein Schwindler? •854

11
719 Der >Verfassungsschutz<: Demokratisches Frühwarnsystem
oder Machtinstrument der Herrschenden? •861
720 Gesinnungsstrafrecht statt Meinungsfreiheit •871
721 Deutscher Professor leugnet deutsch-sowjetisches
Geheimprotokoll von 1939 •876
722 Wer wollte das deutsch-türkische Anwerbeabkommen? •879
723 Kohl kaum »Kanzler der Einheit« • 881
724 Verschleuderung des Volksvermögens durch die Treuhand •884
725 Gender-Mainstreaming •890
726 US-Zeitung: Beethoven war ein Neger •895
727 Zu den Attentaten vom 11. September 2001 •897
Personenverzeichnis • 911

12
Vorwort

E rstaunlich schnell hat sich nach Erscheinen von Band 1 und Band 2
des Großen Wendig (2006) eine außergewöhnlich rege Nachfrage nach
diesem in seiner Art einmaligen Nachschlagewerk ergeben. Die jeweils
dritte verbesserte Auflage konnte schon erscheinen. Dadurch ermutigt
und durch viele anerkennende Zuschriften in die Pflicht genommen,
haben Herausgeber und Verlag beschlossen, noch einen dritten und ebenso
umfangreichen Band wie die ersten zwei mit Richtigstellungen zur Zeit-
geschichte herauszubringen.
Material dazu lag in genügendem Umfang vor: Einmal ergab die nach-
träglich möglich gewordene Auswertung des umfangreichen Zeitungsar-
tikel-Archivs unseres bereits 1997 verstorbenen Mitarbeiters an den 15
blauen Heften Richtigstellungen Zeitgeschichte (1990—2003), Dr. Heinrich
EBNKR aus Tübingen, manche ergiebige Quelle. Zum anderen erhielten
wir viele wertvolle Hinweise, Anregungen, Ergänzungen und Belege hi-
storischer Falschaussagen von den Lesern der ersten beiden Bände. Ih-
nen allen sei herzlich für diese Mitarbeit gedankt wie auch den Beziehern
unseres Werkes, die nicht selten die beiden Bände erfolgreich weiteremp-
fahlen, Zum dritten ergaben sich manche neue Erkenntnisse zur Zeitge-
schichte im Laufe der letzten Jahre, die ausgewertet werden konnten und
ein anderes als das bisher übliche Licht auf einige umstrittene geschicht-
liche Vorgänge werfen. Unvoreingenommene Historiker der Nachkriegs-
generation haben Revisionen vorgenommen, so zu der Rolle der Deut-
schen Wehrmacht im Rußlandfeldzug oder über das Wirken der
Einsatzgruppen im Osten.
Herausgeber und Verlag danken auch den neu hinzugekommenen
Mitarbeitern, die auf S. 4 in diesem Band einzeln genannt worden sind,
für deren gehaltvolle Beiträge. Bei diesen wurde nach Möglichkeit die
individuelle Darstellungsweise beibehalten. Durch die einzelnen Verfas-
ser bedingte Wiederholungen wurden dabei nicht gestrichen, da sie aus
jeweils verschiedener Sicht angeführt worden sind und deswegen zusätz-
liche Informationen liefern.
Ein besonderer Dank der Herausgeber gilt Herrn Claude M I C H E L für
die wie in den beiden ersten Bänden mit außergewöhnlichem Einfüh-
lungsvermögen und großer Mühe vorgenommene ausgezeichnete Bebil-
derung und Gestaltung des Bandes sowie viele Anregungen zum Inhalt.

Dieser dritte Band umfaßt wie die ersten beiden Bände den Zeitraum der
letzten 150 Jahre der deutschen Geschichte. Die einzelnen Beiträge sind
chronologisch nach der Zeit des jeweiligen Vorgangs geordnet. Auf die

13
Beschreibung einer Reihe weiterer noch richtigzustellender Vorgänge
mußte verzichtet werden, da die anzuführenden Beweise in der kurzen
zur Verfügung stehenden Zeit nicht vollständig genug zu beschaffen ge-
wesen waren. Das gilt zum Beispiel für das sogenannte »Massaker von
Gardelegen< Ende April 1945 an KI .-Häftlingen, das so, wie es heute in
der Öffentlichkeit dargestellt wird, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht
stattgefunden haben kann. Hinzu kam, daß der zur Verfügung stehende
Raum in diesem dritten Band bereits durch die anderen Beiträge ausge-
füllt war.
Alle vorliegenden Beiträge sind nach bestem Wissen und Gewissen
recherchiert und bearbeitet worden. Sollten sich dennoch Fehler einge-
schlichen haben oder falsche Quellen und unzutreffende Darstellungen
angegeben worden sein, so sind die Herausgeber für entsprechende Hin-
weise darauf und für begründete Kritik dankbar. Herausgeber wie Mitar-
beiter fühlen sich der historischen Wahrheit verpflichtet.
Die Richtigstellungen in den nunmehr vorliegenden drei Bänden des
Großen Wendig wenden sich in der Regel gegen unberechtigte Schuldvor-
würfe, die gegen Deutsche im Zusammenhang mit Vorgängen während
der letzten anderthalb Jahrhunderte erhoben wurden und werden, oder
gegen unzutreffende Herabsetzungen, die gegen einzelne Angehörige
unseres Volkes geäußert wurden. Das mag auf den ersten Blick einseitig
und deswegen unwissenschaftlich erscheinen oder sogar die Unterstel-
lung von Verharmlosung oder Verherrlichung erwecken. Doch während
letztere in keinem Fall von den Herausgebern und den Mitarbeitern be-
absichtigt sind, ergibt sich ersteres aus den Zeitumständen: Nach 1945
wurde die deutsche Geschichte aus der Sicht der Sieger geschrieben und
veröffentlicht, und die meisten deutschen Fachwissenschaftler wie die
Medien hielten sich an die alliierten Auflagen und Wünsche. Die Umer-
ziehung der Deutschen gelang deswegen fast vollständig. So kam ein ein-
seitiges Geschichtsbild mit der Überbetonung der deutschen Schuld -
die Deutschen als Verbrecher- und Tätervolk« - in der Öffentlichkeit
zum Tragen. Diese ließ seit Jahrzehnten keine Gelegenheit aus, die Vor-
würfe gegen die Deutschen und deren frühere Führung zu vergrößern.
Gelegentlich kamen groteske Übertreibungen vor. Die Zahl der Opfer
in manchen Konzentrationslagern, die im Laufe der Zeit auf einen Bruch-
teil der ursprünglich angegebenen gesenkt werden mußte, oder die Darstel-
lung H I T L E R S als >Teppichbeißer< mit dem ihm unterstellten Plan zur
Welteroberung seien als Beispiele genannt.
Immer noch bemühen sich die heute in Deutschland tonangebenden
»politisch korrekten« Kreise krampfhaft, möglichst noch weitere Fälle
deutscher Schuld zu finden und sie wie die bisher bekannten öffentlich
auszuschlachten, während die deutschen Opfer meist verschwiegen und

14
verdrängt wurden. Institute, Zentralstellen und Stiftungen wurden mit
der Aufgabe gegründet und unterhalten, im Rahmen der sogenannten
Vergangenheitsbewältigung und der Aufarbeitung der Zeitgeschichte
möglichst viele Verbrechen den Deutschen nachzuweisen. Daher bedarf
es nach der jahrzehntelangen Tätigkeit dieser mit zahlreichen Stellen und
großen Mitteln ausgestatteten Einrichtungen kaum einer Richtigstellung
von Vorgängen mit bisher als zu klein dargestellter deutscher Schuld, Es
werden heute noch immer nach mehr als 60 Jahren nach den betreffen-
den Vorgängen Strafprozesse gegen Neunzigjährige eingeleitet. Dabei
geht es weniger um Gerechtigkeit als darum, den Medien neuen Stoff
zur Belastung Deutschlands zu verschaffen und Anknüpfungspunkte für
weitere Darstellungen einer einseitigen Bewältigung der deutschen Ver-
gangenheit zu liefern. Dazu wurde auch die Justiz politisiert und zweck-
entfremdet. Deswegen wurde beispielsweise im Sommer 2007 die NS-
Vergangenheit der — meist schon längst verstorbenen — Angehörigen des
Bundeskriminalamtes — nach etlichen anderen Behörden und Berufsstän-
den — mit großer Pressebeteiligung aufgearbeitet, und der Bundesgeheim-
dienst soll nächstens an die Reihe kommen.
Im Zusammenhang mit dem >Fall< Eva H E R M A N im Herbst 2007 be-
schrieb die frühere 68er Juristin Sybille T Ö N N I L S in der Frankfurter Allge-
meinen Zeitung (30, 9. 2007) sehr deutlich die herrschenden Umstände:
»Im Herbst treffe ich mich mit meinen früheren Anwaltskollegen wieder
zum geistigen Austausch. Worüber werden wir reden? Über die juristi-
schen Untaten der Nazis. Mal wieder. Wir alten Linken tun das nämlich
seit über dreißig Jahren. Wohl dem, der über ein bisher unbekanntes
Schandurteil berichten kann. Der Gedanke, daß wir altlinken Anwälte
mal untersuchen, wie weiß unsere eigenen Westen sind, darf nicht auf-
kommen.« Und sie erinnerte dann an die von den 68ern verharmlosten
Stalinisten und Maoisten sowie R AF-Mörder. Sie ist, wenn auch sehr spät,
zu der Erkenntnis gekommen: »Diese Ursachen (des Nationalsozialis-
mus) lassen sich nicht erforschen, wenn man nur auf die Nazigreuel sieht.
Es muß endlich erlaubt sein zu fragen, warum der Nationalsozialismus
so erfolgreich war.«
Dieser seit Jahrzehnten in der deutschen Öffentlichkeit unberechtigt
vertretenen Einseitigkeit der Geschichtsbetrachtung soll auch in diesem
Bande entgegengewirkt werden, damit eine wirklichkeitsnähere Sicht der
Geschichte entstehen kann. In vielen Fällen können und sollen deswe-
gen auch die als falsch erkannten Aussagen sachlich richtiggestellt wer-
den. Es soll keine vorhandene deutsche Schuld verringert oder gar weg-
geredet werden, sondern die vorliegenden Beiträge sollen dazu
beigetragen, daß - wie in jeder Wissenschaft - durch freie Diskussion,
durch Darlegung sachlicher Argumente und durch begründete Kritik an

15
der bisherigen Anschauung allmählich (asymptotisch) die Wirklichkeit
der Geschichte — so wie sie wirklich geschehen ist — sichtbar wird. Zwei
Generationen nach den meisten behandelten Vorgängen scheint es dazu
an der Zeit zu sein.
Die Vielzahl der in den nun vorhegenden drei Bänden des Großen Wen-
dig richtigestellten historischen Geschehnisse ist auch ein Beweis dafür,
wie verzerrt das in der Öffendichkeit und von den Massenmedien ver-
breitete Bild der deutschen Geschichte des vorigen Jahrhunderts immer
noch ist und wie erfolgreich Tabus verteidigt werden, die den Fortgang
der Wissenschaft behindern. Schon in den sechziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts konnte man in der Kirchenzeitung des Erzbistums Köln die berech-
tigte Sorge lesen: »Daß in der jungen Generation zwei Drittel an die Kriegs-
schuld glauben, spricht nicht zugunsten des Geschichtsunterrichts und
dürfte zu großer Besorgnis Anlaß geben. Der Grund hierfür liegt in der
Zielsetzung des westdeutschen Nachkriegsunterrichts, der Überwindung
völkischer und nationaler Denkweisen und damit der Abwertung des ei-
genen Volkes. Es ist daher schwer denkbar, daß der so beiastete junge
Mensch sich einem Staat oder einer Gemeinschaft verpflichtet fühlt, die
ihm durch die Erziehung das Bewußtsein vermittelt, Teil eines minder-
wertigen Voikes zu sein. Der Staat, der die völkische Realgruppe abwer-
tet, der er zugehört, bringt die Gefahr auf, daß die den Bestand des Staa-
tes sichernde Einsetzung des Einzelmenschen für Staat und Volk ausbleibt,
daß es nur staatsverdrossene Volksangehörige gibt und keine zu letztem
Opfer bereite Staatsbürger. Diesem Zustand nähern wir uns leider immer
mehr - eine Frucht unserer Erziehung.« (Zit. in Protokolle des Landtags von
Baden-Württemberg, 5. Wahlperiode, 7. Sitzung vom 17. Juli 1968, S. 131.)
Rund drei Jahrzehnte später mußte der Rektor der Universität Kon-
stanz, Professor Dr. Bernd RÜTHERS, feststellen (Die Welt, 17. 7, 1993),
daß in den »wegen ihrer Massenwirkung so genannten Leitmedien... nur
zu oft,herrschende' Ideologie verbreitet, wenn nicht hervorgebracht wird.
So produzieren die Medien nicht selten verfälschte Bilder von Wirklich-
keit«. Das geschehe sogar bewußt. So sei in den »Studienbriefen eines
»Funkkollegsi der ARD »Medien und Kommunikation, Konstruktionen
von Wirklichkeit 1990-91 <« stolz verkündet worden, was schon die wirk-
lichkeitsfremden neomarxistischen 68er vertraten; »Wir konstruieren die
Außenwelt. Es gibt keine Wirklichkeit unabhängig von unserem Zutun.«
Wahrheit und Objektivität hätten für die journalistische Tätigkeit keine
Bedeutung mehr, beide seien überholte Begriffe. Nur selten habe es Kri-
tik an dieser ORWELLschen Auffassung aus den eigenen Fachkreisen ge-
geben, wie 1992 mit dem Buch Was nun? — Über Fernsehen, Moral und Jour-
nalisten des Chefredakteurs des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) Klaus
BRESSER, der eingestand: »Wir schwammen zu lange im mainstream mit.

16
Wir waren zu stark ausgerichtet auf die Sichtweisen der Politik und die
Lehrmeinungen der Wissenschaft. Wir vertrauten den Autoritäten, aber
den eigenen Augen nicht.« Dadurch seien, so RÜTHERS, nicht die Wirk-
lichkeiten in den Medien für den Leser dargestellt worden, was eigendich
die Pflicht für eine unabhängige Presse in einer Demokratie sein sollte,
»sondern die ideologisch gesteuerten Deutungen derselben durch Politi-
ker und Wissenschafder«, Nicht die Geschichte, wie sie geschehen war,
wurde vermittelt, sondern wie die Umerziehet sie gesehen haben woll-
ten, Und wenn Historiker an Gymnasien auf diese Manipulation hinwie-
sen und Verzerrungen der Geschichte wissenschaftlich und quellenmä-
ßig begründet richtigstellten, wurden sie auf Druck der »veröffentlichten
Meinung« vom Schuldienst suspendiert wie der Berliner Studienrat Karl
Heinz SCHMICK (FAZ 29. 6. 2005).
In den letzten Jahren hat sich die Gleichschaltung und Ideologisierung
der Medien im Sinne der herrschenden »politischen Korrektheit« noch
verstärkt. Eine politisierte und zur Verteidigung von historischen Tabus
mißbrauchte Justiz unterstützt diese öffentliche Indoktnnierung und die
damit verbundene Vermittlung eines falschen Geschichtsbildes. Die im Jahre
2007 gegen gewaltfreie Andersmeinende wie die Geschichtsrevisionisten
Ernst ZüNDEL und Germar RUDOLF vom Landgericht Mannheim verhäng-
ten unverhältnismäßig hohen Freiheitsstrafen von fünf und zweieinhalb
Jähren Haft wegen angeblicher »Volksverhetzung« allein durch Äußerung
unliebsamer Ansichten zur Zeitgeschichte legen davon Zeugnis ab.
Es geht bei der notwendigen Revision in der Zeitgeschichte und bei
der Zurückweisung unberechtigter Schuldvorwürfe auch noch um zwei
andere Auswirkungen. Bundestags-Vizepräsident Hans K L E I N (CSU)
drückte das in der Welt am Sonntag (7. 7. 1996) mit den Worten aus: »Wir
Deutschen leben unversöhnt mit unseren Toten — es wird über Men-
schen, die tot sind, in einer Weise gesprochen, als handle es sich um ein
Verbrecherkollektiv.« Ähnlich hatte schon rund zwanzigjahre vorher Bun-
deskanzler Helmut SCHMIDT (SPD) davor gewarnt, die deutsche Geschich-
te zu einem Verbrecheralbum zu machen. Und der angesehene frühere
Minister und Bundestagsabgeordnete Dr. Alfred DREGGER (CDU) stellte
um dieselbe Zeit wie KLEIN (17.1. 1996) in seiner Rede »Gegen die pau-
schale Diffamierung« in Bonn mit Recht fest: »Wer die Generationen
trennt, trifft die Nation in ihrem Kern. Und wir sind betroffen.«
Es geht also bei der Revision in der Zeitgeschichte auch um Gerech-
tigkeit für mehrere deutsche Generationen des 20. Jahrhunderts, um das
Ende einer unberechtigten Diffamierung von Menschen, die idealistisch
handelten und viel für ihr Volk opferten.
Ebenso geht es um die Zukunft unseres Volkes. Gewisse Kreise wol-
len keine Normalisierung des Selbstbewußtseins der Deutschen. Sie wol-

17
len die Erhaltung des durch die Umerziehung bewirkten gegenwärtigen
neurotischen und traumatisierten Zustandes der Deutschen, die sich
weiterhin als »Täter- und Verbrechervolk« fühlen sollen. Sie erstreben
die Verewigung des von der »Frankfurter Schule« eingeleiteten und von
den 68ern durch Diffamierung der Kriegsgeneration und ihrer Geschichte
verstärkten Kampfes zwischen den Generationen, eines Kampfes, der
bereits viele Familien aufgelöst und damit die Grundlage unseres Volkes
schon weitgehend zerstört hat und weiter zerstört.
Dieser Zustand wurde schon früher aufgezeigt, die Warnungen dran-
gen aber nicht durch. So wurde von den Neomarxisten um Jürgen H A-
BERMAS im Historikerstreit 1986 die von dem Berliner Historiker Ernst
N O L T E zu Recht geforderte Historisierung der Geschichte des 20. Jahr-
hunderts nicht freigegeben, sondern es wurde weiterhin — und das sogar
unter Bezugnahme auf die Aufklärung - die polirisch korrekte Beach-
tung von geschichtlichen Tabus auch für die Zukunft durchgesetzt - eine
intellektuelle Perversion.
Wir hoffen, daß Arthur SCHOPENHAUER doch recht hat, wenn er meint,
beobachtet zu haben, »daß wir den wissenschaftlichen, literarischen und
artistischen Zeitgeist ungefähr alle 30 Jahre deklarierten Bankrott ma-
chen sehen. In solcher Zeit nämlich haben alsdann die jedesmaligen Irr-
tümer sich so gesteigert, daß sie unter der Last ihrer Absurdität zusam-
menstürzen«. (Zitiert in: FAZ,, Nr. 6 8 , 2 1 . 3 . 2 0 0 7 , S . 5 )
Und immer mehr Wissenschaftier werden erkennen, was TEILHARD DE
CHARDIN verkündete: »Bei der Wissenschaft gilt: Am Anfang steht der
Zweifel. Der Zweifel ist der Beginn der Wissenschaft. Wer nichts an-
zweifelt, prüft nichts. Wer nichts prüft, entdeckt nichts. Wer nichts ent-
deckt, ist blind und bleibt blind.« (Zitiert in: Die Welt, 8. 7. 2006, S. B l )
Dazu bedarf es dessen, was Johann Wolfgang VON G O E T H E an E C K E R -
MANN am 16. Dezember 1828 schrieb: »Man muß das Wahre immer wie-
derholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird,
und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und
Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum
oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die
auf seiner Seite ist.«
Herausgeber und Verlag hoffen, daß auch dieser dritte Band eine gute
Aufnahme findet und mit dazu beiträgt, daß die historische Wahrheit
sich verbreitet und sie das einseitige und vielfach verzerrte Geschichts-
bild der Umerziehung von der Vergangenheit der Deutschen langsam
ablöst.
Tübingen, am 9. November 2007, Dr, Rolf Kosiek
dem 18. Jahrestag der Maueröffnung
als des Beginns der deutschen Wiedervereinigung

18
Statt einer Einleitung:
Professor Dr. Barnes - Vorkämpfer
des modernen historischen Revisionismus

m August 1968 verstarb in den Vereinigten Staaten der vielfach geehr-


I te Historiker Prof. Dr. Harry Himer BARNES.' Er lehrte an mehreren
Hochschulen Amerikas, an der Columbia-, Syracuse- und Clark-Univer-
sität, am Barnard- und Smith-College, an den Universitäten von Colora-
do und Indiana und anderen. Er war hochgeachtetes Mitglied zahlreicher
wissenschaftlicher Vereinigungen, unter anderen der American Histori-
cal Association, der Academy of Political Science, der Society de Socio-
logie Masaryk, der Society of American History und der Deutschen Ge-
sellschaft für Soziologie. Er traf mit den führenden Politikern des Ersten
Weltkrieges zusammen, mit Kaiser WILHELM II, mit TIRPITZ, mit den
Botschaftern SCHÖN, POURTALES, BOGITSCHEWITSCH und Jules CAMBON,
mit dem österreichischen Außenminister Graf BERCHTHOLD, mit Joseph
CAJLLAUX aus Frankreich, mit BENS in England, mit Freiherrn VON SCHIL-
LING, dem Kanzleichef des russischen Auswärtigen Amtes usw. Bei seiner
Europareise 1926 erregte er mehr Aufsehen als US-Präsident Theodore
ROOSEVELT 1910. Allein in München sprach er zu fast 20 000 Zuhörern.
Prof. BARNES hat mehr als 70 Bücher und Hunderte von Aufsätzen ver-
Harry Elmer B A R N E S
öffentlicht.2 (1889-1968) gilt
Sein geistiges Schaffen umfaßt die Gebiete der Kultur- und Geistesge- als Begründer des
schichte, der Soziologie, der Kriminologie, der Historiographie, vor al- akademischen Revi-
lem aber das der politischen Geschichte des 2 0 . Jahrhunderts. BARNES sionismus in der Zeit-
gilt noch heute als einer der hervorragendsten Sachkenner auf dem Ge- geschichte.

1 Biographisches in der Festschrift: Learned CRUSADER, The new History in action,


hg. von GODDARD, Colorado Springs 1 9 6 8 , und Ralph Miles COHF.N, The Ameri-
can Revisionists, University of Chicago Press, Chicago-London 1967.
2 BARNES' wichtigste Arbeiten sind: Zum 1. Weltkrieg a) The Genesis of the World

War, New York M 929; deutsche Übersetzung: Die Entstehung des Weltkrieges, Deut-
sche Verlagsanstalt, Stuttgart 1928 (gekürzt), b) In Quest of Truth and justice, Chi-
cago 1928. c) World Politics in modern Civilisation, New York 1930. d) Kriegsschuld
und Deutschlands Zukunft, Berlin 1930. - Zum 2. Weltkrieg: a) Perpetual Warfor
perpetual Peace, Caldwell 1953; deutsche Obersetzung: Entlarvte Heuchelei, Priester,
Wiesbaden 1961 (gekürzt), b) Die deutsche Kriegsschuldfrage, Grabert, Tübingen
1964. c) Selected "Revisionist Pamphlets, Arno Press, New York 1972. d) Pearl Harbor
after a Quarter of a Century, Arno Press, New York 1972. - Sonstiges: a) A History
of historical Writing, New York "1962. b) An intellectual and cultural History of the
western World, 3 Bde., New York 31965. c) History of western Civilisation, 2 Bde.,
New York 1935.

19
biet der Kriegs Ursachen forschung. Seine Werke sind nach wie vor grund-
legend, sein Lebenswerk ist zukunftsweisend.

Geschichtswissenschaft in Not
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war auch die Geschichtswissen-
schaft ins Wanken geraten. Die politische Propaganda der Alliierten hatte
sich tonangebend durchgesetzt. Eigenständige Forschung war kaum mehr
gefragt. Aufgabe des I Iistorikers sollte von nun an sein, die >richtige<, das
heißt die gerade gewünschte Auffassung fachlich zu untermauern. Also
galt es, wie in Versailles festgelegt, die alleinige Schuld Deutschlands am
Ausbruch des Ersten Weltkrieges nachzuweisen. Die Qualität des Argu-
mentes war dabei weniger wichtig, wenn nur das Ergebnis stimmte. Die
Gründe dafür hatte der britische Premierminister LLOYD GEQRGF. SO dar-
gelegt: »Für die Alliierten ist die deutsche Verantwortlichkeit grundlegend.
3 Otto Eisner JAGOW, Sie ist die Basis, auf der das Gebäude des Vertrages errichtet worden ist.«3
Unter dem Joch von Gegen diese Art von Geschichtsbetrachtung schlossen sich zunächst
Versailles, Berlin in den USA Anfang der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts einige auf-
1923, S. 98. rechte Historiker zusammen, die seither als Revisionisten bekanntgewor-
4 COHEN, a a O . den sind.4 Ihnen ging es darum, die bisherigen Grundlagen wissenschaft-
(Anm. 1). licher Geschichtsforschung zu erhalten. Gewissenhaftes Quellenstudium
und unbestechlicher Wille zur Wahrheit lauteten ihre Parolen, Neben
Sidney Bradshaw FAY, Walter Millis Hartley GRATTON und dem berühm-
ten Charles B E A R D war Harry Elmer BARNES einer ihrer profiliertesten
Vertreter, Unerbittlich entlarvte er Lüge und Fälschung.

Erkenntnisse zum Ersten Weltkrieg


Die Kronratslegende vom 5. Juli 1914: An diesem Tage soll Kaiser WIL-
HELM II, mit seinen Beratern beschlossen haben, Europa in einen Krieg
zu stürzen. BARNES wies nach, daß die meisten der angeblichen Teilneh-
mer an dieser erfundenen Sitzung sich damals gar nicht in Berlin befan-
5 Harry Elm er den,15 und zitierte den französischen Ministerpräsidenten POINCARF., der
BARNES, Die Entste- seinerseits dazu feststellte: »Ich behaupte nicht, daß Deutschland und
hung des Weltkrieges, Österreich während dieser ersten Phase die bewußte Absicht hatten, ei-
aaO. (Anm.l), nen allgemeinen Krieg zu provozieren. Es existiert kein Dokument, das
S. 179. uns das Recht zu der Vermutung geben könnte, daß sie zu jener Zeit
6 Ebenda, S. 182.
einen so systematisch durchdachten Plan gehabt hätten.« 6
Zur russischen Mitwisserschaft am Mord in Sarajewo am 28, Juni 1914
ermittelte BARNES das Folgende:
»Daß die Russen dem ganzen Verschwörerwesen ihre Unterstützung
angedeihen ließen, steht absolut fest. Der russische Gesandte in Belgrad,
HARTWIG, wußte von dem Komplott lange vor seiner Ausführung. Oberst

20
Bozin SIMITSCH, BOGITSCHEWITSCH und Leopold M A N D E L haben nachge-
wiesen, daß DIMITRIJEWITSCH in heimhchem Einverständnis mit ARTAMA-
NOW, dem russischen Militärattache in Beigrad, handelte. ISWOLSKI erzählt,
unmittelbar nach dem Mord habe ein Bote des Königs von Serbien ihm
die Meldung überbracht: »Wir haben soeben ein gutes Stück Arbeit ver-
richtet.*« 7 BARNES,ebenda,
Die französische Politik beurteilte BARNES als auf völlige Vernichtung S. 128 f.
Deutschlands gerichtet.8 Zwei Belegstellen mögen insoweit genügen: 8 Ebenda, S. 316.
1. Der belgische Botschafter in Frankreich, Baron GuiLLAüME, meinte
im Januar 1914: »Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß die
Herren P o i N C A R é , DELCASSÉ, MILLERAND und deren Freunde es sind, wel-
che die nationalistische, militaristische und chauvinistische Politik ausge-
sonnen und betrieben haben, deren Wiedererwachen wir miterleben. Sie
ist eine Gefahr für Europa und für Belgien. Ich sehe darin die schwerste
Gefahr, die heute Europas Frieden bedroht.«9
2. POINCARE antwortete am 29. Juli 1914 auf die Frage: »Glauben Sie, * Ebenda, S. 293.
Herr Präsident, daß man den Krieg abwenden kann?«, mit: »Dies zu tun
wäre sehr bedauerlich, denn wir werden niemals günstigere Umstände
finden.«10
BARNES legte dar, daß England 1914 keineswegs nur wegen der Verlet-
10 Ebenda, S. 302.
zung der belgischen Neutralität Deutschland den Krieg erklärt habe und
in den Krieg eingetreten sei. Als Kronzeugen dafür berief er sich auf
den englischen Außenminister G R E Y . Dieser »selbst sagt uns in seinen
Memoiren, daß er auch ohne Belgien den Versuch gemacht haben wür-
de, England in den Krieg hineinzuziehen, und daß er zurückgetreten wäre,
wenn ihm dies mißlungen wäre«.11
Unterstreichend führte BARNES den englischen Gelehrten CONYBEARE 11 Ebenda, S. 400.
an, der nach dem Krieg einräumte:
»GRF.Y war zweifellos in der Woche vor dem Krieg genauso ein Heuch-
ler, wie eres in den acht Jahren vorher gewesen war. Wir griffen Deutsch-
land aus drei Gründen an. Erstens, um seine Flotte zu demütigen, ehe sie
noch größer geworden war, zweitens, um seinen Handel in unsere Hand
zu bekommen, drittens, um ihm seine Kolonien wegzunehmen.«12
Besonders scharf ging BARNES mit der amerikanischen Politik ins Ge- 12 Ebenda, S. 425.
richt. Nicht der uneingeschränkte U-Boot krieg der Deutschen war der
eigentliche Kriegsgrund gewesen, sondern die amerikanische Finanzwelt
witterte üppige Geschäfte.
»Von den Aussichten dieser Mächte auf Kriegs erfolge und von ihrer
Fähigkeit, den Krieg in die Länge zu ziehen, hingen das relative Ausmaß
der amerikanischen Profite und die Wahrscheinlichkeit ab, die den En-
tentemächten verkauften Waren bezahlt zu bekommen.«13 13 Ebenda, S. 445.

21
Deutsche Karikatur im Zusammenhang mit
WILSONS Willen, in den Krieg einzutreten.
»Der müde Schnitter« »Ich kann nicht mehr! -
Du mußt! Ich zahle die Überstunden!«

US-Präsident WILSON ließ daher seinen


Vertrauten Colone) HOUSE an den briti-
schen Außenminister Lord GREY die Bot-
schaft übermitteln:
»Die Vereinigten Staaten hätten den
Wunsch, daß Großbritannien alles tue, was
den Vereinigten Staaten dazu behilflich sein
könne, den Verbündeten Beistand zu lei-
sten.«14
Schon im April 1916 hatte der amerika-
nische Präsident seine Absicht angekün-
digt, »die Vereinigten Staaten in Kriegszu-
stand zu versetzen, und dies sofort . , .
WILSON drohte nun und sagte, jeder, der
ihm in den Weg trete, würde, wenn er ein-
mal seinen Vorsatz durchzuführen begän-
ne, politisch vernichtet werden«.15
In der Reihenfolge der Verantwortlichkeiten faßte BARNES den revisio-
14BARNES, ebenda, nistischen Standpunkt für die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrie-
S. 458 f. ges wie folgt zusammen: Schuld seien in erster Linie Serbien, Frankreich
15 Ebenda, S. 460. und Rußland. Sodann komme Osterreich, »obschon dieses niemals einen
allgemeinen europäischen Krieg gewünscht hat«. Endlich kämen Deutsch-
land und England, »wobei der deutsche Kaiser viel eifrigere Anstrengun-
gen zur Erhaltung des europäischen Friedens (machte, D. K.) als Sir Ed-
16 Ebenda, S, 482. ward GREY«. 1 ?
Man kann dieser Bewertung nun zustimmen oder nicht. Tatsache bleibt,
daß BARNES wesentlich dazu beigetragen hat, die Versailler Kriegsschuld-
lüge ad absurdum zu führen. Die von ihm angeführten Beweise sind ja
nicht zu bestreiten und können von jedermann nachgeprüft werden. Wenn
also PoiNCARF., Wil-SON und andere sich für den Krieg ausgesprochen
haben, so sind sie zweifellos mitschuldig an der Katastrophe von 1914-
1918. Da mögen die deutschen Historiker nach 1945 wie FISCHER und
GRISS noch so viele »neue Erkenntnisse« anbieten, an diesen Feststellun-
gen der Revisionisten kommen sie nicht vorbei, wobei obige Zeugnisse

22
natürlich nur eine ganz geringe Auswahl aus dem umfangreichen Doku-
mentmaterial darstellen.
Ebenso klar und überzeugend wandte sich BARNES gegen die Greuel-
propaganda der Alliierten im Ersten Weltkrieg. Die Behauptungen im
BRYCE-Bericht widerlegte er durch Äußerungen des britischen Premier-
ministers LLOYD GEORGE und des italienischen Regierungschefs Fran-
cesco Nitti, die beide einräumten: » . . . daß niemals jemand ein belgi-
sches Kind gesehen hat, dem die Deutschen die Hände abgeschnitten
gehabt hätten«.1" Die angeblichen >Leichenfabriken< führte er auf ent- 17 Harry Elmer
stellte Fotografien und erfundene Tagebucheintragungen zurück. Schließ- BARNES, Die Entste-
lich erbrachte er den Nachweis der systematischen Fälschung sogenann- hung des Weltkrieges,
ter deutscher Kriegsverbrechen. Sein Gewährsmann war ein prominenter aaO. (Anm.l),
Vertreter der französischen Presse, der nach dem Ersten Weltkrieg in S. 225.
18 Ebenda, S, 227.
seinen Erinnerungen über die Propagandazentrale in Paris offen bekannte:
»In den Kellerräumen standen die für den Druck der Presseerzeugnisse
notwendigen Maschinen, unter dem Glasdach hauste die fotochemigra-
phische Abteilung. Ihre Hauptarbeit bestand
darin, von Holzfiguren mit abgeschnittenen
Händen, herausgerissenen Zungen, ausgesto-
chenen Augen, zertrümmerten Schädeln, mit
bloßgelegten Gehirnen Lichtbildaufnahmen
und Druckstöcke anzufertigen. Die so ge-
wonnenen Bilder wurden als untrügliche Do-
kumente, sozusagen als Augenzeugen deut-
scher Greueltaten, in alle Welt gesandt, wo
sie die von ihnen erwartete Wirkung ausüb-
ten. Im gleichen Raum wurden auch Aufnah-
men von zerschossenen belgischen und fran-
zösischen Kirchen, geschändeten Gräbern
und Denkmälern und grauenhaften Ruinen
hergestellt. Die Kulissen für die Aufnahmen
wurden von den ersten Dekorationsmalern
der Pariser Großen Oper geliefert.«18
Mitte der dreißiger Jahre hatten sich die
Erkenntnisse der Revisionisten fast überall

Eine der zahllosen Propaganda-Lügen um die


abgehackten Händen, hier französische Ansichts-
karte von Oktober 1914: »Ihre Kriegstrophäe.
Eine Hand mit Ringen ist besser als eine Fahne.«

23
durchgesetzt. In Frankreich folgten George DEMARTIAL, Mathias M O R -
HARDT und Alfred FABRE-LUCE, in England E. D. M O R E L , Lord MORLEY,
Lowes DICKINSON und Irene COOPER W I L L I S , in Deutschland Maximilian
MONTGELAS, Hans DRAEGER, Erich BRANDENBURG, Hermann LUTZ, Al-
fred VON W E G E R E R , Friedrich STIEVE und viele andere. Es gab kein Werk,
das die Forschungen von Prof. BARNES übergangen hätte. George Peabodv
G O O C H , Herausgeber des englischen amtlichen Aktenwerkes über die
Ursachen des Ersten Weltkrieges und unangefochtene Autorität auf dem
Gebiet der Diplomatiegeschichte, würdigte schon damals den großen
Wahrheitsforscher mit den Worten: »No other American has done so
much as Prof. Barnes to familiarize his countrymen with the new evi-
dence which has been rapidly accumulated during the last few years, and
to compel them to revise their war-time judgements in the light of this
19 BARN FS, In Quest
new material,« 19 (Kein anderer Amerikaner hat so viel wie Prof. BARNES
of Truth and Justice, getan, um seine Landsleute mit dem neuen Beweismaterial vertraut zu
aaO. (Anm. 2), machen, das schnell in den letzten wenigen Jahren zusammengetragen
S. 421. worden ist, und um sie zu zwingen, ihre Beurteilungen aus der Kriegszeit
im Lichte dieses neuen Materials zu ändern.)
BARNES* größte Zeit sollte jedoch erst noch kommen.

Erkenntnisse zum Zweiten Weltkrieg


Der Zweite Weltkrieg hatte die Grundlage der Geschichtswissenschaft
vollends zerschlagen. Das, was die Revisionisten in den Zwischenkriegs-
jahren mühsam erarbeitet hatten, lag in Trümmern. Grausame Kriegfüh-
rung und Haß überlagerten alles. Diesmal versuchten die Siegermächte,
in einem Schauprozeß - unter dem Deckmantel eines vermeintlich ob-
jektiven Gerichtsverfahrens und bei striktem Verbot, die alliierte Politik
auch nur ansatzweise zu erörtern - die deutsche Alleinschuld festzuschrei-
2 0 CONNORS, i n : ben.20 Die Besatzungspolitik der Alliierten für Deutschland hat ein übri-
Bolko von RICHT- ges getan. Die deutsche Alleinschuld wurde zum Dogma.
HOFEN, Kriegsschuld Und wieder war es BARNES, der ohne Rücksicht auf persönliche Belan-
1939-1941, Vater- ge dem Zeitgeist mutig entgegentrat. Nachdem die Historiker BEARD und
stetten 1975, S . U . TANSILL schon US-Präsident ROOSEVELT auf das schwerste belastet hat-
Vgl. Werner MASF.R, ten, wagte BARNES im Hinbück auf die europäische Politik die damals
Nürnberg. Tribunal
der Sieger, Econ, geradezu ketzerische Feststellung, daß die Katastrophe von 1939 fast
DÜ s s eldo rf—Wie n ausschließlich von den Engländern verschuldet worden sei.
1977. »Während 1914 die britische Verantwortung für den Ersten Weltkrieg
zur Hauptsache auf der schwächlichen und doppelzüngigen Haltung Sir
Edward G R E Y S beruhte, also mehr eine negative als eine positive Verant-
wortung war, trugen die Engländer sowohl für den Ausbruch des deutsch-
polnischen als auch des europäischen Krieges Anfang September 1939
nahezu die Alleinverantwortung. Lord HALIFAX, der britische Außenmi-

24
nister, und Sir Howard KENNARD, der britische Botschafter in Warschau,
waren weit verantwortlicher für den europäischen Krieg von 1939 als
SASONOW, IsworsKi und POINCARE für den von 1914.«21
Die deutsche Politik am Vorabend des Krieges bewertete er dement-
sprechend so:
»Hrn.FR war weit davon entfernt, etwa mit brutalen und unbilligen
Forderungen überstürzt einen Angriffskrieg gegen Polen einzuleiten, er
bemühte sich während der Augustkrise 1939 weit mehr, den Krieg abzu-
wenden, als der Kaiser während der Krise im Juli 1914.w22
Die etablierte Historikerschaft wagte die Auseinandersetzung nicht.
Statt BARNES ZU widerlegen, hüllte sie sich in eisiges Schweigen. Die Tak-
tik hatte sich geändert, das Ziel aber war dasselbe geblieben. BARNES
nannte es »Geschichtsverdunklung« und kennzeichnete jene tonangeben-
Howard KENNARD, der
den Forscher als »Hofhistoriker«, 23 Historiker, die unter der Bedrängnis
britische Botschafter
einer argwöhnenden öffentlichen Meinung das von sich geben, was man in Warschau.
von ihnen verlangt, nicht aber, was man gemeinhin von einem seriösen
Geschichtswissenschaftler erwarten kann.
Der Vorwurf ist durchaus nicht übertrieben, denn andernfalls bleibt
völlig unverständlich, warum diese Historiker entscheidendes Quellen-
material - meist solches, das zugunsten Deutschlands spricht - einfach
nicht zur Kenntnis nehmen. Es handelt sich unter anderem um die Forre-
stal Diaries, das Szembeck-Journal, die Berichte Sven HEDINS, die Telegram-
me der deutschen Konsuln in Polen, vor allem aber um die sogenannten
PoTOCKi-Dokumente. Weder der Historiker LANGER noch sein Fachkol-
lege GLEASON, deren Veröffentlichung The Cballenge to Isolation14 weithin
als Standardwerk angesehen wird, scheinen jemals etwas von diesen Be-
weisunterlagen gehört zu haben. Prof. H O F E R , ihr deutscher Fachkollege,
führt zwar einiges davon in seinem Literaturverzeichnis an, läßt aber bei
der Wiedergabe das Entscheidende weg.25 Diese Berichte polnischer Di-
plomaten, deren Echtheit heute zweifelsfrei feststeht, 26 besagen aber nichts
anderes, als daß ROOSEVELT Ende der dreißiger Jahre des 2 0 . Jahrhun-
derts einen Krieg mit Deutschland ganz bewußt ansteuerte. Bereits am
1 2 . Januar 1 9 3 9 berichtete Graf POTOCKI, polnischer Botschafter in den
USA, seinem Außenminister:

21 Harry Flmer BARNIM, Entlarvte Heuchelet, Priester, Wiesbaden 1961, S. 16.


22 Ebenda, S. 15.
23 BARNES, Die deutsche Kriegsschuldfrage, aaO. (Anm. 2), S. 14 f. u. 71 ff.

24 S. Everett GLEASON, The Challenge to Isolation, 2 Bde., New York 1952.


25 Walther HOFER, Die Entfesselung des 2. Weltkrieges, Fischer, Frankfurt/M. 1 9 6 4 .
26 Vom polnischen Botschafter in London ausdrücklich bestätigt. Siehe: Edward
RACZYNSKI, In Allied London, Weidenfeld u. Nicoison, London 1962, S. 51.

25
»Der Präsident ROOSEVELT war der erste, der den Haß auf den Fa-
schismus zum Ausdruck brachte. Er verfolgte dabei einen doppelten
Zweck. 1. Er wollte die Aufmerksamkeit des amerikanischen Volkes von
den innerpolitischen Problemen ablenken, vor allem vom Problem des
Kampfes zwischen Kapital und Arbeit. 2. Durch die Schaffung einer
Kriegsstimmung und die Gerüchte einer Europa drohenden Gefahr wollte
er das amerikanische Volk dazu veranlassen, das enorme Aufrüstungs-
programm Amerikas anzunehmen, denn es geht weit über die Verteidi-
2 Polnische Dokumen- gungsbedürfnisse der Vereinigten Staaten hinaus.. . Der Weg war ganz
te %ur Vorgeschichte einfach, man mußte nur von der einen Seite die Kriegsgefahr richtig in-
des Krieges, Birkhäu- szenieren, die wegen des Kanzlers HITLER über der Welt hängt, anderer-
ser, Basel 1940, seits mußte man ein Gespenst schaffen, das von einem Angriff der tota-
S. 49. litären Staaten auf die Vereinigten Staaten faselt.«27 BARNES verwies auf
28 Das Originalzitat diese Dokumente ausdrücklich. Als zusätzlichen Beleg für die alliierte
in: ForrestaJDiaries, Verantwortlichkeit führte er den britischen Premierminister CHAMBER-
The Viking Press, LAIN selbst an, der 1939 nach Ausbruch der Feindseligkeiten in Europa
New York 1951, geäußert hatte: »Amerika und das Weltjudentum hatten England in den
S. 122. Krieg getrieben«28 (»America and the World Jews had forced England
29 Ebenda. into the war«). Schließlich berief BARNES sich auf den damaligen US-
Botschafter in England, Joseph KEN-
NEDY. Dieser, der Vater des späteren
US-Präsidenten, hatte unzweideutig
festgestellt: »Weder die Franzosen
noch die Briten hätten Poien zum
Kriegsgrund gemacht, wären nicht
die ständigen Sticheleien aus Wa-
shington gewesen.«29
Der Leser mag diese Zeugnisse für
zutreffend oder für unzutreffend er-
achten, Er mag die Verantwortung der
Engländer stärker hervorheben, die
der Amerikaner geringer einschätzen
oder eine völlig andere bevorzugen. Es
ist jedoch völlig unwissenschaftlich,
den Standpunkt führender Diploma-

Neville C H A M B E R L A I N am 15. September


1938 auf dem Obersalzberg. Das Ge-
spräch mit HITLER bewog ihn dazu, die Ab-
tretung des Sudetenlandes an Deutschland
betreiben zu wollen.

26
US-Präsident Franklin
Defano ROOSEVELT mit
seinem Berater und
>Chostwriter< Samuel
R O S E N M A N . Dirk K U N E R T

(Ein Weltkrieg wird


programmiert, S. 292)
bemerkt zutreffend:
»Als die dramatisch
inszenierte Krieg-in-
Sicht-Panikmache im
Januar und Februar
1939 die Gemüter in
einen bisher nicht
gekannten Span-
nungszustand versetzt
hatte, aktivierte
ROOSEVELT das Tempo

seiner psychologi-
schen Kriegführung.«

ten, insbesondere den des britischen Premierministers, einfach nicht zur


Kenntnis zu nehmen. Es haben sich darüber hinaus doch auch andere
Politiker, unter ihnen der polnische Botschafter in Paris, LUKASIEWICZ, der
französische Außenminister George BONNET und der ehemalige südafri-
kanische Verteidigungsminister Oswald Pmow, in diesem Sinne geäußert.
Obwohl BARNES unermüdlich seine Stimme erhob, gelang der Durch-
bruch zunächst nicht. Erst als Prof. David L. HOGGAN Anfang 1961 sein
Werk Der erzwungene Krieg,*' das in der Zwischenzeit fünfzehn Auflagen
erlebte, herausbrachte, riß der Schleier mit einem Mal auf. Die Kriegs-
schuldfrage war nicht mehr tabu, sie wurde wieder diskutiert. HOGGAN
hatte die Bresche geschlagen. BARNES stützte ihn, wo er nur konnte. Sein
ganzes Ansehen bot er auf, um dem Erzwungenen Krieg zum Durchbruch
zu verhelfen.31 Der Erfolg blieb nicht aus. Die Stimme der Revisionisten
war unüberhörbar geworden, die Hofhistoriker waren auf dem Rückzug.
Eine neue Forschergeneration schien sich durchzusetzen: Dirk BAVEN-
DAMM, Alfred SCHICKET., Walter POST, Stefan SCHEIL in Deutschland; Al-
fred DE ZAYAS, David CALLEO, Bruce BARTLETT, Robert STINNET in den

30 David L, HOGGAN, Der erzwungene Krieg, Grabert, Tübingen 1 9 6 3 . Der Verfas-


ser legt Wert auf die Feststellung, daß er HOGGANS mitunter überspitzte Auffas-
sungen nicht immer teilen kann. Bedauerlicherweise sind ihm bei der Abfas-
sung seiner Studie einige recht unschöne Irrtümer unterlaufen, die er nur teilweise
zufriedenstellend zu korrigieren vermochte.
31 Trotz der engen Verbindung stimmten HOGGAN und BARNES durchaus nicht
in allem überein, Ixider haben sich beide Historiker später überworfen.

27
USA; Helmut G O R D O N , John CHARMEF.Y in England; Jacques BENOIST-
MECNIN in Frankreich; Viktor SUWOROW, Dimitri WOLKOGONOW aus Ruß-
land unter anderen. Man beginnt, langsam wieder die Geschichte als Wis-
senschaft zu verstehen. Der Blickwinkel >Anklage oder Verteidigung< ist
im Ergebnis viel zu emotional, viel zu kurzlebig, als daß sich daraus et-
was Wirkliches lernen ließe. Grundlagenforschung tut not, wenn wir nicht
zu Fehlschlüssen kommen wollen. Es ist das große Verdienst von Prof.
BARNES, in einer Zeit, in der die Propaganda gnadenlos das Zepter führte,
hier den richtigen Weg gewiesen zu haben. Das gilt um so mehr, als heute
im Unterschied zur Weimarer Zeit zumindest die deutsche Regierung
den Revisionisten fast durchweg Schwierigkeiten bereitet und jegliche
David L. HOGG AN. Unterstützung verweigert. Dabei ging es BARNES niemals um die Recht-
fertigung HITLERS oder des Nationalsozialismus. Schon die Problemstel-
lung lehnte er als unhistorisch ab. Andererseits wandte er sich gegen jeg-
lichen Versuch, die Tatsachen zurechtzustutzen, nur um den im Krieg
unterlegenen Parteien, sei es Deutschland, Japan oder Italien, noch zusätz-
lichen Schaden zuzufügen. Das danken wir Deutsche ihm besonders.
BARNES stellte seine Forschungen stets auf eine breite dokumentari-
sche Grundlage. Seine Erkenntnisse mögen im einzelnen durch neueres
Schrifttum ergänzt werden, in den großen Linien halten sie jedweder
Kritik stand. Das gilt insbesondere im Hinblick auf seine Pearl-Harbor-
Forschungen, die er noch kurz vor seinem Tod zum Abschluß bringen
32BARNES, Pearl konnte.12 BARNES bestätigte darin anhand neuer Quellen die Erkenntnis-
Harbor after a se Charles TANSILLS, daß ROOSEVELT die Japaner zum Überfall auf Pearl
Quarter of a Century, Harbor provozierte, um so durch die »Hintertür« in den europäischen
aaO. (Anm. 2). Krieg einzutreten. Zusammenfassend führte er aus: »Es steht einwand-
frei fest, daß ROOSEVELT sein Land in den Zweiten Weltkrieg gegen den
Willen von 80 Prozent des amerikanischen Volkes hineingelogen hat.
Dieser Krieg kostete die Vereinigten Staaten etwa 1 Mill. Verluste...
Die unmittelbaren Kosten an Geld beliefen sich für die Vereinigten Staa-
ten auf etwa 350 Milliarden Dollar, die Gesamtkosten auf mindestens
1 Vz Billionen Dollar. . . ROOSEVELTS salbungsvolle moralische Verheißun-
gen und H U L L S fromme Wünsche sind vom Winde verweht; sie ließen
die Schrecken des Massenmordes, entsetzliche physische Verheerungen,
Verschleppungen im großen, rachsüchtige Metzeleien, legalisierte Lynch-
justiz an geschlagenen Heerführern, eine Welt im Chaos und nur noch
33BARNES, Entlarvte die Erinnerung an internationale Zusammenarbeit zurück.«"
Heuchelei, aaO. Man hat BARNES wegen seiner Ausführungen auf das heftigste angegrif-
(Anm. 2),S. 220 u. fen, man hat ihn geschmäht, einen >Nazi< geschimpft und so weiter. Doch
222.
er ist nicht zu Kreuze gekrochen. Unbestechlich und kompromißlos blieb
er der Sache verpflichtet und wahrheitsliebend, ein echter Wissenschaftier.
Wir Deutsche sind ihm zu großem Dank verpflichtet. Dankwart Kluge

28
Kaiserreich

29
Zur allmählichen Einkreisung
Deutschlands zu Beginn des 20.
Jahrhunderts. Die Karikatur von A.
H E N G E L E R bezeichnet die Reaktion

der meisten Deutschen im Jahre


1914 bestens: Das friedliche
Deutschland wird gleichzeitig von
dem französischen Hahn, dem eng-
lischen Seeungeheuer und dem rus-
sischen Bären bedroht. Angesichts
dessen meint der Bauer:
»Es ist höchste Zeit, daß ich
meinen Dreschflegel hole!«

30
Zur Grablege Napoleons III.

ie Kultur eines Volkes erkennt man auch an der Achtung, die seine
D Angehörigen den Friedhöfen und den Gebeinen toter Gegner entge-
genbnngen. Die Sowjets zerstörten vielfach deutsche Soldatenfriedhöfe;
TITOS Partisanenregierung befahl sogar nach Ende des Zweiten Welt-
1 Beitrag Nr. 358,
krieges die Vernichtung deutscher Soldatengräber.1 Die vier Alliierten
des Zweiten Weltkrieges verstreuten die Asche der von der Nürnberger »Jugoslawische
Sieger justiz 1946 zum Tode durch den Strang verurteilten führenden deut- Behörden ordnen
schen Politiker und großen Heerführer an unbekanntem Ort.' Grabschändung an«.
1 Beitrag Nr. 6,
Dagegen achteten die von den Alliierten unberechtigt der Barbarei
»Angelsächsische
beschuldigten Deutschen Friedhöfe und Denkmale ihrer Feinde in er-
Behandlung toter
obertem Land. Sie ehrten darüber hinaus sogar Denkmale und Ehren- Gegner 1898 und
stätten ihrer Gegner. So stellten sie im September 1939 im eroberten 1945«.
Krakau eine militärische Ehrenwache am Grabmal des polnischen Dik- 3 Beitrag Nr. 169,
tators PiLSÜDSKI auf.1 HITLER ordnete nach dem glücklichen Ende des
»Der Warschauer
Frankreich-Feldzugs die ehrenvolle Eberführung des Sarkophags mit den Aufstand 1944«.
Gebeinen des nicht zur Regierung gekommenen NAPOLEON II. ( 1 8 1 1 —
1 8 3 2 ) , des Herzogs von Reichstadt (in Nordböhmen), aus der Wiener
Kapuzinergruft in den Pariser Invalidendom an, wo er, der einzige legitime
Sohn NAPOLEONS I . ( 1 7 6 9 - 1 8 2 1 ) , der zu dessen Gunsten abdankte, seit
dem 15. Dezember 1940, dem 100. Jahrestag der Heimkehr seines Vaters
nach Frankreich, von deutschen Soldaten überführt, nahe diesem liegt.2
Dem in England ruhenden NAPOLEON I I I . ( 1 8 0 8 - 1 8 7 3 ) geschah sol-
ches bisher nicht, weil Briten widersprachen. Der Neffe NAPOLEONS I.,
der 1848 Präsident der zweiten Republik wurde und sich 1852 zum Kai-
ser der Franzosen ausrufen ließ, ging nach dem von ihm erklärten, dann
aber verlorenen Deutsch-Französischen Krieg 1871 nach England ins
Exil, wo er 1873 starb und zunächst in der St. Mary-Kirche des südeng-
lischen Chislehurst bei London beigesetzt wurde. 1881 erwarb seine Wit-
we, die Kaiserin EUGENIE, bei Farnborough ein Grundstück und ließ
darauf die St. Michaels-Abtei als ein Mausoleum errichten. In diesem wur- NAPOLEON I

den 1 8 8 8 NAPOLEON III. und sein schon 1 8 7 9 im britischen Kolonial-


dienst in Südafrika von Zulus erschossener Sohn LOUIS-NAPOLEON, ge-
nannt Lou-Lou, sowie 1 9 2 0 EUGENIE beigesetzt. Zunächst sorgten
französische Prämonstratenser-Mönche für die Pflege, dann Benedikti-
ner aus Frankreich. 1947 übernahmen britische Benediktiner das Mauso-
leum und dessen Betreuung.
Eine um 1960 gebildete französische patriotische »Vereinigung für die
Rückkehr der Gebeine der kaiserlichen Familie< setzte sich energisch für
eine Überführung der in England ruhenden Toten ein. Sie berief sich

31
Links: Grab N A P O L E O N S II. im Pariser Invaliden-
dom.; rechts: Grab N A P O L E O N S III. in der St,
Michael's Abtei in Famborough.

auf ein Testament des >Prince Imperial, des Sohnes NAPOLEONS III., der
erklärt hatte, er wünsche neben seinem Vater zu ruhen bis zu dem Tage,
an dem sie beide mit NAPOLEON I. im Pariser Invalidendom vereint sein
würden. Die angesehene Pariser Tageszeitung Le Monde schrieb sogar:
»Ein König (Louis PHILIPPE 1840) hat einst die sterblichen Reste des er-
sten Kaisers im Invalidendom empfangen. Wird es die Fünfte Republik
verstehen, dem zweiten Kaiser gegenüber die gleiche Seelengröße zu er-
weisen?«4 Und der frühere Pensionsminister RIVOU.IT erklärte: »Man kann
verlangen, daß nach einem Exil von 87 Jahren der Mann, der Frankreich
zwei Provinzen (Savoyen und Nizza, R. K.) eroberte, endlich in Frank-
reich beerdigt wird.«
Doch die britischen Mönche verweigerten die Herausgabe der Sarko-
phage. Ihr Pater Sylvester erklärte: »Wir haben die Abteikirche mit allen
anderen Gebäuden und Grundstücken erworben, und die Gruft ein-
schließlich der Särge gehört dazu. . . Eine Überführung der Leichen nach
Frankreich kommt nicht in Frage. Die Leichen gehören uns, und wir
haben keine Lust, sie herauszugeben.«4 Die Mönche wollen ihren Schatz
eben behalten.
Selbst Charles DE GAULLE als regierender Staatspräsident schnitt um
4 Zitiert in »Die 1960 bei einem Besuch in London diese Frage nicht an, da seine Berater
Särge von Fambo- erkannt hatten, daß nur der Papst in Rom den britischen Mönchen An-
rough«, in: Der ordnungen geben könne. So ruhen diese Toten der kaiserlichen Familie
SpiegelNr, 22, 25. 5. weiterhin im Ausland, und Frankreichs Patrioten müssen zum Besuch
1960, S. 60. der Gräber noch immer nach England reisen. Rolf Kosiek

32
Die Legende um die Pariser Kommune 1871

n der sozialistischen und bolschewistischen Geschichtsschreibung


I nimmt der Aufstand der Pariser Kommune von 1871 einen bedeuten-
den Platz ein. LENINS Sarg wurde 1 9 2 4 in eine rote Fahne eingehüllt, die
1 Zitiert von Walter
GEIS, »Entzaube-
Pariser Aufständische 1871 auf den Barrikaden aufgepflanzt haben sol-
rung zweier liegen-
len. Auf dem 5. Kongreß der Komintern im Jahre 1924 wurde der 18.
den«, in: Deutsche
März, an dem 1871 die Kommune in Paris ausgerufen wurde, zum so- Zeitung, 1. 6. 1963.
wjetischen Gedenktag erklärt. Karl M A R X hat den Pariser Aufstand »als 2 Günter GRÜTZ-
die glorreichste Tat unserer Partei seit der Julirevolution« gefeiert, ihn als NER, Die Pariser
»Arbeiterrevolution« und »eine ruhmreiche Episode des Klassenkamp- Kommune, Macht und
fes« bezeichnet. Er hat auch das Märchen verkündet, daß in Paris zur Karriere einer hegende.
Zeit des Aufstandes vom 18. März bis 28. Mai 1871 die Straßen »wirklich Die Auswirkungen
wieder einmal sicher waren, und das ohne Polizei«.1 auf das politische
Doch das ist falsch. Wie die geschichtlichen Tatsachen wirklich waren, Denken in Deutsch-
hat der Historiker Günter GRÜTZNER dargelegt.2 Danach erhoben sich land, Westdeutscher
Verlag, Köln-
nach der Ausrufung der Republik und dem französischen Vorfrieden mit Opladen 1963.
Preußen vom Februar 1871 in Paris am 18. März 1871 die Bataillone der
Nationalgarde, die von verschiedenen republikfeindlichen, kleinbürgerli-
chen und gegen die »Kapitulantenbande« der neuen Regierung unter Mi-
nisterpräsident THIERS eingestellten Gruppen unterstützt wurden. Un-
mittelbarer Anlaß war das Einrücken regierungstreuer Truppen in Paris,
die die Herausgabe der von der Bürgermiliz in Besitz genommenen Ka-
nonen verlangten. Danach werden zwei Generale ermordet, und die Re-
gierung wurde für abgesetzt erklärt, die wie das Parlament den Sitz nach
Versailles verlegte. In der von den deutschen Truppen eingeschlossenen
französischen Hauptstadt bildeten sich ein Zentralkomitee der National-
garden und daneben ein Kommunerat aus unter anderen Jakobinern, In-
ternationalisten und Sozialisten. Nach dem Vorbild von 1793 wurde An-
fang Mai ein diktatorisches Wohlfahrtskomitee eingesetzt. Die Trikolore
wurde durch die rote Fahne ersetzt, die Fabriken wurden in Arbeiter- Adolphe THIERS.
genossenschaften umgewandelt. Es herrschten jedoch eher anarchisti-
sche als kommunistische Zustände. Wie mehrfach in der französischen
Geschichte stand das revolutionäre Paris gegen die vorwiegend konser-
vativen Provinzen.
Die mit deutscher Duldung in Paris einrückenden französischen Trup-
pen nahmen vielfach Massenexekutionen vor, worauf die Aufständischen
mit Geiselerschießungen antworteten. Insgesamt kamen rund 20000
Menschen bei diesen Vorgängen ums Leben. Kriegsgerichtsprozesse dau-
erten bis 1875, erst 1876 wurde der Belagerungszustand in der französi-
schen Hauptstadt wieder aufgehoben.

33
31. Oktober 1870: Die harten Maßnahmen der regierungstreuen Truppen wurden, auch
Der Sitzungssaal der im Ausland, als unverhältnismäßig kritisiert. Insbesondere der deutsche
Regierung der natio- SPD-Vorsitzende August BEBEL griff im Reichstag die deutsche Regie-
nalen Verteidigung
rung unter BISMARCK wegen der Duldung der Grausamkeiten heftig an
wird von den Partei-
gängern der Pariser und sagte voraus, »daß, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf
Kommune besetzt. des Pariser Proletariats >Krieg den Palästen, Frieden den Hütten, Tod der
Aus: Der Deutsch- Not und dem Müßiggang* der Schlachtruf des gesamten europäischen
französische Krieg Proletariats sein wird«.1 Auch wegen ihrer Stellung zur Pariser Kommu-
1870/71 in Wort und ne erhielten August BEBEL und Karl LIEBKNECHT 1872 je zwei Jahre
Bild, Reutlingen o.).
Festungshaft.
So wurde in der sozialistischen Arbeiterschaft die Pariser Kommune
mystisch überhöht, im Bürgertum als der >rote Schrecken* gefürchtet,
was beides zu ihrer Überbewertung beitrug.
In Wirklichkeit könne mit einigem Recht gesagt werden, »daß nicht
die Internationale die Kommune, sondern die Kommune die Internatio-
nale >gemacht< habe«, oder »daß nämlich die Kommune von 1871 dem
Marxismus kaum etwas verdanke, aber dagegen der Marxismus sehr viel
der Kommune«.1 Rolf Kosiek

34
Zur Krankheit Kaiser Friedrichs III.

er spätere Kaiser FRIEDRICH III. (1831-1888) stand schon wäh-


D rend seiner Kronprinzenzeit stark unter dem Einfluß seiner Frau
VIKTORIA, der ältesten Tochter der Königin VICTORIA von Großbritanni-
en und Irland, Da sein Vater, Kaiser WILHELM I,, 91 Jahre alt wurde, kam
FRIEDRICH erst spät im Jahre 1888 zur Regierung. Er war als fortschrittli-
cher und beliebter Monarch die Hoffnung vieler Deutscher. Im Jahre
1887 zeigten sich erste Anzeichen einer Halserkrankung mit Halsschmer-
zen, die dann ein Jahr später zum Tode führte.
Folgende Tatsachen darüber sind wenig bekannt: Der Berliner Chir-
urg Ernst VON BERGMANN diagnostizierte die Krankheit im März 1887 als
ein Kehlkopfleiden und wollte eine kleine Wucherung an einem Stimm-
band operativ entfernen, wozu auch die ebenfalls hinzugezogenen Pro-
fessoren TOBLER und GERHARDT rieten. Der Kronprinz stimmte dem
Eingriff zu. Doch seine Frau drängte erfolgreich auf Aufschub und die
Hinzuziehung des englischen Spezialisten MACKENZIE. Dieser behauptete, FRIEDRICH III. regierte
lediglich 99 Tage.
das Leiden ohne Operation heilen zu können, und empfahl einen Urlaub
Er starb am 15. Juni
an der englischen Küste. Der dringende Rat VON BERGMANNS, weitere 1888 an Kehlkopf-
deutsche Spezialisten hinzuzuziehen, wurde abgelehnt. krebs.

Kaiser FRIEDRICH III. mit seiner Fami-


lie, 2. v. I. seine Frau V I K T O R I A , eine
Tochter der Queen V I C T O R I A ,

35
Im Sommer 1887 hielt sich das Kronprinzenpaar auf der Insel Wright,
im Herbst in San Remo auf. Auf Drängen des Kaisers ging Professor
BRAMANN mit, der jedoch von den englischen Ärzten angefeindet wurde.
Als der Zustand des Kronprinzen immer schlechter wurde, verlangte der
deutsche Arzt die Operation. Die Briten lehnten weiterhin einen Ein-
griff ab und gaben optimistische Berichte an die Presse.
Am 9. Februar 1888 erlitt FRIEDRICH einen schweren Erstickungsan-
fall, und im Hotelzimmer mußte ein Luftröhrenschnitt als letzte Rettung
gemacht werden, den BRAMANN unter ungünstigen Verhältnissen durch-
führte, wobei die englischen Ärzte sich weigerten, eine Narkose zu ma-
chen. »Und gerade als er (BRAMANN) das Messer ansetzte, ließ der engli-
sche Arzt den Kopf des Kronprinzen niederfallen. Glücklicherweise nahm
BRAMANN die Bewegung des Engländers wahr und konnte so Schlimme-
res verhindern. So konnte an diesem 9. Februar 1888 durch einen Luft-
röhrenschnitt und das Einsetzen einer Kanüle das Weiteratmen gesichert
werden. Doch hatte der Kronprinz dadurch die Fähigkeit zu sprechen
1 Siegfried HERZOG, verloren.« 1
»Kaiser Friedrich Daraufhin schickte der Kaiser VON BERGMANN nach San Remo, der
III. Vom Lebens- dort wie vorher BRAMANN einen ständigen Kampf mit den Briten um
weg zum Leidens- Erleichterungen für den Kranken führen mußte.
weg«, in: Die Am 9. März 1888 starb WILHELM L hochbetagt. FRIEDRICH III,, nun
Rundschau Nr. 3,
neuer König von Preußen und Deutscher Kaiser, fuhr nach Berlin zu-
2006, S. 10.
rück. Er wohnte zunächst im Schloß Charlottenburg, ab Anfang juni im
neuen Palais in Potsdam. »Bald darauf bekam der Kaiser einen erneuten
Erstickungsanfall. Die englischen Ärzte, welche VIKTORIA weiterhin be-
vorzugte, hatten - zum Reinigen, wie sie sagten - die Atmungskanüle aus
der Luftröhre herausgenommen. Dann vermochten sie die Kanüle nicht
wieder einzusetzen.
Am 1 5 . Juni 1 8 8 8 starb Kaiser FRIEDRICH I I I . nach großen Qualen.
BERGMANN setzte gegen den Widerstand der Kaiserin die Untersuchung
des Leichnams durch. Die englischen Ärzte MACKENZIE und HOVELL
2 Ebenda, S. 10 f.
wurden zur Teilnahme verpflichtet. Sie versuchten zu entkommen. Doch
1 Freifrau VON
da Soldaten das Schloß umstellt hatten, mißlang der Versuch. Die Unter-
BRAND, Persönliche
suchung, die BERGMANN leitete und die der Anatom VIRCHOW durchführ-
Erinnerungen an ihren
Vater Ernst von te, bestätigte die frühere Diagnose der deutschen Ärzte: Kehlkopfkrebs.
Bergmann während der Mit versteinerten Gesichtern stimmten die englischen Ärzte dem Unter-
Krankheit Kaiser suchungsergebnis zu und unterschrieben das Protokoll über die Unter-
Friedrichs III. Tübin- suchung.« 2

gen , o. J. (um Die aufschlußreichen medizinischen Berichte über den Kaiser wurden
1936). von der Tochter Ernst VON BERGMANNS der Nachwelt erhalten.3
Rolf Kosiek

36
Der Helgoland-Sansibar-Vertrag 1890

urch Geschichtsbücher, Lexika und Medien geistert die Angabe,


D daß am 1. 7. 1890 im sogenannten Helgoland-Sansibar-Vertrag
Deutschland von Großbritannien die Insel Helgoland im Tausch gegen
die Insel Sansibar erhalten habe. 1 1 So im Großen

Doch das trifft nicht zu. Sansibar hat nie zum Deutschen Reich ge- Brockhaus in 12
hört, sondern war ein souveränes arabisches Sultanat. Das Tauschobjekt Bänden, Wiesbaden
für Helgoland war in Wirklichkeit die deutsche Kolonie Wituland in 1954, Bd. 5, S. 372.
Ostafrika. Noch heute zeugen seltene Briefmarken aus Deutsch-Witu von 2 »Eine abgetragene
dem deutschen Besitz, der der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt blieb. Dankesschuld«, in:
Die Kolonie erstreckte sich von der Tana-Mündung in Kenia bis zur Mün- Mitteilungsblatt des
dung des Juba-Flusses in Somalia - über 300 Kilometer Küstenlinie. 2 Traditionsverbandes
Witu erwarben die Deutschen auf abenteuerliche Weise. Es war seit ehemaliger Schuttz- und
Überseetruppen, Mai/
800 Jahren der Hauptsitz der Sultane der Nabahanis. Ihr Todfeind war
Juni 1967, S. 15.
der Sultan von Sansibar, denn alle Sklaven, die aus seinem Machtbereich 1 Burkhard ViEWEG,
flohen, fanden beim Sultan von Witu Asyl, der die Sklaverei längst abge- Macho-Porim, Mar-
schafft hatte. 3 graf, Weikersheim
Sultan ACHMED von Witu suchte einen mächtigen Partner, der die 1996, S. 151.
Schutzherrschaft über Witu wegen der ständigen Attacken aus Sansibar
übernehmen sollte. Über den deutschen Afrikaforscher BRENNER forderte
er 1867 Preußen auf, das aber zu der Zeit andere Sorgen hatte. 1885
stimmte BISMARCK jedoch dem Begehren des Sultans zu, Vermittler wa-
ren die Brüder Clemens und Gustav DENHARDT, die sich in Ostafrika
kaufmännisch und wissenschaftlich betätigten und die Voraussetzungen
für den deutschen Erwerb des Landes schufen. So wurde Witu-Land
deutsch, was aber nicht im Interesse der Engländer lag, denen ein groß- Burkhard VIRWEG,
4

britisches Afrika vorschwebte, 4 »Die vergessene


Englands damaliger Premierminister Lord SAUSBURY hielt Helgoland Geschichte von
für strategisch bedeutungslos und sah keinen Grund, es zu behalten. Seit Deutsch-Witu oder
1873 plante BISMARCK, die rote Insel ins Reich zurückzuholen, die ur- Helgoland gewon-
nen — Witu verlo-
sprünglich deutsch, dann dänisch (1714) und ab 1807 britisch geworden
ren«, Mitteilungsblatt
war. Das entsprechende Abkommen lief nicht, wie fälschlicherweise be- des Traditionsverban-
hauptet wurde, unter der Bezeichnung >Helgoland-Sansibar-Vertrag«, son- des ehemaliger Schutz-
dern unter »Vertrag über Kolonien und Helgoland*. Wichtigster Posten und Überseetruppen, 3,
in dem Abkommen war Witu-Land, dazu das Ngami-Gebiet in Südwest- 1993, S. 63-72.
Afrika, jüngste Erwerbungen von Dr. Carl PEIERS in Uganda und bei 5 Burkhard ViEWEG,
Mombasa, dazu Grenzkorrekturen in Kamerun und Togo. Deutschland »Die Schutzbefoh-
verpflichtete sich, die Schutzherrschaft Großbritanniens über die Inseln lenen verraten«, in:
Sansibar und Pemba anzuerkennen. In Südwest-Afrika erhielt Deutsch- Generalanzeiger Bonn,
land den Caprivi-Zipfel. 5 9. 8 . 1 9 9 0 , S. 2 1 .

37
Hissung der Reichs- Die irrtümliche Ansicht, daß Helgoland gegen Sansibar eingetauscht
flagge auf Helgoland worden sei, entstand wenige Tage nach Vertragsabschluß. BISMARCK, der
am 9. August 1890 in sich nach seiner Entfassung auf sein Jagdschloß Friedrichsruh zurückge-
Anwesenheit Kaiser
W I L H E L M S II. Zuvor
zogen hatte, wurde von Reportern bestürmt und gefragt, was er von
war die Übergabe dem Vertragsabschluß seines Nachfolgers halte. BISMARCK, in der Rolle
Helgolands durch Sir des Ausgebooteten, antwortete verstimmt, daß man in der Politik mehr
Arthur B A R K I Y an Ausdauer aufbringen müsse; nach ein paar Jahren Geduld und Verhand-
Staatsminister von lungen hätten wir — und nicht die Engländer — Sansibar haben können.
B O T T I C H ER erfolgt.
So aber sei das ein Verlust für uns.
Die Reporter griffen das Wort >Verlust< auf, und am nächsten Tag stand
überall zu lesen, daß Deutschland das große Sansibar gegen das kleine
Helgoland verloren habe. Jedes Dementi half nichts mehr. Die falsche
Meinung >Helgoland gegen Sansibar< setzte sich durch.6
In Witu-Land schlug die Nachricht vom Vertrag wie eine Bombe ein.
Das kleine Volk fühlte sich von den Deutschen verraten und verkauft.
Denn nun war es den Engländern und Sansibar bedingungslos ausgelie-
fert. Die Deutschfreundlichkeit verwandelte sich in wilden Haß, und alle
Deutschen, deren man habhaft werden konnte, wurden erschlagen. Dar-
aufhin führten die Engländer eine Strafaktion durch, bei der der Sultan
an Gift im Gefängnis starb." Friedrich Karl Pohl
6 »Nachdenken über Patriotismus in Deutschland, in: Welt am Sonntag, 12. 8.
1990; Burkhard ViEWEG, »Betr: Uwe Greve: >Der rote Felsen von Helgoland<«
in: MUT, Nr. 6,1990.
Burkhard VIEWEG, »Die vergessene Geschichte von Deutsch-Witu«, in: Deut-
sche Geschichte, Nr. 11,1996.

38
Deutsche Prinzen auf Europas Throne gewählt

ach 1945 wurde es üblich, die deutsche Geschichte als einen be-
N dauerlichen >Sonderweg< mindestens seit Martin L U T H E R oder F R I E D -
RICH DEM G R O S S E N anzusehen. Die Umerziehung sollte deswegen das
ganze deutsche Volk, das von Grunde aus böse und ein >Tätervolk< sei,
vollkommen verändern.
Wie sehr jedoch im Gegensatz zu dieser Beurteilung in den letzten
Jahrhunderten die Deutschen bei den europäischen Völkern beliebt wa-
ren, beweist nicht zuletzt die Tatsache, daß seit dem 17. Jahrhundert etli-
che deutsche Prinzen von den jeweils zuständigen Gremien der betref-
fenden Länder als Könige und Gründer einer neuen Dynastie gewählt
und berufen wurden, wenn in diesen Fällen auch nicht immer wegen
veränderter Zeitumstände die Errichtung eines neuen Königshauses auf
Dauer verwirklicht werden konnte.
Eine nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Liste solcher
Berufungen deutscher Prinzen zu Landesherren umfaßt die folgenden
Fälle:
1 . K A R L X . GUSTAV von Schweden. Die nach G U S T A V A D O L F S Tod
( 1 6 3 2 ) regierende Tochter C H R I S T I N E trat 1 6 5 4 die Regierung an ihren
Vetter K A R L X . GUSTAV ( 1 6 2 2 - 1 6 6 0 ) , einen Enkel K A R L S I X . , aus dem
Hause Pfalz-Zweibrücken ab, dessen Nachkommen, insbesondere K A R L
X I . und K A R L X I I . , bis 1 7 2 0 in Schweden regierten und große Politik
machten.
2 . FRIEDRICH 1. von Schweden. Prinz FRIEDRICH von Hessen-Kassel
regierte von 1 7 2 0 - 1 7 5 1 in Schweden,
3 . A D O L F F R I E D R J C H von Schweden. Prinz A D O L F FRIEDRICH von Hol-
stein-Gottorp regierte von 1751 bis 1771 in Schweden, seine Nachkom-
men bis 1818.

Von links KAHL X.


von Schweden,
FRIEDRICH I. v o n
Schweden und
AOOLF FRIEDRICH v o n
Schweden.

39
4. AUGUST DER STARKE. Der sächsische Kurfürst AUGUST DER STARKE
(1670—1733) wurde 1697 zum König von Polen gewählt und regierte als
solcher mit einer Unterbrechung (1706-1709) bis zu seinem Tod. Die
Krone Polens blieb bis 1763 bei den sächsischen Kurfürsten.
Von oben: O T T O I. 5. LEOPOLD von Belgien. Prinz LEOPOLD von Sachsen-Coburg ( 1 7 9 0 -
von Griechenland, 1 8 6 5 ) , jüngster Sohn des Herzogs FRANZ von Sachsen-Coburg, wurde
C A R O L I. v on Rumä-
am 4. Juni 1831 zum König des neu geschaffenen Belgiens gewählt. Sein
nien und L E O P O L O von
Hohenzollern-Sigma- Nachkommen regieren dort noch.
ringen. 6. O T T O 1. von Griechenland. Prinz O T T O von Bayern (1815—1867),
zweiter Sohn König LUDWIGS I . von Bayern, wurde nach dem Freiheits-
kampf der Griechen gegen die Türken am 8, August 1832 von der grie-
chischen Nationalversammlung zum König von Griechenland gewählt,
zog am 30. Januar 1833 in Naupiia ein, von wo die Residenz 1835 nach
Athen verlegt wurde. Im Oktober 1862 wurde er durch eine Revolution
gestürzt. Sein Nachfolger wurde am 30. Oktober 1863 Prinz WILHELM
von Dänemark als König GEORG I.
7 . MAXIMILIAN I . von Mexiko. Der Erzherzog MAXIMIIJAN von Öster-
reich ( 1 8 3 2 - 1 8 6 7 ) nahm 1 8 6 4 die ihm auf Betreiben NAPOLLONS III.
angebotene mexikanische Kaiserkrone an, fiel aber nach Abzug der Fran-
zosen durch Verrat in die Hände seines Widersachers JUAREZ und wurde
mit seinen Generalen M I R A M O N und M E J L A am 1 9 . Juni 1 8 6 7 in Quereta-
ro erschossen.
8 . K A R L I. ( C A R O L I.) von Rumänien, Prinz K A R L (1839-1914) von
Hohenzollern-Sigmaringen, Sohn des regierenden K A R L ANTON Fürst von
Hohenzollern-Sigmaringen, wurde 1866 durch Volksabstimmung Fürst,
am 26. 3. 1881 König von Rumänien. Sein Haus regierte dort bis zur
erzwungenen Abdankung CAROLS II. am 6. September 1940.
9. FERDINAND von Bulgarien. Der Prinz FERDINAND von Coburg-
Kohäry wurde 1887 von der bulgarischen Nationalversammlung in Tirno-
wo zum Fürsten von Bulgarien gewählt. Er erklärte am 5. Oktober 1908
die Unabhängigkeit seines Landes und nahm den Königs-(Zaren-)Titel
an. Er dankte angesichts der Niederlage der Mittelmächte im Ersten
Weltkrieg, den er als deutscher Verbündeter geführt hatte, am 3. Okto-
ber 1918 zugunsten seines Sohnes BORIS I I I . ab, der 1943 starb. Dessen
minderjähriger Sohn SIMEON kam nicht mehr zur Regierung, da am 8.
September 1946 die Monarchie in Bulgarien abgeschafft wurde.
1 0 . LEOPOLD. LEOPOLD von Hohenzollern-Sigmaringen ( 1 8 3 5 - 1 9 0 5 ) ,
einem weiteren Sohn von KARI . ANTON Fürst von Hohenzollern-Sigma-
ringen, wurde, nachdem die spanische Königin Is AB ELLA II. durch eine
Militärrevolution vom 18. September 1868 gestürzt worden war, vom
spanischen Ministerpräsidenten PRIM die spanische Krone angeboten.
Der Widerstand des französischen Königs NAPOLEON III. ließ ihn am 1 2 .

40
Juli 1870 auf den spanischen Thron verzichten. An diesem Vorgang ent-
zündete sich dann der Deutsch-französische Krieg 1870/71.
1 1 . W I L H E L M L von Albanien. W I L H E L M Prinz zu Wied (1876-1945)
wurde am 7. März 1914 in Durazzo nach Herstellung eines selbständigen
Albaniens erster Fürst (Mbret) von Albanien. Nach Ausbruch des Ersten
Weltkrieges mußte er sein Amt am 5. September 1914 aufgeben.
1 2 . FRIEDRICH K A R L von Hessen. Prinz Friedrich K A R L von Hessen
wurde im Oktober 1918 in Finnland zum König gewählt, lehnte aber
nach dem deutschen Zusammenbruch vom 1918 die finnische Krone
ab. Finnland wurde daraufhin Freistaat.
13. Ein deutscher Prinz soll im Juni 1918 zum König von Litauen
gewählt worden sein (FAZ, 3. 9. 1991), trat das Amt aber wohl nicht an.
14. Einen besonderen Fall steht das englische Königshaus dar. 1688
kam der Deutsche W I L H E L M III. von Nassau-Oranien, der Erbstatthalter
der Niederlande, als Gemahl der Tochter M A R I A des abgesetzten Königs
JAKOB II., der aus der Linie der Stuarts stammte, auf den englischen Thron,
Ihm folgte seine Schwägerin Anna (1702-1714). Durch den »Act of Setde-
ment« wurden die hannoverschen Welfen Thronanwärter, und Kurfürst
GEORG LUDWIG von Hannover wurde 1714 als G E O R G I. englischer Kö-
nig. Die Personalunion zwischen London und Hannover währte bis 1837.
Während der Zeit heirateten die Könige in London, gleichzeitig Kurfür-
sten von Hannover, immer wieder deutsche Prinzessinnen. Auf WIL-
HELM IV. folgte 1837, da er keinen Sohn hatte, seine Tochter VICTORIA
(1819-1901), die 1840 ihren Vetter A L B E R T von Sachsen-Coburg und
Gotha heiratete. Da in England die Dynastie nach dem Stammvater be-
nannt wurde, hieß das englische Königshaus nun Sachsen-Coburg-Go-
tha. Im Ersten Weltkrieg wurde unter der deutschfeindlichen Propagan-
da der öffentliche Druck auf den regierenden König G E O R G E V,, den
Enkel. VICTORIAS, SO groß, daß er den Namen der königlichen Familie in
>Windsor< - nach dem königlichen Schloß - änderte. Die jetzt noch seit
1952 regierende Königin ELISABETH II. heiratete 1947 den deutschstäm-
migen Prinzen PHILIP aus dem Haus Schleswig-Holstein-Sonderburg-
Glücksburg, Dieser hatte den Namen seines Onkels, des Earls Mountbat-
ten angenommen, der bis 1917 Prinz LUDWIG ALEXANDER von Battenberg Von oben: W I L H E L M
geheißen hatte, dann aber seinen Namen unter dem gegen Deutschland Prinz zu Wied, F R I E D -
eingestellten Zeitgeist in Mountbatten umgeändert hatte. 1960 erklärte die R I C H K A R L von Hessen

Königin, daß ihre Nachkommen den Familiennamen >Mountbatten-Wind- u n d L U D W I G ALEXANDER

von Battenberg,
sor< tragen sollten, die Königsfamilie weiter >Windsor< heiße.
Erwähnt sei, daß in den letzten Jahrhunderten viele deutsche Prinzen
und Prinzessinnen in regierenden Häusern Europas gern zur Einheirat
ausgewählt wurden. Die letzten Zaren waren fast rein deutschblütig, eben-
so die gegenwärtigen Königinnen von England und Holland.Rolf Kosiek

41
SPD-Chef Bebel verübte Landesverrat vor 1914

u Beginn des Ersten Weltkrieges stimmte die SPD 1914 im Reichs-


Z tag den Kriegsanleihen zu und stellte sich damit hinter die deutsche
Regierung, Doch schon bald verweigerten linke SPD-Abgeordnete wie
Karl LIEBKNECHT weitere Bewilligungen, trennten sich als Unabhängige
Sozialdemokraten (USPD) von der SPD und arbeiteten auf Streik und
Aufstand hin, was schließlich über die Meuterei auf der Hochseeflotte
im November 1918 zum deutschen Zusammenbruch führte.
Wenig bekannt ist, daß schon in den Jahren vor dem Weltkrieg der
langjährige SPD-Vorsitzende August BEBEL (1840-1913) über längere
Zeit Landesverrat beging. Erst rund 60 Jahre nach dem damaligen Ge-
schehen wurden die Beweise für diese erstaunliche historische Tatsache
bekannt, die vorher nur vermutet worden war,1 Der britische Geschichts-
dozent Richard J. CRAMPTON von der Universität von Kent in Canterbury
hatte in bis 1964 geheimgehaltenen Akten des Londoner Public Record
Office die entsprechenden Dokumente eines jahrelangen Briefwechsels
gefunden. Fast gleichzeitig hatte der deutsche Historiker Helmut BI.F,Y
(1935—, damals Uni Hamburg, ab 1976 TH Hannover) diese Unterlagen
sowie auf seine gezielte Suche hin dann die Gegenstücke in der Zürcher
August BEBEL (1840- Zentralbibliothek entdeckt. In Absprache miteinander veroffentlichte
1913). CRAMPTON seine Ergebnisse in einer Fachzeitschrift, 2 während BLEY ein
Buch vorlegte. 3 Der Brite nannte BEBELS Verhalten sehr zurückhaltend
ein »unorthodoxes Benehmen«, während der Spiegel zutreffender von
BEBELS »ungeheuerlichen Informationen« an die Briten schrieb.1
Der Vorgang, den beide Historiker nun herausbekommen hatten, war
folgender, August BEBEL hatte am 16, August 1905 den Schweizer Hein-
rich ANGST, der britischer Generalkonsul (vSir Henry<) in Zürich war, ken-
nengelernt. Sie blieben durch Gespräche und Briefe in Verbindung, über
die Sir Henry mit BEBELS Wissen nach London berichtete. So teilte der
Schweizer am 24. September 1910 dem englischen Außenministerium
mit, daß B E B E L geäußert habe, Preußen sei ein »schrecklicher Staat«, von
dem nur Schlimmes zu erwarten sei. Insbesondere habe Admiral TIRPITZ.
trotz gleichbleibender Schiffszahl einen höheren Flottenetat verlangt,
woraus zu schließen sein würde, daß noch größere Schiffe als bisher ge-
1 »August Bebel: Briefe an Sir Henry«, in: Der Spiegel, Nr. 32, 6. 8. 1973, S. 86 f.
2 Richard J. CRAMPTON, »August Bebel and the British Foreign Office«, in: Histo-
9>,Juni 1973.
3 Helmut BLEY, August Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904 bis 1913,1-eib-

niz, Hamburg 1975.

42
August BEBEL spricht
zu Sozialdemokraten
in Berlin, 1870 soli-
darisierte er sich mit
der Pariser Kommune
und forderte als Ab-
geordneter des Nord-
deutschen Reichstags
»Frieden mit der fran-
zösischen Nation,
unter Verzicht auf
jede Annexion«, Im
sogenannten Leipzi-
ger Hoch verratspro-
zeß wurde er zu zwei
Jahren Festungshaft
verurteilt.

baut werden sollten. BEBEL teilte seine Vermutung mit, daß Preußen im
Jahre 1912 zum Krieg bereit sei, und warnte die bridsche Regierung da-
vor, sich auf eine Abrüstung einzulassen.
Im Frühjahr 1911 riet BEBEL den Engländern, eine Flotten-Anleihe
aufzulegen und ihren Marineausbau zu beschleunigen, was geeignet sei,
deutsche Wirtschaftskreise vom Krieg abzuhalten.
Im Dezember 1 9 1 1 meldete er, daß TIRPITZ bis zum Ausbruch des
erwarteten Krieges 300000 Seeleute ausbilden wolle.
In einem Brief Sir HENRYS vom 2. Januar 1911 las der britische Au-
ßenminister BEBELS Mitteilung, daß die deutschen Seestreitkräfte plan-
ten, die bridsche Flotte >to copenhagen<, also nach Art der Briten, die
1807 überraschend vor Kopenhagen auftauchten und die dänische Flot-
te im Hafen vernichteten oder kaperten, die englischen Schiffe durch
einen überraschenden Angriff in ihren Heimathäfen außer Gefecht zu
setzen. Die als >geheim< bezeichnete Ansicht von TIRPITZ sei, daß solches
nur gelingen könne, wenn die deutsche Flotte in ihren Kriegsvorberei-
tungen der britischen um zwei Monate voraus sei.
»BEBEL setzte seine Berichterstattung an ANGST bis kurz vor seinem
Tode fort. Er starb am 13. August 1913. Der letzte Bericht von Sir Henry
ANGST über BEBELS Informationen ist datiert vom 1. August desselben
Jahres. Er vermisse sehr, schrieb ANGST denn auch Anfang 1914 nach
London, >die Informationen, die ich regelmäßig von dem verstorbenen
Herrn BE.BEL erhielte«1 Diese Briefe, vom Spiegel als »landesverräterische
Dokumente«1 bezeichnet, sollen »jeweils von Premierminister ASQUITH,
Außenminister GREY und auch von Winston CHURCHILL - nach dessen

43
Berufung zum Ersten Lord der Admiralität - gelesen worden« sein, was
ihre große Bedeutung für die britische Politik unterstreicht.
Der britische Historiker urteilte abschließend: » B E B E L drängte Groß-
britannien und die kleineren Staaten, ihre Verteidigung vorzubereiten. Er
hoffte, dadurch zu erreichen, daß Deutschland den von ihm für unver-
meidlich erachteten Krieg verlieren werde.«2 Sein deutscher Kollege ent-
schuldigte diesen Landesverrat als Teil einer »Strategie der Kriegsverhü-
tung«, wie er es schon in seinem Buchtitel anklingen ließ.'1 In einem
Gespräch mit der Welt bemühte sich BLEY ebenfalls, BEBEL vom Vorwurf
des Landesverrats reinzuwaschen: »Es handelt sich um allgemeine Lage-
beurteilungen, auch um Eindrücke oder Kenntnisse, die er als Mitglied
der Budgetkommission des Reichstages gewonnen hatte.« Der deutsche
Nachkriegshistoriker meinte zu dem ganzen >Fall B E B E L « » E S ist abwe-
gig, hier von Verrat zu sprechen.«4 Die Frage erhebt sich aber dann, war-
um höchste britische Kreise und amtierende Minister an diesen Nach-
richten so interessiert waren.
Parallelen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges drängen sich auf:
Ob der Kaiser oder H I T I E R regierte, beide Male fanden sich politisch
einflußreiche Deutsche, die meinten, eher den Feinden Deutschlands als
dem Reich dienen und dazu Landesverrat begehen zu müssen, damit
Deutschland den jeweiligen Krieg verliere - auch ein deutscher >Sonder-
weg<.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Karl M A R X , der
von der deutschen Sozialdemokratie unter BEBEL verehrte Theoretiker
des Sozialismus, sich auch als Agent und Spitzel betätigte. So brachte
Österreichs Bundeskanzler R A A B 1 9 6 3 bei einem Besuch in Moskau sei-
nem Gastgeber CHRUSCHTSCHOW einen Originalbrief von Karl M A R X aus
dem alten Geheimarchiv der k, u. k. Monarchie mit.5 Aus dem Brief geht
hervor, daß M A R X während seiner Londoner Emigrationszeit im Dienst
der Wiener politischen Polizei stand. M A R X hatte sich erboten, der kaiser-
lichen Geheimpolizei gegen gutes Geld laufend Berichte über die im Exil
in London, Paris und in der Schweiz lebenden österreichischen Revolu-
tionäre zu liefern, auch über Teilnehmer an den Unruhen von 1848, wie
die Demokraten R U G E und KUNKEL oder der Kommunist WILLICH. Für
jeden Bericht erhielt M A R X umgerechnet etwa 6 0 Mark.6 Rolf Kosiek

4 Walter GORI.ITZ, »War August Bebel ein Landes Verräter?« in: Die Welt, 20, 8.
1973.
5 Reichsruf, 30. 3. 1963.
b Bericht »Auch Kar) Marx war Agent«, in; Deutsche Nachrichten, 21. 9. 1973.

44
Antisemitismus in Polen
im 19. und 20. Jahrhundert

ange Zeit wurde verschwiegen oder herabgespielt, daß der Antisemi-


L tismus in Polen im zweiten Teil des 19. und zu Anfang des 20. Jahr-
hunderts weit stärker war als der in Deutschland. Nicht von ungefähr
kamen Hunderttausende von Juden vor und nach dem Ersten Weltkrieg
von Polen nach Deutschland, und selbst bis 1938, als schon jahrelang Hrt-
LER in Deutschland regierte, hielt die Zuwanderung noch an. Über Juden-
pogrome mit vielen Todesopfern im Polen der Zwischenkriegs zeit,1 zu
Anfang des Krieges2 und nach 19451 ist anderenorts bereits berichtet.
Im Jahre 2005 kam eine amerikanische Monographie zum Antisemi-
tismus in Polen heraus,4 die von KLESSMANN in der FAZ ausführlich be-
sprochen wurde.5 Darin wurden die jeweiligen Unterdrückungen der Ju-
den in Polen und deren Widerstand gegen diese in ihrem sozialen und Robert B L O B A U M (Hg.)
Antisemitism and its
zeitlichen Umfeld ausführlich behandelt. Opponents in Mo-
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschlechterten sich die bis dahin dem Poland, siehe
guten Beziehungen zwischen den Polen und der unter ihnen lebenden Anm. 4.
großen jüdischen Minderheit. So gab es bereits 1898 - großenteils aus
1 Beitrag Nr. 128,
wirtschaftlichen Neidgründen — in mehreren Kleinstädten Galiziens Po-
grome gegen die unbeliebte Volksgruppe, ebenso 1918 in Lemberg wie- »Judenpogrome im
der, während zu dieser Zeit in Deutschland es den Juden sehr gut ging Polen der Zwischen-
kriegszeit«.
und sie etwa in Berlin und Wien einen unverhältnismäßig hohen Anteil 2 Bei trag Nr. 168,
an den akademischen Berufen stellten. Es gab damals im Reich keinerlei
»Das polnische
amtliche Benachteiligung, nur einige nationale Vereinigungen hatten ei- Massaker an Juden in
nen >Arierparagraphen* in ihren Satzungen. Tausende von Juden kämpf- Jedwabne 1941«;
ten im Ersten Weltkrieg an der deutschen Front. Beitrag Nr. 129, »Zur
Zur Erklärung der polnischen Verhältnisse schreibt KLESSMANN: »Der Lage der Juden in
Antisemitismus war verflochten in die späte Entwicklung der industriel- Polen vor 1942«.
1 Beitrag Nr. 396,
len Revolution, des Nationalismus und der Modernisierung in Polen. Das
Eindringen des modernen Kapitalismus und die sozialen Verwerfungen »Das Juden-Pogrom
in seinem Gefolge gaben ihm sein Gepräge. Die ersten Pogrome hatten von Kielce«.
4 Robert BLOBAUM
primär Ökonomischen, kaum religiösen und rassischen Charakter. Jüdi-
sche Händler und Handwerker schienen auf die Herausforderungen des (Hg) Antisemitism and
Kapitalismus besser vorbereitet als Polen mit adligem oder bäuerlichem its Opponents in
Modem Poland,
Hintergrund. Das galt in gewisser Weise auch für die antisemitischen Ithaca-London 2005.
Einstellungen in der polnischen Intelligenz: Sie war in den Städten mit 5 Christoph KIP-SS-
der Konkurrenz der Juden konfrontiert und fühlte sich davon herausge- MANN, »Revitalisierte
fordert. Die sozioökonomischen Aspekte gaben der »jüdischen Frage< Reflexe«, in: Frankfur-
anfangs ihr Profil. Für die Nationaldemokraten wurden die Juden bald ter Allgemeine Zeitung,
zum dämonisierten »inneren Feind<, und diese Haltung färbte auch auf 10. 7. 2006

45
Liberale und die katholische Kirche a b . . . Versuche der rechts nationali-
stischen Parteien in den dreißiger Jahren, etwas Ähnliches wie die Nürn-
berger Gesetze in Polen einzuführen und die Massenemigration der Ju-
den zu betreiben, auch wenn das nicht realisiert wurde, waren fatale
Höhepunkte antisemitischer Tendenzen.«
In der Zwischenkriegszeit kam es in Polen zu einer auch von der ka-
tholischen Kirche mitgetragenen antijüdischen Gesetzgebung, die Hun-
derttausende davon Betroffener in den Westen auswandern ließ und im
Herbst 1938 nach der polnischen Ausbürgerung und Ausweisung von
einigen zigtausend Juden nach Deutschland zu einer ernsten Belastung
6Eltern und des Verhältnisses zwischen Berlin und Warschau führte. Die Kristallnacht
Verwandte des im November 1938 ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen/' Die auf
Herschel GRYNSZ- Auswanderung der Juden dringende polnische Regierung sandte 1937 eine
PAN, der in Paris am Kommission nach Madagaskar, um die Verhältnisse darauf hin zu über-
7. November 1938 prüfen, ob dort größere Zahlen von Juden angesiedelt werden könnten.
den deutschen
I -egationsrat Ernst Die Katastrophe für das polnische Judentum im Zweiten Weltkrieg ist
VOM RATH erschoß, bekannt, weniger, daß Hunderttausende vor den Deutschen nach Osten
gehörten - seit flohen oder aus dem östlichen, von den Sowjets im September 1939 be-
längerem in setzten Polen in die UdSSR deportiert wurden. Als 1946 rund 125000
Deutschland lebend Juden aus der Sowjetunion offiziell nach Polen >repatriiert< wurden und
- zu den von Polen ihr altes Eigentum zurückverlangten, kam es zu stärkerem Antisemitis-
kurz vorher Ausge- mus und zu Pogromen wie dem von Kielce am 4. Juli 1946, bei dem 42
bürgerten.
Juden allein in dieser Stadt grausam umgebracht wurden,1 Daraufhin setzte
7 Werner H . KRAU-
eine verstärkte Auswanderung, vor allem nach Westdeutschland, ein. Beim
SE, »Ein Schand- polnischen >Frühling im Oktober 1956 wurde der Vorwurf der engen
fleck in der Ge- Verbundenheit der Juden mit dem Bolschewismus hervorgehoben. Um
schichte Polens«,
in: Märkische Zeitung, 1967/68 erhob der polnische KP-Chef GOMULKA öffentlich die Anschul-
Nr. 10, Oktober digung einer »subversiven zionistischen fünften Kolonne«, was beson-
2001. ders vom damaligen Innenminister, dem General MOCZAR, vertieft wurde.
Dieser ließ hohe Parteifunktionäre, Offiziere, Wissenschaftler und Künst-
ler daraufhin überprüfen, ob sie seit mehreren Generationen arische Vor-
fahren hatten. In der Presse wurde über die angebliche Wühlarbeit der
Juden zur Vernichtung des polnischen Staates geschrieben. »Man ging
dazu über, jüdische Professoren und Studenten der Universität zu ver-
weisen.« Im Januar 1986 kam es sogar zu Zusammenstößen zwischen
protestierenden Studenten und der Polizei. Rund 200000 polnische Ju-
den wurden im März 1986 aus Polen ausgebürgert."
Aus Angst vor weiteren Maßnahmen führten auch diese Umstände zu
erneuter Auswanderung vieler Juden aus ihrer polnischen Heimat. Jahr-
zehnte später entschuldigte sich die polnische Führung für diese Vorkomm-
nisse, ohne jedoch die dafür Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.
Rolf Kosiek

46
Polens Nationalismus und die Oder-Neiße-Linie

eim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen


B Union (EU) im Juni 2 0 0 7 in Brüssel war Polen bereit, die Tagung
durch sein Veto platzen zu lassen und gegen alle anderen 26 EU-Länder
seine Forderung nach einer besseren Berücksichtigung seines Landes bei
den EU-Abstimmungen durchzusetzen. Die EU mußte schließlich nach-
geben.1 Warschau bewies auch schon im Vorfeld dieses Treffens, insbe-
sondere durch abfällige Äußerungen über Deutschland, 2 einen Nationa-
lismus, der manche Zeitgenossen erstaunte. Dabei ist dieses Land für
seinen Chauvinismus bei Kundigen bekannt, hat dieser doch unter ande- Die erste Teilung Po-
lens durch die Monar-
rem zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges entscheidend beigetragen.
chen Rußlands, Öster-
Aber er kommt schon aus früheren Jahrhunderten, worauf unter ande- reichs und Preußens
ren der Historiker Stefan S C H E I L mit Angabe neuer Forschungserkennt- im Jahre 1772,
nisse hingewiesen hat.3
Dieser polnische Nationalismus
wirkte sich vor allem in Forderungen
nach Erwerb weiter Teile deutschen
Landes aus, das historisch niemals pol-
nisch war. »Wahrscheinlich kann es kei-
ne nachvollziehbare Erklärung dafür
geben, daß seit etwa 1800 mit einer fast
beliebigen Mischung aus strategischen,
geographischen, wirtschaftlichen, histo-
rischen, religiösen, ethnischen und letz-
ten Endes willkürlichen Behauptungen
an einem Expansionsprogramm gear-
beitet wurde.«"1
Diese Bestrebungen gehen schon
auf den Anfang des 19. Jahrhunderts
zurück. Als mit der dritten Polnischen

1 »Manchmal war es ein bißchen unüber-


sichtlich«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
25. 6. 2 0 0 7 , S. 7.
2 Siehe z. B. »Polen provoziert Deutsche«,
in: Stuttgarter Nachrichten, 22. 6. 2007, S. 1.
3 Stefan SCHEIL, »Polnischer Nationalis-
mus«, in: Sezession, Nr. 17, April 2007, S. 18-
21.
4 Ebenda, S. 19.

47
Teilung im Jahre 1795 es für mehr als ein Jahrhundert einen polnischen
Staat nicht mehr gab, schob man in Polen der gescheiterten Adelsrepu-
blik die Schuld für diesen Zustand zu und entwickelte einen »Opfermy-
thos«. »Unter anderem öffnete dieses Klischee die Tür zu den Behaup-
tungen, dieses Bauernvolk würde eigentlich immer noch auf dem
5 SCHEIL, ebenda. gesamten Boden Preußens leben und sei dort nur unterdrückt.«5
6 Roland GEHRKE, Nach Forschungen von GEHRKE 6 taucht die Forderung nach der Oder-
Der polnische Westge- Neiße-Linie als Polens Westgrenze zuerst bei dem Geistlichen Hugo Ko-
danke bis zur Wieder- LONTAJ 1808 auf, der sich auch politisch betätigte. Ebenso meinte dieser,
errichtung des polni- auch West- und Ostpreußen, wo es nach ihm keine Deutschen gebe, ge-
schen Staates nach hörten eigentlich zu Polen. Damals sollte NAPOLEON für die Angliede-
Ende des Ersten rung dieser Gebiete sorgen, dieser lehnte das aber ab.
Weltkriegs, Marburg In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich dieser Gedanke weiter.
2001.
Die polnischen Aufstände gegen Rußland mißlangen ebenso wie die Be-
strebungen, Paris oder London für polnische Zwecke einzuspannen. Der
erste Slawen-Kongreß, der 1848 unter der Leitung des Tschechen Fran-
tisek PALACKY in Prag parallel zur deutschen Nationalversammlung in
Frankfurt tagte, forderte die Linie Stettin—Triest als slawische Westgren-
ze und stellte damit erneut die polnische Forderung nach den seit Jahr-
hunderten deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie in den po-
litischen Raum.
Das gleiche Ziel eines Großpolens versuchten in der zweiten Häifte
des 19. Jahrhunderts in Polen einige Gruppen, darunter der Nationalist
Roman DMOWSKI, mit Rußland gegen Deutschland, andere Kreise mit
den Mittelmächten gegen das Zarenreich zu erreichen, zu denen Josef
PIIÜUDSKI gehörte. Diese Programme wurden in aller Öffentlichkeit er-
örtert und vertreten.
Am 5. November 1916 riefen Deutschland und Österreich in dem
von Rußland befreiten Zentralpolen wieder einen neuen polnischen Staat
aus. Nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte schaffte Warschau ab
November 1918 schnell vollendete Tatsachen: Polnische Truppen be-
setzten das Posen er Land und versuchten unter Wojciech KORI-ANTY, ei-
nem Reichstagsmitgiied, auch Schlesien zu erobern, was dank des Wider-
standes vor allem der deutschen Freikorps mißland. Der neue polnische
Staat bekam in Versailles 1919, wo von DMOWSKI falsche Bevölkerungs-
zahlen vorgelegt worden waren, von seinen weit reichenden Gebietsfor-
derungen einige gewährt: Der größte Teil Westpreußens und das Pose-
ner Land sowie Ostoberschlesien kamen trotz eindeutiger Abstimmungen
Von oben: frantisek für Deutschland an Polen. Danzig wurde Freie Stadt unter polnischen
PALACKY und Roman

D M O W S K I . Beide streb-
Sonderrechten. In anderen geforderten ostdeutschen Landschaften, ei-
ten die Bildung eines nigen Kreisen Westpreußens und Ostpreußens, ergaben 1920 Volksab-
Großpolens an. stimmungen unter der Aufsicht der Alliierten so hohe Prozentsätze für

48
Karte: Polens Gren-
zen 1916-1939. Aus:
Michael A. H A R T E N -
STEIN, Die Geschichte
der Oder-Neiße-Li-
nie, Olzog, München
2006.

Deutschland, daß eine Abtretung unterblieb. Bezeichnend für die Un-


wirklichkeit der polnischen Forderungen war jedoch, daß Warschau ge-
gen das Abstimmungsergebnis im ostpreußischen Alleinstein, das 97,5
Prozent für Deutschland ergeben hatte, bei den Alliierten Protest erhob
und die Abtretung verlangte." Trotz für das Reich ausgehender Volksab- 7 Sc:HEIL, a a O .
stimmung kam Ostoberschlesien durch Entscheidung der Alliierten 1921 (Anm. 3), S. 21.
doch an Polen.
In dem neuen polnischen Staat, der 1919/20 unter Marschall PlLSUDS-
Ki Angriffskriege gegen die Sowjetunion und Litauen führte, wobei War-
schau große Landschaften hinzugewann, und in den dreißiger Jahren
Frankreich für einen Präventivkrieg gegen die Weimarer Republik wie
gegen Hitler-Deutschland zu gewinnen versuchte, vergrößerten sich die
Gebiets forderungen an das Reich. So wurde auf Propagandakarten Fnde
der dreißiger Jahre mit scheinbar historischer Begründung nicht nur die
Odcr-Neiße-Linie gefordert, sondern das ganze Land ostwärts einer Li-

49
nie von Rügen über Berlin nach Erfurt oder sogar das als slawisch ange-
sehene Gebiet östlich von Bremen-Hannover-Kassel-Nürnberg. Schon
in Versailles hatte der italienische Außenminister SFORZA kritisch zu die-
sem Größenwahn gemeint, wenn es nach der Ansicht der polnischen
Abordnung gegangen wäre, so wäre »halb Europa ehemals polnisch ge-
8 Zitiert bei SCHEIL,
wesen und hätte wieder polnisch werden müssen«.8 Nicht zufällig ent-
ebenda, S. 20.
stand in Polen um diese Zeit auch der Madagaskar-Plan, jene »ursprüng-
9 Shlomo ARONSON,
lich polnische Idee einer Teufelsinsel für die Juden«.'''
Hitler, tbeAllies and Für die deutschfeindliche und nationalistische Stimmung in der polni-
the Jews, Cambridge
schen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit seien zwei Beispiele ange-
2004, zitiert von
SCHEIL, a a O . ( A n m .
führt, die der Historiker Bolko Freiherr VON RICHTHOFEN in seinem Werk
3), S. 20. über die polnischen Ausdehnungsbestrebungen der letzten zweihundert
Jahre zitiert.
»Am 26. August 1920 sagte der polnische Pfarrer in Adelnau in einer
Ansprache: >Alle Deutschen, die sich in Polen befinden, müssen aufge-
hängt werdend In jener Zeit herrschte in Polen eine ausgesprochene Po-
gromstimmung gegenüber den verbliebenen Deutschen. . . Am 27. De-
zember 1921 sagte der Posener Domherr PRONDZYNSKI in einer
Haßpredigt gegen das Germanentum: »Noch ist unsere Aufgabe nicht
erfüllt. Das Innere ist zu festigen, Wilna, Lemberg sind noch sicherzu-
10 Bolko Freiherr stellen, Danzig müssen wir uns durch Einflüsse bemächtigen,«*10
VON RICHTHOFEN U. Und im Sommer 1921 wurden in dem bis zwei Jahre vorher über mehr
Reinhold Robert als ein Jahrhundert zu Preußen gehörenden Posen Flugblätter verteilt,
OHEIM, Die Polnische
auf denen es hieß: »Chef des Emigranten-Aufstandes und des Ausrot-
hegende, Teil 2: Polens
Marsch zum Meer, tungskommandos für Großpolen: >Wer noch im Juli 1921 da ist von dem
Arndt, Kiel 2001, deutschen Gesindel, wird ohne Ausnahme niedergemacht, und die größ-
S. 242. ten Hakatisten (Mitglieder des deutschen Ostmarkenvereins, R. K.) wer-
den mit Benzin, Petroleum oder Teer begossen, angesteckt und ver-
brannt. . . Jetzt kommt Ihr alle dran.. . alle Arzte, Pastoren, Rechtsanwälte,
Domänenpächter, Ansiedler, Besitzer aller Art, wer Deutscher oder Jude
11 Ebenda, S. 208 f. ist.<«u
Zutreffend urteilt SCHELL, in seinem Beitrag über den polnischen Na-
tionalismus, für den er weitere aktuelle Beispiele anführt, zusammenfas-
send: »Der polnische Nationalismus und seine Affekte sind nicht nur
historische Phänomene. Beides wirkt fort bis in die Gegenwart. .. Es
überrascht nicht, wenn. . . weiterhin hergebrachte Klischees wie das von
der unterdrückten polnischen Minderheit in Deutschland und dem Uber-
fallmythos von 1939 transportiert werden.« Und der Historiker fügt mit
Blick auf die derzeitigen Zustände in Deutschland an: »Es finden sich in
Deutschland auch reichlich willige Historiker, nicht zuletzt im Deutschen
1 2 SCHEIL, a a O .
Historischen Institut Warschau, die dies trotz besseren Wissens unkorri-
(Anm. 3 ) , S . 21. giert lassen. Auch das überrascht kaum.«12 Rolf Kosiek

50
Französisches >Gelbbuch< aus der
Fälscherwerkstatt

n seiner Rede bei der Eröffnung der Friedenskonferenz in Paris am 18.


I Januar 1 9 1 9 meinte Raymond POINCARF,: »Frankreich trägt überhaupt
keine Schuld an der entsetzlichen Katastrophe, die die Welt zutiefst er-
schütterte.« Drei Jahre später, am 6. Juli 1922, erklärte der amtierende
Ministerpräsident vor der französischen Nationalkammer: »Die Verfas-
ser des Versailler Vertrags wollten, daß dieser vor allen Dingen auf ei-
nem moralischen Gedanken beruhe. Sie waren der Ansicht, daß sie die-
sen Vertrag nicht durch den Sieg rechtfertigen mußten, wie man es früher
tat, sondern vielmehr durch die Schuld selbst am Krieg.. . Der Vertrag
enthielt die formelle Schuldanerkennung des kaiserlichen Deutschlands,
unterzeichnet von den deutschen Bevollmächtigten...«
Der ominöse, demütigende Artikel 231 des Versailler Vertrags, zu des-
sen Unterzeichnung die deutschen Bevollmächtigten in Wirklichkeit ge-
zwungen wurden, wurde auf deutscher Seite zu Recht als »Kriegsschuld-
lüge« bezeichnet. Sein Wortlaut: »Die verbündeten und assoziierten
Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und
seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwort-
lich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen, , . infolge des
Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbün-
deten aufgezwungen wurde, erlitten haben.«
Vorhegender Beitrag möchte aufzeigen, wie Frankreich und seine po-
litisch Verantwortlichen bereits in den ersten Kriegswochen die angebli-
che Schuld Deutschlands an der Auslösung des Ersten Weltkriegs in den
Mittelpunkt ihrer Kriegspropaganda rückten. Die Frage nach den eigent-
lichen Ursachen des Ersten Weltkrieges wurde an anderer Stelle ausführ-
lich behandelt.1
Wir möchten zunächst die entscheidenden Entwicklungen ab dem 23. Von oben: Raymond
Juli 1914 - PoiNCARE hielt sich zu diesem Zeitpunkt seit dem 20. Juli in P O I N C A R É und René

Vi VIANI betrieben
der russischen Hauptstadt St. Petersburg auf - bis zu den Kriegserklä-
1914 als Ministerprä-
rungen Deutschlands an Rußland und an Frankreich (1. und 3. August sident und Außenmi-
1914) in Erinnerung rufen: nister eine aggressive
28. Juni: Mord in Sarajewo.
Revanche-Politik ge-
23. Juni: Österreich-Ungarn stellt der serbischen Regierung ein Ulti- genüber Deutsch-
matum mit sehr hohen Forderungen. land.

1 Siehe Beitrag Nr. 21, »Die Ursachen des Weltkrieges 1914«, und Nr, 22, »Ver-
schwiegenes zum Kriegsausbruch 1914«,

51
> 25. Juli: Die russische Regierung teilt mit, daß Rußland der Ent-
wicklung des serbisch-österreichischen Konflikts nicht gleichgültig ge-
genüberstehe.
> 25. Juli, 15 Uhr 30: serbische Generalmobilmachung,
> 25. Juli, 18 Uhr: Serbien geht auf mehrere österreichische ultimad- ve
Forderungen ein, jedoch nicht auf alle.
25. Juli, nach 18 Uhr: Österreich bricht die dipiomarischen Bezie-
hungen zu Serbien ab.
> 25. Juli, abends: Osterreich ordnet die Teilmobilmachung gegen Ser-
bien an, die ab 28. Juli erfolgt.
> 26. Juli: Rußland ergreift Maßnahmen zur >Vor-Mobilmachung<.
> > 27. Juli: Deutschland warnt erstmals vor einer
russischen Mobilmachung an der deutschen Grenze.
> 28. Juli: Österreich erklärt Serbien den Krieg.
> 28,/29. Juli: Telegrammaustausch zwischen WII.HF.LM II. und Zar
NIKOLAUS II., um den Frieden zu erhalten.
> 29: Juli, abends: Rußland kündigt die Teilmobilmachung von dreizehn
Armeekorps im südlichen Bereich gegen Österreich an.
> 30. Juli, morgens: Rußlands Teilmobilmachung beginnt.
30. Juli, nachmittags: Rußland beschließt im geheimen ebenfalls die
Mobilmachung im nördlichen Bereich, also gegen Deutschland, die am
Morgen des 31. Juli beginnen soll.
> 31. Juli, morgens: Beginn der russischen Generalmobilmachung.
> 31. Juli, mittags: Als Antwort auf die russische Generalmobilmachung
erklärt Deutschland den »Kriegsgefahrzustand«.
> > 31. Juli, 12 Uhr 30: Österreich ordnet die
Generalmobilmachung an.
> 31.Juli,frühnachmittags: Kaiser WILHELM II. fordert den Zaren auf,
die Generalmobilmachung abzubrechen
> 31. Juli, nachmittags: NIKOLAUS II. teilt dem deutschen Botschafter
POURTALÉS wortwörtlich mit, daß die russische Generalmobilmachung
technisch nicht rückgängig zu machen sei.
> 31. Juli, 19 Uhr: Deutschland fordert Frankreich ultimativ auf, sich
innerhalb von achtzehn Stunden für neutral zu erklären,
> 31. Juli, 24 Uhr: Deutschland fordert Rußland ultimativ auf, die
Ge- neraimobilmachung innerhalb von zwölf Stunden abzubrechen,
> 1. August, gegen 16 Uhr: Da keine Reaktion aus St. Petersburg
erfolgt ist, verkündet Deutschland die Generalmobilmachung,
Frankreich ebenso.
> 1. August, gegen 16 Uhr: Deutschland erklärt Rußland den Krieg, was
nur noch »eine Formsache« (W POST) war, und zwei Tage später
Frankreich.

52
Schon in den ersten Kriegswochen veröffentlichten alle am Krieg betei-
ligten Nationen zur Rechtfertigung jeweils ein Dokumentenbuch, das
zumeist aus ihrer Sicht bedeutsame diplomatische Aktenstücke enthielt.
Die Russen hatten ein Orangebuch, die Briten ein Blaubuch, die Österrei-
cher ein Kotbuch, die Deutschen ein bereits am 3. August erschienenes
Weißbuch und die Franzosen ein Gelbbuch, das im November 1914 veröf-
fentlicht und 1918/19 zur Verurteilung der Besiegten herangezogen
wurde."
Der französische Historiker Léon SCHIRMANN, 3 der bestimmt keiner
prodeutschen Gesinnung verdächtig ist, hat die im französischen Gelb-
buch aufgeführten Dokumente mit den originalen - authentischen - ver-
glichen, die sich in den inzwischen einsehbaren Archiven des Quai d'Orsay
(des französischen Außen ministeriums) befinden. In seinem Buch Eté
1914. Mensonges et Désinformation. Comment on »vend« une guerre. .. (Sommer
1914. Lügen und Desinformation. Wie man einen Krieg »verkaufte . ,)4
zeigt Léon SCHIRMANN 2 0 0 3 auf, wie Frankreichs führende Kriegstreiber
- allen voran Staatspräsident Raymond PoiNCARÉ und René VIVIANI, im
Sommer 1914 amtierender Ministerpräsident und Außenminister — eine
unverschämte Desinformationspropaganda betrieben, um die öffentli-
che Meinung zu manipulieren. Die Kunst, einen Krieg vom Zaum zu
brechen und ihn zu rechtfertigen, indem man dem Gegner die Schuld
aufbürdet - darauf kam es an. Im Mittelpunkt von SCHIRMANNS Studie
steht das französische Gelbbuch.
Von den rund hundert untersuchten Dokumenten aus dem Gelbbuch
hält SCHIRMANN neunundreißig (!) für insofern »gefälscht«, als »bezeich-
nende Textstellen eingeführt, entfernt oder verändert worden sind«.5
Dabei haben die französischen Verantwortlichen offensichtlich vier
Ziele verfolgt:
»1, Die französische Regierung von dem Vorwurf entlasten, nicht al- Léon S C H I R M A N N und
les in ihrer Macht Stehende getan zu haben, um den Krieg zu vermeiden, sein Buch Eté 1914.
genauer gesagt, ihren Hauptverbündeten, Rußland, nicht fest genug zu- Mensonges et Dés in-
rückgehalten zu haben, formation.

2 Das französische Gelbbuch, das im Gegensatz zum deutschen Weißbuch erst im


November 1914 erschien, war viel umfassender und dank der längeren Entste-
hungszeit viel >akribischer< — das meinen wir aber nicht in bezug auf die histori-
sche Wahrheit.
3 Léon SCHIRMANN ( 1 9 1 9 - 2 0 0 3 ) gehörte im Zweiten Weltkrieg dem französi-

schen Widerstand an und wurde mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet.


2 0 0 1 verfaßte er ein Buch über die Hintergründe des MATA HARI-Prozesses.
J L^éon SCHIRMANN, Eté 1914. Mensonges et Désinformation, Editions Italiques, Paris

2003.
5 Ebenda, S. 140.

53
2. Alles ausmerzen, was beim russischen Verbündeten auf kriegeri-
sche Tendenzen hindeuten würde, und dagegen seinen >Pazifismus< so
viel wie möglich loben.
3. >Beweisen<, daß nicht Rußland die Generalmobilmachung zuerst
angeordnet hat, sondern daß es durch die ihr angeblich vorausgegangene
österreichische dazu gezwungen worden sei.
4. >Nachweisen<, daß nur die Mittelmächte eindeutig auf Krieg aus
gewesen seien.«6

Zu 1: Im Dokument Nr. 102 des Gelbbuchs wurde die Textstelle ent-


fernt, der zufolge die französische Regierung von der russischen General-
mobilmachung bereits am selben Abend des 30. Juli unterrichtet wurde. So
konnten POINCARE, VIVIANI und ihre Freunde behaupten, daß sie erst 2 4
Stunden später dann in Kenntnis geworden seien, zu einem Zeitpunkt, da
der Frieden nicht mehr zu retten gewesen sei, ihre »Untätigkeit« damit recht-
fertigen und jegliche Schuld am Ausbruch des Krieges von sich abtun.
Zu 2: Das Dokument Nr. 80 des Gelbbuchs soll drei Folge-Telegramme
vereinigen, die London nach Paris gesandt hat (Nr. 33/289-296). In al-
len drei Telegrammen wurden die Textstellen entfernt, die SASONOWS Po-
litik kritisieren: »Gelinde gesagt, lassen die Worte des russischen Mini-
sters [SASONOW] Umsicht vermissen, so daß die österreichisch-ungarische
Regierung daraus Vorteile gegen die serbische Regierung ziehen kann.«
Oder: »Zu einem Zeitpunkt, da die kleinste Hinauszögerung verhängnis-
volle Folgen haben kann, ist die Initiative von Herrn SASONOW meines
Erachtens höchst bedauerlich: Sie behindert den Schritt von Sir G R E Y
und verschafft Österreich die Möglichkeit, sich der freundlichen Inter-
vention der vier Mächte zu entziehen.«
Zu 3: Das Meisterstück in Sachen Fälschung bildet das Dokument Nr.
118 des Gelbbuchs, das dem Dokument Nr. 432 in der diplomatischen
Dokumentensammlung entspricht (siehe Faksimile). Es handelt sich um
jenes Telegramm, das der französische Botschafter in Rußland, PALEO-
LOGUE, am 31. Juli um 10 Uhr 43 in St. Petersburg aufgab und das am
selben Tag um 20 Uhr 30 in Paris empfangen wurde. Sein Wortlaut konnte
kaum knapper sein: »Die Generalmobilmachung der russischen Armee
wird angeordnet.« Mit dieser Entscheidung setzte die russische Regie-
rung eine Entwicklung in Gang, die nicht mehr aufzuhalten war, und
trug damit wesentlich zum Ausbruch des Krieges bei.
Die Autoren des französischen Gelbbuchs haben es jedoch nicht bei die-
ser lapidaren Kurzmeldung belassen, sondern hinzugefügt: »Aufgrund der

6 Ebenda, S. 141.

54
Oben: Das diploma-
tische Dokument Nr.
432 des französi-
schen Außenministe-
riums im Original.
Unten: Die manipu-
lierte Form des Do-
kuments im Gelb-
buch unter Nr, 118.
Léon S C H I R M A N N , Eté
1914. Mensonges et
Désinformation, Edi-
tions Italiques, Paris
2003.

Generalmobilmachung Österreichs und der Mobilmachungsmaßnahmen, die


Deutschland seit sechs Tagen zwar im geheimen, doch stetig getroffen
hat, wurde die Generalmobilmachung der russischen Armee angeord-
net. Rußland kann sich nicht ohne größte Gefahr noch mehr überholen
lassen. In Wirklichkeit tut es nichts anderes, als militärische Maßnahmen
zu ergreifen, die den von Deutschland getroffenen entsprechen.
Aus zwingenden strategischen Gründen konnte die russische Regie-
rung — wohl wissend, daß Deutschland aufrüstete — die Umwandlung

55
seiner Teilmobilmachung in eine Generalmobilmachung nicht länger hin-
auszögern.«
Zwei verschiedene Telegramme? Nein, Léon SCHIRMANN konnte nach-
weisen, daß der Zusatz anhand der französischen Ubersetzung des be-
reits im August 1914 erschienenen britischen Blaubuchs »fabriziert« wur-
de, Beide Textstellen stammen aus Erklärungen, die russische Diplomaten
gegenüber englischen Kollegen gemacht hatten und die das historische
Geschehen in den letzten Julitagen, was die alles entscheidende russische
Generalmobilmachung betrifft, auf den Kopf stellten.
Zu 4: Das Dokument Nr, 36 soll einen Rundbrief wiedergeben, den
das französische Außenministerium am 25, Juli 1914 an seine Botschaf-
ter im Ausland richtete. Ein Vergleich mit dem Original (32/139) zeigt,
daß eine wichtige Textstelle, die die deutschen Bemühungen, kein Öl ins
Feuer zu gießen, unterstreicht, einfach gestrichen wurde: »Die Wilhelm-
straße [der Sitz des deutschen Außenministeriums] hat die deutschen Zei-

Die Fälschung eines


weiteren Dokuments
des Quai d'Orsay
zeigt, wie die Fäl-
scher vorgingen:
oben eingekreist wur-
de die Chronologie
der Ereignisse gemäß
der offiziellen Wahr-
heit! vermerkt; in der
Mitte wurde das Do-
kument durch Hinzu-
fügungen mit der ¡of-
fiziellen Wahrheit!
konform gemacht;
unten wurde der übri-
ge Text weggestri-
chen. Aus: Léon
SCHIRMANN, Eté 1914.

Mensonges et Désin-
forma fron, Editions
Italiques, Paris 2003.

56
Jean J A U R È S auf einer
Friedenskundgebung
der Sozialdemokraten
in Stuttgart 1907.

tungen angewiesen, von jedem Angriff gegen Rußland oder die übrigen
Mächte abzusehen.«

Im übrigen: Am 27. Juli 1914 startete der deutsche Botschafter in Paris,


VON SCHÖN, eine neue diplomatische Initiative bei Abel FERRY, dem Unter-
staatssekretär im französischen Außenministerium. Das Gespräch wur-
de wie folgt dokumentiert: »Herr VON SCHÖN hat heute nachmittag einen
Schritt bei Abel FERRY unternommen und fragte, ob Frankreich und
Deutschland im Interesse des Friedens nicht zwischen Wien und Peters-
burg vermitteln könnten. Er schien sogar die Idee gutzuheißen, von Ser-
bien und Österreich die Verpflichtung zu erwirken, vorübergehend von
jeglicher Kampfhandlung abzusehen. Abel FERRY sagte, daß er es an den
Ministerpräsidenten weiterleiten werde.« Es versteht sich, daß dieses Ar-
chivdokument im französischen Gelbbuch fehlte, da es nicht zu dem Bild
eines kriegslustigen Deutschlands gepaßt hätte. Es wurde auf französi-
scher Seite nichts getan, um den Frieden zu retten. Der einzige, der seine
ganze Kraft für die Erhaltung des Friedens und damit gegen die Revan-
chegelüste und die Durchhaltepolitik der >Sakralunion< aufbrachte, war
der französische Sozialistenführer und Pazifist Jean JAURÈS." Dieser wur-
de bezeichnenderweise am Abend des 31. Juli ermordet - als die Würfel
zugunsten des Krieges fielen. Michael Klotz

7 Für die französischen Nationalisten um Charles MAURRAS waren Pazifismus


und Verrat gleichbedeutend, JAHRES, der in seinen letzten Lebensstunden einen
scharfen Zeitungsartikel über Frankreichs lasche Politik gegenüber Rußland ver-
faßte, wurde im Juli 1914 öfter mit der preußischen Uniform und der Pickelhau-
be karikiert.

57
Wissen um Kriegsbeginn 1914 in den USA

er Mord von Sarajewo am 28. Juni 1914 löste den Ersten Weltkrieg
D aus. Im Gegensatz zu den später mit der Kriegsschuld belegten Deut-
schen, die den drohenden internationalen Konflikt eindämmen wollten,
förderte man in Paris, London und Petersburg die Kriegspsychose. Aber
auch in den USA wartete man anscheinend auf den Krieg und war um
seine Hintergründe gut unterrichtet.
Dazu überlieferte der dem Verfasser bekannte, inzwischen verstorbe-
ne Stuttgarter Walther TRIPPS die folgenden für diesen Zusammenhang
interessanten Tatsachen.
Im Jahre 1 9 1 3 gewannen Dr. Karl HALT und Professor Carl Di EM als
Verantwordiche für die deutsche Olympiamannschaft in den USA den
Deutschamerikaner Alvin KRÄNZLEIN ais Trainer der deutschen Leicht-
athleten für die geplanten Olympischen Spiele 1 9 1 6 in Berlin. KRANZ-
LEUN kam nach Deutschland und leistete schon im selben Jahr hervorra-
gende Arbeit.
Doch gleich nach dem Mord von Sarajewo wurde er nur zwei Tage
später, am 30. Juni 1914, in die Berliner US-Botschaft einbestellt, wo
man ihm eröffnete, daß er spätestens am 15. Juli 1914 Deutschland mit
Alvin K R Ä N Z L E I N der Bahn über Stuttgart, Zürich, Mailand nach Genua zu verlassen habe,
(1876-1928). Nach um auf einem italienischen Passagierschiff die Heimreise nach den USA
seiner Rückkehr in anzutreten. Bahn- und Schiffsbillets wurden ihm mit der Bemerkung aus-
die USA ging er in die gehändigt: »Die Vorgänge auf dem Balkan werden in wenigen Wochen
Armee. Er starb an
eine folgenschwere Ausweitung erfahren, mit der man sich in den USA
einer Herzkrankheit.
bereits befaßt. Die US-amerikanische Entscheidung zugunsten der Alli-
ierten wird nicht ausbleiben.«
1916/17 war es dann soweit, ergänzte Dr, Karl Ritter VON HALT, Zehn-
kämpfer auf der Olympiade 1912 in Stockholm, inzwischen im Ersten
Weltkrieg wegen hervorragender militärischer Leistungen geadelt, ehe-
maliger Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und
des deutschen Leichtathletik-Verbandes, Organisator der Olympischen
Spiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen und Berlin, bei einem Treffen in
den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Stuttgart vor zahlreichen
einstigen Mitgliedern der deutschen Olympia- und Nationalmannschaft
seinen vorstehend gekürzt wiedergegebenen Bericht über die oben ge-
nannten Vorgänge. Zuhörer waren unter anderen die Olympiasieger Dr.
Gisela MAUERMAYER, Tilly FI .Eise HER, Gerard STÖCK, Karl HEIN und Wal-
ther TRIPPS selbst, der diesen Vorgang in einem Leserbrief vom 28. Juni
1984 festhielt, der in Kopie dem Verfasser vorliegt. Rolf Kosiek

58
Die belgischen Franctireurs 1914' - keine Legende

m Jahre 2004 erschien in Hamburg ein dickleibiges Buch über die


I deutschen Kriegsgreuel im Herbst 1914 im Westen,2 das sofort in der
gesamten deutschen überregionalen Presse ein dickes Lob erhielt.1 Ein-
zig die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Juni 2004 erkannte einen
entscheidenden Schwachpunkt in der Abhandlung der beiden irischen
Historiker, nämlich, daß sie größtenteils auf den Ergebnissen der alliier-
ten, vor allem der belgischen und französischen, Kommissionen aufge-
baut ist. »Einer wirklichen und vor allem detaillierten Quellenkritik« wur-
den sie dabei nicht unterzogen. Deutsche Quellen, etwa das Deutsche
Weißbuch (»Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs«)
aus dem Jahre 1915, fanden keine oder kaum Berücksichtigung, da sie
»eine reine Manipulation des Auswärtigen Amtes« gewesen seien.4
H O R N E S und K R Ä M E R S Abhandlung ist übrigens im Verlag des Ham-
burger Instituts für Sozialforschung von Philipp REEMTSMA erschienen.
Seit dem Skandal der von diesem Institut zusammengestellten Anti-Wehr-
machtausstellung ist also Vorsicht geboten: Ähnlich wie im Ausstellungs-
katalog wurde dieselbe Methode einseitiger Auswahl angewandt, und zwar
»jede Repressalie gegen die Zivilbevölkerung über einen Kamm zu sche-
ren«.5 Es wird dadurch der Eindruck zu vermitteln versucht, daß die bel-
gischen Zivilopfer von 1914 - ihre Zahl wird auf etwa 6000 geschätzt -
allesamt Opfer von deutschen Kriegsverbrechen gewesen seien. Doch
das ist falsch.
Der Militärschriftsteller Franz U H L E - W E T T E R hat übrigens sehr gut auf-
gezeigt,6 daß der 1915 von der britischen BRYCE-Kommission vorgelegte
Bericht über angebliche deutsche Kriegsverbrechen schon deshalb pro-
blematisch war, weil die Stätten angeblicher deutscher Greuel sich zu
1 Frz. Franc-tireurs bedeutet wortwörtlich >Frei-Schützen«, bezeichnet Hecken-
schützen und Freischärler.
2 John HORNR U, Alan KRAMER, Deutsche Kriegsgreuel 1914, Hamburger Edition

H1S Verlagsges., Hamburg 2004.


1 Darunter in: Die 7,eit, 24, 6. 2004; Süddeutsche Zeitung, 23. 6. 2004; Frankfurter

Kundschau, 7. 5. 2004. Ferner in der Neuen Zürcher Zeitung, 8. 9. 2004.


4 John HORNF. U. Alan KRAMER, Deutsche Kriegsgreuel, aaO. (Anm. 2 ) , S. 6 1 9 .
5 Peter HOF.RF.S (1 listorisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Mün-

ster), in historicum.net, http://www.sehepunkte.de/2004/07/6108.html


6 Franz Uhle-WettleR, »Besetzung Belgiens«, in: Franz W. SEIDLER U. Alfred M.

DE ZAYAS, Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Mittler,


Hamburg 2 0 0 2 , S. 1 9 f.

59
jenem Zeitpunkt in deutscher Hand befanden und die Kommission da-
her auf Informanten angewiesen war, die wegen eventueller Repressalien
nicht namentlich genannt wurden. Selbst HÖRNE und KRÄMER müssen
auf Seite 344 zugeben, »daß einige der im BRYCE-Bericht zitierten Zeu-
genaussagen über das Schicksal von Frauen und Kindern erfunden wa-
ren. Tatsächlich war die Mehrzahl der Opfer erwachsene Männer«.
Ks sei betont, daß alle hinterlegten Namen des BRYCE-Berichts be-
zeichnenderweise aus den Archiven verschwanden und daß der in drei
Sprachen übersetzte Bericht eine propagandistisch ungeheure Wirkung
erzielte sowie zur Verteufelung und zu dem Vorwurf der Barbarisierung
nicht nur des deutschen Heeres, sondern auch des deutschen Volkes
wesentlich beitrug. Bei den legendären Grausamkeiten — vergewaltigte
Nonnen, erhängte Priester, vergiftete Karamels, abgehackte Kinderhän-
de (die belgische Regierung gab erst 1930 zu, daß keinem einzigen Kind
die Hände abgehackt worden waren) — sei der Leser auf frühere Wendig-
7 Siehe Beitrag Nr. Artikel verwiesen.
33, »Die abgehack- Eine der wichtigsten Thesen des Buches von HÖRNE und KRAMER ist,
ten Kinderhände in daß es keinen Aufstand der belgischen Zivilbevölkerung, daß es vor al-
Belgien«, u. Nr. 34, lem keine Franctireurs gegeben habe, sondern daß die deutsche Armee
»André Gide zu den
auf Grund von Feindbildern, insbesondere aus Erzählungen aus der Zeit
abgehackten
Händen«. des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71, hinter jedem Zivilisten ei-
nen Partisanen vermutet und entsprechend gehandelt habe.
* Johannes WlLLMS, Der bekannte Publizist Johannes WILLMS bläst in das gleiche Horn
in: Süddeutsche und behauptet,* daß die im Zusammenhang mit den zivilen Übergriffen
Zeitung, 23. 6. 2004. erfolgten Greuel fast ausschließlich auf »psychotische Projektionen« der
deutschen Soldaten zurückgegangen seien, die sich durch die Zivilbevöl-
kerung bedroht fühlten — daß es mit anderen Worten keine belgischen

»Ein Opfer der Frank-


tireurs*, Gemälde von
Herbert R O T H G A E N G E L
in der Gartenlaube,
44, 1914, abgebildet
in: H Ö R N E U . KKAMER,

Deutsche Kriegsgreuel
1914, aaO. (Anm. 2),

60
Franctireurs gegeben habe. Die Berichte deutscher Soldaten seien eine
riesige kollektive Auto-Suggestion, und die in damaligen deutschen Zeit-
schriften erschienenen Texte und Zeich-
nungen (siehe Abbildungen) stellten reine
Kriegspropaganda dar. Doch das trifft nicht
zu. Es gab Franctireurs.
Die Badische Heimat veröffentlichte 1969
Auszüge aus dem Tagebuch eines badi-
schen Soldaten des Ersten Weltkrieges, der
1914 in Belgien nahe der Nordsee an der
französischen Grenze eingesetzt war:
»20. Oktober 1914: Ankunft in [Angabe
fehlt]. Im Freien auf dem Acker übernach-
tet. Morgens Abfahrt Rouiers [Roeselare],
In Rouiers sehr viel zerschossen + ver-
brannt, da Franctireurs [auch: Francs-
tireurs, franz. Freischärler, Freischützen, die
im Rücken der Deutschen Partisanenkrieg
führten] 11 deutsche Soldaten nachts in den
Quartieren ermordet hatten, Abmarsch
von [unleserlich] morgens 9 Uhr nach der
Front,«9
Es ist nicht vorstellbar, daß die vielen
Tagebucheintragungen und Feldpostbrie-
fe beteiligter Soldaten, die zahlreichen Be-
richte der verschiedenen Kompanien über
Partisanen (Franctireurs) allesamt Wahn-
vorstellungen verwirrter oder gar trauma-
tisierter Kämpfer waren, die damit ihre Gefangennahme und in man- »Löwen«, Gemälde
chen Fällen gar ihre Flucht erklären wollten. Wir wollen nicht ausschließen, von Wilhelm S C H R E U E R ,
in der Kunst, März
daß hier und da deutsche Soldaten, von Panik ergriffen, sich zu übereilten
1915, abgebildet in:
Übergriffen verleiten ließen. Das trifft aber nicht den Kern der Sache. H Ö R N E U. KRAMER,
Der Zeitzeuge Léon DEGRELLE erwähnt10 das Buch eines Pfarrers aus aaO. {Anm. 2).
Auby, einem kleinen Dorf in den Ardennen, das nach dem Ersten Welt-
krieg in ganz Belgien verbreitet wurde. Sein Titel ist La légende desfrancs-
tireurs, und es versucht zu beweisen, daß es keine Franctireurs gegen die 9
Badische Heimat 69,
Deutschen gegeben habe. Daß es keinerlei Widerstand von seiten belgi- 1969, S. 93-102.
scher Zivilisten gegen die einmarschierenden deutschen Soldaten gege- 10 Léon DEGRELLE,
ben haben soll, wurde zum Dogma erhoben. Niemand in Belgien hätte La pseudo guerre du
während und nach dem Krieg das Gegenteil behaupten wollen, aus Angst, droit, Art et histoire
alle gegen sich zu haben, meint DEGRELLE. Dieser erlebte als achtjähriger d'Europe, Paris
junge den Einmarsch des deutschen Heeres in sein Heimatstädtchen 1987, S. 70.

61
Die aktive Garde
civique von Arlon
(August 1914). Aus:
Collections du Musée
Royal de l'Armée,
Brüssel).

11
DtiGRELLH, Bouillon in den Ardennen, Er erinnert sich,11 daß ein Nachbar von einer
ebenda. Tanne aus mit seiner Schrotflinte auf deutsche Soldaten geschossen hatte,
als sie am Anfang der Hauptstraße erschienen waren, und daß drei Tage
später zwei Männer von Bouillon erneut Soldaten des deutschen Heeres
angegriffen hatten. Ähnliche Uberfälle von seiten bewaffneter Zivilisten
müssen, so Degrelle, vielerorts stattgefunden haben.
Neben einzelnen Heckenschützen bildete die dem belgischen Innen-
ministerium unterstehende Garde civique (Bürgerwehr) das Gros der
Franctireurs. Dabei ist zwischen der in den Städten aktiven und der auf
dem Land stationierten nicht aktiven Garde civique zu unterscheiden.
Letztere, die keine Uniform trug und lediglich an der bäuerlichen Kittel-

Die inaktive Garde


civique (August
1914). Aus: Collec-
tions du Musée Royal
de l'Armée, Brüssel),

62
bluse zu erkennen war, zählte 1913 lediglich 46 000 Mann, In der Eupho-
rie der ersten Augusttage des Jahres 1914 traten jedoch weitere 100000
Belgier bei. Durch den unerwarteten Ansturm der Freiwilligen wurden
die Kittelblusen und Waffen so knapp, daß die neuen Mitglieder in Zivil-
kleidung und mit eigenen (Jagd-)Gewehren auftraten. Im selben Zusam-
menhang sei erwähnt, daß die belgische Regierung es versäumte, die
Mobilisierung der aktiven Garde civique offiziell anzukündigen, was erst
am 8. August 1914 erfolgte. Und diese Personen wurden dann als Parti-
sanen tätig.
Laut Bernhard SCHWERTFEGER gab der Bürgermeister von Aaarschot,
TLLEMANS, am 10. August 1914 auf Plakaten bekannt, daß in den umhegen-
den Dörfern Bewohner auf deutsche Soldaten geschossen und dadurch
scharfe Vergeltungsmaßnahmen ausgelöst hätten. Nur die Armee habe je-
doch das Recht, die Waffen gegen den Feind zu ergreifen, mahnte T I L E -
MANS seine Bürger.12 Und fünf Tage später verkündete das belgische Kriegs-
ministerium, daß die nicht aktive Bürgerwehr keine Kampfaufträge, sondern
nur Polizeiaufgaben zu erledigen habe." Die Zeitung dieser belgischen
Bürgermiliz trug übrigens einen bezeichnenden Namen: Le Franc-Tireur.
Die deutsche Kriegführung hat diesen irregulären Einheiten zu Recht
den Kombattantenstatus aberkannt. Die aus dem Hinterhalt kämpfen-
den Franctireurs wurden wie Partisanen, also völkerrechtswidrig, einge-
setzt und laut Haager Landkriegsordnung von 1907 als irreguläre Einhei-
ten behandelt. Bei Anschlägen wurden nach geltendem Kriegsrecht
Geiseln genommen und meistens hingerichtet. In Seilles zum Beispiel
wurden 50 Zivilisten, in Andenne 110 erschossen.14
Baron Oskar von der L A N C K E N , ein bekannter Diplomat in der Vor-
kriegszeit und später im Ersten Weltkrieg in Belgien Chef der politischen
Abteilung der deutschen Militärregierung, wollte der Sache um die an-
gebliche Legende der Franctireurs auf den Grund gehen und kam auf
die einfache Idee, sich die Karteikarten der im August 1914 in Belgien
verwundeten deutschen Soldaten anzusehen, auf denen die Beschaffen-
heit der jeweiligen Verwundung vermerkt war. Und er stellte fest, daß
Hunderte von diesen Verwundeten nicht etwa von Kugeln oder Granat-
splittern getroffen worden waren, sondern von Schrot aus Jagdgeweh-
ren, Damit wurde alles klar: Es hatte viele Franctireurs gegeben.13
Michael Klotz

12 Bernhard ScHWERTFEGER, Belgische Landesverteidigung und Bürgerwacht 1914, Ber-


lin 1920.
13 Ebenda.
14 Franz Uhle-WETTLER, aaO. (Anm. 6), S . 19.
15 Erwähnt bei: Leon DEGRELLE, aaO. (Anm. 1 0 ) , S. 7 0 .

63
Alliierte Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg

ie im Ersten Weltkrieg verbreitete alliierte Greuelpropaganda sollte


D die Völker gegen die deutschen >Barbaren< aufhetzen, gleichzeitig
aber auch von den eigenen Kriegsverbrechen ablenken1, die Niall F E R G U -
SON in The Pity of War (Der Große Wendig, Bd. I, S. 187 f.) erwähnt hatte.
Aber lange vor F E R G U S O N hatten deutsche Historiker schon bald nach
dem Krieg die Untaten der Sieger dokumentiert.
In vielen französischen Truppenteilen war es üblich, keine deutschen
Gefangenen zu machen, was oft auf höheren Befehl geschah.2 In wel-
chem Umfang die maßlose Unsitte, kein Pardon gegenüber Gefangenen
zu gewähren, eingerissen war, ergibt sich aus nachstehenden Beispielen:
Champagne 25. 6. 1915: Die Franzosen warfen Handgranaten in den
Sanitätsunterstand des I. Bataillon Reserve-Infanterie-Regiments 30. Zwei
Verwundete lagen transportfähig im Eingang, und das >Rote-Kreuz<-Zei-
chen war deutlich erkennbar. Trotz Zurufs eines Gefreiten auf franzö-
sisch gaben die Franzosen kein Pardon.3

Deutsche Ambulanz
nach dem Trommel-
feuer. Rote-Kreuz-
Erkennungszeichen
wurden vielfach miß-
achtet, gegen die
Haager Kriegsordnung
wurde eindeutig
verstoßen.

1 Otto VON STÜLPNAGEL, Die Wahrheit über die deutschen Kriegsverbrechen. Die Ankla-
gen der Gegner Deutschlands im I. Weltkrieg in Gegenüberstellung ihren eigenen Taten,
Berlin 41921,S. 115.
2 Ebenda, S. 399 ff., 395 u. 402; Heinrich KOCH, Verdun 1916, Selbstverlag, Ver-
den August 1971, S. 11; Philippe GAUTIER, Le racisme anti-allemand. Edition Dé-
terna, Paris 2002, S. 57.
3 STÜLPNAGEL, a a O . ( A n m . 1), S . 4 0 2 .

64
Erschütternde Mordtaten aus der Somme-Schlacht am 24. 8.1916 sagte
der Ersatzreservist L E I D L I C H aus: »In einem Unterstand befanden sich 2 0
Verwundete, ferner der Feldunterarzt Dr. G. und der Sani täts-Vize feld-
webel Sch. Auf dem Unterstand wurde die >Rote-Kreuz<-Flagge ange-
bracht. Als die stürmenden Franzosen näher an den Unterstand heran-
kamen, sprang der Feldunterarzt heraus und rief den Franzosen zu, daß
im Unterstand lauter Verwundete seien und daß sie Pardon annehmen
sollten. Ich hörte die Franzosen rufen: >Nichts Pardon.< Gleich darauf
wurde Dr. G. durch einen Kopfschuß von den Franzosen getötet. Dar-
auf wollte der Sanitätsfeldwebel Sch. vom Unterstand auf der Treppe in
die Höhe steigen, um das fortdauernde französische Feuer abzuwehren
und unsere Übergabe anzuzeigen. Er erhielt alsbald 2 tödliche Schüsse.
Die Franzosen schössen dann 10- bis 15mal durch den Haupt- und Not-
ausgang in den Unterstand. Auch warfen sie 15 Handgranaten hinein.
Verschiedene deutsche Soldaten wurden getroffen und getötet, so daß
bei der Gefangennahme nur noch 12 Lebende übrigblieben.«
Auch belgische und englische Truppen verübten solche Morde. Zon-
nebeke 25. 10. 1914:
120 Deutsche, die sich ergeben hatten, wurden mit Dolchmessern nie-
dergemacht. Englische Offiziere des Yorkshire- und Berkshire-Regiments
sahen dem Blutbade zu, ohne irgendwie einzuschreiten.4
Der französische Capitaine Henri C A S T E X berichtet in seinen Briefen
an die Familie ungeniert, daß seine Soldaten nie Pardon gaben und daß
er als Offizier das nie unterbunden habe. Er beschreibt seine Männer als
>handits< und >sauvages< (Wilde), die keinen anständigen Krieg führten. 5 Sie
seien aufgehetzt gewesen durch den >Revanche<-Gedanken und durch
die Gewißheit, daß sie von Gott unterstützt seien. Hinzu kam die Wir-
kung der Greuelpropaganda, die sie mit Haß auf die >Hunncn< und die
>sauvagesfanatiques< (fanatische Wilde) erfüllte.6
Grausige Morde führten die französischen >nettojeurs< (Säuberungstrup-
pen) aus, die die Aufgabe hatten, in den Gräben Verwundete und Gefan-
gene umzubringen.7 Unter ihnen befanden sich oft Kriminelle, die mit
Messern, Brownings, Handgranaten und Nagelstiefeln ihre blutige Ar-
beit verrichteten. Prof. Friedrich G R I M M erinnert sich an seine Verteidi-
gung eines französischen Sergeanten, der in seinem Tagebuch geschrie-
ben hatte: »Es war gut, daß ich neue genagelte Stiefel trug. Ich habe den

4 STÜLPNAGEL, ebenda, S . 419.


5 Henri CASTF.X, Verdun -Annees Infernales, Edition Albatros, Paris 1 9 8 0 , S. 1 0 3 f.
6 GAUTIILR, a a O . ( A n m . 2 ) , S . 5 7 .
7 STÜLPNAGEL, aaO. (Anm. 1), S. 402; Ernst KUNDT (Vorwort) Kriegsverbrechen der
Alliierten. Material zur deutschen Gegenrechnung, Berlin 1926, S. 6.

65
bayerischen Husaren und dem württembergischen Jäger, die ich verwun-
det auf dem Schlachtfeld traf, das Laufen beigebracht.«"
Oft wurden völkerrechtswidrig Gefangene als lebende Schutzschilde
benutzt. Ypern 30. 4. 1915:
Bei einem Angriff wurden deutsche Gefangene durch Faustschläge
und Fußtritte gezwungen, aus einem englischen Graben heraus den Deut-
schen zuzuwinken, um deren Feuer vom Graben abzulenken. In der Nacht
vom 14. zum 15.6.1918 trieben Engländer beim Angriff auf das Reserve-
Infanterie-Regiment 81 gefangene Deutsche, die die Hände hochheben
mußten, vor sich her und benutzten sie so als Deckung gegen das deut-
sche Maschinengewehrfeuer.<J
Die oben beschriebenen Verletzungen der Genfer Konvention zum
Schutze des >Roten Kreuzes< häuften sich. Der englische General H Ö R N E
und der 11. französische Divisionsstab unter General VUILLENOT befäh-
len sogar ausdrücklich, auf das Zeichen des >Roten Kreuzes« und auf die
Bergung von Verwundeten keine Rücksicht zu nehmen,11
Üblich war auch bei den Alliierten der Beschuß von deutschen Laza-
retten und Lazarettschiffen.
Häufig wurden die Weiße Flagge und das >Rote-Kreuz<-Zeichen miß-
braucht, um damit die Deutschen zu täuschen und sie hinterlistig zu über-
fallen. Zu diesen verbotenen Kriegslisten* gehörten auch das Tragen von
deutschen Uniformstücken und die Verwendung von Dum-Dum-Ge-
schossen.12 Oft kamen Leichenschändungen bei den schwarzen und ma-
rokkanischen Truppen vor. Vielen Toten wurden Köpfe, aber auch Na-
sen und Finger abgeschnitten, die die Eingeborenen als Souvenirs bei
sich trugen.13
Mißhandlungen von Gefangenen und Mißachtung der >Roten Kreuzt-
Flagge gab es auch bei den Kämpfen in den Kolonien, General VON
L E T T O W - V O R B E C K S Schutztruppe fand in Ostafrika englische Befehle, keine
Gefangenen zu machen,14 Indische Soldaten stellten sich oft tot oder
verwundet und schössen dann hinterrücks auf die Askaris.15 Auf Neu-

8 Friedrich GRIMM, Politische Justiz, Bonn 1953, S. 27.


9 STÜLPNAGEL, a a O . ( A n m . 1 ) , S . 4 1 9 .
10 Ebenda, S. 363.
11 Ebenda, S. 338, 351-356, 359 u. 363 f.
12 Ebenda, S. 18, 338-348 u. 455-462.
13 Ebenda, S. 4 2 0 ; CASTEX, aaO. (Anm. 5 ) , S, 1 0 6 u. 1 0 8 ,
14 Burkhard VIEWEG, Macbo Porini - die Augen im Busch, Margraf, Weikersheim,

1996, S. 316 u. 403.


15 Siegfried DELIUS, »Die Schlacht von Tanga«, in: Mitteilungen des Traditionsverban-
des, Nt 11, 1989, S. 110.

66
Guinea verteidigten sich Deutsche und Eingeborene gegen austra-
lische Hilfstruppen, unter denen sich auch Sträflinge befanden. Die
gefangenen melanesischen Verteidiger wurden von den australischen
Soldaten nach dem Kampf mit dem Bajonett durchbohrt.16
Die bestialischsten Greuel ereigneten sich jedoch an der Ost-
front, als russische Truppen 1914/15 in Ostpreußen einfielen, 2000
Männer, Frauen und Kinder ermordeten und 800000 Menschen
in die Flucht trieben.17 Hier verübten die Russen die gleichen grau-
enhaften Verbrechen wie die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg.
Man fand Frauen mit aufgeschlitztem Unterleib, aus denen die
Gedärme heraushingen, Männer mit ausgestochenen Augen, ab-
geschnittenen Armen, Beinen, Zungen oder Hals.ls Im ostpreußi-
schen Johannesburg war eine Frau an die Tür genagelt, ihr waren
die Brüste abgeschnitten. In einem Zimmer fand man eine alte
Frau und einen alten Mann in kniender Stellung über einen Tisch
gelehnt. Man hatte ihnen mit starken Nägeln die Zungen auf den
Tisch genagelt.
Die Entente hat der Welt so oft die Märchen von den deut-
schen Greueln 1914 in Belgien in Wort und Bild aufgetischt, von
aufgespießten Kindern, abgehackten Kinderhänden usw Nach dem
Krieg gaben die Alliierten zu, diese Vorwürfe erfunden zu haben.
In Ostpreußen sind jedoch viele dieser phantasievollen Hirnge-
spinste von den Russen in die Tat umgesetzt worden." Oberst
VON STÜLPNAGEL spricht daher in seiner Dokumentation von »ei-
nem vertierten, überrohen Barbarismus.«20
Wie im Zweiten Weltkrieg verschleppten die Russen schon 1914
deutsche Zivilisten nach Rußland und vergewaltigten Frauen. In
Pillkallen21 wurden 1914 zum Beispiel 88 Frauen und Mädchen im
Alter zwischen 14und 74 Jahren vergewaltigt. Aber auch die west-
lichen >Kreuzzügler< nahmen die deutschen Frauen als Beute: die
belgischen Askaris im Kongo, die belgischen und französischen
Soldaten nach dem Waffenstillstand in Deutschland. Marokkaner
vergingen sich an 7jährigen Knaben.22

Ein eingeborener Soldat


Ralf KÜTTELWESCH, »Der >Lettow- Vorbeck< der Südsee«, in: Preußische der deutschen Schutztruppe,
Allgemeine Zeitung, 10. 6. 2006, S. 21. ein Askari, mit der Reichs-
17 STÜLPNAGEL, aaO. (Anm.l), S. 10.
kriegsflagge.
18 Ebenda, S. 11-14.
19 Ebenda, S. 13.
20 Ebenda, S. 73.
21 Ebenda, S. 103 u. 158.
32 Ebenda, S. 18, 22, 58, 71,107 u. 196.

67
Bei vielen alliierten Truppen waren Plünderungen und die Beraubung
der Kriegsgefangenen an der Tagesordnung,
Russen und Franzosen verstießen gegen die Genfer Konventionen,
indem sie auch nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags 1919 deut-
sche Kriegsgefangene zurückhielten, Frankreich verschleppte 200000
Kriegsgefangene in die zerstörten Aufbaugebiete, wo Tausende durch
Mord, Hunger, Folter, Mißhandlungen und Krankheiten umkamen. E,rst
1929 kamen die letzten deutschen Gefangenen aus Frankreich frei.
Katastrophale Zustände herrschten unter den Kriegsgefangenen und
Zivilinternierten in den englischen, französischen und beigischen Kolo-
nien. Es kam zu Protesten aus der französischen Zivilbevölkerung und
aus dem Vatikan.23
Belgische und französische Zivilisten waren meist so haßerfüllt, daß
sie die hilflosen Gefangenen verhöhnten, beschimpften und bespuck-
ten.24
Die Franzosen verschleppten zu Beginn des Krieges aus dem Elsaß
über 2000 unschuldige Zivilisten, die sie wie Sträflinge behandelten.25
Sogar der Deutschenhasser Maurice BARRKS protestierte gegen diese »un-
menschlichen Konzentrationslager, die Stätten des Elends«.26
Diese schändliche Behandlung stand im Gegensatz zu dem korrekten
Verhalten der Deutschen gegenüber ihren alliierten Kriegsgefangenen. 27
Aber auch sonst beachteten die deutschen Truppen die Haager Land-
kriegsordnung. Dafür sorgte eine strenge Militärjustiz im deutschen Heer.
Friedrich Karl Pohl

25 KUNDT, aaO. (Anm. 7),S. 14,18-23; STÜLPNAGEL, aaO. (Anm, 1 ) , S . 131,151 f.


u. 155; Vi F.WEG, aaO. (Anm. 14), S. 413 f.
14 KUNDT, aaO. (Anm. 7 ) , S. 1 8 - 2 0 ; SANDRO, Fluchtnächte in Frankreich, Deutsche

Verlagsanstalt, 1920, S. 24.


25 STOLPNAGEL, AAO. ( A n m . 1), S. 1 3 4 - 1 3 9 .
26 Ebenda, S. VIEL
27 KUNDT, a a O . ( A n m . 7 ) , S . 2 5 f.; SANDRO, a a O , ( A n m . 2 4 ) , S . 1 5 0 .

68
Deutsche versenkten nicht
britisches Lazarettschiff 1916

m 21. November 1916 sank das britische Lazarettschiff >Britannia<


A im Mittelmeer. In der Weltpresse wurde damals sofort ein deutsches
U-Boot dafür verantwordich gemacht, das das unbewaffnete und unter
dem Zeichen des Roten Kreuzes fahrende Schiff torpediert haben sollte.
Als ein Beispiel für die völkerrechtswidrige Kriegführung der Deutschen
ging diese Meldung um die ganze Welt. Die begründete deutsche Zu-
rückweisung dieses Vorwurfs wurde nicht anerkannt und in der Öffent-
lichkeit verschwiegen.
Doch diese Schuldzuweisung war unberechtigt, wie Jahrzehnte später
eindeutig bewiesen werden konnte. Ende der siebziger Jahre führte der
bekannte Tiefseetauchcr Professor C O U S T E A U den entsprechenden Nach-
weis, über den er dann beim Taucherclub >Mediterraneo< in Barcelona
vortrug.1
Danach hat er in einem Archiv über den Ersten Weltkrieg das Logbuch
des in Frage kommenden deutschen Unterseebootes >U 73< entdeckt. Darin
habe dessen Kommandant SIRSS am 2 1 , November 1 9 1 6 die folgende
Eintragung vollzogen: »Britisches Rotkreuzschiff >Britannia< gesichtet und
Untergang beobachtet, keinen Torpedo abgefeuert, >Britannia< vermut-
lich auf Mine gelaufen, die wir in diesem Gebiet vor einigen Tagen gelegt
haben «
COUSTF.AU hat dann Überlebende des britischen Schiffes befragt und
dabei von diesen erfahren, daß zwei Explosionen vor dem Untergang
gehört worden waren. Daraufhin untersuchte er mit seinen Froschmän-
nern von einer Tauchstation in etwa 116 m Wassertiefe das dort liegende
Wrack des englischen Lazarettschiffes und stellte fest, daß die Außen-
wände des Schiffes nach außen aufgerissen waren. Bei einer Torpedie-
rung oder einer Minenexplosion müßten die entstehenden Löcher in der
Schiffswand jedoch nach innen eingerissen sein. Funde von Kohleresten
bestärkten COUSTEAU in seiner Folgerung, daß eine Explosion im Maschi-
nenraum des Schiffes für den Untergang verantwortlich gewesen sei.
Eine den Deutschen vorgeworfene Torpedierung konnte der Fachmann
mit großer Sicherheit ausschließen. Damit konnte, wenn auch erst rund
60 Jahre später, ein Vorwurf gegen die Deutschen aus dem Ersten Welt-
krieg widerlegt werden. Rolf Kosiek

1 R., »Weitere Kriegslüge aufgedeckt«, in: Deutsche Wochenzeitung, 2. 2. 1979.

69
Die Gallipoli-Invasion 1915

iner der nachhaltigsten Siege der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg


E war zweifellos die gewonnene Schlacht um die Dardanellen 1915/
16. Denn damit mißlang den Alliierten nicht nur der Zugang nach Kon-
stantinopel, sondern auch der Versuch, die Türkei von Deutschlands Sei-
te zu reißen. Besonders für Londons Ansehen als Seemacht war das Fias-
ko bei Gallipoli ein harter Schlag, wenngleich C H U R C H I L L als Erster Lord
1 Winston C H U R -
der Admiralität nichts unversucht ließ, um die Niederlage sowie seinen
CHILL, Weltkrisis
maßgeblichen Anteil daran nach Kräften kleinzureden. 1 Dadurch hat sich
1911-1918, Zürich diese Sicht der Vorgänge in der Offentlichkeit durchgesetzt, und eine
1947. Richtigstellung ist deswegen geboten.
Als bei Kriegsausbruch England sich der französisch-russischen En-
tente anschließt, fragt sich manch einer im Reich: »Wie sollen wir bloß
mit der Grand Fleet fertig werden, der stärksten Flotte der Welt?« Ge-
rüchte kommen auf, sie wolle Helgoland pulverisieren oder gar in die
Ostsee vorstoßen, um Berlin einzunehmen. Doch die Royal Navy hat es
nicht eilig. Statt anzugreifen, befaßt sie sich lieber mit der Seeblockade
2 Alexander MEU- des Deutschen Kaiserreiches und spart ihre Munition. 2
RF.R, Seekriegsgeschichte Das währte so lange, bis im Frühjahr 1915 plötzlich ein starkes briti-
in Umrissen, Seemacht sches Geschwader in der Ägäis auftaucht. Was ist der Grund? Das Os-
und Seekriege, Hase manische Reich ist soeben auf Seiten der Mittelmächte in den Krieg ein-
u. Koehler, Leipzig getreten, und Winston C H U R C H I L L wittert die große Chance. Hier winkt
1943, S. 489 ff.; K. eine klassische Seemachtaufgabe: Wenn die britische Flotte die Meerenge
ASSMANN, Deutsche
zwischen Dardanellen und Bosporus durchstößt, wird sie den Sultan zur
Seestrategie in %u>ei
Weltkriegen, Heidel- Kapitulation, Athen an die Seite Englands und Zar N I K O L A U S zur Waf-
berg 1957. fenhilfe zwingen. Zwar hält das Marineamt in London den Durchbruch
ohne Landungstruppen für Selbstmord, doch boxt der Erste Lord sich
im Kabinett wie im Kriegsrat durch. Dann befiehlt er seinen Admirälen,
»viele dicke Schiffe« vor den Dardanellen zu versammeln, wobei er auf
Unterstützung der russischen Schwarzmeerflotte pocht. Als Zar N I K O -
LAUS aber hört, daß König K O N S T A N T I N von Griechenland mit von der
Partie sein wird, verweigert er jede Hilfe. Schließlich weiß alle Welt, daß
Athen ihm den Zugang zum Mittelmeer mißgönnt. C H U R C H I L L aber setzt
3 John CHARMLEY, alles auf eine Karte. 3
Churchill, Ullstein, Sobald die britische Mittelmeer-Flotte, inzwischen verstärkt durch fran-
Berlin 1997, S. 110 zösische Linienschiffe, 18 >Große Einheiten* zählt und eine hinreichende
ff. Anzahl an Kreuzer- und Torpedobootsflottillcn bereitsteht, heißt es »An-
ker auf!« Und am Morgen des 18. März 1915 dampft die alliierte Armada
in Achtung gebietender Dwarslinie Richtung Dardanellen, Die veralte-
ten türkischen Außenforts bei Kumkale und Seddulbar zum Schweigen

70
zu bringen, glückt der massierten Schiffsartilierie aller Kaliber im Hand-
umdrehen. Dagegen mißlingt der anschließende Durchbruchsversuch
total. Denn die inneren Sperrforts und die gut getarnten Haubitzenbat-
terien unter deutscher Leitung bleiben intakt und feuern aus allen Roh-
ren. Schon beim ersten Anlauf wird ein französisches Linienschiff zu-
sammengeschossen und sinkt. Doch das ist nicht alles: In den Nächten
zuvor war es den Torpedobooten mißlungen, die Minenfeldern bei Ke-
phez und Ehrenköj zu räumen, insbesondere nicht die der inneren Sper-
re. Sie waren erst in der gerade vergangenen Nacht unter Leitung deut-
scher Spezialisten gelegt worden. So verfangt sich das Schlachtschiff
>Inflexible< in der Sperre und bricht nach mehreren Explosionen ausein-
ander. Nicht anders ergeht es dem Schiachtkreuzer >Irresistible<, als er
dem Schwesterschiff >Ocean< zu Hilfe kommt. Beide werden auf Grund
gesetzt und fallen vollständig aus. Nachmittags trifft eine Haubitzensalve Feldmarschal! Otto
den französischen Panzerkreuzer >Bouvet<, der nach zwei Explosionen LIMAN V O N SANDERS

(1855-1929).
kentert und unter Sirenengeheul versinkt. Weitere Großkampfschiffe
werden so schwer beschädigt, daß sie den Kampfplatz räumen. Ihr Rück-
weg gestaltet sich schwierig, weil zerborstene Schiffskörper die Fahrrinne
blockieren. Nachdem bei Rettungsaktionen noch eine Anzahl kleinerer
Schiffseinheiten verlorengegangen ist, wird gegen achtzehn Uhr das Un-
ternehmen abgebrochen. Der Rest der alliierten Flotte zieht sich zurück.4 4 MEURER a a O .
»Daß Konstantinopel nicht auf dem Seeweg zu nehmen ist, hat sich (Anm. 2), S. 492 ff.,
damit gezeigt«, schreibt General L I M A N VON S A N D E R S , Befehlshaber der sowie Admirals tabs -
5. türkischen Armee und Leiter der Deutschen Militärmission beim Sul- werk, Der Krieg in
tan, in seinen Erinnerungen. »Ebenso klar ist aber auch, daß London den den türkischen
Gewässern, Bd. 1,
Plan nicht aufgeben wird, für den es einen so hohen Preis gezahlt hat. und Der Kampf um
Jetzt muß mit Truppenlandungen gerechnet werden.« Dem General ver- die Meerenge, Hase u.
bleiben knapp 40 Tage, um die GallipoIi-Halbinsel auf die alliierte Inva- Koehler, Berlin
sion vorzubereiten.3 1938; siehe auch:
Die Landung erfolgt am 25. April 1915 mit 200 Schiffen und 90000 Marine-Archiv, Der
Mann, die bald um das Mehrfache verstärkt werden. Es ist das größte Krieg zurSee 1914-
Landungsunternehmen des gesamten Krieges. Die alliierten Truppen wer- 18, Berlin 1920.
5 Otto LIMAN VON
den in mehreren Wellen an der Südspitze der Halbinsel bei Seddulbar SANDERS, Fünf Jahre
und Kabatepe abgesetzt. Da S A N D E R S die vermuteten Landungspunkte Türkei, August
vorauskalkuliert und seine Divisionen entsprechend aufgestellt hat, erlei- Scherl, Berlin 1920,
det der Gegner hohe Verluste, wird noch am Strand aufgefangen und S. 44 ff,
stellenweise ins Meer zurückgeworfen. Obwohl die Alliierten erneut Trup-
pen an Land setzen, die wieder und wieder anstürmen, gelingt es ihnen 6 W. PULESTON, The
nirgends, ins Landesinnere vorzudringen. Das gilt auch für die gesamte Dardanelles-expediti-
Zeitspanne der achteinhalb Monate währenden blutigen Kämpfe. 6 on, Annapolis, Navy
Um seine Divisionen dem Trommelfeuer der Schiffsartillerie zu ent- Academy USA,
ziehen, verzahnt SANDERS ihre Abwehrstellungen eng mit den Deckungs- 1927, S. 58 ff.

71
Schlacht bei Kumka-
le. Der Divisionskom-
mandeur N I C O L A I be-
grüßt anrückende
Reserven, die den
türkischen Sieg be-
wirken.

graben der Invasionstruppen. Das hilft, die Schiffskanonade zu unter-


laufen, wobei die ausgedehnte Trichterlandschaft den Verteidigern Schutz
und Deckung gibt. Weil die breiten Sandstrände sich vielerorts in Steil-
hängen und Schluchten verlieren, vermag das Flachfeuer der Panzerschiffe
die dort in Reserve gehaltenen Verbände nicht zu erfassen. Dadurch so-
wie wegen der Standfestigkeit der türkischen Infanterie vermag VON SAN-
DERS mit knapp 60000 Mann den überlegenen Feind so lange in Schach
7LI MAN VON zu halten, bis weitere Kräfte eintreffen.7
SANDERS, a a O . Stellt man in Rechnung, daß die türkische Ausrüstung, die neben we-
(Anra. 5), S. 87 ff. nigen Maschinengewehren kaum Feldartillerie und überhaupt keine schwere
Artillerie aufweist, der modernen Bewaffnung des Gegners hoffnungs-
los unterlegen ist, grenzt es schon an ein Wunder, daß den alliierten Inva-
sionstruppen der Durchbruch ins Landesinnere verwehrt bleibt. Angriff
um Angriff der Landungstruppen wird von den Türken zurückgeschla-
gen, häufig genug lediglich mit dem Bajonett oder der Handgranate. Doch
mehr als 6 bis 16 Kilometer vermögen die Angreifer nicht vorzudringen.
Da VON SANDERS erkennt, daß auf Gegenangriffe verzichtet werden
muß, wenn die eigenen Verluste nicht untragbar werden sollen, überläßt
er dem Gegner die Initiative und beschränkt sich allein auf die Abwehr,
wobei er auf die sprichwörtliche Tapferkeit des anatolischen Soldaten
zählen kann.
Schwierigkeiten bereiten die Zufuhr von Munition und der Nachschub
für die Verteidiger, da die Gallipoli-Halbinsel außer wenigen Saumpfa-
den über keinerlei Straßensystem verfügt. So muß die Masse des Materi-

72
als nach Maidos verschifft und von dort mit Maultieren durchs Gebirge
transportiert werden, wobei es britischen U-Booten gelegentlich glückt,
den einen oder anderen Nachschubdampfer zu versenken. 8 John CHARMLEY,
Als die Alliierten erkennen, daß auch auf dem Landweg kein Vor- aaO. (Anm. 3),
wärtskommen ist und die Einnahme von Konstantinopel in immer wei- S. 118 ff.
tere Ferne rückt, beschließt London, die Invasionstruppen kräftig zu ver-
stärken, und schickt ein weiteres Landungskorps auf den Weg.
Gallipoli und die Dar-
CHURCHILL, Urheber des Dardanellen-Fiaskos, hat inzwischen seine Stel-
danellen 1915. Die
lung als Erster Lord der Admiralität eingebüßt, denn Premier AsQUITH Buchstaben V, W, X
sah sich gezwungen, seine Regierung umzubilden. England ist im zwei- und Y weisen auf ge-
ten Kriegsjahr in argen Nöten, nirgends will es vorwärts gehen, und ohne plante Strände für die
amerikanische Hilfeleistung an Kapital und Rüstungsgütern müßte Lon- Landung am 25. April
don den Kampf einstellend 1915 hin. (Karte aus:
lohn F. C. FÜLLER, Die
»Ende Juli mehren sich die Nachrichten, daß eine Großlandung be- Entscheidungs-
vorsteht«, meldet VON SANDBRS nach Berlin. Von mehr als 8 0 0 0 0 Mann schlachten der westli-
und 140 Schiffen höre man aus Saloniki. Andere Gewährsmänner geben chen Welt, Grabert,
noch höhere Zahlen an. Und am Abend des 6. August 1915 beginnt die Tübingen 2004).
neue Landungsoperation des
Gegners, der 5 frische Divisio-
nen in der Anaforta-Ebene
zwischen Ariburnu und der
nördlichen Suvlabucht an
Land setzt. In zügigem
Sturmangriff gelingt es ih-
nen, die dünne türkische Li-
nie zu durchbrechen, eine
Eindringtiefe von rund 16
Kilometern zu gewinnen und
den Landeabschnitt auf eine
Breite von 15 Kilometern
auszudehnen. Gleichzeitiger-
folgen weitere Anlandungen
im Raum von Seddulbar so-
wie nördlich von Kabatepe,
Dieses Mal vermögen die ge-
landeten Truppen in ununter-
brochenen Angriffen und
unter dem zusammengefaß-
ten Feuer der Schiffsartillerie
tiefer in Landesinnere vorzu-
stoßen und den beherrschen-
den Höhenrücken des Ki-

73
Landeoperation: Ein
Geschütz wird auf
einem Floß an Land
gebracht.

Am 8. August 1915
schrieb Admiral TIR-
PITZ: »Schwere Kämp-

fe sind seit gestern an


den Dardanellen im
G a n g e . , , Sollten die
Dardanellen fallen,
wäre der Weltkrieg
gegen uns entschie-
den.«

Auf zum Teil sehr en-


gen Stränden gelandet,
wurden die britischen
(und französischen)
Truppen bald dem
schweren Feuer türki-
scher Eliteschützen
ausgesetzt. Die Verlu-
ste waren beträchtlich
- eine Schlappe für
die Verantwortlichen
in London, allen voran
W. CHURCHILL.

reschcepe zu besetzen. Da VON S A N D E R S ausreichende Reserven nicht


mehr zur Hand hat, zeichnet sich eine schwere Krise ab, die selbst ver-
möge der stupenden Hartnäckigkeit der türkischen Infanterie kaum zu
meistern ist. Doch der Gegner bricht überraschend den Kampf ab und
zieht seine schwer angeschlagenen Truppen zurück. Der Großversuch,
die Stellungen der 5. Armee von der Flanke her aufzurollen, scheitert im
wütenden Bajonettangriff der Türken, die das verlorene Höhengelände
mit Bravour wieder einnehmen, Über 55000 Tote und Verwundete läßt
der Gegner auf dem Schlachtfeld zurück, nur eine mit VON SANDERS ver-
einbarte Waffenruhe erlaubt ihm die Bergung.

74
Doch der Gegner gibt noch nicht auf. Bis in den November hinein
versucht die britische I.andungsarmee, mit allen verfügbaren Kräften das
Höhengelände zurückzugewinnen und den Einbruchsraum auszuweiten.
Trotz größter Opfer gelingt es nicht. Die türkischen Verteidiger drängen
die alliierten Divisionen ohne Rücksicht auf Verluste schrittweise in die
Landungsräume zurück,9 bis endlich, in der Nacht vom 19. zum 20. De- 9 LIMAN VON

zember 1915, während dichter Nebel über der Küste liegt, die Alliierten SANDERS, a a O .
den Kampf an den Ariburno- und Anaforta-Frontabschnitten aufgeben (Anm. 5), S. 108 ff.
und sich auf die Schiffe zurückziehen. Auch im Raum Seddulbar erkennt
VON SANDERS bald darauf Rückzugsbewegungen, die weitgehend nachts
stattfinden. Letzte Einschiffungen erfolgen in der Nacht vom 8. auf den
9. Januar 1916 unter Zurücklassung riesiger Mengen an Kriegsmaterial
und Verpflegung, während die Schiffsartillerie die Flüchtenden deckt und
10 Ebenda, S. 126 ff
viel liegengebliebenes Material zerstört.10
Den Gesamtverlust der türkischen 5. Gallipoli-Armee gibt SANDERS mit
218000 Mann bei 66000 Toten an. Auch die Verluste der Alliierten sollen
weit über 150000 Mann betragen haben. Insgesamt ist am Gallipoli-Un-
ternehmen über eine Dreiviertelmillion Soldaten beider Seiten beteiligt ge-
wesen, Ihre Verlustzahlen lassen sich durchaus mit denjenigen der großen
Mate riaisch lachten an der Somme und bei Ypern vergleichen. Viele der
auf Gallipoli eingesetzten türkischen Divisionen verloren nahezu den ge-
samten Mannschaftsbestand und mußten mehrmals aufgefrischt werden.11 " Ebenda, S. 135;
General LiMAN VON SANDERS' Fazit lautet: »Wäre die alliierte Operati- sowie R. Rhodes
on geglückt und die Gallipoli-Halbinsel verlorengegangen, hätte das den JAMES, Gallipoli,
alliierten Durchbruch ins Schwarze Meer und die sichere Verbindung London 1984; ders.,
zwischen den Westmächten und Rußland bedeutet. Damit wäre die Tür- Churchill — A study in
failure 1900-1939,
kei von der Seite Deutschlands abgesprengt worden.«
I^ondon 1970.
Seine Einschätzung deckt sich voll mit dem Urteil der deutschen
Marineleitung: »Der kürzeste Weg zum Sieg führte für England durch
die Dardanellen, aber er war blockiert.« Andreas N a u m a n n

Rückzug der Entente-


Flotte. Aus: Paul
L I N R E N B E R R C (Hg.),

Hindenburg-Den k-
mai für das deutsche
Volk, C. U. Welter,
Berlin 1923.

75
Armeniermord - Geschichtsklitterung 2005
im Deutschen Bundestag

m 16. Juni 2005 wurde ein Antrag aller Bundestags fraktionen (außer
A der PDS) zum Gedenken an das Armenier-Genozid von 1915 ohne
Aussprache mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen - eine
Stellungnahme, die längst fällig war, aber wegen befürchteter türkischer
Reaktionen bisher peinlichst vermieden worden war; natürlich auch we-
gen der Notwendigkeit, damit zu bekunden, daß es neben dem Holo-
caust auch noch ein anderes Genozid gegeben hat. Um das abzumildern,
griff man auf ein bewährtes, typisch deutsches Mittel zurück: Man titelte
die Antrags-Drucksachc nicht nur einfach »Erinnerung und Gedenken
an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915«, sondern
fügte noch unterwürfig einen Gutmensch-Satz hinzu: »Deutschland muß
zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen«.
Unter völliger Vermeidung des Begriffes >Völkermord< beklagte der
Bundestag in seinem Beschluß nicht nur die »fast vollständige Vernich-
tung der Armenier in Anatolien«, sondern beschuldigte das Deutsche
Reich, Mordkomplize gewesen zu sein.
Man bedauerte »die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das
angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertrei-
bung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die
Greuel zu stoppen«. Das wäre angeblich möglich gewesen, denn »das
Deutsche Reich war als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen
Reiches ebenfalls tief in diese Vorgänge involviert«, und »trotz dringen-
der Eingaben vieler deutscher Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik
und den Kirchen... unterließ es die deutsche Reichsleitung, auf ihren
osmanischen Verbündeten wirksamen Druck auszuüben«.

Der Bundestag als Geschichtsklittercr


Um die schwerwiegende Anschuldigung zu begründen, wurde in dem
1 J o h a n n e s LEPSIUS,
Beschluß auf eine alte linke Masche zurückgegriffen, indem man das
Deutschland und >Richtige« falsch interpretiert, so daß das Gegenteil des Gemeinten dabei
Armenien 1914-1918 herauskommt: »Besonders das Werk von Dr. Johannes LEPSIUS, der ener-
— Sammlung diploma- gisch und wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft
tischer A ktenstiicke. hat, soll dem Vergessen entrissen werden.« 1
Zur Erinnerung: Der evangelische Theologe LEPSIUS hatte in seiner
Dokumentation die Massaker ausführlich dargestellt. Sie enthält neben
dem diplomatischen Schriftverkehr auch nichtamtliche Briefe und Be-
richte ab Kriegsbeginn bis zum Oktober/November 1918, besonders

76
die Berichte zur Deportation und Vernichtung vom 24. April bis De-
zember 1915, sowie zur anschließenden Zwangsislamisierung und weite-
ren Vernichtung bis zur türkischen Einnahme von Baku im September
1918.
In der Neuausgabe von 1986 werden im Vorwort schwere Vorwürfe
gegen das kaiserliche Deutsche Reich wegen der damals angeblich im
Reich erzwungenen Geheimhaltung der Greuel erhoben, und es wird
behauptet, Deutschland habe nicht »alles in seiner Macht Stehende zur
Rettung der Armenier unternommen. Deutschlands Schuld lag vermut-
lich (!) gerade vor allem in unterlassener Hilfeleistung«.
Diese schwerwiegende Anschuldigung wird jedoch weder im Text noch
in den Quellenangaben durch Tatsachen belegt, woraus zu schließen ist,
daß es diese nicht gibt. Dennoch übernahm der Bundestag ungeprüft
diese Vorwürfe; die Dokumentation selbst scheint niemand gelesen zu
haben. So trifft es nach L E P S I U S nicht zu, daß Deutsche, um Armeniern Johannes LEPSIUS
zu helfen, irgendeinen Widerstand ihrer Regierung zu überwinden hat- (1858-1926). Franz
ten. Im Gegenteil: Nach L E P S I U S hat die deutsche Regierung alles in ihrer W E R F E I nannte ihn

Macht Stehende unternommen, alle Hilfe gebilligt oder unterstützt, aber »den Schutzengel der
Armenier».
wegen fehlender Druckmittel nur wenig erreicht. Sie hat allerdings die
aus ihrer Sicht nicht zu verantwortende öffentliche Anklage ihres strate-
gisch unverzichtbaren Verbündeten mitten im Ersten Weltkrieg unter-
bunden. Zum Vergleich möge man das Verhalten heutiger Bundesregie-
rungen gegenüber dem menschenverachtenden russischen Vorgehen
gegen die Tschetschenen betrachten. Trotzdem wird im Bundestags-
beschluß mit dem Satz: »Deutschland, das mit zur Verdrängung der Ver-
brechen am armenischen Volk beigetragen hat« dreist eine »Verdrängungs-
politik des Deutschen Reiches« wahrheitswidrig unterstellt.

Dokumenten beweise
Daß die Dokumentation von L E P S I U S bereits 1919 unter Verwendung
sämtlicher Akten des Auswärtiges Amtes (AA) und der Botschaft her-
ausgegeben wurde, beweist das Gegenteil. LEPSIUS garantiert im Vorwort
»die Zuverlässigkeit des Bildes, das sie (die Akten) von der Haltung der
deutschen Regierung in der armenischen Frage geben«, und fügt hinzu:
»Um jedem Verdacht die Grundlage zu entziehen, als ob Aktenstücke,
die die deutsche Regierung, die Botschafter und die Konsuln oder deut-
sche Offiziere, Beamten und Privatpersonen in irgendeiner Hinsicht be-
lasten, von mir unterdrückt sein könnten, habe ich eine so vollständige
Auswahl aus der diplomatischen Korrespondenz. . . getroffen, daß die
innere Kontinuität des Schriftwechsels für ihre sachliche Vollständigkeit
bürgt.«

77
LePS]US beziffert die Zahl der Opfer auf etwa eine Million, wozu noch
bis zu hunderttausend im Kaukasus kommen. Anfangs hatte man in der
»Les massacres
deutschen Botschaft »bei der unvollkommenen Information über die tat-
d'Armeni«, Abbildung sächlichen Vorgänge« an russische Greuelpropaganda geglaubt. Am 7.
im Le Petit Journal Juli 1915 berichtete der Botschafter dem Reichskanzler, »daß die Regie-
vom 12. 12. 1916. rung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen
Reiche zu vernichten«. Diesem Bericht war ein
Protest-Memorandum gegen die »Massakres und
Plünderungen« beigefügt, das er dem Großwe-
sir bereits am 4. Juli überreicht hatte. Bis 1918
protestierten nacheinander fünf Botschafter und
ihre zwischenzeitlichen Vertretungen mündlich
und schriftlich bei der türkischen Regierung ge-
gen die Massaker und Deportationen und for-
derten zum Kurswechsel auf.
Die Korrespondenz beweist, daß Deutsche,
auch unter Lebensgefahr, sich sofort vor Ort für
den Schutz und das Überleben der Armenier ein-
setzten. Die deutsche Botschaft und ihre Kon-
sulate waren vielfach Anlaufstellen für Hilfesu-
chende. Die Akten bezeugen Einsprüche des
Reichskanzlers und des Auswärtigen Amtes und
ihre Unterstützung deutscher Stellen zugunsten
der Armenier im Osmanischen Reich und im
Kaukasus. Das deutsche Militär war zu Beginn
der Armenier-Verfolgung mit 75 Offizieren und
150 Soldaten nur ungenügend vor Ort. In Inner-
Anatolien befanden sich bei den türkischen
Oberkommandos nur einzelne deutsche Offizie-
re. Angesichts dieses schwachen Kontingents
Die Verfolgung der fühlte sich die Pforte (türkische Regierung) Deutschland gegenüber kei-
Armenier begann üb- neswegs verpflichtet und verbat sich ein Hineinreden in ihre inneren An-
rigens nicht erst 191 5. gelegenheiten,
In den Jahren 1896
und 1909 fanden be-
Am 1 0 . August 1 9 1 5 erklärte der Innenminister Enver PASCHA, wie
reits Gemetzel statt. Johannes L E P S I U S berichtete, in zynisch-zweideutiger Weise: »Wir kön-
nen mit unseren inneren Feinden fertig werden. Sie in Deutschland kön-
nen das nicht. Darin sind wir stärker als Sie.« LEPSIUS berichtet von zahl-
reichen Fällen, »die von dem unermüdlichen Eintreten der deutschen
Konsuln für die Deportierten, von der aufopferungsvollen Notstandsar-
beit deutscher Missionare und Missionarinnen und von dem erfolgrei-
chen Eintreten deutscher Offiziere zum Schutz bedrohter Armenier
Zeugnis ablegen«.

78
Einige Beispiele mögen das belegen: Ein Vizekonsul, der in militäri- Das Genozid an den
schem Auftrag nach Mossul reiste, »verhinderte dadurch, daß er mit den Armeniern 1915/16
gilt als erster Völker-
ihm unterstellten Offizieren und Mannschaften seine Mitwirkung ver-
mord des 20. Jahr-
weigerte, daß ein Lager von Deportierten. . . von den ihn begleitenden hunderts.
türkischen Offizieren und Mannschaften laut Befehl aus Mossui massa-
kriert wurde«. Nach den Massakern
General L I M A N VON SANDFRS, neben VON DFR G O L T Z zeitweise der ein- an Armeniern und
Griechen durch die
zige deutsche Oberbefehlshaber in der türkischen Armee, erfuhr im No- Türken: Ankunft über-
vember 1915 in Smyrna, daß Hunderte von Armeniern ins Landesinnere lebender Waisenkin-
deportiert worden waren. Am nächsten Tag ließ er durch seinen Stabs- der in Griechenland
chef dem Wali (Provinzgouverneur) unter Androhung von Waffenge- 1922.

79
walt Deportationen verbieten - mit Erfolg. Ebenso intervenierte er für
zehn angesehene Armenier, die in Smyrna im Gefängnis einsaßen.
Generalfeldmarschall Freiherr VON DER G O L T Z erfuhr im Dezember
1915 in Mossul, daß dort ansässige Armenier auf Befehl des bisherigen
Oberbefehlshabers an den Euphrat deportiert werden sollten. Nach sei-
ner sofortigen Intervention wurde die Vertreibung zunächst aufgescho-
ben, Mitte Januar 1916 verbot er sie aufgrund seiner Befugnisse als Ober-
befehlshaber. Als die türkische Regierung auf dem Abtransport bestand,
bat er telegraphisch um seine sofortige Abberufung, Erst jetzt gab der
türkische Verteidigungsminister nach und sicherte das Verbleiben der
Armenier in Mossul zu. Dabei wies er aber darauf hin, daß die Oberbe-
fehlshaberbefugnisse den Deutschen nicht berechtigten, sich in innere
Angelegenheiten einzumischen.
Mit Unterstützung der Obersten Heeresleitung erreichten die Generale
VON L O S S O W und VON K R E S S E N S T E I N von der Kaiserlich-Deutschen Dele-
gation im Kaukasus, daß die Türken sich hinter die Brest-Litowsker Ver-
Generalfeld marschall
Colmar Freiherr VON tragsgrenzen zurückzogen und die geflüchteten Armenier wieder zurück-
DER G O L T Z w a r 1 9 1 5 kehren konnten. Ein Oberstleutnant im Stabe eines türkischen
Oberbefehlshaber der Oberbefehlshabers in Baku forderte Schutz für Armenier und andere Chri-
1. Türkischen Armee sten. Als der Oberbefehlshaber dennoch ein Massaker duldete, nutzte der
und setzte sich neben deutsche Offizier ein Festbankett, um ihm vor versammelter Gesellschaft
anderen preußischen
ernste Vorhaltungen zu machen. Anschließend begab er sich mit drei wei-
Offizieren für die Sa-
che der Armenier ein.
teren deutschen Offizieren in die Stadt, um dort einige deutsche Häuser
und das eines Armeniers zu schützen. Er verlor daraufhin seine Stellung,
Die Dokumentation beweist unter anderem auch, daß im August 1915
der deutsche Generaldirektor der Kaiserlich-Ottomanischen Bagdad-
Bahngesellschaft die etwa 850 armenischen Angestellten mit ihren Fami-
lien vor einer Deportation rettete. Er drohte, sofort den gesamten Bahn-
betrieb einzustellen, falls dieses unverzichtbare Fachpersonal deportiert
werde. Nach einem vorläufigen Aufschub wurde nach harten Auseinan-
dersetzungen die geplante Deportation ganz aufgehoben.
Auf 500 kleingedruckten Seiten der LEPSIUS-Dokumentation findet sich
nirgendwo ein Versuch, die Fülle der eingehenden Berichte zu unterdrük-
ken oder deutsche Konsularbeamte, Militärs oder Deutsche in zivilen Funk-
tionen zur Zurückhaltung anzuhalten. Im Gegenteil, die Reichsregierung
billigte und unterstützte deren Eintreten für die Armenier. Als sie eine von
L E P S I U S unterschriebene Warnung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft
erhielt, die dann an das Auswärtige Amt weitergeleitet wurde, meldete der
Botschafter schon nach drei Tagen, mit der türkischen Regierung »eine
äußerst scharfe Sprache geführt« zu haben. Leider mußte er hinzufügen:
»Proteste nützen nichts, und türkische Ableugnungen, daß keine Deporta-
tionen mehr vorgenommen werden sollen, sind wertlos.«

80
Ende September 1916 berichtete der Staatssekretär des Äußeren dem
Reichshaushaltsausschuß, »daß unser Botschafter soweit gegangen ist,
sich direkt den Unwillen des Großwesirs und des Ministers des Inneren
zuzuziehen. Nach den ersten drei Monaten seiner Tätigkeit haben die
betreffenden Minister gesagt, der Botschafter scheine wohl nichts ande-
res zu tun zu haben, als sie immer in der Armeniersache anzuöden«.
Im März 1918 erfolgte eine Erklärung vor dem Reichstag, man habe
es nicht verantworten können, das Bündnis mit der Türkei zu kündigen,
weil es zur Deckung der Südflanke von existentieller Bedeutung war. Au-
ßerdem, so muß ergänzt werden, hätte bei dem damals herrschenden
Fanatismus ein Bruch den Armeniern keineswegs geholfen. Als Verbün-
dete konnten die Deutschen wenigstens etwas zur Linderung beitragen.
LEPSIUS zum Beispiel erklärte: ». . . in den Jahren 1916 bis 1918 war den
deutschen Konsulaten nichts anderes übrig geblieben, als die Notstands-
werke der im Lande verbliebenen deutschen und amerikanischen Missio-
nen, wo es irgend hinter dem Rücken der türkischen Behörden möglich
war, zu fördern und zu schützen.«
Wenn dennoch bis heute behauptet wird, das deutsche Kaiserreich
habe dem Treiben des türkischen Verbündeten dagegen einfach zugese-
hen, ja, es wäre sogar Drahtzieher und Anstifter des Massakers gewesen,
so geht das letztlich zurück auf die Berichte des amerikanischen Bot-
schafters in Istanbul, Henry M O R G E N T H A U sen., der durchaus im Geiste
anglo-amerikanischer Kriegspropaganda wie seiner eigenen Voreingenom-
menheit Preußen und Deutschland hinter allem Bösen der Welt sah. Tat-
sache aber ist: Die Entscheidung zum Völkermord fiel in der Führung
der Jungtürken-Partei, und nicht beim Militär, in dem Deutschland mit
einigen hundert Beratern vertreten war.

Meinungsmacher am Werk
Angesichts dieses Sachverhaltes ist es unverständlich, daß am 26. April
2003 ein namhafter Professor für Neuere Geschichte sich dafür aussprach,
Deutschland für mitschuldig zu erklären: In Die Literarische Weit erinnerte
er eindringlich an die Greueltaten und forderte die »bundesdeutschen
Politiker« auf, »unmißverständlich Position zu beziehen«. Denn die Bun-
desrepublik sei »politisch und moralisch Rechtsnachfolger des Deutschen
Reiches«. Sich vor der historischen Verantwortung zu drücken hätte zur
Folge, daß Deutschland noch im nachhinein die Schuld legitimiert, die es
einst durch Mithilfe auf sich geladen hätte.
»Der deutsche Bundestag wäre gut beraten, wenn er. .. eine interfrak-
tionelle Resolution verabschiedete, in der die Mitverantwortung des Deut-
schen Reiches am Genozid an den Armeniern anerkannt wird.«

81
Der auf diese Weise schlecht beratene Bundestag führte den Auftrag
aus. Am neunzigsten Jahrestag des Beginns des Armenier-Genozids glaub-
te Bischof Wolfgang H U B E R bei einer Seelenmesse im Berliner Dom,
sich »für diese politische Gleichgültigkeit« des Kaiserreichs schämen zu
müssen, und bat die deutsche Regierung, »sich zur deutschen Mitschuld
2 Presseerklärung der zu bekennen«. 1
EKD vom 23. April Angesichts solcher Bußfertigkeit und der Unverschämtheit, den Deut-
2005.
schen eine weitere Schuld wie einen Mühlstein um den Hais zu hängen,
1 Einblick in diese
ist es verwunderlich, daß der Bundestag keine milliardenschwere Ent-
Netzwerke gibt der
schädigung für die Opfer »deutscher Mitschuld* beschlossen hat, obwohl
Aufsatz von Her-
mann GOLTZ, »Das Rot-Grüne für solche Fälle immer Geld haben, wie unter anderem der
Dreieck Schweiz- >Herero-Fall< zeigte, bei dem im Namen einer deutschen Regierung tätige
Deutschland— Reue versprochen wurde. Doch ist es nicht unglaublich, daß ein Parla-
Armenien«, in: Hans- ment sich eine Geschichtslüge leistet und kein einziger deutscher Ge-
Lukas KIESER, Die schichtsprofessor von Ansehen protestiert? Zugegeben, es ist nicht die
armenische Frage und die erste und einzige Geschichtslüge, die hochoffiziell präsentiert wird.
Schweif (1896—1923),
Zürich 1999, S. 159-
185. Das Lepsius-Archiv in Halle
4 T a n e r AKCAM, Im neu eingerichteten LEPSIUS-Archiv in Halle, einer in vielerlei Hinsicht
Armenien und der reichhaltigen Fundstelle, finden sich auch Originalmilitärquellen. Einen
Völkermord. Die Teil davon hatte der deutsche General L I M A N VON S A N D E R S , der die Ar-
Istanbuler Prozesse und menierverfolgungen im Bezirk Izmirs erfolgreich bekämpft hatte, LEPSIUS
die türkische National- persönlich übergeben. Teilweise verwendete er diese Dokumente 1921
bewegung, Hamburg als Experte im Prozeß gegen T E H L E R I A N , der Talaat PASCHA, einen der
2004. Neuausgabe;
Hauptverantwortlichen der Armenier-Massaker, in Berlin erschossen hatte.
Wolfgang GUST, Der
Völkermord an den Die Bestände des LEPSIUS-Archives sind in einer umfangreichen Micro-
Armeniern 1915/16. fiche-Edition zugänglich. Zu dieser gehört ein umfangreicher Katalog,
Dokumente aus dem der das praktische Aufsuchen der Dokumente nach Autor oder Adressat
Politischen Archiv ermöglicht und auch sämtliche von L E P S I U S herausgegebenen Zeitschrif-
des deutschen ten umfaßt. Die große Bedeutung dieses Archivs liegt unter anderem in
Auswärtigen Amtes, der Offenlegung eines internationalen Netzwerkes um Johannes LEPSIUS.
Springe 2005; Rolf Dessen Kontakte reichten von den Armeniern zu den Zionisten, vom
HOSFELD, Operation
französischen Katholizismus zu den amerikanischen Nahostmissionaren,
Nemesis. Die Türkei,
von Basler und Genfer Philanthropen bis zu Exponenten des türkischen
Deutschland und der
Völkermord an den Regimes. 1 Er gab sich jede nur denkbare Mühe, um drohendes Unheil
Armeniern, Köln vom armenischen Volk, aber auch von Deutschland abzuwenden. Un-
2005. verdrossen suchte er sämtliche ihm zugänglichen Kräfte zu mobilisieren,
die aus seiner Sicht dem Nahen Osten eine bessere Zukunft bereiten
konnten. Auch wenn er nur wenig gegen die damals von allen Seiten
bemühte >Realpolitik< vermochte, bleibt sein Wirken den Nachkommen
der Überlebenden des Völkermordes unvergessen. 4 H a n s Meiser

82
Die Balfour-Erklärung von 1917 und ihre Folgen

eit Jahrzehnten bildet der Vordere Orient, insbesondere Palästina, ei-


S nen der dauernden Krisenherde der Weltpolitik, und ein Ende der
Schwierigkeiten ist nicht abzusehen. Die mit der britischen B A L F O U R - E T -
klärung von 1917 zusammenhängende Vorgeschichte dieser Auseinan-
dersetzungen ist meist unbekannt und wird heute gern verschwiegen.
Darum seien die historischen Tatsachen kurz geschildert. 1 ' Weitere Einzelhei-
In England stießen die Bemühungen der Zionisten, besonders die Theo- ten u. a. in: Dieter
dor H E R Z L S , nach Errichtung eines >Judenstaates< Endes des neunzehn- VOLLMER, Politisches
ten Jahrhunderts auf großes Verständnis. Im Jahre 1903 schlug die briti- Geschehen des XX.
sche Regierung den Zionisten Uganda als eine solche jüdische Heimstätte Jahrhunderts, K. W.
vor. Der Plan wurde jedoch von den Zionisten abgelehnt. 2 Der Nieder- Schütz, Preußisch-
länder VAN W L N G H E N E regte in seinem Buch Voll-Zionismus an, für die Oldendorf 1972,
Bd. I I I .
Juden einen Staat auf Madagaskar zu schaffen. Im Jahre 1937 wurde eine
2 A, C, »Meilenstei-
polnische Delegation unter Generalmajor L E P E C K I nach Madagaskar ge-
sandt, um dort Ansiedlungsmöglichkeiten für Juden zu untersuchen. Das ne auf Israels Weg
zum Staat«, in: Neue
in einer Denkschrift niedergelegte Ergebnis der Kommission war die Zürcher Zeitung, 3.
Befürwortung der Ansiedlung der Juden auf der Insel.1 Der >Madagas- 11. 1967, S. 4.
kar-Plan< spielte ebenso für die deutsche Regierung bis 1941/42, bis zur
'Johann VON LEERS,
Besetzung Madagaskars durch die Briten, eine Rolle.4 Auch andere Län- »Madagaskar«, in:
der wie Nord-Rhodesien wurden zur jüdischen Einwanderung vorge- Volksaufklärung und
schlagen. Schule, Nr, 42, 1937,
Am Beginn des Ersten Weltkriegs verlegte die zionistische Bewegung S. 14.
ihren Sitz von Berlin nach Kopenhagen, um ihre Neutralität zu bewei- 4 Yehuda BAUER,
sen. Die Mehrheit der Zionisten stand auf der Seite der Alliierten, eine Freikauf von Juden?,
Minderheit versprach sich jedoch noch von einem Sieg Deutschlands die Jüdischer Verlag,
besseren Aussichten für die Errichtung eines jüdischen Staates. Frankfurt/M.
21996, S. 95-100;
Im Ersten Weltkrieg war das Osmanische Reich (Türkei) Deutschlands
Francis R. NLCOSIA,
Verbündeter. Es beherrschte den ganzen Vorderen Orient samt Palästina. Hitler und der
Großbritannien war daran gelegen, seinen durch den Suez-Kanal füh- Zionismus, Druffel,
renden Seeweg nach Indien vor türkischen Angriffen freizuhalten und Leoni 1989, S. 298;
eine Landverbindung vom Kanal bis zum Irak für sich zu schaffen. Es Rudolf ASCH EN AU-
bemühte sich deswegen darum, die von der Türkei beherrschten Araber ER (Hg.), Ich Adolf
zum Aufstand anzustacheln. Imjuli 1915 einigten sich in Damaskus füh- Eichmann, Druffel,
rende Vertreter der arabischen Länder auf Bedingungen für London als Leoni 1980, S. 138,
164,167-174; siehe
Voraussetzung zur Zusammenarbeit mit den Engländern: Anerkennung
auch Beitrag Nr,
der Unabhängigkeit der arabischen Länder außer der britischen Kolonie 117, »Der Madagas-
Aden; Aufgabe aller Sonderrechte der Europäer; Abschluß eines Bei- kar* Plan — eine
standspaktes zwischen Großbritannien und den künftigen arabischen polnische Initiative«.
Staaten mit Meistbegünstigung Großbritanniens.

83
Ein darauf im Oktober 1915 folgender Briefwechsel zwischen dem
britischen Oberkommissar für Ägypten, Sir Arthur Henry M A C M A H O N ,
und dem Emir H U S S E I N I. des arabischen Hedschas, dem Scherifen von
Mekka aus der Dynastie der Haschimiden, stellte den Arabern die briti-
sche Unterstützung Londons bei der Errichtung eines unabhängigen ara-
bischen Staates mit Einschluß Syriens und des Irak in Aussicht. Insbe-
sondere wurde das noch in der Hand der Türken und Deutschen
befindliche Palästina den Arabern versprochen. Die Briten wandten da-
mit eine mehrfach von ihnen geübte Politik — so bei Südtirol 1915 oder
in jalta-Potsdam 1945 - an: das Land Dritter einem anderen für dabei zu
erreichende eigene Vorteile zu versprechen.
Im Vertrauen auf diese Zusagen erhoben sich mit Hilfe des britischen
Abenteurers Thomas Edward L A W R E N C E die Araber am 5. Juni 1916 ge-
gen die türkische Oberherrschaft. Am 2. November 1916nahm HUSSEIN 1.
den Titel >König der arabischen Länden an.
Durch den Briefwechsel vom 16. Mai 1916 zwischen dem britischen
Außenminister Sir Edward G R E Y und dem französischen Botschafter in
London, Paul C A M B O N , wurde das von den Unterhändlern S Y K E S und
P I C O T ausgehandelte S Y K E S - P I COT-Ab kommen amtlich, das die beider-

Das im Jahre 1916


ganz im britischen
Sinne ausgehandelte
5 YKES-PICDT-Ab k o m -
men. Die arabische
Welt wurde zum
Spielball der westli-
chen Interessen.

84
seitigen Interessensphären in Vorderasien und im Nahen Osten fest- 5 Chaim WEIZMANN,

legte. Es schränkte im Gegensatz zu den britischen Versprechun- Reden und Aufsätze, 1901-
gen gegenüber den Arabern die künftige Unabhängigkeit der arabi- 1936, Erwin Löwe, Berlin
schen Staaten stark ein. o.J. (1937), a 39.
Am 17. Februar 1917 fand im Londoner Haus Dr. GASTERS un-
ter dessen Vorsitz die erste offizielle vorbereitende Konferenz von
Zionisten zwecks einer jüdischen Heimstätte in Palästina statt. Teil-
nehmer waren unter anderen Lord ROTHSCHILD, James DE ROTH-
SCHILD, Herbert SAMUEL, Sir Mark SYKES, Nahum SOKOLOW und
Chaim WEIZMANN, der die Zionisten der USA vertrat. WEIZMANN
erklärte schon am 20. Mai 1917 auf einer Tagung der Zionisten
Englands; »Ich bin ermächtigt, vor der Versammlung zu erklären,
daß >die Regierung Seiner Majestät bereit ist, selbst unsere Pläne zu
unterstützen«.«5 Anschließend gelang es vor allem WEIZMANN, briti-
sche Politiker wie den seit November 1916 tätigen Premierminister
LLOYD GEORGE und den Außenminister BALFOUR für die zionisti-
schen Ideen zu gewinnen und Vorschläge für eine entsprechende
Erklärung auszuarbeiten. Als auch US-Präsident W I L S o n am 16. Ok-
tober 1917 der britischen Regierung mitteilte, daß die Vereinigten
Arthur James B A L F O U R
Staaten eine solche Erklärung mittragen würden, ermächtigte das (1848-1930) saß als konser-
zunächst widerstrebende britische Kabinett am 31. Oktober 1917 vativer Politiker von 1874
den Außenminister, eine Erklärung zugunsten eines jüdischen Staates bis 1922 im Unterhaus,
im Namen der Regierung Großbritanniens abzugeben. Damit er- dann im Oberhaus, war
hoffte London auch, bessere Unterstützung durch die einflußrei- 1887 bis 1891 Staatssekre-
tär für Irland und erwarb
chen jüdischen Kreise der Ostküste der USA im Krieg gegen das
sich dort den Namen »blu-
Deutsche Reich zu bekommen. tiger Arthur« (Die Welt, 28.
Diese »Balfour-Deklaration« vom 2. November 1917 wurde aus 7. 1973). 1902 bis 1905
verschiedenen Gründen2 in der ungewöhnlichen Form eines Brie- war er als Nachfolger seines
fes BALI'OURS vom Foreign Office an Lord ROTHSCHILD als eine der Onkels Premierminister und
bekanntesten jüdischen Persönlichkeiten geschickt. Der Inhalt ist vollzog die Kehrtwendung
hin zu Frankreich und ge-
folgender: gen Deutschland {Entente
»Lieber Lord ROTHSCHILD, cordiale 1904). Im Ersten
mit großer Genugtuung übermittle ich Ihnen namens Seiner Weltkrieg war er 1915 Ma-
Majestät Regierung die folgende Sympathie-Erklärung für die jü- rine-, von 1916 bis 1919
disch-zionistischen Bestrebungen, die dem Kabinett unterbreitet und Außenminister. Als Lordprä-
sident (1925-29) formulier-
von ihm gebilligt worden ist.
te er den Begriff >British
»Seiner Majestät Regierung betrachtet die Schaffung einer natio- Commonwealth«.
nalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen
und wird die größten Anstrengungen machen, um die Erreichung
dieses Zieles zu erleichtern, wobei klar zu verstehen ist, daß nichts
getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte be-
stehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder die Rech-

85
te und die politische Stellung der Juden in irgendei-
nem anderen Lande beeinträchtigen könnte.<
Ich bitte Sie, diese Erklärung der Zionistischen Fö-
deration zur Kenntnis zu bringen. Arthur James BAL-
FOUR.«
Mit dieser Versprechung verstieß die britische Re-
gierung sowohl gegen ihre Zusicherungen den Ara-
bern gegenüber als auch gegen das S Y K R S - P I COT-Ab-
kommen mit Frankreich. Indem London somit
innerhalb nur zweier Jahre Palästina den Arabern und
dann den Juden, die damals nur acht Prozent der dor-
tigen Bevölkerung ausmachten, versprach, legte es den
Keim zu den bis heute währenden blutigen Unruhen
in diesem Lande. W E I Z M A N N erklärte am 9 . Dezem-
ber 1917 in Manchester: »Da es mir vergönnt war, an
den Verhandlungen mit der Regierung teilzunehmen,
weiß ich genau, in welchem Geiste uns die B A I P O U R -
Deklaration gegeben wurde. .. Die Regierung wird sich
nicht damit begnügen, uns die Deklaration gegeben
zu haben, sondern sie beabsichtigt, sie auch so schnell
wie möglich zu verwirklichen.«''
Die Bedeutung der BALFOUR-Erklärung hob der is-
raelische Historiker Abba E B A N hervor, indem er ur-
teilte, daß sie »der entscheidendste diplomatische Sieg
des jüdischen Volkes in der modernen Geschichte«
gewesen sei.
Ab November 1917 kämpften sich dann britische
Truppen von Gaza aus nach Norden vor, eroberten
im Dezember Jerusalem und hatten am Ende des Er-
sten Weltkriegs ganz Palästina unter Kontrolle. Am
24. Juli 1922 ließ Großbritannien sich vom Völker-
bund das Mandat für ganz Palästina übertragen, das
so unter britische Kolonialherrschaft kam und Groß-
britanniens Kolonialreich vergrößerte — wieder gegen
die Zusicherungen an die Araber und das S Y K E S - P I -
COT- Ab kommen. Beide Seiten — Araber wie Juden —
kamen sich von Londons imperialistischer Politik und
SicherheitsStrategie verschaukelt vor. Großbritannien
Original der »Balfour-Deklaration«. Unten:
Nach jüdisch-arabischen Zusammenstößen 6 WEIZMANN, aaO. (Anm.5), S. 42.
1937 in Jerusalem verhängten die Briten ei- Abba EBAN , Dies ist mein Volk. Die Geschichte der Juden, Zü-
nen Ein wander ungsstopp für Juden. rich 1970, S. 285.

86
hatte sich durch dieses unverantwortliche Vorgehen zwischen beide Stühle
gesetzt.
Gegen die dann zunehmende jüdische Einwanderung nach Palästina
betrieben die Briten bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - zum
Teil mit unmenschlichen Methoden 8 - eine Verhinderungspolitik, die der
von den alliierten Siegern laut verkündeten Selbstbestimmungspolitik ins
Gesicht schlug. Am 17. Mai 1939 beschränkte die Londoner Regierung
in einem Weißbuch Einwanderung und Landkäufe der Juden in Palästina
und sagte Juden und Arabern innerhalb von zehn Jahren die Unabhängig-
keit in einem jüdisch-arabischen Staat zu. Die Zionisten lehnten dieses Weiß-
buch ab und begannen mit zionistischen Militärverbänden und Terror-
gruppen einen brutalen Kampf gegen die britische Militärverwaltung, der
nach Ende des Zweiten Weltkrieges und bei zunehmender iiiegaler jüdi-
scher Einwanderung aus Ost- und Mitteleuropa immer grausamer wurde
und sich mit Massakern auch gegen die einheimische arabische Bevölke-
rung richtete. Londun mußte, nachdem durch seine imperialistische Politik
inzwischen alle seine moralischen Guthaben verbraucht waren, vor den
vollendeten Tatsachen kapitulieren und schließlich aus Palästina flüchten.
Im Februar 1947 wollte die britische Regierung die Mandatsverwal-
tung über Palästina niederlegen und brachte die Palästina-Frage zur Prü-
fung vor die UNO-Vollversammlung,die nach Einsetzungeines Sonder-
ausschusses am 29. November 1947 den Plan für die Teilung des Landes
in einen jüdischen und einen arabischen Staat annahm. Doch dieser Ver-
such mißlang: »Zwischen Arabern und Juden brechen noch am gleichen
Tag Kämpfe aus.«<; Der Plan steht heute noch zur Verwirklichung an.
Am 14. Mai 1948, einen Tag vor dem offiziellen Ablauf des britischen
Mandats, rief David B E N G U R I O N den Staat Israel aus, in dem nun bereits
33 Prozent der Bewohner Juden waren, aber immer noch eine große
palästinensische Mehrheit bestand. Am folgenden Tag griffen die umlie-
genden arabischen Staaten Israel an. Sie wurden in diesem ersten Palästi-
na-Krieg von dem jungen jüdischen Staat zurückgeschlagen. Die anschlie-
ßende grausame und opferreiche Vertreibung und die Flucht von mehr als
800000 Arabern aus Israel, das in den folgenden Jahrzehnten trotz massi-
ver Verstöße gegen UNO-Resolutionen und -Auflagen weiterhin von den
USA und England unterstützt wurde, provozierten weitere Kriege und Lie-
ßen das Land bis heute nicht zur Ruhe kommen. Rolf Kosiek

8 Siehe Beitrag Nr. 328, »Die >Exodus<-Tragödie«; Beitrag Nr. 388, »Britisches

Juden-KZ auf Mauritius«.


' Udo ULFKOTTE, »Von der Balfour-Deklaration bis Madrid: Der Anspruch zweier
Völker auf das Land Palästina«, in: Frankfurter Allgemeine 'Zeitung, 30. 10. 1991,
S. 4; vgl. »Der neue Anfang im Nahen Osten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
13. 9. 1993, S. 6.

87
Winston Churchill
und der »jüdische Bolschewismus«

inston C H U R C H I L L gilt heute noch bei vielen Menschen als der


W größte Staatsmann unserer Zeit. Zwar mehren sich die kritischen
Summen, vor allem in Großbritannien, aber in der breiten Öffentlichkeit
hat sich sein Bild in der Geschichte kaum verändert. Die Kritik geht
zumeist in zweierlei Richtung.
1, Er habe an dem bereits überholten System der Balance of Power fest-
gehalten und damit den Krieg unnötig ausgeweitet und unnötig verlän-
gert.
2. Er habe das britische Empire leichtfertig an die Vereinigten Staaten
verspielt, indem er sich in politische und wirtschaftliche Abhängigkeit zu
den USA begeben habe.
Dagegen wird seine schroff ablehnende Haltung gegenüber führenden
Juden zur Zeit der Revolutionswirren in Osteuropa eigenartigerweise nur
selten erwähnt. Aus einer Gesamtbeurteilung C H U R C H I L L S ist sie jedoch
nicht hin wegzudenken.
Bereits am 8. Februar 1920 - damals 45 Jahre alt und Kriegsminister -
äußerte er seine Auffassung dazu in einem größeren, vierspaltigen Arti-
kel, veröffentlicht im lllustrated Sunday Herald unter dem Titel »Zionism
versus Bolshewism« - zu einer Zeit also, als die Deutsche Arbeiterpartei
noch nicht einmal in NSDAP umbenannt worden war und erst 64 einge-
schriebene Mitglieder zählte. C H U R C H I L L hebt darin zunächst den großen
jüdischen Kulturbeitrag für das Christentum hervor. Er verweist sodann
auf Aufbauleistungen der Juden in Rußland und auf das ihnen dort zu-
gefügte Leid anläßlich der Pogrome. In politischer Hinsicht sieht er im
»nationalen Juden« die zuverlässigste Stütze einer langlebigen Freund-
schaft mit Frankreich und England. Zu den Ereignissen in Osteuropa
schreibt er:
»Internationale Juden,
In heftiger Opposition zu diesem Wirkungskreis jüdischer Bemühun-
gen wachsen die Pläne der internationalen Juden. Die Anhänger dieses
unheimlichen Bündnisses sind zumeist Menschen, die aus den Bevölke-
rungen derjenigen Länder, in denen die Juden wegen ihrer Rasse verfolgt
werden, hervorgegangen sind. Die meisten, wenn nicht gar alle von ih-
nen, haben den Glauben ihrer Vorväter aufgegeben und sich von allen
religiösen Hoffnungen abgewandt. Diese Bewegung unter den Juden ist
nicht neu. Seit den Tagen von Spartacus-WEISHAUPT bis zu Karl M A R X
und weiter bis zu T R O T Z K I (Rußland), Bela K U N (Ungarn), Rosa L U X E M -

88
BLIRC;(Deutschland) und Emma G O L D M A N N (Vereinigte Staaten) ist diese
weltweite Verschwörung zum Sturz der Zivilisation und zur Neugestal-
tung einer Gesellschaft auf der Grundlage von Rückständigkeit, miß-
günstiger Böswilligkeit und unmöglicher Gleichheit beständig gewach-
sen. Sie spielte, wie eine moderne Autorin, Frau N. W E B S T E R , überzeugend
dargelegt hat, eine entscheidende und erkennbare Rolle in der Tragödie
der Französischen Revolution. Sie ist
die Haupttriebfeder einer jeden sub-
versiven Bewegung des 19. Jahrhun-
derts gewesen, und heute hat diese
Bande von ungewöhnlichen Persön-
lichkeiten aus der Unterwelt der gro-
ßen Städte Europas und Amerikas das
russische Volk beim Schopf gepackt
und ist praktisch der unbestrittene
Herrscher dieses riesigen Reiches ge-
worden.
Terroristische Juden,
Es ist nicht nötig, den Anteil zu
übertreiben, den diese internationalen
und zum großen Teil atheistischen
Juden bei der Errichtung des Bolsche-
wismus und in der aktuellen Durch-
führung der russischen Revolution
gespielt haben. Es ist zweifellos ein
sehr großer Anteil, er überwiegt wahr-
scheinlich alle anderen. Mit L E N I N als
bemerkenswerter Ausnahme besteht
die Mehrheit der führenden Figuren
aus Juden. Mehr noch, die prinzipiel-
le Eingebung und treibende Kraft
kommt von den jüdischen Führern.
So ist TSCHITSCHERIN zwar ein Russe,
überschattet aber von seinem nomi-
nell Untergebenen LITWINOW, und der Einfluß von Russen wie B U C H A R I N Der Munitions- und
oder LUNARCHARSKI kann nicht mit der Macht von T R O T Z K I oder der von Kriegsminister Win-
SINOWJEW, dem Diktator der roten Zitadelle (Petrograd), oder von K R A S - ston C H U R C H I L L mit
SIN, oder von R A D E K verglichen werden. Alles Juden. In den russischen seiner Frau Clemen-
tine. Die Aufnahme
öffentlichen Einrichtungen ist die Vorherrschaft der Juden sogar noch entstand 1917.
erstaunlicher. Und der hervorragende, wenn nicht gar der hauptsächlich-
ste Anteil in diesem System des Terrorismus, bezogen auf die außeror-
dentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, ist mit

89
L e o TROTZKI, der ei-

gentliche Organisator
der Oktober-Revolu-
tion, nimmt hier eine
Parade seiner Armee
auf dem Roten Platz in
Moskau ab. Der zwei-
te rechts von ihm ist L.
K A M E N E W . A U S : Hugo

P O R T I S C H , Hört die Si-

gnale. Aufstieg und


Fall des Sowjetkom-
munismus, Kremayr,
Wien 1991.

Juden besetzt worden, in einigen Fällen sogar mit Jüdinnen, Die gleiche
üble Prominenz wurde von Juden in der kurzen Zeit des Terrors, als Bela
KUN in Ungarn regierte, gestellt. Dasselbe Phänomen zeigt sich in
Deutschland (besonders in Bayern), als es diesem Wahnsinn erlaubt war,
die gegenwärtige Schwäche des deutschen Volkes auszunutzen. Obwohl
es in all diesen Ländern viele Nichtjuden gibt, alle genau so schlecht wie
der schlimmste der jüdischen Revolutionäre, ist doch der Anteil der letz-
teren im Verhältnis zu ihrer Zahl an der Bevölkerung erstaunlich.«

C H U R C H I L L bricht schließlich eine Lanze für die zionistische Idee von


einer Heimstadt der Juden in Palästina und fährt dann fort:
»Pflichten der loyalen Juden,
Es ist unter diesen Umständen besonders wichtig, daß die nationalen
Juden, die loyal zu ihrem Aufnahmeland stehen, überall und bei jeder
Gelegenheit an die Öffentlichkeit treten, wie es so viele von ihnen in
England bereits getan haben und einen hervorragenden Anteil an allen
Maßregeln einnehmen, um die bolschewistische Verschwörung zu be-
kämpfen. Auf diesem Weg werden sie in der Lage sein, die Ehre des
jüdischen Volkes zu verteidigen, um vor aller Welt darzustellen, daß die
bolschewistische Bewegung keine jüdische Bewegung ist und von der
großen Masse der jüdischen Rasse vehement zurückgewiesen wird. Aber
eine bloß ablehnende Haltung gegenüber dem Bolschewismus ist nicht

90
genug. Positive und praktische Alternativen sind auf dem Gebiet der
Moral ebenso notwendig wie in sozialer Hinsicht, um möglichst schnell
ein jüdisches nationales Zentrum in Palästina zu gründen, das nicht nur
eine Zufluchtstätte der Verfolgten aus den unglücklichen Ländern Zen-
traleuropas werden soll, sondern auch ein Symbol jüdischer Einigkeit
und ein Tempel jüdischen Ruhmes. Damit ist eine Aufgabe gestellt, auf
der viel Segen ruht.«
Soweit die Stimme CHURCHILLS. Der Inhalt seiner Ausführungen mit
seiner oftmals rüden Diktion dürfte einigermaßen erstaunen. Anti-
semitische Klischees wie >Inter nationaler Jude«, weltweite Verschwörung«
usw. werden immer wieder bedient. Der frühe Zeitpunkt der Veröffent-
lichung macht deutlich, daß die Behauptung vom jüdischen Bolschewis-
mus«, die man gemeinhin dem Nationalsozialismus zuordnet, damals auch
von ganz anderer Seite gebraucht wurde, und zwar völlig unabhängig
voneinander. C H U R C H I L L war einer von ihnen. Im Gegensatz zum Natio-
nalsozialismus, der von vornherein den Juden schlechthin verdammte,
wendet sich CHURCHILL aber immer nur gegen den »gottlos gewordenen,
revolutionären Juden«, niemals gegen die Juden in ihrer Gesamtheit, auch
nicht, soweit es sich um die osteuropäischen Juden handelt. Ein sicher-
lich nur geringer Trost für jene Apologeten, die diesen C H U R C H I L L ein-
fach unterschlagen.
Wohl gab es einige Kritik, vor allem der Jewish Chronicle ritt eine wütende 1 Näheres dazu bei
Attacke.1 Nennenswerte Folgen ergaben sich daraus aber nicht. Schließ- Martin GILBERT,
lich hatte CHURCHILL ja den »nationalen Juden« ebenso wie die zionisti- Churchill and the Jews,
sche Bewegung durchaus positiv bewertet. Viele Juden begrüßten es so- Simon & Schuster,
London 2007,
gar, ais er 1924 ins Kolonialamt überwechselte, versprachen sie sich doch
S. 43 f.
eine weitere Unterstützung ihres Anliegens in Palästina. C H U R C H I L L hat
sich dann auch niemals von seinen Ausführungen distanziert, sondern
sie »vornehm« der Vergessenheit anheimgegeben. Den Bolschewismus
verurteilte er zwar weiterhin, hob aber die Rolle der Juden nicht mehr
hervor. Als sich die Verhältnisse in Europa infolge des Aufstiegs des
Deutschen Reiches machtpolitisch veränderten, scheute er nicht einmal
davor zurück, mit dem bolschewistischen S T A U N ZU paktieren, um ihn
nach 1945 allerdings wiederum als Feind zu bezeichnen. — Ein Mann in
seinem Widerspruch. Dankwart Kluge

91
Wäre die Entente 1919
am Ende ihrer Kraft gewesen?

er Waffenstillstand vom 11. November 1918 beendete den Ersten


D Weltkrieg. Deutschland, verlassen von seinen Verbündeten, streck-
te die Waffen und lieferte sie der überraschten Entente aus.
Es soll hier die Frage gestellt werden, ob damals nicht auch die heute
als glänzende Sieger gefeierten Gegner am Ende ihrer Kraft waren.
Der englische Marineminister Lord F I S H E R schrieb in seinen Erinne-
rungen: »Ein Kabinettsminister stellt nach dem Waffenstillstand fest, daß
die Alliiierten am Ende ihrer Kraft waren, als es wie durch ein Wunder
zum Waffenstillstand kam. Auch Marschall F O C H wurde am Vordringen
gehindert durch die Unfähigkeit der amerikanischen Armee, weiter vor-
zurücken, und durch die unvermeidlichen Folgen des Mangels an Erfah-
rung in einer neuen Armee, die zwar groß, aber unerfahren war. Die
Amerikaner opferten Hekatomben und starben wie die Fliegen. So wur-
de der amerikanische Vorstoß nach der Verdunflanke aufgehalten. HAK;
mußte dafür um so mehr leisten, und er machte seine Sache gut. Aber
obgleich die amerikanische Armee Mons einnahm, so war doch die deut-
sche Armee schlagkräftig, nicht demoralisiert und hatte starke Verteidi-
gungslinien in ihrem Rücken, ehe sie den Rhein erreichte. Das war kein
Waterloo, Sedan, Trafalgar!«

Das deutsche Ober-


kommando im Juni
1913 im belgischen
Spa, Kaiser W I L H E L M II.
wird von H I N D E N B U R C
und LUDENDORFF

(rechts) flankiert.
Aus: Hew
S T R A C H A N , Der Erste

Wellkrieg, Bertels-
mann, München
2003.

92
»Kanonenfutters - Eine buntbemalte amerikanische >Spad 13< greift unerfahren voller Ungestüm
im Jahre 1918 einen deutschen Beobachtungsballon an und wird dabei in Brand geschossen.
Während der deutsche Ballonbeobachter mit dem Fallschirm abspringen kann, haben die Alliierten
bei ihren Piloten auf die Ausrüstung mit den Lebensrettern verzichtet, da man fürchtete,
daß die Piloten dadurch zur Feigheit verleitet würden.

Der Franzose N O R M A N D schrieb: »Am Tage der Unterzeichnung des


Waffenstillstands waren wir am Ende unserer Kraft.«
Besonders bezeichnend für die Lage der über zwei Millionen Mann
amerikanischer Truppen ist aber folgende Ansprache im Ausschuß des
amerikanischen Kongresses am 15. Juli 1919. Das Kongreßmitglied J O H N -
SON fragte: »Wie lange hätte die amerikanische Armee in Frankreich ohne
wesentliche Änderungen in der Zusammensetzung, Bewaffnung usw. noch
bestehen können?«
Col. HuiDEKOPER vom Kriegsministerium antwortete: »Man nahm bei
uns an, besonders mit Rücksicht auf die Transportverhältnisse, höch-
stens noch 4 Monate.«
JOHNSON: »Wie dachte der Generalstab darüber?«
HUIDEKOPER: »Daß die Transportlage so schlecht wäre, daß die ameri-
kanische Armee nicht mehr länger hätte aufrechterhatten werden kön-
nen und daß, wenn die Deutschen nicht Schluß gemacht hätten, die ame-
rikanische Armee es hätte tun müssen.«
Nach Ansicht des englischen Generals M A U R I C E hatten die Alliierten
bei Abschluß des Waffenstillstands die äußerste Grenze erreicht, bis zu
der der Nachschub noch zu folgen imstande war. Nur das Allernotwen-
digste konnte den Truppen noch zugeführt werden, an Verpflegung ver-
fügten sie nur über das, was sie bei sich trugen.

93
1919 - noch nicht am Ende: neue deutsche
Waffen ohne alliierte Gegenstücke.

Quelle: Walter J O S T U. Friedrich FELCER, Was wir


vom Weltkrieg nicht wissen, H. Fikentscher,
Leipzig 1936, S. 51 f.

K-Wagen - der >Kolossalwagen< mit 150 t


Gewicht war eine ideale Verteidigungswaffe
und wurde noch in den vierziger Jahren HITLER
zur Prüfung wieder vorgelegt.

Sturmpanzerwagen >Oberschlesien< war aus-


ländischen Panzerentwicklungen um zehn
Jahre voraus.

Junkers D I - dieses deutsche Ganzmetalijagd-


flugzeug wies eine revolutionäre Konstruktion
auf und kam kurz vor Kriegsende bereits an
die Westfront nach Belgren zum Testeinsatz
(Zeichnung: >Roden< Bausatz No 036).

Der französische Marschall F O C H hatte daher zweifellos recht, als er


die Möglichkeit eines langen deutschen Widerstandes am Rhein zugab.
Ebenso ist es nach dem oben Gesagten zweifellos zutreffend, daß der
englische Feldmarschall H A I G den Endsieg der Alliierten als »Wunder«
bezeichnete und sein Kollege Feldmarschall F R E N C H sagte: »Manchmal
hat der Ausgang des Krieges am seidenen Faden gehangen, mehrfach ist
die Rettung erst im letzten Augenblick gekommen.«
Diese »Rettung« führte über das Diktat von Versailles nur wenige Jahre
später direkt zur Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Friedrich Georg

94
Englands falsche Kriege gegen Deutschland

»Anders als ihre ähnlich lang regierenden Vorgängerinnen ELISABETH I,


(44 Jahre) und VICTORIA (63 Jahre) war die Regierungszeit ELISA-
BETHS II. nicht durch eine Expansion nationaler Macht gekennzeichnet«, 1 Der Spiegel, Nr. 22,
bilanzierte Der Spiegel zum Goldenen Thronjubiläum der britischen Kö- 2002, S. 142.
nigin im Jahre 2002. »Während der fünf langen Dekaden ihrer Regie-
rungszeit, zwischen Suez-Krise und der Übernahme der letzten britischen
Nobelkarossen Bentley und Rolls Royce durch Volkswagen und BMW,
schrumpfte das Empire bis zu jenem 30. Juni 1997, als ihr Sohn die Kron-
kolonie Hongkong an China zurückgab und an Bord der königlichen
Yacht >Britannia< aus dem >duftenden Hafen< verschwand.« Nun brauche
die Königin keine >Concorde< und keine Staatsyacht mehr, um auch die
entlegensten Ecken ihres Herrschaftsbereiches aufzusuchen, denn das
Land, das sie repräsentiert, sei längst »auf europäisches Mittelmaß ge-
schrumpft« und nur noch ein »schwacher Abgianz jener Zeiten imperia-
ler Größe, in denen die Monarchen des britischen Weltreichs den Titel
Kaiser von Indien führten«. Nicht nur
nach Ansicht der eisernen Margaret
THATCHER ist der Empire-Ersatz na-
mens >Commonwealth< ein »nostal-
gisches Abziehbildchen« des einstigen
Imperiums, das fast ein Viertel der Erd-
oberfläche umfaßte.1
Der imperiale Verfall ist das traurige
Ergebnis von Kriegen, die England ge-
gen das Deutsche Reich führte. Gleich
zweimal in der ersten Hälfte des zwan-
zigsten Jahrhunderts hatten die jeweili-
gen Regierungen Seiner Majestät der
Könige GEORG V. und VI. dem Deut-
schen Reich den Krieg erklärt, ohne von
diesem bedroht gewesen zu sein.
Schon der Erste Weltkrieg war für
Britannien Der falsche Krieg, findet Niall
WILHELM II. u n d d e r e n g l i s c h e K ö n i g G E O R G V .
¡n Berlin 191 3 anläßlich der Hochzeit des
Herzogs von Braunschweig mit der Tochter
des Kaisers, Viktoria Luise. Eine Bedrohung
Englands 1914 von Seiten Deutschlands
bestand nicht.

95
FERGUSON2 in seinem gleichnamigen Buch. Wie sein deutscher Vorläufer
Johannes B A R N I C K 3 frönt auch der schottische Historiker der kontra-
faktischen Geschichtsschreibung:'1 Was wäre geschehen, wenn einschnei-
dende Ereignisse einen anderen Verlauf genommen hätten? Welche Wir-
kungen hätten sich ergeben, wenn Deutschland imstande gewesen wäre,
sich vor 1914 durch Steigerung seiner Verteidigungsfähigkeit eine größe-
re Sicherheit zu schaffen, was es sich durchaus hätte leisten können? Wenn
England 1914 nicht dem Deutschen Reich den Krieg, sondern sich für
neutral erklärt hätte?
F E R G U S O N S Überlegungen sind keine spekulativen Spielereien, sondern
beruhen auf wirklichkeitsnahen Gegenentwürfen. Danach zu fragen, was
hätte geschehen können, aber nicht geschah, regt die geschichtliche
Vorstellungskraft ungleich mehr an als eine bloße Registrierung der Ereig-
nisse, gefolgt von der deterministischen Feststellung, daß alles so kom-
NIALL FERGUSON.
men mußte, wie es eben kam.
Nicht nach plausiblen Alternativen zu forschen heißt, Leopold VON
R A N K E S Grundsatz aufzugeben, wonach der Historiker nur zeigen solle,
»wie es eigentlich gewesen« ist, haben doch handelnde Personen stets
zwischen zwei, meist aber mehreren Alternativen zu wählen. Das Beste,
was Historiker tun können, sei daher, so F E R G U S O N , für die Erklärung
geschichtlicher Ursächlichkeiten jeweils auch wahrscheinlichkcitstheore-
tisch abgesicherte kontrafaktische Szenarien heranzuziehen.
Insbesondere gilt dies fiir den Ersten Weltkrieg, der in Britannien mit
anderen Augen gesehen wird. Uns Deutschen erscheint dieser Krieg als
Ereignis, das von seinen eigenen Folgen überschattet wird und daher
seine historische Identität fast völlig verloren hat. Im britischen Bewußt-
sein aber ist der Erste Weltkrieg der >Große Krieg< und dies nicht zuletzt
auch deshalb, weil er bei weltweit neun Millionen Toten etwa doppelt so
viele Briten, und zwar 720000, das Leben kostete wie der Zweite Welt-
krieg mit seinen insgesamt 55 Millionen Todesopfern.

2 Niall FERGUSON, *1964 in Glasgow, Harvard-Historiker, vorher Jesus College,


Oxford, und Universität Stanford, Massachusetts. Hauptarbeitsgebiet Imperia-
lismus, Spezialist für Finanz- und Wirtschaftsgeschichte. Bestreitet im Gegen-
satz zu gewissen deutschen Historikern, daß es einen »deutschen Sonderweg«
gegeben habe. Wichtigste Werke: Derfalsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20.
Jahrhundert, DVA, Stuttgart 2001; Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20.
Jahrhundert, Darmstadt 1999; Empire. The Rise and Demise of the British World Order,
New York 2002, London 2003; Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken ame-
rikanischer Macht, Propyläen, Berlin 2004; 1914. Why the World Wentto War, 2005;
Krieg der Welt. Was ging schief im 20. Jahrhundertf, Propyläen, Berlin 2006.
3 Johannes BARNICK, Deutschlands Schuld am Frieden, Seewald, Stuttgart 1965.
4 Auch virtuelle, alternative Geschichtsschreibung oder >Allohistory< genannt.

96
Nicht anders als CHURCHILL. betrachtet FERGUSON den Ersten und Zwei-
ten Weltkrieg als Einheit, unterbrochen nur durch einen Waffenstillstand
von zwanzig Jahren. Beim Berliner Gedenken zum 50. Jahrestag des 8.
Mai 1945 sprach auch Großbritanniens Premierminister John M A J O R vom
Dreißigjährigen Krieg, der 1914 begann und 1945 endete. Da das Axiom
der deutschen Alleinschuld an beiden Weltkriegen das A und O der Poli-
tik der Bundesrepublik Deutschland bildet, Adolf H I T L E R aber als An-
onymus im August 1914 keinen Krieg angefangen haben kann, wurde
M A J O R S Meinungdurch presseamtliche Falschübersetzung von Berlin aus
politisch korrekt unterdrückt.
Anders als diejenigen der BRD hatten sich die Politiker der Weimarer
Republik der feindlichen Übermacht gefügt, ohne sich indessen mora-
lisch zu unterwerfen. Wenn auch zur ausdrücklichen Anerkennung der
Alle in schuld gezwungen, setzte sich Weimar gegen den im Versailler Diktat
verankerten Kriegsschuld-Artikel 231 publizistisch und wissenschaftlich
zur Wehr. Die Reichsregierung veranlaßte die Veröffentlichung endasten-
der Akten, kontroverse Memoiren damaliger Akteure brachten Licht ins
diplomatische Dunkel und führten zur allmählichen Versachlichung der
Debatte. Schließlich nahm selbst LloYD G E O R G E (War Memoirs Bd. I,
London 1933) von der Annahme deutscher Alleinschuld Abstand mit
der salomonischen Bemerkung: »Die Nationen schlitterten in den ko-
chenden Kessel des Krieges hinein.«
Mit diesem Kompromiß jedoch gibt sich F E R G U S O N nicht zufrieden.
Für ihn war der Erste Weltkrieg keine Tragödie, denn eine solche setzt
Unvermeidbarkeit voraus. Dieser Krieg aber war keineswegs das Werk
von unkontrollierbaren Kräften, er war durchaus vermeidbar und ist daher
der »größte Irrtum der neueren Geschichte«. Die Ursache des falschen
Krieges bestand in einer Reihe von verhängnisvollen Fehlern, folgend aus
Rücksichtslosigkeit, Dummheit und Feigheit der verantwortlichen An-
glokraten. Der ehemalige Oxford-Ordinarius wendet sich gegen die Or-
thodoxie in der Geschichtswissenschaft von heute, die er vor allem von
dem deutschen Historiker Fritz FISCHF.R verkörpert sieht. In seinem Buch
Der Griff nach der Weltmacht (Düsseldorf 1961) griff dieser Hamburger
Historiker die Irrlehre von der deutschen Alleinschuld auch am Ausbruch
des Ersten Weltkriegs wieder auf und vertrat sie, ohne hierfür die schlüs-
sigen Beweise zu liefern.
FERGUSON widerlegt auch FISCHERS Unterstellung, wonach die Deut-
schen schon vor dem Ersten Weltkrieg extreme Kriegsziele verfolgt und
auf Kosten Großbritanniens nach der Weltherrschaft gestrebt hätten. In
Wahrheit gibt es keine Akten der Vorkriegszeit, aus denen man derlei
Bestrebungen ableiten könnte. Freilich erweiterten sich mit dem Fort-
schritt des Krieges auch die Kriegsziele, doch waren diese eben Folge der

97
Alle deutschen Reser-
visten wurden im
Sommer 1914 einbe-
rufen. Historiker
schließen gern dar-
aus, daß Deutschland
auf Kriegskonfronta-
tion gewesen sei.
Das trifft viel eher auf
Frankreich zu, das
wohl die »militärisch-
ste Nation« in Europa
war.

Feindseligkeiten und nicht Beweggrund für die Eröffnung derselben.


Vernünftiges Ziel war eine mitteleuropäische Zollunion. An eine - ohne-
hin utopische — deutsche Weltherrschaft dachte niemand.
Auf überzeugende Weise zertrümmert F E R G U S O N den Mythos vom
deutschen Militarismus. Am Vorabend des Krieges waren die Armeen
Frankreichs und Rußlands samt Serbien und Belgien mit 5,6 Millionen
weit stärker als jene Deutschlands und Österreich-Ungarns, die zusam-
men 3,5 Millionen betrugen. Die am stärksten militarisierte Gesellschaft,
gemessen am Anteil der unter Waffen stehenden Bevölkerung, war nicht
die deutsche, sondern die französische, so daß das Deutsche Reich »ganz
zu Unrecht in dem Ruf stand, die militaristischste Nation in Europa zu

5 So Norman ANGELL (1874-1967), Publizist und Politiker, 1928-1931 Heraus-


geber der Zeitschrift Foreign Affairs, 1929—1931 Mitglied des Unterhauses (La-
bour Part}'), Mitglied der Exekutivkommission des Völkerbundes. Schon 1910
hatte er in seinem Buch Tie Great Illusion. A Study of the Relation of Military Power
to NationalAdvantage, erschienen in London, im selben Jahr deutsch unter dem
Titel Die große Täuschung. Eine Studie über das Verhältnis zwischen Militärmacht und
Wohlstand der Völker, gewarnt, daß jeder Krieg wegen der damit verbundenen
Opfer an Menschen und Material auch für die Sieger immer einen Verlust dar-
stelle, Folgerichtig arbeitete er bei Ausbruch des Krieges 1914 gegen eine briti-
sche Beteiligung, trat nach dem Ersten Weltkrieg für eine Revision des Versailler
Diktats ein und wurde 1933 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

98
sein«.' Auch im Transportwesen befand sich das Deutsche Reich im Rück-
stand gegenüber Rußland und Frankreich: Zwischen 1900 und 1914 hat-
te sich die Zahl der Züge, die Rußland an einem einzigen Tag nach We-
sten schicken konnte, von 200 auf 360 erhöht (S. 131 ff.).
Der »deutsche Militarismus« war für England keine Gefahr, folgert
FERGUSON. Auch die deutsche Flotte bedeutete für Britannien keine Be-
drohung: Als Gegenleistung für eine britische Neutralitätsverpflichtung
hatte Berlin eine Flottenbegrenzung angeboten. Die Verhandlungen schei-
terten jedoch, weil London keine Neutralitätsverpflichtung eingeben wollte
(S. 110). Durch ein feindseliges Bündnissystem eingekreist, hat das Deut-
sche Reich im August 1914 aus verständlicher Furcht vor dem französi-
schen und dem russischen Militarismus den Erstschlag gewagt.
Nun kam es in erster Linie auf London an. FERGUSON legt dar, wie
nahe das britische Kabinett daran war, sich für neutral zu erklären. Die
liberale Kabinettsmehrheit war gegen eine militärische Beteiligung auf
dem Fesdand, doch setzte der deutschfeindliche Außenminister G R E Y
dann doch die Kriegserklärung durch, Belgien bildete nur den billigen
Vorwand: »Hätte Deutschland nicht im Jahre 1914 die belgische Neutra-
lität verletzt, dann würde Großbritannien dies getan haben. Dies läßt die
vielgepriesene moralische Überlegenheit im Kampf >für die belgische
Neutralität« in einem anderen Licht erscheinen.« (S. 105) Der Vergleich
mit Norwegen 1940 drängt sich auf.
Ein deutscher Sieg wäre für England und für Europa besser gewesen
als das tatsächliche Ergebnis der britischen Einmischung, urteilt F E R G U -
SON: Nach einem kaiserlichen Sieg 1918 hätte Adolf HLTLE,R »sein lieben
wohl als mittelmäßiger Postkartenmaler oder bescheidener Kriegsvete-
ran in einem von Deutschland beherrschten Mitteleuropa beendet, über
das es in seinen Augen wenig Grund zur Klage gegeben hätte« (S. 397 f.).
Ohne Einmischung von London aus wäre aus Kontinentaleuropa etwas
Ähnliches geworden wie die heutige Europäische Gemeinschaft (EU),
England hätte ohne zweimaligen Kräfteverschleiß sein Empire behalten
und in atlantischer Gemeinschaft mit den USA ein unter der Regie des
Deutschen Reiches geeintes Europa politisch und ökonomisch aufgewo-
gen. Auch der Bolschewismus wäre der Welt wohl erspart geblieben. Viel
Leid hätte sich vermeiden lassen, wäre aus Europa um 1920 ein qualliges
Gebilde (»jellyfish-polity«) wie die heurige Europäische Union geworden,
pflichtet US-Autor John J, REILL.Y dem britischen Professor bei und ver-
mißt bei FERGUSON nur die Ironie, daß die Struktur der EU einem Deut-
schen Reich ohne Kaiser gleicht. Fred Duswald

99
Franzosen zerstörten deutsche Denkmäler
in Elsaß-Lothringen 1918

s bildet einen Maßstab für die Kulturhöhe eines Volkes und Staates,
E wenn dessen Angehörige über allen aus der Vergangenheit vorhan-
denen Haß nach einem Krieg auch die Denkmäler des ehemaligen Geg-
ners, und vor allem, wenn dieser besiegt ist, achten. So haben die Deut-
schen nach 1871 im Elsaß und in Lothringen die früheren französischen
Denkmäler bewahrt, etwa das des Marschalls NEY in Metz und das FA-
BERT-Denkmal auf dem Paradeplatz vor dem Dom der Stadt. Es ist deut-
schen Behörden auch später nicht eingefallen, diese Zeugen der franzö-
sischen Vergangenheit dort zu entfernen oder an ihre Stelle eigene zu
setzen. Ähnlich sind die Deutschen ebenso nach 1940 in Frankreich ver-
fahren.
Doch anders haben sich die Franzosen, die so stolz auf ihre >grande
nation< und auf ihre angebliche kulturelle Überlegenheit sind, nach 1918
benommen. Nach ihrem Einmarsch in Lothringen nach Kriegsende 1918
zerstörten sie in Metz den »Eisernen Feldgrauen«, ein schönes deutsches
Ehrenmal des Metzer Bildhauers H I L D E B R A N D . Nach tagelangen vergeb-
lichen Bemühungen, das Denkmal umzustürzen, sprengten die Franzo-
sen es. An die Stelle des Denkmals Kaiser W I L H E L M S I. in Metz wurde die
Figur eines französischen Infanteristen, der eine deutsche Pickelhaube
zertritt, auf den alten Sockel gestellt — da es schnell gehen sollte, wurde
sie zunächst aus Gips gefertigt. Sie trug die Inschrift: »On les al« (Man
hat sie.) Auch das Denkmal des preußischen Prinzen FRIEDRICH C A R L in
dieser Stadt wurde umgestürzt und tagelang von einer Seite auf die ande-
re gewälzt und dabei entehrend beschmutzt.
An dem von dem deutschen Kaiser gestifteten Westportal des Metzer
Domes befindet sich eine Statue des Propheten D A N I E L , die Arbeit eines
Bildhauers aus Nancy. Dieser hatte der Figur ohne Wissen des Kaisers
die Züge von W I L H E L M II. gegeben. Nach der Besetzung der Stadt durch
die Franzosen 1918 wurde dem steinernen Propheten eine Fessel um die
Hände gelegt und ein Schild daran befestigt mit der hämischen Aufschrift:
»Sic transit gloria mundi!« (So vergeht der Ruhm der Welt!) Die entspre-
chenden Bilder mit den Denkmalen vor und nach ihrem Sturz wurden in
einer deutschen Illustrierten am 24. September 1932 veröffentlicht.
Rolf Kosiek

100
Der >Eiserne Feldgraue< in Metz, ein
Werk von H I L D E B R A N D . Unten: der >Eiser-
ne Feldgraue< nach der Sprengung.

Das zerstörte Reiterdenkmal


Kaiser W I L H E L M S I.

101
Kaiser Wilhelm II. zur Kriegsschuld von 1914

m Artikel 231 des Versailler Diktats wurde Deutschland - gegen alle


I geschichtliche Wirklichkeit1 — die Schuld am Ausbruch des Ersten
Weltkrieges zugeschoben. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts
war allgemein international anerkannt, daß diese
Behauptung falsch war.
In seinen Erinnerungen2 hat Kaiser W I L H E L M II.
als einer der direkt Beteiligten und Betroffenen auch
zur Kriegsschuld frage ausführlich Stellung genom-
men und dabei eine Reihe von Tatsachen angege-
ben, die gegen eine deutsche Schuld sprechen. Ein-
leitend erklärte er nach der Feststellung, daß damals
»die ganze diplomatische Maschine bei uns versagt«
habe und das Auswärtige Amt nur an Frieden dach-
te: »Unzählig sind die Zeugnisse dafür, daß schon
im Frühjahr und Sommer 1914, als bei uns noch
niemand an den Angriff der Entente dachte, der
Krieg in Rußland, Frankreich, Belgien und England
vorbereitet worden ist.«3
Er führte dann zwölf Beispiele aus der Menge
der in seinen »Vergleichenden Geschichtstabellen«
zusammengestellten historischen Tatsachen an, die
alle die behauptete Kriegsschuld Deutschlands wi-
derlegen. Leicht gekürzt, beschreiben diese Beispiele
folgende Vorgänge.4
Kaiser W I L H E L M II. aus: 1. Bereits im April 1914 begann die Ansammlung von Goldreserven
Originalausgabe von in den englischen Banken, während Deutschland noch weiter bis zum
Ereignisse und Gestal-
ten 1878-1918, siehe
lull 1914 Gold und Getreide in Entente-Länder ausführte.
ANM. 2 . 2. Im April 1914 berichtete der deutsche Marineattache in Tokio, Kor-
vettenkapitän v. KNORR: »Er sei geradezu betroffen über die Gewißheit,
mit der dort alles den Krieg der Tripelallianz gegen Deutschland in naher
Zeit für sicher halte.«
3. Ende März 1914 erklärte der russische General SGHTSCHERBATSCHEW,
Direktor der Kriegsakademie in Petersburg, in einer Ansprache vor sei-
1Beitrag Nr. 21, »Die Ursachen des Weltkrieges«.
2Kaiser WILHELM IL, Ereignisse und Gestalten 1878-1918, K. F. Koehler, Leipzig-
Berlin 1922.
3 Ebenda, S. 212.
4 Ebenda, S. 213-218.

102
nen Offizieren: »Der Krieg mit den Dreibundmächten sei infolge der
gegen Rußlands Interessen gerichteten österreichischen Balkanpoliük un-
vermeidlich geworden. . . Höchstwahrscheinlich werde er noch in die-
sem Sommer zum Ausbruch kommen. Rußland sei die Ehre geworden,
sofort die Offensive zu ergreifen.«
4. In dem Bericht des belgischen Gesandten in Berlin über eine im
April 1914 aus Petersburg eingetroffene japanische Militärmission hieß
es: »In den Regiments messen hatten die japanischen Offiziere ganz of-
fen von einem nahe bevorstehenden Kriege gegen Österreich-Ungarn
und Deutschland reden hören. Man sagte dabei, daß die Armee bereit
sei, ins Feld zu rücken, und der Augenblick sei günstig für die Russen wie
für ihre Verbündeten, die Franzosen.«
5. Nach den in der Revue des Deux Mondes 1921 veröffentlichten Denk-
würdigkeiten des damaligen französischen Botschafters in Petersburg,
PALEOLOGUE, haben am 2 2 . Juli 1 9 1 4 in Tsaskoje Selo die Großfürstin- WILHELM II. u n d NIKO-

II. im Jahre 1912


nen ANASTASIA und M H J T Z A ZU ihm gesagt: »Ihr Vater, der König von LAUS

beim Besuch des rus-


Montenegro, hätte ihnen in einem Chiffretelegramm mitgeteilt, daß wir sischen Marinestütz-
vor Monatsende (russischen Stils, also vor dem 13. August neuen Stils) punktes Baltisch Port.
Krieg haben werden. . . Von Österreich wird nichts übrig bleiben, . , Un- Der Zar konnte dem
sere Heere werden sich in Berlin treffen. .. Deutschland wird vernichtet Druck seines Außen-
werden.« ministers S A S O N O W
nicht standhalten.
6. Der frühere serbische Geschäftsträger in Berlin, BOGHTTSCHEWITSCH, Siehe Beitrag Nr. 503,
berichtete in seinem 1919 erschienenen Buch Kriegsursachen, daß der da- »Französisches >Gelb-
malige französische Botschafter in Berlin, C A M B O N , ihm am 2 6 . oder 2 7 . buchi aus der Fäl-
Juli 1914 gesagt habe: »Wenn Deutschland es auf einen Krieg ankom- scherwerkstatt«.

103
men lassen will, so wird es auch England gegen sich haben.« Er habe aus
dem Gespräch die »Gewißheit« mitgenommen, daß spätestens bei dem
Treffen des französischen Präsidenten POINCARE mit dem Zaren in Pe-
tersburg (20.-22. Juli 1914) der Krieg beschlossen worden sei.
7 . W I L H E L M I I . habe von einem Mitglied der russischen Duma und
Freund S A S O N Ö W S (des russischen Außenministers) persönlich später er-
fahren, daß S A S O N O W auf einem geheimen Kronrat in Petersburg im Fe-
bruar 1914 dem Zaren geraten habe, Konstantinopel zu nehmen. Da das
der Dreibund nicht erlauben werde, werde es Krieg gegen Deutschland
und Österreich geben. Dabei könne sich der Zar auf Frankreich sicher,
auf England wahrscheinlich verlassen, und Italien werde vom Dreibund
abfallen. Dem habe der Zar zugestimmt und den Befehl gegeben, die
nötigen Vorarbeiten aufzunehmen. Dagegen habe der russische Finanz-
minister Graf K O K O W Z O W dem Zaren geraten, mit Deutschland zu ge-
Sergei Dimitrijewitsch
hen, habe vor dem Krieg gewarnt, der zur Revolution in Rußland und
SASONOW (1860—
1927), Rußlands
dem Sturz des Zaren führen werde. »Der Zar ist diesem Rat nicht ge-
Außenminister. folgt, hat vielmehr den Krieg vorbereitet.«
8 . Derselbe Baron berichtete W I L H E L M I L , daß er zwei Tage nach
Kriegsausbruch bei SASONOW gewesen sei. Dieser sei ihm freudestrah-
lend entgegengekommen und habe ihn händereibend gefragt: »Nun, lie-
ber Baron, sie müssen doch zugeben, daß ich mir den Moment des Krie-
ges vortrefflich gewählt habe?« Als dieser besorgt nach Englands Haltung
fragte, habe ihm SASONOW lachend erwidert, indem er auf seine Tasche
geschlagen habe: »Ich habe etwas in meiner Tasche, was in den nächsten
Tagen ganz Rußland erfreuen und die Welt in Erstaunen setzen wird: Ich
habe die englische Zusage erhalten, daß England mit Rußland gegen
Deutschland gehen wird!«
9. In Ostpreußen 1914 gefangene russische Soldaten des sibirischen
Korps sagten aus, daß sie im Sommer 1913 in die Umgegend Moskaus
zu einem angeblichen Manöver vor dem Zaren verlegt worden seien.
Das Manöver fand nicht statt, die Truppen blieben dennoch bei Moskau.
Im Sommer 1914 wurden sie westwärts nach Wilna verlegt, weil nun dort
ein Manöver vor dem Zaren stattfinden solle. Dann sei ihnen scharfe Mu-
nition ausgehändigt und erklärt worden, nun sei Krieg gegen Deutsch-
land.
10. Ein Amerikaner berichtete im Winter 1914/15 in der Presse, daß
er bei einer Reise in den Kaukasus Anfang Mai 1914 dort langen Kolon-
nen von Truppen aller Waffengattungen in Kriegsausrüstung begegnet
sei. Als er, besorgt wegen eines regionalen Aufstandes, bei den Behörden
nachgefragt habe, hätten diese ihm versichert, daß der Kaukasus ruhig
sei, es sich nur um Übungsmärsche und Manöver handele. Bei seiner

104
Abreise Ende Mai 1914 habe er in einem kaukasischen Hafen nur mit
Mühe einen Schiffsplatz bekommen können, da alle Plätze von Truppen
besetzt waren. Die russischen Offiziere hätten erzählt, daß sie in Odessa
landen würden, um mit ihren Einheiten zu einem großen Manöver in die
Ukraine zu marschieren.
1 1 . Im Sommer 1918 sei Fürst T U N D U T O W , Ataman der Kalmücken-
kosaken und vor wie während des Weltkrieges persönlicher Adjutant des
Großfürsten NIKOLAI NIKOLAJE-WITSCH, ins deutsche Hauptquartier in Bos-
mont gekommen, um Verbindung zu Deutschland zu knüpfen, da die
Kosaken Feinde der Bolschewisten seien. Er habe berichtet, daß er vor
Ausbruch des Kriegs von seinem Chef zum russischen Generalstab ge-
sandt worden und dadurch Zeuge des berüchtigten Telefongespräches
zwischen dem Zaren und dem Generalstabschef General J A N U S C H K E -
WTTSCH geworden sei. »Der Zar habe unter dem tiefen Eindruck des ern-
sten Telegramms des Deutschen Kaisers beschlossen, die Mobilmachung
zu inhibieren. Er habe JANUSCHKEWITSCH telephonisch befohlen, die Mo-
bilmachung nicht auszuführen bzw. rückgängig zu machen. Dieser habe
diesen klaren Befehl nicht ausgeführt, sondern bei dem Minister des Aus-
wärtigen Amtes SASONOW, mit dem er seit Wochen in Verbindung gestan-
den, intrigiert und zum Kriege gehetzt habe, telephonisch angefragt, was
er nun tun solle. SASONOW habe darauf geantwortet: Der Befehl des Za-
ren sei Unsinn, der General solle die Mobilmachung nur ausführen, er
(SASONOW) werde den Zaren morgen schon wieder herumkriegen. Dar-
aufhin meldete JANUSCHKEWITSCH dem Zaren, die Mobilmachung sei schon
im Gange und nicht mehr rückgängig zu machen. Nun fügte Fürst TUN-
DUTOW hinzu: Das war eine Lüge, denn ich habe selbst neben J A N U S C H -
KEWITSCH den Mobilmachungsbefehl auf seinem Schreibtisch liegen se-
hen, er war also noch gar nicht abgesandt.« Dazu bemerkte W I L H E L M I I , :
»Es scheint, daß mein ernstes warnendes Telegramm ihn (den Zaren)
zum ersten Male die ungeheure Verantwortung deutlich erkennen ließ,
die er mit seinen kriegerischen Maßnahmen auf sich lud. Deshalb wollte
er die völkermordende Kriegsmaschine, die er soeben in Bewegung ge-
setzt hatte, stoppen. Das wäre noch möglich, der Friede noch zu retten
gewesen, wenn nicht SASONOW die Ausführung vereitelt hätte.« Fürst T U N -
DUTOW habe dann noch erklärt, daß eine starke Kriegsstimmung gegen
Deutschland im ganzen russischen Offizierskorps geherrscht habe. Die-
ser Geist sei hauptsächlich aus der französischen Armee auf die russi-
schen Offizieren übertragen. Man habe den Krieg eigentlich schon im
Jahre 1908/09 (Bosnische Frage) machen wollen, aber Frankreich sei da-
mals noch nicht fertig gewesen.
12. Beim Vormarsch 1914 fanden die deutschen Truppen in Nord-
frankreich und an der belgischen Grenze große Depots mit englischen

105
Soldatenmänteln vor, die nach Aus-
sagen der Bevölkerung in den letz-
ten Jahren dort niedergelegt worden
waren. Im Sommer 1914 gefangene
englische Infanteristen hatten keine
Mäntel und antworteten auf die be-
treffende Frage: »Wir sollten unsere
Mäntel in den Depots zu Maubeu-
ge, Le Quesnoy usw. in Nordfrank-
reich und Belgien vorfinden.« Eben-
so wurden in Maubeuge große
Mengen englischer Militärkarten aus
demjahre 1911, hergestellt im briti-
schen Southampton, für Nordfrank-
reich und Belgien gefunden. Diese
Depots waren vor dem Krieg mit
französischer Erlaubnis angelegt
worden. Mit Recht stellte Kaiser
W I L H E L M die Frage: »Was wäre wohl
in Belgien, dem »neutralen Lande«,
für ein Sturm der Entrüstung losge-
brochen, und welchen Lärm hätten
England und Frankreich darüber
Frontbesuch des fran- geschlagen, wenn wir in Spa, Lüttich, Namur im Frieden Depots von
zösischen Premiermi- deutschen Soldatenmänteln und Karten hätten anlegen wollen!«4
nisters Raymond In anderem Zusammenhang" erwähnte der Kaiser, daß die Deutschen
Po INC ARÉ (rechts) im
im Park des eroberten Schlosses Pinon der Prinzessin DE P O I X deren
Herbst 1914 mit
Oberbefehlshaber
vergrabenes Tafelsilber fanden, das nach Aussagen Einheimischer schon
General JOFFRE (Mitte) Anfang Julil914 dort versteckt worden war. W I L H E L M II. schloß wohl
und anderen alliier- richtig: »Also hatte die Prinzessin schon lange vor dem Kriege Kenntnis
ten Offizieren. von dessen bevorstehendem Ausbruch!« Rolf Kosiek

5 WILHELM IL, ebenda, S. 2 2 2 .

106
Die Weimarer Zeit

107
Die Gesellschaft der Weimarer Zeit
war durch eine Militarisierung des
politischen Lebens gekennzeichnet.
Hier Versammlung des iReichs-
banners Schwarz-Rot-Gold< am
22. Februar 1925 auf dem Domplatz
zu Magdeburg. Auf der anderen
Seite setzten viele ehemalige Solda-
ten nach 1918 den Kampf fort,
dieses Mal gegen den inneren Feind
Bolschewismus.

108
ach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Rahmen der Umerziehung,
N der sich die bundesrepublikanischen Medien anschlossen, Kaiser
W I L H E L M II. herabsetzend dargestellt. Hämisch wurde seine angeborene
Armverletzung herausgestrichen und ihm deswegen ein besonderer Min-
derwertigkeitskomplex unterstellt, den er durch besondere Forschheit und
Angeberei zu übertünchen versucht habe. Sein angeblicher >Militarismus<
mit »kriegerischem Auftreten* und >lautem Säbelrasseln* wurde hervorge-
hoben.
Richtig ist jedoch, daß der Kaiser im Gegensatz zu anderen europäi-
schen Herrschern 1913 sein 25jähriges Regierungsjubiläum als >Friedens-
kaiser, ohne einen einzigen Krieg geführt zu haben, feiern konnte und
auch weiterhin auf Frieden bedacht war, den 1914 andere Mächte un-
möglich machten. Ungeschicklichkeiten wie die >Krügerdepesche< oder
eine nicht immer glückliche Hand bei der Auswahl seiner Ratgeber und
Reichskanzler ändern nichts an der Beurteilung, daß er einen friedlichen,
gottesfürchtigen und sehr sozial eingestellten, der Moderne aufgeschlos-
senen Charakter besaß.
Ob seine Entscheidung, dem Drängen seiner Berater nachzugeben, 1918
ins Exil zu gehen und nicht um seinen Thron zu kämpfen, richtig war,
bleibe dahingestellt.
Auch über sein weiteres Leben in >Haus Doorn< wurden falsche Ge-
rüchte ausgestreut. Eine Richtigstellung, insbesondere über seine Jahre
nach 1918, erscheint notwendig.
Am 4. Juni 1941 starb W I L H E L M IL, dritter und letzter Kaiser des Zwei-
ten Deutschen Reiches. Schon mit 29 Jahren Monarch, hatte er das Deut-
sche Reich 30 Jahre lang regiert und lebte nach seiner Abdankung noch
23 Jahre im niederländischen Exil. Dort starb er, stolz auf aktuelle Erfol-
ge der deutschen Wehrmacht, in Doorn. Die nochmalige Niederlage auch
im Zweiten Weltkrieg und den Zusammenbruch des Deutschen Reiches
zu erleben blieb ihm erspart.
Nachdem am Ende des Ersten Weltkriegs in Berlin die Republik aus-
gerufen worden war, hatte sich der Kaiser auf Drängen seiner Ratgeber
am 10. November 1918 vom Großen Hauptquartier in Spa aus in nieder-
ländisches Exil begeben. Die Siegermächte wollten ihn, seine Politiker
und Militärs als Kriegsverbrecher vor Gericht stellen und schrieben das
im Artikel 227 des Versailler Diktats 1919 fest: »Die alliierten und assozi-
ierten Mächte stellen W I L H E L M II. von Hohenzollern, ehemaligen deut-
schen Kaiser, unter öffentliche Anklage wegen schwerster Verletzung
der internationalen Moral und der Heiligkeit der Verträge.« Schon vor

109
Haus Doom war frü-
her Eigentum der Ba-
ronesse B E A U F O R T , der
Großmutter des welt-
berühmten Filmstars
Audrey H E P B U R N .
Nach gründlicher
Renovierung wurde
das Haus am 15. Mai
1 9 2 0 v o n WILHELM II.

bezogen.

WILHELM II. kaufte Haus Doorn am 16. August 1919. Erbe von Haus Doorn war nach
dem Tod W I L H E L M S II. dessen ältester Sohn Kronprinz W I L H E L M , der interessierten Be-
suchern das Haus zugänglich machte. Nach Kriegsende wurde Haus Doorn als
Feindvermögen konfisziert. 1953 wurden Gebäude und Inventar der niederländi-
schen ¡Stiftung zur Verwaltung von Haus Doorn< übertragen mit der Aufgabe, so-
wohl Museum als auch Park im historischen Zusammenhang zu erhalten. Ein Be-
schluß des niederländischen Staatssekretärs für Kultur vom Jahr 2000 entzog dem
Museum die Subventionen und kündigte die Schließung des Hauses an. Internatio-
nale wie niederländische Proteste verhinderten jedoch die Auflösung des Museums.
Eine finanzielle und strukturelle Neuorientierung, die eine enge Zusammenarbeit
mit der BRD einschließt, deutet sich an.

Eines der ältesten Fotos W I L H E L M S II. mit


seiner zweiten Frau. HERMINE Prinzessin
von Preußen (1887-1947) kehrte nach
dem Tod des Kaisers 1941 auf ihre Be-
sitzungen in Saabor in Schlesien zu-
rück, flüchtete 1945 vorder Roten Ar-
mee und fand Aufnahme bei ihrer
jüngsten Schwester IDA V O N STOLBERC, am
Harz. Nach dem Abzug der Amerikaner
wurde sie in das Berliner Hauptquartier
der Roten Armee gebracht. In Frankfurt
an der Oder unter Hausarrest gestellt,
starb sie am 7. August 1947 an Herzver-
sagen.

110
dem geplanten Schauprozeß hetzte man in England: »Hang the Kaiser!«,
und der englische König G E O R G E V, stempelte seinen kaiserlichen Vetter
zum »größten bekannten Verbrecher«, der »die Welt in diesen schreckli-
chen Krieg gestürzt« habe (den England dem Deutschen Reich am 4.
August 1914 erklärt hatte, E D.).
Die holländische Königin W I L H E L M I N A aber ließ sich nicht verwirren
und verweigerte W I L H E L M S Auslieferung an die Alliierten. Damit unter-
blieb ein Vorläufer der Nürnberger Prozesse. Die Berliner Regierung
genehmigte die Überführung von Teilen des beschlagnahmten kaiserli-
chen Vermögens nach Doorn, insbesondere von Möbeln, Kunstwerken
und Gebrauchsgegenständen. Für 1,35 Millionen Gulden erwarb WIL-
HELM >Haus Doorn<, einen Landsitz von 6 0 Hektar zwischen Utrecht und
Nimwegen. Am 1 1 . April 1 9 2 1 starb seine Gemahlin A U G U S T F V I K T O R I A .
Am Begräbnis in Potsdam nahmen 2 0 0 0 0 0 Menschen teil - mit Ausnah-
me des verbannten Kaisers. Dieser heiratete im November 1922 die um
2 8 Jahre jüngere, verwitwete Prinzessin H E R M I N E VON S C H Ö N A I C H - C A R O -
LATH, geborene Prinzessin R E U S S ältere Linie ( 1 8 8 7 - 1 9 4 7 ) . Sie war Mutter
von fünf Kindern, Großgrundbesitzerin in Schlesien, hatte einen zwei-
ten Wohnsitz im >Palais Kaiser Wilhelm« in Berlin, war den Nationalso-
zialisten nicht abhold und lud G O R I N G zweimal nach Doorn ein.
Prinz A U G U S T W I L H E L M ( 1 8 8 7 - 1 9 4 9 ) , einer der fünf Söhne des Kai-
sers, war seit April 1930 Mitglied der NSDAP, warb für die Partei als
Reichsredner und wurde 1933 SA-Obergruppenführer und preußischer
Staatsrat sowie Mitglied des Reichstags.
Des Kaisers Hoffnung, daß H I T L E R die Monarchie wiedereinführen
werde, erfüllte sich jedoch nicht. Er danke Gott dafür, »daß Er uns vor
der fürchterlichsten Katastrophe errettete, indem er den verantwortli-
chen Staatsmännern half, den Frieden zu erhalten«, schrieb der Kaiser an
Queen Mary, als durch das Münchner Abkommen 1938 die Gefahr eines Von oben; W I L H E L M I N A
von Holland; Kron-
abermaligen Krieges gebannt schien. Daß es dank britischer Intrigen 1939
prinz W I L H E L M (als
wiederum zum Weltkrieg kommen würde, konnte der Absender damals Kommandeur des
nicht ahnen. Totenkopfhusaren -
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erhob sich in Holland die Frage, regiments).
was mit dem Kaiser nun geschehen solle. Königin W I L H E L M I N A ließ ihm
im April 1940 durch ihren Minister eröffnen, daß er sich nicht mehr als
Internierter zu betrachten habe und darum ausreisen könne, wann und
wohin er wolle. Nach Beginn des Westfeldzuges im Mai 1940 legte ihm
die niederländische Regierung nahe, einen Ort aufzusuchen, der nicht
unmittelbar in der Kampfzone liege. Die britische Gesandtschaft im Haag
ließ dem Kaiser eine Einladung nach England zukommen. Den deut-
schen Majestäten, hieß es darin, würden auf die Dauer des Krieges alle
ihnen zustehenden Ehren gewährt. Der Kaiser lehnte dankend ab: Er

111
wolle den Briten nicht die Freude bereiten, ihn gegen Deutschland pro-
pagandistisch ausspielen zu können: »Nein, was auch kommen mag, ich
verlasse Haus Doorn nicht.«
Schon am übernächsten Morgen standen deutsche Soldaten vor dem
Tor, wo sie von W I L H E L M willkommen geheißen und bewirtet wurden. In
Begleitung von Offizieren seines Stabes meldete sich Oberst NEIDTHOLT,
Kommandeur des Infanterieregiments 322, bei Seiner Majestät. Oberst-
leutnant VON Z I T Z E WITZ verlas die »Erklärung des Führers und Obersten
Befehlshabers der Wehrmacht gegenüber dem ehemaligen Deutschen
Kaiser«, Dieser, so hieß es darin, genieße samt seinem Hausstand »den
Schutz der Deutschen Wehrmacht wie jeder andere deutsche Staatsange-
hörige«. Schloß Doorn und seine nähere Umgebung werde von deut-
schen Truppen nicht belegt und nicht gestört. Auf Anordnung des Ober-
sten zog eine Ehrenwache vor dem Torhaus auf. Als W I L H E L M am Morgen
des 15. Mai 1940 aus dem Haus trat, präsentierten zum erstenmal nach
22 Jahren wieder deutsche Soldaten vor ihm. Der Kaiser konnte Tränen
der Rührung kaum verbergen.
»Die brillant führenden Generäle dieses Krieges kommen aus meiner
Schule«, triumphierte der Kaiser nach dem Sieg im Westen. »Sie fochten
unter meinem Kommando im Weltkrieg als Leutnants, Hauptmänner oder
Nach einem Besuch
junge Majore.« Am 17. Juni 1940 nahm der Kaiser auf dem Ehrenfried-
deutscher Soldaten
beim W I L H E L M II. Aus: hof Grebbeberg an der Kranzniederlegung für die gefallenen Soldaten
). A. DEIONCE, Wil- teil.
helm II., BÖhlau, Köln Am selben Tag drahtete er an Adolf H I T L E R : »Unter dem tiefergrei-
1988. fenden Eindruck der Waffenstreckung Frankreichs beglückwünsche ich
Sie und die gesamte Deutsche
Wehrmacht zu dem von Gott ge-
schenkten gewaltigen Sieg mit den
Worten Kaiser W I L H E L M S D E S
G R O S S E N : Welch eine Wendung
durch Gottes Fügung, In allen
deutschen Herzen erklingt der
Choral von Leuthen, den die Sie-
ger von Leuthen des großen Kö-
nigs anstimmten: >Nun danket alle
Gott.< [gez.] W I L H E L M I. R.« (Im-
perator Rex, F. D.). »Euer Maje-
stät danke ich für die anläßlich der
Kapitulation Frankreichs der
Deutschen Wehrmacht und mir
persönlich ausgesprochenen
Glückwünsche«, antwortete der

112
Reichskanzler am 24. Juni 1940. »Ich hoffe, daß
dieser Sieg bald eine Krönung findet, die dem
Großdeutschen Reich die Möglichkeit der vol-
len Entfaltung aller Kräfte der deutschen Nati-
on sichert, [gez.] Adolf H I T L E R . «
Daß W I L H E L M Prinz von Preußen (1906-
1940), Sohn des Kronprinzen und ältester En-
kel des Kaisers, den Heldentod starb, war mehr
als ein Wermutstropfen. Die traurige Nachricht
wurde dem Kaiser in Doorn durch General
STRECCIUS überbracht. Der Prinz war als Ober-
leutnant der Reserve bei den Kämpfen um
Valenciennes schwer verwundet worden und
starb am 26, Mai 1940 in einem Feldlazarett in
Nivelles.1
Der Krieg ging weiter, das I.eben des Kai-
sers neigte sich zum Ende. Am 1. März 1941
erlitt er einen Anfall, von dem er sich nach an-
fänglicher Besserung nicht wieder erholte. Am 3. Juni meldete Adjutant Der letzte G r u ß
ILSEMANN noch die Eroberung von Kreta und einen erfolgreichen An- Adolf HIUERS an den
letzten Kaiser.
griff der Luftwaffe auf das britische Mittelmeergeschwader. »Das ist ja
fabelhaft! Unsere herrlichen Truppen!« begeisterte sich der Kaiser. »Brin-
gen Sie nur weiter so gute Nachrichten, dann wird es schon wieder berg-
auf gehen!« Doch tags darauf verschlechterte sich der Zustand, und WIL-
HELM erlag nach 17stündigem Todeskampf einer Lungenembolie.
Die Beisetzung in Doorn am 9. Juni 1941 erfolgte mit militärischen Mit ihm verlor der
Kaiser bereits den
Ehren: Ein aus allen drei Wehrmachtteilen gebildetes Ehrenbataillon unter
zweiten Enkel,
dem Obersten VON G E R S D O R F F präsentierte. Arthur SF.YSS-INQUART, ehe- denn schon am 5.
maliger österreichischer Bundeskanzler und nunmehr Reichskommissar September 1939
für die besetzten Niederlande, vertrat das Reich. Den Sarg deckte die alte war Prinz OSKAR
Kaiserstandarte, auf der Schleife des HitleR-Kranzes prangte das Ha- (1915-1939) als
kenkreuz. Militärmusik intonierte den Choral »Jesus meine Zuversicht«. Oberleutnant der
Als der greise Feldmarschall VON M A C K E N S E N (1849-1945) vortrat, um Reserve in Polen
den Sarg seines kaiserlichen Herrn zu streicheln, waren alle auf das tief- gefallen.
ste ergriffen. Fred Duswald

Literatur
Franz HBRRB, Wilhelm II, Monarch zwischen den Zeiten, Heyne, München 1998.
Friedrich HARTAU, Wilhelm II. in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt, Rein-
bek 1978.
Sigurd VON ILSEMANN, Der Kaiser in Holland. Aufzeichnungen des letzten Flügeladjutan-
ten Kaiser Wilhelms II., Biederstein, München 1968.

113
Zur >Dolchstoßlegende< von 1918

ach dem Ersten Weltkrieg wurde in weiten Kreisen Deutschlands,

1 Hans VON ZWEHL,


N vor allem den nationalen, als Ursache für den Zusammenbruch des
Reiches im November 1918 ein »Dolchstoß« aus der Heimat in den Rük-
Der Dolchstoß in den ken des noch weit in Feindesland stehenden Heeres angesehen. General-
Kücken des siegreichen feldmarschall Paul VON HlNDENBURG hatte am 18. November 1919 vor
Heeres, Curtius, dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß der deutschen Natio-
Berlin 1921;
SCHWERTFEGT;R U. a . ,
nalversammlung erklärt, das »im Felde unbesiegte Heer« sei »von hinten
Die Ursachen des erdolcht« worden. Diesen Dolchstoß hätten die Sozialisten vorbereitet
Zusammenbruchs, und durch Streiks und Meutereien, besonders auf der Hochseeflotte im
1923; Joachim November 1918, durchgeführt. Ein »Dolchstoß-Prozeß* fand vom 19.
PETZOLD, Die Oktober bis 20. November 1925 in München statt, der viele Argumente
Dolchstoßlegende, für die Berechtigung der Dolch stoß-Deutung ergab.1 Der Begriff »Dolch-
Berlin (Ost) 1963. stoß* stammt wohl von dem englischen General M A U R I C E , über dessen
Erklärung die Neue Zürcher Zeitung am 17. Dezember 1918 berichtete.
Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde es jedoch bis in die Gegenwart
üblich, von der »Dolchstoßlegende* zu sprechen, das heißt abzuleugnen,
Der Waffenstillstand
in Compiegne am 11. daß es einen solchen Dolchstoß gegeben habe, und eine solche Meinung
November 1914 als falsch und unbegründet hinzustellen. Insbesondere SPD-Kreise ver-
(rechts im Bild: der suchten, die damaligen Vorgänge zu verfälschen und den dabei von wei-
Zug der deutschen ten Teilen der Einken verübten Landesverrat abzuschwächen oder ganz
Delegation). zu leugnen.
Links: F O C H trägt sich Doch diese neue Darstellung der damaligen Vorgänge ist nicht richtig,
in das Goldene Buch
des Waffenstillstands-
wie auch nachfolgende Zitate einflußreicher Sozialisten und unabhängi-
wagens ein. ger Zeitzeugen beweisen. Diese belegen, daß wirklich von den radikalen

114
Linken während der letzten Jahre des Ersten Weltkrieges gegen den deut-
schen Sieg, der möglich gewesen wäre, gearbeitet und damit klar Landes-
verrat begangen wurde.
Am 4. August 1914 stimmten die Sozialdemokraten im Reichstag ge-
schlossen den Kriegskrediten zu. Bereits am folgenden Tag gründete die
aus einer jidischen Familie in Polen stammende Rosa L U X E M B U R G die
»Gruppe Internationale«, die sich 1917 in >Spartakusbund< umbenannte.
Am 2 . Dezember 1 9 1 4 stimmte zunächst allein der Sozialist Karl L I E B -
KNECHT gegen die Kriegskredite, im August 1 9 1 5 wandten sich schon 2 0
SPD-Abgeordnete gegen sie. Am 23. Februar 1915 hieß es im SPD-Or-
gan Vorwärts aus der Feder eines SPD-Reichstagsangehörigen: »Ich be-
kenne ganz offen, daß ein voller Sieg des Reiches den Interessen der
Sozialdemokratie nicht entsprechen würde.«
Der SPD-Abgeordnete L I E B K N E C H T rief am 1 , Mai 1 9 1 6 bei einer öf-
fentlichen Kundgebung in Berlin auf dem Potsdamer Platz die Frontsol-
daten zum Desertieren auf und mußte deswegen bis Kriegsende ins
Zuchthaus. Ende Juni 1916 kam es zu ersten Arbeiterstreiks in der
Rüstungsindustrie in Berlin, Bremen, Braunschweig und Stuttgart, zu
weiteren am 6. April 1917. An diesem Tag gründeten die gegen den Krieg Karl LIEBKNECHT.

eingestellten linksextremen SPDler die Unabhängige Sozialdemokrati-


sche Partei Deutschlands (USPD), der der >Spartakusbund< beitrat und
die sich Ende 1918 in >KPD« umbenannte. Die USPD wirkte durch mas-
sive Flugblattaktionen und rief am 28. Januar 1918 zum Generalstreik
auf, wogegen die Regierung am 31. Januar den verschärften Belagerungs-
zustand verhängte.
Der bayerische Landtagsabgeordnete der SPD Theodor A U E R erklärte
im Frühjahr 1932 auf einer Parteiversammlung offen: »Ich bin stolz, da-
bei gewesen zu sein, ais wir, die Sozialdemokraten, der deutschen Armee
den Dolch in den Rücken gestoßen haben!« Er meinte damit den
Munitionsarbeiterstreik vom Februar 1918, der besonders in Berlin gro-
ße Auswirkungen hatte. Mit diesem Ausspruch wurde der Sozialist weit
über die Grenzen Bayerns als »Dolchstoß-AUER« bekannt.2 2 Hans-Joachim
Der Landesverrat der Linken im schwer kämpfenden Vaterland ge- WEJNERT, in
schah auch durch Verbindungen zum Ausland. So schrieb der frühere L e s e r b r i e f in:

Marine-Oberheizer S A C H S E , ein führendes Mitglied des »Zentralkomitees Berliner Morgenpost,


der revolutionären Matrosen* von 1918 im Jahre 1925 in seinem Artikel 20. 6, 2000.
»Der Dolchstoß«: »Nicht bekannt waren den Gerichten. ., jene direkten
Verbindungen, die K Ö B I S , B E C K E R S und ich über Wilhelmshaven hinweg
mit den Mitgliedern des internationalen Sozialistenbundes hatten. Da
wir nun wußten, daß es sehr gefährlich für die Bewegung sei, wenn die
direkten Verbindungen von der Landbevölkerung zu den Schiffstruppen
gestört seien, deckten wir im Prozeß unsere direkten Verbindungsleute

115
(zum Sekretariat der Zimmerwalder Internationalen in Stockholm) da-
durch ab, daß wir dem Gericht bekannte Tatsachen über die Verbindung
mit den USPD-Abgeordneten als richtig hinstellten., . Es ist dadurch...
gelungen, unsere Bewegung zu schützen. .. und so zur Ausreifung der
revolutionären Bewegung bis zum 7. November (1918) beizutragen. ..
Wir waren ja mit der Gruppe der. . . »Internationalen Sozialisten in
Deutschland«, mit denen Karl R A D E K Fühlung hatte, eng verbunden...
jawohl! Wir haben Verbindung gesucht mit unseren Klassengenossen im
1 Gottfried ZARNOW, Ausland.« 3

Der 9. November Diese Aussage bestätigt das damals offene Geheimnis, daß die Matrosen-
1918, die Tragödie meutereien und -revolutionen in der deutschen Kriegsflotte vom 4. Juni
eines Volkes, Archiv- 1917 und vom Oktober/November 1918 mit ausländischer Hilfe ange-
Edition, Viöl 2000,
zettelt wurden. Da das deutsche Heer im Felde nicht zu besiegen war,
S. 31.
versuchte man, die deutsche Front mit Hilfe einheimischer Verräter von
hinten aufzurollen. Den deutschen und ausländischen Agenten war es
ein leichtes, sich ein Bild von der Stimmung an der Heimatfront zu ver-
schaffen. Mit diesen Informationen konnten die ailiierten Geheimdien-
ste planen und linksextreme Gruppen im Reich unterstützen.
Zu den ausländischen Zentralen und Vereinigungen, die in den letzten
Jahren des Ersten Weltkrieges den deutschen Zusammenbruch logistisch
und finanziell unterstützten, gehörten unter anderen:
1. die »Zimmerwalder Internationale< mit Sitz in Stockholm seit 1917;
2. die »Auslandsvertretung der Bolschewikk unter Leitung von Karl
Radek;
3. die »Internationalisten« mit Sitz in Berlin unter Leitung von Julian
B O R C H A R D T mit engen Beziehungen zu den Bolschewisten L E N I N , R A -
DEK u n d S I N O W J E W ;
4. das Internationale Jugendsekretariat in der Schweiz unter Willi MÜN-
ZENBERG;
5. in Frankreich Überläufer und Kriegsgefangene;
6. in Holland »Deutsche Deserteur-Vereine« mit der englischen Agen-
tur T I N S I . E Y , das »Komitee der Flüchtlinge« mit Verbindung zu dem fran-
zösischen Nachrichtenoffizier C R O Z I E R - D E S G R A N G E S und unmittelbarer
Verbindung zur deutschen USPD und den »Zimmerwaldern« in Stock-
holm;
7. der »Spartakusbund« mit Sitz in Berlin unter Leitung von Rosa LU-
Ebenda, S. 28 f. XEMBURG und Karl L I E B K N E C H T . 4

Über die Finanzierung der während des Ersten Weitkrieges gegen das
Reich gerichteten revolutionären linken Bewegung in Deutschland gibt ein
Bericht von 1919 Auskunft: »Das eigentliche Verbrechen der Revolution
beginnt dort, wo das Geld der Entente, der Mammon der Feinde des deut-
schen Volkes, zum Verbündeten der deutschen Revolutionäre wurde.

116
Das Geld für die deutsche Revolution floß aus drei Quellen:
1. aus bestimmten jüdischen Kreisen in Deutschland selbst,
2. aus dem Propagandafonds der Entente,
3. aus dem Staatssäckel der russischen Bolschewiki.
Das Geld aus jenen jüdischen Kreisen (um Geheimrat W I T T I G ) ging
zum Teil durch die Hände von H A A S E und D I T T M A N N . , . 5
Im März 1918 hat in den Lokalitäten von A S C H I N G E R in Berlin eine
Besprechung zwischen einem aus Holland herübergekommenen Ameri-
kaner namens RIDDER und verschiedenen revolutionären Vertrauensleu-
ten stattgefunden, bei welcher nicht nur Einzelheiten der Revolution
durchgesprochen wurden, sondern bei der auch von R I D D E R an die Teil-
nehmer Geld ausgehändigt wurde. In Hamburg hatte derselbe R I D D E R in
Fleischers Weinstuben am Hauptbahnhof eine Zusammenkunft mit Loui-
se W E G N E R , bei der auch über die Frage der finanziellen Unterstützung
verhandelt wurde. ..
Das englische Weltreisebüro Thomas C O O K und der in Holland woh-
nende englische Agent T I N S L E Y sandten ihre Leute nach Deutschland,
um die Unzufriedenheit bis zur Siedehitze zu schüren. Feindliche Agen-
ten in deutscher Militäruniform waren mit dem von englischen, französi-
schen und amerikanischen Großindustriellen gestifteten Gelde in Deutsch-
land unterwegs, um die Leidenschaften des Volkes aufzupeitschen und
die Soldaten zur Desertation zu verleiten. Einige dieser Agenten hatten
Beträge von 20 bis 30000 RM bei sich.«6
In einem Bericht des französischen Leutnants Joseph CRO/.IKR (sein
eigendicher Name war Pierre D E S G RANGES) vom 1 0 . November 1 9 1 8 an
General BOUCABEIELF. in Paris wird der Einfluß des Auslandes bestätigt:
»Die deutsche Revolution ist in dem Augenblick ausgebrochen, den wir Von oben: H u g o
vorausgesehen hatten, und man weiß noch nicht, ob die Revolution den Haase ( 1 8 6 3 - 1 9 1 9 )
militärischen Zusammenbruch herbeigeführt hat oder umgekehrt. Diese und W i l h e l m D I T T -
MANN (1874-1954).
Revolution geht von den Leuten aus, die wir kennen, und wird, wie wir
vorausgesagt haben, bis zum äußersten gehen.«
Der Franzose fügte hinzu, daß er Verbindungen mit den holländischen
revolutionären Sozialdemokraten bekommen babe und wiederum durch
diese mit den Mitgliedern der USPD in den Deserteurvereinigungen, die
5 Hugo HAASE (1863-1919) und Wilhelm DITTMANN (1874-1954) waren zwei
führende Reichstagsabgeordnete der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD),
die sich Ende 1919 in >KPD< umbenannten. Sie gehörten vom 9. November bis
29. Dezember 1918 der ersten revolutionären Reichsregierung (>Rat der Volks-
beauftragen<) unter Friedrich EBERT an, traten für eine Rätediktatur ein und ver-
ließen die Regierung, als diese sich für eine Nationalversammlung und Demo-
kratie entschied.
6 Wolfgang BRETTHAUPT, in: Tägliche Rundschau, 4. 3. 1919.

117
Berlin im Januar
1919. Der Alexander-
platz ist mit Panzer-
automobilen (»Ach-
tung! In den Häusern
bleiben«) abgesperrt.

ihrerseits Kontakt zu deutschen Revolutionären hätten. Er habe den Be-


fehl gehabt, die nur über geringe Finanzmittel verfügenden Zeitungen
der USPD so zu unterstützen, daß sie ihre Propaganda gegen den Krieg
unter ebenso günstigen Bedingungen treiben konnten wie die Sozialisten
in der Reichsregierung.
Zwar leugneten die Funktionäre der USPD jegliche finanzielle Unter-
stützung durch das Ausland ab, doch diese wurde auch durch einen US-
Nachrichtendienstler bestätigt, der nach dem Krieg schrieb: »Man braucht
sich nicht zu wundern, daß der amerikanische Geheimdienst ausgezeich-
net über die deutsche Revolution Bescheid wußte, half er doch, sie zu
entfesseln. Die ganze Wahrheit über die Empörung der unabhängigen
Sozialdemokratie.. . ist außerhalb Deutschlands kaum bekannt, und die,
die in Deutschland davon wissen, sagen nicht viel darüber.. . In Wirk-
lichkeit aber wäre die Revolution kaum zur rechten Zeit ausgebrochen,
wäre sie nicht durch alliierte und amerikanische Intrigenpropaganda und
Geld erregt worden. Wir entzündeten in Deutschland das Feuer der Em-
pörung.«7
Von demselben Tatbestand sprach Sir Robert BORDEN, der frühere
kanadische Ministerpräsident, als er erklärte, daß man in England An-
fang 1918 friedensbereit gewesen sei, denn man habe damals noch nicht
gewußt, was hinter der deutschen Front vorging, daß dort von den Sozial-
demokraten in Gemeinschaft mit französischen Spionen eifrig daran ge-

7 Thomas M . J O H N S O N , Dunkle Wege Amerikas im Weltkrieg, Stuttgart 1 9 2 4 , S. 2 2 .

118
arbeitet wurde, die deutsche Front von hinten aufzurollen, und daß die,
die diese landesverräterische Arbeit leisteten, von Frankreich bezahlt
wurden.8 8 ZARNOW, a a O .

Der schon genannte französische Geheimdienst-Offizier Leutnant Jo- (Anm. 3), S. 43.
seph CROZIER hielt sich während des Ersten Weltkriegs sogar mehrere 9 Pierre DFSGRAN-
Wochen lang in Berlin auf und konnte dabei in aller Ruhe sein Netz GES, in geheimer
aufbauen. Über seinen Aufenthalt in der deutschen Hauptstadt schrieb Mission beim Feinde
er ein Buch, in dem er festhielt: »Die erste Todesstunde des Reichs schlug
9 1915-18, Grethlern,
im Februar 1918, als der Generalstreik in Berlin ausbrach und 300000 leipzig 1930.
Arbeiter sich unter der Fahne der Revolution sammelten, . . Der Haupt-
organisator dieses Streiks war der damalige Führer und anerkannte Chef
der Sozialdemokratischen Partei«, also Friedrich E B E R T (1871—1925). Auch
andere erhoben diese Vorwürfe gegen den späteren Reichspräsidenten
(1919-1925).
Dieser ließ damals die Schutzbehauptung verbreiten, er habe den Mu- Die Trauerfeierlich-
nitionsarbeiterstreik nicht nur nicht gebilligt, sondern sogar versucht, ihn keiten für den am 28.
Februar 1925 gestor-
zu verhindern. Diese Frage kam im Dezember 1924 bei einem Prozeß in benen Reichspräsi-
Magdeburg zur Sprache. Reichspräsident E B E R T hatte gegen den völkisch denten Friedrich E B E R T
ausgerichteten Schriftsteller Dr. G A N S S E R geklagt, der ihm am 12. Juni fanden am 4. März
1922 bei einem Besuch Münchens auf dem Bahnhofsvorplatz das Wort 1925 vor dem Pots-
»Vaterlandsverräter« zugerufen hatte. Das Münchener Gericht ließ die damer Bahnhof statt.
Der Magdeburger
von G A N S S E R vorgelegten Wahrheitsbeweise zu und lud SPD-Fraktions- Prozeß wird be-
führer SCHEIDEMANN, den Reichstagsvizepräsidenten DiTTMANN (USDP) stimmt nicht spurlos
und den Altsozialisten Georg LF.DEBOUR ( 1 8 5 0 - 1 9 4 7 ) als Zeugen vor. an EBERT vorüber-
Diese waren keine Freunde E B E R T S und hatten schon vorher gegen ihn gegangen sein.

119
ausgesagt. Daraufhin ließ E B F R T seinen Strafantrag zurückziehen, was
seine Glaubwürdigkeit sehr erschütterte.
Da G A N S S E R sein Beweismaterial jedoch in norddeutschen Regional-
blättern veröffentlicht hatte, mußte EBF.RT doch gegen ihn klagen. Der
amtierende Reichspräsident glaubte sich wegen einer inzwischen erfolg-
ten Änderung in der Strafprozeßordnung in günstigerer Rechtslage. In
den Verhandlungen vom 9. bis 23. Dezember 1924 in Magdeburg bestä-
tigten einige der teilweise sich widersprechenden Zeugen indirekt die
Anschuldigung G A N S S E R S . In einem Schreiben an das Gericht stellte der
Zeuge Richard M Ü L L E R fest: »Ich war Vorsitzender der Streikleitung, der
auch Herr E B F R T angehörte. . . Herr EBF.RT hat an fünf Sitzungen der
Streikleitung teilgenommen und nicht gegen den Streik gesprochen. Wäre
schon damals das passiert, was im November 1918 eintrat, hätte sich
Herr E B F R T auch damals an die Spitze der Bewegung gestellt.«
Über diese Verhältnisse urteilte Z A R N O W wohl zu Recht:» Die Darstel-
lung, die der Zeuge Richard M Ü L L E R über die Taktik der Herren E B F R T ,
SCHEIDEMANN und Otto BRAUN (preußischer Ministerpräsident 1 9 2 0 - 1 9 3 3
mit kleinen Unterbrechungen) gegeben hat - die Angstpsychose, sie ist
allein glaubhaft. Und diese Angst, von den Wählern abgehängt zu wer-
den, hat ihre Kriegspolitik stärker beeinflußt als die Sorge um den glück-
lichen Ausgang des Krieges. Diese Angst ist der Rote Faden, der zum 9.
November führte, und die schlüssigste Bestätigung der M ü L L E R s c h e n
>Theorie< ist, daß auch die Behörden (preußisches Innenministerium, ()ber-
kommando in den Marken und das Berliner Polizeipräsidium) sie vertre-
10 ZARNOW, a a O ten haben. Deren Beamten haben gleichfalls als Zeugen ausgesagt.«10
(Anm. 3). So sagte zum Beispiel der Regierungsrat HENNING von der Abteilung
Ia des Berliner Polizeipräsidiums folgendes aus: »Während des Kriegs
haben wir Stimmungsbilder über die Lage hergestellt. Das Stimmungs-
bild, das wir kurz vor dem Streik den zuständigen Stellen weitergaben,
lautete dahin, daß nach unseren Erforschungen die Bewegung nicht ver-
ursacht sei durch ErnährungsSchwierigkeiten oder durch Sehnsucht nach
Frieden, auch nicht durch Wahlrechtsvorlage, sondern durch geheime
Bestrebungen der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, die sich
bemühte, den Beschluß der Zimmerwalder und der Kopenhagener Kon-
ferenz zu verwirklichen. Der Streik war unserer Ansicht nach lediglich
ein parteipolitischer und parteitaktischer. Der Eintritt der SPD war ein
taktisches Manöver: Sie fürchtcte, von der USPD an die Wand gedrückt
zu werden.«
Der Zeuge Georg L E D E B O U R (USPD) erklärte anklagend vor Gericht:
»Dieser Herr E Ü F R T , dieser falsche Biedermann, kommt gleichzeitig zu
dem revolutionären Republikaner L E D E B O U R , den er bis aufs Blut haßt,
und erbietet sich zu einer gemeinschaftlichen Revolution mit uns gegen

120
seine eigene Regierung, um die Bildung einer gemeinschaftlichen Regie-
rung. ,. Nach meiner Schätzung der deutschen Beamten ist das, was in
ihrer Vorstellung alles an Ungeheuerlichkeiten übersteigt: daß ein Mini-
ster gegen seine eigene Regierung mit Revolutionären eine Verschwö-
rung einleitet zum Sturz der Monarchie, damit er bei der Beuteverteilung
dabei sein kann.«
Das Magdeburger Gericht kam aufgrund derartiger Aussagen zu dem
Urteil: »Es mußte somit festgestellt werden, daß der Nebenkläger (EBERT)
durch seine Beteiligung an der Streikleitung und durch die einzelnen Hand-
lungen in dieser seiner Stellung, zusammen mit den übrigen Mitgliedern
der Streikleitung, objektiv und subjektiv den Tatbestand des § 89 StGB
(Landesverrat) verwirklicht hat. Damit war weiterhin festzustellen, daß
die Tatsache, die der Angeklagte (GANSSER) behauptet und verbreitet hat,
daß nämlich der Nebenkläger durch seine Beteiligung am Berliner Mas-
senstreik im Januar 1918 Landesverrat begangen hat, erweislich wahr ist.«
Von diesem Urteil schwer getroffen, starb EBERT bald darauf am 28. 2.
1925 an den Folgen einer Operation.
Zu erwähnen ist noch, daß im Vorwärts, dem traditionsreichen Partei-
blatt der Sozialisten, am 20. Oktober 1918 der linke Funktionär Friedrich
STAMPFER schrieb: »Deutschland soll - das ist unser fester Wille als Sozia-
listen — seine Kriegsflagge für immer streichen, ohne sie das letzte Mal
siegreich heimgebracht zu haben.«
Im April 1924 erschien die Ausgabe der Süddeutschen Monatshefte mit Oben: Süddeutsche
dem Titelbild »Der Dolchstoß«, die diesen anklagte. Deswegen zog sich Monatshefte, April
1924. Unten: Wahl-
der Herausgeber Nikolaus COSSMANN in München einen Prozeß wegen
plakat der Deutsch-
Geschichtsfälschung zu." nationalen aus dem
Abschließend sei noch ein französischer Fachmann, der Heeresrefe- Jahre 1924.
rent in der französischen Deputiertenkammer, Oberstleutnant FABRY, mit
seiner Äußerung im Februar 1920 vor den Abgeordneten zitiert: »Bei
Kriegsende sahen wir die deutsche Armee in einer Stärke, wie nur ir-
gendeine Armee, mit einem vortrefflichen Material ausgerüstet. Was war 11 Arne GROTEFELD,
nun die Ursache der Niederlage? Sie hatte hinter sich nicht mehr eine in »Der Dolchstoß«,
einer einheitlichen Stimmung zusammengeschlossene Nation, den ent- in: Vierteljahreshefte
schlossenen Willen, alle notwendigen Kriegsopfer zu bringen und den für freie Geschichtsfor-
Krieg fortzusetzen. Dieser Krieg hat klar bewiesen, daß auch die stärkste schung, Nr. 4, 2004,
S. 399, eine aus-
Armee keinen Kriegserfolg mehr herbeiführen kann, wenn hinter ihr kein
führliche Darstel-
Volk steht, das entschlossen ist und den festen Willen hat zu fechten.«' 2 lung der Vorge-
Damit dürfte durch nachprüfbare und eindeutige in- und ausländische schichte.
Aussagen hinreichend bewiesen sein, daß der deutsche Zusammenbruch
im Herbst 1918 wesentlich mit durch die Bestrebungen der linken Par- ZARNOW, a a O .
teien im Innern verursacht wurde und daher das Bild vom Dolchstoß in (Anm. 3), S. 146 f.
den Rücken des deutsches Heeres berechtigt ist. Wolfgang Hackert

121
Der Boykott der deutschen Sprache
nach dem Ersten Weltkrieg

ber die Ursachen des Ersten Weltkrieges ist viel geschrieben wor-
Ü den. Zu einem besonderen, bisher kaum beachteten Punkt, dem al-
liierten Boykott des Deutschen als Wissenschaftssprache, ist jedoch erst-
mals mehr als 90 Jahre nach dem damaligen Geschehen von Roswitha
REINBOTHE eine ausführliche Monographie erschienen,1 die ganz neue
Erkenntnisse vermittelt und deswegen einer Richtigstellung gleichkommt
Die Sprachwissenschaftlerin geht in dieser Habilitationsschrift der
Universität Duisburg-Essen aus dem Jahre 2006 zunächst der großen
Bedeutung des Deutschen als Wissenschaftssprache im 19, Jahrhundert
nach und zeigt deren führenden Stellenwert für die Zeit vor dem Ersten
Weltkrieg auf. Insbesondere weist sie auf die Menge der wissenschafdi-
chen Zeitschriften in deutscher Sprache, die Zahl und das Ansehen der
deutschen Akademien und die zahlreichen internationalen Vereinigun-
gen mit Sitz im Deutschen Reich hin. Viele Ausländer veröffentlichten
damals in deutschen Zeitschriften in deutscher Sprache. Vor allem für
die Astronomie, die Erdmessung, Seismologie, Geographie und Chemie
wird die führende deutsche Stellung materialreich belegt. Auf internatio-
nalen Tagungen und in überstaatlichen Wissenschaftsvereinigungen gal-
ten Französisch, Englisch und Deutsch als die drei gängigen und gleich-
berechtigten Wissenschaftssprachen.
Doch schon vor dem Ersten Weltkrieg traten in Frankreich und Eng-
land einflußreiche Stimmen auf, die die deutsche Sprachvorherrschaft in
einigen Fachbereichen kritisierten, auf die politischen Folgen derselben
hinwiesen und eine Beschränkung des Deutschen im Wissenschaftsbe-
reich forderten.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges gewannen diese Bestre-
bungen an Einfluß, insbesondere, als viele deutsche Wissenschaftler sich
hinter die Politik der Reichsregierung stellten, etwa in dem Aufruf »An
die Kulturwelt« von 93 Forschern, der am 4. Oktober 1914 in deutschen
Zeitungen veröffentlicht wurde.- So gab der britische Chemienobelpreis-
träger ( 1 9 0 4 ) William R A M S A Y kurz darauf3 eine Gegenerklärung ab. Nach

1 Roswitha REINBOTHE, Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott


nach dem Ersten Weltkrieg, Peter Lang, Frankfurt 2006.
2 In Auszügen zitiert ebenda, S. 97. Die Verfasserin geht von der Kriegsschuld
Deutschlands am Ersten Weltkrieg aus-der einzige größere Nachteil des Buches.
3 William RAMSAY, »Germany's Aims and Ambitions« (Deutschlands Ziele und
Bestrebungen), in: Nature, 8. 10. 1914.

122
seiner Ansicht gehe es um einen »Krieg der Humanität gegen Inhumani-
tät. . . des Rechtes gegen Unrecht« (»of right against wrong«), die - von der
britischen Kriegspropaganda erfundenen, wie sich später herausstellte -
Greueltaten der Deutschen in Belgien und Frankreich seien ein Rückfall
Deutschlands in die Barbarei (»relapsing into barbarism«). Deren Ursache
sei der autoritäre »teutonische Charakter« und das Weltmachtstreben der
Deutschen. »Ihr Ideal. .. ist, die Weltvorherrschaft für ihre Rasse zu si-
chern. ,. Deutschland über Alles in der Welte Deswegen der Krieg.«
Unter dem Leitwort »Niemals wieder« müßten die Alliierten alles tun,
um diesen gefährlichen deutschen Despotismus, der wie ein Krebsge-
schwür sich in die Moral der deutschen Nation eingefressen habe, ein für
allemal zu vernichten.4
Knapp ein Jahr später forderte er den Ausschluß der deutschen Wis-
senschaftler von internationalen Tagungen: »Internationale Versammlun-
gen zu wissenschaftlichen Zwecken werden ganz sicher auch künftig statt-
finden, aber nur unter der Bedingung, daß deutsche und österreichische
Vertreter ausgeschlossen werden.«5
Und so kam es dann auch. Franzosen und Engländer setzten sich,
teilweise gegen den Widerspruch aus neutralen Ländern, durch: »Nach
dem Ersten Weltkrieg verhängten die alliierten Akademien der Wissen-
schaften gegen Deutschland und die mit ihm verbündeten Länder einen
Wissenschaftsboykott. Eng verknüpft damit war ein Boykott gegen
Deutsch als internationale Wissenschaftssprache. Aus internationalen Wis-
senschaftsverbänden wurden die deutschen und österreichischen Wis-
senschaftler und mit ihnen die deutsche Sprache ausgeschlossen. Die Folge
davon war ein Statusverlust und Rückgang des Deutschen als internatio-
nale Wissenschafts spräche.«6
Schon während des Krieges hatten einige Akademien und wissen-
schaftliche Gesellschaften den Ausschluß ihrer deutschen Mitglieder be-
schlossen." 1917 forderte der französische Mathematiker und Sekretär der
Académie des Sciences in Paris, Emile PICARD, die Auflösung der alten
internationalen Vereinigungen und die Gründung neuer ohne deutsche
Beteiligung."
Schon während des Krieges wurden dazu die ersten Schritte unter-
nommen, die zu einer interalliierten Konferenz der Akademien der Wis-
senschaften vom 9. bis 11. Oktober 1918 in London sowie vom 26. bis
29. November 1918 in Paris führten. Diese beschlossen insbesondere

4 REINBOTHE, a a O . ( A n m . 1), S. 1 0 1 .
5 Zitiert ebenda, S. 102, aus: Süddeutsche Monatshefte, August 1915, S. 829.
6 Ebenda, S.U.
7 Ebenda, S. 107.
B Ebenda, S. 129.

123
den Aufbau neuer internationaler Fachunionen der Astronomie, Geo-
physik und Chemie - früher deutsche Domänen —, bei denen die Deut-
schen nun ausgeschlossen waren. Die Gründung dieser Fachunionen und
des Internationalen Forschungsrates (>Conseil international de recher-
ches<) fand auf der alliierten Wissenschaftskonferenz vom 18. bis 28. Juli
1919 in Brüssel statt, zu der nicht einmal neutrale Staaten eingeladen
waren. Die Statuten des Forschungsrats, die den Ausschluß der Deut-
schen und mit diesen verbündet gewesener Staaten vorsahen, sollten
mindesten bis Ende 1931 reichen.1' Als amtliche Sprachen waren Franzö-
sisch und Englisch vorgesehen, Deutsch war verboten.
' REINBOTHE, a a O . Dazu kam eine »Ächtung der deutschsprachigen Fachpublikationen«.1"
(Anm. 1), ebenda, S. In den USA wurden sogar deutsche Fachbücher verbrannt. Die angese-
143. hene Fachzeitschrift Science stellte am 20. Dezember 1918 fest: »In Buße
10 Ebenda, S. 176.
verbrennen wir nun unsere deutschen Bücher und vermeiden eifrig, ir-
gend etwas in dieser Sprache zu lesen. Wir sind überrascht zu bemerken,
wie gut wir ohne irgend etwas in dieser Sprache auskommen können und
für wie wenig wir in Wirklichkeit dieser Sprache verpflichtet sind.«
»An den 14 internationalen (wissenschaftlichen) Kongressen des Jah-
11 Ebenda, S. 194. res 1919 nahmen überhaupt keine deutschen Wissenschaftler teil.«11 Noch
1925 wurden auf 34 von 52 internationalen wissenschaftlichen Tagun-
gen der Alliierten die Deutschen ausgeschlossen. Bis 1926 waren deut-
sche Teilnehmer selbst von den internationalen Tuberkulosekonferen-
zen verbannt. Erst ab 1927 konnten sich gemäßigtere Stimmen in den
alliierten Ländern durchsetzen, und der Boykott wurde langsam aufge-
geben.
Das Ergebnis dieser Entwicklung war ein wesentlicher Rückgang der
Bedeutung des Deutschen als Wissenschaftssprache, Englisch und Fran-
zösisch gaben in Zukunft den Ton an, auch in den vor dem Ersten Welt-
krieg von Deutschen angeführten Fachbereichen. Während noch 1915
in den USA 24,4 Prozent der Schüler an den öffentlichen High-Schools
Deutsch lernten, waren es 1922 nur noch 0,7 Prozent.12
Abschließend stellt R E I N B O T H E fest: »Mit Deutschlands Niederlage im
Ersten Weltkrieg, dem Vertrag von Versailles, der Errichtung des Völker-
bunds und zentraler internationaler Wissenschaftsorganisationen hatten
sich die Machtverhältnisse grundlegend verschoben. Das spiegelt sich im
internationalen Status der Sprachen wider: Französisch und Englisch wa-
ren die Sprachen des Versailler Vertrags, des Völkerbunds und der von
den Alliierten neu gegründeten internationalen Wissenschaftsverbände.
Deutsch verlor seine vormals privilegierte Stellung als dritte offizielle Spra-
12 Ebenda, S. 204. che im internationalen Wissenschaftsbetrieb.«13
13 Ebenda, S. 445. Der Zweite Weltkrieg mit der Zerschlagung des Deutschen Reiches
setzte diese Entwicklung fort. Rolf Kosiek

124
Sowjetische Vertragsbrüche

em deutschen Kaiser W I L H E L M I I . wurde in Artikel 2 2 7 des Versail-


D ler Diktats 1919 »schwerste Verletzung der internationalen Moral
und der Heiligkeit der Verträge« vorgeworfen, was jedoch nicht bewie-
sen werden konnte, da es nicht zutraf. Dagegen haben andere Staaten
oft Verträge gebrochen. Den Rekord hält wohl die Sowjetunion, von der
man mit einigem Recht behaupten kann, daß es nur wenige internationa-
le Verträge gibt, an denen sie beteiligt war und die sie nicht gebrochen
hat. Da das wenig bekannt ist und meist verschwiegen wird, sei an fol-
gende Fälle erinnert:
1. Am 3. März 1918 erkannte die kommunistische Moskauer Regie-
rung im Frieden von Brest-Litowsk die Unabhängigkeit der am 22. Janu-
ar 1918 für selbständig erklärten Ukraine an. Am 20. Dezember 1918 -
weniger als ein Jahr später - überfielen die Bolschewisten die Ukraine,
besetzten sie und gliederten sie der Sowjetunion ein.
2. Am 2. Februar 1920 schloß die Sowjetunion Frieden mit Esdand
und erkannte dessen Unabhängigkeit an. Am 26. Juni 1940 marschierte
nach einem Ultimatum die Rote Armee in Esdand ein, das am 6. August
1940 der Sowjetunion einverleibt wurde.
3. Am 11. August 1920 erkannte Rußland im Frieden von Riga das
unabhängige Lettland an. Am 17. Juni 1940 wurde Letdand von sowjeti-
schen Truppen besetzt und am 5. August 1940 der Sowjetunion einver-
leibt.
4. Am 12. 7.1920 erkannte Moskau die Unabhängigkeit Litauens an.
Am 21, Juli 1940 wurde nach Einmarsch der Roten Armee die Sowjet-
republik Litauen ausgerufen, die am 3. August 1940 der Sowjetunion
angegliedert wurde.
5. Am 18. März 1928 schloß Moskau mit Polen einen Vertrag, in dem
die polnische Ostgrenze nach dem polnisch-russischen Krieg von 1921
festgelegt wurde. Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee
im östlichen Polen ein und besetzte das Gebiet östlich der Curzon-Linie.
6. Am 9. Juni 1934 hat Moskau die Unabhängigkeit Rumäniens aner-
kannt. Am 26, Juni 1940 forderte Moskau in einem Ultimatum die Ab-
tretung eines Teil Rumäniens, Bessarabiens und der Nordbukowina, be-
setzte und annektierte die Landschaften.
7. Am 6. Februar 1934 hat die Sowjetunion die Unabhängigkeit Un-
garns anerkannt. Im November 1956 hat sie mit ihren einmarschieren-
den Truppen den freiheitlichen Aufstand der Ungarn niedergeschlagen,

125
Einer der zahlreichen
Vertragsbrüche der
Sowjetunion: Am
frühen Morgen des 4.
November 1956
greifen rund 1000 so-
wjetische Panzer,
unterstützt von zahl-
reichen Bombern,
Budapest an.

deren Anführer — trotz Zusicherung freien Geleits nach Moskau — in


Rußland ermordet und eine kommunistische Regierung eingesetzt.
8. Am 13. April 1941 schloß die Sowjetunion in Moskau mit Japan
einen Nichtangriffspakt auf fünf Jahre mit Anerkennung der Unantast-
barkeit des jeweiligen Landes. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in
Ostasien, am 8. August 1945, als Tokio schon kapitulationsbereit war,
erklärte Moskau Japan den Krieg und raubte ihm Gebiete wie die Kuri-
len, Der Nichtangriffspakt war zwar von Stalin am 5. April 1945 gekün-
digt worden, lief aber noch ein Jahr weiter bis April 1946.
9. Am 21. Juli 1954 unterzeichnete Moskau in Genf einen Vertrag,
der es untersagte, fremde Truppen und Waffen nach Vietnam zu senden.
Seit 1955 verstieß die Sowjetunion offen dagegen,
10. Am 3. August 1968 unterzeichnete Moskau in Preßburg eine Er-
klärung, wonach der Tschechoslowakei die Unabhängigkeit garantiert
wurde. Schon kurz darauf, am 20./21. August 1968, marschierten sowje-
tische Truppen in die Tschechoslowakei ein, besetzten das Land, setzten
die Reformregierung ab und eine Moskau hörige ein.
11. Daneben verletzten die Sowjets mit ihren Völker und Staaten miß-
achtenden Handlungen unter anderen auch folgende internationale Ver-
träge und Erklärungen: den Kellog-Pakt vom 27. August 1928 (Verzicht
auf Krieg durch friedliche Vereinbarungen), die Atlantik-Charta vom 12.
August 1941 (Freiheiten für die Völker), die UNO-Charta (Vereinte Na-
tionen) vom 24. Oktober 1945. Rolf Kosiek

126
Sowjets bereiten schon 1918 das Prinzip
der >verbrannten Erde< vor

er deutschen Wehrmacht wurde und wird vorgeworfen, zum Bei-


D spiel von der HEER-REEMTSMAschen Wehrmachtausstellung, im Ost-
feldzug schon ab 1941 das Prinzip der verbrannten Erde< angewandt zu
haben. Die Sowjets hätten dagegen diese Methode erst später durchge-
führt.
Das ist aber falsch. Tatsache ist, daß Moskau diese in der Haager Land- 1 Wladimir Iljitsch
kriegsordnung verbotene Kriegführung bereits zu einer Zeit vorbereitet LENIN, Ausgewählte
hat, als in Deutschland niemand daran dachte und von H I T L E R noch gar Werke, Band II,
keine Rede war. Denn schon im Sommer 1918, kurz nachdem die Bol- Dietz, Berlin 1954,
schewisten in Rußland an die Macht gekommen waren, gaben als deren S. 403 f.; Prawda,
Nr. 54, 23. 2.1942.
führende Persönlichkeiten L E N I N und S W E R D L O W die folgende Verord-
nung heraus:1
»Was bei einem Überfall des Feindes auf die Russische Sozialistische
Das Prinzip der ver-
Föderative Sowjetrepublik, die ihren festen Friedenswillen bewiesen hat, brannten Erde< wurde
unternommen werden muß. vor dem I lintergrund
(Direktive an alle Ortssowjets und die gesamte Bevölkerung) der Auseinanderset-
In der Ukraine ist es mehr als einmal vorgekommen, daß die Bauern und zung zwischen
Bolschewisten und
Arbeiter sich dem Abtransport oder der Vernichtung des Hab und Guts Weißrussen erörtert.
widersetzten, in der Hoffnung, es für sich wahren zu können. Sie wurden Hier werden Petro-
hart gestraft. Die Eindringlinge beschlagnahmten alles: Getreide, Vieh, grader Arbeiter zur
Kohle, Metall, Maschinen, und führten es nach Deutschland aus. Das Verteidigung der
von weiß russischen
Beispiel der Ukraine sollte für ganz Rußland eine schreckliche Lehre sein.
Truppen bedrohten
Deshalb ist die ördiche Bevölkerung, wenn der Feind zur Offensive Stadt Anfang Oktober
überzugehen versucht, verpflichtet, unter Leitung der örtlichen Sowjets 1919 militärisch
folgenden Befehl aufs strengste zu befolgen: ausgebildet.

127
In erster Linie sind alle Heeresvorräte fortzuschaffen. Alles, was nicht
fortgeschafft wird, muß in Brand gesteckt oder gesprengt werden.
Korn und Mehl sind fortzuschaffen oder zu vergraben. Was nicht ver-
graben werden kann, ist zu vernichten.
Das Vieh ist fortzutreiben,
Maschinen sind als ganzes oder in Teile zerlegt wegzuschaffen.
Was nicht abtransportiert werden kann, muß zerstört werden. Nicht
abtransportierte Metalle sind zu vergraben, Lokomotiven und Waggons
sind fortzuleiten. Die Schienen sind aufzureißen.
Die Brücken sind zu minieren und zu sprengen.
Die im Rücken des Feindes liegenden Wälder und Saaten sind in Brand
zu stecken.
Mit allen Kräften und Mitteln ist der Vormarsch des Feindes zu er-
schweren. Hinterhalte sind zu legen. Schußwaffen und blanke Waffen
sind zur Anwendung zu bringen.
Das eigene Hinterland ist zu sichern. Und zu diesem Zweck sind alle
Spione, Provokateure, Weißgardisten, konterrevolutionäre Verräter, die
den Feind direkt oder indirekt unterstützen, samt und sonders auszu-
rotten.
(2. Juni 1918)
Vorsitzender des Allrussischen Zentralexekutivkomitees I. S W E R D L O W
Von oben: W. LENIN Rat der Volkskommissare Vorsitzender des Rates der Volkskommissare
u n d I. SWERDLOW, W. UIJANOW (LENIN)«

Nach diesem Prinzip handelten die Sowjets auch schon seit Beginn des
Zweiten Weltkrieges bei ihrem Rückzug vor der deutschen Wehrmacht
im Sommer 1941 ohne Rücksicht auf ihr eigenes Land und dessen Be-
völkerung. Die sowjetische Durchführung dieses Prinzips war mit eine
der Ursachen für den Nahrungsmangel in dem deutschbesetzten Teil der
2 Andreas NAU- Sowjetunion und bei den russischen Kriegsgefangenen in den deutschen
MANN, Freispruch für Lagern im Herbst 1941.
die deutsche Wehr- Bereits am 29. Juni 1941 war durch eine Verordnung des Zentralkomi-
macht. Unternehmen tees und des Rates der Volkskommissare die Politik der »verbrannten Erde<
Barbarossa< erneut auf für die sowjetischen Streitkräfte ausdrücklich eingeführt worden, und am
dem Prüfstand, 3 . Juli 1941 verfügte STAI.IN sie erneut in einer Rede vor den Partei- und
Grabert, Tübingen Staatsorganen.2
2005, S. 334.
Eine besondere Art der »verbrannten Erde< übten die Sowjets aus, in-
dem sie in manchen der vor den Deutschen geräumten Städten viele
Minen mit Zeitzünder legten, so daß die Zerstörung erst nach dem Ein-
marsch der Wehrmacht erfolgte und viele deutsche Soldaten mit in den

128
Die Taktik der »ver-
brannten Erdet. Haus
und Hof wurden in
Brand gesetzt, bevor
die Landbevölkerung
Richtung Osten zog.

Tod riß. Das verheerendste Beispiel dafür lieferte die ukrainische Haupt- 5 NAUMANN, eben-
stadt Kiew, die am 19. September 1941 von deutschen Streitkräften er- da, S. 582 f.
obert worden war. Fünf Tage später wurde die gesamte historische In- 4 Siehe Beitrag Nr.
nenstadt durch vorher verlegte sowjetische Minen gesprengt und vom 572, »Machte die
24. bis 29. September 1941 in Brand gesetzt wurde, obwohl es noch ge- Wehrmacht Ruß-
lungen war, rund 10000 Minen zu entschärfen. Insbesondere wurde da- land dem Erdboden
bei das Etappenkommando der 6. deutschen Armee im Hotel Continen- gleich?«
5 Siehe Beitrag, Nr.
tal in die Luft gesprengt. Viele Todesopfer unter Soldaten und Zivilisten
- man sprach von 3000 - waren zu beklagen, rund 50000 Einheimische3 582, »Babij Jar«.
f' R. TRÖGER, »Wie
wurden obdachlos. 4

Als Repressalie für diese Sprengungen wurden dann Erschießungen es in Straßburg


bei Babi Jar durchgeführt.5 war«, Leserbrief in:
National-Zeitung,
Übrigens sprengten die 1940 sich aus Straßburg zurückziehenden Fran-
18. 5. 2007.
zosen sämtliche 24 Eisenbahnbrücken und viele Straßenbrücken der Stadt
nach vorangegangener Evakuierung der Bevölkerung. Die Brücken wur-
den von den einziehenden Deutschen sofort wieder aufgebaut. 6
Rolf Kosiek

129
Alliierte wollten keine Abrüstung nach 1918

achdem schon in den Jahren 1899 und 1907 auf den Friedenskon-

1 Der Friedensvertrag
N ferenzen in Den Haag Fragen der internationalen Abrüstung, wenn
auch praktisch ergebnislos, verhandelt worden waren, wurde in Artikel 8
von Versailles, Reimar des Versailler Diktats von den Alliierten eine allgemeine Abrüstung ver-
[ lobbing, Berlin einbart. Es heißt im I. Teil über den Völkerbundrat dort: »Die Mitglieder
1919, S. 6. des Bundes erkennen an, daß die Aufrechterhaltung des Friedens es nö-
2 Ebenda, S.80. tig macht, die nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß herabzusetzen,
das mit der nationalen Sicherheit und mit der Durchführung der durch
ein gemeinsames Handeln auferlegten internationalen Verpflichtungen
vereinbar ist. Der Rat bereitet unter Berücksichtigung der geographi-
schen Lage und der besonderen Umstände jedes Staates die Pläne für
diese Abrüstung zum Zwecke einer Prüfung und Entscheidung durch
die verschiedenen Regierungen vor. Diese Pläne müssen von neuem ge-
prüft und (soweit erforderlich) mindestens alle zehn Jahre revidiert wer-
den. . .«'
Das Versailler Diktat In der Einleitung zum V. Teil »Bestimmungen über die Land-, See-
befahl eine umfassen-
und Luftstreitkräfte« des Diktats heißt es vor Artikel 159: »Um den An-
de Abrüstung der
deutschen Luftwaffe fang einer allgemeinen Beschränkung der Rüstungen aller Nationen zu
und Kriegsmarine. erreichen, verpflichtet sich Deutschland zur genauen Befolgung nach-
stehender Bestimmungen über die I and-, See- und ] Luftstreitkräfte.«2 Dann

130
folgen die ganzen Beschränkungen für das Reich,
die von diesem erfüllt und von den Alliierten in
Deutschland geprüft wurden.
Dennoch rüsteten diese jedoch selbst nicht ab,
sondern verstärkten ihre Streitkräfte, insbesonde-
re Frankreich, England und die USA.
Erst Jahre später, ab 1926, tagte ein Vorberei-
tender Ausschuß des Völkerbunds zur Abrüstungs-
konferenz, der bis 1930 praktisch ohne Ergebnis
blieb, imjahre 1926 wurde das Deutsche Reich in
den Völkerbund aufgenommen. Der Große Brock-
baus urteilt über die Arbeit des Ausschusses: »Die
seit 1926 arbeitende vorbereitende Abrüstungs-
kommission stand im Zeichen des französischen
Strebens nach Sicherheit.«3 Erst am 2, Februar 1932
trat die Abrüstungskonferenz zum ersten Male in
Genf unter dem Vorsitz des Engländers H E N D E R -
SON zusammen. An der Eröffnung nahm der deut-
sche Reichskanzler Heinrich B R Ü N I N G teil. Deut-
scher Vertreter an der Konferenz war N A D O L N Y .
Für die NSDAP wurden General VON EPP und
Oberst H A S E L M A Y R als Beobachter nach Genf gesandt. Aber erst am 11. »Nie wieder Krieg!«
Dezember 1932 wurde formal die deutsche Gleichberechtigung in der Im Zusammenhang
mit ihrer Lithographie
Konferenz anerkannt.
aus dem Jahre 1924
Ein weiteres Mal wurde die Konferenz zum 2. Februar 1933 zusam- meinte Käthe K O L L -
mengerufen, brachte aber wieder keine Ergebnisse in der Abrüstungsfrage witz: »Wenn ich
zustande. In seiner Rede am 17. Mai 1933 stimmte H I T L E R ausdrücklich mich mitarbeiten
einem britischen Vorschlag zur Abrüstung zu. Am 15. Juli 1933 schlos- weiß in einer interna-
tionalen Gemein-
sen Frankreich, Großbritannien, Italien und das Reich auf M U S S O L I N I S
schaft gegen den
Anregung vom März 1933 einen Viererpakt zur Sicherung des Friedens Krieg, hab' ich ein
und zur Beschleunigung der Genfer Abrüstungsverhandlungen, der je- warmes, durchströ-
doch keine Bedeutung erlangte. Da Frankreich weiterhin Vereinbarun- mendes und befriedi-
gen zur Abrüstung blockierte, verließen am 14. Oktober 1933 die deut- gendes G e f ü h l . . . Ich
schen Vertreter die Genfer Abrüstungskonferenz. Am 19. Oktober 1933 bin einverstanden
damit, daß meine
trat das Deutsche Reich nach anderen Ländern wie Japan aus dem Völker- Kunst Zwecke hat.«
bund aus. Es versuchte dann, zwischenstaatliche Abrüstungsvereinbarun-
gen zu erreichen, wie das deutsch-britische Flottenabkommen aus dem
Jahre 1935.
Die Abrüstungskonferenz tagte noch bis 1935, ohne jedoch eine Aus- 3 Der Große Brock-
wirkung zu haben, da vor allem Frankreich sich gegen jede Abrüstung haus in zwölf Bänden,
wandte und inzwischen schon kräftig, wie auch die anderen Alliierten, Wiesbaden 1952,
wieder aufrüstete. Rolf Kosiek Bd. 1,S. 28.

131
Aufruf zur Volksgemeinschaft gegen
Ruhrbesetzung 1923

ach dem Ersten Weltkrieg waren sich alle deutschen Regierungen


N der Weimarer Zeit in der Ablehnung der Versailler Knebelungen ei-
nig, insbesondere gegen den Schuldparagraphen 231 des Versailler Dik-
tats. Gegen die unerfüllbaren Erpressungen und die willkürlichen alliier-
ten Übergriffe wurde von den sozialdemokratischen Regierungen die
deutsche Volksgemeinschaft mobilisiert. In dieser nationalen Haltung unter-
schied sich die Weimarer Demokratie wesentlich von der der Bundesre-

Gegen den Wider-


stand Englands be-
setzten französische
und belgische Trup-
pen ab 11. Januar
1923 das Ruhrgebiet.
Hier >erobern sie die
Essener Polizeibarak-
ken unter anderem
mit 13 Panzerautos
und 60 Maschinen-
gewehren.

publik nach 1949, die nur allzu schnell den Wünschen der Alliierten und
vor allem der Umerziehung durch die Sieger entgegenkam, die angebli-
che Kriegsschuld Deutschlands anerkannte und ab den sechziger Jahren
auch den unnötigen Verzicht auf völkerrechtlich und historisch unbe-
zweifelbar deutsches Land verübte.
Als ein Beispiel für diese heute oft verdrängte nationale Haltung der
Weimarer Zeit sei der »Aufruf an das deutsche Volk« vom 26. September
1923 angeführt, als der »Kampf an der Ruhr« gegen die am 11. Januar
1923 einmarschierte französische und belgische Besatzungsmacht aufge-
geben werden mußte. Rolf Kosiek

132
133
Die Thule-Gesellschaft -
das >magische Zentrum< des Nationalsozialismus?

er Nationalsozialismus gehört heute zweifellos zu den am be-


D sten erforschten Epochen der deutschen Geschichte. Schon lange
vor dem Sieg des alliierten Bündnisses über das Dritte Reich stellten sich
zahlreiche Autoren die Frage, wie sich die HiTLER-Bewegung in Deutsch-
land durchsetzen konnte, welche Ideen und Umstände ihr den Weg zum
Erfolg ebneten. Im Nachkriegs-Deutschland rückte die »Vorgeschichte«
des Nationalsozialismus — besonders im Zuge der ausufernden »Vergan-
genheitsbewältigung« - mehr und mehr ins Blickfeld. Damit sich dieses
Verhängnis nicht wiederhole, sollten seine Ursachen offengelegt werden.
Neben zahlreichen Erklärungsansätzen aus der historischen Sozialfor-
schung, der Mentalitätsgeschichte und der Psychologie wurden zuneh-
mend auch »okkulte« Wurzeln des Nationalsozialismus freigelegt. Eine
1 Das hier nur im
zentrale Rolle spielt dabei die Thule-Gesellschaft,'
Überblick behandel- Unter dem Begriff »okkult« sind hier zunächst die im Verborgenen
te Thema wird
wirkenden Gruppen - also die zahlreichen Geheimbünde und geheimen
ausführlich darge-
stellt in: Detlev Gesellschaften — zu verstehen, im weiteren Sinne aber auch geistige Tra-
ROSE, Die Thule- ditionen und Lehren, »Geheimwissen<, bis hin zur Berufung auf über-
Gesellschaft. Legende, sinnliche Kräfte und Mächte. Hier gibt es Überlappungen mit dem heute
Mythos, Wirklichkeit, gebräuchlicheren, doch ebenso unscharfen Begriff »esoterisch«. Über lange
Grabert, Tübingen Zeit hinweg waren es fast ausschließlich Autoren außerhalb der Ge-
22000,32008.
schichtswissenschaft, die einen okkulten Hintergrund derNS-Bewegung

Briefbogen der Thule-


Gesellschaft im Jahre
1918 mit dem Wahr-
zeichen: das Haken-
kreuz mit gebogenem
Haken und das blanke
Schwert.

134
behaupteten und damit ein Thema besetzten, das die Historiker nase-
rümpfend übergingen. So fiel es ersteren leicht, eine neue Mythologie in
die Welt zu setzen und diese als die eigentliche, die wahre Geschichte des
Nationalsozialismus zu verkaufen.2
In der Darstellung dieser Legendenfabrikanten ist die Thule-Gesell-
schaft das »magische Zentrum< des Nationalsozialismus, eine Art gehei-
mer Macht- und Schaltzentrale, die H I T L E R und die NS-Führung von
Anfang an beeinflußt und gesteuert hat - von der Entstehungsphase bis
zum Zusammenbruch des Dritten Reiches. Diese These tritt freilich in
zahlreichen Variationen auf. Zuweilen wird der Einfluß nur für eine be-
stimmte Phase in der Geschichte der NS-Bewegung festgestellt. Einige
Verfasser sehen die Thule-Gesellschaft als die einzig entscheidende Hinter-
grundmacht des Nationalsozialismus an, bei anderen ist sie nur Teil eines
Netzwerkes verschiedener okkulter Gruppen und Verbindungen, deren
Ursprünge teilweise in entfernte Zeiten und zu endegenen Orten füh-
ren. Sie wirkte angeblich nicht nur als organisatorischer Rahmen der ok-
kult Eingeweihten, sondern diente als unmittelbare Verbindungsstelle zu
übernatürlichen Mächten oder zu »geheimen Oberen< und »Meistern<,
denen wiederum geheimes Wissen, außergewöhnliche Fähigkeiten und
aus dem okkulten Bereich geschöpfte Kräfte zugeschrieben wurden. Ei-
nige weniger esoterisch geprägte Darstellungen sehen die Thule-Gesell-
schaft als eine konspirative Agentur durchaus weltlicher Mächte, wie zum
Beispiel der »internationalen Freimaurerei<, an.
Um den NS-Okkult-Mythos glaubwürdig erscheinen zu lassen, wird
zumindest ansatzweise versucht, einen »roten Faden< zu konstruieren. Sein
Ausgangspunkt ist, daß die Thule-Gesellschaft ein okkulter Orden war,
mindestens aber ein Tarngebilde für eine Gruppe von »Eingeweihten<.
Zentrale Bedeutung in der Einflußnahme auf H I T L E R und die NSDAP
habe zunächst der Thule-Vorsitzende Rudolf VON S E B O T T E N D O R F F (ge-

2 Unter den zahlreichen Veröffentlichungen dieses Genres seien exemplarisch


genannt: Louis P AUWELS u. Jacques BERGIER, Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Von der
Zukunft der phantastischen Vernunft, Bern-Stuttgart 1962; Trevor RAVENSCROFT,
Der Speer des Schicksals. Das Symbol für dämonische Kräfte von Christus bis Hitler, Zug
1974 (spätere Neuauflagen); Jan VAN HELSING (Jan Udo H O L E Y ) , Geheimgesell
schaffen und ihre Macht im 20. Jahrhundert, Rhede (Ems) 1993; F. R . CARMIN, Das
Schwarze Reich, Berlin 2006. (Diese Ausgabe ist laut Verlags angaben eine aktuali-
sierte Neuauflage des ursprünglich 1994 erschienenen Buches. Tatsächlich sind
die Passagen, die sich mit der Okkultgeschichte des NS befassen, sogar weitge-
hend inhaltsgleich mit einem Frühwerk des Autors, nämlich: Guru Hitler. Die
Geburt des Nationalsozialismus aus dem Geiste von Mystik und Magie, Zürich 1985. Die
während der letzten 20 Jahre zum Thema erschienenen Forschungsergebnisse
hat CARMIN überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.)

135
boren 1 8 7 5 als Adam Alfred Rudolf G L A U E R ) gehabt, auf ihn folgte
der völkische Dichter Dietrich E C K A R T , nach dessen Tod 1 9 2 3
schließlich der Geopolitiker Professor Karl H A U S H O F E R . Im Dritten
Reich habe sich das Wirken der Thule dann in die SS und insbeson-
dere in das Forschungsamt Ahnenerbe verlagert1.
Welche Anhaltspunkte gibt nun die belegbare Realgeschichte für
den NS-Okkult-Mythos her? Als harmlose Studien- und Forschungs-
gemeinschaft »Thüle-Gesellschaft« hatten sich 1918/19 die bayeri-
schen Mitglieder des >Germanenordensi getarnt. Dieser Orden war
bereits vor dem Ersten Weltkrieg als diskrete >Schwesterorganisati-
on< des Reichshammerbundes gegründet worden, im dem sich die
Leserkreise der judenfeindlichen, von Theodor FRJTSCH gegründe-
ten Zeitschrift Hammer zusammengefunden hatten. Der Germanen-
orden lehnte sich organisatorisch an die Freimaurerei an, war aber
ohne Wenn und Aber von völkischem Gedankengut erfüllt.
Nachdem der Sozialistenführer Kurt EISNER 1 9 1 8 in München
die Republik verkündet und König L U D W I G I I I . mit seiner Familie
Bayern fluchtartig verlassen hatte, war es der Thule-Vorsitzende
Rudolf VON SEBOTTENDORFF, der am Abend des 9 . November 1 9 1 8
Rudolf V O N S E B O T T E N D O R F F im Münchener Hotel >Vier Jahreszeitem die Aktivisten aus den zahl-
(Adam Alfred Rudolf G L A U - reichen völkisch-nationalen Vereinen und Bünden um sich scharte.
ER, 1875-1945), der Grün- Mit einer aufrüttelnden Rede wollte er das Fanal zum Widerstand
der der Thüle-Gesellschaft,
setzen: »Wir erlebten gestern den Zusammenbruch alles dessen, was
hatte ein bewegtes Leben:
Er war unter anderem tür-
uns vertraut, was uns lieb und wert war. An Stelle unserer blutsver-
kischer Staatsbürger und wandten Fürsten herrscht unser Todfeind: Juda.« Die mit diesen
Mitglied einer türkischen kraftvollen Worten eingeleitete Ansprache verfehlte ihre Wirkung
Freimaurerloge. Sein Aus- nicht. Unter dem Dach der Thüle-Gesellschaft machten die gegen-
spruch »Thule-Leute wa- revolutionären Kräfte mobil, bildeten im Münchener Umland be-
ren es, zu denen H I T L E R
waffnete Freikorps, und im Mai 1919 war der Spuk von Revolution
zuerst kam, und Thule-
Leute waren es, die sich und Räterepublik« in Bayern zu Ende4.
mit H I T L E R zuerst verban- In der schillernden Biographie des weitgereisten Abenteurers und
den« nährte den soge- >Thuie<-Führers SEBOTTENDORFF 5 finden sich nun tatsächlich zahl-
nannten >Thule-Mythos<.
reiche Anhaltspunkte, die die okkulten legenden um die Thule-

3 ROSE,aaO. (Anm. 1), S. 169-180.


4 ROSE,aaO. (Anm. 1), S. 15-68.
s Eine sehr informative biographische Skizze Rudolf VON SEBOTTENDORFFS
findet man bei Eduard GUCENBERGER, Hitlers Visionäre. Die okkulten Weg-
bereiterdes Dritten Ketches, Wien 2001, S. 77—91 (Literatur und Anmerkun-
gen S. 198f.), Der erste, der umfassend das Leben des schillernden Herrn
VON SF.BOTTENDORFF erforschte, war der britische Autor und Ex-Geheim-
agent Ellic HOWE.

136
Gesellschaft oberflächlich stützen. Er schürfte in Australien nach Gold,
diente dem türkischen Landbesitzer Hussein P A S H A als Verwalter sei-
ner anatolischen Besitztümer, schrieb Werke über Astrologie und die
Praxis der alten türkischen Freimaurerei. Im Orient entdeckte er seine Nei-
gung zum Spirituellen, und künftig sollte er von Sufi-Mystik über Ro-
senkreuzertum bis hin zur magischen Bedeutung der Runen nichts
auslassen, was heute mit dem Etikett >okkult< belegt wird. Die Juden
lehnte er ab, weil sie für ihn das »materialistische Prinzip« verkörper-
ten, Freilich steht diesen Tatsachen auch die gänzlich unspektakuläre
Wahrheit gegenüber, daß nur wenige der späteren Anhänger S E B O T -
TENDORFFS die okkult-esoterischen Neigungen ihres Meisters teilten.
Der größte Teil der Thule-Mitglieder bestand aus Adligen und Bür-
gern, Soldaten und Geschäftsleuten, die deutschnational und völkisch Bekannte Mitglieder der
gesonnen waren, den Bolschewismus zutiefst ablehnten, doch mit ver- Thule-Gesellschaft. Von
oben links: Dietrich
schrobenen Okkult-Phantastereien nichts am Hut hatten. ECKART, Rudolf H E S S , Al-
Für die behauptete Hintergrund-Rolle der Thule-Gesellschaft wer- fred R O S E N B E R G , Gottfried
den aber noch eine Reihe weiterer Punkte ins Feld geführt. So führte FEDER und Hans FRANK.

sie als Emblem bereits das Hakenkreuz, wenn auch mit gebogenen
Haken. SEBOTTENDORFF war zeitweilig Besitzer des Münchener Beobach-
ters, aus dem später die Parteizeitung Völkischer Beobachter hervorging.
Dietrich E C K A R T als wichtiger Mentor H I T L E R S sowie spätere NS-Füh-
rungspersonen wie Rudolf HESS, Alfred R O S E N B E R G , Gottfried F E D E R
und Hans F R A N K gehörten zur Thule-Gesellschaft oder ihrem Um-
feld. Und bei der Gründung der >Deutschen Arbeiterpartei* (DAP),
aus der HITLER dann die NSDAP machte, stand die Thule-Gesellschaft
Pate6. Sind diese unbestreitbaren Fakten nicht schlagkräftige Argumente
für eine okkulte Steuerung der Hitlerbewegung durch diese Gruppe?

6 ROSE, a a O . ( A n m . 1 ) , S . 6 9 - 1 4 4 .

137
Bejahen kann dies nur, wer es unterläßt, die Tatsachen im historischen
7 Zu den Arioso- Zusammenhang zu betrachten und zu bewerten. Die Thule-Gesellschaft
phen vgl. das war eben kein okkulter Orden, sondern eine völkische Vereinigung unter
Standardwerk: vielen. Belegbar ist lediglich, daß unter ihren Mitgliedern das Gedanken-
Nicholas G O O D - gut der von okkulten Strömungen beeinflußten >Ariosophen<7 (vor allem
R]C;K-CIJ\RKF,, Die Guido VON LIST, Jörg L A N Z VON L I E B E N F E L S ) eine größere Rolle spielte
okkulten Wurzeln des als bei anderen völkischen Gruppen. Zwar verhielt sich die Thule-Ge-
Nationalsozialismus, sellschaft wie ein Geheimbund, jedoch hatte dies in erster Linie mit der
Graz-Stuttgart 1997 politischen Lage zu tun, vor allem mit ihrer selbst gewählten Aufgabe
(und weitere Aufla-
gen). eines militanten Kampfes gegen die sozialistische Revolution und die Räte-
republik. Dies brachte konspiratives Vorgehen notgedrungen mit sich.
Niemals behauptete sie aber, im Besitz einer >Geheimlehre< zu sein, die
den Mitgliedern über ein ausgeklügeltes Stufensystem zugänglich gemacht
werde. Auch die Grade des Germanenordens dienten nicht einer Initia-
tion<, sondern der Selektion der Mitstreiter nach zuverlässiger Gesinnung.
Ihre feierlichen Rituale waren keine der Erleuchtung dienenden Übun-
gen, sondern sollten zur gefühlsmäßigen Anbindung an die Gemeinschaft
beitragen.
Durch die Zeitumstände bedingt, war die Thule-Gesellschaft in die
Rolle eines Kristallisations Zentrums für die völkisch-nationale >Szene<
Münchens und eines Teils von Bayern geraten, insbesondere, weil ihre
Räume im Münchener Hotel >Vier Jahreszeiten* die wichtigste Anlaufstelle
für diese >Szene< waren. Durch äußeren Druck zusammengeschweißt, war
es den nationalgesinnten Kräften zeitweise gelungen, Organisationsego-
ismen und persönliche Differenzen zu überbrücken, um einen gemein-
Guido V O N LIST
(1848-1919), der als
erster völkische und
theosophische Ele-
mente verband.
Rechts: Das pracht-
volle Münchener Ho-
tel >Vier Jahreszeiten:
in der Maximilian-
straße, wo sich die
Mitglieder der Thule-
Gesellschaft versam-
melten. Heutige An-
sicht des Hotel mit
kaum veränderter
Fassade.

138
samen Gegner zu bekämpfen. Dabei war die Rolle einzelner Persönlich-
keiten, der Aktivisten wie SEBOTTENDORFF, E C K A R T und Julius L E H M A N N ,
von vorrangiger, die jeweiligen organisatorischen Bindungen nur von
nachrangiger Bedeutung. Die Zusammenarbeit der einzelnen Aktivisten
ermöglichte die gegenrevolutionäre Tätigkeit, und in den Diskussionen
dieses Kreises entstand schließlich auch die Idee, völkische Ideen gezielt
unter der Arbeiterschaft zu verbreiten.
In der Gründungs- und Aufbauphase der Deutschen Arbeiterpartei
(DAP) kam der Thule-Gesellschaft im Rahmen dieses Spektrums die
Rolle eines Impulsgebers zu, der jedoch schon kurz nach dem Eintritt
Adolf HITLERS in die Partei jeden weiteren praktischen Einfluß auf deren
Entwicklung verlor, Thule-Mitghed und Sportjournalist Karl HARRI- R, der
gemeinsam mit dem Schlosser Anton D R E X L E R die DAP gründete, war
in den konspirativen Denkmustern von Anfang 1919 steckengeblieben,
die mit dem Ende der Räteherrschaft hinfällig geworden waren. Die Vor-
stellung einer in die ( Öffentlichkeit drängenden Massenbewegung war ihm
fremd, und die geringe Beteiligung von Thule-Mitgliedern an den frühen
DAP- und NSDAP-Aktivitäten spricht dafür, daß dies auch für die Mehr-
heit der Thüle-Gesellschaft galt. Nach H A R R E R S Rückzug aus der DAP
kann von einem Einfluß der Thule-Gesellschaft auf den Nationalsozia-
lismus keine Rede mehr sein. Es waren lediglich Einzelpersonen, die frü-
her auch die Thule-Gesellschaft als Agitations- und Aktionsplattform
genutzt hatten, welche nun H I T L E R förderten, ihm wichtige Verbindun-
gen vermittelten sowie zu seiner ideologischen und praktisch-politischen
Ausbildung beitrugen. Deren Beitrag war aber eben kein Beitrag >der<
Thule-Gesellschaft. s Martin W A M K E ,

Auch die Frage, ob die Anregung, das Hakenkreuz als Symbol der »Vom Unheil eines
NSDAP zu verwenden, auf direkte Anregung der Thule-Gesellschaft Heilszeichens«, in:
Süddeutsche Zeitung,
erfolgt ist, ist nicht eindeutig zu beantworten. Immerhin führte nicht nur
13./14. Januar
sie die Swastika als Emblem, sondern zwischen 1911 und 1917 allein 2007. Vgl. außer-
zwölf Gruppierungen aus dem völkischen Milieu, von den zahlreichen dem die ausführli-
anderen Verwendern einmal ganz abgesehen*. Belegt ist allerdings, daß che Darstellung von
der Zahnarzt Friedrich K R O H N , Mitglied der Thüle-Gesellschaft und der Lorenz JAGER, Das
DAP, bereits im Mai 1919 eine Denkschrift mit dem Titel Ist das Haken- Hakenkreuz Zeichen
kreuz als Symbol der nationalsozialistischen Partei geeignet? vorlegte. Zu diesem im Weltbürgerkrieg.
Zeitpunkt war HitlER noch gar nicht Parteimitglied. K R O H N schlug ein Eine Kulturgeschichte,
Wien-Leipzig 2006.
schwarzes Hakenkreuz in weißem Kreis auf rotem Grund vor, allerdings
bevorzugte er die linksläufige Variante, und in seinem Entwurf stand das 9 GOODRICK-

Hakenkreuz noch nicht auf der Spitze. Ein Jahr später veränderte HIT- CIARKE, aaO.

LER dann K R O H N S Entwurf zur endgültigen parteioffiziellen Fassung'''.


(Anm. 7), S. 133f.
Ob man dies nun als Einfluß der Thule-Gesellschaft oder eines einzel-
nen Aktivisten werten will, ist letztlich >Geschmacksfrage<.

139
Dietrich E C K A R T , der zweifellos einen bedeutenden Einfluß auf H I T -
LER hatte, war weder ein >Okkultist<, noch hatte er besonders enge Ver-
bindungen zur Thule-Gesellschaft. Der völkische Dichter war eine durch-
aus zwiespältige Persönlichkeit - Lebemann und polternder Agitator
einerseits, andererseits — gestützt auf SCHOPENHAUER und den Mystiker
Angelus SilEsius - dem Ideal der Vergeistigung verhaftet. Die Juden waren
für E C K A R T der personifizierte Materialismus und damit den Deutschen
>seelisch< unterlegen. Es kann als gesichert gelten, daß der Dichter erheb-
lich dazu beitrug, H I T L E R S Weltbild mit einer einheitlichen antisemiti-
schen Ausrichtung zu versehen. Für den NSDAP-Führer war der prakti-
sche Nutzen der Verbindung zu E C K A R T , der H I T L E R wichtige Kontakte
in die gehobene Gesellschaft vermittelte und wie eine Art früher PR-
Berater wirkte, aber sogar noch wichtiger. Hingegen gibt die gut recher-
chierte Biographie des Dichters rein gar nichts für die Behauptung her,
E C K A R T habe als >Thule-Eingeweihter< und Nachfolger SEBOTTENDORITS
1 0 ROSE, a a O . ( A n m . das Werk der okkulten Formung H I T L E R S fortgesetzt.1"
1),S. 108-120 mit Als E C K A R T 1923 starb, war die Thule-Gesellschaft schon fast völlig
weiteren LItcrarur- bedeutungslos. Nach ihrem erfolgreichen Kampf gegen die >Roten< war
hinweisen. sie tatsächlich »durch die Zeitereignisse überflüssig«" geworden — wie
11 Johannes HERING,
ein Thule-Vorstandsmitglied formulierte. Sie beschränkte sich im wesent-
Beiträge zur Geschichte lichen auf Kulturpflege und die jährliche Abhaltung einer Gedenkveran-
der Thule-Geselischaß,
Maschinenschrift, 6
staltung für die bei den sogenannten »Geiselmorden« von Kommunisten
Blatt (1936), BA NS ermordeten Thule-Mitglieder. Doch das Vereinsleben starb einen lang-
26/865, hier S. 4. samen Tod, bis die Gesellschaft schließlich sogar aus dem Vereinsregi-
ster gelöscht wurde.

HITLER in Begleitung

von Alfred R O S E N B E R G
(links) und Friedrich
W E B E R (rechts) am 4.

November 1923 in
München. Zu diesem
Zeitpunkt hat er sich
von der Thule-Gesell-
schaft völlig abge-
wendet.

140
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 kehrte S E B O T -
TENDORI'T", der überwiegend im Ausland gelebt hatte, nach Deutschland
zurück, um die Thule-Gesellschaft wiederzubeleben und sich in Erinne-
rung zu bringen. Naheliegend ist, daß er dabei auch auf eine Stellung im
neuen Machtapparat hoffte. Nach seinen Angaben fanden sich 75 ehema-
lige Mitglieder zusammen und gründeten die Thule-Gesellschaft neu. Am
9. September 1933 wurde in den alten Räumen des Hotels >Vier jahreszei-
ten< das 15jährige Weihefest gefeiert, am 31. Oktober eine Toten-Gedächt-
nisfeier abgehalten. Doch die Neugründung sollte nicht von Dauer sein.
S E B O T T E N D O R F F S Anspruch auf eine geistige und praktische Vorläu-
ferschaft des Nationalsozialismus, den er nicht zuletzt in seinem 1933
veröffentlichten Buch Bevor Hitler kam verdeutlicht hatte, stieß bei der
NS-Führung auf wenig Gegenliebe. Das Buch, dessen Erstauflage von
rund 3000 Exemplaren schnell verkauft war, wurde verboten, als im Früh- 1933 im Münchener
jahr 1934 eine zweite Auflage erschien. Deren 5000 Exemplare wurden Deukula-Verlag er-
schienen, fand S E B O T -
fast vollständig von der Gestapo beschlagnahmt. S E B O T T E N D O R F F war
T E N D O R F F S Buch Bevor
schon im November 1933 verhaftet worden. Nachdem er sich verpflich- Hitler kam 1938 Auf-
tet hatte, Deutschland endgültig zu verlassen, wurde er am 24. Februar nahme in die »Liste
1934 abgeschoben und kehrte über die Schweiz wieder in die Türkei zu- des schädlichen und
rück, wo er für den deutschen Geheimdienst gearbeitet haben soll. Angeb- unerwünschten
lich soll er sich am 9. Mai 1945 in den Bosporus gestürzt haben, wie der Schrifttums«.
Geheimdienst-Mitarbeiter Herbert R I T T U N G E R erfahren haben will.'"
Während die Quellenlage ein allmähliches Verschwinden der Thule-
Gesellschaft in die Bedeutungslosigkeit belegt, behauptet der NS-Ok-
kult-Mythos das genaue Gegenteil: eine stetige Zunahme von Macht und
Einfluß. Doch spätestens mit der Einführung der Person von Karl H A U S -
H O F E R 1 3 in den Mythos müssen sich die Autoren ganz und gar auf ihre
Phantasie verlassen. Wenn zum Beispiel Jan V A N H E L S I N G (Jan Udo Ho-
LEY) behauptet: »Der gesamte theoretische und praktische Aufbau des
Dritten Reiches von deutscher Seite wurde durch die Thule-Gesellschaft
initiiert und gesteuert«,14 so kann man dies nur als Geschichtsfälschung
in Reinkultur bezeichnen.
Das ist eine Fälschung, die aber viele gläubige Anhänger hat, welche
sich von Tatsachen nicht überzeugen lassen. Denn wie stellte schon Carl
S C H M I T T im ~Leviathan fest: »Keine noch so klare Gedankenführung kommt
gegen die Kraft echter mythologischer Bilder auf.« Detlev Rose

12 aaO, (Anm. 1), S. 74-77.


ROSE,
11 Näheres zu HAUSHOFER in dem Beitrag Nr. 547, »Okkulte NS-Verbindungen
nach Tibet?«
14 Jan VAN HELSING, Geheimgesellschaften. . ., aaO. (Anm. 2), Kapitel 28: »Adolf

Schicklgruber und die Thule-Gesellschaft«, zit. nach: http://www.vho.org/D/


Geheim! /28g. html

141
Die rätselhafte >Vril-Gesellschaft<

uf der Suche nach angeblich okkulten Hintergründen des National-


A sozialismus stößt man in der einschlägigen Literatur recht bald ne-
ben der Thule-Gesellschaft und mysteriösen NS-Verbindungen nach Ti-
bet auf ein weiteres geheimnisvolles Phänomen: die »Vril-Gesellschaftc
Diese Gruppe soll nicht weniger als »der eigentliche innerste Kern der
Hintermänner des Dritten Reiches, gleichzeitig auch der innerste Kreis
der Thule-Gesellschaft und des Germanenordens« gewesen sein,1 Wer
von der Vril-Gesellschaft bisher noch gar nichts gehört hat und sich nun
freut, zum zentralen Mysterium des Nationalsozialismus vorgedrungen
zu sein, wird allerdings von demselben Verfasser schon auf der nächsten
Seite enttäuscht. »Über die Vril-Loge und deren Mitglieder ist nicht viel
zu erfahren, ebensowenig über die eigentliche Tätigkeit,«2 Wie bedauer-
lich!
Andere wissen offenbar mehr. So soll der General und Geopolitik-
Professor Karl H A U S H O F E R der Vril-Gesellschaft angehört haben, die ihre
Zentrale in Berlin hatte und auch als >Loge der Brüder vom Licht< fir-
mierte, Es soll sich dabei um eine Filiale der britischen Geheimgesell-
Karl H A U S H O F E R soll schaft »Golden Dawn< gehandelt haben, die sich die Ausübung zeremo-
der Vril-Gesellschaft
nicht nur angehört,
nieller Magie und die Erlangung geheimer Kräfte und Erkenntnisse zum
sondern sie auch ge- Ziel gesetzt habe.3 Und wer gab sich solch dubiosen Aktivitäten hin? »In
gründet haben. Für der Hauptniederlassung der Gesellschaft in Berlin saßen tibetische La-
die Existenz einer mas, japanische Buddhisten und Angehörige anderer orientalischer Sek-
>Vril-Gesellschnftf ten Schulter an Schulter zusammen mit früheren Studenten von G L R D -
finden sich keine hi-
JIEFF, Mitgliedern verschiedener obskurer Rosenkreuzerorden, früheren
storischen Belege.
Angehörigen der Pariser Loge der »Golden Dawn< und zweifelhaften Per-
sonen von /Meister C R O W L E Y S »Ordo Templi Orientist« 4
Das klingt ja höchst spannend, doch fehlt bei den zahlreichen Ausfüh-
rungen zur Vril-Gesellschaft und ihrer angeblich so tragenden Bedeutung
das Wesentliche: Namen, Daten, Tatsachen. Mit welchen NS-Führungs-

1 Otto Rudolf BRAUN, Hinter den Kulissen des Dritten Reiches. Geheime Gesellschaften
machen Weltpolitik, Marke Erlbach 1987, S. 78.
2 Ebenda, S. 79.
3 Louis PAUWELS u. Jacques BEKGIBR, Aufbruch ins dritte Jahrtausend. Von der Zu-
kunft der phantastischen Vernunft, Bern—Stuttgart 1962, S. 303—309,
4 Trevor RAVEN sc ROI-T, Der Speer des Schicksals. Das Symbol für dämonische Kräfte im
Christus bis Hitler, Zug 1974, S. 251, Der dubiose RAVENSCROFT und die Entste-
hungsgeschichte seines Buches sind mittlerweile gründlich unter die Lupe ge-
nommen worden, s. Ken ANDERSON, Hitler and the Occult, Amherst 1995.

142
leuten hatte der Geheimbund Verbindung? Wie hat die Vril-Gesellschuft Links: Willy LEY. Der
Einfluß ausgeübt? Was hat sie bewirkt? An Stelle von Antworten auf diese Physiker wanderte
1937 in die USA aus
Fragen gab es geradezu abenteuerliche Ausschmückungen der Geschichte.
und war dort als
1992 erschien eine Schrift mit dem Titel Das Vril-Projekt? Darin wurde Science-fiction- Autor
behauptet, in den zwanziger Jahren habe eine außerirdische Zivilisation der meistgedruckte
Verbindung zur Vril-Gesellschaft aufgenommen und ihr Baupläne für Wissenschaftler.
Fluggeräte übermittelt, die eine bisher unbekannte Energieform nutzen. Rechts: ein soge-
So sei die Gesellschaft in der Lage versetzt worden, Flugscheiben zu nanntes iNazi-Ufot.
bauen — eben jene >Nazi-Ufos<, mit denen sich Mitglieder der NS-Füh-
rungselite kurz vor Kriegsende dann nach Neuschwabenland in der Ant-
arktis abgesetzt hätten. Die Schrift wurde nie offiziell verlegt und
kursiert(e) als »graue Literatur* überwiegend in der Esoterik-Szene. Grö-
ßere Verbreitung erhielt die Verbindung von Vril-Mythos und >Nazi-Ufos<
erst durch Jan VAN H E I N I N G (Jan Udo HOLEY), der sie in seinen Büchern
Geheimgesellschaften (1993 und 1995) und UnternehmenAldebaran (1997) dar-
legte, ohne seine Quellen deutlich zu machen/'
Daß eine »Vril-Gesellschaft< überhaupt exisderte, dafür gibt es keinen
einzigen historischen Beleg. Wie so oft reicht jedoch ein winziger An-
haltspunkt, ein kleiner Anstoß, der die Lawine ins Rollen bringt. Dieser
findet sich in einem Aufsatz, den der in die USA emigrierte deutsche
Raketeningenieur Willy LEY 1947 in einem amerikanischen Science-fiäion-
Magazin veröffentlichte und der pseudowissenschaftlichen Strömungen
gewidmet war. Er behandelt darin zum Beispiel die Hohlwelt-Theorie so-

5Norbert JÜRGEN-RATTHOFER U. Ralf ETTL, Das Vril-Projekt, Wien 1 9 9 2 .


6Vgl, hierzu auch den Eintrag >Vril-Gesellschaft in der Internet-Enzyklopädie
Wikipedia.

143
Von links: Edward
BULWER-LYTTON (1803-
1873); Helena P. BLA-
VATSKY (1831-1891),

die Begründerin der


modernen Theoso-
phie; Georg Iwano-
witsch G U R D I I E W
(1866-1949), der ei-
nen starken Einfluß
auf Louis P AU W E L S
ausübte.

wie die Welteislehre und kommt schließlich auf eine kleine Gruppe in Berlin
zu sprechen, die sich seiner Erinnerung nach >Wahrheitsgesellschaft< nann-
te. Diese Gruppe sei auf der Suche nach der geheimnisvollen Kraft des
>Vril< gewesen, die der britische Schriftsteller Edward B U L W R R - L Y T T O N in
seinem Roman The Coming Race (1871) beschrieben habe. Die Briten
hätten mit dieser Kraft überhaupt erst ihr Empire aufbauen können, und
schon die Römer hätten Vril gekannt und genutzt. LEY verweist dann
noch auf die erste Ausgabe eines Magazins, das die Gruppe herausge-
bracht habe, welches sich aber nicht mehr in seinem Besitz befinde."
Auf diesen Aufsatz bezogen sich Louis P A U W E L S und Jacques B E R G I E R
in Aufbruch ins dritte Jahrtausend (1960, deutsch 1962) und schmückten
L E Y S knappe Angaben zur Ur-Fassung des Vril-Mythos aus. R A V E N S C R O F T
fälschte dann munter weiter und dichtete LEY zahlreiche Aussagen an,
die in seinem Aufsatz überhaupt nicht zu finden sind. So setzte sich das
ganze fort bis zu VAN H E L S I N G . 9
Das Konzept >Vril< tauchte tatsächlich erstmals in dem erwähnten Spät-
werk des Literaten Edward B U L W E R - L Y T T O N (1803-1873) auf - gewiß
eine der schillerndsten Persönlichkeiten des 19, Jahrhunderts. Er beschreibt
darin die in einem unterirdischen Höhlensystem lebenden Vril-ya, die die
geheimnisvolle Kraft des >Vril< besitzen, eine Art Universalkraft, mit der
über kurze oder lange Entfernung Heilungen, aber auch Zerstörungen

Deutsch: Edward B U L W E R - L Y T T O N , Das kommende Geschlecht, München 1999.


" Willy LEY, »Pseudoscience in Naziland«, in: Astounding Science Fiction, Nr. 39,
Mai 1947, S. 90-98.
9 Ausführlich dokumentiert ist die Ixgendenbildung bei: Peter BAHN U. Heiner
G E H R I N G , Der Vril-Mythos. Eine geheimnisvolle Energieform in Esoterik, Technik und
Therapie, Düsseldorf 1997, S. 73—90. Die Ausführungen Peter BAHNS im ersten
Teil des Bandes (S. 8—150) sind akribisch recherchiert und können als Standard-
werk zum Vril-Mythos gelten.

144
möglich sind, die aber auch noch zahlreiche weitere Komponenten auf-
weist. Ob der Roman nun eher als frühes >Fantasy<-Werk, als Gesellschafts-
satire oder anderswie aufgefaßt wird, ist in diesem Zusammenhang von
untergeordneter Bedeutung. Sicher ist jedoch, daß er von einigen Lesern
als eine Art »okkulter Schlüsselromam aufgefaßt wurde, aus dem >Einge-
weihte< wichtige esoterische Botschaften erfahren können. So wurde er
zum Beispiel von Helena P. BLAVATSKY, der Begründerin der modernen
Theosophie, verstanden, die das Vril-Konzept in ihren Büchern verwer-
tete.10
Auch in Deutschland fand diese Deutung offenbar ihre Anhänger. Im
Jahre 1930 erschien in Berlin eine 60seitige Broschüre unter dem Titel
Vril — Die kosmische Urkraft im Astrologischen Verlag Wilhelm Becker.
/Ms Autor zeichnete »Johannes TÄUFER« - offenbar ein Pseudonym - ,
und herausgegeben wurde die Schrift von einer Reichsarbeitsgemeinschaft
>Das kommende Deutschland*.11 Jene Gruppierung zeichnete offiziell auch
für eine zweite Schrift verantwortlich, die unter dem Titel Weltdynamismus
ebenfalls 1930 in Berlin erschien, allerdings im Otto Wilhelm Barth-Ver-
lag. Beide Verlage waren damals bekannt und angesehen im Spektrum
esoterischer Literatur. Über die mysteriöse >Reichsarbeitsgemeinschaft< —
ihre Mitglieder, ihr Wirken - verlieren sich alle Spuren im dunkeln. Zwei-
felsfrei fest steht nur eins: Es ist diese Gruppe, an die sich Willy LEY
erinnert hat und die er in seinem Aufsatz »Wahrheitsgesellschaft« nannte.
Dies ergibt der Vergleich seiner Erinnerungen mit dem Inhalt der beiden Die von der mysteriö-
Schriften, ergänzt um die örtlichen und zeitlichen Parallelen (Berlin An- sen > Reichsarbeits-
fang der dreißiger Jahre).12 gemeinschaft < her-
Die Vril-Gesellschaft als mächtige Geheiminstitution hinter den Ku- ausgegebene Schrift
) Vril< - die kosmische
lissen des Dritten Reiches gab es also gar nicht, ihr historischer Kern Urkraft.
schmilzt auf eine kleine Gruppe zusammen, die uns bis auf zwei Schrif-
ten nichts hinterlassen hat. Diese Schriften belegen jedoch nicht einmal
eine Nähe zur nationalsozialistischen Weltanschauung, denn die Schlüs-
selfrage zum Verständnis der Welt und der Lösung der zentralen Gegen-
wartsprobleme war für die >Reichsarbeitsgemeinschaft< weder die Rasse,
noch die Klasse, noch der Zins, sondern die Energie.13 Detlev Rose

10 Zur Person BULWER-LYITONS, seinem Werk und dessen Rezeption vgl. BAHN,
ebenda, S. 13-53 u. 69-72.
" Johannes TÄUFER, »Vril<<. Die kosmische Urkraß. Wiedergeburt von Atlantis, her-
ausgegeben im Auftrag der Reichsarbeitsgemeinschaft >Das kommende Deutsch-
land«, Berlin 1930.
12 BAHN, aaO. (siehe Anm. 9), S. 91-111.

15 Ebenda, S. 111.

145
Coudenhove-Kalergi

ichard Nikolaus Graf C O U D E N H O V E - K A L E R G I , am 1 6 . November 1 8 8 4


R in Tokio geborener Sohn eines Österreichers und einer Japanerin,
gründete die > Paneuropa-Union«, trug im Jahre 1923 als Mitglied vor der
Wiener Großloge darüber vor, veröffentlichte im selben Jahr die Schrift
Faneuropa und gab die gleichnamige Zeitschrift heraus. 1925 erschien sein
programmatisches Buch Praktischer Idealismus. Den Zweiten Weltkrieg ver-
brachte er ab 1940 in den USA. Als erster bekam er 1950 den Aachener
Karlspreis. Er verstarb am 27. Juli 1972 in Schruns/Vorarlberg. Die Pan-
europa-Union, heute unter seinem Nachfolger, dem Kaiserenkel Otto
VON H A B S B U R G , tritt angeblich für ein vereintes Europa ein. Eher wirkt
sie jedoch für die Globalisierung und die Auflösung der Völker zugun-
sten einer One World von Mischlingen, wie der Graf schon früh pro-
grammatisch erstrebte.
Um die wirklichen Ziele des Paneuropäers beurteilen zu können, sollte
man einige Zitate aus seinem Buch Praktischer Idealismus* kennen. Es heißt
dort in dem Kapitel »Inzucht - Kreuzung«: »Der Mensch der fernen
Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden
der zunehmenden Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil zum Op-
fer fallen. Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altäypti-
schen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Per-
sönlichkeiten ersetzen. Denn nach den Vererbungsgesetzen wächst mit
der Verschiedenheit der Vorfahren die Verschiedenheit, mit der Einför-
migkeit der Vorfahren die Einförmigkeit der Nachkommen, , . Inzucht
schafft charakteristische Typen - Kreuzung schafft originelle Persönlich-
keiten.«2
Vorher trifft er Feststellungen zur Erblehre, die reinen Rassismus er-
kennen lassen: »Meist ist der Rustikalmensch Inzuchtprodukt, der Ur-
Von oben: Der Hoch- banmensch Mischling. . . Die Wesenszüge, die sich aus dieser Inzucht er-
gradfreimaurer und
geben, sind: Treue, Pietät, Familiensinn, Kastengeist, Beständigkeit,
Karlspreisträger Ri-
chard Nikolaus Craf Starrsinn, Energie, Beschränktheit.«3 »In der Großstadt begegnen sich
COUDENHOVE-KALERGI Völker, Rassen, Stände. In der Regel ist der Urbanmensch Mischling aus
(1884-1972); sein verschiedensten sozialen und nationalen Elementen, In ihm heben sich
Paneuropäisches die entgegengesetzten Charaktereigenschaften, Vorurteile, Hemmungen,
Manifest. Willenstendenzen und Weltanschauungen seiner Ekern und Voreltern

1 Richard Nikolaus COUDENHOVE-KALERGI, Praktischer Idealismus. Adel- Technik


- Pazifismus, Paneuropa-Verlag, Wien-Leipzig 1923.
2 Ebenda, S. 23.
3 Ebenda, S. 20.

146
auf oder schwächen einander ab. Die Folge ist, daß Mischlinge vielfach
Charakterlosigkeit, Hemmungslosigkeit, Willensschwäche, Unbeständig-
keit, Pietädosigkeit und Treulosigkeit mit Objektivität, Vielseitigkeit, gei-
stiger Regsamkeit, Freiheit von Vorurteilen und Weite des Horizonts ver-
binden. ..« »Der Inzuchtmensch ist Einseelenmensch — der Mischling
Mehrseelenmensch.«5
Noch deutlicher wurde er in einem Zeitschriften-Artikel: »Für Paneu-
ropa wünsche ich mir eine eurasisch-ncgroide Zukunftsrasse. .. Die Führer
sollen die Juden stellen, denn eine gütige Vorsehung hat Europa mit den
Juden eine neue Adelsrasse von Geistesgnaden geschenkt.«6
In einem Leserbrief in der FAZ heißt es dazu: »Dem Begründer der
Paneuropa-Bewegung schwebe eine >eurasisch-negroide Völkermischung<
vor, und er meinte in etwas skurriler Typisierung, daß »solche Mischlinge
vielfach Charakterlosigkeit, Hemmungslosigkeit und Treulosigkeit mit
Objektivität, Vielseitigkeit geistiger Regsamkeit, Freiheit von Vorurteilen
und Weite des Horizonts verbinden«. Als »geistige Führerrasse Europas«
sah er das Judentum.«" Wahrscheinlich, um von vornherein Angriffe ab-
zuwehren, fügte der Leserbriefschreiber hinzu: »Vorbehalte gegen so ein Kaiserenkel Otto VON
H A B S B U R G meint über
biologistisches Experiment. . . können durchaus sachlicher Natur sein COUDENHOVE-KALERGI:
und sind nicht unbedingt antisemitisch.«8 »Die Mischung sei-
Nicht zufällig sind Helmut K O H L und andere CDU/CSU-Größen in nes Blutes - Japan,
der Europa-Union tätig. Niederlande,
Franz Josef STRAUSS schrieb das Vorwort zu dem letzten Werk des Deutschland und
Böhmen - hat offen-
Grafen, Weltmacht Europa.
bar seine Sehergabe
Während C O U D E N H O V E - K A L E R G I für die Einheit Europas kämpfte, trat gefördert. Immer wie-
er schon 1959 für die Spaltung Deutschlands und deren Anerkennung der - nicht nur in Fra-
ein. In einem Deutschland-Memorandum, das er Ende Januar 1959 der gen der europäischen
Bundesregierung und einzelnen Bundestagsabgeordneten zugestellt hatte, Politik - hat er im
bezeichnete er die Existenz zweier neuer unabhängiger Staaten auf dem Laufe seines Lebens
fast unheimlich an-
Boden des einstigen Deutschen Reiches als eine der Grundtatsachen der mutende Intuition
damaligen Weltpolitik: » C O U D E N H O V E - K A L E R G I wirft den Bürgern der entwickelt.« In: Da-
Bundesrepublik vor, in dem Wahn zu leben, es gebe nach wie vor ein mals begann unsere
Deutschland, dessen Ostzone widerrechtlich von einer kommunistischen Zukunft, Herold,
Scheinregierung verwaltet werde, und die Bundesregierung sei allgemein München 1971,

4 COUDENHOVE-KALERGI, ebenda, S. 2 0 f.
5 Ebenda, S.21.
6 Ders., Freimaurerzeitung, Wien Nr. 9 / 1 0 1 9 2 3 ; zit. in: Conrad C. S T E I N , Die gehei-
me Weltmacht, Hohenrain, Tübingen, 2001, S. 127.
Dr. Gert KNOBLAUCH, »Weltzentrum des Antisemitismus«, Ixserbrief in: Frank-
furter Allgemeine Zeitung, 1 0 . 1 2 . 1 9 8 8 .
8 Ebenda.

147
befugt, im Namen des gesamten deutschen Volkes zu sprechen... Die
Bundesrepublik solle statt dessen durch eine unauflösliche Union mit
Frankreich den Kern der Vereinigten Staaten von Europa schaffen. Die
»Wiedervereinigung des europäischen Reiches K A R I S DES GROSSEN* be-
wege die Jugend heute stärker als die Wiedervereinigung des deutschen
Reiches B I S M A R C K S . « 9 Er schlug für Berlin einen UNO-Status vor.10
Ebenso setzte sich der >Paneuropa<-Gründer für eine Aufnahme der
Türkei in ein föderales Europa ein.11 Dazu meinte die FAZ zutreffend:
»Für manche Föderalisten dürfte das eine Informaüon sein, die nicht
eben leicht zu verdauen ist.«12 Rolf Kosiek

T=> Richard Nikolaus Graf COUDENHOVE-KALERGI meinte außerdem:


»Von der europäischen Quantitätsmenschheit, die nur an die Zahl, die Masse
glaubt, heben sich zwei Qualitätsrassen ab: Blutadel und Judentum, Von ein-
ander geschieden, halten sie beide fest am Glauben an ihre höhere Mission, an
ihr besseres Blut, an menschliche Rangunterschiede.« {Praktischer Idealismus, 1925,
S. 45)

»Politik ist die Lehre von der Eroberung und dem richtigen Gebrauch der
Macht. Der innere Frieden aller Länder wird aufrechterhalten durch Recht
und Gewalt: Recht ohne Gewalt müßte sofort zu Chaos und Anarchie führen,
also zur schlimmsten Form der Gewalt... Das gleiche Schicksal droht dem
internationalen Frieden — wenn sein Recht keine Stütze in einer internationa-
len Machtorgan!sation findet. Der Pazifismus als politisches Programm darf
also keineswegs die Gewalt ablehnen: nur muß er sie gegen den Krieg einset-
zen - statt für den Krieg.« {Praktischer Idealismus, 1925, S. 163)
»Die Vision eines größeren Europas, eines wahren Paneuropas - von Wladi-
wostok nach San Francisco - ist das Vermächtnis der alten Paneuropabewe-
gung an die junge Generation.« (Paneuopa 1922 bis 1966, S. 103) In der Ent-
schließung Nr. 7 zur politischen Union Europas heißt es übrigens wörtlich:
»Die Schaffung eines geeinten Europas muß als wesentlicher Schritt zur Schaf-
fung einer geeinten Welt angesehen werden!«

' AP, »Kleineuropa statt deutscher Einheit?« in: Schwäbisches Tagblatt, 18. 2. 1959.
10 Stichwort >Coudenhove-Kalergi<, in: FZ-Verlag (Hg.), Prominente ohne Maske
neu, FZ-Verlag, München 2001, S. 250.
11 Jürgen ELVERT, Die europäische Integration, Wissenschaftliche Buchgeseilschaft,
Darmstadt 2006.
12 Wilfried LOTH, »Europa im Schnelldurchgang«, in; Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 6.1. 2007.

148
Zur Harzburger Front

m 10. Oktober 1931 hatte Adolf H I T L E R ein ergebnisloses Ge-


A spräch mit Reichspräsident VON H I N D E N B U R G über die politische Lage
und die Bildung einer Reichstagsmehrheit geführt. Am folgenden Tage
1 ENGHOLM i n :

Frankfurter Allge-
veranstalteten in Bad Harzburg auf Betreiben Alfred HUGENBERGS (DN VP) meine Zeitung,
die NSDAP, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), der Stahlhelm, 23. 3. 1993.
der Reichslandbund und der Alldeutsche Verband eine gemeinsame Ver- 2 Prof. Dr. Ernst-
anstaltung, an der auch Hjalmar S C H A C H T und General Hans VON S E E C K T August ROLOFF,
sowie weitere Reichswehrgenerale und Angehörige deutscher Fürstenhäu- »Was 1931 in
ser teilnahmen. Die Redner forderten den Rücktritt der Regierung BRÜNING, Harzburg geschah«,
Leserbrief in:
die, von der SPD geduldet, über keine Mehrheit im Reichstag verfügte, die Frankfurter Allge-
Aufhebung der Notverordnungen sowie Neuwahlen und boten die Bil- meine Zeitung,
dung einer Koalitionsregierung der Rechten an. Man sprach anschließend 1. 4. 1993.
von der sogenannten >Harzburger Front< Diese wird oft als folgenreiche
Einigung der Rechten zitiert, so etwa vom SPD-Vorsitzenden Björn ENG-
HOLM bei seiner Kritik an kommunalpolitischer Zusammenarbeit von CDU
und Republikanern,1 und als Schreckgespenst für die Demokratie darge-
stellt. Am 16. Dezember 1931 wurde von SPD, Gewerkschaften, Arbei-
tersportverbänden und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold die »Eiserne
Front< als Gegengebilde gegründet.
In Wirklichkeit hatte die >Harzburger Front< in der Folgezeit kaum poli-
tische Auswirkungen und trat nicht mehr in Erscheinung. Es war auch kein
Bündnis beschlossen worden. »Alle Beteiligten erkannten am Tage nach HITLER und sein Stab
Harzburg, daß es keine gemeinsame Kampffront gab.«2 Es folgte auch in Bad Harzburg.
keine einzige gemeinsame Aktion.
Eine Woche später Heß H I T L E R
ohne die anderen Verbände die
SA mit rund 100000 Mann in
Braunschweig demonstrieren. Die
DNVP unterstützte im Frühjahr
1932 die Wiederwahl H O H E N -
BURGS, während die NSDAP mit
HITLER einen eigenen Kandidaten
stellte. Spätestens zu diesem Zeit-
punkt war die >Harzburger Front<
zerbrochen, deren Legende wei-
ter gepflegt wurde. In gewisser
Hinsicht erlebte die >Harzburger
Front< am 30. Januar 1933 eine
Neuauflage. Rolf Kosiek

149
Manipulation der preußischen
Landtagsgeschäftsordnung 1932

eit den sechziger Jahren ist es üblich geworden, daß die »demokrati-
S schen Parteien< beim Einzug der NPD in deutsche Landtage die Ge-
schäftsordnung des Landtags von Fall zu Fall ändern, um der mißliebi-
Die erste Sitzung der gen Partei geringeren Einfluß bei Abstimmungen, bei der Vertretung in
preußischen Regie-
Ausschüssen oder bei finanziellen Zuwendungen zukommen zu lassen.
rung nach ihrer Be-
stätigung als ge- Beispiele sind die entsprechenden Maßnahmen in Stuttgart 1968, Dres-
schäftsführendes den 2005 und Schwerin 2006.
Kabinett am 26. Ok- Aber auch schon in der Weimarer Republik wurde zu diesem Trick
tober 1932 (nach gegriffen. Zu Beginn des Jahres 1932 besaß der Freistaat Preußen eine
dem Urteil des Staats-
SPD-geführte Regierung unter Ministerpräsident Otto B R A U N und In-
gerichthofs in der Sa-
che Preußen gegen
nenminister Carl S E V E R I N G (beide SPD), die sich noch im Gegensatz zu
Reich), In der ersten den Verhältnissen im Reichstag auf eine Mehrheit im Parlament stützen
Reihe sitzend, von konnte. Sie verfügte von den 450 Angehörigen des preußischen Land-
links: Justizminister tags über 229 Mandate aus SPD, Zentrum und Staatspartei. Als turnus-
S C H M I D T , Landwirt-
gemäß am 24. April 1932 ein neuer Landtag gewählt werden sollte, konnte
schaftsminister STEI-
man sich bei den Stimmungsverhältnissen im Lande ausrechnen, daß diese
GER, Wohlfahrtsmini-
ster HIRTSIEF ER, Mehrheit verlorengehen werde und dann die bisherige Koalition nicht
Ministerpräsident fortgesetzt werden könne, sondern daß die NSDAP zusammen mit den
B R A U N , Handelsmini- Deutschnationalen die Regierungsmacht in Preußen erringen werde. Dazu
ster SCHREIBER und In- bedurfte es nach der bestehenden Geschäftsordnung nicht der absoluten
nenminister SEVERING. Mehrheit im Landtag, sondern die Regierungsmacht konnte schon mit

150
einer zu erwartenden relativen Mehrheit der rechten Parteien erreicht
werden. Die lange Jahre gültige Geschäftsordnung sah vor, daß im zwei-
ten Wahlgang die relative Mehrheit zur Wahl des Regierungschefs genüg-
te, wenn im ersten kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichte.
Weil die regierenden linken Parteien die Machtübernahme der NSDAP
in Preußen verhindern wollten, wurde der Landtag für den 12. April 1932
noch einmal extra zusammengerufen, um die Geschäftsordnung für den
neuen Landtag zu ändern. Die bisherige Regelung, daß eine relative Mehr-
heit zur Wahl des preußischen Ministerpräsidenten reiche, wurde gestri-
chen, die absolute Mehrheit war dazu in Zukunft erforderlich.
Wie vorauszusehen, verlor die bisherige Koalition die absolute Mehr-
heit im Landtag: Sie erhielt nur noch 183 von 423 Abgeordneten. Da
aber, wie ebenfalls erwartet, NSDAP und Deutschnationale zusammen
auch keine absolute Mehrheit erreichten und beide sich nicht mit einer
anderen Partei, insbesondere nicht mit dem Zentrum, auf einen gemein-
samen Regierungschef einigen konnten, kam es zu keiner Neuwahl des
Ministerpräsidenten in Preußen. Die alte Regierung unter B R A U N blieb
durch diesen >Geschäftsordnungstrick< im Amt und konnte weiter regie-
ren. Diese »unerhörte Schiebung« stieß auf harte Kritik selbst innerhalb
der Linken. So sprach der angesehene Sozialdemokrat Julius L E B E R von
einer »überheblichen Klugheit«, einer »peinlichen Geschäftsordnungsän-
derung« und von ihrer »Lächerlichkeit«.1 1 Zitiert von Fritz
Doch auch dieser Trick half der preußischen Regierung nur für kurze RICHTER, »Regieren
Zeit. Schon drei Monate später, am 20. Juli 1932, ließ Reichskanzler Franz mittels Geschäfts-
VON P A P E N mit seinem »Preußenschlag« von Reichspräsident VON H I N - ordnung«, in:
DENBURG die Regierung BRAUN-SEVERING durch die mit Artikel 4 8 der Reichs- Stuttgarter Zeitung,
verfassung begründete »Verordnung betreffend die Wiederherstellung der 17. 9. 1987.
3 Kurt HIRSCH, »Der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen« ab-
setzen und die amtierenden Minister, die er morgens empfing, um ihnen Staatsstreich am 20.
ihre Amtsenthebung mitzuteilen, durch Reichskommissare ersetzen, ins- Juli 1932«, in:
besondere durch den kommissarischen Verwalter, den Essener Oberbür- Die Tat, 14. 7.1962,
S. 12.
germeister Dr. B R A C H T . Das Amt des preußischen Ministerpräsidenten 3 Ernst Rudolf
übernahm VOM PAPEN als Reichskanzler selbst. Zwar erklärte SEVF.RING: HUBER, Deutsche
»Ich werde nur der Gewalt weichen«, doch als diese in Gestalt eines Ixut- Verfassungsgeschichte
nants und zehn Mann erschien, gab er auf, ohne die preußische Polizei, die seit 1789, Bd. VII,
bisher hinter der SPD-Regierung stand, zu alarmieren. Der preußische Po- Aushau, Schutz
lizeipräsident GRCZISINSKI sowie sein Stellvertreter Dr. W E I S S und der Kom- und Untergang der
mandeur der Schutzpolizei, Oberst HEIMANNSBERG, ließen sich ohne Wi- Weimarer Republik,
derstand verhaften und in die Offiziersarrestanstalt Moabit bringen.2 Kohlhammer,
Auch dieser Versuch, der dazu dienen sollte, die NSDAP von der Macht Stuttgart 1987.
fernzuhalten, wirkte auf die Dauer nicht. Eine ausführliche Darstellung
der damaligen Vorgänge bringt Ernst Rudolf HUBER. 3 Rolf Kosiek

151
Kommunisten verübten die meisten Überfälle 1932

n den letzten Jahren der Weimarer Republik verschärfte sich der politi-
I sche Kampf auf den Straßen und führte zu vielen Überfällen und
Anschlägen mit zahlreichen Todesopfern. In Nachkriegsdarstellungen

Wahlkampagne 1932
auf der Straße, hier in
der Berliner Tauent-
zienstraße. Angehöri-
ge des >Stahlhelms<
fahren an einer Ko-
lonne des (Reichs-
banners: vorbei. Am
14. Juli 1932 hatte die
KPD einen Aufruf ver-
öffentlicht: »Jede Ver-
nachlässigung unseres
Kampfes gegen die
sozialfaschistischen
Führer, jede Verwi-
schung des prinzipiel-
len Grundsatzes zwi-
schen uns und der
SPD gefährdet die
Durchführung unserer
revolutionären
Massenpolitik«.

wird meist behauptet, daß die Nationalsozialisten und ihre SA (Sturmab-


teilung) für diese Gewalt verantwortlich gewesen seien. Das ist falsch.
Verschwiegen und verdrängt wird heute nur zu gern unter einer zuneh-
menden >antifaschistischen* Optik, die das brutale Auftreten der Kom-
munisten abschwächt und verschönt, daß im Gegenteil die Kommuni-
sten in Wirklichkeit die weitaus größere Zahl von Gewalttaten bis 1933
verübten und die Auseinandersetzungen auf der Straße und in den Ver-
sammlungslokalen auch meist provozierten.
Für einige Wochen im Sommer 1932 gibt ein Bericht des Bevollmäch-
tigten des Reichskommissars für Preußen, Dr, B R A C H T , die jeweiligen An-
teile an: »Wie Dr. B R A C H T weiter mitteilt, hat eine Statistik der Überfälle
vom I.Juni bis 20, Juli zu folgendem Ergebnis geführt (die Statistik um-
faßt ganz Preußen außer Berlin): Ausgeführt wurden 322 Uberfalle, da-
1 Der Grenzbote bei gab es 72 Tote und 497 Schwerverletzte. In 203 Fällen waren die
(Heidenheimer Zei- Angreifer Kommunisten, in 21 Fällen Reichsbannerleute und in 75 Fäl-
tung), 6. 8.1932. len Nationalsozialisten, in 23 Fällen ist die Schuldfrage nicht geklärt.«1

152
Das bedeutet, daß in rund zwei Drittel der hier aufgeführten Gewalt-
taten die Kommunisten die Verursacher waren, während der Anteil der
NS-Leute weniger als ein Viertel betrug.
Am Tag vorher meldete der Völkische Beobachter. »Die furchtbare Blut- 2 Völkischer Beobach-
bilanz des roten Bürgerkrieges: 8186 tote und verletzte Nationalsoziali- ter, 5. 8. 1932.
3 Christian
sten vom 1. Januar 1932 bis heute. 59 Tote beklagt die NSDAP allein in
STRIEFLER, Kampf
diesem Jahr. Im Jahre 1931 betrugen die Verlustziffern der NSDAP 6303 um die Macht.
Tote und Verletzte.«2 Kommunisten und
In seinem Buch Kampf um die Macht, das die Auseinandersetzungen Nationalsozialisten am
zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten eingehend beschreibt, Ende der Weimarer
stellt Christian STRIEFLER fest,3 »daß zumindest in Berlin die Eskalation Republik, Propyläen,
der politischen Gewalttaten von der KPD ausging« und »die Zahl der Berlin 1994.
4 Karlheinz W E I S S -
von ihr verübten Morde und Körperverletzungen wesentlich höher lag
MANN, »Zwischen
als die Zahl der von der NSDAP zu verantwortenden Opfer«:4 Für 1931
Versailles und
gingen 4184 Opfer auf das Konto der Kommunisten, 2589 auf das der Moskau«, in: Die
NS-Mitglieder. Welt, 19, 2. 1994.
In seiner Reichstagsrede vom 1 7 . Mai 1 9 3 3 erwähnte H I T L E R : » S A und 5 Max DoMARUS,

SS hatten zufolge kommunistischer Mordüberfälle und Terrorakte in we- Hitler. Reden 1932
nigen Jahren über 350 Tote und gegen 40000 Verletzte zu beklagen.«5 bis 1945, R. Löwit,
Die Statistik in der Literatur ergibt für die Anzahl der in den einzelnen Wiesbaden 1973,
Jahren von 1923 bis 1933 ermordeten Nationalsozialisten die folgenden Bd. 1,S. 275.
Zahlen
a6 b7
1923 22 21 Studenten nach
1924 5 5 einer Schlägerei
1925 3 5 1932 vor der Berliner
1926 4 4 Universität.
1927 5 5
1928 5 5
1929 11 10
1930 17 19
1931 43 38
1932 87 82
1933 45 36
(bis 22. 6.)
zusammen 247 230
Dabei sind unter a auch Opfer in Österreich aufgeführt. Hinzu kommen
noch die Ermordeten in den folgenden Jahren in Österreich, allein im
Jahre 1934 belief sich deren Zahl auf 120. Rolf Kosiek
6 Hans VOLZ, Daten zur Geschichte der NSDAP, Ploetz, Berlin s 1934.
7 Walter M. ESPE, Das Buch der NSDAP, 1934.

153
Zum Widerstand der SPD 1933

n zeitgenössischen Betrachtungen zur Machtübernahme H I T L E R S und


I zum Jahre 1933 wird allgemein hervorgehoben, daß die SPD als einzi-
ge Partei dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 nicht zugestimmt
habe, was richtig ist. Verschwiegen wird jedoch meist, daß die SPD an
diesem Tag durch ihren Parteivorsitzenden Otto W E L S ( 1 8 7 3 - 1 9 3 9 ) im
Reichstag H I T L E R S außenpolitischem Programm zustimmte.
W E L S erklärte zu Beginn seiner Oppositionsrede ausdrücklich: »Der
außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr
Reichskanzler erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten um so nach-
drücklicher zu, als wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten ha-
ben.« Er fügte unter dem Beifall seiner Fraktion hinzu: »Ich darf mir
wohl in diesem Zusammenhang die persönliche Bemerkung gestatten,
daß ich als erster Deutscher vor einem internationalen Forum, auf der
Berner Konferenz am 3. Februar des Jahres 1919, der Unwahrheit von
der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetre-
ten bin,«1 Max D O M A R U S kommentierte diese Zustimmung mit: »Kein
Otto W E L S , Partei- einziger Abgeordneter aber hatte etwas an dem außenpolitischen Pro-
Vorsitzender der SPD gramm der Regierung H I T L E R auszusetzen. Alle, auch die Sozialdemo-
und ehemaliger
Stadtkommandant
kraten, erklärten sich damit einverstanden.« 2
von Berlin. Meist wird heute noch angefügt, daß die SPD auch sonst im Reichs-
tag, wo es möglich gewesen wäre, gegen die neue nationale Regierung
gestimmt habe.
Das ist ebenso falsch. Richtig ist, daß die SPD noch im Mai 1933 im
Reichstag der HitlER-Regierung ausdrücklich zugestimmt und damit maß-
geblich zu deren Ansehen und Verwurzelung im Volk beigetragen hat.
Insbesondere geht es dabei um folgendes:
Nach den ersten Monaten der nationalen Regierung mehrten sich im
Ausland sozialistische Stimmen, die Sanktionen gegen Deutschland, vor
allem auf wirtschaftlichem Gebiet, forderten. Diese Pläne sprach HIT-
LER in seiner Reichstagsrede vom 17. Mai 1933 an.3 Die SPD hätte hier
Gelegenheit gehabt, auch gegen die neue deutsche Regierung aufzutre-
ten und gegen sie zu stimmen, insbesondere, nachdem seit dem 1. Mai
die Gewerkschaftshäuser ohne Widerstand enteignet und der Deutschen
Arbeitsfront (DAF) übergeben worden waren. Doch die SPD-Retchstags-

1 Max DOMARUS, Hitler. Reden 1932 bis 1945, R. Löwit, Wiesbaden 1973,
Bd. 1,S. 239.
2 Ebenda, S. 237.
3 Ebenda, S. 278.

154
Fraktion stimmte an diesem Tag einstimmig der »Erklärung der Reichsre-
gierung« zu, entwertete damit die ausländischen Stimmen gegen H I T L E R
und verschaffte dessen Regierung das bis dahin noch fehlende Ansehen
im Ausland/4
Die von NSDAP, DNVP, Zentrum und Bayerischer Volkspartei für
den 17. Mai beantragte Entschließung hatte folgenden Wortlaut: »Der
Reichstag wolle beschließen: Der Deutsche Reichstag als die Vertretung
des deutschen Volkes billigt die Erklärung der Reichsregierung und stellt
sich in dieser für das Leben der Nation entschiedenen Schicksalsfrage
der Gleichberechtigung des Deutschen Volkes geschlossen hinter die
Reichsregierung.« Die Entschließung wurde durch Aufstehen der Abge-
ordneten von den Plätzen angenommen, wobei sich auch alle SPD-Ab-
geordneten erhoben und man gemeinsam das Deutschlandlied sang:
»Nach der Rede H I T L E R S billigte der Reichstag diese Regierungserklä-
rungeinstimmig. Auch die Sozialdemokraten stimmten geschlossen da-
für. Es war ihr letztes Auftreten vor dem Verbot. Aber sie hatten sich ja
schon am 2 3 . März mit H I T L E R S Außenpolitik einverstanden erklärt.«5
Hermann GÖRING; stellte als Reichstagspräsident nach der Abstim-
mung fest: »Männer und Frauen. Ich habe dem nichts mehr hinzuzuset-
zen. Die Welt hat gesehen, das deutsche Volk ist einig, wenn es um sein
Schicksal geht.« Nach dem gemeinsamen Singen des Deutschlandliedes
durch die Abgeordneten erklärte der Reichstagspräsident noch einmal
ausdrücklich für das Protokoll: »Ich stehe noch fest, damit es im Proto-
koll vermerkt wird, daß die Annahme einstimmig durch sämtliche Partei-
en erfolgt ist.«6
Hinzu kommt, daß Hm -ER in dieser Regierungserklärung vom 17. Mai
1933 auch eine ausdrückliche Ehrenerklärung für die SA, die SS und den
Stahlhelm, den 1918 von Franz S E L D T E gegründeten Bund der Frontsol-
daten des Ersten Weltkrieges, abgegeben hatte, indem er erklärte, daß
diese Verbände maßgeblich die Niederschlagung des »kommunistischen
Terrors« zum Ziel gehabt hätten. Selbst dagegen erhob die SPD keinen
Widerspruch, sondern dem stimmten die SPD-Abgeordneten mit ihrem
Aufstehen von den Plätzen auch zu. Rolf Kosiek

4 »Vertrauensvotum der SPD für Hitler«, in: Deutsche Nachrichten, 12. 5. 1967.
5 DOMARÜS, a a O . ( A n m . 1 ) , S . 2 7 9 .
6 Protokoll der Reichstagssitzung vom 17. 5. 1933.
7 DoMARus, aaO. (Anm. 1), S. 275.

155
Wurde Hitler von der Ostküste finanziert?

eit Anfang der dreißiger Jahre halten sich Gerüchte, daß HITLER und
S seine Partei mit Hunderten von Millionen Mark aus jüdischen Krei-
sen der USA finanziert worden seien. 1933 erschien ein Buch von einem
Sidney P. W A R B U R G 1 darüber, wonach der Parteiführer in drei Raten 1 2 8
Millionen Reichsmark bekommen habe. Das Buch wurde dann bald vom
Markt genommen - anscheinend vom Verlag selbst zurückgezogen -,
blieb aber in wenigen Exemplaren erhalten. Das angebliche englische
Original ist verschollen.
Im Jahre 1983 wollte der angesehene Droemer-Verlag in München mit
diesem Buch als Sensation herauskommen. Doch der Verlag schreckte
dann vor einer Veröffentlichung zurück, denn: »Die Echtheit des Doku-
ments habe nicht nachgewiesen werden können.«2
Die Hamburger Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalso-
zialismus bescheinigte, daß es sich um eine bereits 1954 erwiesene Fäl-
1999 erschien unter
dem Namen Sidney
schung handele.
WARBURG das Buch Im Jahre 1 9 4 8 erschien ein Buch .Spanischer Sommer von Severin R E I N -
Hitler's Secret Bak- HARD3 mit ähnlichem Inhalt, eine weitere Schrift zu dem Thema von Heinz
kers. S C H O L L später, in der von 1 7 8 Millionen Reichsmark die Rede ist.4 Aus-
ländische Zeitungen5 schrieben ebenso von jüdischen Zahlungen an HIT-
LER, wenn auch in sehr viel geringerer Höhe.
In seinem Buch Hexen-Einmal-Eins einer Lüge6 widmete Emil A R E T Z ein
Kapitel »Hitlers ausländischen Geldgebern«. Darin werden viele Zitate

1 Zuerst in Holland als De Geldbronnen van hetNationaal-Socialisme. Drie Gesprekken


met Hitler door Sidney Warburg vertaald door J.G. Schoup, Van Holkema &Warendor.
Amsterdam 1933, deutsche Übersetzung in der Landesbibliothek in Bern,
Schweiz. Nach dem Vorwort hat SCHOUP, der »Übersetzen der Gespräche, von
WARBURG das englische Manuskript mit der Bitte um Ubersetzung erhalten. Da
es keinen Sidney in der Familie WARBURG gibt, sollte es sich bei diesem um
James P. WARBURG handeln.
2 H. H. (Heinrich HÄRTLE), »Judengeld für Hitler?« in: Deutsche Monatshefte, Juni
1983, S. 37.
' Severin REINHARD, Spanischer Sommer, Ähren, Zürich 1948; Prometheus, Buenos
Aires 21952.
4 Heinz SCHOLL, Von der Wallstreet gekauft, VHZ, Euskirchen, o. J. Dort wird auch
das betreffende Kapitel aus REINHARDS Buch (Anm. 3) wörtlich wiedergegeben
(S, 53-141) wie auch Auszüge aus dem sog. Konstantin-Bericht (S. 35-52) zu
den Unterlagen im Abegg-Archiv in der Schweiz .
5 So z. B. die Baseler National-Zeitung, 28. 1. 1937, mit 10 Millionen Dollar.
6 Emil ARETZ, Hexen-Einmal-Eins einer Lüge, Hohe Warte, Pähl41972, S. 217-246.

156
aus Sidney W A R B U R G S Buch gebracht und die einzelnen Schritte des Vor-
gehens gegen dieses beschrieben. Der Verfasser hält die Vorwürfe gegen
H I T L E R für berechtigt.
Der in London geborene Antony C . S U T T O N brachte 1976 das Buch
Wall Street and tbe Rise of Hitler heraus.7 Er kam zu dem Ergebnis, daß vor
1933 nur geringe Gelder von US-Firmen und Banken an die NSDAP
flössen, nach 1933 über deutsche Tochterfirmen mehr, wobei amerikani-
sche Unternehmen bis weit in den Zweiten Weltkrieg gut verdient hät-
ten. Er widmete das Kapitel 10 seines Buches8 dem »Mythos von »Sidney
Warburg<«. Nach seinen Forschungen gab es einen Sidney W A R B U R G gar
nicht, handelte es sich um ein Pseudonym, war das Buch eine Fälschung.
Er brachte auch den Text einer eidesstattlichen Erklärung von James
Paul W A R B U R G , dem Familienoberhaupt der amerikanischen Bankiers-
familie, vom 15. Juli 1949, der sich darin von dem Sidney W A R B U R G - B U C I I
distanziert.
Im Jahre 1983 erschien Sidney W A R B U R G S Buch von 1933 in einer Neu-
auflage mit dem Anspruch auf Glaubwürdigkeit.9 In einer ausführlichen
Einleitung schilderte der Herausgeber den historischen Hintergrund, und
im Anhang wurde die bisherige Geschichte der Veröffentlichung darge-
legt. Zweifel an der Authentizität der Veröffentlichung wurden auszu-
räumen versucht.
Schon früh sprachen sich führende Zeitzeugen wie der ehemalige
Reichsbankpräsident Hjalmar S C H A C H T gegen die Gerüchte von einer Fi-
nanzierung der NSDAP vor 1933 durch Millionen Reichmark von US-
Banken aus. Nach Kriegsende nahm der frühere Reichskanzler ( 1 9 3 2 )
und Vizekanzler ( 1 9 3 3 - 1 9 3 4 ) unter H I T L E R , Franz V O N P A P E N ( 1 8 7 9 - Von oben: Antony C.
1 9 6 9 ) , in seinen Erinnerungen zu dem Sidney W A R B U R G - B U C I I ausführ- SUTTON (1925-2002)
lich Stellung,1" sprach von »schmutzigen Gerüchten« und versicherte ins- und James Paul WAR-
besondere, daß er im Gegensatz zu den Behauptungen des Buches keinen BURG (1896-1969).

Pfennig für H I T L E R oder dessen Bewegung beigesteuert habe »weder aus


eigenen noch aus anderer Leute finanziellen Quellen«.11 Auch nahe Mit-
arbeiter HITLERS, wie der angesehene Bankier und Hamburger Erste Bür-

Antony C . SUTTON, Wallstreet and the Rise of Hitler, '76 Press, Seal Beach (Kali-
fornien) 1976; deutsch: Wall Street und der Aufstieg Hitlers, übersetzt von Helmut
HERTTRICH, O. O. 1 9 9 7 .
8 Ebenda, S. 131—i 46 der deutschen Übersetzung .
9 Ekkehard FRANKE-GRICKSCH (Hg.), So wurde Hitler finanziert. Das verschollene Do-
kument von Sidney Warburg über die internationalen Geldgeber des Dritten Reiches, Dia-
gnosen, Leonberg 1983.
10 Franz VON PAPEN, Der Wahrheit eine Gasse, Paul List, München 1952, S. 257 ff.
11 Ebenda, S. 259.

157
germeister ( 1 9 3 3 - 1 9 4 5 ) Carl Vincent K R O G M A N N , erklärten, daß eine sol-
che finanzielle Hilfe aus den USA — und damit politische Abhängigkeit —
nicht stattgefunden habe. Ebenso versicherten Zeitzeugen wie Dr. Hans
R I E G E L M A N N , Saarbrücken, daß dieses Gerücht jeder Wirklichkeit ent-
behre.
Die Unterstützung H I T L E R S durch deutsche Unternehmen vor 1933
12 Siehe Beitrag Nr. untersuchte der Würzburger Historiker Rainer F, S C H M I D T , der auch zu
75, »NS-Finanzie- dem Ergebnis kam, daß eine solche Hilfe unbedeutend war und sich die
rung durch deutsche Partei vor 1933 vor allem aus kleinen Spenden ihrer Anhänger und aus
Großindustrie?« dem geschickten Verkauf verschiedener Artikel finanziert habe.12
Rolf Kosiek

Aus der eidesstattlichen Erklärung von James Paul WARBURG, vom 15.
Juli 1949:13
13 Antony C. SUT- » . . . 2. Es gab keine Person mit Namen Sidney Warburg< in New York City im
TON, Wall Street und Jahre 1933 und auch sonstwo zu dieser oder zu irgendeiner anderen Zeit, so-
der Aufstieg Hitlers, weit mir bekannt ist,
übersetzt von 3. Ich habe niemals ein Manuskript, Tagebuch, Notizen, Telegramme oder
Helmut HERTTRICH, irgendwelche anderen Dokumente an irgendeine Person zur Übersetzung und
o. (). 1997, S . 141-
Publikation in Holland gegeben, und besonders habe ich niemals solche Un-
144.
terlagen an den angeblichen J. G. SHOLJP in Antwerpen gegeben. Nach bestem
Wissen und Erinnerung habe ich mich niemals mit einer solchen Person ge-
troffen, ..
7. Ich hatte nirgendwo und zu keiner Zeit eine Diskussion mit HITLER, mit
irgendeinem Naziführer oder sonst jemandem wegen Unterstützungsgeldern
für die Nazipartei...
8. Im Februar 1933 (siehe Seiten 191 und 192 des Buches Spanischer Sommer),
als ich angeblich HITLER die letzte Abschlagzahlung des amerikanischen Gel-
des gebracht habe und ich sowohl von G O R I N G und G O E B B E L S als auch HITLER
empfangen wurde, kann ich nachweisen, daß ich keineswegs in Deutschland
war. Ich habe niemals einen Fuß nach Deutschland gesetzt, nachdem die Na-
zis im Januar 1933 an die Macht gekommen sind. Im Januar und Februar war
ich in New York und Washington, wo ich in meiner Bank arbeitete und mit der
Wahl des Präsidenten und der nachfolgenden Bankenkrise beschäftigt war.
Nachdem Mr. ROOSEVELT am 3. März 1933 im Amt war, habe ich ununterbro-
chen mit ihm gearbeitet, indem ich ihm half, die Tagesordnung für die Welt-
Wirtschafts-Konferenz aufzustellen, zu welcher ich als Finanzberater Anfang
Juni geschickt wurde. Hierüber gibt es eine Anzahl veröffentlichter Berichte.«

158
Drittes Reich

159
Berlin - unter den Linden - am 30. Januar
1933. Die Weimarer Republik ist am
Ende, und das politische Kalkül eines
Kurt V O N S C H L E I C H E R sollte nicht aufgehen:
»Wir nehmen den Kerl [ H I T L E R ] in die Mit-
te und hängen ihm zwei Gewichte an.
Auf der einen Seite mich, auf der anderen
den alten Herrn [Hindenburg] und seine
Autorität. Da werden wir den Mann
schon kirre kriegen.«

160
Der >jüdische Krieg< 1933

Machtübernahme am 30. Januar 1933 war ein legaler Akt:


H ITLERS
Der Führer der aus den vorhergehenden demokratischen Wahlen
als stärkste hervorgegangenen Partei wurde vom Reichspräsidenten mit
der Regierungsbildung beauftragt. Er stellte in kurzer Zeit eine zum er-
sten Male seit längerer Zeit wieder von einer Mehrheit im Reichstag un-
terstützte Regierung vor, in der die Zahl der NSDAP-Minister in der
Minderheit war. Seit mehr als einem Jahrzehnt war sein Parteiprogramm
bekannt, das unter anderem wie auch zahlreiche andere Parteiprogram-
me und Vereinigungssatzungen im In- und Ausland zu dieser Zeit antise-
mitische Bestimmungen enthielt.
Sehr schnell begann im Ausland eine heftige Kampagne gegen das
Deutsche Reich und seine neue Regierung, die auch vor den größten
Lügen nicht zurückschreckte und das internationale Klima vergiftete. Ein
wertvolles Zeitzeugnis über diese unberechtigten Anschuldigungen ge-
gen Deutschland ist ein Bericht der angesehenen Neuen Zürcher Zeitung
vom 1. April 1933' über die damaligen Verhältnisse in der ausländischen
Presse. Es heißt in dieser ausländischen Zeitung in erfreulicher Klarheit:
»Die Berliner haben zu ihrer größten Überraschung aus englischen,
amerikanischen, polnischen und tschechischen Blättern erfahren müs-
sen, daß Berlin seit dem 5, März Zentrum gewalttätigster Judenverfol-
gungen sei. So vernahm man zum Beispiel, der dieser Tage verstorbene
Seniorchef des großen Berliner Ullstein-Verlags sei nicht an den Folgen
einer Gallen Steinoperation friedlich im Kreis der Seinigen verschieden,
sondern wegen seiner jüdischen Herkunft zusammen mit seiner Frau
von Nationalsozialisten gefangengenommen, in einen Keller gesperrt,
dort gefoltert und hingemordet worden. Der Ullstein-Verlag dementierte
sofort in Warschau und New York diesen tollen Schwindel. Das half
nichts, er blühte alsbald in Prag munter wieder auf, obgleich von Prag
nach Berlin der Weg gar nicht weit ist und reichlich Gelegenheit besteht,
sich über Vorkommnisse in Berlin zutreffend zu informieren.«
Das Schweizer Blatt fuhr dann fort: »Ferner erfuhren wir schaudernd,
ebenfalls aus englischen und amerikanischen Blättern, daß vor das Portal
des großen jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee fast jede Nacht zer-
stückelte Leichname von erschlagenen Juden geworfen würden. Aller-
dings erklärte der jüdische Friedhof-Inspektor alsbald, das sei eine scham-
! »Der >jüdische< Krieg«, in: Neue Zürcher Zeitung, 1. 4. 1933, S. 2, Morgenausga-

be, Nachdruck in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 301, 27,12 . 2000, in der Reihe »Das
20. Jahrhundert im Spiegel der NZZ«.

161
lose Lüge; niemals sei derartiges vorgekommen. Trotzdem nahm auch
diese Schauergeschichte weiter ihren Weg durch englische, amerikani-
sche usw. Blatter, die uns des weiteren unterrichteten, daß auf den öf-
fentlichen Plätzen Berlins herdenweise jüdische Mädchen zusammenge-
trieben würden, um dort mißhandelt zu werden. Auch seien in Genf
viele aus Deutschland geflüchtete Juden eingetroffen, deren Kinder, ver-
stümmelt und mit Wunden bedeckt, dort das öffentliche Mitleid erreg-
ten.«
Auch auf die Folgen solcher unverantwortlichen Propagandamärchen
wies die Schweizer Zeitung hin, wenn sie bemerkte: »Daß von solchen
und ähnlichen faustdicken Lügenberichten in der Auslandspresse hier
mit wachsender Entrüstung Kenntnis genommen wurde, liegt auf der
Hand, ebenso, daß die hier schon vorhandene antisemitische Stimmung
dadurch gesteigert wurde. Die Greuelpropaganda beschränkte sich aber
nicht bloß darauf, von schweren Judenverfolgungen zu berichten, die
schilderte auch die angeblich vorgekommenen grausamen Mißhandlun-
gen und Tötungen in Haft genommener Kommunisten und Sozialde-
mokraten, besonders wurde T H A L M A N N , der Chef der Kommunistischen
Partei, wiederholt grausam totgesagt. Wie bekannt, hat dann die deut-
sche Regierung Vertrauensleuten der fremden Diplomatie und Vertre-
tern der ausländischen Presse Gelegenheit gegeben, sich mit eigenen
Augen von dem leiblichen Wohlsein der angeblich Mißhandelten oder
gar Totgesagten zu überzeugen und aus ihrem Munde zu hören, daß
ihnen körperlich nichts zu Leide geschah, daß sie ordentlich verpflegt
und menschlich behandelt würden.«
Abschließend wies die Schweizer Zeitung darauf hin, daß diese aus-
ländische Lügenpropaganda bei den Juden in Deutschland bereits Be-
sorgnis ausgelöst habe und daß die Frankfurter Leitung, »der niemand an-
tisemitische Neigungen nachsagen kann«, die erste Zeitung gewesen sei,
»welche rundweg erklärte, die antisemitische Strömung in Deutschland
sei eine innerdeutsche Angelegenheit, in die sich das ausländische Juden-
tum nicht einzumischen habe«.
Ein Kommentar dazu erscheint eigentlich überflüssig. Man muß eben
für ein abgewogenes Urteil über die betreffenden Verhältnisse die ganze
Umgebung der damaligen Zeit sachlich betrachten und nicht nur einsei-
tig verzerrte Berichte zugrunde legen. Rolf Kosiek

162
Erklärung deutscher Juden zum 30. 1. 1933:
»Wir Mitglieder des im Jahre 1921 gegründeten Verbandes nationaldeut-
scher Juden haben stets im Krieg und Frieden das Wohl des deutschen
Volkes und Vaterlandes, dem wir uns unauflöslich verbunden fühlen, über
unser eigenes Wohl gestellt. Deshalb haben wir die nationale Erhebung in: Peter KLEIST,
vom Januar 1933 begrüßt, obwohl sie gegen uns selbst Härten brachte, Auch Du warst dabei,
denn wir sahen in ihr das einzige Mittel, den in 14 Unglücksjahren von Kurt Vowinckel,
undeutschen Elementen angerichteten Schaden zu beseitigen.« Heidelberg 1952.

Rabbiner Dr. Leo Baeck, Präsident der >Reichsvereinigung der Juden in


Deutschland«, erklärte im Mai 1933:
»Die nationale deutsche Revolution, die wir durchleben, hat zeik ineinan-
dergehende Richtungen: den Kampf zur Überwindung des Bolschewis-
mus und die der Erneuerung Deutschlands. Wie stellt sich das deutsche
Judentum zu diesen beiden? Der Bolschewismus ist, zumal in seiner Gott-
losenbewegung, der heftigste und erbittertste Feind des Judentums, die
in: Heinrich HARTLE,
Ausrottung der jüdischen Religion ist sein Programm. Ein Jude, der zum
Deutsche und Juden,
Bolschewismus übertritt, ist ein Abtrünniger. Die Erneuerung Deutsch- Druffel, Leoni
lands ist ein Ideal und eine Sehnsucht innerhalb der deutschen Juden.« 21957.

Am 21. Juni 1933 veröffentlichte die >Zionistsiche Vereinigung für


Deutschland< eine Grundsatzerklärung, in der es hieß:
Wir wollen auf dem Boden des neuen Staates, der das Rassenprinzip
aufgestellt hat, unsere Gemeinschaft in das Gesamtgefüge so einordnen,
daß auch uns, in der uns zugewiesenen Sphäre, eine fruchtbare Betäti-
gung für das Vaterland möglich ist. . . Wir glauben an die Möglichkeit
eines ehrlichen Treueverhältnisses zwischen diesem artbewußten Juden- in: Heinrich HÄRTLH,

tum und dem deutschen Volk.« ebenda.

Der Rabbiner Elic M u n k aus Ansbach schrieb Hitler 1934:


»Ich lehne die Lehren des Marxismus vom jüdischen Standpunkt aus ab
und bekenne mich zum Nationalsozialismus, natürlich ohne seine anti-
semitische Komponente. Ohne den Antisemitismus würde der National-
sozialismus in den überlieferungstreuen Juden seine treuesten Anhänger in: Heinrich HARTLE,
ebenda.
finden.«

163
Zur >Kristallnacht< 1938

as auf jeden Fall abzulehnende Pogrom gegen deutsche Juden am


D 9. November 1938, heute meist anklagend >Kristallnacht< oder
>Reichskristallnacht< genannt, wird allgemein als das Paradebeispiel für
den Antisemitismus der NSDAP und als der Beginn der verschärften
Judenverfolgung im Dritten Reich angeführt. Nach herrschender Mei-
1 Hermann GRAML,
nung, wie sie etwa G R A M L vertritt,1 liegen die Verhältnisse klar: Die NS-
Der 9. November Führung, insbesondere der Reichspropagandaminister Dr. Joseph G O E B -
1939. »Reichskristall-
BELS, gab die entsprechenden Befehle, die dann vor allem von der SA
nacht«, Bonn 1958.
ausgeführt wurden. Philipp JENNINGF.R erklärte in seiner Rede zum 50.
Jahrestag vor dem Bundestag 1988: »Bei den Ausschreitungen handelte
es sich nicht etwa um die Äußerungen eines wie immer motivierten spon-
tanen Volkszorns, sondern um eine von der damaligen Staatsführung
erdachte, angestiftete und geförderte Aktion.« Oder es wird behauptet:
»Es wurde die völlige Zerstörung des jüdischen Besitzes durch einen von
2 Ebenda. der Partei zu inszenierenden und zu lenkenden Pogrom befohlen.«2
Manchmal heißt es, daß »sämtliche« Synagogen im Deutschen Reich zer-
stört worden seien.
Doch das trifft nicht zu. Trotz eifriger Forschung scheint manches
noch unklar an den Hintergründen und am Verlauf dieser zu verurtei-

Jüdisches Cafe in Ber-


lin nach dem Pogrom
vom 9. November
1939.

164
lenden Vorgänge zu sein, und viele Widersprüche bestehen. Die allge-
mein anerkannten Tatsachen, die sich aus verschiedenen Berichten erge-
ben, sind:
1. Die Zahl der Todesopfer lag zwischen 36 und 91, Es wurden zwi-
schen 10000 und 35 000 Juden verhaftet, von denen die meisten am fol-
genden Tag wieder freigelassen wurden. Damals lebten noch rund 200 000
Juden im Reich.
2. Es wurden von rund 1420 bestehenden Synagogen 101 durch Brand
zerstört und 76 beschädigt, insgesamt also 12 Prozent in Mitleidenschaft
gezogen,
3. Es wurden zwischen 840 und 7500 Geschäfte und Warenhäuser
von rund 100000 im Reich bestehenden sowie 171 Wohnhäuser zerstört
oder beschädigt.

Zur Vorgeschichte
Am 4. Februar 1936 erschoß der in Jugoslawien geborene und in Frank-
furt bei seinen jüdischen Eltern aufgewachsene David FRANKFURTER in
Davos in Graubünden, wo es keine Todesstrafe bei Mord gab, Wilhelm
G U S T L O F F , den Fandesgruppenleiter der Auslandsorganisation der
NSDAP in der Schweiz. Er wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt, schon
1945 endassen, ging nach Israel und lebte von deutscher Wiedergutma-
chung. Wahrscheinlich hatte er Hintermänner, in deren Auftrag er ge-
handelt hat, um zu provozieren
Am Morgen des 7. November 1938 ging der wegen Schwierigkeiten in
deutschen Schulen seit zwei Jahren bei einem Onkel in Paris lebende
17jährige Herschel GRYNSZPAN, dessen Eltern als polnische Juden nach
Deutschland gekommen und kurz vorher in der deutsch-polnischen >Paß-
krise< vom Ende Oktober 1938 wieder an die polnische Grenze abge-
schoben worden waren, in die Pariser deutsche Botschaft und schoß auf
den ihm dort begegnenden Botschaftssekretär Ernst VOM R A T H . Der
schwer verwundete Beamte wurde operiert, starb jedoch am Nachmittag
des 9. November 1938. Am Ort der Tat wurde der Mörder von französi-
scher Polizei verhaftet. Die französischen Ermittlungen zogen sich bis
Kriegsbeginn hin. Nach dem Frankreich feldzug 1940 wurde GRYNSZPAN
den Deutschen übergeben und nach Berlin gebracht. Ein Prozeß wurde
vorbereitet, fand aber nie statt. Entgegen Nachkriegsberichten wurde
Von oben: Herschel
GRYNSZPAN von den Deutschen nicht >ermordet<, sondern überlebte und
GRYNSZPAN und Ernst
ging unter anderem Namen nach 1945 nach Paris. Seine Familie gelangte VOM RATH.
mit Hilfe des »American Joint Distribution Committee< vollzählig nach
Palästina. GRYNSZPANS Überleben wie die Auswanderung der unbemittel-
ten Familie sind gleicherweise seltsam.

165
Die beiden Morde von 1936 und 1938 haben manches gemeinsam. Sie
hatten offenbar Hintermänner. So meldete sich in beiden Fälien am Tag
nach der Verhaftung als Verteidiger ein Rechtsanwalt Moro G l A F H E R I
aus Paris für den Mörder, aus freien Stücken, wie er betonte. Die Schwei-
zer Behörden lehnten ihn 1936 ab. Er war ein guter Bekannter von Ber-
nard L E C A C H E , einem aus Odessa stammenden Zionisten, der in Paris die
>Ligue internationale contre Pantisemitisme* (LIGA), eine deutschfeindli-
che Organisation, leitete. Dieser schrieb im Organ der L I C A : »Grün-
span, Du bist freigesprochen: Sache der »Jüdischen Weltliga< ist es, die
moralische und wirtschaftliche Blockade des Hitler-Deutschlands, den
Boykott gegen die Henker zu organisieren, Sache der »Jüdischen Weltliga<
ist es, alle G R Ü N S P A N S der Welt, Juden, Neger, Mohammedaner und Chri-
Bernard LECACHE ver- sten zu verteidigen. Unsere Sache ist es, unversöhnliche Feinde Deutsch-
faßte unter anderem
das Buch Quand Isra-
lands und Italiens zu sein,, , Unsere Sache ist es, Deutschland, dem Staats-
el meurt (Wenn Israel feind Nummer 1, erbarmungslos den Krieg zu erklären.«3 Kurz darauf
stirbt). wiederholte er solche Gedanken im selben Organ: »Es ist unsere Sache,
die moralische und wirtschaftliche Blockade Deutschlands zu organisie-
ren und diese Nation zu vierteilen. . . Es ist unsere Sache, endlich einen
Krieg ohne Gnade zu erwirken,«4

Ablauf des 9. November 1938


In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als die Führer der NSDAP
mit HITLER in München wie alljährlich ihr Erinnerungstreffen an den Marsch
auf die Feldherrnhalle von 1923 begingen, kam es dann an vielen deut-
schen Orten, aber nicht überall, zu den Ausschreitungen gegen jüdische
Besitzungen und Synagogen, Dabei wurden nach den verschiedenen An-
gaben 36 bis 91 Juden getötet und an rund 170 der 1420 Synagogen in
Deutschland Brandanschläge verübt. In manchen Fällen, so bei der Berli-
ner Hauptsynagoge, konnte die Polizei Zerstörungen verhindern.
Umstritten ist, wer die Befehle dazu ausgegeben hat, die viele örtliche
SA-Leitungen erhielten. Meist wird G O E B B E L S dafür verantwortlich ge-
macht. Tatsache ist, daß am späten Nachmittag die Teilnehmer des Mün-
chener Treffens erfuhren, daß V O M R A T H seinen Verletzungen erlegen
war. H I T L E R verließ gegen 2 1 Uhr die Versammlung. Dann soll nach herr-
schender Lehre G O E B B E L S hektische Befehle zu den Ausschreitungen ge-
geben haben.
Die Benachrichtigung der örtlichen SA-Stellen und deren Mobilisie-
rung ihrer unvorbereiteten Mannschaften zu den Anschlägen dürfte einige
Zeit in Anspruch genommen haben.
3 LI Droit de Vivre, 9. 11. 1938.
4 Ebenda, 18. 11. 1938.

166
Tatsächlich ereigneten sich die ersten Ausschreitungen bereits am spä-
ten Nachmittag. Als diese dann in München bekannt wurden, erfolgte
nach einiger Hektik um 2 Uhr 56 in der Nacht ein Fernschreiben vom
Stab des Führers »an alle Gauieitungen zur sofortigen Veranlassung«.
Darin heißt es: »Auf ausdrücklichen Befehl allerhöchster Stelle (also des
Reichskanzlers) dürfen Brandlegungen an jüdischen Geschäften oder der-
gleichen auf gar keinen Fall und unter gar keinen Umständen erfolgen.« 5
Ein erstes Fernschreiben ähnlichen Inhalts hatte der Chef des SD,
Reinhard H E Y D R I C H , bereits kurz vorher um 1 Uhr 3 0 von München aus
an alle Polizeistellen in Deutschland versandt. G O E B B E L S gab um Mitter-
nacht ebenfalls aus München der Presse folgende Mitteilung durch: »Die
berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den
feigen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in
der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft verschafft. In zahl-
reichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen ge-
gen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen. Es ergeht nunmehr
an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weite-
ren Demonstrationen und Vergeltungsaktionen gegen das Judentum,
gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen.«
Ein erstaunlicher Punkt ist ferner die Tatsache, daß die Feuer an den
Synagogen anscheinend nach einem einheitlichen Schema gelegt wurden
und kein Fall bekannt wurde, in dem der von außen eindringende Mob
den Brand auslöste. Bei den untersuchten Fällen wurde festgestellt, daß
ein heimlich gelegter Brandherd in den oberen Etagen der Synagogen
langsam vor sich hin zündelte und sich nach und nach mit anderen vor-
bereiteten Brandherden verband. Der Brand wurde erst bemerkt, als die
Flammen aus den Fenstern schlugen. 174 Angehörige nationalsozialisti-
scher Gliederungen wurden anschließend vom Parteigericht der NSDAP
wegen Straftaten im Zusammenhang mit den Ausschreitungen verur-
teilt, jedoch keiner wegen Brandstiftung.
Eigenartig ist der Brand der Münchener Synagoge, die sich in unmittel-
barer Nähe des Hotels >Vier Jahreszeiten« befand, in dem die NS-Promi-
nenz abgestiegen war. Dr. Werner B E S T , Ministerialdirigent im Innenmi-
nisterium und juristischer Berater der Staatspolizei, berichtete als Zeuge
vor dem Nürnberger Militärtribunal am 31. Juli 1946 über diese Nacht:
»Ich weiß aus eigenem Erleben, daß H E Y D R I C H , der damalige Chef der
Sicherheitspolizei, von den Ereignissen völlig überrascht wurde, denn
ich war mit ihm zusammen, als wenige Meter von dem Hotel, in dem wir
uns befanden, eine Synagoge in Brand hochging, und wir hatten nichts
davon gewußt. H E Y D R I C H eilte daraufhin zu H I M M L E R , wurde dort infor-

; Nach Bundesarchiv Koblenz, Az.: NS 6/231.

167
miert und erhielt Befehle, die er dann an die Behörde der Staatspolizei
weitergab.«'1 Dieses Rundschreiben wurde oben bereits erwähnt.
Ist es denkbar, daß Parteistellen diese Synagoge, deren Feuer auf das
in der Nähe liegende Hotel mit den NS-Führern überzuspringen drohte,
anzündeten? Eine den Brand verursachende Menge wäre auch sicher von
der Bewachung des nahen Hotels bemerkt und abgedrängt worden.

Die unmittelbare
Reaktion einiger
amerikanischer
Vereinigungen auf die
November-Ereignisse
in Deutschland.

Rudolf J O R D A N , der damalige Gauleiter des Gaues Magdeburg-Anhalt,


schrieb nach dem Krieg ausführlich über diesen Abend und den folgen-
6 Internationaler
den Tag in seinen Erinnerungen. Nach H I T L E R S Weggang hätten G O E B -
Militärgerichtshof BEL.S und H E Y D R I C H - H I M M L E R sei nicht mehr da gewesen - über ver-
(Hg.), Der Prozeß
ständliche spontane Ausschreitungen gegen Juden im Reich informiert
gegen die Hauptkriegs-
verbrecher vor dem und erklärt, daß sich die Polizei bei solchen verständlichen Empörungs-
Internationalen aktionen reserviert verhalten würde. Von seinem Hotel rief J O R D A N dann
Militärgerichtshof, gleich seinen Gaugeschäftsführer an, der ihm mitteilte, daß »sich zwar
Nürnberg 1948, Bd. einige kleinere antisemitische Rüpeleien ereignet hätten, daß ihm jedoch
XX, S, 151. von Verfügungen an die Polizei noch nichts bekannt geworden sei. Er
7 Rudolf JORDAN, versprach, mich anzurufen, falls ernstere Vorkommnisse zu berichten
Erlebt und erlitten. seien«. Ein weiterer Anruf aus Dessau an J O R D A N erfolgte jedoch nicht.
Wegeines Gauleiters Am folgenden Morgen las J O R D A N in den Münchener Neuesten Nachrich-
von München bis ten, es sei in seiner Gauhauptstadt Dessau »zu spontanen Demonstratio-
Moskau, Druffel, nen gegen die Juden gekommen. Die Bevölkerung machte ihrem Ab-
Leoni 1971, S. 183.
scheu der feigen Mordtat in Paris gegenüber Luft. Die Polizei wurde
zum Schutze der Juden eingesetzt«.8 Dann »erhielt ich von meinem Stell-
vertreter im Gau einen telefonischen einstweiligen Bericht über die Vor-

168
gänge im Gau Magdeburg-Anhalt. Hier hatte es einzelne Schaufenster-
exzesse und einen Synagogenbrand gegeben. .. Mein Stellvertreter be-
stätigte mir auf meine Rückfrage nochmals, daß die Aktionen ohne Be-
teiligung der Gauleitung stattgefunden hätten und daß ihr gleichzeitiger
Ablauf auf eine von außerhalb des Gaues erfolgte zentrale Steuerung
schließen lasse. In mehreren Fällen waren den Akteuren, die nach dem
Klirren der Schaufensterscheiben meist fluchtartig in der Dunkelheit
verschwanden, nach kurzer Zeit Gruppen asozialer Elemente, darunter
auch Frauen, gefolgt, die Schaufenster plünderten«.9 JORDAN schloß am
nächsten Tage zwei SA-Männer, die sich an jüdischen Personen und Sach-
werten vergriffen hatten, aus der Partei aus; zudem wurden sie von or-
dentlichen Gerichten zu Freiheitsstrafen verurteilt.10
Zur Frage, ob GOEBBELS an dem Pogrom schuldig sei, hat dessen lang-
jähriger Adjutant Friedrich Christian Prinz zu SCHAUMBURG-LIPPE berich-
tet, daß er unbemerkt Zeuge eines Gesprächs seines Ministers mit dem
Polizeichef HELLDORF von Berlin, wo die meisten Übergriffe stattfan-
den, wurde. Dabei habe GOEBBELS in bezug auf die kurz vorher erfolgte
Kristallnacht sehr aufgebracht unter anderem erklärt: »Das Ganze ist ein
grober Unfug. Sooo kann man das Judenproblem auf keinen Fall lösen.
So nicht. Man macht sie ja nur zu Märtyrern, Und dann? — Vor der gan-
zen Welt haben wir uns blamiert, HELLDORF. . . Wir werden unglaubwür-
dig, wenn wir solche Sachen machen, verstehen Sie mich? Wenn ich jetzt
der Welt gegenüber eine anständige Rede halte, komme ich mir nach
diesem Malheur wie eine alte Hure vor, die eine Kirche baut! Wer wird
mir noch glauben? Wer, frage ich Sie! Niemand! Man hat mir den Boden
unter den Füßen weggezogen. . . So paradox es klingt, HELLDORF. . . wir
konnten der gegnerischen Propaganda gar keinen größeren Dienst er-
weisen. Unsere Leute haben ein Duzend Juden totgeschlagen, aber für
dieses Dutzend müssen wir vielleicht mal mit einer Million deutscher Der Gauleiter des
Soldaten bezahlen! Verstehen Sie, warum ich mich so wahnsinnig dar- Gaues Magdeburg-
über aufrege?« HELLDORF habe daraufhin erwähnt, daß sich unter den am Anhalt, Rudolf JOR-
DAN, und der Chef
9. November in Berlin Verhafteten auch drei kommunistische Chinesen
der Berliner Polizei,
befanden, die, als SA-Männer verkleidet, die Menge zum Plündern auf- Wolf Heinrich Graf
gefordert hätten. Dem Prinzen gegenüber habe GOEBBELS anschließend VON HEUDORF.

noch erklärt, »daß diejenigen, die sich an den Plünderungen und Miß-
handlungen beteiligt hätten, vor Gericht kämen und schwer bestraft wür-
den, insbesondere, wenn sie Parteigenossen seien. Das ist auch in etil-

8 Ebenda, S. 184 f.
9 Ebenda, S. 185.
10 Ebenda, S. 186.

169
chen Fällen geschehen«. Auch später habe G O E B B E L S in kleinem Kreise
immer nur in dieser Art von der Kristallnacht gesprochen.11
11 Friedrich Christi- Als weiterer Zeitzeuge hat der Münchner Werner KOEPPEN in seinen
an Prinz ZU SCHAUM- persönlichen Erinnerungen niedergeschrieben: »Ich selbst war Zeuge am
BURG-LIPPE, D r . G. 9. November in München, des Tages, an dem die NSDAP der Wieder-
Ein Porträt des kehr des Tages vom 9. November 1933 in Anwesenheit des Führers und
Propagandaministers, der führenden Spitzen der Reichspolitik gedachte. Wir befanden uns im
Limes, Wiesbaden Alten Rathaus. Der Führer war allerdings bereits um 21.00 Uhr in seine
2 1 9 6 4 , S. 1 8 2 ff.
Wohnung zurückgekehrt, als über unsere Fahrer gemeldet wurde, daß
12 Werner KOEPPEN,
draußen die Synagogen in Brand gesteckt worden sind. Ich saß bei der
»Persönliche Erin-
nerungen zur Feier im Alten Rathaus neben Reichsleiter Alfred ROSENBERG und dem
Reichskristallnacht Stabschef der SA L U T Z E und konnte deutlich deren überraschte Reakti-
und zur Wannsee- on beobachten. Keiner der Anwesenden hatte eine Ahnung davon, wer
konferenz«, Kopie das veranlaßt hatte. Auch Reichsminister G O E B B E L S , dem sehr viel in die
des Schreibens des Schuhe geschoben wird, er wäre der Initiator dieses Pogroms, war völlig
persönlich dem überrascht und wandte sich sofort an die Anwesenden, alles zu tun, um
Herausgeber Ausschreitungen zu verhindern.
jahrelang gut
Dr. G O E B B E L S sprach sich scharf gegen eigenmächtiges wildes Vorge-
bekannten Mannes
im Archiv des hen einzelner Dienststellen gegen Synagogen und jüdische Privatgeschäfte,
Herausgebers. besonders in Berlin, aus. Sie würden der Politik der Reichsregierung im
13 Elisabeth DICK-
Ausland nur schaden. Gegenüber der Einstellung des Nationalsozialis-
mus allgemein zum internationalen Judentum, das Deutschland schon
MANN, Die Reichskri-
stallnacht, Bremen im Februar 1933 offiziell den Krieg erklärt hatte, ließ er allerdings keinen
1978; H.j. Do- Zweifel aufkommen.
SCHER, »Reichskristall- Es erfolgten dann die Telefonate sämtlicher anwesenden Gauleiter,
nacht« 1938, 1988; insbesondere der SA-Obergruppenführer und auch des obersten SA-Chefs
H. METZGER (Hg.), L U T Z E an die einzelnen Dienststellen, sich absolut von diesen Pogromen
Kristallnacht, 1978. zurückzuhalten. Auch Adolf H I T L E R gab von seiner Wohnung aus sofort
1 4 U d o WALENDY, Gegenbefehle, nachdem ihm gemeldet worden war, daß die Synagogen
Historische Tatsachen brennen. Um 02,56 Uhr erging ein offizieller Gegenbefehl über den Stell-
Nr. 62, Verlag für vertreter des Führers mit Fernschreiben an alle Gauleitungen in Deutsch-
Volkstum und land.«12
Zeitgeschichtsfor-
schung, Vlotho, Daß die anschließend gegen die deutschen Juden verhängten finanzi-
1994. ellen Maßnahmen menschlich ungerecht und politisch mindestens unge-
15 Ingrid WECKERT, schickt und unangebracht waren, bedarf keiner weiteren Erwähnung.
Feuerzeichen. Die Die historischen Vorgänge und Hintergründe der Kristallnacht erfor-
Reichsk ristallnacht, dern jedoch trotz einschlägiger Werke13 weitere Aufklärung, insbesondere,
Graben, Tübingen nachdem von Udo W A L E N D Y 1 4 und Ingrid W E C K E R T 1 5 weitere Merkwür-
1981. digkeiten dazu in den Raum gestellt worden sind. Wolfgang Haekert

170
Zum Schicksal von Synagogen in der Kristallnacht

ie während der Kristallnacht 1938 verursachten Schäden an Syna-


D gogen in Deutschland sind sehr zu bedauern. Das gibt jedoch keine
Berechtigung, sie zu übertreiben, wie es in der Öffentlichkeit oft erfolgt.
So schrieb die Süddeutsche Zeitung 1985:1 »Völlig zerstört wurde die Augs-
burger Synagoge im November 1938 in der Reichskristallnacht. Nun konn-
ten nach zehn Jahren Bauzeit die Renovierungsarbeiten abgeschlossen
werden. Der Synagogenkomplex wird ein bayerisches Kultmuseum auf-
nehmen und soll für Konzerte genutzt wer-
den.«
Gut zwei Wochen später veröffentlichte
dieselbe Zeitung einen richtigstellenden Le-
serbrief,2 in dem es hieß: »Als ich im Jahre
1951 Stadtbaurat von Augsburg wurde, wan-
derte ich mich, daß in Augsburg die Synago-
ge, von außen gesehen, unbeschädigt da-
stand. Daraufhin besichtigte ich sie von
innen. In der Mitte des weiten Raumes wa-
ren auf dem steinernen Fußboden auf ei-
ner verhältnismäßig kleinen Fläche Brand-
spuren zu entdecken. Die Raumausstattung
war durch Hitze, Rauch und Ruß beeinträch-
tigt worden, jedoch im wesentlichen erhal-
ten geblieben. Die Darstellung in der S. Z.
vom 2. 9. (in der Bildunterschrift, die Syn-
agoge sei in der Kristallnacht völlig zerstört«
worden) trifft nicht zu. Dies der historischen
Wahrheit wegen.«
Ebenfalls mußte die Aussage im Schwäbi-
schen Tagblatt vom März 1984,3 in der Kristallnacht seien sämtliche Syn- Die Augsburger
agogen in Frankfurt am Main zerstört worden, berichtigt werden:4 »Das Synagoge.
trifft nicht zu. Eine Synagoge, und zwar diejenige im Westend, blieb da-
mals verschont.« Und der Leserbriefschreiber erwähnt dann, wie der ge-
genüber wohnende damalige Oberbürgermeister Dr. Friedrich K R E B S »ein

1 Süddeutsche Zeitung, Nr. 201, 2. 9. 1985.


2 Dr. Ing. E. H. Walther SCHMIDT, Stadtbaurat a. D., Augsburg, Leserbrief in:
Süddeutsche Zeitung, Nr. 215,18. 9. 1985.
3 Schwäbisches Tagblatt, 3. 1984.
4 Lothar MERKELBACH, Tübingen, Leserbrief in: Schwäbisches Tagblatt, 24.3.1984.

171
paar Kerle mit Kanistern... zum Teu-
fel« jagte und so die Synagoge rettete.
Die Zerstörung der Neuen Synagoge
an der Oranienburger Straße in Berlin
wird in vielen Veröffentlichungen als
durch >Nazis< am 9, November 1938 er-
folgt behauptet, geschah aber erst durch
einen alliierten Bombenangriff im Jahre
1942.5
Zum heute gebräuchlichen Begriff
>Reichskristallnacht* erscheint ferner er-
wähnenswert, daß der Große Brockhaus in
z w ö l f Bänden von 1956 weder das Stich-
wort >Kristallnacht< noch >Reichskristall-
nacht< aufweist, während das Große Du-
den-lexikon in acht Bänden (1964—68) den
Begriff >Kristallnacht< bereits angibt.6
In der ersten Folge des Fortsetzungs-
romans Eine berührbare Frau von Michael
J Ü R G S in der EAZ" wird über das Novem-
Brennende Synagoge ber-Pogrom geschrieben, es sei »im menschenverachtenden Jargon der
in der Bonner Tem- Nazis >Reichskristallnacht<« genannt worden. Dieser dem heutigen Zeit-
pel Straße. geist entsprechenden, das Dritte Reich möglichst stark belastenden Aus-
sage wurde kurz darauf zu Recht von Professor Dr. Karl KROESCHELL
widersprochen, der als damaliger Zeitzeuge mitteilte: »Das Wort >Reichs-
kristallnacht< gehörte nicht der Sprache der Täter an. Die sarkastische
Bezeichnung, die nur unter der Hand verbreitet wurde und wohl dem
treffsicheren Berliner Witz zu verdanken ist, hat ja im Gegenteil die an-
geblich spontanen Äußerungen des Volkszorns als das gekennzeichnet,
was sie wirklich waren: als Aktionen von Partei, SA und SS.« Und er
führte dann eine Reihe solcher »Spottworte« wie »ReichsWasserleiche«
für Kristina SÖDERBAUM oder »Reichsfischermeister« für Hermann G Ö R -
IN G an, die damals im Volk umliefen.8 Rolf Kosiek

5 Siehe Beitrag Nr. 534, »Alliierte Bomber zerstörten Berliner Hauptsynagoge«.


6 Bibliographisches Institut (Hg.), Das Große Dudenlexikon in acht Bänden, Mann-
heim 1964-68, Bd. 4, S. 799.
Michael JORGS, »Eine berührbare Frau«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 2.
2007.
s Professor Dr. Karl KROESCHELL, Freiburg, Leserbrief in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 15. 3. 2007.

172
Alliierte Bomber zerstörten
Berliner Hauptsynagoge

n der Nachkriegspresse erschien oftmals das Bild der brennenden


I Neuen Synagoge Berlins in der Oranienburger Straße als Symbol für
die antisemitischen Ausschreitungen der sogenannten >Kristallnacht< am Die angeblich am 9.
9. November 1938. In dem begleitenden Text wurde angegeben, daß November 1938
dieses Haus, das nach siebenjähriger Bauzeit am 5. September 1866 in brennende Synagoge
Anwesenheit von Fürst B I S M A R C K eingeweiht wurde und mehr als 3 0 0 0 in Berlins Oranien-
burger Straße. Aus:
Plätze umfaßte,1 wie viele andere Synagogen in der Pogromnacht am 9.
Christian Z E N T N E R ,
November 1938 von den >Nazis< in Brand gesteckt worden sei.2 So schrieb Chronik Deutsch-
die Bild-Zeitung zu dem Foto: »Die Flammen waren kilometerweit zu se- lands, Otus, St. Gal-
hen: Originalfoto von der brennenden Synagoge in Berlins Oranienbur- len 2007.
ger Straße. Nazis hatten sie in der Nacht zum 9. November 1938 ange-
steckt.«3
Das ist falsch. Richtig ist, daß dieses Bild
im Juni 1943 nach einem Bombenangriff
auf Berlin aufgenommen wurde, als die bis
dahin noch fast unbeschädigte Synagoge
von alliierten Bombern in Brand gesetzt
wurde. Nicht die Deutschen, sondern An-
glo-Amerikaner zerstörten also diese Syn-
agoge. Am Abend des 9. November 1938
verhinderte die Berliner Polizei unter Lei-
tung des Vorstehers des Polizeireviers am
Hackeschen Markt, Wilhelm K R Ü T Z F E L D ,
eine Brandstiftung an der unter Denkmai-
schutz stehenden Synagoge.
Am 5. September 1966 brachte die jüdi-
sche Gemeinde von Ostberlin in Zusam-
menarbeit mit kommunistischen Stellen eine
Tafel an, deren Text mißverständlich einlei-
tend angab: »Diese Synagoge ist 100 Jahre
1 »Gotteshaus voller Kunst und Phantasie«, in:
Berliner Illustrierte Zeitung, 1. 9. 1991, S. 5.
s So in: Der Spiegel, Nr. 8, 28. 5. 1993, S. 129;

ebenda, Nr. 30, 24.7.1995, S. 49; Mitteilungsblatt


des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden
in Bayern, 1990; The Monthly, März 2007, S, 29.
3 Bild-Zeitung, 8. 2. 1979, S. 2 b.

173
alt und wurde am 9. November 1938 in der Kristallnacht von den Nazis
4 Weiter hieß es auf in Brand gesteckt.«4
der Tafel: »Während In einer jüdischen Veröffentlichung von 1987 heißt es richtigstellend:
des II. Weltkrieges »Zu den Bildern, die sich dem kollektiven Gedächtnis der Welt von der
1939-1945 wurde deutschen Barbarei eingeprägt haben, gehört auch die Aufnahme der
sie im Jahre 1943
durch Bombenan- brennenden Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Es gibt kaum
griff zerstört.« ein Buch über die Nazizeit, das dieses Bild nicht enthielte, welches für
den Anfang der Vernichtung steht. Nun hat sich mitlerweile herausge-
stellt, daß dieses weithin bekannte Bild nicht im November 1938, son-
dern nach einem Luftangriff im Juni 1943 aufgenommen wurde.«5 End-
gültig wurde diese Synagoge bei einem alliierten Terrorangriff am 24.
5 Wegweiser durch das November 1943 zerstört.' In einer gründlichen Analyse6 hat Christoph
türkische Berlin, mit H A M A N N nachgewiesen, daß es sich bei der Aufnahme um eine nach 1945
Geleitwort von entstandene Fotomontage handelt, bei der Flammen und Rauch in das
Heinz G A I J N S K J , Foto hineinretuschiert wurden. Es ist schon erstaunlich, daß auch Chri-
1987; zit. in: Natio- stian Z E N T N E R in seiner 2007 herausgegebenen Chronik Deutschlands bei
nal-Zeitung, 18. 1. der überlieferten Version blieb und keine Berichtigung vornahm,
1991. Ende der neunziger Jahre sollte in der Bundesrepublik eine Briefmar-
6 Christoph HAMANN,
ke mit der brennenden Berliner Synagoge als Mittel zur Umerziehung
Bilde/weiten - Weltbil- erscheinen. Die ersten Bögen waren schon gedruckt, als die peinliche
der. Fotos, die Ge-
schichtein) mach(t)en, falsche Zuordnung des Brandtermins (9. 11.1938) herauskam, so daß sie
Berlin 2001. eingestampft werden mußten.
Adelaide Institute, Im Jahre 1990 wurde am Gebäude neben der Synagoge eine Tafel
Online No. 322, vom Berliner Polizeipräsident angebracht, auf der es heißt: »Der Berliner
April 2007. Polizeibeamte Wilhelm K R Ü T Z F E L D (1880-1953) bewahrte in der Pogrom-
nacht vom 9./10 November 1938 durch muriges und entschlossenes Ein-
greifen diese Synagoge vor Zerstörung.«" Rolf Kosiek

Wilhelm K R Ü T Z F E L O
(1880-1953).

174
Jochen von Lang und die HJ

n der weithin vom Geist der »Bündischen Jugend* besummten Hit-


I lerjugend (HJ)1 hatten Jahrgänge junger Menschen wichtige Prägun-
gen in bezug auf Volk und Vaterland, Kultur und Natur für ihr Leben
1 Matthias VON
HELLFELD, Bündische
erhalten. Daher waren die HJ und der Reichsjugendführer Baidur VON Jugend und Hitlerju-
SCHIRACH ein besonderes Ziel für Fälschungen und Herabsetzungen im gend, Wissenschaft
Rahmen der Umerziehung." und Politik, Köln
1987.
Ein Beispiel fehlerhafter und einseitiger Darstellung der HJ bietet das
2 Siehe auch Beiträ-
als »Biographie« ausgegebene Buch Der Hitler-junge Baldur von Schirach.
ge Nr. 96 bis 100.
Der Mann, der Deutschlands Jugend erzog des langjährigen Ressortleiters für
3 Jochen VON LANG,
Zeitgeschichte der Hamburger Illustrierten Stern, Jochen VON L A N G , . 3
Der Hitler-Junge
Schon kurz nach dem Erscheinen wies Klaus SCHNEIDER in einem Offe-
Baldur von Schirach.
nen Brief an den Verfasser4 unter anderen auf folgende Fehler hin: Der Mann, der
»Da steht oft Knappschaft (z. B, S. 14) anstelle selten richtig Knap- Deutschlands Jugend
penschaft (z. B. S. 41). erzog, Unter Mitar-
• Da hat SCHIRACH die Erlaubnis, Soldat zu werden, im November beit von Claus
1940 erhalten (S. 251), obwohl der Frankreichfeldzug, an dem er teilge- SIBYLL, Rasch und
nommen hat, schon vorbei war. Röhring, Hamburg
• Da hat SKORZENY den M U S S O L I N I 1 9 4 5 befreit ( S . 3 8 8 ) , obwohl jeder 1988; als Knaur-
Taschenbuch Nr.
weiß, daß das 1943 war. 4045 bei Droemer,
• Da weiß der Autor nicht, wie er HÖss schreiben soll (S. 421): richtig München.
mit ö oder falsch mit oe. 4Offener Brief des
• Da ist der D I E T R I C H falsch Obergruppenführer (S. 381) und richtig
Dipl, Volkswirts
Oberstgruppenführer (S. 382), nämlich seit 1. 8. 44. Klaus SCHNEIDER an
• Da wird aus einer Division (S. 381) ein Regiment (S. 382). Jochen VON LANG
• Da wird aus dem nachweislich natürlichen Tod von B Ü R C K E L ein vom 2. 1. 1989, Text
bestellter Selbstmord (S. 369, 379). in: Askania-Studien-
• Da wird HiMMLER zum Reichsleiter (S. 154, 368); er war nur Reichs- sammlung Nr. 3,
führer der SS. Lindhörst 1989,
S . 29 ff.
• Da gibt es einen »Lageroffizier in Schaz< (S. 407), einem Ort, den
weder die Post in Österreich noch die in Deutschland kennt. Schwaz
kann es wohl nicht sein, denn SCHIRACH war ja schon »nach Innsbruck
und dann in ein nahes Kriegsgefangenenlagen gebracht worden.
• Da wird D I N T E R richtig >Gau führen (S. 12) und falsch >Gauleiter<
(S. 15) tituliert.
• Da wird die Asche der in Nürnberg Hingerichteten >in die Isar ge-
streut (S. 44) ohne Angabe dazu, daß andere Quellen anderes behaupten.
• Da steht, daß SCHIRACH vom Rußlandfeldzug »also bereits unterrich-
tet war< (S. 348), obwohl diese Unterrichtung schon dargestellt war (S. 307),
Warum dann >also<?

175
• Da steht im Zusammenhang mit den Ausführungen von US-Anklä-
ger J A C K S O N in Nürnberg am 2 6 . 7 . 4 6 , daß SCHIRACH >für H I T L E R S An-
griffskriege ausgebildet habe< (S. 432). Das Wort
»Angriffskriege* ist aber im IMT-Protokoll in die-
sem Zusammenhang nicht zu finden.«
Da Klaus SCHNEIDER von 1937 bis 1942 selbst
Schüler einer Adolf-Hitler-Schule war, kann er
aus eigener Erfahrung folgendes in VON L Ä N G S
Buch richtigstellen:
»Da steht >Die Kenntnisse der Schüler wur-
den nicht benotet* (S. 196). Richtig ist, daß es
Zeugnisse mit Noten gab.
• Da steht »Eine Schule wurde in Feldafing
am Starnberger See eingerichtet« (S. 196). Diese
Schule, bereits 1934 gegründet, erst NS-Deut-
sche Oberschule Starnbergersee, später Reichs-
schule der NSDAP Feldafing genannt, war kei-
ne Adolf-Hider-Schule (AHS). So konnte auch
der Ȋlteste Sohn des Reichsleiters BORMANN*
weder »unter den ersten Schülern* gewesen sein.
Und das hätte der Autor, der die Adresse von
Martin B O R M A N N , geb. 1930, kennt, leicht fest-
stehen können,
• Daß »die meisten AHS der Luftangriffe we-
gen in die Ordensburg Sonthofen verlegt* wur-
den, ist schlicht falsch (S. 197).
• Alle zehn Schulen waren seit der Gründung
Gruppe um Albert im Frühjahr 1937 in der Ordensburg Crössinsee in Pommern und ab
SPEER (rechts); neben Herbst 1937 in Sonthofen untergebracht, mit Ausnahme des Einschu-
ihm V . S C H Ü L L E R , Chef- lungsjahrgangs 1939, der vom April bis zu den Sommerferien 1939 in
redakteur des Sterns,
links oben mit Brille:
Crössinsee und ab Herbst 1939 erst in Sonthofen war. Im Gegenteil zur
Jochen V O N L A N G , ne- Luftangriffs-Begründung wurden ab Herbst 1941 verschiedene Schulen
ben ihm Baidur VON in die Gaue verlegt, so z, B. eine nach Königswinter, eine nach Blanken-
S C H I R A C H S Sohn, Ri- heim bei Weimar, eine nach Pirna.
chard. Aus: Richard • Die Aufnahme in die Schulen war in der Regel weder (S. 197) >mit
S C H I R A C H , Der Schaf-
viel Glück« noch >durch Protektion« zu erreichen, denn die Auslese der
fen meines Vaters,
Hanser, München- Schüler erfolgte nach einem strengen, mehrstufigen Verfahren.
Wien 2005. • Da steht >in einer Rede (SCHIRACHS) an die Schüler in Sonthofen«,
daß diese »Träger des Weltreichs Adolf HITLERS« würden (S. 1 9 8 ) . Das
müßte am 14. 10. 39 gewesen sein. Ich hätte es gern nachgelesen, konnte
die Stelle aber in meinen Unterlagen nicht finden, was an der fehlenden
Quellenangabe hegen dürfte.

176
Jochen von L a n g u n d die HJ

• Nicht >das Diplom« war >gleichwertig dem Abitur eines Gymnasi-


ums< (S. 197). Die Gleichwertigkeit ergab sich aus einem Erlaß des Reichs-
ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 6. 2. 42,
wonach >die Abschlußbeurteilung der Schüler der Adolf-Hitler-Schulen
dem Reifezeugnis der Höheren Schulen gleichsteht und zum Studium an
allen deutschen Hochschulen berechtigt*. Das Diplom wurde den Schü-
lern ausgestellt, die den Abschluß sozusagen mit Auszeichnung bestan-
den hatten. Die anderen bekamen eine Urkunde. Und alle eine Abschluß-
beurteilung,«
In der abschließenden Bewertung schreibt SCHNEIDER mit Recht:
»RAUSCHNING als Quelle zu benutzen (S. 197) ist geradezu grotesk. Er
wird von Historikern schon lange nicht mehr ernst genommen, was dem
Autor VON L A N G schon wegen der Diskussion in den Zeitungen nicht
entgangen sein dürfte.« 5 3 Siehe dazu Beitrag
In einer weiteren Richtigstellung dieses Buches weisen die ehemalige Nr. 147, »Die
Reichsreferentin für den Bund Deutscher Mädel (BDM), Dr. Jutta RÜDI- Lügen des Herrn
GER, und der ehemalige Pressereferent des Reichsleiters für die Jugender- Rauschning«.
ziehung, Günter K A U F M A N N , unter anderen inhaltlichen auf folgende
6 Jutta RÜDIGER U.
Fehler hin:6
Günter KAUFMANN,
1. Schon der Buchtitel stimmt nicht: SCHIRACH war nie ein »Hitler- »Schirach und sein
Junge«. Er war Studentenführer der NSDAP, als er am 31. Oktober 1931 schludriger Bio-
mit der Führung der HJ beauftragt wurde. graph«, in: Askania-
Studiensammlung, Nr.
2 . Falsch ist, wenn es (S. 113) heißt, HITLER habe »die Weltherrschaft«
2, Lindhorst 1988,
angestrebt. »Dazu brauchte er die Jugend. Sie mußte zum Kämpfen und S. 21-29.
zum Sterben erzogen werden. SCHIRACH schien dafür der richtige Mann.«
Richtig ist, daß weder HITLER die Weltherrschaft anstrebte, noch SCHIR-
ACH solches vertrat. Dieser sprach einmal am 20. April 1939 vor einem
Lehrgang der Akademie für Jugendführung in Braunschweig von dem
Reich als künftiger Weltmacht. Es gibt kein Wort von SCHIRACH, daß er
die deutsche Jugend zum Sterben erziehen wollte, sie sollte im Gegenteil
der Zukunft dienen.
3. Es heißt (S. 466), SCHIRACH habe nach seinem ersten Memoiren-
band »gut und gern noch einen weiteren Band füllen können, aber ein
Versager (wie er sich selbst sah), mochte er sich nicht noch einmal zu
Wort melden«. Richtig ist jedoch, daß SCHIRACH in Kröv mit seinem frü-
heren Mitarbeiter ein weiteres Buch über die Jugenderziehung plante.
Doch schwere Krankheit, Operation in Traben-Trabach und früher Tod
vereitelten das.
4. Eine falsche Beurteilung liegt vor, wenn (S. 285) von »sozialen
Verbesserungen« geschrieben wird, »mit denen das NS-Regime schon
den deutschen Arbeiter bestochen hatte«. Nach dieser Wertung müßten

177
Während einer Mit-
tagspause in Nürn-
berg lenkt sich Baldur
VON SCHIRACH mit d e m

Lesen eines Buches


ab. Aus: Richard LOB-
SIEN, Sieger-Tribunal,
Arndt, Kiel 2005.

alle sozialen Verbesserungen aller Regierungen, auch in Weimar oder


Bonn-Berlin, »Bestechungen« sein.
5. Falsch ist, wenn (S. 399) VON L A N G über die letzten Tage vor Kriegs-
ende feststellt: » H Ö P K E N (der Adjutant) wollte zu Frau und Kind irgend-
wo im Alpenland.« Richtig ist, daß H Ö P K E N zwar verheiratet war, jedoch
keine Kinder hatte.
6. Der Autor erwähnt (S. 410) einen »Betreuungsdienst für Groß-
deutschland«. Einen solchen gab es nicht, nur einen »Kriegsbetreuungs-
dienst des Reichsleiters VON SCHIRACH«, der Geschenke für HJ-Führer an
der Front sammelte und zum Versand bereitstellte.
1. Es ist einseitig, wenn (S. 256) der Juden-Boykott vom 1. April 1933
7 Herbert TAEGE, erwähnt, jedoch sein Grund, die Erklärung vom 24. März 1933 im Lon-
... über die Zeiten fort, doner Daily Express, daß »das jüdische Volk der ganzen Welt dem Deut-
Askania, Lindhorst schen Reich wirtschaftlich und finanziell den Krieg erklärt«, verschwie-
1978; Werner gen wird.
KUHNT, In Pflicht und
8. Falsch ist, wenn ( S . 327) von einem unter SCHIRACH in der Wiener
Freude, Druffel,
Hofburg aufgebauten Kalten Büffet geschrieben wird, das Hummer,
Leoni 1988; Jutta
RÜDIGER, Die Hitler-
Kaviar und andere Leckerbissen enthalten habe. Richtig ist, daß S C H I R -
jugend und ihr ACHS Mitarbeiter von 1940 bis 1945 bei keiner Veranstaltung derartige
Selbstverständnis im Leckerbissen gesehen, geschweige denn verspeist haben.
Spiegel ihrer Aufgaben- Bücher von Erlebnis zeugen und Beteiligten geben ein anderes, aber
gebiete, Lindhorst wirklichkeitsnäheres Bild der HJ und ihrer Jugendarbeit als die einseitige
1983. Darstellung VON LÄNGS. 7 Rolf Kosiek

178
Der B D M und vorehelicher Sex

n den meisten Fällen wahrscheinlich bewußt und nur selten wohl unbe-
I wußt wird in heutigen Beschreibungen von NS-Einrichtungen diesen
Abträgliches angeheftet, was in Wirklichkeit nicht stimmt, aber dennoch —
manchmal in mehreren Stufen — noch vergrößert und vervielfältigt wird.
So liest man in der deutschen Übersetzung 1 eines von der US-Histori-
kerin Dagmar HERZOG veröffentlichten Buches,2 daß im Gegensatz zu
den bisherigen Vorstellungen die nationalsozialistischen Machthaber die
Deutschen zu sexuellem Vergnügen angeregt hätten, und zwar nicht nur
zur Zeugung von Kindern und innerhalb der Ehe. Insbesondere hätten
1934 die Führerinnen im Bund Deutscher Mädel (BDM) »streng geheim«
von oben die Anweisung erhalten, die ihnen anvertrauten Mädchen »zum
vorehelichen Geschlechtsverkehr zu ermutigen«. Natürlich haben viele
Besprechungen des Buches gerade diese Stelle hervorgehoben, um den
>wirklichen Charakter< des BDM zu zeigen und diesen herabzusetzen.
Als Rainer DECKER3 diese Angaben mit der US-Originalausgabe ver-
glich, mußte er feststellen, daß die deutschen Übersetzerinnen offensicht-
lich gefälscht hatten. Denn in der amerikanischen Fassung steht nichts D a g m a r HERZOG, Die
Politisierung der Lust.
von vorehelichem »Geschlechtsverkehr« (sexual intercourse), sondern nur Sexualität in der
etwas von (premarital) »love affairs«, also von »Liebesbeziehungen«, was ja deutschen Geschich-
wohl etwas ganz anderes ist. D E C K E R nahm sich dann die in dem US-Buch te des zwanzigsten
dafür angegebene Quelle vor, einen in deutscher Sprache erschienenen Jahrhunderts.
Artikel des kanadischen Historikers Michael 11. KATER.4 Dort heißt es in
einer Fußnote, die jedoch den Text nicht in wörtlichem Zitat bringt: »Bei-
spiel für Ermunterung von BDM-Angehörigen zu vorehelichen Liebes-
affairen: Informationsdienst des Reichsjugend-Pressedienstes. Streng
vertraulich!, Berlin 1, 6. 1934.« Aus »Streng vertraulich!« machte Frau
HERZOG also »Streng geheim!« (Top secret).
Damit gab sich - zu Recht mißtrauisch geworden - D E C K E R jedoch
noch nicht zufrieden, sondern er besorgte sich in verdienstvoller Weise
aus dem Bundesarchiv ein Original des betreffenden, nur hektographier-
ten Pressedienstes, der sich an die Leiter der Hj-Presse richtete. Was er
dort fand, schildert er mit den Worten:3 »>Streng vertraulich« steht in der
1 Dagmar HERZOG, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des
z w a n z j g s t e n Jahrhunderts, Siedler, Berlin 2005.
2 Dagmar HERZOG, Sex and Facism. Memory and Morality in Twentieth Century Ger-

many, 2005.
5 Rainer DECKER, »Streng vertraulich! Ende einer Legende: Der BDM und der
voreheliche Sex«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 10, 2006, S. 40.
4 Michael H. KATER, zitiert in DECKER, aaO. (Anm. 3).

179
Dem Bund Deutscher
Mädel haften nach
wie vor zahlreiche
Vorurteile an, darun-
ter Disziplinierung
und Gewöhnung an
Selbstaufgabe. Dag-
mar HERZOC, will in
dem BDM eine Verei-
nigung zur »Politisie-
rung der Lust« sehen.

Tat im Kopf des Blättchens, Aber in der Ausgabe vom 1, Juni 1934 fin-
det sich nichts von einer »Ermunterung von BDM-Angehörigen zu vor-
ehelichen Liebesaffairenc Das einzige, was hier zu nennen wäre, ist die
Zusammenfassung, die der Pressedienst von einem Zeitschriften-Artikel
der BDM-Führerin Lydia GOTTSCHEWSKI liefert: »Durch den Mädelbund
bekommt das Mädel einen ihr bisher verschlossenen, neuen (unterstri-
chen:) wesenhaft-weiblichen Bereich. Das Liebeserlebnis verliert den
Charakter der Ausschließlichkeit, wird dadurch in seinem Wert als Liebe,
die Schicksal ist, gesteigert.« D E C K E R meint zutreffend dazu: »Was im-
mer mit diesem Geraune gemeint ist - auf jeden Fall keine Förderung
von >Liebesaffären<, sondern, wie es im darauffolgenden Zitat heißt, ge-
rade eine Abkehr von »jener entsetzlichen Verniedlichung und Verharm-
tosung der Liebe, die gerade die seelisch kraftvollsten Mädchen immer
wieder in die Vereinsamung treibt und daran hindert, ihre Aufgaben zu
erfüllen: Ahnfrauen neuer Geschlechter zu seine«
Mit Recht urteilt D E C K E R abschließend in seinem aufklärenden Arti-
kel: >*Das ist das Gegenteil von dem, was in der heutigen Sekundärlitera-
tur herauskommt, und der forschende Leser fühlt sich an das Spiel von
der Stillen Post erinnert.«
Es ist erfreulich, daß solches in der FAZ veröffentlicht wird. Auch die
junge Freiheit brachte diesen Fall als Beispiel unverantwortlicher »zeithi-
storischer Fälschungen oder gar regelrechter Räuberpistolen«.5
Rolf Kosiek
5 Hans Joachim VON LEESEN, »Stille Post über den Anmerkungsapparat«, in: Jun-
ge Freiheit, 26. 1. 2007.

180
Das Dritte Reich und das Rauchen

er aktuelle Feldzug gegen das Rauchen, unternommen von 171


D Staaten, die im März 2003 die Genfer >Anti-Tabak-Konvention< un-
terzeichnet haben, wird oft als der Beginn wirkungsvoller Maßnahmen
gegen den Tabakkonsum betrachtet. Er hat jedoch einen Vorläufer im
Blitzkrieg gegen den Krebs, der schon in den dreißiger Jahren des 20. Jahr-
hunderts in Deutschland entfesselt wurde. Unter diesem Titel wendet
sich Robert N. PRoctoR, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der
kalifornischen Stanford-Universität, gegen den weitverbreiteten Aberglau-
ben, wonach die »Stunde Null< der Tabak- und Gesundheitsforschung
erst in den fünfziger Jahren geschlagen habe. Richtig ist nämlich, daß für
die deutsche Forschung schon vor dem Zweiten Weltkrieg feststand, daß
Tabak süchtig macht und Rauchen Lungenkrebs hervorruft: »Dieser
Konsens ging zusammen mit dem NS-Regime unter und wurde erst nach
dem Krieg unter der Führung von anglo-amerikanischen Wissenschaft-
lern wieder aufgenommen.«
Zum Beweis der deutschen Priorität beruft sich PROCTOR nicht allein
auf Fritz LICKINT, dessen Standardwerk Tabak und Organismus (Stuttgart
1939) auf nahezu 1200 Seiten die »umfassendste wissenschaftliche An-
klage gegen das Rauchen darstellt, die je publiziert wurde«. Der Chem-
nitzer Arzt prägte damals auch den Begriff des »Passivrauchens<, das be-
kanntlich auch Nichtraucher gefährdet.
Die Zeitschriftfür Krebsforschung brachte 1939 die bahnbrechende Arbeit
des Kölner Mediziners Franz Hermann M Ü L L E R , der unter dem Titel
Tabakmißbrauch und Lungencarcinom diesen verhängnisvollen Zusammen-
hang durch sorgfältige Fallstudien untermauerte.
Pionierarbeiten wie diese schufen die Grundlage für die bisher aggres-
sivste Anti-Nikotin-Kampagne in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhun-
derts, indem man Forschung, Propaganda und praktische Maßnahmen
auf professionelle Weise verband. Mit der Inbrunst des Bekehrten und
100000 Mark aus dem Etat der Reichskanzlei förderte der frühere Rau-
cher Adolf H I T L E R 1 die Einrichtung des universitären Jenenser »Instituts
zur Erforschung der Tabakgefahren<, der ersten derartigen Einrichtung
auf der ganzen Welt. Der Direktor des Instituts, Professor Karl A S T E L

1 In seiner Jugend in Wien habe er je Tag zwischen 20 und 40 Zigaretten ge-


raucht, gestand HITIJ-:R. Eines Tages sei ihm aber klar geworden, wieviel Geld er
auf diese Weise verschwende: »Alsbald habe ich meine Zigaretten in die Donau
geworfen und nie mehr danach gegriffen.« Zitiert in: Henry PICKER, Hitlers Tisch-
gespräche im Führerhauptquartier 1941—42, Bonn 1951, S. 327 f.

181
(1898-1945), verbot als Rektor das Rauchen in allen Räumen der
Universität und war dafür bekannt, Studenten die Zigarette aus
dem Mund zu reißen, die in seiner Gegenwart das Rauchverbot
übertraten, Tabak müsse »Zigarette für Zigarette, Zigarre für Zi-
garre« bekämpft werden, bekräftigte ASTEI.,
Die deutsche Anti-Tabak-Propaganda stellte damals nicht nur
heraus, daß H I T L E R weder rauchte noch trank. Man hob auch her-
vor, daß die wichtigsten autoritären Führer Europas - HITLER, M U S -
SOLINI und F R A N C O - nicht rauchten, während auf der Gegenseite
C H U R C H I L L , R O O S E V E L T und STALIN dem Nikotin verfallen waren.
Im März 1939 tagte in Frankfurt am Main ein Kongreß, auf
dem hochkarätige Referenten den 15 000 Teilnehmern die Gefah-
ren des Rauchens vor Augen führten. In Wort und Schrift warnte
man vor dem Gift und machte das Rauchen als Ausdruck charak-
terlicher Schwäche, fehlender Selbstbeherrschung und mangeln-
der Willenskraft verächtlich. Nach herrschender Meinung hatten
Raucherinnen schlechtere Aussichten, weil sie früher altern und
somit ihre Schönheit einbüßen. »Die deutsche Frau raucht nicht«,
hieß es auch im Hinblick auf den weiblichen Organismus: Schon
1924 hatte der Wiener Gynäkologe Robert HOFSTATTER (Die rau-
chende Frau) Dutzende von Frauenkrankheiten den Auswirkungen
des Rauchens zugeordnet.
Mit einem Bündel von Maßnahmen suchte man der Sucht zu-
zusetzen: Beratungsstellen wurden eingerichtet. Die NSDAP räum-
te in ihren Räumen mit dem Rauchen auf. Polizisten mußten wäh-
rend des Dienstes auf den Glimmstengel verzichten. Im Juli 1943
wurde allen Personen unter 18 Jahren das Qualmen in der Öffent-
lichkeit untersagt. In öffentlichen Verkehrsmitteln durften sich auch
Erwachsene keine Zigarette anzünden. Die Nationalsozialisten
untersagten das Aufstellen von Automaten und hoben in der
Reichsbahn das Nichtraucherabteil aus der Taufe. Der Zigaretten-
werbung wurden inhaltliche und mediale Beschränkungen aufer-
Anti-Tabak-Plakate in der NS- legt.
Zeit. Dennoch — auf die Dauer war gegen die Macht der Tabak-Ma-
fia kein Kraut gewachsen. Philipp Fürchtegott REEMTSMA stand in
dem Geruch, er habe sich seinen Konzern mittels Meineid und
Bestechung errafft. Als Reemtsma-Konkurrentin betätigte sich die
SA: »Der Eifer, den die SA in dieser Sache entfaltete, wurde da-
durch befeuert, daß die Zigarettenfirma Trommler die SA sub-
ventionierte. SA-Männer durften nur Trommler-Zigaretten rau-
chen. Verkäufer von Reemtsma-Zigaretten wurden verprügelt und
ihre Eadenfenster eingeschlagen.«

182
Hermann G Ö R I N G
1936 zu Besuch beim
Reemtsma-Werk Bah-
renfeld, Der preußi-
sche Ministerpräsi-
dent wird von Philipp
Fürchtegott R E E M T S M A
empfangen. (Foto:
Museum der Arbeit).

tn einer Aussprache zwischen GÖRING und REEMTSMA machte der Zi-


garettenherstelier dem Nationalsozialisten klar, daß es sinnlos sei, die
Henne zu schlachten, die die Eier legen sollte: »GÖRING sträubte sich
nicht, das einzusehen, und REEMTSMA zögerte nicht, sich loszukaufen",
überlieferte der Gestapo-Führer Rudolf DIEIÄ (Luciferanteportas, 1950).
Der Partei habe die »I lenne« 7,276 Millionen »Eier« gelegt, gestand Gö-
RING später in Nürnberg unter Eid. Auf GÖRJNGS Geheiß mußte die SA
die Herstellung ihrer Zigaretten stoppen, REEMTSMA aber, von dem am
Ende der zwanziger Jahre nur 20 Prozent der im Reich gerauchten Ziga-
retten stammten, erreichte dadurch 1939 einen Marktanteil von 70 Pro-
zent. In den zwölf NS-Jahren spuckte der REEMTSMA-Konzern insgesamt
400 Milliarden Zigaretten aus, nach PROCTOR genug, um 200000 Todes-
falle durch Lungenkrebs hervorzurufen.
Verpufften die Appelle gegen das Paffen auch nicht nutzlos, so reichte
dem Dritten Reich für die Verwirklichung der tabaklosen Gesellschaft
nicht die Zeit. Wohlweislich vermied man im Krieg, die Tabakverknap-
pung für eine totale Abschaffung zu nutzen. Mit Recht befürchtete die
Führung, daß sich Entzugserscheinungen bei Rauchern auf die allgemeine
Abwehrkraft nachteilig auswirkten. So wurde der großdeutsche Zigaretten-
verbrauch »trotz drastischer Verteuerung durch kräftige Kriegszuschläge
(RGBl. 1939 I S. 1609; 1941 I S. 666), verbunden mit differenzierter
Rationierung der Tabakwaren« auf den Rekord von 80 Milliarden Stück
im Jahre 1942 erhöht. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der jeweiligen Ta-

183
bakkontingente war in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhun-
derts für die Wehrmacht reserviert, deren Andenken der Reemtsma-Erbe
Jan Philipp R E E M T S M A heute als Ausstellungsmacher in den Dreck zieht.
»Eine Lektion aus der Nazizeit ist, daß sogar ein dermaßen totalitärer
Staat nicht in der Lage war, gegen eine mächtige Tabakindustrie zu ge-
winnen«, bedauert P R O C T O R . » E S braucht demokratische Maßnahmen,
um gegen diese Händler des Todes vorzugehen.«
Die Besatzer, von denen es heißt, sie hätten den besiegten Deutschen
die Demokratie gebracht, ergriffen diese »demokratischen Maßnahmen«
nicht. Unter alliierter Diktatur wurden die Zigaretten sogar zum Zah-
lungsmittel. Für 7000 >Amis< (US-Zigaretten) konnte sich der Gl eine
Leica beschaffen. Als Teil des MARSHALL-Planes verschifften die USA
90000 Tonnen Gratis-Tabak nach Deutschland. Prompt wechselte der
Tabak-Geschmack der Besiegten von Orient zu Virginia.
Mit der Gier eines Geiers stürzte sich das siegreiche Amerika auf deut-
sche Patente und anderes geistiges Eigentum Deutscher. Dagegen ließ
man die Ergebnisse der deutschen Raucher-Untersuchungen aber links
hegen, weil sie sich strategisch nicht verwerten ließen. Als die Erkennt-
nisse von der Krebsträchtigkeit des Rauchens nach geraumer Zeit end-
lich aufgegriffen wurden, gab man sie als US-Errungenschaften aus.
Doch bei der Lobby der betroffenen Nikotinindustriellen stoßen selbst
Aktionen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf Widerstand:
Demagogisch dreschen Tabak-Manager mit der >Holocaust-Keule< auf
Nikotingegner ein. Das Imperium Philip Morris (»17000 europäische
Beschäftigte im Dienste von 97 Millionen europäischen Rauchern«) schlug
mit einem Inserat zu, das Nichtraucher mit Nazis und Raucher mit Juden
gleichsetzte: Durch andersfarbige Hervorhebung wurde auf einem Stadt-
plan der Anne-Frank-Metropole Amsterdam ein dem traditionellen Ju-
denviertel benachbarter Sperrbezirk als fiktives >Raucherviertel< ausge-
wiesen. Die Frage: »Wo ziehen sie die Grenze?« versuchte zu suggerieren,
die demokratischen Bemühungen zur Einschränkung des Rauchens ent-
sprächen den historischen NS-Bestrebungen zur Ausgrenzung der Juden
(Newsweek, Europäische Ausgabe, 25. 5. 1995/ PROCTOR wiederum er-
blickt in Deutschlands Widerstand gegen die restriktiven Tabakgesetze
der Europäischen Union ein verstecktes Erbe der NS-Vergangenheit:
Führte H I T L E R doch den Aufstieg des Nationalsozialismus darauf zu-
rück, daß er das Rauchen aufgegeben habe: »Vielleicht verdankt dem das
deutsche Volk seine Rettung.«2 Fred Duswald

184
Literatur
Robert HOFSTATTER, Die rauchende Frau, Ene klinische, psychologische und soziale Studie,
Wien 1924.
Fritz LiCKlNT, »Tabak und Tabakrauch als ätiologischer Factor des Carcinoms«, in:
Zeitschrift für Krebsforschung 30,1929, S. 345-365.
Ders., »Die Bedeutung des Tabaks für die Krebsentstehung«, in: Deutscher Tabak-
gegner 17,1935.
Ders., »Der Bronchial krebs der Raucher«, in: Münchner Medizinische Wochenschrift
82,1935, S. 1232 ff.
Ders., Die Krebsfrage im Lichte der modernen Forschung, Berlin 1935.
Ders., Tabakgenuß und Gesundheit, Hannover 1936,
Ders., Tabak und Organismus: Handbuch der gesamten Tabakkunde, Stuttgart 1939.
Franz Hermann MÜLLER, »Tabakmißbrauch und Lungencarcinom«, in: Zeitschrift
für Krebsforschung 49, 1939, S. 57-85.
Ferdinand SAUERBRUCH, Fritz LICKINT U. Emst GABRIEL, Arzt, Alkohol und Tabak,
Berlin 1940.
Wolfgang KLARNER, Vom Rauchen. Ene Sucht und ihre Bekämpfung, Nürnberg 1 9 4 0 .
Eberhard ScHADtER u. Frich SCHÖNIGER, »Lungenkrebs und Tabakverbrauch«, in:
Zeitschrift für Krebsforschung 54,1943, S. 261-269.
Paul BERNHARD, Der Einfluß der Tabakgifte auf die Gesundheit und die Fruchtbarkeit der
Frau, Jena 1943.
Erich SCHÖNIGER, Lungenkrebs und Tabakverbrauch, Jena, Med, Diss. 1944.
Paul WEINDUNG, Health, Race and German Poätics between National Unification and
Na^ism 1870-1945, Cambridge 1989.
Ronald WOITKE, Zur F.ntwicklungder Krebserfassung, -behandlung und-fürsorge im »Drit-
ten Reich«, Leipzig, Med. Diss. 1993.
Brigitte JENSEN, ¿Karl Astel. >EIN Kämpfer für Volksgesundheitt« in: Barbara DANK-
WOKTT (Hg.): Historische Rassismusforschung. Ideologen, Täter, Opfer, Hamburg 1995,
S. 152-178.
Robert N, PROCTOR, ^Gesundes Brot und Leibesübungen: Hat die ideologisch
begründete Krebsprävenrionspoiitik im Nationalsozialismus zu geringeren Krebs-
raten beigetragen ?«in: Einblick: Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums 9,
1995, S. 7-11.
Ders,, »The Anti-Tobacco Campaign of the Nazis: A Little Known Aspect of
Public Health in Germanv 1933-1945«, in: British Medical Journal 313, 1996,
S. 1450-1453.
Ders,, »The Nazi War on Tobacco: Ideology, Evidence, and Possible Cancer Con-
sequences«, in: Bulletin of the History of Mediane 71, 1997, S. 435-438.
Christoph M . MERKI, »Die nationalsozialistische Tabakpolitik«, in: Vierteljahrshefte
für Zeitgeschichte 46, 1998, S. 19-42.
Robert N, PMXTOR, Blitzkrieg gegen den Krebs. Gesundheit und Propaganda im Dritten
Reich, Stuttgart 2002.
Oliver HOCHADELL, VDIC Lungen des erwählten Volkes* sind rein. Blitzkrieg ge-
gen den Krebs. Gespräch mit dem US-amerikanischen Medizinhistoriker Ro-
bert N. Proctor über die >Modernität< der NS-Medizin«, in: Freitag. Die Ost-West-
Wochenzeitung, 22. 3. 2002.

185
Kein Verbot von Religionsunterricht

n Artikeln zur Zeitgeschichte wird heute oft der Eindruck erweckt, als
I ob in der Zeit des Dritten Reiches der Religionsunterricht an den Schu-
len verboten worden wäre. So heißt es in einem Beitrag in der FAZ,, daß
»im Nationalsozialismus der Religionsunterricht aus den Schulen verbannt
blieb«.1
Das ist falsch. Richtig ist, daß durchaus bis zum Ende des Krieges
Religionsunterricht an den Schulen in Deutschland angeboten wurde. So
heißt es in einem Leserbrief zu der genannten Stelle: »In den Jahren
1935 bis 1943 hatte ich in Hessen an der Volksschule und an einer Ober-
realschule, die damals sogar >Adolf-Hitler-Schule< hieß, regelmäßigen evan-
gelischen Religionsunterricht, an dem praktisch alle Schüler teilnahmen.
Kein Schüler war deshalb, selbst als Hitler-Jugend-Führer, irgendwelchem
Druck ausgesetzt. Gegenteilige Erfahrungen sind mir auch von anderen
öffentlichen Schulen nicht bekannt.«2
In einem bezeichnenderweise von Sonntag Aktuell nicht veröffentlich-
ten Leserbrief zu einem dort erschienenen Gespräch mit dem Regisseur
des Films Napolas, der vieles falsch und einseitig darstellt, schrieb der
dem Verfasser persönlich bekannte früherer Napola-Schüler Karl BAS-
SLER, der von 1937 bis 1942 als Schüler an der württembergischen Napo-
la Backnang war: »Ich trat 1937 in die jüngste Klasse der Schule ein und
erbat von unserem Anstaltsleiter Dr. G R Ä T E R nach ca. vier Wochen die
Einrichtung eines Konfirmandenunterrichts, da ich meiner Mutter ver-
sprochen hatte, mich konfirmieren zu lassen.
Meiner Bitte wurde sofort entsprochen, und ich wurde beauftragt, in
meiner Klasse zu ermitteln, wer noch konfirmiert werden wollte. Insge-
samt waren es von 26 acht weitere Schüler. Wie in diesem Falle vertrat
ich während meiner Zugehörigkeit zur Napola Backnang, bis zu meiner
Einberufung zum Wehrdienst 1942, meine eigene Meinung immer offen
und ungehindert, was zu keinerlei Schwierigkeiten führte, im Gegenteil,
ich wurde im letzten Jahr meiner Zugehörigkeit zum Gefolgschafts führet
(leitender Jungmann der ganzen Anstalt) ernannt. In dieser Eigenschaft
hatte ich zahlreiche Gespräche und auch Auseinandersetzungen mit al-

1 Siegfried STADLER, »Gebetet wird nicht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 5.
1995.
2 Dr. Franz ZIGAN, Bad Homburg, »Religionsstunden ehedem«, in: Frankfurter

Allgemeine Zeitung, 21. 6. 1995.


3Karl BASSLER, Böblingen, ein nicht veröffentlichter Leserbrief an die Redakti-
on Sonntag Aktuell vom 9. 1. 2005, liegt dem Verfasser in Kopie vor.

186
Jen Erziehern und natürlich auch mit Dr. G R Ä T E R und mit ihm zusam-
men mehrere Gespräche mit dem Inspekteur aller deutschen Napolas,
dem SS-Obergruppenführer HEISSMEYER, der vor dieser Aufgabe Ixiter
des SS-Hauptamtes, also zweiter Mann nach HIMMLER, gewesen war. Bei
all diesen Kontakten war nicht der geringste Hauch des in Ihrem Bericht
beschworenen Ungeistes zu spüren. In der Napola Backnang herrschte
ein liberaler Geist.«3
Ergänzend fügte BASSLER die folgenden Feststellungen über die
Nachkriegsbewährung der Napola-I.ehrer hinzu: »Der Anstaltsleiter der
zweiten württembergischen Napola Rottweil, Max HGEEMANN, wurde als
Oberstudiendirektor der sehr behebte Schulleiter des Gymnasiums in
Urach. Der Lehrer, der in der Backnanger Napola die schönsten deut-
schen Morgenfeiern hielt, Richard HAUFF, wurde Leiter und Oberstudien-
direktor des Gymnasiums in Esslingen. Er war der Vater des ehemaügen
SPD-Bundesministers Volker HAUFF, den er mir einmal als Säugling auf
den Arm gab. Die beiden aktivsten Napola-Erzieher aus Backnang,
STAHLECKER und HERRLINGBR, waren als Oberstudiendirektoren langjäh-
rige Ixiter der beiden Gymnasien in Tübingen. Unser bester Wehrsport-
Lehrer, Leutnant schon im Ersten Weltkrieg, >General< Fritz, wurde Lei-
ter des Gymnasiums in Waiblingen. Die meisten übrigen Lehrer gingen
in den 70er Jahren als Studiendirektoren in Pension, Der - positiv - schärf-
ste >Hund< unserer Erzieher, der Sportlehrer Paul KIEFER, wurde Ende
der 60er Jahre als Ministerialrat im württembergischen Kultusministeri-
um Leiter des gesamten gymnasialen Schulsports, Echte Qualität setzt
sich eben in allen Systemen durch. Die meisten dieser »Verführer kamen
aus der freien Jugendbewegung {von vor 1933) und haben uns - Gott sei
dank - beigebracht, wie man auf Fahrt geht, Deutschland erwandert,
uns Hunderte wunderbare deutsche Volkslieder gelehrt und die vernünf-
tige Ordnung einer lebensbejahenden Gemeinschaft vor Augen gesteht.«
Der Verfasser erinnert sich ebenfalls gut daran, daß er als evangeli-
scher Volksschüler von 1941 bis zur Evakuierung 1944 im vorwiegend
katholischen Paderborn regelmäßigen Religionsunterricht besuchte, der
gemeinsam mit Schülern anderer Klassen stattfand, während die katholi-
schen Klassenkameraden klassenweise ihren Religionsunterricht hatten.
Auch vor den Vereidigungen in der deutschen Wehrmacht wurde —
mindestens bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges - in der Regel ein
Gottesdienst abgehalten. Nachfolgend ist die Abfolge eines solchen vor
einer Vereidigung im November 1938 wiedergegeben.4 Rolf Kosiek

4 Original im Archiv des Verfassers.

187
188
189
Volksempfänger konnte Auslandssender empfangen

er als Angehöriger der linken Gruppe von Vergangenheitsbewälti-


D gern im Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg hervorge-
tretene Historiker Wolfram W E T T E , geboren 1940 und voll von der Um-
erziehung erfaßt, schrieb in seinem von diesem Institut herausgegebe-
nen Buch Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg zur Reichweite des in
vielen I laushalten in der NS-Zeit vorhandenen >Volksempfängers< (ein-
faches Radio) und als Beweis für die angebliche staatliche rundfunkmä-
ßige Abschottung der Deutschen vom Ausland: »Technisch waren diese
Geräte so ausgestattet, daß gerade der nächstgelegene >Reichsender< und
der »Deutschlandsenden empfangen werden konnten, der Empfang aus-
ländischer Sender jedoch unmöglich war.«1
Doch das ist falsch. Richtig ist, was als Zeitzeuge der Historiker Hanns-
joachim W. K O C H dazu im Rahmen der Schilderung damaliger Zensur
feststellte: »Obwohl die deutsche Presse strenger Zensur unterworfen
Der legendäre Volks- war, konnten jene, die es sich leisten konnten, bis Kriegsausbruch an den
empfänger VE 301 Zeitungskiosken britische, französische, Schweizer und andere ausländi-
war bereits auf der sche Zeitungen kaufen. Alle jene, die sich innerhalb des NS-Rahmens zu
Berliner Funkausstel- informieren wünschten, konnten dies durch Benutzung des »neuen Me-
lung 1933 zu sehen. diums« - über den Rundfunk. Selbst ein einfacher und billiger Rundfunk-
apparat wie der »Volksempfänger konnte ohne Mühe den Schweizer Sen-
der Beromünster, den Londoner, Pariser und Moskauer Rundfunk
empfangen, und zwar auf Mittelwelle.«2
Und in einer Fußnote schreibt K O C H unter direktem Bezug auf W E T -
TES oben angegebenes Zitat: »Dies ist nur einer von einer Unzahl von
sachlichen Fehlern, mit denen die bisher erschienenen vier Bände ge-
spickt sind. Der Verfasser, damals im Zentrums Münchens in einer Par-
1Wolfram W E T T E , terrewohnung lebend (also nicht der idealste Empfangsort für ausländi-
Das Deutsche Reich sche Sender), erinnert sich noch genau, daß Eltern wie älterer Bruder
und der Zweite schon während der Sudetenkrise mit dem Volksempfänger den Schwei-
Weltkrieg, Bd. 1,
Stuttgart 1979, zer, französischen und britischen Rundfunk abhörten, dies auch wäh-
S. 1 0 9 .
rend der Kriegsjahre, als der Moskauer Rundfunk dazukam, wie auch
gegen Ende 1944 der »Soldatensender Calais<, den aber die Mutter wegen
2 Hannsjoachim W
KOCIH, Volksgerichts- seiner Obszönitäten abschaltete.«3
hof. Politische Justiz im Dem Verfasser haben darüber hinaus mehrere weitere Zeitzeugen be-
3. Reich, Universitas, stätigt, daß man in der Zeit des Dritten Reiches mit dem damaligen Volks-
München 1988, empfänger auch Auslandssender empfangen konnte. W E T T E S oben ge-
S. 131. nannte Feststellung trifft also nicht zu und ist offensichtlich aus dem
3 Ebenda in Anmer- Bestreben entstanden, möglichst viel Negatives aus heutiger Sicht der
kung 181, S. 593. damaligen Regierung anzulasten. Rolf Kosiek

190
Hits unter Hitler

ntgegen heutiger landläufiger Meinung gab es auch im Dritten Reich


E moderne Musik, wenn sie auch von Regierung und Partei nicht gern
gehört wurde. Das galt auch für Jazz-Musik.
Wie für alliierte Propagandisten war die Musik ebenso für Reichspro-
pagandaminister Joseph G O E B B E L S »genau so wichtig wie Kanonen und
Gewehre«. Sie wurde auch auf deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg als
Ablenkungs- und Entspannungsmittel eingesetzt. Eine akustische Brücke
zwischen Front und Heimat schlug das >Wunschkonzert<. Damit die Mu-
sik die Massen erreichen konnte, bedurfte es des Rundfunks. Zu Beginn
des Dritten Reiches hatte nur jeder vierte Haushalt ein eigenes Rund-
funkgerät. Radioapparate waren teuer und kosteten zwischen 200 und 400
Mark. Auf der Berliner Funkausstellung im August 1933 stellte G O E B B E L S
jedoch den >Volksempfänger< vor, der auf Wunsch des Ministers von 28
Herstellern gemeinschaftlich entwickelt worden war und samt Antenne
76 Mark kostete. Noch billiger war der »Deutsche Kleinempfängen, der
im Volksmund >Goebbels-Schnauze< genannt wurde und ab 1938 für 35
Mark zu haben war. Dank des Absatzes von 3,5 Millionen Stück dieser
preiswerten Apparate hatte sich die Zahl der reichsdeutschen Rundfunk-
teilnehmer bis 1938 verdoppelt.
So wirkte der Funk als Verbreiter für die Musik, die aus den Filmen
kam. Diese brachten viele Schlager, von denen sich nicht wenige als >Ever-
greens< bis heute gehalten haben. Die bekanntesten und erfolgreichsten
Stars unter dem - zu Unrecht - im Ruf der Ausländerfeindlichkeit ste-
henden Regime waren Ausländerinnen: Zarah L E A N D E R (»Yes, Sir«) war
gebürtige Schwedin, Marika R Ö K K (»Die Juliska aus Budapest«) stammte
aus Ungarn, Rosita S K R R A N O (»Roter Mohn«) kam gar aus Übersee. Wie
ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen wirkte auch die »chilenische
Nachtigall« während des Krieges am Wunschkonzert und an der Truppen-
betreuung mit.
Bis zum Ausbruch des Krieges war das Abhören auswärtiger Sender
zwar unerwünscht, doch nicht verboten. Vielmehr warben alle Rundfunk-
zeitschriften mit einem umfassenden Europaprogramm. Erst mit der Ver-
ordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September Von oben:
Rosita S E R R A N O und
1939 (Reichsgesetzblatt I, S. 1683) wurde das Abhören ausländischer Sender
Marika R Ö K K .
bei Strafe untersagt. Auf Zuwiderhandlung stand Zuchthaus, in leichteren
Fällen konnte auf Gefängnis erkannt werden. Das Abhörverbot erstreckte
sich auch auf Musikdarbietungen ausländischer Stationen.
Im großdeutschen Rundfunk durfte »Musik mit verzerrten Rhythmen
und atonaler Melodieführung« ursprünglich nicht gesendet werden. Der

191
offizielle Jazzboykott hatte zur Folge, daß man in der Wehrmacht, vor
allem bei der Luftwaffe, auf britische Sender umstieg, und zwar nicht
wegen der Wortsendungen, sondern wegen der schmissigen Musik, die
insbesondere Sefton D E L M E R S >Soldatensender Calais< allabendlich nach
20 Uhr 15 auszustrahlen pflegte.
Nachdem der Glenn-MlLLER-Fan und Ritterkreuzträger Werner Möi.-
DERS, erfolgreicher Oberst und Inspekteur der Jagdflieger, an höchster

Eingeleitet wurden die


Konzerte mit einer Fan-
fare als Erkennungs-
melodie und einem Be-
grüßungstext. Die Front
hörte mit. Beide Abbil-
dungen aus: Hans-Jörg
KOCH, Wunschkonzert,
Ares, Graz 2006.

192
Stelle seinem Wunsch Nachdruck verliehen hatte, die deutschen Sender
sollten doch endlich »anständige* Musik nach amerikanischem Vorbild
bringen, damit deutsche Luftwaffenpiloten nicht mehr BBC zu hören
brauchten, gab der gegen Jazz eingestellte G O E B B E L S nach. Die beiden
bekannten Komponisten Franz G R O T H E und Georg H A E N T Z S C H E L stell-
ten eine »Big Band< auf die Beine. Dieses »Deutsche Tanz- und Unterhal-
tungsorchester« mit hochqualifizierten Jazzern hatte die Aufgabe, »die
Wehrmacht, insbesondere die Piloten, durch eine akzeptable rhythmi-
sche Musik zufriedenzustellen.«
Vertieft wurde die Verbindung zwischen Front und Heimat vor allem
durch das »Wunschkonzert für die Wehrmacht«, das aus dem Großen
Sendesaal des »Hauses des Rundfunks« in der Berliner Masurenallee di-
rekt übertragen wurde. Die an der Front stehenden Soldaten konnten
über Ätherwellen Grüße in die Heimat senden, Angehörige durften den
Der Sprecher der
für Deutschland kämpfenden Ehemännern, Vätern und Söhnen Nach- Sendung »Wunsch-
richten wie auch Wünsche übermitteln. Allein für die Premiere am 1. konzert« war Heinz
Oktober 1939 waren 23 117 Feldpostbriefe mit Musikwünschen einge- G O E DECKE.

gangen.
Eingeleitet wurden die Konzerte mit einer Fanfare als Erkennungs-
melodie und einem Begrüßungstext. Bis 19 Uhr war dann eine bunte
Abfolge von Märschen, Kammermusik und Chorsätzen, Ouvertüren,
Opernarien, Volksweisen, Soldatenliedern und einigen wenigen Tanz-
schlagern zu hören, wobei der populär-klassische Anteil, vor allem mit
Werken von W A G N E R , B E E T H O V E N , M O Z A R T , B R U C K N E R und H Ä N D E L ,
vorherrschte. Nach den 19 Uhr-Nachrichten begann der zweite Teil, der
etwa 45 Minuten lang von leichter Musik — meist Schlagern und Tanzme-
lodien auf Schallplatte oder von namhaften Künstlern mit Live-Inter-
pretation - geprägt war. Im dritten Teil, von 20 bis 22 Uhr, wurden Wal-
zer, Chorsätze, Märsche und ernste Musik gespielt. Erfüllt wurden die
Musikwünsche, die am meisten genannt worden waren. Aufgelockert
wurde das musikalische Programm mit gesprochenen Einlagen, Gedich-
ten, Sketchen, Ansagen militärischer und privater Natur.
Ein beliebter Teil des Wunschkonzertes war die Bekanntgabe der neu-
geborenen Soldatenkinder. Oft erfuhren die Landser über das Wunsch-
konzert von dem freudigen Ereignis, lange bevor dasselbe dem Vater
durch die Feldpost zur Kenntnis gelangte. Untermalt wurde die Liste der Literatur
Hans-Jörg KOCH,
Neugeborenen von Säuglingsgeschrei. Den Abschluß der Sendung bil-
Wunschkonzert.
deten die sentimentalen Sätze: »»Das Wunschkonzert der Wehrmacht geht Unterhaltungsmusik
zu Ende / Die Front reicht ihrer Heimat jetzt die Hände / Die Heimat und Propaganda im
aber reicht der Front die Hand / Wir sagen gute Nacht, auf Wiederhö- Rundfunk des Dritten
ren / Wenn wir beim andern Male wiederkehren / Auf Wiedersehen Reiches, Ares, Graz
sagt das Vaterland.« Fred Duswald 2006.

193
Gustav Fröhlich ohrfeigte nicht Goebbels

ei Ausführungen über den deutschen Film in der Zeit des Dritten


B Reiches wird immer wieder versucht, ihn mit Legenden herabzuset-
zen und möglichst Nachteiliges über diese Jahre unterzubringen. Ein be-
zeichnendes Beispiel bietet der dreispaltige Artikel »Wo Gustav Fröhlich
Goebbels ohrfeigte« von Roland MISCHKE. in der angesehenen FAZ, der
sich mit dem Schicksal von Villen in der früheren Filmhochburg Babels-
berg befaßt. 1 Dort wird, wie schon die Überschrift ausdrückt, einmal
ausgeführt, daß Gustav F R Ö H L I C H im Haus Karl-Marx-Str. 8 im Jahre
1941 den Propagandaminister Joseph G O E B B E L S geohrfeigt habe, weil
dieser F R Ö H L I C H S Filmpartnerin Lida BAAROVA Avancen machte, und daß
der Künstler anschließend nicht mehr spielen durfte, zum anderen, daß
die Schauspielerin Sybille S C H M I T Z 1937 von G O E B B E L S Spielverbot be-
kommen habe, damit ihre Karriere zerstört worden sei und sie deswegen
1955 Selbstmord begangen habe, und schließlich, daß der Nationalsozia-
lismus »Babelsbergs Aura von Glanz und Glamour« zerstört habe.
Diese Aussägen sind falsch. Richtig ist, worauf Landgerichtsdirektor
Erwin P E T R I C H aus Kiel in einem Leserbrief hinwies,2 »daß die Sache mit
der Ohrfeige nichts als liegende ist. Sie hat sich nie ereignet. Unwahr ist
auch, daß Gustav F R Ö H L I C H nach 1941 nicht mehr spielen durfte. Noch
1944 wirkte er zum Beispiel in den Filmen Familie Muchholz Neigungs-
ehe mit. Dasselbe gilt für Sybille SCHMITZ, die bis 1945 zu den meistbe-
schäfdgten FiIm schau spiele rinnen gehörte und keineswegs ihre Karriere
auf G O E B B E L S * Geheiß 1937 beenden mußte. Als Beispiele nenne ich fol-
gende Filme: 1939 Frau ohne Vergangenheit, 1940 Trenck der Pandur, 1941
Wetterleuchten um Barbara, 1942 Vom Schicksal verweht, 1944 Das lieben ruft.
Es sollte doch auch stutzig machen, ihren Selbstmord 1955 mit einem
Berufsverbot 1937 in Verbindung zu bringen. Reichlich merkwürdig ist
schließlich, daß M I S C H K E behauptet, der Nationalsozialismus habe Ba-
belsbergs Aura von Glanz und Glamour zerstört. Es mag vielleicht sein,
daß Glanz und Glamour - was soll das konkret sein? - nach 1933 ende-
ten, doch Tatsache ist, daß Babelsberg als wichtigstes Zentrum der deut-

1 Roland MISCHKE, »Wo Gustav Fröhlich Goebbels ohrfeigte«, in: Frankfurter


Allgemeine Zeitung 29. 6. 1994.
2 Erwin PETRICH, Kiel, »Aus Babelsbergs Blütezeit«, Leserbrief in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 8. 7. 1994.
3 Curt RIESS, Das gab's nur einmal. Die große Zeit des deutschen Films, Molden, Wien-
München 1977.

194
schen Filmindustrie bis zum Kriegsende eine unverminderte Blü-
tezeit hatte.«
Der deutsche Film war in den dreißiger Jahren des 20. Jahr-
hunderts im Ausland sehr gefragt und bildete einen wesentlichen
Exportartikel.
Nicht von ungefähr hat die ausführliche Darstellung des deut-
schen Films3 der Zwischenkriegszeit von Curt R I E S S , die dann
noch dreibändig als Taschenbuch herauskam, 4 den Titel Das gab's
nur einmal. Die große Zeit des deutschen Films. Insbesondere Band 3
behandelt die Höhepunkte deutscher Film her S t e l l u n g nach 1933,
M I S C H K E spricht in seinem Artikel ja selbst davon, daß in Ba-
belsberg noch 1941 FRÖHLICH und BAAROVA »rauschende Feste«
feierten. Dort wohnten unter anderen noch Heinz R Ü H M A N N , Bri-
gitte H O R N E Y und Erich K Ä S T N E R . Z U erwähnen ist auch, daß
Gustav FRÖHLICH nach 1933 mit seiner Frau, der Sängerin Gitta
A L P A R , ausgewandert war, dann aber 1935 nach Trennung und
Scheidung von ihr nach dem nationalsozialistischen Deutschland
zurückkehrte.1* Das führt M I S C H K E bezeichnenderweise jedoch
nicht an.
Schon fast ein Jahrzehnt vor dem oben genannten FAZ-Arti-
kel hatte FRÖHLICH anläßlich seines 8 0 . Geburtstages selbst öf-
fentlich erklärt, die legendäre Ohrfeige sei dazugedichtet wor-
den: »Das war wohl mehr ein Wunschtraum des besseren Teils
unseres Volkes.«6 »In Wirklichkeit sei es nur eine laute Auseinan-
dersetzung gewesen«, heißt es in einem Artikel zu seinem 80.
Wiegenfest im Jahre 1 9 8 2 . "
Der Regisseur Arthur Maria R A B E N A L T , der sich in der deut-
schen Schauspielwelt der dreißiger und vierziger Jahre bestens
auskannte, meinte 1985 zur >Affäre<: »Man gönnte Jupp den Eklat
und die Backpfeife: In diesem Fall wurde kein Skandal unter-
drückt, nichts geleugnet, kein peinlicher Fall heruntergespielt. Das
ist das einzig Interessante an dieser Affare. Eine Ohrfeige hat es Lida B A A R O V A und
dabei nie gegeben, es sei denn die B A A R Ö V A mußte sie einstek- Gustav F R Ö H L I C H .
ken. . .«8 Rolf Kosiek

4 Dasselbe, Bd. 1-3, Ullstein Sachbuch, Ullstein, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1985.


s Ebenda, Bd. 3, S. 57 f.
'' me/pö, »Vor dem Krach mit Goebbels 120 Filme«, in: Schwäbisches Tagblatt, 20.
3.1982.
7Ebenda.
8 Arthur Maria RABEN ALT, Joseph Goebbels und der >Großdeutsche< Film, Herbig, Mün-
chen 1985, S. 118 f.

195
Wie dachten Normalbürger
unter dem Nationalsozialismus?

b bei vielen Normalbürgern in der Vorkriegszeit der Eindruck be-


O stand, einer Schreckensherrschaft ausgesetzt zu sein, läßt sich nicht
aus der historisch dokumentierten Anzahl der Konzentrationslager und
der darin inhaftierten Personen erschließen.« Mit diesem Urteil widerlegt
der Frankfurter Soziopsychologe Fritz S Ü L L W O L D einen verbreiteten Trug-
schluß unserer Gegenwart und stellt manches zu den Vorstellungen der
Deutschen in der NS-Zeit richtig.
Er untersucht sorgfältig, was die deutschen Normalbürger während
der Zeit des Nationalsozialismus auf den verschiedensten Bereichen dach-
ten, Um ihre Einstellungen und Reaktionen zu ergründen, wurden quali-
fizierte Personen der Erlebnisgeneration befragt. Diese sollten aber nicht
ihre eigenen Empfindungen zum besten geben, sondern aus distanzier-
ter Sicht des >Zeitbeobachters< die subjektiven Eindrücke ihres persönli-
chen Umfeldes dokumentieren. So wurde ein wirklichkeitsnahes Mei-
nungsbild gewonnen.
Danach waren in der Vorkriegszeit >fast alle< davon überzeugt, daß die
Fritz S Ü L L W O L D , Deut- Verminderung der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftliche Aufschwung
sche Normalbürger ab 1933 der Beschäftigungspolitik der Regierung zu verdanken waren.
1933-1945. Erfahrun- Das Vertrauen in den Wert der Reichsmark wurde nur von 2 Prozent der
gen, Einstellungen, Zeitbeobachter als gering wahrgenommen. Löhne und Preise, Sozialab-
Reaktionen. Eine ge~ gaben und Altersversorgung schienen angemessen. Die Fürsorge für Arme
schichtspsychologi-
und Schwache wurde als zufriedenstellend gewertet.
sche Untersuchung,
Herbig, München »Über die staatliche und kommunale Verwaltung sowie über Justiz und
2001. Polizei in der Vorkriegszeit der NS-Epoche existieren heute bei vielen
Nachgeborenen Vorstellungen, die mit den Erinnerungen der Zeitge-
nossen jener Epoche nicht übereinstimmen«, stellt S Ü L L W O L D fest. In Wirk-
lichkeit hielt man die Beamten für korrekt und hilfsbereit. Der Eindruck,
einer Schreckensherrschaft ausgesetzt zu sein, herrschte im allgemeinen
nicht. Die meisten Bürger fühlten sich durch die Exekutive {»Die Polizei
— dein Freund und Helfer«) ausreichend geschützt. Daß man auch bei
Nacht sicher und ungefährdet durch die Straßen gehen konnte, wurde
der Regierung hoch angerechnet. Die Justiz galt als korrekt und unab-
hängig, bei Verfahren mit politischem Hintergrund allerdings als oppor-
tunistisch — woran sich wohl bis heute nichts geändert hat.
Die Idee der Volksgemeinschaft war weitgehend Richtschnur, »Ge-
meinnutz geht vor Eigennutz« kein leeres Wort, sondern praktiziertes
Prinzip. Den sozialen Umgang prägten Rücksicht und Respekt. Der Ju-
gendkult der Nationalsozialisten ging nicht mit einer Geringschätzung

196
der Senioren einher. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern un-
terlagen verhältnismäßig strengen Moralvorstellungen: Beim Eintreten
von Folgen vorehelichen Verkehrs wurde rechtzeitige Eheschließung er-
wartet. Die verhalten steuernde Hierarchie dieser Werte und Tugenden
war aber nicht spezifisch nationalsozialistisch, sondern beruhte auf alt-
hergebrachten Traditionen. Das galt besonders für das deutsche Offi-
zierskorps.
Das religiöse Leben und die Kirchen spielten im NS-All tag eine größere Der Österreich-
Rolle, als heute angenommen. Nach dem Empfinden der Zeitzeugen Anschluß 1938 be-
waren zwar viele, aber keineswegs alle Parteifunktionäre antikirchlich ein- deutete zweifellos
gestellt. Tiefgreifende Differenzen und Konflikte zwischen Kirchen und den Höhepunkt der
Partei wurden in der Bevölkerung sehr oft wahrgenommen. Dennoch Popularität H I T L E R S .
Hier betritt der
galt regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst nicht als Opposition gegen
Reichskanzler das
das Regime. Schloß Kleßheim bei
Politisch wurde das Versailler Diktat von 1919 als schreiendes Unrecht Salzburg. (Foto: Wal-
empfunden. Die Revisionspolitik HITLERS wurde begrüßt. Das Bemü- ter FRENZ)

hen um Rückgewinnung verlorener


deutscher Gebiete wurde von vielen
als gerechtfertigt angesehen. Auf den
Österreich-Anschluß und auf die Be-
freiung des Sudetenlandes reagierte
man mehrheitlich »mit Freude und
Stolz«. Die Drangsalicrung und Un-
terdrückung der Volksdeutschen in.
der Tschechoslowakei und in Polen
lösten »Empörung und Zorn« aus.
Bei Kriegsausbruch 1939 herrsch-
te kein Hurrapatriotismus, sondern
Niedergeschlagenheit und Bedrückt-
heit überwogen. Nur eine Minderheit
hatte Siegeszuversicht. Der offiziellen
These, wonach der Krieg Deutsch-
land aufgezwungen worden sei, wur-
de nur begrenzt Glauben geschenkt,
doch waren nur ganz wenige der Mei-
nung, der Krieg sei von der Reichsre-
gierung planmäßig herbeigeführt wor-
den. Der Wehrmachtbericht erschien
im allgemeinen glaubwürdig, in der
zweiten Kriegshälfte zunehmend we-
niger. Trotz strenger Strafen wurden
die britischen Deutschland-Sendun-

197
gen von vielen abgehört, doch geschah dies nicht selten im Bewußtsein,
daß es sich um Propaganda zur Irreführung und Demoralisierung der
Deutschen handle.
Für größte Überraschung sorgten die
schnellen Siege im Polen-, im Frankreich-
und im Balkan feldzug: »Wenn eine Be-
völkerung durch den Kriegsverlauf über-
rascht ist, weil sie zumindest nicht mit
schnellen Erfolgen rechnete, kann die
ursprüngliche Neigung zum Führen des
Krieges nicht groß gewesen sein«, fol-
gert SOLLWOLD. »Kriegswilligkeit setzt
meistens die Erwartung schneller und un-
gefährdeter militärischer Erfolge voraus.«
Die Besetzung Dänemarks und Norwe-
gens wurde von 39 Prozent als Verteidi-
gungsmaßnahme angesehen, um einem
Angriff der Alliierten zuvorzukommen.
Die Einbeziehung Hollands und Belgi-
ens in den Westfeldzug wurde weniger
als Teil eines Eroberungskrieges, sondern
überwiegend als unvermeidlich betrach-
tet.
Auf den Beginn des Rußland-Feldzu-
ges reagierte man mit Sorge wegen der
unerwünschten Ausweitung des Krieges.
Die Vernichtung der 6. Armee in Stalin-
grad 1942 wurde als verheerende Kata-
strophe, nicht selten als Wendepunkt
Berlin im Frühjahr gewertet. Die Rückzugsbewegungen an der Ostfront deutete man als
1945. Gefaßtheit und »Ende der deutschen Überlegenheit«, nicht wenige sahen darin den »sich
die Überzeugung, abzeichnenden Weg in die allgemeine Niederlage«. Zwei Drittel der Be-
daß die alliierten
völkerung waren der Überzeugung, »daß der Partisanenkrieg zu gnaden-
Bombenangriffe reine
Terrorakte zur Schwä-
loser Härte zwang«. Für möglich hielt man, »daß durch falsche Behand-
chung der Moral der lung der Zivilbevölkerung Feindseligkeit und Widerstand provoziert
Zivilbevölkerung wurden«.
sind, herrschen hier Der Kriegseintritt der USA wurde von zwei Dritteln als »schwerwie-
wie in allen größeren
gend« beurteilt. Für eine informierte Minderheit war er die Bekennung
Städten vor.
eines bereits bestehenden Zustandes. Die sensationellen militärischen
Erfolge der Japaner riefen vorübergehende Freude hervor. Die spätere
Landung der Alliierten in Süditalien wurde nicht nur »als Ergebnis italie-
nischer Unfähigkeit«, sondern auch »als ernsthafte Bedrohung Deutsch-

198
lands« gedeutet. Der Abfall des Achsenpartners Italien war »erwartetes
Verhalten eines unfähigen und unzuverlässigen Verbündeten«.
Einen bedeutenden Teil der Erlebniswelt nahm der anglo-amerikani-
sche Luftkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung in Anspruch, Ober-
wiegend war man der Meinung, daß es sich um gezielte Terror angriffe
handele, um die Moral der Bevölkerung zu brechen. Vielen war bewußt,
daß sich die Bombenangriffe hauptsächlich gegen die Wohnviertel rich-
teten, Nach den Beobachtungen von zwei Dritteln der Zeitzeugen rief
der Bombenkrieg nur bei einigen Bürgern oder gar nicht den Wunsch
nach »baldiger Kriegsbeendigung um jeden Preis« hervor, Haß- und Ra-
chegefühle gegenüber Briten und Amerikanern hegten meist nur die un-
mittelbar Betroffenen, also die Ausgebombten.
Die Landung der Alliierten in der Normandie wurde in der Bevölke-
rung als »kriegsentscheidend« und als »Anfang vom Ende« eingestuft.
Die Ardennenoffensive im Dezember 1944 war für einige die »Chance
für einen separaten Waffenstillstand im Westen«. Vielen erschien sie als
»Schwächung der Abwehrkraft im Osten«, und nicht wenige hielten sie
für sinnlos. Die Ankündigung des Einsatzes von Geheimwaffen erweckte
eine gewisse Hoffnung, galt aber auch häufig als bloße Propaganda. Der
dann erfolgende Einsatz der V1 und V 2 wurde als Beginn der Anwen-
dung der angekündigten Wunderwaffen aufgefaßt. Man glaubte zwar nicht
mehr an einen Sieg, hoffte aber, mit dieser neuen Waffe erträgliche Be-
dingungen für einen Waffenstillstand zu schaffen.
Das Attentat am 20. Juli 1944 erschien überwiegend als Versuch, durch
Ausschaltung Hittlers den Krieg zu beenden. Die öffentlichen Friedens-
angebote der deutschen Seite nach dem Polen- und nach dem Frank-
reich-Feldzug waren der deutschen Bevölkerung nicht entgangen. Daß
die Gegner darauf nicht eingingen, war für die meisten der »Beweis für
den Kriegswillen der Alliierten«. Mit der Möglichkeit, daß Deutschland
den Krieg verliere, rechneten größere Bevölkerungsteile schon seit dem
Kriegs eintritt der USA und besonders seit Beginn der Rückzüge in Ruß-
land. Endgültig verloren schien der Krieg nach der alliierten Landung in
der Normandie, Diese Überzeugung steigerte sich nach dem feindli-
chen Überschreiten der Reichsgrenzen. Letzte Zweifel an der bevorste-
henden Niederlage schwanden nach dem alliierten Überschreiten von
Rhein und Oder.
Die Frage nach erwägenswerten Möglichkeiten, den Krieg zu been-
den, nachdem dieser offenbar nicht mehr zu gewinnen war, beantworte-
ten 52 Prozent der Zeitzeugen mit »Nein«. Haupthindernis war »die
Kenntnis der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und die Angst,
einem rücksichtslosen Gegner, insbesondere den Sowjets, völlig ausge-
liefert zu sein«. Verbreitet war auch die Meinung, »daß es nach Ende der

199
Kampfhandlungen nur noch schlimmer kommen könne, als es ohnehin
schon war«. »Angst vor Rache für begangene Untaten« spielte kaum eine
Rolle. Nicht nur von der Propaganda war die Hoffnung genährt, daß sich
»der Gegensatz zwischen den Sowjets und den westlichen Alliierten sehr
verschärfen würde, so daß die Deutschen, wenn sie lange genug aushiel-
ten, davon profitieren könnten«.
Im Unterschied zur Betrachtungsweise von heute standen die Juden
nicht im Mittelpunkt normalbürgerlichen Interesses. Die jüdischen Mit-
bürger bildeten nur eine Minderheit von nicht einmal einem Prozent der
Gesamtbevölkerung und waren außerdem ungleichmäßig über das Reichs-
gebiet verteilt. Nur wenige Normalbürger hatten persönliche Bekannt-
schaften und Beziehungen. Juden und jüdische Angelegenheiten wurden
daher nur am Rande und bruchstückhaft wahrgenommen. Lediglich bei
außergewöhnlichen Anlässen wie zum Beispiel nach den Ausschreitun-
(Conrad Löw, »Das gen der berüchtigten Kristallnacht 1938, auf die man »mit Befremden,
Volk ist ein Trost«.
bedrückt und mit Sorge« reagierte, waren Juden Gegenstand von Ge-
Deutsche und Juden
1933-1945 im Urteil sprächen. Der amtliche Antisemitismus wurde allgemein abgelehnt, die
der jüdischen Zeit- judenfeindliche STREICHER-Zeitung Der Stürmer galt als »primitiv« (67 Pro-
zeugen, Olzog, Mün- zent) und wurde von den meisten nicht einmal beachtet. Mit einem heu-
chen 2006. te immer wieder beschworenen »Wegsehen« und einem moralischen Man-
gel der Deutschen hat dies nicht das geringste zu tun.
»In der zweiten Hälfte der Kriegszeit, in der, wie man heute weiß, die
Drangsalierung und Verfolgung der Juden lebensgefährliche Ausmaße
annahm, waren viele deutsche Normalbürger von existentiellen Proble-
men betroffen, die ihre volle Aufmerksamkeit erforderten und sie geistig
und emotional in höchstem Grad in Anspruch nahmen. Dazu gehörte
die ständige Sorge und die Angst um Ehemänner, Söhne, Väter, Brüder
und Freunde, die als Soldaten im militärischen Einsatz standen.« Damit
rückt SÜLLWOLD die subjektiven Verhältnisse zurecht. »Hinzu kamen viel-
fältige schwere Aufgaben, die an Stelle der zum Kriegsdienst eingezoge-
nen Männer bewältigt werden mußten. In besonderem Maße belastend
waren, .. die immer zahlreicher werdenden Bombenangriffe, bei denen
stets nicht nur mit dem Verlust von Haus oder Wohnung. . . gerechnet
werden mußte, sondern auch mit schweren Verwundungen und dem Ver-
lust des Lebens. Etliche Normalbürger lebten damals mühselig in Trüm-
merlandschaften. Derartige Rahmenbedingungen der Wahrnehmung von
Juden und jüdischen Angelegenheiten in der Kriegszeit werden bei ahi-
storischer Betrachtungsweise immer wieder übersehen oder ausgeblen-
det.« Fred Duswald
Literatur
Fritz SÜLLWOLD, Deutsche Kormalbürger 1933-1945. Erfahrungen, Einstellungen, Re-
aktionen. Eine geschichtspsychologische Untersuchung, Herbig, München 2001.

200
Hitler war kein »lausiger Maler«

as heute verbreitete Urteil ist, daß H I T L E R S Gemälde und Studi-


D en keiner kunstkritischen Überprüfung standhalten. Das gelte, weil
sie von HitleR stammten, weil ein Kunstwerk etwas von der Persönlich-
keit seines Schöpfers bewahre sowie ausstrahle und daher von ihr nicht
zu trennen sei.
Vor dem Hintergrund der juristischen Auseinandersetzung um Aqua-
relle von Adolf H I T L E R , die nach dem Krieg in die USA gelangt waren,
brachte die Süddeutsche Zeitung in ihrem Feuilleton vom 26. Mai 2001 ei-
nen bemerkenswerten Artikel des US-Publizisten Doug HARVF.Y, der die
Ablehnung einer kritischen Würdigung von H I T L E R S künstlerischem Werk
auf den Punkt brachte: »Immer, wenn die Auguren über die Bilder Adolf
H I T L E R S sprechen, tun sie es in wegwerfendem Ton — so, als sei die Aner-
kennung einer visuellen Begabung des Führers gleichbedeutend mit der
1 Doug HARVEY,
Sanktionierung des Holocaust.«1
Offenkundig ist das Bestreben, H I T L E R S künstlerisches Schaffen als »Hübsche Ansich-
ten. Hitler, Chur-
reine lausige Postkarten malerei zu schmähen und sein späteres politi-
chill und Eisen-
sches Wirken als vergleichbaren Dilettantismus hinzustellen. Das deut- hower als Maler«,
sche Volk soll sich fragen, wie der »österreichische Gelegenheitsarbeiter« in: Süddeutsche
und »gescheiterte Postkartenmaler« Adolf HitlER zum charismatischen Zeitung, 26. 5. 2001.
Führer einer ganzen Nation werden konnte und Schuld auf sich lud. 2 Bertold BRECHT,
Nichts anderes bezweckte Bertold B R E C H T mit seinem im September in: Gesammelte
1933 entstandenen Lied vom Anstreicher Hitler. In der vierten Strophe heißt Werke, Suhrkamp,
es: »Der Anstreicher H I T L E R / Hatte bis auf Farbe nichts studiert / Und Frankfurt/M. 1967,
als man ihn nun eben ran ließ / Da hat er alles angeschmiert. / Ganz Bd. 9, S. 441.
Deutschland hat er angeschmiert.« 2
Die beliebte Polarisierung: PICASSO - der Maler, H I T L E R - der Anstrei-
cher, ist nicht stichhaltig. Da gilt es, einiges richtigzustellen.
1. Am 2. Oktober 1907 unterzog sich Adolf H I T L E R als einer von 112
Kandidaten der Aufnahmeprüfung in der Wiener Akademie der Bilden-
den Künste. In H I T L E R S Gruppe hießen die Themen der Aufnahmeprü-
fung: 1. Vertreibung aus dem Paradiese, 2. Jagd, 3. Frühling, 4. Bauarbei-
ter, 5. Tod, 6. Regen. Von den 112 Kandidaten wurden 79, darunter
H I T L E R , zum >Probezeichnen< zugelassen, von diesen lediglich 28 zum
Studium ausgewählt. HitlER fiel durch. Ein Durchfallen war aufgrund
der sehr strengen Prüfungskriterien allerdings kein Beweis für Unfähig-
keit. Robin Christian A N D E R S E N , der mit H I T L E R durchfiel, war von 1 9 4 5
bis 1948 Rektor der Akademie der Bildenden Künste und von 1945 bis
1965 Leiter der Meisterschule für Malerei an derselben Akademie.

201
Eines der Aquarelle,
d i e HITLER für die Auf-

nahmeprüfung 1907
malte. Es befand sich
im Nachlaß von Ger-
dy T R O O S T und wurde
erstmals in Werner
M A S E R S Buch Fäl-

schung, Dichtung und


Wahrheit über Hitler
und Stalin (Olzog,
München 2004, 5. 67)
abgebildet.

Der österreichische Maler und Graphiker Oskar K O K O S C H K A , der im


selben Zeitraum Kunst an der Wiener Kunstgewerbeschule studierte,
meinte bezeichnenderweise über die Akademie seiner Heimatstadt: »Die
Akademie war ein Hort der Konservativen, den man besuchte, um ein
Künstler in Samtrock und Barett zu werden.« 3 Damit ließ er anklingen,
daß die Kandidaten nicht nur künstlerische Begabung, sondern auch gute
Beziehungen mitbringen mußten, die H I T L E R wohl nicht gehabt haben
wird.
3 Zitiert
unter: 2. HitleR hat schätzungsweise 2 0 0 0 bis 3 0 0 0 Zeichnungen, Aquarelle
http://www.br- und Ölbilder in seinem Leben geschaffen, 4 die meisten bis zum Jahre
online.de/ wissen- 1 9 1 9 . H I T L E R , der an der Darstellung von Menschen nicht sonderlich
bildung/College ra- interessiert war, war selbstkritisch genug, um einzusehen, daß seine
dío/medien/
menschlichen Figuren hölzern und ungelenk wirkten. 3 Auch seine Por-
geschichte/hitler/
hintergrund/ trätmalerei erwies sich als etwas unwirklich. Seine Stärke lag eindeutig im
4 Billy F. PRICE
Architektonischen (siehe Punkte 4): In den frühen Jahren kopierte er
zahlreiche bekannte Stadtansichten und berühmte Gebäude.
(Hg.), Adolf Hitler
H I T L E R war nicht offen für die aufkommenden neuen Kunstrichtun-
als Maler und Zeich-
ner. Ein Werkkatalog gen wie Expressionismus, Kubismus und Dadaismus, die er als »schreck-
der Ölgemälde, liche Verirrungen« bezeichnete, und selbst der Jugendstil, der im ersten
Aquarelle, Zeichnun- Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Wien für Furore sorgte, ließ ihn unbe-
gen und Architektur- eindruckt. Vertreter des Realismus, darunter der Vedutenmaler Rudolf
skizzen, Gallant, VON A L T ( 1 8 1 2 - 1 9 0 5 ) , waren seine Vorbilder. Der junge HITLER malte im
Zug 1985. alten, traditionellen Stil traditionelle Motive, was den Geschmack seiner
5 Ebenda.
Kunden aus der unteren Mittelschicht traf.

202
Gewiß hat er wie viele andere Künstler ebenso, um seinen Lebensun- Ebenda, S, 8.
6

terhalt zu verdienen und seine Studien zu finanzieren, mitunter auch künst- 7 Werner MASER,
lerisch nicht hochwertige Postkarten gemalt. Man denke beispielsweise Fälschung, Dichtung
an die schnell angefertigten Bilder vom Standesamt Petersbergl, die er an und Wahrheit über
die Neuvermählten gleich verkaufte. In seiner Einführung zum Werkka- Hitler und Stalin,
talog Hitlers erwähnt Billy F. P R I C E jedoch, daß dank seiner Kontakte H I T - Ol zog, München
LER Auftragsarbeiten erhielt, »für die er relativ hohe Summen gezahlt 2004, S. 85.
bekam«,6 Zu diesen Auftraggebern gehörte immerhin der höchste Rich-
ter des Obersten Gerichtshofes, Dr. Ernst VON D Ö B N E R .
Werner M A S E R berichtet seinerseits, daß nach H I T L E R s Umsiedlung
nach München der Radierer Reinhold H A N I S C H , den er 1909 in einem
Wiener Männerheim kennengelernt hatte, Bilder von H I T L E R fälschte und
sie als Bilder von H I T L E R S Hand verkaufte. Das läßt den Schluß zu, daß Marterl mit Regen-
der junge HITLER bei einigen Wiener Kunsthändlern bereits einen ver- dach, Öl/Blech, ent-
kaufsträchtigen Namen gehabt haben dürfte/ standen 1914.

3. Es wird allgemein angenommen, daß


HITLERS Kunst eine rein reproduzierende
und daher starre gewesen sei, die keine Er-
findungskraft erkennen lasse. Das ist nicht
richtig. In den Wiener Jahren sind unter
anderem zahlreiche Reklameentwürfe ent-
standen. Wer sich mit H I T L E R S künstleri-
schem Werdegang befaßt hat, weiß außer-
dem, daß die Fronterfahrungen im Ersten
Weltkrieg nicht nur eine größere Breite der
Motive, sondern auch eine größere Spon-
taneität in der Darstellung erzeugten, da
er nun ausschließlich nach der Natur mal-
te oder zeichnete, und nicht mehr nach
bestimmten Vorlagen, um in erster Linie
den Wünschen seiner Kunden zu entspre-
chen (»Ich male das, was die Leute kaufen
wollen«, soll er in München gesagt haben).
Sogar religiöse Motive standen auf einmal
im Mittelpunkt seines Interesses, mögli-
cherweise durch die belastenden Erlebnis-
se des mörderischen Grabenkrieges im
Ersten Weltkrieg bedingt.
4. Nach der Aufnahmeprüfung 1907
hatte der Rektor der Wiener Akademie,
Siegmund L ' A L L E M A N D , Adolf H I T L E R

203
bekräftigt, daß die mitgebrachten Zeichnungen keine Eignung zum
Maler erkennen ließen, daß seine Fähigkeit vielmehr im Bereich der
Architektur liege.* Damit hatte er recht. H I T L E R S beliebtestes und
häufigstes Thema waren tatsächlich Architekturstudien. Sein Skiz-
zenheft aus den Jahren 1925 und 1926 ist bezeichnenderweise fast
ausschließlich der Architektur gewidmet.
» H I T L E R beherrschte ausgezeichnet die Perspektive«, befindet H A R -
VEY. Seine aquarellierten Architekturstudien stechen außerdem durch
saubere und sichere Linienführung, architektonisch einwandfreie
Komposition und vor allem durch sehr genaue Wiedergabe hervor.
Letztere ist auf eingehende, umfassende Studien zurückzuführen.
Er kannte alle bedeutenden Gebäude Wiens bis ins letzte Detail.
Der Bildhauer Arno B R E K E R war bei seinem Spazierganz mit H I T -
LER, S P E E R und G I E S L E R am frühen Morgen des 2 3 . Juni 1940 durch
die französische Hauptstadt von den Detailkenntnissen des Reichs-
kanzlers über die Pariser historischen Bauten stark beeindruckt.9
Doug H A R V E Y S Gesamturteil fällt nicht gerade politisch korrekt
aus: H I T L E R S Aquarelle »haben einen stillen Reiz.., und sind mit ei-
nem Geschick und einer Energie gemalt, die unter anderen Auspizi-
en für eine erfolgreiche Kunstkarriere gut gewesen wären«.10 In sei-
nem Lexikon der Geschichtsirrtümer schließt sich der Münchener
Historiker Jörg M E I D E N BAU ER übrigens dieser Wertung an."
Michael Klotz

Der neue
Hauptbahn-
hof Mün-
chen-Pasing,
gezeichnet
Ende 1938.
Höhe der
Kuppe!:
100 m,
Durchmesser
270 m.

Reinhold Hanisch, 1 9 1 0 , 8 Adolf HITLER, Mein Kampf, Zentralverlag der NSDAP, Eher Nachf., Mün-
Werkkatalog 317; Rekla-
meentwurf für >Nigrin
chen 1S1942, S. 19. Zitiert auch bei: Werner MASER, ebenda S. 66.
9 Arno BREKER, Im Strahlungsfeld der Ereignisse 1925-1965, K VE, Schütz, Preu-
Schuhpasta<, 1911, Werk-
katalog 3 2 0 ; Billy F. PRICE ßisch Oldendorf 1972, s/l53-165.
l0HARVEY,aaO. (Anm. 1).
(Hg.), Adolf Hitler ah Ma-
ler und Zeichner, 1985. lt J. MEIDENBAUER, Lexikon der Geschichtsirrtümer, Piper, München 2(X)6, S. 152 f.

204
>Entartete Kunst< kein >Nazi-Jargon<

m 1 4 . September 2 0 0 7 hielt der Kölner Kardinal Joachim MEISNER


A eine Predigt zur Einweihung des Diözesanmuseums Kolumba und
sagte gegen Ende seiner Ausführungen: »Dort, wo die Kultur vom Kul-
tus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kult im Ri-
tualismus, und die Kultur entartet.« Damit zog er sich sofort den Vor-
wurf zu, daß dadurch »der braune Ungeist in Deutschland w i e d e r
salonfähig« werde 1 oder daß er den »Nazi-Jargon« benutzt und »ein Wort
aus dem Propagandaarsenal der Nazis in seine Predigt eingebaut« habe. 2
Der Bischof von Rottenburg warf seinem Amtskollegen sogar eine »durch
die Nationalsozialisten geprägte Begrifflichkeit« vor. 3
Doch das ist nicht richtig. Schon Friedrich SCHLEGEL schrieb in seinem
Aufsatz »Über das Studium der griechischen Poesie« von »entarteter
Kunst«: »Die Rückkehr von entarteter Kunst zur echten, von verderb-
tem Geschmack zum richtigen scheint nur ein plötzlicher Sprung sein zu
können, der sich mit dem stetigen Fortschreiten, durch welches sich jede
Fertigkeit zu entwickeln pflegt, nicht wohl vereinigen läßt.« 4
Es wirkt beinahe makaber, wenn auf die Tatsache hingewiesen wer-
den muß, daß der Begriff >entartet< von dem Kunstkritiker und Schrift-
steller Max NORDAU in die Kunstszene eingeführt wurde. Dieser wurde
am 2 9 . Juli 1 8 4 9 als Sohn des Rabbiners SÜDFELD in Budapest geboren
wurde, nannte sich später NORDAU und lebte ab 1 8 8 9 bis zu seinem Tod
am 2 2 . Januar 1 9 2 3 in Paris. NORDAU war ein enger Freund des Zioni-
stenführers Theodor HERZL, mit dem er den Zionismus begründete, und
nahm 1903 an dem Zionistenkongreß in Basel wie an der Zionistenver- Von oben: Plakat
sammlung in Paris teil. Er wandte sich 1 8 9 2 / 9 3 in seinem zweibändigen zur Ausstellung
Werk mit dem Titel Entartung" scharf gegen die entartete Kunst, vor al- * Entartete Kunst«;
Max NORDAU
lem in der Malerei, und warnte vor dieser Entwicklung — als HITLER drei
(1849-1923),
Jahre alt war. Anschließend wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts lei-
denschaftlich über die »entartete Kunst« diskutiert - lange vor Grün-
dung der NSDAP.

1 So der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan


KRAMER, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 1 7 . 9 . 2 0 0 7 , S . 4
2 Jürgen HEIN, »Der Kardinal und der Nazi-Jargon«, in: Stuttgarter Nachrichten,

17. 9. 2007, S. 2.
3 Zitiert in: Stuttgarter Nachrichten, 18. 9. 2007, S. 2.
4 Zitiert von Karlheinz STIERLE, »Sorge um die rechte Kunst«, Leserbrief in:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22, 9. 2007, S. 8.


5 Max NORDAU, Entartung, 2 Bde., Carl Duncker, Berlin 1 8 9 2 / 9 3 .

205
In seinem »Statt eines Vorwortes« seinem Buch vorangestellten Brief
an den Mediziner und Kriminologen Cesare L O M B R O S O in Turin schreibt
N O R D A U , daß er »den durch Sie genial ausgestalteten Begriff der Entar-
tung« in das Gebiet »der Kunst und des Schrifttums« einführen wolle:
»Ich habe es nun unternommen, die Moderichtungen in Kunst und Schrift-
tum möglichst nach Ihrer Methode zu untersuchen und den Nachweis
zu führen, daß sie ihren Ursprung in der Entartung ihrer Urheber haben
und daß ihre Bewunderer für Kundgebungen des stärker oder schwächer
ausgesprochenen moralischen Irrsinns, des Schwachsinns und der Ver-
rücktheit schwärmen.« N O R D A U S Urteil ist: »Die Entarteten sind nicht
immer Verbrecher, Prostituierte, Anarchisten und erklärte Wahnsinnige.
Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler.. . Einige dieser Entarte-
ten des Schrifttums, der Musik und Malerei sind in den letzten Jahren
außerordentlich in Schwung gekommen und werden von zahlreichen Ver-
ehrern als Schöpfer einer neuen Kunst, als Herolde der kommenden Jahr-
6 Ebenda, S. VII f. hunderte gepriesen,«''
N O R D A U führte die Entartung in der Kunst auf seelische Störungen
bei einigen der Künstler zurück, auf Selbstsucht des Bildners, auf krank-
hafte Gemütserregungen, auf fehlendes Rechts- und Sittlichkeitsemp-
finden, auf Ausweichen ins Unverbindliche, auf Vorliebe für Unzuläng-
7 Vgl. auch Richard liches und auf Mystizismus.
W EICHLER, Die
Ähnlich urteilte schon Friedrich VON SCHILLER in der Vorrede zu sei-
Wiederkehr des
ner Braut von Messina-. »Es ist nicht wahr, was man gewöhnlich behaupten
Schönen, Grabert,
Tübingen 1984, hört, daß das Publikum die Kunst herabzieht, sondern der Künstler zieht
S. 204 f. das Publikum herab, und zu allen Zeiten, wo die Kunst verfiel, ist sie
durch die Künstler gefallen.« Und der indische Kulturphilosoph Sarve-
palli RADHAKRISCHNAN (1888-1975), der 1961 den Friedenspreis des Deut-
schen Buchhandels erhielt, erklärte wohl mit Recht: »Die Kulturen sind
nicht der blinden Notwendigkeit des biologischen Alterns und Sterbens
unterworfen. Wenn unsere Bemühungen nachlassen, wenn die Disziplin
erlahmt, wenn unser innerer Geist entartet, werden wir dahingehen. Das
Urteil wird lauten: »Selbstmord durch Geisteszerrüttung!«
Folgende Beobachtung von N O R D A U hat sicher auch schon jeder ge-
macht: »Wer im Kielwasser der guten Gesellschaft durch eine Gemälde-
ausstellung steuert, wird unwandelbar feststellen, daß sie vor Bildern die
Augen verdreht und die Hände faltet, vor welchen die gewöhnlichen Leute
in ein Gelächter ausbrechen oder die Ärgermiene eines Menschen zei-
gen, der sich gefoppt glaubt, und daß sie achselzuckend oder mit höhni-
B NORDAU, a a O . schem Blickausdruck dort vorbeieilt, wo die anderen dankbar genießend
(Anm. 5), S. 207. stillhalten.«8 Rolf Kosiek

206
Wie fromm war Hitler?

ntgegen anderen Darstellungen ist Adolf H I T L E R nie aus der ka-


E tholischen Kirche ausgetreten. Er zahlte Kirchensteuern bis an sein
Lebensende. Die Erlebnisse seiner Kindheit als Ministrant und Sänger-
knabe konnte er nicht vergessen. Dies läßt sich an seinem Wortschatz
nachweisen. Es sei an der Zeit, die österreichischen und römisch-katho-
lischen Elemente in der Person Adolf H I T L E R S namhaft zu machen, fand
schon der katholische Historiker Friedrich HEER, 1 In Form des Psycho-
gramms einer katholischen Kindheit (Untertitel) hat der emeritierte Salz burger
Theologe Alfred LÄPPLE, 2 der sich intensiv mit der Vorbildfunktion der
katholischen Kirche für den damaligen Führer und Reichskanzler aus-
einandersetzt, wenn auch nicht mehr zu Lebzeiten H E E R S , diesem Anlie-
gen entsprochen.
Am 2 0 . April 1 8 8 9 in Braunau am Inn geboren, wurde Adolf H I T L E R Alfred LÄPPLE, Verfas-
als Sohn katholischer Eltern am 22. April in der Ursula-Kapelle der Brau- ser von Adolf Hitler.
nauer Stadtpfarrkirche durch den damaligen Pfarrer Ignaz P R O B S T ge- Psychogramm einer
katholischen Kind-
tauft und war von da an bis ans Lebensende Angehöriger der römisch-
heit, Stein a. Rhein
katholischen Kirche, 2001; und Paula Hit-
Adolfs Vater, der kaiserlich-königliche Zollamtsoffizial Alois H m . F R , ler - die Schwester.
pflegte als Freisinniger, Deutschnationaler, großdeutsch Denkender das Ein Leben in der Zei-
Traditionschristentum einer religiös ausklingenden Epoche und demon- tenwende, Stegen a.
strierte als Beamter durch den Besuch des alljährlichen Festgottesdien- Ammersee 2 2005.
stes am Kaisergeburtstag, dem 18, August, seine Treue zum katholischen
Monarchen, Mutter Klara wiederum fand in ihren familiären Sorgen Trost
im traditionellen Glauben: »Sie hat ihre Kinder die Muttersprache der
ersten Kindergebete, das Kreuzzeichen und das Weihwassernehmen ge-
lehrt.«
In der Familie wurden die Namenstage besonders gefeiert: »Den Na-
menstag der Mutter am 12, August, an dem in der Liturgie der katholi-
schen Kirche das Fest der heiligen K L A R A VON A S S I S I (1182-1253) began-
gen wird, hat Adolf HITLER nie vergessen. Während der Festungshaft in
Landsberg hat er selbst seinen Namenstag am 17, Juni 1924, an dem das

1 Friedrich HEER (1916-1983), Schriftsteller, Historiker, Religions- und Kultur-


philosoph, Chefdramaturg am Wiener Burgtheater,
2 Alfred LÄPI'LE, emeritierter Professor der Theologie, Salzburg, geb. 1915 in
Tutzing, Wehrdienst bei der Luftwaffe, Priesterweihe 1947 in Freising, Promo-
tion in München, Dozent am Priesterseminar Freising, wo Joseph RATZINGER,
der jetzige Papst BENEDIKT XVI., zu seinen Studenten zählte, nach dessen Aus-
sage »einer der fruchtbarsten religiösen Schriftsteller unserer Zeit«.

207
kirchliche Fest des heiligen Adolf, des Bischofs von Utrecht (gest. 780),
begangen wird, mit seinen Mithäftiingen festlich gefeiert.«
Adolf war drei Jahre alt, da wurde sein Vater zum österreichischen
Zoll nach Passau versetzt. »Die herrüche, wunderschöne Stadt verkör-
pert heute noch in ihrem Stadtbild die tausendjährige Tradition eines
geistlichen Fürstentums des Heiligen Römischen Reiches«, schwärmt
5 Friedrich H E E R ,
HEER, 3 »Dieser bayerische Katholizismus, diese reiche, traditionsreiche,
Der Glaube des Adolf volkhaft vitale bayerische Kirche mußte auf den Knaben Adolf H I T L E R
Hit/er. Anatomie einer den stärksten Eindruck machen.« Der vorhandene, wenn auch differen-
politischen Religiosität, zierte Respekt des späteren Adolf H I T L E R vor dem Katholizismus be-
Wien 1968.
4 Adolf HITLER,
ruhte wohl auf dem frühen Erlebnis fundament in Passau, dem gewalti-
gen Dom und den prunkvollen kirchlichen Festen und Prozessionen einer
Mein Kampf, S. 3 f.
heilen Welt, bekräftigt L Ä P P L E .
Nach der Pensionierung 1895 kaufte sich Alois Hitler in Oberösterreich
an. »Da ich in meiner freien Zeit im Chorherrenstift Lambach Gesangsun-
terricht erhielt, hatte ich beste Gelegenheit, mich oft am feierlichen Prunk
der äußerst glanzvollen kirchlichen Feste zu berauschen«, erinnert sich der
einstige Ministrant Adolf Hitler in seinem Bekenntnisbuch Mein Kampf
über seine Klosterschulzeit. »Was war natürlicher, als daß genau so wie
einst dem Vater der kleine Herr Dorfpfarrer nun mir der Herr Abt als
höchst erstrebenswertes Ideal erschien?«4
Theoderich HAC;N (1816-1872), einer der Vorgänger des damaligen
Abtes, wollte seinen Namen im persönlichen Wappen symbolisiert se-
hen. I leraldiker verwirklichten den Wunsch, indem sie an ein Kreuz mit
gleichen Längs- und Querbalken kleine, schräg gespitzte Haken anbrach-
ten. Im HAC-Nsehen Abtwappen, das an sichtbarer Stelle des Stiftes prangte,
sah Adolf, wenn auch ahnungslos in bezug auf die Zukunft, zum ersten
Mal das Hakenkreuz.
»Nie und nimmer hätte es einen Adolf H I T L E R auf der Bühne der
Selbstpräsentation mit solchen Show-Effekten gegeben, wäre er ein gläu-
biger Calvinist gewesen«, überzeugt L Ä P F L E . »Im Gegensatz zum calvi-
Wappen mit stilisier-
tem Hakenkreuz zur
nisch-nüchternen und auch pessimistischen Ixbens- und Glaubensmo-
Erinnerung an Theo- dell erlebte Adolf HITLER in seiner katholischen Kindheit den Herbst
derich H A G N , in der eines österreichisch-barocken Glaubensmilieus, Stein und Farbe, Musik
Sakristei der Schloß- und Architektur gewordene Lebensfreude des 17. und des 18. Jahrhun-
kirche Lambach. derts. . . Hörbar und deutlich schlug in ihm das Herz eines barocken
Österreichers, der die wie Gralsburgen in die österreichische Landschaft
hinein gebauten Abteien und Stifte bewunderte: Österreich — Klöster-
reich, Sein jugendlich empfängliches Herz erlebte die Fröhlichkeit des
Barocks und berauschte sich an barocker Liturgie.«
So lebte und dachte H I T L E R aus einer emotional-barocken Frömmig-
keit: »Sie ist ein Stück seiner Biographie, seines Österreichisch-katholi-

208
schen Lebens- und Kunstempfindens gewesen und geblieben.« Kein
zeitgenössischer Politiker verwandte in seinen Reden so viele religiöse
Floskeln. Durch die Wörter aus der Religion erhielten seine Reden einen
gehobenen, predigtartigen und beschwörenden Charakter. Aus der ka-
tholischen Herkunft des Österreichers ergab sich insbesondere auch die
liturgoide Form der Parteifeierlichkeiten.
Der Herrgott besaß bei H I T L E R einen wortstatistisch hohen Wert. Der
Terminus »Gottes Segen« taucht in den Reden häufig auf. Im allerersten
Aufruf als Reichskanzler bittet H I T L E R : »Möge der allmächtige Gott un-
sere Arbeit in seine Gnade nehmen, unseren Willen recht gestalten, un-
sere Einsicht segnen und uns mit dem Vertrauen des Volkes beglücken.«
Auch dem geistlichen Zeitgeschichtler Georg M A Y 5 fiel auf, in welch 5 Georg MAY,

großem Umfang der Redner H I T L E R Worte und Ausdrücke aus dem reli- Kirchenkampf oder
giösen Bereich verwandte. Spuren seiner katholischen Kindheit finden Katholikenverfolgung? Ein
sich nicht nur im Vokabular als solchem, sondern auch in den zahlrei- Beitrag zu dem
gegenseitigen Verhältnis
chen Hinweisen auf die Liturgie, die Heiligenfeste und das Kirchenjahr.
von Nationalsozialis-
»In seinen Reden und Gesprächen verwandte H I T L E R häufig Begriffe oder mus und christlichen
Texte, die aus der heiligen Schrift stammen«, äußert MAY in seinem aus- Bekenntnissen, Stein
führlichen Beitrag zum gegenseitigen Verhältnis von Nationalsozialismus a. Rhein 1991, S. 1-
und den christlichen Bekenntnissen. »Die Bibelzitate waren für einen 155.
Politiker unverhältnismäßig zahlreich. Auch in seinen schriftlichen Dar-
legungen waren Ausdrücke aus dem kirchlichen Vokabular nicht selten.
Auffallend häufig verwandte er das Wort >ewig<, den Toten gab er ihre
>ewige Ruhe< Den Teufel nahm er mehr als einmal in den Mund. Meist
freilich waren ihm verhaßte Feinde >Teufel<, und ihr Tun war >Teufels-
werke Der 1. Mai war ihm der glanzvolle Feiertag der »Auferstehung des
deutschen Volkes«. Die Übernahme der Macht durch ihn war die deut-
sche >Wiederauferstehung<.«
Darüber hinaus ließ Adolf H I T L E R in seine Reden und Gespräche Be-
griffe aus dem gottesdienstlichen Tun einfließen, das er insbesondere als
Meßdiener selbst erlebt hatte: »Er kannte die Besprengung mit Weihwas-
ser. Er wußte um den Aschermittwoch und seine Bedeutung, Am 20.
März 1936 gebrauchte er einen Satz, der an die Spendeformel bei der
Austeilung des Aschenkreuzes erinnert. Einmal fand er Formulierungen,
die an die katholische Liturgie des Aschermittwochs anklingen. Immer
wieder tauchte der >Altar< in seinen Reden auf. Schon früh begann HIT-
LER damit, in seine Reden Gebetsrufe aufzunehmen. Nicht zuletzt daher
kam das Pathos seiner Reden, die streckenweise wie Predigten wirkten.
Am 10. Juni 1923 beendete er seine Rede bei der Versammlung der vater-
ländischen Verbände mit einem Gebet an den >Herrgott<, dem er ver-
sprach, sich für die Freiheit zu >opfern<, und den er bat, ihm dazu den
>Segen< zu geben.«

209
Auch in seiner Regierungszeit schloß er Reden immer wieder mit Ge-
beten, so am 1. Februar 1933, am 21. März 1933, am 1. Mai 1933 und am
L Mai 1934, stellt MAY fest: »Am 1. Mai 1937 formulierte er den Schluß
seiner Rede im Anklang an die Schlußformel der Gradonen der katholi-
schen Messe. Die Rede in Wien am 9, April 1938 klang aus mit einer
Reihe von religiösen Sentenzen.« Am 1. Mai 1939 nahm er eine Anleihe
bei der Lauretanischen Litanei. »Die Rede vom 10. Mai 1940 enthielt
mehrere predigtartige Passagen. Da wurde von dem »Angesicht des All-
mächtigem und dem »Gottesgericht des Allmächtigen« gesprochen. Am
Schluß stand wieder die »demutsvolle Bitte« an die Vorsehung, ihm den
Sieg zu schenken. Am 30. Januar 1942 beendete er seine Rede mit einem
Gebet an den »Herrgott«. Am 15. März 1942 dankte er dem, »ohne dessen
Schutz und Schirm alle menschliche Kraft, aller Fleiß und alle Mühe ver-
geblich sein würde«.«
Der Beginn eines neuen Jahres war nach H I T L E R S Meinung besonders
geeignet für fromme Anmutungen: »Zum Jahresbeginn 1935 drückte er
seine Wünsche in Form einer Bitte an Gott aus. Am 1, Januar 1943 rich-
tete er erneut die Bitte an den »Herrgott« um seinen »Beistand«. In der
Rede vom 10. September 1943 kam der Dank an den Herrgott, die Prü-
fungen der Vorsehung und der Lohn des Allmächtigen vor. Die Rede
vom 8. November 1943 war durchsetzt von religiösen Einschüben. In
dem Neujahrsaufruf vom L Januar 1944 fehlte nicht das »Gebet an den
Herrgott«. Am 1. Januar 1945 sprach er dem »Herrgott Dank und Gelöb-
nis aus.«
Bei seiner engen Beziehung zu Gott gab es für HITLER auch keine
Berührungsängste gegenüber Geistlichen, Der Diktator beherrsche die
diplomatischen und gesellschaftlichen Formen mehr als ein geborener
Souverän sie beherrschte, staunte Kardinal FAULHABER nach seinem Be-
6 Ludwig VOLK such auf dem Obersalzberg am 4. November 1936: »»Der Reichskanzler
(Bearb.), Akten lebt ohne Zweifei im Glauben an Gott. Er anerkennt das Christentum
Kardina! Michael von als den Baumeister der abendländischen Kultur.«6
Faulhabers 1917— Dem Münchner Männerapostel Pater Rupert MAYER SJ (1876-1945,
1945, Bd. 2,1935- seliggesprochen 1987), einem schwerkriegsversehrten Frontkämpferund
1945, Mainz 21984 Divisionspfarrer des Ersten Weltkriegs, hatte H I T L E R , wissend um die
(Veröffentlichungen Bedeutung eines Priester- oder Ordensjubiläums, am 2. Mai 1924 zum
der Kommission 25. Jahrestag seiner Priesterweihe gratuliert. Dem Benediktinerabt Alban
für Zeitgeschichte SCHACHLEITNER, wegen seiner deutschnationalen Gesinnung von den
A 36), Dok. 572.
tschechischen Machthabern aus der Prager Abtei Emmaus vertrieben,
7 Adolf HITI.HR, bereitete er nach dessen Tod 1937 ein würdiges Staatsbegräbnis. Das
Mein Kampf, Priestergrab auf dem Münchner Waldfriedhof wurde 1987 aufgelassen.
S. 293 f, 379 f. u. Eine positive Einstellung zur Kirche vermittelt insbesondere auch
630 f. H I T L E R S Buch Mein Kampf, das in der Landsberger Festungshaft entstand.

210
H I T L E R begrüßt den

später suspendierten
Abt Alban S C H A C H L E I T -
NER, der >Nazi-Abt(
genannt wurde, be-
sonders herzlich.
Rechts: Reichs-
bischof M Ü L L E R .

Es überrascht daher, daß sich trotz des Reichskonkordats vom 20. Juli
1933 (Reichsgesetzblatt II S. 679) die Beziehungen zwischen geistlicher und
weltlicher Obrigkeit nach der Machtübernahme dennoch nicht zur Zu-
friedenheit entwickelten, sondern im Gegenteil Vatikan und Episkopat
mit brennender Sorge8 erfüllten.
Der Erzbischof von Breslau und langjährige Vorsitzende der Fuldaer
Bischofskonferenz, Adolf Kardinal BERTRAM, 9 machte dem Nationalso-
zialismus keine Konzessionen, respektierte aber im Sinne von Römer 1310
Adolf HitleR als rechtmäßiges Oberhaupt des Staates. Politisch korrekt
im Geist seiner Zeit gratulierte der Kirchenfürst dem Führer alljährlich
zum Geburtstag, versäumte aber nicht die Gelegenheit, den Diktator um
Verständnis für das pflichtmäßige Bemühen der Bischöfe zu bitten, »den
christlichen Charakter im vollsten Sinne unserem Volke zu erhalten«.
Man habe gemeint, dies sei ein im Grunde verzweifelter Versuch ge-
wesen, »die Klagen des katholischen Volksteils dem obersten Machtha-
ber vor Augen zu rücken«, kommentiert SCHOLDER: 11 »Aber diese Erklä-
8 P L L S X I . , Mit brennender Sorge, Apostolisches Kundschreiben über die Lage der Kirche im

Deutschen Reich, 14. 3. 1937.


' Adolf Kardinal BERTRAM, geb. 1 8 5 9 in Hildesheim ( 1 8 5 9 - 1 9 4 5 ) , 1 9 0 6 Bischof
von Hildesheim, 1914 Fürstbischof von Breslau, 1916 Kardinal, ab 1919 Vor-
sitzender der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda.
10 Der Apostel Paulus an die Römer: »Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die
Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Ob-
rigkeit ist, die ist von Gott verordnet.« (13,1)
" Klaus SCHOLDER, »Ein Requiem für Hitler. Kardinal Bertram, Hitler und der
deutsche Episkopat im Dritten Reich«, in: ders,, Die Kirchen zwischen Republik und
Gewaltherrschaft, Berlin 1988, S. 228-238.

211
rung verkennt den Ernst und die Tiefe der Loyalität, die der deutsche
Kardinal dem katholischen deutschen Staatsoberhaupt gerade im Kriege
schuldig zu sein glaubte.« In die Wünsche zum 20. April 1942 packte
B E R T R A M die Bitte, »ein offenes Auge den schweren Heimsuchungen zu-
zuwenden, die von einflußreichen Kreisen und selbst staatlichen Ein-
richtungen der katholischen Kirche bereitet werden«, wobei er offen-
sichtlich zwischen HITI.ER und weniger hohen Hierarchen unterschied.
Deshalb lautete im Jahr darauf die Bitte, »inmitten aller im Führer-
hauptquartier zusammenkommenden Aufgaben doch die Augen nicht
zu verschließen vor den im Innern Großdeutschlands von maßgebenden
Stellen der Partei und des Staates unterstützten Bestrebungen, das heili-
ge Band zu zersetzen, das in der katholischen Kirche Hirten und Herde
verbindet«.
So konnte nur schreiben, wer davon ausging, daß die Kirchenverfol-
gung in Deutschland im Grunde wider Wissen und Wollen H I T L E R S ge-
schah, deutet S c H O L D ER das sichtliche Einverständnis zwischen Kardinal
und Staatsoberhaupt.
Adolf Kardinal Zur Überraschung des Historikers bemühte sich auch der Führer von
BERTRAM ( 1 8 5 9 - 1 9 4 5 ) . Jahr zu Jahr mehr, dem Kardinal auch seinerseits Vertrauen und Ver-
ständnis zu vermitteln. 1942 betonte der Diktator, »daß die vermeindli
chen Eingriffe in die kirchlichen Verhältnisse, soweit sie nicht durch das
Verhalten einzelner Persönlichkeiten veranlaßt sind, unvermeidlich in
Verbindung stehen mit der Not der Kriegszeit.. . Ich habe kein anderes
Interesse, als daß Staat und Kirche im besten Einvernehmen alles das
tun, was zur Überwindung der Schwierigkeiten der Kriegszeit und damit
dem Endsieg dient«, 1943 beschwichtigte H I T L E R : »Sie können sicher sein.
Herr Kardinal, daß Ihre Anliegen immer mit besonderer Eindringlich-
keit geprüft werden.« Der letzte Brief vom 13. Juli 1944 schloß mit den
Worten: »Seien Sie dabei überzeugt, Herr Kardinal, daß ich von der Ge-
radheit und Integrität Ihrer Absichten weiß und sie voll annehme.« Und
handschriftlich fügte der Verfasser hinzu: »In aufrichtiger Verehrung,
Ihr Adolf H I T L E R . «
Wenn auch nicht auszuschließen ist, daß der Diktator der direkten
Konfrontation mit der katholischen Kirche wenigstens während des Krie-
ges ausweichen wollte, so ist es andererseits kaum vorstellbar, daß HIT-
LER in dieser Zeit einen ähnlichen Brief - ja überhaupt noch einen Brief
- an einen evangelischen Kirchenführer gerichtet hätte. SCHOLDER sieht
darin das Indiz für einen aus fernen Erinnerungen an eine katholische
Kindheit resultierenden Rest von Respekt vor der Kirche und ihrer Hier-
archie.
Die Nachricht vom Tod Adolf H I T L E R S ereilte B E R T R A M auf Schloß
Johannesburg, dem erzbischöflichen Sommersitz bei Jauernig im sude-

212
tendeutschen Teil der Diözese, wohin sich auf ärztliches Anraten der
86jährige Würdenträger am 21. Januar 1945 vor der Einschließung Bres-
laus durch russische Truppen zurückgezogen hatte.
Am 1. Mai 1945 verbreitete der Rundfunk die offizielle Meldung, wo-
nach H I T L E R »in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letz-
ten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend für Deutschland ge-
fallen ist«.
Unter dem Eindruck der Nachricht, die unter den gegebenen Um-
ständen nicht im einzelnen überprüft werden konnte, entstand B E R T R A M S
Entwurf einer Anweisung an alle Pfarrämter der Erzdiözese, »ein feierli-
ches Requiem zu halten im Gedenken an den Führer und alle im Kampf
für das deutsche Vaterland gefallenen Angehörigen der Wehrmacht, zu-
gleich verbunden mit innigstem Gebet für Volk und Vaterland und für
die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland«. Ein feierliches
Requiem darf nach katholischem Kirchenrecht nur aus einem wichtigen
Anlaß und für ein öffentliches Anliegen {»pro regrave et publica simul causa«)
zelebriert werden.
Das undatierte und unsignierte Blatt ist in einem Aktenstück des Ti-
tels »Zur Zeitlage 1942/43" aufbewahrt, das im Erzbischöflichen Archiv
in Breslau auch den erwähnten Briefwechsel mit H I T L E R birgt (Signatur 1
A 25). Die Handschrift ist als die des Kardinals identifiziert, das Kon-
zept wurde von fremder Hand durchgestrichen. Ob die Anweisung noch
irgendwo befolgt oder ob sie überhaupt weitergegeben wurde, ist nicht
wesentlich. Zum Ausdruck kommt jedenfalls darin, daß der Kardinal in
all den Jahren nicht aus taktischen Überlegungen handelte, sondern Adolf
H I T L E R trotz kirchlich-staatlicher Konflikte als katholisches Staatsober-
haupt des Reiches respektierte.
Am 8. Mai 1945 wurde B E R T R A M S Aufenthaltsort von der Roten Ar-
mee erreicht. Bevor er zum Opfer der Vertreibung werden konnte, starb
der Kardinal am 6. Juli 1945 und wurde im Grab des Fürstbischofs Chri-
stian Franz Prinz ZU H O H E N L O H E (1740-1817) auf dem Friedhof in Jau-
ernig bestattet. Am 6. November 1991 wurden die sterblichen Überreste
exhumiert und nach Breslau überführt. Die feierliche Beisetzung von
Adolf Kardinal B E R T R A M im Dom der schlesischen Hauptstadt erfolgte
am 9. November 1991.'' Fred Duswald

* Verität! et caritati. Dokumentensammlung anläßlich der feierlichen Uberführung Kardinal


Adolf Bertrams von Jauernig nach Breslau. 7. November 1991 (Sekretariat der Deut-
schen Bischofskonferenz, Arbeitshilfen 97).

213
Kirchenbau und Kirchenliquidierung
vor siebzig Jahren und heute

on politisch korrekter Seite wird oft auf die »Notzeit* der katholi-
V schen Kirche unter dem Dritten Reich hingewiesen. Ein interessan-
ter und manches richtigstellender Gesichtspunkt ergibt sich dazu, wenn
man den Kirchenbau und die Kirchenverwendung von damals mit der
von heute vergleicht. Dazu seien einige Tatsachen angeführt.
Als Clemens August Graf VON G A L E N (1878-1946) im Jahre 1906 nach
Berlin kam, baute er am Anhalter Bahnhof von seinem väterlichen Erbe
die Kirche St. Clemens Maria Hofbauer, woselbst er ab 1911 als Kaplan
wirkte. Der Stifter des Gotteshauses, spätere Bischof von Münster und
Kardinal, wurde im September 2005 seliggesprochen, das von ihm ge-
stiftete, dem Heiligen der Stadt Wien geweihte Gotteshaus aber wurde
jüngst vom Erzbistum Berlin pietätlos an einen »britischen Investor« ver-
kauft. Dieser will das entweihte Heiligtum zum »Kulturzentrum St. Cle-
mens-Höfe< umwidmen. Für den wohlinformierten katholischen Nach-
richtendienst kreuz.net indessen ist es offenes Geheimnis, daß der obskure
Käufer Strohmann für Moslems ist. Von der Backsteinkirche des seligen
VON G A I J ; N dürfte daher bald der Ruf eines Muezzins erschallen. Zwar
enthält der Kaufvertrag die salvatorische« Klausel, daß aus der Ex-Kirche
keine Moschee gemacht werden dürfe, doch kann der nur scheinbar sol-
ches verhindernde Passus durch juristische Tricks etwa unter dem Titel der
Sittenwidrigkeit »religiöser Diskriminierung«« spielend unterlaufen werden.

Im Dritten Reich wur-


den Kirchen gebaut -
und nicht wenige.
Hier: Benediktinerab-
teikirche St. Salvator
in Münsterschwarz-
ach (1938). Architekt:
Albert B O S S L E T . Aus:
Holger B R Ü L L S ,
Neue Dome, Verlag
für Bauwesen, Berlin-
München 1994.

214
German B E S T E L M E Y E R ,
Erlöserkirche in Bamberg (1934).

Gottfried D A U N E R ,
Reformation s- Gedächtnski rc h e
in Nürnberg-Maxfeld (1938).

Dominikus B Ö H M ,
Heilig-Kreuz-Kirche
in Dülmen (1939).

215
Die Berliner Erzdiözese hat Schulden in Höhe von 148 Millionen Euro,
so daß noch weitere Berliner Kirchen abgestoßen oder vernichtet wer-
den müssen. Mangels Käufern wurde in Tempelhof die Kirche St.-Jo-
1 Manfred W E I T - hannes Capistran samt Franziskanerkloster abgerissen. Auf dem Gelän-
LAUFF, »Preysing«, in:
de in der Götzstraße entsteht ein Senioren heim. In Berlin-Waidmannslust
Biographiscb-Bibliogra-
phisches Kirchenlexikon wird die katholische Kirche Regina Mundi feilgeboten. In der Türken-
Bd. VII (1994), Sp. hochburg Kreuzberg ist die katholische Kirche St. Agnes an die frei-
941-948. kirchliche >Cross Continental Mission* vermietet worden. In Friedrichs-
2 Prof. Dr. Winfried hain steht die katholische Kirche St. Nikolaus leer. Im Westend gehört
NERDINGER, Direk- die ursprünglich katholische Kirche St. Georg nunmehr der anglikani-
tor des Architektur- schen Gemeinde. In Charlottenburg wurde die katholische Kirche Maria
museums der Himmelfahrt der syrisch-orthodoxen Kirche überlassen. In Berlin-Lich-
Technischen terfelde wurde das katholische Gotteshaus Maria Mutter vom guten Rat
Universität Mün- an die >Landeskirchliche Gemeinschaft Eben Ezer< verkauft. Die katho-
chen im Gespräch lische Kirche St. Judas Thaddäus in Hohen Neuendorf im Landkreis
mit Dr. Michael
Oberhavel wurde entwidmet und das gesamte Objekt verkauft. In Ga-
SCHRAMM, Bayeri-
scher Rundfunk, 28. tow mußte die katholische Kirche St. Raphael einem Supermarkt wei-
11.2005. chen, Das katholische Gotteshaus >Zu den Heiligen Märtyrern von Afrika«
3 Erich HAMPE, Der
in Lichtenrade wird noch in diesem Jahr verkauft oder geschleift.
Zivile Luftschutz im Demgegenüber konnte der regimegegnerische Berliner Oberhirte
Zweiten Weltkrieg. Konrad Graf VON PREYSING (1880-1950) unter dem kirchengegnerischen
Dokumentation und NS-Regime neben der Errichtung zahlreicher neuer Seelsorgestellen zwi-
Erfahrungsberichte über schen Einsetzung 1935 und Kriegsausbruch 1939 sechsunddreißig neue
Aufbau und Einsatz Kirchen auf dem Boden seines Bistums errichten.1 Der fatale Saldo aus
Frankfurt/M. 1963, einstigen Kirchenneubauten und jetzigen Kirchenliquidierungen provo-
S. 188 ff., zit. bei ziert die berechtigte Frage, ob es der katholischen Kirche in der öffent-
Maximilian CZESA- lich so verdammten Vergangenheit nach 1933 nicht besser ging als in der
NY, Alliierter Bomben-
terror. Der Luftkrieg gesegneten Gegenwart.
gegen Europas Zivilbe- Während des Dritten Reiches seien viele Kirchenbauten errichtet wor-
völkerung 1940-1945, den, bestätigt der Münchner Architekturhistoriker Winfried N E R D I N G E R :
Druffel, Leoni »Man hat immer gesagt, daß es in den dreißiger Jahren fast keinen neuen
21987, S. 653. Die Sakralbau gegeben habe. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall: Es ist im
genannten Zahlen Sakralbau unglaublich viel, viel mehr als in den zwanziger Jahren pas-
beziehen sich auf siert.« So gab es im Bereich des Sakralbaus »diese schweren, romanisie-
das Gebiet der renden Formen«.2
BRD in den aktuel-
Während des Dritten Reiches wurden aber auch 1200 Kirchen und
len Grenzen.
Kapellen beider Konfessionen zerstört.3 Dies jedoch ausschließlich durch
anglo-amerikanische Bomben. Schwer beschädigt wurden damals 2300,
leicht beschädigt 8500 Gotteshäuser. Hinzu kamen noch die Zerstörun-
gen verschiedenen Grades von einer Vielzahl kirchlicher Krankenhäu-
ser, Friedhofsgebäude, Kindergärten und sonstiger karitativer Einrich-
tungen. Fred Duswald

216
Okkulte NS-Verbindungen nach Tibet?

ie Dämonisierung des Nationalsozialismus begann schon vor der


D eigentlichen Geburtsstunde des Dritten Reiches. Adolf H I T L E R war
noch nicht einmal Reichskanzler, als Dr. Karl S T R Ü N K M A N N unter dem
Pseudonym >Kurt VAN EMSEN< die »mediale« Natur des »Führers« betonte
und damit als Vorläufer all jener gelten kann, die im Nationalsozialismus
das Wirken okkulter, magischer oder mystischer Kräfte zu erkennen glaub-
ten. In seiner Schrift Adolf Hitler und die Kommenden formulierte er 1932:
» H I T L E R geht seinen Weg in radikaler Traumsicherheit. Er ist eine ausge-
sprochen dämonische Persönlichkeit, die restlos vom Weltgeist sich füh-
ren läßt.«1
In dieselbe Kerbe schlug im Juni 1934 der christlich-esoterische Autor
René K O P P in der französischen Zeitschrift Le Chariot. Bei seinem Ver-
such, das Erfolgsgeheimnis von N A P O L E O N , M U S S O L I N I und H I T L E R ZU
ergründen, führte er auch »außermenschliche Kräfte« ins Feld. Fünf Jah-
re später spekulierte er dann über das »Rätsel H I T L E R « und die »Möglich-
keit eines Kontaktes mit einem besessenmachenden Geist unbekannter
Herkunft«.2
Einen bedeutenden Anteil an der Deutung des Nationalsozialismus
als »magischen Sozialismus« hatten dann die Gespräche, mit Hitler des Her-
mann RAUSCHNING, der 1933/34 Senatspräsident in Danzig war, sich aber
dann mit den Nationalsozialisten überwarf. Diese unter dem Eindruck
des Kriegsausbruchs mit heißer Nadel im Ausland gestrickte Propagan-
da-Schrift, die 1939 zuerst in französischer Sprache erschien, später auf
deutsch und englisch, fand bei den Kriegsgegnern Deutschlands weite
Verbreitung und dürfte das Bild des Nationalsozialismus dort wesentlich
mitgeprägt haben. Während die offiziöse deutsche Historikerzunft die
Gespräche lange Zeit als authentische Geschichtsquelle behandelte, wurde
RAUSCHNING mitsamt seinem Buch dann 1984 und 1990 von »Außensei-
tern< so restlos wie hieb- und stichfest entzaubert und das Buch als Fäl-
schung entlarvt.1
1 Kurt VAN EMSEN, Adolf Hitler und die Kommenden, Leipzig 1 9 3 2 , S . 1 2 3 .
2 Hans Thomas H AKL, »Nationalsozialismus und Okkultismus«, in: Nicholas
GOODRICK-CLARKE, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Graz—Stuttgart
1 9 9 7 , S. 1 9 4 - 2 1 7 , hier S. 2 1 0 . HAKLS höchst verdienstvoller Aufsatz geht dem
>NS-Okkult-Mythos< nach und informiert über frühe, insbesondere ausländi-
sche Quellen der esoterischen NS-Deutungen.
3 Zu RAUSCHNING siehe den Überblick in: Detlev ROSE, Die Thule-Gesellschaft. Le-
gende, Mythos, Wirklichkeit, Grabert, Tübingen 22000, S. 181-188 mit weiteren
Literaturhinweisen.

217
Auf diesen frühen Grundlagen aufbauend, bastelte dann nach 1945
eine Reihe von Autoren im In- und Ausland an einer >Okkultgeschichte
des Nationalsozialismus«. Viele Leser fanden insbesondere die Bücher
Aufbruch ins dritte Jahrtausend von Louis PAUWELS und Jacques BERGIER
(deutsch 1962), Der Speer des Schicksals von Trevor RAVENSCROFT (deutsch
1974), Das Schwarze Reich von E. R . CARMJN (1994, neu: 2006) sowie die
zahlreichen Traktate des Jan VAN HELSING (eigentlich Jan Udo HOLEY) ab
1993. Ein zentraler Bestandteil des in diesen und verschiedenen anderen
Schriften sowie über das Internet verbreiteten NS-Okkult-Mythos ist die
geheimnisvolle >Tibet-Connection<,
Und diese soll in etwa so ausgesehen haben: Professor Karl HAUSHO-
HER, in den zwanziger Jahren bekannter Vertreter der Geopolitik und
väterlicher Freund und Mentor von Rudolf HESS, gehörte angeblich zum
Kreis des Georg Iwanowitsch GURDJEW, eines frühen >Gurus<, der aus
>okkulten< Elementen und Versatzstücken der verschiedensten Philoso-
phien und Weltreligionen eine eigene >Lehre< fabriziert hatte. HAUSHOFER
soll an der Seite GURDJEWS, der auch Lehrer des Dalai Lama gewesen sein
soll, 1903, 1905,1906,1907 und 1908 in Tibet gewesen und von ihm in
okkulte Geheimlehren eingeweiht worden sein. Der mysteriöse Magier
habe HAUSHOFF.R dann die Verwendung des Hakenkreuzes als NS-Em-
blem geraten. 1923 soll HAUSHOHER eine esoterische Gruppe tibetani-
scher Inspiration gegründet haben, gerade zur selben Zeit, als GURDJEW
sich in Frankreich niederließ und das >Institut zur harmonischen Ent-
wicklung des Menschen< gründete. Über die tibetanische Kolonie in Ber-
lin, mit der HAUSHOHER angeblich regelmäßige Verbindung hielt, soll der
Münchner Geopolitik-Professor 1928 einen engen Kontakt zu mönchi-
schen Geheimgesellschaften in Tibet hergestellt haben. Kommuniziert

Ende April 1938


auf der >Gneisenau<,
die Mitglieder der
sogenannten iTibet-
Expeditioni. Von links:
Edmund G E E R , Ernst
S C H Ä F E R , Bruno B E G E R ,

Kapitän H E N G S T E N B E R -
GER, der Erste Offizier
Karl W I E N E R T und Ernst
KRAUSE.

218
wurde — dem Okkultmythos zufolge — über eine Funkverbindung sowie
auf spirituellem Wege mit Hilfe eines »tibetanischen Tarót< Während der
Zeit des Dritten Reiches sollen die Verbindungen nach Tibet überwie-
gend über das >Forschungsamt Ahnenerbe< gelaufen sein. Als Höhepunkt
der >Tibet-Connection< wird dann die »Deutsche Tibet-Expedition Ernst
SCHAFER< 1 9 3 8 / 3 9 gehandelt, die zumeist als SS-Tibetexpedition firmiert.
Ziel der Tibet-Kontakte, insbesondere aber der Expedition, sei es gewe-
sen, von »geheimen Meistern« oder anderen Eingeweihten die Metho-
den »okkulter« Menschenbeherrschung zu erlernen, sich übersinnliche
Kräfte nutzbar zu machen oder die Nachkommen der »Ur-Arier« von
Atlantis ausfindig zu machen, denen ebenfalls übermenschliche Fähig-
keiten zugeschrieben wurden. » H I T L E R hatte ständigen Kontakt mit ei-
nem tibetanischen Mönch mit grünen Handschuhen, der als der >Hüter
des Schlüssels< bezeichnet wurde«, schreibt Jan VAN HELSING (Jan Udo
H O L E Y ) in seinem Erstling Geheimgesellschaften.* Das klingt nach Edgar 4 J a n VAN HEISING,
WALLACE und >Ghostbusters<, wird aber mit einem feierlichen Ernst vor- C eheimgesellschajten
gestellt, der unfreiwillig komisch wirkt. Nachdem Berlin 1945 von sowje- und ihre Macht im
tischen Truppen erobert worden war, sollen in den Trümmern der Reichs- 20. Jahrhundert,
Rhede (Ems) 1993,
hauptstadt die Leichen von mehr als 1000 Tibetern aufgefunden worden Kapitel 28: »Adolf
sein - »in deutschen Uniformen« (VAN H E L S J N G / H O L E Y ) . Schickig ruber und
Diese — zugegebenermaßen geraffte — Darstellung der >Tibet-Connec- die Thüle-Gesell-
tion< verblüfft durch ihre Brüche, ihre Lücken, ihren Charakter als Ab- schaft«, zit. nach:
folge von Andeutungen. Geht man dem Tatsachengehalt auf den Grund, http://
so bricht das ohnehin schon nebulöse Konstrukt mit lautem Getöse in www. vh o.org/ D /
Geheiml /28g.html
sich zusammen. Dies betrifft zunächst den posthum bedauernswerten
Professor Karl HAUSHOFER, dessen >nichtarische< Ehefrau ihm in der NS-
Beliebtheitsskala gewisse Punktabzüge brachte. Solange sein Freund und
ehemaliger Schüler Rudolf H E S S noch nicht in britischer Gefangenschaft
saß, mochte ihn dies nicht so sehr beunruhigen. Spätestens jedoch, als
sein Sohn Albrecht, der seiner Gegnerschaft zum NS-Regime noch in
der Gefängniszelle mit den später viel zitierten Moabiter Sonetten Ausdruck
verlieh, in den letzten Kriegstagen von der SS ermordet wurde, konnte
HAUSHOFER senior wohl nicht mehr zu den Advokaten der NS-Herrschaft
gerechnet werden. Um so skurriler ist es, daß er vom NS-Okkult-Mythos
zu einem der wichtigsten geheimen Magien des Dritten Reiches stilisiert
wird.
Historisch gesichert ist Karl HAUSHOFERS Japan-Kommando, zu dem
er am 22. Oktober 1908 von Genua aufbrach und über Indien, Burma,
Singapur, Hongkong und Shanghai schließlich am 19. Februar 1909 in
Nagasaki eintraf. Am 15. Juni 1910 trat er von Kyoto die Rückreise an
und fuhr mit der transsibirischen Eisenbahn in die Heimat zurück. Für
einen Tibet-Aufenthalt ergeben sich in dieser Zeit keine Hinweise. Und

219
selbst die Verbindung von G U R D J E W nach Tibet ist äußerst zweifelhaft.
Entsprechende Angaben beruhen offensichtlich auf einer Namensver-
wechslung. G U R D J E W , auch daran gibt es mitderweile keinen Zweifel, hatte
weder zu H A U S H O F E R Verbindung, noch gibt es irgendwelche Anzeichen
dafür, daß er während seines Deutschland-Aufenthalts 1921/22 Verbin-
dung zu prominenten Nationalsozialisten hatte. All dies haben akribi-
sche biographische Studien sowohl über H A U S H O F E R als auch über G U R -
DJEW erw'iesen.5
Als Erfinder der Legende von Karl H A U S H O F E R als geheimer okkulter
Instanz hinter den Mächtigen des Dritten Reiches kann Gurdjew-Schü-
ler Louis P A U W E L S gelten, der seinem »Meisten damit offenbar zu welthi-
storischer Bedeutung verhelfen wollte. In seinem 1954 erschienenen Buch
über GURDJF.W findet sich gewissermaßen ihre »Ur-Fassung«.6 jene ist
dort allerdings mit einer Anmerkung des Herausgebers versehen, aus der
hervorgeht, daß Jacques B E R G I E R die einzige Quelle für die These einer
Verbindung zwischen G U R D J E W und H A U S H O F E R ist. BERGIER beruft sich
wiederum auf »ausgiebige Lektüre« und »persönliche vertrauliche Mit-
teilungen«, die zum Teil von deutschen Offizieren gekommen sein sol-
len, die wegen Beteiligung an einem Komplott gegen H I T L E R im Kon-
zentrationslager Mauthausen inhaftiert waren, wo BERGIER ebenfalls
einsaß. Der Herausgeber verweist darauf, daß B E R G I E R keine beweiskräf-
tigen Dokumente zur Stützung seiner These vorlegen konnte. In ihrem
Bestseller Aufbruch ins dritte Jahrtausend verschafften PAUWELS und B E R -
GIER der Legende dann ihre verheerende Breitenwirkung. Im deutschen
Sprachraum hat Dietrich B R O N D E R 1964 erstmals ausführlich »okkulte
Wurzeln« zur Erklärung des Nationalsozialismus herangezogen und da-
bei auch die »Tibet-Connection< beschrieben. Zwar vergaß er dabei, die
quellenkritischen Anmerkungen des Herausgebers von P A U W E L S ' G U R D -
JEW-Buch zu erwähnen, betonte jedoch immerhin mehrmals den hoch-
spekulativen Charakter der okkulten NS-Deutung,* Zeitgenössische Au-
toren wie C A R M I N und VAN H E L S I N G / H O L E Y halten sich mit solchen
Kleinigkeiten nicht mehr auf.
Bleibt noch die >SS-Tibetexpedition<, die nun zweifelsfrei stattfand,
deren Deutungen - bis in Veröffentlichungen mit wissenschaftlichem
5 Hans-Adolf JACOBSEN, Karl Haushofer. Leben und Werk, 2 Bde., Boppard 1979
(Schriften des Bundesarchivs 24), S . 8 6 - 8 9 , sowie James W E B B , The barmonious
circle. The lifes and work of G.I. Gurdjieff P.D. Ouspensk)1, and theirfollowers, London
1 9 8 0 , S . 45, 49 ff. u. 1 8 5 ff.
6 Louis PAUWELS, Monsieur Gurdjieff, Paris 1954, S. 47-50.
7 Louis PAUWELS U. Jacques BERGIER, Aujbruch ins dritte Jahrtausend. Von der Zu-

kunft der phantastischen Vernunft, Bern—Stuttgart 1962, S. 372—378.


8 Dietrich BRONDER, Bevor Hitler kam, Hannover 1 9 6 4 , S . 2 2 0 u. 2 4 0 - 2 4 4 .

220
Anspruch hinein — jedoch zahlreiche Zweifel hervorrufen. Fünf deut- Aufnahmen von der
sche Wissenschaftler unter der Leitung von Ernst S C H Ä F E R brachen am Tibet-Expedition.
20. April 1938 mit dem Ziel >Tibet< zu einer abenteuerlichen Expedition Links: Tempelkunst in
Lhasa. Rechts: Schil-
auf. Über Sikkim, das damals zu Britisch-Indien gehörte, erreichten sie
derhaus mit Wachpo-
tatsächlich das >Dach der Welt< und konnten als erste Deutsche die heili- sten vor dem Potala
ge Stadt Lhasa betreten und dort rund zwei Monate verbringen. Kurz (Palast des Dalai
vor Ausbruch des Krieges mit Polen kehrten sie im August 1939 in die Lama) in Lhasa.
Heimat zurück.
Doch was wollten die Deutschen, die tatsächlich alle SS-Mitglieder
waren, im fernen Tibet? 9 Expeditionsleiter Ernst S C H Ä F E R berichtet in
seinen unveröffentlichten Memoiren von einem Gespräch in H I M M L E R S
engstem Kreis, das im Vorfeld der Expedition stattfand. »Ob ich in Tibet
Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen begegnet sei«, soll
HIMMLER bei diesem Treffen gefragt haben. S C H Ä F E R , der bereits 1931/
32 und 1934 bis 1936 an Tibet-Expeditionen des US-Amerikaners Brooke
D O L Ä N teilgenommen hatte, verneinte dies und legte seinen Wissens-
stand über die stammesgeschichtliche Entwicklung der Menschen dar.
H I M M L E R gab darauf seiner Vermutung Ausdruck, in Tibet seien Reste

9 Siehe zu dieser Frage auch: Detlev ROSF,, »Die deutsche Tibetexpedition 1 9 3 8 /


39, Forschungsreise oder ideologisch motivierte Spurensuche?« in: Deutschland
in Geschichte und Gegenwart, Nr. 3 , 2 0 0 6 , S. 2 7 — 3 1 .

221
der Hochkultur des versunkenen Atlantis zu finden.10 Ernst SCHÄFER
beharrte jedoch auf dem rein wissenschaftlichen Charakter der Expedi-
tion. Sowohl H I M M L E R S Forderung, je einen Ru-
nenforscher, einen Urgeschichtler und einen
Religionswissenschafticr in die Expeditions-
mannschaft aufzunehmen, als auch der Ver-
such, den Forscher durch eine Zusammenkunft
mit H I M M L E R S greisem >Berater< Karl Maria Wi-
U G U T für seine Theorien zu vereinnahmen,
scheiterten.11
Daß die deutsche Tibetexpedition einen ideo-
logischen Hintergrund gehabt habe, behaupte-
te dennoch der 2004 produzierte Dokumentar-
film Die Expeditionen der Nazis. Abenteuer und
Rassenwahn,u »Kronzeuge« in der Film-Doku-
mentation ist Christopher HALE, ein britischer
Journalist, der sich offenbar durch eine aktuelle
Buchveröffentlichung11 als >Experte< empfohlen
hatte. Bereits in der Einleitung behauptet der
Sprecher: »Schon seit Mitte der 30er Jahre su-
Bruno B E C E R beim chen SS-Forscher weltweit nach den Spuren einer versunkenen Herrenras-
Vermessen eines Die- se.« Diese Suche sei beeinflußt von der >Welteislehre< des Österreichers
ners des Königs von Hanns H Ö R B I G F R . HALF, führt dann später aus, es erscheine zunächst ab-
Tharing in Gayokang.
surd, daß man nach Verwandten dieser >Arier< in Asien, auch auf dem >Dach
der Welt«, suche. Doch genau das habe die Tibetexpedition gewollt. Hin-
tergrund dafür sei die Theorie, daß vor langer Zeit eine überlegene arische
oder nordische Zivilisation herrschte, die ein riesiges Reich von Europa bis
nach Japan bildete. Dieses Reich sei dann aufgrund der Vermischung mit
»minderwertigen Rassen« zusammengebrochen, habe aber Spuren selbst
in entlegenen Winkeln der Erde hinterlassen. In Tibet seien solche Spuren
vor allem innerhalb der Aristokratie zu finden.

IM Ernst SCHÄFER, AUS meinem Forscherleben (unveröffentlichte Autobiographie),


1994, S. 168 ff. Siehe Peter MIERAU, Nationalsozialistische Expeditionspolitik. Deut-
sche Asien-Expeditionen 1933-1945, München 2006 (zugleich Diss. Univ. Mün-
chen 2003), S. 334 f., und Rüdiger SüNNER, Schwarbe Sonne. Entfesselung und Miß-
brauch der Mythen in Nationalsozialismus und rechter Esoterik, Freiburg 1999, S, 48,
11 SÜNNER, ebenda, S . 49—53. MIERAU, ebenda, S . 3 3 5 — 3 4 2 , ausführlich zu HIMM-

LERS Tibet-Vorstellungen und deren Quellen.


12 DVD-Dokumentation Die Expeditionen der Nazis. Abenteuer und Rassenwahn,
MDR, ZDF Enterprises und Polarfilm 2004.
13 Christopher H ALE, Himmler's Crusade. The True Story of the 1938 Nazi Expedition
into Tibet, London 2003,

222
Eine solche Deutung der Hintergründe
konnte unmittelbar an die okkulten Theo-
rien des Reichsführers-SS anknüpfen, wie
sie Ernst SCHÄFER schilderte. Die Welteis-
lehre, Helena P. BLAVATSKYS Geheimlehre und
das 1923 erschienene Buch Tiere, Menschen
und Götter des Okkuldsten Ferdinand Os-
SENDOWSKI waren dabei die wichtigsten In-
spirationsquellen für H I M M L E R . Der Film Die
Expeditionen der Nazis suggeriert nun, aus
den seltsamen Ansichten H I M M L E R S , die
zweifelsfrei belegt sind, seien - sozusagen
eins zu eins — die Zielvorgaben für die Ti-
betexpedition abgeleitet worden. Für diese
These finden sich aber in den Quellen kei-
nerlei Belege.14 H I M M L E R hätte S C H Ä F E R nur
zu gern davon überzeugt, in Tibet nach den
Spuren einer versunkenen arischen Hoch-
kultur zu suchen. Doch der mächtige
Reichsführer-SS konnte den selbstbewuß-
ten jungen Wissenschaftler und seine Ex-
peditionskameraden nicht von seinen Ide-
en überzeugen und biß sozusagen auf
Granit.
In der Zeitschrift Asienberichte erläuterte
Ernst S C H Ä F E R unter dem Titel »For-
schungsraum Innerasien«15 seine Motive für
die Expedition. Nach der Pionierarbeit wäh-
rend der ersten Expeditionen sei es nun-
mehr um die systematische Forschung in
Teilsparten gegangen und vor allem um die
Synthese von Ergebnissen verschiedener
Disziplinen. »So war es schon die Aufgäbe
meiner letzten Expedition 1938/39,. . .eine
Aufnahmen von der Tibet-Expedition. Oben: Kloster-
Gesamtschau anzustreben, bei der engste tempel und Tschorten in Gyantse. Unten: Zeltlager
Berührung der verschiedensten Wissensge- des Frühlingsfestes in Gyantse.

14 MIERAU, aaO, (Anm. 10), S. 342 (Fußnote


1120).
15 Ernst SCHAFER, »Forschungsraum Innerasi-
en«, in: Asienberichte. Vierteljahresscbrift für asiati-
sche Geschichte und Kultur, Nr. 21, 1944, S. 3-6.

223
biete ebenso Voraussetzung ist, wie die gemeinverständliche Tatsache,
daß die einzelnen Spezialisten Hand in Hand arbeiten, um sich den Stoff
gegenseitig zu erklären und sich in ihren Erkenntnissen zu ergänzen; im-
mer mit dem Ziel, die großen Zusammenhänge klarer erkenntlich wer-
16Ebenda, S. 4. den zu lassen.« Die Hauptaufgabe war es, »den zu erforschenden Le-
17Ernst SCHAFER, bensraum ganzheidich zu erfassen«, daher seien »Erde, Pflanze, Tier und
Geheimnis Tibet. Mensch Gegenstand unserer Forschungen«,16
Erster Bericht der Eine wissenschaftliche Gesamtbetrachtung Tibets war also das Ziel
Deutschen Tibet-
Expedition Ernst der deutschen Tibetexpedition 1938/39, Hinweise auf andere oder dar-
Schafer 1938/39, über hinaus gehende Motive und Zielsetzungen finden sich auch in den
Schirmherr: Reichs- Berichten der Teilnehmer nicht, die den Verlauf der Forschungsreise aus-
führer-SS, München fuhrlich und detailgenau beschreiben.'" Mit Recht könnte auch hier ge-
1943, und Bruno fragt werden, ob die Teilnehmer womöglich eine Verklärung in eigener
BEGER, Mit der Sache betreiben. Doch die Forschungsergebnisse sowie die detaillierte
deutschen Tibetexpediti- Auflistung der Tätigkeiten und des gesammelten Expeditionsgutes, die
on Ernst Schäfer in einem Vortrag S C H Ä F E R S in Kalkutta noch vor der Rückreise aufge-
1938/39 nach Lhasa,
Wiesbaden 1998. führt werden, sprechen klar dagegen. Zu den Interessengebieten der Ex-
pedition gehörten Erdmagnetismus, Temperaturmessungen, Feststellung
18 »Ivecture to be
des Salzgehalts von Seen, Erstellung von Gebäude-Grundrissen, Land-
given on the 25. 7. karten der geologischen Strukturen, die Sammlung von Steinen und Mi-
39 by Dr. Ernst
Schäfer at the neralien, Fossilien, Tierskeletten, Reptilien, Schmetterlingen und Vögeln,
Himalaya Club«, S. 4 getrockneten Pflanzen, Samen von Blumen, Getreide und Früchten, dazu
(Bundesarchiv R verschiedenen völkerkundlichen Gegenständen, Werkzeugen und Texti-
135/30,12), S. 6 ff. lien, Außerdem wurden 20000 Schwarz-Weiß-Fotos und 2000 Farbauf-
19 BEGER, a a O . nahmen gemacht und rund 18000 Meter Filmaufnahmen,1 s aus denen
(Anm. 17), S. 278. nach der Rückkehr ein »offiziellen Dokumentationsfilm hergestellt wur-
de. >Okkult< klingt das alles nicht, und für eine Suche nach medial begab-
ten Nachkommen der >Ur-Arier< von Atlantis gibt es auch nichts her.
Halbseriöse Darstellungen wie jene Christopher H A I . E S halten, wie die
Quellenlage überzeugend darlegt, einer kritischen Überprüfung nicht
stand. Noch viel weniger geben die Quellen irgend etwas für abenteuer-
liche Okkult-Thesen der Tibet-Expedition her, die dank PAUWEES und
seinen Epigonen bis heute in vielen Köpfen herum spuken. »Alle For-
schungsziele und -aufgaben setzten sich die Teilnehmer unter der Füh-
rung S C H Ä F E R S selbst. Sie hatten rein wissenschaftlichen Charakter auf
dem Stand der dreißiger Jahre«, beschließt der Wissenschaftler Bruno
B E G E R seine Erinnerungen an die Expedition. 19 Daß die SS auf Ergeb-
nisse hoffte, die sich ideologisch verwerten lassen, steht genauso auf ei-
Bruno BEGER, der das
Bildmaterial zu die-
nem anderen Blatt wie H I M M L E R S etwaige Erwartungen, für seine seltsa-
sem Artikel zur Verfü- men Theorien würden sich in Tibet Beweise finden lassen. Die Geschichte
gung stellte. Das Foto von Wünschen und Erwartungen und die Realgeschichte sind eben zwei
entstand in Makotang. ganz verschiedene Paar Schuhe. Detlev Rose

224
Statt 11000 höchstens 250 Tote in Guernica

m 28. November 1995 brachte die zu der Südwestpresse in Ulm gehö-


A rende Filder Zeitung eine Abbildung des berühmten PiCASSoBildes
mit der Unterschrift »Guernica ohne Panzerglas«. Im zweispaltigen Text
hieß es nach Erwähnung des deutschen Fliegerangriffs vom 26. April
1937 unter anderem bei Bezugnahme auf diesen: »Bei dem Luftangriff
während des spanischen Bürgerkrieges kamen nach Augenzeugenberich-
ten rund 11000 Menschen ums Leben.« Unter der Legende war vermerkt:
»Text/Foto: dpa«.
Diese Aussage über die Zahl der Opfer ist falsch. Richtig ist, daß bei
dem Bombenangriff, der einer strategisch wichtigen Brücke bei Guernica
galt, rund 120 Tote,1 maximal 300 Opfer,3 zu beklagen waren.
Daraufhin schrieb der Leser Dr, Gustav Adolf T H U M M aus Steinheim
an die Südwestpresse in Ulm und stellte die in der Bildunterschrift angege-
bene viel zu hohe Zahl der bei dem Angriff angeblich ums Leben Ge-
kommenen richtig. Der Chefredakteur W I L D E R M U T H antwortete und gab
an, daß er nicht sagen könne, wie viele Menschen in Guernica wirklich
getötet worden seien. Bild und Text seien durch seine Zeitung von der
dpa Hamburg übernommen worden. Im übrigen sei der deutsche An-
griff auf die nordspanische Stadt die Ursache für die späteren Bomben-
angriffe der Alliierten auf deutsche Städte gewesen. 3 Das letztere stimmt
im übrigen auch nicht.
Als der Leser dann an dpa nach Hamburg schrieb, bekam er zur Ant-
wort, das Bild sei von der dpa, der Text unter dem Bild stamme jedoch
von der Zeitung, Dazu bemerkte dpa, daß »nach sämtlichen vorhande-
nen Unterlagen in Guernica bis zu 250 Menschen umgekommen seien«.
Das angesehene Hamburger Nachrichtenbüro gab also dem kritischen
Leser Recht.
Als Dr. T H U M M das dem bereits genannten Chefredakteur sowie der
Filder Zeitung mitteilte, gab der stellvertretende Chefredakteur - offen-
sichtlich ziemlich widerwillig - »den Irrtum« in der Bildunterschrift zu,
der von einem »noch sehr jungen Redakteur« zu verantworten sei, den
man deswegen zurechtgewiesen habe.
Eine Berichtigung oder Richtigstellung der in der liegende weit über-
höhten Zahl der Opfer erfolgte jedoch in der Zeitung nicht. Die Leser

1 Beitrag Nr. 107, »Propagandalügen über Guernica«.


2 Beitrag Nr. 106, »Bombenschwindel um Guernica«.
3 Beitrag Nr. 207, »Zur Vorgeschichte des Bombenkrieges«, und Nr. 208, »Alli-

ierte begannen Bombenterror«.

225
Ein Sturzkampfbom- erfuhren damit die geschichtliche Wahrheit nicht, sondern bekamen al-
ber der ¡Legion Con- lein die rund auf das Hundertfache erhöhte Zahl mitgeteilt, die offen-
dor< wird mit Bom- sichtlich dazu dienen sollte, das Schuldkonto der Deutschen in der Öf-
ben beladen. Der
fentlichkeit zu erhöhen - leider eine immer wieder und immer noch zu
Angriff der Deutschen
galt der in der Nähe
beobachtende Neigung der Presse in Deutschland.
von Cuernica befind- Eine weitere falsche Behauptung zu Guernica bringt ein neues Großes
lichen kleinen Brücke Volkslexikon über Kunst. Darin heißt es als Legende zu PICASSOS Bild
Renteria über den Rio unter anderem:4 »Am 24. April 1937 zerstörte die deutsche Legion Con-
Oca. dor, die H I T L E R zur Unterstützung F R A N C O S nach Spanien schicken ließ,
die älteste Stadt des Baskenlandes mit über 3000 Brandbomben und
metzelte anschließend die Einwohner mit Maschinengewehren nieder.«
Zu den früheren Lügen - nicht die Stadt, sondern eine strategisch wich-
tige Brücke wurde angegriffen - trat hier die falsche Behauptung, deut-
sche Flieger hätten in Guernica mit Maschinengewehren auf Zivilisten
geschossen, so, wie es in den letzten Kriegsjahren im Zweiten Weltkrieg
wirklich die alliierten Jagdbomber gegenüber deutschen Zivilisten nicht
nur bei den Terrorangriffen auf Dresden, sondern auch auf einzelne auf
dem Felde ackernde Bauern verübten.
Mit einer massiven Verbiegung der historischen Wirklichkeit soll das
falsche Geschichtsbild der Umerziehung weiterhin indoktriniert werden,
während auf der anderen Seite eine - auch begründete - Herabsetzung
der Zahl der durch Deutsche verursachten Opfer als >Verharmlosung<
angeprangert und mit Sonder-Strafgesetzen verfolgt wird. Rolf Kosick

4Hellmuth KARASEK U. Ulf MERBOLD (Hg.), Kunst und Architektur. Das Große
Volks-Lexikon. 1000 Fragen und Antworten. Kunst und Architektur, Bertelsmann Le-
xikon Institut Wissen Media, Gütersloh—München 2006, S. 254.

226
Deutsche Marine
im internationalen Auftrag 1937 und 2007

arinekontrollfahrzeuge der UNIFIL (United Nations Interim For-


M ce in Libanon) patrouillieren seit Ende des israelischen Libanon-
krieges 2006 in den syrischen Gewässern, um illegale Waffenlieferungen
an Beirut zu unterbinden. Mit acht Schiffen und zweieinhalbtausend Mann
beteiligt sich die Bundesmarine an dieser UNO-Mission, die Berlin seit-
dem mit Sorge betrachtet. Tatsächlich ist es gleich nach Eintreffen der
Kontrollflotte im Herbst 2006 zu Vorfällen gekommen, die leicht zu Ver-
wicklungen hätten führen können. Dabei spielten israelische F-16
Kampfflugzeuge eine provokante Rolle gegen deutsche und französische
Schiffe. Doch dabei handelte es sich nicht um den ersten Auftrag inter-
nationaler Organisationen für die deutsche Marine.
Wer weiß heute noch, daß Deutschland vor 70 Jahren schon einmal an
einer internationalen Kontrollmission beteiligt war? Es war zur Zeit des
Spanischen Bürgerkrieges. Das Deutsche Reich hatte am 16. Marz 1936
seine Wehrhoheit wiedererlangt und besaß nur die kleine Marine, die ihr
die Siegermächte in Versailles gelassen hatten. Deren Dienste nahm der
Völkerbund nun in Anspruch. Zwar war die Reichsregierung, die dem
Völkerbund mehrere Jahre lang angehört hatte, im Oktober 1933 aus
diesem ausgetreten, weil sie den mangelnden Abrüstungswillen der Si-
gnatarmächte mißbilligte, jedoch bestand noch eine Übergangsfrist, bis
die Kündigung wirksam wurde. So war Deutschland noch Mitglied in der
Kontrollkommission des Völkerbundes, die mit den Vorgängen in Spa-
nien befaßt war.
Worum ging es?
Am 14. April 1931 war in Madrid der König von einer Linkskoalition
überraschend gestürzt, die Monarchie abgeschafft und die Republik aus-
gerufen worden, was mit Unruhen verbunden war. Anschließende Wah-
len verkehrten jedoch die politischen Verhältnisse wieder ins Gegenteil,
da die Anarchisten nicht die Mehrheit erringen konnten. Konservative,
Königstreue und das katholische Zentrum obsiegten mit 377 zu 93 Stim-
men, womit zunächst die Ordnung wiederhergestellt worden war. Doch
trieben die Wirtschaftskrise und zunehmende Verarmung die ländliche
Bevölkerung ins Lager der Sozialisten, weshalb 1936 das Bild abermals
wechselte. Jetzt erhielten die Linken die Mehrheit, was in der Folge er-
neut zu Unruhen führte, die diesmal schwerwiegenderer Natur waren.
Als das Land, in dem jetzt die Kommunisten unter dem Einfluß des
sowjetrussischen Botschafters den Ton angaben, immer rascher der An-
archie verfiel und der blanke Terror an die Stelle des Rechts trat, erhoben

227
sich die Konservativen zum Gegenschlag. General Francisco F R A N C O ,
Militärbefehlshaber in Spanisch-Marokko, sah sich im nationalen Inter-
esse veranlaßt, die rote Regierung zu stürzen. Auf ein Hilfeersuchen des
Generals an Berlin wurde dieser in einer für die damalige Zeit spektaku-
lären deutschen Luftbrücke mit dem Kern seiner Truppen aufs Fesdand
übergesetzt, worauf er in einer Serie von Erfolgen die Rote Regierung
zum Rückzug auf Valencia zwang. Umfangreiche Waffenhilfe aus marxi-
stischen Ländern versetzte diese jedoch rasch in die Lage, eine leistungs-
fähige Kampftruppe aufzubauen. Der fortan mit großer Härte geführte
Bürgerkrieg erwies sich als langwierig, äußerst brutal und blutig mit vie-
len Opfern auf beiden Seiten.
1 Akten zur Deutschen Obwohl die französische Volks front-Regierung unter Leon B L U M und
Auswärtigen Politik, der Moskauer Sowjetstaat das rotspanische Regime insgeheim unterstütz-
Serien C und D, ten, entschloß sich Paris, nach außen hin zu einer betont überparteiischen
Baden-Baden 1956/ Haltung und sah sich in Absprache mit London dazu ermutigt, die Lö-
57. sung des Konfliktes dem Völkerbund anzutragen. Im August 1936 wur-
den die europäischen Regierungen gebeten, in der spani-
schen Frage einen neutralen Standpunkt einzunehmen.
Und mit Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder fand
am 9. September 1936 ein Treffen in London statt, wo
ein Ausschuß des Völkerbundes zur Beratung zusammen-
trat, dem Deutschland trotz seines Austritts in gewissen
Fragen noch immer verpflichtet war. In Wirklichkeit aber
ging es Paris darum, die Hilfeleistungen zu verhindern,
die F R A N C O von Berlin und Rom erbeten hatte.1
Doch erst am 16. Februar 1937 fand sich der Londo-
ner Ausschuß dazu bereit, an Spaniens Grenzen und Kü-
sten Kontrollen einzurichten, um den dortigen Brandherd
auszutrocknen. Deutschland, Frankreich, England und
Italien wurden mit der Ausübung der Kontrolle zur See
beauftragt und ersucht, Marineeinheiten zur Überwachung
der spanischen Küsten zu entsenden, was auch geschah.
Allerdings wurde ihnen nicht auferlegt, gemeinsam zu
operieren, weshalb genügend Schlupflöcher zum Nach-
teil F R A N C O S offen blieben. Das aber wirkte sich nachtei-
lig für Madrid aus, weshalb die rote Regierung in Valencia
Boden zurückgewann. Immerhin galt damit die Entsen-
dung von Kriegsmaterial und Freiwilligen als VÖlkerrechts-
Spanischer Bürger- bruch. Zugleich wurde den Kämpfern der Bürgerkriegsparteien der Kom-
krieg: Kämpfer auf
battantenstatus aberkannt. Da aber die geheime Waffenhilfe für Valencia,
republikanischer Seite,
darunter bemerkens-
die vor allem durch Moskau erfolgte, nicht gänzlich verhindert werden
wert viele Frauen. konnte, stand zu erwarten, daß es zu Zwischenfällen kommen werde.

228
Das Panzerschiff
>Deutschlands Es lief
am 19. Mai 1931 in
Kiel vom Stapel. Am
15. November 1939
erhielt die >Deutsch-
landt auf Führer-
befehl den neuen
Namen ¡Lützowi.
Sie sank am 16. April
1945 bei Swinemün-
de nach einem An-
griff von britischen
>Lancaster'Bombern.

Am 29. Mai 1937 lag das Panzerschiff »Deutschland<, das zur interna-
tionalen Kontrollgruppe gehörte, auf der Reede vor Ibiza. Zwischen 18
und 19 Uhr wurde es plötzlich von rotspanischen Kampfflugzeugen an-
gegriffen, Eine Bombe schlug in die Mannschaftsmesse, tötete 23 See-
leute und verletzte 83 weitere, von denen 19 ihren Verletzungen erlagen.
Während die »Deutschland* ihre Toten und Verletzten nach Gibraltar über-
führte, erhielt ihr Schwesterschiff »Admiral Scheer< den Auftrag, demon-
strativ vor dem von den Roten gehaltenen Kriegshafen Almeria aufzu-
kreuzen, wo die Masse der illegalen Hilfsgüter für Valencia umgesetzt
wurde. Nachdem sie die Küstenbatterien zum Schweigen gebracht hatte,
beschoß die »Admiral Scheer< die Hafenanlagen und zerstörte zahlrei- 2 Axel Freiherr VON
F R E Y T A G H - L o RING-
ches Kriegsmaterial, wobei einige Arbeiter den Tod fanden. Obwohl Berlin
alles Recht auf seiner Seite wußte, das Vorgehen der >Scheer< als kriegs- HOVEN, Deutschlands
Außenpolitik 1933-
völkerrechtlich korrekte Strafmaßnahme zu erklären, machte die rotspa- 1939, Stollberg,
nische Regierung daraus »einen brutalen Akt der Piraterie«, der als Eil- Berlin 1939,
meldung um die Welt ging,2 S. 129 ff.
Zwar mißbilligte der Völkerbund den Angriff auf die »Deutschland*,
jedoch ohne zur Bewertung des Vorganges eindeutig Stellung zu neh-
men, als sich am 26. Juni 1937 ein weiterer Vorfall ereignete. Dieses Mal
war es ein italienisches Kontrollschiff, das auf der Reede von Palma de
Mallorca mit Bomben angegriffen wurde, wobei sechs Seekadetten in
der Offiziersmesse getötet und acht weitere verletzt wurden.

229
Um diese Vorgänge entspannte sich ein lebhafter Streit, in dem Valen-
cia behauptete, seine Flugzeuge seien zuerst beschossen worden, die
deutsch-italienische Seite dagegen zu belegen verstand, daß ihre Schiffe
vor Anker lagen. Letzteres sei schon dadurch bewiesen, daß Offiziere
und Mannschaften sich in der Messe aufhielten. Daraufhin machte Va-
lencia eine Verwechslung mit Einheiten der FRANCO-Flotte geltend, was
schon deshalb nicht zutraf, da sich kein FRANCO-Schiff im dortigen See-
gebiet aufgehalten hatte.
Bald darauf kam es zu einem dritten Zwischenfall, als der Kreuzer
»Leipzig< in spanischen Gewässern durch ein unbekanntes U-Boot ange-
griffen wurde. Zwar traf von vier abgefeuerten Torpedos nur einer. Doch
da er nicht explodierte, ließ sich die sowjetische Herkunft eindeutig fest-
Sonderheft der Zeit-
schrift Der Adler zum stellen. Jetzt machte Berlin die rotspanische Regierung für die Vorfälle
Einsatz der »Legion verantwortlich und forderte den Völkerbund zur Verurteilung auf. Da
Condor< im Spani- aber im Kontrollausschuß keine Einigung über die Behandlung der Vor-
schen Bürgerkrieg falle erzielt werden konnte, schied Berlin aus dem Kontrollgremium aus
1936-39. und schickte seine Schiffe nach Hause. Italien schloß sich dem deutschen
Vorgehen an.
Das etwa war der Zeitpunkt, als sich die Reichsregierung entschloß, F R A N -
CO durch die Entsendung eines größeren Kontingents an Freiwilligen, der
3 Peter ELSTOB, später so genannten >Legion Condor<, nach Kräften zu unterstützen.1 Aus
Legion Condor, Gründen, denen Berlin im londoner Ausschuß zugestimmt hatte, konnte
Moewig, München die Waffenhilfe jedoch nicht auf legalem Wege erfolgen. So blieb die deut-
1981. sche Legion, der F R A N C O den Endsieg verdankte, nach außen eine illegale
4 Hans-Chrisuan
Truppe, deren Angehörige - so tapfer sie auch kämpfen mochten - sich
KIRSCH ( H g , ) , Der
nicht als Soldaten des Deutschen Reiches ausweisen durften.'1
Spanische Bürgerkrieg
in Augenzeugenberich- Daß Berlin und Rom mit der Unterstützung F R A N C O S vor allem die
ten, dtv, München Absicht verbanden, Spanien nicht in die Hände Moskaus fallen zu lassen,
1971. blieb für die Westmächte unerheblich, obwohl alle Welt damals wußte,
5 Wilfred VON was S T A L I N S Ziele waren. Der Völkerbund vermochte in dieser Sache
O V E N , Hitler und der
eine klare Linie nicht einzunehmen, sondern verfing sich statt dessen in
Spanische Bürgerkrieg, verfahrenstechnischen Fragen, während Paris aus seiner Sympathie für
Mission und Schicksal die Roten in Valencia kein Hehl mehr machte. Sowohl Frankreich als
der Legion Condor, auch Moskau verstärkten daraufhin ihre illegalen Hilfeleistungen an die
Grabert, Tübingen rotspanische Regierung, was F R A N C O S Sieg bis ins Frühjahr 1 9 3 9 hinaus-
1978. zögerte und neben Millionen Bürgerkriegstoten auch zahlreichen Ange-
hörigen der »Legion Condor< das Leben kostete.5
Zwar ist es zu einem europäischen Großkrieg damals nicht gekom-
men, weil keine der europäischen Regierungen in die Kämpfe verstrickt
werden wollte, doch laßt sich dem Vorgang unschwer entnehmen, daß
Kontrollmissionen zur Eingrenzung bewaffneter Konflikte leicht zu in-
ternationalen Verwicklungen führen können. Andreas Naumann

230
Keine Blutorgie nach Österreich-Anschluß 1938

n dem Bemühen, den Deutschen aus durchsichtigen politischen Grün-


I den möglichst große Verbrechen in der jüngeren Vergangenheit an-
zudichten, wurden und werden oft von Kreisen der Umerziehung die un-
sinnigsten Geschichten erfunden und dann in der Öffentlichkeit berich-
tet. Man hofft, daß trotz Richtigstellung dann doch etwas von den
unberechtigten Vorwürfen hängenbleibt und viele Leute die Berichtigung
nicht lesen, zumal diese manchmal auch von dem berichtenden Blatt gar
nicht gebracht wird. Ein hierfür bezeichnendes Beispiel ist folgender Vor-
gang im Zusammenhang mit dem Österreich-Anschluß im Jahre 1938.
In ihrer Ausgabe vom September 1985 behauptet die World Peace Press
in Linz, Oberösterreich, daß in den ersten drei Nächten nach dem Öster-
reich-Anschluß 1938 »nicht weniger als 300 österreichische Offiziere tie-
risch hingemordet worden sind«, natürlich von den einmarschierenden
>Nazis<, nachdem sie aufgrund des letzten Befehls des abtretenden Bun-
deskanzlers Kurt von SCHUSCHNIGG die Waffen niedergelegt hatten. Es
werden dann als Opfer dieser Nächte insbesondere die Namen der füh-
renden Militärs Z E H N E R , J A N S A , SCHILHAWSKY, R O N G E und S Z E N T E ange- 1 »Blutorgie nach
führt.1 Österreich-An-
Auf Nachfrage nach diesem behaupteten Vorgang beim Österreichi- schluß«, in: Natio-
schen Staatsarchiv-Kriegsarchiv in Wien antwortete für dieses mit Schrei- nal-Zeitung, 15. 11.
1985.
ben vom 9. Oktober 1985 der Direktor des Kriegsarchivs, Hofrat Dr.
W A G N E R , unter anderem: »Auf Ihr Schreiben vom 3 0 . September 1 9 8 5
teilt das Kriegsarchiv Wien mit, daß über eine Ermordung von 300 öster-
reichischen Offizieren in den drei ersten Nächten nach der Machtergrei-
fung nichts bekannt ist.« Insbesondere sei FmLt. Alfred J A N S A am 2 0 .
Dezember 1963 in Wien verstorben, General der Infanterie Sigismund
SCHILHAWSKY sei am 1 1 . August 1 9 5 7 in Salzburg gestorben, Generalma-
jor Max R O N G E sei am 1 0 . September 1 9 5 3 in Wien verschieden und
Generalmajor Adalbert SZENTE am 9 . August 1 9 6 7 . Nicht ganz geklärt
sei das Schicksal von General Wilhelm Z E H N E R , in den offiziellen Unter-
lagen sei Selbstmord am 10. April 1938 angegeben, »doch dürfte er von
Anhängern des NS-Regimes ermordet worden sein«.
Nach dieser Klarstellung des amtlichen Archivs bleibt von dem be-
richteten »Massenmord< an österreichischen Offizieren nach dem Öster-
reich-Anschluß höchstens ein einziger Fall als möglich übrig, der zudem
nicht aufgeklärt werden konnte und deshalb auch fraglich erscheint.
Rolf Kosiek

231
Die BIomberg-Fritsch-Affäre

m Februar 1938 erschütterte die sogenannte B L O M B E R G - F R I T S C H - K r i s e


I das Deutsche Reich. Der amtierende Kriegsminister und Oberbe-
fehlshaber der Wehrmacht, der hochangesehene Generalfeldmarschall Wer-
ner VON BLOMBERG, hatte geheiratet und dabei die Herkunft seiner jun-
gen, aus dem Rotlichtmilieu stammenden neuen Frau verheimlicht, die
von der Berliner Poüzei wenige Jahre vorher als Prostituierte geführt ge-
wesen war. Als das um den 24. Januar 1938 der Reichsregierung bekannt
wurde, brachte es HITLER und GÖRING, die als Trauzeugen bei der standes-
amtlichen Trauung im kleinsten Kreis im Kriegsministerium am 12. Ja-
nuar 1938 gewirkt hatten, in eine unangenehme Lage. Der Feldmarschall
mußte zurücktreten. Gegen seinen vorgesehenen und geeigneten Nach-
folger, den Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner Frei-
herr VON FRJTSCH, erhoben sich - wie es sich später herausstellte, unbe-
rechtigte — Vorwürfe wegen homosexuellen Verhaltens. Nachdem sich
andere Kandidaten, etwa Admiral RAEDER, verweigert hatten, löste Hit-
LER die Krise, indem er sich selbst zum Oberbefehlshaber der Wehr-
macht machte, VON FRITSCH durch General Walther VON BRAUCHITSCH
ablöste und weitere Generale in den Ruhestand versetzte.
Rund ein halbes Jahrhundert nach 1945 lang »waren sich die Histori-
ker durchweg einig, daß es bei diesem Revirement um einen Schlag HIT-
LERS gegen die Kräfte in der Wehrmacht und im Diplomatischen Corps
gegangen sei, die sich wegen ihrer Bedenken gegen den außenpolitischen
Kurs des »Dritten Reiches* als Bremsklötze einer offensiven bzw. expan-
siven Politik erwiesen hätten«.1 HITLER und Kreise um GÖRING sowie
HIMMLER und H E Y D R I C H hätten die Krise bewußt herbeigeführt, um stär-
keren Einfluß HITLERS und der Partei auch auf die Wehrmacht und die
noch im preußischen Geist erzogene Generalität zu bekommen, »Bisher
galten die beiden damaligen Spitzenmilitärs — BLOMBERG und FRITSCH —
Von oben: Genera I-
feldmarschall Werner
als Opfer eines Komplotts der NS-Führung. Die habe sich.. . mittels
VON BLOMBERG u n d
einer Affäre die Wehrmacht gefügig machen wollen.«2 Dadurch sei es zu
Generaloberst Werner dem »großen Wendepunkt« in der Geschichte des Dritten Reiches und
Freiherr V O N F R I T S C H . zur weiteren Machtsteigerung HITLERS gekommen.

1 Gregor S C H Ö L L G E N , »Eine triviale Sittenaffäre«, in: Süddeutsche Zeitung, 5. 4.1994;


beispielhaft für die ältere Anschauung der NS-Intrige: Marion Gräfin DÖNHOFF,
»Die Fritsch-Krise war ganz anders«, in: Die Zeit, 27.1. 1984.
3 Günter KIESSLING, »Sonderling und Frauenfeind«, in: Frankfurter Allgemeine Zei-

tung, 8. 4. 1994.

232
Das trifft jedoch nicht zu. Richtig
ist, daß es sich bei dem »Sturz der
Generale« um eine »triviale Sittenaffa-
re«1 handelte, wie Karl Heinz JANSSEN
und Fritz T O B I A S in einer überzeugen-
den Untersuchung darlegten.3 Sie wie-
sen nach, daß VON B L O M B E R G »sein
Fiasko von Anfang bis zu Ende ganz
allein selber verursacht« hat, daß er
»ungewollt, aber nicht schuldlos«2 eine
Entwicklung ausgelöst hatte, die sich
zu einer echten Krise um die Spitze
des Heeres und der Wehrmacht auf-
schaukelte.
Der durch VON BLOMBERGS Verhal-
ten aus allen Wolken gefallene und
schockierte H I T L E R , der bis dahin gro-
ße Achtung vor den preußischen
Generalen und ihrem Generalstab
gehabt sowie VON BLOMBERG sehr ver-
ehrt hatte, war nun völlig verunsi-
chert, glaubte deswegen dem seine
Unschuld versichernden, sich aber
ungeschickt verhaltenden und für seine Sprödigkeit bekannten General- H I T L E R im Gespräch

oberst VON FRITSCH zunächst nicht und ließ eine gerichtliche Untersu- mit Werner V O N B L O M -
chung gegen diesen zu, denn er wollte keinen neuen >Fall< im Offiziers- BERG und Werner

korps haben. Das Reichskriegsgericht erwies dann am 18. März 1938 VON FRITSCH vor der

Affäre.
eindeutig, daß alle Vorwürfe gegen VON FRITSCH unberechtigt waren, und
dieser wurde am 11. August 1938 auf dem Truppenübungsplatz Groß-
Born Öffentlich voll rehabilitiert. Doch inzwischen war schon zu viel
Porzellan zerschlagen, als daß VON FRITSCH noch die Führung der Wehr-
macht übernehmen konnte. Eine andere Lösung mußte erfolgen.
Dafür, daß H I T L E R zunächst keine große Umstrukturierung der Wehr-
machtspitze wollte, spricht auch die Tatsache, daß er erst nach einer an-
deren als der später vorgenommenen Lösung suchte. So sprach er bei
seinem Bemühen, einen Nachfolger für VON B L O M B E R G zu finden, auch
den angesehenen Admiral Erich R A E D E R ( 1 8 7 6 - 1 9 6 0 ) an, der seit 1 . Ja-
nuar 1935 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine war (bis 1943) und 1939
Großadmiral wurde. Doch dieser lehnte ab, »da ich die in erster Linie in

1 Karl Heinz JANSSEN U. Fritz TOBIAS, Der Sturz der Generäle. Hitler und die Blom-
berg-Fritsch-Krise 1938, C. H. Beck, München 1994.

233
Werner V O N B L O M B E R G Betracht kommenden Armeeverhältnisse nicht übersehen könnte; außer-
und seine junge Frau dem trug ich mich schon damals mit dem Gedanken meines Abganges«
aus Alters- und Gesundheitsgründen. 4
Ein wohl zutreffendes Urteil über die frühere,
HITLER für die Krise verantwortlich machende
historische Literatur lautet: »Es ist schon verblüf-
fend zu sehen, wie diese (u. a. Hans Bernd GLSE-
VIUS, S Harold C DEUTSCH, 6 R . K.) und andere
Autoren, gewollt oder ungewollt, eine langlebige
Legende in die Welt gesetzt haben. Denn eigent-
lich handelt es sich bei der BLOMBERG/FRITSCH-
Krise in ihren Ursprüngen um eine jener banalen
Geschichten, die das Leben halt so schreibt.«1
Indem Buch von JANSSEN und TOBIAS wird auch
der dann als Nachfolger VON FRITSCHS zum Ober-
befehlshaber des Heeres ernannte und am 4. Fe-
bruar 1938 zum Generaloberst beförderte Wal-
ther VON BRAUCHITSCH (1881-1948) rehabilitiert.
Ihm war unter anderem vorgeworfen worden, daß
er sich von HITLER habe kaufen lassen, um dann
als gefügiger Untergebener zu wirken.
In einer neueren Untersuchung," der ersten
wirklichen Biographie VON BLOMBERGS, kommt
Kirstin A, SCHÄEER zum gleichen Ergebnis. Seit
1933 Reichswehrminister und ab 1935 Kriegsmi-
nister, hatte VON BLOMBERG wesentlichen Anteil
bei einem Spaziergang an der Wiederaufrüstung Deutschlands und am Übergang der Reichs-
im Leipziger Zoo. Auf
einem harmlosen
wehr zur Wehrmacht gehabt. Er hatte »ohne HITLERS Zutun«" nach H O -
Pressefoto von der DENBURGS Tod den neuen Soldateneid entwerfen und die Wehrmacht
Hochzeitsreise erkann- sofort auf HITLER vereidigen lassen. Am 20. April 1936 wurde er » H I T -
te ein Berliner Polizist LERS erster Feldmarschall«. Dieser vertraute ihm voll und war ihm für
in Frau V O N B L O M B E R G seine Leistungen dankbar. Um so größer war dann seine Enttäuschung
ein Mädchen, das frü-
über VON BLOMBERGS private Entscheidung. 1932 war dessen Frau ge-
her in seiner Kartei als
Prostituierte geführt storben, die fünf Kinder waren bis 1938 aus dem Hause gegangen. Der
wurde.
4 Erich RAEDER, Mein Leben. Von 1935 bis Spandan 1955, Fritz Schlichtenmayer,
Tübingen, 1957, S. 125.
5 Hans Bernd GISEVIUS, Wo ist Nebe? Erinnerungen an Hitlers Reichskriminaldirektor,

Droemer, Zürich 1966.


6 Harold C. DEUTSCH, Das Komplott oder die Entmachtung der Generäle. Blomberg- und

Eritsch-Krise, Neue Diana Press, München 1974.


7 Kirstin A . SCHÄFER, Werner von Blomberg - Hitlers erster Feldmarschall, Ferdinand

Schöningh, Paderborn 2006.

234
einsame Witwer lernte seine neue Frau kennen und beschloß schnell die 8 SCHÄFER, ebenda,
Heirat. Mit der Wahl seiner Frau verstieß er schärfstens gegen den Eh- S . 152.

renkodex des deutschen Offizierskorps. H I T L E R mußte sich als Trauzeu- Ebenda, S. 183.
ge persönlich getäuscht fühlen. Sein Minister war in seinem Amt nicht 10 Hermann

mehr zu halten. Unter möglichster Geheimhaltung der wahren Umstände GRAML, »Fritsch'
wurde VON B L O M B E R G , der eine sofortige Ehescheidung ablehnte, der Rehabilitierung«,
ehrenvolle Abschied gewährt und ihm eine längere Auslandsreise nahe- Leserbrief in:
gelegt, was dieser annahm. H I T L E R S Versprechen, ihn später wieder zu Süddeutsche Zeitung,
9. 6. 1966.
verwenden, wurde dann auch im Krieg nicht mehr eingelöst.
Am 4. Juni 1945 wurde VON B L O M B E R G von Amerikanern, die ihn vor-
her schon unter Hausarrest gestellt hatten, verhaftet. Nach demütigen-
den Aufenthalten in alliierter Gefangenschaft verstarb er als US-Häftling Werner V O N F R I T S C H
am 14. März 1946 in Nürnberg ( 1 8 8 0 - 1 9 3 9 ) und
S C H Ä F E R stellt fest: »So unerwartet und unwillkommen B L O M B E R G S sein G r a b in Berlin.
Mesalliance für H I T L E R auch war - sein Getreuer gab ihm damit die Chan-
ce, die Wehrmacht von einem Tag auf den anderen komplett zu ent-
machten. Diese simple Version erschien vielen so unglaubwürdig, daß sie
ihr den Mythos vom Komplott gegen die Generäle, den Mythos von
einer von H I T L E R geduldeten SS-Intrige gegen B L O M B E R G vorzogen, der
lange den Blick auf den General bestimmte. Wie weit verbreitet der To-
pos vom Komplott ist, zeigt sich daran, daß in vielen Handbüchern diese
These noch heute als historisch gesichert dargestellt wird.«'3 Und die Hi-
storikerin verweist dazu auf das Handbuch zur deutschen Militärgeschichte,
Band 7: Wehrmacht und Nationalsozialismus.
Um so wichtiger ist eine Richtigstellung.
Freiherr VON FRITSCH sah seine Rehabilitierung als ungenügend an und
schrieb in seinem Brief an H I T L E R vom 7. April 1938 unter anderem:
»Die kriminelle Beschuldigung ist
restlos zusammengebrochen. Nicht
aber beseitigt sind die mich tief ver-
letzenden Begleitumstände meiner
Entfernung aus dem Heere, die um
so schwerer wiegen, als der wahre
Anlaß meiner Verabschiedung so-
wohl in weiten Kreisen der Wehr-
macht wie des Volkes nicht unbe-
kannt geblieben ist. . . Das
Kriegsgericht hat meine volle Un-
schuld festgestellt.«1" Seine Ernen-
nung zum Chef des Artillerieregi-
ments 12 empfand er als nicht
ausreichend. Rolf Kosiek

235
Falsche Deutung der Hitler-Rede 1939

A m 30. Januar 1939, dem 6. Jahrestag seiner Machtübernahme, hielt


Adolf H I T L E R vor dem Großdeutschen Reichstag in der Krolloper
seine traditionelle Rede.1 Daraus werden häufig in den Medien wenige
Sätze zitiert, wobei der folgende Teil weggelassen wird, ohne den aber
die angeführte Aussage einen anderen Sinn ergibt. Daher seien zur ob-
jektiven Beurteilung nach dem im Rahmen der Umerziehung oft benutz-
ten Zitat auch die folgenden Sätze der Rede angeführt.
Zunächst sagte HitleR, und das wird meist nur zitiert:- »Und eines möchte
ich an diesem vielleicht nicht nur für uns Deutsche denkwürdigen Tag nun
Die Kroll-Oper am aussprechen: Ich bin in meinem Leben sehr oft Prophet gewesen und wur-
30. )anuar 1939. de meistens ausgelacht... Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es
dem internationalen Finanzjuden-
tum in und außerhalb Europas ge-
lingen sollte, die Völker noch einmal
in einen Weltkrieg zu stürzen, dann
wird das Ergebnis nicht die Bolsche-
wisierung der Erde und damit der
Sieg des Judentums sein, sondern die
Vernichtung der jüdischen Rasse in
Europa.« Diese Worte werden all-
gemein als die erste Aussage HITLERS
zum geplanten Massenmord an den
Juden gedeutet.
Unmittelbar danach führte HIT-
LER zur näheren Erklärung aus, was
dann in den Medien verschwiegen
wird: »Denn die Zeit der propagan-
distischen Wehrlosigkeit der nicht-
jüdischen Völker ist zu Ende. Das nationalsozialistische Deutschland und
das faschistische Italien besitzen jene Einrichtungen, die es gestatten,
wenn notwendig die Welt über das Wesen einer Frage aufzuklären, die
vielen Völkern instinktiv bewußt und nur wissenschaftlich unklar ist.
Augenblicklich mag das Judentum in gewissen Staaten seine Hetze
betreiben unter dem Schutz einer dort in seinen Händen befindlichen

1 "30. Januar 1939«, Archiv der Gegenwart, Max DOMARUS, Hitler. Reden 1932 bis
1945, Bd. II 3, R. LÖwit, Wiesbaden 1973, S. 1048-1067.
1 L. J. HARTOG, »Als Hitler den Massenmord prophezeite«, in: Die Zeit, Nr. 5,27.
1. 1989, S. 41 f.

236
Presse, des Films, der Rundfunkpropaganda, der Theater, der Literatur
usw. Wenn es diesem Volke aber noch einmal gelingen sollte, die Millionen-
massen der Völker in einen für diese gänzlich sinnlosen und nur jüdi-
schen Interessen dienenden Kampf zu hetzen, dann wird sich die Wirk-
samkeit einer Aufklärung äußern, der in Deutschland allein schon in
wenigen Jahren das Judentum resdos erlegen ist.
Die Völker wollen nicht mehr auf den Schlachtfeldern sterben, damit
diese wurzellose internationale Rasse an den Geschäften des Krieges
verdient und ihre alttestamentarische Rachsucht befriedigt. Über die jü-
dische Parole Proletarier aller Länder vereinigt euch< wird eine höhere
Erkenntnis siegen, nämlich: »Schaffende Angehörige aller Nationen, er-
kennt euren gemeinsamen Feind!<«3
Danach ging H I T L E R ZU einem anderen Thema über, den Vorwürfen,
das NS-Deutschland sei ein religions feindlicher Staat.
Wie aus obigem ersichtlich, wurden in dem umstrittenen Teil der Rede
Methoden der Propaganda und der Massenmedien angesprochen. Da-
mit war aber wohl nicht die heute meist in die ersten Sätze hinein gedeu-
tete physische Vernichtung der Juden, der Massenmord, gemeint.
Rolf Kosiek

Unmittelbar vor dem eben Zitierten erklärte H I T L E R , nachdem er darauf


hingewiesen hatte, daß andere Völker die Juden trotz genügend Platz
nicht aufnehmen wollten:
»Denn Europa kann nicht mehr zur Ruhe kommen, bevor nicht die jüdi-
sche Frage ausgeräumt ist. Es kann sehr wohl möglich sein, daß über
diesem Problem früher oder später eine Einigung in Europa selbst zwi-
chen solchen Nationen stattfindet, die sonst nicht so leicht den Weg zu-
einander finden würden. Die Welt hat Siedlungsraum genügend, es muß
aber endgültig mit der Meinung gebrochen werden, als sei das jüdische
Volk vom lieben Gott eben dazu bestimmt, in einem gewissen Prozent-
satz Nutznießer am Körper und an der produktiven Arbeit anderer Völ-
ker zu sein. Das Judentum wird sich genauso einer soliden aufbauenden
Tätigkeit anpassen müssen, wie es andere Völker auch tun, oder es wird
früher oder später einer Krise von unvorstellbarem Ausmaß erliegen.«4

3 DOMARUS, a a O , ( A n m . 1 ) , S . 1 0 5 8 .
4 Ebenda, S. 1057.

237
Geheimer Teil der britischen Polengarantie
von 1939

en Deutschen werden die geheimen Zusätze zu den deutsch-sowje-


D tischen Verträgen vom 23. August und 28. September 1939 als un-
moralisch vorgeworfen. Dazu ist einmal richtigzustellen, daß auch die
Sowjets an den Verträgen beteiligt waren, ihnen also dieselben Vorwürfe
gemacht werden könnten. Zum anderen enthielt der um dieselbe Zeit,
am 2 5 . August 1 9 3 9 , vom britischen Außenminister H A L I F A X und dem
polnischen Botschafter Edward R A C Z Y N S K I in London unterzeichnete pol-
nisch-britische Beistandspakt, der aus der britischen Garantieerklärung
für Polen vom 31. März 1939 entsprang1 und bereits am 4. April 1939

Eine Karikatur
aus den Berli-
ner Lustigen
Blättern, die
den Macht-
kampf in Eng-
land zwischen
CHAMBERLAIN

u n d CHURCHILL

1939 treffend
schildert. C H U R -
CHILL wird in

b e s t e r SHAKE-
spEAREscher
Manier als To-
tengräber dar-
gestellt und
schaut C H A M B E R -
LAIN in der Rolle

des Hamlet zu,


wie er mit der
Weltkugel jon-
gliert: Sein oder
Nichtsein,

1 Am 3 1 . März 1 9 3 9 erklärte Premierminister CHAMBEREAIN im Unterhaus, daß


Großbritannien Polen das Garantieversprechen gebe, »für den Fall, daß irgend-
eine Handlung die polnische Unabhängigkeit deutlich in Gefahr bringen sollte
und die polnische Regierung es als in ihrem Lebensinteresse liegend erachten
sollte, mit ihren nationalen Kräften Widerstand zu leisten, die Regierung Seiner
Majestät sich sofort als verpflichtet betrachten würde, Polen mit allen Mitteln zu
unterstützen«.

238
von Polens Staatschef Josef B E C K in London vereinbart war, ebenso ei-
nen geheimgehaltenen Zusatz, der erst vor dem Nürnberger Siegertribu-
nal bekannt wurde. Er ist in gleicher Weise politisch höchst bedeutsam.
In diesem von Warschau und London geheimgehaltenen Artikel heißt
es: »The expression an European power, employed in the agreement, is
to be understood as Germany.«2 (Unter dem Ausdruck eine europäische
Macht, der im Vertrag gebraucht wird, ist Deutschland zu verstehen).
Ferner wird erklärt, daß eine Änderung der bestehenden Lage in Danzig
(Freie Stadt) Polens Lebensinteressen berühre.
Damit war ausdrücklich die britische Unterstützung für Polen nur für
den Fall eines deutschen Angriffs abgeschlossen, sie galt nicht für einen
Einfall der Sowjets, der dann ja auch am 17. September 1939 erfolgte
und gegen den die Westmächte auch nichts unternahmen,
Willi SEIBERT, Babenhausen, wies in einem Leserbrief darauf hin, stellte
einen früheren Leserbrief4 richtig und fügte hinzu: »Am 19. Oktober 1939,
als ganz Polen schon von deutschen und sowjetischen Truppen besetzt
war, forderte der Unterhausabgeordnete H A R V E Y von der britischen Re-
gierung Auskunft darüber, ob der Beistandsvertrag zwischen England
und Polen Angriffshandlungen der Sowjetunion oder anderer nichtdeut-
scher Mächte Polen gegenüber nicht einbegriffe. Der Unterstaatssekretär
im britischen Auswärtigen Amt, B U T L E R , gab ihm die folgende schriftliche
Antwort: »Mein Herr! Während der Verhandlungen, die zur Unterzeich-
nung des Bündnisses führten, wurde zwischen der polnischen Regierung
und S. M. Regierung vereinbart, daß der Pakt sich nur auf den Fall einer
Angriffshandlung durch Deutschland beziehe, und S. M. Regierung be-
stätigt dies hiermit.<« Das Bestehen einer solchen Geheimklausel wurde
also noch verschwiegen.
SEIBERT gibt dazu die zutreffende Beurteilung: »Also war die von Groß-
britannien Polen gegebene Garantie von gänzlich einseitigem Charakter.
Während die Kriegserklärung an Deutschland im Falle eines Falles ge-
wissermaßen schon programmiert war, blieb die Sowjetunion davon ver-
schont.«3 Großbritannien hatte also nur eine Teilgarantie gegeben, an die
es sich dann nach Kriegsbeginn nicht hielt, indem es Warschau keinerlei
militärische Unterstützung gewährte. Polen wurde von London 1939 eben
nur als Kriegsgrund gegen Deutschland benutzt. Rolf Kosiek

2 Text nach R . F. KEELING, Gruesome Harvest, 1 9 4 7 , Chicago 1 9 4 7 .


3 Willi SEIBERT, Leserbrief »Nur Teilgarantie für Polen 1 9 3 9 « , in: Frankfurter All-
gemeine Zeitung, 18. 1. 1996.
4 Friedrich SCHMITT, Leserbrief »Garantie für ganz Polen 1 9 3 9 « , in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 6. 1. 1996.

239
Zur Rückkehr des Memellandes 1939

ie Stadt Memel wurde 1253 unter der Burg des Deutschen Ritteror-
D dens gegründet und erhielt 1254 Lübecker Recht. Sie gehörte wie
das umhegende Memelland, dem sie den Namen gab, seitdem dem deut-
schen Ritterorden, später zu Preußen-Deutschland als nördlichster Kreis
Ostpreußens, dessen älteste Stadt sie war. Das 2829 qkm große Gebiet
mit 1919 rund 140000 vorwiegend deutschen Bewohnern kam nach Ar-
tikel 99 des Versailler Diktats 1919 gegen den erklärten Willen der Ein-
wohner unter alliierte Verwaltung, die ab 16. Februar 1920 französische
Truppen unter einem General und einem französischen Oberkommissar
ausübten. Diese verhinderten nicht, daß am 10. Januar 1923 - gleichzei-
tig mit dem französischen Einmarsch ins Ruhrgebiet - litauische Trup-
pen das Memelland besetzten. Die Alliierten protestierten zwar gegen
diesen Einmarsch, Aber am 15. Februar 1923 erkannte die alliierte Bot-
schafterkonferenz in Paris die litauische Annexion an, obwohl ihre Kom-
mission nach Besichtigung des Memellandes festgestellt hatte: »Memel,
1 Zitiert in: Rolf
Kosi EK, Jenseits der die älteste deutsche Stadt Ostpreußens, hat niemals zu Litauen gehört. In
Grenzen, Grabert, der Stadt wohnen fast nur Deutsche. .. Die Ostgrenze des Memellandes,
Tübingen 1987, die frühere russisch-deutsche Grenze, stellt eine wirkliche Scheidewand
S. 179. zwischen zwei besonderen Zivilisationen dar.«1 Diese Grenze hatte als
eine der ältesten europäischen Grenzen rund 500 Jahre bis 1919 gegolten.

Nach dem Ersten


Weltkrieg waren Me-
mel und das Memel-
land Gegenstand eines
zähen Ringens zwi-
schen Polen, Litauen,
Frankreich und
Deutschland. 1923
annektierte Litauen
das Memelland. Somit
wurde das alte
Ordensgebiet politisch
zu einem Teil Ost-
europas.

240
Am 14. März 1924 übertrugen die Alliierten ihre Gewalt im Memelab-
kommen auf Litauen, und sie vereinbarten mit Litauen am 8. Mai 1924
das Memelstatut, das jedoch von Litauen in den folgenden Jahren nicht
verwirklicht wurde. Bei der Wahl vom 19. Oktober 1925 errang die Deut-
sche Einheitsfront 91 Prozent der Stimmen. Daraufhin wurde 1926 für
zwölf Jahre der Belagerungszustand von Litauen über das Memelland
verhängt. Erst nach einem großen deutschen Wahlsieg vom Dezember
1938 unter Dr. Ernst N E U M A N N wurde die im Memelstatut festgelegte
Selbstregierung gewährt und Deutsch wieder Amts- und Schulsprache.
Der neue memelländische Landtag bestand aus 25 deutschen und vier
litauischen Abgeordneten. Er wollte in seiner Sitzung Ende März 1939
die Lostrennung des Memellandes von Litauen und die Rückkehr zum
Deutschen Reich erklären. Diese beabsichtigte Einforderung des Selbst-
bestimmungsrechts wird in heutigen Darstellungen meist unterschlagen,
und es wird zudem erklärt, daß die Rückkehr des Memellandes 1939 von Litauens Außenmini-
der Reichregierung »ultimativ« und unter Androhung militärischer Ge- ster Juozas U R S S V S .
walt Litauen »aufgezwungen« worden sei.2
Das ist falsch. Richtig ist, daß zur Entspannung der brisant geworde-
nen Lage Vorverhandlungen am 20. März 1939 zwischen dem deutschen
Außenminister VON RIBBENTROP und seinem litauischen Kollegen Juozas
U R B S Y S stattfanden. Dabei wurde dieser darauf hingewiesen, »daß das
Memelgebiet zu Deutschland zurückwolle« und Deutschland »nicht ru-
hig zusehen könne, falls es im Memelgebiet zu Aufständen und Schieße-
2 Chronik des 20.
reien käme«. Zur Erhaltung freundschaftlicher Beziehungen strebte Rib-
BENTROP eine »friedliche und für Litauen akzeptable Lösung« an, die Jahrhunderts, Chro-
Litauens wirtschaftliche Lage berücksichtige. Auf U R B S Y S ' Frage nach nik, Gütersloh 1999,
einer Frist nannte RIBBENTROP kein Datum, sondern regte an, »möglichst S. 240; Christian
ZENTNER U. Friede-
schnell« Bevollmächtigte nach Berlin zu schicken. Es lag also insbeson- mann BEDÜRFTIG
dere kein Ultimatum vor.3 (Hg.), Das große
Noch vor Abflug der Litauischen Abordnung nach Berlin am 22. März Lexikon des Dritten
um 14 Uhr hatte das litauische Militär mit dem Rückzug aus dem Memel- Reiches, Südwest,
gebiet begonnen. Ebenso wurden die litauische Grenzpolizei und die München 1985,
litauischen Zöllner am 22. März vormittags hinter die alte litauische Grenze S . 3 8 1 ; D r . LOEFFKE,
zurückverlegt. »Der litauische Gouverneur G A I L U S teilte in den Vormit- Leserbrief in:
tagsstunden des 22. März 1939 dem Präsidenten (seit 13. 1. 1939) des Frankfurter Allgemeine
Direktoriums des Memelgebietes, (Willy) BFRTULF.IT, die Einstellung sei- Zeitung, 21. 8. 1991.
3 Akten zur deutschen
ner Amtsgeschäfte mit. Die deutschen Soldaten rückten erst am 23. März auswärtigen Politik
1939, also nach der Unterzeichnung des deutsch-litauischen Staatsver- S. 435f., zitiert von
trags, zum Paradieren ein. Nur eine kleine Einheit blieb in Memel, wäh- Martina LAPINS in
rend die übrigen Soldaten in ihre Standorte zurückkehrten. Die Grenze Leserbrief in:
nach Litauen wurde nicht durch deutsches Militär gesichert, sondern der Frankfurter Allgemeine
zivilen Zollverwaltung übertragen. Etwa 24 Stunden lang stand das Me- Zeitung, 13. 9. 1991.

241
Nach erfolgreichen
Vorverhandlungen
zwischen dem deut-
schen Außenminister
VON RIBBENTROP u n d

seinem litauischen
Kollegen Juozas U R B S Y
wurde das Memelge-
biet am 23. März
1939 mit dem Deut-
schen Reich wieder
vereinigt.

melgebiet weder unter litauischer noch unter deutscher Souveränität, son-


dern war während dieser Zeit als politisches Kleingebilde unter der Füh-
4 LAPINS, ebenda. rung der autonomen Behörden selbständig.«4
5 Ernst-Albert In Artikel 1 des deutsch-litauischen Vertrages vom 22. März 1939 heißt
Plieg, Das Memel- es: »Das durch den Vertrag von Versailles von Deutschland abgetrennte
land 1920-1939, Memelland wird mit Wirkung vom heutigen Tage wieder mit dem Deut-
Holzner, Würzburg schen Reich vereinigt.« Ferner wurde, »um den Wirtschaftsbedürfnissen
1962; Friedrich VON Litauens Rechnung zu tragen, in Memel für Litauen eine Freihafenzone
WILPF.RT, Deutsches
eingerichtet«.
Land zwischen Oder
undMemel, Rauten- Es lag also auch keine Drohung mit Gewalt von Seiten Berlins vor,
berg, Leer 1962. sondern die gemeinsam am 22. März 1939 getroffene Regelung stand
6 Der Völkerrecht-
auch im Interesse Litauens und wurde von dessen Vertretern anerkannt.
ler Rudolf DoLZER, Bezeichnend ist auch, daß keiner der Alliierten gegen diese ohne sie ge-
»Gilt die Memel- troffene und dem Versailler Diktat wie dem Memelstatut widersprechende
konvention noch?« Vereinbarung über das Memelland protestierte.5 Großbritannien erkann-
in: Frankfurter te die Rückkehr des Memellandes zum Reich im Mai 1939 ausdrücklich
Allgemeine Zeitung, an, und »der britische Botschafter bezeichnete die Bedingungen der Rück-
10. 10. 1991. gabe in seinen Erinnerungen später als >ziemlich vernünftig«/ 6 Im Nürn-
berger Militärtribunal wurde 1946 dann festgestellt, daß das Memelab-
kommen von 1939 ein Verstoß gegen das Versailler Diktat dargestellt
habe. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges behandelte die Sowjetunion
das von ihren Truppen Anfang 1945 besetzte Memelgebiet als Teil des
von ihr einverleibten Litauens und bezeichnete es im Dekret von 1950
wie in der Verfassung von 1951 als einen der vier Teile Litauens, der bei
der Selb ständigkeit serklärung Litauens im März 1991 bei diesem bis zur
Gegenwart verblieb. Rolf Kosiek

242
Der gescheiterte britisch-französische Militärpakt
mit Stalin 1939

ehr als 60Jahre hat man Deutschland vorgehalten, daß es mit Hilfe
M des deutsch-sowjetischen Paktes vom 23. August 1939 den Zwei-
ten Weltkrieg ausgelöst habe. Dabei waren es in Wirklichkeit England
und Frankreich, die alles daran setzten, mit STALINS Sowjetunion einen
Pakt zur Einkreisung Deutschlands abzuschließen, um für einen kom-
menden Krieg eine günstige Ausgangslage zu haben. Bereits im Frühjahr
1939 streckten sie ihre Fühler nach Moskau aus.1
Sir William S T R A N G , Leiter der Zentralabteilung im Londoner Foreign
Office, traf am 14. Juni 1939 in Moskau ein. Er war angewiesen, den
britischen Botschafter William S E E D S in den Verhandlungen mit den So-
wjets zu unterstützen.2 Es ging darum, die Einkreisungs front um das
Reich durch Eingliederung der UdSSR zu vollenden, ein Plan, den der
bridschen Außenminister Lord HALIFAX ersonnen hatte. Der Lord, der
nach dem Scheitern der Appeasement-Politik seines Premiers, Sir Neville
CHAMBEHLAIN, seit August 1 9 3 8 die Außenpolitik Großbritanniens leitete,
hatte sich zuvor der wohlwollenden Aufmerksamkeit R O O S E V E L T S versi-
chert, in dessen Interesse es lag, das Dritte Reich weltpolitisch zu isolie-
ren. Für den Mann im Weißen Hause galt Deutschland als der gefährlich-
ste unter den drei »Aggressorstaaten«, die er in seiner >Quarantänerede<
am 5. Oktober 1937 und danach wiederholt gebrandmarkt hatte.3 Wie
Frankreichs Botschafter beim Kreml, Paul-Emil N A G G I A R , war S T R A N G
bereit, den begonnenen Verhandlungen unter praktisch nahezu jeder Be-
dingung zum Erfolg zu verhelfen. Für London kam alles darauf an, die
Sowjets so rasch wie möglich auf die Seite der Westmächte zu ziehen.

1 David L. HOGGAN, Der erzwungene Krieg. Ursachen und Urheber des Zweiten Welt-
kriegs, Graben, Tübingen, l5 2000, S. 574 ff.; Axell Freiherr VON FREYTAGH-LO-
RJNGHOVEN, Deutschlands Außenpolitik 1933-1939, Stollberg, Berlind 940, S, 228 ff.;
Andreas NAUMANN, Freispruch für die deutsche Wehrmacht. Unternehmen Barbarossa<
erneut auf dem Prüfstand, Grabert, Tübingen 2005, S. 213 ff.; Dirk KUNF.RT, Ein
Weitkrieg wird programmiert. Hitler, Roosevelt, Stalin, die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges
nach Primärquellen, Arndt, Kiel 1984, S. 271 ff.
2 ebenda, S . 5 7 0 ff.
HOGGAN,
3Dirk BAVENDAMM, Roosevelts Weg zum Krieg. Amerikanische Politik 1914-1939, Her-
big, München 1 9 8 3 , S. 4 9 3 ff.; Charles Callan TANSILL, Die Hintertür zum Kriege,
Pour le Mérite, Scient 2 0 0 0 , S . 3 4 0 ff.; Stefan SCHEIE, Fünf plus Zwei Die europäi-
schen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkrie-
ges, Duncker u. Humblot, Berlin = 2 0 0 4 , S . 2 2 5 ff.

243
MOLOTOW aber, seit Mai 1939 neuer sowjetischer Außenminister, legte
im Verkehr mit den Abordnungen der Franzosen und Briten ein für diese
bestürzend verzögerndes Benehmen an den Tag. Dabei war nicht zu über-
sehen, daß er die Stellung der Westmächte als unterlegen betrachtete.
London hatte sich durch die Garantie für Polen und Rumänien leicht-
" HOGGAN, a a O .
fertig an Warschau und Bukarest gekettet und suchte jetzt nach Bundes-
(Anm. t), S. 564;
NAUMANN, a a O .
genossen, die bereit wären, ihm die Last seiner Ketten nachzutragen.
(Anm. 1},S, 214, Um die Briten das spüren zu lassen, behandelte M O L O T O W sie wie Bitt-
steller, die sie in Wahrheit auch waren. Sie hatten Moskau seit Jahren
links liegengelassen, jetzt plötzlich verlangten sie seine Teilnahme an der
Koalition gegen Berlin, koste es, was es wolle. Das aber war mit dem
Kreml so leicht nicht zu machen.
Am 2 3 . Juli 1 9 3 9 beklagte sich S T R A N G bei seinem Minister HALIFAX
Eintreffen der britisch- über die schleppende Verhandlungsführung der Russen und ließ ihn wis-
französischen Militär- sen, daß die Besprechungen auf der Stelle traten. Schließlich kam man
delegation in Moskau überein, den Abschluß eines Abkommens von den Generalstabsbespre-
arn 12. August 1939 - chungen abhängig zu machen, die unmittelbar folgen sollten und nun
wohlgemerkt per vorgezogen wurden.4 Sie standen unter keinem guten Stern.
Schiff bis Leningrad,
als ob es sich um eine
Vergnügungsfahrt Eine böse Überraschung
gehandelt hätte.
Links: General Joseph
Konnte es London und Paris zuerst nicht schnell genug gehen, ließen sie
D O U M E N C , rechts: Ad-
sich jetzt unbegreiflicherweise viel Zeit. In gemächlicher Fahrt erreich-
miral Sir Reginald ten die Mitglieder der britisch-französischen Militärmissionen unter Füh-
PU NKETT- ERNE - ERL E- rung von Admiral D R A X und General D O U M E N C am 10. August 1939
DRAX.
Leningrad auf dem Seewege. Ihr Empfang in Moskau gestaltete sich,

244
gemessen an den üblichen russischen Maßstäben, ungewöhnlich zurück-
haltend, was den Teilnehmern schon zu denken gab. Die Sowjets gaben
sich enttäuscht darüber, daß der Westen nur zweitrangige Vertreter mit
beschränkter Vollmacht entsandt hatte, während die russische Delegati-
on von MarschaO W O R O S C H I L O W in seiner Funktion als Volkskommissar
für Verteidigung (Ministerrang) geleitet wurde.
Bereits im ersten Gespräch am 12. August 1939 machte W O R O S C H I -
LOW den westlichen Vertretern Vorwürfe, indem er darüber spöttelte,
daß London nur ein kleines Kontingent an Truppen zu stellen bereit sei.
Lag damit nicht der Verdacht nahe, man wollte wie schon im Ersten
Weltkrieg Rußland als Minenhund vorschicken? Bundesgenossen dürfe
man nicht vor den Kopf stoßen. Stolz zählte W O R O S C H I L O W auf, was die
Sowjetunion ins Feld stellen könne. Den Westalliierten klangen die Oh-
ren, so schwelgte er in Zahlen: 120 Infanterie-, 16 Kavalleriedivisionen,
10000 Panzer, 5500 Kampfflugzeuge und 5000 schwere Geschütze wür-
den es sein! Doch es kam noch besser: Im Falle eines deutschen Angriffs
versprach er, Truppen im Umfang von 70 Prozent der westalliierten Streit-
kräfte aufzubieten. Das war mehr, als man hoffen konnte.5
Der Leiter der Briten, Admiral DRAX, war beeindruckt, doch fand er
sein Gegenüber anmaßend und provokant. Dem nüchternen Seelord lag
die auftrumpfende Art des Russen nicht. So erlaubte er sich die Bemer-
kung, daß manchmal weniger die Zahl den Ausschlag gebe als die Quali-
tät einer Truppe. Am Abend des 16. August ließ er die Admiralität in
London wissen, man habe nach fünftägigen Gesprächen keine Überein- Von oben: William
stimmung erzielt. Als W O R O S C H I L O W sich auf der nächsten Sitzung er- S T R A N G , der Leiter der
kundigte, welche polnischen Häfen die alliierten Flotten als Ausschiffungs- mitteleuropäischen
Abteilung im Foreign
häfen vorgesehen hätten, war die Verlegenheit groß. Tatsächlich dachte
Office; Marschall Kli-
in London und Paris niemand daran, alliierte Flotten in die Ostsee zu ment Jefremowitsch
beordern. »Aha«, meinte W O R O S C H I L O W erheitert, »ich verstehe, Sie wol- W O R O S C H I L O W , d e r d i e
len mit Ihren Armeen unter Wasser marschieren!« Dann erkundigte er Verhandlungen mit
sich, ob Warschau den Westalliierten den Einmarsch nach Polen gestatte. der britisch-französi-
Das wurde zwar bejaht, doch ohne Erklärung, wie dies mangels gemein- schen Mission führte.
samer Grenzen möglich sei. Dann aber kam man zum heikelsten Punkt:
Der sowjetische Minister wünschte zu wissen, ob Warschau der Roten
Armee ein Durchmarschrecht zuerkenne. Schließlich kenne Moskau die NAUMANN, eben-
5

Polen und wisse, daß sie die Nase hoch trügen. Die Delegationen waren d a , S . 2 1 4 ; HOGGAN,
verschnupft und meldeten Fehlanzeige. ebenda, S. 574.

Die Polen wollen nicht


Botschafter S E E D S berichtete nach London: »Die Russen haben jetzt die
entscheidende Frage angeschnitten, von der das Gelingen der Gesprä-

245
che abhängt.« Dem ging voraus, daß WOROSCHILOW seinen Gästen erklärt
hatte, Polen und Rumänien würden in kürzester Zeit von Deutschland
geschlagen, wenn sie nicht mit der Sowjetunion zusammenwirkten. Um
diese Niederlagen zu verhindern, müsse Moskau nicht allein die betref-
fenden Länder betreten, sondern auch die gemeinsame Verteidigung or-
ganisieren. Dazu verlange er eine klare Auskunft. Vor allem wünsche er
zu wissen, wie Warschau sich zu den von den Abordnungen vorgetrage-
nen britisch-französischen Überlegungen stelle; er sehe hier keinen ein-
zigen Polen am Tisch.
6 HOGGAN, ebenda, Jetzt waren die Gespräche am kridschen Punkt festgefahren/' General
S. 575. DouMENC, der Leiter der französischen Abordnung, der wußte, daß Po-
HOGGAN, ebenda, len der russischen Forderung niemals zustimmen werde, gab zu beden-
S. 576. ken, eine solche Frage stelle sich erst, wenn der Kriegsfall eingetreten sei.
H HOGGAN, ebenda, Das aber erregte W O R O S C H I L O W S Verblüffung. Fr erkundigte sich, ob die
S. 580. wesdichen Generalstäbe nicht die Gepflogenheit hätten, vor einem Kriege
über das nötige Danach nachzudenken. Natürlich war der Marschall dar-
über unterrichtet, daß die Polen lieber den Teufel persönlich ins Land
lassen würden als die Rote Armee. Vergeblich versuchte D O U M E N C , die
Frage damit abzuwiegeln, daß Polen im Falle eines deutschen Angnffs
ohnehin sowjetische Hilfe erbitten müsse. Darauf meinte WOROSCHILOW
seelenruhig, dann sei es zu spät. Gemeinsame Aufgaben erforderten ge-
meinsame Vorsorge, darum müsse er voll und ganz auf dem Einmarsch-
recht für Heer, Flotte und Luftstreitkräfte der Sowjetunion nach Polen
beharren.
Zwar zeigten sich die Abordnungen nach Rückfragen in London und
Paris gewillt, die Forderung W O R O S C H I L O W S für ihre Länder anzuneh-
men; doch was die Polen betraf, blieben sie die Antwort schuldig. Weder
Briten noch Franzosen sahen sich im Besitz auch nur der leisesten An-
deutung einer Zusicherung Warschaus, daß die Rote Armee auf polni-
schem Territorium operieren dürfe7 WOROSCHILOW faßte sich an den Kopf
und fragte entsetzt, wieso sie dann Warschau die Garantie hätten geben
können, Polen notfalls Beistand zu leisten. Diese Frage ließen die Ab-
ordnungen unbeantwortet. Daraufhin forderte W O R O S C H I L O W die Ver-
treter der Westmächte auf, umgehend in Warschau vorstellig zu werden,
um Klarheit zu schaffen. Bis dahin sollten die Gespräche vertagt wer-
den 8
Eigentlich hätte man in Paris wissen können, daß man spätestens an
diesem Punkt in die Sackgasse geraten werde, denn Außenminister BON-
NET war die polnische Weigerung nicht unbekannt, hatte er das Verteidi-
gungsdepartement doch gebeten, diese Frage vorab zu klären. Darauf-
hin war General M Ü S S E , Militärattache in Warschau, angewiesen worden,
die entsprechenden Fragen zwischen Polen und Sowjets zu erörtern. Dabei

246
hatte sich ergeben, daß jeder Versuch, mit dem polnischen Verteidigungs-
minister, Marschall RYDZ-SMIGLY, darüber zu verhandeln, ergebnislos blieb.
Die Sache war einfach die, daß der polnische Marschall befürchtete, Mos-
kau werde sich bei dieser Gelegenheit Weißrußland und die Westukraiine
zurückholen, die sein Vorgänger, Marschall PILSUDSKI, im polnisch-russi-
schen Konflikt von 1920 den Sowjets abgewonnen hatte.

Druck auf Warschau


Botschafter SEEDS vertrat die Ansicht, die Russen dürften erwarten, daß
die Westalliierten dafür Sorgen trügen, Polen werde sich zur Zusammen-
arbeit mit den Sowjets bereit erklären. Er schlug daher vor, Paris solle
aufgrund seiner engen Beziehungen zu Warschau den polnischen Gene-
ralstab unter Druck setzen, und empfahl, General V A L I N , den französi-
schen Militärattache in Moskau, zu diesem Zweck nach Wärschau zu ent-
senden. Dieser Vorschlag, der die französischen Kollegen in Zugzwang
brachte, wurde von HALIFAX aufgegriffen und unterstützt, den die Furcht
der Polen vor Moskau gänzlich unberührt ließ. Für ihn zählte allein, daß
die Koalition endlich zustande kam. So wies er seinen Warschauer Bot-
schafter KENNARD an, in Warschau schärfstens auf das Einverständnis
zu drängen, David L . H O G G A N , US-Historiker, auf den wir uns hier be-
rufen, bemerkt dazu: »Es war eine Tragödie, daß seine Rücksichtslosig-
keit mit den Polen seinen Scharfsinn weit in den Schatten stellte. Denn
HAUFAX übersah, daß er damit keineswegs der gemeinsamen Sache diente,
sondern letztlich nur S T A U N in die Hände spielte.«'1 9 HOGGAN, ebenda,
Doch Botschafter K E N N A R D vermochte seinem Auftrag ebenso wenig S. 5 8 1 .
gerecht zu werden wie die Generale M Ü S S E und V A U N den ihren. Seinem
Gespräch mit dem polnischen Außenminister B E C K am 19. August 1939
entnahm KENNARD, daß jener die Annahme der russischen Bedingungen
seinen Landsleuten nicht zumuten könne. Er lehnte daher jede Erörte-
rung darüber kategorisch ab,

Roosevelt greift ein


Jetzt beschloß US-Präsident ROOSEVELT, in die Verhandlungen einzu-
greifen. Lawrence STEINHARDT, seinen Botschafter im Kreml, wies er an,
MOLOTOW mitzuteilen, die Vereinigten Staaten seien ebenso wie die So-
wjetunion daran interessiert, der Aggressionslust Deutschlands Schran-
ken zu setzen. Er drängte die Sowjets, ein Militärbündnis mit Großbri-
tannien und Frankreich zu vereinbaren, und ließ nicht unangedeutet,
daß die Vereinigten Staaten eines Tages einer Anti-HITLER-Koalition bei- 10 HOGGAN, e b e n d a ,
treten könnten.10 S. 5 8 3 .

247
STALIN war über diese Botschaft hocherfreut, stärkte sie doch seine
Verhandlungs Stellung sowohl gegenüber den Westmächten als auch ge-
genüber den Deutschen. Letzteren gab er jedoch insgeheim längst den
Vorzug, nachdem sich die seit Mai 1939 angebahnten Verbindungen mit
Berlin zu verstärken begonnen hatten. Darum dachte STALIN auch gar
nicht daran, den Inhalt dieser vertraulichen Botschaft ROOSEVELTS ge-
heimzuhalten, und so konnten die verdutzten Europäer wenige Tage dar-
auf ROOSEVELTS Eingriffsversuch in den Zeitungen lesen. Wenn ROOSE-
VELT kalkuliert hatte, die sowjetische Politik zugunsten der Westmächte
beeinflussen zu können, so nutzte M O L O T O W die Botschaft jetzt für seine
Zwecke. Er ließ US-Botschafter STEINHARDT wissen, die westlichen Mili-
tärmissionen wären offenbar nicht in der Lage, mit ihrem Auftrag fertig-
zuwerden. Als sich Mitte August 1939 die Lage zuspitzte und Moskaus
Schlüsselstellung im Machtpoker um Europa immer klarer hervortrat,
fielen im Kreml die Würfel. STALIN war jetzt entschlossen, und seine Ent-
scheidung fiel am 19. August 1939 für - Berlin. Erstaunlicherweise war
die deutsch-sowjetische Annäherung den Westmächten völlig verborgen
geblieben.
So drahtete STEINHARDT dem US-Präsidenten am 16. August 1 9 3 9 ins
Weiße Haus, er sei überzeugt, die Sowjetunion werde es vermeiden, be-
reits im Anfangs Stadium eines möglichen europäischen Konflikts ihre
Karten auszuspielen. Und aus Paris erfuhr ROOSEVELT, daß Ministerprä-
sident DALADIER lauthals auf die Polen schimpfte, nachdem ein letzter
Versuch seines Botschafters N O E L am 1 9 . August von Außenminister
BECK mit den Worten beschieden worden war: »Es ist für uns eine Frage
des Prinzips; wir haben kein militärisches Einvernehmen mit den So-
wjets, und wir wünschen auch keines zu haben.« Dem hatte Polens Mar-
schall R Y D Z - S M I G L Y hinzugefügt: »Mit den Deutschen riskieren wir den
Verlust unserer Freiheit, mit den Russen würden wir unsere Seele verlie-
ren.«
Der Chef der französischen Abwehr, General GAUCHE, für den die
Arroganz der Polen schon längst eine Quelle der Verärgerung war, gab
daraufhin der allgemeinen Enttäuschung Ausdruck. Sein Rat war, alle
Kriegspläne für das Jahr 1939 aufzugeben.
11 TANSILL, a a O .
(Anm. 3), S . 356 ff.;
Hamilton FISH, Über die Köpfe der Polen hinweg
Der zerbrochene So stand es um die Chancen der Anti-HITLER-Koalition alles andere als
Mythos. F. D. Roose- gut, als der Mann im Weißen Hause nochmals einen Anlauf nahm. Denn
velts Kriegspolitik
ROOSEVELT befürchtete jetzt, HALIFAX werde ebenso wie BONNET die Hän-
1933-1945,
Grabert, Tübingen de in den Schoß legen. Deshalb versprach er Paris und London wieder-
1982, S . 136. holt telefonisch die volle Unterstützung der USA.11 Das hatte zur Folge,

248
daß die führenden alliierten Politiker in letzter Minute nochmals Tritt
faßten. Schließlich war es mehr als unerfreulich, wenn ein so endegener
Staat wie Polen sich dem Drängen zweier verbündeter Großmächte wi-
dersetzte und damit die Politik blockierte. In Absprache mit den Briten
riet die französische Delegation daher ihrem Außenminister B O N N E T in
Paris, über B E C K S Kopf hinweg ein Abkommen mit den Russen zu schlie-
ßen. Daraufhin entschieden sich Frankreichs Premier D A L A D I E R und sein
Außenminister B O N N E T mit Zustimmung Londons am 21. August — trotz
Polens Weigerung Moskau grünes Licht zur Fortsetzung der Gesprä-
che zu geben. So wurden die alliierten Militärverhandlungen im Kreml
12
1 2 HOGGAN, a a O .

am selben Tag wiederaufgenommen, als RibBENTROP und M O L O T O W den (Anm. 1), S. 576 ff.
Termin für das schicksalhafte deutsch-russische Vertragsabkommen fest-
legten. General D O U M E N C wurde vom Quai d'Orsay telefonisch ermäch-
tigt, die Sowjets wissen zu lassen, Paris und London seien bereit, das
polnische Wohlverhalten in dieser Frage zu garantieren. Das Beglaubi-
gungsschreiben traf allerdings erst ein, nachdem die Sitzung, kaum daß
sie begonnen hatte, von W O R O S C H I L O W überraschend aufgehoben wurde.
Der Marschall teilte am 24. August unter Bedauern mit, er werde leider
anderweitig gebraucht und stehe nicht länger zur Verfügung, Unmittel-
bar danach erfuhren die Delegationsteilnehmer aus der Tagespresse von
dem bevorstehenden deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der am
Abend zuvor zustande gekommen war. Damit aber war Polens Schicksal
so gut wie besiegelt. Andreas Naumann

Eine seltene Aufnah-


me: GOEBBELS, HITLER

und B O R M A N N warten
am 24. August 1939
in Berlin gespannt
auf den Abschluß des
deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspaktes,

249
Deutschland unterstützte Selbständigkeit der Balten

achdem die baltischen Staaten um 1991 durch den Zusammenbruch


N des Sowjetimperiums im Osten ihre Selbständigkeit zurückerhalten
hatten, wurde ihr Schicksal in vielen Berichten auch in Deutschland be-
handelt. Diese Gelegenheit benutzten manche deutsche Umerzieher, in
Verkehrung der Wirklichkeit zu betonen, daß das Reich das Baltikum in
1 Allerdings ohne
den geheimen Zusätzen zu den deutsch-sowjetischen Verträgen vom 23.
Litauen, das erst im August und 28. September 1939 den Sowjets überlassen, die Balten also
geheimen Zusatz an die Bolschewisten verraten habe1 und daß auch früher schon deutsche
zum deutsch-
sowjetischen »Herrenmenschen/ dort die einheimische Bevölkerung unterdrückt hätten.
Vertrag vom 28. Der Spiegel schrieb gar über »Die verhängnisvolle Rolle der Deutschen in
September 1939 der Estland, Lettland und Litauen«2 und warf ihnen vor: »Sie hatten sich an
sowjetischen den östlichen Gestaden der Ostsee als Herrenvolk über die einheimi-
Interessensphäre schen Stämme eingerichtet.«3
zugeschlagen Diese Beurteilung ist falsch, zumindest sehr einseitig und verzerrend.
wurde. Denn die Reichsregierung hat in den genannten geheimen Zusätzen zu
2 »Freude am
den beiden Verträgen mit der Sowjetunion 1939 nicht einer Annexion
schönen Titel«, in: dieser Gebiete durch Moskau zugestimmt, sondern nur »Interessensphä-
Der Spiegel Nr. 38, ren« abgegrenzt, wie es auch Frankreich und Großbritannien früher und
16. 9. 1991, S. 212- später in aller Welt vorgenommen haben. Das war kein Freibrief zum
222, mit dem Einmarsch der Sowjets ins Baltikum. Daß die Sowjets schon 1940 die
zitierten Untertitel. baltischen Länder besetzten und in ihren Staat eingliederten, konnte nicht
1 Ebenda, S. 212.
vorhergesehen werden und war nicht Deutschlands Schuld. Die West-
mächte haben nichts gegen Moskaus Annexionen unternommen.
Im Zusammenhang mit diesen Fragen bleibt heute zum einen meist
unerwähnt, daß Briten und Franzosen bei ihren Verhandlungen mit der
Sowjetunion im Sommer 1939 zeitlich vor dem dann überraschend ab-
geschlossenen deutsch-sowjetischen Vertrag vom 23. August 1939 Mos-
kau das Baltikum als Einflußsphäre bereits überlassen und zudem sogar
noch weitere Zugeständnisse, Finnland betreffend, den Sowjets gemacht
hatten. Sie hatten also demselben und sogar weiterem zugestimmt, was
sie später H I T L E R vorwarfen. Nicht die Deutschen haben also — und das
nur unter der todernsten Bedrohung eines Zweifrontenkrieges und als
einziges Mittel zur Vermeidung desselben - das Baltikum dem Bolsche-
wismus zugespielt, sondern die Westalliierten haben ohne Not und Zwang
bereits vorher die baltischen Länder und Finnland den Russen angebo-
ten, die dadurch pokern und sich das beste Angebot aussuchen konnten.
Zum anderen wird gegenwärtig meist der große deutsche Beitrag zur
Gewinnung der Freiheit in den baltischen Ländern in und nach dem Er-
sten Weltkrieg verschwiegen. Die heute freien Staaten des Baltikums

250
Estnische, lettische
und litauische Dele-
gationen, die aus ge-
lenkten Wahlen her-
vorgegangen sind,
müssen 1940 im
Kreml um die Einglie-
derung ihrer Republi-
ken bitten. Auf der
Tribüne: S T A L I N , C H R U -
SCHTSCHOW, KALININ,

TIMOSCHENKO. Aus:

Günther D A H M S , Der
Zweite Weltkrieg in
Text und Bild, Her-
big, München 4 1995.

einschließlich Finnlands haben ihre Souveränität weitgehend den Deut-


schen zu verdanken. Die geschichtlichen Tatsachen sind im einzelnen:
Das Baltikum und auch Finnland standen seit dem 18. und 19. Jahr-
hundert unter zaristisch-russischer Herrschaft bis gegen Ende des Er-
sten Weltkrieges. Im deutsch-sowjetischen Friedensvertrag von Brest-Li-
towsk vom 3. März 1918 hatten die Deutschen erreicht, daß die
Sowjetunion auf die drei baltischen Staaten und Finnland verzichtete
und diese selbständig wurden. Nachdem dieser Frieden durch den deut-
schen Zusammenbruch im November 1918 hinfällig geworden war, ver-
suchten die Sowjets 1919 erneut, das Baltikum zu besetzen, was beson-
ders an deutscher Waffenhilfe scheiterte. Zwischen Februar und August
1920 erreichten die baltischen Staaten in getrennten Friedensverträgen die
Anerkennung ihrer Unabhängigkeit von Moskau. Die drei baltischen Län-
der kamen von Juni/Juli 1940 bis zum Einmarsch der Deutschen im Som-
mer 1941 und ab 1944/45 wieder unter sowjetisch-russische Gewalt.
Die Geschichte der Baltendeutschen mit ihrer Kolonisation des Balti-
kums, ihren Städtegründungen und ihren Beiträgen zur hohen Kultur
des Landes darzustellen, übersteigt den Umfang eines Beitrages. So soll
nur auf die deutschen Leistungen im 20. Jahrhundert für die Selbstän-
digkeitsbewegungen der einzelnen Länder kurz hingewiesen werden.

I. Finnland
Bei Hamburg waren im Ersten Weltkrieg finnische Soldaten als Freiheits-
kämpfer ausgebildet worden (Finnisches Jägerbataillon), die 1918 in ihre
Heimat zurückkehrten. Das seit 1809 zu Rußland gehörende, aber unter
den scharfen Russifizierungsbemühungen im zweiten Teil des 19. Jahr-

251
hunderts Unabhängigkeit erstrebende Finnland erklärte nach der russi-
schen Revolution sich am 6. Dezember 1917 mit der entsprechenden
Proklamation des finnischen Landtags für selbständig. Bolschewistisches
Militär und Kommunisten wollte das verhindern, und es kam ab Januar
1918, insbesondere nachdem die sowjetische Rote Armee mit finnischen
Kommunisten Helsinki (Helsingfors) am 28. Januar 1918 besetzt hatte,
zu einem blutigen Krieg im Lande. Den Ausschlag gaben deutsche Trup-
pen, die am 4. April 1918 auf Ersuchen der nach Wasa ausgewichenen
finnischen Regierung bei Hangö landeten, unter General Rüdiger Graf
VON DER G O L T Z (1865-1946), der anschließend als »deutscher General in
Finnland< den Aufbau der finnischen Streitkräfte leitete. Im Zusammen-
wirken mit finnischen Freiwilligen konnten rund 70000 Sowjetsoldaten
gefangengenommen werden. Schweden hatte eine Hilfe für Finnland ab-
gelehnt. Danach konnte am 16. Mai 1918 die Unabhängigkeit Finnlands
besiegelt werden, die am 14. Oktober 1920 im Frieden zu Dorpat von
der Sowjetunion anerkannt wurde. Ostkarelien blieb bei Rußland, Petsa-
mo kam an Finnland. Im Oktober 1 9 1 8 wurde Prinz FRIEDRICH K A R L
von Hessen zum König von Finnland gewählt, der aber bald darauf we-
4 Das wird bezeich-
gen des deutschen Zusammenbruchs ablehnte.4 Daraufhin wurde Finn-
nenderweise auch in land Freistaat. Als Moskau Ende November 1939 Finnland überfiel, konn-
großen Nachkriegs- te das Land nach dem mehrmonatigen >Winterkrieg< im Frieden von
Lexika unter Moskau am 12. März 1940 sein Gebiet bis auf ostkarelische Teile mit
finnischer Ge-
Wiborg behaupten. Im Zweiten Weltkrieg nahm Finnland an deutscher
schichte nicht
erwähnt (Dergroße
Seite am Ostfeldzug teil, bis es am 19. September 1944 zum Waffenstill-
Brockbaus in 12 stand mit der Sowjetunion gezwungen wurde. Es konnte im Frieden von
Bänden, Wiesbaden Paris am 10. Februar 1947 seine Unabhängigkeit behaupten, mußte aber
1953). weiteren Gebietsabtretungen - wie zum Beispiel Petsamo - zustimmen.

2. Estland
Das ab 1721 russische Estland wurde im Ersten Weltkrieg selbständig.
Es rief am 24. Februar 1918 in Reval nach Abzug der vor den Deutschen
zurückweichenden sowjetischen Truppen die unabhängige Republik aus.
Die vom estnischen Landtag gewählte provisorische Regierung unter K.
PATS ging während der anschließend vom Februar bis November 1918
dauernden deutschen Besatzung in den Untergrund. Ihr wurde am 12.
11. 1918 von den Deutschen die Verwaltung wieder übergeben. Am 2.
Februar 1920 schloß Estland in Dorpat Frieden mit Rußland. Am 28.
September 1939 mußte das Land Moskau Stützpunkte wie die Inseln
Ösel und Dago einräumen. Nach dem deutsch-estnischen Vertrag vom
15. Oktober 1939 wurden die in Esdand lebenden Deutschen, sofern sie
das wollten, ins Reich umgesiedelt. Am 26. Juni 1940 marschierten nach
einem Ultimatum sowjetische Einheiten in Estland ein, das am 6. August

252
1940 der Sowjetunion einverleibt wurde. Diese herrschte mit großen
Massenliquidierungen und -deportationen bis zur zweiten Befreiung durch
die Deutschen, die ab 8. Juli 1941 einrückten und das Land mit Hilfe
Aufständischer bis zum 21. Oktober 1941 von Sowjets räumten. Am 19.
März 1942 erhielt Esdand eine landeseigene Verwaltung, Die Sowjets
rückten nach Zurückdrängung der deutschen Front ab Ende Juli 1944
wieder in Estland ein und herrschten dort bis 1991, Nach Angaben von
Olaf MERTELSMANN 5 von der Forschungsstelle für sowjetische Geschich- 5 Olaf M E R T M J -
te der estnischen Universität Tartu kamen während der dreijährigen deut- MANN, »Zweifacher
schen Besetzung von 1941 bis 1944 rund 8000 estnische Bürger aus po- Terror«, Leserbrief
litischen Gründen um. Darunter befanden sich fast alle in Estland in: Frankfurter
verbliebenen Juden, die teilweise auch von Einheimischen als Vergeltung Allgemeine Zeitung,
für deren Haltung unter der bolschewistischen Herrschaft ermordet wur- 12. 6. 2007, S. 10.
den. Etwa 20 000 Verhaftungen erfolgten aus denselben Gründen. »Der
Stalinismus forderte etwa 40000 Opfer unter den Bürgern Estlands. ..
Insgesamt wurden mehr als 100000 estnische Bürger während STALINS
Herrschaft in Lagern inhaftiert oder deportiert«, fast 10 Prozent der 1,1
Millionen Einwohner.

3. Lettland
Seit dem 18. Jahrhundert war Lettland wie seine Nachbarstaaten ein Teil
des Zarenreiches. Im Ersten Weltkrieg besetzten deutsche Truppen 1915
Kurland, im September 1917 Riga und im Februar 1918 das übrige Liv-
land. Nachdem Rußland im deutsch-sowjetischen Friedensvertrag von
Brest-Litowsk vom 3. März 1918 auf die baltischen Länder verzichtet
hatte, wurde am 18. November 1918 der unabhängige Freistaat Lettland,
bestehend aus Kurland, Südlivland und Lettgallen, ausgerufen. Die ein-
gefallenen Bolschewisten wurden im Frühjahr 1919 von der im wesentli-
chen deutschen Baltischen Landwehr, den reichsdeutschen Baltikumtrup-
pen unter Graf Rüdiger VON DER G O L T Z , Freikorpskämpfern und
lettischen Einheiten vertrieben, am 22. Mai 1919 wurde Riga von diesen
erobert. Später kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Letten und
deutschen Einheiten, Britische Marineeinheiten unterstützten erst die
Deutschen, erzwangen später deren Abzug. Im Frieden von Riga vom
11. August 1920 erkannte Rußland das freie Letdand an. Die rund 62000
Deutschbalten des Landes wurden 1939/40 ins Reich umgesiedelt. Im
Beistandspakt vom 5, Oktober 1939 mußte das Land den Sowjets militä-
rische Stützpunkte einräumen, wurde am 17,Juni 1940ganz besetzt, mußte
eine große blutige Säuberung über sich ergehen lassen und wurde am 5.
August 1940 als 15. Bundesrepublik der Sowjetunion eingegliedert. Ab Juli
1941 wurde es von deutschen Truppen befreit, ab Herbst 1944 wieder von
der Sowjetunion besetzt und angeschlossen. 1991 wurde es wieder frei.

253
MOLOTOWS ultimative
Forderung vom 14,
Juni 1940 an den li-
tauischen Minister:
s , , . das Einverständ-
nis zum unverzügli-
chen Einmarsch so-
wjetischer Truppen
zur Besetzung der
wichtigsten Zentren
Litauens, um die
Durchführung des
Beistandspakts zu ge-
währleisten und allen
Zwischenfällen vorzu-
beugen.« Lettische
Soldaten ziehen nach
der Eidesleistung auf
die (Arbeiter- und
Bauernregierung< mit
Bildern von W O R O -
4. Litauen
SCHILOW u n d MOLOTOW Seit den polnischen Teilungen von 1772 bis 1795 gehörte das früher mit
durch die Straßen von Polen in Personalunion vereinte Litauen bis zum Ersten Weltkrieg zum
Riga.
russischen Zarenreich, Unter dem Schutz des Deutschen Reiches erklär-
te am 11. Dezember 1917 sein Landesrat in Wilna die Unabhängigkeit.
Im Juni 1918 soll ein deutscher Prinz zum König von Litauen gewählt
worden sein6 am 2. November 1918 wurde die Republik Litauen ausge-
rufen. Nach einem von deutschen Freiwilligen, Freikorpskämpfern und
Litauern 1919 zurückgeschlagenen Angriff sowjetischer Truppen erkannte
6Nach Dr. Menno die Sowjetunion im litauisch-sowjetrussischen Vertrag am 12. Juli 1920
ADEN, Essen, die Unabhängigkeit Litauens an. Bei einem Angriff Polens nach dem
Leserbrief »Wo Zusammenbruch der deutschen Front im Baltikum besetzte Warschau
deutsche Hilfe von am 9. Oktober 1920 handstreichartig das Wilnaer Gebiet gegen Litauens
Fremdherrschaft Protest und behielt es bis zum Zweiten Weltkrieg. Im Herbst 1939 erhielt
befreite«, in: Frank- Litauen von Polen das Wilnaer Gebiet zurück, mußte jedoch den Sowjets
furter A ¡¡gemeine Stützpunkte einräumen. Am 21. Juli 1940 wurde die Sowjetrepublik Litau-
Zeitung, 3. 9 . 1 9 9 1 .
en ausgerufen, die am 3. August 1940 der Sowjetunion angegliedert wurde.
Von Juni 1941 bis 1944 war Litauen von deutschen Truppen besetzt und
ab 1944 bis 1991 wieder unter sowjetischer Herrschaft.
In dem Zusammenhang sollte ergänzt werden, daß es das Deutsche
Reich und Österreich-Ungarn waren, die nach Eroberung auch des größ-
ten Teils von Russisch-Polen am 5. November 1916 den unabhängigen
Staat Polen ausriefen, den es seit 1795 nicht mehr gegeben hatte. Auch
die Polen haben also ihren Staat und ihre Unabhängigkeit nicht zuletzt
den Deutschen zu verdanken. Rolf Kosiek

254
Zweiter Weltkrieg

255
In den baltischen Republiken und in
der Westukraine wurden die Deutschen
vielfach als Befreier willkommen gehei-
ßen, Die einjährige sowjetische Gewalt-
herrschaft hatte im Baltikum deutliche
Spuren hinterlassen. Nach der Einnahme
der besetzten Gebiete im Osten konnte
das Heer allerdings »nicht allein entschei-
den und somit weder das Land befrieden
noch die Bevölkerung für sich gewin-
nen«. (Andreas N A U M A N N )

256
Britische Kriegsziele

n der deutschen Öffentlichkeit wird, besonders an geschichtlichen Ge-


I denktagen, weiterhin die Meinung vertreten, daß die Alliierten wegen
hehrer Ziele in den Zweiten Weltkrieg gezogen seien: zur Rettung der
Demokratie, zur Beseitigung der >HITLER-Diktatur<, zur Befreiung Euro-
pas, zur Beendigung der Judenverfolgung oder zur Erhaltung der abend-
ländischen Kultur.
Das ist falsch. Die Alliierten erklärten zum einen selbst 1945, daß sie
nicht »zum Zwecke der Befreiung«, sondern »zur Besetzung« Deutsch-
lands gekommen seien.1 Erst nach Jahren ließen sie zum anderen stark 1 Beitrag Nr. 363,

von ihnen abhängige deutsche Regierungen zu und sorgten durch die »Keine Befreiung
Umerziehung für die Durchsetzung ihres dauerhaften Einflusses. Auch Deutschlands
die historische Forschung, insbesondere die des Auslands, erkennt all- 1945«.
mählich die wahren Kriegsziele der Sieger und nennt die Gründe, warum
die Alliierten alle deutschen Friedensbemühungen strikt ablehnten und
auf der bedingungslosen Kapitulation bestanden, die den Krieg um Jah-
re mit Millionen weiterer unnötiger Opfer verlängerte.
Ein Geschichtswerk, das sich um verhältnismäßig sachliche Aussagen
zu den britischen Kriegszielen bemüht, hat Lothar K E T T E N A C K E R vorge-
legt.2 Diese Habilitationsschrift erschien in den Veröffentlichungen des 2 Lothar KETTEN-
Deutschen Historischen Instituts in London und dürfte deswegen über ACKER, Krieg zur
den Vorwurf der Rechtslastigkeit erhaben sein. Friedenssicherung. Die
Die Aussage des Titels, daß es London um »Friedenssicherung« ge- Deutschlandplanung
gangen sei, ist wohl eine Verbeugung vor dem Zeitgeist und wird dem der britischen Regierung
Inhalt nicht gerecht. Denn im Buch wird sachlich dargestellt, daß es den während des Zweiten
Weltkrieges, Vanden-
Briten eben nicht um die Erhaltung des Friedens in Europa ging, den die
hoeck & Ruprecht,
Deutschen 1939 durchaus wollten und den die Reichsregierung mit vie- Göttingen 1989.
len Friedensbemühungen zu erhalten versuchte. London ging es in Wirk-
lichkeit darum — auch mit Krieg —, einen Wirtschaftskonkurrenten zu
beseitigen, Deutschland entscheidend zu schwächen, dessen in den we-
nigen Jahren des Dritten Reiches erzielten rasanten Fortschritt abzustop-
pen und seine auch für die Zukunft abzusehende Dynamik auszuschal-
ten. Daß ein HitlER an der Macht war oder daß Judenverfolgungen zu
befürchten waren, spielte dagegen in den Überlegungen an der Themse
keine wesentliche Rolle. Auch ein demokratischer deutscher Staatschef
wäre bei einem deutschen Wirtschaftswunder mit Krieg überzogen wor-
den.
Der eigentliche Grund, warum England am 3. September 1939
Deutschland den Krieg erklärte, nachdem es ihn durch die einzigartige
Garantieerklärung für Polen vom 31. März und den britisch-polnischen

257
Beistandspakt vom 25. August
1939 über Polen endlich her-
beigeführt hatte, war, wie es in
einem Memorandum des For-
eign Office für das Kabinett
vom Juli 1943 ausgeführt wur-
de, daß Deutschland wegen sei-
ner starken zentralen Stellung
mit seiner großen Bevölkerung,
mit natürlichen Rohstoffquel-
len (Ressourcen) und hoch ent-
wickelter, leistungsfähiger In-
dustrie die Hauptgefahr für
Europa geworden sei.
Diesen Grund führte auch
der Sunday C.orrespondent 1989 in
klarer und unmißverständlicher
Eindeutigkeit an: »Wir sind
1939 nicht in den Krieg einge-
treten, um Deutschland vor
HALIFAX begrüßt Josef H I T L E R oder die Juden vor Auschwitz oder den Kontinent vor dem Fa-
BECK nach dem Ab- schismus zu retten. Wie 1914 sind wir für den nicht weniger edlen Grund
schluß der britisch-
in den Krieg eingetreten, daß wir eine deutsche Vorherrschaft in Europa
polnischen Beistands-
verpflichtungen im
nicht akzeptieren konnten.«3 Aber Europa hat natürlich die britische Vor-
August 1939 in Lon- herrschaft zu ertragen!
don. Nur aus diesem britischen Ziel der starken Schwächung der deutschen
Volkskraft werden die folgenden Handlungsweisen der Engländer ver-
ständlich.
> London bemühte sich, durch die Garantieerklärung an Polen vom
31. März 1939 deutsch-polnische Gegensätze zu einem Krieg auszuwei-
ten.
> Großbritannien schloß in den kritischen Sommertagen 1939 am
25. August den britisch-polnischen Beistandspakt ab, um Warschau un-
' Sunday Correspon- nachgiebig gegenüber berechtigten und durchaus maßvollen deutschen
dent, 17. 9.1989; Forderungen werden und einen Krieg riskieren zu lassen.
deutsch in: > Die Briten lehnten die zahlreichen deutschen und aus dem Ausland
Frankfurter Allge- eingeleiteten Friedensbemühungen während des Krieges grundsätzlich
meine Zeitung, 18. 9. ab.
1989, S. 2; Beitrag
Nr. 149, »Worte Die britische Regierung gab deutschen Widerstandskreisen gegen
zur Kriegs schuId - H I T L E R keine Unterstützung und bewertete das Attentat vom 2 0 . Juli 1 9 4 4
frage«. mit Häme.

258
i» Die außenpolitische Zeitschrift The NationalReview forderte im Sep-
tember 1939 als ein Kriegziel »die Zerreißung Deutschlands«. Insbeson-
dere sollten Ostpreußen und die ostdeutschen Provinzen östlich der Oder
an Polen abgetreten werden. Die damit verbundene Vertreibung und Ver-
nichtung vieler Deutscher war ein Teil der gewünschten Schwächung des
deutschen Volkes. Sir Orme S A R G E N T vom Londoner Außenministerium
meinte am 30. Mai 1944 dazu: »Ich vermute, daß der Bevölkerungstrans-
fer nur dann durchführbar ist, wenn er 1. durch die Russen durchgeführt
wird, die bereit sind, rücksichtslos zu handeln, und die nicht durch ir-
gendwelche Regeln oder Gesetze gebunden sind, und wenn 2. die Deut-
schen nach Sibirien gebracht werden, wo man sie vergessen wird.«4 Um 4 KETTEN ACKER,
die aus dem Osten vertriebenen Deutschen nicht im Rumpfdeutschland aaO. (Anm. 2),
zu dessen Aufbau wirken zu lassen, wurden Deportationen aus dem Osten S. 456.
vertriebener Deutscher unter anderen nach Südamerika erwogen.'1 5 Ebenda, S. 453.

> Lord VANSITTART sprach sich schon 1940 für die Vertreibung der
Sudetendeutschen aus.
> CHURCHILL befahl noch in den letzten Kriegsmonaten, verstärkten
Bombenterror gegen deutsche Städte, etwa gegen Dresden, Pforzheim
oder Hildesheim, zu verüben, damit möglichst viele Deutsche getötet
wurden. Dabei wurde sogar Menschenjagd von Jagdflugzeugen aus aus-
geübt.
> Die Briten unterstützten die Pläne ihrer Verbündeten zur Teilung
und Zerstückelung Deutschlands.
> Nach Kriegsende wurde jahrelang die deutsche Industrie von Bri-
ten demontiert, auch als andere Alliierte schon damit aufgehört hatten.
Die Briten fanden in ihrem Egoismus auch nichts dabei, daß ihre ange-
strebten Ziele wahrscheinlich nur mit einem großen Machtgewinn der
Bolschewisten in Europa zu erreichen waren. So äußerte Sir William
STRANG als Unterstaatssekretär im Londoner Außenministerium im Mai
1943 unumwunden: »Es ist besser, die Sowjetunion dominiert Osteuro-
pa, als daß Deutschland Westeuropa dominiert. .. Und gleichgültig, wie
stark die Sowjetunion auch wird, es ist unwahrscheinlich, daß sie je für
uns eine so schreckliche Plage wird wie Deutschland innerhalb von weni-
gen Jahren.«6 6 Ebenda, S. 212.
Für diese britischen Kriegsziele, die sich mit denen der USA und STA-
UNS trafen, mußten dann zig Millionen Menschen sterben und geriet die
Welt bis in unsere Tage aus den Fugen. Es wird Zeit, daß auch in der
Öffentlichkeit die wahren Schuldigen benannt werden und der oft zitierte
Satz, daß von deutschem Boden der Zweite Weltkrieg ausging, als falsch
und einseitige psychologische Kriegführung gegen das Reich erkannt wird.
Rolf Kosiek

259
Hitler unterstellte Worte

chon während des Zweiten Weltkriegs arbeitete die britische Kriegs-


S propaganda mit dem Mittel der Unterstellung falscher Aussagen. Ins-
besondere wurden dem Reichskanzler Adolf HITLER Worte untergescho-
ben, die dieser gar nicht geäußert hatte, die ihm dann später von der
Umerziehung zur Last gelegt wurden und ihn beim deutschen Volk her-
absetzen sollten. Obwohl als klare Fälschungen bewiesen, werden diese
belastenden Behauptungen doch immer wieder in der Öffentlichkeit und
von der Presse verbreitet. Aus der Menge dieser Fälschungen seien eini-
ge nachfolgend herausgegriffen,
1. Als angeblich vom Zentralverlag der NSDAP, München, herausge-
gebene »Parole der Woche Nr. 48,1943« wurde unberechtigt H I T L E R von
dem Büro des britischen Chefpropagandisten Sefton D E L M E R der Aus-
1 Ortwin BUCHBEN- spruch zugeschrieben und auf Flugblättern im Reichsgebiet verbreitet:1
DER u. Horst SCHUH >»Wenn das deutsche Volk unter der augenblicklichen Last zusammen-
(Hg.), Heil Beil! brechen sollte, würde ich ihm keine Träne nachweinen — es würde sein
Flugblattpropaganda Schicksal verdienen./Adolf H I T L E R , 8. November 1943.« Der Spruch sollte
im II. Weltkrieg. die Brutalität und Rücksichtslosigkeit H I T L E R S dokumentieren.
Dokumentation und
Analyse, Seewaid, 2 . In Hermann R A U S C H N I N G s als Fälschung entlarvter Schrift Gesprä-
Stuttgart 1974, che mit Hitler werden diesem schon für das Jahr 1934 viele Aussprüche
S. 152. unterstellt, die er in Wirklichkeit nie tat, die aber zum Beweis seiner an-
2 Siehe Beitrag Nr. geblichen Kriegsabsichten schon kurz nach seinem Regierungsantritt im-
147, »Die Lügen mer wieder herangezogen werden. Beispiele sind:' S. 17: »Ich will den
des Herrn Krieg.« »Den Krieg führe ich.« S. 22: »Wir müssen grausam sein.« »Wir
Rauschning«. müssen das gute Gewissen zur Grausamkeit wiedergewinnen.« S. 33: »Die
3 Hermann Chancen eines isolierten Krieges gegen Polen beurteilte HITLER schon
RAUSCHNING, damals günstig.« S. 61: »In Brasilien werden wir ein neues Deutschland
Gespräche mit Hitler, schaffen.« S. 66: H I T L E R wolle angeblich nach Mexiko. S. 69: »Wir werden
Europa, Zürich in den Vereinigten Staaten bald eine SA haben.«
1973.
3. In seiner Rede am 22. August 1939 vor hohen Militärs auf dem
Obersalzberg, in der H I T L E R seine Kriegs ab sichten dargelegt haben soll,
soll er nach als Fälschungen bewiesenen, beim Nürnberger Prozeß vor-
4 Siehe Beitrag Nr. gelegten »Dokumenten/,4 insbesondere dem Dokument Nr. 798-PS, un-
140, »Die Schlüssel- ter anderem gesagt haben: »Es war mir klar, daß es früher oder später zu
dokumente und die einer Auseinandersetzung mit Polen kommen müßte. Ich faßte den Ent-
Kriegsschuldfrage«; schluß bereits im Frühjahr,. , Dachte aber, daß ich mich in einigen Jah-
Beitrag Nr. 144, ren zunächst gegen den Westen wenden würde und dann erst gegen den
»Hiders Rede vom Osten. .. Unsere Gegner haben Führer, die unter dem Durchschnitt ste-
22. August 1939«.
hen. Keine Persönlichkeiten. Keine Herren, keine Tatmenschen. .. Wir

260
müssen mit rücksichtsloser Entschlossenheit das Wagnis auf uns neh-
men, , , Ich habe nur Angst, daß mir noch im letzten Moment irgendein
Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt.« Alle Teilnehmer an die-
ser Besprechung, der angeblichen >Schweinehund-Rede<, versicherten spä-
ter, daß solche Worte dort nicht gefallen seien,
4. In einer zweiten Rede an diesem 2 2 . August 1 9 3 9 soll H I T L E R nach
dem ebenfalls in Nürnberg vorgelegten Dokument Nr. 1014-PS zum an-
geblich geplanten Krieg gegen Polen gesagt haben: »Kampf auf Leben
oder Tod.. . Eine lange Friedenszeit würde uns nicht gut tun.. . Vernich-
tung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräf-
te, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. .. Herz verschließen
gegen Mitlied. Brutales Vorgehen... Der Stärkere hat das Recht. Größte
Härte.« Auch diese Aussagen sind eine Fälschung.^
5. Der damalige Völkerbunds-Hochkommissar in Danzig, Carl Jacob
B U R C K H A R D T , schreibt später in seinem Buch Meine Danziger Mission,6 daß
H I T L E R ihm am 11. August 1939 auf dem Obersalzberg unter vier Augen
gesagt habe: »Alles, was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet;
wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde
ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen
zu schlagen und dann nach der Niederlage mich mit meinen versammel-
ten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden. Ich brauche die Ukraine,
Carl Jacob B U R C K -
damit man uns nicht wieder wie im letzten Krieg aushungern kann.« Der HARDT. Der Schweizer
Schweizer meint dazu, dies sei der »vielleicht allermerkwürdigste Aus- Diplomat sagte be-
spruch des Kanzlers«. Dies ist der einzige Beleg aus der Vorkriegszeit für züglich von H I T L E R S
H I T L E R S angebliche Absicht, das kurz danach abgeschlossene deutsch- angeblicher Kriegs-
sowjetische Abkommen vom 23. August 1939 schon bald wieder zu bre- absicht nicht die
chen. Es ist aber mit Sicherheit eine Fälschung, wie der Schweizer Diplo- Wahrheit.
mat Paul STAUFER 7 bewiesen hat. Rolf Kosiek

s Ebenda, S. 597.
G Carl.J. BURCKHARDT, Meine Dan^gerMission, 1937-1939, Georg D . W . Callwey,
München 1960, S. 348.
Paul STAUFER, Carl J. Burckhardt. Zwischen Hofmannsthai und Hitler. Facetten einer
außergewöhnlichen Existenz Neue Zürcher Zeitung, Zürich 1991, Bd. 1, S, 594 f.

261
Fälschung der NS->Parole der Woche<

ährend des Zweiten Weltkrieges betrieb Großbritannien eine er-


W folgreiche Kriegspropaganda gegen Deutschland.1 Dabei wurden
auch gefälschte Aussagen ausgewählten Deutschen, insbesondere Adolf
HITLER, in den Mund gelegt.2 Diese Fälschungen wurden nach Kriegsende
als angeblich authentische Erklärungen in der Umerziehungsarbelt weiter
verwendet Als eines der wirksamsten Beispiele, das bis in die Gegenwart
in der Öffentlichkeit als Beispiel für die HITLER angedichtete Verachtung
des deutschen Volkes herangezogen wird, trat und tritt dabei ein angeb-
licher Ausspruch HITLERS in der ihm unterschobenen »Parole der Woche«
von 1943 auf.
' Beitrag Nr. 329, Im Reichstagswahlkampf im März 1936 brachte die um moderne Massen-
»BBC betrieb propaganda nicht verlegene Reichspropagandaleitung der NSDAP eine
Kriegspropaganda«. »Wahlkampfwandzeitung« heraus. Deren Wirksamkeit wurde für so groß
2 Das wohl bekann- gehalten, daß man diese neue Form in der Folgezeit beibehielt und sie
teste Beispiel ist der unter der Bezeichnung »Parole der Woche« vom 1. April 1936 bis zum 25.
sogenannte >Moi- Februar 1943 wöchentlich erscheinen ließ. Dieses breitformatige, mit ein-
de rs-Brief<, der gehenden Texten und farbigen Graphiken ausgestaltete Blatt wurde in
ebenfalls von Sefton den Mitteilungskästen der NS-Dienststellen und der NSV ausgehängt,
DELMER gefälscht
wurde; Beitrag Nr. aber auch in Behörden, auf Postämtern und an öffendichen Plätzen ge-
189, »Der gefälschte zeigt. Es lag dem Völkischen Beobachter wie dem Stürmer bei. Als eine Art
Moiders- Brief«. »Zeitung fürs Volk< diente diese »neue Waffe der Propaganda* der Über-
3 Franz-Josef müdung der NS-Anschauung an den Volksgenossen. Es erschienen im
HEYEN (Hg.), »Parole Laufe der Zeit insgesamt über 400 Ausgaben.
3

der Woche«, Deut- Unter der Bezeichnung »Parole der Woche Nr. 48/1943/ Zentralver-
scher Taschenbuch- lag der NSDAP, München* brachte der britische Chef-Propagandist Sef-
Verlag, dtv-Doku- ton D E L M E R im Winter 1943/44 eine gefälschte »Parole der Woche« her-
mente, München aus. Darauf stand ein erfundenes Zitat, von dem vorgegeben wurde, daß
1983. Adolf H I T L E R es am 8. November 1943 in München geäußert habe:
4 Ortwin BUCHBEN-
»>Wenn das deutsche Volk unter der augenblicklichen Last zusammen-
DER u. Horst SCHUH, brechen sollte, würde ich ihm keine Träne nachweinen - es würde sein
Heil Beil! Flugblattpro- Schicksal verdienen.« Adolf HITLER 8. November 1943.« Eine farbige
paganda im Zweiten
Weltkrieg, Seewald, Abbildung dieser Fälschung befindet sich in einem Buch über Flugblatt-
Stuttgart 1974, propaganda. 4

S. 152. Die Zielrichtung dieser Fälschung ist klar: HITLER sollte bei seinen gut-
gläubigen Anhängern durch solch einen das Volk verachtenden und nie-
derträchtigen Ausspruch herabgesetzt werden. Und viele fielen auf diese
dann auch in die Nachkriegspropaganda übernommene Fälschung her-
ein und hielten sie für authentisch. Rolf Kosiek

262
Gab es zu Hitlers Kriegführung einen Generalplan?

ls die Siegermächte in Nürnberg das Internationale Militärtribunal


A errichteten, gingen sie davon aus, daß die Machteliten des Dritten
Reiches Europa mittels einer Verschwörung und aufgrund eines gemein-
samen Planes in ihre Gewalt gebracht hätten.1 Obwohl die Ankläger dem
Vorwurf in jahrelangen Untersuchungen nachgingen, ließ sich der Be-
weis nicht erbringen. Dennoch beharrt die Zeitgeschichte weiterhin auf
dem Standpunkt, daß der deutschen Kriegspolitik ein mehr oder weniger
fest umrissenes Programm vorgelegen habe. So spricht Andreas H I L L -
G R U B E R , dem ein Großteil der Zeithistorie darin gefolgt ist, von einem
Stufenplan, dessen Schritte »weit über die Eroberung von >Lebensraum<
im Osten und Ausrottung der Juden in Europa hinausgegangen seien«.2
Ausgehend von seinem Programm der zwanziger Jahre,' habe der Füh-
rer in stufenweisem Vorgehen »ein europäisches Kontinentalimperium«
errichten wollen, das »in der auf ihn folgenden Generation die Basis für
einen Entscheidungskampf zwischen der >Weltmacht Deutschland< und
der »Weltmacht« USA abgeben sollte«.4 Danach sei der Krieg in Europa
langfristig geplant und vorbereitet worden.
Das ist eine Theorie, die mit Recht auch im Ausland auf Widerspruch
gestoßen ist und die sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar erweist,
denn sie fußt auf der Annahme, daß H I T L E R S Vorgehen primär weltan-
schaulich-dogmatisch ausgerichtet gewesen sei, was für seine Kriegfüh-
rung so nicht zutrifft.5
Hätte H I T L E R den Nichtangriffs-Pakt vom 23. August 1939 mit sei-
nem ideologischen Erzfeind S T A L I N überhaupt abschließen können, wäre
dies der Fall gewesen? Es war ein Pakt, der alles über den Haufen warf,
was H i t L E R bisher vertreten hatte. Wieso konnte er sich dazu bereit fin-
den, der den Bolschewismus haßte wie der Teufel das Weihwasser? Die-
ses Bündnis war doch nur aus dem einen Grund eingegangen worden,
im heraufziehenden Konflikt mit Polen nicht in einen »Krieg mit ver-

1 Der Nürnberger Prozeß, Bd. 1, Anhang A, Anklagepunkte 1 bis 4, S. 83; Bd. 2,

S. 96 f., Anklagepunkt 1: »Gemeinsamer Plan oder Verschwörung«.


2 Andreas HIIXGRUBER, Hitlers Strategie, Politik und Kriegführung 1940—1941, Ber-

nard u. Gracfc, München 21982, S. 717.


3 Adolf HITLER, Mein Kampf, F r a n z . Eher Nachf., München " 1 9 3 3 .
4 HillGRUBer, aaO. ( A n m , 2), S, 7 1 7 .
5Siehe dazu Hartmut SCHUSTERBIT, Vabanque. Hitlers Angriff auf die Sowjetunion
1941 als Versuch, durch den Sieg im Osten den Westen bedingen, Pour le Mérite,
Selent 22000, S. 92, Vorwort, S. 12.

263
HITLERmit dem jugo- kehrten Fronten« zu geraten. Denn der Krieg mit den Westmächten war
slawischen Prinz- es, den er unter allen Umständen vermeiden wollte und den er damit zu
regenten, Prinz Paul
KARAGEORGEVIC, bei
vermeiden hoffte.' Denn so töricht, sich gegen die vereinigte Macht von
einer Parade 1939. Deutschland und Rußland zu stellen, konnten die Westmächte nach sei-
Zu diesem Zeitpunkt nem Dafürhalten nicht sein. Schon im Jahre 1914 wären sie ohne Ruß-
verfolgte HITLER keine lands Waffenhilfe verloren gewesen. Um den Krieg mit Westeuropa zu
imperialistischen Zie- vermeiden, war er sogar bereit, sich mit dem »bolschewistischen Welt-
le. Er wollte einzig die
feind Nummer 1« in ein Boot zu begeben. Kurzfristig sollte das gesche-
Machtposition
Deutschlands in Euro-
hen, versteht sich, denn danach würde man weitersehen. Aber schon das,
pa verbessern, und schon diese Wendung, die alle Welt überraschte, stand der These vom
das hieß in erster Li- Dogmatismus H I T L E R S deutlich entgegen.
nie, die Bestimmun- Es war eben nicht die langfristige Planung, die H I T L E R S Vorgehen aus-
gen des >Schanddik- zeichnete. Viel eher war es seine durchtriebene Wendigkeit, gepaart mit
tats* von Versailles
rückgängig zu ma-
Bluff und Drohung, die ihn befähigte, den jeweils günstigsten Augen-
chen. Nur noch die blick zu erfassen, um nach Art eines Spielers den aus der jeweiligen Lage
Korridor- und die zu ziehenden Vorteil zu erlangen. Sein Handeln war hektisch und aufge-
Danzig-Frage standen regt, alles andere als kaltblütig und von langer Hand geplant. Es ist nicht
offen. H I T L E R gewesen, der über viele Jahre hinweg im stillen den Plan verfolgt
hat, die Unterwerfung Europas, ja der ganzen
Welt zu betreiben. Das lag weder in seiner Ab-
sicht, noch paßte es zu den von ihm meist kurz-
fristig verfolgten Zielen. Viel eher dagegen reimte
es sich mit dem Täterprofil eines Diktators vom
Format S T A L I N S zusammen. Der H I T L E R des Jah-
res 1939 jedenfalls wollte nicht zum Imperator
werden, nach dessen Pfeife die europäischen
Völker tanzen sollten. »Ein neuer großer Krieg
war das letzte, was H I T L E R wollte.«8 Er wollte
weder Frankreich besiegen, noch England den
Platz in der Welt streitig machen, vorausgesetzt
diese waren bereit, auf Nimbus und Siegerpose

6Andreas NAUMANN, Freispruch für die Deutsche Wehr-


macht. Unternehmen Barbarossa< erneut auf dem Prüf stand,
Graben, Tübingen 2005, S. 18.
7 So jedenfalls das Politikverständnis neuerer Revi-

sionisten wie SCHEII., SCHULTZE-RHONHOF, POST, SCHU-


STEREIT, M A S E R , NAUMANN USW.
8 Basil LIDDELL H A R T , Geschichte des Zweiten Weltkrie-
ges, Fourier, Wiesbaden 1970, S. 18. »Ein neuer gro-
ßer Krieg war das Letzte, was HITLER wollte. Sein Volk
und zumal seine Generale schreckten vor jedem der-
artigen Risiko zurück.«

264
von Versailles endgültig zu verzichten und sein Drittes Reich als gleich- Oberbefehlshaber der
polnischen Armee
berechtigten Partner anzuerkennen. H I T L E R war sich bewußt, daß die
war Marschall R Y D Z -
Westmächte mit all ihren Ressourcen dem Reich überlegen waren. Ihnen S M I C L Y (hier mit Staats-
die Gleichberechtigung abzutrotzen galt ihm als vordringliches, aber loh- präsident Ignacy Mo-
nendes Geschäft, um das Reich endgültig in Europa zu festigen und am SCICKI). Seit dem

Ende sogar die Kolonien zurückzuerhalten. Das war ein Geschäft, bei britischen Blanko-
dem es darauf ankam, in Einzelfragen die Oberhand zu gewinnen, ohne scheck von März
die Dinge auf die Spitze zu treiben. So war es ihm bisher immer gelun- 1939 war das
deutsch-polnische
gen, durch Fixigkeit, Übertölpelung und Einschüchterung jedes einzel- Verhältnis festgefah-
nen seiner Gegner kurzfristig Vorteile zu erringen, um langfristig die ren. Im August 1939
Position des Reiches Schritt für Schritt zu verbessern. »Hitlers Zuver- meinte R Y D Z - S M I G L Y in
sicht, daß sich die Serie müheloser Erfolge fortsetzen ließ«, wuchs von Krakau vor einer Offi-
Mal zu Mal. »Und wenn er je Zweifel hatte, dann wurden sie jedenfalls ziersversammlung:
von der kumulativen Wirkung seiner berauschenden Erfolge erstickt. »Polen will den Krieg
mit Deutschland, und
Selbst als ihm klar wurde, daß weitere Abenteuer zum Krieg führen konn-
Deutschland wird es
ten, dachte er nur an einen kurzen und begrenzten Konflikt.«9 nicht verhindern kön-
Nein, der H I T L E R von 1939 wollte die Westmächte nicht schlagen. Was nen, selbst wenn es
hätte denn an ihre Stelle treten sollen? Er wollte im Gegenteil das briti- das wollte.«
sche Empire erhalten, ebenso wie er sich ein
Frankreich wünschte, dem man vertrauen konn-
te. Der H I T L E R von 1939 dachte noch in Perspek-
tiven, nach denen jede der klassischen Mächte
Europas ihren Platz behaupten durfte.111 Erst der
HITLER, der in Rußland von einem Schlachtfeld
aufs andere eilte, dem die Zeit weglief und des-
sen Gegner ihm über den Kopf wuchsen, erst
der HitlER, dem die Städte zerbombt wurden und
der den Krieg ohne bedingungslose Kapitulation
nicht beenden konnte, wurde zum Verzweifelten,
der die Katastrophe nicht abwenden konnte.
Was der H I T L E R von 1939 dagegen im Sinn
hatte, war, daß Paris und London ihm das Recht
zubilligten, das ganze Gewicht des deutschen Rei-
ches dort in die Waagschale zu werfen, wo es in
Osteuropa jetzt darum ging, klare Verhältnisse
zu schaffen, mit denen man leben konnte. Die
österreichische, die sudetendeutsche und die
tschechoslowakische Frage waren 1938/39 ge-
löst worden, selbst das Memelland war an das
Reich zurückgefallen. Allein die Korridor- und
9 LIDDELL HART, a a O . ( A n m . 8 ) , S . 1 9 .
10 Ebenda.

265
Legationsrat Fritz HES- die Danzigfrage harrten noch der Lösung und standen als letzte im Raum.
SE, der H I T L E R S Sofort- Auch sie waren ein Relikt des >Schanddiktats von Versailles«, wie es da-
Angebot am 2. Sep- mals hieß, und viele Deutsche empfanden es so.
tember (939 in Warum es darüber zum deutsch-polnischen Konflikt gekommen ist,
London vortrug, hielt
das abschließende
war kürzlich erneut Gegenstand von Untersuchungen und bedarf hier
Gespräch mit Horace nicht der Erörterung im einzelnen. Neuere Analysen kommen zu dem
W I L S O N fest. Der Brite Ergebnis, daß die Ursachen nicht in den von der Zeithistone behaupte-
meinte unter ande- ten langfristigen Kriegsplänen H I T L E R S ZU suchen sind, sondern in dem
rem: »England kann schiechten deutsch-polnischen Verhältnis, das andere Mächte zum An-
die Hegemonie einer laß nahmen, von außen einzuwirkten.11 Diesen Konflikt galt es zu lösen,
anderen Macht auf
ihm widmete H I T L E R alle Energie. Erst als jener drohte, zum europäi-
dem Kontinent nicht
zulassen, ohne zu- schen Krieg auszuufern, erst als London und Paris am Abend des 1.
grunde zu gehen oder September 1939 Berlin aufforderten, seine Truppen hinter die Demarka-
die Grundlagen zu tionslinie zurückzuziehen, war H I T L E R zum Einlenken bereit. Denn »er
beseitigen, auf denen hielt die Briten für nüchterne und rational denkende Menschen, die ihre
sein Weltreich und Emotionen mit dem Verstand kontrollieren, und glaubte daher, sie wür-
sein Weltprestige be-
den nicht im Ernst daran denken, wegen Polen einen Krieg zu führen,
ruhen. Wir haben 23
Jahre gegen N A P O L E O N
wenn sie nicht die russische Unterstützung hatten«.12
gekämpft, wir werden Die heutige Zeitgeschichte unterschlägt H I T L E R S Einlenken in letzter
100 Jahre gegen HIT- Minute mit Bedacht. Nur wenige wissen, daß der Mann, von dem die
LER und Deutschland Zeitgeschichte berichtet, sein ganzes Bestreben sei es gewesen, den Zwei-
kämpfen, wenn es
ten Weltkrieg anzuzetteln, noch im letzten Augenblick den verzweifelten
erforderlich sein soll-
te. .. Kein Engländer
Versuch unternahm, den Kriegsausbruch zu verhindern, und daß er dazu
könnte in dieser Lage in der Nacht zum 2. September 1939 den Presseattache an der Deut-
dem unvemeidlichen schen Botschaft in London zu einem Sofort-Angebot an die Westmächte
Krieg ausweichen.« bevollmächtigte, seine Wehrmacht hinter die deutsche Staatsgrenze zu-
Fritz H E S S E , Das Vor- rückzuziehen und darüber hinaus vollen Schadenersatz an Polen zu lei-
spiel zum Kriege, Leo- sten. Also genau das wollte er tun, was London und Paris in gleichlauten-
ni 1979, S. 183 f.
den Noten von ihm forderten. 13

11 Stefan SCHEIL, Logik der Mächte. Europas Problem mit der Globalisierung der Politik.
Überlegungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, Duncker u. Mumblot, Berlin
1999, S. 164 ff.;ders.,Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmäch-
te und die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Duncker u. Humblot, Berlin 2 0 0 4 ,
S. 1 1 0 ff.; Walter P O S T , Die Ursachen des Zweiten Weltkrieges, Graben, Tübingen
2 0 0 3 , S. 3 2 4 ff.; Gerd SCHULTZE-RHONHOF, 1939. Der Krieg, der viele Väter hatte.
Der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg, Olzog, München ' 2 0 0 3 , S. 3 3 5 ff.; Andre-
as NAUMANN, Das Reich im Kreuzfeuer der Weltmächte, Stationen der Einkreisung, Gra-
bert, Tübingen 2006, S. 255 ff.
11 LIDDELL HART, a a O . ( A n m . 8 ) , S . 1 6 f f .
13Fritz HESSE, Das Vorspiel zum Kriege, Leoni 1979, S. 22 ff. HESSES Sondermissi-
on am 2. 9. 1939: »Sehen Sie, Herr HITLER will Deutschland zur ersten Macht in
Europa machen. . . Sehen Sie, und das werden wir nicht erlauben können.«

266
Als Voraussetzung verlangte er lediglich, daß die Westmächte sich zu
Verhandlungen bereit erklärten. Das war nicht zuviel verlangt, denn noch
,4 Hans MEISER,
war dafür Zeit. Noch war das britische Ultimatum nicht ausgesprochen, 14
Noch wurde in der französischen Volkskammer darum gerungen, ob Gescheiterte Friedens-
man der britischen Aufforderung zum Ultimatum an Berlin folgen solle, initiativen 1939—
1945, Graben,
denn der Widerstand dagegen war groß. London aber hatte ein für alle-
Tübingen 2004,
mal entschieden, den Konflikt durchzustehen, das britische Kabinett be- »Hitlers letzter
harrte auf dem Ultimatum, Und London ist es gewesen, das zum Einlen- Versuch«,
ken nicht mehr bereit war. Deshalb lehnte es H I T L E R S Entgegenkommen S. 42 ff.
ebenso ab wie den Vermittlungsvorschlag dessen Achsenpartners MUS-
SOLINI. Und als Paris bis zuletzt zögerte, wurde Außenminister H A L I F A X
energisch und setzte sich schließlich am Quay d'Orsay damit durch.15 1S Stefan SCHKIL,

Warum H I T L E R diesen Schritt getan tat, darüber ist lange gerätselt wor- Fünf plus Zwei, aaO.
den. Beschäftigt man sich einmal näher mit der Studie von Hartmut SCHLI- (Anm. 11), S. 188 ff.
STERF.IT, dann liegt zumindest einer der Gründe dafür auf der Hand: die
völlig unzureichende Rohstoff- und Rüstungslage des Dritten Reiches.
HitleR war sich der Tatsache bewußt, daß ein europäischer Großkon-
flikt von dem zu erwartenden Ausmaß die Kräfte Deutschlands bei wei-
tem überfordern werde. Ein Feldzug gegen Warschau mochte noch an-
gehen, ein Zweifrontenkrieg gegen Polen und die Westmächte dagegen
nicht. HITLER sah plötzlich ein, daß er diesmal zu hoch gepokert hatte.
Sein Vabanque-Spiel um Danzig und den Korridor war gescheitert.
Nicht umsonst hatte der Chef des Wehrwirtschaftsstabes im Ober-
kommando der Wehrmacht (OKW), Generalmajor T H O M A S , seinen Ober-
befehlshaber HITLER in wiederholten Eingaben und Vorträgen darauf
hingewiesen, daß ohne die Grundvoraussetzung der Erstellung eines um-
fassenden Rüstungsplanes an eine zielgerichtete Kriegführung nicht zu
denken sei.16 Denn noch lag die Mobilisierung des deutschen Staatswe- 1 6 SCHUSTEREIT, a a O .
sens für den Kriegsfall, zumindest was den zivilen Sektor betraf, völlig (Anm. 5), S. 27 ff.
im argen, ein Punkt, über den sich H I T I . F R keine Illusionen machte. Wäre
er T H O M A S gefolgt und hätte er alle Ressorts der Reichsregierung mit der
Erstellung eines solchen Planes beauftragt, wäre die Arbeit über die er-
sten Anfänge wohl kaum hinaus gediehen. Denn dazu fehlte es an nahe-
zu allen Voraussetzungen. Schließlich erfordert ein solcher Kriegsplan
zahlreiche Einzelplanungen auf Gebieten, die dem Kriegführen zu-, bei-
oder nachgeordnet sind. Das betrifft vor allem die Wirtschafts- und Roh-
stoffplanung, die Finanz-, Rüstungs-, Arbeitskräfte- und Fertigungspla-
nung sowie das Transportwesen, die alle eng mit dem Streitkräfteauftrag
verbunden sind. Erst durch ihr Zusammenwirken läßt sich so etwas wie
ein militärstrategisches Kriegführungskonzept erstellen.
Auf allen diesen Gebieten aber war die Lage höchst unbefriedigend
und SCHUSTEREIT zufolge »desolat«.17 H I T L E R hat vor der Wehrmachtfüh- 17 Ebenda, S. 37 ff.

267
rung selbst zugegeben, der deutschen
Wirtschaft fehle es an Kapital und Ab-
satzmärkten, die Gefahr zu kollabieren
stehe im Raum. Tatsächlich kam es schon
im Verlauf des Polen-Feldzuges zu ernst-
haften Schwierigkeiten. So war der durch
die Kämpfe eingetretene Munitionsman-
gel kurzfristig nicht zu beheben und be-
reitete der Wehrmachtführung schwere
Sorgen, »Denn die Munitionslage war ka-
tastrophal und die Gesamtrüstung unzu-
reichend.«10 Darüber hinaus aber stellte
sich auch noch heraus, daß die Anlauf-
zeit für eine erhöhte Waffen- und Muni-
tionsproduktion länger dauern werde.
Daraus erhellt, daß H I T L E R nach Ableh-
nung seines Friedenangebots vom 6. Ok-
tober 1939 durch die Wcstmächte den
Krieg im Westen gar nicht hätte führen
können, selbst wenn er gewollt hätte, ja,
es ist anzunehmen, daß den Westmäch-
ten die deutsche Malaise auf dem Muni-
tionssektor nicht unbekannt geblieben ist
und sie sein Friedensangebot nicht zu-
letzt aus diesem Grund abgelehnt haben.
Wenn unsere Zeithistorie mit dem be-
haupteten langfristigen Kriegsplan HIT-
LERS glaubt, das eine oder andere Gebiet
Serienbau deutscher mit Bedacht ausklammern zu können, riskiert sie, Theorien ins Blaue
Panzerkampfwagen hinein ohne Bezug zur Wirklichkeit zu entwickeln, wie sie der oben be-
in Kassel. Es fehlte vor sagte Stufenplan darstellt. Obwohl weithin bekannt ist, daß Deutschland
allem an Rohstoffen.
1939 ernsthafte Rohstoffprobleme hatte, geht die Zeitgeschichte in der
Frage der Wehrmachtrüstung seit Jahren von falschen Voraussetzungen
aus. Die oft gehörte Vermutung, die Wehrmacht, die in knapp vier Jah-
ren eilig auf den Stand ihrer Gegner aufgerüstet worden war, sei 1939 bis
an die Zähne bewaffnet in den Krieg gezogen, erweist sich bei näherem
Hinsehen als unzutreffend.
Hartmut S C H U S T E R E I T , wissenschaftlicher Mitarbeiter im Militärge-
schichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg (jetzt: Pots-
dam), hat damit aufgeräumt. In seiner Studie Vabanque legt er dar, daß
18
SCHUSTEREIT, die Geschichtsschreibung es in unentschuldbarer Weise unterlassen hat,
ebenda, S. 38 ff. Forschungsergebnisse zu berücksichtigen, wie sie sich aus dem Rüstungs-

268
aufkommen der späten dreißiger Jahre ergaben. Die Gründe dafür seien ,!> Sc HUSTE REIT,
vielfältig und reichten vermutlich vom Verkennen der grundlegenden ebenda, Vorwort,
Bedeutung des Themas bis zum mangelnden Verständnis der kompli- S. 7.
zierten Gegebenheiten auf dem Rüstungssektor. 20 Ebenda, S. 38 ff.

Dabei ließ er durchblicken, daß nicht zuletzt politische Gründe dafür 21 Heinz MAGENHEI-

ausschlaggebend sind. Denn die Ergebnisse der deutschen Forschung MER, Kriegszjele und
auf diesem Gebiet lassen sich mit gewissen Vorstellungen und Theorien Strategie der großen
über die exemplarische Hochrüstung und Bewaffnung der Wehrmacht Mächte 1939-45,
schwerlich in Einklang bringen. So werden Themen, die »wegen einer Osning, Bielefeld
2006.
gewissen politischen Brisanz über Fachgrenzen hinaus öffentliches In-
teresse finden«, oft nur von ausländischen Historikern abgehandelt. Da-
bei wird kritisiert, daß deutsche Fachkräfte zu solchen Themen meist
schweigen." Offenbar seien sie der öffentlichen Debatte unwillkommen.
Wäre dem nicht so, würden Theorien wie diejenige H I L L G R U B E R S gar nicht
erst aufkommen — jedenfalls nicht ohne angemessene Überprüfung. Denn
daß die zu Lasten der Reichsregierung behauptete langfristige Kriegspla-
nung wirklich existiert hätte, auch wenn das von interessierter Seite gern
ins Feld geführt wird, läßt sich daraus nicht ableiten.
Was den Krieg gegen die Sowjetunion angeht, ist gerade die mangel-
hafte Rüstung der Wehrmacht einer der ausschlaggebenden Gründe für
das Mißlingen des >Unternehmens Barbarossa< als Blitzkrieg, dann des
Ostkrieges als Ganzem und letztlich des Weltkrieges überhaupt. S C H U -
STERETT kommt zu dem Schluß, den auch wir vertreten: Der Ostfeldzug
ist »im Gegenteil kurzfristig geplant und nicht ausreichend vorbereitet
worden, da H I T L E R bis zur Jahresmitte 1940 über keine konkreten Pläne
für einen Angriff auf die Sowjetunion verfügte«.20
Die S C H U S T E R E I T S Studie beiliegenden Aufstellungen und Übersichten
zur Bewaffnung und Ausrüstung der Wehrmacht, insbesondere zur Be-
waffnung und Munitionierung des Ostheeres, sprechen eine unmißver-
ständliche Sprache. Man muß sich fragen, wie es möglich gewesen ist, 50
Jahre lang von »gigantischen Rüstungsanstrengungen des Dritten Rei-
ches« als Vorbereitung zum Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Mit Mäch- Oben: Hartmut SCHU-

ten, die wie der Sowjetstaat im Krieg über 100000 Panzer oder die USA Studie
STEREITS

250000 Flugzeuge produziert haben, läßt sich das Deutsche Reich nicht Vabanque, Pour le
Mérite, Selent 2 2000.
vergleichen. Angesichts solcher Zahlen begreift man überhaupt erst die Unten: Georg T H O M A S
verzweifelte Situation der Reichsführung, die angesichts der Lage des (1890-1946). Er er-
Reiches glaubte, ein solches Vabanquespiel eingehen zu müssen. Und kannte sehr früh die
»Vabanque« ist zu Recht der Titel von S C H U S T E R E I T S Studie. begrenzten Möglich-
Eine weitere Studie zu dem Thema hat 2 0 0 6 Heinz M A G E N H E I M E R keiten der deutschen
Wirtschaft, einen lan-
vorgelegt,21 der auch H I L L G R U B E R S »Stufenplan« ablehnt, dessen Buch Hit-
gen Krieg zu führen.
lers Strategie scharf kritisiert und aufweist, daß H I T L E R ein von den jewei-
ligen Umständen Getriebener war, Andreas N a u m a n n

269
Überfiel die Wehrmacht Dänemark?

n der deutschen wie in der dänischen Öffentlichkeit wird immer noch


1 Siegfried MATLOK,
I die Meinung vertreten, daß die deutsche Wehrmacht am 9. April 1940
— zeitgleich mit der Besetzung Norwegens — Dänemark überraschend
Dänemark in Hitlers überfallen habe. So heißt es im Vorwort des Berichts des Reichsbevoll-
Hand. Der Bericht des mächtigten Werner B E S T über seine Besatzungspolidk in Dänemark: »Am
Reichsbevollmächtigten
9. April überfiel Deutschland das neutrale Dänemark.«1
Werner Best über seine
Besatzungspolitik in Doch das ist offenbar falsch. Richtig ist wohl, daß vorherige Abspra-
Dänemark, Husum, chen zwischen beiden Regierungen stattfanden und so beim deutschen
Husum 1988, S. 5. Einmarsch jedes Blutvergießen - bis auf das bei einem geringen, »sym-
2 Ebenda, S. 5 f. Im bolischen Widerstand* - vermieden werden konnte.
Anhang (S. 214- Hinweise auf Besonderheiten dieses Vorgangs ergeben sich schon aus
220) werden die offiziellen dänischen Feststellungen, Eine dänische Note vom 30. April
betreffenden 1940 sprach von einer »Quasi-Übereinkunft«; der dänische spätere Staats-
deutschen und minister Erik SCAVENIUS nannte die Regelung »quasi-vertraglich«; der dä-
dänischen Erklä- nische Historiker Ditlev TuMM unterstrich, daß »kein Kriegszustand vor-
rungen vom 9, lag«; und die deutsche Besatzungsmacht behauptete stets, daß die
April 1940 wieder- Besetzung auf einer vertraglichen Grundlage erfolgt sei.2
gegeben. Insbeson-
dere erklärte der Jahrzehnte nach Kriegsende wurden weitere Tatsachen bekannt, die
dänische Außenmi- jedoch verdrängt oder in der Öffentlichkeit möglichst verschwiegen wur-
nister MÜNCH am 9 . den, Der dänische Journalist Aage WAD gab bereits 1975 in der links-
April 1940, »daß stehenden dänischen Morgenzeitung Ekstrahladet eine Reihe interessanter
das Betreten des Tatsachen an, die nach seiner Aussage in der dänischen Öffentlichkeit
dänischen Bodens verschwiegen und unterdrückt wurden, jedoch die damalige Lage in ei-
von deutschen nem anderen als dem üblichen Licht erscheinen lassen.'1
Truppen nicht in
feindseliger Gesin- ^ Die ersten Deutschen, ein ganzes Regiment, setzten am 9, April
nung erfolgt ist«. 1940 um 0 Uhr 30 mit der letzten normalen Nacht fähre von Warnemünde
(S. 2 2 0 ) nach Gedser über. Als ein darüber verwunderter Funktionär der Fähre im
3 Aage WAD, in: Justizministerium in Kopenhagen anrief, ob nicht der Polizeichef Thune
Ekstrabladet, 31.1. J A C O B S O N unterrichtet werden müsse, erhielt er als Antwort: »Er wreiß es

1975. schon, er dürfe aber nicht gestört werden, da ihn morgen ein sehr ar-
4 Deutsche Uber- beitsreicher Tag erwarte.« Auf die weitere Frage, ob nicht wenigstens der
setzung von Robert Chef des Militärdistriktes Südseeland, Oberst V. H A R R E L , alarmiert wer-
Lux, »Die dänische den müsse, kam die kurze Antwort: »Nein.«
Öffentlichkeit > Andere deutsche Truppen kamen nicht auf einem getarnten Koh-
fordert die Wahr- lendampfer, wie es in dänischen Schulbüchern heißt, sondern auf einem
heit«, in: Der den Dänen bekannten Truppentransporter, der mit der deutschen Kriegs-
Freiwillige, Nr. 3,
flagge geschmückt war,
1975, S. 14.
> Das dänische Verteidigungsministerium hatte mit Befehl vom 5.
April 1940, 21 Uhr, angeordnet, daß alle Straßenreparaturen zwischen

270
Gedser und der Strostroemsb rücke so einzustellen seien, daß alle Löcher
zuzuschütten seien, wobei keine Rücksicht darauf genommen werden
solle, ob die betreffende Arbeit beendet sei oder nicht.
> Die zum Schutz des Landes ausgelegten Seeminen waren am 9.
April nicht in Tätigkeit.
> Ausgerechnet am 8. April 1940 erhielten die Artilleristen Urlaub,
so daß die zur Verteidigung bestimmten Kanonen am Hafen am 9. April
nicht schießen konnten.
> Mehrere Meldungen von Zivilisten wie von der Abwehr, daß sich
in den Tagen vor dem 9. April zwei deutsche Divisionen nahe der däni-
schen Grenze mit Marschrichtung Nord aufstellten, gingen den verant-
wortlichen dänischen Stellen zu, ohne daß daraufhin Maßnahmen ergrif-
fen wurden.
> Dänemarks Außenminister Dr. Peter M Ü N C H wurde am 17. März
1940 von mindestens zwei vertrauenswürdigen Dänen im deutschen Ro-
stock gesehen, wo er mit dem Reichsführer SS Heinrich H J M M L E R ge-
sprochen haben soll. Die Tagebücher des dänischen Außenministers
wurden wohl nicht von ungefähr 1975 noch geheimgehalten.
Der oben genannte dänische Journalist weist ferner in seinem Artikel
darauf hin, daß der damalige dänische König C H R I S T I A N X . am 1 . Okto-
ber 1941 das Großkreuz in Gold mit Bruststern aus Diamantendes Dane-
brogordens dem deutschen Außenminister VON RiBBENTROP an die Brust
heftete und daß der dänische Heereschef Ebbe G O E R T Z das im Rahmen
der Waffen-SS an deutscher Seite kämpfende Freikorps >Danmark< per- Dänemarks Außen-
minister Peter M U N C H .
sönlich auf dem Hauptbahnhof in Kopenhagen verabschiedete, dabei
einen Nagel in die Fahnenstange des Freikorps schlug, die persönlichen
Grüße des Königs überbrachte und erklärte: »Soldaten, die Augen Däne-
marks sind auf Euch gerichtet. Tut Eure Pflicht!«
Das Treffen M Ü N C H S mit H I M M L E R in Rostock wird von der offiziellen
Geschichtsschreibung noch immer verschwiegen oder angezweifelt. So
schrieb Professor Tage K A A R S T E D in seinem Standardwerk:5 »Es ist ange- 5 T a g e KAARSTED,
führt worden, daß P. M Ü N C H von der bevorstehenden Besetzung Däne- Danmarkshistorie,
marks Kenntnis hatte und daß er sie sogar mit dem deutschen SS-Führer 1991, S. 203.
Heinrich H I M M L E R angesprochen haben soll. Aber darüber liegt nichts
vor, und alles spricht dagegen, auch die Geheimhaltung, die eine absolute
Voraussetzung für das Gelingen der Aktion gegen Norwegen war, we-
gen der Notwendigkeit des Überraschungsmoments.«
Doch das trifft nicht zu. Unmittelbarer Anlaß für Dänemarks Außen-
minister zu einem Gespräch mit dem obersten deutschen Polizeichef
HIMMLELR war, daß sein Sohn Ebbe MÜNCH, der im Januar/Februar 1 9 4 0
als Journalist in Hamburg weilte, dort wegen der damals streng bestraf-

271
ten Homosexualität verhaftet war und im Gefängnis saß. Der junge Mann
wurde auf Befehl Berlins bevorzugt behandelt und später aufgrund der
Aussprache freigelassen.
Auf das streng geheim gehaltene Treffen des Dänen mit H I M M L E R in
Rostock am 1 7 . März 1 9 4 0 - am 1 . März 1 9 4 0 war H I T L E R S Anweisung
>Weserübung< für die Vorbereitung der Besetzung Norwegens und Dä-
nemarks erfolgt - ist von mehreren dänischen Autoren hingewiesen wor-
den, die sich auf entsprechende Quellen stützten. So gibt es weitere dä-
nische Veröffentlichungen von A. O L E S E N (Fra utrykte kilder, 1 9 5 1 ) , Jörgen
S E H E S T E D (broholm-Mödet, Das Broholm-Treffen), Hans J E N S E N (Alasker-
6 Christian LINDTNER
ne Faider, Die Masken fallen, 1 9 9 3 ) . 6
in: Journalen Frederiks-
berg, Nr. 3,1994; Die ausführlichste Darstellung stammt von Jon G ALSTER, geboren 1915,
deutsche Überset- von 1990.7 Über das Treffen, seine Vorgeschichte und seine Auswirkun-
zung in: Deutschland gen bringt er auch Zeugenaussagen von mehreren Männern aus H I M M -
in Geschichte und LERS Umgebung vor, so von dem SS-Chauffeur Ernst M O M M E (S. 111,
Gegenwart, Nr. 1, 194 f.), von Sturmbannführer Dr. Rudolf J A C O B S I - N (S. 189 ff.), dem Ad-
1999, S. 18 f. jutanten H I M M L E R S , von Obersturmbannführer Jochen P E I P E R (S. 281-
1 Jon G A L S T E R , Den 284) aus H I M M L E R S Stab und von Hauptsturmbannführer Heinz A L T -
9. april— En sand D O R F (S. 195). Mehrere andere Zeitgenossen haben bekundet, daß diese
mjte!, Dansk Hi s to- Zeugen an dem betreffenden Tag wirklich in Rostock waren. H I M M L E R
ri sk Handbogsfor-
hat sich später gegenüber Professor Dr. Johann VON L E E R S , SS-Sturm-
lag, Lyngby 1990.
Das hochinteressan- bannführer und Universitätslehrer, nach dessen Erklärung vom 16. Au-
te Buch liegt noch gust 1952 (S. 113 ff.) und zu Medizinalrat E K E R S T E N über das Treffen
nicht in deutscher geäußert. Zu letzterem sagte H I M M L E R im Februar 1942: »Dänemark tat
Übersetzung vor. uns einen großen Dienst, als es uns ohne Kampf durchkommen ließ.
Dadurch konnten wir rechtzeitig in Norwegen einfallen, und wir konn-
ten den Engländern zuvorkommen. Das hat uns der dänische Verteidi-
gungsminister (sic!) ermöglicht aufgrund einer Absprache, die ich mit

Kopenhagen am 9.
April 1940: Die deut-
sche Infanterie zeigt
der Luftwaffe ihr Vor-
rücken an.

272
Zum großen Erstau-
nen der Alliierten
dringen deutsche
Truppen in den Mor-
genstunden des 9.
April 1940 in Däne-
mark ein. Hier wer-
den deutsche Trup-
pentransporter an der
Langelinie im Hafen
von Kopenhagen ent-
laden. Um 14 Uhr ist
alles vorbei.

ihm getroffen habe. Deshalb habe ich gewisse Sympathien für Däne-
mark.«8 Der dänische Fregattenkapitän Thorkel B I E R E war Zeuge, daß
M Ü N C H am Morgen des 17. März vom Flughafen Kastrup nach Deutsch-
8 LINDTNER, a a O .
land abflog. »In Dänemark äußerte sich P. M Ü N C H angeblich über das (Anm. 4),S. 19.
Treffen unter anderem zu justizminister K. K. S T F I N K E , der laut dem 9 Ebenda.
verstorbenen Gutsbesitzer C. T E I S E N sein Wissen an Dr. jur. Carl P O P P - 10 Zuerst in däni-
M A D S E N weitergab.«'1
scher Übersetzung
Im Kopenhagener Rigsarkiv (Reichsarchiv) liegt eine verschlossen ge- veröffentlicht von
haltene Aussage10 von Jochen P E I P E R , der auf Befehl H I M M L E R S mit die- J o n GALSTER, a a O .
sem im P K W nach Rostock fuhr, das Gespräch mit M Ü N C H auf H I M M - (Anm. 5), S. 281 ff.
LERS Geheiß vom Nachbarzimmer aus mit anhörte und Aufzeichnungen 11 Das Folkeüng
machte. Fr hielt den wesentlichen Inhalt der Unterredung zwischen hatte am 12. 1. 1940
M Ü N C H und H I M M L E R fest, die G A L S T E R wiedergibt. Schon auf der Hin- beschlossen, »daß
fahrt im Auto erzählte der Reichsführer SS P E I P E R , daß er sich mit einem die Neutralität des
ausländischen Minister heimlich treffe, um über die kommende friedli- Landes aufrechter-
che Besetzung des betreffenden Landes zu sprechen. H I T L E R wie H I M M - halten werden soll
LER wollten dabei Krieg und Opfer vermeiden. Bei dem Treffen erklärte und daß die Mittel,
über die es verfügt,
der Däne, der nicht bevollmächtigt war, eine Vereinbarung abzuschlie-
wenn nötig ange-
ßen, und nicht gegen den Kopenhagener Reichstagsbeschluß11 vom 12. wandt werden
Januar 1940 verstoßen durfte, nach Erledigung seiner familiären Angele- sollen, um den
genheit und nach H I M M L E R S Eröffnung des deutschen Vorhabens der Frieden und die
notwendig werdenden friedlichen Besetzung des Landes im Rahmen des Unabhängigkeit des
gegenüber England unvermeidlichen Skandinavien-Feldzuges, daß er für Reiches zu behaup-
eine friedliche Lösung eintreten wolle und hoffe, auch den sozialdemokra- ten und zu schüt-
tischen Regierungschef Thorvald STAUNING für den Plan zu gewinnen. Man zen«.

273
vereinbarte, über Mittelsmänner Verbindung zu halten und höchstens »sym-
bolischen Widerstand« beim deutschen Einmarsch zu leisten.
Diese Voraus-Absprache über die deutsche Besetzung Dänemarks
klappte wie auch weitere Vereinbarungen. Die Verantwortlichen in Ko-
penhagen >überhörten< Anfang April 1940 mehrere Warnungen vor einem
bevorstehenden Einmarsch der Deutschen. Es erfolgte keine Mobilisie-
rung kurz vor dem 9. April in Dänemark trotz in Kopenhagen bekannt
gewordener deutscher Truppenzusammenziehungen in den Ostseehäfen
wie Stettin und Swinemünde. Es wurde an diesem Tag nur symbolischer
Widerstand geleistet, bei dem 17 Dänen ihr Leben lassen mußten, »In den
12 LINDTNF.R, a a O . Seefestungen um Kopenhagen bekam die Mannschaft am 8. April Urlaub.«1"
(Anm. 4), S. 19. In diesem Zusammenhang ist auch die Reaktion der dänischen Kö-
nigsfamilie interessant. Am 9. April 1940 um 14 Uhr empfing König
CHRISTIAN in Anwesenheit des Ministerpräsidenten STAUNING den deut-
schen Gesandten in Dänemark VON R F . N T H E - F I N K und den deutschen
Militärbevollmächtigten Generalmajor H I M E R . Nach einem Telegramm
des Gesandten ins Reich gab der König »der Hoffnung Ausdruck, daß
ein gutes Verhältnis zwischen der dänischen Bevölkerung und den deut-
schen Soldaten zustande kommen werde. Ferner sagte der König, daß er
hoffe, sein Bataillon Garde behalten zu dürfen. Über die ungeheure
Schnelligkeit und Präzision der deutschen Truppen sprach der König
trotz seiner schmerzlichen Gefühle seine offene Bewunderung aus. Nach
der Audienz empfing uns die Königin, die ebenfalls ihrer Hoffnung auf
ein gutes Verhältnis zwischen der dänischen Bevölkerung und den Sol-
daten Ausdruck gab. In der Audienz bestärkte sich der Eindruck, daß es
das Bestreben des Königs und der Regierung war, den Willen zu einer
13 MATLOK, a a O . freundlichen und korrekten Haltung zu unterstreichen.«13
(Anm. 1), S. 217. Nach 1945 sollte dann alles ganz anders gewesen sein, und die gehei-
men Absprachen wurden verdrängt und verschwiegen. Am 1. Juni 1945
verabschiedete der dänische Reichstag das Gesetz Nr. 259, das rückwir-
kend rund 50000 Dänen, die mit der deutschen Besatzung zusammenge-
arbeitet hatten, zu Landesverrätern erklärte und zugleich in der Besatzungs-
zeit verantwortliche Politiker und Beamte entlastete. Daß alles hinter den
Kulissen abgesprochen war, die Regierung also praktisch Landesverrat be-
gangen hatte und die Dänen deswegen dann ziemlich gut durch den Krieg
kamen, wird aber heute verdrängt. Noch immer wird in Dänemark ver-
sucht, ein falsches Bild von den damaligen Vorgängen aufrechtzuerhalten.
Gegen den Dänen Jon GAI.STE ; .R, der sich jahrelang um die Aufklärung
dieser Vorgänge bemühte, mehrere Zeugen ausfindig machte und selbst
aufsuchte, wurden sogar die Gerichte bemüht, die parteiisch die Bestre-
bungen nach Unterdrückung der historischen Wahrheit unterstützten. In
seinem Buch schildert er auch diese Verfolgungen. Rolf Kosiek

274
Pétain wendet sich gegen Verräter

D er französische Admirai François D A R L A N ( 1 8 8 1 - 1 9 4 2 ) , der seit Juni


1939 Oberbefehlshaber der französischen Kriegsflotte war, förderte
zunächst unter der Vichy-Regierung die Zusammenarbeit mit Deutsch-
land. Er weigerte sich nach der französischen Kapitulation, die französi-
sche Kriegsflotte in britische Häfen zu überfuhren, woraufhin der Überfall
der Briten auf die französische
Flotte in Mers-el-Kebir am 3.
Juli 1940 erfolgte.1 Er wurde im
Februar 1941 als designierter
Nachfolger des greisen franzö-
sischen Staatspräsidenten Mar-
schall Philippe P É T A I N Innen-,
Außen- und Verteidigungsmi-
nister in Vichy und besuchte am
12. Mai 1941 H I T L E R in Berch-
tesgaden. Ab April 1942, als er
durch Rückberufung L A V A L s
seine politischen Amter verlor,
war er Oberbefehlshaber der
gesamten bewaffneten Macht
Frankreichs. Als die Anglo-
Amerikaner am 8. November
1942 bei Oran und Algier in
Nordafrika landeten, war er in
Oran, Nach zunächst tagelan-
gen Kämpfen zwischen Fran-
zosen und den Invasoren, wo-
bei die Briten wieder zahlreiche
französische Schiffe zerstörten,
ging DARLAN am 19. N o v e m -
ber mit den f r a n z ö s i s c h e n
Streitkräften in N o r d a f r i k a
nach Aushandlung eines Waf-
fenstillstandes in Algier zu den
Westmächten über und liefer-
Oben: Marschall PETAIN und Admiral DARLAN im Gespräch mit französi-
schen Arbeitern bei einer Reise in Südwestfrankreich im September
1 9 4 1 . Unten: DARLAN bei einem alliierten Festakt am 22. November
1 Beitrag Nr. 204, »Der englische 1 9 4 2 in Algier. Zu seiner Rechten steht General EISENHOWER, zu seiner
Überfall auf Mers-el-Kebir«. Linken Admiral CUNNINGHAM.

275
te diesen Nordafrika aus. Dabei behauptete er, daß er im (geheimen)
Auftrag PeTAlNs gehandelt habe.2 Doch das ist offenbar nicht richtig. Das
Informadonsministerium in Vichy und Marschall PeTAIN dementierten
sofort D A R J A N S Behauptung, der mit seinen großen Vollmachten viele gut-
gläubige Franzosen getäuscht habe, bis er am 24. Dezember 1942 in Algier
einem Attentat zum Opfer fiel.
Um jeden Zweifel auszuräumen, veröffentlichte PETAIN nach DARLÄNS
Ermordung noch einmal eine entsprechende Erklärung, in der es hieß:
»Alle ehrlosen Chefs, die Französisch-Afrika (übergeben) haben, haben
behauptet und fahren fort zu behaupten, daß sie in voller Übereinstim-
mung mit mir, ja sogar auf meine Anordnung hin handelten. Sie wagen
zu versichern, daß sie meine geheimsten Gedanken ausführten. Ihnen
setze ich das schärfste Dementi entgegen. Ich habe ihnen Befehl gege-
ben, jedem Angriff Widerstand zu leisten. Sie mußten kämpfen, und sie
hatten die Mittel dazu. Sie haben es nicht getan, und sie haben unter
Bruch ihres Wortes die Interessen Frankreichs geopfert. Mit Rücksicht
auf seine alten Regierungsämter hat Admiral D A R L A N trotz meines wie-
General Henri
derholten Bestreitens den Eindruck zu erwecken versucht, als übe er ein
GIRAUO,
legales Amt aus.
Bei General G I R A U D ist kein Zweifel möglich; er behauptet nicht und
kann es auch nicht behaupten, irgendeine legale Macht zu haben. Ich
verweigere ihm und allen, die unter seinem Befehl stehen, das Recht, in
meinem Namen zu sprechen und zu handeln.«1
Um dieselbe Zeit marschierten englische Truppen, die im Mai 1942
schon das französische Madagaskar erobert hatten, am 27. Dezember
1942 in Französisch-Somalia ein und besetzten damit einen weiteren Teil
des französischen Kolonialreiches, das noch zur Vichy-Regierung gehörte.
Über das Schicksal dieses Landes war vorher zwischen General H O P K I N -
SON, dem britischen Kommandierenden in Äthiopien, und dem stellver-
tretenden französischen Gouverneur von Somaliland verhandelt worden.
Bevor es zu einem Ergebnis gekommen war, erfolgte der englische Ein-
marsch in das schon vorher blockierte Land. Anscheinend wollten die
Briten damit einer bevorstehenden Invasion durch die USA und deren
Eroberung der französischen Kolonie Somalia zuvorkommen.4
Rolf Kosiek

2Christian ZENTNF.R U. Friedemann BEDÜRFTIG, Das große Lexikon des Zweiten


Weltkriegs, Südwest, München 1988, S. 136.
3 »Neue Erklärung Petains«, in: Stuttgarter Neues Tagblatt, 29, 12, 1942.
4 »Engländer besetzen Dschibuti«, in: ebenda.

276
Der >Greer<-Zwischenfall 1941 -
>Akt deutscher Piraterie<?

ls es zwischen den Vereinigten Staaten von Nordamerika und dem


A Deutschen Reich im Dezember 1941 zum Krieg kam, befanden sich
die Marinen beider Staaten bereits seit Monaten im Kriegszustand mit-
einander, Die Schuld dafür gab US-Präsident ROOSEVELT einseitig der
deutschen U-Boot-Führung, obwohl er selbst in Wirklichkeit prägende
Voraussetzungen dafür geschaffen hatte, daß der Konflikt unausweich-
lich wurde.1 Doch ROOSEVELTS Zuweisung war unbegründet, eher traf 1 Franklin Delano
das Gegenteil zu: US-Einheiten hatten zu schießen begonnen. ROOSEVELT, » K a -
Trotz der vom amerikanischen Kongreß beschlossenen Neutralitäts- mingesprache
politik hatte US-Präsident Franklin Delano ROOSEVELT nie einen Zweifel 1940/41«, in: The
public papers and
daran gelassen, daß Amerika an die Seite Englands gehöre. Bereits im
addresses, Vol. 1-13,
Herbst 1939 hatte er das Waffenembargo aufgehoben, um Fondon mit New York 1 9 3 8 -
Munition und Kriegsgerät versorgen zu können. Im Sommer 1940 Über- 1950.
heß er London 50 US-Zerstörer, damit die Briten ihre Versorgungskon-
vois sichern konnten. Im Frühjahr 1941 ermöglichte er England durch
das Pacht- und Leihgesetz Waffenkäufe ohne Bezahlung. Und im Som-
mer darauf verschob er die »panamerikanische Sicherheitszone< zunächst
um 300 Seemeilen, bald darauf um weitere 700 Seemeilen bis zum 30.
Grad westlicher Länge nach Osten.
Die deutsche Seekriegsleitung (SKL) beobachtete diese Entwicklung
mit großer Sorge, wurde doch damit ihren U-Booten und Überwasser-
Blockadebrechern der Zugang zum wesdichen Adantik verwehrt. Dar-
über hinaus mußte sie hinnehmen, daß ihre Schiffe von Fahrzeugen der
US-Navy so lange beschattet wurden, bis sie durch von diesen herbeige-
rufene britische Einheiten aufgebracht oder bekämpft werden konnten.
Das alles war von Neutralitätspolitik weit entfernt und wäre mithin schon
lange ein Kriegsgrund gewesen, wenn Berlin nicht alles daran gesetzt
hätte, um genau diesen Fall eines Kriegsgrundes mit den USA nicht ein-
treten zu lassen.
Ab Frühjahr 1941 nahm auch die militärische Planung und Zusam-
menarbeit zwischen der US-Marine und der britischen Royal Navy im-
mer engere Gestalt an. In der »westlichen Hemisphäre* begannen jetzt
US-Geleitschiffe die britischen Konvois zu sichern und die Seegebiete
gegen deutsche Handelsstörer zu überwachen. Zwar war den US-Kriegs-
schiffen die Bekämpfung deutscher Blockadebrecher noch immer nicht
freigegeben, doch wurde ihnen im Falle, daß sie sich angegriffen fühlten,
ein sehr weit gehendes Selbstverteidigungsrecht eingeräumt.

277
Am 7. Juli 1941 übernahmen amerikanische Truppen das von den Eng-
ländern vorher besetzte, seestrategisch wichtige Island und dehnten ihre
>Sicherheitszone< bis ins Nordmeer aus, um auch dort den deutschen Blok-
kadebrechern den Zugang zum Atlantik zu verwehren. Gegenüber die-
ser in Amerika >short of war< genannten Politik R O O S E V E L T S hielt sich die
deutsche Marine mit großer Selbstbeherrschung zurück, obgleich ihr die
Bekämpfung britischer Geleitzüge erschwert und ihr eigenes Risiko be-
trächtlich erhöht wurde.
Jetzt konnten kaum noch Zweifel daran bestehen, daß alle marine-
technischen Maßnahmen Washingtons darauf angelegt waren, zum
nächstmöglichen Zeitpunkt mit dem Deutschen Reich in Konflikt zu
geraten. Ein Beinahe-Zwischenfall, der direkt darauf hinwies, wurde be-
reits am 10. April 1941 gemeldet, als der US-Zerstörer >Niblack< unter
dem Kommandanten Lieutenant-Commander E. R. D U R G I N ein Unter-
wasserziel jagte, das er irrtümlich für ein deutsches U-Boot hielt und mit
Wasserbomben angriff.
Dennoch verschärfte die
deutsche Seekriegsleitung
ihre Einschränkungen für
die U-Boote, und mit Be-
fehl vom 21. Juni 1941
durften sie nicht einmal
mehr ihre ärgsten Feinde,
die britischen Zerstörer,
angreifen, wenn diese in
Konvoi kämpfe verwickelt
waren, hatte sich doch ge-
zeigt, daß es bei schlechter
Sicht fast unmöglich war,
britische und amerikani-
sche Zerstörer auseinan-

Das Zusammentreffen R O O S E -
WLT-CHURCHILL an Bord der
iAugusta< am 8. August
1941 und die dort drei Tage
später unterzeichnete »At-
lantik-Charta« bedeuteten
den inoffiziellen Einstieg der
US-Amerikaner in die Atlan-
tik-Schlacht. Hier überreicht
C H U R C H I L L R O O S E E V E L T einen

Brief König G E O R G E S VI.

278
Der US-Zerstörer
>Greer<,

derzuhalten, wenn sie gemeinsam zum Schutz von Geleitzügen einge-


setzt waren.
Doch nicht nur auf den Konvoikampf wirkte sich das Eingreifen der
Amerikaner aus. Die Dänemarkstraße zwischen Island und Grönland, schon
im Ersten Weltkrieg das Ausfalltor der deutschen Uberwasser-Blockade-
brecher in den freien Atlantik, wurde auf Befehl der US-Atlantik-Flotte
vom 1. September 1941 von amerikanischen Schlachtschiffen, Kreuzern
und Zerstörern bewacht. Von jetzt an war damit zu rechnen, daß ihre
Seestreitkräfte auch schießen würden, wenn ihnen ein deutsches Schiff
vor die Rohre kam. Im Verständnis der deutschen Seekriegsleitung be-
deutete diese US-Maßnahme »eine so starke Beeinträchtigung des atlan-
tischen Zufuhrkrieges, daß unsere U-Boote entweder die Genehmigung
zum Angriff erhalten oder vom Atlantik abgezogen werden müssen«.
Doch eine Entscheidung des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht, 2 Cajus BEKKER,
HITLER, an den die Aufforderung der Seekriegsleitung gerichtet war, blieb Verdammte See,
bis auf weiteres aus." So grenzte es fast an ein Wunder, daß ernste Zwi- Stalling, Oldenburg
schenfälle bis zum Zeitpunkt des offiziellen Ausbruchs der Feindselig- 1971, S. 297 ff.
keiten am 11. Dezember 1941 vermieden werden konnten — allerdings
mit der folgenden Ausnahme:
Am frühen Morgen des 4. September 1941 stand ein deutsches U-
Boot-Rudel im Seegebiet südwestlich von Island bereit, um auf einen
britischen Konvoi angesetzt zu werden. Ein Boot davon war >U 652<
unter dem Kommandanten Oberleutnant zur See Georg W. FRAATZ. Um
8 Uhr 40 mußte U-652 vor einem feindlichen U-Jagdflugzeug wegtau-
chen. Eine Stunde später wurde es von einem Zerstörer unter Wasser
geortet und verfolgt, Verfolger war der US-Zerstörer >Greer< unter dem
Kommando von Lieutenant-Commander FROST, der sich auf dem Marsch
nach Island befand. FROST hatte die U-Boot-Ortung des britischen Flie-
gers aufgenommen, seinen Kurs auf die angegebene Position ausgerich-

279
tet und mit Hilfe seines Asdik-Gerätes den unsichtbaren Deutschen auf-
gespürt. Die >Greer< durfte zwar nicht selber angreifen, funkte aber ihre
Ortungswerte auf einer Welle, die von der bridschen U-Jagdleitung mit-
gehört wurde. Um 10 Uhr 32 stieß ein britisches U-Jagdflugzeug aus den
Wolken herab und warf Wasserbomben mit Tiefeneinstellung auf die
bezeichnete Position des U-Bootes. Oberleutnant F R A A T Z konnte nicht
wissen, daß es Flugzeugbomben waren, die sein Boot durchschüttelten,
und glaubte sich von dem US-Zerstörer angegriffen, der ihn seit fast
zwei Stunden hartnäckig verfolgte. Er beschloß daher, sich bei der ersten
Gelegenheit zur Wehr zu setzen. Um 12 Uhr 40 ging er auf Seerohrtiefe,
erblickte den Zerstörer in Schußposition und feuerte einen Torpedo-
Zweierfächer auf ihn ab. US-Lieutenant-Commander F R O S T wußte dem
geschickt auszuweichen und griff nun seinerseits den unsichtbaren Feind
mit Wasserbomben an. Zwar blieb der Waffeneinsatz beider Komman-
danten ohne Wirkung und gelang es >U 652<, sich der Verfolgung durch
die >Greer< zu entziehen, doch da beide Seiten ihre Feindberührung mel-
deten, ging die Kunde von diesem Zwischenfall um die Welt.3
Eine Woche darauf, am 11. September 1941, verurteilte Präsident
R O O S R V F J . T in einer öffentlichen Rede die Handlungsweise der deutschen
U-Boot-Führung »rechtlich und moralisch als Piraterie« und verlangte
eine »aktive Abwehr«. Marineminister K N O X gab daraufhin der US-Navy
den Befehl, die »Überwasser- und Unterwasserpiraten mit allen verfüg-
baren Mitteln aufzubringen oder zu zerstören«. - »Seit dem 4. Septem-
ber 1941«, so lautet die Feststellung des US-Historikers Samuel E. M O R I -
SON, »bestand im Atlantik de facto zwischen den Vereinigten Staaten und
Deutschland der Kriegszustand«, und damit mehr als ein Vierteljahr vor
der eigentlichen Kriegserklärung. 4
R O O S E V E L T S Eintreten für London beendete eine lange Zitterpartie
für Winston C H U R C H I L L , dessen größtes Bestreben es war, die USA auf
seiner Seite in den Krieg zu ziehen. Nach seinem Urteil hat das Verhalten
R O O S E V E L T S den Wendepunkt des Seekrieges und darüber hinaus des
gesamten Krieges herbeigeführt. Jetzt war vor aller Welt erwiesen, daß
Amerika mit seinem riesigen Finanz- und Wirtschaftspotential, seiner
Luftwaffe, seiner Armee und vor allem mit seiner Marine hinter Groß-
britannien stand und auch in Zukunft stehen würde, einem Britannien,
das — wie C H U R C H I L L zweifellos wußte — nicht in der Lage war, den Krieg
gegen Deutschland allein durchzustehen.'' Andreas Naumann

3 Michael SALEWSÖ, Die Deutsche Seekriegsleitung 1935-1945, Bernard u. Graefc,


Frankfurt/M.-München 1970, S. 245 ff.
4 Samuel E . MORISON, History of the United States Naval Operations in World War II,

University of Illinois Press, 15 Bde., 1947-1962, hier: Bd. 1.

280
Als Stalin 1939 die Maske fallen ließ

m 19. August 1939 hat S T A U N vor dem Polit-Büro eine Rede gehal-
A ten, die seine Kriegsabsicht schlagarüg enthüllt und geradewegs zum
S T AI,IN - HitleR - Pak t geführt hat, der den Konflikt mit Polen und damit
den Zweiten Weltkrieg auslöste. Noch heute leugnet die Zeithistorie, daß
dieser Wordaut dem Text entsprach, der im September 1939 von der
französischen Nachrichtenagentur Havas abgedruckt und bald darauf in
dem bekannten Prawda-Interview vom 30. November 1939 unter dem
Titel »Das sind die Fakten« von STALIN selbst dementiert worden war. In
der Sowjetunion verschwand die Rede als Geheimpapier in den Archiven
und wurde erst nach dem Zerfall der UdSSR von der Historikerin T. S.
BUSCHUJEWA in einem Sonderarchiv der UdSSR wiederentdeckt. 1 Der sen-
sationelle Fund wurde in dem Moskauer Magazin Nowij Mir im Dezem-
ber 1994 veröffentlicht.2 Deutsche Historiker, darunter Eberhard J A C K E L ,
glaubten an eine »billige antikommunistische Fälschung«, 1 und lange hat
man nicht nur die Echtheit der Rede bestritten, sondern auch in Frage
gesteht, ob die Politbürositzung, auf der sie gehalten wurde, tatsächlich
stattgefunden habe. Das galt, bis STALIN-Biograph Dimitrij V O L K O G O -
NOW beides, die Sitzung vom 19. August 1939 ebenso wie die S T A L I N -
Rede, zu bestätigen vermochte, wie Wolfgang S T R A U S S und Viktor Suwo-
ROW uns mitteilen."1 Neben russischen Militärhistorikern wie S U W O R Ö W STALIN-Biograph
bezweifelt neuerdings auch der Historiker Stefan SCHEIL, daß es sich bei Dimitrij V O L K O G O N O W ,
der Rede um eine Fälschung handelt.5
Alle Mitglieder des Politbüros waren versammelt, als STALIN am 1 9 .
August 1939 zur polnischen Krise Stellung nahm: »Frieden oder Krieg?
Diese Frage ist in ihre kritische Phase getreten. Ihre Lösung hangt von
der Position ab, welche die Sowjetunion einnehmen wird. Wir sind abso-
lut überzeugt, daß, wenn wir ein Beistandsabkommen mit Frankreich
1 jetzt >Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Sammlungen«,
Moskau, Registr.Nr. 7/1/1223.
- Magazin NowijMir, Nr. 12, Jahrgang 1994, S. 232 ff.
3 Eberhard JACKEL, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Oktober 1958, Nr. 4, S. 381

ff., unter Bezugnahme auf die in Genf erschienene Revue de droit international,
Nr. 3, Juli/Sept. 1939, S. 247 ff.; Die Welt, 31. 8. 1996.
4 Wolfgang STRAUSS, Unternehmen Barbarossa und der russische Historikerstreit, Her-

big, München 1998, S. 92 ff.; siehe auch Staatsbriefe, 2. 3. 1995.


5 Stefan SCHEIL, Fünf plus Zwei, Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und

die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, Duncker u. Humblot, Berlin 2 2004, S. 141;
Viktor SUWOROW, Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül, Klett-Cotta, Stuttgart
2 1989, S. 62 f.

281
und England schließen, Deutschland sich gezwungen sehen wird, Polen
gegenüber zurückzuweichen und einen modus vivendi mit den Westmäch-
ten zu suchen. Auf diese Weise könnte ein Krieg vermieden werden. ..
Andererseits, wenn wir die Vorschläge Deutschlands annehmen und
einen Nichtangriffspakt abschließen, dann wird Deutschland sicherlich
Polen angreifen, und eine Intervention in diesem Krieg von Seiten Eng-
lands und Frankreichs wird unausweichlich. Unter diesen Umständen
haben wir große Chancen, uns aus dem Konflikt herauszuhalten, und
können gespannt unseren Zeitpunkt abwarten. Das ist genau das, was in
unserem Interesse liegt.
Es ist nicht schwierig, die Entwicklung vorherzusagen, wenn wir uns
in dieser Weise verhalten. Für uns ist klar, daß Polen ausgelöscht sein
wird, ehe England und Frankreich Maßnahmen treffen können, um Po-
len zu Hilfe zu kommen. In diesem Fall übergibt Deutschland uns einen
Teil Polens, bis in die Gegend von Warschau und auch das ukrainische
Galizien. . . Daher müssen wir die Möglichkeiten abschätzen, die sich
aus einer Niederlage oder einem Sieg Deutschlands ergeben können.
Prüfen wir den Fall einer deutschen Niederlage: England und Frank-
reich sind stark genug, um Berlin zu erobern und Deutschland zu zerstö-
ren, und wir sind nicht in der Lage, in diesem Fall wirksam einzugreifen.
Jedoch unser Ziel muß sein, daß Deutschland den Krieg so lange wie
Kesselwagen auf dem
Verschiebebahnhof in
möglich führen kann, bis England und Frankreich ermüdet und so weit
Przemysl. Tatsächlich geschwächt sind, daß sie nicht mehr in der Lage sind, Deutschland allein
kam es nach der zu schlagen.
Unterzeichnung des Was unsere Lage betrifft: Indem wir neutral bleiben, unterstützen wir
MOLOTOW-RIBBENTROP-
Deutschland wirtschaftlich durch die Lieferung von Rohstoffen und Nah-
Paktes zu der von
S T A U N angedachten

wirtschaftlichen Un-
terstützung Deutsch-
lands vor allem in
Form von Rohstofflie-
ferungen. Deutsch-
land bezog die zur
Fortsetzung des Krie-
ges benötigten Güter
sowohl aus der
UdSSR als auch aus
dem Fernen Osten
(durch Transit). Aus:
Helmuth Günther
DAHMS, DerZweite
Weltkrieg in Text und
Bild, Herbig, Mün-
chen s 1999.

282
rungsmitteln; aber wir werden dafür Sorge tragen, daß die Hilfe nicht
eine bestimmte Grenze überschreitet, sie darf also nicht unsere eigene
wirtschaftliche Situation erschweren und die Schlagkraft unserer Armee
schwächen.. .
Prüfen wir nun die zweite Hypothese, nämlich einen Sieg Deutsch-
lands: Einige sind der Ansicht, daß diese Möglichkeit für uns die größte
Gefahr bedeuten würde. Es ist klar, daß darin viel Wahrheit steckt. Aber
es ist ein Irrtum anzunehmen, daß diese Gefahr schon so nahe und groß
wäre, wie manche glauben. Wenn Deutschland siegt, dann wird es so
geschwächt sein, daß es während der nächsten zehn Jahre keinen Krieg
gegen uns führen kann. Sein Bestreben wird sein, England und Frank-
reich so zu entkräften, daß sie sich nicht mehr erheben können. Anderer-
seits wird ein siegreiches Deutschland über Kolonien verfügen, deren
Anpassung mit germanischen Methoden Deutschland für Jahrzehnte be-
schäftigen wird. Es ist offenkundig, daß Deutschland zu stark in An-
spruch genommen sein wird, um sich gegen uns zu wenden.
Es gibt darüber hinaus einen Faktor, der unsere Sicherheit garantiert.
In einem besiegten Frankreich wird die kommunistische Partei zu einer
starken Kraft anwachsen, unausweichlich vollzieht sich dann die kom-
munistische Revolution. Diesen Umstand können wir ausnutzen, indem
wir Frankreich zu Hilfe kommen und es zu unserem Verbündeten ma-
chen. Später werden alle Völker, die unter den >Schutz< des siegreichen
Deutschlands fielen, unsere Verbündeten.
Genossen, im Interesse der Sowjetunion, des Vaterlandes der Werktä-
tigen, hegt es, daß der Krieg zwischen dem Deutschen Reich und dem
kapitalistischen anglo-französischen Block ausbricht. Es ist entscheidend
für uns, daß dieser Krieg so lange wie möglich andauert, bis zur Erschöp-
fung beider Seiten. Das sind die Gründe, weshalb wir den von Deutsch-
land vorgeschlagenen Vertrag annehmen und alles dafür tun müssen, daß
dieser Krieg, ist er erst einmal erklärt, so lange wie möglich dauert. Wir
müssen unsererseits unsere Wirtschaft verstärken, so daß wir am Ende
des Krieges gut vorbereitet sind.«6
Nach Viktor S U W O R D W erließ S T A L I N noch am selben Tag die Befehle für
die Aufstellung »Dutzender neuer Divisionen und Korps«." S U W O R Ö W über-
mittelt uns auch den Havas-Text, den S T A L I N am 30. November 1939 mit
folgenden Worten ins Reich der Lügenmärchen verbannt hat:

6 SUWOROW, ebenda, S . 62 ff.; dazu auch Andreas NAUMANN, Freispruchfür die Deut-
sche Wehrmacht. Unternehmen Barbarossa* erneut auf dem Prüfstand, Grabert, Tübin-
gen 2005, S. 213 ff., und ders., Das Reich im Kreuzfeuer der Weltmächte, Grabert,
Tübingen 2006, S. 197 ff.
1Viktor SUWOROV, aaO. (Anm, 5); ders., Der Tag M, Klett-Cotta, Stuttgart 1995.

283
»Diese Meldung der Agentur Havas ist wie viele andere ein Lügenge-
schwätz. . . Aber wie sehr diese Herrschaften auch lügen mögen, so kön-
nen sie doch nicht in Abrede stehen,
a. daß nicht Deutschland Frankreich und England angegriffen hat. ..
b. daß Deutschland... Frankreich und England Friedensvorschläge
unterbreitet hat. . .
c. daß die herrschenden Kreise Englands und Frankreichs in brüsker
Form sowohl die Friedensvorschläge Deutschlands wie auch die Versu-
che der Sowjetunion, eine schnellstmögliche Beendigung des Krieges zu
erreichen, abgelehnt haben. Das sind Tatsachen. I . S T A U N . «
Viktor S U W O R O W meint dazu: »Es ist ungemein wichtig zu wissen, was
S T A U N auf der Sitzung des Politbüros am 19. August 1939 gesagt hat.
Aber selbst wenn wir dies nicht durch die Havas-Meldung erfahren hät-
ten, sehen wir doch seine Taten. Bereits vier Tage nach der Sitzung des
Politbüros im Kreml erfolgt die Unterzeichnung des MoLoTOW-RibbEN-
TROP-Paktes. . . Nikita C H R U S C H T S C H O W berichtet in seinen Memoiren von
S T A L I N S Freudenschrei nach der Unterzeichnung des Vertrages: »>Ich habe
I I I T L E R hinters Licht geführt!«.. . Schon zwei Wochen danach hatte Hrr-
LER den Zweifrontenkrieg. . . (gemeint ist der Krieg mit Polen und der
von Hm .ER gefürchtete Konflikt mit den Westmächten, A. N.) Mit ande-
ren Worten: Am 23. August 1939 hatte S T A L I N den Zweiten Weltkrieg
gewonnen, noch ehe H I T L E R ihn begann.«8
Auf der Grundlage der Veröffentlichung von S T A L I N S Rede im Nowij
Mir eröffneten Historiker der Universität Nowosibirsk eine Untersuchung
der gesamten Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, ihre Forschungs-
ergebnisse erschienen am 16. April 1995 unter der Überschrift »Erster
September 1939 bis neunter Mai 1945«'; aus Anlaß des 50. Jahrestages
der Vernichtung des »faschistischen Deutschlands«. W L . D O R O S C H E N K O ,
einer der Verfasser der Nowosibirsker Publikation, bemerkt dazu: »Das
Wichtigste an unserer Arbeit ist die Anerkennung der Tatsache, daß STALIN
selbst auf die Anklagebank in Nürnberg gehört hätte, er, sein kommuni-
stisches Regime und sein Staat, die UdSSR. Denn der Hauptschuldige an
der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges heißt S T A U N . «
Viktor S U W O R O W weist übrigens darauf hin, daß in S T A L I N S Werken
auch seine Geheimreden, darunter die oben zitierte, enthalten sind, her-
ausgegeben 1949—1951. Andreas Naumann

" SUWOROW, aaO. (Anm. 5 ) , S . 6 3 ff.; Nikita CHRUSCHTSCHOW, Erinnerungen, Bd. 2 ,


New York 1981, S. 69.
9 Erster September 1939 bis 9. Mai 1945, Untersuchungen der Vorgeschichte des Zweiten
Weltkrieges, Materialien des Wissenschaftlichen Seminars Nowosibirsk.

284
Was führte Stalin 1939-1941 wirklich im Schilde?

ollte S T A L I N Deutschland und Westeuropa 1941 mit einem Angriffs-


W krieg überziehen? Das Beweismaterial dafür ist erdrückend. Wäh-
rend eine ständig wachsende Anzahl von Revisionisten sich der Wahrheit
nicht mehr verschließt, beharrt die etablierte Wissenschaft weiterhin auf
dem Bild der >friedliebenden Sowjetunion< die von HITI.F.R überfallen
worden sei. Ihre Vertreter meinen, S T A L I N S Angriffsabsicht sei nicht nur
unbeweisbar, sondern nach damaliger Lage der Dinge auch unwahrschein-
lich. Der Diktator habe im Jahre 1941 nicht wie H I T L E R mit dem Rücken
zur Wand gestanden, sondern genügend Alternativen zur Auswahl ge-
habt.1 Da Zeitzeugen heute nicht mehr leben und auch beweiskräftige
Dokumente unauffindbar sind, bleibt dem Historiker nur die Beweisfüh-
rung aufgrund einschlägiger Indizien. Indizien aber sind für die Justiz ein
durchaus anerkanntes Hilfsmittel, wenn daraus ein Sachverhalt hervor-
geht, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als zutreffend
angenommen werden kann.
Daß Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind, bedarf keiner besonderen
Erwähnung. Das jüngste damalige Politbüromitglied, Lawrend Pawlo-
witsch B E R I J A , war 1 9 3 9 bereits 4 0 Jahre alt. Seitdem sind 6 8 Jahre ins
Was führte STALIN
wirklich im Schilde?
Hier steht er am 1.
Mai 1941, also genau
vier Tage vor seiner
geheimen Ansprache
vor Absolventen der
Militärakademie auf
der Tribüne des L E N I N -
Mausoleums. Neben
ihm, von links: Ceor-
gi D I M I T R O E F , Kliment
W O R O S C H I L O W , Andrej

A N D R E I E W und Wjat-

scheslaw M O L O T O W .

1 Sally W. STOKCKER, »Tönerner Koloß ohne Kopf; Stalinismus und Rote Ar-

mee«, in: Bianka PIETROW-ENNKER (Hg.), Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf
die Sowjetunion, Fischer, Frankfurt/M. 2 0 0 0 ; ferner Juri G O R K O W dortselbst, » 2 2 .
Juni 1941: Verteidigung oder Angriff? Recherchen aus russischen Zentralarchi-
ven«; sowie die weiteren Artikel von Jürgen FÖRSTER, Lew A. BESYMENSKI, Bernd
BONWEISCH und Benno ENNKER dortselbst.

285
Land gegangen. Daß aber STALIN nach dem Krieg alle verdächtigen Do-
kumente verschwinden ließ, wissen wir von Viktor SUWOROW und seinen
russischen Historikerkollegen.2

Die Indizien
1. Stalins Ansprachen: Auf der Suche nach Indizien liegt es nahe,
STALINS Reden auf einschlägige Aussagen zu überprüfen. Doch Diktato-
ren werden ihre Absichten kaum öffentlich kundtun, weshalb Vorsicht
geboten ist. Dennoch gibt es eindeutige Fundstellen:
> STALINS Geheimrede vor den Mitgliedern des Politbüros am 19.
August 1939,
^ die Rede STALINS vor den Akademie-Absolventen im Georgs-Saal
des Kreml vom 5. Mai 1941,
> ebenso die Rede selbigen Datums vor einem Kreis ausgesuchter
höherer Offiziere bei einem Kreml-Bankett.
Die erstgenannte Rede wurde kurz nach Kriegsbeginn 1939 von der fran-
zösischen Havas-Agentur veröffentlicht und bald darauf mit STALINS be-
rühmtem Interview vom 30. November 1939 von diesem selbst demen-
tiert. Während die etablierte Wissenschaft dem Dementi heute noch
Glauben schenkt, wird dies von zahlreichen Historikern bezweifelt, so
unter anderen von Viktor S U W O R O W , David IRVING, Joachim HOLTMANN,
Stefan S C H E I L und Walter P O S T . 3
Zu den beiden letztgenannten Ansprachen bringt unter anderen Da-
vid IRVING eine Wiedergabe von STALINS Ausführungen: »Sehr ausführ-
lich erklärte er die Vorbereitungen auf den kommenden Krieg gegen
Deutschland.« Zur Bewaffnung kämen die neuen Panzer typ en KW I und
KW II hinzu. »Das sind ausgezeichnete Panzer, deren Panzerung 76 mm-
Geschossen standhält.. . Heute haben wir bis zu hundert Panzer- und
motorisierte Divisionen.. . Der Plan des Krieges ist bei uns fertig, die
Flugplätze sind gebaut. . . Flugzeuge der 1. Linie befinden sich bereits
dort. . . Im Laufe der nächsten zwei Monate können wir den Kampf mit
Deutschland beginnen.«4 Diese Angaben decken sich mit zahlreichen Aus-
2 Viktor SUWOROW, Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül, Klett-Cotta, Stuttgart
31989, S. 422; ders., Stalins verhinderter Erstschlag. Hitler erstickt die Weltrevolution,
Pour le Mérite, Selent 2000, S. 211.
3 SUWOROW, Der Eisbrecher, ebenda, S . 6 3 ff.; Nikita CHRUSCHTSCHOW, Erinnerun-

gen, Bd. 2, New York 1981, S. 69.


4 Vielfach veröffentlicht, so u. a. bei David IRVING, Hitlers Krieg, S . 2 9 3 ; Joachim
HOFFMANN, Stalins Vernichtungskrieg, Verlag für Wehrwissenschaften, München
1 9 9 5 , S . 2 8 ff.; Viktor SUWOROW, Stalins verhinderter Erstschlag, aaO. (Anm. 2 ) , S . 3 2 5 ;
sowie Wehrmachtakten beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam.

286
sagen von den Deutschen gefangener Sowjetoffiziere, die die Reden selbst
gehört haben.5
2. Der Aufmarschplan der Roten Armee: Überlegungen, STALIN
könne Vorbereitungen für einen Präventivschlag getroffen haben, erfuh-
ren neue Brisanz, als Oberst Wladimir K A R P O W in der Zeitschrift des
russischen Generalstabs eine aufsehenerregende Veröffentlichung machte.
Es ging um eines der geheimsten Papiere der Sowjetunion. Werner MA-
SER berichtet in seinem Buch Der Wortbrucb ausführlich darüber. Die Rede
ist von dem strategischen Aufmarschplan der Roten Armee für einen
Krieg gegen Deutschland und seine Verbündeten vom 15. Mai 1941.
Hier handelt es sich um ein alljährlich fortgeschriebenes Organisations-
papier des sowjetischen Generalstabs zum Truppenaufmarsch im Kriegs-
fall, das aber durch bestimmte hochaktuelle Formulierungen speziell auf
das fahr 1941 Bezug nimmt und daher als ein ernst zu nehmender Indi-
kator für sowjetische Angriffabsichten im Sommer oder Herbst 194Î
anzusehen ist.6
3. Der Wechsel Stalins ins Lager der Alliierten: Im Frühsommer
1941 gab es erste Hinweise für einen bevorstehenden Lagerwechsel STA-
LINS im Zusammenhang mit der Entsendung des britischen Sonderbot-
schafters Sir Stafford GRIPPS nach Moskau, die sich bald darauf bestätigten.
Bereits der Offiziersputsch in Belgrad zu Beginn der jugoslawisch-grie-
chischen Balkankrise vom 27, März 1941, die zum deutschen Einmarsch
auf dem Balkan führte, geschah im Zeichen der britisch-sowjetischen
Geheimdiplomatie."
Die Annexion der baltischen Staaten: M O L O T O W S ultimative For-
4.
derungen an die Regierungen der baltischen Staaten hatten am 28. Sep-
tember mit Estland, am 5. Oktober mit Lettland und am 10. Oktober
1939 mit Litauen zu weitgehenden Eingriffen in die Souveränität dieser
Staaten geführt, die im Juni 1940 zum Einmarsch sowjetischer Truppen,
S HOFFMANN, ebenda, S. 27.
6Werner MASER, Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg, Olzog, Mün-
chen 1994. Näheres dazu bei Andreas NAUMANN, Das Reich im Kreuzfeuer der Welt-
mächte, Stationen der Einkreisung, Grabert, Tübingen 2006, S. 309 ff.; ebenso in:
ders., Ereispruch für die Deutsche Wehrmacht. >Unternehmen Barbarossa< erneutauf dem
Prüfstand, Grabert, Tübingen 2005, S. 170 ff.; Viktor SUWOROW, Marschall Schu-
kow, Pour le Mérite, Selent 2002, S. 73 ff.; Viktor SUWOROW, Erstschlag, aaO. (Anm.
2), Anhang 1,S. 315 ff.
Walter POST, >Unternehmen Barbarossa<— deutsche undsonjetische Angriffspläne 1940/
41, Mittler u. Sohn, Hamburg 1 9 9 6 , S . 1 5 1 ; siehe auch: LANGER und S . E. G L E A -
SON, The Challange to Isolation, New York 1 9 5 2 , S . 6 3 9 f.; Ernst TOPITSCH, Stalins
Krieg, Busse-Seewald, Herford 1 9 9 0 , S . 1 4 6 ff.; NAUMANN, aaO. (Anm. 6 ) , S . 2 2 7 ff.

287
zur Besetzung der vorgenannten Länder und damit zum unbehinderten
Zugang der Sowjets an die Ostsee führten. Die baltischen Häfen waren
jetzt im Besitz der Rotbanner-Flotte. Mit diesem Vorgehen wurden wich-
tige deutsche Sicherheitsinteressen verletzt, unter anderem auch durch
die sowjetische Besetzung des litauischen Erdöl-Gebietes um Mariam-
8Walter POST, pol, das dem Reich zugesprochen war."
ebenda, S. 146 ff.
5 . Die Erpressung Rumäniens durch die Sowjets: Um H I T L E R S
Möglichkeiten einzuschränken, gab es für S T A U N ein vorzügliches Mittel,
denn der neuralgische Punkt des Reiches war die Rohstoffversorgung.
Berlin war dringend auf rumänisches Erdöl angewiesen. Durch Druck
auf Bukarest versuchte S T A U N , das Reich von den Rohstoffquellen abzu-
schneiden, So ließ er am 23. Juni 1940 seinen Außenminister M O L O T O W
erklären, die Bcssarabienfrage sei Teil der geheimen Abmachungen vom
23. August 1939 und ihr Aufschub dulde keine Lösung.1' Jetzt setzte sich
'' Akten zur deutschen in Berlin die Erkenntnis durch, daß Moskaus Ziele weiter gesteckt waren,
Außenpolitik als man bisher vermutet hatte. Und am 26. Juni 1940 übergab M O L O T O W
(ADA?) DX, Nr. dem rumänischen Botschafter ein Ultimatum, in dem die Abtretung Bess-
20; Viktor SUWO- arabiens innerhalb von zwei Tagen gefordert wurde. Auf Anraten HIT-
ROW, Marschall LERS, der sich zur Abhilfe nicht in der Lage sah, nahm König C A R O L von
Schukow, aaO. (Anm. Rumänien das Ultimatum an, und die Rote Armee rückte in Bessarabien
6), S. 53 ff.; N A U -
ein. Damit befand sie sich nur noch rund 120 Kilometer vor den rumäni-
MANN, Freisprach,
aaO. (Anm. 6), schen Erdölquellen, was Berlin als konkrete Bedrohung empfinden muß-
S. 224. te.9

Die Karte (aus Suwo-


ROWS Eisbrecher) zeigt
- Stand Juni 1941
daß die rumänischen
Ölfelder einer der
neuralgischen Punkte
des Dritten Reichs
waren. Viktor Suwo-
ROW zufolge war die
Sowjetunion aus die-
sem Grund darauf
vorbereitet, ihren
Hauptschlag gegen
Rumänien zu führen.

288
6. Der Offiziersputsch in
Belgrad: Beim Belgrader Of-
fiziersputsch zu Beginn der ju-
goslawisch-griechischen Bal-
kankrise am 27. März 1941
zeigten sich die ersten Früchte
der britisch-sowjetischen Ge-
heimdiplomatie. H I T L E R , der
das sowjetische Doppelspiel
durchschaute, begann jetzt die
Karten auf dem Balkan neu zu
mischen. So hatte er sich am 28.
November 1940 in einem Tref-
fen mit dem jugoslawischen
Außenminister bemüht, das
Land für den Beitritt zum Drei-
Mächte-Pakt zu gewinnen. Das
führte dazu, daß der Kronrat
am 18, März 1941 den Beitritt
beschloß, der sechs Tage dar-
auf unterzeichnet wurde. STA-
LIN, dem jetzt alles daran lag,
HITLER Knüppel zwischen die Beine zu werfen, hatte inzwischen Mar- Kaum war Jugoslawien
schall SCHUKOW beauftragt, zusammen mit dem jugoslawischen General dem Dreimachtepakt
SIMOVK: einen Offiziersputsch zu organisieren, der am 27. März 1941 in am 25. März 1941
Belgrad in Szene ging und zur Verhaftung der Regierung führte. C H U R - beigetreten, wurde die
Regierung in Belgrad -
CHILL von Moskau im voraus unterrichtet, beeilte sich, die förmliche
vermutlich durch
Anerkennung der neuen Regierung anzukündigen und SIMOVICS Ernen- einen von Moskau aus
nung zum Ministerpräsidenten zu bestätigen. Damit trat das sowjetisch- gesteuerten Vorgang -
britische Zusammenspiel offen zutage. Hier handelte es sich um einen zwei Tage später
Akt des Kremls gegenüber Berlin, der nicht anders als feindlich bezeich- gestürzt.
net werden konnte. Er diente als Vorspiel für eine Flankenoperation zur
geplanten sowjetischen Offensive gegen Rumänien, bei der London und
Moskau erstmals zusammenarbeiteten, weshalb H I T L E R nicht anstand,
den deutschen Angriff auf Jugoslawien und Griechenland zu befehlen.
Doch der Balkankrieg, der am 6. April 1941 begann, von dem STALIN
erwartet hatte, daß er die Wehrmacht für den Rest des Jahres beschäftigen
würde, dauerte gerade einmal zehn Tage, dann beschloß die jugoslawische
Regierung die Kapitulation.10
10 POST, aaO. (Anm. 7), S. 187 u. 363 (Vernehmung von Reichsmarsch all Her-

mann GÖRINc, in Nürnberg); Winston CHURCHILL, Der Zweite Weltkrieg, Bd. I I I ,


1, S. 46 f.

289
Jugendliche Fall-
schirmspringer bei
der Ausbildung in ei-
nem der vielen Fall-
schirmspringer-Verei-
ne. S T A U N ließ über
eine Million
Fallschirmspringer
ausbilden. Außerdem
ließ er ein zweisitzi-
ges Flugzeug (R-5)
zum Transport von je
16 Fallschirmjägern
entwickeln, was in
einem Verteidigungs-
krieg wenig Sinn
macht. Aus: Viktor
S U W O R O W , Der Eisbre-

cher, Stuttgart 5 1990.

11 NAUMANN, 7 . Die doppelspurigen sowjetischen Eisenbahnen: Walter P O S T


Freispruch, aaO. berichtet von einem im Westen bislang unbekannten Kapitel sowjeti-
(Anm. 6), S . 241; scher Kriegsvorbereitungen. Der Kreml hatte befohlen, den Eisenbahn-
POST, ebenda,
park so auszurichten, daß er bei Bedarf auf europäische Spurweite um-
S. 3 6 6 ff.
gestellt werden konnte. Der Zweck dieser Technik lag ausschließlich im
12 M . TUCHATSCHEW-
militärischen Bereich, nämlich, um im Fall eines Angriffskrieges in Euro-
SKI, Die Rote Armee
und die Miliz, Fran- pa beweglich zu sein. 11
kes, Leipzig 1921, 8. Schwerpunkt der Ausbildung der Roten Armee war der An-
S. 5; S. I. GUSJEW, griff: Die sowjetische Militärtheorie betrachtete den Angriff als die Haupt-
Der Bürgerkrieg und die form militärischer Operationen. Nicht Verteidigungs-, sondern Angriffs-
Rote Armee, Moskau
1 9 2 5 , S. 1 2 9 ; M . W
operationen standen im Vordergrund der militärischen Überlegungen in
FRUNSE, Die einheitli-
den Akademien und Waffenschulen. Und nur darüber sprachen die füh-
che Militärdoktrin und renden Generale in ihren Ausführungen.12
die Rote Armee, Berlin 9. Die Rote Armee richtete mobile Gefechtsstände ein: Entspre-
1 9 5 6 , S . 1 5 4 ; HOFF-
chend der aggressiven Militärdoktrin richtete man mobile Gefechtsstän-
MANN, aaO. (Anm.4),
S. 18 ff.; NAUMANN,
de ein, die auf Schienenfahrzeugen die Truppe während der Vorwärtsbe-
Freispruch, ebenda, wegung begleiten sollten.13
S. 2 0 2 .
10. Die Rolle der sowjetischen Luftlandetruppe: Jahre, bevor an-
13 NAUMANN, dere Länder überhaupt daran dachten, verfügte die Sowjetunion über
Freispruch, ebenda, eine ausgebildete Luftlandetruppe, die sie ständig erweiterte. 1941 ver-
S. 2 4 4 ; SUWOROW,
fügte sie über fünf Luftlandekorps mit insgesamt 16 Brigaden, sowie
Marschall Schukow,
über eine Reserve von mehr als einer Million ausgebildeter Fallschirm-
aaO. (Anm. 6),
S. 1 4 2 .
springer. Fünf weitere Korps waren in der Aufstellung, insgesamt das

290
Durch die Entwick-
lung des T-34, der mit
60 cm breiten Ketten
auch in unwegsa-
mem, weichen Ge-
lände, in den Sümp-
fen und auf den
Eisflächen Rußlands
einsetzbar war, sollte
sich die Lage an der
russischen Front ver-
ändern.

Vielhundertfache dessen, was die übrige Welt besaß. Nicht nur der Fach-
mann weiß, welchem Zweck diese Truppe dient: nur dem Angriff,14 14 SUWOROW, Eisbre-
11. Bereits 1939 besaß die Sowjetunion die größte Panzertruppe cher, aaO. (Anm. 2),
S . 1 2 9 ; NAUMANN,
der Welt: Im Jahre 1941 bestand nach S T A L I N S eigenen Angaben ihr Um- Freispruch, ebenda,
fang aus 62 Panzerdivisionen und 34 mechanisierten Großverbänden mit S. 2 3 1 .
über 24000 Panzerkampfwagen,15 das Mehrfache dessen, was die übrige 15 HOLTMANN, a a O .
Welt besaß. Da unbestritten ist, daß der Panzer in allen Armeen der Welt (Anm. 4), S. 22 ff.
als die klassische Angriffswaffe gilt, steht kaum zu erwarten, daß S T A L I N
seine Panzer ausschließlich zur Verteidigung der Sowjetunion einsetzen
wollte. Sie waren für den Angriff gedacht.
12. Wteso besaß die Rote Armee kein Kartenmaterial der Sowjet- " NAUMANN,
union? Sowjetische Historiker berichten, daß die Rote Armee zu An- Freispruch, aaO.
fang der Kampfhandlungen im Juni 1941 so gut wie kein Kartenmaterial (Anm. 6), S. 2 3 4 ;
besaß, mit dem die Truppe hätte arbeiten können. Gleichzeitig wurden SUWOROW, Stalins
von den deutschen Einheiten zahlreiche Güterwagen in den russischen verhinderter Erstschlag,
Grenzregionen aufgefunden, die viele Millionen Generalstabskarten ge- aaO. (Anm. 4 ) ,
laden hatten. Leider konnten die sowjetischen Soldaten damit nichts an- S. 2 0 4 f. u. 2 1 5 f.;
POST, a a O . ( A n m . 7 ) ,
fangen, da es sich ausschließlich um deutsche und polnische Landkarten
S. 365, Vernehmung
handelte. Übrigens fand man dabei auch deutsche und polnische Sprach- von Generalfcldmar-
und Reiseführer, damit die vorrückenden Rotarmisten die Ortsschilder schali VON R U N Ü -
lesen oder nach dem Weg fragen konnten.16 STEDT in Nürnberg.

13. Die Rote Luftarmee war größer als alle europäischen Luft-
waffen zusammen genommen. Das galt übrigens einschließlich auch

291
derjenigen der USA und Japans, denn die sowjetische Zahl lag bei über
17 HOFFMANN, a a O .
23245 Front-Flugzeugen, darunter viele neuer und neuester Bauart.1'
(Anm. 4), S. 23. 14. Auch die sowjetische Artillerie konnte sich sehen lassen, Sie
18 Ebenda, S. 21.
besaß 1941 nach eigenen Angaben über 145000 Geschütze und Granat-
werfer aller Kaliber und war damit zahlenmäßig größer als die Artillerie
der gesamten übrigen Welt.18
15. Wozu diente dem Kreml die riesige U-Bootflotte? Während
Deutschland bei Kriegsbeginn über knapp 30 hochseetaugliche U-Boote
verfügte, mit denen es den Seekrieg gegen Großbritannien aufzunehmen
19 NAUMANN, gezwungen war, verfügten die Sowjets - einschließlich noch im Bau be-
Freispruch, aaO. findlicher Typen - über 345 U-Boote. Der Gedanke liegt nahe, daß STA-
(Anm. 6), S. 251 ff. UN damit nicht nur die deutschen Ostseehäfen zu blockieren gedachte.15
16. Die Landesverteidigung war in der Roten Armee kein The-
ma: In der gesamten Roten Armee gab es keinen Plan, der auf die Landes-
20 Ebenda, S. 20;
verteidigung Bezug hatte. Es gab dafür kein Konzept, denn S T A U N hatte
SUWOROW, Stalins
die Vorwärtsstrategie befohlen. Zu diesem Zweck gab es die sogenann-
verhinderter Erstschlag, ten >Roten Pakete«, die jeder Kommandeur auf Stichwort zu öffnen hatte.
aaO. (Anm. 4),
Darin standen die nächsten Aufgaben der jeweiligen Truppe im Detail.
S. 144 u. 148 ff.;
SUWOROW, Eisbrecher,
»Das Übel lag nicht daran, daß uns operative Pläne gefehlt hätten. Natür-
aaO. (Anm. 2), lich gab es operative Pläne, sogar sehr detailliert ausgearbeitete,.. das
S . 409, 419 ff., 422 Übel lag in der Unmöglichkeit ihrer Ausführung in der eingetretenen
u. 425 ff. Situation.«20 Gemeint war die plötzlich eingetretene Verteidigungslage
nach dem überraschenden Angriff der deutschen Wehrmacht.

Eines der zahlreichen


sowjetischen U-Boote
verläßt die U-Boot-
Basis. Benötigte STALIN
über 300 U-Boote,
nur um die westli-
chen Lieferungen aus
Großbritannien und
den USA vor den
Deutschen zu schüt-
zen? Bestimmt nicht.

292
17. Was geschah
mit der Stalin-Li-
n i e ? Diese Linie
war ein stark befe-
stigtes Stützpunktsy-
stem, das sich vom
Baltikum bis zum
Schwarzen Meer er-
streckte. Mit ihrer
Errichtung war in
den zwanziger Jah-
ren begonnen wor-
den. Seit 1939 aber
hatte sich die sowje-
tische Westgrenze
um rund 300 km
nach Westen ver-
schoben, und die
STALIN-Linie wurde
weitgehend entwaffnet. Matte man sie an der neuen Grenzlinie wieder Eine der wenigen ver-
aufgezogen? Teilweise, aber man ließ sich Zeit. S C H U K O W hatte nämlich bliebenen Befestigun-
erkannt, daß die Deutschen meinten, solange an der neuen Linie gebaut gen der STALIN-Linie,
werde, sei die Rote Armee nicht kriegsbereit. Dem entsprechend wurde welche gleich zu Be-
ginn des lUnterneh-
der Fortgang der Bauten von deutschen Offiziersstreifen laufend beob- mens Barbarossa* zer-
achtet. Ähnlich war S C H U K O W im August 1939 in Chalkin-Gol mit den stört wurde.
Japanern verfahren. Auch diese hatten angenommen, solange an den
Grenzbefestigungen gebaut werde, sei die Rote Armee nicht kriegsbe-
reit. Dann aber griff S C H U K O W plötzlich an und vernichtete die gesamte
Kwan tung-Armee.21 21 NAUMANN,
ebenda, S. 208.
18. Warum brach der deutsche Angriff am 22. Juni 1941 mühelos
durch? Wichtige Flußbrücken, Wegespinnen, Verkehrsknotenpunkte und
natürliche Hindernisse wurden 1941 von den Sowjets kaum verteidigt.
Wie war das möglich? General K . A. M E R E Z K O W , der neue Oberbefehls-
haber, hatte im Auftrag STALINS befohlen:
> Die an der Westgrenze angelegten Sicherungsstreifen sind zu be-
seitigen, die Minen und Sprengladungen zu entschärfen, Sperranlagen
sind einzuebnen.
> Die Hauptkräfte der Roten Armee sind grenznah zu verlegen,
tegische Reserven heranzuführen.
> Mit dem Ausbau von Feldflugplätzen ist zu beginnen, das Ver
netz im Westen ist auszubauen.

293
Wie ist das zu verstehen? Nun, S T A U N hatte der Roten Armee befoh-
len, sich auf den Angriff vorzubereiten. Der Vormarsch sollte zügig rol-
len. Dafür durften auf eigenem Territorium keine Hindernisse im Weg
liegen. Also wurden sie abgebaut, planmäßig: Minenfelder wurden ge-
räumt, Gräben zugeschüttet, Sperranlagen beseitigt. Das Risiko erhöhter
Gefahrdung durch Feindangriffe wurde in Kauf genommen. Die Wehr-
macht war den Sowjets am 22. Juni 1941 dafür dankbar. So gelang der
Heeresgruppe Nord innerhalb weniger Tage der Sprung auf Dünaburg
und der Heeresgruppe Mitte der rasche Vormarsch auf Minsk. Nur im
2 2 NAUMANN, ebenda, Süden, wo General KIRPONOW dem Befehl nur zögernd nachgekommen
S. 205. war, gestaltete sich der deutsche Vormarsch schwierig."2

Nach der Schiacht 19, Warum löste Stalin die Partisanenorganisation auf? Die So-
um Moskau gewann wjetunion verfügte in den zwanziger Jahren über eine wohlorganisierte
die Partisanenbewe-
Partisanenorganisarion. In allen westlichen Militärbezirken gab es Parti-
gung erheblich an
Stärke und Wirksam- sanenabteilungen, deren aktive Kader im Mobilisierungsfall auf Kriegs-
keit. Im Jahre 1942 stärke gebracht werden konnten. Inmitten von undurchdringlichen Wäl-
kontrollierten die Un- dern bildeten sie befestigte Stützpunkte, aus denen sie operieren und
tergrundkämpfer gan- versorgt werden konnten. Damals rechnete man mit der Möglichkeit,
ze Regionen.
das Land verteidigen zu müssen. Ende der dreißiger Jahre erfolgte der
Strategiewechsel, S T A L I N befahl der Roten Armee den Übergang von der

294
Verteidigung zum Angriff. Deshalb wurde die Partisanenorganisation mit
einem Federstrich aufgelöst. Sie wurde nicht mehr gebraucht. Ihre vom
NKWD (politische Polizei) organisierten Verbände wurden jetzt an der
Staatsgrenze eingesetzt. Ihre Aufgabe war, im Vorgriff auf Angriffs-
operationen der Roten Armee feindliche Grenzposten und Nachrichten-
verbindungen auszuschalten, Brücken, Straßenkreuzungen und Eisenbahn-
knotenpunkte zu nehmen und die besetzten Gebiete von >Staatsfeinden<
zu säubern. So geschah es in den baltischen Staaten, in Ostpolen, in der
Bukowina und in Bessarabien — sowie im Sommer 1944 in Ost- und
Westpreußen, Pommern und Schlesien, wo neben den Hunderttausen-
den Ermordeter über 500000 Ostdeutsche verschleppt wurden. Erst als
STALIN am 3 . Juli 1941 den Volkskrieg verkündete, wurde die Partisanen-
armee wieder aufgebaut und erreichte nach sowjetischen Angäben 1945
eine Stärke von über zwei Millionen Mann.23 23 NAUMANN,
ebenda, S. 229;
20. Stalin stampft Sowjet-Armeen aus dem Boden: Die Zeithisto- SUWOROW, Eisbrecher,
rie wird nicht müde, uns zu erzählen, die Sowjetunion sei unvorbereitet aaO. (Anm. 2),
und nur infolge des deutschen Angriffs in den Krieg hineingezogen wor- S . 121 ff.
den. In Wahrheit hatte STAI.IN ein so riesiges Heer aus dem Boden ge-
stampft, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte.
Von Viktor SUWOROW, dem bekannten russischen Militärhistoriker, wis-
sen wir, was in der Zeit vor dem 22. Juni 1941 in Sowjetrußland vor sich
ging. Die Befehlsstruktur der Roten Armee lag im Frieden beim Volks-
kommissariat der Verteidigung, dem neben dem Generalstab und den
ministeriellen Hauptabteilungen die Militärdistrikte unterstellt waren, in-
nerhalb derer sich die Garnisonen der Roten Armee befanden, Sie ver-
fügten über Armee-Korps, denen die Divisionen der jeweiligen Trup-
pengattungen unterstellt waren.
Im europäischen Teil des Landes gab es fünf Militärbezirke, die im
Kriegsfall in Armeen umgewandelt wurden, deren Truppen im Westen
die Erste Strategische Staffel bildeten. Im Frieden allerdings gab es keine
Armeen, denn, so belehrt uns S U W O R O W , »Armeen sind zu große Verbän-
de, um sie in Friedenzeiten unterhalten zu können«,24 Deshalb war die 2 4 SUWOROW, ebenda,
Aufstellung von Armeen ein untrügliches Zeichen dafür, daß der Kreml S . 161.
etwas im Schilde führte: »1939 begann die Sowjetunion mit der Aufstel-
lung von Armeen im europäischen Teil ihres Landes.«23 Zwar schließt die 25 Ebenda, S. 162.
Sowjetdiplomatie »zur Erhaltung des Friedens« Verträge mit Berlin, War-
schau und Helsinki, »aber an den Westgrenzen tauchen heimlich Armeen
auf, plötzlich und serienweise: die 3. und 4, Armee in Belorußland, die 5.
und 6. in der Ukraine, die 7., 8. und 9. Armee an der finnischen Gren-
ze. . . und unterdessen kommen neu hinzu: die 1. und die 11. in Beloruß-
land, die 12. Armee in der Ukraine. . . Jede dieser Armeen ist kurz nach
der Aufstellung in Aktion: Sämtliche sieben an der polnischen Grenze

295
>befreien< Polen, und die drei Armeen an der finnischen Grenze »helfen
dem finnischen Volk, das Joch der Unterdrücker abzuwerfen«. Drei Ar-
meen reichen hier allerdings nicht aus, deshalb die neu geschaffenen Ar-
meen: die 13., 14. und 15.«
Nach Beendigung der Kämpfe in Finnland wird keine einzige Armee
aufgelöst, obgleich mit Berlin Frieden herrscht und ein Freundschafts-
verträg besteht. Statt dessen kommen hinzu die 16. und die 17. Armee,
die in Transbaikalien aufgestellt werden. Mit der 17. Armee aber wird der
Bogen überspannt: »Jetzt hatte man Armeen in einer Anzahl aufgestellt
wie niemals zuvor, selbst nicht im Bürgerkrieg, d.h. unter den Bedingun-
gen einer allgemeinen totalen Mobilisierung der gesamten Bevölkerung,
unter völliger Ausschöpfung des sowjetischen Potentials des Landes, un-
ter Einsatz der gesamten geistigen und physischen Kräfte der Gesell-
schaft. Die Sowjetunion hatte damit die kritische Grenze militärischer
26SUWORÖW, Macht überschritten,«26 Dennoch faßt die Sowjetregierung im Sommer
ebenda, S. 165. 1940 den Beschluß zur Aufstellung weiterer elf Armeen. Am 13. Juni
1941 treten ans Licht: die 18., 19., 20., 21., 22., 24., 25., 26., 27. und die
28. Armee, deren Formierung in der ersten Hälfte des Jahres 1941 abge-
schlossen wird. Gleichzeitig wird die 9. Armee von Finnland abgezogen
und erscheint vor der rumänischen Grenze mit Stoßrichtung Ploesti. Diese
Armee, die Deutschlands Erdölzufuhr bedroht, stellt nach S U W O R O W S
Angaben kräftemäßig eine Superarmee dar, verfügt sie doch mit ihren 14
Schützen- und 6 Panzerdivisionen über einen Bestand von 3341 Panzer-
fahrzeugen, darunter die neuesten T- 34 und KW 1, und übertrifft damit
21 Ebenda, S. 180. an Zahl die gesamten Panzerkräfte des deutschen Ostheeres.27

21. Letzte und alles andere als zu vernachlässigende Indizien


sind die Verhöre der wichtigsten deutschen Heeresgenerale in
Nürnberg, Auszug aus der Vernehmung des Generalobersten Franz HAL-
DILR vor der Kommission I. des Militärgerichtshofes IV am 9. September
1948: (F: steht für die Person des Verteidigers im Kreuzverhör nach US-
Muster)
F: Wie war denn die Größe des russischen Aufmarsches.. . militärisch
zu beurteilen?
H A L D E R ( H ) : Rein zahlenmäßig und rein militärisch betrachtet, kann
über die Bedrohlichkeit dieses russischen Truppenaufgebotes an unserer
Ostgrenze kein Zweifel sein,
F: Konnten die Russen jederzeit angreifen?
H: Ja,
F: Darf ich daraus entnehmen, daß Sie auch persönlich den Aufmarsch
für bedrohlich gehalten haben?

296
H: Ich habe das Kräfteverhältnis geschildert. Es stellte dauernd eine
latente Bedrohung dar. ,.
F: Wie sah die russische Bedrohung im Mai denn aus?
H: Die Masse der uns. . . bekannten Verbände. .. befand sich in einem
anscheinend vollendeten oder doch nahezu vollendeten Aufmarsch an
unserer Ostgrenze, und zwar in unmittelbarer Nähe.. .
F: Und nun zum Charakter des Aufmarsches selber als Offensiv- oder
Defensivaufmarsch? (Beide Männer stehen vor der ausgebreiteten Ge-
neralstabskarte des russischen Aufmarsches vom 22. Mai 1945)
H: Ich glaube, daß kein Soldat diesen Aufmarsch als Defensivaufmarsch
nach dieser Gliederung charakterisieren kann. Es ist - operativ gesehen
- die typische Gliederung eines Ojfensivaufmarsches. Ich darf das vielleicht
kurz begründen: Die deutsch-russische Demarkationslinie verläuft so,
daß starke Ausbuchtungen des russisch besetzten Gebietes in das deut-
sche Gebiet hineinreichen, balkonartig, etwa bei Bialystok, bei Lemberg
- als besonders charakteristisch; es sind auch noch andere Stellen. Die
Skizze zeigt eine ausgesprochen starke Massierung der russischen Kräfte
in diesen nach Westen vorspringenden Bereichen. Keine zur Verteidi-
gung gegliederte Truppe wird sich derartig in einem in den Feind hinein-
reichenden Bereich massieren, wo die Gefahr, umfaßt und abgeschnitten
zu werden, ganz besonders groß ist. Ich möchte hier bemerken, daß die
russischen Führungsauffassungen, die wir ja aus den russischen Vorschrif-
ten kennen, mit den deutschen völlig übereingehen. Ferner ist charakte-
ristisch, daß gerade in diesen nach Westen ausladenden Bereichen die
Masse der russischen Kavallerieverbände ist. Das ist nur erklärbar aus
der Absicht, aus diesem Balkon abzuspringen nach Westen und die Ka-
vallerie sofort nach vorne in Bewegung zu setzen. Zur Verteidigung wird
kein Mensch Kavallerieverbände in dieser Masse in die vorderste Linie
legen. In der Verteidigung hält man die beweglichen Verbände weit zu-
rück, um sie an der Stelle einzusetzen, wo Krisen entstehen.. . (zur frag-
lichen Zeit war die Masse der Kavallerieverbände deutscherseits noch
nicht als Panzerverbände erkannt.)
F: Ich darf noch einmal zurückfragen: War es nicht vielleicht doch
möglich, daß der Aufmarsch der Russen nicht für einen Angriff, sondern
für eine beweglich geführte Verteidigung bestimmt war?
H: Ich glaube ausgeführt zu haben, daß der russische Aufmarsch, wenn
er für eine bewegliche Verteidigung gedacht gewesen wäre, ganz anders 28 Nürnberg-Akten,
hätte gegliedert sein müssen. .. Fall 11,8. 20526 ff„
Die Aussagen von Generaloberst H A L D E R decken sich mit denen des zitiert bei POST,
Generalfeldmarschalls VON R U N D S T E D T , der Generalobersten J O D I . und aaO. (Anm. 7),
H O T H sowie des Generals W A R L I M O N T . ( A U S den Nürnberger Akten des
S. 354 ff.
Militärgerichtshofes IV),28 Andreas N a u m a n n

297
Was bezweckte
Schukows Aufmarschplan von 1941?

ie Mär von der friedliebenden Sowjetunion STALINS, die von den


D ruchlosen Nazis unvorbereitet überfallen wurde, haben wir jahrzehn-
telang gehört. Sie hat sich, obwohl völlig falsch, im Gemüt der Deut-
schen eingebrannt. Um so größer war die Überraschung, als plötzlich ein
Dokument auftauchte, das eine andere, vollkommen neue Ansicht der
Dinge vermittelte, die geradezu das Gegenteil besagte. Doch kaum hatte
die Presse das Dokument veröffentlicht, waren auch schon diejenigen
zur Stelle, die es als grobe Fälschung denunzierten. Den Beleg dafür sind
sie bis heute schuldig geblieben. Dagegen hat das betreffende Doku-
ment vielerorts Eingang in diejenige Fachliteratur gefunden, die sich mit
dem einseitigen Geschichtsbild nicht zufrieden gibt, das die politisch kor-
Dazu gehören u, a. rekte Zeithistorie immer noch vorschreibt.1
Werner MASER, Die Vermutung einiger Militärhistoriker, die Sowjetunion habe lange
Walter POST, vor dem deutschen Angriff vom 22. Juni 1941 Vorbereitungen für einen
Hartmut SCHUSTE- Präventivangriff getroffen, erfuhr im Westen neue Brisanz, als Oberst
REIT, Joachim Wladimir K A R P O W in der Zeitschrift des russischen Generalstabs nach
HOFFMANN, Fritz
dem Umschwung 1990 eine Aufsehen erregende Veröffentlichung machte.
BECKER, Hans
Henning BIEG,
Es handelt sich um ein Dokument, das nach dem sowjetischen Zusam-
Andreas NAUMANN. menbruch plötzlich auftauchte und sich als das originale Konzept eines
Aufmarschplanes der Roten Armee vom 15. Mai 1941 erwies. Der russi-
sche Historiker Oberst Valerij DANILOW hat es unter Mitwirkung von
Heinz MAGENHEIMER in der angesehenen Österreichischen Militärischen Zeit
1 Österreichische schrift veröffentlicht.2 Die Rede ist von den »Erwägungen für den strate-
Militärische Zeitschrift, gischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall ei-
1993, Nr. 1, S. 4 1 - nes Krieges mit Deutschland und seinen Verbündeten«, Mit Datum vom
51. 1 5 . Mai 1941 hatte sie General Alexander Michailowitsch WASSILEWSKI
eigenhändig nach Weisung des Volkskommissars für Verteidigung (Kriegs-
minister) und des Generalstabschefs der Roten Armee handschriftlich
erstellt, Sie umfassen 15 Seiten, wurden STALIN am selben Tag persönlich
ausgehändigt und sind so geheim, daß Kopien nicht gemacht werden
durften. TIMOSCHENKO und SCHUKOW, also Kriegsminister und General-
stabschef, haben unterzeichnet, STALIN hat paraphiert. Das Dokument
befand sich bis 1948 im Privatsafe von WASSILEWSKI und wanderte so-
dann, wie die Stempel ausweisen, in die Hauptverwaltung des General-
stabs, wo Oberst K A R P O W es aufspürte. Es besteht kein Zweifel, daß es
sich dabei um den Entwurf des Aufmarschplans der Roten Armee han-
delt, der im einzelnen mit der Truppenaufsteilung, wie sie am 22. Juni
1941 erkennbar wurde, übereinstimmt. Damit erhält die Wissenschaft

298
erstmalig einen authentischen Beweis in Händen, der kaum geeignet sein 1 In Deutschland

dürfte, STALINS friedliche Absichten zu unterstreichen. Gleichzeitig gibt erstmals veröffent-


das Dokument einen Überblick über Anzahl, Aufstellung, Schwerpunkt- licht, Werner
M A S E R , Der Wort-
bildung, Auftrag und vorgesehene Stoßrichtung der am Aufmarsch be-
bruch, Hitler, Stalin
teiligten sowjetischen Armeen. 3 Hier sei ein Auszug gegeben.
und der Zweite
Erwägungen für den strategischen Aufmarschplan der Streit- Weltkrieg, Olzog,
kräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krieges mit Deutsch- München 1994,
S . 324 ff.
land und seinen Verbündeten
(Mai 1941)
An den Vorsitzenden des Rates der Streng geheim
Volkskommissare der UdSSR, den Besonders wichtig
Genossen Stalin Nur persönlich
Einziges Exemplar

Ich trage Ihnen zur Begutachtung die Erwägungen für den strategischen
Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krie-
ges mit Deutschland und seinen Verbündeten vor:
L Zur Zeit hat Deutschland ungefähr 230 InfDiv, 22 PzDiv, 20 motDiv,
10 FlgDiv und 4 KavDiv - im gesamten ca. 286 Div - mobil gemacht.
Davon sind mit Stand 15. 5.1941 94 InfDiv, 13 PzDiv, 12 motDiv und 1
KvDiv — im gesamten 120 Div — an den Grenzen zur Sowjetunion auf-
gestellt.
Es ist anzunehmen, daß Deutschland angesichts der derzeitigen politi-
schen Lage im Falle eines Überfalls auf die ÜdSSR gegen uns 137 Inf-
Div, 19 PzDiv, 15 motDiv, 4 KavDiv und 5 LLDiv - im gesamten 180
Divisionen - aufstellen kann. Die übrigen 104 Div werden sich im Landes-
innern, an der Westgrenze, in Norwegen, in Afrika, in Griechenland und
in Italien befinden.
Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Hauptkräfte des deutschen
Heeres in einer Stärke von 76 InfDiv, 11 PzDiv, 8 motDiv und 5 FlgDiv
- im gesamten 100 Div - südlich von Demblin aufmarschieren, um in
Richtung Kovel, Rovno und Kiew einen Stoß zu führen.
Mit diesem Stoß werden gleichzeitig aus Ostpreußen ein Stoß nach
Norden, nach Wilnius und Riga sowie konzentrisch geführte Angriffe
aus dem Raum Suwalki und Brest in den Raum Volkovyk und Barano-
wici geführt werden.
Im Süden ist zu erwarten, daß die rumänische Armee, die durch deut-
sche Divisionen unterstützt wird, mit dem deutschen Heer in der allge-
meinen Richtung Schmerinka zum Angriff übergehen wird (zum Groß-
teil durchgestrichen). . .

299
4 Zu diesem Zeit- Auch ein Nebenschlag der Deutschen aus dem Raum des Flußes San in
punkt war das Richtung Lwow ist nicht ausgeschlossen (durchgestrichen).
deutsche Heer noch Die wahrscheinlichen Verbündeten Deutschlands können gegen die
im Jugoslawien-
UdSSR folgende Verbände aufstellen: Finnland 20 InfDiv, Ungarn 15
Feldzug begriffen.
InfDiv und Rumänien 25 InfDiv.
Im gesamten kann Deutschland mit seinen Verbündeten gegen die
Sowjetunion 240 Divisionen aufmarschieren lassen. Wenn man in Be-
Unten links: Neben tracht zieht, daß Deutschland sein Heer mit eingerichteten Rückwärti-
Alexander W A S S I LEWSKI gen Diensten mobil gemacht hält, so kann es uns beim Aufmarsch zu-
legten Semjon T I M O - vorkommen und einen Überraschungsschlag führen.
S C H E N K O und Georgij Um dies zu verhindern und die deutsche Armee zu zerschlagen (letz-
S C H U K O W (hier 1940
teres durchgestrichen), erachte ich es für notwendig, dem deutschen
bei einem Manöver)
die Grundlinien der
Kommando unter keinen Umständen die Initiative zu überlassen, dem
sowjetrussischen Stra- Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und das deutsche Heer dann
tegie fest. Rechts: Fak- anzugreifen, wenn es sich im Aufmarschstadium befindet, noch keine
simile des S C H U K O W - Front aufbauen und das Gefecht der verbundenen Waffen noch nicht
Plans, erste Seite. organisieren kann.«4

300
Der von S C H U K O W und T I M O S C H E N K O im Mai 1 9 4 1 vorgelegte Operationsplan.
Aus: Walter P O S T , Unternehmen Barbarossa, Mittler, Hamburg-Berlin-Bonn 2 1 9 9 6 .

301
Ist das der Beweis für Stalins Angriffsabsicht?
So viel so gut, das mag reichen, um an dieser Stelle abzubrechen, da sie
die entscheidende Aussage enthält. Es handelt sich mit Sicherheit nicht
um einen Plan, wie ihn jeder Generalstab damals im Panzerschrank lie-
gen hatte. Die verdächtige Stelle ist folgender auf das deutsche I leer
bezogener Passus: »so kann es uns beim Aufmarsch zuvorkommen. ..«
Einem gegnerischen Aufmarsch zuvorzukommen, kann logischerweise
nur jemand, der selbst einen Aufmarsch plant. Soviel ist eindeutig. Eben-
so eindeutig scheint zu sein, daß hier Aufmarsch im Sinne von Angriffsvor-
bereitung gemeint ist. Das spricht aus der Sorge, die Wehrmacht könne
womöglich schneller sein. Daraus ließe sich schließen: Die Versammlung
der Roten Armee an der Westgrenze der UdSSR war ein Aufmarsch für
den Krieg Mehr noch: für den Angriffskrieg. Das jedenfalls spricht aus
der Logik des nachfolgenden Satzes, in dem es heißt: »erachte ich es für
notwendig. .. das deutsche Heer dann anzugreifen, wenn es sich im Auf-
marschstadium befindet«.
Das weist auf nachfolgende Überlegung hin: Der am 23. August 1939
von S T A L I N mit H I T L E R geschlossenen Nichtangriffspakt wird als null und
nichtig angesehen. Geplant ist statt dessen eine Angriffsoperation der
Roten Armee, und zwar in Form eines Überfalls. Dabei soll dem Gegner
»unter keinen Umständen die Initiative überlassen« werden. Die Wehr-
macht wird durch einen Überraschungsschlag gelähmt, bevor sie eine
»Front aufbauen« oder »das Gefecht der verbundenen Waffen organisie-
ren kann«. Und zwar wird sie dort angegriffen, wo sie gerade steht, unab-
hängig davon, was ihre Absichten und Pläne sein mögen. Begründung
für den Angriff ist, »daß Deutschland sein Heer mit eingerichteten Rück-
wärtigen Diensten mobil gemacht hält«, daß also damit zu rechnen ist,
daß es jederzeit einen »Überraschungsschlag führen kann«.
Von einem unmittelbar drohenden deutschen Angriff ist darin nicht
die Rede. Immerhin könnte der Umstand, daß in den »Erwägungen« ge-
sagt wird,», , , erachte ich es für notwendig, dem Gegner beim Aufmarsch
zuvorzukommen«, auch als Präventiv-, das heißt als Verteidigungsabsicht,
gedeutet werden. Die Tatsachen sprechen jedoch insofern dagegen, als
die Feindlage dazu keinen Anlaß gab. Von den angenommenen 240 deut-
schen Angriffsdivisionen, einer übertrieben hohen Zahl, standen zum
Zeitpunkt 15. Mai 1941 erst rund 120 an der Grenze zur Sowjetunion.
Vor allem aber fehlte es an Panzerdivisionen, Ein deutscher Angriff war
damit nicht zu befürchten.
Auch heißt es in der Erörterung über mögliche deutsche Stoßrichtun-
gen: ». . . werden die Hauptkräfte des deutschen Heeres in einer Stärke
von 76 InfDiv, 11 PzDiv, 8 motDiv und 5 F l g D i v - im gesamten 100 Div

302
- südlich von Demblin aufmarschieren, um. . .« Mithin stehen sie nicht
dort, stellen daher keine unmittelbare Bedrohung dar. Eine Präventivab-
sicht ist somit schwerlich auszumachen.
Daß aber die »Erwägungen für den strategischen Aufmarsch der Streit-
kräfte der Sowjetunion« im Sinne der Vorbereitung für einen sowjeti-
schen Angriffskrieg zu verstehen sind, läßt sich kaum bestreiten, ebenso
wenig, daß der Aufmarsch der Roten Armee überwiegend dem Zweck
des Angriffs diente, nicht aber dem der Verteidigung gegen einen mögli-
chen Überfall. Denn die Wehrmacht war am 15. Mai 1941, wie oben
erwähnt, mit nur unzureichenden Kräften versammelt. Soviel ist jeden-
falls der Logik des Planes zu entnehmen. Der Aufmarsch der Roten Ar-
mee kann damit kaum noch, wie Feldmarschall VON M A N STEIN im Jahre
1955 meinte, als »ein Aufmarsch für alle Fälle« bezeichnet werden,71 wor- 5 Erich VON MAN-
auf sich die Mehrzahl der Historiker heute beruft, derjenigen vor allem, STEIN, Verlorene Siege,
die dem Revisionismus die Stirn bieten. Athenäum, Bonn
Dem entsprechend schlagen S C H U K Ö W und T I M O S C H E N K O in den »Er- 1955, S. 172 ff.
wägungen« S T A U N vor, vom Konzept des »Gegenschlages« abzugehen
und statt dessen einen Überraschungsangriff zu führen. Dies soll unter
der Vorgabe von Übungen durchgeführt, und die grenznahe Konzen-
trierung der Truppen soll unter dem Anschein, daß sie in Ausbildungsla-
ger einzurücken, befohlen werden. Starke Fliegerkräfte sollen aus den
inneren Militärbezirken auf frontnahe Feldflugplätze verlegt und rück-
wärtige Dienste eingerichtet werden. (Dies ist den hier nicht abgedruck-
ten weiteren Teilen des Plans zu entnehmen.)
Zwar hat der STALIN-Biograph Generaloberst Dimitrij V O L K O G O N O W
bei einem Vortrag vor dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA)
in Freiburg 1990 beteuert, S T A L I N habe den vorgelegten Plan nicht aus-
drücklich gebilligt, sondern nur als zur Kenntnis genommen signiert. Doch
wurde inzwischen im russischen Präsidenten-Archiv der Entwurf eines
Interviews mit Marschall W A S S I L E W S K I aus dem Jahre 1967 gefünden,
auf dem S C H U K O W mit eigener Hand vermerkt, daß S T A U N die wichtig-
sten Thesen »vollends« gebilligt habe, was übrigens auch die handschrift-
lichen Streichungen darin erklärt/'

Was war das sowjetische Kriegsziel?


Was waren die Ziele des sowjetischen Aufmarschplans? Sie lauteten:
6 Dazu Günther
»Als erstes strategisches Ziel haben die Truppen der Roten Armee die
Hauptkräfte des deutschen Heeres südlich von Demblin zu vernichten GILLESSEN, Frankfur-
und bis zum 30. Tag der Operationen die aligemeine Frondinie Ostro- ter Allgemeine Zeitung,
lenka, Fluß Narew, Lodz, Kreuzburg, Oppeln und Olmütz zu erreichen, 10.10.1995.
um:

303
a) den Hauptschlag mit den Kräften der Südwestfront in Richtung
Krakau, Kattowitz zu führen und somit Deutschland von seinen südli-
chen Verbündeten abzuschneiden;
b) den Nebenschlag mit dem linken Flügel der Westfront in Richtung
Siedlec, Demblin zu führen, um die Kräftegruppierung um Warschau zu
binden und die Südwestfront bei der Vernichtung der feindlichen Kräf-
tegruppierung zu unterstützen;
c) gegen Finnland, Ostpreußen, Ungarn und Rumänien eine beweg-
lich geführte Verteidigung zu führen, um bei günstiger Lage für den Schlag
gegen Rumänien bereit zu sein.«
Dank der im Februar 1941 befohlenen verdeckten Teilmobilisierung
der Roten Armee konnten SCHUKOW und T I M O S C H E N K O die angesetzten
Kräfte verstärken. So waren für den Hauptstoß der Südwestfront nicht
weniger als 122 Divisionen vorgesehen, doch STALIN verlangte mehr. Ge-
neral W A T U T I N fügte handschriftlich in die »Erwägungen« ein, daß die
Rote Armee den Angriff zwischen Tschischew und Ljutowisk (also Süd-
westfront und Westfront zusammen) mit einer Stärke von 152 Divisio-
nen führen werde. Dazu sollte die Südwestfront über mehr als die Hälfte
aller Panzer- und motorisierten Divisionen verfügen. Das waren über
7000 Panzer, doppelt so viele, wie die Wehrmacht für das ganze »Unter-
nehmen Barbarossa« einsetzen konnte. Vorrangig seien die fünf Armeen
für die Reserve des Oberkommandos mit der Masse ihrer 63 Divisionen
zusammenzuziehen. Die entsprechenden Planungen sollten bis zum 1.
Juni 1941 abgeschlossen sein.
Für die Entscheidung, den Hauptschlag in südwestlicher Richtung zu
führen, sprachen nachfolgende Überlegungen:
> Die Wehrmacht würde damit von den Verbündeten in Südwesteu-
ropa abgeschnitten;
> die Verbindung des Deutschen Reiches zu den lebenswichtigen Erd-
ölvorkommen und den Lebensmittelproduzenten im Südosten würden
durch trennt;
> die Wehrmacht wäre damit außerstande, die reichen Industrie-, Roh-
stoff- und Agrargebiete der Ukraine zu besetzen.
Gelang die sowjetische Offensive, dann mußte Deutschland in eine ver-
zweifelte Lage geraten. War die Wehrmacht erst vom rumänischen Erdöl
und dem Großteil ihrer Truppen und schweren Waffen in Polen und
Ostpreußen abgeschnitten, würde sie den Krieg kaum fortsetzen kön-
nen. Deutschland wäre so gut wie geschlagen.
Am 15. Mai 1941 brachte Generalmajor W A S S I L E W S K I obige »Erwä-
gungen« persönlich zum Kreml in STALINS Empfangssalon. Dort über-
gab er sie S C H U K O W , der sie zusammen mit TIMOSCHENKO S T A U N vortrug.

304
Im Verlauf der Sitzung schlug STALIN seinerseits Änderungen vor und
billigte die wichtigsten Punkte, Die Grundzüge der sowjetischen Angriffs-
planung waren damit festgelegt, jetzt konnte es sich nur noch darum
handeln, den Zeitpunkt zum Losschlagen zu bestimmen.

Gibt es die letzte Klarheit?


Ja und nein. Denn noch immer vermißt man den Angriffsbefehl, der
allein den Aufmarsch zur Kriegshandlung macht. Erst wenn der vorläge,
wären die letzten Zweifel zerstreut. Doch dazu ist es nicht mehr gekom-
men, der deutsche Angriff kam dem zuvor. Man mag daher suchen, so-
viel man will, man wird ihn nicht finden. Und das ist nicht einmal ver-
wunderlich, denn auch H I T L E R erließ seinen Angriffsbefehl erst am 17.
Juni 1941, knapp 5 Tage vor Angriffsbeginn. Aus Sicherheitsgründen!
Lag doch unter anderem auch der Text von H I T L E R S Weisung Nr. 21 vom
18. Dezember 1940 für den Aufmarsch bereits acht Tage später auf STA-
LINS Schreibtisch. So arbeitete die Sowjetspionage.
Man kommt kaum umhin, den oben behandelten sowjetischen Plan
als Beweismittel ernst zu nehmen. Daß er kein Plan für alle Fälle war,
ergibt sich aus der Absicht, der Wehrmacht zuvorzukommen. Bezog er
sich damit doch auf einen genau bestimmbaren Zeitraum, nämlich die
Tage zwischen dem 15. Mai 1941 und dem Datum des angenommenen
deutschen Angriffs. Tatsächlich lag das deutsche Angriffsdatum vom 22.
Juni 1941 durch Agentenmeldung spätestens seit dem 20. Juni, höchst-
wahrscheinlich schon früher, im Kreml vor. Ob STALIN ihm traute oder
nicht, steht dahin. Man muß davon ausgehen, daß die sowjetischen Mili-
tärs H I T L E R S Absicht erkannt hatten, wenn auch STALIN noch zögerte.
Bekanntlich vermochte er nicht zu glauben, H I T L E R werde so leichtsinnig
sein und den Zweifrontenkrieg wagen. Dafür gibt es genügend Zeugen.
Doch es fiel dem sowjetischen Generalstab tagtäglich leichter, gegentei-
lige Beweise herbeizuschaffen, die sich nicht von der Hand weisen lie-
ßen. Man denke bloß an die deutsche Luftaufklärung, die unter Verlet-
zung sowjetischen Hoheitsraums pausenlos Aufnahmen machte, was von
der sowjetischen Luftverteidigung beobachtet, aber kaum beanstandet
wurde.
Warum, mag mancher sich fragen, ist es so schwer, sich letzte Klarheit
zu verschaffen? Gibt es nicht tausend Dokumente, die S T A I J N S wahre 7 Viktor SUWOROW,
Absicht entlarven? Nun, der russische Historiker Viktor SUWOROW hat es Der Eisbrecher. Hitler
uns erklärt: » S T A L I N war schlau, er wollte in den Augen der Welt untadelig in Stalins Kalkülj
dastehen. Deshalb hat er alles Beweismaterial vernichten lassen. Zeit da- Klett-Cotta, Stutt-
für hatte er genug!« 7 Die neuere russische Zeithistorie bestätigt den Be- gart -1989, S. 422.
fund, Andreas N a u m a n n

305
Stalins Reaktion auf den 22. Juni 1941

W issen wir aus authentischer Quelle, wie Moskau auf den deutschen
Angriff vom 22. Juni 1941 reagierte? Meist erfahren wir nur: Der
Überfall erfolgte in der Morgenfrühe, die Rote Armee war völlig über-
rascht. Niemand hatte mit dem deutschen >Überfall< gerechnet. STALIN
war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte felsenfest darauf gebaut, daß
HITLER keinen Zweifrontenkrieg führen und daher nicht die Sowjetuni-
on angreifen werde. Als der deutsche Botschafter in Moskau dem sowje-
tischen Außenminister MOLOTOW die Kriegserklärung überreichte, sei die-
ser erbleicht und habe gesagt: »Das haben wir nicht verdient.«

Schukow: Nur Grenzkonflikt - nicht provozieren lassen!


Von Marschall SCHUKOW erhalten wir ein Bild, wie der Kreml den Vor-
abend des Ausbruchs des Krieges erlebte. 1 Am 21. Juni 1941 ist um 19
Uhr mit MOLOTOW, BERIJA, MALENKO und Marschall TiMÖSCHENKO der
Oberste Kriegsrat um STALIN versammelt. Da wird vom Stabschef des
Militärbezirks Kiew, General PUKAJEW, gemeldet, ein deutscher Überläu-
fer habe berichtet, die Wehrmacht greife morgen in aller Frühe an. SCHU-
KOW hält auf Befragen STALINS die Meldung für authentisch. So wird er
beauftragt, mit TIMOSCHENKO eine Direktive an die westlichen Militär-
bezirke aufzusetzen, die berühmte Direktive Nr. 1. Darin wird die Trup-
pe angehalten, Feuerstellungen zu beziehen, sich zu tarnen und weitere
Befehle abzuwarten. 2 Letzteres erweist sich als verhängnisvoll, da viele
Verbände wegen unterbrochener Nachrichtenverbindungen keine weite-
ren Befehle erhalten. Als STALIN gemeldet wird, daß es sich nicht nur um
Grenzscharmützel handele, ist seine Reaktion zunächst Unglaube, dann
Verzweifelung, Er kann es nicht glauben, daß die Deutschen schneller
gehandelt haben als die Sowjets, und muß es doch nun befürchten. So
bangt er um die Zerschlagung seines von langer Hand vorbereiteten Über-
raschungsangriffs, denn er weiß, daß die Rote Armee noch nicht angriffs-
bereit ist. Deshalb verbietet er jedes Handeln, daß seine Absichten ent-
schleiern könnte. Auf seinen Befehl hin überschüttet SCHUKOW die

1 Marschall SCHUKOW, Erinnerungen und Gedanken, DVA, Stuttgart 1969, S. 230 ff.
2 Vgl dazu auch Walter POST, Unternehmen Barbarossa. Deutsche und sowjetische An-
griffspläne 1940/41, Mitder u. Sohn, Hamburg "1996, S. 304; sowie Ernst To-
PITSCH, Stalins Krieg. Die sowjetische LangzeitStrategie gegen den Westen ah rationale Macht-
politik, Busse-Seewald, Herford 1990, S. 216; Andreas NAUMANN, Freispruch für
die Deutsche Wehrmacht. >Unternehmen Barharossa< erneut auf dem Prüfstand, Graben,
Tübingen 2005, S. 181 ff.

306
SCHUKOW kann in den
ersten Tagen des
deutschen Angriffs
kein klares Lagebild
gewinnen.

Truppen mit Verboten des Waffengebrauchs. Inzwischen ist der Morgen


des 22. Juni 1941 angebrochen. Die Deutschen schlagen los: Nur wenige
Minuten hämmert die Artillerie auf die sowjetischen Stellungen, dann
brechen Infanterie und Panzer durch. Bei den Sowjets entsteht Verwir-
rung. Die Grenztruppe ist zwar abwehrbereit, aber durch S C H U K O W S Be-
fehl gehemmt. Die erst kürzlich eingetroffenen sowjetischen Divisionen
der Ersten Welle sind noch ohne Stäbe, die Artillerieverbände ohne Zu-
gang zur verbunkerten Munition, die Panzerregimenter zum Teil noch
auf dem Bahntransport. Wie ein Sturmwind fegt der deutsche Angriff
da mitten hinein.

Die berühmten drei Direktiven des Kremls


Für den russischen Autor Viktor S U W O R Ö W , der sich nicht scheut, den
Finger in die Wunde zu legen, handelt es sich bei der Direktive Nr. 1 um
den verhängnisvollsten Befehl seit Bestehen der Roten Armee. In der
Nacht vom 21. zum 22. Juni 1941, fast zeitgleich mit dem deutschen
Angriff, erhalten die Grenztruppen und Sowjetverbände der Ersten Wel-
le mit der Direktive Nr. 1 den Befehl: »Aufgabe unserer Truppen ist es,
sich in keiner Weise provozieren zu lassen.«
Die Direktive ist unterzeichnet von Marschall TIMOSCHÜNKO und Ar-
meegeneral SCHUKOW. Sie schließt mit der kategorischen Forderung: »Es
sind keinerlei andere Maßnahmen ohne besondere Anordnung durchzu-
führen.« Die Direktive Nr. 1 geht an die Fronten und Armeen, wird chif-
friert und dechiffriert, gelesen und weitergegeben bis zur letzten Ebene,

307
Derweil ist heller Morgen, die deutschen Angriffsspitzen stehen bereits
kilometerweit im Lande, schon brennen die sowjetischen Heeresdepots,
explodieren die russischen Munitionslager, gehen im Grenzgebiet die
Erdölvorräte in Flammen auf und werden die Frontflugplätze der roten
Luftwaffe samt allen darauf gestapelten Fliegern und Bomben vernich-
tet. Die Direktive Nr. 1, man kann es nicht anders sagen, bedeutet das
Todesurteil für große Teile der Roten Armee.
Georgij SCHUKOW' weiß inzwischen, daß der »Aufmarschplan der Ro-
ten Armee« für jede Verwendung taugt, nur nicht für den Fall der Lan-
desverteidigung. Darum versucht er erst gar nicht, ihn in Kraft zu setzen.
Ihm ist klar, daß im Fall der Verteidigung nicht zum Angriff geblasen
werden kann. Der General muß Qualen ausstehen, er schildert es unver-
hohlen: »Verstehen Sie doch, in welchem Zustand TLMOSCHENKO und ich
waren. Einerseits zerriß uns die Sorge, weil wir anhand der Meldungen
aus den Militärbezirken wußten, daß der Gegner Ausgangspositionen
bezog für eine Invasion. Andererseits waren unsere Truppen wegen STA-
3 Viktor SUWOROW, LINS Starrsinn nicht in Bereitschaft versetzt.«3 Und STALIN kann es immer
Marschall Schukow, noch nicht fassen.
Pour le Mérite, Von SCHUKOW wissen wir, was in jenen ersten Stunden des Krieges im
Selent 2 0 0 2 , S . 1 4 5 ; Kreml geschah: M O L O T O W eilt verstört in STALINS Arbeitszimmer und
Andreas NAUMANN, erklärt, er habe soeben ein Gespräch mit dem deutschen Botschafter
ebenda, S. 184 ff.;
POST, ebenda,
geführt, der ihm die offizielle deutsche Kriegserklärung übergeben habe,
S . 3 0 6 ; Jörg FRIEO- worauf alles erstarrt sei, SUWOROW bemerkt dazu: »Jetzt hätte es nach
RICH, Das Gesetz des M O L O T O W S Erklärung für SCHUKOW nur eine blitzschnelle unmißverständ-
Krieges, Piper, liche Reaktion geben dürfen: Er hätte den Hörer von der Gabel reißen
München 1993, und in alle Richtungen schreien müssen: Krieg! Krieg! Krieg!« Jede Se-
S. 489; Ernst kunde des Zögerns bedeutet Brücken, die der Feind in seine Gewalt bringt,
TOPITSCH, ebenda, zerstörte Waffenlager und Munitionsdepots, jede Minute weitere Kilo-
S. 173.
meter unter den Ketten der Panzer der deutschen Heeresführer H O T H ,
G U D E R I A N und VON M A N S T E I N , jede Stunde den Verlust Hunderter Flug-
zeuge, die in Flammen aufgehen, Hunderte Tonnen sinnlos vergossenen
Blutes. Aber S C H U K O W steht vor dem versteinerten Diktator wie ein ver-
schüchterter Schuljunge, während TLMOSCHENKO erregt im Arbeitszim-
mer auf und ab rennt. Doch die Truppen, die keinerlei Weisungen ha-
4 Viktor SUWOROW, ben, bleiben ununterrichtet.4 Hätte S C H U K O W jetzt nicht den Schießbefehl
aaO. (Anm, 3), erteilen müssen, auch wenn er damit seine Vollmacht überschritten hätte,
S.153. oder wenigstens die Mobilmachung ausrufen sollen, falls STALINS Eigen-
sinn jede weitere Initiative hemmt? Laut SUWOROW wurde die Mobilma-
chung erst am 23, Juni 1941 ausgerufen, anderthalb Tage nach Kriegs-
ausbruch!
Nichts dergleichen geschieht. SCHUKOW verfaßt statt dessen eine zweite
Direktive. Dabei hätte laut SUWOROW ein einziges Losungswort genügt.

308
Und dies Losungswort gab es! Es lag bei den Alarmunterlagen in den
berüchtigten »Roten Paketen< für den Kriegsfall. Und der Krieg war da!
jetzt, in dieser Minute, mußte das Losungswort übermittelt werden! Al-
les andere ging von selbst, jeder Truppenführer hielt schon sein >Rotes
Paket< in der Hand.
Aber das Dilemma war: Das Losungswort paßte nicht auf die Lage,
die eingetreten war. Es betraf eine andere. Und die hatte mit bloßer Lan-
desverteidigung nichts gemein. Darum ging ScHUKOW hin und verfaßte
die zweite Direktive. In seinem Buch laßt er uns wissen: »Um 7 Uhr 15
Minuten des 22. Juni wurde die Direktive Nr. 2 des Verteidigungsmini-
steriums an die Militärbezirke geleitet. Doch im Hinblick auf das Kräfte-
verhältnis und die eingetretene Lage war sie offenkundig irreal und wur-
de deshalb nicht umgesetzt.« Es ist seltsam, daß S C H U K O W uns den Text
dieses allerersten Kriegsdokumentes, den er zudem noch eigenhändig
verfaßt hat, gekritzelt auf ein schmuddeliges Stück Papier, in seinen Me-
moiren nicht mitteilt. Er bekennt lediglich: »Im Hinblick auf das Kräfte-
verhältnis und die eingetretene Lage war sie offenkundig irreal und wur-
de deshalb nicht umgesetzt.« 5 5 SCHUKOW, a a O .
Den ganzen Tag über ist am 22. Juni 1941 im Kreml nur von Grenzge- (Anm. 1), S . 234 ff.
6 Ebenda.
fechten die Rede. Ein klares Lagebild ist nicht zu gewinnen. 6 Als sich bis
zum Abend kein Gesamtüberblick einstellt, kommt es zu einer Fehlent-
scheidung von verheerender Tragweite: In der Spätlage drängt S T A U N im
Kriegsrat (in der >Stawka<) darauf, eine Direktive zu erlassen, die von
weltpolitischer Bedeutung sein wird: Ohne Kenntnis der Gesamtlage und
bar jeder sicheren Information zum Geschehen an den Fronten fordert
STALIN die >Stawka< auf, den Gegenangriff der Roten Armee zu befehlen.

Ist es der Startschuß zur Weltrevolution?


Mehr noch: Zur Bestürzung aller Versammelten verlangt er den General-
angriff auf breiter Front. In äußerster Erregung und ungeachtet der Ver-
steinerung auf den Mienen aller Stawkamitglieder fordert STALIN den
sofortigen Erlaß einer weiteren Maßnahme, der berühmt gewordenen
Direktive Nr. 3.
Über die tatsächlichen Vorgänge in S T A L I N S Arbeitszimmer schweigt
sich Marschall S C H U K O W in seinen Memoiren aus. Doch es besteht kein
Zweifel, daß es sich um den Angriffsbefehl für die Rote Armee handelt.
Mit einem Schlag wirft der Diktator plötzlich jede Hemmung beiseite
und löst die Vorgänge aus, die für den von langer Hand vorbereiteten
großen Augenblick vorgesehen sind: den glorreichen Marsch auf Berlin,
Denn der ist in STALINS Augen jetzt gekommen. Mögen auch deutsche
Störangriffe losbrechen, die Rote Armee wird sie allerorts abschlagen!

309
Sie wird die Invasionstruppen auf der Stelle vernichten, indem sie selbst
zum Angriff übergeht. Jetzt geht es darum, zu erfüllen, was sein Denken
und Planen seit Jahren beherrscht: Es geht um den raumgreifenden Ge-
neralangriff nach Westen! Jetzt tritt STALIN vor die Front seiner Truppen,

Die ersten Kriegs- in dieser Stunde setzt er die Rote Armee in Marsch, Tatsächlich war STA-
wochen des Ostfeld- UN, der bisher nur den bescheidenen Rang des Generalsekretärs der
zugs sehen für die KPdSU inne hatte, vom Obersten Sowjet nur wenige Tage zuvor zum
deutschen Truppen
Staatspräsidenten und Oberbefehlshaber der Roten Armee ernannt wor-
wie ein Durchmarsch
aus. Schon am 10, Juli den. Doch die Rote Armee war nicht angriffsbereit.
1941 drangen sie in Damit beginnt ein neuer Abschnitt in der »Geschichte der ruhmrei-
die brennende weiß- chen Sowjetunion«. In diesem Augenblick erfüllt der Diktator L E N I N S
russische Stadt Vermächtnis und Auftrag: die bolschewistische Weltrevolution. Die Rote
Witebsk ein und rück-
Armee erhält den Befehl, »die Kampfhandlungen auf das Territorium
ten weiter in Richtung
Moskau vor. des Feindes zu tragen«, das Deutsche Reich und »seine Wehrmacht zu
zerschmettern«.H Jetzt wird W A S S I L E W S K I S Plan vom 1 5 . Mai 1 9 4 1 Wirk-
lichkeit. Verteidigungskommissar T I M O S C H E N K O und Generalstabschef
7 Viktor SUWOROW,
SCHUKOW haben ihn ausarbeiten lassen und dafür gesorgt, daß er wei-
Der Eisbrecher. Hitler sungsgemäß umgesetzt wurde. Mag auch nicht alles ausgeführt sein, was
in Stalins Kalkül, angeordnet wurde, jetzt, in dieser Minute, um 21 Uhr 15 des 22. Juni
Klctt-Cotta, Stutt- 1941, ist der große Augenblick da. Auf ihn hat Moskau, haben Zentral-
gart 21989, S. 206. komitee, Präsidium des Obersten Sowjets und Partei, haben 130 Millio-

310
nen Sowjetbürger gewartet! Diesem Augenblick galten alle Vorbereitun-
gen, Mühen und Pläne. Jetzt setzt S T A L I N sich an die Spitze von Armee,
Staat und Regierung, getreu dem tausendmal verkündeten Schlachtruf:
»Genosse S T A L I N führt uns zum Sieg!« lindlich gibt der große Führer das
Signal. Endlich übernimmt er die Führung zum Aufbruch in die Befrei-
ung Europas und der Welt. L E N I N S Verheißung wird sich erfüllen, Völker
hört die Signale! Jetzt hebt S T A U N die Hand, und das blutige Rädemerk 8 NAUMANN, a a O .
der Weltrevolution setzt sich in Gang.K (Anm. 2), S. 184 ff.
Ja, wir denken: Das ist er, das ist der fehlende letzte Beweis, von dem
wir gesprochen haben. Die Zeit ist reif, daß wir ihn erkennen. Jetzt setzt
S T A U N alles auf eine Karte. Jetzt will er es zwingen, will es in einem
W a l t e r POST: » D i e
Aufwall des Trotzes gegen den andern Diktator durchsetzen. Denn er ist Direktive 3 entsprach
überzeugt, daß die Rote Armee die Lage meistern wird. Sie wird die Wehr- in keiner Weise der
macht gegen einen Wall von Feuer und Stahl anbranden lassen, um sie realen Lage und soll-
dann mit der Masse ihrer Panzer und Kampfgeschwader niederzuwalzen te das Desaster we-
sentlich verschlim-
und den Siegeszug nach Berlin und Paris anzutreten. Dies ist, wie gesagt, mern, da die nur
unsere Auslegung der Tatsachen, die in wesentlichen Zügen nicht allein halbfertigen mecha-
von Viktor SUWORC ra; sondern darüber hinaus von einer wachsenden Zahl nisierten Korps nun
russischer Historiker geteilt wird. in die sich bildenden
S U W O R O W führt dazu aus: »Kein einziger Feldherr in der ganzen Welt
Kessel hineinstießen
und dadurch ihre ei-
hat je eine derart verheerende und schmachvolle Niederlage hinnehmen gene Einschließung
müssen.. . Niemals hat eine Armee eine solche Katastrophe durchlebt. und Vernichtung be-
Die großartig vorbereitete und ausgebildete Rote Armee wurde in den schleunigten.«
ersten Kriegsmonaten vernichtet oder gefangengenommen, 1941 verlor In: POST, Unterneh-
sie 5,3 Millionen Soldaten und Offiziere — gefallen, in Gefangenschaft men Barbarossa,
Mittler, Hamburg
geraten oder vermißt. Dabei sind die Schwer- oder Schwerstverwunde-
1996, S. 306.
ten noch nicht einmal eingerechnet. Die gesamte Vorkriegs-Kaderarmee
der Sowjetunion war zerschlagen. Wegen des eiligen Rückzugs verbheb
in den vom Gegner besetzten Gebieten eine weitere Armeereserve von
5,36 Millionen Wehrpflichtigen, die nicht mehr einberufen werden konn-
ten. Im selben Jahr verlor die Rote Armee 6290000 Stück Schützenwaf-
fen. Damit hätte man die gesamte Wehrmacht zweimal ausrüsten kön-
nen. Im gleichen Zeitraum büßte sie 20 500 Panzer ein, genug, um fünf
Armeen von der Größe der Wehrmacht damit auszustatten. 1941 verlor
die Rote Armee 10300 Flugzeuge. Damit hätte man die gesamte Luft-
waffe vollkommen neu ausrüsten können, und auch das wieder mehr-
fach. Die Verluste der sowjetischen Artillerie in den ersten sechs Kriegs-
monaten beliefen sich auf 101 100 Geschütze und Minenwerfer. Auch 9 NAUMANN, ebenda,
das genug, um alle Armeen der Welt zusammengenommen damit zu be-
S . 1 8 4 ; SUWOROW,
waffnen, und wiederum nicht nur einmal, sondern mehrfach. Und an aaO. (Anm. 4),
den Grenzen wurden mehr als eine Million Tonnen Munition zurückge- S . 1 2 7 ff.
lassen.«9 Andreas Naumann

311
Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion

aß der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 so


D mühelos die sowjetische Front durchbrach, hat die Zeitgeschichte
stets damit begründet, die Rote Armee sei völlig überrascht worden. STA-
UN, so oft er auch gewarnt worden sei, habe nie mit einem deutschen
Überfall gerechnet, er habe diesen Krieg nicht gewollt, denn er habe ge-
wußt, daß seine Armee dafür nicht stark genug gewesen sei. Und keinem
der verehrten Herrn Professoren ist aufgefallen, daß, wenn es sich wirk-
lich so verhalten hätte, die russischen Westbezirke 1941 wohl ein wenig
anders ausgesehen hätten.
Denn als die drei deutschen Heeresgruppen sich zum Angriff erho-
ben und alsbald darauf ihren Vormarsch begannen, zeigte sich die deut-
sche Heeresführung aufs höchste darüber verwundert, daß sich den vor-
preschenden Panzerverbänden kaum Hindernisse in den Weg stellten,
Flußbrücken, Wegespinnen, Verkehrsknotenpunkte usw. konnten im
Handstreich genommen werden.
Wie war das möglich? Schließlich bietet die Kriegstechnik zahlreiche
Möglichkeiten, dem vorrückenden Feind Hindernisse in den Weg zu le-
gen. Dazu gehören ausgedehnte Minenfelder, Panzerhöcker, Panzergrä-
ben, Fallen, Sperranlagen, Schützengräben, Infanterie-, Artilleriestellun-
gen und sonstige Hindernisse aller Art. Dazu zählen ferner vor allem
beschußfeste Bunkersysteme in der Hauptkampflinie, die einander mit
Kreuzfeuer zu decken imstande sind. Im Vorfeld dieser Linie befinden
sich zusätzlich Verteidigungszonen, die man mit allen Mitteln moderner
1 Andreas NAU-
Abwehrtechnik bestückt. Innerhalb dieser Zonen, die nicht selten eine
MANN, Freispruch für
beträchtliche Tiefe haben, operieren speziell geschulte Verbände, deren
die Deutsche Wehr-
macht. Unternehmen Aufgabe es ist, dem vordringenden Feind alle erdenkbaren Schwierigkei-
Barbarossa' erneut auf ten zu bereiten. Sie sprengen Zugänge und Verkehrseinrichtungen jeder
dem Prüf stand, Art wie die oben erwähnten Brücken, Straßen oder Schienenstränge, auf
Grabert, Tübingen denen Marschbewegungen des Feindes stattfinden oder gemeldet wer-
2005, S. 205 ff. den. 1
Hatte nicht bereits der Erste Weltkrieg gezeigt, daß tiefgestaffelte Ver-
teidigungslandschaften, wenn sie von einer entschlossenen Truppe ge-
halten werden, nahezu undurchdringlich sind? Damals beim Stellungs-
krieg im Westen war man vier Jahre lang nahezu auf der Stelle getreten.
Auf dieser Erfahrung beruhte der Bau der französischen Maginot-Linie
und des deutschen Westwalls. Man gab dem Bewegungskrieg keine Chance
und setzte statt dessen auf Feldbefestigungen, denn das Zusammenspiel
zwischen Panzer und Flugzeug war damals noch unbekannt. Ein Land,
das friedfertige Absichten hegte, hätte die Masse seiner Truppen daher

312
nicht vorn an der Grenze aufgestellt, sondern rückwärts gestaffelt in der
Tiefe seines Gebietes verteilt. Es hätte jedoch nicht, wie die Rote Armee
es tat, die Truppen dicht vorn an der Staatsgrenze zusammengezogen. 2 2 NAUMANN, ebenda,
Klug angelegte Sicherungsstreifen, die der verbunkerten Hauptkampf- S. 205 ff.
linie vorgelagert sind, gelten selbst heute noch als eine Art Lebensversi-
cherung für friedensbereite Länder. Sie versichern dem Nachbarn, daß
keine aggressiven Absichten gehegt werden, erheischen Respekt vor der
eigenen Staatsgrenze, schützen vor Grenzstreitigkeiten und verhindern
gegnerische Kleinkriegführung ebenso wie den großen Überraschungs-
schlag. Und sie unterstützen die eigenen Grenztruppen bei der Abwehr.
Beabsichtigt der Gegner dennoch anzugreifen, muß er sich solcher Mit-
tel bedienen, die seine Absicht bald erkennen lassen. Er ist gezwungen,
Artillerie, Mörser und Sturmpioniere einzusetzen sowie vor allem Luft-
streitkräfte, womit er des Überraschungsmomentes verlustig geht. Beim
Angriff kann er sich nur schrittweise vorarbeiten, weil Hindernisse wie
Minen zu räumen und Panzersperren zu beseitigen sind. Er kann also
höchstens örtliche Fortschritte erzielen, was dem Verteidiger Zeit zur
Abwehr läßt. Bis dem Gegner der Durchbruch gelingt, hat er bereits
empfindliche Verluste und einen Teil seiner Stoßkraft verbraucht. Und
das geschieht wohlgemerkt, bevor er auf die Hauptkampflinie stoßt und
sich gegen das Gros der feindlichen Truppen durchsetzen muß. Es ver-
steht sich von selbst, daß der Abnutzungsprozeß um so größer ist, je
tiefer der Sicherungsstreifen reicht.1 Ebenda.
Als am 30. November 1939 der finnisch-russische Konflikt ausbrach,
hatte Finnland im Süden auf der Karelischen Landenge, die von der stark
befestigten Mannerheim-Bunkerlinie geschützt wurde, einen solchen Si-
cherungsstreifen angelegt mit allen Tricks und Schikanen und einerTiefe
bis zu 50 Kilometern. Er bewirkte, daß die dort eingesetzte 7. Sowjet-
Armee keinen Durchbruch erzielen konnte. Wiederholte Sturmangriffe
im Dezember endeten mit völligen Fehlschlägen. Schließlich befahl Mos-
kau die Einstellung der Angriffe und bereitete eine neue Sturmphase
vor, verstärkte die Anzahl der Schützendivisionen und arbeitete einen
detaillierten Operationsplan aus. Erst am 11. Februar 1940 erfolgte der
nächste Angriff, und selbst jetzt konnte die Rote Armee innerhalb dreier
Tage nur einen Einbruch von fünf bis sechs Kilometern Tiefe erzielen.
Erst am 1. März 1940 war die Verteidigungslinie durchbrochen, und die
Rote Armee stand vor Wyborg, Die Verluste der Sowjets waren gewaltig,
sie betrugen nach Sowjetangäben rund 70000 Gefallene und 176000 4
Viktor SUWOROW,
Verwundete, das Vierfache der finnischen Opfer. In Wirklichkeit sollen Der Eisbrecher, Hit/er
sie weit höher gewesen sein, und der Nimbus der Roten Armee war da- in Stalin Kalkül.\
hin, S T A L I N S Kriegsziel, Finnland der UdSSR einzuverleiben, mußte auf- Klett-Cotta, Stutt-
gegeben werden.4 gart, 21989, S. 90 ff.

313
Der russische Militärhistoriker Viktor SÜWOROW berichtet, die russi-
schen Kommandeure seien voll der Bewunderung für die finnische Ver-
teidigung gewesen, allen voran General K. A. M E R E Z K O W , der komman-
dierende Sowjetgeneral
der Angriffsarmeen. Er
hatte den Einsatz mit viel
Blut seiner Soldaten be-
zahlen müssen. Dennoch
ernannte ihn STALIN bald
darauf zum Chef des
Generalstabs. Offenbar
sollte M E R E Z K O W seine
Erfahrung im Krieg mit
den Finnen für die eige-
ne Landesverteidigung
nutzbar machen. Wie
kam es dann, daß ME-
REZKOW statt dessen fol-
genden Befehl erließ?
»Die an der Westgren-
Im Kessel von Bialy- ze angelegten Sicherungsstreifen sind zu beseitigen, die Minen und Spreng-
stok und Minsk ladungen zu entschärfen, Sperraniagen einzuebnen. Die Hauptkräfte der
wurden mehrere Roten Armee sind grenznah zu verlegen, strategische Reserven heranzu-
sowjetische Armeen führen. Mit dem Ausbau von Feldflugplätzen ist zu beginnen, das Ver-
eingeschlossen,
vernichtet oder gefan-
kehrsnetz im Westen ist auszubauen.«
gengenommen. War das zu begreifen? Was war der Sinn dieses Befehls? Lediglich Su-
WOROW weiß Auskunft: STALIN hatte der Roten Armee befohlen, sich auf
den Angriff nach Westen vorzubereiten. Der Vormarsch sollte zügig rol-
len können, dafür durften auf eigenem Gebiet keine Hindernisse im Weg
liegen. Also wurden sie abgebaut, planmäßig, Minenfelder wurden ge-
räumt, Schützengräben zugeschüttet, Sperranlagen beseitigt. Das Risiko
erhöhter Gefährdung bei Feindangriffen wurde bewußt in Kauf genom-
men. Die Wehrmacht war ja in Frankreich beschäftigt und würde bald
zur Invasion in England antreten.
Ein Jahr später war die Wehrmacht den Sowjets dafür dankbar. So
gelang der Heeresgruppe Nord innerhalb weniger Tage der Sprung nach
Dünaburg mit der Wegnahme der wichtigen Flußbrücken; und ebenso
der Heeresgruppe Mitte der schelle Vormarsch auf Minsk, wo drei So-
wjetarmeen eingekesselt wurden. Nur im Süden, wo General KIRPONOW
dem Befehl MEREZKOWS nur zögernd nachgekommen war, erwies sich
5 NAUMANN, a a O . das Vorgehen der Wehrmacht als schwierig, denn hier gab es noch zahl-
(Anm. 1), S. 205 ff. reiche solcher Hindernisse.5 Andreas Naumann

314
Der deutsche Angriff stürzte 1941
die Rote Armee ins Chaos

enn ein Land angegriffen wird, übernimmt seine Armeeführung


W die Landesverteidigung und veranlaßt diejenigen Schritte, die im
Verteidigungsfall vorgesehen sind. Als die Sowjetunion am 22. Juni 1941
von der deutschen Wehrmacht angegriffen wurde, tat sie das nicht und
fiel ins Chaos. Was war der Grund? Nach dem Zerfall des Sowjetstaates,
als Nachforschungen möglich wurden, haben Militärfachleute diese Fra-
ge untersucht. Das Ergebnis war selbst für sie überraschend: Die Sowjet-
union befand sich 1941 im Status der Verteidigungsunfähigkeit. Wie das?
War sie etwa für den Konfliktfall nicht gerüstet? Oder waren ihre Grenzen
ungesichert? Nein, die VerteidigungsUnfähigkeit der Sowjetunion hatte
einen ganz anderen Grund: Die Rote Armee bereitete sich für den An-
griff auf das Reich und Mitteleuropa vor. Aber das verschweigt unsere
Zeithistorie bis auf den heutigen Tag. Deshalb muß darauf hingewiesen
werden.
In der Sowjetunion war vorgesehen, daß im Spannungsfall die grenzna-
hen Militärbezirke zu Fronten umgewandelt wurden. Das heißt, die ge-
samte Militärorganisation des Bezirks verhielt sich von da ab kriegsmä-
ßig. jede Front umfaßte eine Gruppe von Armeen, die von Stund an ihre
Aufstellungen vorbereiteten und sicherten. Für jede Front, jede Armee,
jeden unterstellten Verband hatte der Moskauer Generalstab detaillierte
Kampfaufgaben erarbeitet. Sie waren in den sogenannten >Roten Pake-
ten< bei der Truppe enthalten, die jeder Kommandeur vom Regiment
aufwärts in seinem Safe hatte. Doch wehe, wenn er es vorzeitig öffnete!
Erst wenn der Befehl dazu von Moskau einging, waren die Pakete zu
öffnen. Dann mußte entsprechend den darin enthaltenen Weisungen ge-
handelt werden.
Wir fragen uns, warum das am 22. Juni 1941 nicht geschehen ist. Hatte
man das in der Aufregung vergessen? Waren die Pakettaschen etwa leer
und ihr Inhalt zur Überarbeitung im Hauptquartier? Oder hatte die Rote
Armee etwa keine Pläne? Nichts dergleichen trifft zu. Marschall A. M.
WASSILEWSKI erklärt dazu: »Natürlich gab es operative Pläne, sogar sehr
detailliert ausgearbeitete. Das Übel lag nicht darin, daß uns operative Plä-
ne gefehlt hätten, sondern es lag in der Unmöglichkeit ihrer Ausführung
in der eingetretenen Situation.«1 1Viktor SUWOROW,
Viktor SUWOROW, russischer Historiker, hat in seinem Buch Der Eisbre- Marschall Schukow,
Pour le Merite,
cher, Hit/er in Stalins Kalkül die erstaunliche Tatsache offengelegt, daß es
Selent 2002, S. 144,
in der ganzen Sowjetunion seit Ende der dreißiger Jahre keine Pläne mehr
für die Landesverteidigung gab. STALIN hatte das untersagt. Dagegen gab

315
2 SUWOROW, ebenda, es Pläne für ein ganz anderes Unternehmen, das niemand laut auszu-
S. 1 4 5 , sprechen wagte, denn es war absolutes Staatsgeheimnis. Der Codename
3 Ebenda, S. 147. dieser Operation lautete >Grosa< (Gewitter). Der Plan war perfekt und
4 Ebenda. sollte in Kraft treten, sobald der Codename den Fronten zuging.2
Laut SUWOROW kann das Verteidigungsministerium der Russischen Fö-
Deutsche Artilleristen deration die Existenz des Codeworts >Grosa< bis heute nicht abstreiten,
in den ersten Tagen jedoch hat man eine ganz neue Erklärung dafür bereit: »Das Codewort
des Unternehmens >Grosa< hat es tatsächlich gegeben, aber es bedeutete etwas ganz anderes:
Barbarossa'. Gegen
Auf dieses Signal hin sollten die Kommandeure die >Roten Pakete< Öff-
das massive Bombar-
dement der Deut- nen. Letztere enthielten Befehle bezüglich der Maßnahmen zur Einnah-
schen hatten die me der Gefechtspositionen zwecks Abwehr gegnerischer Attacken im
sowjetischen Vertei- Falle einer Aggression.« 3
digungsstellungen »Diese Erklärung«, so SUWOROW, »führt in die Sackgasse. Nun wird es
schon deshalb keine
nämlich ganz mysteriös. Jeder Kommandeur hatte ein >Rotes Paket<, und
Chance, weil es sie
nicht gab oder weil
es gab das Codewort >Grosa<, das den Kommandeuren befahl, das Paket
sie angesichts der bei Eingang des Codeworts zu öffnen. Und wann, bleibt da zu fragen,
Schnelligkeit des erging das Codewort an die Truppen? Etwa als die Deutschen am 22. Juni
deutschen Angriffs 1941 angriffen? Nein, keineswegs. Die »Roten Pakete* blieben in den Safes,
hastig errichtet wor- und jeder Kommandeur war gezwungen, nach eigenem Gutdünken zu
den waren.
handeln.«4 Es wundert also nicht, daß daraus ein einziges Chaos ent-
stand. Hatte der Moskauer
Generalstab das Codewort viel-
leicht übersehen oder etwa ver-
gessen? Jedenfalls ist es nie mehr
aufgetaucht. Das ist um so ver-
wunderlicher, als SUWOROW ge-
rade vom Verteidigungsmini-
sterium bestätigt erhalten hat,
daß auf das Codewort hin die
>Roten Pakete* von den Kom-
mandeuren zu öffnen waren.
»Denn sie enthielten Befehle
bezüglich der Maßnahmen zur
Einnahme der Gefechtspositio-
nen zwecks Abwehr gegneri-
scher Attacken im Falle eine Ag-
gression«, falls wir obige
Antwort korrekt wiedergeben.
Das wäre also genau das, was am
22. Juni 1941 allein erforderlich
war! Also, warum wurde das Co-
dewort nicht gegeben?

316
Dazu S U W O R O W S Antwort: »Nun,
wenn es uns keiner sagen will, müs-
sen wir es selbst tun: Weil es einzig
und allein für eins vorgesehen war,
für den Überfall auf Deutschland und
die Eroberung Europas!«5
Wie man die Sachlage auch dreht
und wendet, man kommt immer wie-
der auf denselben Punkt zurück, die
militärische Führung der Roten Ar-
mee hatte sich hoffnungslos verrannt,
indem sie das militärische Erforder-
nis der Kriegführung an den politi-
schen Vorgaben S T A L I N S ausrichtete,
ohne ihre Position ausreichend ab-
zusichern. Die verheißungsvolle Chi-
märe L E N I N S vom großen Start in die
Weltrevolution hatte in Moskau
offenbar alle Köpfe vernebelt. Das er-
klärt auch das unsinnige Maß an Ge-
heimhaltung, dem das ganze russsi-
che Vorhaben unterlag. Das alles war
so geheim und mit so drakonischen
Strafen im Falle der vorzeitigen Auf-
deckung belegt, daß kein Komman-
deur es gewagt hätte, nachzufragen
oder gar einen Bück in sein »Rotes Pa-
ket< zu werfen — etwas, was schließlich für einen höheren Offizier, der Bei dem deutschen
sich auf den Eventualfall vorbereitet, das Normalste vom Normalen sein Luftangriff auf Kiew
sollte. Statt dessen war es bei Todesstrafe verboten, auch nur den klein- und andere Groß-
sten Blick in die »Roten Pakete< zu werfen, und darüber hinaus war es städte wurden gleich
am ersten Kriegstag
allen Kommandeuren und Stäben verboten, eigene Pläne für den Ernst- über 1300 sowjeti-
fall vorzubereiten. sche Flugzeuge abge-
Versetzen wir uns einmal in die Lage der unglücklichen sowjetischen schossen oder am
Kommandeure bei Kriegsbeginn: Ihnen war bei Todesstrafe verboten, Boden zerstört.
Pläne für den Verteidigungsfall auszuarbeiten. Alle einschlägigen Planun-
gen wurden allein im Generalstab erstellt und, in versiegelte Umschläge
verpackt, an die Truppe gesandt mit dem Auftrag, sie dort bis zum Tage
»M<, dem ersten Kriegstag, im Safe aufzubewahren. Sie galten als absolu-
tes Staatsgeheimnis. Was Generalstabschef S C H U K O W ausgeheckt hatte,
durften die Offiziere nicht wissen, bevor der Krieg losging. Und dann
kam er, dieser Krieg, aber sie erhielten keine Befehle und besaßen keinen SUWOROW, ebenda.

317
eigenen Plan, was nicht ihre Schuld war. Um aber das >Rote Paket< zu
öffnen, brauchten sie ScHUKOWs Erlaubnis, die nicht eintraf. Das Paket
eigenmächtig zu öffnen kostete sie den Kopf. Also was tun? »So sah es«,
laut S U W O R O W , »damals in der gesamten Roten Armee aus.«6
Am Abend des 22. Juni 1941 um 2t Uhr 15, fünfzehn Stunden nach
Kriegsbeginn, gab S T A U N den Befehl zum Generalangriff an allen Fron-
ten. Und damit, wie wir meinen, das Zeichen für den Auftakt zur Welt-
revolution. Genau dafür war das Codewort gedacht. Ist also unsere Ver-
mutung unzutreffend? Im Gegenteil: Unsere Vermutung trifft sogar
haarklein ins Schwarze. Denn es gibt nur einen Grund, warum das Code-
wort >Grosa< nicht an die Verbände der Roten Armee durchgegeben wur-
de: weil im Arbeitszimmer S T A L I N s offenbar ein erbitterter Kampf ent-
brannt war, Ein Kampf zwischen Josef STALIN, seinen Genossen vom
Zentralkomitee und den verantwortlichen Militärs Semjon TIMOSCHF.N-
KO und Georgij S C H U K O W . Denn letztere hatten längst erkannt, daß der
große Aufmarschplan, den S T A U N insgeheim verfolgte, nicht zu verwirk-
lichen war. Deshalb rangen sie mit dem Kremlherrn darum, den Trup-
pen anstatt des Generalangriffs begrenzte Angriffsziele zuzuweisen; An-
griffsziele, die räumlich nicht zu weit ausgedehnt und zeitlich knapp
terminiert waren — in der Hoffnung, bis dahin ein klares Bild der Ge-
samtlage zu gewinnen.
S C H U K O W befahl der Roten Armee in der Direktive Nr. 3 , binnen 4 8
Stunden die polnischen Städte Suwalki und Lublin einzunehmen. Das
war nicht weit. Würde das gelingen, konnte man weitersehen. Gelänge es
nicht, könnte man STALIN vielleicht von seinem Wahnsinnsvorhaben ab-
Von oben: S e m j o n bringen. Wir müssen uns vorstellen, daß der Umgang mit dem Diktator
TIMOSCHENKO und wahrscheinlich zum Schwersten gehörte, was einem hohen sowjetischen
Ceorgij S C H U K O W .
Militär abverlangt werden konnte Es war wie der Kampf mit der Hydra:
Kaum hatte man eines seiner Argumente erledigt, schob er das nächste
nach. Alle Verantwortung für das Chaos der ersten Stunden nach dem
deutschen Angriff allein auf T I M O S C H E N K O und SCHUKOW abzuschieben
wäre zu billig. Männer, die sich über vier Kriegsjahre hinweg an STALIN s
Seite gehalten haben, müssen ihre Qualitäten gehabt haben. Was auch
immer geschah, bloße Jasager können sie nicht gewesen sein. Welche
7 Andreas NAU-
Fehler man ihnen auch anlasten mag, wir dürfen nicht vergessen, daß
MANN, Frei Spruch für allein STALIN der Verantwortliche war. Und nur er trug ein gerüttelt Maß
die Deutsche Wehr- an Schuld daran. Denn was auch immer militärisch durchgesetzt werden
macht. Unternehmen
mußte, es galt zunächst, STALIN davon zu überzeugen. Und mehr noch:
Barbarossa< erneut auf
dem Prüfstand, Man mußte es ihm so auftischen, daß er am Ende glaubte, es komme von
Grabert, Tübingen ihm. Selbst Männer wie T I M O S C H E N K O und SCHUKOW mußten erst lernen,
2005, S. 196. damit fertig zu werden." Andreas Naumann

318
Stalin verliert die Nerven und flüchtet aufs Land?

ie Zeitgeschichte berichtet heute noch, daß der deutsche A n g r i f f


D am 22. Juni 1941 STALIN und die »friedliebende S o w j e t u n i o n völlig
unvorbereitet traf. Anderen Berichten zufolge verlor er die N e r v e n , ver-
ließ den Kreml und floh in die Einsamkeit seiner Vorstadt-Datscha. Viele
Historiker verbinden das mit der Behauptung: D i e Sowjetunion war für
einen Krieg nicht gerüstet, STALIN habe ihn nicht gewollt, was jedoch
wenig glaubhaft erscheint. D e r russische Autor Viktor SUWOROW gibt uns
eine plausible Erklärung. D e r ehemalige Stabsoffizier in der Roten Ar-
mee verrät sie uns: »Diese L e g e n d e hat CHRUSCHTSCHOW erzählt! Histori-
ker haben sie aufgegriffen und millionenfach wiederholt.« Sie sollte be-
weisen, daß STALIN auf den K r i e g nicht vorbereitet war: Als er v o m
deutschen Angriff erfuhr, bekam er einen furchtbaren Schrecken, fuhr
auf seine Datscha, z o g sich von allen Regierungsgeschäften zurück, traf
niemanden, empfing niemanden, nahm nicht einmal Telefonanrufe an.
Die westlichen Historiker ließen sich reihenweise täuschen. So liest
man bei der Amerikanerin Sally W. STOECKER: » D i e Sowjetführer in M o s -
kau wraren unfähig, die A r m e e kopflos, STALIN wußte das besser als jeder
andere, deshalb g a b er auf und verkroch sich in seine Datscha.« Viele
ihrer Kollegen teilen das Urteil. Selbst der vorzügliche britische Militär-
historiker Albert SEATON meinte, STALIN habe im Hinblick auf den Z u -
stand seiner Armee den Konflikt mit Berlin um jeden Preis vermeiden
1 Albert SEATON,
wollen, »denn er wußte, sie taugte nichts«. 1
»Aus Angst«, sagt SUWOROW, »benimmt sich niemand so«, und er versi- Der russisch-deutsche
Krieg 1941-1945, hg.
chert uns: Die liegende ist nur zum kleinsten Teil wahr. Eher das G e g e n -
von Andreas
teil ist richtig: »STAUN hat in den ersten Kriegstagen gearbeitet wie kaum HLLLGRUBER,
ein anderer auf diesem Planeten. Er e m p f i n g am 22. Juni ab 5.45 reihen- Bernard u. Graefe,
weise Besucher, den letzten um 23.00 Uhr. Danach folgten ein paar Stun- Frankfürt/M. 1973,
den Ruhe, sodann eine volle Arbeitswoche, egal ob T a g oder Nacht.« 2 So S. 28.
ging es über acht Tage, in denen die Termine einander jagten, bis er er- 2 Im Besucherbuch
fuhr, die Westfront war in Auflösung, seine besten T r u p p e n vernichtet STALINS i s t d i e
oder gefangen - und dann: Bestätigung dessen
» E s ist heißer S o m m e r , irgendwo in der Ferne ist Krieg, STAUN sitzt, nachzulesen.
den K o p f auf die Hand gestützt, in seinem einfachen Z i m m e r auf ei-
nem Soldatenbett, Er hat die Zeit vergessen, eine stille Verzweiflung hat
ihn gepackt. Sein ganzes Leben hat er der Idee hingegeben. Er hat alle
seine Feinde vernichtet, um das große Rußland zu unterwerfen. Um es
für die Sache der Weltrevolution reif zu machen. Er hat Millionen von
Menschen verschleppen lassen, um die übrigen zu zwingen, seinen Be-
fehlen zu gehorchen, er hat Staat und Armee von Volksfeinden gesäu-

319
bert und alles, was das Land besaß, der Rüstungsindustrie
geopfert. Er hat Tausende von Panzern und Flugzeugen bau-
en lassen, hat an der Grenze gigantische Vorräte an Muniti-
on, Treibstoff und allem, was für einen Krieg auf fremdem
Territorium nötig ist, konzentriert. .. Und wie alles fertig ist
- zerschlägt H I T L E R seine Offensive. Da begreift er, daß das
Unternehmen >die Befreiung Europas< endgültig gescheitert
ist. Jetzt ist alles verspielt, alles verloren.«3
Von anderen russischen Historikern wie Nikolaj PAVLEN-
KO weiß man, daß die Erkenntnis von der Niederlage an der
Westfront tatsächlich schockartig über STALIN kam. Das hing
damit zusammen, daß Frontbefehlshaber wie Generaloberst
K I R P O N O S und Armeegeneral Dmitrij PAVLOV aus Sorge vor
STALIN konnte sich einfach nicht vor- Repressionen nicht wagten, den Zusammenbruch der Ar-
stellen, daß HITLER einen Zweifron- meen nach Moskau zu melden, daß sie weiterhin Angriffs-
tenkrieg wagen würde - obwohl befehle an Truppenkörper gaben, die längst nicht mehr exi-
führende sowjetische Militärs die stierten oder bereits in die Gefangenschaft marschierten —
Absicht der Deutschen erkannt hat-
ten, wie die untenstehende, 1941
nur um den Makel der Untätigkeit von sich abzuwenden. Es
von der C P U entworfene Skizze nützte nichts, STALIN werde sie bestrafen. Doch noch trieb
über mögliche Stoßrichtungen einer ihn die Angst um, die eigenen Leute könnten ihn für die Nie-
deutschen Offensive zeigt. Mit der derlage verantwortlich machen, ihn vor Gericht stellen oder
Hauptrichtung Kiew/Ukraine wurde auf der Stelle erschießen.
gerechnet. Aus: Lew BEYMENSKI,
Stalin und Hitler, Berlin 2002.
Plötzlich standen B E R I J A und M O L O T O W vor der Tür, doch
nicht mit der Pistole im Anschlag, wie er wohl befürchtete,
sondern mit der Bitte um Hilfe. Langsam erholte er sich von
seinem Schrecken und kehrte auf Ersuchen des Politbüros
in den Kreml zurück, wo er sofort die Zügel übernahm. Als
erstes ordnete er die Verhaftung PAVLOVs und zahlreicher
Offiziere seines Frontstabes an und ließ ihn erschießen. Zu-
sammen mit den Generalmajoren KLIMOVSKICH, GRIGORJEY und
K J . Y C S sowie dem Befehlshaber der 4 . Armee, General K O R -
OBKOV. KIRPONOS, der inzwischen gefallen war, wurde nach-
träglich als Feigling degradiert und seine Familie in die Ver-
bannung geschickt. Zahlreiche weitere Befehlshaber und
Kommandeure erlitten das gleiche Schicksal. Es half ihnen
wenig, daß sie zur Entschuldigung anführten, sie seien vor
eine Lage gestellt worden, für die ihre Truppe nicht ausgebil-
det gewesen sei. Man hielt ihnen vor, jeder Kommandeur habe
sein >Rotes Paket M< gehabt, in dem die Angriffsbefehle fest-
3 Viktor SUWOROW, Stalins gelegt seien. Dieser Vorgang ist im Beitrag 567 behandelt.
verhinderter Erstschlag, Pour le Tatsache ist, daß vom Oberbefehlshaber bis zum Regi-
Mérite, Selent 2000, S, 308 ff. mentskommandeur jeder dieses >Rote Paket* besaß, das auf

320
ein Codewort hin zu öffnen war. Wer es aber am 22. Juni
1941 öffnete, mußte feststellen: Alles war darin enthalten, nur
der Verteidigungsfall war nicht vorgesehen. Doch als nach
1945 einzelne Generale die Öffentlichkeit darüber unterrich-
ten wollten, hat man sie verlacht. »Alle diese Pläne hat es ge-
geben«, schrieb Generalmajor G R E Z Ö W , »aber leider war nichts
darüber gesagt, was zu geschehen hatte, wenn plötzlich der
Gegner zum Angriff übergehen sollte.«4 Und der bekannte
Militärhistoriker B. PETROW meinte in der Prawda, damals noch
das Zentralorgan der KPdSU: »Infolge der Überschätzung
eigener Möglichkeiten und Unterschätzung des Gegners schuf
man vor dem Krieg unrealistische Pläne offensiven Charak-
ters. Möglich, daß sie auf dem Papier geblieben wären und es
heute keinen Zweck mehr hätte, darüber zu reden. Doch in
ihrem Sinn begann man die Gruppierung der sowjetischen
Streitkräfte an der Westgrenze zu formieren. Aber der Geg-
ner kam uns zuvor.«5
TIMOSCHENKO, S C H U K O W und ihre Generalstäbler wußten »Die Heimat ruft« - STALIN appel-
lierte mit viel Geschick und Erfolg
das besser als jeder andere, darum gaben sie den Befehl zum
an die Heimatgefühle seiner
Öffnen der >Roten Pakete< nicht, sondern waren vollauf damit Landsleute, die ihm dann auch
beschäftigt, neue Befehle niederzulegen. Diesmal aber nicht folgten. Aus: Hellmuth Günther
für den Angriff, sondern zur Verteidigung. Dabei erließen sie D A H M S , Deutsche Geschichte

unentwegt Direktiven für Truppenteile, die längst überrollt, in Text und Bild, Herbig,
eingekesselt, gefangen oder vernichtet waren. München 5 1999.

Erst am 3. Juli 1941 findet STALIN eine Stunde Zeit, um das


Sowjetvolk in einer Rundfunkansprache zu unterrichten. Er
erklärt, der Krieg habe unter Bedingungen begonnen, »die
für die Deutschen günstig, für die Sowjettruppen ungünstig
sind«. Deutschland sei als kriegführendes Land schon seit Jah-
ren mobilisiert, und die Wehrmacht sei der Sowjetunion, die
erst mit der Mobilisierung begonnen habe, voraus. Er beschul-
digt die Reichsregierung des Vertragsbruchs und rechtfertigt
den Vertragsschluß vom 23. August 1939 mit ihr damit, daß
er Zeit gewinnen mußte, um sich auf die Verteidigung vorzu-
bereiten.
Dann ruft er zu einer Kampfführung auf, die den Gebräu-
chen zivilisierter Kriegführung brutal ins Gesicht schlägt. Er
fordert den totalen Krieg, den Partisanenkampf und die Stra-
tegie der verbrannten Erde. »Das gesamte rollende Material«,
befiehlt er, »ist nach Osten zu schaffen, das Vieh wegzutrei- 4 In der Militärhistorischen
ben, das Getreide zu verbrennen. Alles wertvolle Gut, das Zeitschrift, Nr. 9,1965, S. 87.
nicht abtransportiert werden kann, ist zu vernichten. In den 5 Prawda, 8. 5.1991, S. 9.

321
vom Feind besetzten Gebieten sind alle Brücken und Straßen zu spren-
gen, Telefonverbindungen, Materiallager, Waffen- und Verpflegungsde-
pots zu zerstören, Ortschaften und Wälder niederzubrennen«, kurz: Für
den Feind sind unerträgliche Verhältnisse zu schaffen, »Denn der Krieg
gegen Nazideutschland ist kein gewöhnlicher Krieg, kein Kampf zwi-
schen zwei Armeen, sondern der Kampf des Sowjetvolkes gegen den
kapitalistischen Faschismus.« Dann spielt er seinen letzten Trumpf aus,
den Appell an die Vaterlandsliebe aller Russen: Er ruft sie zum großen
6 Andreas NAU-
vaterländischen Volkskrieg auf, der zum Ziel hat, die faschistischen Un-
MANN, Freispruch für
terdrücker aus dem Lande zu jagen und darüber hinaus »alle Völker zu
die Deutsche Wehr-
macht. Unternehmen befreien, die unter dem Joch des deutschen Faschismus stöhnen«/'
Barbarossa* erneut Eine bislang unerwähnte Tatsache ist, daß viele der führenden sowje-
auf dem Prüfstand, tischen Militärs die Katastrophe kommen sahen. Sie waren ja nicht blind,
Grabert, Tübingen sondern sahen den ausschließlich auf Angriff gerichteten Aufmarsch der
2005, S. 199. Roten Armee als Gefährdung der Sicherheit ihres Landes an. Sie teilten
durchaus nicht STALINS Zuversicht, daß ein deutscher Angriff durch ei-
nen Generalangriff zerschlagen werden könne. Doch wegen der jahre-
langen Repressionen und großen Säuberungen hielten sie sich zurück
und wagten es nicht, ihre Meinung zu sagen.
Noch heute reden russische Militärschriftsteller nur andeutungsweise
darüber. So erwähnt Armeegeneral S T E M E N K O , daß es ein großes Un-
glück für die Rote Armee gewesen sei, »am Vorabend des Krieges viele
erfahrene Heerführer eingebüßt zu haben«, und erinnert an die große
Säuberung, der über 50000 Offiziere zum Opfer fielen. Die Ursache und
Umstände dieser »Einbuße« bleiben allerdings ungenannt. Die zwölfbän-
dige Geschichte des ^weiten Weltkrieges bringt es immer noch fertig, die Ver-
nichtung des sowjetischen Führerbestandes durch die Säuberungen in
7 Bernd BON-
den Jahren 1937/38 überhaupt nicht zu erwähnen. Die einschlägigen mi-
WETSCH, »Die
litärfachlichen und allgemeinen Lexika verhalten sich nicht anders. In
Repression des einer Studie zitiert Bernd B O N W E T S C H den russischen Historiker Kon-
Militärs und die
Einsatz fähigkeit der stantin S I M O N O W , der dies erstmals in Rußland offen angesprochen hat.
Roten Armee im SIMONOW beschreibt die psychologischen Folgen der Säuberungen so:
Großen vaterländi- »Es mußten nämlich nicht nur zahlreiche liquidierte Militärs durch weni-
schen Krieg«« in: ger erfahrene ersetzt werden, sondern alle litten unter der Atmosphäre
Bernd WEGNER der Einschüchterung und des Schreckens.« SIMONOW betont, »daß von
(Hg), Zwei Wege derartigen Schäden auch diejenigen nicht verschont blieben, die nicht
nach Moskau, vom verhaftet worden waren«. Und er verweist auf den damit verbundenen
Hitler-Staiin-Pakt
Verlust an Urteilskraft und Selbstvertrauen, insbesondere, da die politi-
Zum »Unternehmen
Barbarossa«, Piper, sche Führung hinter jedem Einwand der Militärs Feigheit und Verrat
München 1991, witterte und mit der Androhung von Verhaftung oder Erschießen rea-
S. 404 ff. gierte, Andreas Naumann

322
Die Befehlslage bei Planung und Durchführung
vom U n t e r n e h m e n Barbarossac

s ist allgemein bekannt, daß Zeithistorie und Medien der deutschen


E Wehrmacht vorwerfen, im Zweiten Weltkrieg an Ausschreitungen
beteiligt gewesen zu sein, die in Polen und in der Sowjetunion begangen
worden sind. Dabei wird in der Regel versäumt, die für die Truppe maß-
gebende Befehlslage zu hinterfragen, die allein Auskunft darüber geben
kann, was erlaubt und was verboten war. Eine ausführliche Antwort dar-
auf gibt die Studie von Andreas N A U M A N N Freispruch für die Deutsche Wehr-
macht. Unternehmen Barbarossa< erneut auf dem PrüfstandNachfolgend sei
daraus ein Auszug in Kurzfassung gebracht.
Im Oberkommando des Heeres (OKH) war man bei der Planung des
Ostfeldzuges davon ausgegangen, im Operationsgebiet >Barbarossa< eine
Militärverwaltung als unpolitisches Instrument der vollziehenden Gewalt
einzurichten, wie dies seit Kriegsbeginn am 1. September 1939 in den
besetzten Gebieten allgemein üblich war. Das stieß aber bei Adolf H I T L E R
in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Wehrmacht (ObdW) auf
entschiedenen Widerspruch. So verwarf er am 3. März 1941 den Ent-
wurf des OKH und diktierte statt dessen seine »Richtlinien auf Sonder-
gebieten zur Weisung 21 Barbarossa« dem Chef des Wehrmachtführungs-
stabes beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW), Generaloberst
J O D L , in die Feder. Sie begannen mit den Worten: »Dieser kommende
Feldzug ist mehr als nur ein Kampf mit den Waffen; er führt auch zur
Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen.«2
HITLERS Generalstabschef im O K W , Feldmarschall K E I T E L , führte am
4. April 1946 in Nürnberg dazu folgendes aus: Damit war klar, »daß an
die Führung in diesem Krieg die Methoden, wie wir Soldaten sie kannten
und wie wir sie allein für völkerrechtlich hielten, ein völlig neuer Maßstab
gelegt werden müsse. . . Mit diesen Ausführungen (gemeint sind H I T L E R S
Richtlinien, A. N.) wurden dann die verschiedenen Anordnungen gege-

1 Andreas NAUMANN, Freispruch für die Wehrmacht. Unternehmen Barbarossa< erneut


auf dem Prüfstand, Grabert, Tübingen 2005; siehe auch: Walter POST: Die verleum-
dete Armee. Wehrmacht und Anti-Wehrmacht Propaganda, Pour le Mérite, Selent 1999;
Joachim HOFFMANN, Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945, Verlag für Wehrwissen-
schaften, München 1995; Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der
Angriff auf die Sowjetunion, DVA, Stuttgart 1983.
2 Jürgen FÖRSTER, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg-Potsdam
(Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4 VII: Das Unternehmen »Bar-
barossa« als Eroberungs- und Vernichtungskrieg, S. 413 ff.

323
Bereits am 31. Juli ben, in den unbefriedeten Gebieten die Gerichtsbarkeit auszuschalten,
1940 hatte HITLER auf Widerstände mit brutalen Mitteln niederzukämpfen, in jedem staatlichen
dem Beighof seinen Widerstand den Ausdruck der tiefen Gegensätze zwischen den beiden
verblüfften Oberbe-
Weltanschauungen zu sehen«.3
fehlshabern das Denk-
modell von einem Am 3 0 . März 1 9 4 1 versammelte H I T L E R die mit dem Ostfeldzug be-
Angriff auf die Sowjet- faßten Befehlshaber und sprach zu ihnen über den »besonderen Charak-
union vorgetragen. Er ter« des Feldzuges. Generalstabschef H A L D E R im OKW notierte dazu in
wollte damit Englands sein Kriegstagebuch: »Vernichtendes Urteil über den Bolschewismus,
dessen Festlandsde- Kommunismus ungeheure Gefahr für die Zukunft. Wir müssen vom
gen - Rußland - aus
der Hand schlagen.
Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken.«4 Entgegen den
In der folge äußerten Behauptungen der Zeithistoriker regte sich anschließend heftiger Wider-
HALDER {oben links) spruch in der Generalität, was aus den Kriegstagebüchern von Anwesen-
u n d VON BRAUCHITSCH den klar hervorgeht.1 Da ein gemeinsames Auftreten wegen des Meuterei-
vielfach ihre Skepsis paragraphen im Militärstrafgesetz nicht in Frage kam, verlangten die
gegenüber einem
Oberbefehlshaber (Ob) der Heeresgruppen von Gcneralfeldmarschall
Ostfeldzug.
VON B R A U C H I T S C H als dem Oberbefehlshaber des Heeres (ObdH), Hrr-

3 Internationales Militärtribunal (Hg.), Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher


1945-1946, Bd. X , Nürnberg 1 9 4 7 , S. 5 9 7 ff.; Hans Jochen KEITEL, Keitel in
Nürnberg, Bublies, Schnellbach 2 0 0 2 , »Die Vorgeschichte >Barbarossa<« S. 2 3 5 ff.
4 Aufzeichnungen des Chefs OKW, Bd. 2, 1963, S. 336 f.
5 So z. B der Generalfeld marsch alle VON L E E B , VON K L U G E und VON BOCK B A /
MA N 22/9, S. 22.

324
LER ihre Kritik vorzutragen. BRAUCHITSCH, der zu wiederholten Malen
HITLER vor dem Ostfeldzug und allen damit verbundenen Konsequen-
zen gewarnt hatte, entgegnete aufgrund eigener Erfahrung: »Das ist beim
Führer so nicht durchzusetzen!« Man müsse ihm die richtige Erkenntnis
häppchenweise abtrotzen.
Da H I T L E R sich darüber im klaren war, daß seine Richtlinien der Tradi-
tion der Wehrmacht widersprachen und auf Widerstand stoßen würden,
entschied er, das Heer bei der Erfüllung der geforderten Aufgaben »au- 6
Vielerorts zitiert,
ßen vor« zu lassen. Zur politischen Aufgabe der Zerschlagung des ge- so auch bei Walter
samten Sowjetsystems sagte er am 3. März 1941 zu J O D L : »Diese Aufga- Pos'l" in: Die verleum-
be ist so schwierig, daß man sie dem Heer nicht zumuten kann.« 6 Den dete Armee, aaO.
Generalen, die seinen Ideologiekrieg nicht führen mochten, konnte das (Anm. 1), S. 42 ff.
nur recht sein.

War das Heer damit außer Verantwortung?


Wie sich zeigten sollte, war das nicht der Fall. Das erwies sich nicht nur
bei der Frage der Behandlung von H I T L E R S >Kommissarbefehl<. Es erwies
sich sowohl bei der Frage des Vorgehens gegen renitente oder fanatische
Bevölkerungsteile als auch bei der Behandlung von einzelnen Freischär- Auch in der Bekämp-
lern und Partisanengruppen. Und es zeigte sich in Fragen der Gerichtsbar- fung des sowjetrussi-
keit sowohl bei Verbrechen von Wehrmachtangehörigen als auch bei sol- schen Partisanentums
zeigten viele Heerfüh-
chen von seiten der Roten Armee oder der russischen Zivilbevölkerung. rer Unverständnis
Befehle, die rein ideologischen Charakter hatten, stießen bei den Ober- gegenüber der Ver-
befehlshabern der Heeresgruppen und Armeen auf Unverständnis und schärfung der Wehr-
Widerspruch und führten zu heftigen Kontroversen innerhalb der Wehr- machtbestimmungen.
macht. Ein Beispiel dafür
ist vor allem der »Kommis-
sarbefehk, wonach politi-
sche Funktionäre der Ro-
ten Armee, »wenn im
Kampf oder Widerstand
ergriffen, grundsätzlich
sofort mit der Waffe zu
erledigen« waren. Nach-
dem sich herausgestellt
hatte, daß damit der Wi-
derstand der Sowjets eher
zu- als abnahm, wurde der
Befehl am 7. März 1942
vom OKW aufgehoben.
Auch das Vorgehen
gegen Freischärler und

325
Partisanengruppen, das gegenüber den früheren Wehrmachtbestimmun-
gen verschärft worden war, wurde von vielen Befehlshabern mißbilligt.
Diesem Personenkreis war, wenn »mit der Waffe angetroffen, ohne er-
kennbare Abzeichen oder bei Nichtbeachtung der Gesetze und Gebräu-
che des Kriegs«, ohne Nachsicht zu begegnen, was übrigens im Einklang
mit dem damals sehr rigorosen Völkerrecht stand. Auch hier wurden die
Regeln nach dauerndem Protest der Truppe ab Herbst 1943 gemildert,
insofern den Aufgegriffenen unter bestimmten Voraussetzungen der
Kombattantenstatus zuerkannt werden konnte, was mit den Rechten von
Kriegsgefangenen verbunden war.
Auch bei der Bestrafung von Übergriffen Wehrmachtangehöriger, die
H I T L E R laut Gerichtsbarkeitserlaß (GbE) gemildert oder ausgesetzt wis-
sen wollte, handelte das Heer eigenständig. Dazu erließ der ObdH am
24. Mai 1941 einen Zusatzbe fehl, worin die Truppe angewiesen wurde,
7 Gerichtsbarkeits-
das Militärstraf- und Disziplinarrecht des GbE vorzuziehen." Dazu führte
erlaß (GbE v. 13. 6. er folgendes aus: »Unter allen Umständen bleibt es Aufgabe aller Vorge-
1941). setzten, willkürliche Ausschreitungen einzelner Heeresangehöriger zu ver-
hindern und einer Verwilderung der Truppe vorzubeugen. Der einzelne
Soldat darf nicht dahin kommen, daß er gegenüber den Landeseinwoh-
nern tut und läßt, was ihm gut dünkt, sondern er ist in jedem Fall gebun-
den an die Befehle seiner Offiziere.« Dieser Befehl galt vom ersten bis
zum letzten Tage und sicherte über die Kriegsjahre hinweg die Mannes-
zucht und Disziplin in der Truppe. Damit war H I T L E R S »Barbarossa-Richt-
linie« die Spitze genommen.

Keine Teilnahme des Heeres an politischen Massenexekutionen


Hinsichdich der Frage der Teilnahme von Heeresangehörigen an Exzes-
sen gegen die Bevölkerung hatte der Obd H, Generalfeldmarschall (GFM)
VON B R A U C H I T S C H , bereits während des Polenfeldzuges am 5. September
1939 einen Grundsatzbefehl erlassen, der bis zum letzten Kriegstag galt.
Darin hieß es: »Die Teilnahme von Angehörigen des I leeres an politi-
s ObdH Nr. 362/ schen Exekutionen ist verboten.« 8
39, g. Kdos; 24. 9. Entsprechende Befehle wurden daraufhin von den Oberbefehlshabern
1939 an die Herrn der Heeresgruppen erlassen, die nicht nur nach unten weiterzuleiten, son-
Oberbefehlshaber — dern von den Befehlshabern in eigener Fassung zu erläutern und umzu-
BA-MA - W 6969/ setzen waren.
5.
Dazu als Beispiel der Befehl des Divisionskommandeurs der 207. Si-
cherungs-Division, General VON T I E D E M A N N . Unter Bezugnahme auf ei-
nen Sonderbefehl des Oberbefehlshabers der 4. Armee, Generalfeldmar-
schall VON K L U G E , vom 22. Juli 1941 befahl er: »Ich verbiete nochmals
ausdrücklich, daß sich Angehörige der Division an Aufgaben der Sicher-
heitspolizei (SP) beteiligen, bzw. Vorgesetzte die Genehmigung hierzu

326
erteilen oder ihre Truppe zu Aufgaben des Sicherheitsdienstes (SD ein-
setzen. In Zukunft werde ich jeden Einheitsführer sowie jeden einzelnen
Angehörigen der Division, der gegen diesen Befehl verstößt, zur Re-
chenschaft ziehen.«9 T I E D E M A N N erklärte dazu: Durch OKH-Befehl sei 9Zitiert bei Helmut
»eindeutig festgelegt, daß die Aufgaben der SP und des SD von denen der KRAUSNICK, Hitlers
Truppe völlig getrennt« seien und »auf verschiedenen Gebieten« lägen. Einsatz-Gruppen,
Und Generalfeldmarschall VON REICHENAU drohte den Angehörigen Fischer, Frankfurt/
seiner Armee am 10. August 1941 harte Strafen an, wenn »dienstfreie M. 1998, S. 202.
Soldaten sich dem SD zur Mithilfe bei Durchführung von Exekutionen«
anbieten oder »als Zuschauer derartigen Maßnahmen beiwohnen und
dabei photographische Aufnahmen machen«. Er verbot »jede Teilnahme
von Soldaten als Zuschauer oder Ausführende bei Exekutionen. . . und
verfügte die Bestrafung von Zuwiderhandelnden wegen Disziplinlosig-
keit*«.10 Ebenda, S. 203.
Generalfeldmarschall VON K L U G E , Oberbefehlshaber der 4. Armee, er-
ließ im September 1941 einen Sonderbefehl zur Aufrechterhaltung der
Manneszucht. Darin wurde jede Art von Disziplinlosigkeit, insbesondere
wurden Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung, Plünderung und unbe-
rechtigtes Requirieren von Privateigentum, unter strengste Strafe gestellt.
Ähnliche Befehle sind von anderen Armeeführern bekannt." General 11 Nürnberger Akten
VON S A L M U T H , Oberbefehlshaber des 3 0 . Armeekorps (AK), erließ An- - NOKW 542.
fangjuli 1941 einen Befehl in Sachen Kodyma, um jede Amtshilfe bei
der Durchführung von Repressalien der Einsatzgruppen H I M M L E R S ZU
verweigern.
Noch deutlicher wurde General Max VON SCHENCKENDORFF, Befehls-
haber im Rückwärtigen Heeresgebiet (Berück) der Heeresgruppe (HGrp)
Mitte. Er befahl mit Merkblatt vom September 1941 allen Ortskomman-
danten unter Punkt Nr. 9: »Lynchjustiz gegenüber der Zivilbevölkerung,
insbesondere gegenüber Juden, ist mit allen Mitteln zu verhindern. Die
Wehrmacht duldet nicht die Ablösung des einen Terrors durch einen
anderen!« Dies richtete sich vor allem gegen die SS-Einsatzgruppen H I M M -
LERS.
Und ein Befehl des Berück Süd vom 29. Juli 1941 lautete: »Der Führer
hat in seinem diesbezüglichen Erlaß (GbE) der Truppe ausdrücklich das Erich HESSE, Per
12

Recht eingeräumt, im Verlauf von Kampfhandlungen im Interesse der sowjetrussische Partisa-


nenkrieg 1941—1944
Erhaltung der Sicherheit der Wehrmacht feindlich gesinnter Zivilbevöl-
im Spiegel deutscher
kerung gegenüber mit schärfsten Mitteln durchzugreifen. Dagegen be- Kampfanweisungen und
deuten eigenmächtige Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung im befrie- Befehle, Muster-
deten Gebiet reine Willkürakte. Deshalb bleibt die Strafverfolgung in schmidt, Güttingen-
diesen Gebieten in vollem Umfang aufrechterhalten, wenn Soldaten sich Zürich 1993, S. 79 f.
gegen lieben und Eigentum wehrloser Einwohner vergehen! Vorgesetzte, sowie Dok.NOKW-
die das nicht verhindern können, sind für ihren Posten ungeeignet.«12 16209.

327
13 Zitiert in der
Am 21. März 1942 befahl der Berück Mitte VON SCHENCKENDORFF
Anklageschrift des wiederholt: »Ich wiederhole hiermit, daß allen Angehörigen meines Be-
Landgerichts Bonn fehlsbereichs die dienstliche und nichtdienstliche Teilnahme an irgend-
gegen einen ehem.
welchen durch die Ordnungspolizei (OP) oder den SD mit unterstellten
SS-Angehörigen am
14.1.1964, Az. 8 Js Formationen durchgeführten Sondermaßnahmen oder Erschießungen
250/63 IfZ., Gb verboten ist.«13
09.08, S. 28; sowie
b e i KRAUSNICK a a O .
Die Tötung von Zigeunern und Juden
(Anm. 9), S. 340,
fand beim Heer nicht statt
Anm. 448.
Auch hierzu sind hinreichende Zeugnisse aus der Truppe erhalten ge-
blieben. So lautet die Stellungnahme der 281. Sicherungsdivision auf eine
Anfrage des SD bei der Feldkommandantur 822 vom 24. März 1943:
»Eine Mitwirkung militärischer Dienststellen bei etwa durch den SD vor-
zunehmenden Liquidierungen von Zigeunern und Juden als politische
Maßnahme ist nirgendwo vorgesehen und wird abgelehnt.« (Schriftver-
kehr der 281. Sicherungsdivision mit der Feldkommandantur 822 vom
14 Sich.Div. Abr. März 1943) Der Vorgang ist korrekt wiedergegeben und spiegelt die ein-
Vll/la, Tgb. Nr. schlägige Praxis in der Truppe wider.14
457/43, geh.,
Ostrow, 24. 3.1943 Verhalten der rückwärtigen Befehlshaber (Berück)
an Feldkdtur. 822, angesichts der Pogrome
zitiert bei KRAUS-
NICK, a a O . ( A n m . Generalfeldmarschall Ritter VON LEBB, Oberbefehlshaber der Heeresgrup-
9), S. 244. pe Nord, erklärte auf Rückfrage beim OKH, er werde schießen lassen,
15 V g l . KRAUSNICK, wenn die Morde (gemeint waren Pogrome der Bevölkerung gegen Juden
aaO. (Anm. 9), S. im juni/juli 1941) in seinem Bereich nicht aufhörten. 15 Daraufhin setzte
182. sich Generalstabschef H A L D E R mit dem O K W in Verbindung, wo er von
Chef zu Chef mit Generalfeldmarschall K E I T E I . ein erregtes Gespräch
führe. K E I T E I . S eindeutige Antwort war: H I T L E R verbiete den Oberbefehls-
habern, sich hier einzumischen. Es handele sich um politische Bereini-
gungsaktionen innerhalb der von den Sowjets befreiten Völker, welche
die Herren Oberbefehlshaber der Heeresgruppen nichts angingen. Das
war der klare und eindeutige Bescheid vom OKW, er enthielt das unmiß-
verständliche Verbot, in solchem Fall einzuschreiten. Erwiesenermaßen
hielten sich die Oberbefehlshaber der I leeresgruppen nicht daran. Dazu
nachfolgendes Beispiel:
Als Generalfeldmarschall VON RUNDSTEDT, Oberbefehlshaber der Heeres-
gruppe Süd, vernahm, daß es in seinem Bereich zu Übergriffen gekom-
men war, ließ er über seinen Befehlshaber im rückwärtigen Heeresgebiet
(Berück), General Karl VON R O Q U E S , befehlen: »Die Beteiligung von
Wehrmachtangehörigen an Exzessen der ukrainischen Bevölkerung ge-
gen Juden ist verboten. Ebenso das Zuschauen oder Fotografieren.« (Siehe

328
Von links: Karl VON
R O Q U E S , Wilhelm

Ritter V O N LEEB und


Gerd V O N RUNDSTEOT
u.a. bezogen in
Sachen Pogrome an
Juden einen eindeuti-
gen Standpunkt.

auch die Prozeßakten Nürnberg, zum Beispiel NOKW 541.) Entspre-


chend handelten die Oberbefehlshaber der anderen Heeresgruppen, die
vom OKH in Kenntnis gesetzt worden waren, es handele sich um eine
Angelegenheit, die nach Auffassung der deutschen Reichsregierung die
jeweils betroffenen Staaten mit sich selbst abmachen sollten. Die Truppe
habe sich da herauszuhalten.
Hierzu sei auch der Befehl des durch Generalfeldmarschall VON K L U G E
beauftragten Generals VON R O Q U E S vom 2 5 . Juli 1 9 4 1 angeführt, worin
dieser klarmacht, daß »der deutsche Soldat, der sich an Judenpogromen
beteiligt, aufs schwerste das Ansehen der Wehrmacht schädigt und eine
unsoldatische Haltung an den Tag legt. Eigenmächtige Gewalttaten ge-
gen die Zivilbevölkerung im befriedeten Gebiet sind Willkürakte, denen
gegenüber die Strafverfolgung in vollem Umfang erhalten bleibt«.16 16 KRAUSNICK,
Noch schärfer im Ton ist ein weiterer Befehl des Generals VON R O Q U E S ebenda, S. 245 ff.
vom 1. September 1941, in dem es heißt: »Es mehren sich die Fälle von
Übergriffen gegenüber der Zivilbevölkerung, Auch soll es vorgekom-
men sein, daß Soldaten selbständig Erschießungen von Juden vorgenom-
men oder sich daran beteiligt haben. Schreiten die Vorgesetzten hier nicht
nachdrücklich ein, so wird ihnen die Führung der Truppe entgleiten und
diese zu einer Horde werden. Exekutivmaßnahmen (nicht zu verwech-
seln mit Exekutionen, A, N.) gegen bestimmte Bevölkerungsteile sind
ausschließlich den Kräften des Höheren SS- und Polizeiführers vorbe-
halten.« Die Truppe, heißt es weiter in dem Befehl, erledige »nur solche
Landeseinwohner in eigener Machtvollkommenheit, die feindseliger
Handlungen überführt oder verdächtigt sind und auch dies nur auf Befehl
von Offizieren.. .Jedes eigenmächtige Erschießen von Landeseinwohnern,
auch von Juden, durch einzelne Soldaten sowie jede Beteiligung an Exeku-
tivmaßnahmen der SS- und Polizeikräfte sind daher als Ungehorsam zu
ahnden, sofern nicht gerichtliches Einschreiten notwendig ist.«17 17 Ebenda, S. 201.

329
In Lemberg 1 " zogen ukrainische Separatisten nach dem Abzug der Ro-
ten Armee rund 1000 Juden aus ihren Wohnungen und verprügelten sie
auf offener Straße. Dann trieben sie diese unter Mißhandlungen auf dem
Marktplatz zusammen, um sie anschließend in den Hof des ehemaligen
NKWD-Gefängnisses zu jagen. Dort hatte man kurz zuvor etwa 4000
gräßlich zugerichtete Leichen entdeckt, die auf das Konto der Roten
Armee kamen. Sie hatte vor ihrer Flucht alle Häftlinge, darunter Pfarrer,
Arzte, Lehrer sowie Volksdeutsche und Juden, ermordet. So war es kein
Wunder, daß der Volkszorn hohe Wellen schlug. Der Divisionskomman-
deur, Generalmajor Max W I N K L E R , der soeben noch mit Blumen emp-
fangen worden war, ließ sich davon nicht abhalten, der Lynchjustiz ent-
schlossen entgegenzutreten, indem er das Pogrom mit Waffengewalt
abbrach. Das ist nur ein Beispiel von vielen, die angeführt werden könn-
ten. Jedoch hatte W I N K L E R gegen das Führergebot verstoßen und sich
damit strafbar gemacht.

Amtliche Kenntnis von den Massenmorden des SD


hatte die Wehrmacht nicht
Daß viele Befehlshaber keine Vorstellung davon hatten, daß politische
Massenmorde stattfanden und welches Ausmaß sie hatten, wird sogar
von dem Historiker Helmut KRAUSNICK bestätigt,19 einem der schärfsten
Kritiker der Wehrmacht. Das aber ist für die Beurteilung des Wehrmacht-
handelns ausschlaggebend. Denn es steht fest, daß den Wehrmachtbefehls-
habern keinerlei amtliche Weisung zugegangen ist, die von ihnen etwas
verlangt hätte, wozu sie sich entsprechend ihren Ehrbegriffen nicht in der
Lage gesehen hätten. Die Wehrmacht, das ist zweifelsfrei erwiesen, wurde
über das Genozid an den Juden auf dem Dienstwege nicht unterrichtet.
Selbst die Nürnberger Richter haben das bestätigt. »Amtliche Kennt-
nis lag auf seiten der Heeresbefehlshaber nicht vor,«20 Mithin war das
Maß an Wissen, das sie sich verschaffen konnten oder das sie durch die
Umstände vermittelt bekamen, individuell höchst unterschiedlich. Beim
einen brauchte die Erkenntnis Monate und Jahre, beim anderen mag sie
früher gekommen sein. Viele haben bis zum Schluß nichts gewußt. Von
denen aber, die Kenntnis erlangten, haben etliche versucht, die Auswüchse
zu mindern, selbst dann, wenn es ihnen persönlich zum Schaden ge-
reichte. Andreas N a u m a n n

18 Siehe Beitrag Nr. 578, »Die Lemberger Judenmassaker«,


w Zitiert bei NAUMANN, aaO. (Anm. 1), S. 428.
30 Zitiert u. a. bei Jörg FRIEDRICH, Gesetz des Krieges, Piper, München 1993, S . 919.

330
Machte die Wehrmacht 1941
Rußland dem Erdboden gleich?
ntgegen der Ansicht, die vor allem durch Jan Philipp REEMTSMAS
E Wehrmachtausstellung verbreitet wurde, das deutsche Feldheer habe
im Zweiten Weltkrieg auf dem Feldzug in die Sowjetunion weite Teile
Rußlands dem Erdboden gleichgemacht, sprechen die Tatsachen eine
andere Sprache. Dergleichen dürfte auch mit den Zielvorstellungen einer
Besatzungsmacht kaum in Einklang zu bringen sein und lag dementspre-
chend außerhalb jeder Absicht der deutschen Wehrmacht. Ebenso wur-
de den Deutschen vorgehalten, Stätten und Denkmale russischer Kultur
achtlos vernichtet zu haben. Doch das Gegenteil ist wahr: Es wurde von
den Deutschen vielmehr alles getan, um dieselben vor der Zerstörung zu
bewahren.'

Am 3. Juli 1941 befahl Stalin


die Strategie der verbrannten Erde
Von Anfang an trachtete die Moskauer Führung, dem Vormarsch der
Wehrmacht und deren Besetzung sowjetischen Gebietes durch Anwen-
dung des »Prinzips der verbrannten Erde< Einhalt zu gebieten. Dieser
Einstellung blieb sie während der gesamten Dauer des Krieges treu. Ge-
meint ist die systematische Vernichtung aller Lebensmittelbestände, La-
ger und Verteilerketten, der Getreidevorräte einschließlich der Ernte auf
dem Halm in den Kolchosen, der Trinkwasserreservoire, der Verkehrs-
wege und -mittel, der Fabriken und Kraftanlagen sowie großer Teile der
Infrastruktur bis hinab zur letzten Bauernkate bei Aufgabe des betref-
fenden Gebietes. 2 Vergessen ist heute bei uns, daß die Wehrmacht 1941

1 Siehe die sich im Trend der Zeit bewegenden Anwürfe seitens des Hamburger
Instituts für Sozialforschung von Jan Philipp REEMTSMA sowie die von demsel-
ben inszenierten Wehrmachtausstellungen samt einschlägiger polemischer Lite-
ratur. Vgl auch Hannes HEER U. Klaus MANOSCHEK (Hg.), Vernichtungskrieg. Ver-
brechen der Wehrmacht 1941-44, Hamburg 1996, und ähnliche Publikationen.
2 Dazu auch: Andreas NAUMANN, Freispruch für die Deutsche Wehrmacht. Unter-

nehmen Barbarossa< erneut auf dem Prüfstand, Grabert, Tübingen 2 0 0 5 , S. 6 3 6 ;


Walter POST, Die verleumdete Armee. Wehrmacht und Wehrmacht-Propaganda, Pour
le Mérite, Scient 1 9 9 9 , S. 5 ff.; Stefan SCHEIL., hegenden, Geruchte, Fehlurteile. Ein
Kommentar zur 2. Auflage der Wehrmachtausstellung des Hamburger Instituts fur Sozi-
alforschung, Leopold Stocker, Graz 2 0 0 3 , S. 3 1 ff.; sowie Rüdiger PROS KP., Vom
Marsch durch die Institutionen zum Krieg gegen die Wehrmacht, v. Hase u. Koehler,
Mainz 2 1997, S. 24 ff.

331
Das bereits von LENIN
angeregte Prinzip der
>verbrannten Erde< kam
schon in der ersten Juli-
Woche des Jahres 1941
zur Anwendung. Alles,
was die Deutschen bei
ihrem Einzug für sich
nutzen konnten, wurde
von den weichenden
Sowjets zerstört. Aus:
Reinhard O L T M A N N ,
Sturm auf Moskau, Bd.
1, Pour le Mérite, Selent
2002.

Tausende von Fabriken


wurden während der
ersten Kriegswochen in
die Regionen Östlich des
Urals evakuiert. In vie-
len Fällen mußten die
Belegschaften ihre Ar-
beit im Freien fortsetzen.
Aus: Wladimir K A R P O W ,
Rußland im Krieg 1941-
1945, SV international,
Zürich 1988.

im Osten vielerorts in ein verwüstetes Land vordrang, dessen Städte brann-


ten, dessen Ressourcen und Produktionsmittel von den Sowjets gesprengt
oder abtranspordert und dessen Dörfer und Siedlungen in Trümmer-
haufen verwandelt worden waren. In Deutschland aber wird vielfach ge-
glaubt, die gewaltigen Schäden sowie die Verluste an Zivilpersonen seien
allein der Wehrmacht anzulasten.
Die mit dem harten Vorgehen der Roten Armee verbundenen Leiden
der Bevölkerung lassen sich kaum ermessen. Hunderttausende, ja Millio-

332
nen Menschen wurden Opfer von Hunger, Krankheit und Winterkälte.
Dagegen fallen die zahlreichen Beispiele einer guten Zusammenarbeit
zwischen Besatzungsmacht und Bevölkerung, wie sie über Jahre hinweg
stattfand, heute in der Offentlichkeit vollkommen unter den Tisch. Das
geschah nicht zuletzt deshalb, weil diese Tatsachen von Moskau nach
Kräften unterdrückt und ihre Verbreitungen mit drakonischen Strafen
belegt waren. So wurden nicht nur eigene Soldaten mit dem Tod bestraft,
derer man, nachdem sie dem Feind in die Hand gefallen waren, habhaft
wurde, sondern auch die Zivilbevölkerung, wo immer sie der Kollabora-
tion mit den Deutschen überführt oder auch nur verdächtigt wurde. 3 3 NAUMANN, ebenda,
Auf dem deutschen Teilrückzug im Winter 1941 /42 sowie bei den S. 328 ff., 334 ff. u.
späteren Rückzügen der Jahre 1943/44 war es gelegentlich unumgäng- 588 ff.
lich, daß die eigene Truppe aus Abwehrgründen in manchen Frontab-
schnitten Zerstörungen vornahm, um ein besseres Schußfeld zu gewin-
nen. Die Bevölkerung wurde in diesen Fällen aufgefordert, sich hinter
die eigenen Linien zu begehen. Die außerordentlich schwierigen Bedin-
gungen, unter denen die Absetzbewegungen ablaufen mußten, machten
es für die deutsche Führung unerläßlich, alle Maßnahmen zu ergreifen,
die geeignet waren, das Nachdrängen des übermächtigen Gegners zu er-
schweren. Aus diesen Gründen mußte auch deutscherseits wiederholt zum
Mittel der »verbrannten Erde< gegriffen werden, das die Sowjets in den
vergangenen Jahren bei ihrem Rückzug angewandet hatten. In einer Li-
nie von 20 bis 30 Kilometern vor der eigenen Front wurde alles, was dem
Gegner die Fortführung seiner Offensive erleichtern konnte, zerstört oder
zurückgeführt. Nichts, was dem Gegner im Aufmarschgebiet Deckung und
Unterkunft hätte bieten können, blieb zurück, nichts, was seinen Nach-
schub, insbesondere die Verpflegung seiner Truppe, hätte erleichtern kön-
nen,4 Es konnte nicht ausbleiben, daß die Sowjetpropaganda daraus ihren 4 Erich VON MAN-
Nutzen zog, indem sie vor aller Welt und den eigenen Rotarmisten verkün-
STEIN, Verlorene Siege,
dete, die »Naziarmeen haben unser Land in Schutt und Asche gelegt«. Athenäum, Bonn
1955, S. 507 ff.
Die deutschen Aufbauleistungen in Rußland waren beträchtlich
Walter P O S T weist darauf hin, welche Anstrengungen von den Deutschen
in den besetzten Gebieten der Sowjetunion gemacht wurden, Verkehrs-
wege, Kraftwerke und Fabriken in Stand zu setzen, um Industrie und
Landwirtschaft wieder in Gang zu bringen. Galt es doch einmal, der ein-
heimischen Bevölkerung Arbeit und Brot zu verschaffen, zum andern
aber auch, der deutschen Ernährungs- und Volkswirtschaft in die Hände
zu arbeiten. Das erfolgte allerdings in einem mit den Besatzungsinteres-
sen verträglichen Rahmen, in dem das Überleben der Bevölkerung sicher-
gestellt sein mußte. Der von der Zeithistorie erhobene Vorwurf, man
habe die Einwohner von Großstädten wie Smolensk, Kiew und Char-

333
kow absichtlich dem Hunger ausgesetzt, geht fehl."' Trotz aller Anstren-
gungen aber kam man auf diesem Wege nur ungenügend voran. Der
s Siehe Katalog Aufwand, der erforderlich war, um die verheerenden Zerstörungen in
Wehrmachtausste1- weiten Teilen des Landes auch nur halbwegs zu beheben, überstieg Kräfte
lung, S. 56 ff. Auf und Mittel der deutschen Besatzungstruppen. Die schlechte Versorgungs-
S. 63 meinen die lage in den besetzten Ostgebieten war eben zu großen Teilen auf die von
Bearbeiter Bernd STALIN befohlenen und dann durchgeführten Zerstörungen zurückzu-
Bon. und Hans
SAFRIAN: »Die
führen. Der Vorwurf, die Wehrmacht habe das Land gezielt ausgeplün-
Ausplünderung der dert, geht an den Tatsachen vorbei.
Ukraine gab große Im Winter 1941/42, als die Wehrmacht tief ins 1 .andesinnere vorge-
Teile der Zivilbevöl- stoßen war, erreichte die Versorgungskrise ihren Höhepunkt. Die Schä-
kerung in den den, welche die abziehenden Sowjets verursacht hatten, schlossen auch
besetzten Giebicten das Straßen- und Schienensystem mit ein, was nicht allein die Nachschub-
dem Hungertod
und Verkehrslage der Wehrmacht behinderte, sondern ebenso die Ver-
preis.«
sorgung der Landeseinwohner erschwerte. Deutsche Pioniere und Bahn-
arbeiter mußten die Verkehrswege mühsam erneuern, was bis zum Jahres-
wechsel nur in Teilen gelang. Als die gefürchtete Schlamm- und
Schneeperiode einsetzte, brach das Verkehrssystem, das hauptsächlich
auf Lastwagen ausgelegt war, weitgehend zusammen. Das aber hatte Rück-
wirkungen auf die Versorgung der Bevölkerung.
Die heutige Zeitgeschichte verschweigt die Anstrengungen, die von
den Deutschen gemacht wurden, um die Wirtschafts- und Versorgungs-
krise in den besetzten Gebieten zu überwinden. Allein in den Jahren zwi-
schen 1941 und 1943 gewährte das Deutsche Reich eine Wirtschaftshilfe
in Hohe von über 100 Milliarden Reichsmark. Mehr als 70000 Trakto-

Schlechte Wege und


starke Regengüsse
verlangsamten nicht
nur die Bewegungen
der deutschen motori-
sierten Truppen,
sie verschlechterten
auch die Versorgungs-
lage der Bevölkerung
in den besetzten
Ostgebieten,
Aus: Hellmuth Gün-
ther DAHMS, Der Zwei-
te Weltkrieg in Text
und Bild, Herbig,
München M999.

334
ren, über 100000 landwirtschaftliche Geräte und riesige Mengen Zucht-
vieh wurden aus dem Reich in den Osten geliefert, um die Landwirt-
schaft aufrechtzuerhalten. Große Anstrengungen wurden unternommen,
um die Brandbekämpfung der Wälder im Pripjetgebiet sowie die Bewäs-
serung der endlosen Getreidefelder in der Ukraine sicherzustellen. Fluß- Ä Walter POST, in:
brücken, Staudämme, Schleusen und Kanalsysteme wurden repariert, die Deutsche Militär-
zerstörten Kraftwerks-, Elektrizitäts- und Trinkwasseranlagen in den Städ- Zeitung, Nr. 29,
S. 19.
ten erneuert.6

Zerstörte die Wehrmacht systematisch


Stätten der russischen Kultur?
Vor dem Internationalen Militärtribunal wurden die deutschen Truppen
beschuldigt, das Tschajkowskij-Museum in Klin verwüstet zu haben, ein
Internationales
Vorwurf, der vom Verteidiger Dr. LATERNSER durch Vorlage entsprechen-
Militärtribunal
der Dokumente entkräftet wurde." Das gleiche galt für die Gedenkstätte Nürnberg (Hg.), Der
für den National-Dichter Leo T O L S T O J , Jasnaja Poljana, die angeblich ge- Nürnberger Prozeß
plündert worden sein sollte, was jedoch im Widerspruch zu sowjetischen gegen die Hauptkriegs-
Film- und Pressemitteilungen stand. Generaloberst G U D E R J A N , Oberbe- verbrecher 1945-1946,
fehlshaber der 2, Panzerarmee, der dort seinen Gefechtsstand aufgeschla- , Nürnberg 1946,
gen hatte, betont in seinen Erinnerungen mit Entschiedenheit, daß seine Bd. 21. S. 441.
Truppen die Gedenkstätte beim Rückzug unversehrt verlassen hätten. s 8 Heinz GUDERIAN,
Zwar soll anderen Aussagen zufolge der Ort Jasnaja Poljana bei den Kämp- Erinnerungen eines
fen zerstört worden sein, nicht jedoch T O L S T O J S Haus, dessen wertvolle Soldaten, Stuttgart
Bibliothek unversehrt gebheben ist.'5 Was dagegen die Zerstörung des 1979, S. 233; siehe
1654 gegründeten Klosters Novo-Jerusalimskij in Istra angeht, kann die auch Beitrag Nr.
275, »Deutsche
Verantwortung der deutschen Truppen weder bestätigt, noch in Abrede
schändeten nicht
gestellt werden. Tolstojs Grab«.
Während die Sowjetliteratur nicht müde wurde zu betonen, die So- 9 NAUMANN, a a O .

wjetmacht habe im Gegensatz zu dem barbarischen Verhalten der Wehr- (Anm. 2), S. 639.
macht den architektonischen Denkmälern der russischen Vergangenheit
seit jeher ihre besondere Fürsorge angedeihen lassen, sie restauriert und
sorgsam bewahrt, stieß das im eigenen Lande auf lebhaften Widerspruch.
So schreibt zum Beispiel der Journalist Ricos MTNASJAN: »Diejenigen, die
den deutschen Truppen einen systematisch betriebenen >national-kultu-
rellen Völkermord< vorwerfen, sollten sich daran erinnern, in welchem
Umfang gerade Kloster- und Kirchenbauten, die einst den künstlerischen
Reichtum Rußlands ausgemacht hatten, in sowjetischer Ära entweiht und
zerstört worden sind.«10 Von einem anderen Autor ist zu lesen: »Ein Bei- 10 In: Mezdunarodnye
spiel hierfür bietet das im Jahre 1370 gegründete und nach der Beschädi- prestuplenija,
gung durch den Brand im Jahre 1812 restaurierte Moskauer Simonow- S, 313 ff.
Kloster, das am 22. Januar 1930 von einer Einheit der Roten Armee bis

335
11 Piotr GRIGOREN-
KO, Erinnerungen, auf den letzten Rest vernichtet worden ist.«11 Wie sachverständige Beob-
Bertelsmann, achter meinen, dürfte es in Rußland einschließlich Sibiriens kaum eine
München 1981, Stadt gegeben haben, in der nicht unzählige künstlerische oder historisch
S. 136 ff. bedeutsame Bauten dem ideologisch motivierten Zerstörungswahn der
12 D U D I N u, MILLER, Bolschewisten zum Opfer fielen. 12
The Russians, S. 122;
sowie Joachim Hat die Wehrmacht der Sowjetbevölkerung
HOFFMANN, in: die gesamte Nahrung entzogen?
M i Ii tärge s ch i ch di-
ch es Forschungsamt Es trifft nicht zu, daß die Deutschen die wenige Nahrung, die der So-
(Hg.), Das Deutsche wjetunion im Krieg verblieb, ins Reich transportiert hätten, obwohl we-
Reich und der Zweite gen der allgemeinen Mangellage in Europa Abgaben geleistet werden
Weltkrieg, Deutsche, mußten. Jürgen F Ö R S T E R S Nachforschungen zufolge betrug der Abschub
Verlags-Anstalt, von Brotgetreide in der Regel weniger als ein Zehntel, 11 was als vertret-
Stuttgart 1983, bar anzusehen ist. Und bei Walter P O S T steht zu lesen: »Hatte in den
Bd. 4, S. 122. besetzten Gebieten die Getreideernte vor dem Krieg 24,3 Millionen Ton-
13 Jürgen FÖRSTER nen betragen, so fiel sie 1941/42 wegen Mangels an Arbeitskräften, Ma-
in: Militärgeschicht- schinen, Treibstoff, Zugpferden und Dünger auf knapp 13 Millionen
liches Forschungs- Tonnen, im Jahr 1942/43 wegen der Partisanentätigkeit auf 11,7 Millio-
amt (Hg.), Das nen Tonnen zurück. Davon beschlagnahmten die deutschen Behörden
Deutsche Reich und der 1941/42 rund zwei Millionen Tonnen und 1942/43 zweikommasieben
Zweite Weltkrieg, Millionen Tonnen für die Wehrmacht und das Deutsche Reich. Die Ent-
Deutsche Verlags- nahmen für den Eigenbedarf betrugen also 1941/42 15,4 Prozent und
Anstalt, Stuttgart ein Jahr später 23,1 Prozent der Getreideernte. Bei diesen Angaben han-
1983, Bd. 4.,' delt es sich nicht um Brotgetreide allein, sondern um die gesamte Getrei-
S. 1030 ff. deernte. Die Zahlen belegen, daß die Ernährungsprobleme in den be-
setzten Ostgebieten zum überwiegenden Teil auf die sowjetische Strategie
der >verbrannten< Erde zurückzuführen sind. Die deutschen Beschlagnah-
14 Walter P O S T , aaO. mungen halten sich dabei durchaus in Grenzen.« Der Vorwurf, die Wehr-
14

(Anm. 2), S. 168. macht habe das Fand rücksichtslos ausgeplündert und damit eine Hun-
gerkatastrophe unter der Zivilbevölkerung verursacht, geht somit an den
Tatsachen vorbei.
Im Winter 1941/42, als die Wehrmacht tief im Landesinneren stand,
erreichte die Versorgungskrise ihren Höhepunkt. Die Sowjets hatten ei-
nen Großteil der Lebensmittelvorräte vernichtet oder abtransportiert,
auch waren große Getreidemengen nach der Ernte verkommen oder nicht
eingebracht worden. Ebenso ließ das ruinierte Verteilersystem im Zu-
sammenspiel mit dem zerstörten Schienennetz die Versorgung der Städte
durch die noch arbeitenden Kolchosbetriebe nicht zu. Besonders schlimm
war die Lage der sowjetischen Kriegsgefangenen, deren Zahl im ersten
Kriegsjahr den Höchststand erreicht hatte. Die Masse der Gefangenen
war nach den großen Kesselschlachten vielfach erschöpft und bereits
völlig unterernährt in Gefangenschaft geraten, Andreas Naumann

336
Wehrmacht und Hungerwaffe

m Rahmen der Vorwürfe gegen die Deutsche Wehrmacht des Zweiten


I Weltkrieges wird auch die Behauptung aufgestellt, die Deutschen und
insbesondere die Wehrmacht hätten beim Rußlandkrieg bewußt und sy-
stematisch die sogenannte >Hungerwaffe< gegen die russische Bevölke-
rung und gegen sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt, also diese vor-
sätzlich in dem besetzten Gebiet dem Hungertod ausgesetzt. Ein solcher
Völkermord sei zum Beispiel auf der Staatssekretärkonferenz am 2. Mai
1941 beschlossen worden, behauptet neuerdings der amerikanische Hi-
storiker Alex J. KAY.' Auch im Rahmen der Diskussion um die Wehr-
macht-AusStellung war ein solcher Vorwurf vorgetragen worden.
Doch das ist falsch, worauf der deutsche Historiker Stefan SCHEIL in
einem FAZ-Artikel überzeugend hinwies. 2 Er bezog sich dabei unter an-
derem auf die Dissertation von Klaus-Jochen A R N O L D , der herausarbei-
tete, daß bei den Planungen vor dem Ostfeldzug kein entsprechender
Vernichtungsbefehl am Ende stand. »Wie die russische Bevölkerung zu
ernähren sei, wurde während des Feldzugs letztlich nach den Möglich-
keiten an Ort und Stelle entschieden, zentrale Vorgaben gab es nicht. Da
es keine solchen Vorschriften gegeben hat, könne auch von einem zen-
tral gelenkten und gewollten Hungerplan nicht wie bisher gesprochen S t e f a n SCHEIL.
werden.« 3
Die Tatsache solch einer Staatssekretärkonferenz wurde beim Nürn-
berger Tribunal allein durch eine Gesprächsnotiz belegt, wonach nament-
lich nicht benannte und bisher nicht bekannte deutsche Staatssekretäre
festgestellt haben sollen, daß in Rußland »zig Millionen Menschen« ver-
hungern würden, »wenn das für uns Notwendige aus dem Lande heraus-
geholt wrird«.4 Eine Parallele zur meist auch falsch gedeuteten Wannsee-
Konferenz und zu deren angeblichem Völkermord-Beschluß wird dabei
deutlich.
Nach SCHEIL lassen sich aber weder der Ort noch der genaue Teilneh-
merkreis dieser Besprechung vom 2. Mai 1941 ermitteln. Dennoch unter-
stellt der US-Historiker KAY der deutschen Armee, daß sie einen eigenen
Willen zu solchen Mordplänen hatte und diesen Vorsatz durchführte.
1 Alex J. K A Y , » G e r m a n y ' s Staatssekretäre, M a s s Starvation and the M e e t i n g of 2

M a y 1941«, in: Journal of Contemporary History, 41. J g , Nr. 4, 2 0 0 6 .


2 Stefan S C H E I L , »Staatssekretäre und H u n g e r w a f f e « , in: Frankfurter Allgemeine Zei-

tung, 13. 12. 2006.


1 Ebenda.
4 Zitiert ebenda.

337
Die Wirklichkeit im Osten sah jedoch anders aus, und eher das Ge-
genteil ist richtig. ScHEIL führt an, daß die russische Bevölkerung dafür
den besten Beweis selbst lieferte: »Als die deutsche Armee im Spätsom-
mer 1942 in Richtung Stalingrad marschierte, strömten ihr aus der Stadt
fast einhunderttausend Flüchtlinge entgegen, die es vorzogen, im deut-
schen Besatzungsgebiet ein Überleben zu versuchen, statt unter den ih-
5 SCHF.IL, ebenda.
nen bekannten Umständen weiter in der Sowjetunion ihr Dasein zu fri-
6 Gert C. LÜBBERS,
sten.«5 Er verweist dabei auf die ausführliche Arbeit von Gert C. LÜBBERS, 6
der unter anderem gut belegt an folgende Tatsachen erinnert: »Doch eine
»Die 6. Armee und
die Zivilbevölke- Zwangsevakuierung der Stadt (von Seiten der Deutschen, R.K.) erwies
rung von Stalin- sich sehr bald als überflüssig, denn die Bevölkerung Stalingrads flüchtete
grad«, in: Viertel- von sich aus ins Hinterland der 6. Armee«, nicht etwa nach Osten zu den
jahrshefte für Sowjets. Bei dieser die deutsche Wehrmacht überraschenden Massenflucht
Zeitgeschichte, 54. Jg., lag die Sorge für die Ernährung der Menschen beim Wirtschaftsstab Ost,
Nr. 1, 2006, S. 87- der nach Möglichkeit einsprang. »Dennoch half die Wehrmacht häufig
123. aus eigenen Beständen aus, wie in zahlreichen Schreiben des General-
7 Ebenda, S. 97. quartiermeisters an die Wirtschaftsorganisation deutlich wird.«" Insbe-
8 Ebenda, S. 105 f. sondere wurde die 6. Armee um die »Bereitstellung von Verpflegung«
gebeten, »die auch gewährt wurde. Obwohl dies nicht vorgesehen war,
wurden die Flüchtlinge aus Stalingrad so spätestens Ende September »aus
9 Ebenda, S. 109. Armeebeständen« versorgt«.9
10 Ebenda, S. 109 f. Diese vielen Flüchtlinge wurden dann trotz Engpässen weitgehend
unterhalten und von Wehrmachtstellen über verschiedene Auffangs- und
Durchgangslager1" ins Hinterland befördert und so größtenteils gerettet.
In seiner Erwiderung auf den ScHEiLschen Artikel räumte K A Y dann
allerdings ein, daß das deutsche Militär und die Ministerialbürokratie vor
Landwirtschaftliche
produkte aus Weiß-
rußland werden auf
einen Zug nach
Deutschland verladen.
Walter POST hat nach-
gewiesen, daß sich die
Beschlagnahmungen
in Grenzen hielten
und die Ernährungs-
probleme auf die so-
wjetische Strategie der
>verbrannten< Erde
zurückzuführen sind.
Aus: Wladimir KAR-
POW, Rußland im Krieg
1941-1945, SV inter-
national, Zürich 1988.

338
dem Angriff auf die Sowjetunion keinen solchen »Hungerplan« gegen
die russische Zivilbevölkerung gehabt hätten, womit der eigentliche un-
berechtigte Vorwurf schon vom Tisch ist." Es habe aber dennoch einen 11 Alex KAY, in:
»Beschluß« gegeben, Millionen von Menschen verhungern zu lassen. Es
Frankfurter Allgemeine
sei dann jedoch nicht zu solch einem »Plan« gekommen, weil die Verant- Zeitung, 14. 2. 2007.
wortlichen zu solch einer Planung »nicht in der Lage gewesen« seien.
In seiner darauf ergangenen Antwort weist SchEIL darauf hin,12 daß n Stefan SCHEIE,

K A Y S Argumentation verwunderlich sei, da sich kaum vorstellen lasse, »Die Armeeführer


daß die deutschen Entscheidungsträger nicht zur Erarbeitung eines sol- sprachen bei Hitler
chen Planes fähig gewesen wären, wenn sie ihn gewollt hätten. Doch: vor«, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung,
»Nichts in den Quellen deutet jedoch darauf hin, daß ein ähnlicher Mord-
Nr. 113, 16. 5.
plan von der deutschen Staats- und Militärführung beschlossen worden 2007, S. N 3.
war. Es wird in den von Alex KAY selbst zitierten Dokumenten, es sind
die einzigen dieser Art, an einigen Stellen die - sachlich unrichtige -
Ansicht vertreten, ein Verhungern von Teilen der russischen Zivilbevöl-
kerung sei im Kriegsfall unvermeidlich.« An keiner Stelle werde ferner
behauptet, daß der Hungertod der russischen Zivilisten vom Verfasser
des betreffenden Textes oder von sonst jemandem in Staat oder Wehr-
macht erwünscht sei oder bewirkt werden solle. So lasse nichts einen
>Hungerplan< erkennen.
S C H E I L hebt dann noch hervor, daß es im Gegensatz zu K A Y S Behaup-
tungen für die sowjetischen Kriegsgefangenen einen deutschen Plan gab
mit täglichen 1900 bis 2200 Kalorien an Nahrung je Mann. Das bedeutete
zwar rund 20 Prozent weniger an Kalorien als für die deutsche Bevölke-
rung im Krieg, aber »das Zwei- bis Dreifache dessen, was später die alli-
ierte Militärverwaltung 1945 in Deutschland ausgeben sollte«. Es sollte
also nach nachweisbaren deutschen Vorstellungen kein russischer Kriegs-
gefangener verhungern, zumal die Deutschen Arbeitskräfte benötigten
und im Spätsommer 1941 russische Gefangene zur Arbeit in der Ernte
in deren Heimat schickten.
Als sich später aus logistischen Gründen in dem harten Winter 1941/
42 Nahrungsnot ergab, auch für die deutschen Osttruppen, »sprachen
die Armeeführer persönlich bei H I T L E R vor« zugunsten der Gefangenen.
»Sie forderten eine höhere Priorität der Ernährung der Kriegsgefange-
nen und erhielten dies vom Diktator auch zugesagt. Jeder Gefangene
solle demnach ausreichend ernährt werden.« In einigen Gebieten, so etwa
13 Ebenda.
auf der Krim, sei das auch gelungen."5
ScHEIL schließt seine Darlegungen mit dem für unsere Zeit und deren
politische Korrektheit anscheinend erforderlichen Zusatz: »Auf diesen For-
schungsstand und die Quellenlage hinzuweisen bedeutet keine >Verharm-
losung< Es ist die selbstverständliche Aufgabe historischer Forschung und
nüchterner Berichterstattung über deren Ergebnisse.«

339
AlexJ. KAY, In seiner Stellungnahme dazu14 versucht KAY zwar, erneut deutsche
»»Viele zehn Millio- Aussagen über Möglichkeiten von Hungersnot in Rußland in bewußte
nen Menschen
werden überflüs- Pläne dazu umzudeuten und ein »Massenverhungern als Staatspolitik«
sig«* in: Frankfurter hinzustellen, vermag aber durch seine Zitate nicht zu überzeugen. Eben-
Allgemeine Zeitung so trifft seine Ansicht, die deutsche Heeresführung habe vorher gewußt,
13. 6. 2 0 0 7 . daß sie Millionen von Gefangenen in den ersten Wochen des Ostfeldzu-
ges machen werde, und deswegen dafür Sorge für deren Verpflegung zu
tragen gehabt, nicht zu.
Auch Andreas N A U M A N N kommt in seinem gründlichen Werk über die
15 Andreas NAU-
Wehrmacht im Ostfeldzug15 zu dem Ergebnis, daß die deutsche Führung
MANN, Freispruch für
nicht nur keinen >Hungerplan< hatte, sondern unter schwierigsten Um-
die Deutsche Wehr-
ständen möglichst der Bevölkerung und den Gefangenen zu helfen ver-
macht. >Unternehmen
Barharossa< erneut auf suchte. Er weist darauf hin, »daß es S T A U N war, der durch die Vernich-
dem Prüf stand, tung aller Reserven die allgemeine Mangellage herbeigeführt hatte«. Die
Grabe rt, Tübingen Deutschen hatten gehofft, vor dem Winter 1941/42 den Ostfeldzug be-
2005, S. 624-629. endigen zu können, und deswegen keine weiteren Planungen vorgenom-
men. Mit Erlassen vom 21. Oktober und 2. Dezember 1941 wurden die
Rationen der Gefangenenverpflegung noch heraufgesetzt, aber die vor-
handene Menge an Nahrungsmitteln reichte einfach nicht überall. Sogar
die deutschen Truppen hatten Versorgungsschwierigkeiten, Die Befehls-
haber der rückwärtigen Gebiete versuchten alles Mögliche, um die Not
zu beheben, und setzten auch die Bevölkerung für die Ernährung der
Gefangenen ein.

Bei der katastropha-


len Ernährungslage im
Kriegswinter 1941/42,
nicht zuletzt durch
STALINS Aufruf zur
>verbrannten Erde<
verursacht, starben
russische Kriegsgefan-
gene in den Sammel-
lagern scharenweise
an Abmagerung, Ty-
phus und Fleckfieber.
Dabei ist auch zu be-
achten, daß die mei-
sten Rotarmisten be-
reits während der
Kesselschlachten völ-
lig unzureichend ver-
pflegt worden waren.

340
Wehrmacht und Hungerwaffe

Als überzeugendes Beispiel sei das der 11. Armee auf der Krim ange-
führt, über die Generalfeldmarschall Erich VON M A N S T E I N , der diese ab
2. September 1941 kommandierte, schrieb: »Trotz aller Nachschub-
Schwierigkeiten hat die Armee alles daran gesetzt - z. T unter Kürzung
der eigenen Verpflegung -, um die zahlreichen Gefangenen, die mangels
Transportraum noch nicht hatten abbefördert werden können, wenig-
stens einigermaßen zu ernähren. Der Erfolg ist gewesen, daß die Sterb-
lichkeit im Jahresdurchschnitt nicht einmal 2 Prozent erreicht hat, eine
Ziffer, die außerordentlich gering erscheint, wenn man bedenkt, daß ein
erheblicher Teil der Gefangenen schwer verwundet oder total erschöpft
in unsere Hände fiel. Einen Beweis dafür, daß wir unsere Gefangenen
gut behandelten, lieferten diese selbst anläßlich der sowjetischen Lan-
dung bei Feodosia. Dort befand sich ein Lager mit 8000 Gefangenen,
deren Bewachung geflohen war. Diese 8000 Mann fielen jedoch keines-
wegs ihren >Befreiern< in die Arme, sondern marschierten — ohne Bewa-
chung - in Richtung Simferopol, also zu uns, ab.«10 16 Erich VON MAN-

Die Deutsche Wehrmacht hat also im Zweiten Weltkrieg in den be- STEIN,Verlorene Siege,
setzten Gebieten nicht nur nicht die »Hungerwaffe« - wie im Gegensatz Athenäum, Bonn
dazu etwa S T A U N vor dem Krieg in der Ukraine oder nach dem Krieg alle 1987, S. 206 (Erst-
Alliierten gegen Deutsche - angewendet, sondern im Gegenteil große auflage 1955).
Flüchtlings- und Gefangenenmassen im Osten nach Möglichkeit versorgt
und vor dem Hungertod bewahrt. Der unberechtigte Vorwurf ist beson-
ders schändlich, wenn er von einem Angehörigen des Staates erhoben
wird, der sich dieses Verbrechens nachweislich selbst schuldig machte,
zum Beispiel auf den berüchtigten >Rheinwiesen< im Sommer 1945 ge-
genüber deutschen Gefangenen, als Lebensmitteltransporte des Interna-
tionalen Roten Kreuzes auf Anweisung General E I S E N H O W E R S wieder
zurückgeschickt wurden, während Zigtausende von deutschen Gefange-
nen in den US-Lagern verhungerten, Rolf Kosiek

341
Z u r angeblichen Brutalität des deutschen Heeres

ährend die alliierten Ankläger in Nürnberg nach 1945 die deutsche


W Wehrmacht beschuldigten, für die Greueltaten in den Grenzregio-
nen der UdSSR verantwortlich zu sein, ein Vorwurf, dem die Zeithistorie
willig gefolgt ist, stellt sich die Sachlage heute anders dar. Als Jahrzehnte
nach Kriegsende die Wissenschaft endlich daran ging, das Zeitgeschehen
der Kriegsjahre 1939 bis 1945 aufzuarbeiten, kam sie zu überraschenden
Ergebnissen, insbesondere, was das Verhalten von Wehrmachtverbän-
den anging Schritt für Schritt mußten Fehler und Mißgriffe korrigiert
werden, die der Geschichtsschreibung bei der Tatzuordnung von Über-
griffen unterlaufen waren, die sich während der deutschen Besatzungs-
zeit ereignet hatten. 1
Dank einschlägiger Analysen der polnischen und ungarischen Institute,
insbesondere der Historiker Bogdan MusiAL und Kriszdän U N G V A R Y so-
wie des Franzosen Stephane C O U R T O I S , des Verfassers des Schwarzbuches
des Kommunismus, konnten zahlreiche Verbrechen aufgeklärt werden, de-
rer das deutsche Heer bezichtigt worden war und für die es nun freige-
sprochen werden mußte. 2 Ebenso haben die Studien des US-Historikers
Arno J. M A Y E R 3 und des Mitarbeiters am Militärgeschichtlichen For-
schungsamt in Freiburg Joachim H O F F M A N N 4 geholfen, Klarheit zu schaf-
fen. Schon 1946 konnte der Verteidiger der deutschen militärischen Haupt-
angeklagten in Nürnberg, Dr. LATERNSER, beweisen, daß die massiven
Anschuldigungen der Anklagebehörde nicht zutrafen. 5 Dasselbe gelang
dem britischen Anwalt P A G E T , der im Hamburger MANSTE7,IN-Prozeß die
Verteidigung führte. 6 Doch die Vorwürfe wurden weiter erhoben.

1 Andreas NAUMANN, Freispruch für die Deutsche Wehrmacht. Unternehmen Barbaros-


sa' erneut auf dem Prüfstand, Graben, Tübingen 2005, S. 391 ff.
2 Bogdan MUSIAL, »Bilder einer Ausstellung«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte,

Nr. 4, 1999, S. 563-591; Krisztiän UNGVARY, »Echte Bilder - problematische


Aussagen«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Nr. 10, 1999, S. 584-595;
Stefane COURTOIS, Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen
und Terror, Piper, München 1998.
1 Arno J. MAYER, Der Krieg als Kreuzgug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und

die »Endlösung«, Rowohlt, Hamburg 1989,


4 Joachim HOFFMANN, Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945, Verlag für Wehrwis-

senschaften, München 1995.


5 Dr. LATERNSER im OKW-Prozeß vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürn-

berg, vgl. NAUMANN, aaO. (Anm.l), S. 3 9 2 .


6 Dr. PAGET, Generalfeldmarschall VON MANSTEINS britischer Anwalt im Ham-

burger Kriegs Verbrecher prozeß 1948.

342
Von links: Die Tatzu-
ordnung von Über-
griffen in der ersten
Phase des • Unterneh-
mens Barbarossai
wurde durch die Stu-
dien von Bogdan Mu-
SIAL, Krisztiän UNC.VÄRY
und Arno J. MAYER
entscheidend korri-
giert.

MUSIAL und UNGVARY sind es gewesen, die gegen den Widerstand von
Philipp REEMTSMA, Hannes HF.ER und deren Sympathisanten die grund-
legende Debatte um die von diesen durchgeführte Wehrmachtausstel-
lung neu auf den Weg gebracht haben, die bis dahin das deutsche Heer
in ungerechtfertigter Weise belastet hatte. Ihnen gelang der Nachweis,
daß große Teile des dort verwendeten Fotomaterials nicht nur falsch zu-
geordnet waren, sondern statt angeblicher deutscher Verbrechen solche
des sowjetischen Geheimdienstes (NKWD) offenbarten. Überhaupt
stammten die meisten der in der Wanderausstellung gezeigten Fotogra-
phien aus den Fälscherwerkstätten STALINS. Das führte dazu, daß die 7 NAUMANN, a a O
Ausstellung 1999 zurückgezogen werden mußte. Walter POST und Rüdi- (Anm. 1), S. 392 ff.
ger PROSKE hatten zuvor bereits klargestellt, daß hier nicht nur grob fahr- s Walter POST, Die

lässig, sondern bewußt verleumderisch vorgegangen worden war, um die verleumdete A rmee.
unbewiesene und falsche Behauptung abzustützen, die Wehrmacht habe Wehrmacht und Anti-
am Völkermord mitgewirkt.8 Wehrmacht- Propagan-
da, Pour le Mérite,
Ihnen sowie den oben genannten Historikern ist es zu verdanken, daß Selent 1999; Rüdi-
wir heute unzweifelhaft wissen: Eine Tatbeteiligung der Wehrmacht an g e r PROSKE, Vom
den Ausschreitungen 1941 in Kaunas, Lemberg und Tarnopol hat es eben- Marsch durch die
so wenig gegeben wie an den Massakern in Lubny, Minsk, Bialystok, Shito- Institutionen zum Krieg
mir, Kiew, Charkow, Kamenez-Podolsk und Krivoj Rog. Gleiches trifft gegen die Wehrmacht, v,
zu für die Städte Dubno, Luzk, Dobromil, Zolkiew, Brzeznay, Rudki, Hase u. Koehler,
Komarno, Pasichna, Ivano-Frankivsk, Cortkow, Rowno, Sarny, Drogo- Mainz 21997.
bych, Sambor, Stalino und zahlreiche andere Orte der ehemaligen UdSSR." 9Siehe dazu auch:
Als die Ausstellungs-Dokumentation des Hamburger Instituts für So- Militärgesch i c h tli -
zialforschung Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, che s Forschungsamt
die erstmals am 5. März 1995 gezeigt worden war, nach 32 Stationen mit (MGFA) (Hg.), Das
Deutsche Reich und der
über 800000 Besuchern im Herbst 1999 nach Hamburg zurückkehrte, Zweite Weltkrieg, Bd.
von wo sie ihren Ausgang genommen hatte, schien ihr der Erfolg sicher. 4, S. 778 ff.
Bisher hatte kein anderer geschichtspolitischer Vorgang die Bürger der
Bundesrepublik so stark aufgewühlt. Die Ausstellung, der es darum ging,
»den Mythos von der sauberen Wehrmacht« zu zerstören, war von politi-

343
schen Auseinandersetzungen und gewaltsamen Demonstrationen
begleitet gewesen. Selbst einen Sprengstoffanschlag hatte es ge-
geben. Die scheinbar gut dokumentierte Geschichtsrecherche
schien sich weitgehend durchgesetzt zu haben, als plötzlich neuer
Streit aufflammte. Auslöser waren drei Aufsätze, die in den Okto-
berausgaben zweier geschichtswissenschaftlicher fach zeit Schrif-
ten im Jahre 1999 erschienen, in denen den Aussteilungsmachern
fahrlässiger Umgang mit Bildquellen sowie Fälschung zum Vor-
wurf gemacht wurde.
So konnte der polnische Historiker Bogdan MUSLAL in den Vier-
teljahrsheften für Zeitgeschichte an vielen Fotos, die in der Ausstellung
gezeigt wurden, nachweisen, daß sie den Archiven des NKWD
entstammten und sowjetische Greueltaten dokumentierten. Bei
weiteren entdeckte er falsche Zuordnungen des Bildmaterials zu
den zugrunde gelegten Texten.10
Darüber hinaus gelang dem ungarischen Historiker Krisztiän
UNC,VARY der Nachweis, daß nur 10 Prozent des Bildmaterials
Vorgänge zeigten, die überhaupt mit der deutschen Wehrmacht
Der Mythos von der >deut-
zu tun hatten, neunzig Prozent dagegen im Zusammenhang mit
schen Brutalität< wurde auch
von der US-Propaganda-Be-
der angestrebten Beweisführung gegenstandslos waren. UNGVÄRY
hörde »Office of War Informa- war aufgrund seiner in der Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und
tion" genährt, deren in Eng- Unterricht veröffentlichten »quantitativen und qualitativen Analy-
land stationierter se« des Fotomaterials zu diesem Ergebnis gekommen. Im selben
Mitarbeiterstab allein für Heft bestätigte Dieter S C H M I D T - N E U H A U S den Befund M Ü S I A L S ,
Deutschland über 180 Millio-
daß es sich bei den Tarnopol-Fotos der Ausstellung eindeutig um
nen Flugblätter und Plakate
herstellte, für die Künstler wie NKWD-Mord opfer, nicht aber um solche der Wehrmacht gehan-
Norman R O C K W E L und Ben delt hat.11
S M A H N verpflichtet wurden. Es zeigte sich, daß die Hersteller der Ausstellung ebenso wie
Die in Nürnberg vorgetrage- mancher Autor der neueren Zeitgeschichte die Ergebnisse der
nen massiven Anschuldigun-
gen gegen die deutsche Wehr-
grundlegenden Studie des bekannten US-Holocaust-Forschers
macht konnten jedenfalls Arno J, M A Y E R Der Krieg als Kreuzzug 11 offenbar ebenso wenig zur
nicht aufrechterhalten werden. Kenntnis genommen hatten wie das Schwarzbuch des Kommunismus
Aus: Deutsche Geschichte in von Stephane C O U R T O I S .
Bildern, Koehler & Amelang, Damit erscheinen nun die Vorgänge des Jahres 1941 im Zu-
München 1997,
sammenhang mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjet-

l<1 Bogdan MUSIAL, »Konterrevolutionäre sind zu erschießen«, in: Frank-


furter Allgemeine Zeitung, 30. 10. 1999, S. 11.
11 Dieter SCHMIDT-NEUHAUS, in: Die Zeit, Nr. 44,1999.
12 MAYER, aaO. (Anm. 3 ) , in englischer Originalfassung: Why Did The

Heavens Not Darken? The Final Solution, in History, Pantheon Books, a


Division of Random House Inc., New York 1988.

344
Die Exekution von
hundert Partisanen in
Kodyma im Raum Ni-
kolajew ist ein Bei-
spiel für konsequentes
Verhalten des Ange-
griffenen. Diese Parti-
sanen waren in Kody-
ma eingedrungen, um
das Hauptquartier der
deutschen Infanterie-
division zu liquidie-
ren. Sie wurden er-
tappt, gefangen und
alle, die eine Waife
trugen, in der Abend-
dämmerung erschos-
sen. Die Hinrich-
tungsszene wurde von
einem Wehrmachtan-
gehörigen heimlich
fotographiert. Aus:
Paul C A R E L L , Der Ruß-
landkrieg, Frankfurt/
M .-Berlin 1967.

union erstmals in neuem Licht. Nahezu fünfzigjahre nach den bedrük-


kenden Ereignissen jener Tage weist M A Y E R aufgrund neuer Quellen nach,
wie es zu den Massakern und Greueln während der ersten Wochen des
>Barbarossa<-Feldzuges kommen konnte. Daraus ergibt sich, daß weder
die Wehrmacht noch die deutschen Einsatzgruppen »maßgeblich an ih-
rer Ausführung beteiligt« gewesen sind. »Die Haupttäter waren fanati-
sche antisowjetische Ivetten, Litauer, Esten, Ukrainer und Rumänen, de-
nen einerseits der Kreuzzugs-Feldzug gegen die Sowjetunion und
andererseits die beträchtlichen Restbestände einer alt eingewurzelten Ju-
denfeindlichkeit für ihre eigenen ultranationalistischen politischen Ziele
gerade recht kamen.«11 Das ist ein nun zweifels freies Ergebnis, das vor
allem die deutsche Wehrmacht endastet, die aufgrund fortgesetzter so-
wjetrussischer Verleumdungen nach Kriegsende, insbesondere bei den
Kriegsverbrecher-Prozessen in Nürnberg, für die Greuel verantwortlich
gemacht wurde und noch heute oft unberechtigt vor der Weltöffentlich-
keit damit belastet wird. Andreas Naumann

N MAYER, a a O ( A n m . 3 ) , S . 4 0 1 f f .

345
Die Juden-Massaker von Kaunas (Kowno)
in Litauen

ntgegen den Tatsachen werden seit Kriegsende die Ausschreitungen


E in Litauen 1941 gegen dort lebende Juden der deutschen Wehrmacht
in die Schuhe geschoben. Der US-Historiker und Deutschjude Arno J,
1 Arno J . MAYER: M A Y E R ist es gewesen, der in seinem Buch Der Krieg ah Kreuzug1 nach-
Der Krieg als Kreu weisen konnte, daß diese Anschuldigungen nicht zutreffen. Nachfolgend
%ug. Das Deutsche ein Auszug daraus:
Reich, Hitlers Wehr- »Der erste Ausbruch geballter Gewalt gegen Juden ereignete sich in
macht und die »Endlo- Kaunas, das seit 1920, als Polen sich Wilna einverleibt hatte, Hauptstadt
sung«, Rowohlt, von Litauen war. Von den rund 110000 Einwohnern, die Kaunas 1941
Hamburg 1989.
hatte, waren etwas mehr als 25 Prozent Juden. Als sowjetische Armee-
2 Ebenda, S. 394.
Einheiten und Politkader sich am 24. Juni 1941 aus der Stadt zurück-
zogen, wurden sie von örtlichen Partisanen, die zugleich Ultranationalisten
waren, attackiert. Diese von einem Mann namens K l I M E I T I s angeführten
Die Massentötung Freischärler nutzten das nun entstehende politische Vakuum, um in Kau-
von Kaunas Ende Juni
nas die Kontrolle zu übernehmen und an Moskau Rache für die Wieder-
1941. Aus: Hellmuth
annektierung dieses Landes zu nehmen - sie taten dies, indem sie sich
Günther DAHMS, Der
Zweite Weltkrieg in
auf stadtbekannte Kommunisten und Juden stürzten. Die Übergriffe ge-
Text und Bild, Her- gen die Juden begannen am Abend des 25. und hielten bis zum Abend
big, München M999. des 29. Juni an. Im Verlauf dieser vier Tage und Nächte wurden rund
3 8 0 0 J u d e n e r m o r d e t und
zahlreiche Synagogen und jü-
dische Wohnhäuser in Brand
gesteckt. Hunderte von Juden
wurden auf offener Straße zu
Tode geprügelt, aber die mei-
sten Opfer wurden zur Er-
schießung in die außerhalb
von Kaunas gelegene Festung
verschleppt. Weitere 1200Ju-
den wurden zur gleichen Zeit
in benachbarten Ortschaften
umgebracht.«
Das war aber noch nicht al-
les. M A Y E R stellt ferner fest:
»Eine Woche später, zwischen
dem 4. und 6. Juli, metzelten
litauische Mörderbanden wei-
tere 2930Juden und 47Jüdin-

346
nen nieder.«' M A Y E R bezeugt: An keiner dieser Aktionen waren
Deutsche beteiligt, weder in Gestalt der Wehrmacht noch in
der der SS-Einsatzgruppen, wiewohl letztere sich dieselben zu-
gute hielten. Vielmehr handelte es sich um sogenannte »wilde«
Pogrome, begangen von selbsternannten Iitauischen »Freiheits-
kämpfern«, die Antisemiten »traditioneller, nicht rassistischer
Provenienz« waren und nicht in Verfolgung einer systemati-
schen Ausrottungspolitik handelten, sondern aus Rachegefüh-
len heraus. »Als Opfer wählten sie sich offenkundig in erster
Linie erwachsene männliche Juden. Nach einem weiteren töd-
lichen Pogrom, der noch einmal mehrere hundert männliche
Juden das Leben kostete, trieben deutsche Sicherheitskräfte die
Juden von Kaunas in ein Ghetto im Vorort Viliampol,... allem
Anschein nach ohne jeden Gedanken daran, sie nach dem Krieg,
den man in Kürze gewonnen sah, allesamt umzubringen.«4
M A Y E R ist es, der als erster erkannte, daß diese von den Deut-
schen improvisierten Ghettoisierungen der Juden reine Sicher-
heitsmaßnahmen zum Schutz für diese waren und vielen das
Leben retteten. Galt es doch, den jüdischen Bevölkerungsan-
teil vor den fortgesetzten brutalen Ubergriffen selbsternannter Ein mit einem Holzknüppel be-
einheimischer »Freiheitskämpfen in Schutz zu nehmen. Genau waffneter litauischer Nationalist
in diesem Sinne wurde die Maßnahme übrigens auch von den präsentiert sich vor einer Reihe
eilig eingerichteten Heeres-Ortskommandanturen verstanden. erschlagener jüdischer Einwohner
der Stadt Kaunas, vermutlich zwi-
Denn, wie M A Y E R ausdrücklich feststellt, war an eine systema-
schen dem 24. und 27. Juni
tische Beseitigung der Juden von Seiten der Deutschen zu die- 1941. Ausstellung BA Ludwigs-
sem Zeitpunkt überhaupt nicht gedacht. Wohl aber sorgten sich burg, Raum 6.
die eilig eingerichteten örtlichen Befehlsstellen angesichts der
immer neu aufflackernden Pogrome um die Sicherheit der Ju-
den. Da die durchziehenden Heeres verbände einen nachhaltigen
Schutz nicht gewährleisten konnten, war es geboten, gefährde-
te Bevölkerungsteile in bestimmten Stadtvierteln zusammen-
zufassen, wo sie einen Selbstschutz bilden und besser unter-
stützt werden konnten.5 3 Ebenda, S. 394 ff.
Ahnlich wie in Kaunas erging es den Juden auch in anderen 4 Ebenda, S. 396.
litauischen Städten, wo sie blutigen Exzessen durch ansässige 5 Andreas N A U M A N N ,
Bevölkerungsteile ausgesetzt w'aren. Auch in Schaulen und Wilna Freispruch für die Deutsche
sowie in zahlreichen weiteren Ortschaften Litauens wurden Wehrmacht. >Unternehmen
Übergriffe beobachtet. Ebenso wenig blieben die Juden in Lett- Barbarossa< erneut auf dem
land und Estland von der Verfolgung durch Einheimische ver- Prüfstand, Grabert, Tübingen
schont. Libau, Mitau, Riga und Dünaburg waren Schauplätze 2005, S. 498 ff.
»wilder« Pogrome, ebenso Dorpat, Pernau und Reval. Fast das
gesamte Baltikum war betroffen. Andreas Naumann

347
Das Juden-Massaker 1941 in Tarnopol
in der Ukraine

ie der polnische Historiker Bogdan MUSIAL darlegt, haben sich auch


W in Tarnopol die Ereignisse bei den Massakern anders abgespielt,
als die Schöpfer der Wehrmachtaussteilung, HEER und REEMTSMA, be-
haupteten: »Am 22. Juni 1941 befanden sich im Gefängnis von Tarnopol
1790 Häftlinge. Ende Juni führte der N K W D eine Kolonne von 1200
Häftlingen aus der Stadt; ihr Schicksal ist bis heute unbekannt. Am 2. Juli
abends flüchteten die letzten sowjetischen Truppen aus Tarnopol. Am frü-
hen Morgen des nächsten Tages brachen die Tarnopoler in das Gefängnis
ein, um nach den Angehörigen zu suchen. Im Keller fanden sie ein Mas-
sengrab und einen Raum, beide voller Leichen. Im Innenhof entdeckte
man ein weiteres Massengrab, mit Rasen getarnt. Viele Leichen waren ver-
stümmelt, sie befanden sich teilweise in fortgeschrittenem Verwesungssta-
dium. Unter den Leichen im Keller befanden sich 10 deutsche Soldaten,
Fotos zum Komplex
¡Pogrom in Tarnopol<
die ebenfalls stark verstümmelt waren. Nach NKWD-Angaben wurden in
aus dem Ausstel- Tarnopol 574 Gefangene getötet, die übrigen waren abtransportiert wor-
lungskatalog: »In Tar- den. Augenzeugen nennen die Zahl von einigen hundert bis tausend.« 1
nopol stiftete das Die in der REEMTSMASchen Wehrmachtausstellung gezeigten Fotos auf
Sonderkommando 4b Seite 69 des Katalogs entstanden am Nachmittag des 3, oder 4. |uli 1941.
Anfang Juli 1941
Bei den darauf abgebildeten Uniformierten, die vor den Leichen ste-
antijüdische Pogrome
gezielt an«, heißt es
hend zu sehen sind, handelt es sich zwar um deutsche Soldaten, doch sie
wahrheitswidrig auf stehen dort nicht als Mörder, sondern als zu spät gekommene Befreier,
Seite 68. die erschüttert das makabre Bild betrachten. 2

1 Bogdan MUSIAL, »Konterrevolutionäre sind zu erschießen«, Frankfurter Allge-

meine Zeitung, 30. 10. 1999,S. 11.


2 Siehe auch NAUMANN, Freispruch fürdie Deutsche Wehrmacht. Unternehmen Barbaros-

sa•< erneut auf dem Prüfstand, Grabert, Tübingen 2005, S. 396; POST, Die verleumdete
Armee. Wehrmacht und Wehrmacht-Propaganda, Pour le Mérite, Selent 1999, S. 254.

348
Ausstellungsfoto zum
Komplex >Pogrom in
Tarnopol'. Die Aus-
steller führten als »Be-
legt die Ereignismel-
dung UdSSR Nr. 28
des SS-Sonder-Kom-
mandos 4b an, die
schon in Nürnberg als
Falschmeldung des
Sonder-Kommandos
gewertet wurde.

Inzwischen ist es gelungen, die Entstehung der Fotos mit Hilfe von
Zeit- und Augenzeugen zu klären. Die deutsche Wehrmacht war, entge-
gen den Behauptungen der Aussteller, an den Tarnopol-Morden nicht
beteiligt, Sie hat vielmehr, wie Walter POST nachweist, anschließende
Racheakte der Einheimischen nach Kräften unterdrückt. Angesichts der
Unruhen hatte der kommandierende General des XIV. Armeekorps, Ge-
neral VON WIETERSHEIM, den Artilleriekommandeur der 9. Panzerdivisi-
on, Oberst SANDER, mit der Einrichtung einer Stadtkommandantur be-
auftragt, um in Tarnopol umgehend Ordnung zu schaffen. Bevor die
Truppe weitermarschierte, war der Stadtkommandant vollauf mit dieser
Aufgäbe beschäftigt. Der damalige Adjutant in der 9. Panzerdivision,
Oberleutnant Carl-Hans HERMANN, berichtete nach dem Krieg, »es be-
durfte einer straffen Führung, um die empörte Stadtbevölkerung von
Ausschreitungen zurückzuhalten«, Ixider gelang es dem Kommandan-
ten nicht, die Racheakte gänzlich zu unterbinden, weshalb es dennoch zu
rund 600 Opfern gekommen ist, worunter auch Juden waren. POST fügt
hinzu: »Das Sonderkommando 4b der SS-Einsatzgruppe C trieb in Tar-
nopol seine eigene Politik und erschoß etwa 50 Personen, die der Teil-
nahme an den NKWD-Verbrechen beschuldigt wurden,« 3

3 POST, ebenda, S. 247 ff.

349
Interessant ist dabei folgendes: In der Ereignismeldung UdSSR Nr. 28
des SS-Sonder-Kommandos 4b steht zu lesen: »Die durchziehenden Trup-
pen, die Gelegenheit hatten, diese Scheußlichkeiten und vor allem auch
die Leichen der ermordeten deutschen Soldaten zu sehen, erschlugen
insgesamt 600 Juden und steckten ihre Häuser an.«
Damit sollte dem Empfänger der Meldung, dem Reichssicherheits-
hauptamt (RSHA), vorgetäuscht werden, die Wehrmacht sei für die Tar-
nopol-Morde verantwortlich. In Nürnberg konnte jedoch nachgewiesen
werden, daß es sich dabei um eine bewußte Falschmeldung des SS-Kom-
mandos gehandelt hat. Das konnte zugunsten des deutschen Feldheeres
4 Ebenda, S. 249; gerichtlich geklärt werden. So stellte der US-Militärgerichtshof II in sei-
Die Behandlung der nem Urteil im SS-Einsatzgruppenprozeß fest, »daß Ausschreitungen in
sowjetischen Kriegsge- Tarnopol stattgefunden hatten, daß 600 Juden ermordet worden waren. ,.
fangenen im Fall getötet durch die Bevölkerung«.4
Barbarossa, C, F.
Müller, Karlsruhe Der Fall Tarnopol war also bereits seit Ende der vierziger Jahre ge-
1981, S. 153 ff. richtsbekannt, und es stand fest, daß die Deutschen daran nicht schuldig
5 Alfred STREIM,
waren. Die von Seiten des Hamburger Instituts für Sozialforschung im
Die Behandlung Rahmen der Wehrmachtausstellung erhobene Anschuldigung gegen die
sowjetischer Kriegsge- Wehrmacht kann mithin nicht anders als grob fahrlässig, wenn nicht schär-
fangener im Fall fer, beurteilt werden. Ihr hätte das Urteil bekannt sein müssen.
»Barbarossa«, C. F. Helmut K R A U S N I C K hat in seiner Studie Hitlers Einsatzgruppen bereits
Müller, Karlsruhe die Vermutung ausgesprochen, den Ereignismeldungen UdSSR der SS-
1981. Einsatzgruppen käme nur ein begrenzter Wahrheitsgehalt zu. Bei der E-
6 Arno J . MAYER, Meldung UdSSR Nr. 28 des Sonderkommandos 4b erweist sich das als
Der Krieg als Kreuz- zutreffend. Offenbar wurden mit derartigen Falschmeldungen bestimm-
zug. Das Deutsche te SS-spezifische Zielsetzungen verfolgt, die das Heer als Tätergruppe
Reich, Hitlers belasten sollten, um möglicherweise später einmal die alleinige Täter-
Wehrmacht und die schaft ableugnen zu können. Auch Alfred S T R E I M bestätigt in seiner Stu-
»Endlösungen, Ro-
wohlt, Hamburg die zur Kriegsgefangenen frage diese Feststellung,5 ebenso Arno J. MAY-
1989, S. 417 ff. ER in seinem Buch Der Krieg als Kreuzung!' Andreas Naumann

Außer den umseitig abgebildeten Fotos haben die Verantwortlichen der


AntiAVehrmachtausstellung einen Feldpostbrief (den sogenannten
>Franzl-Brieft) als vermeintliches Schlüsseldokument angeführt. Dieter
S C H M I D T - N E U H A U S , der sich mit dem Tarnopol-Komplex eingehend be-
faßt hat (»Die Tarnopol-Stellwand der Wanderausstellung »Vernichtungs-
krieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, in: Geschichtein Wissenschaft
und Unterricht, Nr 10,1999, S. 596—603), kommt in seiner Analyse zu dem
Schluß, daß der >Franzl-Brief »kein authentischer Feldpostbrief« ist. »Fr
ist nur die authentische Abschrift von einem nicht mehr vorhandenen

350
antijüdischen Propagandaaushang untergeordneter Wiener NPD-Funk-
tionäre«, dessen Entstehung im einzelnen nicht bekannt sei, und somit
ist der >Franzl-Brief< kein Beweisdokument.

351
Tarnopol - Juli 1941 und die >Gewissens-
erforschung< des Grafen Kageneck 1996

on August Graf VON KAGENECK, einem Journalisten, der in Paris


V lebte und fast dreißig Jahre lang Korrespondent deutscher Zeitun-
gen war, erschien 1996 ein Buch Examen de Conscience - Gewissenserfor-
schung - und fand große Beachtung, Die bekannte französische Tages-
zeitung Le Figaro hat das Buch in einer ausführlichen Besprechung als
herausragenden Beitrag zur Zeitgeschichte gewürdigt mit der Balken-
überschrift: »Von Kageneck, ein deutscher Aristokrat in seiner Qual«.
Obwohl das Buch nur in französischer Sprache erschienen war, wurde es
damals in der deutschen Presse ebenfalls ausführlich besprochen, so auch
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. November 1996, Der Verfas-
ser Adalbert WEINSTEIN schließt mit den Wörtern »Bis zur letzten Zeile
ein merkwürdiges Buch — voller Widersprüche und voller Anregungen.
Es mußte wohl geschrieben werden.«
Diese Rezension erregte die Aufmerksamkeit ehemaliger deutscher
Soldaten, die, ebenfalls wie Herr VON KAGENECK, den Einmarsch der
August Graf VON KA-
deutschen Wehrmacht 1941 in die Sowjetunion und die Kriegsjahre dort
GENECK (1922-2004).
erlebt hatten. KAGENECK war damals junger Leutnant in der Aufklärungs-
In seinem Buch Ex- abteilung der 9. Panzerdivision, die bei dem schnellen Vormarsch An-
amen de Conscience fang Juli 1941 die Stadt Tarnopol in Galizien eingenommen hatte. Im
führt er den >Franzl- Jahre 1996 berichtet nun Herr VON KAGENECK, damals neunzehnjähriger
Briefi an als zusätzli- Führer eines Panzerspähzuges, in seinem Buch wörtlich, was ihm einer
chen Beleg für seine
These von der Ermor-
seiner Soldaten, den er sogar beim Namen nennt, als angeblicher Augen-
dung aller Tarnopoler zeuge vom Geschehen in Tarnopol erzählt haben soll. So ist zu lesen:
Juden durch die ;Wi- ». . . Was für ein Tag! Wir fallen todmüde um. Bei meinen Männern
king<-Division. gibt es keine Verluste, aber einem Spähwagen ist von einer Pak (Panzer-
abwehrkanone) das rechte Rad abgerissen worden. Wir müssen ihn bei
den Kameraden des Werkstattzuges vom Bataillon unter guter Obhut
des Gefreiten REIFF zurücklassen. . . Herr Leutnant, kommen Sie mit zu
REIFF, der merkwürdige Geschichten erzählt, nachdem er aus Tarnopol
zurückgekommen ist, sagt zu mir: A . REIFF hat seinen reparierten Späh-
wagen vor kaum einer Stunde zurückgebracht und erzählt seinen Kame-
raden, was er in der kleinen Stadt während der durch die Reparatur er-
zwungenen Wartezeit gesehen hat. Was er erzählt, ist unglaublich.
Am Tag nach der Einnahme der Stadt durch unsere Truppen sind die
ersten Einheiten der SS-Division >Wiking< in Tarnopol eingetroffen. Eine
motorisierte Division, verstärkt durch einige Panzereinheiten.
Die Leute der >Wiking< sind tolle, furchterregende Kerle. Typen, auf

352
die man zählen kann, zäh wie Leder und gute Kameraden, fröhlich, selbst-
bewußt und zuverlässig. ..
Also, sagt REIFF, sie sind zwei Tage gebheben und haben die Gelegen-
heit benutzt, alle Juden der Stadt umzubringen. .. Alle Juden? - Ja, alle
Juden. .. Wie weißt Du, daß es Juden waren? . . . Das sieht man doch, die
Nase, der Bart, die komische Kleidung. Und es gab viele, sehr viele. ..
>Wieviele Tote hat es gegeben?* >Ich weiß es nicht, aber es lagen überall
Leichen herum, in Massen, an der Mauer auf einem Platz, an einer Brük-
ke endang, von wo aus sie auch in den Fluß geworfen wurden. Es waren
da Zivilisten, Polen und Ukrainer, die bei der Jagd mitmachten. Das ist
über einen Tag gegangen, und am nächsten haben sie weitergemacht.
Ein Offizier hat ihnen zu verstehen gegeben, sie sollten Munition sparen
und Spaten und Kreuzhacken nehmen. Einer hat mich dabei erwischt,
wie ich Aufnahmen machte, und mir die Kamera weggerissen.* Der dies
bezeugende Soldat lebt immer noch in seinem schönen Städtchen Kehl.
Er hat nie in der Öffentlichkeit darüber sprechen wollen, bleibt aber bei
seiner Aussage vom 4. oder 5. Juli 1941. ,. Also? Die fünfzehn- oder
zwanzigtausend Juden von Tarnopol, was bedeuteten sie an jenem 6.
oder 7. Juli 1941 dem armen kleinen Panzerleutnant, der bereits unbe-
merkbar ein Werkzeug des großen Apparats geworden war, der Europa
seit drei Jahren zermalmte?**
Soweit wörtlich die Zitate aus dem 1996 erschienenen Buch zum Ka-
pitel Tarnopol.
Die Truppenteile der Division >Wiking* waren Anfang Juli 1941 auf
dem Eilmarsch zur Front nach Osten, Wer bei stockendem Verkehr in
den Straßen der Stadt von den schrecklichen Ereignissen der Tage zuvor
überhaupt etwa zu sehen bekommen hat, konnte von den tatsächlichen
Vorgängen nur erfahren, wenn polnisch sprechende Kameraden wäh-
rend kurzer Aufenthalte die einheimische Bevölkerung befragten. Nach
den Schilderungen der Zivilisten in Tarnopol, denen das Grauen noch
im Gesicht stand, hatte die Rote Armee, besonders Truppen des NKWD,
vor ihrem Abzug ein grauenvolles Blutbad unter den zumeist ukraini-
schen Einwohnern angerichtet und alle Gefängnisinsassen ermordet,
ebenso auch in Lemberg und vielen anderen Orten, wie später bekannt
wurde. Auch die ersten deutschen Soldaten, die in russische Gefangen-
schaft geraten waren, wurden Opfer unvorstellbarer Grausamkeiten. Als
sie unter den im Gefängnis aufgestapelten Leichen gefunden wurden,
zeigte es sich, daß sie ebenso wie die gefangenen Ukrainer schwerste
Foltermerkmale aufwiesen.
Es ist bekannt, daß die einheimische Bevölkerung nach dem Abzug
der Bolschewiken Rache nahm und viele Juden von ihr getötet wurden,
weil man sie als mitverantwortlich für die Ermordung ihrer Angehörigen

353
ansah. Diese für beide Seiten schrecklichen Geschehnisse sind nur aus
der Gesamtlage des Sommers 1941 zu begreifen.
Herr VON K A G E NECK hat in seinem 5 5 Jahre später veröffentlichten
Buch nicht die Ursachen dieser Vorfalle erforscht und nicht die wahren
Zusammenhänge genannt, sondern die verleumderische Behauptung
aufgestellt, daß die SS-Division >Wiking< Tausende von Juden ermordet
hat.
Ein Angehöriger dieser Truppe, der zur gleichen Zeit durch Tarnopol
kam und aus eigenem Erleben wußte, daß diese Beschuldigungen nicht
zutrafen, stellte nunmehr eigene Nachforschungen an. Er suchte den im
Buch als Berichterstatter und Zeugen genannten ehemaligen Gefreiten
Karl R E I F E in seinem Heimatort Kehl auf und legte ihm die betreffenden
Buchauszüge in Übersetzung vor, in denen seine angeblichen Aussagen
wördich zitiert wurden. Der alte Kamerad war äußerst befremdet und
bestritt energisch, jemals einen solchen Bericht abgegeben zu haben. Da
er selber gar nicht in Tarnopol gewesen sei und keinen Fotoapparat be-
sessen habe, so erklärte er, habe er die entsprechenden Aussagen gar
nicht machen können.
Daraufhin wurde Graf VON K A G E N E C K um eine Stellungnahme gebe-
ten und ihm von mehreren Seiten mitgeteilt, daß die von ihm behaupteten
Judenmorde durch die Division >Wiking< keinesfalls auf Wahrheit beruhen.
Es ergab sich nun ein Schriftwechsel, in dem er seine Beschuldigungen
hinsichtlich dieser Division als Irrtum bezeichnete und darauf hinwies,
daß er diesen in Leserbriefen an FAZ, Welt, Le Figaro und Le Monde be-
richtigt habe. Hinsichtlich des Geschehens in Tarnopol beharrte er aber
auf seiner Version und schrieb, daß es dann eben andere SS-Einheiten
waren! Von seinem als Zeugen genannten ehemaligen Gefreiten R E I F F
wünschte er eine schriftliche Bestätigung, daß er ihm damals über die im
Buch geschilderten Vorgänge in der zitierten Weise berichtet habe. Ob-
wohl heute noch die Autorität des adligen Offiziers für einen Soldaten
von Bedeutung sein dürfte, und es sicher nicht leicht war, einem gewand-
ten Journalisten entgegenzutreten, hat Karl R E I F F als Ehrenmann gehan-
delt und Herrn V O N K A G E N E C K so geantwortet, wie es ihm sein Gewissen
vorschrieb:
»Karl R E I F F , Gerbereistraße 6, 77694 Kehl-Kork - Kehl, 22. 10. 1997
Mein alter Kriegskamerad August Graf VON K A G E N E C K .
Was haben Sie mir angetan. Sie haben ein Buch geschrieben über Tar-
nopol. in französischer Sprache. Dies wurde mir vor einigen Wochen
von zwei mir fremden Männern mitgeteilt. Bei den mit ihnen geführten
Gesprächen legten sie mir Fotokopien von dem ins Deutsche übersetz-
ten Buche vor. Sie fragten, ob ich wüßte, daß ich darin mit meinem Na-
men genannt bin. Mir war natürlich weder etwas von einem Buch über

354
Tarnopol noch von der Nennung meines Namens bekannt. Und beim
Durchlesen der einzelnen Seiten mußte ich feststellen, daß mein Name
mehrmals genannt wurde. Hierzu möchte ich folgendes sagen und auf
Ihr Schreiben vom 20. 5. 97 Bezug nehmen.
Ich war nicht in Tarnopol. Ich stand mit meinem Spähwagen am Ende
unserer Kolonne vor Tarnopol und hatte die rechte Seite zu sichern. Zu
Kampfhandlungen kam es nicht. Mir wurde kein Vorderrad am Spähwa-
gen weggeschossen und mußte somit nicht zurück in die Werkstatt. So-
mit konnte ich meinen Kameraden auch nichts erzählen, wovon man in
der Werkstatt sprach. Ich kam nicht in die Stadt Tarnopol und habe nichts
von den Morden an der Zivilbevölkerung gesehen. Mir hat kein SS-Mann
einen Fotoapparat aus den Händen gerissen, da ich keinen besessen habe.
Was wir bei einem Treffen in Wien besprochen haben, ist mir nicht mehr
bekannt. Jedenfalls nichts von Tarnopol.«
Trotz dieser eindeutigen Erklärung betonte Herr VON K A G E N E C K in
einem Brief, daß er an seiner Darstellung der Vorgänge nicht den gering-
sten Zweifel habe. Tatsache aber bleibt, daß der von ihm ohne sein Wissen,
und ohne vorher sein Einverständnis einzuholen, als Zeuge dafür be-
nannte ehemalige Soldat seines Zuges diese Schilderung nicht bestätigt,
nicht bestätigen kann, weil er derartige Geschehnisse nicht erlebt hat.
Diese Richtigstellung hielt den Grafen VON K A G E N E C K aber nicht davon
ab, in seinem 1998, ein Jahr später, erschienenen Buch In Zorn und Scham
(v. Hase & Koehler Verlag, Mainz) die gleichen unwahren Behauptungen
zu wiederholen. Er belastete nun nicht mehr die SS-Division >Wiking<
mit den angeblich gesehenen Judenmorden, sondern einfach andere SS-
Einheiten, wie schon bei seinen Leserbriefen an die Presse. Einen Zeu-
gen hat er nach wie vor nicht, denn die schriftliche Erklärung des von
ihm genannten ehemaligen Gefreiten R E I F F ist völlig glaubwürdig, auch
wenn Herr VON K A G E N E C K an seiner Darstellung festhält.
Die Bücher VON K \ G E N E C K S sind demnach eher bezeichnende Bei-
spiele für opportunistische Journalistik in der Nachkriegszeit und einsei-
tige, die deutschen Soldaten unberechtigt diffamierende Geschichtsschrei-
bung als Tatsachenberichte. Günter Stübiger

355
Die Lemberger Juden-Massaker 1941

J
ahrzehntelang wurde nach 1945 die deutsche Wehrmacht für die An-
fangjuli 1941 in Lemberg geschehenen Massaker verantwortlich ge-
acht, die an den dort lebenden Juden beim Einmarsch der Deutschen
stattfanden. Die erst spät anerkannte historische Wirklichkeit ist jedoch
gerade das Gegenteil: Diese Pogrome begannen sofort nach dem Abzug
der Sowjets schon vor dem Eintreffen der Deutschen, als die Einheimi-
schen, vor allem ukrainische und polnische Nationalisten, sich für die
vom sowjetischen Geheimdienst in den Tagen zuvor verübten tausend-
fachen grausamen Morde und Deportationen rächen wollten. Als die
deutschen Truppen dann einrückten, haben sie an den Pogromen nicht
nur nicht teilgenommen, sondern diese unterbunden. Ein jüdischer US-
Historiker schreibt darüber:
»Ahnlich wie den Juden im Baltikum erging es auch ihren Glaubens-
genossen im östlichen Galizien. Lemberg war die H a u p t s t a d t dieser ehe-
mals polnischen Provinz. Unter seinen mehr als 3 0 0 0 0 0 Einwohnern
waren über 1 0 0 0 0 0 Juden, die drittgrößte jüdische Gemeinde im Polen
der Zwischenkriegsperiode nach Warschau und Lodz. Die Wehrmacht
besetzte die Stadt Ende Juni, so daß wenig Zeit zur Flucht blieb. In Lem-
berg gab es auch eine beträchtliche ukrainische Minderheit, innerhalb
deren sich, wie auch in den Reihen der polnischen Mehrheit, eine Wider-
standsbewegung gegen die sowjetischen Besatzer entwickelt hatte; letz-
tere hatten Aktivisten dieser Bewegung gefangen gesetzt oder depor-
tiert. Unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch organisierten
einheimische Ukrainer eine Miliz für den Kampf gegen den »gemeinsa-
1
Arno J. MAYF.R,
men Feind<. Wie in Kaunas, Wilna und Riga wurden auch in Lemberg die
Der Krieg als Kreuz- Juden pauschal beschuldigt, Hauptträger des Kommunismus und Kolla-
zug. Das Deutsche borateure der Sowjetunion zu sein. In einer blutigen Aktion, die halb
Reich, Hitlers organisierte Lynchjustiz, halb Pogrom war und in der Stadt offenbar auf
Wehrmacht und die breite Zustimmung stieß, folterten und ermordeten die ukrainischen Frei-
»Endlösung«, Ro- schärler am 2. und 3. Juli mindestens 7000 Juden. Die deutschen Sicher-
wohlt, Hamburg heitskräfte waren vermutlich nicht die Anstifter dieses Massakers - die
1989, S. 369 f. Kommandoeinheiten der SS-Einsatzgruppe C waren noch nicht einge-
2
Bogdan MUSIAL, troffen. Ähnlich geartete Pogrome ereigneten sich in Drogabytsch, Kre-
»Ko nterre volu ti o- menec und Tarnopol, drei kleineren ostgalizi sehen Städten.«1
näre Elemente sind
Auch den polnischen Historikern ist der Fall Lemberg bestens bekannt.
zu erschießen«, in:
Frankfurter Allgemei- Bogdan M U S I A I , schreibt zur Vorgeschichte der von M A Y E R geschilderten
ne Zeitung, 30. 10. Vorgänge: »Eines der größten Massaker verübten NKWD-Truppen in
1999. den drei Lemberger Gefangnissen.« 2 Ursprünglich war aufgrund eines
Befehls des Sowjet-Kommissariates für das Innere, das N K W D - C h e f

356
BI;R[|A unterstand,
beabsichtigt gewe-
sen, die insgesamt
5000 Gefangenen
ins Hinterland zu
bringen. Doch dazu
kam es nicht mehr:
»Die Stadt wurde
ständig bombar-
diert, außerdem
versuchten ukraini-
sche Aufständische
am 24, Juni, die
Stadt zu besetzen.
Es kam zu Straßen-
kämpfen. Dabei
schossen sowjeti-
sche Soldaten auf jeden Zivilisten, der sich auf den Straßen oder in den Das NKWD-Gefang-
Fenstern erblicken ließ, und warfen Handgranaten in die Keller, Die nis in Lemberg am
Gefangnisverwaltung und das Wachpersonal gerieten in Panik und ver- 30. Juni 1941.
(Bundesarchiv}
ließen die Stadt. Vor der Flucht massakrierten sie jedoch noch einige
hundert Häftlinge in den Zellen, Überlebende Häftlinge sahen ihre Be-
wacher fliehen und versuchten, sich selbst zu befreien. Das gelang aber
nur wenigen. Denn inzwischen hatten die Sowjets die Kontrolle über die
Stadt zurückgewonnen. Die NKWD-Truppen besetzten die Gefangnis-
se wieder und trieben die Gefangenen mit Maschinenpistolen in die Zel-
len zurück; auch dabei wurden viele getötet. Die Gefangnisse waren jetzt
überfüllt mit alten und neuen Gefangenen, deren Zahl unbekannt ist -
für eine Registrierung gab es keine Zeit. B E R I J A S Befehl vom 24. Juni war
klar: Kein »Todfeind des Kommunismus< sollte von den Deutschen be-
freit werden. In Lemberg begann nun ein Massaker. Die Täter wateten
wortwörtlich im Blut. Die Morde dauerten mehrere Tage, vom 24. bis
zum 28. Juni 1941.«3 J MUSIAL, ebenda,
Nach den Ermittlungen der »Hauptkommission zur Untersuchung der s.u.
Verbrechen am polnischen Volk<, die diese Massenmorde zu Anfang der
neunziger Jahre untersuchte, spielte sich der letzte Akt der Tragödie fol-
gendermaßen ab: Die NKWD-Funktionäre riefen die Häftlinge einzeln
aus den Zellen und führten sie in die Keller: »Dort tötete man sie mit
Genickschüssen oder mit einem »schweren Gegenstand aus Metall«, wahr-
scheinlich einem Vorschlaghammer. Viele Opfer hatten zertrümmerte
Schädel. Andere führte man einzeln auf den Hof des Gefängnisses und
tötete sie dort durch Genickschuß oder erschoß sie gruppenweise mit

357
4 MUSIAL, ebenda. Maschinenpistolen. Einen Teil der Gefangenen ermordete man außer-
5 Joachim HOFF-
halb der Gefängnisse. Zum Schluß, als sich die Deutschen schon vor den
MANN, Das Deutsche Stadttoren befanden, schossen die Mörder mit Maschinengewehren und
Reich und der Zweite warfen Granaten in die überfüllten Zellen.«4
Weltkrieg, Deutsche
Verlags an st alt, Zuvor hätten sich die Täter noch bemüht, die Spuren zu beseitigen. Es
Stuttgart 1983, Bd. wurden Gruben ausgehoben, in die man die Ermordeten warf und not-
4, S. 782. dürftig mit Erde bedeckte. Viele Leichen ließ man jedoch in den kellern
liegen, die man an den Ausgängen zumauerte. Vor der Flucht setzten die
NKWD-Leute noch die größte der drei Anstalten, das Brygidki-Gefäng-
nis, in dem die Masse der Häftlinge ermordet worden war, in Brand, um
dadurch die Spuren des Massenmordes zu beseitigen. Die genaue Zahl
Eine Mauer im Hof
des NKWD-Gefang-
der Ermordeten war nicht mehr zu ermitteln. Sowjedsche Quellen nen-
nisses, an der Er- nen die Zahl 2000, was mit Sicherheit zu niedrig ist. Bei HOFFMANN wird
schießungen von sie mit 4000 bis 7000 angegeben.5 Die Opfer waren Ukrainer, Polen,
Ukrainern durch Juden, Russen und gefangene deutsche Flugzeug-Besatzungen.
NKWD-Truppen statt- MUSIAL fährt in seinem Bericht fort: »Nach dem endgültigen Rückzug
fanden. Bundesarchiv
sowie Alfred DE Z A Y A S ,
der sowjetischen Feinheiten am 29. Juni suchten viele Lemberger in den
Die Wehrmacht-Un- Gefängnissen nach ihren Angehörigen, Freunden und Bekannten, andere
tersuchungsstelle, gingen aus Neugier mit. Was dort geschehen war, hatte sich herumge-
Herbig, München sprochen. Den Augenzeugen bot sich ein grausiger Anblick: In den Kel-
72001.
lern der Gefängnisse lagen Leichen aufgeschichtet, die teilweise nur noch
eine breiige Masse dar-
stellten. Im Brygidki-
Gefängnis lagen die
Toten in vier bis fünf
Schichten übereinan-
der im Keller. Im Hof
der Gefängnisse in der
Lackiego-Straße fand
man zwei Massengrä-
ber, die freigelegt wur-
den. Die Leichen wur-
den herausgehoben
und in Reihen nieder-
gelegt, um den Ange-
hörigen die Identifizie-
rung zu ermöglichen.
Das war aber nur in
Einzelfällen möglich,
denn die Toten waren
entsetzlich verstümmelt. Viele Opfer wiesen Folterspuren auf. Mütter und
Väter, Ehefrauen, Geschwister und Freunde versuchten, in den Toten

358
ihre Angehörigen zu erkennen. Über den Mordstätten verbreitete sich
starker Verwesungsgeruch, so daß sie Taschentücher vor die Nase halten
mußten. Wenn das nicht
half, zog man Gasmasken
an.«6
MUSIAL weiter: »Die Men-
schen sannen auf Rache.
Die Täter waren jedoch ge-
flüchtet. Schnell fand man
Sündenböcke — die Juden.
Tatsächlich waren in den
unteren Organen der sowje-
tischen Verwaltung Juden
überrepräsentiert, auch in
den Reihen der Milizen, die
Helfershelfer und Zuträger
des NKWD waren. Ukraini-
sche wie polnische Zeugen
nennen auch Namen derer,
die sich an den Massenmor-
den in Lemberg und in an-
deren Ortschaften beteiligt haben sollen. Die am stärksten Belasteten Identifizierung der
waren aber mit den sowjetischen Truppen geflüchtet. Am Ort blieben Leichen in Lembergs
ihre Angehörigen und ebenso diejenigen, die mit der sowjetischen Ge- Gefängnissen
waltherrschaft wenig oder gar nichts zu tun hatten. Auf sie richteten sich (Bundesarchiv),
nun die ganze Wut und der Haß vieler ukrainischer Einwohner. Von der
schnell formierten ukrainischen Miliz wurden Juden aus der ganzen Stadt
zusammengetrieben und mit Prügeln zu den Gefängnissen gejagt. Dort
wurden sie gezwungen, Massengräber freizulegen und in die leichenge-
füllten Keller hinabzusteigen, um die Opfer zu bergen. Daraus wurde ein
Pogrom. Der Pöbel nutzte die Gelegenheit, um jüdische Wohnungen
und Häuser zu plündern. Juden wurden geschlagen, getreten und getö-
tet. Die Zahl der jüdischen Opfer ging in die Tausende, - Es gibt kaum
Anhaltspunkte dafür, daß dieses Pogrom von den Deutschen angezettelt
wurde. Die ukrainisch-jüdischen wie auch die polnisch-jüdischen Spannun-
gen erreichten in den Jahren 1939-1941 ihren Höhepunkt. Die alten anti-
semitischen Vorurteile vermengten sich mit dem Trauma der sowjetischen
Gewaltherrschaft zu einer explosiven Stimmung. Die sowjetischen Massa-
ker an Gefangenen waren mehr als ein Funke,«7
Letztere Bemerkung des Polen MUSIAI. verdient, festgehalten zu wer- 6 MUSIAL, a a O .
den: »Es gibt kaum Anhaltspunkte dafür, daß dieses Pogrom von den (Anm. 2), S. 11.
Deutschen angezettelt wurde.« Auch MAYERS Untersuchung bestätigt das, Ebenda.

359
ebenso wie die polnische Hauptkommission, Allerdings wird berichtet,
daß »einige deutsche Soldaten sich an den antijüdischen Pogromen be-
teiligt« hätten. »Besonders dort, wo unter den Leichenbergen auch ihre
zuvor gefangengenommenen Kameraden gefunden worden waren, wie
beispielsweise in Lemberg«, schreibt M U S I A L . Tatsächlich hat sich nur ein
Teil der Ausschreitungen vor Ankunft der Deutschen abgespielt, wes-
halb Wehr mach lange hörige Zeugen der Ubergriffe geworden sind. Da
zu diesem Zeitpunkt noch kein ausdrückliches Verbot bestand, sich in
solchen Fällen zurückzuhalten, ist es höchstwahrscheinlich zu der Teil-
nahme gekommen, die M U S I A L anführt. Dabei wurden auch Fotos ge-
macht, die auf Umwegen in sowjetische Hand gekommen sein dürften.
So wird verständlich, daß sowjetischerseits gerade in Lemberg nach dem
Krieg alles versucht wurde, die Morde den Deutschen in die Schuhe zu
schieben. Hunderte unschuldiger deutscher Soldaten in russischer Ge-
fangenschaft mußten in »sogenannten Kriegsverbrecherprozessen« spä-
ter dafür büßen, indem man ihnen die in Wirklichkeit von den Sowjets
verübten Verbrechen zur Last legte. Dabei ist Lemberg kein Einzelfall.
Ähnliches geschah in zahlreichen weiteren ukrainischen Grenzstädten.
M U S I A L stellt dazu fest: »So wird beispielsweise behauptet, daß die Wehr-
macht nichts gegen das Lemberger Pogrom im Sommer 1941 unternom-
8 Siehe Frankfurter men hätte. Allerdings belegen Dokumente genau das Gegenteil.«8 Jörg
Allgemeine Zeitung, 1. F R I E D R I C H steuert dazu folgendes bei: »In Ilmberg, heißt es im Einsatz-
12. 2001. gruppenbericht C vom 16. Juli, »trieb die Bevölkerung etwa 1000 Juden
unter Mißhandlungen zusammen und lieferte sie in das von der Wehr-
macht besetzte GPU-Gefängnis eine Die Wehrmacht, die nach dem Zeug-
nis des Generalmajors VON W I N K L E R Anfang juli »mit Begeisterung und
Blumen empfangen< worden war, wußte mit dem Mordansinnen nichts
anzufangen. Zudem mißfiel ihr die Anarchie der Stadt. . . Daraufhin ver-
' Jörg FRIEDRICH, bot der Stadtkommandant das Pogrom,«9 In diesem Zusammenhang er-
Das Geset^ des wähnt FRIEDRICH: »Die Geheimpolizei der gewichenen Sowjetmacht hatte
Krieges. Das deutsche nämlich in letzter Stunde über 80 000 ukrainische Oppositionelle einge-
Heer 1941-1945, kerkert, getötet und verstümmelt. In Lemberg stapelten sich 3000 gräß-
Piper, München lich zugerichtete Leichen in den Gefängniskellern.« lu FRIEDRICHS Bericht
'2003, S. 776. stützt sich auf eine Untersuchungs-Kommission des amerikanischen Re-
10 Ebenda, S. 777.
präsentantenhauses kurz nach dem Krieg.
Zum Fall Lemberg bemerkt Stefan S C H E I E , dem es mit seiner Studie
Legenden, Gerüchte, Fehlurteile gelungen ist, die inzwischen neu aufgelegte
Wehrmachtausstellung von Jan Philipp R E E M T S M A als Quelle wiederholt
falscher Anschuldigungen zu endarven: »Die Stadt gehört neben Katyn
sozusagen zu den Klassikern unter jenen Orten, an denen die sowjed-
sche Propaganda versucht hat, eigene Morde den deutschen Truppen in
die Schuhe zu schieben., . Die Kampagne erhielt neue Nahrung, als der

360
sowjetische Präsident seit 1 9 5 8 den Namen Nikita CHRUSCHTSCHOW trug.
Denn CHRUSCHTSCHOW selbst hatte als regional verantwortlicher KP-Chef
Ende Juni 1 9 4 1 die Erschießungen ukrainischer Nationalisten (die F R I E D -
RICH oben anführt, A. N.) in den Lemberger Gefängnissen befohlen, bevor
die Deutschen in Lemberg einmarschierten.« (vgl. auch Philipp Christian
W A C H S , Die Inszenierung eines Schauprozesses, S. 3 8 ) In dem Zusammenhang
verweist SCHEU, auf den Fall des Bundesministers Theodor O B E R L Ä N D E R
aus A D E N A U E R S Kabinett. Die Sowjets hatten ihn 1 9 6 0 mittels gefälsch-
ter Dokumente in Abwesenheit zum Hauptverantwortlichen für die Lem-
berger Morde erklärt. Damit wurde er Opfer eines absurden Schaupro-
zesses, dessen Beweisführung kläglich in sich zusammenbrach. Dem
Minister aber hat der Prozeß, der sich in 113 Einzelverfahren aufsplitter-
te, über Jahre hin seelisch schwer zu schaffen gemacht." Theodor O B E R L Ä N D E R .
ScHEIL, der sich ausführlich mit dem Lemberger Massaker auseinan-
dergesetzt hat, legt dar, daß auch hier die Wehrmachtausstellung nichts 11 Stefan SCHEIL,

unversucht ließ, dem Betrachter die Mittäterschaft der Wehrmacht glaub- Legenden, Gerüchte,
haft zu machen, indem sie auf Seite 94 des Kataloges ausfuhrt: »Ukraini- Fehlurteile. Ein
sche Zivilisten, der Wehrmacht unterstellte Ukrainer, Angehörige der Ein- Kommentar zur 2.
satzgruppen sowie Wehrmachtsoldaten beteiligten sich an den mehrere Auflage der Wehr-
Tage anhaltenden Pogromen.« Der »Wehrmacht unterstellte Ukrainer« machtausstellung des
Hamburger Instituts
gab es zu der Zeit gar nicht, es handelte sich um ukrainische Freiheits-
für Sozialforschung,
kämpfer, auf welche die Deutschen keinen Einfluß hatten. Die Einsatz- Leopold Stocker,
gruppen waren zum fraglichen Zeitpunkt noch gar nicht am Ort. Ob Graz 2003, S. 117 ff.
einzelne deutsche Soldaten dem Pogrom zugeschaut haben, ist nicht mehr
festzustellen. Da es entsprechende Befehle, sich fernzuhalten, noch nicht
gab, wäre darin kein verbotswidriges Verhalten zu erkennen. Tatsache ist
jedoch, und das allein zählt, daß keine deutsche Einheit oder Dienststelle
an dem Pogrom beteiligt war. Dabei fällt auf, daß die Aussteller lediglich
von »mehreren hundert NKWD-Opfern« sprechen, ohne die entsetzli-
chen Umstände des Todes dieser Menschen mit einem Wort zu erwäh-
nen. Sc HEIL hält »diesen Unterschied in der Wortwahl, der in der Ausstel-
lung generell gemacht wird«, für bezeichnend. Denn kaum ist in der
Ausstellung und im Katalog von den Opfern der Pogrome die Rede,
wird ausdrücklich vermerkt, sie seien »gequält, mißhandelt und erschla-
gen worden«.12 »Dieses sorgfältig differenzierte Erzeugen von Stimmun- 12 Katalog zur 2.

gen zeigt die unwissenschaftlichen Methoden der Ausstellung.« Dem Auflage der Wehr-
11

kann man nur zustimmen. Falsch ist überdies die von den Ausstellern machtausstellung,
genannte Zahl von »einigen Hundert«, da es sich nachweislich um eine S. 3 2 7 .
, 3 SCHEIL, AAO.
viel höhere Anzahl gehandelt hat. Selbst die russischen Quellen gehen
heute von 2464 Opfern aus, eine Zahl, die nach M U S I A L S Schätzung und (Anm. 11), S . 123.
zeitgenössischen Berichten zufolge eher bei 3500 liegen dürfte, also gleich-
falls zu niedrig angesetzt wurde. Andreas Naumann

361
Massaker 1941 in Sambor und Dubno, Drohobycz,
Czortków und Zloczów

nfang Juni 1941 saßen im europäischen Teil der UdSSR in so-


A wjetischen Gefängnissen über 500000 politische Gefangene ein, etwa
200000 davon in den westlichen Grenzbezirken. Die Gefängnisse unter-
standen zu dieser Zeit dem Innenministerium unter BERIJA und wurden
vom Volkskommissariat für Inneres< (NKWD) verwaltet. Die Haft-
bedingungen waren katastrophal, Häftlinge hatten nicht nur Hunger, über-
füllte Zellen, Schmutz und Ungeziefer zu ertragen, sondern auch Schläge
und Folter. Die Folge waren Krankheiten und hohe Todesraten.
»Die wahre Hölle aber begann am 22. Juni 1941«, berichtet MUSIAI., als
um 3 Uhr morgens die Wehrmacht die Grenze zur Sowjetunion über-
schritt: »Die deutsche Front rückte schnell vor. An der sowjetischen Front
und im rückwärtigen Gebiet herrschte Chaos. Ein geordneter Rückzug
und planvolle Evakuierung waren unmöglich. — Nach geltenden Richtli-
nien sollten im Fall eines Krieges alle Häftlinge aus den gefährdeten Ge-
bieten ins Landesinnere gebracht werden. Im Chaos der ersten Kriegsta-
ge erwies sich das als unmöglich. So wurden Gefangnisse in unmittelbarer
Grenznähe überraschend von den Deutschen besetzt und ihre Insassen
befreit. Es handelte sich dabei um Gefangnisse in Lomza, Bialystok, Brest,
Grodno und Baranowicze. Lediglich in Przemysl war ein Teil der Häft-
linge bereits fortgeschafft worden. Insgesamt wurden 13000 Häftlinge
von den Deutschen befreit. Nach der sowjetischen Lesart handelte es
sich dabei meist um Klassenfeinde«. Am 24, Juni 1941 erteilte BERJJA
einen Geheimbefehl, alle >konterrevolutionären Elemente* unter den Ge-
fangenen zu erschießen. Es war das Todesurteil für Abertausende. In
den meisten Gefängnissen im Baltikum, Weißrußland, in der Ukraine
und in Bessarabien (Moldawien) kam es in diesen Tagen zu Massakern
1 Bogdan MUSIAL, an wehrlosen Gefängnisinsassen.« 1 Sowjets waren die Täter,
»Ko n terre volu ti o- Im Stadtgefängnis in Sambor wurden MUSIAI. zufolge »etwa 600 Per-
näre Elemente sind sonen ermordet. In Dubno hielt man am Vorabend des Krieges unge-
zu erschießen«, in: fähr dieselbe Anzahl Gefangener fest, vor allem Polen und Ukrainer.
Frankfurter Allgemei- NKWD-Männer begannen die Gefängnisinsassen in der Nacht vom 23.
ne Zeitung, 30. 10.
1999, S. 11.
auf den 24. Juni 1941 zu liquidieren. Sie gingen von Zelle zu Zelle und
schossen mit automatischen Waffen auf die Häftlinge, manchmal warfen
sie Handgranaten in die Zellen. Die Überlebenden töteten sie mit Fang-
schüssen oder erstachen sie mit dem Bajonett. Auf diese Weise wurden
etwa 550 Menschen (Männer, Frauen und auch Kinder) massakriert. Nur
einzelne Häftlinge haben wie durch ein Wunder überlebt, etwa die junge
Ukrainerin W. PETRENKO, mit sechs Schußwunden und zwei Bajonettsti-

362
chen. - Die Täter hatten keine Zeit, ihre Spuren zu beseitigen. Einheimi-
schen wie deutschen Soldaten bot sich ein grauenvolles Bild. Ein deut-
scher Soldat schrieb in einem Brief: >Wie Ihr durchs Radio gehört habt,
haben die Banden im Dubnoer GPU-Gefängnis viehisch gehaust. Ich
bin dort gewesen und werde es später berichten, wenn ich mal zu Hause
bin. Worte kann man für so etwas nicht finden. Berge von ukrainischen
Frauen und Kindern liegen dort.«<2 2 MUSIAL, ebenda.
»In Gefängnissen, die von der Grenze weiter entfernt lagen, wie in
Tarnopol, Zloczöw, Czortköw und Drohobycz hatten die Täter mehr
Zeit«, berichtet MUSIAL. »In Drohobycz fanden die Angehörigen der Ver-
hafteten nach der Flucht der sowjetischen Einheiten im Gefängnis nur
vier Überlebende. An die 200 Leichen befanden sich im Keller. Im In-
nenhof entdeckte man ein Massengrab mit etwa 200 Leichen, das mit
Kohlenhaufen getarnt war. Einige Tage später fand man ein weiteres
Massengrab auf dem jüdischen Friedhof mit etwa 300 Toten, darunter
zwei deutschen Fliegern. Später entdeckte man noch weitere Massengrä-
ber in den umliegenden Wäldern. Eines wurde erst 1990 gefunden.
Ahnliches ereignete sich in Czortköw, wo Anfang Juni 1941 etwa 1300
Gefangene einsaßen. Nach der Flucht der sowjetischen Einheiten eilten
die Einwohner in das Gefängnis, um nach Angehörigen zu suchen. Das
Gefängnis war anscheinend leer. Im Keller fand man die ersten Leichen.
Auch im Innenhof entdeckte man Massengräber, die mit frischen Blu-
menrabatten getarnt waren. Nach NKWD-Angaben wurden in Czort-
köw 890 Häftlinge getötet, 64 Kriminelle aber freigelassen und der Rest
fortgeschafft.«1 3 Ebenda.
»Als die sowjetischen Einheiten Zloczöw verlassen hatten, liefen die
Einwohner zur Zitadelle, wo sich das NKWD-Gefängnis befand. In den
letzten Tagen vor der Flucht hatte man hier, wie auch anderswo, laut
arbeitende LKW- oder Traktor-Motoren gehört, aber auch Schüsse und
Schreie, die sie eigentlich übertönen sollten. In dem Gefängnis fand man
jedoch keine Häftlinge mehr. Bald entdeckte man jedoch im Innenhof
und im Obstgarten, die zum Gefängniskomplex gehörten, drei notdürf-
tig mit Rasen getarnte Massengräber. Die Zahl der Opfer belief sich hier
etwa auf 700; die Leichen waren zum Teil stark verstümmelt. - Im Ge-
fängnis in Gleboki wurden mindestens 1000 Häftlinge getötet.«4 4 Ebenda.
Ähnliches ereignete sich in zahlreichen Städten und Ortschaften der
weißrussischen, ukrainischen und galizischen Grenzgebiete. Die Zahl der
Opfer blieb weitgehend unbekannt. Für diese Massaker rächte sich die
einheimische Bevölkerung nach Abzug des NKWD vielerorts an den
Juden, denen die Zusammenarbeit mit den Sowjets angelastet wurde.
Diese Ausschreitungen wurden nach Kriegsende unberechtigt der deut-
schen Wehrmacht zugeschrieben. Andreas Naumann

363
Die Massaker von Jassy, Czernowitsch,
Belcy und Kischinjow 1941

uch im Süden der Ostfront, wo vor allem mit den Deutschen ver-
A bündete rumänische Truppen im Juni 1941 in die Sowjetunion ein-
drangen, ereigneten sich Massaker an den Juden, die unberechtigterweise
lange Zeit der deutschen Wehrmacht angelastet wurden. Der jüdische
US-Historiker Arno J. M A Y E R berichtet in seiner Studie Der Krieg als Kreuz-
darüber und stellt richtig »Im tiefen Süden der >Barbarossa<-Front
verübten rumänische Soldaten und paramilitärische Faschisten ohne NS-
deutsche Ermunterung oder Nachhilfe Massaker an Juden.«1 »Von allen
deutschen Satelliten leistete Rumänien den bei weitem größten militäri-
schen Beitrag zur /Operation Barbarossa*. Da die Rumänen jedoch kei-
nen Wert darauf legten, sich mit den begehrten Territorien auch 400000
Juden zusätzlich ins Haus zu holen, liebäugelte man in Bukarest mit dem
Gedanken, diese Juden gewaltsam in andere, den Sowjets noch abzuneh-
mende Gebiete zu deportieren. Das Massaker an den Juden von Jassy,
das sich zeitgleich mit dem von Kaunas ereignete, war auf das engste mit
dem Einfall in die Sowjetunion verknüpft. Jassy, Hauptstadt der Provinz
Moldau, lag nur 20 Kilometer jenseits der Grenze des rumänischen Kern-
landes. Von seinen 80000 Einwohnern waren mehr als die Hälfte Juden,
Schon zwischen dem 22. und dem 29. Juni, als rumänische Truppen sich
den Übergang über den Pruth erkämpften und nach Bessarabien ein-
drangen, mußte Jassy mehrere Luftangriffe hinnehmen. Einheimische
Aktivisten und Symphatisanten der Eisernen Garde verloren keine Zeit,
die Juden von Jassy als aktive >Fünfte Kolonne* der Roten Armee hinzu-
stellen. Die Spannungen eskalierten, und am 29. Juni schwärmten rumä-
nische Soldaten und Polizeitruppen aus, trieben alle Juden, die sie finden
konnten, zusammen und ließen sie zu Sammelpunkten marschieren, wo
sie in Eisenbahnzüge geladen wurden.. . Abgesehen davon, daß schon
bei der Treibjagd in den Straßen von Jassy Dutzende von Juden mißhan-
delt und umgebracht wurden, starben nach Schätzungen zwischen 2000
bis 4000 der Deportierten - es waren ausschließlich erwachsene männli-
che Juden - auf ihrem qualvollen Transport den Erstickungstod.«2
M A Y E R berichtet, daß mit dem Überschreiten der sowjetischen Gren-
zen die Pogrome sich zu häufen begannen. »In der ersten Juliwoche kam
es in mehreren größeren und kleineren Städten der Bukowina zu Pogro-

1 Arno J. M A Y E R , Der Krieg als Kreusgttg. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und

die »Bndlösung«, Rowohlt, Hamburg 1989, S. 397 f.


2 Ebenda, S. 398.

364
men, bei denen Hunderte von Juden den Tod fanden. Am 5. Juli war
Czernowitsch an der Reihe, die Hauptstadt der Bukowina, von deren
100000 Einwohnern die Hälfte Juden waren. Innerhalb weniger Tage
wurden ungefähr 2000 Juden umgebracht. Hunderte weitere starben in
den Wochen danach. , . An den Schwerpunkten der rumänisch-sowjeti-
schen Front, östlich des Pruth-Flußes in Bessarabien, blühte den jüdi-
schen Gemeinden das gleiche Schicksal. In der Stadt und im Bezirk Belcy
führten die Rumänen sich so brutal und barbarisch auf, daß etliche deut-
sche Offiziere sich entsetzt zeigten (sic!) und um die Moral ihrer Truppe
fürchteten. Am 17. Juli eroberten rumänische und deutsche Truppen
gemeinsam die bessarabische I lauptstadt Kischinjow, die 130000 Einwoh-
ner und einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 60 Prozent hatte. Es ist
nicht klar, wie viele Juden mit den abziehenden sowjetischen Truppen
die Stadt verließen und wie viele von ihnen später doch noch in rumänische
Hände fielen. Auf jeden Fall fürchteten die Juden. .. das Schlimmste.
Und in der Tat ermordeten die Rumänen in den Wochen nach der Beset-
zung der Stadt Tausende von Juden.«* M A Y E R nimmt an, dies könne in
Absprache oder gar in Zusammenarbeit mit der SS-Einsatzgruppe D
geschehen sein, was jedoch unwahrscheinlich ist, da die 11. Armee, der
die Gruppe versorgungsmäßig unterstellt war, dieselbe schon vom ersten
Tage an am >kurzen Zügel< führte.
Interessant ist immerhin, daß weder MUSIAI, noch M A Y E R auch nur in
einem dieser Fälle die direkte und beweisbare Mitwirkung der Deutschen,
in dem Fall der SS-Einsatzkommandos, erwähnen, die ihren eigenen E-
Meldungen-UdSSR zufolge die Einwohner zu Racheakten und Pogro-
men aufgestachelt haben wollen. Die Masse der Ausschreitungen hatte
offenbar bereits stattgefunden, bevor die SS eintraf. Im baltischen, weiß-
russischen und ukrainischen Frontbereich erhob sie nach ihrer Ankunft
allerdings ausgedehnte Nachforschungen mittels Verhören und Proto-
kollen, um anschließend ihrerseits die Verdächtigen auszuschalten. Wa-
ren es erst die Roten, die aus politischen Gründen getötet hatten, so
griffen dann die SS-Einsatzgruppen mehr oder minder unter dem An-
schein des Justizvollzuges Verdächtige sowie Juden auf. Die Wehrmacht
aber - und das ist hervorzuheben - blieb bei aUedem unbeteiligt.
Weder von Mitwirkung noch von Billigung der Wehrmacht im Zu-
sammenhang mit den Pogromen ist bei oben genannten Historikern die
Rede - sehr zum Unterschied anderer, oft deutscher Quellen, die sich
zumeist auf fragwürdige und unbewiesene Behauptungen abstützen. Man
sollte endlich aufhören, die damaligen Interessen der Wehrmacht mit
denen der politischen Polizei HIMMLERS ZU verwechseln, denn erstere hatte

3 MAYER, ebenda, S. 399 ff.

365
damals anderes zu tun. Doch soll nicht unerwähnt bleiben, unter welch
schweren seelischen Belastungen die deutschen Truppen gestanden ha-
ben, als sie allenthalben auf Spuren des Wütens der Sowjets stießen und
meistens zu spät kamen, um die gefangenen Opfer, darunter oft auch
Wehrmachtangehörige, insbesondere Flieger, zu retten.
Bei Erwähnung letzteren Umstands wird verständlich, daß das deut-
sche Heer in Fällen, bei denen die SS-Einsatzgruppen aufgrund ihrer
Untersuchungen zu Strafaktionen schritten, keine Einwände erhob, je-
dem Befehlshaber schien einleuchtend, daß die vorgefundenen Über-

Wiederkehrende Bil-
der in den ersten
Wochen des (Unter-
nehmens Barbaros-
sa'. In vielen Ort-
schaften haben
einheimische Natio-
nalisten bereits
Racheaktionen an
Juden vollzogen,
als die deutsche
Wehrmacht eintrifft.
Das Foto (Bundesar-
chiv Koblenz) zeigt
litauische Nationali-
sten mit gefangenen
Juden.

griffe und Massaker sicherheitspolizeilich aufgearbeitet und mit Strafe


belegt werden mußten."1
M A Y E R S Ergebnis ist dann: »Es war ein ebenso zweifelsfreies wie omi-
nöses Faktum, daß während der ersten fünf Wochen der »Operation Bar-
barossa* mehr Juden umgebracht oder in den Tod geschickt wurden als
in den vorausgegangenen 22 Monaten seit Kriegsausbruch im Septem-
ber 1939. Aber obwohl, wie wir gesehen haben, die Wehrmacht und die
Einsatzgruppen die Bedingungen für eine solche Mordorgie schufen,
waren sie weder ihre Hauptinitiatoren noch maßgeblich an ihrer Ausfüh-
rung beteiligt. In der ersten, siegüberzeugten Phase der »Operation Bar-
barossa* kam es zu Massakern an den Juden eher aus spontanen Pogro-
men heraus als aufgrund amtlicher Weisungen oder Planungen für die

4 Andreas N A U M A N N , Freisprach für die Deutsche Wehrmacht. Unternehmen Barbaros-


sas erneut auf dem Prüfstand, Grabert, Tübingen 2005, S. 409,

366
systematische Ausrottung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Die Haupt-
täter waren fanatische antisowjetische Letten, Litauer, Esten, Ukrainer
und Rumänen, denen einerseits der Kreuzzugs-Feldzug gegen die So-
wjetunion und andererseits die beträchtlichen Restbestände einer aitein-
gewurzelten Judenfeindlichkeit für ihre eigenen ultranationalistischen po-
litischen Ziele gerade recht kamen. Ihr Hauptziel bestand nicht darin,
Juden umzubringen; es war vielleicht nicht einmal eines ihrer vordring-
lichsten Anliegen,«5
Mit diesen Feststellungen steht M A Y E R allerdings im Widerspruch zu
früheren Behauptungen Raul HilberGs, der ebenso wie Helmut K R A U S -
NICK; und andere für die oben dargelegten Übergriffe an den Juden vor
allem die SS-Einsatzgruppen verantwortlich macht. Verständlicherweise
stößt MAYER damit auf breite Kritik. Peter LONGERICH führt dazu aus:
Das Buch von Arno J. M A Y F . R habe »bereits bei Erscheinen der engli-
schen Ausgabe außerordentlich scharfe, ja wütende Rezensionen hervor-
gerufen. Zum einen werden bestimmte Behauptungen M A Y F . R S , SO seine
Darstellung der Pogrome und die behauptete Zurückhaltung der Ein-
satzgruppen in der Anfangsphase, zurückgewiesen. .. Zum andern wird
sein Versuch der Historisierung und die ihm zugrunde liegende Analyse
der Grundintensionen nationalsozialistischer Politik als falsch und irre-
führend abgelehnt«. 6 Wir fügen dem jedoch hinzu, daß nahezu alle Er-
gebnisse der MAYERschen Analyse, die im Jahre 1988 erschien, später
von den polnischen und ungarischen Untersuchungsausschüssen sowie
von der Wissenschaft bestätigt wurden."
Das bedeutet, daß die deutsche Wehrmacht für diese Judenpogrome
nicht verantwortlich war, sondern daß sie von einheimischer Bevölke-
rung verübt wurden. Andreas Naumann

5 MAYER, a a O . ( A n m . 1 ) , S . 4 0 0 f .
6Peter LONGERICH, »Vom Massenmord zur >Endlösung<« in: Zwei Wege nach Mos-
kau — Die Erschießung von jüdischen Zivilisten in den ersten Monaten des Ostfeldzuges im
Kontext des nationalsozialistischen Judenmords, Piper, München 1991, S. 252 f.
Siehe auch Stephane COURTOIS, Schwarzbuch des Kommunismus, Piper, München
1998, S, 402 ff.

367
Pogrome in Luzk oder anderswo in Polen
und in der Ukraine

D as von dem polnischen Historiker Bogdan MUSIAI . geschilderte Mas-


saker in Lemberg (s. Beitrag Nr. 578, »Die Lemberger Juden-Massa-
ker 1941«) war keine Ausnahme:
»Ähnliche Bilder boten sich den Angehörigen des deutschen Heeres
in zahlreichen Städten und Ortschaften, die sie Ende Juni 1941 kämp-
fend erstürmten. In Luzk hielten die Sowjets über 2 0 0 0 Gefangene im
örtlichen GPU-Gefängnis fest, vor allem Polen und Ukrainer. Am 22.
Juni wurde die Stadt und damit auch das Gefängnis beschädigt. Die Ge-
fangenen versuchten, sich zu befreien. Das Bewachungspersonal trieb
sie mit Maschinengewehrfeuer in die Zellen zurück, viele wurden dabei
getötet. Am 23. Juni befahlen ihnen die Aufseher, die Zellen mit persön-
lichem Gepäck zu verlassen. Die Ukrainer hatten sich auf einem Hof,
die Polen auf einem anderen zu versammeln. Nachdem sie in Reihen
aufgestellt waren, wurden sie mit Maschinengewehrfeuer und Handgra-
naten getötet. Ein Überlebender berichtet: >Blut floß in Strömen. Lei-
chenfetzen flogen durch die Luft.< Nach etwa einer Stunde stellten die
N K W D - T ä t e r das Feuer ein und befahlen den Überlebenden, sich in das
Gefängnisgebäude zurückzubegeben; die Verletzten töteten sie mit Pi-
stolen, A u f dem »ukrainischem Hof überlebten wahrscheinlich nur 11,
auf dem >polnischen< Hof zwischen 50 und 70 Gefangene. Am nächsten
Tag mußten die Uberlebenden die Leichen vergraben. —
Das war aber nicht das Ende des Schreckens. Wie sich der Zeitzeuge
Mieczyslaw OGRODÖWCZYK erinnert, erschienen die sowjetischen Täter
bald wieder und forderten die Überlebenden auf, die Zellen zu verlassen:
>Halb betrunken fuchtelten sie mit den Pistolen und brüllten >bystrej, by-
strej< (schneller, schneller). Ich begriff: Sie hatten einige am Leben gelas-
sen, damit sie die Leichen beseitigten. Nach getaner Arbeit sollten nun
auch wir getötet werden. Das ist das Ende. . . Plötzlich hören wir Schüs-
se automatischer Waffen von draußen, wo die Ukrainer gestern hinge-
metzelt wurden; dort ist der Haupteingang. , . Der N K W D - Mann, der
in der Zellentür steht, wirft die Pistole auf den Korridorboden und läuft
weg. . . Zwei Kameraden heben mich zum Fenster hoch, ich klammere
mich an die Gitter. . . ziehe mich hoch, um zu sehen, was los ist. Ich
schreie: >Die Deutschen!* Meine Kameraden lassen mich los, ich stürze
zu Boden. Ich stehe auf, versuche zu sprechen, ich kann nicht. Tränen
stehen mir in den Augen. Endlich schreie ich unter Tränen: >Wir leben!*
Die Überlebenden stürzen aus dem Gefängnis auf den >ukrainischen*
Hof, wo sich die Deutschen befinden. Wir sind wahnsinnig vor Freude.

368
Sie ist so groß, daß wir >Heil Hitler!< schreien. . . Am nächsten Tag wurde
ich freigelassen.««1
Hierzu weiß K R A U S N I C K ZU berichten, daß unter den Ermordeten auch
die Leichen von zehn deutschen Soldaten gewesen seien. Zur Vergeltung
für die Ermordung der deutschen Soldaten habe das Sonderkommando
4a der SS-Einsatzgruppe C eine Anzahl Juden erschossen, die er mit 1160
beziffert. Dabei beruft er sich auf die Ereignismeldung UdSSR Nr. 24
vom 16, Juli 1941, die angibt, vor Ort sei ein Zug Ordnungspolizei und
ein Zug Infanterie behilflich gewesen. Die Meldung ist insofern fragwür-
dig, als weder über die Art der Behilflichkeit noch sonstwie nähere Anga-
ben gemacht werden. Auch verlautet nichts über die Regimentsnummer
der Infanterie-Einheit oder über Zugehörigkeit der Ordnungspolizei."
Unter >Ordnungspolizei< verstand man SS-Polizeieinheiten, während für
die Heerespolizei die Bezeichnung >Geheime Feldpolizei verwendet wur-
de. Auch widerspricht die Anzahl der NKWD-Mord opfer derjenigen,
die M U S I A L angibt, der uns versichert, daß die Rachemorde der Einheimi-
schen in diesem Raum nicht der Anzettelung durch die SS-Kommandos
bedurften. Offenbar hat auch hier — wie an etlichen anderen Orten — die
SS-Einsatzgruppe C alle Pogromopfer und Rachemorde unberechtigt auf
ihr Erfolgskonto verbucht. Entsprechende Eintragungen im Kriegstage-
buch der Heeresgruppe liegen jedenfalls nicht vor.' Andreas Naumann

1 Bogdan MUSIAL, »Konterrevolutionäre Riemente sind zu erschießen«, in: Frank-


furter Allgemeine Zeitung, 30.10. 1999.
2 Siehe Helmut KRAUSNICK, Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppe des Weltanschauungs-
krieges 1938-1942, Fischer, Frankfurt/M. 1998, S. 206.
3 Siehe auch Andreas N A U M A N N , Freispruch für die Deutsche Wehrmacht. Unterneh-
men harbarossa< erneut auf dem Prüfstand, Grabert, Tübingen 2005, S. 404 ff.

369
Babij Jar - Ort des Grauens oder ein Mythos?

m Internet-Wikipedia wird unter dem Stichwort >Babyn Jar< (ukrain.)


I oder >Babij Jar< (russ.) der deutschen Wehrmacht (pauschal) ein Mas-
senverbrechen angelastet. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, nachzu-
prüfen, ob
a) tatsächlich ein solches Verbrechen bei Babij j a r stattgefunden hat
und, wenn ja, wie,
b) die Wehrmacht offiziell daran beteiligt war und
c) die angegebene Zahl der Opfer stimmt und wie sie belegt ist.
Im Wikipedia-Beitrag heißt es zu >Babyn Jan: »Kriegsverbrechen. Hier
wurde ein Massenmord an der jüdischen Bevölkerung durch deutsches
Militär während des Zweiten Weltkriegs verübt, nachdem die Wehrmacht
und die SS in Kiew einmarschiert waren. Beteiligt waren Wehrmacht,
Angehörige des SD, der Polizei, der Geheimen Feldpolizei und des Son-
derkommandos 4a (befehligt von SS-Standartenführer Paul BLOBEL) der
Einsatzgruppe C (angeführt von SS-Brigadeführer Otto RASCH), die für
die sogenannten Exekutivmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung zu-
ständigwar. Entsprechend dem Einsatzbefehl der Einsatzgruppe Nr. 101
wurden 33771 Juden bei Babynjar am 29. September und 30. Septem-
ber 1941 systematisch durch Maschinengewehrfeuer ermordet. Die Wehr-
macht leistete hier nicht nur logistische Beihilfe, indem sie die Stadt und
die SS absicherte und nach dem Massaker Teile der Schluchtwände spreng-
te, um mit dem abgesprengten Schutt die Leichenberge zu verstecken.
Bis zum 12. Oktober wurden insgesamt 51 000Juden ermordet. Die Hab-
seligkeiten der ermordeten Menschen wurden in einem Lagerhaus auf-
bewahrt und an Wehrmachtssoldaten verteilt.. .«
Auf der Web-Seite der ukrainischen Botschaft (www.botschaft-
ukraine.de) heißt es sogar: »Im Sommer 1943 haben die Nazis alles ge-
tan, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Leichen wurden
ausgegraben und verbrannt, Knochen zersplittert und die Asche im Winde
verweht. Daher fallt es heute schwer, genaue Opferzahlen festzustellen.
Die Forscher vermuten, daß in Babynjar ca. 260000 Menschen das lie-
ben genommen wurde.«

Verhalten der Wehrmacht in der Ukraine


In einem Befehl des Befehlshabers des rückwärtigen Heeresgebiets Süd
vom 1. September 1941, NOKW-2594, heißt es: »Es mehren sich die
Fälle von Übergriffen gegenüber der Zivilbevölkerung durch Wehrmacht-

370
angehörige... In letzter Zeit sind auch Fälle vorgekommen, daß Solda-
ten und auch Offiziere selbständig Erschießungen von Juden vorgenom-
men oder sich daran beteiligt haben.«
Nach dem Hinweis, daß »Exekutivmaßnahmen« allein unter die Zu-
ständigkeit von SS und Polizei fallen, heißt es in dem Befehl weiter:
»Die Truppe selbst erledigt auf der Stelle nur solche Landeseinwoh-
ner, die feindseliger Handlungen überführt oder verdächtigt sind, und
dies nur auf Befehl von Offizieren; dabei sind Kollektivmaßnahmen an
die Dienststellung mindestens eines Btls. Kdrs. [Bataillonskommandeurs,
H. M.] gebunden. Irgendwelche Zweifel hierüber können nicht beste-
hen, Jedes eigenmächtige Erschießen von Landeseinwohnern, auch von
Juden, durch einzelne Soldaten sowie jede Beteiligung an Exekutivmaß-
nahmen der SS- und Polizeikräfte sind daher als Ungehorsam minde-
stens disziplinarisch zu ahnden, sofern nicht gerichtliches Einschreiten 1 Raul HILBERG,

notwendig ist.« 1 Die Vernichtung der


Aus diesem Befehl ergibt sich dreierlei: europäischen Juden, dt.
Olle u. Wolter,
1. Es hat Übergriffe und Verbrechen einzelner Wehrmachtangehöri-
Berlin 1982, S. 341 f.
ger gegeben. Soldaten waren passive Zeugen von Ermordungen.
2. Die Wehrmachtführung distanzierte sich ausdrücklich von Tötungs-
aktionen und verbot sie allen Soldaten ausdrücklich.
3. Es fanden Exekutivmaßnahmen durch die SS {nicht Waffen-SS!)
und HF.YDRICHS Polizeieinheiten statt.
In diesem Zusammenhang sind auch die Vorgänge von Kiew zu beur-
teilen.

Der Fall Kiew


Am 19. September 1941, als Kiew von deutschen Truppen eingenom-
men wurde, traf das Kommando 4a der Einsatzgruppe C unter dem 2 RSHA-A-1,

Kommando von Paul B L O B E L dort ein.- Am 24. September gelang es E reignism eld u ng
Partisanen, im historischen Zentrum Kiews durch Sprengminen eine USSR Nr. 97, 28. 9.
Feuersbrunst zu entfachen, durch die der Stadtteil vollkommen nieder- 1941, NO-3145.
brannte. Dabei sprengten die Partisanen auch das >Hotel Continentak, in
dem sich das Etappenkommando der 6. Armee befand. Die Sprengfallen
waren von den Sowjets vor ihrem Abzug angelegt worden.
Hauptmann Dr. Erich K O C H berichtete nach Berlin: >Der Brand von
Kiew (24.-29. Sept. 1941) hat genau die Mitte, d. h. den schönsten und
repräsentativsten Teil der Stadt mit den beiden größten Hotels, der Haupt-
post, dem Funkhaus, dem Telegraphenamt und einigen Warenhäusern
zerstört. Betroffen ist ein Areal von rund 2 qkm. Obdachlos sind etwa
50000 Menschen. Sie wurden notdürftig in verlassenen Quartieren un-
tergebracht. . . Die Minengefahr ist noch immer nicht behoben. Nach

371
Meldungen der Pionieroffiziere wurden mindestens 10000 Minen bisher
entschärft, darunter eine große Zahl in den Außenbezirken der Stadt wie
Hauptbahnhof, Zivil flug-
hafen usw. und im takti-
schen Vorgelände. In ein-
zelnen Gebäuden (auch in
Museen) wurden 3 1/2 Ton-
nen Sprengstoff in tech-
nisch vorbereiteten Minen-
kammern vorgefunden...
Die Explosionen und der
Brand hatten hohe Verluste
an Offizieren, Mannschaf-
ten und Material zur Folge.«
Die Folgen des Attentats
waren verheerend. Der alte
Stadtkern war zerstört, der
Schaden und die Men-
schenverluste, auch unter
der ukrainischen Bevölke-
Die Kiewer Kresh- rung, übertrafen zum damaligen Zeitpunkt jede Vorstellung: über 3000
schatik-Straße am 24. Tote. Um das Ausmaß des Verbrechens zu ermessen, muß man sich vor
September 1941, iri
Augen halten, daß das zerstörte Areal etwa 1000x2000 Meter maß. Da-
der sich das Hotel
iContinental, das mit wird der Fall vergleichbar mit dem Anschlag vom 11. September
deutsche Hauptquar- 2001 in New York. Die Empörung war so allgemein und der Ruf nach
tier, befand. Bestrafung der Schuldigen so drängend, daß es kaum einen Zweifel gab,
hier müsse ein Exempel statuiert werden. Die beklagenswerte Folge gip-
felte in einer Repressalie, deren Verhältnismäßigkeit alles bislang Dage-
wesene übertraf.
Auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF) der Heeres-
gruppe Süd, des Obergruppenführers JECKELN, kam es zu »Vergeltungs-
maßnahmen«, zu Geiselerschießungen. Diese wurden durch das Sonder-
3Ereignismeldung kommando 4a der Einsatzgruppe C sowie zwei Kommandos des
Nr. 101 vom 2. 10. Polizeiregiments Süd ausgeführt. Es soll sich um 33771 3 zumeist unbe-
19-11. teiligte jüdische Zivilpersonen gehandelt haben, eine Maßnahme, die, wenn
sie in diesem Ausmaß erfolgt sein sollte, das Recht der Repressalie ins
Maßlose überdehnt hat.
Nach der damaligen, völkerrechtlich gedeckten Maßnahme der Geisel-
erschießungen nach Anschlägen auf die Truppe lautete das Verhältnis
1:10. Da über 3000 Tote nach dem Attentat gezählt wurden, hätte das
über 30000 Geiselerschießungen bedeutet. In diesem Sinne hat die Ein-
satzgruppe die Zahl 33771 gemeldet. Doch es gibt keinen Beleg dafür,

372
daß so viele Geiseln tatsächlich erschos-
sen wurden - schon gar nicht in Babij
Jar in der Nähe Kiews, Insofern muß
geklärt werden, ob die Berichte und Be-
hauptungen über Babij Jar zutreffen -
zumal dieser Ort in dem umfangreichen
Buch von Raul H I L B E R G überhaupt nicht
vorkommt. Der symbol trächtige Name
>Babij Jan wird in den wenigsten Enzy-
klopädien erwähnt, auch nicht in der
Brockhaus-Enzyklopädie von 1970. Eine
Auswertung der zahlreichen Luftaufnah-
men, besonders die von John C. B A L L ,
Air photo evidence, hat ergeben, daß das
Gelände der Schlucht von Babij Jar im
Zweiten Weltkrieg unversehrt geblieben
ist. Weder das Gelände noch die Vegeta-
tion zeigen Spuren menschlicher Eingrif-
fe, Im Gegensatz dazu sind die Massen-
gräber von Katyn auf Luftaufnahmen
immer noch deutlich zu erkennen.
Trotzdem schrieb Elie W I E S E L in sei-
nem Buch Paroles d'étranger, ein Augen-
zeuge4 habe ihm berichtet, daß in Babij
Jar der Boden über den Tausenden zu-
geschütteten Leichen »monatelang beb-
te« und »von Zeit zu Zeit Blutfontänen
hervorschossen«, was schon wegen der
Blutgerinnung und auch aus physikali-
schen Gründen völlig unmöglich ist.
Dazu schrieb Joachim H O F F M A N N : »Ba-
bij Jar mußte in der Sowjetunion dazu
herhalten, um Katyn, und Katyn mußte
dazu herhalten, um Babij Jar glaubwür-
dig zu machen.«
Was die Praxis der Ereignis meidungen
betrifft, so hatten die Einsatzgruppen die
ehrgeizige Praxis entwickelt, nach oben
4 Viele »Augenzeugen*, die bei Nürnberger
So wurde die Mordstätte Babij Jar in der Anti-Wehrmacht
Prozessen Verbrechen Deutscher beeideten
ausstellung vorgestellt. Das untere Foto zeigt,
und diese an den Galgen brachten, erwie-
w i e das Massengrab planiert wurde,
sen sich später als Lügner und Meineidige.

373
Anhand dieser Luft-
aufnahme vom Tal
von Babij Jar, entstan-
den am 26. September
1943, hat der kanadi-
sche Luftbild-
archäologe John C.
B A L L nachgewiesen,

daß weder die Topo-


graphie noch die
Vegetation durch
menschliche Eingriffe
gestört wurde. Kein
Teil des Tales Babij Jar
wurde anscheinend in
den Kriegsjahren bis
zur sowjetischen Wie-
derbesetzung größe-
ren topographischen
Veränderungen unter-
worfen.

möglichst hohe Zahlen über getötete Gegner zu melden und den An-
"Joachim H O F F - schein zu erwecken, daß es sich um eigene Erfolge handele. Doch bis
MANN, Stalins Mitte August blieb ihnen meist nur die legale Polizeiarbeit und die Parti-
Vernichtungskrieg sanenbekämpfung. Denn sowohl im Baltikum als auch in der Ukraine
1941-1945, Wehr- hatten Nationalisten und der Volkszorn ganze Arbeit geleistet. Sie nah-
wissenschaften, men Rache an sowjetischen Funktionären, meist Juden, für die bestiali-
München 1995. schen Verbrechen der Sowjets vor deren Abzug. So konnten die Einsatz-
D r . HOFFMANN,
gruppen hohe Zahlen Getöteter melden, wobei sie verschwiegen, auf
wissenschaftlicher
Direktor des wessen Konto sie gingen. Nach dem Krieg wurden mit diesen Opfern
Mili tärgesc hich tli - das deutsche Schuldkonto belastet, wozu man auch die im Partisanen-
chen Forschungs- kampf umgekommenen Juden zählte.
amtes der Bundes- Wie für die Opfer von Auschwitz, existieren weit auseinanderliegende
wehr, hatte die Schätzungen über die tatsächliche Anzahl der hingerichteten Geiseln.
Fakten an Hand Der inzwischen verstorbene Dr. Joachim H O F F M A N N 5 berichtete, daß der
sowjetischer polnische Wissenschaftler Marek W O L S K I in einer von der >Société
Unterlagen ermit-
telt, die im Bundes- d'histoire polonaiser in Stanford (Cf) herausgegebenen Studie Le massacre
archiv-Militärarchiv de Baby Jar die verschiedensten Opfer zahlen miteinander verglichen und
Freiburg/Br,- festgestellt hat, daß sie zwischen 3000 und 300000 schwanken:
Potsdam aufliegen, 300000 Opfer nannte Vitalis K O R O T Y C H , sowjet-ukrainischer Heraus-
und in seinem Buch geber des Magazins Ogonyok, Angehöriger des KGB, am 23. April 1990
veröffentlicht.
vor dem kanadischen »Institute of International Affairs< in Toronto.

374
100000 behauptet die EncyclopediaJudaica (Ausgabe Jerusalem 1971).
50000 (bis 70000) nennt die Bolsaja sovetskaja encyclopedija (Ausgabe
Moskau 1970).
10000 Todesopfer verzeichnet das Grand dictionnaire encyclopédique La-
rousse (Ausgabe Paris 1982), und >nur< noch
3000 hat die Encyclopedia of Ukraine (Ausgabe Toronto 1988) gezählt.
Die letzte Zahl kommt wahrscheinlich der Wirklichkeit am nächsten. Aber
wie dem auch sei, es handelt sich hier nicht um eine Judenvernichtungs-
aktion, sondern um eine legale Repressalie der Besatzungsmacht. Hier
sei noch einmal an den 11. September 2001 erinnert. Die seitdem von
den USA ergriffenen Repressalien im Irak und in Afghanistan haben inzwi-
schen Zehntausende mit dem Leben bezahlen müssen, darunter viele un-
schuldige Zivilisten.
Unabhängig davon, daß in vielen Fällen von Verbrechen, die Deut-
schen zur Last gelegt wurden und noch werden, die Sowjets mit Billi-
gung S T A L I N S die Verantwortlichen waren, muß andererseits ganz klar
festgehalten werden, daß es im rückwärtigen Gebiet der Ostfront 6 seit 6 Ab etwa 30
Mitte August 1941 zu Massenexekurionen von Juden durch SS-Einsatz- Kilometer hinter
gruppen kam. Allerdings schwanken auch hier die geschätzten Zahlen der Frontlinie
beträchtlich. Außerdem ist zwischen gezielter Judenvernichtung und völker-
rechdich gedeckter Bekämpfung der Partisanen zu unterscheiden, da Ju-
den am völkerrechtswidrigen Partisanenkampf wesentlich beteiligt wa-
ren. Dies wird auch von Raul H I L B E R G und anderen bestätigt und als
Ausdruck jüdischen Widerstandes und Kampfgeistes gegen den Feind
gewertet. Der jüdische Historiker Arno L U S T I G E R , Überlebender von
Auschwitz und Buchenwald, schrieb in seinem 1990 erschienenen Buch
Vom Widerstand der Juden 1933-1945-. »Die Juden waren die Pioniere des
Partisanenkampfes.«
Die sowjetischen Partisanen brüsteten sich damit, rund 500000 Deut-
sche umgebracht zu haben. Umgekehrt sind viele jüdische Partisanen bei
ihrer Bekämpfung Opfer ihrer heimtückischen Kampfesweise geworden.
Obwohl der Mythos Babij Jar bis heute wissenschaftlich ungeklärt blieb,
beteiligte sich die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages Rita
S ü S S M U T H anläßlich der Fünfzig-Jahr-Gedenkfeier am 5. Oktober 1991
mit einer Rede. Dabei sagte sie unter anderem: »Baby Jar ist eine Städte
schrecklicher Erinnerung, ein Ort des Grauens und - für uns Deutsche -
der Scham und nicht tilgbarer Schuld.«
Über die alles auslösende Schuld der Attentäter von Kiew und deren
deutsche Opfer verlor sie kein Wort, ebenso wenig darüber, daß hier kein
Verbrechen vorlag, sondern das grausame Gesetz des Krieges waltete,
nachdem die Partisanen die Büchse der Pandora geöffnet hatten.
Hans Meiser

375
Meutereien und Aufstände der Ost-Legionen
in der Wehrmacht

n der deutschen Wehrmacht haben im Zweiten Weltkrieg rund andert-


I halb Millionen russischer Freiwilliger gedient.1 H I T L E R hatte zunächst
die Aufstellung dieser Osttruppen mißtrauisch beobachtet, da ihr Ober-
kommandierender General Andrej W L A S S O W die Bildung einer russischen
Regierung und die Formierung einer ihr unterstehenden russischen Ar-
mee anstrebte.2 Offiziell verwendete W L A S S O W den Begriff »Russische
Befreiungsarmee< (ROA) als Sammelbezeichnung für alle auf deutscher
Seite in irgendeiner Form organisierten Soldaten russischer Volkszuge-
hörigkeit im Unterschied zu den nationalen Legionen der Minderheiten-
völker. Gemeinsam war allen diesen Verbänden der Haß auf S T A L I N S
Terrordiktatur. Getrennt waren sie durch interethnische Spannungen, etwa
die zwischen Russen und Tschetschenen.
Oft wurde H I T L E R der Vorwurf gemacht, den Einsatz der Osttrup-
pen, insbesondere der Kosaken, lange verzögert zu haben. Nachfolgend
soll aufgezeigt werden, in welchem Maße seine Bedenken doch berech-
Andrej WLASSOW, tigt waren und durch die späteren Ereignisse bestätigt wurden. Insofern
ist eine Richtigstellung vorzunehmen,3 Das gilt nicht für die Kosaken-
verbände.
Ab 1943 häuften sich Desertionen der russischen Freiwilligen, oft ver-
bunden mit Überfallen auf ihre deutschen Waffenbrüder. Sie verrieten
dann zudem dem Feind die Lage der deutschen Stellungen, den Standort
der Geschütze, Gefechtsstände, Fernsprecher und Funker.4
H I T L E R S Verbot des Ausbaus der freiwilligen russischen Truppen wur-
de an der Front weitgehend übergangen. Als immer mehr ROA-Soldaten
zu den Partisanen desertierten, beschloß die deutsche Führung, alle zu-
verlässigen russischen Einheiten nach Frankreich, Holland, Italien oder
auf den Balkan zu verlegen und sie dort gegen lokale Widerstandsbewe-
gungen einzusetzen. Die unzuverlässigen Einheiten wurden aufgelöst.5

1 Joachim HOFFMANN, Die Wlassow-Armee, Freiburg 1984, S. 421 ; Franz W. SEID-


LER, Die Wehrmacht im Partisanenkrieg, Pour-le-Mérite, Selent 1999, S. 118; Oskar
REILE, Der deutsche Geheimdienst im 2. Weltkrieg. Ostfront, München 1990, S. 409.
2 HOFFMANN, ebenda, S. 15.

3 Herbert KALTEN BAC HER, in: Nation <& Europa, Nr. 3 , 2 0 0 3 , S . 7 3 f.


4 Léon DEGRELLE, Die verlorene légion, K. W Schütz, Preußisch Oldendorf 1972,
S. 230 f.
5 Allan BULLOCK, Hitler und Stalin, Goldmann, München o, J,, S. 1078; Franz W.
SEIDLER, Die Kollahoration, Herbig, München 1995, S. 118.

376
Das Soldbuch eines
Unteroffiziers der Tur-
kestanischen Legion.
Angehörige der >Ost-
bataillonet erhielten
Dienstgrade der
Wehrmacht. Abbil-
dung aus: Kriegsge-
fangene, Droste, Düs-
seldorf 1995.

Rumänische Soldaten,
die die Seiten ge-
wechselt haben,
bei den Straßen-
kämpfen um Budapest
im Januar 1945.

Alfred F R A U E N F E L D war Reichskommissar auf der Krim, wo die Zu- 6 Alfred FRAUEN-
sammenarbeit der Besatzungmacht mit den Krimtartaren ausgezeich- FELD, Und trage keine
net war. Die Einheimischen wurden mit Waffen versehen, um die Parti- Reu', Druffel, Leoni
sanenangriffe abzuwehren. Diese Freiwilligen hatte man unklugerweise 1978, S. 228.
7 Fritz BECKER,
auf H I T L E R vereidigt, woraufhin die Sowjetpropaganda sie als Hochver-
räter beschimpfte und bedrohte. Stalins Blutspur durch
Europa, Arndt, Kiel
Es passierte da und dort, daß eine solche Einheit ihre deutsche Rah- 1995, S. 238; Franz
menmannschaft niedermachte und zu den Sowjets überlief/' W. SEIDLER, Die
Nach der Kriegswende Mitte 1943 wuchs H I T L E R S Skepsis.™ Ein ehe- Kollaboration, aaO,
maliger Angehöriger des Wolga-Tatarischen-Bataillons 828 erinnert sich: (Anm. 5), S. 118.

377
»Das deutsche Rahmenpersonal (rund 10 Prozent der Truppenstärke)
bestand zwar überwiegend aus frontbewährten Soldaten, war aber auf
den ständigen Umgang mit ganz andersartigen Menschen, die damals
der Roten Armee angehört hatten und aus denen niemals preußische
Grenadiere zu machen waren, nicht hinreichend vorbereitet und auch
nicht auf besondere Eignung dafür ausgewählt worden.
Die Ostlegionen konnten die Erwartungen ihrer Befürworter und För-
derer nicht erfüllen, weil bei den Legionären die Freiwilligkeit nur be-
dingt gegeben war. Die Bewaffnung und Ausrüstung entsprachen nicht
dem neuesten deutschen Stand und bestanden weitgehend aus Beute-
Russischer Freiwilliger material.
von der Kosakendivi- Die Zuverlässigkeit ließ nach, je länger der Krieg dauerte und je mehr
sion der deutschen
Wehrmacht, Gemälde
sich die Gewichte zugunsten der Sowjetunion verschoben. Das führte
von Olaf J O R D A N , aus: unter anderem dazu, daß eines Tages der Chef der Stabskompanie die
Mortimer D A V I D S O N , mit seinen Legionären besetzten Stützpunkte auflöste, die dabei befind-
Kunst in Deutschland lichen deutscben Gefreiten entwaffnen, ausziehen und fesseln ließ und
1933-1945, Bd.2/1, in Richtung Rote Armee verschwand.«8
Grabert, Tübingen
Auch in der SS-Division >Dirlewanger< gab es neben Kriminellen fremd-
1991.
völkische Kompanien, von denen einige desertierten. Besonders die >Ost-
muselmanen< waren sehr anfällig für die Überlaufpropaganda der Sowjets.
8 Rolf MICHAFJJS,
Ein SD-Bericht erläuterte die Lage an einem Beispiel: »Das unter der
Die Tapferkeits- und Führung des SS-Obersturmführers A L I M O V stehende turkestanische Re-
[ A'erdienstaus^eichnun-
gen für Angehörige der giment No. 1 des W-SS-Verbandes Myjava hat am 25. 12. 1944 gemeu-
Ostvölker, Michaelis, tert und ist mit Teilen zu dem russischen Bandenführer >Iwan< überge-
1997, S. 10. laufen. Die Meuterei ist auf persönliche Differenzen des A L I M O V mit
9 Hans-Peter seinem Standartenführer Harun A L R A S C H I D zurückzuführen.«''
KI.AU sc H, Antifaschi- Im September 1944 brachten einige unter deutschem Befehl in Jugo-
sten in SS-Uniform, slawien stadonierte Kaukasier ihre Offiziere um und liefen zu den Parti-
Edidon Temmen, sanen über,10
Bremen 1993, Der deutsche Abwehrchef Oskar R E I L E beschrieb, wie es dem sowje-
S. 432. tischen Geheimdienst ohne Mühe gelang, unzählige Soldaten der Roten
10 Nicolai TOLSTOY,
Armee und Agenten in die deutschen Dienststellen einzuschleusen, um
Die Verratenen von insgeheim Ausspähung zu betreiben - wie es H I T L E R befürchtet hatte.11
Jalta, Langen Müller, Den folgenschwersten Verrat beging jedoch W L A S S O W S General Sergej
München 1977,
Kusmitsch BUNJATSCHENKO in den letzten Kriegswochen. Schon an der
S. 618.
Oder-Front weigerte sich BUNJATSCHENKO am 2. März 1945 angesichts
11 Oskar REILE, aaO.
der hohen Verluste, weitere Befehle von dem deutschen General BUSSE,
(Anm. 1), S. 409;
dem Oberbefehlshaber der 9. Armee, anzunehmen, und zog sich mit
Hans-Peter
KlAUSCH, aaO. seiner Division eigenmächtig nach Böhmen zurück. Er war auch nicht
(Anm. 9), S. 932. bereit, sich der Heeresgruppe Mitte zu unterstellen, die Generalfeldmar-
schall S C H O R N E R befehligte. Vielmehr wich er dem Feind aus und zog
sich nach Süden zurück. Sc HÖRN ER wollte daraufhin BUNJATSCHENKOS Ver-

378
Am 4. M a i auf dem
W e g nach Prag, von
rechts; General Andrej
WLASSOW, Generalma-
jor Sergej K. BUNJAT-

SCHENKO und Oberst


Igor K. SACHAROW.

band entwaffnen, was aber zu kriegerischen Auseinandersetzungen ge- 12Hugo PORTISCH,


führt hätte. Nur wegen fehlender Luftunterstützung gab S c H Ö R N E R sei- Hört die Signale,
nen Plan auf. Deutscher Taschen-
Am 6. Mai 1945 griff B U N J A T S C H E N K O auf Seiten der Tschechen in den buch-Verlag (dtv),
Prager Aufstand gegen die deutschen Besatzer ein und bekämpfte somit München 1993,
seine deutschen Waffenbrüder. Der Aufstand war unnötig, da die Deut- S. 300; Dokumentati-
on der Vertreibung der
schen Prag bereits räumten.12 Die tschechischen Führer des Aufstands
Deutschen aus Ost-
hatten B U N J Ä T S C H E N K O S Männern Asyl in der Tschechoslowakei verspro- und Mitteleuropa, Bd.
chen, während die westlichen Alliierten jegliche Verhandlung mit der ROA IV, 1, Bundesmini-
ablehnten. W L A S S O W war gegen diesen Verrat an Deutschland, doch ließ sterium für Vertrie-
er BUNJATSCHENKO gewähren, ohne diesem seine Zustimmung zu geben.11 bene, 1957, S. 57;
F.tne tschechische Jüdin legte Zeugnis über das Schicksal der ROA- vgl, dazu Beiheft,
Soldaten ab, die den Sowjets in die Hände fielen: »In den ersten Tagen S. 11.

nach dem 2. Weltkrieg arbeitete sie im Krankenhaus in der Prager Vor- 13 HOFFMANN, a a O .
stadt Motol. In dem Krankenhaus in Motol waren an die 200 verwundete (Anm. t),S. 211.
WLASSOW-Soldaten hospitalisiert. Eines Tages kamen in das Kranken- 14 HOFFMANN,
haus sowjetische Soldaten. Sie waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. ebenda, S. 244;
Sie trieben die Ärzte und das Sanitätspersonal aus dem Gebäude heraus, darin: Bericht des
D r . STEPANEK-
betraten die Krankenzimmer, in denen nur schwerverwundete W L A S S G W -
»Russen
STEMR:
Soldaten lagen, es ertönten knatternde, langandauernde Salven. Alle ver-
kommen nach
wundeten Wuvssow-Soldaten wurden auf ihren Krankenbetten von so- Prag«.
wjetischen Schützen niedergemacht.«1"
So wie in Motol wurde auch an anderen Stellen mit den ROA-Soldaten
verfahren: Weit über 600 wurden in und um Prag grausam ermordet.

379
Militärisch war der Verrat B U N J A T S C H E N K O S verhängnisvoll, weil seine
Division den gesamten Westteil der Stadt Prag und eine breite Zone auf
dem Ostufer der Moldau unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Indem sie
die Stadt in zwei Teile spaltete, verhinderte sie die Vereinigung der von
Norden und Süden her angreifenden deutschen Entsatztruppen, Ohne
das Eingreifen der 1. Division der ROA wäre es den Deutschen schon
15Nicolai T O L S T O Y , am 6, Mai 1945 gelungen, die westlichen Teile von Prag zu besetzen und
aaO. (Anm. 10), den Aufstand am 7. Mai 1945 vollends zu unterdrücken. So ermöglichte
S. 6 1 8 .
B U N J A T S C H F . N K O S Treuebruch es den Tschechen, die bekannten grausa-
16 F. G Ü N T H E R ,
men Massaker an deutschen Zivilisten und Kriegsgefangenen in Prag zu
»Kampfraum verüben. Der zweimalige Verräter B U N J A T S C H E N K O wurde dennoch spä-
Marzabotto«, in:
Der Freiwillige, NR. 7, ter mit W L A S S O W in Moskau gehängt.
2002; Rudolf Aber auch bei den als zuverlässig geltenden Osttruppen, die an die West-
ASCHENAUER, Der front geschickt worden waren, kam es zu Deserdonen und zu Meutereien.
Fall Reder, Vowin- In Italien holte das 1. Bataillon des 314. Regiments, von seinen russi-
ckel, Neckarge- schen Offizieren ermuntert und angeführt, weiße Flaggen hervor und
münd 1978, S. 92 u. ging mit Waffen auf seine deutschen Befehlshaber los. Ein Turkmene
153; Lothar G R E I L , namens T I N I O tat sich im Appenin als ausgezeichneter Guerilla-Kämpfer
Faustpfand Reder, gegen die deutsche Wehrmacht so sehr hervor, daß er von einem ameri-
München 1977, S. kanischen Divisionskommandeur einen Ehrenausweis erhielt. Photogra-
38; Beitrag Nr. 233,
»Der Fall Marzabot- phien im Imperial War Museum zeigen entkommene Russen, die im No-
to«, Beitrag Nr. 659, vember 1944 auf Seiten der Alliierten in Italien und Kreta kämpften. In
»Das Massaker von Frankreich hörte der alliierte Nachrichtendienst bereits 1943, daß die
Marzabotto«, armenischen Truppen »ihre Waffen gegen die deutschen Unterdrücker«
! »L'Epuration«, in: zu wenden planten, sobald die Zeit hierfür reif wrerde. Nach der Lan-
Historia, Nr. 41, dung in der Normandie lief ein hoher Prozentsatz der 115000 in Frank-
hors série; Udo reich liegenden Russen, sobald es ging, zu E I S E N H O W E R S Streitkräften
W A L E N D Y , Europa in über.15
Flammen, Bd. I, Bei den Kämpfen um das italienische Marzabotto stießen die Soldaten
Vlotho 1966, von Sturmbannführer R E D E R auf Mongolen und Deserteure der 1 6 2 .
S. 275; Hans
turkestanischen Division.16
G R I M M , Warum -
woher — wohin, In Südfrankreich liefen ROA-Soldaten oft geschlossen zu der kom-
Klosterhaus, munistischen Résistance über.1 Der Historiker CouDRY weist in Die so-
Lippoldsberg 1954, wjetischen Lager in Frankreich nach, daß es unter den Maquisards mehr Ost-
S. 445. legionäre als Franzosen gab. Der Seitenwechsel bewahrte jedoch keinen
18 Nation & Europa, von ihnen vor der späteren Auslieferung an die Sowjets. Am 13. Dezem-
Nr. 10,1977, ber 1944 schloß sich der französische General D E G A U L L E der anglo-
S. 46 f. amerikanischen Haltung an, die die Auslieferung aller sowjetischen Kriegs-
gefangenen an S T A L I N vorsah.1"
Deren >Repatriierung< (150000 Gefangene) besorgten 300 NKWD-
Offiziere. Charles DE G A U L L E machte sich so eines schweren Verbrechens
schuldig, da er wußte, daß diesen Überläufern nach schwerer Folter der

380
Tod durch Erhangen, Erschießen oder in den GULAG-Konzentrations-
lagern bevorstand.
Im südfranzösischen Villefranche-de-Rouergue kam es unter der Füh-
rung von zwei kroatischen und zwei bosnischen Offizieren der 13. Waf-
fen-SS-Gebirgsdivision >Handschar< in der Nacht vom 16. zum 17. Sep-
tember 1944 zu einer Meuterei, wobei es den Meuterern gelang, fünf
ihrer Offiziere zu erschießen. Der Aufstand ging von eingeschleusten
kommunistischen Partisanen aus. Nach kurzem Feuergefecht wurde die
Meuterei dank der entschlossenen Haltung des BataiOons-Imans Halim
M A L K O C niedergeschlagen. 3 4 Schuldige wurden erschossen, der Iman
nach Auslieferung 1 9 4 7 als Kriegsverbrecher von T I T O verurteilt und
erschossen.
Ende 1944 zeigten sich bei den Bosniern die ersten Auflösungserschei-
nungen: 1400 Männer wurden fahnenflüchtig, liefen aber nicht zum Feind 19 Zvonimir BF.RN-
über.19 WALO, »Muslime als
Auf der holländischen Insel Texel lag das georgische Infanterie-Batail- Freiwillige in der W-
lon 822, das aus 800 Georgiern und 400 Deutschen bestand. In der Nacht SS«, in: National-
vom 5. zum 6. April 1945 kam es zum Aufstand. Mit Messern und Bajo- Zeitung, 14. 10. 2005,
netten töteten die Georgier rund 400 schlafende Deutsche innerhalb S, 8; Zvonimir
weniger Stunden. Monatelang hatten sie mit den Deutschen Dienst ge- BERNWAI.D, » 1 3 .
tan und gefeiert. Ein ehemaliger sowjetischer Fliegeroffizier führte den Waffe n-Gebirgsdivi-
Aufstand, mit dem sich die Georgier im Schatten der deutschen Nieder- sion der SS >Hand-
lage vor den Westmächten zu rehabilitieren versuchten. Mit holländischen scharw, in: Der
Freiwillige, Nr. 6,
Widerständlern hatten sie in einem gewissen Bereich Minen geräumt, 2000, S. 14 ff.
was sich später bei der Landung der kanadischen Truppen als äußerst
wertvoll erwies.20 Aus Berlin kam der Befehl: »Alle Georgier sofort liqui- 20 Nicolai TOLSTOY,
dieren«. Die zur Hilfe geeilten deutschen Truppen mußten Artillerie ein- aaO. (Anm. 10),
setzen. Der verbissene Kampf, in dem auf beiden Seiten kein Pardon S. 619.
gegeben wurde, dauerte zwei Wochen. Nach Abschluß des Waffenstill-
stands in Gegenwart von General TOULKEN, Befehlshaber des kanadi-
schen Korps, änderte sich nichts an der Situation auf der Insel. Die deut-
schen Soldaten weigerten sich, ihre Waffen abzugeben, weil sie sich vor
den Georgiern nicht sicher fühlten. Von den 800 Georgiern überlebten »Die Blutnacht
21

nur 228,117 holländische Widerständler und 400 Deutsche kamen um.21 von Texel, in:
Der Gerechtigkeit halber muß erwähnt werden, daß sich die unter Gene- Deutsche Wochenzei-
tung, 9. 6. 1995;
ral Helmut VON PANNWITZ auf dem Balkan kämpfende Kosakendivision
Erwin HECK,
als äußerst zuverlässig erwies. Die Kosaken hatten im russischen Bürger- »Vorfall auf der
krieg nach 1917 bereits mutig den Bolschewisten Widerstand geleistet. holländischen Insel
Ebenso loyal gegenüber der deutschen Wehrmacht verhielten sich die Texel«, in: Der
Waffen-SS-Divisionen der Esten, Letten und Litauer, deren Völker zwei- Freiwillige, Nr. 2,
mal in der Geschichte Opfer von bolschewistischen Massakern und De- 1994, S. 17.
portationen geworden waren. Friedrich Karl Pohl

381
Der Untergang der >Struma<

m 24. Februar 1942 wurde der bulgarische Donau-Dampfer >Stru-


A ma< im Schwarzen Meer vor der Bosporus-Hinfahrt (41 Grad 26
Minuten Nord/29 Grad 10 Minuten Ost) von einem Torpedo getroffen
und sank. An Bord befanden sich 763 Juden, die sich im rumänischen
Hafen Konstanza als Auswanderer in den Nahen Osten eingeschifft hat-
ten. Nur vier Schiffbrüchige überlebten. Die Versenkung wurde den Deut-
schen angelastet, insbesondere, als 1959 der sowjetzonale >Ausschuß für
Deutsche Einheit« behauptete, » H I T L E R S Gesandtschaftsrat in Ankara,
Dr. Manfred K L A I B F . R - jetzt Bonns Botschafter in Paris - habe den Über-
fall am Bosporus inszeniert und ein deutsches Schnellboot an den Tatort
dirigiert, das den Ausrottungsbefehl vollstreckte. Ähnlich schrieb die un-
garische Zeitung Uj Kelet am 1. November 1960: >Sobald das Schiff vor
Istanbul auftauchte, begann eine fieberhafte Tätigkeit in der deutschen
Gesandtschaft. Der Botschafter VON P A P E N in Ankara betraute den Herrn
Rat K E L B E R (gemeint war K L A I B E R ) mit der Abwicklung der Manipulati-
on um die >Struma<... Sobald das Flüchdingsschiff vom 1 Iafen weit ge-
nug weg war, wurde es von einem deutschen Schlachtschiff mit ein paar
gut gezielten Kanonenschüssen versenkte«1
Doch das ist falsch, wie auch der Spiegeß dann berichtete. Denn kurz
vorher hatte der Historiker und damalige Leiter der Stuttgarter Biblio-
thek für Zeitgeschichte, Dr. Jürgen R O H W E R , in einem Buch3 bewiesen,
daß die >Struma< nicht von einem deutschen, sondern von einem sowjeti-
schen Kriegsschiff versenkt worden war, also die Anschuldigungen aus
dem Ostblock unzutreffend waren. Bei der Untersuchung wurde auch
festgestellt, daß das Berliner Auswärtige Amt wie der Oberbefehlshaber
der deutschen Kriegsmarine die Auswanderung von Juden aus Rumäni-
en aus Rücksicht auf diesen Verbündeten kaum behinderten.
Die Tatsachen sind: Das alte, 1880 in Newcastle gebaute rund 57 m
lange Motorschiff war am 12. Dezember 1941 unter Führung des bulga-
rischen Kapitäns G O R B A T E N K O unter panamesischer Flagge aus Konstanza
nach Istanbul ausgelaufen. ' Die vor allem aus der Bukowina und Bessa-
rabien stammenden jüdischen Auswanderer wollten nach Palästina.
Weil sie keine Einreiseerlaubnis für das damalige britische Mandats-
gebiet Palästina hatten und London jüdische Einreisen in dieses Land zu

1 »judenflucht. Schatten achteraus«, in: Der Spiegel, Nr. 20, 12. 5. 1965, S. 68.
2 Ebenda, S. 69 u, 71,
3 Christian ZENTNER U, Friedemann BEDÜRFTIG, Das große Lexikon des Zweiten
Weltkriegs, Südwest, München 1988, S. 542.

382
Karte aus:
Der Spiegel, Nr. 20,
12. 5. 1965, S. 68.

verhindern suchte, verweigerte die Türkei auf britischen Druck die Lan-
dung in Istanbul und die geplante Weiterfahrt durch den Bosporus. Meh-
rere Wochen lag das Schiff vor der Stadt, während jüdische Vereinigun-
gen sich um die britische Erlaubnis zur Einreise bemühten. Einige wenige
Juden durften das Schiff verlassen. Wegen der bis dahin ergebnislosen
Verhandlungen ließen am 24. Februar türkische Behörden das Schiff ins
Schwarze Meer zurückschleppen, wo es noch am selben Tag von dem
sowjetischen U-Boot >SC-213< unter Kapitänleutnant D E N E S C H K O torpe-
diert wurde und in wenigen Minuten versank. Aus Moskauer Dokumen-
ten über die Kriegführung im Schwarzen Meer konnte R O H W E R das ein-
deutig rekonstruieren: Der Chef der kriegsgeschichtlichen Abteilung der
sowjetischen Marine, Kapitän 1 . Ranges W J . A C K S A S O W , teilte ihm auf
Anfrage mit, daß das sowjetische U-Boot an diesem Tage an diesem Ort
einen Transporter versenkt habe, »dessen Name nicht festgestellt wur-
de«.4 Ebenso konnte R O H W E R nachweisen, daß sich zum damaligen Zeit-
punkt kein einziges deutsches U-Boot im Schwarzen Meer befand, das
den Angriff hätte ausführen können.
Für den Tod dieser Hunderte von Juden waren also nicht die Deutschen
schuld, sondern die Sowjets und teilweise die Briten wegen ihrer strengen
Einwanderungsbeschränkungen für Palästina. Dasselbe gilt für das ähnli-
che Schicksal des Flüchtlingsschiffs >Mefkure< im Jahre 1944.' R. Kosiek
4 Jürgen ROHWER, Die Versenkung der jüdischen Flüchtlingstransporter Struma und Mef-

kure im Schwarzen Meer, Bernard u. Graefe, Frankfurt 1965.


s Siehe Beitrag Nr. 595, »Die Versenkung der >Mefkure<«.

383
Russische Opferzahlen für Zweiten Weltkrieg

icht zuletzt um die angebliche »deutsche Schuld* an den Opfern des


N Zweiten Weltkrieges möglichst zu vergrößern, wurde die Zahl der
sowjetischen Kriegstoten in den letzten Jahrzehnten stark erhöht. Der
Große Brockhaus von 1957 berichtet von »etwa 6 Millionen« in Kampf-
handlungen und in Gefangenschaft umgekom-
menen Sowjets bei weltweit 16 Millionen
Kriegstoten. 1 Im Jahre 1973 heißt es in der
Brockhaus Enzyklopädie'. »Der Zweite Weltkrieg
forderte über 55 Millionen Tote, davon entfie-
len allein auf die Sowjetunion etwa 20 Millio-
nen Menschen,. . die Zahl der getöteten Zivili-
sten betrug im Fall der Sowjetunion 7 Millionen
Tote«,2 also bleiben 13 Millionen getötete So-
wjetsoldaten. Die kommunistische Junge Welt gab
1991 mehr als das Doppelte dieser schon zu
hohen Zahl an: »Die UdSSR zahlte mit 54 Mil-
lionen Kriegstoten.«1 Ein Jahr später meldete
Bild: »Russische Militärbehörden veröffentlich-
ten zum 1. Mal Zahlen ihrer Toten im 2. Welt-
krieg: 8,668 Millionen Soldaten, 19 Millionen
Zivilisten,«4 Als Gesamtzahl ergeben sich dar-
aus rund 27,7 Millionen Tote für die Sowjet-
union
Diese Inflation der russischen Opferzahlen
spiegelt allerdings nicht die Fortschritte in der
Erforschung der historische Wirklichkeit wider,
sondern gibt eher den jeweiligen Zeitgeist mit
seinen politischen Ideologien an. Bei sicher auch
in Zukunft bestehenden Unsicherheiten lassen
die nachfolgend angeführten Quellen eine bes-
sere Abschätzung zu.
Aus der Luft getötete Josef S T A L I N hielt am 1 3 . März 1 9 4 6 eine Grundsatzrede vor dem Ober-
russische Infanteri- sten Sowjet, in der er nach der Prawda ausführte: »Als Ergebnis der deut-
sten zu Beginn des
schen Invasion verlor die Sowjetunion in den Kämpfen mit den Deut-
Ostfeldzuges. Die
russischen Opferzah-
len für den Zweiten
1 Der Große Brockhaus in 12 Bänden, Brockhaus, Wiesbaden 1957, Bd. 12, S. 447.
Weltkrieg sind um-
2 Brockhaus Enzyklopädie, 20 Bde., Brockhaus, Wiesbaden 1973, Bd. 20, S. 206.
3 Junge Weit, 21. 6. 1991.
stritten.
4 Bild-Zeitung, 30. 12. 1992.

384
schen und durch deutsche Okkupation und Verschleppung sowjetischer
Menschen in deutsche Arbeitslager ungefähr 7 Millionen Menschen.« 5
Der jüdisch-deutsch-russische Statistiker Professor Eugen KuliSCHER,
Verfasser mehrerer demographischer Werke im Auftrag des amerikani-
schen >Bureau of the Census*, der obersten Behörde für Bevölkerungs-
statistik in den USA, benutzt in einem seiner Bücher 1948 fast denselben
Wordaut: »As a result of the German invasion, the Soviet Union has
irrevocable lost in battles with the Germans and, also during the Ger-
man occupation und through the deportation of Soviet citizens to Ger-
man slave labor camps, about 7 Million people.«6 Er kommt auf 1,5 Mil-
lionen durch Kriegseinwirkungen und sowjetische Folgemaßnahmen
umgekommene sowjetische Zivilpersonen." Damit bleiben rund 5,5 Mil-
lionen getötete Rotarmisten übrig.
Die New Yorker Versicherungsgesellschaft Metropolitan Life Insurance
Company erhielt unmittelbar nach Kriegsende von der US-Regierung
den Auftrag, die Bevölkerungsverluste aller am Kriege beteiligten Staaten
unter besonderer Berücksichtigung ihres militärischen Personals zu be-
rechnen, Nach Angaben in deren Statistical bulletin vom Januar 1946 liegt
die Zahl der gesamten sowjetischen Bevölkerungsverluste im Zweiten
Weltkrieg bei 7,5 Millionen Menschen.
Die Zahl der gefallenen Rotarmisten wird auf ungefähr 5 Millionen
geschätzt. S T A L I N gab am zweiten Jahrestag des Beginns des Ostfeldzu-
ges die Zahl der bis dahin gefallenen und vermißten Sowjetsoldaten mit
4,2 Millionen an.8
Der amerikanische Bevölkerungswissenschaftler Professor Franc Lo-
R I M E R hat 1946 im Auftrag des Völkerbundes eine Studie veröffentlicht"
und kommt darin zu dem Ergebnis, daß ungefähr 5 Millionen Rotarmi-
sten im Kampf gefallen oder in Gefangenschaft umgekommen sind.
Damit dürfte mit ziemlicher Sicherheit die Zahl der im Zweiten Welt-
krieg getöteten Sowjetsoldaten zwischen 5 und 5,5 Millionen liegen, hö-
here Werte sind Phantasiezahlen. Von dieser Gesamtzahl sollen etwa 1
bis 1,5 Millionen Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft umgekom-
men sein. Wolfgang Hackert

5 Prawda, 14. 3. 1946.


6 Eugen KuLIST:HER, Europe on the Move, New York 1948, S. 276.
7 Ebenda.
8 Joseph S T A U N , in: Prawda, 2 2 . 6.1943.
9 Franc LORIMER, The Population of the Soviet Union, University Press, Princeton
1946, S. 181.

385
Unternehmen Barbarossa<
im Spiegel der Zeitkritik

ie Zeitgeschichte beschuldigt die deutsche Heeres führung, sie hätte


D Hitlers Anweisungen zum »Unternehmen Barbarossa« ohne Wider-
spruch hingenommen und sich bedenkenlos für seine ideologischen Ziele
einspannen lassen. Erst kürzlich hat der Historiker Johannes H Ü R T E R in
seinem Buch Hitlers Heerführer die Beschuldigung erneut aufgegriffen und
das Handeln von 25 (Oberbefehlshabern des Heeres nicht ohne Anklänge
1 Johannes H Ü R T F . R , an die seit Jahren geübte Voreingenommenheit untersucht.1 Da sein Er-
Hitlers Heerführer. gebnis der historischen Wahrheit nicht entspricht, wird nachfolgend
Die deutschen Oberbe- richtigstellend zu den wesentlichsten Anwürfen H Ü R T E R S Stellung genom-
fehlshaber im Krieg men.
gegen die Sowjetunion In der Antike verurteilten besiegte Völker häufig ihre Feldherren zum
1941/42, Olden-
Tode oder überließen sie der Willkür der Sieger, Vor dieser Alternative
bourg, München
2006. standen die Deutschen im Mai 1945 nicht, denn mit der Begründung,
daß die Generalfeldmarschälle H I T L E R gedient hätten, erhoben die Sieger
selber Anklage. Dabei wurde bewußt außer acht gelassen, daß H I T L E R
nicht nur Reichspräsident und Reichskanzler, sondern auch seit 1938
Oberster Befehlshaber der Wehrmacht gewesen war. Ihm haben alle ge-
dient, nicht allein die Generale. Davon ist auszugehen, will man deren
Handeln beurteilen, ebenso wie von der Tatsache, daß dieser Krieg außer
durch »bedingungslose Kapitulation* für Berlin nicht zu beenden war.
Und vor allem ging es im Ostkrieg um einen Gegner besonderer Art, wie
jeder hätte wissen können: nämlich um einen Feind der gesamten zivili-
sierten Menschheit, der sich durch seine Unterdrückungsideologie und
den millionenfachen Mord an der eigenen Bevölkerung schon vorher
disqualifiziert hatte. Das wäre auch heute ein Kriterium zum Eingreifen,
wie wir erst kürzlich wieder von den USA gelernt haben. Soviel zur Aus-
gangslage.
Manches von dem, was Johannes H Ü R T F . R in seinem Buch Hitlers Heer-
führer anführt, mag durchaus zutreffen, insbesondere für den Ostkrieg.
So trifft zum Beispiel zu, daß sich unsere I leerführer bereit fanden, » H I T -
L E R S riskanten Weg in den Krieg zu unterstützen«, ebenso, daß sie auch
nicht vor »rücksichtsloser Anwendung jeder Gewalt« zurückschreckten.
Wie sollten sie denn auch? Schließlich war Krieg! Desgleichen gilt, daß
sie zuletzt einer beispielhaften »Radikalisierung« unterlagen. Auch mag
richtig sein, daß sie damit in den Augen mancher zu »Komplizen natio-
nalsozialistischer Politik wurden«. Nichts daran ist falsch, wenn man es
unbedingt negativ ausdrücken will. Es bleibt aber die Frage offen, wel-
che andere Wahl die Heerführer denn hatten. Sollten sie sich krank mel-

386
den, den Hut an den Nagei hängen oder sich erschießen? Mit Attentaten,
die meistens fehlschlugen, war gegen H I T L E R wenig auszurichten. Denn
das Volk machte nicht mit, es klebte an ihm, um es einmal banal auszu-
drücken. Hier lag der Kern des Problems. Schon in einer vom Volk ver-
haßten Diktatur kann eine Opposition wenig ausrichten. Noch schwerer
aber wird es, wenn das Volk seinen Herrscher wie einen Halbgott ver-
ehrt. Ohne das Risiko eines Bürgerkrieges war in den Jahren 1940/41
gegen den siegreichen Diktator nichts auszurichten. Danach aber, bis
zum bitteren Ende im Mai 1945, war die Heeresführung in ein Ringen
um Leben und Tod Deutschlands mit der Sowjetunion verwickelt, aus
dem es kein Entrinnen gab.
Sicherlich hat H Ü R T E R recht, wenn er sagt, daß sich den F : eld marschal-
len die »politisch-moralischen Maßstäbe verschoben haben«. Wie hätte
es anders sein sollen in einem derart blutigen Ringen? Aber reichten sie
wirklich von der »selektiven Mordpolitik zum systematischen Massen-
mord«, wie er meint? Bei einer so schweren Anschuldigung muß man
zuerst einmal nach der damals bestehenden Rechts- und Befehlslage fra-
gen? Die Richter in Nürnberg taten das jedenfalls, und sie sprachen dar-
aufhin die Wehrmacht vom Vorwurf frei, eine verbrecherische Organi-
sation gewesen zu sein : — und zwar mit allem Recht der Welt, denn eine 2 Walter P O S T , Die
solche Organisation war sie nicht gewesen. verleumdete A rmee,
Die Befehlslage war nämlich glasklar: Der Oberbefehlshaber des 1 lee- Webmacht und
res (ObdH), Feldmarschall V O N B R A U C H I T S C H , hatte befohlen: »Die Teil- Wehrmachtpropaganda,
nahme von Angehörigen des Heeres an politischen Exekutionen ist ver- Pour le Mérite,
boten.«3 Dieser Grundsatzbefehl blieb während des gesamten Krieges Selent 999, S. 5 ff.
3 ObdH Nr. 362/
gültig. Dazu gab es eine Reihe von Zusatzbefehlen wie den des Ober-
kommandos des Heeres (OKH) vom 24. Mai 1941: »Unter allen Um- 39, g.Kdos, 24. 9.
1939.
ständen bleibt es Aufgabe aller Vorgesetzten, willkürliche Ausschreitun-
gen einzelner Heeresangehöriger zu verhindern und einer Verwilderung
der Truppe vorzubeugen. Der einzelne Soldat darf nicht dahin kommen,
daß er gegenüber den Landeseinwohnern tut und läßt, was ihm gut dünkt,
sondern er ist in jedem Fall gebunden an die Befehle seiner Offiziere.«
Und für die Truppenführer galt: »Ich verbiete ausdrücklich, daß sich Wehr-
machtangehörige an Aufgaben der Sicherheitspolizei (SP) beteiligen bzw.
Vorgesetzte die Genehmigung hierzu erteilen oder ihre Truppe zu Auf-
gaben des Sicherheitsdienstes (SD) einsetzen. Ich werde jeden Einheits-
führer, der gegen diesen Befehl verstößt, zur Rechenschaft ziehen.« 4 4 Zu lesen bei:

Daß wiederholt gegen die Befehle verstoßen wurde, trifft leider zu Helmut KRAUSNICK,

und steht außer Frage. Was aber zählt, ist, daß entsprechende Verbote Hitlers Einsatz
und Strafandrohungen bestanden und daß sie erlassen wurden, Verbote, Gruppen 1938-1942,
S. Fischer, Frank-
die Geltung und Bestand hatten. Niemand käme auf die Idee, den Gesetz- furt/M. 1998, S. 202.
geber zu tadeln, wenn Verbrecher seine Gesetze mißachten. Das ist al-

387
lein Sache der Gerichte, ebenso, wie es damals Sache der Militärjustiz
war. Daß aber die Befehlslage so war, daß klare Verbote existierten und
mit aller Härte durchgesetzt wurden, steht unverrückbar fest. Ebenso steht
fest, daß sie funktionierten. Das beweist schon die eiserne Disziplin, die
bis zuletzt in der Truppe vorherrschte. Dagegen gerät eine willkürlich
5 Andreas NAU- mordende Truppe bekanntlich sehr schnell aus der Hand der Führung.
M A N N , Freispruch für Das Vorgehen der politischen Sicherheitspolizei H I M M L E R S steht auf
die Wehrmacht. einem anderen Blatt, doch hatte das Heer damit nichts zu tun. Er konnte
>Unternehmen ihm nicht befehlen, denn es war ihm truppendienstlich disziplinär nicht
Barbarossas erneut auf unterstellt. Man fragt sich daher, wie unsere Heerführer mit ihr hätten
dem Prüf stand,
Grabert, Tübingen verfahren sollen, besonders, da sie ihre Untaten oft im Verborgenen oder
2005. kaschiert ausübte, was belegt ist. 5 Sollte das Heer sie inmitten der Feind-

handlungen verhaften oder niederschießen? Tatsächlich war Feldmarschall

Wegen der zu erwar-


tenden besonders
brutalen Kampffüh-
rung der Roten Armee
wurden unter ande-
rem Richtlinien für
das Verhalten der
Truppen in Rußland
verfaßt, darunter
dieses Merkblatt.

388
LEEB fast so weit, als er dem Führerhauptquartier meldete, er lasse schie-
ßen, wenn das Morden in seinem Befehlsbereich nicht aufhöre/ 6 Dabei 6 N A U M A N N , ebenda,
ging es noch keineswegs um H I M M L E R S Massaker an Juden, sondern um S. 435 f. u. 539.
Zivil-Pogrome und um die Füsilierung von Saboteuren und Freischär-
lern. H I T L E R verbot ihm bei Strafe und stellvertretend für alle anderen
Heerführer jede Einmischung. 7 Ebenda, S. 436.

Man fragt sich ebenfalls, wie der »schrittweise Übergang« in die »Radika-
lisierung« vermieden werden konnte in einem fünfeinhalb Jahre dauern-
den Großkrieg mit Millionen von Gegnern, die das Kriegs recht mißachte-
ten, ihre Gefangenen ermordeten und einen gnadenlosen Parüsanenkampf
führten.8 B Joachim H O F F -

Es trifft auch nur bedingt zu, wie H Ü R T E R meint, daß gewisse vorberei- M A N N , Stalins

tende Planungen zum »Unternehmen Barbarossa* nicht im Sinne der Wehr- [Vernichtungsk rieg,
macht verlaufen sind. Denn es ging gar nicht um militärische, sondern 1941/45, Wehrwis-
allein um politische Planungen. Und dagegen vorzugehen fruchtete nichts, senschaften, Mün-
chen 1995, S. 215 ff.
weil sie von H I T L E R kamen. Völlig unzutreffend ist hingegen, wenn fest- 9 NAUMANN, a a O .

gestellt wird, daß die Feldmarschälle »die traditionelle Kompetenz für die (Anm. 5), S. 43 ff.;
Sicherung der besetzten Gebiete an die SS delegierten«, denn H I T L E R sowie in: Militärge-
allein bestimmte die Spielregeln.'' Und wer nicht weiß, was ein »Führer- schichtliches
befehl« damals galt, der mag sich heute zwar klüger dünken, damals hätte Forschungsamt
er aber die Verweigerung nicht überlebt. In den Krieg mit S T A L I N ließ Freiburg-Potsdam
H I T L E R sich nicht hineinreden, darin sah er seine »weltanschauliche Sen- (Hg.), Das Deutsche
dung«. Reich und der Zweite
Weltkrieg, Bd. 4: Der
Und damit kommen wir zur schwerwiegendsten Beanstandung HÜR- A n g r i f f auI die
T E R S : »Selbst im Bereich der militärisch-operativen Führung gaben die
Sowjetunion; J ü rge n
Oberbefehlshaber in einem Akt der Selbstentmündigung ihre Selbstän- FÖRSTF.R, Planungen
digkeit auf.« Der Vorwurf ist berechtigt, denn dahin ist es am Ende tat- und Vorbereitungen für
sächlich gekommen. Und hier liegt die wirkliche Tragik im Ostkrieg. In- die Sicherung des
dem HitleR als Oberbefehlshaber sich nicht wie ehemals Kaiser W I L H E L M Lebensraumes, S, 413;
II. im Ersten Weltkrieg aus den militärischen Führungsgeschäften zu- Walter P O S T , aaO.
rückzog, sondern den Heerführern kraft seines Vorgesetztenstatus das (Anm. 2), S. 41 ff.
Heft aus der Hand wand, hat sich der Krieg schließlich verselbständigt. 10 NAUMANN,

Da blieb den Militärs als einzige Antwort nur der Widerstand. 10 ebenda, S. 681 ff.
Als die Sieger daran gingen, die deutschen Heerführer zur Rechen-
schaft zu ziehen — das deutsche Volk wurde 1945 nicht weiter gefragt —,
zeigte es sich, daß kaum noch welche übrig waren. Von 55 Feldmarschäl-
len und Generalobersten des Heeres waren 32 fortgejagt, 8 gefallen, 5 in
Haft oder bereits hingerichtet und 2 in russischer Gefangenschaft. Viel-
leicht ist das die Antwort auf die weitgehend zutreffenden Vorhaltungen
von Herrn H Ü R T E R . Näheres dazu ist ausführlich in der Studie Freispruch 11 Ebenda, S. 697 ff.
für die Deutsche Wehrmacht. >Unternehmen Barbarossa< erneut auf dem Prüfstand
abgehandelt worden.11 Andreas N a u m a n n

389
Zur Kriegsgefangenenpost aus Rußland

ber die Möglichkeit der deutschen Kriegsgefangenen in der So-

1 Beitrag Nr. 276,


U wjetunion, während des Zweiten Weltkrieges oder danach in die Hei-
mat zu schreiben, bestehen weithin falsche Ansichten, Anderenorts1 wurde
»Gesc hic h ts fäl- schon über den naiven oder bewußten Mißbrauch berichtet, nach dem
schung in Gefange- Krieg aus Rußland gesandte Gefangenenpost und darin unter der Folter
ne npo st«. gemachte Geständnisse über deutsche Verbrechen als angeblich zutref-
2 Gerhard Philipp fende Dokumente zur deutschen Schuld anzusehen.
HUMBERT, »Kriegs- Da die Sowjetunion das Genfer Protokoll von 1929, das den postali-
gefangenenpost in schen Verkehr von Gefangenen mit der Heimat über das Internationale
der UdSSR — eine Rote Kreuz regelte, nicht unterschrieben hatte, gab es in den ersten Kriegs -
Legende und
Musterbeispiel jahren keine Gefangenenpost aus dem Osten. Hinzu kam, daß in dieser
sowjetischer D es in- Zeit auch kaum Gefangene von der Roten Armee gemacht wurden, die
form atia-Politik«, in: schreiben hätten können.
Der Eisbär, Nt 118, Ks gab Fälle, daß frisch Gefangene zum Schreiben - auch unter Folter
März 1985, S. 15. - angeleitet wurden, daß deren Briefe dann über deutschem Gebiet ab-
geworfen wurden, die Gefangenen
daraufhin aber bald liquidiert wurden.
Dazu schreibt ein Zeitzeuge:2 »Unter
Kriegsgefangenenpost verstand das
NKWD selber grundsätzlich nur in
Flugblättern und sonstigem Propa-
gandawerk eingepackte Mitteilungen,
Aufrufe etc. von Kriegsgefangenen.
Ich erlebte das gleich in den allerer-
sten Tagen des Rußlandfeldzuges
beim Generalkommando des IV. Ar-
meekorps. Nördlich von Rawa-Rus-
ka war bei der 24. Infanterie-Division
ein Bataillon in einen Hinterhalt ge-
raten und hatte derbe Verluste erlitten.
Am nächsten Tag warf ein sowjeti-
sches Flugzeug Säcke mit Propagan-
damaterial und mit Zetteln ab, auf de-

Viele Kriegsgefangene in Rußland konnten


erst nach dem Krieg ein Lebenszeichen
nach Deutschland schicken. Abbildung
aus: Kriegsgefangene, Droste, Düsseldorf
1995.

390
nen eine Reihe von Soldaten dieses Bataillons geschrieben hatten, daß sie
lebten und es ihnen gut gehe — sie würden als Kriegsgefangene gut behan-
delt. .. Wenige Tage später nahm die Division Rawa-Ruska ein und fand
dort die Leichen der Gefangenen. Nachdem sie die Benachrichtigung an
ihre Angehörigen geschrieben hatten, waren sie durch Genickschuß meuch-
lings ermordet worden.« 1 3 H U M B E R T , ebenda,

Erst nach Stalingrad 1943 und den dann anfallenden großen Zahlen S. 16.
von deutschen Kriegsgefangenen änderten sich die postalischen Verhält-
nisse. Hinzu kamen die Bestrebungen des NKWD, für das >Nationalko-
mitee Freies Deutschland« Gefügige zu bekommen. Nun durfte geschrie-
ben werden, doch die Post wurde von den Sowjets zurückgehalten, die
dazu erklärten: »Kriegsgefangenenpost im Prinzip ja — aber Herr H I T L E R
hat die Annahme der Post verboten! - Leider, er ist eben ein Verbre-
cher,«3 Das ging dann häufig auch kritiklos in die westliche Literatur und
Geschichtsschreibung ein, selbst ein Bundestagsabgeordneter soll das
4 Ebenda, S. 17.
vertreten haben.4
Aber in den neutralen Ländern der Schweiz oder Schweden kamen
diese Postsäcke nie an, das Internationale wie das Nationale Rote Kreuz 3 Bericht des Interna-
bekamen die Postsachen nie. Im Gegenteil: Das IKRK stellte in seinem tionalen Komitees vom
Bericht über seine Tätigkeiten während des Zweiten Weltkrieges fest: Roten Kreuz (IKRK)
»Die Sowjetunion, die nicht Vertragspartei des Abkommens von 1929 über seine Tätigheiten
war, gestattete den in ihre Hände gefallenen Militärpersonen nicht, auf im Zweiten Weltkrieg,
normalem Wege mit ihrem Ursprungsland zu korrespondieren.« 5 Auch Genf, Bd. 1, S. 35;
die Briefe in Rußland gefangener Rumänen, Italiener, Ungarn, Finnen, zitiert in: H U M B E R T ,
Kroaten oder Polen kamen während des Krieges nie in deren Heimat an. aaO. (Anm. 2),
Nicht einmal Listen der Gefangenen wurden von Moskau an das Inter- S. 17.
nationale Rote Kreuz geliefert, das dazu erklärte: 6 »Sowohl Deutschland 6 Ebenda, Bd. 2,
als auch seine Verbündeten haben solche Listen geliefert und weitere S. 275; zitiert in:
angeboten, ihre Weitergabe aber von der selbstverständlichen Gegensei- HUMBERT, a a O .

tigkeit abhängig gemacht. Die Sowjetunion hat nie auch nur eine einzige (Anm. 2), S. 17.
solche Liste den Vertretern des Komitees ausgehändigt und alle diesbe-
züglichen Anfragen des Komitees unbeantwortet gelassen.«
Der Zeitzeuge H U M B E R T teilte ergänzend mit, daß er erst 1947 aus der
sowjetischen Gefangenschaft nach Hause schreiben und damit das erste
Lebenszeichen seinen Angehörigen senden konnte, nun direkt von Land
zu Land ohne Vermittlung des Roten Kreuzes. Später konnten auch Pa-
kete an die in der Sowjetunion festgehaltenen Gefangenen geschickt
werden.
Der Verfasser erinnert sich, Anfang der fünfziger Jahre mit seiner
Gymnasialklasse Pakete an einen in Rußland festgehaltenen deutschen
Kriegsgefangenen bis zu dessen Endlassung gesandt zu haben.
Rolf Kosiek

391
Kein Freudentanz Hitlers
bei Frankreichs Zusammenbruch

n in- und ausländischen Medien1 wurde berichtet und im Fernsehen in

' Zum Beispiel in:


I >Dokumentarfilmen< gezeigt, daß Adolf H I T L E R am 17. Juni 1940 in
seinem Hauptquartier in Bruly-de-Pesche einen Freudentanz aufgeführt
Der Spiegel, Nr. 14, habe, als dort die Nachricht von dem Ersuchen auf Waffenstillstand mit
3. 4. 1995. Frankreich von seilen der neuen französischen Regierung unter Marschall
Philippe P F . T A I N eintraf und damit das siegreiche Ende des deutschen
Westfeldzuges feststand.
Doch das ist nicht wahr. Richtig ist, daß H i t l e R keinen solchen »Freu-
dentanz« aufführte, sondern sich ganz normal benahm, wenn er auch
über den glücklichen Ausgang dieses Blitzfeldzuges sehr erfreut war. Die-
ser Vorgang wurde von Walter F R E N T Z in einem Film festgehalten.
Nach Kriegsende haben dann kanadische Filmexperten diese von Wal-
2 Torsten L E W E R E N Z ter F R E N T Z aufgenommenen Bilder zusammengeschnitten und durch Aus-
in Leserbrief in: Der lassen von Aufnahmen erreicht, daß aus dem gewöhnlichen Gehen eine
Spiegel Nr. 17, 24. 4. ruckartige Bewegung wie bei einem Herumhopsen entstand und für den
1995, S. 8. Betrachter des neuen Streifens der Eindruck erweckt wurde, H I T L E R habe
vor Freude herum-
getanzt. 2 Damit
sollte ähnlich wie
bei den frühen be-
kannten Karikatur-
Darstellungen
durch Charlie C H A P -
IJN im Rahmen der
amerikanischen an-
tideutschen Propa-
ganda der deutsche
Reichskanzler lä-
cherlich gemacht
werden: eine offen-
sichtliche und be-
wußte Manipulation
und Geschichtsfäl-
schung.
Rolf Kosiek

392
Die >Befreiung< von Paris

m 10. Januar 2007 strahlte der Fernsehsender ARTE um 20 Uhr40


A die Sendung »Wird Paris vernichtet?« aus, in der behauptet wurde,
daß die französische Résistance Paris 1944 von den deutschen Besatzern
»befreit« habe. Diese seit Jahrzehnten verbreitete Legende hält jedoch
einer kritischer Überprüfung nicht stand.
Die historischen Tatsachen sind:
Pierre TAITTTNGER war im Sommer 1944, als die alliierten Invasions-
truppen sich Paris näherten, der Bürgermeister der Stadt, dessen Titel
damals Président du Conseil de Paris* war. General Dietrich VON C H O L -
TITZ (1894-1966), seit 2. April 1944 der damalige deutsche Stadtkom-
mandant von Groß-Paris, hatte in den Zeitungen veröffentlichen lassen,
daß im Falle von neuen Sabotageakten, Attentaten und Ordnungs-
störungen die strengsten Repressalien durchgeführt würden, TAITTINGER
ging es nun darum, Zerstörungen, Kampfhandlungen und Blutvergie-
ßen bei der bevorstehenden alliierten Einnahme der Stadt zu vermeiden. Pierre TAITTINGER,
Am 1 7 . August 1 9 4 4 traf er daher mit VON CHOLTITZ und dem deut-
schen Botschafter in Paris, Otto ABETZ, ein Abkommen: Die deutschen
Verbände sollten aus der Stadt abziehen, und im Gegenzug garantierte
TAITTINGER, daß die Résistance ihrerseits auf Angriffe verzichten werde. 1
Dietrich VON CHOLTITZ hielt sich an diesen Vertrag und sah von der
Zerstörung der Stadt und der Seine-Brücken ab. Er erklärte am 18. Au-
gust 1944 Paris zur offenen Stadt und ließ alle politischen Gefangenen
frei." Während in Paris völlige Ruhe herrschte, brachen die FFI (Forces
Françaises de l'Intérieur) mit ihren Partisaneneinheiten den Vertrag und
beschossen aus dem I linterhalt die abziehenden deutschen Kolonnen,
Um den Frieden in der Stadt zu bewahren, ließ TAITTINGER ein Plakat
drucken und am 19, August 1944 in der Stadt aufhängen, in dem er die
Bevölkerung über das Abkommen mit VON CHOLTITZ informierte und zu
Dietrich VON CHOLTITZ
Besonnenheit ermahnte. Die Résistance billigte diesen Text aber nicht 0894-1966).
und änderte ihn in einem zweiten Plakat ab. Nun wurde TAITTINGER s
Verhandlungserfolg verschwiegen, und die deutschen Besatzer wurden
fälschlicherweise als Bedrohung dargestellt, um auf diese Weise Ängste Pierre TAITTINGER,
1

Et Paris ne fut pas


zu erzeugen.
détruit. Témoignages
Die FFI wollten den Eindruck erwecken, daß sie es waren, die die contemporains, L'Elan,
entscheidende Rolle in diesem historischen Moment für die Befreiung Pans 1948, S. 181 ff.
von Paris gespielt hatten. So verlangten sie jetzt ihrerseits, einen Vertrag 2 U d o WALEN DY,

mit VON CHOLTITZ abzuschließen. Zwei Partisanenführer, VON CHOLTITZ, Historische Tatsachen,
TAITTINGER und der vermittelnde schwedische Generalkonsul NORDLING Nr. 8, Vlotho o.j.,
trafen sich am 20. August 1944 im Hotel Meurice. Dieses Abkommen S. 22.

393
3 TAITTINGRR, a a O . war in Wirklichkeit nur eine Wiederholung der vorigen Übereinkunft
(Anm. 1), S. 192. zwischen T A I T T I N G E R und VON C H O E T I T Z . 3 Den Deutschen wurden darin
4 Ebenda, S. 198 u. symbolische Befehlsstellen eingeräumt (Senat, Hotel Meurice, Avenue
211 ff.; Raoul CAS- Foch).
QUÉ, »Die Befreiung Die FFI brachen am 21. August 1944 auch dieses Abkommen, indem
von Paris: ein Mär- sie das nicht verteidigte Rathaus >erstürmten< und Barrikaden von nur
chen«, in: Udo Wa-
symbolischem Wert errichteten. Die Partisanen stellten keine kampfstarke
lendy, Europa in Flam-
men, Bd. 1, Vlotho Einheit dar: Am 20. August 1944 bestand sie aus höchstens 6 Bataillonen
1966, S. 279; Otto ohne einheitliche Führung.J Die Bewaffnung war kläglich: Die FFI schoß
mit Revolvern und Gewehren auf die deutschen Panzer, Die Maquisards
A B E T Z , Das offene Pro-
blem, Greven, Köln veranstalteten auch wilde Schießereien, bei denen sie Zivilisten und eigene
1951, S. 295; Jean- Kameraden töteten. Die Deutschen beachteten das Abkommen ihres
Pierre ABS;;., Lage du Generals und verteidigten sich nur gelegentlich bei Angriffen. Oft zogen
Cain, Editions Nou- harmlos wirkende französische Jungen unter der Jacke Molotow-Cock-
velles, Paris 1947, tails hervor und warfen sie auf die deutschen LKW. Die herausspringen-
S . 1 8 ; Jean GALTIÉR-
den Soldaten wurden alle erschossen.
BOISSIÈRE, » L a L i -
bération sans Mit diesen sinnlosen Überfällen wollten die FFI den Eindruck von
bobards«, in: Le Cra- einem heroischen Einsatz bei der Befreiung der Stadt erwecken. Zu die-
pouiliot, Nouvelle sem Zweck mußten sie Unruhe und Chaos erzeugen, die Deutschen zu
Série No. 32,1974, Repressalien provozieren und die Bevölkerung zum Aufstand aufput-
S. 48 u 51. schend Der kommunistische Partisanen->Oberst< Henri R O L - T A N G U Y er-
S TAITTINGER, a a O .
hoffte sich nicht weniger als 10000 erschossene Geiseln. Er erklärte ge-
(Anm. 1), S. 216, genüber T A I T I I N G E R : »Die Eroberung von Paris ist 2000 Tote wert.«6
6 CASQUÉ, a a O . Der Partisanenanführer Jo G O E D E N B E R G (alias Leo H A M O N ) berichtete,
(Anm. 4), S. 276; daß auf den geheimen kommunistischen Versammlungen gesagt wurde:
GALTIER-BOISSIÈRE, »Was macht es, ob es 200 oder 300000 Tote in Paris gibt?«
aaO. (Anm. 4), S. 46;
Paul RASSINIER, »Paris
brûle-t-il et la vérité
historique«, in: Ecrits
de Paris, Nr. 12,1966,
S. 27.

D e n FFI, hier in der


Pariser rue de Rivoli,
ging es vordergründig
darum, Unruhe und
Chaos zu erzeugen.

394
Der von den Kommunisten be-
herrschten Résistance ging es im
Grunde überhaupt nicht um die
Befreiung, sondern um die Macht-
übernahme, wie der Parteichef
Jacques D U C L O S offen erklärte."
Mit ihrem Ansehen, das auf der
angeblichen Vernichtung der >fa-
schistischen* Besatzer beruhte, er-
warben sie später den Anspruch,
die politischen Schlüsselstellen be-
setzen zu dürfen und die Ge-
schichtsschreibung zu bestim-
men." Da die Résistance sich
sofort der Presse bemächtigte,
stand der anschließenden Verbrei-
tung der Befreiungslüge nichts
mehr im Wege. TAITTINGER ent-
larvte jedoch diese Fälschung, die Oben: Eine der Kolonnen waffenloser deutscher Kriegsgefangener,
die angepöbelt, mißhandelt und mancherorts gar erschossen
er als »liegende« bezeichnete. Der
wurden. Unten: Die drei Generale DE G A U L L E , L E C L E R C und ) U I N
Historiker Jean GALTIER-BOISSIÈRE, treffen am Pariser Gare de Montparnasse zusammen
der die Ereignisse persönlich mit und lassen sich als Retter Frankreichs feiern.
erlebte, sprach von »einer der
größten kollektiven Betrügereien
der offiziellen Geschichte«.<J Am
28. August 1944 übergab VON
CHOI.TITZ die unzerstörte Stadt
den Westalliierten. Er blieb bis
1947 in Gefangenschaft.
Auch die Befreiung von Paris
durch General Philippe François
Marie LECLERCS 2. Panzerdivision
ist ein Mythos, da seine Truppen
auf eine so gut wie schon von
Deutschen geräumte Stadt stie-
ßen. Die Befreiung Frankreichs
war einzig und allein durch den
alliierten Sieg in der Normandie 7
ABETZ, a a O . ( A n m . 4 ) , S . 2 0 3 .
erreicht worden. LECLERC ging es s
Frédéric J F.ANN IN, » 2 5 août 1 9 4 4 : comment von Choltitz sauva
um die Verhinderung des kommu- Paris«, in: Rivarol, 2 3 . 8 . 1 9 8 5 , S. 6 ff.; ABEL, aaO. (Anm. 4 ) , S.
nistischen Aufstandes und um die 1 8 ; GALTIER-BOISSIF.RE, a a O . ( A n m . 4 ) , S . 4 9 u . 5 6 .
Beseitigung des durch die FFI <; JEANNIN,ebenda,S.206;GALTIER-BOISSIÈRE,ebenda,S.4u. 57 ff.

395
angerichteten Chaos."10 Die Amerikaner ließen ihm den Vortritt beim Ein-
zug in die Stadt, damit er und D E G A U L L E zum Befreier von Paris werden
konnten. Wie gering L E C L E R C den militärischen Beitrag der FFI einschätz-
te, sah man bei seiner Waffenstillstandsverhandlung mit V O N C H O L T I T / :
Fr wollte den kommunisdschen Partisanen->Colonel< R O L - T A N G U Y nicht
bei der Unterzeichnung zulassen. Voller Verachtung empfing General
K Ö N I G den >Colonel< mit den Worten: »Sieh da! Sie! Wo kommen Sie
denn her? Seit 14 Tagen hat man Sie überhaupt nicht gesehen.«11
Unter dem Deckmantel der »Befreiung« geschahen nach Ende der deut-
schen Besatzungszeit in Frankreich ungeheure Grausamkeiten. Viele deut-
sche Kriegsgefangene wurden auf offener Straße mißhandelt und ermor-
det. Die Fotos der Greueltaten gingen um die Welt. V O N C H O L T I T Z entging
nur mit Mühe dem Lynchmord. Die Soldaten L E C L E R C S beteiligten sich
genauso wie die FFI an den Massakern. In der Rue de Rivoli wurde eine
ganze Kolonne von waffenlosen deutschen Gefangenen unter dem Bei-
fallsgeschrei des Pöbels mit Maschinengewehren erschossen. Die deut-
schen Opfer all dieser Greueltaten beliefen sich auf etwa 30ÜÜ Mann.
Die Besatzung der dortigen Kaserne »Prinz Eugen« wurde, sobald sie
die Waffen niedergelegt hatte, am 23. August 1944 vom Pöbel niederge-
metzelt. Mehrere Offiziere des Stabes C H O L T I T Z wurden zwischen der
Rue de Rivoli und dem Place de l'Opéra den Zivilisten zur Abschlach-
tung ausgeliefert. In der Ecole Militaire wurden die deutschen Gefange-
nen Mann für Mann systemarisch erschlagen. Viele Verwundete stieß der
johlende Mob unter die Ketten der amerikanischen Panzer.12 Ähnliches
ereignete sich auch anderenorts in Frankreich.11
Aber auch Tausende von meist unschuldigen Franzosen verloren in
der nun sofort beginnenden kommunisdschen >Epuradon< (Säuberung)
ihr Leben. T A I T T I N G E R , der Retter der Stadt, wurde selber von den FFI
mißhandelt und erlebte, wie in den Gefängniskellern Frauen und Män-
ner bestialisch gefoltert und ermordet wurden,14 General V O N C H O L T I T Z
schrieb 1949 sein Buch . . . brennt Paris?15 Friedrich Karl Pohl

1U CASQUÉ, aaO. (Anm. 4), S. 276; G A L T I E R - B O I S S I É R E , ebenda, S. 49.


11 Andre FLGUERAS, Dictionnaire analytique et critique de la Resistance, Andre Figueras,
Paris 1994, S. 205 f.
12 C A S Q U É , aaO. (Anm. 4), S. 2 8 1 ; E R A S M U S , »Sollte Paris wirklich brennen? Das
2. Deutsche Fernsehen kolportiert weitere Bewältigungslügen«, in: Der Sudeten-
deutsche, 23. 4. 1965; »Paris-Rettung«, in: Der Spitzel, Nr. 36, 1964, S. 85. Siehe
Beitrag Nr, 301, »Massenmorde an Gefangenen in Paris«,
13 Siehe Beitrag Nr. 302, »Das Massaker von Andelot«.
14 A B E T Z , a a O . ( A n m . 4 ) , S . 3 0 5 ; G A L T I E R - B O I S S I É R E , a a O , ( A n m . 4 ) , S . 7 3 f f . ; Der
Spiegel, aaO. (Anm. 12), S, 85; siehe Beitrag Nr. 591, »Säuberung in Frankreich«.
15 Dietrich VON C H O L T I T / . , , , .brennt Paris?, Una Weltbücherei, Mannheim 1 9 5 0 .

396
Statt 75000 nur 4000 erschossene Franzosen

ie in Deutschland nach 1945 zu beobachtende Neigung, Zahlen


D von Opfern rechter Gewalt stark zu vergrößern und solcher der
Kommunisten oder Sozialisten möglichst zu verringern, gilt auch für Teile
des Auslandes. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel liefert das Nach-
kriegsfrankreich. Nach 1945 nannte sich die Kommunistische Partei
Frankreichs (KPF) gern »die Partei der 75000 Erschossenen« und be-
hauptete, daß während der deutschen Besetzung von 1940 bis 1944 im
ganzen Lande rund 75000 Franzosen von der Besatzungsmacht erschos-
sen worden seien. Wer dagegen Zweifel anmeldete, wurde in den ersten
Jahren mundtot gemacht.
Doch diese Behauptung der KPF ist falsch. Richtig ist, daß nach neue-
ren und gewissenhaften Forschungen zweier nicht als rechts zu verdäch-
tigender Franzosen1 in den betreffenden Jahren nur ungefähr 4000 Per-
sonen als Geiseln oder nach einem gerichtlichen Todesurteil, meist wegen
Attentate auf Angehörige oder Einrichtungen der Wehrmacht oder we-
gen Sabotage, hingerichtet wurden. Mit einer Karikatur machte das Pari-
ser Blatt Rivarolnach Erscheinen des Buches auf diesen Tatbestand auf-
merksam,2 Bezeichnend ist, daß die Opfer auf Seiten der KPF um mehr
als eine Größenordnung zu hoch angesetzt, die der durch die KPF Er-
mordeten in der Öffentlichkeit möglichst herabgesetzt wurden.
Demgegenüber wurden nach 1944 bei der sogenannten Säuberung
(Epuradon), die meist mit spontaner Lynchjustiz verbunden war, in Frank-
reich zigtausende von Menschen ermordet, denen Zusammenarbeit (Kol-
laboration) mit den Deutschen vorgeworfen wurde. Die Opferzahlen
variieren von 1 0 0 0 0 , so Charles D E G A U L L E , bis zu 1 0 0 0 0 0 , so der fran-
zösische Christdemokrat Pierre-Henri T E I T G E N am 6 . August 1 9 4 6 . 3
In seiner materialreichen Monographie über Die Politischen Säuberungen
in Westeuropa bringt der Franzose Paul S É R A N T 4 eine ganze Reihe von
Zahlenangaben für die Opfer im befreiten Frankreich: Eine Untersu-
chung einzelner Präfekturen ergab 1 9 4 8 die Zahl von 9 6 7 3 Hinrichtun-
gen, davon 6 3 4 8 ohne Urteil,1 Der Journalist Robert A R O N kommt auf

1 Jean-Pierre BESSE U, Thomas POUTY, Les Fusillés. Répression et Exécutions pendant


l'Occupation (1940-1944), 2006.
2 Rivarol, 22. 12. 2006.
3 National-Zeitung, 12. 1. 2007, die auch die erwähnte Karikatur bringt.
4 Paul SÉRANT, Die politischen Säuberungen in Westeuropa, Stalling, O Idenburg-Ham-
burg o.J. (ca. 1966).
5 Ebenda, S. 153.

397
Die kommunistisch
geprägte Résistance
urteilte die ¡Kolla-
borateure' auf ihre
Weise ab.

6
3000 bis 40000 spontane Hinrichtungen.6 »Viele behaupten sogar, die
SéRANT, e b e n d a ,
S. 154. Zahl der Hinrichtungen überschreite in Wirklichkeit 100000. Sie beru-
7 Ebenda.
fen sich dabei auf mehrere Dokumente«, die dann im einzelnen bespro-
B Ebenda, S. 155. chen werden. Und der Autor hält diese Angabe für die der Wahrheit am
5 Ebenda. nächsten liegende. Schon im November 1944 gab Innenminister Adrien
10 Ernst ROSKO- T H I E R die Opferzahl der Säuberung mit 105000 an, welche Zahl unwi-
THEN, Groß-Paris dersprochen in Zeitschriften wie Ecritsde Paris oder Rivaroi veröffentlicht
1941-1944. Ein wurde. Sr.RANT urteilt allgemein: »Damit ist erwiesen, daß Frankriech in
8

Wehrmachtsrichter wenigen Monaten eine der blutigsten Säuberungsaktionen seiner Ge-


erinnert sich, Hohen- schichte erlebte.«9
rain, Tübingen Führend bei diesen unverhältnismäßig grausamen Racheakten ab 1944
1989.
war die KPF, die sich die Verdienste des Widerstandes gegen die Wehr-
macht zuschrieb und nach dem verspäteten Aufstand ab Juni 1944 nach
Ende der Besetzung ihre Aktivität unter Beweis stellen wollte. Es ist eine
der dunklen Seiten Nachknegsfrankreichs und persönlich de G A U U . E S ,
diesen Massenmord nicht unterbunden und dem rechtlosen Treiben der
Kommunisten lange Zeit nicht gewehrt zu haben. Durch die stark über-
höhte eigene Opferzahl wollte die KPF offensichtlich von ihren Grau-
samkeiten gegen die eigenen Landsleute ablenken. Über die deutsche
Kriegsgerichtsbarkeit in Paris liegt eine zuverlässige Beschreibung von
einem Zeitzeugen und daran Beteiligten vor.10 Rolf Kosiek

398
Zur Zahl der französischen Opfer
während der >Epuration< (Säuberung)

n Frankreich war es nach dem Zweiten Weltkrieg wie in Deutschland


I üblich, daß die siegreichen Parteien die Zahl der eigenen Opfer maß-
los übertrieben. So nannte sich die kommunistische Partei Frankreichs
>Die Partei der 75 000 Erschossenen.-1 GALIC, in: Rivarol,
2 0 0 7 widerlegten die Historiker Jean-Pierre B E S S E und Thomas Pou- 22. 12. 2006.
TY, in Les Fusillés: Répression et Exécutions pendant L'Occupation diesen My-
thos. Es handelte sich in Wirklichkeit nur um 4 0 0 0 Opfer. Wer jedoch
früher in Frankreich die offizielle Zahl von 7 5 0 0 0 angezweifelt hatte,
war mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.
Mit der Zahl der in der >Epuration< ab 1944 wegen Kollaboration mit
den Deutschen ermordeten Franzosen verhielt es sich umgekehrt, Sie
wurde von den französischen Meinungsmachern immer mehr verringert,
um den Umfang der eigenen Verbrechen zu vertuschen. So erkannte
Henry Rousso in Politische Säuberung in Europa (Klaus-Dieter H E N K E U .
Hans WOLLER (Hg.), 1991, S. 201 f f ) nur die Zahl von 10000 Opfern an
und warnte vor »hastigen Hochrechnungen«. Seine Glaubwürdigkeit ist
jedoch zweifelhaft. Er behauptet, daß in der Hauptstadt nur sehr wenige
Exekutionen stattgefunden hätten (S. 203). Pierre T A I T T I N G E R , der dama-
lige Bürgermeister von Paris, belegt aber als Zeitzeuge 4500 Tote in ei- - Pierre TAITTINGER,
nem benachbarten Département.2 Auch der Zeitzeuge jean-Pierre A B E L »Et Paris ne fut pas
gibt mit Quellen an, daß allein in den ersten Wochen nach der >Libéra- détruit«, in: L'Elan,
tion< (Befreiung) in jedem Département rund 300 Zivilisten ermordet 1 9 4 8 , S. 3 0 4 .

Nach dem Abzug der


Deutschen setzte die
Sä uberungs welle ein.
General DE G A U L L E ,
der hier bei seiner
Rückkehr nach
Frankreich im Som-
mer 1944 in einer
kleinen Stadt umju-
belt wird, unternahm
ab September 1944
als Chef der Proviso-
rischen Regierung
Frankreichs nichts,
um den anarchischen
Zuständen Einhalt zu
gebieten.

399
'Jean-Pierre A B E L , wurden. 3 Die Leichen seien mit Steinen um den Hals in der Seine, in der
L'âge de Cäin, Marne und den Kanälen versenkt worden.
Editions Nouvelles, Ein anderer Fehler Roussos besteht in seiner Berufung auf B A U D O T S
Paris 1947, S. 73 f. Untersuchung, die aber unvollständig ist, wie unten bewiesen wird.
Ferner behauptet Rousso, die Partisanen auf dem Plateau des Glières
im Département Haute-Savoie seien Opfer eines Massakers geworden.
Richtig ist, daß deutsche Wehrmachteinheiten mit Hilfe der französischen
Miliz stark bewaffnete PartisanentrUppen niederkämpften. Die im Kampf
gefallenen Maquisards können daher nicht als >umgebracht< bezeichnet
4 Henry Rousso, in: werden. 4
Klaus-Dieter General D E G A U L L E schrieb in seinen Mémoires de Guerre von 1 0 8 4 2
H E N K E U. Hans Toten bei der »Säuberung* und stützte sich dabei auf den Innenminister
W O L L E R (Hg.),
Charles B R U N E , der aber nur die Fälle erfaßte, die nicht von einem >Cour
Politische Säuberung in
Martiale« (Sondergericht) verurteilt wurden.5
Europa, dtv, Mün-
chen 1991, S, 204. Der oben erwähnte B A U D O T berechnete 8 0 0 0 Opfer in Revue d'Histoire
5 »L'Epuration«, in: de la Deuxième Guerre Mondiale vom Januar 1971. Dieser Artikel ist jedoch
Historia, Hors série, wenig aussagekräftig, da er sich nur auf 22 Départements bezieht und
Nr. 41,1975, S. 30. die 14 mit stärkster Résistance-Tätigkeit außer acht läßt (Creuse, I lérault,
6 Ebenda, S. 31. Landes usw.).6
Der Historiker Robert A R O N schätzt die Zahl der nach dem Abzug der
Deutschen Ermordeten auf 4 0 0 0 0 in seinem Buch Histoire de Libération
de la FranceEr meint, es werde unendlich schwierig sein, die wahre Zahl
zu erfahren. Die Prafekten der Départements hätten aus Angst angege-
ben, daß es bei ihnen keine Hinrichtungen gegeben habe, was jedoch im
7 Paul S E R A N T , Die
Widerspruch zu Angaben des Innenministeriums stehe. Nachforschun-
politischen Säuberun- gen an Hand der Standesamtsregister würden enttäuschend sein, da diese
gen in Westeuropa, in der bewußten Zeit sehr flüchtig geführt worden seien. In einigen Todes-
Stalling, Oldenburg urkunden fehlten genauere Angaben über die Verstorbenen, und außer-
1 9 6 6 , S. 1 5 4 .
dem würden bestimmt noch viele Tote in namenlosen und unbekannten
Massengräbern auf die amtliche Registrierung ihres Todes warten.
8 Historia, aaO.
Viele Autoren behaupten sogar, daß die Zahl der Hinrichtungen we-
(Anm. 5), S. 26. gen angeblicher Kollaboration in Wirklichkeit 1 0 0 0 0 0 überschreite. In
9 SÉRANT, a a O . der Zeitschrift American Mercury vom April 1946 berichtete der amerika-
(Anm. 7), S . 155; nische Offizier Donald R O B I N S O N als Zeuge des kommunistischen Ter-
Historia, ebenda, rors in Marseille, daß ihm der militärische Sicherheitsdienst die Zahl von
S. 31 ; Henry 5 0 0 0 0 Toten allein für den Süden angegeben habe.8
C O S T O N , Im Républi-
Der damalige Innenminister Adrien T I X I E R erklärte im November 1 9 4 4
que du Grand Orient,
La Librairie Fran- dem Résistance-Oberst D E W A W R I E N , genannt >Passy<, daß den Berichten
çaise, Paris 1976, der Prafekten an die Regierung zufolge die Zahl der spontanen Hinrich-
S. 232 ; Otto A B E T Z , tungen mit 1 0 5 0 0 0 angesetzt werden müsse. Diese Zahl wurde in Zeit-

Das offene Problem, schriften wie Ecrits de Paris und Rivarolveröffentlicht und nie dementiert.''
Greven, Köln 1951. Von nichtamtlicher Seite wurden noch höhere Opferzahlen genannt.

400
Am 22. September 1944
wurden sechs junge Franzo-
sen, die mit den Deutschen
kollaboriert hatten,
in Grenoble hingerichtet.

Die Lynchjustiz im Gange:


Den bestialischen Ermordun-
gen gingen sehr oft Miß-
handlungen voraus.

Strafanträge gegen die Mörder wurden nur in 3000 Fällen gestellt, da


damals die Familienangehörigen und Freunde der Opfer Gefahr liefen,
wegen solcher Anzeigen ihrerseits Morden und Unterdrückungsmaßnah-
men ausgesetzt zu werden.
Petrus F A U R F , Abgeordneter des Départements Loire, schrieb in sei-
nem Buch La Terreur Rouge (Dumas, Saint-Edenne 1975): »Wenn man
zahlreichen Autoren glaubt, besonders dem General P A T C H , dann wur-
den 80000 Personen ohne Gerichtsurteil im ersten Monat nach der Li-
bération exekutiert. Und ungefähr 20000 in den folgenden Monaten durch
»Tribunaux d'Exception* (Sondergerichte), das macht 100000 Opfer.

401
10 André FIGUÉRAS, Dies sind schreckliche und erschütternde Zahlen, wenn man sich erin-
Dictionnaire Analy- nert, daß der >Terreur< im Jahre 1793 20000 Opfer forderte und die »Com-
tique et Critique de la mune de Paris< rund 25 OOO.«1"
Résistance, Publicati-
ons André f;iguéras, Im selben Sinne äußerte sich am 6. August 1946 der damalige franzö-
Paris 1994, S. 217 f. sische Justizminister T E I T G E N , selbst der gnadenloseste >Epurateur< Ro-
11 GAUC, a a O . bespierre sei im Vergleich zu den hunderttausend Toten nur ein Waisen-
(Anm. 1 ) , S . 1; knabe gewesen, und die Säuberung von 1944—45 stelle eine der blutigsten
SÉRANT, a a O . ( A n m . in der Geschichte Frankreichs dar.
7 ) , S. 1 6 4 . Auch François M I T T E R R A N D , damals französischer »Ministre des Pen-
12 Historia, aaO,
sions«, meldete sich am 26. Mai 1948 zu Wort und kam auf 133000 bei
(Anm. 5), S. 31. der »Säuberung« ermordete Zivilisten.12
1 3 TAITTINGER, a a O .
Jean P l E Y B E R erklärte 1957 in einer Ausgabe der Défense de l'Occident,
(Anm. 2), S. 249-
273. ihm habe ein Bericht aus dem Justizministerium vorgelegen, der sich auf
14 Nation & Europa, Angaben von Staatsanwälten stützte und 68000 bekanntgewordene Hin-
Nr. 2, 2007, S. 63. richtungen im Rahmen der »Epuration« erwähnte.12
1 5 ABETZ, a a O . Die Opfer der Säuberungen waren vor allem Freiwillige, die in der
(Anm. 9), S. 306 f. deutschen Wehrmacht gekämpft hatten. Auch ihre Familienmitglieder
16 Abbé D E S RANGES, konnten ermordet werden. Schon die Beschuldigung des Pétainismus
»Les Crimes Mas- genügte, um einen Menschen zu töten. Der Begriff »Kollaborateur« wurde
qués du Résistantia- willkürlich ausgelegt. Die kommunistische Résistance liquidierte sogar
lisme«, in: L'Elan, manchmal Angehörige anderer nichtkommunistischer Widerstandsgrup-
1948.
pen, Unter den Kommunisten befanden sich auch ehemalige Kämpfer
der spanischen Roten Brigaden und Kriminelle, die vor allem den Süden
terrorisierten und Raubmorde begingen. Private Abrechnungen und De-
nunziationen von unschuldigen und unpolitischen Personen kamen hin-
zu. Frauen, die im Verdacht standen, mit deutschen Soldaten befreundet
gewesen zu sein, waren beliebtes Freiwild. Den bestialischen Ermordun-
gen gingen meist Folter und Mißhandlungen voraus.13
Rund 100000 wurden ohne Urteil erschossen, 20000 nach Schaupro-
zessen.14 Letztlich blieb sich das oft gleich, denn bei diesen Gerichten
stand das Todesurteil meist schon vorher fest. Dabei wurden Gesetze
mit rückwirkender Kraft, also rechtswidrig, angewandt. Richter, Staats-
anwälte und Geschworene gehörten meist der Résistance oder der kom-
munistischen Partei an. Meineide bestellter Belastungszeugen wurden nicht
verhindert, sondern als patriotische Tat gewertet. Die Angeklagten wur-
Junger Franzose, der den vor dem Prozeß schwer gefoltert. Presse und vor dem Gerichtsge-
mit den Deutschen
bäude tobender Pöbel forderten schon vor der Verhandlung das Todes-
kollaboriert hatte,
urteil. Es kam sogar manchmal vor, daß der Mob Häftlinge aus dem
im Augenblick der
Hinrichtung durch
Gefängnis holte und lynchte.13'16
seine Landsleute. Der Vorgang der »Epuration« war wirklich kein Ruhmesblatt in der
Geschichte Frankreichs. Friedrich Karl Pohl

402
Zur Wehrmachtgerichtsbarkeit
im Zweiten Weltkrieg

er Historiker Arno L U S T I G E R schrieb in einem Artikel zum >Fall (Det-


D tingen, der sich im Frühjahr 2007 an der Trauerrede für den ehe-
maligen Marinerichter und späteren baden-württembergischen Minister-
präsidenten Hans F I L B I N G E R entzündete, »daß deutsche Kriegsrichter etwa
30000 Todesurteile fällten, wodurch 16000 Wehrmachts Soldaten hinge-
richtet wurden«. Das sollte sich auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs be-
ziehen.1 Er verwies dabei auf die Professoren Manfred M E S S E R S C H M I D T
und Wolfram W E T T E , die als Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen For-
schungsamt in Freiburg und später in Potsdam durch viel zu hohe und
überzeugend widerlegte Zahlen (bis zu 50000 Todesurteile und 16000
Hinrichtungen) auf diesem Gebiet in dem Bemühen, der deutschen Mi-
litärgerichtsbarkeit möglichst viel anzulasten, hervorgetreten waren. 2
Denn diese Zahlen sind falsch, wie auch ein richtigstellender Leser-
brief des schwedischen Majors a. D. Göran H O L M I N G angab.'' Doch schon Hans FILBINGER war
im Jahre 1977 kam Otto Peter S C H W E L I N G im Auftrag des Münchner w e g e n seiner Tätig-
keit als Marinerichter
Instituts für Zeitgeschichte nach umfangreichen und sachlichen Unter-
im Dritten Reich
suchungen zu der Erkenntnis, daß die oben angegebenen Zahlen von 1978 v o n seinem Amt
30 000 und 16 000 viel zu hoch sind.4 Zu derselben Feststellung gelangte als Ministerpräsident
der Marburger Strafrechder Erich S C H W I N G E 1988 in einer ins einzelne des Landes Baden-
gehenden Kritik an M E S S E R S C H M I T T und W Ü L L N E R , die in der überarbei- Württemberg zurück-
teten Ausgabe von 1992 noch stärker untermauert wurde.5 S C H W I N G E getreten.

begründete darin ausführlich, warum die von M E S S E R S C H M I T T und W Ü L L -


NF.R angegebenen Zahlen nicht richtig sind, und legte überzeugend dar,
wie diese Autoren unwissenschaftlich gearbeitet, unzulässige Hochrech-
nungen vorgenommen und bewußt gegen die Wehrmachtgerichtsbar-

1 Arno LUSTIGER, »Für Oettinger nicht zuständig«, in: Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 2 1 . 4 . 2 0 0 7 , S . 2 .
2 Manfred MESSERSCHMITT U. Fritz W Ü L L N E R , Die Wehrmachtjustiztm Dienste des
Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Nomos, Baden-Baden 1 9 8 7 ; Fritz W Ü I L -
NER, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender
Forschungsbericht, Nomos, Baden-Baden 1991.
3 Göran HOLMING, Leserbrief »Nicht so einmalig«, in: Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 22. 5 , 2 0 0 7 , S . 1 0 .
4 Otto Peter S C H W E I NC. (Hg. Erich SCHWINGE), Die deutsche Militärjustizin derZeit
des Nationalsozialismus, Marburg 1 9 7 7 , I 1 9 7 8 .
5 Erich SCHWINGE, Verfälschung und Wahrheit. Das Bild der Wehrmachtgerichtsbarkeit,
Hohenrain, Tübingen-Zürich—Paris 2 1 9 9 2 .

403
Von links:
Erich SCHWINGE und
Fritz WÜLLNER,

keit gerichtete Emotionen angesprochen hatten. S C H W I N G E urteilte über


WüllnNERS Buch: »Der wissenschaftliche Wert des Buches wird allein schon
dadurch schwer beeinträchtigt, daß der Verfasser in ihm, von der ersten
bis zur letzten Seite, Emodonen Raum gibt. An nicht weniger als 111
Stellen ersetzt er sachliche, leidenschaftslose Argumentation durch be-
leidigende Ausfalle. Das beginnt damit, daß er bereits auf der ersten Seite
seines Textes behauptet, die Chronisten der Wehrmachtjustiz hätten Mate-
rial >beschönigt, weggelassen, verbogen und verzerrt*, die historischen Ge-
schehnisse je >nach der jeweiligen Manipulationsabsicht* in falsche Zusam-
menhänge gerückt und sie bewußt zur >Geschichtsklitterung< benutzt.«6
Dazu kamen sehr persönliche Kampagnen dieser Autoren gegen
S C H W I N G E . S O schreibt W Ü L L N E R gegen den angesehenen Marburger Ju-
risten: »Das, was S C H W I N G E da 1 9 7 7 / 7 8 mit dem Weihrauchfaß in der
Hand in seinem §2 uns als Philosophie militärjuristischer Rechtsbegrün-
dung und Gerechtigkeit um die Nase und ins Gehirn wedeln möchte,
wird von den schwarzen Wolken des Pulverrauchs der Exekutionskom-
mandos in die Hölle geblasen.«"
Auch das im Rahmen der Kampagne von 1979 gegen F I L B I N G E R er-
schienene Werk von Franz N E U B A U E R bestätigt S C H W I N G E S Ansicht und
8

räumt mit manchen Fehlurteilen früherer Darstellungen auf.


Statt der 3 0 0 0 0 oder auch der von M Ü S S E R S C H M I T T und W Ü L L N E R ge-
nannten Zahl von bis zu 5 0 0 0 0 Todesurteilen der Wehrmachtjusdz im
Zweiten Weltkrieg dürften 1 2 0 0 0 der Wahrheit am nächsten kommen.
Der anerkannte US-Völker rech der und Historiker Alfred D E Z A Y A S lehnte
6 SCHWINGE, ebenda S. 1 1 .
7 WÜLLNER, a a O . ( A n m . 2 ) , S. 2 5 0 .
8Franz N E U B A U E R , Das öffentliche Fehlurteil. Der Fall Filbinger als ein Fall der Mei-
nungsmacher, Regensburg 1990.

404
in einer Besprechung des MESSRRSCHMLTT-WüLLNERschen Buches die An-
gaben dieser Autoren ab und schrieb: Bis zu einer Klärung durch gründ-
lichere Untersuchungen »kann man sich auf die ScHWELlNG-ScHWlNGE-
Zahl von 12000 Todesurteilen stützen«.9
Ebenso geben M E S S E R S C H M I T T und W Ü L L N E R Z U hohe Zahlen von 16 000
bis 21 000 für die Zahl der vollstreckten Todesurteile der Wehrmachtjustiz
an. In Wirklichkeit dürfte diese Zahl bei etwa 7000 liegen.1"
M E S S E R S C H M I T T und W Ü L L N E R versuchen auch, ihre zu hohen Zahlen
als einzigartig und unvergleichlich höher als die entsprechenden bei den
Alliierten zu beurteilen. L U S T I G E R schreibt in seinem anfangs erwähnten
Aufsatz ähnlich: »So etwas hat es in der Geschichte der Kriegsgerichte in
der ganzen Welt noch nie gegeben.« 1
Auch das ist falsch. Von den Sowjets sind nach amtlichen Moskauer
Unterlagen im Zweiten Weltkrieg 152000 Soldaten zum Tode verurteilt
und hingerichtet worden, allein um 13000 bei Stalingrad.3 Viele wurden
auch ohne Verfahren erschossen, die noch hinzukommen. S C H W I N G E weist
darauf hin, daß im Ersten Weltkrieg bei den britischen Streitkräften, die
zahlenmäßig viel geringer als die deutschen waren, 3080 Todesurteile ver-
hängt wurden, bei den Franzosen zwischen 2000 und 3000. Von den
USA wurden im Zweiten Weltkrieg in Europa 763 oder — nach anderen
Quellen - 433 Todesurteile verhängt.11 Berücksichtigt man die absoluten
Zahlen der einzelnen Streitkräfte und deren Einsatzzeiten, so fallen die
deutschen Zahlen aus denen der westlichen Demokratien eben nicht her-
aus. Von einer unterschiedlichen humanen Einstellung oder Wertung des
Lebens bei Alliierten und Deutschen kann also keine Rede sein: Die deut-
sche Wehrmachtjustiz war nicht »grausamen als die alliierte, zeigte insbe-
sondere nicht »erbarmungslose Härte<, obwohl es bei dem deutschen Ein-
satz um viel mehr ging, von der Gerichtspraxis der Westmächte nach
dem 8. Mai 1945 in Westdeutschland ganz abgesehen. So wollte im Som-
mer 1944 General E I S E N H O W E R rund 3500 deutsche Generalstabsoffiziere
ohne Verfahren liquidieren. Sebastian H A F F N E R regte in London die Tö-
tung von 500000 jungen deutschen Soldaten an. Der spätere Nobelpreis-
träger Friedrich A, V O N H A Y E K meinte im Juni 1945, daß weder rechtli-
che Skrupel noch humanitäre Erwägungen verhindern dürften, daß
Zehntausende Deutscher zur Rechenschaft gezogen würden und den Tod
verdienten.12 Allein in Hameln wurden nach 1945 von der britischen Be-
satzungsmacht rund 200 Deutsche hingerichtet, und in Dachau wurden

' Alfred DE Z A Y A S , in: Die Welt, 5. 5.1988.


10 SCHWINGE, a a O . ( A n m . 5 ) , S . 9 2 .
11 Ebenda, S. 96.
12 Ebenda, S. 100 f.

405
von US-Militärgerichten rund 2000 Todesurteile verhängt, von denen
etwa 600 voll streckt wurden.13
M E S S S E R S C H M I T T - W Ü L L N E R geben auch für die Zahl der deutschen Fah-
nenflüchtigen viel zu hohe Zahlen an: Nach ihnen habe es bei der Wehr-
macht 35000 Fahnen fluchturteile mit 22 750 Todesurteilen gegeben, von
denen 15000 vollstreckt seien. W Ü L L N E R gibt in seinem Buch sogar eine
halbe Million Deserteure an,14 Richtiger ist wohl, daß es nach S C H W I N G E
bei den etwa 700000 Verfahren der Wehrmachtjustiz ( W Ü L L N E R gibt da-
für die viel zu große Zahl von vier Millionen an) rund 14000 Urteile
gegen Deserteure gab, von denen weniger als 7000 vollstreckt wurden,13
In vielen Streitkräften der Welt stand und steht auf Desertion - insbe-
sondere im Krieg — die Todesstrafe.
Im Fernsehen wurden diese Zahlen noch vergrößert. So berichtete der
Hessische Rundfunk, daß »einige hunderttausend Soldaten« der Wehrmacht
im Zweiten Weltkrieg fahnenflüchtig geworden seien.16 In Wirklichkeit
waren es weniger als 20 000 Deserteure. Den Vorwurf des »Lügengewebes«
ließ der Sender trotz ausrücklicher Vorhaltung auf sich sitzen und brachte
bezeichnenderweise weder Richtigstellung noch Entschuldigung'"
Am 2t. Juni 2007 wurde in Berlin eine Ausstellung unter dem Leitwort
»Was damals Recht war, ,,« der Stiftung Holocaust-Mahnmal zur Wehr-
machtgerichtsbarkeit eröffnet. Darin wird ebenfalls — neben einer Vielzahl
anderer Fehler - die viel zu hohe Zahl von rund 30 000 Soldaten und Zivi-
listen erwähnt, »die durch Unrechtsurteile der Wehrmachtsgerichte ihr Leben
verloren«,18 Die Ergebnisse verantwortlicher Forschung werden einfach
nicht zur Kenntnis genommen, sondern alte Propagandaangaben werden
zur weiteren Beschuldigung Deutschlands wieder aufgewärmt.
Der pauschalen Diffamierung der rund 2000 deutschen Wehrmacht-
richter und den stark überhöhten Zahlen ihrer Verfahren und Todesur-
teile muß daher auch im Interesse der historischen Wahrheit widerspro-
chen werden.19 Rolf Kosiek

13 SCHWINGE, ebenda, S. 104.


14 WÜLLNER, a a O . ( A n m . 2), S. 4 6 1 ff.
15 SCHWINGE, a a O . ( A n m . 5 ) , S . 1 0 9 f .
lf' Sendung des Ersten Programms des Hessischen Rundfunks »Ihr Gegner war
nicht mein Gegner. Das veigessene Kapitel der deutschen Deserteure des Zweiten
Weltkriegs«, am 4. 5. 1988 zwischen 21 und 22 Uhr.
17 Erich S C H W I N G E , Machtmißbrauch der Massenmedien. Die Ohnmacht des Bürgers, Ho-
henrain, Tübingen—Zürich—Paris 1989, S. 45-48.
18 »Kriegsrichter«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 18. 4. 2007, S, 41.
1!> Hermann B O S C H , Dr. KarlSack im Widerstand. Eine historisch-politische Studie, Mül-
ler, München 1967; Hans FILBINGER, Die geschmähte Generation, Universitas, Mün-
chen 1987.

406
Die deutschen Atomwaffenversuche
im März 1945

ach herrschender Lehre gilt, daß die deutschen Atomforscher im


N Zweiten Weltkrieg zwar an einem Atomreaktor arbeiteten, aber vor
Kriegsende nicht mehr in der Lage waren, einen Versuchsreaktor zum
laufen zu bringen. Von der Entwicklung einer Atombombe seien die
deutschen Kernphysiker weit entfernt gewesen,1 Neuere Forschungen
geben jedoch Hinweise darauf, daß es Anfang März 1945 in Thüringen
zu erfolgreichen Kernwaffenversuchen gekommen ist.
In den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges wurde im Jonastal General PATTON
südwestlich von Erfurt in der Nähe von Arnstadt von Tausenden von (links) am 1 2. April
KZ-Häftlingen in größter Eile an einem Steilhang an der Südseite des 1945 in Ohrdruf.

»Großen Tambuch< eine


mysteriöse Stollenanlage in
den Berg getrieben, die nie
fertiggestellt wurde, 2 Sie
war nur ein kleiner Teil von
ausgedehnten unterirdi-
schen Anlagen, die im
Dreieck Arnstadt-Wech-
mar-Ohrdruf errichtet
worden sein sollen, Uber
den Zweck dieser unterir-
dischen Anlagen geben die
wenigen erhaltenen Doku-
mente keine Auskunft.
Fest steht nur, daß das
»Sonderprojekt S III< eine
Geheimhaltungs- und
Dringlichkeitsstufe hatte,

1 So 7.. B. Armin H E R R M A N N , Die Jahrhundertwissenschaft. Werner Heisenberg und die


Physik seiner Zeit, Stuttgart 1977.
2 Dies und das Folgende nach Edgar M A Y E R U. Thomas M E H N E R , Das Geheimnis
der deutschen Atombombe. Gewannen Hitlers Wissenschaftler den nuklearen Wettlauf doch?
Kopp, Rottenburg 2001; dieselb., Hitler und die Bombe. Welchen Stand erreichte die
deutsche Atomwaffenforschung und Geheimwaffenentwicklung wirklich? Kopp, Rotten-
burg 2002; dieselb,, Die Atombombe und das Dritte Reich. Das Geheimnis des Dreiecks
Arnstadt-Wechmar-Ohrdruf, Kopp, Rottenburg 2002; dieselb., Geheime Reichssache.
Thüringen und die deutsche Atombombe, Kopp, Rottenburg 2004.

407
die vor jedem anderen der damaligen Bauprojekte des Deutschen Rei-
ches rangierte. Angeblich sollte ein neues Führerhauptquartier errichtet
werden, aber derer gab es 1944 genug, und der riesige Aufwand bei S III
hatte sich dafür gar nicht gelohnt.
Anfang April 1 9 4 5 machte die 3 . US-Armee unter General P A T T O N
einen blitzartigen Vorstoß nach Thüringen ins jonastal und auf den Trup-
penübungsplatz Ohrdruf. Die Zugänge zum Jonastal werden von der 6.
SS-Gebirgsdivision mit großer Hartnäckigkeit verteidigt. Kurz vor dem
Eintreffen der Amerikaner wurden nach Berichten von Zeitzeugen die
Zugänge zu den wichtigsten Teilen der unterirdischen Anlagen zuge-
sprengt, getarnt und mit Sprengfallen gesichert. Was die US-Truppen in
den zugänglich gebliebenen Teilen gefunden haben, darüber geben die
amerikanischen staatlichen Stellen bis heute keine Auskunft. In den Kriegs-
tagebüchern der beteiligten US-Divisionen fehlen die Eintragungen für
die betreffenden Tage. Nur einzelne US-Veteranen berichteten Jahre spä-
ter, seinerzeit eine riesige unterirdische Kraftwerksanlage und eine hoch-
moderne Nachrichtenzentrale gesehen zu haben.
Unmittelbar vor ihrem Abzug aus Thüringen sprengten die Amerika-
ner weitere Teile der unterirdischen Objekte zu. Die nachrückenden So-
wjets holten aus den noch zugänglichen Anlagen heraus, was sie vorfan-
den, und verschlossen die letzten Eingänge. Der Truppenübungsplatz
Ohrdruf wurde fortan von der Sowjetarmee genutzt, und das Jonastal
geriet allgemein in Vergessenheit.
Anfang der sechziger Jahre beschäftigte sich eine Untersuchungskom-
mission des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit mit den Vorgängen
im Raum Arnstadt-Wechmar-Ohrdruf. Zur Tarnung wurde diese Unter-
suchung als ein »Geschichtsprojekt« der SED-Kreisleitung von Arnstadt
zur Erforschung des Schicksals der bei diesen Bauvorhaben eingesetzten
KZ-Häftlinge ausgegeben. Es wurden zahlreiche Zeugenaussagen ge-
sammelt, die in einem vorläufigen Bericht von mehr als 300 Seiten zu-
sammengefaßt wurden. Nach einigen Jahren wurde jedoch das Projekt
auf Weisung der SED-Führung eingestellt, der vorläufige Bericht ver-
schwand.
In den folgenden Jahren befaßten sich nur einige Thüringer Heimat-
forscher mit den seltsamen Ereignissen rund um das Jonastal. Erst nach
der Wende 1989/90 fand das Thema wieder größeres Interesse, als der
russische Staatspräsident Boris J E L Z I N behauptete, daß das berühmte
>Bernsteinzimmer< in der unterirdischen Stollenanlage versteckt sei. Nach-
forschungen in dieser Richtung blieben jedoch ergebnislos. Tatsächlich
mußte es im Jonastal oder im Raum Arnstadt-Wechmar-Ohrdruf um
sehr viel mehr gegangen sein. Die deutsche Reichsführung und die SS
hatten seinerzeit nicht nur eine extreme Geheimhaltung betrieben, son-

408
dern auch mehrere zehntausend KZ-Häftlinge zum Bau der unterirdi-
schen Anlagen eingesetzt. Das Bauvolumen hatte damit ein Ausmaß, das
über die Bedürfnisse eines Führerhauptquartiers oder eines Verstecks für
irgendwelche Kunstschätze weit hinausging.
Ende der neunziger Jahre tauchten Abschriften von einem Teil der
Zeugenaussagen auf, die in den sechziger Jahren von der Stasi gesam-
melt worden waren.
Cläre W E R N E R , Leiterin des Museums auf der Wachsenburg, die nur
wenige Kilometer nordöstlich vom Truppenübungsplatz Ohrdruf ent-
fernt hegt, hatte im Mai 1962 vor der SED-Kreisleitung von Arnstadt
folgende Aussage gemacht:
»Es war der 4. März 1945. Ich kann mich noch gut an diesen Tag
erinnern. Für den Tag hatten wir eine Geburtstagsfeier für den Abend,
diese wurde aber kurzfristig abgesagt. Am Nachmittag war der BDM
von Gotha auf der Burg. [Der Ingenieur] Hans [ R I T T E R M A N N ] war auch
da und half uns noch, dann sagte er uns, daß heute auf dem [Truppen-
übungs-] Platz Weltgeschichte geschrieben wird. Es wird etwas gemacht,
was es auf der Welt noch nicht gegeben hat. Wir sollen am Abend auf
den Turm gehen und in Richtung Röhrensee schauen. Er wisse auch
nicht, wie das neue Ding aussehen wird. So waren wir ab 20 Uhr auf dem
Turm. Nach 21 Uhr, gegen halb zehn, war hinter Röhrensee mit einmal
eine Helligkeit wie Hunderte von Blitzen, innen war es rot und außen
war es gelb, man hätte die Zeitung lesen können. Es war alles sehr kurz,
und wir konnten dann alle nichts sehen, wir merkten nur, daß es eine
mächtige Sturmbö gab, aber dann alles ruhig war. Ich wie auch viele
Einwohner von Röhrensee, Holzhausen, Mühlburg, Wechmar und
Bittstädt hatten am anderen Tag oft Nasenbluten, Kopfschmerzen und
auch einen Druck auf den Ohren.«3
Weil man die Wirkung der neuen Waffe offenbar unterschätzt hatte,
wurden bei diesem Test auf dem Truppenübungsplatz mehrere hundert
Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge sowie ein Dutzend SS-Leute getö-
tet. Diese Toten mußten am nächsten Tag von Häftlingskommandos
eingesammelt und auf Scheiterhaufen verbrannt werden, wobei die Häft-
linge besondere Schutzanzüge trugen. Einer der Führer dieser Arbeits-
kommandos, Heinz W A C H S M U T , gab 1962 vor der SED seine damaligen
Erlebnisse zu Protokoll:
»Am Waldrand sahen wir schon einige Haufen von Menschenleichen,
die wohl ehemalige Häftlinge waren. Die Menschen hatten alle absolut

' Der Bericht von Cläre W E R N E R aus dem Jahre 1962 ist wiedergegeben bei
Die Atombombe und das Dritte Reich, ebenda, S. 104 ff.; Frau
MAYER U. M E H N E R ,
WERNER hat ihre damalige Aussage Ende der neunziger Jahre in allen wesentli-
chen Punkten bestätigt.

409
keine Haare mehr, teils fehlten Kleidungsteile, sie hatten aber auch zum
Teil Hautblasen, Feuerblasen, nacktes rohes Fleisch, teilweise waren einige
Teile nicht mehr vorhanden. SS und Häfdinge brachten die Leichen an.
Als wir die ersten sechs [Scheiter-] Haufen fertig hatten, wurden die
Leichen darauf gelegt, je Haufen ca. 50 Stück, und Feuer gelegt. Wir
wurden zurückgefahren. Im Gut mußten wir den Schutz und unsere ge-
samte Kleidung ausziehen. Diese wurde ebenfalls von der SS angezün-
Mit ihrem Buch Hit-
lers Bombe (Mün- det, wir mußten uns waschen und erhielten neue Kleidung und neuen
chen 2005) brach- Schutz, dazu jeder eine Flasche Schnaps, auch unsere Häftlinge. . .
ten Rainer K A R L S C H Beim 2. Einsatz wurden nochmals drei [Scheiter-] Haufen errichtet.
und Heiko PETE « M A N N Dabei sahen wir, wie aus dem Wald einige völlig unmenschliche Lebewe-
(von oben) neue Er-
sen gekrochen kamen. Wahrscheinlich konnten einige nichts mehr se-
kenntnisse ans Licht,
denen zufolge »die
hen. . . Ich kann es auch heute nicht beschreiben. .. Von zwei SS-Leuten
seltsamen Ereignisse wurden diese ca, zwölf bis fünfzehn Menschen sofort erschossen... Einer
um das JonastaU unserer russischen Häftlinge sagte uns, er habe einen der Erschossenen
kein Bombengerücht noch verstanden, >,.. großer Blitz - Feuer, viele sofort tot, von der Erde
waren. weg, einfach nicht mehr da, viele mit großen Feuerwunden, viele blind,
Gruß an Mutter von Olek B A R T O nach Gurjew. . .< Unser Häftling hat mir
1952 geschrieben, daß er wirklich den Gruß konnte an die Mutter geben.«4
Das, was die beiden Augenzeugen hier schildern, ist für einen Kenner
eindeudg: Frau W E R N E R beschreibt den typischen Lichtblitz einer klei-
nen atomaren Explosion und die Symptome einer leichten Form der Strah-
lenkrankheit. W A C H S M U T S Angaben zum äußeren Erscheinungsbild der
Opfer dieses Versuchs stimmen in auffallender Weise mit Beschreibun-
gen der Toten von Hiroshima und Nagasaki überein. Nach dem Bericht
von Frau W E R N E R soll es am 12. März noch einen zweiten Test auf dem
Truppenübungsplatz Ohrdruf gegeben haben.
Die weiteren Nachforschungen von Thüringer Heimatforschern und
Hobbyhistorikern förderten amerikanische Luftaufnahmen vom Trup-
penübungsplatz Ohrdruf vom Sommer 1945 zutage, auf denen im östli-
chen Teil des Truppenübungsplatzes, dem sogenannten >Dreieck<, groß-
flächige Zerstörungen zu erkennen sind,3
Schließlich machten vor geraumer Zeit der Historiker Rainer KARLSCH
und der Fernsehjournalist Heiko PETERMANN in einem Moskauer Archiv
einen aufsehenerregenden Fund.
Ende März 1945 überreichte der Chef des Nachrichtendienstes der
Roten Armee (GRU), Generalleutnant Iwan I . ILJITSCHOW, dem führen-
den Kopf der sowjetischen Atomforschung, Igor KURTSCHATOW, einen

4 Zitiert nach MAYER U. MEHNER, Die Atombombe und das Dritte Reich, ebenda, S.
113 ff.
5 Ebenda, S. 110 f.

410
Links: Der Krater auf
dem Truppenübungs-
platz Ohrdruf, dem
vermuteten Testort
mit Blick Richtung
Nordosten auf die
Wachsenburg. Aus:
Kainer K A R I S C H U .
Heiko P E T E R M A N N , Für
und Wider >Hitlers
Bombe', Waxmann,
Münster 2007. Unten
(zum Vergleich): das
Testgelände der Trinl-
ty-Atombombe, das
v o n } . Robert O P P E N -
HEIMER und General

G R O V E S (rechts) inspi-

ziert wird.

hochbrisanten Spionageberichte aus Deutschland.


I L J I T S C H O W stufte seine Quelle, offenbar ein hoch-
rangiger deutscher Informant, als zuverlässig ein
und hatte den Bericht bereits an S T A L I N und Mo-
L O T O W gesandt. Dieses Schreiben mit Datum vom
23. März 1945 enthält einen detaillierten Bericht
über die Tests auf dem Truppenübungsplatz Ohr-
druf:
»In der letzten Zeit haben die Deutschen in Thü-
ringen zwei große Explosionen durchgeführt. Sie
fanden in einem Waldgebiet unter strengster Ge-
heimhaltung statt. Vom Zentrum der Explosion
wurden Bäume bis zu einer Entfernung von fünf-
hundert bis sechshundert Metern gefällt. Für die
Versuche errichtete Befestigungen und Bauten
wurden zerstört. Kriegsgefangene, die sich im Ex-
plosionszentrum befanden, kamen um, wobei häu-
fig von ihnen keine Spuren blieben. Andere Kriegs-
gefangene, die sich in einigem Abstand vom
Zentrum der Explosion aufhielten, trugen Verbren-
nungen an Gesicht und Körper davon, deren Grad
von der Entfernung vom Zentrum abhing. ,, Die
Bombe enthält vermutlich U[ran] 235 und hat ein
Gewicht von zwei Tonnen, Sie wurde auf einem

411
speziell dafür konstruierten Flachwagen transportiert. .. Die Bombe
wurde permanent von zwanzig SS-Männern mit Hunden bewacht.
Die Bombenexplosion wurde von einer starken Detonationswelle und
der Entwicklung hoher Temperaturen begleitet. Außerdem wurde ein
starker radioaktiver Effekt beobachtet. Die Bombe stellt eine Kugel mit
einem Durchmesser von 130 Zentimetern dar.«6
General I L J I T S C H O W hielt den Bericht für durchaus glaubwürdig Igor
K U R T S C H A T O W , der eine Stellungnahme zu diesen Berichten abgeben soll-
te, war sich nicht sicher, was für eine Waffe die Deutschen tatsächlich
getestet hatten. Eine Atombombe mußte nach seinen Berechnungen ei-
nen wesentlich größeren Zerstörungsradius haben als nur fünf- bis sechs-
hundert Meter. K U R T S C H A T O W kam damals noch nicht auf die Idee, daß
man die Zerstörungskraft einer Nuklearwaffe konstruktiv ganz gezielt
auf ein verhältnismäßig geringes Maß beschränken kann,
KARLSCH und PETERMANN ließen nun Bodenproben von dem mutmaß-
lichen Atomwaffentestgelände von qualifizierten Kernphysikern auf ra-
dioaktive Spurenelemente untersuchen. Mit Genehmigung der Bundes-
wehr, die den Truppenübungsplatz Ohrdruf heute noch nutzt, wurden
von dem vermuteten Testgelände, dem >Dreieck<, zahlreiche Bodenpro-
ben entnommen und von der Strahlenschutzabteilung der Universität
Gießen sowie der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braun-
schweig analysiert. Ziemlich genau in der Mitte des >Dreiecks< findet man
heute eine flach ausgebildete Mulde von ca. 50 Metern Durchmesser.
Der Nachweis eines Kernwaffentests ist nach sechzig Jahren schwie-
rig, denn der größte Teil der radioaktiven Strahlung ist längst abgeklun-
gen. Bei den Versuchen von Ohrdruf 1945 wurden nur sehr geringe
Mengen von spaltbarem Material verwendet. Die amerikanische Atom-
bombe, die auf Hiroshima abgeworfen wurde, hatte mindestens die hun-
dertfache Sprengkraft der auf Ohrdruf gezündeten; trotzdem ist es nicht
einfach, in dieser japanischen Stadt heute die Atomexplosion vom 6.
August 1945 meßtechnisch nachzuweisen.
In den im >Dreieck< entnommenen Bodenproben fanden die Wissen-
schaftler durch spezielle Sedimentationsverfahren Partikel, die offenbar
bei sehr hohen Temperaturen geschmolzen waren, was für sich schon
auf eine atomare Explosion hinweist. Selbst bei Verwendung einfacher
Meßinstrumente zeigten diese Partikel eine erhöhte Radioaktivität. Bei
der Analyse der Bodenproben durch das Forschungslabor der Universi-
tät Gießen und der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braun-
schweig wurden Meßergebnisse für Cäsium 137 festgestellt, die das Drei-
bis Vierfache der im Landesdurchschnitt üblichen Werte betrugen. Er-
6 Zitiert nach Rainer KARLSCH, Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen
Kernwaffenversuche, DVA, München 2005, S. 220 f.

412
höhte Cäsium 137-Werte gelten allgemein als Indiz für einen nuklearen
Niederschlag.
Diese Meßergebnisse allein besagen noch nicht viel, denn nach dem
Reaktorunfall von Tschernobyl wurden an zahlreichen Orten in Deutsch-
land noch weit höhere Werte gemessen. Das auf Ohrdruf gefundene
Cäsium entstammt jedoch eindeutig nicht dem zerstörten sowjetischen
Reaktor.
Bei einer weiteren Analyse wurden auffallende Anteile von Spaltpro-
dukten, darunter Uran 2 3 8 und Uran 2 3 5 , gefunden. Prof. Uwe KEYSER
von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt stellte fest:
»Es ist angereichertes Material in einem breiten Spektrum vorhanden,
das keine natürliche Quelle als Ursache hat. Die Isotopenanomalien sind
teilweise drastisch und passen zu keinem bekannten Einzelereignis.
Tschernobyl kann als alleinige Ursache für die Herkunft der Spaltpro-
dukte ausgeschlossen werden.«7
Unter Berücksichtigung aller Indizien und Meßwerte - der erhöhten
Cäsium 137-Aktivität, des Nachweises von Uran 238 und Uran 235, der
Partikel aus einem Prozeß von Hochtemperaturschmelze — kamen die
Wissenschaftler der Universität Gießen und der Physikalisch-Technischen
Bundesanstalt zu dem Ergebnis, daß auf Ohrdruf Spuren eines nuklea-
ren Ereignisses vorhanden sind. Prof, Reinhard BRANDT stellte fest:
»Das Wesentliche dieses Ereignisses ist, daß während der Explosion
auch deutlich Kernreaktionen mit Energiefreisetzung abgelaufen sind,«8
Das heißt nichts anderes, als daß auf dem Truppenübungsplatz Ohr-
druf eine atomare Explosion stattgefunden hat.
Diese Erkenntnis steht in völligem Gegensatz zur bisher allgemein
angenommenen Version der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, der
zufolge die deutschen Kernphysiker nicht einmal die theoretischen Grund-
lagen für eine Atombombe beherrscht haben sollen, geschweige denn in
der Lage gewesen wären, eine zu bauen.
Bei Kriegsende 1945 wurden zehn der führenden deutschen Atom-
physiker, darunter Werner HEISENBERG, Carl-Friedrieh VON WEIZSÄCKER,
Otto HAHN, Paul HARTECK, Walther GERLACH, Kurt DIEBNER und Erich
BAGGE, von amerikanischen und britischen Spezialkommandos festge-
setzt und ein halbes Jahr lang auf dem englischen Landsitz Farm Hall
interniert. Die Briten hatten in allen Räumen dieses Gebäudes Mikro-
phone installiert, um die Gespräche der deutschen Physiker abzuhören.
Diese Abhörpro tokolle" gelten seit Jahrzehnten als endgültiger Beweis
7 KaRL.SCH, ebenda, S. 226
8 Ebenda, S. 226 f.
9 Dieter H O F F M A N N (Hg.), Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder die Angst
der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993,

413
Von links:
Werner HEISENBERG,

Carl-Friedrich VON
WEIZSÄCKER, Otto
HahN; unten: Paul
HARTECK. Sie waren
sechs Monate lang
auf dem englischen
Landsitz Farm Ha!l
interniert.

dafür, daß die deutschen Physiker nie ernsthaft an einer Atombombe


gearbeitet haben.
Tatsächlich hegten die deutschen Kernphysiker in Farm Hall jedoch
von Anfang an den Verdacht, abgehört zu werden, und da sie fürchteten,
auf unabsehbare Zeit interniert oder sogar als Kriegsverbrecher ange-
klagt zu werden, inszenierten sie aus dem Stegreif eine Komödie mit der
Absicht, ihre >Gastgeber< von ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen. Die
Regie übernahm H E I S E N B E R G , der als reiner Theoretiker am eigentlichen
Bau der Bombe nicht beteiligt war.
H E I S E N B E R G gelang es, die neun anderen Physiker zu überreden, ein
Memorandum abzufassen, in dem die Unterzeichneten erklärten, sie hät-
ten während des Krieges ausschließlich an einer >Uranmaschine<, also ei-
nem Atomreaktor zur Energieerzeugung gearbeitet. Es sei jedoch vor
Kriegsende nicht gelungen, eine solche >Uranmaschine< zum Laufen zu
bringen. Dagegen sei der Bau einer Atombombe niemals ernsthaft erwo-
gen worden, da dafür in Deutschland die technischen Voraussetzungen
gefehlt hätten.
Mit diesem Memorandum wurde der Mythos geboren, dem zufolge
die deutschen Kernphysiker, insbesondere H E I S E N B E R G und von W E I Z -
SÄCKER, nur an der friedlichen Nutzung der Kernenergie interessiert ge-
wesen wären und den Bau einer Atombombe durch passiven Widerstand
verhindert hätten.
Bei der Abfassung des Memorandums hatte es allerdings Streit gege-
ben, da D I E B N E R , B A G G E und einige andere zunächst nicht unterschrei-
ben wollten. Dies war kein Zufall, denn wie wir heute wissen, war Kurt
D I E B N E R neben Walther G E R L A C H der wissenschaftliche Leiter des deut-
schen Vorhabens zum Bau einer Atombombe,
Nach ihrer Entlassung aus der Internierung in Farm Hall kehrten die
deutschen Physiker in ihre Heimat zurück, wo sie nach kurzer Zeit ihre
Universitätskarrieren fortsetzen konnten. Nur Kurt D I E B N E R , sozusagen
das >schwarze Schaf< der Gruppe, mußte sich in den Nachkriegsjahren

414
mit einer eigenen Firma für den Bau von Meßinstrumenten durchschla-
gen.
Zwischen 1945 und 1955 war in Deutschland jede Art der Kernfor-
schung durch die Alliierten verboten. Dessen ungeachtet veröffentlich-
ten Prof. Paul H A R T E C K und sein Mitarbeiter Dr. Wilhelm G R O T H 1 9 5 0
eine Fachschrift, in der sie detailliert schildern, wie sie während des Krie-
ges mit Hilfe von »Ultrazentrifugen« Uran angereichert, also »nuklearen
Sprengstoff« erzeugt haben.10 Von oben: Kurt DIEB-

Ab 1955, nach Aufhebung des KernforschungsVerbotes, veröffentlich- NER und Erich BAGGE.

ten Kurt D I E B N E R und sein ehemaliger Mitarbeiter Erich B A G G E eine


Reihe von Aufsätzen und Schriften zur Geschichte des deutschen Uran-
projekts im Zweiten Weltkrieg. Diese Publikationen folgen zwar der von
H E I S E N B E R G in Farm Hall begründeten Linie, der zufolge es in Deutsch-
land weder eine funktionierende >Uranmaschine<, also einen Reaktor, noch
eine Atombombe gegeben habe. Sie setzen aber wichtige Akzente deut-
lich anders als H E I S E N B E R G und W E I Z S Ä C K E R . 11

Nach Aufhebung des alliierten Kernforschungsverbots im Jahre 1955


begann D i E B N E R , eine Reihe von Patenten anzumelden, die eine ganz
andere Sprache sprechen als die erwähnten Schriften, die für eine breitere
Öffentlichkeit bestimmt waren.
Eines der ersten Patente vom 15. September 1955 beinhaltete einen
zweistufigen Kernreaktor zur Erbrütung von Plutonium, der eine für die
damalige Zeit ziemlich raffinierte Konstruktion darstellt.12
Im August und November 1956 meldete D I E B N E R unter dem Titel
»Verfahren zur Zündung thermonuklearer Reaktionen mittels konver-
genter Detonationsverdichtungsstoße« und »Verfahren zur elektroma-
gnetischen Zündung thermonuklearer Kernbrennstoffe« 13 zwei Patente
an, die, für den Fachmann unverkennbar, eine »fusionsverstärkte Kern-
spaltungsbombe«, das heißt eine Atombombe der zweiten Generation
beinhalten.

10 K. B E Y E R J . E , W . G R O T H , P. H A R T E C K u. H . J E N S E N , Über Gaszentrifugen. Anreiche-


rung der Xenon-, Krypton und der Selen-Isotope nach dem Zentrifugenverfahren, Wein-
heim/Bergstr. 1950, insbes. S. 47 f.
11 Erich B A G G E , Kurt D I E B N E R , Kenneth JAY, Von der Uranspaltung bis Calder Hall,
Hamburg 1957.
12 Deutsches Patentamt, Au slege schrift 1058643 v. 15. 9. 1955.
13 Diese Patente wurden 1956 im Deutschen Patentamt angemeldet, aber angeb-
lich von D I E B N E R wieder zurückgezogen, das heißt, sie sind vom Deutschen
Patentamt nicht ausgelegt worden. Das letztere Patent wurde jedoch unter der
Bezeichnung »Thermonuclear Reactions« am 20. November 1957 unter der Num-
mer 841.387 in London angemeldet und ist im dortigen Patentamt vorhanden.
Kopie im Besitz des Verfassers.

415
Im Jahre 1 9 6 2 veröffentlichte D I E B N E R in der Zeitschrift Kerntechnik
einen Aufsatz mit dem Titel »Fusionsprozesse mit Hilfe konvergenter
Stoßwellen«, in dem er in dürren Worten das Funkdonsprinzip der »fusi-
14 Kurt D I E B N E R ,
onsverstärkten Kernspaltungsbombe« darlegt und nachzeichnet, auf
»Fusions prozesse welchem Wege die deutschen Kernphysiker während des Krieges auf die
mit Hilfe konver- Idee zu dieser Konstruktion gekommen waren.14
genter Stoßwellen
Bei der »fusionsverstärkten Kernspaltungsbombe« werden das Prinzip
- einige ältere und
neuere Versuche der Kernfusion, also der Verschmelzung der leichten Kerne des schwe-
und Überlegun- ren Wasserstoffs (Deuterium), mit dem der Kernspaltung, der Spaltung
gen«, in: Kerntech- der schweren Kerne des Uran, kombiniert. Die Amerikaner bezeichnen
nik, März 1962, diesen Typ als >Booster<-Bombe 15 und haben ihn erstmals im Frühjahr

S. 90 ff. 1951 erprobt. 16


15 To boost bedeutet Die Vorteile der >Booster<-Bombe, von der es natürlich etliche Varian-
im Englischen ten gibt, bestehen darin, daß sie mit verhältnismäßig wenig spaltbarem
soviel wie »hochhe- Material (Uran 235 oder Plutonium 239) auskommt, daß die nukleare
ben, in die Höhe Energie frei Setzung sich — wenn man will — auf ein Minimum beschrän-
treiben, unterstüt- ken läßt und daß sie außerdem sehr zuverlässig und robust ist. Seit Mitte
zen«,
der fünfziger Jahre sind praktisch alle Kernwaffen mit niedriger oder
1(1 Chuck H A N S E N ,
mittlerer Sprengkraft »Booster«-Bomben. Dieser Typ ist nicht zu verwech-
VS Nuclear Weapons. seln mit echten Wasserstoffbomben (mehrstufigen thermonuklearen
The Secret History,
Arlington 1988, Bomben), Bei einer >Booster<-Bombe wird nur eine verhältnismäßig klei-
S. 52 ne Energiefreisetzung durch Kernfusion erzeugt, die dazu dient, den Kern-
17 Andre G S P O N E R spaltungsprozeß im Uran zu beschleunigen und zu verstärken. Bei einer
u.Jean-Pierre echten thermonuklearen Waffe dient eine Kernspaltungsbombe dazu,
H L ' R N I , Fourth eine Kernfusion in einer großen Menge an Deuterium auszulösen, um
Generation Nuclear dieses nuklear zu »verbrennen«. Während >Booster«-Bomben eine Spreng-
Weapons. The kraft von maximal einigen hundert Kilotonnen entwickeln können, be-
Physical Principles of tragen die 1 Leistungen von thermonuklearen Bomben etliche Megaton-
Thermonuclear nen (1 Megatonne = 1000 Kilotonnen).17
Explosives, Inertia
Confinement Fusion, Kurt D I E B N E R und die deutschen Kernphysiker haben 1944/45 mit
and the Quest for ihrer Variante einer »Booster«-Bombe einen Typ entwickelt, der in seiner
Fourth Generation Grundkonzeption erheblich fortschrittlicher war als die ersten amerika-
Nuclear Weapons, nischen Atombomben, die Hiroshima-Bombe »Little Boy« und die Naga-
Darmstadt 2000, saki-Bombe >Fat Man«,
S. 7 u. 14 ff. Die Geschichte des deutschen Atomprojekts im Zweiten Weltkrieg
18 Das Folgende läßt sich nach dem derzeitigen Wissensstand in groben Zügen wie folgt
nach B A G G E , nachzeichnen:
DIESNER U.JAY, Im Dezember 1938 hatten Otto H A H N und Fritz S T R A S S M A N N die Spal-
Uranspaltung, aaO. tung des Urankerns entdeckt. Wenn dieser mit Neutronen beschossen
(Anm. 11), S. 19 ff. wird, zerfallt er unter einer ungewöhnlich großen Energiefreisetzung. Im
April 1939 wies Paul H A R T E C K in einem Brief an das Reichskriegsmini-
sterium in Berlin darauf hin, daß durch diese Entdeckung die grundsätz-

416
liche Möglichkeit der Auslösung einer Kettenreaktion beim Uran und
der Herstellung von neuartigen, höchst explosiven Sprengstoffen gege-
ben sei.
Daraufhin wurde im Sommer 1939 ein selbstständiges Referat für
Kernphysik in der Forschungsabteilung des Heereswaffenamtes einge-
richtet, dessen Leitung Kurt D I E B N E R übertragen wurde.
Nach Kriegsausbruch rief das Reichskriegsministerium am 26. Sep-
tember 1939 die maßgebenden Kernphysiker Deutschlands zu einer Be-
sprechung zusammen, bei der ihnen die Frage vorgelegt wurde, ob das
Heereswaffenamtes ein größeres Programm zur Kernenergiegewinnung
in Angriff nehmen solle. Die Teilnehmer - unter ihnen D I E B N E R , B A G G E
und H A R T E C K - befürworteten dieses Vorhaben und empfahlen, den Leip-
ziger Professor für theoredsche Physik, Werner H E I S E N B E R G , hinzuzu-
ziehen.
In der Folgezeit entstand eine Reihe von Versuchsaufbauten für eine
>Uranmaschine<, also einen kleinen Atomreaktor, mit dem man grund-
sätzlich die Möglichkeit einer kontrollierten Kettenreaktion, also eines
sich selbst erhaltenden Kernspaltungsprozesses, nachweisen wollte. Das
war eine Voraussetzung für eine unkontrollierte Kettenreaktion, eine
Atombombe.
In der zweiten Jahreshälfte 1941 besaßen die deutschen Atomforscher
gegenüber ihren amerikanischen Kollegen einen deutlichen Vorsprung.
Anfang Dezember 1941 wurde für den Februar 1942 eine Tagung des
>U ranverein s< in Berlin angesetzt, die eine Übersicht über die bisher erziel-
ten Forschungsergebnisse bieten sollte. Gleichzeitig wurde entschieden,
die Arbeiten am Uranprojekt wegen der unabsehbaren Entwicklungszeit
aus dem Kompetenzbereich des Heereswaffenamtes herauszunehmen
und dem zivilen Reichsforschungsrat zu übertragen, womit das Projekt
in seiner Bedeutung deutlich herabgestuft wurde.
Die iWissenschaftliche Tagung der Arbeitsgemeinschaft Kernphysik«
fand vom 26. bis zum 28. Februar 1942 statt. Die »Arbeitsgemeinschaft*
verfaßte aus diesem Anlaß einen ausführlichen Bericht, in dessen Schluß-
wort hervorgehoben wurde, daß der Bau sowohl einer Uranmaschine als
auch einer Uranbombe prinzipiell möglich sei.19 " Ebenda, S. 30 ff.
Reichspropagandaminister Joseph G O E B B E L S machte am 2 1 . März
1942, drei Wochen nach der Tagung, in sein Tagebuch folgende Eintra-
gung:
»Mir wird Vortrag gehalten über die neuesten Ergebnisse der deut-
schen Wissenschaft. Die Forschungen auf dem Gebiet der Atomzertrüm-
merung sind so weit gediehen, daß ihre Ergebnisse unter Umständen
noch für die Führung dieses Krieges in Anspruch genommen werden
können. Es ergäben sich hier bei kleinstem Einsatz derart immense Zer-

417
störungswirkungen, daß man mit einigem Grauen dem Verlauf des Krie-
ges, wenn er noch länger dauert, und einem späteren Kriege entgegen-
schauen kann. Die moderne Technik gibt dem Menschen Mittel der Zer-
störung an die Hand, die unvorstellbar sind. Die deutsche Wissenschaft
ist hier auf der Höhe, und es ist auch notwendig, daß wir auf diesem
Gebiet die Ersten sind; denn wer eine revolutionäre Neuerung in diesen
Krieg hineinbringt, der hat eine umso größere Chance, ihn zu gewin-
Joseph G O E B B E L S , nen,«20
Tagebücher aus den Der zivile Reichsforschungsrat, der zum Zeitpunkt der Urankonfe-
Jahren 1942-1943, renz Ende Februar 1942 noch dem Erziehungs- und Wissenschaftsmini-
Zürich 1948, S. 136 ster Bernhard R L S T unterstand, wurde Anfang Juni vollkommen umor-
ganisiert, Neuer Vorsitzender wurde Reichsmarschall Hermann G Ö R I N G ,
21 David I R V I N G , im Präsidialrat saß von nun an Reichsführer SS Heinrich H I M M L E R .21

Der Traum von der Glaubt man den Erinnerungen von Werner G R O T H M A N N , dem per-
deutschen Atombombe, sönlichen Adjutanten des Reichsführers SS, so gelangte Heinrich H I M M -
o. O. 1969, S. 113 LER nach der Katastrophe von Stalingrad zu der Überzeugung, daß der
Krieg mit konventionellen Mitteln nicht mehr gewonnen werden kön-
22 Die Crothmann-
ne.22 H I M M L E R , der grundsätzlich an moderner Technik hochinteressiert
Protokolle, unveröf- war, wurde nun zum wichtigsten Befürworter und Förderer des deut-
fen dich res Manu- schen Uranprojekts.23 Uneingeschränkte Unterstützung fand H I M M L E R
skript, Kopie im
beim technikbegeisterten Reichspostminister Wilhelm O H N E S O R G E , dem
Besitz des Verfas-
sers, S. 46 die Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost und das Forschungsin-
23 Ebenda, S. 30
stitut von Manfred V O N A R D E N N F . in Berlin-Lichterfelde unterstanden.
Das Heereswaffenamt blieb an dem Vorhaben weiterhin beteiligt, dane-
ben spielte das Marinewaffenamt eine wichtige Rolle. Die militärische
Leitung über das gesamte V-Waffenprogramm und damit auch über das
Atomprojekt ging ab Herbst 1943 in die Hände von SS-Obergruppen-
24 K A R L S C H , Hitlers führer Hans K A M M L E R über.24
Bombe, aaO, (Anm. Hitler sprach b
6), S. 182 ff. Marschall A N T O N E S C U am 5 . August 1944 ȟber weitere neue Sprengstof-
fe«, deren Entwicklung bis zum Experimentierstadium durchgeführt sei.
Er [ H I T L E R ] habe den Eindruck, daß der Sprung von den jetzt gebräuch-
lichen Explosivstoffen bis zu diesen neuartigen Sprengmaterialien grö-
ßer sei, als der vom Schwarzpulver bis zu den bei Kriegsbeginn gebräuch-
lichen Sprengmaterialien gewesen wäre.
Als A N T O N E S C U darauf erwiderte, daß er hoffe, die Zeit der Anwen-
dung dieser neuen Explosivstoffe, die vielleicht das Ende der Welt her-
beiführen würden, nicht mehr zu erleben, erwähnte der Führer die von
einem deutschen Schriftsteller vorausgesehenen weiteren Entwicklungs-
stufen auf diesem Gebiet, die bis zu einem Punkt führen würden, wo die
Materie als solche sich auflöse und dann allerdings Katastrophen von
ungeahnter Größe herbeiführen würde.

418
Nach einigen Erläuterungen zu dem neuartigen Marschflugkörper V 1
erklärte H I T L E R , dieser sei »nur eine von 4 Waffen, die Deutschland ein-
setzen würde. Eine andere dieser Waffen habe z.B. eine so gewaltige
Wirkung, daß in einem Umkreis von 3-4 km von der Einschlags teile
alles menschliche Leben vernichtet würde«.25
H I T L E R , der nach S P E E R angeblich von Kernwaffen nichts verstand,
beschreibt mit diesen Worten nicht nur recht genau die Wirkung einer
Atombombe von mittlerer Sprengkraft, sondern er gibt auch zu verste-
hen, daß ihre Entwicklung zu diesem Zeitpunkt bereits weit vorange-
schritten sei.
Wahrscheinlich fand
bereits zwei Monate
nach diesem Gespräch,
am 12. Oktober 1944,
auf der Ostseeinsel Rü-
gen ein erster Test statt.
Es gibt dazu einen
ebenso ausführlichen
wie dramatischen Be-
richt des italienischen
Journalisten Luigi Ro-
MERSA, der behauptet, er
habe als Sondergesand-
ter M U S S O L I N I S einem
Atomwaffentest auf ei-
ner Ostseeinsel als Au-
genzeuge beigewohnt.26
Tatsächlich findet man
auf dem südlichen Bug,
einer abgelegenen Landzunge im Nordwesten Rügens, einen Krater von
Oben: Luigi R O M E R S A ,
etwa 25 m Durchmesser und 5 m Tiefe. Die Isotopenanalysen von Bo- MUSSOLINB ehemaliger
denproben, die das Universitätslabor Gießen vornahm, zeigten zwar an Rüstungsberater, im
einigen Stellen deutlich erhöhte Werte an Cäsium 137, ergaben aber ins- Jahre 2003,
gesamt keine eindeutigen Ergebnisse, weil das Gelände nach 1945 stark Unten: Die Halbinsel
umgestaltet und zum Teil wiederaufgeforstet worden ist.27 Bug mit dem Testort
der deutschen Atom-
Im November und Dezember 1944 erschienen in amerikanischen Zei- bombe am 12. Okto-
tungen verschiedene Berichte über die Entwicklung und Erprobung ato- ber 1944.

25 Andreas HLLLG RUBER, Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Vertrauliche Auf-
zeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes 1942-1944, Frankfurt/
M, 1970., Bd. 2, S. 482 ff.
2 6 KARLSCH, Hitlers Bombe, aaO. (Anm. 6), S. 176.

27 Ebenda, S. 312 f.

419
marer Waffen in Deutschland. Alliierte Spitzenmilitärs wie der amerika-
nische Joint Chief of Staffs, General George C. M A R S H A L L , und der Ober-
kommandierende des britischen Bomber Command, Air Marshall Ar-
thur H A R R I S , drängten in dieser Zeit darauf, den Krieg so schnell wie
möglich zu beenden, bevor die Deutschen über einsatzfähige Atomwaf-
fen verfügen könnten.28
Das zentrale Problem beim Bau einer Atombombe, das sowohl ameri-
kanische als auch deutsche Kernphysiker gleichermaßen beschäftigte, war
die Gewinnung von spaltbarem Material, von nuklearem Sprengstoffe
In der Natur kommen zwei verschiedene Sorten von Uran vor, Uran 235
und Uran 238. Diese unterscheiden sich nur durch die Zahl der in ihnen
enthaltenen Neutronen, chemisch sind sie identisch und daher auf che-
mischem Weg nicht voneinander zu trennen. Während Uran 235 durch
Neutronenbeschuß leicht zu spalten ist, ist dies bei Uran 238 nur sehr
schwer möglich. Natururan enthält 99,3 Prozent Uran 238 und nur 0,7
Prozent Uran 235, also jenes Stoffes, den man für den Bombenbau be-
nötigt. Eine Gewinnung von Uran 235 oder eine Vergrößerung seines
Anteils im Natururan ist nur auf dem Wege der Isotopentrennung mög-
lich, was damals eine große Herausforderung für die Wissenschaft dar-
stellte.
Sowohl in den USA wie in Deutschland experimentierten die Physiker
mit verschiedenen Verfahren. Die Amerikaner setzten frühzeitig auf elektro-
magnetische Massetrenner (die sog. >Calutrone<) und die Gasdiffusion.
Beide Verfahren sind ausgesprochen ineffektiv, ein Problem, dem die
Amerikaner beikamen, indem sie einen riesigen Aufwand trieben. Sie
beschafften mehr als 1100 >Calutrone< und bauten bei Oak Ridge in Ten-
nessee eine gigantische Gasdiffusionsanlage mit fast 4000 Trennstufen.29
Die deutschen Physiker setzten verhältnismäßig früh auf ein anderes
Verfahren, daß sich als wesentlich effizienter herausstellen sollte. In der
deutschen Forschung war bekannt, daß man Isotope in gasförmigen Stof-
fen (Uranhexafluorid) trennen kann, indem man diese in schnell rotie-
renden Zylindern den Wirkungen der Zentrifugalkräfte aussetzt. Eine
Hamburger Arbeitsgruppe um Paul H A R T E C K und Wilhelm G R O T H be-
gann im Herbst 1941 mit dem Bau einer Ultrazentrifuge zur Urananrei-

28 Arthur H A R R I S , Bomber Offensive, London 1947, S. 7 5 ; Alastair R E V I E , . . . war ein


verlorener Haufen. Die Geschichte des Bomber Command der Royal Air Force 1939-1945,
Stuttgart 1 9 7 4 , S. 3 5 9 ; Friedrich G E O R G U, Thomas M E H N E R , ATOMZIELNew York.
Geheime Großraketen- und Raumfahrtprojekte des Dritten Reiches, Kopp, Rottenburg
2004, S. 207 ff.
29 Zu den verschiedenen Verfahren der Isotopentrennung siehe Allan S . K R A S S ,
Peter B O S K M A , Boelie EI./.EN U. Wim A, S M I T , Uranium Enrichment and Nuclear
Weapon Proliferation, New York 1983

420
cherung, also, zur Gewinnung von U 235. Das erste Versuchsmodell lief
bereits Anfang 1942, und in der Folgezeit wurde der Wirkungsgrad der
Zentrifugen ständig verbessert, die im Vergleich zu modernen Konstruk-
tionen bereits erstaunlich fortschrittlich waren.30 Die Ultrazentrifuge gilt 30 BEYERLE, GROTH,
bis heute als das effektivste Anreicherungsinstrument. HARTECK U. JENSEN,

Es zeichnete sich damals jedoch noch eine andere Möglichkeit ab, an Über Gaszentrifugen,
spaltbares Material heranzukommen. Carl-Friedrich V O N W E I Z S Ä C K E R er- aaO. (Anm. 10).
rechnete im Sommer 1941, daß beim Betrieb einer »Uranmaschine«, also
eines Atomreaktors, ein künstliches Element mit der Ordnungszahl 94
entstehen müsse, das ähnliche Eigenschaften aufweisen müsse wie Uran
235." Das »Element 94< gehört zur Gruppe der sogennanten »Transura- 3 1 K A R L S C H , Hitlers

ne«, das heißt, es ist ein künstliches Element schwerer als Uran, das in der Bombe, aaO, (Anm.
Natur nicht vorkommt. Die Amerikaner sollten dem »Element 94< den 6), S. 75.
Namen »Plutonium« geben. In dem Bericht der »Arbeitsgemeinschaft
Kernphysik« vom 28. Februar 1942 wurde besonders hervorgehoben,
daß das »Element 94< mindestens ebenso gut spaltbar wie das Uran 235
und damit als >Kernsprengstoff< geeignet sei. Außerdem sei es chemisch
vom Uran verschieden und könne daher aus dem Uran eines stillgelegten
Reaktors ohne größere Probleme abgetrennt w e r d e n . D i e deutsche For- 33 B A G G E , D I EBNER
schungstätigkeit konzentrierte sich daher zu einem erheblichen Teil auf U.JAY, Uranspaltung,
Versuche zum Bau eines Kernreaktors, einer »Uranmaschine«. aaO. (Anm, 11),
Einen Reaktor kann man problemlos mit Natururan betreiben, braucht S. 39.
dafür jedoch eine Neutronenbremse, einen geeigneten »Moderator«, ent-
weder hochreines Graphit oder »schweres Wasser«. Während die Ameri-
kaner auf einen Graphitreaktor setzten, entschieden sich die deutschen
Kernphysiker für einen Schwerwasserreaktor, weil dieser prinzipiell lei-
stungsfähiger ist. Das Problem dabei war, daß »schweres Wasser« (D,0)
zu jener Zeit in nennenswerten Mengen nur in Norwegen, in dem riesi-
gen Wasserkraftwerk »Norsk Hydro« bei Rjukan, gewonnen wurde. Da
die Bedeutung des »schweren Wassers« auch der britischen Führung be-
kannt war, wurde das »Norsk-Hydro«-Werk wiederholt zum Ziel alliierter
Kommando-Unternehmen und Luftangriffe. Zwar gelang es bis Ende
1943 nicht, die Schwerwasserproduktion dauerhaft zu unterbinden, aber
der kostbare Stoff blieb ein Mangelartikel, was die deutschen Bemühun-
gen um den Bau eines Kernreaktors erheblich behinderte.13 3 3 K A R L S C H , Hitlers

Die von H E I S E N B E R G und D Ö P E L 1 9 4 1 / 4 2 in Leipzig durchgeführten Bombe, aaO, (Anm.


Reaktorversuche wurden in Berlin in einem großzügig ausgestatteten 6), S. 100 ff. u.
Bunkerlaboratorium fortgesetzt, kamen jedoch bis Ende 1944 nicht recht 107 f.
von der Stelle.34 34 B A G G E , D I EBNER

Dagegen gelang einer Forschergruppe unter Leitung von Kurt D I E B - U.JAY, Uranspaltung
NER im Sommer 1943 ein Durchbruch. Auf dem Gelände der Heeresver- aaO. (Anm, 11),
S. 40.
suchsanstalt Kummersdorf bei dem kleinen Ort Gottow bauten Diebner

421
und seine Gruppe drei Versuchsmodelle, deren letztes, ein kugelsymme-
trischer Schwerwasserreaktor (G III), gut funktionierte. Dieser Versuchs-
reaktor war allerdings zu klein, um »überkritisch« zu werden, also eine
sich selbstständig erhaltende Kettenreaktion zu produzieren. Der Ver-
suchsreaktor G III ist durch die Publikationen D I E B N E R S seit Mitte der
35 K . DIEBNER, W . fünfziger Jahre bekannt.35
Czumus, W K A R L S C H und P E T E R M A N N haben ermittelt, daß die DIEBNER-Gruppe
HERRMANN, G . 1944 noch einen weiteren, bisher unbekannten Reaktor mit der Bezeich-
HARTWIG, F. nung G IV baute, der nach einem für die damalige Zeit raffinierten Zwei-
BERKEI, F . KAMIN,
stufenprinzip arbeitete und mit verhältnismäßig geringen Mengen an
»Über die Neutro- schwach angereichertem Uran, Natururan, Thorium und »schwerem
nenvermehrung
einer Anordnung Wasser< auskam. Untersuchungen von Bodenproben von dem Gottower
aus Uranwürfeln Gelände ergaben, daß dieser Reaktor tatsächlich überkritisch wurde, also
und schwerem eine kontinuierliche Kettenreaktion erzeugte, allerdings nach kurzer Zeit
Wasser«, in: Atom- aufgrund einer Xenon 135-Vergiftung durchging und durch eine Verpuf-
kernenergie, 1956, S. fung zerstört wurde. Das Problem der Xenon-Vergiftung konnten die
256 ff. damaligen Kernphysiker aufgrund mangelnder praktischer Erfahrung
36K A R L S C H , Hitlers noch nicht kennen.3*
Bombe, aaO. (Anm. Im Jahre 1955 hat sich D I E B N E R diesen Reaktor patentieren lassen. In
6), S. 130 ff. den sechziger Jahren erwarben die Firmen Babcock und Wilcox einige
von D I E B N E R S Patenten, und der Reaktor G IV aus dem Jahre 1944 wur-
de somit zum Stammvater einer ganzen Serie von kleinen und leistungs-
fähigen Atomreaktoren, die die deutsche Industrie in der Nachkriegszeit
baute.
Beim Bau von Atomreaktoren und der »Erbrütung« von Plutonium
hatten die Amerikaner einen großen Vorsprung gegenüber den Deut-
schen. Von den drei während des Krieges gebauten amerikanischen Atom-
bomben funktionierten zwei mit Plutonium, die in der Wüste von New
Mexico bei dem ersten Test »Trinity« gezündete Bombe sowie diejenige,
37 HANSEN, US die auf Nagasaki abgeworfen wurde.3
Nuclear Weapons, Da in Deutschland 1943 auf absehbare Zeit mit nennenswerten Men-
aaO. (Anm. 16), gen an Uran 235 oder Plutonium nicht zu rechnen war, konzentrierte sich
S. 21.
eine Forschergruppe um Prof. Erich S C H U M A N N und Dr. Walter T R I N K S
auf die Konstruktion einer Bombe, die nach dem Kernfusionsprinzip, also
der Verschmelzung von Kernen leichter Elemente (den schweren Wasser-
stoffisotopen Deuterium und Tritium) funktionieren sollte. Um solch ei-
nen Vorgang auslösen zu können, sind extremer Druck und extreme Tem-
peraturen, wie sie im Inneren der Sonne herrschen, erforderlich.
S C H U M A N N und T R I N K S hofften, diese Bedingungen mit Hilfe von konven-
38K A R L S C H , Hitlers tionellen Hohlladungen erzeugen zu können, das sind Sprengkörper, bei
Bombe, aaO. (Anm. denen die gesamte freigesetzte Energie von hoch brisantem Sprengstoff
6), S. 141 ff. durch eine besondere Formgebung auf einen Punkt konzentriert wird.38

422
Erich S C H U M A N N ent-
warf 1944 eine Hohl-
ladungskonfiguration
für eine Bombe. Aus:
Rainer K A R L S C H u. Hei-
ko PETERMANN, Für und

Wider >Hitlers Bom-


bet, Waxmann, Mün-
ster 2007.

Ob sich mit chemischen Sprengstoffen grundsätzlich der notwendige


Druck und die notwendige Temperatur von mehr als 20 Millionen Grad
erzeugen lassen, ist umstritten. Seit der ersten amerikanischen Wasser-
stoffbombe, die im Herbst 1952 getestet wurde, benutzen die allgemein
bekannten Versionen von Kernfusionswaffen zur Auslösung des Kern-
fusionsprozesses eine Kernspaltungsbombe.
Nach einer Reihe von Versuchen kamen die deutschen Kernphysiker
um SCHUMANN und TRINKS 1944 zu dem Ergebnis, daß die Auslösung
einer Kernfusion mittels chemischer Sprengstoffe zwar prinzipiell mach-
bar sei; es war aber absehbar, daß man mit diesem Verfahren nur eine
sehr kleine Menge an nuklearer Energie freisetzen könne. Das bedeutete, 3'' Dies beschreibt
daß die ursprüngliche Version des S C H U M A N N / T R I N K S - E n t w u r f e s keine DIEBNER 1 9 6 2 in
sehr wirkungsvolle Waffe ergeben hätte. seinem Aufsatz
Da jedoch die Ultrazentrifugen von HARTECK und G R O T H mittlerweile »Fusionsprozesse
anfingen, nennenswerte Mengen an hochangereichertem Uran zu pro- mit Hilfe konver-
duzieren, kamen die deutschen Kernphysiker auf die Idee, den S C H U - genter Stoßweilen«,
aaO. (Anm. 14), auf
MANN /TriNKS-Entwurf mit »atomaren Sprengstoff« - sprich Uran 235 -
S. 90; die Abb. 5 auf
zu bestücken.3<) Damit war die deutsche Version der >Booster<-Bombe S. 91 stellt das
geboren, bei der — stark vereinfacht — eine kleine Kernfusion den Kern- Funktionsschema
spaltungsvorgang im U 235 auslösen und damit die Masse der nuklearen einer >Boostcr<-
Energie frei setzung erzeugen sollte. Bombe dar.

423
Einer der vielen Vorzüge der >Booster<-Bombe ist ihr verhältnismäßig
geringer Bedarf an spaltbarem Material. Die Hiroshima-Bombe xLittle
Boy<, eine ausgesprochen primitive Konstruktion, benötigte 60 kg hoch-
angereichertes Uran. Von diesen 60 kg wurden bei der Explosion nur
700 g, das sind 1,2 Prozent, tatsächlich gespalten, der große Rest wurde
buchstäblich verschleudert. >Little Boy< entwickelte über Hiroshima eine
411 Hiroshima and Sprengkraft von etwa 12 kt TNT.40
Nagasaki. The Dagegen benötigt eine einfache >Booster<-Bombe nur 4 kg Uran 235
Physical, Medical and (also ein Fünfzehntel der Menge von >Little Boy<), um die gleiche oder
Social Effects of the eine höhere nukleare Energiefreisetzung zu erzielen.41
Atomic Bombings, hg.
Die amerikanische Plutoniumbombe >Fat Man< war eine wesentlich
v. The Committee
for the Compilation bessere Konstruktion als >Little Boy< und benötigte nur 6,2 kg Plutonium
of Materials on für eine Sprengkraft von ca. 23 kt TNT.42 >Fat Man< wurde als erste ame-
Damage Caused by rikanische Atombombe am 16. Juli 1945 bei Alamogordo in der Wüste
the Atomic Bombs von New Mexico getestet und am 9. August 1945 gegen die japanische
in Hiroshima and Hafenstadt Nagasaki eingesetzt. >Little Boy< und >Fat Man< stellen Atom-
Nagasaki, New bomben der ersten Generation dar, während die in Thüringen gezündete
York 1981, S. 113 u. deutsche Bombe von ihrem Funktionsprinzip her bereits eine Kernwaffe
363 ff.
der zweiten Generation ist.
41 GSPONER U. Ein technikgeschichtlicher Vergleich zwischen der deutschen und der
HURNI, Fourth amerikanischen Atomwaffenentwicklung im Zweiten Weltkrieg zeigt, daß
Generation Nuclear die deutschen Wissenschaftler von anderen Voraussetzungen und Ziel-
Weapons, aaO.
vorgaben ausgehen mußten als ihre amerikanischen Kollegen in Los Ala-
(Anm. 17), S. 11.
mos. Zunächst einmal war es in Deutschland nicht möglich, die Produk-
42 H A N S E N , US
tion von spaltbarem Material in dem gleichen großindustriellen Stil zu
Nuclear Weapons,
aaO. (Anm. 16), betreiben wie in den USA. Deutsche Atomwaffen mußten daher von
S. 21. vornherein mit weniger Uran 235 oder Plutonium auskommen. Außer-
dem mußten sie kleiner und leichter sein als die amerikanischen Typen.
Zwar stand mit der viermotorigen Heinkel He 177 >Greift ein geeigneter
Bombenträger zur Verfügung, aber dieses konventionelle Flugzeug war
verhältnismäßig langsam und verwundbar. Die deutschen Wissenschaft-
ler dürften schon früh die Idee verfolgt haben, atomare Sprengköpfe auf
Großraketen zu setzen (A-4 oder V-2, A-9/A-10). Ein solcher Gefechts-
kopf durfte aber nicht sehr viel mehr als 1000 kg wiegen.
Schließlich stand in Deutschland kein ausgedehntes, menschenleeres
Testgelände wie die Wüste von New Mexico zur Verfügung, Der Trup-
penübungsplatz Ohrdruf in Thüringen ist verhältnismäßig klein, die
umliegenden Ortschaften liegen nur wenige Kilometer entfernt. Eine
atomare Explosion in der Stärke, wie sie die Hiroshima-Bombe >Litde
Boy< entwickelte, hätte diese Dörfer zerstört und im 6,5 km entfernten
Arnstadt noch erhebliche Schäden hervorgerufen, von den Folgen der
Verstrahlung ganz zu schweigen.

424
Außerdem war hochangereichertes Uran extrem knapp, und es wäre
völlig sinnwidrig gewesen, diesen kostbaren Stoff zu vergeuden, nur um
ein großes Feuerwerk zu veranstalten.
Die deutschen Wissenschaftler um Kurt DIEBNER und Walther G E R -
LACH mußten daher von vornherein kleinere und leichtere Atomwaffen
entwickeln. Für Testzwecke mußte die Sprengkraft auf ein möglichst
geringes Maß beschränkt werden, auf 0,1 kt (= 100 t TNT) oder weni-
ger, was einem Hundertstel der Energie frei Setzung der Hiroshima-Bom-
be >Little Boy< entspricht.
Nach den Angaben des bereits zitierten GRU-Berichts hatte die deut-
sche Atombombe ein Gewicht von etwa 2000 kg. Sie wog damit weniger
als die Hälfte von >Fat Man< mit deren Gewicht von 4672 kg, und sie war
mit einem Durchmesser von 130 cm gegenüber 152 cm auch deutlich
kleiner.43 Eine Steigerung der Sprengkraft war bei dem deutschen Typ 43 Die Daten für >Fat
vom Funkuonsprinzip her kein Problem, man mußte dafür nur mehr Man« nach H A N S E N ,
»nuklearen Sprengstoff«, also hochangereichertes Uran oder Plutonium, Us Nuc/ear Weapons,
einsetzen. ebenda, S. 21.
Welche Zerstörungskraft die deutschen Kernphysiker von ihrer Atom-
bombe im scharfen Einsatz erwarteten, geht aus einem seltsamen deut-
schen Dokument aus dem Jahre 1944 hervor. Dieses Dokument ist eine
Karte des New Yorker Stadtteils Manhattan, eine Karte, in die Wir-
kungskreise (»Zone des ersten Zerstörungsgrades«, »Zone des zweiten
Zerstörungsgrades«) und eine Energiekurve (»Belagsdichte« in kcal/km 3 )
eingezeichnet sind. Die angegebene Energieentwicklung und die Wir-
kungsradien liegen knapp unter denen der Hiroshima-Bombe >Litde Boy<,
das heißt, sie entsprechen einer Sprengkraft von ca. 10 kt TNT (>Little
Boy< brachte 12 kt).44 GF.ORG U. M E H -
44

In Deutschland wurde offenbar intensiv an einer Interkontinentalrakete N E R , ATOMZIEL N E W


gearbeitet. Nach Berichten von Augenzeugen wurde am 16. März 1945 bei York, aaO. (Anm.
Rudisleben in Thüringen eine Großrakete gestartet, die ein Zielgebiet in 28), S. 292 ff.
Nordnorwegen erreicht haben soll. Wahrscheinlich handelte es sich bei
dieser Rakete um eine flüssigkeitsgetriebene zweistufige A-9/A-10, die den
Beinamen >Thors Hammen oder »Amerika-Rakete« trug Einen militärischen
Sinn macht eine solche Rakete nur mit einem nuklearen Gefechtskopf.
Zeitgenössische Luftaufnahmen lassen bei Rudisleben eine große fünfek-
45 Ebenda, S. 223 ff.
kige Startanlage und umfangreiche Bunkeranlagen erkennen.43
Trotz dieser erfolgreichen Versuche stand die oberste deutsche Füh-
rung im März und April 1945 vor einem schweren Dilemma, das Werner
GROTHMANN überzeugend schildert. 46 46 Grotbmann-

Die deutschen Ultrazentrifugen können bis zu diesem Zeitpunkt nur Protokoüe, aaO., S. 10
sehr wenig hochangereichertes Uran erzeugt haben. Die genaue Menge u. 13 ff.
ist unbekannt, es kann aber nicht viel mehr als etwa ein Kilogramm gewe-

425
Die He 177 >Greif< sen sein. Diese Menge hätte man in eine Bombe vom Thüringer Typ
war der einzige deut-einsetzen und von einer Heinkel He 177 über London abwerfen lassen
sche schwere Bom-
können. Dank ihrer fortschrittlichen Konstruktion hätte die deutsche
ber, der im Zweiten
Weltkrieg gebaut
Atombombe mit dieser Menge an »nuklearem Sprengstoff: eine Energie
wurde. Der Flugzeug- im Äquivalent von vielleicht 3 kt TNT entwickelt, einem Viertel der Lei-
typ hätte sich als stung der Hiroshima-Bombe >Little Boye Das hätte genügt, um im Lon-
Bombenträger geeig- doner Stadtzentrum ungeheure Zerstörungen anzurichten. Hunderttau-
net, war aber wegen sende, wenn nicht Millionen von Londonern wären verstrahlt worden,
der Brandanfälligkeit
was das englische medizinische Versorgungssystem an den Rand des Zu-
der Motoren sowohl
bei Besatzungen als sammenbruchs gebracht hätte. Eine Kriegswende zugunsten des Deut-
auch Verantwortli- schen Reiches hätte sich jedoch in der Situation des Frühjahrs 1945 mit
chen unbeliebt. einem solchen einzelnen Atomwaffeneinsatz nicht erzielen lassen. Die
deutsche Führung mußte vielmehr befürchten, daß die Anglo-Alliierten
mittels eines Masseneinsatzes von chemischen und biologischen Waffen
furchtbare Vergeltung an der deutschen Zivilbevölkerung üben würden.
HIMMLER, G Ö R I N G und SPEER lehnten deshalb einen Einsatz der deut-
47 Ebenda.
schen Atombombe ab.4
48 Ebenda, S. 44.
Ursprünglich hatte die oberste deutsche Führung um die Jahreswende
GROTHMANN
1944/45 gehofft, die Fronten an den Reichsgrenzen für mindestens ein
49

berichtet, daß im halbes Jahr stabilisieren zu können.4" Im Sommer 1945 sollte dann nach
März 1945 die
Herstellung von 14 den Planungen HIMMLERS 49 und KAMMLERS eine größere Zahl von Atom-
Stück des Thürin- waffen hergestellt werden, und im Oktober hoffte man so weit zu sein,
ger Typs< - mit mit der >Amerika-Rakete<, mit einer A-9/A-10 mit nuklearem Gefechts-
voller Sprengkraft - kopf, New York zerstören zu können. 50 Was dies für den weiteren Kriegs-

geplant wurde, verlauf bedeutet hätte, kann man sich unschwer ausmalen. Aber der ra-
ebenda, S. 19. sche deutsche Zusammenbruch im Frühjahr 1945 machte alle diese Pläne
50 Ebenda, S. 10. zunichte. Walter Post

426
Der Mythos vom Straßburger >Roten Haus<

ie Konferenz vom 10. August 1944 im Hotel >Maison Rouge< (da-


D mals >Rotes Haus<) in Straßburg wird heute gern verleugnet oder ins
Lächerliche gezogen,1 obwohl ihre Auswirkungen sich bis in unsere Zeit
erstrecken. Es fragt sich nämlich, ob die Idee der europäischen Wirt-
schaftsgemeinschaft an jenem Augusttag 1944 in Straßburg entstand.
Anfang August 1944 war die Normandieschlacht, auf die Deutsch-
land seine großen Hoffnungen gesetzt hatte, durch maßgeblichen Verrat
hoher und höchster deutscher Offiziere verlorengegangen.
Der Erfolg der anglo-amerikanischen Landung in der Normandie alar-
mierte die deutsche Staats- und Parteiführung genauso wie die maßgeb-
lichen Vertreter der Industrie mit aller Dringlichkeit, daß das Ende des
Dritten Reichs bevorstand. Die alliierten Kriegs forderungen nach einer
bedingungslosen Kapitulation, der MoRGF.NTHAU-Plan und die schlim-
men Erfahrungen der Deutschen mit dem Friedensdiktat von Versailles
ließen nichts Gutes für die deutsche Wirtschaft erwarten.
Tatsächlich fanden die Amerikaner nach der Kapitulation der deut-
schen Wehrmacht in den Tresoren deutscher Großkonzerne kopierte
Original-Unterlagen über die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des
amerikanischen Kongresses aus dem Jahre 1944 vor. Man wußte also
genau, was die Amerikaner mit der deutschen Wirtschaftskonkurrenz
vorhatten.
Unter höchsten Sicherheitsmaßnahmen ließ Reich sparteileiter Martin
B O R M A N N deshalb eine neue wirtschaftliche Initiative ergreifen, über die
am 10, August 1944 im Straßburger Hotel >Maison Rouge< sowie auf
weiteren Anschiußkonferenzen beschlossen wurde. 2
Anwesend waren führende Vertreter der deutschen Konzerne, zum
Teil aus dem »Freundeskreis Reichsführer SS<. Unter anderem waren da-
bei die Beauftragten von Krupp, Röchlin, Messerschmitt, Rheinmetall-
Borsig, Brown und Bovery, Siemens, Wintershall, Bosch, IG Farben, VW,
ferner führende Mitarbeiter des Reichsministeriums für Rüstung und
Kriegsproduktion, des Reichswirtschaftsministeriums und des Marinebau-
amts. Man kannte sich oder versuchte, vom Ansehen auf Stellung, Her-

1 So Ulrich L A P P E N K Ü P E R , »Reine Fiktion«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.


10. 2007, S. 7.
2 Friedrich G E O R G , Verrat in der Normandie. Eisenhowers deutsche Helfer, Grabert,
Tübingen J2007, S. 332-335; Carter Plymton H Y D R I C K , Critical Mass. How Nazi
Germany Surrendered Enriched Uranium for the United States Atomic Bomb,
1". Book's Library, 2003, S. 186-194.

427
kunft oder Dienstgrad der Anwesenden oder neu Angereisten zu schlie-
ßen, denn aus Geheimhaltungsgründen wurde auf ein Vorstellungszere-
moniell verzichtet. Niemand hatte auch ein Interesse daran, daß die Na-
men der Vertreter ihrer Leitungsgremien einmal im Zusammenhang mit
dieser denkwürdigen Konferenz bekannt wurden. Die Klausurtagung fand
unter dem Schutz größtmöglicher Geheimhaltung und den schärfsten
damals denkbaren Sicherheitsmaßnahmen statt. So wurden alle Teilneh-
mer und ihre persönliche Habe untersucht und die nähere Umgegend
von SS-Technikern elektronisch überwacht.
In seiner Eröffnungsrede erklärte der Konferenzleiter, SS-Obergrup-
penführer Dr. S C H E I D T (Direktor von Hermsdorff und Schönburg Co.):
»Die Schlacht um Frankreich ist verloren! Die deutsche Industrie muß
erkennen, daß der Krieg nicht gewonnen werden kann. . .Jeder deutsche
Industrielle muß Fühlung mit ausländischen Firmen aufnehmen und mit
ihnen Verträge abschließen. Das muß individuell geschehen und, ohne
daß irgendein Argwohn erregt wird. Ferner müssen Vorbereitungen für
die Aufnahme beträchtlicher ausländischer Politiker getroffen werden für
die Zeit nach Beendigung des Krieges.«
Der zweite Konferenzleiter war Dr. B O S S E vom Rüstungsministerium.
Dr. B O S S E erklärte, daß Industrielle mit Beistand der Regierung soviel
wie möglich von ihrem Kapital exportieren sollten, wobei »Kapital« hier
Geld, Anleihen, Patente, Wissenschafder und Verwaltungsfachleute be-
deutete. In Ergänzung zum Export von Technologien wurden deutsche
Firmen angewiesen, gegen diese oder andere Sicherheiten Geld zu bor-
gen oder fremdes Kapital aufzunehmen, das ebenfalls schnellstmöglich
wieder exportiert werden sollte. Martin B O R M A N N ergänzte, daß »Deutsch-
land Schritte ergreifen müsse, um nach einer Niederlage den rechtzeiti-
gen wirtschaftlichen Wiederaufstieg zu sichern«. Er versprach den Fir-
men und Institutionen, sie bis zum Untergang des Dritten Reiches gegen
etwaige Verstöße gegen die Außenwirtschaft- und Kriegswirtschaftsge-
setze Deutschlands in Schutz zu nehmen. Diese Gesetze forderten zum
Beispiel die Todesstrafe für alle, die die Devisenregelung umgingen.
Das Ziel des geplanten Kapitalfluchtprogramms »Aktion Adlerflug<
war nicht, Geld an sich zu machen. Vielmehr war es der dringende
Wunsch, Deutschlands Industrien und Wirtschaft zu retten und sie vor
Ausplünderungen durch die Hand der Eroberer soweit wie möglich zu
schützen. Nach dem Krieg sollte das Fluchtkapital nicht nur die deutsche
Wirtschaft kontrollieren und lenken, sondern auch andere Volkswirtschaf-
ten, um so einen schnellen deutschen Wiederaufstieg und eine spätere
europäische ökonomische Blüte zu erreichen.
Zu den weiteren Strategien gehörten auch die Planung einer Außen-
handelsoffensive für die Nachkriegszeit und die Gründung einer euro-

428
paischen »Wirtschaftsgemeinschaft«, die Deutschland als Befürworter und
Bannerträger eines konföderierten Europas besonders fördern sollte.
Deutschland sollte auf brutale Kraft verzichten und nur noch elastische
politische Methoden verwenden. 3
Am späten Nachmittag tafelten die Konferenzteilnehmer noch ein-
mal. Sie zeigten sich wortkarg, und selbst kuhnarische Leckerbissen, die
es seit Jahren nicht mehr gegeben hatte, und französischer Cognac ließen
kein ungezwungenes Tischgespräch zustande kommen. Die Thematik
war zu ernst. Man war sich jedoch einig, daß dies eine Möglichkeit war,
um die deutsche Industrie zumindest mit einem blauen Auge aus dem
kommerziellen Blutbad davonkommen zu lassen, das sicher nach Kriegs-
ende kommen würde.
Wenig später löste sich die gesamte Gesellschaft auf, man verabschiedete
sich steif, und die schweren Wagen rollten eilig wieder in verschiedene Him-
melsrichtungen davon.
Feinen kritischen Punkt stellte die auf der Konferenz vorgetragene Ein-
schätzung dar, man brauche neun Monate, um das geplante Kapitalflucht-
programm »Aktion Adlerflug< erfolgreich abzuschließen. Das bedeutete,
daß die Wehrmacht den Vorstoß der Alliierten über den gesamten Win-
ter 1944 und bis Anfang oder Ende Mai 1945 hinauszögern mußte. Tat-
sächlich kapitulierte die Wehrmacht dann nur zwei Tage vor Ablauf der
veranschlagten neun Monate.
Diente der verzweifelte und opferreiche Widerstand der Wehrmacht
während der letzten Kriegsmonate auch dazu, die von den Alliierten ver-
langte bedingungslose Kapitulation so lange hinauszuzögern, bis die Be-
dingungen für einen wirtschaftlichen Wiederaufstieg in der Nachkriegs-
zeit einigermaßen gesichert werden konnten?
Gleich nach Ende der Konferenz begann eine fieberhafte Aktivität
um das Vereinbarte umzusetzen. Man hatte sich dazu ein spezielles Or-
gan geschaffen, das im Amt VI des Reichssicherheitshauptamts (RSHA)
angesiedelt war. Unter der nichts sagenden Bezeichnung >VI-Wi< verbarg
sich das >Sonderreferat Wirtschaft des Amtes VI<. Es war mit entspre-
chend geschulten Volkswirtschaftlern und Juristen besetzt und arbeitete
die vom Reichswirtschaftsministerium erteilten Aufträge ab. Es hörte auf
das Kommando von Prof. Dr. Robert S C H M I E D , der zu den führenden
Wirtschaftspolitikern des Dritten Reiches gehörte. S C H M I E D hatte vor dem
Krieg Aufmerksamkeit erzeugt, als er in seiner Doktorarbeit schrieb: »Ka-
pitalistische Wirtschaft war niemals Selbstzweck, sondern stets nur Mit-
tel zur Erreichung großer politischer Ziele, um schließlich zur Zusam-

3Julius M A D E R , Der BanditenschatzVerlag der Nation, Berlin 1973, S. 8 ff. u.


101-107.

429
menarbeit der Völker im Rahmen einer Weltwirtschaft Mittel zu edlen
Zwecken im Dienste der Menschheit an sich zu sein.« S C H M I E D zur Seite
stand eine ganze Phalanx verschiedener Börsenspezialisten, Bankiers, Ver-
sicherungssachverständigen, Auslandsspezialisten, Sicherheitsbeamter und
Vertrauter, die speziell aus den Konzernzentralen zu dieser besonderen
Verwendung abkommandiert worden waren. Ihre Herkunft und ihre zahl-
losen persönlichen Querverbindungen garantierten nicht nur technisch
die Kontakte zu allen führenden deutschen Finanz- und Industriegrup-
pen, sondern sicherten auch, daß die Interessen der Auftraggeber genau-
so wie die des Staates berücksichtigt wurden. Des weiteren wurde erfolg-
reich versucht, mit ehemaligen >be freundeten« Konzernen im feindlichen
Ausland Kontakt aufzunehmen.
Nach der Straßburger Konferenz entwickelte sich im Amt VI des RSHA
ein ruheloses und hektisches Treiben. Da man wußte, was die Alliierten
mit der deutschen »Konkurrenz* vorhatten, begann ein verzweifeltes Ren-
nen gegen die Zeit. Der gesamte SD-Auslandsapparat lief auf Hochtou-
ren, um Wertgegenstände und Devisen aus Deutschland herauszubrin-
gen, deutsches Vermögen im Ausland zu tarnen und damit dem erwarteten
Zugriff der Alliierten zu entziehen. Zentner von Gold, Devisen und Mil-
lionen von Edelsteinpäckchen wurden auf »Ausland« gesetzt, und chif-
frierte Meldungen über geglückte Transaktionen wurden wie gewonnene
Chips eingezogen.
Als im Mai 1945 ein großer roter Klinkerbau am Berkaer Platz 32-35
in Berlin in sowjetische Hände fiel, verriet an dem bombengeschädigten
Gebäudekomplex nichts, daß hier noch vorher Riesengeschäfte mit Bar-
mitteln, Devisen und ausgesuchten Exportgütern getätigt worden wa-
ren, die mitunter den Rahmen der Routinetätigkeit weltberühmter Bör-
sen gesprengt hätten. Auffallend war Beobachtern der Sowjets nur, daß
es in zahlreichen Zimmern offen stehende Panzerschränke gab und daß
sich nicht ein einziges unterschriebenes Papier in den von Zugluft durch-
strömten Büroräumen finden ließ. Der Umzug war offensichtlich sorg-
sam durchgeführt worden.
Unterlagen aus dem ehemaligen sowjetischen Machtbereich belegen,
daß die Spezialisten des Reichssicherheitshauptamts nicht neun, sondern
insgesamt zwölf Monate lang arbeiteten, um die »Aktion Adlerflug< er-
folgreich zu beenden, das bedeutet, daß man auch noch drei Monate
nach Kriegsende aktiv weiter tätig sein konnte.
Wir wissen heute, daß die Alliierten erst im November 1944 Wind von
den in Straßburg beschlossenen Einzelheiten bekamen, wie ein Bericht
für den amerikanischen Kongreß vom 25. Juni 1945 offenlegte. Die ame-
rikanischen Geheimdienste OSS und die Nachfolgeorganisation CIA wur-
den sofort tätig und unternahmen größtmögliche Anstrengungen zur

430
Aufklärung. Es gelang den Amerikanern, auch zu ermittein, daß deut-
sche Unternehmen in den Monaten nach Straßburg mindestens 750 aus-
ländische Firmen, darunter 214 in der Schweiz, 112 in Spanien, 89 in
Argentinien, 58 in Portugal und 35 in der Türkei gekauft hatten. So ge-
lang es herauszufinden, daß sogar den Vereinigten Staaten große Bank-
konten vorgehalten wurden, von denen manche sogar auf Martin BOR-
M A N N S eigenen Namen lauteten. Beteiligte Banken waren die Manufactures
Hannover Trust, die Chase Manhattan Bank und die First National City
Bank.
Als der Autor Carter T. H Y D R I C K im Rahmen seiner Nachforschungen
auf die Straßburger Konferenz im >Maison Rouge< stieß, fragte er einen
ihm näher bekannten US-Geheimdienstmann in höherer Position nach
der Wahrheit über diese deutschen Fluchtgeschäfte. Der Geheimdienstler
bestätigte H Y D R I C K , daß alles, was über die Straßburger Konferenz ge-
schrieben wurde, wahr sei. Er versicherte aber, daß der OSS und der CIA
sämtliche betreffenden Geschäftsverbindungen aufdecken konnten. Die
Alliierten hätten alle betroffenen deutschen Kartelle daraufhin geknackt
und die »Nazieigentümer« um ihre finanziellen Besitztümer erleichtert.
Fr bestand darauf, daß alles aufgeklärt sei und daß es weder eine Story
noch eine Notwendigkeit gebe, in dieser Sache weitere Untersuchungen
anzustellen. H Y D R I C K forschte aber erneut nach und entdeckte, daß die
Behauptung, die Alliierten hätten sämtliche deutschen Fluchtkapital-De-
pots ausgehoben, eine Verneblungstaktik war, die nichts mit der Realität
zu tun hatte.
Dafür spricht auch, daß der bekannte Wirtschaftsjournalist Greg S T E I N -
M E T Z am 28, April 1997 im angesehenen Wallstreet Journal einen unkom-
mentierten und nie widerrufenen Artikel über die Konferenz führender
Vertreter deutscher Unternehmen von Straßburg im August 1944 schrieb,
um finanzielle Pläne für ein »Viertes Reich< zu diskutieren. S T E I N M E T Z '
Artikel war insofern interessant, als vor ihm bereits die Autoren Paul
M A N N I N G , William S T E V E N S O N und Vladislav F A R A G O ausführlich über
die Konferenz im »Maison Rouge* geschrieben hatten, gleich danach al-
lerdings ins Lächerliche gezogen worden und in der historischen Versen-
kung verschwunden waren.
Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß S T E I N M E T Z den Artikel deshalb
schrieb, um immer noch versteckte Elemente der Konferenz von Straß-
burg ans Tageslicht zu bringen.
Auch wenn Kräfte der ehemaligen Siegermächte bis heute (umsonst)
versuchen, die letzten Geheimnisse der Konferenz von Straßburg aufzu-
decken, war man über die Tatsache, daß hier etwas Wichtiges stattgefun-
den hatte, schon während des Krieges voll informiert. So hatte sich am
11. August 1944 »überraschend« ein schwerer amerikanischer Luftangriff

431
Bombenschäden vom 11,
August 1944 am Straßburger
Place Gutenberg in der Nähe
des >Maison Rougef.
Das Transparent trägt
die Worte: »Das ist das Werk
der Amerikaners.

auf das ansonsten strategisch völlig unwichtige Straßburg ereignet. Da-


bei wurden besonders das Hotelviertel in der Nähe des Flusses 10 und
das historische Zentrum um das Münster mit dem Place Gutenberg schwer
getroffen. Alles wird klar, wenn man bedenkt, daß sich das Hotel >Mai-
son Rouge< genau in der bombardierten Zone befand. Noch heute wird
der Angriff auf Straßburg tn touristischen Reiseführern über die Stadt
als »Irrtum« dargestellt. Als Antwort auf die Alliierten durften die Straß-
burger neuesten Nachrichten am 12. August 1944 aber die Meldung schrei-
ben: »Der Abwurf auf Straßburg war kein Zufall und kein Irrtum.« Die
wohl nie zu beantwortende Frage ist, wer die Alliierten über die streng
geheime Konferenz in Straßburg ins Bild setzte. Der Verrat muß aber
sehr hoch angesetzt gewesen sein.
Die wirtschaftliche Geschichte Nachkriegseuropas wäre wohl völlig
anders angelaufen, wenn die Tagung im >Maison Rouge< nicht einen Tag
früher stattgefunden hätte, als ursprünglich geplant war,
Europa konnte sich in der Nachkriegszeit überraschend schnell wirt-
schaftlich erholen. Friedrich Georg

432
Das Dokument mit der Stel-
lungnahme des US-Außen-
ministeriums vor dem US-
Kongreß vom 25. 6. 1945
beweist, daß die Konferenz
im iMaison Rouge< in Straß-
burg tatsächlich stattfand
und daß die Amerikaner viel
zu spät gegen die Beschlüsse
vorgehen konnten.4

4 Elimination of German Resources for War. Hearings before a Subcommittee on Military


Affairs United States Senate 79h Congress 1945, Librarv of Congress, »Hearings«,
Vol. 107, S. 30 ff. Call No. KF 26. M579 1945a (Madison Budding. Law library
Reading Room), Call No. HRR, ALC.J, (Jefferson Building, Main Reading Room).

433
434
Die Versenkung der >Mefkure<

m 5. August 1944 wurde der türkische Motorsegler >Mefkure< mit


A rund 320 jüdischen Flüchdingen an Bord auf seiner Fahrt vom ru-
mänischen Hafen Konstanza zum Bosporus im Schwarzen Meer (42 Grad
03 Minuten Nord/29 Grad 08 Minuten Ost) von einem aufgetauchten
U-Boot angegriffen, in Brand geschossen und versenkt. Nur zehn Men-
schen überlebten. Britische und amerikanische Rundfunksender berich-
teten noch während des Krieges, daß deutsche Schiffe den Motorsegler
in Brand geschossen und anschließend auf in Rettungsringen schwimmende
Schiffsbrüchige gefeuert hätten. Die New York Times schrieb, die >Mefku-
re< sei als Vergeltungsakt gegen den Abbruch der deutsch-türkischen Be-
ziehungen durch die Türkei versenkt worden. 1
Das ist genau so falsch wie der Vorwurf der deutschen Schuld an der
Versenkung des jüdischen Flüchtlingsschiffs >Struma< im Jahre 1942.2
Untersuchungen durch den Historiker Jürgen R O H W E R ergaben dann ein-
deutige Tatsachen,3 Jürgen ROHWER.

Die >Mefkure< war am 3. August 1944 um 20 Uhr 30 zusammen mit


dem Motorsegler >Morina<, der, auch mit jüdischen Flüchtlingen an Bord,
von der deutschen Kriegsmarine sogar mit einem Passierschein »für das
freie Seegebiet zum Bosporus« versehen war, von Konstanza mit 320
Juden an Bord mit dem Ziel Palästina in Richtung Bosporus ausgelaufen.
Am 5. August wurde das Schiff nach Mitternacht auf See etwa 14 See-
meilen nordnordöstlich vor der Finfahrt in den Bosporus in Brand ge-
schossen und versenkt. Am nächsten Tag wurden fünf Flüchtlinge und
fünf Besatzungsmitglieder, darunter der Kapitän, als einzige Überlebende
der Katastrophe von dem Motorsegler >Bulbuk, der ebenfalls jüdische
Flüchtlinge an Bord hatte, aus einem Rettungsboot geborgen. 4
» R O H W E R entdeckte, daß die deutsche Peilstelle Pomorie im Golf von
Burgas am 5. August 1 9 4 4 um 0 2 . 0 0 Uhr auf 1 1 6 Grad das sowjetische
Unterseeboot S C - 2 1 5 anpeilte und einen Funkspruch des Kommandan-
ten, Kapitän 3. Ranges STRIZAK, auffing.
Der deutsche Peilstrahl schnitt die nach der Kursanweisung an das
Judenschiff >Morina< vorgeschriebenen Länge 29 Grad 08 Minuten an

1 »Judenflucht. Schatten achteraus«, in: Der Spiegel, Nr. 20, 12. 5. 1965, S. 68.
2 Siehe Beitrag Nr. 584, »Der Untergang der >Struma<«.
3 Jürgen ROHWF.R, Die Versenkung der jüdischen Flüchtlingstransporter Struma und Mef-
kure im Schwarten Meer, Bernard u. Gracfe, Frankfurt/M. 1965.
4 Christian ZENTNER U. Friedemann BEDÜRFTIG, Das große Lexikon des Zweiten

Weltkriegs, Südwest, München 1988, S. 372.

435
fast genau der Stelle, an der sich der Juden-Dampfer >Mefkure<, der mit
der >Morina< gemeinsam Konstanza verlassen hatte, um etwa 1.20 Uhr
am 5. August befand. Der Funkspruch wurde 45 Minuten nach dem Be-
ginn des Angriffs auf die >Mefkure< und etwa 15 Minuten nach dem Sin-
ken des Motorbootes ausgestrahlt.
Und der sowjetische Soldatenbuch-Verfasser W J . DMTTRIJEW, Marine-
Offizier und Historiker, beschrieb später in seinem Werk Atakujutpod-
vodniki (>U-Boote greifen an<), wie die >Mefkure< unterging.,. Am glei-
chen Tage (30. Juli 1944) lief von Batum das U-Boot >SC-215< unter dem
Kommando von Kapitän 3. Ranges A. I. STRIZAK aus. Auf den Zufahrts-
wegen nach Burgas operierend, vernichtete das U-Boot in der Nacht
zum 5. August mit Artillerie einen großen Schoner, auf dem bis zu 200
bewaffnete beute bemerkt wurden«, 5 und eine Barkasse, ein größeres
Rettungsboot. Das war offensichdich die >Mefkure<.
Akribisch hatte R O H W E R zudem aus den Akten nachweisen können,
daß sich am 5. August 1944 keines der sechs zu der damaligen Zeit im
Schwarzen Meer operierenden deutschen U-Boote in der Nahe des Un-
tergangsortes der >Mefkure< befunden hatte und damit nicht den Angriff
durchgeführt haben konnte.
R O H W E R konnte ferner dokumentarisch belegen, daß die weiteren im
März und April 1944 aus Konstanza auslaufenden Juden-Transporter >Bel-
la Citta<, >Maritza< und >Milka< auf ihrer Seereise durch das Schwarze Meer
nicht von deutschen Schiffen behindert, geschweige denn angegriffen
wurden. Die deutsche Seekriegsleitung wies im Gegenteil die dort ope-
rierenden deutschen U-Boot-Jäger an, die drei genannten Schiffe durch
die vorhandenen Minensperren zu leiten, damit sie nicht auf eine Mine
liefen.
Auch in diesem Fall erwiesen sich also die anfangs gegen Deutsche
erhobenen Vorwürfe des Judenmordes als unberechtigt: Nicht deutsche
Soldaten waren am Tod der mehr als 300 Juden und der übrigen Besat-
zungsmitglieder auf der >Mefkure< schuldig, sondern die Sowjets, die in
Nürnberg über die Deutschen richteten. Rolf Kosiek

5 Der Spiegel, aaO. (Anm.l), S. 71.

436
Potsdamer Protokoll kein Vertrag

N och immer gehen in Polen maßgebliche Kreise von historisch fal-


schen Voraussetzungen zum Geschehen in Potsdam 1945 und zu
dessen Auswirkungen für die Vertreibung der Ostdeutschen aus. Bei-
spielhaft faßte der Sejmmarschall Marek JUREK diese Vorstellungen in
einem Gespräch mit dem FAZ-RedAKteur Konrad SCHULLER 2 0 0 6 zu-
sammen.1 1 Gespräch in:

Warschau behauptet, 1. das sogenannte Potsdamer Protokoll sei ein Frankfurter A llgemeine
»Vertrag« gewesen, 2. die »Großmächte« hätten die »Umsiedlung« der Zeitung, 2 8 . 8. 2 0 0 6 .
Ostdeutschen beschlossen, und zwar 3. als »Bestandteil des Versuchs. ..
Grenzen zu schaffen, welche die Situation unseres Landes garantieren«.
Alle drei Behauptungen sind falsch, worauf auch ausführlich Georg
2
FRIEDE in einem anschließenden Leserbrief hinwies. Richtig ist dage- 2 Georg FRIEDE,

gen, wie FRIEDE anführt: Roetgen, »Das


Potsdamer Proto-
Zu 1.: Wie in Jalta erklärten auch in Potsdam die Großen Drei, S T A U N ,
koll ist kein Ver-
TRUMAN und CHURCHILL/ATTLEE, die »Auffassung, daß die endgültige Fest-
trag«, in: f^eserbrief
legung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenkonferenz zurückge- Frankfurter A llgemei-
stellt werden soll«. Dann hätte es zu einem »Vertrag« kommen können. ne Zeitung, 12. 9.
Zu dieser einen Friedensvertrag abschließenden Friedenskonferenz kam 2 0 0 6 , S. 8.
es trotz mehrerer Versuche nicht. Ausdrücklich gab dazu US-Präsident
TRUMAN auf der 9 . Vollsitzung am 2 5 . Juli 1 9 4 5 in Potsdam eine Erklä-
rung ab: »Der Präsident sagte an dieser Stelle, er wünsche, seinen Kolle-
gen eindeutig klarzumachen, welche Befugnisse er in bezug auf die Fra-
ge des Friedensvertrages habe. Wenn man Angelegenheiten bespreche,
die zur Aufnahme in Friedensverträge bestimmt seien, so sollten sich alle
Anwesenden bewußt sein, daß Verträge gemäß der Verfassung der Verei-
nigten Staaten nur mit der Zustimmung des Senats der Vereinigten Staa-
ten geschlossen werden könnten.« Eine solche ist aber nie erfolgt.
Zu 2.: Die »drei Regierungen« erkannten in Potsdam zwar an, »daß die
Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben,
die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach
Deutschland durchgeführt werden muß«, forderten aber einmal die Re-
gierungen dieser Staaten auf, »weitere Ausweisungen der deutschen Be-
völkerung einzustellen«. Dennoch wurden die »wilden Vertreibungen«
noch jahrelang fortgesetzt, die also keineswegs in Potsdam legitimiert
oder sanktioniert worden waren. Hinzu kommt, was Ostdeutschland von
Schlesien über Ostbrandenburg und Danzig bis Ostpreußen und Memel
entscheidend betrifft, daß in Artikel IXb des Potsdamer Protokolls die ost-
deutschen Gebiete des Deutschen Reiches nur unter polnische oder so-

437
Die deutsch-polnische Grenze auf der
Konferenz von Potsdam. Aus: Michael
A. H A R T E N S T E I N , Die Geschichte der
Oder-Neiße-Linie, Olzog, München
2006.

wjetische Verwaltung gestellt wur-


den, sie also nicht Polen oder der
UdSSR zugeschlagen wurden und
damit diesen nicht gehörten, und
damit auch für sie der Artikel XIII
über die »Ordnungsgemäße Über-
führung deutscher Bevölkerungs-
teile« aus den vorgenannten Län-
dern gar keine Bedeutung hatte.
Zu 3.: Ausdrücklich erklärte
US-Präsident TRUMAN auf der
Potsdamer Konferenz: »Ich bin
der Meinung, daß die Polen kein
Recht haben, sich diesen Teil
Deutschlands anzueignen. .. Ich
kann mich nicht... mit der Fort-
nahme des östlichen Teils von
Deutschland in den Grenzen von
1937 einverstanden erklären.« Und
CHURCHILL stellte dort nach dem
sowjetischen Verhandlungsprotokoll mißbilligend fest: »Die Polen trans-
portieren Deutsche aus einer Besatzungszone ab. Dieses Gebiet sei ein
Zitiert ebenda. Teil der russischen Zone, die Polen vertreiben Deutsche daraus.«1 Das ist
alles andere als die Zubilligung neuer, Polen angeblich stabilisierender
Grenzen.
In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß in Potsdam
1945 die Großen Drei keinen Vertrag und kein Abkommen schlossen -
die Erwähnung eines »Potsdamer Vertrags« oder eines »Potsdamer Ab-
kommens< also mit falschen Begriffen arbeitet -, sondern daß dort nur
4 Beitrag Nr. 484, ein gemeinsames Protokoll über den Inhalt der wesentlichen Gespräche
»Westalliierte abgefaßt wurde.
täuschen über Über die auch in Potsdam behandelte Oder-Neiße-Linie ist Wesentli-
Oder-Neiße-Linie«. ches anderenorts dargestellt worden.4 Rolf Kosiek

438
Verteidigte Amerika Westeuropa vor Sowjets?

er angesehene Schriftsteller und Journalist Carl Gustaf S T R Ö H M


D schrieb 1984 den Satz: »Nur mit Hilfe Amerikas gelang es nach dem
Zweiten Weltkrieg, Westeuropa vor dem Zugriff der sowjetischen Macht
zu bewahren.«1 Und gleich ihm hielten viele umerzogene Zeitgenossen 1 Carl Gustaf
die USA für den Retter Europas vor dem Bolschewismus. STRÖHM, »Als Stalin
Doch das ist falsch, eher entspricht sogar das Gegenteil der geschicht- den Armeen Hitlers
lichen Wahrheit - zumindest was Osteuropa und Teile Mitteleuropas den Weg öffnete«,
betrifft, die die Amerikaner den Sowjets für fast die ganze zweite Hälfte in: Die Welt, 23. 8.
1984.
des 20. Jahrhunderts unnötig überließen -, worauf in dankenswerter Weise
2 Erwin SCHÜTZ,
in einem Leserbrief hingewiesen wurde. 2
Münster, »Falsches
Richtig ist, daß die deutsche Wehrmacht unter unvorstellbaren Op-
Bild«, Leserbrief in:
fern jahrelang die Sowjets von Europa fernhielt, nachdem sie am 22. Juni Die Welt, 27. 9.
1941 in den schon fast vollendeten Aufmarsch der Roten Armee zum 1984.
Angriff Moskaus auf den Westen hineingestoßen war. »Daß die kom-
munistische Gefahr bis zum Erscheinen der Amerikaner und Engländer 3
Erich SCHWINGE,
von Westeuropa abgewendet worden ist, ist allein dem deutschen Ruß- hilan^ Kriegsgene-
landkämpfer zu verdanken.« So urteilte mit Recht der angesehene Mar- ration, N. G, Elwert,
burger Strafrechtler Erich S C H W I N G E . 3 Marburg ,3 1987,
US-Präsident ROOSEVELT hat dagegen durch seine gewaltigen Material- S. 56.

ROOSEVELT ließ die US-

Truppen östlich der


Elbe stoppen, damit
die Sowjetrussen Ber-
lin einnehmen konn-
ten. Hier treffen der
Generalmajor Emil F.
R E I N H A R D T , Komman-

deur der 69. Division


der 1. US-Armee, und
der Kommandeur der
58. Division der 5.
sowjetischen Garde-
Armee am 25. April
1 9 4 5 bei Torgnu zu-
sammen.

439
lieferungen während des Zweiten Weltkrieges es überhaupt erst möglich
gemacht, daß die Bolschewisten den deutschen Angriff vor Moskau an-
halten und schließlich nach der deutschen Niederlage von Stalingrad zum
Vormarsch gegen den Westen antreten konnten. Er rechnete 1943 sogar
damit, daß die Sowjets ganz Europa einnehmen würden, und wollte das
zulassen, » R O O S E V E L T spielte zeitweise sogar mit dem Gedanken, den
Russen Europa zu überlassen. Am 3. September 1943 äußerte er zu Kar-
dinal S P E L L M A N , die europäische Bevölkerung müsse sich mit der sowjeti-
schen Herrschaft abfinden; er hoffe aber, der europäische Einfluß werde
" Erich SCHWINGE, die Russen dazu bringen, >weniger barbarisch zu werden«.«4
Churchill und Roose- Ebenso befahl ROOSEVELT, daß seine Truppen im April/Mai 1945 öst-
velt aus kontinentaleu- lich der Elbe, vor Prag und in Oberösterreich stoppen mußten, damit die
ropäischer Sicht, N. G.
Rote Armee Berlin, Wien und Prag einnehmen konnte. Das trug nicht
Elwert, Marburg
"1986, S. 91; Hein- nur zum Ruhm und Ansehen des bolschewistischen Regimes in der gan-
rich HARTLE, zen Welt bei, sondern gab auch gewaltige Trümpfe STALIN in die Hand.
»Kardinal Sp eil man ROOSEVELT hat ebenso - mit C H U R C H I L L - 1945 den Moskauer Kommu-
enthüllt«, in: nisten Osteuropa und Teile Mitteleuropas überlassen und damit beson-
Deutsche Wochen- ders Polen verraten. Wegen dessen Unabhängigkeit waren angeblich die
Zeitung, 13. 1. 1967. Kriegserklärungen Englands und Frankreichs an Deutschland vom 3.
September 1939 erfolgt, die den Krieg überhaupt erst zu einem Welt-
krieg ausgeweitet hatten.
ROOSEVELTS Nachfolger, US-Präsident HarryS. TRL;MAN, war dann sogar
so naiv, im Sommer 1945 seine Truppen von Böhmen über Thüringen
und Sachsen bis Mecklenburg aus den von ihnen eroberten Gebieten,
wo die Deutschen kaum noch Widerstand geleistet hatten, zurückzuzie-
hen und diese wichtigen Gebiete Mitteldeutschlands Wochen nach Kriegs-
ende der Roten Armee zu überlassen, obwohl schon erste Anzeichen des
dann folgenden Kalten Krieges auftauchten.
Der französische Marschall JUIN erklärte dazu bereits im August 1945
sorgenvoll: »Es ist ein wirkliches Unglück, daß die Engländer und Ame-
rikaner in Europa das einzige solide Land zerstört haben - ich meine
damit nicht Frankreich, Nun ist der Weg frei für das Vordringen des
5 Zitiert von russischen Kommunismus.« 5
SCHÜTZ, a a O . Auch C H U R C H I L L hatte 1945 erkannt, daß die WestaLliierten wohl kaum
(Anm. 2). einen Angriff Moskaus auf den Westen erfolgreich abwehren konnten,
6 Beitrag Nr. 598, und wollte bei einem Vorgehen der Sowjets die deutschen Gefangenen
»Churchill wollte wiederbewaffnen/' Noch am 12, Mai 1945 sandte er sehr besorgt ein
1945 mit den Telegramm an R O O S E V E L T , daß seit Auflösung der deutschen Streitkräfte
Deutschen gegen und übereilter Demobilisierung der westalliierten Truppen keine Macht
Stalin kämpfen«. mehr vorhanden sei, einen Vorstoß der Sowjets bis zur Nordsee und
7 SCHWINGE, a a O . zum Atlantik aufzuhalten.™ Zum Glück für die Westeuropäer hielt sich
(Anm. 3 ) , S . 56. STALIN jedoch mit einem Angriff zurück. Rolf Kosiek

440
Churchill wollte 1945 mit Deutschen
gegen Stalin kämpfen

ach 1945 behandelten die Briten ähnlich den anderen Alliierten


N die Deutschen als Verbrecher und urteilten viele deutsche Politiker
und Soldaten in Tribunalen ab. Dabei hatte es in den letzten Kriegsmo-
naten das Gerücht in deutschen Soldaten- und Gefangenen kreisen gege-
ben: »Nicht mehr lange würde es dauern, dann wurden Millionen deut-
scher Soldaten zusammen mit den Engländern und Amerikanern gegen
die Bolschewisten Front machen und sie zurücktreiben,« 1 1 Zitiert von Günter
Diese Parole wurde lange Jahre als phantastische Erfindung und deut- BÖDDEKER, »Chur-
sche Durchhaltepropaganda abgetan. Doch das trifft nicht zu: Es gab chills Geheimnis«,
einen tatsächlichen Kern für diese Hoffnung der sich im Frühjahr 1945 in: Welt am Sonntag,
6. 8. 1978.
verzweifelt wehrenden Deutschen.
Der US-Historiker Arthur SMITH von der Universität von Kalifornien
wies in seinem Buch Churchills deutsche Armee2 nach, daß Großbritanniens 2 Arthur SMITH,
Kriegsministerpräsident Winston CHURCHILL sich von 1943 bis 1945 mit Churchills deutsche
dem Gedanken trug, die deutsche Wehrmacht 1945 gegen die Sowjets Armee, Gustav
marschieren zu lassen. Zuerst habe C H U R C H I J J . a u f der Teheraner Kriegs- Lübbe, Bergisch
konferenz der Großen Drei im November 1943 die bolschewistische Gladbach 1978.
Gefahr für Europa erkannt. Wenige Wochen spä-
ter soll er in seinem Amtszimmer in Downing
Street 10 zu einer Besucherin gesagt haben: »Ich
habe in Teheran zum ersten Male erkannt, daß
wir ein sehr kleines Volk sind. Da saß ich, auf der
einen Seite flankiert von dem großen russischen
Bären mit ausgestreckten Tatzen und auf der an-
deren Seite vom großen amerikanischen Büffel.
Dazwischen saß der arme, kleine britische Esel,
der als einziger von den dreien den richtigen Weg
nach Hause erkannte.«
CHURCHILLS Sorgen waren berechtigt. Damals
stießen die Sowjets durch die zusammengebro-
chene deutsche Front schnell nach Westen vor,
und es schien durchaus möglich, daß die Rote
Armee vor dem Rhein kaum zu stoppen sei, den

Winsion CHURCHILL, gefolgt von US-Generalen


und Offizieren seines Stabes, überquert den Rhein
am 25. März 1945.

441
diese eher als die
Westalliierten errei-
chen würde, während
die Westmächte noch
die ungewisse Invasi-
on vorbereiteten. STA-
MMS Herrschaft über
ganz Europa rückte in
den Bereich des Mög-
lichen, und das beun-
ruhigte C H U R C H I L L
doch, da er wußte, daß
das Schicksal Europas
die Amerikaner kaum
interessierte.
So beschloß er, da-
für Vorsorge zu tref-
fen, daß seinem Bun-
desgenossen STALIN
weitere Eroberungen
in Europa über die in
Teheran vereinbarten
Zugewinne hinaus
CHURCHILL mit seinen verwehrt würden. Für diese kommende Auseinandersetzung kamen, wie
Generalen (v. I.) er zu Recht erkannte, nur die Millionen deutscher Soldaten in Frage, die
Guy Granville den Bolschewismus kannten und die nach CHURCHILLS Ansicht nicht zö-
S I M O N D S , Miles D E M P S P
gern würden, unter britischem Befehl gegen die Sowjets weiterzukämpfen.
und Bernard M O N T G O -
MERV im Juli 1 9 4 4 in
Doch für einen erfolgreichen Kampf müßten die deutschen Truppen
Caen. Zum damaligen gut ausgerüstet, diszipliniert und noch hierarchisch aufgebaut sein, was
Zeitpunkt wußte der bei entwaffneten Gefangenenmassen ohne Rangabzeichen und -Ordnung
britische Premier be- nicht mehr vorliege. Deshalb sandte der Premier dem bereits in Deutsch-
reits um die bolsche- land vorrückenden britischen Oberbefehlshaber, dem Feldmarschall
wistische Gefahr für
M O N T G O M E R Y , ein Telegramm, das zwar - bezeichnenderweise - nicht
Europa.
mehr im Archiv des britischen Verteidigungsministeriums ist,3 über das
aber von C H U R C H I L L später selbst Auskunft gegeben wurde: »Noch vor
Kriegsende, während die Deutschen bereits zu Hunderttausenden kapi-
tulierten und bei uns die Menge jubelnd durch die Straßen zog, telegra-
phierte ich an Lord M O N T G O M E R Y und wies ihn an, dafür zu sorgen, daß
die deutschen Waffen gesammelt würden, damit man sie ohne weiteres
wieder an die deutschen Soldaten ausgeben könnte - mit denen wir wür-
3 BÖDDEKER, a a O . den zusammenarbeiten müssen -, wenn die Sowjets ihren Vormarsch
(Anm. 1). fortsetzen.«3

442
Tatsächlich hielten sich die Briten nicht an die Absprachen zwischen
den Alliierten, nur eine gesamte bedingungslose Kapitulation entgegen-
zunehmen, sondern schlossen bereits Anfang Mai Teilkapitulationen für
Norddeutschland und Skandinavien ab und nahmen viele vor den Bol-
schewisten nach Westen sich durchschlagende Einheiten der Wehrmacht
gefangen, ohne die meisten von ihnen — im Gegensatz zu den Amerika-
nern - dann den Sowjets auszuliefern. Insgesamt ergaben sich rund zwei
Millionen deutsche Soldaten mit ihren Waffen vor den Briten. Darüber
beschwerte sich STALIN ausdrücklich bei ROOSFVEL.T in einem zornigen
Brief, in dem er feststellte, daß die Deutschen an der Ostfront um jeden
Quadratmeter Boden kämpften, während sie im Westen große Städte
kampflos den Westalliierten übergäben: »Geben Sie nicht zu, daß dieses
Verhalten der Deutschen mehr als eigenartig und unverständlich ist?«3
Und er forderte die Briten auf, die deutschen Truppen zu zwingen, sich
den Sowjets zu ergeben.
Doch M O N T G O M E R Y hörte nicht darauf, bewahrte auf C H U R C H I L L S
Anordnung auch noch nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht
am 8,/9. Mai 1945 zunächst die Kommandostruktur der deutschen Ein-
heiten und ließ es teilweise zu, daß die deutschen Offiziere und Mann-
schaften ihre Waffen behielten. Gleichzeitig wurde die neue Regierung
unter Großadmiral D Ö N I T Z in Flensburg-Mürwik anerkannt, bis sie am
23. Mai 1945 auf Drängen der Russen dann doch verhaftet wurde.
Selbst anschließend war Churchill noch zu einem gemeinsamen Waf-
fengang mit den Deutschen gegen Moskau bereit. Am 27. Mai 1945 er-
klärte er gegenüber einem seiner Generale: »Ich wünsche nicht, mit lee-
ren Händen dazustehen, während große russische Kräfte nach Belieben
in Europa schalten und walten können. Das gilt in noch höherem Maße
für die Luftwaffe, die, falls die Russen die vereinbarten Linien überschrei-
ten sollten, gegen deren Nachschubwege vorzugehen hätte.« Wenige Tage
später schrieb C H U R C H I L L ebenso deutlich an seinen Außenminister: »So-
bald die Bolschewisten glauben, daß wir sie fürchten, werden sie alles
tun, was ihre Laune und Grausamkeit ihnen eingibt.«3 Mit dieser Beurtei-
lung hatte er wohl recht.
Da sich dann aber die Sowjets - vielleicht auch in Kenntnis der engli-
schen Absichten — an die alliierten Vereinbarungen hielten und an den
abgesprochenen Grenzen in Europa Halt machten, kam es nicht zur
Verwirklichung von CHURCHILLS vorsorglicher Planung. Die Briten brauch-
ten dann die deutschen Soldaten nicht mehr, die anschließend abgerüstet
und vielfach auch von Engländern abgeurteilt wurden. Der Mohr hatte
seine Schuldigkeit getan. Rolf Kosiek

443
Worte Winston S. Churchills

er britische Kriegspremierminister Winston S. CHURCHILL war we-


D sentlich dafür verantwortlich, daß sich der deutsch-polnische Kon-
flikt von 1939 zum Zweiten Weltkrieg ausweitete. Er vertrat die engli-
sche Kriegserklärung an Deutschland vom 3. September 1939, wie auch
im Ersten Weltkrieg Großbritannien, ohne von Deutschland bedroht zu
sein, dem Reich den Krieg erklärt hatte. Er lehnte alle deutschen Frie-
densangebote ab. Er arbeitete seit langem auf einen Krieg gegen Deutsch-
land hin. Einige seiner bezeichnenden Erklärungen sind die folgenden:
Im Februar 1 9 1 5 erklärte CHURCHILL in einem Interview mit dem Matin
in Paris: »Ich werde Deutschland an der Kehle würgen, bis sein Herz
aussetzt. Wir werden die Umschnürung nicht eher lockern, bis es sich
auf Gnade und Ungnade ergeben hat.«1

Im September 1 9 3 4 meinte C H U R C H I L L gegenüber dem früheren deut-


schen Reichskanzler B R Ü N I N G : »Deutschland muß wieder besiegt wer-
den, und dieses Mal endgültig. Sonst werden Frankreich und England
keinen Frieden haben.« 2
CHURCHILL im Jahre
1 8 9 9 als Kriegskorre-
spondent wahrend Im November 1936 erklärteb Winston S. CHURCHILL gegenüber dem US-
des Burenkrieges in General Robert E. WOOD: »Deutschland wird zu stark, wir müssen es
Südafrika. zerschlagen.« 3

Ende Februar 1 9 3 7 erklärte CHURCHILL seinem Tischnachbarn Carl Ja-


cob BURCKHARDT, dem Völkerbundkommissar für Danzig, in London,
»Deutschland werde wieder zu stark, den Deutschen imponiere nur die
Kraft; wenn es zu einer Auseinandersetzung komme, würden die maßlo-
sen Übergriffe des Nationalsozialismus England zu einem starken Alli-
anzsystem verhelfen,« 4

Im Herbst 1937 erklärte CHURCHILL dem deutschen Botschafter in Lon-

1 Zitiert von Alexander RACKER, »>Ich werde Deutschland an der Kehle würgen,
bis sein Herz aussetzt«, Teil II, in: National-Zeitung, 26. 2. 1965.
2 Dietrich AIGNER, Winston Churchill. Ruhm und hegende, Musterschmidt, Göttin-

gen 1975, S. 103.


5 Peter H. NICOLL, Englands Krieg gegen Deutschland, Verlag der Deutschen Hoch-

schullehrer-Zeitung, Tübingen 1963, S. 82.


4 Carl Jacob BURCKHARDT, Meine Danziger Mission, Georg D. W. Callwey, Mün-

chen 1960, S. 70.

444
don, Joachim VON RIBBENTROP: »Wenn Deutschland zu stark wird, wird
es wieder zerschlagen.« Auf dessen Erwiderung, daß Deutschland nun
viele Freunde habe, entgegnete CHURCHILL: » O , wir bringen es ganz gut

fertig, eure Freunde schließlich doch noch zu uns herüberzuziehen.«'



»Schon im August 1938 hatte er ( C H U R C H I L L ) Heinrich B R Ü N I N G gegen-
über erklärt: >Was wir wollen, ist die restlose Vernichtung der deutschen
Wirtschaft.*«6
V

Dem amerikanischen Finanzier Bernard B A R U C H gegenüber erklärte C H U R -


CHLLI. im September 1938: »Der Krieg kommt sehr b a l d . . . Wir werden
in ihm sein, und Ihr werdet in ihm sein. Du wirst die Dinge drüben
erledigen, und ich werde hier in Reserve stehen,«"

CHURCHILL bestätigte am 21. Juni 1939 im Paris Sotr. »Es liegt ein gut
Stück Wahrheit in den Vorwürfen in bezug auf die gegen die Achsen-
mächte gerichtete Einkreisung, Es ist gegenwärtig nicht mehr nötig, die
Wahrheit zu verbergen.« 8

Kurz nach Kriegsbeginn erklärte C H U R C H I L L in einer Rundfunkanspra-


che an das englische Volk: »Dieser Krieg ist ein englischer Krieg, und
CHURCHILL 1 9 3 9 bei
sein Ziel ist die Vernichtung Deutschlands,« 9 der Arbeit w ä h r e n d
einer Zugfahrt.
CHURCHILL beauftragte im Juli 1 9 4 0 den Labour-Führer und Leiter der
Special Operation Executive (SOE), Hugh D A L T O N , mit der Aufgabe
»Ablaze Europe« (setzt Europa in Flammen), Damit sollten alle Maß-
nahmen vereint werden, »die sich auf die Subversion und Sabotage ge-
gen den Feind in Übersee« bezogen, insbesondere sollte der mörderische
Partisanenkrieg eingeleitet werden, 10

s Joachim VON RIBBENTROP, Zwischen London und Moskau, Druffel, Leoni 1952,
S. 97; Annelies VON RIBBENTROP, Verschwörung gegen den Frieden, Druffel, Leoni
1962, S. 27.
FI AIGNER, a a O . ( A n m , 2 ) , S . 1 4 1 .
" Zitiert in: Dirk BAVEN DAM, Roosevelts Weg zum Krieg, Herbig, München 1983, S.
364.
H Bolko Freiherr VON RICHTHOEEN, Kriegsschuld 1939/41, 1968, S. 1; Alexander
Racker, »>Ich werde Deutschland an der Kehle würgen, bis sein Herz ausssetzt<«
Teil III, in: National-Zeitung, 12. 3. 1965.
* Zitiert in: Hans GRIMM, Warum- Woher- Aber wohin?, Klosterhaus, Lippolds-
berg S1979, S. 350.
10 Georg FRANZ-WILLI NC,, Umerziehung, Nation Europa, Coburg 1 9 9 1 , S . 5 0 .

445
Am 2 7 , April 1941 erklärte C H U R C H I L L in einer Rede: »Es gibt weniger als
70 Millionen bösartiger Hunnen — einige davon sind zu heilen, die ande-
11 FRANZ-Wmjng, ren umzubringen.« 1 '
ebenda, S, 189 f.
Am Abend des 2 2 . Juni 1941, nach Beginn des Ostfeldzuges, erklärte C H U R -
CHILL in einer Rundfunkrede an die Engländer: »Wir haben nur ein Ziel,
eine einzige unwiderrufliche Aufgabe. Wir sind entschlossen, H m a und
jede Spur des Naziregimes zu vertilgen. Davon wird uns nichts abbringen
- nichts. Wir werden uns nie auf ein Gespräch mit ihm einlassen, nie mit
ihm oder einem aus seiner Bande verhandeln. Wir werden ihn bekämpfen
12 Winston CHUR-
CHILL, Der Zweite zu Land, wir werden ihn bekämpfen zur See, und wir werden ihn in der
Weltkrieg,}. P. Toth, Luft bekämpfen, bis wir mit Gottes Hilfe die Welt von diesem Scheusal
Bd. 3, Hamburg befreit und sein Joch von den Schultern der Völker genommen haben,«12
1949, S. 443.
CHURCHILL erklärte am 11. Dezember 1941, daß er den Deutschen »eine
Lektion erteilen wolle, die auch in tausend Jahren nicht vergessen sein wird«.13
,3 AIGNER, a a O .
(Anm. 2), S. 140. Am 11. Februar 1943 meinte C H U R C H I L L , daß der Friede mit Deutsch-
land »hart und unerbittlich« sein werde.14
14 Ebenda, S. 140 f.
Zu den Prinzipien der englischen und seiner Politik bekannte CHURCHILL:
»Über 400 Jahre ist es das Ziel der Außenpolitik Englands gewesen, sich
der stärksten, aggressivsten, vorherrschenden Macht auf dem Kontinent
entgegenzustellen. . . Die Frage ist nicht, ob es Spanien oder die franzo-

»What price Chur-


chill?« Die Frage be-
antwortete C H U R C H I L L
am 10. Mai 1 9 4 0 mit
seinem berühmten
Ausspruch: »Ich habe
nichts zu bieten au-
ßer Blut, Mühsal,
Schweiß und Trä-
nen.« Aus: David IR-
VING, Churchill.
Kampf um die Macht,
Herbig, Mün-
chen 1990.

446
sische Monarchie oder das französische Kaiserreich oder das deutsche
Kaiserreich oder das Hitlerregime war. Es hat nichts zu tun mit Herr-
schern oder Nationen, sondern es richtet sich einfach danach, wer je-
weils der stärkste oder möglicherweise der beherrschende. . . ist.«15 15 CHURCHILL, a a ü .
(Anm. 12), S. 257 f.
In seinem Buch Grand Alliance schrieb CHURCHILL: »Ich habe nur ein ein-
ziges Ziel, das ist die Vernichtung H I T L E R S , und mein Leben wird da-
durch sehr vereinfacht.« 16 16 Zitiert in: Emrys
• HUGHES, Churchill.
CHURCHILL erklärte am 21. September 1943 im Unterhaus. »Es gibt kein Ein Mann in seinem
Ausmaß des Schreckens, dessen wir uns nicht bedienen werden, um die Widerspruch, Arndt,
Ausrottung der Nazi-Tyrannei zu erreichen.« 1 Kiel 1986, S. 140.
17 HUGHES, ebenda,

Bei der Diskussion mit R O O S E V E L T und M O R G E N T H A U über den M O R G E N - S. 140.
TH AU-PI an am 13. September 1944 in Quebec sagte C H U R C H I L L : »Was
getan werden muß, soll jedenfalls schnell getan werden. Hängt die Ver-
brecher auf, aber schleppt die Angelegenheit nicht über Jahre hin.« Nach-
dem er erst gegen den MORGENTHAU-Plan gewesen war, wurde C H U R -
CHILL von Lord CHERWELL. bearbeitet, der ihm erklärte, »der Plan würde
durch die Ausschaltung eines gefährlichen Konkurrenten England vor dem
Bankrott retten«. Daraufhin änderte der Kriegspremier seine Meinung über
den Plan und sagte dann: »Warum sollte er nicht durchführbar sein?. ., Ich
habe kein Verständnis für Leute, die immer Schwierigkeiten machen.«18 18 Lord MORAN,
• »Churchill«. Aus dem
Interessante Urteile über CHURCHILL sind: Tagebuch seines
Leibarztes Lord
>»Je näher der Krieg rückt, desto besser steht es um Winstons Chancen - Moran, Droemer
und umgekehrt«, notierte sich Neville CHAMBERLAIN im Sommer 1939 in Knaur, München
sein Tagebuch, und als am 3. September der Krieg erklärt war, bestand 1967, S. 199 f.; Der
Einigkeit zwischen zwei so verschiedenen Männern wie David L L O Y D Spiegel, Nr. 52,18.
G E O R G E und Stanley B A L D W I N , daß >Winston seinen Krieg bekommen« 12. 1967, S. 74.
habe und daß dies >Winstons Krieg« sei.«19 1 9 AIGNER, a a O .

(Anm. 2) , S. 122.
CHURCHILL vertrat den Gedanken, durch den Partisanenkrieg eine »euro-
päische Revolution« zu entfesseln. »Die Ausführung übertrug er dem
Labour-Führer Hugh D A L T O N , dem er am 16. Juli 1940 die Weisung er-
teilte, >Europa in Brand zu stecken«. D A L T O N sah in dieser Aufforderung
einen Freibrief, durch provokativen Terror die Eskalation des Schreckens
in Gang zu setzen und in ganz Europa »Anarchie und Chaos zu säen«.«20 20 Ebenda, S. 138.

»CHURCHILL hat den Sinn dieses Krieges nie in etwas anderem gesehen
als in der Vernichtung H I T L E R S und in der Brechung der deutschen Macht- 21 Ebenda, S. 140.
stellung in Europa.«21

447
C H U R C H I L L am Ziel

seiner Wünsche? Der


britische Premier
beim Besuch der zer-
störten Reichskanzlei
während der Pots-
damer Konferenz,

22 Hut; H EIS, aaO,


(Anm. 16), S. 298.
23 Albert Coady

WEDEMEYER, Der »Die Ansicht, daß Winston C H U R C H I L L ein großer Staatsmann mit pro-
verwaltete Krieg, phetischen Gaben sei, ein Mann, dessen Unfehlbarkeit in Epochen voll
Mohn, Gütersloh internationaler Konflikte blind akzeptiert werden müsse, kann heutzuta-
1958, S. 109 ff. ge nicht mehr mit Erfolg aufrechterhalten werden und ist aufs schärfste
zu bekämpfen. Diese in die Irre führende Einschätzung CHURCHILLS ist
zu einem großen Maße auf seine eigenen zahlreichen Schriften, seine
Fähigkeit zu tönender Rhetorik und auf die Tatsache zurückzuführen,
daß seine Politik im Zweiten Weltkrieg mächtigen Kräften in den USA,
der Sowjetunion und anderen Teilen der Welt gute Dienste erwies. Sie
vermehrten die Wertschätzung CHURCHILLS, weil sie ihn als bedeutend-
sten Sprecher für ihre Sache ansahen.« 22

Der US-General Albert Coady W E D E M E Y E R kritisierte in seinen Erinne-


rungen CHURCHILL scharf: » C H U R C H I L L zeigte sich als unzureichender Stra-
tege, als er auf die Frage: >Was ist Ihr Ziel?< am 13. Mai 1940 dem Unter-
haus antwortete: >Ich kann mit einem Wort antworten: Sieg - Sieg um
CHURCHILL, Ölporträt jeden Preis.<.. . Churchills beredsame Ansprachen waren für die Ermu-
von Douglas C H A N O - tigung seiner Anhänger nützlich, aber sein Mangel an klar umrissenen
O R T S , abgebildet in:

David IRVING,
Zielen, außer: >die Deutschen töten< und >totaler Sieg um jeden Preis<,
Schlachtführer gegen war unglaublich oberflächlich und im Grunde tragisch. . . Er führte Krieg
das Reich, Arndt, Kiel wie ein Indianerhäuptling aus Arizona, der darauf erpicht ist, möglichst
2007. (Ausschnitt) viele feindliche Skalpe zu erbeuten.« 23 Rolf Kosiek

448
Zu Landes- und Hochverrat

ie Geschichtsentstellung und -Verfälschung - insbesondere in den


D Massenmedien und in Äußerungen deutscher Politiker — hat inzwi-
schen in der Bundesrepublik Ausmaße angenommen, die beispiellos in
der Geschichtsdarstellung sind. Solches gilt vor allem für die Ereignisse
während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das läßt sich auch am
Beispiel des sogenannten Widerstandes< gegen das NS-Regime und ge-
gen Hitler nachweisen, besonders am Putsch des 20. Juli 1944, und er-
fordert deswegen eine Richtigstellung.
Um die Verbrechen deutscher Landesverräter, Saboteure, Meuterer und
Wehrkraftzersetzer rechtfertigen zu können, heißt es in heutigen Reden
und Schriften dazu, daß man gegenüber dem >NS-Unrechtsstaat< trotz
seines abgeleisteten Eides nicht zur Treue verpflichtet gewesen sei.
Zunächst einmal muß klargestellt werden, daß man zwischen verschie-
denen Formen des Widerstands unterscheiden muß. Richtet sich eine
Verschwörung oder ein Putsch gegen eine Regierung, handelt es sich um
Hochverrat. Die Beseitigung eines Tyrannen oder Diktators galt in der
Geschichte nicht als unehrenhaft oder wurde sogar als verdienstvoll an-
gesehen. Angesichts der Tatsache, daß das NS-Regime eine Diktatur dar-
stellte, war es keineswegs unehrenhaft, wenn man sie innerlich ablehnte.
Ein offener Widerstand war allerdings in der NS-Zeit angesichts der über-
legenen Staatsmacht praktisch unmöglich. Tatsächlich fand alles, was heute

Bischof August VON


GALEN äußerte sich im
Dritten Reich vielfach
kritisch. Hier wird er
von den Bischöfen
B E R N I N G aus Osna-

brück (links) und BOR-


N E W A S S E R aus Trier am

21. Oktober 1933


vom bischöflichen
Palais zur Bischofs-
weihe im Münsterer
Dom begleitet.

449
als »Widerstand« bezeichnet wird, im Verborgenen statt. Wer sich aus der
Deckung wagte, fand sich bald in einem Konzentrationslager wieder oder
wurde, wie die Geschwister S C H O L L , zum Tode verurteilt und hingerich-
tet. Nur hochrangige Geistliche wie der Bischof August VON G A L E N konn-
ten es wagen, öffentlich aufzubegehren. Nicht wenige Priester und Pfar-
rer haben zum Beispiel in Treue ihrem Glauben und in der Verantwortung
den Gläubigen gegenüber öffentlich gegen das Regime Stellung bezogen
und dafür KL-Haft oder gar die Hinrichtung riskiert. Diesen echten Mär-
tyrern des Glaubens und des Gewissens stehen jene vielen anderen ge-
genüber, die sich dabei des Landesverrates schuldig gemacht haben, in-
dem sie Staats- oder Militärgeheimnisse an ausländische Stehen, auch an
Feinde des Reiches, verrieten. Nur von diesen soll im folgenden die Rede
sein, von denen, die, soweit sie überlebten, nach 1945 Dutzende von
Büchern veröffentlicht haben, in denen sie sich ihres Landesverrates rühm-
ten, was ihnen dann oft mit Geld und Karrieren vergütet wurde.
Der erste Präsident des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe, Hermann
W E I N K A U F F , hat in seinem juristisch begründeten Gutachten vom Jahre
1956 das damals aufkommende Zerrbild vom»Unrechtsstaat« zurückge-
wiesen, indem er, wie jedem Staat der Welt, so auch dem NS-Staat »grund-
sätzlich das Recht zubilligte, sich durch Strafandrohungen gegen gewalt-
same Angriffe auf seinen inneren und äußeren Bestand zu schützen«.
Man muß deswegen zwischen Hoch- und Landesverrat streng unterschei-
den. Heute werden oft die Grenzen zwischen Hoch- und Landesverrat
verwischt. Man bezeichnet unterschiedslos alle, die sich als Gegner HIT-
LERS und des NS-Regimes bekannten (viele erst nachträglich), als »Wider-
ständler«. Aber zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt galt und gilt
Landesverrat als ein Verbrechen gegenüber Volk und Vaterland und wurde
und wird als solches streng bestraft. Das gilt auch allgemein für die Bun-
desrepublik Deutschland nach dem heute geltenden Strafrecht. Ledig-
lich in Deutschland und Österreich konnten und können Landesverräter
und Saboteure aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sich als die »besseren
Deutschen« darstellen und damit ihre Verratshandlungen rechtfertigen.
Nur hierzulande werden sie als Helden oder Märtyrer geehrt, werden
Straßen, Schulen nach ihnen benannt, während man alles tilgte, was an
ehrenwerte deutsche Soldaten der Wehrmacht erinnerte, die ihr Leben
für das Vaterland eingesetzt hatten.
Im Ausland ist das anders. Lord Haw-Haw (Spitzname des aus Eng-
land stammenden Rundfunksprechers im Reichsrund funk William J O Y C E ) ,
der im Zweiten Weltkrieg für die Deutschen (nur!) als Rundfunksprecher
gearbeitet hatte, wurde von den Briten nach dem Krieg gehängt. Im bri-
tischen Sefton-DELMER-Kriegspropagandafunk gegen Deutschland des
BBC arbeiteten während des Krieges Dutzende Deutsche, unter anderen

450
Otto J O H N und Sebastian H A F F N E R (geboren als Reimund PRETZELL), die
im Gegensatz dazu nach dem Krieg nicht bestraft wurden, sondern mit
Ehren und Posten überhäuft und belohnt wurden.
Schon Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg hatten HITLER--Gegner gegen
die eigene Staatsführung konspiriert und einen Putsch geplant. Als das
mißlang, überschritten viele von ihnen bedenkenlos die Schwelle vom
Hoch- zum Landesverrat, wobei sie sogar so weit gingen, die Anglo-
Amerikaner zum Krieg gegen das Reich zu drängen. Dabei waren sie so
naiv zu glauben, die Gegner wollten lediglich bei der Beseitigung H I T L E R S
helfen. Daß die Briten das Deutsche Reich für immer zerstören wollten,
kam ihnen wohl nicht in den Sinn. Zu diesen Akteuren gehörten vor
allen Generaloberst Ludwig B E C K als militärischer und Carl G O E R D E L E R
als ziviler Anführer. Ohne diese beiden sowie ohne C A N A R I S , VON W E I Z -
SÄCKER und einige andere wäre es kaum zum versuchten Staatsstreich des
20. Juli gekommen. Denn dieser war teilweise nicht die verzweifelte Kon-
sequenz patriotischer Offiziere aus der militärischen und politischen Lage
oder dem Wissen von Kriegsverbrechen, sondern eher der zuvor immer
wieder verschobene Höhepunkt eines jahrelangen Landesverrats, der unter
anderem teilweise auch ursächlich für den Kriegsausbruch war, da den
Feinden Deutschlands kurz vor dem Zweiten Weltkrieg bei Kriegsbe-
ginn ein schneller Umsturz versprochen wurde, der sie zum Krieg mit
veranlaßte.
Übrigens war auch der heute nur als Hochverräter vorgestellte Graf
VON S T A U F F E N B E R G bereits 1940 in Landesverrat verstrickt, als er zum
Beispiel an konspirativen Treffs in Paris unmittelbar nach dem siegrei- ' Karl B A L Z E R ,
chen Westfeldzug teilnahm. 1 Hinzu kommt, daß S T A U F E N B E R G und Mit- Verschwörung gegen
verschwörer unmittelbar nach einem erfolgreichen Putsch das Deutsche Deutschland, K. W
Reich sofort den West alliierten und den Sowjets bedingungslos auslie- Schütz, Preußisch
fern wollten. Oldendorf 1978, S.
Ein rigoroses Bekenntnis deutscher Historiker und Politiker zur unge- 253, mit Bezug auf
schminkten Wahrheit hätte zur Folge, was die umerzogenen, vom politi- Anthony Cave
schen Willen der Sieger gegängelten Deutschen verlernt haben: eine Ver- BROWN, Die unsicht-
söhnung mit der eigenen Geschichte und die Durchsetzung einer echten bare Front, Kurt
Desch, München
Souveränität. Das bedeutete eine Abkehr von ritualisierter >Vergangen-
1976, S. 197.
heitsbewältigung<, von der heutigen >staatstragenden Tradition<, die sich 2 So formulierte es
so stark auf den sogenannten Widerstand« gegen H I T L E R beruft. die Frankfurter
Deutschland dürfte das einzige Land in der Welt sein, das eine der Allgemeine Zeitung
umstrittensten Verratshandlungen seiner Geschichte jährlich zum Anlaß noch am 19. Juni
eines feierlichen Gelöbnisses seiner Soldaten nimmt. Jeweils am 20. Juli 2007 auf der
findet in der BRD eine Gelöbnisveranstaltung zum Gedenken an den Titelseite. Einsprü-
angeblich von den Nationalsozialisten erschossenen Claus VON S T A U F - che dagegen beach-
PENBERG statt.- In Wirklichkeit wurden Oberst Claus Schenk VON S T A U F -
tete sie nicht.

451
FENBERG und sein Helfer, der General der Infanterie Friedrich O l B R I C H T ,
nicht durch die >Nazis< ermordet, sondern auf Befehl ihres Mitverschwö-
rers Generaloberst Fritz F R O M M am Abend des 2 0 . Juli 1944 ohne militä-
rische Gerichtsbarkeit eiligst liquidiert, um Zeugen für FROMMS eigene
Beteiligung am Putsch zu beseitigen. Generaloberst I .udwig B E C K wurde
von Mitverschwörern gezwungen, sich selbst zu erschießen, was aber
diesem nicht gelang, worauf er von diesen einen >Gnadenschuß< erhielt.
Weitere gefährliche Zeugen waren ebenfalls auf Befehl F R O M M S verhaf-
tet worden und sollten liquidiert werden. Doch in der Nacht nach dem
2 0 . Juli trafen SS-Hauptsturmführer Dipl.-Ing. Otto SKORZENY mit SS-
Einheiten und der Chef des SS-Sicherheitshauptamtes, Dr. Ernst K A L T E N -
BRUNNER, im Berliner Bendlerblock, der vorbereiteten Zentrale der Put-
schisten, ein. Sie verboten jede weitere Erschießung und ordneten
Verhaftungen an. Es gelang F R O M M deshalb nicht, seine Mitverschwö-
rung durch Erschießen aller Mitwisser zu verwischen. Im April 1945 wurde
auch er wegen erwiesenen Landes- und Hochverrats hingerichtet.
Im schweren Abwehrkampf Deutschlands waren die Putschisten und
ihre in höchsten Staatsämtern und Vertrauensstellungen befindlichen
Hintermänner der kämpfenden Truppe in den Rücken gefallen und hat-
ten damit ihr Land auch an STALINS Rote Armee verraten - angeblich,
weil sie H I T L E R S Krieg beenden und Deutschland retten wollten. Dabei
waren viele selbst maßgeblich am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges be-
teiligt gewesen, sie hatten die Briten in verantwortungsloser Weise 1939
zu militärischen Handlungen gegen das Reich gedrängt und versprochen,
H I T L E R im Falle eines Kriegsausbruchs sofort zu stürzen.
Damit aber haben sie der von der anglo-amerikanischen Kriegspartei
befürworteten Kriegsstrategie gegen Deutschland mit zum Durchbruch
verhelfen. Das muß als Verbrechen gegen das eigene Volk und gegen
den Frieden in der Weit angesehen werden. Von den deutschen Landes-
verrätern (und den USA) gedrängt, hatten die Briten mit ihrer bedin-
gungslosen Polen-Garantie eine provokante Politik betrieben, die War-
schau in den Krieg gegen Deutschland bringen sollte. Die Putschisten
waren durch ihre Verbindungsmänner zu den Alliierten nach Kriegsaus-
bruch auch voll darüber informiert, daß die Westmächte auch nach ei-
nem erfolgreichen Putsch nur die bedingungslose Kapitulation Deutsch-
lands angenommen hätten.
Daß sie dazu bereit waren, zeigt die Tatsache, daß sie dem amerikani-
schen Geheimdienstbeauftragten des OSS im Juli 1944 durch GlSevius
alle Einzelheiten eines Planes zur Ermordung H I T L E R S mitteilten und
sich bereit erklärten, sich den russischen ebenso wie den amerikanischen
und britischen Streitkräften bedingungslos zu ergeben, sobald HlTlER
tot sei. Das aber hätte mit Sicherheit ein fürchterliches Chaos und einen

452
entsetzlichen Bürgerkrieg in Deutschland zur Folge gehabt, was aller-
dings im Sinne der britischen Kriegführung gewesen wäre.
1 9 6 3 schrieb der schottische Referend Peter H . N I C O L L : »Auf der an-
deren Seite bedeutete es für Deutschland eine gewaltige Herausforde-
rung, zu erkennen, daß, während es bis zum letzten Atemzug buchstäb-
lich um seine Existenz kämpfte, zahlreiche umstürzlerische Kräfte am
Werk waren, um es von innen zu vernichten. Man kann die äußerste
Härte, mit der gegen diese Umstürzler verfahren wurde, verstehen. Auch
kann niemand daran zweifeln, daß sie in England ebenso übel gefahren
wären, wenn wir es unter ähnlichen extremen Verhältnissen mit ihnen
hätten aufnehmen müssen.« 3
1940, als noch viele Tausende von Engländern den Krieg offen ab-
lehnten, wurden diese britischen Kriegsgegner — oft für Jahre — nach der
als »18 B« bekannten Verordnung in Großbritannien in Konzentrations-
lager oder in Gefängnisse gebracht:
»Dieses Gesetz bestimmte, daß die britische Regierung alle Personen
ergreifen und inhaftieren konnte, ohne formelle Anklage und auf den
bloßen Verdacht hin, daß sie mit Deutschland sympathisierten oder sich
gegen den Krieg auflehnten. Auf Grund dieses tyrannischen Gesetzes
wurden viele prominente wie auch obskure Persönlichkeiten ins Gefäng-
nis geworfen.« 4
Im britischen Unterhaus kommentierte der Kriegspremierminister
Winston C H U R C H I L L am 2 . August 1 9 4 4 den gescheiterten Putsch mit
folgenden Worten: »Nicht nur die einst stolzen Armeen werden an allen
Fronten zurückgedrängt, sondern auch in der Heimat haben sich gewal-
tige Ereignisse zugetragen, die das Vertrauen des Volkes und die Treue
der Truppen in ihren Grundfesten erschüttern müssen. Die höchsten
Persönlichkeiten im Deutschen Reich morden einander und versuchen
dieses, während die von Rache erfüllten Armeen der Alliierten ihren Ring
immer enger schließen. Diese Vorgänge in Deutschland sind Kundge-
bungen einer inneren Erkrankung. So entscheidend sie sein mögen, wir
dürfen unser Vertrauen nicht in sie, sondern in unseren eigenen starken
Arm und die Gerechtigkeit unserer Sache setzen.«5
Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich die juristische Beurtei-
lung sozialistischer, kommunistischer und bürgerlicher Widerstandsgrup-

1 Peter H. NICOLL, Englands Krieg gegen Deutschland, Graben, Tübingen 2 T 9 9 9 .


4 Ebenda, S. 207: Colin CROSS, The Fascists in Britain, London 1961, bester Be-
richt über politische Verfolgung in England unter der Diktatur CHURCHILLS. Er
betont zwar in erster Linie die Verfolgung der britischen Faschisten durch C H U R -
CHILL, gibt aber einen guten Einblick in die Verfolgungen überhaupt.
5 Karl BALZER, Der 20. Juli und der Landesverrat, K . W . Schütz, Göttingen 1 9 7 1 .

453
iv/i J -. i i \R
pen und der Emigranten, die mit Landesverrat gegen Deutschland gear-
beitet und den Landesfeinden gedient hatten. Die Gültigkeit dieser stren-
gen Gesetz- und Rechtmäßigkeit muß in einem Staat wie dem Rechts-
staat Bundesrepublik Deutschland eigentlich gelten. Im Nürnberger
Prozeß hatte der Verteidiger von Hjalmar S C H A C H T in bezug auf den
Landesverräter G I S E V I U S erklärt: »Patriotismus bedeutet Treue gegen Va-
terland und Volk und Feindschaft bis aufs Messer gegen jeden, welcher
verbrecherisch das Vaterland und das eigene Volk ins Elend und Verder-
ben fuhrt. Ein solcher Führer ist ein Feind des Vaterlandes, in seiner
Wirkung vielfach gefährlicher als der Kriegsgegner. Gegen eine solche
verbrecherische Staatsführung ist jedes, aber auch jedes Mittel recht..,
Hochverrat gegen eine solche Staatsführung ist wahrer und echter Pa-
6 Internationales
triotismus und als solcher höchst moralisch, auch im Kriege.«6
Militär-Tribunal Wenn aber nun diejenigen, denen jedes Mittel — auch der Landesverrat
(Hg.), Nürnberg
— recht ist, diese auch dann anwenden (wollen), »wenn das ganze Volk
1947, Bd. XVIII S.
315, Dr. Dix, 15. 7. zugrunde geht« (Dietrich B O N H O E F F E R ) und »ganz Deutschland verwü-
1946. stet wird« (Karl B A R T H ) , dann ist dieses Vorhaben kein Patriotismus mehr,
sondern eher ein Verbrechen am eigenen Volk.
Beim Widerstand des 20. Juli kommt noch hinzu, daß mindestens ein
Teil der Verschwörer wußte, daß sie mit ihrem Verrat einem Feind hal-
fen, der beabsichtigte, das zu stark gewordene Deutsche Reich endgültig
zu zerstören.
Nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 und dem Ende der Be-
satzungsherrschaft verboten die Westalliierten im Überleitungsvertrag von
1952 die Bestrafung jener, die vor oder während des Krieges Handlun-
gen zugunsten des Feindes und zum Schaden Deutschlands zu verant-
worten hatten. Diese ließen sich sogar als Widerstandshelden oder gar
als Märtyrer feiern. Wer überlebt hatte, konnte sich deshalb einer siche-
ren Karriere oder gar einer hohen Entschädigung gewiß sein, erst recht,
wenn er sich den Siegern als »Umerzieher zur Verfügung stellte. Wer
dazu noch die Kollektivschuld der Deutschen, deren alleinige Schuld am
Ausbruch des Krieges und andere Geschichtslügen, nachbetete, dem
wurden sogar Lizenzen für Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage, Sen-
der bevorzugt gegeben, was praktisch auch die Lizenz zum Gelddrucken
bedeutete. Aus diesem Grunde erstaunt es dann keineswegs mehr, daß
viele dieser >Widerständler< sich ihrer Untaten rühmten. Von solchen
Schriften sei an dieser Stelle eine kleine Auswahl gebracht:
• BITTF.NFF.I,D, Hans Herwarth von, Zwischen Hitler und Stalin. Erlebte
Zeitgeschichte 1931-1945, Frankfurt-Beriin-Wien 1982
• G I S E V I U S , Hans Bernd, Bis zum bitteren Ende, Zürich 1 9 4 6
• K O R D T , Erich, Nicht aus den Akten, Stuttgart 1 9 5 0
• M Ü L L E R , Josef, Bis zur letzten Konsequenz München 1975

454
• SCHACHT, Hjalmar, 76 Jahre meines Lebens, Bad Wörishofen 1 9 5 3
• S C H L A B R E N D O R F F , Fabian von, Offiziere gegen Hitler, Zürich 1946
• W E I Z S Ä C K E R , Ernst von, Erinnerungen, München 1950
• WieDEMANN, Fritz, Der Mann, der Feldherr werden wollte, Velbert 1964

Was all diese Personen an Verrat vollbracht haben, aber auch vieles, was
sie tunlichst verschwiegen, kommt nach Jahrzehnten allmählich ans Licht
der Öffentlichkeit Nach und nach öffnen sich die Archive der Alliierten
und zeigen das wahre Bild des »Widerstandes«. Da aber die Briten den
Verrat lieben und den Verräter verachten, kommt dabei auch Unrühmli-
ches zum Vorschein. Dies aber möchten unsere politische Klasse und
alle Gutgläubigen nicht sehen.
Die deutschen Widerstandskreise lassen sich grob in drei Hauptgrup-
pen unterteilen, in:
1. die zivilen und militärischen Kreise (Schwarze Kapelle),
2. die Emigranten im Dienste der Alliierten,
3. die Kommunisten im Dienste Moskaus (Rote Kapelle),
4. die Saboteure in hohen Dienststellen.
7 Hans MEISER,
Im folgenden sollen einige wenige Beispiele das Ausmaß des Landesver- Verratene Verräter—
rates ziviler und militärischer Personen andeuten. Wer sich darüber hin- Die Schuld des
aus über den gesamten Landesverrat der > Widerstands«-Kr ei se informie- »Widerstandes« an
ren will, findet die wesentlichen Fakten in dem Buch Verratene Verräter. Ausbruch und
Carl G O E R D E L E R , der Kopf des zivilen »Widerstandes«, der angeblich Ausgang des Zweiten
den Frieden retten wollte, drängte England geradezu in den Krieg, als er Weltkrieges, Druffel,
2 Inning 2007.

Carl Friedrich G O E R -
DELER, zwischen Wini-

fred W A G N E R und
Adolf HITLER, sitzend,
in den dreißiger Jah-
ren bei einer Richard-
Wagner-Feier im
Leipziger Gewand-
haus.

455
Admiral Wilhelm CA-
NARIS (links mit Hut)

bei einer seiner zahl-


reichen Spanien-Rei-
sen, wo er enge Kon-
takte zum britischen
Geheimdienst MI-5
und dem amerikani-
schen OSS unterhielt.
Siehe: Friedrich GE-
ORG, Verrat in der
Normandie, Grabert,
Tübingen '2007,
S. 1 9 7 f.

Ende 1938 forderte, daß die »westlichen Demokratien offen intervenie-


ren oder den Präventivkrieg riskieren« sollen. Zuvor, im September 1938,
hatte er den Briten geraten: »Geben Sie keinen Fußbreit nach, HITLER ist
in einer sehr schwierigen Lage. Sorgen Sie dafür, die Verantwortung für
irgendwelche Gewaltanwendung auf seine Schultern zu schieben.«8
Um die antideutsche Stimmung in England zu schüren und dieses in
den Krieg zu drängen, behauptete GOERDELER dort im Januar 1939 ohne
Beweise, daß H I T L E R Holland und die Schweiz angreifen werde, um ein
8 FO 371/21664, Pfand gegen die Westmächte in der Hand zu haben.';
29. 9. 1938. Gegenüber Sir R O B E R T S behauptete GOERDELER in England tags dar-
9 FO 371/22961, auf, daß H I T L E R einen Angriff für die allernächste Zukunft im Westen
C 8 8 7 , 2 0 . 1. 1 9 3 9 . beschlossen habe, daß er mit den Niederländern Streit suchen und dann
10 FO 371/22961, Holland, Belgien und die Schweiz erobern werde.10
C 864, 21. 1 . 1 9 3 9 .
In den kritischen Monaten des Jahres 1939, als es eigentlich galt, einen
11 FO 371/22973,
Krieg zu verhindern, riet G O E R D E L E R dem Briten A S H T O N - G W A T K I N :
C 8 0 0 4 , 30. 5. 1 9 3 9 .
»Die einzige Chance, H I T L E R und die Armee zu trennen, wäre die,
12 FO 371/21731,
C 8 4 5 1 , 1 7 . 8. 1 9 3 8 .
Deutschland und Italien in einen Krieg zu verwickeln.«11
Auch der Major Ewald VON K L E I S T - S C H M E N Z I N betätigte sich als Lan-
desverräter. Mit Wissen von Ludwig B E C K , C A N A R I S und O S T E R reiste er
am 18. August 1938 nach London und sprach dort mit CHURCHILL, Lord
L L O Y D und Robert VANSITTART. 12 Gegenüber letzterem erklärte er, daß
H I T L E R zum Kriege entschlossen sei. In dem anschließenden Gespräch
vom 19. August betonte er gegenüber CHURCHILL, daß nach der Beseiti-
gung H I T L E R S »ein neues Regierungssystem innerhalb 48 Stunden errich-
tet werden könne«.11

456
K L E I S T - S C H M E N Z I N traf sich in Berlin auch noch mit Jan C O L V I N , Eng-
lands Meisteragenten. Dieser schrieb später, daß »jeder einzelne kurze
Satz, den er sagte, genügt hätte, ihn [ K L E I S T ] sofort zum Tode verurteilen
zu lassen«.14
Rittmeister a. D. VON K O E R B E R erklärte im August 1938 dem engli-
schen Militärattache M A S O N - M A C F A R L A N E , daß alles von der bridschen
Haltung abhänge, die deutsche »Kriegspartei« zu besiegen. Deshalb müsse
es in den Krieg eintreten, damit dieser nicht »nur drei Monate, sondern
drei Jahre dauere«.15
Zu den >Widerständlern< aus höchsten politischen Kreisen um den
Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt Ernst VON W E I Z S Ä C K E R
gehörte der Gesandtschaftsrat Erich K O R D T , der Leiter des deutschen
Londoner Botschafterbüros. Er übergab am 7. Februar 1938 Außenmi-
nister Hui.], im State Department in Washington eine von ihm gefälschte
Version des Berichtes A, 5 5 2 2 , den RIBBENTROP als »Streng vertraulich«
an HITLER gesandt hatte.16
Fabian VON SCHLABRENDORFF hat in seinem Buch unter anderem ge-
schrieben: »Erfolg H I T L E R S unter allen Umständen und mit allen Mitteln
zu verhindern, auch auf Kosten einer schweren Niederlage des Dritten
Reiches, war unsere dringlichste Aufgabe.« 1 "
Ernst VON W E I Z S Ä C K E R , Staatssekretär im Berliner Auswärtigen Amt,
hatte, wie er selbst schrieb, im Mai 1938 begonnen, seine »Doppelrolle«
aktiv zu spielen.11* Bei einem Geheimtreffen im Berliner Tiergarten ver-
riet er am 2 7 , Juli 1 9 3 8 dem Hohen Kommissar von Danzig, C . J, B U R C K -
HARDT, »in vollster Offenheit und ohne jede Vorsichtsmaßregel« alles über
seine Konspiration mit dem potentiellen englischen Gegner wie auch
über die geheime Mission Erich K O R D T S , K O E R B E R S und K L E I S T - S C H M E N -
ZINS, ferner, daß ein Attentat auf H I T L E R bevorstehe und »wie weit er
selbst in die Verschwörung verstrickt war«." W E I Z S Ä C K E R selbst nannte
sein Gespräch mit B U R C K H A R D T einen »riskanten und ungewöhnlichen
Schritt, der natürlich hinter dem Rücken der Staatsleitung ausgeführt

13 DBFP (Documents on British Foreign Policy, London, Vol. I Serie D), 11,
S. 687 f.
14 ColVlN, Vansittart in office, S. 210 f.
15 FO 371/21730, 4.8.1938.
16 Erich KORDT, Nicht aus den Akten, Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stutt-
gart 1950, S. 94 ff.
17 Fabian VON SCHIABRENDORFF, Offiziere gegen Hitler, Askona/New York 1946, S. 38.
18 Ernst VON WEIZSÄCKER, Erinnerungen, München 1950, S. 165.

" Carl Jacob BURCKHARDT, Meine Danziger Mission, Georg D. W. Callwey, Mün-
chen 21960, S. 182 f.

457
worden sei«, und er bezeichnet seine Handlungsweise als ein »doppeltes
30 Ebenda, S. 178. Spiel in amtlicher Stellung«.2" Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen,
daß B U R C K H A R D T bekanntlich manchmal großzügig mit der Wahrheit um-
ging
Tatsächlich war es bis dahin in Deutschland noch nie vorgekommen,
daß höchste Beamte wie Staatssekretär Ernst VON W E I Z S Ä C K E R und ober-
ste Militärs wie Generaloberst Ludwig B E C K und Admiral Wilhelm C A -
NARIS einen potentiellen Feind aufforderten, gegen ihr eigenes Land, ge-
gen Deutschland, vorzugehen.
Der amerikanische Historikers. T. P O S S O N Y - Hoover Institution, Stan-
ford/Californien, USA - befaßt sich in seinem Werk zur Bewältigung der
Kriegsschuldfrage (Köln 1968) mit den »Maßstabsfragen sittlichen wie poli-
tischen Handelns«. Was die Schuld kleiner Gruppen oder Einzelperso-
nen betrifft, so nimmt er die folgende grundsätzliche Stellung ein:
Könne man C H A M B E R L A I N noch zugute halten, daß er glaubte, seine
törichte Deutschlandpolitik diene dem Besten seines eigenen Landes, so
könne dem Handeln der deutschen Verschwörer dieses Prädikat nicht
zuerkannt werden, denn alle ihre Maßnahmen wurden »wissentlich im
Interesse der Feinde« getroffen, jetzt, da ein Teil der bisher versiegelten
CHAMBERLAIN-Papiere zu unserer Kenntnis gekommen ist, wird allmäh-
lich der ganze Umfang des verräterischen Wirkens der Verschwörer be-
kannt. Diese legten Wert auf ihr sittliches Widerstreben gegen Gewalt-
politik. Aber sie versuchten seit 1938, den Kriegsausbruch zu erzwingen,
um die Reichsregierung mit Gewalt zu beseitigen. J. F. T A Y L O R schreibt
dazu:
»General Ludwig B E C K ist der erste Soldat gewesen, der für sich das
Recht in Anspruch nahm, in die Politik aufgrund moralischer Überle-
gungen einzugreifen, ohne zugleich Staatsmann zu sein.
Zumindest darf aber das Aufsagen des Gehorsams nicht so weit ge-
hen, daß der sittlichen Verpflichtung zum Widerstand alle anderen Werte
geopfert werden, deren Integrität ebenso wichtig ist wie der Befehi des
eigenen Gewissens. Es gehört schon ein übermäßiges Vertrauen in die
Richtigkeit der eigenen Ansicht dazu, die Meinung der anderen unbe-
rücksichtigt zu lassen. Zudem ist es auch vom christlichen Standpunkt
aus anfechtbar, dem Gegner im Osten Divisionen zu opfern.«
Nachbemerkung:
Die heute geltenden Strafgesetze der Bundesrepublik Deutschland be-
züglich Hochverrat (§§81-83 StGB) und Landesverrat (§§93-101 StGB)
unterscheiden sich im wesentlichen von denen des Deutschen Reiches
nur dadurch, daß die Todesstrafe abgeschafft wurde. Sie sehen also in
Hoch- und Landesverrat noch immer einen schweren Straftatbestand.
Hans Meiser

458
Der angebliche Widerständler Rommel

eneralfeldmarschall Erwin R O M M E L gehört in Im- und Ausland zu


G den bekanntesten und am höchsten angesehenen Persönlichkeiten
des Zweiten Weltkriegs.
jahrzehntelang hatte man sich bemüht, die lange im öffentlichen Be-
wußtsein durchaus umstrittene Widerstandsbewegung als positives Gegen-
bild zur nationalsozialistischen Diktatur in den Rahmen der deutschen
Geschichte einzuordnen. Hierzu erschien es wichtig, eine angesehene und
im deutschen Volk tief verwurzelte Persönlichkeit wie den > Wüstenfuchs*
Erwin R O M M E L als Widerstandshelden in Beschlag zu nehmen.
Besonders das Buch von R O M M E L S ehemaligem Generalstabschef in
Frankreich und späterem Oberbefehlshaber der NATO in Europa, Ge-
neral SPEIDEL, trug mit viel Pathos dazu bei, das Bild R O M M E L S als eines
Widerstandshelden zu formen. S P E I D E L S 1949 unter Mitwirkung des
Schriftstellers Ernst J Ü N G E R verfaßtes Erinnerungsbuch Invasion 1944 be-
schreibt sehr eindrucksvoll, wie R O M M E L in den Widerstand eingebun-
den wurde und schließlich zu einem führenden Mitglied der Anti-Hit-
lER-Verschwörung des 20. Juli 1944 geworden sein soll.1 Dabei habe der 1 Hans SPEIDEL,

Generalfeldmarschall mit Carl-Friedrich G O E R D E L E R , dem Haupt des zi- Invasion 1944. Ein
vilen Widerstands, dem Stuttgarter Oberbürgermeister Karl S T R Ö L I N , Beitrag zu Rommels
Generaloberst Ludwig B E C K , Oberst VON STAUFFENBERG und dem Nach- und des Reiches
schubchef General Eduard W A G N E R eng zusammengearbeitet. Dies sei Schicksal, Rainer
Wunderlich, Tübin-
so weit gegangen, daß R O M M E L in einem Gespräch mit Cäsar VON H O F -
gen 5 1949.
ACKER am 9. Juii 1944 sich den Verschwörern des 20. Juli voll zur Verfü-
gung gestellt habe: » R O M M E L war kaum zu halten, er wollte am liebsten
gleich losschlagen. Er scheint entschlossen, auch dann zu handeln, wenn
die Pläne im Reich versagen.« Ohne es zu wissen, war R O M M E L in der Nacht
zum 10. Juli 1944 Gegenstand vieler Trinksprüche der Verschwörer.
In der Nachkriegszeit wurde das von General S P E I D E L geschaffene
RoMMEL-Bild als das eines wahren Widerstandskämpfers und tragisch
verhinderten Retters des Reiches begeistert von einem großen Teil der
Presse aufgenommen.
Dies förderte nicht nur SPEIDELS eigene Bundeswehrkarriere, sondern
verhalf auch der ehemaligen WehrmachtgeneraIität zu einer Kontinuität
mit der neuen Bundeswehr und rechtfertigte den mit Verdacht und Arg-
wohn in weiten Kreisen der Öffentlichkeit betrachteten ehemaligen Wi-
derstand.
Kasernen wurden nach R O M M E L benannt, und einer der neuen Lenk-
waffenzerstörer der Bundeswehr trug stolz den Namen des Generalfeld-
marschalls.

459
Forschungen der letzten Jahre haben jedoch erwiesen, daß dieses Nach-
kriegsbild Feldmarschall R O M M E L S ziemlich falsch sein dürfte. Tatsäch-
lich war R O M M E L nie ein politischer Kopf und erst recht kein Verschwö-
2 Thomas VOGEL, rer.2-4 Wurde der Offentlichkeit hier über Jahrzehnte ein Bär aufgebunden?
Aufstand des Gewis- Am 5 . Januar 1 9 4 4 wurde R O M M E L von H I T L E R nach Frankreich ent-
sens. Militärischer sandt, um die Abwehr der gefürchteten alliierten Invasion zu verstärken.
Widerstand gegen Als er dort ankam, war er über den Rückstand bei den bis dahin geleiste-
Hitler und das NS- ten deutschen Anstrengungen entrüstet. Man war an das faule Leben in
Regime 1935-45, der Etappe gewöhnt, und es wurde auch nicht davor zurückgeschreckt,
Wittler, Hamburg R O M M E L bei seinen Visiten der Strandbefestigungen systematisch mit
«2001,5. 433-447.
Tricks zu täuschen. Dennoch begannen sein Optimismus und sein En-
3 Friedrich GEORG,
gagement Wunder zu wirken, und die neue Front im Atlantik wurde täg-
Verrat in der Nor-
mandie, Graben, lich stärker.
Tübingen 2007,
2 Im Februar 1944 hatte der »Wüstenfuchs* bei einem Heimataufenthalt
S. 281-285. politische Annäherungsversuche des Stuttgarter Oberbürgermeisters und
4 David I R V I N G , führenden Widerständlers Karl STRÖLIN zurückgewiesen, und als er eini-
Schlacht um Europa, ge Tage danach in Brüssel mit Generaloberst VON FALKENHAUSEN, dem
DSz, München Militärbefehlshaber in Belgien, zusammentraf, setzte er den Nazigegner
2004, S. 39, 78, 159, in helle Empörung, als er die frisch-fröhliche Ansicht äußerte, er werde
163 ff. u. 210. dem Feind bei seiner Landung an der Küste eine schwere Niederlage
beibringen. Wie hätte R O M M E L reagiert, wenn er gewußt hätte, daß im
Dezember 1943 führende deutsche Kreise den Amerikanern über Kanäle
in der Türkei und der Schweiz ihre Mitarbeit nicht nur zum Gelingen der
geplanten Invasion, sondern auch bei einer alliierten Besetzung Deutsch-

N ach d e m ROMMEL mit

der Abwehr der


bevorstehenden Inva-
sion betraut worden
war, war er tagtäglich
zu den einzelnen
Strandbefestigungen
und zu seinen Trup-
pen unterwegs. Hier
inspiziert er einen
abgeschossenen briti-
schen Lastensegler an
der Orne im Juni
1944.

460
lands und zur Erreichung einer totalen Kapitulation Deutschlands ange- Führende Vertreter
boten hatten? der Verschwörer-
Am 4. März 1944 unterschrieb R O M M E L zusammen mit den Marschäl- gruppe. Von links:
Karl S T K O L I N , Hein-
len VOM K L E I S T , B U S C H , M A N S T E I N und W E I C H S eine Ergebenheitsadresse rich V O N S T Ü L P N A G E L ,
für HITLER unter Zurückweisung des Verrats »gewisser Generale, die bei Eduard W A G N E R und
Stalingrad gefangengenommen wurden oder desertiert sind«. Alexis V O N R O E N N E .
R O M M E L S Verhängnis begann am 15. April 1944, als Generalleutnant R O M M E L S Bemühun-

Hans SPEIDEL sein neuer Stabschef wurde. R O M M E L bemerkte nicht, daß gen, alle Kräfte zu
bündeln, wurden
S P E I D E L ihm von H I T L E R S Widersachern im Generalstab zugeteilt wor-
von ihnen erfolg-
den war, um die Landung der Alliierten in Frankreich zu erleichtern und reich sabotiert.
R O M M E L S Heeresgruppe im Sinne des geplanten Umsturzes zu beein-
flussen.
Mitglieder von R O M M E L S Stabs berichteten in der Nachkriegszeit, daß
in Abwesenheit des Feldmarschalls in R O M M E L S Hauptquartier sehr »de-
fätistische« Äußerungen üblich waren, während man in Anwesenheit von
R O M M E L derartige Gespräche nicht mehr führte. S P E I D E L gelang es, einen
starken geistigen Einfluß auf den schlichten, offenherzigen Soldaten ROM-
MEL auszuüben.
Der zweite Faktor, der R O M M E L S Zukunft bestimmte, war, daß seine
eigene Feindaufklärung von Verschwörern beeinflußt wurde. So sugge-
rierte der Chef der Generalstabsabteilung »Fremde Heere West<, Alexis
VON R O E N N E , bis Juli 1944 erfolgreich, daß die Alliierten im Pas-de-Ca-
lais landen würden und daß die Landung in der Normandie nur ein Trick
sei. Vorher hatte man erfolgreich die rechtzeitige Weiterleitung von Mel-
dungen über Ort und Zeit der Landung unterdrückt.
Auch führten falsche, übertriebene Stärkeangaben der alliierten Heere
durch S P E I D E L und VON R O E N N E dazu, daß sich R O M M E L S ursprünglicher
Optimismus immer mehr verdüsterte und er schließlich an die Unaus-
weichlichkeit der deutschen Niederlage in Frankreich zu glauben begann.
Am 12. Mai 1944 kam der mächtige Generalquartiermeister Eduard
W A G N E R in R O M M E L S Hauptquartier. Während R O M M E L mit großem En-

461
Ende Mai 1944 fand im >Führer-
hauptquartier< ein Gespräch zwi-
schen H I T L E R und R O M M E L statt, der
über seine Arbeit am Atlantikwall
und die Entwicklung der Abwehr-
maßnahmen berichtete (in der Mit-
te: Wilhelm KEITEL). R O M M E L schrieb
anschließend an seine Frau: »Der
Führer vertraut mir, und das genügt
mir.«

SPEIDEL hatte R O M M E L überredet, den


50. Geburtstag seiner Frau am 5.
Juni 1944 im schwäbischen Herr-
lingen zu feiern (rechts: Manfred
R O M M E L ) . Am nächsten Morgen

fand die Invasion statt...

gagement vergeblich versuchte, Verstärkungen für die Front am Atlan-


tikwall zu bekommen, ging es W A G N E R in Wirklichkeit nur um Beratun-
gen mit S P E I D E L über H I T L E R S Sturz. Auch wurde hinterher in R O M M E L S
Rücken im Hauptquartier von La Roche-Guyon ein reges Kommen und
Gehen von hochstehenden Persönlichkeiten der Verschwörung verzeich-
net, die aber dort nur auftauchten, wenn R O M M E L auf Inspektion war,
wie es aus Tagebüchern eindeutig hervorgeht. So verfaßte der Schrift-
steller Ernst J Ü N G E R , Hauptmann im Stab des Verschwörers VON S T Ü L P -

462
NAGEL, eine Friedensschrift für die Verschwörer. Während sein Stabs-
chef anderen Verschwörern gegenüber äußerte: »Im Herbst ist der Krieg
in Europa vorbei«, meldete R O M M E L am 16. Mai 1944 HitleR stolz: »Die
Stimmung von Führung und Truppe ist zuversichtlich, .,«, und er schrieb,
nachdem er das erste Mal in seinem Leben mit HITLER telefoniert hatte,
anschließend darüber an seine Frau nach Hause: »Er war in bester Süm-
mung und hielt mit Anerkennung zu unserer Arbeit im Westen nicht
zurück. Ich hoffe nun, rascher vorwärts zu kommen als bisher.« Auch
Admiral RUGE, der durch einen Kopfhörer mitgehört hatte, war von H I T -
LERS Äußerungen begeistert.
Das wichtigste Problem für die Verschwörer war, R O M M E L für ihre
Sache zu gewinnen. Sie brauchten den Namen des Generalfeldmarschalls,
um ihr Vorgehen der Masse der deutschen Soldaten nach der geplanten
Beseitigung H I T L E R S verständlich zu machen.
Von SPEIDEL veranlaßt, den Geburtstag seiner Frau in Deutschland zu Hans S P E I D E L , R O M M E L S
feiern, war R O M M E L in den entscheidenden Stunden des 6. Juni 1944 nicht Stabschef, spielte eine
entscheidende Rolle
an der Front. Die Verschwörer hatten so leichtes Spiel, den Gang der
bei der Desorganisa-
Ereignisse in ihrem Sinne zu lenken und den Erfolg der alliierten Lan- tion der Abwehr und
dung zu sichern. Das wütende Oberkommando der Wehrmacht befahl der Blockierung der
R O M M E L S Führungsstab deshalb am 9. Juni 1944 genau zu untersuchen, Reserven.
ob es stimme, daß die deutschen Truppen nicht alarmbereit gewesen
seien. R O M M E L stellte sich jedoch wie ein guter Vorgesetzter schützend
vor seine und VON RuNDSTEDTS Offiziere und unterband alle weiteren
Nachforschungen. Am 8.Juni 1944 teilte R O M M E L S Ia der 7. Armee in
der Normandie mit: »Die Untersuchungskommission zur Klärung der
Vorgänge vom 05./06. Juni kommt nicht mehr zum Zuge.«
Das Spiel, das SPEIDEL und seine Freunde wirklich mit ihm spielten,
scheint R O M M E L tragischerweise bis zum Ende nicht durchschaut zu ha-
ben. Noch im September 1944 schrieb Erwin R O M M E L in einem Brief
zur Verteidigung des zwischenzeitlich verhafteten Generals SPEIDEL an »Der Cognac belebte
H I T L E R : »Wenn ich an die Front fuhr, was beinahe täglich der Fall war, in warmen, golde-
nen Strömen die Un-
konnte ich mich darauf verlassen, daß SPEIDEL meine Befehle, wie zuvor
terhaltung.« Origi-
besprochen, an die Armeen gab und mit Vorgesetzten und gleichgestell- nalton Ernst J Ü N G E R ,
ten Dienststellen alle Besprechungen in meinem Sinne führte.« In Wirk- zitiert nach: David
lichkeit begab sich, kaum daß R O M M E L morgens an die Front abgefahren I R V I N G , Schlacht um
war, der Stab der Heeresgruppe B in den Tischtennisraum, um sich dort Europa, DSZ, M ü n -
zu ergötzen. Statt Stabsarbeit gab man falsche Berichte über die Frontla- chen 2004, S. 84 f.

ge heraus und beobachtete die daraus folgenden Fehlentscheidungen


anderer.
Am 17. Juni 1944 kam es in Margival zu einer Konferenz zwischen
H I T L E R , dem Chef des OKW, sowie den Feldmarschällen VON R U N D -
STEDT und R O M M E L mit ihren Stäben.

463
SpeiDEL schrieb in der Nachkriegszeit, daß es damals zu einem erbit-
terten Streit zwischen H I T L E R und R O M M E L gekommen sei. R O M M E L S Bio-
graph Kenneth M A C K S A Y schrieb jedoch, daß SPEIDELS Bericht über Mar-
gival unobjektiv und stark umstritten sei. Vor allem im Hinblick auf die
im Nachkriegsdeutschland gegebenen politischen Bedingungen ausge-
richtet, stelle er die politische Nützlichkeit vor die historische Wahrheit.
In Wirklichkeit schrieb R O M M E L nach der Konferenz von Margival an
seine Frau in einem Brief: » . . . wir kriegen jetzt eine Menge Nachschub.
Der Führer war sehr nett und guter Laune. Er erkennt durchaus den
Ernst der Lage.«
Ende Juni 1 9 4 4 kam es dann zu einer Konferenz zwischen H I T L E R ,
R O M M E L und VON R U N D S T E D T auf dem Berghof in Berchtesgaden. R O M -
MEL legte sich dabei mit H I T L E R an, als er unter dem Eindruck der gelin-
genden Invasion und der ihm von den Verschwörern gelieferten über-
triebenen Stärkeangaben der Alliierten HITLER pessimistische Angaben
zur Gesamtläge machte und es nach vorherigen Rückversicherungen bei
G O E B B E L S und H I M M L E R wagte, mit dem Führer über die politische Lage
zu sprechen. R O M M E L und VON R U N D S T E D T fanden kein Gehör.
Am 9. Juli 1944 besuchte der Verschwörer Oberslieutnant VON HOF-
ACKER R O M M E L , um ihn für den geplanten Umsturz zu gewinnen. H O F A K -
KER sprach etwa eine halbe Stunde mit R O M M E L und sagte, daß die Lage
ein rasches Handeln erfordere; wenn der Führer nicht wolle, müsse man
ihn zwingen. Von einem geplanten Putsch und dem Attentat war nicht
Caesar V O N H O F A C K E R die Rede. Das Gespräch ließ R O M M E L unverändert und unbeeindruckt.
war Adjutant von Ge- Es war wie nach dem Annäherungsversuch von Oberbürgermeister
neral V O N S T Ü L P N A G E L STRÖLIN im Februar 1944. Den Gedanken, Zwang auf H I T L E R auszu-
und der eigentliche
Motor der Verschwö-
üben, bezeichnete R O M M E L als abwegig.
rung in Paris. Er be- Wir wissen heute, daß R O M M E L von den Planungen um das Attentat
hauptete, R O M M E L für vom 20. Juli 1944 nichts wußte und genauso wenig in die staatspoliti-
die Sache der Wider- schen Erwägungen des Widerstandskreises um B E C K und G O E R D E L E R
standskämpfer ge- eingeschaltet war.
wonnen zu haben,
was aber nicht zu-
Statt dessen wollte R O M M E L immer wieder, auch nach seiner Verwun-
trifft. dung vom Lazarett aus, auf H I T L E R einwirken und an seine Einsicht ap-
pellieren.
Richtig dürfte sein, daß R O M M E L bei seinen Besprechungen mit den
Feldkommandeuren im Westen die Möglichkeit eines Waffenstillstandes
nach der geglückten Invasion im Westen prüfte, um einen Zusammen-
bruch der Westfront zu verhindern. Dies wollte er in Gesprächen mit
seinem englischen Gegenspieler M O N T G O M E R Y von Marschall zu Mar-
schall aushandeln. Er wollte ihn dann bewegen, in England für ein ge-
meinsames Vorgehen gegen Rußland einzutreten.
Dies sollte auch ohne H I T L E R S Einverständnis geschehen, wobei er

464
hoffte, daß der Führer ihm wie 1942 in Nordafrika nachträglich zustim-
men würde. Mit einem Putsch oder Staatsstreich hatte dies nichts zu tun.
Nach angeblichen Angaben von Gestapo-Chef Heinrich M Ü L L E R aus
dem Jahre 1 9 4 8 - so er denn noch lebte - hatte R O M M E L keinerlei Anteil
am Anschlag des 2 0 . Juli 1 9 4 4 . R O M M E L S Handlungen standen immer
stärker unter dem Eindruck der für Deutschland verheerenden Vorgän-
ge an der Ostfront. Daß der Zusammenbruch der »Heeresgruppe Mitte<
an der Ostfront ab 21. Juni 1944 ebenfalls durch Machenschaften von
Verschwörern und Sabotage mit beeinflußt war, konnte er sich natürlich
nicht vorstellen.
R O M M E L wollte offensichtlich seine eigene >Wesdösung<, aber ohne seine
aktive Beteiligung liefen die Pläne der Verschwörer größte Gefahr zu
scheitern. Gegen R O M M E L und die ihm treuen Offiziere in Wehrmacht
und SS war in Frankreich ein Aufstand von General E I S E N H O W E R S deut-
schen Helfern von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ein weiteres Ab-
warten war ihnen aber nicht mehr möglich, da die Gestapo in Berlin von
der Verschwörung bereits Wind bekommen hatte.
Nun kam den Verschwörern der >Zufall< zu Hilfe, als am 16. Juli 1944
Feldmarschall R O M M E L bei einer Frontfahrt durch eine >Spitfire< schwer-
verletzt wurde. Die Umstände dieses Angriffs auf den Marschall, dessen
Fahrtroute im voraus bekannt war, geben Anlaß zum Nachdenken. Vor-
her hatte es schon merkwürdige >Unfälle< von Generalen gegeben, die
der geplanten Verschwörung kritisch gegenüberstanden.
Als der schwerverletzte R< >MMEL in einem Lazarett bei Paris von Oberst Generalfeldmarschall
VON STAUFFENBERGS Attentat erfuhr, drückte er seine Überraschung und Erwin R O M M E L . Der
sein Entsetzen darüber aus, daß man versucht hatte, H I T L E R ZU töten, von General B U R C -
D O R F überbrachte
»was etwas anderes war, als der Ausübung eines Drucks auf ihn, daß er Brief KEITELS enthält
um Frieden bittet«. H O F A C K E R S schwerste
Zu seiner Frau äußerte er: »Zu meinem Unfall hatte mich das Attentat Beschuldigung, ROM-
auf den Führer besonders erschüttert. Man kann Gott danken, daß es so MEL hätte ihm beim
gut abgegangen ist.« Verlassen des Haupt-
quartiers La Roche-
Kaum genesen wurde Rommel nun Opfer eines Komplotts seiner vie-
Guyon zugerufen:
len Feinde im OKW. Durch Aussagen der Verschwörer VON H O F A C K E R , »Sagen Sie den Her-
VON STÜLPNAGEL und SPEIDEL vor der Gestapo wurde R O M M E L »im Sinne ren in Berlin, wenn
einer Mitwisserschaft« am Attentat des 20. Juli fälschlicherweise schwer es soweit ist, können
belastet. Der von R O M M E L S Feind General G U D E R I A N geleitete >Ehren- sie mit mir rechnen.«
hof der Wehrmacht stand nach der angeblichen Angabe von Gestapo-
General Heinrich M Ü L L E R vor der Wahl, ob man SPEIDEL oder R O M M E L
retten sollte. Man entschied sich für SPEIDEL. Nur zwei Generale stimm-
ten gegen SPEIDEL und damit für R O M M E L , darunter war R O M M E L S frühe-
rer Gegner K E I T E L , der vielleicht ahnte, welches Spiel hier getrieben wur-
de.

465
ROMMEL hatte von hochverräterischen Umtrieben in seinem Stab ge-
wußt und sie nicht gemeldet. Dies traf aber auch für viele andere Führer
der Wehrmacht und SS zu. Denn auch führende Marschälle wie VON MAN-
STEJN, VON K L U G E , VON K Ü C H L E R , M O D E L sowie die SS-Generale HAUSER,
D I E T R I C H , STEINER und BITTRICH wußten, daß Oppositionelle im Heer
einen gewaltsamen Umsturz planten, meldeten dies aber nicht.
General M Ü L L E R , der nach eigenen Antworten über die Einzelheiten
dieser Vorgänge auf dem laufenden war, berichtete in der Nachkriegs-
zeit, daß »diese Herren Angst davor gehabt hätten, R O M M E L nach Berlin
zu bringen, aus Angst, daß er sich dann entscheiden könnte, etwas über
ihre Anti-HlTl.ER->Freunde< auszusagen, so daß R O M M E L aufgefordert wur-
de, sich selbst zu töten«. Am 1 4 . Oktober 1 9 4 4 wurde R O M M E L dann
General Wilhelm
gezwungen, Gift zu nehmen. Beim Verabschieden sagte er zu seinem
BURGDORF. Am 14.
Sohn Manfred: » S P E I D E L hat ausgesagt, daß ich führend am 2 0 . Juli betei-
Oktober 1 9 4 4 über- ligt gewesen bin und daß ich nur durch meine Verwundung an der direk-
brachte er Genera I- ten Teilnahme verhindert wurde.« Und später sagte er zu seinem Sohn:
feldmarschall R O M M E L »Manfred, ich glaube, mit SPEIDEL ist es auch aus. Kümmere dich doch
die Giftampulle. Un-
um Frau S P E I D E L ! «
ten: Das Staatsbe-
gräbnis für Erwin Hier irrte sich der Generalfeldmarschall: Von 1957 bis 1964 brachte es
ROMMEL in Ulm. Aus: dieser Mann, der das uneingeschränkte Vertrauen der Westalliierten hatte,
David IRVING, Rom- bis zum NATO-Oberbefehlshaber in Europa.
mel. Eine Biographie, S P E I D E L schaffte dies, indem er seinen ehemaligen Chef zum Mythos
Augsburg 1 9 9 0 .
des Widerstands gegen H I T L E R machte. So erklärte er 1946 in einem ame-
rikanischen Gefangenenla-
ger gegenüber einem ande-
ren deutschen General: »Ich
beabsichtige, aus R O M M E L
den Nationalheros des Deut-
schen Volkes zu machen.«
Es klingt wie eine Ironie
der Geschichte, daß es dem
Mann, der im Verdacht steht,
großen Anteil an der deut-
schen Niederlage in der Nor-
mandie zu haben, gelang,
zum Hauptvertreter der frü-
heren deutschen Wehrmacht
in Fragen der deutschen
Wiederbewaffnung und des
deutschen Verteidigungsbei-
trages zu werden.
Friedrich Georg

466
Legenden zum Attentat vom 20. Juli 1944

n der Nachkriegszeit sind in der Öffentlichkeit und von Geschichts-


I schreibern um das Attentat vom 20. Juli 1944 zahlreiche falsche Be-
hauptungen geäußert worden, die die historische Wirklichkeit verzerren.
Der deutsch-englische Historiker Hannsjoachim W. K O C H hat in seinem
Buch über den Volksgerichtshof viel richtigstellendes Material »zu den
Legenden, die sich um den 20. Juli 1944 ranken«,1 zusammengetragen.
Er weist darauf hin, daß Graf VON M O L T K E nach dem Attentat an seine
Frau und Kinder aus dem Gefängnis schrieb, »es sei nun ihre Aufgabe,
aus seinen Briefen »eine Legende« zu machen. Darin waren die Verschwö-
rer. . . sehr erfolgreich«. 2
In der Öffentlichkeit wurde in der Nachkriegszeit behauptet, die er-
sten acht zum Tode verurteilten Verschwörer seien mit »einem dünnen
Strick oder Stahldraht erdrosselt worden, der an einem Metzgerhaken
befestigt wurde«. Nach einem Augenzeugen wurden sie jedoch mit Hanf-
seilen gehängt, wobei Hocker, auf denen sie standen, weggezogen wur-
den, so daß sie sofort bewußtlos wurden und der Todeskampf nur weni-
ge Sekunden - höchstens zwanzig wie überliefert - gedauert haben soll.
Dagegen wurden die im Nürnberger >Hauptkriegsverbrecherprozeß< zum
Tode durch den Strang Verurteilten so getötet, daß sie erhebliche Verlet-
zungen erlitten und noch bis zu zwanzig Minuten lebten, so im Falle VON
R I B B E N T R O P S . 3 Die bei den Verschwörern vom 20. Juli angewandte Me-
thode sehr schneller Tötung soll H I T L E R persönlich gewünscht haben,"1
Angeblich soll auf H I T L E R S persönlichen Wunsch hin ein Film über
den Todeskampf der Verurteilten gedreht worden sein. Es wurden je-
doch nie Kopien solch eines Streifens gefunden. 3
Es wurde verbreitet, H I T L E R habe sich während der Prozesse des Volks-
gerichtshofes Aufnahmen vom Sterben der zum Tode Verurteilten ge-
nußvoll angesehen und eine grausame Tötungsart gefordert. 6

' Hannsjoachim W K O C H , Volksgerichtshof. Politische Justiz im 3. Reich, Universitas,


München 1988, S. 436.
3 Ebenda, S. 437.
3 Ebenda, S. 443.
4 Ebenda.
5 Ebenda, S. 620, Anm. 127,
f> Joachim F E S T , Hitler, Ullstein, Frankfurt/M.-Berlin 1 9 8 7 , S. 9 7 0 . FEST schreibt,

daß HITLER Nachrichten über die Verhaftungen und Hinrichtungen »gierig ver-
schlang« — was nicht stimmt.

467
Adolf H I T L E R , nur
leichtverletzt, nach
dem Anschlag in Be-
gleitung von Wilhelm
KEITEL, Hermann

G Ö R I N G und Martin

BORMANN,

Das trifft auch nicht zu, während vom britischen Kriegspremier C H U R -


CHILL überliefert ist, daß er sich Bilder von durch Bomben verwüsteten
deutschen Städten gern ansah, was ihn neben der Wirkung von reichli-
chem Alkoholgenuß in Hochstimmung brachte.
Richtig ist, daß H I T L E R sogar ein gewisses Verständnis für die Attentä-
ter hatte. Darüber berichtet der bei dem Attentat im Führerhauptquar-
der >Wolfsschanze< bei Rastenburg in Ostpreußen verletzte Luftwaffen-
general Karl Heinrich B O D E N S C H A T Z , nach dem Attentat von H I T L E R
folgendes gehört zu haben: »Ja, wissen Sie, B O D E N S C H A T Z , man fragt mich
heute viel darüber, was ich denn zum Attentat sage, was ich denn vom
polidschen Mord halte. Ich lehne ihn nicht hundertprozentig ab! Verste-
hen kann ich auch, daß es nödg ist, einen Staatsmann zu entfernen, wenn
es die Lage einer Nation erfordert und ein Volk nach Beseitigung des
Karl Heinrich
B O D E N S C H A T Z wurde
Herrschers eine bessere Zukunft vor sich haben kann.
beim Anschlag ver- Ich weiß, S T A U F F E N B E R G , G O E R D E L E R und W I T Z L E B E N haben geglaubt,
letzt. das deutsche Volk durch meinen Tod zu retten. Aber bisher hat man nur
das eine ermitteln können: diese Leute hatten überhaupt keinen festen
Plan darüber, was sie nachher tun wollten. Sie hatten keine Ahnung, wel-
che Armee ihren Putsch unterstützen, welches Wehrkreiskommando ih-
nen helfen würde! Selbst das Naheliegendste, eine Verbindung mit dem
Feind, hatten sie nicht zuwege gebracht. Ja, ich habe sogar erfahren, daß
die Gegner Verhandlungsangebote abgelehnt haben. Bedenken Sie doch,

7 Beispiel bei: Erich KERN, Deutschland im Abgrund, K. W Schütz, Göttingen 1963,


S, 132.

468
BODENSCHATZ, an der Ostfront stehen deutsche Soldaten in erbittertem
Kampf. Fast neun Millionen. Und stellen Sie sich nun einmal die Wirkung
vor! Es wäre ein Krieg jeder gegen jeden geworden, ein Bruderkrieg im
deutschen Heer. Der Russe allein wäre der lachende Dritte gewesen. Denn
er hätte schreckliche Beute gemacht. Sehen Sie, B O D E N S C H A T Z , darin, al-
lein darin, besteht in meinen Augen das Verbrechen der Attentäter!« 8
Der von H I T L E R sehr geschätzte Architekt Hermann G I E S L E R wurde
einige Tage nach dem Attentat ins Führerhauptquartier bei Rastenburg
gerufen, blieb eine Zeitlang dort, hat vor allem abends längere Gesprä-
che mit I IITLER geführt und hat darüber in seinem Buch Ein anderer Hit-
ler3 berichtet. Darin schreibt er, daß er von Martin B O R M A N N die K A L T E N - Hermann G I E S L E R und
BRUNN ER-Berichte über die Verhöre der verhafteten Attentäter zum Lesen Nicolaus V O N B E L O W
(unten).
bekam und einige Filme von den anschließenden Prozessen vorgeführt
wurden, die er dann aber mied. Er hat festgehalten: »An einem Abend,
aus irgendeinem Anlaß, sprach Adolf H I T L E R über den 20. Juli. Ich sagte
ihm, ich hätte einige Filme von den Verhandlungen vor dem Volksge-
richtshof gesehen und sei erschüttert. Darauf Adolf H I T L E R :
>Ich will nichts davon sehen, es genügt mir, daß ich die Berichte lesen
muß. Durch das Attentat hat nicht nur der Hochverrat, sondern auch der
widerliche Landesverrat seine Tarnung verloren und ist für mich offen
zu Tage getreten. Schon lange ahnte ich den Verrat, in Winniza fühlte ich
ihn unmittelbar — oft vermeinte ich physisch die Belauerung zu spüren.
Aber weit mehr und über das hinaus, was bekanntgegeben wird, erfahre
ich jetzt. Nach nüchternen Überlegungen halte ich es für richtig zu schwei-
gen - im Interesse der kämpfenden Front und um der Einheit des Volkes
willen... Ich habe alle, die etwas darüber wissen, zum Schweigen ver-
pflichtet, das gilt dann auch für Sie!«
Ähnlich berichtet H I T L E R S Luftwaffen-Adjutant VON B E L O W als Au-
genzeuge aus den Tagen nach dem Attentat: »Ich habe darauf verzichtet,
mir diese Bilder (von den Hinrichtungen, R. K.) anzusehen. Auch HIT-
LER betrachtete sie sich so wenig, wie er widerwillig die Aufnahmen zer-
störter Städte zur Kenntnis nahm.« 10
Von den Massenmedien wurden auch an den Angehörigen der Wider-
ständler vollzogene Mißhandlungen und insbesondere eine Sippenhaft
betont. Tatsache ist jedoch, daß solche Mißhandlungen im allgemeinen
nicht vorkamen, daß Bestrebungen auf Beschlagnahme des Eigentums

8 »Wie Hider über das Attentat dachte«, in: Deutscher Anzeiger, 27. 7. 1984.
9 Hermann GIESLER, Bin anderer Hitler. Bericht seines Architekten Hermann Giesler;
Druffel, Leoni 1977, S. 437 f.
10 Nicolaus VON BELOW, Als Hitlers Adjutant 1937-45, v. Hase u. Koehler, Mainz

1980, S. 385.

469
der Angehörigen, insbesondere von Landgütern, vom Reichsjustizmini-
ster Otto Georg THIERACK zurückgewiesen wurden. Dieser schrieb an
hIMMLER: »Außerdem ist mir bekannt, daß der Führer eine großzügige
Versorgung der Hinterbliebenen der Gerichteten wünscht.«11
Zu diesem Bereich schreibt KOCH zusammenfassend: »Es hat den An-
schein, als gehörten Berichte über schwere Repressalien, unter denen die
Angehörigen der Verschwörer vom 20. Juli 1944 zu leiden gehabt hätten,
auch in den Bereich der liegende - der liegende, die teilweise auch die
>Sippenhaft< einbezog, i.e. die Verhaftung aller nahen Verwandten der
Verschwörer und ihre Internierung in Konzentrationslagern, Die Polizei
drohte zwar mit Verhaftungen, als sie die Angehörigen der Verschwörer
verhörte, und es wurden auch tatsächlich einige Personen festgenom-
men, wobei man recht willkürlich verfuhr. Aber der Großteil der Verhaf-
teten wurde wieder freigelasssen, sobald sich herausstellte, daß sie sich
nicht an dem Putschversuch beteiligt hatten. Nur eine kleine Gruppe
blieb eingesperrt, hauptsächlich in Dachau und in Tirol, wo sie 1945 be-
freit wurde - nicht von den vorrückenden Amerikanern, sondern von
Einheiten des deutschen Heeres, die das SS-Wachpersonal entwaffne-
ten.« te
Hans Bernd G I S E V I U S Es ist auch falsch, wenn G I S E V I U S aus der Zeit wenige Stunden nach
im Zeugenstand in dem Attentat über H I T L E R schreibt: 13 »Er springt auf. Schaum steht ihm
Nürnberg, vor dem Munde. Kaskaden von Beschimpfungen ergießen sich über alle
Verräter, an denen er fürchterliche Rache nehmen will. Frauen, Kinder,
keiner soll verschont werden - der Wutanfall dauert länger als eine halbe
Stunde. Es ist schreckerregend.« In Wirklichkeit war H I T L E R zwar tief
erschüttert über den Anschlag gegen ihn, blieb aber ruhig.
In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, daß H I T L E R , der
immer noch Hochachtung vor den hohen Militärs hatte, ursprünglich
kein Verfahren gegen die Verschwörer vor dem Volksgerichtshof, son-
dern vor einem Militärgericht haben wollte. Feldmarschall Wilhelm KEI-
TEL, der den dann eingesetzten >Ehrenhof< zur Beurteilung der Offiziere
unter den Widerständlern leitete, schrieb dazu 1946 in Nürnberger Haft:
»Der Führer hatte zunächst meinem Vorschlag, Aburteilung durch das
Reichskriegsgericht, zugestimmt. Erst nach Vortrag des Justizministers
T H I E R A C K , ' der, auch wegen der Aburteilung der zahlreichen verhafteten

11 KOCH, a a O . ( A n m . 1), S. 4 4 4 .
12 Ebenda, S. 445.
13 Hans Bernd GISEVIUS, Adolf Hitler. Versuch einer Deutung, Bertelsmann Lese-

ring, Gütersloh o. J., S, 522 f,


14 Walter GÖRLITZ, KeiteL Verbrecher oder Offizier, Musterschmidt, Göttingen 1961,

S. 3 3 5 .

470
Zivilisten, den Volksgerichtshof als das geeignetste Gericht vorschlug
und betonte, daß das Verfahren von einem Gerichtshof (in der Hand
eines Gerichtsstandes) behandelt werden
müsse, entschloß sich der Führer, gegen
meinen Einspruch, dem Volksgerichts-
hof die Entscheidung zu übertragen.«14
Es ist oft die Frage gestellt worden,
warum S T A U F F E N B E R G oder der kurz
nach der Detonadon zu den Verwunde-
ten geeilte und dem Widerstand angehö-
rende General der Nachrichtentruppen
FELIXGIEBEL nicht mit ihrer Dienstpisto-
le H I T L E R erschossen haben. Bis zum
Attentat trug jeder Offizier seine Pisto-
le bei sich, auch im Führerhauptquartier,
und von niemandem wurden Aktenta-
schen oder Person der zu H I T L F R Vor-
gelassenen kontrolliert. Nur so konnte
ja STAUFFENBERG seine Bombe ungehin-
dert in den Lageraum des Führerhaupt-
quarders mitbringen.
Dazu ist eine Mitteilung von H. FRF.I-
HOFFER aus Deggendorf interessant. Er
schrieb: »Nach meiner Entlassung aus
der Kriegsgefangenschaft habe ich ab
Frühjahr 1949 mehrere Semester bei
dem Bruder des Obersten, Prof. Graf
STAUFFENBERG, an der Universität Mün-
chen Vorlesungen in alter Geschichte
gehört und an Seminaren teilgenommen.
Als VON STAUFFENBERG in einer Vorlesung über griechische Geschichte in STAUFFENBERG u n d HIT-

Verbindung mit der Tyrannis des J A S O N VON P H E R A I (von Verschwörern LER am 15. Juli 1 9 4 4
im Führerhauptquar-
370 v. Chr. ermordet) Parallelen zur jüngsten Vergangenheit und zu dem
tier >Wolfsschanze(.
Attentat seines Bruders im Führerhauptquartier zog, stellte ich dem stets Zwei weitere Gele-
gesprächsbereiten Professor nach der Vorlesung und in Anwesenheit zahl- genheiten für ein At-
reicher Kommilitonen fast wörtlich die gleiche, oben zitierte Frage (>War- tentat hatte S T A U F F E N -
um hat STAUFFENBERG nicht geschossen?«). Die Antwort war zunächst BERG am 6. u n d 11.

kurz und bündig: »Mein Bruder hatte nur eine Hand, und an der anderen Juli 1 9 4 4 auf dem
fehlten zwei Finger, Er konnte nicht mit der Pistole schießen.« Da ich Obersalzberg gehabt.
selbst im Kriege den rechten Arm verloren hatte, gegen Kriegsende an
der linken Hand schwer verwundet wurde und mich Anfang Mai 1945
zusammen mit einigen Soldaten trotz einer behindernden Schiene an der

471
Hand gegen eine Übermacht von angreifenden Partisanen mit der Pisto-
le verteidigen mußte, bezweifelte ich ganz entschieden diese Behauptung
des Professors. Darauf VON STAUFFENBERG: >Auch wenn dies, wie Sie mei-
nen, notfalls möglich gewesen wäre, so war doch das Mithineinnehmen
einer Pistole in das Hauptquartier streng untersagt.« Meine Antwort dar-
auf: »Herr Professor, auch dieses Argument überzeugt nicht. Im Gegen-
teil. Die Pistole gehörte praktisch zum Anzug jedes Offtziers nicht nur in
der deutschen Armee. Hätte Ihr Bruder eine solche in seiner Aktenta-
sche mitgeführt, so wäre das Versehen der Nicht-Abgabe bei der Ein-
gangs wache mit ziemlicher Sicherheit ohne ernste Konsequenzen geblie-
ben. Hätte man hingegen die beiden fertigen englischen Zeitbomben bei
ihm entdeckt, so wäre die ganze Verschwörung bereits an der Hauptwa-
che gescheitert.« Der Professor brachte daraufhin ein drittes Argument:
>Mein Bruder sollte nach erfolgreicher Durchführung des Attentats in
der neuen Regierung wichtige Aufgaben übernehmen. Hätte er auf hIT-
LER geschossen, so hätte er wohl kaum das Hauptquartier lebend verlas-
Claus Graf Schenk
sen.« Die Frage, warum sich nicht ein anderer der Verschwörer opferte,
V O N STAUFFENBERG.
wurde dahingehend beantwortet, daß sich hierzu niemand, der eine Ge-
legenheit hätte haben können, bereit fand. Als dann aus Studentenkrei-
sen die Frage kam, ob sich Oberst v. STAUFFENBERG über die mögliche, ja
wahrscheinliche Tötung Unschuldiger in der Nähe H I T L E R S bewußt war,
meinte v. S T A U F F E N B E R G , >dies mußte in Kauf genommen werden«.
Als ich STAUFFENBERG gegenüber auf den äußerst ungünstigen Zeit-
punkt des Unternehmens hinwies — der Mittelabschnitt der Ostfront war
gerade vom Gegner überrannt worden und wir waren erst im Begriff, bei
Warschau eine notdürftige Auffanglinie aufzubauen - und sagte, was mir
einstimmig von den anwesenden Kriegsteilnehmern bestätigt wurde, daß
die Attentäter zu jener Zeit bei den Frontsoldaten, ganz gleich welcher
Waffengattung, keine Gnade gefunden hätten und über den Anschlag
äußerste Empörung herrschte, mußte VON STAUFFENBERG den Hörsaal
verlassen, um einen anderen Termin wahrzunehmen. Da die meisten von
15 H. FREIHOFER, uns Studenten Prof. STAUFFENBERG sehr schätzten, verbat es die Höflich-
»Warum hat Stauf- keit, später nochmal dieses Thema anzurühren. Wir blieben hinfort bei
fenberg nicht den Griechen und Römern.« 15
gcschossen?« in: Tatsache ist auch, daß der früher schwerverwundete VON STAUFFEN-
Deutscher Anzeiger, BERG am Abend des 20. Juli 1944 im Bendler-Block seine Pistole beim
27.7.1984.
Feuergefecht durchaus wirkungsvoll bedienen konnte. Rolf Kosiek

472
Weitere Legenden zum 20. Juli 1944

ehr als 60 Jahre nach dem damaligen Geschehen, nachdem die


M meisten Frontsoldaten verstorben sind, gewinnt das Attentat vom
20. Juli 1944 einen immer wichtigeren Rang und höheres Ansehen in der
Öffentlichkeit der Bundesrepublik, und eine Reihe von Fegenden hat
sich darum gebildet, die eine Verzerrung des Geschichtsbildes bewirken.
Einige seien nachfolgend richtiggestellt.
1. Zahl der Opfer. Beim Attentat vom 20. Juli 1944, das H I T L E R töten
sollte, blieb dieser fast unverletzt. Es wurden jedoch vier Personen bei
der Explosion getötet, mehrere verletzt, darunter drei schwer. Diese Opfer
werden meist verschwiegen. Die Zahl der Opfer der nachträglichen Ver-
folgung der Attentäter und Widerständler wird dagegen oft stark über-
trieben. »Fast 5000 Todesurteile« seien verhängt, heißt es in einem Lexi-
kon.1 Ein Schulgeschichtsbuch teilt mit: »Tausende Menschen wurden
hingerichtet, keiner der hauptbeteiligten, kaum einer der Mitwisser über-
lebte.«1 Der Wahrheit näher kommt die Aussage: »Wenigstens 180 bis
200 Personen verlieren im direkten Zusammenhang mit dem Attentat
vom 20. Juli ihr Leben,«1 oder es seien »etwa 200 Personen in direktem
Zusammenhang mit dem Attentat hingerichtet«. 3,4 Richtig ist, daß mehr
als 100 Personen zum Tode verurteilt und 89 von ihnen in Berlin-Plöt-
zensee hingerichtet wurden. 5 Von den auf einer Totentafel aufgeführten
161 Widerständlern im Zusammenhang mit dem Attentat endeten 111
durch Hinrichtung, 29 durch Erschießen, 14 durch Selbstmord, drei ver-
starben und einer fiel. 6 Dabei ist zu bedenken, daß in Paris, Wien, Prag
und Kassel die Putschisten vorübergehend die SS und Regimetreue aus-
schälten oder verhaften konnten.
2. Die vier am 20. Juli Erschossenen, Am späten Abend des 20. Juli
1994 wurden die vier Widerständler Claus Graf Schenk VON STAUFFEN-
BURG, Hans Bernd VON HAEFTEN, Merz VON QUIRNHEIM und Friedrich
OLBRICHT standrechtlich im Hof des Oberkommandos des Heeres im

1 Chronik Herr Deutschen, Chronik-Verlag, Dortmund 1983, S. 921.


2 Das Große Duden-Lexikon in 8 Bänden, Bibliographisches Institut, Bd. 8, Mann-
heim 1968, S. 772.
3 W. MICKEL (Hg), Geschichte, Politik und Gesellschaft, Bd. t, Cornelsen Berlin 31994,

S. 365.
4 Chronik des 20. Jahrhunderts, Chronik-Verlag, Gütersloh, 1999, S. 275.
5 Gerhard Taddey, Ijtxikon der deutschen Geschichte, Kröner, Stuttgart 1983, S. 1387.
6 Otto Ernst REMER, Verschwörung und Verrat um Hitler, K. W Schütz, Pr. Olden-

dorf, 1989, S. 320-324

473
Die >Lagebarackei Bendlerblock in Berlin erschossen. Meist wird der Eindruck erweckt1-4
am 20. Juli 1944, oder ausdrücklich erklärt, daß sie als Opfer der >Nazis< von diesen liqui-
kurz vor der Explo- diert worden seien. Richtig ist jedoch, daß sie voreilig und ohne Auftrag
sion. Rekonstruktion auf Befehl von Generaloberst Fritz FROMM, dem Oberbefehlshaber des
durch den Spiegel,
Ersatzheeres, einem Widerständler aus ihrem Kreis, der erklärt hatte, ein
Nr. 29, 2004.
Standgericht habe unter seiner Leitung stattgefunden, standrechtlich er-
schossen wurden. FROMM wollte nach Bekanntgabe des Scheiterns des
Putsches anscheinend sich als Nicht-Widerständler erweisen, General-

474
Die zerstörte >Lagebaracke<
im Führerhauptquartier
>Wolfsschanze< bei Rasten-
burg (Ostpreußen) nach
der ßombenexplosion
am 20. Juli 1944.

Joseph G O [ B B E L S am zerstör-
ten Lagetisch nach dem An-
schlag auf H I T L E R , der offen-
sichtlich von der massiven
Stütze gerettet wurde.

oberst BECK, der vom Widerstand als neues Staatsoberhaupt (Reichsver- 7 William L. SHIRHR,

weser) vorgesehen und am Nachmittag auf die Nachricht von dem At- Aufstieg und Fall des
tentat im Bendlerblock erschienen war, erschoß sich dort nach Scheitern Dritten Reiches,
des Putsches am 20. Juli abends selbst, genauer: wurde nach zwei eige- Herrsching, O.J.
nen nichttötenden Schüssen von einem Soldaten erschossen,
3. Tötungsart. Es wird behauptet, die ersten acht zum Tode verurteil-
ten Hauptschuldigen seien an »Fleischerhaken« oder an dünnen Dräh-
ten aufgehängt worden, um ihnen große Todesqual zu verursachen. Rich-

475
tig ist jedoch, daß sie mit Hanfstricken hingerichtet wurden, wobei sie
sofort bewußdos wurden und der Tod spätestens nach 20 Sekunden ein-
trat.8 »Diese Methode des Erhängens soll auf ausdrücklichen Wunsch
H I T L E R S zurückzuführen sein.«'"1 Diese schnelle Tötung erfolgte daher ganz
im Gegensatz zu dem bis zu zwanzig Minuten (bei Alfred R O S E N B E R G )
dauernden Sterben der nach dem Nürnberger Prozeß zum Tod durch
Erhängen Verurteilten.
4. Landes- und Hochverrat. Bei der Darstellung des Widerstandes wird
meist der große Anteil an Landesverrat unterdrückt: Die Täter werden
nur als Hochverräter hingestellt, da Hochverrat seit alten Zeiten ethisch
gerechtfertigt ist, während Landesverrat, Verrat zugunsten des Feindes,
als moralisch bedenklich oder als gar nicht vertretbar gilt. Tatsache ist
jedoch, daß viele Widerständler, auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg,
nicht vor Landesverrat zurückgescheut und den Feinden des Reiches
wertvolle Informationen geliefert sowie diese zum Krieg gegen Deutsch-
land aufgefordert hatten.
5. Enteignung und Sippenhaft für Familienangehörigen, Oft wurde
von der Verfolgung der Familienangehörigen der Attentäter berichtet und
mitgeteilt, daß >Sippenhaft< für Angehörige verhängt wurde/6 Richtig ist
jedoch: »Trotz der schwerwiegenden Verbrechen und trotz der rechtli-
chen Bestimmungen wurde das Eigentum der Verurteilten nur selten
konfisziert. Im Fall des Grafen M O L T K E ließ FREISLER dessen Familie schon
vor dem Prozeß wissen, daß ihr Kreisauer Landgut nicht vom Staat kon-
fisziert werden würde.« 10 In Kreisau hatten viele Besprechungen der Wi-
derständler des sogenannten >Kreisauer Kreises< stattgefunden. Referen-
tenentwürfe für eine Beschlagnahme des Vermögens und des Besitzes
der zum Tode Verurteilten wurden ausdrücklich vom Reichsjustizmini-
Reichsjustizminister ster T H I E R A C K zurückgewiesen. Dieser schrieb an HIMMLER: »Außerdem
THIERACK.
ist mir bekannt, daß der Führer eine großzügige Versorgung der Hinter-
bliebenen der Gerichteten wünscht.« 11 H I M M L E R stimmte dem Brief zu.12
Der I Iistoriker kommt zu dem Urteil: »Es hat den Anschein, als ge-
hörten die Berichte über schwere Repressalien, unter denen die Angehö-
rigen der Verschwörer vom 20. Juli 1944 zu leiden gehabt hätten, auch in
den Bereich der Legende — der Legende, die teilweise auch die >Sippen-
haft< einbezog, i. e. die Verhaftung aller nahen Verwandten der Verschwörer
und ihre Internierung in Konzentrationslagern. Die Polizei drohte zwar

8 Hannsjoachim W Koch; Volksgerichtshof, Universitas, München 1988, S. 443.


9 Ebenda, S. 620.
1U Ebenda, S. 444.
11 Zitiert ebenda.
12 Ebenda, S. 445.

476
Lagebesprechung an
der Ostfront 1943.
Werfer von rechts:
Oberst Henning VON
TRESCSCOW ( 1 9 0 1 -

1944); er war Erster


Genera Istabsoffizier
der Heeresgruppe Mit-
te und der eigentliche
Kopf der Militärver-
schwörung. Ganz
rechts stehend: Ober-
leutnant Fabian VON
SCH LAB REN D O R F F ( 1 9 0 7 -

1 9 8 0 ) , VON ÏRE5CKOWS

Adjutant und enger


Mitarbeiter. Aus: Insti-
tut für Zeitgeschichte
Die tödliche Utopie,
München 1999.

mit Verhaftungen, als sie die Angehörigen der Verschwörer verhörte, und
es wurden auch tatsächlich einige Personen festgenommen, wobei man
recht willkürlich verfuhr. Aber der Großteil der Verhafteten wurde wie-
der freigelassen, sobald sich herausstellte, daß sie sich nicht an dem Putsch-
versuch beteiligt hatten.«13
6. Antisemitismus. Heute wird gern die Behandlung der Juden im
Dritten Reich als eines der Hauptmotive der Widerständler für den Putsch
angegeben. Doch dagegen spricht einmal, daß sich der Widerstand schon
vor dem Krieg und vor den antisemitischen Ausschreitungen bildete. Zum
anderen hat die Forschung ergeben, »daß die Entrechtung und Diskrimi-
nierung des jüdischen Bevölkerungsanteils aktiven Widerstand nicht her-
vorzurufen vermocht hat und daß die schließliche Judenvernichtung ein
Problem war, das offensichtlich nicht im Zentrum der Überlegungen und
Sorgen gestanden hat«.14 Ernst N O L T E gibt zur Einstellung der Putschi-
sten zum Schicksal der Juden an: »Im konservativen Widerstand war nicht
nur ein >Schweigen< zu verzeichnen, sondern hier waren nicht wenige
davon überzeugt, daß es tatsächlich eine >Judenfrage< gebe, die >gelöst<
werden müsse.« Für Carl G O E R D E L E R sei es eine »Binsenwahrheit« gewe-
sen, daß »das jüdische Volk einer anderen Rasse angehört«, und der frü-
13Ebenda.
14Christoph DipPER, »Der deutsche Widerstand und die Juden«, in: Geschichte
und Gesellschaft, Nr. 9, 1983, S. 349-380, zit. von Ernst NOLTE in: Streitpunkte.
Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus, Propylaen, Berlin—Frank-
furt/M. 1993, S. 225.

477
Carl Friedrich C O E R -
DELER 0 8 8 4 - 1 9 4 5 ) .

Der ehemalige Ober-


bürgermeister von
Leipzig (bis 1937)
versuchte auf seinen
Auslandsreisen, Bri-
ten und Franzosen zu
einer harten Haltung
gegenüber H I T L E R S
Expansionspolitik zu
bewegen, vertrat aber
eine > großdeutsche
Lösungi in den Gren-
zen von 1914.

here preußische Finanzminister Johannes Po PITZ »legte sogar eine scharf


antisemitische Einstellung an den Tag«.15
7. Großdeutsche Einstellung. Bei Ehrungen des Widerstandes wird
gegenwärtig in der Regel verschwiegen, daß die meisten Verschwörer bis
zuletzt eine großdeutsche Einstellung hatten und ein Deutsches Reich in
den Grenzen von 1 9 1 4 forderten. »Noch Ende 1 9 4 4 hielt G O E R D E L E R ja
die Forderung aufrecht, daß Deutschland die Ostgrenze von 1914 sowie
Osterreich und das Sudetengebiet behalten müsse.«16 Auch andere der
Putschisten vertraten die »großdeutsche Lösung« und sprachen von ei-
ner künftigen »deutschen Führung« in Europa. So verlangte Ulrich VON
H A S S E L eine Einigung Europas »unter der Fahne des Antibolschewis-
mus«.17 Daß viele Widerständler daneben »reaktionär« und »aristokratisch«
dachten und die egalitäre Gesellschaft ablehnten, teilweise den Frauen
kein passives Wahlrecht zuerkennen wollten und sich für die Beibehal-
tung des Arbeitsdienstes oder der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt
(NSV) aussprachen, sei am Rande erwähnt. 19
Die enge Verbundenheit zu Volk und Heimat kommt in dem >Schwur<
zum Ausdruck, der von den STAUFFENBERG-Brüdern für den Fall eines
Mißlingens ihres Vorhabens oder einer fremden Besetzung des Landes

15 N O L T E , ebenda.
16 Ebenda, S. 223.
17 Ebenda.
1S Ebenda, S . 2 2 2 . Weiteres in: Wolfgang VENOHR, Stauf enberg. Symbol der deut-
schen Einheit, Ullstein, Frankfurt/M,-Berlin 1986.

478
Claus Graf Schenk
V O N STAUFFEN8ERGS

Brüder.

entworfen und von ihnen sowie mehreren jungen Verschwörern am 2.


Juli 1944 geleistet wurde:
»Wir glauben an die Zukunft der Deutschen.
Wir wissen im Deutschen die Kräfte, die ihn berufen, die Gemein-
schaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen.
Wir bekennen uns im Geist und in der Tat zu den großen Überliefe-
rungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und
christlicher Ursprünge in germanischem Wesen das abendländische Men-
schentum schuf.
Wir wollen eine Neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des
Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten
aber die Gleichheitslüge und fordern die Anerkennung der naturgegebe-
nen Ränge.
Wir wollen ein Volk, das, in der Erde der Heimat verwurzelt, den na-
türlichen Mächten nahebleibt, das im Wirken in den gegebenen Lebens-
kreisen sein Glück und sein Genüge findet und in freiem Stolze die nie-
deren Triebe des Neides und der Mißgunst überwindet. 19 Zitiert in: Wolf-

Wir wollen Führende, die, aus allen Schichten des Volkes wachsend, gang V E N O H R ,
verbunden den göttlichen Mächten, durch großen Sinn, Zucht und Op- Patrioten gegen Hitler.
fer den anderen vorangehen. Der Weg zum 20. Juli
Wir verbinden uns zu einer untrennbaren Gemeinschaft, die durch 1944, Gustav
Lübbe, Bergisch
Haltung und Tat der Neuen Ordnung dient und den künftigen Führern Gladbach 1994,
die Kämpfer bildet, derer sie bedürfen.« 19 S. 2 8 5 .
Heute würden sie wegen solcher Worte als rechtsextremistisch ange-
sehen, beobachtet und verfolgt werden. Rolf Kosiek

479
>Mord< und >Fleischerhaken<
nach 20. Juli 1944

B ei der Darstellung des Attentats v o m 20. Juli 1 9 4 4 und seiner


Folgen werden oft falsche Begriffe gebraucht. Die »Gedenkstätte
Deutscher Widerstand« in Berlin-Plötzensee listet die Verschwörer des
20. Juli 1944, an denen das Todesurteil vollstreckt wurde, als »ermordet« 1
auf. Die Kronen-Zeitung vertauscht sogar die Rollen und stellt den S T A U -
FENBERG-Vertrauten Robert BERNARDIS als »Linzer Attentats-Opfer« vor,
als hätte dem Obersdeutnant und nicht etwa Adolf HITLER der Anschlag
gegolten. 2 Ebenso unwahr ist die Behauptung, BERNARDIS sei »auf Hit-
lers Befehl gehenkt« worden, denn hingerichtet wurde der Verurteilte
nicht auf Geheiß HITLERS, sondern in Vollzug der Strafe, die der Volks-
gerichtshof rechtskräftig über ihn verhängt hatte.
Schon am 7. August 1944 standen die ersten Verschwörer vor dem
Ersten Senat des Volksgerichtshofes unter dem Präsidenten Roland FREIS-

NS-Volksgerichtshof
mit Präsident Roland
FREISLER (Mitte),

1 Ebenso: Ulrike H E T T U. Johannes TUCHEL, »Die Reaktionen des NS-Staates


auf den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944«, in: Peter S T E I N B A C H U. Johannes
T U C H E L (Hg,), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1 9 9 4 (Schriftenreihe
der Bundes zentrale für polirische Bildung 323), S. 377 u.v.a.
2 Max STÖGER, »linzer Attentats-Opfer«, in: Kronen-Zeitung, 7. 8. 2004, S. 21,
3 Protokoll auszugsweise bei Hannsjoachim W . K O C H , Volksgerichtshof. Politische

Justizim 3. Reich, Universitas, München 1988, S. 336—435.

480
leR.3 Die Anklage lautete auf I loch- und Landesverrat. Der Straftatbe-
stand war verwirklicht, weil die Angeklagten das Staatsoberhaupt töten
wollten, um gewaltsam die bestehende Ordnung zu stürzen. 4 S T A U F F E N -
BERG wollte in der Wolfschanze sämtliche 24 Teilnehmer der Lagebe-
sprechung in die Luft sprengen. Zwrar überlebte H I T L E R den Mordver-
such, doch starben vier Opfer 5 einen qualvollen Tod, zwölf Offiziere
wurden schwer, alle übrigen leicht verletzt.
Dieses erste Volksgerichts-Verfahren unter dem Aktenzeichen OJ 1 /
44 bildete den Auftakt einer Serie von mehr als fünfzig Prozessen zum
Attentat, die mit mehr als 153 Todesurteilen endeten," Jedoch wurde nicht
jedes Todesurteil vollstreckt und war nicht jeder Angeklagte des Todes,
Es gab auch 27 Freiheitsstrafen und 16 Freisprüche." Das Strafmaß ent-
sprach internationalem Standard. Auf Hochverrat, Landesverrat und
Mord stand damals in allen Staaten, erst recht im Ausnahmezustand des
Krieges, die Höchststrafe,
Den Verschwörern mußte bewußt sein und war auch bewußt, worauf
sie sich einließen. Im vorhinein hatte T R E S C K Ö W das Scheitern ausdrück- Generalmajor Hen-
lich einkalkuliert und durch seinen Selbstmord das sichere Todesurteil ning V O N T R E S C K O W
(1901-1944).
vorweggenommen:" »Niemand von uns kann über seinen Tod Klage füh-
ren. Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessoshemd 9 ange-
zogen.«

4 Vgl, Hans M E R K E L , »Patrioten zwischen Reich und Menschenrecht«, in: Bur-


schenschaft liebe Blätter 1 2 1 , 2 0 0 6 , S . 6 1 .
4 General der Flieger Günther K O R T E N , Generalleutnant Rudolf S C H M U N D T ,

Oberst i.G. Heinz BRANDT und der unpolitische Stenograph Heinrich BERGER.
6 H E T T U. T U C H E L , aaO. (Anm. 1), S. 377-389.

7 Ulrike E I C H , »Suizid. Volksgerichtshof. Standgerichte: Die Opfer des 2 0 . Juli«,

in: Rudolf Li LI. u. Heinrich OBERREUTER (Hg.), 20. Juli. Porträts des Widerstands,
München 1989 (Geschichte und Staat 281), S. 393-409.
3 Generalmajor Henning VON TRESCKOW ( 1 9 0 1 — 1 9 4 4 ) : »Das Attentat muß er-

folgen, coûte que coûte [= koste es, was es will]. . . Denn es kommt nicht mehr
auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstands-
bewegung. .. den entscheidenden Wurf gewagt hat.« Dank des Dilettantismus
der Verschwürer (vgl. Hans P A A R , Dilettanten gegen Hitler. Offiziere im Widerstand,
ihre Worte, ihre Taten, Preußisch Oldendorf 1985) verfehlte der »entscheidende
Wurf« sein Ziel, was etwa 200 Personen den Kopf kostete.
9 Nessos, griechische Mythologie: Ein Kentaur, der Herakles und danach des-

sen Gattin Deianira über den Fluß Euenos trug. Als er dabei versuchte, ihr
Gewalt anzutun, wurde er von Herakles mit einem vergifteten Pfeil tödlich ver-
wundet, Der Sterbende riet Deianira, ein Hemd mit seinem nun vergifteten Blut
zu bestreichen, um es als Liebeszauber zu verwenden. So brachte das Nessos-
hemd Herakles einen qualvollen Tod.

481
In schriftlichen Äußerungen nach Urteilsfällung, bei denen takti-
sche Rücksichten naturgemäß zurücktreten, haben Verschwörer vor
ihrer Hinrichtung noch Schuldeinsicht gezeigt, Reue erweckt und
die Strafe als angemessen anerkannt. 10 Sie standen also keineswegs
auf dem Standpunkt, durch ihre Hinrichtung >ermordet< zu werden.
Generalmajor Helmuth S T I E F F meinte: »Mein Leben ist zerstört.
Gestern und heute hat die Hauptverhandlung stattgefunden. Der
Antrag lautet auf Tod, und er kann auch nicht anders ausfallen. Er
ist gerecht. Ich gehe ruhig und gefaßt in den Tod, den ich mir schuld-
beladen zugezogen habe. Ich habe geirrt und gefehlt. Es war falsch,
Gott in seinem Wirken als kleiner Mensch hochmütig in den Arm
fallen zu wollen.«
Oberst Friedrich J Ä G E R : »Ein Zufall führte mich nach Berlin, der
mich mitschuldig werden ließ, ändern kann ich es leider nun nicht
mehr.«
Major Gerhard K N A A K : »Vergiß mich, der ich unwürdig bin.«
Major Ludwig Freiherr VON L E O N R O D : »Ich bin nicht wert gewe-
sen, ein L E O N R O D zu sein. Hoffentlich werde ich in die Familienge-
schichte nicht aufgenommen, denn für diese bin ich ein Schand-
fleck.«
Hauptmann Friedrich-Karl KLAUSING schrieb an seinen Vater, Pro-
fessor Dr. K L A U S I N G , Rektor der Deutschen Universität Prag:11 »Heute
(8. August 1944) ist nun über mich durch den Volksgerichtshof das
Urteil gesprochen, das dem angemessen ist, was ich getan habe. Wenn
Ihr diesen Brief erhaltet, ist es bereits vollstreckt. Ich möchte Euch
noch eins sagen. Rückschauend betrachtet, insbesondere, nachdem
ich die Anführer des Ganzen gesehen habe, kann ich es nur als ein
Zeichen göttlicher Gnade ansehen, die es unmöglich machte, daß
der Putsch gelang und damit das Chaos und Ende des deutschen
Volkes heraufbeschworen wurde. Durch diese Gewißheit kann ich
ruhig auf mich nehmen, was mich erwartet.. . Ich kann zwar für
das, was ich getan habe, einstehen, kann es aber nicht wieder gut
machen, und die Schande, die ich über unseren Namen gebracht
habe, nicht wegwischen. So fragt nicht mehr nach mir, sondern laßt
mich damit ausgelöscht sein.«
Von oben: Friedrich
Gerhard KNAAK
JÄGER, 10 Zitiert aus Spiegelbild einer Verschwörung, Bd. 1,S. 515 f., und Bd. 2,S. 789-
und Friedrich-Karl 801; Hannsjoachim W . KOCH, Volksgerichtshof, aaO. (Anm. 3 ) , S . 4 4 8 ff.
KL AU SING. 11 Der Vater von Friedrich-Karl KLAUSING bekam den Brief seines verur-
teilten Sohnes vom 8. August 1944 nicht mehr zu Gesicht. Er hatte sich
am 6. August 1944 aus Gram das I.eben genommen (s. Spiegelbild einer Ver-
schwörung, Bd. 2, S. 800 f.).

482
Oberleutnant der Reserve Albrecht VON HAGEN: »Mit meinem
Schicksal will ich nicht hadern, da ich es selbst verschuldet habe. . .
Darum bitte ich Gott um Beistand, der mir ein gnädiger Richter sein
möge.«
Wolf Heinrich Graf VON HELLDORF, Berliner Polizeipräsident: »In
meiner Vernehmung habe ich meine Schuld eingestanden, die in der
Treulosigkeit gegenüber dem Führer und der Bewegung besteht. Die
Folgerungen aus meiner Handlungsweise sind mir klar, und ich muß
sie tragen.«
Auch Verurteilte, die nicht zum engsten Kreis gehörten, beken-
nen sich in Abschiedsbriefen schuldig und nehmen das Urteil als
gerecht an:
Generalleutnant Fritz THIELE: »Soeben erfahre ich, daß ich mor-
gen vor dem Volksgerichtshof stehe. Ich habe mir eine schwere
Schuld aufgebürdet, indem ich Maßnahmen anderer nicht gemeldet
habe, selbst in entscheidender Stunde falsch gehandelt habe und Ge-
genmaßnahmen erst zu spät eingeleitet habe. Das Gesetz läßt kein
anderes Urteil zu, als es morgen wohl schon gefällt werden wird.
Wenn Ihr diesen Brief erhaltet, lebe ich nicht mehr, ich wollte Ka-
meraden nicht preisgeben. Nun bin ich mit darin verstrickt.«
Obersdeutnant Günther SMEND: »Ich bin Mitwisser geworden. . .
So bin auch ich mitschuldig und muß sterben. Wenn ich auch keiner
von den Verschwörern bin, so hatte ich doch eine gewisse ungenaue
Kenntnis der Dinge und hatte nicht den Mut, sie Herrn General-
oberst1" zu melden. Ich war zu feige und habe Herrn Generaloberst
die Treue gebrochen. Dafür muß ich sterben. So scheide ich als ehr-
loser Mensch aus dem Leben und habe alles, aber auch alles ver-
spielt.«
Obersdeutnant Hans Otto E R D M A N N : »Ich wollte andere decken
und gehe dabei selbst zugrunde. Eine Einstellung zu den Dingen
hatte ich, die hinterher gesehen ganz falsch war.«
Selbst Carl GOERDELER stellte fest: »Das Scheitern des Attentats
hat mich als eine Antwort der Vorsehung auf die Verletzung eines
göttlichen Gebotes nicht überrascht,. , Wenn wir das Vaterland über
alles stellen, was doch unser Glaube ist, so haben wir den 20. 7,1944
als ein endgültiges Gottesurteil zu achten. Der Führer ist vor fast Von oben: Albrecht VON
sicherem Tod bewahrt. Gott hat nicht gewollt, daß Deutschlands H Ä G E N , Fritz T H I E L E und

Bestand, um dessen willen ich mich beteiligen wollte und beteiligt Otto E R D M A N N ,
habe, mit einer Bluttat erkauft wird, er hat auch dem Führer diese

Gemeint ist Generaloberst Kurt


12 ZEITZLER (1895—1963), Generaistabschef des
Heeres im Zweiten Weltkrieg.

483
Aufgäbe weiter anvertraut. Das ist alte deutsche Auffassung. Jeder Deut-
sche in den Reihen der Umsturzbewegung ist nunmehr verpflichtet, hin-
ter den von Gott gerichteten Führer zu treten, auch die Mittel, die einer
neuen Regierung zur Verfügung gestellt werden sollten, rückhaltlos ihm
zu geben; ob er sie nützen will, für brauchbar hält, entscheidet er.«
Vollstreckt wurden die Todesurteile durch den Strang. Gemäß § 2 des
>Gesetzes über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe* vom 29. März
1933 (Reichsgesetzblatt 1 S. 151) konnte in Fällen »gegen die öffentliche
Sicherheit gerichteter Verbrechen« die Vollstreckung - an Stelle des re-
gulären Fallbeils - durch Erhängen erfolgen. Die Hinrichtungen fanden
im Gefängnis Plötzensee statt.
Bis heute wird öffentlich behauptet, die ersten zum Tode Verurteilten
seien »mit einem dünnen Strick oder Stacheldraht erdrosselt worden, der
an einem Metzgerhaken befestigt wurde«. Nach einem Augenzeugen
wurden sie jedoch mit Hanfseilen gehängt, wobei Hocker, auf denen sie
standen, weggezogen wurden, so daß sie sofort bewußdos wurden und
der Todeskampf nur wenige Sekunden »höchstens zwanzig« gedauert
haben soll. Dagegen wurden die im Nürnberger >Hauptkriegsverbrecher-
prozeß< zum Tod durch den Strang Verurteilten so getötet, daß sie er-
hebliche Verletzungen erlitten und noch bis zu zwanzig Minuten lebten,
so im Falle Joachim VON RIBBENTROPS. 1 3 Die bei den Verschwörern vom
15 Ebenda, S. 443.
20. Juli angewandte Methode sehr schneller Tötung soll Hitler persön-
14 Ebenda.
lich gewünscht haben.14
Objektiv unwahr ist somit die weitverbreitete Version, die Hinzurich-
tenden seien an einem Metzger- oder Fleischerhaken aufgehängt wor-
15 Beispielhaft: den.' 1 Am Haken hing nicht der Delinquent, sondern der Strick. Und der
Anna Maria SIG- Haken, an dem der Strick hing, war kein Fleischerhaken, »Heute weckt
MUND, »Am Haken ein Schlachterbeil abschreckende Assoziationen«, bemerkt der Berner
des Fleischers«, in: Metzgersohn und Schriftsteller Beat STERCHI. »Fast ebenso Entsetzen
Die Presse, Wien, 9. erregendes Teufelszeug ist der S-förmige, am einen Ende zugespitzte
10. 2004.
Fleischerhaken. Es waren solche Haken, an denen in der Metzgerei gro-
ße und kleine Fleischstücke in ihrer angestammten Form rot und blutig
zum Verkauf bereit an einer Eisenstange oder an dem sogenannten Re-
chen hingen. Noch gibt es sie, die Fleischerhaken, doch mehrheitlich
liegt heute das teure Fleisch möglichst appetitlich auf möglichst saube-
16 Beat STERCW, ren Platten.« 16
»Alte Meister: Ein Alljährlich wird im Hinrichtungsraum mit den angeblichen >Fleischer-
Nachruf auf den haken< ein Gottesdienst >in Erinnerung an die Ermordeten* abgehalten.
Metzgerstand«, in: »In Erinnerung an die in Plötzensee., . ermordeten Opfer« errichteten
Neue Zürcher Zeitung beide christlichen Kirchen Gedenkstätten, Im >Kirchraum< des evangeli-
Polio, Nr. 7/2005,
schen Gemeindezentrums Charlottenburg-Nord ist der >Plötzenseer To-
Thema: Fleisch.
tentanz* des kommunisrischen Künstlers Alfred HRDLICKA. Auf allen 16

484
iPlötzenseer Toten-
tanzi von Alfred HRO-
L I C K A . Auf allen 1 6

Tafeln prangt ein Bal-


ken mit Fleischerha-
ken, die es bei den
historischen Hinrich-
tungen eben nicht
gab. Alfred H R D L I C K A
(*1928), gelernter
Zahntechniker und
kommunistischer
Künstler, Professor in
Stuttgart, Berlin und
Wien, 1985/86 Ge-
gen den kmal zum
Ehrenmal für die Ge-
fallenen des Infante-
rieregiments 76 am
Hamburger Damm-
tor, 1 9 8 8 Mahnmal
gegen Krieg und Fa-
schismus in Wien.
Ausschnitt Tafel 1 0 -
12.

Tafeln prang ein Balken mit Fleischerhaken, die es bei den historischen
Hinrichtungen eben nicht gab.
Die Wahrheit freilich ist anders. Die Gedenkstätte Plötzensee doku-
mentiert, daß auf Betreiben des Reichsjustizministers Otto THIERACK
schon im Dezember 1942 im Hinrichtungsschuppen ein Stahlträger mit
acht eisernen Haken eingezogen wurde, um die Todesstrafe durch Er-
hängen an mehreren Personen gleichzeitig vollziehen zu können. Wie
auf Bildern ersichtlich, handelt es sich um unspezifische, mit dem Träger
fest verbundene Haken ohne zugespitzte Enden, wie sie für die losen
Fleischerhaken charakteristisch sind. An diesem Galgen wurden seit die-
ser Zeit Erhängungen vollzogen, zuerst an den Angehörigen der Wider- 1 Reichsjustizmini-
standsorganisation >Rote Kapelle«, später an dem am Umsturzversuch sterium AZ. 4417-
vom 20. Juli 1944 beteiligt gewesenen Personenkreis. Erhängungen im IV a4 9647.42, faks.
»englischen Verfahren« (Bühne mit Falltür) waren nur in Posen möglich: bei: Brigitte OLE-
»Der Aufbau solcher Einrichtungen in anderen Teilen des Reiches erfor- SCHINSKI, Gedenkstät-
dert Zeit. Man wird sich daher.. . mit einfacheren Vorrichtungen begnü- te Plötzensee, Berlin
1995, S. 50 f.
gen müssen, wie sie bisher in Österreich üblich waren.«1" Der Hinrich-
tungsschuppen wurde 1951 zum Teil abgerissen, an seiner Stelle steht
heute eine Mauer aus Bruchsteinen. Der Hinrichtungsbalken mit den
Haken ist noch vorhanden. Fred Duswald

485
Z u r Person Dietrich Bonhoeffers

ätte die evangelische Kirche Heilige wie die katholische, wäre


H Dietrich B O N H O E F F E R wohl der Allerheil igste. » B O N H O E F F E R , der die
Notwendigkeit einer Niederlage Hitler-Deutschlands theologisch als Ge-
richt Gottes über die Mächte des Bösen begründete, ist für Christen,
Atheisten und postmoderne Neo-Religiöse zu einer Art Universalheili-
gen avanciert«, schrieb Herbert AM MON in der Wochenzeitung Jutige Frei-
heit am 7. April 2006. In einer Gruppe von zehn »ökumenischen Heili-
gen« des 20. Jahrhunderts steht B O N H O E F F E R S Skulptur über dem
Westportal der Westminster Abbev in London. Aber auch profane Für-
sprecher heben ihn in den Himmel, weil er als Widerständler wegen Hoch-
und Landesverrats hingerichtet worden ist. »Zu den größten Deutschen
des 20. Jahrhunderts gehört Pastor Dietrich B O N H O E F F E R « , bestimmte
US-Präsident B U S H 2002 im Deutschen Bundestag. Doch dieses Bild ist
zu einfach und verdient, richtiggestellt zu werden.
Der fromme Hans Joachim S C H U L T Z ( * 1 9 3 6 ) stellt BONHOEFFERS »frag-
lose Autorität« radikal in Frage: Der Gottesmann sei gottlos gewesen,
belegt der Evangelikaie in seiner Schrift Wer ist Bonhoeffer? Denn dessen
»Ethik« besagt, daß »ein Christ im Gehorsam gegen J E S U S C H R I S T U S wa-
Dietrich B O N H O E F F E R gen muß, Sünde auf sich zu nehmen, ja, daß er in die Lage kommen
studierte Theologie in kann, um der Liebe und Wahrheit willen alle Gebote zu übertreten, lü-
Tübingen, Rom und gen, betrügen, stehlen und sogar morden zu müssen«.
Berlin. Einen prägen- Als Dietrich B O N H O E F F E R , der im Erwachsenenalter Gott als abzu-
den Einfluß auf ihn
schaffende Arbeitshypothese abtat ( 1 6 . Juli 1 9 4 4 ) , am 4 . Februar 1 9 0 6 in
übte Karl B A R T H aus,
den er später mehr-
Breslau als sechstes von acht Kindern in die heile Welt der Kaiserzeit
mals in der Schweiz hineingeboren wurde, dachte so abwegig noch niemand. Vater Karl ( 1 8 6 8 -
besuchte. Seine er- 1 9 4 8 ) , Professor der Psychiatrie in Berlin und Chefarzt in der Charité,
sten Kenntnisse von begutachtete 1 9 3 3 den Reichstagsbrandstifter VAN DER L Ü B B E . Mit den
Umsturzplanungen Feinden Deutschlands, die ganze Städte in Brand bomben ließen, ver-
gehen auf das Jahr
bündete sich Dietrich B O N H O E F F E R im Zweiten Weltkrieg.
1 9 3 8 zurück, als
OSTER u n d DOHNANVI
Auf diese bedenkliche Bahn begab sich der habilitierte Theologe, als
den Fall F R I T S C H bear- er sich 1933 zum »bewußten Inkaufnehmen des Konfliktes mit dem be-
beiteten. stehenden Staat« bekannte. Die Kirche, dozierte der Studentenpfarrer,
dürfe nicht nur als barmherziger Samariter die Opfer unter den Rädern
verbinden, sondern müsse dem Rad selbst in die Speichen fallen.
Um in Anbetracht des drohenden Krieges dem Wehrdienst auszuwei-
chen, reiste B O N H O E F F E R Mitte 1939 auf Kosten der Ökumene nach
Amerika, kehrte aber, kaum in New York angekommen, wieder um: Er
wolle »diese Periode unserer nationalen Geschichte mit den Christen
Deutschlands durchleben« in der »fürchterlichen Alternative, entweder

486
in die Niederlage ihrer Nation einzuwilligen, damit die christliche Zivili-
sation weiterleben kann, oder in den Sieg einzuwilligen und dabei unsere
Zivilisation zu zerstören«. Eis siegte zwar die Gegenseite, doch eine der
Folgen war: »Die Rebellion von 1968 hat mehr Werte zerstört als das
Dritte Reich«, bilanzierte 1 9 8 3 der CDU-Politiker Bruno H E C K {DerSpie-
gelet. 4, 2006, S. 56).
B O N H O E F F E R S bevorzugter Ansprechpartner vor dem und im Zweiten
Weltkrieg war der vielseitige Holländer Willem Adolf V I S S E R T ' H O O F T
(1900-1985), Generalsekretär der Ökumene, im Zweiten Weltkrieg aber
auch Genfer Agent des britischen Geheimdienstes. Auf dessen Frage,
wofür er denn in der aktuellen Lage bete, machte B O N H O E F F E R trotz bol-
schewistischer Gefahr für Deutschland aus seinem Herzen keine Mör-
dergrube: »Ich bete für die Niederlage meines Landes.« (Traasparent-Ex-
tra Nr. 76, 2005, S. 10)
Tatsächlich betete B O N H O E F F E R nicht nur für Deutschlands Niederlage,
sondern arbeitete auch dafür als Mann der Ökumene, aber auch in der
Funktion eines vom Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der
Wehrmacht unabkömmlich (uk) gestellten Agenten. Im deutschen mili-
tärischen Geheimdienst unter dem verräterischen Admiral Wilhelm CA-
NARJS arbeitete B O N H O E F F E R S Schwager Hans VON D O H N A N Y I (1902-1945). B O N H O E F F E R S Schwager
Dessen unmittelbarer Vorgesetzter war Generalmajor Hans OSTER. Dieser Hans V O N D O H N A N Y I ,
verriet 1940 Angriffstermine an den niederländischen Militärattache in der bereits im Mai
1 9 3 3 persönlicher
Berlin. Die Angriffe fielen deshalb keineswegs ins Wasser, wohl aber fielen Referent beim Justiz-
1940 unnötig Tausende deutscher Soldaten im Feuer der Vorgewarnten. minister war. Im Juli
Vom Amt Canaris mit Devisen und Visa versehen, reiste der »V-Mann 1 9 4 2 waren die bei-
Gottes und der Abwehr« (FAZ 12. 10. 2005) durch Europa, um den den noch in >Mission<
Feind mit Informationen zu versehen. Im Frühjahr 1941 traf er V I S S E R im Vatikan und in Ve-
nedig. Ihre Verhaftung
T ' H O O F T in der Schweiz und übergab ihm wichtigen Meldungen für die
erfolgte ab 5. April
Alliierten, Der ökumenische Holländer leitete B O N H O E F F E R S Mitteilun- 1943.
gen prompt nach London weiter. Eine zweite Schweiz-Reise galt der
Erkundung alliierter >Friedensziele<. B O N H O E F F E R S Fehlmeldung vom
bevorstehenden Umsturz, die V J S S E R T ' H O O F T sogleich an die >Peace Aims
1 Peter HOFFMANN,
Group< gelangen ließ, wurde von den Alliierten nicht einmal ignoriert. 1
Im April 1942 ermunterte der »Seelsorger des Widerstandes« ( F A Z . N e f ) Widerstand, Staats-
den Bischof Eivind B E R G G R A V im besetzten Norwegen zum Widerstand streich, Attentat. Der
Kampf der Opposition
gegen die deutsche Wehrmacht. In Schweden weihte er Ende Mai 1942 gegen Hitler, Piper,
den britischen Bischof von Chichester in alle Geheimnisse eines geplan- Serie Piper 418,
ten Putsches ein, doch würdigte Großbritanniens Außenminister Anthony München 4 1985,
E D E N die deutschen Widerständler keiner Antwort, Im Juni 1 9 4 2 wollte S. 268-275.
der »Stachel im Fleisch seiner Kirche« (FAZ.Nel) über den Vatikan Be-
dingungen einer »ehrenvollen Beendigung des Krieges« erkunden. Die
Antwort kam im Januar 1 9 4 3 aus Casablanca, wo R O O S E V E L T und C H U R -

487
CHILI, in aller Öffentlichkeit auf bedingungsloser Kapitulation beharrten
2 HOFFMANN, ebenda, und somit den Krieg unnötig verlängerten, der dann noch Millionen To-
S. 364 f. desopfer forderte.
1 Ebenda, S. 631. Der selbst in die Vorgänge rund um den 20. Juli 1944 verwickelt gewe-
4 Ebenda, S. 652 f. sene Eugen GERSTENMAIER gestand später: »Was wir im deutschen Wider-
stand während des ganzen Krieges nicht wirklich begreifen wollten, ha-
ben wir nachträglich vollends gelernt: daß dieser Krieg schließlich eben
Das Reichssicher- nicht nur gegen H I T L E R , sondern gegen Deutschland geführt wurde. Das
heitshauptamt in der
Scheitern aller unserer Verständigungsversuche aus dem Widerstand...
Berliner Prtnz-Al-
brecht-Straße. Dort war deshalb kein Zufall. Es war ein Verhängnis, dem wir vor uns nach
wurde B O N H O E F F E R , dem Attentat machtlos gegenüberstanden.« (FAZ 21. 3. 1975)
der im Tegeler Mili- Im Unterschied zu G E R S T E N M A I E R , dessen Nachkricgskarriere in der
tärgefängnis saß, am Stellung des Bundestagspräsidenten gipfelte, von der er im Januar 1969
8, Oktober 1 9 4 4 zu wegen zu großer Vorteilsnahme im Amt zurücktreten mußte, war es BoN-
Verhören gebracht,
HOEEFER nicht vergönnt, die Früchte der Niederlage, die er erhofft hatte,
da in Zossen (bei Ber-
lin) Akten der Ab- zu genießen. Als Folge von Devisenschiebereien im Bereich der Abwehr
wehr entdeckt wor- am 5. April 1943 verhaftet,2 erschienen ihm die Bedingungen im Militärge-
den waren, aus fängnis Tegel zunächst erträglich. Zum fidelen Gefängnis geriet der Knast,
denen hervorging, als Generalmajor Paul VON H A S E seinen einsitzenden Neffen BONHOEFFER
daß neben O S T E R und
besucht. Über fünf Stunden zechte der Stadtkommandant mit dem »Star-
D O H N A N Y I auch B O N -

HOEFFER in die Ver-


gefangenen« und der Gefängnisführung: »Dabei ließ er vier Flaschen Sekt
schwörung verwik- auffahren, was in den Annalen dieses Hauses wohl einmalig ist.«
kelt war, und zwar Schlagartig verschlechtert sich indessen B O N H O E F F E R S Befinden, nach-
seit 1 9 3 8 . dem der sogenannte >Zossener Aktenfund<;> im September 1944 auch ihn
mit dem Verdacht des Hoch-
und Landes Verrates belaste-
te. Am 8. Oktober 1944 ins
Gefängnis des Reichssicher-
heitshautptamtes überführt,
gelangte er im April 1945
über Buchenwald ins Kon-
zentrationslager Flossen-
bürg. Dort wurde er am 9.
April 1945 hingerichtet.4
Dank intensiver Propa-
ganda und kollektiver Umer-
ziehung ist BONHOEFFER, mit
dem sich auch der amerika-
nische »Tod-Gottes-Theolo-
ge« William HAMILTON iden-
tifiziert, heute der mit
Abstand meistgelesene Theo-

488
Links: B O N H O E F F E R ( 3 .
v. I.) im Tegeler Ge-
fängnishof 1944.
Rechts: Paul VON
HASE, BONHOEFFERS O n -

kel und Kommandant


von Berlin.

löge. Aufnahme fand der Vorkämpfer für ein »religionsloses Christen-


tum« sogar im katholischen Märtyrerverzeichnis für den deutschen Sprachraum.
Der Evangelische Erwachsenen-Katechismus 1975 verwarf dagegen B O N H O E F -
FER als Vertreter der Theologie vom Tode Gottes oder der These vom
religiösen Atheismus. Doch nach einer Umfrage von 1986 rangiert der
Häretiker unter den Vorbildern evangelischer Nachwuchstheologen deut-
lich vor dem Reformator Martin L U T H E R . Abgeschlagen auf dem dritten
Platz landete - J E S U S CHRISTUS.
In wesentlich engeren Grenzen hält sich die BONHOEFFER-Rezeption im
I ledigen Land: Zu Lebzeiten hatte der »Heilige wider Willen« (Oherösterrei-
chische Nachrichten) eine gewisse Charlotte FRIEDENTHAL auf die liste jüdi-
scher Personen gesetzt, denen auf Wunsch der Abwehr die rettende Aus-
reise erlaubt wurde. Dennoch lehnte die Leitung der Gedenkstätte Yad
Vashem es nach 1945 ab, den Retter als »Gerechten unter den Völkern«
aufzulisten. Die höchste Ehrung, die Israel vergibt, geht ausschließlich an
Nichtjuden, die in der NS-Zeit unter Einsatz ihres Lebens einem jüdischen
Menschen das lieben gerettet haben. BONHOEFFER, entschied Yad Vashem,
habe zwar das Leben der Frau gerettet, sich selbst aber dabei nicht gefähr-
det. BONHOEFFERS Hinrichtung am 9. April 1945 habe nichts mit seinem
Bemühen zu tun gehabt, einer Jüdin das Leben zu retten. Auch vom Ober-
sten Gerichtshof in Israel wurden die Antragsteller abgewiesen. Es sei nicht
ihre Aufgabe, historische Fragen zu klären, entschieden die Richter am 1.
Januar 2006. (Ja, 15. 1. 2006, S. 3) Fred Duswald

489
Zum Schicksal der Geschwister Scholl

as bedauernswerte Schicksal der Geschwister Hans und Sophie


D Scholl, die sich nach Stalingrad am 18. Februar 1943 mit Flugblät-
tern an der Universität München gegen die Diktatur H I T L E R S und den
Krieg gewandt hatten und dafür nach Verurteilung durch den Volksge-
1 Robert SCHOLL, richtshof am 22. Februar 1943 hingerichtet wurden, obwohl sie früher,
»Ein Vermächtnis ähnlich wie Claus Graf Schenck VON STAUFFENBERG, begeisterte Anhän-
der Geschwister ger des Nationalsozialismus gewesen waren, wurde nach 1945 manch-
Scholl«, in: Askania mal entstellt geschildert, wobei auch Grausamkeiten der Gestapo gegen
Studiensammlung
die Inhaftierten geschildert wurden. Doch diese Behauptungen von an-
für Zeitgeschichte
und Jugendfor- geblich schlechten Behandlungen treffen nicht zu. Zur Richtigstellung
schung, Nr. 3,1989, erklärte der Vater Robert S C H O L L bereits am 27, Mai 1947 in Ulm unter
S. 28. anderem: 1

»Die Schilderungen in dem in 15 Sprachen über die Welt verbreiteten


Buch von Alfred N E U M A N N ES waren 6 sind von A bis Z erfunden. Auch
die Greuelmärchen, die seit 1945 über die Münchener Ereignisse in der
in- und ausländischen Presse erschienen sind, sind erfunden. Sie rühren
von einer Schwindlerin Marianne S C H O L L her, die sich als meine Nichte
Sophie S C H O L L mit ausgab, lange Zeit auch von den Amerikanern verkannt wurde, inzwi-
ihrem Bruder Hans,
schen aber vom Militärgericht Heidelbergwegen Betrugs u.a. zu einer
mit dem sie eng ver-
bunden war und des- Gefängnisstrafe verurteilt worden ist...
sen politische An- Sie hat (1942) dort und im Gefängnis in Ulm, in dem sie sich auf dem
sichten teilte. Transport in das Zuchthaus Hagenau auch einige Tage aufhielt und mit

490
Hans S C H O L L (2. v, I.)
und Sophie S C H O L L mit
weiteren Mitgliedern
der >Weißen Rose<
Hubert F U R T W Ä N G L E R
(I.), Willy G R A F (3. v. I.)
und Alexander S C H M O -
RELL ( r . ) .

meiner Tochter I N G E in einer Zelle zusammen war, von den Ereignissen


um meine Kinder Hans und Sophie erfahren. Nach dem Zusammen-
bruch hat sie dann ihre Kenntnisse ausgenutzt und sich als meine Ver-
wandte und als Unbeteiligte an den Münchener Ereignissen ausgegeben.
Dabei hat sie ganz grausige Geschichten über an meiner Tochter Inge
und auch an ihr (selbst) verübte Grausamkeiten veröffentlichen lassen.
Wahrheit ist, daß meine beiden Kinder mir, als ich sie 1/2 Stunde vor ihrer
Hinrichtung noch sprechen konnte, unabhängig voneinander erklärten,
Robert S C H O L L
sie seien von der Gestapo gut und vornehm behandelt worden. Mein
(1891-1973), war
Sohn Hans bat mich noch, zu einem Herrn Dr. M A M O N bei der Gestapo Bürgermeister von
zu gehen und mit diesem zu sprechen. Er habe Dr. M A M O N während des Forchtenberg, in
Verhörs aufgeklärt und so ziemlich vom Nationalsozialismus bekehrt. dessen Rathaus eine
Es bedürfe nur noch einer kleinen Nachhilfe meinerseits und Dr. MA- Btldnisbüste seiner
MON wäre gewissermaßen gerettet, Tochter steht.
Ich selbst wurde von einem Münchener Gestapobeamten gleichfalls,
und zwar im Gefängnis von Ulm, vernommen. Auch ich wurde in jeder
Hinsicht anständig, ja sogar vornehm behandelt. Nach meiner protokol-
larischen Vernehmung sprach ich mir Gestapobeamten noch als Mensch
zu Mensch, stellte ihnen die ganze Verworfenheit des Nationalsozialis-
mus und dessen baldiges schreckliches Ende vor Augen, und zwar in
Gegenwart der Protokollführerin. Alleine schon wegen dieser meiner
Auslassungen hätte mich der Gestapobeamte wegen Zersetzung dem
Scharfrichter ans Messer liefern können.
Ich ermächtige Sie ausdrücklich, von dieser meiner Erklärung vor je-
dem Gericht Gebrauch zu machen.« Rolf Kosiek

491
Waren Deserteure Widerstandskämpfer?

eit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist es in der Bundes-
S republik üblich geworden, die deutschen Deserteure des Zweiten
Weltkriegs als »Widerständler zu betrachten und sie bei Ehrungen der
Attentäter vom 20. Juli 1944 gleichrangig mit zu nennen. An verschiede-
nen Orten wurden bereits Denkmäler für die Fahnenflüchtigen aufge-
1 Franz W S E I D L E R , stellt.1 Besonders die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat neben
»Ansichten über der SPD im Bundestag dafür gesorgt, daß der »Widerstand des kleinen
Deserteure«, in: Mannes« offiziell anerkannt wurde, daß die wegen Fahnenflucht Verur-
Frankfurter Allgemei- teilten rehabilitiert wurden:1 »Wer sich dem »Terrorinstrument Wehrmacht*
ne Zeitung, 18. 9. und der »deutschen Kriegsmaschinerie* auf diese Weise entzogen habe,
1995, sei ein Widerstandskämpfer.« 2 Wegen Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung
2 Volker K R Ö N I N G ,
und Wehrdienstverweigerung im Zweiten Weltkrieg verurteilte Soldaten
in: Focus, Nr. 43, 23. sollten pauschal rehabilitiert werden. Mit der Einschränkung, daß jeder
10. 1 9 9 5 , S. 9 8 .
Einzelfall geprüft werden müsse, wurde dem im Grunde vom Bundestag
entsprochen.
3 Franz W. S E I D L E R ,
Doch diese Beurteilung ist nicht richtig. »Die heutige Lehre vom Wider-
standsrecht rechtfertigt die Beseitigung eines Diktators unter drei Vor-
»Waren Deserteure
W1 de rs tand s käm p - aussetzungen: 1. Die Tat muß auf einer politischen Gewissensentschei-
fer?« in: Frankfurter dung derer beruhen, die den Entschluß zum Widerstand fassen, 2. Die
Allgemeine Zeitung, Tat muß eine Signalwirkung auf andere haben. 3. Das Unternehmen muß
5. 3. 1 9 9 6 . eine Erfolgschance haben.«-1

Deserteur-Denkmal
auf dem Platz der
Einheit in der Garni-
sonstadt Potsdam.

492
Für Deserteure der Wehrmacht sind offensichtlich alle drei notwendi-
gen Voraussetzungen - zumindest die letzten zwei genannten - zur An-
erkennung als Widerständler nicht erfüllt.
Der Präsident des Bundesgerichtshofes, Hermann W E I N K A U F F , führte
um 1960 zu dieser Frage dann auch damals noch allgemeint anerkannt
aus: »So können beispielsweise Desertionen oder Gehorsamsverweige-
rungen einzelner Heeresangehöriger, die im Kriege mit der Begründung
vorgenommen werden, es handele sich um einen ungerechten Krieg oder
um einen notwendig zum eigenen Untergang führenden Krieg, in der
Regel nicht als rechtmäßige Widerstandakte anerkannt werden. Oft wird
es schon an der sicheren, sich auf gewisse und ausreichende Unterlagen
stützenden und unter ernsten Gewissensqualen errungene Erkenntnis
fehlen, daß es wirklich ein klar ungerechter oder ein klar zum eigenen
Untergang führender Krieg sei. Vor allem aber kann die einzelne Deser- Franz W . SEIDLER,

tion oder der einzelne militärische Ungehorsam gar nicht den Erfolg ha-
ben, das Schicksal als Ganzes zu wenden.« 4 4 Zitiert ebenda.
Zu erwähnen ist, daß in allen Ländern Fahnenflucht ein schweres mi-
litärisches Verbrechen ist, das hart bestraft wird. Der Paragraph 16 des
Wehrstrafgesetzbuches der Bundeswehr hat fast den gleichen Wortlaut
wie der Paragraph 69 des früheren Militärstrafgesetzbuches der deut-
schen Wehrmacht. Da Gesetze allgemein gelten sollen, ist eine Ausnah-
m e - w i e für den Zweiten Weltkrieg - juristisch schlecht begründet. Auch
dürfte die eingerissene Praxis der Verherrlichung von Deserteuren des
Zweiten Weltkriegs dazu führen, daß die Hemmschwelle für Fahnen-
flucht in der Bundeswehr bei wirklich gefährlichen Einsätzen stark her-
abgesetzt wird.
Der Militärhistoriker Franz W. SEIDLER wies ferner darauf hin, daß für
viele der deutschen Fahnenflüchtigen des Zweiten Weltkriegs nicht die
oft unterstellten hehren Begründungen zutrafen: »In Deutschland han-
delte es sich bei den meisten Verurteilten um Soldaten, die mehrfach
vorbestraft waren: viele bereits vor ihrer Einberufung zur Wehrmacht,
fast alle disziplinarisch oder kriegsgerichtlich in der Truppe. Nur ganz
wenige desertierten aus politischen Gründen. Die häufigsten Motive waren
Angst vor einer weiteren Bestrafung, Streit mit den Vorgesetzten, per-
sönliche und familiäre Gründe und Frauengeschichten.« s
5 Franz W SEIDLER,
aaO. (Anm. 3).
Eine >Heroisierung< der Deserteure ist deshalb unbegründet. Da diese
gleichzeitig meist mit der Herabsetzung oder gar Diffamierung der deut-
schen Soldaten des Zweiten Weltkriegs verbunden ist, die ihr Leben für
Volk und Vaterland einsetzten, ist ihr Ursprung aus deutschfeindlicher
Ideologie und dem Willen zur Umerziehung nicht zu übersehen.
Rolf Kosiek

493
Mit Pistole zu Hitler

ei den Darstellungen der zahlreichen aus den verschiedensten


B Gründen abgebrochenen oder fehlgeschlagenen Attentatsversuche
zur Beseitigung H I T L E R S wird meist die einfache Möglichkeit, den Reichs-
kanzler bei einem Treffen aus nächster Nähe mit der Dienstpistole zu
erschießen, übergangen oder gar die Möglichkeit dazu abgestritten, Tat-
sache ist jedoch, daß im allgemeinen mindestens bis zum Attentat vom
2 0 . Juli 1 9 4 4 jeder zu H I T L E R vorgelassene Offizier - etwa bei Bespre-
chungen oder Ordensverleihungen - seine Dienstpistole während der
Besprechung bei sich trug. Nach diesem Attentat sollen schärfere Sicher-
heitsmaßnahmen getroffen worden sein, wozu die Abgäbe der Pistole
vor einem Besuch beim Führer gehört habe.
Daß jedoch auch diese neuen Vorkehrungen allgemein nicht so scharf
waren wie etwa heutige Maßnahmen beim Flugverkehr, von der in letzter
Zeit üblich gewordenen Bewachung hoher Politiker durch kräftige »Body
Guards« ganz zu schweigen, berichtete als direkt Betroffener einer der
»zwanzig minderjährigen, mit dem Kreuz von Eisen dekorierten Hitler-
Jungen«, 1 die H I T I . F R zu seinem 56. Geburtstag am 20. April 1945 in
Berlin gratulierten.
Er stellte fest: »Ich brachte, einmal als Melder des Reichsjugendfüh-
rers Artur AxMANN und zweimal H I T L E R S , Nachrichten aus der >Zitadelle<
und zurück. Als Melder trug ich eine Pistole in meiner Manteltasche und
wurde niemals aufgefordert, sie herauszugeben, weder bei H I T L E R S Ge-
burtstagpräsentation, noch als ich im Lageraum Aufträge entgegennahm,
wo H I T L E R dabei war. Am Morgen des 30. April, zwischen 4.30 und 5.00
Uhr, sah ich H I T L E R allein im Flur des unteren Bunkers. Ich hätte H I T L E R
töten können. Ich hatte diese Möglichkeit mindestens drei- oder vier-
mal.« 2
Wenn solches schon einem jungen Meldegänger mehrmals möglich
gewesen war, wie nicht erst den zahlreichen mit Widerstandsplänen be-
faßten hohen Offizieren, die sich vielfach in unmittelbarer Nähe HIT-
LERS aufhielten oder an Besprechungen mit ihm teilnahmen. Es scheint
so, als sei die von altersher zum klassischen Tyrannenmord gehörende
Selbstaufopferung des Attentäters eine zu hohe Schwelle für die im Wi-
derstand vereinigten Offiziere gewesen. Rolf Kosiek

1 Der Spiegel, Nr. 14, 1995.


2 Armin D. LEHMANN, Waldport (USA), in Leserbrief in: Der Spiegel, Nr, 17, 24,
4. 1995, S. 8.

494
Hatte Hitler keinen Holocaust-Plan?

n der gängigen Literatur werden der Antisemitismus Adolf


I und dessen persönliche Schuld für die im Dritten Reich durchgeführte
HITLERS

Verfolgung der Juden hervorgehoben. Obwohl bisher kein entsprechen-


des Dokument mit einer solchen Anordnung gefunden wurde, geht die
herrschende Lehre davon aus, daß H I T L E R den Befehl zur Vernichtung
der Juden gegeben habe und dies sein wichtigstes Ziel gewesen sei. Zweif-
ler daran wurden wegen >Leugnung< und >Verharmlosung< von NS-Ver-
brechen nach § 130 des deutschen Strafgesetzbuches bedroht und be-
straft.
Nun scheint sich selbst in der etablierten Forschung ein Wandel zu
vollziehen. Auf einer Tagung der regierungsnahen Bundeszentrale für
Politische Bildung in Berlin Mitte Dezember 2006 zum »transnationalen
Gedächtnis des Holocaust« überraschte der in der Holocaust-Forschung
anerkannte jüdische Historiker Raul H I L B E R G 1 mit einer Feststellung, die
zwar schon ähnlich seit jeher von Revisionisten vertreten und V o r j a h r e n
von David IRVING geäußert wurde, jedoch bisher stets großen Wider-
spruch hervorrief. H L L B E R G erklärte, »daß es in Deutschland — anders als
in Frankreich — zu keinem Zeitpunkt eine zentrale Stelle zur Durchfüh- Raul HILBERG.

rung der NS-Judenverfolgung gab, sondern sich die Vernichtungspolitik


aus dem Zusammenspiel der verschiedenen nationalsozialistischen ideo-
logischen Institutionen und Ministerien entwickelte. H I T L E R selbst habe
den Holocaust in seinem furchtbaren Ausmaß weder bewußt geplant noch
vorausgesehen«. 2
Bezeichnenderweise wurde diese Erklärung von der deutschen Presse
sonst kaum gebracht und in Kommentaren nicht gewürdigt. Ein >Revj-
sionist<, der solches öffentlich verlautbart hätte, wäre sicher wegen >Volks-
verhetzung< verurteilt worden. So wurde zum Beispiel im Jahre 2002 der
unbescholtene Nürnberger Historiker und Studienrat Hans-Jürgen
W I T Z S C H vom Landgericht Nürnberg (Az.: 421 Ds 403 Js 31160/00) zu
einer Gefängnisstrafe von drei Monaten ohne Bewährung verurteilt, weil
er in einem persönlichen Brief an den Münchner Historiker Michael
W O L F F S O H N zutreffend darauf hingewiesen hatte, daß es keine Quelle
dafür gebe, daß H I T L E R den Holocaust befohlen habe. In der Urteilsbe-
gründung wurde jedoch auf die »Regierungsanordnung« für die Massen-
vernichtung von J uden verwiesen. Rolf Kosiek
1 Raul HILBELRC;, Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin 1982.
2 Süddeutsche Zeitung, Nr. 287, 2006, S. 13.
3 »Kein Hitler-Plan«, in: Nation & Europa, Nr. 2, 2007, S. 55.

495
Keine Massenvergasungen in Dachau

ach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde jahrelang in den Me-
N dien und in Schriften behauptet, daß im bayerischen Konzentrati-
onslager Dachau Massentötungen in Gaskammern vorgenommen wor-
den seien. Jahrelang wurde Zehntausenden von Besuchern eine >Gas-
kammer< vorgeführt, in der viele Häftlinge durch Vergasung ermordet
worden seien.1 So erklärte der tschechische Arzt Dr. Franz BLAHA, der
von 1941 bis 1945 als Häftling im Lager Dachau war, vor dem Nürnber-
ger Tribunal am 11. Januar 1946 in einer eidesstattlichen Erklärung: »Viele
Hinrichtungen durch Gas, Erschießungen und Injektionen fanden im
Lager statt. Die Gaskammer wurde im Jahre 1944 vollendet, ich wurde
von Dr. R A S C H E R gerufen, um die ersten Opfer zu untersuchen. Von den
8 bis 9 Personen, die in der Kammer waren, waren drei noch am Leben,
und die anderen schienen tot zu s e i n . . . Viele Gefangene wurden später
auf diese Weise getötet.« 2
Erich P R E U S S , der in seiner Schrift 3 auch die viel zu große Opferzahl
von 70000 für Dachau angab, sagte über die angeblich dort gebaute Gas-
kammer aus: »Die Gaskammer wurde für Massenhinrichtungen gebaut.
Die Hinrichtungen in den Gaskammern der Konzentrationslager erfolg-
ten durch ein Giftgas Cyclon-B.«
Die entsprechenden Einrichtungen wurden in Bildern4 gezeigt, wobei
der Eingang mit »Brausebad« bezeichnet war. Den Besuchern, beson-
ders Schulklassen, wurden die betreffenden Räumlichkeiten an Ort und
Stelle vorgeführt. 5
Doch diese Behauptungen über die Gaskammern treffen nicht zu. Rich-
tig ist, daß es vor 1945 keine Gaskammern in Dachau gab und Vergasun-
gen dort nicht stattfanden. Schon im Juli 1955 stellte der Landrat von
Dachau und CSU-Abgeordnete im Bayerischen Landtag, Heinrich JUN-
KER, im Münchener Landtag den Antrag, »das Krematorium im Camp

! Eine Anzahl solcher Behauptungen ist zusammengestellt bei Erich KERN, Mein-

eid gegen Deutschland, K . W. Schütz, Göttingen 1968, S. 247 ff.; u.a. K . A. GROSS,
Fünf Minuten vor z w ö l f München 1945, S. 221 f.; Paul HUSAREK, Die Toten von Dach-
au, München 1948,S. 17.
z Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hg.), Der Nürnberger Prozeß gegen die

Hauptkriegsverbrecher vom 14, November 1945 bis 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947,
S. 1 9 8 ,
1 Erich PREUSS, »Denket daran!« München 1 9 4 5 , S. 2 7 ,
4 Beispiel in National-Zeitung, 18. 5. 1979, S. 5.
s So noch in einem Bericht über einen Besuch von 150 Schülern in: Süddeutsche
Zeitung, 14. 5. 1979.

496
Dachau für den öffentlichen Besuch zu schließen, damit nicht weiterhin
damit Propaganda gemacht werden kann, daß Opfer des Nationalsozia-
lismus vergast oder lebendig verbrannt worden seien«.6 Daraufhin ent-
brannte eine heftige öffentliche Diskussion, in der auch frühere Häftlinge
des Lagers versicherten, daß es dort bis 1945 keine Gaskammern gege-
ben habe. Der Antrag des Abgeordneten J U N K E R wurde schließlich mit
dem Hinweis auf ein Abkommen zwischen Frankreich und der Bundes-
republik vom Oktober 1954 zur Erhaltung von Denkmälern für verstor-
bene Häftlinge verworfen. So blieben die Behauptungen von den Dach-
auer Gaskammern weiter in der Öffentlichkeit und wirkten.
Auf einen ausführlichen Bericht des Reporters Oscar S T E N T Z E L in der
Wochenzeitung Christ und Welt über »das gefließte >Brausebad<« in Dach-
au mit den Öffnungen, »aus denen das tödliche Gas heraustrat«, erschien
ein Leserbrief,8 in dem auf Äußerungen des Münchner Weihbischofs NEU-
HAUSLER im Mai 1960 im Münchner Merkur verwiesen wurde, wonach un-
ter der Überschrift »Gaskammer nicht fertiggeworden« erklärt wurde,
daß dort keine 75000 Häftlinge umgebracht worden seien, da die Gas-
kammer dank der Sabotage der Häftlinge niemals fertiggeworden sei,
»so daß hier überhaupt niemand vergast werden konnte«. Die Redaktion
erklärte dazu, daß der Verfasser zugebe, »bei der Besichtigung der Gas-
kammer in Dachau den legendären Behauptungen von den dort durch-
geführten Vergasungen erlegen« zu sein.
In diese Debatte griff dann das Institut für Zeitgeschichte in Mün-
chen durch seinen Mitarbeiter Martin B R O S Z A T , dessen späteren Direk-
tor, ein, der feststellte: »Weder in Dachau, noch in Bergen-Belsen, noch
in Buchenwald sind Juden oder andere Häftlinge vergast worden. Die
Gaskammern in Dachau wurden nie ganz fertiggestellt und in Betrieb
genommen.«''' Dabei verwendete er den Plural »Gaskammern«.
Weihbischof N E U H A U S L E R schrieb später: »Mit dem neuen Krematori-
um war auch eine Gaskammer verbunden. Sie wurde zwar schon 1942
begonnen, aber durch Sabotage der Gefangenen sehr lange nicht fertig;
erst 1945. .. Doch wurde diese Dachauer Gaskammer nie in Betrieb ge-
nommen.« 10
Dabei dürfte es wohl jedem natürlich Denkenden klar sein, daß sich
die KZ-Leitung nicht jahrelang von einem beabsichtigten Vorhaben, so
es denn geplant gewesen wäre, von Häftlingen hätte abhalten lassen.
6 KERN, a a O . ( A n m . 1 ) , S . 2 5 0 .
7 Oscar STENTZEL, »Dachau - nach 15 Jahren«, in: Christ und Weit, 14. 7. 1960.
8 Paul KURZWEG in Leserbrief in: Christ und Welt, 28. 7. 1960.
9 Martin BROSZAT in: Die Zeit, 1 9 . 8 . 1 9 6 0 .
10 Weihbischof Johann NEUHAUSI.HR, Wie war das im KZ Dachau?, München 1963,

S. 16.

497
11 Daily Telegraph, Im Sommer 1960 berichtete dann der bei den amerikanischen Ser-
26./27. 7. 1960; vice-Einheiten Dienst leistende frühere deutsche General U N R E I N dem
zitiert auch im Dachau besuchenden britischen Lord R Ü S S E L O F L I V E R P O O L ausführlich,
Bundestagsproto- daß es dort vor Kriegsende keine Gaskammer gegeben habe und die als
koLl! der 124.
solche um 1960 dort gezeigte von deutschen Gefangenen auf US-Befehl
Sitzung vom 28, 9,
i960 vom SPD- gebaut worden sei. Empört veröffentlichte der Brite diese Mitteilung als
MdB Walter Beispiel eines Unbelehrbaren." Die Wochenzeitung Die Zeit brachte diese
SEUFFERT in Fragen Meldung in großer Aufmachung. 12 Die Sache kam durch eine Anfrage
VI/3 und VI/4. des ob solcher Aussagen empörten SPD-Abgeordneten und Rechtsan-
12 Die Zeit, 12. 8. walts Walter S E U F F E R T am 28. September 1960 vor den Bundestag zur
1960. Aussprache, Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Karl C A R S T E N S ,
13 Bundestagsproto- vertröstete zunächst auf noch ausstehende Ermittlungen und stellte dann

koll der 138. auf Nachfrage dazu fest, daß die Gaskammern in Dachau zwar vor Kriegs-
Sitzung, 18. 1. 1961. ende nicht benutzt, aber von den Nationalsozialisten hergestellt worden
seien und daß keine Rede davon sein könne, daß sie erst nach Kriegsende
gebaut worden seien. Dabei verwendete er den Plural »Gaskammern«.
Am 1 8 . Januar 1 9 6 1 fragte der Abgeordnete S E U F F E R T nochmals im
Bundestag nach dem Ergebnis der Ermittlungen. Darauf antwortete
Die nach 1945 »zu
Staatssekretär C A R S T E N S , daß sich nicht habe feststellen lassen, daß Ge-
neral U N R E I N die in der Presse angeführten oder sonstige »strafrechtlich
Demon strat i o n sz wek-
ken« (A. RÜCKERL) fer- oder disziplinarrechtlich relevanten Äußerungen getan« habe und des-
tiggestellte Gaskam- wegen keine Maßnahmen gegen ihn ergriffen worden seien. Weihbischof
mer im KL Dachau. N E U H Ä U S E E R habe bei seiner Ansprache am 2 3 . Mai 1 9 6 0 auf dem Ge-
lände des KZ Dachau
erklärt: »Die Gaskam-
mer im ehemaligen KZ
Dachau sei durch die
Sabotage von Häftlin-
gen niemals fertigge-
stellt worden, so daß
hier niemand vergast
werden konnte.«13
In der Folge melde-
ten sich einige deutsche
Soldaten, die als Gefan-
gene gleich nach 1945 in
Dachau in US-Haft ge-
halten wurden. Sie be-
zeugten, daß sie keine in
der NS-Zeit gebaute
Gaskammer dort vor-
fanden, oder versicher-

498
ten sogar, daß sie als Gefangene nach der Kapitulation am Bau der später
als Gaskammern gezeigten Einrichtungen auf Befehl ihrer US-Bewa-
cher teilnehmen mußten oder davon gehört hatten.14 14 Mehrere solche

In einem Schreiben an den Bundesjustizminister schrieb der dem Ver- Aussagen bei KERN,
fasser persönlich gut bekannte, inzwischen verstorbene Dr. FESTGE: »Immer- aaO. (Anm. 1),
hin sind über die Gaskammern in Dachau, deren Bau ich als amerikani- S. 259-265.
scher Kriegsgefangener miterlebte, oder über die Vorgänge in Bergen-Belsen
so viele Lügen verbreitet worden, daß man allmählich skeptisch wird.«15 15 Dr. Hans Hen-

Der Bundeswehr-Oberst Gerhart SCHIRMER berichtet," wie er im KZ ning FESTGE, Brief


Sachsenhausen unter russischer Anleitung eine Gaskammer nach 1945 vom 15.4. 1985 an
bauen mußte, die dann, als von den >Nazis< errichtet und benutzt, Besu- den Bundesjustizmi-
nister, Bonn, Kopie
chern vorgezeigt wurde. Das sei nach 1945 auch in anderen Konzentra-
im Besitz des
tionslagern in Deutschland geschehen. Verfassers.
Der Erlanger Ordinarius für Neuere Geschichte, Hellmut D I W A L D , stell- 16 Gerhart SCHIR-
te 1978 fest: »So nannten die alliierten Sieger Vernichtungslager, von de- MER, Sachsenhausen-
nen es in Deutschland kein einziges gegeben hat. Oder es wurden jahre- Workuta, Grabert,
lang im KZ Dachau den Besuchern Gaskammern gezeigt, in denen die Tübingen 1992,
SS angeblich bis zu fünfundzwanzigtausend Juden täglich umgebracht S. 10 u. 49.
haben soll, obschon es sich bei diesen Räumen um Attrappen handelte,
zu deren Bau das amerikanische Militär nach der Kapitulation inhaftierte
17 Hellmut D P S A I Ü ,
SS-Angehörige gezwungen hatte.« r
Schließlich mußte auch der damalige Leiter der Ludwigsburger Zentral- Geschichte der Deut-
stelle, Oberstaatsanwalt Adalbert R ü C K E R L , im Frühjahr 1979 gestehen: 18 schen, Propyläen,
»Die Behauptungen um Dachau sind insofern richtig, als tatsächlich die Frankfurt/M.—
Berlin-Wien 1978,
Gaskammern in Dachau erst nach dem Kriege zu Demonstrationszwek-
S. 164.
ken fertiggestellt wurden.« IB Zitiertin:
Nach allem darf es als gesichert gelten, daß es im Lager Dachau vor National-Zeitung,
1945 keine Gaskammer gab und daß dort keine Vergasungen vorkamen. 18. 5. 1979, S. 5.
Ebenso wurde der in vielen Fotos gezeigte >Galgenbaum< des Lagers,
an dem angeblich viele Häftlinge aufgehängt worden seien, erst unter
US-Leitung geschaffen. Dazu berichtete Horst K R E U Z aus München: 19 1 9 KERN, a a O .

»Mein Lagerkamerad Waldemar S P E C K , München, wurde gegen Verpfle- (Anm. 1), S. 263.
gungssonderrationen als Lagerarbeiter verwendet. Er bearbeitete u. a.
auf Befehl der Amerikaner, wie er mir selbst erzählte, am Ausbau des
Krematoriums, so daß es aussehen sollte, als sei es in dieser Form schon
vor dem 8. Mai 1945 in Betrieb gewesen. Ferner mußten S P E C K und seine 20 Beitrag Nr. 242,
Kameraden den <hanging tree< (Galgenbaum) hernchten. Das geschah durch »Opfcrzahlen
Hin- und Herziehen eines dicken Seiles über einen starken Ast, so daß es konnten geändert
schließlich aussehen mußte, als ob an diesem Baum ständig Menschen werden«, und Nr.
erhängt worden wären.« 243, »Revision von
Zu den stark überhöhten Zahlen der Opfer im Lager Dachau ist KL-Opfer zahlen«,
anderenorts Stellung genommen worden. 20 Rolf Kosiek

499
Dachau-Vergasung auf Friedhofs-Gedenktafel

uf dem Alten Friedhof in Vorderberg im Gailtal, der im Jahre 1782


A
errichtet und mit Beschluß vom Jahre 2000 wieder instand gesetzt
wurde, ist auch eine Gedenktafel für Dr. Otto SCHUSTER, Pfarrer in Vor-
arlberg, an der Friedhofsmauer angebracht. Auf ihr ist unter dem Namen
und der Inschrift »Bevor ich Heil H I T L E R sage, sterbe ich lieber!« - offen-
bar ein Ausspruch des Verstorbenen — der Hinweis zu lesen: »1942 im
1 Hinweis mit KZ—Dachau vergast.« 1
Abbildung der Das ist falsch. Denn wie der Historiker des Münchener Instituts für
Gedenktafel in: Zeitgeschichte Dr. Martin BROSZAT am 19. August 1960 in der Wochen-
Weitblick, Nr. 80, zeitung Die Zeit erklärte, sind in Konzentrationslagern auf dem Boden
März 2007, S. 1. des damaligen Deutschen Reiches keine Vergasungen vorgekommen. 2
3 Beitrag Nr. 249,
Ausdrücklich nennt er dabei auch das KL Dachau, Ebcnso hat die Stadt-
»Keine Vergasungen
verwaltung von Dachau auf Anfrage mitgeteilt, »daß im seinerzeitigen
im Altreich«.
KZ Dachau Vergasungen von Menschen nicht stattgefunden haben«.3
' Kopien solcher
Schreiben liegen
Durch die unzutreffende Inschrift auf der an sich ehrenvollen Gedenk-
dem Verfasser vor. tafel für einen verdienten Pfarrer wird also ein falscher, das damalige
Deutschland unberechtigt belastender Eindruck erzeugt. Wäre es ein of-
fensichtlich die Deutschen entlastender sachlich unzutreffender Hinweis,
so wäre er sicher längst entfernt worden. Rolf Kosiek

Links: Otto S C H U S T E R
( 1 8 9 7 - 1 9 4 2 ) . Rechts:
die an der Friedhofs-
mauer von Vorder-
berg im Gailtal ange-
brachte Gedenktafel
zur Erinnerung an
Otto S C H U S T E R .

500
Angebliche Vergasungen im KL Neuengamme

n den vierziger und fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde


I noch oftmals über Massenvergasungen in Konzentrationslagern auf
reichsdeutschem Boden berichtet, bis Martin B R O S Z A T vom Münchener
Institut für Zeitgeschichte< diesen Erzählungen durch seinen Beitrag in
der Zeit vom 19. August 1960 die Grundlage nahm. Dennoch tauchten
immer wieder entsprechende Aussagen von Zeitzeugen auf. Ein Beispiel
für das Lager Neuengamme bei Hamburg brachten wir schon.1 1 Beitrag Nr, 447,

Uber dieses Lager vor den Toren Hamburgs wird auch in einem Sam- »Fernsehen erfin-
melband von 1983 berichtet. 2 In dieser Monographie über die »Gedenk- det Vergasungen in
stätten für die Gpfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik« — so der Neuengamme«.
2 Detlef GARBF.
Untertitel — heißt es zunächst: Von den bei Kriegsende rund 36000 Häft-
lingen kamen bereits 1943 »etwa 500 Häftlinge monatlich um, bis 1945 (Hg), Die vergessene»
stieg die Zahl auf 2500 monatlich«. 1 Eine an der am 7. November 1965 KZs?, Lamuv
Taschenbuch 26,
eingeweihten Gedenkstätte angebrachte Tafel gibt an, daß in Neuen-
Lamuv-Verlag,
gamme und seinen Außenlagern 100000 Menschen litten, »von ihnen Göttingen 1983.
wurden 55000 Männer, Frauen und Kinder aus vielen Nationen durch 1 Ebenda, S. 45.
die Nationalsozialisten getötet«. Noch 1984 meldete die Deutsche Presse-
Agentur (dpa): »In das KZ Neuengamme und seine Außenlager wurden
während des Zweiten Weltkrieges rund 106000 Häftlinge eingewiesen,
von denen 55 000 ums Leben kamen,« 4 4 Zitiert in:

Das ist falsch. Richtig ist folgendes: Die Auskunft des Sonderstandes- National-Zeitung
amtes Arolsen nach dem Kenntnisstand vom 31. Dezember 1983 für 24. 2. 1984.
Neuengamme gab für die ganze Zeit des Bestehens dieses KL und seiner
Außenlager insgesamt die wirklichkeitsnähere Gesamtzahl von 5706 To- 5 Auskunft vom

desfällen an.5 Die darin nicht enthaltenen größten Opfer unter den Häft- 16.1. 1984. Auf-
lingen ereigneten sich, als britische Jagdbomber am 3. Mai 1945 die Damp- stellung im Beitrag
fer >Cap Arcona< und >Thielbeck< vor Neustadt auf der Ostsee angriffen Nr. 243, »Revision
und versenkten, auf die kurz vorher Tausende von Häftlingen aus Neu- von KZ-Opferzah-
len«, S. 121.
engamme gebracht worden waren, von denen rund 7000 auf solch tragi-
6 Siehe Beitrag Nr.
sche Weise kurz vor ihrer Befreiung umkamen. 6
Ferner wird in dem genannten Sammelband mitgeteilt, daß in Neuen- 633, »Die Tragödie
gamme 1942 Vergasungen von insgesamt 448 Menschen stattfanden. der >Cap Arcona<«.
Dazu wird angeführt: »Der ehemalige Lagerschreiber Herbert S C H E M -
MEL berichtet: >Die Vergasungen fanden in aller Öffentlichkeit während
des Abendappells der Häftlinge statt, und wir haben alle gesehen, wie der
SS-Sanitäter B A H R das Zyklon B in vorher vorbereitete Rohröffnungen
auf dem Dach des Arrestbunkers hineinschüttete.«
Fritz B R I N K M A N N ergänzt: >Die Häftlinge auf dem Appellplatz konn-
ten das Schreien der Gefangenen im Bunker deutlich hören. Es dauerte

501
Häftlinge des Kon-
zentrationslagers
Neuengamme.

zehn Minuten, bis das Schreien verstummte. Dann wurden die Türen
geöffnet, und eine Anzahl von Leichen fiel heraus. Nachdem sich das
Gas wieder aus dem Bunker verflüchtigt hatte, mußten Häftlinge die Toten
auf Rollwagen durch das Häftlingslager ins Krematorium schleppen, ,.
Nachdem alle Leichen abtransportiert waren und der Abendappell been-
det war, durften die Häftlinge noch nicht in die Baracken zurückkehren,
sondern mußten auf Befehl des SS-Schutzhafdagerführers das Lied »Will-
7 GARBF,, a a O . kommen frohe Sänger« singen.««7
(Anm. 2), S. 46. In einem Fernsehfilm, den das ZDF am 16, November 1988 über das
KL Neuengamme ausstrahlte, berichtete dagegen ein Zeuge eine etwas
andere Anordnung: »Man habe 6—8 m lange Rohre durch das Dach des
Bunkers geschoben, sie mit Ventilatoren und Heizspiralen versehen und
8 Siehe Anm. 1. hierdurch das tödliche Zyklon B in den Innenraum gedrückt,«" Und die
stark überhöhte Gesamtzahl von über 65000 Ermordeten wurde für
Neuengamme genannt.
9 Bodo S C H Ü M A N N , Das SPD-Organ Vorwärts brachte 1984<9 ebenfalls in einem längeren
»Eine Visitenkarte Artikel über Neuengamme die fälsche Zahl von 55000 Ermordeten: »Sie
des Nationalsozia- wurden gehängt, vergast, bei der harten Arbeit schikaniert und zu Tode
lismus«« in: Vor- geschunden.« Daß britische Flugzeuge die oben genannten Schiffe kurz
wärts, Nr. 9,23. 2. vor Kriegsende versenkten und damit Tausende der Neuengammer Häft-
1984, S. 2 2 .
linge ermordeten, wurde dabei verschwiegen.
Die Behauptung von Vergasungen in Neuengamme ist falsch. In
Neuengamme fanden keine Vergasungen statt. Einzelheiten darüber sind
im Beitrag Nr. 447 von einem Zeitzeugen angegeben, der nach 1945
längere Zeit in diesem Lager war,1 Rolf Kosiek

502
Bordelle in Konzentrationslagern

B ei der dem Umfang nach ungeheuren Literatur über die deutschen


Konzentrationslager fallt auf, daß in den meisten Fällen der ausführ-
lichen Beschreibung dieser Lager die offenbar dort bestehenden Bordel-
le nicht erwähnt werden. Dieses Entgegenkommen der Lagerverwaltun-
gen, das so gar nicht ins landläufige Bild der Lager paßt, soll offensichtlich
verschwiegen werden. Eine Behandlung dieses Themas erscheint aber
für eine sachliche Beurteilung doch wichtig.
Das erste von insgesamt zehn KL-Bordellen 1 wurde am 10. Juni 1942
in Mauthausen 2 eröffnet. Bald folgten Gusen (Oktober 1942) und eine
Kette weiterer Bordelle in Buchenwald' (11. 7. 1943), Flossenbürg 4 (Juli
1943), Auschwitz-Stammlager (Oktober 1943) und Auschwitz-Monowitz
(15. 11. 1943), in Neuengamme 5 (Frühjahr 1944), Dachau 6 (11. 5. 1944)
und Sachsenhausen (8. 8. 1944). Das letzte KL-Bordell von allen wurde
Anfang 1945 in Mittelbau-Dora ins Leben gerufen. Ein »wildes« Bordell
soll sich nach Aussage des Ex-Häftlings Samuel PTSAR (Das Blut der Hoff-
nung in Auschwitz-Birkenau gebildet haben.
Die >Freudenbaracken< dienten nicht nur dem Vergnügen ihrer Besu-
cher. In erster Linie ging es darum, die Arbeitsleistung der Häftlinge zu
steigern, die von der KL-Verwaltung an kriegswichtige Betriebe >verleast<
waren und in der Rüstungsindustrie wichtige Aufgaben erfüllten.
Auf Drängen der interessierten Industrie programmierte Reichsfüh-
rer-SS Heinrich H I M M L E R ein mehrstufiges Prämiensystem: »Die dritte
Stufe muß in jedem Lager die Möglichkeit sein, daß der Mann ein- oder
zweimal in der Woche das Lagerbordell besucht. Dieser ganze letzte Kom-
plex ist nicht übertrieben schön, aber er ist natürlich, und wenn ich diese
Natürlichkeit als Antriebsmittel für höhere Leistungen habe, so finde
1 Reinhild KASSINC. U. Christa Paul, »Bordelle in deutschen Konzentrationsla-
gern«, in: Krampfader; Kasseler Frauenmagazin Nr. 6 , 1 9 9 1 , Nr. 1 ; Christa PAUL,
Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus, Berlin 1994.
2 Andreas BAUMGARTNER, Die vergessenen Frauen vonMauthausen. Die weiblichen Häft-
linge des Konzentrationslagers Mauthausen und ihre Geschichte, Wien 1997, S. 93—103.
3 Bericht der AG Häftlingsbordell in Buchenwald des 12, Antifa-Workcamps,

* Hans-Peter KLAUSCH, »Das Lagerbordell von Flossenbürg«, in: Beiträge %ur Ge-
schichte der Arbeiterbewegung, Nr. 4,1992.
5 Heinrich Christian M E I E R , So war es. Das heben im KZ Neuengamme, Hamburg

1948.
6 Rudolf KALMAR, Zeit ohne Gnade, Wien 1946, S. 165-181.
T Das Häftlingsbordell im Kontext der Wirtschaftsinteressen der SS am Beispiel des KZ.
Mittelbau-Dora, 27. Dora-Kolloquium, 21. 10. 2003.

503
ich, daß wir verpflichtet sind, diesen Ansporn auszunutzen.« Nach der
Dienstvorschrift für die Gewährung von Vergünstigungen an Häftlinge vom 15.
Mai 1943* wurde Übererfüllung in der Rüstung mit Bons belohnt, die im
Lagerbordell in Zahlung genommen wurden.
Wer ins Bordell wollte, mußte eine Erlaubnis beantragen. »Da ging man
hin zum Blockältesten und sagte, ich möchte mal in den Sonderbau«, über-
liefert der ehemalige Buchenwald-Häftling Albert VAN D I J K . Am gleichen
Abend oder am nächsten oder übernächsten Abend wurde beim Appell
seine Nummer aufgerufen: »7646?« — »Jawohl!« — »Weißt Bescheid?« — »Ja-
wohl!« - »Zum Bad und sauberes Handtuch mitbrin-
gen!« Im Bad erhielt er saubere Unterwäsche, wenn der
Häftlingsanzug nicht mehr sauber war, auch einen neu-
en Häftlingsanzug: »Das war schon w a s . . . Und dann
hatte man noch ein Mädchen - alles für zwei Mark.«9
Von politischen Häftlingen wurde das Bordell boy-
kottiert. Man sah darin den Versuch, die KL-Insassen
zu korrumpieren und durch differenzierte Hierarchi-
sierung die Solidarität unter den politischen Häftlin-
gen zu brechen. In Buchenwald, wo kommunistische
Häftlinge eine Untergrundstruktur aufgebaut hätten,
verbot eine interne Weisung den Besuch, doch gingen
Genossen trotzdem hin.1" Bei einem Uberprüfungs-
verfahren der Kontrollkommission der KPD Buchen-
wald nach dem Krieg wurden neun Rügen wegen »Be-
suchs des Sonderbaus« ausgesprochem. 11 Bekanntester
Fall war der des KPD-Kaders Ernst B U S S E (1897—
1952), der von den sowjetischen Besatzern 1946 als
thüringischer Innenminister eingesetzt wurde. Auch
ihm wurde fortgesetzter Bordellbesuch im KL vorge-
worfen. Als Kapo im Krankenbau wohnte der Bonze
Der sogenannte >Son- sogar mit einer der »Damen« zusammen. Am 18. April 1947 wurde
12

de r bau < im Konzen- B U S S E ZU einer Besprechung ins sowjetische Hauptquartier nach Berlin-
trationslager Buchen- Karlshorst beordert, von der er nicht wieder zurückkehrte. Am 27. Fe-
wald. bruar 1951 wurde er vom Militärtribunal der Garnison im Sowjet-Sektor

8 Bundesarchiv Berlin, NS 3/426.


9 Rosemarie M I E D E R U. Gislinde SCHWARZ, »Alles für zwei Mark. Das Häftlingsbor-
dell von Buchenwald«, in: MDR-Hörfunk, 21. 5. 2003.
10 Kai M I C H E L , »Stumme Zeugen«, in: Die Zeit, Nr. 20, 2005.
11 Wie Anm 3.
12 Rebecca H H I A U E R , »Arbeit skom man do Bordell«, in: Die Wochenzeitung, 1 8 , 8,
2005.

504
von Berlin als angeblicher Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verur-
teilt. Er starb im Sonderlager Nr. 6 in Workuta.
Mit Ausnahme von Auschwitz13 wurden die Belegschaften in den Bor-
dellen der einzelnen Lager im Frauen-KL Ravensbrück rekrutiert. 14 In
der Überzahl waren es Profi-Prostituierte, die als >Asoziale< schon vorher
dem Gunstgewerbe nachgegangen waren.
Die für die KL-Bordelle Ausgesuchten wurden auf Geschlechtskrank-
heiten untersucht, unter der Höhensonne gebräunt und zur Steigerung
ihres >Sex Appeals« >gestylte »Unsere Bekleidung war ein Faltenrock, ein
kleiner Schlüpfer und ein Büstenhalter«, erinnert sich eine Einstige. Die
Arbeitskleider waren nicht blau-weiß gestreift wie die übliche Häftlings-
kluft, sondern in Weiß gehalten, 15
Aus dem Grundriß der Bordell-Baracke in Mauthausen, »Sonderbau«
genannt, ist ersichtlich, daß die betreffenden Frauen in Doppelzimmern
des rückwärtigen Teils untergebracht waren und im vorderen Teil in klei-
neren Separees ihre Obliegenheiten verrichteten. Vor den Fenstern des
Sonderbaus hingen Gardinen, Blumen standen auf den Tischen. Der
Gemeinschaftsraum war hell, in den >Arbeitszimmern< befanden sich breite
Liegen mit sorgsam gefalteten Decken.
Auf Anordnung des Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes vom 10.
November 1943 durften bei Lagerbesichtigungen Bordelle und Verbren-
nungsanlagen weder gezeigt, noch durfte darüber gesprochen werden.
Nach 1945 wurden die Krematorien hervorgehoben, die Bordelle hinge-
gen totgeschwiegen. »Das große Schweigen« - so der Titel einer diesbe-
züglichen ARD-Dokumentation 16 — gründete auf der Befürchtung, durch
Enthüllungen über Häftlings bördelte den Schrecken der Lager zu ver-
harmlosen. Das Bordell paßte nicht in die Diskussionen über das Leiden
der Häftlinge und des antifaschistischen Widerstandes in den Konzen-
trationslagern. »In diesem Ensemble hatte ein Häftlingsbordell keinen
Piatz, denn der Opfer- und Widerstandsdiskurs mußte nicht nur kurz
und prägnant sein, sondern auch rein gehalten werden. Sicherlich waren
es auch pragmatische Gründe, die das Häftlingsbordell aus den. . . Ge-
denkstätten verschwinden ließ: Es überwogen Ängste, den Besuchern

13 Die Prostituierten für das Häftlingsbordell in Auschwitz wurden direkt im


dortigen Frauenlager ausgewählt.
14 Christa SCHULZ, »Weibliche Häftlinge aus Ravensbrück in den Bordellen der

Männerkonzentrationslager«, in: Claus FÜLLBERG-STOLBERG u.a. (Hg.), Frauen in


Konzentrationslagern. Bergen-Belsen, Ravensbrück, Bremen 1994.
15 Wie Anm. 5.
16 Karen NIEMEYER U. Caroline VON DER TAUN, Das große Schweigen, Dokumentar-
film der ARD, 9.11.1995.

505
ein falsches Bild vom >Leben< in einem KZ zu vermitteln.« 1 Das Häft-
lingsbordel! im KL Sachsenhausen wurde nach dem Krieg abgerissen.18
Das Museum Mauthausen leugnet zwar nicht das Häftlingsbordell, gab
sich aber bis zur Premiere der Wanderausstellung über KL-Bordelle (2006)
noch Mühe, es nur am Rande zu erwähnen. Da das ehemalige Bordell
dort praktisch am Eingang liegt, war eine Tabuisierung kaum möglich.
In der KZ-Gedenkstätte Dachau findet sich bis heute kein Hinweis
auf die einstige Existenz eines Bordells, weder in der Ausstellung noch
auf dem Lägerplan. In der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Bu-
chenwald< erließ die Lagergemeinschaft in den fünfziger Jahren eine An-
ordnung, diese Einzelheit bei Führungen auf gar keinen Fall zu erwähnen.
In Auschwitz befindet sich heute in den Räumen des Häftlingsbordells
das Archiv. Bei Interviews mit ehemaligen Häftlingen streicht das Staat-
liche Museum Auschwitz-Birkenau sogar einschlägige Aussagen von Häft-
lingen aus den Um frage bögen.' 9
Die als asozial klassifizierten KL-Prostituierten wurden wiedergutma-
chungsrechtlich nicht als politisch Verfolgte anerkannt, begehren aber
heute als >Sex-Zwangs arbeite rinnen* Gelder aus dem Titel politischer Ver-
folgung. Insa E S C H E B A C H , Leiterin der »Gedenkstätte Ravensbrück<, geht
von ungefähr 300 Frauen aus, die zur Prostitution in Häftlingsbordellen
gezwungen wurden.2"
Von Vertretern der Geschichtswissenschaft indessen wird der Zwangs-
arbeits-Charakter der KL-Unzucht hartnäckig geleugnet: »Entgegen allen
Gerüchten wurden Frauen in Ravensbrück nicht gezwungen, Prostituierte
zu werden«, war das Ergebnis der Forschungen von Professor M O R R I S O N
von der Universität Shippensburg in Pennsylvanien. Zwar lasse sich nicht
behaupten, daß sie sich vollkommen freiwillig zur Verfügung stellten:
»Angesichts ihrer Lebensbedingungen und der Versprechungen, die ih-
nen gemacht wurden, überrascht es nicht, daß viele Frauen das Angebot
annahmen.« Jedenfalls haben sich mehr gemeldet, als angenommen wur-
den. Was Auschwitz anbelangt, hinterließ der Überlebende Hermann

17 Robert SOMMER, Der Sonderbau. Die Errichtung von Bordellen in den nationalsoziali-

stischen Konzentrationslagern, Magister-Arbeit, Humboldt-Universität, Berlin 2003,


S . 3 f.
1B Christi WICKERT, »Tabu Lagerbordell. Vom Umgang mit der Zwangsprostitu-

tion nach 1 9 4 5 « , in: Insa ESCHEBACH, Sigrid JACOBEIT U. Silke W E N K (Hg.), Ge-
schlecht und Gedächtnis, Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Geno-
zids, Frankfurt/M.—New York 2002, S. 41-58.
19 Aussage von Karin G R A F U. Florian Ross, Mitarbeiter des »Bildungs werks Sta-

nislaw Hantz e.V.<, Januar 2002, zit. von SOMMER, aaO, (Anm. 17), S, 5.
"" Waltraud SCHWAB, »Auf einem vergessenen Lager im Lager«, in: tazj 5. 2.
2007.

506
LANGBEIN: »Die Lagerführerin M A N D E L achtete streng darauf, daß die
Meldungen für das Bordell freiwillig erfolgten.« 21
M O R R I S O N zufolge konnten diese Frauen bis acht Uhr morgens schla-
fen, sodann den Tag vertrödeln, um schließlich sich zwei Stunden am
Abend des Beischlafs zu befleißigen, »Die Kunden zahlten zwei Mark,
von denen die Prostituierte eine behielt.. . Mit einer Mischung aus Neid
und Verachtung bemerkte ein Mithäftling, daß diese >Dirnen< mit drei-
tausend Mark auf ihrem Konto zurückkamen.« 22 Der politische Maut-
hausen-Häftling Gerhard K A N T H A C K hob hervor, daß Dirnen, die ein
Verhältnis mit Höhergestellten der Häftlingshierarchie hatten, in ihrer
Freizeit »in den feinsten Kleidern und Kostümen, durchwegs eleganteste
Maßarbeit, herumliefen, seidene Strandanzüge mit Hosen und derglei-
chen mehr trugen und ebenso die besten und feinsten Nahrungs- und
Genußmittel, ebenso wie Schmuck und Alkohol zugesteckt bekamen«. 23
Der katholische Eugen K O G O N ( 1 9 0 3 - 8 7 ) , Häftling in Buchenwald,
stellt den dortigen vBettschwestern< kein gutes Sittenzeugnis aus: »Die
mitgebrachten Krankenblätter wiesen immerhin überstandene Krankhei-
ten von einer Art aus, die nicht gerade einen übermäßig seriösen Lebens-
wandel ihrer Vor-KL-Zeit dokumentierte. Bis auf eine einzige Ausnah-
me, eine (vermutlich lesbische, F. D.) Lehrerin. .. haben sie sich in ihr
Schicksal ziemlich hemmungslos gefügt. Gleich bei ihrer Ankunft ani-
mierten sie in völlig eindeutiger Weise.«24
Jorge S E M P R Ü N , 1923 geboren, rotspanischer Bürgerkriegs-Veteran,
Buchenwald-Häftling 1943—45 und Träger des Friedenspreises des Deut-
schen Buchhandels 1994, nannte die >Damen< sogar beim Namen: »Ich
habe nicht die Namen der Nutten S T A H L H E B E R oder B Y K O W S K J « , der von
der Kundschaft des Bordells gefragtesten, neben der D Ü S E D A U und der
M I E R A U »erfunden, die im Dezember 1 9 4 4 im Sonderbau von Buchen-
wald arbeiteten«.23 Fred Duswald

21 Hermann LANGBEIN, Menschen in Auschwitz Wien 1 9 7 2 , S . 4 5 3 , zit. bei Claudia


SCHLENKER, trauen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, phil. Magisterar-
beit, Universität Konstanz 1998, S. 78.
n Jack G . MORRISON, Ravensbrück. Das Leben in einem Konzentrationslager für Frauen

1939-1945, Zürich-München 2002, S. 213 ff.


23 Archiv Mauthausen, Memorial V3/20, S . 2 4 / 2 5 , zit, bei Andreas BAUMGART-
NER, aaO. (Anm. 2 ) , S . 9 4 .
24 Eugen K O G O N , Der SS-Staat, Stockholm 1947, S. 198 f.
25 Jorge SEMPRÜN, Was für ein schöner Sonntag, München 2 0 0 4 (Süddeutsche Zeitung,l

Bibliothek 1 7 ) , zit. bei Tita GAEHME, »Frontbordelle. Die Nazis und die Prosti-
tution«, Deutschland-Radio, 2 9 . 4 . 2 0 0 3 .

507
Jazz im KL

or der Kulisse des Steinbruchs im früheren KL Mauthausen fanden


V im Jahre 2005 spektakuläre Veranstaltungen statt: Die Wiener Phil-
harmoniker unter Sir Simon R A T H E gaben BEETHOVENS Neunte. Der Jaz-
zer Joe ZAWINUL ( » E S wäre völlig vermessen, Authentizität herstellen zu
wollen«) ließ mit massiver technischer und multimedialer Verstärkung
zum 60. Jahrestag des Baubeginns seine Mauthausen-Kantate erschallen.
Doch keiner der Schaulustigen, die zu dem Ereignis erschienen waren,
ahnte auch nur im leisesten, daß Musik längst in der Luft lag, als das
Lager noch von Häftlingen belebt war. »Daß sich so viele Häftlinge so
oft mit Musik beschäftigt haben, überrascht und wurde bisher kaum zur
Kenntnis genommen«, bedauert der tschechische Musikwissenschafter
Milan K U N A : »Die Gelegenheiten und Anlässe, zu denen musiziert wur-
de, waren dabei ebenso unterschiedlich wie die Musik, die dabei gemacht
wurde.«
Im August 1 9 4 2 hatte SS-Gruppenführer Heinrich MÜLLER (»Gestapo-
Müllen) allen KL-Kommandanten befohlen, in jedem Hauptlager eine
Kapelle zu bilden. Öffentlich spielten die Orchester auf dem Appell-
platz, musikalisch begleiteten sie die Häftlinge, wenn diese frühmorgens
in Kolonnen durch das Lagertor zur Arbeit ausrückten und nach Feier-
abend wieder geschlossen ins Lager zurückkehrten. Auch bei hohem
Besuch traten die Kapellen in Aktion: Noch im Januar 1945 hieß man
HIMMLER in Mauthausen mit dem >Hochzeitsmarsch< aus W A G N E R S Lohen-
grin und mit dem Florentinermarsch n Julius FUCIK.1 willkommen, anläßlich
eines noch späteren Besuchs mit SUPPES Leichter Kavallerie und SCHUBERTS
Unvollendeter, beides Lieblingsmelodien auch des Lagerkommandanten
Franz ZIEREIS. 2
1Julius FUCIK, geb. 1872 in Prag, war k.u.k. Militärkapellmeister in Sarajevo,
Budapest und Theresienstadt, lebte ab 1913 in Berlin, wo er 1916 starb. Er
hinterließ 400 Kompositionen, überwiegend Märsche, darunter auch den Ein-
zug der Gladiatoren, besser bekannt als Zirkusmarsch, und ist nicht zu verwechseln
mit dem gleichnamigen, aber nicht zeitgenössischen kommunistischen Journali-
sten und Schriftsteller Julius FUCIK (1903-1943), der vom Volksgerichtshof we-
gen Hochverrates zum Tode verurteilt und in Berlin-Plötzensee hingerichtet
wurde.
2 F r a n z ZIEREIS ( 1 9 0 5 - 1 9 4 5 ) , S S - S t a n d a r t e n f ü h r e r , w a r 1 9 3 9 - 1 9 4 5 K o m m a n -
dant des KL Mauthausen, wurde von einem US-Soldaten auf der Flucht ange-
schossen und von den Amerikanern - statt ärztlich versorgt zu werden - »zu
Tode verhört«. Unter der Wirkung »belebender Mittel« wurde auf dem Sterbe-
Julius FUCIK. bett ein Protokoll aufgenommen. Nach Unterfertigung starb ZIEREIS. »Die Ge-

508
»Im Lager als Musiker anerkannt zu sein, brachte kleine Vorteile mit
sich«, erklärte K U N A . Die Orchester waren zwar als Arbeitskommando
organisiert, wurden aber, wenn sie nicht gerade musizierten, zu leichte-
ren Arbeiten eingeteilt. Sie unterhielten nicht nur
die Mithäftlinge, sondern sonnten sich auch in der
Huld der Hierarchie. Der Kommandant des Lagers
Flossenbürg mutierte zum sanften Lamm, wenn
ihm die Lager-Musik sein Lieblingslied Warum bat
die Eule so geheult? zu Gehör brachte.
In Dachau, dem ältesten KL auf deutschem
Boden, war die Musik-Kapelle gar ein eigenes Ar-
beitskommando. Die Mitglieder probten jeden Tag,
erhielten hierfür eine Zulage und begrüßten aus-
wärtige Besucher mit deutschen Märschen und mit
leichter Musik. Standard waren unter anderem die
zweite Ungarische Rhapsodie von Franz L I S Z T sowie
die Ouvertüren zu O F F E N B A C H S Orpheus in der Un-
terwelt, ROSSINIS Diebischer Elster und Suppßs Dichter
und Bauer. Auch STRAUSS-Walzer spielte man.
Eines der erstaunlichsten Kapitel in den KL
aber war der Jazz. Bekanntlich hatten die Natio-
nalsozialisten den von ihnen so genannten >Nig-
ger-Jazz< in Acht und Bann getan und erlaubten
erst später einige Erleichterungen. »Um so un-
glaublicher scheint es, daß in deutschen Konzentrationslagern Jazzmu- B Entartete Musik«.
sik gemacht werden konnte«, wunderte sich K U N A . Tatsächlich wurde Plakat von Hans Se-
Häftlings-Jazz nicht nur geduldet, sondern sogar von SS-Angehörigen verus ZIEGLER aus dem
gern gehört. Der offizielle Boykott ließ die Bewacher kalt, die Häftlinge lahre 1939. Vor allem
konnten >hotten<, was die Saxophone hergaben. der »Nigger-Jazz< war
in den offiziellen
In Buchenwald jazzte eine 14köpfige Combo namens >Rhythmus<. Der Kreisen besonders
französische Kommunist Louis vMarccw MARKOVITCH gab musikalisch den verpönt.
Ton an und beherrschte Tenorsaxophon und Klarinette, sein Landsmann
Ives D A R I K T , bekannt unter dem Künstlernamen Jean R O L A N D , schrieb
die Arrangements. Der Däne Finn J A C O B S E N und der Niederländer L E N A
bliesen die Trompete. Die >Rhythm-Boys< mit dem Russen N I K O L A J an

fangenen«, überliefert Friedrich VON GAGERN, »vernahmen die Kunde, stürm-


ten den Raum, holten die nackte Leiche vom Tisch, schleiften sie am Halsstrick
durchs Lager, malten ihr mit roter Farbe einen letzten Heilgruß an den Führer
über Rücken und Gesäß und hängten sie am Stacheldrahtzaun auf«, zitiert bei
Alphons MATT, Einer aus dem Dunkel. Die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthau-
sen durch den Bankbeamten Haefliger, Zürich 21995, S. 127. Franz ZIEREIS.

509
der Gitarre, John VERDEN am Schlagzeug und Herbert GOLDSCHMIED am
Piano übten >Etüden< von Duke ELLINGTON, Cole PORTER, Glenn MIL-
LER, W . C HANDY und Irving BERLIN. Hinzu kamen Hits der Jazz-Genies
von Louis ARMSTRONG über Artie SHAW bis zu Fats WALLER. Abgesehen
von größeren Unterhaltungs konzer ten in der Kinohalle wanderten die
Jazzer in kleiner, wechselnder Besetzung von Block zu Block: »Bei sol-
cher Gelegenheit konnten sie dann beispielsweise auch mit Glenn MIL-
LERS In the Mood aufwarten, das im besetzten Europa noch fast nirgend-
wo zu hören gewesen war.«
Damit das Buchenwalder Jazzorchester spielen konnte, mußten ein-
flußreiche Funktionshäftlinge begabten Musikern solche Arbeitsplätze
verschaffen, die ihnen Kraft und Muße für das Musizieren ließen, aner-
kannte KUNA, Um jazzgerechte Arbeitseinteilung kümmerte sich der kom-
munistische Professor Herbert WEIDLICH, der seit 1942 in Buchenwald
einsaß und sich um die Pflege des Jazz im KL größte Verdienste erwarb.
Er nutzte seine Funktion weidlich aus und hielt seine Hand über die
Interpreten. Sein »Arbeitseinteilungskommando« hatte, wie er betonte,
auch einen bedeutenden Anteil an der »antifaschistischen Widerstands-
leistung«.
In Sachsenhausen wiederum saßen Jungtschechen, die an verbotenen
Studentendemonstrationen teilgenommen hatten. Diese sogenannten
>Sing-Sing-Boys< sangen Schlager von Jaroslav JEZEK, die wegen ihres Tex-
tes im Dritten Reich verboten waren. Der Chor löste sich ersatzlos auf,
als die >Boys< im Laufe des Jahres 1942 wieder nach Hause reisen durften.
Gepflegten Tschechen-Jazz hörte man auch in Mauthausen: Dort er-
wehrte sich der promovierte Blockfriseur Dr. Jaroslav TOBIASEK, der zum
großen Lagerorchester gehörte, aber auch Motor der Mini-Jazzband war,
erfolgreich der Rivalität des Dirigenten RUMBAUER, der die Combo als
Konkurrenz behinderte. Die Mitglieder der Kapelle stammten aus allen
Ländern Europas, Saxophonist war Rudolf DUDÄK.
Selbst in Bistritz bei Beneschau, einem Klein-KL südwestlich von Prag,
wurde Jazz gespielt: Die Pianisten KOPECKY, MANC und ZSCHOK entlock-
ten den Klavieren Melodien aus GERSHWINS Werken Rhapsody in Blue und
Ein Amerikaner in Paris. FISCHERS Tanzorchester intonierte Kompositio-
nen von Cole PORTER, Duke ELLINGTON, Charlie CHAPLIN und Irving
BERLIN. Hinzu kamen noch allerlei Lieder, interpretiert von POSPISIL, So-
BESKY oder vom >Lager-Caruso< KABOUREK.
In Auschwitz, wo die Swing-Combo >Die Fröhlichen Fünf< (poln. >Wesoa
Pitka<) existierte, nahm SS-Unterscharführer Pery BROAD Anteil am Jazz-
geschehen: »War BROAD besserer Laune, hörte er zu, wenn moderner
Jazz gespielt wurde, oder nahm selbst daran teil, wobei er mit fachmänni-
scher Leichtigkeit auf einem Multiregisterakkordeon swingte.« (KATER,

510
S. 327) Wegen Beihilfe zum Mord w u r d e der SS-Jazzfan im ersten Ausch-
witzprozeß in Frankfurt am Main verurteilt. 1
Vor seinem Auftreten mit d e m Prager Geiger Otto S A T T L E R und d e m
niederländischen D u o >Jonny und Jones< in Auschwitz hatte sich der aus
Berlin gebürtige Häftling und Jazzgitarrist C o c o S C H U M A N N ( * 1 9 2 4 ) als
>Ghetto-Swinger< in Theresienstadt bewährt. Dort wetteiferte das »Weiss-

Die Ghetto-Swingers
unter Leitung von
Martin R O M A N , Stand-
foto mit Coco S C H U -
M A N N , Fricek W E I S S ,

Fritz G O L D S C H M I D T ,
NETTL, RATNER, ) . T A U S -

SIG u.a. aus: Kurt GER-


RON, Theresienstadt -
ein Dokumentarfilm
aus dem jüdischen
Siedlungsgebiet.

1 Pery BROAD, geb. 1921 in Rio de Janeiro als Sohn einer Deutschen und eines
brasilianischen Kaufmanns, wuchs in Freiburg im Breisgau auf, begann nach
dem Abitur 1940 ein Studium an der Berliner Technischen Hochschule. Seit
1931 war BROAD Angehöriger der Hitler-Jugend. 1941 meldete er sich zur Waf-
fen-SS. Im April 1942 wurde er zum Wachdienst nach Birkenau kommandiert.
Nach Räumung des Lagers Auschwitz geriet er am 6. Mai 1945 in britische
Gefangenschaft. Er diente sich den Engländern als Dolmetscher an. Um ihre
Gunst zu gewinnen, fertigte er aus freien Stücken eine umfangreiche »Denk-
schrift« über die Verhältnisse in Auschwitz an, die er den Besatzern am 13, Juli
übergab und die er am 14. Dezember 1945 in einem »Affidavit« (eidess tat dich e
Erklärung) bekräftigte. Nachdem er in Nürnberg am 20. Oktober 1947 aber-
mals eine Erklärung abgegeben hatte, entließen ihn die Briten. Am 30. April
1959 verhängte die deutsche Justiz Untersuchungshaft. Im Dezember 1960 wurde
er gegen eine Kaution in Höhe von 50000 DM auf freien Fuß gesetzt. Im
November 1964 aufs neue verhaftet, wurde er im ersten Auschwitzprozeß vom
Landgericht Frankfurt am Main am 19. August 1965 wegen Beihilfe zum Mord
zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft
hatte er seine Zuchthausstrafe im Februar 1966 abgesessen. Im Februar 1994
starb BROAD in Kaarst im Rheinland. Seine Denkschrift aus dem Jahre 1945 ist
im Sammelband AuschwitzAugen der SS enthalten, den das Staatliche Mu-
seum Auschwitz als Propagandamaterial verbreitet.

511
Quartett mit dem >Dixieland-Orchester< von Erich V O G E L . Bedoich W E I S S ,
genannt >Fricek<, war schon dem Prager Publikum der dreißiger Jahre als
einer der profiliertesten Jazzer ein Begriff und machte nun im Camp
seinen >Doktor Swingc Nicht nur äußerlich ähnelte er Benny G O O D M A N ,
der von den Nationalsozialisten als >Swing-Jude< verunglimpft wurde, er
spielte auch in diesem Stil. Unter der Ägide des begabten deutschjüdi-
schen Pianisten Martin R O M A N schlossen sich beide Kapellen zusam-
men, um fortan als »Ghetto Swinger s< zu firmieren. Der bekannte RO-
MAN, ein GOODMAN-Verehrer wie W E I S S , war aus rassischen Gründen von
Berlin nach Amsterdam ausgewandert und hatte vor 1940 die bekannten
Amerikaner Louis A R M S T R O N G , Coleman HAWKINS und Lionel HAMPTON
auf Tourneen begleitet. R O M A N war auch mit dem >Zigeuner-Baron< Djan-
go R E I N H A R D T unterwegs gewesen. Von dem holländischen KL Wester-
bork nach Theresienstadt geholt, übernahm er die künstlerische Leitung
und arrangierte mit W E I S S an die dreißig neue Kompositionen, Zur Kenn-
melodie wählte man G E R S H W I N S / Cot Rhythm. Der Tenor Fredy H A B E R
und ein feminines Trio im Stil der »Andrews Sisters< wirkten als Vokali-
sten.
Die Ghetto-Swingers, die im Cafe am Marktplatz auftraten, jazzten
auch im Film Der Führer schenkt den Juden eine Stadt, auf dem der jüdische
Regisseur Kurt G E R R O N (1897-1944) das Vorzeige-KL für Werbezwecke
auf Zelluloid bannte. Die Bandmitglieder, die im Film mit einem Swing-
arrangement des >Bugle Call Rag< einheizten, trugen einen blauen Blazer,
der mit dem Davidstern verziert war. »Ist all das nicht ein Wunder?« frag-
te sich in seinem Tagebuch der musikalische Willi M A H L E R unter dem
Eindruck des »Großen Festkonzerts< am 25. Juni 1944 in Theresienstadt.
»Der deutsche Soldat verliert den Kampf um sein Dasein im Westen,
Süden und in Osteuropa, und die Juden, eingeschlossen in der.. . There-
sienstädter Atmosphäre, haben die Möglichkeit, Promenadenkonzerten
ihrer Kapelle zuzuhören und dazu noch auf Befehl der deutschen Lei-
tung unserer Siedlung.«
Doch je näher die Rote Armee rückte, desto frecher texteten die Tsche-
chen: » . . . am Ende werden wir alle lachen, Wenn jeder auf Deutschland
scheißt.«
Von oben: Coco
Der Prager Musikant Karel H A S L E R (Unser tschechisches Lied) hatte hier-
SCHUMANN u m 1942; zu keine Gelegenheit mehr. Er wurde in Mauthausen von Mithäftlingen
das Signet der Ghet- ermordet. Dem Saxophonisten Rudolf D U D A K rettete sein Instrument
to-Swingers; der Sinti das Leben, als ein US-Flieger aus heiterem Himmel auf die Opfer des
Django R E I N H A R D T , Faschismus im Lager schoß: »Der Angriff erfolgte am hellen Tag, wäh-
der die Kriegsjahre rend gerade die Lagerkapelle auf dem Appellplatz musizierte. Die Musi-
unbehelligt in Paris
verbrachte.
ker stoben auseinander, um vor den Querschlägern Deckung zu suchen.
Rudolf D U D A K trug dabei zum Glück das Saxophon an einem Band um

512
Einladung des Ger-
ron -Swingorchesters.
Aus: Coco SCHU-
MANN, Der Ghetto-
Swinger. Eine Jazzle-
gende erzählt,
Deutscher Taschen-
buchverlag (dtv),
München "2005,

den Hals, so daß das Instrument seinen Bauch deckte. Ein Geschoß streifte
das Metall, glitt ab wie an einem Stahlhelm, und D U D A K kam mit dem
Leben davon.« Fred D u s w a l d

Literatur
Wolfgang M U T H , >»Rhythmus< — ein internationales Jazz.orchester in Buchen-
wald«, in: Eiserne Lerche. Hefte für eine demokratische Musikkultur, Nr. 2, 1984,
Wolfgang M U T H , »Musik hinter Stacheldraht. Swing in Ghetto und KZ«, in:
Bernd POLSTER (Hg,): >Smng Heile Jazz imNationalsozialismus, Berlin 1 9 8 9 .
Guido FACKLER, »Musik in Konzentradons- und Vernichtungslagern«, in: Akti-
on Sühnezeichen Friedensdienste (Hg.), Gedenkstätten-Rundbrief, Nr, 44, 1991.
Guido FACKLER, »Jazz im K Z . Fin Forschungsbericht«, in: Wolfram KNAUER
(Hg.), Jazz in Deutschland. Eine Veröffentlichung des Jazz-Instituts Darmstadt,
Hofheim 1996 (Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung 4).
Coco SCHUMANN, Der Ghetto-Swinger. Eine jazzlegende erzählt, Deutscher Taschen-
buchverlag (dtv), München 1997, 6 2005.
Michael H. KATER, Gewagtes Spiel. Jazz imNationalsozialismus, Deutscher Taschen-
buch-Verlag (dtv), München 1998.
Milan K Ü N A , Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus den
böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen,
Frankfurt/M. 21998.
Szymon LAKS, Musik in Auschwitz, Düsseldorf 1998 (Schriftenreihe des Fritz
Bauer Instituts 15).
Guido FACKLER, Des Lagers Stimme. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den
Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis
1945, Bremen 2000 piZ-Schrifteo 11).

513
Priester als Apfelzüchter im KL Dachau

ber das Schicksal vieler während des Krieges in Konzentrationsla-


U gern gefangen gehaltener Häftlinge gibt es Veröffentlichungen. Ein
wenig bekanntes, aber vielsagendes ist das von Pfarrer Korbinian AIG-
NER.
Der >Apfelpfarrer< Korbinian A I G N E R (1885-1966) entstammte einer
kinderreichen Bauernfamilie im Landkreis Erding. Er ergriff den geistii-
chen Beruf und gründete als Hobby den >Hohenpoldinger Obstbauver-
ein<.
Der populäre Priester betätigte sich aber auch in der Politik. Seit 1916
Mitglied der Bayerischen Volkspartei, polemisierte er ohne Rücksicht auf
Kanzelparagraph und Konkordat mutig gegen die Nationalsozialisten und
provozierte die Partei bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Als Pfarrer
in Sittenbach bei Dachau weigerte er sich, Kinder auf den Namen des
heiligen A D O L F zu taufen, der von 1185 bis 1224 lebte und Bischof von
Osnabrück war. Nachdem er im März 1936 in eindeutiger Absicht die
Der Apfelpfarrer
Korbinian A I G N E R allgemeine Anordnung mißachtet hatte, zum Zeichen der Zustimmung
(1885-1966). Erhielt zur Friedenspolitik der Reichsregierung die Kirchenglocken läuten zu
sämtliche ihm be- lassen, wurde er im Januar 1937 von der geistlichen Obrigkeit nach Ho-
kannten Apfel- und henbercha im Landkreis Freising strafversetzt.
Birnensorten auf rund Zum Bürgerbräu-Attentat, bei dem Georg E L S E R am 8. November
tausend Karteikarten
als Aquarelle fest. 1939 nicht Adolf H I T L E R , wohl aber acht andere Menschen getötet und
viele weitere verletzt hatte, gab A I G N E R als Katechet den Kindern in der
Religionsstunde unter anderem den ziemlich unchristlichen Kommen-
tar: »Ich weiß nicht, ob das Sünde ist, was der Attentäter im Sinn hatte.«
Auf Grund der Anzeige der empörten Aushilfslehrerin Charlotte GER-
LACH am 22. November 1939 festgenommen, wurde der Priester in der
Gerichtsverhandlung am 7. Mai 1940 wegen Verstoßes gegen § 2 des
Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei vom 20.
Dezember 1934 {Reichsgesetzblatt I, S. 529) zu sieben Monaten Gefängnis
verurteilt. Wegen Anrechnung der Untersuchungshaft wurde er am 23.
Juni 1940 zwar aus der Anstalt entlassen, doch unter dem Titel der Schutz-
haft am 12. September 1940 ins KL Sachsenhausen überstellt.
Am 3. Oktober 1941 wurde er in das KL Dachau verlegt, wo dank
eines Einspruchs des Heiligen Stuhls alle Schutzhäftlinge geistlichen Stan-
des zusammengezogen wurden. Im Dezember 1940 wurde aus drei ein-
ander benachbarten Baracken der separate >Pfarrerblock< gebildet. Im
Januar 1941 wurde die Stube 4 des Blocks 26 als Kapelle eingerichtet, wo
die Geistlichen unter Zuteilung der erforderlichen Menge an Meßwein
den Gottesdienst feiern konnten. Die erste heilige Messe wurde am 20.

514
Priester als Apfelzüchter im KL Dachau

Januar 1941 mit einem Altar aus einem kleinen Tisch, zwei hölzernen
Kerzenhaltern, einem kleinen Kelch, einer hölzernen Monstranz und ei-
nem Kreuz gelesen.
Als Insasse des Pfarrerblocks mit der Häftlingsnummer 27788 arbeitete
A I G N E R auf der Plantage der »Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung
und Verpflegung GmbH<, die der SS gehörte. Zwischen 800 und 1200
Häfdinge des Lagers Dachau waren damit beschäftigt, auf einer 80 Hektar
großen Fläche rund 110 Arten von Heilkräutern und Gewürzen anzu-
bauen und zu ernten. Auch Blumen und Gemüsesorten wurden gepflanzt,
ein botanischer Versuchsgarten unterhalten, und das Kommando »Bota-
nische Malen war damit beschäftigt, Heilpflanzcn zu zeichnen.
Für sich privat konnte Pfarrer A I G N E R auf einem kleinen Grünstreifen
zwischen zwei Baracken eine Reihe von Apfelbäumen pflanzen. Es ge-
lang ihm sogar die Züchtung neuer Sorten, die er »KZ 1<, >KZ 2<, »KZ 3<
und >KZ 4< nannte. Nach Kriegsende kehrte A I G N E R in seine Pfarrei zu-
rück, Er widmete sich wieder seiner großen Leidenschaft, den Äpfeln.
Im Oktober 1945 wurde der Priester zum Land es vor sitz enden des Baye-
rischen Landesverbandes für Obst- und Gartenbau gewählt. Er wurde
mit dem Bayerischen Verdienstorden und der Staatsmedaille in Gold aus-
gezeichnet. Im Alter von 81 Jahren erkrankte A I G N E R an einer schweren
Lungenentzündung und verstarb am 5. Oktober 1966 im Krankenhaus
Freising. Sein Sarg war auf seinen Wunsch hin bedeckt vom alten KL-
Mantel, den er noch Jahrzehnte nach seiner Haft im Garten getragen
hatte.
Die Saat, die der Apfelpfarrer im KL gesät hat, trägt inzwischen reiche
Früchte: Der >KZ 3<-Apfel wurde als bestgelungene der vier Dachau-
Sorten ins öffentliche Züchtungsprogramm aufgenommen und erhielt
zum 100. Geburtstag des Pfarrers 1985 den Namen »Korbiniansapfel*.
Die Sorte wird vom Institut für Obstbau und Baumschulwesen der Staat-
lichen Versuchsanstalt für Gartenbau in Weihenstephan vermehrt. Die
mittelgroße, kräftig rotgestreifte, saftige Frucht aus dem KL hat eine
schöne goldgelbe Farbe und einen harmonischen Geschmack,
Fred Duswald

Der ,KZ3<-Apfei

Literatur
»Apfel aus dem KZ«, in: Der Spiegel, Nr. 22, 2001, S. 112.

515
Neubauten und Authentizität im KL Mauthausen

m Klagenfurter Kirchenblatt Der Sonntag vom 27. 11. 2005 klagte der
I aktive Katholik Dr. Siegfried L O R B E R in einem Leserbrief über die päd-
agogische Unsitte, »Mauthausen-Besuche zu organisieren und unserer
Schuljugend Einrichtungen zeigen zu lassen, die nachweislich [a] erst nach
dem Zweiten Weltkrieg und [b] für touristische Zwecke errichtet wur-
den«. Prompt wurde der pensionierte Präsident der Finanzlandesdirekti-
on als >Leugnen verleumdet, von der Presse niedergemacht und strafge-
setzlich bedroht.
Doch die Tatsachen gaben dem religiös korrekten Laien in vollem
Umfang Recht: Der in Mauthausen geförderte Massentourismus von jähr-
lich 200000 Besuchern wird durch ein 2003 stilwidrig hinzugebautes Be-
such er Zentrum geleitet.
Im Jahrbuch 2004 des »Dokumentationsarchivs des österreichischen Wi-
derstandes< dokumentiert der Wiener Innenminister, »daß die KZ-Ge-
denkstätte Mauthausen selbst heute nur mehr ein (unvollständiges) bau-
liches Rudiment des ehemaligen Konzentrationslagers« darstellt (S. 13).
Die Tatsache, daß das KL nicht mehr im Original besteht, sondern daß
dessen Reste durch wildes Bauen nach dem Zweiten Weltkrieg teils ab-
weichend rekonstruiert, ergänzt und verändert wurden, haben fachkun-
dige Kenner 1997 in den vom Wiener Unterrichtsministerium und von
der Linzer J Landesregierung autorisierten Annäherungen an Mauthausen.
Beiträge zum Umgang mit einer Gedenkstätte ausdrücklich bestätigt.

Das Konzentrations-
lager Mauthausen
im Bau, historische
Aufnahme.
Alle Abbildungen
dieses Beitrages:
Burghauptmannschaft
Österreich.

516
Die Oberösterreichischen Nachrichten vom 4. Februar 2006 berichten von Von links:Durch
kostspieligen Sanierungsmaßnahmen: »Geht dadurch die Authentizität Nässe zerstörter
Setonbalken; Sanie-
der Anlage verloren, oder ist die längst ein Hirngespinst?« fragt Autor
rungsarbeiten am
Alexander R J T Z I N G E R . Steinmauerwerk.
Was »tausend Jahre« überdauern sollte, löst sich bereits nach nicht ein-
mal einem Jahrhundert auf: Als man im August 1938 den KL-Komplex
eilig aus dem Boden stampfte, verwendete man als Bindemittel für die
Granitquader Sande, die man mit Kalk nur allzu mager abband. So setzte
allmählich der Verfall ein, der Zahn der Zeit zernagte die Statik, die Stei-
ne gingen aus dem Leim, und die Mauern der wuchtig-wirkenden Zwing-
burg gerieten ins Wanken.
Zur »Sanierung des Grauens« (Oberösterreichische Nachrichten) muß das
marode Mauerwerk mit modernen Mitteln gestützt und geschützt wer-
den: »Das bedeutet aber auch, daß mit jeder >Injektion< der ursprüngliche
Zustand verändert beziehungsweise ausgelöscht wird«, mahnt R I T Z I N -
GER. »So stellt sich die Frage, ab wann man nur mehr von einer Nachstel-
lung gleich einer Kulisse sprechen kann. Oder hat sich die vielbeschwo-
rene Authentizität ohnehin schon längst verflüchtigt?«
Die praktische Umfunktionierung des Lagers in eine Kult- und Ge-
denkstätte legt eine bejahende Antwort nahe: »Erreichte man früher das
Gebiet der KZ-Anlage, tauchte im Gesichtsfeld zuerst eine trutzige Burg
auf. Nun wurden im Vorfeld weitere Parkplätze angelegt, der Ankömm-
ling sieht also zunächst einmal Reisebusse und nichts von den Mauern
des Schreckens. Im Besucherzentrum herrscht reges Treiben, wie es in
einer Cafeteria nun einmal üblich ist. Durch das KZ werden Schulklas-
sen allzu oft im Eiltempo getrieben.«

517
Wie auch immer der Zustand der Steinmauern durch aufwendige Maß-
nahmen verändert wird — authentischen Ansprüchen genügt das Lager
schon längst nicht
mehr: »Die baulichen
Überreste des Kon-
zentrationslagers
Mauthausen, wie sie
sich heute präsentie-
ren, unterscheiden
sich erheblich von
dem Zustand, den die
amerikanischen Trup-
pen bei der Befreiung
des Lagers vorgefun-
den hatten«, bestätigt
Florian F R E U N D vom
Institut für Zeitge-
schichte der Universi-
tät Wien: »Zur Ver-
In der Nacht zum 19. hinderung von Seuchen beseitigten bereits die amerikanischen Soldaten
Januar 2007 brachte Zelte und Baracken. Zahlreiche Gegenstände aus dem Lager wurden von
Sturm iKyrilh eine den befreiten Häftlingen in ihre Heimatländer mitgenommen. Viele Ge-
Lagerbaracke zum
genstände wurden auch zwischen Herbst 1945 und Frühjahr 1946, als
Einsturz, andere wur-
den beschädigt. das Lager ais sowjetische Kaserne diente, von Sowjetsoldaten demon-
tiert. Stark in Mitleidenschaft gezogen wurden die Baulichkeiten vor al-
lem auch in der Phase von Mai 1946 bis zur Übergabe an die Republik
Österreich im Juni 1947, in der das ehemalige Konzentrationslager Maut-
hausen unbewacht leerstand und die Bevölkerung der Umgebung sich
vieler Dinge bemächtigte« und sich vor allem mit rarem Baumaterial be-
diente.
Auf Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht wurden 1949 Teile des
Lagers neu errichtet. Nach einem Bericht der Wochenzeitung Echo der
Heimat vom 7. April 1949 wurden 790000 Schilling verwendet, »um das
ehemalige Arrestgebäude mit seinen Zellen, das Krematorium, die Ge-
nickschußzelle, die Gaskammern und ein Fünftel der Baracken. . . wie-
derherzustellen«. Sechs Baufirmen mit insgesamt 300 Beschäftigten wa-
ren am Werk. Riesige Erdbewegungen fanden statt, der Neubau der
Todesstiege verschlang 25 Kubikmeter Granit und drei Tonnen Zement.
Anfang der sechziger Jahre setzte das »Internationale Mauthausen-
Komitee< weitere Restaurierungsarbeiten durch: »Allerdings wurde seit die-
ser Zeit nicht nur restauriert, sondern es wurden auch starke Eingriffe in
die bauliche Substanz und in das Gesamterscheinungsbild der Gedenk-

518
stätte vorgenommen, wobei es verabsäumt wurde, eine systematische Do-
kumentation der Veränderungen seit 1945 anzulegen. Was Original, Re-
konstruktion oder Umbau ist oder was fehlt, ist in der heutigen Gedenk-
stätte an keiner Stelle gekennzeichnet.« (Florian F R E U N D , »Die Gaskammer
von Mauthausen«, in: Annäherungen, S. 47)
Auch bei der Gaskammer wurde einiges verändert, was nicht ausge-
wiesen wird, bedauert der Historiker: »Nach dem Krieg sind Kacheln
ersetzt worden, die Duschrosetten waren alle abgeschraubt und sind durch
andere ersetzt worden. Auch die Türen sind. . . nicht original, sondern
später eingesetzt worden. Genauso wurden irgendwelche elektrischen Lei-
tungen in letzter Zeit eingezogen, man sieht das ja an den neuen Plastik-
rohren, um eine Beleuchtung zu haben. Wenn man jetzt z.B. nicht hin-
eingehen könnte, bräuchte man auch diese nachträglich eingebaute Lampe
nicht.«
Die heute vorhandenen Gaskammer-Türen, so P E R Z , seien erst beim
Umbau des KL in eine Gedenkstätte 1949 eingesetzt worden: »Man muß
die damalige Auffassung von Vermittlung berücksichtigen. Nicht histo-
rische Authentizität war hauptsächlich gefragt in bezug auf die Überre-
ste, sondern darstellen, wie es war. Das ist eine ganz andere Auffassung,
als wir heute haben, wo wir an Original und Rekonstruktion denken und
Quellengenauigkeit. Das ist ein anderes Bewußtsein gewesen. Das Erset-
zen der Fliesen ist z. B. wahrscheinlich aus einem ganz banalen Grund
passiert, so unter dem Motto, >da ist ein Loch, verfliesen wir es<.« (.Annä-
herungen, S. 36 f.) Fred Duswald

Literatur:
Pädagogisches Institut des Bundes in Oberösterreich (Hg,), Annäherung an Maut-
bausen. Beiträge zum Umgang mit einer Gedenkstätte, Linz/Donau 1997,
Helmut FIEREDER U. Andreas BAUMGARTNER, Kurzgeschichte der KZ-Gedenkstätte
Mauthausen, o, J,
Helmut FiEREDER, »Zur Geschichte der K Z - G e d e n k s t ä t t e Mauthausen«, in: Ober-
österreichische Gedenkstätten für KZ-Opfer, Linz/Donau 2001.
»Lernorte - Gedächtnisorte — Gedenkstätten«, in: Historische Sozialkunde 4,2003.
Ernst STRASSER, »Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Ort der
Vermittiung demokratischer Grundwerte«, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs
der österreichischen Widerstandes 2004.
Daniela TOMASOVSKY, »Für Pathos ist hier kein Platz. Das neue Besucherzen-
trum. Museum, Vermittlungsort und Gedenkstätte«, in: Die Presse, Wien, Maut-
hausen-Sonderausgabe, 29. 4. 2005.
Alexander RrrziNGER, »Sanierung des Grauens«, in: Oberösterreichische Nachrich-
ten, 4. 2. 2006, S. 3.
Bertrand PERZ, Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 1945 bis zur Gegenwart, Innsbruck-
Wien-Bozen 2006.

519
Verbrechen befreiter KL-Häftlinge

Z ur Feier des 60. Jahrestages der Befreiung des K l . Mauthausen durch


US-Truppen ergriff Wiens Erzbischof Christoph Kardinal SCHÖN-
BORN vor Ort das Wort. »Wir halten den Atem an«, erklärte SCHÖNBORN.
»Hier war fast sieben Jahre lang das B ö s e zu Hause.« Nicht daran erin-
nert wurde, daß im Anschluß an die Auflösung des KL für die Umge-
bung eine schwere Notzeit durch Ausschreitungen ehemaliger K L - H ä f t -
linge begann.
Denn kaum hatten die Amerikaner am 5. Mai 1945 die Tore des La-
gers geöffnet, bildeten sich kriminelle Banden, die die Bevölkerung ter-
rorisierten: » D a s Treiben der K Z l e r und Ausländer entwickelte sich zu
einer wahren Landplage«, faßt die promovierte Historikerin Gabriele HIN-
DINGER z u s a m m e n . 1
Laut Erlaß v o m 1. Januar 1941 war das Lager Mauthausen für Berufs-
verbrecher reserviert. Erst ab Herbst 1944 kamen Nichtkriminelle auf
G r u n d der Kriegslage hinzu. Diese wurden, soweit in Ländern beheima-
tet, die von den Westalliierten bereits erobert waren, noch kurz vor Kriegs-
ende in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Roten Kreuz in ihre
Heimatländer zurückgeführt. Zurück blieben neben Nichtkriminellen,
die entweder Deutsche oder unter den gegebenen Verhältnissen noch
nicht Repatriierbare waren, die verbrecherischen Elemente. Nach Anga-
ben von H a n s MARSALEK, O b m a n n der österreichischen Lagergemein-
schaft Mauthausen, befanden sich bei Ankunft der Amerikaner 4 0 0 0 0
Häftlinge im Lager. Davon bildeten politische Häftlinge nur einen gerin-
gen Prozentsatz,
Zu den ersten US-Maßnahmen nach der Einnahme von Mauthausen
gehörte die unkontrollierte Ö f f n u n g des Konzentrationslagers, schrieb
der Linzer Magistratsbeamte Hanns KRECZI (gest. 2003) in seinen Tage-
buchaufzeichnungen: »Allein über 10000 K Z l e r marschierten gegen Linz!
D i e Lebensmittellager, Bauernhöfe, Geschäfte, Wohnungen und Keller
wurden aufgebrochen und geplündert. Amerikanische Soldaten standen
in vielen Fällen dabei und sahen ruhig zu, andere halfen mit. Die Men-
schen auf den Straßen wurden beraubt, vielfach auch bis aufs Hemd
ausgezogen.« G a r als »Ehrenbürger« gebärdeten sich die KZler, kritisiert
KRECZI: »Sie nähen ein Stück ihres gestreiften Sträflingsgewandes auf
den Rücken ihrer neuen Kleidung als Ausweis und Abzeichen ihrer be-
vorzugten Stellung. K Z l e r und Ausländer vor allem, vielfach bewaffnet,
rauben Autos, Motorräder, Fahrräder; sie dringen in Wohnungen ein und
halten sie besetzt, sie plündern und zerstören.«
»Die kriminellen Insassen des Konzentrationslagers Mauthausen über-

520
fluteten unser schönes Mühlviertel und fristeten zum Teil unter Gewalt-
anwendung und Brutalität ihr Leben«, beklagte Johann B L Ö C H L , Staats-
beauftragter für das von 1945 bis 1955 sowjetisch besetzte Mühlviertel.
»Zehntausende von aus den Konzentrationslagern befreiten politischen
und kriminellen Häftlingen durchzogen die Städte und das flache Land«,
erinnert sich Franz RUPERTSBERGER, Sicherheitsdirektor für Oberöster-
reich. »Starke bewaffnete Räuberbanden plünderten und terrorisierten
die Bevölkerung.« Auch nach Aussage von Oberst Alois R E N O L D N E R , dem
Chef der Gendarmerie im geplagten Landesteil, häuften sich Raub und
Plünderung durch befreite Verbrecher aus dem Kl. in erschreckendem
Ausmaß.
Über das Ende des Zweiten Weltkrieges in Steyregg berichten die Mühl-
viertler Nachrichten im Rückblick: »Die politischen Gefangenen versuch-
ten, so schnell wie möglich über Linz wieder in ihre Heimat zu kommen,
während Kriminelle unter Führung von obskuren Kommissaren regel-
rechte Banden bildeten, die sogleich mit Plünderungen bei den Bauern
begannen. Ein Sohn vom Pimesbauer in Obernbergen, der eben glück-
lich aus dem Krieg heimgekommen war, konnte ihren Forderungen nicht
nachkommen und wurde am 20. 5. erschossen. Am 8. Mai herrschten
auch im >Stadtl< (Städtchen, F. D.) chaotische Zustände. Die KZler plün-
derten alle Geschäfte und gingen in der Folge sogar auf Privatwohnun-
gen los. Amerikanische Panzerstreifen, die gleich nach dem Einmarsch
bei allen Bewohnern die Waffen eingesammelt hatten, versuchten in den
nächsten Wochen, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, indem sie etwa
400 Bandenmitglieder einfingen und abtransportierten.«
Schließlich bewaffneten die Amerikaner von ihnen bereits entwaffnete
deutsche Soldaten zum zusätzlichen Schutz der wehrlosen Bevölkerung
vor den Ausschreitungen der ehemaligen Häftlinge. Die vereinten Kräfte
von Siegern und Besiegten reichten indessen nicht, um der Landplage
Herr zu werden. Auch Gerichte mußten eingreifen.
Als die Amerikaner Ende Juli 1945 den gesamten nördlich der Donau
gelegenen Teil von Oberösterreich samt Mauthausen den Sowjets über-
ließen, trat erst recht keine Besserung ein: »Zu Beginn der Besetzung ver-
standen es einige übel beleumundete Männer, ihre Dienste der Besatzungs-
macht anzubieten und traten unter den verschiedensten Bezeichnungen
wie Polizeikommissare, Faschistenbekämpfer, Staatspolizisten, Polizei-
chefs usw. in Aktion. Diese Leute gewannen aus den verschiedensten
Gründen (als ehemalige Häftlinge oder KZler. . .) das Vertrauen der Be-
satzungsmacht«, erinnert sich Edmund M E R L , damaliger Bezirkshaupt-
mann von Freistadt. Am ärgsten war es dort, wo sich kriminelle KZler
und Ostarbeiter zu kriminellem Handeln zusammenfanden. Zum Auf-
bau einer KPÖ-Struktur im Bereich bediente sich die Besatzungsmacht

521
des KL-Kriminellen Anton K R A U T W A S C H L , der in der ganzen Bevölke-
rung ob seiner Untaten gefurchtet war.
In Freistadt kamen am 11. Mai 1945 zwei KZler in den Garten des
Kreishauses und suchten nach einem guten Fahrrad. Ein deutscher Sol-
dat, der ein solches besaß, wurde von einem der beiden Gestreiften auf-
gefordert, ihm das Fahrrad auszuhändigen. Da dieser die Herausgabe
verweigerte, wurde er von dem KZler mit einer Pistole erschossen. In
Tragwein wurden von Sowjets und KZlern 43 Frauen und Mädchen ver-
gewaltigt. Der Wert der geplünderten Sachen und geraubten Tiere wurde
mit 435000 Mark angegeben. In Pierbach ermordeten KZler am 20. Mai
den 20jährigen Johann K A S T E N H O F E R . Am 25. Mai wurde, ebenfalls in
Pierbach, der Pionier Erwin W A N D A von KZlern erschossen. »Eine Men-
ge KZler wurde von Perg mit der Bahn abbefördert, aber die KZ-Plage
dauert trotzdem an«, klagte unter dem 1. Juni der Chronist vom Allerhei-
ligen Bezirk Perg; »Der hochwürdige Herr Pfarrer von Dimbach wurde
auf einem Versehgange von KZlern ausgezogen. Mit einer Sträflingshose
bekleidet, durfte er sich wieder entfernen.« In Wartberg haben fremde
Elemente und KL-Häftlinge vom Mai 1945 bis 11. Dezember bei 193
Personen im Gemeindegebiet Plünderungen durchgeführt, wodurch ein
Gesamtschaden von 520072 RM entstanden ist.
Laut der Schreckensbilanz von Oberst R E N O L D N E R steht fest, daß von
KL-Häftlingen erschlagen oder erschossen wurden: ein Landwirt in Maut-
hausen, ein Bauer in Lichtenberg. Dr. M A R A S E K und Max W I E D in Stey-
regg. der Rauchfangkehrermeister S C H O N K A und ein Angestellter in Perg,
zwei Hilfsarbeiter in Ober-St. Georgen, ein SS-Mann in Schlag, ein Ober-
gefreiter in Altenberg, ein Baupolier, ein Bauer in Untergaisbach, ein
Bauernsohn aus Pierbach, ein Zimmermann aus St. Georgen a. W., die-
ser wurde mit Steinen erschlagen und seiner Kleider beraubt. Der christ-
lichsoziale Politiker Johann B L Ö C H L ergänzt in seinen Lebenserinnerun-
gen, »daß viele schwerste Übergriffe aus Furcht vor der Rache der Täter
gar nicht angezeigt wurden und daß in großer Zahl Frauen und Mädchen
aus Schamgefühl die Vergewaltigungen verschwiegen - ich kenne eine
Gemeinde, in der vierzig Frauen mit Krankheiten angesteckt waren -,
dann wird man ermessen, daß obige Aufzählungen nur einen Bruchteil
einer grauenhaften Wirklichkeit darstellen«.
Der Kriminologe Hans VON H E N T I G stellte fest: »Während die Alliier-
ten bei Öffnung der Konzentrationslager zunächst von der Annahme
ausgingen, daß der weitaus größte Teil der dort untergebrachten Deut-
schen aus politischen Gründen festgehalten sei, stellte sich bald heraus,
daß ein bedeutender Anteil der KZ-Häftlinge kriminell schwer belastet
war.« (Die Strafe, Bd. II, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1955, S. 104) Der
Rechtshistoriker Karl S. B A D E R beanstandete, daß sich Homosexuelle aus

522
den Konzentrationslagern 1945 massenweise als Verfolgte über das Land
ergossen, (Soziologe der deutschen Nachkriegskriminalität, Tübingen 1949,
S. 171 f.) Thomas L E N Z und Kurt M A S O N wiesen darauf hin, daß im KL
Mauthausen 25 von 32 Baracken-Kapos Kriminelle waren. Es sei daher
nicht erstaunlich, daß von allen Lagerinsassen die kriminellen Häftlinge
den KL-Aufenthalt am besten und vollzähligsten überstanden haben, um
gleich nach der Befreiung durch alliierte Truppen als »Opfer des NS-
Regimes« in die neuen Einrichtungen einzusickern. Für die Sicherheits-
behörden ergab sich die böse Überraschung, daß aus dem Dunkel des
Umsturzes die alten Garden der Unterwelt auftauchten, um ihre alten
Reviere wieder in Besitz zu nehmen, (Die schutzlose Gesellschaft,, München
1992, S. 26 f.)
Über das »Reinemachen im KZ-Verband« berichtete zeitnah die St.
Pöltner Wochenpost vom 5. März 1948: »Vom KZ-Verband wurden bei ei-
nem Mitgliederstand von etwa 5000 rund 4000 Mitglieder deshalb ausge-
stoßen, weil sie nicht wegen politischer, sondern wegen krimineller De-
likte ins KZ kamen. Während die politisch oder rassisch Verfolgten
bescheiden am Wiederaufbau wirken, brachten viele kriminelle Elemen-
te den >KZler< deshalb in Verruf, weil sie ihn zur Tarnung ihrer kriminel-
len Instinkte mißbrauchten.« Fred Duswald

Literatur
Johann BLÖCHL, »Unserer Gendarmerie zum hundertjährigen Bestand«, in: Fest-
schrift zur Hundertjahrfeier der Österreichischen Bundesgendarmerie, Wien 1949, S. 23,
Alois RHNOLDNER, »Die Gendarmerie des Mühlviertels in schwerer Zeit«, in:
ebenda, S, 70.
Franz RUPERTSBERGER, »Die Gendarmerie in Oberösterreich nach dem Zweiten
Weltkrieg«, in: ebenda, S. 34.
Hanns KRECZI, »Fünf Minuten vor und nach zwölf«, in: Oberösterreichische Nach-
richten, 14. 5.1960.
Gabriele HINDINGER, Das Kriegsende und der Wiederaufbau demokratischer Verhältnisse
in Oberösterreich im Jahre 1945, Wien 1968.
Johann BLÖCHL, Meine Lebenserinnerungen, Linz/Donau 1975.
Edmund MERL, Besatzungszeit im Mühlviertel. Anhand der Entwicklung im politischen
Bezirk Freistadt, Linz/Donau 1980.
»Stevregg und das linde des 2. Weltkrieges«, in: Mühlviertier Nachrichten, 2. 5.
1985.
Harry SLAPNICKA, Oberösterreich »zweigeteiltes Land« 1945-1955, Linz/Donau 1986.
Fritz FELLNER, Das Mühlviertel 1945. Eine Chronik Tag für Tag Grünbach 1995.

523
Die Oherösterreichischen Nachrichten brachten am 21. Juni 1945 unter der
Uberschrift »Plünderer werden zur Rechenschaft gezogen!« folgende No-
tiz:
»Vor dem >Einfachen Militärgerichtshof; (Summary Court) kamen am
Montag nicht weniger als elf Fälle von Plünderung zur Verhandlung. Es
handelte sich bei den Angeklagten um ehemalige Häftlinge eines Kon-
zentrationslagers, die in den Umsturztagen nach ihrer Befreiung Textil-
und Schuhgeschäfte in Linz und Umgebung geplündert hatten. Bei den
Hausdurchsuchungen, die die amerikanische Militärpolizei nunmehr
durchführt, kam das gestohlene Gut zutage.
Von den Angeklagten, die durch rechtskundige Vertreter des polnischen
und tschechischen Komitees verteidigt wurden, erhielten vier Freiheits-
strafe, zwei Angeklagte wurden mangels an Beweisen freigesprochen. In
den übrigen Fällen wurde die Verhandlung zum Zwecke weiterer Erhe-
bungen vertagt...«

524
Überhöhte Zahlen bei Homo-Opfern

it der pauschalen staatlichen Anerkennung »homosexuell Verfolg


M ter< als »NS-Opfer<, die durch ein besonderes »Mahnmal* im Berli-
ner Tiergarten auch noch optisch betont wird, stellte der bundesdeut-
sche Gesetzgeber die politischen Gegner des Nationalsozialismus auf
eine Stufe mit unpolitischen Sittenstrolchen und Kinderschändern. Daß
die Strafbarkeit des früher als »widernatürliche Unzucht« geltenden Tat-
bestandes nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hat, geht allein schon
daraus hervor, daß der einschlägige § 175 des Strafgesetzbuches (StGB)
schon in der Weimarer Republik und in der mit dem Gesetz zur Ände-
rung des Strafgesetzbuches vom 28. August 1935 (Reichsgesetzblatt I, S. 839)
verschärften Fassung in der Bundesrepublik bis 1969 galt und 1951/52
vom Karlsruher Bundesgerichtshof wie auch 1957 vom Bundesverfassungs-
gericht als systemneutral und demokratieverträglich bestätigt wurde.
Bei den Diskussionen um die Anerkennung der Homosexualität wie
um die homosexuellen NS-Opfer wurden vielfach überhöhte Zahlen für
diese Verfolgten angegeben, die richtigzustellen sind.
Die Homo-Kampagne, die zum scheibchen weisen Sieg der Unmoral
über die Moral seit den siebziger Jahren führte, kam wie so manches aus
den USA. Ein Bewußtseinswechsel hatte dort im Jahre 1973 mit einem
Schlag die öffentliche Einstellung zur widernatürlichen Unzucht verän-
dert, als die »Amerikanische Psychologische Gesellschaft« ausdrücklich
davon Abstand nahm, Homosexualität als Geisteskrankheit einzustufen.
Weiteren Auftrieb bekam die Kampagne am 2. Dezember 1979, als
das Bühnenstück Bent (Andersrum) am New Yorker Broadway uraufge-
führt wurde. Das Schwullen-Stück, das 1997 auch noch verfilmt wurde,
handelt vom homosexuellen Max im KL Dachau. Um nicht durch das
ominöse rosa Dreieck, die Kennzeichnung für Homosexuelle, stigmati-
siert zu werden, verleugnet der Held seine Homosexualität und gibt sich
als Jude aus. Dann aber verhebt er sich in den Homo-Häftling Horst, der Von oben: Martin
voller Stolz seinen rosa Winkel trägt. Um nicht zurückzustehen, »outet< SHERMAN; französi-
sich nun auch Max als Schwuler und nimmt sich zu guter Letzt das Le- sches Plakat zu sei-
ben, indem er sich in einen Starkstrom-Zaun wirft. »»Als ich von schwollen nem Stück Bent.
Freunden in London hörte, daß mindestens 250000, wenn nicht sogar
500000 Homosexuelle in den Lagern gestorben sind, kam es mir in den
Sinn, ein derartiges Stück zu schreiben«, gestand der schwule jüdische
Verfasser Martin SHERMAN (*1939).
Nachdem die Homosexualität von wissenschaftlichen, literarischen und
journalistischen Eliten, wenn schon nicht zur Tugend erhoben, so doch
zumindest als annehmbarer Lebensstil in den westlichen Ländern aner-

525
kannt war, stiegen die Zahlen der im Dritten Reich angeblich ermorde-
ten Homosexuellen ständig an.
1 Frank D. STEAK- Frank D . STEAKLEY1 beginnt 1 9 7 5 mit 2 0 0 0 0 0 Opfern. In der New
LEY, The Homosexual York Times vom 1 0 . September 1 9 7 5 schreibt Ira GLASSER von der •Ame-
Emancipation rican Civil Liberties Uniom in einem Leitartikel: »Annähernd eine Vier-
Movement in Germa-
teimillion Homosexuelle w-urden zwischen 1937 und 1945 von den Na-
ny, 1975.
zis exekutiert, gleichzeitig mit den sechs Millionen Juden.«
Zwischen 100000 und 400000 Homosexuelle seien in NS-Deutsch-
land umgekommen, schreibt Louis CROMPTON 1978 unter dem Titel Schwu-
len-Völkermord von Leviticus bis Hitler.
Selbst 500000 Opfer könnten eine »zu konservative« Zahl sein, fürch-
tet Frank RECTOR in seinem Buch The Nazi Extermination of Homosexuals,
New York 1981.
»Die Juden und die Homosexuellen befinden sich im gleichen zer-
brechlichen Boot«, bemerkte der schwule Romancier Gore VIDAL2 ge-
genüber der jüdischen Publizisdn Midge DEXTER, die den homosexuel-
2 Gore VIDAL,
len Lebensstil massiv kritisiert hatte. Beim nächsten Holocaust würden
»Some Jews and the
Gays«, in: The sich Schwule und Juden in derselben Gaskammer wiederfinden, habe
Nation, 14. 11. 1981. doch HITLER 6 0 0 0 0 0 Homosexuelle ermordet, meint VIDAL. Diese Hor-
rorzahl habe er von seinem Gewährsmann, dem schwulen Schriftsteiler-
kollegen Christopher ISHERWOOD.
Die Tatsachen sehen jedoch anders aus. Nach amtlichen Unterlagen
wurden von ordentlichen Gerichten im Deutschen Reich zwischen 1933
und 1944 rund 50000 Personen wegen homosexueller Delikte zu Ge-
fängnisstrafen verurteilt, von der Militärgerichtsbarkeit im Zeitraum von
1. September 1939 bis 30. Juni 1944 fast 7000 solche Soldaten in der
Wehrmacht. Das macht zusammen 57000 »homosexuell Verfolgte«.
Von der 1936 eingerichteten »Reichszentrale zur Bekämpfung der Ho-
mosexualität und der Abtreibung« wiederum wurden zwischen 1937 und
1939 rund 95000 Personen, überwiegend Männer, als Gleichgeschlechtli-
che namentlich erfaßt, im selben Zeitraum aber nur etwa 25000 Schwule,
also etwas mehr als ein Viertel der registrierten, gerichtlich verurteilt.
»Nicht jeder Mann, der nach Paragraph 175 verurteilt worden war,
1 Günter GRAU, mußte nach seiner Strafverbüßung mit der Deportation in ein
Homosexualität in der Konzentrationslager rechnen«, stellte Günter GRAU fest.1 Ein HIMMLER-
NS-Zeit, Dok. 51, Befehl vom 14. Dezember 1937 und ein Erlaß des Reichsführers-SS vom
56. 12. Juni 1940 sahen KL-Haft nur für ausgewiesene Sittlichkeitsverbre-
chet vor, für Jugendverführer, Strichjungen und einschlägig vorbestrafte
Homosexuelle.
Nach LAUTMANN, der Unterlagen des Suchdienstes des Internationa-
len Roten Kreuzes in Bad Arolsen auswertete, waren insgesamt 10000,
höchstens 15000 Homosexuelle, also nur ein Bruchteil der verurteilten

526
Schwulen, in Kon-
zen trationslagern in-
haftiert.
Die Überführung
ins KL erfolgte je-
weils im Anschluß
an die Strafverbü-
ßung im Fall von
Wiederholungstä-
tern, Transvestiten
und männlichen
Prostituierten. Nicht
weniger als 86 Pro-
zent der Schwulen in
den Konzentrati-
onslagern waren ein-
schlägig vorbestraft.
Hinzu kommen noch jene 10 Prozent, die wegen Verführung Minderjähri- Eine Gruppe
ger, insbesondere von Mündeln, von Gerichten verurteilt worden waren. Homosexueller im
Unter allen Häfdingen hatten die Homosexuellen die höchste Todes- Konzentrationslager
Buchenwald.
rate. In den Lagern brachen Seuchen aus (Typhus, Fleckfieber), die sich
»erst recht unter den Bedingungen der allgemeinen Unterernährung in-
folge des Zusammenbruches der Versorgung gegen Ende des Krieges«
medizinisch immer weniger beherrschbar erwiesen.
Für Schwule war das Risiko im Lager nicht nur deshalb am allergröß-
ten, weil sie wegen ihrer besonderen Sexualität auch in Freiheit die ge-
sundheitlich am meisten gefährdete Bevölkerungsgruppe bilden und ihre
durchschnittliche Lebenserwar tung von Haus aus nur halb so hoch ist
wie diejenige von Heterosexuellen.
Häufig wandten sich auch die Angehörigen angewidert von ihnen ab,
und im Lager wurden die Schwulen von den anderen Insassen geschnit-
ten, Dies erschwerte in nicht unerheblichem Maße das Überleben, be-
deutete aber keineswegs, daß Homosexuelle, die im Konzentrationslager
starben, im KL >ermordet< worden sind,
»Da sie von ihrem Laster nicht lassen konnten oder nicht wollten, wuß-
ten sie, daß sie nicht mehr frei sein würden«, hinterließ der KL-Kom-
mandant Rudolf HöSS vor seiner Hinrichtung, Dieser stärkste wirksame
Druck bei den meist zartbesaiteten Naturen beschleunigte den physi-
schen Verfall, Kam noch der Verlust des >Freundes< durch Krankheit oder
gar durch Tod hinzu, so konnte man das Lebensende voraussehen. Nicht
wenige begingen Selbstmord. Auch bei frei lebenden Schwulen ist die Selbst-
mordrate mehr als dreimal so hoch wie bei Männern im allgemeinen.

527
Nimmt man an, daß, wie wissenschaftliche Berechnungen ergaben, 60
Prozent der höchstens 15000 inhaftierten Homosexuellen die KL-Haft
nicht überlebten, kommt man auf ein Maximum von 9000 Toten, also
weniger als ein Zwanzigstel der in den Medien gängigen Zahlen. Den-
noch phantasiert Jean BOISSON von einer Million Homosexuellen, die in
deutschen Konzentrationslagern ermordet worden seien, mehr als dem
4Jean BOISSON, Hundertfachen des wohl wahren Wertes.4
Le Triangle Rose: Obwohl jüdische Autoren wie Lucy S. DAWIDOWCZ ( 1 9 1 5 - 1 9 9 0 ) »Pro-
La déportation des stituierten, Homosexuellen, Perversen und gewöhnlichen Kriminellen,
homosexuels 1933— die von den Nazis eingesperrt wurden«, 5 den Opfer-Status absprechen
1945, Paris 1988.
und die Vernichtung von Schwulen durch die Nationalsozialisten mit al-
5Lucy S. DA- lem Nachdruck bestreiten, wurde die >Homocaust<-Propaganda dennoch
WIDOWCZ, »How weltweit honoriert: Die offizielle Anerkennung als NS-Opfer machte die
They Teach the Homosexuellen zu Hätschelkindern des Zeitgeistes und verlieh ihnen
Holocaust«, in:
sogar das Gefühl moralischer Überlegenheit über das angeblich »repres-
Commentary, Dez.
1990. sive, patriarchalische, weiße, heterosexuelle« Wertesystem, das zweitau-
send Jahre lang die Grundlage der wesdichen Zivilisation war.
Fred Duswald

Literatur
Heinz H E G E R , Die Männer mit dem rosa Winkel, Hamburg 1 9 7 2 ,
Rüdiger LAUTMANN, Winfrid GRIKSCHAT U. Egbert SCHMIDT, »Der rosa Winkel in
nationalsozialistischen Konzentrationslagern«, in: Rüdiger LAUTMANN, Seminar:
Gesellschaft und Homosexualität, Frankfurt/M. 1 9 7 7 , S . 3 2 5 — 3 6 5 ,
Hans-Georg STÜMKE, Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte, Mün-
chen 1989.
Günter G R A U , »Verfolgung und Vernichtung. Der § 1 7 5 als Instrument faschi-
stischer Bevölkerungspolitik«, in: Die Geschichte des § 175. S traf recht gegen Homose-
xuelle, Berlin 1990.
Burkhard JELLONEK, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz Die Verfolgung von Homo-
sexuellen im Dritten Reich, Paderborn 1990.
Richard P I A N T , Der Krieg der Nazisgegen die Homosexuellen, Frankfurt/M. 1 9 9 1 .
Günter G R A U , Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und
Verfolgung, Fischer, Frankfurt/M. " 2 0 0 4 .
Jörg HuTTER, »Die Rolle der Polizei bei der Schwulen- und LEsbenverfolgung
im Nationalsozialismus«, in: Schwule, Lesben, Polizei, Berlin 1996.
Jack W I K O F F , »Der Mythos von der Vernichtung Homosexueller im Dritten
Reich«, in: Vierteljahresheftefürfreie Geschichtsforschung, Nr, 2, 1 9 9 8 , S . 1 3 3 - 1 3 9 .
Carsten PIETSCH, Negative Bevölkerungspolitik. Verfolgung männlicher Homosexueller in
der NS-Zeit, Hausarbeit, Universität Oldenburg, WS 1 9 9 8 / 9 9 .
Rainer HorrsCHll.DT, »Rosa-Winkel-Häftlinge im KZ Mauthausen«, in: Larnbda-
Nachrichten, Juni 2001.
BurkhardJr.LI.ONEK u, Rüdiger LAUTMANN (Hg.), Nationalsozialistischer Terror gegen
Homosexuelle, Paderborn 2 0 0 2 .

528
Zum Schicksal der Zigeuner

Z u den umstrittenen Zahlen der Zeitgeschichte gehört die der im


Zweiten Weltkrieg getöteten Zigeuner. Deren Interessen werden heu-
te von dem Zentralrat der Roma und Sinti in Deutschland vertreten, der
nach dem Historiker Eberhard J Ä C K E L »seit langem ein falsches Ge-
schichtsbild für eigene Interessen zu instrumentalisieren« 1 versucht. Eine
erste Richtigstellung ist schon anderenorts vorgenommen worden, 2 Den-
noch werden immer wieder die von Bundeskanzler K O H L im Jahre 1 9 8 5 J
vor dem Bundestag ohne Beleg genannten 500 000 Todesopfer, die auch
vom Zentralrat noch vertreten werden, in der Öffentlichkeit - dort auch
bis zu 6 0 0 0 0 0 - genannt. Deswegen seien weitere Angaben zu dieser
Frage gemacht.
Tatsachen, von denen man ausgehen muß, sind die zu den verschiede-
nen Zeiten registrierten oder geschätzten Zahlen dieser Volksgruppe in
Deutschland und Europa. Im Jahre 1887 wurde ihre Zahl für Europa
auf 250000-500000 geschätzt, wobei in Deutschland »nur eine geringe
Menge im Vergleich zu den 40000 in Spanien« lebten.'1 Um 1939 waren
im Altreich die hier lebenden rund 20000, in Österreich etwa 10000
Zigeuner listenmäßig erfaßt/ Für ganz Europa gibt es Schätzungen für
1939 zwischen 750000 und 1,5 Millionen Menschen dieses Volkes.6 Um
1979 lebten allein in der Bundesrepublik Deutschland 50000 Sinti und
Roma, in ganz Europa 6 Millionen. 7 Im Jahre 1990 gab Der Spiegel für die
Bundesrepublik Deutschland 75000, für ganz Europa 6,6 Millionen Sinti
und Roma an, s 1993 der baden-württembergische Innenminister Frieder
B I R Z E L E 8 Millionen allein für Osteuropa. 9

1 Zitiert in: »Wurden 500000 Zigeuner ermordet?« in: National-Zeitung, 2.2.2007,


2 Beitrag Nr. 258, »Zum Schicksal der Zigeuner«.
5 Bundeskanzler Helmut KOHL am 7. 11. 1985 vor dem Deutschen Bundestag.
4 Brockhaus' Conversations-Lexikon (16 Bde.) Bd, 16, Leipzig 1887, S. 912.
s "Wiesenthal übergibt NS-Dokumente«, in: Stuttgarter Kachrichten, 22. 6. 1965;

Tilman ZüLCH, »Sinti und Roma in Deutschland«, in: Aus Politik und Zeitgeschich-
te, Beilage zum Parlament, B43, 30. 10. 1982, S. 33; Michael ZIMMERMANN, »Die
nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma«, in: Aus Poli-
tik und Zeitgeschichte, B 16, 18. 4. 1987, S. 36 f.
6 Encyclopedia Americana, Bd. 13, unter >Gypsies<.
7 Alfred SCHICKEL, »Die Wahrheit und die Millionen«, in: Das Ostpreußenhlatt, 20.

6. 1 9 8 1 , S. 3 .
8 »Alle hassen die Zigeuner«, in: Der Spiegel, Nr. 36,3.9.1990, S. 36; sechs Millio-
nen in Europa auch in: Schwäbisches Tagblatt, 29. 9. 1992.
9 »Kein Angriff auf die Menschenwürde«, in: Schwäbisches 'Tagblatt, 17. 9. 1993.

529
Nach herrschender Lehre wurden von den 30000 Zigeunern im Groß-
deutschen Reich mindestens 25000, m von den (als Mittelwert für 1939
genommenen) 1 Million in Europa vorhandenen Zigeunern 500 000 »von
den Nazis ermordet«. 11 ferner seien viele der Oberlebenden sterilisiert
worden.
Schon 1979 wies der Historiker Alfred SCHICKEL darauf hin," daß diese
Zählen, auch bei Berücksichtigung der bekannterweise großen Frucht-
barkeit der Roma und Sinti, kaum miteinander vereinbar sind. Es ist schwer
nachzuvollziehen, daß sich diese Volksgruppe in Deutschland von — nach
Verhaftung von Zi- der Zeitmeinung - weniger als 5000 Uberlebenden, einschließlich Sterili-
geunern in Asperg sierten, bis 1979 - also in gut 30 Jahren, einer Generation, und bis vor
bei Stuttgart. Beginn der großen Zuwanderung - auf 50 000 vermehrt haben soll. Eben-
so ist kaum glaublich, daß die rund
500000 Überlebenden - die heute
angegebene Zahl — in ganz Europa es
in derselben Zeit auf eine Kopfzahl
von sechs oder mehr Millionen brach-
ten, sich also in einer Generation ver-
zehnfachten, auch wenn man die Zu-
wanderungen berücksichtigt. Solch
ein Zuwachs scheint in einer Genera-
tion kaum möglich zu sein.
Es ist auch falsch, alle Opfer dieser
Volksgruppe während des Zweiten
Weltkrieges den Deutschen anzula-
sten. So erwähnt ZÜLCH, 1 daß nach
Schätzungen 36000 Zigeuner bei der
rumänischen Vertreibung der Zigeu-
ner nach dem ukrainischen Transni-
strien umgekommen seien. Ähnliches
gelte für andere ost- und südosteuro-
päische Länder: »Nur wenige der 1939
etwa 2 8 0 0 0 Menschen zählenden
kroatischen Roma haben die unge-
zählten Massaker der Ustaschas (in
10 ZIMMERMANN, a a O . ( A n m . 5 ) , S . 4 1 .
11 »Es begann mit den Juden«, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 6. 12. 1985;
»Verfolgt und verachtet«, in: Schwäbisches Tagblatt, 28. 11.1990; »Sinti und Roma
gedenkender 500000 Nazi-Opfer«, in: Stuttgarter Zeitung 3.8.1991; »Mit Depor-
tationen begann vor 50 Jahren der Völkermord an Sinti und Roma«, in: Südwest-
Presse, 13. 5. 1993; Anzeige in: Die Zeit 15. 12. 1995.
12 ZOLCH, aaO. (Anm. 5), S. 36 f.

530
Kroatien, R.K,) überlebt.« In
Polen seien Roma »Massakern
polnischer und ukrainischer Fa-
schisten zum Opfer gefallen«.
Mindestens 65000 Ermordete
müssen also von dem Schuld-
konto der Deutschen abgebucht
werden.
1996 hat der im Januar 2007
frühzeitig verstorbene Bochu-
mer Historiker Michael ZIMMER-
MANN eine Untersuchung des
Schicksals der Zigeuner veröf-
fentlicht, 13 in der er auf weit
niedrigere Verlustzahlen kommt
und vorsichtig von »mindestens
90000 Opfern« in ganz Europa Oben: Blick in eine Baracke des Zigeunerlagers in Auschwitz.
spricht. Das wäre mit den oben Unten: Bescheid vom 2. Januar 1945 über die Befreiung des

genannten Bevölkerungszahlen »Zigeunermischlings« Ursula F. von den Zigeunerbestimmungen.


Beide Abbi Idungen aus: Guenter LEWY, Rückkehr nicht erwünscht,
vor und nach dem Zweiten Propyläen, München-Berlin 2000.
Weltkrieg auch eher vereinbar.
Zieht man davon die oben ge-
nannten 65 000 von anderen
Ländern zu verantwortenden
Opfer ab, so kommt man auf
etwa 25000 für die deutsche
Schuldbilanz - eine wohl wirk-
lichkeitsnähere Zahl - und da-
mit auf weniger als ein Zehntel
der den Deutschen vorgeworfe-
nen Morde.
Amerikanische Historiker ga-
ben ebenso weit kleinere Zah-
len an, als Bundeskanzler KOHL
es unverantwordicher Weise tat,
die aber auch noch als zu hoch
erscheinen. So schätzten KEN- 13
Michael Z I M M E R M A N N , Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozia-
RICK und PUXON14 die Gesamt-
listische >Lösung der Zigeunerfrage<, 1996.
zahl der Todesopfer unter den 14 Donald KENRICK U. Grattan PUXON, Sinti und Roma — die Vernich-
Zigeunern im Zweiten Welt- tungeines Volkes im NS-Staat, Göttingen 1981.
kriegauf 219700. Der Franzo- 15 Christian BERNADAC, L'Holocauste oublie. he massacre des tsinganes,
se Christian BERNADAC15 hatte Paris 1979.

531
vorher 229 500 als Opferzahl angegeben. Auf diese beiden Zahlen stütz-
te sich mit allen Vorbehalten wegen fehlender Dokumente und deswe-
gen notwendig werdender Schätzungen der Mitarbeiter Hellmuth A U E R -
BACH vom Münchener Institut für Zeitgeschichte in einem Brief vom 11.
Juni 1 9 8 7 an einen Fragesteller zu diesem Problem. 16 K E N R I C K soll seine
oben genannte Zahl im Jahre 1 9 8 9 auf 1 9 6 0 0 0 herabgesetzt haben, wie
der US-Politologe Guenter L E W Y - 1 9 2 3 in Breslau geboren, 1 9 3 9 nach
Palästina emigriert und 1947 in die USA eingewandert — in seiner Studie
mitteilte, in der er sich auch skeptisch gegen den Vorwurf eines Völker-
mordes an den Zigeunern äußerte.1
Guenter LEWY.
Es besteht wegen der großen Unterschiede in den oben genannten
16 Faksimile dieses Zahlen offenbar noch Forschungsbedarf in dieser Sache.
Briefes in: National- Wie schwierig es ist, die im Jahre 2 0 0 7 rund sechs (bis acht) Millionen
Zeitung, 17. 7.1987 Roma, Sinti und Angehörige verwandter Stämme in Europa, davon 6 0 0 0 0
u. 2. 2. 2007. bis 7 0 0 0 0 in Deutschland, in den verschiedenen Staaten, vor allem auf
17 Guenter LEWY,
dem Balkan, zu integrieren und sie in die Gesellschaft einzufügen, be-
Rückkehr nicht schrieb Carola K A P S 2 0 0 7 in einem ausführlichen Bericht,1" Sie wies da-
erwünscht, Propyläen,
München-Berlin bei auch auf die starke finanzielle Förderung dieser Maßnahme durch
2000. die Europäische Union in den letzten Jahren hin, wobei allerdings die
Ift Carola K A P S , »Mit erhofften Erfolge nur teilweise erreicht worden seien. Schon 1986 hatte
Bildung aus dem ein Rund-Erlaß des nordrhein-westfiilisehen Innenministers unter Bezug
Abseits«, in: Frank- auf den Europarat bekanntgegeben:
furter A ¡¡gemeine »So hat sich das Ministerkomitee des Europarates wiederholt dafür
Zeitung, 30. 5. 2007. ausgesprochen, jeder Form der Diskriminierung von Landfahrern Ein-
Die dort angegebe- halt zu gebieten und Vorurteilen entgegenzutreten, die die Grundlage
nen »mehr als diskriminierender Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Land-
600000« für fahrern, insbesondere gegenüber Sinti und Roma, bilden, .. Da Angaben
Deutschland dürften
über die Volkszugehörigkeit von Personen, die einer Straftat verdächtig
wohl einen Druck-
fehler darstellen und sind, Diskriminierungen darstellen können, die Vorurteile verstärken oder
eine Null zuviel wecken, bitte ich, die Bezeichnung von tatverdächtigen Sinti oder Roma
aufweisen. als Zigeuner, den Hinweis bei solchen Tatverdächtigen auf ihre Zugehö-
" »Rund-Erlaß des rigkeit zu den Sinti oder Roma sowie deren Kennzeichnung als Landfah-
Innenministers« rer zu unterlassen. Das gilt auch bei Mitteilungen gegenüber Dritten ein-
vom 10. 3. 1986 - schließlich der Presse.«19
IV A 4 - 6590, in: Um solche Diskriminierungen zu vermeiden, fordert der betreffende
Ministerialblatt für das Interessenverband eine Verankerung im Grundgesetz: »Der Zentralrat
Land Nordrhein-
Westfalen, 1986, Deutscher Sinti und Roma erhebt seit seiner Gründung Anfang 1982
S. 464. den Anspruch, für die 7 0 0 0 0 deutschen Sinti und Roma den Schutz und
20 Romani ROSE, die Förderung als deutsche Volksgruppe in der Verfassung (gemeint ist
»Sinti und Roma wohl das Grundgesetz, R. K.) zu verankern.« 20
fordern Schutz«, in: Rolf Kosiek
Die Zeit, 10. 7. 1992.

532
Der Auschwitz-Prozeß -
kein rechtsstaatliches Verfahren

D er große Auschwitz-Prozeß in Frankfurt/M. ab 1963 bildete eine


Wende in der deutschen Vergangenheitsbewäldgung. Anschließend
wurde die Weltöffentlichkeit von einer einseitig berichtenden Presse jah-
relang mit den schlimmsten und oft weit übertriebenen Vorwürfen ge-
gen die Deutschen zu den Konzentrationslagern überschwemmt.
Die Hauptverhandlung fand vom 20. Dezember 1963 bis zum 20. Au-
gust 1965 in Frankfurt/M. statt, dauerte also 20 Monate und umfaßte
183 Verhandlungstage, an denen 382 Zeugen vernommen wurden und
rund 10 Sachverständige auftraten. Von den 20 Angeklagten wurden 17
zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt, drei freigesprochen. Eine ausführ-
liche Beschreibung der juristischen Seite dieses Prozesses hat der betei-
ligte Verteidiger Hans LATERNSER gegeben, 1 der auch schon beim Nürn- 1 Hans LATERNSER,
berger Militärtribunal tätig gewesen war. Die andere Seite im
Die Hauptverhandlung stellte nach seinem Urteil in verschiedener Hin- Auschwitz Prozeß.
sicht »eine Einmaligkeit in der deutschen Rechtsgeschichte dar«, (S. 23) 1963/1965,See-
Das Verfahren bildete den Auftakt zu einer Reihe von KL-Verfahren wie wald, Stuttgart
dem Majdanek-Prozeß in Düsseldorf, der von 1975 bis 1981 stattfand 1966. (Die Seiten-
angaben im Text
und mit mehr als fünf Jahren der bis dahin längste Strafprozeß der deut-
beziehen sich auf
schen Rechtsgeschichte werden sollte. dieses Buch.)
In der Presse und von der Öffentlichkeit wurde der Prozeß als ein
rechtsstaatliches Verfahren betrachtet. Das ist jedoch falsch. Richtig ist,
daß hier ein politischer Schauprozeß stattfand und wie in den vorange-
gangenen alliierten Militärtribunalen grundlegende Rechtsnormen ver-
letzt wurden. Der unabhängige und nicht der Rechten zuzuordnende Ver-
teidiger LATERNSER führt eine Reihe solcher Verfahrens fehler in seinem
Buch auf.
> Die Tätigkeit der Verteidiger wu
bei der Wahl der Räume. Der erste Teil des Prozesses fand im Frankfur-
ter Römer statt, wo die Verteidiger nicht einmal von ihren Plätzen alle
Richter sehen und diese nur schwer verstehen konnten. Die Zeugen wand-
ten den Verteidigern bei ihrer Vernehmung und Befragung den Rücken
zu, (S. 16)
> Zunächst hatten die Verteidiger gar keine, später einige wenige Mi-
krophone, zu denen sie für eine Wortmeldung jeweils hingehen mußten.
(S. 16) Auf ihren Plätzen sitzende Verteidiger konnten insbesondere an-
fangs wegen des Mangels an Mikrophonen vortragende Kollegen nicht
hören. Deswegen erhobene Rügen wurden nicht protokolliert. (S. 18)

533
> Daß die erste Verhandlung noch Ende 1963, wenige Tage vor Weih-
nachten, angesetzt wurde, sollte offensichtlich die Richterauswahl, ins-
besondere die des Vorsitzenden, für dieses Jahr noch für den ganzen
Prozeß zum Zuge kommen lassen. (S. 27) Die Angeklagten wurden also
ihren gesetzmäßigen Richtern entzogen.
> Schon beim ersten Verhandlungstag mußte die Verteidigung zwei
wettere Fehler bei der Bestellung des Vorsitzenden Richters rügen. (S.
26) Daß unter den sechs Geschworenen vier Frauen waren, war wohl
kaum ein Zufall und sollte sicher dem emotional leichter beeinflußbaren
Geschlecht ein größeres Gewicht beim Urteil verschaffen. (S. 24)
> In der Verhandlungsführung verhielt sich der Vorsitzende von An-
fang an nicht unparteiisch, sondern feindlich gegenüber der Verteidi-
gung und den Entlastungszeugen. »In den größeren internationalen Straf-
verfahren, in denen ich mitgewirkt habe, hat es zu keiner Zeit - auch
nicht vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg - eine so
gespannte Atmosphäre wie im Auschwitz-Prozeß gegeben.« (S. 28)
^ Bei Lachen oder Hohnrufen der Zuhörergegen die Verteidiger hat
der Vorsitzende nicht eingegriffen. (S. 30) Der Vorsitzende kam den aus-
ländischen Belastungszeugen sehr entgegen, während deutsche Entla-
stungszeugen schlecht behandelt wurden. (S. 34, 36) Selbst Beleidigun-
gen wie »Schwein« und Beschimpfungen der Angeklagten wurden
ausländischen Zeugen verziehen. (S. 35)
> Auch die Staatsanwälte verhielten sich sehr parteiisch zuungunsten
der Angeklagten. Die Staatsanwälte haben - »von einer Ausnahme abge-
sehen« — niemals irgendwelche Fragen zur Endastung gestellt, obwohl
dies ihrer Amtspflicht entsprochen hätte (§160 Strafprozeßordnung)«.
Hans LATERNSER und (S. 32) »Für die Staatsanwälte gab es etwa die Faustregel, daß die auslän-
sein Buch Die andere dischen Zeugen die Wahrheit sagen, den deutschen Zeugen nur mit größ-
Seite im Auschwitz - ter Vorsicht zu begegnen sei, während die Aussägen früherer Angehöri-
Prozeß. 1 9 6 3 / 1 9 6 5 ,
ger der SS in der Regel unglaubhaft seien.« (S. 57)
Seewald, Stuttgart
1966. Gegen Zeugen, die ganz offensichtlich die Unwahrheit gesagt hat-
ten — auch unter Eid —, wurde nichts unternommen, sie durften, ohne
daß Maßnahmen gegen sie ergriffen wurden, wieder abreisen. (S. 58) Da-
gegen wurden deutsche Zeugen bei Verdacht gegen sie nach der Aussage
verhaftet. (S. 58)
> Bei offensichtlichen Falschaussagen der Belastungszeugen lehnte
das Gericht zur Schonung der Zeugen eine von der Verteidigung gefor-
derte Vereidigung ab, damit diese nicht zur Rechenschaft gezogen wer-
den konnten,
^ Der Verteidigung wurden wichtige Tonbandaufnahmen vorenthal-
ten. »Das Gericht hat also mehrfach der Verteidigung den Zutritt zu den

534
auch unter ihrer Mitwirkung entstandenen Tonbandaufnahmen ohne er-
sichtlichen oder gar zwingenden Grund verwehrt.« (S. 48, 146)
> Der SED-Anwalt Dr. K A U L aus Ostberlin, dem von den Alliierten
der Zutritt nach West-Berlin untersagt worden war und der deswegen
unberechtigt als Prozeßbeteiligter - ohne es zu sein — im Gerichtssaal
erschien und Ausführungen machte, wurde vom Vorsitzenden gegen das
Recht zugelassen, nachdem er zunächst abgelehnt worden war. Der Bun-
desgerichtshof hatte gerade in bezug auf K A U L in einem anderen Fall am
2, März 1961 verfügt: »Ein Strafverteidiger, der die Verteidigung nicht
unabhängig führt, sondern dabei Weisungen unbeteiligter politischer Stel-
len befolgt, ist gesetzlich als Verteidiger ausgeschlossen und vom erken-
nenden Gericht von Amts wegen zurückzuweisen.« (S. 69) Dennoch gab
das Gericht sogar K A U L selbst einen - sehr ungewöhnlichen - Rechtsrat,
wie er zur Zulassung kommen könne. (S. 65) Die ganze Tätigkeit K A U L S
in dem Prozeß bestand dann auch vorwiegend in einer von der SED in
Mitteldeutschland vervielfältigten Propaganda gegen die Bundesrepublik. Der Cerichtssaal
y Auf Anraten seines Verteidigers hat mindestens ein Angeklagter, mit einigen der Ange-
klagten. Der Senats-
nachdem er das vorher immer abgestritten hatte, Erschießungen von Häft- präsident H O F M E Y E R
lingen zugegeben, obwohl er sie gar nicht vorgenommen hatte, um »da- äußerte: »Das
mit dem Gericht »goldene Brücken< dafür zu bauen, ihn lediglich wegen Schwurgericht ist
Beihilfe zum Morde zu bestrafen!« {S. 81) Die offensichdich falsche Aus- nicht berufen, die
sage wurde dann für die Wirklichkeit genommen und in der Öffentlich- Vergangenheit zu be-
wältigen.«
keit verbreitet, ohne daß sie richtiggestellt wurde.
In Strafprozessen sol-
len Gutachter zu konkreten,
für die Beurteilung der Ta-
ten der Angeklagten wich-
tigen Fragen Antworten
geben. Hier trugen rund
zehn Sachverständige, da-
von mehrere aus dem Mün-
chener Institut für Zeitge-
schichte, lange Gutachten
zu allgemeinen Fragen vor,
so zur Entwicklung der KLs
oder zur Judenpolitik und
Judenverfolgung. Diese
Themen standen gar nicht
im Gericht zur Diskussion,
»waren demnach völlig
überflüssig und ohne jede
Bedeutung für die Ent-

535
Scheidung des Verfahrens«, hatten jedoch entscheidenden Einfluß auf
die Stimmung im Saal und für die Berichterstattung über den Prozeß in
den Medien. (S. 84) Bezeichnenderweise wurde in der mündlichen Be-
gründung des Urteils auf keines dieser Gutachten Bezug genommen. Sie
sollten nur die geschichtlichen Vorwürfe gegen die NS-Regierung auch
in der Öffentlichkeit verstärken und für das gewünschte aufgeheizte Kli-
ma sorgen, (S. 83 f.) Ein Sachverständiger mußte, weil er dem Gericht
eine nachweisbare Unwahrheit aufgetischt hatte, abgelehnt werden. (S.
102)
^ Von den Zeugen kamen die meisten aus dem Ostblock, rund ein
Drittel aus Polen. Die letzteren mußten alle vor und nach ihrer Verneh-
mung in Frankfurt über Warschau reisen, wo ihnen ihre Papiere abgenom-
men wurden und sie teilweise mehrere Tage im Ministerium »vorbereitet«
und »informiert« wurden. (S. 158 ff.) Sie erhielten außerdem in Frankfurt
ein Informationsbulletin des Comité International d'Auschwitz<, das alle
Angeklagten mit Abbildung und Lebensdaten sowie den ihnen gemach-
ten Vorwürfen und ferner wichtige Angaben über das KZ und die Vor-
gänge in ihm enthielt. (S. 91 f.) »Es erklärt sich vielleicht daraus, daß die
Zeugen nach so langer Zeit oftmals Dinge aussagten, die sie einfach nicht
wissen konnten.« (S. 93) Dennoch wurden ihre Aussagen als wahr unter-
stellt, und die Staatsanwaltschaft unternahm keine Versuche, offensicht-
liche Widersprüche aufzudecken. Dafür bringt L A T E R N S E R in seinem Buch
viele Beispiele (u. a. S. 106-110). Selbst nach bewiesenen Lügen und
Meineiden konnten solche Zeugen unbestraft wieder ausreisen.
^ Auch wurden Berichte, in denen Vorgänge, die den Zeugen nur
vom Hörensagen bekannt waren, zugelassen und bewertet. {S. 152)
y Selbst bei eklatanten Widersprüchen erhielten die Zeugen die volle
Entschädigung, meist sogar in viel zu hohem Ausmaß, wobei sie an den
Kursumrechnungen noch erheblich verdienten. Einzelne gewannen auf
diese Weise unberechtigt Tausende von D-Mark. Auch die Vor- und Nach-
bereitungstage in Warschau mußte der deutsche Staat bezahlen. Es wur-
de »die deutsche Gerichtskasse um erhebliche Beträge geschädigt und —
um es klar auszudrücken — betrogen«. (S. 115) Trotz Hinweisen der Ver-
teidigung auf diesen offensichtlichen Mißbrauch zu Lasten der deutschen
Steuerzahler wurde er nicht abgestellt. (S. 114-124)
> Während des laufenden Verfahrens wurde am 18. November 1964
in der Frankfurter Paulskirche die sogenannte Auschwitz-Ausstellung er-
öffnet, die die Öffentlichkeit, aber auch die Zeugen betroffen machen
sollte. Die Idee dazu war neben anderen von dem hessischen General-
staatsanwalt Fritz B A U E R entwickelt worden (S. 9 4 ) , der als Vorgesetzter
der in dem Prozeß wirkenden Staatsanwälte eine solche Einmischung
gar nicht hätte vornehmen dürfen. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde der

536
Verteidigung gegen ihn wurde vom zuständigen Minister mit unzutref-
fender Begründung zurückgewiesen. »Es galten für dieses Verfahren nicht
die normalen Maßstäbe.« (S. 95)
> Viele, darunter auch für die
weisanträge der Verteidigung wurden vom Gericht abgelehnt. Darunter
auch der LATERNSERS, doch »durch eine Anfrage bei den hierfür in Frage
kommenden Organisationen festzustellen, wieviel jüdische Häftlinge die
Lagerzeit im KZ Auschwitz überlebt haben«. {S. 369)
> Die oft falschen Beschuldig
wiesene Zahl von mehr als 4 Millionen Vergaster in Auschwitz, wurden
dann als historische Tatsachen gewertet und werden bis heute in der Öf-
fentlichkeit zitiert
> In einem Strafprozeß geht e
klagten. Hier äußerten mehrfach Prozeßbeteiligte, daß ein wichtiger Zweck
des Verfahrens die Wirkung in der Öffentlichkeit sei, die Belehrung der
Jugend und die Vorbeugung vor Wiederholungen solcher Ereignisse.
(S. 263) Auch insofern handelte es sich um einen politischen Prozeß, bei
dem der Rechtsstaat auf der Strecke blieb.
Aus allen diesen Gründen muß der Auschwitz-Prozeß als reiner Schau-
prozeß gewertet werden, der vor allem der Umerziehung der Deutschen
dienen sollte und in der Folge auch so sich auswirkte.
Zur Vorgeschichte dieses Prozesses ist folgendes erwähnenswert. Ri-
chard BAF.R, der Nachfolger von Rudolf Höss als Kommandant von
Auschwitz, lebte nach 1945 jahrelang unter falschem Namen als I lolzar-
beiter. Er wurde dann entdeckt und in Untersuchungshaft genommen.
Er stritt immer das Vorhandensein von Gaskammern in Auschwitz ab
und behauptete, nie dort solche gesehen zu haben. Er hätte sicher viel im
Prozeß zu sagen gehabt.
»Höchst mysteriöserweise verstarb aber der bisher gesunde 51jährige
Richard BARR am 17. Juni 1963 an Kreislaufstörungen im Frankfurter
Untersuchungsgefängnis. Erstaunlicherweise hatte BAHR noch zwei Wo-
chen vor seinem jähen Ende der ihm im Gefängnis besuchenden Ehe- 2 Erich KERN, Von
frau gegenüber mit keinem Wort irgendwelche gesundheitliche Beschwer- Versailles nach
den erwähnt.«2 Nürnberg, K.W.
Er hatte die Gefängniswache verständigt, als er sich unwohl fühlte, und Schütz, Göttingen
nach einem Arzt verlangt. Als dieser kam, war B A E R schon tot. Im amtli- 1967, S. 474.
chen Obduktionsbefund des Instituts für Gerichtsmedizin der Universität 1 Ebenda.

Frankfurt wurde Herzschwäche angegeben, jedoch auch festgehalten: »Bei 4 Siehe Beitrag Nr.
der gesamten Sachlage kann jedoch die Einnahme eines nichtriechenden 621, »Der Tod des
und nichtätzenden Giftes nicht ausgeschlossen werden.« 3 Eine zweite KL- Kommandanten
Obduktion fand nicht statt. Der Tote wurde dann sofort eingeäschert. Sollte Baer«.
er in dem nachfolgenden Prozeß nicht mehr aussagen?4 Rolf Kosiek

537
Der Tod des KL-Kommandanten Baer

m Dezemberl 960 war der bis dahin als Waldarbeiter untergetauchte


I und weltweit seit Kriegsende gesuchte Richard BARR, von Dezember
1943 bis zum Januar 1945 als Nachfolger von Rudolf HöSS der letzte
Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, in der Nähe von
Hamburg aufgespürt und verhaftet worden. Von ihm erhoffte man im
Auschwitz-Prozeß (»Strafsache gegen BAER, MULKA U. a.«, Az.: 4 Js 4 4 4 /
59) authentische Aussagen zum Lagerleben, vor allem zur Frage der Gas-
, kammern und zur Zahl der dort umgekommenen Häftlinge. Eine solche
Klärung war besonders interessant, da im gerade vorausgegangenen EICH-
MANN-Prozeß (2, 4. bis 11, 12, 1961) in Jerusalem der umstrittenen letzt-
genannten Frage ausgewichen worden war.
Doch am 17. Juni 1963, wenige Monate vor dem im Dezember 1963
beginnenden Prozeß, in dem er Hauptzeuge und Hauptbeschuldigter sein
sollte, verstarb der bis dahin gesunde 51jährige BAER plötzlich in seiner
Zelle in der Frankfurter Haftanstalt. Bis dahin hatte er bei allen Verneh-
mungen behauptet, daß er in seinem KL nie Gaskammern gesehen, noch
Richard BAER,
etwas davon gewußt habe. Bis zu seinem Tod hatte er sich immer gewei-
gert, das Bestehen von Gaskammern in seinem Befehlsbereich, also im
KL Auschwitz, zu bestätigen.
Die deutschen Medien berichteten meist kurz und kommentarlos über
den mysteriösen Tod,1 ganz im Gegensatz zu sonstigen Todesfällen in
deutschen Gefangnissen. Die französische Wochenzeitung Rivarol2 be-
faßte sich mit den näheren Umständen, brachte Einzelheiten und meldete
Zweifel an einem natürlichen Tod an. Danach habe BAER die Wache ver-
ständigt, daß er sich unwohl fühle, und einen Arzt verlangt. Als dieser
kam, war der Häftling schon tot. Der zuständige hessische Generalstaats-
anwalt Fritz BAUER (SPD, 1949 aus Emigration nach Deutschland zu-
rückgekehrt) habe dann nach einer Obduktion schnell die Einäscherung
veranlaßt. Als BAERS Frau ihn zwei Wochen vor seinem plötzlichen Tod
besuchte, habe der bis dahin Kerngesunde in keiner Weise über mangelnde
Gesundheit geklagt. Er habe niemals daran gezweifelt, daß er in dem
bevorstehenden Verfahren freigesprochen würde. Nach dem Obdukti-
onsbefund soll Herzschwäche (defiäence cardiaque) die Todesursache ge-
wesen sein. In ihrer Erschütterung habe seine Frau es unterlassen, eine
nochmalige Obduktion zu verlangen.

1 H. St., »Der Tod des Auschwitz-Kommandanten«, in: Deutsche Wochenzeitung,


19. 10. 1963.
2 Zitiert in: ebenda.

538
Die Deutsche Hochschullehrer-Zeitung schrieb dazu: »In dem Obduktions-
befund des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Frankfurt a.
M, heißt es u. a.: >Bei der gesamten Sachlage kann jedoch die Einnahme
eines nicht riechenden und nicht ätzenden Giftes nicht ausgeschlossen
werden«, obwohl eine Insuffizienz der Herzkranzgefäße genügt hätte, den
Tod herbeizuführen. Die Frage ist also, falls der Obduktionsbericht zu-
trifft, wer B A R R dann dieses nicht riechende und nicht ätzende Gift gege-
ben hat. Denn B A E R hat seine Unschuld bis zuletzt damit begründet, daß
die »Gaskammern« in Auschwitz zwischen Dezember 1943 und Oktober
1944 nicht in Betrieb genommen und folglich die von der Anklage be-
haupteten 437000 ungarischen Juden dort auch nicht vergast worden
sein könnten, weshalb B A E R hätte freigesprochen werden müssen. Fest-
steht, daß ein Mann, der auf Freispruch hofft, keinen Grund hat, sich
selbst zu vergiften, abgesehen davon, daß das normalerweise in einer Zelle
ohne fremde Beihilfe nicht gut möglich wäre« 3 Daß die Obduktionsärzte
ausdrücklich die Möglichkeit der Vergiftung erwähnten, ist wohl ungewöhn-
lich und kann wahrscheinlich als ein Hinweis darauf gedeutet werden, daß
sie an dem Befund »Herzschwäche« oder »Kreislaufschwäche« zweifelten,
Verdächtig war auch, daß, obwohl die Vorermittlungen zum Ausch-
witz-Prozeß schon am 19. Oktober 1962 abgeschlossen waren, der Er-
öffnungsbeschluß erst am 7 . Oktober 1 9 6 3 erfolgte, also nach B A E R S Tod,
und dann bald der erste Verhandlungstermin für den 20. Dezember 1963
anberaumt wurde. Die Frage tauchte damals auf, ob B A F R S »Starrköpfig-
keit«, standhaft bei seiner Aussage zu bleiben, für die unverhältnismäßig
lange Zeitspanne zwischen dem Ende der Vorermittlungen und dem Er-
öffnungsbeschluß verantwortlich war, ob er für den von der Anklagesei-
te gewünschten Verlauf der Prozesses erst beseitigt werden mußte.
B A E R S sichere Erwartung eines Freispruchs wie die Tatsache, daß er
selbst sich bei der Wache meldete und einen Arzt verlangte, sprechen
gegen einen Selbstmord.
So bleibt der plötzliche Tod des letzten Kommandanten von Ausch-
witz wahrscheinlich unaufgeklärt wie andere ähnliche Fälle. Auf den Ver-
lauf des Auschwitz-Prozesses dürfte der Vorfall jedoch erheblichen Ein-
fluß gehabt haben, nicht zuletzt auf die Geständnisfreudigkeit der anderen
ebenfalls in Haft einsitzenden Angeklagten, die ein ähnliches Schicksal
wie B A R R sicher zu vermeiden suchten, Rolf Kosiek

3 D. H. als Zusatz in dem Artikel »Professor Rassinier antwortet >The Nation«<


in: Deutsche Hochschullehrer-Zeitung, Nr. 3, 1963, S, 29. Einen Teil dieses Obdukti-
onsbefundes zitierte auch Rechtsanwalt Eberhard ENGELHARDT, Nürnberg, in
einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft Frankfurt vom 12. November 1973.
Dessen Behauptung, BAF.R sei vergiftet worden, widersprach die Staatsanwalt-
schaft, jedoch nicht dem Obduktionsbefund.

539
Der Fall des >KZ-Bewachers< Otto Hoppe

ie Fragwürdigkeit der NS-Prozesse nach 1945 mit ihrer großen


D Menge falscher Aussagen und eidesstattlicher Erklärungen sowie
offenkundiger Meineide der Belastungszeugen kam besonders in dem
Fall des >KZ-Bewachers< Otto H O P P E zum Vorschein, der unschuldig
zwanzig Jahre Haft erdulden mußte, bevor die Vorwürfe gegen ihn rich-
tiggestellt werden konnten. Jahrelang berichtete auch die Presse über die
unberechtigten Anschuldigungen, die oft genug von den Gerichten über-
nommen wurden, ohne daß diese an sich zur Aufklärung verpflichteten
Justizorgane sich um die Klärung der Wahrheit bemüht hätten. Und diese
falschen Richtersprüche gingen dann in die Geschichtsschreibung ein
und beeinflußten das Geschichtsbild der nachfolgenden Generationen.
Beispielhaft sei der Fall H O P P E angeführt.
Der um 1 9 2 0 geborene Otto H O P P E gehörte von Frühjahr 1 9 3 8 bis
Sommer 1942 als SS-Oberscharführer zur Wachmannschaft des
Konzentrationslagers Buchenwald, wo er als Blockführer Dienst tat.
Otto HOPPE im Jahre Wegen angeblicher Verbrechen, zu denen in den Vorermittlungen 600
1950. Zeugen vernommen waren, wurde er als »Ausbund menschlicher Ver-
worfenheit« nach der sechswöchigen Hauptverhandlung mit 130 Bela-
stungszeugen am 18. April 1950 von dem Schwurgericht beim Landge-
richt Stade zu zweimal lebenslänglichem Zuchthaus und weiteren fünfzehn
Jahren Zuchthaus verurteilt. Ihm wurden Mord in vier Fällen, Totschlag
in sieben Fällen, versuchter Totschlag in fünf Fällen, Körperverletzung
im Amt in 79 Fällen, Totschlag und versuchter Totschlag in je zwei weite-
1 Gerhard M A U Z , ren Fällen zur Last gelegt. 1 Unter Eid behaupteten die Zeugen mit ins
»>Er hat mir nichts einzelne gehenden Beschreibungen, er habe Häftlinge zu Tode geprü-
zuleide getan<« in: gelt, mit seinen Stiefeln zu Tode getrampelt, sie an Bäumen aufgehängt,
Der Spiegel, Nr. 31, sie erschossen, ertränkt und erschlagen. Insbesondere habe er den Pour-le-
28. 7. 1965, S. 30. Merite-Träger Oberleutnant W O L F F und den jüdischen SPD-Abgeord-
1 Emil ARETZ,
neten Asch mißhandelt. 2 Der Angeklagte beteuerte stets seine Unschuld
Hexen-Emmal-Eins und wies die Vorwürfe als unberechtigt zurück. Das Gericht befand,
einer Lüge, Hohe
»durch hartnäckiges und verstocktes Leugnen« zeige er, daß er keine Reue
Warte, Pähl 4 1976,
S. 95 f. empfinde. 1
Der Bundesgerichtshofes hob in der Revisionsverhandlung am 20.
Dezember 1 9 5 1 das Stader Urteil auf, sprach H O P P E in mehreren Fällen
frei:
» 1 . H O P P E wurde freigesprochen, im Winter 1937/38 den ersten Häft-
ling in Buchenwald erschossen zu haben. Die Beschuldigung eines Ein-
zelzeugen hatte sich als unhaltbar erwiesen.

540
2. H O P P E wurde freigesprochen, sich an der Erschießung von Juden
auf dem Fußmarsch Weimar-Buchenwald im November beteiligt zu
haben. Die Beschuldigungen zahlreicher Zeugen hatten sich als falsch
erwiesen.
3. H O P P E wurde freigesprochen, an der Erschießung von 25 Juden im
November 1940 teilgenommen zu haben. Die Beschuldigungen von drei-
zehn ehemaligen Häftlingen hatten sich als vorsätzlich falsch erwiesen,
es wurde festgestellt, daß eine solche Erschießung gar nicht stattgefun-
den hatte.
4. Die Beschuldigungen zweier politisch Verfolgter, eines rassisch Ver-
folgten und zweier asozialer Häftlinge, wonach H O P P E andere Tötungs-
handlungen und schwere Mißhandlungen begangen habe, konnten nicht
3 Regina DAHL, in:
aufrechterhalten werden. Auch hier erfolgte Freispruch.« 1 Das Urteil
wurde auf einmal lebenslänglich herabgesetzt, weil andere Vorwürfe noch National-Zeitung Nr.
nicht widerlegt werden konnten, 18, 6. 5. 1966; zittert
in: A R F I Z , ebenda,
»1963 begannen H O P P E S Unschuldbeteuerungenden Rechtsanwalt und S. 95 f.
Notar Heinrich SIERWALD in Stade zu beunruhigen. SIERWALD kannte den
Fall, er war Partner des inzwischen verstorbenen Verteidigers von H O P P E
im Jahre 1950 gewesen.« 1 Er forschte nach und entdeckte unter ande-
rem, daß der Oberleutnant W O L L E schon 1 9 1 7 gefallen war und es einen
Reichstagsabgeordneten A S C H nie gegeben hatte.2 Ferner spürte er den
angeblich von H O P P E in Buchenwald ermordeten Kommunisten Hein-
rich S E I L E R , geboren am 10. 3. 1906, lebend als nun 59jährigen Fuhr-
mann in Gießen auf, der nur Gutes über H O P P E aussagte und erklärte,
daß dieser niemanden in Buchenwald mißhandelt habe. Er berichtete
auch, daß der Hauptbelastungszeuge H E R B S T , der den Mord an SEILER
vor Gericht beschrieben hatte, ihn persönlich in Gießen besucht hatte:
»Ich hatte von den Aussagen des Mithäftlings H E R B S T beim Prozeß da- 4 »Die große Lüge
mals in Stade keine Ahnung. Vor vier Jahren (1961) hat H E R B S T bei mir der KZ-Prozesse«,
übernachtet. Er wußte also, daß ich lebe,«5 Und er hat dennoch die Falsch- in: National-Zeitung
Nr. 44, 29. 10.
aussage gemacht und sie später nicht widerrufen. Auch habe H E R B S T bei
1965, S. 1 u.3.
seinem Besuch SEILER ZU überreden versucht, mit ihm zu anderen Pro-
5 »»Ermordeter«
zessen zu fahren, um Belastendes auszusagen: »Hauptsache wäre, daß
KZ-Häftling lebt«,
man Geld dafür bekäme«. 4 Inzwischen war H E R B S T 1962 verstorben.
in: Haller Tagblatt,
SEILER gab ein ausführliches Interview, 4 in dem er, der vom 2 7 , Juni 13.1.1965,
1939 bis zum 6, Januar 1943 in Buchenwald war, erklärte: »Ich kann mich
über H O P P E nicht beschweren. Er hat nie geschlagen... Bis Mitte 1 9 4 2
war H O P P E mein Kommandoführer. . . Ich habe nie gesehen, daß H O P P E
jemanden gequält oder geschlagen hat. Er hat uns nie schikaniert. Wenn
er im Lager jemanden umgebracht hätte, dann hätte sich das bestimmt
herumgesprochen.«
Mit diesem und weiterem Material stellte die Verteidigung im Herbst

541
1965 den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens und Haftunter-
brechung, dem stattgegeben werden mußte.
Da die Verurteilung im Fall SEILER aufgrund der offensichtlich fal-
schen Beschuldigung durch mehrere Zeugen erfolgt war, lag hier eindeu-
tig ein Fall von Zeugenabsprache — und damit eine strafbare Handlung —
vor, wie er auch in anderen NS-Verfahren, vor allem im Auschwitz und
Majdanek-Prozeß vorkam, ohne gesühnt zu werden. Darauf weist auch
der Verteidiger Dr. Hans LATERNSER anklagend in seinem Buch über den
Auschwitz-Prozeß unter ausdrücklicher Nennung des H O P P E - Prozesses
6 Hans LATERNSER, hin.6
Die andere Seite im Auch Eugen K O G O N belastete in seinem Standardwerk Der SS-Staat
AuschwitzPro^eß, H O P P E mit einem Mord: »Ein Breslauer namens SILBERMANN mußte zu-
1963-1965, See-
sehen, wie sein Bruder von dem SS-Unterscharführer H O P P E grausam zu
waid, Stuttgart 1966,
Tode gefoltert wurde, indem er ihn zuerst so lange mit den Stiefelabsät-
S. 375.
zen traktierte, bis er blutüberströmt dalag, dann mit Stricken an einen
I Eugen KOGON,
Pfahl band und verbluten ließ.« Bezeichnend ist, daß schon in der zwei-
Der SS-Staat, Karl
Alb er, München
ten Auflage 8 von diesem Satz der Teil nach »indem« weggelassen wurde.
1946, S. 163. Als K O G O N am 23. März 1960 zu diesem Fall SILBERMANN gerichtlich
s Ebenda, Tempel-
vernommen wurde, mußte er zugeben, daß er diese Mordgeschichte nur
hof Berlin 2 1946, vom Hörensagen kannte.9
5. 194. H O P P E wurde dann rehabilitiert und erhielt die Freiheit zruück. Er hatte

9 ARETZ, a a O . über 20 Jahre unschuldig gesessen. 1 "


(Anm. 2), S. 97 f. Eine Reihe weiterer Fälle von später offenkundig gewordenen
10 »Unter Himmlers Falschaussagen in NS-Prozesse schilderte Erich K E R N , der auch den Fall
Konterfei«, in: H O P P E erwähnt."
Deutscher A n^eiger, Uber die volkspädagogische Wirkung solcher Justizverfahren stellte
6. 5. 1983. der Schriftsteller Martin W A L S E R anläßlich des Auschwitzprozesses fest,
II Erich KERN, sie hätten »eine Bedeutung erfahren, die mit dem Rechtsgeschäft nichts
Meineid gegen Deutsch- mehr zu tun hat. Geschichtsforschung läuft mit, Enthüllung, moralische
land, K. W'. Schütz, und politische Aufklärung einer Bevölkerung, die offenbar auf keinem
Göttingen 1968, anderen Wege zur Anerkennung des Geschehenen zu bringen war«.1 In
S. 266-285. Wirklichkeit waren Geschichte und Justiz schon damals im Würgegriff
der Politik, dienten der Umerziehung. Deswegen tut eine Richtigstellung
not. Rolf Kosiek

542
Falsche Opferzahlen
des Maximilian-Kolbe-Werkes

u den Verbreitern nicht haltbarer zeitgeschichtlicher Angaben zu La-


Z sten Deutschlands gehörte auch das Maximilian-Kolbe-Werk in Frei-
burg, Es führte in seinen Schriften unter anderem ein »Jugend-KZ« in
Lodz auf, in dem angeblich Tausende von Jugendlichen durch Deutsche
ermordet worden seien.
Das ist falsch. Der verdienstvolle Gründer und Leiter der Zeitgeschicht-
lichen Forschungsstelle Ingolstadt, der Historiker Dr. Alfred S C H I C K E L ,
schrieb in einem Brief an das Maximilian-Kolbe-Werk1 unter anderem
zur Richtigstellung. »Wie uns bekannt wurde, verbreiten Sie in einigen
Ihrer Schriften zeitgeschichtliche Angaben, die als nicht gesichert gelten
müssen. So melden Sie von einem >Jugend-KZ< in Lodz, in welchem an-
geblich rund 12000 Kinder und Jugendliche ums Leben kamen.
Eine sorgfaltige Nachprüfung dieser Behauptung hat ihre Haldosig-
keit ergeben. Keine mit NS-Verbrechen befaßte Stelle in der Bundes-
republik konnte diese Totenzahl bestätigen: weder das >Institut für Zeit-
geschichte« in München noch der »Internationale Suchdienst« in Arolsen;

Jüdische Jugendliche
im Ghetto von Lodz
stellen in einer der
von Deutschen
geleiteten Fabriken
Lederwaren her.
Aus: Martin G I L B E R T ,
Nie wieder! Die Ge-
schichte des Holo-
caust Propyläen, Ber-
lin-München 2001.

1 Brief Dr. Alfred SCHICKELS an das Maximilian-Kolbe-Werk in Freiburg vom

23. Juli 1984, liegt in Kopie dem Verfasser vor.

543
Oben: Yitzhak Z U C K E R -
MAN, einer der Anfüh-
rer des Warschauer
Ghettoaufstands im
April 1943. Rechts:
Während des Auf-
stands im Warschauer
Ghetto ergibt sich ein
Jude und steigt aus
den Trümmern.
auch das Bundesarchiv in Koblenz vermochte keine Belege für diese trau-
rige Angaben aufzufinden.
Des weiteren geben Sie in Ihrer Schrift Auf dem Wege der Versöhnung.
Die Arbeit des Max-Kolbe-Werkes vom Oktober 1983 auf der Seite 37 an,
daß der Warschauer Aufstand >560 000< Tote gebracht habe. Sind die rund
100000 tatsächlichen Opfer schon grausig genug, sollte man ihre Zahl
nicht durch fünffache Übertreibung in den Geruch der UnglaubWürdig-
keit bringen!. . . Auf Wunsch bin ich gern bereit, Ihnen en détail die Halt-
losigkeit der beiden oben erwähnten Zahlenangaben nachzuweisen.«
Der Historiker schließt seinen Brief mit der Erwähnung einer »trauri-
gen Tatsache« und einem guten Ratschlag: »Ich selbst habe in der Zeit-
schrift für Politik im Herbst 1978 sowie in meinem neuesten Buch Deutsche
und Polen2 eingehend polnische Zahlenangaben untersucht und dabei die
traurige Erfahrung gemacht, daß die meisten verbreiteten Zahlen einer
seriösen Grundlage entbehren. 3 Dies sollten Sie bedenken, falls Sie sich
auf polnische Angaben oder >Quellen< beziehen sollten.« Rolf Kosiek

2 Alfred S C H I C K E ! . , Deutsche und Polen. Ein Jahrtausend gemeinsamer Geschichte, Gu-


stav Lübbe, Bergisch Gladbach 1984.
3 So z. B. ebenda, S. 241.

544
Zahl von Mauthausen-Opfern vervielfacht

n der Nachkriegszeit haben viele Überlebende der Konzentrations-


I lager von ihren furchtbaren Erlebnissen berichtet. Dabei kam es nicht
selten vor, was menschlich verständlich ist, daß sie in ihren Schilderun-
gen übertrieben 1 oder — was weniger zu entschuldigen ist — ihrer Phanta-
sie freien Lauf ließen.2 Das gilt auch für die angegebenen Zahlen der
Opfer. Diese falschen Angaben wurden dann oft unkritisch von der Presse
übernommen oder durch andere Massenmedien verbreitet und gingen in
manchen Fällen selbst in die Geschichtsbücher ein.
Einen solchen Fall deckte 2 0 0 7 die Wiener Tageszeitung Die Presse?
auf. Es handelte sich dabei um die Angaben der 1932 in Budapest gebo-
renen Klara HOCHHAUSER. Sie kam Ende Oktober 1 9 4 4 vom KL Ausch-
witz mit insgesamt 577 anderen jüdischen Frauen in das Frauenlager Len-
zing/Pettighofen in Oberösterreich, gab allerdings später immer an, nach
Mauthausen gekommen zu sein, was ihrer Jugend wohl zugute gehalten
werden kann.
Die später als Clare P A R K E R verheiratete Frau schrieb ihre Erlebnisse
während der Lagerzeit nieder. Da diese so glaubwürdig erschienen und
sehr aussägestark waren, wurde die Autobiographie in die vom österrei-
chischen Innenministerium herausgegebene Buchreihe der Mauthausen-
Erinnerungen als erster Band aufgenommen.
In diesem Buch heißt es über die Arbeitsverhältnisse in dem österrei-
chischen Lager: »Es verging kein Tag, an dem nicht etliche Gefangene
fehlten, wenn wir ins Lager zurückgingen. Die Zahl der Gefangenen ver-
ringerte sich rapide. .. Von den ursprünglich mehreren hundert Frauen
waren noch ungefähr zwanzig übrig.« Das würde, wie jeder Leser daraus
entnehmen mußte, eine sehr hohe Todesrate in diesem Lager und des-
wegen eine große Schuld für die Verantwortlichen bedeutet haben.
Doch diese veröffentlichte Erinnerung ist offenbar falsch. Der Histo- Von oben: Erster Band
der Buchreihe der
riker Roman S A N D G R U B E R , der an der Universität Linz Sozial- und Wirt- Mau thausen-Erin ne-
schaftsgeschichte lehrt und Mitglied der Österreichischen Akademie der rungen: Cläre P A R K E R ,
Wissenschaften ist, ging dieser Sache, ohne Rücksicht auf bestehende Klaras Geschichte;
Tabus zu nehmen, nach und stellte fest, daß die oben zitierte Aussage Roman S A N D G R U B E R .

1 Beitrag Nr. 261,»Elie Wiesel ->Fin unredlicher Kronzeuge*«; Nr. 263, »Simon
Wiesenthal und seine Legenden«,
2 Siehe die Fälle W I I . K O M I R S K I , MARCO U. a, in Beitrag Nr. 2 6 0 , »KL-Biographien

als Fälschungen entlarvt«.


3 Bericht darüber von fst, »Mauthausen-Schwindel geplatzt«, in: Nation und Eu-

ropa, Nr. 5, 2007, S. 55.

545
des früheren Häftlingsmädchens nicht stimmen kann. Der 1947 geborene
Professor schrieb über seine Nachforschungsergebnisse in der Presse. »Daß
von den 577 Häftlingen in Lenzing/Pettigkofen nur etwa 20 überlebt
hätten, widerspricht den tatsächlichen Gegebenheiten diametral. Tatsäch-
lich gab es in Lenzing/Pettighofen zwar schreckliche Schikanen, aber
nur neun Todesfalle, auch wenn diese durch nichts zu rechtfertigen sind.«
Und der Wissenschaftler fügt dem mit vollem Recht als Bewertung hin-
zu: »Aber es macht schon einen Unterschied, ob die Todesrate bei 577
Insassen mit mehr als 95 Prozent angegeben wird oder 1,6 Prozent be-
4 Zitiert in: ebenda. trug, wie durch alle dazu vorliegenden Forschungen bestätigt wird,«4 Fer-
ner hat der mutige Historiker das Wiener Innenministerium aufgefor-
dert, auch bei KL-Veröffentlichungen in Zukunft doch bitte »alle Regeln
der historischen Quellenkritik« zu beachten. Rolf Kosiek

Befreiungsfeier Anfang Mai 2005 im KL-


Mauthausen, links der iHolocaustüberle-
bende< Enric M A R C O , Vorsitzender des (Ver-
bandes der Überlebenden des Lagers
Mauthausem, der im selben Monat ent-
larvt wurde. Siehe Beitrag Nr. 260, »KL-
Biographien als Fälschungen entlarvt«,

Germaine T I L U O N , die als Mitglied der Résistance in Paris verhaftet und später ins
Frauen-KZ Ravensbrück deportiert wurde, meint zu diesem Phänomen |KL-Btogra-
phien zu fälschen!: »Diese Personen [die sich Greuelmärchen ausdenken] sind in
Wirklichkeit viel zahlreicher als man im alSgemeinen glaubt, und ein Bereich wie
die Welt der Konzentrationslager - leider wie geschaffen zur Erzeugung sadomaso-
chistischer Vorstellungen - bot ihnen ein außergewöhnliches Betätigungsfeld, Wir
haben zahlreiche geistig Geschädigte, halbe Gauner, halbe Narren erlebt, die sich
eine imaginäre Deportation zunutze machten; wir haben andere - echte Deportierte
- erlebt, deren krankhafter Geist sich bemühte, die Ungeheuerlichkeiten noch zu
übertreffen, die sie selbst gesehen hatten oder von denen man ihnen erzählt hatte,
und es ist ihnen gelungen. Es hat sogar Verleger gegeben, die einige dieser Hirnge-
spinste drucken ließen und hierfür mehr oder weniger offizielle Zusammenstellun-
gen benutzten. Doch sind diese Verleger wie auch die Verfasser jener Zusammen-
stellungen nicht zu entschuldigen, denn die einfachste Untersuchung wäre
ausreichend gewesen, den Betrug zu entlarven«.

546
Revision der Opferzahlen für KL Majdanek

ie bei mehreren anderen Konzentrationslagern wurden jahre-


W lang auch für das Lager Majdanek zu große Opferzahlen angege-
ben. Beim Nürnberger Prozeß gegen die >Hauptkriegsverbrecher< 1945/
46 wurde unter anderen das Dokument USSR-29 vorgelegt, das den Be-
richt der »Polnisch-Sowjetischen Außerordentlichen Kommission« über
das Konzentrationslager Majdanek bringt. Es wurde im einzelnen an vier
Verhandlungen des Internationalen Militärtribunals hinzugezogen. 1 Insbe- 1 Internationaler
sondere wurde daraus am 19. Februar 1946 vom sowjetischen Ankläger Militärgerichtshof
SMIRNOW zitiert: »Die Polnisch-Sowjetische Außerordentliche Kommis- Nürnberg (l Ig.), Der
sion hat festgestellt, daß die hitlerischen Henker während des vierjähri- Nürnberger Prozeß
gegen die Hauptkriegs-
gen Bestehens des Vernichtungslagers Maidanek auf direkten Befehl ih- verbrecher vom 14.
rer verbrecherischen Regierung durch Massenerschießungen und November 1945 bis 1.
Massentötungen in Gaskammern, »ungefähr 1,5 Millionen Menschenver- Oktober 1946,
nichtet haben««, darunter »»eine große Zahl Juden«. 2 Dieses Dokument, Delphin, Nürnberg
das nach dem Statut für den Prozeß von Amts wegen zur Kenntnis zu 1947, Bd. VII,
nehmen war und dessen Inhalt nicht hinterfragt wurde, wurde dann für S. 419, 549, 621 u.
lange Zeit zur historischen Grundlage genommen, auch im Ausland. 3 648. In dem Bericht
Doch die Zahlenangabe war offensichtlich falsch. Bei dem von 1975 wird auch eine
Reihe unzutreffen-
bis 1981 laufenden langen Majdanek-Prozeß in Düsseldorf wurde die der, später richtig-
Opferzahl im Laufe des Verfahrens herabgesetzt, und im Urteil gingen gestellter Rinzelh ei-
die Richter von 2 0 0 0 0 0 Opfern aus. Diese Zahl wurde dann meist ver- len behauptet, z.B.
wendet.4 Dennoch gab zum Beispiel die Columbia Electronic Encyclopedia daß die gemahlenen
«och im Jahre 2 0 0 3 die alte Zahl von anderthalb Millionen beim Stich- Knochen der
wort »Majdanek« an. Im Jahre 2 0 0 5 erklärte Tomasz KRANZ, der Leiter Ermordeten als
der Forschungsabteilung des Staatlichen Majdanek-Museums, daß nach Dung an deutsche
neueren Forschungen die Zahl der Toten im Lager Majdanek mit 7 8 0 0 0 Firmen verkauft
worden seien
anzusetzen sei.5 (ebenda, S. 648).
Das wäre rund ein Zwanzigstel der ursprünglich für verbindlich ange-
sehenen und den Deutschen angelasteten Opferzahl.
Rolf Kosiek

2 Ebenda, S, 648.
1 Constantin S L M O N O V , Mai'danek, un camp d'extermination, Edition sociales, Paris
1945, S. 36 u. 39.
4 Christian ZENTNER U. Friedemann BEDÜRFTIG, Das Große Lexikon des Dritten

Reiches, Südwest, München 1985, S, 370;Till BASTIAN, Auschwitz und die >Ausch-
mitz-Lüge<, C. H. Beck, München 1994, S. 24.
5 Gazeta Wyborcza, 23. 12. 2005; Robert FAURISSON, »Einschneidende offizielle
Revision der Opferzahl von Majdanek«, in: Stimme des Genissens, Nr. 3,2006, S. î 1 f.

547
Legende um KL in Reismühle bei Triest

u den Legenden um deutsche Konzentrationslager gehört auch die


Z von dem »Vernichtungslagen Risiera di San Sabba (Reismühle) bei
Triest, über das 1979 berichtet wurde. 1
So stellten im Sommer 1979 die Israel Nachrichten2 die Behauptung auf,
daß in dem deutschen »Vernichtungslagen Risiera di San Sabbba während
des Zweiten Weltkrieges von dem 1979 in München lebenden Schänk-
kellner Josef Kaspar O B E R H A U S E R »mehr als 7 5 0 0 0 0 Italiener und Jugo-
slawen« ermordet worden seien. Zur gleichen Zeit berichtete die Allgemei-
ne jüdische Wochenzeitung von einer wesentlich kleineren Zahl in dieser
»ehemaligen Reismühle« getöteter Menschen: »Hier starben rund 5 0 0 0
Kommunisten, Partisanen und Juden.«
Doch diese Angaben sind offensichtlich falsch. Von einem solchen
>Vernichtungslager wie von einem Massenmörder OBERHAUSER sei in der
betreffenden Literatur nichts bekannt. In Gerald REITLINGERS Standard-
werk Die Endlösung stehe nur ein Hinweis darauf, daß nach der Auflösung
eines jüdischen Altersheims in Triest einmal 70 Personen »vor der Depor-
tierung sieben Tage lang im Lagerhaus für Reis »Santa Saba< festgehalten«
worden seien.1
Die Redaktion der National-Zeitung habe zu ihrem ersten Bericht1 über
diesen Fall einen Brief des Herrn Helmut W O L F aus Nordrhein-Westfa-
len erhalten, worin dieser aus eigenem Erleben dazu unter anderem schrieb:
»Als Unterkunftsbeauftragter des Einsatzes Alpen (Organisation Todt)
wurde ich Ende Januar 1944 von Bozen nach Triest versetzt und erhielt
etwa im März oder April 1944 die ehemalige Reismühle (genauer: Reis-
schälmühle) in San Sabba zugewiesen zwecks Errichtung eines Bestands-
lagers für Unterkunftsgeräte.
Zu dieser Reismühle gehörte eine Lagerhalle. . . In ihr lagerten zirka
12000 Kubikmeter Schnittholz. Im Herbst 1944, den genauen Zeitpunkt
kann ich nicht mehr angeben, wurde diese 1 lalle von Partisanen angezün-
det, und der ganze Komplex brannte bis auf die Grundmauern nieder.«1
Auch dieser Zeitzeuge berichtet nicht von einem »Vernichtungslagen,
sondern von der Vernichtung von Holz und der Halle durch Partisanen.
Die in diesem Zusammenhang gegen die Deutschen erhobenen Vorwür-
fe sind demnach mit ziemlicher Sicherheit unberechtigt, Rolf Kosiek

1 »So entsteht ein /Vernichtungslager« in: NationahZeitung, Nr. 34, 17. 8. 1979.
2 Israel Nachrichten, 24. 6. 1979.
3 »Ein Mann und 750000 Morde«, in: National-Zeitung, Nr. 29, 13. 7. 1979, S. 7.

548
Falsche Tafel in E s t e r w e g e n enthüllt

I m Rahmen der Vergangenheitsbewältigung werden nicht nur die Ge-


setze der Logik außer Kraft gesetzt, sondern es werden auch gegen
besseres Wissen falsche Informationen gegeben und zugelassen, selbst
von deutschen Behörden und von Amts wiegen. Ein bezeichnendes Bei-
spiel ereignete sich 1979 beim früheren Konzentrationslager Esterwe-
gen in Niedersachsen,1 wo sich Bundesminister APF-L für eine Gedenk-
stätte eingesetzt hatte.
Das zuständige Regierungspräsidium in Oldenburg hatte 1979 unter
Regierungspräsident Dr. SCHWEERS ( C D U ) die Aufstellung einer von Kom-
munisten und verwandten linken Kreisen entworfenen Gedenktafel für
das KI. Esterwegen abgelehnt, weil im Text auf der Tafel wahrheitswid-
rig von Tausenden von Ermordeten in diesem Lager die Rede war. Auf
einer Versammlung in Papenburg hatte gar ein früherer kommunistischer
Häftling erklärt, daß in Esterwegen und seinen Nebenlagern »etwa 1 0 0 0 0
bis 11 000 Menschen ums Leben gekommen« seien.2
Das ist falsch. In Wirklichkeit waren in Esterwegen wohl rund 1300
Personen beerdigt worden, die in den verschiedenen Lagern des Emslan-
des in der betreffenden Zeit zwischen 1933 und 1945 gestorben waren.
Ferner war von der Behörde zu Recht zur Begründung der Ablehnung
angeführt worden, daß das Lager Esterwegen »kein Konzentrationsla-
ger, sondern ein echtes Strafgefangenenlager« 1 gewesen sei.
Richtig ist, daß das Lager kurz nach dem Regierungswechsel 1933 als
wildes Lager der SS eingerichtet worden war. Als bald Gerüchte von
Ungesetzmäßigkeiten von seilen der Wachmannschaften aufkamen, wurde
im Sommer 1933 von Berlin und Oldenburg scharf eingegriffen und
Abhilfe geschaffen."1
Der von 1933 bis 1945 amtierende Ministerpräsident des Freistaates Von oben:
Oldenburg, Georg JOEL, der mit den Verhältnissen im Lager befaßt ge- Hans APEL unci
wesen war und den Krieg überlebt hatte, schrieb am 29. Oktober 1979, Egbert MÖCKLINGHOFF.

nachdem er sich schon einmal vergebens an die Nordwest-Zeitung in Ol-


denburg gewandt hatte, in einem Brief in dieser Sache an den nieder-
sächsischen Innenminister MÖCKLINGHOFF u. a.: »Auch heute kann ich
nur feststellen, daß in der Zeit des Bestehens des Lagers Esterwegen als

' »Lügentafel in Esterwegen bleibt«, in: Deutscher Anzeiger, 26, 10, 1979.
2 -en (Adolf VON THADDEN), »Was geschah im Lager Esterwegen?« in: Deutsche
Wochenzeitung, 28. 3. 1980, S. 7.
3 Zitiert aaO. (Anm.l),
4 Zitiert aaO. (Anm. 2).

549
Konzentrationslager kein Insasse, ob durch
Hunger, durch Schläge oder durch Erschie-
ßen, getötet wurde. Mein Eingreifen gegen
Übergriffe von Teilen der Bewachungs-
mannschaft außerhalb des Lagers war die
Ursache zur Auflösung des Lagers als Kon-
zentrationslager. Das war um die Zeit von
1934/1935. Anschließend übernahm die Ju-
stizverwaltung das Lager als Strafgefange-
nenlager, und (es) blieb in dieser Verwaltung,
bis es im Laufe des Krieges Militärstrafge-
fangenenlager wurde.. .
Nach dem Zusammenbruch 1945 war
ich selbst für Monate in Esterwegen einge-
sperrt. Schon damals versuchten die Ver-
nehmer uns einzureden, daß über tausend
Menschen in dem Lager Esterwegen und
den anderen Lagern im Hümling umge-
bracht worden seien. Als sie — die ja gegne-
rische Uniformen trugen - merkten, daß
einige Insassen es besser wußten, unterlie-
ßen sie derartige Bekundungen. . .<5
Ein überlebender Angehöriger der
Wachmannschaft schrieb dazu: »Die 1350
Toten, die auf dem Lägerfriedhof »Ester-
wegen« ruhen, sind nicht alle in Esterwe-
gen gestorben - im Gegenteil: die wenig-
sten hier. Hier wurden sämtliche Toten aus
allen Emslandlagern zusammengeführt. Es
gab im Emsland etwa 10000 Strafgefange-
ne. Die 1350 Toten sind in Esterwegen im
Oben: Der Friedhof des ehemaligen Lagers Esterwegen. Lauf von rund zehn Jahren ordnungsge-
Unten: In der 1981 errichteten offenen Gedenkhalle ste- mäß beerdigt worden. Das Lager Esterwe-
hen acht Säulen, auf denen die Namen der Emsland- gen ist nur eine Zeitlang KZ gewesen. ..
Lager aufgeführt sind, sowie eine größere Bronzetafel Ich selbst diente im Lager V. Dort hatten
mit Angaben zur Geschichte des Lagers.
wir auch die schlimmsten Ganoven, die es
im Deutschen Reich gab, zu bewachen.
Nach meiner Kenntnis waren alle Insassen
mit Zuchthaus bestraft. Keiner von ihnen
war unvorbestraft. 200 der Insassen hatten

550
sogar Sicherungsverwahrung. 200 Sittlichkeitsverbrecher, Räuber, Mör-
der aller Klassen, auch Angehörige der kommunistischen Mörderbande
des Fiete Schulze gaben sich bei uns ein Stelldichein.« 6 b J. ScHN IE RS,
Nach der Ablehnung der Tafel durch die Regionalbehörde erhoben Fresenburg,
sich große Proteste und Empörung von linker Seite, und die Öffentlich- Leserbrief »Die
keit wurde über die Presse mobilisiert. Dabei wurde vorgebracht, auf die Wahrheit über
genauen Zahlen und andere Umstände komme es nicht an, es müsse nur Esterwegen«, in:
National-Zeitung 7.
des >Nazi-Terrors< gedacht werden. Der Fall beschäftigte auch den nie-
12. 1979.
dersächsischen Landtag, vor dem der amtierende CDU-Innenminister
Egbert MÖCKLINGHOFP im Fahrwasser des Zeitgeistes erklärte: »Zahlen
vermögen das Ausmaß menschlichen Leidens nur unzureichend auszu-
drücken. Sie sollten daher bei der Frage, wie die während der NS-Zeit
umgekommenen Menschen geehrt werden sollen, nicht ausschlaggebend
sein.«" 7 Zitiert aaO.
Mit dieser Begründung und dem Hinweis auf die angebliche Not- (Anm. 1).
wendigkeit außergewöhnlicher Rücksichtnahme »auf die besondere Situa-
tion« in diesem Fall hob der Landesinnenminister dann das Verbot der
Bezirksregierung auf und genehmigte in einer Abmachung mit dem Ar-
beitskreis >Carl von Ossietzky Emsland/Ostfriesland< (Papenburg) die 8Fritjof M E Y E R ,
nachweislich mit inhaltlich falscher Angabe versehene Tafel für die Ge- »Die Zahl der Opfer
denkstätte des genannten Konzentrationslagers. von Auschwitz«, in:
Bekanntlich spielen dagegen in anderen Fällen als unrichtig angesehe- Osteuropa, 52. Jg.,
ne Zahlenangaben eine große Rolle. Wer zum Beispiel als bekannter >Rech- Nr. 5, 2002, S. 631-
641.
ter< - Nicht-Rechte wie der Spiegel- Redakteur Fritjof MEYER 8 oder der
9 je an-Claude
französische Apotheker PRESSAC9 dürfen das noch ungestraft - von der
PRESSAC, in: B e a t e
herrschenden politischen Korrektheit vorgeschriebene Opferzahlen von
Klarsfeld Foundati-
NS-Opfern mit überzeugender Begründung nach unten korrigiert oder on (Hg.), Auschwitz—
öffentlich bezweifelt, wird in der Bundesrepublik sogar juristisch belangt Technique and operation
und nach dem in den letzten 15 Jahren mehrfach verschärften Sonderpa- of the gas chambers,
ragraphen 130 des Strafgesetzbuches unverhältnismäßig hart verurteilt. New York 1989;
Was der eine darf, ist dem anderen also eben unter den »besonderen Verhält- ders., Les Crématoires
nissen« im Nachkriegsdeutschland nicht erlaubt, der Gleichheitsgrund- dAuschwiz CNRS
satz des Grundgesetzes ist auf diesem Gebiet seit Jahrzehnten aufgeho- Editions, Paris 1993;
ben. Dafür wird die offenkundige Lüge als amtliches Mittel der deutsch: ders., Die
Information zur Umerziehung der Deutschen weiterhin benutzt. Und Krematorien von
Auschwitz Piper,
von vielen Deutschen wird diese Lüge dann als Wahrheit aufgenommen,
München—Z ürich
weil sie sich in ihrer Gutmütigkeit nicht vorstellen können, daß sie syste- 1994.
matisch von den herrschenden Kreisen betrogen werden. Rolf Kosiek

551
Martin Gray - ein falscher KZ-Zeuge

D er Schweizer Binjamin WILKOMIRSKI und der Spanier Enric M A R C O


erlangten um die Jahrhundertwende traurige Berühmtheit mit ihren
Autobiographien über ihre angebliche Leidenszeit in NS-Konzentra-
tionslagern.1 Es stellte sich nämlich heraus, daß ihre mit dem Anspruch
auf historische Wahrheit geschriebenen und vertriebenen Werke Fälschun-
gen und reine Phantasieerzeugnisse waren, da beide niemals in einem
solchen Lager gelebt hatten.
Ein ähnlicher, aber besonders makabrer Betrug ereignete sich schon
vorher in Frankreich, wo ein Martin G R A Y (eigentlich G R A Y E W S K I ) 1971
den Bestseller Au nom de tous /es mienr (>lm Namen all' der Meinem) ver-
öffentlichte. G R A Y berichtete darin von seinem angeblichen Leben im
Warschauer Ghetto und im Konzentrationslager Treblinka, aus dem er
floh, Offizier der Roten Armee wurde und desertierte. Er wanderte in
die USA ein und ließ sich später in einer Luxusvilla an der Cöte d'Azur
nieder. Ungeniert erzählte er auch von seinen Schachereien im Ghetto
und von Betrügereien mit gefälschten Antiquitäten, die er selber nach
1945 hergestellt hatte.
Martin G R A Y beschrieb ausführlich das Funktionieren der Gaskam-
mer in Treblinka und widersprach damit dem Nürnberger Internationa-
len Militärtribunal, das 1946 feststellte, daß die einzige Tötungsmethode
in Treblinka die Ermordung in dreizehn Dampfkammern (steam Cham-
bers) gewesen sei.'3 Außerdem erzählte G R A Y , daß er in Treblinka mit dem
Beseitigen der Leichen beauftragt gewesen sei und »zwischen den war-
men Leichen noch lebende Säuglinge gefunden hatte, die sich an den
Körpern ihrer Mütter klammerten«. »Mit eigenen Händen habe ich diese
Martin C K A Y und sein Babys erwürgt, damit sie nicht lebendig beerdigt wurden.« 4
Buch Au nom de tous
les miens. Die deut-
In einer Fernsehsendung vom 13. August 1975 auf dem französischen
sche Übersetzung Sender Antenne 2, die von J E A N N E S S O N moderiert wurde, wiederholte er
erschien unter dem diese Geschichte, indem er den Zuschauern weinend seine Hände entge-
Titel Der Schrei nach genhielt und theatralisch rief: »Wenn man bedenkt, daß ich mit diesen
Leben, zuletzt bei Händen die Babys erwürgt habe!«
Goldmann, München
6 Die Wirkung dieses Bestsellers auf das Publikum war ungeheuerlich.
20 02.
Die Journalistin Brigitte F R I G A N G schrieb in der Pariser Tageszeitung Le

1 Beitrag Nr. 260, »KL-Biographien als Fälschungen entlarvt«.


2 M a r t i n G R A Y , AU nom de tous les miens, L a f f o n t , Paris 1 9 7 1 .
5Dokument Nürnberg PS-3311, Bd. XXXII, S. 154-158, 6, Anklagepunkt ge-
gen Hans FRANK.
4 GRAY, aaO. (Anm. 2), S . 177,186, 211 u. 228.

552
Figaro: »Als vor 12 Jahren das Buch Au nom de tous les miens erschien, habe
ich geweint beim Bericht von den Erniedrigungen und Leiden, von der 5Brigitte F R I G A N G ,
Verzweiflung, von ihrem (der Juden) heldenhaften Sterben, Ich habe ge- »Parlez, Monsieur le
schluchzt bei der Erinnerung an das Lager Treblinka.« 5 porte-parole«, in: Le
Robert E N R I C O hat das Buch für 4 7 Millionen Francs verfehmt. Der Figaro, 9. 11. 1983.
Film machte die angeblichen Vorkommnisse weiteren Kreisen bekannt. b Pierre VIDAI.-
Beim Prozeß von neun jüdischen und antirassistischen Organisatio- NAQUET, Les juifs, la
nen gegen den französischen Revisionisten Professor Robert FAURISSON Mémoire, Le Présent,
hatte ausgerechnet G R A Y S Buch als Beweismittel gedient, um den Profes- Maspéro, Paris
sor der falsification de l'Histoire< (>Geschichtsfalschung<) zu überführen. 1 9 8 1 , S. 2 1 2 .

Bemerkenswert ist, daß schon 1966 bei Fayard der Erlebnisbericht Treb- ' Présent,
linka von Jean-François S T E I N E R erschienen war, der von der Schriftstel- 24, 11. 1983,
lerin Simone DE BEAUVOIR und von dem anti-revisionistisch en Professor 8 Le Monde,
Pierre V I D A L - N A Q U E T gelobt wurde, bis dieser Professor 1 9 8 1 zugeben 15. 8. 1975, S. 4.
mußte, daß er einer Fälschung aufgesessen sei/6
Im Fall Martin G R A Y begann die Endarvung durch Adam RUOKOWSKI,
der Forschungsbeauftragter am >Centre de Documentation juive contem-
poraine* war und am 21, Juni 1974 an Professor FAURISSON schrieb: »Mar-
tin G R A Y ist ein jüdischer James B O N D . «
Am 8 , Oktober 1 9 7 5 verkündete Georges W E L L E R S , Mitarbeiter am
selben Centre, daß G R A Y niemals in Treblinka gewesen sei. Den Gnaden-
stoß erhielt der Fälscher durch die ungarisch-englische Jüdin Gitta Se-
reny HoNEYMAN mit ihrem Artikel »The men who whitewash Hitler« im
New Statesman vom 2. November 1979. Sie beklagte, daß durch Betrüger
wie G R A Y die Neonazis Auftrieb erhielten. Es ist schon erstaun-
Der Fälscher G R A Y hatte, wie dann herauskam, sein Buch mit einer an- lich, daß Max GALLO,
deren Person verfaßt: Max GALL.O hatte als »Neger* (ungenannter Mitarbei- Mitglied der Acadé-
ter) die stilistische Bearbeitung ausgeführt. Dieser war selber Historiker, mie Française, wohl
wissend an der Fäl-
bekannter Journalist und französischer Regierungssprecher unter dem So- schung mitarbeitete.
zialisten François MITTERRAND. Er gab zu, von den Fälschungen gewußt Auch der Werbetext
zu haben. Er habe aber für das Buch etwas »Ergreifendes* gebraucht, um zu GRAYS letztem
die Leser zu fesseln.7 In seinem Vorwort hat dieser Historiker über GR\Y Buch Au nom de tous
geschrieben: »Ich habe die Scham und die Willenskraft eines Menschen les hommes (Seg-
hers, Paris 2004, Im
kennengelernt Ich habe in seinem Fleisch die Barbarei unseres grausamen
Namen aller Men-
Jahrhunderts gefunden, durch die Treblinka geschaffen worden ist.« schen) erzählt, daß
G A U . O erklärte, in G R A Y einen wahrhaftigen und aufrechten Mann Martin GRAY aus dem
getroffen zu haben. Die Pariser Tageszeitung Le Monde fällte dann über KL Treblinka geflohen
diese Art von Zeugenliteratur und deren Autoren das zutreffende Urteil: sei und an den
Kämpfen in War-
»Comédies macabres«.
schau teilgenommen
Keiner dieser Fälscher ist jemals gerichtlich belangt worden, obwohl vie- habe.
le Leser, Zuhörer und Zuschauer durch diese »Märchen* in ihrem Geschichts-
bewußtsein wesentlich falsch geprägt wurden. Friedrich Karl Pohl

553
Was haben die Deutschen
von Kriegsverbrechen gewußt?

ach Kriegsende wurden die Deutschen von den Alliierten beschul-


N digt, sie hätten von den Kriegsverbrechen, die man ihnen ab 1945
vorwarf, gewußt und müßten deswegen eine Kollektivschuld anerken-
nen.1 Daß selbst die führenden deutschen Politiker und Militärs beim
Nürnberger Prozeß erklärten, von den der Reichsregierung vorgeworfe-
Erntedankfest auf
dem Bückeberg bei nen Verbrechen im Osten nichts gewußt zu haben, wurde als Ausrede
Hameln. Die Histori- und als ein Versuch der Reinwaschung angesehen. Das Wort von der
ker, die die These der >Konsensdiktatur< kam auf, in der die damaligen Reichsbürger diejuden-
>Konsensdiktatur< ver- verfolgungen nicht nur anerkannt, sondern selbst mitgetragen hätten.
fechten (u.a. ALY und David B A N K I E R behauptete die »breite und grundsätzliche Zustimmung«
GOLDHACEN), meinen,
der Bevölkerung zur Politik der Reichsregierung. 2 In G o i X ) H A G E N S Buch
daß das NS-Regime
das deutsche Volk Willige Vollstrecker' wurden die Deutschen sogar mit der Mittäterschaft
mit sozialer Wärme belastet, die Bezeichnung »Volk der Täter« war lange geläufig. Die mei-
bei Laune gehalten sten nach kriegsdeutschen Politiker stießen in dasselbe Horn. Die Gc-
habe. samtschuld der Bundesbürger für den Zweiten Weltkrieg wurde noch

1 Götz AI.Y, Hitlers Volksstaat, S. Fischer, Frankfurt/M. 2005; ders., Endlösung,


S. Fischer, Frankfurt/M. 1995.
2 David B A N K I E R , Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die »Endlösung« und die

Deutschen. Eine Berichtigung, Berlin 1995.

J Daniel Jonah GoLOHAGEN, Hitlers willige Vollstrecker; Siedler, Berlin 1996.

554
Z W E I T E R W E L T K R I E G
2007 von der polnischen Regierung im Rahmen der EU politisch instru-
mentalisiert sowie als Argument gegen Deutschland benutzt.
Doch diese Ansichten und die Meinung, die Deutschen hätten etwas
oder vieles von dem gewußt, was man ihnen nachher unterstellte, sind
falsch, wie als >Rechte< oder »Revisionisten« von der allgemeinen Diskussi-
on ausgeschlossene Persönlichkeiten schon immer behauptet hatten. Aber
erst nach mehreren Jahrzehnten trauten sich angesehene Wissenschaft-
ler, dem bis dahin allgemein anerkannten »Konsens der Demokraten« in
der Schuldbejahung zu widersprechen und herauszuarbeiten, daß die weit-
aus größte Mehrheit des deutschen Volkes zum ersten Male nach Kriegs-
ende von diesen Vorwürfen, insbesondere der Massenvernichtung der
Juden, etwas hörte. Bezeichnenderweise wurden diese Mutigen von der
Öffentlichkeit und von politisch korrekten Volksvertretern scharf ange-
griffen.
So erregte im Jahre 2005 ein Buch des Bayreuther Politologen Konrad
Löw4 die deutschen Meinungsmacher, in dem der Wissenschaftler mit
vielen, besonders jüdischen, Quellen nachwies, daß die Deutschen der
Vorkriegszeit in ihrer Mehrheit keine Antisemiten waren, die Benachtei-
ligung der Juden bedauerten und ihnen weitgehend halfen, auch bei den
von ihnen durchaus mißbilligten Ausschreitungen der Kristallnacht im
November 1938. Dasselbe vertrat er mit Nennung mancher überzeu-
gender Beispiele aus den dreißiger Jahren in einem ganzseitigen FAZ-
Artikel 5 zwei Jahre später.
Im Jahre 2006 brachte der durch eine Reihe von Standardwerken her-
vorgetretene in London lehrende deutsche Historiker Peter L O N G E R I C H
ein Werk6 heraus, in dem er zunächst darlegte, warum und daß die Deut-
schen während des Zweiten Weltkrieges nichts oder nur wenig wissen
konnten. Er kommt mit überzeugenden Argumenten zu der Schlußfol-
gerung, daß es im Reich keine breite antisemitische Übereinstimmung
oder gar Billigung der Maßnahmen gegen die Juden gab. Das sei beim
Boykott der jüdischen Geschäfte durch die SA am 1. April 1933 ebenso
Von oben: »Das Volk
festzustellen wie bei der Kristallnacht am 9. November 1938 und auch ist ein Trost«; Konrad
noch, als ab 1941 die üblen Nach kr iegs pläne vonJuden aus den USA wie Löw (Jahrgang 1931);
Theodore N . K A U F M A N oder Louis N I Z E R im Reich bekannt und von Peter L O N G E R I C H (Jahr-
dem Berliner Propagandaministerium verbreitet wurden. Die »Endlösung« gang 1955).

4 Konrad Löw, »Das Volk ist ein Trost«. Deutsche und Juden 1933-1945 im Urteil der
jüdischen Zeitzeugen, Olzog, München 2005.
5 Konrad Low, »Juden unerwünscht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 1. 3.2007,

S. 7.
6 PeterLONGERICH, »Davon haben wir nichts gewußt!« Die Deutschen und die Judenverfol-
gung 1933-1945, Siedler, München 2006.

555
sei sehr »geheime Reichssache« gewesen, das Sprechen darüber sei mit
der Todesstrafe bedroht worden. Nur Gerüchte, die nicht zu beweisen
waren, seien im Volk umgelaufen. Dieses »öffentliche Geheimnis« habe
bestanden und sei vom Sicherheitsdienst bei dessen Berichten aus dem
Volk immer wieder untersucht worden, »hingegen sind konkrete Einzel-
heiten über den Einsatz von Gas zur Ermordung von Juden, geschweige
denn über Vernichtungslager, in den offiziellen Stimmungsberichten nicht
zu finden«.
Wie zu erwarten war, stieß LoNGERICii damit auf heftigen Widerspruch,
Daniel Jonah so von G O L D HAG EN, 7 der weiterhin das ganze deutsche Volk in Schuld
GOLDHAGEN, i n :
sehen wollte.
Die Welt, 6. 5. 2006.
Der durch seine großes Aufsehen erregenden Untersuchungen über
8 Fritjof MEYER,
die Zahl der Auschwitz-Opfer* bekannt gewordene frühere Leitende Re-
»Die Zahl der
dakteur des Spiegels Fritjof M E Y E R hat im Frühjahr 2 0 0 7 in einem länge-
Opfer von Ausch-
witz. Neue Er- ren Zeitschriftenartikel dieses Thema auch behandelt und besonders aus-
kenntnisse durch führlich zu L O N G E R I C H S Buch Stellung genommen.® Er bringt nach
neue Archivfunde«, einleitendem Eingehen auf die vorgenannten Historiker offensichtlich
in: Osteuropa, Nr. 5, eigene Erfahrung ein, wenn er schreibt: »Doch drei Jugendliche aus der
2002, S. 631-641. Umgebung von Auschwitz, die später der Redaktion des Nachrichten-
9 Fritjof MEYER, magazins Der Spiegel angehörten, erinnerten sich daran, daß Auschwitz
»Davon haben wir als etwas Schreckliches galt, doch von Gasmord nicht die Rede war: Hell-
nichts gewußt«, in: muth K A R A S E K , dessen Vater Ortsgruppenleiter von Bielitz war, Klaus
Sezession, Nr, 17, R E I N H A R D T , der in Kattowitz gegen die SS-Lagermannschaft Fußball spiel-
April 2007, S. 2 2 - te, und Karl-Heinz V A T E R , der mit dem Dresdner Kreuzchor vor der
28. Belegschaft (einschließlich Häftlingen) von Monowitz gesungen hat.«10
10 Ebenda, S. 26.
Aus L O N G E R I C H S Buch findet er mitteilenswert, daß dieser zu dem
11 Zitiert ebenda.
Schluß kommt: »Angesichts der großen Zahl potentieller Quellen über
den Vernichtungsprozeß muß es eigentlich erstaunen, daß die heute noch
feststellbaren Gerüchte über die Verwendung von Gas und insbesonde-
re über die Existenz von Vernichtungslagern so vage beziehungsweise so
rar sind.«11

Von links:
Hellmuth K A R A S E K , Da-
niel Jonah G O L D H A C E N .

556
Ankunft ungarischer
Juden in Auschwitz-
Birkenau.

Erfreulich ist jedoch, daß MEYER dann doch scharfe, aber anscheinend
berechtigte Kritik an LONGERICH übt, indem er feststellt: »Und dann zieht
LÖNGERICH ein Resümee, das sich aus seiner gesamten Darstellung gera-
de nicht ergibt, sondern nach seinen vielen unkonventionellen Erkennt-
nissen mit einer überraschenden Volte der politischen Korrektheit ge-
schuldet erscheint. Es ist seine Vorstellung >von der Größenordnung des
Bevölkerungsanteils, der seinerzeit in irgendeiner Form vom Holocaust
wußte: nicht die Mehrheit, aber doch ein erheblicher Anteil der Bevölke-
rung und nicht etwa nur eine kleine, auf eine bestimmte Region, Berufs-
sparte oder auf ein soziales Milieu beschränkte Minderheit.« Und LON-
GERICH meint, die deutsche Unkenntnis über das Schicksal der Juden sei
ein »mythisches Konstrukt der Nachkriegszeit«.
Dazu meint abschließend MEYER wohl zutreffend mit deutlichen Wor- 12 Ebenda, S. 28.
ten der Kritik: »Das aber hat LONGERICH eben nicht belegt, vielmehr -
indem er es nicht hat belegen können-das Gegenteil glaubhaft gemacht:
Davon haben wir wirklich nichts gewußt.«12
Und das scheint zuzutreffen, aus welchem Grunde auch immer. Hof-
fentlich wendet sich die Forschung diesem Grunde einmal zu.
Rolf Kosiek

557
Wahrheitswidrige Behauptungen
zum KL-Außenkommando Calw

m Rahmen der Veranstaltungen zur »Woche der Brüderlichkeit« des


I Jahres 1988 hielt Professor Dr. Josef SEUBERT, Historiker an der Päd-
agogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd, am 17. März 1988 an der
Volkshochschule der Stadt Calw einen Vortrag unter dem Titel »Die lan-
gen Schatten der Vergangenheit«.
In diesem befaßte er sich anhand eigener Forschungen mit der Ge-
schichte des KL-Außenkommandos Calw. Dieses bestand von Mitte Ja-
nuar 1945 bis Anfang April 1945 und umfaßte nach seinen Angaben
etwa 200 jüdische Frauen aus Polen und Ungarn, die aus dem KL Ausch-
witz gekommen waren und teilweise, wie insbesondere die Polinnen, be-
reits drei bis vier Jahre in Lagern verbracht hatten. Sie sollten im Calwer
Werk der >Luftfahrt-Geräte-GmbH< (LUFAG) arbeiten und wohnten im
zweiten Stock des LufAG-Gebäudes, der mit Heizung und sanitären
Einrichtungen ausgerüstet war. Die Arbeitsbedingungen entsprachen
denen der deutschen Werksangehörigen im Januar 1945, ebenso die Ver-
pflegung, Professor SEUBERT berichtete, daß die Werksleitung bemüht
war, die Lage der in elendem Zustand angekommenen Häftlinge zu ver-
bessern, und daß Vorarbeiter und andere Beschäftigte »spontane Hilfs-
versuche unternahmen, indem sie den Frauen Brot, Apfel u.a. zusteck-
ten«, ferner von gelegentlichen Besuchen eines Werks- oder Amtsarztes
und von Arzt- oder Zahnarztbesuchen in der Stadt in Begleitung einer
Aufseherin. Dann aber berichtete er folgendes:
»Eine junge Häftlingsfrau, die an Typhus erkrankte, wurde aber ledig-
lich isoliert und verstarb nach wenigen Tagen. Bei einer Einlieferung ins
Krankenhaus hätte sie möglicherweise gerettet werden können. Die Tote
soll in Calw beerdigt worden sein, im Sterbebuch des Standesamts fehlt
jedoch ein entsprechender Hinweis... Unter den Mannschaften gab es
dagegen auch »Sauhunde«, wie sich eine bei der LUFAG beschäftigte Frau
später ausdrückte. Einer soll sich nach Aussagen von Häftlingsfrauen
gerühmt haben, an Judenexekutionen in Lublin teilgenommen zu haben.
Von einem anderen wird berichtet, daß er seinen Fuß auf den Sarg der
an Typhus verstorbenen Frau gesetzt und Zigarettenasche darauf ge-
schnippt habe. . .«
Diese Darstellungen des Herrn Professor SEUBERT sind falsch.
Der Sohn des damaligen Betriebsleiters der LUFAG war bei diesem
Vortrag anwesend, meldete sich zu Wort und erklärte vor den zahlrei-
chen Zuhörern, daß er zu der Zeit selbst als kriegsdienstverpflichteter

558
lugendlicher im Werk gearbeitet habe und den Vorgang genau kenne. Es
sei zwar eine der Frauen an Typhus erkrankt, aber sofort in ärztliche
Betreuung bei der bekannten Calwer Arztin Frau Dr. KÖBERLE gekom-
men. Diese habe sie gesund gepflegt, und der vorbereitete Sarg habe
wieder in Bretter zerlegt werden können. Natürlich konnte auch ein nicht
eingetretener Todesfall nicht in einem örtlichen Sterberegister stehen,
was der Historiker vorher als Pietätlosigkeit den Deutschen vorgeworfen
hatte. Es war also keine ärztliche Hilfe verweigert worden. Es war auch
kein Todesopfer zu beklagen gewesen, sondern die Erkrankte wurde wie-
dergesund. Die empörende Geschichte mit der Zigarettenasche auf dem
Sarg war demnach ebenso erfunden. Keine der jüdischen Frauen kam in
Calw zu Tode. Sie hatten dort eine im Verhältnis zu vielen gleichzeitigen
Bomben-, Vertreibungs- und Flüchtlingsopfern erträgliche Zeit und über-
lebten alle den Krieg. Daß in diesem Zusammenhang der Zeitzeuge auch
daran erinnerte, daß deutsche Mitarbeiter der LUFAG nach 1945 lange
in alliierten Konzentrationslagern festgehalten und mißhandelt wurden
und sogar einer in dieser Notzeit an offener Tuberkulose starb, erregte
im Gegensatz zum Mitgefühl mit dem Schicksal der Jüdinnen den Un-
willen einiger Zuhörer.
Obwohl Herr Professor S E U B E R T anläßlich seines Vortrages in Calw
unmißverständlich auf die Tatsachen hingewiesen wurde, scheute er sich
nicht, die gleichen Geschichten bei einem Vortrag vor dem Alemanni-
schen Institut der Universität Tübingen zu wiederholen.
Die Kreisnachrichten Calw berichteten darüber am 23. Juni 1988 und
zitierten unter anderem wiederum die Behauptung: »Eine Typhuskranke
wurde von den Deutschen lediglich isoliert, ärztliche Behandlung gab es
für sie nicht. Nach ihrem Tod soll einer der SS-Mannschaft Zigaretten-
asche auf ihren Sarg geschnippt haben, einer der »Sauhunde*, die es da-
mals gab.«
Auf einen Leserbrief in den Kreisnachrichten Calw vom 28. Juni 1988, in
dem Professor S E U B E R T kritisiert wurde, weil er die bei seinem Vortrag in
Calw bereits widerlegten Behauptungen drei Monate später in Tübingen
wiederholt hatte, antwortete dieser ebenfalls in einem Leserbrief vom 2.
Juli 1988, daß er sich auf die Aussagen von sechs ehemaligen Häftlings-
frauen stütze, die in der Staatsanwaltiichen Vernehmung übereinstimmend
und zum Teil sehr detailliert diese Tatsachen bestätigt hätten.
Die Richtigstellung des Vorgangs durch den deutschen Zeitzeugen be-
zeichnete er als dessen »Version«, damit stehe »Aussage gegen Aussage«.
Auch in seiner 1989 erschienenen Broschüre Von Auschwitz nach Calw
blieb Professor S E U B E R T bei seinen Thesen zum angeblichen Tod der
Jüdin und ergänzte seine Schilderung durch weitere unbewiesene Einzel-
heiten. Die öffentlich vorgetragene Klarstellung durch den Sohn des ehe-

559
maligen Betriebsleiters bei seinem Vortrag in Calw fand nur eine kurze
Erwähnung im Anhang.
Nicht erwähnt hat allerdings der Historiker, daß die von ihm immer
genannte Zahl von 200 jüdischen Zwangsarbeiterinnen, die auch von
den Meistern der Firma damals bestritten wurde, zweifelhaft ist.
in dem von ihm selbst im Anhang seiner Broschüre als Quelle angege-
benen Werk von Herwart VORLÄNDER (Hg.) Nationalsozialistische Konzen-
trationslager im Dienst der totalen Kriegführung, Veröffentlichungen der Kommissi-
on für geschichtliche Landeskunde Baden-Württemberg, Kohlhammer-Verlag,
Stuttgart 1976, werden 135 Häftlings frauen aufgeführt.
Auf Drängen des Calwer »Arbeitskreises für Lokale Zeitgeschichte*
lud die Stadt Calw im November 1989 namentlich bekannte ehemalige
Häftlings frauen ein, acht von ihnen kamen, Sie durften bei verschiede-
nen Veranstaltungen einem aufnahmebereiten Publikum ihre Geschich-
ten erzählen und in Schulen auftreten. Auch vor ahnungslosen Kindern
wurden phantasievolle Details über die Leidenszeit in Calw (45 Jahre
danach) ausgebreitet, wobei auch der angebliche Todesfall nicht fehlte.
Die Presse berichtete ausführlich und unkritisch darüber. Hierdurch sahen
sich einige der ehemaligen Werksangehörigen veranlaßt, um der Wahr-
heit willen eine Richtigstellung zu erarbeiten. Den Schilderungen der Jü-
dinnen wurden die mehrfach bezeugten Tatsachen über die damaligen
Verhältnisse in der LUFAG gegenübergestellt. Diese ausführliche Doku-
mentation, unterschrieben von drei früheren in der Firma tätigen verant-
wortlichen Meistern, wurde an die Presse in Calw und Stuttgart, an maß-
gebliche Persönlichkeiten in Politik und Verwaltung und an alle
weiterführenden Schulen in Calw geschickt. Sie fand im Gegensatz zu
den vielen Berichten über den Besuch der Jüdinnen weder in einer Zei-
tung noch in der Öffentlichkeit Erwähnung.
Wahrheit, wenn sie politischen Interessen entgegensteht, ist nicht er-
wünscht. Günter Stübiger

560
Zum KL-Außenkommando Hailfingen/Tailfingen

m letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs wurden wegen des Arbeitskräfte-


I mangels im Reich vermehrt Konzentrationslager-Häftlinge in soge-
nannten KL-Außenkommandos zum Arbeitseinsatz verwendet. Ein sol-
ches Lager, über das w'ie über zahlreiche andere" wilde Gerüchte verbrei-
tet wurden und werden, war das Lager Hailfingen (Kreis Tübingen)/
Tailfingen (Kreis Böblingen) südlich von Herrenberg in Württemberg,
Es wurde im September 1944 als Arbeitslager für 300 bis 400 griechische
Fremdarbeiter eingerichtet. Im November/Dezember kamen 600 jüdi-
sche Häftlinge aus Auschwitz hinzu. Für diese wurde das Lager ein Au-
ßenkommando des KL Natzweiler im Elsaß. Die Gefangenen wurden
im Straßen- und Pistenbau auf dem Nachtjägerflugplatz von Tailfingen
sowie in einem Steinbruch des nahe gelegenen Dorfes Reusten einge-
setzt. Sie waren in Gebäuden des Flugplatzes untergebracht. Die Häft-
linge wurden im Januar/Februar 1945 unter anderem in das Lager Daut- Dorothee W E I N (u.a.),
mergen evakuiert. Eine ausführliche, zahlreiche unbewiesene und Spuren von Ausch-
unzutreffende Gerüchte beinhaltende ausführliche Beschreibung liegt vor,- witz ins Gäu. Das
ebenso eine nur auf dieses Lager bezogene jüngere Dokumentation, 1 KZ-Außenlager Hail-
Einige Einzelheiten seien richtiggestellt. fingen/Ta Ufingen,
Markstein, Filderstadt
1. »Von 600 Häftlingen, die im November 1944 aus dem KZ Stutthof 2007, »Eine exem-
bei Danzig ins Gäu transportiert wurden, sollen nur 211 überlebt ha- plarische Studie von
überregionaler Be-
ben.«4 Oder: »Nur 200 von ihnen überlebten schließlich die folgenden
deutung«, befand der
sechsmonatigen Strapazen in Tailfingen, wo sie an Seuchen, Mißhand- Holocaust-Forscher
lungen und Unterernährung umkamen.« 1 Dabei wird unterschlagen, daß Gideon G R E I F .
viele Häftlinge, insbesondere die Toten des mit 72 bis 80 (nach anderen
Quellen bis zu 96 Tote) Leichen belegten Massengrabes am Lager, nach
Aussagen der Bevölkerung bei den Bombenangriffen der Alliierten auf
den Flugplatz ums Leben kamen. Die angegebenen Sterbezahlen erschei-
nen als viel zu hoch.
1 Beitrag Nr. 630, »Wahrheitswidrige Behauptungen zum KL-Außenkomman-

do Calw«,
2 Monika WALTER-BECKER, »Das Lager Hailfingen«, in: Herwart VORLANDER (Hg.),

Nationalsozialistische Konzentrationslager im Dienst der totalen Kriegführung, W. Kohl-


hammer, Stuttgart, 1978, S. 149-174.
3 Dorothee W E I N , Volker MAI,), U. Harald ROTH, Spuren von Auschwitz im Gäu.

Das KZ-Außenlager Hailfingen/Tailfingen, Markstein, Filderstadt 2007.


4 »Damit Gräuel der NS-Zeit nicht vergessen werden«, in: Böblinger Kreiszeitung,

17. 3. 2007.
5 »Eine Ausstellung über das KZ — 62 Jahre nach Kriegsende«, in: Stuttgarter

Zeitung, 11.4. 2007.

561
Gedenktafel am ehe-
maligen Nachtjäger-
flugplatz Tailfingen,
da, wo die Startbahn
begann.

2. In dem Bericht von 1978 wird ausdrücklich hervorgehoben, daß


die jüdischen Häftlinge, die aus dem KZ Auschwitz kamen, »bei ihrer
Ankunft in einer guten körperlichen Verfassung waren«. 6 Das überrascht
angesichts anderer Urteile über Auschwitz, Dann habe jedoch Verpfle-
gungsmangel geherrscht, die vorgesehenen Rationen, die etwa denen deut-
scher Wehrmachteinheiten um diese Zeit glichen, in denen auch gehungert
werden mußte, wären verringert w'orden und hätten zu Unterernährung
geführt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß 1945 durch die alliierten Bom-
bardierungen der Versorgungsstrecken Mängel in der Versorgung auftra-
ten. Deutsche Wehrmachteinheiten haben zur selben Zeit auch gehun-
gert.
3. Es wird in den verschiedenen genannten Veröffentlichungen von
mehreren willkürlichen Tötungen berichtet: »daß KZ-Häftlinge in den
Steinbrüchen von Hailfingen und Reusten mit der Hacke erschlagen wer-
den, daß im Lager Menschen erschossen und gehängt wurden«; daß Er-
schießungen nach Aneignung von Rüben oder Äpfeln erfolgt seien," daß
im Steinbruch »mehrere Häftlinge mit einer Hacke erschlagen« wurden.®

6 WALTER-BECKER, a a O . ( A n m . 2), S. 163.


»Mahnung für die Zukunft: >Nie wieder Krieg<« in: Böblinger Kreisleitung, 3. 9.
1983, S . 13.
S WALTER-BECKER, aaO. ( A n m . 2), S, 1 6 8 f.
* Ebenda, S. 170.

562
Die einzigen drei amtlichen Dokumente zu dem Lager sagen jedoch
anderes aus. Ein US-Bericht von 1946'° und ein weiterer desselben US-
Beauftragten11 weisen als Ergebnis von Befragungen auf, daß bis dahin -
also 17 Monate nach Kriegsende — noch viele ehemalige Häftlinge von
Tailfingen in UNRRA-Lagern der US-Zone lebten oder schon repatri-
iert waren, daß aber dennoch zum Erstaunen des Untersuchers kaum
Anklagen oder Beschwerden von ehemaligen Häftlingen des Lagers über
ihre Bewacher vorlägen, deren Namen weitgehend bekannt seien. Der
US-Beauftragte hatte sich mehrere Tage in den Ortschaften der Umge-
bung von Tailfingen aufgehalten und Personen aus der Bevölkerung wie
auf den Rathäusern befragt, ohne Verbrechensvorwürfe zu erfahren. Er
drückte seine Verwunderung darüber aus, daß bisher die deutschen Be-
hörden des Kreises Böblingen und von Tailfingen bisher nicht einmal
die Existenz dieses KZ-Lagers im Verlauf der deutschen Dokumenten-
suche (German Documents Searches) erwähnt hätten.
Von der Ludwigsburger Zentralstelle, die diese US-Berichte auch aus- Grabstätte der 72
wertete und dazu weitere Erkundigungen einzog, wurde am 24. Novem- Opfer auf dem Fried-
ber 1969, also 25 Jahre nach den damaligen Ereignissen, ein »Schlußver- hof von Tailfingen.
merk« zum Lager Hailfingen-Tailfingen als
Zusammenfassung eines 854 Seiten umfassen-
den Ermittlungsberichtes erstellt.12
Darin wird festgestellt: »Das Lager Hail-
fingen/Tail fingen war ein Arbeitslager und
kein Vernichtungslager.« Die einzelnen von
Häftlingen aufgestellten Tötungsvorwürfe
werden zwar als Zeugenaussagen aufgeführt,
abschließend aber dazu festgestellt: »Bei sämt-
lichen bisher festgestellten Tötungen im La-
ger Hailfingen-Tailfingen konnten die Täter
- mit Ausnahme des inzwischen verstorbe-
nen Lagerführers. . . - bisher nicht identifi-

10 Bericht des Administrative Assistant Alex DE


LTPTHAY vom US-Bureau of Documents and Tra-
cing Wuerttemberg-Baden Branch, Dokument
Sonstige, Ordnungs-Nr. 311, Bild-Nr. 1137 H der
Zentralstelle Ludwigsburg, vom 25. 9. 1946.
11 Bericht desselben von derselben Stelle vom 4.

10. 1 9 4 6 .
12 »Schlußvermerk« zu Az.: V I 4 1 9 Ar-Z 1 7 1 / 6 9
der Ludwigsburger Zentralstelle vom 24. IL
1 9 6 9 , unterzeichnet von Staatsanwalt SCHREIT-
MÜLLER.

563
ziert werden.« Insbesondere zu dem von mehreren Zeugen erwähnten Bäu-
erle, der »viele jüdische Arbeiter getötet haben« soll, war das Ergebnis:
»Die Ermittlungen haben jedoch bisher keine Anhaltspunkte in dieser Rich-
tung erbracht.« Kein Vorwurf erwies sich als weiter verfolgungswert.
Seitdem wurde weder von der Staatsanwaltschaft eine diesbezügliche
Anklage erhoben, geschweige denn von einem Gericht ein Urteil gefällt.
Und dazu wäre es sicher gekommen, wenn ein beweisbares Verbrechen
vorgelegen hätte.
Wie in zahlreichen anderen Fällen erwiesen sich die Zeugenaussagen
einiger Häftlinge als unzutreffend. Über die allgemeine Glaubwürdigkeit
ehemaliger ausländischer Häftlinge hat einer der Verteidiger im großen
Auschwitz-Prozeß, Rechtsanwalt LATERNSER, umfangreiches und erschüt-
terndes Material vorgelegt."
In der Tailfinger Bevölkerung ist immer noch bekannt, daß die Häftlin-
ge von den Wachmannschaften anständig behandelt wurden.
Somit kann mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden, daß die
von früheren Häftlingen vorgeworfenen und seitdem in der Presse oft
wiederholten Vorwurfe berechtigt sind. Daß dennoch Jahrzehnte später
in einer Glaubwürdigkeit beanspruchenden Veröffentlichung2 immer noch
die alten Gerüchte als bewiesene Tatsachen vorgestellt werden, ist ein
Skandal.
Einwohner vom nahe gelegenen Bondorf mußten 1945 das genannte
Massengrab exhumieren und die Leichen auf dem Friedhof in Tailfin-
gen bestatten. Dort finden gelegentlich Gedenkfeiern statt.
Während auf diesen weiterhin die oben genannten unzutreffenden Ge-
rüchte verbreitet und dann für die Öffentlichkeit in der Presse berichtet
werden, wird über das brutale Massaker der einmarschierten Franzosen an
der Bevölkerung in Bondorf, wobei viele Bürger verletzt, zwei Einwohner
getötet wurden, nicht erinnert. Aber das waren ja auch nur Deutsche.
Bezeichnend ist ebenfalls, daß ein richtigstellender Leserbrief 14 zu dem
Zeitungsbericht vom 3. September 1983 über eine dortige Gedenkfeier
der SPD und der Gewerkschaft am 1. September 1983, auf der einige
der Redner, insbesondere Pfarrer Gerhard D Ü R R aus Stuttgart, die alten
Vorwürfe erneuerten, von der berichtenden Zeitung nicht veröffentlicht
wurde. Man scheut offenbar die historische Wahrheit und verbreitet da-
für aus »volkspädagogischen Gründen« (Golo M A N N ) weiterhin unzu-
treffende Behauptungen. Rolf Kosiek

13 Hans LATERNSER, Die andere Seite im Auschwitz-Prozeß 1963/ 65, Secwald, Stutt-
gart 1966.
14 Eingesandter, aber nicht veröffentlichter Leserbrief des Karl BASSLER, Böb-

lingen, vom 12. 9. 1983 an die höblinger Kreiszeitung.

564
Ist Massenmord durch Dieselabgase möglich?

ine der am wichtigsten angesehenen Zeugenaussagen zur Massen-


E vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern der Kriegszeit
ist der GERSTEIN-Bericht Er wurde von dem SS-Obersturmführer und
Diplom-Bergbauingenieur Kurt GERSTEIN in französischer Gefangen-
schaft, datiert auf den 26. April 1945, verfaßt, in der dieser unter myste-
riösen Umständen bald darauf — angeblich in Paris — ums Leben kam.
Der Bericht wurde vom Institut für Zeitgeschichte veröffentlicht 1 und
von der Bundeszentrale für Heimatdienst 2 in mehreren Auflagen zur po-
litischen Bildung als »eines der erschütternsten Dokumente, die wir aus
der Hiderzeit besitzen«, 1 in Deutschland verbreitet.
Hier soll aus dem Bericht nur ein Vorgang betrachtet werden, der nach
G E R S T E I N am 18. August 1942 bei seinem Besuch im KZ Belzec gesche-
hen ist. Am Morgen sei ein Transport mit rund 6700 Personen in 45
Waggons aus Ilmberg eingetroffen, von denen dann jeweils 700-800
Kurt
Menschen in eine der vier Gaskammern von je 25 qm Grundfläche ge- GERSTEIN.

trieben wurden.'1 Die Gaskammern hätten »Holztüren wie Garagen« ge-


habt und »große hölzerne Rampentüren« an der Rückwand sowie »das
kleine Fensterchen« aufgewiesen.
Nach einer den Leser erschütternden Beschreibung des Hineintrei-
bens der Menschen in die Garagen unter Verwendung von »Lederpeit-
schen« heißt es dann: » H E C K E N H O L T ist der Chauffeur des Dieselmotors,
ein kleiner Techniker, gleichzeitig Erbauer der Anlage. Mit den Diesel-
auspuffgasen sollen die Menschen zu Tode gebracht werden. Aber der
Diesel funktioniert nicht!, . . Und ich warte. Meine Stoppuhr hat alles
brav registriert. 50 Minuten, 70 Minuten - der Diesel springt nicht an!
Die Menschen warten in ihren Gaskammern... Nach 2 Stunden 49 Mi-

' Hans ROTHFELS (Hg.), »Auge nzeugenbe richte zu den Massen Vergasungen«, in:
Vierteljahrszeitschrift für Zeitgeschichte, Nr. 1,1953, S. 177-194.
- Bundeszentrale für Heimatdienst, Dokumente zur Massen-Vergasung, Heft 9, Bonn
31955, S. 7-16.
1 Ebenda, S. 5.
4 Diese präzise Angabe wird von GERSTEIN, einem Ingenieur, dann noch einmal

wiederholt: »Viermal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmetern«, aaO. (Anm. 2,


S. 13). Da diese Angabe jedem kritischen Leser unmöglich vorkommen muß,
schrieb die Bundeszentrale für Heimatdienst dazu als Fußnote: »Diese Zahlen
sind offensichtlich zu hoch bzw. zu niedrig geschätzt. Die Glaubwürdigkeit des
Berichts im ganzen wird dadurch — angesichts der im übrigen übereinstimmen-
den Parallelzeugnisse (vgl. die Vorbemerkung) gewiß nicht beeinträchtigt«, aaO.
(Anm. 2, S. 13).

565
nuten - die Stoppuhr hat alles wohl registriert - springt der Diesel an. Bis
zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen vier Kammern, vier-
mal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmetern! Von neuem verstreichen
25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht durch das kleine Fen-
sterchen, in dem das elektrische Licht die Kammer einen Augenblick
beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich, nach 32
Minuten ist alles tot.«
Am folgenden Tag will G E R S T E I N nach Treblinka (bei ihm: Trublinka)
gefahren sein: »Die Einrichtung war etwa dieselbe, nur viel größer als in
Belzec. Acht Gaskammern und wahre Berge von Koffern, Textilien und
Wäsche.« 3
Als technischer Experte und vereidigter Sachverständiger hat Baurat
Dipl. Ing. Walter LüFTL aus Wien für eine vergleichbar große Garage (4,0
m x 7,5 m x 3,0 m) zur Gaszusammensetzung und deren Gefährlichkeit
für den Menschen bei etwa dreißigminütigem den Dieselgasen in einer
geschlossenen Garage Ausgesetztsein die folgende »gutachterliche In-
formation« abgegeben:6 »Abgase von Dieselmotoren des genannten PKW-
Typs haben bei 1000 U/Min einen Gehalt von ca. 16 % C>2, 3,5 % C 0 2 ,
0,1 % NOx, 77 % N, 3,5 % H , 0 und 0,1 % CO. Bei einem Hubraum
von 3000 cm 3 und 1000 U/Min ist in 30 Minuten einmal das gesamte
Volumen der Garage an Luft durch den Motor ein- und ausgetreten (0,003
x 1000 x 30 = 90 m3). Damit ist die Zusammensetzung der Luft, die
vorher ca. 21 % 0 2 und ca. 79 % N enthielt, annähernd wie oben darge-
stellt (durch das Laufen des Motors) verändert worden.«
Nach Ausführungen darüber, daß dies eine Näherung auf der siche-
ren Seite der Aussage über die Gefährlichkeit sei, erklärt der Sachver-
ständige:
»Die Zusammensetzung der Garagenluft nach einer halben Stunde läßt
also folgende Aussagen zu:
1. Der Sauerstoffgehalt ist mit 16 % größer als der von ausgeatmeter
Luft, der nur bei 15 % hegt. Da man Bewußtlose, ohne sie zu gefährden,
mit Atemluft beatmen kann, resultiert aus dem vermindertem Sauerstoff-
gehalt keine Gefahr.
2. Der CO-Gehalt liegt bei 0,1 %. Dieser Gehalt würde erst nach 5-
6 Stunden Einwirkung zum Tode führen. Eine halbstündige Einwirkung
führt theoretisch zu Kopfweh und Schwindel, in praxi aber durch die von
0 ansteigende Einwirkung nur zu leichtem Kopfweh.
3. Der NO-Gehalt führt höchstens (NOx - 0,1 % in Dieselauspuff-

5Bund es zentrale für Heimatdienst, aaO. (Anm. 2), S. 14 f.


6Walter L Ü F T L , »Wenn die Wahrheit der Lüge weichen muß — wird dann Lügen
zur Pflicht?« in: Recht und Wahrheit, Nr. 9/10,1993, S. 24 f.

566
gasen) durch die Bildung von Methämoglobin zu ähnlichen Erscheinun-
gen wie beim erwähnten 0,1 %igen CO-Gehalt unter Ziffer 2.
4. Der NO 2 -Gehalt kann binnen 24 Stunden zu einem Lungenödem
führen. Eine ärztliche Betreuung ist daher unbedingt zu empfehlen.
5. Der CO,-Gehalt bleibt unter 4 %, führt also weder zu kurzfristi-
gen noch langfristigen Schäden.
6. Der Rußgehalt kann langfristig zu Karzinombildung führen, die
Anbringung eines zusätzlichen Rußfilters ist daher erforderlich.
Zusammenfassend ist daher anzugeben, daß kurzfristig mit Gewiß-
heit nachteilige und irreversible Folgen auszuschließen sind. Was tatsäch-
lich auftritt, sind Kopfschmerzen und leichter Schwindel. Lebensgefahr
besteht nicht, sieht man von der möglichen Spätfolge der Karzinombil-
dung ab.« Ein solches halbstündiges den Dieselauspuffgasen Ausgesetzts-
ein habe für den Organismus des Menschen ähnliche Auswirkungen »wie
längeres Kettenrauchen mit starken filterlosen Zigaretten, Ganz sicher
sind keine belangreichen Folgen zu erwarten«.
Man kann also nach Ansicht eines technischen Fachmanns mit sol-
Walter LÜFTL.
chen Dieselabgasen in Stundenfrist keine Menschen töten.
Zu Recht fragt der Sachverständige jedoch, ob so ein Gutachten auch
vor deutschen (und österreichischen) Gerichten standhält, die die Of-
fenkundigkeit der auf solche Weise vorgenommenen Massenvergasun-
gen zugrunde legen und jede Diskussion darüber ablehnen. Der ein sol-
ches Gutachten dem Gericht vorweisende Fachmann müßte wohl wegen
Leugnung von NS-Verbrechen, die durch Zeugenaussagen nach Art des
GERSTEIN-Berichtes belegt sind, bestraft werden. Die Folge ist: »Die Ex-
perten werden also entweder keine Expertisen mehr erstellen können,
ohne sich strafbar zu machen, oder sie müssen wider besseres Wissen
lügen: >Dieselauspuffgase führen nach 32 Minuten zum Tode.< Eine Lüge
dieser Art widerspricht aber den beschworenen Pflichten eines Gutach-
ters.«7
Aus diesem Dilemma gibt es in deutschen Landen noch immer keinen
Ausweg." Rolf Kosiek

7Ebenda S. 25.
8Eine gründliche Untersuchung der Gefährlichkeit von Diesel aus puffgasen fin-
det sich bei Friedrich Paul B E R G , »Die Diesel-Gaskammern: Ein Mythos«, in:
Ernst GAUSS, Grundlagen zur Zeitgeschichte, Grabert, Tübingen 1 9 9 4 , S . 3 2 1 — 3 4 5 .

567
Die Tragödie der Cap Arcona

inen Tag vor dem Kriegsende in Norddeutschland wurden am 8.


E Mai 1945 die >Cap Arcona< und andere Schiffe mit Tausenden von
KL-Häftlingen an Bord von britischen Jagdbombern bei hellichtem Tage
in der Lübecker Bucht versenkt, wobei auch eine Rote-Kreuz-Bezeich-
nung nicht geachtet wurde und die Häftlinge mit weißen Tüchern und
Ähnlichem von den Decks auf die besondere Lage hingewiesen hatten.
Die Tragödie dieser Schiffe bildet ein ungesühntes englisches Kriegsver-
brechen, das dem Vergessen entrissen zu werden verdient.
Die >Cap Arcona* war als >Luxusliner< 1926 mit 27561 Bruttoregister-
tonnen (BRT) bei Blohm und Voß in Hamburg vom Stapel gelaufen und
1 Heinz SCHÖN, wurde als »Königin des Südatlantiks* auf der Hamburg-Südamerika-Linie
»Die Versenkung eingesetzt. 1 Im Zweiten Weltkrieg diente sie als Wohnschiff der Kriegs-
der >Cap Arcona«< marine in Gotenhafen. Im Rahmen der Rettung der ostdeutschen Flücht-
in: Deutsche Militär- linge und der Verwundeten der Ostfront fuhr das für höchstens 2000
Zeitschrift, Nr. 27, Personen eingerichtete Schiff am 3. Februar 1945 mit rund 13000 Men-
2001, S. 86-90.
schen an Bord von Gotenhafen zur Reede vor Neustadt in Holstein und
wurde tagelang entladen.
Nachdem Schiffsleitung und Reederei das Schiff für fahruntüchtig er-
klärt hatten und Kapitän Johannes G E R D S sich erschossen hatte, lief das
Schiff dennoch auf Befehl unter dem neuen Kapitän Heinrich B E R T R A M
am 27. März wieder nach Hela aus und transportierte noch einmal schät-
zungsweise 8000 Verwundete und 3000 Flüchtlinge von dort nach Kopen-
hagen, wo es dann mit beschädigter Maschine auf der Reede lag. Auf wei-

Die 1926 erbaute


>Cap Arcona*, die als
iKÖnigin des Südatlan-
tiks* galt und im Zwei-
ten Weltkrieg als
Wohnschiff diente.

568
teren Befehl verlegte das angeschlagene Schiff am
13. April 1945 von Kopenhagen wieder zur Reede
vor Neustadt in der Lübecker Bucht.
Dort waren das nicht mehr seetüchtige Schiff
wie die beiden Frachter >Thielbek< (2815 BRT) und
>Athen< (4451 BRT) für eine >Sonderaktion< vor-
gesehen. Der Hamburger Gauleiter und Reichs-
verteidigungskommissar Karl K A U F M A N N (1900-
1969) wollte Hamburg kampflos den anrückenden
westalliierten Truppen übergeben, aber vorher das
Konzentrationslager Neuengamme vor den To-
ren der Hansestadt räumen. Die rund 12 500 Häft-
linge sollten auf den drei Schiffen untergebracht
werden, davon 8000 auf der >Cap Arcona< Prote-
ste der am 19. April davon unterrichteten Kapi-
täne wurden von den die Aktion leitenden SS-
Offizieren mit der Androhung des Erschießens
bei Weigerung der Aufnahme der Häftlinge be-
antwortet, Am 26. Aprii begann die Beladung der
Schiffe mit Häftlingen. Bis 28, April waren ein-
schließlich der 500 Mann Bewachung und der 70
Mann Besatzung rund 7000 Menschen unter
schlimmen Bedingungen an Bord der >Cap Arco-
na< zusammengedrängt, auf den beiden anderen
genannten Frachtern ebenfalls Tausende. Außer-
dem lag noch eine große Reihe anderer Schiffe in
der Lübecker Bucht.
Als Anfang Mai 1945 bekannt wurde, daß für
den 4. Mai die Teilkapitulation für Norddeutsch-
land in Kraft trete, und am 2. Mai bereits alliierte
Streitkräfte sich Neustadt näherten, hoffte man
auf ein gutes Ende. Am 3. Mai begab sich Kapi-
tän B E R T R A M frühmorgens nach Neustadt und
erfuhr, daß nachmittags britische Einheiten in
Neustadt sein würden und damit die unhaltbare
Lage der insgesamt 10470 Menschen an Bord der
>Cap Arcona< (5519), >Thielbek< (2919) und >Athen<
(2032) beendet werden könne.1
Doch an diesem 3, Mai 1945 griff mittags ge- Oben: Karte Lübecker Bucht, Unten: Der Unter-
gen 12 Uhr plötzlich eine britische Bomberstaf- gang der Häftlingsflotte vor Neustadt, Zeich-
fei mit Bomben, Raketen und Bordwaffen die nung des jüdischen Malers Berl FKIEOLER, aus:
Häftlingsschiffe an. Zuerst wurde der in der Nähe Die Zeit, 28. 4, 1985.

569
2 Ebenda, S 89. liegende und zum Lazarettschiff mit Rote-Kreuz-Zeichen umgerüstete
3 Ebenda, S. 90. Dampfer »Deutschland«, auf dem sich keine Häfdinge befanden, ange-
4 Karl HERMANN, griffen und versenkt. Um 14 Uhr 30 flog eine weitere Bomberstaffel
»Nicht Rettung, einen Angriff auf die >Cap Arcona«, die von vierzig Raketen in ein Flam-
sondern Vernich- menmeer verwandelt wurde. Die ebenfalls von 32 Raketen getroffene
tung«, in: Die Zeit, »Thielbek« sank schnell. Die beim ersten Angriff mit weißer Fahne in den
Nr. 47,18. 11.1988, Hafen von Neustadt eingelaufene »Athen«, von der dann viele Häftlinge
S. 53 f.; vgl. auch an Land gelangt waren, wurde im Hafen angegriffen, die von ihr flüch-
Bruno NEURATH, tenden Menschen wurden unter Bordwaffenbeschuß genommen, wie auch
»»Cap Arcona* in die Briten im Wasser schwimmende Menschen der anderen Schiffe ge-
Flammen«, in: Die
Zeit, Nr. 18,18. 4. zielt beschossen. 2
1995, S. 13-16. Vom Frachter »Thielbek« überlebten nur rund 50 Menschen diese Tra-
gödie. Die brennende »Cap Arcona« kenterte nach wenigen Stunden ge-
5 Heinz SCHON,
Ostsee 45. Menschen — gen 17 Uhr 30. Von ihr erreichten etwa 40 Häftlinge schwimmend die
Schiffe — Schicksale, Küste, 310 konnten vom Wrack geborgen werden, rund 100 Mann der
Motorbuch, Stutt- Wachmannschaften und der Besatzung wurden gerettet. Insgesamt for-
gart 1992. derte dieser völlig sinnlose Massenmord am Tage vor dem vereinbarten
6 Wilhelm LANGE, Ende der Kampfhandlungen in Norddeutschland mehr als 8000 Tote.3
Cap Arcona. Das Zur Entschuldigung gaben britische Stellen später an, man habe ange-
tragsche Ende der KZ- nommen, daß sich auf den Schiffen führende Nationalsozialisten nach
Häftlingsflotte am 3. Norwegen hätten retten wollen, was nicht zutraf, wozu die Schiffe auch
Mai 1945, Struve, völlig ungeeignet waren und was von den anfliegenden englischen Flug-
Eutin 1988; Bogdan zeugen bei den Menschenmassen auf den Schiffen auch gut zu erkennen
SUCHOWIAK, Mai
war. Der Bordwaffenbeschuß in die Menschenmassen widerlegt ebenso
1945: Die Tragödie der diese offensichtlich an den Haaren herbeigezogene Begründung der
Häftlinge von Neuen-
gamme, Rowohlt, Angriffe. Es wurden von den Angreifern neu entwickelte Raketen be-
Hamburg 1985. nutzt, deren Wirksamkeit offensichtlich geprüft werden sollte.
»»Eine offizielle Erklärung der britischen Regierung zu diesem
Menschenrechtsverbrechen, oder gar eine Entschuldigung dieser
möglicherweise »aus Versehen« erfolgten Versenkung der Häftlings-
schiffe liegt bis heute nicht vor.«3 Der Tod Tausender wurde bei der
Einsatzleitung sogar zynisch kommentiert: »>eine der größten Schiffs-
katastrophen aller Zeiten machte in den Einsatzberichten der RA. F.
ganze vier Zeilen aus: ,1m Hinblick auf die Menschenmassen, die
aus ihnen (»Cap Arcona« und »Thielbek«, R. K.) herausquellen, und
im Hinblick auf die Lage kann man nur annehmen, daß viele Hun-
nen heute die Ostsee sehr kalt fanden.«4
Eine ausführliche Darstellung dieser Tragödie hat I leinz SCHÖN
vor wenigen Jahren veröffentlicht' nach anderen Darstellungen/'
Im Jahre 1986 wurde in Hamburg ein Denkmal des Wiener Bild-
hauers Alfred H R D L I C K A zur Erinnerung an die Tragödie aufge-
stellt (s. Abbildung links). Rolf Kosiek

570
eit Jahren wird gegen nationale Deutsche, die Zweifel an den Mas-
S senvergasungen in NS-Konzentrationslagern äußern, mit dem § 130
des Strafgesetzbuches {»Volksverhetzung«) vorgegangen. Die Prozesse
der Jahre 2 0 0 6 / 0 7 gegen David IRVING, Ernst Z Ü N D E L und Germar R U -
DOLF sind die Spitze von Tausenden von Verfahren zu diesem Tatbe-
stand.
Nicht als Rechte angesehene Persönlichkeiten dürfen jedoch Zweifel
äußern, ohne belangt zu werden, oder die Bestrebungen der bundesdeut-
schen justizministerin Brigitte ZYPRIES, die Leugner des Holocaust in ganz
Europa nach einheitlichen Grundsätzen zu verfolgen und zu bestrafen,
kritisieren.
1. So schrieb die Holocaust-Forscherin, selbst Jüdin, Gitta S E R E N Y in
der londoner Times vom 29. August 2001: »Auschwitz war ein schreckli-
cher Ort, aber es war kein Vernichtungslager.«
2. Am 27, November 2005 erklärte der im Londoner Exil lebende
israelische Schriftsteller Gilad A T Z M O N im Bahnhof Bochum-Langen-
dreer unter anderem: »Der Holocaust ist eine komplette, von Amerika-
nern und Zionisten initiierte Fälschung.« Die Ruhr-Nachrichten berichte-
ten am 29, November 2005 in ihrem Artikel über den Vortragsabend,
daß er weiter geäußert habe: »Die Deutschen sollten dies endlich erken-
nen und sich nicht länger schuldig und auch nicht verantwortlich füh-
len.« Ein deswegen am 5. Dezember 2005 eröffnetes Ermittlungsverfah-
ren stellte die Staatsanwaltschaft Bochum (Az.: 33Js 440/05) mit der
Begründung ein: »So ergibt sich jedoch, daß der Beschuldigte den wäh-
rend der Zeit des Nationalsozialismus an dem jüdischen Volk begange- Gilad ATZMON.

nen Völkermord weder zu leugnen noch zu verharmlosen suchte.«


3. Nach der Süddeutschen Zeitung vom 12. Dezember 2006 sagte der
Wiener Oberrabiner Moishe Ayre FRIEDMAN in seinem Vortrag bei der
Holocaust-Konferenz in Teheran: »Der Holocaust ist eine erfolgreiche
historische Fiktion.«
4. Am 15. Januar 2007 wandte der Kolumnist Konrad A D A M in der
Welt sich gegen die europaweiten Bemühungen von Bundesjustizmini-
sterin Z Y P R I E S . Er warnte die anderen Länder: »Nachdenken sollten vor
allem diejenigen Länder, in denen die liberale Tradition lebendiger ist als
hierzulande, weil sie den Unterschied von Wort und Tat nicht ganz so
großzügig übersehen wie diejenigen Deutschen, die stolz darauf sind,
sich zur Gesinnungsgemeinschaft der Anständigen zusammengefunden

571
Von links: Gitta SE-
RENY, Ayre FRIEDMAN
und der Welt-Kolum-
nist Konrad A D A M .

Von oben: Volker


ZASTROW und Rudolf
Aue STEIN. Mitte: Opfer
des KL Buchenwald,
aus: Deutschland im
zu haben.« Die Deutschen warnte er in dem mit »Gesinnungsdiktatur«
Krieg, Rastatt 2003. überschriebenen Artikel vor dieser; »Sie wollen die Mehrheit an die Leine
nehmen und die Gesinnungsgemeinschaft der Anständigen zur Gesin-
nungsdiktatur der politisch Korrekten ausbauen.« Schon am 22. Februar
2006 hatte er in der Welt zutreffend festgestellt: »Anders als das bekannte
Glaubensbekenntnis läßt sich die Frage, ob es in Auschwitz Gaskam-
mern gegeben hat, überprüfen; und zwar mit Hilfe der Wissenschaft.
Gerichte braucht man dazu nicht.« Als ein Ingenieur wie Fred L E U C H T E R

572
oder ein Chemiker wie Germar R U D O L F ebendas versuchen wollten, wur-
den sie juristisch verfolgt.
5 . Der Leitende Redakteur des Spiegels Fritjof M E Y E R kam in seinem
Artikel »Die Zahl der Opfer von Auschwitz« in der Fachzeitschrift Osteu-
ropa Nr. 5, 2002 auf Seite 6 3 1 — 6 4 1 zu dem Ergebnis, daß die bisher von
der Geschichtswissenschaft als zur Massenvergasung von Menschen ver-
wendet angesehenen Räume nicht dazu benutzt worden seien, daß dazu
andere Gebäude gedient hätten und daß die Gesamtzahl der Opfer in
Auschwitz ungefähr 510000 betragen habe. Gegen ihn wurden Strafan-
zeigen erstattet, die Ermittlungsverfahren jedoch eingestellt, da er nicht
zu verharmlosen oder zu leugnen vorgehabt habe.
6 . Am 16. Februar 2 0 0 7 führte V.Z. (Volker Z A S T R O W ) auf der ersten
Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in der Leitglosse zum Z Ü N D E L -
Urteil des Mannheimer Landgerichtes an: »Der Straftatbestand des Ho-
locaust-Leugners. . . macht es einem Überzeugungstäter unmöglich, ent-
lastende Beweise anzuführen - da ja das Leugnen von Sachverhalten
verboten wurde, muß mit verboten werden, darüber zu verhandeln, ob
es welche sind. Sonst würde die Verhandlung selbst zur strafbaren Hand-
lung, Eigentlich könnte man sich das aufwendige Verfahren also schen-
ken, und eigentlich war das allen Verfahrensbeteiligten in Mannheim klar: In einer Kolumne der
ein kurzer Prozeß im Gewand eines langen. Ob das eines Rechtsstaats Tageszeitung Die
würdig ist, steht auf einem anderen Blatt. Zumal die Strafbarkeit inzwi- Welt (28. 12. 2005)
sprach sich Ralph
schen auf die Gesinnung ausgedehnt wurde - seit 2 0 0 5 ist schon das D A H R E N D O R F für eine
»konkludente« Billigen von NS-Verbrechen strafbar, also, daß es jeman- Eröffnung der Holo-
dem erfolgreich nachgesagt werden kann.« caust-Diskussion:
> . . . um das Gedei-
7. Rudolf A U G S T F . I N schrieb im Spiegel N r . 4 , 1 9 9 5 , auf Seite 41: »We- hen freier Gesell-
der die Gaskammern noch jenen Namen muß er (Adolf H I T L E R ) zwin- schaften zu fördern,
gend gekannt haben, der wie ein Brandmal den Deutschen anhängt und sollten die Beschrän-
anhängen wird, solange man sich für Geschichte noch interessiert: Ausch- kungen der freien
Meinungsäußerung
witz.« eher gelockert als
8. Der Spiegel schrieb in Nr. 21, 1996, auf Seite 76: »Das Nürnberger verschärft werden.
Meiner Meinung
Tribunal wurde noch 1946 von der polnischen Regierung informiert, die nach sollte die Leug-
Tötungen (in den polnischen Vernichtungslagern) seien durch elektri- nung des Holocaust
schen Strom erfolgt.« im Gegensatz zur
Forderung nach Tö-
9. Der Spiegel schrieb in Nr, 21, 1996, auf Seite 76: »Der österreichi- tung von Juden nicht
sche Sozialist Benedikt K A U T S K Y oder der serbische Schriftsteller Ivan unter Strafe gestellt
IVANJI, die als Gefangene Auschwitz überlebten, hatten die Gaskammern werden«.
nicht gesehen.« Rolf Kosiek

573
Frühe Angaben jüdischer Opferzahlen

n der gängigen Literatur über das Schicksal der Juden im Zweiten Welt-
I krieg wird meist angeführt, daß 6 Millionen Juden Opfer der deut-
schen Massenvernichtung wurden. 1 Als Quelle für diese Zahl gilt allge-
1 Wolfgang B E N Z mein die Aussage von Wilhelm Höttl. vor dem Nürnberger Tribunal,
(Hg), Dimension lies der sich dabei auf eine Angabe von Adolf E I C H M A N N bezog. Der Militär-
Völkermords, Olden- historikerjoachim H O F F M A N N wies jedoch nach, daß der sowjedsche Pro-
bourg, München pagandist Ilja E H R F N B U R G diese Zahl schon am 4. Januar 1945 erwähnt
1991.
hatte, und damit noch Wochen, bevor die Sowjets das als größtes Ver-
nichtungslager geltende Konzentrationslager Auschwitz am 27, Januar
2 Joachim H O F F - 1945 eroberten, 2 Doch es gibt noch eine Reihe früherer Belege dieser
MANN, Stalins Zahl, die von Martin B R O S Z A T , dem Leiter des Münchner Instituts für
Vernichtungskrieg Zeitgeschichte, am 3. Mai 1979 im Frankfurter Prozeß gegen Erwin
1941—1945, Wehr- S C H Ö N B O R N als »symbolische Zahl« bezeichnet wurde.
wissenschaften,
An anderer Stelle wurde bereits ein Artikel aus dem American Hebrew
München 1995, S.
160 f. vom 31. Oktober 1919 erwähnt, 1 indem unter der Überschrift »Die Kreu-
1 Beitrag Nr. 41,
zigung der Juden muß ein Ende haben« zur Lage der Juden in Osteuropa
»Der erste Holo-
geschrieben wurde: »6 Millionen Menschen werden zum Grabe gewir-
caust«. belt. . . 6 Millionen Männer und Frauen sterben. . . in diesem drohenden
Holocaust des menschlichen Lebens. .. 6 Millionen ausgehungerte Män-
ner und Frauen.«
Die erste in der Literatur überlieferte Nennung der 6 Millionenzahl
scheint aus dem Jahre 1900 zu stammen, als der Rabbi Stephen W I S F in
den USA auf Veranstaltungen zur Unterstützung in Not geratener Glau-
bensgenossen erklärte: »Es gibt 6 000000 lebende, blutende, leidende Ar-
gumente für den Zionismus.«
Während des Ersten Weltkrieges brachten US-Zeitungen mehrfach
Hinweise auf 6 Millionen in Osteuropa leidender und dem Tode ausge-
setzter Juden. So schrieb die angesehene und weitverbreitete New York
Times am 14. Januar 1915: »In der Welt gibt es heute etwa 13000000
Juden, von denen mehr als 6000000 im Herzen des Kriegsgebietes le-
ben; Juden, deren Leben auf dem Spiel steht und die heute jeder Art
Leid und Elend ausgesetzt sind.«
Im Rahmen der US-Kriegspropaganda wurden auch schon damals
Deutsche der Verbrechen an Juden beschuldigt. Die New York Times klagte
am 10. August 1917 an: »Deutsche lassen Juden sterben. Frauen und
Kinder in Warschau verhungern.« Den Österreichern wurde die Massen-
vergasung Einheimischer in Serbien vorgeworfen. So behauptete der Lon-
doner Daily Telegraph am 22. März 1916 auf Seite 7 über »Gewalttaten in
Serbien« ohne jede Berechtigung: »Frauen, Kinder und alte Männer wur-

574
den durch die Österreicher in Kirchen eingeschlossen und entweder mit
dem Bajonett erstochen oder durch erstickendes Gas getötet. In einer
Kirche in Belgrad wurden auf diese Weise 3000 Frauen, Kinder und alte
Männer erstickt.«
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg häuften sich die Hinweise
auf 5 oder 6 Millionen leidender, hungernder oder sterbender Juden in
amerikanischen Medien. Am 29. September 1919 schrieb die New York
Times von »6000000 Seelen. . . in unglaublich tragischer Armut, Hunger
und Krankheit«, am 26. Oktober 1919 von »4000000 hungernden Juden
in Osteuropa«, am 12. November 1919 von »unglaublich tragischer Ar-
mut, Hunger und Krankheit für etwa 6000000 oder die Hälfte der jüdi-
schen Bevölkerung der Erde«, am 3. Dezember 1919, daß »nichts auf
der Welt außer einem Wunder den Tod von 5 000 000 bis 10 000 000 Men-
schen durch Kälte und Hunger in Europa und dem Nahen Osten in
diesem Winter verhindern« könne, was ein »grausames jüdisches Massa-
ker« sei.
Im folgenden Jahre ging es ähnlich weiter. Die New York Times berich-
tete am 21. April 1920, in Europa gebe »es heute mehr als 5000000
Juden, die hungern oder im Begriff sind zu verhungern«. Am 1. Mai 4 Zitiert unter

1920 mahnte das genannte Blatt seine Leser: »Aber das Leben von Hinweis auf Michel
6000000 (jüdischer, R. K.) Menschen wartet auf unsere Antwort.« Am B A R - Z O H A R , Les

nächsten Tag wies die Zeitung darauf hin: »Sechs Millionen Menschen Vengeurs, Librairie
ohne Nahrung, Unterkunft, Kleidung oder medizinischer Versorgung«, Artheme Fayard,
Paris 1968, von
und wiederholte Nachrichten über die Not von 6 Millionen Juden in
Hannsjoachim W
Osteuropa auch an den nächsten Tagen. In den folgenden Jahren traten K ( X : H , in: Volksge-
immer wieder ähnliche Meldungen auf, so in der New York Times am 9. richtshofUniversitas,
Januar 1922, am 21. April 1926 oder am 4. Dezember 1926. München 1988,
Schon während des Zweiten Weltkrieges wurde der Vorwurf der Er- S. 627 in Anmer-
mordung von sechs Millionen Juden gegen die Deutschen erhoben. In kung 171.
der Geschichte der zionistischen »Palästinensischen Brigade*, die als jüdi-
sche Einheit im Zweiten Weltkrieg im Rahmen der britischen 8. Armee 5 Ben HECHT,

in Italien kämpfte, wird festgestellt, »daß man den Mitgliedern der Briga- »Remember Us«, in:
de vor der Überquerung des Brenners (also im Frühjahr 1945, R. K.) die Readers Digest,
Februar 1943, S.
»Zwölf Gebote für hebräische Soldaten auf deutschem Boden< vorlas, 107-110, als
dessen erstes lautete: »Denkt an eure sechs Millionen ermordeter Brü- Zusammenfassung
der.*«4 aus einem Beitrag
Zu diesen frühen Nennungen der 6 Millionen-Zahl im Zweiten Welt- des The American
krieg gehört der Beitrag »Erinnert Euch an uns« von Ben HECHT 5 von Mercury.
Anfang 1943. Darin wird eine Vorschau auf die kommende, den Zwei-
ten Weltkrieg abschließende Friedenskonferenz gehalten. Auf ihr wür-
den die deutschen Delegierten denen der anderen Staaten in die Augen
sehen, »Alle Opfer des deutschen Abenteuers werden da sein, um das

575
Urteil zu sprechen, alle außer einem: den Juden.« Denn diese seien ein-
mal keine Einheit, die Vertreter zur Konferenz senden könne, und zwei-
tens seien dann kaum noch Juden in Europa vorhanden.
»Es wird keine Vertreter der 3000000 Juden geben, die einst in Polen
lebten, oder der 900000, die einst in Rumänien lebten, oder der 900000,
die einst in Deutschland lebten, oder der 750000 aus Ungarn, oder der
150000 aus der Tschechoslowakei, oder der 400000, die einst in Frank-
reich, Holland und Belgien lebten.
Von diesen 6 Millionen Juden ist bereits beinahe ein Drittel von Deut-
schen, Rumänen und Ungarn massakriert worden, und selbst die konser-
vativsten Rechner schätzen, daß vor Kriegsende mindestens ein weiteres
Drittel getötet sein wird.
Diese Zahlen werden nicht jene Juden einschließen, die in den kurzen
Blitzkriegen der Deutschen starben, auch nicht jene, die in den Verlust-
listen der Russen erscheinen. Von den drei Millionen Juden in Rußland
sind mehr als 700000 in die Sowjetarmee eingetreten und haben auf
allen heldenhaften Schlachtfeldern der Russen gekämpft und geblutet. ..
Die Millionen, die gehängt, verbrannt oder erschossen wurden, star-
ben nicht, davon träumend, die Demütigung zu rächen und das Vater-
land wiederherzustellen.«
Dann werden mehrere Beispiele für Massaker in der Zwischenkriegs-
zeit angeführt, darunter auch: »Erinnert Euch an uns. In der Stadt Frei-
burg und im Schwarzwald wurden 200 von uns gehängt und an unseren
Küchenfenstern aufgeknüpft, um die Synagogen brennen und unseren
Rabbi zu Tode geprügelt zu sehen.« Von einem solchen Verbrechen ist
6 Brief des Verfas- jedoch sonst nichts bekannt geworden. Auf eine Anfrage des Verfassers6
sers vom 28. 4. 2007 beim Stadtarchiv Freiburg nach diesem angeblichen Ereignis, wurde
an das Freiburgcr prompt geantwortet:7 »In der Reichspogromnacht vom 9. bis 10. No-
Stadtarchiv.. vember 1938 brannte zwar die Freiburger Synagoge, aber ich denke nicht,
7 Schreiben des daß sich die zitierte Passage auf dieses Ereignis bezieht. Ich vermute,
Kulturamts/ daß in der amerikanischen Veröffentlichung die Ermordung der Juden
Stadtarchivs Frei- im Gefolge der Pest von 1349 angesprochen wird.« Und es wird auf die
burg im Breisgau
beigefügte Kopie mit dem entsprechenden Kapitel aus der Stadtgeschichte
vom 16. 5. 2007 an
den Verfasser.. Siehe Freiburgs Bezug genommen. Da die mittelalterliche Ausschreitung je-
Faksimile am Ende doch offensichtlich mit der von Ben HECHT erwähnten Verfolgung nichts
des Beitrags, zu tun hat, vermutete die Archivrätin: »Unter Umständen spielte sich der
von Ihnen geschilderte Vorfall nicht in Freiburg, sondern im Schwarz-
wald ab.« Aber auch dort ist davon nichts bekannt, und bei Vorliegen
eines solchen Verbrechens wäre dieses sicher hervorgehoben worden.
Ben HECHT schreibt dann weiter: »Erinnert Euch an uns, die wir in der
Ukraine waren. Hier wurden die Deutschen wütend, weil wir zuviel Zeit
und zuviel Munition kosteten, um uns zu töten. Sie ersannen eine billigere

576
Methode. Sie brachten unsere Frauen auf die Straßen und banden sie mit
unseren Kindern zusammen. Dann fuhren sie mit schweren Lastkraft-
wagen in uns hinein. Tausende von uns starben, indem deutsche Militär-
autos über unsere gebrochenen Körper vor- und zurückfuhren.« Auch
solch ein Verbrechen wurde in der seriösen Literatur nicht erwähnt und
dürfte deswegen ebenso erfunden sein.
Anzumerken ist ferner, daß unter den verschiedenen in diesem Artikel
aufgeführten Tötungsarten keine Vergasungen - mit Ausnahme des er-
wähnten Belgrader Falls von 1916 - erwähnt wurden, Rolf Kosiek

Faksimile des Schrei-


bens der Stadt Frei-
burg/Br. vom 28.
April 2007 an den
Verfasser,

577
Aus 13 Opfern wurden Tausende

m 24. November 1987 berichtete die Marbacher Zeitung über eine Ge-
A denkfeier auf dem sogenannten Russischen Friedhof im Gemeinde-
wald von Pleidelsheim bei Stuttgart, bei der unter anderen auch der Re-
alschulrektor Erhard K A L K O sowie der Kreis beauftragte des Volksbun-
des Deutscher Kriegsgräberfürsorge (VDK), Siegfried M Ü L L E R , sprachen.
Die Marbach er Realschüler hatten die Pflege der Gräber übernommen:
»Im Rahmen einer freiwilligen Arbeitsgemeinschaft hatten sie erfahren,
daß auf diesem Waldstück Tau sende von Fremdarbeitern in Massengrä-
bern bestattet liegen. Diese Menschen waren im Zweiten Weltkrieg aus
ihren Ländern verschleppt worden und starben, weit entfernt von ihrer
Heimat, an Entkräftung und an Seuchen.«
Was danach den Realschüler in dieser Arbeitgemeinschaft gelehrt und
dann von der Zeitung berichtet wurde, ist offensichtlich falsch. Unter
der Überschrift »Keine Massengräber« brachte die genannte Zeitung am
4. Dezember 1987 die folgende Richtigstellung des zuständigen Pleides-
heimer Bürgermeisters Erwin PAULUS:
»1. Die Aussage >Denn im Rahmen einer freiwilligen Arbeitsgemein-
schaft haben sie erfahren, daß auf diesem Waldstück Tausende von Fremd-
arbeitern in Massengräbern bestattet liegen< ist unrichtig.
2. Richtig ist, daß während des Baues der Autobahn Stuttgart-Heil-
bronn in den 40er Jahren ein Arbeitslager im Gemeindewald unterge-
bracht war. In diesem Arbeitslager waren russische, französische und pol-
nische Fremdarbeiter untergebracht, die beim Autobahnbau und in den
umliegenden Industriebetrieben gearbeitet haben. Das Arbeitslager hatte
aber nachweislich keinen Gefangenen- oder Konzentrationslagercharak-
ter; Gewalttätigkeiten wurden nicht begangen. In den Jahren 1942/43
war diesem Arbeitslager ein Krankenlager angegliedert. Aus dieser Zeit
stammen 11 Gräber. Der damalige Bürgermeister Hermann KELLER hatte
sich für eine ordnungsgemäße menschenwürdige Beerdigung für die ver-
storbenen Fremdarbeiter eingesetzt. Auch wurden von Hermann KEL-
LER die persönlichen Sterbedaten ordnungsgemäß im Register des Stan-
desamts Pleidesheim festgehalten und beurkundet, was damals durchaus
nicht üblich war.
3. Im Jahr 1972 ließ der damalige Bürgermeister Eberhard SIEGLE zwei
Fremdarbeitergräber aus dem Gemeindefriedhof an der Hauptstraße in
den Waldfriedhof im Einvernehmen mit dem Gemeinderat umbetten.
Normalerweise wären diese Gräber wie üblich abgeräumt worden.
4. Nachdem weder der Kreis beauftragte des VDK — Herr Siegfried

578
MÜLLER - noch der Realschulrektor der Realschule Marbach - Herr Er-
hard KALKO — diese Falschinformation bisher richtiggestellt haben, gehe
ich davon aus, daß sie sich leichtfertig über die geschichtlichen Hinter-
gründe hinweggesetzt haben. Dies kann nicht Ziel und Aufgabe der Her-
anführung von Jugendlichen an geschichtliche Tatsachen sein.«
In erfreulich sachlicher Weise berichtete die Ludmgsburger Kreisleitung
am 12. November 2005 über diese Gräber, in denen zehn russische Fremd-
arbeiter, zwei russische Kriegsgefangene und ein vermutlich polnischer
unbekannter Soldat lagen. 1939 sei bei diesem Walde ein Barackenlager
für rund 200 Personen entstanden, in das Ende November 1939 rund 60
polnische Kriegsgefangene eingeliefert wurden, die dann bald im Dorf
untergebracht wurden, während russische Kriegsgefangene später ins
Lager folgten. Als 1942 eine ansteckende Krankheit ausbrach, wurde ein
Teil des Lagers zum Seuchenlager erklärt, in dem einige Gefangene star-
ben. Die Gemeinde ließ Schilder aufstellen. Die Grabpflege wird seit
1962 von der Berufsfeuerwehr Stuttgart, ab 1984 auch von Schülern der
Marbacher Anne-Frank-Realschule vorgenommen. Rolf Kosiek

Der iRussen-
friedhofi in
Pleidesheim.
Dreizehn
Fremdarbeiter
und Kriegsge-
fangene, die
wahrscheinlich
einer Seuche
zum Opfer fie-
len, sind dort
begraben. Aus:
Ludwigsburger
Kreiszeitung,
12.11. 2005.

579
Stalin-Opfer als KZ-Opfer

a Bilder oft eindrucksvoller als lange Berichte sind, benutzte die


D Umerziehungspropaganda häufig gefälschte Fotos zu ihren Kam-
pagnen. Richtigstellungen dazu gab es anschließend selten. Ein Beispiel
solcher Fälschung sei aus dem deutschen Fernsehen gebracht. Frau Mar-
garete RICHTER, Lenzkirch, hat in einem Leserbrief in der FAZ berich-
tet:
»Das Fernsehen der Schweiz brachte während der Regierungszeit von
GORBATSCHOW und der aufkommenden Freiheit in der Sowjetunion vor
einigen Jahren eine Sendung über die »Vernichtung der Kulaken* mit eini-
gen kurzen Filmausschnitten aus damaliger Zeit. So konnte man sehen,
wie auf einem weiten Feld, auf dem einige Panjewagen mit Pferden mit
herunterhängenden Köpfen standen, Sowjets in ihren alten Uniformen
erfrorene Kulaken, die auf dem Feld verhungert waren (so der Kom-
mentar), auflasen und auf die Wagen warfen. Wenn ich gewußt hätte,
was mir noch bevorstand, wäre alles genau notiert worden.
Vielleicht zwei Jahre später brachte die ARD eine Sendung, in der Film-
ausschnitte gezeigt wurden von Angehörigen der Siegermächte bei Be-
freiung von Konzentrationslagern. Und was sah ich da zu meinem Er-
schrecken? Genau den gleichen Filmausschnitt über das Aufladen toter
Kulaken, jedoch mit der Erklärung, es handle sich um eine Aktion in
einem deutschen Konzentrationslager. Die eindeutige Wahrheit hatte die
Schweiz berichtet, daran bestand kein Zweifel. Seitdem glaube ich in die-
ser Hinsicht nichts mehr.«
Das gilt auch für andere Abbildungen, die oft mehrmals als Fälschun-
gen im Fernsehen oder in der Presse gezeigt wurden, wie der bekannte
kleine Judenjunge aus dem Warschauer Ghetto, der ermordet sein sollte,
sich dann aber als Erwachsener aus Großbritannien meldete,2 oder den
mit Menschen beladenen Güterzug in Hamburg, der wahrheitswidrig als
Beweis für ins KZ Deportierte gezeigt wurde. 3 Rolf Kosiek

1 Margarete RICHTER, Lenzkirch, »Austauschbare Fernsehtote«, Leserbrief in:


Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 2. 1995
2 Michael SONTHEIMER, Bilder des Zweiten Weltkrieges, Deutsche Verlagsanstalt

(DVA), München 2005, S. 193.


3Beitrag Nr. 712, »Historiker fälscht Foto«.

580
>Edelweißpiraten< und Widerstand

um Widerstand gegen das Dritte Reich gehörten die verschieden-


Z sten Gruppen, Eine der umstrittensten bildeten die »Edelweißpira-
ten<, die nach einer Auszeichnung in Yad Vashem 1984 wieder einmal in
die Schlagzeilen gerieten und durch falsche Darstellungen unberechtigt
Aufsehen erregten und betroffen wurden. Die Presse berichtete Mitte
1 "Ehrung für drei
März 1984:'
> Edel wei ß- Piraten<
»Die Jerusalemer Gedenkstätte >Yad Washem< für die jüdischen Gpfer in Yad Washem«,
des Nationalsozialismus hat gestern vier frühere Kölner Widerstands- in: Die Welt, 14. 3.
kämpfer geehrt, zwei von ihnen posthum. >Edelweiß-Piraten* nannten 1984.
sich die 13- bis 16jährigen Jugendlichen, die damals jüdischen Mitbür-
gern und anderen Verfolgten des Nazi-Regimes Unterschlupf gewähr-
ten. 13 von ihnen wurden von der Gestapo getötet, 18 leben noch. Jean
J Ü L I C H und Wolfgang S C H W A R Z nahmen in Jerusalem die Ehrung entge-
gen, auch stellvertretend für Michael JoVY und Bartholomäus S C H I N K « ,
die 1944 von der Gestapo getötet wurden. »Vier Bäume an der >Straße
der Gerechten« vor der Gedenkstätte tragen nun die Namen der Wider-
standskämpfer. Es ist das erste Mal, daß in Jerusalem eine Widerstands-
gruppe gegen den Nationalsozialismus geehrt wird, der Jugendliche an-
gehörten.«
Dieser Ehrung mit dem israelischen Orden ¡Medaille der Gerechtem
folgten entsprechende Rundfunk- und Medienberichte über die >Edel-
weißpiraten< und Symposien an Universitäten, so am 16. Juni 1984 im
Auditorium Maximum der Universität Tübingen mitJean J Ü L I C H auf dem
Podium,2 2 »Es gab nur dafür

Doch die Verknüpfung der Kölner Kriminellen mit den »Edelweißpi- oder dagegen«, in:
raten< ist falsch. Schwäbisches Tagblatt,
Richtig ist folgendes, was sich auch bei Nachforschungen des Bündi- 18. 6. 1984.
schen Arbeitskreises Burg Waldeck, der die Tradition der alten Bündi-
schen Jugend pflegt, ergab. 1 Nach dem Verbot der >Bündischen Jugend<, 5 »Kölner Posse um
eines Zusammenschlusses freier Bünde der deutschen Jugendbewegung, Verbrecherbande«,
im Jahre 1933 für das Deutsche Reich lösten sich diese Bünde zwar offi- in: Deutsche Wochen-
ziell auf, ihre Gruppen bestanden jedoch an einigen Orten locker weiter, Leitung, 11.5. 1984.
obwohl ihre Angehörigen weitgehend in die Hitler-Jugend oder das Deut-
schejungvolk eintraten und deren Leben, besonders im musischen Be-
reich und beim Fahrten- und Lägerleben, prägten. Im Raum des ehema-
ligen Obergebiets West der HJ — Bergisches Land, Köln, Düsseldorf,
Duisburg, Ruhrgebiet - wurden die sich illegal treffenden Bündischen
>Edelweiß-Piraten< genannt und von der Gestapo beobachtet und ver-
folgt. Sie trugen in Anlehnung an das Freikorps Oberland weiße Knie-

581
Strümpfe, buntkarierte Hemden, >Latscherhut< und ein Edelweiß-Abzei-
4 Ieserbrief des
chen," eine Essener Gruppe einen breiten ledernen Riemen über einem
S, W. in: Deutscher
Anzeiger, 15. 6. Handgelenk mit einem Edelweiß darauf.4 Sie waren unpolitisch und ge-
1984. hörten nicht dem Widerstand an. Ausdrücklich erklärte ein Angehöriger
5 Ebenda. dieser Essener Gruppe: »Keiner von uns war »Widerstandskämpfen!« 5
6 "Meuten und
Im Sommer 1944 häuften sich im Kölner Stadtteil Ehrenfeld schwere
Piraten«, in: Der
Einbruchdiebstähle, Überfalle und Plünderungen, und selbst Mord kam
Spiegei, Nr. 50, 10. vor. Zufällig wurde eine deutsche Heeresstreife auf den Unterschlupf
12. 1979, S. 56. einer kriminellen Bande in der Schönsteinstraße aufmerksam, auf den
7 Jost NOLTE, »Kein sie von verängstigten Nachbarn hingewiesen worden war. Die Mutter
Recht für diesen eines der Beteiligten, Frau SCHINK, zeigte ihren Sohn Bartholomäus
>Piraten<« in: Zeit- (Barthel), der von Schanzarbeiten am Westwall weggelaufen war, bei der
Magazin, Nr. 32, 31. Kripo Köln an, daß er als Jugendlicher von erwachsenen Kriminellen zu
7.1981, S. 14—19. Diebstählen verführt worden sei. Bei den einsetzenden Fahndungen
wurden zunächst 128 Jugendliche verhaftet, von denen dann 63 Perso-
nen festgenommen wurden, denen schwere Einbruchdiebstähle, Über-
fälle, Plünderungen während I uftalarms und 14 Morde an Zivilisten nach-
gewiesen werden konnten, worauf damals die Todesstrafe stand. Trotz
eifriger Suche und großer Bemühungen der Gestapo gelang es nicht,
einen politischen Hintergrund oder Verbindungen zum Widerstand zu
beweisen oder eine Verantwortung der >Edelweißpiraten< zu finden. Daß
zwei Verhaftete frühere Kommunisten gewesen waren und einer oder
zwei Verbindungen zu den >Edelweißpiraten< gehabt hatten, erwies sich
als Zu fall. Die Kriminellen gehörten dagegen fast alle der HJ an.
Dreizehn Mitglieder der Bande wurden wegen Mordes — so war am
2 8 . September 1944 der NSDAP-Ortsgruppenleiter SOENTGEN, als er auf
dem Fahrrad nach Hause fuhr, erschossen worden 6 -, Raubzüge und
Schwarzhandels zum Tode verurteilt und öffentlich am 10. November
1944 in Köln gehängt," die übrigen erhielten verhältnismäßig milde Stra-
fen.
Nach 1945 hat das Kölner Wiedergutmachungsdezernat die unter Hin-
weis auf Widerstandstätigkeit im Dritten Reich erhobenen Entschädi-
gungsansprüche verurteilter Bandenmitglieder - wohl zu Recht - nicht
anerkannt und keine Zahlungen geleistet. So wurde ein Antrag auf Ent-
schädigung, den die Schwester von Bartholomäus ScHlNK 1962 stellte,
abgelehnt. Eine dagegen erhobene Klage wurde vom Landgericht Köln
als unbegründet abgewiesen. Nach einer Medienkampagne Ende 1979
Von oben: Bartholo- verteidigte der zuständige Leitende Regierungsdirektor des betreffenden
mäus SchiNK und seine Dezernats, Dr. DETTE, im 3. Programm des WDR den Bescheid und
Schwester, deren An- legte dar, daß es sich nach allen behördlichen Kenntnissen bei den be-
trag auf Entschädigung
wiesenen Straftaten der Ehrenfelder Gruppe um rein kriminelle Taten
abgelehnt wurde.
ohne politischen Hintergrund gehandelt habe.

582
Am 10. November
wurden in Köln-Eh-
renfeld dreizehn ju-
gendliche Banden-
mitglieder wegen
Mordes, Raubzüge
und Schwarzhandels
in Köln gehängt.

Als linke Kreise, vor allem aus der Kölner SPD, die die Verbindung zu
den »Edelweiß-Piraten* betonten, dennoch weiterhin auf Ehrung und
Rehabilitadon drängten, gab das Düsseldorfer Innenministerium ein ge-
schichtliches Gutachten bei dem Historiker Professor Dr. Peter HÜT-
TENBERGER in Auftrag. Dessen Inhalt wurde 1988 zunächst wegen seiner
politischen Brisanz unter Verschluß gehalten, da die Fachwissenschaftler
zu dem Schluß gekommen waren, »es habe sich bei den jungen Kölnern
nicht um eine Widerstandsgruppe gehandelt, deren Ziel es gewesen sei,
das NS-Gewaltregime aus politischen Gründen zu bekämpfen. Es seien
vielmehr Jugendliche aus »gefährdetem Milieu* gewesen, die versucht hät-
ten, in der bei Kriegsende zerfallenden Großstadt Köln durch Schwarz-
marktgeschäfte, Diebstähle und Einbrüche zu überleben**.* Wörtlich heißt 3 Helmut BREUER,

es in dem Gutachten, sie hätten keinen »auf hoher ethischer Gesinnung »»Edelweiß-Piraten*
basierenden, aus politischem Verantwortungsbewußtsein gewachsenen - Helden oder
Widerstand« geleistet. Bei ihrem Handeln sei es »schwer, zwischen ju- Kriminelle?« in: Die
gendlichem Übermut und bewußter politischer Handlung zu unterschei- Welt, 9 . 1 2 . 1 9 8 7 .
den«.
Die Mitglieder der Ehrenfelder Bande waren demnach also Kriminelle
und werden für ihre Verbrechen bestraft. Für das — von heute aus gese-
hen - harte Strafmaß sind die in der letzten Kriegszeit herrschenden
allgemein bekannten Gesetze - etwa die Todesstrafe für Plünderungen
bei Bombenalarm — zu berücksichtigen. Sicher haben die damaligen ka-
tastrophalen Zustände in dem durch Bomben völlig zerstörten Köln zu
dem Abgleiten der jungen Männer ins Verbrechermilieu und zu einer
»Terrorgruppe* beigetragen.
Sie gehörten also nicht - bis vielleicht auf eine Ausnahme - den ju-
gendbewegten »Edelweißpiraten* an, und die Überlebenden wie ihre Ver-

583
treter bezogen sich nach Kriegsende unberechtigt auf diese. Sie waren
insbesondere keine >Widerständlen. Ihre Ehrung als solche, wie sie von
9 Alexander GOEB, manchen Massenmedien* oder in Büchern'J vorgenommen wurde, war
Er war sechzehn, als daher ebenso unberechtigt wie ihre Bezeichnung als >Edelweißpiraten<.
man ihn hängte, »Der Skandal« 10 der Verweigerung von Wiedergutmachung, der unter an-
Rowohlt Taschen- derem 1979 wie 1984 Teile der Presse bewegte, war also gar keiner.
buch, Reinbek
1981. Als ein weiteres Beispiel skrupelloser Geschichtsfalschung und man-
10 Der Spiegel, aaO.
gelnder Sorgfalt bei der Berichterstattung im Zusammenhang mit die-
sem Fall sei noch erwähnt, daß bei der betreffenden Medienkampagne
(Anm. 6), S. 55.
um die Ehrenfelder Gruppe von 1984 Fotos von einigen in Köln wegen
Mordes gehängten Ostarbeitern als die Bilder der erhängten Ehrenfelder
Bande veröffentlicht wurden. 3
Im Frühjahr 2007 flammte die Diskussion um die >Edelweißpiraten<
11 ro, »Helden oder erneut auf." Kölns früherer Kripochef Walter V O L M E R hatte in einem
Ganoven«, in: Vortrag in der Abtei Brauweiler auf Ungereimtheiten in den Darstellun-
Nation u. Europa, gen einiger zu dieser Gruppe gerechneten Personen hingewiesen. Auf-
Nr. 6, 2007, S. 60 f.
grund seines Studiums der betreffenden Akten sei er überzeugt, daß einige
der heute von manchen Kreisen als Helden Verehrten bei vielen ihrer
späteren Angaben gelogen hätten und ungerechtfertigt zu Widerstands-
kämpfern »hochstilisiert« worden seien. So habe Gertrud K O C H behaup-
tet, neun Monate in der Abtei Brauweiler, die seit 1940 als Gestapo-
gefangnis diente, gefangengehalten und von dem Gestapobeamten Josef
HoEGEN gefoltert worden zu sein. In Wirklichkeit sei sie nur 19 Tage
dort gewesen, und H O E G E N habe in der fraglichen Zeit gar nicht bei der
Kölner Gestapo Dienst getan. Jean J Ü L I C H habe sich die oben erwähnte
Ehrung in Yad Vashem erschlichen. Von seiner Hilfe für verfolgte Juden
unter Einsatz seines Lebens könne keine Rede sein; er habe Verbindung
zur bewaffneten Bande des Hans STEINBRUCK gehabt, die für den Schwarz-
markt raubte und plünderte.
Daraufhin warf der Leiter des Kölner NS-Dokumentationszentrums,
Werner J U N G , dem Kripobeamten unkritischen Umgang mit den Gestapo-
Akten vor, und es erschien ein offener Brief zur »Ehrenrettung« Jean
J Ü L I C H S , in dem erklärt wurde, V O L M E R S Behauptung »diffamiert zu Un-
recht einen absolut integren Menschen mit Vorbildfunktion«. Zu den
Unterzeichnern gehörten der Enthüllungsjournalist Günter W A L L R A F F
sowie der frühere Kommunist Ralph G I O R D A N O . Der 78jährige JÜLICH
erhielt vom Landgericht auf seinen Antrag eine einstweilige Verfügung,
wonach V O L M E R gewisse Formulierungen seiner Einschätzungen nicht
mehr wiederholen darf.
Der Streit um die >Edelweißpiraten< geht also weiter. Rolf Kosiek

584
Angebliche Versuchstote waren Kriegsopfer

itte Oktober 2006 machte eine Entdeckung in dem Ortsteil Barge


M der westfälischen Stadt Menden tagelang Schlagzeilen in der deut-
schen und in der internationalen Presse. Bei Baggerarbeiten auf dem
dörflichen Friedhof war man auf ein Massengrab gestoßen, das neben
den Gebeinen von mehr als 75 Erwachsenen auch die von 25 Kindern
barg. Einige Skelette sollten nach Angaben Einheimischer aus der nahen
Kriegsgräberstätte stammen. Für andere Personen war sofort klar, daß
hier ein ungesühntes NS-Verbrechen verdrängt worden war. Die verhält-
nismäßig zurückhaltende FAZ berichtete in einem fünfspaltigen Artikel,
in dem es hieß: »Doch bei 29 Skeletten, die offensichtlich in einer Nacht-
und-Nebel-Aktion gegen Ende des Krieges in Barge verscharrt wurden,
handelt es sich allem Anschein nach um Tote aus dem nahegelegenen
Krankenhaus in Wickede-Wimbern. Da einige der Kinder-Skelette Miß-
bildungen aufweisen, besteht der begründete Verdacht, daß es sich bei
den Toten in Barge um Opfer des euphemistisch als >Euthanasie< be-
zeichneten Mordprogramms nationalsozialistischer Ärzte handelt. Da-
für spricht auch, daß das Krankenhaus in Wimbern 1943 als >Ausweich-
krankenhaus< für die von Luftangriffen bedrohte Stadt Dortmund gebaut
worden war,«1

Grabungen in Menden-8arge im Herbst 2006.


Vermutungen, daß es sich um ein ungesühntes NS-Verbrechen handeln könnte,
haben sich nicht bestätigt.

585
Und da die >Ausweichkrankenhäuser< von >HITLERS Leibarzt* Dr. Karl
B R A N D T verwaltet wurden und die meisten der dort beschäftigten Schwe-
stern wohl der NS-Schwesternschaft angehörten, meinte der Historiker
Bernd W A L T E R vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe: »Es gab in
Wimbern eine eindeutige nationalsozialistische Prägung des Personals.
Und auch wenn noch nichts bewiesen ist: Die Wahrscheinlichkeit, daß in
Wimbern sogenannte Euthanasie betrieben wurde, ist sehr hoch.«1 Der
sogleich von der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Dort-
mund zugezogene Oberstaatsanwalt Ulrich M A A S S äußerte: »Für uns be-
steht ein begründeter Verdacht auf die Beseitigung von >unwertem* Le-
ben.«1 Das rechtsmedizinische Institut der Universität Düsseldorf wurde
Karl BRANDT. zur Untersuchung eingeschaltet.
Doch alle »begründetem Vermutungen und Hoffnungen auf einen neu-
en »Fall* für die Vergangenheitsbewältigung erwiesen sich als falsch.2 Nach
einem halben Jahr lud das Landeskriminalamt (LKA) in Düsseldorf für
1 Nicolas WoLZ, den 23. März 2007 zur Pressekonferenz ein. Einige Zeitungen berichte-
»»Den Toten ein ten dann, wenn überhaupt, sehr kurz, daß Oberstaatsanwalt M A A S S dabei
Gesicht geben*** in: erklärte: »Wir haben im Laufe unserer umfangreichen Ermittlungen keine
Frankfurter A llgemei- Hinweise auf Tötungen von Kindern und Erwachsenen in dem Aus-
ne Zeitung, 13.10. weichkrankenhaus in Wimbern gefunden.« 3
2006. Der Focus kommentierte ausführlicher: »Die Morde haben nicht statt-
2dpa, »Menden: gefunden, Kein Verbrechen. Kein Verdacht. Kein Verdrängen. Die schö-
Keine Hinweise auf ne, klare und grausige Geschichte von Menden-Barge ist tot. Eigentlich
NS-Verb rechen«, in:
hat es sie nie gegeben.« 4 Im Krankenhaus in Wimbern wurden nämlich
Frankfurter A llgemei-
ne Zeitung, 24. 3. 1945 ganz normal Patienten aus den zerbombten Städten der Umge-
2007. bunggepflegt. »Und wenn jemand starb, so brachte ihn der Totengräber
zum Friedhof nach Menden-Barge. Und weil das Sterben in den letzten
Jdpa, »NS-Ver-
dacht ist widerlegt«, Monaten des »Tausendjährigen Reiches* recht häufig vorkam, legte er die
in: Cuxhavener Leichen in eine Grube. Er kippte sie nicht. Er legte sie ab. Und er führte
Zeitung, 24. 3. 2007. Buch. Sorgsam notierte er den Namen jedes verstorbenen Kindes.«5
4Markus KRISCH FR, So gab es (für manche leider) keinen Anlaß für eine neue Gedenkstätte,
»Gerücht wider- denn deutsche Kriegsopfer sind bekanntlich einer solchen nicht würdig.
legt«, in: Focus, Nr. »Die Nachricht vom Massenmord im Sauerland ging um die Welt - doch
12,19. 3. 2007, das Verbrechen fand nicht statt.«6 Viele Leser nahmen die ersten gefühls-
S. 48. voll aufgebauschten Nachrichten über ein neu aufgedecktes NS-Verbre-
5 Ebenda, S. 49. chen und eine angebliche »Mauer des Schweigens* in dem verstockten
6 So der Untertitel Dorfe zur Kenntnis - die Richtigstellung lasen die wenigsten von ihnen.
des Focus-Berichtes Und so hatte die Umerziehung mit Unterstützung der politisch korrek-
(Anm. 4). ten Medien doch wieder einiges erreicht. Es bleibt eben immer etwas
hängen. Rolf Kosiek

586
Deutschenseelsorger
auf Verschleppungsmarsch in Polen 1939

uch nach seiner Aufnahme in die Europäische Union hat Polen im-
A mer wieder auf die Unterdrückungen während der deutschen Besat-
zungszeit hingewiesen, und die deutschen Medien haben diese Vorwürfe
weiterverbreitet, ohne dabei die leiden zu erwähnen, die vorher, im Sep-
tember 1939, Hunderttausende von Volksdeutschen in Polen erdulden
mußten. Insbesondere auf den Todesmärschen Anfang September 1939
und in den seit Beginn der zwanziger Jahre bestehenden polnischen Kon-
zentrationslagern hatten die Deutschen sehr zu leiden. Zur Richtigstel-
lung sei als Beispiel das Schicksal eines deutschen Pfarrers in Posen bei
Kriegsbeginn angegeben.
Als Deutschenseelsorger in Posen wurde der fränkische Franziskaner
Hilarius B R E I T I N G E R (1907-1994) bei Kriegsausbruch 1939 auf einen der
von den polnischen Machthabern organisierten Verschleppungsmärsche
gezwungen, der erst nach mehr als zwei Wochen von der deutschen Wehr-
macht gestoppt werden konnte. Leidvolle Erlebnisse gab der Pater nach
der Befreiung zu Protokoll. Seine Aussagen fanden Eingang in das Weiß-
buch des Auswärtigen Amtes über Die polnischen Greueltaten an den Volks-
deutschen. B R E I T I N G E R S Erinnerungen Als Deutschenseelsorger in Posen und im
Warthegau 1934-1945 erlebten als Band A 36 der »Veröffentlichungen
der Kommission für Zeitgeschichte« drei Auflagen und bilden für die
historische Forschung eine unverzichtbare Primärquelle.
Posen war am Ende des Ersten Weltkriegs seit dem Wiener Kongreß
1815, also mehr als hundert Jahre, preußische Provinz. Das alltägliche
Zusammenleben der Volksgruppen, 55 Prozent Polen und 45 Prozent
Deutsche je in Stadt und Provinz, verlief friedlich, bis Posen 1919 an
Polen fiel.
Die deutsche katholische Gemeinde in der Stadt Posen zählte 1918 an
die 8000 Seelen. Unter polnischer Herrschaft waren es dann nach zwan-
zigjahren nur mehr tausend. Geistliches Zentrum der deutschen Katho-
liken war die Kirche der Franziskaner, deren deutsche Ordensprovinz
den Seelsorger zu stellen hatte. Pater Vcnantius K F . M P F (1887-1959), der
dieses Amt ab 1923 versah, wurde 1934 willkürlich ausgewiesen. Zum
Nachfolger wurde sein Mitbruder Hilarius B R E I T I N G E R bestimmt.
»Wie sehr der Krieg als unvermeidlich angesehen wurde, zeigte mir im
Sommer 1939 eine Begegnung mit einem Priester«, erinnert sich der Seel-
sorger: »Ich kannte diesen Priester seit langem und wir hatten uns auch
immer gut verstanden. Als er mich jetzt sah, bemerkte er: >Nun wird
hoffentlich bald Krieg sein, und wir werden bald Berlin zu Polen holen.<

587
Meine Antwort war: >Aber, lieber Mitbruder, so können Sie doch nicht
reden. Krieg ist doch etwas Furchtbares und wird immer nur zerstören.
Beten wir doch lieber um Frieden!* Seine Reaktion war für mich erschrek-
kend: >Nein, ich bin zuerst Pole und dann wieder Pole und dann erst
Priester. Es muß zum Krieg mit Deutschland kommen!««
Als der von Verblendeten ersehnte Krieg dann tatsächlich ausbrach,
Noch nach Ende des wurde B R E I T I N G E R gleich am ersten Tag verhaftet. Polnische Polizisten
Polenfeldzugs wurden
neue Greuel morde
mit aufgepflanztem Bajonett trieben den Priester zum Präsidium. Eine
der polnischen Zivil- aus 80 Deutschen bestehende Gruppe, darunter auch der greise evange-
bevölkerung und des lische Superintendent Arthur R H O D E (1868-1967), wurde anderntags in
Militärs an den Volks- Marsch gesetzt. Aus Sammelstellen, an denen der Weg vorbeiführte, wur-
deutschen bekannt. den weitere Gefangene hinzugestoßen. Zuletzt zählte der Zug 230 Per-
Siehe auch: »Der
sonen. Wer nicht mehr konnte, wurde unterwegs von den Bewachern
Marsch der Posener«,
in: Bernhard L I N O E N - erschossen.
B A T T , Bromberger Von polnischem Pöbel beschimpft, bespuckt, geschlagen, mit Steinen
Sonntag, Arndt, Kiel beworfen, marschierten diese Menschen über Konin, Schwersenz,
2001, S. 235-240. Wreschen nach Osten. »Man hörte Kanonendonner, und der Horizont
war geschwärzt von Rauchwolken. Mit
Staunen stellten unsere ehemaligen deut-
schen Offiziere fest, daß wir in einem
Kessel eingeschlossen waren. In der
stockfinsteren Nacht mußten wir weiter-
marschieren und kamen an polnischen
Stellungen vorbei.«
Nach einer zurückgelegten Gesamt-
strecke von rund 200 Kilometern kam
der Elendszug am 16. September im
Räume Lowitsch zum Stehen, Die ersten
deutschen Soldaten tauchten auf: »Ein
Mann aus unseren Reihen, ein ehemali-
ger deutscher Offizier namens R O T H ,
ging, ein weißes Nachthemd schwen-
kend, den Soldaten entgegen, um sie
aufzuklären, daß wir deutsche Ver-
schleppte seien«, schildert der Pater das
Ende des Leidensweges: »Wir mußten
zuerst noch ruhig liegenbleiben, da es ja
noch Frontgebiet war. Nach einer hal-
ben Stunde kam dann endlich der Ruf:
>Aufstehen! Wir sind frei< Überglücklich
fielen wir uns unter Weinen und Lachen
gegenseitig um den Hals und dann san-

588
gen wir Nun dankst alle Gott! Es war Sonntag, der 17. September 1939,
zwölf Uhr mittags. Die deutschen Soldaten nahmen sich unser sogleich
hilfreich an. Von der Feldküche wurden wir verpflegt, und am Montag
begann unser Rücktransport, der wegen der gesprengten Brücken und
Eisenbahnanlagen sehr zeitraubend verlief, weil er auf großen Umwe-
gen erfolgen mußte.«
Am 22. September 1939 war der Pater wieder in Posen. In der Franzis-
kanerkirche wurde ein Dankgottesdienst gefeiert. Doch in die Freude
mischte sich nur allzubald Enttäuschung: Hatte der Pater erst als Deut-
scher seine Not mit den Polen, litt er nun als Katholik im Reichsgau
Wartheland unter der Politik des Reichsstatthalters Arthur G R E I S E R (1897-
1946). Laut Schreiben des Reichssicherheitshauptamtes vom 27. Juni 1942
- AZ. VII B la, Nr. 599/42 - hatte der aus Schroda in der Provinz
Posen gebürtige SS-Gruppenführer einst der Danziger Johannisloge >Zur
festen Burg im Osten< angehört. Der den Freimaurern eigentümlichen
Feindschaft gegen die katholische Kirche befleißigte sich G R E I S E R auch
in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter.
Polen-Primas August Kardinal H L O N D ( 1 8 8 1 - 1 9 4 8 ) hatte Posen gleich
nach Kriegsausbruch im September 1939 verlassen. »Der Kardinal ist Reichsstatthalter
mit der polnischen Regierung geflohen, weil er ein schlechtes Gewissen Arthur G REISE K
hat«, erklärte G R E I S E R , »Nun hat er am 16. September über den Vatikan- (1897-1946).
sender in einer Radioansprache das polnische Volk aufgerufen, auszu-
halten und sich um seine Lehrer und seine Geistlichen zu scharen. Die
würden ihnen den Weg zeigen, und England werde sehr bald Polen wie-
der befreien. Nun, wir werden verhindern, daß sich das polnische Volk
um seine Geistlichen schart.«
G R E I S E R behandelte die Kirchen wie private Vereine und unterwarf sie
dem Prinzip der »Apartheid« mit getrennten Gotteshäusern für Deutsche
und Polen. Um die Seelsorge sicherzustellen, ernannte der Vatikan 1941
den Weihbischof Valentin D Y M E K (1888-1956) zum Apostolischen Ad-
ministrator für die polnischen Katholiken im Wartheland, für die deut-
schen den Domherrn Joseph P A E C H (1880-1943). Als dieser 1942 aus
Altersgründen resignierte, wurde B R E I T I N G E R sein Nachfolger.
Am Finde blieb die Flucht vor den Russen. Beim Herannahen der Ro-
ten Armee setzte sich BREITINGER zusammen mit anderen Deutschen im
offenen LKW nach Landsberg an der Warthe ab, fuhr im überfüllten
Zug nach Berlin und war am 1. Februar 1945 bei seinen Mitbrüdern in
Würzburg.
Hilarius B R E I T I N G E R hielt Verbindung mit vertriebenen Deutschen und
wurde Provinzial der österreichischen Minoriten.Von 1964 bis 1972 wirkte
er als Pfarrer in Wien-Alser Vorstadt und anschließend in Graz-Maria-
hilf. Sein Erdendasein endete am 23. August 1994 in Maria Eck, einem

589
Wallfahrtsort bei Siegsdorf im Chiemgau, sein Grab befindet sich auf
dem Friedhof des dortigen Minoritenklosters. Fred Duswald

Zehn verstümmelte Leichen, die in der Thorner Straße in Bromberg entdeckt wurden.
Aus: L I N D E N B I A T T , Bromberger Blutsonntag, Arndt, Kiel 2001.

Literatur
Hilarius BREITINGER, Als Deutsehenseelsorger in Posen und im Wabrtbegau 1934-1945.
Erinnerungen, Paderborn '1991 (Veröffenlichungen der Kommission für Zeit-
geschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 36).
Ders., »Meine Internierung in Polen«, in: Fritz M E N N (Hg.), Auf den Straßen des
Todes. Leidensweg der Volksdeutschen in Polen, Leipzig 31940.
Hans SchADEWALDT (Bearb.), Die polnischen Greueltaten an den Volksdeutschen in Po-
len, im Auftrage des Auswärtigen Amtes auf Grund urkundlichen Beweisma-
terials zusammengestellt, bearbeitet und herausgegeben, Berlin 21940.
W HALLERMANN, »Die Todesopfer der Volksdeutschen aus den Geiselzügen im
Warthegau«, in: International Journal of Mediane 34, 1940, Nr. 1-3, S. 54—90.
Der Tod sprach polnisch. Dokumente polnischer Grausamkeiten an Deutschen 1919—1949,
Arndt, Kiel 1999.
Alfred Maurice DE ZAYAS, Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle. Dokumentation alliier-
ter Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg, Herbig, München 72001.
Bernhard LLNDENBATT, Bromberger Sonntag, Arndt, Kiel 2001

590
Das Massaker in Abbeville 1940

ie deutsche Wehrmacht hat den am 10. Mai 1940 eröffneten West-


D feldzug nicht nur siegreich, sondern auch fair geführt. Dagegen wur-
den Verbrechen an der Zivilbevölkerung in Holland, Belgien und Nord-
frankreich von gegnerischer Seite begangen, die heute verschwiegen wer-
den.
Ein frühes französisches Kriegsverbrechen wurde am 20. Mai 1940 in
Abbeville verübt. In der Industriestadt nahe der Somme-Mündung er-
mordeten französische Soldaten 21 Zivilisten, darunter belgische Bürger
beiderlei Volkstums, aber auch jüdische Flüchtlinge aus Deutschland.
Am 11. Mai 1940 hatte die belgische Regierung ein Dekret erlassen,
wonach alle verdächtigen Ausländer zu verhaften seien. Man fürchtete,
sie seien feindliche Spione einer »Fünften Kolonne«. Mehrere tausend
Personen wurden Opfer dieser Präventivmaßnahme. Im Gefängnis von
Brügge wurde am 15. Mai 1940 ein Transport von 78 willkürlich Festge-

Der deutsche Panzer-


vorstoß zur Küste
1940. Aus: Hellmuth
Günther D A H M S , Der
Zweite Weltkrieg in
Text und Bild, Herbig,
München 5 1999.

591
nommenen zusammengestellt, der auf Weisung der belgischen Regie-
rung nach einem Plan, der später im französischen Justizministerium
gefunden wurde, den französischen Behörden übergeben werden sollte.
Die prominentesten Häftlinge waren der Wallone Leon D E G R F E L F .
(1906-1994), Führer der katholischen Rexisten, und der Flame Joris VAN
S E V E R E N (1894—1940), Chef der flämischen Verdinaso-Bewegung. Aber
auch italienische Antifaschisten, Kommunisten und Angehörige der ro-
Literatur ten Internationalen Brigaden aus dem Spanischen Bürgerkrieg befanden
Dokumente englisch- sich unter den Gefangenen. Insgesamt bestand die Gruppe aus 21 Belgi-
französischer Grau- ern, 18 Juden ungeklärter Staatsangehörigkeit, 15 Reichsdeutschen, neun
samkeiten, Berlin Itaüenern, sechs Niederländern, drei Luxemburgern, zwei Schweizern,
1940.
einem Tschechen, einem Spanier, einem Dänen, einem Elsässer franzö-
Maurus VAN G I J S E -
GEN, Het bloedbad sischer Staatsangehörigkeit und dem kanadischen Staatsangehörigen Ro-
van Abbeville, bert BELL, der Trainer der deutschen Eishockey-Nationalmannschaft war,
Antwerpen 1942. ohne Papiere angetroffen und daher für einen deutschen Spion gehalten
L'autre histoire, Nr, 6, wurde. Zu den Gefangenen zählten vier Frauen, zwei Priester und zwei
1995, Nr. 10,1996, Geisteskranke. Am jüngsten waren ein 17jähriger Bursche und ein 18jäh-
Nr. 3,1997 u. Nr. riges Mädchen. Auffallend war die hohe Zahl an deportierten Juden. Sie
3,2000. kamen aus Rußland, Polen und Ungarn, waren überwiegend Kommuni-
Louise NARVAEZ, sten und hatten sich vor den Nationalsozialisten nach Belgien gerettet.
Duchesse de Unter ihnen befand sich der berüchtigte Leo SKLAREK, der in der Weima-
Valence, Degrelle rer Republik durch seine Korruptionsaffare mit hohen Politikern bekannt
m'a dit, Brüssel
geworden war und der Bestrafung entgehen wollte.
1977.
Carlos H . V L A E - Begleitet von 25 belgischen Gendarmen und zwei Beamten der Staats-
MYNCK, Dossier sicherheit, wurden die Festgenommenen über Ostende nach Dünkirchen
Abbeville, Löwen gebracht, wo D E G R E L L E ZU seinem Glück von der Gruppe abgetrennt
1977. wurde. Sie wurden ständig von ihren Bewachem mißhandelt. Am 19.
Gaby W A R R I S , Mai 1940 erreichten die Häftlinge Abbeville. Das dortige Gefängnis war
Het bloedbad van bereits überfüllt, so daß sie im Keller des Musikpavillons untergebracht
Abbeville 20 mei wurden. Auch französische Soldaten mißhandelten die Häftlinge bestia-
1940, Antwerpen
lisch. Gegen Mittag des 20. Mai erschienen Soldaten vor dem Musikpa-
1994.
Alfred M. DF. ZAYAS, villon und riefen, daß vier Freiwillige heraustreten sollten. Alle glaubten,
Die Wehrmacht- es solle Verpflegung empfangen werden, und so gingen vier Personen
Untersuchungsstelle, hinaus. Einige Minuten später fielen Schüsse. Auch die nächsten vier
Universitas- wurden erschossen, und nun ging niemand mehr freiwillig hinaus. Der
I.angen Müller, Gefangenen bemächtigte sich größte Panik. Man betete, schrie, weinte
München 41984, und rief, man sei unschuldig, man sei Belgier, Franzose, Antifaschist -
S. 253 f. u. 256. nur, um sein Leben zu retten. Als niemand mehr heraustrat, warf ein
Soldat eine Handgranate in den Keller, die jedoch nicht explodierte. Nun
kamen Soldaten in den Keller und zogen mit Gewalt vier Personen her-
aus, die ebenfalls erschossen wurden. Die 6 0 Jahre alte Maria C E U T E R I C K
erstach man mit Bajonetten, mit Gewehrkolben schlug man ihr den Schä-

592
del ein. Unter den Ermordeten waren der Flamenführer Joris VAN S E V E -
REN, sein Sekretär Jan RIJKOORT, Eishockey-Trainer Robert BELL, ein deut-
scher Benediktiner-Pater, der kommunistische Kommunalpolitiker Luci-
en M O N A M I aus St. Gilles und vier italienische Antifaschisten, die vor den
Deutschen nach Belgien geflüchtet waren.
Als 21 Unschuldige umgebracht worden waren, stoppten die Soldaten
auf Grund von deutschen Bombenangriffen und aus Angst vor der her-
annahenden deutschen Wehrmacht das Massaker. Leutnant René C A R O N
und Sergeant François M O L L E T hatten das Morden zu verantworten und
sich aktiv daran beteiligt. In der Folge beriefen sie sich auf einen angeb-
lichen mündlichen Befehl des Stadtkommandanten Hauptmann Marcel
DINGHON. Dieser war jedoch nach Pau in die von den Deutschen nicht
zu besetzende Zone entflohen, wo er im Militärlazarett auf mysteriöse
Weise umgekommen sein soll. Als Dr. Carlos V L A E M Y N C K , der 1 9 7 7 den
einzigen detaillierten Bericht über das Blutbad verfaßte, den französi-
schen Gesundheitsdienst um Auskunft über D I N G E O N S Tod bat, verwei-
Leon D E G R E L L E , der
gerte man ihm die erbetene Information unter Berufung auf die ärztli-
Führer der prodeut-
che Schweigepflicht. schen oppositionel-
Der Leidensweg der weiterhin drangsalierten 57 Überlebenden setzte len Rex-Bewegung.
sich über die Foltergefangnisse in Rouen, Caen, Rennes, Cherbourg, Bor-
deaux bis in die berüchtigten französischen Konzentrationslager in den
Pyrenäen fort. Die zum Haß angestachelte Bevölkerung griff die Gefan-
genen an, da behauptet wurde, es handle sich um Spione, die mit Fall-
schirmen abgesprungen seien. Die hysterische Angst vor Agenten wurde
durch einen Regierungsbefehl geschürt, wonach feindliche Fallschirm-
springer sofort zu erschießen seien.
Am 28. Juni 1940 befreite die deutsche Wehrmacht die Überlebenden.
Am 11. Juni 1940 bildete das Oberkommando der Wehrmacht das
>Sonderkommando Abbeville<, in dem Gestapo und Sicherheitsdienst (SD)
unter Kriminalrat W E N Z K Y federführend waren. Die wichtigste Aussage
stammt von dem dänischen Staatsangehörigen Paul W I N T E R , der wäh-
rend eines deutschen Fliegerangriffes entkommen war. Am Ort der von Carlos H. V L A E M Y N C K ,
W I N T E R angegebenen Erschießung wurden die Leichen der 21 Opfer ge- Dossier Abbeville,
funden. Ein weiterer Zeuge des Geschehens, der belgische Journalist Löwen 1977.
Marcel A R C H I E L , war mit 51 anderen Gefangenen von Abbeville nach
Rouen transportiert worden. Dort wurde er aber von den anderen ge-
trennt und wußte daher nicht, ob auch sie erschossen worden waren.
Im französischen Justizministerium fand man Akten mit der Aufschrift
»Affaires belges<, aus denen hervorging, daß französische und belgische
Behörden für die Deportation und das Blutbad verantwortlich waren.
Vor dem deutschen Kriegsgericht wurde Anklage gegen die Kriegs-
verbrecher Leutnant C A R O N und Sergeant M O L L E T erhoben. Das Gericht

593
tagte vom 1. bis 10. Januar in Amiens und vom 13. bis 17. Januar 1942 in
Paris. Beide Angeklagte wurden durch Anwälte verteidigt. Der Prozeß
wurde mit einer Fairneß geführt, die man
später bei Kriegsverbrecherprozessen ge-
gen deutsche Soldaten vermißte. C Ä R O N
und M O L L E T wurden zum Tode verurteilt
und am 7. April 1942 auf dem Mont Valeri-
en bei Paris erschossen.
Im Jahre 1940 war nach Bekanntwerden
des Massakers die Empörung gegen die
hinterhältige französische und belgische
Regierung groß. Das einstige französisch-
belgische Bündnis war nun zerstört, und
bald verbreitete sich in Flandern Sympa-
thie für das national sozialistische Deutsch-
land, was sich in vermehrtem freiwilligen
Eintritt von Anhängern D E G R E L L E S und
von flämischen Nationalisten in die Waf-
fen-SS niederschlug.
Oer Morit Valerien in Interessant sind nun die Ereignisse nach dem Krieg: Die belgische
Paris, wo die beiden Regierung verweigerte den Überlebenden jegliche Wiedergutmachung.
Kriegsverbrecher Erst am 10. April 1962 gewann die Familie des kommunistischen Opfers
u n d
CAKON MOLLET
Luden M O N A M I nach langen Anstrengungen den Prozeß gegen den Staat,
hingerichtet wurden.
dessen Verschulden dadurch festgestellt wurde.
Die Gräber der Opfer von Abbeville wurden mit Einverständnis der
Behörden wiederholt verwüstet. Die Mörder C A R O N und M O L L E T aber
wurden zu Märtyrern erklärt und Straßen nach ihnen benannt. Keine
Gedenktafel erinnert an die Opfer. Wie im Fall Oradour wurden die deut-
schen Akten geraubt oder nicht zugänglich gemacht. Das Blutbad wird
in Frankreich von offizieller Seite totgeschwiegen und in keinem Ge-
schichtsbuch erwähnt.
Das deutsche Auswärtige Amt gab im Herbst 1940 das zeitgenössi-
sche Weißbuch Dokumente britisch-französischer Grausamkeit heraus, das auch
den Bericht eines Überlebenden enthält. Der US-Völkerrechtler Alfred
Maurice D E Z A Y A S verweist auf Maurits VAN G I J S E G E N und dessen Veröf-
fentlichung Het Bloedbad van Abbeville, erschienen 1942 in Antwerpen.
Die zur Tatzeit 1 8 Jahre alte Gaby W A R R T S ist letzte Überlebende. Ihr
wurde verboten, vor Studenten Vorträge zu halten, da das Blutbad von
amtlicher Seite vertuscht wird. Friedrich Karl Pohl

594
Das Massaker in Grand-Bornand

en Deutschen werden von der veröffentlichten Meinung des ln-


D und Auslandes zu allen möglichen Gelegenheiten angebliche >Mas-
saker< aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges vorgeworfen. Die Verbre-
chen der anderen Kriegsmächte werden tunlichst verschwiegen, obwohl
sie ein weitaus größeres Ausmaß erreichten, Eines solcher Verbrechen
geschah im französischen Grand-Bornand.
Die Vichy-Regierung gründete 1942 den »Service d'Ordre légionnai-
re« unter Joseph DAKNAND mit der Aufgabe, die weitgehend von Kom-
munisten beherrschte Résistance (Partisanenbewegung) zu bekämpfen.
Zu diesen Maquisards gehörten auch die wegen ihrer Grausamkeit ge-
fürchteten Spanier der Roten Brigaden sowie Kriminelle, deren Einheiten
die französische Zivilbevölkerung terrorisierten. Es kam zu Plünderun-
gen und Morden, Der deutschen Besatzungsmacht und der französischen
Polizei gelang es nicht, diese Banden zu vernichten. Am 30. Januar 1943
entstand aus dem »Service d'Ordre Légionnaire* die »Milice Française«, zu
der die militärische Einheit der »Franc-Garde« gehörte. Damit wurde der
Bürgerkrieg immer grausamer. Beim Rückzug der Wehrmacht versuchte
die Miliz, der Rache der Partisanen zu entkommen.
Der folgende Bericht schildert ein besonders hinterhältiges Verbre-
chen der Résistance an der »Franc-Garde«, das heute weithin unbekannt
ist.1
Die »Franc-Garde« des Departement Haute-Savoie versammelt sich am
18. August 1944 in Marquisat bei Annecy zum Abmarsch, Die meisten
ihrer Familienangehörigen sind bereits nach Lyon geflohen, um nicht
von den Maquisards ermordet zu werden. Nachts haben die Anführer
der »Franc-Garde« mit der gaullistischen Partisaneneinheit »Armée Secrète«
insgeheim verhandelt, die ihnen einen Kriegsgefangenenstatus mit allen
militärischen Ehren versprochen hat. Im Gegenzug lassen die Franc-Gar-
des 46 gefangene Partisanen frei, die sie als Geiseln zurückbehalten ha-
ben. Die untergebenen Milizionäre sind über dieses Abkommen entsetzt,
da sie selber einen gnadenlosen Kampf geführt haben und wissen, daß
die Résistance gegenüber der Miliz kein Pardon gibt. Nur den Offizieren
werden die Revolver gelassen, die Mannschaften werden von den kom-
munistischen I T P (Franc-Tireurs et Partisans) entwaffnet und auf LKWs
nach Grand-Bornand transportiert. Unterwegs verspricht ein Offizier der
Armée Secrète ihnen abermals, daß sie als Kriegsgefangene behandelt

1 »La Milice - la Collaboration en Uniforme«, in: Historia Hors Série Na 40,


1975, S. 117 ff.; L'Epuration, Défense de l'Occident, Les Sept Couleurs, Paris 1957.

595
werden. Vorbeifahrende FTP rufen: »Ah, Milizionäre! Die werden wir
umlegen.« 2 Einige Gefangene versuchen, ihr Leben zu retten, indem sie
den Partisanen anbieten, mit ihnen gegen die Deutschen zu kämpfen.
Der Pöbel bewirft die Wehrlosen mit Steinen. In Grand-Bornand wer-
den sie auf dem Dachboden des Gemeindehauses einquartiert. Ein Mili-
zionär flieht, ein anderer erschießt sich. Alle müssen sich nackt auszie-
hen, und nun kommen täglich Partisanen, die mit Fußtritten, Fäusten,
Gewehrkolben, Peitschen und Knüppeln die Wehrlosen foltern. Ein Glück-
licher wird von seinen Brüdern entführt, die Resistance-Mitglieder sind.
Unter Protest der Bevölkerung zimmert man schon 100 Särge, der
Vikar erteilt die Kommunion. Am 23. August 1944 werden die 96 Ge-
fangenen vor ein »Kriegsgericht« der FTP gestellt, die einen eigenen Ver-
fahrensmodus bestimmt haben. Der Vorsitzende, die Beisitzer, der An-
kläger und der Gerichtsschreiber sind alle Partisanen. Um dem Prozeß
den Anschein des Rechts zu verleihen, werden vier Pflichtverteidiger
bestellt. »Das Gericht teilt die Angeklagten nach dem Grad ihrer Schuld
in drei Klassen ein: Der ersten Gruppe wird nur vorgeworfen, Mitglieder
in der Miliz gewesen zu sein. Zur zuzeiten Gruppe gehören Milizionäre,
die am Einsatz teilgenommen haben, ohne eine Waffe getragen zu ha-
ben. Zur letzten Gruppe gehören alle Franc-Gardes, die mit der Waffe
gekämpft haben, sowie alle Offiziere. . .jeder Richter erhält zwei Stimm-
zettel, einen mit der Aufschrift »nicht schuldig« und einen anderen mit
»schuldig«. Eine weitere Differenzierung ist ausgeschlossen,« 1 Nach dem
Muster dieses Scheinprozesses verliefen alle Gerichtsverhandlungen im
Rahmen der »Säuberung« in Europa, 4
Während im Saal bewaffnete Franc-Tireurs demonstrieren, werden je-
weils 10 Milizionäre aneinandergekettet in den Saal geführt. In wenigen
Minuten ist die jeweilige Verhandlung beendet. Die Anklage wirft ihnen
einen mit der Wehrmacht durchgeführten Einsatz gegen Partisanen in
Bluffy vor. Die Partisanen hatten dort zwei gefangene »Franc-Gardes«
ermordet, woraufhin die Miliz vier Franc-Tireurs erschoß.
Am 24. August 1944 werden 76 Todesurteile verkündet, es gibt 20
Freisprüche aus Mangel an Beweisen. Die Geretteten sollen jedoch spä-
ter wieder vor Gericht gestellt werden. Ein Gefangener ruft: »Das ist die
Bartholomäus-Nacht.« 5

2 Historia, ebenda, S. 118.


3 Philippe B OURDI FT, Epuration Sauvage, Perrin, Paris 1988, S. 332 u. 343.
4 Paul SÉRANT, Die politischen Säuberungen in West-Europa, Gerhard Stalling, Ham-

burg, o. J.
5 F, LEVETT-ALBENS, Le Grand-Bornand, 19.-24. 8. 1944, Imprimerie Jean ton, 1989,

S. 4.

596
Um 8 Uhr desselben Tages werden die 76 Todeskandidaten zu dem
Weiler Bouchet geführt. Der jüngste ist 16 Jahre alt, der älteste 50. Viele
tragen ihren Rosenkranz. Zweihundert Zuschauer sind anwesend. Jeweils
fünf Gefangene werden an Pfähle gebunden, sie lehnen das Verbinden
der Augen ab. Der entflohene Milizionär kommt freiwillig zurück, um
mit seinen Kameraden zu sterben. Sein Wunsch wird erhört.
Ein anderes Massaker soll als Beispiel für die Verbrechen der Rési-
stance an unschuldigen Zivilisten ergänzend erwähnt werden. In Voiron
(Departement Isère) lehrt der Milizoffizier J OURDAN an einem techni-
schen Gymnasium und wirbt mit Erfolg unter seinen Schülern für seine
Ideen. Jedoch wirken in der Schule als Gegenspieler die beiden Widers-
tändler M E U N I E R und D U R A N D . Sie überreden die Schüler B O N I N , G I -
RARD, C O L O N N A und T O U C H E , alle zwischen 1 6 und 1 8 Jahren alt, direkt
zur Tat zu schreiten, denn Radio London hat J O U R D A N zum Tode verur-
teilt. Bemerkenswert ist die Feigheit der beiden Lehrer, die nicht selber
handeln, sondern Jugendliche vorschicken.
Die vier mit Maschinenpistolen bewaffneten Mörder überspringen die
Mauer des Gymnasiums, in dem J O U R D A N wohnt und wo ihn zwei >Franc-
Gardes< bewachen. Die Jugendlichen erschießen sofort J O U R D A N , seine
Frau, seine Schwägerin und die beiden >Franc-Gardes<. Ein Schüler läuft
ins erste Stockwerk, wo die 82jährige Großmutter mit ausgebreiteten Ar-
men ihren Enkel, ein Baby von 15 Monaten, schützt. Der Schüler tötet
sie kaltblüdg und feuert zwei Kugeln in den Kopf des Säuglings.'1
Der Lehrer D U R A N D und die Schüler G I R A R D und C O L O N N A werden
verhaftet, in Lyon vor ein Kriegsgericht der Miliz gestellt und am 3. Mai
1944 zum Tode verurteilt. Am selben Tag um 14.15 Uhr werden sie in
Anwesenheit von zwanzig Lehrern und Schülern der Schule erschossen."
Anschließend hat die Résistance das Blutbad der Miliz angedichtet,"
womit sie eine von den Kommunisten angewendete Methode wiederholte.
Damals war ganz Frankreich über dieses Verbrechen empört, das heute
diskret verschwiegen wird. Seit Jahrzehnten reisen jedoch ehemalige Re-
sistance-Angehörige von Schule zu Schule, um die Schüler mit ihren Vor-
trägen über die Barbarei der >Nazi-Besatzer< aufzuklären,
1 9 4 5 und 1 9 4 6 wurden die Leichen der Familie J O U R D A N in Montpel-
lier mit dem falschen Hinweis ausgestellt: »Von der Miliz ermordete Fa-
milie«. Friedrich Karl Pohl

" Jacques DELPERIUÉ DE BAYAC, Histoire de la Milice, Fayard, Paris 1944, S. 266 f.
7 Historia, aaO. (Anm. 1) S. 68.
8 Georges CAZALOT, Chefs >Résistants de Bigarre - Héros? Imposteurs, Eigenverlag, o.

J., S . 8 0 ; Maurice BARDP.CHE, Lettre à François Mauriac 1947, La Pensée Libre,


S . 5 1 ; François BRIGNEAU, Mon Après Guerre, Les Editions du Clan, 1 9 6 6 , S, 4 2 .

597
Britische Deportation der Templer

o, wie es heute kaum noch bekannt ist, daß die Briten im Zweiten

1 Beitrag Nr. 387,


S Weltkrieg jüdische Einwanderer nach Palästina in ein Konzentra-
tionslager auf Mauritius verfrachteten, 1 weiß kaum jemand in der Bun-
»Britisches Juden- desrepublik etwas über das Schicksal der in ähnlicher Weise um dieselbe
KZ auf Mauritius«. Zeit von Engländern mit Gewalt aus ihrer palästinensischen Heimat ver-
triebenen und deportieren »Deutschen Templer*.
Die pietistisch-protestantische Vereinigung der »Tempelgesellschaft«
(»Deutscher Tempel«, »Jerusalemsfreunde«, »Hoffmannianer«) war von Chri-
stoph HOFFMANN (1815-1885), einem württembergischen Abgeordne-

Die Briten bauten


eine Wasserleitung
und eine Eisenbahn-
strecke von Ägypten
durch die Wüste Si-
nai, wurden im März
1917 bei Gaza an
der Südgrenze Palä-
stinas allerdings ge-
stoppt. Aus: Hew
S T R A C H A N , Der Erste

Weltkrieg, Bertels-
mann, München
2003.

ten des Frankfurter Paulskirchen-Parlaments, im Jahre 1854 gegründet


2 H. B RUGGER, Die worden. 2 Im Jahre 1866 wanderte eine Reihe von Angehörigen dieser
deutschen Siedlungen in religiösen Bewegung nach Palästina aus, darunter auch HOFFMANN 3 selbst,
Palästina, 1908; C. der 1885 in Jerusalem starb. Diese Menschen haben dann in ihrer neuen
R O H R E R , Die
Tempelgesellschaft, Heimat, vor allem in Haifa, Jaffa, Jerusalem, Akkon, Bethel, Wilhelma
1920; und Sarona, blühende deutsche Siedlungen errichtet. Sie schufen um die
3 Christoph H O F F - Jahrhundertwende ein modernes Straßensystem und errichteten erste
MANN, Occident und Industriebetriebe. Ab 1918 wurde ein Teil von ihnen durch die neue bri-
Orient, 1875; ders., tische Besatzungsmacht nach Ägypten verschleppt. Der schwäbische Dich-
Mein Weg nach ter und Schriftsteller Karl G Ö T Z (1903-1989), der in der Zwischenkriegs-
Jerusalem, 2 Bde., zeit an einer deutschen Schule in Palästina unterrichtete und 1930 eine
1882-84. Schiffsreise mit seinen Schülern nach Deutschland unternahm, hat den

598
Palästinadeutschen in seinem in mehr als 150000 Exemplaren aufgeleg-
ten Buch Das Kinderschiff ein literarisches Denkmal gesetzt. 4
Im Zweiten Weltkrieg wurden die in Palästina lebenden Deutschen
von den Engländern mit Gewalt nach Australien deportiert, da man fürch-
tete, sie würden als eine »fünfte Kolonne* für das Reich, dessen Truppen
im Sommer 1942 in Nordafrika bis kurz vor Alexandria vorgestoßen
waren, im Vorderen Orient wirken. Sie wurden kurzerhand enteignet und
mußten unter militärischem Zwang ihre Gehöfte und Grundstücke, die
von ihnen mit großer Mühe angelegten Zitrus- und Bananengärten so-
wie ihre Weinberge verlassen, Sie erhielten auch nach Ende des Krieges
und nach der Gründung des Staates Israel nicht die Erlaubnis zur Rück-
kehr nach Palästina. Die dennoch in ihre alte Heimat Zurückgekehrten
mußten anschließend unter dem zionistischen Terror leiden. Ein Teil kam
dann nach Westdeutschland zurück. Um 1965 lebten noch rund 1300 der
ehemaligen Templer in Australien, und etwa 750 in der Bundesrepublik,
Nach langen Verhandlungen kam es 1965 zu einer Einigung über Ent-
schädigungen für das enteignete frühere Eigentum dieser Templer und der
rund 300 weiteren Angehörigen der früheren evangelischen Gemeinden
in Palästina, das dann dem israelischen Staat zugefallen war." Rolf Kosiek

Karl G Ö T Z und sein


Buch Das Kinder-
schiff.

Die Siedlung
in Haifa heute.

4 KarlG Ö T Z , Das Kinderschiff, Neuausgabe Hohenstaufen-Verlag, Bodman 1966.


5 Evangelisches Gemeindeblatt, Tübingen, 18. 7. 1965.

599
Alliierte bombardierten die neutrale Schweiz

m Zweiten Weltkrieg hatte die Schweiz, die seit den Napoleonischen


I Kriegen an keiner militärischen Auseinandersetzung in Europa mehr
teilgenommen hatte, für sich am 1. September 1939 eine bewaffnete Neu-
tralität und die Generalmobilmachung erklärt, die trotz lebhafter deut-
scher Wünsche, insbesondere nach dem Frankreichfeldzug, erst nach
Kriegsende 1945 aufgehoben wurde. Sie konnte es dennoch nicht ver-
hindern, daß ihr Luftraum von 1939 bis 1945 insgesamt 6501 mal verletzt
wurde,1 allem im Jahre 1945 1732mal, wobei der weitaus größte Teil auf
Verletzungen durch Anglo-Amerikancr verübt wurde, die sich einfach
über das geltende Völkerrecht hinwegsetzten. Dabei wurden auch in zahl-
reichen Fällen Schweizer Orte von alliierten Flugzeugen bombardiert,
vor allem in der an Deutschland angrenzenden Nordschweiz und im
Tessin.2
Nach dem Krieg wurde im Auftrag der Schweizer Bundesbehörde ein
Beriebt des Kommandanten der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen an den Oberbe-
fehlshaber der Armee über den Aktivdienst 1939—1945 erstellt, der unter ande-
rem die Bombardierungen schweizerischer Dörfer und Städte, aber auch
Bahnhöfe und fahrender Personenzüge dokumendert. »Aus diesem Be-
Bereits während des
Frankreichfeldzugs
wurden Schweizer
Städte durch die Alli-
ierten bombardiert.
Am 12. juni 1940
warfen die Briten
Bomben auf Daillons,
Renens und Genf ab
mit erheblichem Per-
sonen- und Sachscha-
den, Alle Abbildun-
gen dieses Beitrages
aus: Janusz P I E K A L -
KiEwtcz, Schweiz 39-
45. Krieg in einem
neutralen Land, Mo-
torbuch, Stuttgart
1979.

1 Maximilian CZESANY, Alliierter Bombenterror, Druffel, Leoni 1 9 8 6 , S . 4 8 5 .


2 Siehe auch Beitrag Nr. 215, »US-Bomben auf Schweizer Städte«.

600
richt geht eindeutig hervor, daß die Bombardements ziviler Ziele in der Schaffhausen am 1,
Schweiz im Zeitraum 1939-1945 fast zu 100 % den Alliierten, d. h. ge- April 1944 nach dem
US-Bombenangriff,
nauer den Bombern und Jägern der RAF und USAAF, angelastet werden
dem 40 Menschen
müssen. Besonders US-Maschinen warfen einen Teil ihrer Bombenlast zum Opfer fielen.
über eidgenössischen Siedlungen ab, ohne daß dadurch das Gewissen
der amerikanischen Politiker und Generäle belastet worden wäre.«3
Über den Verlauf dieser Luftangriffe schreibt C Z E S A N Y : »Schon im
Juni 1940 erfolgten verschiedentlich Bombenabwürfe auf schweizerisches
Hoheitsgebiet, so bei Tägerwilen, Genf, Renens, Daillans, Weißenbach,
Almatt und Godat. Die Mehrzahl dieser Abwürfe erfolgte bei Nacht durch
englische Flugzeuge. Im Dezember desselben Jahres wurden durch alli-
ierte Verbände Basel (zweimal) und Zürich bombardiert. Am 12. Okto-
ber 1941 hatte die neutrale Schweiz ihre ersten drei Todesopfer zu bekla-
gen, die durch Spreng- und Brandbomben, abgeworfen von einem
englischen Flugzeug in der Nähe von Buhwil bei Sulgen, ums Leben
gekommen waren.«4
1942 und 1943 gab es wenige Bombenabwürfe ohne Todesopfer. »1944
nahm die Zahl alliierter Bombenabwürfe über schweizerischem Territo-
rium rapide zu.« Insbesondere überflogen am 1. April 1944 gegen 10
Uhr 40, also bei hellichtem Tage, drei amerikanische Bomberstaffeln

3 CZESANY, a a O . ( A n m . 1 ) , S . 4 8 8 .
4 Ebenda, S. 489.

601
Die schweizerische Bevölke-
rung studiert die Mobilma-
chungsplakate der Armee.
Rechts: Fliegerabwehrübung
in der Schweiz mit dem Ma-
schinengewehr.

Schaffhausen und warfen


130 Spreng- und 236
B r a n d b o m b e n auf die
Stadt.5 Der Angriff forder-
te 40 Tote und 70 Schwer-
verwundete, 400 Personen
wurden obdachlos und
mehr als 1000 Gebäude
wurden zerstört. Angeb-
lich hätten die US-Flieger
Schaffhausen mit Tuttlin-
gen, ihrem eigentlichen
Angriffsziel, verwechselt,
5 Wolfgang J U N G - das jedoch rund 35 Kilometer von der schweizerischen Stadt entfernt
HHINRICH, »Bomben liegt. Erst im Jahre 1949 zahlten die USA eine Wiedergutmachung von
auf die Schweiz!« einer Million Dollar an die Schweiz für den in Schaffhausen angerichte-
in: Junge Freiheit, 6. ten, auf 35 bis 40 Millionen Franken geschätzten Schaden. Sie entschul-
5. 1994; »Hehre digten sich für den »tragischen Irrtum« und schoben schlechtes Wetter
Banner«, in: Der
als Begründung vor, obwohl an dem entsprechenden Tag strahlende Früh-
Spiegel, Nr, 14, 2. 4.
1979, S. 168. lingssonne schien.
Im Herbst 1944 folgten dann weitere alliierte Luftangriffe, so auf Rhein-
felden, Dießenhofen und im Val Sulsana, wobei mehrere Menschen ge-
tötet oder verletzt wurden. Am 22. Februar 1945 warfen US-Flieger ibre
Bombenlast über Stein am Rhein ab, wo vier Frauen und fünf Kinder
ums Leben kamen, ebenso auf Neuhausen, Lohn und Beringen. Am
selben Tag starben in Rafs acht Menschen durch alliierte Bomben. Am
28. Februar 1945 wurde Altdorf bombardiert. Zum dritten Male wurden
am 4, März 1945 Basel und Zürich mit Bomben belegt. Dabei gab es in
Zürich fünf Tote und 16 Verletzte sowie in Basel sieben Verwundete.
Allein im letzten Kriegsmonat April 1945 mußte die neutrale Schweiz
650 Luftraumverletzungen feststellen.
Neben dem Abwurf von Tausenden von Bomben kam es auch zu
Beschießungen von Bahnhöfen, Gleisanlagen und fahrenden Personen-
zügen durch alliierte Flugzeuge, die etliche Verwundete verursachten.
Eine tabellarische Zusammenfassung der schweizerischen Verluste
durch alliierte Flugzeuge im Zweiten Weltkrieg ergibt:

602
Übersichtstabelle der eidgenössischen Luftkriegsverluste im
Zweiten Weltkrieg (Zahlenangaben)

Luftkriegsopfer
Ort Zahl
Tote Sc haffhause n 40
Stein am Rhein 9
Rafz 7 oder 8
Zürich 5
Rheinfelden,
Dieilenhofen, 3 (?)
Val Sulsana
Verletzte Schaffhausen ca. 60
Stein am Rhein 33
Rafz ?
Zürich "j
Rheinfelden,
Dießenhofen,
Val Susana
Basel vielleicht 30?
Obdachlose Genaue Zahlen waren nicht zu ermit-
teln; geschätzte Zahl für die Gesamt-
schweiz: Zumindest 600 (davon allein in
Schaf [hausen 400)!

L uftkriegssch üden
Ort Zahl
Zerstörte sowie Schaffhausen 123
schwer beschädigte Stein am Rhein IS
Wohnhäuser Rafz 7
Zürich f Links: Tabelle aus: Maximilian C Z E S A N Y , Alliier-
Zerstörte sowie Schaffhausen 7 ter Bombenterror, Druffel, Leoni 1986, S. 494.
schwer beschädigte Stein am Rhein 2
•>
Oben: Ein Zürcher vor den Trümmern seines
Fabrikanlagen und andere Orte
Produk tionsstätten Hauses nach einem britischen Luftangriff am
Abend des 24. Dezember 1940.

Der Schweizer Luftwaffe, die auch mit rund 90 deutschen Jagdflug-


zeugen vom Typ >Me 109< ausgerüstet war/' gelang es zusammen mit der 6 Der Spiegel, ebenda,
Schweizer Flak nicht selten, ausländische Flugzeuge zur Landung zu zwin- S, 164.
gen und ganze Formationen anzugreifen. Insgesamt mußten 189 schwere 7 Fbenda, S. 168.

US-Bomber auf Schweizer Gebiet notlanden, jeweils 14 Stück am 18.


März und 24. April 1944.7 Deshalb waren die Schweizer bei den Allüerten
als deutschfreundlich angesehen. »Als Ende September 1944 General
G U I S A N mit Unterstützung des Bundesrates das Gesuch stellte, den Alli-
ierten schweizerische Verbindungsoffiziere abzustellen, gab General EI-
SEN HOWERs Stabschef seinem Vorgesetzen folgende aufschlußreiche Emp-
fehlung: >Wir sind davon überzeugt, daß der schweizerische Generalstab
voll von Deutschlandsympathisanten ist. Mehr als die Hälfte der Gene-
ralstabsoffiziere hat engen Kontakt mit dem deutschen Generalstab. Die
Restriktionen, die wir schweizerischen Verbindungsoffizieren auferlegen

603
müßten, sind für die Schweiz
sicher nicht akzeptabel. Es
wäre darum einfacher, das
Begehren abzulehnen.« 8
Die Westmächte wollten
im Zweiten Weltkrieg auch
die Lieferungen der Schweiz
nach Deutschland hin behin-
dern. »Es ist allen schweize-
rischen Ammenmärchen
zum Trotz inzwischen klar,
daß die Alliierten die
Schweiz sehr wohl mit Ab-
sicht bombardierten - mit
dem Willen nämlich, die
Waffenfabriken (Bührle in
Zürich-Orlikon, SIG bei
Neuhausen-Schaffhausen)
beziehungsweise die wichtig-
sten Verkehrs V e r b i n d u n g e n
zu treffen. Selbstverständlich
entschuldigten sich die Alli-
ierten jeweils anschließend,
und die schweizerische Pro-
paganda kolportierte die Ge-
schichten von den >Versehen<
eifrig,« 9
Da die USA die Schweiz
als Sympathisanten Deutsch-
lands ansahen, der das Reich
mit Gütern versorgte, achte-
ten sie die Neutralität gering
Oben: Eine >Me 109 < der Schweizer Luftwaffe am Start. Unten.' Die Ab- und setzten sich vielfach
sturzstelle einer am 13. Juli 1943 von der Schweizer Flak abgeschosse- über das Völkerrecht hin-
nen )Avro Lancastert. Die Besatzung fand in den Flammen den Tod. weg, wie später in Asien oder
im Nahen Osten. Viele Ein-
M JUNGHEINRICH, a a O . ( A n m , 5 ) .
zelheiten zum Schweizer
9 Georges M Ü L L E R , Zürich, in Leserbrief in: Der Spiegel, Nr. 17, 23.
Anteil am Zweiten Weltkrieg
4.1979, S. 7.
10 Janusz PIEKALKIEWICZ, Schweif 59-45. Krieg in einem neutralen Land, bringt J a n u s z P I E K A L -
Motorbuch, Stuttgart 1979. KIEWICZ.10
Rolf Kosiek

604
USA verweigerten 1944 DDT gegen Fleckfieber

ie im Ersten Weltkrieg hat auch im Zweiten das furchtbare Fleck-


W fieber bei Epidemien vor allem in Osteuropa und dort in den gro-
ßen Lagern viele Tausende von Menschen das Leben gekostet. Gegen
Ende des Zweiten Weltkrieges hätten viele Opfer gerettet werden kön-
nen, wenn das von Amerikanern entwickelte und hergestellte DDT, das
die US-Streitkräfte mit großem Erfolg unter anderem 1943 in Italien an-
wandten, vom Internationalen Roten Kreuz in Mittel- und Osteuropa
hätte verwendet werden dürfen. Die Weigerung der US-Verantwortlichen,
dieses rasch und gründlich wirkende Mittel auszuliefern, hatte schwere
Folgen, die weithin unbekannt sind. Der deutschstämmige US-Professor
Reuben Clarence L A N G befaßte sich damit.1
Danach hatten die US-Truppen im Herbst 1943 mit dem leicht anzu-
wendenden und schnell wirkenden DDT großen Erfolg gegen den Erre-
ger des Flecktyphus {Rickettsia prowazeki), den die Kleiderlaus (Pediculus
vestimenti) überträgt, als in dem schon einige Monate von den Alliierten
besetzten Neapel eine gefährliche Flecktyphus-Seuche ausgebrochen war.
Täglich sollen bis zu 73000 Menschen mit dem DDT-Puder behandelt
worden sein, bis März 1944 seien rund 2,25 Millionen Menschen damit
im südlichen Italien entlaust worden.
Schon nach dem deutschen Einmarsch in Polen 1939 und vor allem
nach Beginn des Ostfeldzuges 1941 hatten die Besatzungsbehörden mit
dem Fleckfieber zu tun, besonders in den Konzentrationslagern, wo Epi-
demien auftraten. Dagegen konnten die Deutschen nur die Methode des
Endausens der Kleidung mit Zyklon-B einsetzen, was in großem Maße
erfolgte und in mehreren Fachbeiträgen behandelt wurde. 2
Bemühungen verschiedener Kreise während des Zweiten Weltkrieges,
DDT auch für den deutschbesetzten Teil Europas zu erhalten, wo bis zu
acht Millionen Menschen in Lagern oder in Ghettos eng aufeinander

1 Reuben Clarence L A N G , »Keine Antwort ist auch eine Antwort«, in: Deutschland
in Geschichte und Gegenwart, Nr. 2,1987, S. 24 f.; ders., »Zur Frage der Fleckfieber-
epidemien im Zweiten Weltkrieg«, ebenda, Nr. 2, 1988, S. 7—10; ders., »Zur Fra-
ge der Fleckfieberepidemien im Zweiten Weltkrieg II«, ebenda, Nr. 3, 1988,
S. 8-13.
3 Zum Beispiel J. W A L B A U M , »Fleckfieber und Volkszugehörigkeit«, in: Münchener

Medizinische Wochenzeitschrift, Nr. 21,1940, 24. 5. 1940; E. ZIMMERMANN, »Epide-


miologie des Fleckfiebers im General-Gouvernement«, in: Zeitschriftfür Hygiene
und Infektionskrankheiten, Bd. 123, Nr. 5, 1942, S. 552 ff.; Fr. G O L L E R T , Warschau
unter deutscher Herrschaft, Burgverlag, Krakau 1942.

605
Warntafel im Ghetto
saßen und mehrfach das Fleckfieber grassierte, scheiterten am Wider-
von Warschau. Dort
wie in allen Lagern
stand der Amerikaner, die das DDT zum Kriegsgeheimnis erklärten. Auch
grassierten schnell das Internationale Rote Kreuz, das Zugang zu den deutschen Konzen-
ansteckende Krank- trationslagern hatte und Hunderttausende alliierter Pakete dort verteil-
heiten wie Fleckfie- te,1 erhielt kein DDT zur Weitergabe an die Deutschen, die dieses so
ber, die die Deut- dringend benötigten. L A N G stellt mit Recht die Frage, ob die Alliierten
schen mit DDT hätten
diese Weigerung auch deshalb vornahmen, um in den deutschen Lagern
erfolgreich bekämp-
fen können. Aus: Bil- später die bekannten schlimmen Verhältnisse vorzufinden, die dann pro-
der des Krieges, DVA, pagandistisch gegen das Reich und seine Führung verwertet werden konn-
München 2005. ten. Rolf Kosiek

Dokumentation über die Tätigkeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zugun-
sten der in den deutschen Konzentrationslagern inhaftierten Zivilpersonen (1939-1945),
Genf, S. 51 u. 65.

606
Holzschnitzer Warnecke im Tieffliegerbeschuß

ür die gegen Kriegsende zunehmende völkerrechtswidrige Praxis der


F Westalliierten, aus Tieffliegern einzelne zivile Personen und Züge in
Deutschland zu beschießen, gibt es viele Augenzeugen- und Erlebnis-
berichte. So wurde eine Verwandte des Verfassers, die im letzten Kriegs-
jahr bei einem Tieffliegerangriff auf eine Elektrische bei Lippspringe im
Straßengraben Schutz gesucht hatte, angeschossen. Auch für solche in
den Medien heute oft abgestrittenen Angriffe bei der Zerstörung Dres-
dens im Februar 1945 liegen glaubwürdige Aussagen vor.1
Der geniale I lolzschnitzer Rudolf W A R N E C K E hat ein derartiges eigenes
Erlebnis aus dem Frühjahr 1945 in einem seiner Bücher festgehalten. 2
Er schreibt: »Doch einige persönliche Erlebnisse aus den letzten Kriegs-
tagen seien hier festgehalten. Als versprengter Haufen waren wir mit
einem neuen Marschbefehl in südlicher Richtung im bayerischen Raum
unterwegs, als wir von einem feindlichen Jagdbomber angegriffen wur-
den. Ich sah sein Mündungsfeuer aufblitzen, die Geschosse schlugen di-
rekt neben mir im Sturzacker ein. Beim zweiten Anflug konnte ich hinter
einem Marterl Deckung finden, die Garben prallten am Steinsockel ab -
der Angreifer raste davon. Aber dann kam ein ganzes Geschwader und
zersiebte einen langen Güterzug mit 60 Waggons vollständig. Immer
wieder flogen die Maschinen von neuem an, wohl in der Annahme, daß Rudolf W A R N E C K E ,
es sich um einen Munitionstransport handeln müsse. Aber es war keiner,
und so konnte auch keine Explosion erfolgen. Denn diese Wagen waren
überfüllt mit KZ-Häftlingen aus dem Lager Dachau, das durch die Kriegs-
lage aufgelöst worden war. Nicht nur Juden und Zigeuner, auch viele
deutsche Widerständler befanden sich unter ihnen. Mit ungezählten To-
ten und Sterbenden lief dieser Geisterzug, auf den Gleisen eine breite
Blutspur hinterlassend, ganz langsam in Kauferring ein. Der alte Loko- 1 Beitrag Nr. 648,
motivführer lebte noch. Er schüttelte ständig sein weißes Haupt und
»Zu den Terror-
schien schwer erschüttert zu sein. Dieser tragische Massenmord war ein angriffen auf
verhängnisvoller Irrtum der amerikanischen Luftwaffe. Die wenigen noch Dresden«.
lebenden Häftlinge hatten sich dann im letzten Waggon zusammenge- 2 Rudolf W A R N E K -
funden. Mit dem Papierkorb aus dem Bahnhof sammelten wir bei den KE, Mit Geissfuß und
Einwohnern des Ortes Brot.« Stichel durch ein
Die Frage ist allerdings, ob es sich damals bei der Beschießung des Künstlerleben,
Zuges um einen Irrtum der angreifenden feindlichen Flieger gehandelt Galerie Ravenstein,
hat oder ob nicht der Befehl, möglichst viele Deutsche zu töten, befolgt Merchingen 1980,
S. 50.
wurde. Rolf Kosiek

607
War Dresden für Atombombe vorgesehen?

D ie Elbmetropole Dresden wurde am 13./I5. Februar 1945 durch


mehrere anglo-amerikanische Terrorangriffe völlig zerstört.1 Sie ent-
ging allerdings einem noch schlimmeren Schicksal: Nach neuen Erkennt-
nissen sollte sie Ziel des ersten Atombombenabwurfs werden. Darüber
wird meist geschwiegen.
Der frühere Oberbürgermeister Dresdens, Walter W E I D A U E R , hat dazu
Material gesammelt und veröffentlicht. 2 Er beruft sich auf David I R V I N G 3
und den US-General Leslie R . G R O V E S . 4
Danach wurde seit Sommer 1944 bei den Alliierten über eine geheimnis-
volle Aktion »Donnerschlag« beraten: Auf Weisung von höchster Stelle
hatten die Generalstabschefs der westlichen Alliierten im Juli 1944 be-
gonnen, die ersten Gespräche über einen ganz besonderen Bombenan-
griff auf eine deutsche Großstadt zu führen, und ihre Gedanken dazu
niedergelegt. Überraschend schnell, bereits am 1. August fanden sie ihre
Überlegungen in einem außergewöhnlich detaillierten Memorandum wie-
der, das der Chef des britischen Luftstabes, Sir Charles P O R T A L , mit der
Forderung nach allergrößter Geheimhaltung den Generalstabschefs über-
reichte. Der in diesem Memorandum enthaltene Plan wurde von ihnen
bestätigt und erhielt die Tarnbezeichnung »Donnerschlag«. Historiker der
westlichen Welt bezeichnen dieses Memorandum allgemein als Geburts-
urkunde der Dresdner Luftangriffe. In diesem Memorandum heißt es
Charles PORTAL.
jedoch, es »»könnten ungeheure Zerstörungen hervorgerufen werden,
wenn sich der gesamte Angriff auf eine einzige große Stadt außer Berlin
konzentrierte, und die Wirkung könne besonders groß sein, wenn es sich
um eine Stadt handele, die bis dahin relativ geringe Zerstörungen erlitten
habe«. Von diesem Plan waren außerdem das britische Außenministeri-
um, die Exekutive für politische Kriegführung und das Ministerium für
Wirtschaftskriegführung informiert. Nach deren Meinung »konnte ein
solcher Angriff einen bevorstehenden Sieg beschleunigen oder die Ent-
scheidung für den Sieg herbeiführen«. 5
Denn Mitte 1944 war den alliierten Führungskräften klar geworden,
daß mit noch so massiven Flächenbombardements die Kriegsentschei-

1 Siehe Beitrag Nr. 648, »Zu den Terrorangriffen auf Dresden«


1 Walter WEIDAUER, Inferno Dresden, Berlin (Ost) 1990, S. 5 1 .
3 David IRVING, Der Untergang Dresdens, München 1977, S . 103.
4 Leslie R. GROVES, NOW it can be told, New York 1962.
5 Henry DE W O L F SMYTH in: Atomenergie und ihre Verwertung im Kriege, Freiburg-

Basel 1947, S. 96 ff.

608
dung nicht herbeigeführt und die Moral der deutschen
Zivilbevölkerung nicht zerstört werden konnten. Des-
wegen griff man auf anderes zurück.
Spätestens im Jahre 1941 bestand in den USA die
Gewißheit, daß es möglich sei, eine Bombe von unge-
wöhnlich starker Sprengkraft auf nuklearer Grundla-
ge herzustellen. Am 6. November 1941 berichtete das
amerikanische National Academy Committee (NAC)
an Dr. Vannevar BUSH, den Direktor des Amtes für
wissenschaftliche Forschung und Entwicklung in den
USA, der auch Berater des US-Präsidenten ROOSF.VF.LT
bei der Entwicklung der Atombombe war:» Eine Spal-
tungsbombe von überwältigender Zerstörungswirkung
wird erzielt durch rasches Zusammenbringen einer ge-
nügenden Menge des Elements U 235.«5 Als notwen-
dige Entwicklungszeit für eine »beträchtliche Quanti-
tät« solcher Bomben wurden drei oder vier Jahre
angegeben.6 In einem anderen Bericht von B U S H an
ROOSEVELT vom 9. März 1942 wurde die »Vollendung
des Projekts im Jahre 1944 für möglich« gehalten.
Am 17. September 1942 wurde dem Brigadegene-
ral des Ingenieurkorps, Lesüe R. Giiovi-s, die Gesamt-
leitung des Atombombenvorhabens übertragen. Er
schreibt dazu in seinen Memoiren: »Wir erwarteten,
daß der erste »dünne Mannt im Juni 1945 fertig sein
sollte. Der »dicke Mann< wurde noch entwickelt, aber
es bestand einige Hoffnung, daß das erste Modell schon
im Januar 1945 geliefert werden konnte.« 7 Deshalb
begann im Sommer 1944 das Training für die betref-
fenden Bomberbesatzungen der USA.
Am 31. Dezember 1944, wenige Wochen vor der
Konferenz von Jalta (4. bis 11. 2, 1945), gab es ein Tref-
fen, auf dem GROVES mit ROOSEVELT sprach: »Auf der
gleichen Konferenz informierte mich Mr. ROOSEVELT,
Oben: Ein >dicker M a n < , eine Plutonium-
daß er wünschte, daß wir vorbereitet seien, die Bombe Atombombe vom Typ >Fat Man*, wie sie
auf Deutschland abzuwerfen, falls wir die ersten Bom- über Nagasaki abgeworfen wurde. Unten:
ben vor Beendigung des Krieges in Europa hätten.«8 General Leslie R. G R O V E S und J. Robert O P -
PENHEIMER (links) inspizieren das Testgelände
6 Ebenda, S. 314. der Tri nity-Atombombe.
7 GROVES, aaO. (Anm. 4), S. 256. Dabei war »dünner Mann<
der Deckname für die Uranbombe, »dicker Mann; der für
die Plutoniumbombe.
B Ebenda, S. 184.

609
Dazu gab der britischer Luftmarschali Charles P O R T A L noch am 2 4 .
Januar 1965 in London eine Erklärung ab, deren Inhalt anscheinend nicht
zutraf: »LOrd Charles P O R T A L , der während des Krieges Stabschef der
britischen Luftwaffe war, dementierte am Sonntag einen Bericht des SED-
Blattes Neues Deutschland, wonach Großbritannien geplant habe, die erste
Atombombe im Sommer 1 9 4 4 auf Dresden abzuwerfen... PORTAL sagte,
9 Die Welt., 25.1. es sei niemals ein Atomangriff in Europa geplant gewesen.« 9
1965. Doch dagegen spricht, daß man eine bisher unzerstörte deutsche Groß-
stadt zum Nachweis der Wirkung einer Atombombe brauchte, und es
gab 1945 neben Dresden nur wenige andere, die bisher verschont geblie-
ben waren.
Der Vereinigte Nachrichtenausschuß hat am 25. (anuar 1945 den briti-
schen Premierminister C H U R C H I L L und seine führenden Militärs auf den
im Tresor liegenden Plan »Donnerschlag« aufmerksam gemacht und seine
etwas geänderte Durchführung empfohlen. Da die Atombombe noch
nicht einsatzbereit war, sollte der Angriff konventionell erfolgen.
Der Historiker David IRVING meinte dazu am 2 4 , Januar 1 9 6 5 zu ei-
nem Journalisten der Neuen Berliner Illustriertem »Wenn ich mir jetzt so
alles überlege, dann könnte Dresden doch die Stadt gewesen sein, die für
den Atombombenabwurf gedacht war, vieles spricht dafür. Merkwürdig
ist ja, daß Dresden bis kurz vor Kriegsende nicht zerstört oder beschä-
!D WEIDAUER, a a O . digt wurde.« 10
(Anm. 2), S, 63. Richtig ist wohl, daß Dresden einem Atombombenangriffs nur des-
halb entging, weil Anfang 1945 die Bombe in den USA noch nicht fertig
war.
Der frühere Dresdner SED-Oberbürgermeister WFIDAUE;R erklärte
dann auch: »Wenn dennoch Dresden, das nach den angeführten Tatsa-
chen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Ziel für den
ersten Atombombenabwurf vorgesehen war, das Schicksal von Hiro-
shima und Nagasaki erspart blieb, dann danken wir das in allererster Li-
nie den Soldaten, Offizieren und Generalen der Sowjetarmee. Ihr schneller
Vormarsch, ihre Ruhmestaten, die zur bedingungslosen Kapitulation
Hitlerdeutschlands am 8, Mai 1945, also Monate vor der Fertigstellung
einer Atombombe führten, schalteten die Möglichkeiten des Abwurfs
der ersten Atombombe auf Dresden aus. Das sollten wir nie verges-
11 Ebenda, S. 63. sen!«11
Dresden wurde dann — militärisch gesehen völlig sinnlos — auf kon-
ventionellem Wege zerstört. Es sollten eben möglichst viele Deutsche
umgebracht werden. Und niemals wurden in 48 Stunden so viele Zivili-
sten wie in Dresden ermordet, auch nicht in Hiroshima und Nagasaki.
Wolfgang Hackert

610
Zu den Terrorangriffen auf Dresden

enige Wochen vor Kriegsende legten vom 13. bis 15. Februar
W 1945 anglo-amerikanische Luftangriffe Dresden, als >Elbflorenz<
die Perle unter Deutschlands Städten, in Schutt und Asche. In immer
neuen Wellen zerstörten tags die Amerikaner, nachts die Briten die be-
rühmte Kunststadt, die keinerlei militärische Bedeutung hatte, zu der Zeit
jedoch mit Hunderttausenden von Flüchdingen aus Schlesien vollgestopft
war. Dieser Akt der Barbarei geschah auf ausdrücklichen Befehl des bri-
tischen Premierministers Winston CHURCHILL, damit möglichst viele
Deutsche getötet würden.
Besonders seit der kleinen deutschen Wiedervereinigung 1990 wird
von maßgeblichen Kreisen versucht, die Opferzahlen möglichst herun-
terzusetzen und die geringen Zahlen der kommunistischen DDR zu über-
nehmen. Von den Medien werden meist 25000 bis 35000 Tote angege-
ben.1
Das ist sicher falsch. Es dürften in Dresden wesentlich mehr Todesop-
fer zu beklagen gewesen sein. Das Statistische Bundesamt errechnete
6 0 0 0 0 Tote,3 das umfangreiche Handbuch der Deutschen Geschichte3 gibt
60000 bis 100000 Getötete an und erwähnt Angaben des US-Depart-
ment von 250000 Toten. PIEKALKIEWICZ nennt in seinem datenreichen
Zweiten Weltkrieg Zahlen von 6 0 0 0 0 bis 2 4 5 0 0 0 , ZENTNER-BEDÜRFTIG in
ihrem Großen Lexikon des Zweiten Weltkrieges1' »amtliche Schätzungen« von
135000 Todesopfern, von denen 39171 identifiziert worden seien, wo-
bei wohl eine Gesamtzahl von 40000 bis 60000 Toten wirklichkeitsnah
sei, DDR-Funktionäre gaben niedrigere Zahlen an, so Siegfried SEIBT,
der Informationschef der Region Dresden, der »mindestens 35 000 Tote«
mitteilte.5

1 SDR-Magazin Februar/März 1 9 9 5 : »Vermutlich 3 5 0 0 0 Menschen starben«;

Institut für Zeitgeschichte am 30. 11. 1992: ». . . etwa 35000 Menschen ums
Leben gekommen«; Götz BERGAN DER, Dresden im Luftkrieg, 1 9 8 4 : wenig mehr als
3 5 0 0 0 Tote; Der Spiegel, Nr. 6 , 6 . 2 . 1 9 9 5 , S. 44: »Neueste Untersuchungen kom-
men auf 25000 Opfer.« Weitere Angaben bei Rudolf KÜNAST, »Der Untergang
Dresdens«, in: Deutschland in Geschichte und Gegenwart, Nr. 1, 1995, S. 21,
2 Janusz PIEKALKIEWICZ, Der Zweite Weltkrieg, Pawlak, Herrsching 1986, S. 1035.

3 Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Deutscher Taschenbuch-Verlag, Bd.

21, München '1987, S. 164.


4 Christian ZENTNER U. Friedemann BEDÜRFTIG, Großes Lexikon des Zweiten Welt-

krieges, Südwest, München 1988, S. 157,


1 Andreas MÖLZER, »Wie viele Tote gab es in Dresden?« in: Die Aula, Nr. 2 ,

1985.

611
In einem Antwortbrief der Stadt Dresden 6 vom 31. Juli 1992 an einen
Fragesteller wurden 250000 bis 300000 Tote angegeben. Dieser Brief
wurde später von der Stadt Dresden zurückgezogen. Das Internationale
Rote Kreuz gab 1948 für Dresden 275000 Tote an," das Stockholmer
Svenska Dagbladet schrieb kurz nach dem Angriff von einer Zahl näher an
200000 als an 100000." Wenige Tage nach dem Angriff wurde die Op-
ferzahl auf 120000 bis 150000 geschätzt. 9
Ein dem Geschehen naher Zeitzeuge ist Eberhard M A T T H ES, der da-
malige 1. Generalstabsoffizier des Verteidigungsbereichs Dresden, spä-
ter Obersdeutnant der Bundeswehr. Er schrieb: »Ich erlebte alle Bom-
benangriffe in bzw. glücklicherweise am Rande des Zerstörungsgebiets.
Schon am 14. 02. 44 mußte ich einen Sonderstab unter Hauptmann Har-
Blick von der Ring-
linghausen zusammenstellen, der gemeinsam mit der Stadtverwaltung und
straße zum Pirna- mit dem Stellv. Gauleiter (beide waren dem General VON G I L S A unter-
ischen Platz mit der stellt) vorrangig die Bergung der Toten zu bewerkstelligen hatte. Von
Ruine des Geschäfts- Seiten der Stadt war mein Vater, der als Verwaltungsdirektor der Stadt u.
hauses >Kaiserpalast<, a. auch die Baupolizei unter sich hatte, der verantwortliche Mann, Kurz-

'' Brief der Landeshauptstadt Dresden, Stadtverwaltung, Amt für Protokoll und
Auslandsbeziehungen, unterzeichnet von Karin MITZSCHERLICH, vom 3 1 . 7 . 1 9 9 2
an einen Anfrager. Kopie liegt dem Verfasser vor.
International Red Cross Committee, Report of the joint Relief Commission of the
International Red Cross 1941-1946, Genf 1948, S. 104.
8 Svenska Dagbladet 25. 2, 1945,
l Zitiert bei IRVING, Der Untergang Dresdens, Wilhelm Heyne, München I 1 9 7 9 , S . 2 4 1
>

612
um, die Opfer wurden sortiert, verbrannt
und beerdigt, z. T. in Riesen-Urnen. Es wä-
ren 35000 voll identifizierte Opfer mit Na-
mensangabe. 5000 waren teilidentifiziert
(Eheringe mit eingravierten Initialen oder
andere Erkennungszeichen). Auch verbrannt
und gesondert beigesetzt. 168000 Opfer, an
denen es nichts mehr zu identifizieren gab.
Auch diese verbrannt und gesondert beige-
setzt im bzw. am Dresdener Heidefriedhof.
Diese o. a. Zahlen gaben wir auf Verlangen
an HITLERS Todestag oder einen Tag vorher
als von mir abgezeichnete Meldung an den
Führerbunker in Berlin ab.«10
I R V I N G gibt in seiner Monographie als
wahrscheinlichste Zahl 130000 an,'J Noch
während des Krieges erging vom »höheren
Poüzei- und SS-Führer. Der Befehlshaber
der Ordnungspolizei« Dresden, unterzeichnet von G R O S S E , Oberst der Manche Straßen wur-
Schutzpolizei, am 22. März 1945 ein »Tagesbefehl Nr. 47« nach Berlin, den zu »toten Gebie-
worin es heißt: »Bis zum 20. 3. 1945 abends wurden 202 040 Tote, über- ten«, in denen keine
Bergungen mehr
wiegend Frauen und Kinder geborgen. Es ist damit zu rechnen, daß die stattfanden, erklärt
Zahl auf 250000 ansteigen .wird.«11 und abgeriegelt: )n
Die Liste der Zitate ließe sich beliebig erweitern, besonders aus den vielen Luftschutzkel-
Jubiläumsjahren 1995 und 2005. Bundespräsident Roman HERZOG sprach lern entzündeten sich
1995 in Dresden von »mindestens 25000« Menschen, die »in dem Feu- die Brennstoffvorräte,
so daß die Keller
ersturm ums Leben kamen«. 12 Der Historiker Friedrich REICHERT vom
noch Tage nach den
Dresdner Stadtmuseum kam auch auf diese Zahl.13 Angriffen nicht betre-
Dresden hatte 1945 rund 585000 Einwohner. Dazu kamen minde- ten werden konnten.
stens 600000 Flüchtlinge, vor allem aus dem Breslauer Bereich, so daß Aus: Wolfgang
um 1,2 Millionen Menschen Mitte Februar 1945 dort versammelt waren. SCHAARSCHMIDT, Dres-
Eine einfache Überlegung ergibt: In Kassel kamen bei einem Terroran- den, Herbig, Mün-
griff am 22. Oktober 1943 von rund 300000 Einwohnern 48000 um, 16 chen 2005.

Prozent; in Heilbronn am 4. Dezember 1944 gab es bei rund 78000


Einwohnern 6530 Tote, 8,4 Prozent; in Pforzheim am 24. Februar 1945
waren bei 79 000 Einwohnern um 20000 Tote zu beklagen, 39,4 Prozent,

10 Eberhard MATTHES, »Dresden; 35 000 oder 235 000 Opfer?« in: Askama Studien-

sammlung, Nr. 7, Mär?. 1990, S. 18 f.


11 Abschrift beim Verfasser; zitiert auch von Irving, aaO, (Anm. 9), S, 238.
12 Zitiert in; Frankfurter Allgemeine 'Zeitung, 6, 1. 1995.
13 Ebenda.

613
Daß in Dresden mit seinen damals mehr als 1 Million Menschen bei
dem anerkanntermaßen schwersten Terrorangriff des Zweiten Weltkrie-
ges, der drei Tage währte, nur 35000 Menschen, das sind 2,9 Prozent,
ums Leben gekommen seien, ist angesichts dieser Vergleichs zahlen kaum
möglich, das Drei- bis Fünffache ist wahrscheinlich, und das sind mehr
als 100000 Opfer.

Grauenvolle Bilder,
die immer wieder ge-
zeigt werden müssen.

Seit 2005 bemüht sich eine in Dresden eingesetzte Historikerkommis-


sion um die wirkliche Opferzahl.
Ein besonderes Kapitel bei den Terrorangriffen auf Dresden bilden
die Tieffliegerangriffe alliierter Jagdbomber auf die vielen dem Feuer-
inferno durch die Flucht auf die ausgedehnten Elbwiesen entkommenen
14Beitrag Nr. 286, Menschen.14 Von einigen Autoren wie B E R G A N D E R 1 5 werden diese Men-
»Keine Tiefflieger schenjagden einfach abgestritten, obwohl eine ganze Reihe von Aussagen
in Dresden?« glaubwürdiger Erlebniszeugen vorliegt. So hielt Prof. Dr. Egon K U N Z E ,
15 BERGANDER, a a O . der als 14jähriger Jungvolkpimpf bei den Löscharbeiten beteiligt war,
(Anm. 1). fest: »Am Nachmittag des 14, Februar 1945 war ich im Bereich der Baut-
zener Straße, mit Blick über die Elbwiesen zur brennenden Altstadt. Ich
habe noch immer in bedrückender Erinnerung, wie nach dem Bombar-
dement der Altstadt plötzlich viele, viele Jagdflieger - ganze Schwärme,
schätzungsweise etwa 100 bis 300 Jagdflieger — kamen, die sonst als Be-
gleitflugzeuge der Bomberverbände eingesetzt waren, Sie hatten sich of-

614
fenbar von diesen abgesetzt und rasten im Tiefflug über die Elbwiesen,
wobei viele von ihnen gezielt auf flüchtende Menschen schossen, die
sich aus der brennenden Stadt auf die Elbwiesen zu retten versuchten.
Sie schossen dabei nicht nur auf Flüchtlingsgruppen, sondern auch auf
einzelne Flüchtlinge und auch auf Gruppen - teilweise Rote-Kreuz-Grup-
pen —, die versuchten, Schwerverwundete durch schnellen Abtransport
zu retten. Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Tieffliegerangriffe dauer-
ten, ich glaube etwa eine halbe Stunde: Aber diese Menschenjagd war so
grausam, daß ich die Zeit darüber vergessen habe. Ich schätze, daß es
16 Prof. Dr. Egon
mehrere hundert Menschen waren, die dieser abscheulichen Menschen-
KUNZE, Bergisch
jagd zum Opfer fielen.«16
Gladbach, in
Ausgerechnet am 50. Jahrestag des ersten 1000 Bomber-Angriffs im »Zeitzeugen-
Zweiten Weltkrieg - auf Köln -, am 31. Mai 1992, enthüllte die Königin- Bericht« vom 1. 6.
mutter in London eine überlebensgroße Bronzestatue des Luftmarschalls 2006 an die Landes-
H A R R I S . Dieser war der Oberbefehlshaber für die Luftangriffe auf das hauptstadt Dresden,
Reich, auch für den auf Dresden, erfand und entwickelte die »Feuerstür- Stadtarchiv.
me* und bekam wegen der hohen eigenen Verluste den Beinamen >the 17 Bild, 1.6. 1993
Butcher< (Schlächter). Die 91 jährige Queen Mum forderte bei der Denk- 18 Austin APP,
malseinweihung in Anwesenheit der früheren britischen Premiermini- »Dresden, das
sterin THATCHER ihr Volk auf, H A R R I S ' »mit Stolz und Dankbarkeit zu ungeheuerlichste
gedenken«.1 Verbrechen der
Bei der Einweisung der englischen Bomberbesatzungen für den Dres- Menschheitsge-
den-Angriff erklärte der dafür verantwortliche Offizier, »der Hauptzweck schichte«, in:
des Überfalls sei, so viel wie möglich von den Flüchtlingen zu töten, die, National-Zeitung, 13.
2. 1970, S. 9.
wie man wußte, in der Stadt Zuflucht gesucht hatten, und hinter der
Ostfront Panik und Chaos zu verbreiten«. 18 Rolf Kosiek

615
Dresden: Verrat im Spiel?

as furchtbare Schicksal der Barockstadt Dresden gilt bis heute zu


D Recht als der Höhepunkt des Menschheitsverbrechens Bomben-
krieg. Die Opferzahlen der vernichtenden Luftangriffe vom 13./14. Fe-
bruar 1945 lagen wohl zwischen 135000 und 248000 Toten, wobei die
genaue Wahrheit dieser schrecklichen Zahlen wohl nie mehr in Erfah-
rung zu bringen sein wird. Dennoch ist die große Frage, ob es da nicht
noch etwas gibt, was bis heute unausgesprochen blieb.
Einen Hinweis gab hier Luftmarschall Sir Robert SAUNDBY, als er in
seinem Vorwort zu David IRVINGS Buch Der Untergang Dresdens schrieb:
»Das Geschehen ist hochdramadsch und vielschichtig und noch immer
bis ins letzte ungeklärt.« 1 Sir Robert SAUNDBY, der als Vertreter von Luft-
marschall Arthur >Butcher< H A R R I S selbst ein Gegner des Angriffs auf
Dresden war, gab dann deutlich zu verstehen, daß es ihm dabei nicht nur
darum gehe, wer die Verantwortung für den Befehl zur Bombardierung
Dresdens gab. Weder C H U R C H I L L noch H A R R I S wollten in der Nachkriegs-
zeit verantwortlich für den Untergang Dresdens sein.
Die Doppelangriffe auf Dresden in der Nacht vom 13. auf 14. Februar
1945 waren eine der längsten Missionen, die die Royal Air Force (RAF)
im Bombenkrieg über Deutschland jemals durchgeführt hat. Die Entfer-
nung von den Startplätzen in Süd- und Südostengland betrug in der Luft-
linie etwa 2000 Kilometer. Die vorgegebenen Flugrouten sollen einschließ-
lich der befohlenen Ausweichbewegung um die Flakzentren im Ruhrgebiet
auf dem Hinflug 1300 und während des Rückflugs 1400 Kilometer be-
tragen haben. Dies bedeutete, daß die Bomber vom Typ >Lancaster< und
>Halifax< insgesamt zwischen neun und zehn Stunden unterwegs gewe-
sen sein dürften. Daraus ergab sich, daß die Maschinen jeweils mit etwa
10000 Litern Treibstoff betankt werden mußten. Wegen dieses erhöhten
Treibstoffbedarfs konnte nur etwa die Hälfte der Bombenmenge geladen
Von oben: Luftmar- werden, die sonst für den kurzen Flug ins Ruhrgebiet mitgenommen
schall Robert S A U N O B Y , wurde.
C H U R C H I L L S engster
Während ihres Längs trecken flugs waren die Nachtbomber der RAF
Mitarbeiter; Oberst-
leutnant Maurice
durch die deutschen Nachtjäger äußerst gefährdet. Tatsächlich konnte
S M I T H , der den ersten
die deutsche Nachtjagd im Februar 1945 ihre letzten größeren Erfolge
Angriff auf Dresden melden. So gelangen damals erstmals seit langer Zeit wieder perfekte
leitete. F-inschleusungen der deutschen Nachtjäger in den Bomberstrom mit
schweren Verlusten für die angreifenden Engländer. Beim Angriff auf

1 David IRVING, Der Untergang Dresdens, Feuersturm 194 i, Arndt, Kiel 2006, S. 124,

S. 127, 151-154 u. 175-179.

616
Worms zum Beispiel schossen acht deusche Besatzungen innerhalb von Karte der alliierten
29 Minuten 21 englische Viermotbomber ohne Eigenverluste ab. Nachteinsätze vom
In der Nacht zum 13. Februar 1945 war jedoch alles anders. Obwohl 13./14. Februar
1945.
die 244 Viermotbomber der ersten Angriffswelle auf Dresden von den
Radarketten innerhalb des Reiches erfaßt wurden, bestand für die deut-
schen Nachtjäger Startverbot. Benzinmangel und die schlechten Wetter-
verhältnisse werden heute dafür angeführt.
Eine Falschmeldung über den Absprung von 1000 Fallschirmjägern
westlich von Dresden verursachte weitere Unruhe. Danach hat sich Un-
vorstellbares abgespielt:
Auf dem Flugplatz Dresden-Klotzsche lag eine ganze Nachtjägerstaf-
fel (V/NJG.5), die aber erst um 21 Uhr 55 einen Startbefehl bekam, als
die alliierten Bomber bereits ihre Zielmarkierung abgeworfen hatten. Um
auf Angriffshöhe zu kommen, hätten die zweimotorigen >Messerschmitt<-
Nachtjäger mehr als eine halbe Stunde über dem eigenen Flugplatz krei-
sen müssen, der nur 8 Kilometer von Dresden entfernt lag. Nur 5 >Mes-
serschmitt< BF-110 durften starten.
In ganz Deutschland waren am Ende nur 27 Nachtjäger aufgestiegen,
um den mächtigsten Luftangriff der Geschichte abzuwehren, diese wur-
den aber von ihrer Leitung von Funkfeuer zu Funkfeuer gehetzt und
mußten schließlich landen, ohne Feindberührung bekommen zu haben.
Die Masse der deutschen Nachtjäger blieb angeblich wegen »schlechter
jagdbedingungen< am Boden und mußte voller Wut mit ansehen, wie die

617
Links: Bombenein- Feindverbände weit aufgelockert über ihre Flugplätze nach Westen ab-
schläge und begin- flogen."
nende Flächenbrän-
de. Rechts: Der
Dresden war ohne irgendwelche Flakabwehr eine offene Stadt. Viele
Feuersturm, wie ihn der >Lancaster<-Besatzungen waren fast beschämt darüber, daß es keinen
die RAF-Piloten aus Widerstand gab, und neugierig kreisten viele englische Flugzeugbesat-
5 Kilometern Höhe zungen mehrmals freiwillig über der brennenden Stadt.
sahen. Beide Abbil- Nach dem Abflug der ersten Welle sollte ein neuer Bomberstrom von
dungen: Luftaufnah-
529 >Lancaster< Dresden um 1 Uhr 30 angreifen und das Zerstörungs-
men der RAF.
werk vollenden. Der Flugzeugpulk überquerte die Front an einem Punkt
etwa 50 Kilometer nördlich von Luxemburg, und obwohl nun das Ziel
klar war, mußte die deutsche Nachtjagd wiederum tatenlos zuschauen.
Auch die Besatzungen in Dresden-Klotzsche saßen abflugbereit in ihren
BF-110, als die Meldung von einem weiteren über Mitteldeutschland in
südliche Richtung anfliegenden Verband über den normalen Drahtfunk
kam. Es war klar, daß der zweite Angriff ebenfalls Dresden galt. Was
nun geschah, war ungeheuerlich. Um 0 Uhr 30 wurden die Randbefeue-
rung und die Leuchtfeuer des Flugplatzes eingeschaltet, so daß die Um-
risse der über hundert dort abgestellten Flugzeuge hell angestrahlt wur-
den. 18 voll getankte und munitionierte >Messerschmitt<-Nachtjägcr waren
diesmal startklar, munitioniert und voralarmiert. Sie hätten mehr als ge-
nug Zeit gehabt, die Angriffshöhe zu erreichen. Aber es verstrichen 10,
20, 30 Minuten nach dem ersten Alarm, und immer noch wurde keine

2 Franz KUROWSKI, Bomben über Dresden, Tosa, Wien 2(X)1, S. 80.

618
Startfreigabe erteilt. Der Fliegerhorst-Kommandant erklärte als Begrün-
dung, daß ein Transporter verband aus dem damals von sowjetischen Trup-
pen belagerten Breslau erwartet wurde und daß deshalb die Leuchtpfade
eingeschaltet werden mußten und ein Startverbot für die Nachtjäger be-
stand. Die Leuchtpfade des Flugplatzes wurden ein- und ausgeschaltet,
als ob man die darüber hinwegbrummenden britischen Maschinen zum
Angriff auffordern oder ihnen ein Zeichen geben wollte. Der überaus
starken nervlichen Belastung waren viele Techniker nicht gewachsen, sie
ließen ihre Anlaßgeräte für die Maschinen im Stich und suchten Schutz.
Merkwürdig war, daß der Flugplatz jedoch mit keiner einzigen Bombe
angegriffen wurde. Schließlich kletterten die Piloten der deutschen Nacht-
jäger aus ihren Kabinen, ohne zum Einsatz gekommen zu sein. Der Flie-
gerhorst-Kommandant erklärte, er habe keine Verbindung mit Berlin-
Döberitz bekommen, um die Genehmigung für den Alarmstart seiner
Staffel einzuholen. Er begründete es damit, daß die Telefonverbindun-
gen durch Dresden unterbrochen und aus »irgendeinem Grund« auch
die Kurzwellenverbindung zwischen Döberitz, dem Stab der ersten Jagd-
division, und dem Flugplatz gestört gewesen sei. Für die Piloten war
völlig klar, daß hier Sabotage vorlag.3
So kam es, daß der Doppelangriff auf Dresden zu den erfolgreichsten
in der Geschichte des R AF-Bomberkommandos zählt. Der riskante An-
griff, der am weitesten nach Deutschland hineinreichte, war mit einer
Verlustquote von weniger als 0,5 Prozent durchgeführt worden. Nur 6
von 1400 Maschinen gingen verloren, 10 mußten wegen Treibstoffman-
gels auf dem Kontinent landen.
Das Drama beim Ausbleiben des Nachtjägereinsatzes auf Dresden in
der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 erinnert an Vorgänge in der
Normandie vom Sommer 1944,4 Auch damals hatte man in der Invasions-
nacht die deutschen Nachtjäger ziellos von Funkfeuer zu Funkfeuer hin
und her fliegen lassen, ohne daß auch nur einer gegen die empfindlichen
Lastenseglertransporte der RAF zum Einsatz gekommen wäre. Und als
die RAF die Stadt Le Havre angriff, um die für die Invasionsflotte gefahr-
lichen deutschen Schnellboote auszulöschen, hatte man der deutschen Flak
an diesem Abend Schießverbot erteilt, weil angeblich deutsche Nachtbom-
ber über die Stadt hinweg zu fliegen planten, um die alliierte Flotte anzu-
greifen. Die angekündigten deutschen Flugzeuge flogen aber genauso we-
nig über Le Havre hinweg, wie die Transporter aus Breslau in Dresden
während des Angriffs in der Nacht zum 14. Februar landeten.

3 Gebhard ADERS, Geschichte der deutschen Nachtjagd 1917—45, Motorbuch, Stutt-


gart 1977, S. 124, 127, 151-154,175-178 u, 195.
4 Friedrich GEORG, Verrat in der Normandie, Grabert, Tübingen '2007, S. 61 f.

619
Dies würde aber eine Vorkenntnis der alliierten Angriffs plane gegen
Dresden auf deutscher Seite voraussetzen. Hat Sabotage auf deutscher
Seite eine unheilvolle Rolle am Tod von über hunderttausend unschuldi-
gen Bomben opfern gespielt?
Tatsächlich meldete die Nachrichten agentur A Paus Dresden im Jahre
2005, daß ein neues Dokument entdeckt worden sei, das vom Militärhi-
5 http:// storischen Museum der Bundeswehr als »sensationell« eingestuft werde.5
de. news.y ah oo.com/ AP schrieb: »Wie der Leiter des Museums, Franz-Josef HEUSER, am Don-
050210/12/ nerstag in Dresden auf AP-Anfrage mitteilte, handelt es sich um den
LeswO-html Brief eines deutschen Soldaten an seine Eltern, in dem dieser schon im
(AP-Meldung). Vorfeld den genauen Zeitpunkt der Angriffe, den 13. Febr. 1945, nannte.
Aufgrund der Warnung des Soldaten hätten seine in Dresden lebenden
Eltern die Stadt rechtzeitig verlassen und sich so in Sicherheit bringen
können. Nach Angaben von H E U S E R , der damit zugleich einen entspre-
chenden Bericht der Bild-Zeitung bestätigte, wurde der Brief im )ahr
2004 bei der Vorbereitung zu der Ausstellung »Sachsen im Bombenkrieg
- Zeitzeugnisse< entdeckt. In diesem Brief vom 1. Febr. 1945 schrieb der
Soldat Günther B R Ü C K N E R : >ES wird behauptet: Am 13. Febr. 1945 soll
ein zweiter Angriff auf Dresden sein.< (Anmerkung. Es hatte schon vor-
her kleinere Zufallsangriffe auf Dresden gegeben, F. G.). Der Brief der
Ausstellung sei von der Mutter des Soldaten, die ihn aufbewahrt habe,
übergeben worden, betonte H E U S E R : >Wir haben ihn von Kriminaltech-
nikern des Sächsischen Landeskriminalamts (LKA) untersuchen lassen,
um eine Fälschung und damit einen Mißbrauch auszuschließen. In dem
LKA-Gutachten werde bestätigt, daß der Brief tatsächlich aus jener Zeit
stammen«
Wie die Zeitung berichtete, hat BRÜCKNER seinen Informanten,
einen Unteroffizier, in Stenoschrift genannt. Der Soldat sei Anfang 1945
auf dem Kampfgeschwaderflugplatz Eggebeck bei Flensburg stationiert
gewesen. Dieser sei einer der wichtigsten und zugleich geheimsten Flie-
gerhorste der deutschen Luftwaffe gewesen. Auf dem Flugplatz waren
65 Aufklärungsmaschinen vom Typ Junkers >Ju 88< stationiert. Diese Ma-
schinen hätten Abhörantennen gehabt und seien so in der Lage gewesen,
die Alliierten zu belauschen. Die Flieger seien so in der Lage gewesen,
Hinweise auf den bestehenden Angriff auf Dresden zu hefern, schrieb
das Blatt weiter. Nach Angaben HEUSERS sollte der Brief vom Militärge-
schichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Potsdam untersucht und
wissenschafdich eingeordnet werden. Bis heute hat niemand etwas von
diesem Brief gehört. Wahrscheinlich ist dem Forschungsamt der Bun-
deswehr in Potsdam die Einordnung und Auswertung des Briefs zu hei-
kel geworden, denn dies würde bedeuten, daß Teile der deutschen Luft-
waffe im voraus vom Angriff auf Dresden informiert waren, sie diese

620
Erkenntnis aber nicht nur nicht weitergegeben haben, sondern statt des-
sen mit diesem Vorwissen den Einsatz der eigenen Kräfte gegen die alli-
ierten Bomber sabotierten. Wurden den Alliierten mit dem Ein- und Aus-
schalten der Flugplatzbefeuerung sogar Zeichen gegeben?
Tatsächlich gab es nach Aussagen von M E S S E R S C H M I T T S Finanzberater
nach dem Krieg eine weit verzweigte Verschwörung in der Luftwaffe, die
nie aufgedeckt wurde. 6 6 GP.ORG, a a O .

( A N M . 4 ) , S. 1 4 9 .
Es dürfte unstrittig sein, daß bei einer möglichen Ausnützung der Vor-
kenntnis des Angriffstermins Dresden unendliches Leid erspart geblie-
ben wäre. Statt dessen wäre es möglich gewesen, dem RAF-Bomber-
kommando eine vernichtende Niederlage zuzufügen.
Im Februar 1945 war die Nachtjagd im Gegensatz zu anderen Teilen
der deutschen Luftwaffe immer noch eine furchterregende Waffe.
Der Traum eines jeden Nachtjägers war, im voraus über einen geplan-
ten Angriff Bescheid zu wissen. Im Frühjahr 1944 waren schon einmal
den Deutschen einige RAF-Einsätze vorher bekannt, die ihren Höhe-
punkt im Angriff auf Nürnberg vom 31. März 1944 fanden. Diese Nacht
wurde auch später als »schwarzer Freitag« des RAF-Bomberkommandos
bekannt. Was als Routine-Angriff begonnen hatte, war zur Katastrophe
geworden, denn von 795 englischen Viermotbombern, die sich auf den
langen Weg nach Deutschland gemacht hatten, waren am Ende 94 nicht
mehr zurückgekehrt, 12 bei der Landung in England abgestürzt, und 59
weitere Maschinen hatten so schwere Schädigungen erlitten, daß man sie
7 Alastair REVIE,
verschrotten mußte." Dies bedeutete den Ausfall von 20,8 Prozent der
eingesetzten Flugzeuge und 11,8 Prozent Personalverlust in einem einzi- . . . war ein verlorener
gen Einsatz. Die Folge war eine mehrmonatige Pause der RAF-Luftan- Haufen, Motorbuch,
Stuttgart 1974,
griffe auf Deutschland. S. 9 f.
Das gleiche hätte den RAF-Nachtbombern 1945 über Dresden wie-
der gedroht. Auch hätte man die Stadt rechtzeitig von Flüchtlingen räu-
men können und so aller Wahrscheinlichkeit nach die Todesopfer durch
die unweigerlichen Streubombenwürfe einer geschwächten RAF auf ein
Minimum verringert.
Nun wird klar, was Vizemarschall S A U N D B Y am Anfang angedeutet hat.
Leider sind die Unterlagen der deutschen Luftwaffe zu den Vorgängen
im Jahre 1945 zerstört oder immer noch hinter alliierten Panzerschrank-
türen versteckt.
Es sieht aber ganz danach aus, daß die Verantwortung für das Blut der
Bombenopfer von Dresden nicht nur an den Händen von RAF-Luft-
marschall Arthur H A R R I S oder Sir Winston C H U R C H I L L , sondern auch an
denen von bis heute unbekannten deutschen Luftwaffenoffizieren klebt.
Friedrich Georg

621
Gefangenen-Erschießungen
bei der Geiselberger Mühle

uf die gegen Ende des Krieges von den Alliierten oft verübte völ-
A kerrechdich verbotene Erschießung von Kriegsgefangenen wurde
schon in mehreren Beiträgen hingewiesen. 1 Ein weiteres bezeichnendes
Beispiel sei mit dem Bericht über die Erschießungen bei der Geiselber-
ger Mühle in der Pfalz am 21. März 1945 angeführt, der sich auf eine
1 Siehe Beiträge Darstellung der Familie B E N K E L stützt,2 die die Dorfchronik von Steinal-
Nr. 290-300. ben einsah und mit einem Überlebenden sprach.
2 Martina u. Uwe Im März 1945 zog sich die 17, SS-Panzergrenadierdivision >Götz von
BENKEL, »Die Berlichingen< kämpfend durch die Pfalz zurück. Am 20. März kamen
Erschießungen bei deutsche Soldaten dieser Einheit, aber auch andere, auf dem Weg von
der Geiselberger der nordwesdich gelegenen Sickinger Höhe zum Rhein in das Dorf Stein-
Mühle am 21. März alben, das rund 12 Kilometer nördlich von Pirmasens liegt. Einen Tag
1945«, in: Der
Freiwillige, Nr. 12, später stieß überraschend die amerikanische 90th Cav. Ree. Squadron Tr.
2006, S. 16 f. B als Vorhut der 10. US-Panzerdivision von Norden bis zu dem Dorf
vor. Die vom Rückmarsch erschöpften und ermüdeten deutschen Solda-
ten versteckten sich mit der Zivilbevölkerung in den Kellern des Ortes.
Neun Soldaten wurden von den Amerikanern beim Durchsuchen der
Häuser entdeckt oder ihnen verraten, Sie mußten dann nach ersten Miß-
handlungen und Raub ihrer Auszeichnungen auf der heutigen B 270 vor
einem Panzerspähwagen herlaufen und wurden so zur rund drei Kilome-
ter entfernten Geiselberger Mühle getrieben. »Am Straßengraben, kurz

Ein Soldat der ¡Götz


von Berlichingen< im
März 1945 mit Pan-
zerfaust 60 und
Handgranaten.

622
vor der Abzweigung nach
Geiselberg, müssen die
Männer ihre Kleidung ab-
legen. Die Soldbücher und
Erkennungsmarken wer-
den ihnen entrissen und
auf den Boden geworfen.
Man führt sie über eine
Wiese, etwa 30 bis 40 Me-
ter bergauf, zu einem klei-
nen Wäldchen.« Sie muß-
ten sich hinknien, und
dann feuerten die drei
Amerikaner, die hinter ih-
nen standen, ihre Magazi-
ne auf sie leer.
Sechs der Deutschen
waren sofort tot, drei über-
lebten schwerverletzt.
Nach dem Verschwinden
der Amerikaner, die von
einem Vorgesetzten dann wegen ihrer eigenmächtigen Tat gerügt wur- Der Soldatenfriedhof
den, konnten sich die Schwerverwundeten auf einem Waldweg nach dem Dahn, auf dem die
rund 10 Kilometer entfernten Waldfischbach schleppen, wurden von dort bei der Geiselberger
nach Heltersberg gewiesen, wo sie erste Versorgung bekamen. Zumin- Mühle erschossenen
Soldaten der >Götz
dest zwei von ihnen überstanden mit viel Glück die folgende Zeit. Einer von Berlichingen<
von ihnen, Heinz S C H W A R Z , berichtete später darüber. Unter falschem bestattet sind.
Namen lebte er dann in der Pfalz und kam jedes Jahr zum 21. Marz zum
Soldatenfriedhof Dahn, wo seine erschossenen Kameraden später ihre
letzte Ruhestätte fanden. Deren Leichen lagen noch zwei Wochen nach
der Hinrichtung im Wald, bevor man die Erlaubnis erhielt, sie zu bergen.
Im Jahre 1955 wurde von der deutschen Staatsanwaltschaft ein Er-
mitlungsverfahren wegen dieser Morde eingeleitet. Das Verfahren wur-
de jedoch eingestellt, da alle Untersuchungen durch das amerikanische
Militär durchgeführt wurden, das die Täter für ihr Verbrechen nicht zur
Rechenschaft zog. Die Namen der Erschossenen lauten Franz Seraph
H I L B E R T , Kornelius J A N S E N , Georg P E S C H K A , Erwin S C H U B E R T , Friedrich
SCHWENK und Ferdinand W A S L A W S K I . Rolf Kosiek

623
Deutsche Gefangene auf Insel Rab eingemauert

ie im Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien völkerrechtswidrig kämp-


Dfenden TITO-Partisanen, die dennoch durch die Alliierten unterstützt
wurden, haben, insbesondere auch nach Ende des Krieges, I Iunderttau-
sende Deutscher hingemordet, sowohl gefangene Soldaten als auch nicht
1 Beitrag Nr. 230,
geflüchtete Volksdeutsche.1 Dennoch wurde T I T O von Bundespräsident
»Verbrechen der H E I N E M A N N ZU einem Besuch der Bundesrepublik im Juni 1 9 7 4 eingela-
Tito-Banden«; den sowie ehrenvoll aufgenommen. Die bundesdeutsche Regierungsspitze
Johann Georg
REISSMÜLLER, » A m
mit Bundespräsident Karl C A R S T E N S war sich nicht zu schade, im Jahre
schlimmsten war es 1980 Tito durch ihre Teilnahme an seinem Begräbnis zu ehren. Die bundes-
in Jugoslawien«, in: deutsche Presse lobte jeweils den Massenmörder an Deutschen mit gro-
Frankfurter ßen Worten.
Allgemeine Zeitung, Ein besonders grausames, heute weithin vergessenes Massaker an Deut-
31. 10. 1990. schen in Jugoslawien ereignete sich im Mai 1945 auf der heute von Tou-
risten, auch vielen Bundesbürgern, gern besuchten Adrja-Insel Rab. Mehr
als vierzigJahre nach dem damaligen Geschehen gab im Jahre 1986 ein
in Kanada lebender ehemaliger Angehöriger von T I T O S Partisanen an,
daß im Mai 1945 sich auf der Insel Rab rund 3500 deutsche Soldaten
ergeben hätten. Er teilte dann wörtlich mit: »Diese Kriegsgefangenen
wurden von den Partisanen auf alle mögliche Art gefoltert und gequält.
Danach wurden sie in einen Bunker geführt, der noch aus der Zeit des
Königreiches Jugoslawien stammte. Man band ihnen die Hände mit Draht
auf den Rücken und mauerte den Eingang zu. Die Türen wurden zube-

ln einem Hinterhalt
liegende Tito-Partisa-
nen. Dem britischen
Premierminister C H U R -
CHILL hatte TITO sehr
viel zu verdanken, da
der Brite Ende 1943
beschlossen hatte, Mi-
HAILOVIC fallenzulassen
und die gesamte alli-
ierte Hilfe der kom-
munistisch gesteuer-
ten > Nationalen
Befreiungsarmee< zu-
kommen zu lassen.

624
toniert. So starben alle diese Deutschen in dieser gewaltigen Grabkam- Einer der Sühnemär-
mer. Das Grab befindet sich in einem mit Fichten bewachsenen Hügel sche in Jugoslawien.
unweit des Hotels >Imperiak Ich halte es nach so vielen Jahren für meine
Pflicht, an dieses Verbrechen zu erinnern, das noch keinen Namen trägt.«2
In Istrien sollen deutsche Gefangene von T I T O S Partisanen lebend in
die Karsthöhlen geworfen worden sein.
Über andere Schicksale der knapp 200000 deutschen Soldaten, die
den jugoslawischen Partisanen in die Hände fielen, berichten CAREI.I. und
BÖDDEKER in ihrer Monographie 3 mit vielen Zitaten aus der regierungs-
amtlichen Dokumentation über die deutschen Kriegsgefangenen. 4
Die Leiden und Verfolgungen der Volksdeutschen in Jugoslawien wer-
den in der vierbändigen Dokumentation der Donauschwaben beschrie-
ben.5 " Rolf Kosiek
3 »Ungesühntes Kriegs verbrechen«, in: Der Republikaner, Nr. 3,1986.
J Paul CARELL U. Günter BÖDDEKER, Die Gefangenen, Ullstein, München 1 9 8 0 ,
Kapitel »Sühnemärsche in Jugoslawien«, S. 2 0 0 — 2 1 6 .
4 Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte,
Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, 15 Bde., Mün-
chen 1962- 1974, insbesondere Bd. 1/1 u. 1/2: Kurt W. BÖHME, Die deutschen
Kriegsgefangenen in Jugoslawien, München 1962/64.
5 Donau schwäbische Kulturstiftung (Hg,), Leidensweg der Deutschen im kommuni-

stischen Jugoslawien, 4 Bde., Donau schwäbische Kulturstiftung, München 1991—


94.

625
Zur Vertreibung der Ungarndeutschen

eben der Vertreibung der Ostdeutschen aus den 1945 von der So-
N wjetunion und Polen annektierten deutschen Ostprovinzen wurden
auch viele Volksdeutsche aus ihren seit Jahrhunderten besiedelten Hei-
matgebieten in Ost- und Südosteuropa vertrieben. Insbesondere wurden
225 000 der rund 477 000 Ungarndeutschen, die sich in der Volkszählung
vom 21. Dezember 1941 als »Volksdeutsche* bekannt hatten, in den er-
sten drei Jahren nach Kriegsende von Haus und Hof außer Landes ver-
jagt. Entschuldigend wird bis heute oft von ungarischer Seite angeführt,
daß diese Maßnahme von der alliierten Konferenz in Potsdam vom 17.
Juli bis 2. August 1945 beschlossen oder von der Sowjetunion befohlen
worden sei. Manche behaupten auch, diese Vertreibungen seien vor al-
1 Zum Beispiel in: lem von den ungarischen Kommunisten durchgesetzt worden.1
Innenministerium Doch das war nicht der Fall. Richtig ist, daß die damalige ungarische
Baden-Württem- Regierung für diese gegen das Menschen- und Völkerrecht verstoßende
berg (Mg.), Ausstel- Vertreibung verantwortlich war, sie aus nationalstaatlichen Gründen ge-
lungskatalog Die plant und durchgeführt hat und daß auch die verschiedenen ungarischen
Donauschwaben.
Deutsche Siedlung in Parteien die Enteignung und Vertreibung der Deutschen damals forder-
Südosteuropa, Tübin- ten und unterstützten.
gen 1989.
2 In einem ganzseitigen Artikel in der FAZ 2 hat Reinhard OLT als Ost-
experte der genannten Zeitung die Vorgeschichte und den wesentlichen
2 Reinhard Oi.T,
Ablauf dieses Vorganges zusammengefaßt.
»Das deutsche
Geschwür im Danach wurde nach ausführlichen Beratungen innerhalb der ungari-
Körper der Nati- schen Regierung und mit den Parteien am 26. Mai 1945 offiziell eine
on«, in: Frankfurter Note an die Sowjetunion gerichtet, in der es hieß: »Die ungarische Regie-
Allgemeine Zeitung, 9. rung ist zu dem Entschluß gelangt, daß es notwendig ist, jene Deutschen,
9. 2006, S. 37. die die Sache Ungarns verrieten und in den Dienst H I T L E R S traten, aus
dem Lande zu entfernen, weil nur auf diese Weise sicherzustellen ist, daß
der deutsche Geist und die deutsche Unterdrückung nicht mehr darin
Herr werden.« Moskau wurde dann um das Einverständnis gebeten, die
zu entfernenden 200000 bis 250000 Deutschen in das Restdeutschland
auszusiedeln. Die Vertreibung der Ungarndeutschen ging also von Buda-
pest, nicht von Moskau, aus und wurde bereits vor der Potsdamer Kon-
ferenz im Juli 1945 eingeleitet.
Die von der ungarischen Regierung geplante Vertreibung der »Schwa-
ben* wurde in der Verordnung Nr, 12330 im Ungarischen Staatsanzeiger
(Magyar Közlöny) Nr, 211 vom 29. Dezember 1945 veröffentlicht. Es heißt
darin zwar unter anderem: »Aufgrund des Beschlusses der Regierung und
der Alliierten Kontrollkommission vom 20. November 1945 über die
Umsiedlung der deutschen Bevölkerung Ungarns nach Deutschland wird

626
verfügt: Zur Umsiedlung sind jene ungarischen Staatsbürger verpflich-
tet, die sich anläßlich der letzten Volkszählung zur deutschen Nationali-
tät oder Muttersprache bekannt haben oder die ihren magyarischen Na-
men wieder in einen deutsch klingenden umändern ließen, ferner
diejenigen, die Mitglied des Volksbundes oder einer bewaffneten deut-
schen Formation (SS) waren.« Aber unberechtigt bezog sich die ungari-
sche Regierung dabei auf die Alliierten und auf die Potsdamer Konfe-
renz.
Das Vorhaben der Ungarn überraschte damals nämlich auch die West-
alliierten, als es dem zuständigen US-Generalmajor KEY und dem briti-
schen Generalmajor E D G C U M B E auf der Sitzung der Kontrollkommis-
sion am 16. Juni 1945 von ihrem sowjetischen Kollegen Marschall
W O R O S C H I L O W vorgelegt wurde. Auf der Sitzung der Kommission am
25. Januar 1946 protestierte KEY gegen die Formulierung, daß die Ver-
treibung »auf Weisung der Siegermächte« oder »auf Anordnung der Al-
liierten Kontrollkommission« erfolge und setzte statt dessen »mit Ge-
nehmigung« der Alliierten durch. W O R O S C H I L O W stimmte dem zu und
erklärte bei dieser Gelegenheit, »daß die Deportation das Ergebnis eines
von der ungarischen Regierung gestellten Antrags« sei und nicht auf
Wunsch oder Druck von Moskau erfolge.
Zum anderen waren für die Vertreibung nicht in erster Linie die Kom-
munisten verantwortlich. Denn zwischen 1945 und 1947 waren vor al-
lem nationale Parteien in Budapest an der Macht. Unter den sechzehn
Ministern der ersten Nachkriegsregierung waren nur vier Kommunisten.
Vor allem die ungarische Nationale Bauernpartei rief gegen die »Schwa-
ben* - so wurden die Deutschen genannt - und zu deren Enteignung auf.
Ihr Generalsekretär Imre K O V A C S erklärte auf einer Versammlung schon
Links: Der junge
Generalsekretär der
ungarischen Nationa-
len Bauernpartei,
Imre K O V A C S ( 1 9 1 3 -
1 9 8 0 ) , setzte sich für

die Enteignung und


Vertreibung der
¡Schwaben* stark ein.
Oben: der Stalinist
Matyas R A K O S I
( 1 8 9 2 - 1 9 7 1 ) .

627
am 7. April 1945: »Endlich kann Ungarn sein Verhältnis zu Deutschland
und zu den Schwaben bereinigen. Die Schwaben haben sich selber aus
dem Körper der Nation herausgerissen und in allen ihren Taten bewie-
sen, daß sie mit HitleR-Deutschland fühlen. Nun sollen sie auch Deutsch-
lands Schicksal tragen. Wir werden sie aussiedeln.« Im Parteiorgan der
Kleinlandwirte Kis Ujsag hieß es am 18. April 1945, das »deutsche Gift«
müsse entfernt, das »deutsche Geschwür aus dem nun heilenden Körper
der Nation herausgeschnitten werden«. Als die Kommunisten 1948 die
Macht übernahmen, gab es sogar erste Erleichterungen für die zurück-
gebliebenen Deutschen. 1 9 5 0 hob der Stalinist Matyas R A K O S I die von
den Vorgängerregierungen gegen die im Lande verbliebenen Deutschen
erlassenen Gesetze auf.
Die Durchführung der Vertreibung der Ungarndeutschen begann am
19. Januar 1946 mit dem gewaltsamen Abtransport einer ersten Gruppe
aus dem Budapester Vorort Wudersch (Budaörs), dessen Bewohner zu
mehr als 85 Prozent aus Deutschen bestanden. In Zügen mit Viehwag-
gons wurde jeweils rund 1000 Menschen in mehrwöchiger Reise ohne
Proviant in die amerikanische Zone Deutschlands abgeschoben, wo bald
US-General Lucius GAY gegen die unmenschliche Behandlung der Ver-
triebenen protestierte und sich schließlich weigerte, noch mehr der ar-
men Menschen in seine Zone aufzunehmen, in die schon viele Sudeten-
deutsche gekommen waren. Nach seinen Angaben kamen 168000
Ungarndeutsche in die amerikanische Zone bis zum 1. Dezember 1946,
als er die Aufnahme beendete. Bis zum Sommer 1948 wurden dann noch
einmal über 50000 »Schwaben« aus Ungarn in die Sowjetzone vertrieben,
von wo viele anschließend nach Westdeutschland gingen, ein Teil dann
nach Amerika auswanderte. Parallel dazu waren rund 64000 Deutsche
aus Ungarn in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit verschleppt worden,
von denen dort 16000 umkamen. Insgesamt wurden 225000 »Schwaben«
vertrieben.
Nach dem Umschwung im Osten hat sich 1990 das erste freigewählte
ungarische Parlament offiziell für das Verbrechen der Vertreibung ent-
schuldigt, und das Verfassungsgericht in Budapest hob alle Bestimmun-
gen auf, die zur Grundlage der Vertreibung dienten. Im Jahre 1993 wurde
für Ungarn ein Minderheitengesetz verabschiedet, das Selbstverwaltung
auch für die Ungarndeutschen einführte, so daß es ihnen heute als Volks-
gruppe besser geht als etwa den die Mehrheit des Landes stellenden Deut-
schen im Elsaß. Rolf Kosiek

628
>Operation Weichsel<.
Die polnische Vertreibung der Lemken

n Prospekten deutscher Reiseunternehmen 1 findet sich der Hinweis,


I daß die in den polnischen Karpaten ansässige ukrainische Volksgrup-
So in: Die Landpar-
tie, Radeln und
pe der Lemken (polnisch: Lemki) in der Folge des Zweiten Weltkriegs Reisen, 25438
einem Völkermord zum Opfer gefallen sei. Der deutsche Leser — meist Tornesch 2003.
schuldbewußt - meint dann sofort, daß hier wieder sein >Tätervolk< Ver-
brechen begangen habe. Das trifft jedoch nicht zu. Mit Rücksicht auf
Warschau verschweigt die deutsche Touristikbranche, daß hier die Polen
ein weiteres, wenig bekanntes Vertreibungsverbrechen begingen, und zwar
an Ukrainern, 2 Or set Subtelny,
Die Tatsachen sind:2 In den unteren Beskiden, dem nördlichen, polni- Ukraine - a History,
schen Zweig der Karpaten, siedelten seit langem die Lemken, ein zum University of
ukrainischen Volk gehöriger Stamm mit griechisch-katholischer Religion Toronto Press,
und altem Brauchtum, der vor allem als Viehzüchter tätig war. Während Toronto 1994;
des Zweiten Weltkrieges kämpften ukrainische Partisanen für die Unab- Adalbert LHWAN-
DOWSKI, Umbruch
hängigkeit ihres Volkes, die 1918 für kurze Zeit bis 1921 bestanden hatte.
und Kontinuität,
Ihre wichtigsten Organisationen waren die UPA und die OBN, deren
Kovac, Hamburg
Gegner sowohl die Sowjets als auch die Deutschen während der Besat- 2000.
zungszeit waren. Nach 1945 kämpften die ukrainischen Patrioten im
Untergrund weiter gegen Polen und Russen, wobei sie von britischen
und amerikanischen Geheimdiensten unterstützt wurden. Sie unterhiel-
ten auch Verbindungen zu den >Waldbrüdern< im Baltikum, die ebenfalls
als Partisanen sich gegen die sowjetischen Besatzer noch jahrelang nach
Kriegsende wehrten.
Ein wichtiges Ziel der UPA war die Verhinderung von Deportationen
in die Sowjetunion als Folge des polnisch-sowjetischen oder polnisch-
ukrainischen Abkommens und des Bevölkerungsaustausches im Zusam-
menhang mit der Rücknahme des 1921 im polnischen Angriffskrieg er-
oberten >Ostpolens< durch Moskau. Maßnahmen dazu waren die
Zerstörung des sowjetischen Verwaltungsapparats, Sabotage und die Ver-
breitung antisowjetischer Propaganda. NKWD-Offiziere, KP-Parteimit-
glieder und Kollaborateure wurden dabei auch ermordet.
Polens Bestreben nach 1945 war hingegen die Errichtung eines ein-
heitlichen Nationalstaates und die Beseitigung der seit Jahrhunderten
bestehenden Spannungen mit den Ukrainern auf seinem Boden. Daher
nahm es von Oktober 1944 bis August 1946 die Gelegenheit wahr, die
meisten Ukrainer aus seinem Land in die Sowjetunion zu deportieren.
Mehrere polnische Divisionen vertrieben insgesamt 486000 Ukrainer aus
dem neuen östlichen Polen mit barbarischen Methoden einschließlich

629
Vergewaltigungen, zunächst nach Osten. Das Gebiet südlich von Gorlice,
die Heimat der Lemken im südöstlichen Polen, war bis 1947 weitgehend
von den Umsiedlungen ausgenommen.
Am 23. März 1947 ermordete die
UPA den polnischen General Ka-
rol S W I E R C Z E W S K I , Dies benutzte
Warschau als Vorwand, gegen die
noch in Polen verbliebene Volks-
gruppe der Lemken die »Operation
Weichsel« durchzuführen, weil sie
die UPA-Freiheitskämpfer verpflegt
und ihnen Unterschlupf gewährt
hatten. Gemäß der damals gelten-
den Kollektivschuld these bezeich-
nete man sie als »Handlanger der
ukrainischen Separatisten«, als Ban-
diten und Terroristen.
Das Präsidium der polnischen
Ministerrats beschloß am 24. April
1947 die Deportation der Lemken,
die der General Stefan M O S O R mit
sechs Divisionen und sieben Regi-
mentern durchführte. Den Zwangs-
umsiedlern blieben nur wenige
Stunden Zeit, um ihre Habe auf
Leiterwagen zu packen. Wer sich zur
Denkmal des Wehr setzte, wurde von den eskortierenden Soldaten erschossen. Auch
polnischen Generals auf der Rampe von Auschwitz fand eine Selektion statt. Nach dem Ver-
Karol SWIERCZEWSKI in hör wurden 4000 Personen im KZ Jaworzno, einem Nebenlager von
Jablonki neben
dem Berg Walter.
Auschwitz, ohne Gerichtsbeschluß eingesperrt, Bauern, Lehrer, Priester,
Ob UPA-Aktivisten Ärzte, Rechtsanwälte, Frauen, auch Schwangere und Kinder. In den er-
tatsächlich für den sten Monaten starben 163 Häftlinge infolge von Folter, Mißhandlungen,
Tod des Generals Hunger und Seuchen.
verantwortlich wa- Insgesamt wurden 150000 Lemken bei der »Operation Weichsel« aus
ren, ist nach wie vor
umstritten.
ihrer Heimat gerissen, und nicht nach Osten, wie vorher die anderen
Ukrainer, sondern nach Westen in die »wiedergewonnenen Gebiete« (Ost-
deutschland) transportiert, auf Schlesien, Pommern, Danzig und Ost-
preußen verteilt. Da keine Dokumente vorhanden sind, kann niemand
die genaue Zahl der Todesopfer dieser Maßnahme angeben. Es gibt ein
Dokument des verantwortlichen Generals Mossor, das Belohnung für
Personen aussetzt, die »Banditen« töten oder gefangen nehmen und zum
Hauptquartier bringen.

630
F,in weiteres Ziel der »Operation Weichsel« war die Polonisierung der
Lemken. Dazu wurden bei der Vertreibung die Familien auseinanderge-
rissen und in den »wiedergewonnenen Gebieten< zerstreut, so daß sie kei-
ne zusammenhängenden Gruppen mehr bilden konnten. Wegen ihres
»Banditenstatus< hatten die Lemken auch kein Recht auf eigenes Land.
Der antiukrainische Haß, den die damals in dem ehemaligen Ostdeutsch-
land lebenden Polen besaßen, war so stark, daß die Lemken aus Angst
vor weiteren Nachteilen auf ihre Muttersprache verzichteten und selbst
oft ihren Kindern ihre ethnische Herkunft verschwiegen. Diese feindli-
che Einstellung der Polen führte zu einer wirksamen, langanhaltenden
Prägung eines abfälligen Typs des Ukrainers. Ein bekannter Lemke
war der Maler NIKI FÜR
Das von den vertriebenen Lemken verlassene Land wurde im über- (eigentlich Epifan
wiegenden Maße nicht wieder besiedelt, auch nicht von den aus »Ostpo- DROWNIAK, 1 8 9 5 -
len< nach Westen umgesiedelten rund 1,5 Millionen Polen, da diese die 1968); eines seiner
von den Deutschen nach deren Vertreibung »wiedergewonnenen Gebie- Gemälde, »Bischof
te* aus naheliegenden Gründen bevorzugten. Die Mehrheit der Bauten, und Kathedrale«.
vor allem die Kirchen, in der
alten Heimat der Lemken in
den Beskiden wurde abge-
brannt, so daß diese Region
bis in die siebziger Jahre fast
unbewohnt blieb. Die tau-
sendjährige Kultur und die
Berglandwirtschaft wurden
vernichtet.
Nach der Vertreibung war
es den Lemken verboten, ihre
neue Region mit der ihnen
feindlichen polnische Bevöl-
kerung zu verlassen, Zuwi-
derhandelnde wurden in KZs
verbracht. Ebenso wurden
ihnen eigene Schulen, der
Unterricht in ihrer Mutter-
sprache und die griechisch-ka-
tholische Religion verboten.
Erst als um 1956 im bol-
schewistischen Regime ein

3Der Große Brockbaus in zwö/f


Bänden, Brock haus, Wiesbaden
1955, S. 173.

631
»Tauwetter* einsetzte, erhielten die Vertriebenen einige Freiheiten, die ihnen
die Organisation ihres kulturellen Lebens und den muttersprachlichen
Unterricht gestatteten. Einige Tausend von ihnen kehrten in ihre alte
Heimat in den Karpaten zurück. Der Große Brockhaus von 19553 ver-
merkt die Lemken noch dort, ohne allerdings ihre vorherige Vertreibung
und den Untergang der Volksgruppe überhaupt zu erwähnen.
Am 3. August 1990 verurteilte der polnische Senat die »Operation
Weichsel*. Im Jahre 1995 stellte die Staatsanwaltschaft in Kattowitz fest,
daß an den Häftlingen im KZ Jaworzno Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit begangen worden seien.
1990 wurde die »Union der Lemkem {>The Union of Lemkos*) als Teil
der »Union der Ukrainer in Polen* (>The Union of Ukrainians in Poland*)
zur besseren Vertretung der Rechte der Lemken gegründet. 4 1997 war
die Union der Lemken auf dem 43. Kongreß der Bundesunion der euro-
päischen Nationalitäten vom 8. bis 10. Mai 1997 in Pörtschach, Öster-
reich, vertreten und gab 3 einen Bericht über die Lage der Volksgruppe.
Die deutschen Reiseprospekte sprechen also mit Recht von Völker-
mord an den Lemken im Sinne der Völkermordkonvention der UNO
von 1948 . Danach bedeutet »Völkermord* Handlungen, die eine natio-
nale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teil-
weise zerstören, wobei die Absicht dazu schon das entscheidende Mo-
ment ist. Die Prospekte sollten aber auch die Täter nennen und nicht
den Eindruck erwecken, daß es die Deutschen statt der Polen waren.6
Friedrich Karl Pohl

Tafel an einer Kapelle unter


dem heiligen Berg Jawor.
Inschrift in Polnisch (links)
und Ukrainisch (rechts).

4 Schreiben von Waclaw SZLANTA, dem Vorsitzenden der Lern ken, G or lice (Po-
len), vom Januar 1997 zur Lage der Lemken im gegenwärtigen Polen,
5 Vatra, Special edition by the Union of Lemkos in Poland, Gorlice 1997; Petro

FZAFRAN u. Waclaw FZLARN, The Situation of the Ukrainian National Minority in the
present-day Poland, Gorlice 1997,
6 Die Ukrainer hatten wie die Volksdeutschen in Polen schon ab 1918 in den

polnischen Konzentrationslagern zu leiden.

632
Die Zerstörung des Kaiser Wilhelm-Denkmals
am Deutschen Eck

ie Alliierten, besonders die Anglo-Amerikaner, führten angeblich


D den Zweiten Weltkrieg auch mit dem Ziel, den deutschen »Barba-
ren* Kultur beizubringen und sie in die Gemeinschaft der »gesitteten
Völker* zurückzuführen.
Doch im Gegensatz zu solch hehren Worten stand die Praxis 1945,
Das erkennt man zum Beispiel an der Behandlung alter deutscher Kul-
turdenkmale durch die alliierten Besätzungstruppen. Wenn man noch
ein gewisses Verständnis dafür haben kann, daß die eindrucksvollen Bauten
aus der NS-Zeit - etwa in den Hauptstädten der Bewegung Nürnberg
oder München - geschlei ft wurden, so gibt es kaum eine Entschuldigung
für die mutwillige Zerstörung lange vor dem Dritten Reich errichteter
historischer Denkmäler. So dienten das 1875 eingeweihte Hermanns-
denkmal auf der Grotenburg im Teutoburger Wald oder das 1896 er-
richtete Denkmal Kaiser W I L H E L M S I. auf dem Wittekindsberg oberhalb
der Weser an der Porta Westfalica bei Minden 1945 den übermütigen
alliierten Truppen als Zielscheiben für ihre Schießkünste. Der Verfasser
erinnert sich noch von Besuchen in den ersten Nachkriegs jähren an die
von vielen Schüssen durchlöcherten Figuren dieser Denkmäler, die spä-
ter aufwendig restauriert werden mußten. Dabei wurde Kaiser W I L H E L M I.,
der segnend seine rechte Hand über das Land an der Weser hielt, unter-
stellt, damit den »Nazi-Gruß< auszuführen und somit der »erste Nazi* ge-
wesen zu sein. Es soll nach dem Zweiten Weltkrieg überlegt worden sein,
um solche Mißdeutungen für die Zukunft auszuräumen, bei der Restau-
1 So in: Frankfurter
rierung die ausgestreckte rechte Hand des Kaisers zur geballten Faust Allgemeine Zeitung,
18. 10. 1986.
umzuformen, was dann aber doch unterblieb.
2 S. ALLEN, Lucky
Während man diese Zerstörungen noch als bedauernswerte Entglei- Forward, Vanquard
sungen untergeordneter namenloser alliierter Kulturbanausen, wie es sie Press, New York
in jedem Heer gibt, entschuldigen könnte, gilt das nicht für das Schicksal, 1947, S. 339; zitiert
das dem 1897 eingeweihten Denkmal Kaiser W I L H E L M S 1. am Deutschen von Herbert
Eck in Koblenz widerfuhr. Das Reiterstandbild des ersten Kaisers des FRANZMANN i n :
zweiten Deutschen Reiches wurde im März 1945 von Amerikanern völlig Leserbrief »Zerstö-
zerstört - und zwar mutwillig und anscheinend auf höchsten Befehl hin. rung von Eisen-
hower angeord-
Diese Tat wurde einmal einem US-Sergeanten zugeschrieben. 1 Endar- net?« in: Frankfurter
vend ist, was zum anderen der US-Colonel A . ALLE.N in seiner Geschichte Allgemeine Zeitung,
der amerikanischen 3. Armee dazu festgehalten hat.2 Er schildert dort " 29. 10. 1986.
den Besuch des damaligen westalliierten Oberkommandierenden, des US-
Generals und späteren Präsidenten der Vereinigten Staaten, Dwight D.

633
EISENHOWER, im Hauptquartier des US-Generals PATTON und führt dann
aus: »EISENHOWER verbrachte die Nacht in PATTONS Hauptquartier und
wohnte am nächsten Morgen der Befehlsausgabe bei. An ihrem Ende wid-
mete er PATTON und dem ganzen Stab herzliche Worte der Anerkennung
und schloß gutgelaunt mit den Worten: >George (PATTON), bitte veranlas-
sen Sie für mich noch die Beschießung des riesigen eisernen Denkmals,
das die Deutschen einem ihrer Kaiser am Rheinufer in Koblenz errichtet
haben. Dieser metallene Koloß würde sich wesendich besser auf dem Grun-
de des Rheines ausnehmen, als weiterhin in den Himmel zu ragen. Außer-
dem käme dies ihrer (der Deutschen) geistigen Entwicklung zugute.<
>Mit Freuden, General<, antwortete P A T T O N . >Wir werden das bißchen
für Sie unverzüglich erledigen. Es wird uns ein Vergnügen sein.< Zwei
Tage später erzielten Jagdbomberpiloten des XIX. Taktischen Geschwa-
ders direkte Treffer auf dem hoch aufragenden 50 Tonnen schweren
Denkmal Kaiser W I L H E L M S I . , daß es zerschmettert von seinem steiner-
nen Sockel stürzte.«
Eines der bekanntesten nationalen Symbole in Deutschland wurde also
demnach auf Befehl von höchster alliierter Stelle zerstört — mit der aus-
drücklichen Begründung, damit der »geistigen Entwicklung«, sprich Um-

Das von Reinhold


BEGAS geschaffene
und 1897 eingeweih-
te Kaiser-Wilhelm-
Nationaldenkmal
für Berlin ist nicht
mehr erhalten. Das
im selben Jahr ent-
hüllte Kaiser-Wil-
helm-Denkmal am
Deutschen Eck in
Koblenz stand in
direkter Konkurrenz
zum Berliner Bau.

634
erziehung, der Deutschen zu dienen, indem man ihnen die Erinnerung
an ihren großen, auch bei Siegen maßvollen Kaiser raubte. Dem genann-
ten Text kann zudem mit einiger Wahrscheinlichkeit entnommen wer-
den, daß EJSENHÖWER nicht einmal wußte, welchem Kaiser das Denkmal
gewidmet war.
Auf derselben Linie liegt die alliierte Zerstörung anderer Kulturgüter,
etwa die militärisch unnötige Vernichtung der Kunstmetropole Dresden
19453 oder des alten ehrwürdigen Klosters Monte Cassino in Italien 1944.4
Demgegenüber ist kein Fall bekannt, daß deutsche Soldaten in ähnli-
cher Weise mutwillig ausländische Kulturgüter in besetztem Land zer-
störten. Dafür gibt es bezeichnende Fälle des deutschen Kunstschutzes
in beiden Weltkriegen. 3
Es dürfte klar sein, auf welcher Seite die wirklichen Barbaren standen. Dwight D,
Bezeichnend für die damalige Zeit verlief dann das weitere Schicksal EisENHOwer.
des Koblenzer Denkmals.
Die Trümmer wurden von den französischen Truppen als Altmetall
losweise vergeben. Ein Auslandsdeutscher sah den Kopf des Kaisers un-
ter den Trümmern liegen, erstand ihn und brachte ihn bei einem Bauern
in der Scheune in Sicherheit. Nachforschungen der Franzosen fanden
den Metallkopf nicht. Nach 13 Jahren, als der Eigentümer Deutschland
wieder verlassen mußte, übergab er den Kopf einem Kunsthändler, der
3 Siehe Beitrag Nr,
ihn der Stadt wie dem Land vergeblich anbot.6 286, »Keine Tief-
flieger in Dresden?«
Am Deutschen Eck wurde im Mai 1953 ein Mahnmal zur deutschen
4 Siehe Beitrag Nr.
Einheit errichtet. Im Jahre 1958 verstärkte sich die Diskussion über die
198, »Kloster
Wiedererrichtung des Denkmals, und der Koblenzer Stadtrat beschloß,
Monte Cassino kein
einen Ausschuß zur endgültigen Gestaltung des Denkmals einzusetzen. deutscher Militär-
Am 30. März 1983 wurden dann >als Ersatz< drei Bodenplatten mit dem stützpunkt«.
Relief Kaiser WILHELMS I. eingeweiht. ' Siehe Beitrag Nr.
Der Koblenzer Rechtsanwalt Dr. Werner THEJSEN und seine Frau Anne- 199, »Wer plünderte
liese bewirkten dann eine Wendung der Dinge, als sie am 14. November in Monte Cassino?«
1987 bekanntgaben, daß sie, notariell beglaubigt, rund drei Millionen Mark Für den Ersten
für eine Erneuerung des Reiterstandbildes spenden würden. Der rhein- Weltkrieg siehe
land-pfälzische CDU-Ministerpräsident V O G E L lehnte im Februar 1988 Kaiser WILHELM II.,
die Schenkung unter Hinweis auf die Bestimmung des Denkmals als Ereignisse und
»Mahnmal der deutschen Einheit« ab. Dennoch bestellte eine inzwischen Gestalten 1878-
gegründete »Bürgerinitiative Deutsches Eck* eine Nachbildung des Denk- 1918, K. F. Koeh-
ler, Leipzig-Berlin
mals bei dem Düsseldorfer Bildhauer Raimund KITTL, Eine im Sommer 1922, S. 221 f.
1989 von der Landesregierung eingesetzte Expertenkommission emp- 6 Guido ZÖLLER,
fahl am 7. September 1989, von einer Wiederherstellung des Denkmals »Des Kaisers
abzusehen. Die Ratsfraktionen von CDU, FDP und Freier Bürgergrup- Kopf«, in: Rheini-
pe beantragten jedoch, daß die Verwaltung die Aufstellung des Standbil- scher Merkur, 29. 1.
des vorbereite. Die städtische SPD setzte sich dagegen für ein »Denkmal 1965, S. 8.

635
zur Deutschen Einheit in einem zusammenwachsenden Europa« ein, was
aber keine Mehrheit fand. Kurz vor der kleinen deutschen Wiederverei-
nigung am 3. Oktober 1990 nahm die
CDU-Landesregierung im September
1990 die hochherzige Schenkung des
Rechtsanwaltsehepaars an. Gegner des
Denkmals, vor allem von den Grünen, pro-
testierten gegen ein neues Reiterstandbild,
wobei sie auf den Einsatz des späteren Kai-
sers als >Kartätschenprinz< 1848/49 gegen
demokratische Aufständische hinwiesen.
Die Kultusministerin Dr. Rose GÖTTE der
neuen SPD-Landesregierung erklärte am
14. November 1991 nach Prüfung der
rechtlichen Möglichkeiten zu dem von den
Linken gewollten Ausstieg aus dem Schen-
kungsvertrag, daß das Standbild nicht auf
den alten Sockel, sondern in einen Skulp-
turenpark am Fuße des Denkmals kom-
men solle. Eine daraufhin eingereichte
Klage der Schenker vom Januar 1992 ge-
gen das Land auf Erfüllung des Schen-
kungsvertrages wurde damit erledigt, daß
das Land dem Bürgerwillen nachgab, der
Stadt Koblenz das Grundstück am Deut-
schen Eck schenkte und einen Zuschuß
von 1,1 Millionen DM zu den Sanierungs-
Das Reiterstandbild kosten von 2,5 Millionen DM zusagte. Das fast 70 Tonnen schwere neue
Kaiser W I L H E L M S I. am Denkmal kam am 16. Mai 1992 in Koblenz an, der Gemeinderat stimmte
Deutschen Eck nach am 4. Juni 1992 dem Angebot des Landes zu. Noch fehlende Mittel von
der Wiederherstel- rund 350000 DM wurden durch Spenden gedeckt. Die Aufstellung des
lung.
Denkmals wurde trotz Protesten von linker Seite vollzogen. Seitdem
grüßt Kaiser W I L H E L M 1. als Reiter wieder an seiner alten Stelle vom
Deutschen Eck.
Ein ähnliches Kulturbewußtsein wie General EISENHÖWER soll ein US-
General gezeigt haben, als er nach der >Eroberung< der von den Deut-
schen nicht verteidigten Offenen Stadt Rom am Colosseum vorbeifuhr
und erklärte: »Da haben unsere Jungs von der US Air Force ja gute Ar-
beit geleistet!« Rolf Kosiek

Reinhard KALLENBACH, »Eine »unendliche« Geschichte«, in: Rhein-Zettung, 3. 9.


1993.

636
Als Gefangener beim US-Kunstraub

• *

U ber den Raub von Kunstschätzen durch US-Militärs 1945 wurden


an anderem Ort mehrere Beispiele angeführt. 1 Aufgrund der Schil-
derung dieser Vorgänge in Oberösterreich meldete sich ein als Kriegs-
gefangener damals zur Vorbereitung des Abtransports der Kunstgegen-
stände befohlener junger Deutscher, der weitere Einzelheiten über den
US-Raub aus eigenem Erleben mitteilen konnte. Er berichtete,2 daß er
Mitte September 1945 als US-Gefangener in eine Kaserne der Stadt Enns
an der Enns verlegt worden sei. »Nach wenigen Tagen wurden wir zu
Arbeiten herangezogen. Mit ca. 70 Mann auf zwei L K W fuhren wir täg-
lich, drei Wochen lang, von Enns nach St. Florian in das Chorherrenstift
oder Kloster St. Florian (die Wirkungs- und Begräbnisstätte Anton BRÜCK-
NERS). Das Kloster wollten die Amerikaner mit einem Infanterie-Regi-
ment belegen, und unsere Aufgabe war es, das Stift auszuräumen. . .
Meines Wissens waren im Stift die Möbel und das Inventar des Schlos-
ses Berlin und des Neues Palais in Potsdam vor den Fliegerangriffen der
Alliierten ausgelagert. Eine Frau, Mitte 50, aus Berlin war für die Rück-
führung zuständig. Die Aufsicht führten drei amerikanische Offiziere,
ein Major und zwei Hauptleute durch. Alle drei waren Juden, die in den
30er Jahren Deutschland verlassen hatten. Sie sprachen untereinander
englisch, mit der Frau deutsch und, wenn sie uns Weisungen erteilten,
auch deutsch.
Ich war bei dem Kommando, das jeden Tag eine Anzahl von Kisten
aufbrechen, den Inhalt auspacken und übersichtlich aufstellen mußte, so
daß die Offiziere alles begutachten konnten. Sie entschieden dann,
was nach Berlin zurück kann,
was in die USA geht,
was die Offiziere für sich persönlich ausgewählt hatten. Es waren be-
sonders wertvolle Möbel, Bilder, Vasen, Geschirr usw. Diese wurden bei-
seite gestellt und jeden Tag in eine Arztvilla gebracht, in der die Offiziere
ihr Quartier hatten.
Eine andere Gruppe mußte die Möbel usw. auf die L K W verladen
und zum Bahnhof schaffen. Auf dem Bahnhof standen offene Wag-
gons, in diesen wurden die Möbel usw. nach Berlin verladen. Die Möbel,
vor allem Kisten, die für die USA bestimmt waren, wurden in amerikani-
sche, geschlossene Waggons verladen.

1
Beitrag Nr. 317, »Amerikaner rauben Goldzug, Fürstenschatz, Bankgold und
Handschriften«.

637
Es gab oft Streit zwischen den Offizieren und der deutschen Frau,
und sie hat oft geweint. Die Offiziere traten als Sieger, ja als Götter auf. . .
Besonders angetan waren wir von den Mönchen des Stifts, sie hatten
die Räume unter Verschluß und verstanden es geschickt, einige Stücke zu
verstecken, wenn die Offiziere nicht zugegen waren. Wertvolle Teppi-
che, Fenster- und Wandbehänge wurden unter der Kirche in Kellerge-
wölben verstaut. Mein bester Freund hat beim Tragen mehrmals gehol-
fen und später zum besten gegeben, daß sie unter den großen Teppichen
in die Knie gegangen sind. Von den Mönchen wurde ihnen immer etwas
Eßbares zugesteckt.. .«
Erwähnenswert ist auch, was der Betreffende über die Vorgeschichte
schrieb: »Ich bin Jahrgang 1926, war Angehöriger der 12. SS-Panzer-Di-
vision >Hitlerjugend< und von Mai bis November 1945 in Österreich in
amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Der größte Teil der Division war
geordnet nach Rgt., Bd./Abt. und Kp./Bttr. bei Enns an der Enns in die
Gefangenschaft marschiert oder gefahren. Nach ca. vier Wochen wur-
den die Offiziere und wenig später die Unterführer ab 21 Jahre in andere
Lager verbracht. Für den Rest, Mannschaften und Unterführer unter 21
Jahre, ca. 12-15000 Mann, wurde auf freiem Feld, nahe der Donau, ein
Speziallager errichtet. Alle lagen auf dem nackten Boden, und nur wenige
hatten eine Zeltbahn oder eine Decke. Essen und Trinken (Wasser) gab
es unregelmäßig, zu wenig und schlecht. Anfang September 1945 konn-
ten viele nur noch gestützt zum täglichen Zählappell gehen. Wir waren
alle auf 40 bis 50 kg abgemagert. Die Zahl der Hungertoten nahm stän-
dig zu. Das Internationale Rote Kreuz hatte vom Lager Kenntnis be-
kommen, und das Lager wurde Mitte September 1945 aufgelöst. Ich kam
mit 500 Mann des Artillerie-Regiments in eine Kaserne der Stadt Enns.
In den Unterkünften lagen die Amerikaner, und wir bezogen die Pferde-
ställe, Im November 1945 folgte die Verlegung nach Deutschland, am
26. Februar 1946 die Übergabe an die Franzosen. Die Entlassung fand
am 1, Dezember 1948 statt.«
Herr G A F F R Y war von 1951 bis 1956 beim Bundesgrenzschutz in der
Wach-Abteilung in Bonn, anschließend bei der Bundeswehr. Er war von
1960 bis 1980 im Bundesministerium der Verteidigung im Referat Militär-
wissenschaft tädg. Letzter Dienstgrad war Hauptmann und Diplom-
Dokumentar, Rolf Kosick

2Schreiben des Herrn Ullrich GAFFRY, Bonn, vom 2 2 . 3 . 2007 u. 2 3 . 4. 2 0 0 7 an


den Verfasser. Originalbriefe im Archiv des Verfassers.

638
Wer lockte die >Wilhelm Gustloff< in die Falle?

m 30. Januar 1945 versenkte das sowjetische U-Boot >S-13< durch


A drei Torpedotreffer die mit Flüchtlingen und zahlreichen Verwun-
denen überladene »Wilhelm Gustloff*. Hätte die größte Katastrophe der
Seefahrt, bei der 9343 Menschen den Tod fanden, verhindert werden
können?
In der Vorkriegszeit war die 25 480 BRT große »Wilhelm Gustloff< das
Flaggschiff der Organisation »Kraft durch Freude< (KdF). Während des
Krieges wurde sie nach einer Lazarett-Zwischenkarriere als Wohnschiff
für die in Gotenhafen-Oxhöft stationierte zweite Untersee boot-Lehrdi-
vision (2. ULD) verwendet.
Als die 2. ULD wegen der geplanten Räumung des Stützpunktes Heia
nach Westen verlegt werden sollte, gehörte auch die »Wilhelm Gustloff<
im Januar 1945 dazu. Ursprünglich sollten vor allem Angehörige der U-
Boot-Lehrdivision nach Westen gebracht werden, hinzu kamen von der
NSDAP bestimmte Ixute, die spezielle Ausweise der Kreisleitung be-
kommen sollten. Schließlich wurden weit darüber hinaus viele tausend
Flüchtlinge, vor allem Frauen und Kinder, vom Schiff aufgenommen.
Für die Sicherheit der Geleite nach Westen war im Hafen von Hela die
9. Sicherungs-Division der Kriegsmarine zuständig.

Der vormalige KdF-


Dampfer »Wilhelm
Gustlofft. Entgegen
früheren Zahlen ka-
men am 30. Januar
über 9000 Passagiere
ums Leben. Nach
zwei Tagen Einschif-
fung seien nämlich
die Schiffslisten aus-
gegangen und die
Schreibkräfte völlig
überfordert gewesen.
Siehe Beitrag Nr.
281, »Die größte
Schiffskatastrophe
aller Zeiten«,

639
Nun geschahen merkwürdige Vorgänge, die zu der großen Katastro-
phe fuhren sollten.
Am 29, Januar 1945 fiel bei der 9. Sicherungs-Division auf, daß die
»Wilhelm Gustloff< Dampf aufmachte und Vorbereitungen zum Auslau-
fen traf. Korvettenkapitän L E O N H A R D T von der 9. U-Boot-Division ver-
suchte verzweifelt, das Auslaufen der >Gustloff< zu verhindern, da er noch
nicht in der Lage war, einen ausreichenden Geleitschutz zu gewähren.
Nur ein, zwei Tage später hätte er sichere Geleitzugkräfte zur Verfügung
stellen können. Doch das akzeptierte der Kommandeur der 2. ULD ge-
nauso wenig wie auch den eindringlichen Bericht von L E O N H A R D T über
die Feindlage in der östlichen Nordsee.
Eine merkwürdige Eile zur Abfährt trat immer deutlicher hervor.
Kapitän L E O N H A R D T versuchte nun über seinen in Lindau sitzenden
Chef der 9. Sicherungs-Division, Fregattenkapitän VON P L A N C , das vor-
zeitige Auslaufen des Dampfers mit Tausenden von Menschen ohne er-
fahrenes Geleit zu verhindern. L E O N H A R D T sagte zu VON P L A N C : »Aber
sie werden auslaufen, Kapitän. Sie wollen ein paar Torpedofangboote als
symbolischen Schutz mitlaufen lassen. Wie soll ich das verhindern?« VON
P L A N C teilte nach kurzem Überlegen mit, daß er die Lage sofort an den
>Admiral östliche Ostsee* melden werde und auch die Seekriegsleitung in
Berlin benachrichtigen wolle. Bevor aber noch irgendeine Entscheidung
von >oben< eintraf, warf die »Wilhelm Gustloffi in Gotenhafen die Leinen
los.
Großadmiral Karl D O N I T Z , der ehemalige Oberbefehlshaber der Kriegs-
marine, sagte in der Nachkriegszeit dazu, daß die 2. ULD in der Ostsee
zwar unabhängig operieren konnte, in dem Augenblick aber, als sie nach
Westen verlegte, dieser Transport wie jeder andere ganz klar unter die
Verantwortung der 9. Sicherungsdivision fiel. Insofern hätte die >Gust-
' Cajus BEKXER, loff< also nicht auslaufen dürfen. 1,2
Flucht übers Meer, In der Zwischenzeit wurde am 25. Januar 1945 die Räumung der 1, U-
Stalling, Oldenburg Boot-Lehrdivision aus Pillau erfolgreich abgeschlossen. Ohne jede Feind-
1964, S. 1 8 0 - 1 8 3
einwirkung hatten die Schiffe >Robert Ley<, »Pretoria*, >Ubena< und >Dua-
(Frage der Abfahrt). k(, gesichert durch Schiffe der 9. Sicherungs-Division, ihren Zielhafen
2 Heinz SCHÖN,
erreicht.
SOS Wilhelm Noch einmal gab das Schicksal der »Wilhelm Gusdoff* eine Chance,
Gustloff. Die größte
als das vollbeladene >KdF<-Schiff erneut ankerte, um auf das Schiff >Hansa<
Schiffskatastrophe der
Geschichte, Motor- zu warten. Korvettenkapitän Z A H N , Führer der U-Boote-Ausbildung, gab
buch, Stuttgart jedoch telefonische Anweisung, sofort allein nur mit dem Torpedoboot
1998. >Löwe< nach Westen zu marschieren.
Natürlich war die Alleinfahrt des Schiffes auf der Kommandobrücke
der »Wilhelm Gusdoff< nicht unumstritten. Die Kapitäne PETERSEN und
Z A H N sowie die Fahrkapitäne W E L L E R und K Ö H L E R , deren Navigations-

640
offizier VOLLRAT und Korvettenkapitän Z A H N (Kriegsmarine) hatten unter-
schiedliche Meinungen.
Gleichzeitig mit dem Auslaufen der »Wilhelm Gustloff< hatte am 30.
Januar 1945 das sowjetische U-Boot »S-13< unter Kapitän M A R I N E S K O die
Höhe von Heia erreicht. M A R I N E S K O entschloß sich, >S-13< auftauchen zu
lassen und auf seine Beute zu warten.
Gegen 18 Uhr erschien plötzlich ein Funkmaat mit einem Funkspruch
auf der Brücke der »Wilhelm Gustloff »Auch das noch. . .1« kommentierte
dieser das Papier, aus dem er den Text überflogen hatte, »ein aus mehre-
ren Fahrzeugen bestehender Minensuch verband läuft uns in geöffneter
Formation mit zwölf Seemeilen Fahrt genau entgegen!« Kapitän P E T E R -
SEN stellte fest, daß dies Kollisionsgefahr bedeutete, und befahl Positi-
onslichter zu setzen, bis der Verband vorüber sei. Dies tat er gegen den
energischen Widerspruch anderer Offiziere auf der Brücke, die entschie-
den gegen das Setzen der Positionslichter waren. Schon vorher hatte es
heftige Auseinandersetzungen wegen PETERSENS Anordnung gegeben, bei
anbrechender Dunkelheit Seiten- und Dampferlichter zu setzen. Es ging
darum, ob die Gefahr einer Kollision oder der Entdeckung durch ein
feindliches U-Boot größer war. Dabei setzte sich der zweite Offizier Paul
VoiJ.RATH, ein erfahrener Handelsschiffsoffizier, durch, der die Auffas-
sung vertrat, daß es vollkommen genüge, mit der schwach brennenden
blauen Lampe über dem Heck zu fahren. Nun aber wurden die vollen
Positionslichter gesetzt, das grüne an Backbord, das rote an Steuerbord.
Die Folgen sollten fatal sein.
Gab es aber den Minensuchverband überhaupt? Jahrelang wurde dann
verbreitet, daß es länger gedauert hätte, bis der angekündigte Minen-

Die Marschroute der


»Wilhelm Custloff*.

641
suchverband erschienen sei. Als um 19 Uhr 26 der Befehlsübermittler
dann gemeldet hätte: »Posten Achterschiff — das letzte Räum-Boot pas-
siert das Heck!«, hätte Kapitän P E T E R S E N befohlen, um 19 Uhr 30 die
Positionslichter zu löschen. 1
Tatsächlich ist nach
Recherchen von
Heinz S C H O N heute
erwiesen, daß niemand
diesen angeblich »ent-
gegenkommenden
Minensuchverband«
jemals gesichtet hat,
weder auf der Brücke
der >Gustloff< noch
auf dem begleitenden
Torpedoboot >Löwe<.
Es sieht ganz danach
aus, daß es diesen Ver-
band in Wirklichkeit
gar nicht gab.
Nachdem der ange-
kündigte Minensuch-
verband nicht aufge-
Die iWilhelm taucht war, hatte dann gegen 19 Uhr 30 Kapitän P E T E R S E N die
Gustloff< geht unter. verräterischen Positionslichter wieder löschen lassen. Dies hatte jedoch
ausgereicht, daß auf dem Ausguck des sowjedschen U-Boots >S-13< die
Lichter der >Gusdoff< vom wachhabenden Offizier des aufgetauchten
fahrenden Bootes gesichtet wurden.
Gegen 20 Uhr 30 sah der wachhabende Matrose Alfred W I E G A N D auf
der >Gusdoff< in einiger Entfernung ein merkwürdiges »Blinken«, das er
für das Sehrohr eines U-Bootes hielt. Als er seine Beobachtung sofort an
die Kommandobrücke der >Gustloff< meldete, erhielt er die Antwort:
»Keine Gefahr, deutsches U-Boot!« Ab 20 Uhr konnte die >Gusdoff< nur
noch verstümmelte Funkssprüche empfangen, da der Funkverkehr an-
3 I leinz SCHÖN,
scheinend irgendwie unterbrochen war. Auch dies war ein Verhängnis
Die Gustloff-Katastro- für die »Gustloff<, denn kurz nach 20 Uhr setzte die Landfunkstelle Go-
phe, Motorbuch,
tenhafen-Oxhöft einen Funkspruch mit einer U-Boot-Warnmeldung für
Stuttgart 6 2 0 0 2 ,
S . 2 5 2 u. 2 6 4 f.;
das Fahrgebiet der »Gustloff< ab.
siehe Beitrag Nr. Zu diesem Zeitpunkt war das große Passagierschiff bereits ins Verder-
281, »Die größte ben gerannt. Kapitän A. j. M A R I N E S K O sah sein Opfer mit brennenden
Schiffskatastrophe Positionslichtern geraume Weile auf sich zukommen, und gegen 21 Uhr
aller Zeiten«. 1 5 lag > S - 1 3 I genau richtig in Angriffsposition. Dann lief ein russischer

642
Torpedo-Drei fach fach er auf die »Gustioff< zu. Dumpf grollten Explo-
sionen durch die See.
Unter Würdigung aller merkwürdigen Fakten muß gefragt werden, ob
die »Wilhelm Gustloff< nicht in die Falle gelockt wurde. Sollte das ehema-
lige Flaggschiff der NS-Propaganda als Symbol für den bevorstehenden
Untergang des Dritten Reiches am Jubiläumstag der Machtergreifung
durch die NSDAP versenkt werden? War nur eine Fehleinschätzung der
Gefahr durch U-Boote an dem vorzeitigen Auslaufen der »Welheim Gust-
loff< ohne Geleitschutz schuld, oder wartete das sowjetische U-Boot >S-
13< möglicherweise gezielt auf den einstigen Paradedampfer der KdF?
Welche Stelle und welche Einheit setzte den schicksalhaften Funkspruch
an die >Gustloff< ab, oder wurde er überhaupt auf der >Gustloff< empfan-
gen? So wissen wir, daß gegen 20 Uhr nur noch verstümmelte Funksprü-
che (Störung durch wen?) von dem todgeweihten Schiff empfangen
werden konnten, während der ominöse Funkspruch noch kurz vorher
gegen 19 Uhr 30 auf die Brücke gekommen sein soll. Es ist bis heute
nicht gelungen, eine offizielle Quelle für den mysteriösen Funkspruch zu
finden, dessen Existenz von überlebenden Offizieren auf der >Gustloff<
einhellig bestätigt wurde.
War dies alles Teil eines perfiden Geheimdienst-Unternehmens unter
Mithilfe von deutschen Helfern?
Etwa 9500 Opfer der Katastrophe, darunter mit Sicherheit mehr als
5000 Kinder, zahlten den Preis. Falls es dabei um eine Propagandawir-
kung ging, war das »Unternehmen Gustloffc für seine Urheber ein totaler
Fehlschlag, da der deutsche Wehrmachtbericht, Presse und Rundfunk
den Untergang der »Wilhelm Gustloffi verschwiegen.
Niemand erfuhr lange Zeit die Bilanz der >Gustloff<-Katastrophe, auch
nicht nach Kriegsende. Hatte man Angst vor Tausenden von Deutschen
als »unschuldigen Opfern<? Noch viel schlimmer war dann noch die Vor-
stellung, daß herauskommen könnte, es sei bei der Katastrophe nicht
alles mit rechten Dingen zugegangen.
Erst 53 Jahre nach dem Ereignis wurde durch die Arbeit von Heinz
SCHÖN, einem Überlebenden des »Gustloff<-Untergangs, die brutale Wahr-
heit bekannt, wie viele Opfer wirklich in der Ostsee elendig ertranken.
Der Tatsache, daß 9343 Menschen beim Untergang der »Wilhelm Gust-
loffc als der größten Schiffskatastrophe in der Geschichte der Mensch-
heit ertranken, wurde dennoch so gut wie keine Publizität gegeben, ganz
im Gegensatz zu dem Rummel, den der Untergang des Luxusschiffes
»Titanic* im Jahre 1912 bis heute verursacht hat. Wie viele Bücher, Filme,
Ausstellungen sind seither der »Titanic« gewidmet worden und wie viele
den Opfern der »Wilhelm Gusdoff<? Friedrich Georg

643
Die Tragödie der >Goya<

n der großen Gesamttragödie beim Ende des Zweiten Weltkrieges blieb


I der Untergang der >Goya< in der Ostsee nahezu unbemerkt. Es ist auch
heute weithin unbekannt, daß mit der >Goya< über 7000 Menschen den
Tod fanden und damit der Untergang dieses Schiffes die nach der Wil-
helm Gusdoff< vermutlich größte bekannte Katastrophe der Seefahrts-
geschichte darstellt. Eine Erinnerung erscheint geboten.
Auf die Frage HITLERS, welche Folgen ein Durchbruch sowjedscher
Truppen bis zur Ostsee haben würde, antwortete Großadmiral DÖMITZ
im Sommer 1944: »Unsere Kontrolle der Ostsee ist wichtig.. . Das haupt-
sächliche Ziel, dem meiner Meinung nach alles untergeordnet werden
muß, selbst die Zurücknahme der nördlichen Heeresgruppe, ist es zu
1 Lagebesprechung verhindern, daß die Russen an die offene See durchbrechen.« 1
im Führerhaupt- Nach der geordneten Evakuierung des Baltikums über die baltischen
quartier am 9. Juli Häfen stand die Seekriegsleitung im Januar 1945 plötzlich vor einem neu-
1944. en gewaltigen Problem. Teile Ostpreußens drohten von sowjetischen
Truppen eingeschlossen und abgeschnitten zu werden und damit Millio-
nen von Menschen. Allen standen die Massaker an der deutschen Be-
völkerung von Nemmersdorf und Gumbinnen vor Augen, als unter teil-
weise chaotischen Verhältnissen die größte Evakuierungsaktion der
Geschichte begann. Über zwei Millionen Menschen wurden dann bis
Kriegsende in einem beispiellosen Unternehmen von den ()stprovinzen
in den Westen über die Ostsee befördert, letztlich vor einem ungewissen
Schicksal gerettet.
Den vielen Geretteten stehen die namenlosen Opfer gegenüber. Sie
starben bei Tieffliegerangriffen auf dem Eis und in den Häfen, in denen
sie auf die Transportschiffe warteten, und sie ertranken in den eisigen
Fluten der Ostsee beim Untergang der Schiffe.
Anläßlich des Untergangs des völlig mit Flüchtlingen überfüllten Fracht-
schiffs >Goya< am 16. April 1945 meldete Großadmiral DÖNITZ an HITLER:
»Der Verlust von einigen tausend Menschen beim Untergang des Damp-
fers >Goya< veranlaßt mich zu dem Hinweis auf den außerordentlich ge-
ringen Prozentsatz von nur 0,49% Personal Verlusten bei den bisherigen
Transporten im Ostraum.«
Die Flucht über die Ostsee ging bis zum letzten Tag des Krieges wei-
ter, auch nach der offiziellen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht
trafen in den folgenden Tagen immer noch Schiffe in den rettenden Häfen
in Dänemark und Schleswig-Holstein ein.
Die >Goya< war ein modernes und sehr schnelles Frachtschiff von 7200
Bruttoregistertonnen, das am 4. April 1940 von der norwegischen Ree-

644
derei MowinckeL in Dienst gestellt worden war.
Das Schiff war 145 m lang und 17,4 m breit,
zwei Motoren brachten eine Leistung von ins-
gesamt 7600 PS. Die Reederei hatte das Schiff
für die Südamerika-Charter geplant. Nach der
Besetzung Norwegens wurde es von der deut-
schen Kriegsmarine beschlagnahmt und als
Zielschiff in verschiedenen U-Boot-Flottillen
in der Ostsee eingesetzt. Ab Herbst 1944 wur-
de es zur Evakuierung von Flüchtlingen und
von Wehrmachteinheiten aus dem ostpreußi-
schen Raum herangezogen. Bis April 1945
hatte die >Goya< vier Transporte nach Westen
mit fast 20000 Passagieren erfolgreich durch-
geführt. Der fünfte Transport sollte von der
Halbinsel Hela in der Danziger Bucht ausge-
hen. Immer noch befanden sich Zehntausen-
de von Menschen dort, deren einziger Flucht-
weg über die Ostsee führte. Danzig war
mittlerwcile von sowjetischen Truppen besetzt
worden, massiv bedrängten sie gegen hefti-
gen deutschen Widerstand auch die letzten
Gebiete nördlich von Danzig, die noch in
deutscher Hand waren.
Am 16. April 1945 sollen die Schiffe >Kronenfels<, >Aegir< und >Goya< Die >Goya<.
sowie die Minensucher >M 256< und >M 328< einen Konvoi bilden. Unter
ständigem Artilleriebeschuß und bei mehreren Luftangriffen nahmen sie
auf der Halbinsel Hela Flüchtlinge, Verwundete und Wehrmachteinhei-
ten an Bord. Durch einen Bombentreffer im Vorderschiff fiel die mo-
derne U-Boot-Warnanlage des Schiffes aus. Am Abend befanden sich
auf der >Goya< weit über 7000 Menschen. : In langsamer Fahrt lief der 2 Aussage des

Verband gegen 19 Uhr in Richtung auf Swinemünde aus. Um 23 Uhr Zahlmeisters Heinz
erhielt der Geleitführer den Befehl, den Kurs zu ändern und Kopenha- HOPPE, Moisburg,
gen anzulaufen. Kurz darauf meldete die >Kronenfels<, das langsamste Interview in dem
Schiff des Konvois, einen Maschinenschaden. Der Konvoi stoppte. Knapp Dokumentarfilm
Flucht in den Tod,
zwanzig Minuten dauerte die Reparatur, dann nahmen die Schiffe wieder Autor Heiko
Fahrt auf. Nun liefen sie allerdings auf der Höhe von Stolpmünde dem PETERMANN, 1 9 9 3 .
feindlichen U-Boot direkt entgegen.
Seit dem Abend lag im flachen Küstenwasser vor Stolpmünde das so-
wjetische Garde-U-Boot >L 3< unter dem Kommandanten Vladimir K.
KONOVALOV. Er hatte den Befehl, die deutschen Transportwege zu unter-
brechen. Am Abend zuvor hatte er bereits zwanzig Minen vor Heia ab-

645
Der Wassertanker gesetzt. Als die Beobachter des U-Bootes den Konvoi meldeten, nahm
>Aegiri und einige >L 3< langsam Fahrt auf und folgte den Schiffen. Auf Schußweite heran-
Minensuchboote, die
zum >Goya<-Geleit
gekommen, ließ K O N O V A L O V zwei Torpedos auf die >Goya< feuern. 1 Um
gehörten, bargen 1 57 23 Uhr 52 trafen beide Torpedos das Schiff, das innerhalb von sieben
Schiffbrüchige. Minuten sank.4
Der Konvoi stoppte nicht, sondern versuchte, so schnell wie möglich
das gefährdete Gebiet zu verlassen. Erst fünfzig Minuten nach dem Unter-
gang der >Goya< kehrten die Begleitschiffe zurück und suchten nach Uber-
lebenden.
Am 17, April 1945, um 3 Uhr morgens, notierte der Kapitän des Mi-
nensuchers >M 328< im Schiffstagebuch: »Ein weiteres Bergen stand nicht
im Verhältnis zu der Gefahr, . . Insgesamt wurden 157 Soldaten, Zivili-
sten, Frauen und Kinder geborgen. Davon verstarben bei mir an Bord 6,
auf der >Ägier< 3.«
11 Stunden nach dem Untergang der >Goya< wurden zufallig noch 28
Schiffbrüchige gefunden. Damit sind wahrscheinlich nur 176 Menschen
gerettet worden — von über 7000.
Es ist das große Verdienst des Bad Salzufler Archivars und Historikers
Vladimir K. KONOVA-
LOV erhielt die höch-
Heinz S C H Ö N , der beim Untergang der »Wilhelm Gustloff« gerettet wur-

ste Auszeichnung als de, daß das Thema »Flucht über die Ostsee« und die Schicksale der »Wil-
• Held der Sowjet- helm Gustloffc, der >Steuben< und der »Goya< einer breiteren Öffentlich-
union;. keit bekannt geworden sind.5 Michael Winkler

' Ebenda, Aussage des Steuermanns von >1.3<, Iwan PAWLOW.


4 Ebenda. Die Rekonstruktion der Vorgänge auf dem sowjetischen U-Boot wurde
an Hand der Schiffs unterlagen und Aussagen der Besatzungsmitglicder vorge-
nommen.
5 Heinz S C H Ö N , Ostsee 45, Motorbuch, Stuttgart 1983; ders., Flucht über die Ostsee,
Motorbuch, Stuttgart 1984; ders., Die letzten Kriegs tage, Motorbuch, Stuttgart 1995.

646
Die NKWD-Todesmärsche in Richtung Osten 1941

icht nur in den GPU-Gefängnissen fanden im Juni 1941 die Massa-


N ker an den Häftlingen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD
statt. Der polnische Historiker Bogdan MusiAL stellt dazu fest: »Tausende
kamen auf den sogenannten >Todesmärschen< um, besonders viele auf
dem Gebiet des heurigen Weißrußland. In zahlreichen Gefängnissen stellte
die Gefängnis Verwaltung aus den Häftlingen Marschkolonnen zusam-
men und trieb sie nach Osten, Zuvor jedoch erschoß man diejenigen, die
als politisch besonders gefährlich eingestuft wurden. Das Schicksal der
Häftlinge, die auf den Marsch mußten, war unterschiedlich. Einige Ko-
lonnen erreichten nach schweren Verlusten ihre Zielorte im Osten, Viele
Häftlinge wurden auf der Flucht erschossen. Das traf jeden, der nicht
weiter marschieren konnte. Einige Häftlinge wurden durch deutsche Bom-
ben getötet, manche nutzten das dabei entstandene Chaos und flüchte-
ten. — Tausende aber wurden auf diesen Todesmärschen massakriert,
wie in Wolzyn, heute Weißrußland. In der Nacht vom 24. auf den 25.
Juni 1941 stellten Aufseher im dortigen Gefängnis eine Marschkolonne
mit politischen Häftlingen zusammen und trieben sie in Richtung Minsk;
die Kriminellen hatte man zuvor freigelassen. Inzwischen besetzten aber
die deutschen Truppen Minsk. Die Wachmannschaften führten darauf
die Kolonne auf eine Waldlichtung und befahlen den Häftlingen, sich
hinzusetzen. Die Wachen stellten Maschinengewehre am Waldrand auf
und eröffneten das Feuer. Ein Teil der Gefangenen versuchte zu fliehen.
Nur 12 Personen konnten sich retten.«1
»Der Direktor des Gefängnisses in Gleboki, PRIJOMSCHEW«, berichtet
MUSIAI, ferner, »begleitete eine der Kolonnen. Er fühlte sich, wie er spä-
ter seinen Vorgesetzten berichtete, durch polnische Häftlinge provoziert.
Die hätten ausgerufen: >Es lebe HITLER!< Daraufhin befahl PRIJOMSCHEW,
die Häftlinge in einen Wald zu führen und dort zu erschießen. Nach
seinen eigenen Angaben wurden dabei 600 Personen getötet.'
In Minsk begann der NKWD in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni
die beiden Gefängnisse zu evakuieren. Zunächst wurde eine unbekannte
Zahl von Häftlingen ermordet. Man zwang sie, Gift einzunehmen. Die
sich weigerten, erschoß man in den Zellen. Die übrigen Häftlinge for-
mierte man in Marschkolonnen von 200 bis 300 und 1000 Häftlingen

1 Bogdan MusiAL, »Konterrevolutionäre sind zu erschießen«, in: Frankfurter All-

gemeine Zeitung, 30.10. 1999, S. 11.


2 Ebenda; siehe auch NAUMANN, Freispruch für die Deutsche Wehrmacht. Unterneh-

men Barbarossa< erneut auf dem Prüfstand, Grabert, Tübingen 2005, S. 411.

647
Ermordete Ukrainer
in Zloczow bei Lem-
berg. Die Beisetzung
der Opfer des NKWD
fand am 6. fuli 1941
statt. Aus: Alfred M.
de Zayas, Die Wehr-
macht-Untersu-
chungsstelle, Univer-
sitas, München
7 2001.

und führte sie aus der Stadt in Richtung Mohiiew. In einem Wald hinter
der Stadt hielt man die Kolonnen an; dort zog man die Häftiinge aus der
ganzen Region Minsk zusammen. Nach Schätzungen der polnischen
Hauptkommission dürften es mindestens 20000 gewesen sein. Diese
Häftlinge wurden dann in Kolonnen nacheinander in Richtung Ihuman
getrieben. Auf dem Marsch gab es kaum Wasser und Verpflegung, aber
reichlich Kolbenschläge. Die Wachen (NKWD-Soldaten, Milizionäre,
Grenzschutzsoldaten, Aufseher) erschossen oder erstachen mit Bajonett
jeden, der zu erschöpft war, um weitermarschieren zu können oder (an-
geblich) zu fliehen versuchte, mit Leidensgenossen sprach oder sich zu
S MUSIAL, a a O . stark für die deutschen Flugzeuge interessierte.«3
(Anm. 1) »Auf dem Marsch«, berichtet der polnische Historiker, »erreichte die
einzelnen Kolonnenführer der Befehl, Häftlinge zu töten. Fls spielten
sich makabre Szenen ab. In einem Fall befahl man Häftlingen zu fliehen,
gleichzeitig eröffneten die Wachmannschaften das Feuer mit Maschinen-
gewehren. Die Verletzten tötete man mit Pistolenschüssen, Anschließend
fuhren die Täter mit schweren LKW über die Leichen. Nur ein Mann
soll dieses Massaker überlebt haben.
In einem anderen Fall ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Als der
Kolonnen führ er den Befehl zum Mord der Häftlinge erhielt, zerriß er ihn,
zog die Pistole und erschoß sich. Die verwirrten Wachmannschaften liefen
auseinander, ebenso die Häftlinge. Sonst aber hatten die Kolonnenführer
wenig Skrupel. Von den 20000 Häftlingen, die den Marsch angetreten hat-
ten, kamen Ende Juni 2200 in Ihuman an, . . Wie viele Häftlinge insgesamt
4 Ebenda. in diesen Tagen ermordet wurden, läßt sich nicht mehr genau feststellen.«4

648
Als Beispiel führt Ste-
phane COURTOIS den
Fall Winniza in der
Ukraine an, wo im
Juni 1943 in Gruben
mehrere hundert Lei-
chen gefunden wur-
den. Auf dem Gelän-
de hatten die
sowjetischen Macht-
haber einen Kultur-
und Freizeitpark er-
richtet. ..

Folgt man den Angaben von Stephane C O U R T O I S im Schwarzbucb des


Kommunismus, so zwang »der deutsche Vorstoß während der ersten
Kriegsmonate den NKWD, einen Großteil seiner Gefangnisse, Arbeitsko-
lonien und Lager zu evakuieren, denn sonst wäre die Gefahr, daß sie in die
Hände des Feindes fallen, groß gewesen. Zwischen Juni und Dezember
1941 wurden 210 Kolonien, 135 Gefängnisse und 27 Lager, d. h. 750000
Häftlinge, nach Osten verlegt«.5 » N A S S E D K I N , der Gulag-Direktor, behaup- 5 Stéphane C O U R -

tete in seiner Bilanz über >die Gulag-Aktivitäten während des Großen TOIS (Hg.), Das
Vaterländischen Krieges«, daß >die Evakuierung der Lager im allgemei- Schwarzbuch des
nen in organisierter Form vor sich ging*. Doch fügte er hinzu: >Weil es an Kommunismus, Piper,
Transportmitteln fehlte, wurden die meisten Häftlinge zu Fuß evakuiert, München 51997, S,
250.
und zwar über Entfernungen von über 1000 Kilometern.* Man kann sich
vorstellen, in was für einem Zustand die Häftlinge am Ziel ankamen.
Wenn keine Zeit blieb, die Lager zu evakuieren - was in den ersten Kriegs-
wochen öfters vorkam -, wurden die Häftlinge kurzerhand an die Wand
gestellt. Dies war vor allem in der westlichen Ukraine der Fall, wo die
NKWD Ende Juni 1941 in Lemberg 10000 Häftlinge massakrierte, im
Gefängnis von Lutsk 1200, in Stanyslawiw 1500, in Dubno 500 usw. In
den Regionen LEmberg, Schitomir und Winniza entdeckten die Deut- 6 Ebenda, S, 250 ff.
schen bei ihrer Ankunft Dutzende von Massengräbern.« 6
Andreas N a u m a n n

649
Das Massaker von Marzabotto

m April 2 0 0 2 gedachte der damals amtierende Bundespräsident J o -


I hannes RAU bei einem Italienbesuch eines Massakers, das >Nazi-Fa-
schisten« im Herbst 1 9 4 4 unter harmlosen Zivilisten in der Stadt Mar-
z a b o t t o angerichtet haben sollten.
In den dazu verbreiteten Greuelgeschichten wird behauptet, daß Sol-
daten der Waffen-SS unter Sturmbannführer (Major) Walter REDER ( 1 9 1 5 -
1 9 9 1 ) Marzabotto zerstört hätten. Während links und rechts von ihm
seine Männer Frauen und Kinder ermordet hätten, habe er — trotz seiner
schweren körperlichen Behinderung durch einige Verwundungen - meh-
rere Frauen vergewaltigt, unter ihnen eine N o n n e . Einer Schwangeren
sei der B a u c h mit B a j o n e t t e n aufgeschlitzt und ihr K i n d aufgespießt
worden. Auch seien E i n w o h n e r in die Kirche getrieben worden, die die
»Hyänen und Mörder in schwarzen U n i f o r m e n « (so RAU) dann angezün-
det hätten. 1 Wegen der offensichtlichen Ähnlichkeit mit der 1 .egende um
das französische D o r f O r a d o u r sprach man bald vom »italienischen Ora-
dour<.2
D i e Angaben der Opferzahlen waren widersprüchlich: Sie reichten von
2 0 0 bis 2 0 0 0 Toten. 3
Dieser Propagandamythos der italienischen Kommunisten hält einer
kritischen Überprüfung nicht stand. D i e Tatsachen sind folgende:
Im S e p t e m b e r 1 9 4 4 standen die deutschen Truppen in Italien in der
>Gotenlinie<, die sich quer durch die Halbinsel von La Spezia bis nach
Ravenna erstreckte, in schweren Abwehrkämpfen gegen Briten, Ameri-
kaner und Kanadier. D i e bald nach dem Abfall Italiens im Jahre 1943
aufgetauchten Partisanen wurden im S o m m e r 1944 nach der kampflo-
sen Aufgabe R o m s immer mehr zu einer G e f a h r für die deutschen Trup-
pen. Sie folgten dem Aufruf des italienischen Marschalls Pietro BADOGUO:
»Greift Befehlsstellen und kleine militärische Zentren an, tötet die Deut-
schen von hinten, damit Ihr E u c h ihrer G e g e n w e h r entziehen und weiter
töten könnt.« 4

1 Hans-Joachim VON LEESEN, »Schuldbekenntnissse am falschen Ort«, in: Preußi-

sche Allgemeine Zeitung, 27, 4. 1992, Siehe auch Beitrag Nr. 233, »Der Fall Mar-
zabotto«.
2 F. J. P. VEALE, Verschleierte Kriegsverbrechen (War Crimes discreetly veiled), Karl-

Heinz Priester, Wiesbaden 1959, S. 187 ff.


3 Lothar GREII,, Die Lüge von Marzabotto, Schild, München 1959, S. 16 f.

4 F. GÜNTHER, »Kampfraum Marzabotto/Italien«, in: Der Freiwillige Nr. 7, 2002,

S. 13.

650
Übersichtsskizze
Marzabotto aus:
Wolfgang KUNZ,
Der Fall Marzabotto.
Die Problematik des
Kriegsverbrechens,
Holzner, Würzburg
1967, S. 6.

Die Freischärler trugen oft Uniformen deutscher Truppenteile und


der italienischen Miliz. Unter ihnen waren auch deutsche Deserteure so-
wie italienische Frauen und Kinder. Alle deutschen Soldaten, die von
diesen Brigaden gefangengenommen wurden, hatten schwere Verstüm-
melungen und einen qualvollen Tod zu erwarten.1' Wer von der italieni-
schen Bevölkerung den Partisanen Unterstützung versagte, wurde rück-
sichtslos liquidiert/6
Die Partisanen hatten keinen Kombattantenstatus und handelten somit
gegen die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen. 7
In den Gebirgsschluchten der Apenninen fanden die Freischärler ge-
eigneten Unterschlupf und unauffindbare Zufluchtsorte. Aus den Hinter-
halten der Gebirge konnten sie leicht den deutschen Nachschub emp-
findlich stören. Zum offenen Kampf stellten sie sich meist nicht. Entgegen
allen humanitären Grundsätzen nahmen sie bei ihren Überfällen keinerlei
Rücksicht auf die im Kampfgebiet wohnende Bevölkerung, so daß auch
häufig unter alten Männern, Frauen und Kindern bedauernswerte Verlu-
ste entstanden.
5 GRF.1I., aaO. (Anm. 3), S. 27.
6Ebenda, S. 24.
7 VEALE,aaO. (Anm. 2), S. 85; Wolfgang K U N Z , Der Fall Marzabotto. Analyse eines
Kriegsverbrecberprozesses, Holzner, Würzburg 1967, S, 58.

651
Generalleutnant Max SIMON, Kommandeur der 1 6 , SS-Panzer-Division,
entschloß sich daher zu einer drastischen Maßnahme zur Abhilfe. Er zog
Truppen aus der Front heraus und setzte sie gegen die im Rücken der
Deutschen kämpfenden Partisanen ein. Die Panzer-Einheit Nr. 16 unter
ihrem Kommandeur Sturmbannführer Walter R E D E R , die als Eliteeinheit
galt, sollte diesen Auftrag übernehmen; auch Einheiten des Heeres, der
Fallschirmjäger, ein russisches Ostbataillon und die italienische Miliz der
>Brigata Nera< gehörten zur Panzer-Einheit R E D E R S .
Zwischen den beiden Gebirgsflüssen Setta und Reno hegt ein 8 Kilo-
meter breites gebirgiges Land, in dem sich der Anführer der kommuni-
stischen Brigade »Stella Rossat (Roter Stern) sein Hauptquartier einge-
richtet hatte. Er hieß Bruno M U S O L E S I , genannt >Lupo< (Wolf), und hatte
sich vom Unteroffizier zum >Major< befördert. 10 Kilometer Luftlinie
von Marzabotto entfernt, zwischen den Bergkuppen des Monte Sole und
Monte Salvaro, hielt seine rund 2000 Mann starke Brigade mit Schützen-
gräben ausgebaute Stellungen. Es fehlte nicht an Minen, Granatwerfern
und schweren MGs. Die Alliierten versorgten diese Brigade aus der Luft.
Trotz Maßnahmen für die Geheimhaltung von R E D E R S Unternehmen
hatte der Priester Don FORNANSINI den Angriffsplan an das Partisanen-
hauptquartier verraten, so daß für die Deutschen das Überraschungs-
moment verloren war.
R E D E R führte wegen seiner im Osten erlittenen schweren Verwundun-
gen (Verlust des linken Armes, eingeschränkter Gebrauch des rechten
Arms und beider Knie) seine vier Kompanien durch Funk von einem
beherrschenden Hügel aus. Nach Einnahme der GebirgsStellungen am
Monte Sole zwischen dem 29. und 30. September 1944 verteidigten sich
die Partisanen in Bergdörfern, R E D E R mußte schwere Waffen zur Unter-
stützung nachziehen. Mehrere Dörfer brannten daher ab, und Einwoh-
ner kamen dabei wegen der rücksichtslosen Kampfweise der Partisanen
zu Tode. Das war nicht die Schuld der Deutschen.
Die deutschen Verluste betrugen 24 Tote, 60 Verwundete und 6 Ver-
mißte. Bei den Partisanen waren es etwa 2000 Tote. s
Während der gesamten deutschen Operation blieb die Ortschaft Mar-
Von oben: Max S I M O N zabotto außerhalb des Kampfgebiets jenseits des Flusses Reno liegen.'
( 1 8 9 9 - 1 9 6 1 ) 639.
In der Stadt selbst herrschte zur fraglichen Zeit völlige Ruhe. Die dort
Eichenlaubtrräger;
Walter REDER und Al- stationierten Heereseinheiten und italienischen Miliztruppen fanden kei-
bert KESSEL RING. nen Anlaß, gegen Ruhestörer vorzugehen oder Repressalien anzuwen-
den, Die Einwohnerschaft hatte nur deshalb Verluste zu ertragen, weil
wehrfähige Männer zu der »Stella Rossa<-Brigade gehörten und bei den

8 VEALE, ebenda, S . 172 u. 190.


9 Walter D A H L , Ehrenbuch des deutschen Soldaten, FZ, München 1986, S . 456.

652
Feuergefechten im Setta-Tal gefallen waren. Allerdings erlitt die Zivilbe-
völkerung von Marzabotto lange nach diesen Kämpfen schweren Schaden
an Leben und Gut, als die Ortschaft Ziel alliierter Bombenangriffe und
amerikanischer Artillerie wurde.10 Dabei wurden auch Kirchen zerstört. Ebenda, S. 456.
Weder ein Soldat der SS-Panzer-Aufklärungsabteilung 16 noch Walter
REDER hat jemals Marzabotto betreten. Es ist daher eine Lüge, wenn
später behauptet wurde, er und seine Panzer-Grenadiere hätten in dieser
Stadt Massaker verübt und Zerstörungen angerichtet." Selbst in der Glori- 11 Ebenda, S. 457;

fizierungsschrift der italienischen Partisanenvereinigung ist an keiner Stelle VEALE, a a O . ( A n m .


die Rede davon, daß es zu kriegsrechtswidrigen Handlungen von Seiten der 2 ) , S . 1 7 1 ; GREIL,

Deutschen gekommen sei. Ebenso wenig spricht Lupos Schwester Bruna aaO. (Anm. 3),
S. 38.
MUSOLESI, die an den Kämpfen teilnahm, in ihrer Schrift Epopea Partigiana
12 GREIL, ebenda,
von deutschen Greueltaten.12 Wenn auch nur der geringste Tatbestand zu
finden gewesen wäre, wären solche Vorkommnisse in dieser Literatur hef- S. 3 6 .

tig angeprangert worden.


In völligem Widerspruch zu
den nach Kriegsende erhobenen
Behauptungen bewahrte der
deutsche Kommandeur auch im
Kampf die ihm selbstverständli-
che soldatische Ritterlichkeit.
Auf seinen Befehl hin wurden
alle verwundeten Zivilisten —
gleichgültig, ob sie Partisanen
waren oder nicht - sofort ord-
nungsgemäß von Sanitätsdienst-
graden versorgt. Er verzichtete in
seinem Gefechtsstreifen auch
auf Repressalien und Hinrichtun-
gen von Partisanen, wozu er nach
den Bestimmungen der Haager
Landkriegsordnung und aufgrund des Bandenbekämpfungsbefehls von Der Monte Sole nahe
General KESSELRING berechtigt gewesen wäre.13 Durch persönliche Inter- Marzabotto, wo MU-
vention verhinderte R E D E R im letzten Augenblick die von deutschen Si- SOLESI und seine Parti-
cherheitsbehörden im rückwärtigen Gebiet bereits angeordnete Deporta- sanengruppe »Stella
Rossa< Stellungen
tion von 2000 italienischen Männern nach dem Osten. Offiziere und
ausgebaut hatten.
Mannschaften der Panzer-Aufklärungsabteilung 16 wurden von der dank-
baren Bevölkerung Corregios tagelang als Helden gefeiert. Allein dem
Dazwischentreten R E D E R S hatte es die Ortschaft Monzone zu verdanken,
daß sie nicht von Heerestruppenteilen niedergebrannt wurde. R E D E R , der
ein vorbildlicher Offizier und mit dem Deutschen Kreuz in Gold und dem Ebenda, S.31.
Ritterkreuz ausgezeichnet war, wurde von seinen Soldaten verehrt.

653
Nach der Vernichtung der kommunistischen Partisanenbrigade setzte
Marschall Pietro B A D O G U Ö R E D E R auf die Kriegsverbrecherliste. Der bri-
tische Militärsender in Bari unter Führung von deutschen Emigranten
verbreitete die wildesten Greuelmeldungen über ihn. Er geriet später in
Der Gouverneur des amerikanische Gefangenschaft, in der Untersuchungen gegen ihn wegen
US-Staates Alabama mangelnden Beweismaterials eingestellt wurden. Er wurde am 15. Mai
ernannte am 16. 1945 entlassen und später wieder verhaftet, am 30. September 1947 den
November 1983 Briten übergeben, deren Militärgericht zu demselben endastenden Er-
den Ritterkreuzträger gebnis kam. Trotzdem wurde R E D E R am 13. Mai 1948 an die italieni-
Walter REDER wegen
seiner vorbildlichen
schen Militärbehörden ausgeliefert.
Haltung zum >Ehren- Der Prozeß vor einem italienischen Militärgericht vom 18. September
Oberstleutnant der bis 31. Oktober 1951 war eine juristische Farce mit schweren Rechtsver-
Alabama-Staatsmiliz*. stößen. Ernsthafte Schuldbeweise für von den Deutschen verursachte
Blutbäder lagen nicht vor. Trotzdem mußte Anklage erhoben werden,
die Presse und der kommunistische Pöbel verlangten danach. Ais Ort
des Prozesses wurde bewußt Bologna gewählt, eine Hochburg der Kom-
munisten.
Da R E D E R S Vorgesetzte, General KF.SSEI.RING und Generalmajor Max
S I M O N , nach einem Prozeß vor einem britischen Militärgericht bereits
aus der Haft endassen worden waren, war es nun R E D E R , der als letztes
Opfer büßen mußte. Gleichzeitig wollten die Kommunisten durch die
Anklage von den Massenmorden und Greueltaten der kommunistischen
14 Giorgio PTSANO, Resistenza ablenken.14
Aprile 1945. I Giorni Pauschal Wurden R E D E R sämtliche - auch natürliche - Todesfälle der
de la Strage (Die Bevölkerung in der Toskana und Emilia im Herbst 1944 als Morde zur
Tage des Gemet- Last gelegt. Entlastungszeugen wurden erpreßt, mißhandelt und mit dem
zels), Val Padana, Tod bedroht. Entlastungsmaterial wurde nicht zugelassen. Die schwerste
Milano 1975; das
ganze Buch be- Anklage kam von Unterscharführer Jules L E G O L I , einem elsässischen Frei-
schreibt mit Fotos willigen der Waffen-SS, der bei Cadotto am 21. September 1944 zu den
die kommunisti- Partisanen übergelaufen war. Der französischen militärischen Abwehr
schen Massaker an ausgeliefert, mußte er als Kollaborateur um sein Leben fürchten. Also
italienischen versuchte er, sich freizukaufen, indem er R E D E R belastete: Dieser habe
Landsleuten. vor dem Einsatz gegen die Partisanen im Settatal den Befehl gegeben,
sofort Vergeltung zu üben und sämtliche in der Nähe befindlichen Per-
sonen zu erschießen. Beim Prozeß brauchte L E G O L I nicht zu erscheinen,
nur seine eidesstatliiche Erklärung wurde verlesen. Er war für immer
verschwunden, wahrscheinlich vom französischen Geheimdienst liqui-
diert. So konnten seine Aussagen nicht durch ein Kreuzverhör überprüft
werden. Bei der Bewertung der Aussage folgte das Gericht der in alliier-
ten Kriegsverbrecherprozessen üblichen Praxis: Artikel 19 des Londo-
ner Statuts befreite das Militärgericht in Nürnberg ausdrücklich von »tech-
nischen Regeln der Beweisführung«.

654
Während die Ankläger dreieinhalb Jahre Zeit zur Vorbereitung gehabt
hatten, blieben den Verteidigern nur zwei Monate. Die Anwälte waren Ita-
liener, und der deutsche Verteidiger war Dr. Claus VON H E Y D E B R E C K . Das
riesige Aktenmaterial konnte zeitlich nicht gründlich durchgearbeitet wer-
den, zumal noch die italienischen Dokumente übersetzt werden mußten. Über die Kämpfe ge-
Der italienische Rechtsanwalt Nevio M A G N A R I N I versagte aus Angst gen die italienischen
vor den massiven kommunistischen Drohungen vollständig. Seine Kol- Partisanen schrieb
legen mußten Polizeischutz erhalten. Täglich tobte während der Verhand- Feldmarschall Albert
KESSELRINC: »Es gibt in
lungen der schreiende kommunistische Pöbel vor dem Gerichtsgebäude. der Skala der Verbre-
Der Richter STELLACI war ein Kommunist, der R E D E R als »Bestie«, »Mör- chen keines, das
der«, »Schurke« und »Verbrecher« bezeichnete. Er hielt Lobreden auf die nicht einmal oder
Diktatur des Proletariats. Es ging gar nicht mehr um Schuld oder Un- viele Male, ja, lau-
schuld des Majors R E D E R , sondern um eine politische Entscheidung. fend vorgekommen
wäre. Der immer
Die ausnahmslos von der KPI zur Verfügung gestellten >Zeugen< waren wiederkehrende Miß-
für ihre Rolle genauestens präpariert worden und logen im Gerichtssaal brauch des Roten
das Blaue vom Himmel, um dann ihre Meineide bedenkenlos zu schwö- Kreuzes muß hier
ren, wie sie es bereits im Prozeß gegen General Max SIMON getan hatten. besonders betont
Das Gericht hätte R E D E R zum Tode verurteilen müssen, wenn nur ein werden.«
Bruchteil der gegen ihn erhobenen Vorwürfe zugetroffen hätte. Ange-
sichts des politischen Drucks war ein Freispruch jedoch nicht durchsetz-
bar. Der Bestand der damaligen italienischen Regierung hing von einer
unsicheren Minderheit ab, die von einer Koalition der antikommunisti-
schen Parteien beherrscht wurde. Ein Freispruch R E D E R S hätte einen sol-
chen Sturm zügelloser politischer Gefühle hervorgerufen, daß der Sturz
der Regierung hätte folgen können, der alsdann der erste Schritt zur Errich-
tung der von den Kommunisten angestrebten Diktatur des Proletariats in
Italien gewesen wäre. Einen Freispruch hätten alle Partisanen in Italien als
persönliche Beleidigung empfunden.15 Also wählte man den Mittelweg der 15 KUNZ, a a O .
Verurteilung R E D E R S ZU lebenslänglicher (ehrenvoller) Festungshaft, nicht (Anm. 7), S. 72;
zu Gefängnis. Die zunächst auch ausgesprochene Degradierung wurde am GREIL, a a O . ( A n m .
16, März 1954 aufgehoben und R E D E R als Kriegsgefangener anerkannt. 3 ) , S . 6 6 ; VEALE,

Bedeutende Völkerrechtler haben übereinstimmend erklärt, daß das aaO. (Anm. 2),
Urteil dieses Scheinprozesses aus völkerrechtlichen, strafrechtlichen und S. 163 ff.
strafprozessualen Gründen nicht haltbar war. Aber Italien brauchte ein
Opfer und insbesondere die gerichtliche Bestätigung von Greueltaten
der Waffen-SS.
Bald bildeten sich Hilfskomitees ausländischer Soldatenverbände, die
gegen das Urteil protestierten, Ihnen schlossen sich der Vatikan und die
Bischöfe an. Im März 1956 richtete der österreichische Staatssekretär
G R A F einen öffentlichen Appell zugunsten R E D E R S an das italienische
Volk und dessen Regierung. Die italienischen Verbände der »Familienan-
gehörigen der in Rußland Vermißten und Gefangenen« wandten sich mit

655
einem Gnadengesuch an den italienischen Justizminister M O R O . Im Juli
1956 machte die italienische >Liga für Menschenrechte< eine Eingabe beim
italienischen Außenminister M A R T I NO, ebenso das Vatikanische Staatsse-
kretariat, desgleichen italienische Veteranenverbände. In England bildete
sich aus britischen Heeres- und Marineoffizieren ein Hilfskomitee, das
im Juli 1957 unter der Leitung der schottischen Aristokratin Mara R U S S E -
T A V E R N A N eine Petition an den italienischen Staatspräsidenten richtete.
1958 schritten englische Heeresoffiziere zu einer Plakataktion in Lon-
don. Als Staatspräsident G R O N C H I ZU einem Staatsbesuch in England ein-
traf, erhielt er aus allen Kreisen der britischen Bevölkerung Telegramme
und Bittgesuche für R E D E R .
In Deutschland wurde von privater Seite die >Gaeta-Hilfe< ins Leben
gerufen durch ehemalige Frontsoldaten und Feldmarschall Erich VON
M A N S T E I N und Albert K E S S E L R I N G , Großadmiral Karl D O N I T Z und Ge-
neraloberst Paul H A U S S E R , Belgische, französische, niederländische, fin-
nische, kanadische und amerikanische Frontkämpferorganisationen folg-
16 GREIL, a a O ten dem Beispiel.16
(Anm. 3), S. 73 ff. Die Bundesregierung rührte sich nicht, da sie sich darauf berief, daß
R E D E R österreichischer Staatsbürger sei. Sie ließ dabei außer acht, daß
R E D E R sechs Jahre in deutscher Uniform für Deutschland gekämpft und
seine Gesundheit ruiniert hatte. Am 24. Januar 1985 wurde R E D E R als
kranker Mann aus der Festung Gaeta nach Osterreich entlassen, wo er
bereits wenige Jahre später am 26. April 1991 in Wien verstarb.
Friedrich Karl Pohl

62 Kilometer südlich
von Bologna, also
nicht weit von Marz-
abotto entfernt, liegt
der 1969 eingeweihte
deutsche Soldaten-
friedhof am Futa-Paß
mit 3 0 7 1 6 Kriegsto-
ten. Bei seinem Marz-
abotto-Besuch im Jah-
re 2002 versagte
Bundespräsident Jo-
hannes RAU den dort
liegenden deutschen
Soldaten einen ehren-
den Besuch.

656
Greise, Kinder und Säuglinge im Soldatenfriedhof

n den Monaten vor und nach Ende des Zweiten Weltkrieges errichte-
I ten die Alliierten Konzentrationslager, verharmlosend meistens als >In-
ternierungslager< bezeichnet. Wir haben bereits solche Lager auf deut-
schem und polnischem Boden ausführlich dargestellt1 und die dort ver-
übten Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeprangert. Auch in
Frankreich gab es solche Internierungslager, in denen Zivilisten, alte Leute
und Kinder, auf skandalöse Weise umkamen.
Auf einem Hügel nahe der kleinen Ortschaft Huisnes-sur-Mer, die
US-General PATTON beim Durchbruch von Avranches mit seiner 1. In-
fanteriedivision am 1. August 1944 >befreite<, liegt in Sichtweite des be-
rühmten Mont Saint-Michel der einzige deutsche Gruftbau in Frank-
reich.
In der am 14. September 1963 eingeweihten Kriegsgräberstätte auf
dem Mont-de-Huisnes sind offiziell 11 956 deutsche Soldaten des Zwei-
ten Weltkrieges bestattet, die der Umbettungsdienst des Volksbundes
Deutscher Kriegsgräberfürsorge im Jahre 1951 aus verschiedenen De-
partements der Bretagne und südlich der Normandie geborgen hatte.
Dort hegen aber nicht nur junge deutsche Soldaten, die bei der Invasi-
onsschlacht im Sommer 1944 gefallen sind. Es ruhen da auch Zivilopfer,
die unmittelbar vor und nach Kriegsende im Gefangenenlager von Poitiers
eines grauenvollen Todes gestorben sind.
Darunter befinden sich sehr alte deutsche Zivilisten wie der 83jährige
Albert MÜLLER oder der 87jährige Karl SCHRÖDER, aber auch Kleinkin-
der, etwa Dieter KOBEL (3 Jahre alt), oder gar Babys wie zum Beispiel
Evelyne DIESER, 5 Wochen alt. Alle diese Unglücklichen starben an Hun-
ger, unter der Folter oder wurden in einigen Fällen standrechtlich hinge-
richtet.
Ein besonderes Schicksal hebt der Volksbund Deutscher Kriegsgrä-
berfürsorge 2 hervor, nämlich das des 14jährigen Deutsch-Franzosen Ed-
mund BATON, Gruft 59, Grabkammer 90. Im Februar 1945 wird der aus
dem saarländischen Lauterbach stammende Edmund BATON angesichts
der näher rückenden Front zusammen mit den Schülern seines Gymna-
siums nach Bad Reichenhall evakuiert. Da er die Trennung von der Mut-
ter nicht erträgt, springt er mit einem Mitschüler aus dem Zug und ver-
sucht, auf eigenem Fuß in die saarländische Heimat zu gelangen. In Höhe
von Ludwigsburg müssen sich die beiden wegen der starken Kämpfe
1 Siehe Beiträge Nr. 386, 389 u. 390,
2 http://www.volksbund.de/downloads/normandie_2003.pdf

657
In der am 14.
September 1963
eingeweihten Kriegs-
gräberstatte auf dem
Mont-de-Huisnes,
nahe der Bucht von
Saint-Malo, sind offi-
ziell 11 956 deutsche
Soldaten des Zweiten
Weltkrieges bestattet.

eine Woche lang verstecken. Es gelingt ihnen, amerikanische Soldaten


dazu zu überreden, sie über den Rhein bis Straßburg mitzunehmen. Von
dort wollen sie mit dem Zug nach Hause fahren. Leider werden die bei-
den mitten in der damals herrschenden starken antideutschen Stimmung
aufgegriffen, entweder von Franzosen oder gar von der amerikanischen
Militärpolizei, wie der Volksbund mutmaßt. Edmund und sein Mitschü-
ler werden quer durch Frankreich ins Gefangenenlager Poitiers gebracht.
Dort stirbt er am 14. Juli 1945 an Hunger. Als die Mutter, eine gebürtige
Französin, vom Tod ihres kleinen Edmund erfahrt, wird sie wahnsinnig.
In jenem berühmt-berüchtigten Konzentrationslager von Poitiers im
damals gaullitisch-kommunistisch regierten Frankreich starb man übri-
gens sehr jung:
Jacqueline BUCHER: 26. 1 2 . 1 9 4 4 - 2 6 . 5.1945
Evelyne D I E S E R : 6. 7.1945 - 13. 8.1945
Heide FRIEDMANN: 1. 2. 1945 - 19. 5. 1945
Renate CAMRATH: 1. 7 . 1 9 4 4 - 5. 8.1945
Anneliese HEIDE :R: 4. 8. 1943 - 16. 6. 1945
Klaud H O L O G A : 29. 10. 1944- 6. 6. 1945
Elfrida KALBERAM: 26. 4. 1944 - 28. 5.1945
Dieter KOBEL: 30. 11. 1 9 4 2 - 6 . 10. 1945
Samgard KROECHELER: 12. 1. 1 9 4 5 - 2 6 . 4. 1945
Charles L A N G : 22. 2. 1945 - 25. 5. 1945
Monique M E R K E L : 23. 3. 1945 - 18. 5. 1945
Pierre ROSSMANN: 4.1. 1 9 4 4 - 1 4 . 3. 1945

658
Pierre SPENGLER: 2 4 . 1 0 . 1 9 4 4 - 2 9 . 5 . 1 9 4 5
Manfred SCHWARZ: 1 4 . 1 1 . 1 9 4 4 - 1 6 . 5 . 1 9 4 5
Ermunde S C H W O R M : 6 . 1 0 . 1 9 4 3 - 2 9 . 4 . 1 9 4 5
Albert STEINIGGE: 3 1 . 3 . 1 9 4 4 - 1 6 . 6 . 1 9 4 4
Roland T R A O T : 1 9 . 1 2 . 1 9 4 4 - 4 . 6 . 1 9 4 5
Henri T R E K , E R : 7 . 1 1 . 1 9 4 4 - 1 6 . 5 . 1 9 4 5
Die Gruftanlage Mont-de-Huisnes ist ein
Fridhelm W E H R : 9 . 6 . 1 9 4 4 - 1 3 . 7 . 1 9 4 5 kreisrunder, zweigeschossiger Bau von 47
Antoinette SPAHN: 3 1 . 3 . 1 9 4 5 - 1 6 . 5 . 1 9 4 5 Metern Durchmesser. An seiner Innenfront sind
Régine PIETRI: 8 . 1 0 . 1 9 4 4 - 1 9 . 5 . 1 9 4 5 zwei übereinander liegende offene Umgänge
Trautel GROSSART: 1 4 . 4 . 1 9 4 5 - 1 3 . 6 . 1 9 4 5 mit jeweils 34 Grüften angeordnet. In jeder
usw. usw. Gruft ruhen 180 Tote, die Namen sind auf
Bronzetafeln festgehalten.
Anläßlich der Feierlichkeiten zum
50. Jahrestag der alliierten Invasion
wurde die Weigerung des damals
amtierenden Bundeskanzlers Ger-
hard S C H R Ö D E R , einen deutschen
Soldaten friedhof zu besuchen, viel-
fach kritisiert und stieß sogar im
Ausland auf Unverständnis. Die
italienische Zeitung II Jornale zum
Beispiel ließ über ihren Reporter
Alessandro CAPRETTINI kritisch an-
merken: 3
»So viele, so sehr viele junge
Männer der »anderen Seite< sind auf
der Halbinsel begraben, ohne Blu-
men und E h r u n g e n . Gerhard
SCHRÖDER hätte als Teilnehmer der
Feierlichkeiten die M a u e r des
Schweigens durchbrechen können,
die sie, von seltenen Ausnahmen
abgesehen, seit mehr als einem hal-
ben Jahrhundert umgibt. Aber der
Kanzler wollte nicht. Er hat die Auf-
forderungen, die vielen in der Nor-
mandie begrabenen Landsleute zu
ehren, als »von parteipolitischem

1 www.gerhardfrey.de/-/
Il_Giornale.html

659
Bundeskanzler
Gerhard SCHRÖDER
(hier mit Jacques
C H I R A C ) bei den >Feier-
lichkeiten< in der
Normandie im Juni
2004.

Kalkül< bestimmt abgetan. Sie bleiben ein verleugnetes Heer. Vergessen,


Als ob sie nie existiert hätten.«
»Und auf dem Friedhof der geschlagenen Deutschen legt nicht ein-
mal S C H R Ö D E R eine Blume nieder«: C A P R E T T I N I S Überschrift für seinen
Bericht aus der Normandie gilt im gleichen Maße für die unzähligen Zi-
vilisten, die 1945/46 dem Deutschenhaß zum Opfer fielen.
In der Kriegsgräberstätte Mont-de-Huisnes herrscht eine Atmosphä-
re von großer Würde. Die Besucherbücher an den Eingängen sind voll
von beeindruckenden handschriftlichen Einträgen. Ein Franzose trug ein:
»Die Menschlichkeit muß den Krieg unterdrücken, sonst unterdrückt der
Krieg die Menschlichkeit.« Philippe Gautier

660
Nachkriegszeit

661
Die wohl entscheidende Antriebskraft
des Wiederaufbaus und Wiederauf-
schwungs waren der Wille und der Ein-
satz aller Schichten der Bevölkerung.
In Deutschland befand sich, verstärkt
durch zurückkehrende Emigranten,
eine beschämend große Zahl von Erfül-
lungsgehilfen der Sieger. Durch die un-
zähligen Prozesse und Verfahren im
Zusammenhang mit der Entnazifizie-
rung wurde »die Lüge von der deut-
schen Kriegsschuld weiter im Volk
verankert und das Kollektivschuld-
bewußtsein verstärkt«. (Rolf KOSIEK)

662
Deutsche als polnische Opfer mitgezählt

I n den ersten Jahrzehnten nach 1945 und teilweise bis in die Gegenwart
wurden die Verluste des polnischen Volkes im Zweiten Weltkrieg mit
rund sechs Millionen Toten angegeben. Es hieß zum Beispiel bei deutsch-
polnischen Politikertreffen, daß »jeder fünfte Pole« durch deutsche Schuld
umgekommen sei oder daß Polen »22 Prozent seiner Bevölkerung durch
den deutschen Überfall verloren« habe. So sprach der Staatsminister im
Auswärtigen Amt Klaus VON DOHNANYI bei einem deutsch-polnischen
Treffen in Ingelheim Ende der siebziger Jahre von sechs Millionen getö-
teter Polen.'
Doch diese Opferzahl ist falsch, Sie ist um mehr als die Hälfte zu hoch
und kam vor allem dadurch zustande, daß man die deutschen Vertriebe-
nen aus den Oder-Neiße-Gebieten in die Menge der polnischen Opfer
1 Alfred SCHICKEL,
einbezog.
Der Historiker Alfred SCHICKEL wies 1979 darauf hin, daß bei den
1 »Statistik und
betreffenden Angaben Medien und Politiker bis dahin »lediglich eine Wirklichkeit«, in:
Bayernkurier, 10. 2.
Zahlenangabe der Polen ungeprüft übernommen und weiter verbreitet«
1979, S. 12; ähnlich
haben, die nicht stimmt. Er zeigte auf, daß die 1946 von Polen angegebe- ders., »Wie hoch
nen >»6,028 Millionen polnischer Opfer< in Wirklichkeit auf einer über- waren die polni-
aus unseriösen Schätzung zweier polnischer Studenten beruhen, die die- schen Kriegs Verlu-
se 1946/47 im Auftrag des Warschauer Kriegsentschädigungsamtes ste?« in: Das Gymna-
vornahmen und bei welcher viele Opfer mehrfach gezählt wurden«. Die- sium in Bayern, Nr.
se fehlerhafte Schätzung wurde dann an die UN weitergegeben und ge- 10,1979, S. 22 f.

Die Zahl der polni-


schen Kriegsopfer hat
nicht an Aktualität
verloren: Noch im
Frühjahr 2007 forder-
ten die Zwillingsbrü-
d e r KACZYNSKI, b e i e i -
ner Reform der
Europäischen Union
Polens Kriegstote zu
berücksichtigen.

663
wann durch deren Veröffentlichung gleichsam amtlichen Charakter. Ins-
besondere die Historiker übernahmen sie, ohne eine weitere Prüfung
auf deren Richtigkeit anzustellen.
Zum Kern der Sache kam ScHICKEL, als ihm 1977 Daten aus dem
polnischen Statistischen Jahrbuch des Jahres 1956 zugänglich gemacht wer-
den, die sich auf die Jahre 1931 und 1946 bezogen. Danach betrug die
Gesamtbevölkerung Polens 1931 29892000 Menschen und im Jahre 1946
dann nur noch 23625000. Die Differenz von 6267000 Einwohnern schien
die alte Verlustzahl der 1946 geschätzten 6,028 Millionen zu bestätigen.
Doch die im Jahrbuch angegebene und nachfolgend abgedruckte Tabelle
für die einzelnen Provinzen gab die Erklärung.

Provinzen 1931 1946


Millionen Millionen
Warschau (einschl. der
Stadt Warschau) 3,552 2,662
Bydgoszcz 1,566 1,457
Poznan 2,311 2,086
Lodz (einschl. der
Stadt Ixidz) 2,385 2,015
Kielce 1,858 1,702
Lublin 2,069 1,753
Bialystok 1,194 0,944
Olsztyn 1,030 0,442
Gdansk 1,065 0,732
Koszalin 0,789 0,585
Szczecin 0,941 0,308
Zielona Gora 0,884 0,347
Wroclaw 2,604 1,769
Opole 1,040 0,792
Katowice- 2,608 2,635
Krakow 2,195 2,133
Rzeszow 1,801 1,535
Gesamtbebölkerung: 29,892 23,625
Differenz von 1931 zu 1946: 21,0 Prozent.

»Nach dieser Tabelle werden in die Volkszählung von 1931 die Be-
wohner von Bezirk und Stadt Allenstein (= Olsztyn), Danzig (= Gd-
ansk), Köslin (= Koszalin), Stettin (= Szczecin), Grünberg (- Zielona
Gora), Breslau (= Wroclaw) sowie Oppeln (= Opole) einbezogen, ob-
wohl diese Städte samt ihrem Umland 1931 zum Deutschen Reich ge-
hörten und Danzig damals eine »Freie Stadt< war, also auch nicht unter

664
polnischer Hoheit stand, vor allen Dingen aber
dort auf keinen Fall insgesamt 8,353 Millio-
nen Polen wohnten. Hingegen ergab die deut-
sche Volkszählung vom 16. Juni 1933, daß im
Bezirk Allenstein (Ostpreußen), in Pommern,
der Grenzmark Posen-Westpreußen, Nieder-
und Oberschlesien insgesamt 8,123 Millionen
Menschen wohnten, welche die deutsche
Staatsangehörigkeit hatten.« Diese waren zum
allergrößten Teil Deutsche. Die dann 1946 feh-
lenden 3,378 Millionen Menschen dieser Städ-
te und Gebiete waren größtenteils deutsche
Flüchtlinge oder Vertriebene aus diesen Pro-
vinzen.
Damit ergibt sich, daß, ob bewußt oder un-
bewußt sei dahingestellt, »die von der polni-
schen Regierung bzw. deren Statistischem Amt
aufgemachte Verlustrechnung von 6,267 Mil-
lionen Menschen die deutschen Heimatvertrie-
benen und Flüchtlinge mit einschließt und bei-
spielsweise Breslau als polnischen Verlust
ausgibt«. Und SCHICKEL urteilt zu Recht: »Eine
solche Rechnung ist aber nicht nur fehlerhaft,
sie verletzt auch die an anderer Stelle erwähn-
te moralische Kategorie.«
Demnach sind von den von polnischer Sei-
te angegebenen 6,267 Millionen Toten die
3,378 Millionen deutschen Flüchtlinge und Ver-
triebenen dieser Gebiete abzuziehen, was dann
eine Verlustzahl von 2,889 Millionen für Po-
len ergäbe. Doch diese ist in Wirklichkeit, wie
SCHICKEL im einzelnen nachweist, auch noch
zu hoch. Denn bei der Differenz zwischen den
Einwohnerzahlen von 1931 und 1946 sind fer-
ner unter anderem viele Auswanderer zu be-
rücksichtigen: allein 120000 in den ersten fünf
Jahren nach 1945 in die USA ausgewanderte

Der riesige Strom der Vertriebenen und Flüchtlinge, den


die Polen gern als eigenen Verlust angeben, hatte in ih-
rer neuen Heimat mit Wohnungsnot und derart mit
Hunger zu kämpfen, daß sie auf Abfälle zurückgriffen.

665
Polen. Mehr als 250000 kamen nach Großbritannien und zogen zum
Teil weiter, vor allem nach Kanada, Argentinien und Australien. Insge-
samt werden für diese Auswanderung maximal 1,25 Millionen, minde-
stens 640000 Polen angegeben. Ferner müssen noch die über 500000
Ukrainer, Weißrussen, Russen, Litauer und andere berücksichtigt wer-
den, die nach 1944 von Polen in die Sowjetunion umgesiedelt wurden,
während 2,1 Millionen Polen aus der Sowjetunion nach Volkspolen ka-
men, so daß sich dann eine Zahl von 3,849 Millionen Opfern ergäbe.
Da für die Zahlen von 1946 rund die Hälfte der deutschen Vertriebe-
nen aus Ostdeutschland, rund 1,5 Millionen, anzusetzen sind, kommt
S C H I C K E L schließlich auf eine obere Grenze, die durch Kontrollrechnun-
gen für einzelne Gebiete bestätigt wird, von 2,35 Millionen polnischen
Opfern im Zweiten Weltkrieg.
Von diesen müssen, wenn von deutscher Schuld gesprochen wird, die
in der Sowjetunion und durch die Sowjets umgekommenen Polen - Schät-
zungen dafür belaufen sich »auf über eine Dreiviertelmillion« — abgezo-
gen werden, da diese, wie die Opfer der Erschießungen von Katyn und
anderenorts, nicht auf das deutsche Schuldkonto gehen, sondern auf
das der Sowjets. Auch diejenigen Polen, die als Ostarbeiter, Kriegsgefan-
gene oder Angehörige der ANDERS-Armee nach Kriegsende nicht mehr
nach Polen zurückgingen, sind in Abzug zu bringen. SchiCKEL führt Schät-
zungen von 640000 bis 1,25 Millionen Polen an, die zwischen 1939 und
1946 ihr Land verließen und als »Bevölkerungsverluste« erscheinen, aber
nicht zu den Toten gerechnet werden dürfen.
Nach vorsichtiger Abschätzung sind daher die lange Zeit angegebe-
nen polnischen Verluste von sechs Millionen nach der geschichtlichen
Wirklichkeit auf unter die Hälfte dieser Zahl herabzusetzen.
Daß polnische amtliche Stellen die deutschen Vertriebenen und Flücht-
linge in die Zahl der polnischen Opfer einbezogen, stellt eine besondere
und kaum für möglich zu haltende Dimension der Vergangenheitsbewäl-
tigung dar. Hier liegt nicht nur wieder einer der Fälle vor, daß zu Lasten
Deutschlands Zahlen von Opfern, die von Deutschen verursacht sein
sollen, stark erhöht wurden, sondern es werden die Tatsachen um Täter
und Opfer genau auf den Kopf gestellt.
Es ist ferner bezeichnend, daß amtliche deutsche Historiker sich Jahr-
zehnte lang mit dieser Frage nicht befaßten oder eine Zahlenangabe ver-
mieden wie die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen von 1977.
Rolf Kosiek

666
Generalfeldmarschall Milch sollte erpreßt werden

D ie Siegerjustiz nach 1945 verstieß nicht nur in der Rechtsprechung


gegen grundlegende Normen des europäischen Rechtswesens, son-
dern auch in der Anklagebeschaffung bedienten sich die Alliierten der
übelsten Methoden. Einzelfälle wurden schon behandelt. 1
Ein weiterer skandalöser Fall ist der Versuch, Generalfeldmarschall
Erhard MILCH (1892-1972) zu falschen Beschuldigungen gegen Mithäft-
linge zu erpressen. Darüber gab der große Soldat am 9. April 1947 eine
eidesstattliche Erklärung, beglaubigt von dem Nürnberger Rechtsanwalt
Dr. Friedrich BERGOLD, Anwalt am Militärgericht II, ab, in der es heißt: 2
»Ich, Erhard MILCH, Generalfeldmarschall, geboren am 30. 3. 1892 in
Wilhelmshaven, z. Zt. Nürnberg, Justizgebäude, bin zunächst darauf auf-
merksam gemacht worden, daß ich mich strafbar mache, wenn ich eine

Erhard M I L C H , mit Al-


bert SPEER. Aus: David
IRVING, Die Tragödie
der Deutschen Luft-
waffe, Ullstein, Frank-
furt/M. 1970; Neuauf-
lage: Winkelried,
Dresden 2007.

1 Siehe Beitrag Nr, 374, »Fall Gaus beim Nürnberger Tribunal«, und Nr. 377,
»Ei n Beispiel alliierter Sieger jus tiz«.
2 Kopie des Originals im Archiv des Verfassers, der Frau Kitta WAGNER, Nürn-

berg, der Sekretärin Dr. BERGOLDS, für die Überlassung dankt. Der wesentliche
Teil der Erklärung ist auch zitiert in »Das >Recht< der Sieger«, in: National-Zei-
tung, 23. 3. 2007; diese eidesstattliche Erklärung mit etwas anderen Formulie-
rungen, die wohl durch die Rückübersetzung aus dem Französischen verursacht
sind, findet sich ebenso bei Maurice BARDECHE, Nürnberg oder Die Falschmünzer,
Karl Heinz Priester, Wiesbaden 1957, S. 89 f.

667
fälsche eidesstsattliche Erklärung abgebe. Ich erkläre an Eides Statt, daß
meine Aussage der Wahrheit entspricht und gemacht wurde, um als Be-
weismaterial einem Gerichtshof in Deutschland vorgelegt zu werden.«
Dann folgt eine Erklärung über Vorgänge im Amt des Generalluft-
zeugmeisters. Anschließend führt die eidesstattliche Erklärung weiter aus:
»Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch auf folgende Tatsa-
chen hinweisen:
Am 17. 9. 1945 suchte
mich in meinem Wohnraum
Kaufbeuren (Vernehmungs-
lager) der mir schon von
England her bekannte Ver-
nehmer Major EMERY, wie er
sich in England nannte, oder
ENGLÄNDER, wie er sich in
Deutschland nannte, auf.
Ich vermute, daß sein wirk-
licher Name ein anderer ist.
Er war, wie er mir einmal
erzählt hatte, Bankicr in
New York. Er leitete im eng-
lischen Vernehmungslager
Camp 7 die dort befindliche
amerikanische Verneh-
mungsgruppe, zu der auch
ein Capt. TRACY (wohl auch
Oben: Erhard M I L C H
Deckname) gehörte. Herr
erhält Besuch von
seinem Bruder. EME.RY fragte mich nach
Rechts: Dr. Friedrich meiner Abstammung und
BERGOLD, Anwalt am meinte, wenn ich jüdischer
Militärgericht II, war Abstammung sei, dann wür-
der Verteidiger BOR- de er mich aus der ganzen
M A N N S in Nürnberg.
weiteren Verfolgung heraus-
nehmen können. Als ich ihm
mitteilte, daß seine Vermu-
tung nicht zuträfe, meinte er,
dann könne er es nichts än-
dern.
Derselbe Herr besuchte
mich am 5.11.1945 in Nürn-
berg, als ich gerade durch ei-
nen amerikanischen Verneh-

668
mer verhört wurde; ich hörte zufällig, daß es ein Major M 0 H A G A N { ? ) sein
solle. Nach kurzer Unterredung zu Dreien bat E M E R Y M O H A G A N , uns
allein zu lassen. E M E R Y sagte mir dann, falls ich weiter zugunsten von
G Ö R I N G , S P E E R und den anderen im Internationalen Militärgerichtshof
Angeklagten aussagen würde, müßte ich selber mit einem Kriegsverbre-
cherverfahren gegen mich rechnen. Ich erwiderte, daß ich keinerlei Kriegs-
verbrechen begangen habe und daher nicht sehen könne, wie man mir
einen Prozeß machen wolle. E M E R Y antwortete: >Das ist eine Kleinigkeit.
Wenn wir wollen, können wir gegen jeden Deutschen einen solchen Pro-
zeß auf die Beine bringen, ganz egal, ob er ein Verbrechen begangen hat
oder nicht. Warum wollen Sie sich für G Ö R I N G , S P E E R USW. einsetzen?
Die würden es für Sie auch nie tun, und ich will Ihnen nur einen guten
Rat geben, sagen Sie gegen diese Leute aus, und zwar aus Ihrem eigenen
Interesse.« Ich erwiderte ihm, daß ich nur die Wahrheit sagen könne und
daß meine Person keine Rolle spiele und ich einen Prozeß nicht fürchte.
E M E R Y antwortete: >Sie müssen bedenken, daß Sie noch jung sind, daß
Sie wieder eine Rolle spielen können und daß Sie an Ihre Familie denken
müssen.«
Ich lehnte selbstverständlich sein wenn auch gut gemeintes Angebot
ab. Er schloß damit, daß er mir dann eben nicht helfen könne. Von die-
sem Augenblick an wußte ich, daß man versuchen werde, gegen mich
einen Prozeß wegen Kriegsverbrechen zu starten. Ich habe das auch so-
wohl damals in Nürnberg als auch in Dachau mehreren Kameraden und
auch dem Schweizer Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes in Genf
gegenüber zum Ausdruck gebracht.«
Wie vorausgesehen, wurde M I L C H von den Amerikanern angeklagt.
Am 14. Dezember 1946 wurde das Militärtribunal II für den >Milch-Pro-
zeß< geschaffen, vor dem er sich ab 20. Dezember im Nürnberger Justiz-
palast verantworten mußte. Ohne entsprechende Beweise wurde er am
17. April 1947 zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt, die im Ge-
fängnis von Rebdorf abzusitzen sei. Anfang 1951 wurde das Strafmaß
auf 15 Jahre Haft herabgesetzt. Am 4. Juli 1954 wurde M I L C H entlassen,
nachdem er fast zwei Drittel der Strafe verbüßt hatte.3 Er verstarb 1972
in Wuppertal. Rolf Kosiek

1 David IRVING, Die Tragödie der deutschen Lxßwaffe. Aus den Akten und Erinnerungen
von Feldmarschali Erhard mich, Ullstein Buch Nr. 3137, Frankfurt/M. 1970, S. 383-
389.

669
Erpreßte Zeugen vor alliierten Militärgerichten

m Rahmen der Siegerjustiz nach 1945 fanden außer in Nürnberg auch


I anderenorts viele Militärgerichtsprozesse gegen deutsche Politiker und
Soldaten statt. Diese Verfahren, die unter dem hehren Anspruch, Ge-
rechtigkeit walten zu lassen und dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen,
stattfanden, verletzten jedoch in großem Maße anerkannte Rechtsprinzi-
1 Beitrag Nr. 376, pien.1 Insbesondere versuchten die Betreiber, durch falsche Zeugenaus-
»Nürnberger sagen unberechtigte Vorwürfe als wahr erscheinen zu lassen oder Zeu-
Siegerjustiz ver- gen an ihrer Aussage zu hindern. Dazu wurden vielfach Zeugen mit
höhnte das Recht«. schweren Strafen ~ vor allem mit Auslieferung an Sowjets oder Franzo-
1 Beitrag Nr. 374,
sen, was damals den sicheren Tod bedeutete - für den Fall bedroht, daß
»Fall Gaus beim
sie nicht wie gewünscht aussagen würden, und nicht selten tatsächlich
Nürnberger Tribu-
nal«. veranlaßt, falsche Belastungen für Angeklagte anzugeben, die daraufhin
3 Beitrag Nr. 662,
trotz ihrer Unschuld verurteilt wurden. Herausragende und weit bekannt
gewordene Fälle waren die von Ministerialdirektor Dr. Friedrich G A U S 2
»Generalfeldmar-
schall Milch sollte und von Generalfeldmarschall Erhard M I L C H 3 beim »Hauptkriegsverbre-
erpreßt werden«. cherprozeßi in Nürnberg. Doch auch in vielen anderen Strafverfahren
wurde von der anklagenden Seite ähnlich gehandelt.

Der Nürnberger
Justizpalast.

670
Der weitere Skandal besteht darin, daß diese erpreßten, nicht der Wahr-
heit entsprechenden Aussagen dann von der deutschen Nachkriegsöf-
fentlichkeit und von Historikern bis heute als wahr unterstellt, als Bewei-
se zitiert und dazu benutzt werden, die Schuld der Deutschen zu
vergrößern.
Der Franzose Maurice B A R D E C H E widmete den »Zeugen unter Druck«
ein ganzes Kapitel in seinem Buch.4 Daraus seien einige Beispiele stark
gekürzt aufgeführt.
1. Im Stenogramm des WEIZSÄCKER-Prozesses vom 3. März 1948, das
die Befragung des Zeugen Eberhard VON T H A D D E N durch den Verteidi-
ger des Angeklagten, Dr. S C H M I D T - L E I C H N E R , wiedergibt, heißt es:
»Frage: Hat man Ihnen während der Vernehmung zu verstehen gege-
ben, daß es möglich sei, Sie den französischen Behörden zu übergeben?
Antwort: Ja
Frage: Wie bitte?
Antwort: Ja.
Frage: Wollen Sie bitte dem Hohen Gericht darüber einige Erläute-
rungen geben?
Antwort: Man hatte mir angedeutet, daß mir zwei Möglichkeiten blie-
ben, entweder ein Geständnis abzulegen oder aber den französischen
Behörden ausgeliefert zu werden; vor einem französischen Gericht sei
mir die Todesstrafe sicher. Mir wurde eine Bedenkzeit von vierundzwan-
zig Stunden gewährt, während der ich mich zu entscheiden hatte.«5
2. Im selben Prozeß ergab sich bei der Verhandlung am 11. Mai 1948
in der Befragung des Herrn H A E H J N G E R durch Anwalt Dr. S I E M E R S :
Von oben: Maurice
»Frage: Sind Sie schon vernommen worden oder nicht? BARDECHE < 1 9 0 7 -
Antwort: Ich bin nach meiner Festnahme durch Herrn S A C H S vernom- 1998) und sein Buch
men worden, und dieser drohte mir, mich an die russischen Behörden Nürnberg oder die
auszuliefern, weil ich Schweizer Staatsangehöriger war, und da ich mich Falschmünzer,
auf meine schweizerische Nationalität berief, machte er mich darauf auf- Karl Heinz Priester,
Wiesbaden 1957.
merksam, daß zwischen Rußland und der Schweiz keine diplomatischen
Beziehungen beständen.« 6
3. In einem Memoire des Verteidigers Dr. Rudolf A S C H E N A U E R vom
Juni 1948 aus dem »Einsatzgruppen-Prozeß« heißt es:
»Im Prozeß der »Einsatzgruppe« veröffentlichte z. B. eine Berliner Ta-
geszeitung, daß alle Angeklagten dieser Gruppe, die das Nürnberger Ge-

4 Maurice BARDECHE, Nürnberg oder die Falschmünzer, Karl Heinz Priester, Wies-
baden 1957, S. 86-105.
5 Ebenda, S. 91.
6 Ebenda.

671
Die engagierten
Nürnberger Anwäl-
te! sahen sich in ih-
rer Verteidigungsar-
beit vielfach
behindert (von links:
Walter SIEMERS,
Otto KRANZBÜHLER
und Alfred SEIDL.

rieht nicht aburteile, den russischen Behörden ausgeliefert würden, was


zur Folge hatte, daß sich niemand als Zeuge anbot. Die als Endastungs-
zeugen benannten Gefangenen wurden fast alle zuerst dem Richter vor-
geführt. Sie waren Gegenstand zahlreicher Bedrohungen, insbesondere,
7 BARDECHE, an Polen ausgeliefert zu werden.«
ebenda, S. 92. 4 . Im selben Prozeß machte der Anwalt Dr. Georg FROESCI IMANN eine
Eingabe, in der es hieß:
»Oft wurden Personen, die als Zeuge für den Angeklagten gekommen
waren, damit eingeschüchtert, daß sie an ausländische Behörden ausge-
liefert würden, um zu erreichen, daß diese Zeugen nicht aussagten. Ich
denke z . B . an Personen, wie die Angeklagten B E R G E R , den Zeugen Dr.
B A R T H E L S , B R Ä U T I G A M , M E U E R E R und andere. Eine Vernehmung der ver-
B Ebenda. schiedenen Zeugen würde die Richtigkeit dieser Erklärungen ergeben.«8
Eine andere Methode bestand darin, Zeugen von der Aussage abzuhal-
ten. So organisierten die Verbände der ehemals politisch Internierten
und der »Verfolgten des Naziregimes< einen regelrechten Feldzug der Ein-
schüchterung, um endastende Zeugen am Aussagen zu hindern. Auch
dafür gibt Maurice B A R D E C H E Beispiele an;
1 . Der Verteidiger Dr. Alfred SEIDE stellte in seinem Plädoyer für den
Ingenieur Walter D Ü R R F E L D vor dem US-Militärgericht VI fest: »Die ei-
gendichen Schwierigkeiten der Verteidigung haben sich in besonders schar-
fer Art bei den ehemaligen Internierten, die im Werk Auschwitz der I. G.
Farben arbeiteten, bemerkbar gemacht. Soweit es sich um politisch Inter-
nierte handelte, waren die Schwierigkeiten unüberwindlich und Zeugen-
aussagen unmöglich, denn die Organisationen der »Verfolgten des Nazi-
regimes< verboten ihren Mitgliedern, für die Angeklagten zu sprechen.
Ebenso ist es vorgekommen, daß Mitglieder, die trotzdem ausgesagt oder
eidesstatliche Versicherungen abgegeben hatten, seitens anderer Mitglie-
der unter Druck gesetzt wurden, um sie zum Widerruf ihrer Aussagen

672
zu zwingen. Es ist klar, daß es unter diesen Umständen unmöglich ist, 9 BARDECHE,
die Wahrheit zu finden.« ebenda, S. 94.
10 Ebenda, S. 94 f.
2 . Professor Dr. W A H L von der Universität Heidelberg bestätigte dies
in einem Memorandum zum I. G. Farben-Prozeß: »Die Verteidiger stie-
ßen zuweilen noch auf die größten Schwierigkeiten. So hat z. B. die Grup-
pe der »politisch Verschicktem, die mit den Anklägern zusammenarbei- Ein Teil der insge-
tet, ihre bei den I. G, Farben in Arbeit gewesenen Mitglieder wissen lassen, samt 23 Angeklagten
daß sie nicht für die im Prozeß der I. G. Farben Angeklagten aussagen im >IG Farben-Pro-
dürfen.«9 zeßi - Walter Dürr-
feld siehe x. Es ist
3, Der bis 1945 politisch Internierte Fritz H., wohnhaft in Feilbach bemerkenswert, daß
bei Stuttgart, schrieb in einem Brief vom 9. Juni 1948 an den Stuttgarter keine der angeklag-
Bischof W U R M , daß ihm, einem Mitglied des Verbandes für politisch In- ten Führungskräfte
ternierte, von der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes< (V.VN.) der IG Farben zu ei-
mitgeteilt sei, »die Vertreter der Anklage im I. G. Farbenprozeß, die Her- ner hohen Haftstrafe
oder zum Tode verur-
ren VON H A L L E und M I N S K O F F , hätten der V.V.N. in Stuttgart, Bezirk Frank- teilt wurde, obwohl
furt, mitgeteilt, ich sei bestimmt nicht als politischer Internierter im Kon- die Firma und ihre
zentrationslager gewesen, und es sei möglich, daß ich Verbrechen gegen Tochtergesellschaft
die Menschlichkeit begangen hätte, .. Der Zweck dieser Manöver ist Idar. Degesch in Ausch-
Nachdem man mich mit diesen Erklärungen der V.V.N. einzuschüchtern witz engagiert waren.
versucht hatte und vor allem nach-
dem man mir bekanntgegeben hat-
te, daß man mich der Verbrechen
gegen die Menschlichkeit verdäch-
tigte, glaubte man, ich würde nicht
aussagen. Nachdem ich meine An-
gelegenheiten für den Fall einer
Verhaftung geregelt hatte, begab ich
mich nach Nürnberg, um meine
Aussage zu machen. Das Verhalten
der Herren VON H A L L E und M I N S -
KOFF während meiner Vernehmung
wird der bekannte Anwalt Dr. SEIDL
schildern können,«1"
4. Bei den Vernehmungen vor
dem US-Miütärgericht VI erklärte
D. aus K., ein politisch Internier-
ter: »Ich möchte bemerken, daß
man versucht hat, mir Schwierigkei-
ten zu bereiten. Als Mitglieder des
»Ausschusses der rassisch Verfolg-
ten« hörten, daß ich aussagen soll-

673
te, haben sie sogar versucht, mich festnehmen zu lassen, Sie haben sich
auch nicht gescheut, Kameraden, die mit mir zusammen interniert wa-
ren, zu fragen, ob ich nicht während dieser Zeit Juden oder andere ge-
schlagen hätte, um einen Anlaß zu meiner Verhaftung zu finden und
meine Reise nach Nürnberg zu unterbinden.«"
5. Ein Waldemar H, gab in seiner eidesstattlichen Versicherung vom
17. Februar 1948 in Landsberg an: »Einer meiner Entlastungszeugen,
Herr Friedrich D,, ehemaliger Internierter des Konzentrationslagers Bu-
chenwald, hat vor Zeugen erklärt, daß er von der V.V.N. mit schweren
Vergeltungsmaßnahmen bedroht worden sei, falls er für einen Angeklag-
ten im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß aussagen würde. In meinem
Prozeß wollten12 ehemalige Internierte des Konzentrationslagers Buchen-
wald, ohne sogar von der Verteidigung angefordert zu sein, aus eigenem
Antrieb mit einem Lastkraftwagen von Hamburg nach Nürnberg kom-
men, um für mich auszusagen. Die Hamburger kommunistische Partei
hielt ihren Wagen auf der Landstraße an und verhinderte sie, in meinem
Prozeß auszusagen (die eidesstattlichen Versicherungen können beige-
bracht werden).«12
6. Der Verteidiger Dr. Rudolf ASCHENAIJER hielt in einem Memoire
vom Juni 1948 in Nürnberg fest: »Der Stellvertreter des Oberrichters,
Herbert M E Y E R , verlangte in Leipzig eine eidesstattliche Erklärung von
einer Stenotypistin. Da die Erklärung nicht seinen Wünschen entspre-
chend abgegeben wurde, drohte er dem jungen Mädchen, er käme in
wenigen Minuten mit einem russischen Offizier zurück, sie solle sich
inzwischen bedenken. Unter dieser Drohung wurde die eidesstattliche
Erklärung abgegeben.«
Im selben Memoire dokumentierte der genannte Jurist: »Bei der Ver-
nehmung durch Richter (auch durch nichtrichterliche Personen) werden
sie sogleich bedroht und unter moralischen Druck gesetzt, mit falschen
eidesstattlichen Erklärungen, mit Auslieferung an russische oder andere
Behörden ( L O R E N Z , H Ü B N E R ) mit dem Bemerken bedroht, was das für
sie und ihre Familien bedeute ( L O R E N Z , H O F F M A N N , SCHWAAM, SOLI-MANN,
B R Ü C K N E R , G R E I F E L T ) , oder mit Aufhängen bedroht ( S C H W A L M ) . Wir wer-
den Sie den russischen Behörden ausliefern, und Sie wissen, daß Sie dann
keine vierundzwanzig Stunden mehr leben< (GREIEELT). Andererseits machte
man ihnen versteckte Zusagen, wenn sie richtig, d. h. wunschgemäß, aus-
sagen würden, hätten sie keine Anklage zu erwarten ( V I E R M E T Z , H Ü B -
NER).«13 Rolf Kosiek
II BARDECHÜ,ebenda, S. 95.
12 Ebenda, S. 98.
13 Ebenda, S. 100.

674
Protokoll des Nürnberger IMT wurde gefälscht

er Nürnberger >Hauptkriegsverbrecher-Prozeß< und seine Folge-


D verfahren waren 1945 mit dem Anspruch veranstaltet worden, der
Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen und die Schuldigen für die
angeblich rechtlose deutsche Gewaltherrschaft zu bestrafen. Daß es sich
dabei jedoch um eine reine Rachejustiz der Sieger handelte, wurde schon
in mehreren Beiträgen über die Beugung des Rechts1 und die Erpressung
von Zeugen 2 dargestellt. Darüber hinaus kam es auch noch zu bewußten
Fälschungen der Protokolle des Nürnberger Prozesses. Diese Fälschun-
gen wurden dann als der wahre Ablauf der Verhandlungen veröffent-
licht und dienen bis heute den Historikern als Quelle.
Als Beispiel tür das Vorkommen solcher Fälschungen sei die von Ge-
neralfeldmarschall Erhard M I L C H vorgenommene Berichtigung seiner
Aussägen in Nürnberg angegeben, die dieser über sein Verhör vom 8.
und 11. März 19463 zu Protokoll gab.4 Bezeichnend ist ferner, daß er auf
seine erste Beschwerde gegen die Fälschung keine Antwort erhielt und
daß in späteren Veröffentlichungen wie den IMT-Protokollen von 19474
oder von 2000 5 die alten Fehler beibehalten wurden.
»Protokollfehler der Zeugenaussage von Erhard MILCH am 8. u. 11. 3.
1946 vor dem Internationalen Militärgerichtshof.
Seite 5573: >Ich erinnere mich, daß damals auch dieser berühmte Be-
fehl herausgegeben (Zeile 26) (= Führerbefehl) wurde.«
Richtig muß es heißen: >Ich erinnere mich nicht, daß damals schon
dieser berühmte Befehl usw.<
Seite 5 6 0 3 : Es fehlt betreffend Dachau auf die Frage von J A C K S O N ,
wie es dort war, meine Antwort: >Die Behandlung hinsichtlich Essen und
Unterkunft (im KZ Dachau 1935) war erheblich besser als die von Kriegs-
gefangenen z. B. hier in Nürnberg.«

1 Nr. 374, »Fall Gaus beim Nürnberger Tribunal«; Nr. 375, »Nürnberger Sieger-

justiz setzte kein Recht«, und Nr. 376, »Nürnberger Siegerjustiz verhöhnte das
Recht«,
2 Nr. 662, »Generalfcldmarschall Milch sollte erpreßt werden«,
1 Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hg.), Der Nürnberger Prozeß gegen

die Hauptkriegsverbrecher vom 14. November 1945—1. Oktober 1946, Nürnberg 1947,
Neuausgabe: Delphin, München—Zürich 1984, Bd. 9, S. 54-154.
4 Kopie der Abschrift der Frklärung von Erhard MILCH im Archiv des Verfas-

sers, der für die Überlassung Frau Kitta WAGNER, Nürnberg, dankt.

675
Erhard M I L C H
im Zeugen stand.

Seite 5608: Es fehlt etwa folgendes: »Es gibt keinen Paragraphen der
Genfer Konvention (Zeile 7), der gegenüber uns deutschen Kriegsge-
fangenen nicht täglich gebrochen wird.«
Seite 5626: Es fehlt JACKSONS Bemerkung: »Dann sind Sie jahrelang
hinter einem Verrückten hermarschiert« und meine Antwort: »Zwischen
verrückt und unnormal ist ein ebenso weiter Unterschied wie zwischen
normal und unnormal«. ..
Seite 5651: Es fehlt meine Bemerkung: »Ich kannte sie (gemeint KZs)
nur vom Burenkrieg.« (Zeile 25)
Seite 5648:Es fehlt JACKSONS Bemerkung: »Nun hören Sie auf mit
MUSSOLINI, der ist ja (Zeile 8 ) schon längst tot«. . . und meine Erwide-
rung: »Damals war MUSSOLINI aber noch (Zeile 16) sehr am Leben und
der für uns maßgebliche Regierungschef.«
Seite 5660: Es fehlt der von mir genannte »Altmarkfall«. (Zeile 20)
Seite 5661: Es fehlt, daß ROBERTS sagte: »Antworten Sie mit Ja oder
Nein« und ich: »Ihre (Zeile 21) Frage kann man nicht nur mit Ja oder Nein
beantworten«, darauf ROBERTS: »Dann antworten Sie mit einem Satz.«
(Zeile 23) Fehlt: M I L C H : »oder ob mal wieder, wie in diesen Ländern
üblich, Morde an Deutschen vorgenommen wurden.«

676
(Zeile 32) Fehlt: ROBERTS: >Ich will überhaupt Ihre Einstellung zu den
Bombenangriffen auf die Zivilbevölkerung wissen, ob Sie die ablehnen.*
MilCH: >Da sprechen Sie mir aus der Seele. Ich kann mir nichts Ge-
meineres und Verwerflicheres als solche Angriffe denken. Und wer da
noch einen Zweifel hat, braucht sich nur Hamburg, Berlin, Leipzig, die
Städte des Ruhrgebiets, des Rheinlands und besonders Dresden anzuse-
hen, um mit mir übereinzustimmen,*
Seite 5668: »England* statt »Holland*. (ZeÜe 25)
Seite 5673: Es muß heißen »von Seiten*, nicht >auf Seiten Rußlands*.
Seite 5675: Fehlt: R U D E N K O sagte zum 2. Male: »Das ist nicht logisch.*
Ich erwiderte: »Das ist doch logisch* (was ich näher ausführte). R U D E N K O
sagte dann: >Ja, Sie haben recht, das ist doch logisch.*
An einer anderen Stelle fehlt M I I . C H S Antwort: >Ich habe keine Erinne-
rung daran. Mein Gedächtnis hat durch verschiedene Unfälle mit schwe-
ren Gehirnerschütterungen und sonstigen Kopfverletzungen gelitten.
Außerdem bin ich nach meiner Gefangennahme durch Angehörige der
feindlichen Wehrmacht mit einem Stock und mit Sektflaschen wie ein
Vieh über den Schädel geschlagen worden, wobei man mich mit 3 Ma-
schinenpistolen, die mir auf den Leib gesetzt waren, in Schach hielt. Dar-
unter hat mein sonst recht gutes Gedächtnis ganz erheblich gelitten.*
Verschiedentlich heißt es im Protokoll: »Keine Antwort*. Ich habe aber Roman in
A , RUDENKO
jede Frage beantwortet! Nürnberg.
Diese Aufstellung enthält nur die wichtigsten Protokollfehler.
Handschriftliche Notiz: 26. Juni 1946.
L) Bei der ersten eidesstattlichen Versicherung handelt es sich einmal
um die Ungenauigkeiten des Protokolls meiner Vernehmung im G Ö R I N G -
Prozeß. Das Protokoll war völlig falsch, das meiste weggelassen. Ich habe
dagegen Stellung genommen und Richtigstellungen vorgenommen. Als
ich hierauf von Seiten des Gerichts keine Antwort erhielt, habe ich ein
zweites Gesuch aufgestellt, mit genauer Anfuhrung meiner Antworten
im Wortlaut. Daraufhin wurde mir genehmigt, durch eine Vertrauens-
person, die auf Band aufgenommene Vernehmung von mir zu überprü-
fen, Als sich dabei laufend ein Knacken bemerkbar machte, antwortete
der Vorführer: »Da ist herausgeschnitten worden* bzw. »nachträglich ge-
ändert worden.*« Rolf Kosiek

5Christian ZENTNER, Der Nürnberger Prozeß. Das Protokoll des Prozesses gegen die
Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 14. November 1945—1.
Oktober 1946, 2. Ausgabe Directmedia, Berlin 2000, z. B. S. 108 über die Ver-
handlung vom 8. März 1946.

677
Alliierte und deutsche Urteile
gegen Kriegsverbrecher

ie Sieger des Zweiten Weltkrieges nahmen und nehmen für sich in


D
1 Friedrich G R I M M ,
Anspruch, das Völkerrecht zu beachten, und verurteilten viele Deut-
sche — vor allem nach 1945 und meist unberechtigt — wegen Verletzung
Mit offenem Visier. eben dieses Völkerrechts. Daß sie dabei selbst massiv gegen geltendes
Aus den Lebenserinne- internationales Recht verstießen, wurde nicht geahndet, wird meist ver-
rungen eines deutschen gessen und heute in den Massenmedien verschwiegen. Zur gerechten
Rechtsanwalts, Beurteilung der Verhältnisse ist das Wissen darum jedoch unverzichtbar
Druffel, Leoni und eine Richtigstellung deswegen geboten.
1961, S. 16 f. Das während der beiden Weltkriege geltende Völkerrecht bestimmte,
daß gefangene Kriegsverbrecher nicht vom Feindstaat wegen vor ihrer
Gefangennahme begangener Taten bestraft werden durften. Die Alliierten
hielten sich jedoch nicht daran: Nach dem ersten Weltkrieg scheiterten
Der Sonderzug des die im Versailler Diktat vorgesehenen Kriegsverbrecherprozesse gegen
Kaisers rangiert auf den deutschen Kaiser und hohe Militärs im wesentlichen nur an der Stand-
einem Nebengleis in haftigkeit der holländischen Königin, W I L H E L M II. nicht auszuliefern. Nach
Eijsden - in Erwar- 1945 hielten die Sieger dann viele solcher völkerrechtswidrigen Prozesse
tung einer Entschei- in Nürnberg und anderenorts ab. Die Deutschen beachteten dagegen
dung aus Den Haag.
Holländische Offi-
das Völkerrecht in beiden Kriegen, wofür zwei Beispiele angegeben seien.
ziere stehen vor dem Im Firsten Weltkrieg war der französische Sergeant C O U R J O N gefangen-
kaiserlichen Waggon. genommen worden. Er hatte ein in prahlerischer Weise geführtes Tage-
buch über von ihm in den
ersten Kriegswochen verüb-
te Kriegsverbrechen an
deutschen Verwundeten bei
sich. Darin beschrieb er, wie
er als Unteroffizier in einem
französischen Regiment
nach Gefechten an der Säu-
berung des Kampffeldes
teilgenommen hatte. »Es
war gut, daß ich neugenagel-
te, schwere Stiefel trug. Ich
habe dem bayerischen Hu-
sar und dem württembergi-
schen Jäger, die ich verwun-
det auf dem Schlachtfeld
antraf, das Laufen beige-
bracht«1 oder Ähnliches hat-

678
te er festgehalten, und er bestritt die Untaten auch nicht. Im Gefange-
nenlager in Münster in Westfalen hatte 1915 ein deutsches Kriegsgericht
ihn zunächst wegen Mißhandlung deutscher Kriegsgefangener zu drei
Jahren Gefängnis verurteilt. Der jungejurist Dr. Friedrich G R I M M , später
der berühmte Strafverteidi-
ger, legte für den Franzosen
Revision gegen das Urteil
ein. Das Reichsgericht gab
ihm recht und sprach den
Franzosen frei, weil er sich
zur Tatzeit nicht in deut-
scher Hand befunden hat-
te und deswegen nach gel-
tendem Völkerrecht für
seine Verbrechen nur dem
französischen Recht und
Gesetz unterlag.2
Im Zweiten Weltkrieg
war 1940 der französische
Kapitän PIRION von Deut-
schen gefangengenommen
worden, nachdem er sich
ebenfalls erhebliche Miß-
handlungen an deutschen Kriegsgefangenen hatte zuschulden kommen BISMARCK u n d N A P O L E -
lassen, derer er einwandfrei überführt worden war. In Paris war der rohe ON III. nach der
und unsympathische Mann deswegen von einem deutschen Kriegsge- Schlacht von Sedan.
richt zunächst zum Tode verurteilt worden. Unter Hinweis auf das Völ- (Gemälde von Wil-
helm C A M P H A U S E N )
kerrecht gelang es Rechtsanwalt Friedrich G R I M M , der damals freiwilliger
juristischer Berater der deutschen Botschaft in Paris war, daß das Urteil
nicht vollstreckt wurde. 1 2 Lutz Graf SCHWE-
Schon der erste deutsche Reichskanzler Fürst Otto VON BISMARCK hatte RIN VON KROSIGk,
sich ähnlich verhalten, als er den französischen Kaiser N A P O L E O N III. »Gib mir das Recht
und dessen Generale nach der Gefangennahme 1870 gut behandeln ließ zur Seite.. .«Die
und ihnen keinen Prozeß wegen der Auslösung des Deutsch-Französi- großen Schaupro^esse
schen Krieges machte. Fr erklärte dazu 1871: »Die Politik hat die Bestra- von der Antike bis zur
Gegenwart, Ullstein,
fung etwaiger Versündigungen von Fürsten und Völkern gegen das Moral-
Frankfurt/M-
gesetz der göttlichen Vorsehung dem Lenker der Schlachten zu überlassen. Berlin 1991, S. 396.
Sie hat weder die Befugnis noch die Pflicht, das Richteramt zu üben. . . 3 GRIMM, a a O .

Die Politik hat nicht zu rächen, was geschehen ist, sondern zu sorgen, (Anm. 1), S. 2 3 2 .
daß es nicht wieder geschehe.« 4 4 Ziüert in: KRO-

Die Verrohung des Rechts nach 1945 durch die Alliierten stellte dage- SIGK, a a O . ( A n m . 2 )
S. 3 9 7 .
gen einen schweren Rückschlag dar, Rolf Kosiek

679
Urteile über die Nürnberger Siegerjustiz

eute werden sogar von deutschen Politikern oftmals die gegen


H fast alle Rechtsnormen verstoßenden Kriegsverbrecherprozesse der
Alliierten nach 1945 als rechtmäßig und Ausfluß eines vertretbaren Rechts
angesehen und in den Medien als solche aufgewertet. Doch selbst ange-
sehene Persönlichkeiten der Kirche wie ausländische Politiker urteilten
in den Nachkriegsjahren vernichtend über diese Farce eines Rechts. Ei-
nige Beispiele seien angeführt.
Otto D I B E L I U S , ab 1 9 2 5 Generalsuperintendent der Kurmark, ab 1 9 4 5
Bischof von Berlin und Brandenburg, 1 9 4 9 — 6 1 Vorsitzender des Rates
der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), urteilte über die Nürn-
berger Rache justiz 1 9 4 5 / 4 6 in einem Brief an die Gräfin SCHWERIN VON
K R O S I G K , Deren Mann Lutz Graf SCHWERIN VON KROSIGK ( 1 8 8 7 - 1 9 7 7 )
war Reichsminister der Finanzen seit 1 9 3 2 unter P A T E N , SCHLEICHER, H I T -
LER und D Ö N I T Z und 1 9 4 5 Nachfolger VON RIBBENTROPS als letzter deut-
scher Außenminister gewesen. In einem der Nach folge prozesse in Nürn-
berg war er dort zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Im Jahre 1951
wurde er aus Gesundheitsgründen vorzeitig entlassen.
D I B E L I U S schrieb: 1 »Als Christen weigern wir uns rundweg, die Nürn-
berger Urteile als gerecht anzunehmen. Diese Urteile sind nichts anderes
als eine Vergeltungsmaßnahme, die ein besiegtes Volk gegen seinen Wil-
len über sich ergehen lassen muß, und das Völkerrecht wird in ihnen
durch brutalen Egoismus der modernen Staaten mit Füßen getreten. Ein
Otto DlBELIUS. neues, barbarisches Zeitalter hat begonnen. Es ist möglich, daß viele der
Nürnberger Verurteilungen verdiente Vergeltungsmaßnahmen waren.
Andere dagegen können nur als Grausamkeitshandlungen angesehen
werden, die einen Mangel an Intelligenz beweisen. Zu dieser Zahl rechne
ich in erster Linie das über Ihren Gatten sowie das über v, W E I Z S Ä C K E R
ausgesprochene Urteil.«

Der englische Lord-Bischof VON CHICHESTER protestierte am 2 3 . Juni


1948 im britischen Oberhaus gegen die noch weiter laufende alliierte
Siegerjustiz und erklärte: 2

1 Der Brief wurde veröffentlicht in der schweizerischen Zeitung Der Bund, Bern,
am 16. Mai 1949, den Text findet man auch in Maurice BARDECHE, Nürnberg oder
die Falschmünzer, Karl Heinz Priester, Wiesbaden 1957, S. 38.
2 Zitiert in BARDECHE, ebenda, S. 37 f.

680
Generaloberst Alfred
JODLin Nürnberg.

»Zwei fundamentale Grundlagen des Völkerrechts, so wie man es bis


in die letzten Jahre auffaßte, sind durch die improvisierte gesetzliche Struk-
tur der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg verletzt worden.
Erstens ist es unbestritten, daß das Gesetz, das die Angeklagten be-
schuldigt, ein Gesetz ist, das erst lange nach Begehen vieler in der Anklage-
akte aufgeführten Handlungen in Kraft gesetzt wurde. In dieser Hinsicht
ist >nulla poena sine lege< - keine Strafe ohne vorherige Strafandrohung -
die Gesetzesgrundlage. Die ganze Charta ist eine ins einzelne gehende
liste begangener Verbrechen, aber die Verbrechen, so wie sie in der Charta
aufgeführt sind — manche von ihnen zum erstenmal —, sind Verbrechen,
die erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufgezählt und veröf-
fentlicht wurden. Ein schlagendes Beispiel an rückwirkender Gesetzge-
bung wurde schon im April 1942 durch die Aufhebung des Artikels 443 Lord-Bischof
im XIV. Kapitel des englischen Handbuches der Militärgesetzgebung von Chichester.
gegeben, dessen Inhalt besagt, daß höhere Befehle eine gute Verteidi-
gung gegen eine Anklage wegen Kriegsverbrechen seien.
Es gibt fundamentale Grundlagen des Völkerrechts, die bisher ständig
bejaht wurden, und es gibt einen anderen Grundsatz im Völkerrecht,
von dem ich nicht denke, daß wir darüber verschiedener Meinung sind,
nämlich den Grundsatz der Unparteilichkeit. Ich bin sicher, daß der edle
und gelehrte Vicomte, der auf dem Wollsack sitzt (der Lordkanzler), dies-
mal nicht gegenteiliger Meinung ist. Man war nicht bestrebt, Kriegsver-

681
brechen zu erfassen, die von gewissen totalitären Mächten begangen
worden sind. Ferner befanden sich unter den Richtern in Nürnberg keine
Angehörigen neutraler Länder.«
Der Bischof schloß seinen eindringlichen Appell mit der Forderung
nach sofordger Einstellung der Prozesse, nach einer Generalamnestie
und nach Revision der bisher gefällten Urteile.

Der einflußreiche US-Senator und Präsidentschaftskandidat TAFT erklärte


1946 an der Universität von Ohio: »Ich glaube, die Mehrheit der Ameri-
kaner wird durch die eben in Deutschland zu Ende gehenden und in
Japan nun beginnenden Kriegsprozesse stark beunruhigt. Sie verletzen
das fundamentale Prinzip der amerikanischen Gesetzgebung, welches
fordert, daß ein Individuum nicht nach einem Gesetz verurteilt werden
kann, das erst nach Begehen der als strafbar bezeichneten Handlung in
Kraft getreten ist. Der Prozeß der Besiegten durch die Sieger kann nicht
unparteiisch sein, wie auch die Formen seiner Rechtsprechung getarnt
sein mögen. Über diesen Urteilen schwebt der Rachegeist, und Rache ist
selten Gerechtigkeit. Das Aufhängen der elf deutschen Verurteilten wird
in den amerikanischen Annalen eine Tat sein, die wir lange bedauern
werden. In diesen Prozessen haben wir die russische Auffassung dieser
Art von Prozessen - nämlich Interesse der Politik und nicht der Gerech-
tigkeit — zur unseren gemacht und dabei wenig Rücksicht auf unser an-
gelsächsisches Erbe genommen.« 1

Der britische Politiker I.ord HANKEY ( 1 9 1 2 - 1 9 3 8 Sekretär des Verteidi-


gungsausschusses des britischen Empires und 1 9 2 0 - 1 9 4 1 ständiger Ka-
binettssekretär) schrieb in seinem Buch Politics, Triáis and Errors über die
Nürnberger Prozesse: »In Nürnberg wie in Tokio sind es die Sieger, wel-
che die Besiegten vor Gericht erscheinen ließen und sie verurteilt haben.
Die beiden Gerichte wurden von den siegreichen Mächten gebildet, sie
erhielten ihre Vollmachten allein von ihnen, und das Verfahren erstreckte
sich auf die Besiegten und nur auf sie allein... Es liegt etwas Zynisches
in dem Schauspiel dieser englischen, französischen und amerikanischen
Richter, neben denen auf der Bank Kollegen saßen, die — so unbeschol-
ten sie persönlich auch sein mochten - trotzdem eine Nation repräsen-
tierten, die vor, während und nach dem Prozeß sich der gleichen Verbre-
chen schuldig gemacht hat wie diejenigen, die man abzuurteilen vorgab.
Trotz der besonderen Argumente, die man zugunsten des Nürnberger
Urteilsspruches äußern mag, sehe ich nicht, wie man sich noch verheh-
len kann, daß es unter dem schwachen Schein von Gerechtigkeit immer

682
In einem denkwürdigen Vortrag wies JOOLS Verteidiger Her-
mann JAHREISS unter anderem darauf hin, daß alliierte Bestim-
mungen - wie die im Londoner Statut vom 8. August 1945 ent-
haltenen - nicht rückwirkend auf das Verhalten der in
Nürnberg Angeklagten angewandt werden dürften, und zwar
vor allem hinsichtlich der Durchführung von Angriffskriegen.
Damit trug Jahreiss die gleichen Überlegungen vor wie der US-
Politiker und Präsidentschaftskandidat TAFT und Lord HANKEV,

das uralte Drama ist, das man uns vorspielt, das zwi-
schen dem Recht der Sieger und dem Recht der Besieg-
ten unterscheidet - das vae victis der Antike.«4
»Im Gegensatz zu dem, was man allgemein glaubt,
ist die geschichtliche Darstellung der Tatsachen, auf
welcher der Urteilsspruch und die Erwägungen des
Nürnberger Gerichts beruhen, nicht der Wahrheit entsprechend.«5

Der britische Schriftsteller Montgomery B E L G I O N schrieb 1947 in sei-


nem Buch Epitaph on Nuremberg.
»Der Nürnberger Prozeß war eine riesenhafte Theatervorstellung. Er
war ein gigantisches Propagandaunternehmen. . . Es genügt nicht mehr,
daß der Feind auf dem Schlachtfeld besiegt wurde. Einmal besiegt, muß
er außerdem noch als der für den Krieg Verantwortliche erklärt und ge-
zwungen werden, diese Verantwortlichkeit selbst zu bestätigen. Nicht
genug, daß er den Krieg verloren hat: Er muß noch die ganze Last des
durch den Krieg hervorgerufenen Leides tragen. . . Die öffentliche Weit-
meinung weiß nicht ein Zehntel von alledem, was von der britischen,
amerikanischen, französischen und russischen Regierung oder ihren Mi-
litärbefehlshabern nach der deutschen Kapitulation angeordnet worden
ist. .. Die Weltmeinung weiß nicht ein Zehntel von dem, was britische,
amerikanische, französische und russische Soldaten oder mit ihrem Ein-
verständnis russische, französische, polnische, jugoslawische und andere
Zivilisten auf direkte Befehle in derselben Zeit angerichtet haben. Die
Weltmeinung ist niemals unterrichtet worden.«6 Rolf Kosiek

4 Zitiert bei BAROHCHE, ebenda, S. 39,


ä Zitiert ebenda, S. 40.
6 Zitiert ebenda.

683
Der Fall Schörner

ls Generalfeldmarschall S C H Ö R N E R nach zehnjähriger sowjetischer


A Gefangenschaft 1955 nach Westdeutschland zurückkehrte, wurde
er von den Massenmedien übel verleumdet, und eine allgemeine Presse-
kampagne wurde gegen den Spätheimkehrer eingeleitet. Ihm wurde vor-
geworfen, ein grausamer »Durchhalte-General« und » H I T L E R S Henker«,
1 Telegraf, 2. 2.1955;
ein »Bluthund«, »Massenmörder« und »Sadist« gewesen zu sein, der ge-
Der Spiegel, 9. 2.
gen Kriegsende unschuldige Soldaten zum Tode habe verurteilen und
1955; Revue, 12. 2.
1955, S. 4 f. aufhängen lassen,1 Dazu wurde er beschuldigt, nach der Kapitulation
2 Erich KERN,
feige die Truppe verlassen zu haben.
Generalfeldmarschall Doch diese Vorwürfe sind falsch. Eher trifft das Gegenteil zu: SCHÖR-
Ferdinand Scbörner. NF.R hat gegen Ende des Krieges durch seine zeitweilig noch gelungenen
Ein deutsches Solda- Stabilisierungen der Ostfront Hunderttausende von Flüchtlingen vorder
tenschicksal, K. W. Roten Armee gerettet und vielen Soldaten der Ostfront den Übertritt zu
Schütz, Preußisch den Westalliierten ermöglicht, die dann dennoch diese Wehrmachtange-
Oldendorf 1976. hörigen kurz darauf den Sowjets auslieferten. Die Tatsachen sind unter
3 Ebenda, S. 244 f. anderem in Erich KF.RNS Biographie des großen Soldaten angeführt.2
Ferdinand S C H Ö R N E R wurde am 12. Juni
1892 in München geboren und ging nach
dem Abitur als Freiwilliger zur bayerischen
Infanterie. Als Offizier nahm er am Ersten
Weltkrieg teil und erhielt 1917 den Pour le
mérite. Er diente dann in Freikorps, in der
Reichswehr und in der Wehrmacht, wurde
1937 Obersleutnant und nach dem Frank-
reichfeldzug Generalmajor. An der zusam-
menbrechenden Ostfront konnte er als
Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd
ab März 1944, der Heeresgruppe Nord ab
Juli 1944 und der Heeresgruppe Mitte ab
Januar 1945 jeweils die Lage einigermaßen
stabilisieren und einen schnellen Vormarsch
der Sowjets verhindern. Der Sowjetmar-
schall Iwan Stepanowitsch K O N J E W erklär-
te im Mai 1945: »Wenn S C H Ö R N E R nicht
gewesen wäre, wären wir nach Bayern
durchmarschiert.«3 Insbesondere konnten
GOEBBELSbedankt sich im Frühjahr 1 9 4 5 bei
SCHÖRNER für die Zurückeroberung der schlesi-
schen Stadl Lauban.

684
Der letzte Befehl
Generalfeldmarschall
Ferdinand SCHÖRNERS

vom 5, Mai 1945,

durch die taktischen Leistungen SCHÖRNERS in den letzten Kriegsmonaten


große Flüchdings ströme aus Ostdeutschland in den Westen gelangen und
viele Soldaten aus der Ostfront zum Amerikaner übertreten und so der
russischen Gefangenschaft entkommen, wenn sie nicht anschließend doch
noch von den US-Streitkräften den Sowjets ausgeliefert wurden.
Nach Ritterkreuz (20. 4. 1941), Eichenlaub (17. 2. 1942), Schwertern
(28. 8. 1944) wurde er am 1. Januar 1945 für seine außergewöhnlichen
Verdienste mit den Brillanten ausgezeichnet und am 5. April 1945 zum
Generalfeldmarschall befördert.
Bei Kriegsende flog er auftragsgemäß aus der Nähe von Saaz in die
> Alpenfes tung<, wo er bald erkannte, daß kein weiterer Widerstand mög-
lich sei, und sich den Amerikanern stellte. Diese lieferten ihn kurz darauf
an die Sowjets aus, die ihn, als er nicht zur Mitarbeit bereit war, 1952 zu
zweimal 25 Jahre »Erziehungslager« verurteilten. Nach harter Haft -
Meldungen der westdeutschen Presse über »Vorzugsbehandlung« und
»Ehrenhaft«, Treffen mit STALIN und Beratertätigkeit in Nordkorea tref-
fen nicht zu - wurde S C H Ö R N E R am 17. Januar 1955 in Ostberlin der

685
DDR übergeben, die ihn mit großen
Erwartungen ehrenvoll und mit an-
sehnlicher Abordnung am Bahnhof in
Ostberlin empfing. Doch trotz guter
Angebote für sich und seine Familie
und ernster Hinweise darauf, daß es
ihm im Westen schlecht ergehen wer-
de, lehnte S C H Ö R N E R den Verbleib in
Mitteldeutschland ab und wurde dann
nach München endassen.
Als das in Westdeutschland Ende
Januar 1955 bekannt wurde, setzte eine
große Pressekampagne gegen den
Heimkehrer ein. »Gewerkschaftsfunk-
tionäre und Halbstarke lauerten am
Münchener Hauptbahnhof auf den
Heimkehrer, der zu seinem Glück vor
diesem »brüderlichen« Empfang recht-
zeitig gewarnt worden war. Die soge-
nannte deutsche Öffentlichkeit hatte
eine Hysterie erfaßt, die nahezu einma-
lig war, S C H Ö R N E R war der einzige, der
Krieg geführt hatte, ja, der ihn allein
zu verantworten hatte. S C H Ö R N E R wur-
de zur Personifizierung des deutschen
Kriegsverbrechers schlechthin. Bun-
desinnenminister Dr. Gerhard S C H R Ö -
DER, der Minister ohne besondere Auf-
gaben, Franz Josef S T R A U S S , der
Verband der Heimkehrer, der Kyffhäu-
ser-Bund und natürlich die SPD und
die Gewerkschaften forderten soforti-
ge strafrechtliche Verfolgung des Spät-
heimkehrers. . . Allein das Deutsche
Rote Kreuz warnte vor den Folgen die-
ser Hetze für die gesamte Heimkehrer-
rückführung, ., Die Münchener Staats-
anwaltschaft rief öffentlich alle
ehemaligen Soldaten auf, Anzeigen über
Oben: Ferdinand SCHÖRNER nach seiner Gefangennahme SCHORNERS Straftaten zu erstatten.«3
durch die Amerikaner. Unten: SCHÖRNER wird nach seiner
Entlassung aus zehnjähriger sowjetischer Kriegsgefangen- Und viele - wie sich später heraus-
schaft von Sohn und Tochter in München empfangen. stellte — unbegründete Vorwürfe wur-

686
den erhoben, aber ebenso zahlreiche Ehrenerklärungen für den Ange-
griffenen abgegeben. Klagen des Beschuldigten gegen einzelne Presse-
darstellungen, wie gegen die Revue wegen deren schändlichen Artikels
vom 12. Februar 1955 mit Urteil des Landgerichts München I vom 15.
März 1 9 5 6 , gewann S C H Ö R N E R .
Selbst der Deutsche Bundestag befaßte sich mit dem Generalfeldmar-
schall und beschloß am 13. Juli 1955 einstimmig eine »Lex S C H Ö R N E R « .
Damit sollte durch Änderung der Bundesdisziplinarordnung erreicht wer-
den, daß der Spätheimkehrer nicht die ihm nach dem 131er-Gesetz zuste- 4 Drucksache Nr.

henden Bezüge bekomme.4 Bundesinnenminister SCHRÖDER (CDU) leitete 1319 mit Antrag der
ein formelles Disziplinarverfahren gegen ihn ein. Dieses ging allerdings Fraktionen der
voll zu SCHÖRNERS Gunsten aus. Auch in vielgelesenen Büchern wurde CDU/CSU, der
diese unberechtigte Hetze gegen den großen Soldaten vorgetragen,5 FDP und der
Deutschen Partei
In dem ab 1. Oktober 1957 vor dem Schwurgericht München ablau-
vom 31. 3. 1955
fenden Prozeß, der als »historisch wertvoll« bezeichnet wurde und der sowie Protokoll des
Umerziehung dienen sollte, hatte die Staatsanwaltschaft acht Jahre Zucht- 97. Sitzung der
haus und sechsJahre Ehrverlust für den Generalfeldmarschall gefordert. Deutschen Bundes-
Dann wurden die vielen Beschuldigungen einzeln sorgsam geprüft und tages am 13. 7.
in rund 80 Fällen genauere Ermittlungen durchgeführt. Diese Vorwürfe 1955 und Beschluß
wurden schließlich von der Münchener Generalstaatsanwaltschaft selbst des Bundesrates
in ihren eigenen Berichten als unberechtigt erwiesen/6 Es blieben am vom 22. 7. 1955.
5 Jürgen THORWALD,
Schluß, nachdem alle sonstigen Anschuldigungen als unhaltbar oder nicht
mehr aburteilbar erkannt waren, noch zwei Fälle der Anklage übrig. Ein- Das Ende an der
Elbe, Stuttgart 1950,
mal ging es um den des Obersten SPARRE und des Majors J Ü N G L I N G , die
S. 373 f.
gegen den ausdrücklichen Befehl, die Festung Neiße in Schlesien zum 6 Berichte der
Schutz der Flüchdingsströme aus Schlesien unter allen Umstände zu hal- Münchener Staats-
ten, gehandelt hatten. Das noch vor Kriegsende gegen sie einberufene anwaltschaft beim
Kriegsgericht hatte jedoch SPARRE freigesprochen, J Ü N G L I N G zum Tode Oberlandesgericht
verurteilt, der dann aber von seinem Oberbefehlshaber, eben General- München vom 23.
feldmarschall S C H Ö R N E R , begnadigt wurde. Der andere Fall war der eines 5. 1955 und 6.
als Munitionsfahrer pflichtvergessenen Obergefreiten A R N D T , den S C H Ö R - August 1955,
NER durch ein schnell zusammengestelltes Kriegsgericht zum Erschie- teilweise zitiert in
KERN a a O . ( A n m .
ßen habe verurteilen lassen. Der Soldat wurde nach Kriegsende aber noch
2) S. 260-318 u.
von auftretenden Zeugen gesehen. Es blieb also keine wirkliche Beschul-
digung übrig. 318-328.
Dennoch wurde von dem unter starkem Druck der Öffentlichkeit ste-
henden Schwurgericht der 65jährige Heimkehrer am 15. Oktober 1957
zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, die Revision dagegen verworfen.
Der von den Sowjets verurteilte und zehn Jahre von ihnen in grausamer
Haft gehaltene S C H Ö R N E R wurde damit in seinem Vaterland unter klarer
Rechtsbeugung erneut verurteilt und wie ein Verbrecher behandelt - wirk-
lich kein Ruhmesblatt für die bundesdeutsche Justiz.

687
Daraufhin setzte eine neue Kampagne der Massenmedien wegen des
zu >milden< Urteils ein. Vom 4. August 1958 bis zur vorzeitigen Entlas-
sung am 3. August 1960 mußte der greise Generalfeldmarschall, der im
Ersten wie im Zweiten Weltkrieg mit den jeweils höchsten Tapferkeitsor-
den ausgezeichnet worden war, der in Wirklichkeit Millionen Menschen
gerettet hatte, im Zuchthaus Landsberg sitzen — stellvertretend für viele
deutsche Soldaten. Dann wurde er >gnadenhalber< entlassen.
Als der Generalfeldmarschall mit 81 Jahren in München am 2. Juli
1973 zur Großen Armee abberufen wurde, ordnete das Bundes verteidi-

Bestattung von
Generalfeldmarschall
S C H Ö R N E R am 5. Juli

1973 auf dem Fried-


hof von Mittenwald -
in Anwesenheit von
österreichischen Fah-
nenabordnungen.
Aus: Roland K A L T E N -
E G G E R , Schörner, Her-

big, München 42002.

gungsministerium zwei Tage später an: »1, Die Beisetzung findet ohne
militärische Ehren statt, 2. Die Teilnahme an der Beisetzung in Uniform
wird allen Angehörigen der Bundeswehr untersagt. 3. Die Teilnahme -
auch in Zivil - durch aktive Angehörige der Bundeswehr ist nicht er-
Zitiert in K E R N , wünscht,« 7 Das war der offizielle Dank des Vaterlandes. Viele frühere
ebenda, S. 383. Untergebene äußerten sich jedoch ehrenvoll und anerkennend über ih-
8 Zahlreiche Beispie-
ren früheren Kommandeur und Oberbefehlshaber." Er mußte eben stell-
le in KERN, ebenda, vertretend für alle deutschen Soldaten ein schweres Schicksal erdulden.
S. 247-252 u. 383 ff. Ein KGB-Oberst hatte schon 1 9 4 5 zum Oberfeldwebel Wilhelm HOPP
9 KERN, a a O . ( A n m .
beim Gefangenen verhör erklärt: »Wenn ihr zehn von ScHORNERS Fähig-
2), S, 6. keiten und Leistungswillen gehabt hättet, wäret ihr heute nicht unsere
Kriegsgefangenen.« 9 Rolf Kosiek

688
Zur Einbehaltung deutscher Kriegsgefangener 1945

ach der Haager Landkriegsordnung sind die Kriegsgefangenen nach


N Ende des Krieges von ihrer Gewahrsamsmacht unverzüglich zu ent-
lassen. Nach den entsprechenden deutschen Feldzügen des Zweiten Welt-
krieges wurden größtenteils die von der Wehrmacht gefangengenomme-
nen gegnerischen Soldaten in ihre Heimat entlassen, so insbesondere 1940
in Holland, Norwegen oder Griechenland, teilweise auch 1941 in Ruß-
land, obwohl der Gesamtkrieg noch nicht beendet war.
Dagegen haben die Alliierten, die angeblich für Völkerrecht und Frei-
heit des Einzelnen eintraten und den Krieg geführt haben wollen, völ-
kerrechtswidrig ihre deutschen Gefangenen vielfach noch jahrelang nach
der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Haft gehalten und als bil-
lige Arbeitskräfte benutzt.
Uber die Gesamtzahl der deutschen Kriegsgefangenen gibt die amtli-
che bundesdeutsche Dokumentation Zur Geschichte der deutschen Kriegsge- 1 Zitiert in: Der
fangenen des 'Zweiten Weltkrieges, in deren Band XV die in Tabelle 1 aufge- Heimkehrer, 15. 4.
führten Zahlen an.1 1980, S. 2.

Gewahrsamsmacht Zahl
der deutschen
Kriegsgefangenen

Großbritannien 3835000

USA 3097000
Sowjetunion 3060000
Frankreich 937000
Jugoslawien 194000

Polen 70000

Belgien 64000

Tschechoslowakei 25000
Niederlande 7000
Luxemburg 5000

Insgesamt 11094000

689
Aufteilung nach Personen Bis 1950 1950 noch In
Gewahrsamsmächten entlassen Gefangenschaft

Frankreich 530 000 523 000 7 000


Jugoslawien 83 000 73 000 10 000
Polen 59 000 49 000 10 000
Sowjetunion 1 178 000 1 093 000 85 000
Tschechoslowakei 75 000 70 000 5 000
Großbritannien 1 151 000 1 145 000 fl 000
USA 1 857 000 1 844 000 13 000
Sonstige
Gewahrsamsmächte 157 000 153 000 4 000
Ohne Angaben 212 000 197 000 15 000

Gesamtzahl 5 302 000 5 147 000 155 000

Deutsche Kriegsgefangene in Frankreich als Todeskommando >Minenräumern.

690
Dabei sind bei der Gewahrsamsmacht Frankreich die in Nordafrika
stationierten deutschen Kriegsgefangenen nicht mit aufgeführt.
Noch fünf Jahre nach Kriegsende waren Hunderttausende deutscher
Soldaten in alliierter Gefangenschaft. Eine zahlenmäßige Aufteilung des
Standes von 1950 nach der Auswertung der westdeutschen Volkszäh-
lung vom 6. Juni 1961 ergibt Tabelle 2 an.1
Sie berücksichtigt die bis 1950 nach Westdeutschland entlassenen und
die noch auf ihre Entlassung dorthin wartenden Gefangenen, enthält
also nicht die nach Mitteldeutschland und Osterreich sowie anderswo
hin entlassenen Personen oder die in Gefangenschaft Verstorbenen (al-
lein in der Sowjetunion 1,1 Millionen) sowie diejenigen, die, wieder in
Freiheit, bis zur Volkszählung von 1961 verstarben.
Eine Monographie über das Schicksal der deutschen Kriegsgefange-
nen des Zweiten Weltkrieges mit reichem Zahlenmaterial liegt von Lud-
wig PETF.RS vor,2 eine mit vielen Zitaten aus der regierungsamtlichen Do-
kumentation3 von C A R E L L und B Ö D D E K E R . 4 Der DRK-Suchdienst in
München gibt im Mai 1995 für das Kriegsende 1945 11,5 Millionen Deut-
sche in Kriegsgefangenschaft oder Zivilinternierung an.5
Rolf Kosiek

»Der letzte Spätheimkehrer kam im Herbst 1957 im Durchgangslager


Friedland an, und dies gilt bis heute als offizielles Ende. Ein Fernsehbe-
richt im Jahre 1994, den eine deutsche Fernsehgruppe in der UdSSR
verfaßte, brachte dann aber ans Tageslicht, daß selbst [damals] noch
ehemalige deutsche Wehrmachtangehörige in der UdSSR lebten. Wie
in S O L S C H E N I Z Y N S ArchipelGulag beschrieben, hatten sie sich nach ihrer
Entlassung aus den Lagern in deren Nähe angesiedelt, da ihnen, ohne
Ausweispapiere und Kontakte nach Deutschland, jegliche Möglichkeit
der Heimreise entzogen war.«
Aus: Ludwig P E T E R S , Das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen, Grabert,
Tübingen 1995, S. 291.

2 Ludwig PETERS, Wir haben Euch nicht vergessen! Das Schicksal der deutschen Kriegsge-

fangenen, Grabert, Tübingen 1995.


3 Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte, zur

Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, 15 Bde., München


1962-1974.
4Paul CARELL U. Günter BÖDDEKER, Die Gefangenen, Ullstein, München 1980.
5 PF.TTRS, a a O . ( A n m . 2 ) , S . 4 0 8 .

691
Gefangen im Londoner Folterzentrum

m Beitrag Nr. 386 »Britische Folterlager. Ein vergessenes Verbrechen«


I wurde über das Londoner Folterzentrum berichtet, das sich im Zwei-
ten Weltkrieg und in der ersten Nachkriegszeit in Kensington Palace Gar-
den befand. Mein Vater, General der Panzertruppen Heinrich EBF.RBACH
(1895-1992), war im Winter 1945/46 als Gefangener in diesem Gefäng-
nis, dem »London District Cage<, und hat mir nach seiner Rückkehr aus
bridscher Gefangenschaft im Jahre 1948 mehrfach darüber berichtet.
Im Kampf gegen die Invasion in der Normandie war ihm im Jahre
1944 die 12. Waffen-SS-Panzerdivision >Hitlerjugend< unterstellt gewe-
sen, deren Kommandeur der Generalmajor Kurt M E Y E R gewesen war.
Nachdem mein Vater am 31. August 1944 südlich von Amiens in briti-
sche Gefangenschaft geraten war, wurde er Anfang Dezember 1945 trotz
eines schweren Nierenleidens, das er sich in den vorangegangenen Win-
tern in Rußland zugezogen hatte, zur Vorbereitung des Kriegsverbre-
cherprozesses gegen M E Y E R von seinem Gefangenenlager nach London
transportiert und in das berüchtigte Folterlager gebracht. Der Komman-
General der dant des Gefängnisses, ein Oberst S C O T L A N D — was wohl ein Deckname
Panzertruppen war —, empfing ihn zunächst höflich und bat, es vielmals zu entschuldi-
Heinrich EBERBACH
gen, daß man ihn trotz seiner Krankheit nach London geholt habe. Es
(1895-1992).
sei aber alles gut vorbereitet. Mein Vater brauche nur eine vorbereitete
Erklärung zu unterschreiben, dann könne er sich in London wieder er-
holen.
Mein Vater las das ihm überreichte Schreiben: Es war eine einzige
Belastung und Verdammung des wegen Kriegsverbrechen angeklagten
Kurt M E Y E R , den mein Vater aus gemeinsamer Frontzeit sehr schätzte.
Mein Vater änderte daraufhin alles in dem Schreiben der Wahrheit ent-
sprechend ab, so daß die unzutreffenden Belastungen entfielen. Nach-
dem ihm klar gemacht worden war, daß man solches von ihm nicht er-
warte, und er sich aber zu einer Änderung der Erklärung nicht bereit
gefunden hatte, wurde er in eine dreckige Zelle gesteckt, wo er unter
einer schmutzigen Decke auf dem blanken Boden schlafen mußte. In
der Nacht hörte er die Schreie deutscher Kriegsgefangener, die in dem
Gebäude »verhört« wurden. Spät in der Nacht kam ein englischer Ser-
geant mit heißem Tee zu ihm und entschuldigte sich für die Behandlung,
die meinem Vater als deutschem General widerfahren sei. Es schien al-
lerdings so, als ob er nur aus privater Initiative gekommen sei.
Als mein Vater nach ungefähr drei Tagen wieder ins normale Gefange-
nenlager zurückkehren sollte, sollte er vorher ein weiteres vorbereitetes
Schriftstück unterschreiben. Darin sollte er bestätigen, daß er bei seinem

692
Aufenthalt im >Cage< gut behandelt worden sei. Mein Vater schrieb wahr-
heitsgemäß, daß die britischen Mannschaften ihn gut behandelt hätten,
die englischen Offiziere jedoch nicht.
Daraufhin bekam Oberst S C O T L A N D einen Wutanfall und drohte mei-
nem Vater, daß er nicht mehr nach Deutschland zurückkäme, wenn er in
dem Schreiben nicht ein gutes Zeugnis über die vernehmenden Offiziere
abgebe. Unter dieser Drohung, die durchaus verwirklicht werden konn-
te, hat mein Vater seine Beurteilung der englischen Offiziere des Lagers
dann abgeändert, allerdings nicht das Schreiben gegen Kurt M E Y E R , bei
dessen späterem Prozeß im Dezember 1945 in Aurich er wahrheitsge-
mäß und damit endastend für den unberechtigt angeklagten großen Sol-
daten ausgesagt hat.
Mein Vater sagte mir noch zur Beurteilung der Zeit: »Wer hätte denn
damals etwas für uns Gefangene getan?« Auch das Internationale Rote
Kreuz durfte sich ja bekanntlich nach Kriegsende nicht um die deut-
schen Gefangenen kümmern, denen der Status der Kriegsgefangenen
von den Alliierten 1945 widerrechtlich aberkannt worden war.
Mein Vater hatte allerdings wegen dieses Nachgebens bei der Beurtei-
lung der englischen Offiziere zeit seines Lebens ein schlechtes Gewissen,
weil er hier etwas wider besseres Wissen beschönigt hatte, was im Grun-
de angeklagt zu werden gehörte. Götz Eberbach

693
Zwangsarbeit Deutscher in England nach 1945

Allgemein ist bekannt und wird zu Recht kritisiert, daß die Sowjet-
union nach dem Kriegsende 1945 noch jahrelang deutsche Kriegs-
gefangene völkerrechtswidrig und unter oft menschenunwürdigen Be-
dingungen als kostenlose Arbeitssklaven zur Zwangsarbeit benutzte und
Zehntausende von ihnen erst 1955 nach dem ADENAU F.R-Besuch in die
Heimat entließ, nachdem bereits Hunderttausende in den Arbeitslagern
Sibiriens elend umgekommen waren.
Fast idyllisch: deut-
sche Kriegsgefangene
Aber weithin unbekannt ist und verdrängt wird, daß auch die Westalli-
bei der Heuernte in ierten Hunderttausende von deutschen Kriegsgefangenen noch Jahre nach
England. der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht aus verschiedenen Grün-
den zurückhielten. Gleichzei-
tig verurteilten sie aber deut-
sche Politiker wie Fritz
SAUCKEL zum Tode durch den
Strang, die für die Rekrutie-
rung von Zwangsarbeitern
während des Krieges - und
nicht etwa im Frieden - ver-
antwortlich gewesen waren.
Uber die in solchen britischen
Gefangenenlagern versuchte
Umerziehung der Gefange-
nen ist bereits anderenorts
berichtet worden.1
Ein anderer Grund für die
gegen internationale Abkom-
men wie die Haager Land-
kriegsordnung und das Gen-
fer Abkommen verstoßende
Maßnahme der Alliierten
nach Kriegsende war insbe-
sondere für Großbritannien
der Wunsch, noch einige Zeit
an den Deutschen billige Ar-
beitskräfte vor allem für die
heimische Landwirtschaft zu
haben. Diese Tatsachen ka-

694
men nach der Freigabe entsprechender, bis dahin 30 Jahre lang geheim- Deutsche Kriegs-
gehaltener britischer Regierungsakten Anfang 1978 heraus. »Das briti- gefangene vor ihrer
Rückführung aus
sche Kabinett unter Premierminister Clement A T T L E E sträubte sich 1947
Großbritannien,
gegen eine beschleunigte Freilassung deutscher Kriegsgefangener, da die
Deutschen als Arbeiter in der Nahrungsmittelproduktion gebraucht wur-
den. Das geht aus geheimen Regierungsdokumenten hervor, die jetzt
nach 30 Jahren veröffentlicht wurden. Danach warnte der damalige Land-
wirtschaftsminister Tom W I L L I A M S vor einer >Überedten Entscheidung«,
die Repatriierung dieser Gefangenen rascher abzuwickeln.« 2 Andere Ar-
beiter wie Polen oder Vertriebene stünden nicht in ausreichender Anzahl
zur Verfügung. »Sie müßten zunächst eigens ausgebildet werden, bevor
sie die heutigen (deutschen) Arbeitskräfte wirksam ersetzen könnten«,
erklärte der Minister.'
Das Kabinett beriet außerdem über 87000 deutsche Kriegsgefangene,
die noch im Nahen Osten als Arbeitskräfte eingesetzt waren. Das briti-
sche Kabinett beschloß dann, über das Außenministerium zu ermitteln,
wie schnei! die anderen Alliierten ihre deutschen Gefangenen freilassen
würden.2 An Recht und Gesetz richteten die Briten sich damit offen-
sichtlich nicht aus. Wegen dieses Verstoßes gegen das Völkerrecht und
internationale Abkommen wurde allerdings niemand aus dem Kreis der
Alliierten zur Rechenschaft gezogen, Rolf Kosiek

2 »London 1947 gegen rasche Gefangenen-Freilassung«, in: Schwäbisches Tagblatt,


2.1. 1978.
3 »London brauchte 1947 deutsche Gefangene als billige Arbeiter«, in: Die Welt,

2.1.1978.

695
England verschleppte deutsche Forscher 1945

ach der Besetzung Deutschlands 1945 benahmen sich die Alliier-


N ten nicht als >Befreier<, wie seit den achtziger Jahren des 20. Jahr-
hunderts für die Umerziehung tätige bundesrepublikanische Politiker den
Deutschen weißmachen wollen, sondern vor allem als Ausbeuter. Der
Auf dem Landsitz größte Patenten- und Wissenschaftlerraub aller Zeiten fand statt, der »In-
Farm Hall in der formationen von unschätzbarem industriellen Wert« für die Alliierten
Nähe von Cambridge
brachte.1 Er ersparte den Siegern und ihrer Wirtschaft Jahre der Ent-
wurden 1945 zehn
führende deutsche
wicklung und damit Hunderte von Milliarden Investitionen.2 Einzelhei-
Physiker gefangenge- ten dazu werden auch noch mehr als 60Jahre nach Kriegsende erstmals
halten. bekannt.
So entdeckte die englische Zei-
tung Guardian im Stimmer 2007 in
kurz vorher freigegebenen Akten
des britischen Außenministeriums
Dokumente über die Verschlep-
pung deutscher Forscher und füh-
render Wirtschaftsleute nach
Großbritannien. 3 Danach seien
von 1945 bis 1947 rund 600 Wis-
senschaftler aus einer weit größe-
ren Gruppe in der britischen Zone
für längere Zeit Inhaftierter ge-
waltsam auf die britischen Inseln
gebracht worden. Noch zwei Jah-
re nach Kriegsende seien zwei ei-
gens dafür eingerichtete Organi-
sationen, das »British Intelligence
Objetives Sub-Committee< (Bios)
und die »Field Information Agen-
cy* (Fiat) mit der Durchführung
dieser Maßnahmen befaßt gewe-
sen, Erstere sei der Londoner Re-
gierung direkt unterstellt, letztere

1 Eine frühe Auflistung brachte Jan BEVAN in: News Chronicle, 21. 2. 1946, über-

setzt in: Deutsche Wochenzeitung 2. 3. 1963, S. 6,


2 Siehe Friedrich GEORG, Unternehmen >Patentenraub<, Graben, Tübingen 2 0 0 8 .
3 Alexander MENDEN, »Ins Königreich entführt«, in: Süddeutsche Zeitung, 3 0 . 8 .

2007.

696
eine anglo-amerikanische militärische Geheimdienstabteilung gewesen, Zum Personal der
die sich schon Monate vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht R a kete n forsc h u n gs-
auf den >Wissenschaftlerklau< vorbereitet hatten. abtellung im briti-
schen WestcOtt ge-
Die Verhaftung der einzelnen deutschen Wissensträger nahm eine hörten 1947 zwölf
Spezialeinheit der britischen Armee vor. In einem Bericht eines leiten- deutsche Wissen-
den Verwaltungsbeamten der britischen Militärregierung von 1946 heißt schaftler unter der
es dazu: »Normalerweise erscheint ein Unteroffizier unangekündigt im Leitung von Dr. J.
S C H M I D T , der zuvor in
Haus oder Büro des Deutschen und läßt ihn wissen, daß er benötigt
den Kieler Walter-
wird. Er nennt keine Details der Gründe und weist sich auch nicht aus.
Werken für die Rake-
Einige Zeit später wird der Deutsche dann verhaftet (oft mitten in der tenproduktion zu-
Nacht) und unter Bewachung abgeführt.« Dieses Vorgehen, so heißt es ständig gewesen war.
in dem kritischen Bericht, erinnere »sehr stark an Gestapo-Methoden«.
Die Verhafteten kamen entweder in ein Internierungslager in Deutsch-
land oder wurden unmittelbar nach Großbritannien verschleppt. Nach-
dem sie oft monatelang verhört worden waren und ihr Wissen preisgege-
ben hatten, wurden sie entweder wieder nach Deutschland entlassen oder
gegen ihren Willen britischen Stellen oder Betrieben übergeben, bei de-
nen sie arbeiten mußten. Die ihrer Versorger beraubten deutschen Fami-
lien erhielten zunächst keinerlei ausgleichende Unterstützung, bis sie ab
Oktober 1946 »Schwerarbeiter-Rationen« und Kohlezuteilungen erhiel-
ten.

697
Ein besonderes Programm mit Namen Ope-
ration Bottlenbeck< hatte es auf wichtige Wirt-
schafts- und Industriefachleute abgesehen. Sie
sollten nach ihrer Verhaftung in England ihr Wis-
sen über Geschäftsgeheimnisse preisgeben und
wurden so lange festgehalten, bis sie die von den
Briten gewünschten Daten, Vorgänge und Ent-
wicklungen verraten hatten. Hieraus hätten vor
allem der Chemiekonzern ICH, die Textilfirma
Courtaulds und das Maschinenbauunternehmen
BSA Tools großen Nutzen gezogen.
CHURCHILL und sein
wissenschaftlicher Be-
Der Präsident des britischen Kronrates, Herbert M O R R I S O N , habe um
rater Frederick L I N D E - diese Zeit dem damaligen Premierminister ATTI.F. sehr offenherzig die
M A N N (Lord C H E RWE LL) Beweggründe der englischen Wirtschaft erklärt, die auch für diese Maß-
waren gleich nach nahmen galten: »Es ist äußerst wichtig, daß wir in diesem Anfangsstadi-
Kriegsende bestrebt, um die deutsche Wirtschaft in einer Weise formen, die unseren eigenen
deutsche Forscher und
Wirtschaftsplänen am meisten nützt und die am wenigsten Gefahr läuft,
Wirtschaftsfachleute
nach England zu ver-
sie zu einem unnötig unbequemen Konkurrenten aufzubauen.«"* Das er-
schleppen. Oben gänzt das Geständnis der britischen Wochenzeitung Sunday Correspondent
links: Clement A T L E E , von 1989: »Wie 1914 sind wir für den nicht weniger edlen Grund in den
C H U R C H I L L S Nachfolger Krieg eingetreten, daß wir eine deutsche Vorherrschaft in Europa nicht
als Premier ab Juli
akzeptieren konnten.«5 Rolf Kosiek
1945; rechts: Carl-
Friedrich V O N W E I Z S Ä K -
KER.

4 Ebenda.
5 Sunday Correspondent, 17.9.1989, deutsch in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 9.
1989, S. 2; auch vollständiger in Beitrag Nr. 149, »Worte zur Kriegs schuld frage«.

698
Ein kanadischer Kriegsgerichtsvorsitzender urteilt

ach dem Kriegsende 1945 wurden neben dem Nürnberger Prozeß


N gegen die »Hauptkriegsverbrechen von den Alliierten jahrelang zahl-
reiche >Kriegsverbrecherprozesse< als politische Schauprozesse gegen deut-
sche Offiziere durchgeführt, denen Verbrechengegen die Kriegsgesetze,
insbesondere die Haager Landkriegsordnung, vorgeworfen wurden. In
diesen Schauprozessen ging es meist weniger um die Gerechtigkeit als
um die Rache der Sieger an den wehrlosen Besiegten. Viele harte Urteile
wurden von alliierten Militärs unberechtigt gefallt — und die Richter wa-
ren sich darüber klar, daß sie selbst keineswegs besser gehandelt und sich
derselben »Verbrechen* im Krieg schuldig gemacht hatten. Dafür hegt eine
bezeichnende Aussage von dem kanadischen General Harry F O S T E R vor.
Ab 10. Dezember 1945 fand in Aurich der Kriegsgerichtsprozeß ge-
gen den legendären »Panzermeyer<, den SS-Brigade führer und General-
major der Waffen-SS Kurt M E Y E R ( 1 9 1 0 - 1 9 6 1 ) , Träger des Ritterkreuzes
mit Eichenlaub und Schwertern, statt. Er war zuletzt Kommandeur der
12. SS-Panzerdivision »Hitlerjugend< in Frankreich bei den Abwehrkämp-
fen gegen die Invasion gewesen, geriet am 6. September 1944 bei Rück-
zugskämpfen nahe Namur in US-Gefangenschaft und kam nur durch
einen Zufall mit dem Leben davon. Er wurde nach England geflogen,
grausam gefoltert und den Kanadiern überstellt, die ihn der Kriegsver-
brechen der Aufhetzung seiner Leute zum Gefangenenmord und Dul-
dung von Gefangenenerschießungen anklagten und nach Aurich trans- SS-Brigadeführer
und Generalmajor
portierten. Am 28. Dezember verurteilte ihn das Gericht zum Tode, die
der Waffen-SS Kurt
Erschießung wurde auf den 7. Januar 1946 festgesetzt. Das Todesurteil MEVER ( 1 9 1 0 - 1 9 6 1 ) .
wurde dann am 13. Januar in lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt,
die zunächst in Kanada, dann im Zuchthaus Werl verbüßt wurde. Dort
besuchte Bundeskanzler ADENAUER den Häftling im Juni 1 9 5 3 . Nach
Herabsetzung der Strafe wurde dieser am 7. September 1954 entlassen.1
Vorsitzender des kanadischen Gerichts in Aurich war der kanadische
Generalmajor Harry F O S T E R . Dessen Sohn Tony F O S T E R , der selbst Sol-
dat im Korea krieg gewesen war, schreibt in seinem Buch Meeting of Gene-
rals2 im Vorwort über die Frage des Kriegsverbrechens nach Gesprächen
mit seinem Vater folgendes:

1 Ernst-Günther KRATSCHMER, Die Ritterkreuzträger der Waffen-SS, K . W . Schütz,


Preußisch Oldendorf J 1982, S. 140-157.
2 Tony FOSTER, Meeting of Generals, Methuen, Toronto 1986, S. XV f. Leider ist

das Buch nie in Deutschland erschienen. Übersetzung der Zitate durch Götz
EBERBACH.

699
»Ich besuchte meinen Vater in den Weihnachtsfericn (1961), als wir
von M E Y E R S Tod hörten. . . Ich fragte ihn, ob er Zweifel an M E Y E R S Schuld
gehabt hätte. »Nicht die geringsten Zweifel!« antwortete er. »Er war genau
so des Mordes schuldig wie ich zur gleichen Zeit. . . oder wie jeder ande-
re Kommandeur im Felde während der Schlacht. Der Unterschied zwi-
schen uns beiden war, daß ich auf der Seite der Sieger stand, das war ein
großer Unterschied.«
War dann der ganze Prozeß eine Farce? Rachsucht der Sieger über den
Besiegten? Mein Vater seufzte und nippte nachdenklich an seinem Port-
wein. »Ich glaube nicht, daß M E Y E R selbst auf Gefangene geschossen hat
oder den Befehl gab, irgendeinen von ihnen hinzurichten. Aber sicher
wußte er davon (von Morden an Gefangenen, G.E,), die Disziplin der SS
war so, daß es gar nicht anders sein konnte. Aber machte ihn das des
Mordes schuldiger als mich, der ich von den Gefangenen weiß, die mei-
ne Truppen töteten?«
»Warum hast Du ihn dann verurteilt?«
»Weil ich gar keine andere Wahl hatte nach den Kriegsgesetzen, die
eine Bande von verdammten Kasernenhof-Anwälten zusammenphanta-
siert hatte, die nie einen scharfen Schuß gehört haben. Im Krieg ist der
Kommandeur verantwortlich für die Taten seiner Leute.«
»Aber das ist doch absurd!«
>Das ist auch die Militärjustiz,«
»Was ist dann die Wahrheit?«
>Ah«, Er nickte, als wenn er sich darüber auch den Kopf zerbrochen
hätte. »Ich glaube, daß die Wahrheit letzten Endes im Gewissen des Sie-
gers liegt!««
Zu ergänzen ist noch, daß Generalmajor F O S T E R nach dem von ihm
verhängten Todesurteil selbst zum kanadischen Oberkommandierenden
nach London flog und diesen zur Begnadigung M E Y E R S ZU lebenslanger
Haft überredete. Auch andere hochgestellte Persönlichkeiten wie Cle-
mens August Kardinal Graf VON G A L E N hatten sich für den Todeskandi-
daten eingesetzt.
In diesem Zusammenhang sei auf die Beurteilung der Siegerjustiz durch
Rudolf A U G S T E I N hingewiesen: »»Das Gespenstische an der Potsdamer
Konferenz lag darin, daß hier ein Kriegsverbrechergericht von Siegern
beschlossen wurde, die nach den Maßstäben des späteren Nürnberger
Prozesses allesamt hätten hängen müssen.«3 Götz Eberbach

3 Zitiert von Dr. Ambras RUST, in: Der Spiegel, Nr. 5, 28. 1. 1985, S. 8,

700
US-General Wedemeyer
zur alliierten Kriegspolitik

n der heutigen Öffentlichkeit wird immer noch die Meinung vertreten,


I daß HITLER die angeblich den Frieden suchenden Alliierten und insbe-
sondere die angeblich friedliebende Sowjetunion zum Zweiten Krieg ge-
zwungen habe, weil er die Welt habe erobern wollen.
Diese Meinung ist falsch. Richtig ist, daß die Völker der westlichen
Welt zum Krieg gegen das Reich durch jahrelange, die Tatsachen verdre-
hende Kriegspropaganda ihrer Massenmedien im Auftrag der jeweiligen
Regierungen aufgehetzt wurden. Ein unverdächtiger Zeuge dafür ist der
berühmte US-General des Zweiten Weltkrieges Albert C . WEDEMEYER,
der in seinen Erinnerungen 1 die Führung der Westmächte in mehreren 1 Albert C . WEDE-
Punkten scharf verurteilte. Er stellte unter anderem fest: MEYER, Der verwaltete
»Durch falsche Propaganda wurde vor dem Ersten und dem Zweiten Krieg, Sigbert Mohn,
Weltkrieg in unserem Volk eine stark emotionale kriegerische Haltung Gütersloh 1958.
hervorgerufen. Trotzdem wußte die große Mehrheit der Amerikaner 1917
nicht wirklich, warum sie zum Kampf aufgerufen wurde. Man hatte ih-
nen erzählt, wir kämpften, um die Welt für die Demokratie zu sichern.
Später, im Zweiten Weltkrieg, sprach man ihnen von den >Vier Freihei-
ten«. Keines dieser hochtönenden Ziele wurde erreicht...« (S. 108)
Entgegen den wider besseres Wissen von ROQSEVELT behaupteten an-
geblichen deutschen Angriffsplänen war den führenden US-Militärs be-
kannt, daß die Wehrmacht rein technisch nicht in der Lage war, die USA
anzugreifen: »1941 wußten die amerikanischen Befehlshaber, daß, wenn
auch ein Nazi-Sieg in Europa eine umfangreiche Steigerung unserer Aus-
gaben für die Rüstung nach sich ziehen würde, dennoch die Gefahr einer
Invasion durch Nazi-Streitkräfte sehr gering war. Deshalb schlugen die Albert C. W E D E M E Y E R .
britischen Propagandaleute einen anderen Kurs ein. Sie kannten die ame-
rikanische Empfänglichkeit für moralische Ziele und wußten, wie leicht
wir gefühlsmäßig auf jede >Tue-Gutes<-Kampagne ansprechen. Daher
wurde ein neues Phantom heraufbeschworen: Wenn die Nazis in Europa
siegten, würde die Weltanschauung HITLERS und seiner Gefolgsleute in
Amerika eindringen.« (S. 108)
Der US-General beschrieb STALINS offenkundige Kriegsziele und kri-
tisierte, daß die Westmächte demgegenüber keine rationale Politik ge-
macht hätten und bei ihnen jegliche Zukunftspolitik gefehlt habe. »Krieg
ist — oder sollte sein — die letzte Zuflucht, um ein Ziel zu erreichen. Er
kann kein Ersatz für Politik sein. Doch RoosEVELTund CHURCHILL schei-
nen ihn — genau wie die anderen westlichen »Schöpfer des Sieges« — als
solches betrachtet zu haben, Sie verwechselten Mittel und Zweck, indem

701
sie totalen Sieg an die Stelle von Politik setzten. Sie forderten die bedin-
gungslose Kapitulation unserer Feinde, anstatt zivilisierte Kriegsziele zu
bezeichnen.« (S. 111)
Bezeichnenderweise habe CHURCHILL dem für eine Mission zu T I T O
geschickten Brigadier Fitzroy M A C L E A N auf dessen besorgten Hinweis,
daß T I T O eng mit den kommunistischen Sowjets zusammenarbeite, ge-
antwortet, »daß keine Erwägungen über »Politik auf lange Sicht< M A C L E -
AN von seiner Aufgabe ab-
halten sollten, »einfach
herauszufinden, wer die
meisten Deutschen tötet,
und Mittel vorzuschlagen,
durch die wir ihnen helfen
könnten, noch mehr zu tö-
ten*«. (S. 111 f.)
Scharf kritisierte W E D E -
MEYER die gegenüber Mos-
kau freundliche Politik
ROOSEVELTS: »Die Ironie des
Ganzen ist, daß wir das so-
wjetische Weltreich weitge-
hend selbst geschaffen ha-
ben. Wir gaben den ersten
Anstoß zum Anwachsen
der Banditenmacht, als wir
1933 den diplomatischen
Mit der Unterzeich- Status der Sowjetunion anerkannten und garantierten. Keine der sowjeti-
nung des neuen schen Versprechungen, Gentlemen's Agreements oder diplomatischen
Weh rpflichtgesetzes Vorschläge ist eingehalten worden.« (S. 113)
am 16. September
1940 setzte US-Prä- Zu spät kam die richtige Erkenntnis: »Wir besaßen keine Friedensvor-
sident R O O S E V E L T trotz stellungen. . . Wir erkannten nicht, daß die bedingungslose Kapitulation
bevorstehender und die Vernichtung der deutschen Macht ein riesiges Vakuum in Mittel-
Wahlen und großer europa mit sich bringen würden, in das die kommunistische Macht und
innenpolitischer Wi- die kommunistischen Ideen eindringen könnten.« (S. 115)
derstände ein Zei-
ROOSEVELT trieb nach WEDEMEYERS Ansicht eine falsche Politik: »Un-
chen und forcierte
unbeirrt die Aufrü- sere Forderung nach bedingungsloser Kapitulation verstärkte selbstver-
stung. ständlich den Willen des Feindes und zwang sogar HITLERS ärgste Fein-
de, bis zum letzten Mann weiterzukämpfen, um ihr Land zu retten. Der
Mut der Verzweiflung erfüllte bis zum Schluß die deutsche Wehrmacht
mit heroischem Geist.« (S. 116) Rolf Kosiek

702
Alliierte Gerichtsurteile 1945
am Beispiel Pinnebergs

eit der Rede des Bundespräsidenten Richard am 8.


S VON W E I Z S Ä C K E R

Mai 1985 bürgerte es sich immer mehr ein und wurde >politisch kor-
rekt*, von einer >Befreiung< der Deutschen 1945 zu sprechen. Daß die
allermeisten Deutschen die damalige totale Katastrophe mit Vertreibung,
Gefangennahme, Zwangsarbeit und Hungersnot nicht so empfanden, ist
schon anderenorts dargelegt. 1 Die Alliierten erklärten selbst, daß sie nicht
als Befreier, sondern als Sieger kämen. Auch der Bereich der alliierten
Militärgerichtsbarkeit auf lokaler Ebene unterstreicht, daß die Westmächte
nicht als >Befreier<, sondern als rachsüchtige Sieger in Deutschland ein-
rückten. Die britische Praxis des Besatzungs-Gerichtswesens sei am Bei-
spiel der holsteinischen Stadt Pinneberg beschrieben.
Nach sofortiger Auflösung des deutschen Gerichtswesens durch die
einmarschierenden Briten fand bereits am 23. Mai 1945 im alten Pinne-
berger Amtsgericht an der Bahnhofstraße die erste Sitzung des Pinne-
berger britischen >Summary Court< für kleinere Straftaten und am 31.
Mai 1945 die des >Intermediate< und des General Military Court< für schwe-
rere Vergehen statt.
Das erstgenannte Gericht tagte bis 2. April 1949, meist zweimal die
Wöche, die letzteren bis 19. Mai 1948.2
Ein rückschauender Beurteiler kommt zu dem Ergebnis: »Das voll-
ständige Urteilsverzeichnis des Summary Court. . . liest sich fast wie eine
Einwohnerliste Pinnebergs.« 2 Denn fast jeder Einwohner wurde verur-
teilt. Es sei »Massenabfertigung« gewesen, »Da kamen immer 10 rein. ..
Es war mehr oder weniger eine kleine Schikane.« 2 Das wurde vor allem
bei den Verurteilungen wegen des Tragens einer Ski-Mütze offenbar. 1
»Denn was sollte sich so ein Landser im Winter denn aufsetzen, er hatte
ja auch nichts.«2
Die Statistik der veröffentlichten Urteile vom 28. November 1945 bis
18 August 1946 in Pinneberg ergibt: 2
1 Beitrag Nr. 363, »Keine Befreiung Deutschlands 1945«.
2 Johannes SEIFERT, »Bürger vor britischen Militärgerichten«, in: Pinneberger Tage-
blatt, 27. 2. 2001.
1 Am 25. Oktober 1945 hatte der Bürgermeister PETERSEN von Pinneberg auf-

gerufen: »Im Anschluß an die Kleidersammlung sind auf Anordnung der Briti-
schen Militärregierung Ski- und skiähnliche (ehemalige Soldatenmützen) abzu-
geben«, in »Amtliche Bekanntmachungen«, in: Anzeigenblatt für den Kreis Pinneberg, Nr.
6, 26. Oktober 1945. Danach wurde das Tragen der üblichen Ski-Mütze strafbar
und vom britischen Gericht mit Geldstrafe belegt.

703
Anklagegrund Anzahl der Personen Durchschnittsstrafe
Überschreitung der Sperrstunde 400 50-400 RM
Keine gültige Kennkarte 420 100 RM
Tragen der Einhcits(ski-)mütze 440 10-25 RM
Unerlaubter Besitz alliierten Eigentums 50 Geld oder Haft
Radfahren ohne Licht (ab Mai 46) 40 20-50 RM

Die Strafen wurden im Anzeiger für den Kreis Pinneberg veröffentlicht. Dort
heißt es unter der Rubrik »Amtliche Bekanntmachungen des >Pinncberg
Military Court«< jeweils auf Seite 1 im Dezember 1945 und Januar 1946:
»Mittwoch, 12. Dezember 1945: 20 heute standen vor dem Pinneberger
Militärgericht wegen Übertretung der Ausgangsbeschränkung. Sie wur-
den mit Summen zwischen 200 und 500 RM. bestraft. Ebenso standen 3
Männer vor Gericht, die angeklagt waren, unerlaubt alliierte Güter und
gestohlenes Eigentum im Besitz zu haben. Sie wurden zu Gefängnisstra-
fen von 6 Monaten bis zu 1 Jahr verurteilt. Verschiedene Frauen wurden
mit Strafen von 100.- bis 800.- RM. belegt, weil sie im Besitz von Kohle,
Eigentum der alliierten Streitkräfte, waren.
Freitag, 14. Dezember 1945: 54 Mann standen vor dem Gericht, weil sie
eine >Einheitsmütze< getragen hatten, und wurden mit 10.- bis 50.- RM.
bestraft. Manche bekamen wegen ihrer ärmlichen Verhältnisse mildern-
de Umstände. 1 Mann wurde mit 6 Monaten Gefängnis bestraft, weil er
einen Befehl eines Mitgliedes der Militärregierung nicht befolgt hatte.4
Mittwoch, 19. Dezember 1945: 24 Personen standen vor Gericht, weil sie
nicht im Besitze von Kennkarten waren, und wurden jeder mit RM. 100.-
Geldstrafe belegt. 2 Personen wurden mit RM. 50.- bis 150.- bestraft,
weil sie die Ausgangssperre übertreten hatten (mehr als sechs Monate
nach Kriegsende, R.K.). 53 Personen wurden mit RM. 10.- bis 25.- be-
straft, weil sie Militärmützen trugen. 1 Mann wurde zu 6 Monaten Ge-
fängnis verurteilt wegen Ungehorsams gegen einen Befehl eines Vertre-
ters der Militärregierung, indem er sich weigerte, seine Ausweise
vorzuzeigen. Ebenso standen 3 Männer wegen unerlaubten Besitzes von
Eigentum der alliierten Streitkräfte vor dem Gericht und wurden zu Ge-
fängnisstrafen von 1—3 Monaten verurteilt. 1 Mann wurde zu 4 Mon.
Gefängnis verurteilt. Er war angeklagt, der Reichsbank nicht innerhalb
von 15 Tagen, vom 9. Mai 1945 ab, fremde Währung, die er im Besitze
hatte, abgeliefert zu haben, und daß er außerdem versuchte, zusätzliche
Lebensmittelkarten zu erhalten, indem er die Ausweise eines anderen
Mannes benutzte.

4 Anzeigenblatt für den Kreis Pinneberg, Nr. 15, 28. 12. 1945, S. 1.

704
Freitag, 21. Dezember 1945: 53 Personen wurden mit RM. 10.- bis 30.-
Geldstrafe belegt, weil sie Militärmützen getragen hatten. 1 Mann wurde
zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er unerlaubterweise im Besitz
von alliiertem Eigentum war. Ein anderer Mann wurde zu 6 Wochen
Gefängnis verurteilt, weil er Lederpolsterdecken aus dem Kreiskraft-
wagenpark gestohlen hatte.5
Am 28. Dezember 1945:1 Mann wurde zu einem Jahr Gefängnis verur-
teilt, weil er wissentlich falsche Angaben einem Mitglied der all. Streit-
kräfte gegenüber einer amtlichen Sache gemacht hat. - 77 Leute wurden
von RM. 10.00 - 30.00 bestraft, weil sie Militärmützen getragen haben. 7
l.eute wurden von RM. 50.00 — 150.00 bestraft wegen Ausgangsüber-
schreitung. — 5 Leute wurden mit RM. 50.00 bestraft, weil sie nicht im
Besitz einer gültigen Kennkarte waren.
Am 2. Januar 1946:40 Leute standen vor dem Gericht, weil sie Militär-
Mützen getragen haben, und wurden von RM. 10 bis 30.- bestraft. 13
Leute wurden mit RM. 100 bestraft, weil sie nicht im Besitz einer gülti-
gen Kennkarte waren.
Am 4. Januar 1946:9 Leute wurden mit RM. 200.00 - 300.00 bestraft
wegen Ausgangsüberschreitung, 2 Leute wurden mit RM. 200.- bestraft,
weil sie nicht im Besitz einer gültigen Kennkartc waren. 1 Mann wurde
zu RM. 30.- verurteilt, weil er eine Militärmütze trug/'
Am 16. Januar 1946: 26 Personen wurden von RM. 30.- bis zu RM,
200.- wegen Ausgangsüberschreitung bestraft. — 3 Personen wurden mit
RM. 50 bestraft, weil sie nicht im Besitz einer gültigen Kennkarte waren,
- 1 6 Personen wurden von RM. 10,- bis zu RM. 20.- bestraft, weil sie eine
Einheitsmiitze getragen hatten. — 1 Mann wurde zu 3 Monaten Gefäng-
nis verurteilt, weil er unerlaubter Weise im Besitz von alliiertem Eigen-
tum war.
Am 23. Januar 1946:8 Personen wurden von RM. 30.- bis zu RM. 50.-
bestraft, weil sie nicht im Besitz einer gültigen Kennkarte waren. — 33
Personen wurden vor Gericht gestellt, weil sie eine Einheitsmütze getra-
gen hatten, und wurden von RM. 10.- bis zu RM, 30.- bestraft, - 6 Perso-
nen wurden jeder zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie im Besitz
von Material zum Schnapsbrennen waren.
Am 25 Januar 1946: Wegen Ausgangsüberschreitung wurden 8 Perso-
nen von RM. 50.- bis zu RM 75- bestraft, weil sie nicht im Besitz einer
gültigen Kennkarte waren. — 2 Personen wurden mit RAI. 30.- und RM.
10.- bestraft, weil sie eine Einheitsmütze getragen hatten, 2 Männer wur-
5 Ebenda, Nr. 16,4. 1. 1946, S. 1.
6 Ebenda, Nr. 18, 18. 1. 1946, S. 1.

705
Der neue Gerichtsalltag in
Deutschland. Ein Mann (links)
war ohne Papiere unterwegs.
Tochter und Mutter hatten ihm
geholfen... Daneben (mit Brille)
der Verteidiger, ein deutscher
Dolmetscher und ein amerikani-
scher Leutnant als Ankläger,

Hamstern war wie Schwarzhan-


del verboten. W e r bei Kontrol-
len erwischt wurde, mußte alles
abgeben und wurde außerdem
bestraft. Hier Kontrolle nach
einer Hamsterfahrt auf dem
Frankfurter Hauptbahnhof. Aus:
Stunde Null in Deutschland,
Droste, Düsseldorf 1978.

den zu je 6 Wochen Gefängnis verurteilt wegen


Diebstahls von alliiertem Eigentum. - 1 Mann
wurde zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er
unerlaubter Weise im Besitz von 100 Zigaretten war,
die für die alliierten Streitkräfte bestimmt waren. 5
Personen wurden vor das Gericht gestellt, weil sie
ihr Fahrtenbuch nicht ordentlich ausgefüllt hatten,
und wurden von RM. 30.- bis zu RM. 100.-bestraft.
— 7 Personen standen vor dem General. MiL Ge-
richtshof wegen Teilnahme an einem Raubüberfall
und wurden zu Gefängnisstrafen von einem Jahr
bis zu 15 Jahren verurteilt. 1 Mann wurde mit RM.
400 bestraft, weil er unerlaubter Weise im Besitz
von alliiertem Eigentum war.
Am 28. Januar 1946:1 Mann stand vor dem Mitt-
leren Mil. Gericht und wurde zu 18 Monaten Ge-
fängnis verurteilt. Er hatte Ausweispapiere ge-
fälscht, und zwar Berechtigungsausweise, ausgestellt
für die UNNRA-Polizei. Dieses wurde als besonders schweres Vergehen
7 Ebenda, Nr. 21, betrachte.«7
8. 2. 1946, S. 1.
Statt wie befreite Menschen wurden die Deutschen also wie ein Kolonial-
volk behandelt und von den örtlichen Befehlshabern schikaniert. Erwäh-
nenswert ist in diesem Zusammenhang noch, daß sich in verschiedenen
Quellen die Briten über die »deutsche Denunzierungs Willigkeit« mokier-
ten2 — ein Vorläufer der politischen Korrektheit. Rolf Kosiek

706
Englischer Offizier stahl Brillanten

ie internationalen Regeln für die Behandlung von Kriegsgefange-


D nen sehen vor, daß deren persönliche Habe ihnen verbleibt. Das gilt
insbesondere für die persönlichen Orden und Ehrenzeichen, die die Ge-
fangenen tragen. Darüber hinaus ist es auch eine selbstverständliche Ach-
tung des Gegners, ihm die ihm verliehenen Orden zu belassen.
In vielen Fällen haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Alliierten, auch
die sonst auf ihr >fair play< so stolzen Engländer, aber nicht danach ge-
handelt, sondern den Gefangenen die Orden als wert-
volle Souvenirs abgenommen.1 Das geschah selbst gro-
ßen deutschen Soldaten und Heerführern gegenüber.2
Ein besonders schäbiger Diebstahl ereignete sich um
das Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Bril-
lanten des berühmten Nachtjagdfliegers Obersdeutnant
Helmut LENT.3 Dieser wurde am 13. Juni 1918 in Neu-
mark geboren, ging 1937 nach dem Abitur zur Luftwaf-
fe, errang im Polenfeldzug und bei der Luftschlacht um
England erste Luftsiege und war ab Mai 1941 der er-
folgreichste Nachtjäger der Welt. Nach Ritterkreuz (30.
8. 1941), Eichenlaub (6. 6. 1942) und Schwertern (3. 8.
1943) erhielt er am 31. Juli 1944 die Brillanten.4 Der als
Inspektor der Nachtjagd vorgesehene Flieger verstarb
nach 102 Abschüssen am 7. Oktober 1944 an den Fol-
gen eines tragischen Flugzeugunfalls (Aussetzen eines
Motors) kurz vor der Landung auf dem Flughafen Pa-
derborn, in dessen Nähe er am 5. Oktober seinen Freund,
den Eichenlaub träger J ABS, besuchen wollte. Seine f labe,
darunter waren auch seine Orden, kam zu seiner Witwe
nach Altenwalde bei Cuxhaven,
Im April 1945 hat ein englischer Offizier diese Tapferkeitsauszeich- H e l m u t LENT

nung sowie zwei Fotoalben der Familie L E N T aus dem Hause der Witwe (1918-1944).

gestohlen.

' Beitrag Nr. 320, »Orden-Klau der Alliierten«.


2 Beitrag Nr. 319, »Die Gefangennahme des Generalfeldmarschalls Milch«.
3 Brief des Herrn Ullrich GAFFRY, Bonn, vom 23. 4 . 2007 an den Verfasser.

Originalbrief im Archiv des Verfassers.


4 Günter F R A S C H K A , Mit Schwertern und Brillanten. Die Träger der höchsten deutschen

Tapferkeitsauszeichnung, Universitas, München "1989, S. 171—175.

707
Helmut LENT er-
rang seinen ersten
Luftsieg am 2. Sep-
tember 1939 mit
einer zwei-
motorigen Me
110.
Dies war einer der
ersten deutschen
Abschüsse im
Zweiten Weltkrieg.
Die M e 110 lei-
stete einen we-
sentlichen Beitrag
bei den ersten
Blitzsiegen.

Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts tauchten die ge-
stohlenen Auszeichnungen und die Fotoalben in London auf dem Miti-
taria-Markt wieder auf. Der deutsche Luftwaffenattache an der Botschaft
in London bekam davon Kenntnis und hat diese Sachen nach Zustim-
mung des Bundesministeriums der Verteidigung für umgerechnet 5000.-
DM angekauft. Der Witwe wurden die Fotoalben zurückgegeben. Mit
ihrer Zustimmung kam das Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und
Brillanten ihres verstorbenen Mannes als wertvolles Ausstellungsstück in
das Wehrgeschichtliche Museum im Schloß Rastatt. Bis zum Auffinden
der inzwischen wieder verheirateten Witwe des Ordensträgers hatte Herr
GAFFRY die Auszeichnung im Panzerschrank verwahrt.
Die Luftwaffenkaserne der Bundeswehr im niedersächsischen Roten-
burg an der Wümme wurde nach dem berühmten Nachtjagdflieger offi-
ziell >Lent-Kaserne< genannt. 3
Der Dieb oder seine Erben haben also rund vierzig Jahre später aus
der Beute ihrer schändlichen Tat noch materiellen Nutzen gezogen, an-
statt sich für diese Handlung zu entschuldigen. Sie wurden auch nicht
zur Rechenschaft gezogen. Eine Klärung der Straftat von 1945 erfolgte
nicht. Andere britische Stellen entschuldigten sich ebenso nicht für die-
ses für eine >Kulturnation< mindestens peinliche Vorkommnis.
Rolf Kosiek

708
Zur Französisierung Südwestdeutschlands 1945

rankreich hatte sich im Versailler Diktat 1919 die mehrheitlich deut-


F schen >Reichslande< Elsaß und Lothringen erneut einverleibt und die-
ses Gebiet, das von 1940 bis 1945 dann wieder deutsch war, anschließend
zum zweiten Male annektiert. Damit war sein Begehren nach weiterem
deutschen Land jedoch keineswegs gestillt. Richtig ist, daß Paris nach Ende
des Zweiten Weltkrieges zusätzlichen Gebietserwerb aus den Resten des
Deutschen Reiches erhoffte und entsprechende Maßnahmen dazu er-
griff.
Allgemein bekannt ist Frankreichs Bemühen zwischen 1945 und 1955,
das fast rein deutsche Saarland seinem Staatsverband einzuverleiben. Das
wurde 1955 durch die mit großer Mehrheit für Deutschland ausgehende
zweite Saarabstimmung verhindert.1 Weithin vergessen ist jedoch, daß 1 Siehe Beitrag Nr.
Paris nach Kriegsende auch seine Besatzungszone oder mindestens große 420, »Adenauer und
Teile von ihr rechts des Rheines vom Rumpfdeutschland abtrennen und die Saar frage«,
seinem Staat zuschlagen wollte. So war der französische Oberkomman-
dierende General K Ö N I G , von seinem Amtssitz in Baden-Baden aus, »der 2Dr. Waldemar
klassische Vertreter französischer Rheinpolitik, die seit der Zeit L U D W I G S ERNST, .'ViehStetten,
XIV. nicht ohne Erfolg auf eine Zerstückelung deutschen Gebietes dies- »Versuchte Franzö-
seits des Rheines zielte und nach dem Zweiten Weltkrieg das damalige sisierung«, Leser-
brief in: Frankfurter
Südbaden als Teil der Französischen Besatzungszone wenn nicht Frank-
Allgemeine Zeitung, 2.
reich einverleiben, so doch als Puffer dem Elsaß vorlagern wollte«.2 10. 1991.
Der zitierte Zeitzeuge schreibt weiter: »Ich erinnere mich: Anfang 1946,
noch im Winter, waren im damaligen Kreis Stockach über Nacht die
Siegesfeier in Kon-
stanz. Nach der Er-
oberung am 27.
April 1945 gab es
hier und am Boden-
see eine sehr ge-
spannte Situation
zwischen den Fran-
zosen und der Bevöl-
kerung mit Sabotage-
akten und
Geiselnahmen, Aus:
T R E E S U. a. (Hg.),

Stunde Null in
Deutschland, Droste,
Düsseldorf 1978.

709
Verkehrsschilder mit der Trikolore geschmückt und französisch beschrif-
tet. Der Bodensee war zum Lac de Constance geworden, Freiburg hieß
Fribourg. Auf dieser Linie hatte es auch gelegen, daß sogleich nach der
Besetzung der Wohnbesitz von Adel und Kirche (»Monsieur le Baron et
Monsieur le Curé<) durch Anschlag vor Unbill seitens der Truppe ge-
schützt wurde.«
Erst die Entwicklung zur Trizone und Westdeutschlands Stellung im
Kalten Krieg »ließ eines Tages auf den Verkehrsschildern wieder die deut-
schen Ortsbezeichnungen erscheinen. In der von der Militärregierung
gelenkten südbadischen Presse hörten auch die Beiträge mitunter höhe-
rer Beamter auf, die die Mainlinie zu einer innerdeutschen natürlichen
und historischen Grenze hochstilisierten und damit rechtfertigten, daß
3 ERNST, ebenda. das Reich mit H I T L E R untergegangen sei«.3

Der Befehlshaber der


französischen Besat-
zungskräfte, General
Goislard DE MON-
SABERT, in Stuttgart.

Die US-Amerikaner
verlangten die Her-
ausgabe der Stadt, um
die Autobahn nach
München kontrollie-
ren zu können.

Über die verschiedenen Richtungen und Strömungen der französischen


Besatzungspolitik und ihre Vertreter berichtete die FAZ ausführlich im
4Frankfurter |ahre 1991 in ihrer Beilage »Geisteswissenschaften^
Allgemeine Zeitung, Als die französische Militärregierung 1946 einsehen mußte, daß ihre
18. 9. 1991. Abtrennungsabsichten nicht durchzusetzen waren, versuchte sie, in den
folgenden Jahren durch Demontagen und Entnahmen noch möglichst
viel aus ihrer Zone herauszuholen. Besonders verhängnisvoll wurde der
befohlene Waldeinschlag. »Die Franzosen betrieben eine beispiellos ri-
gorose Kahlschlagpolitik. Um ihre von der Deutschen Wehrmacht im
Frankreich-Feldzug zerstörten Städte (was so nicht stimmt, US-Bomber

710
zerstörten mehr, R. K.) rasch wieder
aufbauen zu können und um Devi-
sen für Lebensmittelimporte zu be-
schaffen, ließ die französische Besat-
zungsmacht die Wälder bedenkenlos
abholzen — in Württemberg, in Ba-
den, aber auch in Rheinland-Pfalz.
Jeder, der eine Axt führen konnte,
mußte zum Arbeitseinsatz in den
Wald.. . Allein im Jahr 1947 wurde
Württemberg-Hohenzollern aufer-
legt, zwei Millionen Festmeter Nutz-
holz nach Frankreich zu liefern.« 5 Es
entstanden dort 12349 Hektar Wald-
Kahlflächen.
Angesichts dieser skrupellosen Plünderung der Wälder und der ver- Die Franzosen stei-
hängnisvollen Eingriffe in die Natur gründeten im Dezember 1947 Forst- gerten den Holzein-
leute und Waldbesitzer in Honnef am Rhein die >Schutzgemeinschaft schlag in ihrer Zone -
hier im Raum Reut-
Deutscher Wald< (SDW). Als alle Versuche, die Zerstörung der Wälder
lingen - um 350 Pro-
einzuschränken, nichts fruchteten, griffen die deutschen Politiker im Süd- zent. Im Jahre 1950
westen zu einem »Akt der Verzweiflung. Am 6. August 1948 erklärte die gab das Land Würt-
Regierung des Landes Württemberg-Hohenzollern ihren Rücktritt. Der temberg-Hohenzol-
Landtag in Bebenhausen beschloß, seine Arbeit vorläufig einzustellen. lern die Hälfte seines
Eine spektakuläre Entscheidung. Dieses Aufbegehren gegen eine der Sie- Etats für Besatzungs-
kosten aus.
germächte erregte in Deutschland Aufsehen. Exekutive und Legislative
des 1952 im Südweststaat aufgegangenen Landes protestierten mit der
Aufkündigung ihrer Zusammenarbeit gegen immer neue Demontage- 5 »Noch heute sieht
forderungen der französische Besatzer und gegen den von ihnen befoh- man den Wäldern
lenen Raubbau am Wald«. 5 die verheerenden
Diese Maßnahmen fruchteten endlich, und »die Vernichtung des Franzosenhiebe
Schwärzwalds, des schwäbischen und oberschwäbischen Waldes, ja des an«, in: Schwäbisches
ganzen deutschen Waldes wurde abgewendet«. Doch noch Jahrzehnte Tagblatt, 4. 4, 1992.
später waren die verheerenden Folgen dieses jahrelangen verantwortungs-
losen Kahlschlags festzustellen. Rolf Kosiek

Am 2 6 . April 1951 zitierte Carlo SCHMID {links) im Bundestag einen Bericht des
Generaldirektorats für Wirtschaft und Finanzen in Baden-Baden, Danach hatte
Frankreich in den ersten Besatzungsjahren durch den Rabatt beim Ankauf deut-
scher Produkte 10 Millionen Dollar verdient, »Andere Geschäfte mit der Hilfe
der Kontrollbehörde für den Zonenhandel (OFICOMEX) hatten den Profit auf
den Betrag von 336,7 Millionen Dollar getrieben.« Aus: TREES U. a. (Hg.), Stunde
Null in Deutschland, Droste, Düsseldforf 1978, S. 94.

711
Frankreich verhinderte
die deutsche Einheit nach 1945

ange Zeit galt die Ansicht, insbesondere unter westdeutschen Histo-


L rikern, daß die bei der Potsdamer Konferenz 1945 noch von den
Alliierten festgeschriebene Einheit Deutschlands in den folgenden Jah-
ren durch den Kalten Krieg, also durch die wachsenden Spannungen
zwischen Russen und Amerikanern, verhindert worden sei und daß so-
mit diese beiden Mächte an der Spaltung des Landes für fast ein halbes
Jahrhundert schuld gewesen seien. Doch das ist falsch.

Bei der Potsdamer


Konferenz waren die
Franzosen noch nicht
einbezogen. Hier
zeigt sich der Vertre-
ter Frankreichs (Ge-
neral DE L A H R E DE T A S -
SIGN Y, rechts) bei der
der Parade in Berlin
anläßlich der Über-
nahme der Regie-
rungsgewalt in
Deutschland. Von
links: M O N T G O M E R Y ,
SCHUKOW, EISENHOWER

u n d D E LATTRE D E

TASSIGNY

Richtig ist, daß vor allem Frankreich die deutsche Einheit für Jahrzehnte
erfolgreich verhinderte. Der US-Historiker John G I M B E L vom kaliforni-
1 John GIMBEL,
schen Humboldt State College1 fand Anfang der siebziger Jahre in einem
Amerikanische Archiv in Kansas City bis dahin geheim gebliebene Akten der 1949 auf-
Besatzungspolitik in gelösten US-Militärregierung für Deutschland. Aus den dortigen Unter-
Deutschland 1945-
lagen geht überzeugend hervor, daß vor allem Frankreich nach 1945 dar-
1949, S. Fischer,
Frankfurt/M. 1972. auf aus war, die deutsche Einheit zu hintertreiben, um ein einiges
Deutschland zu vermeiden. Nach Auswertung der Akten kam G I M B E L
»unweigerlich zu dem Schluß, daß Frankreich das eigentliche Hindernis
für die Verwirklichung dieser Politik« einer Wiederherstellung der deut-
schen Einheit gewesen ist.
Der US-Historiker meint: »Dieser Schluß erscheint jedoch manchen
Leuten angesichts der Tatsache, daß die Vereinigten Staaten Frankreich
befreit und ihm dann wirtschaftliche Übergangshilfe gewährt haben, ganz

712
und gar unmöglich.«2 Doch für ihn stehe nun fest, »daß wir gerade der 2 Zitiert in: Der

Nation Hilfe und Erleichterungen gewährten, die unsere Deutschland- Spiegel, Nr. 48, 20.
politik zum Scheitern brachte«.3 11. 1972, S. 27.
3 Ebenda.
Denn nachdem die alliierten Regierungschefs auf der Konferenz in
Potsdam - noch ohne Frankreich - im Juli 1945 festgelegt hatten, daß
das besiegte Deutschland künftig als wirtschaftliche Einheit betrachtet
und behandelt werden solle, versuchte US-Militärgouverneur Lucius D.
C L A V als Nachfolger Generat E I S E N H O W E R S die deutsche Einheit zu er-
halten. Doch Paris weigerte sich von Anfang an, der Einrichtung deut-
scher Zentralverwaltungen zuzustimmen, Frankreichs Regierungschef DE
G A U L L E erklärte bei seinen Gesprächen mit US-Präsident T R U M A N am
22. und 24. August 1945 in Washington, daß er deutschen Zentralverwal-
tungen erst zustimmen könne, wenn das Ruhrgebiet, das Saargebiet und
das Rheinland vorher ebenso wie Ostdeutschland vom Restdeutschland
abgetrennt wären.4 Sein Außenminister B I D A U L T verlangte als Vorausset- 4 Walter LIPGÜNS,

zung für entsprechende Maßnahmen zur Erhaltung der deutschen Ein- »Bedingungen und
heit von den anderen Alliierten die Abspaltung dieser Gebiete vom Etappen der
Rumpfdeutschland. In dem an die Einstimmigkeit gebundenen Kontroll- Außenpolitik de
Gaulies 1944-
rat, in dem nun Frankreich vertreten war, blockierte dessen Militärgou-
1946«, in: Viertel-
verneur Pierre K O E N I G auf Gesamtdeutschland abzielende Vorhaben: jahrshefte für Zeitge-
Am 1. Oktober 1945 mußten auf seinen Einspruch die Verhandlungen schichte, 1973, S. 52-
über die Einsetzung deutscher Transport- und Verkehrsbehörden ver- 102, insbesondere
schoben werden, am 19, Oktober gaben die entsprechenden Ausschüsse S. 97.
für Transport und Verkehr wegen absehbarer Erfolglosigkeit ihre Arbeit
auf. Der für die Gründung einer deutschen Finanzbehörde eingesetzte
Kontrollratsausschuß kam unter diesen Umständen auch nicht voran.
US-Gouverneur GAY setzte sich weiter für die deutsche Einheit ein
und wurde von Washington unterstützt. Im November 1945 veranlaßte
er die Länder der US-Zone, Bayern, Württemberg-Baden, Hessen und
Bremen, einen Länderrat für Länder überschreitende Fragen zu bilden,
und schlug vor, dieses Modell auch auf die anderen Besatzungszonen
auszudehnen und über die Zonengrenzen hinaus zu verhandeln. In ei-
nem Brief seines politischen Beraters James K. P O L L O C K vom 12. De-
zember 1945 zu diesem Vorschlag heißt es: »Wir kämen dann einen Schritt
weiter auf dem Wege zur Einsetzung einer Regierung für ganz Deutsch-
land. Wenn die Chefs der Regierungen aller Länder oder ähnlicher Ver-
waltungseinheiten aller Zonen zusammenkämen, dann hätten die vier
Besatzungsmächte einen gesamtdeutschen Länderrat, mit dem sie ver-
handeln könnten.«3 s Der Spiegel, Nr. 48,

Doch die deutschen Länderchefs, vor allem der bayerische, widersetz- 20.11. 1972, S. 29.
ten sich solchen Anregungen. Als Ende Februar 1946 auf C L A Y S Drän-
gen Vertreter aus der amerikanischen und der britischen Zone sich in

713
Bremen zu gemeinsamen Gesprächen trafen, lehnte München jede offi-
zielle Teilnahme ab. Die Folge war, daß sich die einzelnen Zonen, insbe-
sondere die sowjetische, gegenseitig weiter abkapselten. Vor allem die
Franzosen verhinderten alle Ansätze zu einer Einigung, Sie versuchten
sogar, den Ministerpräsidenten Württemberg-Badens, Reinhold M A Y E R ,
dafür zu gewinnen, an einer Abtrennung ganz Südwestdeutschlands —
ähnlich wie bei dem Saargebiet - vom restlichen Deutschland mitzuwir-
6 Der Spiegel, ebenda, ken.6
S. 32. In ihrer ersten Ausgabe teilte Die Welt am 2. April 1946 auf Seite 1 mit,
daß nach einem Bericht der New York Times aus Washington »das Staats-
departement hoffe, daß Frankreich seine Weigerung, zentralen Verwal-
tungen in Deutschland zuzustimmen, aufgeben werde, bevor ein alliier-
tes Abkommen über Rheinland und Ruhr erreicht sei. Diese Meinung
habe das Staatsdepartement in einer Denkschrift an Präsident T R U M A N
7 "Frankreich nicht ausgedrückt«.
mehr gegen zentra- Doch diese Hoffnung trog: Die Franzosen stemmten sich weiter ge-
le deutsche Verwal- gen alle Schritte zur deutschen Einheit.
tungen?« in: Die Da die wirtschaftliche Lage in Deutschland immer schlechter wurde,
Welt, Nr. 1, \.)gf, 2. schlug ClaY am 26. Mai 1946 Washington vor, mit den Sowjets »sofort
4 . 1 9 4 6 , S . 1.
an die Schaffung einer deutschen Regierung zu gehen, der die Verwal-
tungsbehörden direkt unterstellt sind«, wobei weiterhin Frankreich »das
größte Hindernis auf dem Wege zur Einheit« bleibe. Anderenfalls solle
die wirtschaftliche Vereinigung der britischen mit der amerikanischen Be-
satzungszone zu einer Bizone angestrebt werden, wobei jedoch keine
politische Vereinigung stattfinden dürfe. Das US-Außenministerium wie-
gelte jedoch zunächst ab, untersagte C L A Y , seinen Plan auf einer Presse-
konferenz im Juli 1946 zu veröffentlichen, betrieb aber die Bildung der
Bizone.
Diese wurde ohne deutsche Beteiligung im September 1946 von Ame-
rikanern und Briten ausgehandelt. Dabei wurde jedoch ein gemeinsames
Parlament der betroffenen Länder untersagt und jede politische Zusam-
menarbeit der betreffenden Ministerpräsidenten unterbunden.
Auf ClAYs Drängen lud der bremische Ministerpräsident K A I S E N sei-
ne Länderkollegen zu einer Ministerpräsidenten-Konferenz an die Weser
zum 4. Oktober 1946 ein. Die süddeutschen Vertreter hatten erst große
Bedenken, die Clay überwand. Doch kurz vor der Tagung sagten die
Mitteldeutschen ab.
Als im Mai 1947 der bayerische Ministerpräsident E H A R D ZU einem
gesamtdeutschen Treffen aller Länderchefs nach München einlud, erklärte
Paris, die Vertreter der französischen Zone dürften nur teilnehmen, wenn
in München nicht über den politischen Wiederaufbau oder die Einigung
Deutschlands gesprochen werde. Als daraufhin E H A R D das Programm

714
US-General C L A V im
Kreis der Landeschefs
der US-Zone. Von
links: S T O C K (Hessen),
E H A R D (Bayern), C L A V ,

M A Y E R (Baden-Würt-
temberg und KAISEN
(Bremen). Oben.* Wil-
der Tagung entschärfte und nur unpolitische Fragen zuzulassen versprach, h e l m BODEN, der M i -
war dieser letzte Versuch zu einer deutschen Einheit praktisch schon nisterpräsident von
geplatzt. Als dann die Mitteldeutschen am 5. Juni 1947 als wichtigen Ta- Rheinland-Pfalz.
gesordnungspunkt die »Schaffung des deutschen Einheitsstaates« behan-
delt wissen wollten, erklärte Wilhelm B O D E N als Ministerpräsident des
französisch besetzten Landes Rheinland-Pfalz, bei Diskussion dieses The-
mas die Sitzung verlassen zu müssen. Da sich E H A R D dem anschloß, rei-
sten die Chefs der mitteldeutschen Länder ab, und man sprach jahrzehn-
telang nicht mehr miteinander.
Bezeichnend ist, daß die amtliche Darstellung der bayerischen Regie-
rung über diese Konferenz jene »schicksalhafte Sitzung« am 5. Juni 1947
gar nicht erwähnt. Als der US-Historiker G I M B E L sich bei der Bayeri-
schen Staatskanzlei nach dem Grund dafür erkundigte, bekam er »die
Antwort, Bayern habe den Bericht so abgefaßt, um Frankreich nicht in
eine peinliche Lage zu bringen«.8
Durch Frankreichs dauernde Torpedierung der amerikanischen und
deutschen Einigungsversuche kam es nicht zu einer wirtschaftlichen Ein-
heit des besetzten Deutschlands, vertiefte sich dadurch in den ersten
Nachkriegsjahren die deutsche Spaltung, und es dauerte dann 45 Jahre,
bis 1990 Mitteldeutschland durch glückhafte Umstände — wieder gegen
entsprechende Versuche und Widerstand von Paris aus9 — mit West-
deutschland vereinigt werden konnte. Rolf Kosiek
9 Der Spiegel, Nr. 48, 20. 11. 1972, S. 34.
9 Siehe Beitrag Nr. 483, »Die Alliierten und die Wiedervereinigung«.

715
Polen täuschen ostdeutsche Kirchenvertreter 1945

chon gleich nach Kriegsende und noch vor der Potsdamer Konferenz
S der Großen Drei begann in den deutschen Ostgebieten östlich von
Oder und Neiße parallel zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung die
Verdrängung der deutschen Kirchenverwaltung durch polnische Priester.
Dabei wurde von polnischer Seite nicht nur nationalistisch und unchrist-
lich gehandelt, sondern auch bewußt getäuscht und gegen die Absicht
des Papstes gehandelt, was weithin unbekannt ist und deswegen dem
Vergessen entzogen werden muß. Der Augsburger Theologieprofessor
Franz SCHOLZ, bis 1945 Priester in der Erzdiözese Breslau, hat diese Vor-
gänge in einem Buch ausführlich dargestellt, auf dem die folgenden Rich-
tigstellungen im wesentlichen beruhen.1
Nachdem die Festung Breslau nach monatelangem Widerstand am 6.
Mai 1945 vor der Roten Armee kapituliert hatte, kam bereits am 16. Mai
1945 der polnische Bischof St. ADAMSKI von Kattowitz nach Breslau und
nahm Verbindung zu den Vertretern des dortigen deutschen Domkapi-
tels auf. Kardinal BERTRAM, Oberhirte der Erzdiözese Breslau und lang-
jähriger (seit 1919) Leiter der Fuldaer Bischofskonferenz, lag zu der Zeit
im Schloß Johannesberg im Sudetenland im Sterben. Für ihn nahm Ge-
neralvikar Josef KRAMER den polnischen Wunsch entgegen, sofort in
Oberschlesien die kirchliche Gewalt und Verwaltung in polnische Hände
zu legen. Dazu sollten umgehend ein polnischer Generalvikar, polnische
Adolf Kardinal
Dechanten und Pfarrer ernannt werden. Unter dem Druck der Verhält-
BERTRAM.
nisse konnte das von der deutschen DiözesanVerwaltung nicht verwei-
gert werden.
Der Primas von Polen (seitl926), Augustyn Kardinal (seit 1927) HLOND,
war am 14. September 1939 vor den Deutschen über Rumänien nach
Rom geflohen, wurde am 3. Februar 1944 von den Deutschen in den
Pyrenäen verhaftet, wahrscheinlich auf Bemühen Kardinal BERTRAMS bei
Nonnen in Wiedenbrück in Westfalen gut untergebracht und am 1. April
1945 von den Amerikanern befreit. Er traf nach anschließendem länge-
ren Aufenthalt (25. April bis 1L Juli 1945) in Rom am 20. Juli 1945 wie-
der in Polen ein. In Posen und in Krakau stellte er sofort an den folgen-
den Tagen in Gesprächen mit hohen polnischen Kirchenvertretern diesen
ihre baldige Einsetzung auf bisher deutsche Kirchenposten in Schlesien
und Ostpreußen in Aussicht. Seine Absicht war offenbar, schnell die deut-
schen Kirchenleitungen in ganz Ostdeutschland zu verdrängen und durch
1 Franz SCHOI.Z, Zwischen Staatsräson und Evangelium. Kardinal Hlond und die Tragö-

die der ostdeutschen Diözesen, Josef Knecht, Frankfurt/M. 1988.

716
Von links: Augustyn
HLOND und Ferdinand
PIONTEK.

polnische zu ersetzen. Die Maßnahmen wurden streng geheimgehalten,


so daß die davon betroffenen Deutschen darüber zunächst nichts erfuh-
ren, Nach der Potsdamer Konferenz (17. Juli—2. August 1945), die Ost-
deutschland nur vorläufig unter polnische und sowjetische Verwaltung
stellte, und zwar bis zu einer endgültigen Regelung in einem abschließen-
den Friedensvertrag, ging die polnische Kirchenleitung sofort davon aus,
daß die deutschen Ostgebiete endgültig bei Polen bleiben würden, und
wollte dazu vollendete Tatsachen schaffen. H L O N D wollte auch wohl seine
Flucht von 1939 dadurch wettmachen, daß er nun »die polnische Kirche
auf polnischer Frde« - worunter er ebenso Ostdeutschland verstand -
neu gründete.
Am 6, Juli 1945 war Kardinal B E R T R A M gestorben. Das Breslauer Dom-
kapitel wählte am 16, Juli 1945 den bisherigen Domdechanten, Dr. Fer-
dinand P I O N T E K , zum Kapitelsvikar, Am 12. August 1945 kam Kardinal
H L O N D unerwartet ZU diesem als dem Vertreter der alten Erzdiözese Bres-
lau in die Stadt. Der Primas teilte ihm nach P I O N T E K S eigenen Aufzeich-
nungen mit, »daß sich der Heilige Vater angesichts der besonderen Zeit-
verhältnisse entschlossen habe, für die unter der Verwaltung des
polnischen Staates stehenden Gebiete Apostolische Administratoren zu
bestellen (was nicht der Wahrheit entsprach, R. K.), Es wäre daher dem
Heiligen Vater lieb, wenn ich mein Amt als Kapitelsvikar für diese Ge-
biete in die Hände des Heiligen Vaters lege (was ebenfalls nicht der Wahr-
heit entsprach, R. K). Die Bestellung der Apostolischen Administrato-
ren werde aber auf jeden Fall erfolgen. Ich erwiderte, daß mir, nachdem
ich einmal gewählt worden sei und das Amt angenommen habe, der Ver-
zicht nicht leicht werde, jedoch sei es selbstverständlich, daß ich den
Wunsch des Heiligen Vaters respektiere. Darauf überreichte mir der

717
Kardinal die abschriftlich beiliegende Erklärung zur Unterzeichnung. Ich
las die Erklärung, .. und fragte dann: >Ist das der Wille des Heiligen Va-
ters?< Der Kardinal antwortete: >Ja, und diese Erklärung ist in Rom in der
Staatssekretarie abgefaßte (was
nicht der Wahrheit entsprach,
R. K.) Ich unterzeichnete die
Erklärung und überreichte sie
dem Kardinal, der darauf sag-
te: >Ich danke Ihnen im Namen
des Heiligen Vaters.««2
PloNTliK hatte keine Mög-
lichkeit gesehen, sich dem An-
sinnen des Kardinals in der
polnisch besetzten Stadt zu wi-
dersetzen, und hatte widerwil-
lig die Verzichtserklärung un-
terschrieben. Auf diese Weise
machte HLOND das Erzbistum
Breslau >vakant<, um es dann in
drei Teile zu zerlegen und pol-
nische Priester einzusetzen,
wie es schon von ihm in den
letzten Wochen vorbereitet
war. Ähnliches plante H L O N D
in den ostdeutschen Bistümern
Ermland und Schneidemühl.
Dabei hatte der Kardinal gar
Der Breslauer Dom keinen päpstlichen Auftrag zur Entfernung der deutschen Kirchenver-
St. Johannes der Täu- treter, und das war auch gar nicht der Wunsch des Papstes oder der Ku-
fer, eine dreischiffige rie. H L O N D hatte PlONTEK keine solche päpstliche Bestätigung für den
gotische Basilika mil schicksalsschweren Schritt vorgelegt, weil er keine solche besaß. Und Pi-
barocken Kapellen-
ONTF.K hatte nicht gewagt, nach einer solchen zu fragen, und er konnte
anbauten, war der
beherrschende katho-
unter den damaligen chaotischen Nachkriegs Verhältnissen keine Verbin-
lische Bau der Oder- dung zum Vatikan herstellen, um sich dort Gewißheit zu holen. Er ver-
stadt. traute in kirchlichem Gehorsam dem Wort des Kardinals, daß die von
diesem mündlich vorgebrachte neue Lösung mit dem Verzicht der deut-
schen Priester der Wunsch des Papstes sei, was jedoch nicht zutraf.
Ähnlich ging H L O N D sofort danach in der deutschen Diözese Erm-
land (Ostpreußen) vor. Ihr Bischof K A L L E R war, nachdem er von der
Gestapo im Februar 1945 aus Ostpreußen verwiesen und nach Danzig

2 Zitiert nach SCHOLZ, ebenda, S. 5 9 .

718
sowie Halle an der Saale gebracht worden war, dort freigekommen und
hätte sich bis Anfang August nach Allenstein durchgeschlagen. »Am 16.
August 1945 wurde er vom Primas in das Priesterseminar zu Peplin zi-
tiert. .. Der Bischof glaubte, aufgrund seiner polnischen Sprachkennt-
nisse und wegen seiner stets geübten Fürsorge für polnisch sprechende
Gläubige, sein Amt auch unter den geänderten Verhältnissen weiterfüh-
ren zu können. Aber Primas H L O N D war anderer Meinung, In der ihm
eigenen Art erklärte er, daß im »polnischen Staat< nur ein polnischer Bür-
ger Bischof sein könnte. Der Primas legte ihm im Laufe des Gespräches
den Resignationsakt des »großen Bruders* aus Breslau, Dr. F. P I O N T E K ,
vor. Das blieb begreiflicherweise nicht ohne Wirkung. Bischof K A L L E R
unterschrieb die Resignationsformel und legte seinen Verzicht in die
Hände des Primas. . . »Bestürzt und außer Fassung, mit verweinten Au-
gen* hat er den Verhandlungsraum verlassen.**3 3 SCHOI-Z, ebenda,
In der deutschen Freien Prälatur Schneidemühl hatte der zuständige S. 63.
deutsche Prälat Dr. Franz H A R T / , sein Gebiet vor den anrückenden So-
wjets verlassen. Am 17, August 1945 wurde sein Vertreter Generalvikar
B L E S K E , der sich anfangs weigerte, den Rücktritt zu unterschreiben, da er
dazu nicht befugt sei, dann doch dazu veranlaßt. Damit war in wenigen
Tagen im größten Teil Ostdeutschlands die deutsche Kirchenleitung auf-
grund von H l O N D S falschen Behauptungen über den päpstlichen Willen
durch eine polnische ersetzt worden.
Für den ostpommerschen und neumärkischen Anteil der Diözese Ber-
lin, der unter polnische Verwaltung kam, wurde kein Verzicht ausgespro-
chen. Die Polen handelten einfach und setzten polnische Priester ein.
Die Berliner Kirchenverwaltung hat das nicht anerkannt.
Die polnischen Administratoren wurden in Ostdeutschland mit Wir-
kung vom 1. September 1945 eingesetzt — sicher nicht zufällig an diesem
Tag: Man wollte einen Sieg über die Deutschen andeuten, die sechs Jahre
vorher in Polen einmarschiert waren. Bezeichnend ist auch, daß am 1.
September 1945 die neuen polnischen Priester für Schlesien ihre Amts-
einführung vor dem dazu aufgeforderten deutschen Domkapitel in Breslau
vollzogen - sicher eine Siegerpose über die Besiegten, aber auch wohl
eine von den Polen erstrebte weitere nachträgliche Absicherung des Ver-
zichts Dr. P L O N T E K S .
Bei der schnellen Machtergreifung der polnischen Kirche von Ost-
preußen bis Schlesien war zunächst vergessen worden, die deutschen Teile
der Diözesen Prag (die Grafschaft Glatz) und Olmütz (das Leobschüt-
zer Land) sowie das kleine östlich der Neiße hegende Gebiet, das zum
Bistum Meißen gehörte, einzubeziehen.4 Im September 1945 wurde das 4 Ebenda, S. 64.
für die Grafschaft Glatz nachgeholt, indem der nun für das Erzbistum
Breslau tätige polnische Apostolische Administrator Dr. M I L I K mit ei-

719
Dom und Schloß
tn Meißen - eine
feste Einheit. Im
Meißner Land konnte
H L O N D seine Pläne

zur Polonisierung
der Kirche nicht
verwirklichen.

nem polnischen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett bei dem zustän-


digen deutschen Prälaten Dr. M O N S E erschien und seinen Wunsch durch-
setzte. So konnte der »Anschluß des Präger Anteils vom Primas noch im
September 1945« erledigt werden.
Am 16. und 17. September 1945 suchte der Primas den für den in
Oberschlesien liegenden Anteil der Erzdiözese Olmütz zuständigen Weih-
bischof und Generalvikar Josef Martin NATHAN auf. Dieser erklärte nach
der Abreise H L O N D S einem Priester: »Gestern habe ihm Kardinal H L O N D ,
der soeben abgefahren sei, eröffnet, daß er als Generalvikar abgesetzt,
seiner Jurisdiktion entkleidet und sein Gebiet der >Diözese< Oppeln un-
5 SCHOLZ, ebenda, terstellt sei.«'Jetzt wurde offensichtlich von H L O N D einfach angeordnet.
S. 6 6 . Erst im November 1945 trat der oben erwähnte neue Administrator
für Breslau, Dr. M I L I K , an das Bischöfliche Vikariat in Bautzen wegen
des Meißner Gebiets östlich der Neiße heran. Als man dort vor einem
Verzicht erst eine Abschrift der päpstlichen Anweisung zu sehen wünschte,
antwortete Breslau nicht mehr, weil man dort keine solche vorweisen
konnte, da es diese gar nicht gab. Ein deutscher Verzicht erfolgte darauf-
hin nicht. Dennoch wurden von der polnischen Kirche vollendete Tatsa-
chen mit der Vertreibung der deutschen Priester geschaffen.
Nach späteren Angaben aus Rom war man dort über H L O N D S Han-
deln in Ostdeutschland ziemlich »überrascht«, was nicht der Fall gewe-
sen wäre, wenn H L O N D Z U seinem Tun die päpstliche Erlaubnis oder
einen Auftrag der Kurie bekommen hätte. Ebenso ist es undenkbar, daß

720
BERTRAMS Absetzung — sein Tod am 6. Juli war am 8. Juü, dem Tag des
päpstlichen Schreibens an H L O N D , noch nicht in Rom bekannt - von
dem Papst, der ihn aus seiner deutschen Zeit gut kannte, ohne eine vor-
herige Benachrichtigung des Kardinals erfolgt wäre.
Eine solche päpstliche Vollmacht für H L O N D hat eben gar nicht exi-
stiert. Sie wurde von diesem nur vorgetäuscht, um die deutschen Kirchen-
vertreter zum Verzicht auf ihre kirchlichen Ämter zu veranlassen und
dann polnische Priester einsetzen zu können. Arglistige Täuschung heißt
so etwas im täglichen Leben. Bezeichnend ist auch, daß Jahrzehnte spä- Pius XII. entsprach
ter, als SCHOLZ 1988 sein Buch veröffentlichte, die betreffenden Papiere keinem der Ost-
deutschland betref-
des Vatikans für H L O N D noch nicht von Polen veröffentlicht und nicht
fenden Wünsche
einsichtig waren und nur über gute Verbindungen im Westen zur Kennt- HLONDS, der sich dar-
nis gekommen waren. über hinwegsetzte
Tatsache ist, daß H L O N D in Rom den Papst sprach und in drei Briefen und einfach eigen-
seine Wünsche äußerte. Am 20. Mai 1945 erbat er sich das Recht, für die mächtig handelte.

in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands


verbliebenen Polen eine eigene Seelsorge unter dem
bisherigen polnischen Feldbischof G A W L I N A Z U or-
ganisieren. Das wurde am 5. Juni 1945 bewilligt.
Am 26. Juni erbat er für die polnischen Bischöfe
Sondervollmachten, die sich aber - einschließlich
der Bestellung Apostolischer Administratoren für
vakante Stellen - nur auf das Gebiet des früheren
Polens bezogen, zu dem die deutschen Oder-Nei-
ße-Gebiete staatsrechtlich nicht gehörten. Das wur-
de vom Vatikan mit einem Schreiben vom 8. Juli
1945 gewährt.
Im dritten Schreiben, ebenfalls vom 26. Juni 1945,
sprach H L O N D zwar die Oder-Neiße-Gebiete an,
ersuchte um Sicherung der religiösen Betreuung der
in die »einst deutschen Gebiete« einwandernden
Polen und wünschte ein eigenes Bistum für die Au-
tochthonen um Oppeln. Er stellte aber keinen An-
trag, die deutschen Kirchenvertreter, insbesondere
Kardinal B E R T R A M in Breslau und Bischof K A L L E R
im Ermland, zum Verzicht drängen zu dürfen, ge-
schweige denn, sie gar abzusetzen - und die so frei
gewordenen Stellen durch Polen zu besetzen. Der Vatikan entsprach je-
doch im Schreiben vom 8. Juli 1 9 4 5 an H L O N D keinem der Ostdeutsch-
land betreffenden Wünsche H L O N D S , insbesondere war von einem Er-
satz der deutschen Kirchenvertreter nicht die Rede: Das lange
geheimgehaltene und erst nach Jahrzehnten im Westen bekanntgewor-

721
dene päpstliche Schreiben »bietet an keiner Stelle auch nur einen Ansatz-
punkt, um auf eine Vollmacht zu schließen, den Besitzstand der deut-
schen Kirche im alten Reichsgebiet in seinem Wesen und den damit ver-
6 SCHOLZ, ebenda, bundenen Funktionen zu schmälern oder zu behindern«/'
S. 100. So hatte H L O N D in Breslau und Peplin ohne päpstlichen Auftrag und
sogar entgegen den Wünschen der Kurie auf eigene Faust gehandelt,
ohne kanonische Rechtsgrundlage oder Anweisung der Kurie und mit
offensichtlich bewußter Täuschung, besonders schwer im Falle Dr. Pi-
ONTEKS in Breslau.
Der Vatikan gab später seinem Widerspruch gegen HLONDS eigen-
mächtiges Handeln, wenn auch sehr verhalten, Ausdruck. In den Päpstli-
chen Jahrbüchern wurde unter dem Stichwort >Breslavia< in den Nachkriegs-
jahren stets als Anmerkung angefügt: »Wie bekannt, hat der Heilige Stuhl
die Gewohnheit, Diözesangrenzen nicht endgültig zu ändern, solange
nicht eventuelle Rechtsfragen, die diese Gebiete betreffen, durch Frie-
densverträge geregelt sind und volle Anerkennung gefunden haben. Die
genannte Rechtslage liegt vor in Breslau, Ermland, Schneidemühl. Um
nun religiösen Beistand für die zahlreichen Gläubigen, die sich dort nie-
dergelassen haben, zuzusichern, hat er Sr. Eminenz Kardinal Stephan
W Y S / . Y N S K 1 . . . die Aufgabe anvertraut, diese Gläubigen in religiöse Ob-
7 Zitiert ebenda, hut zu nehmen.«7 Das war praktisch eine Ohrfeige für die Polen. Mehr
S. 101. konnte der Vatikan unter den damaligen Umständen kaum tun.
Erst seit demjahre 1972, als in der Bundesrepublik die Verzichtspolt-
tik unter BRANDT und SCHEEL sich bereits durchgesetzt hatte, fiel diese
für die Rechtslage so wichtige Anmerkung im päpstlichen Jahrbuch weg:
Der Papst konnte eben nicht päpstlicher als die Deutschen selbst sein.
Abschließend urteilt Professor SCHOLZ über das Vorgehen des Kardi-
nals H L O N D : »Und doch bleibt es - wenn auch in Polen systematisch
verdrängt — Wirklichkeit, daß der Primas eigenmächtig gehandelt hat,
daß er mit der Wahrheit mehr als großzügig umgegangen ist, daß er das
Minimum an Fairneß gegenüber Dr. PIONTEK verweigert hat, daß er eine
Entwicklung bewirkt hat, die nicht im Sinne Roms gelegen hat. Freilich
8 Ebenda, S. 104. mußte die Kurie.. . >gute Miene zum bösen Spiel< machen.«s
Klar stellt er heraus: »Die Römische Kurie hat also Ostdeutschland am
8. Juli 1945 eindeutig als deutscher Souveränität unterstehendes Staats-
9 Ebenda, S. 105 f. gebiet angesehen.«5 Das war bei dem amtierenden Papst Pius XII. und
dessen Deutschfreundlichkeit auch gar nicht anders zu erwarten. Erst
1972 änderte der Vatikan seine Haltung zu Ostdeutschland und erkannte
die inzwischen von der allgemeinen Politik vollzogenen Entwicklungen
an.
Der Betrug H L O N D S , der am 2 2 . Oktober 1 9 4 8 in Warschau verstarb,
an den ostdeutschen Kirchenvertretern von 1945 kam um 1995 erneut

722
zur Sprache, als polnische Kreise die Seligsprechung des Kardinals be-
trieben. Dazu gab Professor S C H O I Z als eine neue Schrift zu diesem The-
ma Das H l o n d h e f t heraus.10 Dann schildert er nochmals die damaligen 10 Franz SCHOLZ,
Vorgänge und bringt die entsprechenden Urkunden bei. Insbesondere Das Hiondheft,
unterstreicht er, daß Hl.OND vom Papst keine Aufträge für Ostdeutsch- Zentralstelle
land erhalten hatte. Das gab H L O N D später selber zu. In seinem Bericht Grafschaft Glatz
vom 24, Oktober 1946 nach Rom, der bezeichnenderweise von Polen e.V., 21997.
geheimgehalten wurde und erst 1994 mehr durch Zufall an die Öffent-
lichkeit kam, schrieb er zu der Erlaubnis auf Einsetzung von Admini-
stratoren: »Erst einige Monate später konnte ich feststellen, daß ich diese
Worte damals falsch aufgefaßt habe, Sie stärkten mich damals in der Mei-
nung, daß die Ernennung von Apostolischen Administratoren in den
ehemals deutschen Gebieten in der Absicht des 1 II. Stuhles läge und daß
die dabei beteiligten Bischöfe vorher zu benachrichdgen seien.«11 " Ebenda, S. 39.
Zur Entschuldigung für sein unverzeihliches Tun merkte er an, daß er
die schriftliche päpstliche Beauftragung gar nicht gelesen habe: »Das sehr
beachtliche päpstliche Dokument vom 8, 7. 1945 wurde mir am 10. 7.
1945 abends zugestellt. Meine Abreise war für den Morgen des nächsten
Tages festgesetzt. Ich fuhr also aus Rom ab und hatte keine Zeit, um den
Text, der mir so große Vollmachten gab, durchzulesen. Im Herzen hegte
ich die Überzeugung, daß der Apostolische Stuhl in der Frage der Apo-
stolischen Administratoren auch die bis vor kurzem deutschen Gebiete
in Betracht gezogen hat.«12 Daß er den Text des für ihn so wichtigen 12 Ebenda, S. 40.
päpstlichen Auftrags nicht gelesen haben will, kann man ihm kaum ab-
nehmen.
Weiter schreibt er im Bericht von 1946: »Infolge meiner irrigen Aus-
gangsbasis, an die ich gerade erinnert habe, sah ich meine Sendung zu
diesen (den deutschen, R. K.) Prälaten als Überbringung eines amtlichen
Standpunktes an.« Er entschuldigt sich ausdrücklich: »Mir bleibt nichts
anderes übrig, als den Heiligen Vater demütig zu bitten, mir die vorgefal-
lenen Fehler zu verzeihen, ebenso wie alle Peinlichkeiten, mit denen ich
sein väterliches Herz, verwunden konnte.«11 13 Ebenda, S. 43.
Doch da war alles schon zum Nachteil der Deutschen geschehen, und
H L O N D war froh darüber, daß sein Rechtsbruch gelungen war und »der
germanische Protestantismus bis an die Oder zurückgedrängt« worden
sei. Der Vatikan antwortete auf diesen Bericht nicht, sprach H L O N D ins-
besondere keinen Dank aus, was auch schon für sich spricht. Zu einer
offenen Rüge des Kardinals war der Vatikan unter den damaligen Um-
ständen nicht in der Lage.
Anläßlich der Bestrebungen auf Seligsprechung des Kardinals erklärte
die Katholische Deutsche Bischofskonferenz 1995: »Die deutsche Bi-
schof skonferenz hat sich mit der Frage der Seligsprechung von Kardinal

723
HI.OND befaßt. Dabei bestand Übereinstmmung, daß eine Seligsprechung
des Kardinals aus deutscher Sicht keine Zustimmung finden kann. Die
Bedenken der deutschen Bischofskon ferenz wurden auch gegenüber dem
Apostolischen Stuhl zum Ausdruck gebracht.«14 Der Grund war HLONDS
Handeln gegenüber der ostdeutschen Kirche.
Abschließend sei auf die für die Zeit um 1945 bezeichnende Haltung
der polnischen Priester durch zwei Zitate hingewiesen, Dr. Karol MILIK,
ab 1945 Apostolischer Administrator von Breslau (praktisch Erzbischof),
erklärte in seinem Antrittshirten wort vom 1. September 1945, als die
grausamen Vertreibungen der Deutschen noch lange liefen und die pol-
nische Kirche diesen Verbrechen zusah oder sie sogar noch in sehr un-
christlicher Weise förderte: »Dem polnischen Staat war stets jede Barba-
rei fremd. Da, wo Gewalt war, Raub, Lüge, Rechtlosigkeit, Schändung
der Friedhöfe, Auslassung der Wut an Lebenden und Toten, da war Po-
len nicht dabei.«
Der polnische Kardinal WYSCYNSKI verkündete in Breslau in Verdre-
hung der geschichtlichen Wahrheit, daß Schlesien polnischer Boden sei.
Für ihn habe Gott die Schuldfrage zugunsten Polens entschieden. Dieses
habe 1945 durch die Besetzung Ostdeutschlands und die Vertreibung
der Deutschen nur das Seine zurückgeholt und eine gerechte Sühne gefor-
dert. Er erklärte am 29. Mai 1952 in Breslau: »Wir sind in unser Eigentum
als rechtmäßige Eigentümer zurückgekommen. Wir kamen zurück auf-
grund der richterlichen Entscheidung der göttlichen Gerechtigkeit... Es
waltet Gerechtigkeit unter den Völkern, grausame und. .. blutvergießen-
de Völker müssen früher oder später den Völkern, die sie vergewaltigt
haben, die gerechte Sühne leisten,«13
Dazu ist wirklich jeder Kommentar überflüssig. Rolf Kosiek

14 Ebenda, S. 2.
15 Zitiert in SCHOLZ, aaO. (Anm. 1), S. 141.

724
Zahlen von Internierungen vor und nach 1945

M it Recht werden die deutschen Konzentrationslager der Zeit des


Nationalsoziaiismus, insbesondere die der Kriegszeit, kritisiert und
verabscheut. »In den für »staatsfeindliche Elemente« eingerichteten (deut-
schen) Schutzhafdagern (KL) saßen im Juli 1933 annähernd 27000 Per-
sonen. Iiis Mitte der dreißiger Jahre sank die Zähl auf einen harten Kern
von 9000 Häftlingen. Ab 1937/38 wurden in vermehrtem Umfang
Schwerkriminelle und »Asoziale* von Homosexuellen bis Bibelforschern
eingewiesen. In den Wochen nach den Judenpogromen vom 9. Novem-
ber 1938 kamen etwa 36000 jüdische Häftlinge hinzu, die fast alle bis
Frühjahr 1939 wieder entlassen wurden. Die Gesamtzahl der KL-Häft-
linge betrug bei Kriegsausbruch noch rund 25000, die wenigsten davon
waren politische Häftlinge.« 1 Während des Zweiten Weltkrieges vergrö- 1 »Das Jahrhundert
ßerte sich die Zahl der Häftlinge stark. der Säuberungen«,
Aber nicht minder rechts- und menschenwidrig war, daß die Alliierten in: Berliner Zeitung, 5.
- im Osten wie im Westen - nach dem Ende der Kampfhandlungen und 9. 1998.
der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht dann ihrerseits die jahrelange
— nun verharmlosend >Internierung< genannte — Lagerhaft, oft mit Zwangs-
arbeit verbunden, für Millionen Deutsche unter oft sehr harten Umstän-
den durchführten. Das trug mit dazu bei, daß nach Kriegsende mehr
Deutsche als Folge von Gewalt ums Leben kamen als während des gan-
zen Krieges.
Lange wurde letzteres in der Öffentlichkeit verschwiegen. Im Früh-
jahr 1990, fast 50 Jahre nach den damaligen Vorgängen, konnte der Schrift-
steller und I listoriker Dr. Wölfgang V E N O H R feststellen: »Nun wird end-
lich einer breiten Offendichkeit bekannt, daß es zwischen 1945 und 1950
elf Konzentrationslager der Sowjets zwischen Elbe und Oder gab, in
denen ungefähr 200000 Deutsche ohne Gesetz und Richterspruch >in-
terniert< wurden und von denen etwa die Hälfte elendiglich umgekom-
men ist.« 2 2 Wolfgang VEN-

Aber nicht nur die für ihre grausamen Lager schon seit der Zarenzeit OHR, »Internie-
bekannten Russen führten die Konzentrationslager nach dem Mai 1945 rungslager in
weiter, sondern auch die Westmächte. »In den drei westlichen Besatzungs- Deutschland«,
Leserbrief in:
zonen existierten drei Jahre lang, von 1945 bis 1948, sogenannte Inter-
Frankfurter Allgemei-
nierungslager der Besatzungsmächte, in den etwa 530 000 Menschen ohne ne Zeitung, 10. 4.
Gesetz und Richterspruch eingesperrt wurden, die dort jahrelang unter 1990.
katastrophalen Bedingungen vegetieren mußten. (Außerdem wurden in
Osterreich etwa 7000 Menschen internierte) Die Besatzer bezeichneten
diese ungesetzlichen und willkürlichen Massendeportationen in Konzen-
trationslager selbstentlarvend als »automatischen Arreste« 2 Unter diesen

725
Ein Deutscher mit
Sohn bewacht ein
Intern ierungslager.

fielen vor allem die meist ehrenamtlichen früheren Amtsinhaber der NS-
Organisationen vom Blockwart aufwärts, Hitler-Jugend(HJ)- und Jung-
volkführer sowie Führerinnen des Bundes Deutscher Mädel (BDM) und
Schüler der Napolas teilweise schon ab 15 Jahren. So wurden allein in der
US-Zone bis September 1945 80000 politische Verhaftungen vorgenom-
men. 1 Hinzu kamen die Millionen Kriegsgefangenen und die nach der
Kapitulation verhafteten deutschen Soldaten, denen dann der Status von
Kriegsgefangenen abgesprochen würde, damit sie als »entwaffnete feind-
liche Streitkräfte« nicht mehr unter den Schutz und die Betreuung durch
das Internationale Rote Kreuz fielen. In der ersten Zeit wurden in den
Lagern, auch in denen der Westmächte, als Strafmaßnahme systematisch
trotz genügend vorhandener Nahrungsmittel und entsprechender Ange-
bote des Internationalen Roten Kreuzes nur Hungerrationen ausgege-
ben, so daß viele Gefangene verhungerten. 4 Besonders berüchtigt in die-
ser Hinsicht mit entsprechend vielen Todesopfern waren 1945 die
Rheinwiesenlager unter amerikanischer Bewachung. Hinzu kamen be-
sondere Folterlager, etwa die der Briten,*
Nach amerikanischen Angaben'1 waren allein in der US-Besatzungszone
322000 Personen interniert. Mindestens 800000 Deutsche machten ins-
gesamt mit diesen Lagern in den ersten Nachkriegsjahren Bekanntschaft.
Rolf Kosiek
1 ebenda.
VENOHR,
4 Beitrag Nr. 385, »Alliierte Konzentrationslager nach 1945«.
" Beitrag Nr. 386, »Britische Folterlagcr: Hin vergessenes Verbrechen«.
fl Monthly Denazification Report Omgus, 30. 4. 1948.

726
Alliierte Presse in Deutschland 1945

it dem Beginn der alliierten Besetzung Deutschlands ab Ende 1944


M wurden die Deutschen auch von ihrer Presse befreit. Die Sieger
waren zwar mit dem Versprechen der Gewährung von Selbstbestimmung
1 Caspar VON
SC HRENCK-NOT-
ZING, Charakterwä-
angetreten, hielten aber nicht viel davon, wie sich dann zeigte. »Die von sche. Die amerikani-
MORGENTHAU vorgeschlagene Unterbrechung aller Kommunikationsme-
sche Besatzung in
Deutschland und ihre
dien schlug sich im SHAEF-Gesetz 1919 vom 24.11.1944 nieder, das in Folgen, Seewald,
allen drei Westzonen durch das Militärregierungsgesetz 191 (abgeändert Stuttgart 1965, S.
am 12. 5. 1945) ersetzt wurde. Das Gesetz verbot die Herstellung von 133.
Druckwerken und Filmen, das Aufführen von Musik, das Betreiben von 3 Die Weltwoche,
Schaubühnen, Rundfunkstationen usw Die Nachrichtenkontrollvorschrift Zürich, 29. 5. 1965
No. 1 vom gleichen 12. Mai 1945 erlaubte aufgrund schriftlicher Zulas- bei Ankündigung
sungen der Militärregierung«1 solches für Lizenznehmer, der Serie »Die
»>Sobald wir deutschen Boden betreten, werden wir die Nazi-Zeitun- deutsche Presse im
gen verbieten, und Sie werden in jeder Stadt, die wir besetzen, sofort eine Jahre Null« von
Zeitung ins Leben rufen.< Diesen Auftrag erhielt Hans HABF. im Februar Hans HABE.
1 9 4 5 vom amenkanischen General BANFILL.«2 Er erfüllte den Auftrag zum
Beispiel mit dem Kölnischen Kurier im gerade eroberten Köln, in das er von Hans HABE.

Luxemburg kam, wo er seit Herbst 1944 seine


Aufgabe vorbereitet hatte,
Hans HABE;, geboren am 12. Februar 1911 in
Budapest als Sohn Janos BEKESSY eines jüdischen
Verlegers, war Kommunist, Journalist in Wien,
ging im September 1939 von der Schweiz nach
Frankreich, wo er gegen die Deutschen kämpf-
te, geriet als Soldat der französischen Armee
1940 in deutsche Gefangenschaft, aus der er
1940 in die USA fliehen konnte. Dort schrieb
er das Buch Ob Tausendfallen, das 1947 (1963 als
Taschenbuch) in Deutschland erschien.1945
kam er als US-Hauptmann nach Deutschland
zurück und richtete einen Teil der neuen deut-
schen Presse ein, indem er im Laufe der Zeit 18
Zeitungen lizenzierte und das Besatzungsblatt
Neue Zeitung herausgab. Schon im Herbst 1944
hatte ihm US-General M A C C L U R E klargemacht:
»Wir wollen Mitteilungen und Richtlinien ver-
öffentlichen, sonst nichts. . . Die Deutschen
brauchen sich keine eigene Meinung zu bilden
- the Germans have to he told.<s (die Deutschen sol-

727
len angewiesen werden). Zur Begründung meinte der amerikanische Ge-
neral: »Die Deutschen haben aufgehört, ein Kulturvolk zu sein.«1
1951 wurde H A B E Chefredakteur der Münchner Illustrierten, später des
US-finanzierten Echo der Woche, worin er heftig zur Hatz auf angebliche
>Neonazis< wie Bundesminister SEEBOHM blies. Als er Deutschland ver-
ließ, schrieb der Illustrierte Der Stern: »Hinaus aus Deutschland mit dem
Schuft!«
Später lebte er in der Schweiz, wo er nach sechs Ehen am 29. Septem-
ber 1977 in Locarno verstarb.

Links: Das Informa- Die an sorgfaltig ausgesuchte Lizenzträger vergebenen Berechtigun-


tionsbedürfnis der gen für die neuen Zeitungen konnten zurückgenommen werden.'' Das
Deutschen war sehr
bedeutete dann einen großen finanziellen Verlust für den bisherigen In-
groß; hier Straßen-
verkauf der Stuttgar-
haber. Diese Presseorgane nannten sich zwar »unabhängig«, waren je-
ter Zeitung. Rechts: doch Sprachrohre der Besatzungsmächte und standen unter deren stren-
Redaktionsraum der ger Zensur. So wurde die aus einer Kriegsgefangenenzeitschrift im US-Fort
Süddeutschen Zei- Getty entstandene Zeitschrift Der R u f , deren Redaktion aus Hans Wer-
tung im Jahre 1946. ner R I C H T E R , Erich K U B Y , Alfred A N D E R S C H und Carl August W E B E R be-

3 Hans H A B E , »Die deutsche Presse«, in: Die Weltwoche, 5. 11. 1965, S . 55. Weite-
res ebenda 12. 11.; 19. 11.; 26. 11.; 3. 12. 1965; FZ-Verlag (Hg.) Prominente ohne
Maske neu, FZ-Verlag, München 2001, S. 287.
4 Eine solche Lizenzurkunde ist im Beitrag Nr. 428 in Faksimile wiedergegeben.

728
stand und die 1945/46 nach Deutschland übertragen wurde, nach dem 5 Schrenck-Not-
Erscheinen von 16 Nummern verboten.5 ZING, a a O . (Anm. 1),

Im Frühjahr 1946 verschwanden die Militärzeitungen und wurden durch S. 235.


deutsche Lizenzblätter ersetzt. In ihrer ersten Ausgabe vom 2. April 1946 6 Die Welt, Nr. 1,1.
schreibt die von den Briten für die englische Besatzungszone als einzige Jg., 2. 4. 1946, S. 2.
überregionale Zeitung gegründete Die Welt:6 »Was auf dem Gebiet der
Presse vorgeht, ist von nicht zu überschätzender Bedeutung. In allen
Gebieten der Zone ist die Presse jetzt in den Händen deutscher Lizenz-
träger; deutsche Hauptschriftleiter, deutsche Verlagsleiter arbeiten selb-
ständig. Zwar unterliegen die Zeitungen
vorläufig einer Zensur, aber diese Zensur
bildet eine Hilfe und eine Unterstützung,
sie ist kein rein negatives, zerstörendes
Moment. Die bisherigen Zeitungen haben
ihre Pflicht redlich erfüllt.«
In derselben Ausgabe hieß es, daß in-
zwischen für die Britische Zone 25 regio-
nale Lizenzen erteilt seien, die sich folgen-
dermaßen auf die Parteien verteilen:
Aachen
Aachener Nachrichten (SPD)
Aachener Volkszeitung (CDU)
Köln
Die Volksstimme (KPD)
Rheinische Zeitung (SPD)
Kölnische Rundschau (CDU)
Düsseldorf
Freiheit (KPD)
Rheinisches Echo (SPD)
Rheinische Post (CDU)
Bielefeld
Westfälische Rundschau (SPD)
Westfalen-Zeitung (CDU)
Freie Presse (KPD) Die erste Ausgabe der Süddeutschen Zeitung
vom 6. Oktober 1945, die mit den eingeschmolzenen
Hamburg
Druckplatten von HITLERS Mein Kampf gedruckt wurde.
Hamburger Freie Presse (FDP)
Hamburger Echo (SPD)
Hamburger Volks^eitung (KPD)
Hamburger Allgemeine Zeitung (CDU)
Kiel
Kieler Nachrichten (CDU)

729
Schleswig-holsteinische
Norddeutsches Echo (KPD)
Lübeck
Lübecker Nachrichten. (Unabhängig)
Lübecker Freie Presse (SPD)
Flensburg
Flensburger Tageblatt (Unabhängig)
Braunschweig
Braunschwieger Zeitung (SPD)
Lüneburg
Lüneburger Landeszeitung (Unabhängig)
Bremen
Weser-Kurier (SPD)
Oldenburg
Nordwest-Zeitung (Unabhängig)
Vierzehn weitere Lizenzen würden in Kürze erteilt und zwar:
in Dortmund je eine an SPD, CDU und KPD,
in Oelde an CDU,
in Soest je eine an SPD und CDU,
in Lage an KPD,
in Arnsberg an SPD,
in Hannover je eine an SPD und KPD, eine Unabhängige,
in Bremen an CDU,
in Osnabrück an CDU,
in Rendsburg an eine Unabhängige.

Gleichzeitig wurde gemeldet, daß die Lizenzerteilung an


Zeitschriften noch zurückstehen müsse. Es gebe die in
England herausgegebenen Neue Auslese und Blick in die Welt,
eine Universitätszeitschrift in Göttingen, eine philosophi-
sche Monatszeitschrift Die Sammlung und ein Monatsblatt
Die Schule für Lehrer.
Am 21, Februar 1946 erschien in Hamburg die erste
Nummer der »Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Han-
Oben: Gestaltung der Ruhrzeitung
am Umbruchtisch - zwei Deut-
del und Kultur« Die 'Zeit. Auf ihrer ersten Seite brachte sie
sche und ein Engländer, Unten: unter der Überschrift »Unsere Aufgabe« die Worte, mit
Zwei Journalisten der Ruhrzeitung denen der britische Brigadier A R M Y T A G E den vier Lizenz-
auf dem W e g zur Redaktion. trägern Dr. L . H . L O R E N Z , Ewald S C H M I D T , Richard T Ü N -
GEL und Dr. Gerd B U C E R I U S die Lizenz übergab: »Es ist
unser Ziel, nach 12 Jahren der Naziherrschaft und -propa-
ganda eine freie Presse in Deutschland wiederherzustellen.

730
Am 21, Februar 1946
erschien Die Zeit erst-
mals, als erste Zeitung
nach 1945 in Ham-
burg, Der englische
Brigadier A R M I T A G E
schrieb den vier Li-
zenzträgern: »Wir hof-
fen, daß >Die Zeit<
ihrer Namensschwe-
ster in England würdig
sein wird. Sie wird
gewiß die dringende
Nachfrage nach einer
Zeitung von umfas-
sender Sicht, nüchter-
nen Kommentaren
und kulturellem Hin-
tergrund befriedigen.«
Hier abgebildet: Nr. 3
Dies ist einer der ersten Schritte in dieser Richtung. Mit Ausnahme der vom 7. März 1946.

monatlich erscheinenden Gewerkschaftszeitung ist Die Zeit die erste in


Hamburg herausgegebene Zeitung, die eine Lizenz erhält.«
Die Lizenznehmer erklärten, daß es ihre Aufgabe sei, »geistige Bela-
stungen einer untergegangenen Epoche« wegzuräumen, »und das kann
nur geschehen, wenn wir den Mut haben, ungeschminkt die Wahrheit zu
sagen, selbst wenn sie schmerzlich ist, und das wird sie leider häufig sein.
Nur in der Atmosphäre unbestechlicher Wahrheit kann Vertrauen er-
wachsen«. Daß dieses Flaggschiff der Umerziehung es dann mit der
Wahrheit nicht sehr ernst nahm, bewies die Zukunft zur Genüge. Schon
in der ersten Nummer indoktrinierte Richard T Ü N G E L in dem Ardkel »Der
Arier«, indem er »die primitive Gesittung des indogermanischen Urvolks«
betonte und von »der doch nicht wegzuleugnenden Primitivität des ari-
schen Urvolks« schrieb.
Mit »Lizenz Nr, 12 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung« er-
schien bereits am 18. September 1945 in Stuttgart die erste Ausgabe der
Stuttgarter Zeitung als erste Zeitung im amerikanischen Besatzungsgebiet
Württemberg. Lizenzträger waren Josef E B E R L E , Henry B E R N A R D und
Dr. Karl A C K E R M A N N . Letzterer polemisierte schon in der ersten Ausga-
be gegen »Gewaltmenschen wie M E T T E R N I C H , die Hohenzollern und H I T -
LER« sowie gegen »Faschismus, Militarismus, Kulturlosigkeit und Intole-
ranz« und versprach, »objektiv, klar, einfach und aufrichtig in unserer
Haltung« zu sein.
Im deutschen Südwesten gründete der in Tübingen von September
1945 bis Mai 1947 residierende französische Presseoffizier Pierre A N G E L

731
das Schwäbische Tagblatt als eine der ersten Zeitungen in der französischen
Zone. Der erste Chefredakteur Dr. Josef FORDERER wurde allerdings schon
bald entlassen, da er »in der Nazizeit in den Blättern des Schwäbischen
Albvereins einen Artikel mit antisemitischer Tendenz veröffentlicht« hat-
7 »Diesmal als Gast
te." Jeder Beitrag mußte vom französischen Presseoffizier genehmigt wer-
der Redaktion«, in: den, was diesem jedoch durch die Unterwürfigkeit der Lizenzträger leicht
Schwäbisches Tagblatt, gemacht wurde: »Ich hatte den Eindruck, daß die Leute eine Art innere
12. 11. 1986.
" Ebenda.
Vorzensur hatten, so daß ich wenig zu streichen brauchte.«**
Noch anderthalb Jahre nach der deutschen Kapitulation erließ der Al-
liierte Kontrollrat in der Direktive Nr. 40 vom 12. Oktober 1946 neue
»Richtlinien für die deutschen Politiker und die deutsche Presse«, die zu
»Die Erklärung der befolgen waren. Die von Divisionsgeneral R. N O I R E T , Generaloberst P.
Kollektivschuld war A. K U R O C H K I N , Generalleutnant Lucius D. C L A Y und Generalmajor G.
ungeschickt. .. W i r
W . E.. J . ERSKTNE unterschriebene Anordnung hat folgenden Wortlaut:
befanden uns, als wir
erst einmal in
»Der Kontrollrat erläßt folgende Direktive:
Deutschland waren, 1. Mit Rücksicht auf die Notwendigkeit, die militärische Sicherheit zu
in einem Vakuum. wahren, soll es den deutschen demokratischen Parteien ebenso wie der
W i r konnten uns deutschen Presse gestattet sein, deutsche politische Probleme frei zu be-
nicht an die >guten
sprechen, Kommentare über die Politik der Besatzungsmächte in Deutsch-
Deutschen! wenden,
weil wir behauptet
land sind erlaubt. Ebenso ist die Veröffentlichung in der deutschen Presse
hatten, sie existierten von objektiven Nachrichten über die Weltereignisse einschließlich infor-
nicht. Deshalb muß- matorischer Artikel aus der Auslandspresse gestattet.
ten wir die Aufgabe 2. Mitglieder der deutschen politischen Parteien und der Presse müs-
der Umerziehung sen sich aller Erklärungen, der Veröffentlichung oder Wiedergabe von
selbst vornehmen,
ein Unternehmen,
Artikeln enthalten, die:
auf das wir nicht vor- a. dazu beitragen, nationalistische, pangermanistische, militaristische,
bereitet w a r e n . . , « faschistische oder antidemokratische Ideen zu verbreiten;
Hans H A B E , zitiert in: b. Gerüchte verbreiten, die zum Ziele haben, die Einheit der Alliier-
T R E E S u.a. (Hg.), Stun-
ten zu untergraben oder welche Mißtrauen oder Feindschaft des deut-
de Null in Deutsch-
schen Volkes gegen eine der Besatzungsmächte hervorrufen;
Zand, Droste, Düssel-
dorf 1978. c. Kritiken enthalten, welche gegen Entscheidungen der Konferen-
zen der Alliierten Mächte bezüglich Deutschlands oder gegen Entschei-
dungen des Kontrollrats gerichtet sind;
d. die Deutschen zur Auflehnung gegen demokratische Maßnahmen,
die die Zonenbefehlshaber in ihren Zonen treffen, aufreizen.
3. Wer dieser Direktive zuwiderhandelt, setzt sich strafrechtlicher Ver-
folgung aus.«
Es durfte also praktisch keine Kritik an den Besatzungsmächten und ih-
ren Maßnahmen und Plänen geübt werden.
Erst nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland konnten sich nach
1949 einige wirklich unabhängige Zeitungen entwickeln. Aber die vorher

732
lizenzierten Blätter hatten einen jahrelangen Vorsprung sowie eine feste
Leserschaft, so daß sie weiterhin bis zur Gegenwart meinungsbildend
blieben. Noch Jahre danach machten insbesondere die USA durch er- 9 Erich KERN,

hebliche Geldzahlungen an die einzelnen früher lizenzierten Presseorga- Weder Frieden noch
ne diese für ihre Zwecke abhängig. So wurden allein im Jahre 1952, als Freiheit, K. W.
Schütz, Göttingen
die Lizenzierung bereits aufgehoben war, folgende Summen von Ameri- 1965, S. 86 f.
kanern an deutsche Zeitungen bezahlt:9
Frankfurter Rundschau, Frankfurt/M. 1 000000 DM
Die Welt, Hamburg 1000000
Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Bochum 600000
Hessische Nachrichten, Kassel 600000
Süddeutsche Zeitung, München 500000
Südkurier, Konstanz 500000
Hamburger Morgenpost, Hamburg 450000
Hannoversche Presse, Hannover 400000
Kölnische Rundschau, Köln 400000
Die RJjeinpfal% Neustadt 400000
Schwäbisches Tagblatt, Tübingen 400000
Weser-Kurier, Bremen 400000
Darmstädter Echo, Darmstadt 300000
Flensburger 'Tageblatt, Flensburg 300000
Freie Presse, Bielefeld 250000
Hamburger Freie Presse, Hamburg 250 000
Main-Echo, Aschaffenburg 250 000
Neue Ruhr-Zeitung, Essen 250000
Nordwest-Zeitung, Oldenburg 250000
Lübecker Nachrichten, Lübeck 250000
Trierischer Volksfreund, Trier 250000
Westfalen%eitung, Bielefeld 250000
Westfälische Rundschau, Dortmund 250000
Der Allgäuer, Kempten 230000
Giessener Freie Presse, Gießen 160000
Braunschweiger Zeitung, Uraunschweig 150000
Das Volk, Freiburg 150000
Der Volkswille, Schweinfurt 150000
Neue Württembergsche Zeitung, Göppingen 150000
Die Freiheit, Mainz looooo'
Schwäbische Post, Aalen 100000
Aachener Volksstimme, Aachen 50000
In der folgenden Zeit blieben die meisten Zeitungen der Umerziehung
verpflichtet und paßten sich der politischen Korrektheit an.
Rolf Kosiek

733
Die größte Büchervernichtung aller Zeiten

m 10. Mai 1933 wurden an manchen, nicht allen, deutschen Univer/


A sitäten pornographische und politisch mißliebige Bücher verbrannt.1
Diese deutschen Bücherverbrennungen des Jahres 1933 gelten heute als
Synonym für Kulturbarbarei schlechthin.
Die vom gebildeten deutschen Bürgertum damals als studentischer
Bierulk< aufgenommene und auch im Ausland oft mit Amüsiertheit be-
trachtete rituelle Bücherverbrennung war jedoch nichts im Vergleich zu
der Säuberung der Bibliotheken, die die Siegermächte 1945 in Deutsch-
land durchführen ließen.
Im Gegensatz zu den Bücherverboten des Dritten Reiches samt ihren
öffentlichkeitswirksamen Verbrennungen ist die wohl größte systemati-
sche Büchervernichtung aller Zeiten durch die Siegermächte nach 1945
kaum bekannt geworden.
Einem Befehl des obersten Chefs der sowjetischen Militärverwaltung
aus dem September 1945 folgend, wurde am 13. Mai 1946 der »Befehl
Nr. 4« des alliierten Kontrollrats erlassen, der die Einziehung von Litera-
tur und Werken »nationalsozialistischen und militaristischen Charakters«
betraf. Dazu gab die »Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der so-
wjetischen Besatzungszone« amtlich verbindliche Listen der auszuson-
dernden Literatur heraus, die auch in den Westzonen der Amerikaner,
Franzosen und Engländer galten.2 Während man auf westlicher Seite
sonst den ehemaligen kommunistischen Alliierten nicht mehr über den
Weg traute, glaubte man hier wohl sich auf die Gründlichkeit des ehema-
ligen ideologischen Hauptfeindes der Nationalsozialisten bei der Aus-
merzung unerwünschten Gedankengutes verlassen zu können.
Man wurde nicht enttäuscht. Die erste Liste vom 1. April 1946 war ein
dicker Wälzer, der 13223 Bücher und 1502 Zeitschriften enthielt, die
vernichtet werden sollten. Am 1. Januar 1947 schrieb die »Deutsche Ver-
waltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone«, daß die
Liste allenthalben mit Zustimmung aufgenommen worden sei. Es seien
etwa 20 größere Pressebesprechungen über sie erschienen, in denen sämt-
liche politischen Parteien in den verschiedenen Zonen zu Worte gekom-
men seien: Sie urteilten einmütig, daß der von den Bearbeitern einge-

1 Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone/


Deutschen Demokratischen Republik, Liste der auszusondernden Literatur, Top-
penstedter Reihe 1 , 2 , 3, 8 (Nachdr. d. Ausgaben Zentralverlag Berlin 1946,
1947,1948,1952) Uwe Berg, Toppenstedt 1983.
2 http://www.sueddeutsche.de/Kultur/artikel/814/9805

734
schlagene Weg der richtige gewesen sei, da er gleicherweise den Interes-
sen in der demokratischen Neuerung des deutschen Lebens mit den Er-
fordernissen der Wissenschaft Rechnung getragen habe. Grundsätzliche
Einsprüche seien von keiner Seite erfolgt.
Man legte Wert darauf, daß die Tatsache, daß ein Buch in dieser Liste
nicht aufgeführt war, keinesfalls als Entschuldigung dafür gelten konnte,
daß der verantwortliche Leiter einer Bibliothek oder einer Buchhandlung
dieses oder ein anderes nicht erwähntes Buch schädlicher Tendenz zur
Ausleihe oder zum Verkauf bringen könnte.
Es ging aber nicht nur um »faschistische oder militaristische Bücher,
Werke, die politische Expansionsgedanken enthielten, nationalsozialisti-
sche Rassenlehre vertraten oder sich gegen die Alliierten wandten«. Ohne
daß die Titel einzeln aufgeführt wurden, verbot man gleich auch sämtli-
che Baupläne für Modelle von Flugzeugen, Kriegsschiffen oder Kriegs-
fahrzeugen und so gefährliche Bücher wie das Buch von Fritz FISCH LI,
Aeronautische Meteorologie aus dem Jahre 1924. Ernst J Ü N G E R S Bücher fie-
len genauso unter das Vernichtungsgebot wie bestimmte Werke von Mar-
tin LUTHER und die gefürchteten Erinnerungen von Überlebenden der
russischen Revolution von 1917-20.
Am 1. Januar 1947 wurde die Verbotsliste um 4739 Bücher und 98
weitere Zeitschriften erweitert. Zufrieden war man am 1. September 1948
immer noch nicht, als man dem »Wunsch zahlreicher Interessenten« ent- Titelbilder der »Liste
sprach und weitere 9906 Titel in einem zweiten Nachtrag aufführte. Man der auszusondernden
erweiterte drei Jahre nach Kriegsende die Bücher und Literaturvernich- Literatur« aus dem
tung um die Zeit ab 1919, da »bereits damals gefährliche militärische und Jahre 1946 und des
militaristische Literatur in deutsche Buchhandlungen kam«, die im Sinne letzten Nachtrags aus
dem Jahre 1952,
der geplanten Umerziehung des deutschen Volkes dringend beseitigt wer-
den mußte. Neu war, daß man jetzt auch die während des Ersten Welt-
kriegs von 1914—18 und in den folgenden Jahren erschienene »militäri-
sche und militaristische KJeinliteratur« bis hin zu Feldpredigten und
Kriegsberichten aussonderte. Auch ins Deutsche übersetzte Bücher eng-
lischer Kriegsteilnehmer fanden keine Gnade.
Sogar schon vor 1914 erschienene Bücher wurden eingezogen, wenn
das Thema nicht paßte, ein Zeichen, daß es gar nicht allein um den Ein-
zug von Erzeugnissen mit NS-Gedankengut ging, sondern um eine ge-
nerelle Umerziehung,
Gemäß den Grundsätzen der Besatzungsmächte enthielt die komplette
Reinigung der deutschen Literatur ab 1948 auch Verbote für germani-
sche Götter- und Heldensagen genauso wie für Bücher über septische
Chirurgie, Die deutsche Kurzschrift wurde gnadenlos zur Gefahrenquelle
erklärt wie auch das Mitteilungsblatt des deutschen Holzarbeiterverban-
des oder Anleitungen für Kleingärtner. Zigarettenbilder für Sammleral-

735
ben, die eine ganze Schülergeneration fleißig zusammengetragen hatte,
wurden massenweise vernichtet und sind inzwischen begehrte Samm-
lerstücke geworden. Pech hatte auch, wer Lehrbücher für den Boxsport
besaß, denn ab 1948 waren auch sie zu vernichten. Der Judo-Sport, ein
Gebiet, auf dem die Deutschen vor 1939 führend waren, war ohnehin
untersagt.

1948 wurden auch


Götter- und Heldensa-
gen aus der Germa-
nenzeit als genauso
gefährlich eingestuft
und verboten w i e
chirurgische Bücher
oder Lehrbücher
für das Maschinen-
schreiben.

736
Der dritte und letzte Nachtrag erschien am 1. April 1952, dieses Mal
bereits vom Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokrati-
schen Republik ausgegeben.
Zu den nun auch noch zu vernichtenden gefährlichen Literaturstücken
gehörten so entscheidende Zeitschriften wie Der bayrische Viehhändler, Ein
pikanter Eintrag auf der Verbots liste war Henri NANNEN. Obwohl der
linksstehende »Kraftprotz des deutschen Nachkriegsjournalismus« (Süd-
deutsche Zeitung) mit Lizenz der Alliierten bereits 1948 aus der Jugend-
zeitschrift Zickzack die Illustrierte Stern ins Leben gerufen hatte, wurde
noch fünf Jahre später sein Buch Störungsfeuer von M17 aus dem Jahre
1943 verboten und zur Vernichtung bestimmt.
Insgesamt wurden schließlich etwa 35000 Titel »ausgemerzte Diese
Zahl ist noch um einiges nach oben zu korrigieren, da man über ganze
Bücherreihen und Zeitschriften »Gruppenverbote< verhängte, die dann
für alle Auflagen, Ausgaben und Jahrgänge (bei Zeitschriften) galten.
Bescheiden urteilte man bei der »Deutschen Verwaltung für Volksbil-
dung«, »daß die vorliegenden Listen der auszusondernden Literatur sehr
zur Bereinigung der deutschen Literatur beitragen werden«.
Wegen der äußerst breit angelegten Literaturvernichtungen kam es zu
umfangreichen Einsprüchen von Verfassern und Verlegern, die sich zu
Unrecht verfolgt fühlten. Bis 1948 gelang es immerhin, 10 Bücher von
bis dahin über 30000 Einzelverboten wieder zugelassen zu bekommen,
was einer Erfolgsquote von 0,03 Prozent entsprach - ein symbolischer
Wert, der an die Ergebnisse von Wahlen in Diktaturen erinnert. Betrof-
fene sprachen deshalb von einem »Hexenhammer der deutschen Litera-
tur« in Analogie zur berüchtigten Anti-Hexen-Anleitung des Mittelalters.
Zahlreiche in den Verbotslisten aufgeführte Titel rufen beim heutigen
Beobachter Unverständnis bis Schmunzeln hervor. Dies soll jedoch nicht
darüber hinwegtäuschen, daß wir es hier mit einer systematischen Ver-
nichtung deutscher Literatur zu tun haben, die weit vor die Zeit des Drit-
ten Reiches zurückging und die sämtliche Lebensbereiche von der Kin-
dererziehung bis hin zum Roman umfaßte. Es wird wohl nie bekannt
werden, wie viele Millionen Bücherbände und Zeitschriften der über vie-
le Jahre durchgeführten systematischen Vernichtungsaktion zum Opfer
fielen, die auf harmloses Kinderspielzeug genauso wenig Rücksicht nahm
wie auf wertvollste Fachbücher in Universitätsbibliotheken.
Der »Hexenhammer der deutschen Literatur« hatte anders als sein Vor-
gänger im Mittelalter gleich drei Nachträge. Friedrich Georg

737
Zum Schicksal Stettins 1945

m Rahmen des Raubes der deutschen Ostgebiete nimmt die Stadt Stet-
I tin an der Oder eine besondere Rolle ein. Sie wird im allgemeinen in
der Öffentlichkeit als im Potsdamer Protokoll - es war kein Abkommen
und kein Vertrag! — wie das übrige Ostdeutschland unter polnische Ver-
waltung gestellt und wie das sogenannte Oder-Neiße-Gebiet dann als
spätestens 1990 an Polen abgetretenes Land angesehen.
Doch das ist falsch. Richtig ist, daß die Stadt Stettin im wesentlichen
westlich der Oder liegt und deswegen nicht zu dem in Potsdam 1945
unter polnische Verwaltung gestellten sogenannten Oder-Neiße-Gebiet
gehört. Daher blieb sie auch 1945 zunächst bei der Sowjetzone, wurde
von dem deutschen Oberbürgermeister Otto W I E S N E R verwaltet und nicht
Wärschau Unterstedt. Erst nach einigem Hin und Her wurde sie am 5. Juli
1945 von Polen übernommen.
Im Potsdamer Protokoll vom 2. August 19451 wurde im Abschnitt
»IX. Polen« festgestellt: »Die Häupter der drei Regierungen stimmen darin
überein, daß bis zur endgültigen Festlegung der Westgrenze Polens die
früher deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittel-
bar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur
Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis
zur tschechoslowakischen Grenze verläuft., , unter die Verwaltung des
polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der so-
wjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen.«
Im Potsdamer US-Konferenzprotokoll vom 25,Julil945 heißt es dazu:
S T A I J N : »Sobald die Ernte (1945) vorüber ist, werden die Polen sie (die
Deutschen) evakuieren. C H U R C H I L L sagte, sie sollten dies nach seiner Auf-
fassung nicht tun. S T A L I N antwortete, daß die Polen nicht danach fragten,
sondern täten, was sie wollten.«2
Über die Abtretung des westlich der Oder gelegenen Stettin wurde
also in Potsdam nichts festgelegt. Auch später wurde das Potsdamer Pro-
tokoll nie ergänzt oder erweitert, insbesondere nicht für den Fall der
Stadt Stettin. Wenn Warschau sich nicht einmal auf die »Verantwortung«,
ein »Abkommen« oder gar einen »Auftrag« der Alliierten aus Potsdam
zur Besetzung Ostdeutschlands und zur Vertreibung der Deutschen be-
rufen kann, so gilt das noch stärker für Stettin und sein Gebiet westlich
der Oder.

1 Grabert-Verlag (Hg.), Ja/ta—Potsdam und die Dokumente zur Zerstörung Europas,


GrabeRT, Tübingen 1985, S . 56-72; Heinrich VON SIEGI.HR, Dokumentation zur
Deutschlandfrage, Bd. 1, Bonn-Wien-Zürich T970, S. 34-46.

738
Zudem wurde in Abschnitt »XlLl. Ordnungsgemäße Überfuhrung deut- Stettin, die Haupt-
scher Bevölkerungsteile« des Potsdamer Protokolls festgelegt, daß die stadt Pommerns, war
im Frühjahr 1945
»Ausweisung« oder »Überführung« der Deutschen aus den Ostgebieten
neben Kolberg und
»in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll«. Die schon vor Königsberg eines der
und während der Potsdamer Konferenz eingerissenen >wilden< Vertrei- Hauptziele der alli-
bungen sprachen dem jedoch wie die später auf Behördenbefehl erfolg- ierten Luftwaffe. Aus:
ten mit ihren Millionen Todesopfern in jeder Weise hohn. Heinz S C H Ö N , Die
Imjuli 1945 übernahm Polen die Stadt Stettin mit ihrem westlich der letzten Kriegstage.
Ostseehäfen 1945,
Oder gelegenen Umland, und die Vertreibung der Deutschen begann.
Motorbuch, Stuttgart
Systematisch wurden vor allem Polen, die aus dem an die Sowjetunion 1995.
abgetretenen >Ostpolen< stammten, in Stettin angesiedelt. Das war eine
völkerrechtswidrige Annexion mit Umvolkung mitten im Frieden und
ohne Zustimmung der Westmächte. Da es keine zuständigen deutschen
Behörden gab, konnten Deutsche dagegen zunächst nicht wirksam pro-
testieren. Die später zuständige sowjethörige DDR erkannte im Görlit-
zer »Freundschafts-Vertrag« über die »Friedensgrenze« vom 6. Juni 1950
auch den inzwischen von Polen geschaffenen Zustand in Stettin an. Der
deutsche Bundestag protestierte dagegen am 13. Juni 1950 mit einer inter-
fraktionellen Erklärung seines Alterpräsidenten Paul LOBE. Im Jahre 1956
unternahm die DDR Vorstöße in Warschau zur Rückgabe von Stadt und
Hafen Stettin, da die vorhandenen Ostseehäfen für die Ausfuhr der DDR

739
nicht ausreichten, fand aber in Polen keine Gegenliebe. Polnische Fest-
stellungen, daß Stettin eine polnische Stadt und wie Ostdeutschland recht-
mäßig polnisches Land sei,3 gehen also an der historischen und völker-
rechtlichen Wirklichkeit vorbei.4
Auch zeitgenössische polnische Behaup-
tungen, daß Stettin in früheren Jahrhunder-
ten »Grenzstadt« gewesen sei,5 sind falsch.
Stetyn war nie Grenzstadt, sondern Haupt-
stadt und Residenzstadt von Pommern mit-
ten in diesem Land. Es ging aus einem wen-
dischen Ort hervor, der erstmals als Stetin
unter den sächsischen Kaisern erwähnt wur-
de. Hier predigte 1124-1128 Bischof O T T O
VON BAMBERG das Christentum, 1140 wurde
das Bistum Wollin gegründet, das 1176 nach
Cammin verlegt wurde. Um diese Zeit be-
gann die verstärkte Einwanderung der Deut-
schen in das bis zur Völkerwanderung schon
einmal germanische Land. 1243 wurde Stet-
tin Stadt und erhielt Magdeburger Stadtrecht.
Seit 1278 war es Mitglied der Hanse. Späte-
stens seit Mitte des 13. Jahrhundert war es
also eine deutsche Stadt des Deutschen Rei-
ches, von Deutschen bewohnt, mit kurzer
schwedischer Vorherrschaft von 1637—1720
und französischer Besetzung von 1806 bis
1813. 1939 hatte es 383000 Einwohner. Die
Das Stettiner Tor in vorher unabhängigen pommerschen Herzöge KASIMIR und BOGISIAW wur-
Pyritz im Umland den im Jahre 1181 von Kaiser FRIEDRICH I, als Reichsfürsten anerkannt
von Stettin. Hier tauf- und mit der Fahne des Landes belehnt, das gleichzeitig als Lehen an
t e O T T O VON BAMBERG
Markgraf O T T O I. von Brandenburg kam. Seitdem war Pommern für
unter dem Schutz des
deutschen Kaisers
mehr als 750 Jahre Teil des Deutschen Reiches. Rolf Kosiek
bereits 1124 die er-
sten Pommern, Aus:
B e r n d C . LÄNGIN 2 Zitiert von Winfried KÖNIG, Münster, in Leserbrief »Stettin lag westlich der
Deutsche Bilder, Oder-Neiße-Linic«, in: Frankfurier Allgemeine Zeitung, 9. 11. 1995.
Weltbild, Augsburg ' So der frühere polnische Außenminister Krzvsztof SKUBISZEWSKI, in »Neue
1990. Perspektiven im Verhältnis zu Polen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 10.
1995,
4Gutachten von Prof. Dr. Otto K I M M I N I C H , Vertreibung: Recht gegen Recht, Unrecht
gegen Unrecht?, Münster 1995.
5 Programm des Polnischen Insütuts für eine Vorstellung der »Grenzstadt Stet-
tin/Szesecin« in Düsseldorf 1999.

740
Morgenthau-Plan - keine Legende

ie Alliierten, insbesondere die Amerikaner, hatten 1945 zum Zeit-


D punkt ihres Sieges über Deutschland keinen offiziellen Plan, wie sie
ihren Gegner behandeln wollten. Es gab eine Reihe von Plänen seit 1941
wie den KAUFMAN-Plan,1 den NlZER-Plan2 oder den H o o t o N - P l a n 3 von
einzelnen Persönlichkeiten der US-Ostküste, die sich in ihrem Haß ge-
gen alles Deutsche einig waren und das deutsche Volk auf unterschiedli-
che Weise vernichten wollten. Diese Pläne erlebten als Schriften zum
Teil große Auflagen in den USA, wurden teilweise den Spitzen der Besat-
zungstruppen in Deutschland zur Pflichtlektüre gemacht und hatten zu-
nächst großen Einfluß auf das Deutschlandbild der Sieger, bekamen je-
doch keinen offiziellen Anstrich. Dadurch unterschied sich von diesen
der MoRGENTHAU-Plan, der bedeutsam in die dann 1945 für Deutschland
maßgebliche Direktive JCS 10674 einfloß.
Nachdem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Brutalität des MOR-
GENTHAU-Plans kaum bestritten worden war, begann im Zuge der den
Deutschen zunehmend vorgesetzten Vorstellung von der >Befreiung< 1945
seit den achtziger Jahren eine Verharmlosung des MORGENTHAU-Plans.
Er sei nur eine »Legende«"1 gewesen. »Eine Kontinuität von G O E B B E L S
über Carl SCHMIDT bis zur Gegenwart« bemühe die »MoRGENTHAU-Le-
gende«, »um sich von der Täterseite auf jene der Opfer hinüberzumo-
geln«, schrieb ein deutscher Historiker am John F. Kennedy-Institut der
Freien Universität Berlin/6 Selbst in der sonst um Sachlichkeit bemühten
FAT, erschien - sicher nicht zufällig am 50. Jahrestag der Verhaftung der
DONITZ-Regierung — in einem mehrspaltigen Bericht als Zwischenüber-
schrift »>Morgenthau-Plan< eine Legende«, und es hieß darin: »Indessen
1 Siehe Beitrag Nr. 343, »»Deutschland muß vernichtet werden*«,
2 Siehe Beitrag Nr. 344, »Nizer: Was sollen wir mit Deutschland machen?«.
5 Siehe Beitrag Nr. 345, »Der Hooton-Plan«; Claus NORDBRUCH, De r deutsche Ader-

laß, Grabert, Tübingen 2001, 2 2003, S. 78.


4 Siehe Beitrag Nr. 363, »Keine Befreiung Deutschlands«, und Nr. 411, »Repara-

tionen: Morgenthau-PI an, Demontagen, Kunstdiebstahl«.


5 Bernd GREINER, Die Alorgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans,

Hamburger Edition, Hamburg 1995. Für frühere Verharmlosungen sei der päpst-
liche Geheimkämmerer Monsignore Klaus GAMBER, Leiter des Uturgiewissen-
schaftlichen Instituts in Regensburg, angeführt, der 1967 schrieb, der MORGEN-
TH AU-Plan sei Ausfluß einer »relativ humanen« Haltung der Alliierten gewesen,
und es sei eine »Wahnidee«, den Bolschewismus für eine »Bedrohung« zu halten
(in: Courage, Nr. 1, 1967; zitiert in: Deutsche Nachrichten 17. 3. 1967).
6 Knud KRAKAU, »Nur eine Notbremse«, in: Die Zeit, 16. 6. 1995,

741
Links: VW-Ferti- gab es nie wirklich den vielberedeten >MORGF.NTH AU -Plane Der Name ist
gungshalle neben eine Legende.«
Schutthalden. 1945
war die deutsche In-
Das ist falsch. Richtig ist, daß Henry M O R G E N T H A U jr., am 1 1 . Mai
dustrie Schrott, dafür 1891 in New York geboren, als amtierender US-Finanzminister in sei-
das technologische nem Ministerium einen Ausschuß unter Harry Dexter W H I T E , der später
Wissen Spit2e. Aus: als Sowjetagent entlarvt wurde, einsetzte, um einen Plan für die Nach-
SpiegelSpecial, Die kriegsbehandlung Deutschlands nach seinen Vorstellungen zu erstellen,
Deutschen nach der
da ihm andere Programme zu weich erschienen. Daraufhin wurde ein be-
Stunde Null. Rechts:
Aushungerung des
reits vorhandenes Handbuch für die Besatzungspolitik zurückgezogen.
Volkes durch Hunger- Eine erste Fassung wurde nach M O R G E N T H A U S Gesprächen 1 9 4 4 im
rationen für alle Hauptquartier EISENHOWERS, in London und bei RooSEVELT noch ver-
Deutschen. Hier schärft und wurde unter dem Namen »Program to prevent Germany
Kellerleben 1945. from starting a World War III« (Programm, um Deutschland davon ab-
zuhalten, einen Dritten Weltkrieg zu beginnen) bei der Kriegskonferenz
in Quebec am 1 5 . September 1 9 4 4 von ROOSEVELT und CHURCHILL unter-

Günther GILLESSEN, »Zwischen Morgenthau und Eingliederung«, in: Frankfur-


ter Allgemeine Zeitung, 23. 5. 1995, S. 8.

742
schrieben. Danach sollte die Industrie Deutschlands völlig demondert
und das Reich in ein reines Agrarland umgewandelt werden, das Ruhrge-
biet sollten die Sowjets erhalten. Das hätte den Hungertod von Millio-
nen Deutschen und praktisch die Vernichtung des deutschen Volkes zur
Folge gehabt."
Als die Ungeheuerlichkeiten dieses von den beiden westlichen Staats-
führern abgesegneten Planes in den USA bekannt wurden, erhob sich in
deren Öffentlichkeit und in Ministerien ein so großer Protest, daß RooSE-
VELT keine andere Möglichkeit sah, als sich öffentlich von dem M O R C , E N -
THAU-Plan zu distanzieren. MORGENTHAU behielt dennoch großen Einfluß
auf die US-Präsidenten ROOSEVELT und T R U M A N und setzte Wesentliches
seines Programms durch. Der Plan wurde ab Herbst 1944 mehrere Mo- H e n r y MORCENTHAU jr.
nate lang überarbeitet und ging im Frühjahr 1945 mit seinen wesentli-
chen Teilen - insbesondere der Zerstückelung und Amputierung des
Reichs, der Vernichtung der deutschen Elite durch Kriminalisierung und
Amtsenthebung, der Aushungerung des deutschen Volkes durch Hunger-
rationen für alle Deutschen, den bis in die fünfziger Jahre durchgeführten
Demontagen, dem Prinzip der Non-Fraternization - in die zur Regie-
rungsvorschrift werdende Direktive JCS 1067 ein, die am 10. Mai 1945
dem US-General GM übergeben wurde und bis Mitte 1947 für die west-
alliierte Besatzungspolitik in Deutschland verbindlich war.9 Wenn MOR-

Das Prinzip der Non-


Fraternization wurde
in den ersten Besat-
zungsmonaten streng
eingehalten.

M Hermann SCHILD (Hg.), Das Morgenthau-Tagebuch. Dokumente des Anti-Germanis-


mus, Druffel, Leoni 1970, mit dem Wordaut des MORGENTHAU-Plans und der
Geschichte seiner Entstehung sowie Umsetzung; John Morton BLUM, Deutsch-
land ein Ackerland—Morgentbau und die amerikanische Kriegspolitik 1941—1945, Düs-
seldorf 1968.
9 NORDBRUCH, a a O . ( A n m . 3 ) , S . 7 3 - 7 8 .

743
GENTHAUS enger Freund ROOSEVELT nicht im April 1 9 4 5 gestorben wäre
und in Harry S. TRU.MAN einen pragmatischeren Nachfolger gehabt hätte,
wäre wohl noch Schlimmeres aus den Haßvorstellungen MORGENTHAUs
auf Deutschland zugekommen.
M O R G E N T H A U selbst konnte befriedigt in seinem Buch Germany is our
Problem schreiben: »Die grundlegenden Prinzipien des Programmes ha-
ben den amtlichen Standpunkt der Regierung der Vereinigten Staaten
repräsentiert.«1" Und der Spiegel urteilte ähnlich über M O R G E N T H A U : 1 1 »Er
konnte seine extremen Vorstellungen (>MoRGENTHAiJ-Plan<) nicht voll
durchsetzen, aber ein Teil seiner Ideen bestimmte doch den Kurs der
amerikanischen Besatzungspolitik. M E R G E N T H A U S Handschrift verriet auch
die Direktive JCS 1067, die der US-Generalstab für die Besatzungsarmee
erlassen hatte.«
Als M O R G E N T H A U am 6. Februar 1967 verstorben war, urteilte der Spie-
gel in seinem Nachruf auf den »Enkel eines jüdischen Zigarrenhändlers
aus Mannheim«: »Er wollte das schöne Deutschland verderben, seine
Gruben schließen und seine Hochöfen löschen, seine Junker enteignen
und seine Nazis erschießen — ohne Urteil. Das Dichtervolk sollte Rüben
ziehen und Rindvieh züchten - ohne Gnade.«12
Eine Verharmlosung des MORGENTHAU-Plans und seiner Wirksamkeit
stellt also eine offensichtliche Geschichtsfälschung dar. Rolf Kosiek

»JCS 1067 ließ der Militärregierung nur begrenzte Vollmachten. Es unter-


sagte uns ausdrücklich, Schritte zu unternehmen, die deutsche Wirtschaft
irgendwie wiederherzustellen oder auf ihrem Stand zu erhalten: erlaubt
war nur die höchstmögliche Steigerung der landwirtschafdichen Erzeugung;
eine Bodenreform war vorgesehen. .. Die Fertigung der Kriegsbetriebe
sollte gestoppt, die dafür ausgerüsteten Fabriken mußten entfernt werden,
ohne erst Kontrollratsbeschlüsse abzuwarten. Bis zu einer Übereinkunft
im Rat sollte nichts an Eisen, Stahl, Chemikalien, Werkzeugmaschinen,
Radios, elektrischem Gerät, Autos und schweren Maschinen hergestellt wer-
den. Nur die Fertigung leichter Verbrauchsgüter und die Kohleförderung
waren zu unterstützen. Große wirtschaftliche Zusammenballungen, Kar-
telle und karte 11 ähnliche Organisationen mußten aufgelöst werden... (Es)
stand außer Zweifel, daßJCS 1067 einen Karthago-Frieden zum Ziel hatte,
der unser Handeln in den ersten Besatzungsmonaten bestimmte.«
General Lucius D . G A Y , zitiert in TRI-,ES u.a. (Hg.), Stunde Null in Deutsch-
land, Droste, Düsseldorf 1978.
1(1 Henry MORGENTHAU jr., Germany is our Problem, 1 9 4 5 , S. XII;zitiert nach NORD-
BRUCH, ebenda, S. 7 5 .
11 »Ökonomische Idioten«, in: Der Spiegel, Nr, 48, 20. 11, 1972, S. 27.

12 Der Spiegel, Nr. 8, 13. 2, 1967, S. 91.

744
Bundesrepublik

745
Demonstration an der Berliner Mauer
im August 1 961. Westberliner Jugend-
liche tragen ein Kreuz mit der Aufschrift
»Wir klagen an«. Die Ostberliner
Polizei setzt Wasserwerfer gegen die
Demonstranten ein, die Westberliner
Polizei antwortet mit Tränengas. Aus:
Illustrierte Geschichte Deutschlands,
Augsburg 1988, Die im Herbst 1989
vom Volk getragene und vorangetrie-
bene Entwicklung ist nicht mehr zu
stoppen - auch nicht von dem zunächst
kritisch eingestellten Helmut K O H L ,
der lediglich auf den abgefahrenen Zug
aufspringt und daher nicht als Kanzler
der deutschen Einheit angesehen wer-
den kann.

746
Adenauer wollte scharfe Entnazifizierung

ls Bundeskanzler hat Konrad ADENAUER eingesehen, daß ein Wie-


A deraufbau Westdeutschlands ohne die fachliche Erfahrung der vie-
len >Nazis< und Soldaten der Deutschen Wehrmacht nicht möglich war.
' Martin OTTO,
»Adenauers Ent-
Er hat deswegen stark dem Nationalsozialismus verbunden gewesene decker«, in: Frank-
Persönlichkeiten wie Hans GLOBKE (1898—1973, Kommentator der Nürn- furter Allgemeine
berger Gesetze, 1953—1963 Staatssekretär im Bundeskanzleramt) trotz Zeitung, 15. 5. 2007,
vielfacher Angriffe behalten und mit dem »131er Gesetz« die Entnazifi- S. 13.
zierung und Wiedergutmachung für Beamte verhältnismäßig sachlich
beendet.
Vorher hatte er offenbar eine andere Ansicht über die >Nazis<, die er
insbesondere bei seiner ersten Einvernahme durch die amerikanische
Besatzungsmacht im April 1945 geäußert hat, wie durch ein 2007 veröf-
fentlichtes Dokument bekannt wurde.1 Der später in der Berliner Politik
- unter anderem als Berliner CDU-Abgeordneter von 1971 bis 1979 -
mächtige und einflußreiche Jurist Ulrich BIEL (1907—1996), der im da-
mals noch selbständigen Charlottenburg als Ulrich BIELSCHOWSKYgeboren Konrad A D E N A U E R
war und nach früherer Emigration schon 1945 im Rangeines US-I Iaupt- 1945: links als Ober-
bürgermeister von
manns mit den alliierten Truppen nach Deutschland zurückgekommen Köln an seinem
war, suchte 1945 als Berater des US-Generals PATTON zur Mitarbeit mit Schreibtisch; rechts
der Besatzungsmacht bereite und fähige Verwaltungsbeamte und ent- beim Besuch einer
deckte dabei ADENAUER. Dieser schrieb darüber in seinen Erinnerungen Dachziegelfabrik.

747
nur: »Nach einigen Tagen (nach dem US-Einmarsch in Rhöndorf, ADE-
NAUERS Wohnsitz im April 1945, R. K.) suchte mich ein amerikanischer
Offizier, ein deutscher jüdischer Emigrant, der meinen Namen kannte,
auf, um zu sehen, ob ich noch am Leben sei. Wenige Tage
darauf kamen amerikanische Offiziere, die mich aufforder-
ten, nach Köln zu dem dortigen Kommandanten zu kom-
men und die Verwaltung der Stadt zu übernehmen.«2 Tat-
sächlich wollte der Besucher sich ein Bild davon machen, ob
und wie ADENAUER politisch in die alliierte Verwaltung ein-
zubauen sei, und die dann zu ADENAUER gekommenen Offi-
ziere handelten auf BIELS Empfehlung.
Erst nach Jahrzehnten wurde im Frühjahr 2007 über die-
sen Besuch eine Abschrift des Berichts, den BIEL 1945 für
seinen Vorgesetzten angefertigt hatte, in den Akten der für
Ordensverleihungen zuständigen Berliner Senatskanzlei ge-
funden. Danach suchte BIEL den späteren Bundeskanzler zwei-
mal, und zwar am 16. und 17. April 1945, auf. Er gelangte in
den längeren Gesprächen mit diesem zu der Ansicht, daß
der »ungekrönte König des Rheinlands« - damals 69 Jahre alt
- noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sei. Er sei ein zu
Bundeskanzler Kon- bedeutender Mann (»too big a man«), um nur als Berater für die US-Army
r a d ADENAUER u n d
zu wirken, und solle in die »geplante Zonen- oder nationale Regierung«
sein Adlatus Hans
eingebaut werden.
G L O B K E (links).
Insbesondere erwies sich nach diesen Aufzeichnungen ADENAUER da-
mals als Vertreter einer radikalen Entnazifizierung. Er unterstützte die in
Köln verfolgte harte Linie, alle Parteimitglieder aus ihren Ämtern zu ent-
fernen (»kicking out allparty members and objects«). Die Amerikaner sollten
nach seiner Meinung alle NSDAP-Mitglieder beseitigen (»eliminate«), »was
immer ihre Entschuldigungen sein mögen«. ADENAUER nannte dazu auch
Zahlen: 9 Prozent der Bevölkerung, aber 95 Prozent der Richter und 91
Prozent der Rechtsanwälte seien Parteimitglieder gewesen. Er vertrat auch
Maßnahmen gegen alle »non-Nazis and non-ardent-sympathizers«, die seit 1933
1 K o n r a d ADENAU-
großen Nutzen gezogen hätten, obwohl sie »smart«genug gewesen seien,
ER, Erinnerungen der Partei nicht beizutreten. Allerdings würde eine Verfolgung der vielen
1945-1953, Fischer, Mitglieder der großen NS-Organisationen wie der NS-Volkswohl fahrt,
Frankfurt/M.-
Hamburg 1967,
des NS-Winterhilfswerks oder des NS-Kraftfahrkorps nach seiner An-
S. 15. sicht »absolut unmöglich« sein. ADENAUER empfahl einen deutschen Bun-
5 Beitrag Nr. 418,
desstaat, sprach sich dabei jedoch gegen Berlin aus, wo keine zentralen
»Adenauer und die alliierten Stellen errichtet werden dürften.
deutsche Wieder- So wird also die preußenfeindliche Grundhaltung1 des ersten west-
vereinigung«. deutschen Bundeskanzlers durch dieses neue Dokument bestätigt.
Rolf Kosiek

748
AA vernachlässigt verurteilte deutsche
Kriegsgefangene

ach mehrjähriger Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion wur-


N den 1949/50 dort rund 27000 deutsche Kriegsgefangene unter dem
Vorwurf, Kriegsverbrechen begangen zu haben, zusätzlich zu 25 Jahren
»Arbeits- und Erziehungslagen verurteilt. Größtenteils kamen sie erst 1955
nach A D E N A U E R S Besuch in Moskau frei,1 nachdem bereits viele von ihnen
an den unmenschlichen Bedingungen verstorben waren. Noch während
der betreffenden Verhandlungen in Moskau wurden sie von Bu LG AN IN
als »Verbrecher« bezeichnet.'
Doch diese Bezeichnung ist falsch. Schon um 1950 stand insbesondere
aufgrund von Heimkehreraussagen und wissenschaftlichen Unter-
suchungen fest, daß diese Verurteilungen willkürlich und ohne jede Be-
rechtigung ausgesprochen worden waren. Die weitaus größte Zahl der
so Verurteilten hatte sich keines Verbrechens schuldig gemacht. Von ver-
schiedenen Kreisen, vor allem vom westdeutschen Heimkehrerverband,
setzten daraufhin Bemühungen zur Aufklärung darüber ein. Nach dem
Umsturz im Osten nahm in den neunziger Jahren auch Moskau Rehabi-
litationen der unberechtigt Verurteilten vor.1
Bedauerlicherweise unterstützte das bundesrepublikanische Auswärtige
Amt (AA), vor allem unter der langen Amtsführung der FDP-Außenmi-
nister Walter SCHEEL und Hans Dietrich GENSCHER, die Aufklärung die-
ses Sachverhalts und eine sachliche Dokumentation nicht, sondern be-
hinderte sie sogar. Ein Betroffener stellte dazu fest:3 »Für das AA wäre es
u. E. später möglich gewesen, Schritte zur Rehabilitierung von uns Ver-
urteilten einzuleiten. Aber das Gegenteil geschah. Als eine vom Innen-
ministerium eingesetzte wissenschaftliche Kommission, welche die Kriegs-
gefangenen-Geschichte schreiben sollte, an unsere Nachkriegsprozesse
heranging, stoppte das AA die Arbeit unter dem Vorwand, diesen Ab-
schnitt selbst übernehmen zu wollen. Bei diesem Stopp ist es gebheben.
Die Dokumentation ist ohne Darstellung unserer Prozesse herausgekom-
men (1962—1974 in 22 Bänden erschienen, seit 1975 allgemein zugäng-
lich). Die GENSCHER-Ära brachte keinen Wandel. Trotz der günstiger wer-
denden Weltmeinung hat man im AA nicht ernsthaft daran gedacht, die
Verweigerungstaktik gegenüber uns Kriegsverurteilten aufzugeben, son-

1 Siehe Beitrag Nr. 422, »»Adenauer und die Gefangenen in der Sowjetunion«.
2 Siehe Beitrag Nr. 423, »Waren die Spätheimkehrer aus der Sowjetunion »Kriegs-
verbrecher<?«
3 Leserbrief Dr. M. LANG, Karlsruhe, in: Die Weit, 15. 4. 1985.

749
Während seines
Moskau-Besuches
wird Konrad ADENAUER
am 11. September
1955 von Mitgliedern
der sowjetrussischen
Regierung empfan-
gen. Von links: Niko-
laji B U L G A N I N , Konrad
ADENAUER, Nikita

CHRUSCHTSCHOWUnd
Carlo S C H M I D .

dern man hat sich, wenn eine Stellungnahme unumgänglich war, auf
nichtssagende Floskeln zurückgezogen. So haben die »Kriegsverbrechen
ihre Angelegenheit selber in die Hand genommen.«
Der Leserbriefschreiber drückte seine Enttäuschung über dieses pflicht-
vergessene Verhalten des Bonner Auswärtigen Amtes gegenüber den so
schwer vom Schicksal betroffenen deutschen Soldaten aus und wies dann
darauf hin, daß in einer Ergänzungsschrift von 1983 die sowjetischen
Kriegsverbrecherprozesse nach Ursprung, Zielsetzung, Verfahren und
Strafvollstreckung nochmals untersucht worden seien. Dabei habe mit
inzwischen viel umfangreicher gewordenem Material die bisherige Beur-
teilung der sowjetischen Prozesse als reine Siegerwillkür bestätigt und
untermauert werden können.
Im Mai 1984 hat das Präsidium des westdeutschen Heimkehrerver-
bandes in einer öffentlichen Erklärung festgestellt, daß die Urteile der
sowjetischen MWD-Tribunale gegen deutsche Kriegsgefangene nicht
anerkannt werden könnten und als rechtsunwirksam zu betrachten seien.
Der Verband hat dann auch den Deutschen Bundestag gebeten, eine
Rehabilitierung der Verurteilten auszusprechen, was an sich schon längst
dessen Aufgabe gewesen wäre, aber auch dann (mindestens bis Frühjahr
1985) nicht erfolgte.
Während der Deutsche Bundestag wie das Auswärtige Amt sich bis
dahin und in der folgenden Zeit mit Erklärungen zu deutscher Schuld
und Reue wahrlich nicht zurückhielten und diese immer wieder unnötig
erneuerten, ließen sie es bezeichnenderweise an ihrer Sorgfaltspflicht für

750
die deutschen Soldaten sehr fehlen,
die für ihr Vaterland eingetreten und
unschuldig von den Sowjets zu
»Kriegsverbrechern« erklärt worden
waren. Die Tatsache der jahrelan-
gen Geheimhaltung der wissen-
schaftlichen Untersuchung über die
Kriegsgefangenenschicksale deut-
scher Soldaten in alliiertem Gewahr-
sam Ende der sechziger und Anfang
der siebziger Jahre des vergangenen
lahrhunderts — damit auch noch
Jahrzehnte nach Kriegsende — weist
in dieselbe Richtung.4
In diesem Zusammenhang ist
auch die Haltung des dafür zustän-
digen AA bei der Rückkehr der von
den Sowjets als »Schwerst-KriegsVer-
brecher« bezeichneten 749 deut-
schen Kriegsgefangenen zu erwäh-
nen, wie sie unter anderem in der
verdienstvollen Dokumentation von
Günther K O W A L C Z Y K beschrieben
ist.5 Von diesen entfielen 476 auf
Westdeutschland.
Als am 14. Januar 1956 der Zug
mit plombierten Gütenvagen, be-
wacht von Rotarmisten, mit 452
dieser von den Sowjets nicht am-
nestierten Kriegsgefangenen und
politischen Häftlinge in Herleshau-
sen einlief, war der Bahnhof von
westdeutscher Polizei weiträumig
abgesichert. Keine wartenden An-
gehörigen wurden zugelassen. Kein
Wort der Begrüßung erfolgte. Un-
Oben: Zahlreiche deutsche Kriegsgefangene wurden in den
Jahren 1945/50 in öffentlichen Prozessen - hier in Minsk -
4 Siehe Beitrag Nr, 686, »Bonn sperrt
als angebliche Kriegsverbrecher zum Tode oder zu 25 Jahren
Kriegsgefangenen-Dokumentation«, Arbeitsbesserungs-Lager verurteilt. Unten: Der Linolschnitt
5 Günther KOWALCZYK, »749 Schwerst- eines Spätheimkehrers dokumentiert eine typische Verhör-
Kriegsverbrecher«, ein Kapitel deutschen Lei- situation im sowjetrussischen Kriegsgefangenenlager. Beide Ab-
dens unter der Stalin-Justiz, Siegburg 2001. bildungen aus: Kriegsgefangene, Droste, Düsseldorf 1995.

751
ter Polizeibegleitung wurden die Heimkehrer zu Bussen geleitet. Diese
fuhren unter Polizeischutz mit einem Panzerspähwagen des Bundesgrenz-
schutzes an Spitze und Ende nicht ins Lager Friedland, wo sonst die
Glocke zur Ankunft läutete, sondern in die Bundesgrenzschutzkaserne
in Hannoversch-Münden.
Auch dort erfolgte kein Wort herzlicher Begrüßung, sondern der Le-
gationsrat HERGT vom AA verlas eine sachliche Erklärung, wonach die
Bundesrepublik den Sowjets zugesagt habe, daß deutsche Justizbehör-
den die Taten überprüfen würden, »welche Ihnen von den sowjetischen
Behörden zur Last gelegt worden sind«.6
Diese beschämende Empfangsregelung war schon am 22. Oktober
1955 im AA vereinbart worden: »Falls die Nichtamnestierten in einem
Plakat des Heimkeh- geschlossenen Transport kommen sollten, werden sie ohne Begrüßungs-
rerverbands mit dem feierlichkeiten in Herleshausen in die Busse geleitet.. . In der Grenz-
Aufruf, 1955 die
Kriegsgefangenen schutzkaserne Hann.-Münden werden diese Personen vom Lagerleiter
nicht zu vergessen, auf die Formalitäten hingewiesen, und er verliest die abgesprochene Er-
die sich immer noch klärung,«"
in sowjetischer Die westdeutschen Beamten des AA hielten sich daran. Die Presse
Kriegsgefangenschaft wurde dringend vom AA gebeten, »die delikate Angelegenheit, die dieser
befinden.
Transport darstellt, in ihrer Publikation auch delikat zu behandeln«.8
Eine Auflistung der kriminellen Vorwürfe wurde später von den So-
wjets nie geliefert. Die zeitraubende gründliche westdeutsche Verneh-
mung und Überprüfung der einzelnen Fälle erwies die Unschuld dieser
Heimkehrer. Erst danach kamen sie in den Genuß der Heimkchrerrechte.
Noch schlimmer erging es den am 17. Dezember 1955 in Frankfurt/
Oder der DDR überstellten 275 Nichtamnestierten: Sie wurden von dem
tiefgestaffelt durch Volkspolizei mit Maschinengewehren und Hunden
abgeriegelten Grenzbahnhof sofort im Zug über geräumte Bahnhöfe
und abgesicherte Strecken ins Zuchthaus Bautzen überführt.9 Dort wurde
ihnen eröffnet, daß die Volkspolizisten Schießbefehl bekommen hatten.
Wochenland wurden sie noch in Bautzen festgehalten und verhört, be-
vor sie in Freiheit kamen.
So sahen für diese unschuldig mehr als ein Jahrzehnt als Gefangene
und Verurteilte gehaltenen Soldaten der Beginn der Freiheit und der Dank
des Vaterlandes aus. Rolf Kosiek

" KOWALCZYK, ebenda, S. 11,


7 Ebenda, S. 12, ziuert aus: AA 204-514-01/76/4195/55.
9 Ebenda, S. 149.
8 Ebenda, S, 13.

752
Bonn sperrte Kriegsgefangenen-Dokumentation

ach dem Zweiten Weltkrieg war die Vergangenheitsbewältigung


N eine der öffentlichen Aufgaben in Westdeutschland. Auf Befehl der
Siegermächte erfolgte sie jedoch sehr einseitig. Dazu kam der vorausei-
lende Gehorsam der Bundes- und Länderregierungen, alles Deutschland
Entlastende möglichst zu verschweigen und zu verdrängen. Die Vergan-
genheit wurde in der Öffentlichkeit nicht dargestellt, wie sie sich ereignet
hatte, sondern durch die verzerrende Sicht der Umerziehung gefiltert.
Es ist falsch, solch ein einseitiges Bild als Geschichte auszugeben. Insbe-
sondere wurden die Verbrechen der Sieger verschwiegen.
Ein kennzeichnendes Beispiel für diese Verbrechen an der Geschichte
ist das Schicksal der amtlichen Dokumentation über das Schicksal der
deutschen Gefangenen des Zweiten Weltkrieges. Im Jahre 1957, als d e r -
angeblich - letzte Heimkehrer aus der Sowjetunion eintraf, wurde auf
Anregung des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und auf Betreiben des
damaligen Bonner Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und
Kriegsgeschädigte die - anfangs unter anderem Namen laufende - »wis-
senschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte«
in München gegründet. Die Leitung hatte bis zu seinem Tod 1959 der
Historiker Hans K O C H . Sein Nachfolger wurde der Heidelberger Histo-
riker Erich M A S C H K E , der selbst - 1945 als Stabsoffizier in Gefangen-
schaft geraten und zu zehn Jahren Straflager verurteilt — erst 1953 als
Spätheimkehrer aus Rußland zurückgekehrt war.
Im Jahre 1961 schloß das zuständige Ministerium einen Vertrag mit
dem Bielefelder Verleger Werner GLESEKING über den Druck der rund 2 0
Bände der Dokumentation. Darin wurde dem Verleger der freie Verkauf
der Bücher über den Buchhandel zugesagt. Doch dazu kam es später
lange nicht.
Nach Auflösung des Vertriebenenministeriums 1969 unter Bundes-
kanzler BRANDT und der Eingliederung in das Bundesinnenministerium
übernahm dieses die Betreuung des Vorhabens, für das erst 30 Einzel-
bände, dann 22 unter dem Titel Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen
des Zweiten Weltkrieges veranschlagt wurden.
Die Welt schrieb über den Wert des bedeutenden und wichtigen Vor-
habens 1974: »In minutiöser Kleinarbeit hat die Kommission Zehntau-
sende von Unterlagen, mehrere hunderttausend Befragungen von Heim-
kehrern zusammengetragen und 6500 Kriegsgefangenenlager in 23
Ländern erfaßt.«1

1 »Warum Bonn eine Dokumentation sperrt«, in: Die Welt, 10. 10. 1974.

753
Der erste Doppelband, der die Vorgänge in Jugoslawien von 1941 bis
1953 umfaßte, erschien 1962/64, wurde noch ausgeliefert und erregte
großes Aufsehen. Er dokumentierte, daß von den rund 200000 in die
Hände der TiTO-Partisanen gefallenen deutschen Soldaten etwa 80000,
also rund 40 Prozent, verschollen blieben und damit größtenteils ermor-
det wurden. Den sogenannten >Werschetzer Prozessen« von 1949, in de-
nen Gefangene unter Folter zu Schuldbekenntnissen gezwungen wor-
den waren, war auch breiter Raum geschenkt worden. Dagegen hatte
Belgrad nur 6215 tote deutsche Gefangene zugegeben, 2
Daraufhin meldete das inzwischen von Willy B R A N D T geleitete Außen-
ministerium Bedenken gegen die Veröffentlichung weiterer Bände an, da
solche Darstellungen Verstimmungen bei den östlichen Nachbarn auslö-
sen und die beginnende neue Ostpolitik stören könnten. Insbesondere
der Band VII, der 1966 erschien, brachte Aufschlüsse über die sowjeti-
schen Lager, in denen 1,2 Millionen Gefangene, das waren 38 Prozent,
verstarben. Ähnliches galt von den Darstellungen über Polen, der Tsche-
choslowakei sowie für manche der behandelten westeuropäischen Staa-
ten. Die Folge war, daß die inzwischen fertiggestellten Bände - bis 1974
waren es bereits 16 - von der Bundesregierung für die Öffentlichkeit
gesperrt wurden: Das Bonner Auswärtige Amt versagte die Vertriebs-
freigabe mit Rücksicht auf die Siegerländer. Es wurden jeweils nur 800
Exemplare hergestellt, und die insgesamt rund 12000 Bände im Gesamt-
wert von knapp einer halben Million Mark verblieben unter Quarantäne
beim Bielefelder Verlag Gieseking im Keller für mehr als ein Jahrzehnt,
Nur ein Teil durfte an Dienststellen, Bibliotheken, wenige auch des Aus-
lands, und Archive ausgeliefert werden, denen jedoch aufgetragen wur-
de, die Bände unter Verschluß in >Giftschränken< zu halten. Insbesonde-
re durfte der Buchhandel nicht an interessierte Bürger verkaufen, und
ein gewöhnlicher Sterblicher konnte die Werke nicht entleihen. Selbst
wenn ein »wissenschaftliches Interesse« nachgewiesen werden konnte,
durften die Bibliotheken den jeweiligen Band nur zur Ansicht im Lese-
saal herausrücken, nicht aber zum Entleihen nach Hause.1 Sogar die Ver-
fasser mußten eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, daß sie ihre
Belegexemplare nicht weitergäben. 4
Professor M A S C H K E sagte dazu um 1 9 7 0 : »Jede Kriegsgefangenschaft
ist scheußlich. Es hat da auf allen Seiten wenig schöne Dinge gegeben.
Das könnte heute — 25 Jahre nach Kriegsschluß — in den falschen Hals

2 »Warum Bonn eine Dokumentation sperrt«, ebenda.


1 Ebenda.
4 Roland DAMMERS, »Heißes Eisen: Die Gefangenenschicksale«, in: Schwäbisches
Tagblatt, 18. 2. 1972.

754
kommen.«4 Der Kommentator überhöhte noch diese Rücksicht auf die
»Verbündeten«: »Diese Wahrheit kann bitter sein. Politische Demagogen
könnten sie zu Gift umwandeln. Darum bleibt das harte Los der Gefan-
genen für die Öffentlichkeit vorerst im Dunkeln.«4
Am 6. November 1974 stellte der CDU-Abgeordnete Johann Peter
JOSTEN in der Fragestunde des Bundestages die Frage, ob nach Ansicht
der Bundesregierung »die Dokumentation >Zur Geschichte der deutschen
Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs< alle wesentlichen Aspekte des
Problems ausreichend berücksichtigt« und ob »nicht — wie bei der Doku-
mentation der Vertreibung - eine spezielle Dokumentation der an den
Kriegsgefangenen in Ost und West begangenen Verbrechen. . . erforder-
lich« sei. Dabei verwies er auch auf einen einstimmigen Beschluß der
Konferenz der deutschen Justizminister vom 27. bis 29. Oktober 1965,
die Strafverfolgung der an Deutschen im Zusammenhang mit dem Krieg
begangenen Verbrechen durchzuführen. 1
Der parlamentarische Staatssekretär des Bundesinnenministeriums, Dr.
Jürgen SCHMUDE (SPD), antwortete, daß für die SPD-FDP-Regierung in
den 18 bisher erarbeiteten Bänden alle Gesichtspunkte genügend berück-
sichtigt worden seien. Unter Hinweis auf die Entschließung der Justizmi-
nister erklärte er, daß die Täter der Verbrechen an Deutschen in der Regel
aus dem Ausland stammten und nicht erreichbar seien, daß deswegen die
»Ermitdungen praktisch ins Leere« führten. »Bei der Erstellung einer ent-
sprechenden Dokumentation stünde allerdings der Aufwand in keinem
Verhältnis zu dem Ergebnis.« Auf eine Nachfrage des CDU-Abgeordne-
ten Dr. Herbert CZAJA, warum die Bundesregierung nicht die Notwendig-
keit einer solchen Dokumentation und die Sammlung des entsprechenden
Materials bejahe, meinte SCHMUDE, daß zu den bisherigen Bemühungen
um Strafverfolgung »eine zusätzliche Dokumentation, wie sie hier von Herrn
Kollegen JOSTEN angeregt worden ist, dazu nicht mehr viel beitragen könnte,
insbesondere wenn man den Kostenaufwand berücksichtigt«.
Und dabei blieb es dann auch: Eine solche Dokumentation, die die bis
dahin und auch später einseitig geführte Behandlung der Kriegsverbre-
chen versachlicht und dazu beigetragen hätte, daß nicht allein die Deut-
schen als Täter hingestellt wurden und werden, wurde nicht erstellt —
wegen zu großer Kosten, während für andere unwichtigere Aufgaben
genügend Mittel vorhanden waren.
Erst im Jahre 1976, und damit mehr als 31 Jahre nach Kriegsende,
wurden die wichtigen Dokumentarbände freigegeben/' nachdem durch

3 Protokoll der 127. Sitzung des Deutschen Bundestages am 6. 11. 1974.


6Lothar K. FROST, »Der >Fritz< und sein hartes Schicksal«, in: Schwäbisches Tag-
blatt, 18. 8. 1976.

755
die in den sechziger und siebziger Jahren veranstalteten Auschwitz- und
Majdanek-Prozesse die deutsche Öffentlichkeit von den Deutschen als
Tätern so überzeugt worden war, daß die nun der Öffentlichkeit zugäng-
lich gemachten Dokumentationen über das schwere Schicksal der deut-
schen Gefangenen kaum noch zur Kenntnis genommen wurden.
In diesem Zusammenhang sei beispielhaft auf die Odyssee des frühe-
ren deutschen Sanitätsunteroffiziers Hermann M A R X aus Göttingen er-
innert, der 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet, vor dem
Abtransport nach Sibirien fliehen und in Estland mit Hilfe Einheimi-
scher als angeblicher Holländer untertauchen konnte. Als er sich nach
der allgemeinen Amnestie für frühere deutsche Soldaten in der Sowjet-
union den russischen Behörden offenbarte, dauerte es noch Jahre, bis er
im August 1959 nach Westdeutschland zurückkehren konnte. Man schätzt
die Zahl solcher Heimkehrer, die zeitweilig in Rußland untertauchen konn-
ten und später auf legalem Wege nach Deutschland zurückkamen, auf
nicht mehr als 30."
Ferner sei auf die Aussage eines deutschen Soldaten hingewiesen, der
»das Pech gehabt« hat, »in amerikanischer und sowjetischer Gefangen-
schaft gewesen zu sein. Ich konnte also einen Vergleich anstellen. Wäh-
rend die Soldaten unserer sogenannten Verbündeten vor unseren hung-
rigen Kameraden aus vollen Eßgeschirren aßen und die Reste vor unseren
Augen auf den Boden schütteten und zertraten, haben die sowjetischen
Soldaten immer mit uns das letzte karge Essen geteilt, und die Bevölke-
rung hatte keinen Haß auf uns«.''
In ähnlicher und bezeichnender Weise wurde von den dafür verant-
wortlichen deutschen Regierungsstellen eine Dokumentation über die
Verbrechen der Sieger an den Deutschen1" sowie eine Untersuchung über
de wirkliche Zahl der Opfer in deutschen Konzentrationslagern verhin-
dert.11
Aktuelle Zahlen über die Kriegsgefangenen beider Seiten im Zweiten
Weltkrieg liefert die Broschüre von Alfred ZIPS. 12 Rolf Kosiek

7 »Nach 16 Jahren aus Rußland zurück«, in: Deutsche Zeitung, 26, 8, 1959.
8 Ebenda.
9 Hans-Joachim A H R E N B E R G , Meinerzhagen, Leserbrief, in: Der Spiegel, Nr. 1 9 , 5 .

5.1969.
10 Beitrag Nr. ???, »Keine Dokumentationsstelle für Verbrechen an Deutschen«.
11 Beitrag Nr, ???, »Bundesregierung verhindert Feststellung der KL-Opferzahl«.
,2 Alfred ZlPS, Kriegsende. 60 Jahre danach. Das Schicksal der Kriegsgefangenen auf bei-

den Seiten, Witikobund, München 2007.

756
Bundesregierung verhindert
Feststellung der KL-Opferzahl

ie Vergangenheitsbewältigung war schon in den ersten Jahren


D der Bundesrepublik wichtige amtliche Aufgabe. Da die meisten Zeit-
zeugen noch lebten, wäre es leichter als Jahrzehnte später gewesen, die
historische Wirklichkeit zu erforschen und zu dokumentieren.
Doch im Gegensatz zu den Verhältnissen nach 1919 in der Weimarer
Republik, als alle Reichsregierungen darauf bedacht waren, die im Arti-
kel 231 des Versailler Diktats Deutschland vorgeworfene Kriegsschuld-
lüge durch Feststellung der geschichtlichen Tatsachen zu entkräften, wa-
ren die westdeutschen Bundesregierungen nicht bereit, amtlich die nach
1945 der NS-Regierung angelasteten Verbrechen zu untersuchen, son-
dern erkannten die Vorwürfe der Sieger ungeprüft an. Fin erster deut-
scher Versuch der Regierung D Ö N I T Z , die Wahrheit über die Vorwürfe
wegen der Konzentrationslager zu ermitteln, war schon im Mai 1945
von den Alliierten verhindert worden,1
Das gilt insbesondere für die Zahl der Opfer in den deutschen Kon-
zentrationslagern. Kurz nach Kriegsende wurden in Fortsetzung der alli-
ierten Kriegspropaganda Zahlen von bis zu 20 oder sogar mehr Millio-
nen Tote der Lager genannt. Auch Ende der fünfziger Jahre wurden unter
dem Anspruch der Aufklärung über die Wirklichkeit noch groteske und
sich oft widersprechende Opferzahlen in der deutschen Öffentlichkeit
angeboten.
So hielt der Oberstaatsanwalt Robert H A F K E auf einer Mitgliederver-
sammlung der Fuldaer SPD im Juni 1959 ein Referat über »Organisation
und Strafvollzug in den KZ des Dritten Reiches«. Unter der zweizeiligen
Überschrift »Was heute der Jugend keiner mehr sagt: In den KZ wurden
elf Millionen Menschen ermordet«, berichtete die Fuldaer Volkszeitung
darüber.2 Fettgedruckt wird in dem Bericht darauf verwiesen, daß der
Redner sich ausschließlich auf authentisches Material bezogen habe, das
er selbst zusammengetragen habe. Der Oberstaatsanwalt habe vor allem
das Thema Auschwitz behandelt, wo täglich 14000 Menschen vergast
worden seien. Vier Krematorien mit achtzig Verbrennungsöfen hätten
Tag und Nacht gearbeitet. Tausendfünfhundert Menschen seien jeweils
in einen Raum zur Vergasung mit Blausäuregas gepfercht worden. Auf

1 Siehe Beitrag Nr. 238, »Reichsregierung versucht, KL-Verbrechen aufzuklä-


ren«.
2 Volkszeitung, Fulda, 26. 6. 1959; zitiert auch in: Deutsche Wochenzeitung, 6. 4,
1979.

757
diese Weise seien allein im Lager Auschwitz 6 Millionen Menschen ver-
gast worden. Insgesamt seien in den deutschen Konzentrationslagern elf
Millionen Menschen ermordet worden. »Der Vorsitzende des Ortsver-
eins der SPD, Max ZWENGER, dankte dem Redner für das hervorragende
Referat, insbesondere gehe es darum, die Jugend über den Nationalso-
zialismus aufzuklären, da sie sich heute weitgehend in Unkenntnis über
diese Verbrechen befindet.« Mit gewaltig übertriebenen Zahlen wurde
also >Aufklärung< betrieben.
Schon 1 9 5 6 hatte der jüdische Historiker Gerald REITIJNGER für Ausch-
witz eine Opferzahl von rund 7 5 0 0 0 0 angegeben, und Raul HILBERG
hatte 1961 wie 1985 etwa eine Million genannt, 1 während Sowjets und
Polen weiterhin seit dem Nürnberger Prozeß auf vier Millionen Opfern
dort bestanden.
Weil so unterschiedliche Zahlen im Umlauf waren und die Diskussion
darüber in der Öffentlichkeit zunahm, befaßte sich um 1959 eine Konfe-
renz der Innenminister der westdeutschen Länder mit der Frage der KZ-
Opferzahl und regte dann an, daß das Bundesinnenministerium alles ver-
fügbare Material sammeln, auswerten und es dann veröffentlichen solle.
Die Vertreter des Bundesinnenministeriums versicherten, daß dieses Pro-
blem aufgegriffen werde.4 Der damalige Bundesinnenminister Gerhard
SCHRÖDER gab »vor der CDU/CSU-Bundestags fraktion bekannt, daß er
die Herausgabe eines »Standardwerkes über die Judenverfolgung in
Deutschland« plane, das wissenschaftlich unanfechtbar sei, denn es müsse
endlich Schluß gemacht werden mit der Frage, ob es nun zwei, drei, fünf
Innenminister oder sechs Millionen Juden gewesen seien, die umkamen«. 5 Damit hatte
Gerhard S C H R Ö D E R . er natürlich recht.
Einige Monate später wurde auf einer weiteren Konferenz der Länder-
innenminister dieser Auftrag wieder angesprochen. Daraufhin erklärte
SchröderR zur Überraschung der Teilnehmer, daß es übergeordnete poli-
tische Gesichtspunkte gebe, die es geraten erscheinen ließen, von dem
Vorhaben einer Dokumentation über die KZ-Opferzahlen Abstand zu
nehmen.*6 Er hatte wohl von bestimmter Seite den Auftrag bekommen,

1 Gerald REITI.INGER, Die Endlösung, Colloqium, Berlin 1956; Raul HILBERG, Die
Vernichtung der europäischen Juden, Fischer, Frankfurt/M. 1981.
4 en (Adolf VON THADDEN), »Bergen-Belsen, die >Endlösung< und die Politik«,

in: Deutsche Wochen^itung, 5. 1. 1979.


5 Adolf VON THADDEN, Die verfemte Rechte, K.W. Schütz, Preußisch Oldendorf

1984, S. 119.
fl Ebenda; ähnlich Adolf VON THADDEN, Adolf Hitler- Verwandter der Welt; Deut-

sche Verlagsgesellschaft, Rosenheiml991, S. 141; »Eine bemerkenswerte Ent-


scheidung«, in: Deutsche Wocbenzeitung, 16. 7, 1982.

758
das den Innenministern versprochene Vorhaben zu unterlassen. Die
Deutschen sollten also weiterhin mit überhöhten Opferzahlen belastet
werden.
Eine amtliche Untersuchung unterblieb also bedauerlicherweise — und
das bis heute. Um so mehr wurde dann - vor allem in den Massenmedien
— mit weit übertriebenen Zahlenangaben gearbeitet, insbesondere bei
den großen KZ-Prozessen in den sechziger und siebziger Jahren, Ob-
wohl neuere Forschungen im Laufe der Zeit die gängigen Opferzahlen
stark herabsetzten," allein die von Auschwitz von vier Millionen auf bis-
her 500000 bis 600000* oder die von Majdanek von 1,5 Millionen auf
200000, blieb die behauptete Gesamtzahl der jüdischen Opfer mit sechs
Millionen immer gleich. Es gilt als herrschende Meinung noch, was der
Münchener Historiker Michael W O L F S O H N 1991 erklärte: »Die neueste
Holocaust-Forschung bestätige, daß der Judenvernichtung in Auschwitz
und anderen Orts insgesamt 5,6 bis 5,8 Millionen Menschen zum Opfer
gefallen seien,«9
Dazu meinte er, und er darf sich als Jude diese Kritik an deutschen Michael WOLFFSOHN.
Historikern leisten: »Mehr Verklemmungen als Verdrängungen prägen in
der Bundesrepublik aus verständlichen und keineswegs unsympathischen
oder gar böswilligen Absichten die Bemühungen, deutsche Vergangen-
heit in diesem Sinne zu bewältigen, nicht zuletzt deshalb, weil oft mehr
gewertet, geweint und gewollt als gewußt wird. Bekenntnisse wurden wich-
tiger als Kenntnisse, weil man sich anderenfalls dem »Revisionismus*-, »Fa-
schismus*- oder gar »Antisemitismus*-Verdacht aussetzte. Nur wenige
wollten sich freiwillig aus dem Kreis der guten Deutschen hinauskatapul-
tieren.«10 Rolf Kosiek

Die bundesdeutsche Tagespresse meldete am 18, Juli 1990, daß der polnische
Leiter des Auschwitz-Museums, Frantiszek PIPER, nach seinen Forschungen auf
eine bis anderthalb Millionen Todesopfer für Auschwitz komme und die Zahl
von vier Millionen auf diese Anzahl herabzusetzen sei.
Jean-Claude PRESSAC, Die Krematorien von Auschwitz Piper, München 1994; Frit-
jof MEYER, »Die Zahl der Opfer in Auschwitz«, in: Osteuropa, Nr. 5 , 2002, S. 631
-641.
' Michael WOLFFSOHN, »Zahlenspiele mit den Auschwitz-Opfern?« in: Frankfur-
ter Allgemeine Zeitung, 9. 1, 1991, S. 10.
10 Ebenda.

759
Zur Person Eugen Gerstenmaiers

ine der einflußreichsten und zugleich schillernsten Persönlich-


E
1986).
keiten der frühen Bundesrepublik war Eugen GERSTENMAIER ( 1 9 0 6 -

Er wurde am 25. August 1906 als ältestes von acht Kindern eines Kla-
vierbauers in Kirchheim/Teck geboren und verstarb am 13. März 1986
im Alter von 80 Jahren. Der Weg des Württembergers zu Ämtern und
Würden bis zum Bundestagspräsidenten war widersprüchlich, und man-
che Einzelheiten werden gern verschwiegen.
G E R S T E N M A I E R studierte in Tübingen und Zürich. Die Universität Ro-
stock verließ er als Lizentiat der Theologie. »Österreichs Heimkehr« im
März 1938 erlebte er in Wien, wo er gerade zu Gastvorlesungen weilte:
»Der österreichische Jubel jener Tage galt nicht dem Nationalsozialis-
mus. Er galt dem vereinten Deutschland.« (Streit und Friede hat seine Zeit,
S.104) Keine Freude indessen hatte er bei der bejubelten Befreiung der
Sudetendeutschen: H I T L E R »riskiert den Krieg. Er will ihn. Der Mann
muß weg«, zürnte er 1938 nach dem Abkommen von München und
machte sich auf den Weg in den Widerstand. Er geriet in den Kreisauer
Kreis, dessen Angehörige ihre Gedanken um die Gestaltung einer mach-
nazistischem Staats- und Gesellschaftsordnung kreisen ließen.
Der aktive Widerstand, mit dem sich G E R S T E N M A I E R ebenfalls vernetzte,
Eugen GERSTENMAIER.
bekannte sich zwar zur Gewaltlosigkeit. Im Widerspruch zum Lippenbe-
kenntnis versuchten die Aktivisten aber seit 1938, den Kriegsausbruch
zu erzwingen, um die Reichsregierung mit Gewalt zu beseitigen. Wie in
britischen Archiven und aus Aktenveröffentlichungen ersichtlich ist, ga-
ben in L O N d o n Leute wie G O E R D E L E R , K L E I S T - S C H M E N Z I N , K O R D T U S W . ein-
ander die Klinke in die Hand, versorgten das Foreign Office mit Fehlin-
formationen über frei erfundene deutsche Welteroberungsabsichten,
drängten die Briten zu militärischen Maßnahmen gegen das Reich und
versprachen, HitlER im Falle des Kriegsausbruches sofort zu stürzen.
Das erfüllte den Tatbestand des Hoch- und Landesverrats. Im Vertrauen
auf diese Versprechungen, die sich dann später als leer erweisen sollten,
betrieben die Engländer mit ihrer einseitig gegen Deutschland gerichte-
ten Polen-Garantie vom März 1939 eine auf Krieg ausgerichtete Politik,
die Berlins Bemühungen um eine faire und friedliche Korridor-Lösung
im Einvernehmen mit Warschau durchkreuzte.
Als Konsistorialrat arbeitete G E R S T E N M A I E R damals im ökumenischen
Referat des kirchlichen Außenamtes, war aber auch in die kulturpoliti-
sche Abteilung des Auswärtigen Amtes dienstverpflichtet, hielt Verbin-
dungen zu protestantischen Kreisen des Auslandes und fuhr vielfach ins

760
Ausland. Eine wichtige Anschrift für G E R S T E N M A I E R war die Zentrale der
Ökumene in Genf, deren Generalsekretär V I S S E R T ' H O O F T Agent des
britischen Geheimdienstes war. Als dieser Holländer im Mai 1942 nach
London flog, hatte er eine von G E R S T E N MAlER verfaßte Denkschrift im
Gepäck, auf die sich die Verschwörer ein politisches Echo erhofften.
C H U R C H I L L fand das Memorandum »sehr ermutigend«. Die Tatsache, daß
er nicht daran dachte, sich für die Denkschrift zu bedanken, gab weder
G E R S T E N M A I E R noch dessen Gesinnungsgenossen zu denken.

Trotz der vernichtenden Antwort R O O S E V E L T S und C H U R C H I I L S aus


Casablanca vom Januar 1943- Krieg bis zur »bedingungslosen Kapitula-
tion« des Reiches - trat G E R S T E N M A I E R für ein Attentat auf H I T L E R ein:
»Ich habe mich nie viel mit dem Vorwurf auseinandergesetzt, daß ich Willem Adolf
damit gegen das apostolische Gebot verstoße: >Ein jeglicher sei Untertan VI ssE R T ' H O O F T .

der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat<.« (Römer 13,1) Der Theologe
machte aus seinem Herzen keine Mördergrube, »Ich ging davon aus, daß
der Apostel Paulus den römischen Rechtsstaat vor Augen hatte, als er
den Satz schrieb.« (Streit und Friede hat seine Zeit, S. 178) Nicht vor Augen
hatte G E R S T E N M A I E R offensichtlich, daß im römischen »Rechtsstaat« Chri-
stus gekreuzigt, Paulus enthauptet und unschuldige Christen zu Abertau-
senden ermordet wurden. Wenn der Apostel dennoch Gehorsam gegen-
über der Obrigkeit fordert, so deshalb, weil er in der Anarchie ein größeres
Übel erblickt als in einer, wenn auch noch so blutigen Diktatur.
Daß der 20. Juli 1944 der Tag X für das Attentat sei, wußte G E R S T E N -
M A I E R schon vorher: »Nach fünf Uhr nachmittags hörte ich die Sonder-

Eugen G E R S T E N M A I E R
am 11. Januar 1945
vor dem Volksge-
richtshof.

761
meidung von dem mißglückten Attentat. Gleich darauf rief Peter Y O R C K
an. . . Die Sache sei gestiegen, sagte er mir, ich möge gleich kommen. Ich
sagte, ich käme sofort, aber offenbar sei das Attentat mißglückt. Das sei
eine Lüge von G O E B B E L S , meinte Y O R C K . « Trotz seiner Bedenken begab
sich G E R S T E N M A I E R , bewaffnet mit Bibel und Pistole, in die Bendlerstraße.
Doch statt >Walküre< gab es dort für die Widerständler eher eine Götter-
dämmerung: S K O R Z E N Y betrat die Szene und ließ die Aufständischen ab-
führen. Als einziger Zivilist unter den Anwesenden geriet G E R S T E N M A I E R
dabei in Haft.
Am 11. Januar 1945 stand er vor dem Volksgerichtshof. Der Ankläger
unterschätzte den Konsistorialrat als »blassen Theoretiker« und als »Kir-
chenmann, der von den Dingen keine Ahnung hat, in die er sich verwik-
kelt«. Die Anklage wegen Hoch- und Landesverrates ließ der Reichsan-
walt zwar fallen, beantragte aber dennoch die Todesstrafe wegen
Verletzung der Anzeigepflicht in einem besonders schweren Fall. GER-
S T E N M A I E R sei weltfremd und unter Umständen für die Gemeinschaft

Eugen G E R S I E N M A I E R wiederzugewinnen, meinte dagegen der Gerichtsvorsitzende Roland F R E I S -


(Mitte) gratuliert TER, wich vom Antrag des Anklägers ab und ließ es in seinem Urteil bei
Heinrich LOBKE zu sieben Jahren Zuchthaus bewenden. Von den Amerikanern aus diesem
seiner Wahl zum befreit, erfuhr G E R S T E N M A I E R , der mit dem Leben bereits abgeschlossen
Bundespräsidenten und fest mit dem Todesurteil gerechnet hatte, daß sich der stellvertretende
am I . J u l i 1959 im
Casino am Funkturm
Reichspressechef Helmut S Ü N D E R M A N N wirkungsvoll bei F R E I S L E R für ihn
tn Westberlin. Links: verwendet habe. (Streif und Friede hat seine Zeit, S. 585 u. 604)
Bundestagsvizepräsi- Zur Linderung der durch die Niederlage bedingten Not der Deut-
dent Carlo S C H M I D , schen rief G E R S T E N M A I E R 1945 das Hilfswerk der Evangelischen Kirche
ins Leben und leitete es bis
1951. Er selbst ging in die
Politik und machte in der
CDU Karriere. Er wurde
1949 in den Bundestag ge-
wählt und war von 1954
bis 1969 dessen Präsident.
Als solcher sorgte er für
den Wiederaufbau des zer-
störten Reichs tagsgebäu-
des in Berlin und ließ den
Sowjets zum Trotz die
Bundesversammlung in
der Viersektorenstadt zu-
sammentreten. Seit 1950
war er deutscher Vertreter
im Europarat.

762
Ein wichtiges Anliegen war ihm die Wiedergutmachung. Für seine
Person beantragte GERSTENMAIER eine Entschädigung für die ihm 1934
von den >Nazis< verweigerte Lehrbefugnis. Seinem Begehren verlieh er
als Bundestagspräsident Nachdruck, indem er auf die Formulierung der
Novelle zum Wiedergutmachungsgesetz für Angehörige des öffentlichen
Dienstes zu seinem eigenen Vorteil einwirkte. Auf Grund des maßge-
schneiderten Gesetzes, das der vom Begünstigten geleitete Bundestag
beschloß, wurde GERSTENMAIER rückwirkend Professor. Am 12. Januar
1969 bestätigte ein Sprecher des Bundestagspräsidenten, daß GERSTEN-
MAIER ab sofort den Titel »Professor« tragen dürfe und als »Verfolgter des
Naziregimes« eine finanzielle Entschädigung erhalte. Die damit verbun-
dene Wiedergutmachungssumme war sechsstellig und wurde von der
damals noch moralisch urteilenden Öffentlichkeit als Selbstbedienung
gewertet. Die Affäre schlug in der an Korruption noch nicht gewöhnten
Bundesrepublik hohe Wellen, die CDU ließ ihn fallen, und GERSTENMAIER
erklärte am 23. Januar 1969 zur Erleichterung seiner Partei seinen Rück-
tritt vom Amt des Bundestagspräsidenten zum 31. Januar 1969.
Bis an sein Lebensende verteidigte GERSTENMAIER die Attentäter des
20. Juli 1944 gegen den Vorwurf des Verrates. Auch mit der Sinnhaftig- Literatur
keit ihres Unterfangens setzte er sich auseinander. Immerhin hatte das
Eugen GERSTEN-
Attentat nicht HITLER getötet, wohl aber rund 2 0 0 Widerständlern das MAI ER, Streit und
Leben gekostet. »Hat sich der Widerstand gelohnt?« fragte sich GER- Friede bat seine Zeit.
STENMAIER! »Die Welt konnte es sehen: Es gab ein anderes Deutschland.« Ein Lebensbericht,
Für Deutschland machte es aber keinen Unterschied: Die Katastrophe Propyläen, Frank-
mit Besetzung und Vertreibung war 1945 vollkommen. An den Vernich- furt/M.-Berlin-
tungskrieg, den alle Welt gegen Deutschland führte, erinnern die noch Wien 1981.
immer in Kraft befindlichen Feindstaatenklauseln in der UNO-Satzung.
Von den FeindStaaten wurde der deutsche Widerstand in gar keiner Weise
honoriert oder geachtet. Eher geschah das Gegenteil: Winston CHUR-
CHILL, der von den Attentatsplänen im voraus gewußt hatte, äußerte sich
abfällig. Die New York Times bemerkte am 9, August 1944, daß das Atten-
tat eher an die »Atmosphäre einer finsteren Verbrecherwelt« erinnere als
an das, was man normalerweise vom Offizierskorps eines Kulturstaates
erwarte.
Spät kam dem Widerständler und Wiedergutmachungsbegünstigten
GERSTENMAIER die Erkenntnis: »Was wir im deutschen Widerstand wäh-
rend des Krieges nicht wirklich begreifen wollten, haben wir nachträg-
lich vollends gelernt: daß der Krieg schließlich nicht gegen HITLER, son-
dern gegen das deutsche Volk geführt wurde.« (FrankfurterAllgemeine Z,eitung,21.
3. 1975, S. 11) Fred Duswald

763
Franz-Josef Strauß und seine Haltung zur DDR

er langjährige bayerische Ministerpräsident, Bundesminister, Vize-


D kanzler und CSU-Vorsitzende Franz-Josef S T R A U S S war lange ein
scharfer Kritiker der links-liberalen Politik des Verzichts auf Ostdeutsch-
land und der Anerkennung Mitteldeutschlands als selbständigen Staats.
Dann setzte er sich 1983 plötzlich und überraschend für einen Milliar-
denkredit für das marode und kurz vor dem Zusammenbruch stehende
kommunistische System in Pankow ein und stabilisierte damit die SED-
Herrschaft für weitere Jahre. Zur Dokumentation dieser ungerechtfer-
tigten Anpassung seien bezeichnende Worte des Bayern angeführt.

»Ich weigere mich, den Untergang des Deutschen Reiches durch eine
Politik des Ausverkaufs ohne Gegenleistungen zu besiegeln.« (Die Welt,
12. 2. 1970)

»Es stünde uns gut an, auch zu bekunden, daß wir uns über Wesen und
Hintergründe der Politik der anderen Seite keinerlei Täuschung hinge-
ben. Wo bleibt die offene Aussage, was denn die Ursachen der Spannung
sind? Die Verträge (Ostverträge) dienen nicht der Entspannung, wenn
man unter »Entspannung« die Beseitigung der Spannungsursachen sieht.«
(Bundestag, 24. 2. 1972)

»Wir stehen hier vor einem erschütternden Mißverhältnis zwischen poli-
tischen Leistungen der Bundesrepublik und Gegenleistungen des Ver-
tragspartners.« (Bundestag, 9. 5. 1973)
*
»Ich habe. . . immer wieder darauf hingewiesen, daß wir nicht jene Däm-
me gegen unabsehbare kommunistische Geldforderungen selbst einrei-
ßen dürfen, die ab 1949 CDU/CSU-geführte Bundesregierungen mit
Zustimmung des Westens aufgebaut haben. Sollen wir aus Gründen er-
kaufter Freizügigkeit, unaufrichtiger Entspannung., . zu einem Verhand-
lungsergebnis >ja< sagen, das neuen Ausiegungsstreit, neue Forderungen
Polens und anderer kommunistischer Regierungen, neue Konfrontatio-
nen mit der seit 1969 praktizierten östlichen Erpressung, wenn genü-
gend DM, dann mehr Freizügigkeit. .. (in sich birgt)?« (Bayernkurier, 1.
11. 1975)

»Wir haben auch keinen Grund, durch eine falsch verstandene Osthan-
delspolitik die Fehler der Planwirtschaft kommunistischer Staaten zu er-
leichtern, ihre Folgen für die Bevölkerung demgemäß abzubauen und

764
den Machthabern zu erlauben, einen gigantischen Militärapparat mit über-
proportionalem Anteil der Militärausgaben an den Gesamtausgaben des
Staates weiterhin auf- und ausbauen zu können.« (In: CSU-Dokumentation
Freiheit oder Sozialismus, 8. Mai 1976, S. 12)
*>

»Unserer Politik tun nicht Gefälligkeiten, nicht Entspannungseuphorie,


nicht Liebedienerei nach allen Seiten not. Unserer Politik tun in erster
Linie Augenmaß und Berechenbarkeit not.« (Bundestag, 11.5. 1978)

»Was wir brauchen, ist unbequeme


Eindeutigkeit und nicht bequeme
Doppeldeutigkeit in der Auslegung
der Ostverträge.« (CSU-Parte¡tag,
29. 9. 1979)

»Das Kriterium einer politischen


Entscheidung darf nicht der er-
wartete Erfolg bei den Massenme-
dien und der Erfolg beim Zeitgeist
sein. Der richtige Maßstab ist viel-
mehr die wirklichkeitsnahe Beur-
teilung der mit einer solchen Poli-
tik eingetretenen Folgen.« (Auf
dem Sicherheitspolitischen Kon-
greß der CDU, 11./12. 1. 1980)

»Wogegen wir uns wenden, sind die Selbsttäuschung und die Täuschung Bei seinem Besuch
der deutschen Öffentlichkeit, sei es aus Unwissen oder sei es aus Ab- am 24. Juli 1983 in
sicht. .. Dresden wurde
Franz Josef S T R A U S S
Eine Fintspannung ohne Weltordnung dient im Zweifelsfall dem, der sehr herzlich emp-
seine Macht brutal und skrupellos ausnutzt, um sein Gesellschaftssystem fangen.
anderen aufzuzwingen. . .
Entspannung bedeutet: Mehr Rechte und Freiheiten für die Menschen
im anderen Teil Deutschlands und Europas. Entspannung bedeutet: Auf-
hebung des Schießbefehls. Entspannung bedeutet: Normalisierung im Sinne
der Anerkennung der demokratischen Grundrechte des Bürgers und sei-
ner Entscheidungsfreiheit. Es war doch einer der großen Fehler, daß das
Problembewußtsein im Zusammenhang mit dem wahren Charakter und
den wahren Absichten unseres Entspannungspartners in unserer Öffent-
lichkeit eingeschläfert, betäubt und zerschlagen (wurde). Dieses Problem-
bewußtsein muß jetzt wiederhergestellt werden.« (Bundestag 17.1.1980)

765
»Wir waren nicht gegen Verträge mit unseren östlichen Nachbarn, son-
dern wir waren für Verträge auf der Basis des Gebens und Nehmens zu
ausgewogenen Teilen, wir waren für Verträge mit klarer Formulierung,
bei denen nicht jederzeit widerrufliche kleine Konzessionen auf der ei-
nen Seite gegen unwiderrufliche Leistungen auf der anderen Seite ge-
währt werden.« (28. CDU-Parteitag, 19./20. 5.1980)
*
»SPD-FDP-Regierungen. .. haben sich. . . durch einseitige Vorleistun-
gen ohne entsprechende Gegenleistungen. . . des eigenen politischen
Spielraums beraubt. . . Es muß. . . klar sein, daß wir die politische Zu-
sammenarbeit mit dem Osten nicht erkaufen werden durch Schweigen
zu den Menschenrechtsverletzungen im kommunistischen Machtbereich,
vor allem auch in der DDR und an der deutsch-deutschen Demarkati-
onslinie.« (in: Gebote der Freiheit, Gruenwald, München 1980, S. 192 u.
305)

»In unsere Wirtschaftsbeziehungen mit der >DDR< muß wieder mehr
Realität einziehen. Dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung ist wie-
der Geltung zu verschaffen. Wie die Erfahrung des letzten Jahrzehnts
beweist, brachten die einseitigen wirtschaftlichen Vorleistungen der Bun-
desrepublik Deutschland keinerlei Verbesserungen für die Lage der Men-
schen im anderen Teil Deutschlands.« (in: CSU, '82 und Landtagswahl, S. 63)

Dann setzte sich S T R A U S S erfolgreich für die Gewährung des Milliarden-


kredits an Pankow ein und erklärte:
»Ich bin so schnell in der anderen Ecke, daß die mit dem Schauen gar
nicht mehr nachkommen.« (F4Z, 12. 7. 1983, S. 1)

Bei dem dann von S T R A U S S als »Gegenleistung« gefeierten Abbau der


Todesautomaten handelte es sich um eine grobe Täuschung Die alten
Selbstschußanlagen wurden zwar abgebaut, aber durch neue wirksamere
Systeme ersetzt, die »tiefgestaffelt angebracht und mit neuen Minenfel-
dern versehen, effektiver, lautloser und optisch weniger grausam« sind.
(FAZ, 13. 10. 1983)

Der Bundestagsabgeordnete Franz H A N D L O S erklärte nach seinem we-


gen dieser Politik des CSU-Vorsitzenden erfolgten Austritt aus der CSU:
»Wenn Prinzipienlosigkeit zum Prinzip wird und Flexibilität mit Charak-
terlosigkeit verwechselt wird, kann ich einen Parteivorsitzenden nicht mehr
unterstützen, der in dieser Grundsatz frage Jahrzehnte hindurch genau
das Gegenteil gesagt hat.« (Flugblatt von Der Rote Brief, Bonn 1983)
Rolf Kosiek

766
Die Kampagne gegen
den >KZ-Baumeisten Heinrich Lübke

it propagandistischem Totschlagsvokabular wie etwa »Auschwitz*,


M >Konzentrationslager<, »faschistisch«, »Erfüllungsgehilfe* oder
»Schreibtischtäter* werden nicht erst seit der »Wende* politische Karrieren
in Deutschland beendet. Gefälschte oder »frisierte* Dokumente spielen
dabei seit eh und je eine ebenso große Rolle wie linke Medien in der
BRD und DDR. In überraschend vielen Fällen hatten dabei sowohl die
DDR-Belastungszeugen als auch BRD-Enthüllungsjournalisten oftmals
eine »braune Vergangenheit*.
Ein frühes Opfer einer solchen Kampagne, bei der DDR-Behörden
mit linken Presseorganen der BRD Hand in Hand arbeiteten, war der
bieder unauffällige zweite deutsche Bundespräsident Heinrich LÜBKE.
Bereits seit seiner ersten Wahl zum Bundespräsidenten 1959 begann man
in Ost-Berlin Material für Propagandaangriffe gegen das westdeutsche
Staatsoberhaupt zu sammeln. Die ersten Attacken prallten jedoch wegen
ihrer widersinnigen und leicht durchschaubaren Propagandafloskeln an
der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik ab.
Erst als LÜBKE zur Wiederwahl nominiert wurde, begann der seit 1 9 5 8
amtierende Sekretär des ZK der SED für Agitation und Propaganda, der
jüdische Remigrant Albert NORDEN, mit der Vorbereitung einer Verleum-
dungskampagne, der das Politbüro des Zentralkomitees der SED am 9. Alhert NORDEN ( 1 9 0 4 -
1982). Der Sohn ei-
Juni 1964 zustimmte.1
nes Rabbiners war
Im November 1966 erhielt diese nach ersten, kleineren Presseerfolgen von 1958 bis 1981 im
den Namen »Kommission zur Zerschlagung der Versuche der Rehabili- Politbüro für Agita-
tierung LOBKES*. Ein Jahr zuvor wurde von Gerhard DENGLER (SED), tion und >Westarbeit<
dem Vizepräsidenten des Nationalrats der Nationalen Front des demo- zuständig.
kratischen Deutschland, das erste DDR->Braunbuch< über »Kriegs-und
Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in West-Berlin« herausgege-
ben, in dem auch LOBKE verewigt war. Sowohl DENGLER als auch Kurt
BLECHA, der maßgeblich an der »LüBKE-Kampagne* beteiligte Chef des
DDR-Presseamtes, waren zuvor Mitglieder der NSDAP und Wehrmacht-
offiziere gewesen, die erst in sowjetischer Gefangenschaft ihre Liebe zum
Sozialismus bekunden durften. 2

1 Siehe Rudolf MORSEY, Heinrich Lübke. Eine politische Biographie, Schöningh, Pa-
derborn—München-Wien—Zürich, 1996, S. 505. Ausführlich und mit neuen Do-
kumenten auch bei Jochen STAADT, »Einverstanden Mielke«, in: Frankfurter Allge-
meine Zeitung, 9. 5. 2 0 0 7 , S. 9 f.
2 STAADT, ebenda, S. 9

767
Mit ihrer Hetz-
kampagne gegen
Bundespräsident
Heinrich L Ü B K E hatte
die DDR erstaunli-
chen Erfolg. Aus:
Peter Graf K I E L M A N S -
ECC, Das geteilte Land
Deutschland, Band 4
der Siedler Geschich-
te, München 2000.

Heinrich L Ü B K E war sowohl der DDR als auch den deutschen Linken
zunehmend ein Dorn im Auge, da er unentwegt, wenn auch etwas lin-
kisch, für alle Deutschen das Selbstbestimmungsrecht einforderte und
immer wieder auf die von ihm erstrebte Wiedervereinigung hinwies.
Zunehmend hielt er sich demonstrativ oft in Berlin auf und unterstrich
bei seinen zahlreichen Staatsbesuchen immer wieder den Alleinvertre-
tungsanspruch der Bundes republik. Allerdings hatten sich seit Beginn
seiner zweiten Amtszeit auch erhebliche Alterserscheinungen und rheto-
rische Fehlleistungen bemerkbar gemacht, die das Staatsoberhaupt im-
mer stärker ins Visier des linken Kabaretts geraten ließen, 1962 hatte das
sadrische Blatt Simplizissimus bereits scharf gegen ihn geschossen, und
im Mai 1966 machte das Düsseldorfer >Kommödchen< den Bundespräsi-
denten in einer Fernsehsendung im ZDF zur Zielscheibe der üblichen
Kabarett-Witze. Wenige Wochen später attackierte die Münchner >Lach-
und Schießgesellschaft< zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres L Ü B K E in
einer Sendung der ARD.3 Auch eine von der Redaktion der satirischen
Zeitschrift Pardon herausgegebene Schallplatte mit den lustigsten rhetori-
schen Aussetzern des >Sauerländers< konnte nicht wirkungsvoll juristisch
pariert werden, da man solchen, unter dem Deckmantel künstlerischer
oder kabarettistischer Tarnung geführten Attacken in der BRD damals
wie heute wehrlos ausgesetzt war.

3 MORSEY, a a O . ( A n m , 1), S. 5 0 8 f. u. 5 1 8 f.

768
linde Januar 1968 erzielte die langfristig angelegte Propagandaoffensive M O R S E Y , ebenda.
4

der Kommunisten endlich den lange ersehnten Durchbruch. Erfüllungs- Nationalrat der
gehilfe waren dabei wie so oft die Magazine konkret von Klaus Rainer Nationalen Front
R Ö H L und Ulrike M E I N H O F , Rudolf A U G S T E I N S Der Spiegel sowie Henry des demokratischen
N A N N E N S Stern. Der Stern veröffentlichte in seiner letzten Januar-Ausga- Deutschland (Hg.),
be Dokumente, die Heinrich L Ü B K E als Planer und Leiter des Baus von A uf stieg und Fall des
Konzentrationslagern ausweisen sollten. Am 22. Januar 1968 publizierte Heinrich Lübke. Die
Henri N A N N E N , vor 1945 ein glühender Propagandist H I T L E R S und Mit- Geschichte einer
wirkender an der Olympiade 1936 sowie Darstellerin Leni R I E F E N S T A H L S Karriere, Berlin (Ost)
1969.
Olympia-Film, Dokumente, die von einem amerikanischen Schriftsach-
verständigen als echt bestätigt worden waren und L Ü B K E als Urheber ei- Während des Krieges
nes KZ-Bauplans auswiesen. Damit war der Stern-Herausgeber wieder war Heinrich L Ü B K E
einmal auf Dokumente hereingefallen, denen zuvor der Cheflektor des Hauptmann der Re-
Rowohlt-Verlages, Fritz J. R A D D A T Z , nicht aufgesessen war. serve (hier nach einer
Wehrübung 1938)
Die DDR hatte in den vorausgegangenen Jahren Dutzende von Do- und Mitglied der Bau-
kumenten, darunter auch Baupläne für Baracken, mit großer Sorgfalt ge- gruppe S C H L E M P P auf
fälscht und deren Deckblätter derartig geschickt bearbeitet, »daß sogar dem Rakete nver-
Kriminalisten der Humboldt-Universität nicht dahinterka-
men«.4 Erst 1992 sollten zwei frühere Mitarbeiter des M L E L -
KE-Ministeriums für Staatssicherheit durch ihre Aussagen
dieses Rätsel lösen helfen.
Diese Dokumente waren im Zusammenhang der Kam-
pagne um so wichtiger, als daß in beiden Teilen Deutsch-
lands aufgefundene Zeugen der damaligen Tätigkeit LCH-
KES im Baubereich, von ehemaligen Fahrern bis hin zu
Bauleiterkollegen, nicht willens waren, gegen ihren damali-
gen Mitarbeiter oder Chef Heinnch L Ü B K E auszusagen. Die
von den DDR-Kollegen Konrad K U J A U S überaus geschickt
gefälschten Dokumente machten aus dem Bau von Wohn-
baracken für Fremdarbeiter Pläne für Konzentrationslager.
Der bereits kranke und altersmüde Bundespräsident konn-
te diese Attacken - nicht zuletzt auch durch mangelhafte
oder falsche Ratschläge seiner politischen Berater — nicht
in geeigneter Weise parieren. Ende April 1968 wurde be-
reits über ein vorzeitiges Ende seiner zweiten Amtszeit spe-
kuliert, und am 14. Oktober desselben Jahres verkündete
L Ü B K E schließlich sein Rücktrittsdatum.

Siegestrunken veröffentlichte 1969 der Nationalrat der


Nationalen Front des demokratischen Deutschland das
Buch Aufstieg und Fall des Heinrich Lübke. Die Geschichte einer Karriere, in der suchsgelände Peene-
auf 230 Seiten zahlreiche der gefälschten Dokumente nebst Gutachten münde.
abgedruckt wurden,5

769
Der Fall LüBKE war immerhin so wichtig, daß die DDR in Westdeutsch-
land zu juristischen Mitteln griff, als 1985,13 Jahre nach dem Tode
Heinrich L O B K E S , auf einer
Pressekonferenz der Staats-
sekretär im Bundesinnen-
ministerium Karl-Dietrich
S P R A N G E R unerwartet den
Stern wegen der Veröffendi-
chung dubioser Dokumente
aus DDR-Beständen angriff.
Das ZDF Magazin und
S P R I N G E R S Die Weit machten
daraus im Anschluß eine
Ami-Stern-Kampagne, wor-
aufhin der Stern noch einmal
mit weiteren Desinformatio-
nen aus Ost-Berlin aufmuni-
tioniert wurde. Man gewann
den Rechtsstreit, und das
Hamburger Landgericht un-
tersagte dem ZDF und dem
Springer-Verlag »zu verbrei-
Heinrich LOBKE am ten/oder verbreiten zu lassen, die Kampagne gegen den damaligen Bun-
30. Juni 1969, dem despräsidenten L Ü B K E vor nunmehr fast 20 Jahren sei ein Beispiel be-
letzten Tag setner wußter Desinformation der Leser durch Henry N A N N E N und den Stern
zweiten Amtsperiode
als Bundespräsident;
gewesen«. 6
rechts sein Nachfol- Heinrich LüBKE starb wenige Jahre nach seinem Rücktritt verbittert
ger Gustav H E I N E - über die Infamie der Kampagne gegen ihn; sein Parteifreund Franz Josef
MANN. A u s : MORSEY,
S T R A U S S verglich die Kampagne gegen LüBKE sogar mit dem D R E Y F U S -
aaO. (Anm. 1)
Skandal. Karl C A R S T E N S , der fünfte Bundespräsident, betonte 1 9 8 6 in
einem Brief an den LÜBKE-Biographen Professor M O R S E Y , daß kein Bun-
despräsident so unfair behandelt worden sei wie LÜBKE. 1 Gestern wie
heute ist allerdings eines unverändert: Sobald eine solche >antifaschisti-
sche< Entlarvung eines Konservativen oder deutschen Patrioten ein ge-
wisses Maß erreicht hat, werden die Opfer von ihren chris tdemokrati-
schen Parteifreunden in raschen Absetzungsbewegungen im Stich
gelassen: J E N N I N G E R , H E I T M A N N , H O H M A N N USW. können von der Ein-
schätzung eines deutschen Generals ein Lied singen: »Die Konservati-
ven sind zum Kämpfen zu feige und zum Weglaufen zu fett.«
Olaf Rose
6 STAADT, a a O . ( A n m . 1), S. 1 0 .
7 MORSEY, a a O . ( A n m . 1 ) , S . 5 6 2 .

770
Abendroth verschwieg Verbindung zu Ulbricht

hnlich wie viele Deutsche nach 1945 ihre frühere NS- oder SS-
A Zugehörigkeit verschwiegen und sich als ehemalige »Widerständler«
ausgaben - beispielsweise Theodor E S C H E N B U R G , Hans F I F I L B I N G E R , Gün-
ter G R A S S oder Walter J E N S - , verschwiegen zahlreiche Opportunisten
ihre frühere oder andauernde Verstrickung in den Bolschewismus und
Kommunismus. Manchmal kam erst Jahrzehnte später nach Öffnung von
bisher verschlossen gehaltenen Archiven die ganze Wirklichkeit heraus.
Ein solches Beispiel bietet der in linken Kreisen immer noch angese-
hene frühere Ordinarius der Universität Marburg Wolfgang A B E N D R O T H . '
Der am 2. Mai 1906 in Elberfeld Geborene trat früh in die KPD ein, die
ihn 1928 ausschloß. Er studierte Jura in Frankfurt, Tübingen und Mün-
ster, promovierte in Bern 1935 und kehrte dann in das Reich zurück, wo
er wegen Hochverrats 1937 vier Jahre Zuchthaus erhielt und dann zum
Strafbataillon 999 kam, aus dem er desertierte. 1946 ging er nach briti-
scher Kriegsgefangenschaft freiwillig in die Ostzone, wo er nach Ämtern
in der Verwaltung 1948 schnell Professor für öffentliches Recht und Po-
litik in Leipzig und dann in Jena wurde. Ende 1948 wechselte er in den
Westen über, erhielt schon 1949 von einem CDU-Kultusminister eine Wolfgang A B E N D R O T H .
In den siebziger und
Stelle an der Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven-
achtziger Jahren
Rüstersiel. Während 1945 entlassene berühmte Wissenschaftler wie Ar- machte er die Mar-
nold G E H L E N oder Carl S C H M I T T nicht an eine Universität berufen wur- burger Universität
den, bekam A B E N D R O T H schon 1950 den Ruf an die Universität Marburg, zu einer linken
deren Stellung als kommunistische Hochburg in den sechziger Jahren er Hochburg - zur so-
wesentlich mit begründete. 1961 wurde er aus der SPD ausgeschlossen. genannten >Abend-
roth-Brücke<.
Er war eine der Leitfiguren der 68er, Bei der APO-Gegenfeier zum 150.
Geburtstag von Karl M A R X hielt A B E N D R O T H , den sein Schüler Jürgen
H A B E R M A S den »Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer« nannte, die
Festansprache in Trier. Er verstarb am 15. September 1985 in Frankfurt/
Main.
Schon 1998 war belegt worden, daß A B E N D R O T H auch während seiner
Marburger Zeit noch enge Verbindung zum SED-Regime hatte,2 was je-
doch von seinen Jüngern heftig abgestritten wurde.1 Dennoch traf es zu.

1 Anne Christine N A G E L , »Ehrt eure größten Männer«, in: Frankfurter Allgemeine


Zeitung 25. 5. 2007.
2 Wolfgang KRAUSHAAR, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7,4.1998; Jochen STAADT,

in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 20. 5. 1998.


3 Georg F Ü L B E R T H , » Z U Wolfgangs Abendroths angeblichen DDR-Kon takten«,

in: Sozial-Geschicbte, 1kl. 21, Nr. 3, 2006.

771
Denn es wurde ein aussagekräftiges Dokument im Bundesarchiv in
Berlin gefunden: 1 eine Karte von der Hand Wolfgang ABENDROTHS an
das Zentralkomitee der SED zum Tode des langjährigen DDR-Staats-
ratsvorsitzenden Walter ULBRICHT, der am 1. August 1973 verstorben war.
Die an den Chef der Westabteilung im Zentralkomitee der SED, »den
lieben Genossen« Albert NORDEN, gerichtete Karte vom 2. August 1973
drückte diesem und der übrigen SED-Führung gegenüber das tiefe Mit-
gefühl der Marburger Ordinarius zum Tode von Moskaus Statthalter in
Mitteldeutschland aus.
Wolfgang ABENDROTH schrieb in dieser Karte: »Einer der Größten aus
der Tradition der Arbeiterbewegung ist von uns gegangen, und gleichzei-
tig einer der Größten der Geschichte des deutschen Volkes. Mochte ich
oft Probleme anders gewertet haben, als er es tat (und in vielen entschei-
denden Fragen hat sich gezeigt, daß er im Recht war, wenn auch, wie mir
immer noch scheint, in manchen nicht), so ändert das nichts an seiner
ungeheuren historischen Leistung, der die DDR so viel verdankt, aber
auf lange Sicht auch die westdeutsche Arbeiterbewegung und der inter-
nationale Sozialismus. Vor allem kann es nichts daran ändern, daß er uns
— der Generation nach ihm, die nach dem Ersten Weltkrieg in die Bewe-
gung eintrat, aber auch und erst recht den Jungen - stets ein Vorbild an
Treue zu Humanität und Sozialismus und an wissenschaftlicher Konse-
quenz in der Anwendung des Marxismus gewesen ist und bleiben wird.«
Anschließend betonte er seine Hoffnung, daß das Erbe dieses »großen«
Deutschen noch lange in der DDR, aber auch für die »junge Intelligenz«
in Westdeutschland wie in der ganzen sozialistischen Welt nachwirken
möge.
Die Karte wurde jahrzehntelang von ihm geheimgehalten. Zu Recht
stellt Frau NAGEL fest, daß damit von »kritischer Distanz« ABENDROTHS
zum Kommunismus bolschewistischer Prägung kaum mehr gesprochen
werden kann. Der für die Nachkriegszeit maßgeblich wirksame Marbur-
ger Politologe habe offenbar bewußt und aus innerem Antrieb die Ver-
bindungen zur DDR gepflegt, sie aber aus opportunistischen Gründen
verschwiegen. Daß er ULBRICHT als den für den Mauerbau und die Baut-
zener Grausamkeiten Verantwortlichen als Vorbild für Humanität lobt,
sagt alles über seine politische Haltung.
Mit seinem Vorbild hat er leider viele Angehörige der westdeutschen
Intelligenz verführt, sie für den Kommunismus oder die Spielart des »real
existierenden Sozialismus« Pankower Prägung gewonnen und sich damit
als »Verderber der Jugend« wie als »Zerstörer des Volkes« schuldig ge-
macht. Dennoch wird sein Andenken in linken Kreisen weiterhin hoch-
gehalten. Rolf Kosiek

772
Eschenburgs Deutschlandplan

ür die Zeit nach der Niederlage des Reiches 1945 gab es eine Reihe
F alliierter Plane zur Behandlung Deutschlands, die mehr oder weniger
die anschließende Besatzungspolitik bestimmten und auch in der Öf-
fentlichkeit weitgehend bekannt wurden. Verwiesen sei auf die entspre-
chenden amerikanischen Pläne von KAUFMAN, NIZER, HOOTON oder M O R -
GENTHAU.1
Wenig bekannt und weithin vergessen ist, daß auch einflußreiche Deut-
sche sich Teilungspläne ausdachten. So hat Theodor ESCHENBURG ( 1 9 0 4 -
1 9 9 9 ) , 1 9 3 3 bis 1 9 4 5 als wichtiger NS-Wirtschaftsführer nach eigenem
Bekunden in »innerer Emigration«, aber nach 1933 zeitweise als Ange-
höriger von HIMMLERS Schwarzer SS, nach 1 9 4 5 als »Grandseigneur poli-
tischen Denkens«2 gefeiert und als Tübinger Politologe geehrt (u. a. mit
dem Pour le mérite für Wissenschaften und Künste 1 9 6 8 ) , schon mit
Datum vom 24. Oktober 1945 »Überlegungen zur künftigen Verfassung
und Verwaltung in Deutschland« ausgearbeitet, die ein wichtiges Zeitdo-
kument darstellen.1 Damit bewies er seine schnelle Anpassungsfähigkeit
und bot sich der US-Besatzungsmacht an. Er konnte bei der Schrift auf
eigene Erfahrung bei seiner Mithilfe zur Gleichschaltung deutscher Ein- Theodor E S C H E N B U R G
richtungen in den dreißiger Jahren zurückgreifen. 1968 bei der Verlei-
Einleitend stellt ESCHENBURG über die besonderen deutschen Verhält- hung des Ordens
nisse fest: »Die gesamte deutsche Staatsmacht ist durch die bedingungs- pour le Mérite für
Wissenschaften und
lose Kapitulation auf die Besatzungsmächte übergegangen. Das deut-
Künste. Alle Abbil-
sche Reich, seine Untergliederungen und der einzelne Deutsche haben dungen dieses Bei-
keinerlei Rechtsansprüche an ihre neuen Regenten; wo sie durch Gesetz trags aus: Theodor
gewährt werden, können sie jederzeit wieder aufgehoben oder brauchen Eschenburg (1904-
nicht beachtet zu werden.«4 Das ist nicht richtig, da nur die Deutsche 1999). Tübinger Per-
Wehrmacht am 8,/9. Mai 1945 kapituliert hatte, die Reichsregierung un- spektiven, Tübingen
2004.
ter Großadmiral Karl DÖNITZ bis zu ihrer schändlichen Verhaftung am
23. Mai 1945 weiter im Amt war und die Haager Konvention für besetzte
Staaten galt.
Zutreffend fährt er dann fort zur Beurteilung der damaligen Verhält-
nisse: »Die Koalitionsdiktatur der Besatzungsmächte ist rechtlich noch

1 Siehe Beiträge Nr. 343, 344 u. 345.


2 Wolfgang BENZ, »Theodor Eschenburgs >Überlegungen zur künftigen Verfas-
sung und Verwaltung in Deutschland« vom Herbst 1945«, in: Vierteljahrshefte für
Zeitgeschichte, Nr. 1,1985, S. 166-213.
1 Ebenda im Vorort von Woifgang BENZ, S. 166.
4 Ebenda, S. 171 f.

773
5 BENZ, ebenda, uneingeschränkter als die persönliche Diktatur HITLERS.« 5 Enschuldigend
S, 172. führt er an; »Wenn die alliierten Besatzungsmächte sich heute in einigen
6 Ebenda, S. 183.
Fällen, so auch in dieser Frage nationalsozialistischer Methoden bedie-
7 Ebenda.
nen, so lediglich zur Liquidierung der HitlERschen Diktatur. Diese kann
8 Ebenda, S. 173 ff.
vielleicht nach Auffassung der Besatzungsmächte auch auf die Gefahr
* Ebenda, S. 177. hin eines höchst unerwünschten pädagogischen Effektes nur mit denje-
10 Ebenda, S. 178.
nigen Mitteln zerstört werden, die sie selbst angewandt hat.«6 Die Diskri-
11 Ebenda, S. 182 ff.
minierung bestimmter Bevölkerungsteile sei nicht zu vermeiden: »Wenn
eine Diskriminierung noch notwendig ist, dann muß sie gesetzüch klar
umschrieben, in ihrer Einleitung und Durchführung befristet, und es muß
das Verfahren besonders eingesetzten Stellen vorbehalten sein.«7
Er stellt mehrere Modelle für Deutschland vor." 1 einmal könne Deutsch-
land »auf die angrenzenden Länder aufgeteilt werden, so daß ein oder
zwei Gebiete mit ca. 10 bis 12 Millionen übrig bleiben, aus denen ein
oder zwei selbständige Staaten entstehen«. Dafür sei jedoch der »Zeit-
punkt im Augenblick noch nicht reif«, das müsse mit einer europäischen
Föderation verbunden werden.
Zum anderen könne das deutsche Gebiet zu einem Mandatsland der
Vereinten Nationen mit einem »Hohen Kommissar« erklärt werden, der
Am 14. Januar 1947 nötigenfalls »bewaffnete Hilfe« von diesen anfordern könne.
w a r ESCHENBURC z u m Zum dritten könnten von der UNO Mandatare bestellt werden, durch
Ministerialrat ernannt die das Gebiet treuhänderisch verwaltet werde wie etwa die britischen
worden und war als
solcher Stellvertreter
Dominions. »Das hieße die Aufteilung Deutschlands auf die drei euro-
des Innenministers päischen Großmächte, England, Frankreich und Rußland.«
von Württemberg- Schließlich wird ein Vorschlag des amerikanischen Journalisten Walter
Hohenzollern. L I P P M A N N angegeben, aus dem deutschen Staatsgebiet »drei oder vier selb-
In dieser Zeit entstand ständige Staaten zu schaffen«.
die Schrift Das Pro-
blem der Neugliede-
Auf jeden Fall sei zu beachten: »Die Erziehung zur sinngemäßen sau-
rung der Bundes- beren Erfüllung der übernommenen oder auferlegten Bindung schlecht-
republik (1950), hin ist daher eine staatspolitische pädagogische Aufgabe.« Denn Loyali-
welche auf einen Vor- tät sei die einzige und letzte Waffe des Unterworfenen. »Auf lange Sicht
trag aus dem Jahre werden die Westmächte diese Haltung anerkennen und würdigen.« 9
1949 zurückging.
Insbesondere sei auch die »politische Pädagogik der Massen«, also die
Umerziehung, wichtig. Denn es gelte: »Noch sind die Lehren des mephi-
stophelischen Volksverführcrs den Deutschen nicht aus den Herzen ge-
rissen.« 10
Dazu müsse die »Denazifizierung« 11 durchgeführt werden, die zum
Ziel haben solle:
• den Ausschluß aller NSDAP-Mitglieder vom passiven Wahlrecht,
• den Ausschluß aller vor Mai 1937 einer NS-Organisation Angehöri-
gen von öffentlichen Ämtern und Stellungen, (w'orunter er selbst fiel, R.
K.)

774
• den Ausschluß aller nach Mai 1937 mehreren NS-Organisationen
Angehörigen von öffendichen Ämtern und Stellungen,
• den Ausschluß dieser Personengruppe von Presse, Unterricht und
Kirchenämtern,
• den Ausschluß aller vor dem 1. März 1933 NSDAP-Mitglied Ge-
wordenen von leitenden Stellungen in Wirtschaft und Verwaltung,
• den Ausschluß von HJ- und BDM-Mitgliedern für einige Jahre von
Beamtenstellungen.
Dazu solle neben anderen Maßnahmen eine »NS-Karte« mit den Bela-
stungen aus dem Dritten Reich für jeden Deutschen eingeführt und bei
Ämtern oder Gericht vorgezeigt werden, so daß Belastete gegenüber
anderen diskriminiert werden könnten. Umgekehrt müßten alle von der
NSDAP Geschädigten, vor allem die KZ-Insassen, Privilegien erhalten.
Aus dem Verfassungsvorschlag E S C H E N B U R G S ist ferner erwähnenswert,
daß die Bezeichnung »Deutsches Reich« vermieden werden und der künf-
tige Bundespräsident für Deutschland von den Besatzungsmächten er-
nannt werden solle. »Er braucht nicht ein Deutscher zu sein. Nahe liegt
die Ernennung des Angehörigen eines neutralen Landes, z. B. der Schweiz
oder Schwedens.«12 12 BENZ, ebenda, S.
206.
Aus demselben Geist schrieb E S C H E N B U R G , seit 1 9 4 7 Angehöriger der
Tübinger Universität, schon 1960 und veröffentlichte es 1964: »Die Er- 13 Theodor E S C H E N -
kenntnis von der unbestrittenen und alleinigen Schuld H I T L E R S ist viel- BURG, Zur politischen
mehr eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik«, und er fügte hin- Praxis in der Bundes-
republik, Piper,
zu, es sei in Zukunft »alles zu unterlassen, was die Glaubwürdigkeit der München 1964, S.
deutschen Auffassung über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs in Prä- 164 f. Darauf
ge stellt«.13 verwies er noch
In ähnlicher Weise hatte sich E S C H E N B U R G 1960 auch in einem anderen einmal in einem
Fall als einseitiger Vergangenheitsbewältiger offenbart. Die Stuttgarter Brief vom 18. 1.
Nachrichten schrieben darüber:14 1983 hin (Faksimile
»»Geschichtsverfälschung« und »historisch-politische Unbelehrbarkeit« in: Deutscher Anzeiger
10. 5. 1985, S . 5)
wirft der Tübinger Ordinarius für Wissenschaftliche Politik, Professor
14 Zitiert in: Stuttgar-
E S C H E N B U R G , Bundesverkehrsminister S E E B O H M vor. E S C H E N B U R G greift
in einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit S E E B O H M wegen einer ter Nachrichten, 18. 3.
Äußerung in einer Feierstunde der Landesgruppe Hamburg der Sude- 1960; ausführlich
kommenden von W.
tendeutschen Landsmannschaft am 4. März an. S E E B O H M hatte geäußert, F R I E D R I C H , »Profes-
die Erschießung von 54 Sudetendeutschen durch tschechisches Militär soren und deutsche
am 4. März 1919 sei »der Beginn einer Kette von Ereignissen gewesen, Geschichte«, in: Der
die zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges geführt haben«. Nach E S C H E N - Quell, Nr. 19,1960,
B U R G S Ansicht setzte sich der Minister mit dieser Äußerung in Wider- S. 881 f.
spruch zu der erklärten Auffassung der Bundesregierung, der zweite
Weltkrieg sei ohne jede Notwendigkeit von H I T L E R provoziert worden.
»So kommt zum Fall O B E R L Ä N D E R der Fall S E E B O H M . « O B E R I A N D E R S Mi-

775
15Siehe Beitrag Nr. 65, »Das Massaker an Sudeten- nistereignung sei wegen seines lange Jahre
deutschen am 4. März 1919«. zurückliegenden Verhaltens in Frage ge-
M Siehe Beitrag Nr. 434, »Der >Fall Ober landen«.
stellt. S Ë E B O H M indes ziehe heute seine Eig-
nung für das Ministeramt durch seine hi-
storisch-poli tische Unbelehrbarkeit selbst in
Zweifel, schreibt ESCHENBURG.«
SEEBOHMS Äußerung, die inhaltlich nicht
zu widerlegen ist, wird also nicht durch Ge-
genargumente entkräftet, sondern einfach
unberechtigt als »Geschichtsfälschung« hin-
gestellt, was selbst eine Fälschung der Ge-
schichte ist,'5 und diffamierend als Ausdruck
einer »Unbelehrbarkeit« bezeichnet — wahr-
lich eines Politologen unwürdig, der sich
auch durch seinen Hinweis auf den >Fall
OBERLÄNDER*16 als unwissend offenbarte.
Als 1981 offenbar wurde, daß ESCHELN-
BURG schon bald nach 1933 Mitglied im
Schwarzen Korps der SS geworden war, reg-
ten sich die Medien, die sonst jeden - wie
die früheren Bundespräsidenten LÜBKE und
CARSTENS - deswegen angriffen, nicht auf.
Seine Entschuldigung, »er sei von der SA
verfolgt worden und habe sich dieser Ver-
folgung durch den Eintritt in die SS entzie-
hen wollen«, wurde anstandslos angenom-
men. Er hatte sich voll angepaßt und wirkte
als Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeit-
geschichte des Münchner Instituts für Zeit-
geschichte im Sinne der Umerziehung. Der
Historiker Armin MÖHLER schrieb dazu:
»Der Fall ESCHENBURG (verheimlichte SS-
Zugehörigkeit, R. K.) lastet nicht nur des-
halb schwerer, weil er kaum mehr als Ju-
gendsünde >abgehakt< werden kann —
schwerer wiegt, daß ESCHENBURG in jedem
Regime sich zur Führungsspitze gedrängt
Zu allen Zeiten pflegte Theodor E S C H E N B U R G den Um- hat: in der Weimarer Republik in die Nähe
gang mit einflußreichen Persönlichkeiten aus Politik ihres bedeutendsten Staatsmannes (STRESE-
und Kultur. Oben: E S C H E N B U R C 1929 mit Reichsaußen-
MANN, R. K.), im Dritten Reich in dessen
minister Gustav S T R E S E M A N N , der die Einleitung zu des-
sen Dissertation verfaßte; unten: E S C H E N B U R G mit Tho-
Prätorianergarde, in der Bundesrepublik in
mas M A N N am 8. Mai 1955 in Stuttgart. die Spitzengruppe der zehn wichtigsten

776
Meinungsmacher, In der Universität und in
den Medien gleich erfolgreich, war er in der
Umerziehung seiner deutschen Landsleute
nach 1945 zweifellos der Oberste Macher
- über seinen Bekanntenkreis unter Siegern
und Besiegten, über seine Schlüsselstellung
in den Medien, über die an seinem Tübin-
ger Lehrstuhl gezüchteten Politologen. Der
Kern der von ihm gelehrten Staatsbürger-
kunde für Deutsche war die angelsächsisch
inspirierte Lehre, die Deutschen hätten kein
Recht mehr auf eine Existenz als normale
Nation, weil sie einmal Hitler und der SS
nachgelaufen seien.«1 Es gelte wohl, »die
Hauptantriebskraft der VB (Vergangen-
heitsbewältigung, R, K.) auf deutscher Sei-
te seien Männer, die bis zum 30. Januar 1933
lOOprozentige Demokraten waren, bis 1945
200prozentige Nazis, dann von der Nieder-
lage ab wieder Demokraten, doch diesmal
300prozentige«.18
Überschwengliche Würdigungen Theo-
dor EscHF.NHURgs ohne Nennung dieser Tat-
sachen erschienen zu seinem 80. Geburts-
tag am 24, Oktober 1984, an dem er fast
königlich gefeiert wurde.11 An seinem 90.
Geburtstag wurde er als »Praezeptor Ger-
maniae« groß herausgestellt. Er verstarb am
10. Juli 1999 in Tübingen. Rolf Kosiek

Von oben: Ludwig E R H A R D und Theodor E S C H E N -


kannten sich bereits aus den Kriegsjahren;
BURG

Gustav H E I N E M A N N und Theodor E S C H E N B U R C ; Wür-


digung von Theo S O M M E R in der Zeit vom 1 5 . 7 .
1999 nach dem Tod E S C H E N B U R G S ,

17 Armin MÖHLER, DerNasenring, Die Vergangen-


heitsbewältigung vor und nach dem Fall der Mauer,
Herbig, München 1996, S 253 f.
18 Ebenda, S. 254.
19 Ulrich WLLDERMUTH, »Lange Gespräche mit
Stresemann«, in: Schwäbisches Tagblatt, 24. 10,
1984.

777
Linke als >Brandstifter<

echts eingestellte Menschen, die sich als Revisionisten kritisch zur


R herrschenden Meinung in bestimmten zeitgeschichtlichen Fragen äu-
ßern, werden oft als »Brandstifter* diffamiert. Als solcher wurde ausdrück-
lich auch Ernst Z Ü N D E L in der Urteilsbegründung des Mannheimer I Land-
gerichts am 15. Februar 2007 bezeichnet. Verschwiegen wird jedoch, daß
hoch angesehene Linke mehrfach zu offener Gewalt aufriefen und sich
zur Gewaltanwendung bekannten.
Zu denen, die sich öffentlich zur Gewalt im politischen Kampf be-
kannten, gehört der französische Philosoph Jean-Paul SARTRE. In einer
Besprechung der deutschen Ausgabe seiner politischen Schriften1 heißt
es verharmlosend, er habe sich nur »ein einziges Mal. . . zur Gewaltan-
wendung nicht nur historisch und theoretisch« bekannt, nämlich in La
cause du peuple.
Doch das ist falsch, worauf in einem Leserbrief verwiesen wurde.2
Darin heißt es: »Nachdem im März 1970 ein Kommando der Maoisten-
gruppe »Nouvelle Resistance Populaire* einen Bombenanschlag auf die
Direktion einer Grubenunternehmung verübt hatte und fünf ihrer An-
hänger vor den Staatsgerichtshof gestellt wurden, organisierte die >Rote
Jean-Paul SARTRE, Hilfe* einen sogenannten »Gegenprozeß* mit einem »demokratischen Volks-
tribunal*, in dem SARTRE als Richter saß. Auf die Frage des Pariser Journa-
listen Claude K I E J M A N , ob er wirklich an positives Handeln durch Ge-
walt* denke, antwortet er, der Kapitalismus lasse sich nicht »auf
freundlichem Wege* umkrempeln, und fährt fort: »Was ist die einzige
Antwort darauf? Gewalt. Anders ausgedrückt: Wir werden die kapitali-
stische Gesellschaft nie dazu bringen, daß sie einer sozialistischen Ge-
sellschaft freundlich den Platz räumt. Sobald sich das Problem stellt, eine
revolutionäre nichtkapitalistische Gesellschaft aufbauen zu müssen, heißt
das sofortige und totale Gewalt. . . Die Gewalt ist etwas absolut Not-
wendiges.* Auf Nachfrage führt er weiter aus: »Wir können uns also ein
Herauskommen aus dem jetzigen Zustand, in dem wir uns befinden,
nicht vorstellen ohne.. . eine Gewalt, die nicht nur eingesetzt und eta-
bliert werden, sondern ständig wachsen muß.*«
Mit Recht meint Hans-Ulrich K O P P dazu: »»Hier scheint die Bezeich-
nung »Brandstifter*, die sonst meist diffamierend auf Konservative ange-
wandt wird, durchaus berechtigt.« Rolf Kosiek

1 Jürg ALTWEGG, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2 5 . 1. 1 9 9 6 .


1 Hans-Ulrich KOPP, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3 . 2 . 1 9 9 6 .

778
Die Ermordung von Siegfried Buback

A m 7. April 1 9 7 7 wurde der Generalbundesanwalt Siegfried BU-


BACK von linksradikalen Mördern auf offener Straße in Karlsruhe
erschossen 1 . Mit ihm starb auch sein Fahrer Wolfgang GÖBEL. Der Fahr-
dienstleiter Georg WURSTER erlag im Krankenhaus seinen schweren Ver-
letzungen. Sechs Tage nach dem Mord meldete sich ein »Kommando
Ulrike Meinhofft und schrieb, daß es BUBACK »hingerichtet« habe 2 .
Wer nun annahm, daß eine allgemeine Ablehnung dieses feigen Mor-
des in der Bundesrepublik erfolgen werde, irrte sich. G r o ß e Teile der
Linken, darunter viele angesehene Intellektuelle, sympathisierten sogar

mit den Tätern und verharmlosten das Verbrechen. Diesem folgten dann Der Tatort des
im Herbst jenes Jahres, heute verharmlosend der »Deutsche Herbst< ge- Mordes an Siegfried
nannt, weitere Morde der Roten Armee Fraktion (RAF): Am 30. Juli BUBACK in Karlsruhe
am 7. April 1977.
1977 wurde Jürgen PONTO, der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank,
ermordet; am 5. September 1 9 7 7 wurde der Arbeitgeberpräsident Hanns
Martin SCHLEYER entführt, wobei sein Fahrer Heinz MARCISZ und die
Begleitbeamten Reinhold BRÄNDLE, H e l m u t ULMER und Roland PIELER
erschossen wurden, der gefangene SCHLEYER wurde am 18./19 Oktober
ermordet. Später kamen bei RAF-Attentaten folgende Menschen um:
eine Person bei einem Banküberfall der R A F in Zürich am 19. Novem-
ber 1979, Ernst ZIMMERMANN am 1. Februar 1985, der US-Soldat Edward
PiMENTAL am 8. August 1985. Der R A F werden auch die unaufgeklärten

1 Der Spiegel, Nr. 17,1977, S. 17-22.


2 Voller Text in: Stuttgarter Zeitung, 14. 4. 1977.

779
Ermordungen folgender Personen zugerechnet: des Atomphysikers Karl-
Heinz B E C K U R T S und seines Fahrers am 9 . Juli 1 9 8 6 , des Abteilungsleiters
im Auswärtigen Amt Gerold V O N B R A U N M Ü H L am 1 0 . Oktober 1 9 8 6 , des
Vorstandssprechers der Deutschen Bank Alfred H E R R H A U S E N am 3 0 . No-
vember 1989, des Vorstandsvorsitzenden der Treuhand Detlev Karsten
R O H W E D D E R am 1. April 1 9 9 1 . Dabei gab es ferner eine Reihe von Ver-
letzten
Im Anschluß an den mehr-
fachen Mord im Fall BUBACK
erhob sich in der Bundesrepu-
blik Deutschland eine Debat-
te um die damit verbundenen
Fragen, Bezeichnend für fast
alle Kommentare der >unab-
hängigen< Presse war der all-
gemeine Versuch, die Morde
zu verharmlosen und jede be-
rechtigte Reaktion darauf zu
unterbinden. Vor allem die
SPD tat sich dabei hervor und
warnte vor »überschießenden
Reaktionen«.
In einem Spiegel-Gespräch3
benutzte der damalige
>Rechtsexperte< der CDU,
Der Dienstwagen Walter WAIJAIANN, die Gelegenheit, über Antiterrorgesetze zu plaudern.
Siegfried B U B A C K S und Die Spiegel-Vertreter versuchten dabei jedoch, jede rechtliche Bekämp-
das Motorrad der At-
tentäter (Foto: Ull-
fung des linken Terrorismus zu zerreden.
stein), Die Sympathisanten der linksradikalen Täter waren anschließend nicht
untätig. In Berlin druckte die linke Zeitung INFO einige Aufrufe ab, die
mit der Formel endeten: »Schafft viele Bubacks!« An einer Hauswand in
Berlin, Ecke Charlottenburger Straße/Leibnizstraße, war zu lesen: »Macht
aus Buback Zwieback!« 4
In Güttingen erschien am 27. April 19775 in der Zeitung des Allgemei-
nen Studentenausschusses (ASTA) der Universität, die sich Göttinger Nacb-
richten nannte, ein »Rülpser« eines anonymen Autors zu diesem Mord
unter der Überschrift »Buback - ein Nachruf«/' Der Ardkel bewarf den

3 Der Spiegel, Nr. 17,1977, S. 24-28.


4 Stuttgarter Zeitung, 14. April 1977.
s jQuick,Nr. 21, 12. 5. 1977, S. 3; voller Text auch in: Der Spiegel, Nr. 22, 23. 5.
1977, S. 44.

780
Toten mit Schmutz: »Wer sich in den letzten Tagen nur einmal genau
sein Konterfei angesehen hat, der kann erkennen, welche Züge dieser
Rechtsstaat tragt, den er in so hervorragender Weise verkörperte. Ehrlich,
ich (der anonyme Autor, R. K.) bedaure es ein wenig, daß wir dieses Ge-
sicht nun nicht mehr in das rotschwarze Verbrecheralbum aufnehmen kön-
nen, das wir nach der Revolution herausgeben werden.« Außerdem war
von »klammheimlicher Freude« über den Abschuß dieses »Typs« die Rede.6 6Die Weit, 9. 7.1977.
Zu diesem Mord schwiegen die sonst so sehr gegen jede Gewalt pro- Das Pseudonym
testierenden tonangebenden linken Intellektuellen und die >Vordenker< hieß >Göttingcr
der Nation. Es gab auch keine Lichterketten oder andere Betroffenheits- Mescalerot, ein
rituale nach diesen Morden. gewisser Klaus
HÜLBROCK bekannte
Am schlimmsten beim Buback-Mord war das Verhalten - meist durch
sich als Verfasser.
Untätigkeit — der Bundesregierung in Bonn. Justizminister V O G I I (SPD)
Siehe Faksimile
stellte zwar Strafantrag. Ein Gericht entschied aber nur, der Göttinger eines Briefes, den er
ASTA müsse sich vom Text distanzieren. Welch lustiges Urteil! Als ob es an den Sohn des
im Strafgesetzbuch keine Paragraphen gäbe, die verlangen, daß eine sol- Opfers, Michael
che Darstellung wie der genannte Göttinger Text zu bestrafen ist. Wer BuBACK, im Jahre
Straftaten billigt oder gar belohnt, kann nach § 140 in Verbindung mit 2001 richtete (siehe
§138 des Strafgesetzbuches (StGB) mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren S. 783).
bestraft werden. Außerdem darf nach Paragraph 189 StGB das Anden- 7 Die Welt,

ken Verstorbener nicht verunglimpft werden, was aber meist nur für Nicht- 29. 9.1977.
8 »Buback->Nachruf<
deutsche angewendet wird. Die Tat selbst wurde nie aufgeklärt.
Obwohl sich der Göttinger ASTA nach langem Zögern von dem ge- wird in 10000
Exemplaren ver-
nannten Text distanzierte, »solidarisierten« sich dann andere Studenten-
teilt«, in: Schwäbisches
vertretungen (u. a. in Hannover, Braunschweig, Kassel, Bochum, Tübin- Tagblatt, 24. 9. 1977
gen)6 sowie der bayerische Landesverband der Jungdemokraten (Judos) 9 "Freispruch nach
mit dem Inhalt dieses Textes/ Die Berliner Judos stellten 10000 Exem-
Buback->Nachruf<«
plare eines Sonderdrucks des Göttinger Artikels her und verteilten ihn, s in: Schwäbisches
Vor Gerichten in Bonn und Düsseldorf wurden Verbreiter und Nach- Tagblatt, 23. 12.
drucker dieses Buback->Nachrufes< freigesprochen.'' 1977.
Einige Zeit später haben dann noch 48 Professoren und andere Hoch- 10 Hans-Peter
schullehrer von acht deutschen Universitäten ein besonders scheinheili- SATTLER, »Die
ges Dokument vorgelegt. Sie forderten eine öffentliche Diskussion des Gretchenfrage an
Buback-Nachrufes, den sie nachdruckten, um »dem politischen Äuße- dreizehn Professo-
rungsverbot entgegenzutreten, indem wir das Recht auf freie politische ren«, in: Stuttgarter
Meinungsäußerung praktisch wahrnehmen«. Die dreizehn niedersächsi- Zeitung, 14. 9. 1977.
11 "Die Auseinander-
schen akademischen Unterzeichner wurden vom zuständigen Wissen-
schaftsminister Eduard P E S T E L im September 1 9 7 7 zwar ultimativ aufge- setzung des Berliner
Wissenschaftssena-
fordert und mit Entlassung bedroht, wenn sie sich nicht davon
tors mit 12 Profes-
distanzierten.1" Doch es erfolgte nichts Wesentliches wie ebenso auf ei- soren«, in: Die Welt,
nen Aufruf des Berliner Wissenschaftssenators Peter G L O T Z an die be- 9. 7. 1977.
treffenden Berliner Professoren."

781
Trotz dieser Verhältnisse mit vielfachen linken Mordtaten und im Ge-
gensatz dazu fehlender rechter Gewalt wurde von Politikern und Medien
zum >Kampf gegen Rechts«, zum »Aufstand der Anständigen« gegen an-
gebliche rechte Gewalttaten, die sich dann als anders verursacht erwie-
sen, aufgerufen. Jede ernsthaft um die historische Wahrheit geführte
Debatte um umstrittene Vorgänge aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges
wurde und wird in der Bundesrepublik mit Gefängnis und allen mögli-
chen anderen Verfolgungen bestraft, ohne daß sich Professoren oder
andere Hochschullehrer für die hier wirklich bedrohte Freiheit der Wis-
senschaft und der Meinungsäußerung einsetzen. Auch werden Richter
wie der Mannheimer Richter ORLET im Fall Günter DECKERT vom Au-
gust 1994, die eine begründete rechte Meinungsäußerung gegen den
Zeitgeist nicht sofort hoch bestrafen wollen, öffentlich angegriffen und
Generalbundesanwalt ihres Amtes enthoben.
Siegfried B U B A C K . Zum 30. Jahrestag des BUBACK-Mordes im Frühjahr 2007 wurde viel
und mit großem Verständnis für die Täter über den BUBACK-Mord in den
Medien diskutiert. Verschiedentlich wurden »Dokumentationen« über die
einzelnen Täter im Fernsehen gebracht. Als die mehrfache brutale Mör-
derin und RAF-Chefin Brigitte MOHNHAUPT, die auch den Mord an BU-
BACK plante und leitete, nach 24j ähriger Haft am 26. März 2007 vorzeitig
endassen wurde, schlug ihr in den Medien, obwohl sie die Umstände
ihrer Verbrechen immer noch nicht mitgeteilt hatte, eine Welle des Wohl-
12 Arnold RIEGER, wollens entgegen.12 Bundespräsident Horst KÖHLER hielt es trotz vieler
»Mohnhaupt fängt Warnungen mit der Würde seines hohen Amtes vereinbar, sogar mit dem
im Land ihr neues Terroristen und überführten RAF-Mörder Christian KLAR, für den sich
lieben an«, in: viele öffentlich eingesetzt hatten, zur Meinungsbildung über eine etwaige
Stuttgarter Nachrich- Begnadigung persönlich zu sprechen, die dann doch verschoben wurde.
ten, 27. 3. 2007, Hingegen für den in Rom seit mehr als 13 Jahren inhaftierten 94jährigen
13 Thomas M I G G E ,
deutschen Soldaten Erich PRIEBKE, der in schwerer Zeit seine Pflicht tat,
»SS-Verbrecher hat er sich nicht verwandt.
Priebkc darf
arbeiten«, in: Bezeichnend war auch die Wortwahl der Medien in Artikeln über den
Stuttgarter Nachrich- BuBACK-Mord. Während sie vom »SS-Verbrecher PRIEBKE«13 schrieben
ten, 14. 6. 2007. und die Proteste vertraten, die sich gegen die Vergünstigung, daß er ar-
14 Carsten HOLM beiten dürfe, erhoben hatten, vermieden sie es peinlichst, die RAF-Täter
u.a., »Das Geheim- »Mörder« oder »Verbrecher« zu nennen. So kommen diese beiden zu-
nis des dritten treffenden Beurteilungen auf den zehn Seiten der Titelgeschichte über
Mannes«, in: Der den Mord an BUBACK im Spiegel* nicht ein einziges Mal vor. Die Täter
Spiegel, Nr. 17, 2007, werden dort »RAF-Angehörige, -Mitglieder, -Kämpfer, -Veteranen, -Häft-
S. 24—34. linge, -Terroristen« genannt.
Sogar die früheren Ermüdungen gegen die BUBACK-Mörder scheinen
nicht mit der gebührenden Sorgfalt durchgeführt worden zu sein, Bu-
BACKS Sohn Michael kritisierte im Jahre 2007 bei der erneuten Diskus-

782
sion über die Ermordung seines Vaters folgendes: 1977 seien zwei Haa-
re, die sich in der Tasche, in der die Mordwaffe transportiert wurde, und Michael BUBACK.,
15

in dem bei der Tat benutzten Motorradhelm befanden, sowie mit diesen »Die Haare der
Täter«, Leserbrief
übereinstimmende Haare an Kleidungsstücken, die damals von Terrori- in: Frankfurter
sten in einem Koffer versandt wurden, nicht auf ihre Herkunft bei ei- Allgemeine Zeitung,
nem der später verhafteten Terroristen untersucht worden,15 14.' 9 . 2 0 0 7 , S . U .
Linke Mörder und linksextreme Gewalttäter stoßen in der heutigen
Bundesrepublik eben auf größeres Verständnis als gewaltfreie Nationa-
le, die sich für die geschichtliche Wahrheit einsetzen. Rolf Kosiek

Faksimile eines Brie-


fes, den Klaus HÜL-
BROCK (>Cöttinger

MescaleroO an den
Sohn des Opfers,
Michael B U B A C K , im
Jahre 2001 richtete.

783
Die Zerstörung der Kunst durch die 68er

ie maßgeblich durch die f r a n k f u r t e r Schule 1 beeinflußten 68er


D bewirkten durch ihre revolutionären Ideen und die Zersetzung tra-
ditioneller Werte nicht nur eine folgenschwere Veränderung der deut-
schen Gesellschaft, sondern auch eine tiefgehende Zerstörung des deut-
schen Geisteslebens. Das wirkte sich insbesondere auf dem Bereich der
Kunst aus, deren zeitlose Normen zugunsten oberflächlicher und oft
genug widerlicher oder abstoßender »Aktionen« zerstört wurden. >Hap-
penings<- oder >Ereignis(Events)-Künstler< wurden von den Massenme-
dien vorgestellt wie gefeiert und gewannen sogar Kunsthochschulen für
ihre als >Kunst< anerkannten Darbietungen,
Bezeichnende Beispiele für diese pervertierte Art >moderner Kunst<
bildeten die Auftritte des >Aktions-Künstlers< Otto M U L H L . S O veranstal-
tete er am Dienstag, dem 17. Dezember 1969, in der Staatlichen I loch-
schule für Bildende Künste in Braunschweig unter Billigung der Profes-
soren solch ein >Happeninge Die Lokalzeitung berichtete darüber: 1

Oben: Richard W.
EICHLEKSverdienstvol-
les Buch über und
für eine Wiederkehr
des Scheinen,
Grabert, Tübingen
1984. Rechts:
Wiener Aktionismus
pur: s80th Actione
von Hermann N I T S C H ,
Prinzendorf 1984.
»Volksverdummung
auf hohem Honorar-
Niveau« (Prof. Ri-
chard W. EICHLER),

1 Braun Schweiger

Zeitung, 19. 12, 1969.

784
»Zunächst trat der splitternackte MUEHL
vors Mikrophon und verlas ein Gedicht zum
Thema Weihnachtskonsum, übermäßiges
Fressen nebst Folgen und Weihnachts-Kampf-
pause (Titel der MUEHL-Aktion: >0 Tannen-
baum«). Während von Tonbändern Weih-
nachtslieder erklangen, steigerte MUEHL sich
in einen Schreikrampf und legte sich anschlie-
ßend entspannt zu seiner nackten Gefährtin
in das - fürs Fernsehen hell angestrahlte - Bett.
Später wurde die Frau aus dem Bett geho-
ben. Man brachte in einer Holzkiste ein
Schwein, die Kiste wurde geöffnet, das gräß-
lich quiekende Tier mit Gewalt auf das Bett
gelegt. Der Schlachter trat in Aktion: Fach-
gerecht tötete er das sich wehrende Schwein
und schnitt ihm dann die Halsschlagader auf.
MUEHL fing das Blut in einem Plastikeimer
auf und goß es über die am Boden liegende
Frau. Später legte sich die Frau neben das
ausgenommene Schwein ins Bett. Därme und
Eingeweide wurden über ihren Leib verteilt.
MUEHL spritzte Milch, rohe Eier und Mehl
über sie, schließlich urinierte er auf die Frau
und leerte seinen Darm auf den Schweine-
kadaver.« Ein Bild von diesem Happening mit »Scheißbild mit Gelb« nannte der in Berlin wirkende
dem nackten Künstler vor der blutig über- Maler und Kunsthistoriker Martin V O N O S T R O W S K I
gossenen Frau bringt EiCHLER.2 (Jahrgang i 958) sein Werk aus dem Jahre 1987.
In einer Zeitungsanzeige 1 sprachen sich Prof. Richard W. EICHEER spricht in diesem Zusammen-
zwanzig namentlich aufgeführte aufgebrachte hang von »Miserabilismus«, um diese Abkehr von den
ästhetischen Regeln und den Sturz in die Niederungen
Bürger aus Braunschweig, die die »Aktion zu bezeichnen. Die berühmte Geigerin Anne-Sophie
Menschenwürde« gegründet hatten, gegen M U T T E R meint zur Kulturlosigkeit: »Wir brauchen Kul-
diesen »Akt grausamster Verletzung der Men- tur, um uns als Menschen mit einer Tradition zu defi-
schenwürde« aus und fragten zu Recht: »Sinti nieren und um uns gleichzeitig abzugrenzen. Mittel-
wir schon so abgestumpft, daß wir uns nicht fristig führt Kulturlosigkeit zur geistigen Verarmung und
langfristig zur Verblödung eines Landes.«

2 Richard W EiCHLER, Die Wiederkehr des Schönen,


Graben, Tübingenl984, S. 160.
1 Anzeige »BraunSchweiger in Stadt und Land!

Nie wieder Verletzung der menschlichen Wür-


de! Das lassen wir uns nicht bieten!« in: Braun-
Schweiger Zeitung 23. 12. 1969.

785
mehr gegen derartige perverse Aktionen auflehnen? Sind unsere Intel-
lektuellen und Künstler schon so verbildet, daß sie bei solchen Vorgän-
gen über Für und Wider diskutieren müssen? Haben sie vergessen, daß
die Diskussion da aufhört, wo die Menschenwürde angetastet wird?«
Einen späteren Bericht über den »Kaldaunen-Wüterich Hermann
NITSCIH« brachte Reinhard MÜL.LER-MEHLIS. 4
In Osterreich, besonders in Graz in der Steiermark, trat seit Ende der
sechziger Jahre in ähnlicher Weise Hermann NLTSCH5 auf, der durch öf-
fentliche Tierschlachtungen unter Einbeziehung des Kruzifixes - so
Doppelkreuzigung einer Frau und eines Schweines 1968 in München6 -
auf sich aufmerksam machte und solches als Kunst ausgab. Ausgerech-
net dieser Mann wurde von Kultusminister SCHÖLTEN 1 9 9 2 als repräsen-
tativer Künstler Österreichs zur Weltausstellung nach Sevilla gesandt.7
Otto M Ü H L wurde
wegen Vergewalti-
Ähnliche, von der Presse als moderne Kunst gefeierte Happenings
gungen und Sex mit veranstalteten Günther BRUS oder H. A. SCHULT, Von diesen gab es Über-
Minderjährigen verur- gänge bis hin zu Joseph BEUYS und manchem Regisseur eines deutschen
teilt. Theaters, der aus dieser - nach SCHILLER - moralischen Anstalt eine sehr
unmoralische Einrichtung machte: Auswirkungen des durch die 68er
Kulturrevolution gesteigerten »Verlustes der Mitte« der Deutschen,"
Rolf Kosiek

Hermann N I T S C H , österreichischer Staatskünstler und Träger höchster öster-


reichischer Staats preise, gab folgende Regieanweisung für das Mysterien-
spiel Die Eroberung von Jerusalem'
»christus wird in ein schlachthaus geführt, er schlachtet mit hilfe von metz-
gern 20 rinder. die tiere werden ausgeblutet und abgehäutet, hat christus
einen stier getötet, legt er sich auf das am rücken liegende abgehäutete
noch zuckende tier, saugt am geschlechtsteil des stieres, saugt urin heraus
und beißt in das geschlechtsteil des stieres, er küßt die hoden... hat chri-
stus eine kuh getöt (sic!), legt er sich auf das am rücken liegende abgehäute-
te und noch zuckende tier, schleckt das geschlechtsteil der kuh und steckt
seine zunge tief hinein... akteure beginnen auf großen mengen rohen
fleischs und eingeweiden herumzutrampeln, sich zu beschütten und zu be-
spritzen. . . wenn christus ausrutsch, springt nr. 38 auf ihn, steckt seinen
erigierten penis.
4 Reinhard MÜLLER-MEHLIS in: Die Welt, 28. 10, 1980.
5 Walter MARJNOVIC, Diktatur des Häßlichen, Kulturpolitik beute, Ixopold Stocker,
Gra?.—Stuttgart 1995, S. 78.
6 Abbildung vom Münchner Happening 1968 in: EICHLER, aaO. (Anm. 2), S. 160 f.
7 MARINovic, a a O . ( A n m . 5), S. 112.
8 Hans SEDLMAYR, Verlust der Mitte, Otto Müller, Salzburg 1948.
* Zitiert von Richard MEUSCH, Der letzte Akt, Hohenrain, Tübingen 2 2007, S. 231.

786
Willy Brandt in Selbstzeugnissen

illy B R A N D T war von 1969 an Bundeskanzler einer sozial-libera-


W len Koalition, bis er 1974 zurücktreten mußte, nachdem sein enger
Berater G U I L L A U M E als hochkarätiger Ostagent enttarnt worden war.
B R A N D T S Vorgeschichte wurde und wird meist verdrängt und verschwie-
gen und sei nachfolgend durch Selbstzeugnisse belegt.
Willy B R A N D T ist einer der Decknamen, unter denen der als I lerbert
Ernst Karl F R A H M am 18. Dezember 1913 in Lübeck geborene extreme
Sozialist nach 1933 im Ausland tätig war. Schon als Jugendlicher ging er
zu den Roten Falken und dann zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP),
die den Kommunisten nahestand. In der SAP stand er deren Jugendor-
ganisation vor. Im April 1933 flüchtete er in einem Fischerboot über die
Ostsee nach Rodby auf der dänischen Insel Lolland und weiter nach
Norwegen, wobei die Gründe für diesen plötzlichen Aufbruch ungeklärt
sind. Es gibt Vorwürfe wegen eines Mordes in Lübeck. Von Oslo aus
reiste er in den folgenden Jahren in mehrere Länder, war als linker Jour-
nalist auf Rotfront-Seite im Spanischen Bürgerkrieg tätig, konnte sich in
norwegischer Uniform 1940 bei der deutschen Besetzung tarnen und
nach mehrwöchiger Gefangenen zeit freikommen, um dann im Sommer
1940 nach Schweden überzutreten. In Stockholm leitete er ein norwe-
gisch-schwedisches Pressebüro und besuchte gelegentlich noch Oslo. Im
Sommer 1945 war er wieder in Oslo, wirkte als Journalist dort beim Ar-
beiterbladet und wurde dann als Berichterstatter zum Nürnberger Prozeß
geschickt. So kam er im Herbst 1945 in norwegischer Uniform nach
Deutschland zurück, war während des Militär-Tribunals in Nürnberg,
wurde 1946 norwegischer Attache im Majorsrang in Berlin und machte
ab 1948, nach Ablegung der norwegischen und Rückerwerb der deut-
schen Staatsbürgerschaft, seinen Weg als Schützling des Berliner Regie-
renden Bürgermeisters Ernst R E U T E R und des lange Jahre in Moskau
tätig gewesenen Herbert W E H N E R in der SPD, in der er Parteivorsitzender,
Kanzlerkandidat, Bundeskanzler und Ehrenvorsitzender wurde. Er erhielt
den Friedensnobelpreis.1
Von often; Willy
Zur Einschätzung von Willy B R A N D T S Persönlichkeit seien einige be-
BRANOT 1937 und
zeichnende Zitate gebracht. In Paris, wo damals die Zentrale der SAP 1945.
saß, sprach er 1937 vor dem erweiterten SAP-Vorstand über »Ein Jahr
Krieg und Revolution in Spanien« und erklärte: »Der Einsatz der Russen

1 Peter KLEIST, Wer ist Willy Brandt. Eine Antwort in S'elbstzeugnissen, National-

Verlag, Rosenheim H1976; Willy Brandt ohne Heiligenschein, Deutsche Ver-


lagsgesellschaft, Rosenheim 1977.

787
für die Vernichtung F R A N C O S war eine außerordentlich fort-
schrittliche Angelegenheit.«2
Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb er in einem Brief an
die »werten Genossen« im Zentralkomitee des kommunistischen
Jugendverbandes Deutschlands: »Als Schüler von M A R X und L E -
NIN wissen wir, daß es zum siegreichen Kampf der Arbeiterklas-
se einer zielbewußten und revolutionären Partei bedarf. . , Das
Ziel dieser Arbeit ist es, in Deutschland eine wahrhaft kommu-
B R A N D T als Schüler im nistische Partei und in der Welt eine wahrhaft kommunistische Interna-
Jahre 1930; rechts tionale zu schaffen.«3
sein norwegischer
Im Zweiten Weltkrieg schrieb er von Stockholm aus drei Bücher ge-
Presseausweis 1945.
gen die deutsche Besetzung Norwegens und rühmte die norwegischen
Partisanen.4 Im Jahre 1942 brachte er das Buch Guerillakrieg heraus, in
dem er sich gegen die Haager Landkriegs Ordnung und für den Partisa-
nenkrieg einsetzte. Von Schweden aus lieferte er dem US-Geheimdienst
Material, insbesondere Vorschläge für die Behandlung Deutschlands nach
Kriegsende. In einer Mitteilung vom 22. Mai 1944 an den US-Geheim-
dienst schlug er vor: »Beamte, Richter und Polizeibeamte müssen in großer
Zahl gefeuert, interniert und in Gefangnisse gesteckt werden. Solche Maß-
nahmen liegen nicht zuletzt im Rahmen einer kraftvollen demokratischen
Revolution, wie sie unglücklicherweise 1918/19 nicht vollendet wurde.«5
2 Zitiert in KLEIST, ebenda S. 15.
3 Zitiert ebenda S. 66.
4 AJorgeforsätter Kampen (Norwegen setzt den Kampf fort), Norges vag mot friheten
(Norwegens Weg in die Freiheit) und Norge ockuperat och (ritt (Norwegen besetzt
und frei).
5 Deutschland-Magazin, Januar 1980, dort zitiert aus Dokument 3399.

788
Ihm wurden seine andsemitischen Ausführungen vom Mai 1944 ver-
ziehen, die er über die US-Botschaft in Stockholm an das Außenministe-
rium in Washington richtete. Darin heißt es: »Wir bedauern die sehr dra-
Willy B R A N D T mit sei-
stischen Maßnahmen zutiefst, die die deutsche Nazi-Regierung gegen ner Frau Carlota und
Juden und andere Minoritäten ergriffen hat. Dennoch schlage ich vor, seiner Tochter Ninja
daß die Alliierten die Rückführung deutscher Juden aus dem Exil nicht bei der 1. Mai-Feier
begünstigen sollten. Das liegt im Interesse eines zukünftigen demokrati- 1944 in Stockholm.
schen Deutschland. Das deutsche Volk steht
den Juden weiterhin feindlich gegenüber, Sie
werden für den Krieg, die Blockade und die
massiven Bombardierungen verantwortlich
gemacht. Es wird sehr schwierig sein, sich
mit den Exil-Juden zu solidarisieren. Das
deutsche Volk sollte nicht für die Nazis und
ihre Vergangenheit verantwortlich gemacht
werden. Die Rassengesetze sind ein fait ac-
compli (vollendete Tatsache), Die Juden selbst
tragen einige Verantwortung dafür, wenn es
in Deutschland ihnen gegenüber Vorurteile
und Feindseligkeiten gibt.«6
Mit seinen Erfahrungen von der Nürn-
berger Siegerjustiz, die er befürwortete und
von der er die Rede des Anklägers Robert
H . J A C K S O N am 2 1 . November 1 9 4 5 als »ein
großes Erlebnis« mitnahm, schrieb er 1946
das Buch börbrytere og andre Tyskere (Verbre-
cher und andere Deutsche).7 Darin heißt es:
»Die Nazis — in Deutschland und anderen
I.ändern - sind schuldig. Nürnberg hat ei-
nen Schuldkomplex aufgerollt, der die wil-
deste Phantasie übersteigt. Schuld sind nicht
nur die Parteiführer und Gestapo-Terrori-
sten, sondern auch die Gruppen von Junkern, Großindustriellen, Gene-
ralen, Bürokraten und Professoren, die mit dabei waren, den Terror und
den Krieg zu entfesseln. Diese Gruppen müssen ausgeschaltet werden.«
(S. 3 0 )

* Im Deutschland-Magazin, 12/1979, zitiert aus dem Buch Pétain, Laval et de Gaulle.


Les secrets des Archives Américaines des türkischen Schriftstellers Nerin E. GUN.
Willy BRANDT, Forbrytere og andre Tyskere (Verbrecher und andere Deutsche),
Aschehoug, Oslo 1946,

789
Den besiegten Deutschen wünschte er Schlimmes: »Ich habe mich nie
zu einer Begeisterung für Todesurteile aufraffen können, aber so, wie die
Welt, in der wir leben, nun einmal ist, rechnete ich damit, daß es notwen-
dig sein werde, eine große Anzahl von wertlosen nazistischen I .eben aus-
zulöschen.« (S. 23) »Die Nazis müssen ohne falsche Sentimentalität be-
handelt werden.« {S. 161).
In lupenreiner Umerziehungssicht schrieb er auch, die Geschichte
verfälschend: »GÖRING wollte sich als Anhänger einer ritterlichen Krieg-
führungausgeben. Aber unter seinem Kommando legte die Luftwaffe War-
schau, Kristiansund und Rotterdam in Trümmer. So begann der unein-
geschränkte Bombenkrieg.« (S. 85)
Ebenso verbreitete er eine Geschichtslüge, wenn er angab: »In Frank-
reich wurden im Laufe der Okkupationsjahre 29 000 Geiseln erschossen,
11 000 davon in Paris.« (S. 63) Richtig ist jedoch, daß während der deut-
schen Besatzungszeit vom Militärbefehlshaber oder dem Höheren SS-
und Polizeiführer rund 750 Geiseln erschossen wurden, meist Kriminelle
aus französischen Gefängnissen.
Über den Österreich-Anschluß meinte er entgegen der historischen
Wahrheit: »Man wußte von Anfang an, daß der »Anschluß« mit Betrug
und Gewalt durchgesetzt worden war.« (S. 49) Ebenso falsch ist das Ur-
teil: »Die Naziführer waren wirklich auf die Weltherrschaft aus.« (S. 57)
Den Verlust ganz Ostdeutschlands und damit rund eines Drittels des
deutschen Kultur- und Siedlungsboden befürwortete er, was an Landes-
verrat grenzt, und meinte: »Die planmäßige Polonisierung, die schon statt-
gefunden hat und die weitergehen wird, bis die Friedenskonferenz sich
versammelt, deutet indessen darauf hin, daß »neue Tatsachen« von dauer-
haftem Charakter geschaffen werden.« {S. 307) Die sowjedschen Greuel
beim Einfall der Roten Armee in Mitteldeutschland versuchte er zu ver-
harmlosen: »In Berlin kam es vor, daß deutsche Verbrecher in russischen
Uniformen auftraten und plünderten und mordeten.« (S. 182) Ebenso
spielte er die Untaten der Tschechen herab: »Auch Vergewaltigungen
kamen vor.« (S. 219) Als Entschuldigung hieß es dann wieder im Gegen-
satz zur geschichtlichen Wirklichkeit: »Eine große Anzahl von Sudeten-
deutschen beging Verrat gegen die tschechoslowakische Republik, die
ihnen trotz allem sehr große Minderheitenrechte gegeben hatte.« (S. 221)
Er lobte die neue Kommunistische Partei Deutschlands: »»Diese Partei
nahm im Gegensatz zu früher eine positive Haltung zur Demokratie und
zum Parlamentarismus ein.« (S. 232) Dafür kritisierte er die antibolsche-
wistische Haltung des Nachkriegs-SPD-Vorsitzenden Kurt SCHUMACHER:
»»Seine außenpolitische Orientierung schien ziemlich einseitig zu sein. Seine
Haltung in der Einigungsfrage wirkte negativ.« (S. 257) Nicht umsonst
warnte SCHUMACHER seine Parteifreunde vor BRANDT.

790
BRANDT hat seine früheren Aussagen nie widerrufen oder sich davon
distanziert. Als er im WESSEI.Y-Prozeß 1962 die Frage gestellt bekam, ob
er immer noch den Gedanken einer
Einheitsfront von KPD und SPD,
insbesondere für den Fall einer deut-
schen Wiedervereinigung, hege, ver-
bat er sich diese Frage und nahm
somit nicht die an sich günstige Ge-
legenheit zu einer Klärung wahr.
BRANDTS Politik des Verzichts auf
Ostdeutschland und das Sudetenland
konnte sich seit seiner Kanzlerschaft
ab 1969 voll auswirken. Vergessen war
sein wohl nur opportunistisch ge-
meintes Grußwort zum Schlesier-
Deutschlandtag vom 7. bis 9. Juni
1963 in Köln: »Verzicht ist Verrat,
wer wollte das bestreiten?. . . Der
Wiedervereinigung gilt unsere gan-
ze Leidenschaft.« Auch die deutsche
Einigung hatte er abgeschrieben und
damit als Bundeskanzler gegen die
Präambel des Grundgesetzes und die
oberste Pflicht deutscher Politiker
verstoßen. Am 29. Dezember 1969
brachte das amerikanische Nachrich-
ten-Magazin US-Nem and World Ri-
port ein Interview mit dem frischge-
backenen Regierungschef, in dem er
bekannte: »Ich muß gestehen, daß ich aufgehört habe, von Wiederverei- BRANDTS Kniefall in
nigung zu reden.« Dafür arbeitete er auf die Anerkennung des Pankower Warschau,
Regimes als zweiten deutschen Staats hin, die gerade noch durch die klei-
ne deutsche Wiedervereinigung verhindert werden konnte. Kurz vor dem
deutschen Herbst 1989 erklärte er am 11. September 1988 in Berlin: Es
»wurde die Wiedervereinigung zu jener spezifischen Lebenslüge der zwei-
ten deutschen Republik«, was er in seinen Erinnerungens kurz vor der deut- 3 Willy BRANDT,
schen Wende noch einmal so ausdrückte: »Es war eine lebenslügnerische Erinnerungen,
Vorstellung, 1945 sei nur die Gewaltherrschaft und nicht auch der Staat Ullstein, Berlin
zugrunde gegangen.. , Durch den Kalten Krieg und dessen Nachwir- 1989, S. 154 ff.
kungen gefördert, gerann die »Wiedervereinigung* zur spezifischen Le-
benslüge der zweiten deutschen Republik.« Rolf Kosiek

791
Lafontaine fälschte Foto

m Vorfeld der Bundestagswahl von 1990 erschien eine Werbebro-


I schüre für den SPD-Bundeskanzler-Kandidaten Oskar LAFONTAINE mit
dem Titel Oskar Lafontaine - einer von uns. Darin ist auch ein Foto etwa aus
dem Jahre 1944 der Familie LAFONTAINE mit dem am 1 6 . September 1943
geborenen Oskar und seinem Zwillingsbruder Hans als Kleinkinder auf
dem Schoß von Vater und Mutter. Der Vater ist darauf anscheinend in
einem Zivilanzug abgebildet. Dieses erscheint so, weil aus dem Original,1
das den Vater in der Uniform eines Unteroffiziers der deutschen Panzer-
truppe zeigt, der bald darauf gefallen ist, offensichtlich die Uniform-
abzeichen heraus retuschiert worden sind.2 Dem Wähler wird also eine
Fälschung dargeboten, weil man offenbar die Tatsache, daß Vater La
FONTAINE Angehöriger der Deutschen Wehrmacht war, als belastend an-
Oscar L A F O N T A I N E sah und dem unkritischen Betrachter vorenthalten wollte.
Anfang der neunziger
lahre. Schämte sich LAFONTAINE, der gern von Schuld und Sühne der Deut-
schen spricht, oder der Verfasser der Broschüre so sehr dieser Wirklich-
keit seines Vaters, daß er zu einer Fälschung greifen mußte?
Wollte er, wie Günter GRASS es jahrzehntelang mit seiner Zugehörig-
keit zur Waffen-SS tat, die Zugehörigkeit seines Vaters zur Deutschen
Wehrmacht vertuschen? Rolf Kosiek

Original (links) und retuschiertes Bild (rechts).

1 Original in: Prominente ohne Maske neu, FZ-Verlag, München, 2001, S. 119,
2 »Lafontaines Fälschung«, in: Nationai-Zeitung, 23, 3. 1990,

792
Hanna Reitsch stellt Hitler-Film richtig

m Jahre 1973 wurde der mit monumentaler Ausstattung gedrehte


I Film Hitler, die letzten 10 Tage aufgeführt, in dem Sir Alec G U I N N E S S die
Rolle HITLERS spielt. Darin wird über die letzten Tage im Führerbunker
1945 viel Falsches dargeboten. So gab es zum Beispiel kein viertes Testa-
ment H I T L E R S , das im Film vor dem Bunker zerrissen wird. Die Schau-
spieler stellen die damaligen Vorgänge so dar, wie Klein-Mäxchen sich
den Untergang des Dritten Reiches vorsteilt oder vorstellen soll, jedoch
nicht so, w'ie er ablief.
Als Zeitzeugin hat die große Fliegerin Hanna REITSCH, 1 die am 26.
April 1 9 4 5 Generaloberst Robert Ritter VON G R E I M 2 in das bereits einge-
kesselte Berlin flog, bei HITLER war und dann am 29. April auch wieder
mit dem Generalfeldmarschall hinausflog, eine Richtigstellung zu dem
Film veröffentlicht,3 in der es heißt:
»Was nun die Darstellung meiner Person, mein Tun und die Wörte, die
Filmpiakat z u d e m
ich dort gesprochen haben soll, betrifft, so ist aber auch jedes Wort und
1973 erschienenen
Geschehen unwahr. Hätte man wirklich die Wahrheit sagen wollen, so Film Hifiers letzte 10
hätte man ja nur mich persönlich zu Rate zu ziehen brauchen; doch man Tage
wußte sicher: Wenn man bei der Wahrheit geblieben wäre, so wäre der
Film halt recht undramatisch geworden.
Der wirklich dramatische Flug, den ich als Flieger durchzuführen hatte,
um Generaloberst VON G R E I M nach Berlin zu bringen, konnte im Film

1 Hanna REITSCH (1912—1979) errang zahlreiche Weltrekorde im Segelfliegen,

wurde der erste weibliche Flugkapitän, war im Zweiten Weltkrieg Testpilotin


der Luftwaffe und flog unter anderem erste Hubschrauber und Raketenflug-
zeuge. Sie erhielt 1942 als erste Frau das EK I und das Goldene Flugzeugfüh-
rerabzeichen mit Brillanten, Ab 1945 war sie 15 Monate unter schändlichen
Bedingungen in US-Haft, wo sie sich weigerte, unwahre Aussagen zu unter-
schreiben. Später errang sie weitere Weltrekorde im Segelflug. Sie schrieb Fliegen
mein Leben (1951), Höben und Tiefen (1978) und Das Unzerstörbare in meinem Leben
(1979).
2 Robert Ritter VON: GREIM (1892-1945) vernichtete im Ersten Weltkrieg als er-
ster Flieger einen feindlichen Panzer aus der Luft. Inzwischen Generaloberst
geworden, wurde er nach der Absetzung GÖRINGS im April 1945 letzter Ober-
befehlshaber der Luftwaffe und zum Generalfeldmarschall befördert. Am 8.
Mai 1945 geriet er in US-Gefangenschaft, in der er am 24, Mai 1945 sich das
Leben nahm. Seine Grabstätte liegt auf dem Friedhof des Klosters Bebenhau-
sen bei Tübingen,
1»Hanna Reitsch stellt Geschichtsfälschung richtig«, in: Deutsche Wochenzeitung,
Nr. 32, 10. 8, 1973.

793
Die zerstörte Reichskanzlei
1945.

D a s W r a c k des REITSCH-Flug-
zeugs, mit dem die Pilotin
Robert Ritter TON G R E I M am
27. April 1945 zu HITLER
flog.

nicht dargestellt werden, so mußte die Phantasie herhalten, und man setzte
mich ganz einfach zwischen Adolf HITLER und Eva BRAUN, um ihnen die
Geschichte unseres Fluges zu erzählen. Dabei habe ich niemals in mei-
nem Leben mit ihnen zusammengesessen.
Meine angebliche Erzählung ist ebenso unwahr wie alles andere; zum
Beispiel wurde in Wirklichkeit kein einziger Begleitjäger abgeschossen,
im Film dagegen waren es 43. Doch war dies wohl notwendig für das

794
zugrunde liegende Konzept. Ja - und verheiraten wollte mich der Regis-
seur im Film auch noch mit Feldmarschall Ritter VON GREIM. Er hat nur
nicht gewußt, daß Herr VON GREIM bereits verheiratet war. Unserer >Ehe<
habe - dem Film zufolge — nur im Wege gestanden, daß ich >Ehe< als
überholte Bürgerlichkeit abgelehnt hätte. Das ist, auf gut deutsch gesagt,
eine beispiellose Unverschämtheit.
So aber wie meine Rolle (im Film) erfunden ist, außer der einfachen
Tatsache, daß ich den verwundeten Generaloberst heil vor dem Bran-
denburger Tor landete und im Bunker pflegte, so sind auch die Worte
und Handlungen der anderen Figuren des Films grotesk erfunden. Es
gab im Bunker weiß Gott keine Tanzgelage oder Geschunkel bei festli-
chem Schmaus - es war dort tief bedrückend, es war fast unreal und still
wie in einer Gruft.«
Dieser persönlichen Richtigstellung fügt die berühmte Fliegerin noch
einen bezeichnenden Vorgang in Verbindung mit dem britischen Histo-
riker TREVOR-ROPER an: »Die »historische Wahrheit« des Films stützt sich
auf die Angaben des englischen Historikers TREVOR-ROPER und dessen
Buch über die letzten Tage im HitlER-Bunker. Also muß es wohl wahr
sein, so meinten wohl die Filmemacher. Daß ein Historiker, der noch
heute am Christ-Church-College in Oxford liest, an der Wahrheit nicht
interessiert ist, sondern nur an Politik, mag erstaunen, aber es ist Tatsa-
che. Als ich nach anderthalbjähriger Inhaftierung durch die Amerikaner
eines Tages erschreckt von dem Buch TREVOR-ROPERS erfuhr und es las,
schrieb ich ihm umgehend einen Brief. Ich war damals allerdings noch
sehr jung und glaubte selbstverständlich an das ehrliche Bemühen um
die Wahrheitsfindung eines Historikers. Ich teilte ihm mit, er sei einer Von oben: Hanna
Fälschung zum Opfer gefallen, denn er habe einen sogenannten >Augen- R E I T S C H ( 1 9 1 2 - 1 9 7 9 )
zeugenbericht von Hanna REITSCH über die letzten Tage im Hitlerbun- und Robert Ritter VON
ker benutzt, der in >lch-Form< geschrieben sei, den ich aber nie gemacht, GREIM ( 1 8 9 2 - 1 9 4 5 ) .

nie geschrieben, nie gesehen und vor allem aber auch nie unterschrieben
hätte, weil er eben nicht der Wahrheit entspräche.
Ich sei bereit, ihm zu schreiben, was ich dort erlebt hätte. Seine Ant-
wort - für einen Historiker geradezu erstaunlich - war dem Sinne nach:
Was er geschrieben habe, das hätte er von der amerikanischen CIC erhal-
ten, und die sei es gewohnt, nur die Wahrheit zu schreiben. Der englische
Historiker wollte wohl meinen eigenen Bericht überhaupt nicht; denn
Geschichte schreibt sich, erfunden und gefälscht, für einen Historiker
aus dem Kreis der Siegermächte viel leichter, schöner und interessanter,
zumal wenn es sich um Taten und Reden der Besiegten handelt.
In meinem Buch Fliegen, mein Leben (Lehmanns-Verlag München) kann
jeder, der an der Wahrheit interessiert ist, nachlesen, wie es wirklich war.«
Rolf Kosiek

795
Historiker verschweigen Germanengröße

er deutsche Zeitgeist hat seine Tabus, und dazu gehört auch das
D Germanentum. Angeblich seien die Germanen, die wohl unbestreit-
bar den größten Anteil an den Vorfahren der heutigen Deutschen stell-
ten, im Dritten Reich zu sehr hervorgehoben worden, daß nun darunter
die Erinnerung an sie leiden muß. Vergleicht man zum Beispiel das Lehr-
angebot in den Schulen oder das Wissen eines normalen Deutschen über
die Germanen mit dem über andere antike Völker, so wird der Unter-
schied deutlich. Auch bei Museen, die über die Varusschlacht ausstellen,
1 L o r e n z JÄGER,
»Nichts mehr von
etwa in Kalkriese bei Osnabrück, wird meist das damalige Geschehen
den Langen«, in: aus der Sicht der Römer geschildert. Bei der Anzahl wissenschaftlicher
Frankfurter Veröffentlichungen kommt das ebenfalls zum Ausdruck: Die Germanen
Allgemeine Zeitung, sind eben die >S chmu dd elkind er< der Gegenwart, politisch belastet, mit
21. 3. 2007. denen man sich als politisch Korrekter im allgemeinen nicht gern abgibt
und die eher in Witzen verächtlich ge-
macht werden.
Eine interessante Beobachtung zu die-
sem Bereich machte der ständige FAZ-
Mitarbeiter Lorenz JÄGER in der Literatur-
beilage seiner Zeitung, 1 Unter dem
Untertitel »Antike Ethnographie und mo-
derne Zurückhaltung: Wie groß waren die
Germanen?« stellt er zunächst fest, daß die
antiken Schriftsteller, etwa TACITUS (etwa
5 5 - 1 1 6 ) , A M M A N (etwa 3 3 0 - 4 0 0 ) oder
PROKOP (etwa 5 0 0 - 5 5 0 ) , wenn sie von den
Germanen schrieben, stets neben den
blonden Haaren und den blauen Augen
ausdrücklich die Größe und Schönheit der
Körper für mitteilungswert hielten: »Die
körperliche Größe von Germanen und
Goten ist ein antiker Topos.«

Wilhelm PETERSENS berühmter Reiter von


Välsgarde ( 1 9 3 6 ) . Aus: Uwe C H R I S T I A N S E N ,
Wilhelm Petersen, Grabert, Tübingen 1993.
PETERSEN hatte in den dreißiger Jahren in Verbin-

dung mit dem Vorgeschichtler Hans REINERTH


eine Reihe von Zeichnungen und Malereien
verwirklicht, die die germanische Vor- und
Frühgeschichte darstellten.

796
LORENZ fährt dann fort: »Wer dagegen in heutigen Darstellungen nach Im Jahre 2007 strahlte
solchen Angaben sucht, wird meist leer ausgehen.« Dafür bringt er Bei- der Fernsehsender
spiele, so den »eminenten Kenner nicht nur der Goten, sondern der Völ- ARTE die vierteilige
Dokumentation Die
kerwanderungszeit überhaupt«, Professor Dr. Herwig WOLFRAM, Jahr- Germanen, die mit
gang 1934, Emeritus der Universität Wien, mit seinem Buch Die Goten dem Bild der kultur-
und ihre Geschichte in der Reihe »Wissen« des Beck-Verlages, die damit losen und Keule
wirbt, sie »vermittle gesichertes Wissen und konzentrierte Information schwingenden Barba-
über die wichtigsten Gebiete aus den Kultur- und Naturwissenschaften«.2 ren aufräumte. Hier
In diesem Werk befinde sich »kein einziges Wort über die äußere Gestalt Szene aus der Varus-
schlacht.
dieser Menschen«. Dasselbe gelte für das sich vor allem an Studenten der
Geschichtswissenschaft wendende Standardwerk Die Germanen. Mythos
und Wirklichkeit des Freiburger Professors Dr. Otto HOLZAPFEL, Jahrgang
1941, erschienen in der Reihe »Herder Spektrum«/ Beide Bände bräch-
ten vieles über Kultur, Kunst, Wanderungen, Geschichte und Politik der
Germanen, aber nichts über deren von der antiken Welt bewunderte
Körper.
»Einzige Ausnahme bei den F,inführungstexten« sei das ebenfalls bei
Beck erschienene Buch Die Römer in Germanien des Tübinger Professors

2 Herwig WOLFRAM, Die Goten und ihre Geschichte, C. H . Beck, München 2001.
3 Otto HOLZAPFEL, Die Germanen. Mythos und Wirklichkeit, Herder, Freiburg i. Br.
2001.

797
Dr. Reinhard WOLTERS, Jahrgang 1 9 5 8 , der die »besondere physische und
psychische Disposition« der den Römern Furcht einflößenden Germa-
nen erwähne.
Abschließend urteilt LORENZ bedauernd: »Kein Zweifel, daß die er-
wähnten Einführungsbücher auf dem höchsten Niveau der gegenwärti-
gen althistorischen Fachdis-
kussion stehen. Nur einen
Körper haben Germanen und
Goten für heutige Studenten,
außer in der Schrift von WOL-
TERS, nicht mehr.«
Und das ist wirklich schade,
da somit ein wesentliches und
besonders einprägsames, si-
cher auch bezeichnendes Ele-
ment fehlt. Aber danach fragt
die derzeitige politische Kor-
rektheit eben nicht.
In demselben Zusammen-
hang ist als weiteres Beispiel
für die gegenwärtige Germa-
nenverdrängung zu erwähnen,
Germariische Krieger daß bei einer Neuausgabe von Gustav FREYTAGS Bildern aus der deutseben
flößten den römi- Vergangenheit im Jahre 19834 die ersten sechs Kapitel aus der Zeit von der
schen Legionen mit Vorgeschichte bis zu KARL DEM GROSSEN weggelassen worden sind.5
ihrer ungewöhlichen
Hervorzuheben ist allerdings, daß solche Kritik an der Vernachlässi-
Körpergröße und
Haartracht Angst ein.
gung von Wesentlichem über die Germanen nun in der angesehenen
Szene aus der viertei- FAZ als für einen längeren Beitrag lohnensw'ert angesehen wird. Viel-
ligen Arte-Dokumen- leicht stimmt doch die Beobachtung Arthur SCHOPENHAUERS, »daß wir
tation. den wissenschaftlichen, literarischen und artistischen Zeitgeist ungefähr
alle 30 Jahre deklarierten Bankrott machen sehen. In solcher Zeit näm-
lich haben alsdann die jedesmaligen Irrtümer sich so gesteigert, daß sie
unter der Last der Absurdität zusammenstürzen«/' Und 30 Jahre sind seit
der Durchsetzung des kulturellen Umbruchs der 68er gerade vergangen.
Rolf Kosiek

4 Gustav FREITAG, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, hg, von Heinrich PIE-
TICHA, Albrecht Knaus, Hamburg 1983.
5 Siehe Beitrag Nr. 795, »Gustav Freytag, ein Opfer der Vergangenheitsbewälti-
gung«.
6 Zitiert von Elisabeth NOELLE-NEUMANN U. Thomas PETERSEN in »Optimistisch
und intolerant«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 3. 2007.

798
Keine Dokumentationsstelle
für Verbrechen an Deutschen

ie nach Ende des Zweiten Weltkrieges erforderliche Aufarbei-


D tung der deutschen jüngsten Vergangenheit wurde von Anfang an
sehr einseitig vorgenommen, indem - im Kaufe der Zeit zunehmend -
nur sehr parteiisch, und zwar stets zu Lasten Deutschlands, dokumen-
tiert, von der Justiz verfolgt und abgeurteilt wurde. Ein eindruckvolles
Beispiel liefert die diesbezügliche Arbeit der deutschen Staatsanwaltschaft.
Im Jahre 1958 wurde kurz vor den vom Osten eingeleiteten Haken-
kreuzmalereien in Köln Ende 1959 die Zentralstelle in Ludwigsburg für
die Verfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen gegründet und
mit einer Reihe von Staatsanwälten - in ihrer Blütezeit nicht weniger als
121 — besetzt, die dann in den folgenden Jahrzehnten sich nach Kräften
bemühten, möglichst viele den Deutschen anlastbare Verbrechen aufzu-
spüren und Material für zahlreiche >Kriegsverbrecherprozesse< zu sam-
meln.
Als daraufhin die berechtigte Forderung erhoben wurde, auch eine
solche zentrale Behörde einzusetzen, die sich mit den an Deutschen be-
gangenen Verbrechen beschäftigen solle, wurde das von der Regierung
verhindert.
So stellte Mitte der sechziger Jahre der CDU-Abgeordnete Dr. HAGE-
MANN im baden-württembergischen Landtag den Antrag auf Errichtung
einer solchen Zentralstelle für die Feststellung der an Deutschen verüb-
ten Verbrechen mit der zutreffenden Begründung: »Das Recht ist unteil-
bar. Die gerecht denkenden Menschen fordern, daß man Unrecht als
Unrecht stempelt und gleich, wer es begangen hat.«1 Die Justizminister 1Zitiert in: Frank-
der Länder befaßten sich daraufhin mit diesem Begehren. Sie lehnten es furter Allgemeine
dann ab, eine solche Stelle zur Dokumentation an Deutschen begange- Zeitung, 3. 6. 1966.
ner Verbrechen zu schaffen, wie der FDP-Landesjustizminister (1953-
1966) Dr. Wolfgang HAUSSMANN dem genannten CDU-Landtagsabge-
ordneten anschließend offiziell mitteilte.
Zur Begründung der ablehnenden Haltung seiner Amtskollegen führte
HAUSSMANN an, daß im Gegensatz zur Strafverfolgung von NS-Verbre-
chen eine solche von »Vertreibungsverbrechen« vielfach aus rechtlichen
und tatsächlichen Gründen nicht mehr möglich sein werde, da der in
Betracht kommende Täterkreis ganz überwiegend für die deutsche Justiz
nicht greifbar sei. Daß ausländische Staaten dafür Rechtshilfe leisten
würden, könne kaum erwartet werden,2
2 Ebenda.
In zutreffender Einsicht drückte der Landesjustizminister damit aus,
daß andere Länder ihre Täter nicht verfolgen, sondern schützen würden.

799
Gräßlich zugerichte-
te Opfer des Massa-
kers im ostpreußi-
schen Nemmersdorf,

Die deutschen Justizminister kamen jedoch nicht auf den naheliegenden


Gedanken, dann auch mit der entsprechenden einleuchtenden Begrün-
dung die Verfolgung deutscher Täter zu unterlassen, um auf diese Weise
die Rechtsgleichheit zu wahren, den Rechtsfrieden wiederherzustellen und
durch eine beiderseitige Amnestie wie in früheren Zeiten eine baldige
Versöhnung zu ermöglichen.
Im Gegenteil: Die deutsche Justiz versuchte auf staatliche Anordnung
über mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Krieges immer noch
mit großer, wirklich einer besseren Sache würdigen Energie, ihre Lands-
leute in möglichst großer Anzahl vor Gericht zu bringen und — oft unter
offensichtlicher Rechtsbeugung - aburteilen zu lassen, dafür in beschä-
mender Weise sich belastendes Material bei einzelnen ausländischen Staa-
ten zu erbitten und so für möglichst gegen Deutschland zu verwertende
Schlagzeilen in der Weltpresse zu sorgen.
In diesem Zusammenhang ist auch auf die Jahrzehnte lange Verhin-
derung der Veröffentlichung der zunächst auf amtlichen Auftrag hin er-
arbeiteten Dokumentation des Schicksals der deutschen Kriegsgefange-
nen nach Ende des Zweiten Weltkrieges3 wie auf die Verhinderung einer
amtlichen deutschen Untersuchung und Dokumentation der Zahl der
KL-Opfer durch die Bundesregierung hinzuweisen.4 Rolf Kosiek

5 Siehe Beitrag Nr. 686, »Bonn sperrte Kriegsgefangenen-Dokumentation«.


4Siehe Beitrag Nr. 687, »Bundesregierung verhindert Feststellung der KZ-Opfer-
zahlen«.

800
Das >Deutsche< in der Bayernhymne

D ie seit rund 150 Jahren gesungene und gespielte »Bayernhymne«


erlebte je nach dem herrschenden Zeitgeist mehrere Versuche, sie
zu >entdeutschen<, also die auf das gesamtdeutsche Bewußtsein hinzie-
lenden Ausdrücke aus ihr zu entfernen. Diese Veränderung des urprüng-
lichen Textes kommt einer geschichtlichen Verfälschung gleich. Im ein-
zelnen ergab sich folgendes.
»1860 vertonte der Oberpfälzer Konrad Max K U N Z (1812-1875), Chor- 1 M a r l e e n LoEBUCH,
dirigent der königlichen Oper und Professor an der Münchner Musik- »Heimaterde statt
hochschule, ein Gedicht seines Kameraden der Münchner Bürger-Sän- »deutsche« Erde?« in:
ger-Zunft, des Lehrers Michael Ö C H S N E R . Unter dem Titel >Für Bayern* National-Zeitung,
wurde es im selben Jahr veröffentlicht« und von der genannten Sänger-
1 19.1. 2007.
Zunft aufgeführt. Das Gedicht hatte folgenden Wörtlaut:
»Gott mit dir, du Land der Bayern, deutsche Erde, Vaterland!
Über deinen weiten Gauen ruhe seine Segenshand!
Er behüte deine Fluren, schirme deiner Städte Bau
Und erhalte dir die Farben seines Himmels weiß und blau!
Gott mit uns, dem Bayernvolke, daß wir, unsrer Väter wert,
Fest in Eintracht und in Frieden bauen unsres Glückes Herd!
Daß mit Deutschlands Bruderstämmen einig uns der Gegner schau
Und den alten Ruhm bewahre unser Banner weiß und blau!
Gott mit ihm, dem Bayernkönig! Segen über sein Geschlecht!
Denn mit seinem Volk im Frieden wahrt er dessen heilig' Recht!
Gott mit ihm, dem Landesvater, Gott mit uns in jedem Gau,
Gott mit dir, du Land der Bayern, deutsche Heimat weiß und blau!«
Trotz der ausdrücklichen Suche nach einer Bayernhymne ab 1848 blieb
das Lied zunächst unbeachtet. Dann wurde es erst nach der HAYDNschen
Melodie des Deutschlandliedes gesungen, später nach der Vertonung von
K U N Z . Im Laufe der Zeit wurde das Lied allmählich die »Bayernhymne«.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die dritte, die Königsstrophe, aus den
Schulbüchern gestrichen, von Königstreuen aber weiter gesungen.
Im Jahre 1948 ersetzte der bayerische Dichter Joseph Maria L U T Z die
dritte Strophe durch eine ganz neue. Sie lautete nun:
»Gott mit uns und Gott mit allen, die der Menschheit heilig' Recht
treu beschützen und bewahren von Geschlechte zu Geschlecht.
Frohe Arbeit, frohes Feiern, reiche Ernten jedem Gau.
Gott mit dir, du Land der Bayern unterm Himmel weiß und biau.«

801
Dazu ersetzte er für die Bayernpartei und im Sinne deren Separatismus
in der ersten Strophe »deutsche Erde« durch »Heimaterde« sowie in der
zweiten »daß mit Deutschlands Bruderstämmen einig uns ein jeder schau
und den alten Ruhm bewahre unser Banner weiß und blau« durch »daß
vom Alpenland zum Maine jeder Stamm sich fest vertrau' und die Her-
zen freudig eine unser Banner weiß und blau!« Auch kam »einig uns ein
2 V.U., »Weiß und jeder schau« an die Stelle von »einig uns der Gegner schau«.2
Blau«, in: Die Zeit, 1952 beschloß der bayerische Landtag einstimmig, die ersten beiden
12. 8. 1966. Strophen in der ursprünglichen Form zur offiziellen Hymne des Frei-
staates Bayern zu erheben, was der bayerische Ministerrat am 3. März
1953 billigte, und das Lied erschien von nun an in den Schulbüchern und
3 »Behüte deine wurde als Bayernhymne gelehrt.5
Fluren«, in: Der Doch im Jahre 1 9 6 6 >empfahl< Ministerpräsident Alfons GOPPEL im
Spiegel, Nr. 36,29. amtlichen Bayerischen Staatsanzeiger die neue Textfassung von LUTZ, deren
1966, S. 43. Text im Amtsblatt abgedruckt wurde, und führte sie damit offiziell ein,
was zahlreiche Bayern als Sieg der Königstreuen über die Deutschnatio-
nalen ansahen. Diese neue Bayernhymne wurde dann bei allen offiziellen
Anlässen nach dem Deutschlandlied gespielt und gesungen, erstmalig beim
Besuch der Königin ELISABETH II. von England in München im August
1966, bei dem allerdings auch in Bayern der Bundespräsident Gastgeber
war.
Vorher hatte Bundespräsident LÜBKE ausdrücklich GOPPEL darauf hin-
gewiesen, daß die Bundesrepublik nur eine Nationalhymne habe, und
nicht zwei: eine gesamtdeutsche und eine bayerische, und daß bei dem
bevorstehenden Besuch der Queen neben der britischen Hymne nur das
Deutschlandlied zu spielen sei. Darüber setzte sich GOPPEL einfach hinweg
4 W. H., »Goppels und ließ auch die Bayernhymne bringen wie ebenso in der Folgezeit.4
Hymne«, in: Christ Der Freistaat Bayern sollte eben eine eigene Nationalhymne haben. Seit
und Welt, N r. 24, 11. längerem schon hatte der Bayerische Rundfunk allabendlich sein Pro-
6. 1965. gramm mit diesem Lied beendet.
Im Sommer 1985 verfugte Ministerpräsident Franz-Josef STRAUSS in
einer wieder mehr gesamtdeutschen Stimmung durch eine amtliche Be-
kanntmachung im Bayerischen Staatsanzeiger, daß die »mit Beschluß des
Ministerrats vom 3. März 1953 gebilligte Fassung« wieder verwendet
werde, also die beiden ersten Strophen mit dem ursprünglichen Text als
5 Fred WINTER, »In
»Bayernhymne« gelten sollten.3 Sie wurden seitdem beim Abschreiten
der Bayernhymne einer Ehrenkompanie wie von Rundfunk und Fernsehen in Bayern bei
gibt es wieder Sendeschluß vor dem Deutschlandlied gespielt.
deutsche Erde«, in:
Schwäbisches Tagblatt, Beim Papstbesuch in Bayern im September 2 0 0 6 verabschiedete sich
19. 7. 1985. BENEDIKT XVI. mit der ersten Zeile der Bayernhymne vom bayerischen
Boden, wobei er die alte Form mit »deutsche Erde, Vaterland!« benutzte.
Darob erhob sich wieder eine heiße Diskussion in der bayerischen

802
Öffentlichkeit, und es wurde Stimmung gegen das »Deutsche* in der al-
ten Form gemacht. Der Gastwirt und Dialektpfleger Hans TRIEBEL aus 6 "Ist bayerische
Gotzing sammelte seit 2006 Unterschriften gegen die »»deutsche Erde«.1 Erde nicht
Wenn 30000 Bayern die Forderung nach »»bayerischer Erde« unterzeich- deutsch?« in:
net haben, soll sie an den Ministerpräsidenten nach München eingesandt National-Zeitung,
werden.6 8. 6, 2007.
Die Umerzieher freuen sich auf jeden Fall über die deutsche Zwie-
tracht und versuchen, sie möglichst auch weiterhin für ihre volksfeindli-
chen Ziele zu instrumentalisieren. Rolf Kosiek

803
War Kardinal Frings ein Antisemit?

eit der von den 68ern eingeleiteten verstärkten Vergangenheits-


S bewältigung nahmen auch die Vorwürfe des Antisemitismus zu und
erreichten 1 9 9 6 in GOLDHAGENS Hitlers willige Vollstrecker einen Höhe-
punkt Die unkritische Aufnahme dieses US-Historikers bei führenden
deutschen Kreisen war ein eindrucksvoller Beleg für die Reue- und Süh-
nehaltung deutscher Politiker.
1 Zitiert in »Fuchsi- In der ersten Nachkriegszeit war man weniger angepaßt, erlaubte man
ger Schnäuzer«, in: sich berechtigte Richtigstellungen und ließ sich nicht alle Vorwürfe vom
Der Spiegel, Nr. 44, Ausland gefallen.
1978, S. 61. Ein bezeichnendes Beispiel für solchen Mut zur Meinungsäußerung
bildete der Kölner Kardinal F R I N G S (6. 2. 1887-17. 12. 1978). Der ab
1942 als Erzbischof und seit 1946 als Kardinal wirkende und von 1945
bis 1967 als Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz tätige Kirchen-
fürst trat im März 1944 mutig gegen die Judenverfolgung wie auch später
Kardinal Joseph FRINGS gegen unberechtigte Anschuldigungen Deutscher auf. So wandte er sich
(1885-1978). offen gegen die von den Alliierten den Deutschen 1945 verordnete
Hungersnot, geißelte die Be-
schlagnahme deutscher Woh-
nungen durch die Besatzer
und erlaubte in seiner Sylve-
sterpredigt 1946 seinen frie-
renden Gläubigen, die wegen
der hohen Kohleausfuhren
ins Ausland kein Brennmate-
rial bekamen, das Plündern
alliierter Kohlenzüge: »Auch
der einzelne, wenn er in Not
ist, kann, um sein Leben und
seine Gesundheit zu erhalten,
das nehmen, was er dazu nö-
tig hat.« 1 Dem britischen
Lord BEVERIDGF. hatte er da-
mals geklagt: »Zum Hungern
auch noch frieren müssen ist
furchtbar, ein Vergehen ge-
gen die Menschlichkeit.« Daraus entsprang das geflügelte Wort >fringsen<
für das Organisieren von Lebensnotwendigem in der Notzeit. Als ein
amerikanischer Kontroll-Offizier an der ersten Fuldaer Bischofskonfe-
renz nach Kriegsende als Beobachter teilnehmen wollte, »bugsierte FRINGS

804
(ihn) mit dem Argument hinaus, selbst den Nazis sei so etwas nicht ein-
gefallen«.2
Wegen offener Worte wurde dem Kardinal sogar von jüdischer Seite
1967 der Vorwurf des Antisemitismus gemacht 1 und ihm vorgeworfen,
er habe Dinge gesagt, die
»sehr an die jüngste Nazi-
Vergangenheit erinner-
ten«. Die Presse berichte-
te über ein Treffen von
FRINGS und dem Präsiden-
ten der amerikanischen
Sektion des jüdischen
Weltkongresses, Rabbiner
NUSSBAUM: 4
»Der Zeitung zufolge
hat FRINGS dem Rabbiner
die Gründe für den Anti-
semitismus in der Zeit des
Nationalsozialismus erläu-
tert und zu NUSSBAUMS
Entsetzen unter anderem
gesagt: >Die J u d e n in
Deutschland vor HITLERS
Machtantritt hatten viel zu
großen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einfluß in diesem Vor allem im Winter
Lande. Die Juden jener Zeit hatten großen Reichtum erworben und tru- 1946 wurde tüchtig
>gefringst( - und das
gen diesen Reichtum öffendich zur Schau. Dies waren die Gründe, die
nicht nur in Köln.
psychologisch den Nationalsozialismus möglich machten. Heute gibt es
nur eine kleine jüdische Gemeinde, deshalb besteht keine nationalsozia-
listische Gefahr.«
FRINGS habe weiter erklärt, er bedauere die nationalsozialistischen Ver-
brechen, aber >auch die Alliierten begingen viele Sünden, beispielsweise
Bombardements von Dresden und der Kirchen«, 2 Ebenda, S. 63.
Nach Darstellung der jüdischen Wochenzeitung erklärte NUSSBAUM: 5Jüdische Allgemeine
>Ich erwiderte dem Kardinal, daß der Krieg zwar stets ein moralisches Zeitung, 1. 2. 1967.
Übel ist, daß man doch aber nicht die Kriegsbombardements mit dem 4 UPI-Meldung,
kalten, systematischen Mord von sechs Millionen Juden vergleichen kann.« Düsseldorf 1. 2.
Daraufhin habe FRINGS gefragt: >Sind Sie sicher, daß es sechs Millionen 1967; teilweise
Juden waren?«« zitiert in: National-
Früh wies FRINGS die Deutschen auf das wesentlichste Problem ihrer Zeitung, 1. 6. 2007.
Zukunft hin: »Die Zukunft des Volkes hängt nicht ab von der Zahl der 5 Zitiert in: National-
Kraftwagen, sondern von der Zahl der Kinderwagen.« 5 Rolf Kosiek Zeitung, 1. 6. 2007.

805
Fortbestehen der Tschechoslowakei und Gültigkeit
des Münchner Abkommens

m deutsch-tschechischen »Nachbarschaftsvertrag« (»2. Prager Ver-


I trag«)1 von 1992, der am 20. Mai 1992 mit Mehrheit im Bundestag und
am 20. Juni 1992 gegen Bayerns Einspruch im Bundesrat ratifiziert wur-
Links, von oben: de, heißt es in der langen Präambel unter anderem: »in Anerkennung der
Emil H A C H A und Tatsache, daß der tschechoslowakische Staat seit 1918 nie zu bestehen
Joseph T I S O . aufgehört hat«.

Rechts: Klaus KINKEL,

Helmut K O H L , Vaclav Diese Aussäge über das Fortbestehen des tschechoslowakischen Staa-
C L A U S und Josef ZIELE- tes ist falsch. Denn von 1939 bis 1945 bestand kein tschechoslowaki-
NIEC (v. I.) nach der scher Staat. Am 14. März 1939 beschlossen das Parlament und die Regie-
Unterzeichnung der rung der Slowakei die Unabhängigkeit ihres Staates und damit die
deutsch-tschechi- Trennung von Prag. Anschließend gab es nur noch den tschechischen
schen Erklärung am
21. Januar 1997 in Staat als Protektorat unter Präsident Emil HACHA und den selbständigen
Prag. slowakischen Staat unter seinem Präsidenten Prälat Joseph Tiso.
' Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischcn und
Slowakischen Föderativen Republik »über gute Nachbarschaft und freundschaft-
liche Zusammenarbeit« (2. Prager Vertrag) vom 27. Februar 1992, in Prag unter-
schrieben vom deutschen Außenminister Hans-Dietrich GENSCHER.

806
Schon am 16. März 1939 erklärte die polnische Regierung »ihre Be-
friedigung über die Proklamierung der Unabhängigkeit der Slowakei«,
deren Selbständigkeit und Grenzen von Warschau ausdrücklich anerkannt
würden, Gleichzeitig erkannte Ungarn die selbständige Slowakei an. An-
schließend erfolgten Anerkennungen etwa durch die Schweiz und den
Vatikan, Auch Großbritannien und Frankreich gaben eine >De-facto-
Anerkennung< der Slowakei ab. Die Sowjetunion erklärte durch ihren 2 »Ungereimtheiten
Botschafter in Berlin am 16. September 1939 die De-jure- und De-facto- im deutsch-tsche-
Anerkennung der Slowakei. In den folgenden Jahren bemühte sich Eduard chischen Nach bar-
B E N E S C H , Kopf der tschechischen Exilregierung in London, vergeblich schafts vertrag«, in:
darum, daß der Vatikan seine direkten Beziehungen zu Preßburg abbre- Informationen der
che.2 Zeitgescbichtlichen
Die - falsche - Behauptung vom ununterbrochenen Bestehen der Forschungsstelle
Ingolstadt, Nr. 14/15
Tschechoslowakei wurde sogar auch von direkt Betroffenen, vom Mini- November 1991/
sterpräsidenten der Slowakei, Jan C A K N O G U R S K Y , schon im Vorfeld des April 1992, S. 9.
Vertrages 1991 sowie vom späteren slowakischen Regierungschef Vladi- 3
Fritz Peter H A B E L
mir M E C I A R nach der Ratifizierung des Vertrags, unter Hinweis auf die Dokumente zur
slowakische Unabhängigkeit von 1939 bis 1945 bestritten. 3 Sudetenfrage, Langen
C A R N O G U R S K Y bestritt auch die Notwendigkeit eines Vertrages der Slo- Müller, München
wakei mit der Bundesrepublik, da es zwischen den beiden Staaten keine 2003, S. 934 in
offenen Fragen gebe.4 Anmerkung 4.
Zu erwähnen ist, daß der Vertrag von 1992 ohne jede Beteiligung der Darin wird auch
am meisten davon betroffenen Sudetendeutschen ausgehandelt wurde. auf Beiträge dazu
Bundeskanzler Helmut K O H L hatte dem Sprecher der Sudetendeutschen in der Süddeutschen
Zeitung, Nr. 235
Landsmannschaft, Harald NEUBAUER, mit Brief vom 11. Dezember 1990
vom 11. 10.1991,
mitgeteilt, daß er gern die Vorstellungen der Landsmannschaft entgegen- S. 8, sowie vom
nehme: »Eine Beteiligung von Vertretern der Landmannschaft an den 2Ö./27. 1.1991
Verhandlungen selbst ist jedoch nicht möglich.« 5 verwiesen.
Im oben genannten deutsch-tschechischen N achbarschaftsvertrag von 4 Süddeutsche Z-eitung,
1992 heißt es ferner in der Präambel: » . . . in Bestätigung des Vertrags Nr. 130, 8,/9. 6.
vom 11. Dezember 1973 über die gegenseitigen Beziehungen zwischen 1991, S. 2
der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozia- 5 HABEL, a a O .

listischen Republik auch hinsichtlich einer Nichtigkeit des Münchner (Anm. 3), S. 934 in
Abkommens vom 29. September 1938«.6 Anmerkung 5 b.
Auch diese Behauptung der Nichtigkeit ist falsch. Sie wurde schon in * Ebenda, S. 929.
die Präambel des Vertrags vom 11. Dezember 1973 gegen die historische
Wahrheit aufgenommen, indem es dort heißt: » . . . anerkennend, daß das
Münchner Abkommen vom 29. September 1938 der Tschechoslowaki-
schen Republik durch das nationalsozialistische Regime unter Andro-
hung von Gewalt aufgezwungen wurde.«
Richtig ist, daß das Münchner Abkommen von 1938 einleitend lautet:
»Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter

807
Jubelnde Menschen- Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des
massen beim Ein- sudetendeutschen Gebietes bereits grundsätzlich erzielt wurde, über fol-
marsch der deut- gende Bedingungen und Modalitäten dieser Abtretung und über die zu
schen Truppen im
ergreifenden Maßnahen übereingekommen. . .«" Das darin genannte »Ab-
Sudetenland. Die Ab-
tretung des Sudeten-
kommen über die Abtretung des sudetendeutschen Gebietes« besteht
landes war von Groß- aus dem Notenwechsel zwischen Prag und London sowie Paris vom 19.
britannien und und 21. September 1938. Darin hatten die beiden Westmächte Prag drin-
Frankreich mit Prag gend nahegelegt, das Sudetenland an das Reich abzutreten. Die Tsche-
vereinbart worden. choslowakei hatte dem am 21. September 1938 zugestimmt8 Die Anre-
gung dazu war von Prag selbst mit dem zunächst geheimgehaltenen
sogenannten N ECAS-Papier wenige Tage vorher zu den westlichen Haupt-
städten gekommen. Die Abtretung war also in Wirklichkeit weder »vom
nationalsozialistischen Regime«, sondern von den Westmächten eingelei-
tet, noch »unter Androhung von Gewalt« der Tschechoslowakischen Re-
publik »aufgezwungen« worden, sondern auf ihren eigenen Vorschlag
hin vereinbart worden.
Deswegen wird auch logischerweise in Punkt 2 des Münchner Ab-
kommens das Reich nicht erwähnt. Es heißt dort: »Das Vereinigte Kö-
nigreich, Frankreich und Italien vereinbaren, daß die Räumung des Ge-
7 HABEI., e b e n d a , bietes bis zum 12. Oktober vollzogen wird.«9 Das sind genau die drei
S. 4 1 5 . Mächte, die auf Wunsch der neuen Prager Regierung vom 20. Dezember
8 Ebenda, S. 409. 1918 die rechtswidrige Besetzung des Sudetenlandes durch die Tsche-
9 Ebenda, S.416. chen nach dem Ersten Weltkrieg im nachhinein abgesegnet und nun wie-
10 Beitrag Nr. 134,
der rückgängig gemacht hätten, während die USA und Deutschland (mit
»Das Münchener Deutsch-Österreich) die rechtswidrige Besetzung des Sudetenlandes 1918/
Abkommen 1938«. 1919 nicht gebilligt und dagegen protestiert hatten.10 Rolf Kosiek

808
Tschechen-Grenzschikane auf Benesch-Basis

ie menschen- und völkerrechtswidrigen B E N E S C H - D e k r e t e von


D 1945/46 spielen trotz aller Dementis und Beruhigungserklärungen
von Seiten deutscher Minister auch weiterhin in der Tschechei eine amt-
lich anerkannte Rolle und werden als Begründung der Ablehnung be-
rechtigter deutscher Forderungen immer wieder benutzt. Ein weiteres
Beispiel ereignete sich vor kurzer Zeit.
Im Vertrauen auf die Genauigkeit eines amtlichen Katasterplanes ge-
riet im Jahre 2004 ein oberösterreichischer Bauherr mit dem Dachvor-
sprung seines Neubaues unabsichtlich auf südböhmisches Gebiet. Die
Tschechen sahen die Grenze als verletzt an, forderten kostspielige Zu-
rechtstutzung des Daches und lehnten es kategorisch ab, die Angelegen-
heit im Wege eines zumutbaren Grundstücktausches zu erledigen.
In seinem Verlauf durch das oberösterreichische Mühlviertel berührt
der Nordwald-Kammweg die Ortschaft Guglwald in der Gemeinde Schön-
egg. Harmonisch schmiegt sich in stilvoller Bauweise die gleichnamige
Anlage mit Golfplatz in die romantische Landschaft. Doch die gemütli-
che Idylle trügt: Während sich die Hotelgäste in den vornehmen Suiten
der Wellneß-Residenz wohl fühlen, wurde das Befinden des Besitzers
behördlich gestört.
Wegen des guten Zuspruchs, dessen sich sein »Biologisches Dorf< beim
erholungsuchenden Publikum in steigendem Maße erfreut, hatte der krea-
tive Hotelier Dietmar H E H E N B E R G E R Anfang 2004 die Bewilligung für
einen 400 Quadratmeter großen Zubau beantragt, die ihm im Monat
März von der Baubehörde tatsächlich erteilt wurde. Der Planung wie
auch der Bauverhandlung lag ein amtlicher Katasterplan zugrunde, der
1994 im Zuge der allgemeinen Digitalisierung der Vermessungsdaten
ersteht worden war.
Nach Fertigstellung des Vorhabens trat plötzlich ein Knick der Gren-
ze auf den Plan, der bei der Digitalisierung angeblich übersehen worden
war. Auf diesem Grenzknick steht nun die zwölf Meter lange Außen-
mauer des Neubaus. Laut zwischenstaatlichem Vertrag muß der amtliche
Grenzstreifen jetzt überall einen Meter breit sein, damit die Beamten
ungehindert patrouillieren können. Die gemischte Kommission, in der
Vertreter beider Seiten gemeinsam über die Unantastbarkeit der Grenze
wachen, sah diese Grenze durch den Bau als schwerstens verletzt an: Das
Dach ragt ganze 22 Zentimeter weit von Österreich aus ins böhmische
EU-Inland hinein.
Statt die Regelung dieses Falles dem Geschick der österreichischen
Diplomatie zu überlassen, war die Bezirkshauptmannschaft Rohrbach

809
sofort mit einem Abbruchbescheid zur Stelle, obwohl der Katasterplan,
an den sich der Bauherr genau gehalten hatte, die Vermutung geometri-
scher Richtigkeit für sich hat und nach höchstrichterlicher Rechtspre-
chung auch Organe der hoheitlich handelnden Obrigkeit an den Grund-
satz von Treu und Glauben gebunden sind.
Da ein Abbruch des Daches samt Sonnenkollektoren 20 000 Euro ko-
sten würde, bot H E H E N B E R G E R den Tschechen einen flächengleichen
Grundtausch an. Von einer solchen eleganten Lösung wollten die tsche-
chischen Behörden indes nichts wissen, obwohl eigentlich kein vernünf-
tiger Grund gegen einen Austausch von ein paar Quadratmetern gewöhn-
licher Wiese spricht.
Hinzu kommt noch, daß sich das betreffende unbebaute Grundstück
auf böhmischem Boden bis zu der von B E N E S C H befohlenen Enteignung
der Deutschen im Jahre 1945 im rechtmäßigen Eigentum der Vorgänger
von Dietmar H E H E N B E R G E R befand. Nun wird der Raub auch noch dazu
mißbraucht, um Rechtsnachfolger der Beraubten über die Grenze hin-
weg zu schikanieren. Bekanntlich versteht man unter Schikane die Aus-
übung eines Rechtes, wenn diese nur den Zweck haben kann, einen an-
deren zu schädigen (vgl. § 226 BGB; § 1295 Abs. 2 ABGB). Um nicht
das ganze Gebäude abreißen zu müssen, sah sich der Hotelier zähneknir-
schend zum Nachgeben gezwungen und mußte das Dach um 22 Zenti-
meter auf eigene Kosten kürzen.
Da für das Beharren auf kostspieligen Maßnahmen unter Ablehnung
eines zumutbaren Grundtausches vernünftige Motive nicht erkennbar
sind, ist auf Schädigungsabsicht zu schließen.
Bekanntlich wurden berechtigte Bedenken gegen einen bedingungslo-
sen EU-Beitritt der Tschechei mit der Parole betäubt, die BENESCH-De-
krete seien heute nur mehr >totes Recht<, seien >obsolet< und ohne prakti-
sche Bedeutung. Die bösnachbarlichen Schikanen tschechischer
>EU-Inländer< im Rahmen der gerühmten »Euregio Bayerischer Wald-
Böhmerwaldi belehren jedoch eines besseren und beweisen aufs neue,
daß die BENESCH-Dekrete nicht totes Recht, sondern ganz im Gegenteil
quicklebendiges Unrecht sind. Fred Duswald

810
Walesas Erklärung zur Vernichtung Deutschlands

ech W a l e s a bekam als großer Gewerkschaftsführer und führende


L Persönlichkeit der Freiheitsbewegung in Polen vor 1990 den Frie-
densnobelpreis im Jahre 1983.Wie chauvinistisch und wenig friedfertig
er jedoch dachte, kam in einem Interview zum Ausdruck, das er im Früh-
jahr 1990 dem niederländischen Magazin Elsepier gab.1 Auf die Feststel-
lung, daß sich viele Polen Sorgen wegen der bevorstehenden Wiederver-
einigung Deutschlands machten, antwortete W a l e s a :
»Es gibt auch allen Grund für Besorgnis. Und nicht nur die Polen
müssen sich Sorgen machen, sondern auch Europa und eigentlich die
ganze Welt. Wir haben genügend Erfahrung mit einem vereinigten
Deutschland gemacht, die Deutschen übrigens selbst auch. Aber ich bin
davon überzeugt, daß beide, sowohl Europa als auch Deutschland, eine
Reihe von Schlußfolgerungen aus der Vergangenheit gezogen haben. Und Lech WALESA,

ich werde eine Äußerung machen, die mich in Deutschland nicht popu-
lär machen wird, aber ich schrecke nicht davor zurück: Falls die Deut-
schen von neuem Instabilität in Europa verursachen sollten, in welcher
Form auch immer, dann wird es in Zukunft nicht mehr zu einer Teilung
Deutschlands kommen, sondern wird Deutschland von der Landkarte
gefegt werden. Mit der fortgeschrittenen Technologie sind Ost und West
gemeinsam imstande, dieses Urteil zu vollstrecken. Falls Deutschland
Sein berüchtigtes In-
terview für das nieder-
ländische Magazin
Elsevier gab Lech
W A L E S A 1 9 9 0 - i n dem

Jahr, als er die Präsi-


dent schafts wählen in
Polen gewann. Am
27. Januar 1995 emp-
finger anläßlich des
50. Jahrestags der Be-
freiung des KL Ausch-
witz-Birkenau Knes-
set h-Präsident
Schewah W E I S S , Frank-
reichs 5ozial min isterin
Simone V E I L und Frie-
densnobelpreisträger
Elie W I E S E L (von links).
1 In weiteren Kreisen bekannt geworden durch den Abdruck im Pariser Le Figa-
ro, 4. 4.1990.

811
nochmals beginnt, gibt es keine andere Lösung, Ich bin davon überzeugt,
daß die Deutschen sich dieses Risikos selbst bewußt sind und daß dies
eine mäßigende Wirkung auf ihre Haltung in der polnisch-deutschen
Grenzfrage haben wird,« 2
Interessant ist, was die FAZ dem hinzufügt: »Der niederländische In-
terview partner hatte, wie er versichert, wegen der Formulierung >von der
Karte gefegt« sofort noch zwei weitere Male nachgefragt und immer wie-
der diesen Ausdruck bestätigt bekommen. Weiter habe W A L E S A gesagt,
daß Ost und West imstande seien, dies zu regeln.«
Damit war jedes sonst mögliche Mißverständnis ausdrücklich ausge-
räumt worden. Es gab kaum eine Entrüstung im deutschen Blätterwald,1
der Polen alles zubilligt, aber kein Dementi oder Rücknahme aus Warschau.
In einem Leserbrief schrieb nur ein Angehöriger der französischen Eh-
renlegion dazu kritisch: »Es liegt am Nobelpreiskomitee, darüber zu ent-
scheiden, ob der zum Kriegshetzer gewordene Friedensnobelpreisträger
und weltweit gefeierte Lech W A L E S A nach seinen skandalösen Erklärun-
gen in der holländischen Zeitschrift überhaupt noch der Ehre würdig ist,
die ihm zuteil wurde.« 4
Wo bleibt bei solch einer Erklärung das sonst von anderen Völkern
für sich beanspruchte und zu achtende »Lebensrecht« des deutschen Vol-
kes? Was wäre passiert, wenn ein hochstehender deutscher Politiker sol-
ches von Polen gesagt und darauf verwiesen hätte, daß Warschau den
Zweiten Weltkrieg durch seine unnachgiebige Haltung auslöste?
Wohl nicht zufällig predigte Polens Kirchenprimas Jozef G L E M P am
Ostersonntag: »Pangermanismus - davor fürchtet sich die ganze Welt.«5
Und das solches neben dem Raub der deutschen Ostgebiete vertre-
tende Polen wurde dann mit deutscher Hilfe gut zehn Jahre später Mit-
glied der Europäischen Union. Rolf Kosiek

2 Zitiert in E. L., »Walesa und Deutschland«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.


6.1990.
3 »Walesa für >Ausradierung Deutschlands«« in: Deutschland in Geschichte und Ge-

genwart, Nr. 2, 1990, S. 42; Herbert FISCH HR, »Doppelte Moral«, in: Bayernkurier,
21. 4. 1990.
4 Ferdinand Otto MIKSCHE., Leserbrief »Walesa und Deutschland«, in: Frankfur-

ter Allgemeine Zeitung, Tl. 4. 1990;


5 Zitiert von Herbert FISCHER, »Doppelte Moral«, aaO. (Anm. 3 ) .

812
Deutsche Parteien sponserten spanische Linke

n den Zeitgeist angepaßten Historikern und Publizisten gilt die


A »Befreiung* Spaniens vom FRANCO-Regime in den siebziger Jahren
als demokratische Großtat. Wenig bekannt ist allerdings, daß ausländi-
sche Gesinnungsgenossen, auch bundesdeutsche, tatkräfdge Unterstüt-
zung leisteten, damit sich die spanischen Neu-Demokraten erfolgreich
im Sattel halten konnten.
Die Regierung von SPD-Bundeskanzler Helmut S C H M I D T >sponserte<
nach dem Ende der SALAZAR-Regierung in Portugal (1974) und dem Tod
F R A N C O S ein Jahr später mit zweistelligen Millionenbeträgen linke Parteien
auf der iberischen Halbinsel und half so, in beiden Ländern gewisserma-
ßen Regierungen nach Wunsch einzusetzen.
Die Tatsachen dazu sind: Daß das Kanzleramt unter Helmut S C H M I D T
einen Geheimfonds unterhielt, mit dessen Mitteln die Bonner Parteien
politische Aktionen im Ausland Finanzieren konnten, weiß man schon
seit längerem. Aber erst nach Sichtung alter Geheimunterlägen aus der
SCHMIDT-Ära wurde bekannt, in welcher Höhe deutsche Gelder damals
nach Spanien und Portugal flössen. Die Rede ist von bis zu 40 Millionen
Mark, was auf der iberischen Halbinsel viel Geld war. Offiziell stammten
die Mittel aus dem Haushalt des Bundesnachrichtendienstes. Eingeweiht
in die damaligen Transfers waren lediglich der Präsident des Bundes-
rechnungshofes sowie ein dreiköpfiges Vertrauensgremium des Bundes-
tages, die sogenannte »Berichterstattergruppe für geheime Titel<
Die Bonner Polit-Investitionen fruchteten. In Spanien schafften die
Sozialdemokraten bei den ersten Wahlen nach F R A N C O S Tod auf Anhieb
fast dreißig Prozent. Auch die Gewerkschaftsbewegung wurde in Spanien
mit harter D-Mark wiederbelebt.
Die Aktion, die seinerzeit übrigens von flankierenden Unterstützungs-
transfers aus Schweden, Italien und Frankreich begleitet wurde, wirft
unangenehme Fragen auf. Die Frage etwa, wie es die Regierung S C H M I D T
mit dem Völkerrechtsprinzip der Nichteinmischung in die inneren An-
gelegenheiten anderer Länder hielt. Inzwischen sickerte durch, daß Bonn
die Transferzahlungen nicht zuletzt auf dezenten Druck der Amerikaner
begann, die nach dem Ende der Diktatoren ebenfalls an linksbürgerli-
chen Verhältnissen auf der iberischen Halbinsel interessiert waren. Doch
das ändert an den Tatsachen nichts: Die bundesdeutsche Regierung so-
wie eine Reihe anderer sozialdemokratischer Regierungen im Europa der
siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts setzten in Madrid und Lissabon Re-
gierungen nach eigenem Geschmack ein. Demokratie? Transparenz?
Fehlanzeige, Die sogenannte »Demokratisierung« auf der Iberischen Halb-

813
insel w a r zu erheblichen Teilen nichts anderes als eine Fremd Steuerung
von außen - Demokratie als Marionettentheater?
Uneigennützig war der deutsche Geldsegen für die Genossen in Spa-
nien und Portugal offenbar nicht. Denn mittlerweile häufen sich die In-
dizien dazu, daß von den seinerzeitigen Millionensümmchen erkleckli-
che Beträge wieder an die Bonner Parteien zurückgeflossen sind. Allein
bei der SPD tauchten dubiose Belege über Millioneneinnahmen aus der
Zeit des damaligen Schatzmeisters Alfred NAU auf. Auch bei der bayeri-
schen CSU mußte der langjährige frühere Vertrauensmann Erich R I E D L
einräumen, »daß es, theoretisch zumindest, etwaige Rückflüsse an die
Parteien geben konnte«.
Für die Union hat sich die finanzkräftige Einmischung nicht gelohnt:
Die von der CDU gesponserte katalanische Splitterpartei kam trotz har-
ter D-Mark aus dem Konrad Adenauer-Haus nur auf drei Prozent der
Stimmen. S C H M I D T S SPD hatte, mit dezenter Unterstützung des BND,
mit mehr Erfolg investiert. Die Union dürfte sich an den von R I E D L ange-
deuteten »Rückflüssen« schadlos gehalten haben. Sie verfolgen die Partei -
Stichwort »Spendenaffäre« — bekanntlich bis heute. Karl Richter

814
US-Streitkräfte lernen von der Wehrmacht

n den letzten Jähren sorgten Presseberichte für ungläubiges Stau-


I nen in der Bundesrepublik, wonach amerikanische Militärs und Sicher-
heitsexperten — ganz im Gegensatz zu deutschen Politikern - voller Be-
wunderung für die ehemalige deutsche Wehrmacht seien. Das verwun-
dert nicht. Fachleute sind sich darin einig, daß das deutsche Heer in zwei
Weltkriegen das beste der Welt war - für die US-Streitkräfte ein klassi-
scher Fall zur Nachahmung. Amerikaner waren sich dafür nie zu schade.
Sie sind schnell im Kopieren und Umsetzen, und gute Erfindungen er-
langen in den USA oft schneller Praxisreife als in den Ursprungsländern.
Der unfreiwillige Einfluß der Wehrmacht auf die US-Streitkräfte ist
sehr weitreichend. Im Bundesstaat Kansas gibt es in Fort Leavenworth
eine Hochschule der US-Army, die sich »Command & General Staff
College* nennt, zu deutsch etwa: Akademie für Kommando- und Gene-
ralstabsängelegenheiten. Angeschlossen ist dieser Einrichtung unter an-
derem eine eigene Forschungsbibliothek, die >Combined Arms Research
Library* (>Forschungsbibliotbek der verbundenen Waffen*).
Dieser Begriff macht stutzig, denn er verweist auf die Taktik der »ver-
bundenen Waffen*, eine Errungenschaft des deutschen Heeres in der
Schlußphase des Ersten Weltkrieges, die zunächst das Zusammenwirken
von Infanterie und Artillerie zum Gegenstand hatte und später auch die
Luftwaffe einbezog. Es war der Generalstabschef und nachmalige Schöp-
fer der Reichswehr, Generaloberst Hans VON SEECKT, der Anfang der zwan-
ziger Jahre die Prinzipien der neuen Taktik in einer von ihm verfaßten
Dienstvorschrift erstmals niederlegte. Der Titel lautete Führung und Ge-
fecht der verbundenen Waffen. Die Vorschrift erschien in zahlreichen Aufla-
gen und wurde bis in die dreißiger Jahre hinein ständig aktualisiert.
Es ist denn auch kein Zufall, daß sich eine Veröffentlichung der Heeres-
akademie von Fort Leavenworth ausführlich mit S E E C K T S Einfluß auf
die Taktik der Wehrmacht in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkrieges
befaßt. Verfaßt hat das umfangreiche Werk ein Major der US-Army na-
mens Timothy A. W R A Y (Standing Fast: German Defensive Doctrine on the
Russian Front Düring World War 11 Prewar to March 1943, 1 9 8 6 ) .
Anders als bundesdeutsche Fachleute — auch solche der Bundeswehr
- ist W R A Y weit davon entfernt, die Leistungen der Wehrmacht kleinzu-
reden oder zu schmähen. Im Gegenteil empfiehlt er amerikanischen Trup-
penführern die Erfahrungen der Wehrmacht ausdrücklich zur Nachah-
mung. Ihre flexible und überaus moderne Verteidigungstaktik habe die
deutschen Einheiten gerade in kritischen Phasen des Zweiten Weltkrie-
ges immer wieder vor der Vernichtung bewahrt.

815
Damit ist noch nicht genug. Noch eine weitere Veröffentlichung der
Führungsakademie von Forth Leavenworth würdigt die Erfahrungen der
Wehrmacht, und zwar mit der erklärten Absicht, sie für die amerikani-
schen Streitkräfte nutzbar zu machen. In diesem Fall begnügte sich die
US-Army damit, ein deutsches Werk einfach zu übersetzen. Es handelt
sich um eine zweibändige Darstellung des Wüstenkrieges, die 1952 von
Generalmajor Alfred T O P P E und neun ehemaligen Kommandeuren des
Afrikakorps verfaßt wurde und die die spezifischen Herausforderungen
des Krieges im Wustengebiet behandelt.
Über die Nutzanwendung dieser Dokumentation für die US-Army
schreibt Herausgeber Roger J. SPILLER im editorischen Vorbericht: »Nicht
anders als viele US-Einheiten im Krieg im Irak lernten die Deutschen in
Nordafrika mit den Kampfbedingungen in der Wüste erst umzugehen,
nachdem sie am Schauplatz des Geschehens angekommen waren und
unmittelbar mit den Gesetzen der Wüste konfrontiert wurden. Schon
allein aus diesem Grunde. . . verdient >Desert Warfare< Beachtung bei der
Vorbereitung der US-Streitkräfte auf künftige Konflikte im Wüstenter-
Alfred T O P P E , Desert rain.«
Warfare: German Ex- In der Bundesrepublik ist das Werk von 1952 längst vergessen. Auch
periences in World im Internet ergibt die Recherche keine brauchbaren Suchergebnisse in
War II, 1991.
deutscher Sprache. Amerikanischen Offizieren dagegen steht das Buch
schon seit Anfang der neunziger Jahre in einer unveränderten Überset-
zung zur Verfügung (Desert Warfare: German Experiences in World War II,
1991).
Noch der Irak-Krieg im Frühjahr 2003 wird von amerikanischen Mili-
tärexperten ohne Berührungsängste mit Feldzügen der Wehrmacht ver-
glichen. Ein Beitrag in der angesehenen New Yorker Fachzeitschrift für
internationale Politik, Foreign Affairs, zieht einen Vergleich mit den Blitz-
kriegen der Wehrmacht. Wörtlich heißt es darin: »Vor dem zweiten Irak-
Krieg war der Gold-Standard für exzellente militärische Operationen der
deutsche Blitzkrieg in den Niederlanden und Frankreich 1940. Die Deut-
schen haben es fertiggebracht, Frankreich, die Niederlande und Belgien
in lediglich 44 Tagen zu erobern. Dabei fielen nur 27 000 deutsche Solda-
ten. Die USA und Großbritannien haben jetzt nur 26 Tage gebraucht,
um den Irak zu erobern, mit nur 161 Gefallenen, was im Vergleich legen-
däre Generale wie Erwin Rommel und Heinz G U D E R I A N verblassen läßt.«
Der Verglich hinkt. Denn der Gegner, mit dem es die Wehrmacht 1940
zu tun hatte, war dieser bei weitem nicht im gleichen Maße unterlegen
wie die Iraker den Alliierten im Frühjahr 2003. So verfügten die Franzo-
sen 1940 über große Mengen moderner Panzer, und die britische Luft-
waffe war ein ebenbürtiger Gegner für die deutsche. Dagegen waren die
irakischen Streitkräfte den Amerikanern und Briten von Anfang an hoff-

816
nungslos unterlegen. Sie verfügten weder über eine Luftwaffe, noch über
computergesteuerte Präzisionswaffen, noch über Satellitenaufklärung,
noch über ein leistungsfähiges militärisches Kommunikationssystem. Der
Irak-Krieg 2003 war ein Konflikt zwischen der besten Armee der Welt
und einer Dritte-Welt-Armee.
Außerdem weiß man inzwischen, daß mehrere Befehlshaber der iraki- Szene aus dem dritten
schen Republikanischen Garden von den Amerikanern schlichtweg be- >Blitz<-Golfkrieg der
stochen worden waren und deshalb ihre Truppen gar nicht erst in den US-Amerikaner 2 0 0 3 .
Ein Vergleich mit den
Kampf schickten - unter anderen berichtete die Süddeutsche Zeitung dar-
deutschen Feldzügen
über (28./29. 5. 2003). Auch solche Methoden hatte die Wehrmacht des 1 9 3 9 und 1 9 4 0 hinkt,
Jahres 1940 nicht nötig. da damals der Wider-
Der amerikanischen Begeisterung für das deutsche Vorbild tut dies aber stand ein ganz ande-
keinen Abbruch. So schwärmte im Jahre 2002 kein Geringerer als US- rer war.
Verteidigungsminister R U M S -
FELD in einem anderen Beitrag
für Foreign Affairs vom »Ger-
man Blitzkrieg«, der die »mo-
derne Kriegführung revolutio-
niert« habe. Die Deutschen
hätten nämlich eine »absolut
tödliche Kombination aus klei-
nen, aber hochqualifizierten
und modernen Einheiten ent-
wickelt«.
Mit diesem Urteil steht
RUMSFELD nicht allein. Von ei-
nem der führenden amerikani-
schen Militärexperten, Walter
Rüssel MEAD, stammt eine auf-
sehenerregende Neuerschei-
nung über die deutsche Krieg-
führung 1939-1945; Titel: Special
Providence - zu deutsch: »Besondere Vorsehung*. Auch M E A D lobt die
Wehrmacht in höchsten Tönen. Sie habe, schreibt er, »einen ziemlichen
Grad an Respekt bei Amerikanern und Briten gewonnen. General Erwin
R O M M E L etwa wird sogar unter (konservativen) Amerikanern als militäri-
scher Held angesehen, als ehrenwerter Gegner. Kein japanischer Krieger
etwa hat je einen solchen Status erreicht.«
Das Pentagon richtete sich in den letzten Jahren im übrigen sehr kon-
kret am Vermächtnis der Wehrmacht aus. Bei den Vorbereitungen zum
Einmarsch in Afghanistan im Rahmen der Operation »Enduring Free-
dom« griffen die US-Planer unter anderem auf deutsche Vorarbeiten zu-

817
rück. Dies bot sich an, denn im Zuge der Planungen für den Rußland-
feldzug liefen seinerzeit beim Oberkommando des Heeres (OKI I) auch
Überlegungen um, in Afghanistan mit Wehrmachteinheiten Fuß zu fas-
sen, um von dort Druck auf das englisch besetzte Indien auszuüben. In
Masar-i-Scharif sollte ein militärisches Hauptquartier eingerichtet wer-
den, um vom Norden her Aufstände zu organisieren.
Über den Feldzug in Afghanistan hinaus entwickelte Generalstabschef
H A L D E R im April 1941 auch erstaunlich aktuell anmutende Forderungen
für die Aufstellung schneller Eingreifverbände, die überall auf der Welt
einsetzbar sein müßten. In den heute im Freiburger Bundesarchiv/Mili-
tärarchiv liegenden Ausarbeitungen ist unter anderem zu lesen: »Die un-
geheure Weite der Räume und Unzulänglichkeit der Eisenbahnverbin-
dungen zwingen 1.) zur Schaffung einer Lufttransportflotte, mit der zwei
Divisionen gleichzeitig befördert werden können, 2.) zu Vorkehrungen,
um mit Hilfe zugeführten Kraftwagen-Transportraumes Infanteriedivi-
sionen. .. verschieben zu können.« Diese neuen Verbände sollten einen
Pfeiler der künftigen Heeresplanung bilden und in Krisensituationen auch
außerhalb der Reichsgrenzen eingesetzt werden können.
Wen diese Pläne an das >Krisenreaktionskräfte<-Konzept der Bundes-
wehr erinnern, der ist auf der richtigen Fährte. Auch die aktuelle Zusam-
menarbeit Washingtons mit der afghanischen Nordallianz wirkt vor dem
Hintergrund der Wehrmacht-Planungen verdächtig bekannt. Kein Wun-
d e r - die Afghanistan-Akten des OKH wurden nach 1945 mit den ande-
ren Akten der Operationsabtedung des I leeres summarisch als >captured
documentSK in die ÜSA abtransportiert, wo sie nach Auffassung des Stutt-
garter Geschichtsdozenten Tobias J E R S A K »wie andere Wehrmachtspläne
auch. . . im Pentagon bei der Planung eigener Militäroperationen noch
immer herangezogen werden«.
Die Generalstabsstudie von 1941 gibt den US-Marines von heute al-
lerdings auch eine Warnung mit: »Teilen eines zäh und gewandt fechten-
den Gegners wird es jedoch möglich sein, in unwegsames Gelände aus-
zuweichen. Den Gegner auch dort aufzusuchen und zu schlagen ist
Voraussetzung für den endgültigen Erfolg.« Davon konnten schon die
Russen nach 1979 in Afghanistan ein Lied singen.
So oder so: Bei bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigern stößt die
Wehrmacht-Begeisterung amerikanischer Militärplaner auf pures Unver-
ständnis. Wenn die Bundeswehr in den nächsten Jahren auch als weltweit
einsetzbare Interventionstruppe nicht über den Status einer Vasallen-
Streitmacht hinauskommt, dann gibt es dafür jedenfalls eine einfache
Erklärung: Sie distanziert sich von der Wehrmacht, während die Ameri-
kaner von ihr lernen. Karl Richter

818
Das >ganz besondere Verhältnis<
der BRD zu Israel

W Israel«, behauptete Joschka F I S C H E R als Bundesaußenminister bei


vielen Gelegenheiten, Obligatorische Solidaritätserklärungen mit Israel
und dem jüdischen Volk — keineswegs »Gesellschaft«! — zählen zum Stan-
dardrepertoire eines jeden Vertreters der in den Bundestag gewählten
Parteien.1 Bereits im November 1998, unmittelbar nach dem >Regierungs-
wechsel in Berlin, hatte F I S C H E R erklärt, die »neue deutsche Regierung«
fühle Israel gegenüber »eine besondere Verantwortung«. Mit dieser Pau-
schalbehauptung erweckte er den Anschein, als ob die »alten deutschen
Regierungen« von Helmut K O H L bis Konrad A D E N A U E R diese »besondere
Verantwortung« nicht »gefühlt« hätten. Eine solche Annahme ist jedoch
falsch. Philosemitisches und einseitig pro-israelisches Engagement von
Seiten bundesdeutscher Politiker ist seit Gründung der BRD eher die
Regel als die Ausnahme. Es hat noch nie eine Bundesregierung gegeben,
die von diesem absoluten Standpunkt abgerückt ist und in der Nahost-
politik einen objektiven Standpunkt vertreten hat.
In der Öffentlichkeit ist die Tatsache wenig bekannt, daß es im Bun-
destag eine »Fraktion« namens >Deutsch-Israelische Parlamentariergruppe<
gibt, die die zweitgrößte Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag
überhaupt darstellt. Dem derzeitigen stellvertretenden Vorsitzenden die-
ser Gruppe und Vizepräsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft,
Reinhold R O B B E , zufolge mache das »schon deutlich, daß viele Kollegin-
nen und Kollegen aus allen Fraktionen vertreten sind, bei denen Herz-
blut am Thema hängt. Entweder aufgrund der historischen Situation oder
aufgrund von persönlichen Bezügen kümmern sie sich um die Pflege des
deutsch-israelisehen Verhältnisses«."
In jeder Legislaturperiode gehören dieser Gruppe etwa 125 bis 132
Abgeordnete an, die sich aus allen im Bundestag vertretenen Parteien
zusammensetzen. Darunter befinden sich oftmals auch Partei- und Frak-
tionsvorsitzende und Minister. Es überrascht aus diesem Grunde nicht,
daß sich durch alle im Bundestag vertretenen Parteien die »unbedingte
Solidarität mit Israel« wie ein roter Faden zieht. Nicht selten kommt es
zu übergreifenden Solidaritätserklärungen zwischen Vertretern vermeint-

1 Vgl, Harald NEUBAUER, »Wer stoppt Israel?« in: Nation & Europa, 5 , 2002,
S 3 f.
2
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/189374/

819
lich entgegengesetzter Parteien: Christian S C H M I D T , Außenpolitischer
Sprecher der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, beispielsweise
solidarisierte sich mit Joschka FISCHER und bestärkte den Grünen darin,
»daß er in der Kontinuität aller deutschen Bundesregierungen bleibt und
daß er das Existenzrecht Israels über eine vermeintlich einheitliche euro-
päische Nahostpolitik stellt. Insbesondere muß die Bundesregierung auch
den Anspruch Israels auf gesicherte Grenzen mit vertreten«. 1
Auch die ehemalige Sekretärin für Agitation und Propaganda der Frei-
en Deutschen Jugend (FDJ) an der Akademie der Wissenschaften Berlin
(>Hauptstadt der DDR<) und heutige Bundeskanzlerin Angela M E R K E L
gehört der oben genannten Parlamentariergruppe des Bundestages an.
Ihre Grundsätze im deutsch-jüdischen oder deutsch-israelischen Verhält-
nis hatte sie, zu jener Zeit noch Kanzlerkandidatin der Union, in einem
Interview mit dem jüdischen Magazin Tribüne dargelegt. Die wesentli-
chen Kernaussagen aus diesem Gespräch tauten:
> »Ich plädiere sehr dafür, daß Deutschland seiner besonderen Ver-
antwortung gegenüber Israel in seiner Politik immer gerecht wird.«
> »Gerade Deutschland muß sich aufgrund einer sehr spezifischen
Beziehung zum Staat Israel für die Belange Israels in der Europäischen
Union deutlich einsetzen.«
In einer Ansprache vor dem >Jewish Community Relations Council im
März 1999 in New York hatte Joschka FISCHER betont, daß die jüdisch-
deutschen Beziehungen für ihn zu den wichtigsten seines politischen
Lebens gehörten, um anschließend klar zu machen, daß es »keinen Schluß-
strich« geben könne. Damit meinte er die andauernden »Wiedergutma-
chungszahlungen« an Israel und die Finanzspritzen an jüdische Organi-
sationen ebenso wie einschlägige Gedenkfestwochen, Mahnstunden,
Fernsehdebatten usw., die zum festen Bestandteil des bundesdeutschen
Selbstverständnisses gehören. Auf einer gemeinsamen Veranstaltung des
>Zentralrats der Juden< und des Europäischen Jüdischen Kongresses* am
Joschka F I S C H E R in 15 Mai 2002 im Berliner Hotel Adlon bekräftigte FISCHER rigoros »die
einer Berliner historische Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel«, welche die
Synagoge. Grundlage »deutscher Politik« sei und sein werde. 4 Mit dieser Erklärung
unterstrich der Grünenpolitiker einmal mehr, auf welcher Grundlage die
BRD aufgebaut ist: auf der doppelten Kollektivschuldanerkennung, na-
mentlich der Anerkennung der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands, so-
wie auf der Anerkennung der These von der systematischen Ermordung

3 Vgl. Jüdische Allgemeine, 2. 2. 2002, S. 1.


4 Vgl. Spiegel Special, Nr. 2 , 1 9 9 2 , S . 6 8 . Näheres auch bei Claus NORDBRUCH, Der
Angriff, Hohenrain, Tübingen 2003.

820
Von links: Ernst TU-
GEND HAT,Salcia L A N D -
MANN und

Julius H. S C H O E P S ,
Gründer und Leiter
des Moses-Mendels-
sohn-Zentrums für
europäisch-jüdische
Studien.

von sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkrieges, die gemein-
hin als >Holocaust< bezeichnet und als geschichtliche Wahrheit manife-
stiert, durch das Strafgesetzbuch geschützt und einer vorurteilsfreien
wissenschaftlichen Analyse vorenthalten wird."
Indes stoßen gerade in der jüdischen Welt die unablässige »Bewälti-
gung des Holocaust* der offiziellen BRD und deren hierauf aufbauende
politische Handlungsweise nicht unwidersprochen auf Zustimmung.
Bereits 1 9 8 6 warnte der jüdische Jurist Franz O P P E N H E I M E R in der Frank-
furter Allgemeinen Zeitung die Deutschen vor »kollektiver Schuldbesessen-
heit«.6 Diese Warnung wurde in den Wind geschlagen. Statt dessen inten-
sivierte das bundesdeutsche Establishment den Kult mit der Schuld immer
weiter. 1 9 9 1 stellte der jüdische Philosoph Ernst T U G E N D H A T in der Zeit
die Frage, »warum die Deutschen die Schuld am Holocaust so irrational
verarbeitet« hätten, und führte weiter aus: »Es ist diese irrationale Verar-
beitung, die sie dazu disponiert, einzuknicken, wenn von den Israelis
mit dem Finger auf sie gezeigt wird.«" Auch Salcia L A N D M A N N diagnosti-
zierte 1991 in der Welt bei den Deutschen eine »kollektive Bußbereit-
schaft wegen Auschwitz, die schon lange irrationale, massenpsychoti-
sche Elemente birgt«, und der jüdische Historiker Julius H. S C H O E P S , Sohn
des preußisch-jüdischen Philosophen Hans-Joachim SCHOEPS und Direk-
tor des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam, faßte die neudeut-
sche Psyche, mancherorts auch als Psychose kritisiert, 2001 im Außau

5 Vgl. »Das Fundament, auf dem die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut


ist«, in: Claus NORDBRUCH, ebenda, sowie Claus NORDBRUCH, »Zur »Offenkun-
digkeit des Holocaust*. Die Wi sse n schafts frei he it in Frage«, in: Deutschland in
Geschichte und Gegenwart, Nr. 2,2006, S. 20-24; Beitrag Nr. 430, »Zur »Offenkun-
digkeit* des Holocaust«.
6 Vgl. Franz OPPENHEIMER, »»Vorsieht vor falschen Schlüssen aus der deutschen

Vergangenheit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 5. 1986, S. 10 f.


Ernst TUGENDHAT, »Der Golfkrieg, Deutschland und Israel«, in: Die Z.eit, 2 2 . 2 .
1 9 9 1 , S. 6 2 .

821
wie folgt zusammen: »Die deutsche Gedenkkultur hat fast selbstquäleri-
sche Züge angenommen. . . Es gibt in Deutschland eine Sucht, jüdischer
als die Juden sein zu wollen. Darüber ist noch wenig nachgedacht wor-
den. Es wäre jedoch unbedingt notwendig, denn mittlerweile hat dieses
B Zitiert nach David Syndrom krankhafte Züge angenommen,« 8
K O R N , Das Netz Besagte »krankhafte Züge« spiegeln die außenpolitischen Handlungs-
Israels Lobby in weisen der BRD mit entsprechenden Folgen wider. Im August 2006 bei-
Deutschland, Mün- spielsweise, also zu einem Zeitpunkt, da der »dauerhafte Friede« einen
chen 2003, S. 179.
seiner jüngsten Höhepunkte erlebte, antwortete Bundeskanzlerin Angela
M E R K E L in einem Interview mit der Welt auf die Frage, ob der israelische
Ministerpräsident Ehud O L M E R T um deutsche Soldaten auch an der liba-
nesischen Grenze »gebeten« und die »israelische Öffentlichkeit dafür
Sympathie« gezeigt habe: »Ja, und während ich das sage, weiß ich, daß die
Aussagen von Ehud O L M E R T ein bemerkenswerter Vertrauensbeweis
waren, Sie haben gezeigt, welche Wertschätzung wir Deutschen in Israel
erfahren. Ich habe mich über dieses Vertrauen in Deutschland gefreut.
Wir als Regierung wissen: Wir können uns nicht heraushalten, weil wir
eine historische Verantwortung gegenüber Israel haben. Das Existenz-
9 »Warum sollen recht Israels gehört zur deutschen Staatsräson.«'J
unsere Soldaten in Der israelische Historiker und Friedensaktivist Reuven M O S K O V I T Z
den Libanon, Frau versuchte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk unmittelbar vor
Merkel?« in: Die Ausbruch des jüngsten Krieges gegen den Libanon 2006 dieses Bild, das
Welt, 20. 8. 2006.
deudich »krankhafte Züge« trägt, geradezurücken, indem er hervorhob,

Bundeskanzlerin
Angela MERKEL emp-
fing im Dezember
2 0 0 6 Ehud O L M E R T in
Berlin und bekräftigte
das besondere Ver-
hältnis Deutschlands
zu Israel.

822
Deutsche Fahne im zerstörten Südbeirut im Au-
gust 2006. Die Entsendung deutscher Soldaten
vor der Küste Libanons könnte das Verhältnis
der arabischen Welt zu Deutschland, das sich
zum Schutz Israels verpflichtet hat, mittelfristig
grundlegend verändern.

daß die bundesdeutschen Stellungnahmen


zur israelischen Politik »eine kolossale Lüge«
seien, denn tatsächliche führe Israel »eine
aggressive Politik, die uns nur in den Ab-
grund führen kann«.10
Dem Journalisten Knut M E L L E N T H I N ge-
lang es am 29. Juli 2006, das von der Bun-
desregierung gezeichnete Bild zu korrigie-
ren: »Zugleich erinnerte M E R K E L an die
besondere Verantwortung Deutschlands ge-
genüber Israel. >Die Hisbollah spricht Israel
das Existenzrecht ab. Es ist eine geschicht-
liche Verpflichtung deutscher Politik, unver-
brüchlich für das Existenzrecht Israels ein-
zutreten«, sagte sie. >Wir müssen uns immer
klar machen, daß die derzeitige Krise von
der Hisbollah ausgelöst worden ist.« Diese
habe Israel über Monate mit Raketen be-
schossen. ,. Ich unterstelle, daß das Zitat
korrekt wiedergegeben ist, und frage mich,
wer dafür verantwortlich ist, daß die Person,
die dieses Land nach außen repräsentiert,
so peinlich schlecht informiert ist: Vor dem
israelischen Angriff [am 12. Juli 2006] hat Hisbollah definitiv keine Ra- 10 Reuven M O S K O -
keten nach Israel geschossen. Das war bekanntermaßen die Politik der virz, »»Gezieltes
Hisbollah schon seit Jahren, nämlich seit dem israelischen Abzug aus Brand stiften««
dem Südlibanon, Vielleicht hat sich Frau M E R K E L von Micha B R U M L I K (Interview im
Deutschlandfunk
[ein in Deutschland dozierender einschlägig bekannter jüdischer Antifa- am 15. 7. 2006), in:
schist] »informieren« oder inspirieren lassen, der am Freitag wahrheits- http://
widrig in der taz schrieb: »Hisbollah quält Israel seit Monaten mit Rake- www.dradio.de/dlf/
ten.««11 Sendungen/
M E R K E L S Unkenntnis über die tatsächlichen Umstände spiegelt sich interview_dlf/
hier nicht zum ersten Mal wider. Bereits ein halbes Jahr zuvor, in ihrer 520534/
Rede auf der 42. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 4. Fe- 11 http://www,stein-
bruar 2006, bewies die Kanzlerin, daß sie, wie ihre Vorgänger und Kolle- bergrecherche.com/
gen im Bundestag, nicht nur wenig Ahnung über die tatsächlichen Ursa- frmellenthin.htm

823
chen der kriegerischen Auseinandersetzungen im Vorderen Orient hat,
sondern auch, daß sie, ohne sich mit jedweder Kompetenz zu belasten,
Alltag im Nahen die Argumentation Israels, der einzigen Atommacht im Vorderen Ori-
Osten. ent, kritiklos übernimmt. In grenzenloser Anmaßung behauptete sie: »Das
Nuklearprogramm des Iran er-
weckt den berechtigten Argwohn,
die berechtigte Sorge, die berech-
tigte Befürchtung, daß es hierbei
nicht um die friedliche Nutzung
der Kernenergie geht, sondern daß
es hierbei auch um militärische
Optionen geht. Der Iran hat mut-
willig — ich muß das leider so sa-
gen — die ihm bekannten >roten
Linien« überschritten. Ich muß hin-
zufügen, daß die völlig inakzepta-
blen Provokationen des iranischen
Präsidenten für uns natürlich Re-
aktionen notwendig machen. Ich
sage dies ganz besonders als deut-
sche Bundeskanzlerin: Ein Präsi-
dent, der das Fixistenzrecht von Is-
rael in Frage stellt, ein Präsident,
12 http:// der die Existenz des Holocaust leugnet, kann nicht erwarten, daß Deutsch-
www.security land in dieser Frage auch nur die geringste Toleranz zeigt. Wir haben aus
conference.de/ unserer Geschichte gelernt.« 12
konferenzen/
Dieser angeblich abgeleistete Lernprozeß wird gerade durch »das be-
rede.php?id=
170&sprache=de& sondere Verhältnis« der BRD zu Israel widerlegt. Diese Widerlegung wird
13 Ebenda, durch die unabsehbaren Folgen der bundesdeutschen Haltung unterstri-
14 Vgl. Claus NORD-
chen: 2 0 0 5 wandte sich Joschka FISCHER, wie er es nannte, gegen »unge-
rechtfertigte oder einseitige Kritik an Israel« und behauptete: »Aus unse-
BRUCH, »»Friedens-
missionen< — Die rer historisch-moralischen Verantwortung für Israel heraus gilt unsere
BRD macht den besondere Aufmerksamkeit auch dem Friedensprozeß zwischen Israel
guten deutschen und seinen Nachbarn. . . Was wir, Deutschland und Europa, im Rahmen
Ruf in den arabi- unserer Möglichkeiten tun können, um dabei zu helfen, einen dauerhaf-
schen Staaten ten Frieden zu erreichen, das wollen wir auch weiterhin tun.«13 Offenbar
zunichte«, in: Euro- sieht die Bundesregierung ihre Möglichkeiten, im Nahen Osten einen
Kurier, Nr. 5,2006, »dauerhaften Friedens zu erreichen«, nicht mehr nur in den seit fünf
S. 4 ff.
Jahrzehnten andauernden Waffenlieferungen an Israel, sondern mitder-
15 Siehe Beitrag Nr,
weile sogar in der Entsendung deutscher Soldaten in dieses Kriegsge-
709, »Deutsche
biet.14, 15 Claus Nordbruch
Waffenlieferungen
an Israel«.

824
Deutsche Waffenlieferungen an Israel

»Natürlich haben wir aufgrund unserer Geschichte eine besondere Ver-


antwortung für die 6 Millionen in Israel lebenden Juden und speziell auch
für die Anerkennung des Existenzrechtes Israels. Dieser Verantwortung
dürfen wir uns nicht entziehen«, behauptete 2006 Rainer A R N O L D , Ver-
teidigungsexperte der SPD-Bundestagsfraktion, 1 und verlieh mit dieser
Äußerung der üblichen Grundhaltung Ausdruck, die bundesdeutsche
Berufspolitiker2 allgemein einnehmen, sobald sie in Sachen Waffenex-
porte nach Israel zur Rede gestellt werden.
Die geltende Gesetzeslage scheint dieser Pauschalbehauptung in mehr-
facher Hinsicht zu widersprechen. Das bundesdeutsche Grundgesetz
nimmt zur Thematik Lieferungen von Kriegswaffen an Drittländer ein-
deutig Stellung:
> Die Präambel des Grundge
»dem Frieden der Welt zu dienen«. 3

> Artikel 26 des Grundgeset


griffskrieges; Kriegswaffenkontrolle] lautet:
»(1) Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen
werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbeson-
dere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungs-
widrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.
(2) Zur Kriegsführung bestimmte Waffen dürfen nur mit Genehmi-
gung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht
werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.«4
> Dieses Bundesgesetz, das sogenannte Kriegswaffenkontrollgesetz,
formuliert in § 2:
»1) Wer Kriegswaffen herstellen will, bedarf der Genehmigung.
(2) Wer die tatsächliche Gewalt über Kriegswaffen von einem anderen
erwerben oder einem anderen überlassen will, bedarf der Genehmigung.«5
^ In § 6 (2) werden schließlich drei Sachverhalte benannt, bei denen
die Ausfuhr von Kriegswaffen in jedem Fall zu untersagen ist, nament-
lich, wenn
1 Rainer ARNOLD-> (Verteidigungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der
SPD), e-Brief v. 23. 11. 2006 an den Verfasser.
2 Siehe Beitrag Nr. 708, »Das >ganz besondere Verhältnis« der BRD zu Israel«.
3 Zitiert nach: http://www.datenschutz-berlin.de/recht/de/gg/ggl_de.htm
A Zitiert nach ebenda.
5 Zitiert nach: http://www.waffen-sachkunde.com/Recht/KriegswaffenKon-

trollGesetz/k riegs wa ffenkontrollgesetz.html

825
»1, Grund zu der Annahme besteht, daß ihre Erteilung dem Interesse
der Bundesrepublik an der Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu an-
deren Ländern zuwiderlaufen würde,
[...] (3) Die Genehmigung ist zu versagen, wenn
1. die Gefahr besteht, daß die Kriegswaffen bei einer friedenstören-
den Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet wer-
den,
2. Grund zu der Annahme besteht, daß die Erteilung der Genehmi-
gung völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder
deren Erfüllung gefährden würde,
3. Grund zu der Annahme besteht, daß eine der in Absatz 2 Nr. 2
genannten Personen die für die beabsichtigte Handlung erforderliche
6Zitiert nach Zuverlässigkeit nicht besitzt.«6
ebenda.
Da oben genannte gesetzliche Vorgaben eindeutig gegen die Lieferung
von Kriegswaffen an den kriegführenden Staat Israel zu sprechen schei-
nen, führte der Verfasser Ende 2006 eine Befragung unter den Verteidi-
gungsexperten der im Bundestag vertretenden Parteien durch. Die Ant-
worten sind von dokumentarischem Wert, Der Vorsitzende der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion, Volker K A U D E R , erklärte: »In Ihrer Frage be-
züglich Rüstungsexporte nach Israel verweisen Sie zu Recht auf die in
Deutschland verfolgte restriktive Linie zu Rüstungsexporten in Drittlän-
der. Diese werden im Rahmen der Ausführgenehmigungsverfahren ebenso
bedacht wie das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel. Entschei-
dungen sind daher immer Einzelfallabwägungen der Bundesregierung.
Ziel ist es auch hier, die Sicherheit Israels und die langfristige Stabilität
7 Volker KAUDER der Region in Einklang zu bringen.«" (Inwieweit die Bundesregierung
(Vorsitzender der »Einzelfälle abwägt«, wird im Anschluß geklärt.)
CDU/CSU- Der verteidigungspolitische Sprecher der PDS (Die Linke), Paul S C H Ä -
Bundestagsfrakti-
FER, sah die Richtlinien weniger klar formuliert und erklärte, daß seine
on), e-Brief v. 6. 12.
2006 an den Fraktion im Bundestag sich »für einen Stopp sämtlicher Rüstungsexpor-
Verfasser. te aus Deutschland an alle Staaten und damit auch Israel« einsetze. Rü-
stungsexporte würden »Diktaturen und menschenverachtende Regime«
fördern und stabilisieren. Aus diesem Grund schlußfolgerte SCHÄFER:
»Jede Lieferung von Rüstungsgütern, sei es aus Deutschland oder einem
anderen Staat, in den Nahen Osten stärkt diejenigen, die eine militäri-
sche >Lösung< der Konflikte anstreben, und fördert den weiteren Rü-
stungswettlauf in der Region mit fatalen Folgen für die Menschen dort.«
Um so überraschender mutet die anschließende Behauptung an, daß
»Waffenlieferungen in Krisengebiete leider nicht pauschal gegen das gel-
tende Recht« verstoßen würden. »Die im Jahr 2000 beschlossenen Politi-
schen Grundsätze der Bundesregierung sind leider nur politische I land-

826
lungsempfehlungen. In diesem Sinne stehen deutsche Waffenlieferungen
an die Staaten im Nahen Osten derzeit zwar im Widerspruch zu einer
friedlichen Konfliktbearbeitung in der Region, verstoßen aber nur gegen 8 Paul SCHÄFER
den gesunden Menschenverstand.«8
(Verteidigungspoliti-
Für die SPD-Bundestagsfraktion antwortete Rainer A R N O L D . Er sehe scher Sprecher der
»die Lage im Nahen Osten kritisch« und sei wie der Verfasser »grund- Bundestagsfraktion
sätzlich der Auffassung, daß das Verhalten der israelischen Armee gera- Die Linke-PDS), e-
de gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung und die Zerstörung Briefv. 23. 11.2006
ziviler Einrichtungen im starken Widerspruch zum Völkerrecht stehen.« an den Verfasser.
Anstatt jedoch aus dieser zu-
treffenden Einschätzung die
entsprechende Konsequenzen
zu ziehen, namentlich ein so-
fortiges Waffenausfuhrverbot
nach Israel zu bewirken, erklär-
te der sozialdemokratische Ex-
perte: »In bezug auf Waffen-
lieferungen an Israel - ich gehe
hier davon aus, Sie meinen die
U-Bootlieferungen - sehe ich
keinen Verstoß gegen geltendes
Recht. Die Bundesregierung
hat am 19.Januar 2000 die Rü-
stungsexportrichtlinie verab-
schiedet. In dieser sind klare
Kriterien festgelegt, an denen
jedes Rüstungsexportvorhaben
gemessen wird. Die Entschei-
dungen des Bundessicherheits-
rates für oder gegen einen Rü-
stungsexport erfolgen stets
anhand dieser festgeschriebe-
nen Kriterien. Die Regierung
des Staates Israel hat ihre be-
stehende U-Bootflotte durch
den Erwerb von zwei neuen U-

Zwei deutsche Stützen der israeli-


schen Nuklearstrategien: von oben
das deutsche U-Boot der >Dol-
phin<-Klasse und das Flugzeug F4-E
Phantom II.

827
ADENAUER und Premiermini-
ster B E N G U R I O N im Jahre
1960. Schon unter A D E N A U -
ER wurden Reparations-
summen durch Verschif-
fung deutscher Güter
beglichen.

Booten erweitert. Die U-Boote sollen zur Existenzsicherung und zum


Schutz des Staats Israel beitragen.« 9
Abgesehen davon, daß ein Militär- oder Verteidigungsexperte wissen
sollte, daß es sich bei U-Booten um Angriffswaffen handelt, waren und
sind die bundesdeutschen Waffenlieferungen an den kriegführenden Staat
Israel alles andere als auf drei - nicht auf zwei! - U-Boote beschränkt:
Am 27. Dezember 1957 erklärte die Bundesregierung, daß grundsätz-
lich (!) keine Waffen in Krisengebiete geliefert werden würden. Diese
Behauptung war schon damals eine Lüge.10 Am 14, März 1960 vereinbar-
ten Bundeskanzler Konrad A D E N A U E R und der israelische Premierminister
David B E N - G U R I O N die bundesdeutsche Waffenhilfe für Israel - nach-
dem bereits seit über einem Jahr israelische Waffen, vor allem Uzi-Ma-
schinenpistolen, im sollen in die BRD geliefert worden waren. Gesetzli-
che Ge- und Verbote spielten (und spielen bis zum heutigen Tage) bei
bundesdeutschen Waffenlieferungen an Israel nur eine untergeordnete
Rolle. Verteidigungsminister Franz Josef S T R A U S S pflegte diese Handha-
be wie folgt auszudrücken: »Wir haben die Israel zugesagten Geräte und
Waffen heimlich aus den Depots der Bundeswehr geholt und hernach als
Ablenkungsmanöver bei der Polizei in einigen Fällen Diebstahlsanzeige

' Rainer ARNOI.D, aaO. (Anm. 1).


10 Vgl. Claus NORDBRUCH, Machtfaktor Zionismus, Tübingen 2 0 0 7 .
11 Zitiert nach Gerhard FREY (Hg.), Die Erpressung. Wie Deutschlands Milliarden

über den Jordan gehen, München 2 0 0 5 , S . 1 2 7 ,

828
Verteidigungsminister
Franz Josef S T R A U S S und
sein israelischer Amtskol-
lege Shimon PÉRÈS. Sie
unterzeichneten 1 9 6 0
ein vertrauliches Militär-
abkommen.

erstattet.«" An diesen Machenschaften hat sich bis heute nichts geän-


dert. Selbst die Frankfurter Allgemeine Teilung räumte vier Jahrzehnte spä-
ter ein, daß für Israel aus der BRD immer Hilfe kam, vor allem schnell
und teilweise unter Umgehung geltenden Rechts, wenn Israel in beson-
ders großer »Not« war, beispielsweise im Sechs-Tage-Krieg 1967, im Yom-
Kippur-Krieg 1973 oder im Golfkrieg 1991: »Offiziell lehnte Bonn man-
ches ab, was Israel inoffiziell dann doch bekam.« 12 Soviel zu den
»Einzelabwägungen der Bundesregierung«,
Spätestens seit 1962 werden Waffen aus der BRD im großen Rahmen
an Israel geliefert. Außer dem Christdemokraten A D E N A U E R machte sich
vor allem der christlichsoziale Verteidigungsminister STRAUSS für diese
Lieferungen stark. Nachdem einige bundesdeutsche Medien, namentlich
Der Spiegel und die Frankfurter Rundschau, diese Skandale öffentlich ge-
macht hatten, heuchelte A D E N A U E R S Nachfolger, Bundeskanzler Ludwig
E R H A R D , am 12. Februar 1965, die BRD werde keine Waffen mehr (!) in
Spannungsgebiete senden. Im darauffolgenden Jahr schickte die BRD
20000 Gasmasken nach Israel,11 und 1967 wurden alle Hemmungen auf-
gegeben. Die Zeit umfangreicher Waffenlieferungen brach an. Es sollten
bundesdeutsche Waffenlieferungen sein, die entscheidend zum Sieg der

12 Peter CARSTENS, »Geben und Nehmen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.
12. 2002, S. 3.
13 Vgl. Michael WOLFFSOHN, Israel. Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Opla-
den 1991, S. 204 ff.

829
israelischen Truppen im Sechs-Tage-Krieg beitrugen. Wie geheimdienst-
lichen Unterlagen zu entnehmen ist, unterzeichneten STRAUSS und sein
damaliger Amtskollege Shimon P E R E S {Generaldirektor des israelischen
Verteidigungsministeriums) 1960 ein vertrauli-
ches Militärabkommen, dessen Bedeutung für
den Staat Israel von geradezu grundlegender
Bedeutung war: »Die Bundesrepublik verpflich-
tet sich, Israel Düsenflugzeuge der französi-
schen Type Fuga-Magister zu liefern, die in
Deutschland in Lizenz hergestellt werden, fer-
ner Hubschrauber, Transportflugzeuge der
Type Nord-Adas und amerikanische Lastwa-
gen der Type Patton, die die israelische Armee
am dringendsten braucht. Diese Patton wer-
den im Sechs tage krieg auf Sinai die eigentliche
Stoßkraft der israelischen Truppen ausmachen.
Dieses Militärabkommen, das selbst heute noch
wenig bekannt ist, hat große Auswirkungen. Is-
raelische Offiziere werden zur Ausbildung auf
Panzern und im Nachrichtenwesen auf die ein-
schlägigen Schulen der Bundeswehr ge-
schickt.«14 Die BRD hat von Israel für diese
Leistungen keinerlei finanzielles oder politi-
sches Gegenpfand verlangt.
Eines der für Israel Die kontinuierlichen - und weitgehend kostenlosen - Lieferungen von
gebauten Schiffe. Angriffswaffen reichten von den 1964 gelieferten 150 Panzern des Tvps
M48-A1 (>Patton<) bis zu den riesigen Beständen aus der Nationalen Volks-
armee Anfang der neunziger Jahre. Danach wurden aus deutschen Be-
ständen an Israel unter anderen 1991 acht Giftgas-Spürpanzer >Fuchs<,
1998 >Patriot<-Raketen und in Folge mit Marschflugkörpern ausstattbare
drei U-Boote der >Dolphin<-Klasse ausgeliefert. Während des ersten
Golfkrieges finanzierte die BRD, wie sogar Michael WOLFPSOHN einräumt,
»den Erwerb amerikanischer >Patriot<-Raketen durch Israel, und im Fe-
bruar 1991 stimmte Bonn der Lieferung von zwei U-Booten an Israel zu.
Für knapp 1,4 Milliarden Mark hat Deutschland Israel allein 1991/92
militärische Hilfe geleistet«. 15
Die israelische Marine dürfte zwischenzeitlich dank bundesdeutscher
Geschenke ebenfalls mit Atomwaffen versorgt sein. In den letzten Jahren
14 Steve EYTON,Das Auge Davids. Israels Geheimdienst in Aktion, Wien—München-
Zürich 1971, & 107 £
15 Michael WOLFFSOHN, »Ohne Hitler kein Israel?« in: Spiegel Special, H 2 / 1 9 9 2 ,

S. 133.

830
hat die Bundesregierung Israel drei U-Boote der Dolphin-Klasse über-
geben. Diese modernsten U-Boote der Welt dürften aller Wahrschein-
lichkeit nach mit atomaren Marschflugkörpern »Turbo Popeye< oder >De-
liah< ausgestattet worden sein. In diesem Zusammenhang ist eine
Feststellung von seilen des Bundesministeriums der Verteidigung auf-
schlußreich. Im Auftrag des Parlamentarischen Staatssekretärs S C H M I D T
bekannte das Bundesministerium der Verteidigung dem Verfasser gegen-
über, daß sämtliche (!) Entscheidungen über Exporte von Rüstungsgü-
tern nach Israel »im Einklang mit geltendem deutschen Recht« stünden.
Außerdem sei darauf hinzuweisen, »daß es die Bundesregierung aufgrund
der besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel für gebo-
ten hält, auch ihren Beitrag zum Schutz und zur Existenzsicherung des
Staates Israel zu leisten. leider haben wiederholt politische Ereignisse
deutlich gemacht, daß diese Existenzberechtigung in Frage gestellt wird
und insofern nicht als Selbstverständlichkeit anzusehen ist«.16 Die Beru- 16 Sabine M E H L -

fung auf die angebliche Existenzberechtigung Israels ist die parteiüber- BREUER (Referatslei-
greifende bundesdeutsche Standardrechtfertigung für die Lieferung von terin Rü II 2 im
Angriffswaffen an den Zionistenstaat. Bundesministerium
Kein Land außerhalb der NATO erhält von der BRD so viele Waffen der Verteidigung),
Brief v. 8. 1.2007
geliefert wie Israel. Die kontinuierlichen Waffenlieferungen blieben von
an den Verfasser.
allen >Regierungswechseln< in Bonn und Berlin unberührt: Sowohl christ-
demokratische als auch sozialdemokratische Regierungen lieferten mit
ihren jeweiligen liberalen oder grünen Koalitionspartnern Waffen aller
Art an den Zionistenstaat, der mittlerweile selbst der sechstgrößte Waf-
fenhersteller der Welt ist. Dies ist eine erstaunliche Haltung von Politi-
kern, die vorgeben, sich dem Pazifismus verschrieben zu haben. In den
Politischen Grundsätzen der rotgrünen Regierung vom Januar 2000 stand
geschrieben, daß der Export von Kriegswaffen und »kriegswaffennahen
sonstigen Rüstungsgütern« in solche Länder verboten sei, »die in bewaff-
nete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder wo eine solche droht«.
Eine nicht unerhebliche Zahl derjenigen israelischen Waffen, mit de-
nen israelische Soldaten Völkerrechts Verletzungen und Kriegsverbrechen
begangen haben, stammt aus deutscher Produktion. Das gilt vor allem
für High-Tech-Komponenten. Damit trägt die Bundesregierung ganz
unmittelbar eine Teil Verantwortung für die von den israelischen Streit-
kräften begangenen Kriegsverbrechen sowohl in den besetzten Gebie-
ten als auch im jüngsten Krieg gegen den Libanon (2006). Das Fernseh-
magazin Monitor machte in seiner Sendung vom 27. Juli 2006 darauf
aufmerksam, daß wichtige Teile der israeliscben Waffen aus Deutschland
geliefert werden oder deutschen Ursprung haben. In dem Fernsehbei-
trag hieß es: »Seit Tagen fliegt die israelische Luftwaffe Angriffe im Liba-
non, Teile der Zielerfassung, sozusagen des Visiers israelischer Kampf-

831
jets, basieren auf deutschem Knowhow, entwickelt und geliefert unter
anderem von einer ehemaligen Tochter der AEG.« Dann wurde das Ziel-
erfassungsgerät am Rumpf eines israelischen F-16-Bombers eingeblen-
det. »Auch am Boden kämpfen die israelischen Truppen mit deutscher
Technik«, hieß es in dem Beitrag weiter. Der Kampfpanzer >Merkava<
bilde gegenwärtig das Rückgrat der israelischen Bodentruppen, und seine
Kanone sei eine deutsche Entwicklung der Rüstungsfirma Rheinmetall.
Ohne deutsche Technik schießt dieser israelische Panzer nicht und rollt
keinen Meter, denn auch der Motor und das Getriebe entstammen deut-
scher Ingenieurskunst. Obwohl die Bundesregierung immer behauptet,
sie genehmige keine Waffenlieferungen in »Spannungsgebiete«, werde
Volker K A U D E R .
bereits der nächste deutsch-israelische >Rüstungs-Deal< eingefädelt. Israel
habe großes Interesse am gepanzerten Truppentransporter vom Typ »Din-
go*. »Nach unseren Recherchen hat die Bundesregierung der Lieferung
eines Test-Fahrzeuges vor kurzem erst zugestimmt«, erklärte das Magazin
Monitor und wies darauf hin, daß eine Anfrage der Redaktion, »ob der »Dingo*
trotz des Krieges geliefert« werde, von der Regierung nicht beantwortet
17 Ulrich RIPPERT, wurde.1
»Die Verantwor- Auf diese Entwicklungen hin angesprochen, antwortete der Vorsit-
tung der Merkel- zende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker K A U D E R , daß »die Si-
Regierung für die
Kriegs verbrech en cherheit Israels massiv bedroht ist, hat uns auch die kriegerische Ausein-
im Libanon« am 4. andersetzung zwischen Israel und der Hisbollah im Sommer dieses Jahres
8. 2006, in: gezeigt. Deutschland beteiligt sich, auf ausdrücklichen Wunsch der is-
http:// raelischen, aber auch der libanesischen Regierung, an der erweiterten
www.wsws.org/de/ UNIFIL-Mission, um Stabilität in der Region zu erreichen. Bei diesem
2006/aug2006/ Einsatz handelt es sich weder um ein Lippenbekenntnis noch um ein
merk-a04. shtml konspiratives Vorgehen, sondern um einen von der breiten Mehrheit des
18 Volker KAUDER, Deutschen Bundestages getragenen Beitrag zur Friedenssicherung.«18 Seit
aaO. (Anm. 6). September 2006 wird also nicht nur deutsches Kriegsmaterial an den
19 Vgl. Claus kriegführenden Zionistenstaat Israel geliefert, sondern es werden auch
NORDBRUCH, »Vor deutsche Soldaten für die Interessen Israels bereitgestellt.19
Beirut und in Eine sachliche Begründung, warum die BRD Israel mit Waffen belie-
Afghanistans fern muß, ist nicht erkennbar. Der Vorsitzende der Nationaldemokrati-
Bergen. Die Frag- schen Partei Deutschlands (NPD), Udo V O I G T , erklärte diesbezügüch:
würdigkeit der
Einsätze deutscher Eine »historische Verantwortung« könne da kaum ausreichen. »Im Ge-
Soldaten«, in: Gert genteil: wenn man diese »Verantwortung* schon empfindet, dürfte man
SUDHOLT (Hg.), nichts tun, was den Frieden verletzt und neues Unrecht in die Welt setzt.
Deutsche Annalen Schließlich verstößt die Waffenlieferung an Israel auch gegen die Bestim-
2007, Druffel, mungen des Kriegswaffen-Kontrollgesetzes. Daß die Israelis friedenstö-
Inning 2007. rende Maßnahmen ergreifen, konnte man zuletzt beim Angriffskrieg auf
libanesischem Boden erleben. Da sich die Bundesrepublik zudem in der
UNO-Charta verpflichtet hat, für das Selbstbestimmungsrecht der Völ-

832
ker einzutreten, verstößt man bei den Waffenlieferungen an Israel auch
gegen diesen Punkt. Wer schließlich, wie Israel, Wohnhäuser angreift oder
mit völkerrechtlich geächteten Streubomben arbeitet, dürfte auch nicht
die geeignete Zuverlässigkeit besitzen. . 20 U d o VOIGT
Die dauernden Waffenlieferungen in ein ausgesprochenes Krisenge- (Vorsitzender der
biet haben weitreichende Folgen. Die führenden politischen Kreise in Nationaldemokrati-
der Berliner Republik übersehen bei den von ihnen genehmigten Liefe- schen Partei
Deutschlands), e-
rungen von Kriegsgerät an Israel, daß die verheerende Lage der Palästi-
Brief v. 23. 12. 2006
nenser nicht zuletzt gerade durch diese »Hilfeleistungen« verursacht wor- an den Verfasser.
den ist. Die begrüßenswerte Entwicklungshilfe für die Palästinenser, die
mit der einen Hand gegeben wird, stellt keinen Ausgleich dafür dar, was
die andere Hand tut. Die bundesdeutsche Regierung liefert sogar Ersatz-
motoren für israelische Panzer, von denen bekannt ist, daß sie palästi-
nensische Siedlungen und Flüchtlingslager zerstören.
Jedoch nicht nur Israel macht sich mit dem völkerrechtswidrigen Ein-
satz von beispielsweise Streubomben und Phosphorbomben sowie den
Flächenbombardements gegen die Zivilbevölkerung strafbar. Auch die
internationalen Waffenlieferanten wie Frankreich und vor allem die USA,
die seit Jahrzehnten Waffen nach Israel liefern, verstoßen am laufenden
Band gegen ihre eigenen Gesetzesvorgaben und tragen somit eine Mit-
schuld an den israelischen Kriegsverbrechen. Im jüngsten Krieg gegen
den Libanon verstieß Israel beispielsweise deutlich gegen die US-Waf-
fenkontrollgesetze, indem Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber und
Langstreckenraketen, die in den USA hergestellt waren, eingesetzt wur-
den, Zivilisten zu töten und die Infrastruktur des Libanon zu zerstören.
Stephen Z U N E S , Professor für Politik an der Universität von San Francisco,
hebt hervor, daß Paragraph 4 des US-amerikanischen Waffenexport-Kon-
trollgesetzes unzweideutig verlange, daß militärisches Material, das von
den Vereinigten Staaten von Amerika an ausländische Regierungen aus-
geliefert werde, »ausschließlich für die innere Sicherheit und legitime, ge- 21 Thalif D E E N ,
setzmäßige Selbstverteidigung verwendet werden« dürfe. Er erklärte wei- »Israel Violates U.S.
ter: »Da die israelische Regierung und ihre Armee Angriffe gegen die Law With Attack on
zivile libanesische Infrastruktur und Bevölkerungszentren durchführen, Lebanon«, in: hup:/
die klar weit über legitime Selbstverteidigung hinausgehen, ist die USA / www. a n tiwar. com/
gesetzlich dazu verpflichtet, Waffentransfers nach Israel einzustellen.« ips/deen.php?
Israels militärische Vergeltungsmaßnahmen gegen den Libanon waren, articleid-9325
wie selbst die Europäische Union feststellen mußte, »grob unverhältnis-
mäßig« {grossly disproportionate).2t In der Vergangenheit haben sich Staaten
vor einem internationalen Gerichtshof wegen Völker rechtsverletzungen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten müssen, obgleich
die Rechtslage weit weniger klar gewesen war, als sie vergleichsweise bei
Israel und seinen Waffenlieferanten ist. Claus Nordbruch

833
Hessischer Rundfunk weigert sich,
Lügen richtigzustellen

ie öffentlichen westdeutschen Rundfunk- und Fernsehanstalten,


D die satzungsgemäß dem Dienen der Wahrheit verpflichtet sind,
scheuten und scheuen sich in vielen Fällen nicht, auch zu dem Mittel der
Lüge und des Wörtbruchs zu greifen, um das ihnen genehme Geschichts-
bild der Umerziehet durchzusetzen. Der angesehene Marburger Strafrechtler
Professor Dr. Erich S C H W I N G E hat dazu in seinem diesem Thema gewid-
meten Buch Machtmißbrauch der Massenmedien eindrucksvolle Beispiele, auch
aus persönlicher Erfahrung, angegeben.1 Eines sei daraus vom Hessischen
Rundfunk (HR) nachfolgend angeführt.2
Am Vormittag des 12. November 1985 brachte der Hörfunk des HR
innerhalb der Sendereihe »Unterwegs in Hessen« einen Beitrag, in dem
es um einen Vorgang in der Bibliothek der Juristischen Fakultät der Uni-
versität Marburg ging, der mit einem Buch über die Wehrmachtgerichts-
barkeit3 zu tun hatte. Die Sendung enthielt eine Anzahl falscher und so-
gar einige den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllende Behauptungen.
Dazu wurden Teile eines Telefongesprächs wiedergegeben, das SCHWIN-
GE am Abend vor der Sendung mit der für den Beitrag verantwortlichen
Reporterin geführt hatte, obwohl er ihr verboten hatte, es bei der Sen-
dung auszuwerten. »Ich gebe Ihnen kein Interview«, hatte er ausdrück-
lich betont. Sie setzte sich einfach darüber hinweg.
Als sich S C H W I N G E mit einer ausführlich begründeten Beschwerde des-
wegen an die Sendeleitung wandte, erhielt er eine - in solchen Fällen
übliche - ausweichende Antwort und erst nach Monaten eine Sachent-
scheidung, daß alles in bester Ordnung gewesen sei, obwohl S C H W I N G E
auf eine Reihe eindeutig falscher Behauptungen und darauf hingewiesen
hatte, daß ihm im Gegensatz zur Gegenseite kein Gehör gegeben und
die Sendung nicht überprüft worden sei. Seine Einwendungen wurden
Der Marburger Jurist als nicht stichhaltig zurückgewiesen.
Erich S C H W I N G E Als ihm auf Anforderung das Manuskript der Sendung überlassen
( 1 9 0 3 - 1 9 9 4 ) und
worden war, stellte er fest, daß einige Stellen anders lauteten, als er sie in
sein Buch Machtmiß-
brauch der Massen-
der Sendung persönlich gehört hatte. Das Manuskript war also offen-
medien. Die Ohn- sichtlich manipuliert worden. Nachdem der Betroffene Berichtigung ver-
macht des Bürgers.

' Erich SCHWINGE, Machtmißbrauch der Massenmedien. Die Ohnmacht des Bürgers,
Hohenrain, Tübingen-Zürich-Paris 1989.
2 Ebenda, S. 48 ff.
3 Beitrag Nr. 592, »Wehrmachtgerichtsbarkeit«.

834
langt hatte, wurde ihm mitgeteilt, eine Überprüfung sei nicht mehr mög-
lich, da das betreffende Band wie üblich nach vier Wochen bereits ver-
nichtet worden sei, obwohl seine Reklamation schon vor dieser Vierwo-
chenfrist eingegangen war. Dann hüllte die Abteilung sich in Schweigen.
Ähnlich verhielt sich die Abteilung Hörfunk des Senders, als S C H W I N -
GE dagegen protestierte, daß die Reporterin entgegen seinem ausdrückli-
chen Verbot das rein private Telefongespräch für die Sendung ausgewer-
tet hatte. Der Jurist wies auf das in der Rechtsprechung entwickelte »Recht
am eigenen Wort« hin, das jede Auswertung gegen den Willen des Ge-
sprächspartners verbietet. Der Bundesgerichtshof hat bereits 19584 klar
entschieden, daß ein persönliches Gespräch publizistisch nicht ausge-
wertet werden darf. Zu dem »allgemeinen Persönlichkeitsrecht« gehöre,
so das Urteil, »auch die Befugnis des Menschen, darüber zu bestimmen,
ob seine Worte einzig seinem Gesprächspartner, einem bestimmten Kreis
oder der Öffentlichkeit zugänglich sein sollen«. Das Bundesverfassungs-
gericht' hat diese Rechtsauffassung im Jahre 1980 ausdrücklich bestätigt
und dafür die gleiche Begründung gegeben. Gegen beide Entscheidun-
gen hatte also der Hessische Rundfunk im genannten Fall verstoßen, hat
sich nicht dafür bei dem persönlich Betroffenen entschuldigt und sich
nicht von dem Vorgehen seiner Mitarbeiterin distanziert.
Neben weiteren ähnlichen Beispielen vom Hessischen Rundfunk führt
SchWINGE in seinem Buch auch solche des Zweiten Deutschen Fernsehens an,
das sich ebenfalls dieser in einem Rechtsstaat untragbaren Methoden
bediente.6 Ebenso werden Falschbehauptungen der Presse, so der Frank-
furter Rundschau, in dem empfehlenswerten Buch behandelt.
Rolf Kosiek

4 Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. 5. 1958, BGHZ 27, S. 284 f.


s Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. 6. 1980, BVerGE 54, S. 155.
6 SCHWINGE, aaO. (Anm. 1), S . 51-55.

7 Ebenda, S. 56 ff.

835
Bezeichnende Falschmeldungen der Medien

1. Der Spiegel meldete am 20. November 2006 auf Seite 66: »Mit dem
Aktionsprogramm »Jugend für Toleranz und Demokratie — gegen Rechts-
extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus« hatte die rot-
grüne Bundesregierung ein neues Konzept aufgegriffen, Auslöser war
der von Rechtsextremen verübte Brandanschlag auf die Düsseldorfer
Synagoge im Oktober 2000. Bundeskanzler Gerhard S C H R Ö D E R rief da-
mals zu einem »Aufstand der Anständigen« auf, das folgende Aktionspro-
gramm bekam sogleich einen zweistelligen Millionenetat, alles wirkte sehr
entschlossen.««
Richtig ist jedoch, daß der Brandanschlag auf die Düsseldorfer Syn-
agoge im Oktober 2000 von dem gebürtigen Marokkaner Kahlid Z, und
dem in Jordanien geborenen staatenlosen Belai T. verübt wurde, was beide
Spontane Demonstra- gestanden und wofür sie verurteilt wurden. Die Tat hatte nichts mit Rechts-
tionen nach dem extremismus oder Ausländerfeindlichkeit Deutscher zu tun. Sogar Bundes-
Brandanschlag auf anwalt Kay N E H M betonte, daß die Täter keine Verbindung zu rechtsex-
die Düsseldorfer Syn-
tremen Kreisen gehabt hätten, (Nation & Europa, Nr, 1/2007, S, 19)
agoge am 3. Oktober
2000. Die polizeili- 2. Der Spiegel brachte in Nr. 52/2006 einen Beitrag, in dem es heißt:
chen Ermittlungen »Kaum war H I T L E R im Januar 1 9 3 3 zum Reichskanzler ernannt wrorden,
brachten allerdings
erklärte Nazi-Deutschland den jüdischen Bürgern den Krieg.«
zutage, daß die Täter
Ausländer waren und
Das ist falsch. Das Gegenteil ist eher richtig: Nicht das Deutsche Reich
mit Rechtsextremis- erklärte den Juden den Krieg, sondern am Freitag, dem 24. März 1933,
mus nichts zu tun stand im Londoner Daily Express auf der ersten Seite unter der Über-
hatten. schrift »>Judea erklärt Deutschland den Krieg« eine Kriegserklärung an

836
das Rcich von jüdischer Seite. In dem Artikel heißt es unmißverständlich:
»Das israelische Volk der ganzen Welt ist sich einig, Deutschland einen
wirtschaftlichen und finanziellen Krieg zu erklären.«
3. Der Spiegel brachte Anfang 1985 in einem Bericht über das Kriegs-
ende in Mitteldeutschland den Satz: »Die sowjetische Militärverwaltung
schien keinen Befehl gegeben zu haben, zu plündern und zu vergewalti-
gen.« (Zitiert im nachfolgend genannten Leserbrief)
Das ist falsch. Richtig ist, worauf Karl S C H M I D T in einem Leserbrief
im Spiegel, Nr. 5, am 28. januar 1985 auf Seite 8 unter Hinweis auf Ray-
mont C A R T I E R , Der zweite Weltkrieg (München 1967, S. 994), hinwies, daß
der Sowjet-Marschall Georgij S c H U K O W , der 1945 als Befehlshaber der 1.
Weißrussischen Front die deutsche Verteidigungsstellung an der Oder
durchbrach und Berlin eroberte, in einem Tagesbefehl vom 16. April
1945 anordnete: »Sowjetsoldat, räche Dich. Verhalte Dich so, daß der
Einbruch unserer Armeen nicht nur den heutigen Deutschen, sondern
auch ihren fernen Enkeln in Erinnerung bleibt. Denke daran, daß alles,
was die deutschen Untermenschen besitzen, Dir gehört. Sowjetsoldat,
habe kein Mitleid im Herzen!«
4. In der Welt am Sonntag vom 27. Dezember 1992 wurde geschrieben,
daß vom Zweiten Weltkrieg »127000 deutsche Kriegsopfer in Rußland
begraben« seien. Diese Zahl setze sich aus 114000 im Osten gefallenen
deutschen Soldaten und 13000 weiteren Deutschen zusammen, die in
sowjetischen Gefangenenlagern ums Leben gekommen seien.
Diese Angaben sind um rund eine ganze Dimension falsch. In sowje-
tischer Kriegsgefangenschaft verstarben rund eine Million Deutsche.
Allein in Stalingrad gerieten um 100000 deutsche Soldaten in Gefangen-
schaft, von denen nur etwa 6000 zurückkehrten.
5. Die Welt am Sonntag brachte am 16. Dezember 1984 den Artikel
»Dachau — Besuch nach 40 Jahren« von Israels früherem Botschafter
Gideon RAEAEL. Darin hieß es, in Dachau seien laut »amtlicher Eintra-
gung« insgesamt 206200 Insassen hingerichtet worden. In einem Leser-
brief vom Ö.Januar 1985 wies Günther K I S S E L , Solingen, darauf hin, daß
diese Zahl nicht stimme und daß das Konzentrationslager Dachau kein
Vernichtungslager gewesen sei. In einer »Anmerkung der Redaktion« dazu
wurde erklärt: »Welt am Sonntag-Leser Günther KLSSEL hat recht.« In dem
Manuskript des Verfassers habe es geheißen, »Dachau habe laut »amtli-
chen Eintragungen* insgesamt 206200 Insassen gehabt. Durch einen
Ubertragungs fehler entstand daraus, in Dachau seien laut »amtlicher Ein-
tragung« insgesamt 206200 Insassen hingerichtet worden. Welt am Sonn-
tag bedauert diesen Fehler.«
Rolf Kosiek

837
Historiker fälscht Foto

m 2. Mai 1990 brachte das Zweite Deutsche Fernsehen den dritten


A Teil einer Fernsehdokumentation des Stuttgarter Historikers Prof.
Dr. Eberhard JÄCKHL unter dem anklagenden und provozierenden Titel
»Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, der dann ein geflügeltes Wort
für die Umerzieher wurde. Da offenbar nicht genügend wahrheitsgemä-
ße Bilder vorlagen, griff man bei diesem Film wie in zahllosen früheren
zu einer Fälschung. Ais anschaulicher und zu Gemüte gehender Beweis
für die furchtbaren Judendeportationen aus Rumänien im Jahre 1941, die
unter dem Befehl deutscher Militäreinheiten vorgenommen seien, wurde
die Abbildung eines Zuges mit offenen Güterwagen voller stehender
Menschen auf einem Bahnhof gezeigt.
Tatsächlich hat diese Aufnahme nichts mit einer Deportation jüdischer
Menschen zu tun. Das Original, aus dem im Fernsehen ein Ausschnitt
gezeigt wurde, zeigt einen Güterzug am Hamburger Hauptbahnhof, der
Prof. Dr. JÄCKEL fiel Flüchtlinge in der damals üblichen Weise der »vierten Klasse< ins Ruhrge-
mehrfach auf Fäl- biet bringen sollte. Das Bild wurde erst 1946 aufgenommen, es stammt
schungen herein, so
bei der Herausgabe
nicht aus dem Jahre 1941. Es zeigt also weder Juden, noch einen Bahn-
von NS-Dokumenten hof in Rumänien, noch einen Vorgang von 1941.
der zwanziger Jahre Um die Täuschung nicht sofort für Kundige sichtbar zu machen, ha-
{Hitler, Sämtliche ben die Fälscher an dem auf dem Nachbargleis erkenntlichen Zug her-
Aufzeichnungen umretuschiert sowie die Fenster geschwärzt und damit die Erkennung
1905 bis 1924, DVA,
der Lokomotive vom Typ LBE-T12 unmöglich gemacht, also eindeutig
Stuttgart 1980) wie
bei der Beurteilung eine Manipulation vorgenommen. Denn sonst hätte vielleicht jemand
der Fälschung des Argwohn dabei geschöpft, daß solch ein moderner Doppeldeckerzug in
>Hitler-Tagebuchs< im einem rumänischen Bahnhof auf dem Balkan aufgetaucht sein sollte.
April 1983 durch Die nachfolgenden Abbildungen zeigen das Original und die Fälschung.
Konrad K U J A U . Siehe
In seitenverkehrter Darstellung, wohl, damit man die Manipulation
Beitrag Nr. 73, »Eber-
hard Jäckel, Konrad des Hamburger Originalbildes nicht so schneit erkennt, brachte vier Jah-
Kujau und die Früh- re später das Schwäbische Tagblatt x dieses Foto zur Bebilderung eines Be-
schriften Hitlers«. richts über ein Konzert mit jüdischen Widerstandsliedern am Ort der
früheren Tübinger Synagoge. Ein Leser erinnerte sich des Originals in
Hamburg und brachte die Richtigstellung 2 mit Hinweis auf einen Bild-
band' von 1964 mit dem Foto vom Hamburger Hauptbahnhof aus dem
Jahre 1946, das lange in dessen Intercitv-Restaurant hing. Rolf Kosiek

1 Schwäbisches Tagblatt, 28. 6. 1994.


2 "Ist wohl zuzumuten«, in: Schwäbisches Iägblatt, 9. 7, 1994.
3 Bertelsmann, Unser Jahrhundert im Bild, Bertelsmann, Gütersloh 1964, S. 604.

838
Das Originalbild der Bun-
desbahndirektion Hamburg
mit der Überschrift: »Güter-
züge mit Flüchtlingen 1946.
Vollbesetzter Leerzug für das
Ruhrgebiet. Im Hintergrund
Doppelstockwagen nach
Lübeck«.

Die Fäschung tauchte


bereits 1981 in der von H.
Esch WEGE herausgegebenen
Publikation Kennzeichen >J<
auf {Deutscher Verlag der
Wissenschaften, Ostberlin).
Das retuschierte Bild er-
schien dort unter der Über-
schrift »Transporte in Ghet-
tos und Vernichtungslager«.
Alle Indizien, die eine
Identifizierung des Hambur-
ger Hauptbahnhofs als Auf-
nahmestätte ermöglicht hät-
ten, wurden retuschiert
bzw. herausgeschnitten,
und zwar die Fenster und
die Kennung der links war-
tenden Lokomotive sowie
die rechts stehenden Ge-
bäudeteile des Bahnhofs.

839
WDR fälscht mit Hitlerbild

A m Abend des 31. August 1977 sandte das Erste Deutsche Fern-
sehen (ARD) einen im Auftrag vom Westdeutschen Rundfunk
(WDR) gedrehten Film mit dem Titel Wotans Erben. Damit sollte auf die
angebliche »rechtsradikale, neofaschistische und neonazistische Gefahr«
in der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen werden. Darin wurden
»Originalaufnahmen« aus dem Schulungsraum des Deutschen Arbeits-
zentrums Bassum gezeigt. Unter anderen »Faschisten* wie Friedrich VON
SCHILLER wurde auch ein Kopfbild als das Adolf HITLERS, das dort hän-
ge, gezeigt. Offenbar nachträglich war zur pädagogischen Verdeutlichung
in das Bild der Name Adolf H I T L E R S einkopiert worden.1
Das stellte eine grobe Fälschung dar. Das im Arbeitszentrum wirklich
hängende Bild zeigte einen Bauernkopf (»Ein pommerscher Bauer« von
WILLRICH), der keine Ähnlichkeit mit dem H I T L E R S hatte und vom Regis-
seur offensichtlich nachträglich zu einem Hitler-Kopf manipuliert wor-
den war.
Deswegen stellte der Leiter des Arbeitszentrums, Alfred E. MANKE,, 2
Strafantrag gegen den WDR. Die 28. Zivilkammer des Landgerichts Köln
verkündete aufgrund der Verhandlung am 8. März 1978 nach ausführli-
cher Beweisaufnahme am 3. Mai 1978 das Urteil:3 Dem WDR, vertreten
durch seinen Intendanten Friedrich Wilhelm Freiherr VON SliLL, und sei-
nem Redakteur Dirk G E R H A R D wurde bei Androhung eines »höchstzu-
lässigen Ordnungsgeldes oder der höchstzulässigen Ordnungshaft« bei
Zuwiderhandlung untersagt, weiter die Behauptung aufzustellen, daß im
Schulungsraum des Deutschen Arbeitszentrums ein HITLER-Bild am 16.
Mai 1977 und im Juli 1977 aufgehängt gewesen sei. Das Gericht stellte
fest: »Ein HITLER-Bild hing dort jedoch nicht.«
Ferner wurde der WDR und dessen verantwortlieher Redakteur dazu
verurteilt, die in dem Film Wotans Erben aufgestellte entsprechende Be-
hauptung in einer Sendung »im Ersten Deutschen Fernsehen im An-
schluß an die Nachrichten um 20.15 Uhr« ausdrücklich zu widerrufen
sowie drei Anzeigen mit dem richtigstellenden Text von Alfred E. MAN-
KE in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3. 4.1978), in der Welt und in der

1 Hans-Joachim RICHARD, »Der WDR der Fälschung überführt«, in: Deutsche


Wochenzeitung, 14. 4.1978.
3 Alfred E . MANKE ist dem Verfasser persönlich bekannt und von ihm zu Ein-

zelheiten befragt worden,


3 Urteil des Landgerichts Köln unter der Vorsitzenden Richterin WEHNERT-HEI-

NEN, Az.: 78 O 415/77, vom 8. März 1978, verkündet am 3. Mai 1978.

840
Syker Kreisleitung (8. 4. 1978) zu bezahlen. Bei dem Gerichtstermin ent- Text d e r A n z e i g e , er-
schuldigte sich der WDR nicht etwa für die Ausstrahlung der Lüge und s c h i e n e n in d e r
die ungerechtfertigte Beschuldigung des Leiters des Arbeitszentrums, Frankfurter Allgemei-
nen Zeitung, 3. 4.
sondern die Sendeanstalt versuchte über ihre Rechtsanwälte, die offen-
1 9 7 8 u n d in d e r Welt
sichtliche Irreführung der Öffentlichkeit mit dem HitlER-Bild noch zu (links) s o w i e in der
halten. Syker Kreiszeitung, 8.
Bei der Verhandlung ergab sich einmal, daß der für den Film verant- 4. 1 9 7 8 .
wortliche Redakteur G E R H A R D für den marxistischen und kommunisti-
schen Studentenbund >Spartakus< in dessen Organ Rote Blätter* und für
andere linksextremistische und kommunistische Vereinigungen tätig war.
Zum anderen kam heraus, daß dieser fälschende Film unter anderem vor
Studenten der Pädagogischen Hochschule Hannover, der Universitäten
in Hamburg, Marburg, Regensburg, München und Bonn sowie der Techni-
schen Hochschule Darmstadt als wissenschaftliches Schulungsmaterial
vorgeführt worden war. Dabei trat Redakteur G E R H A R D als wissenschaft-
licher Referent auf und gab seine auf Fälschungen und Lügen aufgebau-
ten Kommentare - in Wirklichkeit kommunistische Desinformation -
4 So z. B. in: Rote Blätter, Nr. 12, Dezember 1977.

841
dazu ab, ähnlich wie es bei dem Fall des UFA-Films Kolberg in Heidelberg
erfolgtet Bezeichnenderweise ging G E R H A R D nach Entlassung durch den
WDR zur tat der antifaschistischen und im Verfassungsbericht aufge-
führten »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes< ( W N ) ; er soll später
in die DDR abgetaucht sein.
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang noch, daß der WDR-Re-
dakteur und Mitarbeiter zweimal im Deutschen Arbeitszentrum Bassum
gewesen waren (16. Mai 1977 und im Juli 1977) und ein wirklichkeitsge-
treues Bild von diesem und dessen Arbeit zu senden versprochen hatten.
Der Leiter des Arbeitszentrums, Alfred E. M A N K E , war zu einem 40 Mi-
nuten dauernden Fernsehgespräch gebeten worden, von dem dann in
der Sendung bezeichnenderweise kein einziges Wort gebracht wurde, weil
offenbar nichts zu dem gewünschten Ziel der Diffamierung Andersden-
kender paßte.
Der Film diente also nicht der sachlichen Information der Zuschauer,
sondern sollte mit seiner Lüge und Einseitigkeit bei Unterdrückung sach-
licher Angaben nach bester kommunistischer Tradition indoktrinieren
und Konservative unberechtigt diffamieren. Und dafür wurden Hörer-
gelder zur Verfügung gestellt. Rolf Kosiek

Faksimile, Leserbrief
Alfred E. M A N K E in
d e r Syker Kreiszei-
tung, 8. 4. 1978.

842
Karl May und der Nationalsozialismus

s ist üblich geworden, dem Nationalsozialismus viel vom heuti-


E gen Standpunkt aus Nachteiliges und Böses nachzusagen, beson-
ders wenn es scheinbar in das Bild paßt, das man von ihm hat oder das
man sich nach herrschender politischer Korrektheit davon machen sollte.
Das zeigt sich schon bei alltäglichen Ereignissen.
Ein Beispiel ist eine Besprechung der Ausstellung »I like America«, die
in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle im Herbst 2006 stattfand. Hannes
HINTERMEIER, offenbar aus der Nachkriegsgeneration stammend, schrieb

Karl MAY als Kara Ben


Nemsi (links)
und als Shatterhand.

darin,1 die deutsche Sehnsucht nach dem Wilden Westen setze »sich in
wechselnden Moden bis zum Nationalsozialismus fort: Der verurteilt die
Wild-West-Begeisterung als undeutsche Umtriebe«. Er habe jedoch nicht
verhindern können, daß nach 1945 die Zuneigung zu Winnetou zurück-
gekehrt sei.

1 Hannes HINTERMEIER, »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, in: Frankfurter


Allgemeine Zeitung, 13. 10. 2006, S. 37.

843
Das ist falsch, eher trifft genau das Gegenteil zu. Richtig ist nämlich,
daß damals das Lesen und das Ausleihen von Wild-West-Büchern nicht
behindert wurden. Insbesondere hat der Verfasser in seinen noch erhal-
tenen Aufzeichnungen 2 über seinen Lesestoff in den Jahren von 1943
bis 1945 mehrere Indianerbücher aufgeführt, die ihm damals in der Leih-
bücherei seiner Heimatstadt Paderborn empfohlen wurden und die er
daraufhin dort entliehen und gelesen hat.
Zur weiteren Richtigstellung schrieb Manfred T H I E L E in der FAZ-? »In
der Nazizeit konnte man in jeder der damals sehr verbreiteten privaten
Leihbüchereien stets alle - damals 65 - Karl-May-Bände finden. Jeder
Schüler war ein Karl-MAY-Fan, im Gegensatz zu heute. Das Radebeulet
Karl-May-Gymnasium wurde von ganzen Jungvolk- und Hitlerjugend-
Gruppen geschlossen besucht. Nach dem Kriege war dieses Museum
übrigens zunächst geschlossen. Darüber hinaus wurden 1940 die ersten
Karl-May-Festspiele eröffnet, in Rathen in der als Kulisse vorzüglich
geeigneten Sächsischen Schweiz. Die Festspiele standen laut dem mir
vorliegenden Fotoband, der die ersten Festspiele dokumentierte, »unter
der Schutzherrschaft des Reichsstatthalters und Gauleiters Martin
M U T S C H M A N N C Wie ein Foto beweist, wurden die Festspiele ebenfalls von
geschlossenen Gruppen der beiden nazistischen Jugendverbände besucht.
In dem Vorwort wird das Werk Karl M A Y S gar mit H O M E R verglichen.
Der Titel des Bildbandes lautet, in großen Lettern: »Winnetou lebte«
In einer Zusammenfassung von Karl-MAY-Freunden stellte Der Spiegel
1962 fest: »MAY-Enthusiast H I T L E R empfahl die Abenteuergeschichten
M A Y S seinen Generälen als belebende Lektüre, und von der Jugend der
dreißiger Jahre verlangte der nationalsozialistische Gauleiter und bayeri-
sche Kultusminister Hans SCHEMM im Jargon des Dritten Reichs »Mut,
Initiative, Schneid, Abenteuerlust und Karl-MAY-Gesinnung«,«4 Auch das
deutet nicht darauf hin, daß Karl MAY im Dritten Reich verpönt war.
Es ist daher nichts mit einer angeblichen Karl MAY-Feindlichkeit des
Nationalsozialismus. Diese unzutreffende Behauptung über die NS-Zeit
soll nur wie in vielen anderen Fällen die Verantwortlichen in den Jahren
des Nationalsozialismus herabsetzen und ein möglichst schlechtes Bild
von ihnen beim Leser erzeugen. Rolf Kosiek

2 Buch liste im Privatarchiv des Verfassers.


3 Manfred THIELE , Frankfurt, Leserbrief »Karl May und Homer«, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 2.11. 2006.
4 »Lektüre für Generäle«, in: Der Spiegel, Nr. 37, 1962,

844
Gustav Freytag - ein Opfer der
Vergangenheitsbewältigung

in wesentliches Ziel der alliierten Umerziehung der Deutschen


E nach 1945 war deren Ablösung von ihren geschichtlichen Wurzeln
und die Zerstörung der volklichen Traditionen. Dazu ge-
hörte auch die Herabsetzung und Verdrängung der ger-
manischen Vergangenheit, 1 wie sie von angesehenen Ge-
schichtsschreibern des 19. und 20. Jahrhunderts volksnah
dargestellt und noch bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahr-
hunderts im Schulunterricht der Bundesrepublik Deutsch-
lands geboten wurde.
Dieses Schicksal des Verschweigens traf in den letzten
funfzigjahren auch den aus Schlesien stammenden Schrift-
steller Gustav FREYTAG ( 1 8 1 6 - 1 8 9 5 ) und seine früher in
großen Auflagen erschienenen acht Bände der Bilder aus
der deutschen Vergangenheit ( 1 8 5 9 - 1 8 6 7 ) , die nach einem
Urteil Hugo VON H O F M A N N S T H A L S das schönste deutsche
Geschichtsbuch darstellen. 2 Im Jahre 1983 wurde dieses
Werk neu herausgebracht. 1 Das an sich begrüßenswerte
Unterfangen dieser reich bebilderten »Neuausgabe« wur-
de dadurch allerdings sehr geschmälert, daß wesentliche
Teile des ursprünglichen Textes weggelassen wurden. So
fehlt bezeichnenderweise der ganze erste Band mit den
fünf Kapiteln aus der germanischen Zeit. Auch der erste Beitrag »Karl Gustav F R E Y T A G im
der Große« des zweiten Bandes ist noch der offenbar germanenfeindli- Jahre 1886, Gemälde
von Karl S T A U F F E R . Alle
chen Gesinnung des Herausgebers zum Opfer gefallen. Dasselbe Schicksal
Abbildungen dieses
erlitten einige weitere Kapitel aus den anschließenden Bänden wie unter Beitrages aus: Gustav
anderen »Zwei Königswahlen« über Höhepunkte des 12. Jahrhunderts, Freytag. Leben und
»Doktor Luther«, »Aus dem Staat Friedrichs des Großen« oder »Die Er- Werk, Wangen 1 9 7 0 .
hebung« über die Freiheitskriege gegen Napoleon, Daß das Kapitel »Je-
suiten und Juden« nicht in die heutige politische Korrektheit paßt und
deswegen aus »volkspädagogischen Gründen«, wie sie Golo M A N N emp-
fahl, unterschlagen woirde, nimmt nicht wunder.

1 Siehe auch Beitrag Nr. 699, »Historiker verschweigen Germanengröße«.


2 Angeführt von H . R . (Hansjoachim RICHARD) in »Geschichte in der Gegen-
wart«, in: Deutsche Wochen-zeitung, 21. 3.1980.
3 Gustav FREYTAG, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, hg. von Heinrich Pui-

TICHA, Albrecht Knaus, Hamburg 1983.

845
Ferner wurde auch in den in die Neuauflage
aufgenommenen Beiträgen manches gekürzt, was
wohl kaum damit zu begründen ist, daß man sich
auf einen kleineren Umfang beschränken wollte.
Insgesamt ist das ursprüngliche Werk FREYTAGS
in der genannten neuen Ausgabe um etwa ein
Drittel seines Umfangs beschnitten worden.
Anscheinend war 1983 eine große Nachfrage
nach dem genannten Werk Gustav FREYTAGS vor-
handen, Denn schon wenige Jahre später war es
bereits vergriffen und im Buchhandel nicht mehr
lieferbar. Daß es in den nächsten 20 Jahren nicht
wieder aufgelegt wurde und auch im Jahre 2007
noch nicht wieder zu erhalten ist — selbst nicht in
der amputierten Form - ist ein ebenso bezeich-
nendes Merkmal unserer von politischer Korrekt-
heit beherrschten Zeit. Ähnlich wird von den an-
deren großen historischen Werken FREYTAGS wie
Die Ahnen (6 Bde., 1872-1881) oder Soll und Ha-
ben (3 Bde., 1855) keines seit Jahrzehnten im Buch-
handel angeboten. Künder des Reiches und sei-
ner großen Geschichte, insbesondere seiner
Die Weißgerberrohle in Breslau. germanischen Ursprünge und Wurzeln, sollen
In diesem Stadtviertel spielen manche Szenen eben in Deutschland vergessen werden und in
aus Gustav FREVTAGS Soll und Haben.
dem berühmten »Gedankenloch« O R W E L L S 4 ver-
schwinden. Rolf Kosiek
4 George ORWELL,
1984, Originalaus-
gabe 1949, dt.
Ullstein, Frank-
furt/M-Berlin-
Wien 1976.

Das Gustav-Freytag-
Denkmal in Wiesba-
den von Fritz S c H A P E R .

846
8. Mai- und Holocaust-Gedenken

m 8. Mai, besonders seit Richard VON W E I Z S Ä C K E R S berüchtigter


A Rede zum 8 . Mai 1 9 8 5 1 , werden Feierstunden im Bundestag und
anderenorts abgehalten, die ohne ein Beschwören der deutschen Schuld
1 Beitrag Nr. 363,

»Keine Befreiung
nicht auskommen und oft Gedenkfeiern zum Holocaust gleichen. In den Deutschlands
ersten Jahrzehnten nach 1945 wußte die Mehrheit des Volkes noch um 1945«.
die wirkliche Bedeutung des Tages und ließ sich nichts vormachen.
So hieß es 1965 zur zwanzigsten Wiederkehr dieses Tages: »Es besteht
kein Anlaß, den 20. Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8, Mai mit
Feiern oder Kundgebungen irgendwelcher Art zu begehen.« Mit diesen
Worten gab Bundespressechef VON H A S E am 10. Februar 1965 die Ent-
scheidung des Bundeskabinetts unter Bundeskanzler Ludwig E R H A R D
bekannt, das sich dafür ausgesprochen hatte, »die Bedeutung dieses Ta-
ges rein sachlich zu würdigen«. Die Bundesregierung begrüße die Ab-
sicht der evangelischen und katholischen Kirche, aus diesem Anlaß
Gedenkgottesdienste abzuhalten. Das politische Bonn werde mit Zu-
rückhaltung dieses »dunkelsten Tages der deutschen Geschichte« geden-
ken, und führende Politiker würden Kränze am Ehrenmal für die Gefal-
lenen des Krieges im Bonner Hofgarten niederlegen. 2 2 »»Bundeskabinett:

Das war würdig. Niemand kam auf den Gedanken, von einer »Befrei- Keine Feiern zum
ung«, wie zwanzig Jahre später Bundespräsident VON W E I Z S Ä C K E R in Ver- 8. Mai«, in: Schwäbi-
drehung der Geschichte, zu sprechen. sches Tagblatt, 11. 2.
1965.
Vor allem durch den Spielfilm Holocaust wurde Anfang der achtziger
Jahre das geschichtliche Bewußtsein der Deutschen manipuliert und ein-
seitig verändert. Die Saat der 68er mit ihrem Haß auf die Elterngenera-
tion ging auf. Dazu erklärte 1 9 8 2 Walter L Ü D D F . - N E U R A T H , der ehemalige
langjährige Adjutant von Großadmiral D Ö N I T Z und Zeuge im Nürnber-
ger Prozeß: »Der Spielfilm »Holocaust« mag endgültig in den Archiven
verschwinden - das Thema nicht. Da folgt einem verlogenen Film eine
verlogene Diskussion und dieser ein verlogener Kommentar, Film, Dis-
kussion und Kommentar unterstellen meiner Generation ein Wissen, das
sie zur Zeit des Geschehens weder hatte noch haben konnte - und dann
diskutieren die Verleumder scheinbar tiefsinnig über die angebliche Ver-
drängung des nachträglich erfundenen »Erkenntnisstandes«. Ich habe im
Dritten Reich nicht geschwiegen und nicht vor alliierten und deutschen
Gerichten nach dem Kriege — ich schweige auch heute nicht. Wenn Willy
B R A N D T die Gedenkfeier in Dachau in schamloser Weise zur Geschichts-
fälschung mißbraucht, wenn Pastor A L B E R T Z vor Millionen Bildschirmen
gegen das neunte Gebot verstößt, indem er falsch Zeugnis redet gegen
Millionen seiner Mitbürger, und wenn eine deutsche Fernsehanstalt eine

847
Am 10. Mai 2 0 0 5
wurde das Holo-
caust-Denkmal zu
Berlin eröffnet. Aus:
Christian Z E N T N E R
(Hg,), Chronik
Deutschlands, Otus,
St. Gallen 2 0 0 7 .

Diskussionsrunde von Klägern unter Ausschluß der Beschuldigten prä-


sentiert, dann wird das Gegenteil guter Absicht erreicht: Erst wenn in
den Köpfen unserer Politiker, in unseren Medien, in den Geschichts-
und Schulbüchern eine saubere Trennung zwischen bitterer Wahrheit und
schamloser Verleumdung erfolgt, wird der Weg frei für eine dauerhafte
Verständigung mit unseren jüdischen Mitbürgern und mit den Juden in
aller Welt.«3
Einen Hinweis darauf, wie die Geschichte manipuliert wird, gab der
US-Historiker Charles Austin BEARD, als er 1947 in der Saturday Evening
Post* mitteilte, daß die Rockefeller-Stiftung dem einflußreichen »Council
on Foreign Relations< 139000 US-Dollar zur Beeinflussung von Histori-
kern gestiftet habe. s BEARD erklärte dazu: »Die Stiftung und der Council
wünschen nicht, daß unsere grundsätzlichen Ziele und I landlungen wäh-
rend des Zweiten Weltkrieges zu frei kritisiert werden. Kurz gesagt, hof-
fen sie, daß die politischen Bestrebungen F. D. ROOSEVELTS in der Zu-
kunft von kritischer Wertung und Darstellung verschont bleiben mögen,
im Gegensatz zu dem Schicksal, das die Politik Woodrow WILSONS und
der Entente nach dem Ersten Weltkrieg erleiden mußte.«
Über die wirklichen Kriegsziele der Alliierten ist anderenorts berichtet
worden, 6 Rolf Kosiek

1 Walter LÜDDE-NEURATH, »Verlogene >Diskussion<« in: National-Zeitung, 24.12.


1982.
4 Charles Ausdn BEARD, in: Saturday EveningPost, 4. 10. 1947.
5 »Wie geschmiert«, in; Deutsche Wochenzetung, 3. 1. 1986,
6 Beitrag Nr, 537, »Britische Kriegsziele«,

848
Geschichtsfehler im Breker-Katalog

n dem von Rudolf herausgegebenen Katalog zur


I CONRADES

KER-Ausstellung vom Sommer und Herbst 2006 in Schwerin 1 hat der


BRE-

als Historiker vorgestellte Dr. Heinrich SCHWENDEMANN vom Historischen


Institut der Universität Freiburg den historischen Beitrag »Bauen für Jahr-
tausende« geschrieben. 2 Dieser Artikel ist sehr einseitig und enthält viele
Sachfehler in den Aussagen zur Zeitgeschichte. Daneben überrascht er
durch unsachliche Wortwahl wie »krude NS-Ideologie« (S. 30), »in der
Stadt herumstreunende Hitler« (S. 32), »Inszenierung von Herrschaft und
Größenwahn« (S. 31), »der, . , über Bauprojekte schwadronierte« (S. 34),
»als. . . die NSDAP die Reichshauptstadt okkupierte« (S. 35), »archaischer
Opferkult der NS-Bewegung« {S. 37).
Unter anderen sind folgende historischen Aussagen schlicht falsch:
1. », .. dessen politisches Handeln einzig und allein darauf angelegt
war, einen Froberungskrieg vorzubereiten« (S. 30). Das ist falsch. Richtig
ist, daß H I T L E R die Knebelungen des Versailler Diktats aufheben wollte
und später ein von seinen Gegnern Getriebener war. Der Zweite Welt-
krieg war »der Krieg, der viele Väter hatte«.-1
2. »Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. . .« (S. 30). Das
ist bis auf das fehlende Adjektiv »friedliebende« vor »Sowjetunion« die
längst widerlegte kommunistische Propaganda. Im letzten Jahrzehnt
werden überzeugend die Angriffsabsichten STALINS auf Deutschland und
Mitteleuropa bewiesen, denen H I T L E R im Juni 1 9 4 1 nur knapp zuvor-
Oben: Katalog der
kam.4 BREKER-Ausstellung.
3. »Am 5. November 1937 erklärte H I T L E R . ..« (S. 43). Damit wird Unten: Heinrich
auf das sog. HOSSBACH-Protokoll bezogen, das schon in Nürnberg 1946 SCHWENDE MANNS letzte
als Fälschung erkannt wurde. 5 Alle Beteiligten widersprachen seinem In- Veröffentlichung:
halt. Deswegen sind die Folgerungen für H I T L E R S angeblichen Kriegs- Hitlers Schloß, er-
schienen 2 0 0 6 im
willen daraus falsch. Richtig ist, daß Hm .ER den Frieden wollte, was auch linken Berliner Ver-
lag Ch, Links.
1 Rudolf CONRADES (Hg.), Zur Diskussion gestellt: der Bildhauer Arno Breker, cw-
Freiburger Studenten
Verlagsgruppe Schwerin, Schwerin 32006. um SCHWENDEMANN
2 Ebenda, S. 30-63.
haben übrigens den
3 Siehe Gerd SchulZE-RHONHOF, Der Krieg der viele Väter hatte..Olzog, Mün- Arbeitskreis Shoa.de
chen 2 0 0 3 ; Walter POST, Die Ursachen des Zweiten Weltkrieges, Graben, Tübingen als Internetportal
2003. gegründet.
4 Viktor SLIWOROW, »Wer plante wen im Juni 1941 anzugreifen, Hidcr oder Sta-
lin?« in: Rolf KOSIEK, Historikerstreit und Geschichtsrevision, Graben, Tübingen 1987,
S. 2 0 0 - 2 2 0 .
5 Siehe Beitrag Nr. 141, »Die Aufzeichnung des Obersten Hoßbach«.

849
in seinen zahlreichen anschließenden Friedensangeboten und -initiativen
zum Ausdruck kommt. 6
4. »Dennoch lieferte SPEER sein Meisterstück und demonstrierte da-
bei erstmals sein großes Organisationstalent.« (S. 43) Das ist falsch. Der
Verfasser ist hier auf S P E E R S eigene Darstellungen hereingefallen, die erst
kürzlich wieder einmal widerlegt wurden." S P E E R lebte vom organisatori-
schen Erbe seines Vorgängers Dr. Fritz T O O T .
5. »Als der vor Angst zitternde, greise tschechische Staatspräsident
H A C H A . . . in d i e . . . Reichskanzlei beordert wurde« (S. 4 4 ) . Das ist mehr-
fach falsch. Hacha kam freiwillig, hatte nach dem Beginn des Zerfalls der
Tschechoslowakei um einen möglichst umgehenden Gesprächstermin bei
H I T L E R nachgesucht. Er hatte auch keinen „Nervenzusammenbruch«,
sondern der herzkranke Mann, der wegen seiner Krankheit kein Flug-
zeug, sondern den Zug gewählt hatte, erlitt einen vorübergehenden Schwä-
cheanfall, der mit H Ä C H A S Zustimmung ärztlich behandelt wurde, wo-
nach dieser sich wieder wohl fühlte und die Verhandlungen fortsetzte.
Der britische Botschafter in Berlin, H E N D E R S O N , hatte dem tschechischen
Gesandten in Berlin, M A S T N Y , vorher den Besuch H A C H A S vorgeschla-
gen, der britische Botschafter in Prag, N E W T O N , hatte das unterstützt.
H A C H A wurde also nicht »beordert«, sondern kam von sich aus und auf
ausdrücklichen britischen Rat. Bei seiner Ankunft in Berlin war eine deut-
sche Ehrenkompanie am Bahnhof angetreten/ Mit seinen 66 Jahren war
H A C H A damals auch noch kein »Greis«. Er war ferner noch tschechoslo-
wakischer, nicht »tschechischer Staatspräsident«.
6. »In Paris nahm er nicht nur die Siegesparade der Wehrmacht auf
den Champs-Elysee ab. . .« (S. 47) Das ist doppelt falsch. Erstens nahm
H I T L E R 1 9 4 0 keine Parade in Paris ab. Er wollte die Franzosen nicht de-
mütigen, genau so, wie er am 21. Juni 1940 bei den Waffenstillstandsver-
handlungen in Compiegne nicht nur eine Demütigung der französischen
Militärs vermied, sondern sogar eine Ehrenkompanie antreten ließ. Spä-
ter ließ er als eine Verbeugung vor der großen Geschichte Frankreichs
die Gebeine des Sohns N A P O L E O N S , des Herzogs von Eichstätt, nach
Paris überführen. H I T L E R war kurz nach den Waffenstillstandsverhand-
lungen mit einigen Männern wie BREKER, GLESLER und SPEER wenige Stun-
den am frühen Morgen in Paris und besuchte dort ohne öffentliches
Aufsehen ausgewählte Bauten. S C H W E N D E M A N N hat offensichtlich dazu

6 Hans MEISER, GescheiterteFriedensinitiativen 1939-1945, Grabert, Tübingen 2 0 0 4


Siehe Jonas SCHERNER u. Jochen STRUB, »Das Ende eines Mythos? Albert Speer
und das sogenannte Rüstungswunder«, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirt-
schaftsgeschichte, Nr. 2 , 2 0 0 6 , S . 1 7 2 - 1 9 6 .
8 Siehe Beitrag Nr. 137, »Hacha und Hitler in Berlin 1939«.

850
weder die Autobiographie Im Strahlungsfeld der Ereignisse 1925—1965 von Paris am frühen Mor-
Arno BREKER, 9 über den er als Historiker schreibt, gelesen, worin der gen des 23. Juni
1 9 4 0 . HITLER besich-
Bildhauer den Ausflug H I T L E R S nach Paris beschreibt, 10 der dort jedes tigt die wichtigsten
Aufsehen und jeden >Triumph< vermeiden wollte, noch den ausführli- Pariser Bauten in Be-
chen Bericht darüber und über das Bauen im Dritten Reich in Hermann gleitung von S P E E R ,
GiESLERs Ein anderer Hitler." Zweitens gab es gar keine deutsche »Sieges- GIESLER u n d BREKER

parade« nach dem Westfeldzug in Paris - »um die Gefühle der Franzosen {links von HITLER).

zu schonen«, wie Joachim F E S T (Hitler) schreibt.12


7. »Noch in Paris kündigte er in der Nacht vom 24. auf den 25. Juni
1 9 4 0 , . .« (S. 4 7 ) Das ist falsch. Richtig ist, daß H I T L E R nach seiner früh-
morgendlichen rund dreistündigen Rundfahrt durch Paris und anschlie-
ßendem Rückflug mittags schon wieder in seinem Hauptquartier in Bru-
ly le Peche war, dort auch in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1940 war,
und nicht in Paris.
8 . »Faksimile-Abdruck von H I T L E R S am 2 5 . 6 . 1 9 4 0 in Paris unter-
zeichnetem Befehl. . .« (SAT) Das ist falsch. H I T L E R hat am 2 5 . 6 , 1 9 4 0
gar nichts in Paris unterschrieben, sondern solches nur in seinem 1 laupt-
quartier, insonderheit den erwähnten Befehl, S P E E R schreibt {Erinnerun-
gen), daß dieser Befehl auf den 25. Juni zurückdatiert worden sei.11

' Arno BREKER, Im Strahlungsfeld der Ereignisse 1925-1965, K. W. Schütz, Preu-


ßisch Oldendorf 1972.
"'Ebenda S. 151-165.
11 Hermann GLESLER, Ein anderer Hitler, Druffel, Leoni 1977, S. 386-396.
12 Joachim C. FEST, Hitler, Ullstein, Frankfurt/M.-Berlin 1 9 8 7 , S. 8 6 8 .
13 Albert SPEER, Erinnerungen, Propyläen—Ullstein, Berlin 1969, S, 188.

851
9. »Im Juli 1940 stand sein Entschluß fest. .. Angriff auf die Sowjet-
union«. ( S . 48) Das ist falsch. Erst bei dem Besuch M O L O T O W S in Berlin -
auf Hrn.];.RS Einladung - am 12./13. November 1940 wurden STALINS
unerfüllbare Forderungen bekannt, und H I T L E R erkannte, daß eine Aus-
einandersetzung mit Moskau unvermeidlich war und das Reich sich dar-
auf vorbereiten mußte. Die entsprechende Anweisung Nr. 21 für »Bar-
barossa« erging erst am 18. Dezember 1940.14
1 0 . H I T L E R S »WelteroberungsStrategie«. (S. 4 8 ) Hier werden die unbe-
rechtigten Vorwürfe der Gegner H I T L E R S übernommen, die selbst - wie
Großbritannien oder che USA - große Teile der Welt wirklich erobert
hatten und solchen Imperialismus zu planen dann H I T L E R unberechtigt
unterstellten; so jagte R O O S E V E L T seinen Landsleuten 1 9 4 1 mit einer da-
Arno BREKERS Auto- mals technisch unmöglichen deutschen Landung in den USA Angst ein.
biographie, Im Statt die Welt erobern zu wollen, hatte H I T L E R um des Friedens willen
Strahlungsfeld der
verbindlich auf Elsaß und Lothringen, Eupen und Malmedy, Nordschles-
Ereignisse 1925-
1965, Preußisch
wig und Südtirol, alles alte deutsche Gebiete, verzichtet und sogar Polen
Oldendorf 1972. die Anerkennung der damaligen polnischen Westgrenze angeboten, wel-
ches Opfer kein Weimarer Kanzler dem deutschen Volk zuzumuten ge-
wagt hatte.
Man möchte gern wissen, bei wem und wo dieser Historiker (Jahrgang
1956) Geschichte studiert hat. Man könnte glauben, bei diesem Beitrag
eine kommunistische Abhandlung aus der früheren DDR vor sich zu
haben.
Auf einen Brief des Verfassers mit der Angabe dieser Fehler und der
Bitte um Stellungnahme an den Historiker wie an den Herausgeber des
Katalogs kam keine Antwort.
Diese Ausstellung war nach Jahrzehnten des Verschweigens des gro-
ßen Bildhauers die erste in der Öffentlichkeit. Als im Juli 1981 in Berlin
eine Ausstellung mit mehreren hundert Werken des Künstlers stattfinden
sollte, wurde sie durch eine große Protestaktion der Neuen Gesellschaft
für Bildende Kunst (NGBK) beim Berliner Senat unter dem Regieren-
den Bürgermeister Richard VON W E I Z S Ä C K E R verhindert. Rund 8000 Bür-
ger hatten eine Erklärung unterschrieben, in der es hieß, »die Zurschau-
stellung von über 500 Exponaten des Nazi-Künstlers Arno Breker« sei
eine »einzigartige Provokation der demokratischen Öffentlichkeit«. 15
RolfKosiek

14 Walther HUBATSCH, Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939-1945, Bernard &
Graefe, Koblenz 21983, S. 84-92.
15 dpa, »Protestaktion gegen Breker-Ausstellung in Berlin«, in: Süddeutsche Zei-

tung 20. 7. 1981.

852
Im Gegensatz zum Schweriner Ausstellungskatalog berücksich-
tigt der im Grabert-Verlag erschienene umfassende Bildband Arno
Breker. Ein Leben für das Schöne sämtliche Schaffensphasen des
großen Bildhauers. Links oben: Studienkopf >Die Treue< (1943),
unten; >Der junge Alexander (1981); oben: Arno BREKER mit zwei
Versionen seiner >Bereitschaft< (1939).

Dieses auf der Breker-Ausstellung fotographierte Hinweisschild


ist für den Geist der Aussteller kennzeichnend.

853
Schindler - ein Schwindler?

nter den gut 90 Millionen Deutschen auf der Welt gibt es nur 512
U »Gerechte unter den Völkern«. 1
Dazu gehört Oskar SCHINDLER. Doch der Holocaust-Historiker David
M. C R O W E von der Elon-Universität in Nord-Carolina wies nach, daß der
Leinwand-Held und Listen-Führer, dem Hollywoods Regisseur Steven
SPIELBERG mit seinem weltweit verbreiteten Streifen zu posthumem Ruhm
verhalf, das ihm zugeschriebene Register weder angelegt noch geführt,
sondern sich dasselbe angedichtet hatte, um seine Retter-Rolle zu schö-
nen.2
Oskar SCHINDLER wurde 1908 als Sohn eines Landmaschinenfabrikan-
ten in der deutschmährischen Kreisstadt Zwittau geboren. Im Alter von
16 Jahren wegen Fälschung von Zeugnissen der Schule verwiesen, ver-
mählte er sich als Zwanzigjähriger mit der Landwirtstochter Emilie PELZL.
Statt mit der Mitgift von 100000 Kronen die väterliche Firma zu sanie-
ren, legte sich der Lebemann ein Luxusauto zu und verpraßte den Rest.
Mit der Begründung, er sei eben »als Epikureer auf die Welt gekom-
men«, verteidigte er gegenüber der Ehefrau seine Untreue samt laufen-
den Lügen. 3
Nach dem Bankrott der elterlichen Fabrik werkte SCHINDLER von 1929
bis 1936 in der »Mährischen Elektrotechnischen AG< in Brünn als Ver-
Oskar SCHINDLER.
kaufsleiter für die deutschen Gebiete der damaligen Tschechoslowakei.
1935 trat er in H E N L E I N S >Sudetendeutsche Heimatfront< ein. 1935 kam
er in Verbindung mit der Abwehr, dem Auslandsgeheimdienst des Deut-
schen Reiches, und machte seine Wohnung in Mährisch-Ostrau zum
»Treffpunkt von Spionen und Spitzeln«. Im Juli 1938 verhaftet, wurde er
als deutscher Agent von Tschechen verhört und gefoltert. Nach der ihn
rettenden Befreiung des Sudetenlandes im September 1938 beantragte
SCHINDLER seine Aufnahme in die Nationalsozialistische Deutsche Ar-
beiterpartei. Beim Generalkommando VIII in Breslau unter Vertrag, ar-
beitete er für die Abwehr in Ost-Oberschlesien und in Galizien,
im Oktober 1939 kam er nach Krakau und zog dort in eine komforta-
ble jüdische Wohnung. In F R A N K S Generalgouvernement wie Gott in

1 Davon wiederum 427 Bundesdeutsche und 85 Österreicher.


2 David M. CROWE, Oskar Schindler: The Untold Account of HisLife, Wartime Acti-
vities und the True Story Behind the List, Boulder, Colorado 2004,
deutsch: Oskar Schindler. Die Biographie, Frankfurt/M. 2005.
3 Witwe Emilie SCHINDLER, zit. bei Dieter TRAUTWEIN, »Die immer neue Frage:

Wer war Oskar Schindler?« in: Die Welt, 26. 11. 2004.

854
Frankreich lebend, 4 arisierte der »Geschäftsmann und Stratege, Gut-
mensch und Hedonist, Alkoholiker und Ehebrecher« (Der Spiegel) das im
Stadtteil Zablocie gelegene Emaillierwerk >Rekord<,5 taufte es in >Deut-
sche Emailwarenfabrik< (DEF) um und beschäftigte vorzugsweise Juden,
die billiger kamen als arische Arbeiter. Auf Grund von gewinnträchtigen
Aufträgen, die er als angenehmer Gesellschafter mit besten Beziehungen
laufend an Land zog, konnte er nach und nach die Betriebsfläche von
8000 auf 42000 Quadratmeter erweitern und die Zahl der Beschäftigten
von anfangs hundert mehr als verzehnfachen.
Weil Werktätige bekanntlich die von ihnen erwartete Leistung nur dann
im vollen Umfang erbringen, wenn sie korrekt behandelt werden und
genug zu essen haben, sorgte S C H I N D L E R als sozialer Arbeitgeber für das
leibliche Wohl seiner Gefolgschaft. Er beschaffte knappe Lebensmittel David M. CROWE,

Oskar Schindler.
im Tauschweg oder auf dem Schwarzmarkt. Als im März 1943 das Kra- Die Biographie,
kauer Ghetto geräumt und die dort wohnenden Juden in Lagern kon- Frankfurt/M. 2005.
zentriert werden sollten,'' legte SCHINDLE.R auf dem Gelände seines Be-
triebes mit Erlaubnis der zuständigen Stellen ein exklusives Nebenlager
mit besseren Lebensbedingungen an. Mit der Sorgfalt eines ordentlichen
Kaufmannes auf Sicherung der Arbeitsplätze bedacht, stellte er den
Metallwarenbetrieb auf die Produktion von Rüstungsgütern um. Dadurch
bewahrte er die überwiegend jüdischen Arbeiter samt Angehörigen vor
der Abschiebung nach Auschwitz oder in andere Lager.
Als in Anbetracht der sich laufend verschlechternden militärischen Lage
die Schließung des Betriebes drohte, setzte der listenreiche S C H I N D L E R
bei den Behörden durch, daß er im Oktober 1944 seine als kriegswichtig
anerkannte Produktion nach Brünnlitz im heimatlichen Landkreis Zwit-
tau verlagern und seine jüdische Belegschaft mitnehmen durfte. Allen
bei ihm beschäftigten Juden war es ein Anliegen, hierfür gehstet zu wer- Erika ROSENBERG (Hg.),
den, denn »die Liste ist das verkörperte Gute, ist das Leben«. Dennoch Ich, Emilie Schindler,
traten bei der Überführung Schwierigkeiten auf, als an die 800 Mann Herbig, München
2006.
statt am neuen Betriebsstandort im Sudetenland im KL Groß Rosen (in
der Mitte zwischen Liegnitz und Waldenburg in Niederschlesien) anka-

4 Hans FRANK (Im Angesicht des Galgens) war 1 9 3 9 — 1 9 4 4 Generalgouverneur für


die besetzten polnischen Gebiete mit Sitz in Krakau, wurde im Nürnberger
Prozeß zum Tode verurteilt und am 16. 10. 1946 hingerichtet.
5 Auf antisemitischer Grundlage beruhende >Rechtsgeschäfte wie dieses wer-

den in Veröffentlichungen meist schindlerschonend umschrieben als Treuhän-


derschaft, Übernahme, Übertragung, Kauf, Errichtung u. dgL
6 Amtlich hatte Krakau nahezu 300000 Einwohner, davon 60000 bis 70000

Juden (Max Freiherr DU PREL, Das Deutsehe Generalgouvernement Polen, Krakau 1940,
S. 37 u. 45).

855
men. Ein Transport von Frauen landete in Auschwitz. Doch SCHINDLER
konnte seine Schützlinge loseisen und die 1200 Überglücklichen in Brünn-
litz begrüßen.
Den Tag der bedingungslosen Kapitulation feierten SCHINDLER und
Gemahlin mit ihrem jüdischen Buchhalter Itzhak STERN. Für SCHINDLER
gab es eigentlich nichts zu feiern, denn sogar ehemalige KL-Häftlinge,
auch politische, teilten das Schicksal der Vertreibung, wenn es sich bei
ihnen um Deutsche handelte. Daß der eingeschriebene >Nazi< SCHINDLER
gut zu Juden war und 1200 von ihnen über die Runden gebracht hatte,
zählte nicht für B E N E S C H und seine Dekrete.
Nachdem er jeden seiner Mitarbeiter mit einer Flasche Wodka und
zweieinhalb Meter Stoff verabschiedet hatte, machte sich SCHINDLER im
Auto aus dem Staub. Im amerikanisch besetzten Regensburg bemühte er
sich vergeblich, eine Filmproduktion aufzuziehen.
Vom >Joint Distribution Committee<, das er während des Krieges unter-
stützt hatte, mit einem Betrag von 150000 US-Dollar ausgestattet, wan-
derte er 1949 mit seiner Frau Familie im Gefolge von >Schindler-Juden<
nach Argentinien aus. Auf seiner »Quinta Magnolia< in San Vicente ver-
suchte er sich als Nutria-Farmer, zog aber nach seinem Scheitern 1957
wieder nach Deutschland. Seine Frau ließ er in Argentinien,
Im Land des Wirtschaftswunders versuchte SCHINDLER, auf der Grund-
lage zweifelhafter Forderungen aus dem Lastenausgleich neue Fabriken
zu finanzieren, erlitt aber nach dem Fehlschlag einen Herzanfall. >Schind-
ler-Juden<, die von seinem Mißgeschick erfuhren, ließen ihn indessen nicht
im Stich und luden ihren einstigen Retter 1962 nach Israel ein, wo er in
der>Allee der Gerechtem einen Baum pflanzen durfte. Nachdem er 1963
mit seinem »Kunst- und Betonsteinwerk< in Hochstadt Kreis Hanau bank-
rott gegangen war, riefen >Schindler-Juden< einen >Oskar-Schindler-Fonds<
ins Leben.

7 >Joint Distribution Committee< (]DC, volle Bezeichnung »American Jewish Joint


Distribution Committee<) ist eine seit 1914 vor allem in Europa tätige Hilfsor-
ganisation für jüdische Glaubensgenossen. Im Zweiten Weltkrieg steuerte Jo-
seph J. SCHWARTZ (gest. 1975) als europäischer Direktor vom neutralen Lissabon
aus alle verbliebenen Hilfsmöglichkeiten. Zwischen 1914 und 1945 konnte das
]DC neben lebensmittellieferungen 169 Millionen Dollar Spendengelder ver-
teilen. Während des Dritten Reiches linderte das JDC die Not der deutschen
Juden durch Zuwendungen an jüdische Einrichtungen und unterstützte die
Auswanderung aus Deutschland. Rund 250000 Juden konnten mit Hilfe des
JDC ins benachbarte Ausland oder nach England und in die USA auswandern.
Zwischen 1934 und 1937 zahlte die Organisation 4,6 Millionen Dollar an den
»Zentralauschuß der deutschen Juden*. Im Zweiten Weltkrieg schickte das JDC
Geld und Nahrungsmitte! nach Polen.

856
Der Staat Israel ehrte Oskar SCHINDLER 1963 als »Gerechter unter den
Völkern«. Es folgte 1966 die Verleihung des bundesdeutschen Verdienst-
kreuzes, verbunden mit der Bewilligung einer monatlichen Rente von
200 Mark. Als Träger des Martin-Buber-Friedenspreises (1967) und des
päpstlichen Silvesterordens (1968) lebte er fortan im Halbjahres rhyth-
mus abwechselnd in Frankfurt am Main und im Heiligen Land.
Nach seinem Tod 1974 in Hildesheim wurde er, wie es sein letzter
Wille war, auf dem katholischen Friedhof auf dem Berge Zion bestattet.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Preisgekrönte aber erst 1994
durch den SPIELBERG-Spielfilm bekannt, der wiederum auf dem 1982 er-
schienenen Buch des Australiers Thomas K E N E A L L Y (*1935) beruht. Im
Vorspann zur amerikanischen Original-Ausgabe heißt es ausdrücklich:
»Dieses Buch ist ein Werk der Dichtung (>work of fiction<). Namen, Perso-
nen, Orte und Begebenheiten wurden vom Verfasser nach seiner Vor-
stellung gestaltet oder sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächli-
chen Ereignissen oder lebenden und toten Personen sind rein zufällig.«
In der deutschen Ankündigung der Verlagsgruppe Random House/Ber- Thomas K E N E A L L Y ,
telsmann heißt es bereits, der Australier habe fast zwei Jahre recherchiert, Schindlers Liste,
um diese wahre Geschichte festzuhalten: »Er hat die Fakten zusammen- Goldmann, München
getragen, geordnet und nicht kommentiert.« Im renommierten Bertels- 1994.
mann Jugendbuch versichert der Verlag: »Die Personen und die Hand-
lung sind demnach nicht frei erfunden, sondern entsprechen der
Wirklichkeit.«8
Bei der filmischen Behandlung durch Steven SPIELBERG 1 9 9 3 wurde
der Wahrheit weitere Gewalt angetan. In einem Interview, das auch vom
deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, machte der mosaische Holly-
wood-Regisseur aus seinem Herzen keine Mördergrube: »Als ich wäh-
rend der Dreharbeiten die deutschen Schauspieler in ihren deutschen
Uniformen sah, hatte ich Mühe, meinen Haß gegen diese Menschen zu
unterdrücken«, erklärte SPIELBERG. »Erst als die Dreharbeiten zu Ende
waren, als die Deutschen, die die Soldaten dargestellt hatten, in ihren
Zivilkleidern bei uns am selben Tisch saßen, wurde mir bewußt, daß sie

8Hans-Jürgen VAN DER GIETH,»Thomas Keneally: Schindlers laste, Unterrichts-


hilfen Klasse 8/9/10«, in: Jörg KNOBLOCH (Hg,), Schulbus Lesepraxis 2, Mün-
chen—Berlin—Frankfurt—Wien—Zürich 1998, S. 66—72. Der Herausgeber Dr. Jörg
KNOBLOCH ist Rektor einer Hauptschule und Bundesvorsitzender der Arbeits-
gemeinschaft Jugendliteratur und Medien in der GEW, Für seine Arbeit zur
Leseförderung wurde er von der Stadt Göttingen mit dem Goldenen LeseZei-
chen ausgezeichnet und sein Engagement durch die AusLese der Stiftung Lesen
geehrt. Von Jörg KNOBLOCH sind laut Random House/Bertelsmann Verlag zahl-
reiche Veröffentlichungen zur Didaktik des Deutsch- und Literaturunterrichtes
erschienen.

857
Links: Oskar SCHIND- Menschen waren wie wir.« Diese menschenverachtende Bemerkung macht
LER 1973 in Tel Aviv. deutlich, daß es dem Softer der >Survivors of the Shoah Visual History
Rechts: SCHINDLERS Foundation< nicht darum ging, die Güte zu würdigen, die Oskar S C H I N D -
Grab in Jerusalem LER seinen Juden erwiesen hatte. Die Humanität des Helden dient nur
(Abbildung Riccki
dazu, um vor ihrem Hintergrund die anderen beteiligt gewesenen Deut-
ROOSEN).
schen um so teuflischer erscheinen zu lassen. In Wirklichkeit war S C H I N D -
LER nicht nur auf seinen eigenen guten Willen, sondern auch darauf an-
gewiesen gewesen, daß ihn die zuständigen Entscheidungsträger jeweils
gewähren ließen.
Dagegen stellten sich ausländische Kreise schützend vor das deutsche
Volk: In Malaysia wurde der Film nur zugelassen, nachdem er an 25 sei-
ner widerlichsten Stellen beschnitten worden war. Auch in Kuala Lum-
pur, Singapur und Manila wurde von »internationaler Seite« gegen das
behördliche Verbot des Filmes protestiert (Die Presse, 5. 4. 1994). Doch
in Deutschland rührten Bundespräsident Richard VON W E I Z S Ä C K E R und
Bundeskanzler Helmut K O H L die Werbetrommel für das antideutsche
Machwerk. Umerzogene Erzieher trieben die Schüler klassenweise in die
Kinos und dadurch die Besucherzahlen in die Höhe, Wer darauf hinwies,

858
daß der Film auf einem Roman beruhe, wurde mit einem Verfahren we-
gen Volksverhetzung überzogen.
Um seine Schwarz-Weiß-Malerei authentisch erscheinen zu lassen, hatte
SPIELBERG mit Ausnahme einer einzigen Farbsequenz für seinen Film
zeitgemäßes Schwarz-Weiß-Material gewählt. Der Streifen löste heftige
Diskussionen aus. Holocaust-Überlebende behaupteten, ein solches The-
ma lasse sich nicht angemessen verfilmen. Jede nichtdokumentarische
Darstellung müsse letztlich auch finanziellen Interessen und filmischen
Gesetzmäßigkeiten gerecht werden, eine wahrheitsgetreue Schilderung
sei somit unmöglich. Erhoben wurde auch der Vorwurf, SPIELBERG habe
SCHINDLERS Charakter und dessen Beziehung zu seiner Ehefrau geschönt,
um aus ihm eine Identifikationsfigur zu machen. Auch sei aus demselben
Grund nicht auf sein Leben nach dem Zweiten Weltkrieg eingegangen
worden. Noch schwerer wog jedoch, daß der Regisseur im letzten Drittel
in unzulässiger Weise film technische Mittel einsetze, um den Zuschauer
zu ergreifen. Hier wurde dieser manipuliert und zu Tränen gerührt. Per-
sönlich angegriffen wurde SPIELBERG, weil er sich in dem Film selbst zeigt,
wie er einen Stein auf das ScHiNDleR-Grab legt. In dieser höchstpersön-
lichen Szene versuche er, den Zuschauer für sich persönlich einzuneh-
men. Dies hätte damit zusammengehangen, daß er damals versuchte,
einen Oscar für die beste Regie zu gewinnen. Tatsächlich erhielt der in
Krakau gedrehte Streifen sieben Oscars. 9

Szene aus dem ge-


schönten Film Steven
S P I E L B E R G S mit Liam N E E -

SON in der Hauptrolle.

9 Vom damaligen MG M - Präs i de n te n Louis B, M A Y E R 1927 gestifteter amerika-


nischer Filmpreis, nach den verliehenen Statuetten gemeinhin >Oscar< genannt.
Je einen Oscar erhielt Schindlers Liste für den besten Film, die beste Regie, das
beste Drehbuch, den besten Schnitt, die beste Kamera und die beste Musik.

859
Den >Unwahrheitsbeweis< trat der oben genannte Amerikaner David
M . CROWF. an:10 » S C H I N D L E R S Liste hat nicht existiert«, stellt der Histori-
ker nach sieben Jahren sorgfältigster Recherche fest. Nicht eine, sondern
neun Listen habe es gegeben, und keine einzige davon stamme von
SCHINDLER, Vier Listen wurden vielmehr von Marcel G O L D B E R G geführt,
einem korrupten Kapo, der sich für die begehrten Listenplätze fürstlich
entlohnen ließ und die aufgeführten Namen laufend veränderte. Oskar
S C H I N D L E R , der nur bedingten Einfluß hatte, zumal er zum Zeitpunkt der
Erstellung gerade im Gefängnis saß, habe kräftig an seiner Heidenlegen-
de gestrickt und nach dem Krieg nichts unversucht gelassen, um die
Dankbarkeit der gelisteten Juden in klingende Münze umzusetzen.
Muß SPIELBERG seinen Film nun umtiteln: Schindlers List statt Schindlers
Liste? »Er hat SCHINDLER menschlicher und damit auch außergewöhnli-
cher gemacht«, verteidigte Friedensnobelpreisträger Elie W I E S E L die Fäl-
schung und plädierte für die Beibehaltung des bewährten »Nebeneinan-
der von Fakten und Fiktion«. 11 Fred Duswald

10David M. CROWF., Oskar Schindler, aaO. (Anm. 2).


11 »Neue Schindler-Biographie. Zweifel am Helden-Image«, in: Spiegel Online, 25.
11. 2004.

Literatur
Thomas KENEALLY, Schindlers IJste, Bertelsmann, München 1 9 9 6 .
Erika ROSENBERG (Hg.), In Schindlers Schatten. Emilie Schindler erzählt ihre Geschichte,
Kiepenheuer & Witsch, Köln 21997.
Erika ROSENBERG (Hg.), Ich, Oskar Schindler. Die persönlichen Aufzeichnungen, Briefe
und Dokumente, Herbig, München 2000.
»Oskar Schindlers dunkle Seite«, in: Kurier, Wien, 24, 11, 2004,
Uwe SCHNITT, »Schurke oder Heiliger? Die erste wissenschaflich seriöse Bio-
graphie Ciskar Schindlers läßt den Judenretter nur noch schillernder erschei-
nen«, in: Berliner Morgenpost, 27. 11. 2004.
Andrea KÖHLER, »Schindler ohne Liste. Eine Biographie korrigiert die Legen-
de«, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) Online, 14. 12. 2004.
David M. CROWE, Oskar Schindler. Die Biographie, Eichborn, Frankfurt/M. Main
2005.
Mietek PF.MPER, Der rettende Weg. Schindlers Liste. Die wahre Geschichte, Hoffmann
& Campe, Hamburg 2005,
Erika ROSENBERG (Hg.), Ich, Emilie Schindler, Herbig, München 2006.

860
Der > Verfassungsschutz< Demokratisches
Frühwarnsystem oder Machtinstrument der
Herrschenden?

chenkt man der Eigenwerbung der >Ämter für Verfassungsschutz*


S Glauben, wäre es ihre Aufgabe, »verfassungsfeindliche und sicherheits-
gefährdende Bestrebungen zu beobachten sowie die politisch Verant-
wortlichen, die zuständigen Stellen, aber auch die Bürgerinnen und Bür-
ger unseres Landes über Entwicklungen und drohende Gefahren zu
unterrichten. Der Verfassungsschutz versteht sich deshalb als > Früh warn-
system< der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung«. 1 Wie ist 1 Innenministerium
diese Selbstdarstellung zu werten? Baden-Württemberg
Bereits der Name des bundesdeutschen Inlandsgeheimdienstes ist irre- (Hg.), \ erfassungs-
führend, da die BRD über keine Verfassung verfügt, die folglich auch schutybericht Baden-
Württemberg 2004,
nicht geschützt werden kann. 1949 verabschiedete der Parlamentarische
S. 2 5 2 .
Rat das Grundgesetz, nicht etwa eine Verfassung, Ist der sogenannte
Verfassung schutz dann aber nicht eher als > G rundgesetts ch utz< zu verste-
hen? Wenn dies der Fall wäre, ginge es den Verfassungsschützern in er-
ster Linie darum, die im Grundgesetz niedergelegten Pflichten und Rechte
der Staatsbürger zu schützen. Damit würde es sich bei den Ämtern ge-
wissermaßen um Kontrolleinrichtungen handeln, die darauf achteten,
daß sowohl Rechte als auch Pflichten der deutschen Staatsbürger und
seiner Volksvertreter gewährleistet würden. Diese Aufgabe erfüllt der
»Verfassungsschutz* jedoch nicht.2 2 Vgl. Claus N O R D -

Nach offizieller Darstellung und den verschiedenen Verfassungsschutz- BRUCH, Der Verfas-

gesetzen zufolge fällt in den Zuständigkeitsbereich der Ämter für Ver- sungsschutz Organisa-
fassungsschutz die »Beobachtung« von Parteien und Organisationen, bei ion, Spitzel, Skandale,
Hohenrain, Tübin-
denen »tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht« bestehen, daß sich gen 1999.
ihre Bestrebungen »gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung,
den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes« richten
oder »eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mit-
gliedern der verfassungsmäßigen Organe des Bundes oder eines Landes
zum Ziele haben«. Was unter einem »tatsächlichen Anhaltspunkt für den
Verdacht« zu verstehen ist, wird in den offiziellen Quellen nicht näher
bestimmt. Rechtfertigungsversuche mittels bestehender Strafgesetze sind
ihrerseits wiederum anfechtbar. Schon deshalb bietet diese vage Formulie-
rung einen unüberschaubaren Freiraum für Spekulationen, Subjektivität
und Willkür. Entsprechend einseitig ist das Engagement des »Verfassungs-
schutzes«. Einer »»Beobachtung« unterliegen grundsätzlich fundamental-
oppositionelle Parteien ohne Rücksicht auf deren Ausrichtung, Einfluß

861
oder parlamentarische Vertretung. Allgemein sind ferner nur Skinhead-
Bands der »Beobachtung« ausgesetzt, nicht aber Musiker anderer Rich-
tungen mit ebenfalls bisweilen brisanten oder radikalen politischen Texten;
die Geheimdienste sogenannter extremistischer oder nicht demokrati-
scher Staaten wie Iran, Pakistan, Libyen, Nordkorea oder China werden
»beobachtet«, nicht aber die der USA, Frankreichs oder Israels. Unter
eine Beobachtung fallen nicht etwa die etablierten Parteien, falls diesen
durch das Bundesverfassungsgericht Verfassungsbrüche nachgewiesen
werden, sondern Radikale, die seit 1974 offiziell »Extremisten* genannt
werden. Zwar kann es keinem Staatssystem darum gehen, tatsächlichen
subversiven und terroristischen Kräften politische Rechte einzuräumen,
aber in einer echten Demokratie müssen Links- wie Rechtsradikale wie
auch sonstige Radikale (Liberalradikale, Radikaldemokraten usw.) die
Möglichkeit haben, ihre Beiträge zur politischen Willensbildung frei zu
liefern — freilich solange dies gewaltfrei, also mit geistigen Mitteln, ge-
schieht. In verschiedenen europäischen Ländern, wie zum Beispiel in
Frankreich, Serbien, Italien und Dänemark ist dies eine Selbstverständ-
lichkeit. Dort ist sogar in den Parlamenten jeweils eine »Radikale Partei«
vertreten. Nach Ansicht des »Verfassungsschutzes« sind jedoch radikale
Bestrebungen als »extremistisch« zu bezeichnen, da sie gegen die freiheit-
liche demokratische Grundordnung gerichtet seien.
Es ist unbestritten, daß es die natürlichste Sache eines Staates ist, sich
selbst zu schützen. Die Daseinsberechtigung für eine Institution oder
Behörde, die für die innere Sicherheit des Staates und für die Sicherheit
seiner Staatsbürger verantwortlich sein muß, ist deshalb selbstverständ-
lich. Auftrag und Arbeitsweise der Verfassungsschutzbeamten und ihrer
Spitzel lassen jedoch den Schluß zu, daß ihr Einsatz eben nicht dem Schutz
von Rechten und Pflichten der Staatsbürger dient, sondern dem Schutz
der Interessen des herrschenden Establishments. Diese Erkenntnis hatte
Die 'Zeit bereits 1965 gewonnen: »Man wird feststellen müssen, daß sich
die Verfassungsschutzämter um den Schutz der wertvollsten und wich-
tigsten Teile unserer Verfassung in der Regel nicht kümmern. Es ist noch
3 Die Zeit, 5. 11. nie bekannt geworden, daß sie wegen der häufigen Störungen elementa-
1965, zitiert nach rer Grundrechte aktiv geworden seien, die Tag für Tag vorkommen.« 3
Julius M A D E R , Nicht Die Überale Wochenzeitung zog daraus den Schluß, daß es sich beim
länger geheim. Die sogenannten »Verfassungsschutz« vielmehr »um einen Geheimdienst mit
Geheimdienste der vorwiegend politischen Aufgaben« handele, der »zum Schutze der politi-
Deutschen Bundesrepu- schen Interessen der herrschenden Parteien, ja der herrschenden Politi-
blik und ihre subversi- ker selbst mißbraucht« würde.
ve Tätigkeit gegen die
Deutsche Demokrati- Gewissermaßen als Kronzeuge zur Verteufelung nationalgesinnter
sche Republik, Berlin Bestrebungen in der BRD wird von den Medien und dem Establishment
1 9 6 6 , S. 178. allzu gern der »Verfassungsschutz« als angeblich glaubwürdige Bezugs-

862
quelle herangezogen. Was die »obrigkeitsfürchtige Öffentlichkeit« nicht
ahnt, ist, daß sich unter der hochtrabenden Bezeichnung »Verfassungs-
schutz* ein Amt verbirgt, das wie keine andere offizielle Stelle dieser Re-
publik demokratischen Richtlinien zuwiderhandelt und kaum vor einem
Mittel, einschließlich Aufstachelung zum Rassenhaß und Begehen terro-
ristischer Anschläge (Celler Loch), zurückschreckt. Der Berliner Verfas-
sungsrechtler Eggert S C H W A B kam schon 1988 zu dem Schluß: »Die ge-
fährlichste aller verfassungsfeindlichen Aktivitäten, die wir in unserer Zeit
in unserer Gesellschaft zu beobachten haben, ist diejenige der Behörde
Verfassungsschutz.« 4 Angesichts der Praxis von V-Leuten (Agenten) des Zitiert nach: »Was
Verfassungsschutzes ist diesem Urteil unumwunden zuzustimmen: der »Verfassungs-
schutz* treibt««, in:
> 1968 tat sich Peter U R B A C H hervor, den Berliner Aktivisten der Älationai-Zeitung,
Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition 20. 7. 2001, S. 12.
Brandsätze und Waffen zu beschaffen. Der Verfassungsschutzspitzel
unterbreitete diesen Kreisen ferner den Vorschlag, die Freiheitsglocke zu
sprengen.
^ Eine regelrechte Terrorwelle traf 1983 den Groß räum München.
Ziel diverser Bomben- und Brandanschläge waren verschiedene Lebens-
mittelgeschäfte, die Stadt- und Kreissparkasse Freising sowie das Mün-
chener Justizgebäude. Täter dieser Verbrechen war der in autonomen
und antiimperialistischen Kreisen aktive Manfred SCHEFFER, V-Mann des
Verfassungsschutzes, der vom Amt pro Anschlag zwischen 1000 und 2000
Mark kassierte.
> »Und wir kämpfen dort nicht nur gegen Lichterketten, sondern
gegen den geballten jüdischen und bolschewistischen Abschaum, der sich
in der Öffentlichkeit breitsuhlt. Wir sind also wieder an einem Problem
angekommen, welches schon die nationalsozialistische Bewegung in den
20er Jahren hatte: Den Kampf gegen das Weltjudentum.« Diese provo-
kativen Sprüche fielen 1996 von dem Provokateur Axel R E I C H E R T , der
mit Hilfe des »Verfassungsschutzes< ein Jahr zuvor den von der interna-
tionalen Medienwelt viel beachteten Rudolf Heß-Gedenkmarsch in Lu-
xemburg organisiert hatte.
> 2002 berief sich das Bundesinnenministerium in seinem Bemühen,
das Bundesverfassungsgericht zu einem Verbot der NPD wiegen derer
angeblichen Verfassungswidrigkeit zu bewegen, auf die Tätigkeiten und
Äußerungen hoher Funktionäre dieser Partei. Hierbei zitierten die An-
tragsteller oftmals Wolfgang F R E N Z und Udo H O L T M A N N , die jahrzehnte-
lang hohe Positionen in der NPD bekleidet hatten - und ebensolang als
Spitzel für den »Verfassungsschutz« tätig gewesen waren. Daraufhin wur-
de das Verbotsverfahren von Bundesverfassungsgericht abgelehnt.
Dutzende Agents provocateurs des »Verfassungsschutzes< gingen in die

863
Sie gehören zur
Skandalgeschichte
des >Verfassungs-
schutzes<; Wolfgang
F R E N Z und Tino

BRANDT.

Skandalgeschichte dieses Geheimdienstes ein, hierunter zählen Hans-


Dieter LEPZIEN, Klaus STEINMETZ, Peter TROEBER, Bernd SCHMITT, Mi-
chael W O B B E oder Tino BRANDT, auch Peter WF.INMANN, der, dem Spiegel
zufolge, »ein mittelgroßer Schweinehund mit eigenem, recht eigenwilli-
gem Ehrenkodex« 5 war. Diese Charakterisierung dürfte auf alle Spitzel
des »Verfassungsschutzes« zutreffen, die sich als Denunzianten und Pro-
vokateure profilieren. Es handelt sich bei diesen Personen ausnahmslos
um charakterlose, korrupte Menschen, die es im bürgerlichen Leben meist
zu nichts gebracht haben. Sie werden für den »Verfassungsschutz« nicht
um der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung«« willen tätig, son-
dern ausschließlich um »»extremistische Bestrebungen« zu provozieren
und damit Gründe für repressive Maßnahmen, beispielsweise Verbots-
verfahren, zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich
zu wissen, daß im Gegensatz zur Polizei für den »Verfassungsschutz« keine
Pflicht besteht, Straftaten anzuzeigen (Opportunitätsprinzip).
Der »Verfassungsschutz« ermutigt V-Leute, in der nationalgesinnten
Szene, beispielsweise in der NPD, Straftaten zu begehen. Der ehemalige
Beamte im Staatsschutz, Hans-Günther BRASCHE, erklärte gegenüber der
Zeit, V-Leute des »Verfassungsschutzes« würden von ihren Führern »hoch-
gestachelt« werden. Der Sprecher des Verfassungsschutzes in Hannover,
Rüdiger HESSE, widersprach diesen Vorwürfen und wies sie zurück. Wer
hatte recht? BRASCHE, von 1987 bis 1993 Leiter des Fachkommissariats
Rechtsextremismus bei der Polizeiinspektion Braunschweig, hatte enge
Kontakte zu der sogenannten Neonazi-Szene aufgebaut. Seinen Anga-
ben zufolge sei beispielsweise einer der Informanten von einem V-Mann-
Führer aufgefordert worden, »»doch mal etwas gegen die Zentrale An-
laufstelle für Asylbewerber in Braunschweig zu unternehmen«. Die

5 Vgl. »Spion aus Leidenschaft«, in: Der Spiegel, 14. 2, 1994, S. 36.

864
V-Leute hätten nach Forderung ihrer Führer »eine vollkommen neue Ebe-
ne der Provokation erzeugen« sollen. Den Darlegungen des Sprechers
des sächsischen Landesamtes für »Verfassungsschutz«, Alrik B A U E R , zu-
folge hilft der »Verfassungsschutz« sogar auf Ersuchen sogenannter »Aus-
stiegswilliger auch beim Wechsel von Umfeld und Arbeitsplatz, bei Kon-
takten zu Beratungsstellen und sorge für persönlichen Schutz. . , Im
Einzelfall steuere der Verfassungsschutz auch, wie die Aussteiger ihren
Abschied aus der Szene öffentlich darstellten«. 6
Uwe W E S E L , Rechtsprofessor an der Freien Universität Berlin, erklärte
im Zuge des Skandals um das NPD-Verbotsverfahren im Januar 2002 in
der Welt, daß es nicht das erste Mal sei, daß der Verfassungsschutz Be-
weise selbst herstelle.7 In der Tat gehört das Begehen von Straftaten zur
Norm der geheimdienstlichen Aktivitäten des »Verfassungsschutzes«. Die
im Dienste des »Verfassungsschutzes« stehenden Straftäter werden oft-
mals von den Ämtern geschützt. Man ist angesichts der massiven Unter-
wanderung der deutschfreundlichen, sprich nationalen Szene von Spit-
zeln des »Verfassungsschutzes« gefragt, was eigentlich von den »Neonazis«
übrigbliebe, wenn man alle Personen, die dort im Auftrage des Staates
agieren, abzöge. Hält man sich das Treiben der Denunzianten und Agents
provocateur kritisch vor Augen, liegt die Schlußfolgerung nahe, daß die
überwiegende Anzahl - vor allem bei »rechtsextremer« Gewalt — ohne
das Wirken der vom Staat eingeschleusten Agenten niemals stattgefun-
den haben würden. Damit fördert das »freiheitliche und demokratische
System« der BRD selbst diese (und andere) Subkulturen, baut diese selbst
auf und aus, läßt sie ausspähen und später zerschlagen. Damit produ-
ziert sie selbst das, was sie mittels des »Verfassungsschutzes« vorgibt zu
bekämpfen.
Ein deutliches Licht auf den Grad der Rechtschaffenheit des >Verfas-
sungsschutz es« werfen außer den Aktivitäten der Spitzel auch und gerade
die Charaktere und Tätigkeiten vieler höherer Beamten dieses Geheim-
dienstes. Beispielsweise wurde Hans LANGEMANN, Chef des bayerischen
Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), 1984 zu acht Monaten Ge-
fängnis auf Bewährung wegen Geheimnisverrats verurteilt. Vor einem
höheren Strafmaß rettete ihn ein medizinisches Gutachten, das ihm be-
scheinigte, er leide unter starken Stimmungsschwankungen, Depressio-
nen, Weinkrämpfen und Gedächtnislücken. Bezeichnenderweise konnte
eine solch labile Persönlichkeit im »Verfassungsschutz« nicht nur die Karrie-

6 Tilman STEFFEN, »Verfassungsschutz hofft auf mehr NPD-Austritte«, in: Netzei-


tung, 21.12. 2005.
Kathrin SPOERR, »Ex-Verfassungsrichter sieht Ansehen Karlsruhes »düpiert««,
in: Die Welt, 24. 1.2002.

865
releiter hinaufklettern und eine verantwortungsvolle Stellung bekleiden,
sondern gar zum Leiter des Amtes aufsteigen.
> Volkmar S E I D E L , Chef des Verfassungsschutzes von Mecklenburg-
Vorpommern, wurde im Februar 1995 seines Amtes enthoben, als gegen
ihn wegen Dienstvergehen sowohl disziplinarrechtliche als auch straf-
rechtliche Ermittlungen eingeleitet werden mußten: Er kaufte fabrikneue
Fahrzeuge zum privaten Gebrauch, ohne dabei auf den Preisnachlaß zu
verzichten, der Behörden nur beim Ankauf von Dienstfahrzeugen ge-
währt wird.
> Einer Meldung der Frankfurter Rundschau vom 30. Juli 1993 zufolge
beteiligten sich rund ein Viertel der Agenten des saarländischen Verfas-
sungsschutzes an Betrügereien. Hierbei berief sich die Zeitung auf eine
Erklärung des saarländischen Innenministeriums, wonach gegen 15 der
62 Beschäftigten diesbezüglich Disziplinarermittlungen eingeleitet wor-
den seien. Zu den begangenen Verbrechen zählten unter anderem Be-
trügereien, Veruntreuung und Fälschung,
> Der August 1985 bescherte dem »Verfassungsschutz« und der BRD
einen der größten politischen Rückschläge überhaupt. In jenem Monat
floh Hans-Joachim T I E D G E , alkoholkranker und hoch verschuldeter Grup-
penleiter in der für Spionageabwehr zuständigen Abteilung IV des Bun-
desamtes für Verfassungsschutz, in die DDR. Pikanterweise erfuhr die
Bundesregierung von dieser Flucht erst durch eine Meldung der DDR-
8 Vgl. Eghard Nachrichtenagentur ADN.K
MORBITZ, »Riesen- > 1990 flog ein weiterer Landesverräter aus den obersten Reihen des
skandal beim »Verfassungsschutzes« auf: Regierungsoberamtsrat Klaus K U R O N vom
Verfassungsschutz«, Bundesamt für Verfassungsschutz war über Jahre hinweg als Stasi-Agent
in: Frankfurter tätig gewesen und als solcher Träger verschiedener Orden und Auszeich-
Kundschau, 24. 8. nungen der DDR. Seit 1982 stand der bundesdeutsche Verfassungsschüt-
1985. zer auf der Gehaltsüste des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
und kassierte monatlich 4000 DM.

Sie strapazierten
ordentlich den Erwar-
tungswert Rechtschaf-
fenheit: Hans-Joachim
TIEDGE, Otto J O H N und
Holger PFAHLS
(von links).

866
> Otto J O H N , erster Präsident des »Verfassungsschutzes* war im Zwei-
ten Weltkrieg nach London übergelaufen und hatte dort für die antideut-
sche Lügenpropaganda unter der Regie Sefton D E L M E R S Hoch- und Lan-
desverrat begangen. Im Juli 1954, dreieinhalb Jahre nach seinem
Amtsantritt beim »Verfassungsschutz*, setzte er sich nach Ostberlin ab.
Als John 1955 wieder in der BRD auftauchte, wurde er verhaftet und
wegen landesverräterischer Fälschung und Konspiration 1956 vom Bun-
desgerichtshof zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Dennoch bewilligte
ihm Bundespräsident Richard VON W E I Z S Ä C K E R später eine beachtliche
Pension.
i» 2005 machte der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfas-
sungsschutz, Molger PFAHLS, wieder von sich Schlagzeilen, nachdem er
seit 1999 per Haftbefehl international gesucht worden war. 2004 wurde
er in Paris verhaftet, und 2005 wurde er wegen Vorteilsannahme und
Steuerhinterziehung zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt.
Fin von seiten der Vertreter des »Verfassungsschutzes* oft angeführtes
Argument zur vermeintlichen Existenzberechtigung des Amtes ist die
gerade auf »rechtsradikale« Agitation angewandte Behauptung, Gewalt
frühzeitig bekämpfen zu müssen. Ähnlich wie bei Meldungen in der eta-
blierten Presse verschweigen die Berichte des »Verfassungsschutzes*, daß
über 80 Prozent dieser »»Straftaten« sogenannte Propagandadelikte sind.
Hierunter fallen beispielsweise das Verbreiten der sogenannten Ausch-
witz-Lüge, »Volksverhetzung«, Hakenkreuzschmierereien oder das Verwen-
den von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Es handelt sich
faktisch also um »»Vergehen«, die auf »linksradikaler« Seite mit verkehrtem
Vorzeichen unter die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit fallen
und dort dementsprechend nicht strafrechtlich bedeutsam sind.
Der ehemalige Bundesinnenminister Otto S C H I L Y machte in den von
ihm zu verantwortenden »»Verfassungsschutzberichten« aus der Aufga-

ln der Süddeutschen
Zeitung e r s c h i e n e n e
Karikatur,

867
bengewichtung des >Verfassungsschutzes< keinen Hehl: »Die Bekämp-
fung des Rechtsextremismus ist ein Schwerpunkt der Innenpolitik.« Über
die anderen »Schwerpunkte« schwieg er sich aus. Der nach dem Motto
Keine Toleranter Intoleranz! erklärte Feind steht für den Verfassungsschutz*
eindeutig »rechts«. Mit keinem Wort erwähnte S C H I L Y in seinem Vorwort
»linksextremistische« staatsgefährdende Bestrebungen oder von Auslän-
dern begangene Gewalttaten. Im Jargon sogenannter Antifaschisten stellte
er die Räson des Verfassungsschutzes< deutlich: »Das Gift rassistischer,
fremdenfeindlicher, antisemitischer und antidemokratischer Einstellun-
gen verbindet sich hier auf verhängnisvolle Weise mit dem Einsatz von
Gewalt. Besonders ernst zu nehmen ist die wachsende Gewaltbereitschaft
jugendlicher Täter. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, Demokra-
tie, Freiheit und den gesellschaftlichen Frieden gegen Rassismus, Frem-
denfeindlichkeit, Antisemitismus und jeglichen Extremismus zu vertei-
digen,« 9
Jährlich legen der jeweilige Präsident des Bundesamtes für Verfassungs-
schutz und die meisten seiner Kollegen in den Landesämtern sogenannte
Verfassungsschutz berichte vor, mit denen die Öffentlichkeit über die in
den vergangenen 12 Monaten gewonnenen »Erkenntnisse« unterrichtet
werden soll. Walter Z U B E R , Minister des Innern und für Sport in Rhein-
land-Pfalz, ist gar der Auffassung, daß mit dieser Maßnahme die Verfas-
sungsschutzämter »für die Menschen auch eine adäquate Gegenleistung
für die von ihnen entrichteten Steuern«1" erbrächten. Tatsächlich beru-
hen die meisten in den »Berichten« veröffentlichten »Erkenntnisse« der
Verfassungsschützer* vor allem auf Unterstellungen, Verleumdungen und
Nebensächlichkeiten. Erfaßt werden grundsätzlich »Erkenntnisse«, die
kaum ernsthaft als Bedrohung des freiheitlichen demokratischen Rechts-
Till MÜLLER-HEIDELBERG

und s e i n e Publikation
staates angesehen werden können. Tatsächliche Verstöße gegen das
Cru ndrechte-Report Grundgesetz und echte Gefahren für die innere Sicherheit der BRD
2007, Frankfurt/M. werden in der Regel nicht in die »Verfassungsschutzberichte« aufgenom-
2007. men." Rechtsanwalt Till M Ü L L E R - H E I D E L B E R G , Bundesvorsitzender der

0 Bundesministerium des Innern (Hg), Verfassungsschutzbericht 2000, S. 3.


0 Walter ZUBF.R in seinem Vorwort zu seinem »Tätigkeitsbericht« Rheinland-Pfa/z
1996, S. 1. ZUBERS Ansichten muten geradezu phantastisch an: Sein Amt sieht er
als »zeitgemäße Dienstleistungsbehörde«, das Produkt derselbigen als »diffe-
renzierte und umfassende Hintergrundinformation«, die »sorgfältig ausgewer-
tet« worden sei und einen »komprimierten Uberblick über alle bedeutsamen
verfassungsfeindlichen und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen vermitteln
soll«, ebenda, S. 2.
11 Für ausführliche Beispiele siehe Claus NORDBRUCH, Der Verfassungsschutz, aaO.
(Anm, 2), sowie Claus NORDBRUCH, Der Angriff. Eine Staats- und Gesellschaftskritik
an der >Berliner Republik<, Hohenrain, Tübingen 2003.

868
Humanistischen Union, erklärte 2001 richtig, »daß es dem Verfassungs-
schutz tatsächlich um Gesinnung geht«. Nach seiner Auffassung seien
alle Zitate, die in den Verfassungsschutzberichten aufgezählt werden, um
die Verfassungswidrigkeit einer Organisadon zu belegen, »durch das
Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt«. 12 Folglich sei die Behörde, 12 Till MÜLLER-

die sich den erhaben klingenden Namen >Ver fas su ngs sc h u t z< gegeben HEIDELBERG, »Der
habe, ein vom Staat inszenierter Apparat zur Überprüfung der politi- Verfassungsschutz-
schen (und religiösen) Gesinnung. Dieser Apparat taste massiv das Recht bericht: Ein Instru-
seiner Staatsbürger (und das seiner Gäste) auf Meinungsfreiheit an. Der ment zur Bekämp-
fung mißliebiger
Politologe und ehemalige Bundesvorsitzende der Humanistischen Union
Parteien«, in: Till
Jürgen SEIFERT erklärte diesbezüglich, daß viele Verfassungsschutzbehör- MÜLLER- H EI DEL-
den ihre Arbeit außerhalb ihres gesetzlichen Auftrags hauptsächlich in BERG (u.a.) (Hg.),
der »Bekämpfung« derjenigen sehen würden, die sie selbst als »Verfas- Grundrechte- Report
sungsfeinde« definierten. Weniger die »Sammlung von Unterlagen für 2001, Hamburg
Zwecke des Verfassungsschutzes« stehe im Vordergrund, sondern die 2001, S. 237.
ideologische Bekämpfung und Zersetzung des erklärten Feindes. Wo der
steht, wurde mit dem oben angeführten ScHiLY-Zitat belegt.
Stehen tatsächliche politische Gewaltakte oder wirkliche terroristische
Anschläge bevor, sollten nicht die einseitigen Gesinnungswächter des »Ver-
fassungsschutzes«, sondern die Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaften und
Justiz zuständig sein. Der eigentliche Zuständigkeitsbereich eines Inlands-
geheimdienstes muß das Terrain des Terrorismus und der Spionage sein,
denn in einem freiheitlichen Staatssystem können Selbstverständnis und
Aufgabenbereich des Geheimdienstes nicht in der Überwachung gewalt-
loser, politischer Opposition liegen. Wie kann man einen Inlandsgeheim-
dienst erstrangig auf friedliche innenpolitische Opposition, die oftmals
in den Parlamenten vertreten ist, ansetzen und gleichzeitig propagieren,
der freiheitlichste Staat in der Geschichte Deutschlands zu sein? In einer
Werbebroschüre des »Verfassungsschutzes« mit dem Titel Demokratie —
aber sicher! heißt es auf Seite 15: »Wer Baseballschläger oder Fäuste, Stei-
ne oder Molotowcocktails einsetzt, um sich Gehör zu verschaffen, un-
terdrückt die Handlungs- und Meinungsfreiheit des anderen.« Diese Aus-
sage ist korrekt. Nur wer Gesinnungsprüfung oder Berufsverbote, die
Einschränkung der Informationsfreiheit durchsetzt oder Zensur einsetzt,
um Dritte von ihrem Recht auf freie politische Willensbildung und auf
Meinungsäußerungsfreiheit zu berauben, Agentsprovocateurs und Denun-
zianten in potentielle Konkurrenz- und nicht genehme oppositionelle
Parteien einschleust und Dritte zu Straftaten anregt, handelt nicht min-
der verwerflich.
Der deutsch-jüdische Staats- und Verfassungsjurist Hans K E L S E N , der
1920 die österreichische Bundesverfassung entworfen hatte und im Früh-
jahr 1933 von den Nationalsozialisten seiner Professur an der Universität

869
Köln enthoben worden war, schrieb zwanzig Jahre später — also nach den
Erfahrungen der Weimarer Republik und des Dritten Reiches und nach
der Gründung der Ämter für Verfassungsschutz: »Kann Demokratie to-
lerant bleiben, wenn sie sich gegen antidemokratische Umtriebe verteidi-
gen muß? Sie kann es! In dem Maße, als sie friedliche Äußerungen anti-
demokratischer Anschauung nicht unterdrückt. . . Es mag mitunter
schwierig sein, eine klare Grenzlinie zu ziehen zwischen der Verbreitung
gewisser Ideen und der Vorbereitung eines revolutionären Umsturzes.
Aber von der Möglichkeit, eine solche Grenzlinie zu finden, hängt die
Möglichkeit ab, Demokratie aufrechtzuerhalten. . . es ist das Wesen und
die Ehre der Demokratie, diese Gefahr auf sich zu nehmen; und wenn
Demokratie diese Gefahr nicht bestehen kann, dann ist sie nicht wert,
Josef S C H O S S L B U R N ER u. verteidigt zu werden.« 13
Hans-Helmuth K N U T - Die Verfassungsschutzbehörden haben sich, wie Jürgen SEIFERT mit
TER (Hg.), Was der
Recht feststellt, ohne Rechtsgrundlage zu einer Instanz verwandelt, »die
Verfassungssch utz
verschweigt, Institut
sich für berechtigt hält, Gesinnungen zu überprüfen und Verrufserklä-
für Staatspolitik, rungen abzugeben«.1"1 Michael OPPERSKALSKI, Redakteur der Zeitschrift
SchneiIroda 2 0 0 7 . Geheim, fügte dem angesichts der Machenschaften der Ämter hinzu, der
»Verfassungsschutz« sei »nicht nur ein untaugliches Instrument bei der
Bekämpfung des Rechtsextremismus, sondern selbst eine Gefahr für die
Demokratie«. 15
Solange politische Opposition auf gewaltfreiem Wege ihren Beitrag
zur politischen Meinungsbildung liefert, bedarf es in einem freiheitli-
chen Staat weder Berufsverbote, noch Parteien- und Organisationsver-
bote, noch geheimdienstlicher Überwachung. Die BRD ist jedoch zu ei-
nem Gesinnungsstaat verkommen, der sich in einer tendenziösen und
zensierten Medienberichterstattung, in einer einseitigen Gesetzgebung
und Rechtsprechung widerspiegelt, durch die Aufhebung der Meinungs-
freiheit gekennzeichnet ist und vor allem dadurch hervorsticht, daß aus
Furcht vor Strafe öffentlich immer weniger konstruktive Kritik geleistet
wird. Der »Verfassungsschutz« hat an dieser Entwicklung entscheidenden
Einfluß gehabt. Er dient dem Schutze der Interessen von staatlichen Cli-
quen und Interessengruppen. Als ein modern inszenierter Schutzapparat
für etablierte Machtkartelle ist der »Verfassungsschutz« nichts anderes als
ein politisches Machtinstrument der Herrschenden. Claus Nordbruch

13 Zitiert in Claus LEGGEWIE U. Horst MEIER, »Auf der Suche nach dem verlore-
nen Feind«, in: Frankfurter Rundschau, 6. 9. 1991.
14 Jürgen SEIFERT, »Der Verfassungsschutz auf Abwegen«, in: Till M 0 U . E R - H R . i -
DF.IBF.RG u.a. (Hg.), aaO. (Anm, 12), S, 222,
15 Zitiert nach Velten SCHÄFER, »»Vorsicht war nicht immer Praxis««, in: Neues
Deutschland, 27, 4. 2002, S. 5.

870
Gesinnungsstrafrecht statt Meinungsfreiheit

us bitteren Erfahrungen haben die Väter des Grundgesetzes nicht


A von ungefähr die Grundrechte an den Beginn des Grundgesetzes
gestellt und ihre Auflösung durch betreffende Schutzbestimmungen zu
verhindern versucht. So legten sie in Artikel 19, Absatz 2 des Grundge-
setzes fest: »In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensge-
halt angetastet werden.« Außerdem gdt nach demselben Artikel, Absatz
1 für gesetzliche Einschränkungen eines Grundrecht: Es »muß das Ge-
setz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten«.
Auch in bezug auf diesen Katalog der Grundrechte wurde die Bundes-
republik Deutschland oft der »freiheitlichste Staat der deutschen Geschichte«
genannt, und man war stolz auf seine »freiheitlich-demokratische Grund-
ordnung«.
Doch dieser Zustand, der früher annähernd bestand, ist in den letzten
Jahrzehnten besonders auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit immer stär-
ker durch einschränkende gesetzliche Bestimmungen und durch Sonder-
gesetze, die nur für ganz bestimmte und dazu noch historische Fälle gel-
ten und nach Artikel 19 Absatz 1 untersagt sind, aufgeweicht worden.
Durch die sogenannten >Propagandadelikte<, die es bezeichnenderweise
nur gegen >Rechts< gibt, ist allmählich ein Gesinnungsstrafrecht einge-
führt worden, das durch den sogenannten >Kampf gegen Rechts* seit
dem Jahr 2000 stark ausgeweitet wurde. Einen guten Uberblick über diese
Entwicklung gibt ein Aufsatz der Hamburger Rechtsanwältin Gisa P Ä H L ,
dem die folgenden Angaben im wesentlichen entstammen. 1
Bis Anfang 1960 wurde die Meinungsfreiheit in Westdeutschland le-
diglich eingeschränkt durch folgende Paragraphen im Strafgesetzbuch
(StGB), im Versammlungsgesetz (VersG) und durch das Gesetz über ju-
gendgefährdende Schriften (GjS):
1. § 93 StGB (Verbreitung verfassungswidriger Propaganda),
2. §§ 4 und 28 VersG (Verwendung nationalsozialistischer Kennzei-
chen),
3. §§ 96ff. StGB (Verunglimpfung des Staates)
4. § 185 StGB (Beleidigung),
5. GjS (Pornographie, rohe Gewalt, Kriegsverherrlichung).

1 Ciisa PÄHL, »Gegen die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Men-

schenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie
Entfaltung gerichtete Bestrebungen«, in: Josef SCHÜSSLBURNER u. Hans-Helmuth
KNÜTTER (Hg.), Was der Verfassungsschutz verschweigt, Institut für Staatspolitik,
Schnellroda 2 0 0 7 , S . 9 7 - 1 2 6 .

871
Versuche der Parteien, schon in den fünfziger Jahren den § 130 StGB
(Klassenhetze) durch den Tatbestand der > Volks Verhetzung« gegen »De-
mokradefeinde« zu verschärfen, fanden keine Parlamentsmehrheit und
blieben zunächst erfolglos.
Die — wie sich später herausstellte — nicht von >Alt- oder Neonazis«,
sondern von Ostagenten bewirkten antisemitischen Hakenkreuz-Schmie-
rereien an der Kölner Synagoge zu Weihnachten 19592 verursachten eine
Anti-Rechts-Kampagne, aufgrund deren dann einschneidende gesetzli-
che Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik vor-
genommen wurden. Neu und verschärft formuliert wurden:
6. § 96a StGB (Verwendung verfassungswidriger Kenzeichen),
7. § 130 (Volksverhetzung).
Als in den Jahren nach
1969 unter der ersten
sozialliberalen Koalition
das Strafrecht stark libe-
ral) siert, eine Reihe bis-
heriger Straftatbestände
abgeschafft wurde und
einzelne Paragraphen
wie der hier bedeutsame
§ 96 neue Nummern er-
hielten, hatte das auch
zunächst noch keinen
weiteren Einfluß auf die
genannten Bestimmun-
gen zur Beschränkung
der Meinungsfreiheit.
Bis 1969 gab es keine
Strafurteile wegen aus-
Arn 24. Dezember länderfeindlicher Äußerungen oder Leugnen des Holocaust, der auch als
1959 wurde die Köl- Begriff erst Jahre später auftauchte. Das wurde nach 1970 bei gleichblei-
ner Synagoge mit anti- bender Gesetzeslage anders. »Politisch unkorrekte« Personen wurden nun
semitischen Zeichen nach den genannten Paragraphen strafrechtlich belangt.
und Parolen be-
schmiert - ein Werk
Am 13. Juni 1985 wurde in aller Eile zum 40. Jahrestag der Kapitulati-
östlicher Geheim- on der deutschen Wehrmacht, an dem Bundespräsident Richard VON
dienste. W E I Z S Ä C K E R als neuen Schritt der Umerziehung von der »Befreiung« der
Deutschen 1945 gesprochen hatte, parallel dazu das Strafrecht bezüglich
der Meinungsfreiheit weiter verschärft, indem in § 194, Abs. 1 und ähn-

2 Beitrag Nr. 471, »Hakenkreuze in Köln 1959«,

872
lich in Abs, 2 StGB jeweils ein zweiter Satz eingefügt wurde. Seitdem
werden Beleidigungen gegen Angehörige einer Gruppe, wenn sie »unter
der nationalsoziahstischen oder einer anderen Gewalt- oder Willkürherr-
schaft verfolgt wurde, diese Gruppe Teil der Bevölkerung ist und die
Beleidigung mit dieser Verfolgung zusammenhängt«, von Amts wegen
und ohne Vorliegen eines Strafantrages verfolgt.
Im Herbst 1992 ließ der Brandanschlag auf ein von Ausländern be-
wohntes Haus in Mölln am 23. November 1992 eine neue Pressekampa-
gne gegen Rechts entstehen, und die Strafverfolgung wurde erneut schär-
fer. Von Ende 1992 bis Endel994 wurden 98 Bücher mit >politisch
unkorrektem* Inhalt indiziert, damit in zwei Jahren etwa so viele wie ins-
gesamt in den vierzig Jahren vorher.
Im Jahre 1994 wurden
im neuen Verbrechens-
bekämpfungsgesetz wei-
tere Verschärfungen im
§130 (Volksverhetzung)
vorgenommen: Strafbar
wurden das Ein- und
Ausführen verbotener
Schriften, das Vorrätig-
halten, das Herstellen
solcher Werke und die
Werbung dafür. Die Ein-
schränkung, daß ein An-
griff auf die Menschen-
würde vorliegen müsse,
wurde gestrichen. Es
genügt seitdem zur Be-
strafung, wenn der öf-
fentliche Frieden gestört
wird - oder - wie es in der Praxis gehandhabt wird — gestört erscheint. Feuerwehrmänner
Es reicht für die juristische Praxis der Verurteilung, wenn eine solche verlassen das Möllner
Störung denkbar ist, also noch gar nicht erfolgt ist. Ob solches vorliegen Haus, auf das ein
könnte oder eintreten würde, ist dem Ermessen des ermittelnden Staats- Brandanschlag verübt
wurde.
anwaltes oder des urteilenden Richters überlassen. Auch das Billigen oder
Verharmlosen des Holocaust wurde strafbar.

873
Die Zahl der Strafverfahren zu Meinungsdelikten nahm schnell zu
Jahr 586, §86a § 130 Meinungsdelikte
1993 1437 2261 3698
1994 1968 3030 4998
1995 4343 2212 6555
1996 5625 1950 7575
1997 7888 2360 10257
1998 6958 2591 9549
1999 6719 1970 8698
2001 6336 2538 8874
2002 7294 2513 9807
2003 7551 2138 9689
2004 8337 2578 10915
2005 10881 2277 13158
Die Zahl der Indizierungen der Prüfstelle für jugendgefährdende Schrif-
ten stieg ebenso an:
Jahr Zahl der Indizierungen
1995 30
1996 21
1997 37
1998 62
1999 35
2000 20
2001 15
2002 24
2003 32
2004 101
Am 25. März 2005 trat eine weitere Verschärfung des §130 in Kraft. Straf-
bar macht sich von da an, wer »den öffentlichen Frieden in einer die
Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, daß er die national-
sozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlich oder
rechtfertigt«. Wann der öffentliche Frieden als gestört gelten kann, ist wei-
terhin Ermessensfrage und erzeugt eine breite Grauzone in der Recht-
sprechung.
Zusammenfassend stellte Frau PAUL fest: »Die Entwicklung der letz-
ten 50 Jahre hat eine ständige, seit 1992 fast galoppierende und im Jahre
2000 geradezu atemberaubende Einschränkung des Grundrechts auf
Meinungsfreiheit für »politisch unkorrekte* Deutsche mit sich gebracht.
Freisprüche in Strafverfahren führten zu zahlreichen Gesetzesverschär-
fungen, und die Rechtsprechung wurde immer strenger und sprach immer
häufiger härtere Strafen und sogar Freiheitsstrafen ohne Bewährung aus.«

874
In seiner Rede zum 175. Jahrestag des ;
Hambacher Festes stellte Altbundespräsident j
Richard VON W E I Z S Ä C K E R unter dem Leitwort j
»Hambachs Erbe: Freiheit, Einheit und Eu-
ropa«1 am 26. Mai 2007 auf dem Hambacher
Schloß die Pressefreiheit groß heraus und zi- .
derte zustimmend den damaligen Freiheits-
kämpfer und Drucker SIEBENPFEIFFER: »Die
Zensur ist der Tod der Pressefreiheit und so-
mit der Verfassung, welche mit dieser steht
und fällt.« Der Politiker meinte dann, die
Deutschen müßten für die Pressefreiheit in
anderen Ländern sorgen, denn so erklärte er:
»Bei uns selbst herrscht Pressefreiheit.«
Das ist aber nach dem oben genannten
Zahlen nicht der Fall. Es gibt zwar keine Vor-
zensur wie zur Zeit der METTERNiCHschen
Demokratenverfolgung, aber eine um so här-
tere Bestrafung der presserechtlich Verant-
wortlichen nach Erscheinen der betreffenden
Schrift. Verleger, Herausgeber und Autoren
werden seit Jahren mit harten Freiheitsstra-
fen belegt, Bücher und Zeitschriften werden
beschlagnahmt, eingestampft oder verbrannt.
Wir leben in bezug auf die Meinungsfreiheit
eben nicht mehr im »freiheitlichsten Staat der
deutschen Geschichte«.
Auch in juristischen Fachkreisen wird das
Das H a m b a c h e r S c h l o ß ,
deutlich so gesehen, und es wird heftige Kri-
tik an den gegenwärtigen Verhältnissen ge-
übt.4 Rolf Kosiek

1 Richard VON WEIZSÄCKER, »Hambachs Erbe: Freiheit, Einheit und Europa«,


in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 5. 2007.
4 Günter BERTRAM, »Der Rechtsstaat und seine Volksverhetzungs-Novelle«, in:
Neue Juristische Wochenschrift, Nr. 1, 2005, S. 1476 ff.; Dietrich MURSWIEK, »Neue
Maßstäbe für den Verfassungsschutzbericht«, in: Neue Zeitschriftfür Verwaltungs-
recht, Nr. 2, 2006, S. 121—128; Andreas WISUSCHLL, »Der Fall >Junge Freiheit* -
Neuorientierung im Verfassungs schutzbericht?« in: Zeitschrift für Urheber- und
Medienrecht,Nt. 4,2006, S. 294-301 ;Thomas WANDRES, Die Strafbarkeit des Ausch-
witz-Leugnens, Duncker & Humblot, Berlin 2000.

875
Deutscher Professor leugnet deutsch-sowjetisches
Geheimprotokoll von 1939

erhard S T U B Y , Professor für Öffentliches Recht und Wissenschaft-


G liche Politik an der kurz vorher gegründeten und als rote Kader-
schmiede bekannten Universität Bremen, nahm im Herbst 1979 in ei-
nem Zeitschriftenartikel zum deutsch-sowjetischen Geheimvertrag vom
1 Zitiert in: »Das 23. August 1939 Stellung,1 In dieser Vereinbarung zwischen STALIN und
nichtexistente H I T L E R wurden die Interessensphären in Osteuropa zwischen Deutsch-
Geheimprotokoll land und Moskau abgesteckt, wobei >Ostpolen< sowie Estland und Lett-
Moskau—Berlin von land den Sowjets zugeschlagen wurden. Der Jurist und Politologe, SPD-
1939«, in: Deutsche Mitglied, Jahrgang 1934, versuchte in seinem Beitrag damals noch, das
Wochenzeitung 19. 10,
Bestehen dieses Geheimprotokolls, 2 dessen Inhalt den Sowjets und den
1979.
Kommunisten in aller Welt sehr unangenehm war, zu leugnen und zu-
2Wortlaut deutsch
mindest als umstritten hinzustellen.
und russisch in:
Richard PEMSEL, Insbesondere schrieb er: »Im Zusammenhang mit dem Vertrag vom
Hitler. Revolutionär— 23. August 1939 wird in der westlichen Literatur stets auf ein geheimes
Staatsmann — Zusatzprotokoll vom gleichen Tag verwiesen. In ihm hätten die Sowjet-
Verbrecher?, Grabert, union und Deutschland schon im vornhinein ihre Interessensphären fest-
Tübingen 1986, gelegt und eine Aufteilung Polens vorgenommen. Eine solche vorherige
S. 559-563. Absprache der Aufteilung Polens wäre in der Tat, selbst wenn man das
Ergebnis retrospektiv als notwendig bezeichnet, mehr als ein Nichtan-
griffspakt beziehungsweise eine Neutralitätserklärung gewesen. Sie könnte
als eine aktive Beteiligung an der bevorstehenden Aggression auf Polen
interpretiert werden, als ein Kriegspakt in der Maske des Friedens, Die
Peinlichkeit dieser Situation wird denn auch von westlichen Historikern
als Grund für das Nichterwähnen des Protokolls in der sozialistischen
Geschichtsschreibung angegeben.
Die Authentizität des Geheimprotokolls ist bis heute auch im Westen
umstritten. Die Geschehnisse nach dem 1. September 1939 sprechen
gegen eine vorherige Absprache. Die Sowjetunion rückte erst am 17.
September bis zur Curzonlinie vor. Zu diesem Zeitpunkt stand die mili-
tärische Niederlage Polens fest. Am 17. September war die polnische
Regierung nach Rumänien geflohen. Ebenso war deutlich geworden, daß
die Westmächte Polen im Stich gelassen hatten.
Wäre die Sowjetunion nicht bis zur Curzonlinie vorgerückt, wäre ein
weiterer Vormarsch der deutschen Truppen nicht ausgeschlossen gewe-
sen, Nach dem heutigen Kenntnisstand standen militärische Aktionen
der Wehrmacht beziehungsweise der deutschen Abwehr in Belorußland
und der Ukraine bevor.«

876
Faksimile des Gehei-
men Zusatzprotokolls
vom 23. 8, 1939.
Man beachte, daß ein
weiteres geheimes
Zusatzprotokoll zwi-
schen der Sowjetuni-
on und dem Deut-
schen Reich am 28.
9. 1939 - a l s o nach
Beendigung des Po-
lenfeldzugs - unter-
zeichnet wurde. Es
beinhaltet die Über-
zeugung beider Sei-
ten, keinerlei polni-
sche Agitation auf
den jeweiligen be-
setzten Gebieten zu
dulden.

877
Damit wird nicht nur das Bestehen dieses Protokolls in Frage gestellt,
sondern auch noch der deutschen Regierung der Plan eines Einfalls in
3 David IRVING, die Sowjetunion zum damaligen Zeitpunkt unterstellt und angelastet.
Nürnberg, Die letzte Beides ist jedoch falsch. Richtig ist, daß der Text dieses Geheimab-
Schlacht, Grabert, kommens schon 1946 der deutschen Verteidigung beim Nürnberger
Tübingen 1996, S. >Hauptkriegsverbrecherprozeß< von einem US-Offizier in die Hand ge-
296 f. spielt wurde. 1 Zur großen Erbitterung der sowjetischen Vertreter führte
4 internationaler
der Verteidiger Dr. S E I D L dieses Dokument, dessen Existenz die Russen
Militärgerichtshof
dann heftig abstritten, am 25. März 1946 in die Verhandlungen ein,3 Der
Nürnberg (Hg.),
Der Nürnberger frühere Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Geheimrat
Prozeß gegen die Dr. Friedrich G A U S , bestätigte den Inhalt in einer eidesstattlichen Erklä-
Hauptkriegsverbrecher, rung, die Dr. S E I D L am 1. April 1946 dem Gericht vortrug.5 G A U S hatte
Nürnberg 1947, die Vertragstexte entworfen und die Unterzeichnung in Moskau miter-
Bd. 10, S. 14 ff. lebt. Der Inhalt und der Vorgang wurden dann von dem angeklagten
5 Ebenda, S. 354 f. früheren Reichsaußenminister Joachim VON RIBBENTROP bestätigt.6 Das
6 Ebenda, S. 355 f. Abkommen wurde später auch von den Westmächten in den Akten des
' Der Spiegel, Nr. 17, Auswärtigen Amtes veröffentlicht. Die Existenz des Geheimprotokolls,
1989. die von dem damaligen sowjetischen Außenminister G R O M Y K O noch in
B Hans HERWARTH seinen Memoiren 1988 und in seinem Spiegelgespräch 1989 abgestrit-
VON BITTENFELD, ten wurde, wurde erst 1990 von den Sowjets zugegeben. Der Inhalt des
Zwischen Hitler und geheimen Zusatzprotokolls wurde wenige Stunden nach der Unterzeich-
Stalin. Erlebte nung 1939 durch den damaligen deutschen Botschaftssekretär Hans HER-
Zeitgeschichte 1931
WARTH VON B I T T E N F E L D 8 aus der deutschen Botschaft in Moskau über
bis 1945, Propvläen,
Berlin 1982, S. den Moskauer US-Botschaftssekretär Charles E. B O H L E N 9 an US-Präsi-
159-189. dent R O O S E V E L T übermittelt, was beide in ihren Erinnerungen ausführ-
9 Charles E. lich beschreiben, 10
BOHLEN, Witnessto Spätestens seit B O H L E N S Buch aus dem Jahre 1973 war damit die Exi-
History 1929-1969, stenz des Geheimprotokolls unbestreitbar bewiesen.
New York 1973. Daß dennoch Jahre später noch ein deutscher Politologe die Lüge der
10 Siehe Beitrag Nr.
Sowjets zu untermauern versuchte, wirft ein bezeichnendes Licht auf die
180, »Deutsch- wissenschaftliche Auswahl deutscher Politologen und deren offensichtli-
russischer Vertrag cher Motivation, die Sowjets stark zu entlasten und Deutschland mög-
1939«. lichst schwer zu belasten. Rolf Kosiek

878
Wer wollte das deutsch-türkische
Anwerbeabkommen?

E nde 2004 erschien im Hamburger Abendblatt ein bemerkens-


wertes Interview mit Alt-Bundeskanzler Helmut S C H M I D T , Zur Ver-
blüffung seiner Gesprächspartner stellte der damals 85jährige fest: »Mit
einer demokratischen Gesellschaft ist das Konzept von Multikulti schwer
vereinbar. Vielleicht auf ganz lange Sicht. Aber wenn man fragt, wo denn
multikuiturelle Gesellschaften bislang funktioniert haben, kommt man
sehr schnell zu dem Ergebnis, daß sie nur dort friedlich funktionieren,
wo es einen starken Obrigkeitsstaat gibt. Insofern war es ein Fehler, daß
wir zu Beginn der 60er Jabre Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land
holten.«1 1 »Wieviel Anatolien
Uber dem Staunen darüber, daß ein ehemaliger deutscher Regierungs- verträgt Europa?«
chef die Anwerbung von Gastarbeitern als Fehler bezeichnet hat, ist den in: Hamburger
meisten Lesern wahrscheinlich nicht aufgefallen, daß der Ex-Kanzler bei Abendblatt, 25. 11.
dieser Gelegenheit eine alte liegende aufgewärmt hat. Mit dem Wört- 2004.
chen »wir« wird immer gern so getan, als hätten die Deutschen in ihrer
großen Mehrheit eine Einladung an die Arbeitskräfte fremder Staaten
ausgesprochen. Tatsächlich waren es Industrie und Unternehmerverbände,
die in den fünfziger und sechziger Jahren massiv auf die Anwerbung von
Gastarbeitern drangen und dabei besonders vom Bundeswirtschaftsmi-
ni Stenum unterstützt wurden. Während dies heute kein großes Geheim-
nis mehr ist, sieht es bei dem Teil der Legende, der sich mit dem Wort
»geholt« verbindet, schon ganz anders aus.
»Geholt« suggeriert ja, daß die Initiative von Deutschland ausging. Dies
trifft zwar zu, wenn man zum Beispiel die An werbe Vereinbarungen mit
Italien (1955) oder Spanien und Griechenland (1960) meint. Ganz an-
ders sieht es jedoch mit der Türkei aus. Der Bremer Politikwissenschaft- Stefan LUFT, Abschied
ler Stefan L U I T hat in seinem Buch Abschied von Multikulti auf eine Tatsa- von Multikulti.
che hingewiesen, die hierzulande so gut wie unbekannt ist. Der Anstoß
für die Anwerbung türkischer Gastarbeiter ging von der Türkei aus. Da-
gegen hatte die damalige Bundesregierung »keine Notwendigkeit gese-
hen, auch noch mit der Türkei oder anderen außereuropäischen Ländern
ein Abkommen zu schließen, man wollte sich auf Arbeitskräfte aus Eu-
ropa beschränken«.2 Doch war im Dezember 1960 der Vertreter der tür- 2 Stefan LUFT,
kischen Botschaft in Bonn vorstellig geworden und hatte erklärt, die Türkei Abschied von Multi-
wolle als NATO-Partner gegenüber Griechenland nicht diskriminiert kulti. Wege aus der
werden. Das deutsch-griechische Abkommen war im März 1960 verein- Integrationskrise.
Gräfelfing 2006,
bart worden. Die deutsche Regierung knickte postwendend ein, und noch
S. 102.
bevor die Einzelheiten des Vertrags mit der Türkei feststanden, richtete

879
der Vorläufer der heudgen Bundesagen-
tur für Arbeit in Istanbul eine Verbin-
dungsstelle ein, die binnen kurzem von
Auswanderungswilligen regelrecht ge-
stürmt wurde.
Was die seit den frühen siebziger Jah-
ren zahlenmäßig mit Abstand größte
Gruppe von Ausländern in Deutsch-
land angeht, steht also fest: Die Tür-
ken wurden nicht >geholt<«, sondern uns
regelrecht aufgedrängt. Eine schwache
deutsche Regierung gab dem Druck des
Herkunftslandes ohne Widerstand
nach. Die Türkei hatte ein massives In-
teresse daran, ihren heimischen Arbeits-
markt zu endasten und Devisen einzu-
nehmen, mit denen das hohe
Außenhandelsdefizit verringert werden
konnte. Den Bevölkerungsüberschuß
ans Ausland abzugeben war daher für
die türkische Führung eine reizvolle
Möglichkeit.
Dennoch hatte die deutsche Seite
zumindest zunächst einen kleinen Si-
cherheitsriegel in das Abkommen von
Am 10. September 1961 eingebaut: Die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis war auf nur zwei
1964 traf der million- Jahre befristet, und von einem »Familiennachzug« war nicht die Rede.
ste Gastarbeiter, ein Diese Regelung wurde von der kapitalistischen Lobby umgehend torpe-
Portugiese, in diert. Im Dezemberl962 forderte die Bundesvereinigung der Deutschen
Deutschland ein.
Schon 1955 hatte
Arbeitgeberverbände das Bundesarbeitsministerium schriftlich auf, die
Deutschland ein An- Befristung aufzuheben. Auch aus der Türkei wurde der Druck in diese
werbabkommen mit Richtung verstärkt und die deutsche Regierung somit regelrecht in die
Italien geschlossen, Zange genommen. Das Ergebnis war: Im September 1964 trat eine Neu-
es folgten welche mit fassung des deutsch-türkischen Abkommens in Kraft, das keine Befri-
Griechenland (1960),
stung mehr enthielt. Für die Türkei und das deutsche Kapital war das ein
der Türkei (1961) und
Portugal (1964). Sieg auf der ganzen Linie. Erst jetzt waren »die Weichen für eine dauer-
hafte Zuwanderung nach Deutschland gestellt«.3 Detlef Rose

880
Kohl kaum >Kanzler der Einheit<

N ach der 1990 glücklich gelungenen kleinen Wiedervereinigung von


West- und Mitteldeutschland galt Bundeskanzler Helmut Kohl.weit-
hin als »Kanzler der Einheit«, und er möchte sicher auch als solcher in die
Geschichte eingehen. Politisch Kundige erinnerten sich jedoch schon
damals seiner noch kurz vor dem Mauerfall im November 1989 verfolg-
ten Anti-Einheits-Politik, wie er etwa den für die Wiedervereinigung sich 1 Siehe Beitrag
einsetzenden CDU-Bundes tagsabgeordneten Bernhard F R I E D M A N N mehr- Nr.481, »Kohl und
fach abkanzelte sowie —ganz im Geiste seines Vorbilds Konrad A D E N A U - die Wiedervereini-
ER — der westeuropäischen Einigung immer den Vorrang vor der deut- gung«.
schen einräumte und damit gegen den Buchstaben und Geist der Präambel 2 Karl Hugo P R U Y S ,

des Grundgesetzes verstieß. Helmut Kohl. Der


Das ist jetzt erneut in der Öffentlichkeit bestätigt worden. 1 Unter dem Mythos vom Kanzler
Titel Helmut Kohl. Der Mythos vom Kanzler der Einheit hat Jahre 2004 Karl der Einheit, Be.bra,
Berlin 2004.
Hugo P R U Y S ein Buch herausgebracht, das das Bild von dem für die Wie-
dervereinigung kämpfenden Regierungschef zerstört. Als Insider mit viel
persönlichem Wissen aus dem Kreis um K O H L hat der Verfasser, der in
den siebziger |ahren Parteisprecher des CDU-Vorsitzenden war, viele
Tatsachen zu dessen Deutschland-Politik zusammengestellt. Eindeutige Am 7. September
1 9 8 7 empfing Helmut
Erklärungen von Zeitzeugen untermauern die Beurteilung, daß K O H L
K O H L Erich H O N E C K E R
im Grunde die deutsche Einheit nicht wollte. Er fürchtete, daß die Mit- wie den obersten
teldeutschen eher sozialistisch wählen und ihn um die Kanzlerschaft brin- Vertreter eines
gen würden, die bei ihm vor der deutschen Einheit rangierte. Ab Mitte souveränen Staates,

881
der achtziger Jahre fanden von gesamtdeutsch denkenden Parteifreun-
den, etwa vom Bundestagsabgeordneten Jürgen T O D E N H Ö F E R , der aus
Verbitterung darüber dann in die Wirtschaft ging, vom deutschlandpoli-
tischen Referenten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Harald R Ü D D E N -
KLAU, oder aus nationalen CSU-Kreisen in München vorgebrachte Initia-
tiven zur deutschen Einheit bei der CDU-Spitze immer weniger Gehör
und wurden im Grunde — vor allem auch aus wahltaktischen Gründen —
abgelehnt.
Gleichzeitig wurde von der CDU-Regierung Wesentliches getan, um
die Existenz der DDR zu erhalten, deren kommende Zahlungsunfähig-
keit im Kanzleramt Jahre vor dem endgültigen Zusammenbruch durch-
aus bekannt war. Der angeblich von Franz Josef STRAUSS eingefädelte
Milliardenkredit an das wirtschaftlich vor dem Bankrott stehende Re-
Karl Hugo PRUYS,
gime in Mitteldeutschland sei in Wirküchkeit auf Anordnung K O H L S vom
Helmut Kohl.
Der Mythos vom
Staatssekretär Philipp JENNINGER im Kanzleramt in die Wege geleitet wor-
Kanzler der Einheit. den. Noch im Oktober 1988 erhöhte die KoHl.-Regierung zur Stabilisie-
rung der in Pankow Herrschenden die an Ost-Berlin gezahlte Transit-
pauschale von 500 auf 900 Millionen Mark und garantierte diese Zahlungen
für weitere Jahre. Schon im September 1987 war DDR-Staatschef Erich
H O N E C K E R beim offiziellen Staatsbesuch in Bonn und in mehreren Bun-
desländern empfangen worden. Bestrebungen zur völkerrechtlichen An-
erkennung des Pankower Regimes verstärkten sich bis weit in die Uni-
onsparteien hinein.

Montagsdemonstra-
tion im Oktober 1989
in Leipzig. Einen Mo-
nat zuvor meinte
Bundeskanzler Hel-
mut KOHL: »Die Lö-
sung der deutschen
Frage steht nicht auf
der Tagesordnung der
Weitgeschichte.«

882
Auf die seit 1986 erfolgten mehrfachen und immer deutlicheren Hin- 3. Oktober 1990:
weise aus Moskau, daß man »die Existenz zweier deutscher Staaten im Die kleine Wieder-
Herzen unseres Kontinents für eine Anomalie« halte, »die die Sicherheit vereinigung wird vor
Europas ernstlich bedrohte«, ging man in Bonner Regierungskreisen nicht dem Berliner Reichs-
tagsgebäude mit der
ein. Bei einem Gespräch mit Michail G O R B A T S C H O W am 2 4 . Oktober 1988 gesamten politischen
in Moskau lehnte K O H L Verhandlungen über Möglichkeiten einer Verei- Prominenz gefeiert.
nigung beider deutschen Teile ab. K O H L S überraschendes »Zehn-Punkte- Von links: Willy
Programm« vom 28. November 1989 mit dem Vorschlag einer »Konfö- B R A N D T , Wolfgang

S C H Ä U B L E , Hans-
deration« mit der DDR habe die sich abzeichnende Wiedervereinigung
Dietrich G E N S C H E R ,
verzögern sollen. Als Jahre nach diesen Vorgängen 1995 der inzwischen
Hannelore K O H L ,
aus dem Amt gedrängte G O R B A T S C H O W sein Buch Wie es wirklich war3 ver- Helmut K O H L , Ri-
öffentlichte, gab er seiner Verwunderung noch Ausdruck, daß K O H L es chard V O N W E I Z S Ä C K E R
mit der Vereinigung »überhaupt nicht eilig hatte«. K O H L S drückte seine und Rita S Ü S S M U T H .
wirklichen Ziele mit den Worten aus: »HoNECKER weiß, daß ich nicht
beabsichtige, ihm das Leben schwerzumachen.«
Erst als der Zug der Geschichte durch für die Deutschen glückliche 3 Michail GOR-
Umstände bereits unumkehrbar in Richtung auf die Wiedervereinigung BATSCHOW, Wie es
abgefahren war, sprang K O H L auf und ließ sich dann als den »Kanzler der wirklich war, Ullstein,
Einheit« feiern. Er versprach zwar »blühende Landschaften«, hatte aber Berlin 1995.
in den Jahrzehnten vorher wesentlich mit dazu beigetragen, daß Planun-
gen für den Fall der Mauer vernachlässigt oder ganz eingestellt wurden,
daß es kein Gesamtdeutsches Ministerium mehr gab, daß beim Beitritt
Mitteldeutschlands viele Fehler gemacht wurden, unter denen wir immer
noch leiden. Der Mythos von Helmut Kohl als dem »Kanzler der Einheit«
zerbröselt endgültig. In Zukunft ist sicher noch weiteres Material in die-
ser Richtung zu erwarten. Rolf Kosiek

883
Verschleuderung des Volksvermögens
durch die Treuhand

ie Geschichte der Treuhand in Mitteldeutschland erscheint nur


D auf den ersten Blick als eine der Pleiten und Pannen. In Wirklich-
keit geschahen eine unverantwortliche Verschleuderung und ein bewußt
geduldeter Raub deutschen Volksvermögens. Beides wird zu vertuschen
versucht und sollte deshalb dem Vergessen entzogen werden. Die Tatsa-
chen sind die folgenden.
Am 8. März 1990 wurde im Gesetzblatt der damals noch real existie-
renden DDR die »Gründung der »Anstalt zur treuhänderischen Verwal-
tung des Volkseigentum*« bekanntgegeben. Die Gründung war notwen-
diggeworden, da durch den Zusammenbruch der alten DDR die gesamten
»volkseigenen*, genauer »staatseigenen Betriebe* in der Luft hingen. Die
Treuhand sollte die Firmen vorerst treuhänderisch verwalten. Wie die
Bezeichnung »Verwaltung des Volkseigentums* angibt, sollte das ursprüng-
liche Vorhaben der Treuhand die Betriebe im Volkseigentum belassen,
so daß die Arbeiterschaft davon ausgehen konnte, daß die Firmen ihnen
weiterhin gehörten.
Die Regierung DE M A I Z I E R E gab im Gesetzblatt vom 22. Juni 1990
bekannt, daß der ursprüngliche Zweck der Treuhand, das Volkseigen-
tum zu wahren und zu verwalten, in »Privatisierung und Reorganisation
volkseigenen Vermögens« umgewandelt sei. Das war schon etwas ganz
anderes.
Der noch unter der DDR-Regierung M O D R O W eingesetzte erste Chef
der Treuhand, Peter M O R E T H , wurde nach kurzer Amtszeit 1991 von
Rainer G O H L K E abgelöst. Dieser versprach, als Bundesbahnchef die nö-
tige Befähigung für das in der Geschichte Deutschlands und der Welt
bisher einmalige Vorhaben zu besitzen. Doch bereits nach einem Monat
stellte er, völlig entnervt, sein Amt wieder zur Verfügung, Dann glaubte
man in Detlev Karsten R O H W E D D E R den geeigneten Mann gefunden zu
haben, der auch sofort erfolgversprechend begann. Am 1. April, dem
Ostermontag des Jahres 1991, wurde er aber von einem Präzisionsschüt-
zen durch die Fensterscheibe seines Hauses erschossen. Der Mord wur-
de nie aufgeklärt. Er wurde meist der dritten Generation der linken Rote
Armee-Fraktion (RAF) zugeschrieben, da ein - jedoch wahrscheinlich
gefälschtes — Bekennerschreiben erschien; er dürfte aber eher einem
Geheimdienst zuzuschreiben sein.
Denn das Sanierungskonzept R O H W E D D E R S paßte einflußreichen Krei-
sen nicht, und deswegen mußte er verschwinden. »Die Treuhandanstalt
gilt zumindest bis zum Amtsantritt R O H W E D D E R S auch bei einschlägigen

884
westlichen Beratungsfirmen als ein Hort der Amateure, mit denen unter
Profis gut zu dealen ist. Die sicher gut bezahlten, wenn man ihnen fach-
männische Hilfe anbietet, um ihre Probleme zu lösen.« 1 R O H W E D D E R
erkannte, daß westliche Konzerne auf der Lauer lagen, marktbeherrschen-
de volkseigene Betriebe billig zu erwerben und dabei die Arbeitnehmer-
rechte außer acht zu lassen. Diesen Bestrebungen wollte er einen Riegel
vorschieben. Zum anderen wollte er die Rechte der Arbeitnehmer wah-
ren und deren wirtschaftliche Existenzgrundlage sichern. Das Hande/s-
blatt berichtet: »Ganz offen klingt die Vermutung an, daß die Deutschen
sich mit der restriktiven Handhabung Interessenten aus dem Ausland
fernhalten wollen.«2 Er schätzte die zeitliche Dauer der sorgfältig und
behutsam vorzunehmenden Abwicklung dieser Privatisierungsaufgabe auf
etwa zehn Jahre ein. Das schien eine wirklichkeitsnahe Annahme nach
den Erfahrungen des westdeutschen Wiederaufbaus nach dem Zweiten
Weltkrieg zu sein. Doch das war gerade das Gegenteil von dem, was das
internationale Großkapital wollte, und ein Mörder mußte her und wurde
gefunden. Um diese Zeit wurden wohl nicht zufällig mehrere fähige deut-
sche Wirtschaftsführer ermordet, so Ernst Z I M M E R M A N N , Karl-Heinz B E K -
KURTS, Alfred H E R R H A U S E N , die dafür bekannt waren, daß sie eigenwillige
Ideen hatten und das nationale Interesse der Deutschen vertraten.
Als Nachfolgerin R O H W E D D E R S wurde nach einigem Gerangel die Bank-
kauffrau Birgit B R E U E L als Leiterin der Treuhand eingesetzt. Die Tochter Detlev Karsten
des Hamburger Privatbankiers Alwin M Ü N C H M E Y E R 3 hatte mit den wich- ROHWEDDER u n d

Birgit B R E U E L .
tigsten europäischen und amerikanischen Bankleuten Verbindung. Sie
stand ferner den Bilderbergern nahe, deren Treffen die Spitzen der Hoch- 1 Michael JORGS, Die
finanz und der Politik vereinigen, Birgit B R E U E L besuchte mindestens Treuhändler, Wie
deren Treffen vom 6. bis 9 Juni 1991 in Baden-Baden wie in Evian vom Heiden und Haiunken
21. bis 24. Mai 1992, wo unter anderem die Ausplünderung der Boden- die DDR verkauften,
schätze der befreiten Ostblockstaaten besprochen wurde. Ebenso war List, München-
sie der Hochfinanz-Vereinigung Atlantik-Brücke verbunden. Leipzig 1997, S. 139.
Während R O H W E D D E R sich das internationale Großkapital zum Feinde 2 Handelsbtatt, 26. 11.
gemacht hatte, hatte dieses mit Birgit B R E U E L nun das Sagen bei der Treu- 1990.
3 MÜNCHMEYER
hand. Unter ihrem Vorsitz wurde R O H W E D D E R S nationales Konzept in
sein Gegenteil umgekehrt. Besonders die Filetstücke der mitteldeutschen vereinigte 1969
seine Familienbank
Wirtschaft wurden weit unter Preis und oft für die symbolische 1 DM an
mit dem Hambur-
ausländische Unternehmen verschleudert. Als die Treuhand am 31. De- ger Bankhaus
zember 1993 ihre Tätigkeit offiziell einstellte, hatte sich nicht nur das Schröder und der
Volksvermögen der neuen Bundesländer in Höhe von rund 6000 Milliar- Frankfurter Bank
den DM in fast nichts aufgelöst, sondern es waren durch ihre Tätigkeit Hengst & Co zu
noch Bundesschulden in Höhe von 275 Milliarden DM hinzugekom- Schröder, Münch-
men. Eingenommen hatte die Treuhand durch den Verkauf von DDR- meyer, Hengst &
Firmen ganze 75 Milliarden DM. Rund 8500 Privatisierungen mit 1,5 Co (SMH).

885
Verschlissene Produktionsanlage
der Leuna-Werke in Sachsen-An-
halt. Selbst die Filetstücke der mit-
teldeutschen Wirtschaft verschleu-
derte die Treuhand unter Birgit
BRELJEL oft für die symbolische 1 DM
an ausländische Unternehmen.

Arbeiter einer Landmaschinenfabrik


in Bernburg (Sachsen-An halt).
Millionenfache Arbeitslosigkeit fiel
schließlich dem deutschen Staat zur
Last und verschärfte die sozialen
Spannungen.

Millionen vertraglichen Arbeitsplatzzusagen und 180 Milliarden DM In-


vestition s zu sagen wurden abgewickelt. Etwa 30 Prozent der Ubernah-
men gingen an Frankreich, dann folgten die USA. Schätzungen ergeben,
daß inzwischen von den vor Beginn der Tätigkeit der Treuhand vorhan-
denen rund 4,1 Millionen Arbeitsplätzen 70 Prozent weggefallen sind.
Denn neben den reinen Verkaufsvcrlusten muß beim Beurteilen des
Wirkens der Treuhand noch das Heer der Arbeitslosen berücksichtigt

886
werden, die bald nach Übernahme der Werke von den neuen Besitzern
auf die Straße gesetzt wurden und dann dem deutschen Staat zur Last
fielen. Ebenso sind die Investitions förderungen durch Bund und Lander
noch zu berücksichtigen, die den neuen Besitzern gewährt wurden.
Als Beispiele seien aufgeführt: Die BUNA-Werke bei Schopkau gin-
gen für 1 DM an den US-Chemie-Giganten Dow Chemical. Das Geräte-
und Reglerwerk Teltow (GRW), dessen substanzieller Wert auf 170 bis
250 Millionen DM geschätzt wurde, kam für 1 DM an den Großspeku-
lanten Wisser, der die Gebäude abriß und die Beschäftigten entließ, um
auf dem Grund ein einträgliches Gewerbe- und Industriegebiet entste-
hen zu lassen. »Viele Indizien deuten darauf hin, daß der Käufer vorsätz-
lich in unrechtmäßiger Weise begünstigt wurde.« 4
4 Der Spiegel, Nr. 45,
1991.
Vier Großflugzeuge der Interflug wechselten für je 1 DM den Besit
zer.
So ist die Geschichte der Treuhand unter Frau B R E U E L eine Auflistung
der persönlichen Bereicherung raffinierter In- und Ausländer aus West
und Ost, Vor allem große internationale Bankhäuser witterten zu Recht
eine einmalige Gelegenheit und erhielten sie auch.
Nicht zufällig eröffnete am 16. September 1990 Baron Edmond DE
R O T H S C H I L D in Frankfurt eine Niederlassung seines Bankhauses. »Es ist
die erste Repräsentanz der R O T H S C H I L D S in Deutschland. Gleichzeitig
gründete diese französische Gruppe eine Finanzdienstleistungs- und
Beratergesellschaft, an welcher neben der Schweizer Banque Privée Ed-
mond de Rothschild und der französischen La Companie Financière
Edmond de Rothschild mit jeweils 25 % auch die Berliner Bank AG mit
5 Frankfurter
einem Kapitalanteil von 50 % beteiligt sind.« 5 Über die nie aufgeklärte
Korruption an der letztgenannten Bank stürzte dann der Berliner Senat, Allgemeine Zeitung,
Ein halbes Jahr später gab es eine Umwandlung: »Baron Sir Evelyn DE 17. 9. 1990.
R O T H S C H I L D gibt sich die Ehre, die Repräsentanz zu Frankfurt in eine
Finanzniederlassung umzuwandeln, um für die anderen Banken der Roth-
schildgruppe in Deutschland aktiv werden zu können. Und nach R O T H -
SCHILDS Einschätzung ist diese Stadt das Tor zu den Volkswirtschaften in
Osteuropa,« 6 6 Frankfurter
Die Berater der Rothschildbank waren dann für die Treuhand tätig - Allgemeine Zeitung,
und erreichten einiges: 1.2.1991.
Der genannten zur Rothschildgruppe gehörenden Compagnie Finan-
cière de Suez SA wurden von der Treuhand folgende mitteldeutsche Werke
zu Spottpreisen überlassen:
Oberland Glas Gmbl I, Staßfurt
Glasindustrie AG, Torgau
OEWA Wasser und Abwasser GmbH, Potsdam
Olympia Bau-Union, Berlin

887
Oben: Der Chef von
Elf-Aquitaine ( 1 9 8 9 -
1993) Loik LE F L O C H -
PKICENT. Er wurde am

12. 11. 2003 zu 5


Jahren Freiheitsstrafe
und 375 0 0 0 Euros
verurteilt. Rechts: Elf-
Raffinerie in Leuna,
Aus: Der Spiegel, Nr,
30, 2000.

Straßenbau Potsdam GmbH, Berlin


Ostsächsische Baugesellschaft AG, Bautzen
Olympische Baugesellschaft mbH, Berlin
SGE Verkehrsbau Union GmbH, Berlin
Büro- und Wohnpark, Berlin-Schönhausen
Medienstadt Holding GmbH Babclsberg, Potsdam.
To tal-Fina-Elf-Aquitaine S.A., der viertgrößte Ölkonzern der Welt, konnte
mit Hilfe finanzieller Sonderaufwendungen und bestimmender Einfluß-
nahme durch hochrangige bundesdeutsche Politiker über die Treuhand
folgende mitteldeutsche Firmen weit unter Preis vereinnahmen:
Tycka Minol GmbH, Leipzig
Elf Mitteldeutsche Erdölraffinerie GmbH, Sperrgau
Minol, Mineralöihandel AG, Berlin
Elf Oil Deutschland GmbH, Berlin
7Kurt-Heinz Elf Autochem Deutschland GmbH, Berlin
KLAUSER, »Die ELAN Kf-Service GmbH, Chemnitz
Heimkehr der EVI Entwicklung von Industrieuntrenehmen GmbH, Raderberg
Rothschilds nach Omniplast Rohrwerk, Bitterfeld."
Old-Germany«, in:
Deutschland, Nr. 7/8, Uber einen beispielhaften Fall berichtete die Presse 8 wie folgt: »Wie man
2001, S. 71 f. aus einer Mark problemlos fast viereinhalb Millionen macht, dieses Kunst-
8 ta% 29. 3. 1993. stück hat jetzt der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst

888
ALBRECHT vorgemacht. Dabei ist es noch gar nicht lange her, daß der
Deal genau anders herum verlief. Für eine schlappe Mark bekam Herr
A L B R E C H T von der Treuhand im vergangenen Dezember die Bisen- und
Hüttenwerke Thaie AG. Und »aus Versehen« auch das Kinderheim, das
zwar zum Betrieb gehörte, aber eigentlich von dem Handel aus dem
Gesamtpaket herausgenommen werden sollte. Aber das hat die Treu-
hand - absichtlich oder nicht - schlichtweg vergessen. A L B R E C H T freute
sich über das Schnäppchen und wollte es auch gleich versilbern. Fünf
Millionen Mark verlangte er trocken vom Land Sachsen-Anhalt, das die
Einrichtung eigentlich von der Treuhand kostenlos bekommen sollte.
>Mit uns ist dieses Geschäft nicht zu machen«, wurde Sachsen-Anhalts
Sozialminister Werner S C H R E I B E R störrisch und beharrte auf den Abma-
chungen aus den Verkaufsverhandlungen. Schweren Herzens griff die
Treuhand in die Tasche und zahlte A L B R E C H T die Scheine auf den Tisch.
Jetzt soll das Land Sachsen-Anhalt das Erholungsheim bekommen. Ko-
stenlos wie abgemacht versteht sich. Von einem »ungeheuerlichen Vor-
gang< zu Lasten der Treuhandkasse spricht die SPD-Fraktion, und die
Kollegen von der PDS möchten das Ganze sogar als »Wirtschaftskrimi-
nalität« verstanden wissen.«
Am 8. Dezember 1994 billigte die Europäische Union den Antrag der
Bundesregierung auf eine Beihilfe von 910 Millionen DM für die Priva-
tisierung der brandenburgischen EKO-Stahl GmbH zugunsten des bel-
gischen Stahlkonzerns Cockerill Sambre S. A. Damit ging ein mehrjähri-
ger Streit um die Erhaltung des Standortes Eisenhüttenstadt zu Ende.
Langfristig sollten 2300 Arbeitsplätze durch den Verkauf an die Belgier
gesichert werden. Doch:' »Nach Berichten aus Brüssel beträgt der Kauf- dpa, 22. 12. 1994.
preis für 60% der Anteile an der EKO-Stahl GmbH in Eisenhüttenstadt,
dem größten deutschen Stahlwerk, genau eine DM. Seltsamerweise tritt
kein Bundeskartellamt auf den Plan. Der Preis der restlichen 40% des
EKO-Kapitals seien später auszuhandeln, sagte der Sprecher des belgi-
schen Investors Sambre, der EKO mit 440 Millionen Mark zu moderni-
sieren vor hatte. Manch eine Belegschaft eines solchermaßen verschenk-
ten Betriebes weiß ein Lied von dem nun folgenden Elend zu singen,
weshalb Frau B R E U E L von der enttäuschten Ostbevölkerung auch Frau
Iü Siehe z. B. die
Greuel genannt wird.« Daß die aus Brüssel an die »Investoren« geflosse-
nen Gelder größtenteils von deutschen Zahlungen an die EU stammten, ZDF-Sendung
Kennzeichen D, 29. 4.
sei der Vollständigkeit halber angemerkt.
1998, 22 Uhr 30.
Die Beschreibung der Beteiligung der Russenmafia1'1 an dem Ausver- 11 Frankfurter
kauf Mitteldeutschlands wie der Verwicklung des Bundeskanzlers K O H L " Allgemeine 'Zeitung,
in die Leuna-Affare sprengt leider den zur Verfügung stehenden Platz 3. 5. 1996.
dieses Werkes. Wolfgang Hacke«

889
Gender-Mainstreaming

ngefähr seit dem Jahrhundertwechsel hat, von der Brüsseler Zen-


U trale der Europäischen Union kräftig unterstützt, das sogenannte
Gender-Mainstreaming auch in Deutschland große Wirkung ausgelöst
und wird von der Regierung gefördert, nachdem es auf der 4. Weltfrau-
en-Konferenz in Peking 1995 weltweit bekannt geworden war. Es wird
als moderne Anschauung im Rahmen der Emanzipation der Frau in der
Öffentlichkeit angepriesen, hat jedoch eine andere Auswirkung. Zur er-
forderlichen Richtigstellung erscheint eine Vorbemerkung notwendig.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Milieutheorie als Mitsieger ge-
gen den angeblichen deutschen Rassismus großen Einfluß gewonnen.
Unter ihr versteht man die bereits zwischen den Kriegen wissenschaft-
lich überzeugend widerlegte Anschauung, daß für Körper, Geist und Seele
des Menschen vorrangig die Umwelt, das Milieu, verantwordich sei und
nur weniger bedeutsam die Erbanlagen beitrügen. Mit der Diffamierung
Andersdenkender wurde diese falsche Lehre verteidigt, die dann auch
von der Umerziehung in Deutschland zur Zerstörung des deutschen Bit-
dungswesens benutzt wurde. Bereits im Jahre 1972 erschien ein von 50
international anerkannten Anthropologen, darunter vier Nobelpreisträ-
gern, unterzeichneter Aufruf 1 in den USA, der sich gegen diese damals
von der Linken in den Vereinigten Staaten wie in Deutschland vertretene
Milieutheorie wandte, der die vorrangige Bedeutung der Erbeinflüsse
hervorhob und der gegen die ideologisch begründete Bekämpfung der
Erblehre in der Öffentlichkeit protestierte. Seitdem ist die vielfach von
marxisdschen Ideologen, etwa den Vertretern der »Frankfurter Schule«,
als »Rassismus« unberechtigt angeprangerte Vererbungslehre weiter durch
neuere Forschungen untermauert worden, 2 so daß daran eigentlich kein
moderner Wissenschaftler mehr zweifeln kann.

1 In: American Psychologist, Juli 1972, S. 660; deutsch zuerst übersetzt von Her-
mann KISSEL, in: Rolf KOSIEK, Marxismus? Ein Aberglaube1., Vowinckel-Verlag,
Neckargemünd 1972, S. 107 ff.; ebenso in: Neue Anthropologie, Februar 1973;
erweitert um die Unterschriften von 27 deutschen Humanwissenschafdern, dar-
unter die Professoren Arnold GEHLEN, Paul LEYHAUSEN, Heinrich SCHADE, Ilse
SCHWIDETZKY, übersetzt von Paul LF.YHAUSEN in: Homo, Bd, 24, 1973, Nr. 1, S .
52; ebenso in: Neue Anthropologie, 2. Jg., Nr. 2, April 1974, S. 29 f.
2 Insbesondere von Francis 11. CRICK, C . D. DARLINGTON, Hans-Jürgen EYSENOÎ,
Arthur R. JENSEN, Konrad LORENZ, Jacques MONOD, So: Hans-Jürgen EYSENCK,
Vererbung, Intelligenz und Erziehung, Zur Kritik derpädagogischen Milieutheorie, Seewald,
Stuttgart 1975; ders., Die Ungleichheit der Menschen, List, München 1975; Konrad
LORENZ U. Franz M. WUKETITS, Die Evolution des Denkens, Piper, München 1983.

890
In unseren Tagen versuchen aber gewisse Kreise bewußt oder unbe-
wußt, der Milieutheorie erneut und diesmal über das sogenannte >Gen-
der Mains treaming< Bedeutung zu verschaffen. Darunter versteht man
die in dem letzten Jahrzehnt verbreitete Anschauung, daß die Geschlech-
terrollen beim Menschen im Gegensatz zum offensichtlichen biologi-
schen Geschlecht in der Jugend erlernt seien und damit von der jeweili-
gen Umwelt abhingen. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau seien
nur erlernte Rollen, Zur erwünschten Gleichstellung von Junge und Mäd-
chen müßten diese Unterschiede abgeschafft werden. An Stelle des Be-
griffs >Geschlecht< habe >Gender< zu treten, das jeder beliebig auswech-
seln kann. Ziel sei die »Entnaturalisierung von Geschlecht« — offenbar
vom Begriff her schon etwas Naturwidriges und Unnatürliches, Linke
Politiker, liberale Gutmenschen, Feministinnen und allgemein als mo-
dern gelten wollende Unbedarfte haben sich hinter dieser Fahne verei-
nigt. Sie haben bei der Europäischen Union wie bei der Bundesregierung
bereits große Erfolge erzielen können, indem ihre Richtung entgegen
den Warnungen von Fachleuten zur offiziellen Politik auf diesem Gebiet
erklärt wurde: Die Bundesregierung hat sich schon im Jahre 2000 auf
»Gender-Mainstreaming als durchgängiges Leitprinzip aller politischen,
normgebenden und verwaltenden Maßnahmen« bis auf örtliche Ebene John William M O N E Y
verpflichtet. (1921-2006).

Eine auch für den Laien verständliche Beschreibung dieses >Gender


Mainstreaming< brachte der auch durch andere politisch nicht immer
korrekte Beiträge hervorgetretene FAZ-Mitarbeiter Volker Z A S T R O W 3 in
einem ganzseitigen Artikel seiner Zeitung, Darin ging er insbesondere
auf das jahrelang als Beweis für diese Hypothese angesehene und be-
hauptete experimentum crucis ein und hob hervor, daß dieses sich dann
jedoch eindeutig als Gegenbeweis für diese Gender-Anschauung (gender
— >Geschlecht<) herausstellte. Vor allem der Begründer und Namengeber
{ygender identityf, >gender role<) dieser unbiologischen These, der 1921 in
Neuseeland geborene und in den USA lebende Psychiater John M O N F . Y
vom Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore, bediente sich jahrelang
zu Unrecht dieses Vorgangs, dessen Ablauf im nachhinein nur als ein
Verbrechen an einem jungen Menschen bewertet werden kann.
Dabei handelte es sich um folgenden Vorgang. Am 22. August 1965
wurden im kanadischen Winnipeg der Familie R E I M E R zwei eineiige männ-
liche Zwillinge Bruce und Brian geboren. Bei der Beschneidung sieben
Monate nach der Geburt wurde das männliche Glied von Bruce so stark
verbrannt, daß es schwarz wurde und abfiel. Mediziner wußten keinen

Volker ZASTROW, » D e r kleine Unterschied«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.


9. 2006, S. 8.

891
Rat. Die Eltern sahen dann im Fernsehen M O N E Y , der sich mit inter- und
Trans sexuellen sowie Geschlechtsumwandlungen beschäftigte und behaup-
tete, daß man aus Männern ohne weiteres Frauen und umgekehrt machen
könne. Ihm schrieben die Eltern, und er erkannte, daß hier ein dankbarer
Fall und endlich der Beweis für sei-
ne Theorie vorliege. Denn ihm war
1965 in der Quartertf Review of Bio-
logy mit Recht vorgehalten worden:
»Wir kennen kein Beispiel für ein
normales Individuum, das als ein-
deutig männlich geboren wurde
und erfolgreich als weibliches We-
sen aufwuchs.«
Die Eltern ließen auf M O N E Y S
Drängen Bruce im Alter von 22
Monaten im Juli 1967 von einem
plastischen Chirurgen kastrieren,
der dazu aus dem Hodensack
weibliche Schamlippen zu formen
versuchte. Das Kind bekam den
weiblichen Namen Brenda.
M O N E Y schärfte den Eltern ein,
das Kind konsequent als Mädchen
zu erziehen und ihm die Operati-
on zu verheimlichen, was diese
auch streng befolgten. Dazu ka-
men Behandlungen des Kindes
mit weiblichen Hormonen.
In seinem Hauptwerk Gender
Identity von 19734 beschrieb John
M O N E Y ausführlich das Experi-
ment an Bruce-Brenda als Bestä-
tigung seiner Theorie der umwelt-
Der Zwilling Bruce bedingten Geschlechterrolle und erregte damit großes Aufsehen und
REIMER, oben als 2jäh- wissenschaftliche Anerkennung.
rige Brenda, unten als
Doch schon um diese Zeit zeigte sich, daß das Experiment das Ge-
34jähriger David.
A u s : Der Spiegel, Nr,
genteil von dem ergab, was der Psychiater sich von ihm erhofft hatte.
40, 2 0 0 0 . Denn Brenda, die nie Hosen tragen durfte, verhielt sich trotz Mädchen-
kleidern sehr jungenhaft, wollte mit Jungenspielzeug spielen, raufte gern,

4 Deutsch als Männlich Weiblich. Die Entstehung der Geschlechtsunterschiede, 1975, mit
der Mitautorin und Übersetzerin Anke EHRHARDT,

892
verhielt sich ruppig und kratzbürstig, interessierte sich für Autos und
Waffen statt für Puppen oder Schmuck, Mit seiner Mädchenrolle war das
Kind nicht zufrieden, wandte sich gegen die regelmäßigen Besuche bei
M O N E Y , der es in seinem Mädchensein auch durch grobe Methoden be-
stärken wollte, und trug sich schon mit elf Jahren mit Selbstmordgedan-
ken. In der Pubertätszeit fühlte sich Brenda von Mädchen angezogen
und bekam trotz weiblicher Hormone den Stimmbruch. Mit 13 Jahren
wehrte sich das Kind, das Besuche bei M O N E Y nun strikt ablehnte, er-
folgreich gegen weitere Operationen an seinen Geschlechtsteilen und
antwortete auf die Frage eines damit befaßten Endokrinologen, »Willst
du ein Mädchen sein oder nicht?« entschieden mit »Nein«,
Daraufhin klärten die Eltern das manipulierte Kind über seine Ver-
gangenheit auf, daß es als Junge geboren sei, was es zunächst sehr er-
leichterte. Es wählte den Namen David, lebte als Junge und ließ sein
männliches Glied soweit wie möglich operativ wiederherstellen. Doch
der junge Mann kam mit seinem Leben nicht mehr zurecht: Im Jahre
2004 erschoß er sich mit einer Schrotflinte. Sein Zwilllingsbruder hatte
bereits im Vorjahr mit Tabletten Selbstmord begangen.
Obwohl das Experiment eigentlich schon um 1973 bei M O N E Y S erster
Veröffentlichung darüber als gescheitert anzusehen gewesen war, hat
M O N E Y erst 1980 begonnen, es bei seinen Schriften und Büchern wegzu-
lassen, in denen er aber weiter seine falsche Theorie der umweltbeding-
ten Geschlechterrolle vertrat. Doch nun sank sein wissenschaftliches
Ansehen. 1979 wurde M O N E Y S >Gender Identity Clinic< geschlossen, die
Praxis der Geschlechtsneu Z u w e i s u n g e n am Johns-Hopkins-Krankenhaus
wurde eingestellt.
M O N E Y versuchte in bezeichnender Weise, die berechtigten Vorwürfe
gegen seine unnatürliche Hypothese als »Bestandteil der anti feministischen
Bewegung« herabzusetzen und abzulehnen. Der Zeitgeist war auf seiner
Seite und sah in den wissenschaftlich begründeten und sachlich vorge-
tragenen Vorbehalten gegen die vor allem ideologisch erwünschte These
des Psychiaters nur den Versuch, die Frauen »zu ihrer angestammten
Rolle im Bett und in der Küche« zurückzuzwingen. Das gilt leider auch
noch für die Gegenwart.
So wirkt M O N E Y S verderblicher Einfluß in der Öffentlichkeit weiter.
Insbesondere die Frauenpolitik nahm sich weltweit seiner These an, ver-
breitete sie und sieht trotz des Scheiterns des Money-Experiments in
diesem nach wie vor einen wissenschaftlichen Beleg für die Thesen des
Gleichheitsfeminismus.. In Deutschland vertrat vor allem Alice S C H W A R -
ZER das Gender Mainstreaming, indem sie M O N E Y und seine Irrlehre in
höchsten Tönen lobte und ausgerechnet von ihm sowie von seiner Mit-
autorin Anke E H R H A R D T als Ausnahmewissenschaftlern sprach, die »nicht

893
manipulieren, sondern dem aufklärenden Auftrag der Forschung gerecht
werden«. 5 Daß das Gegenteil richtig ist, erwies sich damals schon deut-
lich. Aber wie auch auf anderen Gebieten hat die Wirklichkeit für linke
Ideologen eben hinter den Theorie zurückzutreten.
Die Natur läßt sich aber nicht ins Handwerk pfuschen. Wer das ver-
sucht und schlauer als die Natur sein will, muß auf die Dauer scheitern.
Die Pisa-Studien haben offenbart, wohin die seit dem linken siebziger
Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts unter dem Einfluß der neomarxisti-
schen >Frankfurter Schule< und ihrer von der Kritischen Theorie vertre-
tenen Milieutheorie stehende Bildungspolitik Deutschland geführt hat:
Diese Schulexperimente mit antiautoritärer Pädagogik, früher Sexuali-
sierung, Verharmlosung von Drogen, Vernachlässigung von Disziplin,
Kult des Häßlichen sind wie der individuelle Versuch an Bruce REIMER
Alice SCHWARZER. Verbrechen am jungen Menschen.
Der erfahrene Kinderarzt Prof. Dr. Theodor HELLBRÜGGE aus Mün-
chen klagte zu Recht an:6 »Die biologischen Grundtatsachen der kindli-
chen Entwicklung werden bisher nicht erörtert, obwohl sie die Unter-
schiede zwischen Jungen und Mädchen natürlicherweise begründen.« Das
sei vor allem für die Schule wichtig: »Sie muß erkennen, daß zwischen
Mädchen und Jungen fundamentale Unterschiede bestehen.« Weil zum
Beispiel die Entwicklung der Mädchen schneller ablaufe, sei die Koedu-
kation Gleichaltriger nicht sinnvoll.
Doch gegen den Rat erfahrener Pädagogen w-ird linke Ideologie im
bundesdeutschen Bildungswesen immer noch durchgeführt.
Und die Vertreter der dafür mit verantwortlichen Frankfurter Schule
wie Jürgen HABERMAS werden - auch von der bürgerlichen C D U - mit
Preisen und Orden geehrt. Rolf Kosiek
Die Wiener Stadtver-
waltung plant an-
hand von Piktogram-
men in den Straßen
der österreichischen
Hauptstadt eine groß-
angelegte Werbung
für Gender Main-
Streaming.

5 Zit. in ZASTROW, aaO., (Anm, 3). Siehe auch Alice SCHWARZER, Der kleine Unter-
schied, 1975, S. 192 f. Nach SCHWARZER sei die Gebärfähigkeit auch der einzige
Unterschied, der zwischen Mann und Frau bleibe. Alles andere sei künstlich
aufgesetzt.
* Prof. Dr. Theodor HELLBRÜGGE, »Geschlechterunterschiede von Anfang an«,
Leserbrief in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.11. 2003.

894
US-Zeitung: Beethoven war ein Neger

ie angesehene Chicagoer Zeitung The Chicago Defender brachte


D am 6. Januar 1987 einen Artikel von Earl Calloway unter der Über-
schrift »WFMT ehrt schwarzen Komponisten Beethoven«. Darin heißt
es unter anderem: »Das WFMT-Radio (98,7 FM) feiert den 216. Jahres-
tag der Geburt von Ludwig VAN BEETHOVEN (1770-1827) in einem Live-
Konzert aus seinem Studio um sieben Uhr abends. Obwohl B E E T H O V E N ,
der ein Schwarzer war, schon seit 159 Jahren tot ist, werden seine Werke
immer noch mehr aufgeführt als die eines anderen Komponisten. . .
Obwohl seine rassische Herkunft nicht so wichtig ist wie sein Beitrag zur
Welt der Musik, ist es wichtig, daß die Welt sich bewußt wird, daß der
schöpferische Genius aus der großen schwarzen Menschheit kam.«
Diese einschließlich der Überschrift dreimalige Hervorhebung der fal-
schen Behauptung, der große deutsche Komponist sei ein Schwarzer
gewesen, kann kein Flüchtigkeitsfehler gewesen sein. Dahinter steckt
Methode. Und bei der großen Naivität und Unwissenheit der meisten
amerikanischen Zeitungsleser ist dieser Methode sicher auch einiger Er-
folg beschieden gewesen.
Das bestätigte eine Meldung der überwiegend deutschsprachigen Mo-
natszeitung Der Deutschamerikaner (Februar 1987, S. 4), Sie brachte nach
einer humorvollen Kommentierung der vorstehend genannten Nachricht
ergänzend die Mitteilung, daß ein Beamter des deutschen Generalkonsu-
lats wegen des Inhalts der oben aufgeführten BEETHOVEN-Meldung um
Auskunft gebeten war. Als er dann wahrheitsgemäß verneint hatte, daß
Beethoven ein Schwarzer gewesen sei, wurde er damit beschimpft, »daß
er bei seiner Ungläubigkeit nur ein Rassist sein könne«.
So schnell wird man ein >Rassist< in den Augen mancher, vor allem
linker Kreise. Tatsachen spielen dabei keine Rolle. Wenn die Wirklichkeit
eine andere ist, als man sie gern haben möchte, ist es für diese Ideologen
bedauerlich für die Wirklichkeit und kein Grund, die eigene Meinung zu
hinterfragen oder gar zu ändern. Diesen Standpunkt vertrat insbesondere
Jürgen H A B E R M A S als Vertreter der neomarxistischen »Frankfurter Schu-
le<, die für ihre Perversion der Begriffe bekannt wurde. Für Andersden-
kende, die der Wahrheit den Vorrang zubilligen und mit Argumenten
nicht zu widerlegen sind, hat man schnell ein >Totschlagwort< wie >Ras-
sist<, >Nazi<, >Ewiggestrigen zur Hand, und keiner wagt dann mehr, den
so Diffamierten zu unterstützen und die von ihm vertretene Wahrheit
öffentlich zu bekennen. O R W E I J , läßt grüßen!
Zur Aufgabe der Presse heißt es im Bayerischen Pressegesetz § 3, Abs,
2, treffend in aller Kürze und Bestimmtheit: »Sie (die Presse) hat in Er-

895
füllung dieser Aufgabe die Pflicht zu wahrheitsgemäßer Berichterstat-
tung und das Recht, ungehindert Nachrichten und Informationen einzu-
holen, zu berichten und Kritik zu üben.« Die meisten Medien in der heu-
tigen Bundesrepublik Deutschland geben jedoch dazu im Gegensatz der
politischen Korrektheit den Vorzug und unterhöhlen damit eine der wich-
tigsten Voraussetzungen einer Demokratie. Rolf Kosiek

896
Zu den Attentaten vom 11. September 2001

ie Attentate vom 11, September 2001 boten der US-Regierung den


D wesentlichen Grund, den »Kampf gegen den Terror* einzuleiten
und die geplanten Kriege in Afghanistan und gegen den Irak zu begin-
nen. Im Laufe der Zeit wurde die offizielle Darstellung der Ereignisse
von New York und Washington immer unglaubwürdiger. Da dieses Ge-
schehen auch weittragende Folgen für Deutschland hatte - Bundeswehr-
einsatz in Afghanistan und im östlichen Mittelmeer — sei eine Richtig-
stellung zur amtlichen Deutung als abschließender Beitrag dieses Bandes
gebracht.
Etwas Ungewöhnliches passiert
Viele Menschen auf der ganzen Welt konnten am 11. September 2001
Zeuge ungewöhnlicher Ereignisse werden. Ein entführtes Flugzeug ra-

Die beiden stolzen


Zwillingstürme des World
Trade Center vor ihrer Zer-
störung am 11. September
2001, Ihre Existenz und
ihre Zerstörung sind mehr
alsein Symbol.

897
Chronologie der Ereignisse am 11.9.2001
• 7:59 Flug AA 11 startet von Boston
• 8:14 Flug UA 175 startet von Boston
• 8:20 Flug AA 77 startet von Washington
• 8:42 Flug UA 93 startet von Newark
• 8:46 Flug AA 11 prallt auf den (?)Nord-
turm
• 9:03 Flug UA 175 prallt auf den Südturm
• 9:40 Flug AA 77 stürzt auf das Pentagon
• 9:59 Das Gebäude World Trade Center 2
(Südturm) stürzt wie bei einer kontrollierten
Sprengung ein, angeblich durch Feuereinwirkung
• 10:06 Flug UA 93 stürzt bei Shanksville,
Pennsylvania, ab
• 10:29 Das Gebäude World Trade Center 1
(Nordturm) stürzt wie bei einer kontrollierten
Sprengung ein, angeblich durch Feuereinwirkung
• 16:25 Es wird berichtet, daß es im WTC7
brennt
• 17:25 Das Gebäude World Trade Center 7
(WTC7) stürzt wie bei einer kontrollierten Spren-
gung ein

Bilder der offiziellen ste >life< in den Südturm des World Trade Centers in New York. Eine
Bildsequenzen: Die knappe Stunde später stürzte das Gebäude in sich zusammen, wie bei
Bilder 147 und 2 2 7
einer kontrollierten Sprengung. Etwas später stürzte der Nordturm, der
zeigen - mit der
Sturmspitze des mitt- bereits vor dem Südturm von einem Flugzeug getroffen worden war,
leren Gebäudes ver- ebenfalls wie bei einer kontrollierten Sprengung in sich zusammen. Die
glichen -, daß die Aufnahmen von diesem Geschehen wurden wieder und wieder gezeigt.
Explosionswolke sich Das Pentagon in Washington wurde angeblich auch von einem Verkehrs-
nach unten entwik- flugzeug getroffen. Ein weiteres entführtes Verkehrsflugzeug stürzte in
kelt und daß dem-
nach mehrere Explo-
der Nähe von Shanksville, Pennsylvania, über freiem Gelände ab. Terror-
sionen (Sprengungen) anschläge erschütterten die USA. Amerika wurde angegriffen. Von wem?
nacheinander erfolgt
sein müssen. Nach: Die offizielle Version
Gerhoch R E I S E G C E R ,
Die Bildbeweise,
Die Frage nach den Tätern wurde recht schnell beantwortet. Unter der
Hohenrain, Tübingen Leitung von Osama BIN L A D E N sollten 1 9 islamistische Attentäter insge-
«2007. samt vier Verkehrsmaschinen in ihre Gewalt gebracht und dann die vor-
her ausgemachten Ziele angesteuert haben. Die USA seien ahnungslos
gewesen. Vielleicht habe es ja vage Vorinformationen gegeben, aber nichts
Konkretes. Es handele sich um eine hinterhältige Attacke. Präsident B U S H

898
kündigte an, Terroristen wie in einem Krieg zu bekämpfen. Der US-Kon-
greß bewilligte viele Milliarden Dollar für Vergeltung? schlage. Neue Ge-
setze schränkten die Freiheit der US-Bürger ein.

Die konspirationstheoretische Diskussion fangt an


Einige Zeitgenossen fanden allerdings, daß die offizielle Version nicht so
ganz stimmen konnte. Der erste Kristallisationskeim der kritischen Dis-
kussion war der Zusammensturz der WTC-Gebäude. Der Zusammen-
sturz der Gebäude WTC2 (Südturm) und W i ' C l (Nordturm) sah genau-
so aus wie eine kontrollierte Sprengung. Vielleicht war es ja eine
kontrollierte Sprengung gewesen? Diese Diskussion wurde sofort nach
den schicksalsträchtigen Ereignissen geführt und konnte bereits zwei Wo-
chen nach dem Ereignis im Internet mitverfolgt werden.
Außerdem stürzte am Nachmittag des 11. September 2001 noch ein
weiteres Gebäude des WTC-Komplexes genau wie bei einer kontrollier-
ten Sprengung in sich zusammen, und zwar das Gebäude WTC7, Dabei
war WTC7 noch nicht einmal von einem Flugzeug getroffen worden!
Die Sprengung eines Gebäudes erfordert eine längere Vorbereitung,
so daß im Falle einer Sprengung Osama BIN L A D E N eigentlich nicht als
Täter in frage kam, sondern vielmehr jene, die die offizielle Version in
die Welt gesetzt hatten: die US-Regierung selbst.
Weitere Gesichtspunkte der Ereignisse wurden kritisch beleuchtet. Auch
beim angeblichen Selbstmordangriff auf das Pentagon mit einem ent-

Eine Explosion
nach drei Seiten.
Von einem Flugzeug
hervorgerufen?

899
führten Passagierjet gab es Merkwürdigkeiten. Wo gab es Fotos, die Trüm-
mer eines Passagierjets gezeigt hätten? Das Loch im Pentagon war viel
zu klein für ein Flugzeug des Typs Boeing 757. Auch im Falle des angeb-
lich über Shanksville abgestürzten Flugzeuges konnte man keine Flug-
zeugtrümmer auf Fotos entdecken.
Im Laufe der Diskussion wurden viele Fragen gestellt, auch diejenige,
ob denn tatsächlich Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers
geflogen seien oder ob es sich bei den im Fernsehen gezeugten Bildern
nur um Video Simulationen gehandelt haben könnte.

Ereignisse und Schlußfolgerungen


Aus den ungewöhnlichen Ereignissen wurden von offizieller Seite Schluß-
folgerungen gezogen, die sehr vorgefertigt, aber dabei unlogisch wirk-
ten.
Die USA waren angeblich angegriffen worden und wollten sich wie in
einem Krieg wehren. Das Ziel war Afghanistan, weil sich angeblich Osa-
ma BIN LADEN dort versteckte. Wenn man wirklich hinter Bin Laden her
war, warum startete man dann nicht eine Polizeiaktion in Afghanistan,
um BIN L A D E N ZU finden? Die Mehrzahl der angeblichen Terroristen wa-
ren saudi-arabische Staatsbürger. Warum fing man keinen Krieg mit Sau-
di-Arabien an? Der NATO-Verteidigungsfall wurde zum ersten Mal in
der Geschichte ausgerufen, dabei handelte es sich doch um einen Ter-
roranschlag? Der 11. September war das größte Verbrechen auf US-ame-
rikanischem Boden, trotzdem wurde sofort mit der Spurenbeseitigung
auf dem WTC-Gelände begonnen. Warum?

Die Ebenen der Konspiration


Die Ereignisse des 11. September 2001 wurden sofort instrumentalisiert
und für die Verwirklichung von politischen und militärischen Zielen der
USA ausgenutzt. Sie paßten der einzigen verbliebenen Weltmacht ein
wenig zu gut ins Konzept. Der »Patriot-Act« ein Gesetz zur erheblichen
Bescbneidung von Bürgerrechten, hatte in der Schublade geschlummert
und wurde jetzt umgesetzt. Ein Angriffskrieg (gegen Afghanistan) wur-
de sofort begonnen. Ein weiterer (gegen den Irak) wurde vorbereitet
und im Jahre 2003 angefangen.
Die Massenmedien machten sich auch weiterhin zum Büttel der US-
Regierung und ließen nicht von ihrer Version der Ereignisse ab: Alles sei
eine Kombination von Zufällen, schlechter (Organisation staatlicher Stel-
len und Fanatismus der Attentäter gewesen. Das Szenario blieb für US-
Regierung und etablierte Massenmedien im großen und ganzen gleich.
Parallel dazu entwickelten Konspirationstheoretiker alternative Szena-
rios der Ereignisse. Im wesentlichen gibt es drei formulierte Ebenen der

900
Verschwörung: Auf der untersten Ebene habe die US-Regierung zwar
von den bevorstehenden Terro ran schlagen gewußt, allerdings absicht-
lich nichts gegen deren Durchführung unternommen. In den USA wur-
de dafür der Ausdruck >LIHOP< (für >Let it happen on purpose<) geprägt.
Auf der nächsten Ebene der Konspiration habe die US-Regierung in
Zusammenarbeit mit Geheimdiensten zusätzlich unterstützend eingegrif-
fen, mit Geld, dem Heranzüchten von Agenten und dem Verwirren von
staatlichen Organisationen. Hierfür etablierte sich der Ausdruck >HIHOP<
(für >Help it happen on purpose<). Auf der dritten Ebene der Konspiration
schließlich steckt die US-Regierung selbst hinter den Anschlägen. Pla-
nung und Durchführung hätten in ihrer Hand gelegen. Der passende
Ausdruck dafür ist >MIHOP< (für Make it happen on purpose<).

Die Entwicklung der Diskussion


In den ersten Monaten wurden die alternativen Sichtweisen fast nur im
Internet diskutiert und waren daher für die Glaubwürdigkeit der offiziel-
len These nicht sehr gefährlich. Das Internet konnte ja als unseriöses
Medium abgetan werden, auch wenn die etablierten Massenmedien alle-
samt selbst über Internetpräsenzen verfügen. Im März 2002 veröffent-
lichte der Franzose Thierry M E Y S S A N sein Buch mit dem Titel L ' e f f r o y a b l e
imposture (deutsch: die erschreckende Behauptung). M E Y S S A N legte über-
zeugend dar, daß gar kein Verkehrsflugzeug ins Pentagon geflogen sein
konnte. Darüber hinaus stellte er ein schlüssiges Gegenszenario vor,
wonach die US-Regierung selbst hinter den Anschlägen stecken mußte.
Das Buch verkaufte sich in Frankreich sehr gut, da es auch Eingang in
große Buchhandlungen bekam. Der Einfluß auf die Meinungsbildung
war so stark, daß die US-Regierung etwas später 5 »Beweisfotos« veröf-
fentlichte, die angeblich den Aufprall auf das Pentagon und die nachfol-
gende Explosion von Flug AA77 zeigen sollten.
Im August 2002 erschien das hervorragend bebilderte Buch von Eric
H U E S C H M I D PainfuiQuestions in den USA. Es konzentriert sich auf die
technischen Gesichtspunkte der Ereignisse und wirft wichtige Fragen
auf. Auch für H U F S C H M I D lautet die Schlußfolgerung, daß die US-Regie-
rung zumindest an den Terroranschlägen beteiligt gewesen sein mußte.
Eine umfassende Widerlegung der regierungsamtlichen Darstellung
brachte Gerhoch R E I S E G G E R in seinen Büchern Wir werden schamlos irrege-
führt (2003) und 11. September: Die Bildbeweise (2004). Über die Folgen hat
Alain DE B ENG IST das Buch Die Welt nach dem 11. September (2002) veröf-
fentlicht.
Im September 2002 erschien das erste Buch von Mathias B R Ö C K E R S
über den 11. September mit dem Titel Verschwörungen, Verschwörungstheori-

901
en und die Geheimnisse des 11.9. B R Ö C K E R S ist wesentlich vorsichtiger mit
seinen Schlußfolgerungen, aber das Buch ist hervorragend recherchiert
und außerdem ein großer Verkaufserfolg. So langsam konnte man die
Konspirologen nicht mehr unter den Tisch kehren. Weitere wichtige kri-
tische Bücher erschienen in deutscher Sprache.
Im März 2003 geschah das nächste Verbrechen: der völkerrechtswid-
rige Krieg der USA gegen den geschwächten Irak. Dann gibt es im Sep-
tember 2003 in Berlin ein Symposium mit dem Titel »Unanswered Que-
stions Demanding Answers«. Konspirationstheoretiker diskutieren die
Frage nach den Schuldigen. Die kritischen Stimmen gegen die US-Regie-
rung überwiegen bei weitem. Fast zeitgleich erscheint Der Spiegel, Nr, 37/
2003 und suggeriert uns schon auf der Titelseite, daß die 9-11-Kritiker
absurden Gedanken folgen und die Wirklichkeit auf den Kopf stellen
wollen. Sie sind »Phantasten«, »machen passend, was nicht paßt« und
»biegen Aussagen und Sachverhalte zurecht«. Die Diskussion wird von
Seiten der Etablierten zunehmend diffamierender. Das Jahr 2004 bringt
den offiziellen Bericht der Kommission der US-Regierung über die Ge-
schehnisse des 11. September 2001, der vielleicht manche beruhigt. Die
Antwort der »Konspirologen« läßt allerdings nicht lange auf sich warten.
Weitere Bücher und Filme erscheinen. Die Argumente der Kritiker finden
immer weitere Verbreitung. Im März 2005 geht die US-amerikanische Zeit-
schrift Popular Mechanics auf viele Argumente ein und widerlegt sie nach
eigener Angabe. Die 9-11-Kritiker antworten auf ihren Webseiten und
nennen die Zeitschrift fortan Propaganda Mechanics. Der US-Multimilliardär
Jimmy W A L T E R läßt sich von den Kritikern überzeugen und investiert er-
hebliche Mittel in eine Kampagne gegen die etablierte Version. Unter an-
derem finanziert er Mitte 2005 die >9/11 Truth European Tour«, bei der in
mehreren europäischen Großstädten Symposien abgehalten werden. Die
Berichterstattung der Mainstream-Presse über diese Symposien ist fast im-
mer sehr dünn. Ebenfalls 2005 erscheint der 9-11 -kritische Film Loose Change.
Er ist für die offizielle Version gefährlich, weil er im Internet weiteste Ver-
breitung findet. Der Schlagabtausch geht bis heute weiter.

Verteidigungslinien der Mainstreammedien


Gleich, welche Argumente für eine Beteiligung der US-Regierung an den
Ereignissen des 11. September 2001 auch kommen mögen, für die
Mainstreammedien heißt es entweder übersehen, oder schlechtmachen,
oder Gegenargumente finden. Ebenfalls ist unwichtig, was man vorher
selbst geschrieben haben mag. Es sind und bleiben die »von islamisti-
schen Extremisten verübten Terroranschläge«, Für die Argumente der
Konspirologen »gibt es keine Beweise«. Allerdings gibt es für die offiziel-
le Version ebensowenig Beweise.

902
Die Argumente
Die wichtigsten Argumente der Konspirologen können wie folgt zusam-
mengefaßt werden:
1. Der Pentagon-Crash
Ins Pentagon ist am 11, September 2001 kein Verkehrsflugzeug geflo-
gen, sondern ein kleineres Flugobjekt, das entweder eine Cruise Missile
war oder eine Drohne z. B. des Typs »Global Hawk<.
• Es fehlen Flugzeugtrümmer, Bei jedem Flugzeugabsturz werden die
Trümmer untersucht, um die mögliche Absturzursache zu ermitteln. Flug-
zeuge stürzen ab, aber sie verschwinden nicht!

Die kurz nach dem


Anschlag auf das
Pentagon entstande-
ne Aufnahme zeigt
keine Überreste ei-
nes Flugzeuges.
Ein Großraumflug-
zeug löst sich nicht
rückstandslos auf.

• Die Beschädigung an der Fassade des Pentagons ist zu klein.


• Die obere Kante des Pentagons stürzte erst mehrere Minuten nach
dem Aufprall eines Flugobjektes ein.
• Der Rasen vor dem Pentagon war unbeschädigt, obwohl eine Ver-
kehrsmaschine aufgrund ihrer Größe wohl über den Rasen gerutscht sein
müßte, um ins Erdgeschoß des Gebäudes zu fliegen.
• Das erforderliche Flugmanöver ist bei weitem zu anspruchsvoll für
Hobbypiloten,
• Ausgerechnet ein gerade renovierter und daher so gut wie menschen-
leerer Teil des Gebäudes wurde getroffen.
• Die angeblichen von einer Überwachungskamera aufgenommenen
fünf >Beweisfotos< wurden erst im März 2002 veröffentlicht.
• Auf den >Beweisfotos< ist nur ein schemenhafter heller Schatten zu
sehen, keinesfalls ein Flugzeug.

903
Links: Der sogenannte 2. Der Shanksville-Crash
Beweis für die Exi-
Das vierte angeblich entführte Flugzeug ist nicht in der Nähe von
stenz eines Flugzeugs.
Das Stück Blech ent-
Shanksville abgestürzt. Entweder handelt es sich um eine komplette In-
spricht allerdings kei- szenierung, oder das Flugzeug wurde vorher von einem Abfangjäger ab-
nem Teil einer Boe- geschossen.
ing-Maschine vom • Es gibt keine Fotos von Flugzeugtrümmern.
Typ 757-200. Rechts: • Der Bürgermeister des Städtchens Shanksville, Ernie Stull, sprach
Eine Austrittsöffnung
von 2,3 m Durchmes-
davon, an der »Absturzstelle« kein Flugzeug gesehen zu haben.
ser, etwas zu wenig • Zeugenaussagen von Reportern bestätigen, daß keine Flugzeugtrüm-
für eine Boeing-Ma- mer aufzufinden waren.
schine. Beide Abbil-
dungen aus: Thierry 3. WTC7 wurde gesprengt
MEYSSAN, Pentagate,
Ins WTC7 ist kein Flugzeug geflogen. Das 47stöckige Gebäude stürz-
de facto, Kassel 2003.
te am Nachmittag des 11. September 2001 wie bei einer kontrollierten
Sprengung ein, weil es sich höchstwahrscheinlich um eine kontrollierte
Sprengung handelte!

904
• Es ist vorher noch nie ein Stahlhochbau nur aufgrund eines Feuers
eingestürzt.
• Der offizielle FEMA-Bericht gibt an, daß die Gründe des Einstur-
zes unklar sind.
• Erst am Nachmittag des 11, September 2001, um ca. 15:00, wird
berichtet, daß es im WTC7 brennt.
• Fotos und Filme dokumentieren eine saubere Sprengung um ca. 17:25
Ortszeit, bei der das Gebäude auf seinem Grundriß in sich zusammen-
sinkt,
• Der Pächter der Gebäude, Larry SII.VERSTF.IN, gibt in einem Fern-
sehinterview selbst an (zu), daß er zusammen mit der Feuerwehr von
New York City die Entscheidung fällte, das Gebäude herunterzuziehen
(>to Pull it<).
• Die Trümmer wurden beseitigt, ohne daß die Einsturzursache fest-
steht und ohne eine überzeugende und beruhigende Erklärung außer-
halb der Sprengthese.

4. WTC1 und WTC2 wurden ebenfalls gesprengt


In jeden der beiden Türme sei eine zweistrahlige Maschine geflogen.
Die Flugzeuge können aber nicht der Grund des Einsturzes der Türme
gewesen sein, aus folgenden Gründen:
• Der Flugzeugaufprall verursachte eine einseitige Beschädigung der
Türme, so daß eine asymmetrische Struktur auftrat. Warum sollte eine ein-
gekerbte, asymmetrische Struktur perfekt symmetrisch zusammenstürzen?
• Das Kerosin wurde in einer Explosion innerhalb von wenigen Se-
kunden chemisch umgesetzt, und das auch noch in der Hauptsache au-
ßerhalb der Gebäude. Dies wurde fotographisch eindrucksvoll festge-
halten. Es kann daher nicht zu einer wesentlichen Erwärmung der
Gebäude beigetragen haben.
• Menschen haben sich an der Einschlagstelle vorbei nach unten durch-
geschlagen, ohne zu verbrennen.
• Menschen haben sich im Bereich der Einschlagstelle gezeigt.
• Menschen haben sich oberhalb der Einschlagstelle gezeigt. Sie ha-
ben sich an der Stahlkonstruktion der Türme abgestützt, ohne sich zu
verbrennen. Bei der guten Wärmeleitung von Stahl ist dies ein Wider-
spruch!
• Die Türme fielen innerhalb weniger Sekunden zusammen, so, als ob
die Struktur der Gebäude unterhalb der Einschlagstelle gar nicht aus Stahl
und Stahlbeton gewesen wäre und den von oben herabfallenden Teilen
des Gebäudes gar keinen Widerstand entgegengesetzt hätte.
• Die Trümmer wurden beseitigt, ohne daß die Einsturzursache fest-
steht.

905
• Zeugen, darunter auch Feuerwehrleute, haben von Explosionen ge-
sprochen,

5. Die Terrorpiloten waren wahrscheinlich gar nicht in den


Flugzeugen
Die angeblichen Terrorpiloten standen nicht auf der veröffentlichten
Passagierliste. Sie haben demnach die Eincheckprozedur nicht durchlau-
fen!

6. Die Terrorpiloten konnten wahrscheinlich gar nicht richtig


fliegen
Die angeblichen Terrorpiloten waren weit davon entfernt, hervorra-
gende Piloten zu sein. Einige Fluglehrer gaben sogar an, daß ihre Schütz-
linge gar nicht fliegen konnten.

7. Die Insidergeschäfte mit Aktien waren nicht das Werk


islamistischer Terroristen
Kurz vor dem 11. September 2001 wurde gegen United Airlines und
American Airlines spekuliert. Die Namen der dafür Verantwortlichen
wurden nicht ermittelt oder nicht veröffentlicht.

8. Die Anthraxbriefe kamen aus amerikanischen Biowaffen-


laboren
Nur in den USA gibt es das nötige Know-how, um die Milzbrandsporen
korrekt aufzubereiten.

9. Das Geständnisvideo ist wahrscheinlich eine Fälschung


B I N L A D E N hat die Anschläge angeblich gestanden. Aber:
Das deutsche Fernsehmagazin Monitor hat auf Unstimmigkeiten der
englischen Übersetzung hingewiesen.
Osama BIN L A D E N S Gesicht ist auf dem Geständnisvideo merkwürdig
verändert, besonders die Nasen- und die Wangenparde lassen darauf
schließen, daß es sich nicht um dieselbe Person handelt.

10. Die kolportierten Handyanrufe sind technisch nicht


möglich
Die als Beweise für eine Flugzeugentführung herangezogenen Han-
dyanrufe aus hoch fliegenden Verkehrsmaschinen sind technisch unmög-
lich. Als Folge gibt es keine Beweise für Flugzeugentführungen!

906
11. Die US-Regierung hat seit dem September eine freie
Aufklärung behindert
Erst 411 Tage danach wurde eine angeblich »unabhängige« Untersu-
chungskommission eingesetzt. Diese wurde allerdings nach allen Regeln
der Kunst an ihrer Arbeit gehindert. Senatoren und keine mit kriminali-
stischen Gepflogenheiten vertrauten Agenten stellten Fragen, die zum
größten Teil nur ausweichend oder gar nicht beantwortet wurden.

12. Spurenbeseitigung
Die Attacken waren das größte Verbrechen in der Geschichte der USA,
und trotzdem wurde sogleich mit der Spurenbeseitigung begonnen, ohne
daß das Verbrechen in zufriedenstellender Weise aufgeklärt wäre.
• Controlled Demolition Inc. wurde sofort nach dem Ereignis von
der US-Regierung beauftragt, die Trümmer des WTC-Komplexes zu be-
seitigen.
• Mitarbeitern des Pentagons wurde sofort nach dem Crash gesagt,
sie sollten alle Trümmerteile des wie auch immer gearteten Flugobjektes,
das ins Pentagon flog, wegräumen.

13. Die Flugabwehr der USA war merkwürdig unfähig


Man kann versuchen, die mangelnde Leistungsfähigkeit der US-ameri-
kanischen Flugabwehr am 11. September 2001 mit Unfähigkeit zu erklä-
ren. Merkwürdigerweise waren die meisten einsatzbereiten Flugzeuge just
an jenem Tage in Übungen gebunden (Vigilant Warrior). In der Summe:
• Flug AA 11 (Nordturm) hätte bei funktionierender Flugabwehr ab-
gefangen werden können, wurde aber nicht abgefangen!
• Flug UA 175 (Südturm) hätte bei funktionierender Flugabwehr ab-
gefangen werden können, wurde aber auch nicht abgefangen! 17 Minu-
ten hegen zwischen den beiden Flugzeugcrashs in die Türme des WTC!
• Flug AA 77 (angeblicher Crash ins Pentagon) flog ca. 50 Minuten
unbehelligt im Luftraum umher, wobei offizielle Angaben zugrunde lie-
gen, (Es gibt natürlich berechtigte Zweifel, daß überhaupt ein zweistrah-
liger Passagierjet ins Pentagon geflogen ist, siehe Argument Nr.l.)

Alle Argumente der 9-11-Kritiker widerlegt?


Auf (fast) alle obengenannten Argumente der kritischen Szene ist die
Maifisireamptcssc in der Zwischenzeit eingegangen. Die offizielle Versi-
on ist angeblich doch glaubwürdig. Zeugen haben dieses und jenes bestä-
tigt. Vor kurzem zum ersten Mal veröffentlichte Aufnahmen zeigen neue
Erkenntnisse. Flugzeugtrümmer wurden doch gefunden. Hier sind die
seit kurzem freigegebenen Beweisfotos. Es tauchen neue Passagierlisten
auf, nunmehr sind die angeblichen Terroristen vermerkt. Hochhäuser

907
können nach einem Brand durchaus wie bei einer kontrollierten Spren-
gung einstürzen. Beauftragte oder selbsternannte Experten können es
bestätigen.

Glauben oder Wissen(schaft) - was wirklich zählt


letzten Endes ist der normale Mensch so angelegt, daß er das glaubt,
was er glauben will. Die von den etablierten Medien übermittelte offizi-
elle Version läßt ihm ein einigermaßen intaktes Weltbild. Es wäre doch
schlimm, wenn die US-Regierung selbst hinter 9-11 stecken würde, und
fast jede Regierung auf diesem Planeten hilft doch im >Krieg gegen den
Terrorismus<?
Allerdings, uns beeindrucken keine nach mehreren Jähren freigegebe-
nen Beweisfotos und keine Zeugenaussagen, keine neuen Antworten auf
vor sechs Jahren formulierte kritische Fragen, keine neuen Experten mit
neuen Computersimulationen und neuen Theorien. Simulationen und
Theorien bestehen nur dann, wenn sie in der Praxis vorhersagbare Er-
gebnisse hervorbringen. Keine technische Innovation wurde jemals mit
Glauben allein entwickelt.
Wir kommen zurück auf die zentrale Frage: Ist es möglich oder ist es
nicht möglich, ein Hochhaus durch einen Brand ähnlich wie bei einer
kontrollierten Sprengung in seine Bestandteile zu zerlegen? Die Beant-
wortung der Frage könnte uns neue Technologien zum Abriß von un-
brauchbar gewordenen Gebäuden bescheren. Vor dem 11. September
2001 hat kein Großbrand ein Hochhaus in seine Bestandteile zerlegt.
Nach dem 11. September 2001 ebenfalls nicht!
Nach dem 11. September 2001 brannte es im Oktober 2004 im höch-
sten Gebäude Venezuelas zwölf Stunden lang. 15 der insgesamt 56 Stock-
werke wurden verwüstet, das Gebäude fiel aber nicht in sich zusammen.
Ein heftiges Feuer brannte im Februar 2005 im Windsor Tower in
Madrid, und die Feuerwehr brauchte fast 24 Stunden, um das Feuer zu
löschen. Das Gebäude stürzte nicht zusammen!
Es wäre um ein Vielfaches billiger, einige Tonnen Kerosin in einem
Gebäude zum Entflammen zu bringen, als ein ganzes Gebäude für eine
kontrollierte Sprengung vorzubereiten. Die Beantwortung der zentralen
Frage müßte daher auch aus ökonomischer Sicht überaus interessant sein.
Die Trümmer des WC-Komplexes sind allerdings seit Mai 2002 als Schrott
verkauft, und damit ist die Beweismittelvernichtung abgeschlossen,
Hans Flink

908
Mein Lieb für Europa Gtocgt FotelHtr

Dos alte Europa Sdjangfjai, Bennies


bann noth nldjt fterben, finb Abenteuer,
unter bronöigen Narben Sybncg unb Rio: Die Antwort der deut-
schen Kriegsgenerati-
podjf Itach [ein Blut, ein Grulj aus ber Fetne. on auf die europäi-
treibt buccb Kanäle, sche Katastrophe
Wo bein Traum 1945: Kulturbewußt-
Ättetien unb Venen,
sein und Stolz auf die
Idjie^t öurdj bie Glieber bidj aud) eintreibt, abendländische Ver-
unb Hetzgeffi^e, ftets heljtft bu mitber gangenheit statt Tradi-
t)tim nadj Athen, tionszerstörung und
[pült über Sdjutt
Spaßgesellschaft.
unb Aid)e unb Trümmer nadj Wien ober Oslo. Aus: August Friedrich
bie bin zur Nogat, V E L M E D E (Hg.), Unver-

Sag nuc: Europa geßliches Abendland,


Weltfjfel unb Ober, 2. Folge, Bertels-
podjt tief Im Küftentoum unb I]ord] auf bein Herz. mann, Gütersloh
öcs Kanals unb Ätlantih. Zroftdjcn Feuer unü Eiß 1953.
glimmt aptilne Luft.
Rom heifit [ein Htcz, Der Himmel ilt näher
Poris ein anörcs. unb lüfjec bie Erbe.
Lonbon, Berlin, Die Stuben ftnä eng
Den Haag unb Mobtiö. unü oollet Gefühl.
Das alte Europa
tjot oiele Herzen, Dicht beieinander
hat olcle Kronen, Ipflrtt öu bie Gräber,
öle nie oerbunheln. Ipürft bu bie Väter
bei jebem Schritt.
Sag Moehau unb füljle:
Du bift allein. Hotd) auf bein Hetz:
Nenne Nero Yoch, Europa ftitbt nidjf.
unb bu blft Es bann nietjt fterben,
in ber Ftembe. folang üu es liebft.

909
910
Pursonenverzeichnis
A
Abel, Jean-Pierre 399 Auerbach, Hellmuth 532 508, 895
Abendroth, Wolfgang 771 f. Augstein, Rudolf 573, 700, Bcger, Bruno 224
Abetz, Otto 393 769 Bekessyjanos 727
Achmed {von Witu) 37 August, Carl August 728 Belgion, Montgomery 683
Ackermann, Karl 731 August, der Starke, 40 Bell, Robert 592
Acksasow, W J. 383 August Wilhelm III Below, Nicolaus von 469
Adam, Konrad 571 Auguste Viktoria 111 Ben Gurion, David 87, 828
Adamski, St. 716 Axmann, Artur 494 Benedikt XVI. 802
Adenauer, Konrad 361, 699, Benesch, Eduard 807, 809 f.,
B 856
747 ff., 819, 828 f., 881
Adolf Friedrich von Schweden Baarova, Lida 194 f. Benoist-Mec hin Jacques 28
39 Bader, Karl S. 522 Bens 19
Aigner, Korbinian 514 f. Badoglio, Pietro 650, 654 Berchthoid, Leopold von 19
Albertz, Heinrich (Pastor) 847 Baer, Richard 537 ff. Bergander, Götz 614
Albrecht, Ernst 889 Bagge, Erich 413 ff., 417 Berger 672
Alimov 378 Baldwin, Stanley 447 Berggrav, Eivind 487
Allen, A. 633 Balfour, Arthur James 85 Bergierjacques 144,218,220
Alpar, Gitta 195 Ball j o h n C. 373 Bergmann, Ernst von 35, 36
Alraschid, Harun 378 Banfill (US-General) 727 Bergold, Friedrich 667 f.
Altdorf, Heinz 272 Bankier, David 554 Berija, Lawrenti P. 285, 306,
Ammian 796 Bardeche, Maurice 671 f. 320, 357, 362
Ammon, Herbert 486 Barnes, Harry Elmer 19-22, Berlin, Irving 510
Andersch, Alfred 728 24-28 Bernadac, Christian 531
Angel, Angel 731 Barnick,Johannes 96 Bernard, Henry 731
Angst, Heinrich 42 f. Barres, Maurice 68 Bernardis, Robert 480
Antonescu, Ion 418 Barth, Karl 453 Bertram, Adolf 211 ff., 569,
Apel, Hans 549 Bardett, Bruce 27 716 f., 719 f.
Archiel, Marcel 593 Barto, Olek 410 Bertram, Heinrich 568
Ardenne, Manfred von 418 Baruch, Bernard 445 Bertuleit, Willy 241
Aretz, Emil 156 Baßler, Karl 186 f. Bessejean-Pierre 399
Armstrong, Louis 510, 512 Baton, Edmund 657 Best, Werner 167, 270
Armvtage 730 Baudot 400 Beuys Joseph 786
Arndt, Walter 687 Bauer, Fritz 536, 538 Beveridge, William 804
Arnold, Klaus-Jochen 337 Bavendamm, Dirk 27 B i da ult, Georges 713
Arnold, Rainer 825, 827 Beard, Charles Austin 20,24, Biel, Ulrich 747 f.
Aron, Robert 397,400 848 Bielschowsky, Ulrich (= Ulrich
Artamanow 21 Beauvoir, Simone de 553 Biel) 747
Aschenauer, Rudolf 671, 674 Bebel, August 34, 42 ff. Biere, Thorkel 273
Ashton-Gwatkin 455 Beck j o s e f 239, 247 ff., 251 Birzele, Frieder 529
Asqukh, Herbert Henrv 43, 73 Beck, Ludwig 450, 455 f., Bismarck, Otto von 34, 37 f.,
Astel, Karl 181 459, 464,475 148,173, 679
Atdee, Clement 437, 695, 698 Beckers 115 Bittrich 466
Atzmon, Gilad 571 Blaha, Franz 496
Beckum, Karl-Heinz 780, 885
Auer, Theodor 115 Blavatsky, Helena P. 144 f., 223
Beethoven, Ludwig van 193,

911
Blecha, Kurt 767 Bresser, Klaus 16 Carnogursky, Jan 807
Bleske 718 Breuel, Birgit 885, 887, 889 Carol von Rumänien 288
Bley, Helmut 42, 44 Brinkmann, Fritz 501 Caron, René 593
Blobel, Paul 370 f. Broad, Pery 510 Carstens, Karl 498, 624, 770,
Blöchl, Johann 521, 522 Bröckers, Mathias 900 776
Blomberg, Werner von 232— Bronder, Dietrich 220 Carter 431
235 Broszat, Martin 497, 500 f., Carder, Raymond 836
Blum, Léon 228 574 Castex, Henri 65
Böddeker, Günter 625, 691 Bruckner, Anton 193,637 Ceuterick, Maria 592
Boden, Wilhelm 715 Brückner, Günther 620, 674 Chamberlain, Neville 26,
Bodenschatz, Karl Heinz 468 f. Brumlik, Micha 823 238, 243, 447,456
Boghitsche witsch 103 Brune, Charles 400 Chaplin, Charlie 392,510
Bogislaw (pommerseher Brüning, Heinrich 131, 149, Charmley, John 28
Herzog) 740 444 f. C h erwell 447
Bogitschewitsch 19, 21 Brus, Günther 786 Choltitz, Dietrich von 393-396
Bohlen, Charles E. 878 Bryce 23 Christian von Dänemark 274
Boisson, Jean 528 Buback, Michael 782 Christian X. von Dänemark
Bonhoeffer, Dietrich 453, Buback, Siegfried 779, 782 27 t
486-489 Bucerius, Gerd 730 Chruschtschow, Nikita 44,284,
Bonhoeffer, Karl 486 Bucharin, Nikolaj 89 319, 361
Bonnet, George 27,246 ff. Bucher, Jacqueline 658 Churchill, Winston S. 43, 70,
Bonwetsch, Bernd 322 Bulganin, Nikolaj A. 749 73, 88, 90 f., 97, 182, 259,
Borchardt, Julian 116 Bulwer-Lytton, Edward 144 280, 289, 437 f., 440-445,
Borden, Robert 118 Bunjatschenko, Sergej 447 f , 453, 455, 468, 487,
Boris ID. 40 Kusmitsch 378 ff. 610 f., 616, 621, 701 f., 738,
Bormann, Martin 427 f., 431, Bürckel, Joseph 175 742, 761, 763
469 Burckhardt, Carl Jacob 261, Clav, Lucius D. 628,713 f, 732,
Bormann Martin jr. 176 444, 456 743
Bosse 428 Busch, Ernst 461 Colvin,Jan 455
Bou cabeille, Paul 117 Buschujewa, T. S. 281 Conrades, Rudolf 849
Bracht 151 f. Bush 486 Convbeare 21
Bramann 36 Bush, Vannevar 609 Cooper Willis, Irene 24
Brandenburg, Erich 24 Busse (General) 378 Coßmann, Nikolaus 121
Brändle, Reinhold 779 Busse, Ernst 504 Coudenhove-Kalergi, Richard
Brandt, Karl 586 Butler, Robert A. 239 Nikolaus Graf 146 ff.
Brandt, Reinhard 413 Coudry 380
Brandt, Willy 721, 753 f, C
Courtois, Stéphane 342, 344,
787,790 f.,'847 Caillaux, Joseph 19 649
Brauchitsch, Walther von 232, Calleo, David 27 Cousteau, Jacques 69
234, 324, 326, 387 Cambon, Jules 19 Crampton, Richard J. 42
Braun, Eva 793 Cambon, Paul 84,103 Cripps, Stafford 287
Braun, Otto 120, 150 f. Camrath, Renate 658 Crompton, Ixmis 526
Braunmühl, Gerold von 780 Canaris, Wilhelm 450, 455 f., Crowe, David M. 854,860
Bräutigam 672 487 Crowley, Aleister 142
Breitinger, Hilarius 587 ff. Capretdni, Alessandro 659 f. Crozier-Desgranges, Pierre
Breker, Arno 850 Careli, Paul 625, 691 116 f., 119
Brenner 37 Carmin, E. R. 218,220 Czaja, Herbert 755

912
Czesany, Maximilian 600 f., Döpel 421 Enrico, Robert 553
603 Doroschenko, W L. 284 Epp, Franz Ritter von 131
Doumenc, Joseph 244, 246, Erdmann, Hans Otto 483
D
249 Erhard, Ludwig 829, 847
Daladier, Edouard 248 f. Draeger, Hans 24 Erskine, G. W. E. J. 732
Dal ton, Hugh 445, 447 Drax 244 Eschebach, Insa 506
Danilow, Vaierij 298 Dregger, Alfred 17 Eschenburg, Theodor 771,
Dariet, Ives 509 Drexler, Anton 139 773, 775 f.
Darlan, François 275 f, Dreyfus, Alfred 770 Eugenie (Kaiserin 31
Darnand, Joseph 595 Duelos, Jacques 395
Dawidowcz, Lucy S. 528 F
Dudäk, Rudolf 510, 512
Decker, Rainer 179 f. Durgin E, R. 278 Fabert 100
Deckert, Günter 782 Diirr, Gerhard 564 Fabre-Luce, Alfred 24
Degrelle, Léon 61, 592, 594 Dürrfeld, Walter 672 Fabry 121
Delcassé, Théophile Pierre 21 Dymek, Valentin 589 Falkenhausen, voln (General-
D elm er, Sefton 192,260, 262 oberst) 460
Demarüal, George 24 E Farago, Vladislav 431
Deneschko 383 Eban, Abba 86 Faulhaber Michael von 210
Dengler, Gerhard 767 Eberbach, Götz 15, 692 Faure, Petrus 401
Denhardt, Clemens 37 Eberbach, Heinrich 692 Faurisson, Robert 553
Denhardt, Gustav 37 Eberle,Josef 73t Fay, Bradsway 20
Dette 582 Ebert, Friedrich 119 ff. Feder, Gottfried 137
Deutsch, Harold C. 234 Ebner, Heinrich 13 Fellgiebel, Erich 471
Dewawrien 400 Eckart, Dietrich 136 f., 139 f. Ferdinand von Bulgarien 40
Dexter, Midge 526 Eckermann, Johann Peter 17 Ferdinand von (Coburg-Kohäry
Dibelius, Otto 680 Eden, Anthony 487 40
Dickinson, Lowes 24 Edgcumbe 627 Ferguson, Niall 64, 96 f., 99
Diebner, Kurt 413-417, Ehard, Hans 714 f. Ferry, Abel 57
421 f., 425 Ehrenburg, ilja 574 Fest,Joachim 851
Dicls, Rudolf 183 Ehrhardt, Anke 893 Festge, Hans Henning 499
Diem, Carl 58 Eichler, Richard W 785 Filbinger, Hans 403 f., 771
Dieser, Evelyn 657 f. Eichmann, Adolf 538, 574 Fischer, Fritz 97
Dietrich, Sepp 175,466 Eisenhower, Dwight 341, Fischer, Joschka 22, 819 f.,
Dijk, Albert van 504 380, 405, 465, 603, 634 ff., 824
Di mi tri je witsch 21 713, 742 Fisch Ii, Fritz 735
Dingeon, Marcel 593 Eisner, Kurt 136 Fisher (Lord) 92
Dinter 175 Elisabeth I. von England 95 Fleischer, Tilly 58
Dittmann 117, 119 Elisabeth II. von England 95, Föch, Ferdinand 92, 94
Diwald, Hellmut 499 802 Förderer, Josef 732
Dmitrijew, W J. 436 Ellington, Duke 510 Fornansini 652
Dmowski, Roman 48 Elser, Georg 514 Förster, Jürgen 336
Dohnanyi, Hans von 487 Emery (= Engländer) 668 f. Foster, Harry 699, 700
Dohnanyi, Klaus von 663 Emsen, Kurt van (Karl Foster, Tony 699
Dolan, Brooke 221 Strünkmann) 217 Fraatz, Georg W. 279 f.
Domarus, Max 154 Engelhardt, Eberhard 539 Frahm, Herbert Ernst Karl (=
Dönitz, Karl 443, 640, 644, Engholm, Björn 149 Willy Brandt) 787
656, 680, 757, 773, 847 Engländer (— Emerv) 668 Franco, Bahamonde Francisco

913
182, 226, 228, 788 Gaster 85 483, 760
Frank, Hans 137,854 Gauche 248 Goertz, Ebbe 271
Frankfurter, David 165 Gaulle, Charles de 32, 380, Goethe, |ohann Wolfgang von
Franz von Sachsen-Cobürg 40 396 ff., 400, 713 17
Frauenfeld, Alfred 377 Gaus, Friedrich 670, 878 Gohlke, Rainer 884
Freihoffer, H. 471 Gawlina 720 Goldberg, Marcel 860
Frei sie r, Roland 476, 480, 762 Gehlen, Arnold 17, 771 Goldenberg,Jo (— Leo Hamon)
French, John 94 Gehrke, Roland 48 394
Frentz, Wolfgang 392 Geiss, Immanuel 22 Goldhagen, DanielJonah 554,
Freund, Florian 518 Genscher, Hans-Dietrich 749 804
Freytag, Gustav 798, 845 Georg I. 41 Goldmann, Emma 89
Friede, Georg 437 Georg I.udwig von Hannover Goldschmied, Herbert 510
Friedenthal, Charlotte 489 41 Goltz, Rüdiger Graf von der
Friedman, Moishe Ayre 571 Georg V. von England 95,111 79 f., 252 f.
Friedmann, Bernhard 881 Georg VI. von England 95 Gomulka, Wladyslaw 46
Friedmann, I leide 658 Gerds, Johannes 568 Gooch, George Peabody 24
Friedrich Carl 100 Gerhard, Dirk 840 f. Goodman, Benny 512
Friedrich, Jörg 360 Gerhardt, Carl 35 Goppel, Alfons 802
Friedrich I. (Kaiser) 740 Gerlach, Charlotte 514 Gorbatenko 382
Friedrich II., der Große 39 Gerlach, Waither 413, 414,425 Gorbatschow, Michail 580,
Friedrich I. von Schweden 39 Gerron, Kurt 512 883
Friedrich III. 35, 36 Gershwin, George 510,512 Gordon, Helmut 28
Friedrich Karl, Prinz von Hes- Gerstein, Kurt 565 f. GÖring, Hermann 111, 155,
sen 252 Gerstenmaier Eugen 488, 172,183, 232, 418, 426,
Friedrich Karl von Hessen 41 760-763 669, 790
Frigang, Brigitte 552 Giaffieri, Moro 166 Götte, Rose 636
Frings, Joseph Kardinal 804 f. Gieseking, Werner 753 Gottschewski, Lydfia 180
Fritsch, Theodor 136 Giesler, Hermann 469, 851 Götz, Karl 598'
Fritsch, Werner Freiherr von Gijsegen, Maurits van 594 Graf 655
232, 233,235 Gilsa, von 612 Graml, Hermann 164
Froeschmann, Georg 672 Gimbel, John 712,715 Grass, Günter 771, 792
Fröhlich, Gustav 194 f. Giordano, Ralph 584 Gratton, Walter Millis Hartlev
Fromm, Frittz 474, 476 Giraud, Henri 276
20
Fromm, Fritz 451 Gisevius, Hans Bernd 234,
Grau, Günter 526
Frost 279 f. 452 f., 470 Gray, Marün 552 f.
Fucik, Julius 508 Glasser, Ira 526 Grczesinski 151
Glauer, Adam Alfred Rudolf (= Greifelt 674
G
Sebottendorff) 136 Greim, Robert Ritter von 793
Gaddry 638 Gleason, S. Everett 25 Greiser, Arthur 588 f.
Gaffry, Ullrich 638, 707 f. GlempjJozef 812 Grey, Edward 21, 24, 43,
Gailus 241 Globke, Hans 747 54,' 84
Galen, Klemens August Graf Glotz, Peter 781 Grezow (Generalmajor) 321
von 214,449,700 Göbel, Wolfgang 779 Grigorey, A. F. 320
Gallo, Max 553 Goebbels, Joseph 164, 166- Grimm, Friedrich 65, 679
Galster,Jon 272 ff. 170, 191, 193 £, 417, 464, 741 Gromyko, Andrej 878
G alrier-Bois sie re, Jean 395 Goerdeler, Carl Friedrich 450, Gronchi 656
Gansser 119 ff. 454 f., 459,464,468, 477, Grossart, Trautel 659

914
Grosse 613 Harrer, Karl 139 Hergt 752
Groth, Wilhelm 415,423 Harris, Arthur 420, 615 f., 621 Herman, Eva 15
Grothe, Franz 193 Harteck, Paul 413-417,423 Hermann, Carl-Hans 349
Groth mann, Werner 418, 425 Hartwig 20 Hermine von Schönaich-
Graves, Lestie R. 608 f. Hartz, Franz 718 Caroiath 111
Grützner, Günter 33 Harvey, Doug 201,204 Herrhausen, Alfred 780, 885
Grynszpan, Herschel 165 Hase, Paul von 488, 847 Herrlinger 187
Guderian, Heinz 308, 335, Haselmayr 131 Herwarth von Bittenfeld, Hans
465 Hasler, Karel 512 878
Guillaume, Günther 787 Hassel, Ulrich von 478 Herzl, Theodor 83,205
Guinness, Alec 793 Hauff, Richard 187 Herzog, Dagmar 179
Guisan, Henri 603 Hauff, Volker 187 Herzog, Roman 613
Gurdjew, Georg Iwanowirtsch Haushofer, Albrecht 219 Heß, Rudolf 137, 218 f., 219
142,218,220 Haushofer, Karl 136, 141 f., Hesse, Fritz 266
Gusdoff, Wilhelm 165 218 ff. Heuser, Franz-Josef 620
Hausser, Paul 466, 656 Heydebreck, Claus von 655
H Haussmann, Wolfgang 799 Heydrich, Reinhard 167 f.,
H aase, Hugo 117 Hawkins, Coleman 512 232, 371
Habe, Hans 727 f. Haydn, Joseph 801 Hilberg, Raul 367, 373, 375,
Haber, Fredy 512 Havek, Friedrich A. von 405 495,758
Habermas, Jürgen 18, 771, Hecht, Ben 575 f. Hübert, Franz Seraph 623
894 f. Heck, Bruno 487 HOdebrand 100
Habsburg, Rudolf von 146 f. Heckenholt 565 Hillgruber, Andreas 263, 269
Hacha, Emil 806,850 Hedin, Sven 25 Himer (Generalmajor) 274
Haeflinger 671 Heer, Friedrich 207 Himmler, Heinrich 167 f.,
Haeften, Hans Bernd 473 Heer, Hannes 343, 348 175, 187, 221-224, 232,
Haentzschel,. Georg 193 Hehenberger, Dietmar 809 f. 271 ff., 365, 388, 418, 426,
Haffner, Sebastian 405, 450 Heider, Anneliese 658 464, 470, 476, 503, 508,
Hafke, Robert 757 Heimannsberg 151 773
Hage mann 799 Hein, Karl 58
Hindenburg, Paul von 114,149,
Hagen, Albrecht von 483 Heine mann, Gustav 624
234
Hagn, Theoderich 208 Heisenberg, Werner 413 ff.,
417, 421 Hindinger, Gabriele 520
Hahn, Otto 413, 414,416 Hintermeier, Hannes 843
Haig, Douglas 92, 94 Heißmeyer, August 187 Hitler, Adolf 25 f., 28, 31,
Haider, Franz 296 f., 324, 328 Heitmann, Steffen 770 44, 97, 99, 111 f., 127, 131,
Haie, Christopher 222, 224 Hellbrügge, Theodor 894 135, 137, 139 f., 149, 153-
Halifax, Edward Frederick 24, Helldorf, Heinrich Graf von 158, 166, 168, 170, 177,
238, 243 f., 247 f., 267 483 181 f., 184, 197, 199, 205,
Halle, von 673 Helldorf, Wolf Heinrich Graf 207-212, 217, 219 f., 226,
Halt, Karl Ritter von 58 von 169 232-237, 250, 257 f., 260-
Hamilton, William 488 Helsing, Jan van (—Jan Udo 269, 272 f, 275,279, 284 f.,
Hampton, Lionel 512 Holey) 141, 143 f., 218 f. 288 f., 302, 305 f, 320, 323-
Händel, Georg Friedrich 193 Henderson 131 326, 328, 376 ff., 386 f.,
Handlos, Franz 766 Henderson, Neville 850 389, 392, 418 f., 446 f.,
Handy, W. C. 510 Henlein, Konrad 854 449 f., 452, 455 f., 4 6 0 -
Hankey 682 Henning 120 473, 480 f., 484, 488, 490,
Harre!,'V. 270 Hendg, Hans von 522 494 f., 514, 526, 573, 585,

915
613, 626, 644, 680, 701 f., Hugenberg, Alfred 149 Josten, Johann Peter 755
731, 760 f., 763, 769, 774 f., Huidekoper 93 Jourdan 597
793, 805, 836, 844, 8 4 9 - Hull, Cordeil 28, 455 Jovy, Michael 581
852, 876 Humbert, Gerhard Philipp Joyce, William 450
Hitler, Alois 207, 208 390 f. [uin, Alphonse 440
Hitler, Klara 207 Hürter, Johannes 386 f., 389 Jülich, Jean 581,584
Hlond, August Kardinal 589 Hussein I. 84 Jung, Werner 584
716-722 Hüttenberger, Peter 583 Jünger, Ernst 459,462,735
Hochhauser, Klara 545 Hydrick, Carter T. 431 Jüngling 687
Hoegen, Josef 584 Junker, Heinrich 496 f.
I Jurek, Marek 437
Hofacker, Cäsar 459,464 f.
Hofer, Walther 25 Iljitschow, Iwan I. 410,412 Jürgs, Michael 172
Hoffmann 187, 358 Ilsemann 113
Hoffmann, Christoph 598 K
Irving, David 286,495, 571,
Hoffmann, Joachim 286, 342, 608, 610, 616 Kaarsted, Tage 271
373 f., 574 Isabclla II. 40 Kageneck, August Graf von
Hoffmann, Max 187 Isherwood, Christopher 526 352, 354 f.
Hofmanns thai, Hugo 845 Iswolski, Alexander 21, 25 Kaisen 714
Hofstätter, Robert 182 Ivanji, Ivan 573 Kalberam, Elfrida 658
Hoggan, David L. 27, 247 Kalko, Erhard 578 f.
Hohenlohe, Christian Franz J Kaller 718, 720
Prinz zu 213 Jabs 707 Kaltenbrunner, Ernst 451
Hohmann, Martin 770 Jäckel, Eberhard 281, 529, Kammler, Hans 418,426
Holey, Jan Udo (s. Heising) 219 838 Kanthack, Gerhard 507
Holming, Göran 403 Jackson, Robert H. 675 f., 789 Kaps, Carola 532
Hologa, Klaud 658 Jacobsen, Finn 509 Karasek, Hellmuth 556
Holzapfel, Gtto 797 Jacobsen, Rudolf 272 Karl Anton Fürst von Hohen-
Homer 844 Jacobson, Thune 270 7.ollern-Sigmaringen 40
Honecker, Erich 882 f. Jäger, Friedrich 482 Karl der Große 148, 798
Honeyman, Gitta Sereny 553 Jäger, Lorenz 796 f. Karl I. (Carol) von Rumänien
Hooton, Earnest 773 Jansa, Alfred 231 40
Hopkinson 276 Jansen, Kornelius 623 Karl von Hohenzollern-Sigma-
Hopp, Wilhelm 688 Janssen, Karl Heinz 233 f. ringen 40
Hoppe, Otto 540 ff. Januschkewitsch 105 Karl X. Gustav von Schweden
Hörbiger, Han ns 222 Jason von Pherai 471 39
Hörne, John 60, 66 Jaurès, Jean 57
Hornev, Brigitte 195 Karisch, Rainer 410,412,422
Jeannesson, Jean-Emile 552 Karpow, Wladimir 287, 298
Höß, Rudolf 175,527, 537f. Jelzin, Boris 408
Hoth, Hermann 297, 308 Kasimirn (pommerscher
Jenninger, Philipp 164,770,882 Herzog) 740
Hötti, Wilhelm 574 Jens, Walter 771
House, Edward Mandell 22 Kastenhofer, Johann 522
Jensen, Hans 272 Kästner, Erich 195
Ho veil 36 Jesus Christus 489 Kater, Michael H. 179, 510
Hrdlicka, Alfred 484 f., 570 Jodl, Alfred 297, 323, 325 Kaufman, Theodore N. 555,
Huber, Ernst Rudolf 151 Joel, Georg 549 773
Huber, Wolfgang 82 John, Otto 450
Kaufmann, Günter 177
Hübner 674 Johnson 93
Kaufmann, Karl 569
Hufschmid, Eric 900 Jordan, Rudolf 168 f.
Kaul 535

916
Kautskv, Benedikt 573 Koenig, Pierre 396,709,713 Kunz, Max 801
Kay, Alex J. 337-340 Kocppen, Werner 170 Kunze, Egon 614
Keitel, Wilhelm 470, 323, Koerber, von 455 f. Kurochkin, P. A. 732
328, 465 Kogon, Eugen 507, 542 Kurtschatow, Igor 410,412
Keller Hermann 578 Kohl, Helmut 147, 529,531,
L
Kempf, Venantius 587 807, 819, 858,881,883,889
Keneally, Thomas 857 Köhler, Horst 640, 782 Laden, Osama bin 898
Kennard, Howard 25, 247 Kokowzow 104 Lafontaine, Hans 792
Kennedy, Joseph 26 Kolontaj, Hugo 48 Lafontaine, Oskar 792
Kenrick, Donald 531 Konjew, Iwan Stepanowitsch Lancken, Oskar von der 63
Kern, Brich 542, 684 684 Landmann, Saida 821
Kersten, F. 272 Konovalov, Vladimir K. 645 f, Lang, Charles 658
Kesselring, Albert 653 f., 656 Konstantin von Griechenland Lang, Jochen von 175,177
Kettenacker, Lothar 257 70 Langer 25
Key 627 Kopecky 510 Lanz von Iiebenfels, Jörg 138
Keyser, Uwe 413 Kopp, Hans-Ulrich 778 Läpple, Alfred 207 f.
Kiefer, Paul 187 Kopp, René 217 Laternser, Hans 335, 342,
Kiejman, Claude 778 Kordt, Erich 455, 456, 760 533 f., 536 f., 542, 564
Kirponos, Michail Petrowitsch Korfanty, Wojciech 48 Laternser, Hans 533, 542
320 Korobkov 320 Lautmann, Rüdiger 526
Kirponow 294, 314 Korotych, Vitalis 374 Laval, Pierre 275
Kissel, Günther 837 Kovacs, Imre 627 Lawrence, Thomas Edward 84
Kitd, Raimund 635 Kowalczvk, Günther 751 f. ILänder, Zarah 191
Klaiber, Manfred 382 Kramer, Alan 60 Leber,Julius 151
Klar, Christian 782 Kramer, Josef 716 Lee ache, Bernard 166
Klara von Assisi 207 Kranz, Tomasz 547 Imeiere, Philippe 395 f.
Klausing, Fried rieh-Karl 482 Kränzlein, Alvin 58 Ledebour, Georg 119 f.
Klein, Hans 17 Krassin 89 Leeb, Wilhelm Ritter von
Kleist, von (Marschall) 461 Krausnick, Helmut 330, 350, 328, 389
Klcist-Schmenzin, Ewald von 367, 369 Leers, Johann von 272
455 f., 760 Krautwaschl, Anton 522 Legoli, Jules 654
Klimeiüs (Freischärler) 346 Krebs, Friedrich 172 Lehmann, Julius 139
Klimovskich, V. E. 320 Kreczi, Hanns 520 Lenin, Wladimir lljitsch 33,
Kluge, Hans-Günther von Kressenstein, von 80 89, 116, 127, 310 f., 317, 788
326 f., 329, 466 Kreuz, Horst 499 Lent, Helmut 707
Klyes (Generalmajor) 320 Krt>echeler, Samgard 658 Ixnz, Thomas 523
Knaak, Gerhard 482 Kroeschell, Karl 172 Leonhardt (Korvettenkapitän)
Knorr 102 Krogmann, Carl Vincent 158 640
Knox 280 Krohn, Friedrich 139 Leonrod, Ludwig Freiherr von
Kobel, Dieter 657, 658 Krützfeld, Wilhelm 173 f. 482
Köbis 115 Kuby, Erich 728 Leopold von Belgien 40
Koch, Erich 371 Küchler, Georg von 466 Leopold von Hohcnzollern 40
Koch, Gertrud 584 Kujau, Konrad 769 Leopold von Sachsen-Coburg
Koch, Hannsjoachim W. 190, Kulischer, Fugen 384 40
467,470 Kun, Bela 88,90 Lepecki 83
Koch, Hans 753 Kuna, Milan 508 f., 513 Lepsius, Johannes 76 ff., 80 ff.
Koch, Hansjoachim W 190 Kunkel 44 Lettow-Vorbeck, von 66

917
Leuchter, Fred 572 Macksay, Kenneth 464 Mellenthin, Knut 823
Lewy, Guenter 532 MaeLean, Fitzroy 702 Merezkow 293, 314
Ley, Willy 143 ff. MacMahon, Arthur Henry 84 Merezkow, Kirill A, 293,314
Lickint, Fritz 181 Mader 862 Merkel, Angela 820, 822 f.
Iiebknecht, Karl 34, 42, 115 f. Magenheimer, Heinz 269, 298 Merkel, Monique 658
IJman von Sanders, Otto 71, Magnarini, Nevio 655 Merl, Edmund 521
75, 79, 82 Mahler, Willi 512 Mertelsmann, Olaf 253
Lippmann, Walter 774 Major, John 97 Messerschmitt, Manfred 403-
List, Guido von 138 Malenko 306 406, 621
Liszt, Franz 509 Malkoc, Halim 381 Metternich, Klemens Wenzel
Litwinow, Maksim 89 Manc 510 Lothar 731, 875
Lloyd George, David 20, 23, Mandel, Leopold 21 M euerer 672
85, 97, 447 Manke, Alfred E. 840 f. Meyer, Fritjof 551, 556 f., 573
Löbe, Paul 739 Mann, Golo 564, 845 Meyer, Herbert 674
Lombroso, Cesare 206 Manning, Paul 431 Meyer, Kurt 692 f., 699 f.
Longerich, Peter 367, 555 ff. Manstein, Erich Fritz von Meyssan, Thierry 900
Lorber, Siegfried 516 303, 308, 341, 461,466,656 Milch, Erhard 667, 669 f.,
I>orenz 674, 797 Marcisz, Heinz 779 675, 677
Lorenz, L. H. 730 Marco 552 Milik, Karol 719,722
Lorimer, Franc 385 Marinesko, A. J. 641 f. Miller, Glenn 192, 510
Lossow, Otto von von 80 Markoviteh, Louis 509 Millerand, Alexandre 21
Ix>uis Philippe 32 Marsalek, Hans 520 Minasjan, Ricos 335
Louis-Napoleon 31 Marschall, George C. 420 Minskoff 673
]jöw, Konrad 555 Martino, Gaetano 656 Miramon 40
Lübbe, Marinus van der 486 Marx, Hermann 756 Mischke, Roland 194 f.
Lübbers, Gert C. 338 Marx, Karl 33, 44, 88, 771, Mitterrand, François 402, 553
Lübke, Heinrich 767-770, 788 Möcklinghoff, Egbert 549,
776, 802 Maschke, Erich 753 f. 551
Lüdde-Neurath, Walter 847 Maser, Werner 287 Moczar 46
Ludwig XIV. 709 Mason, Kurt 523 Model, Walter 466
Ludwig I. von Bayern 40 Mason-MacFarlane 455 Möhler, Armin 776
Ludwig III. 136 Mastny, Vojtech 850 Mohnhaupt, Brigitte 782
Luft, Stefan 879 Matthes, Eberhard 612 Mölders, Werner 192
Lüfd, Walter 566 Mauermayer, Gisela 58 Mollet, François 593
Lukasiewiez, Julius 27 Maurice (General) 93,114 Molotow, Wjatscheslaw 244,
Lunarcharski 89 Maximilian I. von Mexiko 40 247 ff., 287 f., 306, 308,
Lusdger, Arno 375, 403,405 Maximilian von Österreich 40 320, 411, 852
Luther, Marün 39, 735, 489 May, Georg 209 f. Moltke, Hellmuth James Graf
Lutz, Joseph Maria 801 f. May, Karl 844 von 467,476
Lutze, Viktor 170 Momme, Ernst 272
Luxemburg, Rosa 88, 115 f. Mayer, Arno J. 342, 344-347,
350,356, 359, 364-367 Monami 594
Mayer, Reinhold 714 Monami, Lucien 593
M Money, John 891 ff.
Mayer, Rupert 210
Maass, Ulrich 586 Meciar, Vladimir 807 Mon se 719
MacClure 727 Meinhof, Ulrike 769 Montgelas, Maximilian 24
Mackensen, August von 113 Meisner, Joachim 205 Montgomerv, Bernhard
Mackenzie 35 f. Mejla 40 442 f., 464

918
Morel, E. D. 24 Nassedkin 649 Otto I. von Brandenburg 740
Moreth, Peter 884 Nathan, Josef Martin 719 Otto I. von Griechenland 40
Mergenthau, Henrv 81,447, Naumann, Andreas 323, 340 Otto von Bamberg 740
727,742 f., 773 Necas, Jaromir 808 Otto von Bayern 40
Morgenthau, Henry sen. 81 Nehm, Kay 836
P
Morhardt, Mathias 24 Neidtholt 112
Morison, Samuel E. 280 Nerdinger, Winfried 216 Paech,Joseph 589
Morley (Lord) 24 Neubauer, Franz 404 Paget, Reginald 342
Moro, Aldo 656 Neubauer, Harald 807 Pähl, Gisa 871, 874
Morrison 506 Neuhäusler, Johann 497 f. Palacky, Frantisek 48
Morrison, Herbert 698 Neumann, Alfred 490 Paléologue, Maurice 103
Morrison, Jack G. 506 f. Neumann, Ernst 241 Pannwitz, Helmut von 381
Morsey, Rudolf 767, 770 Newton, Basil 850 Papen, Franz von 151, 157,
Moskovitz, Reuven 822 Ney, Michel 100 382, 680
Mosor, Stefan 630 Nicoll, Peter 452 Parker, Cläre (= Klara
Mozart, Wolfgang Amadeus Nikolai Nikolajewitsch 105 Hochhauser) 545
193 Nikolaus (Zar) 70 Pascha, Enver 78
Muehl, Otto 784 f. Nikolaus II. 52 Pascha, Talaat 82
Mulka 538 Nitsch, Hermann 786 Patch 401
Müller, Franz Hermann 181 Nitti, Francesco 23 Päts, K. 252
Müller, Heinrich 465, 508 Nizer, Louis 555,773 Patton, George S. 408, 634,
Müller, Richard 120 Noel, I>eon 248 657, 747
Müller, Siegfried 578, 579 Noiret, R. 732 Paulus, Erwin 578
Müller-Mehlis, Reinhard 786 Nolte, Ernst 18,477 Pauwels, Louis 144,218,220,
Münch, Ebbe 271,273 Nordau, Max 205 f. 224
Münch, Peter 271,273 Norden, Albert 767, 772 Pavlenko, Nikolaj 320
Münchmeyer, Alwin 885 Nordling 393 Pavlov, Dmitrij 320
Münzenberg, Willi 116 Normand 93 Peiper, Jochen 272 f.
Musial, Bogdan 342 f f , 348, Nussbaum 805 Pelz!, Emilie 854
356, 358-363, 365, 368 f., Peres, Shimon 830
647 O Per?., Bertrand 519
Musolesi, Bruna 653 Oberhauser,Jopef Kaspar 548 Peschka, Georg 623
Musolesi, Bruno 652 Oberländer, Theodor 361,775 Pestel, Eduard 781
Müsse 246 f. Ochsmann, Heinz 15 Pétain, Philippe 275 f., 392
Mussolini, Benito 131, 175, Ochsner, Michael 801 Petermann, Heiko 410, 412,
182, 217, 267, 419, 676 Offenbach, Jacques 509 422
Mutschmann,Marrin 844 Ogrodowczyk, Mieczyslaw 368 Peters, Carl 37
Mutter, Anne-Sophie 785 Ohnesorge,Wilhelm* 418 Peters, Ludwig 691
Olbricht, Friedrich 451,473 Petersen 642
N Olesen, A. 272 Petrenko, W. 362
Nadolny 131 Olmert, Ehud 822 Petrich, Erwin 194
Nagel, Anne Christine 771 f, Olt, Reinhard 626 Petrow, B. 321
Naggiar, Paul-Emil 243 Oppenheimer, Franz 821 Picard, Emile 123
Nannen, Henri 737,769 f. Orlet, Rainer 782 Picasso, Pablo 225 f.
Napoleon I. 31 f., 48,217,850 Orwell, George 846, 895 Picot, François Georges 84
Napoleon II. 31,40 Ossendowski, Ferdinand 223 Piekalkiewicz 604, 611
Napoleon III. 31, 40, 679 Oster, Hans 455, 487 Pieler, Roland 779

919
Pietri, Régine 659 R 467, 484, 680, 878
Pilsudski, Josef 31, 48 f., 247 Richter, Hans Werner 728
Pimentai, Edward 779 Raab 44
Richter, Margarete 580
Piontek, Ferdinand 717-721 Rabenalt, Arthur Maria 195
Richthofen, Bolko Freiherr von
Pirow, Oswald 27 Raczynski, Edward 238
Raddatz, Fritz J. 769 50
Pisar, Samuel 503 Ridder 117
Pius XII. 721 Radek, Karl 89,116
Radhakrischnan, Sarvepalli 206 Riefenstahl, Leni 769
Plane, von (Fregattenkapitän) Riegelmann, Hans 158
Raeder, Erich 232 f.
640 Riess, Curt 195
Rafael, Gideon 837
Pleyber.Jean 402 Rijkoort,Jan 593
Rakosi Maytyas 627 f.
Poinearé, Raymond 20 ff., Rittermann, Hans 409
Ramsay, William 122
25, 51, 54, 104 Ranke, I^eopold von 96 Rittlinger, Herbert 141
Pollock, James K. 713 Rasch, Otto 370 Ritzinger, Alexander 517
Ponto, Jürgen 779 Rath, Ernst vom 165 Rivollet 32
Popitz, Johannes 478 Rat de, Simon 508 Robbe, Reinhold 819
Popp-Madsen, Carl 273 Ratzinger, Joseph 207 Roberts 676
Portal, Charles 608, 610 Rau,Johannes 650 Robespierre, Maximilien de 402
Porter, Cole 510 Rauschning, Hermann 217,260 Robinson, Donald 400
Possony, S. T. 456 Ravenscroft, Trevor 142, 144, Roenne, Alexis von 461
Post, Walter 27, 286, 290, 218 Röhl, Klaus Rainer 769
333,336, 343, 349 Rohwedder, Detlev Karsten
Potocki, Jerzy 25 Rector, Frank 526
780, 884 f.
Pourtalès, Albert Graf von 19, Reder, Walter 380, 650, 652-
Rohwer, Jürgen 382 f., 435 f.
52 656
Rökk, Marika 191
Reemtsma, Jan Philipp 59,
Pouty, Thomas 399 Rol-Tanguy, Henri 394, 396
183, 331,343, 348, 360
Pres sac, Jean-Claude 551 Roland, Jean (= Ives Dariet)
Reemtsma, Philipp Fürchtegott
Preuss, Erich 496 509
182
Preysing, Konrad Graf von 216 Roman, Martin 512
Pnebke, Erich 782 Reichenau, Walter von 327
Romersa, Luigi 419
Prijomschew 647 Reichert, Friedrich 613
Rommel, Erwin 459 ff., 463 ff.
Prim 40 Reiff, Karl 352, 354 f.
Rommel, Manfred 466
Reile, Oskar 378
Probst, Ignaz 207 Ronge, Max 231
ReillyJohnJ. 99
Praetor, Robert N. 181,183 f. Roosevelt, Franklin Delano
Reimer, Brian 891
Prokop 796 24 f., 28, 182, 243, 247 f.,
Reimer, Bruce 891
Prondzvnski (poln, Domherr) 277 f., 280, 439 f., 443,
Reinbothe, Roswitha 122,124
50 447, 487, 609, 701 f., 742 ff,
Reinhard, Severin 156
Proske, Rüdiger 343 761, 848, 852, 878
Reinhardt, Django 512
Pruys, Karl Hugo 881 Roosevelt Theodore 19
Reinhardt, Klaus 556
Pukajew 306 Roques, Karl von 328 f.
Reidinger, Gerald 548, 758
Pu nke tt- E rne- Erl e- D rax, Rosenberg, Alfred 137,
Reitsch, Hanna 793
Reginald 244 Renoldner, Alois 521 f. 170, 476
Puxon, Grattan 531 Renthe-Fink, von 274 Rossini, Giachino 509
Reuter, Ernst 787 Rossmann, Pierre 658
Q Rothschild, Edmond de 887
Rhode, Arthur 588
Quirnheim, Albrecht Ritter Ribbentrop, Joachim von Rothschild, Evelyn de 887
Merz von 473 241 f., 249, 271, 445, 455, Rothschild, James 85
Rousso, Henry 399 f.

920
Rückerl, Adalbert 499 Schemmel, Herbert 501 520
Rüddenklau, Harald 882 Schenckendorff, Max von Schönborn, Erwin 574
Rudenko, Sergei Ignatsche- 327 f. Schopenhauer, Arthur 18,
witsch 677 Schicke!, Alfred 27, 530, 543, 140, 798
Rüdigerjutta 177 663-666. Schorner, Ferdinand 378 f.,
Rudkowski, Adam 553 Schilhawskv, Sigismund 231 684-687
Rudolf, Germar 17, 571, 573 Schiller, Friedrich von 206,786 Schreiber, Werner 889
Rüge 44 Schilling, Freiherr von 19 Schröder, Gerhard 659, 836
Rüge, Admiral 463 Schindler, Oskar 854-858, 860 Schröder, Gerhard (Innen-
Rühmann, Heinz 195 Schlnk, Bartholomäus 581, minister) 686 f., 758
Rundstedt, Gerd von 297, 582 Schröder, Karl 657
328, 463 f. Schirach, Baidur von 175—178 Schtscherbatschew 102
Rupertsberger, Franz 521 Schirmann, Leon 53, 56 Schubert, Erwin 623
Russe-Tavernan, Mara 656 Schirmer, Gerhart 499 Schubert, Franz 508
Rüssel of Liverpool 498 Schlabrendorff, Fabian von 455 Schukow, Gcorgi K. 289, 298,
Rust, Bernhard 418 Schlegel, Friedrich 205 303 f., 306, 308 ff., 317 f.,
Rüthers Bernd 16 Schleicher,Julius 680 321,836
Rydz-Smigly, Edward 247 f. Schleyer, Hanns Martin 779 Schuller, Konrad 437
Schmick, Heinz 17 Schult, H. A. 786
S Schultz, Hans Joachim 486
Schmidt 741
Sachse 115 Schmidt, Christian 820 Schumacher, Kurt 790
Salisbury 37 Schmidt, Ewald 730 Schumann, Coco 511
Salmuth, Hans von 327 Schmidt, Helmut 879 Schumann, Erich 422 f.
Samuel, Herbert 85 Schmidt, Karl 836 Schuschnigg, Kurt von 231
Sander (Oberst 349 Schmidt, Rainer F 158 Schuster, Otto 500
Sanders 72—75 Schmidt-Leichner 671 Schustereit, Hartmut 267 ff.
Sandgruber, Roman 545 Schmidt-Neuhaus, Dieter 344, Schwalm 674
Sargent, Orme 259 350 Schwarz, Heinz 623
Sartre, Jean-Paul 778 Schmied, Robert 429 Schwarz, Manfred 659
Sasonow, Sergei 25, 104 f. Schmitt, Carl 141, 771 Schwarz, Wolfgang 581
Satder, Otto 511 Schmitz, Sybille 194 Schwarzer, Alice 893
Sauckel, Fritz 694 Schmude, Jürgen 755 Schwee rs 549
Saundby, Robert 616,621 Schneider, Klaus 175 ff. Schweling, Otto Peter 403
Scavenius, Erik 270 Schoeps, Hans-Joachim 821 Schwendemann, Heinrich 849
Schachleitner, Alban 210, 211 Schoeps, Julius H. 821 Schwenk, Friedrich 623
Schacht, Hjalmar 149, 157,453 Scholder 212 Schwerin von Krosigk (Gräfin)
Schäfer, F.rnst 221-224, Scholl, Hans 490 . 680
Schäfer, Kirstin A. 234 f. Scholl, Heinz. 156 Schwerin von Krosigk, Lutz
Schäfer, Paul 826 Scholl, Inge 491 Graf von 680
Schaumburg-lippe, Christian Scholl, Marianne 490 Schwertfeger, Bernhard 63
Prinz zu 169 Scholl, Robert 485, 490 f. Schwinge, Erich 403-406,
Scheel, Walter 721,749 Scholl, Sophie 490 439, 834 f.
Scheidemann, Philipp 119 f. Schölten 786 Schworm, Ermunde 659
Scheidt 428 Scholz, Franz. 716,720 f. Scotland 692
Scheü, Stefan 27,47, 50, Schön (Botschafter) 19 Seaton, Albert 319
281, 286, 337 ff, 360 f. Schön, Heinz 570, 642 f., 646 Seb ottendorff, Rudolf von
Schemm, Hans 844 Schönborn, Christoph Kardinal 135 f., 139 ff.

921
Seebohm; Hans Christoph Sparre 687 Stoecker, Sally W. 319
728, 775 f. Speck, Waldemar 499 Strang, William 243 f., 259
Seeckt, Heinrich von 149 Speer, Albert 419, 426, 669, Strassmann, Fritz 416
Seeds, William 243,245,247 850 f. Strauss 830, 882
Sehested, Jörgen 272 Speidel, Hans 459, 461, Strauß, Franz Josef 686, 764,
Seibert, Willi 239 463-466 770, 802,828,830,882
Seibt, Siegfried 611 Spellman, Francis Joseph Strauß, Johann 509
Seid!, Alfred 672 f., 878 Kardinal 440 Strauss, Wolfgang 281
Seidler, Franz W, 493 Spengler, Pierre 659 Streccius 113
Seiler, Heinrich 541 Spielberg, Steven 854, 857, Streim, Alfred 350
Seidte, Franz 155 859 f. Stresemann, Gustav 776
Seil, Friedrich Wilhelm Freiherr Spranger, Karl-Dietrich 770 Strieder, Christian 153
von 840 Stahlecker 187 Strizak, A. I. 436
Semprün, Jorge 507 Stalin, Josef 91, 128, 182, Ströhm, Carl Gustav 439
Serant, Paul 397 f. 230, 243, 247 f., 253, 259, Strölin, Karl 459 f., 464
Sereny, Gitta 553, 571 263 f., 281, 283 ff., 287 ff., Strünkmann, Karl 217
Serrano, Rosita 191 291 - 2 9 5 , 298, 3 0 2 - Stuby, Gerhard 876
Seubert, Josef 558 f. 306, 308-322, 334, 340 f., Stülpnagel, Otto von 67, 461 f.,
Seuffert, Walter 498 343, 375 f., 380, 384 f., 465
Severen, Joris van 592 f. 389, 411, 437, 440, 442 f., Süllwold, Fritz 196,198,200
Severing, Carl 150 f. 685, 701, 738, 849, 852, Sünder mann, Helmut 762
Seyß-Inquart, Arthur 113 876 Suppe, Franz von 508 f,
Sforza, Carlo 50 Stamp fer,Friedrich 121 Süssmuth, Rita 375
Shaw, Artie 510 Staufer, Paul 261 Sutton, Anthony C. 157
Sherman, Martin 525 Stauffenberg, Claus von 451, Suworow, Viktor 28, 281,
Sieben pfeiffer 875 459,465, 468, 471 ff., 478, 283 f., 286, 295 f., 305,
Siegle, Eberhard 578 480, 490 307 f., 311, 314-319
Siemers (Anwalt) 671 Stauning, Thorwald 273 Swerdlow, Jakow M. 127
Sierwald, Heinrich 541 Steakley, Frank D. 526 Swierczewski, Karol 630
Siess 69 Stein brück, Hans 584 Sykes, Mark 84 f.
Signorelli 17 Steiner, Felix 466 Szente, Adalbert 231
Silesius, Angelus 140 Steiner, Je an-François 553
Simitsch, Bozin 21 Steinhardt, Lawrence 247 f. T
Simon, Max 652, 654 f. Steinigge, Albert 659 Theisen, Anneliese 635
Simonov, Konstantin 322 Steinke, K. K. 273 Tacitus 796
Simovic, Dusan 289 Steinmetz, Greg 431 Taft, William Howard 682
Sinowjew, Grigorij J. 89, 116 Stellaci 655 Taittinger, Pierre 393-396, 399
Sklarek, Leo 592 Sternen ko 322 Tansill, Charles 24,28
Skorzeny, Otto 175,451,762 Stentzel, Oscar 497 Täufer, Johannes 145
Smend, Günther 483 Sterchi,. Beat 484 Taylor, F. J. 456
Smirnow 547 Stern, Itzhak 856 Tehlerian 82
Smith, Arthur 441 Stevenson, William 431
Söderbaum, Kr istin a 172 Teilhard de Chardin, Pierre 18
Stieff, Helmuth 482 Teisen, C. 273
Soentgen 582 Stieve, Friedrich 24
Sokolow, Nahum 85 Teitgen, Pierre-Henri 397,402
Sdnnet, Robert 27 Thadden, Eberhard von 671
Soll mann 674 Stock, Gerard 58
Spahn, Antoinette 659 Thälmann, Ernst 162
Stoding 274 Thatcher, Margaret 95,615

922
Theisen, Werner 635 Unrein 498 Wams, Gaby 594
Thiele, Fritz 483 Urbsys,Juozas 241, 242 Waslawski, Ferdinand 623
Thierack, Otto Georg 470 f., Wassilewski, Alexander M.
476, 485 V 298, 303 f., 310,315
Thiers, Adolphe 33 Valin, M arda 247 Wätutin, Nicolai Fjedorowitsch
Thomas, Georg 267 Vansittart, Robert 259, 455 304
Thumm, Gustav Adolf 225 Vater, Karl-Heinz 556 Webster, N. 89
Tiedemann 326 f. Venohr, Wolfgang 725 Weckert, Ingrid 170
Tilemans 63 Verden,John 510 Wedemeyer, Albert Coady 448,
Timoschenko, Semjon K, 298, Victoria von England 35,95 701 f.
303 f., 306 ff, 310, 318, 321 Vidal, Gore 526 Wegerer, Alfred 24
Tinio 380 Vidal-Naquet, Pierre 553 Wegner, Louise 117
Tinsley 117 Viermetz. 674 Wehner, Herbert 787
Tirpitz, Alfred von 19, 42 f. Virchow, Rudolf 36 Wehr, Fridhelm 659
Tiso, Joseph 806 Visser t'Hooft, Adolf 487,761 Weichs, Maximilian Freiherr
Tito,Josip (J. Broz) 31, 381, Viviani, René 54 von 461
624, 702, 754 Vlaemynck, Carlos 593 Weidauer, Walter 608,610
Tixier, Adrien 398,400 Vogel, Bernhard 635 Weidlich, Herbert 510
Tobias, Fritz 233 f. Vogel, Erich 512 Weinkauff, Hermann 449, 493
Tobidsek,Jaroslav 510 Voigt, Udo 832 Weinstein, Adalbert 352
Tobler 35 Volkogonow, Dimitrij 281,303 Weiss 151
Todenhöfer, Jürgen 882 Vollrath, Paul 641 Weiss, Bedoich 512
Todt, Fritz 850 Volmer, Walter 584 Weizmann, Chaim 85 f.
Tolstoj, Lew N. 335 Vorländer, Herwart 560 Weizsäcker, Carl-Fried rieh
Tönnies, Sybille 15 Vuillenot 66 413 f.
Toulken 381 Weizsäcker, Ernst von 450,
W
Traot, Roland 659 455 f.
Trefger, Henri 659 Wachs, Christian 361 Weizsäcker, Richard von 703,
Tresckow, Henning von 481 Wächsmut, Heinz 409 f. 847, 852, 858, 867, 872, 875
Trevor-Roper, Hugh 794 Wad, Aage 270 Weller 640
Triebel, Hans 803 Wagner, Eduard 231,459, 461 Wellers, Georges 553
Trinks, Walter 422 f. Wagner, Richard 193, 508 Wels, Otto 154
Tripps, Walther 58 Wahl 673 Wenzky 593
Trotzki, Leo 88 f. Walendy, Udo 170 Werner, Cläre 409, 410
Truman, Harry 437 f., 440, Walesa, Lech 811 f. Wessely 791
713 f., 743 f.' Wallace, Edgar 219 Wette, Wolfram 190, 403
Tschit scherin, Georgij 89 Waller, Fats 510 White, Harry Dexter 742
Tugenhat, Ernst 821 Wallmann, Walter 780 Wiegand, Alfred 642
Tumm, Didev 270 Wallraff, Günter 584 Wiesel, Elie 373, 860
Tundutow 105 Walser, Martin 542 Wiesner, Otto 738
Tüngel, Richard 730 f. Walter, Bernd 586 Wietersheim, von 349
Walterjimmy 901 Wild, Max 522
U Wanda, Erwin 522 Wildermuth 225
Uhle-Wetter, Franz 59 Warburg, James Paul 157 f. Wilhelm I. 35, 36, 100, 633-
Ulbricht, Walter 772 Warburg, Sidney P. 156 f. 636
Ulmer, Helmut 779 Warlimont, Walter 297 Wilhelm I. von Albanien 41
Ungväry, Kriszdän 342 ff. Warnecke, Rudolf 607 Wilhelm II. 19, 20, 52, 100,

923
102, 104 f , 109, 125, 389 Witzleben, Wilhelm Georg Z
Wilhelm HI. von Nassau-Ora- Erdmann Erwin von 468
Zahn (Korvettenkapitän) 640
nien 41 Witzsch, Hans-Jürgen 495
Zarnow, Gottfried 120
Wilhelm IV. von Hannover 41 Wlassow, Andrej 376, 378 ff.
Zastrow, Volker 573, 891
Wilhelm von Dänemark (Georg Wolf, Helmut 548
Zawinul,Joe 508
I.) 40 Wolffsohn, Michael 495, 759,
Zayas, Alfred de 27, 404, 594
Wilhelmina von Holland 111 830
Zehner, Wilhelm 231
Wiligut, Karl Maria 222 Wolfram, Herwig 797 Zeitzler, Kurt 483
Wükomirski, Binjamin 552 Wolkogonow, Dimitri 28 Ziereis, Franz 508
Williams, Tom 695 Wolski, Marek 374 Zimmermann, Ernst 779, 885
Willich 44 Wolters, Reinhard 797 f. Zimmermann, Michael 531
Willms, Johannes 60 Wood, Robert E. 444 Zitzewitz, von 112
Wilson, Woodrow 22, 85 Woroschilow, Kliment 245 f, Zschok 510
Winghene, van 83 249, 627 Zülch, Tilman 529 f,
Winkler (Generalmajor) 360 Wüllner, Fritz 403-406 Zündel, Ernst 16, 571, 573,
Winlder, Max 330 Wurm, Theophil 673 778
Winter, Paul 593 Wurster, Georg 779
Wise, Stephen 574 Wyszynski, Stephan 721,723 Zunes, Stephen 833
Witdg (Geheimrat) 117 Zwenger, Max 758
Zypries, Brigitte 571

924

Das könnte Ihnen auch gefallen