Lackinger 2016 - Psychodynamische Diagnostik Antisozialer Störungen
Lackinger 2016 - Psychodynamische Diagnostik Antisozialer Störungen
antisozialer Störungen
Fritz Lackinger
17.1 Einleitung
Es gehört nach wie vor zu den wissenschaftlich ungelösten Fragen, wie diagnostische
Beurteilung und therapeutische Indikationsstellung für Menschen mit psychischen Störungen
in einen relevanten und abgesicherten Zusammenhang zu bringen sind. Dies gilt besonders für
die forensisch-psychotherapeutische Diagnostik und die forensische Psychotherapie. Obwohl
es natürlich nicht die Aufgabe dieses Beitrages sein kann, dieses Problem einer Lösung
näherzubringen, so soll das Thema doch unter dem Gesichtspunkt diskutiert und systematisiert
werden, wie diagnostische Feststellungen die therapeutische Beeinflussung und Besserung der
zugrunde liegenden psychischen Störungen vorbereiten und unterstützen können.
Einigkeit herrscht im Allgemeinen darüber, dass die deskriptiv-phänomenologische Diagnostik
(im Sinne des ICD-10 oder des DSM-5, bis vor Kurzem des DSM-IV-TR) keine relevanten
Hinweise auf die Art der indizierten therapeutischen Behandlung gibt. Theoriefreie
Kategorisierungen, die ohne Modell über die inneren Prozesse und Mechanismen, die der
psychopathologischen Phänomenologie zugrunde liegen, auszukommen versuchen, können
naturgemäß keine Basis für eine therapeutische Herangehensweise sein. Es ist wahrscheinlich
eine der Stärken von psychodynamischen Modellen, dass sie eben diesen Konnex zu wahren
oder herzustellen versuchen.
Das von der Alliance of Psychoanalytic Organizations in den USA 2006 erstmals
herausgegebene Psychodynamic Diagnostic Manual (PDM Task Force 2006) hat sicherlich dazu
beigetragen, dass im DSM-5 zumindest im Abschnitt Emerging Measures and Modells erstmals
verschiedene Levels of Personality Functioning unterschieden werden, deren Beeinträchtigung
als eine gemeinsame Ursache aller Persönlichkeitsstörungen betrachtet wird (APA 2014). Diese
neuen Levels of Personality Functioning haben einen klaren Bezug zu den im PDM entwickelten
Levels of Personality Organization, da für ihre Bestimmung ebenfalls auf die Qualität und
Komplexität von Selbst- und Objektwahrnehmung sowie auf die Fähigkeit zu intimen
Beziehungen abgestellt wird (vgl. Zimmermann, Benecke et al. 2013).
Die psychoanalytische Forschung versucht seit Längerem zu zeigen, dass eben diese
Unterscheidung von psychischen Funktions- oder (besser) Organisationsniveaus die wichtigste
Grundlage für indikatorische Entscheidungen im Bereich der Psychotherapie ist. Eine solche
Auffassung findet sich sowohl im Psychodynamic Diagnostic Manual (PDM Task Force 2006,
S. 26 f.) als auch in parallelen, deutschsprachigen Bemühungen wie dem Manual der
Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD-2), in dem (abhängig vom
festgestellten Strukturniveau) Indikationen zu eher konflikt- oder strukturbezogenen
Therapiemodalitäten gestellt werden (Arbeitskreis OPD 2014, Rudolf 2010).
Für die psychodynamisch orientierte forensische Psychotherapie ist ein Diagnose-basierter
Algorithmus für die Therapieindikation noch in weiter Ferne. Ich habe gemeinsam mit
deutschen Kollegen in früheren Publikationen versucht, klinische Erfahrungen für eine
Übertragung von psychoanalytischen Kriterien auf diesen Bereich zu verwenden (vgl.
Lackinger, Dammann u. Wittmann 2008), wobei sich gezeigt hat, dass
übertragungsfokussiertes Arbeiten für einen kleineren Teil von Straftätern indiziert ist, bei der
Mehrzahl der niedrig-strukturierten Täter jedoch stützende und mentalisierungsbasierte
Therapieformen (im Sinne einer ersten Therapiephase) vorzuziehen sind (Lackinger u.
Zimprichowa 2008).
1
17.2 Deskriptive psychopathologische
Hauptbereiche
Bei der Untersuchung von Rechtsbrechern können deliktrelevante psychopathologische
Störungen vor allem in drei fundamentalen Bereichen gefunden werden:
● Impulskontrollstörungen
● antisoziales Verhalten und Einstellungen
● sexuelle Deviationen
Doch können die charakteristischen Merkmale dieser Prototypen erst mit ausreichendem
Tiefgang beschrieben werden, wenn die deskriptiven Merkmale der Psychopathologie mit den
deskriptiven Merkmalen der begangenen Delikte und der darin zum Ausdruck kommenden
psychischen Struktur und Dynamik zusammengedacht werden.
17.3 Deliktanalyse
In der psychodynamischen forensischen Psychotherapie wurde die Untersuchung und
Fokussierung des Deliktes lange Zeit gegenüber der Bearbeitung von Beziehung und
Übertragung vernachlässigt.
Auch in den psychiatrischen Nosologien wurden zahlreiche forensisch relevante Merkmale
nicht berücksichtigt. Etwa ist die Diagnose der Pädophilie in der ICD-10 forensisch-diagnostisch
1
Auf die Problematik des Psychopathie-Begriffs im deutschsprachigen Raum wurde bereits in
Kapitel 15.4.1 (Fußnote 1) eingegangen. Er wird hier im Sinne der anglosächsischen Tradition
verwendet (v. a. im Sinne von Cleckley 1941, 1982; s. auch Kap. 16), die in den letzten
Jahrzehnten vor allem von Hare (1991, 2003) und Kernberg (1984, 2013) neue Impulse
erhalten hat (vgl. auch Meloy 1998, 2002).
2
ziemlich irrelevant, da keinerlei differenzialdiagnostische Merkmale aufgenommen wurden,
die gefährliche von harmlosen Pädophilen unterscheiden würden.
Diese Mängel wurden in den letzten Jahrzehnten dadurch auszugleichen versucht, dass
zahlreiche sogenannte forensische Tätertypologien aufgestellt wurden (Groth 1978; Groth u.
Birnbaum 1979; Knight u. Prentky 1990; Rehder 1996; Simkins, Ward et al. 1990; Wieczorek
1997). Diese Tätertypologien ordnen Merkmale der äußeren Tatumstände, Eigenschaften der
Opfer und Informationen über die sexuelle Orientierung der Täter zu statistisch relevanten
Clustern.
Solche Typenbildungen sind für die Rückfallprognose sehr wichtig, sie sind aber auch
therapeutisch relevant, obwohl sie zunächst keine Aussagen über die innere,
psychodynamische Situation der Täter beinhalten. Es ist Aufgabe der psychodynamischen
Diagnostik, solche Zusammenhänge herzustellen.
Das Verhältnis dieser beiden Ebenen zueinander ist komplex und wurde z. B. auch in der OPD-2
noch nicht gelöst. Dort erscheinen die Konfliktachse und die Strukturachse als konzeptuell
voneinander getrennt, auch wenn eine gewisse strukturelle Integration erforderlich ist, um die
Konfliktachse überhaupt raten zu können. Kernberg (1975, 2009) ist der Meinung, dass sich
Triebkonflikte in einem diagnostischen Erstinterview schwer erheben lassen und für die
grundlegende Diagnose tatsächlich die inneren Strukturen das Wesentliche sind. Man kann
sagen, dass psychische Strukturen selbst aus den frühen Triebkonflikten hervorgehen und vor
allem auf Borderline-Niveau nichts anderes als chronifizierte Triebkonflikte sind. Reifere
Strukturen reflektieren die Bewältigung von frühen Konflikten und können so gewissermaßen
die Bühne abgeben, auf der sich spätere Triebkonflikte aktualisieren.
Der Begriff der psychischen Struktur kann hier ebenfalls nicht ausgeleuchtet werden. Ich
schlage die Fokussierung auf fünf zentrale Fragenkomplexe vor und weise auf einige der für die
forensisch-psychodynamische Diagnostik jeweils relevantesten Aspekte gesondert hin:
● Realitätsprüfung: Kann grundlegend und belastungsstabil zwischen innerer und äußerer
Realität (die auch die soziale Realität einschließt) unterschieden werden? Wenn nicht:
Handelt es sich um eine belastungsabhängige, vorübergehende Psychose, um eine
chronische Schizophrenie oder um eine affektive Störung?
○ Stehen antisoziale Handlungen mit dem Verlust der Realitätsprüfung im
Zusammenhang? Wie destruktiv sind die Inhalte eines Wahns?
○ Wurde der Verlust der Realitätsprüfung evtl. absichtlich mittels Drogen hergestellt?
○ In welchem Ausmaß setzt der Wahn die Funktionalität des Über-Ich außer Kraft?
● Identität und Objektbeziehungen: Wie reif und integriert sind die grundlegenden Selbst-
und Objektvorstellungen? Können positive und negative Aspekte zusammengebracht
werden? Wie stabil und mit welcher Qualität erfolgt die Differenzierung der Selbst- von
den wichtigsten Objektvorstellungen? Welches Niveau erreicht die Mentalisierung der
Affekte (vgl. Fonagy, Target et al. 1998)?
3
○ Inwieweit ist die Wahrnehmung und Mentalisierung von Affekten im Kontext des
Deliktes eingeschränkt?
○ Finden sich Hinweise, dass Deliktopfer mit abgespaltenen Selbstaspekten ausgestattet
wurden (Selbstvertauschungsagieren, projektive Identifizierung)?
○ Inwieweit dienen Delikte der Aneignung von psychischen Anteilen des Opfers
(extraktive Introjektion; vgl. Bollas 1987, 2014)?
● Narzissmus und Über-Ich-Regulation: Funktioniert die Selbstwertregulation auf der Basis
infantiler oder reifer Werte? Verdeckt ein pathologisches Größenselbst den Mangel an
integrierten Selbstvorstellungen? Wenn ja: In welchem Ausmaß absorbiert das grandiose
Selbst die Inhalte des Ich-Ideals und mit welchem Intensitätsgrad erfolgen die
Projektionen unerträglicher Selbst- und Über-Ich-Anteile?
○ Dient das Delikt im Wesentlichen der Stabilisierung eines Selbstwertgefühls, das auf
infantilen Werten beruht?
○ Dient das Delikt der Stabilisierung eines pathologischen Größenselbst? Dient es etwa
der Befriedigung narzisstischer Machtansprüche?
○ Werden bedenkenlos sadistische Beziehungsvorstellungen ausagiert, die Teil einer
grandiosen Selbstinszenierung sind?
● Affektregulation und Aggression: Wie integriert sind die Affekte und wie funktional ist
deren Regulation? Gibt es abgespaltene aggressive Beziehungsvorstellungen? In welchem
Ausmaß werden diese ausagiert und inwieweit sind sie Teil des pathologischen
Größenselbst? Wird destruktive Aggression Ich-synton toleriert oder gar idealisiert?
○ Kommt es zu impulsiven delinquenten Handlungen im Zusammenhang mit einer
entgleisenden Affektregulation?
○ Geht es vorrangig um situativ ausgelöste, impulsive Wut oder stehen chronische, von
Hassgefühlen beherrschte Beziehungsvorstellungen dahinter?
○ Sind die Wut- und Hassgefühle konflikthaft oder werden sie aus einer Haltung des
Anspruchs und der Legitimität erlebt und agiert?
● Sexualität: Inwieweit ist sexuelle Befriedigung im Rahmen einer intimen, den Partner
respektierenden Beziehung möglich? Wird der Partner als Objekt (Fetisch) verwendet, um
die eigene Identität zu stabilisieren? Wird Sexualität zur Demütigung oder Schädigung
anderer verwendet?
○ Bei Eigentums- oder Gewaltdelikten: Stehen die Delikte in einem sexuellen Kontext
oder könnten sie unbewusst eine sexuelle Funktion haben?
○ Bei einem Sexualdelikt: Impliziert die agierte sexuelle Aggression eine momentane
Bloßstellung oder Verunsicherung des Opfers oder eine längerfristige psychische
(oder auch physische) Schädigung?
○ Repräsentiert das Delikt im Wesentlichen ein Ausagieren einer paraphilen Fantasie
oder resultiert es vor allem aus affektivem Kontrollverlust oder aus narzisstischem
Machtanspruch?
4
17.5 Prototypen und deren Merkmale
Die in Abschnitt 17.2 genannten Prototypen von delinquenten Patienten – Borderline-
Delinquente, „Psychopathische Täter“, „Perverse Täter“ – können nun näher psychodynamisch
und deliktfokussiert beschrieben werden. Für jeden Prototyp werden zehn charakteristische
Merkmale benannt, deren Operationalisierung hier offen bleiben muss, die jedoch in
verschiedenen diagnostischen Instrumenten bereits teilweise enthalten ist und für den
gegenständlichen Zweck einer psychodynamischen Diagnostik von antisozialen Störungen
lediglich adaptiert und systematisiert werden müsste. Die relevantesten Instrumente werden
in Abschnitt 17.7 vorgestellt.
1 Identitätsdiffusion
3 Impulsivität
5 Schwächen in der Mentalisierung (typischerweise ein RSFS-Score zwischen 1,0 und 3,0)1
5
17.5.2 „Psychopathische Täter“
Charakteristisch für „psychopathische Täter“ ist, dass die Diffusion der Identität vor allem im
Bereich des Selbstbildes durch eine narzisstische Scheinintegration überdeckt ist und daher
diagnostisch oft übersehen wird. Ein pathologisches Größenselbst hat alle positiven
Selbstaspekte mit den positiven Aspekten von Partialobjekten und den wichtigsten Inhalten
des Ich-Ideals an sich gezogen und in sich verdichtet. Die negativen Aspekte sowohl des Selbst
als auch der wichtigen Anderen werden zusammen mit den verbietenden und verfolgenden
Schichten des Über-Ichs abgespalten und typischerweise in irgendeiner Form in die Außenwelt
projiziert (Tab. 17-2). „Psychopathischen Tätern“ ist es oft möglich, andere Menschen, auch
Psychologen und Psychotherapeuten, zu täuschen. Ihre Delikte sind häufig eher geplant als
impulsiv. Das Ausmaß der Gewalttätigkeit, die vom pathologischen Größenselbst toleriert oder
sogar beabsichtigt wird, schwankt je nach Schweregrad (s. Subachse 4.2, Abschn. 17.6.4).
6
17.5.3 „Perverse Täter“
Auch der Begriff „Perverse Täter“ wird in Anführungszeichen gesetzt, um auf dessen potenziell
stigmatisierende Problematik hinzuweisen. Andererseits impliziert der Begriff eine tiefere,
psychostrukturelle Dimension als die rein deskriptiven Begriffe Paraphilie und Störung der
Sexualpräferenz. Die hier angesprochene Strukturdimension bezieht sich auf die
Funktionalisierung der Sexualität (s. Kap. 30) für die Zwecke der Identitätsstabilisierung und
der Aggressionskanalisierung (Tab. 17-3). Perversion bedeutet auf der einen Seite Abwehr von
Intimität (aus Angst vor der Nähe zum verschlingend fantasierten Objekt) und andererseits
zugleich Bindung und Bündelung von destruktiver Aggression in einer perversen
Pseudobeziehung. Das Ausmaß der kanalisierten Aggression bildet die Basis der in der
Subachse 4.3 (s. Abschn. 17.6.4) abgebildeten Schweregrade. Das Versagen des
„perversen“ Bewältigungsversuches kann in extremen Fällen zum Sexualmord führen.
Tab. 17-3 Merkmale von Tätern, die ihre hochgradig sexualisierte Innenwelt ausagieren
(„Perverse Täter“)
5 sexualisiertes Agieren ohne Einbezug von anderen, Ausmaß der Selbstgefährdung und
Selbstschädigung
10 progrediente Verlaufsform
17.6 Achsenmodell
Außer einem psychodynamischen Interview müssen weitere Informationen zum Delikt, zur
Deliktgeschichte, zur gegenwärtigen Einstellung zum Delikt, zu den sozialen Lebensumständen
und anderen Behandlungsvoraussetzungen erhoben werden. Darüber hinaus müssen für eine
Gesamtbeurteilung der Person und die Behandlungsaussichten auch Informationen aus Straf-
und Gerichtsakten berücksichtigt werden, für deren Einsichtnahme der Interviewer zuerst die
Einwilligung des Betroffenen einholen muss. Für die Auswertung dieser Daten muss die
psychodynamische Diagnostik versuchen, die konzeptuellen Überlegungen weiter zu
systematisieren und zu formalisieren. Die Informationen können dann für das Rating von
Kriterien verwendet werden, die nachfolgend in sechs Achsen organisiert sind.
7
17.6.1 Achse 1: Krankheitserleben und
Behandlungsvoraussetzungen (Basismodul)
Der Einstieg in das hier vorgeschlagene Achsenmodell erfolgt mit dem Basismodul in der Achse
1 der OPD-2 (einschließlich des sog. Psychotherapiemoduls). Wie bei allen anderen Patienten
muss geklärt werden, wie schwer zzt. eine etwaige psychische Störung ausgeprägt ist, seit
wann sie existiert, wie der Patient seine Störung erlebt und darstellt, was er verändern möchte
und welches förderliche und hinderliche Faktoren sind.
Die Dimensionen der Achse 1 (Tab. 17-4) sind bereits in der OPD-2 in jeweils mehrere Items
aufgegliedert, die 5-stufig gerated werden können (von „nicht/kaum“ bis „sehr hoch“).
6 Veränderungsressourcen
7 Veränderungshemmnisse
8
Tab. 17-5 Dimensionen der Achse 2: Forensisches Basismodul
10 soziale Kompetenz
1 Art und Fokussierung des Delikts (ergebnisfokussiert vs. prozessfokussiert; Einzeltat oder
Serientat)
3 dominantes Gefühl im Kontext des Deliktes: Wut, Rache, Machtgefühl, sexuelle Lust
8 Sadismuszeichen (z. B. nach ASISAM; Schilling, Ross et al. 2010), wie Entführung,
Einsperren, Demütigung, Folterung, Ritualisierung
9 bei Kindesmissbrauch und Vergewaltigung: Einstufung nach der Tätertypologie von Knigh
und Prentky (1990)
9
Tab. 17-6 Dimensionen der Achse 3: Deliktanalyse
10 bei Kindesmissbrauch und Vergewaltigung: Einstufung nach der Tätertypologie von Groth
(1978) und Groth und Birnbaum (1979)
Für diese Dimensionen wird das Ausmaß von Integration bzw. Desintegration bewertet, sodass
in der Gesamtbewertung eine umfassende Einschätzung des Integrationsniveaus des
Untersuchten erfolgen kann. Das Problem dabei ist, dass in dieser Achsenkonzeption eine
Verdichtung von echter Integration und narzisstischer Pseudointegration enthalten ist bzw.
diese beiden Dimensionen nicht ausreichend differenziert werden. Durch die mangelnde
Berücksichtigung der narzisstischen Dimension kommt auch die Analyse des Über-Ich zu kurz,
was naturgemäß bei der Diagnose antisozialer Störungen besonders ins Gewicht fällt.
Außerdem erscheint es für die Diagnostik im Bereich der Sexualdelinquenz notwendig, die
strukturelle Funktion der Sexualisierung angemessen zu berücksichtigen.
Aus diesem Grund wird in dem vorgelegten Modell die Strukturachse 4 in die folgenden drei
Subachsen zerlegt, die zwar keineswegs gänzlich unabhängig voneinander sind, auf denen aber
doch in einem begrenzten Ausmaß unterschiedliche Integrationsniveaus erreicht werden
können:
● Integration der Identität und Impulskontrolle
● narzisstische Regulation und Über-Ich-Entwicklung
● Integration versus Funktionalisierung der Sexualität
10
Einschränkungen bis zum chronischen Verlust der Realitätsprüfung aufgrund einer dauerhaften
Fusion der Selbst- und Objektvorstellungen. Drei Stufen gehören dem Strukturniveau
normal/neurotisch an, fünf Stufen dem Borderline- und zwei Stufen dem psychotischen
Strukturniveau.
Tab. 17-7 Stufen der Subachse 4.1: Integration der Identität und Impulskontrolle
Differenziertheit und Integration der Fähigkeit zur Impulskontrolle
Selbst- und Objektvorstellungen
1 gute Integration ohne neurotische Rigidität normale Impulskontrolle
12
Tab. 17-8 Dimensionen der Subachse 4.2: Narzisstische Regulation und Über-Ich-Entwicklung
Narzisstische Regulation Über-Ich-Entwicklung
10 Selbstwertregulierung erfordert di Über-Ich-Funktion wird durch chronischen Verlust der
chronische Aufgabe der Realitätsprüfung unterminiert
Realitätsprüfung (chronisch
psychotischer Narzissmus)
Tab. 17-9 Dimensionen der Subachse 4.3: Integration versus Funktionalisierung der Sexualitä
Strukturdiagnose der Integrationsniveau und Funktionalisierung der
Sexualität Sexualität
1 normale Sexualität perverse Aspekte als integrierter Teil normaler Sexualität
4 benigne Perversion Perversion wird in der Fantasie, bei der Masturbation und
in konsensuellen Beziehungen ausgelebt
13
Tab. 17-9 Dimensionen der Subachse 4.3: Integration versus Funktionalisierung der Sexualitä
Strukturdiagnose der Integrationsniveau und Funktionalisierung der
Sexualität Sexualität
8 Perversion mit vollständiger Perversion wird durch Schädigung anderer Personen
Desobjektalisierung ausgelebt, ohne Schuldgefühle hervorzurufen
10 Perversion mit chronischem Perversion tritt Ich-synton in Erscheinung, kann sich aber
Verlust der Realitätsprüfung mit Phasen psychotischer Selbstvorwürfe und
Selbstbestrafung abwechseln
14
17.7 Instrumente
Die Basis jeder psychodynamischen Diagnostik ist immer ein relativ wenig strukturiertes
Interview, das neben der Erhebung basaler Daten zur Lebens- und Krankheitsgeschichte auch
der unbewussten szenischen Darstellung intrapsychischer und interpersonaler Konflikte
ausreichend Raum bietet. Dieses Interview sollte grundlegende Daten zur Realitätsprüfung, zur
psychischen Struktur und zu den wichtigsten Übertragungsdispositionen des Patienten liefern.
Es wurde in verschiedenen Formen konzeptualisiert und muss für die hier entwickelten
Merkmalscluster und Achsen entsprechend adaptiert werden. Zur Absicherung und
Differenzialdiagnose sollten zusätzliche diagnostische Instrumente zum Einsatz kommen, von
denen die wichtigsten hier erwähnt werden. Aus Platzgründen kann nur eine ganz gedrängte
Beschreibung und Bewertung der verschiedenen diagnostischen Instrumente vorgenommen
werden.
15
Persönlichkeitssyndromen (Nähe und Ferne zu klinisch relevanten Prototypen) und zwölf
Persönlichkeitsfaktoren (Ausprägung bestimmter Persönlichkeitszüge) geliefert. Diese Profile
sind für die Diagnostik antisozialer Störungen hochrelevant: Bei den Persönlichkeitssyndromen
taucht z. B. die antisozial-psychopathische Persönlichkeit auf, die im Vergleich zur Antisozialen
Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV stärker durch innere Motive und Prozesse definiert ist. Die
feindselig-externalisierende Persönlichkeit ist durch Ärger, Feindseligkeit und Schuldprojektion
charakterisiert, die der Abwehr depressiver und selbstzerstörerischer Gefühle dienen.
Das CDI-F ist ein halbstrukturiertes Interview, das es in ca. 2,5 Stunden rund um 14
„Skelettfragen“ ermöglicht, so viele Informationen über Psychopathologie, Psychodynamik und
Identitätsintegration zu erheben, um die SWAP-200 ausfüllen zu können. Die Interrater-
Reliabilität ist aufgrund der guten Operationalisierung der SWAP-200 auch bei relativ geringer
Übung des Interviewers recht gut.
Aus der Auswertung der Scores in diesen Dimensionen wird eine Zuordnung zu einer von sechs
Organisationsniveaus der Persönlichkeit berechnet. Vor allem die Dimensionen Aggression und
Wertvorstellungen haben eine spezifische Relevanz für forensische Diagnostiker. Aber
natürlich sind auch die anderen Dimensionen entscheidend für die Einstufung von
forensischen Patienten auf den hier vorgeschlagenen Strukturachsen.
Es ist eine interessante Überlegung, das Strukturierte Interview zur Persönlichkeitsorganisation
um einige forensisch relevante Items pro Dimension zu erweitern, um etwa die impulsive,
psychopathische oder perverse Qualität von Delikten auszuleuchten, und damit ein STIPO-F zu
schaffen (vgl. Lackinger 2008).
Die Durchführung des Strukturierten Interviews zur Persönlichkeitsorganisation dauert bei
einiger Übung etwa 90 Minuten. Die Interrater-Reliabilität erfordert mehr Übung als bei der
Shedler-Westen Assessment Procedure (SWAP-200), aber weniger als beim Strukturellen
Interview nach Kernberg.
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● Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
● Beziehung
● Konflikt
● Struktur
● psychische und psychosomatische Störungen
17
Die Anwendung der Reflective Functioning Scale setzt eine Schulung sowohl in der
Durchführung des Adult Attachment Interview als auch der Reflective Functioning Scale
voraus. Nur dann wird eine akzeptable Interrater-Reliabilität erreicht. Die Transkribierung ist
sehr aufwendig, sodass die Reflective Functioning Scale bisher nur zu Forschungszwecken
angewendet wird. Eine mögliche Erleichterung stellt die Anwendung des Adult Attachment
Projective Picture System (AAP) dar (Buchheim u. George 2012), das mit weniger Aufwand
durchgeführt werden kann. Für die Reflective Functioning Scale ist eine computerisierte
Version in Ausarbeitung (Fertuck, Mergenthaler et al. 2012).
Die Items werden dreistufig gerated (0, 1 oder 2), sodass sich ein Maximalscore von 40 ergibt.
Ein Score von 25+ gilt in der Regel als Cut-off-Wert für den deutschsprachigen Raum und
bedingt eine deutlich erhöhte Rückfallgefahr bei Straftätern. In Nordamerika wird ab einem
PCL-R von 30 die Diagnose „Psychopath“ vergeben. Das Erlernen der Psychopathy Checklist –
Revised erfordert eine Schulung, kann dann aber mit guter Reliabilität durchgeführt werden.
Sie benötigt nur ein ca. 90-minütiges Interview und verwertet auch Akteninformationen.
Für psychodynamische Diagnostiker ist natürlich das Fehlen von psychodynamischen Faktoren
– wie der Stärke der dynamischen Abwehrmechanismen im Vergleich zu dispositionellen
Faktoren (wie der Furchtlosigkeit) – problematisch. Für die Verwendung der Psychopathy
Checklist – Revised spricht jedoch das große Täuschungspotenzial von Psychopathen. Die
starke Berücksichtigung von Akteninformation in der Psychopathy Checklist – Revised kann
dagegen ein gewisser Schutz sein.
18
Sexualdelikte betreffen. Auch phallometrische Untersuchungen werden berücksichtigt. Der
Sexual Offence Risk Appraisal Guide setzt sich somit aus 14 Merkmalen zusammen.
BOX_I D_03
Merke
Rückfallprognoseinstrumente dieser Art sollten auch von psychodynamischen Diagnostikern
verwendet werden, weil die Gefährlichkeit eines Patienten klinisch nachweislich nur mit
wesentlich schlechterer Wahrscheinlich eingeschätzt werden kann. Die Gefährlichkeit ist abe
– therapeutisch gesehen – ein Symptom von hoher Bedeutung, das auch Auswirkungen auf
unsere Sicht der psychischen Struktur und der Psychodynamik haben kann.
17.7.8 Tätertypologien
Von Nicolas Groth stammen klassische Tätertypologien sowohl für Missbrauchstäter als auch
für Vergewaltiger (Groth 1978; Groth u. Birnbaum 1979). Sie wurden vor einem
psychodynamischen Hintergrund entwickelt, der heute allerdings nicht mehr ganz aktuell ist.
Es ist auch aus historischen Gründen interessant, die in diesem Beitrag vorgeschlagene
Prototypenbildung (vgl. Abschn. 17.5) mit den Typologien von Groth zu vergleichen, da sich
leicht gewisse Querverbindungen finden lassen, die eine genauere Untersuchung verdienen
würden.
Groth (1978) unterscheidet bei den Missbrauchstätern den fixierten, den regressiven und den
soziopathischen Tätertyp, wobei jedem eine Reihe von klinisch und forensisch relevanten
Merkmalen zugeordnet werden, die hier nicht im Detail dargestellt werden können. Deutlich
sind jedenfalls beim fixierten Typ die Stärke der pädophilen Fantasie und die Vermeidung von
psychischer Intimität. Beim regressiven Typ imponiert stärker die psychische Instabilität und
Stressintoleranz, wobei Groth hier auch Schuldgefühle erwähnt, die allerdings nur im
Nachhinein auftreten. Der soziopathische Typ entspricht weitgehend dem hier beschriebenen
„psychopathischen Täter“, indem nicht nur das Fehlen von Schuldgefühlen, sondern auch das
Fehlen von Bindung und Zuneigung überhaupt angeführt werden.
Bei den sexuellen Gewalttätern mit erwachsenen Opfern differenzieren Groth und Birnbaum
(1979) den Wutvergewaltiger, den Machtvergewaltiger und den sadistischen Vergewaltiger.
Der Wutvergewaltiger zeichnet sich vor allem durch Impulsivität, akute Rachefantasien und
Planungsmangel aus. Dem Machtvergewaltiger geht es hingegen vor allem um Kontrolle des
Opfers, dessen Angst und Wehrlosigkeit er genießt. Seine Taten sind meist gut geplant. Der
sadistische Vergewaltiger ist der einzige, der im engeren Sinne sexuellen Genuss aus seinen
Taten zieht, vor allem aus der Demütigung und dem Schmerz des Opfers.
Die Typologien von Groth haben sich wenig zur empirischen Validierung geeignet, da sie
schwer operationalisierbare psychodynamische Faktoren beinhalten, wie z. B., dass der
Machtvergewaltiger eigene chronische Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren versucht.
In der forensisch-psychologischen Praxis wurden sie daher durch empirisch besser bewährte
Typologien ersetzt, wie z. B. jene von Knight und Prentky (1990), Knight (1999) und Prentky,
Knight et al 2012. Diese sind der Struktur nach den älteren Typologien von Groth nicht ganz
unähnlich, bieten aber weitere Subtypen, und – wie gesagt – höhere empirische Validität.
17.8 Fazit
Es fehlt derzeit noch an einem einheitlichen System der psychodynamischen Diagnostik von
antisozialen Störungen, das auch relevant für Indikationsstellung und Behandlung ist. Ein
solches wird sich wohl erst langsam und parallel zur Entwicklung störungsspezifischer Ansätze
für psychodynamisch-forensische Therapiemodalitäten entwickeln. Die Verhaltenstherapie ist
19
– wie so häufig – voraus, es gibt bereits seit Längerem eine manualisierte Dialektisch-
Behaviorale Therapie – Forensik (DBT-F) (s. Kap. 37). Auch die Schematherapie hat ihre
forensische Variante (s. Kap. 38).
Bemühungen für eine forensische Modifikation von Mentalisierungsbasierter Therapie (MBT-F)
(s. Kap. 35) und Übertragungsfokussierter Psychotherapie (TFFP) (s. Kap. 33) haben zwar
begonnen, sind aber bisher nicht manualisiert (Lackinger, Dammann et al. 2008; McGauley,
Yakeley et al. 2011). Die Entwicklung einer Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik
– Forensik (OPD-F) ist ein erfreuliches Zeichen, dass sich auch in der psychodynamischen
Diagnostik von forensischen Patienten etwas tut. Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten
und Ideen, diagnostische Konzepte aus der psychodynamischen und psychoanalytischen
Tradition für den forensischen Bereich fruchtbar zu machen.
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((Bitte prüfen Sie die nachfolgende/-n Anschrift/-en und akademischen Titel für das
Autorenverzeichnis und korrigieren bzw. vervollständigen Sie diese Angaben gegebenenfalls
[z. B. Dr. med., Dr. rer. nat., Dr. rer. soc.].))
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