Schnelle Einleitung in Das Neue Testament PDF
Schnelle Einleitung in Das Neue Testament PDF
Einleitung in das
Neue Testament
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weis an Ort und Stelle oder es wird auf den Abschnitt des Erstnachweises ver
wiesen (s. o./s. u.). Einleitungen in das Neue Testament werden ohne spÈteren
RÜckverweis nur im Abschnitt 1.1 vollstÈndig angefÜhrt. Die AbkÜrzungen ent
sprechen den Verzeichnissen der TRE und des EWNT.
Inhalt
1. EinfÛhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1.1 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1.2 Kanon und neutestamentliche Einleitungswissenschaft . . . . . . . . . . 18
1.3 Aufbau und Ziel der Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2. Die Paulusbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.1 Die Chronologie des paulinischen Wirkens . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
2.1.1 Die absolute Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2.1.2 Die relative Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.2 Die Schule des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
2.2.1 Die paulinische Schultradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
2.2.2 Die von Paulus gegrÜndete Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
2.3 Der antike Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
2.3.1 Der antike Brief als Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
2.3.2 Das Formular der paulinischen Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
2.3.2.1 Der paulinische Briefanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.3.2.2 Der paulinische Briefschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
2.4 Der erste Thessalonicherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2.4.1 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2.4.2 Verfasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
2.4.3 Ort und Zeit der Abfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
2.4.4 EmpfÈnger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
2.4.5 Gliederung, Aufbau, Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.4.6 Literarische IntegritÈt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
2.4.7 Traditionen, Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
2.4.8 Religionsgeschichtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
2.4.9 Theologische Grundgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
2.4.10 Tendenzen der neueren Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
8 Inhalt
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
1. Einführung
1.1 Literatur
Forschungsgeschichte
W. G. KÜmmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Frei
burg 21970. H. J. Genthe, Mit den Augen der Forschung, Berlin 1976. W. Baird, History
of New Testament Research, Bd. 1: From Deism to TÜbingen, Minneapolis 1992. H. v. Re
ventlow, Epochen der Bibelauslegung I IV, MÜnchen 1990. 1994. 1997. 2001. O. Merk,
Wissenschaftsgeschichte und Exegese, BZNW 95, Berlin 1998.
Forschungsberichte
Ph. Vielhauer, Einleitung in das NT, ThR 31 (1965/66), 97 155. 193 231; 42 (1977), 175
210. K. M. Fischer, Zum gegenwÈrtigen Stand der neutestamentlichen Einleitungswissen
schaft, VF 24/1 (1979), 3 35. E. J. Epp G. W. MacRae (Hg.), The New Testament and its
Modern Interpreters, Atlanta 1989. J. Roloff, Neutestamentliche Einleitungswissenschaft,
ThR 55 (1990), 385 423.
Einleitungen
H. J. Holtzmann, Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in das Neue Testament,
Freiburg 1885.31892. A. JÜlicher E. Fascher, Einleitung in das Neue Testament, TÜbin
gen 71931. M. Dibelius, Geschichte der urchristlichen Literatur, TB 58, MÜnchen 1975 (
1926). R. Knopf H. Lietzmann H. Weinel, EinfÜhrung in das Neue Testament, (Gießen
1923) Berlin 51949. W. G. KÜmmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg
21
1983. W. Marxsen, Einleitung in das Neue Testament, GÜtersloh 41978. A. Wikenhau
ser J. Schmid, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg 61973. E. Lohse, Die Entste
hung des Neuen Testaments, Stuttgart 51990. Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristli
chen Literatur, Berlin 1975 (Nachdrucke). H. M. Schenke K. M. Fischer, Einleitung in
die Schriften des Neuen Testaments I. II, Berlin/GÜtersloh 1978. 1979. H. KÚster, EinfÜh
18 Kanon und neutestamentliche Einleitungswissenschaft
rung in das Neue Testament, Berlin 1980. W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten
Evangelien, Berlin 1985. E. Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament,
GNT 2, GÚttingen 1989. J. Roloff, EinfÜhrung in das Neue Testament, Stuttgart 1995;
R. E. Brown, An Introduction to the New Testament, New York 1997. I. Broer, Einleitung
in das Neue Testament I, NEB.E 2/1. 2, WÜrzburg 1998.2001. L. T. Johnson, The Writings
of the New Testament, Minneapolis 21999. B. L. Mack, Wer schrieb das Neue Testament?,
MÜnchen 2000. K. W. Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament, GÚttingen
2000. D. Marguerat (Hg.), Introduction au Nouveau Testament, Genf 2000. J. Drane, In
troducing the New Testament, Minneapolis 2001; P. J. Achtemeier J. B. Green M. M.
Thompson, Introducing the New Testament. Its Literature and Theology, Grand Rapids
2001.
Die Geschichte der ntl. Einleitungswissenschaft wurde von Anfang an durch die
Kanonsproblematik bestimmt. Bis heute lautet die grundlegende Frage: Wie ver
halten sich die mit dem Kanonsbegriff verbundenen dogmatischen und geschicht
lichen PrÈdikate zu einer rein historischen Betrachtungsweise der 27 Schriften
des Neuen Testaments? Bereits fÜr den BegrÜnder der deutschen Einleitungswis
senschaft, den GÚttinger Orientalisten Johann David Michaelis (1717 1791),
stellte die mit dem Kanonsbegriff verbundene Behauptung der Inspiriertheit der
ntl. Schriften ein zentrales Problem dar. In seiner 1750 erschienenen ‚Einleitung
in die GÚttlichen Schriften des Neuen Bundes‘1 behandelt er zunÈchst in einem
allgemeinen Teil Fragen der Textkritik und Handschriftenkunde. Ausgehend
von der Feststellung, die meisten Schriften des Neuen Testaments hÈtten einen
Apostel zum Urheber und mÜßten deshalb als inspiriert gelten, wendet er sich
dann den EntstehungsverhÈltnissen der einzelnen Schriften zu. Das Markus
und Lukasevangelium sowie die Apostelgeschichte stammen hingegen nicht von
Aposteln, so daß sich fÜr Michaelis die Frage stellt, warum sie zum Kanon zu
rechnen sind, obgleich sie nicht als inspiriert gelten kÚnnen. „Dis alles zusam
men genommen kann ich Marci und LucÈ Schriften, wol als von Augenzeugen
und Aposteln, Petro und Johanne gebilligt, aber nicht fÜr inspirirt, fÜr mit Über
natÜrlicher HÜlfe und UntrÜglichkeit geschrieben ansehen.“2 FÜr Michaelis ge
hÚren somit ApostolizitÈt, Inspiration und ZugehÚrigkeit zum Kanon ursÈchlich
zusammen. Bestehen historische Zweifel an der apostolischen Verfasserschaft ei
nes Schreibens, so hat dies nachhaltige Konsequenzen fÜr das VerstÈndnis der
3 A. a. O., 82 f.
4 J. S. Semler, Abhandlung von freier Untersu-
chung des Canon I, Halle 1771, 75.
20 Kanon und neutestamentliche Einleitungswissenschaft
konnten. Vielmehr sah Semler im Kanon eine rein geschichtliche GrÚße, die aus
ÀbereinkÜnften der Kirchenprovinzen resultierte und einer freien, unvoreinge
nommenen Untersuchung offenstehen mÜsse. DarÜber hinaus setzte Semler
durch seine Differenzierung ein innerbiblisches Scheidungsverfahren in Gang,
dem als Kriterium fÜr die Unterscheidung zwischen dem bleibenden Wort Gottes
und dem historisch Relativen die moralische Besserung des Menschen diente.
„Da wir durch alle 24 BÜcher des Alten Testaments nicht moralisch gebessert
werden, so kÚnnen wir uns auch von ihrer GÚttlichkeit nicht Überzeugen.“5
Semlers Gleichsetzung von ‚gÚttlich‘ und ‚moralischer Besserung‘ leitete somit
auch die Trennung zwischen Altem und Neuem Testament ein. Ebenfalls be
deutsam war die Unterscheidung Semlers zwischen Religion und Theologie.
WÈhrend die Religion die von allen Christen zu Übende rechte FrÚmmigkeit um
faßt, versteht Semler unter Theologie die zur fachlichen Ausbildung der Theolo
gen notwendigen wissenschaftlichen Methoden. Damit gewinnt er einen zu sei
ner Zeit keineswegs Üblichen Freiraum fÜr kritische wissenschaftliche Arbeit, de
ren Methoden und Ergebnisse die von allen auszuÜbende Religion grundsÈtzlich
nicht in Frage stellen.
Nicht ohne Wirkung auf die Einleitungswissenschaft blieb die Unterscheidung
zwischen biblischer Theologie und dogmatischer Theologie durch Johann Philipp
Gabler (1753 1826), die er in seiner 1787 vor der UniversitÈt Altdorf gehaltenen
Antrittsvorlesung entfaltete. „Die biblische Theologie besitzt historischen Cha
rakter, Überliefernd, was die heiligen Schriftsteller Über die gÚttlichen Dinge ge
dacht haben. Die dogmatische Theologie dagegen besitzt didaktischen Charakter,
lehrend, was jeder Theologe kraft seiner FÈhigkeit oder gemÈß dem Zeitumstand,
dem Zeitalter, dem Orte, der Sekte, der Schule und anderen Èhnlichen Dingen
dieser Art Über die gÚttlichen Dinge philosophierte. Jene, da sie historisch argu
mentiert, ist, fÜr sich betrachtet, sich immer gleich (obwohl sie selbst, je nach
dem Lehrsystem, nach dem sie ausgearbeitet wurde, von den einen so, von den
anderen anders dargestellt wird): Diese jedoch ist zusammen mit den Übrigen
menschlichen Disziplinen vielfÈltiger VerÈnderung unterworfen: Was stÈndige
und fortlaufende Beobachtung so vieler Jahrhunderte Übergenug beweist.“6 Die
Aufgabe der biblischen Theologie liegt somit in der Erhebung des sensus scripto
rum, ihr muß ein historisch exegetisches Verfahren zugrundeliegen, wÈhrend
die dogmatische Theologie sich durch RationalitÈt, KonfessionalitÈt und philoso
phische AktualitÈt auszeichnet. Bibelstellen dienen nicht einfach mehr zum Be
5 A. a. O., III, 26. logie des Neuen Testaments, WdF 367, Darmstadt
6 J.Ph. Gabler, Von der richtigen Unterschei- 1975, 35 f. Zur Bedeutung Gablers vgl. O. Merk,
dung der biblischen und der dogmatischen Theo- Biblische Theologie des Neuen Testaments in ih-
logie und der rechten Bestimmung ihrer beiden rer Anfangszeit, MThSt 9, Marburg 1972.
Ziele, in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theo-
Kanon und neutestamentliche Einleitungswissenschaft 21
weis dogmatischer Aussagen (dicta probantia), sondern als genus historicum ist
die biblische Theologie eine eigenstÈndige Wissenschaft und Voraussetzung der
dogmatischen Theologie. Beim Vollzug der biblischen Theologie als einer rein hi
storischen Disziplin legt Gabler Wert darauf, die Lehre von der gÚttlichen Inspi
ration der Schrift bei der Ermittlung des sensus literalis beiseite zu lassen. Die
Vorstellungen, Begriffe und Anschauungen der ‚heiligen MÈnner‘ mÜssen genau
unterschieden und verglichen werden, wobei Altes und Neues Testament letzt
lich zu trennen sind und schließlich bei der Exegese zwischen der grammati
schen Auslegung und der folgenden ErklÈrung des Textes zu differenzieren ist.
WÈhrend sich die grammatische Auslegung auf den Sinn eines Textes richtet,
auf das, was der Schriftsteller bei der Abfassung des Textes dachte, unterzieht die
ErklÈrung den Text einer scharfen historischen und philosophischen Kritik.
Der TÜbinger Theologe Ferdinand Christian Baur (1792 1860) verstand die
Einleitungswissenschaft als Kritik der ntl. Verfasserangaben und der mit ihnen
verbundenen historischen und dogmatischen Implikationen. „Das eigentliche
Objekt der Kritik ist nun eben dieses Dogmatische an ihnen, das Prinzip ihrer ka
nonischen AuctoritÈt. Die Einleitungs Wissenschaft hat daher zu untersuchen,
ob diese Schriften auch an sich das sind, was sie nach der dogmatischen Vorstel
lung, die man von ihnen hat, sein sollen, und da die erste Voraussetzung, unter
welcher dies allein stattfinden kann, ist, daß sie von den Schriftstellern wirklich
verfaßt worden sind, welchen sie zugeschrieben werden, so ist ihre erste Aufga
be die Beantwortung der Frage, mit welchem Rechte sie sich fÜr apostolische
Schriften ausgeben.“7 Der ntl. Einleitungswissenschaft kommt somit nach F.Chr.
Baur die Aufgabe zu, die mit dogmatischen PrÈdikaten versehenen Schriften des
Neuen Testaments der historischen Kritik zu unterziehen, um so zu einer mÚg
lichst objektiven Auffassung ihres Charakters zu gelangen. Als bestimmendes
Moment innerhalb der Geschichte des Urchristentums erkennt Baur den Gegen
satz zwischen dem Heidenchristentum (vor allem reprÈsentiert durch RÚm,
1. 2 Kor, Gal) und einem starren Judenchristentum (literarisch reprÈsentiert
durch die vom Apostel Johannes verfaßte Offenbarung). Alle anderen ntl.
Schriften gehÚren in einen Zeitraum, in dem sich der Konflikt zwischen Heiden
und Judenchristentum auszugleichen beginnt. Baur versucht mit Hilfe dieses
Gegensatzes, die Geschichte des Urchristentums zu entschlÜsseln und den ein
zelnen ntl. Schriften je nach ihrer Tendenz einen Platz in dieser Geschichte zu
zuweisen. Man wird Baurs schematische Auffassung der Geschichte des Urchri
stentums nicht Übernehmen kÚnnen, dennoch gilt eine von ihm erarbeitete Er
kenntnis bis heute: Jede Schrift des Neuen Testaments steht in einem ganz be
stimmten historischen Zusammenhang und muß aus diesem heraus erklÈrt wer
den.
Muß F.Chr. Baurs Standpunkt als kanonskritisch bezeichnet werden, so be
stimmt der Straßburger Neutestamentler Heinrich Julius Holtzmann (1832 1910)
das spannungsvolle VerhÈltnis zwischen dem Kanonsbegriff und einer rein hi
storischen Betrachtung der ntl. Schriften in anderer Weise. Er betont in seinem
1885 erschienenen ‚Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in das Neue
Testament‘, daß die BeschrÈnkung der ntl. Einleitungswissenschaft auf die 27
ntl. Schriften allein im Kanonsbegriff ihre Berechtigung findet. „Als Glied des
Organismus der theologischen Wissenschaften ist die biblische Einleitung aller
dings nur vom Begriff des Kanon zu begreifen, nur in ihm findet sie ihre innere
Einheit.“8 Allerdings schließt Holtzmann ausdrÜcklich die dogmatischen Dimen
sionen des Kanonsbegriffes (Inspiration, gÚttlicher Charakter der Schriften) von
seiner Betrachtung aus. „Unsere Aufgabe heißt Geschichte des Kanon, nicht der
Lehre vom Kanon.“9 Damit ergibt sich fÜr die Einleitungswissenschaft die histo
rische Aufgabe, die Entstehung und Sammlung der ntl. Schriften darzustellen.
Aus dieser Zielbestimmung leitet sich organisch die bereits vor Holtzmann Übli
che, von ihm aber mustergÜltig durchgefÜhrte Zweiteilung der Disziplin in eine
allgemeine Einleitung und eine spezielle Einleitung ab. Die allgemeine Einlei
tung hat das Werden des ntl. Kanons und die Geschichte des ntl. Textes zum Ge
genstand, wÈhrend die spezielle Einleitung die historischen EntstehungsverhÈlt
nisse der 27 ntl. Schriften untersucht.
ReprÈsentiert das Werk von Heinrich Julius Holtzmann die Summe der Ein
leitungswissenschaft des 19. Jhs., so bilden sich um die Jahrhundertwende die
Fragestellungen heraus, von denen die ntl. Einleitungswissenschaft bis heute be
stimmt wird. Auf der einen Seite entstand die Forderung nach konsequenter
Aufgabe der durch den Kanon gesetzten Grenzen. So verlangt der Gießener Kir
chenhistoriker Gustav KrÛger (1862 1940) in seinem 1896 erschienenen Buch
‚Das Dogma vom Neuen Testament‘: „Man setze an die Stelle der ‚neutestament
lichen Zeitgeschichte‘ . . . eine allgemeine Geschichte des Urchristentums; an die
Stelle der ‚Einleitung‘ eine Geschichte der urchristlichen Litteratur; an die Stelle
der ‚neutestamentlichen‘ eine Geschichte der urchristlichen Theologie.“10 Der
Verzicht auf das Dogma vom Neuen Testament ergibt sich fÜr KrÜger aus dem
historischen Tatbestand, daß es eine spezifisch ntl. Gedankenwelt nicht gibt und
die kanonischen ntl. Schriften nicht zu trennen sind von den Schriften, die zur
Zeit des Neuen Testaments entstanden, aber nicht in den Kanon gelangten. „Ich
8 H. J. Holtzmann, Einleitung, 31892, 11. 10 G. KrÜger, Das Dogma vom Neuen Testament,
9 A. a. O., 21886, 15. Gießen 1896, 37.
Kanon und neutestamentliche Einleitungswissenschaft 23
bestreite, daß man berechtigt ist, mit dem Begriff ‚Neues Testament‘ in irgend ei
ner Form bei der geschichtlichen Betrachtung einer Zeit zu operiren, die noch
kein Neues Testament kennt.“11
Wie KrÜger fordert auch der Breslauer Neutestamentler William Wrede (1859
1906) in seiner 1897 erschienenen Schrift ‚Àber Aufgabe und Methode der soge
nannten neutestamentlichen Theologie‘, der Exeget dÜrfe sich nicht auf die
Schriften des Kanons beschrÈnken. Versteht sich die ntl. Wissenschaft als eine
rein historische Disziplin, so stellt die Existenz des Kanons ein Problem dar. „Wo
man die Inspirationslehre streicht, kann auch der dogmatische Begriff des Ka
nons nicht aufrechterhalten werden.“12 Der Begriff des Kanons ist schon deshalb
problematisch, weil die ntl. Schriften nicht mit dem PrÈdikat ‚kanonisch‘ ent
standen, sondern erst spÈter fÜr kanonisch erklÈrt wurden. Hinzu kommt, „daß
die Grenzen zwischen der kanonischen und der nÈchstliegenden außerkanoni
schen Literatur an allen Punkten durchaus fließend sind.“13 Nicht die ZugehÚrig
keit zum Kanon, sondern die literarische Struktur erweist sich als der sachgemÈ
ße Zugang zu einer ntl. Schrift. Wrede fordert die Aufgabe einer dogmatisch
orientierten Biblischen Theologie und will an ihre Stelle eine urchristliche Reli
gionsgeschichte setzen, die die Gesamtheit der urchristlichen Schriften in Be
tracht zieht, auf den Kanon ganz bewußt verzichtet und so erst wirklich die Auf
gabe eines rein historischen VerstÈndnisses des Neuen Testamentes zu verwirkli
chen sucht.
Eine andere Konzeption als KrÜger und Wrede vertritt Adolf JÛlicher (1857
1938), dessen ‚Einleitung in das Neue Testament‘ 1894 erstmals erschien. JÜli
cher faßt die ntl. Einleitungswissenschaft als eine streng geschichtliche Disziplin
auf und behandelt nacheinander die Geschichte der einzelnen ntl. Schriften, die
Geschichte des ntl. Kanons und die Geschichte des ntl. Textes. Einer literaturge
schichtlichen Behandlung steht er nicht grundsÈtzlich ablehnend gegenÜber, er
meint aber, sie sei „nun leider beim NT nicht zu erreichen.“14 FÜr die BeschrÈn
kung des Stoffes auf die 27 ntl. BÜcher gibt JÜlicher eine wirkungsgeschichtliche
BegrÜndung: Allein sie haben aus dem Korpus der altchristlichen Literatur eine
weltgeschichtliche Bedeutung erlangt, was ihre besondere Behandlung rechtfer
tigt.
Die von G. KrÜger/W. Wrede einerseits und A. JÜlicher andererseits vertrete
nen Positionen spiegeln sich in zwei bedeutenden protestantischen Einleitungs
werken der Gegenwart wider. So steht die ‚Einleitung in das Neue Testament‘
von Werner Georg KÛmmel (1905 1995) in der Tradition von H. J. Holtzmann und
A. JÜlicher. KÜmmel versteht einerseits die Einleitungswissenschaft als eine
„streng historische Disziplin“15, andererseits betont er, daß „die im NT gesam
melten Schriften durch ihre ZugehÚrigkeit zu dem von der alten Kirche abge
grenzten Kanon ihren vom Christen im Glauben anerkannten besonderen Cha
rakter haben.“16 Nicht die wissenschaftliche Methode, sondern der Kanonsbe
griff begrÜndet den theologischen Charakter der ntl. Einleitungswissenschaft.
Der Kanonsbegriff bestimmt bei KÜmmel auch den Aufbau des Werkes, indem
zunÈchst die ErzÈhlungsbÜcher (Evangelien und Apg), dann die Briefe und die
Johannesapokalypse besprochen werden. KÜmmel vertritt damit einen gemÈßigt
konservativen Standpunkt, dem es bei voller Anwendung der historisch kriti
schen Methode um die geschichtliche Grundlage der ntl. Schriften geht.
Eine Sonderstellung nimmt die ‚Einleitung in das Neue Testament‘ (1963) von
Willi Marxsen ein. Er versteht die Schriften des Neuen Testaments als ein Doku
ment einer VerkÜndigungsgeschichte, das Neue Testament „ist also zu charakteri
sieren als der Èlteste Predigtband der Kirche.“21 Weil diese VerkÜndigung den An
spruch erhebt, Jesus Christus verbindlich in die Zeit hinein zu sagen, handelt es
sich bei den ntl. Schriften um theologische Dokumente und ist die Einleitungswis
senschaft eine theologische Disziplin. Nicht der Kanonsbegriff, sondern der in den
ntl. Schriften selbst erhobene Anspruch macht den theologischen Charakter der
ntl. Einleitungswissenschaft aus. Obgleich Marxsen dem Kanon eine normgeben
de Funktion abspricht, beschrÈnkt er sich aus wirkungsgeschichtlichen Àberle
gungen auf die Schriften des Neuen Testaments: „Das Neue Testament ist nun mal
das Buch der Kirche geworden.“22 Indem Marxsen den Gegenstand der Einlei
tungswissenschaft als VerkÜndigungsgeschichte definiert, verbindet er historische,
exegetische und hermeneutische Fragestellungen und weitet die Bedeutung die
ser Disziplin aus.
In das Zentrum der Einleitungswissenschaft rÜckt der amerikanische Alttesta
mentler Brevard S. Childs den Kanonsbegriff. In seiner 1984 erschienenen Einlei
tung in das Neue Testament erhebt Childs den Kanonsbegriff zum hermeneuti
schen und historischen InterpretationsschlÜssel des Neuen Testaments. Er ge
braucht den Begriff des Kanons in einem erweiterten Sinn; Kanon dient als Be
zeichnung eines umfassenden Àberlieferungsprozesses, der im Neuen Testament
bereits beginnt und sich dann organisch fortsetzt. „There is an organic continuity
in the canon of secret writings of the earliest stages of the scope.“23 Eine solche
Entwicklung wird von Childs keineswegs nur als historischer Prozeß aufgefaßt,
sondern er sieht in ihm ein Werk des erhÚhten Herrn24. Diesen Ansatz ÜbertrÈgt
Childs auch auf die methodische Ebene, indem er von einer „methodology of ca
nonical exegesis“25 spricht, die ihren Ausgang immer von der kanonisch fixierten
letzten Textform nimmt und gegenÜber literarischen Urteilen sehr zurÜckhaltend
ist. Indem Childs den Kanonsbegriff zum historischen und dogmatischen SchlÜssel
der Exegese erhebt und damit die Exegese einer Norm jenseits ihrer eigenen Me
thodik unterwirft, nimmt er wieder jenen Standpunkt ein, den die ntl. Einlei
tungswissenschaft in den 250 Jahren ihrer Geschichte Überwunden zu haben
glaubte.
Von den neuesten Einleitungen sind vor allem die Werke von I. Broer und
R. E. Brown hervorzuheben. Broer behandelt im 1. Teilband die Synoptiker, die
Apostelgeschichte und das johanneische Schrifttum, im 2. Teilband die Brieflite
ratur (echte Paulusbriefe, unechte Paulusbriefe einschließlich HebrÈerbrief, ka
tholische Briefe), die Offenbarung des Johannes und die Bildung des Kanons.
Die einzelnen Kapitel reprÈsentieren den aktuellen Stand der Forschung, und
Exkurse bereichern die Darstellung. Konzeptionell verbleibt Broer innerhalb der
klassischen Einleitungsfragen26 und beschrÈnkt seine Darstellung auf die kano
nischen Schriften. Auch R. E. Brown konzentriert sich programmatisch auf die
27 neutestamentlichen Schriften27, verbindet aber amerikanischen Konventio
nen folgend diesen klassischen Ansatz mit einer theologischen Einleitung in das
Neue Testament und einer Darstellung seines religiÚs philosophischen Umfeldes.
Zwei Exkurse und zahlreiche Karten und Tabellen runden das Werk ab. Inner
halb des Hauptteils werden zunÈchst die Evangelien und mit ihnen verbundene
Werke (Synoptiker, Apostelgeschichte, Johannesevangelium, Johannesbriefe),
dann die paulinischen und deuteropaulinischen Briefe und schließlich die weite
ren Schriften behandelt (HebrÈerbrief, 1. Petrusbrief, Jakobusbrief, Judasbrief,
2. Petrusbrief, Offenbarung). Wie Broer urteilt auch Brown kenntnisreich und
abgewogen und lÈßt europÈische Literatur in die Argumentation einfließen. Dies
kann leider von den anderen amerikanischen Einleitungen nicht behauptet wer
den. Sie sind ArbeitsbÜcher zum Neuen Testament, die ohne Anmerkungen und
mit minimaler (ausschließlich amerikanischer) Literaturverarbeitung Grundla
gen vermitteln, ohne jedoch die europÈischen Standards der umfassenden Mate
rialverarbeitung und kritischen Darstellung zu erreichen.
28 Die unabdingbaren Grundkenntnisse der Ka- 29 Unentbehrlich fÜr Textgeschichte und Text-
nonsgeschichte werden deshalb in Exkurs 2 (Die kritik: B. M. Metzger, Der Text des Neuen Testa-
Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des ments, Stuttgart 1966. – K. u. B. Aland, Der Text
Kanons) unter wirkungsgeschichtlichem Aspekt des Neuen Testaments, Stuttgart 21989.
dargestellt; dort auch Literatur!
Aufbau und Ziel der Einleitung 29
Literatur
Verfasser
Ort und Zeit der Abfassung
EmpfÈnger
Gliederung, Aufbau, Form
Literarische IntegritÈt
Traditionen, Quellen
Religionsgeschichtliche Stellung
Theologische Grundgedanken
Tendenzen der neueren Forschung
ForschungsÛberblick
K. H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, Darmstadt
3
1982 (enthÈlt grundlegende BeitrÈge von W. Wrede, A. Schweitzer, R. Bultmann u. a.)
Forschungsberichte
H. HÜbner, Paulusforschung seit 1945, ANRW 25. 4, Berlin 1987, 2649 2840. O. Merk,
Paulus Forschung 1936 1985, ThR 53 (1988), 1 81. Strecker, Chr., Paulus aus einer neu
en „Perspektive“, KuI 11 (1996), 3 18; K. W. Niebuhr, Die paulinische Rechtfertigungsleh
re in der gegenwÈrtigen exegetischen Diskussion, in: Worum geht es in der Rechtferti
gungslehre?, hg. v. Th. SÚding, QD 180, Freiburg 1999, 106 130.
32 Die Chronologie des paulinischen Wirkens
B. Rigaux, Paulus und seine Briefe, MÜnchen 1964. A. Suhl, Paulus und seine Briefe,
StNT 11, GÜtersloh 1975. M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart
2
1984. G. LÜdemann, Paulus, der Heidenapostel I: Studien zur Chronologie, FRLANT
123, GÚttingen 1980. R. Jewett, Paulus Chronologie. Ein Versuch, MÜnchen 1982.
N. Hyldahl, Die paulinische Chronologie, AthD, Leiden 1986. Th. SÚding, Zur Chronolo
gie der paulinischen Briefe, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. u. 2.5.1), 3 30. A. Suhl, Der
Beginn der selbstÈndigen Mission des Paulus, NTS 38 (1992), 430 447. R. Riesner, Die
FrÜhzeit des Apostels Paulus, WUNT 71, TÜbingen 1994. N. Hyldahl, The History of early
Christianity, Frankfurt 1997. M. Hengel A. M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus
und Antiochien, WUNT 108, TÜbingen 1998. A. Scriba, Von Korinth nach Rom. Die
Chronologie der letzten Jahre des Paulus, in: F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus (s. u.
4.1), 157 173.
Die erhaltenen Paulusbriefe nennen weder Zeit noch Ort ihrer Abfassung. Die
Apostelgeschichte beschreibt zwar ausfÜhrlich das missionarische Wirken des
Paulus, aber auch sie berichtet nicht, wann und wo Paulus seine Briefe verfaßte.
FÜr die Geschichte des Urchristentums wichtige Ereignisse wie der Apostelkon
vent oder die Bekehrung des Paulus werden von Lukas nicht chronologisch ein
geordnet. Auch das Geburts und Todesjahr des Heidenapostels kann nur indi
rekt erschlossen werden1. Dies verdeutlicht die großen Schwierigkeiten bei der
Erstellung einer Chronologie des paulinischen Wirkens und erklÈrt, warum ge
rade auf diesem Gebiet neuerdings die Forschungsmeinungen so stark divergie
ren. Methodische ErwÈgungen leiten deshalb diesen Entwurf einer Paulus Chro
nologie ein2. Den Ausgangspunkt aller Àberlegungen bildet der fÜr den Histori
ker selbstverstÈndliche Grundsatz, daß den PrimÈrquellen immer der Vorzug zu
geben ist. Die chronologisch verwertbaren Angaben der Protopaulinen sind im
mer dann vorzuziehen, wenn sie in Spannung oder im Widerspruch zu anderen
Nachrichten im Neuen Testament stehen. Der Geschichtswert der Apostelge
schichte wird damit nicht herabgesetzt, widersprechen sich aber Apostelge
schichte und Protopaulinen, so ist den Briefen zu folgen. Lassen sich hingegen
die Mitteilungen der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe kombinieren, so er
gibt sich eine sichere Grundlage fÜr die paulinische Chronologie. Berichtet nur
die Apostelgeschichte Über Ereignisse aus dem Leben des Paulus, gilt es zu prÜ
1 Zum Todesjahr s. u. 2.1.2; das Geburtsjahr 2 Vgl. dazu die bedenkenswerten methodologi-
liegt vermutlich in der Mitte des ersten Jahr- schen ErwÈgungen bei N. Hyldahl, Chronologie,
zehnts n. Chr. In Phlm 9 (geschrieben um 61 1–17.
n. Chr.) bezeichnet sich Paulus als presbu´tvß („al-
ter Mann“), er wÈre zu diesem Zeitpunkt ca. 55
Jahre alt gewesen.
Die absolute Chronologie 33
fen, inwieweit Lukas zuverlÈssige alte Traditionen wiedergibt oder ob seine Dar
stellung redaktioneller Gestaltung entspringt.
Der natÜrliche Ausgangspunkt fÜr die Gewinnung einer absoluten Chronolo
gie sind die wenigen im Neuen Testament erwÈhnten VorgÈnge, die sich mit Da
ten der allgemeinen Weltgeschichte berÜhren, auch von außerneutestamentli
chen Schriftstellern oder durch archÈologische Funde bezeugt werden. Auf der
Basis der absoluten Chronologie muß dann die relative Chronologie des paulini
schen Wirkens erstellt werden.
Eine FrÜhdatierung des Claudius Ediktes in das Jahr 41 n. Chr. vertritt G. LÜde
mann6. Die Jahresangabe des Orosius hÈlt er fÜr sekundÈr und bringt das Claudi
us Edikt mit einem Vorfall aus der Anfangszeit der Regierung des Claudius in Ver
bindung, Über den Dio Cassius, LX 6, 6, fÜr das Jahr 41 berichtet: „Die Juden aber
hatten sich derartig vermehrt, so daß es wegen ihrer großen Zahl schwierig gewe
sen wÈre, sie ohne Tumult von Rom auszuschließen, so trieb er sie zwar nicht aus
(ouk exv´lase me´n), ließ ihnen auch ihre Überkommene Lebensweise, verbot ihnen
aber Versammlungen.“ Diese Nachricht bezieht LÜdemann auf die Ereignisse um
‚Chrestos‘, er postuliert eine Sueton und Dio Cassius gemeinsame Vorlage, die
von Dio Cassius korrigiert worden sei und von der Ausweisung all der Juden
3 Zum Nachweis, daß mit impulsore Chresto 4 Vgl. Orosius, Historia adversum paganos VII
nicht auf einen unbekannten jÜdischen AufrÜh- 6, 15.
rer bzw. MessiasprÈtendenten mit dem gelÈufigen 5 Vgl. Suet, Nero 33, 1, wo berichtet wird, daß
Sklavennamen Chrestos Bezug genommen wird, Nero BeschlÜsse und Erlasse des Claudius außer
vgl. zuletzt Helga Botermann, Das Judenedikt des Kraft setzte; vgl. ferner RÚm 16, 3 (Prisca und
Claudius, Hermes 71, Stuttgart 1996, 57–71. Zur Aquila sind nach Rom zurÜckgekehrt).
Religionspolitik des Claudius vgl. D. Alvarez Ci- 6 Vgl. G. LÜdemann, Paulus I, 183–195.
neira, Die Religionspolitik des Kaisers Claudius
und die paulinische Mission, HBS 19, Freiburg
1999.
34 Die Chronologie des paulinischen Wirkens
Die Gallio Inschrift : Die Amtszeit des in Apg 18, 12 erwÈhnten Prokonsuls von
Achaia Lucius Gallio lÈßt sich durch einen inschriftlich bezeugten Brief des Kai
sers Claudius an die Stadt Delphi relativ genau bestimmen. Im Text wird als Ab
fassungsdatum die 26. Ausrufung des Claudius zum Imperator genannt. Zwar ist
die 26. Akklamation nicht mehr datierbar, aber Inschriftenfunde belegen, daß
die 27. Akklamation am 1. August 52 bereits vollzogen war9. Der Brief richtet
sich an den Nachfolger des Gallio (Gallio wird im Text im Nominativ erwÈhnt,
vgl. 6. Z. v. o.: Gallı´wn)10, muß somit im Sommer 52 geschrieben worden sein.
Daraus ergibt sich fÜr Gallio die fÜr einen Prokonsul einer senatorischen Provinz
Übliche einjÈhrige Amtszeit vom FrÜhsommer 51 bis zum FrÜhsommer 5211. Die
aus Rom vertriebenen Prisca und Aquila kamen nicht lange vor Paulus nach Ko
rinth (Apg 18, 2: prosfátwß), der Apostel traf also im Jahr 50 in Korinth ein.
7 Vgl. P. Lampe, Die stadtrÚmischen Christen in 8 Vgl. zur umfassenden BegrÜndung Helga Bo-
den ersten beiden Jahrhunderten (s. u. 2.8.1), 8. termann, Judenedikt des Claudius, 103–140.
2
Zur Kritik an LÜdemann vgl. auch A. Lindemann, 9 Vgl. A. Deissmann, Paulus, TÜbingen 1925,
ZKG 92 (1981), 344–349; R. Jewett, Paulus-Chro- 215; H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung I,
nologie, 134–139; T. Holtz, 1 Thess (s. u. 2.4.1), 18 52.
A 18. Die Replik von G. LÜdemann, Das Judene- 10 Der von A. Plassart neubearbeitete und von
dikt des Claudius (Apg 18, 2), in: Der Treue Gottes J. H. Oliver verbesserte griechische Text der Gal-
trauen (FS G. Schneider [s. u. 3.6.1]), 289–298, lio-Inschrift ist mit einer deutschen Àbersetzung
bringt keine neuen Sachargumente. LÜdemann leicht zugÈnglich bei H. M. Schenke – K. M. Fi-
vermutet hier, Orosius habe seine Chronologie scher, Einleitung I, 50–51.
aus der Apg gewonnen (vgl. a. a. O., 296). Eine 11 Nach Sen, Ep 104, 1, erkrankte Gallio in Acha-
umfassende Darstellung bietet R. Riesner, FrÜh- ia an Fieber, so daß ein vorzeitiger Abbruch seiner
zeit des Apostels Paulus. (s. o. 2.1) 139–180; der dortigen TÈtigkeit nicht auszuschließen ist.
das Claudius-Edikt ebenfalls in das Jahr 49 n. Chr.
datiert.
Die relative Chronologie 35
Kombiniert man die Angabe in Apg 18, 11, Paulus sei 1 1/2 Jahre in Korinth ge
blieben, mit der Annahme, Juden hÈtten Paulus bald nach dem Amtsantritt des
neuen Prokonsuls verklagt, ergibt sich fÜr die Gallio Szene (Apg 18, 12 16) eine
Datierung auf den Sommer 5112.
Mit der Ankunft des Paulus in Korinth zu Beginn des Jahres 50 ist nun eine
sichere Ausgangsbasis gewonnen, um die relative Chronologie des paulinischen
Wirkens nach rÜckwÈrts und vorwÈrts zu entwerfen.
ZunÈchst mÜssen die Ereignisse vor dem Eintreffen des Paulus in Korinth rekon
struiert werden. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte ist der Korinth Auf
enthalt des Paulus ein Bestandteil der großen paulinischen Mission in Kleinasien
und Griechenland (= 2. Missionsreise Apg 15, 36 18, 22). Eine Rekonstruktion der
einzelnen Missionsstationen ermÚglichen die von Lukas verarbeiteten Traditio
nen. Zuerst fÜhrte die Reise Paulus und Silas zu den bereits bestehenden Ge
meinden in Syrien und Kilikien (vgl. Apg 15, 40 f; ferner Apg 15, 23/Gal 1, 21).
Dann kam Paulus nach Derbe und Lystra (Apg 16, 1), wo er Timotheus bekehrte
(vgl. 1 Kor 4, 17). Anschließend zogen Paulus und seine Mitarbeiter weiter durch
Phrygien und das galatische Land (Apg 16, 6), um danach ihre Mission in Europa
zu beginnen. Philippi war die erste Station (Apg 16, 11 12 a; Phil 4, 15 ff), von
dort zog Paulus nach Thessalonich (Apg 17, 1), dann Über BerÚa nach Athen
(vgl. Apg 17, 10. 15). Von Athen reiste Paulus zu Beginn des Jahres 50 nach
Korinth (vgl. Apg 18, 1). In seinen GrundzÜgen wird der Bericht der Apg durch
die Paulusbriefe bestÈtigt. Paulus berichtet selbst, er habe aus Philippi kommend
die Gemeinde in Thessalonich gegrÜndet (vgl. 1 Thess 2, 2). Auch der Aufenthalt
in Athen wird durch 1 Thess 3, 1 bezeugt, so daß sich nach den Angaben der
Apg und des 1 Thess als Reihenfolge der Reisestationen ergibt: Philippi, Thessalo
nich, Athen, Korinth13. Die geschilderte paulinische MissionstÈtigkeit umfaßte
einen Zeitraum von ungefÈhr 1 1/2 Jahren14, so daß man in unmittelbare NÈhe
12 Dieses Datum stellt den einzigen Konsens der 14 R. Jewett, Paulus-Chronologie, 100–107,
neueren EntwÜrfe zur paulinischen Chronologie weist darauf hin, daß die Reisen des Paulus zwi-
dar, vgl. A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 325; schen dem Apostelkonvent und der Ankunft in
G. LÜdemann, Paulus I, 183; R. Jewett, Paulus- Korinth drei bis vier Jahre gedauert haben kÚnn-
Chronologie, 75; N. Hyldahl, Chronologie, 122. ten. Allerdings hÈlt auch er 18 Monate als Reise-
13 Zu den verbleibenden Unterschieden zwi- zeit fÜr mÚglich (vgl. a. a. O., 107). Innerhalb der
schen der Apg und den Briefen vgl. A. Suhl, Pau- hier vorausgesetzten Chronologie ist eine maxi-
lus und seine Briefe, 96 ff; G. LÜdemann, Paulus I, male Reisezeit von zwei Jahren denkbar.
35 f.
36 Die Chronologie des paulinischen Wirkens
F. Hahn16 und A. Suhl17 datieren den Apostelkonvent in das Jahr 43/44. Dabei ge
hen sie mit Hinweis auf Mk 10, 38 f; Apg 12, 2 vom Tod der beiden Zebedaiden Ja
kobus und Johannes aus. Apg 12, 2 berichtet von der Hinrichtung des Zebedaiden
Jakobus durch Herodes Agrippa I (41 44 n. Chr.). Vom gleichzeitigen Tod des Ze
bedaiden Johannes weiß hingegen die von Lukas verarbeitete Tradition nichts,
denn sonst hÈtte sie kaum die Wendung LIákwbon tòn adelfòn LIwánnou ge
braucht. Mk 10, 38 f blickt zwar auf den Tod der Zebedaiden Jakobus und Johan
nes zurÜck, was aber nicht heißt, auch Johannes sei unter Herodes Agrippa I getÚ
tet worden. Apg 12, 2 und Gal 2,9 setzen lediglich den Tod des Zebedaiden Jako
bus voraus, was fÜr eine Datierung des Apostelkonvents in das Jahr 48 spricht18.
Petrus dÜrfte wÈhrend der Christenverfolgung unter Herodes Agrippa I Jerusalem
fÜr einige Zeit verlassen haben (vgl. Apg 12, 18 f), kehrte dann aber nach dem Tod
des Agrippa wieder nach Jerusalem zurÜck.
Nach der paulinischen Darstellung in Gal 2, 1 10. 11 14 ereignete sich der antio
chenische Zwischenfall 19 in unmittelbarer NÈhe zum Apostelkonvent. Zwar wer
15 Zur BegrÜndung vgl. zuletzt R. Riesner, FrÜh- 2), 10; H. Conzelmann, Geschichte des Urchri-
zeit des Apostels Paulus, 284–286. stentums, GNT 5, GÚttingen 21971, 20; J. Roloff,
16 Vgl. F. Hahn, Das VerstÈndnis der Mission im Neues Testament, Neukirchen 31982, 49; R. Ries-
Neuen Testament, WMANT 13, Neukirchen ner, FrÜhzeit des Apostels Paulus (s. o. 2.1), 286.
1963, 77 f. FÜr das Jahr 44 als Datum des Apostelkonvents
17 Vgl. A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 316 ff. (vgl. bereits E. Schwartz, Ges. Schriften 5, Berlin
18 In das Jahr 48 datieren den Apostelkonvent 1963 [= 1904], 131) votieren neben Hahn und
z. B.: A. v.Harnack, Die Mission und Ausbreitung Suhl auch Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur,
des Christentums II, Leipzig 41924, 553; 78; W. Marxsen, Einleitung, 33; W. Schneemel-
W. G. KÜmmel, Einleitung, 219; L. Goppelt, Die cher, Das Urchristentum, Stuttgart 1981, 53.
apostolische und nachapostolische Zeit, KIG 1/A, 19 Vgl. hier A. Wechsler, Geschichtsbild und
GÚttingen 21966, 153; G. Bornkamm, Paulus (s. o. Apostelstreit. Eine forschungsgeschichtliche und
Die relative Chronologie 37
den beide Ereignisse von Paulus nicht explizit mit einer Zeitbestimmung verbun
den, aber die vorliegende Textfolge im Gal und die paulinische Argumentation
legen eine enge zeitliche Abfolge nahe. So wie Paulus damals den Jakobusleuten
und den heuchelnden Kephas und Barnabas entgegentrat, mÜssen die galati
schen Gemeinden jetzt den judaistischen Irrlehrern widerstehen. Dieses Argu
mentationsziel konnte Paulus nur erreichen, wenn den galatischen Gemeinden
bekannt war, daß die Abmachungen des Apostelkonvents schon nach kurzer
Zeit von militanten Judenchristen gebrochen wurden. Der antiochenische Zwi
schenfall fÈllt somit in den Sommer 48, als sich Paulus und Barnabas nach ihrer
RÜckkehr aus Jerusalem in Antiochia aufhielten (vgl. Apg 15, 35).
A. Suhl20 rÜckt den antiochenischen Zwischenfall weit von seiner Datierung des
Apostelkonvents ab (44 n. Chr.) und verlegt ihn in das Jahr 47. Ein Zeitabstand
von 3 Jahren lÈßt sich aber zwischen Gal 2, 10 und Gal 2, 11 nicht erkennen.
G. LÜdemann21 sieht im antiochenischen Zwischenfall den AuslÚser fÜr den Apo
stelkonvent, setzt ihn also zeitlich frÜher an. Die Textabfolge des Gal spricht ein
deutig gegen eine solche Annahme, der Zwischenfall gehÚrt zu den Folgeproble
men des Apostelkonvents.
In der Schilderung des paulinischen Wirkens von der Bekehrung bis zum Apo
stelkonvent weichen die Apg und die Protopaulinen erheblich voneinander ab.
In Gal 1, 6 2, 14 gibt Paulus einen Àberblick Über sein missionarisches Wirken
bis zum Apostelkonvent. ZunÈchst betont er in Gal 1, 17, er sei nach seiner Be
kehrung nicht nach Jerusalem gegangen, sondern nach Arabia, um dann wieder
nach Damaskus zurÜckzukehren22. Der Apostel will mit dieser Bemerkung seine
UnabhÈngigkeit von der Jerusalemer Urgemeinde unterstreichen, so daß sich die
zeitliche VerknÜpfung in Gal 1, 18 (eµpeita metà eµtv trı´a = „3 Jahre spÈter“) wahr
scheinlich auf seine Bekehrung bezieht. Erst nach diesem relativ langen Zeit
raum kam Paulus nach Jerusalem, um nur 15 Tage bei Kephas zu bleiben und
auch noch den Herrenbruder Jakobus zu sehen. Nach dem ersten Jerusalem Be
exegetische Studie Über den antiochenischen 22 Auf diese frÜhe Mission des Paulus bezieht
Zwischenfall (Gal 2, 11–14), BZNW 62, Berlin sich die in 2 Kor 11, 32 f. erwÈhnte Flucht des
1991. Apostels vor den Soldaten des Ethnarchen des
20 Vgl. A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 322 f. NabatÈerkÚnigs Aretas IV (ca. 9 v. Chr. – 38/39
21 Vgl. G. LÜdemann, Paulus I, 77 f. 101 ff. n. Chr.); zu den Problemen vgl. A. Suhl, Paulus
Th. Zahn, Der Brief des Paulus an die Galater, und seine Briefe, 314 f; A. Knauf, Zum Ethnar-
KNT 9, Leipzig 31922, 112 f, u. a. setzen ebenfalls chen des Aretas 2 Kor 11, 32, ZNW 74 (1983),
den antiochenischen Zwischenfall vor den Kon- 145–147.
vent; vgl. dazu A. Wechsler, Geschichtsbild und
Apostelstreit, 153 ff.
38 Die Chronologie des paulinischen Wirkens
such hielt sich Paulus in Syrien und Kilikien auf, fernab von Jerusalem, um „da
nach, 14 Jahre spÈter“ (Gal 2, 1: eµpeita dià dekatessárwn etw̃n) in Begleitung von
Barnabas und Titus aus Anlaß des Apostelkonvents Jerusalem ein zweites Mal
zu besuchen. Die Zeitangabe in Gal 2, 1 wirft die Frage auf, worauf sich das Ad
verb eµpeita und die Jahresangabe dià dekatessárwn etw̃n beziehen. Das Adverb
eµpeita („danach, darauf, dann“) gebraucht Paulus bei Anreihungen und AufzÈh
lungen (vgl. 1 Thess 4, 17; 1 Kor 15, 5. 6. 7. 23. 46). Es hat vornehmlich einen zeit
lichen Sinn (Ausnahme: 1 Kor 12, 28) und schließt jeweils an das Vorhergehen
de an. FÜr Gal 2, 1 ergeben sich daraus drei VerstehensmÚglichkeiten: a) Die
Zeitangabe bezieht sich auf die Bekehrung des Paulus23. b) Sie knÜpft an das un
mittelbar Vorausgehende an, d. h. an die Reise des Apostels nach Syrien und Ki
likien24. c) Der Bezugspunkt ist die erste Reise des Paulus nach Jerusalem25. Der
erste Vorschlag ist abzulehnen, weil er die 3 Jahre aus Gal 1, 18 den 14 Jahren
aus Gal 2, 1 subsumiert. Wenn Paulus schon zwei Zeitangaben macht, besteht
kein Grund fÜr die Annahme, die erste Angabe sei bereits in der zweiten enthal
ten26. Steht eµpeita jeweils mit dem unmittelbar Vorhergehenden in einem engen
Zusammenhang, in Gal 1, 18 mit der RÜckkehr nach Damaskus und in Gal 2, 1
mit der Reise nach Syrien und Kilikien (Gal 1, 21), dann verliert die paulinische
Argumentation an Àberzeugungskraft. Dienen doch die Zeitangaben in Gal 1, 18
erkennbar der Demonstration der UnabhÈngigkeit des Apostels, so daß ihr Be
zugspunkt nicht die in diesem Zusammenhang unwichtige RÜckkehr nach Da
maskus, sondern die Berufung und Beauftragung des Paulus ist. Auch in Gal 2, 1
darf eµpeita nicht vom unmittelbar Vorhergehenden an gezÈhlt werden, vielmehr
bezieht es sich auf den ersten Jerusalem Besuch. Paulus bestÈtigt dies selbst
durch seine Bemerkung, er sei wiederum (pálin ane´bvn) nach Jerusalem hinauf
gezogen. Bei der Zeitangabe in Gal 2, 1 fÈllt die Verwendung von diá anstelle der
PrÈposition metá (vgl. zuvor Gal 1, 18) auf. Auch wenn diá mehr die Dauer des
Zeitraumes, die Zeitspanne betont als metá oder pro´, lÈßt sich daraus doch kein
grundlegender sachlicher Unterschied ableiten.
Da bei der antiken ZÈhlweise das angebrochene Jahr voll mitgerechnet wird,
ergibt sich fÜr das paulinische Wirken von der Bekehrung bis zum Apostelkon
vent folgender Ablauf: Dem Apostelkonvent im FrÜhjahr 48 geht eine Missions
tÈtigkeit in Syrien und Kilikien voran, die ca. 13 Jahre dauerte und zwei Phasen
umfaßte: Paulus hielt sich wahrscheinlich zunÈchst ca. 6 Jahre in Tarsus und im
kilikischen Raum auf, um sich dann um 42 n. Chr. der antiochenischen Mission
23 So A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 46 ff. 25 So z. B. T. Holtz, 1 Thess (s. u. 2.4.1), 19.
24 Diese Position vertritt G. LÜdemann, Paulus I, 26 Vgl. zur Kritik an Suhl bes. G. LÜdemann,
83–86. Paulus I, 83 f.
Die relative Chronologie 39
anzuschließen27. Der erste Besuch des Paulus in Jerusalem fÈllt dann in das Jahr
35. Der Aufenthalt in Arabia fand wahrscheinlich im Jahr 34 statt, so daß sich
zwischen der Bekehrung im Jahr 33 und dem ersten Jerusalem Besuch ein Ab
stand von 2 Jahren ergibt. Das Jahr 33 als Zeitpunkt der Berufung und Beauftra
gung des Paulus bei Damaskus lÈßt sich gut mit dem vermutlichen Todesdatum
Jesu vereinbaren, dem 14. Nisan (7. April) 3028. FÜr dieses Todesdatum Jesu las
sen sich zwei Argumente anfÜhren: 1) Sowohl die astronomischen Berechnun
gen als auch die Traditionen Über das Todesdatum Jesu sprechen fÜr die Annah
me, daß der 14. Nisan im Jahr 30 auf einen Freitag fiel. 2) Nach Lk 3, 1. 2 trat Jo
hannes d. T. im Jahre 27/28 Úffentlich auf. Dieses Datum markiert auch den Be
ginn des Úffentlichen Wirkens Jesu, das ca. 2 bis 3 Jahre umfaßte. Ein Abstand
von drei Jahren zwischen der Kreuzigung Jesu und der Bekehrung des Paulus
ergibt sich aus der Missionsgeschichte des frÜhen Christentums, denn die Verfol
gertÈtigkeit des Paulus setzte bereits eine fortgeschrittene Ausbreitung des Chri
stentums voraus.
Das zentrale Problem der Paulus Chronologie besteht in den WidersprÜchen
zwischen den Angaben in Gal 1. 2 und dem Zeugnis der Apg. Betont Paulus in
Gal 1, 17, er sei nach seiner Bekehrung bei Damaskus nicht sofort nach Jerusa
lem gegangen, so reist er laut Apg 9, 26 unmittelbar im Anschluß an seine Flucht
aus Damaskus nach Jerusalem. Diese Darstellung entspricht der lukanischen Ek
klesiologie, denn der Evangelist ist an der Einheit der sich bildenden Kirche in
teressiert, die sich hier exemplarisch in der sofortigen Kontaktaufnahme des
Paulus mit den Jerusalemer Aposteln zeigt29. Berichtet Paulus in Gal 1, 18 nur
von einer Jerusalemreise vor dem Apostelkonvent, so war er nach dem Zeugnis
der Apg noch ein zweites Mal vor dem Apostelkonvent in Jerusalem (11, 27 30).
Auch hier ist dem Selbstzeugnis des Paulus zu folgen, zumal sich die zweite Jeru
salemreise des Paulus ebenfalls in die lk. Ekklesiologie einordnen lÈßt. Lukas
verarbeitete in Apg 11, 27 30 einzelne Traditionselemente, um die KontinuitÈt
27 Die Zeitdauer dieser Mission ist schwer einzu- n. Chr. (vgl. R. Riesner, a. a. O., 111–121). Etwas
ordnen; als Argumente fÜr die genannten Zeit- anders M. Hengel – A. M. Schwemer, Paulus zwi-
rÈume lassen sich anfÜhren: 1) Lukas setzt mit schen Damaskus und Antiochien, 267–275, die
Apg 12, 1 a („Um jene Zeit aber“) den Beginn des mit drei bis vier Jahren Aufenthalt des Apostels in
Wirkens von Barnabas und Paulus in Antiochia Kilikien rechnen (zwischen 36/37 und 39/40
in eine zeitliche Beziehung zu der Verfolgung der n. Chr.), bevor Paulus sich nach selbstÈndiger und
Urgemeinde durch Agrippa I. (vgl. Apg 12, 1 b– erfolgreicher MissionstÈtigkeit der antiocheni-
17). Diese Verfolgung ereignete sich wahrschein- schen Mission anschloß (ca. 39/40–48/49 n. Chr.)
lich im Jahr 42 n. Chr.; vgl. R. Riesner, FrÜhzeit 28 Vgl. den grundlegenden Nachweis von
des Apostels Paulus, 105–110. 2) Die in Apg A. Strobel, Der Termin des Todes Jesu, ZNW 51
11, 28 erwÈhnte Hungersnot und die UnterstÜt- (1960), 69–101.
zung der Antiochener fÜr Jerusalem (Apg 11, 29) 29 Vgl. J. Roloff, Apg (s. u. 4.1), 154.
fallen in den Zeitraum zwischen 42 und 44
40 Die Chronologie des paulinischen Wirkens
30 Vgl. zur Analyse G. Strecker, Die sogenannte levanz dieser Universalisierung des Christentums
Zweite Jerusalemreise des Paulus (Act. 11, 27– immer deutlicher.“ Zugleich weisen aber die zahl-
30), in: ders., Eschaton und Historie, GÚttingen reichen Orts-, Zeit- und Personaltraditionen dar-
1979, 132–141. auf hin, daß Lukas innerhalb seiner Gestaltung
31 So H. Conzelmann, Apg (s. u. 4.1), 7. Zweifel- den Ablauf der paulinischen Mission in ihren
los verdankt sich die Periodisierung des paulini- GrundzÜgen zutreffend wiedergibt.
schen Wirkens lukanischer Gestaltung; vgl. 32 Vgl. den Hinweis von M. Hengel, Die UrsprÜn-
C. Burfeind, Paulus muß nach Rom, NTS 46 ge der christlichen Mission, NTS 18 (1971/72),
(2000), (75–91) 83: „Lukas hat mit den drei Rei- (15–38) 18 A 15, daß Syrien und Cilicia campe-
sen des Paulus eine Strukturierung der Apg nach stris (mit Tarsus) z. Zt. des Paulus eine rÚmische
theologischen Gesichtspunkten vorgenommen: Provinz bildeten.
erst wird die Heidenmission legitimiert, dann die 33 Vgl. J. Roloff, Apg (s. u. 4.1), 194 ff. R. Riesner,
UnabhÈngigkeit dieser Heidenmission von der FrÜhzeit des Apostels Paulus, 234–248; C. Brey-
Synagoge, und schließlich wird die politische Re- tenbach, Paulus und Barnabas (s. u. 2.7.1), 16–97.
Die relative Chronologie 41
Barnabas noch untergeordnet ist (vgl. bes. Apg 14, 12). DarÜber hinaus ist Antio
chia und nicht Jerusalem der Ausgangs und Endpunkt fÜr die erste bedeutende
Missionsreise, was den sonstigen lk. Darstellungsintentionen nicht entspricht.
Man wird also eine paulinische Mission in Syrien und Kilikien unter Einschluß
von SÜdgalatien (und Zypern?)34 vor dem Apostelkonvent annehmen dÜrfen,
obwohl das Zeugnis der Apg und die Eigenaussage in Gal 1, 21 nicht vÚllig zur
Deckung zu bringen sind.
34 Zypern wurde nach Apg 11, 19 von aus Jeru- und verband sie sekundÈr in Apg 13, 1–3.4–12
salem vertriebenen Hellenisten missioniert, so mit Paulus, um so Barnabas, Paulus und Johan-
daß Christen aus Zypern sogar ihrerseits in Antio- nes Markus zusammenzubringen; zur Analyse
chia wirkten (vgl. Apg 11, 20). Zudem reisen Bar- von Apg 13, 4–12 vgl. G. LÜdemann, Traditionen
nabas und Johannes Markus (vgl. Apg 13, 5 b) (s. u. 4.1), 155–158.
nach Apg 15, 39 wiederum nach Zypern, um dort 35 Vgl. Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur,
missionarisch tÈtig zu sein. Wahrscheinlich hafte- 76 ff; A. Suhl, Paulus und seine Briefe, 43 ff.
ten die antiochenischen Zypern-Traditionen an 36 Vgl. G. LÜdemann, Paulus I, 174 ff.
Barnabas (vgl. Apg 4, 36 f), Lukas nahm sie auf 37 A. a. O., 146.
42 Die Chronologie des paulinischen Wirkens
anderen Namen haben. 3. Die Wendung en arcU˜ tou˜ euaggelı´ou in Phil 4, 15 be
zieht sich schwerlich auf den Anfang der paulinischen Mission, denn auch nach
LÜdemanns Chronologie liegt vor dem frÜhen Europa Aufenthalt die MissionstÈ
tigkeit des Paulus in Syrien, Kilikien und Galatien. 4. Die zweifellos vorhandenen
Unterschiede zwischen 1 Thess 4, 13 18 und 1 Kor 15, 51 ff lassen sich ohne
Schwierigkeiten erklÈren, wenn man den 1 Thess in das Jahr 50 datiert (s. u.
2.4.3) und damit einen Abstand von ca. 4 Jahren zum 1 Kor erhÈlt.
ErmÚglichte die Gallio Szene als Ausgangspunkt der absoluten Chronologie eine
relativ sichere Datierung der Hauptstationen des paulinischen Wirkens zurÜck
bis zur Bekehrung, soll nun auf dieser Basis die paulinische Mission im Anschluß
an den in Apg 18, 1 17 geschilderten Korinth Aufenthalt chronologisch einge
ordnet werden. Schon der summarische Reisebericht in Apg 18, 18 23 wirft gro
ße Probleme auf. Danach verweilt Paulus noch ein paar Tage in Korinth, um
dann nach Syrien zu fahren. Das ihn begleitende Ehepaar Prisca und Aquila lÈßt
er in Ephesus zurÜck, er diskutiert mit den Juden in der Synagoge, schlÈgt aber
die sich ergebende MissionsmÚglichkeit aus, um Ephesus zu verlassen. Obgleich
Apg 18, 18 Syrien als das eigentliche Reiseziel des Paulus nennt, landet er in
Apg 18, 22 in Caesarea, geht hinauf (anabáß = geht nach Jerusalem) und zieht
dann von Jerusalem nach Antiochia weiter38. Diese Reisestationen werden bis
auf die Àbersiedlung des Ehepaars Prisca und Aquila von Korinth nach Ephesus
durch die Paulusbriefe nicht bestÈtigt. Auch fÜr den Ablauf und die Motivation
der Reise kann keine befriedigende ErklÈrung gefunden werden. Was wollte
Paulus mitten in seiner erfolgreichen MissionstÈtigkeit in Makedonien und Klein
asien in Antiochia? UnerklÈrlich bleiben schließlich die Landung in Caesarea
und der Jerusalembesuch, denn nach Apg 18, 18 ist Syrien und nach Apg 18, 22
Antiochia das eigentliche Reiseziel. Die Landung in Caesarea mit ungÜnstigen
WindverhÈltnissen39 zu erklÈren, ist kaum mehr als eine Verlegenheitsauskunft.
Zudem dÜrfte der vierte Jerusalem Besuch nach lk. ZÈhlung nicht historisch
sein40, denn er steht im Gegensatz zu den Aussagen der Protopaulinen. Was be
rechtigt aber dazu, in Apg 18, 22 Jerusalem zu streichen und Caesarea und An
tiochia fÜr ursprÜnglich zu halten? Andererseits sprach die vorlk. Tradition von
einer Reise des Apostels nach Antiochia, von wo er auf dem Weg nach Ephesus
das galatische Land und Phrygien besuchte. Nachdem alle Versuche gescheitert
38 Zur Analyse von Apg 18, 18–23 vgl. bes. 39 So z. B. E. Haenchen, Apg (s. u. 4.1), 525;
A. Weiser, Apg II (s. u. 4.1), 496 ff. Eine Trennung J. Roloff, Apg (s. u. 4.1), 276.
von Redaktion und Tradition ergibt folgendes 40 Vgl. A. Weiser, Apg II (s. u. 4.1), 502; J. Roloff,
Bild: Traditionelle Elemente dÜrften V. 18 a– Apg (s. u. 4.1), 277.
c.19 a.21 b–23 enthalten, demgegenÜber entspre-
chen V. 18 d.19 b–21 a dem lk. Paulusbild.
Die relative Chronologie 43
41 Vgl. dazu A. Weiser, Apg II (s. u. 4.1), 495– me von Apg 18, 18–23, wie schwierig derartige
502. Aufteilungen sind. WÈhrend die 1. Missionsreise
42 Der Abschnitt Apg 18, 23–21, 14 wird traditio- (Apg 13, 1–14, 28) und der Beginn der 2. Mis-
nell als 3. Missionsreise bezeichnet, die in den Zeit- sionsreise (Apg 15, 36) klar abgrenzbar sind, ist
raum 52–55/56 n. Chr. fÈllt. Lukas intendiert of- der Àbergang von der 2. zur 3. Missionsreise nicht
fensichtlich mit der RÜckkehr des Paulus nach deutlich markiert.
Antiochia in Apg 18, 22 eine solche Periodisie- 43 Vgl. P. SchÈfer, Geschichte der Juden in der
rung. Zugleich zeigen aber die erwÈhnten Proble- Antike, Neukirchen 1983, 131.
44 Die Chronologie des paulinischen Wirkens
lÚsung ist umstritten (5544, 58 oder 59 n. Chr.45). Josephus (Bell II 250 270) da
tiert die mit Felix verbundenen Ereignisse in die Regierungszeit Neros. Nero trat
seine Herrschaft im Oktober 54 an, alle von Josephus erwÈhnten Geschehnisse
hÈtten sich bei einer AblÚsung im Jahr 55 innerhalb kÜrzester Zeit abgespielt46.
Deshalb ist von einer AmtsÜbergabe im Jahr 58 auszugehen47, was sich auch mit
Apg 24, 1 gut vereinbaren lÈßt, denn der dort erwÈhnte Hohepriester Ananias
amtierte etwa 47 5948. Weil Paulus vor dem Prokurator Festus an den Kaiser ap
pellierte (vgl. Apg 25, 11), wurde er wahrscheinlich noch im Jahr 58 mit einem
Gefangenentransport unter der Leitung eines Centurio nach Rom ÜberfÜhrt
(vgl. Apg 27, 1 28, 16)49. Fiel die Romreise in den Winter 58/59, dann traf Pau
lus im FrÜhjahr 59 in der Welthauptstadt ein50. Nach dem Zeugnis von
Apg 28, 30 konnte sich Paulus relativ frei bewegen, und er predigte 2 Jahre un
gehindert in seiner Wohnung. Das Todesjahr des Apostels ist unbekannt, man
darf aber vermuten, daß er wÈhrend der Christenverfolgung unter Nero im Jahr
64 in Rom als MÈrtyrer starb (vgl. 1 Klem 5, 5 7)51.
44 So G. LÜdemann, Paulus I, 197 f A 101. gibt sich, daß Felix den Überwiegenden Teil dieser
45 FÜr 59 n. Chr. votieren z. B. R. Riesner, FrÜh- Zeit Prokurator war.
zeit des Apostels Paulus, 196–200; A. Scriba, Von 48 Vgl. E. SchÜrer, The History of the Jewish Peo-
Korinth nach Rom, 163 f. Sie berufen sich u. a. ple in the Age of Jesus Christ II, rev. and ed. by
auf Y. Meshorer, Ancient Jewish Coinage II, New- G. Vermes – F. Millar – M. Black, Edinburgh 1979,
York 1982, 183, der eine neue MÜnzprÈgung in 231.
PalÈstina im 5. Jahr der Herrschaft Neros (58/59) 49 H. Warnecke, Die tatsÈchliche Romfahrt des
unmittelbar mit dem Amtsantritt des Festus ver- Paulus, SBS 127, Stuttgart 1987, identifiziert die
bindet und folgert: „Festus apparently assumed in Apg 28, 1 erwÈhnte Insel mit Namen Melı´tv
office in 59 C. E.“ (ebd.). MÜnzprÈgung und nicht mit Malta, sondern meint, der Strandungs-
Amtsantritt kÚnnen, mÜssen aber nicht exakt in ort sei vor einer Halbinsel der westgriechischen
dasselbe Jahr fallen, zumal auch das Ende des Insel Kephallenia zu suchen. FÜr diese Theorie
Jahres 58 fÜr die MÜnzprÈgung nicht auszuschlie- votiert A. Suhl, Gestrandet! Bemerkungen zum
ßen ist. Bei der Alternative 58 oder 59 n. Chr. hat Streit Über die Romfahrt des Paulus, ZThK 88
das Jahr 58 den Vorteil, daß es einen notwendi- (1991), 1–28; Überzeugende Kritik wird vorgetra-
gen Spielraum fÜr die Ereignisse lÈßt, die fÜr den gen von J. Wehnert, Gestrandet. Zu einer neuen
Bereich 58/59 anzusetzen sind: Wechsel im Pro- These Über den Schiffbruch des Apostels Paulus
kuratorenamt, neue MÜnzprÈgung, Wechsel im auf dem Wege nach Rom (Apg 27–28), ZThK 87
Hohenpriesteramt (nach Jos, Ant 20, 179, wird im (1990), 67–99; M. Reiser, Von Caesarea nach Mal-
Jahr 59 Ismael durch Agrippa II ernannt). ta. Literarischer Charakter und historische Glaub-
46 Vgl. die eingehende Besprechung aller Proble- wÜrdigkeit von Act 27, in: F. W. Horn (Hg.), Das
me bei R. Jewett, Paulus-Chronologie, 76–80. Ende des Paulus (s. u. 4.1), 49–74.
47 Vgl. S. Safrai – M. Stern, The Jewish People in 50 R. Riesner, FrÜhzeit des Apostels Paulus, 201;
the First Century, CRINT 1/1, Assen 1974, 74–76. A. Scriba, Von Korinth nach Rom, 171, legen die
Trat Felix sein Amt 52/53 an, so verbleibt fÜr ihn Ankunft des Apostels in Rom in das Jahr 60
und Festus insgesamt eine zehnjÈhrige Amtszeit, n. Chr.
da im Jahr 62 bereits Albinos als Prokurator am- 51 Obwohl Lukas den Tod des Paulus nicht er-
tierte (vgl. Jos, Bell VI 301 ff). Aus der Darstellung wÈhnt, dÜrfte er um dessen MÈrtyrerschicksal ge-
des Josephus (Bell II 247–276) und Apg 24, 10 er- wußt haben (vgl. Apg 20, 22–24; 21, 13).
Die relative Chronologie 45
Tod Jesu 30
Bekehrung des Paulus 33
Erster Aufenthalt in Jerusalem 35
Paulus in Kilikien ~36 42
Paulus in Antiochia ~42
1. Missionsreise ~45 47
Apostelkonvent 48 (FrÜhjahr)
Antiochenischer Zwischenfall 48 (Sommer)
2. Missionsreise 48 (SpÇtsommer) 51/52
Paulus in Korinth 50/51
Gallio in Korinth 51/52
Reise nach Antiochia 51/52
3. Missionsreise 52 55/56
Aufenthalt in Ephesus 52 54/55
Paulus in Makedonien 55
Letzter Aufenthalt in Korinth 55/56
Ankunft in Jerusalem FrÜhsommer 56
Amtswechsel Felix/Festus 58
Ankunft in Rom 59
Tod des Paulus 64
Mit der Erstellung dieser Chronologie ist lediglich der Rahmen geschaffen, um
die Briefe in die paulinische Missionsgeschichte zeitlich einzuordnen. Eine Da
tierung der Briefe erfolgt in den jeweiligen Einzelkapiteln.
Literatur
H. Conzelmann, Paulus und die Weisheit, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh
65, MÜnchen 1974, 177 190. Helga Ludwig, Der Verfasser des Kolosserbriefes (s. u.
5.2.1), 201 229. H. Conzelmann, Die Schule des Paulus, in: Theologia Crucis Signum
Crucis (FS E. Dinkler), hg. v. C. Andresen G. Klein, TÜbingen 1979, 85 96. K. Scholtis
sek, Paulus als Lehrer, in: ders. (Hg.), Christologie in der Paulus Schule, SBS 181, Stuttgart
2000, 11 36. K. Backhaus, „Mitteilhaber am Evangelium“ (1 Kor 9, 23). Zur christologi
schen Grundlegung einer „Paulus Schule“ bei Paulus, a. a. O., 44 71. Th. Schmeller,
Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner
Zeit, HBS 30, Freiburg 2001.
tionen mitbedacht wird. Paulus war zweifellos der Überragende Theologe seiner
Zeit, der in eigenstÈndiger Weise eine neue und wirkungsmÈchtige Theologie
entwickelte. Zugleich entstammte er einer Schultradition und grÜndete selbst
eine Schule, von der die Proto und Deuteropaulinen in unterschiedlicher Weise
Zeugnis ablegen52.
52 Von einer ‚Paulusschule‘ spricht m. W. erst- Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testament?,
mals H. J. Holtzmann, Die Pastoralbriefe (s. u. 46–92.
5.5.2), 117. 55 Klassisch Diog Laert 1, 13–15.18; 2, 47: Sokra-
53 Vgl. hier M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, tes als Vater zahlreicher philosophischer Schulen.
in: Paulus und das antike Judentum, hg. v. Epikur sagt Über den Weisen: „Er wird eine Schu-
M. Hengel u. U. Heckel, WUNT 58, TÜbingen le grÜnden, aber nicht fÜr den Massenunterricht;
1991, 177–291; K. W. Niebuhr, Heidenapostel aus auch wird er auf Bitten Úffentliche VortrÈge hal-
Israel, WUNT 62, TÜbingen 1992. ten. Er wird feste Lehrmeinungen und keine Er-
54 Vgl. dazu L. Alexander, Paul and the Helleni- kenntniszweifel haben“ (Diog Laert 10, 121 b).
stic Schools: The Evidence of Galen, in: T. Eng- 56 Zur Definition antiker Schulen vgl.
berg-Pedersen (Hg.), Paul in his Hellenistic Con- Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testament?, 91:
text, Minneapolis 1995, 60–83; A. Standhartinger, „Eine philosophische Schule ist eine institutiona-
Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention lisierte Verbindung zwischen einem Lehrer und
des Kolosserbriefes (s. u. 5.2.1), 1–10.277–289; mehreren SchÜlern aus sozial privilegierten Krei-
Die paulinische Schultradition 47
Nach seiner Bekehrung wirkte Paulus lange Jahre als Mitarbeiter der Gemein
de von Antiochia. Apg 13, 1 erwÈhnt neben Paulus als Propheten und Lehrer in
Antiochia noch Barnabas, Simeon Niger, Lukios aus Kyrene und Manaen, einen
MitzÚgling des Herodes Antipas. In Antiochia wurde Paulus wahrscheinlich auch
in die Grundlagen des christlichen Glaubens eingefÜhrt. Die Bedeutung von
Überlieferten Traditionen fÜr seine Theologie betont der Apostel in 1 Kor 11, 23 a;
15, 3 a. Durch die Àbernahme von Abendmahls (vgl. 1 Kor 11, 23 b 25) und
Tauftraditionen (vgl. 1 Kor 1, 30; 6, 11; 12, 13; 2 Kor 1, 21 f; Gal 3, 26 28; RÚm
3, 25; 4, 25; 6, 3 f), die Integration christologischer ÀberlieferungsstÜcke (vgl.
RÚm 1, 3 b 4 a) und die Aufnahme urchristlicher Hymnen (vgl. Phil 2, 6 11) do
kumentiert Paulus seine Verbundenheit mit der ihm vorgegebenen Tradition
und lÈßt zugleich erkennen, daß er seine Theologie zu einem nicht unerhebli
chen Teil als Auslegung dieser Tradition verstanden wissen will57.
sen, bei der philosophische Tradition, die auf ei- kulturgeschichtliche PhÈnomene aufzufassen. 3)
nen GrÜnder zurÜckgefÜhrt wird, gelehrt und ge- Bereits Lukas stellt die Christen (vgl. Apg 11, 26;
lernt und zugleich ethisch interpretiert und ak- 26, 28: Cristianoı´) als Schule und Paulus (vgl.
tualisiert wird.“ FÜr Paulus folgert Schmeller, nur Apg 19, 9: Lehrsaal des Tyrannos; Apg 17, 16–
a. a. O., 182: „Von einer Paulusschule zu Lebzei- 34: Paulus in Athen) als SchulgrÜnder und Lehrer
ten des Paulus ist nur mit großen Vorbehalten zu dar. 4) Das hohe theologische Niveau sowohl der
sprechen.“ NatÜrlich decken die Proto- und Deu- Proto- als auch (mit EinschrÈnkungen) der Deu-
teropaulinen nicht jedes Charakteristikum anti- teropaulinen lÈßt darauf schließen, daß es institu-
ker Schulen in gleicher Dichte ab (vgl. die Aufli- tionalisierte Verbindungen und Umgangsformen
stung der Kritikpunkte bei Th. Schmeller, a. a. O., zwischen Paulus und seinen Mitarbeitern gege-
179–182: StÈrkeres Gruppenbewußtsein bei den ben haben muß, auch wenn diese aufgrund der
Christen, keine AufstiegsmÚglichkeiten fÜr Lehrer Quellenlage im Einzelfall nicht nachzuweisen
neben Paulus, niedrige soziale Stellung der Pau- sind. 5) Heidnische Autoren verstanden die Chri-
lusschÜler, LehraktivitÈten sind nicht einfach sten als Schulbildung (vgl. Gal, De pulsum diffe-
identisch mit SchulaktivitÈten, fehlende Ausgren- rentiis 2, 4; Luc, Alex 25; 38; Peregr Mort 11; 12;
zung von Lehrer-SchÜler-Gruppen aus den Ge- 13; 16). 6) Schließlich kann gefragt werden, wel-
meinden). Gegen Schmeller sind sechs EinwÈnde chen heuristischen Wert die Aufgabe des Schul-
zu erheben: 1) Auf methodologischer Ebene muß begriffes hÈtte. Sind Begriffe wie Gemeinde, Mis-
bedacht werden, daß neue gesellschaftliche Be- sion, Kreis, Verein, Gruppe oder Bewegung besser
wegungen nie eine einfache Kopie Überlieferter geeignet, die PhÈnomene zu erfassen?
Formen sind. Es kommt immer darauf an, wie ein 57 Wenn Paulus in Antiochia als Mitarbeiter der
idealtypisches Raster entworfen wird und wie dortigen Mission arbeitete, so heißt dies keines-
sehr sich das zu Vergleichende diesem Raster un- wegs, daß nun die meisten vorpaulinischen Tradi-
terwerfen muß. 2) Die erwÈhnten beachtlichen tionen auch in Antiochia entstanden, gegen
Àbereinstimmungen zwischen Paulus, seinen P. Stuhlmacher, RÚm (s. u. 2.8.1), 90 f; J. Becker,
Mitarbeitern und antiken Philosophenschulen Paulus (s. o. 2), 107 ff.
sprechen nach wie vor dafÜr, sie als vergleichbare
48 Die Schule des Paulus
58 Treffend K. Scholtissek, Paulus als Lehrer, 34: 59 Grundlegend hier: W. H. Ollrog, Paulus und
„De facto hat Paulus als Lehrer gewirkt: im Sinne seine Mitarbeiter, WMANT 50, Neukirchen 1979;
der TÈtigkeit des geschichtlichen Paulus selbst vgl. ferner R. Reck, Kommunikation und Gemein-
(VerkÜndigung des Evangeliums, Mitarbeiter- deaufbau. Eine Studie zu Entstehung, Leben und
kreis, GemeindegrÜndungen) und im Blick auf Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kom-
die Wirkung in der Wahrnehmung und Rezepti- munikationsstrukturen der Antike, SBB 22, Stutt-
on seiner Zeitgenossen (Mitarbeiter, Gemeinde- gart 1991.
mitglieder, Nichtchristen) und der Nachgebore-
nen.“
Die von Paulus gegründete Schule 49
gen. Die große Zahl der Gemeindegesandten hing ursÈchlich mit der neuen Mis
sionsmethode des Paulus zusammen. Er fÜhrte nicht die bis dahin praktizierte
Reisemission weiter, sondern entwickelte eine eigenstÈndige Zentrumsmisson .
Wanderten andere Missionare oder urchristliche Propheten von Ort zu Ort, ver
suchte Paulus, in der jeweiligen Provinzhauptstadt eine Gemeinde zu grÜnden.
Dort blieb er so lange, bis die Gemeinde auf eigenen FÜßen stand und seine An
wesenheit nicht mehr benÚtigte. Aus der paulinischen Zentrumsmission er
wuchsen eigenstÈndige Gemeinden, die ihrerseits eine Basis fÜr die weitere pau
linische Mission bildeten und in eigener Verantwortung Missionsarbeit Übernah
men (vgl. 1 Thess 1, 6 8). Innerhalb dieses großen Mitarbeiterkreises wird sich
die Arbeit des Paulus kaum auf reine Organisationsfragen beschrÈnkt haben.
Speziell im engeren Mitarbeiterkreis wird man eine intensive theologische Ar
beit voraussetzen dÜrfen60.
c) In den Paulusbriefen bestÈtigen diese Vermutung Texte, die sich durch ihre
Form, ihre Theologie und ihre Stellung deutlich abheben. So weist 1 Kor 13 nur
eine sehr lockere Verbindung zum Kontext auf, der Àbergang zwischen 1 Kor
12, 31 und 1 Kor 14, 1 ist bruchlos61. Auch inhaltlich zeigen sich Besonderheiten,
denn die Charismata des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe stehen Über al
len anderen Gnadengaben. 1 Kor 13 wurde offenbar bereits vor der Abfassung
des 1 Kor konzipiert, es ist ein Zeugnis der theologischen Arbeit in der Paulus
schule. Vergleichbare Texte finden sich in 1 Kor 1, 18 ff; 2, 6 ff; 10, 1 ff; 2 Kor
3, 7 ff; RÚm 1, 18 ff; 7, 7 ff. Alle Texte zeichnen sich durch ihren unpolemischen
Charakter, ihre thematische Geschlossenheit und ihre traditionsgeschichtliche
Verwurzelung im hellenistischen Judentum aus. Die große NÈhe zur Weisheitsli
teratur lÈßt vermuten, daß Paulus hier auch an seine vorchristliche Zeit an
knÜpft62.
d) NachdrÜcklich bestÈtigen die Deuteropaulinen (Kol, Eph, 2 Thess, Past)63 die
Existenz einer Über den Tod des Apostels hinaus existierenden Paulusschule.
Dieser Nachlaß von vier PaulusschÜlern verdeutlicht, wie das Erbe der paulini
schen Theologie in einer verÈnderten Situation weitergepflegt und angewandt
wurde. AuffÈllig ist das ZurÜcktreten der spezifischen paulinischen Rechtferti
gungslehre des Gal und RÚm in allen Deuteropaulinen64. Auch die apokalypti
schen Motive in der Christologie verlieren an Gewicht, es herrscht eine prÈsenti
60 Vgl. dazu H. Ludwig, Der Verfasser des Kolos- 63 P. MÜller, AnfÈnge der Paulusschule (s. u. 5),
serbriefes, 210 ff. 270–320, beschrÈnkt das PhÈnomen der Paulus-
61 Vgl. H. Conzelmann, 1 Kor (s. u. 2.5.1), 264 ff. schule auf die Deuteropaulinen.
62 Vgl. H. Conzelmann, Paulus und die Weisheit, 64 Vgl. dazu U. Luz, Rechtfertigung bei den Pau-
179; Kritik an Conzelmanns These einer Paulus- lusschÜlern, in: Rechtfertigung (FS E. KÈsemann),
schule Übt W. H. Ollrog, Paulus und seine Mitar- hg. v. J. Friedrich u. a., TÜbingen 1976, 365–383.
beiter, 115–118.
50 Die Schule des Paulus
65 Vgl. H. Conzelmann, Paulus und die Weisheit, sen, Christen in Ephesus, TANZ 12, TÜbingen
179. 1995; M. GÜnther, Die FrÜhgeschichte des Chri-
66 Vgl. zu Ephesus bes. W. Elliger, Ephesos. Ge- stentums in Ephesus, Frankfurt 1996; R. Strelan,
schichte einer antiken Weltstadt, Stuttgart 1985. Paul, Artemis, and the Jews in Ephesus, BZNW
Zur Geschichte des Christentums in Ephesus vgl. 80, Berlin 1996.
die sehr unterschiedlichen Arbeiten von W. Thies-
Der antike Brief als Gattung 51
A. Deissmann, Licht vom Osten, TÜbingen 41923. H. Koskenniemi, Studien zu Idee und
Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n. Chr., AASF B 102, 2, Helsinki 1956.
K. Thraede, GrundzÜge griechisch rÚmischer Brieftopik, Zet. 48, MÜnchen 1970.
W. G. Doty, Letters in Primitive Christianity, Philadelphia 1973. J. L. White, Light from
Ancient Letters, Philadelphia 1986. S. K. Stowers, Letter Writing in Greco Roman Anti
quity, Philadelphia 1986. A. J. Malherbe, Ancient Epistolary Theorists, Atlanta 1988.
H. Probst, Paulus und der Brief, WUNT 2. 45, TÜbingen 1991, 55 107. G. Strecker, Litera
turgeschichte (s. o. 1.2), 66 95. H. J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testa
ment, Paderborn 1998. M. Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testa
ments, Paderborn 2001, 116 125.
67 A. Deissmann, Licht vom Osten, 194. SBL.DS 57, Chico 1981; F. Siegert, Argumentation
68 Ebd. bei Paulus gezeigt an RÚm 9–11, WUNT 34, TÜ-
69 A. a. O., 195. bingen 1985; Th. Schmeller, Paulus und die ‚Dia-
70 Vgl. dazu R. Bultmann, Der Stil der paulini- tribe‘, NTA 19, MÜnster 1987; J. Schoon-Janßen,
schen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, Umstrittene ‚Apologien‘ in Paulusbriefen, GTA
FRLANT 13, GÚttingen 1910 (= 1985); S. K. Stow- 45, GÚttingen 1991.
ers, The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans,
52 Der antike Brief
eine rhetorische Bildung des Paulus erkennen, so daß seine Briefe sowohl vom
Inhalt als auch von der Form her als Literatur einzustufen sind.
Die antiken Briefe sind (wie die Paulusbriefe) eine Kommunikationsform71,
bei der die Kommunikationspartner rÈumlich und zeitlich getrennt sind. Der
Brief dient als Ersatz fÜr ein GesprÈch (vgl. Cic, Phil 2, 7; Sen, Ep 75). Der Brief
autor nimmt aus dem Repertoir literarischer Ausdrucksformen jeweils auf, was
der von ihm angestrebten Kommunikation am besten zu dienen scheint72. Zwi
schen den vorgegebenen literarischen Ausdrucksformen und den einzelnen Stil
mitteln, auf die ein Autor zurÜckgreifen kann, ihren spezifischen Anwendungen
und den verschiedenen MÚglichkeiten der schriftlichen Kommunikation zwi
schen rÈumlich Getrennten sowie den mit der Kommunikation verfolgten Zielen
besteht eine Interdependenz73. Erst im Vergleich mit den Üblichen literarischen
Mitteln zur BewÈltigung einer bestimmten Kommunikationssituation wird die
spezifische Leistung eines Autors sichtbar.
GrundsÈtzlich kÚnnen die antiken Briefe in Úffentliche (z. B. offizielle oder ge
schÈftliche) und private (familiÈre) Briefe unterteilt werden. Aus der Vielzahl
mÚglicher antiker Briefgattungen74 sind fÜr die paulinischen Briefe der Freund
schaftsbrief und der philosophische Brief von Bedeutung. Der Freundschafts
brief 75 dient zur Pflege des persÚnlichen Kontaktes zwischen Freunden. Zwar ist
der Brief nur ein unvollkommener Ersatz fÜr die rÈumliche Trennung zwischen
Schreiber und EmpfÈnger, aber im Brief ist der Verfasser gleichsam prÈsent. Der
Brief erinnert an die Basis der Freundschaft, durch den Brief wird die Verbin
dung erneuert, und die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen mildert den
Schmerz der Trennung. Auch Paulus ruft den Gemeinden wiederholt die Grund
lagen ihrer gemeinsamen Beziehung ins GedÈchtnis (1 Kor 15, 1; Gal 3, 1), er hat
Sehnsucht nach den Gemeinden (1 Thess 2, 17; Gal 4, 20) und hofft, bald kom
men zu kÚnnen (1 Thess 2, 18; RÚm 1, 11; 15, 32; Phil 2, 24). Als Ersatz fÜr seine
Abwesenheit schickt er Boten oder Briefe (1 Thess 3, 1 f; 1 Kor 5, 3 f). Er ist be
71 Zu den Realien (Beschreibstoffe, Tinte, Rohr, 73 Vgl. dazu K. Ermert, Briefsorten. Untersu-
Schreiber, BefÚrderungsmÚglichkeiten) des anti- chungen zu Theorie und Empirie der Textklassifi-
ken Briefverkehrs vgl. H. J. Klauck, Die antike kation, RGL 20, TÜbingen 1979.
Briefliteratur, 55–70. 74 S. K. Stowers, Letter Writing, 49 ff, schlÈgt 6
72 Eine fÜr die Exegese rezipierbare Kommuni- Brieftypen vor: 1. Freundschaftsbriefe, 2. Fami-
kationstheorie bietet F. Schulz von Thun, Mitein- lienbriefe, 3. Briefe, die loben oder tadeln, 4. Er-
ander reden: KlÈrungen und StÚrungen. Psycho- mahnende Briefe, 5. Empfehlungsbriefe, 6. Apo-
logie der zwischenmenschlichen Kommunikati- logetische Briefe. Andere Einteilungen bei
on, Hamburg 1986. Danach sind bei einer Bot- W. G. Doty, Letters, 5 ff. H. J. Klauck, Die antike
schaft vier Aspekte zu unterscheiden: Sachinhalt, Briefliteratur, 157–164.
Beziehung, Selbstoffenbarung und Appell. All 75 Vgl. zum Freundschaftsbrief H. Koskenniemi,
diese Elemente finden sich in den Paulusbriefen Studien, 115 ff.
in unterschiedlicher IntensitÈt und variablen For-
men.
Das Formular der paulinischen Briefe 53
mÜht, sein Verhalten zu rechtfertigen und die Hindernisse aus dem Weg zu rÈu
men, die einem baldigen Kommen noch entgegenstehen (2 Kor 1, 15 22). In den
philosophischen Briefen 76 (z. B. Briefe der Kyniker, Briefe Epikurs, Seneca: Epistu
lae morales ad Lucilium) findet sich wie bei Paulus vielfach eine Verbindung von
lehrhaften und ethischen Abschnitten. Philosophische Reflexionen verbinden
sich mit Fragen der praktischen LebensfÜhrung. Auch die Selbstdarstellung und
das Selbstzeugnis des Autors nehmen einen breiten Raum ein. Seneca stellt wie
derholt Sokrates als Vorbild hin und wird so selbst zum Exemplum77. Auch Pau
lus empfiehlt sich seinen Gemeinden als Vorbild (1 Thess 1, 6; 1 Kor 11, 1; 4, 16 f;
Gal 4, 12; Phil 3, 17; 4,9), und ausgeprÈgte biographische Partien sind Mittel sei
ner Argumentation (Gal 1, 13 ff; Phil 1, 12 26; 3, 4 ff).
Als weitere Elemente der griechisch rÚmischen Brieftopik finden sich in den
Paulusbriefen: Lob, Tadel, Ermahnung, Trost, Anklage und Verteidigung. Paulus
Übernimmt keine antike Briefgattung, sondern er lehnt sich an antike Briefkon
ventionen an und variiert sie zugleich eigenstÈndig78.
O. Roller, Das Formular der paulinischen Briefe, BWANT 4. 6, Stuttgart 1933. P. Schubert,
Form and Function of the Pauline Thanksgiving, BZNW 20, Berlin 1939. C. J. Bjerkelund,
PARAKAL°. Form, Funktion und Sinn der parakalô SÈtze in den paulinischen Briefen,
BNT 1, Oslo 1967. K. Berger, Apostelbrief und apostolische Rede, ZNW 65 (1974), 190
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stolography, ANRW II 25. 2, Berlin 1984, 1730 1756. F. Schnider W. Stenger, Studien
zum neutestamentlichen Briefformular, NTTS XI, Leiden 1987. Irene Taatz, FrÜhjÜdische
Briefe. Die paulinischen Briefe im Rahmen der offiziellen religiÚsen Briefe des FrÜhjuden
tums, NTOA 16, Freiburg (H) GÚttingen 1991. F. Vouga, Der Brief als Form der apostoli
schen AutoritÈt, in: Studien und Texte zur Formgeschichte, TANZ 7, TÜbingen 1992, 7 58.
D. Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, Darm
76 Vgl. hier H. Cancik, Untersuchungen zu Sene- cation, either in terms of the three main types of
cas Epistulae morales, Spudasmata 18, Hildes- oratory or in terms of the many categories listed
heim 1967, 46–68; K. Berger, Hellenistische Gat- by the epistolary theorists. Most early Christian
tungen und Neues Testament, ANRW 25. 2, Ber- letters are multifunctional and have a ‚mixed‘
lin 1984, (1031–1432) 1132–1138. character, combining elements from two or more
77 Vgl. Sen, Ep 20. 34. 35 u. Ú.; Interpretation der epistolary types. In short, each early Christian let-
relevanten Texte bei H. Cancik, Untersuchungen, ter must be analyzed on its own terms.“ Insge-
68 ff. samt stehen die paulinischen Briefe den antiken
78 Vgl. hier die guten methodischen Àberlegun- deliberativen Freundschaftsbriefen am nÈchsten,
gen von D. E. Aune, The New Testament in Its Li- Paulus hielt sich jedoch in keinem Fall an die Ide-
terary Environment, Philadelphia 1987, 203: algattungen der antiken Rhetoriker und ihrer
„Early Christian letters tend to resist rigid classifi- Nachfolger.
54 Der antike Brief
stadt 1993, 190 198. J. Murphy O’Connor, Paul the Letter Writer, Collegeville 1995.
M. MÜller, Vom Schluß zum Ganzen. Zur Bedeutung des Briefkorpusabschlusses in Paulus
briefen, FRLANT 172, GÚttingen 1997.
Der Briefanfang umfaßt das PrÈskript, die briefliche Danksagung und die briefli
che Selbstempfehlung. Beim PrÇskript ist zunÈchst zwischen der Èußeren und
der inneren Adresse zu unterscheiden. Die Èußere Adresse stand auf der Außen
seite der Papyrusrolle und nannte den Adressaten, den Absender und vielfach
auch den Bestimmungsort79. Bei allen ntl. Briefen ist die Èußere Adresse verlo
rengegangen. Die innere Adresse entspricht dem heutigen Briefkopf und ist
durch ein festes Formular gekennzeichnet. Man unterscheidet bei der Makro
struktur des ntl. PrÈskriptes zwischen einer griechischen und einer orientali
schen Form. Die griechische Form faßt die drei Grundlemente des PrÈskriptes
(Absender, Adressat, Segenswunsch) in einem Satz zusammen, der Absender
steht im Subjekt Nominativ und der Adressat im Dativ. Die Grundform lautet:
Der A (sagt) dem B, er solle sich freuen (o deı˜na tw˜ deı˜ni caı´rein)80. Griechische
Briefkonvention findet sich im Neuen Testament in Jak 1, 1 und in den Briefen
Apg 15, 23 29; 23, 26 30. Die orientalische Briefkonvention ist vor allem durch
hebrÈische und aramÈische Briefe belegt81. Bezeichnend fÜr das PrÈskript ist eine
Zweiteilung, bei der zunÈchst in einem Satz nur der Adressat (an A) oder der Ab
sender und der Adressat (von A an B) genannt werden. Im zweiten PrÈskriptteil
folgt der Eingangsgruß, in der Regel mit ¥w}lf̃}. WÈhrend der Adressat immer mit
Namen und z. T. unter HinzufÜgung von Epitheten genannt wird, muß der Ab
sender nicht im PrÈskript erscheinen. Bei der Voranstellung des Absenders im
PrÈskript wird dieser durch eine PrÈposition eingefÜhrt.
Im Neuen Testament herrscht die orientalische Briefkonvention vor, aller
dings bereits in einer abgewandelten Form. Schließt sich das zweiteilige PrÈskript
der orientalischen Briefkonvention an, so folgt die Voranstellung des Absenders
als Subjekt der griechischen Konvention.
79 Vgl. dazu A. Deissmann, Licht vom Osten, Hebrew Epistolography, JBL 97 (1978), 321–346;
119 ff. ders., Handbook of Ancient Hebrew Letters, SBL.
80 Vgl. zum PrÈskript des griechischen Briefes S 15, Chico 1982; I. Taatz, FrÜhjÜdische Briefe,
H. Koskenniemi, Studien, 155 ff. passim.
81 Vgl. dazu D. Pardee, An Overview of Ancient
Das Formular der paulinischen Briefe 55
82 Zur Analyse vgl. I. Taatz, FrÜhjÜdische Briefe, Verbindungslinien zur griechischen Briefliteratur
66 f, die allerdings das PrÈskript dem allgemeinen gezogen werden, betont I. Taatz „eine gewisse
orientalischen Formular zuordnet. KontinuitÈt zwischen den frÜhjÜdischen gemein-
83 Zur Analyse vgl. I. Taatz, a. a. O., 18 f. deleitenden Briefen und den Paulusbriefen“
84 Die relative EigenstÈndigkeit des paulinischen (a. a. O., 114).
Briefformulars ist in der Forschung unbestritten. 85 I. Taatz, a. a. O., 113, sieht darin eine Parallele
Kontrovers wird hingegen die Frage diskutiert, ob zu frÜhjÜdischen Briefen: „In der Gruppe der Ge-
Paulus mehr unter dem Einfluß der griechischen meindeschreiben werden mehrere Mitabsender
oder frÜhjÜdischen Brieftradition steht. WÈhrend genannt, die die jÜdische Gemeinde reprÈsentie-
in der amerikanischen Forschung vornehmlich ren bzw. als deren Leitung fungieren.“
56 Der antike Brief
Form ‚die Kirche Gottes‘ (1 Kor 1, 2; 2 Kor 1, 1) bzw. die ‚Kirche in Gott dem Va
ter und dem Herrn Jesus Christus‘ (1 Thess 1, 1) oder die ‚Kirchen‘ (Gal 1, 2) ei
nes bestimmten Ortes oder einer bestimmten Gegend. In Phil 1, 1 findet sich als
Adresse ‚an alle Heiligen in Jesus Christus, die in Philippi sind‘. Durch diese be
sondere Form der adscriptio wird das gute VerhÈltnis des Apostels zu der Ge
meinde in Philippi betont. Paulus verzichtet im PrÈskript des RÚm auf den Termi
nus ekklvsı´a und adressiert den Brief ‚an alle, die in Rom sind‘, weil er gegen
Über dieser Gemeinde seine GrÜnderautoritÈt nicht ins Spiel bringen kann. In
den Paulusbriefen fungieren als Adressaten durchweg Kollektive und nicht Ein
zelpersonen. Selbst im Phlm treten neben den eigentlichen Adressaten Philemon
weitere Mitarbeiter des Paulus und die Hausgemeinde des Philemon (Phlm 1. 2).
Wenn Paulus in den PrÈskripten des 1Kor, 2 Kor und Phil neben dem eigentli
chen Adressaten (‚der Kirche Gottes‘) weitere Mitadressaten nennt, so erweitert
er damit den Wirkungskreis des Briefes, nimmt aber keine Individualisierung der
Adresse vor.
Auf die Absender und Adressenangabe folgt als zweiter Teil des paulinischen
PrÈskriptes der Eingangsgruß (salutatio). Die Salutation hat bei Paulus sechsmal
den gleichen Wortlaut: „Gnade euch und Friede von Gott unserm Vater und
dem Herrn Jesus Christus“ (1 Kor 1, 3; 2 Kor 1, 2, Gal 1, 3; RÚm 1, 7 b; Phil 1, 2;
Phlm 3). Das Begriffspaar cáriß und eirv´nv benennt eine Gottesgabe, die durch
Jesus Christus der Gemeinde geschenkt wird. Paulus folgt mit der salutatio einer
in jÜdischen und griechischen Briefen belegten Sitte, Anfangs und SchlußgrÜße
zu formulieren, die den Adressaten Heil zueignen wollen. Dabei ist bei Paulus
der Eingangsgruß immer im Hinblick auf die Adressaten und die besondere Ge
meindesituation zu verstehen (vgl. Gal 1, 4)86.
In fast allen Paulusbriefen (Ausnahme: Gal) schließt sich unmittelbar an das
PrÈskript ein formal und funktional eigenstÈndiger Briefteil an, der nach dem
Verbum des jeweiligen Hauptsatzes eucaristeı˜n als briefliche Danksagung (Pro
Úmium) bezeichnet wird. LÈßt sich der Beginn einer Danksagung sicher bestim
men, so bleibt der Àbergang vom ProÚmium zum folgenden Kontext unsicher87.
Als WeiterfÜhrung erweist sich hier der Vorschlag von F. Schnider W. Stenger,
die paulinische Danksagung dort enden zu lassen, wo sich die Perspektive Èndert
und der Apostel nicht mehr die Adressaten im Blick hat, sondern den Leser/HÚ
rer auf den Briefschreiber selbst lenken will. Dieser Àbergang wird „mit folgen
den konstitutiven Elementen eingeleitet: 1. Anrede ‚BrÜder‘ 2. Bezugnahme auf
86 Vgl. zur salutatio in den Paulusbriefen bes. 87 Vgl. die Tabelle bei F. Schnider – W. Stenger,
F. Schnider – W. Stenger, Studien, 25–33. I. Taatz, Studien, 42.
FrÜhjÜdische Briefe, 112, sieht die paulinische sa-
lutatio in der Traditionslinie von syrBar 78, 2.
Das Formular der paulinischen Briefe 57
ein Wissen der Adressaten, das der Briefschreiber durch seine mahnende Brief
geste bei den Adressaten erreichen will.“88 Versteht man diesen Perspektiven
wandel als ein Textsignal, das den Anfang eines neuen Abschnittes markieren
soll, so ergibt sich fÜr die paulinischen Danksagungen folgender Umfang:
1 Thess 1, 2 10; 1 Kor 1, 4 9; 2 Kor 1, 3 7; RÚm 1,8 12; Phil 1, 3 11; Phlm 4 7.
Das paulinische ProÚmium ist in zwei Grundtypen Überliefert. In der ersten Fas
sung folgen auf den Hauptsatz mit dem Verb eucaristeı˜n ein oder mehrere Parti
zipien, die das Verb modifizieren. Den Partizipien kann schließlich noch ein Fi
nalsatz untergeordnet sein (vgl. Phil 1, 3 11; 1 Thess 1, 2 10; Phlm 4 7). Subjekt
von eucaristeı˜n ist immer der Briefschreiber, der Gott allezeit fÜr die Angerede
ten dankt. Bei der zweiten Grundform folgt auf den Hauptsatz mit eucaristeı˜n
ein oºti Satz, an den sich wiederum ein Konsekutivsatz anschließen kann (vgl.
1 Kor 1, 4 9). Beide Grundformen lassen sich nicht immer streng voneinander
trennen, in RÚm 1,8 12 liegt eine Kombination von Elementen beider Grundty
pen vor. Eine Sonderstellung nimmt 2 Kor 1, 3 7 ein, wo die Danksagung mit eu
logvtóß beginnt. Die hier vorliegende erweiterte Eulogie hat die gleiche Funkti
on wie das ProÚmium in den anderen Paulusbriefen. Im ProÚmium bedankt sich
der Apostel fÜr den der angeschriebenen Gemeinde von Gott verliehenen Heils
stand. Das ProÚmium hat eine ekklesiale Funktion, es stellt die angeschriebenen
Gemeinden in die weltweite ekklvsı´a Xeou˜. Gott schafft sich durch die Mission
des Apostels Paulus und die Existenz dieser Gemeinden seine Kirche, die das
Evangelium von Jesus Christus verkÜnden und bezeugen soll.
2, 17), Gal (Gal 1,8 10), Phil (Phil 1, 12 30) und Phlm (Phlm 7 9) deutlich er
kennbar ist, lÈßt sie sich im 1 Thess und 1 Kor nur schwer bestimmen90. Auch
wenn es mÚglich ist, innerhalb des paulinischen Briefanfangs die briefliche Selbst
empfehlung als eigenstÈndigen Abschnitt herauszuarbeiten, muß dem Apostel
eine große Freiheit in der Anwendung dieser Form attestiert werden.
90 F. Schnider – W. Stenger, a. a. O., 53 ff, weiten 91 Vgl. F. Schnider – W. Stenger, a. a. O., 76–107.
die briefliche Selbstempfehlung im 1 Thess (2, 1– 92 Vgl. K. Thraede, GrundzÜge griechisch-rÚmi-
12; 2, 17–3,8) und 1 Kor (1, 10–4, 21) ÜbermÈßig scher Brieftopik (s. o. 2.3.1), 95–106.
aus.
Das Formular der paulinischen Briefe 59
ten Überwinden, zugleich verleiht es aber der AutoritÈt und Vollmacht des Apo
stels in den angeschriebenen Gemeinden Ausdruck. Indem Paulus seine PrÈsenz
in der Gemeinde durch einen Brief, einen Abgesandten oder die eigene Person
bedenkt, bringt er zugleich seine apostolische AutoritÈt ins Spiel (Beispiel: 2 Kor
13, 10)93. Die apostolische Parusie kann als ein Bestandteil der SchlußparÈnese
betrachtet werden, weil das Parusiemotiv entweder voll in die SchlußparÈnese
integriert ist (1 Kor 16, 5 12; RÚm 15, 14 29) oder zumeist in unmittelbarer NÈhe
dazu erscheint. FÜr die SchlußparÈnesen in den paulinischen Briefen ergibt sich
somit folgender Umfang: 1 Thess 5, 12 25; 1 Kor 16, 1 18; 2 Kor (12, 14 13, 10)
13, 11; Gal 6, 1 10; RÚm 15, (7 13) 30 33; Phil 4, 2 9; Phlm 21. 22.
Das Postskript des paulinischen Briefes umfaßt in der Regel drei Elemente: 1)
Einen Grußauftrag, bei dem der Briefschreiber die Adressaten beauftragt, andere
Gemeindeglieder zu grÜßen. 2) Durch die Briefschreiber werden GrÜße anderer
an die Adressaten ausgerichtet. 3) Der Briefschreiber selbst grÜßt die Adressaten,
wobei es sich um das eigentliche Eschatokoll handelt.
Der Grußauftrag wird in den Paulusbriefen durch den Imperativ aspásasXe
eingeleitet und findet sich in 1 Thess 5, 26; 1 Kor 16, 20 b; 2 Kor 13, 12 a;
RÚm 16, 3 16 a; Phil 4, 21 a. HÈufig ist der Grußauftrag mit dem Motiv des ‚heili
gen Kusses‘ verbunden (vgl. 1 Thess 5, 26; 1 Kor 16, 20 b; 2 Kor 13, 12 a; RÚm
16, 16 a). Der Grußauftrag hat die Funktion, durch den Brief die Abwesenheit
des Briefschreibers in der Gemeinde zu Überwinden und zugleich die umfassen
de Verbreitung des Briefes bei allen Adressaten zu sichern.
Die GrÜße anderer (Grußausrichtung ) an die Adressaten richtet Paulus in 1 Kor
16, 19 20 a; 2 Kor 13, 12 b; RÚm 16, 16 b.21 23; Phlm 23. 24 aus. Die GrÜße von
‚allen Heiligen‘ (2 Kor 13, 12 b; Phil 4, 22), allen Gemeinden in der Provinz Asia
(1 Kor 16, 19), von ‚allen Gemeinden Christi‘ (RÚm 16, 16 b) oder einzelnen Mit
arbeitern des Paulus zeigen, daß sich nicht nur der Apostel und die angeschrie
bene Gemeinde miteinander, sondern auch die Gemeinden untereinander um
fassend im Glauben verbunden wissen. Zudem ist die Grußausrichtung immer
auf die spezielle Situation in den Gemeinden bezogen, was sich aus der ErwÈh
nung einzelner Namen, aber auch aus dem Fehlen der Grußausrichtung im
1 Thess und Gal ergibt.
Wie im antiken Brief bildet auch bei Paulus das Eschatokoll (vgl. 1 Thess 5, 28;
1 Kor 16, 23 24; 2 Kor 13, 13; Gal 6, 11 18; RÚm 16, 24[?]; Phil 4, 23; Phlm 25)
den Abschluß des Briefes. Im hellenistischen Privatbrief lautet der Schlußgruß
hÈufig „Lebe wohl“ (eµrrwsso bzw. eutu´cei). Zudem findet sich im Eschatokoll
des antiken Briefes das Datum, und der Gruß wird teilweise vom Verfasser und
nicht vom Schreiber ausgefÜhrt. Auch im Eschatokoll lehnt sich Paulus den Ge
pflogenheiten seiner Umwelt an, zugleich weitet er es aus. Das einfache „Lebe
wohl“ wird umgeformt in einen ausgefÜhrten Segenswunsch, der in
1 Thess 5, 28; 1 Kor 16, 23; RÚm 16, 20 b lautet: v cáriß tou˜ kurı´ou vmw̃n LIvsou˜
Cristou˜ meXL umw̃n, in Gal 6, 18; Phlm 25 durch tou˜ pneu´matoß erweitert und in
2 Kor 13, 13 trinitarisch ausgeformt wird. E. Lohmeyer erklÈrt die Ein und Aus
leitungsformeln des paulinischen Briefes aus dem urchristlichen Gottesdienst94.
Es seien jene Formeln, mit denen die Gottesdienste begonnen und beendet wur
den. Die Kenntnisse Über die Liturgie urchristlicher Gottesdienste sind aber zu
bruchstÜckhaft, als daß hier der Sitz im Leben fÜr sehr verschiedenartige Formen
christlicher Àberlieferung gesehen werden kÚnnte. Wahrscheinlich fÜhrte die
epistolare Funktion Paulus zu der besonderen AusprÈgung des Schlußgrußes.
Wie im antiken Brief hat auch bei Paulus der Schlußgruß die Aufgabe, „1. am
Schluß des Briefes die zwischen Briefschreiber und Adressaten bestehenden Be
ziehungen in einem Wunsch fÜr das Wohlergehen der letzteren noch einmal an
zusprechen, und 2. zugleich durch die EigenhÈndigkeit auf die AuthentizitÈt des
Briefinhaltes hinzuweisen, indem sie den Absender wenigstens in seiner Hand
schrift beim Adressaten ein StÜck leibhaft anwesend sein lÈßt.“95 Parallelen so
wohl in jÜdischen als auch in hellenistischen Briefen weisen darauf hin, daß die
eigenhÈndige Unterschrift unter einem Brief auch dazu diente, ihm rechtmÈßige
Bedeutung zu geben96. Paulus schrieb das Eschatokoll gelegentlich mit eigener
Hand (vgl. 1 Kor 16, 21; Gal 6, 11). In 1 Kor 16, 21 unterzeichnet er ausdrÜcklich
den Brief mit seinem Namen, um so gegenÜber den Korinthern die AutoritÈt des
Gesagten zu unterstreichen. In Phlm 19 finden sich Namensvermerk und die Na
mensunterschrift nicht im Eschatokoll, sondern am Ende des Briefkorpus. Damit
signalisiert Paulus Philemon, daß er wirklich fÜr den durch Onesimus verursach
ten Schaden aufkommen will. Insgesamt kommt dem paulinischen Briefschluß
eine zweifache Funktion zu: Er bÜndelt zentrale Linien des Briefes und themati
siert zugleich die Zukunft des VerhÈltnisses von Briefschreiber und BriefempfÈn
ger97.
2.4.1 Literatur
Kommentare
KEK 10: E. v. DobschÜtz, 1909 ( 1974). HNT 11: M. Dibelius, 31937, 1 37. EKK XIII:
T. Holtz, 21990. ThHK 12/1: G. Haufe, 1999. NTD 8/2: E. Reinmuth, 1998. ZBK 11. 1:
W. Marxsen, 1979. AncB 32B: A. J. Malherbe, 2000. BNTC: E. Best, 1972. WBC 45:
F. F. Bruce, 1982. NCeB: H. Marshall, 1983. NIGTC: C. A. Wanamaker, 1990. Sacra Pa
gina 11: E. J. Richard, Collegeville 1995.
Monographien
W. Harnisch, Eschatologische Existenz, FRLANT 97, 1973. F. Laub, Eschatologische Ver
kÜndigung und Lebensgestaltung nach Paulus, BU 10, 1973. H. H. Schade, Apokalypti
sche Christologie bei Paulus, GTA 18, 21984. R. Jewett, The Thessalonian Corresponden
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B. C. Johanson, To All the Brethren. A Text Linguistic and Rhetorical Approach to I Thessa
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The theology of the shorter Pauline letters, hg. v. K. P. Donfried u. H. Marshall, Cambridge
1993, 1 79. R. Riesner, FrÜhzeit des Apostels Paulus (s. o. 2.1), 297 365. Jutta Bick
mann, Kommunikation gegen den Tod, fzb 86, WÜrzburg 1998. Regina BÚrschel, Die
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ihrer hellenistisch rÚmischen Umwelt, BBB 128, Berlin 2001. Chr. vom Brocke,
Thessaloniki Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus, WUNT 2.125, TÜbingen
2001.
AufsÇtze
W. G. KÜmmel, Das literarische und geschichtliche Problem des Ersten Thessalonicherbrie
fes, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte I, Marburg 1965, 406 416. Chr. Demke,
Theologie und Literarkritik im 1.Thessalonicherbrief, in: FS E. Fuchs, hg. v. G. Ebeling u. a.,
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schub eines SpÈteren, ZThK 70 (1973), 288 315. R. F. Collins, Studies on the First Letter
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und die Entstehung der paulinischen Anthropologie, NTS 32 (1986), 207 224. R. F. Col
lins (Hg.), The Thessalonian Correspondence, BETL 87, Leuven 1990 (wichtige Aufsatz
sammlung). O. Merk, Zur Christologie im ersten Thessalonicherbrief, in: ders., Wissen
schaftsgeschichte und Exegese (s. o. 1.1), 360 373. Th. SÚding, Der Erste Thessalonicher
brief und die frÜhe paulinische EvangeliumsverkÜndigung. Zur Frage einer Entwicklung
der paulinischen Theologie, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. u. 2.5.1), 31 56.
K. P. Donfried J. Beutler (Hg.), The Thessalonians Debate, Grand Rapids 2000 (wichtige
Aufsatzsammlung).
62 Der erste Thessalonicherbrief
2.4.2 Verfasser
2.4.4 Empfänger
Die Stadt Thessalonich wurde um 315 v. Chr. neu gegrÜndet. Die gÜnstige Lage
im innersten Winkel des thermaeischen Golfes und an der Via Egnatia begrÜn
dete die Über alle Zeiten hinweg gleichbleibende große Bedeutung von Thessalo
nich als Hafenstadt, Handelsplatz und Verkehrsknotenpunkt99. Thessalonich be
saß auch als ein kulturelles und religiÚses Zentrum Anziehungskraft, Ausgra
98 In das Jahr 50 (51) datieren den 1 Thess u. a. nungen referiert T. Holtz, 1Thess, 20–23. J. Knox,
M. Dibelius, 1Thess, 33; W. G. KÜmmel, Einlei- Chapters in a Life of Paul, New York/Nashville
tung, 221; Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur, 1950, 86, datiert den 1 Thess an den Anfang der
88; E. Reinmuth, 1 Thess, 108; W. Marxsen, vierziger Jahre („. . . not long after A. D. 40“), ihm
1Thess, 14; H. KÚster, EinfÜhrung, 545; T. Holtz, folgen u. a. G. LÜdemann, Paulus I (s. o. 2.1), 281;
1Thess, 19; R. Jewett, Thessalonian Correspon- K. P. Donfried, The theology of 1 Thessalonians,
dence, 60; R. Riesner, FrÜhzeit des Apostels Pau- 12.
lus (s. o. 2.1), 323; J. Roloff, EinfÜhrung, 101; 99 Zur Geschichte der Stadt vgl. W. Elliger, Pau-
R. E. Brown, Introduction, 457; G. Haufe, 1Thess, lus in Griechenland, Stuttgart 21990, 78–116;
15; A. J. Malherbe, 1Thess, 73; I. Broer, Einleitung R. Riesner, FrÜhzeit des Apostels Paulus (s. o. 2.1),
II, 349. Von diesem Konsens abweichende Mei- 297–301; Chr. vom Brocke, Thessaloniki, 12–101.
Empfänger 63
100 Vgl. dazu K. P. Donfried, The Cults of Thessa- 2000, 171–176; Chr. vom Brocke, Thessaloniki,
lonica and the Thessalonian Correspondence, 207–233. FÜr das spÈte 3. Jh. n. Chr. ist nun eine
NTS 31 (1985), 336–356; R. Jewett, Thessalonian jÜdische Grabinschrift belegt; vgl. M. N. Pantels,
Correspondence, 126 ff; R. Riesner, FrÜhzeit des Synagoge(n) und Gemeinde der Juden in Thessa-
Apostels Paulus (s. o. 2.1), 331–333; Chr. vom loniki: Fragen aufgrund einer neuen jÜdischen
Brocke, Thessaloniki, 115–138. Grabinschrift der Kaiserzeit, ZPE 102 (1994),
101 Vgl. R. Riesner, FrÜhzeit des Apostels Paulus 297–306 (sowie Tafel VII).
(s. o. 2.1), 304–308; D.-A. Koch, Die Christen als 102 Zu den verschiedenen Thesen der Èlteren For-
neue Randgruppe in Makedonien und Achaia im schung Über ‚gnostische‘ oder ‚enthusiastische‘
1. Jahrhundert n. Chr., in: H.-P. MÜller – F. Sie- StrÚmungen in Thessalonich vgl. R. Jewett, Thes-
gert (Hg.), Antike Randgesellschaften und Rand- salonian Correspondence, 135–157. Zu Jewetts
gruppen im Ústlichen Mittelmeerraum, MÜnster Thesen vgl. den Abschnitt 2.4.10.
64 Der erste Thessalonicherbrief
1, 1 PrÈskript
1, 2 3, 13 1. Hauptteil
Briefanfang
1, 2 10 ProÚmium
2, 1 12 Briefliche Selbstempfehlung
5, 12 25 SchlußparÈnese
5, 26 27 Grußauftrag Briefschluß
5, 28 Eschatokoll
Innerhalb der Makrostruktur des 1 Thess ist deutlich eine Zweiteilung zwischen
Kap. 1 3 und 4 5 zu erkennen. Der theologischen Gesamtausrichtung des Brie
fes entsprechend schließt jedes Kapitel mit einem Ausblick auf die Parusie Christi
(vgl. 1,9 f; 2, 19; 3, 13; 4, 13 18; 5, 23), ein deutlicher Hinweis auf den Überlegten
Gesamtaufbau des Schreibens. Im 1. Hauptteil begegnet der fÜr die Danksagung
charakteristische Terminus eucaristeı˜n bzw. eucaristı´a in 1 Thess 1, 2; 2, 13; 3,9.
Deshalb wurde erwogen, das Ende des ProÚmiums erst in 1 Thess 3, 13 zu se
hen103. Eine solche Einteilung ist zu schematisch, denn der gesamte erste Brief
teil steht unter dem Leitmotiv des Dankes, den Paulus der Gemeinde gegenÜber
zum Ausdruck bringt. 1 Thess 2, 13; 3,9 nehmen dieses zentrale theologische
Motiv wieder auf, ohne daß jeweils das ProÚmium erneut beginnt. Zudem leiten
eucaristeı˜n bzw. eucaristı´a bei Paulus keineswegs immer nur das ProÚmium ein
(vgl. 1 Thess 5, 18; 1 Kor 14, 16; 2 Kor 4, 15; 9, 11; Phil 4, 6). Am Briefschluß feh
len GrÜße von Mitarbeitern des Paulus an die Gemeinde in Thessalonich. Offen
bar bestanden zwischen der Gemeinde des Abfassungsortes und den EmpfÈngern
noch keine intensiven Beziehungen, auf deren Basis solche GrÜße sinnvoll ge
wesen wÈren104.
103 Vgl. F. Schnider – W. Stenger, Studien (s. o. wett, Thessalonian Correspondence, 68–71 (‚tra-
2.3.2), 42 ff. ditionelle‘ Gliederungen); 71–78 (Gliederungen
104 Vgl. zu anderen Gliederungsversuchen R. Je- unter rhetorischen Aspekten). Jewett, a. a. O., 71,
Literarische Integrität 65
Die literarische Einheit des 1 Thess wurde vielfach bestritten. Von den zahlrei
chen Teilungshypothesen105 sind zu nennen: a) K. G. Eckart rechnet mit zwei
Thessalonicherbriefen, einem vollstÈndigen Brief und einem um den Anfang ge
kÜrzten Schreiben106. Der erste Brief soll als Empfehlungsschreiben fÜr Timo
theus in Athen abgefaßt worden sein, ebenso der zweite Brief, aber erst nach der
RÜckkehr des Timotheus. Ein unbekannter Redaktor habe dann aus diesen bei
den Briefen den kanonischen 1 Thess komponiert und dabei zugleich eine Reihe
von Texten selbst verfaßt. 1. Brief: 1 Thess 1, 1 2, 12; 2, 17 3, 4; 3, 11 13. 2. Brief:
1 Thess 3, 6 10; 4,9 10 a; 4, 13 5, 11; 5, 23 26; 5, 28. Nichtpaulinische Texte:
1 Thess 2, 13 16; 3, 5; 4, 1 8; 4, 10 b 12; 5, 12 22. b) Chr. Demke geht von den
sprachlichen und sachlichen Besonderheiten des 1 Thess im Vergleich mit den
spÈteren Paulusbriefen aus und sieht in 1 Thess 2, 17 3, 2 a.5 b 11; 4,9 10 a.13
17; 5, 1 22 den ursprÜnglichen Paulusbrief107. Ein dem Lukasevangelium nahe
stehender nachpaulinischer Autor habe dann den Überlieferten 1 Thess kompo
niert und dabei 1 Thess 1, 2 2, 16; 3, 2 b 5 a; 3, 12 4,8; 4, 10 b 12; 5, 23 27 gestal
tet. c) Einem Redaktor lagen nach W. Schmithals 5 Paulusbriefe an die Thessalo
nicher vor, die unter Einarbeitung redaktioneller ZusÈtze zu den beiden Überlie
ferten Thessalonicherbriefen zusammengestellt wurden108. Thess A: 2 Thess 1, 1
meint, „that the rhetorical genre most closely as- klassifiziert den Brief als ‚paraenetic letter‘. Zu-
sociated with 1 Thessalonians is demonstrative/ rÜckhaltend gegenÜber einer rhetorischen Klassi-
epideictic . . .“. Vgl. ferner J. Schoon-Janßen, Um- fizierung des 1 Thess Èußert sich R. Hoppe, Der er-
strittene ‚Apologien‘ in den Paulusbriefen (s. o. ste Thessalonicherbrief und die antike Rhetorik,
2.3.1), 39–53, der verschiedene Klassifizierungs- BZ 41 (1997), 221–237.
versuche (‚paraenetic letter‘, ‚epideiktischer 105 Eine umfassende Darstellung und Kritik der
Brief‘) bespricht und den 1 Thess als ‚Freund- einzelnen Hypothesen findet sich bei P. Beier, Ge-
schaftsbrief‘ einstuft. D. Dormeyer, Das Neue Te- teilte Briefe? Eine kritische Untersuchung der
stament im Rahmen der antiken Literaturge- neueren Teilungshypothesen zu den paulinischen
schichte (s. o. 2.3.2), 193 f, sieht im 1 Thess den Briefen, Diss. theol., Halle 1984, 159–181. 326–
Normalfall des paulinischen Briefformulars: PrÈ- 339; vgl. ferner R. Jewett, Thessalonian Corre-
skript 1, 1; Exordium 1, 2–10; Argumentatio 2, 1– spondence, 33–46.
3, 13; Exhortatio 4, 1–5, 22; Postskript/Salutatio 106 Vgl. K. G. Eckart, Der zweite echte Brief des
5, 23–28. K. P. Donfried, The theology of 1 Thessa- Apostels Paulus an die Thessalonicher, ZThK 58
lonians, 3–7, stuft den 1 Thess als ‚epideictic letter‘ (1961), 30–44.
ein und gliedert: I Exordium 1, 1–10; II Narratio 107 Vgl. Chr. Demke, Theologie und Literarkritik
2, 1–3, 10; III Partitio 3, 11–13; IV Probatio 4, 1– im 1.Thessalonicherbrief.
5, 3; V Peroratio 5, 4–11; VI Exhortatio 5, 12–22; 108 Vgl. zuletzt W. Schmithals, Die Briefe des Pau-
VII Final prayers and greetings 5, 23–28. Eine lus in ihrer ursprÜnglichen Form, ZÜrich 1984,
Àbersicht zur rhetorischen Analyse bietet H. J. 111–124; ferner W. Schmithals, Die historische Si-
Klauck, Die antike Briefliteratur (s. o. 2.3.1), 284– tuation der Thessalonicherbriefe, in: ders., Paulus
292; Klauck bezeichnet wie Jutta Bickmann, und die Gnostiker, ThF 35, Hamburg 1965, 89–
Kommunikation gegen den Tod, 89 ff, den 1 Thess 157.
als ‚Trostbrief‘; A. J. Malherbe, 1Thess, 81–86,
66 Der erste Thessalonicherbrief
109 Vgl. T. Holtz, 1Thess, 24. ren VerstÈndnis von 1 Thess 2, 14–16, in: Religion
110 Vgl. z. B. B. A. Pearson, 1Thessalonians 2, 13– und Verantwortung als Elemente gesellschaftli-
16: A Deutero-Pauline Interpolation, HThR 64 cher Ordnung (FS K. Klein), hg. v. B. B. Gemper,
(1971), 79–94. Siegen 21983, 734–772; G. LÜdemann, Paulus
111 Vgl. I. Broer, ‚Antisemitismus‘ und Judenpole- und das Judentum, TEH 215, MÜnchen 1983, 25–
mik im Neuen Testament. Ein Beitrag zum besse- 27.
Traditionen, Quellen 67
112 Die Sprachgestalt weist 1 Thess 1,9 b.10 als H. H. Schade, Apokalyptische Christologie, 157–
vorpaulinisch aus; grundlegende Analyse des Tex- 172; H. Merklein, Der Theologe als Prophet, NTS
tes bei C. Bussmann, Themen der paulinischen 38 (1992), 402–429.
Missionspredigt auf dem Hintergrund der spÈtjÜ- 114 Vgl. G. LÜdemann, Paulus I (s. o. 2.1), 242 ff.
disch-hellenistischen Missionsliteratur, EHS.T 3, 115 Vgl. A. J. Malherbe, „Gentle as a Nurse“: The
Bern – Frankfurt 1971, 38–56. Cynic Background to 1 Thessalonians 2, in: ders.,
113 Umfangreiche Analysen von 1 Thess 4, 13–18 Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis
finden sich u. a. bei U. Luz, Das Geschichtsver- 1989, 35–48.
stÈndnis bei Paulus (s. u. 2.8.1), 318–331; P. Siber, 116 Texte in: Neuer Wettstein II/1, hg. v. G. Strek-
Mit Christus leben, AThANT 61, ZÜrich 1971, 13– ker u. U. Schnelle, Berlin 1996, 771 f.
59; G. LÜdemann, Paulus I (s. o. 2.1), 220–263;
68 Der erste Thessalonicherbrief
text findet sich in 1 Thess 5, 4 9117. Speziell in 1QS III 13 IV 26 wird der Gegen
satz der Kinder des Lichts und der Finsternis entfaltet. Wie bei Paulus verbindet
sich diese Vorstellung mit PrÈdestination bzw. ErwÈhlung, und es wird aus dem
jeweiligen ZugehÚrigkeitsbereich ein entsprechender ethischer Wandel gefol
gert. Die NÈhe der von Paulus aufgenommenen Anschauungen zu Qumran ist
hier besonders groß, zugleich gilt aber: „Eine direkte AbhÈngigkeit von den
Qumrantexten ist fÜr Paulus nirgends nachzuweisen.“118
Das theologische Profil des 1 Thess zeigt sich zunÈchst in einem Negativbefund.
So fehlen die anthropologischen Termini sárx, amartı´a119, Xánatoß, sw̃ma, eleuXe
rı´a und zwv´ ebenso wie der dik Stamm120 und der staur Stamm. Weder das
Wort nómoß noch die Rechtfertigungslehre des Gal oder RÚm lassen sich im Èlte
sten Paulusbrief finden. Auch die Kreuzestheologie und die Vorstellungen der
Kirche als Leib Christi oder der Taufe als eines BegrÈbnisses mit Christus sind
dem 1 Thess offensichtlich unbekannt. Der Glaube wird nicht als Gegensatz zu
Gesetzeswerken, „sondern als Standhaftigkeit in der BedrÈngnis, als Glaubens
treue verstanden.“121 Das Alte Testament wird nicht explizit zitiert, die Polemik
gegen die Juden in 1 Thess 2, 14 16 ist einzigartig und die eschatologischen Aus
sagen des 1 Thess weichen von den spÈteren Briefen erheblich ab122. Zwar
mußte Paulus nicht immer alles sagen, die Briefe sind kein vollstÈndiges Kom
pendium seiner Lehre, und die Entstehung eines Gedankens ist nicht immer
identisch mit seiner Anwendung. Dennoch vermag der Verweis auf die Brief
bzw. Gemeindesituation die Vielzahl der Besonderheiten im 1 Thess nicht zu er
klÈren. Vielmehr enthÈlt der Èlteste Paulusbrief eine in sich geschlossene theolo
gische Konzeption: Die Basis der Theologie des 1 Thess ist die ErwÈhlungsvorstel
lung (vgl. 1 Thess 1, 4; 2, 12; 4, 7; 5, 9.24), ihr Horizont die Erwartung der unmit
117 Vgl. H. W. Kuhn, Die Bedeutung der Qumran- ten Meer, hg. v. M. Fieger, K. Schmidt u.
texte fÜr das VerstÈndnis des Ersten Thessaloni- P. Schwagmeier, NTOA 47, Freiburg (H) – GÚttin-
cherbriefes, in: The Madrid Qumran Congress I, gen 2001, 129–208.
hg. v. J. T. Barrera u. L. V. Montaner, STDJ IX/1, 119 In 1 Thess 2, 16 hat amartı´a keine anthropolo-
Leiden 1992, 339–353. gische Bedeutung.
118 A. a. O., 351. Zu Qumran vgl. grundlegend 120 Ausnahme: Das Adverb dikaı´wß in 1 Thess
H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes 2, 10; es ist im ethischen Sinn von ‚rechtschaffen,
der TÈufer und Jesus, Freiburg 71998. Einen kriti- lauter‘ zu verstehen.
schen Àberblick zum VerhÈltnis Qumran – Neues 121 Th. SÚding, Der Erste Thessalonicherbrief, 36.
Testament bietet J. Frey, Die Bedeutung der 122 Vgl. U. Schnelle, Wandlungen im paulini-
Qumranfunde fÜr das VerstÈndnis des Neuen Te- schen Denken, SBS 137, Stuttgart 1989, 37–48.
staments, in: Qumran – Die Schriftrollen vom To-
Theologische Grundgedanken 69
123 Vgl. dazu H. H. Schade, Apokalyptische Chri- 125 Vgl. zur ErwÈhlungsvorstellung im 1 Thess
stologie, 117–134. Andere Akzente setzt O. Merk, H. H. Schade, Apokalyptische Christologie, 117–
Nachahmung Christi, in: ders., Wissenschaftsge- 134; die enge Verbindung zwischen Theologie
schichte und Exegese (s. o. 1.1), 302–336. und Christologie im 1 Thess betont in diesem Zu-
124 Vgl. U. Schnelle, Die Ethik des 1Thessaloni- sammenhang z. R. O. Merk, Christologie, 104 ff.
cherbriefes, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessalo- 126 F. W. Horn, Angeld des Geistes (s. u. 2.5.8),
nian Correspondence, 295–305; S. Schulz, Neute- 366 ff.
stamentliche Ethik, ZÜrich 1987, 301–333; R. BÚr-
schel, Konstruktion einer christlichen IdentitÈt,
241–336.
Tendenzen der neueren Forschung 71
127 Vgl. G. Strecker, Befreiung und Rechtferti- 131 Vgl. F. W. Horn, Angeld des Geistes (s. u.
gung, in: ders., Eschaton und Historie, GÚttingen 2.5.8), 119–160.
1979, 229–259. 132 Vgl. W. Wiefel, Die Hauptrichtung des Wan-
128 Vgl. S. Schulz, Der frÜhe und der spÈte Paulus, dels im eschatologischen Denken des Paulus, ThZ
ThZ 41 (1985), 228–236. 30 (1974), 65–84.
129 Vgl. K. P. Donfried, 1 Thessalonians, Acts and 133 Vgl. U. Wilckens, Zur Entwicklung des pauli-
the Early Paul, in: R. F. Collins (Hg.), The Thessa- nischen GesetzesverstÈndnisses (s. u. 2.8.1), 154–
lonian Correspondence, 3–26. 190.
130 Vgl. W. ThÜsing, Gott und Christus in der pau- 134 Vgl. U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christus-
linischen Soteriologie I, NTA 1/I, MÜnster 31986, gegenwart.Vorpaulinische und paulinische Tauf-
VIIIf. theologie, GTA 24, GÚttingen 21986.
72 Der erste Thessalonicherbrief
135 Vgl. zuletzt P. Stuhlmacher, RÚm (s. u. 2.8.1), 138 Vgl. R. Riesner, FrÜhzeit des Apostels Paulus
114 f. (s. o. 2.1), 349–358.
136 Vgl. dazu U. Luck, Die Bekehrung des Paulus 139 Vgl. P. Stuhlmacher, Biblische Theologie I
und das Paulinische Evangelium, ZNW 76 (1985), (s. o. 2), 334: „Die Rechtfertigungslehre bezeich-
187–208; Chr. Dietzfelbinger, Die Berufung des net von frÜh an das Ganze der paulinischen Theo-
Paulus als Ursprung seiner Theologie, WMANT logie.“
58, Neukirchen 1985. Eine andere Interpretation 140 Th. SÚding, Der Erste Thessalonicherbrief, 53.
des Damaskusgeschehens bei U. Schnelle, Wand- 141 Vgl. J. Becker, Paulus (s. o. 2), 138–148.
lungen im paulinischen Denken (s. o. 2.4.9), 15– 142 Die Bedeutung der ErwÈhlungsvorstellung fÜr
21. den 1 Thess erkannte bereits deutlich H. H. Scha-
137 Vgl. G. Klein, Art. Eschatologie IV, TRE 10 de, Apokalyptische Christologie, 117 ff.
(1982), 277–285; ders., Art. Gesetz, TRE 13 143 J. Becker, Paulus (s. o. 2), 139.
(1984), 64–75.
Der erste Korintherbrief 73
2.5.1 Literatur
Kommentare
KEK 5: J. Weiß, 1910 ( 1977); H. Conzelmann, 21981. HNT 9: A. Lindemann, 2001.
EKK VII/1 4: W. Schrage, 1991. 1995. 1999. 2001. ThHK 7: Chr. Wolff, 1996. ³TK 7.1/
2: H. Merklein, 1992. 2000 ( Kap. 1 11,1). NTD 7: F. Lang, 1986. RNT: J. Kremer, 1997.
ZBK 6, 1: A. Strobel, 1989. NEB: H. J. Klauck, 1984. BNTC: C. K. Barrett, 21971.
NICNT: G. D. Fee, 1987. ANTC: R. A. Horsley, Nashville 1998. NIGTC: A. C. Thiselton,
2000. Sacra Pagina: R. F. Collins, 1999.
Monographien
W. LÜtgert, Freiheitspredigt und Schwarmgeister in Korinth, BFChTh 12. 3, GÜtersloh
1908. W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, FRLANT 66, GÚttingen 31969. U. Wilckens,
Weisheit und Torheit, BHTh 26, TÜbingen 1959. M. Winter, Pneumatiker und Psychiker
in Korinth, MThST 12, Marburg 1975. A. Schreiber, Die Gemeinde in Korinth, NTA 12,
MÜnster 1977. H. J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult, NTA 15, MÜnster
2
1987. G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten, FRLANT 138, GÚttingen
1986. P. Marshall, Enmity in Corinth, WUNT 2. 23, TÜbingen 1987. Margaret M. Mit
chell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation, HUTh 28, TÜbingen 1991. V. P. Furnish,
The Theology of the First Letter to the Corinthians, Cambridge 1999. B. W. Winter, After
Paul left Corinth. The Influence of Secular Ethics and Social Change, Grand Rapids 2001.
AufsÇtze
H. v.Soden, Sakrament und Ethik bei Paulus, in: K. H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in
der neueren deutschen Forschung (s. o. 2), 338 379. J. Schniewind, Die Leugner der Auf
erstehung in Korinth, in: ders., Reden und AufsÈtze, hg. v. E. KÈhler, Wuppertal 21987,
110 139. Ph. Vielhauer, Paulus und die Kephaspartei in Korinth, in: ders., Oikodome, TB
65, MÜnchen 1979, 169 182. G. Friedrich, Christus, Einheit und Norm der Christen, in:
ders., Auf das Wort kommt es an, GÚttingen 1978, 147 170. G. Theißen, Soziale Schich
tung in der korinthischen Gemeinde, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums,
WUNT 19, TÜbingen 21983, 231 271. Ders., Die Starken und Schwachen in Korinth,
a. a. O., 272 289. H. Merklein, Die Einheitlichkeit des ersten Korintherbriefes, in: ders.,
Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, TÜbingen 1987, 345 375. W. Baird, „One against
the other“. Intra Church Conflict in 1 Corinthians, in: Studies in Paul and John (FS
J. L. Martyn), hg. v. R. Fortna u. B. R. Gaventa, Nashville 1990, 116 136. G. Barth, Zur
Frage nach der in 1Korinther 15 bekÈmpften Auferstehungsleugnung, ZNW 83 (1992),
187 201. R. Bieringer (Hg.), The Corinthian Correspondence, BETL 125, Leuven 1996.
Th. SÚding, Das Wort vom Kreuz, WUNT 93, TÜbingen 1997.
Forschungsbericht
G. Sellin, Hauptprobleme des Ersten Korintherbriefes, ANRW 25. 4, Berlin 1987, 2940
3044.
2.5.2 Verfasser
Die paulinische Verfasserschaft des 1 Kor steht außer Zweifel. Der Autor des
1 Klem erinnert die Gemeinde in Korinth an diesen Brief (vgl. 1 Klem 47, 1 3),
und Ignatius von Antiochia zitiert viermal aus dem 1 Kor (vgl. 1 Kor 4, 4/Ign
RÚm 5, 1; 1 Kor 1, 19 f/IgnEph 18, 1; 1 Kor 6,9 f/IgnEph 16, 1; IgnPhld 3, 3; 1 Kor
5, 7 a/IgnMag 10, 2). Im Kanon Muratori fÜhren die Korintherbriefe die Paulus
briefe an, was ihre hohe WertschÈtzung in der frÜhen Kirche zeigt.
Ort und Zeit der Abfassung 75
Der 1 Kor wurde in Ephesus geschrieben (vgl. 1 Kor 16,8), vermutlich um Ostern
(vgl. 1 Kor 5, 7 f)145. Die ReiseplÈne des Apostels (vgl. 1 Kor 16, 5 8) weisen auf
das letzte Jahr seines Aufenthaltes als Abfassungsjahr hin (FrÛhjahr 55
n. Chr. )146, auch wenn das vorletzte Jahr nicht auszuschließen ist. Die Samm
lung fÜr die Heiligen in Jerusalem wurde in Korinth bereits angeordnet (vgl.
1 Kor 16, 1), wobei unklar ist, ob dies durch einen Brief (1 Kor 5,9?) oder einen
Boten (1 Kor 16, 15. 17: Stephanas?) erfolgte. Timotheus befindet sich bereits auf
dem Weg nach Korinth (1 Kor 4, 17), wird aber dort erst nach Ankunft des Brie
fes erwartet. FÜr eine Datierung des 1 Kor vor dem Gal sprechen folgende GrÜn
de: 1) Die Untersuchung der spezifischen sprachlichen und gedanklichen Àber
einstimmungen zwischen beiden Briefen ergibt deutlich die Reihenfolge 1 Kor
Gal147. 2) Das GesetzesverstÈndnis des Gal lÈßt sich in den Korintherbriefen
nicht nachweisen. Im 2 Kor ist nómoß nicht belegt, im 1 Kor an vier Stellen acht
mal (vgl. 1 Kor 9,8. 9. 20 22; 14, 21; 15, 56), wobei in keinem Text das Reflexi
onsniveau und die Argumentationsfiguren des Gal erscheinen. Lediglich 1 Kor
15, 56 weist in die Richtung der spÈteren BeweisfÜhrung148. 3) Auch die Recht
fertigungslehre des Gal (und RÚm) fehlt in den Korintherbriefen. Sollte Paulus
das Gesetzes und RechtfertigungsverstÈndnis des Gal fÜr so unwichtig gehalten
haben, daß er darauf in den Auseinandersetzungen mit den Korinthern verzich
ten konnte? Ist es vorstellbar, daß die sehr prÈzisen Vorstellungen des Gal gewis
sermaßen in der Versenkung verschwanden, um dann bald darauf im RÚm wie
der mit Vehemenz aufzutauchen? WÈre doch die Rechtfertigungslehre des Gal
(und RÚm) fÜr Paulus ein geeignetes Instrument gewesen, um dem Vollen
dungsbewußtsein der korinthischen Enthusiasten theologisch den Boden zu ent
ziehen! 4) Die großen Àbereinstimmungen in Aufbau und Thematik sprechen
fÜr eine Abfassung des Gal direkt vor dem RÚm (s. u. 2.7.3).
145 Vgl. u. a. H. Lietzmann, 1Kor, 89; W. Schrage, lein, 1Kor, 51; Chr. Wolff, 1 Kor, 13; J. Roloff, Ein-
1 Kor I, 36; Chr. Wolff, 1 Kor, 432; H. Merklein, fÜhrung, 108.
1Kor, 51. 147 Vgl. U. Borse, Der Standort des Galaterbriefes,
146 FÜr 55 oder 54 n. Chr. plÈdieren z. B. F. Lang, (s. u. 2.7.1), 58–70.
1Kor, 4; H. Conzelmann, 1Kor, 18 A 31; G. D. Fee, 148 Vgl. zur nÈheren BegrÜndung U. Schnelle,
1Kor, 4 f; W. G. KÜmmel, Einleitung, 242; Wandlungen im paulinischen Denken (s. o.
E. Lohse, Entstehung, 41; A. JÜlicher – E. Fascher, 2.4.9), 49–54.
Einleitung, 85; W. Schrage, 1 Kor I, 36; H. Merk-
76 Der erste Korintherbrief
2.5.4 Empfänger
Caesar grÜndete 44 v. Chr. als rÚmische Kolonie fÜr Veteranen das 146 v. Chr.
zerstÚrte, in der Zwischenzeit aber keineswegs unbewohnte Korinth neu149. 27
v. Chr. wurde Korinth dann Hauptstadt der senatorischen Provinz Achaia. Neben
einem starken rÚmischen Element muß der griechische und orientalische BevÚl
kerungsanteil groß gewesen sein. Eine beachtenswerte jÜdische Kolonie in Ko
rinth bezeugt Philo (vgl. LegGai 281), von der Existenz einer Synagoge berichtet
Apg 18, 4150. Die besondere Lage der Stadt mit den zwei HÈfen KenchreÈ und Le
chÈum erklÈrt die Bedeutung von Korinth als wirtschaftliches Zentrum zwischen
Asien und Rom/Griechenland. Korinth galt als eine reiche Stadt, in der Handel,
FinanzgeschÈfte und handwerkliche Produktion blÜhten151. In Korinth gab es
eine Vielzahl hellenistisch orientalischer Kulte. Pausanias berichtet fÜr das 2. Jh.
n. Chr. von AltÈren und HeiligtÜmern des Poseidon, der Artemis von Ephesus
und des Dionysus in Korinth, von einem Asklepios Tempel und von Isis und Sa
rapis HeiligtÜmern152. Eine von Apuleius geschilderte Isis Weihe fand in Ko
rinth statt (vgl. Met XI 22, 7 ff)153. Korinth war sicherlich ein Zentrum der im 1.
Jh. n. Chr. neu belebten Kynikerbewegung. Schon Diogenes hielt sich hier gern
auf (Dio Chrys, Or 6, 3), und der berÜhmte Kyniker Demetrius154 lebte und
lehrte auch in Korinth (vgl. Luc, Indoct 19; Philostr, VA IV 25). Zudem war Ko
rinth der Austragungsplatz der Istmischen Spiele (vgl. 1 Kor 9, 24 27), den nach
den Olympischen Spielen wichtigsten WettkÈmpfen in der Antike. Schließlich
wurde im Norden der Stadt ein Asklepios Tempel ausgegraben, der mit seinen
drei SpeiserÈumen die hinter 1 Kor 8 10 stehende Problematik illustriert155.
Paulus grÜndete die Gemeinde nach seiner TÈtigkeit in Philippi, Thessalonich,
BerÚa und Athen im Jahr 50. ZunÈchst kam er allein nach Korinth (vgl.
Apg 18, 5), bald folgten aber Silvanus und Timotheus. Paulus blieb dort ca. 1 1/2
Jahre (vgl. Apg 18, 11), neben Ephesus war Korinth das Zentrum paulinischer
MissionstÈtigkeit. Die kulturelle, religiÚse und soziale Vielfalt der Stadt spiegelt
149 Vgl. zu Korinth bes. J. Wiseman, Corinth and 151 Vgl. Strabo VIII 6, 20–21.23 (= Neuer Wett-
Rome I: 228 B. C.–A. D. 267, ANRW II 7. 1, Berlin stein II/1 [s. o. 2.4.8], 235 f).
1979, 438–548; W. Elliger, Paulus in Griechen- 152 Vgl. Pausanias 2. 1, 7–5, 5.
land (s. o. 2.4.4), 200–251; J. Murphy-O’Connor, 153 Vgl. zur Verehrung Ègyptischer Gottheiten in
St. Paul’s Corinth. Texts and Archaeology, Wil- Korinth D. E. Smith, Egyptian Cults at Corinth,
mington 1983; D. W. J. Gill, Corinth: a Roman Co- HThR 70 (1977), 201–231.
lony in Achaea, BZ 37 (1993), 259–264; 154 Vgl. dazu Margarethe Billerbeck, Der Kyniker
B. W. Winter, After Paul left Corinth, 7–25 (Beto- Demetrius. Ein Beitrag zur Geschichte der frÜh-
nung der rÚmischen PrÈgung Korinths). kaiserlichen Popularphilosophie, PhAnt 36, Lei-
150 Inschriftlich ist eine Synagoge nur aus dem den 1979.
2./3. Jh. n. Chr. bezeugt, vgl. H. J. Klauck, Herren- 155 Vgl. dazu J. Murphy-O’Connor, St. Paul’s Co-
mahl, 234 A 3. rinth, 161–167.
Empfänger 77
sich auch in der korinthischen Gemeinde wider. Die Mehrzahl der Gemeinde
glieder waren ehemalige Heiden (vgl. 1 Kor 12, 2), worauf auch MißstÈnde in
der Gemeinde hinweisen (Teilnahme an kultischen Festmahlen, Prozesse vor
heidnischen Richtern, Prostitution). Die Nachricht Über die Bekehrung des Syn
agogenvorstehers Crispus und die Wirkung auf dieses Geschehen (vgl. Apg 18,8)
und 1 Kor 1, 22 24; 7, 18; 9, 20; 10, 32; RÚm 16, 21 zeugen von einem bedeuten
den judenchristlichen Anteil in der Gemeinde. Auch Proselyten und Gottes
fÜrchtige schlossen sich der korinthischen Gemeinde an (vgl. Apg 18, 7). Ein gro
ßer Teil der Gemeinde gehÚrte zur Unterschicht (vgl. 1 Kor 1, 26; 7, 21; 11, 22 b).
Daneben gab es in Korinth auch reiche Christen, wie den erwÈhnten Synago
genvorsteher Crispus (vgl. 1 Kor 1, 14) oder Erastos, der in Korinth ein hohes
Amt bekleidete (vgl. RÚm 16, 23). Korinthische Christen besaßen HÈuser (vgl.
1 Kor 1, 16; 11, 22 a; 16, 15 ff; RÚm 16, 23; Apg 18, 2. 3. 8), und die Gemeinde be
teiligte sich intensiv an der Kollekte fÜr die Heiligen in Jerusalem (vgl. 1 Kor
16, 1 4; 2 Kor 8, 4; 9, 1. 12; RÚm 15, 31). Die korinthischen Christen organisierten
sich in mehreren Hausgemeinden (vgl. 1 Kor 14, 23: Versammlungen der Ge
samtgemeinde; 1, 16; 16, 15: Stephanas; 16, 19: Prisca und Aquila; RÚm 16, 23:
Gaius, Erastos; Apg 18, 7.8: Titius Justus, Krispus)156. Àber die GrÚße der gesam
ten Gemeinde kann nur spekuliert werden, sie dÜrfte bei hundert Gemeindeglie
dern gelegen haben157. Die Organisationsform der Gemeinde liefert mÚglicher
weise auch einen Beitrag fÜr das VerstÈndnis der Konflikte in Korinth, denn die
Fraktionierung in mehrere Hausgemeinden kÚnnte Gruppenbildungen begÜn
stigt haben.
In der Gemeinde existierten vielfÈltige Spannungen in theologischen, ethi
schen und sozialen Fragen. So setzt sich Paulus in 1 Kor 1 4 mit theologisch mo
tivierten GruppenzugehÚrigkeiten auseinander. Es gab in Korinth offenbar vier
Gruppen, die nach den Namen ihrer postulierten HÈupter Paulus, Apollos, Ke
phas und Christus benannt wurden158. In 1 Kor 1, 12 steht egẁ de` Cristou˜ paral
lel zu den vorangehenden Schlagworten. Innerhalb der AufzÈhlung lÈßt sich
keinerlei Akzentuierung erkennen, so daß mit einer ‚Christuspartei‘ in Korinth
gerechnet werden muß159. Zudem setzt meme´ristai o Cristóß in V. 13 a egẁ de`
Cristou˜ voraus! Schließlich fÜhrte Paulus kaum selbst die Christus Parole ein,
denn er hÈtte in diesem Fall Christus mit Petrus, Apollos und sich selbst gleichge
156 Vgl. dazu R. W. Gehring, Hausgemeinde und und Torheit, 17 A 2; u. a. sehen im vierten Schlag-
Mission, Gießen 2000, 243–256. wort eine Glosse. H. Merklein, 1Kor, 146 f, spricht
157 Vgl. H. J. Klauck, 1 Kor, 8; R. W. Gehring, nicht von einer ‚Christus-Partei‘, sondern von ei-
Hausgemeinde und Mission, 252. ner ‚Christus-Parole‘, die von den anderen Grup-
158 Vgl. hier W. Schrage, 1Kor, 142–152. pen in Anspruch genommen worden sein soll.
159 J. Weiß, 1Kor, 15 ff; U. Wilckens, Weisheit
78 Der erste Korintherbrief
setzt160. Paulus begegnet diesen Spaltungstendenzen mit dem Verweis auf die in
Christus begrÜndete und in der Taufe zugeeignete Einheit der Gemeinde. In
1 Kor 5 geht Paulus auf einen Fall von Unzucht in der Gemeinde ein, 1 Kor 6, 1
11 setzt Prozesse zwischen korinthischen Christen vor heidnischen Gerichten
voraus. Der Warnung vor der in Korinth verbreiteten (kultischen) Prostitution
(1 Kor 6, 12 20) folgt in 1 Kor 7 die Empfehlung zu sexueller Askese161. ReligiÚse
und soziale GrÜnde riefen den Konflikt um das Essen von GÚtzenopferfleisch
hervor (vgl. bes. 1 Kor 8, 1 13; 10, 14 23)162. Die ,Starken ‘ in Korinth gehÚrten
z. T. sicherlich zur gehobeneren Sozialschicht, der es mÚglich war, sich durch re
ligiÚse Erkenntnis (vgl. 1 Kor 8, 1. 4; 10, 23) von Überlieferten religiÚsen Vorstel
lungen zu lÚsen. Dennoch sind die ‚Starken‘ nicht einfach mit der sozialen Ober
schicht in der Gemeinde gleichzusetzen, denn das Wissen um die Existenz nur
eines Gottes und der Nichtigkeit von GÚtzen und DÈmonen ist Ausdruck eines
Monotheismus, der Juden und Heiden zu eigen war (vgl. 1 Thess 1,9 f). Auch ky
nische Traditionen kÚnnen von Bedeutung sein, entsprechend ihrem monothei
stischen Bekenntnis beanspruchten Kyniker wie Teile der korinthischen Ge
meinde die Freiheit, alles zu essen163. Sowohl Heidenchristen als auch liberale
Judenchristen zÈhlten zur Gruppe der ‚Starken‘. Sie wurden weiterhin von Hei
den eingeladen (vgl. 1 Kor 10, 27), und schon ihre gesellschaftliche Stellung
machte es ihnen unmÚglich, vÚllig auf den Verzehr von GÚttern geweihtem
Fleisch zu verzichten. Die ,Schwachen ‘ in der korinthischen Gemeinde waren of
fenbar vornehmlich eine Minderheit innerhalb der Heidenchristen, denn nur bei
Heidenchristen konnte Paulus von einer sunv´Xeia tou˜ eidẃlou sprechen (vgl.
1 Kor 8, 7). Teile dieser Gruppe lehnten den Verzehr von GÚtzenopferfleisch aus
Furcht vor den GÚttern wahrscheinlich generell ab. Andere zwang die materielle
Not, an Úffentlichen religiÚsen Feiern teilzunehmen und dort in kultischem Rah
men Fleisch zu essen, wodurch sie ihr Gewissen belasteten. Wieder andere wur
den durch das Verhalten der ‚Starken‘ dazu verleitet, gegen ihr Gewissen GÚt
zenopferfleisch zu essen, denn die ‚Starken‘ nahmen ohne Bedenken und ohne
Not an kultischen Opfermahlzeiten teil (1 Kor 10, 14 22).
160 So treffend A. Lindemann, 1 Kor, 39. lus, Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), hg. v.
161 Vgl. hierzu W. Deming, Paul on marriage and M. Trowitzsch, TÜbingen 1998, 35–54.
celibacy. The Hellenistic Background of 1 Corin- 163 So kann Epiktet, Diss III 22, 50, als Charakteri-
thians 7, MSSNTS 83, Cambridge 1995. stikum des Kynikers nennen, „alles zu verschlin-
162 Zur historischen Situation, zum kulturge- gen, was du (ihm) gibst“; weitere Texte mit Inter-
schichtlichen Hintergrund und zu den theologi- pretation bei S. Jones, ‚Freiheit‘ in den Briefen
schen Intentionen des Paulus vgl. D.-A. Koch, des Apostels Paulus, GTA 34, GÚttingen 1987, 59–
„Seid unanstÚßig fÜr Juden und fÜr Griechen und 61.
fÜr die Gemeinde Gottes“ (1 Kor 10, 32), in: Pau-
Gliederung, Aufbau, Form 79
Mit MißstÈnden beim Herrenmahl setzt sich Paulus in 1 Kor 11, 17 34 ausein
ander164. In Korinth wurde die sakramentale Handlung mit einer gemeinsamen
Mahlzeit verbunden (vgl. 1 Kor 11, 23 25), wobei ursprÜnglich die Brot und
Kelchhandlung die Mahlzeit umrahmte (vgl. metà tò deipnv˜sai in 1 Kor 11, 25).
Diese anfÈngliche Praxis war Mahlzeiten schon vor der eigentlichen sakramenta
len Handlung gewichen. Hierbei traten die Unterschiede zwischen armen und
reichen Gemeindegliedern offen zutage, die einen schlemmten, die anderen
hungerten (vgl. V. 21 f.33 f). Wie bei heidnischen Opfermahlen bildeten sich
Tischgemeinschaften unter den Wohlhabenden, von denen die Armen ausge
schlossen waren.
Auch Über die Wertigkeit der verschiedenen Geistesgaben wurde in Korinth
gestritten (vgl. 1 Kor 12 14). Schließlich blieb unter korinthischen Christen eine
zukÜnftige Auferstehung der Toten umstritten (vgl. 1 Kor 15, 12 b).
Dieser komplexen Gemeindesituation entspricht der 1 Kor in seinem Aufbau
und in seinen ArgumentationszusammenhÈngen.
1, 1 3 PrÈskript Briefanfang
1, 4 9 ProÚmium
16, 1 18 SchlußparÈnese
(V. 5 12 apostolische Parusie) Briefschluß
16, 19 20 Grußauftrag
16, 21 24 Eschatokoll
Der 1 Kor lÈßt sich nicht wie andere Paulusbriefe in zwei Hauptteile gliedern.
DurchgÈngig bestimmen die Situation in Korinth und die vorausgegangene
Die besondere literarische Struktur des 1 Kor gibt immer wieder Anlaß zu Tei
lungshypothesen166. Nur die wichtigsten Thesen seien genannt: 1. J. Weiß167
(Brief A: 10, 1 23; 6, 12 20; 9, 24 27; 11, 2 34; 16, 7 b 9. 15 20; 2 Kor 6, 14 7, 1.
Brief B: 7, 1 8, 13; 13; 10, 24 11, 1: 9, 1 23: 12; 14; 15; 16, 1 a 7 a.10 14. 21 24.
165 Zu einer mÚglichen rhetorischen Gestaltung rativer Rhetorik. Auf dem Hintergrund der politi-
in 1 Kor 1–4; 15 vgl. M. BÜnker, Briefformular schen Rhetorik der Zeit erscheint der 1 Kor als ein
und rhetorische Disposition im 1. Korintherbrief, Aufruf zur Einheit und Eintracht.
GTA 28, GÚttingen 1984. Eine ForschungsÜber- 166 Vgl. die Àbersichten bei P. Beier, Geteilte Brie-
sicht zu neueren Versuchen, die literarisch-rheto- fe? (s. o. 2.4.6), 103–158. 301–326; G. Sellin,
rische Struktur des 1 Kor zu ermitteln, bietet Hauptprobleme, 2965 ff; H. Merklein, Einheitlich-
W. Schrage, 1 Kor I, 71–94; fÜr Schrage ist der keit, 346–348.
1 Kor primÈr ein „parÈnetisch-symbuleutischer“ 167 Vgl. J. Weiß, 1Kor, XLIf; ders., Das Urchristen-
Brief. M. M. Mitchell, Rhetoric of Reconciliation, tum, GÚttingen 1917, 271 f.
20–64, versteht den 1 Kor als ein Zeugnis delibe-
Literarische Integrität 81
3
168 Vgl. E. Dinkler, Art. Korintherbriefe, RGG IV 172 Vgl. W. Schmithals, Briefe des Paulus (s. o.
(1960), 18. 2.4.6), 19–85.
169 Vgl. W. Schenk, Der 1. Korintherbrief als 173 Vgl. H. Conzelmann, 1Kor, 369 A 9.
Briefsammlung, ZNW 60 (1969), 219–243. 174 Vgl. F. Schnider – W. Stenger, Studien (s. o.
170 Vgl. H. J. Klauck, 1Kor, 10 f. 2.3.2), 54.
171 Vgl. G. Sellin, Hauptprobleme, 2968; vgl. auch
ders., 1Korinther 5–6 und der ‚Vorbrief‘ nach Ko-
rinth, NTS 37 (1991), 535–558.
82 Der erste Korintherbrief
Ausgangspunkt fast aller Teilungshypothesen ist die Vermutung, der von Pau
lus in 1 Kor 5,9 erwÈhnte Brief an die Korinther sei nicht verlorengegangen, son
dern als ein Teilelement des jetzigen 1 Kor Überliefert. Paulus korrigiert in 1 Kor
5,9 13 eine mißverstandene ußerung Über den Umgang mit UnzÜchtigen aus
dem Vorbrief, die man nun im 1 Kor wiederfinden will. Als mÚgliche Texte wer
den dafÜr u. a. genannt: 1 Kor 6, 1 11175; 6, 12 20176; 5, 1 8177; 2 Kor 6, 14
7, 1178 und 1 Kor 5, 1 8; 6, 1 11179. Keiner dieser Texte lÈßt sich Überzeugend
auf das in 1 Kor 5,9 13 behandelte Problem beziehen, so daß hier kein literarkri
tisch eindeutig verwertbares Indiz vorliegt180.
Behandelte Paulus in 1 Kor 5, 1 13; 6, 1 11 zwei konkrete GemeindefÈlle, so
nimmt er in 1 Kor 6, 12 das korinthische Schlagwort der exousı´a auf, um in
6, 13 a die Speisen, in 6, 13 b die Unzucht als Beispiele fÜr den rechten Umgang
mit der christlichen Freiheit zu nennen181. Das Problem der Unzucht wird bis
1 Kor 6, 20 in grundsÈtzlicher Weise, dann in Kap. 7 praktisch (Ehe, Askese) be
handelt. In Kap. 8 greift Paulus das Stichwort brẃmata aus 1 Kor 6, 13 a auf, um
es am konkreten Beispiel des Opferfleisches zu bedenken. Innerhalb dieses Ab
schnittes bezieht sich 1 Kor 8, 10 bereits auf 1 Kor 10, 14 22, so daß von einer
pragmatischen KohÈrenz zwischen beiden Textabschnitten gesprochen werden
muß182. Auch die paulinische Argumentation in 1 Kor 9, 1 23 ist sachgerecht,
denn hier exemplifiziert Paulus seine Maxime aus 1 Kor 8, 13 an der eigenen Per
son. Die von ihm praktizierte Freiheit ist keine Schwachheit, sondern Freiheit
aus Liebe fÜr den Anderen183. Ist der Zusammenhang zwischen 1 Kor 9, 24 27
und 1 Kor 10, 1 22 unbestritten, so wird 1 Kor 10, 23 11, 1 vielfach einer ande
ren literarischen Einheit zugeordnet. Doch erklÈrt sich die verÈnderte Argumen
tation aus dem von Paulus aufgegriffenen Beispiel: Es geht nicht mehr um die
Teilnahme an heidnischen Kultmahlzeiten, sondern um die BerÜhrung mit GÚt
zenopferfleisch auf dem Markt oder bei privaten Einladungen. Auch die unter
schiedliche Beurteilung von Spaltungen in 1 Kor 1, 12 ff und 11, 18 ff rechtfertigt
nicht die Zuweisung von 1 Kor 11, 2 34 zu einem Vorbrief. FÜhrten in 1 Kor
1, 10 12 theologische und persÚnliche Motive zu den Gruppenbildungen, so be
175 Vgl. G. Bornkamm, Vorgeschichte (s. u. 2.6.1), 181 Vgl. D. LÜhrmann, Freundschaftsbrief trotz
189 A 131. Spannungen. Zu Aufbau und Gattung des Ersten
176 Vgl. J. Weiß, 1Kor, XLI.138 f; H. M. Schenke – Korintherbriefes, in: Studien zum Text und zur
K. M. Fischer, Einleitung I, 94. Ethik des Neuen Testaments (FS H. Greeven), hg.
177 Vgl. A. Suhl, Paulus und seine Briefe (s. o. v. W. Schrage, BZNW 47, Berlin 1986, (298–314)
2.1), 206 ff. 308.
178 Vgl. W. Schmithals, Gnosis in Korinth, 88. 182 Vgl. H. Merklein, Einheitlichkeit, 356–365.
179 Vgl. G. Sellin, Hauptprobleme, 2969 ff. 183 Vgl. Chr. Wolff, 1Kor, 184 f.
180 Vgl. H. Merklein, Einheitlichkeit, 371 ff.
Traditionen, Quellen 83
ruht der in 1 Kor 11, 18 angesprochene Konflikt auf den starken sozialen Unter
schieden innerhalb der Gemeinde.
Die zahlreichen Teilungshypothesen zum 1 Kor stellen zumeist eine vage
MÚglichkeit, keineswegs aber eine zwingende Notwendigkeit dar. Positiv lÈßt
sich die literarische IntegritÈt184 des 1 Kor jenseits der Einzelargumente in zwei
facher Weise zeigen: 1) Die besondere Art der lockeren, anreihenden Argumen
tation entspricht der speziellen Kommunikationssituation zwischen Apostel und
Gemeinde. 2) Die Abfolge 1 Kor 12 14 und 1 Kor 15 (Geistesgaben, Parusie) ist
durch 1 Kor 1, 4 6. 7 8 bereits vorstrukturiert185.
184 Zur Einheitlichkeit des 1 Kor vgl. in der neue- 187 Vgl. U. Schnelle, 1 Kor 6, 14 – eine nachpauli-
sten Exegese neben H. Merklein und D. LÜhr- nische Glosse, NT 25 (1983), 217–219.
mann bes. J. Becker, Paulus (s. o. 2), 198–208; W. 188 Vgl. hier zuletzt J. Roloff, 1 Tim (s. u. 5.5.1),
Schrage, 1 Kor I, 63–71; M. M. Mitchell, Rhetoric 128 ff.
of Reconciliation, 184 ff; A. Lindemann, 1 Kor 3– 189 Vgl. U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christus-
6. gegenwart (s. o. 2.4.10), 37–46. 139–142.
185 Vgl. Chr. Wolff, 1Kor, 351.
186 Vgl. dazu J. Murphy-O’Connor, Interpolations
in 1 Corinthians, CBQ 48 (1986), 81–94.
84 Der erste Korintherbrief
190 Vgl. hierzu H. Merklein, ErwÈgungen zur 192 Vgl. hierzu die instruktiven ErwÈgungen von
Àberlieferungsgeschichte der neutestamentlichen W. Schrage, 1 Kor I, 38–63.
Abendmahlstraditionen, in: ders., Studien zu Je- 193 Vgl. S. Arai, Die Gegner des Paulus im 1. Ko-
sus und Paulus, WUNT 43, TÜbingen 1987, 157– rintherbrief und das Problem der Gnosis, NTS 19
180. (1972/73), 430–437.
191 Vgl. hier Chr. Wolff, 1Kor, 355–370.
Religionsgeschichtliche Stellung 85
ein halbes Jahrhundert nach den Korintherbriefen anzusetzen sind194. Das von
Schmithals im Anschluß an R. Bultmann noch vorausgesetzte Modell eines vor
christlichen ErlÚsermythos kann als Überholt angesehen werden195, so daß es
sehr fraglich bleibt, ob jene aus den Texten des 2. Jhs. n. Chr. rekonstruierte
Gnosis z. Zt. der Abfassung des 1 Kor Überhaupt existierte.
Vielfach gelten im Anschluß an F.Chr. Baur196 Judenchristen als die eigentli
chen Gegner des Paulus in Korinth197. Speziell die Kephaspartei erscheint dann
als TrÈger judenchristlicher Pauluskritik in Korinth, sie bestritt den paulinischen
Apostolatsanspruch (vgl. 1 Kor 9, 1 18; 15, 1 11). Typische judenchristliche For
derungen wie Toraobservanz und Beschneidung fehlen jedoch im 1Kor, und
der Konflikt um das paulinische Apostolat muß nicht von militanten Judenchri
sten ausgelÚst worden sein. Zudem erÚffnen die pneumatisch enthusiastischen
PhÈnomene in Korinth andere mÚgliche religionsgeschichtliche ZusammenhÈn
ge. Auf den Einfluß hellenistisch jÜdischer Weisheitstheologie in Korinth198
verweisen die Sophia Theologie in 1 Kor 2, 6 16, der Sarx Pneuma Dualismus,
die HochschÈtzung der Erkenntnis (vgl. 1 Kor 8, 1 6; 13, 2), die Abwertung des
Leibes (vgl. 1 Kor 6, 12 20) und die Vorstellung der zwei Urmenschen in 1 Kor
15, 45. Allerdings stammt Paulus selbst aus dem hellenistischen Judentum199, so
daß seine Theologie und die Position der korinthischen Gegner nicht in jedem
Fall einleuchtend zu trennen wÈren. Zudem ließen sich die Texte nur schlecht
erklÈren, in denen Paulus offenkundig die Korinther kritisiert und korrigiert.
Deshalb vermutet G. Sellin200, durch Apollos sei eine alexandrinisch jÜdische
Weisheitstheologie in die Überwiegend heidenchristliche korinthische Gemein
194 Vgl. hierzu grundlegend M. Hengel, Die Ur- XLIII; Ph. Vielhauer, Paulus und die Kephaspar-
sprÜnge der Gnosis und das Urchristentum, in: tei; G. LÜdemann, Paulus der Heidenapostel II:
Evangelium – Schriftauslegung – Kirche (FS Antipaulinismus im frÜhen Christentum,
P. Stuhlmacher), hg. v. J.
dna, S. J. Hafemann u. FRLANT 130, GÚttingen 1983, 118–125. Vielhau-
O. Hofius, GÚttingen 1997, 190–233. er und LÜdemann rechnen auch mit Pneumati-
195 Vgl. C. Colpe, Die religionsgeschichtliche kern in Korinth, die sie aber nicht als Gegner des
Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom Paulus ansehen. Zu ‚Mehrfrontenthesen‘ vgl.
gnostischen ErlÚsermythos, FRLANT 78, GÚttin- G. Sellin, Hauptprobleme, 3011 ff.
gen 1961. Eine kritische EinfÜhrung in die Pro- 198 Vgl. hier z. B. K. G. Sandelin, Die Auseinander-
blematik bieten K. Beyschlag, Grundriß der Dog- setzung mit der Weisheit in 1.Korinther 15, Åbo
mengeschichte I, Darmstadt 21988, 130–152; H. J. 1976; R. A. Horsley, Wisdom of Word and Words
Klauck, Die religiÚse Umwelt des Urchristentums of Wisdom in Corinth, CBQ 39 (1977), 224–239;
II, Stuttgart 1996, 145–198. H. Merklein, 1Kor, 119–133.
196 Vgl. F.Chr. Baur, Die Christuspartei in der ko- 199 Vgl. hierzu E. Brandenburger, Fleisch und
rinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrini- Geist. Paulus und die dualistische Weisheit,
schen und paulinischen Christenthums in der Èl- WMANT 29, Neukirchen 1968; G. Theißen, Psy-
testen Kirche, der Apostel Petrus in Rom, TZTh chologische Aspekte paulinischer Theologie,
1831, 61–206. FRLANT 131, GÚttingen 1983, 355 ff.
197 Vgl. in diesem Sinn (mit Unterschieden in der 200 Vgl. G. Sellin, Auferstehung der Toten, pas-
Einzelargumentation) z. B. J. Weiß, 1Kor, XXXV– sim.
86 Der erste Korintherbrief
201 Vgl. die Texte im Neuen Wettstein II/1 (s. o. 204 H. v.Soden, Sakrament und Ethik, 364, betont
2.4.8), 257 f. 264–267. zu Recht: „alle Beteiligten denken sakramental“.
202 DemgegenÜber vermutet P. Marshall, Enmity Er charakterisiert die Korinther als „Überspannte
in Corinth, nicht theologische, sondern rein so- Enthusiasten des Pneumaglaubens“(a. a. O., 361);
ziale Motive hinter dem Konflikt zwischen Paulus fÜr eine in diesem Sinn endogene Entwicklung in
und den Korinthern. Paulus habe ein finanzielles Korinth plÈdieren u. a. auch H. Conzelmann, Chr.
Hilfsangebot reicher Korinther abgelehnt, was als Wolff, G. D. Fee und F. Lang in ihren Kommenta-
Affront galt und die Parteibildungen auslÚste. ren. Vgl. ferner die umfassenden Analysen bei
203 Diesen Aspekt betont B. W. Winter, After Paul F. W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur
left Corinth, passim. Er sieht in dem andauernden paulinischen Pneumatologie, FRLANT 154, GÚt-
starken Einfluß griechisch-rÚmischer Sozialbin- tingen 1992, 160–301.
dungen und Wertvorstellungen die Hauptursache
der Konflikte in Korinth.
Religionsgeschichtliche Stellung 87
Die in Jesus Christus begrÜndete Einheit der Gemeinde angesichts ihrer faktischen
Zerrissenheit; dieses eine große Thema bedenkt Paulus im 1Korintherbrief. Der
Apostel fÜhrt bereits in 1 Kor 1, 13 mit o Cristóß als Abbreviatur fÜr sw̃ma Cri
stou˜ 206 die Vorstellung der Gemeinde als Leib Christi ein, um zu verdeutlichen,
daß nicht der individuelle Geistbesitz die Einheit der Gemeinde gewÈhren kann,
sondern allein Jesus Christus selbst. Das individuelle Vollendungsbewußtsein
der Korinther kritisiert Paulus dann in 1 Kor 1, 18 ff mit der Kreuzestheologie207.
Das Kreuz ist die radikale Infragestellung jeglicher menschlicher Selbstbehaup
tung und individualistischen Heilsstrebens, weil es in die Ohnmacht und nicht
in die Macht, in die Klage und nicht in den Jubel, in die Schande und nicht in
den Ruhm, in die Verlorenheit des Todes und nicht in die Glorie vollstÈndig ge
genwÈrtigen Heils fÜhrt. Das Kreuz destruiert alle vermeintlichen Sicherheiten,
im Kreuz wird die menschliche Weisheit von der Torheit Gottes Überwunden.
FÜr Paulus liegt das Kriterium fÜr die Wahrheit des Evangeliums nicht in der
menschlichen Weisheit, er verankert die IdentitÈt des Glaubens im Kreuz. Indem
die Korinther ihre individuelle Erkenntnis der Liebestat Gottes in Jesus Christus
Überordnen, verfehlen sie das Heil, denn allein Jesus Christus ist das Fundament
des Glaubens und der Gemeinde (vgl. 1 Kor 3, 11; 4, 15). Durch die Taufe wurden
die Korinther heilig und gerecht (vgl. 1 Kor 6, 11), so daß sie als Glieder am Leib
Christi nicht zugleich in Unreinheit leben kÚnnen (vgl. 1 Kor 6, 15. 19). Unzucht,
Rechtsstreitigkeiten und Hurerei gefÈhrden die Einheit der Gemeinde ebenso
wie das Verlassen des hergebrachten Standes (vgl. 1 Kor 5 7). Auch der Streit
um den Verzehr von GÚtzenopferfleisch stellt die Einheit der Gemeinde in Frage.
Christen haben nur einen Herrn (vgl. 1 Kor 8, 6), so daß der Genuß von GÚtzen
opferfleisch grundsÈtzlich mÚglich ist. Wenn aber diese richtige Erkenntnis das
Gewissen des Mitbruders belastet und zu Auseinandersetzungen fÜhrt, dient sie
nicht dem Aufbau der Gemeinde (vgl. 1 Kor 8, 1. 10; 10, 23 f). Christliche Freiheit
vollzieht sich gerade nicht in maßloser Selbstdarstellung oder Selbstverwirkli
chung, vielmehr ist sie ihrem Wesen nach ein Relationsbegriff: sie gewinnt ihre
PrÈgung erst im VerhÈltnis zum Mitchristen und zur christlichen Gemeinde208.
Den im 1 Kor vorherrschenden Grundgedanken der Einheit der Gemeinde ver
deutlicht Paulus auch am Beispiel der Geistesgaben (1 Kor 12 14)209. FÜr ihn
206 Vgl. G. Friedrich, Christus, Einheit und Norm terschiedlichen Positionen von S. Jones, ‚Freiheit‘
der Christen, 153. in den Briefen des Apostels Paulus (s. o. 2.5.4),
207 Vgl. zur paulinischen Kreuzestheologie und S. Vollenweider, Freiheit als neue SchÚpfung,
H. Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus, FRLANT FRLANT 147, GÚttingen 1989.
125, GÚttingen 1981. 209 Vgl. dazu U. Brockhaus, Charisma und Amt,
208 Vgl. zum paulinischen Freiheitsbegriff die un- Wuppertal 21987.
Tendenzen der neueren Forschung 89
Ein Zentrum der Forschung bleibt die Frage nach der literarischen Struktur des
1Kor. WÈhrend die Kommentare von H. Conzelmann, Chr. Wolff, F. Lang,
G. D. Fee, A. Strobel, W. Schrage und A. Lindemann von der Einheitlichkeit des
1 Kor ausgehen, plÈdieren H. J. Klauck und G. Sellin neuerdings wieder fÜr eine
Aufteilung des 1 Kor in mehrere Briefe. DemgegenÜber weisen H. Merklein und
210 Vgl. zu 1 Kor 13 bes. Oda Wischmeyer, Der 211 So K. Barth, Die Auferstehung der Toten,
hÚchste Weg. Das 13. Kapitel des 1. Korinther- MÜnchen 1924.
briefes, StNT 13, GÜtersloh 1981; ferner Th. SÚ- 212 So R. Bultmann, Karl Barth, „Die Auferste-
ding, Die Trias Glaube, Hoffnung, Liebe bei Pau- hung der Toten“, in: ders., Glauben und Verste-
lus, SBS 150, Stuttgart 1992; umfassend zur hen I, TÜbingen 81980, 38–64.
Funktion der Agape in der paulinischen Ethik
Th. SÚding, Das Liebesgebot bei Paulus, NTA 26,
MÜnster 1995.
90 Der erste Korintherbrief
213 Eine Position zwischen Einheitlichkeit und hen Christentums, TÜbingen 1971, (20–66) 38;
Teilungshypothesen vertritt H. Probst, Paulus und R.Mc. L. Wilson, How Gnostic were the Corin-
der Brief (s. o. 2.3.1), 108 ff. Er sieht den 1 Kor als thians?, NTS 19 (1972/73), 65–74.
eine Sammlung ursprÜnglich selbstÈndiger Ein- 216 Vgl. G. Sellin, Auferstehung der Toten, 195–
zelbriefe an, die in chronologischer Abfolge zum 209.
1 Kor zusammengefÜgt wurden. 217 Vgl. neben der Auslegung im Kommentar
214 Vgl. L. Schottroff, Der Glaubende und die zum 1 Kor bes. H. Conzelmann, Zur Analyse der
feindliche Welt (s. u. 8.5.1), 115 ff. Bekenntnisformel 1.Kor. 15, 3–5, in: ders., Theo-
215 Vgl. J. M. Robinson, Kerygma und Geschichte logie als Schriftauslegung, BEvTh 65, MÜnchen
im Neuen Testament, in: H. KÚster – J. M. Robin- 1974, 131–141.
son, Entwicklungslinien durch die Welt des frÜ- 218 Vgl. P. v. d. Osten-Sacken, Die Apologie des
Methodische Überlegungen zu Teilungshypothesen 91
EXKURS 1:
Methodische Überlegungen zu Teilungshypothesen paulinischer Briefe
Die große Bedeutung von Teilungshypothesen fÜr das VerstÈndnis der paulini
schen Briefe und den Ablauf der paulinischen Mission machen an dieser Stelle
die Formulierung methodischer GrundsÈtze erforderlich. Die Teilungshypothe
sen gehen von den klassischen Methoden der Literarkritik aus (Spannungen,
BrÜche, fehlende Logik, WidersprÜche, Unstimmigkeiten, den Gedankengang
stÚrende HinzufÜgungen, vom Kontext abweichende theologische Aussagen,
verschiedene historische Situationen)224 und wenden sie mit unterschiedlicher
Argumentation und z. T. stark divergierenden Ergebnissen an. Dabei werden oft
Überspitzte logische Anforderungen an den Text gestellt, ein textfremder Ratio
nalismus prÈjudiziert die Erkenntnis, denn was ein literarkritisch verwertbarer
Widerspruch ist, hÈngt wesentlich von der subjektiven EinschÈtzung des Exege
ten ab. Trotz des Überlegten Aufbaus und des hohen Reflexionsniveaus handelt
es sich aber bei den Paulusbriefen um Gelegenheitsschreiben, nicht um stimmige
paulinischen Apostolats in 1.Kor. 15, 1–11, in: U. Schnelle, Wandlungen im paulinischen Den-
ders., Evangelium und Tora, TB 77, MÜnchen ken (s. o. 2.4.9), 49–54.
1987, 131–149. 223 Zu 1 Kor 15, 56 vgl. einerseits F. W. Horn,
219 Vgl. G. Brakemeier, Die Auseinandersetzung 1 Kor 15, 56 – ein exegetischer Stachel, ZNW 82
des Paulus mit den Auferstehungsleugnern in Ko- (1991), 88–105, andererseits Th. SÚding, „Die
rinth, Diss. theol., GÚttingen 1968. Kraft der SÜnde ist das Gesetz“ (1 Kor 15, 56), in:
220 Vgl. B. SpÚrlein, Die Leugnung der Auferste- ders., Das Wort vom Kreuz, 93–103.
hung, BU 7, Regensburg 1971. 224 AufzÈhlung und Diskussion aller relevanten
221 Vgl. H. H. Schade, Apokalyptische Christologie Teilungskriterien bei P. Beier, Geteilte Briefe?
(s. o. 2.4.1), 191–212. (s. o. 2.4.6), 190–223. Es zeigt sich, daß zu jedem
222 So z. B. E. Lohse, Grundriß der neutestament- Argument fÜr Teilungshypothesen ein begrÜnde-
lichen Theologie, Stuttgart 41989, 87; dagegen tes Gegenargument angefÜhrt werden kann!
92 Der erste Korintherbrief
2.6.1 Literatur
Kommentare
KEK 6: H. Windisch, 1924 ( 1970); R. Bultmann (Sonderband), 1976. HNT 9: H. Lietz
mann, 51969, 97 164. ThHK 8: Chr. Wolff, 1989. NTD 7: F. Lang, 1986. NEB:
H. J. Klauck, 1986. AncB 32 a: V. P. Furnish, 1984. WBC 40: R. P. Martin, 1986. ICC:
M. E. Thrall, 1994. 2000. NICNT: P. Barnett, 1997. F. W. Danker, II Corinthians, Minne
apolis 1989. F. Zeilinger, Krieg und Friede in Korinth, Wien I 1992. II 1997. H. D. Betz,
2. Korinther 8 und 9. Ein Kommentar zu zwei Verwaltungsbriefen des Apostels Paulus,
GÜtersloh 1993. Sacra Pagina: J. Lambrecht, 1999.
Monographien
D. Georgi, Die Gegner des Paulus im 2.Korintherbrief, WMANT 11, Neukirchen 1964.
H. D. Betz, Paulus und die sokratische Tradition, BHTh 45, TÜbingen 1972. M. Rissi, Stu
dien zum zweiten Korintherbrief, AThANT 56, ZÜrich 1969. N. Baumert, TÈglich sterben
und auferstehen, StANT 34, MÜnchen 1973. L. Aejmelaeus, Streit und VersÚhnung. Das
Problem der Zusammensetzung des 2.Korintherbriefes, SES 46, Helsinki 1987. C. Brey
tenbach, VersÚhnung, WMANT 60, Neukirchen 1989. J. L. Sumney, Identifying Paul’s
Opponents. The Question of Method in 2 Corinthians, JSOT.S 40, Sheffield 1990. A. de
Oliveira, Die Diakonie der Gerechtigkeit und der VersÚhnung in der Apologie des 2. Korin
therbriefes, NTA 21, MÜnster 1990. J. Murphy O’Connor, Theology of the Second Letter
to the Corinthians, Cambridge 1991. U. Heckel, Kraft in Schwachheit, WUNT 2.56, TÜbin
gen 1993. J. SchrÚter, Der versÚhnte VersÚhner, TANZ 10, TÜbingen 1993. B. Bosenius,
Die Abwesenheit des Apostels als theologisches Programm, TANZ 11, TÜbingen 1994.
H. M. WÜnsch, Der paulinische Brief 2 Kor 1 9 als kommunikative Handlung, MÜnster
1996; E. M. Becker, Schreiben und Verstehen, NET 4, TÜbingen 2002.
AufsÇtze
E. KÈsemann, Die LegitimitÈt des Apostels, in: K. H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der
neueren deutschen Forschung (s. o. 2.), 475 521. G. Bornkamm, Die Vorgeschichte des
sogenannten zweiten Korintherbriefes, in: ders., Geschichte und Glaube II, BEvTh 53,
MÜnchen 1971, 162 194. G. Friedrich, Die Gegner des Paulus im 2.Korintherbrief, in:
ders., Auf das Wort kommt es an, GÚttingen 1978, 189 223; N. Hyldahl, Die Frage nach der
literarischen Einheit des Zweiten Korintherbriefes, ZNW 64 (1973), 288 306. O. Hofius,
Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, TÜbingen
1989, 75 120. G. Strecker, Die LegitimitÈt des paulinischen Apostolats nach 2 Korinther
10 13, NTS 38 (1992), 566 586. R. Bieringer J. Lambrecht, Studies on 2 Corinthians,
BETL 112, Leuven 1994 (wichtige Aufsatzsammlung). J. D. H. Amador, Revisiting 2 Co
rinthians: Rhetoric and the Case for Unity, NTS 46 (2000), 92 111.
2.6.2 Verfasser
Die Echtheit des 2 Kor wurde von der Hyperkritik des 19. Jhs. teilweise bestritten
(z. B. Bruno Bauer), heute steht sie außer Zweifel. Ein erster Reflex des 2 Kor
(9, 12) findet sich in 1 Klem 38, 2.
Ein Zugang zu diesem Brief erÚffnet sich nur, wenn die Ereignisse zwischen der
Abfassung des 1 Kor und des 2 Kor berÜcksichtigt werden. Paulus kÜndigt in
2 Kor 12, 14; 13, 1 einen dritten Besuch in Korinth an, muß also zuvor noch ein
mal in Korinth gewesen sein. In 2 Kor 1, 15 f spricht der Apostel von einer ge
planten Reise direkt nach Korinth, dann nach Makedonien, von Makedonien
wieder nach Korinth und von dort nach JudÈa. Um welche Reise handelt es
sich? Aufschluß darÜber liefert 2 Kor 2, 1, wo Paulus erwÈhnt, er wolle nicht
wiederum in TrÜbsal nach Korinth kommen. Es fand also nach dem GrÜndungs
aufenthalt ein Besuch in Korinth statt, bei dem Paulus beleidigt wurde; darauf
hin verfaßte er den ‚TrÈnenbrief ‘ (vgl. 2 Kor 2, 4; 7,8. 12). Dies ist der in 2 Kor
1, 15 erwÈhnte Besuch, der unter AbÈnderung der in 1 Kor 16, 5 ff geÈußerten
ReiseplÈne stattfand. Zudem fÜhrte Paulus nach dem Zwischenfall seine in 2 Kor
1, 16 erwÈhnten ReiseplÈne nicht durch, sondern kehrte wahrscheinlich nach
Ephesus zurÜck und schrieb den ‚TrÈnenbrief‘. Schließlich hatte Paulus der Ge
meinde wÈhrend des Zwischenbesuches offenbar angekÜndigt, ein drittes Mal zu
kommen (vgl. 2 Kor 1, 23). An die Stelle dieses ausgelassenen Besuches trat der
‚TrÈnenbrief ‘ (vgl. 2 Kor 2, 3. 4), den vermutlich Titus nach Korinth brachte (vgl.
2 Kor 7, 5 9). Vor allem die nderungen der ReiseplÈne trugen Paulus den Vor
wurf der Unaufrichtigkeit ein (vgl. 2 Kor 1, 17).
Ort und Zeit der Abfassung 95
Von Ephesus zog der Apostel nun auf einer gefahrvollen Reise (vgl. 2 Kor 1,8)
Über Troas (2 Kor 2, 12) nach Makedonien, wo er Titus traf (2 Kor 7, 6 f). Dieser
Überbrachte ihm gute Nachrichten aus Korinth, welche die Voraussetzung fÜr
den in 2 Kor 12, 14; 13, 1 angekÜndigten dritten Besuch bildeten. Die Kollekten
aktion in Makedonien verlief erfolgreich (vgl. 2 Kor 8, 1 ff; RÚm 15, 26); sie wur
de wahrscheinlich durch Timotheus veranlaßt, der nach 1 Kor 4, 17; 16, 10 auf
dem Landweg nach Makedonien reiste und Mitabsender des 2 Kor ist (2 Kor
1, 1).
In die Zeit zwischen der Abfassung des 1 Kor und des 2 Kor fallen somit fol
gende Ereignisse:
1) Reise von Ephesus nach Korinth, der Zwischenbesuch des Apostels (vgl.
2 Kor 12, 14; 13, 1).
2) ÀberstÜrzte RÜckkehr nach Ephesus, weil Paulus von einem Gemeinde
glied betrÜbt wurde (vgl. 2 Kor 2, 3 11; 7,8. 12).
3) Abfassung des ‚TrÈnenbriefes‘, der von Titus nach Korinth gebracht wurde
(vgl. 2 Kor 7, 5 9).
4) Todesgefahr in Asien (2 Kor 1,8).
5) Reise des Apostels von Troas nach Makedonien (vgl. 2 Kor 2, 12. 13).
6) Paulus trifft in Makedonien den aus Korinth zurÜckgekehrten Titus (2 Kor
7, 5 ff).
FÜr den Ablauf dieser Ereignisse muß ein Zeitraum von Über einem halben
Jahr angesetzt werden, der 2 Kor wurde somit wahrscheinlich im SpÈtherbst
(vgl. 2 Kor 8, 10) des Jahres 55 n. Chr. in Makedonien (vgl. 2 Kor 7, 5; 8, 1 5; 9, 3 f)
geschrieben227.
Aus 2 Kor 8, 10 geht hervor, daß zwischen der Abfassung der Korintherbriefe ein
Jahreswechsel liegt. Folgt Paulus dem ihm gelÈufigen makedonischen Kalender,
liegt dieser Jahresanfang im Herbst228. Rechnet man hingegen mit eineinhalb Jah
ren Abstand zwischen den Korintherbriefen229, so ergeben sich zwei mÚgliche
Folgerungen: 1. Der 1 Kor wurde bereits im FrÜhjahr 54 abgefaßt. 2. Paulus
schrieb den 1 Kor im FrÜhjahr 55, den 2 Kor im Herbst 56230 und gelangte dann
erst im FrÜhjahr 57 nach Jerusalem.
227 Vgl. H. Lietzmann, 2 Kor, 135; F. Lang, 2 Kor, 229 So z. B. H. Windisch, 2 Kor, 255 f (18 Monate);
320 (2 Kor 1–9); V. P. Furnish, 2 Kor, 55 (2 Kor 1– G. LÜdemann, Paulus I (s. o. 2.1), 134 (16 Mo-
9); Chr. Wolff, 2 Kor, 10; P. Barnett, 2 Cor, 15. nate).
228 Vgl. hierzu J. Finegan, Handbook of Biblical 230 Vgl. M. E. Thrall, 2 Cor, 77 (Abfassung des
Chronology, Peabody MA 21998, 51 ff; H. Lietz- 2 Kor in Makedonien 56 n. Chr.).
mann, 2 Kor, 135.
96 Der zweite Korintherbrief
2.6.4 Empfänger
Der 2 Kor ist nicht nur an die korinthische Gemeinde, sondern auch ‚an alle Hei
ligen in ganz Achaia‘ gerichtet (2 Kor 1, 1). Durch diese Erweiterung des EmpfÈn
gerkreises Èndert sich der Charakter des Briefes, Paulus wendet sich an eine Lo
kalgemeinde und an alle Christen in Achaia (vgl. 2 Kor 9, 2; 11, 10). Diese Dop
pelbestimmung ist auch fÜr die Beurteilung der literarischen Struktur des 2 Kor
von Bedeutung.
GegenÜber der in 2.5.4 geschilderten Gemeindesituation trat eine einschnei
dende VerÈnderung ein: Von außen drangen Irrlehrer in die Gemeinde ein (vgl.
2 Kor 11, 4), sie gewannen schnell Einfluß und diffamierten Paulus (vgl. 2.6.8).
Der Apostel spricht von diesen Gegnern in der 3. Person, um sie deutlich von der
Gemeinde zu unterscheiden (vgl. 2 Kor 10, 1 f.7. 10. 12; 11, 4 f. 12 f.18. 20. 22 f).
1, 1 2 PrÈskript
1, 3 7 ProÚmium Briefanfang
1,8 2, 17 Briefliche Selbstempfehlung
WÈhrend das PrÈskript des 2 Kor der gelÈufigen Form paulinischer Briefe (vgl.
1 Kor 1, 1 3) voll entspricht, wird die Danksagung in 2 Kor 1, 3 7 nicht mit euca
Literarische Integrität 97
risteı˜n, sondern mit eulogeı˜n eingeleitet. Zumeist gilt 2 Kor 1,8 als Beginn des 1.
Hauptteils des 2 Kor. DemgegenÜber weisen F. Schnider W. Stenger231 darauf
hin, daß sich in 2 Kor 1,8 2, 17 alle typischen Elemente der brieflichen Selbst
empfehlung finden (ErwÈhnung der ErstprÈsenz: 1, 19; Gegenwart des Brief
schreibers bei den Adressaten: 1, 11; zukÜnftige Gegenwart/ReiseplÈne: 1, 15 f.
23; 2, 1; Aussendung/RÜckkehr eines Abgesandten: 2, 14; AutoritÈtssicherung:
1, 17 f; 2, 17; 2, 5 11; Appell an die Emotionen der Leser: 1, 23 f; 1, 13). Zudem
charakterisiert Paulus in 2 Kor 3, 1 den vorhergehenden Abschnitt als briefliche
Selbstempfehlung! Schließlich liegt in 2 Kor 3, 1 und nicht in 2 Kor 2, 14 ein the
matischer Neueinsatz vor. Die Danksagung in 2 Kor 2, 14 kommt zweifellos Über
raschend, aber in 1 Kor 15, 57 findet sich dafÜr eine Parallele (vgl. ferner 2 Kor
8, 16; 9, 15; RÚm 6, 17; 7, 25 a). Paulus leitet mit 2 Kor 2, 14 17 zum 1. Hauptteil
des Briefes Über232.
Paulinischem Briefstil entspricht der Àbergang mit einem parakalw̃ Satz in
2 Kor 10, 1 (vgl. 1 Thess 4, 1; RÚm 12, 1; Phil 4, 2; Phlm 8 10). Die SchlußparÈ
nese in 2 Kor 13, 11 bezieht sich auf den Inhalt des gesamten Briefes (vgl. caı´rete
und katartı´zesXe). Das Eschatokoll in 2 Kor 13, 13 weist eine dreigliedrige Form
auf, wÈhrend sonst die eingliedrige Form vorherrscht (vgl. 1 Thess 5, 28; 1 Kor
16, 23; Gal 6, 18; RÚm 16, 20; Phil 4, 23; Phlm 25).
Die Einheitlichkeit des 2 Kor ist sehr umstritten. Folgende TextphÈnomene wer
den als Argumente fÜr Teilungshypothesen angefÜhrt:
1) Der Bruch zwischen 2 Kor 1 9 und 2 Kor 10 13 sei so eklatant, daß in bei
den FÈllen eine unterschiedliche Stellung des Paulus zur Gemeinde angenom
men werden mÜsse. Vielfach wird diese Vermutung mit der Annahme verbun
den, 2 Kor 10 13 sei als selbstÈndiges Brieffragment anzusehen.
2) In 2 Kor 2, 13 werde die Besprechung eines Zwischenfalls in Korinth offen
sichtlich durch eine Apologie des paulinischen Apostolats (2 Kor 2, 14 7, 4) un
terbrochen, was insbesondere der Anschluß von 2 Kor 7, 5 an 2 Kor 2, 13 ver
deutliche.
3) Die beiden Kollektenmahnungen in 2 Kor 8 und 2 Kor 9 scheinen nicht ur
sprÜnglich zusammenzugehÚren.
231 Vgl. F. Schnider – W. Stenger, Studien (s. o. großen Gedankengang, in dem es um theologi-
2.3.2), 52 ff. sche Reflexionen Über den Aposteldienst geht, zu
232 Vgl. Chr. Wolff, 2 Kor, 51: „Man wird 2, 14–17 verstehen haben.“
am ehesten als eine Àberleitung zu einem neuen,
98 Der zweite Korintherbrief
233 Einen ForschungsÜberblick bieten H. Win- paulinischen Apostolats, 566; F. Zeilinger, Krieg
disch, 2 Kor, 11–21; R. P. Martin, 2 Kor, XL–LII; und Friede in Korinth, 36. F. Zeilinger, a. a. O.,
H. D. Betz, 2 Kor, 25–77; R. Bieringer, Der 2. Ko- 23 f, teilt den 2 Kor in vier Briefe auf: a) 2 Kor 10–
rintherbrief in den neuesten Kommentaren, EThL 13; b) 2 Kor 1, 1–2, 13; 7, 5–16; c) 2 Kor 8 und 9;
LXVII (1991), 107–130; ders., Teilungshypothe- d) 2 Kor 2, 14–7, 4.
sen zum 2. Korintherbrief. Ein ForschungsÜber- 236 Vgl. G. Dautzenberg, Der zweite Korinther-
blick, in: R. Bieringer – J. Lambrecht, Studies on 2 brief als Briefsammlung, ANRW 25. 5, Berlin
Corinthians, 67–105; M. E. Thrall, 2 Cor, 1–76. 1987, 3045–3066.
234 Vgl. A. Hausrath, Der Vier-Capitelbrief des 237 Vgl. A. JÜlicher – E. Fascher, Einleitung, 98 ff.
Paulus an die Korinther, Heidelberg 1870. 238 Vgl. F. F. Bruce, 2 Kor, London 1971, 117 ff.
235 Vgl. ferner F. B. Watson, 2 Cor X–XIII and 239 Vgl. C. K. Barrett, 2 Kor, London 1973, 21.
Paul’s Painful Letter to the Corinthians, JThS 35 240 Vgl. J. Weiß, Das Urchristentum (s. o. 2.5.6),
(1984), 324–346; G. Strecker, Die LegitimitÈt des 265. 275.
Literarische Integrität 99
sÚhnungsbrief‘ heraus und rechnet diesen Text wie 2 Kor 9 und 2 Kor 10 13
zum ‚TrÈnenbrief‘241. Bultmann vertritt damit die Reihenfolge: 1) ‚TrÈnenbrief‘
2 Kor 2, 14 7, 4; 9; 10 13; 2) ‚VersÚhnungsbrief ‘ 2 Kor 1, 1 2, 13; 7, 5 16; 8.
d) G. Bornkamm sieht in der Apologie 2 Kor 2, 14 7, 4 den Abschnitt des
2 Kor, der am frÜhesten verfaßt wurde, und mit dem Paulus Einfluß auf die Zu
stÈnde in Korinth zu gewinnen suchte. Dennoch verschlechterte sich die Lage in
Korinth so sehr, daß der Apostel den ‚TrÈnenbrief ‘ verfaßte, welchen Bornkamm
in 2 Kor 10 13 wiederzufinden meint. Nach dem Erfolg des ‚TrÈnenbriefes‘ und
der Mission des Titus schrieb Paulus dann den ‚VersÚhnungsbrief‘, zu dem Born
kamm 2 Kor 1, 1 2, 13; 7, 5 16 rechnet. 2 Kor 8, 1 24 klassifiziert er als einen An
hang zum ‚VersÚhnungsbrief‘ und 2 Kor 9, 1 15 als eigenstÈndiges Rundschrei
ben an die Gemeinden in Achaia. Der Ablauf der im 2 Kor zusammengefaßten
Korrespondenz stellt sich dann folgendermaßen dar: 1) 2 Kor 2, 14 7, 4; 2) 2 Kor
10 13; 3) 2 Kor 1, 1 2, 13; 7, 5 16; 4) 2 Kor 8, 1 24; 5) 2 Kor 9, 1 15242.
FÜr eine sachgemÈße Beurteilung der zum 2 Kor vorgetragenen Teilungshy
pothesen muß zunÈchst die Frage geklÈrt werden, ob 2 Kor 10 13 ein Bestandteil
des ‚TrÈnenbriefes‘ sein kann. Paulus beschreibt in 2 Kor 2, 3 ff; 7,8. 12 sehr ge
nau, was den Zwischenfall in Korinth, seine ÜberstÜrzte Abreise und den ‚TrÈ
nenbrief‘ auslÚste: Er wurde von einem korinthischen Gemeindeglied sehr be
trÜbt, die Einzelheiten des Vorfalls sind jedoch nicht mehr rekonstruierbar. Nach
dem Empfang des ‚TrÈnenbriefes‘ bestrafte die Gemeinde den ÀbeltÈter, nun bit
tet Paulus die Gemeinde, ihm zu verzeihen (vgl. 2 Kor 2, 6 8). Sollte 2 Kor 10 13
ein Bestandteil des ‚TrÈnenbriefes‘ sein, so ist es sehr merkwÜrdig, daß Paulus
nicht den Zwischenfall erwÈhnt, der diesen Brief Überhaupt erst veranlaßte. Die
vom Apostel in 2 Kor 10 13 bekÈmpften Gegner stehen in keinerlei Verbindung
zu dem einzelnen Gemeindeglied in 2 Kor 2, 3 ff. WÈhrend Paulus dem adikv´saß
vergibt und die Angelegenheit damit fÜr ihn erledigt ist (vgl. 2 Kor 2, 6 10), be
stimmt die Auseinandersetzung mit den Gegnern auch in 2 Kor 1 9 wesentlich
die paulinische Argumentation (vgl. 2 Kor 3, 1 3 mit 10, 12. 18; ferner 2 Kor
4, 2. 3. 5; 5, 12; 2, 17). Die ‚Àberapostel‘ sind ‚falsche Apostel‘ und ‚betrÜgerische
Arbeiter‘ (2 Kor 11, 13), denen Paulus nicht in gleicher Weise wie dem Einzelnen
die Hand zur VersÚhnung entgegenstreckt. WÈhrend der adikv´saß zweifellos zur
241 Vgl. R. Bultmann, Exegetische Probleme des fes); 2 Kor 10, 1–13, 10 (Fragment des TrÈnenbrie-
zweiten Korintherbriefes, in: ders., Exegetica, TÜ- fes); 2 Kor 1, 1–2, 13; 7, 5–16; 13, 11–13 (VersÚh-
bingen 1967, 298–322. nungsbrief); 2 Kor 8 (Fragment eines Verwal-
242 G. Bornkamm nahe steht H. D. Betz, 2 Kor, tungsbriefes an die Korinther); 2 Kor 9 (Fragment
251–256, der den 2 Kor als Komposition folgender eines Verwaltungsbriefes an die Achaier); 2 Kor
Briefe bzw. Brieffragmente ansieht: 2 Kor 2, 14– 6, 14–7, 1 (nachpaulinische Interpolation).
6, 13; 7, 2–4 (Fragment eines apologetischen Brie-
100 Der zweite Korintherbrief
Gemeinde gehÚrte, drangen die Gegner von außen in die Gemeinde ein (vgl.
2 Kor 11, 4: o ercómenoß). Der ‚TrÈnenbrief‘ wurde als Ersatz fÜr die nicht stattge
fundene RÜckkehr von Makedonien nach Korinth geschrieben (vgl. 2 Kor 1, 16;
1, 23 2, 4), wÈhrend 2 Kor 10 13 auf einen dritten Besuch vorausblicken. Auch
der nach 2 Kor 10, 1. 9 11; 13, 2 gegen Paulus erhobene Vorwurf, sein persÚnli
ches Auftreten in der Gemeinde sei schwÈchlich, die Briefe hingegen seien kraft
und wirkungsvoll, spricht gegen eine Zuordnung von 2 Kor 10 13 zum ‚TrÈnen
brief‘. Diese VorwÜrfe beziehen sich auf den Konflikt mit dem einzelnen Ge
meindeglied und dem folgenden ‚TrÈnenbrief‘, sie setzen also den ‚TrÈnenbrief‘
voraus und sind nicht ein Bestandteil desselben. Der Plural aı epistolaı´ in 2 Kor
10, 10 umfaßt den 1 Kor und den TrÈnenbrief243! Auch der in 2 Kor 13, 2 er
wÈhnte zweite Besuch fÜgt sich in diese Interpretation ein, denn es ist der Zwi
schenbesuch, der zur Abfassung des ‚TrÈnenbriefes‘ fÜhrte. Damals schonte Pau
lus die Gemeinde, bei dem nun bevorstehenden dritten Besuch will er dies nicht
mehr tun. Schließlich: Rechnet man 2 Kor 10 13 zum ‚TrÈnenbrief‘, so setzt die
ErwÈhnung des Titus in 2 Kor 12, 17. 18 voraus, daß Titus bereits vor der Àber
bringung des ‚TrÈnenbriefes‘ in Korinth war. Dem widerspricht deutlich 2 Kor
7, 14, denn wenn Paulus hier im Zusammenhang mit dem ‚TrÈnenbrief‘ er
wÈhnt, sein RÜhmen der Korinther gegenÜber Titus habe sich gelohnt, dann
war Titus vor der Àbergabe des ‚TrÈnenbriefes‘ noch nicht in Korinth. Neben
Paulus hielten vor allem Silvanus (vgl. 2 Kor 1, 19) und Timotheus (vgl. 1 Kor
4, 17; 16, 10 f; 2 Kor 1, 1. 19) den Kontakt zur Gemeinde und begleiteten die erste
Phase der Kollektensammlung. Erst mit der Àberbringung des ‚TrÈnenbriefes‘
beteiligte sich Titus an der Organisation der Kollekte (vgl. 2 Kor 8, 6). Soll die Zu
gehÚrigkeit von 2 Kor 10 13 zum ‚TrÈnenbrief‘ begrÜndet werden, so flÜchtet
man sich oft in die Auskunft, es seien jene Passagen verlorengegangen, die von
der KrÈnkung des Apostels durch ein einzelnes Gemeindeglied handelten244. Ein
RÜckgriff auf diesen Zwischenfall liegt auch nicht in 2 Kor 10, 1 11 vor245, denn
die paulinische Argumentation in diesem Abschnitt setzt den ‚TrÈnenbrief‘ vor
aus. Zudem wÈre die Vorgehensweise des vermuteten Redaktors kaum zu erklÈ
ren, der entgegen dem postulierten historischen Ablauf die Kap. 10 13 an das
Ende der korinthischen Korrespondenz stellte und damit den Eindruck hervor
rief, Paulus sei in Korinth gescheitert. Fazit: 2 Kor 10 13 kann nicht als ‚TrÈnen
brief‘ oder Fragment dieses Briefes angesehen werden246.
243 Wer 2 Kor 10–13 zum ‚TrÈnenbrief‘ rechnet, 244 Vgl. in diesem Sinn z. B. Ph. Vielhauer, Ur-
muß den Plural in 2 Kor 10, 10 auf den 1 Kor und christliche Literatur, 152.
den in 1 Kor 5,9 erwÈhnten Vorbrief beziehen, 245 So F. B. Watson, 2 Cor X–XIII and Paul’s Pain-
vgl. z. B. H. J. Klauck, 2 Kor, 79. Dieser Vorbrief ful Letter to the Corinthians, 343 ff; H. J. Klauck,
hat aber mit den im 2 Kor behandelten Problemen 2 Kor, 8.
Überhaupt nichts zu tun! 246 Die Charakterisierung des ‚TrÈnenbriefes‘ in
Literarische Integrität 101
Ein weiteres zentrales Problem der Literarkritik des 2 Kor stellt 2 Kor 2, 14 7, 4
dar. Gegen die These einer EigenstÈndigkeit dieses Textes spricht zunÈchst die Be
obachtung, daß eine Reihe von Motivverbindungen zu 2 Kor 1, 1 2, 13 bestehen:
Das Thema der eilikrı´neia (2 Kor 1, 12) wird in 2 Kor 2, 17; 4, 2; 6, 3 10 wieder
aufgenommen. Die Leidens und Trostaussagen in 2 Kor 1, 4 ff erfahren in 2 Kor
4,8 ff eine Erweiterung und Vertiefung. 2 Kor 5, 12 knÜpft an 2 Kor 1, 14 b an, in
dem hier wie dort Paulus die rechte kau´cvsiß thematisiert. Die Problematik von
2 Kor 5, 1 10 (das Sterben des Apostels vor der Parusie) deutet sich in 2 Kor 1,8
10 klar an. Sowohl in 2 Kor 1, 1 2, 13 als auch in 2 Kor 2, 14 7, 4 behandelt Paulus
ein zentrales Thema: Der Dienst des Apostels und sein VerhÈltnis zur Gemeinde.
Gerade die AusfÜhrungen Über das Wesen des paulinischen Apostolats in 2 Kor
3 5 sollen dazu dienen, die VorwÜrfe gegen den Apostel zu entkrÈften und die
Gemeinde zu einem vertieften Verstehen des apostolischen Dienstes zu fÜhren.
2 Kor 7, 5 kann zudem nicht als unmittelbare Fortsetzung von 2 Kor 2, 13 gel
ten247. So bestehen sprachliche Verbindungen zwischen 2 Kor 7, 4 und 2 Kor
7, 5 7 (In V. 6 knÜpfen parakalw̃n, pareka´lesen, in V. 7 paraklv´sei an paraklv´
sei in V. 4 an, carv˜nai in V. 7 nimmt cara˜ in V. 4 und Xlibómenoi in V. 5 Xlı´yei in
V. 4 auf)248. Auch inhaltlich gehÚren 2 Kor 7, 4 und 2 Kor 7, 5 7 eng zusammen,
denn die Ursache fÜr die in 2 Kor 7, 4 erwÈhnte Überschwengliche Freude ist die
in 2 Kor 7, 5 7 berichtete Ankunft des Titus mit guten Nachrichten aus Korinth
(vgl. auch 2 Kor 7, 4 mit 2 Kor 7, 16!). Der mit kai` gár in 2 Kor 7, 5 einsetzende
Reisebericht will nicht primÈr die UmstÈnde der Reise, sondern die Entstehung
der Freude schildern. Inhaltlich ist somit 2 Kor 7, 4 auf den folgenden unmittel
baren Kontext angewiesen, so daß der Zusammenhang 2 Kor 7, 4 2 Kor 7, 5 ff
als ursprÜnglich angesehen werden muß. Schließlich: Die Bemerkung des Apo
stels in 2 Kor 6, 11 („Unser Mund hat sich fÜr euch aufgetan, Korinther, unser
Herz ist weit geworden“) zeigt, daß sich Paulus seines ungewÚhnlichen Vorge
hens in 2 Kor 3 6 durchaus bewußt war. Um die gegen ihn erhobenen VorwÜrfe
zu entkrÈften und die Gemeinde wiederzugewinnen, mußte Paulus umfassend
sein SelbstverstÈndnis als Diener des neuen Bundes und Prediger der VersÚh
nung mit Gott entfalten249.
Umstritten ist die paulinische Verfasserschaft von 2 Kor 6, 14 7, 1250. Dieser
2 Kor 2, 4 trifft auch nicht auf den 1 Kor zu, wie de Àberlegungen unterbricht (vgl. Ep 7 330 b mit
neuerdings wieder U. Borse, „TrÈnenbrief“ und 1. 337 e; in 344 d bezeichnet Platon die Art seiner
Korintherbrief, SNTU 9 (1984), 175–202, meint. Darstellung als ‚abschweifende ErzÈhlung‘).
247 Vgl. auch Chr. Wolff, 2 Kor, 155 f. 250 Zur Forschungsgeschichte vgl. R. Bieringer, 2
248 Vgl. H. Lietzmann, 2 Kor, 131. Korinther 6, 14–7, 1 im Kontext des 2 Korinther-
249 Als eine gewisse Parallele kann der 7. Brief briefes, in: R. Bieringer – J. Lambrecht, Studies on
des Platon gelten, wo Platon auch die Schilderung 2 Corinthians, 551–570.
chronologischer Ereignisse durch weitschweifen-
102 Der zweite Korintherbrief
kurze Text enthÈlt zahlreiche paulinische bzw. ntl. Hapaxlegomena (metocv´, me´
riß, kaXarı´zw, sumfẃnvsiß, sugkatáXesiß, Beliár, pantokrátwr, molusmóß, eterozu
ge´w, emperipate´w). Hinzu kommen auffÈllige Vorstellungen und Wendungen.
Paulus bezeichnet den Satan sonst nicht als ‚Beliar‘ (vgl. dazu 1QM 13, 11 f; TSim
5, 3; TLev 19, 1; TIss 6, 1), und die Gottesbezeichnung ‚Allherrscher‘ findet sich
bei Paulus nur hier. Die Wendung ‚Befleckung des Fleisches und des Geistes‘ in
2 Kor 7, 1 steht in Spannung zur sonstigen Antithetik von Sarx und Pneuma bei
Paulus. Zudem schließt 2 Kor 7, 2 bruchlos an 2 Kor 6, 13 an. Die sprachlichen
und inhaltlichen Besonderheiten des Textes, speziell seine NÈhe zu Qumran,
Jub und TestXII, fÜhrten wiederholt zu der begrÜndeten Vermutung, daß 2 Kor
6, 14 7, 1 von einem Judenchristen in nachpaulinischer Zeit in den 2 Kor einge
fÜgt wurde251. Wer den Text fÜr ursprÜnglich hÈlt, erklÈrt die Besonderheiten in
der Regel mit der Aufnahme traditioneller Begriffe und Motive durch den Apo
stel252.
Vielfach werden 2 Kor 8 und 2 Kor 9 als Dubletten betrachtet, so daß sie als se
parate Schreiben, als Anhang oder als Teil eines Korintherbriefes gelten253. Als
Hauptargumente fÜr derartige Teilungshypothesen dienen254: 1) Der Neueinsatz
in 2 Kor 9, 1. 2) In 2 Kor 8, 1 ff stellt Paulus die Makedonier den Korinthern, in
2 Kor 9, 2 ff Achaia den Makedoniern als Vorbild hin. Àberzeugen kÚnnen diese
Argumente nicht, denn in 2 Kor 9, 1 liegt zwar ein Neueinsatz vor, nicht aber der
Beginn eines eigenstÈndigen Briefes255. Den 2 Kor schrieb Paulus an die Gemein
den in Korinth und Achaia (2 Kor 1, 1), so daß es nicht verwundert, wenn er sich
mit 2 Kor 9 in der wichtigen Kollektenfrage direkt an Achaia wendet. Zudem
verweist gár in 2 Kor 9, 1 auf das Vorhergehende, nach dem Exkurs Über die Bo
ten in 2 Kor 8, 16 24 nimmt Paulus in 2 Kor 9, 1 das Hauptthema mit Blick auf
Achaia wieder auf. Paulus will sowohl die korinthische Gemeinde als auch die
251 Den sekundÈren Charakter von 2 Kor 6, 14– Kommunikation und Gemeindeaufbau (s. o.
7, 1 haben in neuerer Zeit umfassend begrÜndet: 2.2.2), 290–294. FÜr die durchgÈngige paulini-
J. A. Fitzmyer, Qumran and the Interpolated Para- sche Verfasserschaft des Textes treten jetzt wieder
graph in 2 Cor 6, 14–7, 1, CBQ 23 (1961), 271– ein: G. Saß, Noch einmal: 2 Kor 6, 14 – 7, 1, ZNW
280; J. Gnilka, 2 Kor 6, 14–7, 1 im Lichte der Qum- 84 (1993), 36–64; F. Zeilinger, Die Echtheit von 2
ranschriften und der ZwÚlf-Patriarchen-Testa- Cor 6, 14–7, 1, JBL 112 (1993), 71–80.
mente, in: Ntl. AufsÈtze (FS J. Schmid), Regens- 253 Vgl. zu den einzelnen Thesen F. Lang, 2 Kor,
burg 1963, 86–99. 317.
252 Vgl. in diesem Sinn R. P. Martin, 2 Kor, 189– 254 Vgl. auch die Auflistung der Argumente bei
212; Chr. Wolff, 2 Kor, 146–154 (Àbernahme ei- R. Bultmann, 2 Kor, 258.
ner TaufparÈnese durch Paulus); J. Murphy- 255 Man kann 2 Kor 9, 1 als Paraleipsis verstehen
O’Connor, Philo and 2 Cor 6, 14–7, 1; in: The Dia- (F. Blaß – A. Debrunner – F. Rehkopf, Grammatik
konia of the Spirit (2 Co 4, 7–7, 4), SMBen 10, hg. des neutestamentlichen Griechisch, GÚttingen
17
v. L. de Lorenzi, Rom 1989, 133–146 (alle Aus- 1990, § 495, 3: „Der Redner stellt sich, als Über-
drÜcke und Motive dieses Abschnittes haben Par- gehe er etwas, was er tatsÈchlich doch erwÈhnt“).
allelen im hellenistischen Judentum); R. Reck,
Literarische Integrität 103
256 Einen ForschungsÜberblick bietet R. Bieringer, 259 W. G. KÜmmel, Einleitung, 254: „Paulus hat
Der 2. Korintherbrief als ursprÜngliche Einheit, den Brief mit Unterbrechungen diktiert; daher ist
in: R. Bieringer – U. J. Lambrecht, Studies on 2 die MÚglichkeit von Unebenheiten von vornher-
Corinthians, 107–130. ein gegeben.“
257 Vgl. W. Bousset, Der zweite Brief an die Ko- 260 Vgl. U. Borse, Der Standort des Galaterbriefes
rinther, SNT 2, GÚttingen 31917, 171 f. (s. u. 2.7.1), 114 ff.
258 H. Lietzmann, 2 Kor, 139.
104 Der zweite Korintherbrief
geben habe. Daraus ergibt sich fÜr ihn die literarische Einheit des 2 Kor. Chr.
Wolff nimmt an, 2 Kor 8. 9 seien der geplante Abschluß des 2 Kor, Paulus habe
dann aufgrund neuer, unerfreulicher Nachrichten aus Korinth 2 Kor 10 13
abgefaßt261. R. Bieringer bezieht 2 Kor 2, 14 7, 4 auf dieselbe Phase der Aus
einandersetzung wie Kap. 10 13 und sieht das Ziel des gesamten Briefes im
Versuch des Paulus, mit der Gemeinde zu einer echten VersÚhnung zu kom
men262. P. Barnett fÜhrt drei Argumente fÜr die Einheit des 2 Kor an: 1) Die rhe
torische Struktur des Briefes als ‚apologetic letter‘263; 2) Der geplante 3. Besuch
des Apostels in Korinth prÈgt die Argumentation des gesamten Briefes; 3) Es fin
den sich zahlreiche sprachliche Verbindungen zwischen Kap. 1 9 und 10 13, die
auf einen ursprÜnglichen Zusammenhang hinweisen264.
Zur Rekonstruktion des VerhÈltnisses von 2 Kor 1 9 zu 2 Kor 10 13 sind vor
allem die Nachrichten Über Titus und seine Begleiter in beiden Briefteilen geeig
net. Paulus erwÈhnt sowohl in 2 Kor 8, 17. 18. 22 als auch in 2 Kor 9, 3. 5, er habe
Titus und ‚die BrÜder‘ nach Korinth gesandt. Vielfach werden exv˜lXen und sune
pe´myamen als Aoriste des Briefstils angesehen265. Handelt es sich jedoch um echte
Aoriste266, so setzt dies voraus, daß Paulus 2 Kor 1 9 erst nach dem Aufbruch
des Titus und seiner Begleiter nach Korinth diktierte. Offenbar wollte der Apo
stel seinen vorausgereisten Mitarbeitern (vgl. proe´rcomai in 2 Kor 9, 5) den Brief
so schnell wie mÚglich nachsenden. Dies unterblieb jedoch, Paulus hielt 2 Kor 1
9 noch in den HÈnden, als ihn durch die Titus Gruppe neue Nachrichten aus Ko
rinth erreichten. FÜr eine erneute Anwesenheit der Titus Gruppe bei Paulus
sprechen 2 Kor 12, 17. 18, denn hier wird auf den in 2 Kor 8, 16 ff; 9, 3. 5 ange
kÜndigten Besuch zurÜckgeblickt. Auf einen anderen Besuch kÚnnen diese
Verse nicht bezogen werden, denn Titus war vor der Àberbringung des ‚TrÈnen
briefes‘ noch nicht in Korinth (vgl. 2 Kor 7, 14)267. Paulus nennt in 2 Kor 12, 18
nur den von den Gemeinden in Makedonien beauftragten Bruder, nicht aber
seinen in 2 Kor 8, 22 erwÈhnten Mitarbeiter. Dies ist im Kontext der in Korinth
gegen ihn erhobenen VorwÜrfe einer persÚnlichen Bereicherung durch die Kol
lekte (vgl. 2 Kor 8, 20; 12, 14. 16. 17) sachgemÈß, denn allein Titus und der Be
261 Vgl. Chr. Wolff, 2 Kor, 193 f; Èhnlich F. W. making a final emotional appeal to the hearers.“
Danker, 2 Kor, 147 f. 264 Vgl. a. a. O., 19 ff.
262 Vgl. R. Bieringer, PlÈdoyer fÜr die Einheitlich- 265 Vgl. z. B. H. Windisch, 2 Kor, 262; V. P. Fur-
keit des 2 Korintherbriefes. Literarkritische und nish, 2 Kor, 421 f.
inhaltliche Argumente, in: R. Bieringer – J. Lam- 266 B.-D.-R. § 334 fÜhren zu Recht keine der ge-
brecht, Studies on 2 Corinthians, 131–179. nannten Stellen als Aoriste des Briefstils an.
263 P. Barnett, 2 Cor, 18: „If we accept 2 Corin- 267 Wer 2 Kor 10–13 zum ‚TrÈnenbrief‘ rechnet,
thians as an ‚apologetic‘ letter, the powerfull rhe- muß 2 Kor 12, 17. 18 natÜrlich auf einen frÜheren
torical chapters 10 through 13 need not be consi- Besuch des Titus in Korinth im Zusammenhang
dered as a separate letter but as a peroration, ga- mit der Kollekte beziehen; vgl. z. B. F. Lang, 2 Kor,
thering up previously mentioned elements and 354; H. J. Klauck, 2 Kor, 98.
Literarische Integrität 105
auftragte aus Makedonien waren offiziell fÜr die DurchfÜhrung der Kollekte ver
antwortlich. Zudem bestand fÜr Paulus in 2 Kor 12, 17. 18 keine Notwendigkeit,
die genaue Personenzahl der Titus Gruppe noch einmal anzugeben.
Offenbar brachten Titus und ‚der Bruder‘ neue Informationen Über die Situa
tion in Korinth, die Paulus zur Abfassung von 2 Kor 10 13 veranlaßten. Wahr
scheinlich hatten die Gegner inzwischen in Korinth die Mehrheit der Gemeinde
fÜr sich gewonnen, Paulus rechnet mit ihnen in 2 Kor 10 13 in ungewÚhnlich
scharfer Form ab und hofft, dadurch viele Gemeindeglieder wieder zurÜckzuge
winnen. Die invektivischen Partien in 2 Kor 10 13 sind innerhalb der antiken Li
teratur nicht außergewÚhnlich, Invektivisches und Invektiven finden sich bes.
in der TragÚdie, der KomÚdie und bei berÜhmten Rednern wie Cicero268. Paulus
fÜgte die Kap. 10 13 an 2 Kor 1 9 an, weil die dort behandelten Probleme (Ver
zÚgerung des angekÜndigten Besuches, der ‚TrÈnenbrief‘, die Spendenaktion)
gerade unter der Voraussetzung eines zunehmenden Einflusses der Gegner Über
zeugend geklÈrt werden mußten. Parallelen fÜr einen wechselnden Ton inner
halb eines Paulusbriefes sind 1 Kor 8/9; Gal 2/3; RÚm 11/12. Die Polemik in
2 Kor 10 13 gilt nicht der korinthischen Gemeinde, sondern den Gegnern, die
als Dritte (vgl. 2 Kor 10, 1 f) in das VerhÈltnis von Apostel und Gemeinde ein
drangen. Deshalb besteht hinsichtlich des VerhÈltnisses Apostel Gemeinde zwi
schen 2 Kor 1 9 und 2 Kor 10 13 kein grundlegender Unterschied. Paulus ver
sucht hier wie dort, unentschlossene Gemeindeglieder zu Überzeugen und fÜr
sich einzunehmen. FÜr die Einheit des 2 Kor unter der Voraussetzung einer zwi
schen 2 Kor 1 9 und 2 Kor 10 13 verÈnderten Gemeindesituation spricht
schließlich der Briefschluß 2 Kor 13, 11 13. Er ist Überraschend positiv gehalten
und vereint in sich beide Briefteile (vgl. 2 Kor 13, 11 a). Offensichtlich gewann
Paulus durch den 2 Kor die Gemeinde wieder fÜr sich, denn im FrÜhjahr 56
weilte er in Korinth und verfaßte dort den RÚmerbrief, wo er in Kap. 15, 26 ver
merkt, die Kollektensammlung in Makedonien und Achaia sei erfolgreich abge
schlossen worden.
Jede Rekonstruktion der dem 2 Kor vorausgehenden und ihm zugrundelie
genden historischen AblÈufe kommt nicht ohne Hypothesen aus. Das hier ge
wÈhlte ErklÈrungsmodell hat zwei Vorteile: 1) Die ErwÈhnung des Titus und sei
ner Begleiter ist der einzige sichere, im Brief selbst enthaltene Hinweis, der fÜr
eine Rekonstruktion der Geschehnisse herangezogen werden kann. 2) Die These
268 Vgl. dazu S. Koster, Die Invektive in der grie- neten Mitteln eine namentlich genannte oder be-
chischen und rÚmischen Literatur, BeitrÈge zur nennbare Person fÜr sich allein oder auch stell-
Klassischen Philologie 99, Meisenheim 1980, 354: vertretend fÜr andere, Úffentlich vor dem Hinter-
„Die Invektive ist eine strukturierte, zumindest grund der jeweils geltenden Werte im Bewußt-
aber den Hauptpunkt der pra´xeiß aufweisende, li- sein der Menschen fÜr immer vernichtend herab-
terarische Form, deren Ziel es ist, mit allen geeig- zusetzen.“
106 Der zweite Korintherbrief
der Einheit des 2 Kor unter der Voraussetzung einer verÈnderten Gemeindesi
tuation zwischen 2 Kor 1 9 und 2 Kor 10 13 hat den großen Vorzug, daß sie
ohne die Postulierung von Briefen bzw. Brieffragmenten mit nicht erkennbarem
Anfang und ungewissem Ende auskommt269.
W. LÜtgert sah auch in den Gegnern des 2 Kor libertinistische Pneumatiker und
Gnostiker273. Dieser Position schlossen sich u. a. R. Bultmann274 und W. Schmit
hals275 an. DemgegenÜber machte E. KÈsemann gegen eine Gleichsetzung der
Gegner in beiden Korintherbriefen geltend, daß der 2 Kor eine neue, fortge
schrittene Situation voraussetze. FÜr ihn sind die Gegner im 2 Kor der Jerusale
mer Urgemeinde nahestehende Missionare, die den Versuch unternahmen, die
AutoritÈt der Urapostel (vgl. uperlı´an apóstoloi in 2 Kor 11, 5; 12, 11) gegen
Paulus durchzusetzen. Es geht nach KÈsemann im 2 Kor um die Auseinanderset
269 Neben den bereits genannten Autoren 10–13 dieselben Gegner im Blick. Ohne eindeuti-
(W. Bousset, H. Lietzmann, W. G. KÜmmel, ges Votum hingegen I. Broer, Einleitung II, 408–
U. Borse, N. Hyldahl, F. W. Danker, Chr. Wolff; 419.
R. Bieringer; P. Barnett) votieren fÜr die Einheit 270 Vgl. U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christus-
des 2 Kor u. a. G. Heinrici, 2. Korintherbrief, KEK gegenwart (s. o. 2.4.10), 124–126.
6, GÚttingen 1883, 7–10; Ph. Bachmann, Der 271 Vgl. H. Windisch, 2 Kor, 112 ff.
zweite Brief des Paulus an die Korinther, KNT 8, 272 Vgl. dazu C. Breytenbach, VersÚhnung, 118 f.
Leipzig 1 21909, 6–19. 414–419; A. Schlatter, Pau- 273 Vgl. W. LÜtgert, Freiheitspredigt, 79. Einen
lus der Bote Jesu, Stuttgart 21956, 612; C. J. Bjer- umfassenden forschungsgeschichtlichen Àber-
kelund, PARAKAL° (s. o. 2.3.2), 145–155; blick zur Gegnerfrage im 2 Kor bietet J. L. Sum-
N. A. Dahl, Studies in Paul, Minneapolis 1977, 38 f ney, Identifying Paul’s Opponents, 13–73; R. Bie-
(Einheit von 2 Kor 1–9); K. Berger, Bibelkunde ringer, Die Gegner des Paulus im 2 Korinther-
des Neuen Testaments, Heidelberg 31986, 380 ff; brief, in: R. Bieringer – J. Lambrecht, Studies on 2
G. LÜdemann, Paulus I (s. o. 2.1), 134; P. Beier, Corinthians, 181–221. J. J. Gunther, Paul’s Oppo-
Geteilte Briefe (s. o. 2.4.6), 79–103; K.Th. Klein- nents and their Background, NT.S 35, Leiden
knecht, Der leidende Gerechtfertigte, WUNT 2.13, 1973, 1, zÈhlt fÜr den 2 Kor dreizehn verschie-
TÜbingen 1984, 303 f; J. Lambrecht, 2Cor, 7–9. dene VorschlÈge zur Klassifizierung der Gegner.
Auch R. E. Brown, Introduction, 550.555, votiert 274 Vgl. R. Bultmann, 2 Kor, 216.
(vorsichtig) fÜr die Einheit des 2 Kor; als Hauptar- 275 Vgl. zuletzt W. Schmithals, Gnosis und Neues
gument fÜhrt er an, Paulus habe in Kap. 1–9 und Testament, Darmstadt 1984, 28–33.
Religionsgeschichtliche Stellung 107
Der Apostel geht auf alle AktivitÈten und VorwÜrfe der Gegner ein, so daß er die
Beschneidung sicher genannt hÈtte, wÈre sie propagiert worden. Deshalb kÚnnen
die Gegner des 2 Kor nicht im gleichen Sinn als Judaisten bezeichnet werden wie
die Gegner des Gal277. Beschneidung und damit auch die Gesetzesfrage sind im
2 Kor nicht Gegenstand der Auseinandersetzung, bezeichnenderweise ist nómoß
im 2 Kor nicht belegt. Auf eine besondere Beziehung zum historischen Jesus be
riefen sich die Gegner auch nicht, denn sonst hÈtte Paulus in 2 Kor 10, 7 dem
Schlagwort der Gegner ‚Ich gehÚre zu Christus‘ wohl kaum ein ouºtwß kai` vmeı˜ß
entgegenstellen kÚnnen. Die Gegner des Paulus im 2 Kor waren urchristliche
Wandermissionare jÜdisch hellenistischer Herkunft, die Paulus besonders einen
mangelnden Geistbesitz vorwarfen und sich durch Wundertaten und Reden als
wahre Apostel und GeisttrÈger auszuzeichnen suchten278. Ob und inwieweit sie
mit Jerusalem in Verbindung standen, lÈßt sich nicht mehr ausmachen.
Der 2 Kor erschließt seinen Lesern die Gestalt der apostolischen Existenz des Pau
lus279. LegitimitÈt und Wesen des paulinischen Apostolats sind die durchgÈngi
gen Themen des Briefes. Nach dem Eingangsgruß und der Danksagung fÜr die
Errettung aus der Todesgefahr (2 Kor 1, 1 11) verteidigt sich Paulus gegen den
Vorwurf der Unaufrichtigkeit (2 Kor 1, 12 2, 1). Das Wesen seines Apostelamtes
entfaltet er in 2 Kor 2, 14 7, 4. Der Paulus von Gott aufgetragene apostolische
Dienst umfaßt sowohl Herrlichkeit (2 Kor 3, 7 4, 6) als auch Leiden (2 Kor 4, 7
5, 10), so wie Jesus Christus selbst durch das Leiden zur Herrlichkeit gelangte.
Paulus versteht sich als Diener des neuen Bundes, dessen unvergÈngliche Herr
lichkeit in Jesus Christus grÜndet. Die Neuheit des zweiten Bundes zeigt sich in
der befreienden Gegenwart des Geistes, durch den der Auferstandene selbst
wirkt (2 Kor 3, 17). Auch im Leiden weiß sich der Apostel an Jesus gebunden,
dessen Kraft in ihm wirkt und Èußere Widerfahrnisse zu Überwinden vermag
(vgl. die Peristasenkataloge 2 Kor 4, 7 12; 6, 4 10; 11, 23 29)280. Der Gekreuzigte
und Auferstandene prÈgt die paradoxe Gestalt der apostolischen Existenz in
Schwachheit und Kraft. Als von Gott berufener Apostel (vgl. 2 Kor 2, 16 f; 3, 5 f)
277 Vgl. H. Windisch, 2 Kor, 26; V. P. Furnish, 279 Vgl. Chr. Wolff, 2 Kor, 11–14; G. Strecker, Die
2 Kor, 53; F. Lang, 2 Kor, 357–359. LegitimitÈt des paulinischen Apostolats, 573–582.
278 Vgl. J. L. Sumney, Identifying Paul’s Oppo- 280 Vgl. dazu E. GÜttgemanns, Der leidende Apo-
nents, 190; anders F. W. Horn, Angeld des Geistes stel und sein Herr, FRLANT 90, GÚttingen 1966;
(s. o. 2.5.8), 302–309, wonach der Pneumatismus M. Ebner, Leidenslisten und Apostelbrief, fzb 66,
kein wesentliches Element des gegnerischen Auf- WÜrzburg 1991.
tretens war.
Tendenzen der neueren Forschung 109
verkÜndigt Paulus das Wort der VersÚhnung (vgl. 2 Kor 5, 11 21). Sein Dienst ist
ein Teil der von Gott geschenkten VersÚhnung in Jesus Christus (vgl. 2 Kor
5, 19 21). Er verkÜndigt den, der „fÜr uns gestorben und auferstanden ist“
(2 Kor 5, 15) und dessen „Kraft in Schwachheit vollendet wird“ (2 Kor 12,9). In
der VersÚhnungstat grÜndet das Amt der VersÚhnung (2 Kor 5, 18 b). Die VersÚh
nungstat am Kreuz ermÚglicht die VerkÜndigung der VersÚhnungsbotschaft, zu
gleich ereignet sich in dieser VerkÜndigung die VersÚhnung mit Gott, im Wort
ist das Heilsgeschehen prÈsent. Paulus proklamiert eine Koinzidenz von Gottes
Wort am Kreuz und dem apostolischen Wort der VersÚhnung. Die VerkÜndi
gung erwÈchst aus dem Heilshandeln Gottes in der VersÚhnung, zugleich ist sie
ein Teil desselben. Kennzeichnend fÜr den 2 Kor ist seine doxologische PrÈgung
(vgl. 2 Kor 1, 3 f.11; 2, 14; 8, 16; 9, 12 f.15), Gottes Gnade bestimmt die Existenz
des Apostels und der Gemeinde. Der Apostel lebt fÜr seine Gemeinde (2 Kor
5, 13; 11, 28 f), sie will er Christus bei der Parusie zufÜhren (2 Kor 11, 2). Auch in
der Auseinandersetzung mit den in Korinth eingedrungenen Gegnern geht es
um den Charakter und die AutoritÈt des paulinischen Apostolats. Offenbar erho
ben die Gegner VorwÜrfe gegen die Person des Paulus (2 Kor 10, 1 18) und stell
ten der scheinbaren SchwÈche des Apostels ihre pneumatischen und ekstati
schen FÈhigkeiten entgegen. DemgegenÜber rÜhmt sich der Apostel seiner
Schwachheit, denn durch die Schwachheit des Apostels wirkt die Kraft Christi.
Der vermessene Selbstruhm der Gegner zeigt, daß sie sich selbst darstellen und
predigen, nicht aber den fÜr unsere SÜnden und die VersÚhnung der Welt ge
storbenen Jesus Christus.
In der Begegnung mit dem Evangelium entscheidet sich die Existenz eines
Menschen (2 Kor 2, 15), der VerkÜndigungsdienst hat eschatologische Dimensio
nen. Deshalb kÈmpft Paulus um seine Gemeinde.
Die literarkritische Analyse des 2 Kor lÈßt deutlich drei Tendenzen erkennen: 1)
2 Kor 1 9 gilt Überwiegend als literarische Einheit (z. B. Furnish, Lang, Klauck,
Martin, Wolff). 2) AuthentizitÈt und IntegritÈt von 2 Kor 6, 14 7, 1 werden von
vielen Exegeten bestritten (z. B. Lang, Klauck). Jedoch mehren sich in der neue
sten Exegese die VorschlÈge, in 2 Kor 6, 14 7, 1 einen (teilweise vom Apostel
Überarbeiteten) nicht paulinischen traditionellen Text zu sehen, dessen Stellung
im gegenwÈrtigen Kontext ursprÜnglich ist (z. B. Furnish, Martin, Wolff). 3) Die
Mehrzahl der Exegeten weist 2 Kor 1 9 und 2 Kor 10 13 verschiedenen Briefen
zu. Zugleich wird aber im Rahmen einer temporalen Teilungshypothese die Ein
heitlichkeit des 2 Kor unter der Voraussetzung einer verÈnderten Situation zwi
110 Der zweite Korintherbrief
281 Vgl. zur Rekonstruktion D. Georgi, Gegner, Paulus und Mose. Argumentation und Polemik in
282. 2 Kor 3, SFEG 77, Helsinki – GÚttingen 1999.
282 O. Hofius, Gesetz und Evangelium nach 2. Ko- 284 Vgl. dazu W. Wiefel, Die Hauptrichtung des
rinther 3, 120. Wandels (s. o. 2.4.10), 76; U. Schnelle, Wandlun-
283 Carol Kern-Stockhausen, Moses’ Veil and the gen im paulinischen Denken (s. o. 2.4.9), 42–44,
Glory of the New Covenant, AB 116, Rom 1989, und die ForschungsÜberblicke bei F. G. Lang, 2.
175. Zur Analyse von 2 Kor 3 vgl. ferner A. de Korinther 5, 1–10 in der neuen Forschung, BGBE
Oliveira (LV); M. Vogel, Das Heil des Bundes, 16, TÜbingen 1973; Chr. Wolff, 2 Kor, 101–106.
TANZ 18; TÜbingen 1996, 184–197; Sini Hulmi,
Der Galaterbrief 111
reich ohne eine religiÚse oder kultische Komponente. „Die paulinische katal
lássein Vorstellung und die alttestamentliche rpk Tradition stehen in keinem
traditionsgeschichtlichen Zusammenhang, der einer biblischen Theologie zu
grunde gelegt werden kÚnnte.“285 Erst Paulus stellt diesen Zusammenhang
durch die Aufnahme einer Tradition in 2 Kor 5, 19 a.b her. DemgegenÜber betont
O. Hofius den seines Erachtens alttestamentlich fest vorgegebenen Zusammen
hang von ‚VersÚhnung‘ und kultischer ‚SÜhne‘. Paulus knÜpft demnach an ei
nen vorgegebenen Sprachgebrauch im antiken Judentum an. „Der paulinische
VersÚhnungsgedanke ist . . . entscheidend durch die Botschaft Deuterojesajas ge
prÈgt.“286
2.7.1 Literatur
Kommentare
KEK 7: H. Schlier, 51971. HNT 10: F. Vouga, 1998. HThK IX: F. Mußner, 41981. ThHK
9: J. Rohde, 1989. NTD 8/1: J. Becker, 1998. RNT: U. Borse, 1984. ZBK 7: D. LÜhr
mann, 1984. WBC 41: R. N. Longenecker, 1990. AncB 33 A: J. L. Martyn, 1998. BNTC:
J. D. G. Dunn, 1993. Sacra Pagina: F. J. Matera, 1992. H. D. Betz, Der Galaterbrief, 1988.
Monographien
W. LÜtgert, Gesetz und Geist, BFChTh 6, GÜtersloh 1919. J. Eckert, Die urchristliche Ver
kÜndigung im Streit zwischen Paulus und seinen Gegnern im Galaterbrief, BU 6, Regens
burg 1971. U. Borse, Der Standort des Galaterbriefes, BBB 41, KÚln 1972. H. HÜbner,
Das Gesetz bei Paulus, FRLANT 119, GÚttingen 31982. J. M. G. Barclay, Obeying the
Truth. Paul’ s Ethics in Galatians, Edinburgh 1988. M. Bachmann, SÜnder oder Àbertre
ter. Studien zur Argumentation in Gal 2, 15 ff., WUNT 59, TÜbingen 1992. I. G. Hong, The
Law in Galatians, JSNT.S 81, Sheffield 1993. C. Breytenbach, Paulus und Barnabas in der
Provinz Galatien, AGJU 38, Leiden 1996. D. Kremendahl, Die Botschaft der Form. Zum
VerhÈltnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im Galaterbrief, NTOA 46, Freiburg
(H) GÚttingen 2000. Th. Witulski, Die Adressaten des Galaterbriefes, FRLANT 193, GÚt
tingen 2000.
285 C. Breytenbach, VersÚhnung, 221. in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, TÜbingen
286 O. Hofius, ErwÈgungen zur Gestalt und Her- 1989, (1–14) 14; vgl. ferner a. a. O., 15–32. 33–49.
kunft des paulinischen VersÚhnungsgedankens,
112 Der Galaterbrief
AufsÇtze
K. Kertelge, Zur Deutung des Rechtfertigungsbegriffs im Galaterbrief, BZ 12 (1968), 211
222. Ph. Vielhauer, Gesetzes und Stoicheiadienst im Galaterbrief, in: ders., Oikodome,
TB 65, MÜnchen 1979, 183 195. G. Klein, Individualgeschichte und Weltgeschichte bei
Paulus, in: ders., Rekonstruktion und Interpretation, BEvTh 50, MÜnchen 1969, 180 224.
O. Merk, Der Beginn der ParÈnese im Galaterbrief, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und
Exegese (s. o. 1.1), 238 259. J. Blank, Warum sagt Paulus: „Aus Werken des Gesetzes
wird niemand gerecht“?, in: EKK.V 1, Neukirchen 1969, 79 95. F. Hahn, Das Gesetzes
verstÈndnis im RÚmer und Galaterbrief, ZNW 67 (1976), 29 63. H. HÜbner, Art. Galater
brief, TRE 12 (1984), 5 14. W. Schmithals, Judaisten in Galatien?, ZNW 74 (1983), 27
58. A. Suhl, Der Galaterbrief Situation und Argumentation, ANRW II 25. 4, Berlin 1987,
3067 3164. W. Harnisch, EinÜbung des neuen Seins, ZThK 84 (1987), 279 296. Th.
SÚding, Die Gegner des Apostels Paulus in Galatien, in: ders., Das Wort vom Kreuz (s. o.
2.4.1), 132 152. K. LÚning, Der Galaterbrief und die AnfÈnge des Christentums in Gala
tien, Asia Minor Studien 12, Bonn 1994, 133 156. D. A. Koch, Barnabas, Paulus und die
Adressaten des Galaterbriefes, in: Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS
J. Becker), hg. v. U. Mell u. U. B. MÜller, BZNW 100, Berlin 1999, 85 106.
2.7.2 Verfasser
FÜr die Bestimmung der Abfassung des Briefes bieten sich zwei ernsthafte MÚg
lichkeiten an: 1) Der Gal wurde wÈhrend des paulinischen Aufenthaltes in Ephe
sus abgefaßt, vor oder nach dem ebenfalls in Ephesus geschriebenen 1Kor287. 2)
Paulus schrieb den Gal wÈhrend seiner Reise durch Makedonien (vgl. Apg 20, 2),
er ist dann nach dem 1 Kor (und dem 2 Kor) anzusetzen und steht in unmittelba
rer NÈhe zum RÚm288. Kriterien zur Bestimmung der Abfassung kÚnnen nur die
287 So z. B. A. Oepke, Der Brief des Paulus an die von RÚm 9–11, in: L. de Lorenzi (Hg.), Die Israel-
Galater, ThHK 9, 31973, 211 f (Gal nach 1Kor); frage nach RÚmer 9–11, SMBen 3, Rom 1977, 40;
H. Schlier, Gal, 18; Ph. Vielhauer, Urchristliche Li- G. LÜdemann, Paulus I (s. o. 2.1), 273; J. Becker,
teratur, 110 f; D. LÜhrmann, Gal, 10 (Gal nach Gal 14–16; D. Zeller, RÚm (s. u. 2.8.1), 13; S. Jo-
1 Kor ); H. HÜbner, Art. Galaterbrief, 11. nes, ‚Freiheit‘ in den Briefen des Apostels Paulus
288 So z. B. J. B. Lightfoot, Saint Paul’s Epistle to (s. o. 2.5.4), 25 f; S. Vollenweider, Freiheit als
the Galatians, London 101890, 55; O. Pfleiderer, neue SchÚpfung (s. o. 2.5.9), 20 A 40; H. RÈisÈ-
Das Urchristentum I, Berlin 1902, 138; U. Borse, nen, Paul and the Law (s. u. 2.8.1), 8; J. Rohde,
Gal, 9–17; F. Mußner, Gal, 9 ff; U. Wilckens, RÚm Gal, 10 f; G. Strecker, Neues Testament, Stuttgart
I (s. u. 2.8.1), 47 f; W. G. KÜmmel, Die Probleme 1989, 78; E. Schweizer, Einleitung, 70; Th. SÚ-
Ort und Zeit der Abfassung 113
auffallende NÈhe zum RÚm und die ErwÈhnung der Kollektenaktion in Gal 2, 10
und 1 Kor 16, 1 sein.
Enge BerÜhrungen zwischen Gal und RÚm zeigen sich zunÈchst im Auf
bau289:
Die GedankenfÜhrung des RÚm ist im Gal in GrundzÜgen vorgebildet. Die situa
tionsbedingte Polemik des Gal leitet der RÚm in grundsÈtzliche Fragestellungen
Über, die Argumentation im RÚm erscheint Überlegter, die BeweisfÜhrung strin
genter. Auch neue, Paulus bedrÈngende Fragen werden aufgenommen, wie
RÚm 1, 18 3, 21 und RÚm 9 11 zeigen. FÜr ein enges VerhÈltnis Gal RÚm
spricht vor allem die Rechtfertigungslehre in beiden Briefen. Nur hier findet sich
die Alternative ‚aus Glauben, nicht aus Werken des Gesetzes‘, nur hier liegt ein
wirklich reflektiertes und ausgearbeitetes GesetzesverstÈndnis vor. Dabei erge
ben sich die Unterschiede im GesetzesverstÈndnis zwischen Gal und RÚm aus
der Situationsgebundenheit des Gal, die sich gerade in der Weiterentwicklung
einzelner Gedanken im RÚm zeigt.
Nach 1 Kor 16, 1 ordnete Paulus auch in Galatien eine Sammlung fÜr die Hei
ligen in Jerusalem an, wahrscheinlich nicht lange vor der Abfassung des 1Kor.
Von einer Krise zwischen dem Apostel und den galatischen Gemeinden ist hier
nichts zu spÜren, ein deutlicher Hinweis auf eine Abfassung des Gal zumindest
nach dem 1Kor. Gal 2, 10 erwÈhnt die Kollekte vÚllig unpolemisch im Rahmen
der Vereinbarungen des Apostelkonzils. Da die Kollekte kein Gegenstand der
ding, Chronologie der paulinischen Briefe (s. o. Gal, 10 f; J. Rohde, Gal, 11, den Gal zwischen
2.1), 58; F. W. Horn, Angeld des Geistes (s. o. 2 Kor 1–9 und 2 Kor 10–13. J. Becker, Paulus (s. o.
2.5.8), 346; J. Roloff, EinfÜhrung, 90; D. LÜhr- 2), 332, plÈdiert unter Einbeziehung des Phil fÜr
mann, Art. Galaterbrief, RGG4 III, TÜbingen die Reihenfolge: Gal, Phil B, RÚm, wobei Phil B
2000, 452; I. Broer, Einleitung II, 442. Auch wenn (s. u. 2.9.6) als nachtrÈglich geschriebener ‚kleiner
der Gal in unmittelbarer NÈhe zum RÚm gesehen Gal‘ bezeichnet wird.
wird, lÈßt sich das VerhÈltnis dieses Briefes zum 289 Vgl. dazu U. Borse, Standort, 120–135;
2 Kor und Phil unterschiedlich bestimmen. Im U. Wilckens, RÚm I (s. u. 2.8.1), 48.
Anschluß an U. Borse plazieren z. B. F. Mußner,
114 Der Galaterbrief
Auseinandersetzung des Apostels mit den Gegnern oder der Gemeinde ist und
im Gal sonst nicht mehr erwÈhnt wird, darf angenommen werden, daß die Kol
lektenaktion in Galatien z. Zt. der Abfassung des Gal bereits abgeschlossen war.
Wenn Paulus in Gal 2, 10 b ausdrÜcklich betont, er sei den Verpflichtungen aus
der Kollektenvereinbarung in vollem Umfang nachgekommen, so setzt er damit
die im 2 Kor erwÈhnten Anordnungen zur Sammlung der Kollekte voraus (vgl.
RÚm 15, 26)290.
Sowohl die große NÈhe zum RÚm als auch die Nachrichten Über die Kollekte
in Galatien sprechen fÜr die Annahme, daß der Gal nach den beiden Korinther
briefen und unmittelbar vor dem RÚm im SpÇtherbst 55 n. Chr. in Makedonien ge
schrieben wurde. Die ErwÈgungen zur Lokalisierung der EmpfÈnger bestÈtigen
diese allein aus dem Briefbefund gewonnene SpÈtdatierung.
2.7.4 Empfänger
Als EmpfÈnger des Gal kommen Gemeinden in der Landschaft Galatien (nordga
latische Theorie/Landschaftshypothese) oder im sÜdlichen Teil der rÚmischen
Provinz Galatia (sÜdgalatische Theorie/Provinzhypothese) in Frage. Die Galater
sind Nachkommen von 279 v. Chr. nach Kleinasien eingedrungenen Kelten, die
sich im Gebiet um das heutige Ankara niederließen. Im Jahr 25 v. Chr. wurde
die Landschaft Galatien Bestandteil einer provincia Galatia, in die auch Teile
sÜdlich gelegener Landschaften wie Pisidien, Lykaonien, Isaurien, Paphlagonien,
Pontus Galaticus und (zeitweise) Pamphylien eingegliedert wurden.
Die Provinzhypothese nimmt als EmpfÈnger des Briefes Christen in den Gebie
ten Lykaoniens, Pisidiens und Isauriens an, wo Paulus nach Apg 13, 13 14, 27
Gemeinden grÜndete, die er spÈter wahrscheinlich wieder besuchte (vgl.
Apg 16, 2 5). FÜr die Provinzhypothese kÚnnen folgende Argumente geltend ge
macht werden291: 1) An der Kollekte fÜr Jerusalem waren auch die galatischen
290 Vgl. J. Rohde, Gal, 94. Der Gebrauch des Aor. ben und Wirken I, Gießen 1904, 24–38. WÈhrend
I espou´dasa durch Paulus besagt, „daß er sich sie in der englischen Exegese dieses Jahrhunderts
wirklich durch eine bereits stattgehabte TÈtigkeit fast durchgÈngig vertreten wird, votieren in der
um die ErfÜllung dieser Aufgabe gekÜmmert hat“ deutschsprachigen Exegese fÜr die Provinzhypo-
(G. Harder, ThW VII, 564). Auf jeden Fall schließt these neuerdings P. Stuhlmacher, Biblische Theo-
Gal 2, 10 b eine FrÜhdatierung des Gal als Èltesten logie des Neuen Testaments I (s. o. 2), 226;
Paulusbrief aus, wie sie Th. Zahn, Der Brief des R. Riesner, FrÜhzeit des Apostels Paulus (s. o. 2.1),
Paulus an die Galater, KNT 9, Leipzig – Erlangen 243. 250–259; C. Breytenbach, Paulus und Barna-
3
1922, 20 f, vertrat; vgl. jetzt wieder R. N. Longe- bas, 99 ff; M. Hengel – A. M. Schwemer, Paulus
necker, Gal, LXXXVIII. zwischen Damaskus und Antiochien (s. o. 2.1),
291 Eine umfassende BegrÜndung fÜr die Provinz- 395; Th. Witulski, Die Adressaten des Galaterbrie-
hypothese findet sich bei Th. Zahn, Einleitung I fes, 224, verteten.
(s. u. 2.9.3), 124–139; C. Clemen, Paulus. Sein Le-
Empfänger 115
Gemeinden beteiligt (vgl. 1 Kor 16, 1), Apg 20, 4 erwÈhnt als Mitglieder der Kol
lektendelegation nur Christen aus SÜdkleinasien, u. a. Gaius aus Derbe. 2) Die
erfolgreiche Agitation der Paulusgegner in Galatien weist auf Judenchristen in
der Gemeinde hin. In den sÜdlichen Gebieten der Provinz gab es einen jÜdischen
BevÚlkerungsanteil, fÜr die Landschaft Galatien ist dies nicht sicher292. 3) Paulus
verwendet hÈufig die Provinznamen (Asia, Achaia, Makedonien), er orientiert
seine Mission nicht an Landschaften, sondern an den Metropolen der Provin
zen293. 4) Die Abfolge in der Reisenotiz Apg 18, 23 (. . . er durchzog der Reihe
nach das galatische Land und Phrygien . . .) kann fÜr die Provinzhypothese in
Anspruch genommen werden.
Auch fÜr die Landschaftshypothese lassen sich gewichtige Argumente anfÜh
ren294: 1) Die Provinzhypothese setzt die GrÜndung der Gemeinden auf der 1.
Missionsreise voraus. Paulus erwÈhnt davon in Gal 1, 21 aber nichts, obwohl dies
sein Argumentationsziel der UnabhÈngigkeit von Jerusalem sehr unterstÜtzt
hÈtte. Zudem geht der Apostel in Gal 3, 1 ff; 4, 12 ff ausdrÜcklich auf den GrÜn
dungsaufenthalt ein. Die Adressaten wissen also, daß sich Gal 1, 21 und 3, 1 ff;
4, 12 ff auf verschiedene Ereignisse beziehen und Paulus erst spÈter in ihrem Ge
biet gemeindegrÜndend wirkte295. 2) Die sÜdlichen Gebiete der Provinz Galatien
werden nicht als solche bezeichnet, sondern heißen Pisidien (Apg 13, 14; 14, 24)
und Lykaonien (Apg 14, 6.11), umgekehrt steht Galatikv̀ cẃra in Apg 16, 6;
18, 23 (jeweils neben Phrygien) fÜr die Landschaft Galatien, in der Paulus aus lu
kanischer Sicht missionierte296. Der Übrige Sprachgebrauch im Neuen Testament
kennt Galatien auch nur im Sinn des Landschaftsnamens (vgl. 1 Petr 1, 1; 2 Tim
4, 10). 3) Paulus wendet sich mit Ausnahme des Phlm immer an konkrete Orts
292 Hierbei handelt es sich um ein argumentum e schichte und historischen Geographie des helleni-
silentio, das nicht die Last weitreichender Hypo- stischen und rÚmischen Kleinasien, Berlin 1996,
thesen tragen kann! 118: „Die Gebiete im SÜden der Provinz Galatia
293 Vgl. W. H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbei- sind in der Apostelgeschichte der Galatikv` cẃra
ter (s. o. 2.2.2), 55 f. gegenÜbergestellt und werden durchgehend als
294 Vgl. die ausfÜhrliche BegrÜndung bei Ph. Pisidien und Lykaonien bezeichnet.“ Vgl. ferner
Vielhauer, Urchristliche Literatur, 104–108. D.-A. Koch, Barnabas, Paulus und die Adressaten
295 Der Hinweis auf die Wendung tà klı´mata (tv˜ß des Galaterbriefes, 89: „FÜr Lk liegen die Gemein-
Surı´aß kai` tv˜ß Kilikı´aß) vermag dieses Argument den, von deren GrÜndung er in Act 13 f. erzÈhlt,
nicht zu entkrÈften, denn Paulus argumentiert gerade nicht in Galatien, sondern in Pisidien und
ansonsten in Gal 1 sehr prÈzis. Eine GrÜndung Lykaonien (vgl. Act 13, 14; 14, 6). . . . FÜr Lk liegt
der galatischen Gemeinden bereits vor dem Apo- ‚Galatien‘ also noch weiter im Inneren Klein-
stelkonzil hÈtte seine UnabhÈngigkeit von Jerusa- asiens als Pisidien und Lykaonien. D. h. in Antio-
lem vorzÜglich demonstriert! chia, Pisidia, Ikonium, Lystra und Derbe grÜnden
296 Vgl. F. Mußner, Gal, 3–5; K. Strobel, Die Gala- Barnabas und (!) Paulus zwar Gemeinden, aber
ter. Geschichte und Eigenart der keltischen Staa- diese liegen fÜr Lk gerade nicht in ‚Galatien‘ –
tenbildung auf dem Boden des hellenistischen und ebensowenig in Phrygien.“
Kleinasien, Bd. 1: Untersuchungen zur Ge-
116 Der Galaterbrief
gemeinden. Das Fehlen eines Ortsnamens und der Gebrauch eines Ethnikons
als Adressatenbezeichnung (Gal 1, 2; 3, 1) sprechen fÜr die Landschaftshypo
these297. 4) Die in der Provinz Galatia zusammengeschlossenen VÚlker behielten
ihre kulturellen und sprachlichen Eigenarten bei, so z. B. die Lykaonier ihre ei
gene Sprache (vgl. Apg 14, 11). Es ist daher auffÈllig, daß Paulus Lykaonier oder
Pisidier als ‚dumme Galater‘ (Gal 3, 1) anredet298. Dieser Vorwurf kann nur tref
fen, wenn die Adressaten sich vollkommen als Galater fÜhlen299. 5) Im zeitge
nÚssischen Sprachgebrauch bezeichnet v Galatı´a zuallererst die historisch und
ethnisch definierte Landschaft Galatien300. 6) Paulus gebraucht keineswegs im
mer die offiziellen rÚmischen Provinznamen, sondern hÈufig die alten Land
schaftsbezeichnungen (vgl. Gal 1, 21; 1 Thess 2, 14; RÚm 15, 24; 7) Die sÜdgalati
schen Gemeinden werden von Barnabas (!) und Paulus gegrÜndet (vgl. Apg
13, 1.2; 14, 12.14). Der Gal hingegen ist an Gemeinden gerichtet, die von Paulus
allein gegrÜndet wurden (vgl. Gal 1, 1.8 f; 4, 12 14)301.
Insgesamt Überwiegen die Argumente fÜr die Landschaftshypothese, speziell
die NichterwÈhnung der Adressaten in Gal 1, 21, die lukanischen Angaben Über
das Wirken des Paulus im ‚galatischen Land‘ und die Anrede in Gal 3, 1 sprechen
bei der wohlÜberlegten Disposition des gesamten Briefes gegen die Provinzhypo
these302.
297 Vgl. K. Strobel, Die Galater, 117 f, der als Alt- Argument allerdings zu beachten, daß nicht nur
historiker entschieden die Landschaftshypothese fÜr den SÜden, sondern auch fÜr den Norden mit
vertritt und in Auseinandersetzung mit der angel- einer MischbevÚlkerung zu rechnen ist; vgl.
sÈchsischen Forschung betont: „Betrachtet man C. Breytenbach, Paulus und Barnabas, 154 ff.
jedoch den hellenistischen Sprachgebrauch, der 299 Vgl. F. Vouga, Gal, 11.
sich in der Zeit des selbst von hellenistischer Bil- 300 Belege bei J. Rohde, Gal, 1 f. Da die Landschaft
dung geprÈgten Apostels nicht geÈndert hatte, so Galatien auch zur Provinz Galatia gehÚrte, kann
wird man auch seine Verwendung des Galaterbe- die Provinzbezeichnung nicht gegen die Land-
griffes nur im Sinne des allgemein Üblichen ethni- schaftshypothese ausgespielt werden.
schen Begriffes deuten kÚnnen. FÜr die Zeitge- 301 Vgl. dazu D.-A. Koch, Barnabas, Paulus und
nossen war diese historisch und literarisch verfe- die Adressaten des Galaterbriefes, 94–97.
stigte Konnotation des Galaternamens eindeutig. 302 Die Positionen einzelner Exegeten zur Land-
So muß die Streitfrage um die Adressaten des Ga- schafts- bzw. Provinzhypothese sind aufgefÜhrt
laterbriefes in dem Sinne der Galater als des histo- bei J. Rohde, Gal, 6 f; vgl. fÜr die Landschaftshy-
risch definierten Ethnikons entschieden werden, pothese zuletzt ausfÜhrlich H. D. Betz, Gal, 34–40;
zumal die Galater innerhalb der grÚßeren Provinz ferner U. Wickert, Art. Kleinasien, TRE 19 (1990),
als Koinon der Galater mit dem Vorort Ankyra (244–265) 251: „Der nordgalatischen Hypothese
eine spezifische politisch-organisatorische GrÚße gebÜhrt entschieden der Vorzug“; K. Strobel, Die
bildeten.“ Galater, 117 ff; K. LÚning, Der Galaterbrief, 132 f;
298 Vgl. K. Strobel, Die Galater, 118: „Wir mÜssen J. Roloff, EinfÜhrung, 123; J. Becker, Gal, 14–16;
in diesem Zusammenhang das Fortleben der tra- J. L. Martyn, Gal, 16 f; F. Vouga, Gal, 11 f; D.-A.
ditionellen ethnischen Regionen und historischen Koch, Barnabas, Paulus und die Adressaten des
Landschaften auch innerhalb der rÚmischen Pro- Galaterbriefes, 106; D. LÜhrmann, Art. Galater-
vinzordnung hervorheben.“ Es bleibt bei diesem brief, RGG4 III, 451.
Empfänger 117
Wann wurden die galatischen Gemeinden gegrÜndet? Nach Apg 16, 6 und
Apg 18, 23 zog Paulus jeweils zu Beginn der 2. und 3. Missionsreise durch das
‚galatische Land‘. Vielfach wird in Apg 16, 6 der GrÜndungsaufenthalt in Gala
tien gesehen, dem ein zweiter Besuch zur StÈrkung der Gemeinde folgte
(Apg 18, 23). Als Beleg fÜr diese Annahme gilt Gal 4, 13, wo tò próteron im Sinn
von ‚das erste Mal‘ Übersetzt wird und somit einen spÈteren zweiten Besuch im
pliziert. Die galatischen Gemeinden wÈren dann auf der 2. Missionsreise gegrÜn
det worden303. Allerdings gehen beide Texte zumindest zu einem großen Teil
auf lukanische Redaktion zurÜck304, so daß sich Über das Faktum einer paulini
schen MissionstÈtigkeit im ‚galatischen Land‘ hinaus nichts Sicheres sagen lÈßt.
WÈhlt man deshalb allein die Angaben des Briefes als Ausgangspunkt, so erge
ben sich andere InterpretationsmÚglichkeiten. Gal 1, 6 setzt einen noch nicht
sehr lang zurÜckliegenden GrÜndungsaufenthalt voraus, zunÈchst ‚liefen‘ die
Galater ‚gut‘, jetzt wundert sich Paulus, daß sie ‚so schnell‘ von seinem Evangeli
um abfielen. Ein zweiter Besuch des Apostels in Galatien wird weder erwÈhnt
noch in irgendeiner Form vorausgesetzt. Die Zeitangabe tò próteron in Gal 4, 13
muß nicht als ‚das erste Mal‘ verstanden werden, sondern lÈßt sich Übersetzen
mit ‚zuerst‘ im Sinn von ‚damals‘305. Zudem beziehen sich Gal 4, 13 15. 18 f
ebenfalls nur auf den GrÜndungsaufenthalt, so daß ein zweiter Besuch nur hy
pothetisch aus dem Brief erschlossen werden kann306. Ein Reflex auf die Entste
hung der galatischen Gemeinden liegt somit nur in Apg 18, 23 vor307. Die GrÜn
dung der galatischen Gemeinden zu Beginn der 3. Missionsreise im FrÜhjahr 52
lÈßt sich mit den briefinternen Angaben vereinbaren, berÜcksichtigt Angaben
der Apostelgeschichte und stimmt mit der vorausgesetzten Datierung des Gal
kurz vor dem RÚm Überein.
Die Galater waren Überwiegend Heidenchristen (vgl. Gal 4,8; 5, 2 f; 6, 12 f)
und gehÚrten wahrscheinlich der hellenisierten StadtbevÚlkerung an. Die Re
zeption des Gal setzt ein gewisses Maß an Bildung voraus, und die anfÈngliche
303 So H. Schlier, Gal, 17 f; A. Oepke, Gal (s. o. strebigen Weg des Apostels nach Europa zum
2.7.3), 25. 142; F. Mußner, Gal, 3–9. 306 f u. a. Ausdruck bringt, vgl. zur Einzelanalyse A. Weiser,
304 Apg 18, 23 c (‚und er stÈrkte alle BrÜder‘) gilt Apg II (s. u. 4.1), 404. 500. AuffÈllig bleibt die un-
vielfach als Beleg fÜr eine vorhergehende Mission terschiedliche Reihenfolge der Stationen in
in Galatien, vgl. H. HÜbner, Art. Galaterbrief, 6. Apg 16, 6; 18, 23, zu den großen Probleme von
Gerade diese Wendung ist aber eindeutig redak- Apg 18, 18–23 s. o. 2.1.2.
tionell, vgl. Lk 22, 32; Apg 14, 22; 15, 32. 41; 16, 5. 305 Vgl. U. Borse, Gal, 150.
In Apg 18, 23 sind ferner sicher redaktionell: 306 Gegen einen zweiten Besuch des Paulus in
poieı˜n crónon tiná (vgl. Apg 15, 33), kaXexv˜ß im NT den galatischen Gemeinden votieren auch
nur noch in Lk 1, 3; 8, 1; Apg 3, 24; 11, 4. U. Borse, Gal, 8 ff; H. D. Betz, Gal, 11.
Apg 16, 6 muß durchweg als eine kompositionelle 307 Vgl. dazu D.-A. Koch, Barnabas, Paulus und
Notiz des Lukas begriffen werden, die den ziel- die Adressaten des Galaterbriefes, 100–105.
118 Der Galaterbrief
Wirkung der paulinischen Freiheitsbotschaft deutet auf Kreise hin, die an kultu
reller und religiÚser Emanzipation interessiert waren. Als Orte der galatischen
Gemeinden kommen Pessinus und Germa, vielleicht auch Ankyra und Tavium
infrage.
1, 1 5 PrÈskript
Briefanfang
1, 6 10 Der Briefanlaß
6, 1 10 SchlußparÈnese
Briefschluß
6, 11 18 Eschatokoll
Die Besonderheiten des Gal erklÈren sich aus der speziellen Briefsituation. So
fehlt im Briefanfang das ProÚmium, weil Paulus angesichts der Situation in Gala
tien keinen Anlaß zum Dank sieht. NachdrÜcklich bringt Paulus mit dem Apo
steltitel in Gal 1, 1 seine AutoritÈt ins Spiel. Einzigartig ist die scharfe Polemik
gleich zu Beginn des Briefes (Gal 1, 6 9), sie bestimmt die Argumentation Über
weite Strecken in den beiden ersten Kapiteln des Gal. In Gal 3, 1 4, 11. 21 31
versucht Paulus in einer vielschichtigen Argumentation den Galatern die Unsin
nigkeit ihres Verhaltens nachzuweisen. Topoi des Freundschaftsbriefes herr
schen in Gal 4, 12 20 vor, Paulus erinnert die Gemeinde an ihr ehemals gutes
VerhÈltnis und ermuntert sie dadurch, zu dieser frÜheren Grundlage zurÜckzu
kehren. In Gal 5, 1 6, 11 rÈt Paulus den Galatern, die geschenkte Freiheit nicht
leichtfertig aufzugeben. Im Briefschluß verzichtet der Apostel auf jede Art von
GrÜßen und setzt sich statt dessen noch einmal mit den Gegnern auseinander
(vgl. Gal 6, 12 14). In der Makrostruktur Èhnelt der Gal dem Aufbau anderer
Paulusbriefe, auf einen mehr lehrhaft ausgerichteten Hauptteil (Gal 1 4) folgt
ein parÈnetischer Teil (ab Gal 5, 13), wobei Gal 5, 1 12 als Zusammenfassung
und Àberleitung dient.
Nach den Kriterien der griechisch rÚmischen Rhetorik und Epistolographie
Gliederung, Aufbau, Form 119
gliedert H. D. Betz den Gal308. Er sieht im Gal einen apologetischen Brief und be
stimmt die dafÜr typischen Abschnitte folgendermaßen:
1, 1 5 prÈscriptum (PrÈskript)
1, 6 11 exordium (Einleitung)
1, 12 2, 14 narratio (ErzÈhlung)
2, 15 21 propositio (AnkÜndigung des Beweiszieles)
3, 1 4, 31 probatio (BeweisfÜhrung)
5, 1 6, 10 exhortatio (Ermahnung)
6, 11 18 conclusio (Schluß)
308 Vgl. H. D. Betz, Gal, 54–72. Andere Akzente in die Existenz des ‚Genre des apologetischen Brie-
der rhetorischen Analyse setzen G. A. Kennedy, fes‘ und stellt zur ‚Theoriegebundenheit‘ antiker
New Testament Interpretation through Rhetorical Autoren fest, daß „gerade die dissimulatio artis zu
Criticism, Durham 1984, 144–152; J. Smit, The den zentralen Forderungen der Theorie an jeden
Letter of Paul to the Galatians: A Deliberative Praktiker gehÚrt, die Forderung also, die Beach-
Speech, NTS 35 (1989), 1–26, die den Gal dem ge- tung der praecepta nicht spÜrbar werden zu las-
nus deliberativum zuordnen. sen, so daß die deutlich erkennbare Verwendung
309 Vgl. dazu J. Schoon-Janßen, Umstrittene der Regeln als Zeichen mangelnder Erfahrung
„Apologien“ in den Paulusbriefen (s. o. 2.3.1), 66– oder FÈhigkeit wirken muß, jedenfalls im Bereich
113 (dort auch umfassende Kritik an Betz). der dispositio und elocutio“ (a. a. O., 31). Die rhe-
310 Zur Kritik an Betz vgl. bes. aus der Sicht des torische Kompetenz des Paulus wird jedoch nicht
Altphilologen: C. J. Classen, Paulus und die antike infrage gestellt; vgl. C. J. Classen, Philologische
Rhetorik, ZNW 82 (1991), 1–33. Classen weist auf Bemerkungen zur Sprache des Apostels Paulus,
den Unterschied zwischen Rhetorik und Epistolo- WSt 107/108 (1994/95), 321–335.
graphie nach antikem VerstÈndnis hin, bezweifelt
120 Der Galaterbrief
Die literarische IntegritÈt des Gal ist unbestritten. Die unpaulinischen Wendun
gen in Gal 2, 7 f (euagge´lion tv˜ß akrobustı´aß/ tv˜ß peritomv˜ß, Pe´troß) deuten nicht
auf eine nachpaulinische Interpolation hin, sondern sind ein Indiz fÜr eine vor
paulinische Tradition312.
In Gal 2, 7 f (oºti pepı´steumai . . . tà eµXnv) und 2,9 e (vmeı˜ß eiß tà eµXnv, autoi` de` eiß
tv`n peritomv´n) finden sich auf dem Apostelkonvent geprÈgte vorpaulinische Per
sonaltraditionen313. Eine vorpaulinische Tauftradition Überliefert Gal 3, 26 28314.
Hier wird die neue Situation des Getauften umfassend beschrieben: Er ist en
Cristw˜, in der Taufe konstituiert sich die neue Beziehung zwischen Christus und
dem Getauften. Der TÈufling zieht Christus wie ein Kleid an, er ist gÈnzlich um
schlossen von Christus und gerade dadurch en Cristw˜. Die Folgen des eıÓnai en
Cristw˜ werden in Gal 3, 28 in ihren heilsgeschichtlichen und politisch sozialen
Dimensionen nÈher beschrieben: Es gelten nun weder die heilsgeschichtliche
Unterscheidung zwischen Juden und Griechen noch die Differenzierung zwi
schen Knecht und Freiem bzw. Mann und Frau. Weil es durch die Taufe nur
noch ein Sein in Christus gibt, sind die Christen diesen antiken Fundamentalal
ternativen enthoben. Im Tugend und Lasterkatalog Gal 5, 19 23 verarbeitet
Paulus traditionelles Material315.
311 Treffend D. E. Aune, Literary Environment 314 Vgl. zur Analyse U. Schnelle, Gerechtigkeit
(s. o. 2.3.1), 203:“Paul in particular was both a und Christusgegenwart (s. o. 2.4.10), 57–62. 191–
creative and eclectic letter writer. The epistolary 195.
situations he faced were often more complex than 315 Vgl. als Parallele 1QS 3, 25–4, 14; zur Analyse
the ordinary rhetorical situations faced by most vgl. H. W. Kuhn, Die drei wichtigsten Qumranpar-
rhetoricians.“ allelen zum Galaterbrief, in: Konsequente Traditi-
312 Nachweis bei G. LÜdemann, Paulus I (s. o. onsgeschichte (FS K. Baltzer), hg. v. R. Bartelmus
2.1), 86–91. u. a., OBO 126, Freiburg (H) – GÚttingen 1993,
313 Vgl. a.a.O., 86–101. (227–254) 238–249.
Religionsgeschichtliche Stellung 121
Wer waren die von Paulus im Gal bekÈmpften Gegner? Welche Lehre vertraten
sie und wie ist ihre Position religionsgeschichtlich einzuordnen316? Eine bis in
die Gegenwart nachwirkende Antwort auf diese Fragen gab 1919 W. LÜtgert mit
seiner These, Paulus kÈmpfe im Gal gegen zwei Fronten; einmal gegen Judai
sten, zugleich aber auch gegen libertinistische Pneumatiker. Zwei Gegnerfronten
lassen sich aber im Gal nicht nachweisen, so daß in der neueren Forschung Über
wiegend mit einer Gegnergruppe gerechnet wird. W. Schmithals317 klassifiziert
die Gegner als Vertreter eines jÜdischen oder judenchristlichen Enthusiasmus
gnostischer Provenienz. Er verweist darauf, daß bei der Judaistenthese die Geg
ner der Heidenmission des Paulus selbst eine solche Mission betrieben hÈtten.
Zudem lassen sich fÜr Schmithals Texte wie Gal 4,9 f; 5, 3 und bes. 6, 12 f nur von
gnostisch enthusiastischen Voraussetzungen her sinnvoll interpretieren. Die Be
schneidungsforderung hÈtten die Gegner nur erhoben, um die Gunst der Syn
agoge zu gewinnen, weder sie selbst noch die Galater dachten an eine umfassen
de Àbernahme des Gesetzes318. Eine wie auch immer geartete Gefahr fÜr die Ge
meinde von Seiten der Synagoge lÈßt sich fÜr den Gal allerdings nicht nachwei
sen. Zudem bleibt es sehr zweifelhaft, ob es z. Zt. der Abfassung des Gal Über
haupt schon christliche Gnostiker gab. Schließlich wird Schmithals den Aussa
gen im Gal nicht gerecht, die von einer Àbernahme des Gesetzes durch die Gala
ter ausgehen (vgl. Gal 4, 21; 5, 1. 4).
Am Überzeugendsten ist deshalb immer noch die von der Mehrzahl der Exe
geten vertretene und seit F.Chr. Baur etablierte These, die Gegner seien juden
christliche Missionare (strenger Provenienz)319. Sie drangen von außen in die Ge
meinde ein und zerstÚrten das gute VerhÈltnis zwischen Gemeinde und Apostel
(vgl. Gal 5, 7; 4, 13 15)320. Die Gegner forderten die Praktizierung der Beschnei
316 ForschungsÜberblicke bieten J. Eckert, Ver- D. LÜhrmann, Gal, 104–108; H. HÜbner, Art. Ga-
kÜndigung, 1–18; F. Mußner, Gal, 11–29; J. Roh- laterbrief, 7 f; H. D. Betz, Gal, 43; G. LÜdemann,
de, Gal, 14–21. Paulus II (s. o. 2.5.8), 146 f; F. W. Horn, Angeld
317 Vgl. W. Schmithals, Die HÈretiker in Galatien, des Geistes (s. o. 2.5.8), 346–350.
in: ders., Paulus und die Gnostiker, ThF 35, Ham- 320 Anders C. Breytenbach, Paulus und Barnabas,
burg 1965, 9–46. 143, wonach nicht judenchristliche Wandermissi-
318 Vgl. W. Schmithals, Judaisten in Galatien?, onare in die Gemeinde eindrangen: „Vielmehr
55: „Die Beschneidungsleute wollen die Be- handelt es sich um den Versuch der Synagogen-
schneidung der Galater nur um ihres Schutzes gemeinschaften, die Galater zur Beschneidung
vor jÜdischen Verfolgungen willen; an eine Àber- und Gesetzeseinhaltung zu bewegen, sie zu Juden
nahme des Gesetzes denken sie im Übrigen so we- zu machen in die bestehende jÜdische Gemein-
nig wie Paulus und die Galater.“ schaft aufzunehmen. Es ist eine Auseinanderset-
319 Vgl. in diesem Sinn u. a. A. Oepke, Gal (s. o. zung mit einer Gruppe von Judenchristen, die
2.7.3), 27 ff; W. G. KÜmmel, Einleitung, 260–263; sich noch nicht von der Synagoge gelÚst hat, und
F. Mußner, Gal, 25; O. Merk, ParÈnese, 250; die nicht, wie es auf dem Apostelkonvent be-
122 Der Galaterbrief
dung (vgl. Gal 5, 3; 6, 12. 13; ferner 2, 2; 6, 15)321 und die Beachtung kultischer
Zeiten (vgl. Gal 4, 3. 9. 10)322. Beides weist auf Judenchristen hin323, denn insbe
sondere die Qumrantexte bezeugen die große Bedeutung von Kalenderfragen
im antiken Judentum und den festen Zusammenhang zwischen Gesetz und Zeit
ordnung (vgl. z. B. 1QS 1, 13 15; 9, 26 10,8; 1QM 2, 4; 10, 15; CD 3, 12 16;
16, 2 4; 1QH 1, 24; 12, 4 9, ferner Jub 6, 32. 36. 37; ÈthHen 72, 1; 75, 3 f; 79, 2;
82, 4. 7 10). Die Beobachtung der Elemente, Tage, Monate, Zeiten und Jahre in
Gal 4, 3. 9. 10 steht somit einer judenchristlichen Interpretation nicht entgegen,
sondern vermag sie zu stÜtzen324. Zugleich verweist aber der komplexe Zusam
menhang von Stoicheia Dienst, KalenderfrÚmmigkeit und Gesetzesobservanz
auf hellenistische Judenchristen325. Offenbar akzeptierten große Teile der galati
schen Gemeinde die Forderungen der judenchristlichen Missionare (vgl. Gal
1, 6 9; 4,9. 17. 21; 5, 4; 6, 12 f), was die scharfe Kritik auf Seiten des Apostels her
vorrief. Paulus hofft aber, die Gemeinde durch seine Argumentation wieder zu
rÜckzugewinnen (vgl. Gal 3, 4; 4, 11 f.19 f). Die Aufbewahrung und Weitergabe
des Gal zeigen, daß diese Hoffnung nicht unbegrÜndet war.
In welchem VerhÈltnis standen die Gegner zu den Jerusalemer AutoritÈten,
schlossen wurde (Gal 2, 7–9), zugesteht, daß ne- Gemeinde, daß die paulinische VerkÜndigung als
ben der VerkÜndigung des Evangeliums an die ‚ethische‘ Beschneidung aufzufassen sei, der nun
Juden auch eine gesetzesfreie Heidenmission ihr die physische Beschneidung folgen mÜsse.
theologisches Recht hat.“ Von einer Integration 322 Zum mÚglichen religionsgeschichtlichen Hin-
in die Synagoge ist im Gal aber nicht die Rede, zu- tergrund von stoiceı˜a tou˜ kósmou vgl. E. Schwei-
dem setzen Apg 15, 1; Gal 2, 4.11–14; 2 Kor 3, 1; zer, Die „Elemente der Welt“ Gal 4, 3. 9; Kol
11, 23 ff; 12, 13; Phil 3, 1 ff judenchristliche Wan- 2,8. 20, in: ders., BeitrÈge zur Theologie des Neu-
dermissionare voraus. Der 2 Kor, Gal, RÚm und en Testaments, ZÜrich 1970, 147–163; vgl. ferner
die Nichtannahme der Kollekte durch die Urge- 5.2.8.
meinde (Lukas weiß nach Apg 24, 17 um den 323 Anders N. Walter, Paulus und die Gegner des
Sinn der letzten Jerusalem-Reise des Paulus, er- Christusevangeliums in Galatien, in: ders., Prae-
wÈhnt aber nicht die Annahme der Kollekte, weil paratio Evangelica, WUNT 98, TÜbingen 1997,
sie nicht stattfand) lassen deutlich erkennen, daß 273–280, wonach Paulus sich mit einer jÜdischen
es am Ende des paulinischen Wirkens im Osten Gegenmission auseinandersetzt. Dagegen spricht
des Reiches zu einer judenchristlichen Gegenmis- jedoch Gal 6, 12: die Gegner zwingen die Galater
sion kam, die als eine der paulinischen Mission zur Beschneidung, damit sie nicht um des Kreu-
nachfolgende und zugleich entgegengesetzte Be- zes willen (von Juden) verfolgt werden.
wegung angesehen werden muß. 324 Vgl. den umfassenden Nachweis bei D. LÜhr-
321 P. Borgen, Observations on the Theme „Paul mann, Tage, Monate, Jahreszeiten, Jahre
and Philo“. Paul’s preaching of circumcision in (Gal 4, 10), in: Werden und Wirken des Alten Te-
Galatia (Gal. 5:11) and debates on circumcision in staments (FS C. Westermann), hg. v. R. Albertz
Philo, in: Die Paulinische Literatur und Theologie, u. a., GÚttingen 1980, 428–445.
hg. v. S. Pedersen, Århus – GÚttingen 1980, 85– 325 Vgl. z. B. Th. SÚding, Gegner des Paulus, 145 f;
102, verweist auf die Unterscheidung zwischen er hÈlt die Gegner wie viele andere Exegeten fÜr
‚ethischer‘ und physischer Beschneidung bei Phi- „hellenistische Judenchristen, sie vertreten einen
lo, Migr 86–93; QuaestEx II 2, und folgert daraus christlichen Nomismus, der synkretistisch beein-
fÜr Galatien: Die Gegner Überzeugten Teile der flußt ist“ (a. a. O., 146).
Theologische Grundgedanken 123
speziell zu Jakobus? Eine Verbindung zu den ‚Leuten des Jakobus‘ (Gal 2, 12)
lÈßt sich nicht herstellen, denn eine Beschneidungsforderung kann fÜr sie nicht
nachgewiesen werden326. Neuerdings wird wieder mit Nachdruck die These ver
treten, die Gegner des Paulus seien mit jenen falschen BrÜdern identisch, die auf
dem Apostelkonvent die Beschneidung des Titus nicht durchsetzen konnten327.
Sie seien der Einigung auf dem Apostelkonvent nicht beigetreten, drangen nun
in die paulinischen Gemeinden in Galatien ein und verlangten Gesetzes und
Kalenderobservanz. Auch hier lÈßt die dÜrftige Quellenlage kein sicheres Urteil
zu. Bestand eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen den Jerusale
mer AutoritÈten und den Paulusgegnern in Galatien, dann hÈtten die ‚SÈulen‘
bewußt den Bruch der Abmachungen auf dem Apostelkonvent herbeigefÜhrt.
Eine Schlußfolgerung, die sich an den Texten nicht verifizieren lÈßt, sondern im
Halbdunkel der Geschichtsspekulation verbleibt. Man wird sich deshalb mit der
Aussage begnÜgen mÜssen, daß die Gegner des Paulus judenchristliche Missio
nare (aus PalÈstina) waren, die in der gesetzesfreien Heidenmission des Paulus
einen eklatanten Verstoß gegen den im Gesetz geoffenbarten Heilswillen Gottes
sahen. Sie mÜssen im Rahmen einer der paulinischen Mission nachfolgenden
Bewegung gesehen werden, in der Judenchristen in unterschiedlicher Weise
den Glauben an Jesus Christus und Toraobservanz auch fÜr Heidenchristen ver
bindlich zu machen suchten. Zwar gibt es kein jÜdisches Beschneidungsgebot
fÜr Heiden, durch ihren Eintritt in die christliche Gemeinde gehÚrten aber auch
die ehemaligen Heiden zum Volk Gottes, womit sich aus der Sicht der Gegner
u. a. die Beschneidungsfrage stellte.
Paulus entkrÈftet die Angriffe der Gegner in einem ersten Schritt mit einer auto
biographischen (Gal 1, 13 24) und einer ‚kirchengeschichtlichen‘ (Gal 2, 1 14)
Argumentation. Das Evangelium Jesu Christi empfing er nicht von Menschen,
sondern allein durch eine Offenbarung Gottes. Deshalb lag ihm nichts an einer
baldigen Zusammenkunft und Belehrung durch die Jerusalemer AutoritÈten.
Auch die Vereinbarungen auf dem Apostelkonvent und der Konflikt mit Petrus
in Antiochia zeugen von der EigenstÈndigkeit des paulinischen Evangeliums. In
326 Anders z. F. B. Watson, Paul, Judaism and the Gruppen gab, die programmatisch fÜr die Be-
Gentiles, MSSNTS 56, Cambridge 1986, 59 ff. schneidung von Heidenchristen eintraten. Ihr
327 Vgl. G. LÜdemann, Paulus II (s. o. 2.5.8), 148– Auftreten auf dem Apostelkonvent signalisiert ei-
152; zuvor vertrat diese These z. B. A. Oepke, Gal nen Über PalÈstina/Syrien hinausgehenden An-
(s. o. 2.7.3), 212 f. Allerdings zeigt Gal 2, 3 f, daß es spruch.
innerhalb des Judenchristentums einflußreiche
124 Der Galaterbrief
328 Vgl. H. HÜbner, Gesetz bei Paulus, 19 f. PharisÈer Paulus hat mit seiner Deutung der fÜr
329 Vgl. dazu die Interpretation von Hab 2, 4 b in seine Theologie so wichtigen Prophetenstelle Hab
Gal 3, 11 und 1QpHab VII 17 – VIII 3. H. W. Kuhn, 2, 4 theologisch zweifellos einen Schritt jenseits
Die drei wichtigsten Qumranparallelen zum Gala- des Judentums getan – und das also unter RÜck-
terbrief (s. o. 2.7.8), 249, betont zu Recht: „Der griff auf die gemeinsame Bibel.“
Tendenzen der neueren Forschung 125
negativ330. GegenÜber der Verheißung ist es sekundÈr, denn es wurde erst 430
Jahre nach der Verheißung an Abraham gegeben (vgl. Gal 3, 15 18). Das Gesetz
dient allein der SÜndenprovokation, es wurde nur von Engeln angeordnet und
gelangte durch den Mittler Mose zu den Menschen (Gal 3, 19. 20)331. Vor der
Christusoffenbarung gab es fÜr den Menschen nur ein Sein unter dem Gesetz
und den MÈchten. Er war upo` nómon (Gal 3, 23), upò paidagwgón (Gal 3, 25), upò
epitrópouß kai` oikonómouß (Gal 4, 2) und upò tà stoiceı˜a tou˜ kósmou (Gal 4, 3).
Aus dieser Versklavung befreite Christus die Glaubenden, die nun ein Leben in
Freiheit durch die Kraft des Geistes fÜhren.
330 Vgl. zur Einzelanalyse H. HÜbner, Gesetz bei in V. 20 sinnvoll. Gal 3, 21; RÚm 7, 22; 8, 7; 9, 4
Paulus, 16 ff. zeigen wohl, daß Paulus diesen Gedanken nicht
331 Die Auslegung von Gal 3, 19. 20 ist Überaus durchhalten kann und will, sie dÜrfen aber nicht
umstritten, zur neueren Diskussion vgl. J. Rohde, die Auslegung von Gal 3, 19. 20 bestimmen.
Gal, 152 ff. Faktisch bestreitet Paulus in Gal 3, 19 332 Vgl. U. Wilckens, Zur Entwicklung des pauli-
den gÚttlichen Ursprung des Gesetzes, denn nur nischen GesetzesverstÈndnisses (s. u. 2.8.1),
unter dieser Voraussetzung ist die Differenzierung 164 ff.
126 Der Galaterbrief
prÈsentieren der Gal und Phil die Kampfposition des Paulus in der Frage nach
der Heilsbedeutung des Gesetzes, so revidiere Paulus im RÚm seine Haltung nicht
unwesentlich. Entsprechend dem Briefanlaß stelle der Apostel hier sein Geset
zesverstÈndnis in umfassender und abgewogener Art und Weise dar. Juden und
Heidenchristen befinden sich in der gleichen hamartologischen und soteriologi
schen Situation. Mit der Gesamtbeurteilung der paulinischen Rechtfertigungs
lehre untrennbar verbunden ist das VerstÈndnis der erstmals im Gal belegten
Wendung eµrga nómou (vgl. Gal 2, 16; 3, 2.5.10; RÚm 3, 20.28; ferner Phil 3, 9)333.
Was meint Paul mit eµrga nómou und welches theologische Konzept verbindet er
damit? In der gegenwÈrtigen Diskussion sind sechs Interpretationsversuche zu
unterscheiden: 1) R. Bultmann sieht in den ‚Werken des Gesetzes‘ das Resultat
eines verfehlten Gesetzeseifers, Paulus lehnt den Weg der Gesetzeswerke ab,
„weil das BemÜhen des Menschen, durch ErfÜllung des Gesetzes sein Heil zu ge
winnen, ihn nur in die SÜnde hineinfÜhrt, ja im Grunde selber schon SÜnde
ist.“334 Paulus wertet also nicht erst die Erfolglosigkeit, sondern schon die Ab
sicht, durch ErfÜllung des Gesetzes vor Gott gerecht zu werden, als SÜnde. 2)
DemgegenÜber betont U. Wilckens: „es ist keineswegs so, daß er (sc. Paulus) das
Streben des Menschen, durch ErfÜllung des Gesetzes sich vor Gott als gerecht zu
erweisen, als solches tadelt; geschweige denn, daß er einem wirklich aufgrund
von Werken Gerechten seine Gerechtigkeit streitig machen wÜrde. Aber Paulus
beurteilt alle Menschen faktisch als SÜnder, weil alle gesÜndigt haben.“335 3) In
anderer Weise als Wilckens formuliert E. P. Sanders seine Position im Kontrast
zu Bultmann: „Nicht eine Analyse der Natur der SÜnde bestimmt die Anschau
ung des Paulus, sondern eine Analyse des Heilsweges nicht seine Anthropolo
gie, sondern seine Christologie und Soteriologie. Pauli eigene BegrÜndung fÜr
den Satz, daß der Mensch nicht aus Gesetzeswerken ‚gerechtfertigt‘ werde, ist
nicht die, daß der Mensch nicht daran denken dÜrfe, sein eigenes Heil zu erlan
gen, sondern die, daß Christus umsonst gestorben wÈre, wenn das Gesetz erret
tet (Gal 2, 21) . . . Die Àberzeugung, daß nur die ZugehÚrigkeit zu Christus Heil
333 Vgl. dazu E. Lohmeyer, „Gesetzeswerke“, in: ner, ‚Works of Law‘ in Paul, NT 33 (1991), 217–
ders., Probleme paulinischer Theologie, Darm- 244; M. Bachmann, SÜnder oder Àbertreter. Stu-
stadt 1954, 31–74; J. Blank, Warum sagt Paulus: dien zur Argumentation in Gal 2, 15 ff, 90 ff; ders.,
„Aus Werken des Gesetzes wird niemand ge- Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus,
recht“?, in: EKK V. 1, Neukirchen 1969, 79–95; ThZ 49 (1993), 1–33; J. D. G. Dunn, The New Per-
U. Wilckens, Was heißt bei Paulus: „Aus Werken spective on Paul, in: ders., Jesus, Paul and the
des Gesetzes wird kein Menschen gerecht“?, in: Law, London 1990, 183–240. R. K. Rape, The
ders., Rechtfertigung als Freiheit, Neukirchen Meaning of ‚Works of the Law‘ in Galatians and
1974, 77–109; H. HÜbner, Was heißt bei Paulus Romans, SBL 31, New York 2001.
„Werke des Gesetzes“?, in: Glaube und Eschatolo- 334 R. Bultmann, Theologie (s. o. 2), 264 f.
gie (FS W. G. KÜmmel) hg. v. E. GrÈsser und 335 U. Wilckens, Was heißt bei Paulus, 107.
O. Merk, TÜbingen 1985, 123–133; T. R. Schrei-
Tendenzen der neueren Forschung 127
verschafft, geht der Analyse der eigenen Situation vor Gott und dem Wandel des
eigenen SelbstverstÈndnisses voraus.“336 4) FÜr J. D. G. Dunn sind eµrga nómou
nicht die vor Gott verdienstvoll machenden Bestimmungen der Tora, sondern
jÜdische ‚identity markers‘ wie Beschneidung, Speisegebote und Sabbat, die Ju
den von Heiden unterscheiden337. Paulus bewertet diese ‚identity markers‘ nur
dann negativ, wenn sie zur BegrÜndung jÜdischer PrÈrogative in Anspruch ge
nommen werden und die Gnade Gottes einengen. Dies ist in Galatien der Fall.
Gal 2, 16 spiegelt nach Dunn den Àbergang vom judenchristlichen Nebeneinan
der von ‚aus Werken des Gesetzes‘ und ‚Glauben‘ zu einer schroffen Antithese
wider. Paulus ist dennoch nicht gegen das Gesetz als solches, er verunglimpft
nicht Werke des Gesetzes, sondern votiert gegen das Gesetz als nationale Identi
fikationsgrÚße; ein an Privilegien orientiertes VerstÈndnis der Tora ist Gegen
stand seiner Kritik. Die Rechtfertigungslehre bestimmt demnach nicht primÈr
das VerhÈltnis des einzelnen zu Gott, sondern sichert die Rechte der Heidenchri
sten. 5) Auf eine rein soziologische Ebene will F. B. Watson das VerstÈndnis von
eµrga nómou reduzieren, „faith in Christ is incompatible with works of the law be
cause the church is separate from the synagogue.“338 6) Unter ausdrÜcklicher
Berufung auf 4QMMT meint M. Bachmann zu eµrga nómou, „dass es hier um die
Vorschriften, die Regelungen des Gesetzes geht, nicht um das Tun gemÈss den
Regelungen.“339 Das SÜndigen darf nicht mit den Gesetzeswerken verwechselt
werden, denn die „Gesetzeswerke haben es vielmehr unmittelbar mit dem nómoß
zu tun, der nach RÚm 7, 12 heilig ist, und sie haben es insofern mit Gott selbst zu
tun.“
NaturgemÈß bleibt in der gegenwÈrtigen Forschung auch die Frage heftig um
stritten, ob erst die Forderung der Gegner im Gal nach Beschneidung auch der
Heidenchristen Paulus nÚtigte, die Gesetzesproblematik von der Peripherie in
das Zentrum seiner Theologie zu rÜcken. Dieses Urteil ergibt sich zum einen im
Blick auf die vorhergehenden Briefe (1Thess, 1. 2 Kor), wo von einer Rechtferti
gungs und Gesetzeslehre im Sinn des Gal und RÚm kaum gesprochen werden
kann. Aber auch der Gal erweckt nicht den Eindruck, als sei die hier von Paulus
vorgetragene Argumentation das Ergebnis eines zwanzigjÈhrigen Nachdenkens
Über die Bedeutung der Tora. Paulus ringt offenbar mit einem fÜr ihn neuen Pro
blem, was die sehr unterschiedlichen BegrÜndungen fÜr die Abrogation der Tora
im Gal zeigen. HÈtte Paulus die Rechtfertigungslehre des Gal von Anfang an ver
treten, wÈre sie der Gemeinde zumindest in GrundzÜgen bekannt gewesen.
336 E. P. Sanders, Paulus und das palÈstinische Ju- 338 F. B. Watson, Paul, Judaism and the Gentiles
dentum (s. o. 2), 457. (s. o. 2.7.8), 47.
337 Vgl. zuletzt J. D. G. Dunn, Yet once more – 339 M. Bachmann, Rechtfertigung und Gesetzes-
‚The Works of Law‘: A Response, JSNT 46 (1992), werke, 30.
99–117; ders., Gal, 131–150.
128 Der Römerbrief
Dann verwundert es um so mehr, daß die Galater der gegnerischen Lehre so viel
GehÚr schenkten und Paulus mit einer Argumentation antwortet, die die Galater
schon einmal nicht Überzeugen konnte! Gilt der Gal einerseits als Dokument fÜr
Wandlungen im paulinischen Denken340, so werden andererseits die Besonder
heiten des Gal als situationsbedingte Applikationen der von Paulus bereits bei
Damaskus empfangenen und im Kern einheitlichen Rechtfertigungslehre ver
standen. So lehnen u. a. G. Klein341, F. Hahn342, K. Kertelge343 und J. Rohde344
die These einer einschneidenden Entwicklung des paulinischen Gesetzesver
stÈndnisses ab. Zudem wird die Rechtfertigungslehre des Gal und RÚm vielfach
in sachlicher Àbereinstimmung mit der Kreuzestheologie des 1 Kor gesehen, die
Rechtfertigungslehre aktualisiert dann das Anliegen der Kreuzestheologie345.
2.8.1 Literatur
Kommentare
KEK 14: E. Lohse, 2003. O. Michel, 51978. HNT 8: H. Lietzmann, 51971; 8 a: E. KÈse
mann, 41980. HThK VI: H. Schlier, 21979. EKK 6. 1 3: U. Wilckens, 1978. 1980. 1982.
ThHK 6: K. Haacker, 1999. NTD 6: P. Stuhlmacher, 21989. RNT: D. Zeller, 1984. ICC:
C. E. B. Cranfield, I 1975. II 1979. AncB 33: J. A. Fitzmyer, New York 1993. WBC
38 A.B: J. D. G. Dunn, 1988. W. Schmithals, GÜtersloh 1988.
Monographien
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chen 1974. E. Brandenburger, Adam und Christus, WMANT 7, Neukirchen 1962.
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Das GeschichtsverstÈndnis des Paulus, BEvTh 49, MÜnchen 1968. K. Kertelge, Rechtferti
340 Vgl. U. Schnelle, Wandlungen im paulini- gen Über die Rechtfertigung bei Paulus?, EvTh 53
schen Denken (s. o. 2.4.9), 54–61. (1993), 342–366. Differenzierter hingegen J. Ro-
341 Vgl. G. Klein, Art. Gesetz (s. o. 2.4.10), 64 f; loff, EinfÜhrung, 98–100, der ein deutliches Fort-
ders., Werkruhm und Christusruhm im Galater- schreiten des paulinischen Denkens in den Berei-
brief und die Frage nach einer Entwicklung des chen Rechtfertigungslehre, Eschatologie und Is-
Paulus, in: Studien zum Text und zur Ethik des rael konstatiert, zugleich aber die Christologie als
Neuen Testaments (FS H. Greeven), hg. v. Konstante ansieht, so daß von einer „Konstanz
W. Schrage, BZNW 47, Berlin 1986, 196–211. im Wandel“ (a. a. O., 99) gesprochen werden
342 Vgl. F. Hahn, GesetzesverstÈndnis, 60 f, der kann.
zwar die Unterschiede zwischen Gal und RÚm 343 Vgl. K. Kertelge, Gesetz und Freiheit im Gala-
sieht, dennoch von einer ‚inneren‘ Einheitlichkeit terbrief, NTS 30 (1984), 382–394.
des Gesetzesbegriffes bei Paulus ausgeht; vgl. fer- 344 Vgl. J. Rohde, Gal, 175–178.
ner ders., Gibt es eine Entwicklung in den Aussa- 345 So u. a. J. Becker, Paulus (s. o. 2), 306.
Verfasser 129
gung bei Paulus, NTA 3, MÜnster 21971. H. Paulsen, Àberlieferung und Auslegung in RÚ
mer 8, WMANT 43, Neukirchen 1974. P. v. d. Osten Sacken, RÚmer 8 als Beispiel paulini
scher Soteriologie, FRLANT 112, GÚttingen 1975. W. Schmithals, Der RÚmerbrief als hi
storisches Problem, StNT 9, GÜtersloh 1975. H. HÜbner, Das Gesetz bei Paulus (s. o.
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M. Wolter, Rechtfertigung und zukÜnftiges Heil, BZNW 43, Berlin 1978. M. Kettunen,
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und Israel, FRLANT 136, GÚttingen 1984. H. RÈisÈnen, Paul and the Law, WUNT 29, TÜ
bingen 21987. P. Lampe, Die stadtrÚmischen Christen in den beiden ersten Jahrhunder
ten, WUNT 2. 18, TÜbingen 21989. W. Bindemann, Theologie im Dialog, Leipzig 1992.
Angelika Reichert, Der RÚmerbrief als Gratwanderung, FRLANT 194, GÚttingen 2001.
AufsÇtze
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Christentums, Jud 26 (1970), 65 88. G. Bornkamm, Der RÚmerbrief als Testament des
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70 83. H. Conzelmann, Die Rechtfertigungslehre des Paulus: Theologie oder Anthropolo
gie?, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh 65, MÜnchen 1974, 191 206.
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77 (1986), 180 193. H. RÈisÈnen, RÚmer 9 11: Analyse eines geistigen Ringens, ANRW
25. 4, Berlin 1987, 2891 2939. K. Haacker, Der RÚmerbrief als Friedensmemorandum,
NTS 36 (1990), 25 41. K. P. Donfried (Hg.), The Romans Debate, Edinburgh 21991 (wich
tige Aufsatzsammlung). E. Lohse, Summa Evangelii zu Veranlassung und Thematik des
RÚmerbriefes , NAWG.PH (1993), 89 119. T. Holtz, Die historischen und theologischen
Bedingungen des RÚmerbriefes, in: Evangelium Schriftauslegung Kirche (FS P. Stuhl
macher), hg. v. J.
dna u. a., GÚttingen 1997, 238 254. M. Theobald, Studien zum RÚ
merbrief, WUNT 136, TÜbingen 2001 (wichtige Aufsatzsammlung).
Forschungsbericht
M. Theobald, Der RÚmerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000.
2.8.2 Verfasser
346 Vgl. zu diesem relativ großen Forschungskon- 347 Vgl. hierzu F. W. Horn, Die letzte Jerusalem-
sens nur D. Zeller, RÚm, 15; P. Stuhlmacher, RÚm, reise des Paulus, in: ders. (Hg.), Das Ende des Pau-
11. lus (s. u. 4.1), 15–35.
Ort und Zeit der Abfassung 131
Treue gebrochen haben. Ferner: Wie lÈßt sich innerhalb der paulinischen Recht
fertigungslehre das VerhÈltnis von gÚttlicher Gnade und menschlichem Tun be
stimmen? Wenn angesichts des gÚttlichen Gerichtes alle schuldig sind (RÚm 2, 1)
und sich niemand auf sein Tun berufen kann, stellt sich die Frage nach dem Sinn
und der Funktion ethischen Verhaltens. Positiv kommt dem Tun keine Bedeu
tung fÜr das Heil zu, zugleich kann der Mensch aber durch sein Tun das Heil ver
fehlen!
Somit bestimmen fÜnf Faktoren Abfassung und Zweck des RÚm: 1) Die von
der rÚmischen Gemeinde fÜr die geplante Spanienmission benÚtigte Hilfe. 2) Der
Wunsch des Apostels nach FÜrbitte (und UnterstÜtzung) bei den zu erwartenden
Auseinandersetzungen in Jerusalem anlÈßlich der KollektenÜbergabe. 3) Die
Agitation der judaistischen Paulusgegner, deren Einfluß er sowohl in Jerusalem
als auch in Rom voraussetzen muß. 4) Die zunehmende BedrÈngnis der Ge
meinde durch das rÚmische Judentum und der sich anbahnende Konflikt mit
dem Staat. 5) VerstÈndnisprobleme der paulinischen Theologie. Die innere Ver
flochtenheit dieser Aspekte ist offenkundig: Nur bei einer EntkrÈftung judaisti
scher VorwÜrfe und einer Überzeugenden Entfaltung der eigenen Position
konnte Paulus damit rechnen, daß die Jerusalemer die Kollekte annehmen und
die RÚmer sich ‚sein‘ Evangelium zu eigen machen.
Die neuere Diskussion um den Abfassungszweck des RÚm wurde durch F.Chr.
Baur erÚffnet349. Baur vermutet in Rom eine antipaulinische Partei, die den pauli
nischen Universalismus ablehnte und die Heiden von der Gnade des Evangeliums
ausschließen wollte. Paulus schrieb den RÚm, um dem falschen Partikularismus
dieser judenchristlichen Gruppe entgegenzutreten350. Auf die klassische Position
Baurs folgte eine bis heute anhaltende Diskussion mit einer Unzahl von Thesen,
von denen nur einige genannt werden kÚnnen351: 1) G. Klein folgert aus dem
Fehlen des ekklvsı´a Begriffes in RÚm 1 15, die rÚmische Gemeinde bedÜrfe fÜr
Paulus noch der apostolischen Fundierung und der RÚm sei als vorweggenomme
ner Akt jenes vom Apostel in Rom noch zu leistenden euaggelı´zesXai zu verste
349 Vgl. F.Chr. Baur, Àber Zweck und Veranlas- stels. Sie hÈtten Paulus vorgeworfen, sein Evan-
sung des RÚmerbriefes und die damit zusammen- gelium verletze die Gerechtigkeit Gottes.
hÈngenden VerhÈltnisse der rÚmischen Gemein- 351 ForschungsÜberblicke bieten O. Kuss, Paulus,
de, in: ders., AusgewÈhlte Werke I, hg. v. Regensburg 21976, 178–204; W. Schmithals, RÚ-
K. Scholder, Stuttgart 1963 (= 1836), 147–266. merbrief als historisches Problem, 24–52; M. Ket-
350 An F.Chr. Baur knÜpft jetzt wieder an tunen, Abfassungszweck, 7–26; M. Theobald, Der
A. J. M. Wedderburn, The Reasons for Romans, RÚmerbrief, 27–42; Angelika Reichert, Der RÚ-
Edinburgh, 1988. Er betont zwar ausdrÜcklich, merbrief als Gratwanderung, 13–75. Wichtige
daß es mehrere GrÜnde fÜr die Abfassung des AufsÈtze sind abgedruckt bei K. P. Donfried (Hg.),
Briefes gibt, hÈlt aber die Judenchristen in Rom The Romans Debate.
fÜr die eigentlichen GesprÈchspartner des Apo-
Ort und Zeit der Abfassung 133
hen352. Dagegen ist einzuwenden, daß Paulus die rÚmische Christenheit vorbe
haltlos anerkennt und sich im RÚm kein Hinweis auf einen Mangel der rÚmischen
Gemeinde findet. 2) G. Bornkamm, J. Jervell und U. Wilckens sehen den gesamten
RÚm durch die in Kap. 15, 30 f ausgesprochene Sorge Überschattet353, die Kollekte
kÚnnte durch den Widerstand der Judaisten in Jerusalem nicht angenommen
werden. Paulus hÈtte dann im RÚm eine Art Verteidigungsrede konzipiert, die er
in Jerusalem halten wollte. Jerusalem wÈre dann die heimliche Adresse des RÚm.
Hier wird ein zweifellos wichtiger Punkt bei der Abfassung des RÚm Überbewertet.
3) FÜr M. Kettunen und P. Stuhlmacher muß der RÚm als eine große Apologie des
Apostels gegenÜber seinen judaistischen Kontrahenten verstanden werden. Sie
folgten ihm Überall hin, und er mußte annehmen, daß sie auch in Rom bereits ge
gen ihn agierten. Der RÚm wÈre dann der Versuch des Apostels, die von den Geg
nern vorgebrachten EinwÈnde zu entkrÈften und dadurch die Gemeinde in Rom
fÜr seine Spanienmission zu gewinnen. 4) Im Kontext der zunehmenden Span
nungen zwischen Rom und Jerusalem im Vorfeld des 1. jÜdischen Krieges (66
73/74 n. Chr.) interpretiert K. Haacker den RÚm. Die paulinische These der Gleich
stellung von Juden und Nichtjuden sei zu verstehen „als eine gezielte VersÚh
nungsparole in einer Zeit wachsender Polarisierung zwischen Jerusalem und
Rom.“354 5) Als ‚Summe des Evangeliums‘ und damit gewissermaßen als zeitlose
und allein sachgemÈße Auslegung desselben versteht E. Lohse den RÚm355. Paulus
legt im RÚm eine kritische Rechenschaft seiner bisherigen VerkÜndigung ab, ohne
auf aktuelle Probleme wirklich einzugehen. 6) Angelika Reichert setzt verstÈrkt
textwissenschaftliche Fragestellungen ein, um den Abfassungszweck des RÚm zu
klÈren: „Paulus wollte mit seinem Schreiben die uneinheitlich geprÈgte Adressa
tenschaft zu einer paulinischen Gemeinde machen und sie fÜr den Fall der eige
nen Verhinderung an der DurchfÜhrung seiner weiteren MissionsplÈne zur selb
stÈndigen Weiterverarbeitung seines Evangeliums befÈhigen.“356 Paulus ist an ei
ner potentiellen Mission der rÚmischen Gemeinde im Westen des Reiches interes
siert und rÜstet sie dafÜr aus.
352 Vgl. G. Klein, Der Abfassungszweck des RÚ- des RÚmerbriefes, in: ders., Rechtfertigung als
merbriefes, in: ders., Rekonstruktion und Inter- Freiheit, Neukirchen 1974, 110–170.
pretation, BEvTh 50, MÜnchen 1969, 129–144. 354 K. Haacker, RÚmerbrief als Friedensmemoran-
353 Vgl. G. Bornkamm, Der RÚmerbrief als Testa- dum, 34.
ment des Paulus, 136–139; J. Jervell, Der Brief 355 Vgl. E. Lohse, Summa Evangelii, 113 ff.
nach Jerusalem. Àber Veranlassung und Adresse 356 A. Reichert, Der RÚmerbrief als Gratwande-
des RÚmerbriefes, StTh 25 (1971), 61–73; rung, 321.
U. Wilckens, Àber Abfassungszweck und Aufbau
134 Der Römerbrief
2.8.4 Empfänger
Die Entstehung des Christentums in Rom ist nicht ohne die Geschichte der jÜdi
schen Gemeinde in Rom zu verstehen, die erstmals 139 v. Chr. erwÈhnt wird.
Die Juden durchlebten in Rom eine sehr wechselvolle Geschichte. Die Gemeinde
wuchs sehr schnell, Josephus (Ant XVII 300) erwÈhnt, 8000 rÚmische Juden
hÈtten der nach dem Tod des Herodes in Rom eintreffenden Gesandtschaft das
Geleit gegeben. Von Claudius wird fÜr 41 n. Chr. berichtet, er habe die Juden
wegen ihrer großen Zahl nicht aus Rom ausgetrieben, wohl aber ein Versamm
lungsverbot verhÈngt (Dio Cassius LX 6, 6). Die Juden organisierten sich in Rom
in unabhÈngigen Einzelgemeinden mit eigenen VersammlungsrÈumen und eige
ner Verwaltung357. Schwer getroffen wurden die rÚmischen Juden durch die
Austreibungen unter Tiberius 19 n. Chr.358 und unter Claudius 49 n. Chr.359. Da
bei setzt das Claudius Edikt Auseinandersetzungen zwischen Juden und Chri
sten um ‚Chrestus‘ in Rom voraus und belegt den Erfolg christlicher Mission im
Bereich der Synagoge.
Das Christentum gelangte ebenso wie zuvor das Judentum auf Handelswegen
nach Rom. Kaum zufÈllig gab es vorpaulinische Gemeinden in Puteoli
(Apg 28, 13) und Rom (RÚm; Apg 28, 15). Hier existierten nicht nur zwei große
jÜdische Gemeinden, sondern der Haupthandelsweg zwischen dem Osten des
Reiches und der Stadt Rom verlief Über Puteoli nach Rom. Wahrscheinlich
brachten unbekannte urchristliche Missionare das Evangelium nach Rom, die
zugleich Handel und/oder Gewerbetreibende waren. Das Claudius Edikt be
rÜhrte nun nicht nur die Juden in Rom, sondern es war auch fÜr die christliche
Gemeinde in zweifacher Hinsicht bedeutsam: 1) Es bewirkte die endgÜltige Los
lÚsung der christlichen Gemeinde von der Synagoge. 2) Durch die Austreibung
von Juden und Judenchristen aus Rom Ènderte sich die Zusammensetzung der
rÚmischen Gemeinde entscheidend. Bildeten die Judenchristen bis zum Claudi
us Edikt die Mehrheit innerhalb der Gemeinde, so waren sie nach 49 n. Chr.
eine Minderheit. In der Christenverfolgung unter Nero 64 n. Chr. unterschieden
die BehÚrden bereits zwischen Juden und Christen360.
Heidenchristen stellten z. Zt. der Abfassung des RÚm in der Gemeinde bereits
die Mehrheit (vgl. RÚm 1, 5. 13 15; 10, 1 3; 11, 13. 17 32; 15, 15. 16. 18). Zu
gleich muß aber mit einem betrÈchtlichen judenchristlichen Anteil und Einfluß
357 Vgl. W. Wiefel, Die jÜdische Gemeinschaft im ger, Josephus und Paulus in Rom. Juden und
antiken Rom, 71–75; P. Lampe, Die stadtrÚmi- Christen in Rom zur Zeit Neros, in: Begegnungen
schen Christen, 367 ff. zwischen Christentum und Judentum in Antike
358 Vgl. Tac, Ann II 85; Suet, Tiberius 36. und Mittelalter (FS H. Schreckenberg), hg. v.
359 Vgl. zum Claudius-Edikt den Abschnitt 2.1.1. D. A. Koch u. H. Lichtenberger, GÚttingen 1993,
360 Vgl. Tac, Ann XV 44; vgl. hier H. Lichtenber- 245–261.
Empfänger 135
361 Vgl. hier P. Lampe, Die stadtrÚmischen Chri- Hauskirche im frÜhen Christentum, SBS 103,
sten, 156–164. Stuttgart 1981, 26 ff; P. Lampe, Die stadtrÚmi-
362 Vgl. a. a. O., 141–153. schen Christen, 301 ff.
363 Vgl. dazu H. J. Klauck, Hausgemeinde und
136 Der Römerbrief
1, 1 7 PrÈskript
1,8 12 ProÚmium Briefanfang
1, 13 15 Briefl. Selbstempfehlung
1, 16 11, 36 1. Hauptteil
1, 16 8, 39 Die Gerechtigkeit Gottes
1, 16. 17 Die These des RÚm
1, 18 3, 20 Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit Gottes
(1, 18 32: Heiden; 2, 1 29: Juden; 3, 1 8: Vorzug
der Juden; 3,9 20: Die Schuld der Juden)
3, 21 4, 25 Die MÚglichkeit der Gerechtigkeit Gottes (3, 21
31: Die in Jesus Christus erschienene Gerechtig
keit Gottes; 4, 1 25: Die Abraham verheißene
Gerechtigkeit Gottes)
5, 1 8, 39 Die Wirklichkeit der Gerechtigkeit Gottes (5, 1
11: Heilszuversicht; 5, 12 21: Adam Christus Ty
pologie; 6: Taufe; 7: Gesetz SÜnde glaubender
Briefkorpus
Mensch; 8: Leben im Geist)
9, 1 11, 36 Die Gerechtigkeit Gottes und Israel (Vorver
weise: 1, 16; 2,9 f; 3, 1 8)
9, 1 5 Das Problem
9, 6 29 Die Verheißung gilt nicht dem empirischen Is
rael, sondern dem wahren Israel
9, 30 10, 21 Die Verwerfung des empirischen Israel
11, 1 36 Das Geheimnis der Heilsgeschichte und die Ret
tung Israels
12, 1 15, 13 2. Hauptteil
12, 1 13, 14 Allgemeine Mahnungen (Gottesdienst, Gemein
de, Wandel in der Liebe, Staat)
14, 1 15, 13 Spezielle Mahnungen (‚Starke‘ und ‚Schwache‘
in Rom)
Die Makrostruktur des RÚm ist gut erkennbar, auf einen vorwiegend lehrhaften
Hauptteil (RÚm 1, 16 11, 36) folgt ein Überwiegend ermahnender Hauptteil
Gliederung, Aufbau, Form 137
(RÚm 12, 1 15, 13)364. Diese Aufteilung darf jedoch nicht schematisch verstan
den werden, auch im 1. Hauptteil finden sich grundlegende Ermahnungen (vgl.
RÚm 6, 11 f.19).
Innerhalb der Gliederung des 1. Hauptteils365 kommt RÚm 5, 1 11 und
RÚm 9 11 besondere Bedeutung zu. RÚm 5, 1 11 schließt nicht RÚm 3, 21 4, 25
ab, sondern Paulus fÜhrt hier die Argumentation weiter. Dies zeigt sich an den
neuen theologischen Zentralbegriffen in RÚm 5, 1 11 (elpı´ß, zwv´, agápv, pneu˜ma,
Xánatoß), die in RÚm 8 wieder aufgenommen werden, so daß bei RÚm 5 8 von
einer Ringkomposition gesprochen werden kann. Die Thematik von RÚm 9 11
stellt keine Digression dar, vielmehr ist fÜr Paulus das Schicksal Israels der Test
fall fÜr die Gerechtigkeit Gottes. Das Ringen um Israel in RÚm 9 11 ergibt sich
zwingend aus der Rechtfertigungslehre des Apostels, was die Vorverweise auf
die Problematik in RÚm 1, 16; 2,9 f; 3, 1 8 unterstreichen.
Mit parakalw̃ in RÚm 12, 1 setzt der parÈnetische Hauptteil ein, wobei
RÚm 12, 1. 2 zugleich Àberschrift und Themaangabe sind. Behandelt RÚm 12, 3
8 die Einheit der Gemeinde als Leib Christi, so geht Paulus mit den Ermahnun
gen zur NÈchsten und Feindesliebe in RÚm 12,9 21 bereits zur speziellen ParÈ
nese Über, die in RÚm 13, 1 7 in besonderer Weise fortgefÜhrt wird366. RÚm
13,8 a nimmt RÚm 13, 1 7 auf und bezieht sich zugleich auf RÚm 12,9 21 zu
rÜck. Der eschatologische Ausblick in RÚm 13, 11 14 beschließt die Argumenta
tion und korrespondiert mit RÚm 12, 1. 2. Die Mahnungen an die ‚Starken‘ und
‚Schwachen‘ in RÚm 14, 1 15, 13 mÜssen als Konkretion des Liebesgebotes in
RÚm 12,9; 13,8 10 verstanden werden. Der RÚm enthÈlt alle Üblichen Elemente
eines paulinischen Schreibens, er strebt eine Kommunikation an und ist deshalb
zur Gattung Brief zu rechnen. Zugleich wirkt er aber Über weite Strecken wie
ein von der konkreten Gemeindesituation losgelÚster belehrender Monolog.
Diese Eigenart erklÈrt sich aus der besonderen Kommunikationssituation zwi
schen dem Apostel und der Gemeinde in Rom. Unterschiedlich fallen die Versu
che aus, den RÚm unter rhetorischen und literarischen Gesichtspunkten genauer
zu klassifizieren. So wird der RÚm als ‚logos proteptikos‘ bezeichnet367, womit
364 Teilweise wird RÚm 9–11 als eigener Hauptteil 58, TÜbingen 1991, 91–121; K. Berger, Formge-
angesehen, vgl. z. B. P. Stuhlmacher, RÚm, 19. schichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984,
365 Vgl. hier vor allem U. Luz, Zum Aufbau von 217–220. Vgl. ferner H. HÜbner, Die Rhetorik und
RÚm. 1–8, ThZ 25 (1969), 161–181. die Theologie. Der RÚmerbrief und die rhetorische
366 Vgl. zur paulinischen Argumentation O. Merk, Kompetenz des Paulus, in: Die Macht des Wortes,
Handeln aus Glauben, MThSt 5, 1968, 157–167. hg. v. C. J. Classen u. H. J. MÜllenbrock, Ars Rhe-
367 Vgl. S. K. Stowers, Letter Writing (s. o. 2.3.1), torica 4 (1992), 165–179, der die rhetorische Qua-
112–114; D. E. Aune, Romans as a Logos Protrep- litÈt des RÚm hervorhebt, zugleich aber auf eine
tikos in the Context of Ancient Religious and Phi- rhetorische Klassifizierung des gesamten Briefes
losophical Propaganda, in: M. Hengel – U. Heckel verzichtet.
(Hg.), Paulus und das antike Judentum, WUNT
138 Der Römerbrief
ein belehrender Brief gemeint ist, der werbend AnhÈnger fÜr die BeschÈftigung
mit einer bestimmten Disziplin, vornehmlich der Philosophie, gewinnen will.
Weitere Klassifizierungen: ‚epistolischer Brief‘ (A. Deissmann), ‚Briefessay‘
(D. Zeller), ‚Lehrschreiben‘ (W. Schmithals)368.
Das zentrale text und literarkritische Problem des RÚm liegt in Kap. 16. Der sehr
komplexe textkritische Befund stellt sich in seinen GrundzÜgen so dar369:
Aus diesem Befund lassen sich drei Folgerungen ziehen: 1) RÚm 16, 24 ist in der
Èltesten TextÜberlieferung nicht bezeugt (Markion, P46), stÚßt sich mit der zu
meist folgenden Schlußdoxologie RÚm 16, 25 27 und dÜrfte als im Westen vor
herrschender Abschluß des RÚm sekundÈr in die TextÜberlieferung eingedrun
gen sein. 2) Die sehr unterschiedliche Stellung der Schlußdoxologie V. 25 27 in
der TextÜberlieferung, ihr Fehlen bei Markion und die Parallelen im deutero
paulinischen Schrifttum (vgl. Kol 1, 26 f; 2, 2; 4, 3; Eph 1,9; 3, 3 f.9; 6, 19; ferner
Jud 24 f[!]) legen den Schluß nahe, diese Verse nicht zum ursprÜnglichen Text
des RÚm zu rechnen370. Wahrscheinlich bildete RÚm 16, 25 27 den im Osten Üb
lichen Schluß des RÚm. Offenbar waren die Stellung der Schlußdoxologie und
von V. 24 flexibel, weil der jeweilige vorhandene Textbestand Über die endgÜlti
ge Plazierung entschied. Ob ein so gewichtiger und wohl disponierter Brief wie
der RÚm mit Kap. 16, 23 schloß, muß allerdings bezweifelt werden. 3) Keine
368 Vgl. A. Deissmann, Paulus (s. o. 2.1.1), 19; V. 25–27 wieder zum authentischen Bestand des
D. Zeller, RÚm, 10; W. Schmithals, RÚm, 43 f, in RÚm zÈhlt; vgl. demgegenÜber D. Zeller, RÚm,
bezug auf seinen ‚RÚm A‘. 251: „Der komprimierende RÜckgriff auf den
369 Eine vollstÈndige Auflistung des Befundes bei Briefanfang, die ÜberhÚhende Sicht des paulini-
K. Aland, Der Schluß und die ursprÜngliche Ge- schen Werkes und die mit den Deuteropaulinen
stalt des RÚmerbriefes, in: ders., Neutestamentli- verwandte Sprache machen es gewiß, daß in die-
che EntwÜrfe, TB 63, MÜnchen 1979, (284–301) sen letzten Versen ein Redaktor aus der Paulus-
287–290. schule dem RÚm einen wÜrdigen Ausklang gege-
370 Gegen P. Stuhlmacher, RÚm, 225–227, der ben hat, der rÜhmend den Blick auf Gott lenkt.“
Literarische Integrität 139
Handschrift endet mit RÚm 15, RÚm 15 und RÚm 16, 1 23 fehlen entweder ganz
(Markion) oder werden beide Überliefert. Textkritisch lÈßt sich eine Naht zwi
schen RÚm 15 und RÚm 16, 1 23 nicht feststellen371.
Seit Über 150 Jahren werden allerdings inhaltliche und damit literarkritische
GrÜnde geltend gemacht, um Kap. 16 vom RÚmerbrief abzutrennen und als ei
genstÈndiges Schreiben an die Gemeinde von Ephesus aufzufassen372. FÜr die
Ephesus Hypothese werden folgende Argumente angefÜhrt373: a) Paulus grÜßt
in RÚm 16, 3 16 a auffÈllig viele Personen einer Gemeinde, die ihm nach
RÚm 1, 13 noch unbekannt ist. b) Unter den GegrÜßten finden sich viele, die in
Kleinasien, speziell in Ephesus zu vermuten sind. So wohnen Prisca und Aquila
zur Abfassungszeit des 1 Kor in Ephesus (vgl. 1 Kor 16, 19), und noch in
2 Tim 4, 19 werden sie dort angesiedelt. Epainetos, der ‚Erstling der Asier‘ (RÚm
16, 5), paßt ebenfalls besser nach Ephesus als nach Rom. Die Art der GrÜße setzt
zudem einen intensiven Kontakt zwischen Paulus und vielen der GegrÜßten
voraus. c) Die Irrlehrerpolemik in RÚm 16, 17 20 paßt nicht zum Ton des RÚm
und dÜrfte eher an eine andere Gemeinde gerichtet sein. d) Die variierende
TextÜberlieferung weist darauf hin, daß Kap. 16 nicht zum urprÜnglichen Brief
gehÚrte.
Als zwingend kÚnnen die Argumente fÜr die Ephesus Hypothese nicht ange
sehen werden. RÚm 15, 33 setzt anschließende GrÜße voraus und de´ in
RÚm 16, 1 nimmt auf den vorausgehenden Text Bezug. Die lange GrußempfÈn
gerliste in RÚm 16, 3 16 a lÈßt sich auf zweifache Weise erklÈren: 1) Nach dem
Tod des Claudius 54 n. Chr. kehrten aus Rom vertriebene Christen in die Stadt
zurÜck (Prisca und Aquila). Zudem schlossen sich Christen der rÚmischen Ge
meinde an, die bisher mit Paulus in Kleinasien zusammenarbeiteten. Sie vollzie
hen damit ein Vorhaben, das auch Paulus schon lange geplant hatte (vgl.
RÚm 1, 13). Von den 26 namentlich genannten Personen kannte Paulus zumin
dest 12374. Sie arbeiteten mit ihm frÜher im Osten zusammen (vgl. V. 3
9. 10 a.11 a.12 b.13). Bei 14 Personen wirken die GrÜße eher unbestimmt, Paulus
371 Zur Minuskel 1506 vgl. P. Lampe, Die stadtrÚ- der RÚm 16, 1–20 als separates Schreiben ansieht.
mischen Christen, 125. Zu den MÚglichkeiten, Neben Schmithals vertreten die Ephesus-Hypo-
aufgrund der handschriftlichen Àberlieferungen these in neuerer Zeit z. B. W. Marxsen, Einlei-
des RÚm ein Stemma zu erstellen, vgl. K. Aland, tung, 116–118; E. KÈsemann, RÚm, 390 ff; Ph.
Schluß des RÚmerbriefes, 291 ff; P. Lampe, Zur Vielhauer, Urchristliche Literatur, 190; H. M.
Textgeschichte des RÚmerbriefes, NT 27 (1985), Schenke – K. M. Fischer, Einleitung I, 136 ff, die
273–277. allerdings RÚm 14, 1–15, 13 und RÚm 16, 1–20 zu
372 Einen ForschungsÜberblick bietet W. H. Oll- einem Brief des Paulus nach Ephesus verbinden.
rog, Die AbfassungsverhÈltnisse von RÚm 16, in: 374 Zur Analyse der Namen vgl. W. H. Ollrog, Ab-
Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v. D. LÜhrmann u. fassungsverhÈltnisse, 234 ff; P. Lampe, Die stadtrÚ-
G. Strecker, TÜbingen 1980, (221–244) 221 ff. mischen Christen, 128 ff.
373 Vgl. hier bes. W. Schmithals, RÚm, 543–565,
140 Der Römerbrief
375 A. JÜlicher, Einleitung in das Neue Testament, lungsbriefe als Parallelen hinweisen, wodurch
TÜbingen 3 41901, 85; vgl. aber die weitaus zu- aber die Einzigartigkeit von RÚm 16 innerhalb der
rÜckhaltendere Argumentation in A. JÜlicher – Paulusbriefe nicht aufgehoben wÈre. Gerade der
E. Fascher, Einleitung, 108 ff. Phlm als paulinischer Empfehlungsbrief weist
376 W. Schmithals, RÚmerbrief als historisches gravierende Unterschiede zu RÚm 16 auf!
Problem, 128 ff, kann zwar auf antike Empfeh-
Traditionen, Quellen 141
rinth als Abfassungsort hin. c) Es kann nicht Überzeugend erklÈrt werden, war
um ein ursprÜnglich nach Ephesus gerichteter Empfehlungsbrief an den RÚm
angehÈngt wurde.
GehÚren Kap. 16, 1 16. 21 23 zum ursprÜnglichen Bestand des RÚm, so erge
ben sich bei der Irrlehrerpolemik in Form einer SchlußparÈnese in RÚm 16, 17
20 a starke Bedenken377. Derartige Ermahnungen gehen in den Paulusbriefen
immer den SchlußgrÜßen voraus, wÈhrend hier die Grußliste unterbrochen
wird. Zudem stehen diese Mahnungen hinter der Aufforderung zum heiligen
Kuß! Es finden sich in diesem kurzen Text sechs paulinische Hapaxlegomena
(ekklı´nein [RÚm 3, 12 ist ein Zitat], crvstologı´a, aµkakoß, afikneı˜sXai, suntrı´bein,
en tácei). Paulus gebraucht sonst nie didacv´ als Zusammenfassung der christli
chen Lehre. Die Art der Auseinandersetzung entspricht nicht der sonstigen Ar
gumentation des Paulus gegenÜber seinen Gegnern, sondern erinnert an die
Ketzerpolemik der Deuteropaulinen (vgl. 2 Tim 3, 1 9). Zwar setzt sich Paulus
auch im RÚm mit den EinwÈnden seiner Gegner auseinander (vgl. RÚm 3, 1 8;
3, 31; 6, 1. 15; 7, 7. 12. 14), aber in vÚllig anderer Art und Weise als in RÚm
16, 17 20 a.
Vielfach wird RÚm 7, 25 b als nachpaulinische Glosse betrachtet378. Argumen
tativ fÈllt RÚm 7, 25 b hinter RÚm 7, 25 a zurÜck, denn dieses Kommentarwort
thematisiert noch einmal die Situation des unerlÚsten Menschen, wÈhrend
V. 25 a bereits die Situation der in Jesus Christus erfolgten ErlÚsung reflektiert,
die dann RÚm 8 als neues Leben im Geist entfaltet. Zudem ist von einem Dienen
des Gesetzes in RÚm 7, 7 25 a gar nicht die Rede, weil die SÜnde dies verhindert.
Offensichtlich brachte ein Glossator in V. 25 b sein VerstÈndnis von RÚm 7 zum
Ausdruck379.
Wie kein anderer Paulusbrief stellt sich der RÚm als Entfaltung des urchristlichen
Kerygmas dar. Auch hier zeigt sich der Wunsch des Paulus, mit der rÚmischen
Gemeinde zu einem EinverstÈndnis zu gelangen und die eigene Theologie als
377 Als nachpaulinische Interpolation werten stament, StNT 10, GÜtersloh 1975, 185–190 (RÚm
diese Verse bes. W. H. Ollrog, AbfassungsverhÈlt- 16, 17–20 als ‚prophetische Gerichtspredigt‘).
nisse, 229–234; F. Schnider – W. Stenger, Studien 378 FÜr die UrsprÜnglichkeit von RÚm 7, 25 b vo-
(s. o. 2.3.2), 82 f. FÜr die UrsprÜnglichkeit dieser tiert zuletzt P. Stuhlmacher, RÚm, 104 f.
Verse treten in neuerer Zeit z. B. U. Wilckens, 379 Vgl. dazu H. Lichtenberger, Der Beginn der
D. Zeller und P. Stuhlmacher in ihren Kommenta- Auslegungsgeschichte von RÚmer 7: RÚm 7, 25 b,
ren ein. Eine formgeschichtliche Analyse bietet ZNW 88 (1997), 284–295.
U. B. MÜller, Prophetie und Predigt im Neuen Te-
142 Der Römerbrief
380 Vgl. zur Analyse neben den Kommentaren 382 Zur Analyse von RÚm 6 und zur Auseinander-
bes. E. Schweizer, RÚm 1, 3 f und der Gegensatz setzung mit der Literatur vgl. U. Schnelle, Gerech-
von Fleisch und Geist bei Paulus, in: ders., Neote- tigkeit und Christusgegenwart (s. o. 2.4.10), 74–
stamentica, ZÜrich 1963, 180–189. 88. 203–215; A. J. M. Wedderburn, Baptism and
381 Einen ausfÜhrlichen Àberblick zur gegenwÈr- Resurrection, WUNT 44, TÜbingen 1987; S. Agers-
tigen Forschungssituation bietet W. Kraus, Der nap, Baptism and the New Life,
rhus 1999.
Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Eine Untersuchung
zum Umfeld der SÜhnevorstellung in RÚm 3, 25–
26 a, WMANT 66, Neukirchen 1991.
Religionsgeschichtliche Stellung 143
sich die TotalitÈt der Gemeinschaft zwischen Christus und den Seinen. Paulus
vermeidet jedoch den in der Logik der Tradition angelegten Gedanken, der Ge
taufte sei bereits mit Christus auferstanden. Vielmehr bestimmt der Apostel das
zukÜnftige Sein des Getauften in V. 4 c ethisch. Als Taufe auf den Tod Jesu ist die
Taufe realiter ein Absterben der SÜnde, so daß der Christ nicht mehr im Bereich
der SÜnde, sondern der Gnade lebt. Das in RÚm 6, 1 von den Gegnern postulierte
WechselverhÈltnis von SÜnde und Gnade trifft die paulinische Rechtfertigungs
lehre nicht, weil die Àbereignung des Heilsgeschehens in der Taufe den TÈufling
der Macht der SÜnde grundlegend entzieht.
383 Dies bestreiten z. B. G. Wagner, Das religions- W. Burkert, Antike Mysterien, MÜnchen 21991.
geschichtliche Problem von RÚm 6, 1–11, Er lehnt den Begriff ‚Mysterienreligionen‘ ab, „als
AThANT 39, ZÜrich 1962; A. J. M. Wedderburn, ob es um ein in sich geschlossenes und von ande-
Baptism and Resurrection; vgl. demgegenÜber ren abgehobenes System gehe. Mysterien sind
aber die Argumentation von D. Zeller, Die Myste- eine persÚnliche Option im Rahmen des allgemei-
rienkulte und die paulinische Soteriologie, in: nen polytheistischen Systems“ (a. a. O., 17).
Suchbewegungen, hg. v. H. P. Siller, Darmstadt 384 Zu weiteren Texten vgl. Neuer Wettstein II/1
1991, 42–61. Eine kritische EinfÜhrung in die Ge- (s. o. 2.4.8.), 122–132.
schichte und das Denken antiker Mysterien bietet
144 Der Römerbrief
385 Vgl. auch die Zusammenstellung bei Sympathisanten, JSJ 4 (1973), 109–164; B. Wan-
W. Schmithals, RÚmerbrief als historisches Pro- der, GottesfÜrchtige und Sympathisanten, WUNT
blem, 98–101. 104, TÜbingen 1998.
386 Vgl. hierzu F. Siegert, GottesfÜrchtige und
Theologische Grundgedanken 145
‚Starken‘ richteten (vgl. RÚm 14, 3). Weil es fÜr Christen nur einen Herrn und
Richter gibt, steht dem einzelnen Christen aus paulinischer Sicht gar nicht das
Recht zu, Über seinen Bruder zu richten. Vielmehr soll er seinen Sinn darauf
richten, seinem Bruder keinen Anstoß zu geben (vgl. RÚm 14, 13; zuvor 1 Kor
8,9). Paulus selbst zÈhlt sich zu den ‚Starken‘ (vgl. RÚm 14, 14; 15, 1), er ist aber
nicht bereit, die von ihm als sachlich richtig erkannte Position auf Kosten der
Bruderliebe durchzusetzen. Die ‚Starken‘ mÜssen willens und fÈhig sein, die
‚Schwachen‘ zu tragen. Dadurch dienen sie dem Frieden in der Gemeinde und
fÚrdern ihren Aufbau (vgl. RÚm 14, 19; 15, 2). So wie Christus bei seiner Passion
von sich selbst absah und nicht das Eigene suchte (RÚm 15, 3), so sollen auch die
‚Starken‘ auf ihr Recht und ihre Freiheit um des ‚schwachen‘ Bruders willen ver
zichten. Beide Gruppen sollen einander annehmen, um so den Konflikt zu Über
winden (vgl. RÚm 15, 7).
rechnen. Paulus geht es um die negative Gleichstellung von Juden und Heiden
vor Gott, sie scheiterten jeweils am Gesetz. Sein Ziel findet der erste große Argu
mentationsgang in RÚm 3, 20, wo Paulus die anthropologische PrÈmisse seiner
Rechtfertigungslehre nennt: Die universale Macht der SÜnde (vgl. RÚm 3,9;
Gal 3, 22) macht alle menschlichen HeilsbemÜhungen aussichtslos. Sogar der
Gesetzesgehorsam rettet nicht, weil das Gesetz faktisch nur zur Erkenntnis der
SÜnde, nicht aber zum Leben fÜhrt.
In scharfem Kontrast zu dieser ausweglosen Situation des Menschen erscheint
nun das Heilshandeln Gottes, dessen Gerechtigkeit cwri`ß nómou in Jesus Christus
offenbar wurde (RÚm 3, 21). Allein im Christusgeschehen offenbarte sich die
von Gott ausgehende und im Glauben zugeeignete Gerechtigkeit387, die allein
aus Gnade den Menschen vor Gott rechtfertigt und dem Gesetz jegliche soterio
logische Bedeutung nimmt. Indem Paulus anders als im Gal die Gerechtigkeit Got
tes als dikaiosu´nv Xeou˜ dià pı´stewß aber cwri`ß nómou bestimmt und das Gesetz als
Heilsweg abrogiert, gelangt er zu einer partiellen Neubewertung des Gesetzes. So
kann seine Gesetzeslehre nicht mehr als ein die Kirchengemeinschaft gefÈhrden
der purer Antinomismus ausgelegt werden, zugleich wahrt er aber auch im RÚm
den theologischen Ertrag der Auseinandersetzung mit den galatischen Judaisten
(vgl. einerseits RÚm 3, 27. 31; 7, 12; 8, 2; 13,8 10, andererseits RÚm 3, 21; 6, 14;
10, 4). Auf die alttestamentlichen Grundlagen seiner Rechtfertigungslehre ver
weist Paulus in RÚm 4 mit der Gestalt Abrahams. In der Ringkomposition
RÚm 5 8 wendet sich der Apostel dann der gegenwÈrtigen Heilswirklichkeit der
Gemeinde zu. Frieden und VersÚhnung mit Gott grÜnden im Heilshandeln Got
tes in Jesus Christus, der die durch den Fall Adams in die Welt gekommene SÜn
de entmachtete (RÚm 5). Die Wende vom todbringenden Joch der SÜnde hin
zur lebenspendenden Gemeinschaft mit Christus vollzog sich fÜr den einzelnen
Christen in der Taufe (RÚm 6). Hier starb der Christ ein fÜr alle Mal der SÜnde
und wurde frei fÜr ein Leben in der Kraft des Geistes. In RÚm 7, 5. 6 stellt Paulus
die alte und neue Existenz des Christen gegenÜber, um dann in RÚm 7, 7 25 a
zunÈchst die Überwundene Situation des Christen und damit RÚm 7, 5 zu entfal
ten, wÈhrend RÚm 8 die neue vom Geist bestimmte Existenz und damit RÚm 7, 6
thematisiert. Das egẃ in RÚm 7 muß in einem generellen Sinn verstanden wer
den, denn Paulus beschreibt hier die Situation des Unglaubens, wie sie sich aus
der Perspektive des Glaubens darstellt388. In RÚm 8, 1 11 entwirft Paulus ein Ge
387 In RÚm 1, 17; 3, 21. 22 und 10, 3 erscheint di- ders., Rekonstruktion und Interpretation, BEvTh
kaiosu´nv Xeou˜ als eine von Gott ausgehende 50, MÜnchen 1969, 225–236; U. Schnelle, Ge-
Macht und Gabe (=genitivus auctoris), in rechtigkeit und Christusgegenwart (s. o. 2.4.10),
RÚm 3, 5 liegt dagegen ein genitivus subjektivus 92–103. 217–224.
vor (vgl. RÚm 3, 25. 26); vgl. hier G. Klein, Gottes- 388 Vgl. hier neben W. G. KÜmmel, RÚmer 7 und
gerechtigkeit als Thema der Paulusforschung, in: das Bild des Menschen im Neuen Testament, bes.
Theologische Grundgedanken 147
genbild zu RÚm 7. Der Geist schenkt Leben und lÚst fÜr den Christen den unent
rinnbaren Teufelskreis von SÜnde und Tod ab. In RÚm 8, 12 17 nimmt Paulus
mit der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes die Thematik von RÚm 5, 1 11 wie
der auf. Er fÜhrt sie in V. 18 30 weiter, wobei er großartige Gedanken Über die
Hoffnungen der unerlÚsten SchÚpfung einflechtet. In dem triumphalen Schluß
stÜck RÚm 8, 31 39 unterstreicht der Apostel noch einmal die Heilsgewißheit
des Glaubens auch angesichts gegenwÈrtiger Leiden.
Die Thematik von RÙm 9 11 389 ergibt sich sowohl als Konsequenz aus der
paulinischen Rechtfertigungslehre als auch aus der spezifischen Kommunikati
onssituation mit der rÚmischen Gemeinde, in der das VerhÈltnis Heiden , Juden
christen offenbar ein Problem war. Gottes Gerechtigkeit steht auf dem Spiel, soll
ten die ErwÈhlung Israels, die Verheißungen an die VÈter und die Bundes
schlÜsse nicht mehr gelten (RÚm 9, 5). Das Wort Gottes wÈre dann hinfÈllig ge
worden (RÚm 9, 6). Paulus behauptet jedoch das Gegenteil, die ErwÈhlung gilt,
die Verheißungen bestehen, aber Israel geriet angesichts der Offenbarung Gottes
in Jesus Christus in die Krise. Diese Offenbarung als Basis und Ausgangspunkt
der ErÚrterungen ist fÜr Paulus die Krisis jeglichen falsch verstandenen Vorzu
ges. Paulus will in RÚm 9 11 die Treue Gottes im GegenÜber zur Untreue Israels
erweisen. Er legt seine Àberzeugungen in einem dialektisch ausgerichteten,
stÈndig neue Gesichtspunkte aufgreifenden und die Betrachtungsweisen wech
selnden Gedankengang dar. ZunÈchst unterscheidet er zwischen dem Israel nach
dem Fleisch und dem Israel der Verheißung, das allein das wahre Israel ist
(RÚm 9, 6 8). Sodann behauptet er, nur ein Rest Israels sei erwÈhlt, die Übrigen
hingegen seien verstockt (RÚm 11, 5 ff). Schließlich gelangt er Über den Gedan
ken, die ErwÈhlung der Heiden werde Israel zum Heil gereichen, zu der Spitzen
these in RÚm 11, 26 a: pãß LIsrav`l swXv´setai. Gerade die Vielzahl der LÚsungen
zeigt, wie sehr Paulus mit diesem Problem rang, das nicht nur die persÚnliche
Existenz des Apostels und die DurchfÜhrung seiner MissionsplÈne betraf, son
dern der Testfall der dikaiosu´nv Xeou˜ ist: Wenn Gott nicht in der KontinuitÈt sei
ner Verheißungen bleibt, wie soll dann glaubhaft das Evangelium verkÜndigt
G. Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer tation von RÚmer 9–11, ZThK 81 (1984), 172–
Theologie (s. o. 2.5.8), 181 ff; U. Schnelle, Neute- 195; E. Brandenburger, Paulinische Schriftausle-
stamentliche Anthropologie, BThSt 18, Neukir- gung in der Kontroverse um das Verheißungs-
chen 1991, 79 ff. wort Gottes (RÚm 9), ZThK 82 (1985), 1–47;
389 Neben den im LV angegebenen Monographi- F. Siegert, Argumentation bei Paulus gezeigt an
en von U. Luz und H. HÜbner sowie dem Aufsatz RÚm 9–11 (s. o. 2.3.1); O. Hofius, Das Evangelium
von H. RÈisÈnen vgl. hier W. G. KÜmmel, Die Pro- und Israel, ZThK 83 (1986), 297–324; H. M. LÜb-
bleme von RÚmer 9–11 in der gegenwÈrtigen For- king, Paulus und Israel im RÚmerbrief, EHS.T
schungslage, in: ders., Heilsgeschehen und Ge- 260, Frankfurt 1986; D. SÈnger, Die VerkÜndi-
schichte II, hg. v. E. GrÈßer u. O. Merk, MThSt 16, gung des Gekreuzigten und Israel, WUNT 75, TÜ-
Marburg 1978, 245–260; N. Walter, Zur Interpre- bingen 1994.
148 Der Römerbrief
werden? Letztlich ist das Thema von RÚm 9 11 die Gottheit Gottes, seine Treue
angesichts menschlicher Untreue.
Im parÈnetischen Hauptteil390 knÜpft Paulus vor allem an RÚm 6 8 an. Ent
faltete er dort die Grundlegung und die MÚglichkeit des neuen Lebens im Geist,
so geht es nun um die Konkretisierung dieses neuen Lebens in der rÚmischen
Gemeinde. RÚm 12, 1 2 fungiert als programmatischer ErÚffnungstext, von dem
her die folgenden ethischen Weisungen verstanden werden sollen391. Paulus be
stimmt die Leiblichkeit als den Ort des vernunftgemÈßen Gottesdienstes und for
dert die Christen auf, ihr ganzes Leben als ein Gott wohlgefÈlliges Leben zu ver
stehen. Gott erhebt Anspruch auf den ganzen Menschen, der gerade in seiner
Leiblichkeit Gott dienen soll. Es gibt fÜr Paulus keinen Bereich, der vom Gottes
Dienst ausgeschlossen ist, in jeder Situation ist der Christ gefordert, den Willen
Gottes zu vernehmen und ihm zu folgen. In RÚm 12, 3 13, 14 finden sich allge
meine Mahnungen Über das Zusammenleben in der Gemeinde und das VerhÈlt
nis zum Staat. FÜr die Interpretation von RÚm 13, 1 7 ist der Kontext ausschlag
gebend: Paulus bietet hier keine christliche Staatstheorie, kein dogmatisches
Kompendium Über die gÚttliche Legitimation der Obrigkeit, sondern RÚm 13, 1
7 ist ParÈnese392. Bildet der Liebesgedanke bereits die sachliche Mitte der pauli
nischen Ermahnungen in RÚm 12,9 13, 14, so bestimmt er auch die Argumenta
tion des Apostels im Konflikt zwischen den ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ in
RÚm 14, 1 15, 13. Paulus teilt die Position der ‚Starken‘ (RÚm 15, 1), fordert sie
aber um der Liebe willen auf, auf die ‚Schwachen‘ RÜcksicht zu nehmen. Beide
Gruppen leben davon, daß Christus sie annahm, deshalb sollen sie auch einan
der annehmen (RÚm 15, 7). Die umfangreiche Grußliste in RÚm 16 signalisiert
noch einmal den Wunsch des Apostels, mit der rÚmischen Gemeinde zu einem
EinverstÈndnis zu gelangen, um so die VerkÜndigung des Evangeliums im We
sten des Reiches voranzutreiben.
390 Vgl. zur paulinischen Argumentation O. Merk, 392 Vgl. E. KÈsemann, GrundsÈtzliches zur Inter-
Handeln aus Glauben (s. o. 2.8.5), 157–173. pretation von RÚm 13, a. a. O., 204–222.
391 Vgl. dazu E. KÈsemann, Gottesdienst im Alltag
der Welt, in: ders., Exegetische Versuche und Be-
sinnungen II, GÚttingen 31970, 198–204.
Tendenzen der neueren Forschung 149
393 Vgl. E. Lohse, o nómoß tou˜ pneu´matoß tv˜ß zwv˜ß, mos, in: Glaube und Gerechtigkeit (FS R. Gyllen-
in: ders., Die Vielfalt des Neuen Testaments, GÚt- berg), SFEG 38, Helsinki 1983, 131–154.
tingen 1982, (128–136) 134; P. v. d. Osten-Sak- 396 Vgl. P. v. d. Osten-Sacken, RÚmer 8, 250 ff.
ken, RÚmer 8, 226 ff; F. Hahn, GesetzesverstÈnd- 397 Vgl. H. Lietzmann, RÚm, 96; R. Bultmann,
nis (s. o. 2.7.1), 57 A 89; H. HÜbner, Gesetz bei Theologie (s. o. 2), 264; E. KÈsemann, RÚm, 273;
Paulus, 125. O. Michel, RÚm, 326.
394 Vgl. E. KÈsemann, RÚm, 207; H. Paulsen, RÚ- 398 U. Wilckens, RÚm II, 223.
mer 8, 64; H. RÈisÈnen, Das ‚Gesetz des Glaubens‘ 399 Umstritten ist hier vor allem die Frage, ob die
(RÚm 3, 27) und das ‚Gesetz des Geistes‘ (RÚm Rechtfertigungslehre des Gal und RÚm das ge-
8, 2), NTS 26 (1980), (101–117) 113 ff; D. Zeller, samte paulinische Denken strukturiert; negativ
RÚm, 152; R. Weber, Die Geschichte des Gesetzes votieren aus der neuesten Diskussion z. B.
und des Ich in RÚmer 7, 7–8, 4, NZSTh 29 (1987), U. Schnelle, Transformation und Partizipation als
(147–179) 166 f. Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47
395 Vgl. dazu die sprachlichen Belege bei H. RÈisÈ- (2001), 58–75; D. G. Powers, Salvation through
nen, Sprachliches zum Spiel des Paulus mit No- Participation, Leiden 2001.
150 Der Römerbrief
400 Vgl. dazu den ForschungsÜberblick von 402 E. P. Sanders, Paulus und das palÈstinische Ju-
Chr. Strecker, Paulus aus einer „neuen Perspekti- dentum (s. o. 2), 400.
ve“ (s. o. 2); M. Karrer, Rechtfertigung bei Paulus, 403 Zur Kritik vergleiche E. Lohse, Theologie der
KuD 46 (2000), 126–155. Rechtfertigung im kritischen Disput, GGA 249,
401 Vgl. K. Stendahl, Der Jude Paulus und wir GÚttingen 1997, 66–81.
Heiden, MÜnchen 1978; ders., Der Apostel Paulus
und das „introspektive“ Gewissen des Westens,
KuI 11 (1996), 19–33.
Tendenzen der neueren Forschung 151
2.9.1 Literatur
Kommentare
KEK 9, 1: E. Lohmeyer, 71974. HNT 11: M. Dibelius, 31937. HThK X 3: J. Gnilka, 31980.
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Monographien
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Berlin 1999, 155 171.
Verfasser 153
2.9.2 Verfasser
Die paulinische Verfasserschaft des Phil ist in der heutigen Exegese unumstrit
ten409.
Paulus schrieb den Phil wÈhrend einer Gefangenschaft (Phil 1, 7. 13. 17), die ihn
allerdings nicht an einer regen missionarischen TÈtigkeit hinderte (Phil 1, 12 ff).
Aus Philippi erhielt er durch Epaphroditus eine Gabe (Phil 4, 18; vgl. ferner 2, 25;
4, 14), und er schickte nun Epaphroditus (mit dem Phil) zurÜck, um sich zu be
danken (Phil 2, 25. 28). In der Zwischenzeit erkrankte allerdings Epaphroditus
am Haftort des Paulus sehr schwer, was die Gemeinde in Philippi in Sorge ver
setzte (Phil 2, 26 30). Auch Paulus mÚchte die Gemeinde besuchen (Phil 1, 26;
2, 24), obgleich der Ausgang seines Prozesses noch offen ist. Eine Verhandlung
fand bereits statt (Phil 1, 7), und Paulus rechnet mit einer baldigen Entscheidung
(Phil 2, 23), hÈlt Freispruch oder Tod fÜr mÚglich (Phil 1, 19 24), hofft aber auf
einen guten Ausgang (Phil 1, 25). Auf jeden Fall will er Timotheus nach Philippi
schicken (Phil 2, 19 23), um zu erfahren, wie es um die Gemeinde steht.
Welcher Haftort entspricht dieser Situation des Apostels? Von den in der For
schung vorgeschlagenen Haftorten (Rom, CÈsarea, Ephesus)410 hat Rom die
grÚßte Wahrscheinlichkeit fÜr sich. Die Schilderung der rÚmischen Haft in
Apg 28, 30 f lÈßt sich sehr gut mit der im Phil vorausgesetzten milden Haftsituati
on vereinbaren (vgl. Phil 1, 13 f; 2, 25; 4, 10 ff)411. Zudem lassen sich die ErwÈh
2
409 Bestreiter der Echtheit (bes. im 19. Jh.) nennt 1954, (83–128) 85–108 erneuert. In der neue-
B. Mengel, Studien, 317–324. sten Forschung gewinnt sie wieder mehr AnhÈn-
410 Zum FÜr und Wider der Argumente vgl. ger, vgl. O. Merk, Handeln aus Glauben (s. o.
W. G. KÜmmel, Einleitung, 284 ff; J. Gnilka, Phil, 2.8.5), 174; C. H. Hunzinger, Die Hoffnung ange-
18–25; H. H. Schade, Apokalyptische Christologie sichts des Todes im Wandel der paulinischen Aus-
(s. o. 2.4.1), 182 ff. Die von A. Deissmann begrÜn- sagen, in: Leben angesichts des Todes (FS H. Thie-
dete Ephesus-Hypothese (vgl. ders., Paulus [s. o. licke), hg. v. B. Lohse u. a., TÜbingen 1968, (69–
2.1.1], 13 A 2) wird heute von vielen Exegeten 88) 85 A 30; W. Wiefel, Hauptrichtung des Wan-
geteilt (z. B. G. Bornkamm, Paulus [s. o. 2], 245; dels (s. o. 2.4.10), 79; G. Strecker, Befreiung und
J. Gnilka, Phil, 199; G. Barth, Phil, 8 f; W. Schenk, Rechtfertigung (s. o. 2.4.10), 230; G. LÜdemann,
Philipperbriefe, 338; U. B. MÜller, Phil, 17–21; Paulus I (s. o. 2.1), 142 A 80; H. H. Schade, Apoka-
H. Balz, Philipperbrief, 508; N. Walter, Phil, 17). lyptische Christologie (s. o. 2.4.1), 190; J. Roloff,
FÜr CÈsarea als Haftort plÈdiert bes. E. Lohmeyer, EinfÜhrung 139 f; P. T. O’Brien, Phil, 19–26;
Phil, 3 f. Die Rom-Hypothese wurde in diesem P. Wick, Der Philipperbrief, 182–185; G. D. Fee,
Jahrhundert durch J. Schmid, Gefangenschafts- Phil, 34–37.
briefe, passim, und C. H. Dodd, The Mind of Paul 411 Vgl. jedoch Apg 24, 23 fÜr CÈsarea.
II, in: ders., New Testament Studies, Manchester
154 Der Philipperbrief
nung der PrÈtorianergarde (Phil 1, 13)412 und der kaiserlichen Sklaven (Phil
4, 22) am einfachsten aus einer Gefangenschaft in Rom verstehen. FÜr Rom als
Abfassungsort und damit fÜr eine SpÈtdatierung des Phil sprechen ferner: 1) Das
Fehlen von Kollektennotizen weist darauf hin, daß die Kollekte z. Zt. der Abfas
sung des Briefes bereits abgeschlossen war413. 2) Der Phil setzt eine lange Haft
dauer voraus. Sollte der Phil in Ephesus abgefaßt worden sein, so wÈre das
Schweigen der Apg Über die dann vorauszusetzende lange Gefangenschaft in
Ephesus unerklÈrlich414, wÈhrend die zweijÈhrige Gefangenschaft in Rom
(Apg 28, 30) mit der im Brief vorausgesetzten Situation gut vereinbar ist. Die An
deutung des Paulus Über eine Todesgefahr in der Provinz Asia in 2 Kor 1,8 ver
mag die Ephesus Hypothese nicht zu stÜtzen, weil diese Nachricht nur das Fak
tum der Todesgefahr, nicht aber die nÈheren UmstÈnde mitteilt415. Auch der
Kampf mit ‚wilden Tieren‘ in 1 Kor 15, 32 ist kein Beleg fÜr eine lÈngere Haft des
Paulus in Ephesus416. 3) Die distanzierte Darstellung der VerhÈltnisse am Gefan
genschaftsort in Phil 1, 12 18 (bes. V. 15. 17, vgl. dazu 1 Klem 5, 5!) lÈßt darauf
schließen, daß die Gemeinde nicht vom Apostel selbst gegrÜndet wurde. 4) Der
in den echten Paulusbriefen nur in Phil 1, 1 (vgl. ferner Apg 20, 28; 1 Tim 3, 2;
Tit 1, 7) erscheinende Terminus epı´skopoß (Aufseher) setzt ein Fortschreiten der
Gemeindesituation in Richtung auf die Pastoralbriefe voraus417. 5) Die Untersu
chung des paulinischen Sprachgebrauches im Phil durch H. H. Schade418 zeigt,
daß die sprachlichen EigentÜmlichkeiten im ProÚmium, im Gebrauch des Chri
stustitels, in der Verwendung von „wir“ und „ich“ und im Vorkommen seltener
Worte (vgl. bes. Beniamı´n nur RÚm 11, 1; Phil 3, 5; KEbraı˜oß nur 2 Kor 11, 22;
Phil 3, 5; ergátvß nur 2 Kor 11, 13; Phil 3, 2; fulv´ nur RÚm 11, 1; Phil 3, 5) alle
darauf hinweisen, daß der Phil zeitlich nach dem RÚm einzuordnen ist.
Gegen Rom als Abfassungsort des Phil wird eingewendet, die Gesetzes und
412 So mit Nachdruck G. D. Fee, Phil, 35: „Those schichte Über die vermutete lÈngere Gefangen-
who favor an Ephesian imprisonment can only schaft des Paulus in Ephesus mit politischer Op-
hypothesize the presence of the guard in Ephesus, portunitÈt des Lukas zu erklÈren: „Man muß da-
since (a) there is no evidence to support it and (b) mit rechnen, daß die zeitgeschichtliche Situation
there was no praetorium in Ephesus.“ der Act es nicht geraten sein ließ, von einem Kon-
413 Vgl. H. H. Schade, Apokalyptische Christologie flikt zwischen heidnischer Religion (Polytheis-
(s. o. 2.4.1), 190. mus) und Christentum, der beinahe zu einem
414 Zu den Schwierigkeiten der Ephesus-Hypo- Schuldspruch fÜr Paulus als Vertreter der Chri-
these vgl. bes. J. Schmid, Gefangenschaftsbriefe, sten gefÜhrt hat, in einer Weise zu berichten, daß
10 ff.72 ff. der ‚nicht geringe Aufruhr wegen des Wortes‘
415 Gegen V. P. Furnish, 2 Kor (s. o. 2.6.1), 123; (19, 23) in einem fÜr die griechisch-rÚmische Ge-
H. KÚster, EinfÜhrung, 565. sellschaft allzu suspekten Licht erscheinen
416 Gegen H. Conzelmann – A. Lindemann, Ar- konnte.“
beitsbuch zum Neuen Testament, TÜbingen 417 Vgl. J. Roloff, Art. Amt (s. u. 5.5.1), 522.
11
1995, 249. U. B. MÜller, Der Brief aus Ephesus, 418 Vgl. H. H. Schade, Apokalyptische Christologie
161, versucht das Schweigen der Apostelge- (s. o. 2.4.1), 184–190.
Ort und Zeit der Abfassung 155
Israelaussagen des Phil mÜßten vor und nicht nach dem RÚm eingeordnet wer
den419. Paulus nimmt jedoch den sachlichen Ertrag der Argumentation des RÚm
keineswegs zurÜck, wonach allein Jesus Christus der Ort der Gerechtigkeit ist
(vgl. RÚm 10, 3 f mit Phil 3, 9). Die scharfen Aussagen Über den Bruch mit seiner
jÜdischen Vergangenheit sind zweifellos durch die anhaltende Agitation judaisti
scher Gegenmissionare bedingt, und sie korrigieren nicht, was Paulus in RÚm
11, 25 f fÜr Israel erhofft. Vielmehr weist gerade der Standort des Phil innerhalb
der Paulusbriefe auf das Ende seines Lebens und damit auf Rom: WÈhrend Pau
lus nach RÚm 15, 24 eine Mission in Spanien plant, wÜnscht er sich nach Phil
1, 21 als alter Mann im GefÈngnis den Tod. Ein weiteres Argument gegen Rom
als Abfassungsort des Phil ist die große Entfernung zwischen Haftort und Ge
meinde, die den im Brief vorausgesetzten regen Verkehr nicht zulasse. Zudem
hÈtte Paulus seine in RÚm 15, 24. 28 angekÜndigten ReiseplÈne geÈndert, da er
nach seiner Entlassung Philippi besuchen wollte. Beide EinwÈnde sind nicht
stichhaltig. Paulus konnte seine ReiseplÈne Èndern, wie die korinthische Korre
spondenz zeigt (vgl. 1 Kor 16, 5 8 mit 2 Kor 1, 15 f). Bei der Abfassung des RÚm
war die jahrelange Haft in CÈsarea und Rom nicht absehbar, neue Kontakte zu
den alten Gemeinden kÚnnten Paulus zu einer nderung (nicht Aufgabe!) sei
ner ReiseplÈne veranlaßt haben. Die geplante Spanienreise wÈre durch einen
Besuch in Philippi aus aktuellem Anlaß nicht aufgehoben, sondern nur aufge
schoben! Außerdem gehÚrt der Besuchswunsch zum Formschema paulinischer
Briefe (vgl. 1 Thess 2, 17 ff; 1 Kor 16, 5 f; 2 Kor 13, 1; Gal 4, 20; RÚm 15, 23 f;
Phlm 22). Die Verkehrsverbindungen zwischen Philippi und Rom waren sehr
gut (auf der Via Egnatia bis Dyrrhachium, Àberfahrt nach Brundisium, dann
Weiterreise auf der Via Appia)420. Schiffsreisen von Philippi nach Rom dauerten
ca. 2 Wochen421, fÜr eine Überwiegende Reise auf dem Landweg ist bei ca.
1084km Entfernung422 und einer tÈglichen Reisegeschwindigkeit von ca.
37km423 eine maximale Reisedauer von 4 Wochen anzusetzen. Sie dÜrfte bei Be
rÜcksichtigung der guten StraßenverhÈltnisse, einer gÜnstigen Àberfahrt und
der mÚglichen Benutzung eines Wagens eher unterschritten worden sein. Setzt
man im Phil vier Reisen zwischen Rom und Philippi voraus (1. Die Philipper hÚ
419 Vgl. U. B. MÜller, Der Brief aus Ephesus, 170: 421 Vgl. L. FriedlÈnder, Sittengeschichte Roms I,
„Der Phil ist in seinem dritten Kapitel nur plausi- Leipzig 91919, 337 ff.
bel zu machen, wenn er wie der Gal vor den 422 Vgl. A. Wikenhauser – J. Schmid, Einleitung,
grundlegenden Klarstellungen des RÚm zu veror- 506.
ten ist.“ 423 L. FriedlÈnder, Sittengeschichte, 333, rechnet
420 Vgl. dazu J. Schmid, Gefangenschaftsbriefe, mit 37, 5km pro Tag, andere Berechnungen bei
77–83; vgl. zu den sehr guten StraßenverhÈltnis- R. Reck, Kommunikation und Gemeindeaufbau
sen G. Radke, Art. Viae publicae Romanae, PW.S (s. o. 2.2.2), 85–87.
13, (1417–1686) Sp. 1477.
156 Der Philipperbrief
ren von der Haft des Paulus, 2. sie schicken Epaphroditus, 3. die Philipper erfah
ren von der Krankheit des Epaphroditus, 4. Paulus sendet Epaphroditus zurÜck
nach Philippi), so bereitet dies bei einer lÈngeren Gefangenschaft des Paulus
keine Schwierigkeiten. Der Phil wurde wahrscheinlich in Rom um 60 n. Chr. ge
schrieben424.
2.9.4 Empfänger
Die Stadt Philippi wurde ca. 356 v. Chr. durch Philipp II von Makedonien ge
grÜndet425. Im Jahr 42 v. Chr. begann eine intensive rÚmische Besiedlung, die
sich 31 v. Chr. (Sieg Octavians Über Antonius) verstÈrkt fortsetzte. Philippi ent
wickelte sich als colonia Julia Augusta Philippensis (ab 27 v. Chr.) zu einer rÚmi
schen MilitÈrkolonie, in der insbesondere Veteranen angesiedelt wurden. Die
einflußreichste BevÚlkerungsgruppe waren die RÚmer, aber auch Griechen und
Thraker prÈgten das sprachliche, kulturelle und religiÚse Leben der Stadt426. Die
wirtschaftliche Bedeutung der Stadt (Landwirtschaft, Handwerk, Handel) resul
tierte aus der Lage an der Via Egnatia, der Hauptverbindung zwischen dem
Osten und dem Westen des rÚmischen Reiches. Philippi ist ein Beispiel fÜr den
religiÚsen Synkretismus des 1. Jhs. n. Chr. (vgl. Apg 16, 16 22), denn neben dem
Kaiserkult sowie griechischen, rÚmischen und Ègyptischen GÚttern erfreuten
sich die einheimischen Kulte der thrakischen UrbevÚlkerung großer Beliebtheit,
in denen vor allem Land und FruchtbarkeitsgÚtter verehrt wurden.
In Philippi entstand die erste paulinische Gemeinde in Europa (vgl.
Apg 16, 11 ff; Phil 4, 15), der Apostel grÜndete sie 49/50 n. Chr. Mehrheitlich be
stand die Gemeinde aus Heidenchristen (vgl. Apg 16, 33 b; ferner die Namen in
Phil 2, 25 ff; 4, 18: Epaphroditus, Phil 4, 2 f: Euodia, Syntyche und Klemens), aber
auch Sebomenoi (vgl. Apg 16, 14) und Judenchristen (vgl. Apg 16, 13) dÜrften
ihr angehÚrt haben. Das VerhÈltnis zwischen der Gemeinde und Paulus war sehr
gut, denn der Apostel gewÈhrte ihr das Privileg, ihn unterstÜtzen zu dÜrfen (vgl.
Phil 4, 18). Nach dem GrÜndungsaufenthalt besuchte Paulus zumindest noch
einmal Philippi (vgl. Apg 20, 6; ferner 1 Kor 16, 5 f). Auch z. Zt. der Abfassung des
Briefes bestanden rege und freundschaftliche Kontakte zwischen der Gemeinde
und Paulus, allerdings bedrÈngten Widersacher die Gemeinde (vgl. Phil 1, 27 30;
424 Gilt Ephesus als Abfassungsort des Phil, wird 426 Das rÚmische Element betont sehr stark
er zumeist an das Ende der ephesinischen Zeit da- L. Bormann, Philippi, 11–84; auch P. Pilhofer,
tiert; so plÈdiert z. B. U. B. MÜller, Phil, 22, fÜr das Philippi I, 85–92, hebt den rÚmischen Charakter
Jahr 55. von Philippi hervor, verweist aber zugleich auf
425 Vgl. zur Stadt und ihrer Geschichte W. Elliger, den nicht unbedeutenden Einfluß von Griechen
Paulus in Griechenland (s. o. 2.4.4), 23–77. und Thrakern.
Gliederung, Aufbau, Form 157
2, 21), die vom Apostel in Phil 3, 2 ff scharf angegriffen werden. Auch innerhalb
der Gemeinde gab es Spannungen (vgl. Phil 2, 1 4), so wird in Phil 4, 2 f von Pau
lus ein Streit zwischen zwei Frauen erwÈhnt, die Mitarbeiterinnen des Apostels
waren.
1, 1 2 PrÈskript
1, 3 11 ProÚmium Briefanfang
1, 12 1, 30 Briefliche Selbstempfehlung
4, 2 9 SchlußparÈnese
4, 10 20 Dank fÜr die Gemeindegabe
Briefschluß
4, 21 22 GrÜße
4, 23 Eschatokoll
427 Vgl. dazu J. Schoon-Janßen, Umstrittene NT 30 (1988), (57–88) 57–80, gliedert den Philip-
„Apologien“ in den Paulusbriefen (s. o. 2.3.1), perbrief nach rhetorischen Gesichtspunkten:
136–146, der fÜr den Phil einen symbuleutisch/ Phil 1, 3–26 exordium; 1, 27–30 narratio; 2, 1–
deliberativen Duktus konstatiert. 3, 21 probatio; 4, 1–20 peroratio. G. D. Fee, Phil,
428 D. F. Watson, A Rhetorical Analysis of Philip- 12, bezeichnet „Philippians as a Christian ‚Horta-
pians and its Implications for the Unity Question, tory‘ Letter of Friendship“; nach P. Wick, Der Phi-
158 Der Philipperbrief
trum des Briefes stehen die Mahnungen zur Einheit der Gemeinde und die Aus
einandersetzung mit den Irrlehrern. Zwischen beiden Abschnitten besteht eine
sachliche Verbindung, denn die Einheit der Gemeinde ist die Voraussetzung fÜr
die Abwehr der Irrlehrer. Kaum zufÈllig steht der Christus Hymnus in der Mitte
des Briefes. Als Urbild und Vorbild prÈgt Jesus Christus das SelbstverstÈndnis
und das Verhalten von Gemeinde und Apostel. Der nachdrÜckliche Dank fÜr die
UnterstÜtzung der Philipper am Ende des Briefes dokumentiert das gute VerhÈlt
nis zwischen dem Apostel und der Gemeinde. Das Dankmotiv ist fÜr den Brief
schluß keineswegs ungewÚhnlich, wie 1 Thess 5, 16 18 zeigt.
Die Einheitlichkeit des Phil ist in der Forschung umstritten429. Zahlreiche Exege
ten sehen im Phil eine Briefsammlung und rechnen mit der Existenz von drei
Briefen (Brief A: Phil 4, 10 20 Dankesbrief fÜr die Gabe aus Philippi, Brief B:
Phil 1, 1 3, 1; 4, 4 7; 4, 21 23 Bericht Über die Lage des Apostels, Brief C:
Phil 3, 2 4, 3; 4,8 9 Auseinandersetzung mit den Irrlehrern)430. Andere teilen
den Phil in zwei Briefe auf (z. B. G. Friedrich: 1. Gefangenschaftsbrief Phil 1, 1
3, 1 a; 4, 10 23, 2. Kampfbrief Phil 3, 1 b 4,9. J. Gnilka: Gefangenschaftsbrief
Phil 1, 1 3, 1 a; 4, 2 7. 10 23, 2. Kampfbrief Phil 3, 1 b 4, 1. 8 f. J. Becker: Phil A:
1, 1 3, 1; 4, 1 7. 10 23, Phil B: 3, 2 21; 4,8 f)431. Als Argumente fÜr diese Thesen
gelten: 1) Der Stimmungsumschwung zwischen Phil 3, 1 und 3, 2. 2) Die fehlen
den Hinweise auf die Gefangenschaftssituation in Phil 3, 2 4, 3. 3) Der vergleich
bare Aufbau von Phil 4, 4 7 und Phil 4,8 9 als Indiz fÜr zwei Schlußmahnungen.
4) Die thematische Geschlossenheit von Phil 4, 10 20 als Hinweis auf einen sepa
raten Dankesbrief.
Àberzeugen kÚnnen diese Argumente nicht. Ad 1: Der nicht zu leugnende
Umschwung zwischen Phil 3, 1 und 3, 2 kommt keineswegs so abrupt, wie viel
lipperbrief, 152–180, vereint der Philipperbrief 317; G. Bornkamm, Philipperbrief als paulinische
mehrere epistolographische MÚglichkeiten in Briefsammlung; W. Marxsen, Einleitung, 73;
sich: Familienbrief, Freundschaftsbrief, Prunkre- G. Barth, Phil, 11; Ph. Vielhauer, Urchristliche Li-
de, frÜhjÜdische gemeindeleitende Briefe. teratur, 164 f; W. Schenk, Die Philipperbriefe des
429 Eine umfangreiche Darstellung der For- Paulus, 334–336; L. Bormann, Philippi, 118 ff;
schungsgeschichte zum Phil findet sich bei N. Walter, Phil, 19 f. ForschungsÜbersichten bei
B. Mengel, Studien, 82–221. W. G. KÜmmel, Einleitung, 291; J. Gnilka, Phil,
430 So mit Unterschieden in der Zuweisung ein- 6 ff; W. Schenk, Der Philipperbrief in der neueren
zelner Verse z. B. W. Schmithals, Die Briefe des Forschung (1945–1985), ANRW 25. 4, Berlin
Paulus in ihrer ursprÜnglichen Form (s. o. 2.4.6), 1987, 3280–3313.
99–108; H. KÚster, The Purpose of the Polemic of 431 Vgl. J. Becker, Paulus (s. o. 2), 325 ff.
a Pauline Fragment, NTS 8 (1961/62), (317–332)
Literarische Integrität 159
432 Das ble´pete in Phil 3, 2 ist kein Aufruf, son- drei epideiktische Aussagereihen (2, 1–11; 2, 12–
dern mit „seht euch . . . an“ zu Übersetzen; vgl. 18; 3, 1–21); auf das zweifache Lob der Gemeinde
G. D. Kilpatrick, „BLEPETE Philippians 3, 2“, in: folgt die SchmÈhung der Gegner, die wiederum
In Memoriam Paul Kahle, hg. v. M. Black u. ein indirektes Lob fÜr die Gemeinde enthÈlt.
G. Fohrer, BZAW 103, Berlin 1968, 146–148. 433 Vgl. M. Dibelius, Phil, 86. Vgl. zu den Mehr-
Nach D. E. Garland, The Composition and Unity of fachnennungen von caı´rein bzw. cará im Phil
Philippians, NT 27 (1985), (141–173) 164 f, be- bes. J. Schoon-Janßen, Umstrittene „Apologien“
ginnt in Phil 3, 2 eine Digressio, die den Philip- in den Paulusbriefen (s. o. 2.3.1), 129–136.
pern verdeutlichen soll, daß sie zu sehr auf ihr 434 Vgl. W. G. KÜmmel, Einleitung, 293.
‚Fleisch‘ vertrauen. Nach R. Brucker, ‚Christus- 435 Vgl. O. Merk, Handeln aus Glauben (s. o.
hymnen‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, 280 ff, 2.8.5), 194.
entfaltet Paulus die propositio Phil 1, 27–30 durch 436 Vgl. a. a. O., 195.
160 Der Philipperbrief
nem folgernden to` loipón eingeleitet wird (vgl. 1 Kor 7, 29). V. 9 nimmt V. 8 auf
und begrÜndet mit dem Wandel des Apostels die zuvor erteilten Weisungen. In
Phil 4, 4 9 lÈßt sich eine stringent fortschreitende Gedankenfolge nachweisen,
so daß die Annahme zweier ursprÜnglich selbstÈndig Überlieferter Schlußmah
nungen unwahrscheinlich ist. Ad 4: Sollte Phil 4, 10 20 ein separates Dank
schreiben sein, so ist es hÚchst auffÈllig, daß der Dank fÜr die konkrete Geldzu
wendung so in den Hintergrund tritt437, denn Paulus drÜckt seine Freude Über
den Zustand der Gemeinde und ihre UnterstÜtzung in sehr allgemeinen Wen
dungen aus438. Zudem bleibt die Krankheit des Epaphroditus unerwÈhnt, der
die Spende der Philipper Paulus Überbrachte439. Schließlich ist das 3. Kapitel
des Phil vielfach mit anderen Briefpartien verbunden. So nimmt Phil 3, 20 f so
wohl sprachlich als auch inhaltlich auf Phil 2, 6 11 Bezug. Folgende sprachliche
BezÜge sind offenkundig: a) Die PrÈdikation ku´rioß LIvsou˜ß Cristóß in 2, 11/
3, 20; b) tapeinou˜n 2,8/ tapeı´nwsiß 3, 21; c) scv˜ma 2, 7/ metascvmatı´zesXai 3, 21;
d) morfv´ 2, 6. 7/ su´mmorfoß 3, 21; e) pãn 2,9. 10; pãsa 2, 11/ tà pánta 3, 21; f)
epouránioß 2, 10/ ouranóß 3, 20; g) dóxa 2, 11/3, 21. Inhaltlich ist die Inthronisati
on Jesu Christi Voraussetzung fÜr das in Phil 3, 20 f beschriebene endzeitliche
Handeln des Allherrschers. Das Motiv des ‚rechten Sinnes‘ verbindet Phil 2, 2. 5
mit Phil 3, 15 und 4, 2.
Zusammenfassend lÈßt sich feststellen, daß der Phil als eine literarische und
auch theologische Einheit verstanden werden muß440.
Als Argument fÜr die Existenz mehrerer Philipperbriefe und damit als StÜtze fÜr
Teilungshypothesen wird immer wieder Polyk, Phil 3, 2 herangezogen, wo Über
Paulus gesagt wird, „der auch abwesend Briefe an euch geschrieben hat“. Diesem
Plural steht aber Polyk, Phil 11, 3 entgegen, wo Polykarp explizit nur von einem
Paulusbrief an die Philipper ausgeht441.
437 Vgl. W. Schrage, Die konkreten Einzelgebote Christentum (s. u. 5), 24 f; W. Egger, Philipper-
in der paulinischen ParÈnese, GÜtersloh 1961, 60. brief, NEB 11, WÜrzburg 1985, 49; D. F. Watson,
438 Vgl. zur Analyse O. Merk, Handeln aus Glau- A Rhetorical Analysis, 80–83; D. E. Garland, Com-
ben (s. o. 2.8.5), 198 ff. position and Unity of Philippians, 162; J. Schoon-
439 G. Barth, Phil, 75, u. a. mÜssen aufgrund ihrer Janßen, Umstrittene „Apologien“ in den Paulus-
Teilungshypothesen behaupten, der ‚Brief‘ briefen (s. o. 2.3.1), 119–138; P. T. O’Brien, Phil,
Phil 4, 10–20 sei vor der Erkrankung des Epaphro- 10–18; U. B. MÜller, Phil, 4–14 (er rechnet mit ei-
ditus geschrieben worden. ner Diktierpause nach 1, 1–3, 1; neue Informatio-
440 FÜr die literarische Einheit des Phil plÈdieren nen aus Philippi und eine VerÈnderung der Pro-
(neben E. Lohmeyer, M. Dibelius, A. JÜlicher – zeßsituation veranlassen 3, 2–4, 23); J. Roloff, Ein-
E. Fascher, Einleitung, 123) in neuerer Zeit u. a. fÜhrung, 141; P. Wick, Der Philipperbrief, 39–63;
W. G. KÜmmel, Einleitung, 291–294; G. Delling, G. D. Fee, Phil, 21–23; H. Balz, Philipperbrief, 507;
Art. Philipperbrief, RGG3 5 (1961), 335; O. Merk, R. Brucker, ‚Christushymnen‘ oder ‚epideiktische
Handeln aus Glauben (s. o. 2.8.5), 200; B. Mengel, Passagen‘?, 280–290.
Studien, 297 ff; A. Lindemann, Paulus im Èltesten 441 Vgl. K. Aland, Die Entstehung des Corpus
Traditionen, Quellen 161
Seit den Analysen von E. Lohmeyer442 kann es als gesichert gelten, daß in
Phil 2, 6 11 ein vorpaulinischer Text vorliegt443. FÜr Tradition sprechen die ntl.
(uperuyou˜n, katacXónioß) und paulinischen (morfv´, arpagmóß) Hapaxlegomena,
die HÈufung der Partizipial und Relativkonstruktionen, der strophische Aufbau
des Textes, die Unterbrechung des Gedankenganges innerhalb des Briefes und
die kontextuellen Bindeglieder Phil 2, 1 5. 12 13. Zumeist wird V. 8 c (Xanátou
de` staurou˜ ) als paulinische Redaktion angesehen, demgegenÜber weist G. Strek
ker den gesamten V. 8 Paulus zu444, wÈhrend O. Hofius auch V. 8 c zum ur
sprÜnglichen Hymnus zÈhlt445. Die Gliederung der vorpaulinischen Texteinheit
ist umstritten. E. Lohmeyer unterteilt die Tradition in sechs Strophen zu je drei
Zeilen, die durch den Neueinsatz mit dió in V. 9 in zwei gleiche Teile zerfallen.
DemgegenÜber vertritt J. Jeremias446 eine Dreiteilung des Liedes zu je vier Zeilen
(1: V. 6 7 a, 2: V. 7 b 8, 3: V. 9 11), wobei er vom Parallelismus membrorum als
formgebendem Prinzip ausgeht. Alle anderen Rekonstruktionen mÜssen als Va
riationen der beiden grundlegenden VorschlÈge von Lohmeyer und Jeremias be
trachtet werden; die metrisch strophische Struktur von Phil 2, 6 11 wird umstrit
ten bleiben, deutlich ist jedoch der zweiteilige Aufbau des Textes mit V. 9 als
Scharnier: V. 6 8. 9. 10. 11. Religionsgeschichtlich stellt der Hymnus keine Einheit
dar; wÈhrend der zweite Teil (V. 9 11) durch die atl. Zitatanspielung und liturgi
sches Formelgut auf jÜdisches Denken hinweist, enthÈlt der erste Teil (V. 6 7)
starke begriffliche Parallelen zum hellenistischen religiÚs philosophischen
Schrifttum. Seinen ‚Sitz im Leben‘ hat der Hymnus in der Gemeindeliturgie; er
besingt in der ersten Strophe die Erniedrigung des PrÈexistenten, im zweiten Teil
seine Inthronisation zum Kyrios. FÜr das paulinische VerstÈndnis des Hymnus
sind die Stellung im Kontext und die redaktionellen ZusÈtze ausschlaggebend.
Paulus bettet das TraditionsstÜck in einen parÈnetischen Argumentationsgang
Paulinum (s. u. Exkurs 2), 349 f; W. Bauer – (K. Berger, Formgeschichte [s. o. 2.8.5], 345);
H. Paulsen, Die Briefe des Ignatius von Antiochia Epainos (R. Brucker, ‚Christushymnen‘ oder ‚epi-
und der Polykarpbrief, HNT 18, TÜbingen 1985, deiktische Passagen‘?, 319 f. 330 f); Lehrgedicht
116. Wahrscheinlich las Polykarp den Plural in (N. Walter, Phil, 56–62).
Phil 3, 2 aus Kap. 3, 1 des Paulusbriefes heraus 444 Vgl. G. Strecker, Redaktion und Tradition im
(„Daß ich euch immer dasselbe schreibe . . .“). Christushymnus Phil 2, 6–11, 150.
442 Vgl. E. Lohmeyer, Kyrios Jesus, der den Text 445 Vgl. O. Hofius, Christushymnus, 4–17; so vor-
als Hymnus klassifiziert. her auch O. Merk, Handeln aus Glauben (s. o.
443 Zur Forschungsgeschichte vgl. R. P. Martin, 2.8.5), 179 A 23.
Philippians 2, 5–11, 97 ff. Die neuere Diskussion 446 Vgl. J. Jeremias, Zur GedankenfÜhrung in den
verarbeitet kritisch J. Habermann, PrÈexistenz- paulinischen Briefen (4. Der Christushymnus
aussagen im Neuen Testament, EHS 23. 362, Phil 2, 6–11), in: ders., Abba, GÚttingen 1966,
Frankfurt 1990, 91–157. Neuere formgeschichtli- 274–276; ders., Zu Philipper 2, 7: eauto`n eke´nwsen,
che Klassifizierungen fÜr Phil 2, 6–11: Enkomion a. a. O., 308–313.
162 Der Philipperbrief
447 Vgl. zur Diskussion der Probleme J. Gnilka, 449 Vgl. G. Delling, Art. Philipperbrief, 334.
Phil, 208 ff; J. Becker, ErwÈgungen zu Phil 3, 20– 450 Vgl. G. LÜdemann, Paulus II (s. o. 2.5.8), 153–
21, ThZ 27 (1971), 16–29. 158 (Jerusalemer Judenchristen).
448 Einen kurzen forschungsgeschichtlichen 451 Vgl. W. Schmithals, Die Irrlehrer des Philip-
Àberblick bietet G. Klein, Antipaulinismus in Phil- perbriefes, in: ders., Paulus und die Gnostiker,
ippi, 297–300. J. J. Gunther, St. Paul’s Opponents ThF 35, Hamburg 1965, 47–87.
(s. o. 2.6.8), 2, zÈhlt 18 verschiedene VorschlÈge 452 Vgl. Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur,
zur religionsgeschichtlichen Einordnung der Geg- 165.
ner im Phil!
Religionsgeschichtliche Stellung 163
Phil 3 nimmt E. Lohmeyer an, der in 3, 2 11 die Gefahr des Judaismus sieht,
3, 12 15 auf Libertinisten bezieht und 3, 17 21 als Mahnung gegen die Gefahr
des inneren oder Èußeren Abfalls der Gemeinde interpretiert (Èhnlich
H. D. Betz453).
Weitgehend unbestritten ist die Frontstellung in Phil 3, 2 11, Paulus wendet
sich hier gegen judenchristliche Missionare 454. Der Apostel bezeichnet sie als ‚Hun
de‘, um so die bÚsartigen und zerstÚrerischen Absichten der Gegner zu charakte
risieren455. Die Wendung ble´pete tou`ß kakou`ß ergátaß erklÈrt sich aus 2 Kor
11, 13, wo ergátai dólioi als polemischer Begriff fÜr ‚Apostel‘ verwendet wird.
Offenbar war ergátvß im Urchristentum eine Selbstbezeichnung von Missiona
ren (vgl. Mt 9, 37 f; 10, 10), die Paulus mit dem Adjektiv kakóß negativ qualifi
ziert. Deutlich erkennbar wird der Standort der Gegner im Wort katatomv´, das
gleichbedeutend mit ‚Beschneidung‘ ist (vgl. Gal 5, 12). Wenn Paulus in V. 3 a
den Begriff der Beschneidung positiv fÜr die christliche Gemeinde reklamiert, so
benennt er damit den Kernpunkt der Auseinandersetzung: Judenchristliche Mis
sionare waren in die Gemeinde von Philippi eingedrungen und forderten auch
von Heidenchristen die Beschneidung. In bewußter Polemik verweist Paulus in
Phil 3, 4 ff auf die VorzÜge seiner jÜdischen Abstammung, die ZugehÚrigkeit zu
den PharisÈern und seine tadellose GesetzeserfÜllung. Auch die an den Gal erin
nernde Rechtfertigungsterminologie in Phil 3,9 legt es nahe, in den Gegnern mi
litante Judenchristen zu sehen.
In einem ersten Gedankengang zieht Paulus in Phil 3, 12 16 ethische Konse
quenzen aus der vorangehenden Argumentation. Er wendet sich an die Gemein
de (vgl. V. 13. 15) und verdeutlicht sein VerstÈndnis von christlicher Vollkom
menheit. Er rechnet sich zu den ‚Vollkommenen‘ (V. 15), d. h. er zÈhlt sich zu
den Pneumatikern (vgl. 1 Kor 2, 6; 3, 1). Jedoch beinhaltet fÜr ihn die Vollkom
menheit nicht habituelle Heilsvollendung, sondern sie zeugt von der zukÜnfti
gen Heilsvollendung, wie der eschatologische Vorbehalt in Phil 3, 12 unter
streicht. Die auffÈlligen sachlichen und sprachlichen Àbereinstimmungen zwi
schen Phil 3, 12 16 und 1 Kor 2, 6. 10; 4,8; 9, 24 zeigen, daß Paulus sich auch hier
mit einer enthusiastischen StrÚmung innerhalb der Gemeinde auseinanderset
zen muß. In Phil 3, 17 redet Paulus wiederum explizit die Gemeinde an, wobei
kaum zu entscheiden ist, ob er weiter die innergemeindliche enthusiastische
StrÚmung im Blick hat, oder wieder an seine Argumentation in 3, 2 11 anknÜpft.
FÜr die zweite MÚglichkeit spricht die Bezeichnung der Gegner als ‚Feinde des
453 Vgl. H. D. Betz, Nachfolge und Nachahmung 455 Vgl. Billerbeck III, 621: “Als ‚Hunde‘ werden
Jesu Christi im Neuen Testament, BHTh 37, TÜ- bezeichnet die Unwissenden, die Gottlosen u. die
bingen 1967, 151. Nichtisraeliten.“
454 So zuletzt U. B. MÜller, Phil, 186–191.
164 Der Philipperbrief
Kreuzes Christi‘ in Phil 3, 19, die sich kaum auf die innergemeindliche Gruppe
beziehen kann. Die deutlich antilibertinistische Ausrichtung von Phil 3, 19 und
die parallele Aussage in 2 Kor 12, 21 legen es deshalb nahe, in den paulinischen
Gegnern des Phil hellenistisch judenchristliche Missionare zu sehen, die judaisti
sche und enthusiastische Elemente miteinander verbanden. Paulus wendet sich
in Phil 3 gegen eine einheitliche Gegnerfront, die wahrscheinlich auch enthusia
stische Tendenzen in der Gemeinde entfachte oder verstÈrkte.
Paulus entfaltet im Phil die Paradoxie christlicher Existenz an seiner eigenen Per
son. Ausgangspunkt ist der Dank an Gott, der in seiner Treue sowohl die Philip
per in ihrem Glaubensstand erhÈlt und fÚrdert (Phil 1, 3 11; 4, 6) als auch die ge
genwÈrtige Situation des Apostels zum Guten wendet. Deshalb durchzieht neben
dem Dank der Aufruf zur Freude den gesamten Brief (vgl. Phil 1, 3. 18; 2, 29;
3, 1 a; 4, 1. 4 6. 19 f). Gerade die bedrÈngende Lage des Paulus im GefÈngnis fÜhrt
zu einer umfassenden und furchtlosen VerkÜndigung des Evangeliums
(Phil 1, 12. 14). Obwohl er mit seinem baldigen Tod rechnen muß, freut sich der
Apostel auf die Zukunft, denn er lebt in der Gewißheit, sowohl im Leben als
auch im Sterben Christus zu verherrlichen (Phil 1, 18 ff). Die VerkÜndigung des
Evangeliums und die Erhaltung seiner Gemeinde lassen ihn das Leben wÈhlen,
obgleich er eigentlich sterben und beim Herrn sein mÚchte (Phil 1, 22 26;
3, 10 f). So ergibt sich die nach menschlichem Ermessen paradoxe Folgerung: In
den Leiden des Apostels offenbaren sich die Treue und Gnade Gottes.
Die christliche Gemeinde antwortet auf die GÜte Gottes, wenn sie ihr Leben
so fÜhrt, wie es Jesus Christus entspricht (Phil 1, 27 30). In Phil 2, 1 5. 6 11. 12
18 verdeutlicht Paulus die Ausrichtung christlicher Existenz am Kyrios Jesus
Christus, der BegrÜnder, Bewahrer und Vollender des Heils ist. Als Urbild er
mÚglicht Jesus Christus die neue Existenz der Christen, als Vorbild prÈgt er sie
durch sein eigenes Verhalten. So wie Christus nicht auf das Seine sah und sich in
den Tod am Kreuz begab, sollen auch die Christen nicht in Selbstsucht und Streit
leben, sondern in Demut und Einigkeit. Die Gemeinde soll Christus in dem Be
wußtsein nachfolgen, daß sie sich ebenso wie der Apostel noch nicht im Stand
der Heilsvollendung befindet, sondern dem Tag der Wiederkunft Christi, des Ge
richtes und der Auferstehung entgegengeht (Phil 3, 12 ff). Die MÚglichkeit dazu
erÚffnet Gott, denn er ist es, der beides in den Glaubenden bewirkt: das Wollen
und das Vollbringen (Phil 2, 13). Die paulinische Ethik wurzelt nicht in einem
idealistischen Vollkommenheitsstreben, sondern in dem Wissen um die Kraft
Gottes, die im Pneuma gegenwÈrtig wirkt (vgl. Phil 1, 19; 4, 12 f).
Tendenzen der neueren Forschung 165
Der Phil als Ganzes spielt in der Paulusforschung bisher nur eine untergeordnete
Rolle. Zumeist werden Einzelabschnitte des Briefes untersucht, insbesondere
Phil 2, 6 11. Im Zentrum der Forschung stehen nach wie vor die Fragen nach
dem Abfassungsort und der literarischen Einheitlichkeit des Phil. Ein Konsens
bahnt sich hier nicht an, denn einerseits sehen viele Exegeten in Ephesus den
Abfassungsort und werten den Phil als Briefkomposition, wÈhrend andererseits
in der neuesten Forschung die Zahl derer wÈchst, die fÜr Rom und die Einheit
lichkeit des Briefes votieren. Ein weiterer Schwerpunkt der Forschung ist die
Eschatologie des Phil, speziell der Vergleich von Phil 1, 23; 3, 20 f mit anderen
Aussagen des Apostels zur Eschatologie und die Bedeutung der su`n Cristw˜
Wendung456. Das neue Interesse am vorchristlichen Paulus457 rÜckt den Phil
wieder mehr in das Zentrum der Paulusforschung, denn kein Text enthÈlt so
viele Informationen Über die vorchristliche Zeit und das SelbstverstÈndnis des
Apostels wie Phil 3, 4 b 11. „Stellt Paulus . . . seinen Wandel vom exemplarischen
Vertreter jÜdischen Lebens zum Apostel Jesu Christi als radikale Kehrtwendung
dar, so beurteilt er diese Wende doch nicht als Abkehr von den Inhalten jÜdi
schen Gottesglaubens und HeilsverstÈndnisses.“ 458 Die Kultur , Sozial und Reli
gionsgeschichte der rÚmischen Kolonie Philippi wird durch die Arbeiten von
P. Pilhofer und L. Bormann erhellt. Es zeigt sich, wie stark Paulus auf die rÚmi
sche Lebenswelt seiner Adressaten einzugehen vermag und zugleich von ihr be
einflußt wird (vgl. z. B. Phil 3, 20 f)459.
456 Vgl. dazu P. Siber, Mit Christus leben (s.o. den rechtlichen Status eines BÜrgers; so wie die
2.4.7). rÚmischen BÜrger Philippis in Rom in die BÜrger-
457 Vgl. M. Hengel, Der vorchristliche Paulus (s. o. schaftsliste der tribus Voltinia eingetragen sind, so
2.2.1); K. W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel sind die Christen in Philippi in einer himmlischen
(s. o. 2.2.1). ‚BÜrgerschaftsliste‘ verzeichnet (vgl. P. Pilhofer,
458 K. W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel, 110. Philippi I, 122 f; L. Bormann, Philippi, 218 f).
459 Der Begriff polı´teuma (Phil 3, 20) bezeichnet
166 Der Philemonbrief
Das zunehmende Interesse an Einzeltexten des Phil kann nicht darÜber hin
wegtÈuschen, daß eine umfassende historische und theologische WÜrdigung
dieses Briefes noch aussteht. Sie wird erst gelingen, wenn der Phil als ein Zeugnis
aus der SpÇtzeit des paulinischen Wirkens begriffen und interpretiert wird.
2.10.1 Literatur
Kommentare
KEK 9. 2: E. Lohmeyer, 61964; E. Lohse, 21977. HNT 12: H. HÜbner, 1997. HThK X 4:
J. Gnilka, 1982. EKK 18: P. Stuhlmacher, 21981. ThHK 11/II H. Binder ( J. Rohde),
1990. ³TK 12: M. Wolter, 1993. NTD 8/2: P. Lampe, 1998. RNT: J. Ernst, 1974. ZBK
13: A. Suhl, 1981. WBC 44: P. T. O’Brien, 1982. NIGTC: J. D. G. Dunn, 1996.
AufsÇtze
U. Wickert, Der Philemonbrief Privatbrief oder apostolisches Schreiben?, ZNW 52 (1961),
230 238. A. Suhl, Der Philemonbrief als Beispiel paulinischer ParÈnese, Kairos 15 (1973),
267 279. P. Lampe, Keine ‚Sklavenflucht‘ des Onesimus, ZNW 76 (1985), 135 137.
W. Schenk, Der Brief des Paulus an Philemon in der neueren Forschung (1945 1987),
ANRW 25. 4, Berlin 1987, 3439 3495. S. C. Winter, Paul’s Letter to Philemon, NTS 33
(1987), 1 15. J. M. G. Barclay, Paul, Philemon and the Dilemma of Christian Slave Ow
nership, NTS 37 (1991), 161 186. B. M. Rapske, The Prisoner Paul in the Eyes of Onesi
mus, NTS 37 (1991), 187 203.
2.10.2 Verfasser
Die Echtheit des Phlm wurde im 19. Jh. teilweise bestritten (F. Chr. Baur), heute
gilt er zweifelsfrei als authentischer Paulusbrief.
Der Phlm gehÚrt in die unmittelbare NÈhe des Phil, denn Paulus befindet sich in
Gefangenschaft (Phlm 1. 9. 13), und wie bei der Abfassung des Phil sind Timo
theus und andere Mitarbeiter bei ihm (Phlm 1. 23. 24). Auch die milde Haftsitua
tion ist vergleichbar, denn Paulus versammelt Mitarbeiter um sich (Phlm 1. 23 f)
Ort und Zeit der Abfassung 167
und kann missionarisch tÈtig sein (Phlm 10). Diese UmstÈnde weisen ebenso wie
die singulÈre Selbstbezeichnung presbu´tvß460 in Phlm 9 nach Rom als Abfas
sungsort des Phlm461. Das zeitliche VerhÈltnis zum Phil lÈßt sich nicht mit Si
cherheit bestimmen, allerdings weist die Ironie in Phlm 19 darauf hin, daß Pau
lus sich in einer gegenÜber dem Phil verbesserten Stimmung und Lage befindet,
so daß der Phlm wohl zeitlich nach dem Phil anzusetzen ist (ca. 61 n. Chr. ).
Anlaß des Briefes ist die in Aussicht gestellte ZurÜcksendung des Sklaven
Onesimus an seinen Herrn Philemon, einem Christen aus Kolossae (vgl. Kol 4,9:
Onesimus; Kol 4, 17/Phlm 2: Archippus). Warum hielt sich Onesimus bei Paulus
auf? MÚglicherweise lief Onesimus seinem Herrn nach einem Diebstahl davon
(vgl. Phlm 18), er traf Paulus und wurde von ihm zum Christentum bekehrt
(vgl. Phlm 10). Dann hÈtte Onesimus den Status eines entflohenen Sklaven (fu
gitivus) und mÜßte mit entsprechender Bestrafung rechnen, was Paulus zu ver
hindern versucht. Bei dieser Hypothese kann nicht befriedigend erklÈrt werden,
warum Onesimus ausgerechnet bei Paulus in einer GefÈngniszelle erscheint (Zu
fall?, kannte er den Apostel?) und nicht die erworbene Freiheit in einer Groß
stadt oder im Ausland zu bewahren sucht. Deshalb wird neuerdings vermutet
(P. Lampe), Onesimus sei kein entflohener Sklave, sondern er habe Paulus nur
als FÜrsprecher in einem hÈuslichen Konflikt aufgesucht. Damit hÈtte Onesimus
einen in solchen FÈllen Üblichen Weg eingeschlagen, der in zahlreichen antiken
Texten beschrieben wird462. Ziel des Onesimus ist die RÜckkehr in das Haus des
Philemon, die er durch die Vermittlung des Paulus zu erreichen sucht. Hier er
scheint der Aufenthalt des Onesimus bei Paulus plausibel, ein Problem stellt al
lerdings Phlm 13 dar, wo ein lÈngerer Dienst des Sklaven bei Paulus vorausge
setzt wird. Warum blieb Onesimus lÈngere Zeit bei Paulus, wenn dieser nur als
(schriftlicher) FÜrsprecher fungieren sollte? Es lÈßt sich nicht mehr mit Sicher
heit klÈren, warum Onesimus mit Paulus zusammentraf. Deutlich ist nur, daß
ein Ereignis im Haus des Philemon den Sklaven Onesimus zu seinem Fortgang
460 Presbu´tvß ist keine Amtsbezeichnung, son- sich (tendenziell) aus: M. Dibelius, Phlm, 107;
dern benennt das Lebensalter (vgl. Lk 1, 18; E. Lohmeyer, Phlm, 172; W. G. KÜmmel, Einlei-
Tit 2, 2); vgl. M. Wolter, Phlm, 260. tung, 307; C. J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen
461 FÜr Rom votieren u. a. J. B. Lightfoot, The (s. u. 4.1), 212. Die Mehrheit der Exegeten hÈlt
Epistles of Paul III, London 31890, 310 f; J. Weiß, Ephesus fÜr den Abfassungsort des Phlm, vgl. z. B.
Das Urchristentum (s. o. 2.5.6), 294; A. Schweit- P. Stuhlmacher, Phlm, 21; E. Lohse, Phlm, 264;
zer, Die Mystik des Apostels Paulus, TÜbingen J. Gnilka, Phlm, 4 f; H. Binder, Phlm, 21–29;
2
1954, 47; A. JÜlicher – E. Fascher, Einleitung, M. Wolter, Phlm, 238; P. Lampe, Phlm, 206. Der
124 f; H. GÜlzow, Christentum und Sklaverei in Phlm wÈre dann zwischen 53–55 n. Chr. abgefaßt
den ersten drei Jahrhunderten, Bonn 1969, 29 f; worden.
H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung I, 156; 462 Vgl. z. B. Plin, Ep IX 21 (= Neuer Wettstein II/
J. Roloff, EinfÜhrung, 145. FÜr CÈsarea sprechen 2 [s. o. 2.4.8], 1059 f).
168 Der Philemonbrief
veranlaßte463, er Paulus im GefÈngnis traf, ihn unterstÜtzte und nun sein weite
rer Verbleib bei Paulus oder seine RÜckkehr in das Haus des Philemon zur De
batte stehen.
2.10.4 Empfänger
Der Hauptadressat des Briefes ist Philemon, der von Paulus als adelfóß und sun
ergóß angeredet wird (Phlm 1). Als Mitadressaten erscheinen Apphia, Archippus
und die Hausgemeinde um Philemon. Die Bestimmung der Hausgemeinde als ‚in
deinem Hause‘ und nicht ‚in eurem Hause‘ weist darauf hin, daß zwischen Phile
mon, Apphia und Archippus kein VerwandtschaftsverhÈltnis besteht, sondern
Apphia und Archippus herausgehobene Mitarbeiter in der Adressatengemeinde
sind. Es muß offenbleiben, ob Archippus in der Gemeinde als Diakon wirkte, wie
es Kol 4, 17 nahelegt. Philemon war Christ (Phlm 5. 7), er arbeitete aktiv in der
Gemeinde mit, besaß zumindest einen Sklaven, und sein Haus diente als Ver
sammlungsraum der Gemeinde, so daß er der handwerklichen oder kaufmÈnni
schen Mittelschicht zugerechnet werden kann. In Phlm 19 b erwÈhnt Paulus,
Philemon sei ihm noch etwas schuldig. Eine persÚnliche Bekanntschaft ist also
mÚglich, aber keineswegs zwingend, weil auch Phlm 19 b ein Bestandteil der
subtilen paulinischen Argumentation sein kann, die zwischen Gunsterweisen
und versteckten Weisungen stÈndig hin und her schwankt464. Andererseits
kÚnnte Paulus aber auch Philemon bekehrt haben und darauf in V. 19 b anspie
len. Bei der Bestimmung des Adressatenortes sind die Àbereinstimmungen zwi
schen Phlm 23 f und Kol 4, 10 ff von großer Bedeutung. Alle im Briefschluß des
Phlm genannten Namen erscheinen auch in anderer Reihenfolge und mit ZusÈt
zen versehen in Kol 4, 10 ff (Ausnahme: Jesus Justus, Kol 4, 11). Deshalb wird
zumeist Kolossae als Wohnort des Philemon angenommen465.
463 Nach M. Wolter, Phlm, 231, kann vermutet 465 Vgl. z. B. W. G. KÜmmel, Einleitung, 307; Ph.
werden, „daß Onesimus im Hause seines Herrn Vielhauer, Urchristliche Literatur, 173 f; E. Lohse,
eines Vergehens beschuldigt wurde, sich selbst Phlm, 261; P. Stuhlmacher, Phlm, 20; J. Gnilka,
aber fÜr unschuldig hielt und Paulus darum um Phlm, 6 (eine Gemeinde im Lykostal). FÜr Perga-
Vermittlung bat.“ mon als Adressatenort votiert W. Schenk, Phile-
464 Vgl. A. Suhl, Phlm, 20. mon, 3483.
Gliederung, Aufbau, Form 169
1 3 PrÈskript
4 7 ProÚmium Briefanfang
21 SchlußparÈnese
22 Apostolische Parusie
Briefschluß
23 24 GrÜße
25 Eschatokoll
Der Aufbau des Phlm ist stark von rhetorischen Elementen bestimmt466. Wie in
der antiken Rhetorik hat auch bei Paulus das ProÚmium die Funktion, die HÚrer
bzw. Leser wohlwollend einzustimmen. Dies wird sehr deutlich in Phlm 7, ein
Vers, der als captatio benevolentiae zur eigentlichen Argumentation des Apostels
Überleitet. Auch der Hauptteil des Phlm weist eine von rhetorischen Elementen
bestimmte Struktur auf. So sind Phlm 9. 10; 11. 13; 11. 14 den rhetorischen Ar
gumentationsfiguren des Pathos, des Logos (VernunftsgrÜnde) und des Ethos
(NÜtzlichkeitserwÈgungen, Appell an die Ehre) zuzurechnen. Speziell die Identi
fikation des Apostels mit Onesimus in Phlm 12(.17) zielt darauf, den Adressaten
emotional zu gewinnen. Dem Epilog kommt in der antiken Rhetorik die Funkti
on zu, mit gesteigertem Pathos das bisher Gesagte zusammenzufassen und zu
unterstreichen. BÜndelt Phlm 17 die vorangegangene Argumentation des Apo
stels, so gewinnt sie in Phlm 19. 20 deutlich an Pathos467.
Der Phlm ist kein Privatbrief, weil er gleichzeitig an Philemon und die in sei
nem Haus sich versammelnde Gemeinde gerichtet ist. Wie in anderen Briefen
macht Paulus auch hier seine apostolische AutoritÈt geltend. Formgeschichtlich
muß der Phlm als Bittbrief (parakalw̃ in V. 9. 10 a, explizite Bitte in V. 17) mit
Elementen eines Empfehlungsschreibens (vgl. Phlm 10 b 13) eingestuft werden.
466 Vgl. F. F. Church, Rhetorical Structure and De- 467 Zu den psychologischen Dimensionen der
sign in Paul’s Letter to Philemon, HThR 71 paulinischen Argumentationsstrategie vgl.
(1978), 17–33; J. Gnilka, Phlm, 7–12. P. Lampe, Phlm, 227–229.
170 Der Philemonbrief
Religionsgeschichtlich ist der Phlm als ein Zeugnis der Haltung des frÜhen Chri
stentums gegenÜber der antiken Sklaverei bedeutsam468. Die Sklaverei war ein in
der gesamten Antike verbreitetes PhÈnomen. Durch Geburt, Kriegsgefangen
schaft, Kindesaussetzung, Selbstverkauf oder EntfÜhrung wurden Menschen zu
Sklaven und blieben es in der Regel die lÈngste Zeit ihres Lebens. Die Zahl der
Sklaven in der Antike ist schwer zu bestimmen, ihr Anteil an der GesamtbevÚl
kerung dÜrfte zwischen 25% und 50% gelegen haben. Dies verdeutlicht die gro
ße Úkonomische Bedeutung des antiken Sklavenwesens. Wirklich umstritten
war die Sklaverei in der Antike nie. Sowohl Plato als auch Aristoteles hielten die
Sklaverei aus wirtschaftlichen GrÜnden fÜr notwendig. DemgegenÜber stellt Phi
lo lapidar fest: aµnXrwpoß gàr ek fu´sewß dou˜loß oudeı´ß (SpecLeg II 69). Er berichtet
zudem von den Therapeuten (VitCont 70) und den Essenern (OmnProbLib 79),
daß sie keine Sklaverei kannten, bzw. keine Sklaven hielten. Die Damaskus
schrift kennt aber Vorschriften fÜr die Behandlung von Sklaven (CD 11, 12;
12, 10 ff), so daß der Verzicht auf Sklaven wohl nur fÜr die Gemeinschaft von
Qumran am Toten Meer galt. Eine humane Grundeinstellung gegenÜber den
Sklaven findet sich in der stoischen Philosophie, hier wird das wahre Sklavenda
sein an die Begierden und nicht an die Außenwelt gebunden. Sklaverei und
Freiheit werden als ausschließlich innere Werte begriffen, denn nur das richtige
VerhÈltnis zu den Dingen macht frei (vgl. Epict, Diss IV 4, 33; Sen, Ep 47). Auch
im antiken Judentum waren Sklaven eine SelbstverstÈndlichkeit469. In den
Gleichnissen der synoptischen Tradition werden oft Sklaven erwÈhnt (vgl.
Mk 12, 1 12par; 13, 34 f; Mt 18, 23 35; 22, 1 14par; 24, 45 51par; 25, 14 30par;
Lk 15, 22; 17, 7 10). Jesus Èußerte sich offenbar nie selbst zur Sklavenproblema
tik, obwohl er dou˜loß bzw. sein aramÈisches quivalent selbstverstÈndlich ge
brauchte.
Erstmals wurde im Urchristentum die Sklavenfrage in den vorpaulinischen
bzw. paulinischen Gemeinden thematisiert, wie die Tauftraditionen 1 Kor 12, 13;
468 Vgl. als EinfÜhrung in die Probleme F. Laub, Slavery, London 1981; W. Eck u. J. Heinrichs
Die Begegnung des frÜhen Christentums mit der (Hg.), Sklaven und Freigelassene in der Gesell-
antiken Sklaverei, SBS 107, Stuttgart 1982. Alle schaft der rÚmischen Kaiserzeit, Darmstadt 1993.
relevanten Texte zur antiken Sklaverei finden 469 Vgl. dazu Billerbeck IV, 698–744.
sich bei Th. E. J. Wiedemann, Greek and Roman
Theologische Grundgedanken 171
Auf den ersten Blick erweckt der Phlm den Eindruck eines theologisch belanglo
sen Schreibens. Eine unzureichende Beurteilung, denn gerade der Phlm erlaubt
einen Einblick in die Besonderheiten paulinischer Argumentation. Deutlich ver
sucht Paulus im ProÚmium (Phlm 4 7), Philemon fÜr sich zu gewinnen. Er be
haftet ihn bei seinem Christsein, indem er ihm nahelegt, das Gute zu tun, was er
tun kann (Phlm 6. 7). Appellierte Paulus bis dahin nur an die Verantwortung
Philemons, so bringt er in V. 8. 9 in subtiler Weise seine AutoritÈt ins Spiel. Er
betont ausdrÜcklich, von seiner AutoritÈt keinen Gebrauch machen zu wollen
und verzichtet auf den Aposteltitel (Phlm 1. 8 b.9), setzt aber gerade dadurch
seine Stellung um so wirkungsvoller ein. Erst in V. 10 wird das Briefanliegen
deutlich; Paulus bittet fÜr den Sklaven Onesimus, dessen Herr im rechtlichen
Sinn Philemon war und ist. Das zentrale theologische Motiv des Briefes erscheint
in V. 11: Die Bekehrung des Onesimus hat nicht nur Konsequenzen fÜr diesen
selbst, sondern auch fÜr das VerhÈltnis des Sklaven Onesimus zu seinem Herrn
Philemon. Philemon soll den neuen Status des Sklaven Onesimus als geliebten
Bruder kai` en sarki` kai` en kurı´w (Phlm 16) erkennen und akzeptieren. Damit
mutet der Apostel Philemon zu, das antike SozialgefÜge des Hauses zu durchbre
chen und Onesimus einen neuen Sozialstatus als geliebten Bruder bei gleichblei
bendem Rechtsstatus zuzuerkennen470. Indem sich der Apostel nachdrÜcklich
mit Onesimus identifiziert (Phlm 12. 16. 17 20), verdeutlicht er Philemon die
neue Situation. Philemon soll von seinem VerhÈltnis zu Paulus her die neue Be
471 Vgl. hier neben H. J. Klauck, Hausgemeinde 2.8.4), bes. die Kommentare von P. Stuhlmacher
und Hauskirche im frÜhen Christentum (s. o. und J. Gnilka.
Tendenzen der neueren Forschung 173
Einen Schwerpunkt der neueren Diskussion bilden die mit dem Phlm verbunde
nen rechtlichen Fragen: War Onesimus ein entflohener Sklave oder hatte er sich
nur fÜr kurze Zeit aus dem Haus des Philemon entfernt, um Paulus zur FÜrspra
che in einem hÈuslichen Konflikt zu bewegen (P. Lampe)? Mußte Onesimus mit
einer Bestrafung als Dieb rechnen, oder veranlaßte eine rechtlich nicht klassifi
zierbare Auseinandersetzung den Fortgang des Sklaven? Innerhalb des Sozialge
fÜges des antiken Hauses interpretiert M. Wolter den Phlm: „Philemon soll ge
rade in seinem Sklaven den Bruder sehen (15 f.), und zwar ohne daß die Radika
litÈt dieser Zumutung durch eine formalrechtliche Anhebung von Onesimus‘
Rechtsstatus mittels Freilassung abgemildert wird.“472 P. Lampe beschreibt die
Strategie des Apostels so: „Paulus’ Ziel war nun nicht nur, daß (a) der hÈusliche
Konflikt in Kolossae beigelegt und Onesimus von Philemon wieder in Frieden
aufgenommen wurde. Der Apostel erwartete jetzt weitaus mehr: Er schickte
Onesimus mit unserem Philemonbrief nach Kolossae zurÜck in der Hoffnung,
daß (b) Onesimus in Zukunft als gleichgestellter christlicher Bruder in Haus und
Hausgemeinde des Philemon leben mÚge. DarÜber hinaus hoffte er, daß (c) Phi
lemon ihm den Onesimus zur Bedienung in die Haft zurÜckschicken wÜrde
(V. 13 14). Damit sind die drei Zielrichtungen des Briefes umrissen. Das zweite
Ansinnen war das zentrale. Als das weitergehende umschloß es das erste.“473
Der Name Onesimus wird auch in Kol 4,9 erwÈhnt. Dort heißt es, Paulus wer
de den treuen und lieben Onesimus nach Kolossae senden. Handelt es sich hier
um dieselbe Person wie im Phlm, kann gefolgert werden, daß Philemon nicht
nur seinem Sklaven Onesimus vergab, sondern ihn auch fÜr den Dienst bei Pau
lus und im Rahmen der paulinischen Mission freiließ. P. Stuhlmacher behauptet
dies und vermutet darÜber hinaus, der bei Ignatius dreimal erwÈhnte Bischof
Onesimus von Ephesus (IgnEph 1, 3; 2, 1; 6, 2) sei mit dem Sklaven Onesimus
des Phlm identisch474. Dieser These widersprechen u. a. E. Lohse und J. Gnil
ka475, die zu Recht in der bloßen Namensgleichheit kein hinreichendes Argu
ment fÜr so weitreichende Folgerungen sehen. Es bleibt weiterhin in der For
schung umstritten, ob Paulus die Freilassung des Onesimus forderte oder Phile
mon (nur) nahelegte, seinen Sklaven nun als geliebten Bruder in Christus auf
zunehmen.
472 M. Wolter, Phlm, 233 f. 474 Vgl. P. Stuhlmacher, Phlm, 18. 57.
473 P. Lampe, Phlm, 207. 475 Vgl. E. Lohse, Phlm, 289 f; J. Gnilka, Phlm, 6.
3. Die synoptischen Evangelien
3.1.1 Literatur
schließt sich aus den Traditionen 1 Thess 1,9 b 10; 1 Kor 15, 3 b 5; RÚm 1, 3 b 4 a.
Paulus verbindet hier vorgegebene Traditionseinheiten mit dem absoluten euag
ge´lion (vgl. 1 Thess 1, 5; 1 Kor 15, 1; RÚm 1, 1. 9) und setzt diesen Begriff bei sei
nen HÚrern bzw. Lesern als bekannt voraus. Die auch bei Paulus dominierende
christologisch soteriologische FÜllung des Evangeliums geht somit auf urchrist
lich hellenistische Gemeinden zurÜck. Seinem Ursprung und seiner AutoritÈt
nach ist das Evangelium das euagge´lion (tou˜) Xeou˜ (vgl. 1 Thess 2, 2. 8. 9; 2 Kor
11, 7; RÚm 1, 1; 15, 16), seinem Inhalt nach das euagge´lion tou˜ Cristou˜ (vgl.
1 Thess 3, 2; 1 Kor 9, 12; 2 Kor 2, 12; 9, 13; 10, 14; Gal 1, 7; RÚm 15, 19; Phil 1, 27).
Liegt die traditionsgeschichtliche Wurzel des ntl. euagge´lion Begriffes in der hel
lenistischen Herrscherverehrung, dann knÜpften die frÜhen Gemeinden an ge
lÈufige Vorstellungen ihres Umfeldes an, zugleich unterschieden sie sich durch
den Singular to` euagge´lion grundlegend von den euagge´lia der Umwelt.
1 Vgl. P. Stuhlmacher, Das paulinische Evange- 3 Vgl. Neuer Wettstein II/1 (s. o. 2.4.8), 6–10.
lium I. Vorgeschichte, FRLANT 95, GÚttingen 4 Vgl. zur BegrÜndung M. Sato, Q und Prophe-
1968, 218 ff. tie (s. u. 3.3.1), 141–144.
2 Vgl. G. Strecker, Das Evangelium Jesu Christi,
in: ders., Eschaton und Historie, GÚttingen 1979,
183–228.
Die Literaturgattung ,Evangelium‘ 177
5 Nachweis bei G. Strecker, Literarkritische und ‚Evangelium Gottes‘ (Mk 1, 14), in: Die Mitte
Àberlegungen zum euagge´lion-Begriff im Markus- des Neuen Testaments (FS E. Schweizer), hg. v.
evangelium, in: ders, Eschaton und Historie, GÚt- U. Luz u. H. Weder, GÚttingen 1983, (399–411)
tingen 1979, 76–89. 402, der Mk 1, 1 nur als genitivus objectivus auf-
6 Vgl. J. Gnilka, Markus I (s. u. 3.4.1), 43. Gegen lÚsen will.
H. Weder, ‚Evangelium Jesu Christi‘ (Mk 1, 1)
178 Die Gattung ,Evangelium‘
Der irdische Weg Jesu ist aber zugleich der Weg des Gottessohnes, Jesus Christus
steht gleichermaßen mit Himmel und Erde in Verbindung, und deshalb ist seine
Geschichte eine himmliche und irdische. Markus verdeutlicht diesen fundamen
talen Zusammenhang durch die ErzÈhlung von der Taufe Jesu (Mk 1,9 11), der
VerklÈrungsgeschichte (Mk 9, 2 9) und dem Bekenntnis des Centurio unter dem
Kreuz (Mk 15, 39). Diese drei Texte bilden das kompositorische GrundgerÜst des
Evangeliums, insofern hier in gleichartiger Weise Himmel und Erdenwelt zu
sammentreten und zur Bezeichnung der GottzugehÚrigkeit Jesu jeweils der Titel
uıóß gebraucht wird. Taufe, VerklÈrung und Bekenntnis unter dem Kreuz sind
die drei Grundpfeiler, um die herum Markus seine Traditionen in Form einer vi
ta Jesu gruppiert. Der Titel uıóß markiert dabei die inhaltliche Mitte, denn er ver
mag Jesu gÚttliches Wesen und sein Leidens und Todesgeschick gleichermaßen
zu umfassen. Jesu Sein und Wesen stehen von Anfang an fest, er ist Gottes Sohn
und verÈndert sein Wesen nicht. Aber fÜr die Menschen wird er erst Gottes
Sohn, denn sie brauchen einen Erkenntnisprozeß7. Dieser Prozeß ist die vita Je
su, so wie Markus sie in der neuen Literaturgattung Evangelium darstellt. Zum
Ziel gelangt dieser Erkenntnisprozeß erst am Ende des Evangeliums, am Kreuz,
erst hier ist es ein Mensch und nicht Gott, der Jesus als uıòß Xeou˜ erkennt
(Mk 15, 39). Zuvor wissen dies nur Gott (Mk 1, 11; 9, 7), die DÈmonen (Mk 3, 11;
5, 7) und der Sohn selbst (Mk 12, 6; 13, 32). Der Mensch muß erst den ganzen
Weg Jesu von der Taufe bis zum Kreuz durchschreiten, um zu einer angemesse
nen Erkenntnis der Gottessohnschaft Jesu Christi zu gelangen. Indem die Litera
turgattung Evangelium diesen Weg des Gottessohnes darstellt und zur rechten
Erkenntnis seiner Person fÜhren will, ist sie nichts anderes als der literarische Aus
druck der theologischen Erkenntnis , daß der gekreuzigte Jesus von Nazareth von
Anfang an seinen Weg als Gottessohn ging8. Die Literaturgattung Evangelium ist
somit eine Form sui generis, sie verdankt sich der theologischen Einsicht, daß in
der einmaligen und unverwechselbaren Geschichte des Jesus von Nazareth Gott
selbst handelte. Eine Spannung zwischen vor und nachÚsterlich, Geschichte
und Kerygma oder textinterner und textexterner Ebene besteht dabei fÜr Mar
kus nicht, sondern seine theologische Leistung besteht gerade darin, beides je
weils entschieden als Einheit verstanden und dargestellt zu haben9. Indem Mar
kus historiographisch biographischen ErzÈhltext und kerygmatische Anrede fest
verbindet und Jesu Weg zum Kreuz als dramatisches Geschehen darstellt, wahrt
7 Vgl. R. Weber, Christologie und ‚Messiasge- MÜnchen 1974, (42–61) 60, zum markinischen
heimnis‘ (s. u. 3.4.1), 115 f. Messiasgeheimnis: „Die Geheimnistheorie ist die
8 GrundsÈtzlich zutreffend ist deshalb immer hermeneutische Voraussetzung der Gattung
noch das Votum von H. Conzelmann, Gegenwart ‚Evangelium‘.“
und Zukunft in der synoptischen Tradition, in: 9 Vgl. hierzu H. F. Weiß, Kerygma und Ge-
ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh 65, schichte, Berlin 1983.
Die literaturgeschichtliche Einordnung der Gattung ,Evangelium‘ 179
10 Vgl. zur detaillierten Forschungsgeschichte It's Literary Environment (s. o. 2.3.1), 17–45;
neben den Arbeiten von FrankemÚlle und Dor- F. Fendler, Studien (s. u. 3.4.1), 14–35; R. A. Bur-
meyer bes. W. S. Vorster, Der Ort der Gattung ridge, What are the Gospels?, 3–106.
Evangelium in der Literaturgeschichte, VuF 29 11 F. Overbeck, Àber die AnfÈnge der patristi-
(1984), 2–25; D. E. Aune, The New Testament in schen Literatur, Darmstadt 1954 (= 1882), 36.
180 Die Gattung ,Evangelium‘
12 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evange- 14 Zur Forschungsgeschichte vgl. J. Rohde, Die
liums, 2. R. Bultmann schÈtzt zwar die schriftstel- redaktionsgeschichtliche Methode, Hamburg
lerische und kompositionelle Arbeit der Evangeli- 1966.
sten hÚher ein als Dibelius, verbleibt aber grund- 15 Vgl. hier J. M. Robinson, Das Geschichtsver-
sÈtzlich in dessen ErklÈrungsmodell, vgl. R. Bult- stÈndnis des Markus-Evangeliums, in: ders., Mes-
mann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, siasgeheimnis und GeschichtsverstÈndnis (s. u.
393–400. 3.4.1), 5–104; J. Roloff, Das Markusevangelium
13 K. L. Schmidt, Die Stellung der Evangelien, als Geschichtsdarstellung, EvTh 29 (1969), 73–93.
66 f.
Die literaturgeschichtliche Einordnung der Gattung ,Evangelium‘ 181
16 Vgl. u. a. J. Weiß, Das Èlteste Evangelium, 17 Vgl. K. Baltzer, Die Biographie der Propheten,
GÚttingen 1903; Hermann v. Soden, Urchristliche Neukirchen 1975.
Literaturgeschichte, Berlin 1905; C. W. Votaw, 18 Vgl. D. LÜhrmann, Biographie des Gerechten
Gospels and Contemporary Biographies in the als Evangelium, WuD 14 (1976), 25–50.
Greco-Roman World, Philadelphia 21970 (=
1915).
182 Die Gattung ,Evangelium‘
19 Vgl. H. KÚster, Ein Jesus und vier ursprÜngli- unter besonderer BerÜcksichtigung der vita Apol-
che Evangeliengattungen, in: H. KÚster – J. M. Ro- lonii des Philostrat und der Evangelien, Diss.
binson, Entwicklungslinien durch die Welt des theol., Bonn 1969, 98 ff.
frÜhen Christentums, TÜbingen 1971, 147–190; 21 D. Esser, a. a. O., 101.
ders., Art. Formgeschichte/Formenkritik II, TRE 22 Vgl. D. S. du Toit, Theios Anthropos, WUNT
11 (1983), (286–299) 295. 2.91, TÜbingen 1997.
20 Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur, 310, im 23 M. Reiser, Der Alexanderroman und das Mar-
Anschluß an D. Esser, Formgeschichtliche Studien kusevangelium, 131.
zur hellenistischen und frÜhchristlichen Literatur
Die literaturgeschichtliche Einordnung der Gattung ,Evangelium‘ 183
24 R. Bultmann, Geschichte der synoptischen 25 Vgl. E. GÜttgemanns, Offene Fragen zur Form-
Tradition, 397, meint, es gÈbe in der griechischen geschichte des Evangeliums, BEvTh 54, MÜnchen
Literaturgeschichte keine Analogien zur Form des 1970.
Evangeliums.
184 Die Gattung ,Evangelium‘
genart ntl. Texte und der Art der TextprÈgung in den jeweiligen Phasen der Tra
dierung26. Als Endprodukt eines Àberlieferungs und Arbeitsprozesses stellt sich
die Gattung Evangelium zwar als neue Textsorte dar, das Sosein dieser Textsorte
ist aber nicht ohne ihr Werden zu verstehen. Der Jetzttext der Evangelien und da
mit auch die Textsorte Evangelium kÚnnen nur dann sachgemÈß verstanden wer
den, wenn der geschichtliche Werdegang der einzelnen Texteinheiten herausge
arbeitet wird, Diachronie und Synchronie nicht als GegensÈtze, sondern in ihrer
Interdependenz begriffen werden27.
26 Vgl. zum Problem G. Strecker, Schriftlichkeit terarische Formen (s. o. 2.3.1), 102: „Literaturge-
oder MÜndlichkeit der synoptischen Tradition?, schichtlich ordnen sich die Evangelien mit ihrer
in: The Four Gospels (FS F. Neirynck), hg. v. ErzÈhlweise also nicht in die pagane, sondern in
F. Van Segbroeck u. a., BETL 100, Leuven 1992, die jÜdische Tradition ein.“
159–172. 29 Klassisch Plut, Alex 1. Plutarch bittet, „wenn
27 Vgl. E. Coseriu, Synchronie, Diachronie und ich nicht alles und nicht jede der vielgerÜhmten
Geschichte, MÜnchen 1974. Taten in aller AusfÜhrlichkeit erzÈhle, sondern
28 Vgl. in diesem Sinn in der neueren Diskussion das meiste kurz zusammenfasse, mir deswegen
z. B. K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testa- keinen Vorwurf zu machen. Denn ich schreibe
ments (s. o. 2.8.5), 367–371; D. E. Aune, The New nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder“
Testament in Its Literary Environment (s. o. (ouµte gàr ıstorı´aß gra´fomen allà bı´ouß).
2.3.1), 64 (Evangelium als Untergattung der anti- 30 C. Breytenbach, Das Markusevangelium als
ken Biographie); L. Schenke, Markusevangelium episodische ErzÈhlung, in: F. Hahn (Hg.), ErzÈhler
(s. u. 3.4.1), 146; P. L. Shuler, The Genre(s) of the des Evangeliums (s. u. 3.4.1), 137–169, beurteilt
Gospels, in: The Interrelations of the Gospels (s. u. das Markusevangelium als ‚episodische‘ ErzÈh-
3.2.1), 459–483 (Evangelium als ‚encomium bio- lung, bei der die globalen Themen immer wieder
graphy‘); F. Fendler, Studien (s. u. 3.4.1), 35–80 in den einzelnen Perikopen erscheinen. Zur nar-
(Markusevangelium als Sonderform der antiken rativen Grundstruktur des Èltesten Evangeliums
Biographie, als ‚anonyme Biographie‘); D. Dor- vgl. auch R. Zwick, Montage im Markusevangeli-
meyer, Das Neue Testament im Rahmen der anti- um. Studien zur narrativen Organisation der Èlte-
ken Literaturgeschichte (s. o. 2.3.2), 199–228 (die sten JesuserzÈhlung, SBB 18, Stuttgart 1989, der
Evangelien als ‚kerygmatische Idealbiographien‘); das Besondere der ErzÈhltechnik des Evangelisten
R. A. Burridge, What are the Gospels?, 219 (. . . in einem spezifischen System „der rÈumlichen
„the synoptic gospels belong within the overall Perspektivierung und Montage der Perspektiven-
genre of bı´oi“); D. Frickenschmidt, Evangelium als segmente“ (a. a. O., 620) sieht.
Biographie, 508 (die vier Evangelien sind antike 31 Vgl. hierzu F. G. Lang, Kompositionsanalyse
„Jesus-Biographien im Vollsinn des Wortes“). des Markusevangeliums, ZThK 74 (1977), 1–24,
Kritisch demgegenÜber M. Reiser, Sprache und li- der zu dem Ergebnis kommt, „daß Markus sein
Das synoptische Problem 185
ten. Eine inhaltliche Sonderstellung innerhalb der antiken Literatur nehmen die
Evangelien jedoch ein: Nur sie behaupten, daß in einem konkreten und be
grenzten Geschehen der Vergangenheit die Geschichte eine Wende nahm und
nun auch Gegenwart und Zukunft von diesem Ereignis bestimmt werden. Inso
fern ist das Evangelium eine Gattung sui generis, die keiner Obergattung zuge
ordnet werden kann.
In der ersten HÈlfte des 2. Jhs. wird das Wort euagge´lion auch zur Buchbezeich
nung (vgl. Did 11, 3; 15, 3 f 32; 2 Klem 8, 5; Just, Apol I 66, 3). Etwa zur gleichen
Zeit entstanden wahrscheinlich die EvangelienÜberschriften, in denen euagge´lion
unzweifelhaft Buchbezeichnung ist. Bereits in die Zeit zwischen 70 und 100
n. Chr. datiert M. Hengel die EvangelienÜberschriften. Zwar hÈtten die Evangeli
sten das Wort euagge´lion noch nicht im literarischen Sinn verstanden, sobald aber
die ersten Evangelien kopiert und in andere Gemeinden weitergegeben wurden,
seien die EvangelienÜberschriften entstanden. Es sei notwendig gewesen, die
Evangelien durch TitelÜberschriften voneinander zu unterscheiden. Diese Àber
schriften „kÚnnen mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Zeit der Entstehung der
4 Evangelien zwischen 69 und 100 n. Chr. zurÜckgefÜhrt werden und hÈngen mit
der gezielten Verbreitung derselben in den Gemeinden und dem damit verbunde
nen Gebrauch im Gottesdienst zusammen.“33 Allerdings ist im Lukas und Johan
nesevangelium (um 90 bzw. 100 n. Chr.) das Wort euagge´lion nicht belegt, und es
bleibt unsicher, wann eine bewußte Verbreitung der Evangelien einsetzte und die
Existenz mehrerer Evangelien in großen Gemeinden die EvangelienÜberschriften
erforderlich machte.
3.2.1 Literatur
Evangelium in literarischer Hinsicht bewußt in II, Darmstadt 1984, 24 ff, bezieht sich euagge´lion
Analogie zu einem antiken Drama gestaltet hat“ jeweils auf das MatthÈusevangelium.
(a. a. O., 22). 33 M. Hengel, Die EvangelienÜberschriften,
32 Nach K. Wengst, Schriften des Urchristentums SHAW.PH 1984, 51.
186 Das synoptische Problem
nor Agreements, GTA 50, GÚttingen 1993 (wichtige Aufsatzsammlung). A. Ennulat, Die
‚Minor Agreements‘. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems,
WUNT 2.62, TÜbingen 1994. M. Hengel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus
Christ, London 2000.
Solange man die Verfasser der Evangelien fÜr Augenzeugen des Lebens Jesu
hielt und die altkirchlichen Traditionen unkritisch Übernahm, waren die Unter
schiede zwischen den Evangelien nur fÜr wenige ein Problem34. Lediglich Augu
stin beschÈftigte sich mit den literarischen AbhÈngigkeiten der Evangelien und
stellte in seiner Schrift „De consensu evangelistarum“ 4, 10. 11 die These auf, die
synoptischen Evangelien seien nach ihrer Reihenfolge im Kanon entstanden
(vgl. 3.2.7). Eine wirkliche Erforschung des synoptischen Problems setzte erst in
der zweiten HÈlfte des 18. Jahrhunderts ein35, wobei insbesondere vier Hypothe
sen zu erwÈhnen sind:
1. Die Urevangeliumshypothese
Grundlage dieser These ist der Gedanke, daß alle drei Evangelien aus einem ur
sprÜnglich hebrÈisch bzw. aramÈisch verfaßten, das ganze Leben Jesu umfassen
den Urevangelium entstanden seien. So vermutete Gotthold Ephraim Lessing
(1729 1784)36, die Evangelien seien unabhÈngig voneinander aus einem ara
mÈischen Nazarenerevangelium hervorgegangen, das auf die Apostel zurÜckge
he. Diese Urschrift wird von den KirchenvÈtern nach Lessing unter verschiede
nen Namen erwÈhnt, als ‚Evangelium der Apostel‘, ‚Evangelium der HebrÈer‘,
‚Evangelium der Nazarener‘ oder auch als ‚Evangelium nach MatthÈus‘. Lessing
bezieht auch die Papiasnotiz Über das hebrÈische MatthÈusevangelium auf die
von ihm postulierte Urschrift. „Kurz, MatthÈus, Markus und Lukas sind nichts
als verschiedene und nicht verschiedene Àbersetzungen der sogenannten he
brÈischen Urkunde des MatthÈus, die jeder machte, so gut er konnte.“37 Die Un
terschiede zwischen den einzelnen Evangelien erklÈren sich aus der jeweils un
34 Vgl. dazu H. Merkel, Die WidersprÜche zwi- 36 Vgl. G. E. Lessing, Thesen aus der Kirchenge-
schen den Evangelien. Ihre polemische und apo- schichte, 1776; ders., Neue Hypothese Über die
logetische Behandlung in der Alten Kirche bis zu Evangelisten als bloß menschliche Geschichts-
Augustinus, WUNT 13, TÜbingen 1971 (Text- schreiber betrachtet, 1778.
band: Ders., Die PluralitÈt der Evangelien als 37 G. E. Lessing, Neue Hypothese, § 50; zitiert
theologisches und exegetisches Problem in der Al- nach: Lessing, Werke III, hg. v. K. WÚlfel, Frank-
ten Kirche, TC III, Bern 1978). furt 1967.
35 Vgl. zur Geschichte der einzelnen Hypothesen
bes. W. Schmithals, Einleitung, 44–233.
Die Geschichte der synoptischen Frage 187
38 A. a. O., § 49. kas, ein kritischer Versuch (1817), in: ders., SÈmt-
39 Vgl. J. G. Eichhorn, Einleitung in das Neue Te- liche Werke, 1. Abt. 2. Bd., Berlin 1836, 219; vgl.
stament I, Leipzig 21820, 161–167. ferner ders., Einleitung in das Neue Testament,
40 A. a. O., 177. hg. v. G. Wolde, SÈmtliche Werke, 1. Abt. 8. Bd.,
41 F. Schleiermacher, Ueber die Schriften des Lu- Berlin 1845.
188 Das synoptische Problem
3. Die Traditionshypothese
Vermutete Eichhorn als Vorlage fÜr die Synoptiker verschiedene Ausgaben eines
schriftlichen Urevangeliums, so postulierte Johann Gottfried Herder (1744
1803) als Wurzel der drei ersten Evangelien ein mÜndliches Urevangelium. FÜr
ihn sind die Evangelien Resultat eines VerkÜndigungsprozesses, dessen natÜrli
ches Medium die MÜndlichkeit war. „Ein Gesetz wird geschrieben; eine frÚliche
Botschaft wird verkÜndiget“42. Es gab einen Stand der Evangelisten, die als Be
gleiter der Apostel jene Geschichten als mÜndliches Evangelium weitergaben,
die sie zuvor aus dem Munde der Apostel gehÚrt hatten. Dieses mÜndliche Ur
evangelium orientierte sich an einem von den Aposteln selbst festgesetzten Zy
klus, wodurch sich die Àbereinstimmungen erklÈren. Zugleich bezeugen aber
die drei Evangelien, daß die Evangelisten auch individuelle SchriftstellerpersÚn
lichkeiten waren. Der Prozeß der Verschriftlichung setzte ein, als die einzelnen
Kirchenprovinzen ihr Evangelium haben wollten und HÈretiker die Tradition
verfÈlschten. Die Unterschiede zwischen den Evangelien erklÈren sich nach Her
der aus ihrer jeweiligen Zielsetzung: „Es war Pflicht des Evangelisten, daß er fÜr
seinen Kreis erzÈhlte und vortrug.“43 Diese Hypothese wurde von Johann Carl
Ludwig Gieseler (1792 1854)44 ausgebaut, der ein auf die JÜnger Jesu zurÜckge
hendes mÜndliches aramÈisches Urevangelium annahm, das aus den BedÜrfnis
sen der Mission heraus Übersetzt und in griechischer Sprache erstmals schriftlich
fixiert wurde. Bei der Traditionshypothese wurde zum ersten Mal der große An
teil der mÜndlichen Tradition fÜr die Evangeliumsbildung erkannt, allerdings
finden die zahlreichen wortwÚrtlichen Àbereinstimmungen keine Überzeugende
ErklÈrung.
4. Die Benutzungshypothese
Alle drei bisher geschilderten Theorien gehen davon aus, daß zwischen den Syn
optikern kein literarischer Zusammenhang besteht. Dagegen behauptet die Be
nutzungshypothese, daß die Synoptiker literarisch voneinander abhÈngig sind.
Wie bereits erwÈhnt, vermutete schon Augustin eine Entstehung der Evangelien
in ihrer kanonischen Reihenfolge, wobei die spÈteren Evangelien die frÜheren
voraussetzen. Vertreter der Reihenfolge MatthÈus Markus Lukas sind in mo
difizierter Form auch Theodor Zahn und Adolf Schlatter.
FÜr die Reihenfolge MatthÈus Lukas Markus trat 1789 Johann Jakob
Griesbach (1745 1812)45 ein, der annahm, daß MatthÈus und Lukas die Vorlage
fÜr Markus bildeten. Das Markusevangelium ist fast vollstÈndig im MatthÈus
und/oder Lukasevangelium enthalten, es folgt entweder der Ordnung des Mat
thÈus oder des Lukas. Markus hatte beide Großevangelien vor sich, der Situation
seiner Leser entsprechend orientierte er sich an MatthÈus oder Lukas. Die erheb
lichen Auslassungen und KÜrzungen erklÈren sich aus der Absicht des Markus,
von vornherein ein Exzerpt aus den beiden anderen Evangelien zu schaffen.
Vertreten wurde diese These in jeweils modifizierter Form u. a. auch von Fer
dinand Christian Baur und David Friedrich Strauss (1808 1874). Einen entschei
denden Fortschritt im Rahmen der Benutzungshypothese erreichte der Philologe
Karl Lachmann (1793 1851)46 mit der Annahme, Markus bilde die Grundlage
fÜr MatthÈus und Lukas (= MarkusprioritÈt). Ausgangspunkt fÜr seine These
war die Beobachtung, daß MatthÈus und Lukas innerhalb des mit Markus ge
meinsamen Stoffes nur so weit Übereinstimmen, als sie mit Markus Übereinstim
men. Weichen sie von Markus ab, geht jeder eigene Wege. Markus bildet somit
die gemeinsame Mitte fÜr MatthÈus und Lukas. Die Unterschiede in der Periko
penfolge sind am grÚßten, wenn man Lukas und MatthÈus miteinander ver
gleicht, sie sind am geringsten, wenn Markus mit einem der beiden anderen
Evangelisten verglichen wird. Daraus zog Lachmann den Schluß, daß die Rei
henfolge im Markusevangelium gegenÜber MatthÈus und Lukas am ursprÜng
lichsten ist und diese Markus voraussetzen. Außerdem nahm er an, MatthÈus
habe das Markusevangelium in eine ihm vorliegende Sammlung von Jesuswor
ten eingefÜgt.
Der Weg fÜr die Zweiquellentheorie wurde 1838 gebahnt, als unabhÈngig
voneinander die Arbeiten von Christian Gottlob Wilke (1788 1854)47 und Chri
stian Hermann Weisse (1801 1866)48 erschienen. Wilke begrÜndete umfassend
die MarkusprioritÈt, denn MatthÈus und Lukas gehen in dem mit Markus ge
meinsamen Stoff Überein, in dem darÜber hinausgehenden Stoff erweisen sie
sich hingegen als individuelle Schriftsteller. Allerdings wies Wilke das nur Mat
thÈus und Lukas gemeinsame Gut nicht einer zweiten Vorlage neben Markus
zu. MatthÈus habe es aus dem Lukasevangelium Übernommen, wobei ungeklÈrt
bleibt, woher Lukas dieses Material hat. Als eigentlicher BegrÜnder der Zwei
quellentheorie kann Christian Hermann Weisse gelten, der nicht nur wie Wilke
45 Vgl. J. J. Griesbach, Commentatio qua Marci 47 Vgl. Chr. G. Wilke, Der Urevangelist oder exe-
evangelium totum e Matthaei et Lucae commen- getisch kritische Untersuchung Über das Ver-
tariis decerptum esse monstratur, Jena 1789/90; wandtschaftsverhÈltnis der drei ersten Evange-
gedruckt in: J. C. Velthausen e. a. (Hg.), Commen- lien, Dresden und Leipzig 1838.
tationes theologicae I, Leipzig 1794, 360 ff. 48 Vgl. Chr. H. Weisse, Die evangelische Ge-
46 Vgl. C. Lachmann, De ordine narrationum in schichte kritisch und philosophisch betrachtet I.II,
evangeliis synopticis, ThStKr 8 (1835), 570–590. Leipzig 1838.
190 Das synoptische Problem
die MarkusprioritÈt nachwies, sondern zeigte, daß MatthÈus und Lukas Über
Markus hinaus unabhÈngig voneinander eine verlorengegangene Spruchsamm
lung nutzten. Hinzu kommt das jeweilige Sondergut bei MatthÈus und Lukas.
Die Zweiquellentheorie endgÜltig durchzusetzen, gelang erst Heinrich Julius
Holtzmann49 und Paul Wernle.
49 Vgl. neben der Monographie ‚Die synopti- 50 EingefÜhrt wurde dieser Sprachgebrauch ver-
schen Evangelien‘ und der ‚Einleitung in das mutlich von Johannes Weiß (vgl. ders., Jesu Pre-
Neue Testament‘ bes. H. J. Holtzmann, Die Synop- digt vom Reiche Gottes, GÚttingen 1890, 8); vgl.
tiker, HCI, Freiburg 21892. Die bis heute wert- dazu F. Neirynck, The Symbol Q (Quelle), in:
volle und einflußreiche ‚Synopse der drei ersten ders., Evangelica I, BETL 60, Leuven 1982, 683–
Evangelien‘ von A. Huck erschien 1892 als Hilfs- 689.
mittel fÜr Holtzmanns Evangelienauslegung.
Die Zweiquellentheorie 191
digt zwischen Mk 1, 21 und 1, 22. MatthÈus setzt Mk 1, 22 (das Staunen des Vol
kes Über die Lehre Jesu) an das Ende der Bergpredigt, so daß dieser Vers jetzt
wie bei Markus die Reaktion auf die erste Predigt Jesu berichtet. Insgesamt er
scheinen bei MatthÈus nur 12 der 118 Übernommenen Markus Abschnitte nicht
in der vorgegebenen Reihenfolge51.
Auch Lukas nimmt lediglich im ersten Teil seines Evangeliums einige Periko
penumstellungen vor. So ersetzt er die Novelle vom Ende des TÈufers in
Mk 6, 14 29 durch eine summarische Notiz in Lk 3, 19 20, um die Gestalt Jo
hannes des TÈufers klarer von der Person Jesu zu trennen; nun wird von der
Taufe Jesu erst nach der Gefangennahme des TÈufers berichtet (Lk 3, 21 22). Zu
einer fÜr das ganze Evangelium programmatischen Szene gestaltet Lukas hinge
gen die Verwerfung Jesu in Nazareth um (Mk 6, 1 6), indem er in der Antritts
predigt Jesu in 4, 16 30 wesentliche Elemente seiner Theologie entfaltet. Die
JÜngerberufung erzÈhlt Lukas nach der ersten Wirksamkeit Jesu und rÜckt dabei
die Berufung des Petrus in den Vordergrund (Lk 5, 1 11). Das Summarium
Mk 3, 7 12/Lk 6, 17 19 setzt er hinter die Berufung der zwÚlf Apostel (Lk 6, 12
16), um so einen besseren Àbergang zur Feldrede zu erhalten. Durch die Umstel
lung der ErzÈhlung von Jesu wahren Verwandten (Mk 3, 31 35) hinter das
Gleichnis vom SÈmann und die Gleichnisdeutung erhÈlt Lukas eine Kulisse und
eine erste Illustration der Gleichnisrede. Neben diesen regelrechten Perikopen
umstellungen plaziert Lukas auch einige Einzellogien neu (Lk 12, 1/Mk 8, 14. 15;
Lk 14, 34/ Mk 9, 50; Lk 22, 39/Mk 14, 26). Wie MatthÈus folgt auch Lukas, sofern
er den Markusstoff Übernimmt, der markinischen Perikopenreihenfolge, abgese
hen von den erwÈhnten redaktionellen Umstellungen. Der auf den ersten Blick
vom Markusevangelium stark abweichende Aufriß des Lukasevangeliums er
klÈrt sich aus einer gegenÜber dem MatthÈusevangelium grÚßeren Auslassung
von Markusperikopen (MatthÈus Übernimmt 118 Markusperikopen, Lukas nur
96)52 und aus einem umfangreichen Sondergut, das Lukas vornehmlich in dem
sogenannten ‚Reisebericht‘ (Lk 9, 51 19, 27) verarbeitete. Zudem fÜgt Lukas
nicht wie MatthÈus seine Quellen ineinander, sondern stellt sie nebeneinander,
so daß daraus eine scheinbar andere Darstellung des Lebens Jesu folgt. Zusam
menfassend lÈßt sich sagen, daß von der Perikopenreihenfolge her gesehen das
Markusevangelium die gemeinsame Mitte fÜr das MatthÈus und Lukasevangeli
um ist. Die fehlenden Àbereinstimmungen in der Perikopenreihenfolge zwi
schen den beiden Großevangelien, wenn sie von der markinischen Komposition
abweichen, zeigen deutlich: Nur von Markus her, als der gemeinsamen Grundla
53 Vgl. zur Verarbeitung des Markusstoffes durch Lukas vgl. P. Wernle, a.a.O., 18 ff; ferner
den Evangelisten MatthÈus vor allem P. Wernle, T. Schramm, Der Markus-Stoff bei Lukas,
Die synoptische Frage, 146 ff. MSSNTS 14, Cambridge 1971.
54 Zu den sprachlichen VerÈnderungen durch
Die Zweiquellentheorie 193
bei Lukas. Auch die Wortstatistik spricht fÜr eine MarkusprioritÈt, denn von ins
gesamt 11078 WÚrtern des Markustextes finden sich in den gemeinsamen Tex
ten bei MatthÈus 8555 WÚrter und bei Lukas 6737 WÚrter wieder55.
Die sowohl von MatthÈus als auch von Lukas ausgelassenen Markustexte
das Markussondergut stellen im Rahmen der klassischen Zweiquellentheorie ein
Problem dar, weil ihr Fehlen nicht immer auf redaktionelle TÈtigkeit des Mat
thÈus oder Lukas zurÜckgefÜhrt werden kann. Die Auslassung der Heilungswun
der in Mk 7, 31 37 und 8, 22 26 lÈßt sich dadurch erklÈren, daß die massive
Wunderdarstellung anstÚßig wirkte. Aus dem gleichen Grund wurden vermut
lich die Notiz, die Verwandten hÈtten Jesus fÜr wahnsinnig gehalten (Mk
3, 20 f), und die Anweisung Über die Austreibung einer bestimmten DÈmonenart
in Mk 9, 29 Übergangen. Die Bemerkung Über den nackten jungen Mann bei der
Gefangennahme Jesu (Mk 14, 51 52) und der Spruch Über das Salzen mit Feuer
in Mk 9, 49 waren vielleicht fÜr die Seitenreferenten unverstÈndlich56. Mit der
Annahme, das kanonische Markusevangelium habe MatthÈus und Lukas vorge
legen, lÈßt sich hingegen nicht das Fehlen des Gleichnisses von der selbstwach
senden Saat in Mk 4, 26 29 sowohl bei MatthÈus als auch bei Lukas erklÈren.
Die Auslassungen von Mk 2, 27; 9, 48; 15, 44 beruhen ebenfalls nicht auf redak
tioneller TÈtigkeit der Seitenreferenten.
Eine Modifikation der herkÚmmlichen Zweiquellentheorie ist ferner durch
das Fehlen von Mk 6, 45 8, 26 zwischen Lk 9, 17 und 9, 18 die lukanische LÜk
ke und zahlreiche kleinere Àbereinstimmungen von MatthÈus und Lukas ge
gen Markus erforderlich. FÜr eine bewußte Auslassung von Mk 6, 45 8, 26 durch
Lukas lassen sich keine Motive nennen. Die immer wieder zu lesende Behaup
tung, Lukas habe das Wirken Jesu außerhalb GalilÈas und damit in heidnischem
Gebiet bewußt Übergangen, scheitert an der Àbernahme von Mk 5, 1 20 in
Lk 8, 26 3957. Àbrig bleibt allein die Annahme, daß Mk 6, 45 8, 26 noch nicht
oder aber nicht mehr in dem Lukas vorliegenden Markusexemplar stand.
Verteilt Über den gesamten verarbeiteten Markusstoff weisen MatthÈus und
Lukas kleinere wÚrtliche Àbereinstimmungen minor agreements gegen Mar
kus auf58. Es handelt sich dabei um ca. 700 gemeinsame nderungen, ZusÈtze
(positive agreements) und Auslassungen (negative agreements)59, die Über das
gesamte Evangelium verteilt sind.
55 Vgl. R. Morgenthaler, Statistische Synopse, sich bei F. Neirynck, The Minor Agreements in a
89. Horizontal-Line Synopsis, Leuven 1991; vgl. fer-
56 Vgl. Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur, ner G. Strecker (Hg.), Minor Agreements, 221–
273. 230.
57 Gegen H. Conzelmann, Mitte der Zeit (s. u. 59 A. Ennulat, ‚Minor Agreements‘, 417, zÈhlt
3.6.1), 45–48. ca. 1000 minor agreements.
58 Eine Auflistung der minor agreements findet
194 Das synoptische Problem
60 Vgl. H. Aichinger, Quellenkritische Untersu- 63 Vgl. Chr. Niemand, Studien zu den Minor
chung der Perikope vom hrenausraufen am Agreements der synoptischen VerklÈrungsperiko-
Sabbat Mk 2, 23–28par., SNTU 1 (1976), 110–153. pen, EHS.T 352, Frankfurt 1989.
61 Vgl. F. Kogler, Das Doppelgleichnis vom Senf- 64 Als jeweils unabhÈngige redaktionelle nde-
korn und vom Sauerteig in seiner traditionsge- rungen versteht die minor agreements F. Nei-
schichtlichen Entwicklung, fzb 59, WÜrzburg rynck, The Minor Agreements and the Two-Sour-
1988. ce-Theory, in: ders., Evangelica II, BETL 99, Leu-
62 Vgl. A. Fuchs, Die ‚Seesturmperikope‘ ven 1991, 3–42.
Mk 4, 35–41par im Wandel der urkirchlichen Ver-
kÜndigung, SUNT 15 (1990), 101–133.
Das Sondergut 195
Neben Texten, die aus Markus oder Q stammen, Überlieferten MatthÈus und Lu
kas umfangreiches ‚Sondergut‘, d. h. Perikopen, die nur bei MatthÈus oder Lukas
vorhanden sind. Dieses Sondergut ist nicht ‚Quellen‘, sondern Traditionsberei
chen zuzuordnen.
65 In anderer Weise erklÈrt die um die Jahrhun- men Mk-Stoff gegen den Mk Text, weisen als ein
dertwende einflußreiche ‚Urmarkus-Hypothese‘ durchgehendes literarisches PhÈnomen deutlich
die genannten PhÈnomene: MatthÈus und Lukas auf eine vormtlk Mk-Bearbeitung hin“; M. E. Bo-
benutzten nicht die uns Überlieferte, sondern eine ring, The Synoptic Problem, „Minor Agreements“
Çltere Gestalt des Markusevangeliums. and the Beelzebul Pericope, in: The Four Gospels
66 So mit Nachdruck A. Fuchs in zahlreichen Pu- (FS F. Neirynck), hg. v. F. Van Segbroeck u. a.,
blikationen. BETL 100, Leuven 1992, 587–619.
67 So z. B. G. Strecker – U. Schnelle, EinfÜhrung 68 Gegen A. Fuchs, ‚Seesturmperikope‘, 128, der
in die neutestamentliche Exegese, GÚttingen nicht mehr von der Zweiquellentheorie als LÚ-
4
1994, 57 f; U. Luz, Mt II (s. u. 3.5.1), 254. 301 sungsmodell der synoptischen Frage ausgeht, son-
u. Ú.; A. Ennulat, ‚Minor Agreements‘, 418: „Die dern von einer ‚Dreistufentheorie‘ spricht (Mk;
‚kleinen Àbereinstimmungen‘ (minor agree- Dmk; Mt bzw. Lk).
ments) zwischen Mt und Lk im ihnen gemeinsa-
196 Das synoptische Problem
Àber die Herkunft des Sondergutes sind keine sicheren Angaben mÚglich, ein
großer Teil stammt sicherlich aus der dem jeweiligen Evangelisten zugÈnglichen
mÜndlichen Tradition. Bei einer Anzahl von Texten ist die Zuordnung unsicher.
Sie werden zumeist entweder QMt bzw. QLk (s. u. 3.3.2) oder dem jeweiligen
Sondergut zugeordnet: Mt 5, 21 f.27 f.33 37 (Gesetzesauslegungen), Mt 6, 2
6. 16 18 (FrÚmmigkeitsregeln), Mt 18, 15 18 (Gemeinderegel), Mt 22, 11 13
(Gleichnis vom hochzeitlichen Kleid); Lk 15,8 10 (Der verlorene Groschen),
Lk 15, 11 32 (Der verlorene Sohn).
Das umfangreiche lukanische Sondergut weist thematische Schwerpunkte
auf (Jesu Parteinahme fÜr die Armen, seine Kritik am Reichtum, Jesu Umgang
mit SÜndern und Frauen, die Bedeutung des Gebetes, Aufruf zur Demut, positi
198 Das synoptische Problem
Q* (Pal.)
Mk Q (Hell.)
Dto Mk
QMt QLk
Sondergut Sondergut
Mt Lk
69 Vgl. H. Klein, Barmherzigkeit gegenÜber den 1991, der allerdings dem mt. Sondergut viele
Elenden und GeÈchteten. Studien zur Botschaft Texte zuordnet, die sonst als Bestandteil der Lo-
des lukanischen Sonderguts, BThSt 10, Neukir- gienquelle angesehen werden. Vgl. ferner
chen 1987; G. Petzke, Das Sondergut des Evange- H. Klein, Judenchristliche FrÚmmigkeit im Son-
liums nach Lukas, ZÜrich 1990; B. Pittner, Stu- dergut des MatthÈus, NTS 35 (1989), 466–474;
dien zum lukanischen Sondergut, EThS 18, Leip- ders., BewÈhrung im Glauben, BThSt 20, Neukir-
zig 1991; B. Heininger, Metaphorik, ErzÈhlstruk- chen 1996. Nach Klein behandeln die mt. Sonder-
tur und szenisch-dramatische Gestaltung in den guttexte vornehmlich drei Komplexe: In den
Sondergutgleichnissen bei Lukas, NTA 24, MÜn- Gleichnissen wird die Zuwendung Jesu zu den
ster 1991. Armen und Elenden thematisiert, die Gesetzes-
70 So H. Klein, Barmherzigkeit, 134. worte warnen vor einer laxen LebensfÜhrung, die
71 A. a. O., 130. Worte Über Petrus und den Gemeindeaufbau sind
72 Zur Analyse der Texte vgl. H.Th. Wrege, Das zentrale BegrÜndungselemente der Ekklesiologie.
Sondergut des MatthÈus-Evangeliums, ZÜrich
Die Komposition der synoptischen Überlieferung 199
Jede Geschichte lÈßt sich auf verschiedene Weise erzÈhlen. Schon ein einfacher
Blick in die Synopse zeigt, daß MatthÈus und Lukas das ihnen vorliegende Mar
kusevangelium in unterschiedlicher Art und Weise rezipierten. MatthÈus pla
ziert z. B. ErzÈhlungen aus dem Markusevangelium an anderer Stelle als Lukas;
Lukas wiederum lÈßt erheblich mehr Markustexte aus als MatthÈus. Bei ihrem
Umgang mit dem Markusevangelium folgen MatthÈus und Lukas bestimmten
Kriterien, die sich aus ihrer Gemeindesituation, ihren eigenen theologischen
und literarischen Intentionen sowie den zusÈtzlichen Àberlieferungen (der Lo
gienquelle, dem jeweiligen Sondergut) ergeben.
Die folgenden Tabellen wollen diesen Vorgang in seinen GrundzÜgen durchsichtig ma
chen, indem sie von Markus als gemeinsamer Mitte des MatthÈus und Lukas ausgehen
und zeigen, wie der Rezeptionsprozeß verlief. Ein Pfeil . zeigt jeweils an, welchem bzw.
welchen Evangelisten die Darstellung in den Tabellen folgt. Die rechten BlÚcke geben den
Inhalt des Textes/der Texte und ihre quellenmÈßige Verortung an (Mk, Q bzw. QMt/Lk, S
bzw. SMt/Lk). Die grau schraffierten BlÚcke kennzeichnen jene Schaltstellen, an denen
die Großevangelisten eigene Wege gehen oder wieder in die Markus Sequenz zurÜckkeh
ren.
Mit dem Beginn einer Jesus Christus Darstellung fÈllt die Entscheidung Über ih
ren Charakter. Als Setzung des ErzÈhlers ist der Anfang der Weg, der den HÚrern
und Lesern gewiesen wird. So verwundert es nicht, wenn Lukas und MatthÈus
den Anfang ihrer Jesus Christus Geschichte anders gestalten als Markus. WÈh
rend Markus die Geschichte Jesu Christi mit seiner Taufe durch Johannes begin
nen lÈßt (1. Block), bilden bei MatthÈus und Lukas die Vorgeschichten den Auf
takt des Evangeliums (2. Block). Diese Vorgehensweise ist zum einen durch die
Stoffe bedingt, die MatthÈus und Lukas in ihrem Sondergut vorfanden; sie ent
spricht aber auch literarischer Konvention der Zeit, wie sie z. B. auch in den Bio
graphien des Plutarch zu beobachten ist. Zugleich setzen beide Evangelisten aber
auch theologische Akzente, denn die Vorgeschichten enthalten als ProÚmien be
reits das gesamte Wirken Jesu Christi in nuce. Ab dem jeweiligen dritten Kapitel
folgen MatthÈus und Lukas der Markus Sequenz, integrieren aber zugleich ver
wandte Stoffe aus dem Sondergut und der Logienquelle. Auf den TÈufer Kom
plex folgt die Darstellung der ersten Wirksamkeit Jesu, bei der MatthÈus und Lu
kas grundsÈtzlich in der markinischen Reihenfolge verbleiben. MatthÈus nimmt
allerdings bei den Wundergeschichten Umstellungen vor, was seiner Tendenz
entspricht, thematische BlÚcke zu schaffen.
Die Komposition der synoptischen Überlieferung 201
5 7 . 6, 20 49 . Bergpredigt/Feldrede (QMt/Lk)
6, 20 26 . Seligpreisungen/Weherufe (QLk)
5, 3 12 . Seligpreisungen (QMt)
Den Andrang des Volkes in Mk 3, 7ff verstanden Lukas und MatthÈus in Èhnli
cher Weise; fÜr sie war er das Signal, daß Jesus nun etwas Besonderes sagen
202 Das synoptische Problem
muß. Dies tut er bei Lukas mit der Feldrede und bei MatthÈus mit der Bergpre
digt. Die Feldrede ist Teil der kleinen lukanischen Einschaltung, die Lk 6, 20 8, 3
umfaßt. Lukas schaltet dieses StÜck zwischen Mk 3, 19 und 3, 20 ein, um Materi
al aus der Logienquelle und seinem Sondergut einzuarbeiten. WÈhrend Lukas
bei der Feldrede die Q Komposition im wesentlichen Übernimmt, baut MatthÈus
unter Aufnahme weiteren Q Materials die erste Rede Jesu zu einer umfassenden
Selbstvorstellung aus.
8, 18 22 . 9, 57 62 NachfolgesprÜche (Q)
9, 9 13 . 2, 13 17 ZÚllnergastmahl (Mk)
9, 14 17 . 2, 18 22 Fastenfrage (Mk)
Im zweiten Teil seiner kleinen Einschaltung verarbeitet Lukas Material aus der
Logienquelle und seinem Sondergut. Nach Kap. 8, 3 schließt sich Lukas dann
wieder der Markusabfolge an, allerdings Übergeht er Mk 3, 20 35 an dieser Stel
le; er stellt um und integriert inhaltlich verwandtes Material aus der Logienquel
le.
MatthÈus und Lukas gehen zunÈchst mit Markus parallel; alle Evangelisten be
ginnen jeweils mit dem Gleichnis vom SÈmann und lassen dann die Parabeltheo
rie sowie die Deutung des SÈmanngleichnisses folgen. Die EinzelsprÜche Mk
4, 21 25 werden von MatthÈus und Lukas nur teilweise Übernommen; das
Gleichnis von der selbstwachsenden Saat fehlt bei MatthÈus und Lukas. Beim
Senfkorngleichnis haben die beiden Großevangelisten neben der Markusfassung
noch eine Q Version. WÈhrend die Verarbeitung des Stoffes bei Lukas eher un
auffÈllig erfolgt, faßt MatthÈus den Stoff zu seiner großen Gleichnisrede zusam
men, in die er umfangreiches Sondergut integriert.
Bei der Darstellung des gespannten VerhÈltnisses zwischen Jesus und Herodes
Antipas gehen alle drei Evangelisten im wesentlichen parallel, wÈhrend der Tod
des TÈufers bei Lukas nicht berichtet wird. Er erwÈhnt nur die Gefangennahme
in 3, 19f, weil er strikt zwischen dem Wirken Johannes des TÈufers und Jesus
trennt. Die RÜckkehr der JÜnger ist in Mk 6, 30 31 bereits mit der Speisungsge
206 Das synoptische Problem
schichte verbunden, MatthÈus und Lukas lassen sie faktisch aus. Bei der Spei
sung der 5000 folgen MatthÈus und Lukas Über weite Strecken Markus.
Die ErwÈhnung des ‚Weges‘ in Mk 8, 27 und 10, 52 sowie die drei LeidensankÜn
digungen mit den jeweils folgenden drei Einweisungen in die Nachfolge und die
JÜngerschaft strukturieren den zweiten Hauptteil des Markusevangeliums. Mat
thÈus folgt weitgehend der Reihenfolge und dem Stoff des Markus, setzt aber
durch die Gemeinderede in Mt 18, 1 19, 1 eigene Akzente. Auch Lukas verbleibt
prinzipiell innerhalb des markinischen Schemas, weitet jedoch den Àbergang
von GalilÈa nach Jerusalem durch seinen Reisebericht (9, 51 19, 27) erheblich
aus.
19, 1 . Redaktion
Die Gemeinderede in Mt 18 als vierte der fÜnf großen Reden bei MatthÈus the
matisiert, was das gesamte Evangelium durchzieht: Die Unterweisung der JÜn
ger und damit auch der nachÚsterlichen Gemeinde. MatthÈus orientiert sich an
der durch Markus vorgegebenen Reihenfolge und ergÈnzt den Stoff aus der Lo
gienquelle und seinem Sondergut.
21, 1 28, 20 11, 1 16, 8 19, 28 24, 53 Jesus und sein Geschick in Jerusalem
(Mk/Q/S)
11, 39 51;
Wider die Schriftgelehrten und Phari
23, 1 39 . 12, 38 40 20, 45 47;
sÈer (Q/Mk/SMt)
13, 34 f
Der Konflikt mit den PharisÈern wird bei MatthÈus durch die Redekomposition
Kap. 23 deutlich hervorgehoben. Alle drei Synoptiker plazieren unmittelbar vor
der Passion eine große Rede Jesu, die sich mit der Endzeit beschÈftigt. Bei Mar
kus nimmt diese Rede schon auf Grund ihrer LÈnge eine Sonderstellung ein.
WÈhrend Lukas eng an der Markusvorlage verbleibt, setzt MatthÈus auch bei der
Endzeitrede eigene Akzente; er Übernimmt im wesentlichen Stoff von Mk 13, er
gÈnzt ihn aber durch Material aus der Logienquelle und dem Sondergut.
26, 1 27, 66 14, 1 15, 47 . 22, 1 23, 56 Die Passion Jesu (Mk)
26, 57 68 14, 53 65 . 22, 54 55. VerhÚr vor dem Hohen Rat (Mk)
66 71. 63 65
Innerhalb der Passionsgeschichte gehen die Synoptiker Über weite Strecken par
allel, nur bei Lukas finden sich einige bemerkenswerte Umstellungen und Er
weiterungen. Sie verdanken sich dem Leitmotiv der gesamten lukanischen Pas
sionsdarstellung: Jesus ist auch in der Passion der exemplarisch leidende Gerech
te (vgl. z. B. Lk 23, 34.47; 24, 26).
Mit dem Tod am Kreuz ist das irdische Leben Jesu beendet. Dennoch schließen
alle Evangelien nicht mit dem BegrÈbnis Jesu, sondern lenken den Blick der Le
ser auf seine Auferstehung. WÈhrend der vorliegende Text des Markusevange
liums diese Perspektive nur andeutet (vgl. Mk 16, 6f), verarbeiten MatthÈus und
vor allem Lukas Sondertraditionen, die in unterschiedlicher Art und Weise die
Auferstehungswirklichkeit unterstreichen.
Die Zweiquellentheorie war immer nur ein LÚsungsmodell der durch die synop
tische Frage aufgeworfenen Probleme. In der gegenwÈrtigen Forschung sind vier
alternative LÚsungsmodelle von besonderer Bedeutung:
1. Die Zwei Evangelien Hypothese (Two Gospel Hypothesis). Dieser vor allem
von W. R. Farmer73 und seinen SchÜlern vertretene LÚsungsvorschlag sagt in sei
ner allgemeinen Form zunÈchst nur, daß MatthÈus und Lukas vor Markus und
Johannes geschrieben wurden. Unter Aufnahme umfangreicher mÜndlicher
und schriftlicher Traditionen verfaßte MatthÈus als erster ein Evangelium, die
Existenz von Q bestreitet Farmer. Nach MatthÈus schrieb Lukas sein Evangeli
um, er rezipierte das MatthÈusevangelium und weiteres mÜndliches und schrift
liches Material. Schließlich konzipierte Markus sein Evangelium, indem er in ei
nem umfangreichen Maße MatthÈus und Lukas heranzog und in einem be
grenzten Umfang auch noch anderes schriftliches bzw. mÜndliches Material ver
arbeitete. FÜr diese an Griesbach orientierte Benutzungshypothese mit Mat
thÈus PrioritÈt werden folgende Hauptargumente angefÜhrt:
a) Patristische Zeugnisse: Nach Euseb, HE VI 14, 5 7 gab Clemens von Alex
andrien eine alte von Presbytern Überlieferte Tradition wieder, wonach die
73 Die aktuelle Position Farmers und seiner pels, 125–230. Vgl. ferner J. B. Orchard (Hg.), A
SchÜler lÈßt sich mit Angabe der neueren Litera- Synopsis of the Four Gospels. In Greek. Arranged
tur am besten nachlesen in dem Sammelband according the Two-Gospel-Hypothesis, GÚttingen
D. L. Dungan (Hg.), The Interrelations of the Gos- 1983.
216 Das synoptische Problem
74 Der entscheidende Textabschnitt in 4, 11 lau- Vgl. zur Analyse H. Merkel, Die Àberlieferungen
tet: . . . Markus „geht mit beiden (sc. MatthÈus der Alten Kirche Über das VerhÈltnis der Evange-
und Lukas). Denn sosehr er mit MatthÈus in vie- lien, in: D. L. Dungan (Hg.), The Interrelations of
len Dingen Übereinstimmt, stimmt er gleichwohl the Gospels, 566–590.
mit Lukas in manch anderen Bereichen umso- 75 W. R. Farmer, The Statement of the Hypothe-
mehr Überein. Damit dadurch seine Verbunden- sis, in: D. L. Dungan (Hg.), The Interrelations of
heit mit dem LÚwen und dem Kalb gezeigt the Gospels, (126–156) 155.
werde . . .“ (vgl. Apk 4, 6. 7; Augustin identifiziert 76 Ebd.
zuvor Markus mit dem Menschen in der Vision).
Weitere Theorien zum synoptischen Problem 217
77 Vgl. grundlegend P. Benoit – M. . Boismard, pels, 231–288. Vgl. ferner M. . Boismard – A. La-
Synopse des quatre ¹vangiles, en franËais, Tome mouille, Synopsis Graeca Quattuor Evangelio-
II: Commentaire, par M. . Boismard avec la col- rum, Leuven – Paris 1986.
laboration de A. Lamouille et P. Sandevoir, Paris 78 M.. Boismard, Th¹orie des niveaux multip-
1972. Zur aktuellen Diskussion vgl. M. . Bois- les, 232.
mard, Th¹orie des niveaux multiples, in: 79 Vgl. M. D. Goulder, Luke. A New Paradigm,
D. L. Dungan (Hg.), The Interrelations of the Gos- JSNT.S 20, I.II Sheffield 1989.
218 Das synoptische Problem
Matthew“80, die Existenz von Q lehnt Goulder ab. Vielmehr entspringen die Q
oder dem Sondergut zugerechneten matthÈischen Texte „entirely his elaboration
of Mark“81.
M. Hengel geht davon aus, daß MatthÈus neben Markus das Lukasevangelium
kannte und in spezifischer Weise rezipierte82. Viele Gemeinsamkeiten zwischen
Mt und Lk werden nach Hengel zu schnell der Logienquelle zugeschrieben, die
seines Erachtens nicht als eine feste literarische GrÚße, sondern als reine Spruch
Überlieferungen zu verstehen ist. Sie stand in unterschiedlicher Form MatthÈus,
Lukas und vermutlich sogar Markus zur VerfÜgung83. Auch die minor agree
ments zwischen MatthÈus und Lukas lassen sich nach Hengel so zwanglos erklÈ
ren84. Als zeitliche Reihenfolge fÜr die Entstehung der Evangelien ergibt sich:
„Mark c. 69/70, Luke c. 75 80, Matthew c. 90 100, John c. 100 105“85.
4. Varianten der Traditionshypothese : Allein auf parallel Überlieferte mÜndliche
Traditionen will B. Reicke die Àbereinstimmungen zwischen den Synoptikern
zurÜckfÜhren86. Weder Markus noch Q dienten Lukas und MatthÈus als Vorla
ge, sondern die Àbereinstimmungen zeigen, „daß sowohl im Matth. und Luk.
wie im Mark. die Dreiertraditionen aus einer lebendigen akustisch erhaltenen
Àberlieferung stammten.“87 Die kontextparallelen Dreiertraditionen sollen
durch Zweier bzw. Sondertraditionen ergÈnzt worden sein. Als Ausgangspunkt
und Zentrum dieser historisch sehr zuverlÈssigen Traditionsbildung vermutet
Reicke die Urgemeinde in Jerusalem. Petrus habe in Jerusalem im Haus der Mut
ter des Evangelisten Markus verkehrt (vgl. Apg 12, 12), so daß Markus das dort
zusammengetragene Material Übernehmen und schon frÜh ins Griechische
Übersetzen konnte.
In allen FÈllen wird nur eine Hypothese, deren rein literarische Anwendung
nicht sÈmtliche Fragen beantwortet, durch andere ersetzt, die zu noch grÚßeren
Schwierigkeiten fÜhren. Insbesondere die MarkusprioritÈt ist grundsÈtzlich nicht
zu bestreiten. WÈre MatthÈus das Èlteste Evangelium, dann hÈtte Markus seine
Vorlage widersprÜchlich bearbeitet, nÈmlich einerseits sehr stark gekÜrzt, ande
rerseits erhebliche Perikopenerweiterungen vorgenommen. Warum aber sollte
Markus das Vaterunser, die Worte von der GebetserhÚrung, vom Richten, das
80 A. a. O. I, 23. 84 Vgl. a. a. O., 206: „On the other hand, the que-
81 A. a. O. I, 22. stion of the striking ‚minor agreements‘ is sol-
82 Vgl. M. Hengel, The Four Gospels, 205: „Mat- ved.“
thew presupposes Mark and Luke as sources 85 A. a. O., 170.
which are fixed in writing and are clearly attain- 86 Vgl. B. Reicke, Die EntstehungsverhÈltnisse
able for us. As the primary source, Mark, whose der synoptischen Evangelien, ANRW 25. 2, Berlin
theology he also treasured theologically, gave 1984, 1758–1791; ders., The Roots of the Synoptic
him the narrative thread; he used Luke eclectical- Gospels, Philadelphia 1986.
ly as a secondary source.“ 87 B. Reicke, EntstehungsverhÈltnisse, 1782.
83 Vgl. a. a. O., 177.
Literatur 219
Gleichnis vom treuen und untreuen Knecht und vieles mehr ausgelassen, dage
gen den Umfang der Jairusperikope fast verdreifacht und die Gerasener und
Epileptikerperikope mehr als verdoppelt haben88? Die Annahme, Markus habe
neben MatthÈus auch Lukas gekannt, lÈßt die Frage offen, weshalb er sowohl
das umfangreiche lukanische Sondergut als auch die fast gleichlautenden Periko
pen bei MatthÈus und Lukas in sein Evangelium nicht aufnahm. Die hohen
WortlautÜbereinstimmungen bei den Parallelperikopen von Markus, MatthÈus
und Lukas sowie die nachweisbare sprachliche und inhaltliche Bearbeitung zahl
reicher Markustexte durch MatthÈus und Lukas sprechen eindeutig gegen die
Vermutung, es bestehe keine literarische AbhÈngigkeit zwischen den syn. Evan
gelien. Zudem setzt zumindest Lk 1, 1 4 explizit die Benutzung literarischer
Quellen voraus!
Ausgangspunkt der synoptischen Frage wird daher wie bisher die Zweiquel
lentheorie sein mÜssen, auch wenn sie im Einzelfall weniger mechanisch als in
ihrer Anfangszeit angewendet werden sollte. Sie ist nach wie vor die Hypothese,
die mit dem geringsten Schwierigkeitsgrad die meisten PhÇnomene erklÈrt.
3.3.1 Literatur
Textrekonstruktionen
S. Schulz, Griechisch deutsche Synopse der Q Àberlieferungen, ZÜrich 1972. A. Polag,
Fragmenta Q, Neukirchen 1979. W. Schenk, Synopse zur Redequelle der Evangelien,
DÜsseldorf 1981. F. Neirynck, Q Parallels, Leuven 21995. J. S. Kloppenborg, Q Parallels,
Sonoma 1988; J. M. Robinson P. Hoffmann J. S. Kloppenborg (Hg.) Documenta Q, Leu
ven 1996 ff; Chr. Heil Th. Hieke, Der vom Internationalen Q Projekt rekonstruierte Q
Text. Eine WerkstattÜbersetzung, in: S. H. Brandenburger Th. Hieke (Hg.), Wenn drei das
Gleiche sagen, MÜnster 1998, 103 120. J. M. Robinson P. Hoffmann J. S. Kloppenborg,
The Critical Edition of Q, Leuven 2000.
Kommentar
D. Zeller, SKK.NT 21, Stuttgart 1984.
Monographien
A. (v.)Harnack, SprÜche und Reden Jesu, Leipzig 1907. H. E. TÚdt, Der Menschensohn in
der synoptischen Àberlieferung, GÜtersloh 51984. D. LÜhrmann, Die Redaktion der Lo
gienquelle, WMANT 33, Neukirchen 1969. P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Lo
AufsÇtze
E. Bammel, Das Ende von Q, in: Verborum Veritatis (FS G. StÈhlin), hg. v. O. BÚcher u.
K. Haacker, Wuppertal 1970, 39 50. J. M. Robinson, LOGOI SOPHON Zur Gattung der
Spruchquelle Q, in: H. KÚster u. J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frÜ
hen Christentums, TÜbingen 1971, 67 106. J. Delobel (Hg.), Logia The Sayings of Jesus,
BETL 59, Leuven 1982 (wichtige Aufsatzsammlung). D. Zeller, Redaktionsprozesse und
wechselnder „Sitz im Leben“ beim Q Material, in: J. Delobel (Hg.), Logia, 395 409.
J. Wanke, „Kommentarworte“. lteste Kommentierungen von Herrenworten, BZ 24
(1980), 208 233. H. SchÜrmann, Das Zeugnis der Redequelle fÜr die Basileia VerkÜndi
gung Jesu, in: ders., Gottes Reich Jesu Geschick, Freiburg 1983, 65 152. Ders., Beob
achtungen zum Menschensohn Titel in der Redequelle, a. a. O., 153 182. Ders., Zur
Kompositionsgeschichte der Redequelle, in: Der Treue Gottes trauen (FS G. Schneider), hg.
v. C. Bussmann W. Radl, Freiburg 1991, 325 342. A. Polag, Die theologische Mitte der
Logienquelle, in: Das Evangelium und die Evangelien, hg. v. P. Stuhlmacher, TÜbingen
1983, 103 111. F. W. Horn, Christentum und Judentum in der Logienquelle, EvTh 51
(1991), 344 364. D. R. Catchpole, The Beginning of Q: A Proposal, NTS 38 (1992), 205
221. D. Seeley, Jesus’ Death in Q, NTS 38 (1992), 222 234. D. Kosch, Q und Jesus, BZ
36 (1992), 30 58. M. Karrer, Christliche Gemeinde und Israel. Beobachtungen zur Logien
quelle, in: Gottes Recht als Lebensraum (FS H. J. Boecker), hg. v. P. Mommer u. a., Neukir
chen 1993, 145 163. R. A. Piper (Hg.) The Gospel Behind the Gospels. Current Studies on
Q, NT.S 75, Leiden 1995 (wichtige Aufsatzsammlung). R. Uro (Hg.), Symbols and Strata,
GÚttingen 1996. J. M. Asgeirsson K. De Troyer M. W. Meyer (Hg.), From Quest to Q
(FS J. M. Robinson), BETL 146, Leuven 2000. A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q
and the Historical Jesus, BETL 158, Leuven 2001 (wichtige Aufsatzsammlung).
Der vermutliche Umfang der Logienquelle 221
Forschungsberichte
F. Neirynck, Recent Developments in the Study of Q, in: J. Delobel (Hg.), Logia, 29 75.
J. M. Robinson, History of Q Research, in: J. M. Robinson P. Hoffmann J. S. Kloppenborg,
The Critical Edition of Q, xix lxxi.
FÜr die Existenz von Q als einer zweiten von MatthÈus und Lukas benutzten
Quelle spricht:
1. Àber Markus hinaus haben MatthÈus und Lukas einen gemeinsamen Stoff
von ca. 4000 WÚrtern89, der teilweise eine hohe WortlautÜbereinstimmung hat
(vgl. Mt 3, 7 10 mit Lk 3, 7 9; Mt 12, 43 45 mit Lk 11, 24 26; Mt 23, 37 39 mit
Lk 13, 34 35). Diese Àbereinstimmungen gelten auch fÜr lange Satzperioden
und die Stellung von Partikeln und Possessivpronomen90.
2. MatthÈus und Lukas haben Dubletten (ein Text, den ein Evangelist zweimal
hat) und DoppelÛberlieferungen (Texte, die beide Evangelisten zweimal haben:
einmal im Markuszusammenhang, einmal nur MatthÈus und Lukas). Beides un
terstÜtzt die These, daß MatthÈus und Lukas neben Markus eine weitere ge
meinsame Quelle benutzten.
Beispiele fÜr Dubletten91: Lukas berichtet Über die Aussendung der JÜnger in
Kap. 9 und 10 zweimal, einmal bezieht er sich auf Mk 6, 7 13, das andere Mal
geht er mit Mt 10 parallel. MatthÈus Überliefert den Spruch vom Jonazeichen so
wohl im Markuszusammenhang (16, 4) als auch parallel mit Lukas (12, 39); vgl.
ferner Mt 19,9 und 5, 32 (Verbot der Ehescheidung); Mt 18,8 f und 5, 29 f (vom
rgernis). Beispiele fÜr DoppelÜberlieferungen: Mt 13, 12/Mk 4, 25/Lk 8, 18 und
89 Vgl. R. Morgenthaler, Statistische Synopse „Der Kern der Grundrede ist kein Bestandteil von
(s. o. 3.2.3), 83; J. S. Kloppenborg, Q-Parallels, Q. Der Kern der Grundrede ist ein eigenstÈndiger
209, zÈhlt fÜr den gemeinsamen Stoff bei Mat- Traditionskomplex“ (a. a. O., 235). Diese vor-
thÈus 4464 und bei Lukas 4652 WÚrter. nehmlich wortstatistisch arbeitende Analyse be-
90 Th. Bergemann, Q, 47–60, macht eine hohe achtet die thematischen VerknÜpfungen und die
WortlautÜbereinstimmung zum einzigen Kriteri- gestaltende Kraft der Redaktionen (s. u. 3.3.5/
um, um Texte der Logienquelle zuzuweisen. Àbli- 3.3.6) innerhalb des Q-Stoffes zu wenig. Zudem
cherweise der Logienquelle zugeordnete Textein- lÈßt die sukzessive Entstehungsgeschichte von Q
heiten mit geringer WortlautÜbereinstimmung (s. u. 3.3.5) ohnehin erwarten, daß Stoffe mit un-
„dÜrfen nicht Q zugeschrieben werden, sind mit terschiedlich hoher WortlautÜbereinstimmung
Hilfe mÜndlicher Tradition oder anderer Quellen im Verlauf des Àberlieferungs- und Formungspro-
zu erklÈren“ (a. a. O., 60). Diesen methodischen zesses aufgenommen wurden.
Ansatz fÜhrt Bergemann bei der ‚Grundrede‘ 91 Eine vollstÈndige Liste der Dubletten findet
(Vorlage von Feldrede/Bergpredigt) durch, die im sich bei R. Morgenthaler, Statistische Synopse
Kernbestand nur eine WortlautÜbereinstimmung (s. o. 3.2.3), 128 ff.
von 30% aufweist (vgl. a. a. O., 230). Er folgert:
222 Die Logienquelle
Mt 25, 29/ Lk 19, 26 („Wer da hat, dem wird gegeben werden“); Mt 16, 24 f/ Mk
8, 34 f/ Lk 9, 23 f und Mt 10, 38 f/Lk 14, 27/17, 33 (vom Kreuztragen).
Da Markus lediglich eine Dublette aufweist (Mk 9, 35 b/ 10, 43 f), mÜssen Mat
thÈus und Lukas eine weitere gemeinsame Quelle benutzt haben92.
I. Die AnfÇnge
Mt Lk
(3, 1 3[4 6] Das Auftreten des TÈufers 3, 2 4)93
3, 7 10 Bußpredigt/Abrahamskindschaft 3, 7 9
3, 11. 12 Der Kommende/Geisttaufe 3,(15)16. 17
(3, 13. 16. 17 Taufe Jesu 3, 21. 22)
4, 1 11 Versuchung Jesu 4, 1 13
II. Feldrede/Bergpredigt
5, 1. 3. 4 5. 6 10 Die Seligpreisungen 6, 12. 17. 20. 21
( Wehe Rufe 6, 24 26)
5, 44 Feindesliebe 6, 27. 28
5, 39 b 41 Dulden 6, 29
5, 42 Geben/Leihen 6, 30
7, 12 Die goldene Regel 6, 31
5, 45 47 Das gottgemÈße Verhalten 6, 32 35
5, 48 Barmherzig wie der Vater 6, 36
7, 1. 2 Richten Schenken Zumessen 6, 37. 38
15, 14 Blinde FÜhrer 6, 39
10, 24. 25 JÜnger Meister 6, 40
7, 3 5 Balken Splitter 6, 41. 42
7, 16 20 Guter und schlechter Baum 6, 43. 44
12, 34 b.35 Schatz des Herzens 6, 45
7, 21 Herr Herr Sager 6, 46
7, 24 27 Vom Hausbau 6, 47 49
7, 28 Schlußwendung 7, 1 a
92 Vgl. R. Morgenthaler, a. a. O., 140. 18, 14. Bei MatthÈus hingegen sind die Q-Texte
93 Unsichere Texte in Klammern; Lukas be- Über das gesamte Evangelium verstreut. 2) Weit-
wahrte die ursprÜngliche Reihenfolge der Q- aus mehr als Lukas ordnet MatthÈus das Q-Mate-
Texte besser als MatthÈus; vgl. zur BegrÜndung rial neu zu großen thematischen BlÚcken. 3) Bei
J. S. Kloppenborg, Formation, 69–80. Hauptargu- seiner Rezeption des Markusevangeliums Èndert
mente: 1) Bei Lukas erscheint das Q-Material im Lukas die markinische Reihenfolge nur gering,
wesentlichen in den beiden Einschaltungen in ebenso dÜrfte er mit der Logienquelle verfahren
den Markuszusammenhang Lk 6, 20–8, 3; 9, 51– sein.
Der vermutliche Umfang der Logienquelle 223
VI. Gebet
6,9 13 Vaterunser 11,(1)2 4
7, 7. 8 GebetserhÚrung 11,9. 10
7,9 11 Vom Vater und bittenden Kind 11, 11 13
VII. Auseinandersetzungen
12, 22 24; Beelzebul Vorwurf 11, 14. 15(16)
9, 32 34
12, 25. 26 1. Antwort: Reich des Satans 11, 17. 18
12, 27. 28 2. Antwort: Reich Gottes 11, 19. 20
12, 29 Vom StÈrkeren 11, 21. 22
12, 30 FÜr Jesus/gegen Jesus 11, 23
12, 43 45 Vom RÜckfall 11, 24 26
12, 38. 39 Zeichenforderung/Jonazeichen 11, 16. 29
12, 40 Deutespruch 11, 30
12, 41. 42 KÚnigin des SÜdens/Niniviten 11, 31. 32
5, 15; 6, 22. 23 LichtsprÜche 11, 33 35(36)
23, 25(26) Gegen die PharisÈer 1: GefÈße 11, 39 b 41
23, 23 Gegen die PharisÈer 2: Zehntgebot 11, 42
23, 6. 7 Gegen die PharisÈer 3: Ehrsucht 11, 43
23, 27. 28 Gegen die PharisÈer 4: 11, 44
224 Die Logienquelle
Unkenntliche GrÈber
23, 4 Gegen die Schriftgelehrten 1: Lasten 11,(45)46
23, 29 31 Gegen die Schriftgelehrten 2: 11, 47. 48
ProphetengrÈber
23, 34 36 Gegen die Schriftgelehrten 3: 11, 49 51
Prophetenmord
23, 13 Gegen die Schriftgelehrten 4: 11, 52
SchlÜssel der Erkenntnis
Neben den MatthÈus und Lukas gemeinsamen Texten gehÚren auch Abschnitte,
die nur ein Evangelist Überliefert hat, mÚglicherweise zu Q (bzw. QMt/QLk):
Mt 5, 5. 7 9. 19. 21 30. 33 37; 6, 2 8. 16 18; 7, 6; 10, 5 6. 23; 19, 10 12; Lk 3, 10
14; 7, 3 6 a.29 f; 9, 61 62; 11, 5 8; 12, 16 21. 47 48; 15,8 10. 11. 32; 17, 7 1094.
Die InhaltsÜbersicht zeigt, daß die Logienquelle Überwiegend Redestoff und
nur wenige ErzÈhlungen enthÈlt (Versuchung Jesu Mt 4, 1 11/Lk 4, 1 13; TÈu
ferkomplex Mt 11, 2 11/Lk 7, 18 28). Obwohl Lk 7, 21Q; 10, 13Q Jesu Wunder
tÈtigkeit voraussetzen, wurden nur eine Wundergeschichte (Mt 8, 5 10. 13/
Lk 7, 6 b 10) und eine Heilungsnotiz (Lk 11, 14Q) in Q aufgenommen95. Inner
halb des Redestoffes dominieren Droh und Mahnworte, auch die beiden großen
Parabeln in Lk 14, 16 24Q; Lk 19, 12 27Q stehen im Dienst der Gerichtsbotschaft
von Q.
Trotz erheblicher Unterschiede stimmt die Logienquelle mit den synoptischen
Evangelien insofern Überein, als der chronologische Aufriß von Johannes d. T.
94 Vgl. dazu auch H. SchÜrmann, Sprachliche tioneller und inhaltlicher Ebene betont M. HÜne-
Reminiszenzen an abgeÈnderte oder ausgelassene burg, Jesus als WundertÈter, 226: „Die Vorstel-
Bestandteile der Redequelle im Lukas- und Mat- lung von Jesus als WundertÈter wird der Gesamt-
thÈusevangelium, in: ders., Traditionsgeschichtli- perspektive der Komposition dienstbar gemacht,
che Untersuchungen zu den synoptischen Evan- indem sie die von ihm angekÜndigte Basileia Got-
gelien, DÜsseldorf 1968, 111–125. tes mit alttestamentlichen Verheißungen in Be-
95 Die Bedeutung des WundertÈters Jesus von ziehung setzt, ihren prÈsentischen Charakter her-
Nazareth fÜr die Christologie von Q auf komposi- vorhebt und mit der Person Jesu verbindet.“
226 Die Logienquelle
bis zur Belehrung Über die Endereignisse offensichtlich das Prinzip der Stoffan
ordnung bildet (s. u. 3.3.6). Speziell die Stellung der Versuchungsgeschichte zeigt
im Vergleich mit dem Markusaufriß, daß zumindest eine spÈte Redaktions
schicht von Q chronologisch biographische Elemente aufnahm96.
Die Logienquelle entstand vermutlich in (Nord ) PalÇstina , denn sie ist theolo
gisch primÈr auf Israel ausgerichtet97. Israel gilt die Gerichtspredigt am Anfang
und Ende von Q (vgl. Lk 3, 7 9Q; Lk 22, 28 30Q), zahlreiche Logien sind mit ih
ren Ortsangaben und ihrer Lebenswelt palÈstinazentriert (vgl. nur Lk 7, 1Q;
10, 13 15Q), die TrÈger der Logienquelle verstehen sich als gesetzestreu (vgl.
Lk 16, 17Q; 11, 42Q), und den PharisÈern gilt ihre Polemik (vgl. z. B. Lk 11, 39 b
44Q).
Die Logienquelle wurde vor der ZerstÚrung des Tempels abgefaßt98, das Wort
gegen Jerusalem und den Tempel in Lk 13, 34 fQ setzt noch keine kriegerischen
Ereignisse voraus. Eine genauere Bestimmung der Abfassungszeit muß hypothe
tisch bleiben, einige Indizien sprechen allerdings dafÜr, den grundlegenden Ent
stehungsprozeß der Logienquelle im Zeitraum zwischen 40 und 50 n. Chr. anzuset
zen: 1) TrÈger der mÚglicherweise bis in die vorÚsterliche Zeit zurÜckreichenden
LogienÜberlieferung waren sowohl wandernde Jesustradenten als auch Ortsge
meinden99. KontinuitÈt zum Anfang und sich herausbildende Überregionale Ge
meindestrukturen gehÚrten somit gleichermaßen zu den Entstehungsbedingun
gen der Logienquelle. 2) Die Logienquelle setzt Verfolgungen der jungen Ge
meinden durch Juden in PalÈstina voraus (vgl. Lk 6, 22 fQ; 11, 49 51Q, 12, 4 fQ;
12, 11 fQ). In 1 Thess 2, 14 16 erwÈhnt Paulus um 50 n. Chr. bereits zurÜcklie
gende Christenverfolgungen in JudÈa. Die Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus
durch Agrippa I (vgl. Apg 12, 2) erfolgte um 44 n. Chr. 3) Die positive ErwÈh
nung von Heiden in Q (vgl. Lk 10, 13 15Q; 11, 29 31Q; Mt 8, 5 13Q; 5, 47Q;
22, 1 10Q) lÈßt auf eine ³ffnung zur Heidenmission schließen100, die fÜr den
Zeitraum zwischen 40 und 50 n. Chr. gut denkbar ist101. Die Endfassung der Lo
gienquelle kann durchaus spÈter erfolgt sein (zwischen 50 und 60 n. Chr.), denn
sie lÈßt eine bewußte literarische Gestaltung erkennen.
Die Logienquelle lag MatthÈus und Lukas in schriftlicher Form vor102. DafÜr spre
chen folgende Beobachtungen103: 1) Die hohen WortlautÜbereinstimmungen
zwischen MatthÈus und Lukas, die speziell bei lÈngeren Texteinheiten bei fast
hundertprozentiger Wortsymmetrie nicht mehr mit mÜndlicher Àberlieferung
hinreichend erklÈrt werden kÚnnen. Zudem liegt der Übereinstimmende Wort
bestand der aus Q Übernommenen Texte bei MatthÈus und Lukas prozentual hÚ
her als bei den aufgenommenen Markustexten104. 2) Die Parallelen in der Peri
kopenreihenfolge deuten auf schriftliche Vorlagen hin. 3) Dubletten und Dop
pelÜberlieferungen sind Indizien eines schriftlichen Verarbeitungsprozesses.
Die Abweichungen im MatthÈus und Lukas gemeinsamen Logiengut lassen
vermuten, daß beide verschiedene Versionen von Q vor sich hatten (QMt bzw.
QLk)105.
sieht in der Versuchungsperikope Mt 4, 1–11Q 102 Diesen Forschungskonsens teilen nicht: J. Je-
eine direkte Reaktion auf den Versuch Caligulas remias, Zur Hypothese einer schriftlichen Logien-
im Jahr 40 n. Chr., sein Standbild im Jerusalemer quelle Q, in: ders., ABBA, GÚttingen 1966, 90–92;
Tempel aufstellen zu lassen (vgl. Jos, Bell II 184– H.Th. Wrege, Die Àberlieferungsgeschichte der
203) und datiert Q in die 40 er Jahre. Demgegen- Bergpredigt, WUNT 9, TÜbingen 1968.
Über setzt F. W. Horn, Christentum und Juden- 103 Vgl. J. S. Kloppenborg, Formation, 42–51.
tum, 346, die schriftliche Hauptsammlung in grie- 104 Vgl. M. Sato, Q und Prophetie, 16.
chischer Sprache in der Zeit nach 60 n. Chr. an; 105 Vgl. a. a. O., 47–62; C. M. Tuckett, Q, 96–100.
vgl. zuvor z. B. A. JÜlicher – E. Fascher, 339 f. Um 106 So aber z. B. F. Bovon, Lk I (s. u. 3.6.1), 298.
70 n. Chr. datiert P. Hoffmann, QR und der Men- 107 Vgl. zur Analyse F. W. Horn, Glaube und Han-
schensohn, in: The Four Gospels (FS F. Neirynck), deln in der Theologie des Lukas (s. u. 3.6.1), 122–
hg. v. F. Van Segbroeck u. a., BETL 100, Leiden 137. Einen Àberblick zu der gegenwÈrtigen Dis-
1992, 421–456, die Endredaktion von Q. FÜr Hoff- kussion dieser Frage bietet F. Neirynck, QMt and
mann ist der dann geringe zeitliche Abstand zu QLk and the Reconstruction of Q, in: ders., Evan-
MatthÈus/Lukas der Grund, warum Q als selb- gelica II, BETL 99, Leuven 1991, 475–480.
stÈndiges Dokument nicht erhalten blieb.
228 Die Logienquelle
Der Entstehungsprozeß der Logienquelle lÈßt sich nur schwer bestimmen. Unbe
stritten ist die traditionsgeschichtliche Disparatheit des Q Materials, heftig um
stritten hingegen sind die Stadien des Àberlieferungs , Kompositions und Redak
tionsprozesses, an dessen Ende die Logienquelle stand. So unterscheidet D. LÜhr
mann Èltere Q Àberlieferungen (bestimmt durch Menschensohn Christologie
und Naherwartung) und jÜngere Stoffe, in denen die ParusieverzÚgerung an
klingt, Heidenmission vorausgesetzt wird und weisheitliche Elemente dominie
ren. S. Schulz nimmt eine traditionsgeschichtliche Differenzierung zwischen Èlte
ren palÈstinisch judenchristlichen Q Texten und Àberlieferungen einer jÜngeren
hellenistisch judenchristlichen Q Gemeinde Syriens vor. Zur Èltesten Q Schicht
gehÚrten danach Worte des nachÚsterlichen Enthusiasmus (z. B. Makarismen,
Vaterunser), der charismatisch eschatologischen ToraverschÈrfung (z. B. Forde
rung der Feindesliebe, Verbot der Ehescheidung) und der prophetischen Bot
schaft vom nahen SchÚpfergott (z. B. Mt 6, 19 21Q). Die jÜngere Schicht enthielt
nach Schulz Worte Über den irdischen Jesus (z. B. Mt 4, 1 11Q), befaßte sich mit
der ParusieverzÚgerung (z. B. Mt 7, 13 fQ) und dem Gericht Über Israel (z. B.
Mt 19, 28Q), handelte von der Heimholung von ZÚllnern und SÜndern
(Mt 18, 12 14Q) und hatte schließlich Worte Über die Jesusnachfolge und die Ge
meinde zum Inhalt (vgl. Mt 10, 38Q). Auch A. Polag rechnet mit mehreren Ent
wicklungsstufen innerhalb von Q. Die aramÈische ‚PrimÈrtradition‘ wurzelt im
vorÚsterlichen JÜngerkreis. Es folgt eine ‚sekundÈre Traditionsstufe‘, die bereits
kleine Spruchgruppen ausbildet (z. B. Lk 6, 20 f.27 36Q; 10, 4 11. 16Q). Als erste
Redaktionsstufe schließt sich dann die ‚Hauptsammlung‘ an, die in griechischer
Sprache das Korpus von Q schuf. Im weiteren Verlauf der Tradierung erfolgen
EinfÜgungen in die Hauptsammlung, die von der jeweiligen Gemeindesituation,
speziell der Polemik gegen Falschlehrer, bestimmt sind (vgl. Lk 9, 57 62Q;
11, 1 b 13Q; 16, 17Q; 17, 1 fQ u. a.). Als fÜnfte Entwicklungsstufe nimmt Polag
eine spÈte schriftgelehrte Redaktion an. Hier finden sich deutliche christologische
Reflexionen (vgl. Lk 3, 7 9. 16 fQ; 4, 1 13Q; 7, 1 10Q u. a.). P. Hoffmann verzich
tet hingegen auf die Scheidung verschiedener Redaktionsschichten; fÜr ihn steht
die Analyse der Q Texte in ihrer vorliegenden Komposition im Mittelpunkt.
Mit einem Drei Schichten Modell will J. S. Kloppenborg die Entstehung von
Q erklÈren. Danach bilden ‚Weisheitsreden‘ die Èlteste Schicht von Q. Dazu ge
hÚren u. a. der Grundbestand von Feldrede/Bergpredigt und der Aussendungsre
de, ferner Lk 11, 2 4. 9 13Q; 12, 2 12. 22 34Q; 13, 24 14, 35Q109. SpÈter wurde
dieser Komplex mit Stoffen verbunden und z. T. Überformt, die von der Gerichts
ankÜndigung gegen Israel handeln (TÈuferpredigt, Hauptmann v. Kapernaum,
TÈuferanfrage, Beelzebul Streit und Zeichenforderung, Q Apokalypse)110. Als
dritte und letzte Schicht kam die Versuchungsgeschichte hinzu111, sie illustriert
Jesu vorbildhafte Beziehung zu Gott.
Ein komplexes Entstehungsmodell zu Q legt H. SchÜrmann vor. Er versteht Q
als „ein in Stufen zusammengewachsenes Kompositionsgebilde . . ., in dem in
wohl durchdachter Abfolge sechs thematische Reden Jesu sowie kleinere Rede
gÈnge des TÈufers und Jesu zusammengeordnet sind.“112 SchÜrmann spricht
nicht von ‚Àberlieferungsschichten‘, sondern rechnet mit vier ‚Kompositionsfor
men‘, die zugleich ‚Kompositionsstufen‘ sind: 1) ‚Spruch Paare‘. Hierbei handelt
es sich um die Kombination von Herrenworten, z. B. um die Zuordnung von ‚Zu
satzworten‘ bzw. ‚Kommentarworten‘ zu ‚Grundworten‘. 2) ‚Spruch Gruppen‘.
‚Spruch Paare‘ werden zu ‚Spruch Gruppen‘ kombiniert und mit ‚Vor bzw.
Nach Worten‘ versehen. 3) ‚Strukturierte Kompositionen‘. Sie entstehen durch
die bewußte ZusammenfÜgung von ‚Spruch Gruppen‘, hier ist die Redaktion
von Q „form und strukturgebend am Werk.“113 4) ‚Redekompositionen‘. Als
Makrotexte umfassen sie unterschiedliche Kompositionsformen und sprechen
Jesu Wort nachÚsterlich neu zu. Die meisten ‚Redekompositionen‘ entstanden
bereits vor der Endredaktion von Q.
M. Sato unterscheidet innerhalb seines Entstehungsmodells zwei grÚßere re
daktionelle BlÚcke, die vorgegebene Spruchgruppen und Spruchsammlungen
aufnahmen und zu literarischen Einheiten zusammenfÜgten. Die ‚Redaktion A‘
109 Vgl. J. S. Kloppenborg, Formation, 171–237. (FS F. Neirynck), hg. v. F. Van Segbroeck u. a.,
110 Vgl. a. a. O., 102–170. BETL 100, Leuven 1992, 389–401; C. M. Tuckett,
111 Vgl. a. a. O., 246–262; zur Kritik an Kloppen- Q, 69–74.
borg vgl. D. Zeller, Eine weisheitliche Grund- 112 H. SchÜrmann, Kompositonsgeschichte, 327.
schrift in der Logienquelle?, in: The Four Gospels 113 A. a. O., 333.
230 Die Logienquelle
umfaßte den ‚Johannes Komplex‘ (Lk 3, 2 7, 35Q), die ‚Redaktion B‘ den ‚Aus
sendungs Komplex‘ (Lk 9, 57 10, 24Q). Die folgenden Spruchgruppen wurden
von der ‚Redaktion C‘ angefÜgt und zugleich mit den beiden vorangehenden Re
daktionen verknÜpft. Kennzeichnend fÜr die ‚Redaktion C‘ sind nach Sato die
Gerichtsansage gegenÜber Israel und das Motiv der gÚttlichen Weisheit. Als spÈ
tere HinzufÜgungen mÜssen mit Sicherheit Lk 4, 1 13Q, 7, 27Q; 10, 22Q gelten,
die sich formgeschichtlich bzw. inhaltlich von den anderen Q Stoffen abheben.
Sato arbeitet mit einem offenen Modell, „Q ist nicht auf einmal redaktionell fi
xiert worden, sondern durch einen lÈngeren Prozeß von Sammlungen, Addie
rungen, Redaktionen sowie Bearbeitungen zustande gekommen. Eine sukzessi
ve Fortgestaltung charakterisiert die Quelle.“114 Eine darÜber hinausgehende ge
naue Beschreibung dieses Wachstumsvorganges ist nach Sato kaum mÚglich.
Àber die sukzessive Entstehungsgeschichte von Q und deren Anfangs und End
punkt besteht ein relativer Konsens in der Forschung115. ltestes Spruchgut
(vgl. z. B. Lk 11, 52Q; 16, 17Q) wurde anfÈnglich zu Spruchgruppen (vgl. z. B.
Lk 9, 57 60Q; 11, 39 51Q) zusammengefaßt116. Am Ende schreibt die Versu
chungsgeschichte (Mt 4, 1 11Q) die Logienquelle in Richtung Proto Biographie
fort. Texte wie Lk 7, 27Q; 10, 22Q dÜrften ebenfalls auf dieser spÈten Stufe in Q
eingearbeitet worden sein117. Die dazwischen liegende Formationsphase ist
durch die Fortschreibung und ÀberfÜhrung kleinerer Einheiten in komplexere
Kompositionsgebilde geprÈgt. Soziologisch wurde dieser Prozeß durch die Tren
nung von Israel und die Betonung des Gerichtsgedankens bestimmt. So zeichnen
sich der fÜr die Komposition von Q zentrale Eingangs und Schlußteil durch eine
scharfe Polemik gegen Israel aus (vgl. Lk 3, 7 9. 15 17Q/Lk 17Q; 19, 12 27Q;
22, 28 30Q). Als Introitus bzw. testamentarischer Abschluß der Logienquelle
formulieren diese Texte in aller SchÈrfe das Scheitern der Q Missionare gegen
Über Israel und den endgÜltigen Bruch mit dem (ehemals) erwÈhlten Volk. Ab
lehnung der Botschaft, Verfolgung der Boten und daraus folgendes Gericht Über
Israel bestimmen auch Lk 6, 22 fQ; 7, 31 35Q; 11, 29 32Q; 11, 49 51Q; 13, 34 fQ;
Mt 22, 6Q und geben der Logienquelle in der vorliegenden Form ihr theologi
sches GeprÈge118. Der Entstehungsprozeß von Q kann in vielen Einzelheiten
nicht mehr genau aufgehellt werden, eine Bewegung ist jedoch unverkennbar:
114 M. Sato, Q und Prophetie, 46. dien einzelner Texte oder gar der gesamten
115 ZurÜckhaltend gegenÜber Schichtenmodellen Schrift getroffen werden kÚnnen.“
Èußert sich J. SchrÚter, Erinnerung an Jesu Wor- 116 Vgl. F. W. Horn, Christentum und Judentum,
te, 103, wonach „fÜr Q in analoger Weise gilt, 347–352.
was fÜr das MkEv bereits herausgestellt worden 117 Vgl. M. Sato, Q und Prophetie, 35–38.
war, daß nÈmlich die Konzeption einer Schrift zu- 118 Vgl. F. W. Horn, Christentum und Judentum,
nÈchst einmal aus deren Endgestalt heraus zu er- 357 ff; eine andere Position vertritt M. Karrer,
heben ist, bevor Aussagen bezÜglich frÜherer Sta- Christliche Gemeinde und Israel, 146 ff.
Aufbau und Gattung der Logienquelle 231
Auf die anfÈngliche Mission in Israel folgen die Abkehr von der Synagoge und
die (partielle) Hinwendung zu den Heiden.
In der jetzt vorliegenden Form ist die Logienquelle ein sorgfÈltig erstelltes Kom
positionsgefÜge121. Auf die Darstellung der AnfÈnge Jesu folgt als grundlegende
Rede die Bergpredigt. Der Hauptmann v. Kapernaum signalisiert unÜbersehbar
den Einschluß der Heiden in das zunÈchst Israel geltende endzeitliche Handeln
Gottes. Es schließen sich die TÈufersprÜche und die Belehrung Über das JÜnger
sein an. Die sehr positiven Aussagen Über den TÈufer weisen auf die konkurrie
rende TÈuferbewegung hin, die nun durch ihren Meister Über seine eigene WÜr
de und die Bedeutung Jesu belehrt wird. Die Worte Über das Gebet sind auf dem
Hintergrund der beiden folgenden Abschnitte zu verstehen: Nur die lebendige
Verbindung mit Gott gibt die Kraft, sich mutig in den Auseinandersetzungen
zum Menschensohn zu bekennen und darin Gottes Willen zu entsprechen. Aus
einandersetzung mit Israel und Bekenntnis prÈgen die aktuelle Situation der Q
Gemeinde. Auch die Worte vom Sorgen und Wachen geben einen Einblick in
die Probleme der Gemeinde. Sowohl AbhÈngigkeit vom Reichtum oder Sorge
um das Morgige als auch Zweifel an der Wiederkunft des Menschensohnes kÚn
nen Menschen lÈhmend in Beschlag nehmen. Sehr verschiedenartiges Material
prÈgt den vorletzten Kompositionsblock, bevor die Worte Über die Endereignisse
sachgemÈß die Logienquelle abschließen.
Sehr unterschiedlich fallen die Versuche aus, die Logienquelle als Ganzes
formgeschichtlich zu bestimmen. Da eine Passions und Auferstehungsge
schichte fehlt, kann die Logienquelle nicht als ein vollstÈndiges Evangelium be
zeichnet werden. A. JÜlicher nannte deshalb Q ein ‚Halbevangelium‘122. E. Bam
119 Vgl. dazu W. Grundmann, Weisheit im Hori- 120 Vgl. M. Sato, Q und Prophetie, passim.
zont des Reiches Gottes, Stuttgart 1988, 130–239; 121 Vgl. H. SchÜrmann, Zeugnis der Redequelle,
H. v.Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Te- 76 f.
stament, WMANT 64, Neukirchen 1990, 197– 122 Vgl. A. JÜlicher – E. Fascher, Einleitung, 347.
227. 267–280.
232 Die Logienquelle
mel klassifiziert die Logienquelle mit Hinweis auf Lk 22, 28 30 als ‚Testa
ment‘123. J. M. Robinson versteht Q in Analogie zum koptischen Thomasevange
lium als eine weisheitliche Spruchsammlung, der er die Gattungsbezeichnung
lógoi sofw̃n gibt, in neueren VerÚffentlichungen spricht er vom ‚Sayings Gospel
Q‘ (Spruchevangelium Q)124. Im Anschluß an diese Konzeption sieht J. S. Klop
penborg in Q eine Chrien Sammlung125. Er kann dafÜr auf eine Reihe antiker
Parallelen verweisen, zugleich werden aber bei einer Bestimmung von Q als
„wisdom collection“126 die starken biographischen Elemente der Logienquelle
unterbewertet. Die spÈte EinfÜgung der Versuchungsgeschichte erÚffnet nicht
erst eine biographische Dimension, sondern verstÈrkt die biographische Ausrich
tung von Q127.
Als eine Art ‚Prophetenbuch‘ stuft M. Sato die Logienquelle ein128. Die zahl
reichen prophetischen Mikrogattungen konstituieren die Makrogattung, hinter
der ein prophetisch ausgerichteter Nachfolgekreis steht. Der weisheitliche Hori
zont vieler Logien wird nach Sato durch die Dominanz des Prophetischen umge
prÈgt. Allerdings fehlt in der Logienquelle die fÜr die Gattung Prophetenbuch
zentrale Prophetenberufung, und Jesus wird nicht betont als Prophet darge
stellt129. Die traditions , religions und formgeschichtliche Vielfalt von Q fÜhrt
H. SchÜrmann zu dem Urteil, daß diese ‚Redequelle‘ eine eigene literarische Gat
tung sei130. „Es liegt hier eine spezifische, neuartig redigierende Gattung vor, die
vom ‚Kommen‘ Jesu, seinem ‚Geschick‘ und von seinem Epiphanwerden im
Wort (von der Basileia) und am Ende von seiner Parusie berichtet und die weil
uns Q verlorenging in der Tradition keinen sachgerechten Namen fand, die
aber im GegenÜber zur und neben der Passionsgeschichte das zweite Bauele
ment des genus ‚Evangelium‘ wurde.“131 Die Einzigartigkeit von Q ist zugleich
StÈrke und SchwÈche dieser These, denn SchÜrmann kann zu Recht auf die Sin
gularitÈt der Redequelle hinweisen, die aber zugleich eine Gattungsbestimmung
unmÚglich macht132. Als ‚ideale Spruch Biographie‘ bezeichnet D. Dormeyer die
123 Vgl. E. Bammel, Das Ende von Q, 48. 128 Vgl. M. Sato, Q und Prophetie, 299 u. Ú.
124 Vgl. J. M. Robinson, Logoi sophon, 80 ff, ders., 129 Vgl. D. LÜhrmann, The Gospel of Mark and
The Sayings Gospel Q, in: The Four Gospels (FS the Sayings Collection Q, JBL 108 (1989), (51–
F. Neirynck), hg. v. F. Van Segbroeck u. a., BETL 71) 65, der auf Texte wie Lk 7, 26/Mt 11,9; Lk
100, Leuven 1992, 361–388. 11, 31 f/Mt 12, 41 f hinweist, wo die Kategorie des
125 Vgl. dazu J. S. Kloppenborg, Formation, 263– ‚Prophetischen/Propheten‘ als inadÈquat zur Er-
345. fassung der Person Jesu bezeichnet wird.
126 A. a. O., 328. 130 Vgl. H. SchÜrmann, Das Zeugnis der Rede-
127 Gegen J. S. Kloppenborg, Formation, 326: quelle, 65 A 1.
„The addition of the temptation narrative to Q is 131 A. a. O., 77.
probably not enough to allow us to claim a bio- 132 Vgl. M. Sato, Q und Prophetie, 2.
graphical genre for Q; however its addition is one
step in that direction.“
Die Träger der Logienüberlieferung 233
133 Vgl. D. Dormeyer, Das Neue Testament im hat. Mir scheint in der Tat, daß sich die Eigenart
Rahmen der antiken Literaturgeschichte (s. o. von Q sehr viel besser verstehen lÈßt, wenn das
2.3.2), 214–220. Werk nicht als Ausdruck einer gruppenspezifi-
134 Vgl. S. Schulz, Q, 23–25; G. Strecker, Literatur- schen Theologie, sondern der persÚnlichen Inter-
geschichte (s. o. 1.2), 169. essenlage und Auswahlkriterien eines Autors ver-
135 H. v.Lips, Weisheitliche Traditionen (s. o. standen wird, dessen Schrift auf dem Weg der
3.3.5), 226. Buchwerdung noch nicht sehr weit gediehen ist“
136 Vgl. M. Sato, Q und Prophetie, 375 ff. Anders (a. a. O., 36). Weiter vermutet Frenschkowski,
M. Frenschkowski, Welche biographischen „daß Q unter dem Namen des MatthÈus umlief“
Kenntnisse von Jesus setzt die Logienquelle vor- (a. a. O., 40).
aus?, in: From Quest to Q (FS J. M. Robinson), hg. 137 Vgl. G. Theißen, Wanderradikalismus, in:
v. J. M. Asgeirsson – K. De Troyer – M. W. Meyer, ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums,
3–42, der fragt, „ob Q in irgendeiner Form als re- WUNT 19, TÜbingen 21983, 79–105; kritische An-
prÈsentatives Dokument einer Gruppe, oder nicht fragen an diese Position finden sich bei Th.
primÈr als individuelle Sammlung eines Autors Schmeller, Brechungen (s. o. 3.3.3), 50 ff.; C. M.
oder Kompilators zu sehen ist, in welcher dieser Tuckett, Q, 355–367.
zuerst um eigener Interessen willen gesammelt
234 Die Logienquelle
bens und Missionsstil (vgl. 1 Kor 9, 5. 14 f), und die Didache bestÈtigt dieses PhÈ
nomen noch fÜr den Beginn des 2. Jhs. (vgl. Did 11 13). Sehr eindrÜckliche Par
allelen bietet schließlich die Kynikerbewegung, deren radikales Ethos in vielen
Punkten mit den Q Traditionen Übereinstimmt (vgl. Epict, Diss III 22)138.
Viele Q Logien setzen Seßhaftigkeit voraus, so die Gleichnisse vom Senfkorn
und Sauerteig (Lk 13, 18 21Q), das Verbot der Ehescheidung (Lk 16, 18Q) oder
das Wort vom Hausherrn und Dieb (Lk 13, 39 fQ)139. Die seßhaften Sympathi
santen in den Ortsgemeinden140 boten den Wandermissionaren eine materielle
Basis, indem sie Unterkunft (vgl. Lk 9, 58Q) und Unterhalt (Lk 10, 5 7Q) ge
wÈhrten. Dies weist auch auf eine doppelte soziale Schichtung des Q Kreises
hin. In zahlreichen Logien spiegelt sich materielle Armut wider (vgl. z. B.
Lk 6, 20 fQ; 7, 22Q; 11, 3Q), zugleich lassen die Aufforderung zur Entscheidung
zwischen Gott und dem Mammon (Lk 16, 13Q) bzw. den himmlischen und irdi
schen SchÈtzen (Lk 12, 33 fQ) wie auch die Bereitschaft zum uneingeschrÈnkten
Geben in Lk 6, 30Q auf eine wirtschaftliche Basis schließen (vgl. ferner
Lk 14, 15 24Q). In den Ortsgemeinden wurden die Logien gesammelt, und hier
dÜrfte es zu ersten Bearbeitungen des Stoffes gekommen sein. Das VerhÈltnis
zwischen den Wanderpredigern und den OrtsansÈssigen darf nicht statisch ge
dacht werden, es herrschte sicherlich ein reger Austausch zwischen beiden
Gruppen, deren Mitglieder sich teilweise aus dem jeweils anderen Kreis rekru
tierten141. RadikalitÈt und NormalitÈt bedingen und ergÈnzen auch hier einan
der.
Die AnfÈnge des Q Kreises kÚnnen bis in die vorÚsterliche Zeit reichen142,
aber erst nach Ostern setzten die Traditionsbildung und die Ausformung von
Wandermission und Gemeindestrukturen voll ein. Die Wandermissionare tra
dierten Worte des historischen Jesus (vgl. z. B. Lk 6, 20 fQ; 10, 4 6Q; 11, 20Q; 17,
26 f.30Q), zugleich wirkten sie als Propheten des ErhÚhten. Propheten traten als
Sprachrohr des erhÚhten Herrn auf, als unmittelbar inspirierte Sprecher gaben
sie der Gemeinde verstÈndliche Worte des Herrn weiter und legten die Gemein
desituation, die Schrift oder Worte des historischen Jesus aus (vgl. z. B. Lk
138 Vgl. zu diesem SchlÜsseltext Margarethe Bil- meindedokument. 2. Die Q-Gemeinde hat Missio-
lerbeck, Epiktet: Vom Kynismus, PhAnt 34, Lei- nare ausgesandt, die als Wandercharismatiker
den 1978. lebten. 3. Welche (bzw. ob bestimmte) Q-Worte
139 Vgl. ferner Lk 6, 43Q; 6, 47–49Q; 7, 32Q; ausschließlich von solchen Wandercharismati-
11, 11–13Q; 14, 42–46Q; 12, 58Q; 13, 25Q. kern tradiert wurden, ist nicht zu rekonstruieren.
140 Vgl. dazu G. Theißen, Soziologie der Jesusbe- 4. Die Botenrede ist GemeindeÜberlieferung und
wegung, TEH 194, MÜnchen 1977, 21–26. rÜckt damit in die NÈhe eines konstruktiv aus-
141 Anders Th. Schmeller, Brechungen (s. o. wertbaren Zeugnisses fÜr den Lebensstil der Wan-
3.3.3), 93–98, der die Wandermissionare als Be- dercharismatiker“ (a. a. O., 96).
auftragte der Q-Gemeinde ansieht und das Ergeb- 142 Vgl. die Skizze bei M. Sato, Q und Prophetie,
nis seiner Analysen so formuliert: „1. Q ist ein Ge- 375–379.
Die Logienquelle und das Markusevangelium 235
6, 22 fQ; 10, 21 fQ; Mt 12, 31 fQ; Mt 19, 28Q)143. Die Q Logien dienten zur ParÈ
nese, Katechese und Mission, die Breite der Àberlieferung lÈßt weitere Spezifi
zierungen nicht zu. Viele Texte in Q sind nach ‚außen‘ und nach ‚innen‘ gerich
tet.
143 Vgl. die grundlegende Studie von M. E. Bo- nerhalb dieses Modells die Behauptung, Spuren
ring, The Continuing Voice of Jesus, Louisville von Q-Redaktion ließen sich bei Markus nach-
1991, 15–234. weisen, d. h. die Logienquelle in ihrer Letztgestalt
144 Vgl. B. Weiß, Lehrbuch der Einleitung in das habe Markus vorgelegen; vgl. H. T. Fleddermann,
Neue Testament, Berlin 31897, 468 f; W. Bousset, Mark and Q, 211–213.
Wellhausens Evangelienkritik II, ThR 9 (1906), 146 H. T. Fleddermann, Mark and Q, 16, entgeht
44,; in neuerer Zeit vgl. bes. W. Schenk, Der Ein- der grundlegenden Frage, warum Markus die Lo-
fluß der Logienquelle auf das Markusevangelium, gienquelle stoffmÈßig zerstÜckelt hat, mit dem
ZNW 70 (1979), 141–165; W. Schmithals, Einlei- Hinweis, solche EinwÈnde seien zu allgemein.
tung, 403; ferner die Arbeiten von J. Lambrecht 147 Vgl. J. Lambrecht, Q-Influence on Mark 8, 34–
(zuletzt: ders., John the Baptist and Jesus in Mark 9, 1, in: J. Delobel (Hg.), Logia, (227–304) 304.
1. 1–15: Markan Redaction of Q, NTS 38 [1992], 148 Vgl. W. Schmithals, Einleitung, 403: „Die
357–384); D. R. Catchpole, The Beginnung of Q: Spruchquelle Q wurde von Anfang an als ErgÈn-
A Proposal, in: NTS 38, 205–221; H. T. Fledder- zung des MkEv verfaßt und setzt dieses voraus.“
mann, Mark and Q, passim. Eine kritische Dar- 149 Vgl. W. Schenk, Einfluß, 162: „MÚglicherwei-
stellung der gegenwÈrtigen Diskussion bietet se ging es Markus um die kritische Zerschlagung
F. Neirynck, Recent Developments, 421–433. der Sophia-Christologie der Q-Redaktion.“
145 Methodisch von besonderer Bedeutung ist in-
236 Die Logienquelle
Die Theologie der Logienquelle leitet sich aus der GrundÜberzeugung ab, daß
der Stellung zu Jesus und seiner Botschaft Heilsrelevanz zukommt152. Sowohl
die Heilszusage als auch die Gerichtsandrohung sind in Q von ihrem Sprecher
nicht zu trennen. Am Anfang der VerkÜndigung Jesu steht auch in Q die Heils
botschaft, die Seligpreisungen in Lk 6, 20. 21Q formulieren prÈgnant den Heils
zuspruch, der an keinerlei Vorbedingungen gebunden ist. Jesus preist die Au
gen und Ohrenzeugen selig (Lk 10, 23 fQ), die Heilszeit ist angebrochen, denn
„Blinde sehen und Lahme gehen, AussÈtzige werden rein und Taube hÚren, und
Tote stehen auf und den Armen wird die frohe Botschaft verkÜndet“ (Lk
7, 22Q). Die JÜnger werden ausgesandt, um Frieden anzubieten (Lk 10, 5 fQ)
und die NÈhe des Reiches Gottes anzusagen (Lk 10,9. 11 bQ). Die Haltung gegen
Über Jesus und seiner Botschaft ist nicht folgenlos, denn „jeder, der sich vor den
Menschen zu mir bekennt, zu dem wird auch der Menschensohn sich vor den
Engeln Gottes bekennen. Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den
wird auch der Menschensohn vor den Engeln Gottes verleugnen“ (Lk 12,8 fQ).
Die Ablehnung des Heilsanspruches Jesu hat die Gerichtsandrohung zur Folge.
Die Q Missionare werden in Schicksalsgemeinschaft mit ihrem Herrn ‚wie Scha
fe unter die WÚlfe gesandt‘ (Lk 10, 3Q), die Q Gemeinden sind Verfolgungen
durch die Juden ausgesetzt (Lk 6, 22 fQ). Ihre Gerichtsaussage gilt ‚diesem Ge
schlecht‘, das die Botschaft Jesu und ihre Boten ablehnt (vgl. Lk 7, 31Q; 11, 29Q;
11, 30 32Q; 11, 50Q). Die Umkehrpredigt erreichte große Teile Israels nicht (vgl.
Lk 10, 13 15Q; 15, 7Q), die Anstoß an Jesus nahmen (Lk 7, 23Q) und weitere Le
gitimationen forderten (Lk 11, 29 fQ). Deshalb wird es in den Tagen des Men
schensohnes wie in den Tagen Noahs sein, „sie aßen, sie tranken, sie heirateten,
sie ließen sich heiraten bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging und die
Sintflut kam und brachte sie alle um“ (Lk 17, 26. 27Q).
Anders als bei Markus, MatthÈus und Lukas lassen sich in der Logienquelle
keine Themen erkennen, die das gesamte Material strukturieren und ihm ein
150 Vgl. R. Laufen, DoppelÜberlieferungen, 59– auf Q das Wahrscheinlichere.“ JÜlicher geht aller-
77; J. SchÜling, Studien, 215. dings von einer fast gleichzeitigen Entstehung
151 Vgl. A. JÜlicher – E. Fascher, Einleitung, 347: von Markus und Q aus.
„Immerhin ist die Einwirkung des Markusplanes 152 Vgl. D. Kosch, Q und Jesus, 44 ff.
Tendenzen der neueren Forschung 237
153 A. Polag, Mitte der Logienquelle, 110. blems: M. Sato, Q und Prophetie, 383, antwortet
154 Dies bedeutet aber nicht, daß die Logienquelle auf die Frage, warum es in Q keine Passionsge-
die Heilsbedeutung des Todes nicht gekannt schichte gibt: „In keinem Prophetenbuch des Al-
hÈtte; gegen H. E. TÚdt, Menschensohn, 229. ten Testaments wird Über den Tod des Propheten
155 Vgl. nur Lk 7, 34Q; 9, 58Q; 17, 24. 26Q, wo die berichtet.“ H. v.Lips, Weisheitliche Traditionen
IdentitÈt des irdischen mit dem kommenden (s. o. 3.3.5), 278, meint, Q habe Jesus als abge-
Menschensohn vorausgesetzt ist. Zur ErhÚhungs- lehnten Boten der Weisheit verstanden, der Tod
vorstellung vgl. W. ThÜsing, ErhÚhungsvorstel- Jesu sei Hinweis auf die NÈhe des kommenden
lung und Parusieerwartung in der Èltesten nach- Reiches, „ohne als Tod selbst Heilsbedeutung zu
Ústerlichen Christologie, SBS 42, Stuttgart 1970. haben.“
156 Andere neuere LÚsungsversuche dieses Pro-
238 Die Logienquelle
schichte und des theologischen Profils von Q. Die Diskussion der letzten zehn
Jahre wurde wesentlich durch die EntwÜrfe von J. S. Kloppenborg und M. Sato
bestimmt157. Trotz zahlreicher Differenzen in Einzelfragen kann es heute als
Konsens gelten, daß die Logienquelle ein literarisch wie theologisch komplexes
Gebilde ist. Es handelt sich nicht einfach um eine ‚Sammlung‘ von Jesusworten,
sondern um einen eigenstÈndigen theologischen Entwurf, eine bewußte Kom
position, deren Entstehungsgeschichte es zu analysieren, deren Stilgesetze es zu
erheben und deren theologische Intentionen es zu bestimmen gilt. Vorausset
zung fÜr diese Arbeit ist die Erstellung einer sicheren Textgrundlage, wie sie vom
‚International Q Project‘ erstellt wurde. Die ‚Critical Edition of Q‘, die ‚Synoptic
Concordance‘158 und die forschungs und problemgeschichtlich orientierte Rei
he ‚Documenta Q‘ bilden die Materialbasis der weiteren Arbeit an der Logien
quelle159. Thematisch stehen sechs Bereiche im Mittelpunkt der aktuellen For
schung: 1) Wie verlief die literarische Genese von Q? Wurden bereits bestehende
Sammlungen einer umfangreichen Redaktion unterzogen (D. LÜhrmann), so
daß der Analyse der Redaktionsschichten entscheidende Bedeutung zukommt?
Oder mÜssen Redaktion und Tradition weitgehend identifiziert werden, steht al
so die vorliegende Komposition der Texte im Mittelpunkt (P. Hoffmann)? ErklÈrt
das Modell eines sukzessiven Wachstums (H. SchÜrmann, D. Zeller) oder ein Stu
fenmodell (in unterschiedlicher Weise M. Sato/J. S. Kloppenborg) am sachgemÈ
ßesten die Entstehungsgeschichte von Q? Ist mÚglicherweise ein Modell ausrei
chend, daß mit einer Materialsammlung und einer einzigen Redaktion rechnet
(P. Hoffmann, C. M. Tuckett)160. Die Forschung ist von einem Konsens in diesen
Fragen noch weit entfernt, was nicht zuletzt in der KomplexitÈt ihres Untersu
chungsgegenstandes begrÜndet liegt. 2) Welchem literarischen Genre ist Q zuzu
ordnen? Handelt es sich um ein weisheitlich orientiertes Spruchkompendium
bzw. Spruchevangelium (so z. B. J. M. Robinson, J. S. Kloppenborg), ein Prophe
tenbuch (M. Sato) oder um eine Kyniker Diatribe (z. B. B. L. Mack)161? WÈhrend
die kynische Jesus und Q Interpretation nur eine Nebenrolle spielt162, stand
lange Zeit der Gegensatz zwischen einer weisheitlichen (vornehmlich in Nord
amerika) und einer prophetisch apokalyptischen (vornehmlich in Europa) Inter
157 Zur Forschungsgeschichte vgl. C. M. Tuckett, 161 Vgl. B. L. Mack, The Lost Gospel. The Book of
Q, 1–82; J. SchrÚter, Erinnerung, 83–143. Q and Christian Origins, San Francisco 1993; vgl.
158 Vgl. P. Hoffmann – Th. Hieke – U. Bauer (Hg.), ferner F. G. Downing, Christ and the Cynics, Shef-
Synoptic Concordance I–IV, Berlin 1999–2000. field 1988; L. E. Vaage, Galilean Upstarts, Valley
159 Zur Geschichte und den Zielsetzungen des in- Forge 1994.
ternationalen Q-Projekts vgl. Chr. Heil, Die Q-Re- 162 Zur Kritik kynischer Jesusinterpretationen
konstruktion des internationalen Q-Projekts: Ein- vgl. M. Ebner, Kynische Jesusinterpretationen –
fÜhrung in Methodik und Resultate, NT 43 „disciplined exaggeration“? BZ 40 (1996), 93–
(2001), 128–143. 100; C. M. Tuckett, Q, 368–390.
160 Vgl. C. M. Tuckett, Q, 73 f.
Tendenzen der neueren Forschung 239
163 Zur kritischen Diskussion vgl. C. M. Tuckett, 167 Vgl. dazu J. SchrÚter/H.-G. Bethge, Das Evan-
Q, 325–354. gelium nach Thomas (NHC II,2), in: H.-
164 Vgl. zur Forschungsgeschichte J. SchrÚter, Er- M. Schenke – H.-G. Bethge – U. U. Kaiser (Hg.),
innerung, 122–140. Nag Hammadi Deutsch I, GCS N. F. 8, Berlin 2001,
165 Vgl. W. Schrage, Das VerhÈltnis des Thomas- 151–181.
Evangeliums zur synoptischen Tradition und zu 168 vgl. dazu J. S. Kloppenborg, The Sayings Gos-
den koptischen EvangelienÜbersetzungen, BZNW pel Q and the Quest of the Historical Jesus, HThR
29, Berlin 1964. 89 (1996), 307–344.
166 M. Fieger, Das Thomas-Evangelium. Einlei- 169 Lediglich Q 14, 5 berÜhrt die Thematik.
tung, Kommentar, Systematik, NTA 22, MÜnster
1991.
240 Das Markusevangelium
3.4.1 Literatur
Kommentare
KEK 1/2: E. Lohmeyer, 81967. HNT 3: E. Klostermann, 51971; D. LÜhrmann, 1987.
HThK II 1. 2: R. Pesch, 51989.41991. EKK II 1. 2: J. Gnilka, 21986.31989. ThHK 2:
W. Grundmann, 1989. ³TK 2. 1 2: W. Schmithals, 21986. NTD 1: E. Schweizer, 71989.
10
RNT: J. Ernst, 1981. AncB 27: J. Marcus, 1999 (Kap. 1 8). WBC 34.34 a.b: R. A. Gue
lich, 1989; C. A. Evans, 2001. R. H. Gundry, Mark: A Commentary on His Apology for the
Cross, Grand Rapids 1993. B. van Iersel, Markus Kommentar, DÜsseldorf 1993; ders.,
Mark. A Reader Response Commentary, JSNT.S 164, Sheffield 1998.
Monographien
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um, SUNT 8, GÚttingen 1970. K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium,
StANT 23, MÜnchen 1970. D. A. Koch, Die Bedeutung der WundererzÈhlungen fÜr die
170 Vgl. dazu J. S. Kloppenborg, (Hg.), Conflict tere Partei genommen zu haben. Indem sie so auf
and Invention, Valley Forge 1995. politische Fragen einging, erhielt ihre VerkÜndi-
171 Vgl. P. Hoffmann, Studien, 232 f., wonach die gung eine spezifische Nuance, fÜhrte ihr Weg sie
TrÈger von Q als anti-zelotische ‚Friedensbewe- in eine heftige Auseinandersetzung mit den eige-
gung‘ zu verstehen sind. „Die Gruppe scheint mit nen Volksgenossen, denen sie im Namen des
ihrem Bekenntnis zum Menschensohn Jesus, mit Menschensohnes Jesus den Weg der Feindesliebe
der Weitergabe der Botschaft Jesu in dem Kon- als einzige MÚglichkeit der Rettung im bevorste-
flikt zwischen Aufstands- und Friedenspartei, der henden Gericht anbot“; zur Kritik an dieser These
in den Jahren vor dem jÜdisch-rÚmischen Krieg vgl. C. M. Tuckett, Q, 361–363.
die Situation in PalÈstina bestimmte, fÜr die letz-
Literatur 241
Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin 1975. H. RÈisÈnen, Das ‚Messias
geheimnis‘ im Markusevangelium, Helsinki 1976 (erheblich erw. engl. Neubearbeitung:
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en Testaments II (s. o. 3.3.1), 44 78. P. MÜller, „Wer ist dieser?“. Jesus im Markusevange
lium, BThSt 27, Neukirchen 1995. U. Kmiecik, Der Menschensohn im Markusevangelium,
fzb 81, WÜrzburg 1997. D. Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Je
sus Christus, dem Nazarener, SBB 43, Stuttgart 1999. J. Dechow, Gottessohn und Herr
schaft Gottes. Der Theozentrismus des Markusevangeliums, WMANT 86, Neukirchen
2000. P. G. Klumbies, Der Mythos bei Markus, BZNW 108, Berlin 2001.
AufsÇtze
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sammlung mit BeitrÈgen v. E. Schweizer, G. Strecker, J. Roloff, U. Luz u. a.). Ph. Vielhau
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Testament, TB 31, MÜnchen 1965, 199 214. R. Weber, Christologie und ‚Messiasgeheim
nis‘: ihr Zusammenhang und Stellenwert in den Darstellungsintentionen des Markus, EvTh
43 (1983), 108 125. M. Hengel, Probleme des Markusevangeliums, in: Das Evangelium
und die Evangelien, hg. v. P. Stuhlmacher, TÜbingen 1983, 221 265. Ders., Entstehungs
zeit und Situation des Markusevangeliums, in: Markus Philologie, hg. v. H. Cancik, WUNT
33, TÜbingen 1984, 1 45. F. Hahn (Hg.), Der ErzÈhler des Evangeliums. Methodische
NeuansÈtze in der Markusforschung, SBS 118/119, Stuttgart 1985 (wichtige Aufsatzsamm
lung). D. LÜhrmann, Die PharisÈer und die Schriftgelehrten im Markusevangelium, ZNW
78 (1987), 169 185. C. Breytenbach, GrundzÜge markinischer Gottessohn Christologie,
in: AnfÈnge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach u. H. Paulsen, GÚttingen
1991, 169 184. Th. SÚding (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevan
gelium, SBS 163, Stuttgart 1995 (wichtige Aufsatzsammlung). G. Theißen, Evangelien
schreibung und Gemeindeleitung. Pragmatische Motive bei der Abfassung des Markuse
vangeliums, in: Antikes Judentum und FrÜhes Christentum (FS H. Stegemann), hg. v.
B. Kollmann u. a., BZNW 97, Berlin 1999, 389 414.
Forschungsbericht
P. Pokorn, Das Markus Evangelium. Literarische und theologische Einleitung mit For
schungsbericht, ANRW 25. 3, Berlin 1984, 1969 2035.
242 Das Markusevangelium
3.4.2 Verfasser
Der Verfasser des Èltesten Evangeliums erwÈhnt seinen Namen nicht, erst die
EvangelienÜberschrift nennt den Namen Markus. Papias von Hierapolis172 be
richtet um 130 n. Chr. Über Markus: „Markus war der Dolmetscher (ermvneutv´ß)
des Petrus und schrieb sorgfÈltig auf, was er im GedÈchtnis behalten hatte, je
doch nicht der Reihe nach, was vom Herrn gesagt oder getan worden war (ou
me´ntoi táxei tà upò tou˜ kurı´ou v¹ lecXe´nta v¹ pracXe´nta). Denn er hatte den Herrn
weder gehÚrt noch war er ihm nachgefolgt, spÈter aber, wie gesagt, dem Petrus,
der seine LehrvortrÈge nach den BedÜrfnissen einrichtete, nicht jedoch eine zu
sammenhÈngende Darstellung der Herrenworte liefern wollte. Daher trifft Mar
kus keine Schuld (oude`n vºmarten Márkoß), wenn er einiges niederschrieb, wie er
es im GedÈchtnis hatte. Denn er war darauf bedacht, nichts von dem, was er ge
hÚrt hatte, wegzulassen oder etwas falsch wiederzugeben“ (Euseb, HE III 39, 15).
Papias fÜhrt diese Tradition auf den Presbyter Johannes zurÜck, Überliefert wur
de sie ihm von PresbyterschÜlern, die er nach den Àberlieferungen der Apostel
befragte (vgl. Euseb, HE III 39, 4). Papias verteidigt Markus in zweifacher Hin
sicht: 1) Die fehlende Ordnung im Markusevangelium stellt keinen gravierenden
Mangel dar. 2) Markus war kein Augenzeuge des Lebens Jesu, aber seinem
Evangelium liegen die LehrvortrÈge des Petrus zugrunde, was seiner Evangelien
schreibung AuthentizitÈt und GlaubwÜrdigkeit verleiht. Der erste Vorwurf
dÜrfte aus einem Vergleich des Markusevangeliums mit anderen Evangelien
(bes. MatthÈus) erwachsen sein.
Handelt es sich bei der Zuordnung Markus Petrus um eine zuverlÈssige hi
storische Tradition173 oder um eine apologetische Notiz174? Die Papiastradition
mit ihrer nur indirekten ZurÜckfÜhrung des Markusevangeliums auf Petrus
macht deutlich, daß der Name Markus als Verfasser des Evangeliums von An
fang an fest in der Tradition verankert war. Nur so erklÈrt sich der auffÈllige Tat
bestand, daß ein Evangelium einem Theologen zugeschrieben wurde, der nicht
zum Kreis der JÜnger oder Apostel gehÚrte. Wer aber ist dieser Markus? Offen
kundig ist zunÈchst die Verankerung eines Missionars mit Namen Johannes
Markus im paulinischen Traditionskreis, wie Phlm 24; [Kol 4, 10]; 2 Tim 4, 11;
Apg 12, 12. 25; 15, 37. 39 zeigen. Eine direkte Verbindung von dieser Àberliefe
rung zur Papiasnotiz lÈßt sich nicht erkennen. Ein mÚgliches Zwischenglied
172 Zu Person und Werk vgl. Ph. Vielhauer, Ur- 173 So z. B. M. Hengel, Probleme des Markusevan-
christliche Literatur, 757–765; U. H. J. KÚrtner, Pa- geliums, 244 ff.
pias von Hierapolis, FRLANT 133, GÚttingen 174 So z. B. K. Niederwimmer, Johannes Markus
1983; ders., Papiasfragmente, in: U. H. J. KÚrtner – und die Frage nach dem Verfasser des zweiten
M. Leutzsch (Hg.), Schriften des Urchristentums Evangeliums, ZNW 58 (1967), 172–188; Ph. Viel-
III, Darmstadt 1998, 3–103. hauer, Urchristliche Literatur, 260.
Verfasser 243
kÚnnte aber in 1 Petr 5, 13 vorliegen, wo der Briefautor sagt: „Es grÜßt euch die
mitauserwÈhlte (Gemeinde) in Babylon und Markus, mein Sohn.“ MÚglicher
weise drangen die Namen Markus und Silvanus/Silas (vgl. 1 Thess 1, 1; 2 Kor
1, 19; 2 Thess 1, 1; 1 Petr 5, 12) aus der paulinischen in die petrinische Àberliefe
rung ein175. Dann kÚnnte die Verbindung Markus Petrus in der Papiastradition
ihren Ausgangspunkt in 1 Petr 5, 13 haben. Àber die historische GlaubwÜrdigkeit
dieser Tradition ist damit aber noch nicht entschieden, denn weder lÈßt sich hin
ter dem Markusevangelium petrinische Theologie feststellen, noch spielt Petrus
eine Über die Vorgaben der Tradition hinausgehende Rolle im Markusevangeli
um. Niemand wÜrde hinter der eigenstÈndigen Theologie des Markusevange
liums die Person des Petrus vermuten, wenn es nicht jene Papiastradition gÈbe!
Auch eine Verbindung zwischen der paulinischen Theologie und dem Markuse
vangelium lÈßt sich nicht erkennen. Das zweite Evangelium ist somit das Werk
eines uns unbekannten Christen mit Namen Markus176.
War Markus ein gebÜrtiger Jude? DafÜr spricht die korrekte Wiedergabe der zahl
reichen aramÈischen (bzw. hebrÈischen) Worte im Evangelium177. Andererseits
war die Muttersprache des Markus Griechisch, denn die Eigenheiten der markini
schen Sprache weisen nicht auf semitischen Spracheinfluß hin, sondern entspre
chen dem Sprachstil der Volksliteratur und der literarischen Koine178. Da Markus
nachweislich fÜr eine heidenchristliche Gemeinde schrieb (vgl. 3.4.4), wird man
ihn als griechisch sprachigen Heidenchristen bezeichnen kÚnnen, der auch Ara
mÈisch beherrschte, wahrscheinlich wurde er in Syrien geboren und wuchs dort
auf179.
175 Vgl. U. H. J. KÚrtner, Markus der Mitarbeiter lologie, hg. v. H. Cancik, WUNT 33, TÜbingen
des Petrus, ZNW 71 (1980), 160–173. 1984, 73–84.
176 FÜr den Jerusalemer Johannes Markus als 178 Nachweis bei M. Reiser, Syntax und Stil des
Verfasser des Evangeliums plÈdieren u. a. A. JÜli- Markusevangeliums, WUNT 2. 11, TÜbingen
cher – E. Fascher, Einleitung, 296 f; M. Hengel, 1984.
Probleme des Markusevangeliums, 242 ff; B. Reik- 179 Wenn Mk 7, 31 sinnvoll in die markinische
ke, The Roots of the Synoptic Gospels (s. o. 3.2.6), Kompositionstechnik integriert werden kann
165; erwogen wird diese MÚglichkeit von (vgl. hierzu F. G. Lang, „Àber Sidon mitten ins Ge-
R. Pesch, Mk I, 474. Einen uns unbekannten biet der Dekapolis“. Geographie und Theologie in
Christen mit Namen Markus sehen als Verfasser Markus 7, 31, ZDPV 94 [1978], 145–160), wird
u. a. W. G. KÜmmel, Einleitung, 69, Ph. Vielhauer, man dem Evangelisten Kenntnisse in der Geogra-
Urchristliche Literatur, 346; L. Schenke, Markuse- phie PalÈstinas und angrenzender Gebiete nicht
vangelium, 29 f; Th. SÚding, Der Evangelist in sei- einfach absprechen kÚnnen. Problematisch bleibt
ner Zeit, in: ders. (Hg.), Der Evangelist als Theolo- allerdings die in Mk 5, 1 ff vorausgesetzte Lage
ge, 24. von Gerasa in unmittelbarer NÈhe zum galilÈi-
177 Vgl. dazu H. P. RÜger, Die lexikalischen Ara- schen See.
maismen im Markusevangelium, in: Markus-Phi-
244 Das Markusevangelium
Markus schrieb sein Evangelium fÜr Griechisch sprechende Leser bzw. HÚrer,
was sich aus der regelmÈßigen Àbersetzung hebrÈischer bzw. aramÈischer Aus
drÜcke ergibt (vgl. z. B. Mk 3, 17; 5, 41; 7, 11. 34; 9, 43; 14, 36; 15, 22. 34). Auch
die ErklÈrung jÜdischer Ritualvorschriften in Mk 7, 3 f; 14, 12; 15, 42 legt es nahe,
die markinische Gemeinde außerhalb PalÈstinas anzusiedeln. AuffÈllig sind die
zahlreichen Latinismen im Evangelium: modius (4, 21), legio (5,9. 15), specula
tor (6, 27), denarius (6, 37), pugnus (7, 3), sextarius (7, 4), quadrans (12, 42), fla
gellare (15, 15), praetorium (15, 16), centurio (15, 39. 44 f)180. Zudem wird in
Mk 12, 42 das griechische to` leptón in das rÚmische MÜnzsystem Übertragen.
Rom wird deshalb vielfach als Abfassungsort des Markusevangeliums angese
hen181, zumal auch die Verbindung Markus Petrus nach Rom weisen kÚnnte.
Gegen Rom als Abfassungsort lÈßt sich einwenden, daß die Latinismen aus dem
MilitÈr oder Geldbereich stammen und deshalb nicht zwingend nur auf das
Zentrum des Reiches weisen. Außerdem spielen die im ca. 14 Jahre frÜher ge
schriebenen RÚmerbrief anklingenden Probleme der rÚmischen Gemeinde im
Markusevangelium keine Rolle (nómoß fehlt bei Markus!), so daß Markus in
Rom fÜr eine Gemeinde außerhalb Roms schreiben wÜrde! Deshalb werden An
tiochia182 oder allgemein Syrien183, GalilÈa184 und die Dekapolis185 als Abfas
sungsorte vorgeschlagen, oder man verzichtet auf eine nÈhere Bestimmung186.
Aber auch Kleinasien verdient Beachtung, denn hier kÚnnte die Petrus Mar
kus Tradition entstanden sein (1 Petr 5, 13; Papias von Hierapolis). Zudem be
stand die markinische Gemeinde ganz Überwiegend aus Heidenchristen, was
auch nach Kleinasien weist.
Das Markusevangelium entstand entweder kurz vor oder kurz nach 70
n. Chr. 187. Die genaue Datierung entscheidet sich an der Interpretation von
180 Zu einem weiteren mÚglichen Einfluß des La- list in seiner Zeit, in: ders. (Hg.), Der Evangelist
teinischen vgl. P. Dschulnigg, Sprache, 277 f. als Theologe, 30; I. Broer, Einleitung I, 87; J. Mar-
181 So z. B. W. Grundmann, Mk, 25 f; R. P. Martin, cus, Mark, 36. M. Hengel, Entstehungszeit, 45,
Mark: Evangelist and Theologian, Exeter 1972, spricht sich mit Hinweis auf das geographisch un-
52–70; R. Pesch, Mk I, 13; M. Hengel, Entste- klare Surofoinı´kissa gegen Syrien aus.
hungszeit, 43 f; P. Dschulnigg, Sprache, 276– 184 Vgl. W. Marxsen, Einleitung, 148.
280. 620; P. Pokorn, Markus-Evangelium, 2021; 185 Vgl. S. Schulz, Die Stunde der Botschaft, Ham-
B. van Iersel, Mark, 49. burg 31982, 9.
182 Vgl. W. Schmithals, Mk I, 49; H. KÚster, Ein- 186 Vgl. J. Gnilka, Mk I, 34: Das Markusevangeli-
fÜhrung, 602. um wurde an Heidenchristen des Westens ge-
183 Vgl. z. B. W. G. KÜmmel, Einleitung, 70; Ph. schrieben. R. A. Guelich, Mk, XXIX–XXXI, hÈlt so-
Vielhauer, Urchristliche Literatur, 347; D. LÜhr- wohl die Frage nach dem Verfasser als auch nach
mann, Mk, 7; L. Schenke, Markusevangelium, 47; dem Abfassungsort fÜr nicht beantwortbar und
G. Theißen, Lokalkolorit (s. o. 3.1.1), 246–261 meint, beides sei fÜr das Verstehen des Evange-
(sÜdlicher Teil Syriens); Th. SÚding, Der Evange- liums irrelevant.
Ort und Zeit der Abfassung 245
Mk 13, 2. 14. Beide Verse beziehen sich innerhalb ihres jetzigen Makrokontextes
auf die ZerstÚrung des Tempels durch die RÚmer im Jahr 70 n. Chr.188. Umstrit
ten ist allerdings, ob sie bereits auf den Untergang Jerusalems zurÜckblicken
oder als echte Prophezeiungen das Über Jerusalem hereinbrechende Unheil an
kÜndigen. FÜr eine Datierung des Markusevangeliums vor 70 n. Chr. votiert
M. Hengel: „Es entstand vermutlich in der politisch brisanten Zeit nach der Er
mordung Neros und Galbas und vor der Erneuerung des JÜdischen Krieges
durch Titus, d. h. etwa zwischen dem Winter 68/69 n. Chr. und dem Winter 69/
70 n. Chr. Die ZerstÚrung des Tempels ist noch nicht vorausgesetzt, vielmehr er
wartet der Autor das Auftreten des Antichristen (als Nero redivivus) im Heilig
tum und den Anbruch des letzten, schwersten Stadiums der messianischen We
hen vor der Parusie.“189 Hengel unterscheidet bei seiner Deutung allerdings
nicht zwischen der in Mk 13 verarbeiteten Vorlage und der markinischen Redak
tion, er setzt Mk 13, 2. 14 mit der Abfassungszeit des gesamten Evangeliums
gleich. Beide Verse sind aber wahrscheinlich Tradition190 und kÚnnen eine Ab
fassung des Evangeliums vor 70 n. Chr. nicht stÜtzen. „WÈhrend der Standort
des Verfassers der Vorlage vor V. 14 lag, muß der des Mk nach V. 14 20 (22) an
gesetzt werden.“191 Aus der Sicht des Evangelisten sind Mk 13, 2. 14 vaticinia ex
eventu, das Markusevangelium wurde wahrscheinlich nach der ZerstÚrung des
Tempels Anfang 70 n. Chr. geschrieben (vgl. auch Mk 12,9; 15, 38)192.
187 Zur FrÜhdatierung des Markusevangeliums (vgl. a. a. O., 271 A 59; 284), Mk 13, 14 ist eine
mit Hinweis auf das Fragment 7Q5 durch vom Evangelisten aufgenommene Tradition.
C. P. Thiede, Die Èlteste Evangelienhandschrift? 189 M. Hengel, Entstehungszeit, 43. FÜr eine Ab-
Das Markus-Fragment von Qumran und die An- fassung des Markusevangeliums (kurz) vor 70
fÈnge der schriftlichen Àberlieferung des Neuen n. Chr. plÈdieren mit unterschiedlicher BegrÜn-
Testaments, Wuppertal 1986, vgl. die Kritik von dung W. Marxsen, Einleitung, 148 (Entstehung
H. U. Rosenbaum, Cave 7Q5! Gegen die erneute zwischen 67–69 in PalÈstina); E. Lohse, Entste-
Inanspruchnahme des Qumran-Fragments 7Q5 hung, 86; P. Dschulnigg, Sprache, 620; L. Schen-
als BruchstÜck der Èltesten Evangelien-Hand- ke, Markusevangelium, 39; R. A. Guelich, Mk,
schrift, BZ 31 (1987), 189–205. XXXII; B. van Iersel, Mark, 51 (zwischen 65 und
188 G. Zuntz, Wann wurde das Evangelium Marci 70).
geschrieben? in: Markus-Philologie, hg. v. H. Can- 190 Nachweis bei E. Brandenburger, Markus 13
cik (s. o. 3.1.1), 47–71, bezieht Mk 13, 14 auf die und die Apokalyptik, FRLANT 134, GÚttingen
Absicht Caligulas, sein Standbild im Tempel von 1984, 49–54. 81 ff.
Jerusalem aufstellen zu lassen (vgl. Philo, Leg 191 A. a. O., 81.
Gai 197–337; Jos, Bell II 184–203; Ant XVIII 256– 192 In die Zeit (kurz) nach 70 n. Chr. datieren das
309) und datiert mit dieser BegrÜndung das ge- Markusevangelium auch Ph. Vielhauer, Urchrist-
samte Evangelium in das Jahr 40 n. Chr. Auch liche Literatur, 347; J. Gnilka, Mk I, 34; R. Pesch,
G. Theißen, Lokalkolorit (s. o. 3.1.1), 133–176, Mk I, 14; G. Theißen, Lokalkolorit (s. o. 3.1.1),
deutet den ‚Greuel der VerwÜstung‘ auf die Cali- 284; E. Schweizer, Einleitung, 116. Um das Jahr
gula-Krise und setzt die Entstehung der traditio- 70 n. Chr. entstand das Evangelium nach
nellen Apokalypse in Mk 13 auf das Jahr 40 W. G. KÜmmel, Einleitung, 70; A. Wikenhauser –
n. Chr. an. Allerdings entstand das Markusevan- J. Schmid, Einleitung, 221; D. LÜhrmann, Mk, 6;
gelium nach Theißen erst kurz nach 70 n. Chr. Th. SÚding, Der Evangelist in seiner Zeit, in: ders.
246 Das Markusevangelium
3.4.4 Empfänger
(Hg.), Der Evangelist als Theologe, 17; I. Broer, (Hg.), Der Evangelist als Theologe, 119–150.
Einleitung I, 86. 195 Vgl. H. W. Kuhn, Jesu Hinwendung zu den
193 Vgl. L. Schenke, Markusevangelium, 32 ff. Heiden im Markusevangelium im VerhÈltnis zu
194 Vgl hier H. HÜbner, Das Gesetz in der synopti- Jesu historischem Wirken in Betsaida, in: Die
schen Tradition, GÚttingen 21986, 213–226; Weite des Mysteriums (FS H. BÜrkle), hg. v.
U. Luz (– R. Smend), Gesetz, Stuttgart 1981, 116– K. KrÈmer u. A. Paus, Freiburg 2000, 204–240.
119; H. Sariola, Markus und das Gesetz, AASF, 196 Beachte fÜr Markus bes. 7, 19 c: kaXarı´zwn
Diss. Hum. Litt. 56, Helsinki 1990; R. Kampling, pa´nta tà brẃmata.
Das Gesetz im Markusevangelium, in: Th. SÚding
Empfänger 247
197 Vgl. hierzu Z. Kato, Die VÚlkermission im rung in einer politischen Zeit des Umbruchs, in-
Markusevangelium, EHS. T 252, Frankfurt 1986. dem er zeigte: Nicht die neu aufsteigenden Flavier
198 Im unmittelbaren Kontext zum jÜdischen bringen der Welt das Heil, sondern Jesus von Na-
Krieg beschreibt G. Theißen die Situation der zareth, der Gekreuzigte“ (ders., Evangelienschrei-
markinischen Gemeinde und die Leistung des bung und Gemeindeleitung, 413 f).
Evangelisten: „Er gab seiner Gemeinde Orientie-
248 Das Markusevangelium
bei der zentrale Gottessohntitel gleichermaßen Jesu gÚttliches Wesen und sein
Leidens und Todesgeschick benennt. Der Leser des Evangeliums weiß somit
von Anfang an, daß der Weg von der Taufe zum Kreuz fÜhrt und nur von Kreuz
und Auferstehung her ein sachgemÈßes Verstehen der Person Jesus Christus
mÚglich ist. Auch das ErzÈhlgefÈlle des Evangeliums steht im Dienst dieser theo
logischen Aussage, denn schon die Wirksamkeit Jesu in GalilÈa zielt auf Jerusa
lem. Sowohl Mk 2, 6. 7 als auch Mk 2, 18 22 verweisen auf das bevorstehende
Leiden Jesu. Bereits in Mk 3, 6 fÈllt der Todesbeschluß Über Jesus, und seine
Gegner aus Jerusalem streiten schon in Mk 3, 22; 7, 1 mit ihm. Auch in seinem
Tod ist Johannes d. T. (Mk 6, 14 29) der VorlÈufer Jesu. Die drei Leidensweissa
gungen (Mk 8, 31; 9, 31; 10, 32 34) richten den Weg Jesu ebenso auf das Kreuz
aus wie die nochmaligen TodesbeschlÜsse in Mk 11, 18; 12, 12 vor dem Beginn
der eigentlichen Passionsgeschichte.
Der theologischen Grundausrichtung und dem ErzÈhlgefÈlle entspricht
schließlich eine Dreiteilung des Markusevangeliums199. Jesu Wirken innerhalb
und außerhalb GalilÈas schildert der erste Hauptabschnitt des Evangeliums
(Mk 1, 1 8, 26). Der universalen Ausrichtung der markinischen Theologie ent
spricht das Wirken Jesu unter Heiden in Mk 7, 24 8,9200, fÜr das Mk 7, 1 23 die
theologische Grundlegung liefert. Endet der 1. Hauptteil mit der RÜckkehr Jesu
nach GalilÈa, so bildet der Weg Jesu nach Jerusalem zur Passion Mk 8, 27 10, 52
den 2. Hauptteil. Das redaktionelle en tU˜ odw˜ in Mk 8, 27 und 10, 52 zeigt deut
lich an, daß der Evangelist selbst diesen Abschnitt als eigenstÈndigen Teil seines
Evangeliums versteht. Nicht zufÈllig erscheint das Weg Motiv bereits zweimal
im Prolog des Evangeliums (Mk 1, 2.3)201; Jesu Weg nach Jerusalem ins Leiden
ist zugleich fÜr die JÜnger und die Leser des Evangeliums der Weg der Nachfolge,
der zum Heil fÜhrt. Inhaltlich hebt sich Mk 8, 27 10, 52 durch eine Konzentrati
on zentraler christologischer Aussagen ab (vgl. bes. Petrusbekenntnis, Worte
Über die Leidensnachfolge, VerklÈrungsgeschichte, drei Leidensweissagungen).
Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk 11, 1 ff) erÚffnet den 3. Hauptteil, der im Über
lieferten Markusevangelium mit 16, 1 8 endet. Die ErscheinungsankÜndigungen
199 Vgl. z. B. Ph. Vielhauer, Urchristliche Litera- 16,8). Eine Aufteilung des Evangeliums in 5 Sek-
tur, 331 f. Einen Àberblick zu Èlteren Gliede- tionen nimmt F. G. Lang, Kompositionsanalyse
rungsversuchen bietet R. Pesch, Naherwartungen, des Markusevangeliums, ZThK 74 (1977), (1–24)
DÜsseldorf 1968, 50–53. FÜr eine Zweiteilung des 12 f, vor.
Evangeliums plÈdieren in neuerer Zeit z. B. 200 Vgl. zur markinischen Reiseroute bes.
D.-A. Koch, Inhaltliche Gliederung und geogra- F. G. Lang, Geographie und Theologie in Mk 7, 31
phischer Aufriß im Markusevangelium, NTS 29 (s. o. 3.4.2), 154 ff.
(1983), 145–166 (Einleitung 1, 1–13; 1. Hauptteil: 201 Zur literarischen und theologischen Funktion
1, 14–8, 26; 2. Hauptteil: 8, 27–16,8) und L. Schen- des Markusprologs vgl. H. J. Klauck, Vorspiel im
ke, Markusevangelium, 62–74 (Einleitung 1, 1– Himmel? ErzÈhltechnik und Theologie im
13; 1. Hauptteil: 1, 14–10, 52; 2. Hauptteil: 11, 1– Markusprolog, BThSt 31, Neukirchen 1997.
250 Das Markusevangelium
in Mk 14, 28 und 16, 7 lenken den Blick auf GalilÈa zurÜck und verdeutlichen
zugleich, daß fÜr Markus GalilÈa und Jerusalem auch theologische QualitÈt ha
ben. GalilÈa ist der Ort der eschatologischen Offenbarung Gottes, Jerusalem da
gegen der Ort der andauernden Feindschaft gegen Jesus. Mit dieser Umkehrung
jÜdischer Heilsvorstellungen betont Markus auch den Àbergang des Heils von
den Juden an die Heiden (vgl. Mk 12, 1 12).
202 Zur TextÜberlieferung im einzelnen vgl. 205 Der redaktionelle Charakter von Mk 14, 28;
K. Aland, Der Schluß des Markusevangeliums, in: 16, 7 lÈßt sich kaum bestreiten, vgl. z. B. J. Gnilka,
ders., Neutestamentliche EntwÜrfe, TB 63, MÜn- Mk II, 252. 338; D. LÜhrmann, Mk, 242. 270. Man
chen 1979, 246–283. kann natÜrlich auch aus der Bedeutung des
203 So Eta Linnemann, Der (wiedergefundene) Nicht-Gesagten folgern, daß Markus bewußt sein
Markusschluß, ZThK 66 (1969), 255–287; Replik Evangelium mit Kap. 16,8 enden ließ, so J. L.
von K. Aland, ‚Der wiedergefundene Markus- Magness, Sense and Absence. Structure and Sus-
schluß?‘, ZThK 67 (1970), 3–13. pension in the Ending of Mark's Gospel, Atlanta
204 So z. B. A. Lindemann, Die Osterbotschaft des 1986.
Markus, NTS 26 (1979/80), 298–317.
Traditionen, Quellen 251
206 Einen ForschungsÜberblick bietet T. A. Mohr, setzung mit der Literatur!); vgl. ferner F. Hahn,
Markus- und Johannespassion, AThANT 70, ZÜ- Die Rede von der Parusie des Menschensohnes
rich 1982, 15–35; zur Analyse vgl. zuletzt G. Thei- Markus 13, in: Jesus und der Menschensohn (FS
ßen, Lokalkolorit (s. o. 3.1.1), 177–211. A. VÚgtle), Freiburg 1975, 240–266; G. Theißen,
207 Vgl. J. Gnilka, Mk II, 349. Lokalkolorit (s. o. 3.1.1), 133–176.
208 Vgl. R. Pesch, Mk II, 1–27. Die andere Extrem- 212 So z. B. D.-A. Koch, WundererzÈhlungen, 33 f;
position findet sich bei J. Ernst, Mk, 395 f, der nur J. Kiilunen, Die Vollmacht im Widerstreit, AASF
Mk 15, 20 b–47; 16, 1–8 zur vormk. Passionser- Diss. Hum. Litt. 40, Helsinki 1985, 249–266;
zÈhlung rechnet. W. Weiss, ‚Eine neue Lehre in Vollmacht‘, BZNW
209 Zur Kritik an Pesch vgl. bes. F. Neirynck, L'¹- 52, Berlin 1989, 20–31.
vangile de Marc. propos de R. Pesch, Das Mar- 213 Grundlegend M. Albertz, Die synoptischen
kusevangelium (1977. 1979), in: ders., Evangeli- StreitgesprÈche, Berlin 1921; H. W. Kuhn, Samm-
ca, BETL 60, Leuven 1982, 491–561. lungen. Zur Forschungsgeschichte vgl. W. Weiss,
210 Vgl. G. Strecker, Die Leidens- und Auferste- Lehre, 20–31.
hungsaussagen im Markusevangelium (Mk 8, 31; 214 M. Albertz, StreitgesprÈche, 5–16: Mk 2, 1–
9, 31; 10, 32–34), in: ders., Eschaton und Historie, 3, 6; H. W. Kuhn, Sammlungen, 53–98: 2, 1–28;
GÚttingen 1979, 52–75. R. Pesch, Mk I, 149–151: 2, 15–3, 6; J. Gnilka, Mk
211 So die Analyse von E. Brandenburger, Markus I, 131 f: 2, 15–28; D. LÜhrmann, Mk, 15. 56: 2, 15–
13 (s. o. 3.4.3), 166 f (dort auch die Auseinander- 3, 5.
252 Das Markusevangelium
Sitz im Leben, sie spiegeln Konfliktszenen zwischen Christen und Juden bzw.
Heiden und Judenchristen wider und dÜrften schon auf vormarkinischer Ebene
zusammengestellt worden sein215. Auch Mk 3, 1 6216 gehÚrte zu dieser Samm
lung, denn die PharisÈer aus 2, 24 sind in 3, 2 ebenfalls Subjekt, Jesu Frage in 3, 4
bezieht sich auf 2, 24 und auch die Zeitangabe en toı˜ß sábbasin in 2, 23 wird in
3, 1 vorausgesetzt. Weitere vormarkinische Sammlungen finden sich in Mk 4, 1
34 (Gleichnisse)217 und in Mk 10, wo der Evangelist eine katechetische Samm
lung zu den Themen Ehe (Mk 10, 1 12), Besitz (Mk 10, 17 31) und Rangstreben
(Mk 10, 35 45) verarbeitete218. Ob der Evangelist in Mk 4, 35 6, 52 Sammlun
gen von Wundergeschichten aufnahm, ist umstritten219. Neben diesen grÚßeren
Àberlieferungskomplexen integrierte Markus eine Vielzahl kleinerer ErzÈhlun
gen in sein Evangelium.
215 Vgl. zur BegrÜndung im einzelnen H. W. nistexten, NTA 13, MÜnster 21986, 185–259.
Kuhn, Sammlungen, 86 f. 218 Vgl. hierzu H. W. Kuhn, Sammlungen, 146–
216 Mk 3, 6 dÜrfte vom Evangelisten Überarbeitet 191; R. Pesch, Mk II, 127–130; J. Gnilka, Mk II,
worden sein. Die Alternative ‚traditionell‘ (so z. B. 105.
J. Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus, 219 Vgl. die ErÚrterung der Probleme bei
GÚttingen 21973, 64; R. Pesch, Mk I, 188) oder H. W. Kuhn, Sammlungen, 191–213.
‚redaktionell‘ (so z. B. J. Gnilka, Mk I, 126; 220 Ph. Vielhauer, Christologie des Markusevan-
D. LÜhrmann, Mk, 67) greift hier nicht, denn ei- geliums, 213; vgl. auch ders., Urchristliche Litera-
nerseits fordert V. 2 b eine Reaktion der Gegner, tur, 344.
andererseits kommt nun 3, 6 im Aufbau des 221 Ph. Vielhauer, Christologie des Markusevan-
Evangeliums eine zentrale Funktion zu. geliums, 213.
217 Vgl. hier (mit Unterschieden in der Einzelana- 222 Vgl. hierzu G. Friedrich, Die formale Struktur
lyse) H. W. Kuhn, Sammlungen, 99–146; R. Pesch, von Mt 28, 18–20, ZThK 80 (1983), (137–183)
Mk I, 225 ff; J. Gnilka, Mk I, 191 f; H. J. Klauck, 137–151, der auf neuere Ègyptologische Arbeiten
Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleich- hinweist, in denen die Thesen E. Nordens Über
Theologische Grundgedanken 253
tel uıòß Xeou˜ aus Weish 2, 13. 18 abgeleitet werden, wo der leidende Gerechte als
paı˜ß Xeou˜ und uıòß Xeou˜ erscheint223.
In einer akuten Konfliktsituation sieht T. J. Weeden die markinische Gemein
de224. WÈhrend der Evangelist seine Gemeinde in einer Verfolgungssituation
durch den Ruf in die Leidensnachfolge stÈrkte, vertraten in die Gemeinde einge
drungene Missionare eine Xeı˜oß anv´r Christologie. Weeden identifiziert die Geg
ner mit den ‚LÜgenpropheten‘ in Mk 13, 21 f, die sich nach Mk 13, 6. 21 in pneu
matischer Erregung als Medium des erhÚhten Herrn verstanden hÈtten. Die Geg
ner beriefen sich in ihrer Theologie auf die JÜnger Jesu, so daß die Auseinander
setzung zwischen Jesus und seinen JÜngern im Evangelium transparent ist fÜr
den Konflikt zwischen Markus und seinen Gegnern. Markus habe wesentliche
Traditionen seiner Gegner (WundererzÈhlungen, Gleichnisse) aufgenommen,
Überarbeitet und der eigenen theologischen Konzeption dienstbar gemacht.
Eine verwandte Konzeption vertritt R. P. Martin225. Demnach setzt sich Mar
kus mit doketischen Irrlehrern auseinander, die Èhnlich wie die Gegner des Pau
lus in Korinth das Leiden Jesu negierten. DemgegenÜber ruft Markus in einer Si
tuation der Verfolgung zur Kreuzesnachfolge des leidenden Menschensohnes
auf.
Diese und andere Versuche, die Theologie des Markusevangeliums als Resul
tat einer Auseinandersetzung mit rivalisierenden Gemeindegruppen zu verste
hen, mÜssen skeptisch beurteilt werden. Schon die Rekonstruktion des religions
und theologiegeschichtlichen Standortes der vermuteten Gegner gelingt nicht,
weil das Markusevangelium darÜber keine Aussagen macht und die behaupteten
Analogien zu Paulus sehr hypothetisch bleiben. Zudem lÈßt sich das Motiv des
JÜngerunverstÈndnisses nicht auf innerkirchliche Gegner beziehen (vgl. Mk
4, 10 12; 14, 28; 16, 7).
Das Markusevangelium als eine ErzÈhlung des ‚Weges‘ Jesu Christi von der Tau
fe bis zum Kreuz ist ein Ruf in die Leidensnachfolge Jesu Christi. Markus will
seine Gemeinde zu einer sachgemÈßen Erkenntnis der Person und des Werkes
Jesu Christi und zum praktischen Nachvollzug des ‚Weges‘ Jesu fÜhren. Glau
benserkenntnis und Glaubenspraxis gehÚren fÜr ihn untrennbar zusammen. Bei
das Ègyptische KÚnigsritual, auf die Vielhauer sich 225 Vgl. R. P. Martin, Mark: Evangelist and Theo-
berief, nicht mehr vertreten werden. logian (s. o. 3.4.3).
223 Vgl. D. LÜhrmann, Mk, 38.
224 Vgl. T. J. Weeden, Mark – Traditions in Con-
flict, Philadelphia 1971.
254 Das Markusevangelium
226 Vgl. zum markinischen JÜngerverstÈndnis Schweigegebotes einen Ausfahrbefehl als Reak-
E. Best, Following Jesus. Discipleship in the Gos- tion auf die DÈmonenerkenntnis in Mk 5, 7. Ein
pel of Mark, JSNT.S 4, Sheffield 1981; R. Buse- Schweigegebot wÈre hier unangebracht gewesen,
mann, Die JÜngergemeinde nach Markus 10, weil von der traditionellen ErzÈhlung her ein Ge-
BBB 57, KÚnigstein – Bonn 1983; C. C. Black, The sprÈch zwischen Jesus und den DÈmonen vorge-
Disciples according to Mark, JSNT.S 27, Sheffield geben war.
1989. 229 Vgl. zur Analyse J. Gnilka, Mk I, 76 f.85 f.133.
227 Vgl. dazu H. J. Klauck, Die erzÈhlerische Rolle B. Kollmann, Jesu Schweigegebote an die DÈmo-
der JÜnger im Markusevangelium. Eine narrati- nen, ZNW 82 (1991), 267–273, hÈlt auch das
ve Analyse, NT 24 (1982), 1–26. Schweigegebot in Mk 1, 25 fÜr redaktionell.
228 In Mk 5,8 setzt der Evangelist anstelle des
Theologische Grundgedanken 255
230 Zum redaktionellen Charakter von Mk 1, 45; dem Plural autoı˜ß werden alle JÜnger unter das
5, 43 a; 7, 36 vgl. J. Gnilka, Mk I, 91.211.296. Schweigegebot gestellt, obwohl nur Petrus das
231 Gegen R. Pesch, Mk II, 33. 39, ist Mk 8, 30 als Bekenntnis sprach; 5) Sowohl sachlich als auch
redaktionell anzusehen. BegrÜndung: 1) epitimãn formal stimmt Mk 8, 30 mit anderen mk. Schwei-
ist ein mk. Vorzugswort (vgl. Mk 3, 12; 8, 32. 33; gegeboten Überein (vgl. Mk 1, 34; 3, 12; 5, 43;
9, 25; 10, 13. 48); 2) Der mit ıºna eingeleitete Final- 7, 36; 8, 26; 9,9). FÜr redaktionell halten Mk 8, 30
satz entspricht mk. Stil (vgl. Mk 3,9. 12; 5, 43; u. a. E. Schweizer, Mk, 88; J. Gnilka, Mk II, 10;
6, 12; 7, 36; 9,9. 18; 13, 34); 3) mvdeı´ß bzw. mvde´ ist R. Weber, Christologie und ‚Messiasgeheimnis‘,
ein wiederkehrender Bestandteil mk. Schweige- 118; D. LÜhrmann, Mk, 143.
gebote (vgl. Mk 5, 43; 7, 36; 8, 26; 9,9); 4) Mit
256 Das Markusevangelium
232 Vgl. W. Wrede, Messiasgeheimnis, 66 f. hung noch eine Terminierung des Schweigegebo-
233 H. RÈisÈnen, Messiasgeheimnis, 109–117. 161; tes erklÈren. Schließlich sind das mk. JÜngerun-
R. Pesch, Mk II, 39. 77, halten Mk 9,9 fÜr traditio- verstÈndnis in V. 10 und das terminierte Schwei-
nell. Dagegen sprechen die sachlichen und forma- gegebot in V. 9 sehr eng aufeinander bezogen,
len Àbereinstimmungen mit den eindeutig redak- beide entstammen mk. Redaktion; vgl. u. a.
tionellen Schweigegeboten in Mk 5, 43; 7, 36. E. Schweizer, Mk, 100; J. Gnilka, Mk II, 40;
5, 43: kai` diesteı´lato autoı˜ß. . . D. LÜhrmann, Mk, 157.
ıºna mvdei`ß gnoı˜ tou˜to 234 Zum VerhÈltnis von Mk 4, 33. 34 zur Parabel-
7, 36: kai` diesteı´lato autoı˜ß. . . theorie vgl. J. Gnilka, Mk I, 190 f.
ıºna mvdeni` le´gwsin 235 Zu den christologischen Titeln bei Markus vgl.
9,9: kai`. . .diesteı´lato autoı˜ß. . . R. Schnackenburg, Die Person Jesu Christi im
ıºna mvdeni`. . .divgv´swntai Spiegel der vier Evangelien, HThK.S 4, Freiburg
Zudem lassen sich aus der immanenten ErzÈhllo- 1993, 58–79.
gik von Mk 9, 2–8 weder das Thema Auferste-
Tendenzen der neueren Forschung 257
das wahre Wesen Jesu wissen, kommt mit dem Hauptmann unter dem Kreuz
der erste Mensch zu einer zutreffenden Aussage Über die Person Jesu (s. o.
3.1.3). Weitere Elemente der markinischen Kreuzestheologie sind die drei Lei
densweissagungen (Mk 8, 31; 9, 31; 10, 32 34) und die Worte Über die Leidens
nachfolge in Mk 8, 34 9, 1. FÜr Markus heißt Nachfolge Jesu Christi Kreuzes
nachfolge. Jesus selbst ist diesen Weg vorangegangen und erÚffnete ihn damit
den Glaubenden.
Seit der grundlegenden Studie von William Wrede steht das ‚Messiasgeheimnis‘
im Zentrum der Markusforschung. Wrede fÜhrte das Messiasgeheimnis nicht auf
den Evangelisten Markus zurÜck236, sondern sah in ihm das Werk der nach
Ústerlichen, aber vormarkinischen Gemeinde237. Es entstand aus der Notwendig
keit eines Ausgleiches zwischen dem unmessianischen Leben Jesu und dem
nachÚsterlichen Gemeindeglauben. „Es bleibt also schwerlich eine andere MÚg
lichkeit, als dass die Anschauung vom Geheimnis in einem Momente entstand,
wo man von einem messianischen Anspruche Jesu auf Erden noch nichts wuss
te, und das heisst eben, in einem Momente, wo man als den Beginn der Messia
nitÈt die Auferstehung dachte.“238 Im Verlauf der Forschungsgeschichte hatten
sowohl die These unmessianischer Jesustraditionen als auch die Annahme eines
vormarkinischen Ursprunges des Messiasgeheimnisses keinen Bestand. So inter
pretierte Hans JÜrgen Ebeling das Messiasgeheimnis als den einheitlichen Leit
gedanken der markinischen VerkÜndigung239, und mit dem Aufkommen der
redaktionsgeschichtlichen Fragestellungen nach dem 2. Weltkrieg setzte sich all
gemein die Einsicht durch, daß die wesentlichen Einzelelemente des Messiasge
heimnisses und seine theologische Intention auf den Evangelisten Markus zu
rÜckgehen. Dieser bis heute im wesentlichen bestehende Forschungskonsens,
fÜr den die Arbeiten von E. Schweizer240 und der Markuskommentar von
236 Vgl. W. Wrede, Messiasgeheimnis, 145: „Ist liegenden Darstellung des Messiasgeheimnisses.
die Anschauung vom Messiasgeheimnis die Erfin- 238 A. a. O., 227.
dung des Markus? Das ist eine ganz unmÚgliche 239 Vgl. H. J. Ebeling, Das Messiasgeheimnis und
Vorstellung.“ die Botschaft des Marcus-Evangeliums, BZNW
237 Vgl. ebd.: „Aber wo kommt er (sc. der Gedan- 19, Berlin 1939.
ke des Messiasgeheimnisses) her? – Es handelt 240 Vgl. neben dem Markuskommentar bes.
sich also um eine Anschauung, die grÚssere Krei- E. Schweizer, Zur Frage des Messiasgeheimnisses
se, wenn auch nicht notwendig grosse Kreise, be- bei Markus, in: ders., BeitrÈge zur Theologie des
herrscht haben muss.“ Mehrfach betont Wrede Neuen Testaments, ZÜrich 1970, 11–20; ders., Die
aber auch den Anteil des Markus an der nun vor- theologische Leistung des Markus, a. a. O., 21–42.
258 Das Markusevangelium
241 Vgl. J. Gnilka, Mk I, 167–170 (Exkurs: Das 245 R. Pesch, Mk II, 41.
Messiasgeheimnis). 246 Vgl. H. RÈisÈnen, Messiasgeheimnis, 161; vgl.
242 Vgl. H. RÈisÈnen, Die Parabeltheorie im Mar- aber ders., The ‚Messianic Secret‘, 187: „9,9 may
kusevangelium, Helsinki 1973; ders., The ‚Messia- be taken as Markan“. Allerdings Èndert dies nichts
nic Secret‘, 76–143. an der Interpretation des Verses, er ist nach RÈisÈ-
243 H. RÈisÈnen, Messiasgeheimnis, 159. nen nicht der SchlÜssel zur Geheimnistheorie.
244 A. a. O., 168. In: ders., ‚The Messianic Secret‘, 247 Vgl. R. Pesch, Mk II, 39. hnlich wie RÈisÈnen
254, formuliert RÈisÈnen das Ziel der Geheimnis- und Pesch argumentiert J. Ernst, Mk, 240–245;
theorie so: “. . . Mark tries to reject the claims of ders., Das sog. Messiasgeheimnis – kein „Haupt-
people like the bearers of Q-tradition who appea- schlÜssel“ zum Markusevangelium, in: Theologie
led to the authority of the historical Jesus. Mark im Werden, hg. v. J. Hainz, Paderborn 1992, 21–
defends (unjustifiably at the historical level) his 56.
Hellenistic viewpoint by showing that the dispu- 248 Vgl. neben dem in 3.4.1 genannten Aufsatz
ted points go back to Jesus himself.“ Die Geheim- R. Weber, Christologie und „Messiasgeheimnis“
nistheorie ist „a historicizing subsidiary idea im Markusevangelium, Diss. theol., Marburg
which Mark uses to carry on an actual debate“ 1978; vgl. zur umfassenden Kritik an RÈisÈnen
(a.a.O., 257 f). ferner F. Fendler, Studien, 105–146.
Tendenzen der neueren Forschung 259
solcher vor diesen Ereignissen noch nicht angemessen erfaßt werden.“249 Eine
pragmatische Funktion gibt G. Theißen dem Geheimnismotiv: Aus der Paralleli
tÈt zwischen der Textwelt des Evangeliums und der realen Welt der Leser/HÚrer
kann geschlossen werden, daß die sukzessive EnthÜllung des Geheimnisses und
die damit wachsende GefÈhrdung Jesu in der sozialen Welt der markinischen
Gemeinde eine reale Entsprechung hat. „Mit einem Wort: Das Persongeheimnis,
das im Zentrum aller Geheimnismotive steht, ist ein Schutzgeheimnis. Solange
Jesus durch Geheimnis geschÜtzt ist, muß er nicht leiden. Sobald er aus dem Ge
heimnis heraustritt, nÈhert er sich dem Leiden. Dem entspricht: Solange die
Christen durch Geheimnis geschÜtzt sind, mÜssen sie nicht leiden; sobald sie aus
dem Schutz des Geheimnisses heraustreten, nÈhern sie sich dem Leiden.“250
Deutlich erkennbar ist in der neueren Forschungsgeschichte die Tendenz,
Markus nicht mehr nur vom Messiasgeheimnis her zu interpretieren. Markus er
scheint als Theologe von Rang, dessen literarische und theologische Kompetenz
weder geleugnet noch auf das Messiasgeheimnis reduziert werden kann. Andere
Aspekte markinischer Theologie treten in den Vordergrund.251 Das markinische
GlaubensverstÈndnis arbeitet Th. SÚding heraus. „Markus entwickelt gerade da
durch ein zwar komplexes und spannungsvolles, aber eben darin theologisch
profiliertes GlaubensverstÈndnis, weil er Glaube als vom (irdischen wie vom auf
erstandenen) Gottessohn Jesus ermÚglichte und geforderte Antwort auf Gottes
Basileia Handeln versteht, die in dem Maße zu einem (das ganze Leben bestim
menden) rÜckhaltlosen Vertrauen auf Gott wird, wie sie in ihrer Ausrichtung
auf Jesus Christus spannungsvolles Zueinander von Bekenntnisglaube und Ver
trauensglaube ist.“252 Den grundlegenden Zusammenhang zwischen Nachfolge
und Zukunftserwartung betont C. Breytenbach. Die NachfolgeerzÈhlungen be
halten auch nach Ostern ihre paradigmatische Bedeutung, im Wissen um Jesu
Auferstehung binden sich die JÜnger „rÜckhaltlos an das Evangelium, das ihn
vertritt. . . . Die markinische Nachfolgevorstellung ist durchweg auf die Zukunft
ausgerichtet. Der christologische RÜckblick wird stets durch einen Ausblick er
gÈnzt. Der Gekreuzigte selbst wird als kommender Menschensohn erwartet.
Hiermit ist die Erwartung des machtvollen Anbruchs der jetzt noch verborgenen,
aber sicher kommenden Gottesherrschaft verbunden (Mk 8, 38; 9, 1; 13, 26 f),
und von dieser Erwartung her empfÈngt die Nachfolge ihre Motivierung.“253
249 R. Weber, Christologie und ‚Messiasgeheim- (JÜngerschaft und Kirche) und Th. SÚding (Leben
nis‘, 125. nach dem Evangelium) in: Th. SÚding (Hg.), Der
250 G. Theißen, Evangelienschreibung und Ge- Evangelist als Theologe.
meindeleitung, 405. 252 Th. SÚding, Glaube bei Markus, 552.
251 Vgl. dazu die BeitrÈge von K. Scholtissek (Der 253 C. Breytenbach, Nachfolge und Zukunftser-
Sohn Gottes fÜr das Reich Gottes), K. Backhaus wartung, 338.
(„LÚsegeld fÜr viele“ [Mk 10, 45]), K. Kertelge
260 Das Markusevangelium
Auf die Bedeutung des exousı´a Begriffes (redaktionell in Mk 1, 22. 27; 2, 10;
3, 15; 6, 7; 11, 28. 29. 33; 13, 34) fÜr die markinische Christologie weist K. Schol
tissek hin. Danach ist die exousı´a des Irdischen „Ausdruck der messianischen
Sendung des Gottessohnes zur VerkÜndigung und Vermittlung der nahen Got
tesherrschaft.“254 P. G. Klumbies hÈlt die Christologie nicht fÜr das Zentrum der
markinischen Jesus Darstellung. „Im Vordergrund steht das von Jesus vertrete
ne soteriologische Anliegen. Der Protagonist der Handlung tritt dafÜr ein, Gott in
seiner Integration und Freiheit erÚffnenden Zuwendung zum Menschen zum
Zuge kommen zu lassen. Zentral ist das theo logisch fundierte Interesse an der
Soteriologie. Diese ist freilich auch einem christologischen Rahmen zugeordnet.
Allerdings steht dieser Bezugsrahmen im Gegensatz zur Kategorie des Messiasge
heimnisses, die als ein Relikt Liberaler Theologie durch die Arbeit Wredes ein
flußreich geworden ist und in modifizierter Weise von der dialektisch theolo
gisch beeinflußten Formgeschichte Übernommen wurde.“255 Man wird diese Er
weiterung des Interpretationsspektrums begrÜßen mÜssen, zugleich bleibt aber
die Frage nach dem Persongeheimnis Jesu Christi ein zentrales Motiv markini
scher Christologie und Theologie.
Ein weiterer Schwerpunkt neuerer Untersuchungen ist die ErzÈhlstruktur des
Markusevangeliums (‚literary criticism‘)256. Dabei steht die GesamterzÈhlung
unter synchroner Perspektive im Mittelpunkt. Der ErzÈhler des Evangeliums,
seine erzÈhlte Welt sowie der implizite und/oder historische HÚrer/Leser werden
in den Blick genommen. Der ErzÈhlplan/das ErzÈhlgerÜst (‚plot‘) und die ErzÈhl
perspektive (‚point of view‘) des Autors sollen erfaßt werden, d. h. die Art und
Weise, wie er seine Geschichte prÈsentiert. Das ErzÈhlen in der 3. Person, die All
wissenheit des Autors, Zeit und Raumebenen, das Auftreten von Personen,
SchauplÈtze und Ereignisse, VerknÜpfungen und szenischer Aufbau, psychologi
sche Darstellungselemente und Übergreifende narrative Strukturen werden un
tersucht. „War Markus Sammler, Redaktor oder ErzÈhler? . . . Meines Erachtens
kann der Nachweis erbracht werden, daß Markus uns die Geschichte Jesu dar
stellt, wie er sie sah, und aus diesem Grund mÚchte ich ihn einen erzÈhlenden
Autor nennen. Mit Sicherheit ist er nicht nur Sammler“.257 Behutsam integriert
D. LÜhrmann neue Fragestellungen in seine Auslegung. Zwar nimmt Markus
vorgegebene Traditionen auf, aber das Evangelium ist „nicht einfach als Addition
vorformulierter Texte anzusehen, sondern als Neuformulierung der Àberliefe
rung, die zu einem neuen Werk fÜhrt.“258 B. van Iersel wÈhlt als methodischen
Ausgangspunkt, „daß Markus als Buch Überliefert ist und eine derartige Einheit
bildet, daß man das Buch nur verstehen kann, wenn man es als ganzes liest und
zu verstehen sucht und dabei nicht vergißt, daß es die Form einer ErzÈhlung
hat.“259 D. Dormeyer interpretiert das Markusevangelium auf erzÈhlerischer und
theologischer Ebene im Kontext der antiken philosophischen Herrscherbiogra
phie. Die Leitbegriffe ‚Evangelium‘ und „KÚnigsherrschaft Gottes‘ bringen auch
eine politische Dimension zum Ausdruck. „Der monopolistische Anspruch Roms
auf Eroberung und patriarchalische Beherrschung (Patrocinium) der bewohnten
Erde (³kumene) wird von der angebrochenen KÚnigsherrschaft Gottes aufgeho
ben und als Dienst umdefiniert. Entsprechend wird der Anspruch des CÈsars auf
gÚttliche Abstammung und Vollmacht zur Legitimation des rÚmischen Herr
schaftsmonopols aufgehoben und umdefiniert durch Jesu von Nazaret leidende
MessianitÈt und Gottessohnschaft.“260
3.5.1 Literatur
Kommentare
KEK (Sonderband): E. Lohmeyer ( H. W. Schmauch), 41967. HNT 4: E. Klostermann,
4
1971. HThK I 1. 2: J. Gnilka, 21988. 1988. EKK I/1 4.: U. Luz, 41997. 21996. 1997.
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257 W. S. Vorster, Markus – Sammler, Redaktor, 259 B. M. F. van Iersel, Markus, 50.
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zÈhler des Evangeliums, (11–36) 35 f. albiographie, 319.
258 D. LÜhrmann, Mk, 15.
262 Das Matthäusevangelium
Monographien
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1951. A. Sand, Das MatthÈus Evangelium, EdF 275, Darmstadt 1991.
Verfasser 263
3.5.2 Verfasser
Àber den Verfasser des Evangeliums berichtet Papias auf der Basis der ihm zu
gÈnglichen Presbytertraditionen: „MatthÈus hat nun in hebrÈischer Sprache die
Worte zusammengestellt, ein jeder aber Übersetzte sie, wie er dazu in der Lage
war.“261 Das hohe Alter dieser Tradition bestÈtigen EbEv fr 4262 und die Evange
lienÜberschrift, die jeweils an den Anfang des 2. Jhs. zu datieren sind. Dennoch
lÈßt die Papiasnotiz keine sicheren historischen RÜckschlÜsse zu, denn eine he
brÈische Urfassung von Àberlieferungskomplexen des MatthÈusevangeliums
lÈßt sich nicht nachweisen, und der Nachsatz bei Papias bezieht sich auf Mat
thÈus und Markus. Gegen eine Identifizierung263 des Verfassers mit dem Herren
jÜnger MatthÈus (vgl. Mt 10, 3; Mk 3, 18; Lk 6, 15; Apg 1, 13) sprechen zwei Be
obachtungen: 1) Es ist sehr unwahrscheinlich, daß ein Augenzeuge des Wirkens
Jesu als Grundlage fÜr seine Darstellung das Werk des Nicht Augenzeugen Mar
kus benutzte264. 2) In der NamensÈnderung Mt 9,9 (MatthÈus, in Mk 2, 14 heißt
der ZÚllner noch Levi) spiegelt sich deutlich ein sekundÈrer Prozeß wider, der
fÜr einen Augenzeugen nicht nachvollziehbar ist. Eine Parallele zu diesem Ver
fahren findet sich in Mt 27, 56, wo die unbekannte Salome aus Mk 15, 40 durch
die Mutter der Zebedaiden ersetzt wird (vgl. auch Mt 20, 20). Wahrscheinlich
spielte der HerrenjÜnger MatthÈus in der Entstehungsgemeinde des 1. Evange
liums eine wichtige Rolle, was die NamensÈnderung in Mt 9,9 und den Zusatz o
telẃnvß in Mt 10, 3 erklÈrt. Deutlich zu erkennen ist die theologische Intention
dieser Inanspruchnahme eines Augenzeugen: Der Evangelist bindet seine Ge
meinde an einen HerrenjÜnger und Mitglied des ZwÚlferkreises und damit an
den irdischen Jesus selbst, an dessen im Evangelium entfaltete Lehre die Ge
meinde gewiesen wird265. Mt 13, 52; 23, 34 weisen darauf hin, daß MatthÈus in
seiner Gemeinde als Lehrer tÈtig war266. Auch der Umgang mit der Schrift und
261 Euseb, HE III 39, 16. J. KÜrzinger, Papias von 263 DafÜr plÈdieren z. B. B. Reicke, Roots (s. o.
Hierapolis und die Evangelien des Neuen Testa- 3.2.6), 160; R. H. Gundry, Matthew. A Commen-
ments, EichstÈtter Materialien 4, Regensburg tary on his Literary and Theological Art, Grand
1983, 103, Übersetzt: „MatthÈus hat nun in he- Rapids 1982, 620.
brÈischem Stil die Worte (Über den Herrn) in lite- 264 Vgl. U. Luz, Mt I, 77.
rarische Form gebracht. Es stellte sie ein jeder so 265 Vgl. U. Luz, Mt II, 42.
dar, wie er dazu in der Lage war.“ KÜrzinger be- 266 Vgl. K. Stendahl, School, 20, (Mt als „hand-
zieht dia´lektoß nicht auf die aramÈische Sprache, book issued by a school“); G. Strecker, Weg der
sondern auf die Komposition des griechischen Gerechtigkeit, 39 (christlicher Schriftgelehrter);
MatthÈusevangeliums. W. Schmithals, Art. Evangelien, TRE 10 (1982),
262 EbEv fr 4 = Epiph, Haer 30, 13. 2 f; vgl. dazu 619 (Leiter einer Katechetenschule); U. Luz, Mt I,
Ph. Vielhauer u. G. Strecker, Judenchristliche 60 f.76 (Mt als Lehrer, nicht aber als Schulhaupt,
Evangelien, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neute- sondern kreativer Exponent seiner Gemeinde);
stamentliche Apokryphen I, TÜbingen 51987, J. Gnilka, Mt II, 516. 532 (Unterscheidung zwi-
138–142. schen der Gemeinde und der Schule des Mat-
264 Das Matthäusevangelium
thÈus sowie eines Lehrerstandes innerhalb der Mt I, 62 f; J. Gnilka, Mt II, 515 f; J. Roloff, Kirchen-
Gemeinde); M. Hengel, ThR 52 (1987), 342 f A 28 verstÈndnis, 339. I. Broer, Einleitung I, 103–110.
(„eine Art christliches Schulhaupt“). 269 Vgl. z. B. P. Nepper-Christensen, Das MatthÈ-
267 Zu Recht betont U. Luz, Mt I, 76 f: „Ein usevangelium. Ein judenchristliches Evangeli-
Schriftgelehrter im Sinne eines rabbinisch ge- um?, AThD 1,
rhus 1954, 202–208; W. Trilling,
schulten Exegeten war er wohl nicht; dafÜr feh- Israel, 215; G. Strecker, Weg der Gerechtigkeit,
len die Indizien.“ Luz hebt das gute griechische 15–35; R. Walker, Heilsgeschichte, passim;
SprachgefÜhl und eine Synagogenbildung des J. P. Meier, Law and History in Matthew's Gospel,
MatthÈus hervor. AnBib 71, Rom 1976, 14–21.
268 So z. B. E. Schweizer, Einleitung, 122; U. Luz,
Ort und Zeit der Abfassung 265
270 Vgl. in diesem Sinn z. B. H. Stegemann, „Die 271 Vgl. a. a. O., 273.
des Uria“, 271, der feststellt, „daß die judaistische 272 Vgl. dazu W. D. KÚhler, Die Rezeption des
Komponente der matthÈischen Theologie von MatthÈusevangeliums in der Zeit vor IrenÈus,
vornherein hellenistisch-jÜdisch gewesen ist, . . .“. WUNT 2. 24, TÜbingen 1987, 19–56. 73–96.
266 Das Matthäusevangelium
3.5.4 Empfänger
Die Situation der matthÈischen Gemeinde ist wesentlich durch den Bruch mit Is
rael bestimmt279, der zu Repressionen und Verfolgungen gegenÜber den mat
thÈischen Christen fÜhrte (vgl. Mt 10, 17 f; 23, 34)280. Abstand und Auseinander
setzung281 mit Israel zeigen sich auf sprachlicher Ebene z. B. in der stereotypen
273 DarÜber besteht ein großer Konsens in der Neuen Testament, GNT 10, GÚttingen 1993, 146–
Forschung, vgl. nur G. Strecker, Weg der Gerech- 154. Nach Roloff ist die innere Situation der mat-
tigkeit, 37; U. Luz, Mt I, 73 f; J. Gnilka, Mt II, 514; thÈischen Gemeinde durch zwei Konflikte ge-
U. Luck, Mt, 15. prÈgt: 1) MatthÈus mußte sich mit einer streng ju-
274 So z. B. E. Schweizer, MatthÈus und seine Ge- denchristlichen Gruppe auseinandersetzen, die
meinde, 138 f; J. Zumstein, Antioche sur l'Oronte sich Heidenmission „nur unter der Bedingung der
et l'vangile selon Matthieu, SNTU 5 (1980), vollen Àbernahme der Tora vorstellen kann“
122–138; J. P. Meier, Antioch, in: R. E. Brown – (a. a. O., 147); 2) Der Kern der Gemeinde war aus
J. P. Meier, Antioch and Rome, New York 1983, dem Kreis radikaler Wandercharismatiker hervor-
11–86; U. Luz, Mt I, 74 (eine naheliegende MÚg- gegangen, deren Ethos von den seßhaften Ge-
lichkeit); R. Schnackenburg, Mt I, 8 f; I. Broer, meindegliedern, den ‚Kleinen‘ (vgl. Mt 10, 42;
Einleitung I, 113 f. 11, 11; 18, 6. 14), nur eingeschrÈnkt geteilt wurde.
275 Vgl. J. Gnilka, Mt II, 515. G. Scheuermann, Gemeinde im Umbruch, 250–
276 Vgl. G. D. Kilpatrick, The Origins of the Gospel 252, sieht die matthÈische Gemeinde in einem
according to St. Matthew, Oxford 1946, 134. dreifachen Umbruchprozeß: 1) Bruch mit der
277 Vgl. G. Theißen, Lokalkolorit (s. o. 3.1.1), Synagoge; 2) Auseinandersetzung mit externen
262 f. Wandercharismatikern (vgl. Mt 7, 15–23; 18, 6–9;
278 Vgl. auch G. Strecker, Weg der Gerechtigkeit, 24, 10–12); 3) Als Reaktion auf interne MißstÈnde
35 f (90–95); J. Gnilka, Mt II, 520 (um 80); erfolgt eine VerschÈrfung der Disziplinarmaßnah-
R. Schnackenburg, Mt, 9 (85–90); U. Luz, Mt I, 76 men (Mt 18).
(Abfassung nicht lange nach 80); I. Broer, Einlei- 280 Dabei zeigt der Zusatz kai` toı˜ß eµXnesin in
tung I, 110–113 (zwischen 80 und 90); anders Mt 10, 18 deutlich, daß diese Auseinandersetzung
R. H. Gundry, Matthew (s. o. 3.5.2), 599–609, der fÜr den Evangelisten bereits geraume Zeit zurÜck-
fÜr 65–67 als Abfassungszeit plÈdiert; auch D. A. liegt und er sie in seine universale Konzeption in-
Hagner, Mt I, LXXIV, votiert fÜr eine Abfassung tegrierte, vgl. G. Strecker, Weg der Gerechtigkeit,
vor 70 n. Chr. 30.
279 Vgl. U. Luz, Mt I, 70; K. Pantle-Schieber, An- 281 Gegen G. Bornkamm, Enderwartung und Kir-
merkungen zur Auseinandersetzung von ekklv- che im MatthÈusevangelium, in: Bornkamm –
sı´a und Judentum im MatthÈusevangelium, Barth – Held, Àberlieferung und Auslegung, 36
ZNW 80 (1989), 145–162; J. Roloff, Die Kirche im („Auf Schritt und Tritt bestÈtigt das Matth.-Ev.,
Empfänger 267
Rede von ‚ihren/euren Synagogen‘ (vgl. Mt 4, 23; 9, 35; 10, 17; 12,9; 13, 54;
23, 34; ferner 6, 2. 5; 23, 6) und den ‚Schriftgelehrten und PharisÈern‘ (vgl.
Mt 5, 20; 12, 38; 15, 1; 23, 2. 13. 15. 23. 25. 27. 29). Das ‚heuchlerische‘ Tun der
PharisÈer und Schriftgelehrten (vgl. z. B. Mt 6, 1 18; 23, 1 36) entlarvt und Über
bietet MatthÈus durch das Tun der ‚besseren‘ Gerechtigkeit (Mt 5, 20) und die
umfassende ErfÜllung des ursprÜnglichen Willens Gottes (vgl. z. B. Mt 5, 21 48;
6,9. 10 b; 12, 50; 15, 4; 18, 14; 19, 3 9; 21, 31), die als Voraussetzung fÜr den Ein
tritt in das Himmelreich erscheinen (vgl. Mt 23, 13). Die Verwerfung Israels ist
fÜr die matthÈische Gemeinde schon lÈngst RealitÈt (vgl. Mt 8, 11 f; 21, 43; 22,9)
und die Heidenmission selbstverstÈndliche Praxis (vgl. neben Mt 28, 18 20 bes.
Mt 12, 21; 13, 38 a; 24, 14; 26, 13). Die exponierte Stellung des Missionsbefehls
als dem hermeneutischen und theologischen SchlÜssel fÜr das gesamte Evangeli
um (s. u. 3.5.9) zeigt, daß sich die Gemeinde nicht erst auf dem Weg zur ³ffnung
fÜr die Heidenmission befand282, sondern schon lÈngst planmÈßige Heidenmissi
on betrieb283. Dies legen nicht nur die zahlreichen heilsuniversalistischen Aussa
gen nahe, sondern auch die urchristliche Theologiegeschichte. Die vorpaulini
sche, paulinische, vormarkinische und vorlukanische Heidenmission lÈßt es als
sehr unwahrscheinlich erscheinen, daß die matthÈische Gemeinde erst ca. 40
50 Jahre nach dem umfassenden Einsatz der Heidenmission diesen Schritt voll
zog.
Der wiederholte Aufruf zum Tun des Willens Gottes (vgl. Mt 7, 21; 12, 50;
21, 31) signalisiert ein grundlegendes Problem der matthÈischen Gemeinde: Das
Bleiben im Gnadenhandeln Gottes, ohne im Glauben und in der Liebe zu ermat
ten. Der ‚KleinglÈubigkeit‘ (vgl. Mt 6, 30; 14, 31; ferner 8, 26; 16,8; 17, 20) tritt
MatthÈus mit einer umfassenden ParÈnese entgegen, deren Schwergewicht auf
dem Tun der ganzen Tora (vgl. Mt 5, 17 19) bzw. der Gerechtigkeit (vgl.
Mt 3, 15; 5, 6. 10. 20; 6, 1. 33; 21, 32), auf der Vollendung (vgl. Mt 5, 48; 19, 21)
und den FrÜchten des Glaubens liegt (vgl. Mt 3, 10; 7, 16 20; 12, 33; 13,8;
21, 18 22. 33 46). Mit dem Aufruf zur mutigen Glaubenspraxis und dem Bleiben
im Glauben verbindet MatthÈus Ausblicke auf das jÜngste Gericht (vgl. Mt 3, 10;
5, 29; 7, 16 ff; 10, 15; 18, 21 35; 19, 30; 23, 33. 35 f; 24, 42 u. Ú.). Kaum zufÈllig fin
daß die von ihm reprÈsentierte Gemeinde sich MatthÈus: „Die Sendung zu den Heiden mit dem
vom Judentum noch nicht gelÚst hat“), und Ziel, sie zum Gott Israels zu bekehren und sie den
R. Hummel, Auseinandersetzung, 29. 31. 159 f, die Willen Gottes zu lehren, steht zu dem skizzierten
von einer Èußeren ZugehÚrigkeit und inneren jÜdischen SelbstverstÈndnis der mt Christen kei-
SelbstÈndigkeit der matthÈischen Gemeinde ge- neswegs in Widerspruch. Denn das Hinzukom-
genÜber der Synagoge ausgehen. men der Heiden wurde im Rahmen von propheti-
282 Dies behauptet z. B. U. Luz, Mt I, 65–70. schen Traditionen begriffen, die fÜr die Heilszeit
283 A. v. Dobbeler, Die Restitution Israels, 43, ver- die Einbeziehung der VÚlker verkÜndeten, ohne
ortet die Sendung zu den Heiden innerhalb eines daß dadurch die Unterschiede zwischen Israel
grundsÈtzlich judenchristenlichen Standortes des und den VÚlkern als aufgehoben galten.“
268 Das Matthäusevangelium
den sich nur bei MatthÈus der Motivierung der ParÈnese dienende Schilderun
gen des jÜngsten Gerichtes (vgl. Mt 7, 21 ff; 13, 36 ff; 25, 31 ff). Die Gemeinde exi
stiert als corpus permixtum, in der Gerechte und Ungerechte leben (vgl.
Mt 13, 36 43), und gerade deshalb wird vom Evangelisten zur Wachsamkeit auf
gerufen (vgl. Mt 24, 42; 25, 13), zugleich gilt ihr aber die Verheißung: „Wer be
harrt bis zum Ende, der wird selig werden“ (Mt 24, 13).
Der Evangelist warnt die Gemeinde in Mt 7, 15; 24, 11 vor yeudoprofv˜tai. Das
theologische Profil dieser Gegner bleibt undeutlich, zumeist werden sie mit Hin
weis auf Mt 5, 17 20; 7, 12 27; 11, 12 f; 24, 10 13 als hellenistische Antinomisten
eingestuft284. MatthÈus wirft ihnen anomı´a vor (vgl. Mt 7, 23; 24, 12), ihre
FrÜchte sind schlecht (vgl. Mt 7, 16 20), und sie tun nicht den Willen Gottes
(vgl. Mt 7, 21). Offensichtlich unterlaufen diese Gegner die umfassende ethische
Konzeption des MatthÈus (vgl. Mt 24, 12) und gefÈhrden dadurch die Einheit
der Gemeinde.
Die matthÈische Gemeinde kennt keine institutionalisierten mter (vgl.
Mt 23,8 12), in ihrer Mitte wirken aber Propheten (vgl. Mt 10, 41; 23, 34; ferner
5, 12; 10, 20), Schriftgelehrte (vgl. Mt 13, 52; 23, 34; ferner 8, 19) und Charisma
tiker (vgl. Mt 10,8). Eine Sonderstellung innerhalb der Gemeinde nimmt Petrus
ein285. Er erscheint als der ‚erste‘ Apostel (Mt 10, 2), Sprecher des JÜngerkreises
(Mt 15, 15; 18, 21), und sein Verhalten wird in Mt 14, 28 31 als Lehrbeispiel fÜr
das rechte VerhÈltnis von Glauben und Zweifel dargestellt. Das ‚Felsenwort‘
Mt 16, 18 lÈßt ihn als KirchengrÜnder hervortreten, nur er verfÜgt Über die Au
toritÈt des Bindens und LÚsens (Mt 16, 19). Diese Vollmacht gilt nach Mt 18, 18
zugleich der Gesamtgemeinde, so daß Petrus zum Exemplum fÜr alle JÜnger
wird: Was ihm an Erkenntnis, Vollmacht, GlaubensstÈrke, aber auch Glaubens
zweifel zuteil wurde, darf die Gemeinde auf sich selbst beziehen. Spiegelt die
Jetztgestalt des MatthÈusevangeliums den Weg der Gemeinde von ihren juden
christlichen AnfÈngen bis hin zu ihrer Praxis der universalen Heidenmission wi
der, so entspricht dies dem Lebensweg des Petrus, der sich als hervorgehobener
Zeuge des Ostergeschehens (vgl. 1 Kor 15, 5) einem liberalen Judentum Úffnete
(vgl. Gal 2, 11 ff) und schließlich Heidenmission betrieb (vgl. 1 Kor 9, 5). MÚgli
cherweise begrÜnden diese auffÈlligen Àbereinstimmungen die besondere Auto
ritÈt des Petrus in der matthÈischen Gemeinde.
286 Vgl. zur Komposition des Evangeliums bes. U. kenburg, Mt I, 5–7; H. FrankemÚlle, Mt I, 81 f.
Luz, Mt I, 15–28; J. D. Kingsbury, Matthew: 289 So z. B. D. C. Allison, Matthew: Structure, Bio-
Structure, Christology, Kingdom, 1–39. graphical Impulse and the Imitatio Christi, in: The
287 Vgl. B. W. Bacon, Die ‚fÜnf BÜcher‘ des Mat- Four Gospels (FS F. Neirynck), hg. v. F. Van Seg-
thÈus gegen die Juden, in: Das MatthÈus-Evange- broeck u. a., BETL 100, Leuven 1992, 1203–1221;
lium, hg. v. J. Lange, 41–51. D. A. Hagner, Mt I, LIII.
288 Vgl. z. B. E. Lohmeyer, Mt, 7–10; R. Schnak-
270 Das Matthäusevangelium
Die Gliederung von Mt 12 20 stellt sich als Überaus schwierig dar, Zentren mit
thematischem Gewicht sind auf jeden Fall die Reden in Kap. 13 und 18. Die fÜnf
290 Gegen H. FrankemÚlle, Jahwebund, 331–400, Messias des Wortes, der predigende, wird in Kap.
der das MatthÈusevangelium als kerygmatisches 5–7, der Messias der Tat, der heilende, in Kap. 8/9
Geschichtswerk in Anlehnung an atl. Vorbilder geschildert.“
(speziell: Deuteronomium) verstehen will. 293 Vgl. dazu Chr. Burger, Jesu Taten nach Mat-
291 Vgl. zum grÚßeren Rahmen der Jesusge- thÈus 8 und 9, ZThK 70 (1973), 272–287; U. Luz,
schichte des MatthÈus R. Schnackenburg, Die Die Wundergeschichten von Mt 8–9, in: Tradition
Person Jesu Christi (s. o. 3.4.9), 91–95. and Interpretation in the New Testament (FS
292 Vgl. J. Schniewind, Das Evangelium nach E. E. Ellis), hg. v. G. Hawthorne u. O. Betz, Grand
MatthÈus, NTD 1, GÚttingen 131984, 36: „Der Rapids – TÜbingen 1987, 149–165.
Gliederung, Aufbau, Form 271
294 Treffend H. FrankemÚlle, Mt I, 101: Die Reden 295 Vgl. U. Luz, Jesusgeschichte des MatthÈus,
„machen erst das MtEv zu dem, was es ist; anson- 12–17.
sten wÈre es nur eine um die Vorgeschichte er- 296 Vgl. dazu W. Schenk, Die Sprache des Mat-
weiterte Neuauflage des MkEv.“ thÈus, GÚttingen 1987; U. Luz, Mt I, 31–56.
272 Das Matthäusevangelium
Als Hauptquelle diente MatthÈus eine gegenÜber der uns Überlieferten Gestalt
leicht Überarbeitete Fassung des Markusevangeliums (s. o. 3.2.3: Deuteromar
kus). Dies ergibt sich aus jenen Texten, deren Bearbeitung (im Gleichklang mit
Lukas) gegenÜber der kanonischen Markusfassung nicht als matthÈische Redak
tion erklÈrt werden kann.
MatthÈus integrierte das ihm vorliegende Q Exemplar in den Gesamtaufriß
seines Evangeliums. „Er benutzte Q nicht als zweite Jesusgeschichte, sondern als
Materialsammlung, um der markinischen Jesusgeschichte das dort nur rudimen
tÈr Überlieferte ‚Evangelium vom Reich‘ hinzuzufÜgen.“297 Dabei ordnete Mat
thÈus die Q Stoffe vielfach als BlÚcke in den Ablauf des Lebens Jesu ein, wie es
durch die Logienquelle selbst, das Markusevangelium und das eigene Sondergut
vorgegeben war298. So werden die großen Reden Jesu jeweils durch die stereoty
pen Abschlußverse mit dem Wirken Jesu verbunden. In der Bergpredigt er
scheint Jesus als Lehrer der ‚besseren Gerechtigkeit‘. MatthÈus nimmt die star
ken ethischen Impulse aus Q mit ihrer Betonung des Tuns auf (vgl. z. B.
Mt 7, 21. 24 27), zugleich relativiert er die Orthopraxie (vgl. Mt 7, 22) und be
tont mit Q den Heilsindikativ (vgl. Mt 5, 3 15). Bei der Darstellung der Taten Je
su in Kap. 8 9 betonen die Q Stoffe jetzt den Scheidungsprozeß zwischen Israel
und den JÜngern (vgl. Mt 8, 11 f; 9, 32 34). Die Nachfolge und Missionsthema
tik entfaltet MatthÈus vielfach mit Q Stoffen (vgl. z. B. Mt 9, 37 f; 10, 7 f.39 f). Die
besondere Stellung der JÜnger betont der Evangelist in Kap. 13, 16 f, ihnen gilt
durch den eschatologischen Zuspruch, was spÈter Petrus (vgl. Mt 16, 17 19) und
der Gesamtgemeinde (vgl. Mt 18, 18) verheißen wird. In der Gemeinderede
Mt 18 ruft der Evangelist unter Aufnahme von Q Material zur Vergebungsbe
reitschaft auf (vgl. Mt 18, 15. 21 f). Die sich steigernde Auseinandersetzung mit
den Schriftgelehrten und PharisÈern gestaltet MatthÈus bes. in Kap. 23 unter
Verwendung umfangreicher Q Stoffe (vgl. Mt 23, 4. 6 f.13. 23. 25 27. 29 32. 34
36). Auch die eschatologische Rede am Ende des Evangeliums komponierte der
297 U. Luz, MatthÈus und Q, in: Von Jesus zum Aufnahme und Gestaltung von Q bei MatthÈus,
Christus (FS P. Hoffmann), hg. v. R. Hoppe u. in: Salz der Erde – Licht der Welt (FS A. VÚgtle),
U. Busse, BZNW 95, Berlin 1998, 213. 111–130.
298 Vgl. zur detallierten Analyse E. Schweizer,
Traditionen, Quellen 273
299 Vgl. zur Analyse bes. G. Strecker, Weg der Ge- 302 Vgl. W. Rothfuchs, ErfÜllungszitate, 89: „Die
rechtigkeit, 49–84; W. Rothfuchs, Die ErfÜllungs- hier und da begegnenden auffÈlligen Hapaxlego-
zitate des MatthÈus-Evangeliums, BWANT 88, mena lassen eine dem Evangelisten schriftlich
Stuttgart 1969, U. Luz, Mt I, 134–141. vorliegende Form der Prophetenworte vermuten.
300 Vgl. zu den Einzelheiten bes. K. Stendahl, Trotzdem fordern die immer wieder zu beobach-
School, 39–142. tenden mt EigentÜmlichkeiten an den Zitaten die
301 Vgl. G. Strecker, Weg der Gerechtigkeit, 83: Annahme, daß der Evangelist seine entsprechen-
„Aus alldem folgt, daß MatthÈus in den Reflexi- den Vorlagen bearbeitet hat.“
onszitaten eine Vorlage benutzt, und zwar eine 303 Vgl. U. Luz, Mt I, 138.
Sammlung prophetischer Weissagungen, die ihm 304 Vgl. a.a.O., 137 A 26.
in schriftlicher Form Überliefert wurde.“
274 Das Matthäusevangelium
Mt 28, 16 20 geht in seiner vorliegenden Gestalt auf die redaktionelle Arbeit des
Evangelisten zurÜck, der dabei teilweise Gemeindetraditionen aufgriff (vgl. als
Praetext 2Chr 36, 23). So sind V. 16. 17 sowohl sprachlich als auch inhaltlich als
matthÈische Bildungen anzusehen307. Auch V. 18 a ist redaktionell (prose´rcomai
52mal bei MatthÈus, zu elálvsen autoı˜ß le´gwn vgl. Mt 13, 3; 14, 27; 23, 1), wÈh
rend in V. 18 b vormatthÈische Motive anklingen (z. B. die GegenÜberstellung ou
ranóß gv˜ ). V. 19 a weist wiederum deutlich auf den Evangelisten hin (poreu´esXai
in Mt 9, 13; 10, 7; 18, 12; 21, 6 u. Ú., maXvteu´ein redaktionell in Mt 13, 52; 27, 57),
demgegenÜber spiegelt die Taufformel in V. 19 b die in der Gemeinde geÜbte Tauf
praxis wider. V. 20 enthÈlt zahlreiche matthÈische SpracheigentÜmlichkeiten
(z. B. tvreı˜n, didáskein, zu sunte´leia tou˜ aiẃnoß vgl. Mt 13, 39. 49; 24, 3). Die Ver
heißung V. 20 b nimmt Mt 18, 20 auf und dÜrfte somit auch auf den Evangelisten
zurÜckgehen (vgl. auch Mt 1, 23: Immanuel).
305 Treffend O. Michel, Der Abschluß des Mat- Matth. 28, 18–20 ist der SchlÛssel zum VerstÇndnis des
thÈusevangeliums, in: J. Lange (Hg.), Das Mat- ganzen Buches .“
thÈus-Evangelium, 125: „Nur unter dieser theolo- 306 Zur grundlegenden Analyse vgl. G. Born-
gischen Voraussetzung von Matth. 28, 18–20 ist kamm, Der Auferstandene und der Irdische.
das ganze Evangelium geschrieben worden (vgl. Mt 28, 16–20, in: Zeit und Geschichte (FS R. Bult-
Matth. 28, 19 mit 10, 5 ff.; 15, 24; Matth. 28, 20 mann), hg. v. E. Dinkler, TÜbingen 1964, 171–
mit 1, 23; RÜckkehr zur Taufe: Matth. 3, 1). Ja, 191 (= Bornkamm – Barth – Held, Àberlieferung
der Abschluß kehrt in gewisser Weise zum An- und Auslegung, 289–310).
fang zurÜck und lehrt das ganze Evangelium, die 307 Vgl. G. Strecker, Weg der Gerechtigkeit, 208 ff.
Geschichte Jesu ‚von hinten her‘ verstehen.
Theologische Grundgedanken 275
entsprechen sich die Forderung des Auferstandenen und des Irdischen. Das Im
manuel Motiv (vgl. Mt 1, 23; 28, 20) Úffnet die Geschichte des irdischen Jesus
auf Gott hin, zugleich wird die bleibende Gegenwart des Auferstandenen an den
Irdischen gebunden. Jesus erscheint als der einzige und wahre Lehrer, dessen
Gebote sowohl fÜr die JÜnger als auch fÜr die ganze Welt verbindlich sind. Der
Missionsbefehl unterstreicht die handlungsorientierte Grundstruktur der mat
thÈischen Jesus ErzÈhlung und fÜhrt mit seinem offenen Ende zur Gegenwart
der matthÈischen Gemeinde. Die Vollmacht des Auferstandenen ermÈchtigt die
JÜnger und damit auch die gegenwÈrtige matthÈische Gemeinde, unter den VÚl
kern zu missionieren, Jesu Lehre verbindlich zu verbreiten und darin Kirche Je
su Christi zu sein. Im Missionsbefehl bÜndeln sich somit zentrale Themen mat
thÈischer Theologie, die das Evangelium durchgehend bestimmen.
Jesu Weg erscheint im 1. Evangelium von Anfang an als der Weg Gottes zu
den Heiden . Die anfÈngliche Mission gegenÜber dem synagogalen Judentum ist
gescheitert (vgl. Mt 23, 34; 10, 17) und gehÚrt schon lÈngst der Vergangenheit
an, nun ist die ganze Welt das Feld der Missionare der matthÈischen Gemeinde.
Wenn Jesus Christus in Mt 1, 1 als Sohn Abrahams erscheint und die Genealogie
in Mt 1, 2 mit Abraham beginnt, wird damit bereits am Anfang eine universalisti
sche Perspektive angedeutet, denn Gott kann Abraham aus Steinen Kinder er
wecken (vgl. Mt 3,9). Die im Stammbaum Mt 1, 3 6 erwÈhnten Frauen (Tamar,
Ruth, Rahab und die Frau des Uria) sind alle Nicht JÜdinnen, worin wiederum
ein universalistischer Aspekt zum Ausdruck kommt308. Den vier heidnischen
Frauen am Anfang entsprechen ‚alle VÚlker‘ am Ende. Nicht erst nach der Ab
lehnung Jesu durch Israel, sondern von Anfang an gilt Gottes Heilshandeln nach
der Konzeption des MatthÈus auch den Heiden! In Mt 2, 1 ff beten Heiden Jesus
an, wÈhrend der jÜdische KÚnig das Kind zu tÚten versucht. Die Flucht nach
und die RÜckkehr aus gypten (Mt 2, 13 15.19 22) unterstreicht ebenso wie die
Zitate in Mt 2, 23; 4, 15; 12, 18 21 die prophetische Perspektive zu den Heiden
hin. Nach der Gerichtspredigt des TÈufers Über Israel (vgl. Mt 3, 1 12) und der
Bergpredigt vollbringt Jesus Heilungen an Außenseitern der Gesellschaft
(Mt 8, 1 4: ein AussÈtziger; 8, 5 13: ein Heide; 8, 14 15: eine Frau). Mt 8 9 als
GrÜndungslegende der matthÈischen Gemeinde signalisiert den Standort des
Evangelisten. Er lebt in einer Gemeinde aus Juden und Heidenchristen, fÜr die
ein Heide das erste Vorbild im Glauben ist (vgl. Mt 8, 10). In der ErzÈhlung vom
Hauptmann von Kapernaum erkennt die matthÈische Gemeinde ihre eigene Ge
schichte. Der Hauptmann akzeptiert die heilsgeschichtliche Vorrangstellung Is
raels (Mt 8,8), zugleich wird er zum Erstling der Heidenchristen, wÈhrend Israel
dem Gericht verfÈllt (Mt 8, 11 f)309. Mt 10, 17. 18 setzt voraus, daß die JÜnger das
Evangelium gleichermaßen unter Juden und Heiden verkÜndigten310.
Mt 12, 21; 13, 38 a verweisen ebenfalls auf die universale VÚlkermission, wobei
in Mt 12, 18 21 die Heidenmission mit RÜckgriff auf das Alte Testament (Jes
42, 1 4) begrÜndet wird311. Wird das Evangelium unter allen VÚlkern verkÜn
digt (vgl. auch Mt 24, 14; 26, 13), so ist es nur folgerichtig, wenn beim Endgericht
alle VÚlker vor dem Thron des Menschensohnes erscheinen (vgl. Mt 25, 31 46).
Jesu Lehre erscheint im MatthÈusevangelium als die bindende Auslegung des
Willens Gottes , denn der Auferstandene proklamiert die Verbindlichkeit der Wor
te des Irdischen (Mt 28, 20 a). FÜr MatthÈus kommt der im Alten Testament ma
nifeste Gotteswille in Jesus zu seinem Ziel, was er insbesondere durch die Refle
xionszitate verdeutlicht. Jesu Auftreten und VerkÜndigung versteht der Evange
list nicht als AuflÚsung, sondern als ErfÜllung des Gesetzes (vgl. Mt 5, 17 20).
Aber in welchem Sinn erfÜllt Jesus das Gesetz? Keineswegs nur als bloße Wie
derholung des im Alten Testament formulierten Gotteswillens, vielmehr als eine
vollmÈchtige Interpretation, wie insbesondere die Antithesen zeigen. Die Korre
spondenz zwischen Mt 5, 20 und 5, 48 erweist die Antithesen als Konkretion der
vom Evangelisten geforderten besseren Gerechtigkeit. In der ersten Antithese
(Mt 5, 21 26) radikalisiert Jesus das Tora Verbot des TÚtens. Auch die zweite An
tithese vom Ehebrechen (Mt 5, 27 30) verbleibt als Radikalisierung eines Tora
gebotes im jÜdischen Denken. DemgegenÜber stellt die dritte Antithese von der
Ehescheidung (Mt 5, 31 32) eine Aufhebung eines Toragebotes (vgl.
Dtn 24, 1. 3) dar. Die exousı´a Jesu ermÚglicht es, ein geltendes Gebot außer Kraft
zu setzen und den wahren Gotteswillen zur Geltung zu bringen. Auch das abso
lute Schwurverbot in Mt 5, 33 37 sprengt atl. jÜdisches Denken und ist allein in
der Vollmacht und Hoheit Jesu begrÜndet. MatthÈus macht auch dieses Gebot
wie schon zuvor das Verbot der Ehescheidung fÜr seine Gemeinde praktikabel,
ohne damit die ursprÜnglichen Intentionen der VerkÜndigung Jesu aufzuheben.
Mit der Verwerfung des atl. Grundsatzes der Wiedervergeltung in Mt 5, 38 42
und dem absoluten Gebot der Feindesliebe in Mt 5, 43 48 verlÈßt der Bergpredi
ger vÚllig das Denken seiner Zeit312 und betont, daß allein in der schrankenlosen
und vollkommenen Liebe und Gerechtigkeit der wahre Wille Gottes liegt. Die
Antithesen zeigen, wie MatthÈus die ErfÜllung des Gesetzes durch Jesus ver
steht: Die GÜltigkeit und Verbindlichkeit liegt nicht in der atl. Àberlieferung,
309 U. Luz, Mt II, 16, minimiert die Bedeutung 311 Vgl. R. Walker, Heilsgeschichte, 78 f.
dieses Textes, wenn er sagt, der Hauptmann von 312 Zu religionsgeschichtlichen Parallelen vgl.
Kapernaum sei fÜr MatthÈus „eine Randerschei- J. Piper, Love your Enemies, MSSNTS 38, Cam-
nung mit Zukunftsperspektive“. bridge 1979.
310 Vgl. J. Gnilka, Mt I, 376 f.
Theologische Grundgedanken 277
sondern allein in der Vollmacht Jesu. Deshalb sind fÜr MatthÈus ToraverschÈr
fung und Toraaufhebung keine GegensÈtze, weil beides allein durch die Voll
macht Jesu begrÜndet und zusammengehalten wird. Nicht das atl. Gesetz als sol
ches, sondern allein die vollmÇchtige Interpretation des Alten Testaments durch Je
sus ist fÜr die matthÈische Gemeinde verbindlich. Dabei setzt Jesu Vollmacht
nicht einfach nur eine verfehlte Auslegung der Tora außer Kraft, sondern Jesus
beansprucht z. T. gegen den Wortlaut der Tora, deren ursprÜngliche Intention
wieder freizulegen.
Bereits die Antithesen verdeutlichen, daß im Liebesgebot das Zentrum des
matthÈischen GesetzesverstÈndnisses liegt. Die von Jesus geforderte bessere Ge
rechtigkeit (Mt 5, 20) und Vollkommenheit (Mt 5, 48) ist identisch mit der Gol
denen Regel in Mt 7, 12. Sie gewinnt Gestalt in der Barmherzigkeit (vgl. Hos 6, 6
in Mt 9, 13; 12, 7, ferner Mt 23, 23 c) und der uneingeschrÈnkten Gottes und
NÈchstenliebe (vgl. Mt 19, 19; 22, 34 40), die wiederum in der Feindesliebe ih
ren hÚchsten Ausdruck finden. FÜr MatthÈus besteht die Befolgung des Gesetzes
nicht in der Beachtung vieler einzelner Vorschriften, Gebote und Regeln, son
dern im Tun der Liebe und der Gerechtigkeit. Das Liebesgebot als Summe des
matthÈischen GesetzesverstÈndnisses erfÈhrt seine Verbindlichkeit allein durch
den, der in Vollmacht den Gotteswillen wieder zu GehÚr bringt. Das matthÈische
VerstÈndnis des Gesetzes muß deshalb zentral von der Christologie her gewon
nen werden.
FÜr die matthÈische Ethik ist die Forderung nach dem Tun des Willens Gottes
kennzeichnend. MatthÈus appelliert an die Verantwortung des Menschen ange
sichts des von Jesus verkÜndigten ‚Evangeliums der Herrschaft Gottes‘ (vgl. Mt
4 23; 9, 35; 24, 14). An Jesus glauben heißt, zugleich seinen Willen zu tun. So
wie Jesus selbst sein Wirken als ErfÜllung aller Gerechtigkeit versteht (Mt 3, 15),
ist die dikaiosu´nv der zentrale Inhalt matthÈischer Ethik (Mt 5, 6. 10. 20; 6, 1. 33;
21, 32). Die ‚bessere‘ Gerechtigkeit erscheint als Voraussetzung fÜr das Eingehen
in das Himmelreich (5, 20), und sie zeigt sich in einem ethischen Verhalten, das
beispielhaft und verbindlich in den Antithesen dargelegt wird. Ziel und Maßstab
der ‚besseren‘ Gerechtigkeit ist die Vollkommenheit (5, 48)313. Die JÜnger sind
somit aufgefordert, ihre Ethik an Jesu Lehre und Handeln in Vollmacht auszu
richten. So wie Jesus selbst in Gethsemane (vgl. Mt 26, 42) die dritte Bitte des
Vaterunsers erfÜllt (vgl. Mt 6, 10), soll die Gemeinde sich in den Willen Gottes
313 Nach G. Strecker, Weg der Gerechtigkeit, 149– Eine redaktionskritische Untersuchung zum di-
158, bezeichnet bei MatthÈus dikaiosu´nv durch- kaiosu´nv -Begriff im MatthÈus-Evangelium,
weg die ethische Haltung der JÜnger, ihre Recht- EHS.T 181, Frankfurt 1982, wonach ‚Gerechtig-
schaffenheit. Anders z. B. M. J. Fiedler, „Gerech- keit‘ bei MatthÈus auch die Gerechtigkeit Gottes
tigkeit“ im MatthÈus-Evangelium, TheolVers 8 umfaßt (vgl. bes. Mt 6, 33).
(1977), 63–75; H. Giesen, Christliches Handeln.
278 Das Matthäusevangelium
314 Vgl. G. Friedrich, Die formale Struktur von sie mit dem Imperativ identisch, besteht die ‚Ga-
Mt 28, 18–20 (s. o. 3.4.8), 182 f; vgl. ferner P. Nep- be‘ der Basileia in der ‚Forderung‘.“
per-Christensen, Die Taufe im MatthÈusevangeli- 317 Vgl. dazu D. Marguerat, Le Jugement dans l'-
um, NTS 31 (1985), 189–207. vangile de Matthieu, Genf 1981; U. Luz, Mt
315 Vgl. W. Wiefel, Mt, 148. III, 544–561.
316 Vgl. G. Strecker, Weg der Gerechtigkeit, 171: 318 Vgl. S. Schulz, Ethik des Neuen Testaments
„Entsprechend dem Inhalt der Botschaft Jesu ist (s. o. 2.4.9), 455.
Tendenzen der neueren Forschung 279
Im Zentrum der MatthÈus Forschung steht die Frage nach der theologischen In
tention des Evangelisten. Wie verhÈlt sich das MatthÈus Evangelium als Gesamt
werk zu den divergierenden Tendenzen der Einzeltexte? Als einen Heidenchri
sten interpretieren MatthÈus u. a. W. Trilling, G. Strecker, R. Walker und J. P.
Meier. W. Trilling fÜhrt die matthÈische Ekklesiologie fÜr sein Urteil an: „Mat
thÈus als der Endredaktor denkt entschieden heidenchristlich universal.“320
Auch fÜr G. Strecker lÈßt sich nur Über die Trennung von Redaktion und Traditi
on der Standort matthÈischer Theologie sachgemÈß erfassen. Strecker weist dar
auf hin, daß sich in den redaktionellen ZÜgen des Evangeliums keine juden
christlichen Positionen finden lassen, sondern diese allein auf die verarbeiteten
Traditionen beschrÈnkt sind. MatthÈus reprÈsentiert danach bereits ein fortge
schrittenes Stadium innerhalb der urchristlichen Theologiegeschichte, denn
seine Jesusdarstellung ist geprÈgt durch eine Historisierung des Traditionsgutes,
eine Ethisierung der VerkÜndigung und eine Institutionalisierung des Traditi
onsstoffes321. „Die unjÜdischen, hellenistischen Elemente der Redaktion legen
nahe, den Verfasser dem Heidenchristentum zuzuordnen“322. Den heidenchrist
lichen Standort des MatthÈusevangeliums betont auch R. Walker, wonach „das
MatthÈus Evangelium ‚Israel‘ als zurÜckliegendes PhÈnomen der Heilsge
schichte betrachtet und die neue heilsgeschichtliche Stunde als die der Heiden
berufung ansagt.“323 In anderer Weise lÚst G. Bornkamm das spannungsvolle In
einander von partikularistischen und universalistischen Tendenzen innerhalb
des MatthÈusevangeliums. FÜr ihn spiegelt sich in den jÜdischen Akzenten des
319 Vgl. zum matthÈischen JÜngerverstÈndnis 321 Vgl. G. Strecker, Das GeschichtsverstÈndnis
U. Luz, Die JÜnger im MatthÈusevangelium, in: des MatthÈus, in: J. Lange (Hg.), Das MatthÈus-
J. Lange (Hg.), Das MatthÈusevangelium, 377– Evangelium, 326–349.
414. 322 G. Strecker, Weg der Gerechtigkeit, 34.
320 W. Trilling, Das wahre Israel, 215. 323 R. Walker, Heilsgeschichte, 145.
280 Das Matthäusevangelium
324 Vgl. U. Luz, Mt I, 62 ff. 327 Vgl. J. Roloff, Kirche (s. o. 3.5.4), 146 f.
5
325 A. a. O., 66 (anders jetzt in 2002!). 328 H. FrankemÚlle, Jahwebund, 394 f.
326 J. Gnilka, Mt II, 534.
Tendenzen der neueren Forschung 281
329 Dieser konstruktiven Arbeit des MatthÈus daß MatthÈus die Messiaserwartungen seiner
wird R. Schnackenburg, Die Person Jesu Christi Umwelt aufnahm und umgestaltete. In Jesus
(s. o. 3.4.9), 107, nicht gerecht, wenn er behaup- Christus „gehen jÜdische und heidnische Erwar-
tet: „So hat MatthÈus die Sendung des histori- tungen in ErfÜllung. Seine Herrschaft ist eine Al-
schen Jesus zu Israel und den Auftrag des Aufer- ternative zu jeder politischen Weltherrschaft“
standenen, zu allen VÚlkern zu gehen, nebenein- (ders., Vom Davidssohn zum Weltherrscher,
ander stehen lassen.“ WeiterfÜhrend hingegen 163).
K.Ch. Wong, Interkulturelle Theologie, 125–154, 330 U. Luz, Jesusgeschichte des MatthÈus, 78.
der die ‚heiden- und judenchristlichen‘ Texte aus 331 H. FrankemÚlle, Mt I, 125.
dem gleichberechtigten Neben- und Miteinander 332 Vgl. U. Luz, Mt I, 352.
von Heiden- und Judenchristen in der matthÈi- 333 Vgl. dazu G. Lohfink, Wem gilt die Bergpre-
schen Gemeinde erklÈren will. G. Theißen betont, digt?, ThQ 163 (1983), 264–284.
282 Das Matthäusevangelium
aus Juden und Heiden auszeichnet. Lassen sich aber die ethischen Forderungen
der Bergpredigt als zeitlose Imperative erfÜllen? MÚglicherweise ist die Frage
nach der ErfÜllbarkeit der ethischen Radikalismen aber auch falsch gestellt, denn
sie wÜrde wieder zu einer weder von Jesus noch MatthÈus gewollten Gesetzlich
keit und Funktionalisierung fÜhren. WeiterfÜhrend ist deshalb der Vorschlag
von J. Eckert, die Radikalismen als Appelle zu verstehen, sich angesichts des na
henden Gottesreiches ganz auf den Willen Gottes einzulassen und gerade da
durch Menschsein zu ermÚglichen334. G. Theißen sieht im MatthÈusevangelium
auch einen Gegenentwurf zu zeitgenÚssischen Herrschaftskonzepten: „Eine ganz
neue Art von Weltherrschaft kÜndigt sich hier an, eine Weltherrschaft durch
ethische Gebote. Sie liegt auf anderer Ebene als die Herrschaft der RÚmer und
des Herodes. Sie liegt auf anderer Ebene als die Herrschaftserwartungen des
Orients. Sie unterscheidet sich von den jÜdischen Messiaserwartungen der da
maligen Zeit. Was wir im MtEv beobachten kÚnnen, ist aber nicht nur die ErfÜl
lung dieser Erwartungen. Das Evangelium ist Zeuge fÜr die Transformation poli
tischer Macht in Ethik.“335 Zur theologisch literarischen Leistung des MatthÈus
evangeliums im VerhÈltnis zum Alten Testament stellt U. Luz fest, „daß nicht die
biblische Tradition den Referenzrahmen fÜr die Jesusgeschichte bildet, sondern
die Jesusgeschichte den Referenzrahmen fÜr die biblische Tradition.“336 Weil ein
Wechsel der Grundgeschichte stattgefunden hat, kann auch beim judenchristli
chen MatthÈusevangelium nicht von einer Einheit der biblischen Traditionsbil
dung gesprochen werden, vielmehr „bildet das MatthÈusevangelium als Neu Er
zÈhlung eines neuen Grundtextes auch in seinem Umgang mit der Bibel einen
vÚlligen Neueinsatz.“337
334 Vgl. J. Eckert, Wesen und Funktion der Radi- oder eine neu redigierte Jesusgeschichte?, in: Bi-
kalismen in der Botschaft Jesu, MThZ 24 (1973), blischer Text und theologische Theoriebildung,
301–325. hg. v. S. Chapman, Chr. Helmer u. Chr. Landmes-
335 G. Theißen, Vom Davidssohn zum Weltherr- ser, BThSt 44, Neukirchen 2001, (53–76) 72.
scher, 164. 337 A. a. O., 73.
336 U. Luz, Das MatthÈusevangelium – eine neue
Literatur 283
3.6.1 Literatur
Kommentare
HNT 5: E. Klostermann, 31975. HThK III 1. 2/1: H. SchÜrmann, 31984. 1993 ( Kap. 1
11, 54). EKK III/1 3: F. Bovon, 1989.1996.2001 ( Kap. 1, 1 19, 27). ThHK 3: W. Wiefel,
1988. ³TK 3, 1. 2: G. Schneider, 21984. NTD 3: E. Schweizer, 21986. RNT: J. Ernst,
1977. ZBK 3.1: W. Schmithals, 1980. NIGTC: I. H. Marshall, 1978. AncB 28. 28 a:
J. A. Fitzmyer, 1981. 1985. WBC 35 a c: J. Nolland, 1989. 1993. Sacra Pagina: L. T. John
son, 1991.
Monographien
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284 Das Lukasevangelium
AufsÇtze
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schaftsgeschichte und Exegese (s. o. 1.1), 272 291. E. Schweizer, Zur Frage der Quellen
benutzung durch Lukas, in: ders., Neues Testament und Christologie im Werden, GÚttin
gen 1982, 33 85. G. Schneider, Lukas, Theologe der Heilsgeschichte, BBB 59, Bonn 1985
(Aufsatzsammlung). C. Bussmann W. Radl (Hg.), Der Treue Gottes trauen (FS
G. Schneider), Freiburg 1991. C. P. MÈrz, Die theologische Interpretation der Jesus Ge
stalt bei Lukas, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), hg. v.Chr. KÈhler u. a., Leipzig
1999, 134 149. J. Verheyden (Hg.), The Unity of Luke Acts, BETL 142, Leuven 1999
(wichtige Aufsatzsammlung).
Forschungsberichte
M. Rese, Das Lukas Evangelium. Ein Forschungsbericht, ANRW II 25. 3, Berlin 1985,
2258 2328. W. Radl, Das Lukas Evangelium, EdF 261, Darmstadt 1988. F. Bovon, Luc
le Th¹ologien. Vingt cinq ans de recherches (1950 1975), Neuchâtel Paris 21988.
3.6.2 Verfasser
Der Verfasser des dritten Evangeliums ist unbekannt. Als erster nennt um 180
n. Chr. IrenÈus von Lyon den Paulusbegleiter Lukas als Autor des Evangeliums:
„Lukas aber, der Begleiter des Paulus, schrieb das von jenem verkÜndete Evan
gelium nieder“ (Haer III 1, 1; vgl. Euseb, HE V 8, 3)338. IrenÈus (Haer III 14, 1) be
legt diese Zuschreibung mit den ‚Wir‘ Stellen in der Apostelgeschichte
(Apg 16, 10 17; 20, 5 15; 21, 1 18; 27, 1 28, 16), in denen Lukas als ein enger
Mitarbeiter des Paulus erscheint (vgl. ferner Kol 4, 14: Loukãß o iatro`ß o agapv
tóß; Phlm 24; 2 Tim 4, 11). Der Kanon Muratori (um 200 n. Chr.) berichtet Über
das Lukasevangelium: „Dieser Arzt Lukas hat es nach der Himmelfahrt Christi,
nachdem ihn Paulus als wissenschaftlich gebildeten Mann mit sich genommen
339 Zitiert nach H. Merkel, Die PluralitÈt der antimarcionitischen Evangelienprologe, Freiburg
Evangelien (s. o. 3.2.2), 11. 1969, wies nach, daß diese Prologe keinen ge-
340 Vgl. dazu E. Haenchen, Apg (s. u. 4.1), 22 f; meinsamen Ursprung haben, nicht antimarkioni-
J. Wehnert, Wir-Passagen (s. u. 4.1), 56 f. tisch ausgerichtet sind und frÜhestens aus dem 4.
341 Vgl. zum ‚Lukasevangelium‘ Markions bes. Jh. n. Chr. stammen.
A. v.Harnack, Marcion (s. u. 5.5.3), 52 ff. 343 Vgl. F. Siegert, Unbeachtete Papiaszitate bei
342 In den sog. antimarkionitischen Evangelien- armenischen Schriftstellern, NTS 27 (1981),
prologen wird Über Lukas berichtet: „Es ist Lukas (605–614) 606.
ein antiochenischer Syrer, seines Gewerbes ein 344 Vgl. J. Wehnert, Wir-Passagen (s. u. 4.1), 59 f;
Arzt, ein SchÜler von Aposteln, spÈter aber hat er C. J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen (s. u. 4.1),
den Paulus bis zu dessen Martyrium begleitet. 69.
Nachdem er dem Herrn makellos gedient hat 345 Vgl. zuletzt die Argumentation bei J. Wehnert,
ohne Frau, ohne Kinder, starb er 84 Jahre alt in Wir-Passagen (s. u. 4.1), 60–66.
BÚotien voll des Heiligen Geistes“. J. Regull, Die
286 Das Lukasevangelium
vor allen anderen Mitarbeitern auszeichnet und zum Verfasser des Doppelwer
kes ad Theophilum prÈdestiniert346.
Die mÚgliche Entstehung der altkirchlichen Àberlieferung entscheidet aber
noch nicht Über ihren historischen Wert. War der Verfasser des Lukasevange
liums und der Apostelgeschichte ein Paulusbegleiter? Ein Vergleich der lukani
schen und paulinischen Theologie zeigt, daß diese Frage negativ zu beantworten
ist347. Lukas gibt zentrale Elemente der paulinischen Theologie in seiner Darstel
lung des Apostels nicht wieder (ein Anklang an die paulinische Rechtfertigungs
lehre findet sich nur in Apg 13, 38; vgl. ferner die universalen Aussagen in
Apg 1,8; 28, 28 und die Hervorhebung des Glaubens in Apg 15,9 bzw. der Gnade
in Apg 15, 11) und unterscheidet sich in seiner eigenen Theologie erheblich von
Paulus348. Deshalb ist Ph. Vielhauer zuzustimmen: „der Verfasser der Apg ist in
seiner Christologie vorpaulinisch, in seiner natÜrlichen Theologie, Gesetzesauf
fassung und Eschatologie nachpaulinisch. Es findet sich bei ihm kein einziger
spezifisch paulinischer Gedanke.“349
Zudem ist Lukas Über wichtige Einzelheiten des missionarischen Wirkens des
Paulus nicht richtig informiert, denn spricht z. B. die Apostelgeschichte von fÜnf
Jerusalemreisen des Paulus, so setzen die paulinischen Briefe eindeutig nur drei
Jerusalemreisen voraus. Zudem weisen die unterschiedlichen Darstellungen der
346 Die Bedeutung von 2 Tim 4, 11 wertet setzt Lou´kioß in Apg 13, 1 und RÚm 16, 21 mit
C. J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen (s. u. 4.1), Louka˜ß gleich und folgert, „daß Lukas ein bekehr-
79, polemisch ab: „Will man allen Ernstes anneh- ter Diasporajude und christlicher Lehrer in Antio-
men, das 3. Evangelium und Acta seien bis zum chia war, dort mit Paulus zusammentraf und den
Beginn des 2. Jahrhunderts anonym geblieben, Apostel zeitweise auf seinen Missionsreisen be-
dann habe jemand aus vÚllig unerfindlichen gleitet hat“ (a. a. O., 228).
GrÜnden die Bedeutsamkeit des zuvor margina- 348 Vgl. dazu die abgewogene Darstellung bei
len Paulusbegleiters Lukas gesteigert und wieder- G. Schneider, Apg I (s. u. 4.1), 112–118; vgl. zu
um etwa 2 Jahrzehnte spÈter habe man daraufhin den theologischen Leitlinien des lukanischen
seinen Namen fÜr das Doppelwerk beansprucht?“ Paulusbildes bes. G. Schille, Das Èlteste Paulus-
Dagegen ist festzustellen: Entstand das Doppel- Bild (s. u. 5), 17–33. Grundlegend sind z. B. auch
werk um 90 n. Chr., der 2 Tim um 100 n. Chr. und die Unterschiede zwischen der paulinischen und
die Lukastradition zu Beginn des 2. Jahrhunderts lukanischen Anthropologie. FÜr Lukas formuliert
n. Chr., dann ergibt sich eine geschlossene zeitli- J. W. Taeger, Der Mensch und sein Heil, 222, tref-
che Abfolge! fend: „Gott will das Heil der Menschen; wie man
347 Vgl. in diesem Sinn G. Schneider, Lk I, 32 f; dieses Heils teilhaftig wird, sagen die VerkÜndi-
W. Wiefel, Lk, 4; F. Bovon, Lk I, 22–24; E. Schwei- ger, den – in jeder Hinsicht – entscheidenden
zer, Lk, 4. Offen lÈßt die Verfasserfrage Schritt muß (und kann) der Mensch selbst tun.“
J. A. Fitzmyer, Lk I, 53. FÜr den Arzt und Augen- M. Hengel, Geschichtsschreibung (s. o. 2.1), 60,
zeugen der paulinischen Mission Lukas plÈdieren versucht dem Problem durch die Vermutung zu
hingegen (ab Apg 16, 10 ff) M. Hengel, Ge- entgehen: „Er (sc. Lukas) hatte spÈter offenbar
schichtsschreibung (s. o. 2.1), 60; C. J. Thornton, keine MÚglichkeit mehr, sich Über den Apostel
Der Zeuge des Zeugen (s. u. 4.1), 341 u. Ú.; J. Jer- durch dessen eigene Werke zu informieren.“
vell, Apg (s. u. 4.1), 63. P. Stuhlmacher, Biblische 349 Ph. Vielhauer, „Paulinismus“ (s. u. 4.1), 26.
Theologie des Neuen Testaments I (s. o. 2), 227 f,
Verfasser 287
350 Treffend P. Pokorný, Theologie 14: „Ein direk- 351 Vgl. dazu M. Pohlenz, Paulus und die Stoa, in:
ter PaulusschÜler und Mitarbeiter wÜrde seinem K. H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neue-
Lehrer nie den Aposteltitel absprechen, wie es Lu- ren deutschen Forschung (s. o. 2), 522–564.
kas in der Apostelgeschichte tut.“
288 Das Lukasevangelium
Die Abfassungszeit des lukanischen Doppelwerkes lÈßt sich nur vage bestim
men. Lukas nahm als Quellen das Markusevangelium und Q auf. Zugleich blickt
er in Lk 21, 24 (vgl. auch 13, 35) auf die ZerstÚrung Jerusalems zurÜck, und
Apg 20, 25. 38; 21, 13 setzen den Tod des Paulus voraus. Lukas schreibt aus der
Perspektive der dritten urchristlichen Generation, die bereits an einer Darstel
lung der Epochen des Heilsgeschehens interessiert ist. Daraus ergib sich eine Da
tierung des Lukasevangeliums in die Zeit um 90 n. Chr. 353. Problematisch ist eine
Festlegung des Abfassungsortes, denn von den vorgeschlagenen Orten gÈis354,
Antiochia355, Ephesus, Makedonien, Achaia, Caesarea356 und Kleinasien357
kann kein einziger als wirklich gesichert gelten. MÚglicherweise weist aber die
fÜr die Apostelgeschichte kennzeichnende Perspektive von Jerusalem weg in
Richtung Rom auf die Hauptstadt des Weltreiches als Abfassungsort (vgl.
Apg 1,8, wo mit ‚ans Ende der Welt‘ Rom gemeint ist [vgl. PsSal 8, 15], ferner
Apg 19, 21: Paulus will nach Jerusalem reisen und ‚muß‘ danach Rom sehen).
Auch die Àbereinstimmungen zwischen 1 Klem 5; 42 und dem lukanischen
Doppelwerk (Paulusbild, AmtsverstÈndnis) sind ein Hinweis auf Rom 358.
352 FÜr einen Heidenchristen votieren z. B. 354 Vgl. H. Conzelmann, Der geschichtliche Ort
G. Schneider, Lk I, 32; F. Bovon, Lk I, 23 (Lukas der lukanischen Schriften im Urchristentum, in:
stammt aus Makedonien, nÈherhin als Philippi; G. Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium, 244 f.
so auch P. Pilhofer, Philippi I [s. o. 2.9.1], 248– 355 Erwogen von G. Schneider, Lk I, 34; ders.,
254, der als Argument die guten lokalgeschichtli- Apg I (s. u. 4.1), 121.
chen Kenntnisse des Lukas anfÜhrt); W. Wiefel, 356 Vgl. z. B. H. Klein, Zur Frage nach dem Abfas-
Lk, 4; I. Broer, Einleitung I, 131 (eher ein Heiden – sungsort der Lukasschriften, EvTh 32 (1972),
als ein Judenchrist). FÜr einen ‚GottesfÜrchtigen‘ 467–477.
halten Lukas z. B. E. Schweizer, Lk, 4: P. Pokorný, 357 Vgl. z. B. W. Schmithals, Einleitung, 367.
Theologie 17; R. E. Brown, Introduction, 268. 358 Vgl. auch F. Bovon, Lk I, 23; J. Roloff, Apg
J. A. Fitzmyer, Lk I, 42, sieht in Lukas einen (s. u. 4.1), 5; G. Theißen, Lokalkolorit (s. o. 3.1.1),
„non-Jewish Semite“. 267. 270 (Lukas blickt aus einer Lokalperspektive
353 Vgl. in diesem Sinn W. Wiefel, Lk, 5; F. Bovon, von Westen her auf PalÈstina); M. Korn, Die Ge-
Lk I, 23; J. A. Fitzmyer, Lk I, 57; G. Schneider, Lk schichte Jesu in verÈnderter Zeit, 12 A 25. UnlÚs-
I, 34; E. PlÜmacher, Lukas als griechischer Histori- bar halten die Frage nach dem Abfassungsort z. B.
ker (s. u. 4.1), 238; G. Theißen, Lokalkolorit (s. o. Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur, 407;
3.1.1), 288–294 (Lukas und MatthÈus entstanden J.A. Fitzmyer, Lk I, 57.
80–90 n. Chr.); I. Broer, Einleitung I, 136 f (zwi-
schen 80–100).
Empfänger 289
3.6.4 Empfänger
359 Vgl. dazu C. C. McCown, Geographie der 361 W. Wiefel, Lk, 4, bezeichnet den Heidenchri-
Evangelien. Fiktion, Tatsache und Wahrheit, in: sten Lukas als ‚Evangelisten der Griechen‘. Aller-
G. Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium, 13– dings ist mit einer einflußreichen judenchristli-
42; demgegenÜber betont M. Hengel, Der Histori- chen Minderheit in der lk. Gemeinde zu rechnen;
ker Lukas und die Geographie PalÈstinas in der vgl. M. Klinghardt, Gesetz und Volk Gottes, pas-
Apostelgeschichte, ZDPV 99/100 (1983/84), 147– sim, der jedoch die judenchristlichen Elemente in
183, daß Lukas Über „einige StÈdte des KÜstenge- der Theologie des Lukas zu stark betont.
bietes, die Straße von Jerusalem nach CÈsarea 362 Vgl. zur Thematik neben E. GrÈßer, Problem
und den Zusammenhang zwischen Tempel und der ParusieverzÚgerung, bes. G. Schneider, Paru-
Kaserne“ (a. a. O., 182) aus eigener Anschauung siegleichnisse im Lukas-Evangelium, SBS 74,
informiert war. Stuttgart 1975.
360 Vgl. dazu T. Holtz, Untersuchungen Über die
alttestamentlichen Zitate bei Lukas, TU 104, Ber-
lin 1968.
290 Das Lukasevangelium
te Spekulationen lehnt Lukas ab (vgl. Lk 17, 20 f; 19, 11; 21,8; Apg 1, 6 8). Er er
setzt die Zusammenfassung der VerkÜndigung Jesu in Mk 1, 15 durch die An
trittspredigt Jesu in Nazareth (vgl. bes. Lk 4, 21), korrigiert das Naherwartungslo
gion Mk 9, 1 (vgl. Lk 9, 27) und schaltet dem Gleichnis von den anvertrauten
Pfunden (Lk 19, 12 27) als Einleitung Lk 19, 11 vor. Damit gibt Lukas die Paru
sieerwartung aber nicht auf 363, sondern kombiniert den ungewissen Zeitpunkt
der Ankunft des Herrn (vgl. Lk 12, 40; 17, 24. 26 30; Apg 1, 7) mit dem Aufruf
zur Geduld (vgl. Lk 8, 15) und Wachsamkeit (vgl. Lk 12, 35 ff; 21, 34. 36). Auch
die Worte Über die NÈhe der Gottesherrschaft (vgl. Lk 10,9. 11) zeigen, daß Lu
kas nicht auf die Naherwartung grundsÈtzlich verzichtet, sondern gerade ange
sichts einer durch TrÈgheit und der Gefahr des Abfalls gekennzeichneten Ge
meindesituation die Ankunft Christi und das damit verbundene Gericht mit ethi
schen Mahnungen verbindet.
2) Reichtum und Armut in der Gemeinde 364. Um die Jahrhundertwende gehÚr
ten Angesehene und VermÚgende zum Kreis der christlichen Gemeinde (vgl.
Apg 17, 4; 18,8), der rechte Umgang mit Geld und Besitz entwickelte sich so zu
einem zentralen Problem der lukanischen Ethik (vgl. Lk 3, 11; Apg 2, 45; 4, 34
37). Die Reichen in der Gemeinde waren selbstgerecht und habgierig (vgl.
Lk 12, 13 15; 16, 14 f), sie verachteten die Armen (vgl. Lk 18,9) und standen in
der Gefahr, durch ihr Streben nach Reichtum vom Glauben abzufallen (vgl.
Lk 8, 14; 9, 25). Diesen negativen Erscheinungen innerhalb seiner Gemeinde
stellt der Evangelist die Urgemeinde als freiwillige Liebesgemeinschaft gegen
Über. Sie verzichtete auf den Besitz zugunsten Notleidender (Apg 2, 45; 4, 34)
und nutzte das Privateigentum gemeinschaftlich (Apg 4, 32). Indem Lukas die
Kirche als Liebesgemeinschaft darstellt, knÜpft er an die Forderungen Jesu an,
die er in Apg 20, 35 so zusammenfaßt: „Geben ist seliger als nehmen“. In den
thematischen BlÚcken Lk 12, 13 34; 16, 1 31 problematisiert Jesus den Reich
tum, das Leben findet seinen Sinn nicht im Besitz (vgl. Lk 12, 15), Gewinnsucht
und Geldgier entsprechen nicht dem Willen Gottes (vgl. Lk 12, 15; 16, 14). Auch
in den ErzÈhlungen vom JÜngerrangstreit (Lk 9, 46 48; 22, 24 27) und vom
363 Gegen E. Haenchen, Apg (s. u. 4.1), 107; klassischen Antike, in Qumran und im Neuen Te-
H. Conzelmann, Mitte der Zeit, 127; vgl. stament, in: ders., Gemeinde – Amt – Sakrament,
G. Schneider, Apg (s. u. 4.1), 142. WÜrzburg 1989, 69–100. G. Theißen, Urchristli-
364 Vgl. hierzu neben F. W. Horn, Glaube und cher Liebeskommunismus, in: Texts and Contexts
Handeln in der Theologie des Lukas, bes. J. J. De- (FS L. Hartman), hg. v. T. Fornberg u. D. Hell-
genhardt, Lukas – Evangelist der Armen, Stuttgart holm, Oslo 1995, 689–712; D. A. Ayuch, Sozialge-
1965; M. Hengel, Eigentum und Reichtum in der rechtes Handeln als Ausdruck einer eschatologi-
frÜhen Kirche, Stuttgart 1973; W. Schmithals, Lu- schen Vision. Vom Zusammenhang von Offenba-
kas – Evangelist der Armen, ThViat XII (1973/74), rungswissen und Sozialethik in den lukanischen
153–167; L. Schottroff – W. Stegemann, Jesus von SchlÜsselreden, MThA 54, Altenberge 1998.
Nazareth; H. J. Klauck, GÜtergemeinschaft in der
Empfänger 291
Gastmahl (Lk 14, 7 24) wird die Haltung der reichen Christen kritisiert. Ruf in
die Nachfolge und Besitzverzicht bedingen einander (vgl. Lk 5, 11. 28; 8, 3; 9, 3;
10, 4; 18, 28), wobei Lk 14, 33 geradezu programmatisch formuliert: „So kann
nun keiner von euch, der nicht allen seinen BesitztÜmern den Abschied gibt,
mein JÜnger sein.“ Jesus verknÜpft seine Forderung der Distanz zum Besitz mit
der Bereitschaft, Almosen zu geben (vgl. Lk 12, 21. 33 f; 16,9. 27 31)365. So ist
der Ruf in die Nachfolge beim reichen Vorsteher (Lk 18, 18 23) mit der Auffor
derung verbunden, alles (pánta nur in der Lk Parallele 18, 22!) zu verkaufen
und es den Armen zu geben. „Denn es ist leichter fÜr ein Kamel, durch ein Na
delÚhr zu gehen, als fÜr einen Reichen, in das Reich Gottes hineinzugehen“
(Lk 18, 25). Dabei hÈlt Lukas an der Freiwilligkeit der Gaben (vgl. Apg 5, 4) nach
den MÚglichkeiten des Einzelnen (vgl. Apg 11, 29) fest. Die ebionitischen Tradi
tionen (Lk 1, 46 55; 6, 20 26; 16, 19 26), die ursprÜnglich eine gÚttliche Um
kehrung der VerhÈltnisse im Jenseits proklamierten, werden bei Lukas zu einem
Aufruf zu menschlicher Umkehr in der Gegenwart.
Lukas wendet sich mit seiner ParÈnese vorwiegend an die Reichen in seiner
Gemeinde und ruft sie angesichts der Gefahr des Glaubensabfalles zur Distanz
zum Reichtum auf. Er kann weder einseitig als ein ‚Evangelist der Reichen‘ noch
als ‚Evangelist der Armen‘ bezeichnet werden, sondern er ist ‚Evangelist der Ge
meinde‘366. Sein Ziel ist nicht die kompromißlose Kritik der Reichen, sondern
die Realisierung einer Liebesgemeinschaft zwischen Armen und Reichen der Ge
meinde, deren Voraussetzung die Bereitschaft zu Almosen auf Seiten der Rei
chen ist. Lukas schrieb insofern ein Evangelium an die Reichen fÜr die Armen.
Christliche Existenz findet nicht im Reichtum und Àberfluß ihr Ziel, vielmehr in
der Bereitschaft zum Liebesdienst am NÈchsten. Dabei dienen Lukas der Besitz
verzicht der JÜnger Jesu und die Jerusalemer Urgemeinde als Vorbilder; Unbe
dingtheit der Nachfolge und eine praktizierte Liebesgemeinschaft sollen auch in
seiner Gemeinde Gestalt gewinnen.
3) Das VerhÇltnis von Staat und Kirche 367. Lukas schildert die Begegnungen zwi
schen Jesus und den Vertretern des Staates bereits im Hinblick auf die Situation
der Kirche im RÚmischen Reich. So werden die Juden zu den Verfolgern Jesu
365 F. W. Horn, Glaube und Handeln in der Theo- 367 Vgl. dazu neben W. Stegemann, Zwischen Ob-
logie des Lukas, 231 u. Ú., sieht in der Almosen- rigkeit und Synagoge, bes. G. Schneider, Verleug-
parÈnese an die Reichen die sozialethische Kon- nung, Verspottung und VerhÚr Jesu nach Lukas
zeption des Lukas, demgegenÜber sprechen 22, 54–71, StANT 22, MÜnchen 1969; W. Radl,
L. Schottroff – W. Stegemann, Jesus von Nazareth, Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk.
150, vom innergemeindlichen Besitzausgleich als Untersuchungen zu Parallelmotiven im Lukase-
dem sozialen Ziel des Lukas. vangelium und in der Apostelgeschichte, EHS.T
366 Vgl. F. W. Horn, Glaube und Handeln in der 49, Bern – Frankfurt 1975.
Theologie des Lukas, 243.
292 Das Lukasevangelium
bzw. der Christen schlechthin (Mk 15, 16 20 entfÈllt bei Lukas, vgl. ferner
Apg 13, 50; 17, 5 7. 13; 21, 17 ff). Der rÚmische Prokurator bestÈtigt dreimal Jesu
Unschuld (vgl. Lk 23, 4. 14 f.22) und plÈdiert fÜr seine Freilassung (vgl.
Lk 23, 16. 20. 22), so daß nun allein die Juden als Schuldige am Tod Jesu erschei
nen. Paulus wird als ein gerechter rÚmischer BÜrger dargestellt (vgl. Apg 25,8),
dessen rÚmisches BÜrgerrecht von den staatlichen Instanzen akzeptiert wird
(Apg 16, 37 ff; 22, 25 ff), die ihn schließlich den Juden entreißen (vgl. Apg
23, 10. 27) und ihm in Rom Hafterleichterung gewÈhren (Apg 28, 30 f). Bei Àber
griffen der Juden stellen sich die rÚmischen BehÚrden vor die Christen und
schÜtzen sie (Apg 19, 23 40; 23, 29; 25, 25; 26, 31). Lukas will offenbar seiner
Gemeinde den Freiraum gegenÜber dem Staat erhalten, den sie zur AusÜbung
ihrer Gottesdienste und zur praktischen Gestaltung des Gemeindelebens
braucht. MÚglichen Àbergriffen des Staates begegnet Lukas mit dem Nachweis,
daß sich die Christen gegenÜber der Obrigkeit loyal verhalten und fÜr den Staat
keine Gefahr darstellen. Dies hindert ihn freilich nicht daran, auch kritische
Worte zu Überliefern (vgl. Lk 3, 19; 13, 32 f) und Petrus in Apg 5, 29 sagen zu las
sen, man mÜsse Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Neben diesen als zwangslÈufig zu bezeichnenden Problemen scheint es inner
halb der lukanischen Gemeinde zu Auseinandersetzungen mit Irrlehrern ge
kommen zu sein (vgl. Apg 20, 29. 30), ohne daß eine genauere Bestimmung der
‚Irrlehre‘ mÚglich ist368. Lukas begegnet der Irrlehre mit dem Verweis auf die
Tradition und die KontinuitÈt der rechten Lehre (Apg 20, 27. 28). Eine akute
Verfolgungssituation setzt Lukas nicht voraus369, vielmehr ergeht sein Aufruf
zum offenen Bekenntnis (vgl. Lk 12, 1 12)370 angesichts lokaler Repressionen
(vgl. Apg 13, 45. 50; 14, 2. 5. 19; 16, 19 ff; 17, 5 f.13; 18, 12. 17; 19,9. 23 40) und
der GefÈhrdung der Gemeinde im Spannungsfeld zwischen Synagoge und rÚmi
schen Instanzen.
1, 1 4 Vorwort
1, 5 2, 52 Vorgeschichte: Geburt Johannes d. T. und Geburt Jesu
3, 1 4, 13 Vorbereitung der Wirksamkeit Jesu: Der TÈufer, Jesu
Taufe, Stammbaum und Versuchung Jesu
4, 14 9, 50 Das Wirken Jesu in GalilÈa
368 J. Roloff, Apg (s. u. 4.1), 5, vermutet Gnosti- Handeln in der Theologie des Lukas, 216–220.
ker. 370 Vgl. zur Analyse W. Stegemann, Zwischen
369 Vgl. zur Kritik an dieser bes. von W. Schmit- Obrigkeit und Synagoge, 40–90.
hals vorgetragenen These F. W. Horn, Glaube und
Gliederung, Aufbau, Form 293
371 Vgl. zu den Problemen der Komposition des ten Hauptteil der ErzÈhlung, der einer besonde-
Evangeliums bes. H. Conzelmann, Mitte der Zeit, ren (heilsgeschichtlichen) Etappe der Konfronta-
12–86. tion des lukanischen Jesus mit ‚Israel‘ entsprÈche,
372 Vgl. hier bes. G. Klein, Lukas 1, 1–4 als theolo- gibt es im dritten Evangelium nicht. Das lukani-
gisches Programm, in: G. Braumann (Hg.), Das sche Doppelwerk zielt vielmehr insgesamt auf den
Lukas-Evangelium, 170–203. narrativen Aufweis der Verwurzelung des
373 Zur Analyse vgl. zuletzt M. Korn, Die Ge- swtv́rion toũ heoũ (Lk 3, 6 – Apg 28, 28; vgl. Lk
schichte Jesu in verÈnderter Zeit, 33–55. 2, 30: tò swtv́rion sou) in der Geschichte ‚Israels‘.
374 Vgl. M. Korn, a. a. O., 56–85, der in der An- Es zeichnet in der erzÈhlerischen Retrospektive
trittspredigt die ErÚffnung des gesamten lukani- die verschiedenen SpannungsbÚgen einer Ent-
schen Doppelwerkes sieht. wicklung nach, in deren Vollzug die gÚttliche
375 Andere Abgrenzungen des Reiseberichtes: swtvrı́a (Lk 1, 69.71.77; 19, 9; Apg 4, 12; 7, 25;
9, 51–19, 28 (vgl. G. Sellin, Komposition, Quellen 13, 26.47; 16, 17; 27, 34) zu den Heiden/VÚlkern
und Funktion des lukanischen Reiseberichtes und damit schließlich zu den (christlichen) Le-
[Lk 9, 51–19, 28], NT 20 [1978], 100–135); 9, 51– sern gelangt ist und sich hier in der einen ‚Kirche‘
19, 44 (vgl. P. v. d. Osten-Sacken, Christologie, aus Juden und Heiden realisiert hat“ (ders., Zwi-
476 A 2; M. Korn, a. a. O., 87). schen DOXA und STAUROS, 392). FÜr die Exi-
376 R. v. Bendemann bestreitet die Existenz eines stenz eines bewußt gestalteten lukanischen Reise-
lukanischen Reiseberichtes. Seine Hauptargu- berichtes bleiben jedoch zwei grundlegende Ar-
mente: Die Probleme einer plausiblen Abgren- gumente, die m. E. nicht entkrÈftet sind: 1) Lukas
zung des Reiseberichtes nach vorn und hinten; gibt in 9, 51 und 19, 28, aber auch in 13, 22 und
innerhalb des Reiseberichtes sind keine Überzeu- 17, 11 klare sprachliche Signale, daß er Jesu Weg
genden geographischen Gliederungen mÚglich; nach Jerusalem sowohl kompositorisch als auch
die fehlende formgeschichtliche Klassifizierung theologisch als eigenstÈndigen Abschnitt inner-
des Reiseberichtes; die Strategie des Lukas lÈßt halb seiner vita Jesu versteht. 2) Die luk. Quellen-
sich ohne die Annahme eines Reiseberichtes im verarbeitung bestÈtigt den Eindruck, daß eine be-
Rahmen literarischer Konvention der Antike er- wußte und besondere Gestaltung vorliegt, denn
klÈren (vita Aesopi). „Einen mit Lk 9, 51 erÚffne- der 3. Evangelist integriert mit Ausnahme von Lk
294 Das Lukasevangelium
lung des Lebens Jesu ist Jerusalem (vgl. innerhalb des Reiseberichtes bes.
Lk 13, 22; 17, 11), wo er als Lehrer speziell im Tempel wirkt (Lk 19, 29 21, 38).
Die Zeit des Leidens versteht Lukas als Weg zur Herrlichkeit (vgl. Lk 24, 26), Pas
sion und Ostern bilden fÜr ihn eine unauflÚsliche Einheit. Die Ostergeschichten
ereignen sich an einem Tag und finden mit der Himmelfahrt Jesu ihren HÚhe
punkt und ihr Ende. Als bestimmendes Element lukanischer ErzÈhltechnik kann
neben der Verfeinerung des Episodenstils der Traditionen die Komposition lÈn
gerer Texteinheiten gelten, die durch einleitende und abschließende Rahmen
verse interpretiert werden (vgl. Lk 4, 16 30). Kennzeichen der lk. Kompositions
technik sind ferner NachtrÈge, ErgÈnzungen und Variationen von ErzÈhlun
gen377. Kaum zufÈllig ist ferner die Plazierung von SchlÜsselerzÈhlungen in der
Mitte des jeweiligen Buches (vgl. Lk 15, 11 32; Apg 15, 1 35).
Auch Lukas orientiert sich bei seiner biographischen Darstellung der Überlie
ferten Jesustraditionen am Markusevangelium. Die ungewÚhnliche Ausweitung
der Reise nach Jerusalem gegenÜber Markus ist vor allem durch das dem 3.
Evangelisten vorliegende Material bedingt, das er in den Markus Aufriß inte
grieren mußte. Dennoch ist Lukas unter den Evangelisten insofern ein Einzelfall,
als er im Prolog seines Evangeliums seine literarischen Ambitionen als Schrift
steller und seine theologischen Absichten klar benennt. Historisierung und da
mit verbunden Biographisierung der Àberlieferungen sowie rhetorische Gestal
tung der Komposition378 kennzeichnen die lukanische Arbeitsweise. Als Histori
ker ist Lukas um VollstÈndigkeit, Genauigkeit und SoliditÈt bemÜht, wobei er of
fenbar an Traditionen antiker Historiographie anknÜpft. So sind prágmata und
div´gvsiß z.Zt. des Lukas379 Termini der antiken Historiographie, und die Syn
chronismen und Datierungen in Lk 1, 5; 2, 1. 2; 3, 1. 2; Apg 11, 28 und Apg 18, 12
weisen Lukas als Historiker aus. Zudem ist die lukanische Eigenart, die Heilsge
schichte in abgegrenzte und eigengewichtige Epochen zu gliedern, nicht ohne
zeitgenÚssische Parallelen, denn insbesondere die historischen Monographien
des Sallust zeigen eine vergleichbare Struktur auf380. Deshalb erscheint es mÚg
lich, die beiden BÜcher des lukanischen Doppelwerkes als historische Monographi
en zu bezeichnen, wovon der Charakter der lukanischen Darstellung des Lebens
18, 15–43 ausschließlich Material der Logienquel- gung antiker Rhetorikelemente, FTS 43, Frank-
le und des Sonderguts im Reisebericht und hebt furt 1993.
ihn auch damit deutlich hervor. 379 Belege bei E. PlÜmacher, EWNT I, 779 f.
377 Vgl. dazu A. Dauer, Beobachtungen zur litera- 380 Vgl. E. PlÜmacher, Neues Testament und hel-
rischen Arbeitstechnik des Lukas, BBB 79, Frank- lenistische Form. Zur literarischen Gattung der lu-
furt 1990. kanischen Schriften, TheolViat 14 (1977/78),
378 Vgl. hier zuletzt M. Diefenbach, Die Komposi- 109–123.
tion des Lukasevangeliums unter BerÜcksichti-
Literarische Integrität 295
Jesu als Evangelium unberÜhrt bleibt381. Die weit verbreitete Gattung der histo
rischen Monographie ermÚglicht es Lukas, umfassend die Wirksamkeit Jesu in
ihren einzelnen Epochen darzustellen.
Das umfangreiche lukanische Sondergut warf immer wieder die Frage auf, ob
Lukas neben Markus und seinem Exemplar der Logienquelle noch eine dritte
Quelle verarbeitete (SLk oder L)382. So sah B. Weiß383 in SLk eine selbstÈndige
Quellenschrift, die als ParallelÜberlieferung zur Logienquelle verstanden werden
mÜsse und in Jerusalem beheimatet sei. Auch W. Bussmann postuliert eine luka
nische Sondergut Quelle, betont aber die Schwierigkeiten der sprachlichen Re
konstruktion dieses Werkes. Bussmann sah in Lukas, dem Arzt und Reisebeglei
ter des Paulus, den Verfasser dieser Sonderquelle384. Als einflußreich erwies sich
die These von B. H. Streeter385, der mit einem von Lukas selbst aus Q und L ge
schaffenen „Proto Lukas“ rechnet. „Luke himself may have been the person
who originally combined Q and L, and then, at some subsequent date, produced
an enlarged edition of his earlier work by incorporating large extracts from Mark
and prefixing an account of the Infancy . . . Proto Luke appears to be a document
independent of Mark and approximately of the same date“.386 So ist das jetzige
Lukasevangelium eine um den Markus Stoff erweiterte zweite Ausgabe des Pro
to Lukas. Eine Modifikation der Proto Lukas Hypothese nahmen J. Jeremias387
und F. Rehkopf388 vor, die von einer lukanischen Sonderquelle ausgehen (Lk
381 Vgl. a. a. O., 116 f. Lu II), das in zeitlicher NÈhe zur Logienquelle
382 Vgl. zur Forschungsgeschichte K. Grobel, entstanden sein soll.
Formgeschichte und synoptische Quellenanalyse, 385 Vgl. B. H. Streeter, The Four Gospels (s. o.
FRLANT 53, GÚttingen 1937, 67 ff; W. Schmithals, 3.2.1), 199–222. Ausgebaut wurde diese These
Einleitung, 329–332. von V. Taylor, Behind the Third Gospel. A Study
383 Vgl. B. Weiß, Die Quellen des Lukasevange- of the Proto-Luke-Hypothesis, Oxford 1926.
liums, Stuttgart u. Berlin 1907. 386 B. H. Streeter, The Four Gospels, 200.
384 Vgl. W. Bussmann, Synoptische Studien III, 387 Vgl. J. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu,
Halle 1931; E. Hirsch, FrÜhgeschichte des Evan- GÚttingen 41967, 91 ff.
geliums II, TÜbingen 1941, 171 ff, fÜhrt das luka- 388 Vgl. F. Rehkopf, Die lukanische Sonderquelle,
nische Sondergut auf ein ‚Evangelium‘ zurÜck (= WUNT 5, TÜbingen 1959.
296 Das Lukasevangelium
[1, 1 2, 52] 3, 1 4, 30; 6, 12 16. 20 49; 7, 1 8, 3; 9, 51 18, 14; 19, 1 28; 22, 14
24, 53), in die der dritte Evangelist Markus Stoff integrierte.
In der Forschung konnte sich eine Drei Quellen Theorie bei Lukas nicht
durchsetzen, denn der sprachliche Nachweis einer eigenstÈndigen dritten vorlu
kanischen Quelle gelang nicht. Es bestehen sprachliche Unterschiede innerhalb
des Sondergutes, und die SondergutÜberlieferungen wurden durch den Evange
listen bearbeitet. Schließlich sprechen sowohl die Disparatheit des Materials als
auch das Fehlen eines inneren Ordnungsprinzips gegen die Existenz einer eigen
stÈndigen lukanischen Sondergutquelle389.
Eine sachgemÈße Darstellung der lukanischen Theologie muß mit den von Lu
kas selbst in Kap. 1, 1 4 erhobenen historischen, literarischen und hermeneuti
schen AnsprÜchen einsetzen. Historische und theologische SoliditÈt prÈgen sein
Werk, Lukas schafft eine sichere Grundlage fÜr die Unterweisung von Neophy
ten. Er schreibt eine Geschichte des Heils, die mit der Geburt Johannes d. T. be
ginnt und mit der freimÜtigen Predigt des Reiches Gottes in Rom durch den Apo
stel Paulus endet.
Eine heilsgeschichtliche Intention zeigt sich bereits in der Parallelisierung der Ge
burt Johannes d. T. und der Geburt Jesu (Lk 1, 5 2, 21)390. Die Simeonweissa
gung Lk 2, 29 35 verankert die fÜr das Evangelium und die Apostelgeschichte
gleichermaßen konstitutive UniversalitÈt des Heils bereits am Beginn der ErzÈh
lung. Durch die Synchronismen in Lk 2, 1 und Lk 3, 1 2 verbindet Lukas die Ge
schichte Jesu mit der Geschichte seiner Zeit, er versteht das Auftreten Jesu auch
389 Zur Auseinandersetzung mit Èlteren Theorien die auf mehrere Traditionsschichten verwei-
vgl. W. G. KÜmmel, Einleitung, 100 ff. In der neu- sen . . .“ (a. a. O., 84 f).
eren Forschung plÈdiert bes. E. Schweizer, Zur 390 Vgl. hierzu Chr. G. MÜller, Mehr als ein Pro-
Frage der Quellenbenutzung durch Lukas, 83–85, phet. Die Charakterzeichnung Johannes des TÈu-
fÜr eine lukanische Sonderquelle. Er fÜhrt als fers im lukanischen ErzÈhlwerk, HBS 31, Feiburg
Hauptargumente an: „1. Analogien zu den Ab- 2001, 296: „Johannes ist neben Jesus die einzige
schnitten, die wir aufgrund von Mk und Q kon- Hauptfigur des lukanischen Doppelwerks, deren
trollieren kÚnnen; 2. die Aussage des Vorwortes gesamter Lebenslauf, von den besonderen Um-
von den ‚vielen‘ VorgÈngern; 3. sprachliche Ei- stÈnden seiner Geburt bis hin zu seinem Tod und
gentÜmlichkeiten . . .; 4. inhaltlich besonders die seinem Weiterwirken Über den Tod hinaus, er-
starke Ausrichtung auf Frauen und Arme, aber zÈhlt wird. Schon daran wird deutlich, daß es sich
auch die Betonung der reinen Gnade; 5. Umstel- bei Johannes dem TÈufer fÜr den ErzÈhler Lukas
lungen gegenÜber Mk, besonders in der Passions- nicht um eine Nebenfigur, sondern um einen Pro-
geschichte; 6. Àbereinstimmungen mit Joh, gele- tagonisten der von ihm erzÈhlten Geschichte han-
gentlich auch mit Mt gegen Mk, besonders in der delt.“
Passions- und Ostergeschichte; 7. Spannungen,
Theologische Grundgedanken 297
als den entscheidenden Teil der allgemeinen Weltgeschichte. Als einen besonde
ren Abschnitt innerhalb der Geschichte Gottes mit den Menschen kennzeichnet
Lukas das Wirken Jesu durch die Bemerkung, daß der Satan nach den Versu
chungen von Jesus wich (Lk 4, 13) und erst wieder beim Verrat des Judas in Er
scheinung trat (Lk 22, 3). Die Zeit Jesu ist im Sinne des lukanischen Darstel
lungsinteresses deshalb sachgemÈß mit H. Conzelmann als ‚satansfreie Zeit ‘ zu be
zeichnen (vgl. Lk 10, 18)391. Auch Jesu Antrittspredigt in Nazareth (Lk 4, 16 30)
verdeutlicht den einzigartigen Charakter des Auftretens Jesu: Er ist der GeisttrÈ
ger (Lk 4, 18), und in ihm erfÜllt sich das Zeugnis der Schrift (Lk 4, 21)392.
Nach der Wirksamkeit Jesu in GalilÈa bildet Lk 9, 51 einen deutlich erkennba
ren Einschnitt, Jesus wendet sich Jerusalem als Ort des Leidens und der Aufer
stehung zu. Lukas weitet den in Mk 10 geschilderten Gang Jesu von GalilÈa nach
Jerusalem zu einem Reisebericht aus, der mehr als ein Drittel des Evangeliums
umfaßt (Lk 9, 51 19, 27). Der Begriff des Reiseberichtes ist hier sachgemÈß, weil
nach Lk 9, 51 in Lk 9, 52 f.56 f; 10, 38; 13, 22. 33; 14, 25; 17, 11; 19, 1. 11 immer
wieder das Reisemotiv erscheint. Lukas verbindet mit dieser Komposition grund
legende theologische Aussagen, was bereits in Lk 9, 51 durch die Wendung
sumplvrou˜sXai tàß vme´raß tv˜ß analv´myewß autou˜ angezeigt wird. Eine durch
sumplvrou˜n vorbereitete heilsgeschichtliche Linie wird durch den Plural tàß vme´
raß ausgeweitet, der sich auf den Tod, die Auferweckung und die Himmelfahrt
Jesu bezieht393. Der Reisebericht zeichnet deshalb nicht nur Jesu Weg zum Lei
den, sondern schließt Jesu Auferweckung und Himmelfahrt mit ein. Im Reisebe
richt unterweist Jesus selbst die Gemeinde und befÈhigt sie dadurch, in der Zeit
seiner Abwesenheit seinem Willen gemÈß zu leben. Damit ergibt sich fÜr den lu
kanischen Reisebericht ein unauflÚslicher Zusammenhang zwischen christologi
schem Ansatz und ekklesiologisch ethischer Zielsetzung. Angesprochen ist eine
Gemeinde, die sich bei der Parusie des Herrn im Gericht verantworten muß. In
nerhalb der ParÈnese spielen der rechte Umgang mit dem Besitz (s. o. 3.6.4) und
das sachgemÈße VerstÈndnis der Wiederkunft Jesu eine zentrale Rolle, wie es
das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Lk 19, 11 27) exemplarisch zeigt.
Innerhalb des Reiseberichtes erscheint Lk 16, 16 als eine SchlÜsselstelle luka
nischer Theologie. H. Conzelmann votiert fÜr eine exklusive Deutung von apo`
tóte, wofÜr er sich auf mecri` LIwánnou in V. 16 a berufen kann394. Die Epoche des
Gesetzes und der Propheten reicht bis zu Johannes d. T., mit dem Auftreten Jesu
hebt eine neue Zeit, die ‚Mitte der Zeit ‘ an. FÜr eine inklusive Deutung von
Lk 16, 16 kann hingegen geltend gemacht werden: 1) Durch den Synchronismus
391 Vgl. H. Conzelmann, Mitte der Zeit, 146. 393 Vgl. dazu F. W. Horn, Glaube und Handeln in
392 Vgl. dazu U. Busse, Das Nazareth-Manifest Je- der Theologie des Lukas, 260–268.
su, SBS 91, Stuttgart 1978. 394 Vgl. H. Conzelmann, Mitte der Zeit, 17 u. Ú.
298 Das Lukasevangelium
Ein zentrales Thema lukanischer Ekklesiologie lÈßt sich ebenfalls nicht in ein Peri
odenschema pressen: Die KontinuitÈt zwischen Israel und der Kirche398. FÜr Lu
kas ist die Kirche ein Werk Gottes (vgl. Lk 1, 54. 68. 72; 2, 34; Apg 5, 35 39;
13, 40 f; 15, 16 18; 20, 28), Teil eines Prozesses, der nicht erst mit dem Auftreten
Jesu oder der Apostel beginnt. So verdeutlicht die Stephanusrede, daß Israel zu al
len Zeiten dem Willen Gottes widerstand (vgl. Apg 7, 51) und es schon z.Zt. des
Alten Testaments eine Geschichte „der Sammlung und der Scheidung in Israel“399
gab. Zugleich betont die lukanische Vorgeschichte (Lk 1, 5 2, 40), daß in Israel im
395 Die Predigt der Gottesherrschaft beginnt dann Kirche, wie sie sich durch das Zeugnis der Boten
mit dem TÈufer; vgl. W. G. KÜmmel, „Das Gesetz Jesu entwickelt hat, steht in einer vom Handeln
und die Propheten gehen bis Johannes“, in: Gottes bestimmten KontinuitÈt zur Geschichte Je-
G. Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium, 398– su.“
415. 398 Vgl. hierzu P. Pokorný, Theologie, 38–85.
396 Vgl. H. Conzelmann, Mitte der Zeit, 199 u. Ú. 399 G. Lohfink, Die Sammlung Israels, 93.
397 Vgl. J. Roloff, Kirche (s. o. 3.5.4), 191: „die
Theologische Grundgedanken 299
mer fromme und gerechte Menschen auf die ErlÚsung warteten. Auch an Johan
nes d. T. zeigt Lukas die KontinuitÈt zwischen Israel und der Kirche auf (vgl.
Apg 13, 23. 24). Jesus weiß sich zur Sammlung der Kinder Israels gesandt
(Lk 13, 34), die in der JÜngergemeinde ihre Gestalt findet. Das Bleiben der JÜnger
gemeinde in Jerusalem Über Ostern und Pfingsten hinaus illustriert nachdrÜcklich
die von Lukas intendierte KontinuitÈt des wahren Israels. WÈhrend der unglÈubi
ge Teil Israels Jesus ablehnt, werden die Heiden in das Heil aufgenommen
(Apg 10 f) und so zu einem Teil des wahren Israel. Der Hauptzeuge der heilsge
schichtlichen KontinuitÈt innerhalb der Wende der urchristlichen Missionsge
schichte von den Juden zu den Heiden ist fÜr Lukas der bekehrte Jude und Hei
denapostel Paulus. Die Kirche erscheint bei Lukas als das wahre Israel. Sie ent
spricht dem ewigen Ratschluß Gottes, wurde erworben durch Jesu Blut und weiß
sich geleitet vom Heiligen Geist (Apg 20, 27. 28).
400 Vgl. hierzu mit unterschiedlichen Konzeptio- tingen 1961; J. Roloff, Apostolat – VerkÜndigung
nen G. Klein, Die ZwÚlf Apostel, FRLANT 77, GÚt- – Kirche, GÜtersloh 1965, 169–235.
300 Das Lukasevangelium
402 H. Conzelmann, Theologie (s. o. 2), 160. Zeit der Erwartung und der ErfÜllung. Jesu Wirk-
403 In wesentlichen Punkten vorweggenommen samkeit bildet zusammen mit dem Handeln der
wurde die Interpretation Conzelmanns durch Kirche in seinem Namen die durch die VerkÜndi-
H. v.Baer, Der Heilige Geist in den Lukasschriften, gung des Evangeliums qualifizierte eschatologi-
BWANT 39, Stuttgart 1926. sche Heilszeit (Lk 16, 16).“ P. Pokorný, Theologie,
404 G. Schneider, Apg I (s. u. 4.1), 136 f; vgl. auch 31, ordnet die beiden Teile des lukanischen Dop-
J. Roloff, Die Paulusdarstellung des Lukas (s. u. pelwerks folgendermaßen zu: „Die zwei Etappen
4.1), 528 A 53; A. Weiser, Apg I (s. u. 4.1), 31 f. sind der irdische Anfang des Wirkens Jesu und
FÜr M. Korn, Die Geschichte Jesu in verÈnderter die Wirkung Jesu im Heiligen Geist, die ihren An-
Zeit, 272, ist „Jesu Geschichte die ‚Mitte der Zeit‘ fang in Act 2 hat.“
im sachlichen Sinn. Sie teilt die Geschichte in die
302 Das Lukasevangelium
405 G. Schneider, Apg I (s. u. 4.1), 137. wonach Lukas ein Mann der Kirche ist, „der auch
406 Vgl. zu dieser Diskussion bes. W. G. KÜmmel, mit seiner Schriftstellerei ihr dienen will, nÈher-
Lukas in der Anklage der heutigen Theologie, in: hin dadurch, daß er die kirchliche Tradition si-
G. Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium, 416– chert.“
436. 408 G. Nebe, Prophetische ZÜge, 207.
407 Diesen Aspekt betont H. SchÜrmann, Lk I, 3, 409 Vgl. nur W. Schmithals, Apg (s. u. 4.1), 11 ff.
Tendenzen der neueren Forschung 303
dung durch staatliche Maßnahmen gesprochen werden kann, aber eben nicht
von Verfolgungen im eigentlichen Sinne.“410 In einem anderen sozialgeschicht
lichen Kontext verortet L. Bormann das Lukasevangelium. Er untersucht das fÜr
antikes Denken konstitutive VerhÈltnis von Recht und Religion bei Lukas und
betont: „Lukas nimmt den Blick von außen auf. Er erschließt so die Jesustraditi
on den Lesern der rÚmisch und griechisch hellenistischen Welt im weitesten
Sinn, sei es der hellenisierte Jude, der Grieche oder der mit den Vorstellungen
der hellenistischen Welt vertraute RÚmer.“411
Eine Tendenz ist in der neuesten Lukasforschung unÜbersehbar: Das VerhÈlt
nis zu Israel erscheint vielen Exegeten als das zentrale Thema lukanischer Theo
logie. „Das lukanische Geschichtswerk erweist sich so als Dokument einer frÜh
christlichen Auseinandersetzung mit dem Problem des VerhÈltnisses der christli
chen Gemeinden zur jÜdischen Geschichte. Das Geschichtswerk des Lukas ist ein
originÈrer, einheitlicher Entwurf der Ursprungsgeschichte des Christentums, mit
dem Lukas die Reichweite des historisch theologischen ErinnerungsvermÚgens
des (nachpaulinischen) Christentums seiner Zeit im VerhÈltnis zur jÜdischen
Hoffnungsgeschichte bestimmt.“412 Nicht erst die Ablehnung des Evangeliums
durch Israel fÜhrt zur Mission der Heiden, sondern Gottes Heilswille gilt von An
fang an gleichermaßen Juden und Heiden413. Mit der Israelthematik verbindet
sich eine Hinwendung zur erzÈhlerischen Leistung des Lukas, die das Doppel
werk als einheitliche ErzÈhlung wahrnimmt und durchgÈngig im Blick behÈlt414.
„Lk Act ist ein in sich geschlossenes ErzÈhlganzes.“415
410 W. Stegemann, Zwischen Synagoge und Ob- die Welt, 134–147 u. Ú.; C.-P. MÈrz, Die theologi-
rigkeit, 268. sche Interpretation der Jesus-Gestalt bei Lukas,
411 L. Bormann, Recht, Gerechtigkeit und Reli- 149: „Der Anfang des auf Israel ausgerichteten
gion, 358. Wirkens Jesu erscheint deshalb bereits von jenen
412 K. LÚning, Geschichtswerk des Lukas I, 9; vgl. Impulsen bestimmt, die seine ErhÚhung und die
ferner E. Reinmuth, Pseudo-Philo und Lukas, Sendung der Boten zu weltweiter Mission einlÚ-
245–249; P. Pokorný, Theologie, 38: „Lukas hat sen sollen. Sein Weg erweist sich in der Schei-
versucht, diese neue Wirklichkeit (sc. die Kirche, dung in Israel als Phase der Differenzierung, die
U. S.) theologisch als das Gottgewollte darzustel- das Angebot des Heils dergestalt vor die Men-
len und gleichzeitig das Erbe Israels zu bewah- schen bringt, daß es auch durch vielfache Verwei-
ren“; J. Jervell, Apg (s. u. 4.1), 92 f: „Es geht Lukas gerung nicht zunichte gemacht wird, sondern
vor allem um das Gottesvolk und seine Ge- nunmehr seinen Weg zu den VÚlkern sucht, ohne
schichte; denn nur innerhalb dieser Geschichte ist daß es dabei freilich den Bezug auf Israel verliert.
die Kirche zu verstehen. Es gibt nur ein Volk, daß Der offene Abschluß der Apostelgeschichte zeigt
man ‚Volk‘, laóß, nennen darf, nÈmlich Israel. an, daß dieser Prozeß noch nicht zu Ende ist.“
Die Geschichte Israels hÚrt nie auf, sondern geht 414 Grundlegend R. C. Tannehill, The Narrative
geradlinig in der Kirche weiter, nÈmlich als die Unity of Luke – Acts I.II, Minneapolis 1986.1990.
Geschichte des einen Gottesvolkes.“ 415 G. Wasserberg, Aus Israels Mitte – Heil fÜr die
413 Vgl. G. Wasserberg, Aus Israels Mitte – Heil fÜr Welt, 31.
4. Die Apostelgeschichte
4.1 Literatur
Kommentare
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³TK 5/1. 2: A. Weiser, 21989. 1985. NTD 5: J. Roloff, 21988. ZBK 3. 2: W. Schmithals,
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schichte, NTA NF 9, MÜnster 1971. R. Maddox, The Purpose of Luke Acts, FRLANT 126,
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AufsÇtze
M. Dibelius, AufsÈtze zur Apostelgeschichte, hg. v. H. Greeven, FRLANT 60, GÚttingen
5
1968 (grundlegende Aufsatzsammlung!). Ph. Vielhauer, Zum „Paulinismus“ der Apo
306 Die Apostelgeschichte
stelgeschichte, in: ders., AufsÈtze zum Neuen Testament, TB 31, MÜnchen 1965, 9 27.
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Apostelgeschichte, TRE 3 (1978), 483 528. J. Roloff, Die Paulusdarstellung des Lukas,
EvTh 39 (1979), 510 531. A. Weiser, Das „Apostelkonzil“ (Apg 15, 1 35): Ereignis, Àber
lieferung, lukanische Deutung, BZ 28 (1984), 145 167. J. Kremer (Hg.), Les Actes des
Ap×tres, BETL XLVIII, Leuven 1979 (Aufsatzsammlung). I. H. Marshall u. D. Peterson
(Hg.), Witness to the Gospel. The Theology of Acts, Grand Rapids 1998. J. Verheyden
(Hg.), The Unity of Luke Acts, BETL 142, Leuven 1999 (wichtige Aufsatzsammlung).
D. A. Koch, Kollektenbericht, ‚Wir‘ Bericht und Itinerar. Neue (?) Àberlegungen zu einem
alten Problem, NTS 45 (1999), 367 390. F. W. Horn (Hg.), Das Ende des Paulus, BZNW
106, Berlin 2001 (wichtige Aufsatzsammlung).
Forschungsbericht
E. PlÜmacher, Acta Forschung 1974 1982, ThR 48 (1983), 1 56; 49 (1984), 105 169.
4.2 Verfasser
4.4 Empfänger
FÜr die Zeit der Abfassung der Apostelgeschichte wird man fÜr die lukanische
Gemeinde keine andere Situation annehmen dÜrfen, als sie in 3.6.4 geschildert
wurde.
2 Vgl. dazu auch J. Roloff, Apg, 5; G. Schille, 3 H. Conzelmann, Der geschichtliche Ort der lu-
Apg, 41; G. Schneider, Apg I, 121; A. Weiser, Apg kanischen Schriften (s. o. 3.6.3), 245.
I, 40 f: 80–90; W. Schmithals, Apg, 17: 90–110;
eine SpÈtdatierung vertritt H. KÚster, EinfÜhrung,
749: nicht spÈter als 135.
308 Die Apostelgeschichte
In Apg 1,8 formuliert Lukas das Programm der gesamten Darstellung: „Aber ihr
werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, die auf euch herabkommen
wird, und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz JudÈa und Sa
maria bis an das Ende der Erde.“ Die Ausbreitung des Evangeliums unter der
FÜhrung des heiligen Geistes wird von Lukas offenbar in einer geographischen
Perspektive dargestellt. Nach dem Vorwort Apg 1, 1 14 schildert Apg 1, 15 8, 3
die VerkÜndigung und das Zeugnis der Apostel in der Urgemeinde von Jerusa
lem. Mit dem in Apg 6, 1 ff geschilderten Auftreten der Hellenisten setzt eine
neue Entwicklung innerhalb der Urgemeinde ein, denn mit ihnen wird das
Evangelium Über seinen Ursprungsort Jerusalem hinausgetragen nach JudÈa,
Samaria und in die umliegenden Gebiete. Diese Mission schildert Apg 8, 4
11, 18. Einen ersten Abschnitt innerhalb dieser Entwicklung zeigt Apg 9, 31 an,
wo das Wachstum der Gemeinden in diesen Gebieten unter der FÜhrung des
Heiligen Geistes summarisch erwÈhnt wird. Ab Apg 9, 32 kommt die Heidenmis
sion in den Blick, die in der Taufe des Kornelius durch Petrus und dem sich dar
an anschließenden Rechenschaftsbericht des Petrus eine programmatische Be
grÜndung findet. Einen deutlichen Einschnitt in der Darstellung der urchristli
chen Missionsgeschichte markiert die antiochenische Mission (Apg 11, 19
15, 35), in deren Mittelpunkt die Missionsarbeit des Paulus und Barnabas steht.
Der Apostelkonvent in Apg 15, 1 33 kann als der kompositionelle und sachliche
Mittelpunkt der Apostelgeschichte angesehen werden. Hier endet die insbeson
dere von Jerusalem getragene Urzeit der Kirche und beginnt die Zeit der geset
zesfreien Heidenmission, deren ReprÈsentant Paulus ist. Ab Apg 15, 35 konzen
triert sich die lukanische Darstellung allein auf Paulus. AusfÜhrlich wird die Mis
sion in Kleinasien geschildert, ein fÜr die weitere Geschichte der Kirche funda
mentaler Vorgang. Apg 19, 21 benennt einen weiteren Wendepunkt, nun ent
schließt sich Paulus, unter der FÜhrung des Heiligen Geistes nach Jerusalem und
dann nach Rom zu gehen. Die fÜr das Gesamtwerk konstitutive Ausrichtung
von Jerusalem in Richtung Rom wird hier programmatisch formuliert. Stellen
Apg 19, 21 21, 17 den Weg des Apostels nach Jerusalem dar, so folgen in Apg
21, 18 26, 32 die Verhaftung und der Prozeß des Paulus. Den Abschluß des Wer
kes bildet die Reise des Paulus nach Rom und seine ungehinderte Wirksamkeit
in der Welthauptstadt (Apg 27, 1 28, 31). Mit Paulus ist das Evangelium vom
Reich Gottes (Apg 28, 31) bis an ‚das Ende der Erde‘, d. h. nach Rom gelangt.
GliederungsvorschlÈge des Gesamtwerkes reichen von einer Zweiteilung (I:
1, 1 11, 18; II: 11, 19 28, 31)4 Über eine Dreiteilung (Einleitung 1, 1 26; I: 2, 1
5, 42; II: 6, 1 15, 35; III: 15, 36 28, 31)5 bis hin zu einer FÜnfteilung (Prolog 1, 1
26; I: 2, 1 5, 42; II: 6, 1 9, 31; III: 9, 32 15, 35; IV: 15, 36 19, 20; V. 19, 21
28, 31)6. Die Hauptthemen der Apostelgeschichte (Urgemeinde, Hellenisten, vor
paulinische und paulinische Mission, Paulus auf dem Weg nach Rom) sind in
der Darstellung miteinander verschrÈnkt, und ein durchgehendes exaktes Glie
derungsprinzip ist nicht erkennbar; daraus erklÈren sich die Schwierigkeiten ei
ner Abgrenzung einzelner Textbereiche.
Lukas schreibt ein gehobenes Koine Griechisch, es finden sich in der Apg aber
auch Partien mit deutlichen AnklÈngen an den Stil der LXX (vgl. Apg 2, 14 36;
3, 12 26; 4,9 12; 5, 29 32; 20, 18 35) und Texte, die gehobenen hellenistischen,
der klassischen Zeit Èhnelnden StÜcken nahestehen (Apg 17, 22 31; 26, 2 27).
Dieses PhÈnomen der stilistischen Nachahmung hat Parallelen in der hellenisti
schen Historiographie. Es war das Ziel einer solchen Nachahmung, der vom Au
tor geschilderten PersÚnlichkeit bzw. Geschichtsepoche einen bestimmten Cha
rakter zu geben7.
Der ErzÈhlstil der Apg zeichnet sich durch eine große Lebendigkeit aus. Lukas
bietet theologische Einsichten nicht in der Form abstrakter SÈtze dar, sondern
vermittelt sie durch lebendige Szenen, die den Leser zur Erkenntnis des Gemein
ten fÜhren sollen. Die Pfingstgeschichte (Apg 2), die ErzÈhlung vom Hauptmann
Kornelius (Apg 10, 1 11, 18), die Areopag Rede in Athen (Apg 17, 16 33) und
die Rede des Paulus in Milet (Apg 20, 17 38) sind von diesem ErzÈhlstil geprÈgt.
Aber auch in kleinen Einzelheiten zeigt sich die ErzÈhlkunst des Lukas, so bringt
er in Apg 7, 58 den Christenverfolger Saulus als Zeugen des Stephanus Martyri
ums gleichsam nebenbei in die ErzÈhlung ein. Als weitere Techniken des lukani
schen ErzÈhlstils kÚnnen der abrupte erzÈhlerische Neueinsatz (z. B. Apg 10, 1 ff;
18, 12) und bewußte Wiederholungen gelten, um so ein gewichtiges Ereignis zu
betonen (vgl. die Bekehrung des Paulus in Apg 9, 1 22; 22, 3 21; 26,9 20). Ein
weiteres schriftstellerisches Mittel des Lukas sind summarische Notizen und
Sammelberichte, in denen das stetige Wachstum der Gemeinden berichtet wird
(vgl. Apg 1, 14; 6, 7; 9, 31 und 2, 42 47; 4, 32 35; 5, 12 16).
Innerhalb der Gesamtdarstellung fÈllt ein Wechsel im ErzÈhlrhythmus auf. Ei
nerseits werden die Ereignisse in Jerusalem (Apg 2 5) sehr breit und ausfÜhrlich
geschildert. Von dieser eher statischen Zustandsbeschreibung der Urgemeinde
wechselt Lukas dann in Kap. 6 15 zu einer raschen Abfolge der Szenen, die nun
an sehr verschiedenen Orten spielen. Auch die Schilderung der paulinischen
Mission in Kleinasien und Griechenland (Apg 15, 36 19, 20) erweckt den Ein
druck, als sei der Apostel rastlos unterwegs gewesen. In der Person des Paulus
verkÚrpert sich somit die dynamische VerkÜndigung des Evangeliums8. Inner
halb des letzten Großabschnittes der Apostelgeschichte (19, 21 28, 31) begegnet
wieder ein anderer ErzÈhlrhythmus, es Überwiegt die ausfÜhrliche Schilderung
der Begegnung des Paulus mit den jÜdischen Gegnern und rÚmischen Machtha
bern. Lukas fÜgt dabei eine Reihe von Einzelszenen aneinander, wobei er dem
Leser vermitteln will, daß der mit dem Bruch zwischen Kirche und Judentum
identische Weg des Paulus von Jerusalem nach Rom eine von Gott gewollte Ent
wicklung darstellt.
Auf der Makroebene lÈßt sich die Apostelgeschichte als ‚historische Monogra
phie ‘ bezeichnen9, die besonders geeignet war, ein in Epochen gegliedertes Ge
schichtsbild zu entfalten.
8 Zum ‚dramatischen Episodenstil‘ in der Apg 11 Vgl. hier H. M. Schenke (Hg.), Apostelge-
vgl. E. PlÜmacher, Lukas als hellenistischer schichte 1, 1–15, 3 im mittelÈgyptischen Dialekt
Schriftsteller, 80–136. des Koptischen (Codex Glazier), TU 137, Berlin
9 Vgl. H. Conzelmann, Apg, 7; E. PlÜmacher, 1991. Schenke wertet den Codex Glazier als zwei-
Die Apostelgeschichte als historische Monogra- ten wichtigen Zeugen des ‚D-Textes‘.
29 69
phie, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Ap×tres, 12 Vgl. ferner P , P 0171. Der Terminus ‚west-
457–466; G. Schneider, Apg I, 123; A. Weiser, Apg licher‘ Text geht in der neueren Diskussion auf
I, 31. Andere Gattungsbezeichnungen: ‚Philoso- F. J. Hort (1828–1892) zurÜck. Man erkannte die
phenbiographie‘ (vgl. C. H. Talbert, Literary Pat- Besonderheiten dieser Textform zuerst in HS des
terns, Theological Themes and the Genre of Luke- (lateinischen) Westens der Alten Kirche und
Acts, SBLMS 20, Missoula 1974, 125–140); ‚Apo- nannte ihn deshalb den ‚westlichen Text‘. K. u.
stelroman‘ (H. KÚster, EinfÜhrung, 484). B. Aland, Text des Neuen Testaments (s. o. 1.3),
10 Eine gute EinfÜhrung in die Probleme gibt 63 ff, sprechen dagegen lieber vom ‚D-Text‘.
B. M. Metzger, A Textual Commentary on the
Greek New Testament, London – New York 1975,
259–272.
Der Text der Apostelgeschichte 311
rituelle Vorschriften auffaßt, interpretiert sie der ‚westliche‘ Text ethisch durch
die Auslassung des ‚Erstickten‘ und die EinfÜgung der Goldenen Regel. In Apg
13, 27 f wird die Schuld der Juden an Jesu Tod unterstrichen und in Apg 19, 1 die
FÜhrung der Missionare durch den Heiligen Geist betont (vgl. als theologische
Interpretationen ferner Apg 11, 28; 14, 25; 16, 35; 18, 27; 28, 31)13.
Àber die Entstehung der ‚westlichen‘ Textform der Apostelgeschichte wurden
zahlreiche Mutmaßungen angestellt. So rechnete F. Blaß mit zwei von Lukas
selbst verfaßten Ausgaben der Apg, wobei die Èltere den ‚westlichen‘ Text wider
spiegele14. Diese These wurde von Th. Zahn15 aufgegriffen und in jÜngster Zeit
umfangreich von M.. Boismard und A. Lamouille neu begrÜndet16. Von der
Mehrzahl der Textkritiker und Exegeten wird die ‚westliche‘ Textform der Apg
allerdings als eine gezielte Àberarbeitung angesehen, die unter den Aspekten der
stilistischen GlÈttung, der PrÈzisierung und der Beseitigung vermeintlicher Span
nungen vorgenommen wurde17. Die ‚westliche‘ Textform entstand sehr wahr
scheinlich nicht im Westen des RÚmischen Reiches, sondern in Syrien. In Syrien
„und nur dort sind es eben mehrere voneinander unabhÈngige Versionen, die
die ‚westliche‘ Textform bieten . . . Deshalb mÚchte ich annehmen, daß die ‚west
liche‘ Hauptredaktion in Syrien entstanden ist, und zwar irgendwo Ústlich von
Antiochien, wo einerseits das Griechische noch lebendig genug war . . . und an
dererseits das Syrische nahe genug war, um eine rasche und intensive Verbrei
tung im syrischen Sprachgebiet erklÈrlich zu machen.“18 Als eine einheitliche
und geschlossene GrÚße ist der ‚westliche‘ Text nicht faßbar, er entstand in Sy
rien, seine Hauptredaktion fÈllt in die erste HÈlfte des 3. Jhs., die frÜhe Ausbil
dung der Textform fÜhrt in das 2. Jh. zurÜck. Faßbar wird diese Textform aber
erst in griechischen Handschriften aus der 2. HÈlfte des 3. Jhs., die Papyri bis zu
Anfang des 3. Jhs. weisen keine Spur davon auf19. Deshalb kÚnnen die Zeugen
13 Vgl. hierzu bes. E. J. Epp, The Theological Ten- a. a. O., 43–56; das Fazit lautet: „Der Actatext, den
dency of Codex Bezae Cantabrigiensis in Acts, IrenÈus benutzte, war eine frÜhe Handschrift
SNTSMS 3, Cambridge 1966. vom paraphrasierenden Typ. Wir kennen diesen
14 Vgl. F. Blaß, Die zwiefache TextÜberlieferung Typ auch aus anderen Handschriften, ohne daß
in der Apostelgeschichte, ThStKr 67 (1894), 86– sie mit dem Text des IrenÈus in direkter Verbin-
119. dung stehen mÜßten. Sie entstammen lediglich
15 Vgl. Th. Zahn, Die Urausgabe der Apostelge- einer Èhnlichen freien, bzw. paraphrasierenden
schichte des Lukas, FGNK 9, Leipzig 1916. Àberlieferungsauffassung . . . Der geistige Zusam-
16 Vgl. M. Boismard – A. Lamouille: Le Texte menhang dieser Zeugen mit dem Text des IrenÈus
Occidental des Actes des Ap×tres. Reconstruction ist durchaus zu erkennen, er ist aber nicht in die
et r¹habilitation I–II, Synthse 17, Paris 1984. schlichten Kategorien von Vorlage und Abschrift
17 Vgl. exemplarisch B. Aland, Entstehung, Cha- zu fassen, und auch nicht in die von Texttyp und
rakter und Herkunft des sogenannten westlichen AngehÚrigen eines Texttyps“ (a. a. O., 53).
Textes. Untersucht an der Apostelgeschichte, 19 Vgl. K. Aland, Alter und Entstehung des D-
EThL 62 (1986), 5–65. Textes im Neuen Testament. Betrachtungen zu
18 A. a. O., 63. Zum Acta-Text des IrenÈus vgl. P69 und 0171, MiscellaÄnia PapirolÕgica Ramon
312 Die Apostelgeschichte
des ‚westlichen‘ Textes, wie alle anderen Handschriften auch, lediglich zur text
kritischen Einzelentscheidung herangezogen werden. Zumeist erweisen sich ihre
LA als sekundÈr, UrsprÜnglichkeit wird z. B. fÜr Apg 12, 10; 19, 1; 20, 15; 27, 5 er
wogen.
Im Zentrum der Acta Forschung steht nach wie vor die Frage, ob Lukas auch in
seinem zweiten Buch umfassende Quellen verarbeitete. Ausgangspunkt der
neueren Forschung ist die Quellenrekonstruktion A. (v.) Harnacks20, der fÜr die
Apostelgeschichte eine Drei Quellen Theorie aufstellte: Neben einer Quelle A
aus Jerusalem bzw. aus Caesarea (3, 1 5, 16; 8, 5 40; 9, 31 11, 18; 12, 1 23) und
einer historisch minderwertigen Quelle B (Apg 2, 1 47; 5, 17 42) rechnete er
mit einer ‚antiochenischen Quelle‘ (Quelle C), die Apg 6, 1 8, 4; 11, 19 30;
12, 25 15, 35 umfaßt haben soll. Speziell die Annahme einer Apg 6 15 zugrun
deliegenden ‚antiochenischen Quelle ‘ fand große Zustimmung und ist bis in die Ge
genwart hinein von Bedeutung. Sie wird z. B. vertreten von R. Bultmann21,
M. Hengel22, R. Jewett23, F. Hahn (‚Rechenschaftsbericht‘ der antiochenischen
Gemeinde)24, R. Pesch25 und (mit Vorsicht) G. Schneider26. Gegen die Hypothese
einer umfassenden ‚antiochenischen‘ Quelle spricht allerdings, daß der als Krite
rium der Quellenscheidung dienende ‚antiochenische‘ Charakter nicht Überzeu
gend bestimmbar ist, kein wirklich nachprÜfbares Kriterium fÜr die Quellenfin
dung zur VerfÜgung steht und somit der Umfang der Quelle immer unterschied
lich bestimmt wurde27. Eine zusammenhÈngende ‚antiochenische Quelle‘ lÈßt
sich nicht wirklich nachweisen28. Lukas verarbeitete aber im ersten Teil der Apo
Roca-Puig en el seu vuitant Aniversari, Barcelo- 23 Vgl. R. Jewett, Paulus-Chronologie (s. o. 2.1),
na 1987, 37–61. 27 ff. Jewett, a. a. O., 28, will die ‚antiochenische
20 Vgl. dazu die Acta-Trilogie A. (v.)Harnack, Lu- Quelle‘ „ungefÈhr“ hinter folgenden Texten se-
kas der Arzt, der Verfasser des dritten Evangeli- hen: 6, 1–8, 4; 9, 1–30; 12, 25–14, 23; 15, 35 ff.
ums und der Apostelgeschichte, BeitrÈge zur Ein- 24 Vgl. F. Hahn, Zum Problem der antiocheni-
leitung in das NT 1, Leipzig 1906; Ders., Die Apo- schen Quelle in der Apostelgeschichte, in: Rudolf
stelgeschichte, BeitrÈge zur Einleitung in das NT Bultmanns Werk und Wirkung, hg. v. B. Jaspert,
3, Leipzig 1908; Ders., Neue Untersuchungen zur Darmstadt 1984, 316–331.
Apostelgeschichte und zur Abfassungszeit der 25 Vgl. R. Pesch, Apg I, 48.
synoptischen Evangelien, BeitrÈge zur Einleitung 26 Vgl. G. Schneider, Apg I, 103.
in das NT 4, Leipzig 1911. 27 Vgl. E. PlÜmacher, Art. Apostelgeschichte,
21 Vgl. R. Bultmann, Zur Frage nach den Quellen 493.
der Apostelgeschichte, in: ders., Exegetica, hg. v. 28 Vgl. z. B. M. Dibelius, AufsÈtze zur Apostelge-
E. Dinkler, TÜbingen 1967, 412–423. schichte, 94 (fÜr Apg 1–12 gibt es keine quellen-
22 Vgl. M. Hengel, Urchristliche Geschichts- mÈßige Grundlage); E. Haenchen, Apg, 94–96;
schreibung (s. o. 2.1), 60. H. Conzelmann, Apg, 5; Ph. Vielhauer, Urchristli-
Traditionen, Quellen 313
che Literatur, 386; E. PlÜmacher, Art. Apostelge- christliche Geschichtsschreibung (s. o. 2.1), 60 f;
schichte, 493; A. Weiser, Apg I, 37. C. J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen, 192 ff u. Ú.
29 Vgl. dazu J. Roloff, Apg, 10. 68; G. Schneider, Thornton versteht die Wir-Passagen aber nicht als
Apg I, 103. Nachweis von Autopsie. „Nur darauf kommt es
30 NatÜrlich fÈllt die traditions- und formge- Lukas an: Nicht missionarischer Ehrgeiz des Pau-
schichtliche Bestimmung dieser EinzelerzÈhlun- lus oder eine zufÈllige Reisegelegenheit brachten
gen sehr unterschiedlich aus, vgl. die AufzÈhlun- das Evangelium nach Europa, sondern Gott selbst
gen bei J. Roloff, Apg, 10; A. Weiser, Apg I, 37; hat diesen Schritt initiiert. DafÜr ist Lukas Zeuge;
G. Schille, Apg, 18–24. das ist aber keine Zeugenschaft im Sinne histori-
31 Zur textkritischen Rekonstruktion und ge- scher Autopsie, sondern ein Zeugnis des Glau-
nauen Bestimmung der ‚Wir-Passagen‘ vgl. bens, daß die miterlebte Vergangenheit von Gott
J. Wehnert, Wir-Passagen, 5–46. geleitete Geschichte ist“ (a. a. O., 364). C. J. Thorn-
32 Zur Forschungsgeschichte vgl. a. a. O., 47– ton, a. a. O., 341 schlÈgt fÜr das Problem der Au-
124. genzeugenschaft folgende LÚsung vor: „Lukas,
33 Dieses ErklÈrungsmodell vertreten in der neu- der Mitarbeiter des Paulus, kann an den drei Rei-
eren Exegese u. a. E. E. Ellis, The Gospel of Luke, sen, die er in Wir-Form erzÈhlt, durchaus teilge-
CeB, London 21974, 40–54; J. Munck, The Acts of nommen haben; in c. 16. 20 f und vielleicht auch
the Apostles, AB 31, Garden City (NY), 1967, in c. 27 f konnte er mÚglicherweise Quellen be-
XXIX–XXXV; R. Jewett, Paulus-Chronologie (s. o. nutzen, die er selbst oder ein anderer Reiseteil-
2.1), 32–38 (mit Vorbehalten!); M. Hengel, Ur- nehmer angefertigt hat.“
314 Die Apostelgeschichte
2) Die ‚Wir StÜcke‘ sind Bestandteil einer Quelle. Diese vornehmlich im 19.
Jh. rein literarkritisch vertretene Theorie (u. a. F. D. E. Schleiermacher, W. M. L.
de Wette)34 wurde im Anschluß an E. Norden35 von M. Dibelius unter formge
schichtlichen Aspekten weitergefÜhrt und zugleich entscheidend modifiziert36:
Lukas verarbeitete in Apg 13, 1 14, 28; 15, 35 21, 18 ein Reisestationenverzeich
nis, das sich aufgrund von Formmerkmalen (Notierung belangloser Stationen,
„Bemerkungen Über Aufnahme, Gastfreunde, TÈtigkeit und Erfolg“37) als tradi
tionell erweist. Von diesem ‚Itinerar‘ unterscheidet Dibelius allerdings den Rom
reisebericht in Apg 27, 1 28, 16, dem ursprÜnglich eine profane ErzÈhlung zu
grundeliegt38. Den Sitz im Leben des Itinerars sieht Dibelius in der Missionspra
xis, Lukas hat „offenbar ein Verzeichnis der Stationen vor sich gehabt, wie man
es bei solchen Fahrten wohl schon aus praktischen GrÜnden anlegte, um bei ei
ner Wiederholung der Reise die Wege und die alten Gastfreunde wieder zu fin
den.“39 Allerdings verzichtet Dibelius auf die schlÜssige Beantwortung der Frage,
wie sich die ‚Wir Berichte‘ und das Itinerar zueinander verhalten40. MÚglicher
weise war es Lukas selbst, der das ‚Wir‘ einfÜgte41. DemgegenÜber zeigen die
‚Wir StÜcke‘ nach W. Bindemann formale Gemeinsamkeiten, Differenzen zum
lukanischen Geschichtsbild und ein eigenes ideologisches Profil, so daß sie aus
einer Quelle stammen mÜssen. Diese Quelle bestand aus „einer Anzahl kleine
rer, jeweils in sich geschlossener, aber bereits komplexer Einheiten, welche
durch Itinerarnotizen miteinander verknÜpft waren.“42
3) Die 1. P. Pl. in den betreffenden Einzelabschnitten geht auf den Evangeli
sten Lukas zurÜck43. Da die ‚Wir Berichte‘ zu einem wesentlichen Teil Seefahrts
routen wiedergeben, kÚnnte sich Lukas dem Gebrauch der 1. P. Pl. bei der Schil
derung von Seefahrtsgeschichten in der zeitgenÚssischen Literatur angeschlossen
haben. Er erhebt mit dem ‚Wir‘ dann den Anspruch, ein weitgereister und erfah
rener Mann zu sein, was wiederum zur Topik damaliger historiographischer Pra
xis gehÚrte44. Es bleibt allerdings zu fragen, ob Lukas das Augenzeugenschaft
suggerierende ‚Wir‘ wirklich nur aus bloßer literarischer Konvention benutzt
haben sollte, zumal nicht alle ‚Wir‘ Passagen Seefahrtsbeschreibungen sind (vgl.
Apg 16, 12 17; 20, 7 8; 21,8 18). Auch J. Wehnert fÜhrt das ‚Wir‘ in den ent
sprechenden Passagen auf Lukas zurÜck, bietet dafÜr aber ein neues ErklÈrungs
modell an. Er sieht in dem Àbergang von der 3. P. Sg. in Dan 1 6 zur 1. P. Sg. in
Dan 7, 2 eine strukturelle Parallele zu Apg 16,8 ff und klassifiziert das ‚Wir‘ als
ein Stilmittel in der Tradition des hellenistischen Judentums. Lukas verarbeitet
mit Hilfe dieses Stilmittels Traditionsmaterial, das wahrscheinlich auf den Pau
lusbegleiter Silas zurÜckgeht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Quellen
oder ReisetagebÜcher, sondern: „War Silas (einer der Lk 1, 2 als Quelle genann
ten Augenzeugen?) tatsÈchlich Informant des Lukas, ist statt dessen an mÜndli
che Mitteilungen zu denken, die in sprachlich weithin Überarbeiteter Gestalt in
der Apostelgeschichte Aufnahme gefunden haben.“45 Weil Lukas kein Ich Spre
cher zur VerfÜgung stand, griff er auf die Informationen eines Paulusbegleiters
zurÜck und hob sie durch das ‚Wir‘ hervor.
Wahrscheinlich formulierte Lukas die 1. P. Pl. in den meisten ‚Wir Passagen‘,
er kÚnnte sie aus Apg 27 f aufgegriffen46 und seiner Komposition dienstbar ge
macht haben. In der jetzigen Textabfolge heben die ‚Wir StÜcke‘ vor allem den
Àbergang nach Europa und die Reisen nach Jerusalem und Rom hervor. „Es ist
also hÚchst plausibel, warum der Verfasser des Buches gerade diesen StÜcken
seiner Quelle den Vorzug geben wollte. Sie sollten als durch Augenzeugen ver
bÜrgte Quellen dienen.“47 UnabhÈngig von der Bewertung der 1. P. Pl. werden
die ‚Wir StÜcke‘ zumeist als Bestandteile eines Itinerars angesehen, das Lukas
fÜr die Reisen des Paulus durch Kleinasien, Makedonien und Griechenland bis
nach Korinth zur VerfÜgung stand48.
wollte Lukas ‚die Bedeutsamkeit des Momentes me weist Wehnerts These auf: 1. Silas wird zum
markieren‘ (F. Overbeck).“ letzten Mal in Apg 18, 5 erwÈhnt. Woher kom-
44 Vgl. H. Conzelmann, Apg, 150. 156; E. PlÜma- men die Informationen in Apg 20; 21; 27 f? 2. Ex-
cher, Art. Apostelgeschichte, 514; V. K. Robbins, akte Parallelen fÜr den Gebrauch der 1. P. Pl. in
The We-Passages in Acts and Ancient Sea Voya- den betreffenden Texten kann auch Wehnert
ges, BR 20 (1975), 5–18. H. Conzelmann, Apg, 6; nicht bieten.
E. PlÜmacher, Art. Apostelgeschichte, 494 f, ste- 46 Vgl. A. Weiser, Apg II, 391.
hen der These eines Itinerars sehr skeptisch ge- 47 G. Schneider, Apg I, 94 f.
genÜber, sie rechnen vorwiegend mit der Verar- 48 FÜr ein Itinerar plÈdieren mit unterschiedli-
beitung von Einzeltraditionen. cher EinzelbegrÜndung in der neueren Exegese
45 J. Wehnert, Wir-Passagen, 189. Zwei Proble- J. Roloff, Apg, 239; G. Schneider, Apg I, 91; A. Wei-
316 Die Apostelgeschichte
Das aus dem Umkreis des Paulus stammende Itinerar umfaßte offenbar kurze
Mitteilungen Über Reiserouten und besondere Ereignisse auf den Reisen, seinen
Kernbestand verarbeitet Lukas in Apg 15, 36 19, 40. Die Über diesen Konsens
hinausgehende genaue Abgrenzung des Itinerars fÈllt naturgemÈß sehr unter
schiedlich aus. WÈhrend es nach M. Dibelius die Grundlage fÜr die Darstellung
der Paulusreisen in Apg 16, 4 21, 18 bildete, begrenzt J. Roloff das Itinerar auf
Apg 16 19 und unterscheidet davon einen „Rechenschaftsbericht aus der Kol
lekten Delegation“49 in Apg 20; 21. Ein differenziertes Modell legt D. A. Koch
vor. Er sieht in Apg 20, 4 21, 18 ein QuellenstÜck eigener Art. „Es handelt sich
um den Rechenschaftsbericht der Delegation, die die Aufgabe hatte, die (auch
historisch sicher zu verortende) Kollekte der paulinischen Missionsgemeinden
fÜr Jerusalem zu Überbringen.“50 Koch spricht sich gegen umfassende Quellen
theorien fÜr Apg 13 28 aus und fordert als methodische PrÈmisse: „Ob eine be
stimmte Reisedarstellung auf einer Quelle beruht oder als schriftstellerische Ge
staltung des Lukas ohne Quellenbasis zu beurteilen ist, muß jeweils getrennt ge
prÜft werden. Was fÜr Apg 20 21 zutrifft, braucht fÜr Apg 16 noch lange nicht
zutreffend zu sein und umgekehrt.“51
Eine sichere Entscheidung Über den Charakter einzelner Textsequenzen lÈßt
sich nicht fÈllen, es ist aber deutlich, daß Lukas sowohl Einzeltraditionen als
auch von ihm selbst gebildete Einheiten in einen ihm vorgegebenen Rahmen
einfÜgte. Dieses GerÜst von Reisenotizen und Stationenangaben dÜrfte ungefÈhr
folgende Texte umfaßt haben52: Apg 16, 6 8. 11 12 a; 17, 1. 10 11 b.15 a.17. 34;
18, 1 3. 7 f.11. 18. 19 a. 21 b.22 f; 19, 1. 9 b. 10 a; 20, 1 b 6. 13 15; 21, 1 4 a.7
9. 15 f. Kaum zu entscheiden ist die Frage, ob das in Apg 16 19 (20; 21) verwen
dete Itinerar die Fortsetzung einer in Kap. 13 und 14 einsetzenden Vorlage ist,
oder ob die Darstellung der Mission des Paulus in Apg 13 14 auf einen eigen
stÈndigen Missionsbericht der antiochenischen Gemeinde zurÜckgeht53. Eben
falls kontrovers wird die Traditionsbasis der Berichte Über die Inhaftierung und
den Prozeß des Paulus in Apg 21, 27 26, 32 beurteilt. WÈhrend im Anschluß an
M. Dibelius54 vielfach angenommen wird, Lukas selbst habe Einzeltraditionen
ser, Apg II, 387–392 (ausfÜhrliche BegrÜndung!); schichtliche Parallelen fÜr ein Itinerar);
G. LÜdemann, Das frÜhe Christentum, 28. C. J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen, 273 f.
E. Haenchen, Apg, 97 ff, rechnet fÜr die Wir-Passa- 49 Vgl. J. Roloff, Apg, 239.
gen in Apg 20, 5–21, 18 mit Traditionen aus dem 50 D.-A. Koch, Kollektenbericht, 389.
Reisetagebuch eines Mitgliedes der Kollektendele- 51 Ebd.
gation (vgl. a. a. O., 557 A 5). Ab Apg 16, 10 habe 52 Vgl. A. Weiser, Apg II, 388.
Lukas auf ein „viel benutztes Itinerar“ (a. a. O., 53 So J. Roloff, Apg, 10; dagegen G. Schneider,
468) zurÜckgegriffen. Zur neueren Kritik an der Apg II, 195.
Itinerar-Hypothese vgl. bes. J. Wehnert, Wir-Pas- 54 Vgl. M. Dibelius, AufsÈtze zur Apostelge-
sagen, 106–108 (es fehlen Überzeugende formge- schichte, 14.
Traditionen, Quellen 317
Ein Sonderproblem stellt die Frage nach der Traditionsbasis der 24 Acta Reden dar,
die fast ein Drittel der Apostelgeschichte ausmachen (Petrusreden: Apg 1, 16 25;
2, 14 39; 3, 12 26; 4,8 b 12; 5, 29 32; 10, 34 43; 11, 5 17; 15, 7 11. Paulusreden:
Apg 13, 16 41; 14, 15 17; 17, 22 31; 20, 18 35; 22, 1 21; 24, 10 21; 26, 2 27;
27, 21 26, 28, 17 20. Stephanusrede: Apg 7, 2 53. Weitere Reden: Apg 5, 35 39
(Gamaliel); 15, 13 21 (Jakobus); 19, 25 27 (Demetrius); 19, 35 40 (Stadtschreiber
von Ephesus); 24, 2 8 (Tertellus); 25, 24 27 (Festus). Obgleich immer wieder be
hauptet wird, die Acta Reden seien in ihren GrundzÜgen authentische Berichte59,
setzte sich in der Forschung zu Recht die Auffassung durch, daß sie nicht als au
thentische Wiedergabe wirklich gehaltener Reden verstanden werden kÚnnen.
Dies zeigt sich z. B. an den Spannungen zwischen den Reden und ihrem unmittel
baren Kontext, wofÜr die Areopag Rede des Paulus das klassische Beispiel ist:
WÈhrend Paulus nach Apg 17, 16 Über die FÜlle der GÚtterbilder in Athen bei sei
55 Vgl. z. B. E. PlÜmacher, Art. Apostelge- 58 Vgl. J. Roloff, Apg, 359; Èhnlich schon vorher
schichte, 500; G. Schneider, Apg I, 102; A. Weiser, E. Haenchen, Apg, 98; vgl. ferner G. LÜdemann,
Apg II, 390. Das frÜhe Christentum, 269, der ebenfalls mit ei-
56 Vgl. hier V. Stolle, Der Zeuge als Angeklagter, nem Erlebnisbericht des Aristarchus rechnet.
260–267; J. Roloff, Apg, 316; G. LÜdemann, Das 59 Vgl. z. B. M. B. Dudley, The Speeches in Acts,
frÜhe Christentum, 28. EvQ 50 (1978), 147–155.
57 Vgl. hierzu die Überzeugende Analyse von
A. Weiser, Apg II, 390 ff.656 ff.
318 Die Apostelgeschichte
ner Ankunft erzÜrnte, lobt er in Apg 17, 22 die Athener ausdrÜcklich wegen ihrer
FrÚmmigkeit. In der Rede des Paulus vor den ltesten in Ephesus (Apg 20, 18 35)
verteidigt Paulus in V. 20 f.27. 33 f seine Arbeit vehement, ohne daß gegen ihn zu
vor VorwÜrfe erhoben wurden. Nicht der unmittelbare Kontext, sondern erst die
Funktion im Rahmen des Gesamtwerkes lÈßt die Bedeutung der Acta Reden er
kennen. Sie wollen nicht ein bestimmtes geschichtliches Ereignis wiedergeben,
sondern dem Leser die „Einsicht in die Übergeschichtliche Bedeutung des betref
fenden geschichtlichen Augenblicks“60 gewÈhren, womit sie der Intention der Re
den antiker Historiker entsprechen. Das Fehlen eindeutiger Kriterien fÜr die Aus
sonderung von Traditionsgut in der Apostelgeschichte erschwert zwar die Bestim
mung vorlukanischer Einheiten, dennoch dÜrfte Lukas in unterschiedlichem Um
fang bei den Reden auf Traditionsmaterial zurÜckgegriffen haben61. Auch die Mis
sionsreden als eine Sondergruppe innerhalb der Acta Reden (vgl. Apg 2, 14 39;
3, 12 26; 4,8 b 12; 5, 29 32; 10, 34 43; 13, 16 41) gehen auf lukanische Darstel
lung zurÜck62. Die Missionsreden stehen an Wendepunkten der Kirchenge
schichte, wobei sie selbst die folgenden Ereignisse auslÚsen (vgl. z. B. Apg 2, 14 39
mit 2, 41 f).
Lukas nahm in das zweite Buch seines Doppelwerkes sowohl eine zusammen
hÈngende Quellenschrift (‚Itinerar‘ der Paulusreisen) als auch Einzeltraditionen
unterschiedlichen Umfangs auf, die ihm in schriftlicher oder mÜndlicher Form
vorlagen. Alle geprÈgten Àberlieferungen wurden von Lukas redaktionell Über
arbeitet und in den Kontext des Gesamtwerkes integriert. Die Herkunft der Tra
ditionen lÈßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, aber es ist anzunehmen, daß
Lukas Gemeindetraditionen, Personallegenden, Berichte von selbstÈndigen Mis
sionaren und Gemeindegesandten vorlagen. Wie Lukas zu seinem Material kam,
kann nicht mehr festgestellt werden. MÚglicherweise war es der 3. Evangelist,
der als hellenistischer Historiker sich sein Material „durch Befragung von Reisen
den, auf eigenen Reisen und durch briefliche oder von MittelsmÈnnern besorgte
Erkundigungen bei den verschiedensten GewÈhrsleuten selbst beschafft hat.“63
64 M. Korn, Die Geschichte Jesu in verÈnderter 65 Zum grundlegenden Gedanken der heilsge-
Zeit (s. o. 3.6.1), 270, bestimmt das VerhÈltnis von schichtlichen KontinuitÈt bei Lukas vgl. R. Pesch,
Ev. – Apg so: „Zwischen Lk und Apg besteht ein Apg I, 51.
unumkehrbarer Zusammenhang, der dem von 66 G. Schneider, Apg I, 142.
Grund und Folge entspricht.“
320 Die Apostelgeschichte
wirkte Handeln Gottes darstellt, das zur Entstehung der Kirche als dem wahren
Israel aus Juden und Heiden fÜhrte. Die Apostel als Garanten der Tradition legiti
mieren nicht nur die kirchliche VerkÜndigung, sondern auch die ³ffnung der
Urgemeinde zur ³kumene hin. Bereits die Taufe des Èthiopischen KÈmmerers in
Apg 8, 26 40 und die dreifache Darstellung der Bekehrung des Paulus (Apg 9, 1
22; 22, 3 21; 26,9 20) dienen diesem Ziel. AusfÜhrlich reflektiert die Kornelius
ErzÈhlung (Apg 10, 1 11, 18) die Einbeziehung der Heiden in den universalen
Heilsratschluß Gottes. Gott selbst offenbart sowohl Kornelius als auch Petrus,
daß auch die Heiden Anteil an der Heilstat Christi haben sollen. Die Gabe des
Geistes auch an die Heiden (Apg 10, 44) ist die ErfÜllung der Verheißung Jesu in
Apg 1, 5 und leitet wie zu Pfingsten in Jerusalem eine neue, entscheidende Etap
pe des Heilsplanes Gottes ein. Der RÜckgriff auf ein Wort des Auferstandenen in
Apg 11, 16 (vgl. 1, 5) verdeutlicht, daß aus lukanischer Sicht die Geistausgießung
an die Heiden sowohl Gottes universalem Heilswillen als auch der Verheißung
des Auferstandenen entspricht. Auch die Jerusalemer Judenchristen nehmen
diese neue Einsicht mit Freuden auf und akzeptieren, daß nach dem Willen Got
tes auch die Heiden zum Heil zugelassen sind (vgl. Apg 11, 18). Nicht die Kirche,
sondern das Judentum wird durch den Bruch zwischen Synagoge und Heiden
christentum ins Unrecht gesetzt. In der paulinischen Predigt wurde den Juden
immer das Heil angeboten (vgl. Apg 13, 45 48; 18, 5 7; 28, 17 28), aber Israel er
griff nicht das Heil, so daß die Heiden an die Stelle Israels als erwÈhltes Volk tra
ten (Apg 15, 14).
Der Hauptzeuge der heilsgeschichtlichen KontinuitÈt innerhalb der Wende
der urchristlichen Missionsgeschichte von den Juden zu den Heiden ist fÜr Lukas
jedoch der bekehrte Jude Paulus 67. Er betritt nahezu unmerklich als Statist in
Apg 7, 58 die Szene, um dann zum eigentlichen Helden des Buches zu werden68.
FÜr Lukas ist er nicht wie die Apostel grundlegender Zeuge des Glaubens, son
dern der ReprÈsentant der zweiten Christengeneration. Die theologische Zielset
zung der lukanischen Paulusdarstellung verdichtet sich im letzten Drittel der
Apostelgeschichte (19, 21 28, 31), wo der Weg des Paulus von Jerusalem nach
Rom nachgezeichnet wird69. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die sich
entwickelnde Antithetik von Jerusalem und Rom. Jerusalem erscheint bei Lukas
zunÈchst als StÈtte des Heils fÜr Israel. Hier lebt die Urgemeinde als das wahre Is
67 Vgl. zum lukanischen Paulusbild neben Chr. texte in der Apostelgeschichte bes. Chr. Burchard,
Burchard, J. Roloff und G. Schille, Das Èlteste Pau- Der dreizehnte Zeuge, passim.
lusbild (s. u. 5), 9–52; bes. K. LÚning, Paulinismus 69 FÜr die letzte Etappe vgl. M. Labahn, Paulus –
in der Apostelgeschichte, in: K. Kertelge (Hg.), ein homo honestus et iustus. Das lukanische Pau-
Paulus in den ntl. SpÈtschriften (s. u. 5), 202–234; lusportrait von Act 27–28 im Lichte ausgewÈhlter
R. Maddox, Luke-Acts, 66–90. antiker Parallelen, in: F. W. Horn (Hg.), Das Ende
68 Vgl. zur Analyse der biographischen Paulus- des Paulus, 75–106.
Theologische Grundgedanken 321
Die Frage nach dem Geschichtswert der Apostelgeschichte findet in der neueren
Forschung wieder reges Interesse. Wurde von der rein redaktionsgeschichtlich
orientierten Exegese (E. Haenchen, H. Conzelmann, Ph. Vielhauer) die histori
sche GlaubwÜrdigkeit der Apostelgeschichte eher gering eingeschÈtzt, so beto
nen insbesondere J. Roloff, M. Hengel und C. K. Barrett, Lukas habe in der Apo
stelgeschichte zahlreiche alte und historisch zuverlÈssige Traditionen aufbe
wahrt. M. Hengel fordert, man mÜsse das Werk des Lukas „als Quelle ernst neh
men“73, und auch J. Roloff wendet sich dagegen, die Quellenfrage „vorschnell ad
acta“74 zu legen75. Die Eruierung durchgehender Quellen bzw. rekonstruierba
rer Traditionseinheiten wird allgemein trotz der skeptischen Positionen von
G. Schille und W. Schmithals wieder positiver bewertet, wobei die Traditionsbasis
der lukanischen Paulusdarstellung im Mittelpunkt steht. Extremurteile (‚Lukas
als Augenzeuge der paulinischen Mission‘ ‚Lukas als Romanschriftsteller‘) ver
lieren an Bedeutung, statt dessen richtet sich das Interesse auf Umfang und Art
der von Lukas verarbeiteten Traditionen. Fast unbestritten ist die starke Beein
flussung des Schriftstellers und Historikers Lukas durch die hellenistische Ge
schichtsschreibung, wie sie insbesondere von E. PlÜmacher immer wieder betont
wurde. Allerdings fordert J. Wehnert, die Konzentration auf den ‚hellenistischen
Schriftsteller‘ Lukas sei „dringend zu erweitern in Richtung auf den Homo reli
giosus Lukas, nÈherhin auf dessen religiÚse (und infolgedessen auch literarische)
Beziehung zum hell. Judentum.“76
Eine Forschungstendenz ist unverkennbar: Sowohl die historische als auch
die literarisch theologische Leistung des Lukas finden eine neue WÜrdigung. Das
Ziel der lukanischen Geschichtsschreibung wird nicht mehr primÈr in der BewÈl
tigung der VerzÚgerungsproblematik gesehen, sondern Lukas geht es nach
G. Schneider, J. Roloff, A. Weiser u. a. darum, der dritten christlichen Generation
ihren Standort in der Heilsgeschichte und damit auch die KontinuitÈt des von
73 M. Hengel, Geschichtsschreibung (s. o. 2.1), net aber mit einer Wir-Quelle und anderen Tradi-
61. tionen aus dem Kreis der Teilnehmer der Mis-
74 J. Roloff, Apg, 9. sionsreisen.
75 C.K. Barrett, Acts II, XXVIII f, sieht in Lukas 76 J. Wehnert, Wir-Passagen, 199.
zwar keinen unmittelbaren Paulusbegleiter, rech-
Tendenzen der neueren Forschung 323
77 Vgl. auch P. Lampe u. U. Luz, Nachpaulini- Stuttgart 1987, (185–216) 186, wonach „die Apo-
sches Christentum und pagane Gesellschaft, in: stelgeschichte als Paulusgeschichte mit ausfÜhrli-
J. Becker (Hg.), Die AnfÈnge des Christentums, cher Einleitung“ zu lesen ist.
5. Die deuteropaulinischen Briefe
G. Strecker, Paulus in nachpaulinischer Zeit, in: ders., Eschaton und Historie, GÚttingen
1979, 311 319. U. B. MÜller, Zur frÜhchristlichen Theologiegeschichte, GÜtersloh 1976.
G. Schille, Das Èlteste Paulusbild, Berlin 1979. A. Lindemann, Paulus im Èltesten Christen
tum, BHTh 58, TÜbingen 1979. E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frÜh
christlichen Literatur bis IrenÈus, MÜnster 1979. K. Kertelge (Hg.), Paulus in den ntl.
SpÈtschriften, QD 89, Freiburg 1981. P. MÜller, AnfÈnge der Paulusschule, AThANT 74,
ZÜrich 1988.
Von den 27 Schriften des Neuen Testaments wurden nur die authentischen Pau
lusbriefe unter eigenem Namen verfaßt. Auch die Johannesoffenbarung und der
326 Pseudepigraphie als historisches und theologisches Phänomen
1 Vgl. zur Begriffsbestimmung W. Speyer, Die li- PRE.S 5 (1931), 185–220; L. R. Donelson, Pseude-
terarische FÈlschung, 13–44; N. Brox, Falsche Ver- pigraphy (s. u. 5.5.1), 23–42.
fasserangaben, 11–15. 4 Vgl. dazu D. G. Meade, Pseudonymity, 17–43.
2 Zur Pseudepigraphie bei Griechen und RÚ- 5 Vgl. zur Pseudepigraphie in der jÜdischen
mern vgl. bes. W. Speyer, a. a. O., 111–149. Weisheitsliteratur D. G. Meade, a. a. O., 44–72.
3 Vgl. hier J. Sykutris, Art. Epistolographie,
Pseudepigraphie als historisches und theologisches Phänomen 327
6 Vgl. a. a. O., 73–85. Zu den Einleitungsfragen 7 Vgl. zur Henoch-Literatur D. G. Meade, Pseu-
der Apokryphen und Pseudepigraphen vgl. donymity, 91–102.
L. Rost, Einleitung in die alttestamentlichen Apo- 8 Vgl. dazu W. Speyer, Die literarische FÈl-
kryphen und Pseudepigraphen einschließlich der schung, 131 ff.218 ff; N. Brox, Falsche Verfasser-
großen Qumran-Handschriften, Heidelberg angaben, 49–67.
3
1985.
328 Pseudepigraphie als historisches und theologisches Phänomen
9 Vgl. K. M. Fischer, Anmerkungen zur Pseude- „selbst zum Archegeten einer neuen Tradition
pigraphie, 79 ff. M. Wolter, Die anonymen Schrif- und zum Garanten einer neuen IdentitÈt, die bei-
ten, 15, betont als zusÈtzlichen Faktor die LoslÚ- de darum in letzter Instanz durch Gott selbst
sung vom Judentum, die eine Neukonzeption des sanktioniert sind“ (a. a. O., 16).
Traditionsgedankens erforderte. Nun wurde Jesus
Pseudepigraphie als historisches und theologisches Phänomen 329
gibt sogar Gedanken des Apostels angesichts des bevorstehenden Todes wieder
(vgl. 2 Tim 4, 6 8. 17 f). Die Elemente der stilistischen Imitation, der fiktiven Situa
tionsschilderung durch chronologische Angaben oder der Schilderung historischer
UmstÈnde und die Darstellung der jeweiligen persÚnlichen Situation der in An
spruch genommenen AutoritÈt gehÚren in verschiedener IntensitÈt zu den Mit
teln ntl. Pseudepigraphie. Sie sind Stilmittel, um dem grundlegenden Bezug auf
die jeweilige AutoritÈtsperson (z. B. Paulus oder Petrus) den erforderlichen Nach
druck zu verleihen. Dabei bedingen sich die vom jeweiligen Verfasser gewÈhlten
Stilmittel und die Situation, in die hinein das pseudepigraphische Schreiben wir
ken soll. Wenn z. B. in 1 Tim 5, 23 Paulus dem Timotheus rÈt, wegen seiner Ge
sundheit auch etwas Wein zu trinken, dann richtet sich dieser persÚnliche Rat
schlag auch gegen die rigorosen asketischen Bestrebungen (vgl. auch Kol 2, 16!),
die der Briefschreiber in 1 Tim 4, 3 9 bekÈmpft.
Eine theologische Beurteilung darf nicht von den moralischen Kategorien der
FÈlschung oder des Betruges ausgehen10, sondern sie muß den inneren Zusam
menhang zwischen der zeitgeschichtlichen Situation und dem PhÈnomen der
ntl. Pseudepigraphie bedenken. Die literarische Form der Pseudepigraphie war
im letzten Drittel des ersten christlichen Jahrhunderts das wirksamste Mittel, um
die neu aufgebrochenen Probleme aus der Sicht der Verfasser der Pseudepigra
phen im Sinn der von ihnen jeweils in Anspruch genommenen AutoritÈten zu
lÚsen. Die moralische Kategorie der FÈlschung ist deshalb ungeeignet, die Ziel
setzungen der Pseudepigraphie zu erfassen. SachgemÈßer ist von ‚entliehenen Ver
fasserangaben ‘ zu sprechen, bei denen die apostolische AutoritÈt als BÜrge fÜr die
GÜltigkeit des Gesagten auftritt11. Die ntl. Pseudepigraphie muß als der theolo
gisch legitime und ekklesiologisch notwendige Versuch angesehen werden, die
apostolische Tradition in einer sich verÈndernden Situation zu bewahren und
zugleich notwendige Antworten auf neue Situationen und Fragen zu geben. Da
bei ist die gesamtkirchliche Perspektive fÜr die pseudepigraphischen Schriften
charakteristisch, sie entstanden aus Úkumenischer Verantwortung.12
10 Vgl. dazu N. Brox, Falsche Verfasserangaben, Schrift galt folglich (außerhalb der Dichtung) als
81 ff. literarische FÈlschung, wenn man ihren Inhalt
11 Vgl. N. Brox, a. a. O., 105, der fÜr die Pseudepi- nicht auf die in ihrem Titel genannte Person zu-
graphie „das Motiv der Partizipation an der Über- rÜckfÜhrte.“
legenen Vergangenheit“ betont. Als Kriterium fÜr 12 VÚllig anders mit polemischer Diktion
die Rezeption von Schriften hebt A. D. Baum, M. Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulus-
Pseudepigraphie, 3 f, hervor, „daß die literarische schule, 251: „Es bleibt dabei, daß Pseudepigraphie
Echtheit eines Buches in der Antike nicht auf- eine bewußte und planmÈßig durchgefÜhrte TÈu-
grund seines Wortlauts, sondern ausschließlich schung ist, welche – wenn sie erkannt worden
und durchgÈngig aufgrund der Herkunft seines wÈre – damalige Leser im allgemeinen ebenso vor
Inhalts beurteilt wurde. Eine primÈr (also vom den Kopf gestoßen hÈtte wie heutige. Nur die
Autor) mit einem Verfassernamen versehene Arglosigkeit und NaivitÈt christlicher Leser hat
330 Der Kolosserbrief
5.2.1 Literatur
Kommentare
KEK IX/2: E. Lohse, 21977. HNT 12: H. HÜbner, 1997. HThK X 1: J. Gnilka, 1980. EKK
XII: E. Schweizer, 21980. ThHK 10/I: P. Pokorn, 1987. ³TK 12: M. Wolter, 1993. NTD
8/1: U. Luz, 1998. RNT: J. Ernst, 1974. ZBK 10: A. Lindemann, 1983. WBC 44:
P. T. O'Brien, 1982. NIGTC: J. D. G. Dunn, 1996.
Monographien
E. KÈsemann, Leib und Leib Christi, BHTh 9, TÜbingen 1933. E. Percy, Die Probleme der
Kolosser und Epheserbriefe, SVSL, Lund 1946. J. LÈhnemann, Der Kolosserbrief. Kom
position, Situation und Argumentation, StNT 3, GÜtersloh 1971. W. Bujard, Stilanalyti
sche Untersuchungen zum Kolosserbrief als Beitrag zur Methodik von Sprachvergleichen,
SUNT 11, GÚttingen 1973. F. Zeilinger, Der Erstgeborene der SchÚpfung, Wien 1974.
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H. E. Lona, Die Eschatologie im Kolosser und Epheserbrief, fzb 48, WÜrzburg 1984.
T. J. Sappington, Revelation and Redemption at Colossae, JSNT.S 53, Sheffield 1991.
R. Hoppe, Der Triumph des Kreuzes, SBB 28, Stuttgart 1994. C. E. Arnold, The Colossian
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hungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefes, NT.S 94, Leiden 1999.
AufsÇtze
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1961, 139 156. E. GrÈßer, Kolosser 3, 1 4 als Beispiel einer Interpretation secundum ho
mines recipientes, in: ders., Text und Situation, GÜtersloh 1973, 123 151. E. Lohse, Chri
stologie und Ethik im Kolosserbrief, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, GÚttingen
1973, 249 261. Ders., Christusherrschaft und Kirche, a. a. O., 262 275. E. Stegemann,
Alt und neu bei Paulus und in den Deuteropaulinen (Kol Eph), EvTh 37 (1977), 508 536.
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SpÈtschriften (s. o. 5), 25 69. J. Ernst, Art. Kolosserbrief, TRE 19 (1989), 370 376.
Forschungsberichte
E. Schweizer, Zur neueren Forschung am Kolosserbrief, in: ders., Neues Testament und
Christologie im Werden, GÚttingen 1982, 122 149. W. Schenk, Der Kolosserbrief in der
neueren Forschung (1945 1985), ANRW 25. 4, Berlin 1987, 3327 3364.
meist ihre Erkenntnis verhindert.“ Hier wird hen Christentums geleugnet, sondern die angebli-
nicht nur die historische und theologische Legiti- che NaivitÈt der frÜhen Christen gegen die angeb-
mitÈt von Pseudepigraphie innerhalb der Selbst- lich kritische IntellektualitÈt heutiger Exegeten
formierungs- und Abgrenzungsprozesse des frÜ- ausgespielt.
Verfasser 331
5.2.2 Verfasser
Die Verfasser des Kolosserbriefes sind nach Kol 1, 1 der Apostel Paulus und sein
Mitarbeiter Timotheus. Die Adressaten werden teilweise in der 1. P. Pl. angespro
chen (vgl. Kol 1, 3. 9. 27), in Kol 1, 24; 2, 1; 4, 7. 18 spricht dann aber nur noch
der Apostel Paulus, so daß der Brief als sein Schreiben erscheint und unter apo
stolischer AutoritÈt stehen soll. Die gewollte NÈhe zum Philemonbrief und der
eigenhÈndige Gruß in Kol 4, 18 unterstreichen diesen Anspruch13. Die Eigenaus
sagen des Kol wurden erstmals 1838 von E.Th. Mayerhoff14 grundsÈtzlich in Fra
ge gestellt. F. Chr. Baur15 sieht dann im Kol die Schrift eines Pauliners der gnosti
schen Epoche des 2. Jhs. Einen Mittelweg schlÈgt H. J. Holtzmann ein, wenn er
aus dem Kol einen ursprÜnglichen Paulusbrief herausschÈlt, der dann vom Ver
fasser des Epheserbriefes gnostisch Überarbeitet wurde16. Heute wird der Kol
von den meisten Exegeten als ein pseudepigraphisches Schreiben angesehen17.
Aber auch die Annahme einer paulinischen Verfasserschaft ist in der kritischen
Forschung nach wie vor von Bedeutung18. Eine SekretÈrs bzw. Mitarbeiterhy
pothese, wonach Timotheus der Verfasser des Briefes sein soll, vertreten
E. Schweizer19, W. H. Ollrog20, J. D. G. Dunn21 und U. Luz22. J. LÈhnemann23 er
wÈgt, in Epaphras (vgl. Phlm 23; Kol 1, 7; 4, 12) den Verfasser des Briefes zu se
hen. Die Vertreter der Echtheit des Kol sehen die unzweifelhaften Besonderhei
13 Vgl. die Mitarbeiternamen: Archippus (Phlm losser und an Philemon, KEK IX/2, GÚttingen
9
2/Kol 4, 17); Aristarch (Phlm 24/Kol 4, 10); De- 1953, 12; A. JÜlicher – E. Fascher, Einleitung,
mas, (Phlm 24/Kol 4, 14); Epaphras (Phlm 23/Kol 134; E. Percy, Probleme, 66. 136 u. Ú.; W. G. KÜm-
1, 7; 4, 12); Lukas (Phlm 24/Kol 4, 14); Markus mel, Einleitung, 298–305 (vgl. aber die vorsichti-
(Phlm 24/Kol 4, 10); Onesimus (Phlm 10/Kol ge Korrektur [fÜr Kol und 2 Thess]: ders., L'ex¹-
4, 9). gse scientifique au XXe sicle: le Nouveau Testa-
14 Vgl. E. Th. Mayerhoff, Der Brief an die Colos- ment, in: Le monde contemporain et la Bible, hg.
ser mit vornehmlicher BerÜcksichtigung der drei v. C. Savart – J. N. Aletti, BiToTe, Paris 1985,
Pastoralbriefe kritisch geprÜft, Berlin 1838. [473–515] 483 f); J. Ernst, Art. Kolosserbrief, 373.
15 Vgl. F. Chr. Baur, Paulus, der Apostel Jesu 19 Vgl. E. Schweizer, Kol, 27. Eine ausfÜhrliche
Christi II, Leipzig 21867, 10 f. BegrÜndung findet sich bei E. Schweizer, Der Ko-
16 Vgl. H. J. Holtzmann, Kritik der Epheser- und losserbrief – weder paulinisch noch nachpauli-
Kolosserbriefe auf Grund einer Analyse ihres Ver- nisch?, in: ders., Neues Testament und Christolo-
wandtschaftsverhÈltnisses, Leipzig 1872; kurze gie im Werden (s. o. 5.2.1), 150–163.
Zusammenfassung: ders., Einleitung 21886, 20 Vgl. W. H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbei-
295 ff. ter (s. o. 2.2.2), 219–232.
17 Vgl. u. a. G. Bornkamm, HÈresie, 139 A 1; 21 Vgl. J. D. G. Dunn, Col, 38.
H. Conzelmann, Kol, 176 f; E. Lohse, Kol, 133– 22 Vgl. U. Luz, Kol, 190. Nach Luz wurde der Kol
140. 249–257; J. Gnilka, Kol 19 ff; A. Lindemann, noch zu Lebzeiten des Paulus verfaßt. Gegenargu-
Kol, 9–11; P. Pokorn, Kol, 2–4; M. Wolter, Kol, ment: War es zu diesem Zeitpunkt mÚglich, ein
31; A. Standhartinger, Entstehungsgeschichte pseudepigraphiches Schreiben unter dem Namen
und Intention, 1–3. des Paulus zu verfassen, dazu noch mit eigener
18 FÜr protopaulinisch halten den Kol u. a. M. Di- Hand unterzeichnet (vgl. Kol 4, 18)?
belius, Kol, 53; E. Lohmeyer, Die Briefe an die Ko- 23 Vgl. J. LÈhnemann, Kolosserbrief, 181 f A 82.
332 Der Kolosserbrief
ten des Briefes in seiner Frontstellung gegenÜber einer HÈresie innerhalb der Ge
meinde begrÜndet. Die vÚllig neue Gemeindesituation habe eine andere Formu
lierung der paulinischen Theologie erfordert. DemgegenÜber weisen die Bestrei
ter der Echtheit auf die EigentÜmlichkeiten der Sprache und des Stils des Kol
hin24.
Dieser Befund ist allerdings nur bedingt aussagekrÈftig, denn zahlreiche Hapax
legomena finden sich entweder in Traditionsmaterial (Kol 1, 15 20) oder in der
Auseinandersetzung mit der falschen Lehre (Kol 2, 6 23), sie waren somit dem
Verfasser vorgegeben. Zudem weisen auch die unbestreitbar echten Paulusbriefe
zahlreiche Hapaxlegomena auf, und im 1 Thess finden sich zahlreiche zentrale
Begriffe der spÈteren Briefe ebenfalls nicht.
Auch der Stil des Kol zeichnet sich durch Besonderheiten aus. So werden die
Adressaten im Kol nicht mit dem Brudernamen angeredet. Bei Paulus hÈufig an
zutreffende VerknÜpfungen (z. B. mãllon, oude´, eiµ tiß, eiµper, ou mónon de´ allà
kaı´, ouke´ti) und Folgerungspartikel (dió, dióti, aµra, aµra ouÓn) fehlen im Kol, wÈh
rend eine HÈufung von Genitivverbindungen (vgl. Kol 1, 5; 1, 13; 1, 27; 2, 2;
2, 11) und die Verwendung der PrÈposition en charakteristisch sind. Insgesamt
prÈgt ein plerophorer Stil den Kol (vgl. z. B. Kol 1, 3 11). Die einzelnen StÜcke
sind locker aneinandergefÜgt, so daß eine eindeutige Zuordnung der Infinitive,
der RelativsÈtze und der Partizipialkonstruktionen oft nicht mÚglich ist. Die Ge
dankenfÜhrung ist vielfach assoziativ. An vielen Stellen erscheint die Argumen
tation nicht so zwingend und weiterfÜhrend wie in den Protopaulinen. Es findet
sich kein Fragesatz im Kol! Die Sprach und StileigentÜmlichkeiten allein kÚn
24 Vgl. dazu W. Bujard, Stilanalytische Untersu- Konkordanz zum griechischen Neuen Testament,
chungen, passim; E. Lohse, Kol, 133–140; H. Lud- Bd. II: SpezialÜbersichten, Berlin 1978, 456.
wig, Der Verfasser des Kolosserbriefes, 8–51; 26 Vgl. die Auflistung bei E. Lohse, Kol, 134.
W. Schenk, Kolosserbrief, 3328–3338. 27 Vgl. a. a. O., 135.
25 ZÈhlung nach K. Aland (Hg.), VollstÈndige
Verfasser 333
nen die deuteropaulinische Verfasserschaft des Kol aber nicht erweisen, ihre Be
deutung zeigt sich erst in der Verbindung mit den inhaltlich theologischen Be
sonderheiten des Briefes:
1) Christologie: Die Bedeutung des Heilswerkes Jesu Christi fÜr den gesamten
Kosmos steht im Zentrum der Christologie des Kolosserbriefes. Christus ist der
Erstgeborene vor aller Kreatur, in ihm wurde das All geschaffen, und durch ihn
hat es Bestand (vgl. Kol 1, 15 17). Als Herr der SchÚpfung und SchÚpfungsmitt
ler herrscht er Über alles Geschaffene, das Unsichtbare und Sichtbare. Christus
ist das Haupt aller MÈchte (Kol 2, 10) und triumphiert Über die kosmischen Ge
walten (Kol 2, 15). In ihm hat der Kosmos Bestand, er weist allen MÈchten ihre
Bedeutung zu. Die Gemeinde partizipiert bereits in der Gegenwart an dieser
Herrschaft Christi. Er versÚhnte durch seinen Tod die Glaubenden mit Gott (Kol
1, 22) und tilgte den sie anklagenden Schuldbrief (Kol 2, 14). Nun kann auch
den Heiden Christus als der Herr des Kosmos verkÜndigt werden (Kol 1, 27). Kol
3, 11d bringt die Christologie des Briefes prÈgnant zum Ausdruck: tà pa´nta kai` en
pãsin Cristóß.
Die kosmische Christologie des Kol, die durch ein Denken in HerrschaftssphÈren
und rÈumen gekennzeichnet ist, kann an Aussagen der Protopaulinen anknÜp
fen, in denen auch die kosmische Herrschaft Christi verkÜndigt wird (vgl. 1 Kor
8, 6; Phil 2,9 11; 3, 21). Der Verfasser des Kol geht aber Über diese traditionellen
Aussagen weit hinaus, indem er die kosmologischen Dimensionen zur Grundlage
und zum Zentrum der Christologie macht. Zudem bedient er sich zur Entfaltung
seiner Christologie nicht genuin paulinischer Àberlieferung. Vielmehr bildet der
Hymnus in Kol 1, 15 20 den Ausgangspunkt und die Basis der Christologie des ge
samten Briefes.
2) Eschatologie: Die Eschatologie des Kol28 ist von der Christologie her entwor
fen und schon in ihrem Ansatz kosmologisch orientiert29. Durch die Taufe sind
die Glaubenden mit Christus gestorben und mit ihm auferstanden (Kol 2, 12. 13;
3, 1), so daß nun andere MÈchte Über sie nicht mehr herrschen kÚnnen. Die
MÈchte gehÚren dem Bereich des ‚Unten‘ an, wÈhrend sich die Christen auf das
‚Oben‘ ausrichten sollen, wo Christus ist (vgl. Kol 3, 1. 2). Die vollstÈndige Parti
zipation des Getauften am Tod und an der Auferstehung Jesu Christi zeigt sich in
den su´n Wendungen in Kol 2, 12. 13; 3, 1. Hier wurde im Gegensatz zu RÚm
28 Eine umfassende ErÚrterung aller Fragen fin- im Neuen Testament, in: Glaube und Eschatologie
det sich bei E. Lona, Eschatologie, 83–240 (der (FS W. G. KÜmmel), hg. v. E. GrÈßer u. O. Merk,
Kol liegt auf der Linie des Paulus, verfolgt aber ei- TÜbingen 1985, (335–356) 344 ff. Deutlich herr-
nen anderen Denkansatz). schen im Kol rÈumliche Gegensatzpaare vor, z. B.:
29 Vgl. N. Walter, ‚Hellenistische Eschatologie‘ ‚verborgen – offenbar‘, ‚unten – oben‘.
334 Der Kolosserbrief
6, 3 f die Zeitform der Vergangenheit auch auf die Eschata Übertragen30. FÜr Pau
lus hingegen ist der eschatologische Vorbehalt kennzeichnend. Das im Geist zu
geeignete (vgl. 2 Kor 1, 22; 5, 5; RÚm 8, 23) neue Sein des Christen ist nicht in
nerweltlich demonstrierbar, sondern es wird erst bei der Parusie offenbar (vgl.
neben RÚm 6, 3 f bes. 1 Kor 13, 12; 2 Kor 4, 7; 5, 7; 1 Kor 15, 46). Die paulinische
Eschatologie ist somit durch die Dialektik des ‚Schon jetzt‘ und ‚Noch nicht‘ ge
kennzeichnet. Paulus spricht nie von einer bereits vollzogenen Auferstehung, so
daß hier eine entscheidende Differenz zwischen der Eschatologie des Kol und
der Eschatologie des Paulus gesehen werden muß. Zwar baut auch der Kol gegen
ein enthusiastisches Àberspringen der Gegenwart Kautelen ein31, zugleich hebt
er aber den eschatologischen Vorbehalt im Sinn der Protopaulinen auf 32. Eine
weitere AuffÈlligkeit zeigt sich beim elpı´ß Begriff. Die Hoffnung erscheint in Kol
1, 5. 23. 27 als objektiv im Jenseits vorfindliches Heilsgut. Mit elpı´ß wird nicht
mehr auf die ZukÜnftigkeit geblickt (vgl. RÚm 8, 24), vielmehr liegt das Heilsgut
der Hoffnung im Himmel fÜr die Glaubenden bereit.
3) Ekklesiologie: Das Zentrum der Ekklesiologie des Kol bildet die sw̃ma Cri
stou˜ Vorstellung33. WÈhrend sie von Paulus im parÈnetischen Kontext verwen
det wird (vgl. bes. 1 Kor 12; RÚm 12)34, kommt ihr im Kol eine kosmologische
Bedeutung zu. Die Kirche ist der von Jesus Christus ermÚglichte und durchwal
tete universale Heilsraum (vgl. Kol 1, 18. 24; 2, 17. 19; 3, 15). Wird bei Paulus
Christus selbst als Leib der Kirche bezeichnet (vgl. 1 Kor 12, 12 f; RÚm 12, 4 f), so
erscheint Christus in Kol 1, 18 als Haupt des Leibes (vgl. demgegenÜber 1 Kor
12, 21). Damit gibt der Verfasser das bei Paulus an der konkreten Gemeindesitua
tion orientierte Bild auf und Übernimmt die kosmologische Vorstellung des welt
weiten Leibes der Kirche, dessen Haupt Christus ist. Der Kol entwickelt nicht die
paulinische Konzeption weiter, sondern er greift durch das hellenistische Juden
tum (vgl. 5.3.8) vermittelte Gedanken auf 35: Die Vorstellung einer Über die Wei
ten des Alls regierenden Gottheit (vgl. z. B. Philo, Migr 220; Fug 108 113). Chri
stus erschuf das All, versÚhnte es, und als das Haupt des Leibes Übt er gegenwÈr
tig seine Herrschaft aus.
30 KontinuitÈt und DiskontinuitÈt zwischen E. Schweizer, Art. sw̃ma, ThW VII, 1024–1091;
RÚm 6 und Kol 3, 1–4 werden prÈzis herausgear- zum Kol vgl. a. a. O., 1073–1075.
beitet von E. GrÈßer, Kolosser 3, 1–4, 129 ff; 34 FÜr Paulus vgl. hier E. KÈsemann, Das theolo-
P. MÜller, AnfÈnge der Paulusschule (s. o. 5), 87– gische Problem des Motivs vom Leibe Christi, in:
134. ders., Paulinische Perspektiven, TÜbingen 21972,
31 Vgl. dià tv˜ß pı´stewß in Kol 2, 12, ke´kruptai in 178–210; U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christus-
Kol 3, 3; die Parusie Christi als Datum des Offen- gegenwart (s. o. 2.4.10), 139–143. 243–245; zur
barwerdens der Herrlichkeit Kol 3, 4. Ekklesiologie des Kol vgl. J. Roloff, Kirche (s. o.
32 Vgl. H. Merklein, Rezeption, 43 ff; gegen 3.5.4), 223–231.
G. Klein, Art. Eschatologie, TRE 10 (1982), 286 f. 35 H. Merklein, Rezeption, 63, nennt diesen Vor-
33 Das religionsgeschichtliche Material bietet gang ‚Paulinisierung‘ traditionellen Materials.
Verfasser 335
4) Die Funktion des Apostels: VerkÜndigte Paulus das Evangelium Jesu Chri
sti, so erscheint das mustv´rion tou˜ Cristou˜ bzw. Xeou˜ als zentrale Botschaft des
Kol (vgl. Kol 1, 26. 27; 2, 2; 4, 3)36. Hinter diesem Mysterium steht die sich bil
dende Kirche, die sich ihrerseits wiederum der VerkÜndigung des Apostels ver
dankt. Deshalb sind die Person und das Leiden des Apostels auch Inhalt des My
steriums (vgl. Kol 1, 24 29). Als Diener am Leib Christi offenbart Paulus der Ge
meinde das Geheimnis des gÚttlichen Willens, seine Person ist vom Inhalt des
Evangeliums nicht mehr lÚsbar. Obwohl leiblich nicht anwesend, ist er doch im
Geist in der Gemeinde gegenwÈrtig (Kol 2, 5), die nun Christus so verkÜnden
soll, wie ihn der Apostel verkÜndigte (Kol 2, 6). Jede andere VerkÜndigung gilt
als Lehre vom Menschen (Kol 2,8), nicht aber als apostolische Tradition. Das
Evangelium wird nicht mehr nur von seinem Inhalt Jesus Christus her definiert,
sondern wesentlich durch die VerkÜndigung des Apostels.
5) Der Glaubensbegriff: Bezeichnet bei Paulus pı´stiß das Geschenk einer neu
en Gottesbeziehung und eines neuen SelbstverstÈndnisses, so gebraucht der Ver
fasser des Kol pı´stiß in Kol 1, 23; 2, 5. 7 in Verbindung mit Begriffen des Festste
hens. Die AusdrÜcke des Bleibens, des Festseins und des GegrÜndetseins weisen
darauf hin, daß pı´stiß im Kol das Festhalten an der Àberlieferung beinhaltet.
Wiederum zeigt sich die prÈgende Kraft des Traditionsgedankens.
6) Die Pneumatologie: Auffallend ist das ZurÜcktreten der Pneumatologie im
Kol, pneu˜ma erscheint nur in Kol 1,8; 2, 5. WÈhrend bei Paulus die Pneumatolo
gie durchgÈngiges und dynamisches Element der Theologie und Christologie ist,
markiert sie im Kol nur ein Randthema, weil hier innerhalb der Christologie und
Eschatologie die rÈumlichen und statischen Dimensionen vorherrschen. Auch
die Gestalt des Apostels Paulus und der mit ihr verbundene Traditionsgedanke
lassen elementare Geisterfahrungen (vgl. dagegen 1 Thess 5, 19; 1 Kor 14, 1)
nicht mehr zu.
Die sprachlichen, stilistischen und inhaltlichen Besonderheiten des Kol lassen
nur den Schluß zu, daß nicht Paulus, sondern ein SchÛler des Apostels den Brief
verfaßte. Auf diese SchÜlerschaft weisen auch die Kenntnis paulinischer Briefe
und der Umgang mit paulinischer Theologie hin. So Übernahm der Verfasser des
Kol die formale Struktur des paulinischen PrÈskriptes, Kol 1, 1 entspricht wÚrt
lich 2 Kor 1, 1; Kol 1, 2 stimmt weitgehend mit 2 Kor 1, 2 Überein. Die Parallelen
in den Grußlisten des Phlm und Kol zeigen, daß der Verfasser des Kol auch die
sen Paulusbrief kannte37. Auch die Makrostruktur des Kol orientiert sich an Pro
topaulinen, denn die Zweiteilung in einen Überwiegend lehrhaften und einen
vorwiegend ethisch orientierten Hauptteil ist im Gal und RÚm vorgeprÈgt. Die
36 Vgl. dazu H. Merklein, Rezeption, 28 ff. Synopse zu den Briefen des Neuen Testaments I,
37 Zu den BezÜgen vgl. insgesamt R. Reuter, Frankfurt 1997, 48–225.
336 Der Kolosserbrief
Konzeption des Kol als Gefangenschaftsbrief (vgl. Kol 4, 3. 10. 18) und die hier
zu beobachtende NÈhe zu Phil 1, 7. 13. 17 setzt ebenfalls die Kenntnis von Pau
lusbriefen voraus. Eine Vertrautheit mit paulinischer Theologie zeigt sich in Kol
2, 12, wo sich z. T. mit RÚm 6, 4 vergleichbare Gedanken finden. Eine gewisse NÈ
he besteht ferner zwischen Kol 2, 20 und Gal 4, 3. 9 (stoiceı˜a tou˜ kósmou ), und
auch die Verwendung der Trias pı´stiß, agápv, elpı´ß in Kol 1, 4 f weist auf paulini
schen Einfluß hin (vgl. 1 Thess 1, 3; 5,8; 1 Kor 13, 13; Gal 5, 5 f; ferner Phlm 5;
1 Thess 3, 6)38. Der RÜckgriff auf Stilformen und Inhalte der Paulusbriefe dient
dem Autor nicht nur als Mittel der Pseudepigraphie39, sondern er nimmt die
Verfasserschaft des Paulus in Anspruch, um seine Position im GegenÜber zur Irr
lehre zu legitimieren und durchzusetzen.
LÈßt sich der Verfasser des Kol noch nÈher bestimmen? Die immer wieder
vorgetragene Vermutung, Timotheus sei der Autor, lÈßt sich weder beweisen
noch widerlegen. Die Existenz weiterer pseudepigraphischer Paulusbriefe deutet
aber auf eine rege literarische TÈtigkeit innerhalb der Paulusschule hin, so daß
die Annahme eines unbekannten PaulusschÜlers als Verfasser des Kolosserbrie
fes die grÚßere Wahrscheinlichkeit fÜr sich hat.
38 Vgl. Th. SÚding, Die Trias Glaube, Hoffnung, und Intention, 61–89, nimmt lediglich eine Ab-
Liebe bei Paulus (s. o. 2.5.9), 177 ff. hÈngigkeit vom Phlm an; zur pseudepigraphi-
39 A. Lindemann, Paulus im Èltesten Christen- schen Konzeption des Kol vgl. dies., a. a. O., 29–
tum (s. o. 5), 114–122, betont, daß der Kol einer- 59.
seits deutlich an das paulinische Erbe anknÜpfe, 40 Vgl. E. Lohse, Kol, 256 A 2; J. Gnilka, Kol, 22;
andererseits sei aber nur zum Phlm ein unmittel- P. Pokorn, Kol, 15.
barer literarischer Zusammenhang nachweisbar. 41 Vgl. A. Lindemann, Kol, 11.
Auch A. Standhartinger, Entstehungsgeschichte
Empfänger 337
Über den GemeindegrÜnder Epaphras (Kol 1, 7; 4, 12) sind als historisch zutref
fend anzusehen, da die angeschriebenen Gemeinden ihre Entstehungsgeschichte
kannten. Auch die im Brief bekÈmpfte Irrlehre zeigt eine gewisse NÈhe zur Aus
einandersetzung in Galatien, der Verfasser des Kol setzt den Kampf des Apostels
gegen VerfÈlschungen seines Evangeliums fort. Von den Deuteropaulinen steht
der Kol dem Apostel am nÈchsten, er dÜrfte um das Jahr 70 n. Chr. abgefaßt wor
den sein42.
5.2.4 Empfänger
Die AnfÈnge der Stadt KolossÈ (Kolossaı´) liegen im Dunkeln43, bereits im 5. Jh.
v. Chr. galt sie aber als eine große wichtige Stadt Phrygiens (vgl. Hdt, VII 30, 1).
KolossÈ lag verkehrsgÜnstig an einem großen Handelsweg, der von Ephesus bis
Tarsus in Kilikien fÜhrte. Die Bedeutung von KolossÈ sank durch das AufblÜhen
von Laodicea, das in der unmittelbaren NÈhe gelegen, im 1. Jh. v. Chr. zu wirt
schaftlicher BlÜte gelangte (vgl. Strabo, XII 8, 13. 16). Tacitus berichtet, daß Lao
dicea 60/61 n. Chr. durch ein Erdbeben vernichtet wurde (Ann XIV 27, 1), und
Orosius schreibt im 5. Jh. n. Chr., Laodicea, Hierapolis und KolossÈ seien von ei
nem Erdbeben zerstÚrt worden (AdvPaganos VII, 7, 12). Inwieweit das Erdbeben
60/61 n. Chr. KolossÈ mitbetraf und ob sich Orosius auf dasselbe Ereignis wie Ta
citus bezieht, muß offen bleiben. WÈhrend Laodicea von seinen Bewohnern aus
eigener Kraft wieder aufgebaut wurde (Tac, Ann XIV 27, 1), ist das Schicksal von
KolossÈ ungewiß44. Ob in KolossÈ nach 61 n. Chr. noch eine Gemeinde exi
stierte, lÈßt sich mit Sicherheit weder verneinen noch bejahen. Der Brief ist zwar
an die Gemeinde in KolossÈ adressiert, von Anfang an aber fÜr einen breiteren
HÚrer und Leserkreis gedacht. Dies ergibt sich aus Kol 4, 16: „Und wenn dieser
Brief bei euch verlesen ist, richtet es ein, daß er auch in der Gemeinde in Laodi
cea vorgelesen wird und daß ihr auch den aus Laodicea lest.“ Die ErwÈhnungen
von Laodicea (vgl. Kol 2, 1; 4, 13. 15. 16) und Hierapolis (vgl. Kol 4, 13) deuten
darauf hin, daß der Kol an alle Gemeinden gerichtet war, in denen die be
kÈmpfte Irrlehre Einfluß gewinnen konnte45.
In den angesprochenen Gemeinden lebten Überwiegend Heidenchristen (vgl.
42 Vgl. J. Gnilka, Kol, 23; P. Pokorn, Kol, 15; schriften, daß KolossÈ auch nach dem Erdbeben
A. Lindemann, Kol, 11 (zwischen 70 und 80), ein bedeutender Ort war.
E. Lohse, Kol, 256 A 2 (um 80); M. Wolter, Kol, 45 A. Lindemann, Kol, 12 f, spricht sogar von Ko-
31 (zwischen 70 und 80). lossÈ als einer ‚Schein-Adresse‘; eigentlich habe
43 Vgl. hierzu E. Lohse, Kol, 36–38; J. Gnilka, der Autor des Kol die Gemeinde von Laodicea vor
Kol, 1–4. Augen gehabt.
44 M. Wolter, Kol, 35, betont mit Hinweis auf In-
338 Der Kolosserbrief
Kol 1, 27; 2, 13)46. Zugleich muß mit einem starken judenchristlichen Einfluß
gerechnet werden (vgl. Kol 4, 11 b!), denn zur BevÚlkerung der StÈdte gehÚrten
zahlreiche Juden, deren Vorfahren von Antiochius III hier angesiedelt wurden
(vgl. Jos, Ant XII 147 153; Cic, Flacc 28). Auch die ErwÈhnung der Beschnei
dung in Kol 2, 11 und die Sabbatheiligung in Kol 2, 16 deuten auf Judenchristen
hin. Die Gemeinden wurden nicht von Paulus (vgl. Kol 2, 1), sondern von Epa
phras gegrÜndet, der nach Kol 1, 7 den Gemeinden das Evangelium verkÜndigte
und nach Kol 4, 12 f um die Gemeinden in KolossÈ, Laodicea und Hierapolis in
seinen Gebeten ringt. Den Gemeinden wird ausdrÜcklich bestÈtigt, daß sie am
Überlieferten Glauben festhalten und sich in der Liebe gegenÜber allen Heiligen
bewÈhrt haben (vgl. Kol 1, 3 8). Nun aber drohen verfÜhrerische Reden (vgl.
Kol 2, 4) und eine neue ‚Philosophie‘ (vgl. Kol 2,8) die Gemeinden von der Über
lieferten Lehre abzubringen. Der Kol tritt dieser filosofı´a entgegen und bestÈrkt
damit zugleich die Gemeinden in ihrem apostolischen Glauben.
1, 1 2 PrÈskript Briefanfang
1, 3 14 Danksagung und FÜrbitte
1, 15 2, 23 1. Hauptteil
1, 15 20 Der Christushymnus
1, 21 23 Anwendung des Hymnus auf die Gemeinde
1, 24 2, 5 Das Amt des Apostels
2, 6 23 Auseinandersetzung mit Irrlehrern
Briefkorpus
3, 1 4, 6 2. Hauptteil
3, 1 4 Àberleitung
3 , 5 17 Tugend und Lasterkataloge
3, 18 4, 1 Haustafel
4, 2 6 Allgemeine Mahnungen
4, 7 9 Apostolische Parusie
4, 10 17 GrÜße Briefschluß
4, 18 Eschatokoll
Der Kol zeigt einen klaren Aufbau, auf den Briefanfang (PrÈskript, Danksagung)
folgt das Briefkorpus, das aus einem lehrhaften und einem parÈnetischen Brief
teil besteht47. Auch der Briefschluß lehnt sich wie die vorhergehenden Elemente
an das Formschema der echten Paulusbriefe an. Ein Vergleich mit dem Gal und
RÚm zeigt, daß dem Verfasser des Kol das paulinische Briefschema bekannt war
und von ihm bewußt Übernommen wurde. Innerhalb des lehrhaften Hauptteils
bildet der Hymnus Kol 1, 15 20 die Grundlage der gesamten theologischen Ar
gumentation. Die explizite Auseinandersetzung mit der Irrlehre erfolgt in Kol
2, 6 23, wobei Kol 2, 12 f die Position des Briefschreibers prÈgnant zusammen
faßt. Eine Doppelfunktion nimmt Kol 3, 1 4 ein, wo die Hauptgedanken des vor
hergehenden Abschnittes aufgenommen, zugleich aber ethisch interpretiert
werden.
Die Aufteilung des Kol in einen mehr lehrhaften und einen mehr ethischen
Hauptteil wird durch den Gebrauch von en Cristw˜ und en kurı´w bestÈtigt. Die Ver
wendung der beiden Formeln bei Paulus zeigt deutlich, daß en Cristw˜ eine Affini
tÈt zu lehrhaften Aussagen und en kurı´w eine AffinitÈt zu parÈnetischen Aussagen
besitzt48. Der Verfasser des Kol knÜpft auch hier an Paulus an, denn im lehrhaften
Briefteil findet sich ausschließlich en Cristw˜ (1, 2. 4. 28), wÈhrend im parÈneti
schen Abschnitt nur en kurı´w (3, 18. 20; 4, 7. 17) erscheint.
Der Bestimmungsbereich des Briefes umfaßt alle von der Irrlehre bedrohten Ge
meinden im Lykostal, so daß der Kol als ‚Rundschreiben‘ bezeichnet werden
kann.
47 Vgl. E. Lohse, Kol, 29 f; U. Luz, Kol, 183; Use of Traditional Materials in Colossians, Macon
E. Schweizer, Kol, 20 f; A. Lindemann, Kol, 14. 1983, 136–166, kommt zu folgender Gliederung:
J. Gnilka, Kol, 8, votiert fÜr eine Dreiteilung des Salutation 1, 1. 2; Thanksgiving 1, 3–23; Letter Bo-
Briefkorpus (1,9–29; 2, 1–19; 2, 20–4, 6), P. Po- dy 1, 24–4, 9; Letter Closing 4, 10–18.
korn, Kol, 19–22, fÜr eine Vierteilung (1, 3–23; 48 Vgl. F. Neugebauer, In Christus, GÚttingen
1, 24–2, 5; 2, 6–23; 3, 1–4, 6). G. E. Cannon, The 1961, 65–149.
340 Der Kolosserbrief
Der Verfasser des Kol entwickelt seine Theologie wie Paulus selbst zu einem we
sentlichen Teil aus vorgegebenen Traditionen. Zentral fÜr die Christologie des
Briefes ist der Christushymnus in Kol 1, 15 2049.
Bei der Gliederung des Hymnus ist von dem parallelen oºß estin in V. 15 und
V. 18 b auszugehen, das eine Zweiteilung nahelegt. Weiter entspricht prwtóto
koß pásvß ktı´sewß in V. 15 prwtótokoß ek tw̃n nekrw̃n in V. 18 b. Auf den jeweili
gen Relativsatz folgt dann ein begrÜndendes oºti (V. 16. 19). V. 17 und 18 a wer
den jeweils durch kai` autóß angefÜgt, V. 20 durch kai` diL autou˜. Der Hymnus glie
dert sich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in zwei Strophen. Ist in der
ersten Strophe (V. 15 18 a) von der kosmologischen Bedeutung des Christusge
schehens die Rede, so steht in der zweiten Strophe (V. 18 b 20) seine soteriologi
sche Dimension im Mittelpunkt. Der an v kefalv` tou˜ sẃmatoß in V. 18 a ange
hÈngte genitivus epexegeticus tv˜ß ekklvsı´aß stÚrt diesen Aufbau, denn er fÜhrt
die soteriologisch ekklesiologische Dimension bereits in der ersten Strophe ein.
Zudem entspricht dieses Interpretament dem VerstÈndnis der Kirche als Leib
Christi, wie es der Verfasser des Kol z. B. in Kol 1, 24 entfaltet. Ein weiteres Inter
pretament zeigt sich in der doppelten prÈpositionalen Wendung dià tou˜ aıºmatoß
tou˜ staurou˜ autou˜ [diL autou˜ ] (V. 20). Der Hinweis auf das Kreuzesgeschehen
muß als ein Eintrag des Verfassers des Kol angesehen werden, der die kosmi
schen Dimensionen des Christusgeschehens an das Kreuz und damit an die Ge
49 Vgl. zu Kol 1, 15–20 neben den Kommentaren K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder
bes. H. Hegermann, Die Vorstellung vom SchÚp- des Urchristentums, StNT 7, GÜtersloh 1972,
fungsmittler im hellenistischen Judentum und 170–179; F. Zeilinger, Der Erstgeborene der
Urchristentum, TU 82, Berlin 1961, 89–93; Chr. SchÚpfung, 179–205; J. Habermann, PrÈexistenz-
Burger, SchÚpfung, 3–53; R. DeichgrÈber, Gottes- aussagen (s. o. 2.9.7), 225–266.
hymnus und Christushymnus in der frÜhen Chri- 50 Vgl. H. Ludwig, Der Verfasser des Kolosser-
stenheit, SUNT 5, GÚttingen 1967, 143–155; briefes, 32 ff.
Traditionen, Quellen 341
Wie lÈßt sich die vom Kol bekÈmpfte HÈresie religionsgeschichtlich einordnen?
Die wesentlichen Elemente der Irrlehre kÚnnen aus dem Brief erhoben werden:
1) Zu den Forderungen der Gegner zÈhlte die Beschneidung auch fÜr Heiden
christen (vgl. Kol 2, 11). 2) Ferner gehÚrten zu den Kennzeichen der Irrlehre as
ketische Speisevorschriften und Festgebote (vgl. Kol 2, 16 f. 21 f.23 b). MÚglicher
weise wurde auch sexuelle Enthaltsamkeit gefordert (Kol 2, 21 a). 3) Ein zentra
ler Bestandteil der gegnerischen Lehre war die Beobachtung der Elemente (vgl.
Kol 2,8. 15. 20). 4) Auch Engelverehrung (vgl. Kol 2, 18) gehÚrte zur filosofı´a
(vgl. Kol 2,8) in KolossÈ. Weitere Elemente der Irrlehre lassen sich aus der Pole
mik des Briefschreibers erschließen. Er wehrt sich gegen Satzungen, die von den
Irrlehrern der Gemeinde auferlegt werden (Kol 2, 20), und bezeichnet die Lehre
der Gegner als Scheinweisheit (vgl. Kol 2, 23) und Aufgeblasenheit im Fleisch
(vgl. Kol 2, 18. 23). Offenbar stellten die rhetorisch geschulten Gegner (Kol 2, 4)
Normen auf, mit deren Einhaltung sich die Christen in KolossÈ von der Macht
der Elemente befreien sollten (vgl. Kol 2, 14).
54 J. J. Gunther, Paul's Opponents (s. o. 2.6.8), 3 f, H. F. Weiß, Gnostische Motive und antignostische
zÈhlt allein 44 verschiedene VorschlÈge beim Kol! Polemik im Kolosser- und Epheserbrief, in:
55 Vgl. W. D. Davies, Paul and the Dead Sea K. W. TrÚger (Hg.), Gnosis und Neues Testament,
Scrolls: Flesh and Spirit, in: K. Stendahl (Hg.), The Berlin 1973, (311–324) 313 f.
Scrolls and the New Testament, New York 1957, 59 Vgl. E. Lohse, Kol, 186–191; J. Gnilka, Kol,
166–168. 163–170.
56 Vgl. E. Lohmeyer, Kol, 3–8. 60 Vgl. E. Schweizer, Kol, 100–104.
57 Vgl. M. Dibelius, Kol, 35 f. 61 Vgl. J. LÈhnemann, Kolosserbrief, 82–100.
58 Vgl. G. Bornkamm, HÈresie des Kolosserbrie- 62 Vgl. A. Lindemann, Kol, 81–86.
fes, 153; ferner H. M. Schenke, Der Widerstreit 63 Vgl. P. Pokorn, Kol, 95–101.
gnostischer und kirchlicher Christologie im Spie- 64 Vgl. T. J. Sappington, Revelation and Redemp-
gel des Kolosserbriefes, ZThK 61 (1964), 391–403; tion, 170 u. Ú., J. D. G. Dunn, Col, 33–35.
Religionsgeschichtliche Stellung 343
Die das All konstituierenden und seine Harmonie sichernden machtvollen Ele
mente Erde, Wasser, Luft, Feuer (und ther) wurden als stoiceı˜a bezeichnet68.
Als Strukturelemente des Kosmos beeinflußten sie zugleich das Geschick der
Menschen, sie wurden mythologisiert und als belebte Geister vorgestellt. Spekula
tionen Über die Weltelemente verbunden mit Engelverehrung und Kalenderob
servanz finden sich in synkretistisch geprÈgten Vorstellungen des hellenistischen
Judentums69, aber auch im neupythagorÈischen Schrifttum70 begegnen beachtli
65 Vgl. M. Wolter, Kol, 162. stoiceı˜a tou˜ kósmou (Gal 4, 3. 9; Kol 2,8. 20), ZNW
66 Vgl. C. E. Arnold, Colossian Syncretism, 228– 83 (1992), 119–125; M. Wolter, Kol, 122–124.
244. 69 E. Lohse, Kol, 149 f, kann fÜr seine Ableitung
67 Vgl. U. Luz, Kol, 215–219. Luz Èußert sich ge- der Irrlehre aus dem synkretistischen hellenisti-
genÜber der Rekonstruierbarkeit der kolossischen schen Judentum insbesondere auf den Zusam-
‚Philosophie‘ sehr skeptisch; die Gegner „sind menhang zwischen der Verehrung der MÈchte,
wohl asketische Judenchristen, die Engel vereh- der Kalenderobservanz (Kol 2, 16) und der Engel-
ren und die der Gemeinde manche zusÈtzliche verehrung hinweisen (Kol 2, 18). D. Rusam, Neue
Auflagen und religiÚse Angebote machen“ Belege, 125, folgert aus seinem Ergebnis, unter
(a. a. O., 219). den stoiceı˜a tou˜ kósmou seien eindeutig die vier
68 Zu den Belegen vgl. G. Delling, Art. stoiceı˜on, physikalischen Elemente Feuer, Wasser, Erde,
ThW VII, 666–687; J. Blinzler, Lexikalisches zu Luft zu verstehen: „Die Vermutung E. Lohses und
dem Terminus tà stoiceı˜a tou˜ ko´smou bei Paulus, H. Schliers, es handele sich bei den stoiceı˜a tou˜
AB 18, Rom 1963, 429–443; E. Schweizer, Die kósmou um ‚belebte Geister‘, entbehrt lexikalisch
„Elemente der Welt“ Gal 4, 3. 9; Kol 2,8. 20 (s. o. jeder Grundlage, da sich fÜr diese Wortverbin-
2.7.8); E. Lohse, Kol, 146–149; E. Schweizer, Altes dung dafÜr kein einziger Beleg findet.“ Dieses Ur-
und Neues zu den „Elementen der Welt“ in Kol teil trifft wahrscheinlich fÜr den reinen lexikali-
2, 20; Gal 4, 3. 9, in: Wissenschaft und Kirche (FS schen Befund zu, erklÈrt aber noch nicht die spe-
E. Lohse), hg. v. K. Aland u. S. Meurer, Bielefeld zifische Verwendung im Kol, so z. B. die Gegen-
1989, 111–118; D. Rusam, Neue Belege zu den Überstellung der stoiceı˜a tou˜ kósmou mit Cristóß
344 Der Kolosserbrief
che Parallelen. Deutlich ist in jedem Fall die Tendenz, durch EinfÜgung in die kos
mische Ordnung den MÈchten und Elementen die schuldige Verehrung entgegen
zubringen.
Die GegenÜberstellung der stoiceı˜a tou˜ kósmou mit Christus in Kol 2,8 lÈßt dar
auf schließen, daß in der Philosophie der Gegner die stoiceı˜a tou˜ kósmou als per
sÚnliche MÈchte vorgestellt wurden. Sie erscheinen als Gewalten, die Über den
Menschen ihre Herrschaft ausÜben wollen (vgl. Kol 2, 10. 15). Wahrscheinlich
verehrten und fÜrchteten die Kolosser zugleich die Elemente, wobei neben der
Askese die Beschneidung, Demutshaltungen und Engelverehrung als Mittel er
schienen, um den vermeintlichen Forderungen der Elemente gerecht zu wer
den. AusgeÜbt wurde die kolossische Philosophie in Form eines Mysterienkultes,
denn die Wendungen a¾ eóraken embateu´wn in Kol 2, 18 (vgl. Apul, Met XI 23, 5 ff)
und eXeloXrvskı´a in Kol 2, 23 weisen auf eine mysterienhafte Weihe hin, bei der
die Beschneidung als Initiationsritus fungierte71.
In die kolossische Philosophie flossen in unterschiedlicher IntensitÈt Elemente
aus dem hellenistischen Judentum, der phrygisch lydischen VolksfrÚmmigkeit,
der zeitgenÚssischen neupythagorÈischen Philosophie und der Mysterienkulte
ein, so daß eine monokausale religionsgeschichtliche Ableitung unmÚglich er
scheint72. Die Gegner des Kol praktizierten ihre Lehre und ihren Kult offenbar
innerhalb der Gemeinde. Sie verstanden sich nicht als HÈretiker, sondern sahen
in ihrer Philosophie eine legitime Ausdrucksform des christlichen Glaubens.
in Kol 2,8, die ohne eine personale Komponente nen zum hÚchsten (Element oder Kreislauf), die
nur schwer nachzuvollziehen ist. unreinen aber wÜrden . . . in unzerreißbaren Fes-
70 E. Schweizer verweist wiederholt auf einen seln von den Erinnyen gefesselt . . . Heiligung
Text von Alexander Polyhistor aus dem 1. Jh. geschehe durch Reinigungen und BÈder . . . und
v. Chr., der eine Reihe von Parallelen zur Philoso- sie enthielten sich des eßbaren Tierfleisches, der
phie in KolossÈ aufweist. Danach entstehen aus MeerÈschen, der Schwarzschwanzfische, der Eier,
der Anfangsmonade „die sichtbaren KÚrper, unter der eierlegenden Tiere, der Bohnen und der ande-
denen auch die vier Elemente seien, Feuer, Was- ren Dinge, die auch den die Weihen in den Tem-
ser, Erde, Luft, die sich durchwegs wandeln und peln DurchfÜhrenden vorgeschrieben sind“ (zi-
drehen. Aus ihnen entstehe der beseelte, geistige, tiert nach E. Schweizer, Altes und Neues zu den
kugelfÚrmige Kosmos, der die Erde in der Mitte „Elementen der Welt“, 113 f).
umschließe, die ihrerseits kugelfÚrmig und rings- 71 Vgl. E. Lohse, Kol, 189.
um bewohnt sei. . . Der die Erde umgebende 72 A. Standhartinger, Entstehungsgeschichte
ther sei unerschÜtterlich, ungesund und alles in und Intention, 284, minimiert die Bedeutung der
ihm sterblich, der obere aber immer in Bewe- gegnerischen Lehre fÜr das Denken des Kol: „Eine
gung, rein und gesund, und alles in ihm unsterb- bestimmte die Gemeinde gefÈhrdende ‚HÈresie‘
lich und also gÚttlich. . . Hermes sei der Hausvater oder ‚Philosophie‘ haben die Verf. m. E. nicht im
der Seelen, da dieser die Seelen aus den KÚrpern Blick.“ Stattdessen betont sie den Einfluß jÜdisch-
geleitet, aus Erde und Meer, und er fÜhre die rei- dualistischer Weisheitstraditionen auf den Kol.
Theologische Grundgedanken 345
der Weisheit neben Christus, so daß die Gegner nur eine scheinbare Weisheit Úf
fentlich zur Schau stellen (Kol 2, 23).
Christologie, Kosmologie und prÈsentische Eschatologie mÜssen somit glei
chermaßen als Antwort auf die Herausforderung der Gegner verstanden werden.
Dabei verdankt sich das im Kol dominierende rÈumliche Denken zu einem er
heblichen Teil der gegnerischen Konzeption, aber auch der Verfasser des Briefes
ist stark von einem Denken in RÈumen geprÈgt. Er vertritt jedoch keine enthu
siastische Theologie, in der allein die Heilsgegenwart in einem oberen Bereich
dominiert. Die Kolosser haben zwar unverlierbaren Anteil am Heil, jedoch im
Glauben (Kol 2, 12). Ihr Auferstehungsleben ist eine objektive, aber noch nicht
offenbare RealitÈt, denn sie ist verborgen mit Christus in Gott (vgl. Kol 3, 3) und
damit menschlicher Demonstration entzogen. Die futurischen Aussagen treten
im Kol zugunsten der rÈumlichen Vorstellungsweise deutlich in den Hinter
grund, zugleich sind sie aber in das rÈumliche Denken integriert und von hieraus
zu verstehen76. Ihre grundlegende Bedeutung fÜr die Theologie des Kol zeigt
sich im Festhalten am zukÜnftigen Heilshandeln Gottes bei der Parusie Christi
(vgl. Kol 3, 4. 24). Auch fÜr die ParÈnese sind die futurischen Aussagen konstitu
tiv, denn die Christen sind wohl Teilhaber am Heil, leben aber noch nicht im
‚oberen‘ himmlischen Bereich. Vielmehr sollen sie sich auf das zukÜnftige Offen
barwerden des Heils ausrichten und danach ihr Leben gestalten. Inhaltlich
herrscht im Kol die usuelle ParÈnese vor (vgl. Kol 3, 5 17; 3, 18 4, 1), ein Kon
flikt auf dem Gebiet der Ethik zeigt sich nicht. Als erste pseudepigraphische
Schrift des Urchristentums dokumentiert der Kol somit den Àbergang zu einem
erweiterten PaulusverstÈndnis. Die Person und das Ansehen des Apostels wer
den in Anspruch genommen, um Entwicklungen entgegenzutreten, die das
Werk des Apostels gefÈhrden77.
In der Verfasserfrage scheint sich ein Konsens anzubahnen, nur noch wenige
Exegeten sehen im Kol einen Protopaulinen. Von Bedeutung bleibt allerdings
die SekretÈrshypothese, wie sie vor allem von E. Schweizer, J. D. G. Dunn und
U. Luz vertreten wird. Gilt unbestritten die BekÈmpfung der innergemeindlichen
HÈresie als der eigentliche Zweck des Briefes, so ist die religionsgeschichtliche
76 Vgl. H. E. Lona, Eschatologie (s. o. 5.2.1), 234: 77 Vgl. Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur,
„Das Zeitmoment wird im Kol nicht eliminiert, 202 f, wonach der Kol auch die spekulative Chri-
sondern integriert in ein christologisches Kon- stologie des Eph und die orthodoxe Kirchlichkeit
zept“. der Past vorbereitet.
Tendenzen der neueren Forschung 347
Einordnung dieser Irrlehre nach wie vor umstritten. In der neuesten Diskussion
sind vor allem drei Interpretationsmodelle von Bedeutung: Die Philosophie in
KolossÈ erscheint als Produkt eines synkretistisch orientierten hellenistischen
Judentums (so mit starken Unterschieden in der Einzelargumentation z. B.
E. Lohse, J. Gnilka; M. Wolter, J. D. G. Dunn, U. Luz); man hÈlt neupythagorÈi
schen Einfluß fÜr maßgebend (E. Schweizer), oder es werden starke EinflÜsse ei
ner synkretistischen Gnosis vermutet (P. Pokorn). Die Rekonstruktion des ur
sprÜnglichen Hymnus‘ in Kol 1, 15 20 fÈllt naturgemÈß unterschiedlich aus.
WÈhrend die Wendungen tv˜ß ekklvsı´aß in V. 18 und dià tou˜ aıºmatoß tou˜ staurou˜
autou˜ in V. 20 von der Mehrzahl der Exegeten als ZusÈtze des Briefschreibers an
gesehen werden, besteht Über weitere mÚgliche redaktionelle Eingriffe keine Ei
nigkeit.
In das Zentrum der Forschung rÜckte in den letzten Jahren die Frage nach
der Paulusrezeption des Kol (H. Merklein, A. Lindemann, E. Dassmann [s. o. 5]).
Sowohl die Komposition dieses Briefes als auch die inhaltliche Argumentation
weisen den Briefschreiber als Kenner paulinischer Theologie und damit als Pau
lusschÜler aus. Dabei kommt der Person des Paulus eine entscheidende Rolle zu
(vgl. Kol 1, 25), denn sie gehÚrt nun selbst in das zu verkÜndigende paulinische
Evangelium. Der Brief erhebt damit den Anspruch, sowohl an der Person des
Apostels als auch an seiner Theologie grundlegend orientiert zu sein. Inhaltlich
handelt es sich aber nicht um eine wirkliche WeiterfÜhrung der paulinischen
Theologie, sondern der Verfasser des Kol nimmt vorwiegend Traditionen des hel
lenistischen Judenchristentums auf und verbindet sie mit der Person des Apo
stels. Diese ‚Paulinisierung‘ traditionellen Materials soll die IdentitÈt des Evan
geliums sichern. Sie erÚffnet „aber auch innovatorische Perspektiven, indem sie
je intensiver sie durchgefÜhrt wird um so mehr Über Paulus hinausfÜhrt und
die rezipierte kosmische Christologie schließlich im Epheserbrief zum Konzept
einer ekklesiologischen Christologie ausbaut.“78 In der BewÈltigung der durch
den Tod des Apostels hervorgerufenen Krise sieht A. Standhartinger den Anlaß
und die Intention des Kol. „Das Ausbleiben der Wiederkunft Christi vor dem Tod
des Paulus fÜhrte zu theologischen Verunsicherungen, die die Verf. mit dem Kol
zu Überwinden suchen. Entstehungsgeschichte und Absicht des Kol erklÈren
sich daher m. E. wesentlich aus der Problematik, die durch den Tod des Paulus in
den von ihm beeinflußten Gemeinden hervorgerufen wurde.“79
5.3.1 Literatur
Kommentare
HNT 12: H. HÜbner, 1997. HThK X 2: J. Gnilka, 31982. EKK X: R. Schnackenburg, 1982.
ThHK 10/II: P. Pokorn, 1992. ³TK 10: F. Mußner, 1982. NTD 8/1: U. Luz. RNT:
J. Ernst, 1974. ZBK 8: A. Lindemann, 1985. AncB 34. 34 a: M. Barth, 1974. WCB 42:
A. T. Lincoln, 1990. ICC: E. Best, 1998. H. Schlier, Der Brief an die Epheser, DÜsseldorf
7
1971.
Monographien
H. Schlier, Christus und die Kirche im Epheserbrief, BHTh 6, TÜbingen 1930. F. Mußner,
Christus, das All und die Kirche, TThSt 5, Trier 21968. P. Pokorn, Der Epheserbrief und
die Gnosis, Berlin 1965. J. Ernst, Pleroma und Pleroma Christi, BU 5, Regensburg 1970.
K. M. Fischer, Tendenz und Absicht des Epheserbriefes, Berlin GÚttingen 1973. H. Merk
lein, Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief, StANT 33, MÜnchen 1973. A. Linde
mann, Die Aufhebung der Zeit, StNT 12, GÜtersloh 1975. H. E. Lona, Die Eschatologie im
Kolosser und Epheserbrief (s. o. 5.2.1). C. E. Arnold, Ephesians: Power and Magic,
SNTSMS 63, Cambridge 1989. E. Faust, Pax Christi et Pax Caesaris, NTOA 24, Freiburg
(H) GÚttingen 1993. M. Gese, Das VermÈchtnis des Apostels, WUNT 2.99, TÜbingen
1997.
AufsÇtze
E. KÈsemann, Das Interpretationsproblem des Epheserbriefes, in: ders., Exegetische Versu
che und Besinnungen II, GÚttingen 31970, 253 261. K. G. Kuhn, Der Epheserbrief im
Lichte der Qumrantexte, NTS 7 (1960/61), 334 346. C. Colpe, Zur Leib Christi Vorstel
lung im Epheserbrief, in: Judentum Christentum Kirche (FS J. Jeremias), hg. v. W. Elte
ster, BZNW 26, Berlin 1960, 172 187. A. Lindemann, Bemerkungen zu den Adressaten
und zum Anlaß des Epheserbriefes, ZNW 67 (1976), 235 251. F. Mußner, Art. Epheser
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Freiburg 1989, 376 396. G. Sellin, Adresse und Intention des Epheserbriefes, in: Paulus,
Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), hg. v. M. Trowitzsch, TÜbingen 1998, 171 186.
Th. K. Heckel, Kirche und Gottesvolk im Epheserbrief, in: Kirche und Gottesvolk (FS J. Ro
loff), hg. v. M. Karrer, W. Kraus u. O. Merk, Neukirchen 2000, 163 175.
Forschungsbericht
H. Merkel, Der Epheserbrief in der neueren Diskussion, ANRW 25. 4, Berlin 1987, 3156
3246.
Verfasser 349
5.3.2 Verfasser
Der Epheserbrief gibt sich als ein in der Gefangenschaft abgefaßtes Schreiben des
Apostels Paulus aus (vgl. Eph 3, 1; 4, 1; 6, 21). Dieser Eigenaussage des Briefes
stehen gewichtige Argumente gegenÜber, die auf eine deuteropaulinische Verfas
serschaft hindeuten:
1) Der Eph weist sprachliche Besonderheiten auf. So finden sich 35 ntl. Ha
paxlegomena80, von denen vor allem bedeutsam sind: enótvß (Eph 4, 3. 13), kos
mokrátwr (Eph 6, 12), mesótoicon (Eph 2, 14) und politeı´a (Eph 2, 12). Auf
schlußreich sind Wendungen, die in den Protopaulinen nicht erscheinen, die
Theologie des Eph aber prÈgen81: eulogı´a pneumatikv´ (Eph 1, 3); katabolv` kósmou
(Eph 1, 4); aµfesiß tw̃n paraptwmátwn (Eph 1, 7); mustv´rion tou˜ Xelv´matoß autou˜
(Eph 1,9); o lógoß tv˜ß alvXeı´aß (Eph 1, 13); o patv`r tv˜ß dóxvß (Eph 1, 17); aiẁn
tou˜ kósmou tou´tou (Eph 2, 2); v próXesiß tw̃n aiẃnwn (Eph 3, 11); to` pneu˜ma tou˜
noóß (Eph 4, 23); mimvtai` tou˜ Xeou˜ (Eph 5, 1); basileı´a tou˜ Cristou˜ kai` tou˜ Xeou˜
(Eph 5, 5). Wie der Kol zeigt auch der Eph eine Vorliebe fÜr Überlange SÈtze
(vgl. Eph 1, 3 14) und die Aneinanderreihung sinngleicher WÚrter (vgl. Eph
1, 19; 6, 10). AuffÈllig ist ferner der extensive Gebrauch adnominaler Genitiv
konstruktionen (vgl. Eph 1, 6. 10. 18. 19 u. Ú.)82.
2) Konstitutiv fÜr den Eph ist der RÜckbezug auf den Apostel Paulus, die
Anamnese seiner Person und Theologie. So reflektiert Eph 3, 1 ff das paulinische
Heidenapostolat bereits in heilsgeschichtlichen Dimensionen. Paulus erscheint
neben den heiligen Aposteln und Propheten als EmpfÈnger der Offenbarung
Gottes, die zur universalen Kirche aus Juden und Heiden fÜhrte. Es ist nichts
mehr zu spÜren von den Auseinandersetzungen um das paulinische Apostolat
(vgl. 1 Kor 9, 1 ff) und von den schweren Konflikten zwischen Juden und Hei
denchristen. Paulus erkÈmpft nicht seine Position, sondern sie wird bereits in ih
ren kirchengeschichtlichen Dimensionen gewÜrdigt83.
3) Die mterliste in Eph 4, 11 f weist auf eine gegenÜber Paulus stark verÈn
derte Gemeindestruktur hin84. WÈhrend Apostel und Prophet auch in 1 Kor
12, 28 erscheinen, fehlt bei Paulus der Titel des Evangelisten. Nahmen in 1 Kor
12, 28 die Lehrer die dritte Position ein, so erscheinen sie in Eph 4, 11 nach den
Aposteln, Propheten, Evangelisten und Hirten. Es fehlen im Eph charismatische
mter, wie z. B. WundertÈter, Heilungsbegabte und das Reden in Zungen. Der
80 ZÈhlung nach K. Aland (Hg.), VollstÈndige 83 Vgl. H. Merklein, Rezeption (s. o. 5.2.1), 32 f.
Konkordanz (s. o. 5.2.2), 456. 84 Zur Analyse vgl. H. Merklein, Das kirchliche
81 Vgl. J. Gnilka, Eph, 16 f. Amt, 57–117.
82 Vgl. dazu zuletzt G. Sellin, Àber einige unge-
wÚhnliche Genitive im Epheserbrief, ZNW 83
(1992), 85–107.
350 Der Epheserbrief
Eph setzt DienstÈmter voraus, wobei es sich bei den Propheten und Evangelisten
wahrscheinlich um wandernde Prediger handelt, wÈhrend die Hirten und Lehrer
fÜr Predigt, Unterricht und Unterweisung in den Ortsgemeinden zustÈndig wa
ren. Das Apostelamt wird nicht mehr funktional, sondern in seiner theologi
schen Bedeutung bedacht: Die Apostel sind das Fundament der Kirche (Eph
2, 20), ihnen wurde das Geheimnis des Christusgeschehens geoffenbart (vgl. Eph
3, 5)85.
4) Der Eph benutzte offenbar den Kol als literarische Vorlage (s. u. 5.3.7).
5) Die Theologie des Eph lÈßt einerseits signifikante Unterschiede zu den Pro
topaulinen86, andererseits große Àbereinstimmungen mit dem Kol erkennen. In
der Christologie dominiert die Vorstellung der kosmischen Herrschaft Jesu Chri
sti: Der Auferstandene sitzt zur Rechten Gottes (Eph 1, 20), ihm hat Gott der
SchÚpfer alles unter die FÜße gelegt (Eph 1, 22 a), und er durchwaltet nun das
All mit seiner Lebensmacht (Eph 1, 23). In keiner anderen ntl. Schrift tritt die
Ekklesiologie so hervor wie im Epheserbrief 87. Wie bei Paulus hat die Kirche im
Kreuzesopfer Jesu Christi ihren Ursprung (Eph 2, 13. 14. 16). Zugleich wird aber
die dynamische Konzeption der Kirche als Leib Christi bei Paulus durch Vermitt
lung des Kol im Eph in die rÈumlich statische Vorstellung von Christus, dem
Haupt, und der Kirche, seinem Leib, transformiert. Dem Weltbild des Eph88 ent
sprechend dominiert die prÈsentische Eschatologie (vgl. Eph 2, 5. 6. 8. 19; 3, 12).
Die Rechtfertigungslehre klingt nur vÚllig unpolemisch im Rahmen von Tauf
aussagen an (vgl. Eph 2, 5. 8 10)89.
6) Der Apostel wirkte nach Apg 19,9 f mehr als 2 Jahre in Ephesus. Er war so
mit der Gemeinde bekannt und seinerseits Über die VerhÈltnisse in Ephesus un
terrichtet. DemgegenÜber erwecken Eph 1, 15; 3, 2 den Eindruck, als wÜrden
sich Apostel und Gemeinde Überhaupt nicht kennen. Zudem macht das gesamte
Schreiben einen sehr unpersÚnlichen Eindruck, so findet sich z. B. im Eph kein
einziger Gruß an Gemeindeglieder. Schließlich kann die Ortsangabe en LEfe´sw
(Eph 1, 1) nicht als ursprÜnglich angesehen werden (s. u. 5.3.4).
Die Überwiegende Zahl der Exegeten wertet den Eph als ein deuteropaulinisches
Schreiben, so z. B. M. Dibelius, W. G. KÜmmel, W. Marxsen, H. M. Schenke
K. M. Fischer, Ph. Vielhauer, A. Wikenhauser J. Schmid, J. Ernst, J. Gnilka,
85 Vgl. zur mterlehre des Eph und ihrem Ver- der echten Paulusbriefe stets das Christusereignis
hÈltnis zu Paulus H. Merklein, a. a. O., 235–383. und wurde die Kirche in ihrem Bezug zu diesem
86 R. Schnackenburg, Eph, 23 ff, spricht hier von gesehen, so nimmt diese deuteropaulinische
‚perspektivischen VerÈnderungen‘. Schrift die Kirche zum Ausgangspunkt, um das
87 Vgl. dazu R. Schnackenburg, Eph, 299–319 Christusereignis von ihr her zu interpretieren.“
(Die Kirche in der Sicht des Epheserbriefes); J. Ro- 88 Vgl. zum Weltbild des Eph A. Lindemann,
loff, Kirche (s. o. 3.5.4), 231 f, spricht von einer Eph, 121–123.
kopernikanischen Wende: „Stand im Mittelpunkt 89 Vgl. F. Mußner, Eph, 28.
Ort und Zeit der Abfassung 351
Àber die Person des Verfassers lÈßt sich wenig sagen: Er gehÚrte der Paulusschu
le an und war ein hellenistischer Judenchrist95, worauf Texte wie Eph 1, 3 14;
2, 20 22; 3, 20 f; 6, 13 17 hinweisen. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, die in Ge
meinden Kleinasiens bedrohte Einheit der Kirche aus Juden und Heidenchri
sten zu retten.
Der genaue Abfassungsort des Eph lÈßt sich nicht mehr ermitteln, die große Ver
trautheit mit dem Kol weist aber auf Kleinasien hin96. Eine weitergehende Ein
grenzung (z. B. Ephesus97) ist erwÈgenswert. FÜr die Bestimmung des Abfas
sungszeitraumes bilden der Kol die untere, die Ignatiusbriefe hingegen die obere
Grenze (vgl. Eph 5, 27 mit IgnPol 5, 1; Eph 2, 20 22 mit IgnEph 9, 1)98. Am
90 Vgl. M. Dibelius, Eph, 83 f; W. G. KÜmmel, 94 Vgl. H. Schlier, Eph, 22–28. Zuletzt hatte
Einleitung, 318; W. Marxsen, Einleitung, 188 f; Schlier aber wieder Zweifel an der paulinischen
H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung I, 181– Herkunft; vgl. R. Schnackenburg, Eph, 21 A 16.
186; Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur, 207– 95 Vgl. J. Gnilka, Eph, 18; R. Schnackenburg,
212; A. Wikenhauser – J. Schmid, Einleitung, Eph, 33.
488 f; J. Ernst, Eph, 258–262; J. Gnilka, Eph, 13; 96 Vgl. W. G. KÜmmel, Einleitung, 323;
F. Mußner, Eph, 33; R. Schnackenburg, Eph 22; H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung I, 187;
A. Lindemann, Eph, 9–12; P. Pokorn, Eph, 40– R. Schnackenburg, Eph, 34 (unbekannter Verfas-
42; E. Best, Eph, 36; U. Luz, Eph, 108 f. ser aus einer Gemeinde im Lykostal); A. Linde-
91 Vgl. A. van Roon, The Authenticity of Ephe- mann, Eph, 12.
sians, NT.S 39, Leiden 1974, 207 f u. Ú. Der eigent- 97 FÜr Ephesus votieren u. a. J. Ernst, Eph, 263;
liche Autor des Eph bleibt aber fÜr van Roon der F. Mußner, Eph, 36; J. Gnilka, Eph, 20; P. Po-
Apostel Paulus; vgl. a. a. O., 440: „. . . that it is not korn, Eph, 42; E. Best, Eph, 46.
only plausible but even probable that Paul was 98 Zu IgnEph 12, 2 (‚Paulus . . . gedenkt euer in
the author of Eph.“ jedem Brief‘) vgl. A. Lindemann, Paulus im Èlte-
92 Vgl. M. Barth, Eph I, 36–50 sten Christentum (s. o. 5), 84 f.
93 Vgl. H. Schlier, Christus und die Kirche, 39 A
1.
352 Der Epheserbrief
5.3.4 Empfänger
Die Ortsangabe en LEfe´sw fehlt in P46, B*, a*, 1739 und 424 und bei Origenes.
Wahrscheinlich las auch Markion diese Ortsangabe nicht (vgl. Tertullian, Adv.
Marc V 11, 12) und bezeichnete das Schreiben als einen Brief nach Laodicea. Die
Èußere Textkritik spricht somit gegen die UrsprÜnglichkeit von en LEfe´sw. Auch
die innere Textkritik weist in diese Richtung. Enthielt der Brief keine ursprÜngli
che Ortsangabe, so ist eine nachtrÈgliche ErgÈnzung analog dem Formschema
der Protopaulinen und des Kol gut denkbar. Dabei legt sich Ephesus nahe, denn
Paulus wirkte lange Zeit in dieser Stadt, und er kÚnnte der Gemeinde einen Brief
geschrieben haben. Zugleich lÈßt sich kein plausibler Grund fÜr die Streichung
von en LEfe´sw nennen, so daß nach den Regeln der Textkritik die Ortsangabe als
sekundÈr anzusehen ist100. Wie kann der Text ohne die Ortsangabe grammatika
lisch und stilistisch verstanden werden? Das Fehlen einer Ortsangabe nach dem
substantivierten Partizip von eıÓnai bleibt auffÈllig101, allerdings ist der Text toı˜ß
agı´oiß toı˜ß ouÓsin kai` pistoı˜ß syntaktisch als zweigliedrige Anrede mÚglich: „den
Heiligen und GlÈubigen . . .“102. Ein anderes ErklÈrungsmodell schlÈgt E. Best
vor103: Die ursprÜngliche Adresse des Zirkularschreibens lautete toı˜ß agı´oiß kai`
pistoı˜ß en Cristw˜ LIvsou˜. Dann erfolgte als geographische NÈherbestimmung die
EinfÜgung ‚Ephesus‘, wobei toı˜ß agı´oiß erweitert wurde zu pro`ß tou`ß agı´ouß tou`ß
oµntaß en LEfe´sw. „Some scribes however remembered that the original letter had
no geographical reference and so when they copied it they simply omitted the
reference to Ephesus, thus creating the text of Vaticanus.“104 Auch dieser Vor
schlag bleibt natÜrlich angesichts der TextÜberlieferung nur Vermutung.
Die Rezeption des Kolosserbriefes (s. u. 5.3.7) zeigt allerdings deutlich, daß
der Eph sich an Christen in der Provinz Asia richtet. „Da Ephesus die Hauptstadt
der Provinz Asia und sedes Pauli war, wo es eine von ihm gegrÜndete Gemeinde
gab, muß man voraussetzen, daß die wichtigste Gruppe, die der Epheserbrief er
reichen sollte, die Gemeinde in Ephesus war.“105
Die Situation der angeschriebenen Gemeinden wird offenbar durch Spannun
gen zwischen Juden und Heidenchristen geprÈgt. Die Leser des Briefes werden
in Eph 2, 11; 3, 1; 4, 17 direkt als Heidenchristen angesprochen, und ihr VerhÈlt
nis zu den Judenchristen ist der alleinige Inhalt der Unterweisung Eph 2, 11 22
und zugleich eines der dominierenden Briefthemen. Der Eph entwirft das Kon
zept einer Kirche aus Heiden und Judenchristen, die miteinander den Leib
Christi bilden. Damit reagiert der Autor auf eine gegenlÈufige Entwicklung in
den kleinasiatischen Gemeinden: Die Judenchristen stellen bereits eine Minder
heit dar, und die Heidenchristen sehen in ihnen nicht mehr gleichberechtigte
Partner106. DemgegenÜber versucht der Eph „eine Entscheidung zu verhindern,
die dem Juden als Juden das Christsein unmÚglich machte.“107
Die religiÚs kulturelle Situation in Ephesus bestimmten lokale Kulte, Myste
rienreligionen und der alles Überragende Artemis Kult mit seinen vielfÈltigen
(auch magischen) Praktiken108. Die auffÈllige Betonung der Macht Gottes bzw.
Christi in Eph 1, 15 23; 3, 14 19. 20 21; 6, 10 20 dÜrfte auf dem Hintergrund
dieses religiÚsen Umfeldes zu verstehen sein und weist auf eine religiÚse Verun
sicherung vieler neuer Gemeindeglieder hin. Ihnen verkÜndigt der Eph: Gottes
Macht steht Über den teuflischen Gewalten und MÈchten, den Herrschern der
Finsternis und den Geistwesen der Bosheit in den himmlischen Bereichen (vgl.
Eph 6, 12)109.
105 P. Pokorn, Eph, 37. ten, BZ 36 (1992), 59–76; G. H. R. Horsley, The In-
106 Vgl. K. M. Fischer, Tendenz und Absicht, 79– scriptions of Ephesos and the New Testament, NT
94. 34 (1992), 105–168; S. J. Friesen, Twice Neoko-
107 A. a. O., 93. ros. Ephesus, Asia and the Cult of the Flavian Im-
108 Zur religiÚsen Infrastruktur von Ephesus (bes. perial Family, Leiden 1993; H. KÚster (Hg.), Ephe-
Artemis-Kult) vgl. W. Elliger, Ephesos (s. o. 2.2.2), sos. Metropolis of Asia, HThS 41, Valley Forge PA
113–136; C. E. Arnold, Power and Magic, 20 ff; 1995; R. Strelan, Paul, Artemis and the Jews in
R. Oster, The Ephesian Artemis as an Opponent of Ephesus (s. o. 2.2.2), 1–125.
Early Christianity, JAC 19 (1976), 24–44; P. Lam- 109 Vgl. C. E. Arnold, Power and Magic, 122.
pe, Acta 19 im Spiegel der ephesischen Inschrif-
354 Der Epheserbrief
1, 1 2 PrÈskript
1, 3 14 1. Danksagung Briefanfang
1, 15 23 2. Danksagung
2, 1 3, 21 1. Hauptteil
2, 1 10 Einst und Jetzt der Glaubenden
2, 11 22 Die Kirche aus Juden und Heiden
3, 1 13 Der Apostel als Diener des Geheimnisses der Of
fenbarung
3, 14 21 FÜrbitte und Doxologie
Briefkorpus
4, 1 6,9 2. Hauptteil
4, 1 16 Mahnung zur Verwirklichung der Einheit des
Leibes Christi
4, 17 24 Der alte und neue Mensch
4, 25 5, 20 Einzelermahnungen
5, 21 6,9 Haustafel
6, 10 20 SchlußparÈnese
6, 21 22 Empfehlung des Tychikus Briefschluß
6, 23 24 Eschatokoll
In der Makrostruktur stimmt der Epheserbrief mit dem Kol und einigen Proto
paulinen Überein: Auf einen lehrhaften folgt ein parÈnetischer Hauptteil. Zu
gleich zeigen sich bedeutsame Unterschiede. AuffÈllig ist zunÈchst das zweifache
ProÚmium am Briefanfang, erst das zweite ProÚmium fÜhrt zum eigentlichen
Thema des Briefes hin (vgl. Eph 1, 15 23). WÈhrend der erste Hauptteil des Kol
mit Ausnahme von Kol 1, 1 f; 2, 15 29 nur selektiv vom Eph aufgenommen wird,
rezipiert der Eph umfassend die ParÈnese in Kol 3, 5 4, 6. Am Briefende fehlen
fast vollstÈndig GrÜße, ReiseplÈne oder persÚnliche Nachrichten. Dies unter
streicht den zeitlosen Charakter des Eph, der kein Gelegenheitsschreiben ist,
sondern als Zirkularschreiben an die paulinischen Gemeinden in Kleinasien be
zeichnet werden kann. Andere Klassifizierungen lauten: ‚theologisches Lehr
Literarische Integrität 355
Die literarische IntegritÈt des Eph ist unbestritten. Zu erwÈgen bleibt die MÚg
lichkeit von Glossen in Eph 2, 5 b und 2,8 f. AuffÈllig ist hier der unvermittelte
Àbergang von der 1. P. Pl. in die 2. P. Pl. sowie eine inhaltliche EigenstÈndigkeit
der beiden Abschnitte116.
Der Verfasser des Eph benutzte den Kol offenbar als Vorlage. Dies ergibt sich aus
den zahlreichen Àbereinstimmungen zwischen beiden Briefen117.
1) BerÛhrungen in der Makrostruktur: Der Eph und Kol haben nicht nur die
Zweiteilung in einen lehrhaften und parÈnetischen Teil gemeinsam, sondern
auch im PrÈskript und Postskript finden sich Àbereinstimmungen. Nur im Kol
und Eph werden die Adressaten als aºgioi und pistoi` en Cristw˜ LIvsou˜ angeredet.
Nahezu identisch sind im Postskript die beiden Abschnitte, in denen die Sendung
des Tychikus mitgeteilt wird (Eph 6, 21 f/ Kol 4, 7 f). Auch die Gebetsaufforde
rungen in Eph 6, 18 20/ Kol 4, 2 3 lassen deutliche Àbereinstimmungen erken
nen. Auffallend ist schließlich die Struktur der Abschnitte Eph 5, 19 6,9/Kol
3, 16 4, 1: Auf die vergleichbaren Anweisungen fÜr den Gottesdienst (Eph
5, 19 f/Kol 3, 16 f) folgen jeweils die Haustafeln. Nacheinander wird das VerhÈlt
nis von Ehefrauen zu EhemÈnnern, Kindern zu VÈtern und Sklaven zu Herren
behandelt, wobei die Reihung dieser drei Gruppen nur hier so erscheint.
110 Vgl. F. Mußner, Art. Epheserbrief, 743. Eph, 83–85; C. L. Mitton, The Epistle to the Ephe-
111 Vgl. H. Schlier, Eph, 21. sians, Oxford 1951, 280–318; J. Gnilka, Eph, 7–
112 Vgl. W. Marxsen, Einleitung, 194. 13; A. Lindemann, Aufhebung der Zeit, 44–48;
113 Vgl. J. Gnilka, Eph, 33. R. Schnackenburg, Eph, 26–30; P. Pokorn, Eph,
114 Vgl. A. Lindemann, Paulus im Èltesten Chri- 3–5; H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung I,
stentum (s. o. 5), 41; G. Strecker, Literaturge- 181–186. R. Reuter, Synopse zu den Briefen des
schichte (s. o. 2.1), 71 f. Neuen Testaments I (s. o. 5.2.2), 248–619. Anders
115 Vgl. U. Luz, Àberlegungen zum Epheserbrief, E. Best, Who Used Whom? The Relationship of
386. Ephesians and Colossians, NTS 43 (1997), 72–96;
116 Vgl. hierzu H. HÜbner, Glossen in Epheser 2, ders., Eph, 36–40, wonach zwei PaulusschÜler et-
in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), wa gleichzeitig den Kol und Eph geschrieben hÈt-
hg. v. H. FrankemÚlle u. K. Kertelge, Freiburg ten. Die Gemeinsamkeiten erklÈren sich dann aus
1989, 392–406. den vorangehenden Schuldiskussionen.
117 Vgl. dazu die Aufstellungen bei M. Dibelius,
356 Der Epheserbrief
118 Vgl. dazu J. Gnilka, Eph, 22; A. Lindemann, 119 Vgl. zur Forschungsgeschichte und zu den
Paulus im Èltesten Christentum (s. o. 5), 122–130 methodischen Problemen H. Merkel, Epheser-
(literarische Beziehungen nur zum 1Kor); P. Po- brief, 3222–3237.
korn, Eph, 15–21 (Verwurzelung des Eph in der
paulinischen Schultradition).
Religionsgeschichtliche Stellung 357
Eph 5, 21 33), als FÜlle Christi (vgl. Eph 1, 23; 3, 19; 4, 10; 4, 13) und des Leibes
Christi als himmlischer Bau (vgl. Eph 2, 20 22). Die prÈsentische Eschatologie
des Eph (vgl. Eph 1, 20 23; 2, 6. 8; 5, 14) kÚnnte Bestandteil eines gnostischen
DaseinsverstÈndnisses sein. Schließlich wendet sich der Eph im Gegensatz zum
Kol gegen keine Irrlehre, was die Ermittlung des Standortes des Briefautors in
Aufnahme und Abgrenzung zu religionsgeschichtlichen EinflÜssen noch er
schwert.
Unter diesen Voraussetzungen fÈllt die religionsgeschichtliche Beurteilung
des Eph sehr unterschiedlich aus. EinflÜsse der Gnosis sehen u. a. H. Schlier,
E. KÈsemann, P. Pokorn, H. Conzelmann, A. Lindemann und in modifizierter
Form K. M. Fischer120. Einen atl. jÜdischen Hintergrund (Qumran) vermuten
K. G. Kuhn und F. Mußner121. In der Traditionslinie des hellenistischen Juden
tums interpretieren H. Hegermann, C. Colpe, E. Schweizer, J. Gnilka und
R. Schnackenburg den Eph122.
Vergleichbare Vorstellungen zum Eph finden sich sowohl im hellenistischen
Judentum als auch im gnostischen Schrifttum. Parallelen aus dem hellenisti
schen Judentum haben aber gegenÜber gnostischen Texten den prinzipiellen
Vorteil einer zeitlichen PrioritÈt. So weisen die kosmischen Dimensionen der
Leib Christi Vorstellung keineswegs auf die Gnosis hin. Auch bei Philo erscheint
der Kosmos als Leib, dessen Haupt der Logos ist (vgl. Fug 108 113, QuaestEx II
117). Der Kosmos wird als te´leioß aµnXrwpoß (Migr 220; vgl. Eph 4, 13), als ‚gro
ßer Mensch‘ (RerDivHer 155), als das ‚vollkommenste Lebewesen‘ (SpecLeg I
210 f) und als ‚Sohn Gottes‘ (SpecLeg I 96) bezeichnet. Bei Philo findet sich fer
ner die mit dem plv´rwma Begriff vergleichbare Vorstellung der das All durchwal
tenden gÚttlichen Dynamis, die wiederum mit der Makroanthropos Vorstellung
verbunden ist (VitMos II 132 f; QuaestEx II 68; 120; QuaestGen IV 130)123. An
eine im antiken Judentum verbreitete Bildersprache knÜpft die Vorstellung der
Kirche als Bau in Eph 2, 20 22 an. Speziell die Qumrangemeinde verstand sich
120 Vgl. H. Schlier, Christus und die Kirche, 74 f; 122 Vgl. H. Hegermann, Zur Ableitung der Leib-
E. KÈsemann, Leib und Leib Christi, BHTh 9, TÜ- Christi-Vorstellung im Epheserbrief, ThLZ 85
bingen 1933, 145 u. Ú.; P. Pokorn, Epheserbrief (1960), 839–842; C. Colpe, Leib-Christi-Vorstel-
und Gnosis, 82 ff (zurÜckhaltender ders., Eph, lung im Epheserbrief, 178 ff; E. Schweizer, Die
22–24); H. Conzelmann, Eph, GÚttingen 1976, 87; Kirche als Leib Christi in den paulinischen Antile-
A. Lindemann, Eph, 121; K. M. Fischer, Tendenz gomena, in: ders., Neotestamentica, ZÜrich 1963,
und Absicht, 173–200. 293–316; J. Gnilka, Eph, 33–45; R. Schnacken-
121 Vgl. K. G. Kuhn, Der Epheserbrief im Lichte burg, Eph, 33.
der Qumrantexte, NTS 7 (1960/61), 334–346; 123 Vgl. H. Hegermann, Vorstellung vom SchÚp-
F. Mußner, BeitrÈge aus Qumran zum VerstÈnd- fungsmittler (s. o. 5.2.7), 58 ff.106 ff.
nis des Epheserbriefes, in: Neutestamentliche
AufsÈtze (FS J. Schmid), Regensburg 1963, 185–
198.
358 Der Epheserbrief
als Bau, Tempel und Wohnung Gottes (vgl. 1QS 5, 5; 8, 7. 8; 1QH 6, 26 f; 7,8 f
u. Ú.)124. Eine direkte AbhÈngigkeit liegt aber auch hier nicht vor, der Eph dÜrfte
sich trotz aller Unterschiede an Paulus orientieren, fÜr den Christus das unver
rÜckbare Fundament (1 Kor 3, 11) und die Gemeinde der Bau (1 Kor 3,9), der
geisterfÜllte Tempel Gottes ist (1 Kor 3, 16. 17). Die Vorstellung vom Wachstum
des Leibes (Eph 2, 21. 22; 4, 12. 15 f) geht auf Kol 2, 19 zurÜck. Als Fundament
und Haupt des Baues ist Christus auch das Ziel des Wachstums, weil er den Bau
mit seiner du´namiß erfÜllt. Die Vorstellung der Kirche als Braut Christi (Eph
5, 21 33) weist ebenfalls nicht auf gnostische EinflÜsse hin125, sondern nimmt
atl. Bildmaterial auf (vgl. Hos 1 3; Ez 16; Jer 2, 2; Jes 62, 5). Zudem sieht sich
Paulus in 2 Kor 11, 2 als BrautfÜhrer, der die Gemeinde mit Christus verlobt hat.
Eine ekklesiologische Ausweitung von Kol 1, 19; 2,9 f zeigt sich in der Rede von
der Kirche als der FÜlle dessen, der das All erfÜllt (vgl. bes. Eph 1, 22. 23). An
schauungen der Stoa, Philos oder der Gnosis kÚnnen das Besondere der Ple
roma Vorstellung im Eph nicht erklÈren: Die Kirche ist der Raum, in dem die al
les umspannende FÜlle Christi wirksam und mÈchtig ist.
Auch die Aufhebung der Scheidewand und die Schaffung des neuen Men
schen in Eph 2, 14 16 weisen nicht auf einen gnostischen Hintergrund hin. Viel
mehr wird hier die Tora als Scheidewand angesehen (vgl. V. 15 a; ferner Arist
139!), deren trennende Wirkungen in der einen Kirche aus Juden und Heiden
Überwunden sind126.
In die NÈhe gnostischer Vorstellungen scheint der Abstieg und Aufstieg des
ErlÚsers in Eph 4,9. 10 zu fÜhren. Dennoch bestehen erhebliche Unterschiede,
denn die gesamte Argumentation verdankt sich der christologischen Adaption
von Ps 68, 19 in Eph 4,8, bei der wiederum die vom urchristlichen Auferste
hungsglauben abgeleitete Vorstellung der Auffahrt des ErlÚsers am Anfang steht
(Eph 4,8. 9 a). Erst dann schließt sich die im postulierten gnostischen Mythos Üb
liche Reihenfolge ‚Abstieg Aufstieg‘ an.
Bestimmend fÜr die Theologie des Eph sind nicht Parallelen aus dem jÜdi
schen oder paganen Traditionsstrom, sondern zuallererst der Kol, der formal und
inhaltlich den Eph prÈgt. Schon dies schließt eine monokausale religionsge
schichtliche Verortung des Eph aus. EinflÜsse der frÜhen (christlichen) Gnosis
kÚnnen zwar nicht ausgeschlossen werden, aber die Parallelen aus dem helleni
stischen Judentum und die Aufnahme paulinischer und deuteropaulinischer
(Kol) Gedanken erklÈren umfassend die Theologie des Eph.
124 Vgl. F. Mußner, Eph, 89 ff. Eph, 113–116. Hingegen vermutet A. Lindemann,
125 Anders K. M. Fischer, Tendenz und Absicht, Eph, 47 ff, der Verfasser des Eph habe in 2, 14–16
176–200, der meint, daß der Eph hier gnostische „auf einen (nichtchristlichen) gnostischen Text
Gedanken positiv aufnehme. zurÜckgegriffen“ (a. a. O., 49).
126 Vgl. F. Mußner, Eph, 75 ff; R. Schnackenburg,
Theologische Grundgedanken 359
Die Christologie des Epheserbriefes ist durch ein rÇumliches Weltbild geprÈgt127.
Gott als SchÚpfer des Alls und Jesus Christus thronen Über allem im himmli
schen Bereich, in einem Zwischenraum herrschen onen, Engel und dÈmoni
sche MÈchte und im unteren Bereich befindet sich die Menschen und Toten
welt. Zugleich erfÜllt Jesus Christus die gesamte Wirklichkeit, was der Eph mit
tà pa´nta (vgl. 1, 10. 11. 23; 3,9; 4, 10. 15) prÈgnant zum Ausdruck bringt.
Im Rahmen dieses Weltbildes entfaltet der Verfasser des Eph seine ErhÚ
hungs und Herrschaftschristologie. Der auferstandene Christus sitzt zur Rechten
Gottes (Eph 1, 20; vgl. 4,8. 10 a); Gott hat ihm, seinem ewigen Ratschluß entspre
chend, alles unter die FÜße gelegt (Eph 1, 10. 22 a), und er erfÜllt das All mit sei
ner LebensfÜlle (Eph 1, 23; 4, 10 b). Christus ist das alles Überragende Haupt der
Kirche (vgl. Eph 1, 22 b; 5, 23), die er in seine kosmische Stellung miteinbezogen
hat. Als sw̃ma Cristou˜ ist die Kirche der von Christus erÚffnete und durchwaltete
Heilsraum (vgl. Eph 1, 22 f; 2, 16; 4, 15 f). Es gibt die Kirche nicht ohne Christus,
ebenso Christus nicht ohne die Kirche. Gott offenbart seine Weisheit den MÈch
ten durch die Kirche (Eph 3, 10), in Eph 3, 21 ist die Kirche sogar Gegenstand ei
ner Doxologie. Allerdings kann die Ekklesiologie des Eph nicht im Sinn einer
‚ecclesia triumphans‘ verstanden werden, es geht dem Verfasser um die ekklesio
logische Relevanz des Evangeliums . Die Kirche ist zwar einerseits schon das, was sie
sein soll, andererseits muß ihr Wesen aber erst noch sichtbar werden. Dies zeigt
sich in der Metapher des Wachstums und konkretisiert sich fÜr den Eph im Ver
hÈltnis von Juden und Heidenchristen. Durch die VersÚhnungstat Christi wurde
das GegenÜber von Juden und Heiden aufgehoben (vgl. Eph 2, 11 13 und 2, 19
22), das Gesetz als Grenze zwischen den beiden Bereichen (vgl. Eph 2, 14. 15)
hat seine trennende Bedeutung verloren128. Christus ist der ErlÚser der Kirche
(vgl. Eph 5, 23), und somit muß die Ekklesiologie im Eph als eine Funktion der
Soteriologie begriffen werden.
Mit der Ekklesiologie verbindet sich der durch die Gestalt des Paulus gefÜllte
Traditionsgedanke. Die Paulus zuteil gewordene Gnade riß die Mauer zwischen
Juden und Heiden nieder (vgl. Eph 3, 3. 6) und ermÚglichte die eine universale
Kirche, deren Dimensionen im Eph bedacht und entfaltet werden. Christus ist
der Eckstein der Kirche, die auf dem Grund der Apostel und Propheten erbaut
wurde (Eph 2, 20). Als Norm fÜr die Bindung an Christus erscheint somit das
durch Paulus verbÜrgte Apostolische.
127 Vgl. die Skizze bei A. Lindemann, Eph, 122. heit besteht in der Kirche, die durch das Wirken
128 Vgl. G. Sellin, Adresse und Intention, 186: des Paulus die Mauer zwischen Juden und Hei-
„Hauptthema des Eph ist die Eins-heit. Diese Ein- den beseitigte.“
360 Der Epheserbrief
Im Eph wurde die Zeitform des Perfekt konsequent auf die Eschata Übertra
gen: So wie Christus den Sieg bereits errungen hat (vgl. Eph 1, 20 23), befindet
sich die erwÈhlte Gemeinde (vgl. Eph 1, 5. 9. 11. 19; 2, 10; 3, 11) schon in einem
gegenwÈrtigen Heilsraum. Die Glaubenden sind in der Taufe aus Gnade gerettet
(Eph 2, 5. 6. 8), auferweckt und eingesetzt in den Himmel (Eph 2, 6). Als Mit
bÜrger der Heiligen und Hausgenossen Gottes (Eph 2, 19) haben sie vollen An
teil an der ErlÚsung durch das Blut Christi (vgl. Eph 1, 7). Die deutlichen Ver
schiebungen gegenÜber der Eschatologie des Paulus ergeben sich durch das Zu
rÜcktreten von Zeit und das Vordringen von Raumkategorien. Die Spannung
zwischen Gegenwart und Zukunft verliert an Bedeutung, nun dominiert der
Gegensatz von oben und unten. Die rÈumlich orientierte Theologie des Kol, die
hymnischen Traditionen (Gebete: Eph 1, 3 23; 3, 14 19; 6, 18 20, Doxologie:
Eph 3, 14 19) und die Erfahrung der Gegenwart des Heils in den Sakramenten
fÜhrten im Eph zu einer Theologie, in der nicht die Zukunft die Gegenwart,
sondern die Gegenwart die Zukunft bestimmt. In der Gegenwart ist bereits voll
stÈndig offenbar, was in der Zukunft sein wird. Die Problematik der Parusiever
zÚgerung stellt sich bei diesem Konzept nicht mehr. Die prÈsentische Eschatolo
gie des Eph hebt aber Zeit und Geschichte nicht generell auf. Der Eph vertritt
keine zeitlose Ontologie der Kirche. So werden die Getauften aufgefordert, den
sie bedrÈngenden MÈchten ‚am bÚsen Tag‘ entgegenzutreten (Eph 6, 13). Das
kommende Gericht motiviert die ParÈnese (Eph 6,8), GÚtzendiener werden das
Reich Gottes nicht ererben (Eph 5, 5), denn der Zorn Gottes kommt Über die
Ungehorsamen (Eph 5, 6). Auch der kommende on steht unter der Herrschaft
Christi (Eph 1, 21 b). Der Eph erinnert die Christen an ihre Hoffnung (Eph
1, 18; 4, 4), und er spricht vom Tag der ErlÚsung (Eph 4, 30), auf den hin sie
versiegelt sind. Die Glaubenden sollen die gegenwÈrtige Zeit auskosten (Eph
5, 16), denn sie ist Endzeit. Wie fÜr Paulus (2 Kor 1, 21, 5, 5; RÚm 8, 23) ist auch
fÜr den Eph der Geist das Unterpfand fÜr die zukÜnftige ErlÚsung (Eph 1, 13 f;
4, 30). Die Kirche als Leib Christi ist einem Wachstums und Reifungsprozeß
unterworfen (vgl. Eph 2, 21 f; 3, 19; 4, 13. 16), der den Blick fÜr die Zukunft mit
einschließt.
Im Eph artikuliert sich ein nachhaltiges ethisches Interesse129, aus dem Kol
Übernimmt der Verfasser grÚßere parÈnetische Abschnitte (vgl. Kol 3, 5 4, 6). An
die ethische Grundlegung in Eph 4, 1 16 schließt sich eine scharfe Kritik des Le
benswandels der Heiden an (vgl. Eph 4, 17 5, 20). Er ist die Folge eines von Gott
losgelÚsten Lebens, die Heiden befinden sich vor Gott in der Situation der Ent
129 Vgl. zuletzt G. Sellin, Die ParÈnese des Ephe- W. Popkes), hg. v. E. Brandt u. a., Leipzig 1996,
serbriefes, in: Gemeinschaft am Evangelium (FS 281–300.
Tendenzen der neueren Forschung 361
fremdung (Eph 4, 18). DemgegenÜber folgen die Christen der Lehre ihres Herrn
(Eph 4, 20 f), in der sie unterwiesen wurden. Diese Lehre Christi stimmt mit der
Interpretation des christlichen Glaubens Überein, wie sie im Eph erscheint.
Weithin anerkannt sind der pseudepigraphische Charakter des Eph und seine li
terarische AbhÈngigkeit vom Kol. Im Zentrum der neueren Forschung steht die
Frage, in welche Situation hinein der Eph geschrieben wurde. Von einer Situati
ons und Geschichtslosigkeit des Eph geht A. Lindemann aus. Die Entgeschichtli
chung des Denkens im Eph will er vor allem an der Eschatologie festmachen,
die, wie die gesamte Theologie des Briefes, gnostisch beeinflußt sei und den Zu
kunftsaspekt fast vÚllig eliminiere. „Zeit und Geschichte sind fÜr den Epheser
brief ‚in Christus‘ das heißt fÜr diese Theologie: in der Kirche aufgehoben.
Von solcher Gegenwart aus hebt jede Zukunft sich auf.“130 DemgegenÜber beto
nen F. Mußner und H. E. Lona, daß im Eph die Zeit keineswegs aufgehoben sei,
vielmehr erscheine hier die Zukunft als ‚Epiphanie der Gegenwart‘131. In eine
ganz konkrete geschichtliche Situation bettet K. M. Fischer den Eph ein. Der Eph
wehre sich gegen die EinfÜhrung einer episkopalen Gemeindeordnung, „fÜr ihn
bleiben nach wie vor die Apostel und Propheten das einzige Fundament der Kir
che.“132 Als Beleg fÜr diese These dient Eph 4, 11, wo nicht zwischen gegenwÈr
tigen mtern (Evangelisten, Hirten und Lehrer) und mtern der Vergangenheit
(Apostel und Propheten) unterschieden werde. „Es gibt also exegetisch nur eine
MÚglichkeit: FÜr Eph. sind die Apostel und Propheten nach wie vor die entschei
denden kirchlichen mter, an denen er nachdrÜcklich festhÈlt.“133 Neben der
Amtsfrage bestimmt den Eph nach der Analyse K. M. Fischers das VerhÈltnis von
Juden und Heidenchristen. Auf dem Hintergrund eines sich verschÈrfenden
heidenchristlichen Antijudaismus tritt der Eph fÜr das gleichberechtigte Erbe der
Judenchristen am Leib Christi ein. „Die These des Eph. ist klar und eindeutig: Is
rael ist Gottes Volk und hat seine Bundesverheißungen; die Heiden haben
nichts. Das ist die Ausgangsposition. Da aber geschieht das unbegreifliche Wun
der, daß Christus den Zaun zwischen Heiden und Juden, das Gesetz mit seinen
Geboten, niederreißt und so den Heiden den Zugang zu Gott in der einen Kirche
130 A. Lindemann, Aufhebung der Zeit, 248. gesprochen.“(a. a. O., 442.). Zudem zeigen Eph
131 Vgl. F. Mußner, Eph, 28–30; H. E. Lona, Escha- 1, 13 f; 4, 30, „daß die Betonung der Gegenwart
tologie (s. o. 5.2.1), 241 ff. Lona spricht von einer des Heils in keinem Gegensatz zur zukÜnftigen
‚ekklesiologischen Eschatologie‘ im Eph. „Von Vollendung steht“ (a. a. O., 427).
Gegenwart und Zukunft des Heils wird nur im 132 K. M. Fischer, Tendenz und Absicht, 33.
Zusammenhang mit der Wirklichkeit der Kirche 133 A. a. O., 38.
362 Der Epheserbrief
erÚffnet (2, 11 ff).“134 Der Eph steht also auch hier im Gegensatz zu den Ten
denzen, die sich in der Kirche Kleinasiens durchsetzten. In einer vÚllig anderen
Frontstellung interpretiert F. Mußner den Eph. Er leitet die Haupt Leib Ekkle
siologie aus der politischen Philosophie der Zeit ab. Geht es in diesen Texten
(z. B. in der Fabel des Menenius Agrippa!) um die ungeteilte Herrschaft des Kai
sers (= Haupt) Über das rÚmische Reich (= Leib), so bietet die Leib Christologie
des Eph einen Gegenentwurf. Der kosmische Herrschaftsanspruch Jesu Christi
steht hier bewußt im Gegensatz zum Kaiserkult. „Es scheint, daß besonders das
kleinasiatische Christentum eine Vorliebe fÜr das HeilsprÈsens besaß, vor allem
im Hinblick auf die Christologie, nÈherhin auf den Christus Pantokrator, ver
mutlich auch in bewußter Frontstellung gegen den Kaiserkult, der besonders in
Kleinasien blÜhte.“135 Auch H. E. Lona sieht eine gesellschaftliche Relevanz der
Leib Christi Vorstellung: „Die universale Dimension der Kirche entspricht der
kosmopolitischen Offenheit der BÜrger des rÚmischen Reiches.“136
Der religionsgeschichtliche Standort des Eph bleibt umstritten. WÈhrend
A. Lindemann, K. M. Fischer und P. Pokorn in sehr unterschiedlicher Form wei
terhin mit gnostischem Einfluß rechnen, wÈchst die Zahl derer, die im Alten Te
stament bzw. im hellenistischen Judentum die Wurzeln der Anschauungen des
Eph erblicken (Mußner, Schnackenburg, Gnilka, Luz).
In den Mittelpunkt des Interesses rÜckte in den letzten Jahren das Paulusbild
des Eph. H. Merklein betont die normative Funktion des Paulus fÜr das Traditi
onsverstÈndnis des Briefes. Die Apostel und Propheten bilden das Fundament
und die Norm des Christlichen, das nun nicht mehr von trÜgerischen Spielen der
Menschen abhÈngig ist (Eph 4, 14). Weil der Apostel der Bote des Geheimnisses
des Evangeliums ist (Eph 6, 20), kann dieses Mysterium sachgemÈß auch nur
von ihm verkÜndigt werden. Der RÜckgriff auf Paulus und der damit verbun
dene pseudepigraphische Charakter des Eph ergibt sich somit notwendigerweise
aus dem im Brief vermittelten Paulusbild. M. Gese zeichnet den durch den Tod
des Apostels notwendig gewordenen Umformierungsprozeß paulinischer Theo
logie nach und bestimmt dessen Intention. „Unter den nachpaulinischen Briefen
bietet der Epheserbrief als einziger eine umfassende und komprimierte Darstel
lung der paulinischen Theologie, fÜr die zugleich der Anspruch zeitloser GÜltig
keit und Verbindlichkeit erhoben wird. Gerade das berechtigt, den Epheserbrief
als das theologische VermÈchtnis der Paulusschule anzusprechen.“137
5.4.1 Literatur
Kommentare
KEK 10: E. v.DobschÜtz, 1909 ( 1974). HNT 11: M. Dibelius, 31937. EKK 14: W. Tril
ling, 1980. NTD 8/2: E. Reinmuth, 1998. ZBK 11. 2: W. Marxsen, 1982. AncB 32B:
A. J. Malherbe, 2000. WBC 45: F. F. Bruce, 1982. NCeB: I. H. Marshall, London 1983.
NIGTC: C. A. Wanamaker, 1990.
Monographien
W. Wrede, Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefes, Leipzig 1903. W. Trilling, Un
tersuchungen zum zweiten Thessalonicherbrief, EThSt 27, Leipzig 1972. R. Jewett, The
Thessalonian Correspondence (s. o. 2.4.1). G. S. Holland, The Tradition that you have re
ceived from us: 2 Thessalonians in the Pauline Tradition, HUTh 24, TÜbingen 1988.
F. W. Hughes, Early Christian Rhetoric and 2 Thessalonians, JSNT.S 30, Sheffield 1989.
K. P. Donfried, The theology of 2 Thessalonians, in: The theology of the shorter Pauline let
ters (s. o. 2.4.1), 81 113.
AufsÇtze
H. Braun, Zur nachpaulinischen Herkunft des zweiten Thessalonicherbriefes, in: ders., Ge
sammelte Studien zum NT und seiner Umwelt, TÜbingen 1962, 205 209. A. Lindemann,
Zum Abfassungszweck des zweiten Thessalonicherbriefes, ZNW 68 (1977), 35 47.
R. F. Collins (Hg.), The Thessalonian Correspondence, BETL 87, Leuven 1990, 373 515
(wichtige AufsÈtze zum 2 Thess!). W. Trilling, Literarische Paulusimitation im 2.Thessalo
nicherbrief, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den ntl. SpÈtschriften (s. o. 5), 146 156.
J. A. Bailey, Who wrote II Thessalonians?, NTS 25 (1978/79), 131 145.
Forschungsbericht
W. Trilling, Die beiden Briefe des Apostels Paulus an die Thessalonicher, ANRW 25. 4, Ber
lin 1987, 3365 3403.
5.4.2 Verfasser
139 Vgl. F.Chr. Baur, Paulus, der Apostel Jesu 140 Vgl. dazu P. MÜller, AnfÈnge der Paulusschule
Christi II (s. o. 5.2.2.), 94. 341 ff. (s. o. 5), 20–67.
Verfasser 365
141 Vgl. W. Trilling, Untersuchungen, 46–66. tres aux Thessaloniciens, EtB, Paris – Gembloux
142 Vgl. a. a. O., 49. 1956, 112–152; W. G. KÜmmel, Einleitung, 231 f
143 Vgl. a. a. O., 62. (vgl. aber 5.5.2 A 16!); F. F. Bruce, 1. 2 Thessalo-
144 A. a. O., 66. nians, XXXIIf.141 f: Verfasser sind Paulus, Silva-
145 Vgl. A. JÜlicher – E. Fascher, Einleitung, 67; nus und Timotheus, wobei der Inhalt als Ganzes
H. Braun, Zur nachpaulinischen Herkunft des von Paulus gutgeheißen wird; P. Stuhlmacher, Bi-
zweiten Thessalonicherbriefes, 205–209; W. Tril- blische Theologie des Neuen Testaments II, GÚt-
ling, 2 Thess, 27 f; E. Lohse, Entstehung, 53 f; tingen 1999, 59; K. W. Niebuhr, Die Thessaloni-
W. Marxsen, 2 Thess, 9 ff; Ph. Vielhauer, Urchrist- cherbriefe, in: ders. (Hg.), Grundinformation
liche Literatur, 99; H. KÚster, EinfÜhrung, 679; Neues Testament, GÚttingen 2000, 275;
A. Lindemann, Paulus im Èltesten Christentum A. J. Malherbe, 2Thess, 375 („Paul’ s second letter
(s. o. 5), 130 ff; G. S. Holland, 2 Thessalonians in to the Thessalonians was written from Corinth,
the Pauline Tradition, 129; F. W. Hughes, Early probably early in A. D. 51, a very few months after
Christian Rhetoric, 95; P. MÜller, AnfÈnge der his first letter“).
Paulusschule (s. o. 5), 5–13. E. Reinmuth, 2 Thess, 147 R. Jewett, Thessalonian Correspondence, 17.
159–161. 148 W. Trilling, 2 Thess, 27, meint, der Verfasser
146 Vgl. E. v.DobschÜtz, Thessalonicherbriefe, 32– habe der paulinischen Schule nicht angehÚrt.
47; M. Dibelius, 2 Thess, 40 f; B. Rigaux, Les pÒ-
366 Der zweite Thessalonicherbrief
Die Èußere Bezeugung des 2 Thess (Markion, Polykarp, Phil 11, 3 f[?]149) ermÚg
licht keine exakte Datierung. Von den inneren Kriterien weist die Problematik
der ParusieverzÚgerung auf das Ende des 1. Jhs. n. Chr. hin, eine vergleichbare
Thematik findet sich in 2 Petr 3, 1 13150. Eine FrÜhdatierung des 2 Thess unter
der Voraussetzung seines pseudepigraphischen Charakters vertritt O. Merk151.
Danach wurde der Brief als Aktualisierung des 1 Thess noch zu Lebzeiten des
Apostels Paulus oder sehr bald nach seinem Tod geschrieben.
Die Vertreter der Echtheit des 2 Thess datieren den Brief zumeist in unmittel
barer NÈhe zum 1Thess. So vermutet W. G. KÜmmel, Paulus habe den 2 Thess
„wenige Wochen nach 1 Thess geschrieben, als 1 noch in frischer Erinnerung bei
ihm war.“152 Als Abfassungsjahr ergibt sich dann 50/51 n. Chr., als Abfassungs
ort Korinth153. Allerdings ist unter dieser Voraussetzung kaum zu erklÈren, war
um Paulus in der Schilderung der Endereignisse in 2 Thess so stark von 1 Thess
4, 13 18 abweicht und auf die Problematik der vor der Parusie Verstorbenen
nicht eingeht. Die Bestreiter der Echtheit des 2 Thess kÚnnen naturgemÈß den
Abfassungsort nicht prÈzis benennen, zumeist werden Kleinasien oder Makedo
nien als Abfassungsorte genannt.
5.4.4 Empfänger
149 Nach A. Lindemann, Abfassungszweck, 42; 151 Vgl. E. WÜrthwein – O. Merk, Verantwortung,
W. Trilling, 2 Thess, 27 f, findet sich wahrschein- Stuttgart 1982, 153.
lich kein Zitat aus dem 2 Thess bei Polykarp. 152 W. G. KÜmmel, Einleitung, 231 f; Èhnlich
150 In die Zeit des ausgehenden 1. Jhs. datieren F. F. Bruce, 1. 2 Thessalonians, XXXV.
den 2 Thess z. B. W. Trilling, 2 Thess, 28; W. Marx- 153 FÜr Korinth votiert auch F. F. Bruce, a. a. O.,
sen, Einleitung, 55; J. A. Bailey, Who wrote II XXXV.
Thessalonians?, 143; A. Lindemann, Paulus im Èl- 154 Vgl. W. Trilling, 2 Thess, 27.
testen Christentum (s. o. 5), 133.
Gliederung, Aufbau, Form 367
gie beriefen sich auf vom Geist gewirkte Einsichten, auf ein Wort des Apostels
und auf einen (angeblichen oder wirklichen) Paulusbrief (vgl. 2 Thess 2, 2. 15).
Die Behauptung des ‚schon jetzt‘ der Endereignisse und die Wirklichkeit der
christlichen Gemeinde in einer sich dehnenden Zeit lassen sich aber nicht wider
spruchslos vereinen, ohne die Gegenwart in eschatologischer SchwÈrmerei zu
Überspringen. FÜr den Briefschreiber dauert der alte on noch an. Der Tag der
Wiederkunft des Herrn ist noch nicht da, er kann noch gar nicht angebrochen
sein, denn noch herrscht im alten on der Widersacher Gottes. Die VerzÚge
rungsproblematik soll durch einen eschatologischen Entwurf entschÈrft werden,
der den Charakter der Gegenwart als noch andauernder Wirkzeit des Antichri
sten und die Zukunft als Zeitpunkt des endgÜltigen Offenbarwerdens der Herr
schaft Christi bestimmt.
In 2 Thess 3, 6 12 erwÈhnt der Verfasser Gemeindeglieder, die unordentlich
wandeln, nicht arbeiten und unnÜtze Dinge tun. Die Allgemeinheit der Aussage
und die Parallelen in 1 Thess 5, 13. 14/2 Thess 3, 6. 10 lassen vermuten, daß hier
nicht (durch die Parole 2 Thess 2, 2 ausgelÚste) MißstÈnde im Hintergrund ste
hen.
1, 1 2 PrÈskript Briefanfang
1, 3 12 Danksagung
3, 16 Friedensgruß Briefschluß
3, 17. 18 Eschatokoll
Der 2 Thess zeigt einen einfachen Aufbau: Auf den Briefanfang folgen im Haupt
teil drei Themenkomplexe, von denen allein 2 Thess 2, 1 12 keine Parallele im
1 Thess hat155. Ein an Paulus angelehnter Briefschluß beendet das Schreiben.
155 Vgl. dazu M. J.J. Menken, The Structure of salonian Correspondence, 373–382. Menken glie-
2 Thessalonians, in: R. F. Collins (Hg.), The Thes- dert den 2 Thess in 3 etwa gleich große Teile (ab-
368 Der zweite Thessalonicherbrief
Der 1 Thess diente dem 2 Thess als Vorlage . Dies ergibt sich sowohl aus den Paral
lelen im Aufbau beider Briefe als auch aus den vielfachen WortlautÜbereinstim
mungen158.
a) ¾bereinstimmungen im Aufbau
PrÇskript
1 Thess 1, 1 2 Thess 1, 1 2
Erste Danksagung
1 Thess 1, 2 f 2 Thess 1, 3
1 Thess 1, 6 f 2 Thess 1, 4
1 Thess 1. 2. 3. 4 (Teile!) 2 Thess 1, 11
Zweite Danksagung
1 Thess 2, 13 2 Thess 2, 13
gesehen von Briefanfang und Briefschluß): 1, 3– 157 Zu den Thesen von W. Schmithals s. o. 2.4.6.
12; 2, 1–17; 3, 1–16. FÜr ihn signalisiert tò loipón 158 Vgl. die Àbersichten bei W. Wrede, Echtheit,
in 2 Thess 3, 1 den Beginn der abschließenden 3–36; W. Marxsen, 2 Thess, 15–41; R. Reuter, Syn-
ParÈnese. opse zu den Briefen des Neuen Testaments I (s. o.
156 Vgl. hierzu F. Schnider – W. Stenger (s. o. 5.2.2), 652–739.
2.3.2), 46 f.
Traditionen, Quellen 369
Briefschluß
1 Thess 5, 23 2 Thess 3, 16
1 Thess 5, 28 2 Thess 3, 18
b) ¾bereinstimmungen im Wortlaut
Briefanfang
1 Thess 1, 1 2 Thess 1, 1. 2
Pau˜loß kai` Silouanòß kai` Pau˜loß kai` Silouanòß kai`
TimóXeoß tU˜ ekklvsı´a Hessa TimóXeoß tU˜ ekklvsı´a Hessa
lonike´wn en Xew˜ patri` kai` lonike´wn en Xew˜ patri` . . . kai`
kurı´w LIvsou˜ Cristw˜, cáriß kurı´w LIvsou˜ Cristw˜, cáriß
umı˜n kai` eirv´nv. umı˜n kai` eirv´nv . . .
Briefschluß
1 Thess 5, 23 2 Thess 3, 16
Auto`ß de` o Xeo`ß tv˜ß Auto`ß de` o ku´rioß tv˜ß
eirv´nvß eirv´nvß
1 Thess 5, 28 2 Thess 3, 18
v cáriß tou˜ kurı´ou vmw̃n v cáriß tou˜ kurı´ou vmw̃n
LIvsou˜ Cristou˜ meXL umw̃n LIvsou˜ Cristou˜ metà pántwn
umw̃n
370 Der zweite Thessalonicherbrief
Der Verfasser des 2 Thess verwendet den 1 Thess in zweifacher Weise als literari
sche Vorlage: Im Makrobereich strukturiert er sein Schreiben nach dem Vorbild
des ersten Briefes. Neben diese fast durchgÈngige AbhÈngigkeit tritt die selektive
Aufnahme einzelner Motive. So formuliert der Briefschreiber in 2 Thess 1, 5 10
abweichend vom 1 Thess einen Abschnitt Über das Gericht bei der Parusie, um
dann in 1, 11 wieder Motive aus 1 Thess 1, 2 4 aufzunehmen. Auch 2 Thess 2, 1
12 hat im ersten Brief keine Entsprechung, in 2 Thess 2, 13 lehnt sich der Verfas
ser dann aber wieder durch Aufnahme von 1 Thess 2, 13 an seine Vorlage an. Al
lein die These der literarischen AbhÈngigkeit des 2 Thess vom 1 Thess kann diese
Àbereinstimmungen ausreichend erklÈren.
159 Vgl. W. Schmithals, Die historische Situation 161 Vgl. W. Trilling, 2 Thess, 76 f; W. Marxsen,
der Thessalonicherbriefe (s. o. 2.4.6), 146 ff. 2 Thess, 80.
160 Zur Auseinandersetzung mit den Thesen von
W. Schmithals vgl. W. Trilling, Untersuchungen,
125 ff.
Theologische Grundgedanken 371
glaubte Tag des Herrn nach dem Tod des Apostels bereits da. Die Propheten be
griffen ihre eschatologische Konzeption als eine konsequente Fortschreibung
paulinischer Gedanken, zugleich hoben sie aber die fÜr Paulus grundlegende
Spannung zwischen dem ‚schon jetzt‘ und ‚noch nicht‘ auf. Deshalb bekÈmpft
der Verfasser des 2 Thess diese Lehre durchaus im Sinn des Apostels, auch wenn
er dabei unpaulinische Vorstellungen aufgreift.
In 2 Thess 2, 6. 7 spricht der Briefschreiber von einer Macht, die das Offenbar
werden des Antichristen zurÜckhÈlt. Dem Katechon kommt die Funktion zu, das
Erscheinen des Wider Gottes bis zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzuhalten.
Der 2 Thess greift hier auf eine Tradition zurÜck, deren Ausgangspunkt wahr
scheinlich Hab 2, 3 bildet162: „Denn erst zu der bestimmten Zeit tritt ein, was du
siehst; aber es drÈngt zum Ende und ist keine TÈuschung; wenn es sich verzÚgert,
so warte darauf; denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus.“ Mit dem apo
kalyptischen Motiv des Katechon betont der Briefschreiber, daß Gott das ange
sagte Ende herbeifÜhren werde, auch wenn es sich verzÚgert. Die endzeitlichen
Ereignisse unterstehen dem Willen Gottes und vollziehen sich nach seinem Plan.
Die aufhaltende Macht muß weder personal noch weltgeschichtlich (RÚmisches
Reich) gedeutet werden163, sondern letztlich ist es Gott selbst, der das Auftreten
des Antichristen bis zu dem festgesetzten Zeitpunkt verhindert. Zwar ist eine di
rekte Gleichsetzung des kate´cwn mit Gott nicht mÚglich (vgl. 2 Thess 2, 7 b), sie
erscheint aber als logische Konsequenz der Argumentation. Die ParusieverzÚge
rung entspricht dem Willen Gottes, sie selbst ist die aufhaltende Macht164.
162 Vgl. hier A. Strobel, Untersuchungen zum 163 Vgl. zu den Einzelfragen und zur Auslegungs-
eschatologischen VerzÚgerungsproblem, NT.S 2, geschichte W. Trilling, 2 Thess, 94–105.
Leiden 1961, 98–116. 164 Vgl. a. a. O., 92.
372 Der zweite Thessalonicherbrief
mittelbar bevorstehen. Zugleich weiß aber die Gemeinde, daß der BÚse schon in
der Gegenwart wirkt und allein Gott das offenkundige Hervortreten des BÚsen
noch zurÜckhÈlt. Die Wirksamkeit des BÚsen qualifiziert zugleich die Gegenwart
als Entscheidungszeit fÜr die Zukunft. Deshalb ist mit der Parusie Christi das Ge
richt verbunden (vgl. 2 Thess 2, 10 b 12; 1, 3 12). WÈhrend die UnglÈubigen ge
richtet werden, darf sich die Gemeinde in ihrer gegenwÈrtigen Not mit dem zu
kÜnftigen Heil trÚsten (2 Thess 1, 10 12).
Die ParÈnese im 2 Thess orientiert sich formal am ersten Brief und ist inhalt
lich durch den umfassenden RÜckbezug auf den Apostel Paulus geprÈgt. Als ethi
sche Norm dient die vom Apostel der Gemeinde vermittelte Lehre (vgl. 2 Thess
2, 15; 3, 6. 14). Zudem erscheint Paulus als Vorbild, dem die Gemeinde nachfol
gen soll (2 Thess 3, 7 9). Der Apostel ermahnt die Gemeinde (paragge´llein in
2 Thess 3, 4. 6. 10. 12), der ErwÈhlung Gottes entsprechend in Heiligung zu leben
(2 Thess 2, 13). Sie soll sich weitgehend von den Unordentlichen trennen, um sie
so zur Einsicht und Umkehr zu bewegen (vgl. 2 Thess 3, 6 12).
Auf der Person des Apostels Paulus basiert die gesamte Argumentation des
2 Thess. Die Berufung der Gemeinde ist mit dem paulinischen Evangelium un
aufgebbar verbunden (2 Thess 2, 14). Die Gemeinde widersteht den Irrlehrern,
indem sie an der Lehre des Apostels festhÈlt (2 Thess 2, 5. 6; vgl. 1, 10 b) und
wie er den bÚsen Menschen keinen Raum gibt (vgl. 2 Thess 3, 6). Neben dem
autoritativen Wort soll auch die LebensfÜhrung des Apostels (vgl. 2 Thess 3,8)
der Gemeinde helfen, sich in den Wirrungen der Gegenwart zu orientieren und
an der apostolischen VerkÜndigung festzuhalten.
Die Orientierung an Paulus kann allerdings nicht darÜber hinwegtÈuschen,
daß der 2 Thess im Gegensatz zum Kol und Eph die paulinische Theologie nicht
produktiv in einer verÈnderten Situation weiterentwickelt165. Jeder Anklang an
die Rechtfertigungslehre fehlt, und es herrscht eine formelhafte (vgl. 2 Thess
1, 3. 4. 11; 3, 2) bis neutrale Verwendung des pı´stiß Begriffes vor (vgl. 2 Thess
2, 11 f). Offenkundig verfolgt der Brief nur das Ziel, eine Fehlinterpretation der
Eschatologie des 1 Thess zu korrigieren.
mittelbar nach dem Tod des Paulus (O. Merk) als auch fÜr einen Abstand von
mehreren Jahrzehnten zum 1 Thess lassen sich Argumente anfÜhren. In das
Zentrum der Forschung rÜckte die Frage nach der eigentlichen Intention des
2 Thess. Wollte er nur eine falsche Auslegung von 1 Thess 4, 13 5, 11 zurÜck
drÈngen oder aber den ersten Brief verdrÈngen? Im Anschluß an A. Hilgenfeld166
und H. J. Holtzmann167 behauptet A. Lindemann, der 2 Thess sei als Widerlegung
bzw. RÜcknahme des 1 Thess konzipiert. Insbesondere die Wendung wß diL vmw̃n
in 2 Thess 2, 2 und das Echtheitszeichen in 2 Thess 3, 17 weisen nach Lindemann
darauf hin, daß der 2 Thess den ersten Brief als eine FÈlschung ausgeben will.
„,Paulus‘ erklÈrt in ‚seinem‘ Thess (nicht im ‚zweiten‘ Thess), eine bestimmte
ihm zugeschobene eschatologische Lehre sei von ihm mitnichten vertreten wor
den; vielmehr stÜtzten sich diejenigen, die die Gemeinde ‚durch Geist und Wort‘
verwirren, auf einen gefÈlschten Brief. Die richtige eschatologische parádosiß le
ge er nun in diesem Brief ‚an die Thessalonicher‘ nieder.“168 Nach dieser auch
von W. Marxsen169 und F. Laub170 Übernommenen These mÜßte der 2 Thess als
eine GegenfÈlschung verstanden werden. Mit den Mitteln der Pseudepigraphie
hÈtte der Verfasser versucht, den angeblich ‚ersten‘ Thess durch sein Schreiben
zu verdrÈngen.
Allerdings stehen dieser These gewichtige Argumente gegenÜber: Sollte es
mÚglich gewesen sein, den 1 Thess ca. 40 Jahre nach seiner Abfassung als FÈl
schung zu bezeichnen? Die starke Anlehnung an den 1 Thess lÈßt darauf schlie
ßen, daß der Verfasser des 2 Thess von der Echtheit des ihm vorliegenden ersten
Briefes Überzeugt war. Er hÈtte dann wider besseren Wissens den 1 Thess als FÈl
schung ausgegeben. Ein Vorgehen, das einem ntl. Autor nicht unterstellt werden
sollte! Die im gesamten 2 Thess in Anspruch genommene AutoritÈt des Apostels
dient nicht dazu, Paulus durch ‚Paulus‘ zu korrigieren, sondern eine falsche In
terpretation der eschatologischen Aussagen des 1 Thess abzuwehren171. Auch
der Apostel selbst hÈtte die eschatologische Parole der Gegner nicht geteilt, so
daß der 2 Thess unter seinen Bedingungen Paulus zu Recht in Anspruch nimmt,
ohne aber genuin paulinische Eschatologie wiederzugeben.
166 Vgl. A. Hilgenfeld, Die beiden Briefe an die 171 Vgl. E. Reinmuth, 2 Thess, 162 f, der 2 Thess
Thessalonicher, ZWTh 5 (1862), 225–264. 2, 2 b mit „noch durch einen Brief, wie der von
167 Vgl. H. J. Holtzmann, Zum zweiten Thessaloni- uns geschrieben wurde“ Übersetzt und konsta-
cherbrief, ZNW 2 (1901), 97–108. tiert: „Der Autor hÈtte mit dem Versuch, die eige-
168 A. Lindemann, Abfassungszweck, 39. ne FÈlschung an die Stelle des bekannten 1. Thess
169 Vgl. W. Marxsen, 2 Thess, 33 ff. zu setzen, kaum erfolgreich sein kÚnnen.“
170 Vgl. F. Laub, Paulinische AutoritÈt in nach-
paulinischer Zeit, in: R. F. Collins (Hg.), The Thes-
salonian Correspondence, 403–417.
374 Die Pastoralbriefe
Die Bezeichnung ‚Pastoralbriefe‘ fÜr den 1 Tim, 2 Tim und Tit wurde wahrschein
lich im 18. Jh. von dem Hallenser Exegeten P. Anton geprÈgt172, der damit die
Intention aller drei Briefe zutreffend wiedergab: ihr BemÜhen um die BegrÜn
dung und Ausgestaltung des kirchlichen Hirtenamtes. FÜr den 2 Tim trifft dies
zwar nur eingeschrÈnkt zu, dennoch werden die Briefe in neuerer Zeit immer
als Einheit angesehen. Alle drei Briefe richten sich an Einzelpersonen, zugleich
sind sie aber keine Privatbriefe, sondern Schreiben mit autoritativem Anspruch.
Die Anweisungen fÜr die rechte AusÜbung des Hirtenamtes haben einen allge
meingÜltigen Charakter. Zudem stimmen die Past in der vorausgesetzten Ge
meindesituation und in ihrer theologischen Begriffswelt weitgehend Überein.
Das verbindende Element ist die durchgehende Aufforderung zur Abgrenzung
und Abkehr von den Irrlehrern, dem positiv der RÜckbezug auf die Person des
Apostels Paulus und die durch ihn verbÜrgte Tradition entspricht. Der Bedro
hung der paulinischen IdentitÈt der angeschriebenen Gemeinden begegnet der
Verfasser der Past mit der Vorstellung einer personalen und sachlichen Kontinui
tÈt, die sich am Vorbild des Paulus orientiert und in den Weisungen konkrete
Gestalt gewinnt.
5.5.1 Literatur
Kommentare
HNT 13: M. Dibelius ( H. Conzelmann) 41966. HThK XI/2.1 3: L. Oberlinner, 1994.
1995. 1996. EKK XV (1 Tim): J. Roloff, 1988; XVI/1 (2 Tim): A. Weiser, 2003. ThHK 13:
G. Holtz, 51992. NTD 9/1: H. Merkel, 1991. RNT VII/2: N. Brox, 51989. ZBK 12: V. Has
ler, 1978. ICC: I. H. Marshall, 1999. AncB 35A (1.2 Tim): L. T. Johnson, 2001. WBC 46:
W. D. Mounce, 2000.
Monographien
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derten, BHTh 14, TÜbingen 21963. P. Trummer, Die Paulustradition der Pastoralbriefe,
BET 8, Frankfurt 1978. H. v.Lips, Glaube Gemeinde Amt. Zum VerstÈndnis der Ordi
nation in den Pastoralbriefen, FRLANT 122, GÚttingen 1979. L. R. Donelson, Pseudepigra
phy and Ethical Argument in the Pastoral Epistles, HUNT 22, TÜbingen 1986. M. Wolter,
Die Pastoralbriefe als Paulustradition, FRLANT 146, GÚttingen 1988. E. Schlarb, Die ge
sunde Lehre. HÈresie und Wahrheit im Spiegel der Pastoralbriefe, MThSt 28, Marburg
172 Vgl. P. Anton, Exegetische Abhandlung der fen“ zum „Corpus Pastorale“, in: Reformation
Paulinischen Pastoral-Briefe, Halle I 1753. II und Neuzeit, hg. v. U. Schnelle, Berlin 1994, 49–
1755; vgl. dazu H. v. Lips, Von den „Pastoralbrie- 71.
Verfasser 375
1990. Karoline LÈger, Die Christologie der Pastoralbriefe, MÜnster 1996. Hanna Stettler,
Die Christologie der Pastoralbriefe, WUNT 2.105, TÜbingen 1998. G. HÈfner, NÜtzlich zur
Belehrung (2 Tim 3, 16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Pau
lusrezeption, HBS 25, Freiburg 2000.
AufsÇtze
H. Hegermann, Der geschichtliche Ort der Pastoralbriefe, TheolVers II, Berlin 1970, 47 64.
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Neues Testament, hg. v. K. W. TrÚger, Berlin 1973, 325 339. W. Stenger, Timotheus und
Titus als literarische Gestalten, Kairos 16 (1974), 252 267. O. Merk, Glaube und Tat in
den Pastoralbriefen, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese (s. o. 1.1), 260 271.
J. Roloff, Art. Amt/mter/AmtsverstÈndnis, TRE 2 (1978), 509 533. L. Oberlinner, Die
„Epiphaneia“ des Heilswillens Gottes in Christus Jesus. Zur Grundstruktur der Christologie
der Pastoralbriefe, ZNW 71 (1980), 192 213. G. Lohfink, Paulinische Theologie in den Pa
storalbriefen, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den ntl. SpÈtschriften (s. o. 5), 70 121.
P. Trummer, Corpus Paulinum Corpus Pastorale, in: K. Kertelge (Hg.), Paulus in den ntl.
SpÈtschriften, a. a. O., 122 145. G. Kretschmar, Der paulinische Glaube in den Pastoral
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BThSt 7, Neukirchen 1982, 113 140. J. Roloff, Pfeiler und Fundament der Wahrheit. Er
wÈgungen zum KirchenverstÈndnis der Pastoralbriefe, in: Glaube und Eschatologie (FS
W. G. KÜmmel), hg. v. E. GrÈßer und O. Merk, TÜbingen 1985, 229 247. J. Zmijewski, Die
Pastoralbriefe als pseudepigraphische Schriften, in: ders., Das Neue Testament. Quelle
christlicher Theologie und Glaubenspraxis, Stuttgart 1986, 197 219. M. Reiser, BÜrgerli
ches Christentum in den Pastoralbriefen?, Bib 74 (1993), 27 44.
5.5.2 Verfasser
173 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Ueber den soge- „Je genauer und unbefangener diese Briefe kri-
nannten ersten Brief des Paulos an den Timo- tisch und exegetisch untersucht werden, desto
theos, Berlin 1807. weniger wird man Über ihren spÈteren Ursprung
174 Vgl. J. G. Eichhorn, Einleitung in das NT III/1, noch lÈnger im Zweifel sein kÚnnen.“
Leipzig 1812, 315–328. 176 Vgl. H. J. Holtzmann, Die Pastoralbriefe, kri-
175 Vgl. F.Chr. Baur, Paulus II (s. o. 5.2.2), 108: tisch und exegetisch behandelt, Leipzig 1880.
376 Die Pastoralbriefe
kommen, und Tit 1, 5, wo er den Auftrag erhÈlt, durch die StÈdte Kretas zu zie
hen und lteste einzusetzen.
2) In den Past spiegeln sich die Probleme der dritten urchristlichen Generation
wider. So ist die kirchliche Verfassung weiter fortgeschritten als bei Paulus. Nicht
mehr die Hausgemeinde, sondern die nach dem Modell des antiken Hauses ge
gliederte Ortsgemeinde (vgl. 1 Tim 3, 15; 2 Tim 2, 20 f; Tit 1, 7) bildet die vorherr
schende Organisationsstruktur. Episkopen, Presbyter und Diakone werden
durch Handauflegung anderer kirchlicher AutoritÈten auf Dauer in ihr Amt ein
gefÜhrt, und sie haben das Recht auf Unterhalt (vgl. 1 Tim 1, 18; 3, 1 7. 8 13;
4, 14; 5, 17 22; 2 Tim 1, 6; 2, 1 f; Titus 1, 5 9). Die charismatisch funktionale Ge
meindestruktur des Paulus (vgl. 1 Kor 12, 4 11. 28 f; RÚm 12, 3 8) wurde durch
ein System von AmtstrÈgern ersetzt. Als FÜhrungspersÚnlichkeiten gilt ihnen
das Úffentliche Interesse, und sie mÜssen sich entsprechend verhalten (vgl. 1 Tim
3, 7. 10; 5,8. 14; 6, 11 ff; Tit 2, 5. 8). Von grundlegender Bedeutung ist die apostoli
sche Glaubenstradition, die als ‚gesunde Lehre‘ erscheint (vgl. 1 Tim 1, 10). Zu
ihr bekennen sich die AmtstrÈger bei ihrer EinfÜhrung vor Zeugen (vgl. 1 Tim
6, 12 f; ferner 4, 6). Die Auseinandersetzung mit dem Judentum hat keine Be
deutung mehr, im Mittelpunkt der Àberlegungen steht die Stellung der christli
chen Gemeinde in einer nichtchristlich heidnischen Umwelt. Als Maxime gilt
hier: Die Christen sollen die Obrigkeit respektieren und in FrÚmmigkeit und
Rechtschaffenheit unauffÈllig leben (vgl. 1 Tim 2, 2).
3) In den Past finden sich zahlreiche sprachliche EigentÜmlichkeiten178. Auf
fallend ist die große Zahl der Hapaxlegomena: 66 im 1 Tim, 60 im 2 Tim und 32
im Tit179. Auch beim Sonderwortschatz (im Hinblick auf die anderen Paulusbrie
fe) nehmen die Pastoralbriefe eine Sonderstellung ein. „Die Pastoralbriefe . . .
mÜßten mit ihrem zusammengefaßten Wortbestand von 3484 Worten norma
lerweise eine Sondergutwortzahl aufweisen, die ungefÈhr in der Mitte zwischen
denjenigen fÜr den 2. Korintherbrief und den Galaterbrief liegt, also um 130 her
um. Faktisch weisen sie aber 335 Sondergutvokabeln auf, gut 50 mehr als der
doppelt so lange RÚmerbrief! Das ist nun freilich eine Zahl, die sehr krÈftig fÜr
die Unechtheit der Pastoralbriefe spricht.“180 Charakteristische Begriffe fÜr die
Theologie der Past sind: agápv, aºgnoß, aiẃn, alv´Xeia, didaskalı´a, didáskein, di
kaiosu´nv, dóxa, eirv´nv, epı´gnwsiß , epifáneia, euse´beia, kaXaróß, kakóß, kalóß, ló
goß, manXánein, mu˜Xoß, pı´stiß, pneu˜ma, suneı´dvsiß, sw´zein, swtv´r, ugiaı´nein.
4) Die Past weisen erhebliche Differenzen zur Theologie der Protopaulinen
178 Vgl. dazu die grundlegende und bis heute 180 R. Morgenthaler, Statistik des neutestamentli-
wertvolle Untersuchung von H. J. Holtzmann, Pa- chen Wortschatzes, ZÜrich 31982, 38.
storalbriefe, 84–118.
179 ZÈhlung nach K. Aland (Hg.), VollstÈndige
Konkordanz (s. o. 5.2.2), 456 f.
378 Die Pastoralbriefe
auf. Es fehlen Begriffe wie ‚Gerechtigkeit Gottes‘, ‚Freiheit‘, ‚Kreuz‘, ‚Sohn Got
tes‘ oder ‚Leib Christi‘. Ein Reflex der spezifisch paulinischen Rechtfertigungs
lehre findet sich nur in Tit 3, 4 7, die Antithese ‚Fleisch Geist‘ erscheint nicht.
Zudem lassen sich inhaltliche Verschiebungen feststellen. WÈhrend bei Paulus
der Glaube als die Aneignungsform des Heils erscheint, dominiert im 1 Tim der
Glaubensinhalt als LehrverkÜndigung181. Zum Zentralbegriff wird didaskalı´a,
das bei 21 Belegen im Neuen Testament allein 15mal in den Past erscheint. Der
Glaube tritt als rechter Glaube im Gegensatz zur Irrlehre hervor (vgl. 1 Tim 1, 19;
4, 1. 6; 6, 21; 2 Tim 2, 18; 3,8) und prÈgt als Haltung die christliche Existenz. Die
‚Kirchlichkeit‘ des Glaubensbegriffes der Past zeigt sich schließlich in dem Motiv
der Erziehung zum Glauben. Timotheus wird an den ungeheuchelten Glauben
seiner Mutter und Großmutter erinnert (vgl. 2 Tim 1, 5). Sogar von den Vorfah
ren des Paulus heißt es, daß sie, wie der Apostel selbst, Gott mit reinem Gewis
sen dienten (vgl. 2 Tim 1, 3). Der Glaube kann mit anderen Tugenden wie ‚gutes
Gewissen‘ (1 Tim 1, 5. 19; 3,9), ‚Besonnenheit, Liebe und Heiligung‘ (1 Tim
2, 15), ‚Reinheit‘ (1 Tim 4, 12), ‚Gerechtigkeit, FrÚmmigkeit, Geduld, Sanftmut‘
(1 Tim 6, 11) in einer Reihe genannt werden (vgl. ferner 2 Tim 1, 13; 2, 22; 3, 10 f;
Tit 2, 2). Die Parusie Christi wird in den Past zur Epiphanie, sie tritt zur vorherbe
stimmten Zeit ein (vgl. 1 Tim 6, 14; 2 Tim 4, 1. 8; Tit 2, 13) und rÜckt damit zu
gleich in eine unbestimmte Ferne. Das Frauenbild der Past ist im Gegensatz zu
den Paulusbriefen nicht vom Modell der selbstverstÈndlichen Mitarbeit und Teil
habe, sondern vom Aufruf zur Unterordnung geprÈgt (vgl. 1 Tim 2,9 15; 5, 14).
Die Überwiegende Mehrzahl der Exegeten sieht in den Past pseudepigraphi
sche Schreiben, so z. B. M. Dibelius ( H. Conzelmann), A. JÜlicher E. Fascher,
W. G. KÜmmel, N. Brox, Ph. Vielhauer, J. Roloff, H. Merkel, L. Oberlinner;
I. H. Marshall182. Ihre Echtheit dagegen verteidigen z. B. Th. Zahn, A. Schlatter,
W. Michaelis, B. Reicke183 und J. van Bruggen184. Unter den aktuellen Kommen
taren treten W. D. Mounce und L. T. Johnson fÜr eine paulinische Verfasserschaft
ein185.
181 Vgl. dazu G. Kretschmar, Glaube, 113 ff. 184 Vgl. Th. Zahn, Einleitung I (s. o. 2.9.3), 459–
182 Vgl. M. Dibelius, Past, 1–4; A. JÜlicher – E. Fa- 492; A. Schlatter, Der Glaube im Neuen Testa-
scher, Einleitung, 165 ff; W. G. KÜmmel, Einlei- ment, Stuttgart 41927, 405 ff; W. Michaelis, Ein-
tung, 326 ff; N. Brox, Past, 22 ff; Ph. Vielhauer, Ur- leitung in das Neue Testament, Bern 31961, 238–
christliche Literatur, 225; J. Roloff, 1 Tim, 23–39; 259; J. van Bruggen, Die geschichtliche Einord-
H. Merkel, Past, 6–9; L. Oberlinner, 1 Tim, nung der Pastoralbriefe, Wuppertal 1981, passim.
XXXIX f; I. H. Marshall, Pastoral Epistles, 92 (kurz 185 Vgl. W. D. Mounce, Pastoral Epistles, XCVIII f;
nach dem Tod des Apostels wahrscheinlich in L. T. Johnson, 1.2 Tim, 98 f.
Rom abgefaßt).
183 Vgl. B. Reicke, Chronologie der Pastoralbriefe,
ThLZ 101 (1976), 81–94.
Verfasser 379
Muß die direkte Verfasserschaft der Past durch Paulus als nahezu ausgeschlossen
gelten, so bleibt die MÚglichkeit einer indirekten Abfassung. Hier ist vor allem die
SekretÈrshypothese von Bedeutung186, wonach die Past nach Anweisung und An
gaben des Apostels von einem seiner Mitarbeiter selbstÈndig formuliert wurden
(vertreten von O. Roller, J. Jeremias, G. Holtz, J. N. D. Kelly, C. F. D. Moule)187. Die
der paulinischen Verfasserschaft entgegenstehenden Schwierigkeiten werden
durch diese Hypothese aber nicht gelÚst. Die Past kennen keine Mitverfasser
schaft, und es wird in 1 Tim und Tit nicht ersichtlich, daß diese Schreiben nur auf
Veranlassung des Paulus abgefaßt wurden. Der Apostel spricht auch in den von
ihm diktierten Briefen (vgl. RÚm 16, 22) eine eigene Sprache, das Problem der
sprachlichen EigentÜmlichkeiten der Past wird durch die SekretÈrshypothese kei
neswegs ausgerÈumt.
Der Verfasser der Past war ein unbekanntes Mitglied der Paulusschule, er schrieb
und verbreitete die Briefe „im Zuge einer Neuedition des bisherigen Korpus“188
der Paulusbriefe. Eine Verbindung zwischen ersten Paulusbriefsammlungen und
den Past legt sich nahe, weil die Past wahrscheinlich „gleichzeitig entstanden
und in der Form eines dreiteiligen Briefkorpus an die ³ffentlichkeit getragen
worden sind.“189 Die Past sollten dazu dienen, eine durch Irrlehre ausgelÚste in
nerkirchliche Krise zu Überwinden, in verÈnderten VerhÈltnissen sachgemÈße
Amtsstrukturen durchzusetzen und den bleibenden Einfluß des Apostels Paulus
in der Gesamtkirche zu sichern. Der Verfasser bedient sich der gehobenen Um
gangssprache seiner Zeit und orientiert sich an griechischen und hellenistisch jÜ
dischen Traditionen und Formen (s. u. 5.5.5). Er zitiert Dichterworte (vgl. Tit
1, 12) und verwendet philosophische Begriffe (vgl. 1 Tim 6, 6: auta´rkeia), wahr
scheinlich handelt es sich um einen gebildeten hellenistischen (Juden )Christen,
der in einer Stadt Kleinasiens lebte und die Gemeinden seiner Umgebung im
Blick hatte.
186 Zu weiteren, heute nicht mehr aktuellen G. Holtz, Past, 13–16; J. N. D. Kelly, A Commenta-
Theorien (Fragmentenhypothese, Identifizierung ry on the Pastoral Epistles, BNTC, London 1963,
des Verfassers der Past mit einer PersÚnlichkeit 34; C. F. D. Moule, The Birth of the New Testa-
der frÜhen Kirche) vgl. J. Roloff, 1 Tim, 32–36. ment, London 1962, 220 f.
187 Vgl. O. Roller, Das Formular der paulinischen 188 P. Trummer, Corpus Paulinum – Corpus Pa-
Briefe (s. o. 2.3.2), 16 ff; J. Jeremias, Die Briefe an storale, 133.
Timotheus und Titus, NTD 9, GÚttingen 111975, 8; 189 J. Roloff, 1 Tim, 43.
380 Die Pastoralbriefe
Liegt mit dem Begriff antiXe´seiß in 1 Tim 6, 20 eine Anspielung auf die ‚Antithesen‘
des Markion vor?195 Dieses (verlorene) Werk war so etwas wie eine ‚Einleitung‘
in das Neue Testament und entstand um 140 n. Chr.196. Die Past wÈren dann in
diese Zeit zu datieren und als antimarkionitische Polemik anzusehen. Dagegen
spricht allerdings die offenbar positive Rezeption des Alten Testaments in der be
kÈmpften Irrlehre (vgl. 5.5.8), ein Sachverhalt, der sich mit der schroffen Ableh
nung des Alten Testaments durch Markion nicht vereinbaren lÈßt. Zudem wurden
die Past offenbar von spÈteren Markioniten in ihre Paulusbriefsammlung aufge
nommen197. Der Begriff antiXe´seiß ist eine gezielte Anti Formulierung des Verfas
190 Àber seine Entstehungsbedingungen sagt der Paulus im Èltesten Christentum (s. o. 5), 47;
Titusbrief nichts aus, zweifellos gehÚrt er aber in L. Oberlinner, 1 Tim, XLVI.
die unmittelbare NÈhe der Timotheusbriefe. 194 In Polyk, 2Phil 4, 1, klingen 1 Tim 6, 7. 10 an,
191 Vgl. J. Roloff, 1 Tim, 42; H. Hegermann, Ort, ein Zitat lÈßt sich aber nicht nachweisen.
61 f; N. Brox, Past, 58 (Kleinasien); Ph. Vielhauer, 195 So im Gefolge von F.Chr. Baur z. B. W. Bauer,
Urchristliche Literatur, 237 (Kleinasien/Ephesus); RechtglÈubigkeit und Ketzerei im Èltesten Chri-
E. Dassmann, Stachel im Fleisch (s. o. 5), 172 stentum, BHTh 10, mit einem Nachtrag hg. v.
(Kleinasien). FÜr Rom votieren A. Lindemann, G. Strecker, TÜbingen 21964, 229; Ph. Vielhauer,
Paulus im Èltesten Christentum (s. o. 5), 149; Urchristliche Literatur, 237.
H. Merkel, Past, 13. 196 Vgl. A. v.Harnack, Marcion: Das Evangelium
192 Vgl. Exkurs 2: Die Sammlung der Paulusbriefe vom fremden Gott, Leipzig 21924, 26 (die ‚Anti-
und das Werden des Kanons. thesen‘ entstanden zwischen 139 und 144
193 Um 100 n. Chr. datieren die Past auch: n. Chr.).
*
N. Brox, Past, 58; J. Roloff, 1 Tim, 45 f; H. Merkel, 197 Vgl. a. a. O., 170 f.
Past, 10; H. Hegermann, Ort, 47; A. Lindemann,
Empfänger 381
sers der Past, der seine paraXv´kv der abweichenden Position der Irrlehrer entge
gensetzt198.
An der Spitze der Past steht der 1 Tim, denn die umfassende Selbstvorstellung in
1 Tim 1, 12 17 leitet nicht nur den 1 Tim, sondern die Past insgesamt ein. Wird in
1 Tim 3, 14; 4, 13 noch das baldige Kommen des Apostels angekÜndigt, so spricht
der Tit nicht mehr davon, und der 2 Tim setzt explizit die dauernde Abwesenheit
des Apostels voraus. Als letztes Wort des Apostels vor seinem Tod erscheint der
2 Tim gleichsam als das Testament des Paulus (vgl. 2 Tim 4, 1 8), es bildet den
Abschluß der Briefsammlung.
5.5.4 Empfänger
Der 1 Tim richtet sich an den engsten Mitarbeiter des Paulus, der in 1 Thess
1, 1; 1 Kor 1, 1; 2 Kor 1, 1; Phil 1, 1 und Phlm 1 als Mitabsender erscheint. Timo
theus wurde wahrscheinlich von Paulus bekehrt (vgl. 1 Kor 4, 17; anders Apg
16, 1)199 und trat in der paulinischen Missionsarbeit an die Stelle des Barnabas.
Der Apostel schÈtzte ihn hoch (vgl. 1 Kor 4, 17; 1 Thess 3, 2 f; Phil 2, 20 22; RÚm
16, 21), in 1 Kor 16, 10 sagt Paulus Über Timotheus: „Er treibt das Werk des Herrn
wie ich.“ Timotheus war in den paulinischen Gemeinden als wichtiger Mitarbei
ter des Apostels bekannt, so daß die Wahl seines Namens als fiktiver Adressat na
helag.
Der Heidenchrist Titus gehÚrte zu den ersten Mitarbeitern des Paulus, er zog
mit ihm und Barnabas zum Apostelkonvent nach Jerusalem (Gal 2, 3). FÜr die
Zeit zwischen dem Apostelkonvent und der Endphase der Kollektensammlung
gibt es keine Nachrichten Über Titus, erst im 2 Kor ist Titus im Rahmen der Kol
lektenorganisation und bei der Beilegung des Konfliktes zwischen Paulus und
der Gemeinde die entscheidende Person (vgl. 2 Kor 2, 13; 7, 6. 13. 14; 8, 6. 16. 23;
12, 18).
Obwohl die paulinischen Missionsgemeinden im westlichen Kleinasien nur
indirekt angesprochen werden, sind sie die eigentlichen GesprÈchspartner des
Briefschreibers. Timotheus und Titus erscheinen schon in den Paulusbriefen als
ReprÈsentanten des Apostels (vgl. fÜr Timotheus 1 Kor 4, 16. 17; 16, 10 f; 1 Thess
3, 2 f; Phil 2, 19. 23; fÜr Titus 2 Kor 2, 13; 7, 14 ff; 8, 23), die seine Weisungen in
kritischen Gemeindesituationen umsetzten. Die Past enthalten nichts anderes als
198 Vgl. E. Schlarb, Miszelle zu 1 Tim 6, 20, ZNW unwahrscheinlich angesehen werden, weil sie
77 (1986), 276–281. dem in Gal 2, 3 berichteten Verhalten des Paulus
199 Die Beschneidung des Christen Timotheus widerspricht.
durch Paulus (so Apg 16, 3) muß historisch als
382 Die Pastoralbriefe
die Anweisungen des Apostels, die nun durch den Idealtypus des nachapostoli
schen AmtstrÈgers (Timotheus/Titus) den Gemeinden Übermittelt werden. In
den Briefen kommt der abwesende Paulus selbst zur Sprache, dessen leibhaftiges
Kommen sich nach 1 Tim 3, 15 mÚglicherweise verzÚgert. Durch die Past gelangt
Paulus dennoch zu seinen Gemeinden, er ist in der aktuellen Krise gegenwÈrtig.
Die Gemeinden der Past setzen sich aus Heidenchristen, aber auch zu einem
erheblichen Teil aus Judenchristen zusammen200. So finden sich liturgische For
meln aus dem hellenistischen Judenchristentum in 1 Tim 1, 17; 6, 15 f. Der Ver
gleich der Irrlehrer mit Jannes und Jambre in 2 Tim 3,8 lÈßt sich nur auf dem
Hintergrund der jÜdischen Legenden201 Über diese im Alten Testament nicht er
wÈhnten MÈnner verstehen, und das in den Gemeinden vorausgesetzte lte
stenamt entstammt jÜdischen Traditionen (s. u. 5.5.9).
Die Gemeinden zeichnen sich durch soziale Vielschichtigkeit aus. Mehrfach
werden christliche Hausbesitzer erwÈhnt (vgl. 1 Tim 3, 4 f.12; 5, 4. 8; 2 Tim 1, 16;
4, 19; vgl. ferner 1 Tim 5, 13; 2 Tim 3, 6; Tit 1, 11), große HÈuser mit einer wert
vollen Ausstattung waren offenbar nichts UngewÚhnliches (vgl. 2 Tim 2, 20). Das
christliche Haus dient als Leitmodell fÜr das SelbstverstÈndnis der Gemeinde, die
Ekklesiologie der Past orientiert sich an der Hausmetaphorik (vgl. 1 Tim 3, 15;
3, 4)202. Auch der Frauenschmuck (vgl. 1 Tim 2,9), die Sklaven christlicher Her
ren (vgl. 1 Tim 6, 2), die Warnung vor Gewinnsucht und Geldgier (vgl. 1 Tim
6, 6 10; 2 Tim 3, 2; Tit 1, 7) und die separate Unterweisung der Reichen in 1 Tim
6, 17 20 zeigen, daß AngehÚrige der Oberschicht zu den Gemeinden der Past ge
hÚrten203.
Die Gemeinden verfÜgten Über betrÈchtliche finanzielle Mittel, denn die lte
sten wurden (wie sicherlich auch die hauptamtlichen BischÚfe)204 bezahlt (vgl.
1 Tim 5, 17 f; 3, 1). Zudem existierte eine Gemeindekasse zur Versorgung der Wit
wen (vgl. 1 Tim 5, 16). Der Mißbrauch dieser Einrichtung (vgl. 1 Tim 5, 4 15)
zeugt indirekt von der LeistungsfÈhigkeit des FÜrsorgesystems. Neben den im
Gemeindeleben offenbar dominierenden Reichen erwÈhnen die Past Sklaven
(vgl. 1 Tim 6, 1; Tit 2,9 f) und Witwen (vgl. 1 Tim 5, 3 ff), Handwerker (vgl. 2 Tim
4, 14) und Juristen (vgl. Tit 3, 13) und rufen zur Armenpflege auf (vgl. 1 Tim
5, 10). In der Gemeinde wirken urchristliche Lehrer (vgl. 1 Tim 1, 3. 7; 4, 1; 6, 3;
2 Tim 4, 3; Tit 1, 11), die durch ihre teilweise erfolgreiche Agitation eine Krise
auslÚsten. Nach außen versuchen die Gemeinden durch bÜrgerliches Wohlver
halten Verleumdungen vorzubeugen, sie beten fÜr die Obrigkeit und fÜhren ein
200 Vgl. H. Merkel, Past, 12. 203 Vgl. dazu P. Dschulnigg, Warnung vor Reich-
201 Vgl. dazu Billerbeck III, 660–664. tum und Ermahnung der Reichen, BZ 37 (1993),
202 Vgl. zum oıÓkoß-Gedanken in den Past bes. 60–77.
E. Schlarb, Gesunde Lehre, 314–356. 204 Vgl. J. Roloff, 1 Tim, 308 f.
Gliederung, Aufbau, Form 383
untadeliges Leben (vgl. 1 Tim 2, 2; Tit 3, 1). Das Úffentliche Ansehen der Gemein
deleiter liegt dem Verfasser der Past ebenso am Herzen (vgl. 1 Tim 3, 1 13) wie
das Zusammenleben der einzelnen StÈnde in der Gemeinde (vgl. Tit 2, 1 10).
Wie erlangten die Past fast 40 Jahre nach dem Tod des Paulus in kleinasiati
schen Gemeinden AutoritÈt? Als Briefe an Privatpersonen konnten sie erst sehr
spÈt aus Privatbesitz an die ³ffentlichkeit gelangt sein. Timotheus kam nach
Hebr 13, 23 aus rÚmischer Haft frei und setzte seine Missionsarbeit fort. Diese
und Èhnliche Personaltraditionen Über Timotheus (und Titus) erÚffnen einen
nicht unerheblichen zeitlichen Spielraum, wenn die Past erst nach dem (wirkli
chen oder vermeintlichen) Tod ihrer Adressaten abgefaßt und verÚffentlicht
wurden.
Bei der formgeschichtlichen Analyse der Past empfiehlt sich eine gesonderte Be
handlung des 1 Tim/Tit einerseits und des 2 Tim andererseits. Im 2 Tim fehlen
amtliche Anweisungen an die Gemeinde, GemeindeÈmter werden nicht er
wÈhnt, und das Interesse an Rechtskategorien ist gering205. DemgegenÜber fÜhr
ten die apostolischen Gemeindeweisungen und die Elemente spÈterer Kirchen
ordnungen im 1 Tim/Tit (z. B. mterordnungen, Witwenregel, StÈndetafeln) zur
Klassifizierung beider Schreiben als ‚Kirchen bzw. Gemeindeordnung‘206. Diese
Formbestimmung erklÈrt allerdings nicht die konstitutiven brieflichen Elemente
des 1 Tim/Tit und wird der vorausgesetzten spezifischen Kommunikationssituati
on nicht gerecht. Beim 1 Tim/Tit handelt es sich um amtliche briefliche Instruktio
nen an Einzelpersonen, die ihrerseits Über AmtsautoritÈt verfÜgen und wei
sungsbefugt sind207. Wie beim Brief des Ignatius an Polykarp (geschrieben um
110 n. Chr.) vermischen sich Weisungen an eine Einzelperson mit Gemeindepar
Ènesen. Als weitere literarische Parallelen kÚnnen Briefe und briefliche Instruk
tionen von Herrschern an hohe Beamte gelten (Mandata principis [vgl. z. B. den
Briefwechsel zwischen Plinius d. J. und Kaiser Trajan], hellenistische KÚnigsbrie
fe)208.
205 Vgl. dazu die Auflistung der Unterschiede zwi- A. Wikenhauser – J. Schmid, Einleitung, 536 f;
schen 1 Tim/Tit und 2 Tim bei M. Wolter, Pastoral- H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung I, 222 ff;
briefe als Paulustradition, 143–154. H. KÚster, EinfÜhrung, 740.
206 Vgl. M. Dibelius, Geschichte der urchristlichen 207 Vgl. M. Wolter, Pastoralbriefe als Paulustradi-
Literatur, 148 ff; H. W. Bartsch, Die AnfÈnge ur- tion, 196; J. Roloff, 1 Tim, 48 f; H. Merkel, Past, 11.
christlicher Rechtsbildungen, ThF 34, Hamburg 208 Vgl. die Analyse aller relevanten Texte bei
1965, 160 ff; W. G. KÜmmel, Einleitung, 339; M. Wolter, a. a. O., 161–177.
384 Die Pastoralbriefe
1, 1 2 PrÈskript
1, 3 20 Die Aufgabe des Timotheus: BekÈmpfung der Briefanfang
falschen Lehre
2, 1 3, 16 1. Hauptteil
2, 1 7 Gebet fÜr alle Menschen
2,8 15 Das Beten von MÈnnern und Frauen
3, 1 13 Voraussetzungen fÜr das Bischofs und Diako
nenamt
3, 14 16 GrundsatzerklÈrung
Briefkorpus
4, 1 6, 2 2. Hauptteil
4, 1 11 BekÈmpfung der Irrlehre
4, 12 5, 2 Das Vorbild des Gemeindeleiters
5, 3 16 Der Witwenstand
5, 17 25 Das ltestenamt
6, 1 2 Christliche Sklaven
6, 3 19 SchlußparÈnese Briefschluß
6, 20. 21 Schlußmahnung und Schlußgruß
Der Briefanfang verbleibt auf der Absender EmpfÈnger Ebene und hat legiti
mierende Funktion; Paulus erteilt Timotheus das Mandat fÜr die von ihm durch
zufÜhrenden Aufgaben. Mit dem Briefkorpus wird die Gemeinde in das Kom
munikationsgeschehen miteinbezogen. Ihr Gebet fÜr alle Menschen entspricht
der UniversalitÈt des gÚttlichen Heilswillens. Auf die Gebetsweisungen folgen
Anordnungen fÜr die Èußere Ordnung des Gottesdienstes (1 Tim 2,8 15). Im
Zentrum des 1. Hauptteils stehen die in einem Pflichtenspiegel dargelegten Qua
lifikationsmerkmale kirchlicher AmtstrÈger. WÈhrend im 1. Hauptteil die Wei
sungen direkt an die Gemeinde ergehen, erteilt im 2. Hauptteil Timotheus der
Gemeinde von Paulus empfangene Weisungen (vgl. 1 Tim 4, 11!). Das Verhalten
gegenÜber den Irrlehrern und die innergemeindlichen Pflichten des AmtstrÈgers
bedingen einander, nur die uneingeschrÈnkte AutoritÈt des Gemeindeleiters ver
mag die Irrlehre zurÜckzudrÈngen (vgl. 1 Tim 4, 7). Die Regeln fÜr die Witwen
fÜrsorge zielen auf eine Reorganisation bereits bestehender sozialer Maßnah
men. Auch im Zusammenhang mit dem Presbyterkollegium gab es offenbar in
den Gemeinden Probleme, die nun vom Bischof Überwunden werden sollen.
Der Briefschluß nimmt den Briefanfang auf, indem noch einmal an das Mandat
Gliederung, Aufbau, Form 385
des Timotheus erinnert wird (vgl. 6, 12 16). Den Abschluß bilden kurze Schluß
mahnungen und ein Schlußgruß.
1, 1 4 PrÈskript Briefanfang
1, 5 16 Gemeindeordnung
1, 5 6 Die Presbyter
1, 7 9 Der Bischof
1, 10 16 Die Irrlehrer
2, 1 15 StÈndeordnung
2, 1 Àberschrift
Briefkorpus
2, 2 Die alten MÈnner
2, 3 5 Die alten und jungen Frauen
2, 6 8 Die jungen MÈnner
2,9 10 Die Sklaven
2, 11 15 BegrÜndung der ethischen Haltung der Christen
3, 1 11 Weitere Mahnungen
Das PrÈskript orientiert sich am RÚm, es folgen Anweisungen fÜr den Lebens
wandel der Presbyter und BischÚfe. Tit 1, 10 16 weist den Gemeindeleitern als
zentrale Aufgabe die BekÈmpfung der Irrlehre zu. Auf die Abwehr der HÈretiker
folgt die positive Darstellung des Gemeindelebens (Tit 2, 1 10). Alle StÈnde wer
den zu einer untadeligen Lebensweise aufgerufen, die mit einem Ausblick auf
die Erscheinung des Heilandes Jesus Christus in Tit 2, 11 15 theologisch begrÜn
det wird. Die sich anschließenden allgemeinen Weisungen mÜnden in eine Kir
chenzuchtregel (Tit 3, 10 f). Der Briefschluß greift Elemente des 1 Kor und RÚm
auf.
Lassen sich der 1 Tim und Tit als briefliche Instruktionen an weisungsbefugte
AmtstrÈger verstehen, so spiegelt sich im 2 Tim eine andere Kommunikationssi
tuation wider. Hier geht es unter Ausblendung der Gemeinde allein um das Ver
hÈltnis zwischen Apostel und ApostelschÜler. Wie bei keinem anderen deutero
paulinischen Brief ist im 2 Tim die inhaltliche KontinuitÈt als personale Konti
nuitÈt gedacht. Diese Konstellation dient aber auch im 2 Tim dazu, die Gemeinde
zu einer bleibenden Ausrichtung an Paulus zu bewegen, so daß dieses Schreiben
als testamentarische Mahnrede bezeichnet werden kann. Der testamentarische
386 Die Pastoralbriefe
Charakter des 2 Tim zeigt sich im Vergleich mit Apg 20, 17 35 (Abschiedsrede des
Paulus in Milet): Der scheidende Apostel sagt das Auftreten von Irrlehrern vor
aus (Apg 20, 29 f/ 2 Tim 3, 1 5 a.6 7; 4, 3 f) und fordert strikte Abgrenzung (Apg
20, 28/2 Tim 3, 5 b; 4, 5). Er betont seine eigene vorbildhafte TÈtigkeit (Apg
20, 18 21. 27. 35; 2 Tim 4, 7) und blickt auf seinen bevorstehenden Tod (Apg
20, 23/2 Tim 4, 6).
1, 1 2 PrÈskript Briefanfang
1, 3 5 ProÚmium
1, 6 2, 13 1. Hauptteil
1, 6 14 Briefliche Selbstempfehlung
1, 15 18 Nachrichten Über die Gefangenschaft des Paulus
2, 1 13 Der Apostel als Vorbild des Leidens
2, 14 4,8 2. Hauptteil Briefkorpus
2, 14 26 Die persÚnliche ethische BewÈhrung
3, 1 9 Die Irrlehre
3, 10 17 Die apostolische Nachfolge des Timotheus
4, 1 8 Das Testament des Paulus
Die Past setzen offenbar bereits eine kleine Sammlung von Paulusbriefen vor
aus209. FÜr den 1 Tim dienen vor allem der 1 Kor und der RÚm als Quellen. So
bezieht sich 1 Tim 1, 2 auf 1 Kor 4, 17; 1 Tim 1,8 10 a auf RÚm 3, 21. 28; 7, 12,
1 Tim 1, 12 f auf 1 Kor 7, 25; 1 Tim 1, 20 auf 1 Kor 5, 5; 1 Tim 2, 6 f auf RÚm 9, 1;
1 Tim 2, 11 15 auf 1 Kor 14, 33 b 36; 1 Tim 5, 18 auf 1 Kor 9,8 14 und 1 Tim 6, 4 f
auf RÚm 1, 28 30. Zudem liegt in 1 Tim 3, 15 b eine Anspielung auf 2 Kor 6, 16; in
1 Tim 1, 12 f auf Phil 4, 13 und in 1 Tim 4, 6 10 auf Kol 1, 24 29 vor210. Demge
genÜber lÈßt sich eine Benutzung der Apostelgeschichte durch den 1 Tim nicht
nachweisen211. VielfÈltige Traditionen Übernahm der 1 Tim aus der Gemeinde
Überlieferung. Dazu gehÚren die Regeln fÜr kirchliche mter in 1 Tim 3, 1 13;
5, 17, die Aussagen Über den Witwenstand in 1 Tim 5, 3 10 und Über die Sklaven
in 1 Tim 6, 1. 2. Auch die detaillierten Regelungen Über die Gemeindezucht in
1 Tim 5, 19 21 entstammen der Gemeindetradition. Dieses Traditionsmaterial ist
in sich uneinheitlich, so daß die Annahme einer Kirchenordnung als mÚglicher
Quelle fÜr den 1 Tim (wie die Past insgesamt) als unwahrscheinlich gelten muß.
Neben den rechtlichen Traditionen finden sich im 1 Tim kerygmatische Formeln
(1 Tim 2, 5 f), ein Christushymnus (1 Tim 3, 16) und Elemente einer Ordinations
parÈnese (1 Tim 6, 13 f). In Tit 3, 3 7 liegt ein Bezug auf Gal 4, 3 7 vor. Der ge
prÈgten Gemeindetradition entstammen die Anordnung Über die Einsetzung
von ltesten und Episkopen in Tit 1, 5 9 und der Gemeindespiegel in Tit 2, 1 10.
2 Tim orientiert sich an RÚm 1,8 15; deutliche Verbindungslinien lassen sich
zwischen 2 Tim 1, 7/RÚm 8, 15; 2 Tim 1,8/ RÚm 1, 16; 2 Tim 2,8/RÚm 1, 3; 2 Tim
2, 4 6/1 Kor 9, 7 und 2 Tim 2, 11 13/RÚm 6, 3 f aufzeigen. Die Paulusanamnese
des 2 Tim basiert sicherlich teilweise auf Personaltraditionen, die in den Gemein
den Überliefert wurden (vgl. 2 Tim 1, 3; 4, 16 18).
Die Kenntnis und Benutzung von Paulusbriefen und die Aufnahme lebendi
ger Gemeindetradition schließen sich nicht aus, sondern ergÈnzen sich in den
Past. Dieses Ineinander muß als charakteristisch fÜr den Umgang mit der Paulus
tradition gegen Ende des 1. Jhs. angesehen werden.
209 Vgl. hierzu A. Lindemann, Paulus im Èltesten R. Reuter, Synopse zu den Briefen des Neuen Te-
Christentum (s. o. 5), 134–149. staments II, Frankfurt 1998, 40–592.
210 Vgl. dazu die umfangreiche Auflistung bei 211 Vgl. J. Roloff, 1 Tim, 40.
388 Die Pastoralbriefe
Die Past streiten gegen eine innergemeindliche Irrlehre, die in sich sehr verschie
denartige Elemente vereinigt. So behaupten die gegnerischen Lehrer, Über
gnw̃siß zu verfÜgen (1 Tim 6, 20 f; vgl. auch 1 Tim 4, 3; 2 Tim 3, 7; Tit 1, 16). In die
Richtung einer FrÜhform christlicher Gnosis weisen auch die asketischen Forde
rungen der Enthaltung von der Ehe und von bestimmten Speisen (1 Tim 4, 3;
vgl. dazu NHC IX/3 29, 20 ff; Iren, Haer I 24, 2; 28, 1.4). Gnostische Parallelen fin
den sich auch zu der Behauptung der Gegner, die Auferstehung sei schon ge
schehen (2 Tim 2, 18; vgl. NHC I/4 49, 15 f; NHC II/3 104, 15 19; 121, 1 8). Zur
Irrlehre gehÚren nach 1 Tim 1, 4; 4, 7; 2 Tim 4, 4; Tit 1, 14; 3,9 Mythen und endlo
se Genealogien. In gnostischen Texten finden sich ebenfalls zahlreiche mytholo
gische Spekulationen.
Auch jÜdische Elemente prÈgten die Irrlehre. So erheben die Gegner den An
spruch, Gesetzeslehrer zu sein (1 Tim 1, 7; vgl. Tit 1,9). Nach Tit 1, 10 stammen
die VerfÜhrer aus der Beschneidung, in Tit 1, 14 werden die mythologischen
Spekulationen als LIoudai¨koi` mu´Xoi bezeichnet. Wahrscheinlich drang die gegne
rische Lehre nicht von außen in die Gemeinden ein, denn die Vertreter dieser
Lehre traten Úffentlich in Gemeindeversammlungen auf (vgl. 2 Tim 2, 16. 25; 3,8;
Tit 1,9; 3,9). Sie hatten betrÈchtlichen Erfolg innerhalb der Gemeinde, ganze
HÈuser schlossen sich der neuen Lehre an. Unter den wohlhabenden Frauen der
Gemeinde fand die Lehre viele AnhÈngerinnen (vgl. 2 Tim 3, 6). Auch die Na
mensnennungen in 1 Tim 1, 20; 2 Tim 2, 17; 4, 14 zeigen, daß die Irrlehre von
Teilen der Gemeinde getragen wurde.
Religionsgeschichtlich wird die gegnerische Lehre212 zumeist als eine Form juden
christlicher Gnosis eingestuft213. Bei dieser These sind die jÜdischen Elemente
konstitutiver Bestandteil der Irrlehre, hÈufig wird dabei auch ein jÜdischer Ur
sprung der Gnosis vorausgesetzt. Diese Annahme ist allerdings stark umstritten,
denn zentrale Elemente des jÜdischen Glaubens (strikter Monotheismus, SchÚp
fergott, positive Wertung der SchÚpfung) lassen sich nur schwer mit der schÚp
fungsfeindlichen Grundeinstellung gnostischer Systeme verbinden. Werden zu
dem die jÜdischen Elemente nur als RandphÈnomene der Irrlehre eingestuft, legt
es sich nahe, in ihr eine FrÜhform christlicher Gnosis zu sehen214. Die asketischen
212 Eine ForschungsÜbersicht bietet J. J. Gunther, Testament (s. o. 2.6.8), 93 f; N. Brox, Past, 33 ff;
St. Paul's Opponents (s. o. 2.6.8), 4 f, der 17 ver- G. Haufe, Gnostische Irrlehre, 332 f; H. M. Schen-
schiedene Gegner-Klassifizierungen zÈhlt; zur ke – K. M. Fischer, Einleitung, 219 f.
Forschungsgeschichte vgl. E. Schlarb, Gesunde 214 Vgl. J. Roloff, 1 Tim, 228–239; M. Wolter, Pa-
Lehre, 73–82. storalbriefe als Paulustradition, 265 f; H. Merkel,
213 Vgl. M. Dibelius, Past, 53; W. G. KÜmmel, Ein- Past, 10. 13; L. Oberlinner, Tit., 52–73.
leitung, 333 f; W. Schmithals, Gnosis und Neues
Theologische Grundgedanken 389
Grundlegend fÜr die Theologie der Past ist der RÜckbezug auf den Apostel und
Lehrer Paulus. Paulus ist der durch den Willen Gottes beauftragte Apostel Jesu
Christi, der Diener des Evangeliums (vgl. 1 Tim 1, 1; 2, 7; Tit 1, 1; 2 Tim 1, 1;
1, 11). Das paulinische Apostolat gilt allen VÚlkern (vgl. 1 Tim 2, 7; 2 Tim 4, 17),
ihnen verkÜndet Paulus das ihm von Gott anvertraute Evangelium (1 Tim 1, 11;
2, 6 f; 2 Tim 1, 10 f.12; Tit 1, 3). Das Evangelium erscheint in den Past als pa
raXv´kv, als der kostbarste Schatz der Kirche (vgl. 1 Tim 6, 20 f; 2 Tim 1, 12. 14). Im
Evangelium wird das Heilsgeschehen proklamiert, das es nun als apostolische
LehrverkÜndigung zu bewahren gilt.
Als VerkÜnder des Evangeliums und Garant der Tradition erscheint Paulus in
den Past zugleich als Lehrer. Der Lehrer Paulus unterweist die Gemeinden in der
gesunden Lehre (vgl. Tit 2, 1). In diese Lehre gehÚrt auch das Evangelium hinein
(vgl. Tit 2, 11 14), darÜber hinaus bezeichnet aber paraXv´kv die Gesamtheit des
sen, was in den Past als VerkÜndigung und ethische Unterweisung den Gemein
den aufgetragen wird. WÈhrend die Irrlehrer mit ihrer Falschlehre die Gemein
den spalten, sollen Timotheus und Titus und damit die angesprochenen Gemein
den an der ursprÜnglichen Lehre und an der Schrift festhalten (vgl. 1 Tim 1, 3 7;
6, 3 5; 2 Tim 3, 10 12. 15 f; Tit 1, 10 2, 15). Der Autor der Past untersagt den Ge
meinden die BeschÈftigung mit der Irrlehre, nicht Diskussion, sondern Distanz
wird gefordert (vgl. 1 Tim 6, 20; 2 Tim 2, 14. 16. 23; 3, 5; Tit 3,9 11). Àber weite
Strecken lesen sich die Past wie amtliche Anordnungen (vgl. z. B. 1 Tim
2, 1. 8. 12; 3, 2. 7; Tit 2, 1. 15; 2 Tim 1, 13 f; 2, 1. 14. 22 f; 3, 10), deren Befolgung vor
allem die Irrlehre zurÜckdrÈngen sollen.
Als Urbild des Glaubens ist Paulus zugleich Vorbild fÜr die Gemeinden (vgl.
1 Tim 1, 15 f). In der Lehre, in der LebensfÜhrung, im Glauben und in den Leiden
soll die Gemeinde dem Apostel nachfolgen (vgl. 2 Tim 3, 10 f; 1, 13). So wie Pau
lus auf der textinternen Ebene dem Timotheus als Vorbild erscheint, so wird Ti
motheus den Gemeinden als Vorbild hingestellt (vgl. 1 Tim 4, 12; 2 Tim 3, 10 f;
vgl. ferner Tit 2, 7). Timotheus und Titus sind Kinder des Apostels im Glauben
(vgl. 1 Tim 1, 2. 18; 2 Tim 1, 2; 2, 1; Tit 1, 4), das Vorbild Paulus ist somit in den
AmtstrÈgern der Kirche gegenwÈrtig. Insgesamt zeichnen die Past ein Überaus
kraftvolles Bild des Paulus, der als VerkÜndiger, Lehrer, Seelsorger und Kirchen
organisator fÜr seine Gemeinden eintritt und kÈmpft. Paulus ist gleichermaßen
Apostel, kirchliche AutoritÈt und das Ideal eines Christen. Seine Überragende
Stellung in den Gemeinden mußte vom Verfasser der Past nicht begrÜndet wer
den, vielmehr schrieb er im Kontext einer lebendigen paulinischen Tradition.
Mit der Person des Paulus eng verbunden sind in den Past die Aussagen Über
die gemeindeleitenden mter 217. Die RÜckbindung an Paulus gibt dem Leitungsamt
in der Gemeinde seine AutoritÈt. Der Dienst am Paulus von Gott anvertrauten
Evangelium (vgl. 1 Tim 1, 12) wird nun in Abwesenheit des Apostels von Timo
theus und Titus als Prototypen des Gemeindeleiters wahrgenommen. So wie
Paulus in allem der Wahrheit des Evangeliums verpflichtet war, kommt auch
dem Gemeindeleiter die Aufgabe zu, die durch die paulinische VerkÜndigung le
gitimierte Tradition zu bewahren (vgl. 1 Tim 6, 20; 2 Tim 1, 2. 14). Dabei stand
der Verfasser der Past vor der Aufgabe, zwei (in den Gemeinden bereits existie
rende)218 Verfassungsformen zusammenzufÜgen und neu zu interpretieren. In
217 Vgl. dazu J. Roloff, 1 Tim, 169–189; H. Merkel, zunÈchst so weit wie mÚglich in einer Gesamt-
Past, 90–93; L. Oberlinner, Tit, 74–101. schau zu integrieren und sie durch eine vertiefte
218 Nach J. Roloff, 1 Tim, 170, fÜhrt der Verfasser Neuinterpretation so umzugestalten, daß sie den
keine neuen mter ein, sondern es geht ihm dar- Aufgaben und Anforderungen seiner kirchlichen
um, „die bereits vorhandenen mter und Dienste Situation entsprechen kÚnnen.“ DemgegenÜber
Theologische Grundgedanken 391
den Past finden sich sowohl Aussagen Über eine ltesten Verfassung (1 Tim
5, 17 f.19; Tit 1, 5 f) als auch Pflichten Spiegel fÜr BischÚfe und Diakone (1 Tim
3, 2 13; Tit 1, 7 9). Das Zusammenfließen des ltesten Amtes und des Episko
pen/Diakonen Amtes ist fÜr das Ende des 1. Jhs. vielfach bezeugt (vgl. Apg
14, 23; 20, 17; 1 Petr 5, 1 5; 1 Klem 40 44). Das aus jÜdischer Tradition entstan
dene ltestenamt219 sieht in dem Alter und der Reife eines Mannes ein entschei
dendes Qualifikationsmerkmal. Bei Paulus findet sich dieses Amt nicht, denn fÜr
ihn ist das Alter kein Charisma, alle Funktionen und Dienste verdanken sich der
AutoritÈt des Geistes (vgl. 1 Kor 12, 28 31)220. Der Phil aus der SpÈtphase des
paulinischen Wirkens bezeugt die Dienste des epı´skopoß und diákonoß (Phil 1, 1).
Die Episkopen trugen offenbar zunÈchst als Leiter von Hausgemeinden viel
fÈltige Verantwortung in den einzelnen Ortsgemeinden. Auch die diákonoi nah
men innerhalb der Gemeinden Funktionen wahr, so z. B. Aufgaben im Rahmen
der Eucharistie und der Armenpflege (vgl. Mk 10, 43 f; 2 Kor 3, 6; 4, 1; 5, 18). Das
Nebeneinander dieser beiden Verfassungsformen in den Past wirft die Frage auf,
welche Ordnung der Verfasser der Briefe anstrebte. Eine Verschmelzung beider
Verfassungsstrukturen war offensichtlich nicht das Ziel, denn nur in Tit 1, 5 9
stehen beide Ordnungen nebeneinander, ohne wirklich miteinander verbunden
zu werden. Vielmehr favorisiert der Verfasser der Past eine Episkopen/Diako
nen Ordnung221. Nach 1 Tim 3, 1 ist das Episkopen Amt eine gute Sache, die
man anstreben soll. Der Episkopos steht nicht mehr nur einer Hausgemeinde
vor, sondern ihm obliegt die Leitung einer Ortsgemeinde, umgeben von Diako
nen und Verantwortung wahrnehmenden ltesten. Die angestrebte Neugestal
tung des Episkopen Amtes und die allmÈhliche Àberwindung des Presbyteriums
veranschaulicht die Ordination des Timotheus in 1 Tim 4, 14. Zwar legen die
Presbyter Timotheus die Hand auf (nach 2 Tim 1, 6 wurde Timotheus durch Pau
lus ordiniert), er wird aber zum epı´skopoß der Gesamtgemeinde ordiniert222.
Nicht zuletzt das Auftreten der Irrlehre beschleunigte die Etablierung eines funk
erklÈren sich nach H. Merkel, Past, 13, die span- lemer Inschrift aus der Zeit 70 v. Chr.; vgl. ferner
nungsreichen Aussagen zu kirchlichen mtern in Apg 1, 30; 14, 23; 15, 2. 4. 22 f; Jak 5, 14.
den Past „am einfachsten mit der Annahme, in 220 Zum ZurÜcktreten der Geistaussagen in den
den Gemeinden sei das Presbyteramt bekannt ge- Past vgl. M. Wolter, Pastoralbriefe als Paulustradi-
wesen, wÈhrend der Briefverfasser das Episko- tion, 41 ff.
pen/Diakonen-Modell einfÜhren will.“ Nach 221 Vgl. J. Roloff, 1 Tim, 175.
L. Oberlinner, Tit, 91, befÜrwortet der Autor der 222 Vgl. H. v.Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 279:
Past „eine Gemeindestruktur, in der der Episko- „Die Bedeutung der Ordination als BevollmÈchti-
pos als verantwortlicher Leiter der Gemeinde und gung und BefÈhigung fÜr den AmtstrÈger zielt auf
zugleich als Über andere FunktionstrÈger, wie dessen amtliche Funktion und AutoritÈt in der
Presbyter und Diakone und Diakoninnen, ge- Gemeinde einerseits, auf die Wahrung der Tradi-
stellte Instanz gilt und anerkannt wird.“ tion durch Hineinstellen in amtliche KontinuitÈt
219 Vgl. hierzu die bei A. Deissmann, Licht vom andererseits.“
Osten (s. o. 2.3.1), 378–380, abgedruckte Jerusa-
392 Die Pastoralbriefe
tionstÜchtigen Leitungsamtes, denn der epı´skopoß soll fÜr die gesamte Gemeinde
verantwortlich sein (vgl. 1 Tim 5, 1 22). Die Kirche als heiliger Bau und auf Gott
gegrÜndete Institution, in der die in Jesus Christus erschienene und allein ret
tende Wahrheit gegenwÈrtig ist (vgl. 1 Tim 3, 15 f; 2 Tim 2, 19 21), muß sich ge
genÜber der Irrlehre abgrenzen. Dennoch erfassen rechtliche Kategorien nicht
das Wesen des Episkopenamtes, es ist primÈr ein geistliches Amt, die FÈhigkeit
zur Lehre qualifiziert den Gemeindeleiter (1 Tim 3, 2; Tit 1,9). Der Bischof wird
als Haushalter Gottes angesprochen (Tit 1, 7 9), der an der rechten Lehre festhÈlt
und den Gegnern widersteht. Wie der Apostel seine Gemeinden durch das Evan
gelium leitete, so treten nun die ApostelschÜler, ausgestattet mit den Weisungen
des Paulus, in diese Aufgabe ein (vgl. 1 Tim 4, 11. 13. 16; 2 Tim 1, 13; 2, 24;
3, 10. 14 17; Tit 2, 1). Auch in der Abwesenheit des Apostels bleiben das von ihm
verkÜndigte Evangelium und sein unermÜdlicher Dienst an den Gemeinden
Norm des Dienstes der ApostelschÜler, an denen sich wiederum die Gemeinde
leiter orientieren sollen. Als vom Geist Gottes erfÜllte Schrift (vgl. 2 Tim 3, 16) er
heben die Past den Anspruch, den fÜr die Gemeinden verpflichtenden Willen
des Apostels Paulus umfassend und abschließend zu formulieren.
Die Past propagieren einen Lebens und FrÚmmigkeitsstil, der durch ein be
sonnenes und tugendhaftes Glaubensleben, Werke der Liebe, Ausdauer, Be
scheidenheit, Gastfreundschaft und umfassende WohltÈtigkeit geprÈgt ist (vgl.
1 Tim 2, 2; 4, 7. 12; 6, 6 11. 17 19; 2 Tim 1, 7; 2, 22; 3, 10; Tit 1,8; 2, 1 f.6. 11 13;
3, 4 7). Der Verfasser der Past orientiert sich damit an konventionellen Normen
seiner Zeit, sein Ziel liegt in der sozialen Integration der Gemeinden (vgl. 1 Tim
2, 2). Der Bischof muß auch bei den Nichtchristen einen guten Ruf haben (1 Tim
3, 7), Frauen dÜrfen nicht lehren (1 Tim 2, 12) und Sklaven sollen ihren Herrn
ehren (1 Tim 6, 1) und sich ihm unterordnen (Tit 2,9). FÜr die Gemeinden der
Past bestand offenbar zwischen dem grundlegenden RÜckbezug auf den Apostel
Paulus und der gleichzeitigen Adaption paganer Ethik kein Widerspruch, beides
war Voraussetzung fÜr die IdentitÈt und StabilitÈt der Gemeinden. Versuchten
doch die Irrlehrer, den Gemeinden eine neue IdentitÈt zu geben, die einerseits
den grundlegenden RÜckbezug auf Paulus in Frage stellte und zugleich eine Ent
weltlichung propagierte. Dann hÈtten soziale Isolation und Traditionsabbruch
die Existenz der Gemeinden gefÈhrdet.
Der Autor der Past knÜpft in seiner besonderen historischen Situation auch
an genuine Elemente paulinischer Theologie an. Tit 3, 3 7; 2 Tim 1,8 10 geben
prÈzis den Sachgehalt der paulinischen Rechtfertigungslehre wieder: Allein aus
Gnade ohne Werke des Gesetzes rechtfertigt Gott den Menschen (vgl. Gal 2, 16;
RÚm 3, 21 ff). Die Verbindung Taufe Gerechtigkeit in Tit 3, 5 findet sich auch in
1 Kor 6, 11; RÚm 6. Der in den Past vorherrschende Imperativ wird in Tit 3, 3 7
fest im Indikativ verankert. Auch die in den drei Briefen dominierende Darstel
Tendenzen der neueren Forschung 393
lung des Paulus als Vorbild der AmtstrÈger und der gesamten Gemeinde rezipiert
ein Motiv der Protopaulinen, wo sich der Apostel wiederholt als Vorbild seiner
Gemeinden empfiehlt (vgl. 1 Thess 1, 6 f; 1 Kor 4, 16 f; 11, 1; Gal 4, 12; Phil 3, 17;
4,9). Ein deutliches theologisches Defizit zeigt sich hingegen in der Pneumatolo
gie der Past, schon die Seltenheit von Geistaussagen ist signifikant. Das pneu˜ma
ist zwar nicht auf die AmtstrÈger begrenzt (vgl. Tit 3, 5), dennoch sind sie deut
lich die hervorgehobenen GeisttrÈger (vgl. 2 Tim 1, 6. 14; 1 Tim 4, 14). Die Ordi
nation als geistlicher und rechtlich institutioneller Akt zielt gleichermaßen auf
die AutoritÈt der AmtstrÈger und die Wahrung der Tradition223. Auch die escha
tologischen Aussagen treten zurÜck, die Parusie des Herrn erfolgt „zur rechten
Zeit“ (1 Tim 6, 15). Dies erfordert ein bestÈndiges Fundament fÜr die Kirche: die
gesunde Lehre (vgl. 2 Tim 4, 1 mit 4, 2 f). Nicht das Unbestimmte, sondern allein
das BestÈndige prÈgt die Eschatologie der Past.
223 Vgl. H. v.Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 224 S. Schulz, Die Mitte der Schrift, Stuttgart
277 ff. 1976, 109.
394 Die Pastoralbriefe
suggest that the ordained and educated clergy can provide a version of Christia
nity that is reasonable and moral.“234
Eine Neubewertung erfÈhrt auch die Christologie der Pastoralbriefe. Die Stu
dien von Karoline LÈger und Hanna Stettler zeigen, daß die Past Über eine re
flektierte, soteriologisch akzentuierte Christologie verfÜgen, in der Jesus Christus
an die Seite Gottes gestellt und als prÈexistenter, von Gott gesandter Retter aller
Menschen verstanden wird. Mit den zentralen Begriffen swtv´r und epifáneia
nehmen die Past eine ‚Àbersetzung‘ der Christologie in die hellenistische Welt
vor, um so Gottes gnadenhafte Hinwendung zu den Menschen in Jesus Christus
in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verdeutlichen.
EXKURS 2: Die Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des Kanons
Literatur
stamentlichen Kanons in der Alten Kirche, DÜsseldorf 1972. A. Sand, Kanon. Von den
AnfÈngen bis zum Fragmentum Muratorianum, HDG I 3 a(1), Freiburg 1974.
W. Schneemelcher, Art. Bibel III, TRE 6 (1980), 22 48. D. LÜhrmann, Gal 2,9 und die
katholischen Briefe. Bemerkungen zum Kanon und zur regula fidei, ZNW 72 (1981), 65
87. W. Schneemelcher, Haupteinleitung, in: ders., Neutestamentliche Apokryphen I
(s. o. 3.5.2), 1 61. H. Y. Gamble, The New Testament Canon. Its Making and Meaning,
Philadelphia 1985. O. Merk, Art. Bibelkanon 2, EKL 1 (1986), 470 474. A. M. Ritter,
Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons: Selbstdurchsetzung oder autoritative
Entscheidung?, in: Kanon und Zensur, hg. v. A.u. J. Assmann, MÜnchen 1987, 93 99.
F. Stuhlhofer, Der Gebrauch der Bibel von Jesus bis Euseb. Eine statistische Untersuchung
zur Kanonsgeschichte, Wuppertal 1988. H. Paulsen, Sola scriptura und das Kanonpro
blem, in: Sola scriptura, hg. v. H. H. Schmid u. J. Mehlhausen, GÜtersloh 1991, 61 78.
Th. SÚding, Erweis des Geistes und der Kraft. Der theologische Anspruch der paulinischen
EvangeliumsverkÜndigung und die AnfÈnge der neutestamentlichen Kanons Bildung, in:
ders., Das Wort vom Kreuz (s. o. 2.5.1), 196 221. A. F. J. Klijn, Die Entstehungsge
schichte des Neuen Testaments, ANRW II 26.1, Berlin 1992, 64 97. B. M. Metzger, Der
Kanon des Neuen Testaments, DÜsseldorf 1993. J. Barton, Holy Writings, Sacred Text.
The Canon in Early Christianity, Louisville 1997. Th. K. Heckel, Vom Evangelium des
Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, TÜbingen 1999. H. v. Lips, Der
neutestamentliche Kanon, ZÜrich 2004.
Die Briefe des Paulus wurden von Anfang an in den Gemeinden vorgelesen (vgl.
1 Thess 5, 27; RÚm 16, 16), und die EmpfÈnger bekamen das Original unmittelbar
zu Gesicht (vgl. Gal 6, 11). Der Apostel selbst rechnete mit der Weitergabe seiner
Briefe, wie der Plural taı˜ß ekklvsı´aiß tv˜ß Galatı´aß in Gal 1, 2 und das PrÈskript in
2 Kor 1, 1 b (‚Korinth und alle Heiligen in Achaia‘) zeigen. Den Austausch von
Paulusbriefen zwischen den einzelnen Gemeinden bestÈtigt Kol 4, 16. In 2 Thess
2, 2; 3, 17 wird mit der Existenz von ‚gefÈlschten‘ Paulusbriefen gerechnet, was
die Zirkulation mehrerer Paulusbriefe unter den Gemeinden voraussetzt.
Schließlich bezeugt 2 Petr 3, 15 f die Kenntnis und Existenz zahlreicher Paulus
briefe, wenn er von den schwer verstÈndlichen Dingen spricht, von denen Pau
lus in allen seinen Briefen redet.
Schon die wenigen ntl. Aussagen Über den Umgang mit den Paulusbriefen
zeugen von der ihnen entgegengebrachten hohen WertschÈtzung. Die Paulus
briefe wurden aus einem aktuellen Anlaß geschrieben, dennoch waren sie
weitaus mehr als Gelegenheitsschreiben. In der Zeit der Abwesenheit des Pau
lus traten sie an die Stelle des Apostels, enthielten sie doch das paulinische
Evangelium und die fÜr das Gemeindeleben notwendigen ethischen Anweisun
gen. In den Gemeinden verschwanden sie keineswegs in den Schubladen235,
235 Gegen H. M. Schenke (– K. M. Fischer), Einlei- beabsichtigte Wirkung, mehr oder weniger, oder
tung I, 239: „Sie (sc. die Paulusbriefe) wurden auch nicht, und verschwanden dann in der Abla-
den Adressaten vorgelesen, taten die mit ihnen ge eines der zustÈndigen Leute.“
Die Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des Kanons 397
denn mit Ausnahme von Ephesus hielt sich der Apostel jeweils nur fÜr eine
vergleichsweise kurze Zeit in den Gemeinden auf, so daß seine Briefe schon zu
Lebzeiten bleibende Bedeutung gewannen. Die Àberzeugungskraft der Paulus
briefe wurde nach 2 Kor 10, 10 f auch von den Gegnern gerÜhmt, man wird also
nicht annehmen kÚnnen, sie seien schon innerhalb kurzer Zeit in Vergessen
heit geraten.
Nach dem Tod des Apostels wurden seine Mitarbeiter und SchÜler die TrÈger
des Deuteropaulinismus, der das paulinische Erbe in einer neuen kirchenge
schichtlichen Situation zu wahren suchte. Der Deuteropaulinismus setzt eine
andauernde Bedeutsamkeit der Person des Paulus und seiner Briefe voraus, so
daß ihm bei der Sammlung der Paulusbriefe eine SchlÜsselfunktion zu
kommt236. Dies bestÈtigt bereits der Kol, der die Korintherbriefe, den Phlm,
RÚm, Gal und Phil kannte237. Der Eph als Àberarbeitung und Erweiterung des
Kol scheint sich auch auf den 1Kor, RÚm und Gal zu beziehen. Der 2 Thess
orientiert sich vollstÈndig an einem echten Paulusbrief. Von besonderer Bedeu
tung ist das Corpus Pastorale, dessen Verfasser 1. 2 Kor, RÚm, Phil, Kol und
wahrscheinlich auch den Phlm rezipierte. WÈhrend sich der Eph und der 2 Thess
offensichtlich an Einzelschriften ausrichten, dÜrfte das Corpus Pastorale bereits
eine Sammlung von Paulusbriefen voraussetzen. Wenn in 2 Tim 3, 16 die Past als
inspirierte Schriften bezeichnet werden, so weist dies auf einen Sammlungs
und Abgrenzungsprozeß innerhalb der frÜhchristlichen Literatur hin. Deshalb
trifft die Vermutung P. Trummers zu: „Die Past konnten als pln Pseudepigrapha
nur geschrieben und verbreitet werden im Zuge einer Neuedition des bisherigen
Corpus. Eine andere Entstehung hÈtte bei aller vorhandenen LeichtglÈubigkeit
und dem teilweise unkritischen Verhalten frÜhchristlicher Kreise doch auch auf
eine sehr empfindliche Kritik und Abwehr stoßen mÜssen.“238 Das im Wachs
tum befindliche Corpus Paulinum wurde offensichtlich durch die Past ergÈnzt.
236 Als problematisch muß die These von D. Tro- tur“ (a. a. O., 130). Trobisch geht bei seinen Ver-
bisch, Paulusbriefsammlung, 119 f, angesehen mutungen von der These einer Autorenrezension
werden, Paulus selbst habe den Grundstock fÜr aus, wonach Paulus selbst fÜr die redaktionelle
die Sammlung seiner Briefe gelegt. „Auf seiner Endgestalt seiner (aus kleinen ‚Briefen‘ bestehen-
Reise nach Jerusalem trifft er noch einmal mit ei- den) Briefe verantwortlich ist (vgl. fÜr den 2 Kor
ner Gesandtschaft aus Ephesus zusammen. Er ders., a. a. O., 123–128). Damit wird ein Überaus
Übergibt ihnen eine Abschrift des RÚm, an die er umstrittenes literarkritisches HypothesengebÈude
noch persÚnliche GrÜße und letzte WÜnsche an- (vgl. Exkurs 1 und den Abschnitt 2.6.6) zur Basis
fÜgt, zusammen mit einer Abschrift des 2 Kor. einer historischen Vermutungslinie gemacht!
Ohne es zu wissen, hat er damit den Grundstock 237 Vgl. E. Lohse, Kol (s. o. 5.2.1), 255 f.
zu einer Sammlung gelegt, aus der dann Über 238 P. Trummer, Corpus Paulinum – Corpus Pa-
Zwischenstufen das Corpus Paulinum erwÈchst, storale (s. o. 5.5.1), 133.
die meistgelesene Briefsammlung der Weltlitera-
398 Exkurs 2
Dabei konnte der Verfasser der Past neben den authentischen Paulusbriefen
auch eine lebendige mÜndliche Paulustradition heranziehen.
Der Deuteropaulinismus zeugt von einer sukzessiven Entstehung des Corpus
Paulinum. ZunÈchst bildeten sich lokale Kleinsammlungen239, die dann in
grÚßere Einheiten ÜberfÜhrt wurden, wobei die ErgÈnzung des Corpus Pauli
num durch das Corpus Pastorale als Katalysator wirkte. Auch Glossen wie 1 Kor
14, 33 b 36; 2 Kor 6, 14 7, 1; RÚm 7, 25 b; 16, 25 27 weisen auf eine Sammlung
und ansatzweise auf eine Bearbeitung der Paulusbriefe hin. FÜr die Sammlung
der Paulusbriefe bedurfte es nicht eines externen Anstoßes (z. B. durch Mar
kion)240, es handelt sich vielmehr um einen nach dem Tod des Apostels einset
zenden natÜrlichen Prozeß. Die Mitarbeiter des Apostels und in der Tradition
des Paulus stehende Gemeinden sammelten seine Briefe, um sich theologisch an
ihnen zu orientieren. Zudem erheben die Paulusbriefe einen Wahrheitsan
spruch, der ihre Sammlung und normative Funktion geradezu fordert (vgl.
1 Thess 1, 5; 2, 13; 1 Kor 2, 4; 3, 11; RÚm 1, 16; 10, 14 17)241.
Àber den Umfang der ersten kleinen Sammlungen lassen sich nur hypotheti
sche Aussagen machen, aber 1. 2 Kor, RÚm, Gal, Phil und Phlm dÜrften von An
fang an dazugehÚrt haben. Das ehemalige Missionsgebiet des Paulus in Kleina
sien spielte sicherlich auch bei der Sammlung der Paulusbriefe eine entscheiden
de Rolle. Vielfach vermutet man deshalb in Ephesus eine erste Paulusbriefsamm
lung242. FÜr diese Annahme gibt es eine Reihe von Hinweisen: 1) Die Gemeinde
von Ephesus als Sitz der Paulusschule verfÜgte mit Sicherheit Über mehrere Pau
lusbriefe. 2) Die Zuschreibung des ursprÜnglich namenlosen Eph an die Gemein
de in Ephesus bestÈtigt die große Bedeutung dieses Zentrums urchristlicher Mis
sion und Theologie. 3) Der Kol und die Past wurden wahrscheinlich in Ephesus
geschrieben, was die Bedeutung der Gemeinde fÜr den Deuteropaulinismus un
terstreicht. Schließlich waren in dieser multikulturellen Stadt sicherlich Brief
sammlungen berÜhmter antiker Autoren bekannt243, und Apg 19, 19 zeugt von
der Existenz einer Buchproduktion in Ephesus. Aber auch in anderen Gemein
239 Vgl. W. Bauer, RechtglÈubigkeit und Ketzerei 241 Vgl. Th. SÚding, Erweis des Geistes und der
(s. o. 5.5.3), 224; K. Aland, Corpus Paulinum, Kraft, 208.
335 ff. 242 Vgl. E. J. Goodspeed, The Formation of the
240 Gegen H. v. Campenhausen, Die Entstehung New Testament, Chicago 21927, 28; C. L. Mitton,
der christlichen Bibel, 207: „Aber durch Markions Formation, 44–49. 75 f; jetzt bes. D. Trobisch, Pau-
Bibel war nun auch die weitere Frage nach dem lusbriefsammlung, 113–117.
Rang und dem Platz der Paulusbriefe unabweis- 243 Vgl. zu den antiken Briefsammlungen D. Tro-
bar geworden.“ bisch, a. a. O., 84–104.
Die Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des Kanons 399
244 FÜr Korinth als Ursprungsort der Paulusbrief- des von ihm als pseudepigraphisch eingestuften
sammlung votieren z. B. Th. Zahn, Geschichte des Corpus Ignatianum votiert R. M. HÜbner, Thesen
Neutestamentlichen Kanons I/2, 836 f; A. v.Har- zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des
nack, Briefsammlung, 8–10; W. Schmithals, Zur Ignatius von Antiochien, ZAC 1 (1997), 44–72.
Abfassung und Èltesten Sammlung, 243 f. Dagegen A. Lindemann, Antwort auf die „Thesen
245 FÜr Rom plÈdiert z. B. H. Lietzmann, EinfÜh- zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des
rung, 3. Ignatius von Antiochien“, ZAC 1 (1997), 185–194
246 Die ‚Ur-Corpora‘ dÜrften zwischen 80–90 (er hÈlt die Briefe fÜr authentisch, datiert sie aber
n. Chr. entstanden sein; vgl. K. Aland, Corpus um 130 n. Chr.); T. Nagel, Rezeption des Johan-
Paulinum, 336. nesevangeliums (s. u. 8.5.1), 207 f; W. Uebele, Die
247 Vgl. A. Lindemann, Paulus im Èltesten Chri- Gegner in den Briefen des Ignatius von Antio-
stentum (s. o. 5), 177–199. chien und in den Johannesbriefen (s. u. 8.4.1),
248 Vgl. K. Aland, Methodische Bemerkungen 20–27.
zum Corpus Paulinum bei den KirchenvÈtern des 250 Vgl. A. Lindemann, Paulus im Èltesten Chri-
zweiten Jahrhunderts, in: Kerygma und Logos stentum (s. o. 5), 199–221.
(FS C. Andresen), hg. v. A. M. Ritter, GÚttingen 251 Vgl. a. a. O., 221–232.
1979, (29–48) 33 ff. 252 Vgl. H. Lietzmann, EinfÜhrung, 3.
249 FÜr eine SpÈtdatierung (ca. 165–175 n. Chr.)
400 Exkurs 2
Die weitere Entwicklung im 2. Jh. zeigt, daß sowohl die kleineren als auch
die grÚßeren Paulusbriefsammlungen von Anfang an nicht einheitlich waren. So
stellte Markion aus dogmatischen GrÜnden den fÜr seine Theologie grundlegen
den Gal an den Anfang seiner Sammlung (Gal/1. 2 Kor/RÚm/1. 2 Thess/ Laod [=
Eph]; Kol/Phil/Phlm). Die anderen Briefe ordnete Markion entsprechend ihrer
LÈnge, wobei er die Korintherbriefe und die Thessalonicherbriefe als Einheit
zÈhlte253. Der um 200 n. Chr. entstandene Kanon Muratori folgt bei seiner Auf
zÈhlung der Paulusbriefe wahrscheinlich einer ihm vorliegenden Handschrift
und bietet die Reihenfolge: 1. 2 Kor; Eph; Phil; Kol; Gal; 1. 2 Thess; RÚm; Phlm;
Tit; 1. 2 Tim. Eine Anordnung nach der LÈnge der Briefe scheint in P46 (um 200
n. Chr.) vorzuliegen: RÚm; Hebr; 1. 2 Kor; Eph; Gal; Phil; Kol; 1(2)Thess (Ab
bruch des Textes)254.
Die frÜhesten Kanonsverzeichnisse lassen kein allgemeingÜltiges Anord
nungsprinzip erkennen. Sie bestÈtigen insofern die Vermutung, daß sich das
Corpus Paulinum aus kleineren Sammlungen bildete, zu denen wahrscheinlich
1. 2 Kor; Gal; RÚm; Hebr; Eph; Phil und 1. 2 Thess gehÚrten. Im Verlauf der Àber
lieferung kamen weitere Schriften hinzu, und die Anordnung nach der BrieflÈn
ge und eine Unterteilung zwischen Briefen an Einzelgemeinden und an Einzel
personen deuten sich an, ohne bereits anerkanntes Prinzip zu sein.
Die HerrenwortÛberlieferung und das christlich interpretierte Alte Testament
(LXX/MT)255 bilden den Ausgangspunkt der urchristlichen Traditionsbildung.
Am Anfang des Prozesses der Kanonsbildung stehen die Sammlungen der Paulus
briefe 256. Mit ihnen gewinnt die Tradition eine erste interpretierbare Gestalt. Es
253 Zur ‚Bibel‘ Markions vgl. A.v. Harnack, Mar- 47, daß gegen Ende des 1. Jhs. n. Chr. ein atl. Ka-
cion (s. o. 5.5.3), 35 ff. non von 22 (24) Schriften als selbstverstÈndlich
254 Vgl. zu dieser Handschrift D. Trobisch, Paulus- vorausgesetzt werden darf.
briefsammlung, 26–28. Die ungewÚhnliche Stel- 256 Dies ergibt sich m. E. aus chronologischen
lung des Hebr (kÜrzer als der 1Kor) dÜrfte mit der GrÜnden und der Beobachtung, daß bei den Pau-
Àberlieferung des RÚm in Verbindung stehen. lusbriefen zuerst ein Rezeptionsvorgang einsetzt;
255 A. M. Ritter, Entstehung des Kanons, 93 f, be- vgl. E. J. Goodspeed, The Editio princeps of Paul,
tont mit Recht, daß bedeutende Theologen der JBL 64 (1945), 193–204; C. L. Mitton, Formation,
Alten Kirche sich auch immer um den hebrÈi- 58 ff; A. Lindemann, Paulus im Èltesten Christen-
schen Bibeltext bemÜhten (Origenes, Lukian von tum (s. o. 5), 33–35; F. Hahn, Die Heilige Schrift
Antiochien, Hieronymus). Zum atl. Kanon vgl. als Èlteste christliche Tradition und als Kanon, in:
G. Wanke, Art. Bibel I, TRE 6 (1980), 1–8. Der atl. ders., Exegetische BeitrÈge zum Úkumenischen
Kanon wurde nicht auf der ‚Synode‘ von Jabne GesprÈch, GÚttingen 1986, 34; F. Stuhlhofer, Ge-
festgelegt, sondern bildete sich in einem langen brauch der Bibel, 108–112; Th. SÚding, Erweis
Prozeß, der um 100 n. Chr. an den RÈndern noch des Geistes und der Kraft, 206. Faktisch vertritt
nicht vollstÈndig abgeschlossen war (vgl. G. Stem- auch Th. Zahn, Grundriß der Geschichte des Neu-
berger, Jabne und der Kanon, JBTh 3 (1988), testamentlichen Kanons, Wuppertal 31985 (=
163–174; ferner H. P. RÜger, Das Werden des Leipzig 21904), 35–41, diese Position, wenn er bei
christlichen Alten Testaments, a. a. O., 175–189). den Èltesten Spuren des Kanons die Paulusbriefe
Zugleich bezeugen Jos, Ap I 38–41; 4 Esr 14, 44– zuerst behandelt. DemgenÜber wertet B. M. Metz-
Die Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des Kanons 401
setzt ein Rezeptionsvorgang ein, der in unterschiedlicher Weise auch bei ande
ren Schriften der urchristlichen Literatur vorauszusetzen ist. Erste Konturen ge
winnt dieser Prozeß bei den Apostolischen VÇtern . Sie zitieren mit großer Selbst
verstÈndlichkeit das Alte Testament (LXX) als grafv´ und rezipieren neben den
Paulusbriefen in unterschiedlicher Weise JesusÜberlieferungen. AnklÈnge an die
synoptische Tradition finden sich bei 1Klem, Did, Ign, Barn, Herm, Polyk,
2Klem. Den Worten Jesu wird hÚchste AutoritÈt zuerkannt, ohne daß bereits
eine kanonische Stellung der Evangelien erkennbar wÈre. Der 1 Klem verweist
an keiner Stelle auf ein schriftliches Evangelium257. BerÜhrungen mit den Syn
optikern (vgl. 1 Klem 13, 2; 46,8) gehen auf die mÜndliche Tradition zurÜck. Die
Did meint mit ‚dem Evangelium‘ in Kap. 8, 2; 11, 3; 15, 3. 4 das MatthÈusevange
lium258, so daß diese um 110 n. Chr. entstandene Schrift259 die einsetzende Au
toritÈt des einen Großevangeliums bezeugt. Auch Ign kannte die synoptische
Àberlieferung, ob ihm das MatthÈusevangelium in schriftlicher Form vorlag, ist
umstritten260. Mehrfach spricht Ign vom ‚Evangelium‘ (IgnPhld 5, 1. 2; 8, 2261;
9, 2; IgnSm 5, 1; 7, 2), ohne sich dabei auf eine feste literarische GrÚße zu bezie
hen. Eine Kenntnis des MatthÈus und Lukasevangeliums ist bei Polyk zu ver
muten (vgl. Phil 2, 3; 7, 2), beide Evangelien fungierten jedoch nicht als ‚Heilige
Schrift‘. Ob der Autor des Barn (um 130 n. Chr.) das MatthÈusevangelium
kannte, ist unsicher (vgl. aber Barn 4, 14), fÜr ihn ist das Alte Testament die
Schrift. Bei Herm finden sich Hinweise auf die synoptische Tradition (vgl. sim IX
20, 1 f; mand IV 1, 1; IX 8; vis 2, 6), der Autor kannte um 140 n. Chr. in Rom si
cherlich Evangelien, fÜhrte sie jedoch nicht als AutoritÈt an262. Im 2 Klem begeg
net eine grÚßere Anzahl von Logien synoptischen Typs (vgl. 2 Klem 2, 4; 3, 2;
ger, Der Kanon des Neuen Testaments, 243–248, lung „etwa zwischen 110 und 120 n. Chr.“ aus).
die ZitationshÈufigkeit als Beleg fÜr die These, 257 Vgl. dazu A. Lindemann, Die Clemensbriefe,
daß die Evangelien zuerst kanonische AutoritÈt HNT 17, TÜbingen 1992, 18.
gewannen. NatÜrlich besaß die Jesus-Tradition 258 Vgl. hierzu K. Wengst, Schriften des Urchri-
gegenÜber der Paulus-Àberlieferung im Urchri- stentums II (s. o. 3.1.4), 24–32.
stentum und der Alten Kirche aus theologischen 259 Vgl. K. Niederwimmer, Die Didache, KAV 1,
GrÜnden ein klares Àbergewicht. Diese Wertig- GÚttingen 1989, 79.
keit kann aber nicht einfach auf den Kanonspro- 260 Vgl. dazu H. KÚster, Synoptische Àberliefe-
zeß Übertragen werden! Die Evangelien als rung bei den Apostolischen VÈtern, TU 65, Berlin
Sammlungen von Herrenworten gewinnen erst 1957, 24–61; H. Paulsen, Studien zur Theologie
in der Mitte des 2. Jhs. erkennbar AutoritÈt, ein des Ignatius von Antiochien, FKDG 29, GÚttingen
Prozeß, der bei den Paulusbriefen deutlich frÜher 1978, 37–39.
einsetzt (anders Th. Zahn, Grundriß, 41, der be- 261 Mit den ‚Urkunden‘ dÜrften an dieser Stelle
hauptet, bereits zwischen 80–110 n. Chr. habe der die Schriften des Alten Testaments gemeint sein;
viergestaltige Evangelienkanon Geltung beses- vgl. W. Bauer – H. Paulsen, IgnPhld (s. o. 2.9.6),
sen). Th. K. Heckel, Vom Evangelium des Markus 86.
zum viergestaltigen Evangelium, 353, geht von 262 Vgl. H. KÚster, Synoptische Àberlieferung,
einer Entstehungszeit der Vierevangeliensamm- 242–256.
402 Exkurs 2
263 Vgl. hier K. Wengst, Schriften des Urchristen- seine Theologie, FKDG 9, GÚttingen 1960; ferner
tums II (s. o. 3.1.4), 217–224; A. Lindemann, Die R. M. Grant, Tatian and his Bible, in: Studia Patri-
Clemensbriefe, 192–195. stica 5, hg. v. K. Aland – F. L. Cross, TU 63, Berlin
264 Vgl. W. Schneemelcher, Art. Bibel, 31 f. 1957, 297–306.
265 Daneben bezieht sich Justin auf die Offb; die 267 Vgl. H. v.Campenhausen, Die Entstehung der
Paulusbriefe werden nicht genannt, wohl aber christlichen Bibel, 213 ff; W. Schneemelcher,
vorausgesetzt. Zu Justin vgl. H. v.Campenhausen, Haupteinleitung, 19. Zur Rezeption ntl. Schriften
Die Entstehung der christlichen Bibel, 106–121; bei IrenÈus vgl. J. Hoh, Die Lehre des Hl. IrenÈus
E. F. Osborn, Justin Martyr, BHTh 47, TÜbingen Über das Neue Testament, NTA VII/4. 5, MÜnster
1973. 1919.
266 Zu Person und Werk vgl. M. Elze, Tatian und
Die Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des Kanons 403
die Gemeinde grÜndeten. Nach deren Tod schrieb Markus, JÜnger und Dolmet
scher des Petrus, dessen VerkÜndigung in einem Buch nieder. Lukas, der Beglei
ter des Paulus, schrieb das von jenem verkÜndete Evangelium nieder. Zuletzt
gab Johannes, der JÜnger des Herrn, der auch an seiner Brust lag, selbst das
Evangelium heraus, als er in Ephesus in Asien weilte.“268 Ferner sind fÜr IrenÈus
die Apostelgeschichte und die 13 Paulusbriefe (Phlm wird nicht zitiert)
Schrift269. Von den katholischen Briefen erwÈhnt IrenÈus 1 Petr; 1. 2 Joh; die
Offb ist bekannt, und Herm wird als grafv´ angefÜhrt (Haer IV 20, 2). Nach Eu
seb (HE V 26) kannte IrenÈus auch den HebrÈerbrief. Die Vierzahl der Evange
lien ist fÜr IrenÈus bereits eine vorgegebene GrÚße, er verteidigt sie ausdrÜcklich,
die vier lebendigen Tiere aus Offb 4,7 symbolisieren die vier Evangelien (Haer III
11,8). Um 180 n. Chr. existierte somit (zumindest fÜr den SÜden Frankreichs)
ein dreiteiliges NT, das lediglich in seinem 3. Teil noch offen war. IrenÈus sieht
in den ihm als normativ geltenden Schriften (vornehmlich in den vier Evange
lien) das eine Evangelium niedergelegt, das die Apostel verkÜndeten und Über
lieferten und das in den apostolischen Kirchen von den in der Sukzession ste
henden BischÚfen und Presbytern treu bewahrt wurde270. IrenÈus reflektiert
nicht Über den Kanon, setzt aber das Kanonsprinzip voraus. Als Kriterium sach
gemÈßer Theologie dient ihm in der Auseinandersetzung mit Gnostikern die
Wahrheitsregel (kanẁn tv˜ß alvXeı´aß, vgl. Haer I 9, 4; II 27, 1; 28, 1; III 2, 1; 11, 1;
12, 6; 15, 1). Sie beinhaltet die Lehre Jesu Christi in der Gestalt der gesicherten
apostolischen Àberlieferung, die in der Taufe empfangen und in den Glaubens
bekenntnissen271 wiedergegeben wird. Der VerkÜrzung und VerfÈlschung der
Gnostiker stellt IrenÈus die klare Lehre der Kirche gegenÜber. FÜr ihn ist deut
lich, „daß die von der Kirche verkÜndigte Lehre verlÈßlich ist, das DenkgebÈude
dieser Leute aber LÜge“ (Haer I 9, 5).
FÜr das Werden eines zweiteiligen Kanons aus Altem und Neuem Testament
am Ende des 2. Jhs. zeugt auch der Brief der Gemeinden von Vienne und Lyon
an die GlaubensbrÜder in Kleinasien, wo die Offb als grafv´ zitiert wird (vgl. Eu
seb, HE V 1, 58). Der Apologet Athenagoras (um 180 n. Chr.) zitiert in seinen
Schriften aus dem Alten Testament, dem MatthÈus , Markus und Johannes
evangelium sowie einigen Paulusbriefen, ohne sie jedoch ausdrÜcklich zu nen
nen. Um 180 n. Chr. gibt Melito von Sardes eine Zusammenstellung des atl. Ka
nons (vgl. Euseb, HE IV 26, 14: tà tv˜ß palaiãß diaXv´kvß biblı´a), die vermuten
lÈßt, „daß er sich in Èhnlicher Weise bemÜht hat, die authentischen neutesta
268 Iren, Haer III 1, 1 = Euseb, HE V 8, 2–4. vgl. dazu K. Beyschlag, Grundriß der Dogmenge-
269 Vgl. die Texte bei E. Preuschen, Analecta II, schichte I (s. o. 2.5.8), 165–189.
Leipzig 21919, 12–17. 271 Vgl. dazu J. N. D. Kelly, Altchristliche Glau-
270 Diese Kriterien werden oft als ‚katholische bensbekenntnisse, GÚttingen 1972, 80–86.
Normen‘ bezeichnet: regula fidei, Kanon, Amt;
404 Exkurs 2
272 B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testa- Muratori bes. H. v.Campenhausen, Die Entste-
ments, 125. hung der christlichen Bibel, 282–303. Eine um-
273 Vgl. W. C. van Unnik, KV kainv` diaXv´kv – A strittene SpÈtdatierung des Kanon Muratori
Problem in the early History of the Canon, in: (4. Jh. n. Chr. im Osten des rÚmischen Reiches)
ders., Sparsa Collecta 2, NT.S 30, Leiden 1980, vertreten A. C. Sundberg, Canon Muratori: A
157–171. Fourth-Century List, HThR 66 (1973), 1–41;
274 Texte bei E. Preuschen, Analecta II, 24–26. G. M. Hahneman, The Muratorian Fragment and
275 Allerdings schrieb Paulus nach Clemens den the Development of the Canon, Oxford 1992.
Hebr in hebrÈischer Sprache, Lukas habe ihn 278 Obwohl der Text verstÜmmelt ist, besteht in
dann Übersetzt. der Forschung ein Konsens, daß sich Z. 1 auf das
276 Texte bei E. Preuschen, Analecta II, 18–24. Markusevangelium bezieht und davor das Mat-
277 Der Text ist abgedruckt bei W. Schneemel- thÈusevangelium erwÈhnt wurde; vgl. B. M.
cher, Haupteinleitung, 27–29; vgl. zum Kanon Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments, 188.
Die Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des Kanons 405
dreizehn Paulusbriefe gelten als ‚Heilige Schrift‘. Noch offen hingegen ist die
Stellung einzelner Schriften aus dem Bereich der katholischen Briefe; umstrit
ten sind vor allem der Hebr und die Offb. Als Kriterien der Kanonsbildung die
nen ApostolizitÇt , regula fidei sowie Gebrauch und Anerkennung in allen Kirchenge
bieten .
Welche Bedeutung hatten Gnosis, Markion und die Montanisten fÜr die ent
scheidende Phase der Kanonsbildung im 2. Jh.? Die christliche Gnosis entwik
kelte ihre Systeme zu einem wesentlichen Teil in der eigenwilligen Auslegung
des Alten Testaments und spÈter als kanonisch geltender ntl. Schriften279. So
wohl Basilides und Karpokrates als auch Valentinus und seine SchÜler waren
Exegeten. Die erste Auslegung einer ntl. Schrift ist der Johanneskommentar des
ValentinschÜlers Herakleon (2. HÈlfte des 2. Jhs.)280. DarÜber hinaus schufen
und benutzten gnostische Gemeinschaften zahlreiche apokryphe Schriften281.
Dadurch zwangen sie die Kirche zur Bestimmung und Sicherung der normativen
Tradition.
Große Bedeutung fÜr die Kanonsbildung kommt in der Mitte des 2. Jhs. Mar
kion (ca. 85 160 n. Chr.) zu, der als erster eine Sammlung autoritativer urchrist
licher Schriften bestimmte282. Ein revidiertes Lukasevangelium und eine von
angeblich judaistischen Interpolationen befreite Fassung von zehn Paulusbriefen
bildeten den ‚Kanon‘ seiner Kirche. Dieser ‚Bibel‘ ordnete Markion seine ‚Anti
thesen‘ zu, ein Werk, das seine exegetischen und systematischen Entscheidun
gen begrÜndete (s. o. 5.5.3). Den Gegensatz von Gesetz und Evangelium verband
Markion mit der Vorstellung zweier GÚtter, dem SchÚpfergott, der mit dem Ge
setz regiert, und dem ‚fremden‘ Gott, der im Evangelium barmherzig und gut
handelt. WÈhrend das Alte Testament vom SchÚpfergott kÜndet, verkÜndigt das
von VerfÈlschungen gereinigte Apostolikon und Evangelium den in Jesus Chri
stus erschienenen guten, gerechten Gott. Nach A. v.Harnack ist Markion „der
SchÚpfer der christlichen heiligen Schrift“283. Mit dem Kanon tritt somit schlag
279 Vgl. hierzu G. Heinrici, Die valentinianische mentliche Apokryphen I, TÜbingen 41968, 158–
Gnosis und die heilige Schrift, Berlin 1871; Carola 271; W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche
Barth, Die Interpretation des Neuen Testaments Apokryphen I (s. o. 3.5.2.), 189–329 (dort auch
in der Valentinianischen Gnosis, Leipzig 1911; wichtige Nag-Hammadi-Texte).
B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments, 282 Neben der grundlegenden Studie von
81–95; vgl. ferner D. LÜhrmann – E. Schlarb, Frag- A. v.Harnack, Marcion (s. o. 5.5.3), vgl. hierzu
mente apokryph gewordener Evangelien, MThSt H. v.Campenhausen, Die Entstehung der christli-
59, Marburg 2000. chen Bibel, 173–193; A. Lindemann, Paulus im Èl-
280 Vgl. Elaine Pagels, The Johannine Gospel in testen Christentum (s. o. 5), 378–395; B. Aland,
Gnostic Exegesis: Heracleon's Commentary on Art. Marcion/Marcioniten, TRE 22 (1991), 89–
John, New York 1973, 57. 101; B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testa-
281 Vgl. die Àbersicht bei H.Chr. Puech, Gnosti- ments, 96–103.
sche Evangelien und verwandte Dokumente, in: 283 A. v.Harnack, Marcion (s. o. 5.5.3), 151.
E. Hennecke – W. Schneemelcher (Hg.), Neutesta-
406 Exkurs 2
284 Vgl. A. v.Harnack, Lehrbuch der Dogmenge- RÚm) als Quelle. Es umfaßte nur zehn Paulus-
schichte I, TÜbingen 51931, 378. 387. briefe in der Reihenfolge Gal 1.2. Kol RÚm (nur
285 H. v.Campenhausen, Die Entstehung der 14 Kapitel!) 1.2. Th Laod (=Eph) Kol (Phlm?) Phil
christlichen Bibel, 174. (Phlm?) und es ist die Èlteste belegbare Paulus-
286 Vgl. A. Lindemann, Paulus im Èltesten Chri- briefsammlung.“
stentum (s. o. 5), 381. Lindemann weist zudem 288 Vgl. W. G. KÜmmel, Einleitung, 431;
nach, daß von dem oft behaupteten ‚Verschwei- W. Schneemelcher, Art. Bibel, 37; O. Merk, Art.
gen‘ des Paulus im Verlauf des 2. Jhs. (Herm, Just, Bibelkanon, 472; A. M. Ritter, Entstehung des Ka-
Hegesipp) nicht die Rede sein kann; vgl. a. a. O., nons, 96; B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen
263 ff. Testaments, 103.
287 Vgl. dazu U. Schmid, Marcion und sein Apo- 289 Vgl. als EinfÜhrung W. H. C. Frend, Art. Mon-
stolos, 296, wonach es als bewiesen gelten muß, tanismus, TRE 23 (1993), 271–279; zur Kanons-
„daß es ein vormarcionitisches Corpus Paulinum geschichte vgl. H. Paulsen, Die Bedeutung des
gegeben hat. Es war chronologisch geordnet und Montanismus fÜr die Herausbildung des Kanons,
hatte wahrscheinlich eine Èltere (gleichfalls chro- VigChr 32 (1978), 19–52; B. M. Metzger, Der Ka-
nologisch geordnete) Teilsammlung (Gal 1.2. Kor non des Neuen Testaments, 104–110.
Die Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des Kanons 407
viele neue Schriften (vgl. Euseb, HE VI 20, 3: kainàß grafáß) und rezipierten vor
allem das Johannesevangelium und die Johannesoffenbarung. Dadurch bewirk
ten sie eine heftige Debatte um die LegitimitÈt dieser beiden Schriften (Aloger,
Gaius)290 und fÚrderten so das Bewußtsein fÜr die normative Tradition. Der
Montanismus war nicht „das auslÚsende Moment fÜr die Konzentration des Ka
nons in einem ‚Neuen Testament‘“291, sondern er trieb wie Markion den Prozeß
der Kanonsbildung voran.
Die Konsolidierung des Kanons im 3. Jh. und sein maßgeblicher Abschluß im
4. Jh. wurden wesentlich durch die Territorialgeschichte der jeweiligen Kirchen
gebiete geprÈgt.
Durch seine umfassende ReisetÈtigkeit wurde Origenes (ca. 185 254 n. Chr.)
nicht nur zu einem wichtigen Zeugen der Kanonsgeschichte des griechischspre
chenden Ostens 292. Er stellte als erster fest, welche Schriften allgemeine kirchliche
GÜltigkeit besaßen (vgl. Euseb, HE VI 25). Dabei unterschied er drei Klassen: 1)
omologou´mena, d. h. allgemein anerkannte Schriften (vier Evangelien, Apg, 13
Paulusbriefe, 1 Petr, 1 Joh, Offb). 2) amfiballómena, d. h. Schriften, Über deren
Echtheit Zweifel bestehen (2Petr, 2. 3 Joh, Hebr293, Jak und Jud). 3) yeudv˜, d. h.
lÜgnerische, von HÈretikern verfaßte Schriften (Thomas , gypter , Matthias
und Basilidesevangelium). Bei einigen Schriften schwankt Origenes, die Ka
nonsgrenzen sind noch nicht genau bestimmt. Umstritten blieb im Osten vor al
lem die Offb. Um die Mitte des 3. Jhs. verwarf sie Bischof Dionysius von Alex
andrien als Schrift des Apostels Johannes und schrieb sie einem unbekannten
Johannes zu (vgl. Euseb, HE VII 25). Dieses Urteil wirkte lange nach, noch Euseb
(ca. 264 340 n. Chr.) bemerkt in seiner vor 300 n. Chr. begonnenen Kirchenge
schichte, man kÚnne die Offb zu den Homologumena zÈhlen, „wenn man will“
(HE III 25, 2)294. Unzweifelhaft gehÚren dazu: vier Evangelien, Apg, 14 Paulus
briefe (incl. Hebr295), 1 Petr, 1 Joh. Die 2. Kategorie bilden Schriften, die in man
chen Kirchengebieten anerkannt, in anderen verworfen werden (antilegómena):
Jak, Jud, 2Petr, 2. 3 Joh. Zu den abgelehnten, falschen (nóXa) BÜchern zÈhlt er
Herm, Barn, Did, Paulusakten, Petrusapokalypse, HebrÈerevangelium und auch
290 Vgl. S. G. Hall, Art. Aloger, TRE 2 (1978), 290– paulinisch erklÈren, bemerkt aber zugleich: „Wer
295. diesen Brief jedoch geschrieben hat, weiß wahr-
291 So H. v.Campenhausen, Die Entstehung der haftig nur Gott (Euseb, HE VI 25, 14: tı´ß de` o
christlichen Bibel, 257. gráyaß tv`n epistolv´n, tò me`n alvXe`ß Xeo`ß oıÓden ).
292 Vgl. hierzu B. M. Metzger, Der Kanon des 294 Zu Euseb vgl. A. D. Baum, Der neutestament-
Neuen Testaments, 135–141. liche Kanon bei Eusebios (Hist. Eccl. III, 25, 1–7)
293 Origenes hÈlt die Gedanken des Hebr fÜr pau- im Kontext seiner literaturgeschichtlichen Arbeit,
linisch, nicht hingegen Ausdruck und Stil. Seinen EThL LXXIII (1997), 307–348.
Informationen nach sollen Klemens von Rom 295 Vgl. aber Euseb, HE III 3, 4; 38, 1–3, wo er ab-
oder Lukas den Brief geschrieben haben. Er kann weichende Meinungen referiert.
akzeptieren, wenn Gemeinden diesen Brief fÜr
408 Exkurs 2
die Offb (HE III 25, 4). Die zweifache Nennung der Offb zeigt, daß in EinzelfÈllen
ein Konsens auch in spÈterer Zeit noch nicht erzielt war, auch Cyrill von Jerusa
lem, Gregor von Nazians und Amphilochius von Ikonium verwarfen die Offb.
Dies bestÈtigt der Codex Claramontanus (DP, 6. Jh.), wo sich zwischen dem Phi
lemon und HebrÈerbrief eine lateinisch Überlieferte, ursprÜnglich aber grie
chisch geschriebene Liste der biblischen BÜcher findet, die wahrscheinlich um
300 n. Chr. verfaßt wurde296. Als ‚kanonisch‘ gelten hier neben den vier Evange
lien und den Paulusbriefen297 auch die sieben katholischen Briefe und die Offb,
wÈhrend der Hebr fehlt. Das Verzeichnis fÜhrt auch Barn, Herm, die Paulusakten
und die Petrusapokalypse an. Vor allem im Osten war die Zahl der katholischen
Briefe lange Zeit umstritten (vgl. Euseb). Erst mit dem 39. Osterfestbrief des
Athanasius (367 n. Chr.) setzte sich die Siebenzahl durch298. Folgende 27 Schrif
ten gelten in diesem Verzeichnis uneingeschrÈnkt als ‚Quellen des Heils‘: vier
Evangelien, Apg, sieben katholische Briefe, vierzehn Paulusbriefe (incl. Hebr),
Offb. Dieser AufzÈhlung fÜgt Athanasius hinzu: „Dieses sind die Quellen des Hei
les, auf daß der DÜrstende sich an den in ihnen enthaltenen Worten Übergenug
labe. In ihnen allein wird die Lehre der FrÚmmigkeit verkÜndigt. Niemand soll
ihnen etwas hinzufÜgen oder etwas von ihnen fortnehmen . . .“299. Dennoch
blieb die Stellung der Offb in der griechischen Kirche Über Jahrhunderte umstrit
ten. So zÈhlt die Stichometrie des Nikephoros aus dem 9. Jh. die Offb ausdrÜck
lich nicht zum Kanon.
Im lateinischen Westen schritt die Entwicklung zu einem Abschluß des Kanons
schneller voran. Allerdings war die kanonische Geltung einzelner katholischer
Briefe und vor allem des Hebr als Paulusbrief lange umstritten. So zÈhlt Gaius
den Hebr nicht zu den Paulusbriefen300 und auch der Kanon Muratori ignoriert
ihn. Cyprian (gest. 258 n. Chr.) bezeugt die vier Evangelien, Apg, dreizehn Pau
lusbriefe, 1 Petr, 1 Joh, Offb, nicht hingegen Jak, 2Petr, 2. 3 Joh und Hebr. In ei
nem nordafrikanischen Kanon (‚Kanon Mommsen‘, entstanden um 360 n. Chr.)
fehlen Jak, Jud und Hebr301. Auch Ambrosiaster (um 370 n. Chr.) und Pelagius
(ca. 360 418 n. Chr.) zÈhlen Hebr nicht zu den Paulusbriefen. Erst unter dem
296 Vgl. dazu Th. Zahn, Geschichte des Neutesta- dann, neben die Briefe des Paulus die der drei ‚Ur-
mentlichen Kanons II/1, 157–172; anders A. JÜli- apostel‘ zu stellen, um ein gemeinsames Zeugnis
cher (- E. Fascher), Einleitung, 525. der Apostel fÜr die kirchliche Lehre zu dokumen-
297 Phil, 1. 2 Thess fehlen wahrscheinlich aus Ver- tieren“ (ders., Gal 2,9 und die katholischen Briefe,
sehen. 72).
298 D. LÜhrmann vermutet, daß die Siebenzahl 299 Text nach W. Schneemelcher, Haupteinlei-
als bereits seit dem Kanon Muratori vorgegebenes tung, 40.
Ordnungsprinzip im Zusammenhang mit Gal 2,9 300 Vgl. Euseb, HE VI 20, 3, wo Euseb zudem aus-
gesehen werden muß: „Sinn der Erweiterung des drÜcklich vermerkt: „Noch bis heute gilt er bei ei-
Briefteils des NT Über das Corpus Paulinum hin- nigen RÚmern nicht als Schrift des Apostels.“
aus durch gerade diese katholischen Briefe ist 301 Text bei E. Preuschen, Analecta, 36–40.
Die Sammlung der Paulusbriefe und das Werden des Kanons 409
Einfluß der Kanonsliste des Athanasius und des Wirkens des Hieronymus (347
420 n. Chr.) setzte sich auch im Westen der Kanon mit 27 Schriften durch. Das
Decretum Gelasianum302 enthÈlt eine Kanonsliste, die wahrscheinlich auf eine
rÚmische Synode im Jahr 382 n. Chr. zurÜckgeht. Sie umfaßt die 27 BÜcher des
athanasianischen Kanons, allerdings in anderer Reihenfolge. Die Synode von
Hippo Regius (393 n. Chr.) und die Synode von Karthago (397 n. Chr.) nahmen
den Hebr in den Kanon auf, unterschieden ihn aber deutlich von den Paulus
briefen. Erst auf einer weiteren Synode 419 n. Chr. wird der Hebr ausdrÜcklich
zu den Paulusbriefen gerechnet303. Seit der Wende vom 4. zum 5. Jh. ist in der
lateinischen Kirche der Kanon abgeschlossen und akzeptiert.
Eine Sonderentwicklung vollzog sich in den Kirchengebieten mit syrischer
Sprache 304. Bis in das 5. Jh. hinein blieb das Diatessaron Tatians in vielen Ge
meinden in Geltung. Daneben wurden die Paulusbriefe (einschließlich Hebr,
aber ohne Phlm) und Apg mitbenutzt, es fehlten die katholischen Briefe und die
Offb. DarÜber hinaus kannte Ephraem (ca. 306 373) den sogen. 3. Korinther
brief und hielt ihn fÜr kanonisch. Die Èltesten syrischen Àbersetzungen der vier
Evangelien, der Apg und der 14 Paulusbriefe entstanden um 300 n. Chr. (Vetus
Syra). Mit der am weitesten verbreiteten syrischen Version der Bibel, der Pe
schitta (1. HÈlfte des 5. Jhs.), vollzog sich eine Angleichung an den griechischen
Kanon. Der 3. Korintherbrief wurde nicht mehr genannt, neben den Evangelien,
der Apg und den vierzehn Paulusbriefen (incl. Hebr) erschienen nun auch die
drei großen katholischen Briefe (Jak, 1 Petr, 1 Joh), weiterhin fehlten 2. 3 Joh,
2Petr, Jud, Offb. Der syrische Kanon bestand damit aus 22 Schriften. FÜr die ost
syrische nestorianische Kirche blieb es bei diesem Kanon. In der monophysiti
schen westsyrischen Kirche wurde 508 n. Chr. die Peschitta im Auftrag von Bi
schof Philoxenus von Mabbug anhand der griechischen Handschriften Überar
beitet (Aufnahme von 2. 3 Joh, 2Petr, Jud, Offb). Dennoch blieb die AutoritÈt
des Jak, 2Petr, Jud, 2. 3 Joh und der Offb Über lange Zeit umstritten.
Der Prozeß der ntl. Kanonsbildung wurde wesentlich von den Gemeinden
getragen und bestimmt, in denen die einzelnen Schriften AutoritÈt besaßen.
Nicht autoritative Setzungen305 von Einzelpersonen, Bewegungen oder Syno
302 Text bei W. Schneemelcher, Haupteinleitung, geren Sammlungsprozesses, sondern die Publika-
30–33. tion eines Herausgeberkreises im 2. Jh. n. Chr. Er
303 Zur wechselvollen Rezeptionsgeschichte des vermutet, „daß Joh 21 ein Editorial nicht nur
Hebr vgl. F. Stuhlhofer, Gebrauch der Bibel, 105– zum Johannesevangelium, sondern zum Vier-
108. Evangelien-Buch darstellt und, da die Evange-
304 Vgl. hierzu B. M. Metzger, Der Kanon des liensammlung das HerzstÜck der Kanonischen
Neuen Testaments, 209–218. Ausgabe bildet, auch als Editorial zum gesamten
305 VÚllig anders D. Trobisch, der mit Hinweis auf Neuen Testament verstanden werden kann"
die HandschriftenÜberlieferung behauptet, das (D. Trobisch, Endredaktion, 125). Ziel der Endre-
Neue Testament sei nicht das Ergebnis eines lÈn- daktion sei es gewesen, den im Gal erwÈhnten
410 Exkurs 2
den306 riefen die Sammlung Heiliger Schriften hervor, sondern es handelte sich
um einen Vorgang mit innerer Folgerichtigkeit und Notwendigkeit: Das Alte Te
stament als bereits bestehender Kanon, der Selbstanspruch der paulinischen
Briefe und der Evangelien sowie der sich stÈndig vergrÚßernde Abstand zum Ur
sprungsgeschehen erforderten eine Rezeption der fÜr den christlichen Glauben
maßgeblichen Zeugnisse. Markion, die Montanisten und die Bildung der Reichs
kirche im 4. Jh. beschleunigten lediglich diese Entwicklung. Die Kanonsbildung
gehÚrt somit in den Prozeß der notwendigen und folgerichtigen Selbstdefinition
der Kirche. Die Intention der vorherrschenden Anordnung ist offenkundig: Auf
die viergestaltige Darstellung der Jesus Christus Geschichte folgt die Apg als
Àbergang und LektÜreanweisung fÜr die Paulusbriefe, die durch die Schriften
der anderen Apostel ergÈnzt werden; die LektÜre mÜndet schließlich in den
eschatologischen Ausblick der Offb.
Als Sammlungsprozeß war die Kanonsbildung zugleich ein Selektionsvor
gang307. Dabei widerstand die Alte Kirche sowohl der Versuchung der Reduktion
(Markion, Tatian) als auch der Gefahr einer Inflation (Gnosis) maßgeblicher
Schriften308. Mit dem Kanon von 27 Schriften hielt die Kirche an der PluralitÈt
fest, ohne den Pluralismus zum Programm zu machen.
Konflikt zwischen den Jerusalemer AutoritÈten 307 Dies ist ein notwendiger und unumgÈnglicher
und Paulus durch bewußte Leserhinweise zu ent- Prozeß; vgl. Th. Luckmann, Religion –
schÈrfen. Es ist hier nicht der Ort, diese phantasie- Gesellschaft – Transzendenz, in: Krise der Imma-
reiche Hypothese kritisch zu wÜrdigen; hinweisen nenz, hg. v. H.-J. HÚhn, Frankfurt 1996, 121: „Die
mÚchte ich nur auf den merkwÜrdigen Umstand, gesellschaftliche Systematisierung der intersub-
daß Joh 21 eine SchlÜsselrolle in der Argumenta- jektiven Rekonstruktion subjektiver Transzen-
tion von Trobisch spielt, eine Exegese dieses Tex- denzerfahrungen enthÈlt sowohl Auswahl wie
tes jedoch fehlt. FÜr mich besteht kein Zweifel: Verwerfung, Kanonisierung wie Zensur.“
Der alleinige Bezugstext von Joh 21 ist Joh 1–20, 308 Zu den Schriften mit zeitweiliger oder lokaler
nicht aber das gesamte Neue Testament! KanonizitÈt vgl. B. M. Metzger, Der Kanon des
306 Das Wort kanẃn im Sinn von ‚Tabelle autorita- Neuen Testaments, 163–184 (z. B. HebrÈer-,
tiver Schriften‘ erscheint erstmals im Can. 59 der gypter- und Petrusevangelium; Paulus-, Johan-
Provinzialsynode von Laodicea (um 360 n. Chr.); nes und Petrusakten; der 3. Brief des Paulus an
vgl. dazu Th. Zahn, Grundriß, 1–11; B. M. Metz- die Korinther, Laodicenerbrief; Petrusapokalypse,
ger, Der Kanon des Neuen Testaments, 272–276. Apokalypse des Paulus).
6. Der Hebräerbrief
6.1 Literatur
Kommentare
KEK 13: H. F. Weiß, 1991. HNT 14: H. Windisch, 21931; H. Braun, 1984. EKK XVII/1 3;
E. GrÈßer, 1990. 1993. 1997. ThHK 16: H. Hegermann, 1988. ³TK: 20/1: M. Karrer,
2002. NTD 9: A. Strobel, 41991. AncB 36: C. R. Koester, 2001. Hermeneia: H. W. Attrid
ge, 1989. WBC 47 a.b: W. L. Lane, 1991. NIC: F. F. Bruce, 21990.
Monographien
E. KÈsemann, Das wandernde Gottesvolk, FRLANT 55, GÚttingen 21957. F. J. Schierse,
Verheißung und Heilsvollendung. Zur theologischen Grundfrage des HebrÈerbriefes, MThS
9, MÜnchen 1955. E. GrÈßer, Der Glaube im HebrÈerbrief, MThSt 2, Marburg 1965.
G. Theißen, Untersuchungen zum HebrÈerbrief, StNT 2, GÜtersloh 1969. O. Hofius, Kata
pausis, WUNT 11, TÜbingen 1970. H. Zimmermann, Das Bekenntnis der Hoffnung, BBB
47, Bonn 1977. F. Laub, Bekenntnis und Auslegung, BU 15, Regensburg 1980.
W. R. G. Loader, Sohn und Hoherpriester, WMANT 53, Neukirchen 1981. M. Rissi, Die
Theologie des HebrÈerbriefes, WUNT 41, TÜbingen 1987. A. Vanhoye, Structure and Mes
sage of the Epistle to the Hebrews, Rom 1989. L. D. Hurst, The Epistle to the Hebrews. Its
Background of Thought, MSSNTS 65, Cambridge 1990. H. LÚhr, Umkehr und SÜnde im
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Leiden 1994. K. Backhaus, Der Neue Bund und das Werden der Kirche, NTA 29, MÜnster
1996. D. Wider, Theozentrik und Bekenntnis, BZNW 87, Berlin 1997.
AufsÇtze
H. Braun, Die Gewinnung der Gewißheit in dem HebrÈerbrief, ThLZ 96 (1971), 321 330.
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GÚttingen 1990, 144 167. A. Vanhoye, Art. HebrÈerbrief, TRE 14 (1985), 494 505.
F. Laub, ‚Schaut auf Jesus‘ (Hebr. 3, 1). Die Bedeutung des irdischen Jesus fÜr den Glauben
nach dem HebrÈerbrief, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Franke
mÚlle u. K. Kertelge, Freiburg 1989, 417 432. H. Hegermann, Christologie im HebrÈer
412 Der Hebräerbrief
brief, in: AnfÈnge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach u. H. Paulsen, GÚt
tingen 1991, 337 351. F. Laub, ‚Ein fÜr allemal hineingegangen in das Allerheiligste‘
(Hebr 9, 12). Zum VerstÈndnis des Kreuzestodes im HebrÈerbrief, BZ 35 (1991), 65 85.
Th. SÚding, Zuversicht und Geduld im Schauen auf Jesus. Zum Glaubensbegriff des He
brÈerbriefes, ZNW 82 (1991), 214 241. E. GrÈßer, Aufbruch und Verheißung. Ges. Auf
sÈtze zum HebrÈerbrief, hg. v. M. Evang u. O. Merk, BZNW 65, Berlin 1992 (wichtige Auf
satzsammlung). K. Backhaus, Der HebrÈerbrief und die Paulus Schule, BZ 37 (1993),
183 208.
Forschungsberichte
E. GrÈßer, ThR 30 (1964), 138 236; ThR 56 (1991), 113 139. H. Feld, Der HebrÈerbrief,
EdF 228, Darmstadt 1985.
6.2 Verfasser
Die Verfasserfrage gehÚrt zu den großen RÈtseln des HebrÈerbriefes. Im Brief fin
den sich keinerlei Hinweise auf den Autor, eine paulinische Verfasserschaft soll
mÚglicherweise im Briefschluß Hebr 13, 23 f nahegelegt werden: „Wißt, daß un
ser Bruder Timotheus freigekommen ist. Mit ihm, der in BÈlde kommt, werde
ich euch sehen. GrÜßt alle Leitenden und alle Heiligen. Es grÜßen euch die aus
Italien.“ Diese Nachrichten kommen angesichts des vorangehenden Briefinhal
tes unerwartet, so daß der formal an Paulusbriefen orientierte Briefschluß Hebr
13, 22 25 erst sekundÈr hinzugefÜgt sein kÚnnte, mÚglicherweise von dem Her
ausgeber einer Paulusbriefsammlung1. Wird hingegen der Briefschluß fÜr ur
sprÜnglich gehalten, so besagt dies positiv zunÈchst nur, daß der Verfasser des
Hebr seine Schrift im Umkreis paulinischer Theologie verstanden wissen will.
Angesichts dieser Àberlieferungssituation verwundert es nicht, daß im Verlauf
der Auslegungsgeschichte sehr viele PersÚnlichkeiten des Urchristentums zum
Verfasser des Hebr erklÈrt wurden. Das Spektrum reicht von Paulus bis hin zu
Maria, der Mutter des Herrn2. In der neueren Exegese begnÜgt man sich zumeist
mit der Aussage, der Hebr sei von einem uns unbekannten Verfasser geschrieben
worden3. Unbestritten sind die Vertrautheit des Autors mit hellenistisch jÜdi
1 Vgl. E. GrÈßer, Hebr I, 22. FÜr diese These 3 Vgl. in diesem Sinn mit Unterschieden in der
kÚnnte sprechen, daß im Èltesten Textzeugnis P46 EinzelbegrÜndung H. Braun, Hebr, 3; F. F. Bruce,
(um 200 n. Chr.) der Hebr unmittelbar hinter Hebr, 20; H. W. Attridge, Hebr, 6; F. Laub, He-
dem RÚm zu finden ist. Zur wechselvollen Ge- brÈerbrief, SKK 14, Stuttgart 1988, 17; C. P. MÈrz,
schichte des Hebr im Prozeß der Kanonsbildung HebrÈerbrief, NEB 16, WÜrzburg 21990, 18–20;
s. o. Exkurs 2: Die Sammlung der Paulusbriefe E. GrÈßer, Hebr I, 19–22; H. F. Weiß, Hebr, 61.
und das Werden des Kanons.
2 Vgl. dazu die Angaben bei E. GrÈßer, Hebr I,
19–21.
Ort und Zeit der Abfassung 413
schem Bildungsgut, eine umfassende Kenntnis des Alten Testaments und seiner
hellenistisch jÜdischen Auslegungstraditionen und seine hohe rhetorische Ge
staltungskraft. Als Lehrer der Gemeinde (vgl. Hebr 6, 1 f; ferner 5, 12; 13,9), der
zugleich HÚrer ist (vgl. Hebr 1, 2; 2, 1. 3), unternimmt er den Versuch, durch eine
umfassende Neu Interpretation des Christuskerygmas wieder Glaubenszuver
sicht zu wecken. A. Strobel hÈlt Apollos fÜr den mÚglichen Verfasser des Hebr4.
In seiner Person verbinden sich hellenistisch alexandrinische Bildung mit per
sÚnlichem Kontakt zum Apostel Paulus. Auch H. Hegermann stellt den Verfasser
des Hebr in unmittelbare NÈhe zu Paulus, ein Begleiter des Apostels mit jÜdisch
hellenistischer Bildung habe den Hebr verfaßt5. DemgegenÜber hÈlt E. GrÈßer
den halbpseudonymen Charakter des Hebr fÜr keinen Zufall. „Hebr ging aus
theologischen GrÜnden von vornherein in anonymer Gestalt aus.“6 FÜr das
theologische VerstÈndnis der Schrift ist die Verfasserfrage unerheblich, der theo
logisch gewichtige Inhalt des Hebr spricht fÜr sich selbst.
Mit Hebr 13, 23. 24 erhebt der Brief wahrscheinlich den Anspruch, in Italien
(Rom) geschrieben worden zu sein7. FÜr Rom 8 als Abfassungsort sprechen auch
die mÚgliche Aufnahme von Hebr 1, 3 4 in 1 Klem 36, 2 5, zumal hinter beiden
Texten eine beiden Verfassern zugÈngliche Gemeindetradition stehen kÚnnte9,
und die Bezeichnung der Gemeindevorsteher als vgou´menoi in Hebr 13, 7. 17. 24;
1 Klem 1, 3. Sicherheit lÈßt sich hier aber nicht gewinnen. Der Anspruch des He
brÈerbriefes, in Rom geschrieben zu sein, kann auch als Indiz fÜr einen anderen
Herkunftsort gewertet werden, etwa aus dem Osten des Reiches10. Auch die Ab
fassungszeit des Hebr lÈßt sich nur hypothetisch erschließen. Der fehlende Hin
weis auf die TempelzerstÚrung (vgl. aber Hebr 8, 13) gilt vielfach als Argument
fÜr eine Datierung vor 70 n. Chr.11. Allerdings orientiert sich der Hebr nicht am
Tempel, sondern an der StiftshÜtte (vgl. Hebr 9, 1 7), und seine Argumentation
vollzieht sich vÚllig unabhÈngig von historischen Voraussetzungen12. Der Hebr
schaut bereits auf die AnfÈnge der JesusÜberlieferung zurÜck, er verfÜgt Über
ein reflektiertes TraditionsverstÈndnis (vgl. Hebr 2, 3; 13, 7). Die Gemeinde
mußte eine Verfolgung Überstehen (vgl. Hebr 10, 32 34), so daß eine Abfassung
der Schrift zwischen 80 und 90 n. Chr. als wahrscheinlich anzusehen ist13. Die
traditionsgeschichtliche NÈhe zum 1 Klem bestÈtigt den theologiegeschichtlichen
Standort des Hebr am Ende des 1. Jhs. 14.
6.4 Empfänger
Welche Adressatensituation veranlaßte den Autor des Hebr15, einen lógoß tv˜ß
paraklv´sewß (Hebr 13, 22) zu schreiben? Die Gemeinde war gegenÜber der Heils
botschaft ‚schwerhÚrig‘ und trÈge geworden (vgl. Hebr 5, 11; 6, 11. 12). Der Got
tesdienstbesuch lÈßt nach (vgl. Hebr 10, 25), die Gemeinde muß bei den Grund
lagen des Glaubens wieder ganz von vorn anfangen (vgl. Hebr 5, 12 6, 2). Der
Abfall vom Glauben und das damit verbundene Problem der zweiten Buße ist ein
aktuelles Thema in der Gemeinde (vgl. Hebr 6, 4 6; 10, 26 29; 12, 16 f; ferner
3, 12; 12, 25)16. Wer den Glauben verleugnet, tritt den Sohn Gottes mit FÜßen
und verunreinigt das Blut des Bundes (Hebr 10, 29). Wie die WÜstengeneration
steht auch die Gemeinde des Hebr in der Gefahr, die Gnade Gottes geringzuschÈt
zen (vgl. Hebr 3, 7 4, 13; 12, 15). Wenn sie aber im Glauben und im Gehorsam
gegenÜber der Verheißung unerschÜtterlich feststeht, ist es ihr verheißen, im Ge
gensatz zur WÜstengeneration in die eschatologische RuhestÈtte einzugehen. Die
Gemeinde soll die Glaubenszuversicht nicht wegwerfen (vgl. Hebr 10, 35), die
mÜden HÈnde und die wankenden Knie mÜssen gestÈrkt werden (vgl. Hebr
12, 12), damit der Kreuzestod Jesu Christi durch ihr Verhalten nicht zum Spott
wird (vgl. Hebr 6, 6). Die Gemeinde benÚtigt upomonv´ (Hebr 10, 36; vgl. 3, 14;
11 Vgl. F. F. Bruce, Hebr, 22 (vor 70 n. Chr.); ment fÜr seine These, der HebrÈerbrief gehÚre in
A. Strobel, Hebr, 11, (um 60). die Zeit um 70 n. Chr.
12 Vgl. E. GrÈßer, Hebr I, 25 15 Die Àberschrift Pròß KVbraı´ouß wird heute all-
13 Vgl. Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur, gemein zu Recht als sekundÈr angesehen, vgl.
251; F. Laub, Hebr, 19; H. Hegermann, Hebr, 11; E. GrÈßer, Hebr I, 41–45. Vielfach gilt eine Ge-
E. GrÈßer, Hebr I, 25; H. F. Weiß, Hebr, 77; meindegruppe in Rom als Adressat des Hebr; so
C. R. Koester, Hebr, 50–54 (zwischen 60 und 90 zuletzt K. Backhaus, HebrÈerbrief und die Paulus-
n. Chr.). Schule, 196 ff.
14 FÜr K. Aland, Corpus Paulinum bei den Kir- 16 Zur Analyse der Texte vgl. Ingrid Goldhahn-
chenvÈtern, 44, ist die Rezeption des HebrÈerbrie- MÜller, Die Grenze der Gemeinde, GTA 39, GÚt-
fes im 1Klemensbrief das ausschlaggebende Argu- tingen 1989, 75–114.
Empfänger 415
6, 11 f; 11, 1; 12, 1), sie soll am Bekenntnis festhalten (vgl. Hebr 3, 1; 4, 14; 10, 23)
und so ihre GlaubensermÜdung Überwinden. Weil die Gemeinde in der Gefahr
des Glaubensstillstandes bis hin zum Glaubensabfall steht, dominieren im Hebr
die Ermahnungen (vgl. Hebr 2, 2 f; 3, 13; 6, 4 8; 10, 24 f; 12, 5. 25 29; 13,9. 17.
22). Offensichtlich versucht der Verfasser des Hebr, die ErmÜdung und Erschlaf
fung der Gemeinde, den Erkenntnisschwund, den Kleinmut und das GefÜhl der
UnerlÚstheit durch seine Auslegung des Bekenntnisses zu Überwinden17.
Nach Hebr 6, 1 f trennten sich die Adressaten ‚von den toten Werken‘ hin
zum ‚Glauben an Gott‘, worin zumeist eine Anspielung auf heidnische Kulte ge
sehen wird. Hebr 3, 12 warnt vor dem ‚Abfall von dem lebendigen Gott‘, und der
Gegensatz Juden Heiden spielt im Hebr keine dominierende Rolle, so daß in
den Adressaten oftmals Heidenchristen gesehen werden18. Dennoch wird man
die Adressaten nicht als eine rein heidenchristliche Gemeinde bezeichnen kÚn
nen. Will der Autor sein Ziel der GlaubensstÇrkung und erneuerung erreichen, so
mÜssen den HÚrern nicht nur das Alte Testament und der jÜdische Kultus ver
traut gewesen sein, auch die subtile exegetische Argumentation des Hebr (vgl.
z. B. Hebr 7) muß fÜr sie verstÈndlich gewesen sein. Nach Hebr 8, 10 wird in Auf
nahme von Jer 31, 33 (LXX) der neue Bund mit dem Haus Israel geschlossen, so
daß die Gemeinde kaum nur aus Heidenchristen bestehen konnte. In Hebr
13,9. 10 werden Konflikte in der Gemeinde um die Frage Rein Unrein sichtbar
(vgl. Hebr 9, 14), und mÚglicherweise spielt der Verfasser auf jÜdische oder ju
denchristliche Irrlehren an. Die Gemeinde setzte sich wahrscheinlich aus Hei
denchristen und hellenistischen Judenchristen19 zusammen, fÜr deren Glauben
offenbar der im Hebr entfaltete RÜckbezug auf das Alte Testament und dessen
jÜdisch hellenistische Auslegungstraditionen von großer Bedeutung waren. Wer
hingegen die Frage nach der Herkunft der Gemeindeglieder fÜr nicht relevant
hÈlt20, unterschÈtzt die Voraussetzungen fÜr eine Rezeption der Theologie des
Hebr auf Seiten der Adressaten. Gerade wenn der Brief die Zweifel Überwinden
und Gewißheit vermitteln will, mÜssen das Verstehen und Bejahen der ausge
feilten Argumentation des HebrÈerbriefes mÚglich sein.
17 C.R. Koester, Hebr, 64–79, sieht die Gemeinde 18 Vgl. z. B. H. Windisch, Hebr, 127; W. G. KÜm-
des Hebr in einem komplexen Selbstdefinierungs- mel, Einleitung, 352 f; H. Hegermann, Hebr, 10;
prozeß zwischen jÜdischer Subkultur und domi- H. F. Weiß, Hebr, 72 ff.
nierender griechisch-rÚmischer Kultur. „Since 19 A. Strobel, Hebr, 10, spricht von einer juden-
Christians had affinities with Jewish subculture christlich-hellenistischen HÚrergemeinde; M. Ris-
and the dominant Greco-Roman culture but did si, Theologie, 11 f.23 f, von einer judenchristli-
not entirely fit either category, Hebrews helps to chen Sondergruppe.
define their identity by appropriating Jewish and 20 Vgl. A. Vanhoye, Art. HebrÈerbrief, 497;
Greco-Roman images, transforming both in ways E. GrÈßer, Hebr I, 24.
that reinforce the community’ s confession“
(a. a. O., 73).
416 Der Hebräerbrief
I. Hauptteil: 1, 1 4, 13
4, 14 16 Einleitendes Mahnwort
5, 1 10 Der berufene und mitfÜhlende Hohepriester Je
sus
5, 11 6, 20 Mahnung: Aufruf zur Glaubenserkenntnis und
Glaubensgewißheit
7, 1 28 Hoherpriester nach der Ordnung des Melchisedek
8, 1 13 Der neue Bund
9, 1 28 Der neue himmlische Kult
10, 1 18 Das einmalige Opfer Jesu
10, 19 31 Mahnung: Aufruf zur Glaubenszuversicht
Vielfach wird in der Forschung das Briefkorpus zwischen der Einleitung (Hebr
1, 1 4) und dem Schlußgruß (Hebr 13, 20 21) in fÜnf Teile gegliedert: I. 1, 5 2, 18;
II. 3, 1 5, 10; III. 5, 11 10, 39; IV. 11, 1 12, 13; V. 12, 14 13, 1921.
Auf das Exordium Hebr 1, 1 4 folgt eine Belehrung Über die Hoheit Jesu im Ge
gensatz zu den Engeln, die als Zielpunkt die ParÈnese in 2, 1 4 hat. Auch 2, 5 18
21 Vgl. bes. A. Vanhoye, Literarische Struktur SNTU IV (1979), 119–147; II, SNTU V (1980), 18–
und theologische Botschaft des HebrÈerbriefes I, 49.
Gliederung, Aufbau, Form 417
lÈuft auf eine ParÈnese zu (3, 1 6). Der Ausblick auf das Gericht in 4, 12 13
schließt den dritten Unterabschnitt ab. Zugleich besteht eine Korrespondenz
zwischen dem Anfang und dem Ende des 1. Hauptteils, er ist durch zwei hym
nisch liturgische StÜcke gerahmt. Der Inhalt des 1. Hauptteils lautet: Gott hat im
Sohn geredet22.
Der 2. Hauptteil setzt mit dem Mahnwort Hebr 4, 14 16 ein, das in 10, 19 23
aufgenommen und variiert wird. Auf die thematische Grundlegung 4, 14 16
folgt ein Abschnitt Über die Art des Hohenpriestertums Jesu (5, 1 10), der in eine
umfassenden Mahnung zur Glaubensgewißheit mÜndet (5, 11 6, 20). Der lehr
hafte Hauptabschnitt in Hebr 7, 1 10, 18 thematisiert die Stellung Jesu als Hoher
priester (7, 1 28), den Ort und den Charakter seines Dienstes (8, 1 9, 28) und
sein einmaliges Opfer (10, 1 18). Daran schließen sich wiederum Mahnungen
an, aus dem Erkannten sollen nun die angemessenen Folgerungen gezogen wer
den: Festhalten am Bekenntnis und Abwehr des mÚglichen Abfalles. Ein Aus
blick auf das Gericht (10, 30 f) beschließt auch den 2. Hauptteil, dessen Thema
lautet: Christus ist der treue Hohepriester zur Rechten Gottes.
Der 3. Hauptteil zeichnet sich wiederum durch eine Rahmung aus, dem Hin
weis auf die Leidenssituation (10, 32 ff; 13, 7) folgt als Konsequenz: Feststehen
im Glauben (10, 35; 13,9), Geduld und Zuversicht haben (10, 36; 13, 14). An den
Hinweis auf die GlaubensbewÈhrung der Adressaten (10, 32 39) fÜgt der Verfas
ser das Beispiel der frÜheren Glaubenszeugen an (11, 1 40), um dann auf Jesus
selbst zu verweisen, den GrÜnder und Vollender des Glaubens (12, 2). An ihm
soll sich die Gemeinde in ihrer Existenz ausrichten (12, 1 29). Mit Hebr 13, 1
setzt der Schlußteil des Briefes ein, der formal an den Paulusbriefen orientiert
ist23. Auf die SchlußparÈnese (13, 1 19) folgen der Segenswunsch (13, 20 21),
eine letzte Ermahnung (13, 22), die apostolische Parusie (13, 23), Grußauftrag
und Grußausrichtung (13, 24) und als Eschatokoll ein Segenswunsch (13, 25).
Das Thema des 3. Hauptteiles lautet: Steht fest im Glauben und folgt Jesus Chri
stus, dem BegrÜnder und Vollender des Glaubens.
Die Gliederung des Hebr entspricht der theologischen Zielsetzung des Autors.
Der SchlÜssel zum Aufbau liegt im Zusammenwirken von parÈnetischen und
glaubensgrundlegenden Abschnitten. Sie werden vom Autor bewußt aufeinan
der bezogen, greifen ineinander und legen sich gegenseitig aus24. Der Verfasser
22 Vgl. zu der hier vorgelegten Gliederung bes. Hauptteil aber erst in Hebr 7, 1, als ‚Zwischen-
W. Nauck, Zum Aufbau des HebrÈerbriefes, in: Ju- stÜck‘ werden 4, 14–6, 20 bezeichnet. H. F. Weiß,
dentum – Urchristentum – Kirche (FS J. Jeremi- Hebr, 47, lÈßt den 2. Hauptteil mit Hebr 10, 18 en-
as), hg. v. W. Eltester, BZNW 26, Berlin 1960, den.
199–206. hnlich gliedert H. Hegermann, Hebr, 23 Vgl. F. Schnider – W. Stenger, Studien (s. o.
4–6. Auch E. GrÈßer, Hebr I, 28–30, wÈhlt eine 2.3.2), 73 ff.
dreiteilige Gliederung, fÜr ihn beginnt der 2. 24 Vgl. F. Laub, Bekenntnis und Auslegung, 4 f.
418 Der Hebräerbrief
Umstritten ist die UrsprÜnglichkeit des Briefschlusses Hebr 13, 22 25. Angesichts
des Briefanfanges und der Theologie des Hebr Überrascht der an das paulinische
Briefformular angelehnte Briefschluß, mit dem mÚglicherweise der Hebr unter
die AutoritÈt des Paulus gestellt werden soll. Entspricht dies der ursprÜnglichen
Absicht des Verfassers? Er reserviert den Aposteltitel fÜr Christus (vgl. Hebr 3, 1),
und mÚglicherweise ist die AnonymitÈt des Hebr vom Autor gewollt. „Einen
Grund dafÜr teilt er mit der Übrigen anonymen Literatur des Urchristentums: Al
lein Jesus Christus wird als exklusive personale AutoritÈt und Ursprungsnorm
der Tradition reklamiert (2, 3). Der andere Grund hÈngt damit zusammen: Hebr
sieht das Heil allein im unverfÜgbaren Wort Gottes gegeben, das durch apostoli
sche AmtstrÈger zu sichern dem Wesen seiner Theologie des Wortes entgegen
wÈre.“36 Der Briefschluß wÈre dann sekundÈr und gegen die Intention des Au
tors hinzugetreten37. FÜr die UrsprÜnglichkeit von 13, 22 25 kÚnnen die Brief
funktion und die brieflichen Elemente des Hebr angefÜhrt werden. „Demnach
ist der Hebr ein Brief, ein urchristlicher VerkÜndigungsbrief nach Art der Paulus
briefe.“38 Wird eine wirkliche Brieffunktion des Hebr abgelehnt, der Briefschluß
aber nicht fÜr sekundÈr gehalten, ist die Schlußfolgerung Martin Dibelius‘ mÚg
lich: „der Verfasser lÈßt seine als Rede konzipierte (deswegen aber nicht wirklich
gesprochene) Abhandlung in eine ParÈnese, in Nachrichten und GrÜße ausge
hen, um ihr den konventionellen Briefschluß nach Analogie der Paulusbriefe
(ErwÈhnung des Timotheus) zu geben, hat dabei aber nicht die Absicht, sie als
Brief zu versenden.“39 Oder der Verfasser versah den ursprÜnglich nicht zur
Weitergabe vorgesehenen Hebr mit einem Briefschluß, um ihn doch zu versen
den.
Eine Entscheidung zwischen diesen MÚglichkeiten fÜhrt unweigerlich in
Aporien. Gegen die Annahme eines rein fiktiven Briefschlusses spricht die Beob
achtung, daß der spÈtere Bearbeiter die Fiktion nicht deutlich und vollstÈndig
durchgefÜhrt hÈtte, z. B. durch ein an Paulus angelehntes PrÈskript40. Anderer
seits lÈßt sich der Hebr aber auch nicht einfach dem paulinischen Briefformular
subsumieren. Der Verfasser versah sein Werk wahrscheinlich unter dem Aspekt
der Weitergabe mit brieflichen Schlußelementen. Hebr 13, 22 25 kann als briefli
ches Begleitschreiben verstanden werden, wobei den Rezeptionsanweisungen in
V. 22 besondere Bedeutung zukommt41. Der Hebr ist demnach eine zugesandte
Mahnrede, die in Gemeindeversammlungen verlesen wurde. Hier bleibt aller
dings eine letzte Unsicherheit, wie der Inhalt des lógoß dusermv´neutoß (Hebr
5, 11) sind auch die literarische IntegritÈt und Form des Hebr nur schwer zu be
stimmen.
41 Vgl. bes. die Analyse von W. G. Àbelacker, Der lyse von J. Habermann, PrÈexistenzaussagen (s. o.
HebrÈerbrief als Appell, 197 ff. FÜr die UrsprÜng- 2.9.7), 267–299.
lichkeit von Hebr 13, 22–25 votiert auch 43 Vgl. hier H. Zimmermann, Das Bekenntnis der
H. W. Attridge, Hebr, 405, der den Briefschluß als Hoffnung, 44 ff. Skeptisch gegenÜber der Beurtei-
einen bewußten Bestandteil der literarisch und lung von Hebr 5, 7; 7, 1–3. 26 als Hymnenzitate
rhetorisch durchdachten Gesamtkomposition des bes. E. GrÈßer, Hebr I, 312 ff; H. Hegermann, Hebr,
Hebr ansieht. Nach K. Backhaus, HebrÈerbrief z.St.
und die Paulus-Schule, 194–196, verweist der au- 44 Vgl. zur Analyse F. SchrÚger, Der Verfasser des
thentische Schluß Hebr 13, 22–25 auf Kontakte HebrÈerbriefes als Schriftausleger, BU 4, Regens-
zwischen dem Autor des Hebr und der rÚmischen burg 1968, 35–197. 247–256.
Paulusschule. 45 Vgl. die ausfÜhrliche Auflistung bei F. SchrÚ-
42 Vgl. hier neben den Kommentaren die Ana- ger, a. a. O., 256–299.
Religionsgeschichtliche Stellung 421
Die komplexe Gestalt des Hebr ist fÜr verschiedene religionsgeschichtliche Inter
pretationen offen. Innerhalb der Forschung48 lassen sich drei Hauptrichtungen
unterscheiden:
austreten werden.“56 Auch die Vorstellung eines Vorhanges vor dem Thron Got
tes (vgl. Hebr 6, 19 f; 10, 19 f), von E. KÈsemann in gnostischem Kontext interpre
tiert, verweist nach Hofius auf einen anderen Traditionszusammenhang: „Die
Idee eines Vorhanges vor dem Thron Gottes hat der Verfasser des HebrÈerbriefs
zugleich mit dem Theologumenon vom himmlischen Heiligtum aus der MÈrka
bhah Esoterik des antiken Judentums Übernommen.“57 Zweifellos lassen sich
Verbindungslinien vom Hebr zur jÜdischen Apokalyptik und auch zur rabbini
schen Tradition aufzeigen, sie reichen aber nicht aus, um den komplexen religi
onsgeschichtlichen Standort des Hebr zu erklÈren.
3) JÜdisch alexandrinische Theologie: A. Strobel und H. Hegermann sehen
den Hebr in großer NÈhe zur Weltanschauung und Theologie des hellenistisch
alexandrinischen Judentums, speziell zu Philo von Alexandrien. Zwischen Hebr
und Philo lassen sich zahlreiche Parallelen aufzeigen, sie reichen von der Kos
mologie (vgl. Hebr 1, 1 4 mit Philo, Conf 145 148; Som I 215), Hohenpriester
spekulationen (vgl. Hebr 4, 14 5, 10 mit Philo, SpecLeg I 82 97. 228. 230; II 164;
Som I 214 216; Fug 106 118; VitMos II 109 135), Aussagen Über Melchisedek
(vgl. Hebr 7, 1 mit Philo, All III 79 82; Abr 235 ff; Congr 99) und Reflexionen
Über das Wesen des Glaubens (vgl. Hebr 11 mit Philo, Abr 268 270; Her 90 95)
bis hin zu mannigfaltigen Àbereinstimmungen in der Aufnahme und Verwen
dung einzelner Vorstellungen und Begriffe58. Die Àbereinstimmungen in der
Sprach und Denkwelt bei Hebr und Philo weisen auf ein vergleichbares traditi
ons und religionsgeschichtliches Milieu hin, das hellenistische Judentum alex
andrinischer PrÈgung. Der Hebr Autor ist jedoch kein unmittelbarer SchÜler Phi
los59, denn auch zur jÜdisch hellenistischen Weisheitsliteratur lassen sich Ver
bindungen feststellen (vgl. Hebr 1, 3 mit Weish 7, 26; Hebr 11, 1 38 mit Sir 44
50, Weish 10), und die Theologie des Hebr zeichnet sich durch vielfÈltige Bezie
hungen zu urchristlichen TraditionsstrÚmen aus. Eine monokausale ErklÈrung
des religionsgeschichtlichen Standortes des Hebr ist somit nicht mÚglich, er muß
aber in großer NÈhe zur jÛdisch alexandrinischen Theologie gesehen werden.
56 O. Hofius, Katapausis, 150. Leiden 1970, der alle relevanten Parallelen unter-
57 O. Hofius, Der Vorhang vor dem Thron Gottes, sucht.
WUNT 14, TÜbingen 1972, 95. 59 So C. Spicq, L'pÒtre aux H¹breux I/II, Paris
58 Vgl. hier neben den Kommentaren von 1952/53, erwogen auch von A. Strobel, Hebr, 16,
A. Strobel und H. Hegermann bes. R. Williamson, dagegen aber mit Recht R. Williamson, Philo and
Philo and the Epistle to the Hebrews, ALGHJ IV, the Epistle to the Hebrews, passim.
424 Der Hebräerbrief
Der Hebr redet nicht polemisch nach außen, sondern parÈnetisch nach innen.
Es geht ihm um die Selbstvergewisserung seiner Gemeinde, fÜr die tragende
Pfeiler des Glaubens ins Wanken geraten sind. Grundlage der Argumentation
des Hebr ist die Erkenntnis, daß die alte Heilsordnung als Heilsweg nicht mehr in
Betracht kommt. Die vom Heil trennende Macht der SÜnde kann durch das Ge
setz nicht aufgehoben werden, denn das Gesetz vermag nicht zur Vollendung zu
fÜhren (Hebr 7, 18. 19 a), es ist schwach und unfÈhig, SÜnden wegzunehmen
(Hebr 10, 1 f.11). Das Gesetz hat nicht die Kraft, den Menschen zu seiner Bestim
mung zu fÜhren: Anteil an der Heiligkeit und Herrlichkeit des Wesens Gottes zu
erlangen und freien Zugang zu Gott zu bekommen. Dies allein vermochte der
Sohn, der seinen BrÜdern in allem gleich wurde, „damit er barmherzig wÜrde
und ein treuer Hoherpriester fÜr die Dienste vor Gott, zu sÜhnen die SÜnden des
Volkes“ (Hebr 2, 17). Weil Jesus selbst litt und den Versuchungen der SÜnde aus
geliefert war, der Macht der SÜnde aber nicht unterlag, kann nur er wirklich
von den SÜnden reinigen (vgl. Hebr 1, 3; 2, 17. 18; 4, 15; 5, 7. 8). Die gesamte so
teriologische Konzeption des Hebr hÈngt an den beiden Worten cwri`ß amartı´aß
in Hebr 4, 15! Die SÜndlosigkeit Jesu folgt aber nicht nur aus seiner gÚttlichen
‚Natur‘, sondern sie ist auch Ergebnis eines Kampfes und bewußter Entschei
dung (vgl. Hebr 12, 2 3). SÜndlosigkeit markiert somit die inkarnatorische und
epiphaniale Differenz Jesu gegenÜber allen Menschen. Der in der Gottferne ver
lorene Mensch, dessen schuldhafte Gottesferne durch das Gesetz nicht Überwun
den werden kann, wird allein durch das Blut Jesu der SÜnde entrissen und zur
Vollendung gefÜhrt (Hebr 7, 11 19; 9, 11 f). Das Heilshandeln des Sohnes wird
im GegenÜber zum alten Kult vom Hebr in kultischen Kategorien breit entfaltet.
Antithetisch stellt der Hebr die Àberlegenheit der neuen Heilsordnung dar: Die
offenbarungsgeschichtliche Àberbietung zeigt sich in Jesu Stellung gegenÜber
den Engeln. Er ist ihnen in allem Überlegen und voraus (vgl. Hebr 1, 5 2, 16).
WÈhrend der irdische Hohepriester auch fÜr seine eigenen SÜnden opfern muß,
vollbrachte der sÜndlose, himmlische Hohepriester Jesus Christus das wahre Op
fer und wurde darin Urheber ewigen Heils (vgl. Hebr 5, 1 10; 8, 1 6). Die Heils
ordnung des Hohenpriesters nach der Ordnung Melchisedeks ist hÚher als die
von Abraham und Levi empfangene Ordnung (vgl. Hebr 7). Jesus erscheint als
der Mittler eines besseren Bundes (Hebr 8, 6), das himmlische Heiligtum Über
ragt das irdischen Heiligtum in allem, denn Jesus ging nicht in ein mit HÈnden
gemachtes Heiligtum ein, sondern in den Himmel selbst (Hebr 9, 23 ff). Die Ge
meinde darf wissen, daß der AnfÜhrer (Hebr 2, 10) und VorlÈufer (Hebr 6, 20) ih
res Heils in das himmlische Heiligtum eingetreten ist und das wahre Opfer somit
vollbracht hat (vgl. Hebr 7, 26; 8, 1 f; 9, 11. 24). Die Glaubenden dÜrfen Jesus in
Tendenzen der neueren Forschung 425
dem Bewußtsein nachfolgen, gerade in ihrem eigenen Leiden durch das Leiden
des Sohnes zur Vollendung zu gelangen und der ErlÚsung teilhaftig zu werden.
Heilsgewißheit und Heilsgegenwart sollen den Glaubensstillstand in der Gemein
de Überwinden. Die Gemeinde darf sich an der VerlÈßlichkeit des im Sohn spre
chenden Gottes orientieren. Im einmaligen Tod am Kreuz (vgl. Hebr 7, 27; 9, 28;
10, 10. 12. 14) durchschritt der Sohn den himmlischen Vorhang, tou˜tL eµstin tv˜ß
sarkòß autou˜ (Hebr 10, 20), um nun fÜrbittend fÜr die Glaubenden einzutreten
(vgl. Hebr 9, 24; 4, 16). Weder versteht der Hebr die ErhÚhung in Àberbietung
des Kreuzes als das entscheidende Heilsereignis, noch spricht er von einer ewi
gen Selbstdarbringung des Sohnes, sondern es gelingt ihm, „das Christusgesche
hen von Kreuz und ErhÚhung kulttheologisch als das eine Erde und Himmel,
Zeit und Ewigkeit umschließende Heilsereignis nahezubringen.“60 Der Heilsverge
wisserung der Gemeinde dient auch die Vorstellung vom neuen Bund, Jesus ist
der Mittler des wahren neuen Bundes, der allein die ErlÚsung zu bringen vermag
(Hebr 9, 15; vgl. ferner Hebr 7, 22; 8, 6. 10; 10, 16 18. 29; 12, 24). Kaum zufÈllig
schließt der Brief in Hebr 13, 20 mit der Zusicherung, daß Jesus durch sein Blut
den ewigen Bund ausgefÜhrt habe. Aus der Einmaligkeit und GrÚße des Opfers
Jesu Christi folgt konsequenterweise die Mahnung, das Heilswerk Jesu durch
Apostasie nicht zu verachten. Ein ZurÜck kann es fÜr Abgefallene nicht geben,
denn dadurch wÜrde Jesu Kreuzestod mit FÜßen getreten (vgl. Hebr 6, 4 6;
10, 26 29; 12, 16 f). Auch die Eschatologie des Hebr ist an der Zusage gegenwÈrti
gen Heils orientiert, das Schwergewicht liegt auf den Heilsperfekta. Die Gemein
de ist schon am Heilsort angekommen (Hebr 12, 22 24), in die ‚Ruhe‘ Gottes ein
gegangen (Hebr 4, 3 f.10), und sie hat Zutritt zum Heiligtum (Hebr 10, 19 22).
Den eschatologischen Vorbehalt (vgl. z. B. Hebr 13, 14) bezieht der Hebr nicht
auf die Glaubensinhalte und den gegenwÈrtigen Heilsstand, sondern auf die Be
wahrung des Heils in den unmittelbar bedrÈngenden GlaubenskÈmpfen. Die
Glaubenden sind Teilhaber Christi (Hebr 3, 14 a), wenn sie in der „Festigkeit des
Anfangs bis zum Ende festhalten“ (Hebr 3, 14 b).
Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, daß die klassischen Einleitungsfra
gen zum Hebr unlÚsbar und fÜr die Theologie dieser Schrift letztlich ohne Be
deutung sind61. Bei der Frage nach Abfassungsort und Abfassungszeit kommt
60 F. Laub, Zum VerstÈndnis des Kreuzestodes, sen, wer ihn geschrieben hat, um ihn zu verste-
80. hen.“
61 Vgl. E. GrÈßer, Hebr I, 19: „Niemand muß wis-
426 Der Hebräerbrief
man Über hypothetische ErwÈgungen nicht hinaus, bei der Verfasserfrage ist das
VerhÈltnis zur Paulusschule das entscheidende Problem. Entweder gehÚrt der
Autor des Hebr in den Umkreis des Apostels Paulus (so H. Hegermann, A. Stro
bel) oder die Frage nach dem Verfasser des Hebr ist sowohl historisch als auch
theologisch irrelevant, weil der Hebr von vornherein als anonyme Schrift konzi
piert war (so E. GrÈßer). Weiter heftig umstritten ist das literarische Genus des
Hebr, allein bei der Frage der literarischen Einheit des Hebr zeichnet sich die
Tendenz ab, den Briefschluß wieder als ursprÜnglich anzusehen. Die Kompositi
on des Hebr wird zumeist mit einem drei oder fÜnfteiligen Gliederungsmodell
nachgezeichnet.
Unbestritten ist der starke Einfluß jÜdisch alexandrinischer Theologie auf den
Hebr. Damit ist die Frage nach der religionsgeschichtlichen Einordnung des Hebr
aber noch nicht gelÚst, denn jÜdisch alexandrinisches Denken und Motive aus
der jÜdischen Apokalyptik stellen ebensowenig einen Gegensatz dar, wie jÜ
disch alexandrinische Theologie und Gnosis. Letztlich hÈngt es an der Definition
von ‚Gnosis‘ (s. u. 8.5.8), ob zentrale Gedanken der Soteriologie des Hebr als
gnostisch anzusehen sind. E. GrÈßer konstatiert: „Jesus ist als teleiwXeı´ß zugleich
teleiwtv´ß (12, 2); er ist der erlÚste ErlÚser. Selbst zur Vollendung gefÜhrt, wurde
er nÈmlich fÜr alle, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils“62. Ob diese
Vorstellung allerdings als gnostisch zu werten ist, lÈßt GrÈßer offen63. Demge
genÜber lehnt O. Hofius eine gnostische Interpretation des Hebr dezidiert ab,
und H. Hegermann sowie A. Strobel sehen den Hebr vÚllig im Kontext jÜdisch
alexandrinischer Theologie. Ein synthetisches LÚsungsmodell vertritt H. F. Weiß;
der Hebr nahm verschiedene Vorstellungsweisen aus der damaligen religionsge
schichtlichen Konstellation auf, ordnetete sie aber seinem pastoralen Grundan
liegen unter64.
Im Zentrum der neueren Forschung steht die Frage nach der theologischen
Intention des Hebr, innerhalb der Christologie das VerhÈltnis von Kreuz und Er
hÚhung. Im Kontext seiner gemÈßigt gnostischen Auslegung behauptet E. GrÈ
ßer: „Das Leben Jesu und das Kreuz behalten ihren Charakter als Episode: Die
ErhÚhung bleibt das Ziel.“65 Im Rahmen eines alles bestimmenden Dualismus
interpretiert H. Braun den Hebr. Glauben heißt danach „die begrÜndete Ein
Übung in das Nein zum Sichtbaren und in das Warten auf das kommende Un
sichtbare.“66 Der Autor des Hebr richtet seinen Blick allein auf die durch Jesu Er
hÚhung erÚffnete Ewigkeit. WÈhrend fÜr E. GrÈßer und H. Braun Kreuz und Er
Der Jakobusbrief, der Judasbrief, die beiden Petrusbriefe und die drei Johannes
briefe werden seit Euseb (HE II 23, 25; VI 14, 1) als katholische Briefe bezeich
net1, weil sie als an die gesamte Christenheit gerichtet galten (v kaXolikv` ekklv
sı´a). Im lateinischen Westen verschob sich diese Grundbedeutung zu ‚in der Kir
che allgemein anerkannt‘. In jÜngster Zeit erfolgt die Analyse der Johannesbriefe
nicht mehr im Rahmen der katholischen Briefe, sondern sie werden als Schriften
der johanneischen Schule gesondert behandelt (s. u. 8).
7.1.1 Literatur
Kommentare
KEK 15: M. Dibelius ( H. Greeven), 61984. HNT 15/I: Chr. Burchard, 2001. HThK XIII
1: F. Mußner, 41981. ThHK 14: W. Popkes, 2001. ³TK 17/1.2: H. FrankemÚlle, 1994.
NTD 10: W. Schrage, 121980. RNT: F. Schnider, 1987. AncB 37 A: L. T. Johnson, 1995.
WBC 48: R. P. Martin, 1988. CNT II, 13 a: F. Vouga, 1984. BNTL: S. Laws, 1980. NIC:
P. H. Davids, 1982.
Monographien
A. Meyer, Das RÈtsel des Jacobusbriefes, BZNW 10, Gießen 1930. R. Hoppe, Der theologi
sche Hintergrund des Jakobusbriefes, fzb 28, WÜrzburg 1977. W. Popkes, Adressaten, Si
tuation und Form des Jakobusbriefes, SBS 125/126, Stuttgart 1986. W. Pratscher, Der
Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, GÚttingen 1987. Martina
Ludwig, Wort als Gesetz, EHS 502, Frankfurt 1994. M. Klein, „Ein vollkommenes Werk“,
BWANT 139, Stuttgart 1995. M. Tsuji, Glaube zwischen Vollkommenheit und Verweltli
chung, WUNT 2.93, TÜbingen 1997. M. Konradt, Christliche Existenz nach dem Jakobus
brief, SUNT 22, GÚttingen 1998.
AufsÇtze
K. Aland, Der Herrenbruder Jakobus und der Jakobusbrief, in: ders., Neutestamentliche
EntwÜrfe, TB 63, MÜnchen 1979, 233 245. W. H. Wuellner, Der Jakobusbrief im Licht
der Rhetorik und Textpragmatik, LingBibl 43 (1978), 5 66. Chr. Burchard, Gemeinde in
der strohernen Epistel, in: Kirche (FS G. Bornkamm), hg. v. D. LÜhrmann u. G. Strecker,
TÜbingen 1980, 315 328. U. Luck, Die Theologie des Jakobusbriefes, ZThK 81 (1984), 1
30. M. Hengel, Jakobus der Herrenbruder der erste „Papst“?, in: Glaube und Eschatolo
gie (FS W. G. KÜmmel), hg. v. E. GrÈßer u. O. Merk, TÜbingen 1985, 71 104. Ders., Der
Jakobusbrief als antipaulinische Polemik, in: Tradition and Interpretation in the New Testa
ment (FS E. E. Ellis), hg. v. G. F. Hawthorne u. O. Betz, Grand Rapids TÜbingen 1987,
248 278. H. Paulsen, Art. Jakobusbrief, TRE 17 (1987), 488 495. H. FrankemÚlle, Ge
setz im Jakobusbrief, in: Das Gesetz im Neuen Testament, hg. v. K. Kertelge, QD 108, Frei
burg 1986, 175 221. J. Zmijewski, Christliche Vollkommenheit. ErwÈgungen zur Theolo
gie des Jakobusbriefes, in: ders., Das Neue Testament Quelle christlicher Theologie und
Glaubenspraxis, Stuttgart 1986, 293 324. E. Baasland, Literarische Form, Thematik und
geschichtliche Einordnung des Jakobusbriefes, ANRW II, 25. 5, Berlin 1988, 3646 3684.
F. Mußner, Die ethische Motivation im Jakobusbrief, in: Neues Testament und Ethik (FS
R. Schnackenburg), hg. v. H. Merklein, Freiburg 1989, 416 423. M. Karrer, Christus der
Herr und die Welt als StÈtte der PrÜfung, KuD 35 (1989), 166 188. M. Lautenschlager,
Der Gegenstand des Glaubens im Jakobusbrief, ZThK 87 (1990), 163 184. F. Avemarie,
Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefes, ZThK 98 (2001), 282 309.
Forschungsbericht
F. Hahn P. MÜller, Der Jakobusbrief, ThR 63 (1998), 1 73.
7.1.2 Verfasser
Im Neuen Testament werden fÜnf MÈnner mit Namen LIákwboß genannt: der Ze
bedaide Jakobus (Mk 1, 19; 3, 17par; Apg 12, 2), Jakobus, der Sohn des Alphaeus
(Mk 3, 18par), Jakobus, der Bruder Jesu (Mk 6, 3par; 1 Kor 15, 7; Gal 1, 19;
2,9. 12; Apg 12, 17; 15, 13; 21, 18; Jud 1), Jakobus, der Kleine (Mk 15, 40par)
und Jakobus, Vater des Apostels Judas (Lk 6, 16; Apg 1, 13). Der Jakobusbrief
will von einem im Urchristentum bekannten und anerkannten Mann geschrie
ben sein, so daß vom Selbstanspruch des Briefes nur der Zebedaide Jakobus und
der Herrenbruder Jakobus als Verfasser in Frage kommen sollen. Der Zebedaide
Jakobus wurde um 44 n. Chr. unter Agrippa I hingerichtet (vgl. Apg 12, 2). Er
scheidet somit als Verfasser des Briefes aus, weil der Jak deutlich eine spÈtere Si
tuation innerhalb der Geschichte des Urchristentums voraussetzt. Der Herren
Verfasser 431
bruder Jakobus war kein Apostel, er schloß sich der christlichen Gemeinde erst
nach dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi an (vgl. Mk 3, 21. 31 ff; Joh
7, 5). Innerhalb der Urgemeinde nahm der Einfluß des Herrenbruders stÈndig
zu, schon Paulus besuchte ihn bei seinem ersten Jerusalem Aufenthalt (vgl. Gal
1, 19). Die Verfolgung der Urgemeinde unter Agrippa I und die Flucht des Petrus
aus Jerusalem (vgl. Apg 12, 1 17) fÜhrten in den Jahren 43 48 n. Chr. zu ein
schneidenden VerÈnderungen in der Leitungsstruktur der Urgemeinde2. In Gal
2,9 steht Jakobus an der Spitze der ‚SÈulen‘, wahrscheinlich war er nun Leiter
der Jerusalemer Urgemeinde. Der antiochenische Zwischenfall mit dem Auftre
ten der ‚Leute des Jakobus‘ (Gal 2, 12) lÈßt sowohl die strenge judenchristliche
Praxis als auch die weitreichenden kirchenrechtlichen AnsprÜche des Herren
bruders Jakobus erkennen. 62 n. Chr. wurde Jakobus mit anderen ungenannten
Judenchristen wegen des Vorwurfes des Gesetzesbruches unter dem Hohenprie
ster Hannas d. J. zum Tod durch Steinigung verurteilt (vgl. Jos, Ant XX 199
203)3.
Wie lassen sich die Nachrichten Über den Herrenbruder mit den Selbstaussa
gen des Briefes vereinbaren? FÜr den Herrenbruder Jakobus als Verfasser spre
chen neben dem Selbstanspruch in Jak 1, 1 die zahlreichen judenchristlichen
Traditionen, die eine auffÈllige NÈhe zur JesusÜberlieferung erkennen lassen.
Auch die hinter Jak 2, 14 26 stehende Auseinandersetzung mit Paulus ist fÜr
den Herrenbruder Jakobus gut denkbar. Schließlich weisen die starke Betonung
der Einheit von Glaube und Werken auf den strengen Judenchristen Jakobus
hin. Das gute Griechisch des Jakobusbriefes und die rhetorische Schulung seines
Autors4 kÚnnen nicht mehr als Argumente gegen den Herrenbruder verwendet
werden, weil von einer Überwiegenden Zweisprachigkeit Jerusalems und ganz
PalÈstinas im 1. Jh. n. Chr. auszugehen ist5.
Dennoch sprechen sehr gewichtige GrÜnde gegen den Herrenbruder als Ver
fasser des Jakobusbriefes. Zentrale Themen einer strengen judenchristlichen
Theologie wie Beschneidung, Sabbat, Israel, Reinheitsgebote und der Tempel
spielen im Brief keine Rolle. Der Jak zÈhlt zu den wenigen Schriften im Neuen
Testament, in denen weder Israel noch die Juden namentlich erwÈhnt werden.
Die Rezeption atl. Gestalten (vgl. Jak 2, 21 25; 5, 10 f.17 f) und auch die ErwÈh
nungen des Gesetzes in einem ausschließlich ethischen Kontext sind sehr allge
2 Vgl. dazu G. LÜdemann, Paulus II (s. o. 2.5.8), 5 Vgl. dazu H. B. Ros¹n, Die Sprachsituation im
67–84. rÚmischen PalÈstina, in: G. Neumann – J. Unter-
3 Zur Analyse des Textes vgl. M. Hengel, Jako- mann (Hg.), Die Sprachen im rÚmischen Reich
bus der Herrenbruder, 73–75. der Kaiserzeit, KÚln – Bonn 1980, 215–239.
4 Vgl. hierzu F. Mußner, Jak, 26–33.
432 Der Jakobusbrief
sen6. Im Kanon Muratori (um 200) fehlt der Jak ebenso wie bei Tertullian, und
Euseb (HE II 23, 24 b.25) berichtet Über den Jak: „Dies ist die Geschichte des Ja
kobus. Von Jakobus soll der erste der sogenannten katholischen Briefe verfaßt
sein, doch ist zu bemerken, daß er fÜr unecht gehalten wird. Denn nicht viele
von den Alten haben ihn und den sogenannten Judasbrief erwÈhnt, der eben
falls zu den katholischen Briefen gehÚrt. Doch ist uns bekannt, daß auch diese
beiden Briefe wie die Übrigen in den meisten Kirchen Úffentlich verlesen worden
sind.“ Erst ab 200 beginnt sich der Jak durchzusetzen, erstmals zitiert Origenes
(Select Ps 30, 6[PG 12, 1300]) den Jak als Schrift. Der Jak bleibt aber weiterhin
umstritten und erlangt erst sehr spÈt kanonisches Ansehen. Ein sehr ungewÚhn
licher Vorgang, wÈre der Jak vom Herrenbruder Jakobus geschrieben worden
und dies auch innerhalb des Urchristentums bekannt gewesen. Th. Zahn, G. Kit
tel und W. Michaelis sehen im Jak die Èlteste erhaltene ntl. Schrift7. Auch
F. Mußner, M. Hengel und L. T. Johnson halten an der Verfasserschaft durch den
Herrenbruder Jakobus fest. Mußner meint, der Jak sei auf dem HÚhepunkt der
durch Paulus ausgelÚsten Debatte um das VerhÈltnis von Glauben und Werken
geschrieben worden. Er stellt jedoch einschrÈnkend fest: „Vielleicht stammt das
sprachliche und stilistische Kleid des Briefes von einem griechisch sprechenden
Mitarbeiter; diese Annahme hat noch nichts mit ‚SekretÈrshypothese‘ zu tun.“8
Auch M. Hengel versteht den Jak als antipaulinische Polemik. „Der Verfasser
steht dabei seinem leiblichen Bruder so nahe, daß er es nicht nÚtig hat, sich stÈn
dig auf ihn zu berufen oder gar zu zitieren.“9 L. T. Johnson wertet die noch nicht
ausgefÜhrte Christologie, die Diskussion sozialethischer Probleme, vor allem
aber die NÈhe zu Jesusworten als Indizien fÜr ein frÜhes Entstehungsdatum, das
auf den Herrenbruder Jakobus als Autor schließen lÈßt10. Eine modifizierte Form
der Echtheitsthese vertrat W. Popkes: „Der Jakobusbrief kÚnnte somit mit gewis
sem Recht als Dokument des Herrenbruders angesehen werden, obwohl seine
Endfassung spÈter entstand.“11 Demnach bildeten die Predigten des Jakobus die
Grundlagen des Briefes, sie wurden ergÈnzt, aktualisiert und von SchÜlern des
Herrenbruders herausgegeben. In seinem Kommentar votiert Popkes allerdings
6 Vgl. hierzu M. Meinertz, Der Jakobusbrief und A. Schlatter, Der Brief des Jakobus, Stuttgart
3
sein Verfasser in Schrift und Àberlieferung, BSt 1985 (= 1932), 7 ff.
(F) X 1–3, Freiburg 1905, 55–130; F. Mußner, Jak, 8 F. Mußner, Jak, 8.
33–47; H. FrankemÚlle, Jak, 94–101. 9 M. Hengel, Jakobusbrief, 264.
7 Vgl. Th. Zahn, Einleitung I (s. o. 2.9.3), 52– 10 Vgl. L. T. Johnson, James, 118–121.
109; G. Kittel, Der geschichtliche Ort des Jakobus- 11 W. Popkes, Adressaten, Situation und Form,
briefes, ZNW 41 (1942), 71–105; W. Michaelis, 188.
Einleitung (s. o. 5.5.2), 280–282; vgl. ferner
434 Der Jakobusbrief
nicht mehr fÜr diese Zwei Stufen Theorie, sondern stuft den Jak als spÈtes Zeug
nis frÜhchristlicher Theologie ein12.
Die Mehrzahl der Exegeten hÈlt jedoch mit Recht den Jak fÜr ein pseudepigra
phisches Schreiben, verfaßt von einem unbekannten hellenistischen Judenchri
sten, der Über eine betrÈchtliche griechische Bildung verfÜgte13.
Der Abfassungsort des Jak lÈßt sich nur sehr hypothetisch bestimmen. Die Vor
schlÈge reichen von Jerusalem14, Syrien15, Rom16, Alexandria17, gypten18 bis
hin zum Verzicht auf eine Festlegung19. Vieles spricht fÜr Alexandria , denn die
Bilderwelt des Jak (vgl. die ErwÈhnung des Meeres/Wassers in Jak 1, 6; 3, 7. 12;
5, 7. 18 und die Schiffe in Jak 3, 4) sowie die in Jak 4, 13 ff vorausgesetzten globa
len Handelsbeziehungen lassen an eine Hafenmetropole des Ostens denken. Zu
dem war Alexandria ein Zentrum der jÜdisch hellenistischen Weisheitsliteratur.
WÈhrend die Vertreter der Echtheit den Jak in eine frÜhe Zeit datieren20,
muß unter der Voraussetzung des pseudepigraphischen Charakters des Schrei
bens eine Entstehung am Ende des 1. Jhs. angenommen werden21. Dazu paßt ne
ben dem theologiegeschichtlichen Ort (Konflikt Arm Reich, umstrittene Paulus
interpretationen, Bewußtsein einer ParusieverzÚgerung in Jak 5, 7) auch die
mÚgliche Rezeption von Jak 1, 1 in Jud 1 (s. u. 7.3.2)22.
7.1.4 Empfänger
Der Jakobusbrief wendet sich an die ‚ 12 StÈmme in der Diaspora‘, er ist somit an
die Gesamtheit der Christen außerhalb PalÈstinas gerichtet (vgl. 1 Petr 1, 1)23.
Die Situation der angeschriebenen Gemeinden prÈgen soziale Spannungen. Die
Versorgung der BedÜrftigen gelingt nicht (Jak 1, 27; 2, 15 f), Reiche und Arme
werden ungleich behandelt (Jak 2, 1 ff). Es herrschen Neid, Streit und Kampf
(Jak 3, 13 ff; 4, 1 ff.11 f; 5,9). In den Gottesdiensten werden die Reichen bevor
zugt (Jak 2, 1 ff) und die Armen mit religiÚsen Floskeln abgespeist (Jak 2, 16).
Die Reichen vertrauen auf sich selbst und nicht auf Gott (Jak 4, 13 17), Groß
grundbesitzer beuten weiterhin ihre Arbeiter aus (Jak 5, 1 6). Schließlich sind
die Gemeinden lokalen Repressionen ausgesetzt (vgl. Jak 2, 6)24. Die zahlreichen
Aussagen Über Arm und Reich im Jak entspringen keineswegs einer spirituali
sierten Armen FrÚmmigkeit25, sondern diese Thematik muß einen Erfahrungs
hintergrund in den angesprochenen Gemeinden haben; der Jak zielt auf eine
VerÈnderung des Verhaltens der Christen26. Zudem kÚnnen die im Jak erkenn
baren Spannungen in die Sozialgeschichte des nachpaulinischen Christentums
eingeordnet werden27. Hier setzt sich eine bereits bei Paulus beginnende Ent
wicklung fort: Die Integration verschiedener Schichten mit unterschiedlicher
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stellung. Schon die paulinischen Mis
sionsgemeinden stellten soziologisch keine homogene Gruppe dar, vielmehr
schlossen sich ihnen AngehÚrige aller Schichten an. In nachpaulinischer Zeit
verschÈrften sich offenbar die Konflikte, weil immer mehr Reiche in die christli
chen Gemeinden kamen und sich die Kluft zwischen den einzelnen sozialen
Gruppen erhÚhte. So rufen die Past zur SelbstgenÜgsamkeit auf (vgl. 1 Tim 6, 6
8), und sie warnen eindrÜcklich vor den Folgen der Geldgier (vgl. 1 Tim 6,9. 10).
Kaum zufÈllig endet der 1 Tim mit einer Mahnung an die Reichen (1 Tim 6, 17
19). Auch der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes lÈßt mit seinen Warnun
gen vor dem Reichtum (s. o. 3.5.4) deutlich erkennen, daß in seinen Gemeinden
Reichtum und Besitz zu einem Problem geworden sind. Der Hebr warnt vor Hab
gier (Hebr 13, 5) und einem Erlahmen des Glaubens (Hebr 2, 2 ff). Die TrÈgheit
soll durch Werke der Liebe Überwunden werden (Hebr 6, 10 12). Schließlich ist
die Offenbarung des Johannes ein eindrÜckliches Zeugnis fÜr die scharfe Kritik
judenchristlicher Kreise am Reichtum (vgl. Offb 3, 17 19; 18, 10 ff.15 ff.23 f).
Das soziologische Bild der Gemeinden des Jak lÈßt sich somit in eine Gesamt
23 Vgl. M. Hengel, Der Jakobusbrief, 248. 27 Vgl. dazu P. Lampe – U. Luz, Nachpaulinisches
24 Vgl. hierzu F. Schnider, Jak, 61. Christentum und pagane Gesellschaft, in: Die An-
25 Gegen M. Dibelius, Jak, 161–163. fÈnge des Christentums, hg. v. J. Becker, Stuttgart
26 Vgl. F. Schnider, Jak, 57 f; H. FrankemÚlle, 1987, 185–216; W. Popkes, Jak, 16–22.
Jak, 57–62. 251–259.
436 Der Jakobusbrief
1, 1 PrÈskript
1, 2 18 Die Gefahr der Versuchungen
1, 19 27 HÚren und Tun des Wortes
2, 1 13 Der Glaube an Jesus und das Gesetz
2, 14 26 Rechtfertigung durch Werke und Glauben
3, 1 12 Die Verantwortung fÜr das Wort
3, 13 18 Das Wesen der Weisheit
4, 1 12 Wider Streit und Verleumdung
4, 13 17 Die Zeit liegt in Gottes Hand
5, 1 6 Wider die unsozialen Reichen
5, 7 11 Mahnung zum geduldigen Warten auf die Parusie
5, 12 Das Schwurgericht
5, 13 18 Die Macht des Gebetes
5, 19. 20 Die Verantwortung fÜr den irrenden Bruder
Das PrÈskript in Jak 1, 1 ist das einzig sichere briefliche Merkmal des Schreibens.
Der Verfasser verwendet die griechische Form des PrÈskriptes, die in der 3. Pers.
Absender, Adressaten und Gruß in einem Satz zusammenfaßt (vgl. als Parallelen
Apg 15, 23; 23, 26). Die spÈrlichen brieflichen Elemente und der Über weite
Strecken scheinbar fehlende gedankliche Zusammenhang fÜhrten M. Dibelius zu
dem Urteil, das Schreiben sei eine aus Spruchreihen und kleineren Abhandlun
gen zusammengesetzte Lehrschrift28. Fehlender Kontextbezug und Situationslo
sigkeit sind nach Dibelius sowohl fÜr die meisten Abschnitte des Jak als auch fÜr
die ParÈnese allgemein charakteristisch29. Allerdings fehlt beim Jak der gedankli
che Zusammengang gerade nicht30! So wird Jak 1, 2 18 durch das Motiv der Ver
28 Vgl. M. Dibelius, Jak, 13–23. rik. H. FrankemÚlle, Jak, 71–73. 152–180, hebt die
29 Vgl. a. a. O., 14: „es fehlt in dem ganzen formale und sachliche Einheit des Jak hervor,
SchriftstÜck der gedankliche Zusammenhang“. wobei der Korrespondenz zwischen Jak 1, 2–18
30 Vgl. hier z. B. die Analyse von W. H. Wuellner, (Prolog/Exordium) und 5, 7–20 (Epilog/Peroratio)
Jakobusbrief, 37 ff, der eine klare GedankenfÜh- besondere Bedeutung zukommt. Im Briefkorpus
rung feststellt. E. Baasland, Literarische Form, (vgl. Jak 1, 19–27; 2, 1–13; 2, 14–26; 3, 1–12;
3654–3661, betont im Hinblick auf die Disposition 3, 13–18; 4, 1–12; 4, 13–5, 6) wird das semantische
und den Stil des Jak die starke Beeinflussung Netz des Jak von funktionellen Oppositionen ge-
durch hellenistische Gattungen und Schulrheto- prÈgt. Zum Nachweis semantischer und themati-
Gliederung, Aufbau, Form 437
suchung bestimmt, der Àbergang zu Jak 1, 19 27 erfolgt durch die direkte Anre
de adelfoı´, inhaltlich entfaltet Jak 1, 19 27 die indikativischen Aussagen Über
das ‚vollkommene Geschenk von oben‘ und das ‚Wort der Wahrheit‘ in Jak
1, 16. 17. Insgesamt ist Jak 1 durch die Form der traditionellen Spruchweisheit
geprÈgt, EinzelsprÜche werden durch gemeinsame Stichworte zusammengestellt
und durch den Autor interpretiert. In Jak 2; 3 finden sich geschlossenere und
umfangreichere Einheiten. Charakteristisch ist die Anrede adelfoı´ mou in Jak
2, 1; 2, 14; 3, 1, inhaltlich handelt es sich jeweils um diatribenartige parÈnetische
Abhandlungen, die sich durch eine innere Geschlossenheit auszeichnen. Liegt
das Ziel der ParÈnese in Jak 2, 1 3, 12 im durch die Weisheit gewÈhrten guten
Wandel, so ergibt sich daraus sachgemÈß die Frage nach dem Woher der Weis
heit in Jak 3, 13 18. Im unmittelbaren Kontext stellt Jak 4, 1 12 einen Neuein
satz dar, im Makrokontext nimmt dieser Abschnitt aber das Thema der Versu
chungen aus Jak 1, 2 18 wieder auf. Die Mahnungen in Jak 4, 13 17 und die
prophetische Anklage in Jak 5, 1 6 heben sich jeweils vom Kontext ab und stel
len selbstÈndige Àberlieferungen dar. Mit der typischen Anrede adelfoı´ leitet
der Verfasser Jak 5, 7 20 ein, formgeschichtlich kann dieser Abschnitt der tradi
tionellen SpruchparÈnese zugerechnet werden.
Inhaltlich weisen die Diatriben eine große Geschlossenheit auf, zugleich sind
sie aber mit ihrem jeweiligen Kontext sachlich verbunden. Auf formaler Ebene
erreicht dies der Autor durch die persÚnliche Anrede adelfoı´ (vgl. Jak 1, 2. 16.
19; 2, 1. 5. 14; 3, 1. 10. 12; 4, 11; 5, 7. 9. 10. 12. 19), der durchgehende Anredecha
rakter muß als das formale Charakteristikum des Jak angesehen werden. Aber
auch auf inhaltlicher Ebene bestehen innerhalb des Briefes zahlreiche Verbin
dungen. Das gesamte Schreiben ist geprÈgt von der Frage nach dem der Weisheit
gemÈßen Glauben, der sich als Einheit von Sein und Tun zeigt. Das Stichwort pı´
stiß verbindet Jak 1, 2 18 und Jak 2, 14 26. Ebenso verknÜpft das Adjektiv te´lei
oß Jak 1, 2 18 mit 1, 19 27; 3, 1 12. Die Vorstellung der sofı´a aµnwXen verbindet
Jak 1, 2 18 mit 3, 13 18. Wer das ‚vollkommene Geschenk der Weisheit von
oben‘ aufnimmt und bewahrt, ist der te´leioß anv´r von Jak 3, 2 und der Weise
von Jak 3, 13.
Sehr unterschiedlich fallen die Gattungsbezeichnungen fÜr den Jak aus: Sie
reichen von ‚ParÈnese‘31, ‚parÈnetische Didache‘32, ‚Handbuch christlicher
Ethik‘33, ‚Traktat mit parÈnetischer Abzweckung‘34 Über ‚Publizistischer Ge
scher VerknÜpfungen im Jak vgl. auch die Argu- 33 Vgl. E. Lohse, Glaube und Werke – zur Theo-
mentation bei M. Klein, „Ein vollkommenes logie des Jakobusbriefes, in: ders., Die Einheit des
Werk“, 33–41, M. Tsuji, Glaube, 97 f; M. Konradt, Neuen Testaments, GÚttingen 1973, (285–306)
Christliche Existenz, 311–315. 301.
31 Vgl. M. Dibelius, Jak, 16; W. Schrage, Jak, 6. 34 Vgl. G. Strecker, Literaturgeschichte (s. o. 1.2),
32 Vgl. H. Windisch, Jak, 3; F. Mußner, Jak, 24. 72.
438 Der Jakobusbrief
In der Èlteren Forschung wurde vielfach angenommen, im Jak sei eine jÜdische
‚Grundschrift‘ verarbeitet worden. So hielt F. Spitta den Jak fÜr ein ursprÜnglich
jÜdisches Schreiben, dessen Grundschrift im 1. Jh. v. Chr. entstanden sei. Ein
christlicher Redaktor habe sie dann dem Herrenbruder Jakobus zugeschrieben
und auch den Namen Jesus Christus in Jak 1, 1; 2, 1 eingefÜgt40. In Variation der
These Spittas sah A. Meyer in der ‚Grundschrift‘ des Jak ein jÜdisch hellenisti
sches Pseudepigraphon aus der 1. HÈlfte des 1. Jhs. n. Chr. Im Mittelpunkt dieser
Schrift habe eine auf jÜdischer Onomastik beruhende Allegorese der Patriarchen
gestanden41. Speziell durch den Zusatz des Namens Jesus Christus sei sie dann
um 80/90 n. Chr. verchristlicht worden42. Weil im Jak jedoch keinerlei Zeichen
fÜr eine sekundÈre Verchristlichung zu erkennen sind, fanden diese Thesen zu
Recht in der Exegese keinen Widerhall43.
Zweifellos Übernahm der Verfasser des Jak aber weisheitlich geprÈgte Tradi
tionen seiner Gemeinde. So liegt in Jak 3, 3 12 eine geschlossene Abhandlung
Über die Macht der Zunge vor, in Jak 1, 2 18; 3, 13 18; 5, 1 6. 13 18 findet sich
35 Vgl. W. H. Wuellner, Jakobusbrief, 65. 40 Vgl. F. Spitta, Der Brief des Jakobus, Zur Ge-
36 Vgl. F. Schnider, Jak, 13; Èhnlich H. Paulsen, schichte und Literatur des Urchristentums II/1,
Art. Jakobusbrief, 489; M. Tsuji, Glaube, 26; K. W. GÚttingen 1896, 1–239.
Niebuhr, Der Jakobusbrief im Licht frÜhjÜdischer 41 Vgl. A. Meyer, RÈtsel, 240–305.
Diasporabriefe, NTS 44 (1998), 420–443; 42 Vgl. a. a. O., 305–307.
Chr. Burchard, Jak 9; W. Popkes, Jak, 69 (Jak 43 Ausnahmen: A. JÜlicher – E. Fascher, Einlei-
greift das „PhÈnomen“ des Diasporabriefes auf). tung, 211 f; H. Windisch, Jak, 3 f; R. Bultmann,
37 Vgl. E. Baasland, Literarische Form, 3654. Theologie (s. o. 2), 515.
38 Vgl. H. FrankemÚlle, Jak, 66.
39 Vgl. W. Popkes, Adressaten, Situation und
Form, 176 ff.
Religionsgeschichtliche Stellung 439
44 Vgl. zur Analyse der Texte R. Hoppe, Hinter- den, ThLZ 92 (1967), 253–258. FÜr H. Franke-
grund, 123–145; W. Popkes, Adressaten, Situation mÚlle, Jak, 85, gilt: „Der Jakobusbrief prÈsentiert
und Form, 156–176. sich als eine relecture von Jesus Sirach.“ Skep-
45 So M. Hengel, Jakobusbrief, 251, der die im tisch gegenÜber der Klassifizierung des Jak als
Jak aufgenommenen Jesustraditionen einem sehr ‚Weisheitsschrift‘ Èußern sich z. B. H. v. Lips,
frÜhen Àberlieferungsstadium zuordnet. Weisheitliche Traditionen (s. o. 3.3.5), 431–437;
46 Zur Auflistung und Interpretation aller Tradi- M. Konradt, Christliche Existenz, 260–265.
tionsbezÜge des Jak vgl. W. Popkes, Jak, 27–44. 48 Vgl. dazu B. R. Halson, Epistle of James: ‚Chri-
47 Vgl. zum umfassenden Nachweis R. Hoppe, stian Wisdom?‘, StEv IV (1968), 308–314.
Hintergrund, passim; U. Luck, Weisheit und Lei-
440 Der Jakobusbrief
Ausgangspunkt und Zentrum des jakobeischen Denkens ist die Vorstellung der
Weisheit ‚von oben‘ (vgl. Jak 1, 17; 3, 15. 17), die dem Christen in der Taufe als
rettendes Wort der Wahrheit geschenkt wird (Jak 1, 21) und ihn in die Lage ver
setzt, den im Gesetz offenbar gewordenen Willen Gottes zu vollbringen. Die ‚von
oben‘ kommende Weisheit erneuert als Gabe Gottes den Menschen und befÈhigt
ihn erst, seinen Glauben zur Tat zu bringen und so vor Gott gerecht zu werden.
Dieser theozentrisch weisheitlichen Grundkonzeption entspricht eine Anthro
pologie, die auf die Einheit des Menschen, seine Vollkommenheit zielt (vgl. Jak
1, 2 4; 3, 2. 13 18)49. Die Gespaltenheit des Menschen (vgl. dı´yucoß in Jak 1,8;
4,8) soll Überwunden werden, Jak will den heilen, in Wort und Tat mit sich
selbst Übereinstimmenden Menschen. Die Zerrissenheit des Menschen Èußert
sich in seinen Zweifeln (Jak 1, 6), im Auseinanderklaffen von Wort und Tat (Jak
1, 22 27), im Mißbrauch der Zunge (Jak 3, 3 12), in der Liebe zur Welt (Jak
4, 4 ff), in der Mißachtung des Willens Gottes (Jak 2, 1 13; 5, 1 ff), im stÈndigen
Streit (Jak 4, 1 ff) und im Vermischen von Ja und Nein (Jak 5, 12). Diese Zerris
senheit des Menschen geht auf die Begierde zurÜck (vgl. Jak 1, 14 f; 4, 1 f), sie
bringt die SÜnde hervor und fÜhrt den Menschen in den Tod (Jak 1, 15). Die Èu
ßeren Konflikte sind somit Folge eines inneren Konfliktes. Viele Gemeindeglie
der streben nach sozialem Prestige, und sie werden im Umgang mit den Schwe
stern und BrÜdern rÜcksichtslos. Nicht die Weisheit ‚von oben‘, sondern die ‚ir
dische‘ Weisheit bestimmt den zerrissenen Menschen (vgl. Jak 3, 15). Der Christ
Überwindet nach Jak diese Gespaltenheit durch die mit dem Glauben identische
Gabe der Weisheit. Sowohl der Glaube als auch die Weisheit sind an den Werken
aufweisbar, die ihrerseits am ‚kÚniglichen Gesetz‘ (Jak 2,8) und am ‚vollkomme
nen Gesetz der Freiheit‘ (Jak 1, 25; 2, 12) orientiert sind. Weil fÜr Jak das Liebes
gebot das Ziel und das Zentrum des Gesetzes ist (vgl. Jak 2,8), besteht zwischen
der geschenkten Weisheit, dem Glauben und den Werken eine organische Ein
heit. Allein die Weisheit von oben und damit der Glaube ermÚglicht die Voll
kommenheit durch die ErfÜllung des Gesetzes im Liebesgebot und so die Einheit
von Glauben und Werken50.
Glaube und Gesetz sind bei Jak ebensowenig ein Gegensatz wie Glaube und
Werke, vielmehr erscheinen sie als zwei Seiten derselben Medaille. Bildet fÜr
Jak das im Liebesgebot zusammengefaßte Gesetz den Maßstab des christlichen
49 Vgl. H. FrankemÚlle, Gespalten oder ganz. Zur W. Popkes, Adressaten, Situation und Form,
Pragmatik der theologischen Anthropologie des 191 ff.
Jakobusbriefes, in: H. U. v.Brachel – N. Mette 50 Vgl. U. Luck, Theologie des Jakobusbriefes,
(Hg.), Kommunikation und SolidaritÈt, Freiburg – 10–15.
MÜnster 1985, 160–178; ders., Jak, 305–320;
Theologische Grundgedanken 441
Handelns, so erfolgt auch das Gericht nach dem Maßstab des Gesetzes (vgl. Jak
2, 12 f; 3, 1 b; 4, 12; 5, 1. 9). Dabei geht Jak von der prinzipiellen Gleichwertigkeit
aller Gebote aus (vgl. oºlon tòn nómon in Jak 2, 10). Gottesliebe, NÈchstenliebe
und das Halten des Gesetzes erscheinen als vollkommene Einheit. Der im Gesetz
geoffenbarte ganzheitliche Wille Gottes Überwindet das unvollkommene, partei
liche und gespaltene Tun der Christen. Die jakobeische Gesetzestheologie fÜhrt
konsequenterweise zu einer Sozialethik und in AnsÈtzen auch zu einer Wirt
schaftsethik, weil die Forderung des Liebesgebotes uneingeschrÈnkt fÜr alle Be
reiche des Lebens gilt. Die Unterschiede zwischen Jak und Paulus sind offenkun
dig: WÈhrend fÜr Paulus die SÜnde eine Überindividuelle Macht darstellt, die
sich des Gesetzes bedient und den Menschen betrÜgt (vgl. RÚm 7, 7 ff), kann die
SÜnde bei Jak durch das Halten des ganzen Gesetzes Überwunden werden (Jak
2, 10; 4, 17; 5, 19. 20). Folglich existiert fÜr ihn kein Gegensatz zwischen Glauben
und Werken, den er aber bei seinem GesprÈchspartner voraussetzt.
Ist dieser GesprÈchspartner Paulus? Da sich der Gegensatz ‚Glaube und Wer
ke‘ vor Paulus nirgendwo nachweisen lÈßt51, muß ein Bezug auf Paulus im Jak
angenommen werden. Zudem scheint sich Jak 2, 10 auf Gal 5, 3 zu beziehen
(oºlon to`n nómon), und die Anspielung auf RÚm 3, 28 in Jak 2, 24 ist offensicht
lich. Schließlich liegen BerÜhrungen in der Abrahamsthematik vor (vgl. RÚm
4, 2/Jak 2, 21), und das Zitat aus Gen 15, 6 in RÚm 4, 3/Jak 2, 23 weicht Überein
stimmend in zwei Punkten vom LXX Text ab: LAbraám statt LAbrám, HinzufÜgung
von de´ hinter epı´steusen 52. Paulus trifft allerdings die Polemik in Jak 2, 14 26
nicht, denn fÜr ihn gibt es keinen Glauben ohne Werke (vgl. nur RÚm 1, 5; 13,8
10; Gal 5, 6). Jak kÚnnte die paulinische Position bewußt verzeichnet oder miß
verstanden haben. MÚglicherweise kannte er den Gal, RÚm nicht, sondern nur
uns unbekannte literarische Zwischenstufen. Oder er argumentiert gegen Chri
sten, die einen Glauben ohne Werke praktizierten und sich dabei auf Paulus be
riefen. 2 Thess 2, 2 und 2 Tim 2, 18 bezeugen eine eschatologische Hochstim
mung in den nachpaulinischen Missionsgemeinden Kleinasiens und Griechen
lands, die mÚglicherweise zu einer VernachlÈssigung der Werke fÜhrte und der
von Jak bekÈmpften Position entspricht. Bei einer solchen Annahme muß man
zudem Jak nicht ein vÚlliges UnverstÈndnis der paulinischen Theologie oder eine
bÚsartige Verzeichnung des paulinischen Denkens unterstellen.
Jak betont die natÜrliche und unauflÙsliche Einheit von Glauben und Handeln.
In Jak 2, 22 wird die Position des Autors sichtbar: Glaube und Werke wirken zu
sammen, so daß der Glaube zur Vollendung gelangt. Dieser vollkommene Glau
be erlangt die Rechtfertigung vor Gott. Das Zusammenwirken von Glauben und
51 Vgl. M. Hengel, Jakobusbrief, 254. stentum (s. o. 5), 244–251; G. LÜdemann, Paulus
52 Vgl. A. Lindemann, Paulus im Èltesten Chri- II (s. o. 2.5.8), 197–201.
442 Der Jakobusbrief
Werken bei Jak darf nicht als Synergismus aufgefaßt werden, denn in Jak 2, 22
bleibt durchgehend der Glaube das Subjekt, er ist den Werken vorgeordnet. Jak
geht es um den rechtfertigenden Glauben, der Werke hervorbringt, sich in den
Werken bewÈhrt und aus den Werken vollendet wird. Die Vollkommenheit ist
das Ziel des Glaubens, und die Werke dienen diesem Ziel. Gott selbst pflanzte
den Menschen in der Taufe das Wort der Wahrheit ein (vgl. Jak 1, 18. 21), das
kein anderes ist als das vollkommene Gesetz der Freiheit (Jak 1, 25). Die Einheit
von HÚren und Tun entspringt somit dem Willen Gottes und entspricht der dem
Christen erÚffneten Vollkommenheit.
Der Jak als eine theozentrische Schrift entfaltet seine Theologie als Anthropo
logie und Ethik. Nur zweimal wird der Name Jesus Christus erwÈhnt (Jak 1, 1;
2, 1), Stellung und Inhalt dieser Texte verleihen aber der Christologie ein beson
deres Gewicht. Sollte sich Xeou˜ in Jak 1, 1 auf Jesus beziehen, so lÈge ein im Neu
en Testament einzigartiges theologisches Bekenntnis vor53. Auch in Jak 2, 1 wer
den Jesus zahlreiche PrÈdikate zugeschrieben, er erscheint als ‚Herr‘ und als ‚Ge
salbter der Herrlichkeit‘. FÜr Jak wurde Jesus in die Herrlichkeit Gottes mithin
eingenommen „er ist der Herr, der in der Herrlichkeit Gottes den Glauben der
Christen und ihr Wirken bestimmt.“54 Die außergewÚhnlichen PrÈdikationen in
Jak 1, 1; 2, 1 und die ErwÈhnungen des ku´rioß Jesus in Jak 5, 7. 8. 15 unterstrei
chen die grundlegende Bedeutung der Christologie fÜr die Theologie des Jak.
Einigheit besteht in der neuesten Forschung Über die literarische und themati
sche Geschlossenheit des Jak. Nach wie vor kontrovers wird hingegen die Verfas
serfrage diskutiert. WÈhrend F. Mußner, M. Hengel und L. T. Johnson mit unter
schiedlicher BegrÜndung an dem Herrenbruder Jakobus als direktem oder indi
rektem Verfasser des Briefes festhalten, sieht die Mehrzahl der Exegeten im Jak
ein pseudepigraphisches Schreiben. Der durchgehende weisheitliche Hinter
grund des Jak wurde durch die Arbeiten von R. Hoppe und U. Luck noch einmal
nachdrÜcklich bestÈtigt. Nach Hoppe besitzt der Jak eine einheitliche theologi
sche Konzeption: „Im Glauben teilt sich die verborgene Weisheit Gottes mit, die
dem Menschen eschatologische Verheißung zuspricht, im Glauben muß der
Mensch die Weisheit, welche er empfangen hat, aufgreifen und je neu verwirkli
chen.“55 Im Anschluß an A. Schlatter sieht U. Luck den Jak von einer zentralen
Fragestellung bestimmt: „Es geht um das Leben, und es ist die Weisheit, die in
das Leben fÜhrt.“56 Bestimmt das weisheitliche Denken umfassend die Theologie
des Jak, so verliert die mÚgliche Antithese zu Paulus ihre Bedeutung fÜr die In
terpretation. Die Theologie des Jakobus hat ihre eigenen Denkvoraussetzungen,
und sie entwickelte sich nicht im Gegensatz zu Paulus. In dieser Weise interpre
tieren den Jak u. a. H. Windisch, E. Lohse, U. Luck, H. FrankemÚlle, R. Heiligen
thal, E. Baasland M. Konradt, Chr. Burchard und W. Popkes57. H. FrankemÚlle
meint sogar: „Im ganzen Brief entwickelt Jakobus keine Gesetzes Lehre, nir
gendwo wird das Gesetz im eigentlichen Sinne thematisiert; wo es auftaucht, bil
det es nicht den Hauptgedanken, steht vielmehr in Funktion zu diesem.“58 Dem
gegenÜber wird vielfach an einer antipaulinischen Frontstellung des Jak festge
halten. Nach A. Lindemann wollte der Verfasser des Jak „die paulinische Theolo
gie treffen und widerlegen, und zwar mit ihren eigenen Mitteln.“59 M. Hengel
bezeichnet den Jak „als ein MeisterstÜck frÜhchristlicher Polemik“60, Polemik
gegen Paulus. Nicht gegen Paulus direkt, sondern gegen Hyperpauliner wendet
sich der Jak nach Meinung von M. Dibelius, W. G. KÜmmel, Ph. Vielhauer,
W. Schrage und F. Schnider61.
Die sozialgeschichtlichen Aussagen des Jak werden im Anschluß an M. Dibe
lius vielfach als reine ParÈnese ohne geschichtlichen Hintergrund angesehen.
Die Beispiele gelten dann als konstruiert, die Mahnungen sind nur Elemente
eines rhetorisch wirkungsvollen Diatribenstils. DemgegenÜber unternimmt
W. Popkes den Versuch, die kirchliche und sozialgeschichtliche Situation der
Adressatengemeinde nÈher zu bestimmen. „Der Jakobusbrief wurde nicht als di
stanzierte Analyse einer Situation verfaßt, sondern als kritische Einmischung in
geschichtliche VorgÈnge.“62 Die Gemeinden befinden sich im Rahmen des nach
paulinischen hellenistischen Christentums in einer Umbruchphase, immer mehr
Reiche schließen sich ihnen an, wodurch es zu sozialen und theologischen Kon
flikten bzw. MißverstÈndnissen kommt. Als Neophytenunterweisung versucht
der Jak in diese Situation hinein die Einheit von Glauben und Werken zu wah
ren. Auch fÜr F. Schnider, H. FrankemÚlle und M. Tsuji besitzen die im Jak ge
7.2.1 Literatur
Kommentare
KEK 12/1: L. Goppelt, 1978. HNT 15: H. Windisch ( H. Preisker), 31951. HThK XIII 2:
K. H. Schelkle, 31970. EKK 21: N. Brox, 21986. NTD 10: W. Schrage, 131985. RNT:
O. Knoch, 1990. ZBK 15: E. Schweizer, 1998. AncB 37B: J. H. Elliott, 2000. WBC 49:
J. R. Michaels, 1988. Hermeneia, P. J. Achtemeier, 1996. NIC: P. H. Davids, 1990.
ANTC: M. E. Boring, 1999.
63 Vgl. F. Mußner, Die ethische Motivation im 65 Vgl. M. Konradt, Christliche Existenz, 310:
Jakobusbrief, 421. „Die zentrale GrÚße christlicher Existenz ist das
64 Vgl. M. Klein, „Ein vollkommenes Werk“, den Christen ‚eingeborene‘ Wort, das als ein wir-
207; das ‚Programm‘ des Jak „heißt BewÈhrung kungsmÈchtiges ‚Leben‘ schafft und seiner impe-
des Glaubens in den Versuchungen des Lebens rativischen Seite nach die Gestaltwerdung christ-
mit dem Ziel der sittlichen Vollkommenheit, die licher Existenz im Lebenswandel bestimmt und
allein das eschatologische Heil des Menschen er- mitwirkt.“
wirken kann.“ 66 H. FrankemÚlle, Jak, 16.
Verfasser 445
Monographien
H. Goldstein, Paulinische Gemeinde im ersten Petrusbrief, SBS 80, Stuttgart 1975. H. Mil
lauer, Leiden als Gnade, EHS XXIII 56, Frankfurt 1976. F. SchrÚger, Gemeinde im 1.Pe
trusbrief, Passau 1981. J. H. Elliott, A Home for the Homeless. A Sociological Exegesis of
1 Petr, Its Situation and Strategy, Philadelphia 1981. W. L. Schutter, Hermeneutic and
Composition in 1Peter, WUNT 2. 30, TÜbingen 1989. Angelika Reichert, Eine urchristli
che praeparatio ad martyrium, BET 22, Frankfurt 1989. F. R. Prostmeier, Handlungsmo
delle im ersten Petrusbrief, fzb 63, WÜrzburg 1990. R. Feldmeier, Die Christen als Fremde,
WUNT 64, TÜbingen 1992. R. Metzner, Die Rezeption des MatthÈusevangeliums im 1. Pe
trusbrief, WUNT 2.74; TÜbingen 1995. J. Herzer, Petrus oder Paulus?, WUNT 103, TÜbin
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AufsÇtze
W. Bornemann, Der erste Petrusbrief eine Taufrede des Silvanus?, ZNW 19 (1919/20),
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(FS O. Cullmann), hg. v. B. Reicke u. a., ZÜrich TÜbingen 1972, 285 296. G. Delling, Der
Bezug der christlichen Existenz auf das Heilshandeln Gottes nach dem ersten Petrusbrief,
in: Neues Testament und christliche Existenz (FS H. Braun), hg. v. H. D. Betz u. a., TÜbingen
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Domitian, in: Die Kirche des Anfangs (FS H. SchÜrmann), hg. v. R. Schnackenburg u. a.,
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Signum Crucis (FS E. Dinkler), hg. v. C. Andresen u. G. Klein, TÜbingen 1979, 377 393.
F. Neugebauer, Zur Deutung und Bedeutung des 1 Petrusbriefes, NTS 26, 1980, 61 86.
M. Karrer, Petrus im paulinischen Gemeindekreis, ZNW 80 (1989), 210 231. E. Schwei
zer, Zur Christologie des ersten Petrusbriefes, in: AnfÈnge der Christologie (FS F. Hahn), hg.
v. C. Breytenbach u. H. Paulsen, GÚttingen 1991, 369 381.
7.2.2 Verfasser
Der 1 Petrusbrief galt in der Alten Kirche offenbar von Anfang an als ein Schrei
ben des Apostels Petrus. Die hohe WertschÈtzung des Briefes bezeugt bereits der
um 110 n. Chr. geschriebene 2 Petr (vgl. 2 Petr 3, 1). Auch Polykarp (Phil 8, 1;
vgl. ferner 1, 3; 10, 2) und Papias (Euseb, HE III 39, 17) setzen den 1 Petr voraus,
auffallend ist demgegenÜber seine NichterwÈhnung im Kanon Muratori. Als
Verfasser des Briefes wird Petrus erstmals explizit genannt bei Iren, Haer IV 9, 2;
16, 5; V 7, 2.
446 Der erste Petrusbrief
73 Vgl. G. Wohlenberg, Der erste und zweite Pe- 76 Vgl. zur umfassenden Kritik der ‚SekretÈrshy-
trusbrief und der Judasbrief, KNT XV, Leipzig pothese‘ bereits H. Windisch, 1 Petr, 80 f.
1 2
1915, XXI; E. G. Selwyn, The First Epistle of St. 77 Vgl. hierzu die Àberlegungen bei L. Goppelt,
Peter, London 21947, 59 f; J. Michl, 1 Petr, RNT 1 Petr, 348.
8. 2, Regensburg 21968, 101; B. Schwank, Der er- 78 FÜr Kleinasien votieren z. B. R. Knopf, 1 Petr
ste Brief des Apostels Petrus, Geistliche Schriftle- (s. o. 7.2.2), 25; C. H. Hunzinger, Babylon, 77;
sung 20, DÜsseldorf 1963, 7–11. J. B. Bauer, Der erste Petrusbrief, 524 f; Ph. Viel-
74 Vgl. K. H. Schelkle, 1 Petr, 14 f.134; F. Neuge- hauer, Urchristliche Literatur, 588; W. Marxsen,
bauer, Zur Deutung und Bedeutung, 69. Einleitung, 234 f; A. Lindemann, Paulus im Èlte-
75 Die Wendung gráfein dia´ tinoß benennt aber sten Christentum (s. o. 5), 253; A. Reichert, Eine
in der Regel den BriefÜberbringer, nicht hingegen urchristliche praeparatio ad martyrium, 525 ff.
den Autor; vgl. IgnRÚm 10, 1; IgnPhld 11, 2; 79 Vgl. ferner Sib 5, 143; 5, 159; syrBar 11, 1;
IgnSm 12, 1. 67, 7; 4 Esr 3, 1. 28. 31.
448 Der erste Petrusbrief
und die NÈhe des 1 Petr zum 1Klem80 sind Indizien fÜr die Welthauptstadt als
Abfassungsort des 1 Petr81. ‚Babylon‘ in 1 Petr 5, 13 besagt indes nur, „daß der
1 Petr in Rom geschrieben sein will, nicht schon, daß er tatsÈchlich dort abgefaßt
wurde.“82 Auch die Ortsangabe kann bei einem pseudepigraphischen Schreiben
Fiktion sein. Schließlich: Warum verwendet der Verfasser einen Decknamen,
wenn der 1 Petr in Rom entstand?
Eine sichere Entscheidung ist nicht mÚglich, m. E. spricht die Adressatenbezo
genheit des Schreibens eher fÜr Kleinasien als fÜr Rom. Hinzu kommt die Rezep
tionsgeschichte des 1 Petr: Er war zuerst im Osten bekannt (vgl. Polyk, Phil 1, 3;
2, 1 f; 5, 3; 7, 2; 8, 1 f; 10, 2; Papias), wo außerdem die Bezeichnung Roms als Ba
bylon aufkam83.
Zumeist wird die Entstehung des (pseudepigraphischen) 1 Petr in den ZeitrÈu
men 65 80 n. Chr.84 oder 70 100 n. Chr.85 vermutet. FÜr eine Eingrenzung des
Abfassungszeitraumes und eine Datierung um 90. n. Chr. lassen sich folgende Ar
gumente anfÜhren86: 1) Die in den LeidensparÈnesen thematisierte Konfliktsi
tuation setzt zwar noch keine planmÈßigen und umfassenden Christenverfol
gungen voraus, zugleich geht sie aber deutlich Über lokale Diskriminierungen
hinaus. Dies weist in das Umfeld der Auseinandersetzungen am Ende der Regie
rungszeit Domitians (93 96 n. Chr.)87. 2) Der 1 Petr setzt eine Verbreitung des
Christentums in Kleinasien (speziell Pontus und Bithynien) voraus, wie sie
durch Plinius, Ep X 96, 6. 7 fÜr 90 n. Chr. bestÈtigt wird88. 3) Im 1 Petr verlÈuft
die Trennungslinie nicht zwischen Juden und Heidenchristen, Israel und Kir
che, sondern zwischen den Christen und ihrer heidnischen Umwelt, was auf
80 Vgl. die Auflistung bei F. SchrÚger, Gemeinde ‚Babylon‘ in 1 Petr 5, 13 nicht entspricht.
im 1 Petrusbrief, 219–222. 84 Vgl. L. Goppelt, 1 Petr, 65; O. Knoch, 1 Petr,
81 Vgl. in diesem Sinn u. a.: W. Bauer, Recht- 21.
glÈubigkeit und Ketzerei (s. o. 5.5.3), 110 f.220 f 85 So tendenziell W. Schrage, 1 Petr, 64 (die letz-
(Manifest der rÚm. Gemeinde an die kleinasiati- ten Jahrzehnte des 1. Jhs.); J. H. Elliott, A Home
schen Christen); W. G. KÜmmel, Einleitung, 374; for the Homeless, 87 (zwischen 73 und 92
W. Schrage, 1 Petr, 63 f; L. Goppelt, 1 Petr, 66; n. Chr.); N. Brox, 1 Petr, 41; P. J. Achtemeier,
N. Brox, 1 Petr, 42 f (mit Zweifeln); F. SchrÚger, 1 Petr, 49 f (zwischen 80 und 100 n. Chr.); ohne
Gemeinde im 1.Petrusbrief, 212; F. R. Prostmeier, Festlegung K. H. Schelkle, 1 Petr, 7–11.
Handlungsmodelle, 123–126; J. H. Elliott, 1 Petr, 86 Vgl. in diesem Sinn R. Knopf, 1 Petr (s. o.
127–130. 7.2.2), 24 f; H. Windisch, 1 Petr, 81; A. JÜlicher –
82 N. Brox, 1 Petr, 42. E. Fascher, Einleitung, 196 f; J. B. Bauer, Der erste
83 Vgl. C. H. Hunzinger, Babylon, 77. C. P. Thie- Petrusbrief, 522 ff; K. M. Fischer, Das Urchristen-
de, Babylon, der andere Ort: Anmerkungen zu tum, Berlin 1985, 174; F. R. Prostmeier, Hand-
1 Petr 5, 13 und Apg 12, 17, in: ders. (Hg.), Das Pe- lungsmodelle, 71; R. Feldmeier, Christen als
trusbild in der neueren Forschung, Wuppertal Fremde, 199 (zwischen 81 und 90).
1987, 221–229, kann zwar darauf hinweisen, daß 87 S. u. 7.2.4.
‚Babylon‘ als Chiffre fÜr Luxus, Reichtum und 88 Vgl. A. v.Harnack, Die Mission und Ausbrei-
ausschweifendes Leben schon vor 70 n. Chr. tung des Christentums in den ersten drei Jahr-
nachweisbar ist, was aber der Verwendung von hunderten II, Leipzig 41924, 736 f.
Empfänger 449
eine spÈtere Phase der Missionsgeschichte verweist89. 4) Der 1 Petr gehÚrt in die
Wirkungsgeschichte paulinischer Theologie (s. u. 7.2.7). 5) ‚Babylon‘ als Chiffre
fÜr den religiÚsen Alleinvertretungsanspruch des totalen Staates ist erst nach 70
n. Chr. belegt90.
7.2.4 Empfänger
Der Brief ist ‚an die erwÈhlten Fremden in der Diaspora von Pontus, Galatien,
Kappadozien, Asien und Bithynien‘ (1 Petr 1, 1) gerichtet. Wie in der jÜdischen
Diaspora leben in diesen Gebieten Christen als eine weit verstreute Minderheit.
Mit Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien und Bithynien bezeichnet der Verfas
ser nicht Landschaften Kleinasiens, sondern rÚmische Provinzen91. Als Provin
zen umfassen die Namen ein zusammenhÈngendes Gebiet (fast ganz Kleinasien),
wÈhrend bei einer Landschaftshypothese die Auslassung von Landschaften mit
christlichen Gemeinden wie Phrygien, Pisidien und Lykaonien nicht erklÈrbar
wÈre. Auch die (fiktive rÚmische) Verfasserperspektive legt die Wahl der aktuel
len politischen Bezeichnungen nahe.
Die angeschriebenen Gemeinden bestanden mehrheitlich aus Heidenchristen,
wie der wiederholte Hinweis auf ihren frÜheren nichtigen Lebenswandel (1 Petr
1, 14. 18; 2, 25; 4, 3), ihre Berufung zum Volk Gottes (1 Petr 2, 10) und zur Nach
kommenschaft Abrahams (1 Petr 3, 6) zeigen92. Ferner werden die MÈnner der
in 1 Petr 3, 1 angesprochenen christlichen Frauen ausdrÜcklich als Heiden be
zeichnet. Zu den Gemeinden gehÚrten auch Sklaven (1 Petr 2, 18 ff), deren Her
ren im Gegensatz zu Kol 4, 1; Eph 6,9 aber nicht erwÈhnt werden. MÚglicher
weise gab es im Blickfeld des Verfassers keine christlichen Sklavenhalter. Die Un
terweisungen im sozial ethischen Pflichtenkatalog 1 Petr 2, 13 17. 18. 25; 3, 1
6. 7 deuten ebenso wie die in 1 Petr 5, 5 geforderte Unterordnung der Gruppe der
‚JÜngeren‘ nicht auf aktuelle Konflikte innerhalb der Gemeinde hin, sondern
sind der usuellen ParÈnese zuzuordnen93. Der 1 Petr lÈßt erkennen, daß es in
den Gemeinden sowohl charismatische Dienste (1 Petr 4, 10. 11) als auch eine
presbyteriale Verfassung (1 Petr 5, 1 4) gab. In den HÈnden der Presbyter lag of
fenbar die Leitung der Ortsgemeinden, in denen zugleich charismatische Dienste
wahrgenommen wurden94.
95 Vgl. A. Reichert, Eine urchristliche praeparatio These, der 1 Petr sei in die Zeit vor Domitian zu
ad martyrium, 74 f; gegen N. Brox, 1 Petr, 30: „Der datieren. Warum aber hÈtte der 1 Petr dieses blo-
Brief erklÈrt sich hinreichend aus dieser ‚Alltagssi- ße ÀberprÜfungsinstrument (vgl. A. Reichert,
tuation‘ der frÜhen Kirche.“ Eine urchristliche praeparatio ad martyrium, 78 f)
96 Vgl. hier bes. K. M. Fischer, Das Urchristentum erwÈhnen sollen? Zudem dÜrfte in 1 Petr 2, 13
(s. o. 7.2.3), 168–172. eine Anspielung auf den Kaiserkult vorliegen:
97 FÜr L. Goppelt, 1 Petr, 61, ist das im 1 Petr Der Kaiser erscheint als menschliches GeschÚpf,
nicht nachweisbare Opfer vor den Bildern der und er wird damit dem ku´rioß LIvsou˜ß Cristóß un-
GÚtter oder des Kaisers Hauptargument fÜr die tergeordnet.
Gliederung, Aufbau, Form 451
Die Christenverfolgungen in Rom unter Nero 64 n. Chr. (Tac, Ann XV 44, 2 5) bil
den nicht den historischen Hintergrund der LeidensparÈnesen im 1 Petr100, denn
sie waren lokal begrenzt. Àber Christenverfolgungen in Kleinasien gibt es fÜr die
sen frÜhen Zeitraum ebenso wie fÜr die Regierungszeiten Vespasians (69 79) und
Titus‘ (79 81) keine Nachrichten101.
1, 1 2 PrÈskript
1, 3 9 Danksagung Briefanfang
1, 10 12 Briefliche Selbstempfehlung
98 Vgl. hier R. Feldmeier, Christen als Fremde, 1 Petr, 62, die im 1 Petr vorausgesetzte Situation
105–132. sei „seit der Aktion Neros grundsÈtzlich im gan-
99 Vgl. J. B. Bauer, Der erste Petrusbrief, 518 ff; zen Imperium mÚglich“. Wenn fÜr den von Gop-
A. Reichert, Eine urchristliche praeparatio ad pelt favorisierten Zeitraum 65–80 n. Chr. das
martyrium, 76 ff. Christsein bereits ein Straftatbestand gewesen
100 Gegen K. H. Schelkle, 1 Petr, 10, der eine Ver- wÈre, bliebe das Verhalten des Plinius ca. 40 Jahre
bindung erwÈgt. spÈter nur schwer erklÈrbar.
101 Dies spricht gegen die Vermutung L. Goppelts,
452 Der erste Petrusbrief
5, 1 11 SchlußparÈnese
5, 12 Der BriefÜberbringer
Briefschluß
5, 13 Grußausrichtung
5, 14 Eschatokoll
Der 1 Petr weist alle Elemente brieflicher Konvention auf. Das PrÈskript lehnt
sich an das paulinische Formular an (vgl. 1 Kor 1, 1 3; 2 Kor 1, 1 f). Auf den Ab
sendernamen Pe´troß folgt die Intitulation apóstoloß LIvsou˜ Cristou˜. Zur ad
scriptio 1 Petr 1, 1 b finden sich Parallelen in der atl. jÜdischen Literatur (vgl.
2 Makk 1, 1 9; 1, 10 2, 18; syrBar 78, 1 86, 3; ferner Dan 3, 31; 6, 26). Der Se
genswunsch 1 Petr 1, 2102 gehÚrt offenbar zur Form des Diaspora Briefes (vgl.
R. Gamaliel, bSanh 11 b: „An unsere BrÜder, die Einwohner der babylonischen
Diaspora und an unsere BrÜder in Medien und an die ganze Übrige Diaspora von
Israel: Euer Friede gedeihe“)103. Auf das PrÈskript folgt die Eulogie in 1 Petr 1, 3
9 (vgl. 2 Kor 1, 3; Eph 1, 3), deren Abschluß die eschatologischen Klimax in V. 9
bildet. WÈhrend die Eulogie die Adressaten im Blick hat, rekurriert die briefliche
Selbstempfehlung (1 Petr 1, 10 12) auf die atl. Propheten und die apostolischen
VerkÜndiger des Evangeliums.
Mit dem Imperativ in 1 Petr 1, 13 beginnt der Briefkorpus. Der Aufbau des
Hauptteils ist deutlich erkennbar: Aus dem in der Taufe begrÜndeten neuen Le
ben des Christen folgert der Briefschreiber ein sichtbares Tatzeugnis des Glau
benden in der Welt und die Bereitschaft zum Leiden. In 1 Petr 5, 1 setzt mit ouÓn
und parakalw̃ die SchlußparÈnese ein, deren Abschluß die SegenswÜnsche in
1 Petr 5, 10 11 bilden. In 1 Petr 5, 12 a wird der Àberbringer des Briefes empfoh
len (vgl. Apg 15, 23; IgnRÚm 10, 1; IgnPhld 11, 2; IgnSm 12, 1; und Polyk 14, 1),
und in 1 Petr 5, 12 b charakterisiert der Verfasser sein Schreiben noch einmal als
Wort der Ermahnung (vgl. Hebr 13, 22). Das eigentliche Postskript des Briefes
bilden die Grußausrichtung in 1 Petr 5, 13 (vgl. RÚm 16, 16 b; 1 Kor 16, 19. 20 a;
2 Kor 13, 12 b) und das Eschatokoll in 1 Petr 5, 14 (vgl. zum Schlußgruß RÚm
16, 16 a; 1 Kor 16, 20 b; 2 Kor 13, 12 a; zum Friedensgruß vgl. RÚm 15, 33; 1 Kor
16, 23; 2 Kor 13, 13; Gal 6, 18).
102 Zu ca´riß kai` eirv´nv vgl. 1 Thess 1, 1 b; 1 Kor 103 Vgl. F. Schnider – W. Stenger, Studien (s. o.
1, 3; 2 Kor 1, 2; Gal 1, 3; RÚm 1, 7; Phil 1, 2; Phlm 2. 3.2), 34.
3.
Literarische Integrität 453
Die literar und formgeschichtliche Einheit des 1 Petr wurde in der Èlteren For
schung hÈufig in Frage gestellt107. Viel Resonanz fand die 1911 von R. Perdelwitz
aufgestellte These, 1 Petr 1, 3 4, 11 sei eine bei einer Tauffeier gehaltene Taufan
sprache. NachtrÈglich sei dann an diesen ursprÜnglich selbstÈndigen Text mit
1 Petr 1, 1 f; 4, 12 5, 14 ein knappes Mahn und Trostschreiben angefÜgt worden.
Als BegrÜndung verweist Perdelwitz auf die im 1 Petr vorausgesetzten verschie
denen Situationen: Spreche 1 Petr 1, 3 4, 11 nur von der MÚglichkeit des kom
menden Leidens, so setze 1 Petr 4, 12 5, 14 bereits gegenwÈrtiges Leiden vor
aus108. Als sekundÈre briefliche Erweiterung erklÈrt H. Windisch die Jetztgestalt
des 1 Petr109. Der Verfasser griff in 1 Petr 1, 3 4, 11 auf eine mÚglicherweise von
ihm selbst gehaltene Taufansprache zurÜck und erweiterte sie durch ein
Mahnschreiben zum vorliegenden 1 Petr. H. Preisker modifizierte dieses ErklÈ
rungsmodell. Er geht von der formgeschichtlichen Beobachtung aus, „daß das
Schreiben aus einzelnen in sich abgeschlossenen besonderen StÜcken, ohne
Àbergang aneinandergereiht, mit jeweils besonderen stilistischen EigentÜmlich
keiten besteht.“110 Als Folgerung ergibt sich: In 1 Petr 1, 3 4, 11 fand ein urchrist
licher Taufgottesdienst seine schriftliche Fixierung, der mit einem Schlußgottes
104 Vgl. A. Deissmann, Licht vom Osten (s. o. F. R. Prostmeier, Handlungsmodelle, 120 (‚enzy-
2.3.1), 206 f („das Briefliche ist lediglich dekora- klisches Schreiben‘); G. Strecker, Literaturge-
tiv“); M. Dibelius, Geschichte der urchristlichen schichte (s. o. 1.2), 71.
Literatur, 122 f; zuletzt N. Brox, 1 Petr, 23 (‚fiktiv 107 Vgl. zur Forschungsgeschichte A. Reichert,
brieflich gefaßtes Rundschreiben‘). Eine urchristliche praeparatio ad martyrium, 27–
105 Vgl. hierzu A. Reichert, Eine urchristliche 72.
praeparatio ad martyrium, 96–143; F. R. Prostmei- 108 Positiv aufgenommen wurde die Perdelwitz-
er, Handlungsmodelle, 119–121; R. Feldmeier, sche These zuletzt von Ph. Vielhauer, Urchristli-
Christen als Fremde, 133–174. che Literatur, 585.
106 Vgl. L. Goppelt, 1 Petr, 45; D. E. Aune, Literary 109 Vgl. H. Windisch (- H. Preisker), 1 Petr, 76 f.82.
Environment (s. o. 2.3.1), 221 f; A. Reichert, Eine 110 (H. Windisch –) H. Preisker, 1 Petr, 157.
urchristliche praeparatio ad martyrium, 102;
454 Der erste Petrusbrief
Der Verfasser des 1 Petr nahm geprÈgte Traditionen in sein Schreiben auf. So er
wecken 1 Petr 1, 18 21; 2, 21 25 und 3, 18 22 den Eindruck, aus liturgischer Tra
dition entnommen zu sein. Die literarkritische Abgrenzung und formgeschichtli
che Einordnung dieser Texte fÈllt unterschiedlich aus.
ihre vielfÈltigen traditionsgeschichtlichen BezÜge als traditionell aus (V. 18: Bezug
auf Jes 52, 3; V. 19: Christus als Passalamm [vgl. 1 Kor 5, 7; Joh 1, 29; 19, 36];
V. 20: Einst Jetzt Schema [vgl. RÚm 16, 25 f; Kol 1, 26; Eph 3, 5. 9; 2 Tim 1,9 f];
V. 21: Auferweckungsformel [vgl. 2 Kor 4, 14; Gal 1, 1; RÚm 8, 11]). Ein geschlos
senes TraditionsstÜck liegt in 1 Petr 2, 21 25 vor115. V. 21 b fÈllt sowohl inhaltlich
als auch formal (nur hier Partizipialstil) aus der Tradition heraus. Es folgen in der
Vorlage vier RelativsÈtze, die dreimal mit oºß und einmal mit ouÔ einsetzen. V. 25 ist
eine bildhafte Interpretation des Textes in prosaischem Stil und dÜrfte vom Brief
schreiber stammen. MÚglicherweise sind neben V. 21 b.25 auch V. 23 c116 und
V. 24 b117 Eintragungen des Briefschreibers. Die rekonstruierte Vorlage ist deutlich
gegliedert, traditionsgeschichtlich an Jes 53 LXX orientiert und kann formge
schichtlich als Christushymnus bezeichnet werden. Die rein soteriologischen Aus
sagen der Vorlage werden durch den Verfasser des 1 Petr im Sinne des Vorbildge
dankens parÈnetisch interpretiert. In 1 Petr 3, 18 22 zeigt sich wiederum eine Ver
arbeitung verschiedener Traditionsstoffe, ohne daß eine einheitliche Vorlage re
konstruiert werden kÚnnte118.
115 Vgl. neben den Kommentaren bes. R. Bult- 117 So R. DeichgrÈber, Gotteshymnus und Chri-
mann, Bekenntnis- und Liedfragmente, 295–297; stushymnus (s. o. 5.2.7), 141.
R. DeichgrÈber, Gotteshymnus und Christushym- 118 Vgl. L. Goppelt, 1 Petr, 239–264.
nus (s. o. 5.2.7), 140–143; K. Wengst, Christologi- 119 Vgl. zur umfassenden Analyse zuletzt
sche Formeln (s. o. 5.2.7), 83–85. F. R. Prostmeier, Handlungsmodelle, 141–448.
116 Vgl. R. Bultmann, Bekenntnis- und Liedfrag- 120 Vgl. G. Strecker, Literaturgeschichte (s. o. 1.2),
mente, 296. 111: ‚sozialethische Pflichtenlehre‘.
456 Der erste Petrusbrief
mÜndliche Traditionen zurÜckgehen, oder der 1 Petr wurde direkt durch das
MatthÈusevangelium beeinflußt121.
Der 1 Petr steht im Einflußbereich paulinischer bzw. nachpaulinischer Theo
logie122. In diesen Kontext verweisen zunÈchst die geographischen Angaben in
1 Petr 1, 1 f, die starke Anlehnung an das paulinische Briefformular und die Inan
spruchnahme der Paulusmitarbeiter Silvanus (vgl. 1 Thess 1, 1; 2 Kor 1, 19;
2 Thess 1, 1; Apg 15, 22. 27. 32. 40; 16, 19 25. 29; 17, 4. 10. 14 f; 18, 5) und Markus
(vgl. Phlm 24; Kol 4, 10; 2 Tim 4, 11; Apg 12, 12. 25; 13, 5. 13; 15, 37. 39). Zentrale
Begriffe und Vorstellungen der paulinischen Theologie bestimmen auch die
Theologie des 1 Petr: cáriß (1 Petr 1, 2. 10. 13; 2, 19 f; 4, 10; 5, 10. 12), dikaiosu´nv
(1 Petr 2, 24; 3, 14), apokáluyiß (1 Petr 1, 7. 13; 4, 13), eleuXerı´a (1 Petr 2, 16; vgl.
Gal 5, 13), kaleı˜n fÜr die Berufung zum Heil (1 Petr 1, 15; 2,9. 21; 3,9; 5, 10), Er
wÈhlung (1 Petr 1, 1; 2,9). Die fÜr Paulus zentrale en Cristw˜ Vorstellung ist nur
noch in 1 Petr 3, 16; 5, 10. 14 belegt! Schließlich lassen sich zahlreiche BerÜhrun
gen zwischen dem parÈnetischen Gut des 1 Petr und der paulinischen ParÈnese
aufzeigen, unter denen die großen Àbereinstimmungen zwischen 1 Petr 2, 13 17
und RÚm 13, 1 7 herausragen. Zwar fehlen im 1 Petr wichtige Theologumena
paulinischer Theologie (z. B. eine ausgefÜhrte Rechtfertigungslehre und die da
mit verbundene Gesetzesproblematik), was aber fÜr die Deuteropaulinen in un
terschiedlichem Maß auch zutrifft. Ein profilierter Paulinismus prÈgt die Theolo
gie des 1 Petr nicht, eine traditionsgeschichtliche Beeinflussung durch die pauli
nische Theologie ist jedoch unverkennbar.
121 So R. Metzner, Rezeption, 283, wonach „der lus im Èltesten Christentum (s. o. 5), 252–261;
1. Petrusbrief nicht nur urchristlich verbreitetes J. Herzer, Petrus oder Paulus?, 22 ff (umfassende
parÈnetisches und katechetisches Àberlieferungs- Analyse aller BerÜhrungspunkte).
gut rezipiert hat, sondern sich auch auf das Mat- 123 Vgl. zur umfassenden Analyse A. Reichert,
thÈusevangelium als solches zurÜckbezieht.“ Eine urchristliche praeparatio ad martyrium,
122 Vgl. die Auflistung und (kritische) Bewertung 213–247.
der Parallelen bei F. SchrÚger, Gemeinde im 1.Pe- 124 Sie wird u. a. vertreten von H. Gunkel, 1 Petr,
trusbrief, 212–216. 223–228; L. Goppelt, 1 Petr, SNT III, GÚttingen 31917, 281 f; R. Knopf, 1 Petr
48–51; N. Brox, 1 Petr, 47–51; A. Lindemann, Pau- (s. o. 7.2.2), 149–152; K. H. Schelkle, 1 Petr, 106 f.
Theologische Grundgedanken 457
125 Das Material ist aufgelistet bei H. J. Vogels, schen Auslegung auch G. Friedrich, Art. kvru´ssw,
Christi Abstieg ins Totenreich und das LÈute- ThW III, 706; E. Schweizer, Art. pneu˜ma, ThW VI,
rungsgericht an die Toten, FThSt 102, Freiburg 446; H. J. Vogels, Christi Abstieg ins Totenreich,
1976, 74–86; vgl. ferner F. Spitta, Christi Predigt 86; A. Reichert, Eine urchristliche praeparatio ad
an die Geister, GÚttingen 1890; B. Reicke, The martyrium, 247.
Disobedient Spirits and Christian Baptism, ASNU 128 Vgl. Hebr 12, 23; zu jÜdischen und paganen
13, Kopenhagen 1946. Belegen vgl. A. Reichert, a. a. O., 239–243.
126 Vgl. zu den Schwierigkeiten der angelogi- 129 Vgl. F. SchrÚger, Gemeinde im 1.Petrusbrief,
schen Interpretation bes. A. Reichert, Eine ur- 234: „Gemeinde zeigt sich als das Volk, das in der
christliche praeparatio ad martyrium, 231–237. Welt fremd, zuhause im Himmel ist.“
127 L. Goppelt, 1 Petr, 249; vgl. zur anthropologi-
458 Der erste Petrusbrief
der Fremde, selbst wenn sie sich an dem Ort aufhalten, wo sie geboren wurden
und aufwuchsen. Diese Bestimmung christlicher Existenz entspringt nicht anti
ker Weltfeindlichkeit, sondern hat einen sachlichen Grund: Die Christen sind
wiedergeboren ‚zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu
Christi von den Toten‘ (1 Petr 1, 3). Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten
entnahm die Glaubenden der Nichtigkeit und VergÈnglichkeit menschlicher Exi
stenz. Jesus kaufte sie durch sein Todesleiden los (1 Petr 1, 18), er hat sie geheilt
(1 Petr 2, 24) und gerettet (1 Petr 4, 18). Sie wurden in eine neue Lebenssituation
versetzt, nun bestimmt die freudige Hoffnung auf die Parusie ihr Leben. Der Ort
dieses umstÜrzenden Geschehens ist die Taufe (vgl. 1 Petr 1, 3. 18. 23; 3, 21)130,
hier vollzieht sich die Lebenswende des Christen (vgl. auch Joh 3, 5; Tit 3, 5)131.
Christliche Existenz ist nach dem Zeugnis des 1 Petr von der Taufe herkom
mende Existenz! Hineingestellt in die Zeit zwischen Ostern und Parusie ist der
Getaufte der Welt und ihren BedrÈngnissen nicht enthoben, aber befÈhigt, sie zu
bewÈltigen. Somit ist die neue Existenz ihrem Ursprung nach nicht innerweltlich
erweisbar (vgl. 1 Petr 1, 3 b; 5, 10), zugleich aber in ihrer RealitÈt und ihren Fol
gen unÜbersehbar132. Gleichermaßen bedenkt der 1 Petr die theologische Identi
tÈt und die soziologische Stellung der Getauften.
Sichtbare Gestalt gewinnt die Neuheit der christlichen Existenz im Zeugnis ge
genÜber der Welt. Die Christen wandeln in Heiligkeit (1 Petr 1, 14 f; 2, 1 f) und
Bruderliebe (1 Petr 1, 22). Sie enthalten sich fleischlicher Begierden (1 Petr
2, 11 f), meiden die Laster ihrer Umwelt (1 Petr 4, 3) und fÜhren ein rechtschaffe
nes Leben (1 Petr 4, 1 f). Weil dem neuen Sein deutlich ein neues Handeln ent
spricht, sind die Glaubenden den SchmÈhungen ihrer Umwelt ausgesetzt (vgl.
1 Petr 3, 17). Das Anderssein der Christen befremdet die Heiden (1 Petr 4, 4) und
ruft Aggressionen hervor. Obwohl die Christen zu einem rechten Verhalten in
nerhalb der gesellschaftlichen Institutionen aufgefordert werden, mÜssen sie
aufgrund ihrer Bindung an Gott leiden. Dieses Leiden ist Gnade vor Gott, nicht
hingegen das Leiden aufgrund begangener SÜnden (1 Petr 2, 19; 3, 14; 2, 20).
Zum Leiden sind die Christen berufen, denn auch Jesus Christus litt unschuldig
(1 Petr 2, 21 25). Die sozialethischen Weisungen des 1 Petr zielen auf eine Inte
gration der Gemeinden in die Gesellschaft bei gleichzeitiger Wahrung ihrer
christlichen IdentitÈt. Àber den reinen Handlungsbereich hinaus sind sie ange
wandtes Kerygma, indem sie eine umfassende Deutung und BewÈltigung der ge
genwÈrtigen Leidenssituation gewÈhren.
130 Vgl. hierzu O. Knoch, 1 Petr, 105 f. 132 Vgl. R. Feldmeier, Christen als Fremde, 192:
131 Vgl. zur Taufe im 1 Petr bes. F. SchrÚger, Ge- „Den Christen wird gerade als den Fremden eine
meinde im 1. Petrusbrief, 31–54. zeichenhafte Existenz zugemutet.“
Tendenzen der neueren Forschung 459
Das Leiden erscheint jedoch nicht nur als Folge des neuen Verhaltens der
Christen in der Gesellschaft, sondern es ist ein konstitutiver Bestandteil christli
cher Existenz, in ihm begegnet Gottes Wille (1 Petr 4, 19). Das Leiden geschieht
zur PrÜfung des Glaubens (1 Petr 1, 6; 4, 12), wer jetzt unschuldig leidet, nimmt
das zukÜnftige Gottesgericht vorweg. Die dem Evangelium Gottes gegenÜber
Ungehorsamen wird hingegen in KÜrze das Gericht treffen (1 Petr 4, 16 19). Wie
fÜr Christus ist auch fÜr die Christen das Leiden Durchgang zur Herrlichkeit
(1 Petr 1, 11; 4, 13; 5, 1). Nur noch eine kurze Zeit mÜssen die Christen auf die
endzeitliche swtvrı´a (1 Petr 1, 5. 9. 10; 2, 2) hoffen, die sie von den zeitlichen Be
drÈngnissen befreien wird133. Auch eine parÈnetische Dimension kommt dem
gegenwÈrtigen Leiden zu, denn „wer im Fleisch leidet, hat abgeschlossen mit der
SÜnde“ (1 Petr 4, 1 b). Die Theologie des 1 Petr ist grundlegend von der Vorstel
lung der Verbundenheit zwischen dem leidenden Christus und den leidenden
Christen geprÈgt. Der Gerechte litt fÜr die Ungerechten (1 Petr 3, 18), so daß
auch sie jetzt Gerechte genannt werden kÚnnen (1 Petr 4, 18).
133 E. Schweizer, Christologie, 372, spricht von ei- Beurteilung des frÜhen Christentums durch die
nem ‚Achtergewicht auf der Zukunft‘ im 1 Petr. RÚmer, ThZ 42 (1986), 193–213.
134 Vgl. dazu D. LÜhrmann, SUPERSTITIO – die 135 F. R. Prostmeier, Handlungsmodelle, 59 f.
460 Der erste Petrusbrief
136 R. Feldmeier, Christen als Fremde, 124. 139 Vgl. L. Goppelt, 1 Petr, 50.
137 Vgl. H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung 140 F. SchrÚger, Gemeinde im 1. Petrusbrief, 227.
I, 199–203. 141 Vgl. J. H. Elliott, A Home for the Homeless,
138 A. Lindemann, Paulus im Èltesten Christen- 270 ff; vgl. ferner M. Karrer, Petrus im paulini-
tum (s. o. 5), 260; vgl. auch A. Reichert, Eine ur- schen Gemeindekreis, 222 ff, der die Verbindung
christliche praeparatio ad martyrium, 515–557, 1 Petr – Paulus als nicht eng ansieht.
die fÜr einen paulinischen bzw. nachpaulinischen 142 J. Herzer, Petrus oder Paulus? 261.
Einfluß auf den 1 Petr plÈdiert. 143 F. R. Prostmeier, Handlungsmodelle, 480.
Der Judasbrief 461
gung der MÚglichkeit und das Maß fÜr die Sittlichkeit jener ethischen Inhalte,
die mit den Weltstrukturen einfach da sind.“144 Profane Handlungsmodelle wer
den im 1 Petr mit einer soteriologisch eschatologischen Konzeption verbunden,
die sich an der vorbildhaften ErfÜllung des Willens Gottes durch Jesus Christus
orientiert.
7.3.1 Literatur
Kommentare
KEK XII/2: H. Paulsen, 1992. HNT 15: H. Windisch ( H. Preisker), 31951. HThK XIII/2:
K. H. Schelkle, 61988. EKK XXII: A. VÚgtle, 1994. ThHK 15: W. Grundmann, 21979.
NTD 10: W. Schrage, 21980. RNT 8: O. Knoch, 1990. CNT 13 b: E. Fuchs P. Reymond,
L'pÒtre de Saint Jude, 21988. WBC 50: R. J. Bauckham, 1983. AncB 37 C: J. H. Neyrey,
1993.
Monographien
F. Spitta, Der zweite Brief des Petrus und der Brief des Judas. Eine geschichtliche Untersu
chung, Halle 1885. F. Maier, Der Judasbrief, BSt X/1 2, Freiburg 1906. H. Werdermann,
Die Irrlehrer des Judas und des 2. Petrusbriefes, BFChTh XVII 6, GÜtersloh 1913.
D. F. Watson, Invention, Arrangement and Style. Rhetorical Criticism of Jude and 2Peter,
SBLDS 104, Atlanta 1988. R. J. Bauckham, Jude and the Relatives of Jesus in the Early
Church, Edinburgh 1990. R. Heiligenthal, Zwischen Henoch und Paulus. Studien zum
theologiegeschichtlichen Ort des Judasbriefes, TANZ 6, Heidelberg 1992.
AufsÇtze
E. E. Ellis, Prophecy and Hermeneutic in Jude, in: ders., Prophecy and Hermeneutic in Ear
ly Christianity, WUNT 18, TÜbingen 1978, 221 238. F. Hahn, Randbemerkungen zum Ju
dasbrief, ThZ 37 (1981), 209 218. J. J. Gunther, The Alexandrian Epistle of Jude, NTS 30
(1984), 549 562. G. Sellin, Die HÈretiker des Judasbriefes, ZNW 77 (1986), 206 225.
H. Paulsen, Art. Judasbrief, TRE 17 (1988), 307 310. S. J. Joubert, Language, Ideology
and the Social Context of the Letter of Jude, Neotestamentica 24 (1990), 335 349.
J. D. Charles, Literary Artifice in the Epistle of Jude, ZNW 82 (1991), 106 124.
Forschungsberichte
R. Heiligenthal, Der Judasbrief, ThR 51 (1986), 117 129. R. J. Bauckham, The Letter of
Jude: An Account of Research, ANRW 25. 2, Berlin 1988, 3791 3826. P. MÜller, Der Ju
dasbrief, ThR 63 (1998), 267 289.
7.3.2 Verfasser
Als Autoren des Judasbriefes kommen in Frage: 1) Judas, der Bruder Jesu (vgl.
Mt 13, 55; Mk 6, 3)145; 2) Judas, einer der 12 Apostel (vgl. Lk 6, 16; Apg 1, 13); 3)
Der in Apg 15, 22. 27. 32 erwÈhnte Judas Barsabbas146; 4) Ein unbekannter Ver
fasser konzipierte den Jud als pseudepigraphisches Schreiben.
Seinem Selbstanspruch nach will der Judasbrief vom Herrenbruder Judas ge
schrieben worden sein, dies signalisiert deutlich die Inanspruchnahme des Her
renbruders Jakobus in Jud 1147. 1 Kor 9, 5 bezeugt eine MissionstÈtigkeit der
HerrenbrÜder, und Jud kÚnnte ein Zeugnis dieses Wirkens sein. Zudem lÈßt die
judenchristliche Denkwelt des Jud eine Zuschreibung an den Bruder Jesu als
mÚglich erscheinen148. Schließlich: Warum sollte ein spÈter Autor in so vager
Form auf den Namen Judas zurÜckgegriffen haben?149 Gegen eine Verfasser
schaft des Herrenbruders Judas sprechen jedoch folgende Argumente: a) Warum
bezeichnet sich der Autor nicht direkt als Bruder Jesu, sondern als Bruder des Ja
kobus? b) Der Begriff adelfóß ist mehrdeutig, oft wird er im Neuen Testament
im Sinn von ‚Mitarbeiter‘ gebraucht (vgl. z. B. Kol 1, 1). c) Der Traditionsbegriff
in Jud 3. 20, die Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und HÈresie und der
Topos des Auftretens von Irrlehrern in der Endzeit (vgl. 1 Tim 4, 1 3; 2 Tim 4, 3 f;
1 Joh 2, 18; 4, 1 3; Did 16, 3) weisen in die nachapostolische Zeit. d) Der Verfas
ser ordnet sich mit Jud 17 f selbst in die spÈte Zeit des Urchristentums ein, wo auf
die Epoche der Apostel als der glaubensgrÜndenden Zeit zurÜckgeblickt wird.
Sehr wahrscheinlich ist der Jud ein pseudepigraphisches Schreiben150, ein un
bekannter Judenchrist nimmt die AutoritÈt des Herrenbruders Judas in einer ak
tuellen Kontroverse in Anspruch.
145 Vgl. auch Hegesipp bei Euseb, HE III 19, 1– 213 f; W. G. KÜmmel, Einleitung, 377 f; Ph. Viel-
20, 6. hauer, Urchristliche Literatur, 593 f; R. Heiligen-
146 So E. E. Ellis, Prophecy, 221–230. thal, Zwischen Henoch und Paulus, 24; H. Paul-
147 Vgl. H. Paulsen, Jud, 44. Der Bezug auf Jako- sen, Jud, 44 f; A. VÚgtle, Jud, 4–11. Die Authenti-
bus und das Fehlen eines Beinamens zur Unter- zitÈt des Jud halten fÜr mÚglich: K. H. Schelkle,
scheidung sprechen gegen die MÚglichkeit 2 und Jud, 140–143; W. Grundmann, Jud, 15; R. Bauck-
3. ham, Jud, 3–16. O. Knoch, Jud, 159–162, denkt
148 Vgl. R. J. Bauckham, Jud, 16. als Verfasser an einen judenchristlichen Lehrer,
149 Vgl. E. E. Ellis, Prophecy, 226 f. der aus dem Umkreis des Herrenbruders Judas
150 Vgl. in diesem Sinn z. B. R. Knopf, Jud (s. o. (und Jakobus) stammte.
7.2.2), 206 f; A. JÜlicher – E. Fascher, Einleitung,
Ort und Zeit der Abfassung 463
Der Inhalt des Jud lÈßt PrÈzisierungen seines Entstehungsortes nur sehr bedingt
zu. Entsprechend zahlreich sind die VorschlÈge: PalÈstina/Syrien, Alexandria,
Kleinasien. FÜr PalÈstina/Syrien kÚnnen die Zuschreibung an den Herrenbruder
Judas und die judenchristliche Gedankenwelt des Schreibens angefÜhrt wer
den151. Dagegen sprechen die Situation der angeschriebenen Gemeinden (s. u.
7.3.4) und die geringe Rezeption des Jud im syrischen Bereich152. Die Wirkungs
geschichte des Jud (vgl. Cl Al, Strom III 2, 11; Paed III 8, 44) und der mÚgliche
Bezug auf den Jakobusbrief lassen an Alexandrien als Entstehungsort denken153.
Allerdings sind die Kenntnisse Über das Christentum in Alexandrien am Ende
des 1. Jhs. n. Chr. so gering, daß eine solche Zuschreibung als rein hypothetisch
bezeichnet werden muß. Auf Kleinasien als Entstehungsort des Jud154 weisen
die Àbereinstimmungen in der Engellehre zwischen Jud und Kol und die NÈhe
zu den Past hin (s. u. 7.3.8). Zudem kann der Jud als ein Zeugnis der Wirkungs
geschichte paulinischer Theologie verstanden werden (vgl. Jud 19. 20. 24 f).
Auch die frÜhe Rezeption des Jud durch den 2 Petr lÈßt an Kleinasien denken.
Als Entstehungszeit wird zumeist der Zeitraum zwischen 80 und 120 n. Chr.
angegeben155. Diese Vermutung ist zu prÈzisieren: In welcher Zeit war die Inan
spruchnahme des Pseudonyms Judas sinnvoll und noch mÚglich? Hier kommen
die beiden letzten Jahrzehnte des 1. Jhs. in Betracht, in denen die meisten Pseu
depigraphen entstanden und apokalyptisches Gedankengut in vielfÈltiger Weise
aufgenommen wurde. Der Judasbrief dÜrfte somit zwischen 80 100 n. Chr. ent
standen sein156.
7.3.4 Empfänger
Das Profil der Gemeinde des Judasbriefes lÈßt sich angesichts der vorherrschen
den Gegnerpolemik nur noch in Umrissen ermitteln. Ausgangspunkt des Jud ist
eine aktuelle GefÈhrdung des Glaubens der angeschriebenen Gemeinde(n) (Jud
151 Vgl. R. Knopf, Jud (s. o. 7.2.2), 209; K. H. 153 Vgl. J. J. Gunther, Epistle; H. Paulsen, Jud, 45.
Schelkle, Jud, 138; W. Grundmann, Jud, 15 (ent- 154 FÜr Kleinasien plÈdiert z. B. R. Heiligenthal,
standen in GalilÈa/Syrien; ‚Reichweite‘ bis in den Zwischen Henoch und Paulus, 165;
Raum Kleinasiens); F. Hahn, Randbemerkungen, 155 So z. B. F. Hahn, Randbemerkungen, 215 (90–
216 (PalÈstina). 120 n. Chr.); H. Paulsen, Jud, 45.
152 Vgl. J. S. Siker, The Canonical Status of the Ca- 156 Vgl. R. Knopf, Jud, 208; W. G. KÜmmel, Ein-
tholic Epistles in the Syriac New Testament, JThS leitung, 378; H. KÚster, EinfÜhrung, 682 f.;
38 (1987), 311–340. A. VÚgtle, Jud, 11 f.
464 Der Judasbrief
3). Gottlose haben sich (aus der Sicht des Verfassers) in die Gemeinde eingeschli
chen und leugnen den ku´rioß LIvsou˜ß Cristóß (Jud 4). Die Gegnerpolemik des
Jud arbeitet durchgehend mit traditionellen Motiven, so daß kaum zu entschei
den ist, ob es sich bei den Gegnern um umherziehende Wanderprediger oder
ortsansÈssige Gemeindeglieder handelt157. Ihre Teilnahme an Agapefeiern der
Gemeinde (Jud 12) spricht jedoch fÜr die letztere MÚglichkeit (vgl. ferner Jud
19. 22. 23). Angesichts der HÈresiegefahr versucht der Jud, die IdentitÈt seiner
Gemeinde zu stÈrken. Schon die Anrede als ‚Berufene‘ (Jud 1) und ‚Heilige‘ (Jud
3) dient der Abgrenzung gegenÜber den Irrlehrern, deren falsche Lehre und un
moralisches Tun ins Verderben fÜhren werden (vgl. Jud 4. 7 11). DemgegenÜber
zeichnen Heiligkeit und Unbeflecktheit die Gemeinde aus. Sie lebt in einer ge
spannten eschatologischen Erwartung: Der endzeitlichen Verwerfung der Irrleh
re (vgl. Jud 4. 11. 13. 15) steht ihre Rettung zum ewigen Leben gegenÜber (Jud
21). TrÈger eines solchen Bewußtseins dÜrfte eine vorwiegend judenchristliche
Gemeinde gewesen sein, in der apokalyptische Spekulationen und Henochtradi
tionen lebendig waren158. In Jud 22. 23 werden der Gemeinde Anweisungen fÜr
den Umgang mit abweichenden Gruppen gegeben: Dem Erbarmen des Kyrios
gegenÜber der Gemeinde (Jud 21) entspricht ein Erbarmen mit den Irrenden,
die dem kommenden Gerichtsfeuer entrissen werden sollen159.
1 2 PrÈskript Briefanfang
3 4 Anlaß und Thema
24 25 Schlußdoxologie Briefschluß
157 Vgl. H. Paulsen, Jud, 55. mung hinaus als TrÈgerkreis des Jud christliche
158 Vgl. R. Heiligenthal, Zwischen Henoch und PharisÈer vermutet.
Paulus, 89–94, der Über diese allgemeine Bestim- 159 Zu Jud 23 b vgl. H. Paulsen, Jud, 85.
Literarische Integrität 465
nert an 1 Tim 1, 2; 2 Tim 1, 2; Tit 1, 4160. Als Themaangabe haben Jud 3. 4 eine
Überleitende Funktion, sie korrespondieren erkennbar mit Jud 17 23. Innerhalb
des Hauptteils lassen sich ein referentieller (Jud 5 16) und ein appellativer Teil
(Jud 17 23) unterscheiden161. WÈhrend der referentielle Teil Wesen und Ge
schick der Irrlehrer enthÜllt, appelliert Jud 17 23 durch die direkte Anrede umeı˜ß
de´, agapvtoı´ (V. 17. 20) an den Erfahrungshorizont und das Urteil der Gemeinde.
Die Schlußdoxologie zeigt wieder deutliche NÈhe zum paulinischen Briefformu
lar (vgl. RÚm 16, 25 27)162.
Umstritten ist die formgeschichtliche Klassifizierung des Jud: Die VorschlÈge
reichen von ‚Traktat fÜr eine bestimmte Situation‘163, ‚antihÈretisches Flug
blatt‘164, ‚Sendschreiben‘165 Über ‚Midrasch‘166 bis hin zum wirklichen Brief167.
FÜr die Konzeption des Jud als Brief spricht neben PrÈskript und Schlußdoxolo
gie vor allem der Anspruch des Verfassers, sich in die Tradition des apostolischen
Briefes zu stellen168. Zudem ist der Jud kein situationsunabhÈngiges Schreiben,
die Aufnahme von Formen traditioneller Polemik spricht nicht gegen das Ziel
des Briefes, eine konkrete Situation zu beeinflussen.
griff auf Traditionen des antiken Judentums, der in dieser Dichte einzigartig im
Neuen Testament ist. Die Beispielreihe Jud 5 7 entfaltet den Zusammenhang
zwischen verfehltem Leben und gÚttlichem Gericht und hat Parallelen in Sir
16, 6 15; CD 2, 17 3, 12; 3 Makk 2, 4 7; TestNaph 3, 4 5. Jud 6 steht in der lan
gen Reihe jÜdischer Interpretationen von Gen 6, 1 4, vergleichbare Texte finden
sich in ÈthHen 10, 4 6. 11 13; 12, 4 13, 1. Das in Jud 7 angefÜhrte Schicksal von
Sodom und Gomorrha wurde in zahlreichen jÜdischen und christlichen Texten
bedacht (vgl. 3Makk 2, 5; Jub 16, 6; 20, 5; 22, 22; TestAss 7, 1; Jos, Bell V 566; Mt
10, 15; 11, 24; Lk 10, 12; 17, 29). Apokryphe MoseÜberlieferungen werden in Jud
9 aufgenommen171, der Bezug auf Kain, Bileam und Korah gewinnt nur auf
dem Hintergrund der jÜdischen Rezeptionsgeschichte Profil172. In Jud 14 b.15 zi
tiert der Verfasser ÈthHen 1,9173, um so die Gottlosigkeit der Gegner und die
Notwendigkeit des bevorstehenden Gerichtes Über sie zu betonen.
Die Zitate, die Anspielungen und die Technik der Schriftargumentation im Ju
dasbrief zeigen, wie stark der Autor in Traditionen des antiken Judentums
dachte und lebte.
Welcher StrÚmung innerhalb des Urchristentums kÚnnen die Gegner des Jud zu
gerechnet werden? Zwei ErklÈrungsmodelle dominieren in der Forschung: 1)
Die Gegner sind Vertreter einer libertinistischen (frÜhen) Gnosis174. Als Argu
mente fÜr diese Verortung werden in der Regel angefÜhrt: a) Nach Jud 4 leug
nen die Gegner die Herrschaft Jesu Christi, sie degradieren ihn zu einem himmli
schen Zwischenwesen; b) Jud 12 bezeugt einen massiven Heilsindividualismus
und Sakramentalismus der Gegner; c) Die Leugnung der Engelwesen in Jud
8. 10 ist gnostisch motiviert; d) In Jud 19 findet sich die typisch gnostische Unter
scheidung zwischen Pneumatikern und Psychikern; e) Die Gegner kennzeichnet
ein Übersteigertes Freiheitsbewußtsein (Jud 4. 7. 8. 10. 13). Gegen diese Argu
mentationskette lÈßt sich einwenden175: Die Angaben des Jud sind zu unspezi
171 Zu mÚglichen Quellen vgl. H. Paulsen, Jud, nen Gnosisthese stellt die Vermutung dar, die
66 f. Gegner seien Vertreter einer ‚frÜhen‘ Gnosis; vgl.
172 Vgl. hier R. Heiligenthal, Zwischen Henoch in diesem Sinn K. H. Schelkle, Jud, 230–234;
und Paulus, 42–61. W. Grundmann, Jud, 17–19; F. Hahn, Randbe-
173 Vgl. zu den Einzelheiten H. Paulsen, Jud, 74 ff. merkungen, 213; H. Paulsen, Jud, 49 (mit Vorbe-
174 So z. B. (mit Unterschieden in der Einzelargu- halten).
mentation) W. G. KÜmmel, Einleitung, 375; Ph. 175 Vgl. hierzu im Anschluß an F. Maier bes.
Vielhauer, Urchristliche Literatur, 590; R. Heiligenthal, Judasbrief, 122; ders., Zwischen
H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung II, 316; Henoch und Paulus, 128–134.
W. Schrage, Jud, 224. Eine Variante der allgemei-
Religionsgeschichtliche Stellung 467
176 Vgl. G. Sellin, Streit um die Auferstehung der 224 f; O. Knoch, Jud, 154–157; R. Heiligenthal,
Toten (s. o. 2.5.1), 181–189. Zwischen Henoch und Paulus, 128 ff.
177 So mit (erheblichen) Unterschieden in der 178 Vgl. hier G. Sellin, HÈretiker, 219–222.
Einzelargumentation z. B. U. B. MÜller, Zur frÜh- 179 A. a. O., 222.
christlichen Theologiegeschichte (s. o. 5), 23–26; 180 Vgl. a. a. O., 209–212.
R. J. Bauckham, Jud, 12; G. Sellin, HÈretiker, 181 Vgl. F. Hahn, Randbemerkungen, 209 ff.
468 Der Judasbrief
auf Paulus) eine enthusiastische Lehre (und Praxis) vertraten. Sie verachteten
die EngelmÈchte, sahen sich selbst als Pneumatiker und fÜhlten sich traditionel
len Begrenzungen enthoben182.
Der Judasbrief dient der IdentitÇtssicherung einer Gemeinde, die sich in ihrer
Mitte abzugrenzen versucht. Eine grundlegende Bedeutung kommt in diesem
Prozeß dem Traditionsgedanken zu. Die Gemeinde kÈmpft fÜr den Glauben, der
„ein fÜr allemal den Heiligen Überliefert ist“ (Jud 3). Er ist identisch mit den ‚zu
vor gesagten‘ Worten der Apostel (Jud 17) und bildet das Fundament der Ge
meinde (Jud 20). Die GefÈhrdung durch die Irrlehre verlangt nach einer Formu
lierung und Durchsetzung der Tradition! Diese Tradition wurzelt durchgehend
im jÜdischen Denken, ein wesentlicher Bestandteil ist die Henoch Àberliefe
rung. Allerdings wird der Traditionsgedanke nicht als formales Prinzip einge
setzt, sondern die Gemeinde weiß sich ihrem Erbe verpflichtet. Im Zentrum der
Christologie des Jud steht die Erwartung des kommenden Kyrios, der mit seinen
Engeln zum Gericht erscheint (Jud 14. 15). GegenÜber der Gemeinde wird Chri
stus sich barmherzig zeigen (Jud 21), die Gegner werden jedoch fÜr ihre gottlo
sen Werke bestraft. Engelverehrung war in der Gemeinde des Jud eine Selbst
verstÈndlichkeit, innerhalb der Ethik scheinen jÜdische Reinheitsvorstellungen
von Bedeutung gewesen zu sein (vgl. Jud 8. 12. 23).
Der Judasbrief fÜhrte in der ntl. Exegese Über lange Zeit ein Schattendasein. Da
zu trug nicht unerheblich die Klassifizierung des Schreibens als eines typischen
Vertreters des FrÜhkatholizismus durch E. KÈsemann bei: „Hier wirkt der Geist ja
nicht mehr auch durch die Àberlieferung, sondern hier geht er in der Tradition
auf, ist deshalb wie bereits in den Pastoralen und der Apostelgeschichte das
kirchliche Lehramt Besitzer des ‚Amtsgeistes‘, kann wie geradezu klassisch in
2 Petr 1, 20 jede nicht autorisierte Exegese und Interpretation der Schrift verbo
ten werden.“183 W. Schrage nimmt die Wertungen KÈsemanns auf und stellt
182 A. VÚgtle, Jud, 95–98, verzichtet auf eine fÜhlen und im besonderen den Glauben an die
theologiegeschichtliche Einordnung der Gegner Parusie Christi zu Gericht und Heilsvollendung
und bezeichnet sie als Nonkonformisten, „die sich fÜr null und nichtig erklÈren“ (a. a. O., 3).
im Bewußtsein elitÈren Pneumabesitzes Über ge- 183 E. KÈsemann, BegrÜndet der neutestamentli-
wisse konventionelle moralische ZwÈnge erhaben che Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders., Exe-
Der zweite Petrusbrief 469
ausdrÜcklich fest, der Jud habe nicht zu Unrecht ein Schattendasein in der Kir
che gefÜhrt184. In jÜngster Zeit weichen diese disqualifizierenden Wertungen ei
ner behutsameren Interpretation, die prÈzis nach dem Ort des Jud in der ur
christlichen Theologiegeschichte fragt. F. Hahn stuft den Traditionsbegriff des
Jud nicht einfach negativ ein, sondern erkennt ihn als positives Prinzip in der
Auseinandersetzung mit den Irrlehrern ausdrÜcklich an. Historisch steht der Jud
zwischen dem Jak und 2 Petr: „In Anlehnung an die palÈstinische Tradition sei
ner Zeit will er fÜr die eigene Generation und fÜr die nachfolgenden Generatio
nen die bleibend gÜltige Basis der apostolischen GlaubensÜberlieferung heraus
stellen und hierdurch wie durch Typisierung der Gegner eine wirksame Ketzer
bekÈmpfung ermÚglichen.“185 G. Sellin bestimmt in seiner weiterfÜhrenden
Analyse den Ort der Irrlehrer in der urchristlichen Theologiegeschichte: Sie wa
ren pneumatisch orientierte Wanderlehrer, die in KontinuitÈt zur Theologie des
Kol und Eph die Engel verachteten und mit Berufung auf Paulus eine antinomi
stische Position vertraten. Den Versuch einer Neuinterpretation des Jud unter
nimmt R. Heiligenthal. „Der Judasbrief ist traditionsgeschichtlich weitgehend
aus jÜdischer Àberlieferung zu erklÈren. Seine NÈhe zur Henochliteratur ist so
groß, daß er als ‚christianisierter Teil der Henochliteratur‘ aufgefaßt werden
kann.“186 Der Jud zeigt fÜr Heiligenthal, „daß die Basis des Christentums mit
dem Judentum breit und vermittelbar war.“187 Er ist dann ein wichtiges Zeugnis
im jÜdisch christlichen Dialog und sollte in dieser Funktion wahr und ernstge
nommen werden.
7.4.1 Literatur
Kommentare
KEK XII/2: H. Paulsen, 1992. HNT 15: H. Windisch ( H. Preisker), 31951. HThK XIII/2:
K. H. Schelkle, 61988. EKK XXII: A. VÚgtle, 1994. ThHK 15: W. Grundmann, 21979.
NTD 10: W. Schrage, 21980. RNT 8: O. Knoch, 1990. CNT 13 b: E. Fuchs P. Reymond,
La Deuxime pÒtre de Saint Pierre, 21988. WBC 50: R. J. Bauckham, 1983. AncB 37 C:
J. H. Neyrey, 1993.
getische Versuche und Besinnungen I, GÚttingen 186 R. Heiligenthal, Zwischen Henoch und Paulus,
6
1970, 220. 156.
184 Vgl. W. Schrage, Jud, 223. 187 A. a. O., 166.
185 F. Hahn, Randbemerkungen, 218.
470 Der zweite Petrusbrief
Monographien
F. Spitta, Der zweite Brief des Petrus und der Brief des Judas (s. o. 7.3.1). H. Werdermann,
Die Irrlehrer des Judas und des 2. Petrusbriefes (s. o. 7.3.1). T. Fornberg, An Early
Church in a Pluralistic Society. A Study of 2 Peter, CB.NT 9, Lund 1977. Th. J. Kraus,
Sprache, Stil und historischer Ort des zweiten Petrusbriefes, WUNT 2.136, TÜbingen 2001.
AufsÇtze
E. KÈsemann, Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, in: ders., Exegetische Versu
che und Besinnungen I, GÚttingen 61970, 135 157. H. C. C. Cavallin, The False Teachers
of 2PT as Pseudo Prophets, NT 21 (1979), 263 270. J. H. Neyrey, The Form and Back
ground of the Polemic in 2 Peter, JBL 99 (1980), 407 431. A. VÚgtle, Petrus und Paulus
nach dem Zweiten Petrusbrief, in: KontinuitÈt und Einheit (FS F. Mußner), hg. v.
P. G. MÜller u. W. Stenger, Freiburg 1981, 223 239. K. Berger, Streit um Gottes Vorse
hung. Zur Position der Gegner im 2. Petrusbrief, in: Tradition and Re Interpretation in Je
wish and Early Christian Literature (FS J. C. H. Lebram), StPB 36, Leiden 1986, 121 135.
P. Dschulnigg, Der theologische Ort des Zweiten Petrusbriefes, BZ 33 (1989), 161 177.
A. VÚgtle, Christologie und Theologie im zweiten Petrusbrief, in: AnfÈnge der Christologie
(FS F. Hahn), hg. v. C. Breytenbach u. H. Paulsen, GÚttingen 1991, 383 398.
Forschungsbericht
R. J. Bauckham, 2Peter: An Account of Research, ANRW 25. 5, Berlin 1988, 3713 3752.
7.4.2 Verfasser
Der 2Petrusbrief erhebt den Anspruch, das Testament des Apostels Simon Petrus
zu sein (vgl. 2 Petr 1, 1. 13 15). Auch der Hinweis auf die VerklÈrung Jesu (2 Petr
1, 18), der RÜckgriff auf den 1 Petr (vgl. 2 Petr 3, 1) und das in 2 Petr 3, 15 f ver
mittelte Paulusbild sollen diesen Eindruck nahelegen. Gegen die HistorizitÈt die
ser Verfasserangabe sprechen einige in 7.2.2 angefÜhrte Argumente188, vor al
lem aber drei Beobachtungen auf der Ebene des 2Petr: a) Der 2 Petr Übernimmt
fast vollstÈndig den Jud (s. u. 7.4.7). FÜr den Apostel Petrus ist ein solches Ver
fahren aus sachlichen und chronologischen GrÜnden auszuschließen. b) In
2 Petr 3, 4 durchbricht der Verfasser die von ihm selbst geschaffene Autorenfikti
on: Die VÈter sind bereits entschlafen, so daß nun Zweifel an der Parusie auf
kommen. Zu diesen (gestorbenen) VÈtern gehÚrt Petrus selbst! c) Der 2 Petr un
terscheidet sich tiefgreifend vom 1 Petr189, beide Schreiben kÚnnen nicht vom
188 Bemerkenswert ist die Sprache des 2Petr, er der 2 Petr die meisten Hapaxlegomena im Neuen
weist 49 Hapaxlegomena auf (ZÈhlung nach Testament; zu den Einzelheiten vgl. R. J. Bauck-
K. Aland, VollstÈndige Konkordanz [s. o. 5.5.2], ham, 2Petr, 135–138.
459). Im VerhÈltnis zur LÈnge des Schreibens hat 189 Vgl. K. H. Schelkle, 2Petr, 179 ff.
Ort und Zeit der Abfassung 471
gleichen Verfasser stammen. Selbst wenn der 1 Petr authentisch wÈre, mÜßte
der 2 Petr als Pseudepigraph eingeordnet werden! Auch die in 2 Petr 1, 20 f ent
wickelte Inspirationslehre und die Rezeption des 2 Petr in der Alten Kirche (s. u.
7.4.3) weisen in eine spÈte Zeit190.
Der Verfasser des 2 Petr war ein gebildeter hellenistischer (Juden)Christ191,
der seiner Gemeinde im Streit um die (ausbleibende) Parusie mit dem 2 Petr ein
LÚsungsmodell anbot.
Àber Abfassungsort und zeit des 2 Petr lassen sich nur Mutmaßungen anstellen.
Hinweise ergeben sich aus der Rezeptionsgeschichte des Briefes, er gehÚrt in die
umfangreiche petrinische Literatur des 2. Jhs. n. Chr.192. So setzt die um 135
n. Chr. wahrscheinlich in gypten entstandene Offenbarung des Petrus den
2 Petr voraus193. Die Aufnahme des Judasbriefes als terminus a quo (s. o. 7.4.7),
die in 2 Petr 3, 15 f vorausgesetzte Paulusbriefsammlung und die vergleichbare
Parusieproblematik in 1 Klem 23 37 weisen ebenfalls in einen Entstehungszeit
raum um 110 n. Chr. 194. Die Aufnahme des 2 Petr in den Kanon war lange um
stritten, er fehlt im Canon Muratori, und noch Origenes zÈhlt ihn zu den ‚ange
fochtenen‘ Schriften (vgl. Euseb, HE VI 25,8; ferner III 25, 3).
Der Abfassungsort des 2 Petr liegt im Dunkeln, in der neueren Diskussion
190 Kein neuerer Kommentar tritt fÜr die Au- tur, in: KontinuitÈt und Einheit (FS F. Mußner),
thentizitÈt des 2 Petr ein; vgl. nur K. H. Schelkle, hg. v. P. G. MÜller u. W. Stenger, Freiburg 1981,
2Petr, 181; W. Grundmann, 2Petr, 58; R. J. Bauck- 261–326.
ham, 2Petr, 158–162; O. Knoch, 2 Petr, 215–218; 193 Vgl. C. D. G. MÜller, Offenbarung des Petrus,
H. Paulsen, 2 Petr, 93; A. VÚgtle, 2 Petr, 122–125. in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche
Die Argumente fÜr eine Abfassung durch Petrus Apokryphen II, 562 ff; R. J. Bauckham, 2 Petr,
finden sich bei Th. Zahn, Einleitung in das Neue 149.
Testament II, Leipzig 21900, 43 ff. 194 Vgl. K. H. Schelkle, 2Petr, 179 (Ende des 1.
191 AuffÈllig ist der selbstverstÈndliche Gebrauch Jhs. oder Anfang des 2. Jhs.); O. Knoch, 2 Petr,
religiÚs-philosophischer Termini des Hellenismus: 213; H. Paulsen, 2Petr, 94 (erstes Viertel des 2.
epı´gnwsiß , gnw̃siß, euse´beia, upomonv´, egkráteia, Jhs.); R. J. Bauckham, 2 Petr, 158, datiert den
aretv´, epo´ptvß, Xeı´a du´namiß; zur Analyse des 2 Petr in den Zeitraum 80–90; eine SpÈtdatierung
grundlegenden Tugendkataloges 2 Petr 1, 3–7 vgl. (1. bzw. 2. HÈlfte des 2. Jhs.) vertreten dagegen
T. Fornberg, Early Church, 97–101. A. JÜlicher – E. Fascher, Einleitung, 224 (zwi-
192 Vgl. hier neben den grundlegenden Artikeln schen 100–180); W. Grundmann, 2 Petr, 65 (frÜ-
in W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche hestens 110–150); W. G. KÜmmel, Einleitung, 383
Apokryphen I.II, TÜbingen 51987. 51989, bes. (2. Viertel des 2. Jhs.); Ph. Vielhauer, Urchristli-
R. Pesch, Simon Petrus, Stuttgart 1980; K. Berger, che Literatur, 599 (Mitte oder 2. HÈlfte des 2.
Unfehlbare Offenbarung. Petrus in der gnosti- Jhs.); Th. J. Kraus, Sprache, Stil und historischer
schen und apokalyptischen Offenbarungslitera- Ort, 413 (zwischen 110–130 n. Chr.).
472 Der zweite Petrusbrief
werden vor allem gypten195 und Rom196 genannt. FÜr gypten spricht die Re
zeptionsgeschichte des 2Petr, fÜr Rom der Bezug auf Petrus und Paulus.
7.4.4 Empfänger
Die EinfÜhrung des Pseudonyms Simon Petrus und der bewußte RÜckgriff auf
den 1 Petr lassen vermuten, daß sich auch der 2 Petr an die in 1 Petr 1, 1 genann
ten kleinasiatischen Gemeinden richtet197. Auf heidenchristliche Gemeinden
mit einem maßgeblichen judenchristlichen Anteil weisen auch die hellenistische
Begrifflichkeit198 und die Art der GefÈhrdungen. Ethische Unbestimmtheit (vgl.
2 Petr 1, 5. 10; 2, 2; 3, 14 u. Ú.), Kontroversen um die Schriftauslegung (vgl. 2 Petr
1, 20 f), vor allem aber Zweifel gegenÜber der Überlieferten Parusienaherwartung
prÈgen die Gemeinden (s. u. 7.4.8). Diesen Verunsicherungen tritt der Autor
umfassend mit dem Verweis auf die VerlÈßlichkeit der Verheißungen Gottes ent
gegen (s. u. 7.4.9).
1, 1 2 PrÈskript Briefanfang
1, 3 11 ProÚmium,
3, 14 18 a SchlußparÈnese Briefschluß
3, 18 b Doxologie
195 Vgl. H. Paulsen, 2 Petr, 95 (Alexandrien). 198 T. Fornberg, Early Church, 112 ff, schließt aus
196 Vgl. O. Knoch, 2 Petr, 213 (abgewogene Dar- dem gehobenen Griechisch des 2 Petr auf eine
stellung aller Argumente!). Stadtkultur als historischen Kontext der Gemein-
197 Vgl. O. Knoch, 2 Petr, 199. den.
Literarische Integrität 473
Jud 2Petr
2 1, 2
4 2, 1 3
5a 1, 12
6 2, 4
7 2, 6. 10 a
199 Vgl. hier bes. O. Knoch, Die ‚Testamente‘ des brief‘); H. Paulsen, 2Petr, 89. O. Knoch, 2Petr,
Petrus und Paulus, SBS 62, Stuttgart 1973, 65–81; 202, spricht von einem fiktiven ‚Aposteltesta-
ders., 2Petr, 251–254. ment‘; Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur, 595,
200 Vgl. dazu E. v.Nordheim, Die Lehre der Alten von ‚Testament in Briefform‘; A. VÚgtle, 2 Petr,
I.II, ALGHL XIII.XVIII, Leiden 1980. 1985. 122, von einem ‚schriftlichen LehrvermÈchtnis‘.
201 Vgl. H. Paulsen, 2Petr, 90. Th. J. Kraus, Sprache, Stil und historischer Ort,
202 Vgl. T. Fornberg, Early Church, 19 ff; F. Vouga, 411, klassifiziert den 2Petr als „Testament in
Apostolische Briefe (s. o. 7.3.5), 208 (‚Apostel- Briefform“.
474 Der zweite Petrusbrief
8 2, 10 b
9 2, 11
10 2, 12
11 2, 15
12 2, 13
12 f 2, 17
16 2, 18
17 3, 2
18 3, 3
Offenkundig wurde der Judasbrief fast vollstÈndig in den 2 Petr integriert. Als li
terarkritische Hypothese ergibt sich daraus die gezielte Aufnahme des Jud durch
den 2Petr203. Der 2 Petr strafft das Material des Jud und setzt es der verÈnderten
historischen Situation entsprechend ein. Das pseudepigraphische Material des
Jud wird vom 2 Petr nicht Übernommen (vgl. die Auslassung von Jud 14 15 und
des Erzengels Michael [Jud 9]), ebenso greift der 2 Petr das warnende Beispiel
der WÜstengeneration nicht auf (vgl. Jud 5 b). Den in der Gegnerpolemik des
Jud zentralen V. 19 lÈßt der 2 Petr aus, weil die Geistproblematik offenbar nicht
im Zentrum seiner Kontroverse mit den Gegnern stand. Wie stark der 2 Petr den
noch vom Jud abhÈngig ist, zeigt sich Über die zahlreichen sachlichen und termi
nologischen Einzelheiten hinaus in den Entsprechungen im Aufbau beider
Schreiben: Nach dem Eingangsgruß erinnern beide Verfasser ihre Gemeinde an
den Überlieferten Glauben, den es nun angesichts der GefÈhrdung durch die Irr
lehrer zu bewahren gilt. Es folgt eine Beschreibung der Irrlehrer, an die sich
Mahnungen anschließen, am rechten Glauben festzuhalten und wachsam zu
sein.
Mit der gezielten Neuinterpretation des Jud will der 2 Petr diesen Text nicht
(begrenzt) ersetzen204, vielmehr wertet er ihn bewußt aus, um ihn seinen Inter
essen dienstbar zu machen.
AuffÈllig sind die BerÜhrungen zwischen dem 2 Petr und dem MatthÈusevan
gelium205. Neben der VerklÈrungsperikope (vgl. bes. 2 Petr 1, 17/Mt 17, 5) und
dem gemeinsamen Interesse an der Gestalt des Petrus sind hier 2 Petr 2, 6/Mt
203 Vgl. zuletzt den umfassenden Nachweis bei der Verfasser des 2 Petr im Judenchristentum des
T. Fornberg, Early Church, 33–59; ferner MatthÈusevangeliums beheimatet, „dessen Theo-
W. Grundmann, 2Petr, 102–107. Die umgekehrte logie er in seinem Brief auf der ganzen Linie ver-
These (AbhÈngigkeit des Jud vom 2Petr) vertrat teidigt“ (a. a. O., 177). Eine umfassende Aufli-
bes. F. Spitta, Der zweite Brief des Petrus und der stung der mÚglichen literarischen und traditions-
Brief des Judas, 381–470. geschichtlichen BezÜge findet sich bei
204 Gegen H. Paulsen, 2Petr, 99. Th. J. Kraus, Sprache, Stil und historischer Ort,
205 Vgl. die Auflistung bei P. Dschulnigg, Der 368–397.
theologische Ort, 168–176. Nach Dschulnigg ist
Religionsgeschichtliche Stellung 475
10, 15 (Sodom und Gomorra), 2 Petr 2, 21/Mt 21, 32 (‚Weg der Gerechtigkeit‘)
und 2 Petr 2, 22/Mt 7, 6 (‚Hunde und Schweine‘) zu nennen.
Der Verfasser des 2 Petr nimmt Traditionen jÜdisch christlicher Enderwartung
auf. Die Verbindung von Sintflut und Endgericht mit den Strafmitteln Wasser
und Feuer in 2 Petr 3, 5 7. 10. 12. 13 weist Parallelen in VitAd 49, 3; Jos, Ant I
70 71; Sib IV 172 ff; V 155 ff.512 ff; ÈthHen 83, 3 5 auf. Im Anschluß an Hab
2, 1 4 entwickelt sich eine VerzÚgerungsapologetik (vgl. zu 2 Petr 3,9 z. B.
1QpHab 7, 1 14), die vornehmlich auf der Basis des sicher eintretenden Gerich
tes auf die Langmut Gottes verweist206.
206 Vgl. hierzu A. Strobel, Untersuchungen zum 209 Vgl. W. G. KÜmmel, Einleitung, 381; Ph. Viel-
eschatologischen VerzÚgerungsproblem (s. o. hauer, Urchristliche Literatur, 597; W. Schrage,
5.4.8). 2Petr, 125 f; H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einlei-
207 Vgl. die Auflistung typischer Motive bei tung II, 323 f.
K. Berger, Streit um Gottes Vorsehung, 122. 210 Vgl. zur Kritik K. Berger, Streit um Gottes Vor-
208 Zu Recht hat sich in der neueren Exegese die sehung, 121; H. Paulsen, 2Petr, 95 f.
Einsicht durchgesetzt, daß die Gegner des Jud
und 2 Petr nicht identisch sind; beachte die Aus-
lassung von Jud 19 in 2Petr!
476 Der zweite Petrusbrief
Der 2 Petr begegnet der Fundamentalkritik der Gegner auf verschiedenen Ebe
nen. Schon die Wahl des Pseudonyms ‚Simon Petrus‘ signalisiert Standort und
Absicht des Verfassers: Er versteht sich als Sprecher der ‚rechtglÈubigen‘ Kirche
und reklamiert fÜr sich die korrekte Auslegung der Schriften. Auch die Rezepti
on von Elementen der Gattung Testament dient der aktuellen Auseinanderset
zung, denn die Worte eines Sterbenden besitzen unbestrittene AutoritÈt. Sie
kÚnnen weder zurÜckgenommen noch geÈndert werden. Auf der fiktiven Ebene
des Briefes behauptet Petrus, im Besitz des profvtiko`ß lógoß zu sein (2 Petr 1, 19)
und so die Gewißheit des ‚Tages des Herrn‘ verbÜrgen zu kÚnnen. Er greift auf
die Vorstellung der typologischen Entsprechung von Sintflutgericht und Endge
richt (2 Petr 3, 5 7), auf Ps 90, 4 (2 Petr 3,8: ‚ein Tag bei dem Herrn ist wie tau
send Jahre und tausend Jahre wie ein Tag‘) und auf das Motiv des Diebes (2 Petr
3, 10; vgl. 1 Thess 5, 2; Mt 24, 29 ff.43; Offb 3, 3; 16, 15) zurÜck, um gleicherma
ßen die Unberechenbarkeit und die unerschÜtterliche Hoffnung auf die Parusie
des Herrn zu betonen. Den Grund fÜr die bisher ausgebliebene Parusie nennt
211 Vgl. in diesem Sinn W. Grundmann, 2Petr, 154–157; K. Berger, Streit um Gottes Vorsehung,
59–64; O. Knoch, 2Petr, 208–212; A. VÚgtle, passim.
2 Petr, 118. 266–272. 213 A. VÚgtle, Christo-logie und Theo-logie, 384,
212 FÜr den paganen Bereich vgl. die Belege (bes. vermutet zu Recht, daß der Autor des 2 Petr hier
Plut, SerNumVind) bei K. Berger, Streit um Gottes einen Vorwurf der Gegner aufnimmt und zu-
Vorsehung, 124 f. Vornehmlich aus der paganen gleich gegen sie wendet (vgl. auch 2 Petr 2, 3. 18).
Umwelt heraus erklÈren die Position der Gegner 214 Auflistung mÚglicher Bezugsstellen bei
T. Fornberg, Early Church, 119 f; J. H. Neyrey, O. Knoch, 2Petr, 210 f.
Form and Background; R. J. Bauckham, 2Petr,
Tendenzen der neueren Forschung 477
2 Petr 3,9: Die Langmut Gottes215 gewÈhrt noch die MÚglichkeit zur Umkehr.
Gott als Herr der SchÚpfung und der Geschichte hat nicht nur eine andersartige
Zeitperspektive, sondern es ist in Wahrheit seine GÜte, die von den Gegnern ver
spottet wird! Damit offenbaren sie ihr wahres Wesen, sie leben in SelbsttÈu
schung und SÜnde (vgl. 2 Petr 1,9; 2, 10 12. 14. 18) und erkennen nicht, daß
Gottes gerechtes Gericht Über sie kommen wird (vgl. 2 Petr 2, 3 b.12 f).
Der 2 Petr zielt auf die rechte ‚Erkenntnis Jesu Christi, des Herrn und Heilan
des‘ (vgl. 2 Petr 1, 1 f). In ihm offenbarte sich Gott (2 Petr 1, 17), er ist nun der
Herr der Geschichte (vgl. 2 Petr 3,8 10. 15 a.18)216. Die gÚttliche Natur Jesu wird
vom Autor betont herausgestellt (vgl. 2 Petr 1, 3 f; 3, 18; ferner 1, 1. 11), denn die
Teilhabe an der Xeı´a fu´siß Jesu Christi ist das Ziel christlichen Lebens (2 Petr
1, 4). Die starke christologische Ausrichtung des 2 Petr zeigt sich auch in dem
christologischen Doppeltitel ‚unser Herr und Retter Jesus Christus‘ (2 Petr 1, 11;
2, 20; 3, 18) und in der Korrespondenz zwischen Briefanfang und ende: Der
Lobpreis des ku´rioß und swtv`r LIvsou˜ß Cristóß rahmt das Schreiben (vgl. 2 Petr
1, 1 f; 3, 18).
Wie der Judasbrief stand auch der 2 Petr lange Zeit unter dem Verdikt der theolo
gischen Bedeutungslosigkeit. E. KÈsemann faßte die Theologie des 2 Petr so zu
sammen: „Der Begriff des Apostels hat sich also gewandelt: Der Bote des Evan
geliums ist zum Garanten der Tradition, der Zeuge der Auferstehung zum Zeu
gen der historia sacra, der TrÈger eschatologischen Gotteshandelns zum Funda
ment der Heilsanstalt, der Angefochtene zum Bringer der securitas gewor
den.“217 KÈsemann bemÈngelte die fehlende christologische Orientierung der
Eschatologie218, hielt den Brief fÜr ein Sammelsurium von Lehrtopoi und werte
te den 2 Petr „als klarstes Zeugnis des FrÜhkatholizismus“219. Dieses Verdikt
wirkte lange nach, speziell die Auslegung von W. Schrage wurde davon geprÈgt.
FÜr ihn wirft die Aufnahme des 2 Petr in den Kanon grundlegende Fragen auf:
„In der Tat bildet seine Stellung und sein Stellenwert im neutestamentlichen Ka
non fÜr die evangelische Theologie und Kirche ein weithin ungelÚstes Problem.
Es lÈßt sich nicht leugnen, daß das Schreiben theologische Anschauungen ent
215 Zu makroXumı´a vgl. R. Stuhlmann, Das escha- 217 E. KÈsemann, Apologie, 141.
tologische Maß im Neuen Testament, FRLANT 218 Vgl. a. a. O., 147.
132, GÚttingen 1983, 85 ff. 219 A. a. O., 157.
216 Speziell in 2 Petr 3 fallen das Gerichtshandeln
Gottes und die Parusie des ku´rioß zusammen; vgl.
A. VÚgtle, Christo-logie und Theo-logie, 392 ff.
478 Der zweite Petrusbrief
hÈlt, die in ihrer Ungebrochenheit und Verabsolutierung sowohl mit dem Zen
trum der neutestamentlichen Aussagen als auch mit evangelischen Grundposi
tionen unÜbersehbar konkurrieren.“220 Die neueste Forschung hat sich von der
artigen (ab )qualifizierenden Werturteilen befreit und fragt nach der histori
schen Notwendigkeit und theologischen LegitimitÈt der Argumentation des
2Petr. T. Fornberg lehnt den Begriff des ‚FrÜhkatholizismus‘ zur Bewertung des
2 Petr ab und versucht den Ort des Briefes in einer hellenistischen Umwelt zu be
stimmen. Dabei erweist sich die Ethik als ein SchlÜssel zum VerstÈndnis, denn
der 2 Petr ist Über weite Strecken nichts anderes als ParÈnese. O. Knoch weist in
seiner umsichtigen Auslegung darauf hin, daß im 2 Petr jeglicher Hinweis auf die
LehrautoritÈt kirchlicher AmtstrÈger fehlt. Lediglich die AutoritÈt des Apostoli
schen wird (wie in den Deuteropaulinen) in Anspruch genommen. Der 2 Petr
lehrt das Ernstnehmen der Geduld Gottes, um mÚglichst viele Menschen zu ret
ten. Er lenkt den Blick „auf die Anerkennung der Entwicklung der ‚apostoli
schen‘ zur ‚katholischen‘ Kirche im Vollsinn des Wortes und auf das ernsthafte
BemÜhen, alle legitimen christlichen Traditionen in der Kirche zu wahren und
zur Geltung zu bringen.“221 H. Paulsen knÜpft in seiner Auslegung einerseits an
die Kritik E. KÈsemanns an, markiert aber andererseits auch scharf deren Gren
zen: „Eine Kritik des 2 Petr (und des Jud!) kann im geschichtlichen Sinne nicht
von der faktischen Situation abstrahieren, auf deren Hintergrund die Texte ent
standen sind.“222 FÜr Paulsen reprÈsentiert der 2 Petr den Àbergang zur Alten
Kirche, weil die Hermeneutik des Vergangenen zur Konstante der Theologie
wird. Die große sprachliche und literarische Kompetenz des Autors des 2 Petr be
tont Th. J. Kraus. Sie lÈßt darauf schließen, „dass der Autor des 2 Petr Über sehr
beachtliche SprachfÈhigkeiten verfÜgte, die außerdem auf die Vertrautheit mit
spezifischer Literatur (Klassikertexte, idiomatische Wendungen in Inschriften
und Papyri, Abstrakta der hellenistischen wie jÜdischen Apokalyptik etc.) ver
weisen.“223
220 W. Schrage, 2Petr, 122. 223 Th. J. Kraus, Sprache, Stil und historischer
221 O. Knoch, 2Petr, 231. Ort, 367.
222 H. Paulsen, 2Petr, 102.
8. Die Schriften der johanneischen Schule
8.1.1 Literatur
R. A. Culpepper, The Johannine School, SBL DS 26, Missoula 1975. O. Cullmann, Der jo
hanneische Kreis, TÜbingen 1975. Elisabeth SchÜssler Fiorenza, The Quest for the Jo
hannine School: The Apocalypse and the Fourth Gospel, NTS 23 (1977), 402 427.
R. E. Brown, Ringen um die Gemeinde, Salzburg 1982. G. Strecker, Die AnfÈnge der jo
hanneischen Schule, NTS 32 (1986), 31 47. U. Schnelle, Antidoketische Christologie im
Johannesevangelium (s. u. 8.5.1), 53 75. F. Vouga, The Johannine School: A Gnostic Tra
dition in Primitive Christianity?, Bib 69 (1988), 371 385. J. W. Taeger, Johannesapoka
lypse und johanneischer Kreis (s. u. 9.1). M. Hengel, Die johanneische Frage (s. u. 8.5.1),
219 ff.275 ff. A. Heinze, Johannesapokalypse und johanneische Schriften, BWANT 142,
Stuttgart 1998.
gezeugt sein‘ (1 Joh 2, 29; 3,9; 4, 7; Joh 1, 13; 3, 3 ff); e) Das ‚Erkennen‘ Gottes
(1 Joh 2, 3 5. 13 f; 3, 1. 6; 4, 6 8; Joh 1, 10; 8, 55; 14, 7; 16, 3 u. Ú.); f) Das ‚Bleiben‘
in Gott, in Jesus, in der Wahrheit und in der Lehre (2 Joh 2. 9; 1 Joh 2, 6. 24. 27;
4, 12 15; Joh 8, 31; 14, 10. 17; 15, 4 10); g) Wasser und Blut Jesu Christi (1 Joh
5, 6 8; Joh 19, 34 f); h) Das Gebot der Liebe (2 Joh 4 6; 1 Joh 2, 7 f; 3, 11; Joh
13, 34 f); i) ‚Aus der Wahrheit sein‘, ‚die Wahrheit erkennen‘ (2 Joh 1; 3 Joh 3. 8;
1 Joh 2, 21; 3, 19; Joh 8, 32; 18, 37); j) ‚Aus Gott sein‘ (3 Joh 11; 1 Joh 3, 10; 4, 1
6; Joh 8, 47); k) Das Halten der Gebote (1 Joh 2, 3 f; 3, 22. 24; 5, 2 f; Joh
14, 15. 21. 23; 15, 10).
2) Als zweites Indiz fÜr eine joh. Schule mÜssen die Gemeinsamkeiten in der
Sprache zwischen den drei Johannesbriefen und dem Evangelium gelten2. Sie
weisen Über den Ideolekt der einzelnen Verfasser auf einen Soziolekt der joh.
Schule hin. Aufschlußreich sind joh. VorzugswÚrter, die in den Briefen und im
Evangelium sehr oft, in den Übrigen Schriften des NT aber jeweils weniger hÈufig
belegt sind3. Ebenso instruktiv ist der seltene Gebrauch oder die Nichtaufnahme
von WÚrtern im joh. Schrifttum, die im Neuen Testament sonst hÈufig vorkom
men4.
3) Deutlich belegt Joh 21 die Existenz einer joh. Schule. In V. 24 b melden
sich mit kai` oiµdamen oºti alvXv`ß autou˜ v marturı´a estı´n die Verfasser des sekundÈ
ren Nachtragskapitels und vielleicht sogar die Herausgeber des gesamten Evange
liums zu Wort. Sie machen den ‚LieblingsjÜnger‘ zum Verfasser des Johannes
evangeliums und bestimmen sein VerhÈltnis zu Petrus neu. Allein das Vorhan
densein dieses Nachtrags und das keineswegs schriftstellerisch, sondern als Plural
communicis zu verstehende ‚wir‘5 in V. 24 b sind Hinweise auf eine joh. Schule.
4) Auch die ekklesiologischen Termini in den Johannesbriefen und dem Evange
lium verweisen auf die joh. Schule. In 3 Joh 15 wÈhlt der Presbyter oı fı´loi als
Selbstbezeichnung fÜr seine Gemeinde und gebraucht den Titel ebenfalls fÜr die
Adressaten (vgl. ferner Joh 11, 11; 15, 14 f). Eine Übliche Anrede innerhalb der
joh. Schule war teknı´a bzw. te´kna (Xeou˜); vgl. zu teknı´a 1 Joh 2, 1. 12. 28; 3, 7. 18;
4, 4; 5, 21; Joh 13, 33; zu te´kna (Xeou˜) vgl. 2 Joh 1. 4. 13; 3 Joh 4; 1 Joh 3, 1. 2. 10;
2 Die joh. Begriffsbildung muß als Ausdruck der 5 Vgl. dazu bes. A. v.Harnack, Das ‚Wir‘ in den
spezifisch joh. ‚Sehweise‘ verstanden werden; vgl. Johanneischen Schriften, in: ders., Kleine Schrif-
dazu F. Mußner, Sehweise (s. u. 8.5.1), 80 ff. ten zur Alten Kirche, Leipzig 1980 (= 1923),
3 So z. B. agapãn, alv´Xeia, alvXv´ß, genna˜n, ginẃ- (626–643) 642 f. Harnack weist in der Auseinan-
skein, entolv´, zwv´, ko´smoß, martureı˜n, me´nein, mi- dersetzung mit Th. Zahn nach, daß das ‚Wir‘ in
seı˜n, pisteu´ein, tvreı˜n. den joh. Schriften nicht ein Indiz fÜr die Augen-
4 Hier sind zu nennen: apóstoloß, grammateu´ß, zeugenschaft des Verfassers ist, sondern nur auf
de´cesXai, du´namiß, elpı´ß, epaggelı´a, euaggelı´zesXai, dem Hintergrund eines joh. Kreises in Kleinasien
euagge´lion, kvru´ssein, parabolv´, parakaleı˜n, pı´- verstanden werden kann.
stiß, pisto´ß, prose´rcesXai, próswpon, sofı´a.
Die Schriften der johanneischen Schule 481
5, 2; Joh 1, 12; 11, 52). Eine weitere Ehrenbezeichnung der joh. Schule ist adel
fóß (vgl. 3 Joh 3. 5. 10; Joh 20, 17; 21, 23).
5) Die ethischen Aussagen 6 in den Briefen und im Evangelium sprechen eben
falls fÜr die Existenz einer joh. Schule, denn sie sind Überwiegend nicht univer
salistisch, sondern gruppenbezogen zu verstehen. Dabei steht das Gebot der Bru
derliebe deutlich im Zentrum der joh. Ethik (vgl. 2 Joh 5 f; 1 Joh 2, 7 11; Joh
13, 34 f).
6) Ein weiteres Indiz fÜr die Existenz einer joh. Schule ist die Darstellung Jesu
als ‚Lehrer ‘7. In keinem anderen Evangelium findet sich fÜr Jesus so hÈufig die
Anrede rabbı´ (Joh: 9mal, Mk: 3mal, Mt: 2mal), und mehrfach wird von Jesu
LehrtÈtigkeit berichtet (Joh 6, 59; 7, 14. 28; 8, 20; 18, 20). Nikodemus nennt Jesus
einen von Gott gekommenen Lehrer (Joh 3, 2). Gott selbst lehrt Jesus (Joh
8, 26. 28), seine Lehre ist ek Xeou˜ (Joh 7, 16. 17). Jesus lehrt seine Freunde alles,
was er vom Vater empfing (Joh 15, 15; vgl. 17, 26), so daß die joh. Schule als der
Raum erscheint, in dem die Offenbarungen des Vaters an den Sohn weitergege
ben und gepflegt werden.
6 Zu den schwierigen Problemen der joh. Ethik nur die Frage, ob die joh. Konzeption Überhaupt
vgl. als EinfÜhrung R. Schnackenburg, Die sittli- materialethische Weisungen und eine wie auch
che Botschaft des Neuen Testaments, HThK.S II/ immer geartete Weltoffenheit zulÈßt.
2, Freiburg 1988, 148–192. Àber die primÈre 7 Vgl. R. A. Culpepper, Johannine School,
Gruppenbezogenheit der joh. Ethik besteht in der 273 ff.
Forschung kein Dissens, kontrovers ist vielmehr 8 J. W. Taeger, Johannesapokalypse, 133.
482 Die johanneische Schule
gen, der Antichrist Vorstellung, der Logos Motivik und der Siegesthematik. Die
Apokalypse ist aber nicht als proto oder ‚deuterojohanneisch‘ einzustufen, son
dern „ unter BerÜcksichtigung der in der Apk verstÈrkt fortgefÜhrten Entwick
lung als tritojohanneisch.“9 Die Textbasis ist jedoch fÜr derart weitreichende
Folgerungen sehr schmal, und die Voraussetzungen der Argumentation Taegers
sind ebenfalls problematisch. Taeger orientiert sich tendenziell am ErklÈrungs
modell Rudolf Bultmanns zum Johannesevangelium, das in der neuesten For
schung sehr umstritten ist. Was bei Taeger als Voraussetzung fungiert, muß als
das zentrale Problem gelten: Weisen die futurisch eschatologischen Aussagen im
Evangelium auf eine ‚deuterojohanneische‘ Redaktionsstufe hin oder sind sie in
die theologische Konzeption des Evangelisten integrierbar? Zudem bleiben ge
wichtige Unterschiede in der Sprache, der Geschichtsschau, der Bedeutung des
Alten Testamentes, der Christologie, der Anthropologie, der Ekklesiologie und
der gesamten Denkstruktur zwischen der Offenbarung einerseits und den Brie
fen sowie dem Evangelium andererseits (s. u. 9.2). Diese Differenzen lassen es als
sinnvoll erscheinen, die Offenbarung nicht unmittelbar zur johanneischen
Schule zu zÈhlen, sondern sie in einer mittelbaren Verbindung zu den anderen
joh. Schriften zu sehen, wodurch sich dann auch die vorhandenen Gemeinsam
keiten erklÈren10.
Der Sitz der joh. Schule dÜrfte Ephesus gewesen sein11. Im Raum Ephesus gab es
verschiedene johanneische Gemeinden (vgl. 2. 3 Joh), wobei die Hauptgemeinde
in der Stadt Ephesus angesiedelt war. FÜr diese Annahme lassen sich drei GrÜn
Als indirekte Zeugnisse fÜr Ephesus kÚnnen schließlich die Sendschreiben der Jo
hannesapokalypse (vgl. Offb 2;3) und die Ignatiusbriefe gelten, sie wenden sich
an Gemeinden im Umkreis der johanneischen Schule. Die joh. Schule ist nicht
einfach identisch mit den joh. Gemeinden16. Zur Gemeinde zÈhlen alle joh. Chri
sten, zur Schule hingegen nur die, die aktiv an der joh. Theologiebildung beteiligt
waren.
12 Vgl. Iren, Haer III 1, 1 (= Euseb, HE V 8, 4); II allem die Familienmetaphorik in den joh. Schrif-
22, 5 (= Euseb, HE III 23, 3). ten hinweist; vgl. D. Rusam, Die Gemeinschaft
13 Vgl. Iren, Haer V 33, 3–4; Euseb, HE V 20, 4–6; der Kinder Gottes (s. u. 8.4.1), 15–169; K. Schol-
III 39, 1. Analyse der Texte in 8.5.2. tissek, Kinder Gottes und Freunde Jesu, Beobach-
14 Vgl. Euseb, HE III 39, 4; Analyse des Textes im tungen zur johanneischen Ekklesiologie, in: Ek-
Abschnitt 8.2.2. klesiologie des Neuen Testaments (FS K. Kertel-
15 Vgl. zur Wirkungsgeschichte besonders ge), hrsg. v. R. Kampling u. Th. SÚding, Freiburg
M. Hengel, Die johanneische Frage (s. u. 8.5.1), 9– 1996, 199–209. Der 2./3. Joh. zeigen darÜber hin-
95. aus, daß es einen Austausch von Wandermissi-
16 Die joh. Gemeinden dÜrften sich Überwiegend onaren zwischen den einzelnen Gemeinden gege-
als Hausgemeinden organisiert haben, worauf vor ben haben muß.
484 Die johanneische Schule
Mit der hier vorausgesetzten Abfolge der johanneischen Schriften (2 Joh; 3 Joh;
1 Joh, JohEv) werden Àberlegungen aus dem 19. Jh.17 und der ersten HÈlfte des
20. Jhs.18 aufgenommen. FÜr diese Reihenfolge kÚnnen fÜnf Hauptargumente
angefÜhrt werden19:
1) Die beiden kleinen Johannesbriefe sind keine unbedeutenden Produkte
aus der SpÈtphase der johanneischen Schule, sondern als Schriften des presbu´te
roß LIwánnvß Originaldokumente aus ihrer Anfangszeit. Der 2.3 Joh lassen sich
nicht als Relecteure des 1 Joh oder des Johannesevangeliums verstehen; sie ge
hÚren deshalb nicht an das Ende, sondern an den Anfang der joh. Traditionsbil
dung.
2) Da sich 3 Joh 9 auf den 2 Joh bezieht, steht der 2 Joh am Anfang der johan
neischen Literatur.
3) Der 1 Joh greift an keiner Stelle erkennbar auf das Johannesevangelium
zurÜck. Er befindet sich in einer polemischen Auseinandersetzung mit doketi
schen Irrlehrern, die erstmals in 2 Joh 7 in den Blick kommen.
4) Das Johannesevangelium setzt die aktuelle Kontroverse mit den doketi
schen Irrlehrern im 1 Joh voraus und verarbeitet umfassend den damit verbun
denen theologischen Sachkonflikt.
5) Wenn die Briefe im Anschluß an das Evangelium verfaßt wurden, dann
verwundert es, daß sie in zahlreichen Themenbereichen das theologische Niveau
des Evangeliums nicht halten kÚnnen und teilweise hinter dessen christologi
sche BegrÜndungen zurÜckfallen. Der Gesamtbefund der joh. Literatur legt die
umgekehrte Annahme nahe: Die Briefe markieren literarisch und theologisch
den Ausgangspunkt der joh. Theologiebildung, die im Johannesevangelium ih
ren HÚhepunkt erreicht.
17 Vgl. J. E. Huther, Die drei Briefe des Johannes, ment, Leipzig 1922, 197; H. Strathmann, Art. Jo-
KEK XIV, GÚttingen 41880, 34 f; F. Bleek, Einlei- hannesbriefe, EKL II (1958), 364.
tung in das Neue Testament, Berlin 21866, 588; 19 Zur EinzelbegrÜndung vgl. die folgenden Ab-
O. Pfleiderer, Beleuchtung der neuesten Johan- schnitte. FÜr eine Entstehung der Johannesbriefe
nes-Hypothese, ZWTh 12 (1869), 419 ff; A. Hil- vor dem Evangelium votieren auch G. Strecker,
genfeld, Einleitung in das Neue Testament, Leip- JohBr (s. u. 8.2.1), 19–28; M. Hengel, Die johan-
zig 1875, 737; B. Weiß, Die drei Briefe des Apo- neische Frage (s. u. 8.5.1), 201–203; J. Frey,
stels Johannes, KEK XIV, GÚttingen 21899, 8 f. Eschatologie III (s. u. 8.5.1), 46–60; M. Labahn,
18 Vgl. H. H. Wendt, Die Johannesbriefe und das Jesus als Lebensspender (s. u. 8.5.1), 17–21.
johanneische Christentum, Halle 1925, 1–7; H. Thyen, Art. Johannesbriefe (s. u. 8.2), 195,
F. BÜchsel, Die Johannesbriefe, ThHK 17, Leipzig sieht in den beiden kleinen Briefen die Èltesten
1933, 7; H. Appel, Einleitung in das Neue Testa- Dokumente joh. Theologie.
Der zweite Johannesbrief 485
Kommentare
KEK XIV: R. Bultmann, 21969; G. Strecker, 1989. HNT 15: H. Windisch ( H. Preisker),
3
1951; F. Vouga, 1990. HThK XIII/3: R. Schnackenburg, 61979. EKK XXIII/2:
H. J. Klauck, 1992. ThHK 17: W. Vogler, 1993. ³TK 16: K. Wengst, 1978. NTD 10:
H. Balz, 21980. RNT: J. Beutler, 2000. ZBK 17: G. Schunack, 1982. AncB 30:
R. E. Brown, 1982. WBC 51: S. S. Smalley, 1984.
AufsÇtze
E. KÈsemann, Ketzer und Zeuge, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, GÚt
tingen 61970, 168 187. G. Bornkamm, Art. presbu´teroß ‚ ThW VI, 651 683. R. Bergmei
er, Zum Verfasserproblem des II. und III. Johannesbriefes, ZNW 57 (1966), 93 100.
R. W. Funk, The Form and Structure of II. and III. John, JBL 86 (1967), 424 430.
J. W. Taeger, Der konservative Rebell. Zum Widerstand des Diotrephes gegen den Presby
ter, ZNW 78 (1987), 267 287. B. Bonsack, Der Presbyteros des dritten Briefes und der ge
liebte JÜnger des Evangeliums nach Johannes, ZNW 79 (1988), 45 62.
Forschungsbericht
H. J. Klauck, Die Johannesbriefe, EdF 276, Darmstadt 1991.
8.2.2 Verfasser
Der 2 Joh enthÈlt ebenso wie der 3 Joh in der superscriptio des PrÈskriptes eine
Verfasserangabe: o presbu´teroß 20. Sprachlich legt sich zunÈchst die Deutung ‚der
20 Eine Darstellung der LÚsungsversuche briefen, 282–311. Vgl. ferner die forschungsge-
A. v.Harnacks, W. Bauers und E. KÈsemanns so- schichtliche Àbersicht bei R. E. Brown, JohBr,
wie eine kritische ErÚrterung der Probleme bietet 648–651.
E. Haenchen, Neuere Literatur zu den Johannes-
486 Der zweite Johannesbrief
Alte, der Greis‘ nahe, der aufgrund seines Alters und seiner Lebenserfahrung
eine besondere Stellung einnimmt21. Allerdings lÈßt die Auseinandersetzung des
Presbyters mit den Gegnern nicht erkennen, daß seine AutoritÈt auf einem ho
hen Alter beruht22. Sodann kann mit o presbu´teroß der AmtstrÈger einer Lokal
gemeinde gemeint sein, dem durch das Amt eine besondere AutoritÈt zukam.
Gegen diese vor allem von E. KÈsemann23 vertretene These ist geltend zu ma
chen, daß die PresbyterwÜrde im Urchristentum nur im Rahmen eines Kollegi
ums wahrgenommen wurde (vgl. z. B. Apg 11, 30; 14, 23; 1 Tim 4, 14; Tit 1, 5)
und zudem die Bezeichnung o presbu´teroß unter Weglassung des Namens ein
zigartig wÈre. Weder fÜr den Presbyter noch fÜr seinen in 3 Joh 9 erwÈhnten Ge
genspieler Diotrephes ist eine Amtsstellung wirklich nachweisbar. So dÜrfte o
presbu´teroß eine WÛrdebezeichnung fÜr „einen besondere HochschÈtzung genie
ßenden Lehrer“24 sein. Der Presbyter muß eine hervorragende Gestalt innerhalb
der joh. Schule, wahrscheinlich sogar ihr GrÜnder gewesen sein, denn nur so
lassen sich die Erhaltung und die Àbernahme des 2. 3 Joh in den Kanon erklÈ
ren25. Nichts spricht dagegen, den Presbyter des 2. 3 Joh mit jenem o presbu´teroß
LIwánnvß zu identifizieren, den Papias in deutlicher Unterscheidung zum Zebe
daiden Johannes als einen der GewÈhrsleute seiner Traditionen anfÜhrt (Euseb,
HE III 39, 4: „Wenn aber einer kam, der den Presbytern gefolgt war, fragte ich
nach den Lehren der Presbyter: Was Andreas oder Petrus sagten, was Philippus,
was Thomas oder Jakobus, was Johannes oder MatthÈus oder irgendein anderer
von den JÜngern des Herrn, was Aristion und der Presbyter Johannes, auch JÜn
ger des Herrn, sagen“). Sowohl der Presbyter der Johannesbriefe als auch der
Presbyter Johannes des Papias ist nicht Amts , sondern TraditionstrÈger26. Als
TrÈger bzw. GrÜnder der joh. Tradition hat der Presbyter des 2. 3 Joh ein hohes
Ansehen genossen, und als besonderer TraditionstrÈger erscheint er auch bei Pa
pias.
Papias erhielt die von ihm selbst hochgeschÈtzten mÜndlichen Traditionen von
PresbyterschÜlern, die er nach den Àberlieferungen der Apostel befragte. Die Tra
ditionskette lautet: Apostel Presbyter ( ApostelschÜler) SchÜler der Presbyter
21 Das hohe Alter des Presbyters betont vor al- grÜnden versucht“. Zur Kritik an KÈsemann vgl.
lem H. H. Wendt, Johannesbriefe, 7 f. G. Bornkamm, a. a. O., 671 A 121.
22 Vgl. G. Bornkamm, Art. presbu´teroß ‚ 670. 24 G. Bornkamm, a. a. O., 671; vgl. ferner
23 E. KÈsemann, Ketzer und Zeuge, 177, sieht im R. Schnackenburg, JohBr, 306.
Presbyter einen Mann, „der einen Gemeindever- 25 Vgl. H. Thyen, Art. Johannesbriefe, 195.
band und eine Missionszentrale leitet und hÚchst 26 Vgl. Ph. Vielhauer, Urchristliche Literatur,
aktiv Kirchenpolitik treibt, indem er in fremden 763, der herausstellt, daß Papias unter den pres-
Gemeinden StÜtzpunkte seiner Organisation zu bu´teroi TraditionstrÈger verstand.
Ort und Zeit der Abfassung 487
Papias27. Schwer bestimmbar ist das VerhÈltnis zwischen der ersten Gruppe (den
Aposteln) und der zweiten Gruppe (Aristion und der Presbyter Johannes) der Her
renjÜnger. Der unterschiedliche Tempusgebrauch (eıÓpen bei den Aposteln, le´gou
sin bei Aristion und dem Presbyter Johannes) lÈßt darauf schließen, daß Aristion
und der Presbyter Johannes z. Zt. des Papias noch lebten, so daß gefragt werden
muß, ob Papias beide kannte. Euseb bejaht dies nachdrÜcklich (HE III 39, 7), um
so die GlaubwÜrdigkeit der von ihm Überlieferten Papiastradition zu sichern (vgl.
HE III 39, 15. 16. 17). Auch die Papiasnotiz selbst scheint das nahezulegen, denn in
dem zweiten indirekten Fragesatz wird mit dem Relativpronomen aº einerseits das
Fragewort tı´ wiederaufgenommen, wÈhrend andererseits te´ und das neue PrÈdi
kat le´gousin einen Neueinsatz markieren. Dann hÈtte Papias von Aristion und
dem Presbyter Johannes direkt Traditionen erhalten und mÜßte als deren SchÜler
gelten28.
Wenn der Verfasser des 2. 3 Joh als GrÜnder der joh. Schule mit dem von Papias
erwÈhnten Presbyter Johannes identisch ist, spricht nichts dagegen, in den bei
den kleinen Johannesbriefen die Çltesten Dokumente der joh. Schule zu sehen29.
Bei den kleinen Johannesbriefen kommt dem 2 Joh die zeitliche PrioritÈt zu,
denn offensichtlich verweist 3 Joh 9 auf den 2 Joh.
Vielfach wird dagegen der Einwand erhoben, 3 Joh 9 mÜsse sich auf ein Empfeh
lungsschreiben fÜr Wandermissionare beziehen, was aber der 2 Joh nicht sei30.
Aus der Wendung eµgrayá ti tU˜ ekklvsı´a geht freilich nur hervor, daß der Presby
ter schon frÜher einmal an die Gemeinde geschrieben hat. Erst V. 10 b handelt
wieder von den Wandermissionaren, so daß sich die Ablehnung des Diotrephes in
V. 9 b auf den Presbyter und seine im 2 Joh dargelegte theologische Position und
den ihr inhÈrenten Machtanspruch beziehen kann31.
27 Vgl. W. HeitmÜller, Zur Johannes-Tradition, neische Frage (s. u. 8.5.1), 123. 156; G. LÜde-
ZNW 15 (1914), (189–209) 195; E. Haenchen, Joh mann, Ketzer, Stuttgart 1995, 175–188.
(s. u. 8.5.1), 9. 30 Vgl. z. B. R. Schnackenburg, JohBr, 326;
28 DafÜr spricht auch der absolute alv´Xeia-Be- W. G. KÜmmel, Einleitung, 394; R. Bultmann,
griff in Euseb, HE III 39, 3 („. . . Denn nicht hatte JohBr, 99; K. Wengst, JohBr, 248, u. a.
ich Freude, wie die meisten an denen, die viele 31 FÜr einen Bezug von 3 Joh 9 auf 2 Joh plÈdie-
Worte machen, sondern an denen, welche die ren z. B. Th. Zahn, Einleitung in das Neue Testa-
Wahrheit lehren . . .“), der an den Sprachge- ment II (s. o. 7.4.2), 581; H. H. Wendt, Johannes-
brauch im 2. 3 Joh erinnert. briefe, 23; M. Dibelius, Art. Johannesbriefe, RGG2
29 Vgl. in diesem Sinn (mit Unterschieden in der III (1929), 348; A. JÜlicher – E. Fascher, Einlei-
Einzelargumentation) H. H. Wendt, Johannesbrie- tung, 235; G. Strecker, JohBr, 357 f.368; F. Vouga,
fe, 1–7; G. Strecker, JohBr, 28; U. Schnelle, Anti- JohBr, 18; W. Vogler, JohBr, 30; M. Hengel, Die
doketische Christologie (s. u. 8.5.1), 65; H. Thyen, johanneische Frage (s. u. 8.5.1), 132.
Art. Johannesbriefe, 195; M. Hengel, Die johan-
488 Der zweite Johannesbrief
Die erste Bezeugung des 2 Joh findet sich bei Polykarp (vgl. Polyk, Phil 7, 1 mit
2 Joh 7), wahrscheinlich wurde der 2 Joh um 90 n. Chr. abgefaßt.
8.2.4 Empfänger
1 2 PrÈskript
3 Salutatio Briefanfang
4 Danksagung
32 Vgl. in diesem Sinn R. Bultmann, JohBr, 103; meinwesens, auf der zentrale Fragen der Versor-
R. Schnackenburg, JohBr, 306; K. Wengst, JohBr, gung und der Sicherheit beraten wurden; vgl.
236; G. Strecker, JohBr, 317 ff; F. Vouga, JohBr, H. J. Klauck, kurı´a ekklvsı´a in Bauers WÚrterbuch
80. und die Exegese des zweiten Johannesbriefes,
33 In der klassischen GrÈzitÈt bezeichnet kurı´a ZNW 81 (1990), 135–138.
ekklvsı´a eine wichtige Versammlung eines Ge-
Literarische Integrität 489
12 Apostolische Parusie
Briefschluß
13 GrÜße
Der 2 Joh ist als ein wirklicher Brief anzusehen, er weist alle Merkmale eines anti
ken Privatbriefes auf: superscriptio, adscriptio, salutatio, ProÚmium, briefliche
Bitte mit erwtw̃, AnkÜndigung eines geplanten Besuches und SchlußgrÜße34.
Die in hellenistischen Briefen Übliche erwtw̃ se Formulierung weist den 2 Joh als
einen Bittbrief aus. Nicht Überzeugen kann die Vermutung, die Briefform des
2 Joh sei eine Fiktion35. Sowohl der Aufbau als auch die LÈnge (ein Papyrusblatt)
entsprechen antiken Privatbriefen. Vom Briefcharakter zeugen die Behandlung
konkreter Fragen, das Eingehen auf Gemeindeprobleme und die AnkÜndigung
eines baldigen Besuches. Unter rhetorischen Gesichtspunkten bietet sich folgen
de Gliederung des 2 Joh an36: exordium V. 4 (V. 1 3); narratio V. 5; probatio
V. 6 11; peroratio V. 12 (V. 13).
34 Vgl. als Parallele die bei A. Deissmann, Licht 36 Vgl. D. F. Watson, A Rhetorical Analysis of
vom Osten (s. o. 2.3.1), 159, abgedruckten Briefe. 2 John according to Greco-Roman Convention,
35 So bes. R. Bultmann, JohBr, 103; J. Heise, NTS 35 (1989), 104–130; H. J. Klauck, Zur rhetori-
Bleiben. Menein in den Johanneischen Schriften, schen Analyse der Johannesbriefe, ZNW 81
HUTh 8, TÜbingen 1967, 164–170; G. Schunack, (1990), 217 ff.
JohBr, 108 f; U. H. J. KÚrtner, Papias von Hierapo-
lis (s. o. 3.4.2), 197–201.
490 Der zweite Johannesbrief
In 2 Joh 7 warnt der Presbyter vor Irrlehrern, die als Wanderprediger agieren
und nicht bekennen: LIvsou˜n Cristo`n ercómenon en sarkı´. Die Gegner verneinen
offenbar die bleibende Bedeutung der Geschichte und Person Jesu Christi. Wie
in 1 Joh 4, 2 leugnen sie damit die substantielle Fleischwerdung des Christus37,
die Einheit zwischen dem irdischen Jesus und dem himmlischen Christus und
die grundlegende soteriologische Bedeutung der Sakramente. Deshalb kann die
von ihnen vertretene Christologie wie in 1 Joh 4, 2 als doketisch bezeichnet wer
den (s. u. 8.4.8). In 2 Joh 7 b identifiziert der Presbyter die Irrlehrer mit dem An
tichristen. Der selbstverstÈndliche Wechsel vom Plural in den Singular verdeut
licht, daß plánoß 38 und antı´cristoß (vgl. 1 Joh 2, 18. 22; 4, 3)39 fÜr den Presbyter
zwei bekannte Gestalten der Endzeit sind. Der in der letzten Zeit auftretende An
tichrist ist fÜr den Presbyter in den Gegnern bereits erschienen. Ein weiteres
Kennzeichen der Irrlehrer nennt 2 Joh 9: Sie schreiten voran und bleiben nicht
in der Überlieferten Lehre Christi. Wie schon zuvor in 2 Joh 5 fÜhrt der Presbyter
damit den Traditionsgedanken ein, um den Irrlehrern entgegenzutreten. Das
Wesen der Irrlehre liegt gerade in ihrem Heraustreten aus der grundlegenden
und bewÈhrten Lehre.
Im Zentrum des 2 Joh steht der alv´Xeia Begriff, der allein in den ersten vier Ver
sen 5mal erscheint40. Die erwÈhlte Gemeinde hat die Wahrheit erkannt, und die
Wahrheit wird bei ihr bleiben bis in Ewigkeit (2 Joh 2). Wahrheit benennt hier
die Wirklichkeit Gottes, die in der Gemeinde gegenwÈrtig ist und wirkt. Das
Wandeln in der Wahrheit (2 Joh 4 a) vollzieht sich im Liebesgebot (vgl. 2 Joh
4 b 6). Wer nach diesem vom Vater empfangenen Gebot lebt, wandelt zugleich
in der Wahrheit, denn nur wer in der Liebe ist, ist in der Wahrheit, nur wer in
der Wahrheit ist, ist auch in der Liebe. Die Irrlehrer hingegen kennzeichnet das
37 Vgl. R. Schnackenburg, JohBr 312 f; sonst planãn 1 Joh 1,8; 2, 26; 3, 7; Joh 7, 12. 47
R. E. Brown, JohBr, 685 f; K. Wengst, JohBr, 240; und plánv 1 Joh 4, 6.
C. Colpe, Art. Gnosis II, RAC 11 (1981), 611; 39 Vgl. dazu G. Strecker, JohBr, 337–343.
M. Hengel, Die johanneische Frage (s. u. 8.5.1), 40 Vgl. zum Wahrheitsbegriff in den beiden klei-
140 ff. Anders G. Strecker, JohBr, 332 ff, der er- nen Johannesbriefen einerseits R. Bergmeier,
cómenon futurisch deutet und meint, der Presbyter Zum Verfasserproblem des II. und III. Johannes-
vertrete eine chiliastische Lehre, die von den briefes; andererseits R. Schnackenburg, Zum Be-
‚Neuerern‘ abgelehnt wurde. griff der „Wahrheit“ in den beiden kleinen Johan-
38 Plánoß nur hier in den joh. Schriften, vgl. nesbriefen, BZ 11 (1967), 253–258.
Tendenzen der neueren Forschung 491
Heraustreten aus dieser engen Verbindung von Glaubenslehre und Ethik. Sie ne
gieren den durch den Presbyter verkÚrperten Traditionsgedanken und verblei
ben nicht in der Lehre Christi (2 Joh 9), ihr proa´gein hebt sowohl die Wahrheit
als auch die Liebe auf. Indem die Irrlehrer den Überlieferten Glaubensgrund ver
lassen und eine neue Lehre in die Gemeinde hineinbringen, stellen sie sich selbst
außerhalb der Gemeinde, sie haben nicht mehr den Vater und den Sohn. Des
halb ist es konsequent, die Irrlehrer nicht mehr aufzunehmen und sie auch nicht
mehr zu grÜßen, weil dies Teilhabe an ihren bÚsen Werken bedeuten wÜrde
(2 Joh 10. 11). Konstitutiv fÜr die Theologie des 2 Joh ist somit der durch den
Presbyter reprÈsentierte Traditionsgedanke , der sich gleichermaßen auf den Be
reich der Lehre und der Ethik bezieht. An keiner Stelle greift der Presbyter dafÜr
auf das Johannesevangelium oder den 1 Joh zurÜck41, weder ein Zitat noch eine
Zitatanspielung aus dem Evangelium oder dem großen Brief lassen sich im 2 Joh
nachweisen. Vielmehr beruft sich der Presbyter auf die Traditionen der von ihm
gegrÜndeten joh. Schule, die in die Wahrheit der Erkenntnis Jesu Christi und
die Bruderliebe fÜhren. Deshalb kann die Position des Presbyters aber nicht als
frÜhkatholisch bezeichnet werden, denn sowohl der Traditionsgedanke als auch
die kritische Funktion der Lehre finden sich bereits bei Paulus (vgl. z. B. 1 Kor
15, 1 3 a; Gal 1, 12; RÚm 6, 17; 16, 17)42.
Bis in die jÜngste Zeit hinein fand der 2 Joh aufgrund seiner KÜrze und des
scheinbar theologisch nicht bedeutungsvollen Inhaltes nur wenig Beachtung.
Wenn jedoch der bei Papias erwÈhnte und mit dem Briefautor identische Presby
ter Johannes der GrÜnder der joh. Schule ist, dann kommt dem 2 Joh als Original
dokument aus der Anfangszeit joh. Theologie eine große Bedeutung zu. Der fÜr
das Johannesevangelium bestimmende Dualismus zeigt sich im 2 Joh erst in ei
ner rudimentÈren Form. DemgegenÜber gehÚren der enge Zusammenhang zwi
schen Wahrheit und Liebe und der damit verbundene Traditionsgedanke zu den
Grundelementen joh. Theologie. In Wahrheit und Liebe vollzieht sich zugleich
der Wandel in den Geboten des Vaters und das Bleiben in der Lehre Christi, wor
in die grundlegende Funktion des Traditionsgedankens fÜr die Theologie des
Presbyters sichtbar wird. In der neueren Forschung sehen u. a. G. Strecker,
U. Schnelle, H. Thyen, M. Hengel und G. LÜdemann in den kleinen Johannesbrie
41 Gegen F. Vouga, JohBr, 16 ff, der behauptet, 42 Vgl. dazu G. Strecker, JohBr, 348–354.
der Presbyter berufe sich auf die AutoritÈt des Jo-
hannesevangeliums und des 1 Joh.
492 Der dritte Johannesbrief
8.3.1 Literatur
s. o. 8.2.1.
8.3.2 Verfasser
Der 3 Joh weist ebenso wie der 2 Joh die Absenderangabe o presbu´teroß auf. Die
großen Àbereinstimmungen zwischen dem 2 Joh und dem 3 Joh im Briefformu
lar und der Sprache lassen den Schluß zu, daß auch der 3 Joh vom Presbyter Jo
hannes verfaßt wurde.
3 Joh 9 bezieht sich auf den 2 Joh, so daß der 3 Joh das zweite Schreiben des
Presbyters sein muß. Eine genauere Bestimmung des zeitlichen Abstandes zwi
schen dem 2 Joh und dem 3 Joh ist nicht mÚglich, man darf annehmen, daß der
Empfänger 493
3 Joh nicht allzu lange nach dem 2 Joh verfaßt wurde. Die Abfassung liegt somit
kurze Zeit nach 90 n. Chr. Als Abfassungsort ist wie fÜr den 2 Joh Kleinasien an
zunehmen, mÚglicherweise wurde er in Ephesus geschrieben43.
8.3.4 Empfänger
Der 3 Joh ist an einen sonst nicht bekannten Gaius gerichtet. Er wird in 3 Joh
2. 5. 11 als ‚Geliebter‘ (Bruder) angeredet, es handelt sich also um einen Chri
sten, mit dem der Presbyter in einem sehr guten VerhÈltnis stand. Gaius zÈhlt
nach 3 Joh 4 zu den ‚Kindern‘ des Presbyters, d. h. er wurde entweder vom Pres
byter bekehrt oder getauft. 3 Joh 3 f.5 f lobt der Presbyter Gaius, der Gastfreund
schaft gegenÜber reisenden BrÜdern Übt und darin in der Wahrheit und in der
Liebe wandelt. Ob Gaius ein Mitgleid der Gemeinde des in 3 Joh 9 erwÈhnten
Diotrephes war, muß offenbleiben. Zumindest gehÚrte Gaius nicht der Leitung
dieser Gemeinde an, denn sonst hÈtte ihn der Presbyter nicht Über sein frÜheres
Schreiben und den Konflikt mit Diotrephes unterrichten mÜssen (3 Joh 9 ff). Der
Presbyter will aber durch den Brief die UnterstÜtzung des Gaius erlangen und in
der Gemeinde des Diotrephes trotz der Schwierigkeiten Einfluß gewinnen, so
daß zwischen Gaius und der Gemeinde des Diotrephes eine Beziehung bestehen
muß. MÚglicherweise ist der in 3 Joh 12 erwÈhnte Demetrius der Mittelsmann
zwischen dem Presbyter und der Gemeinde des Diotrephes. Er kÚnnte in der Ab
wesenheit des Presbyters der Gegenspieler des Diotrephes in dessen Gemeinde
sein. Ihn soll Gaius unterstÜtzen und damit auch die Position des Presbyters stÈr
ken, bis dieser selbst zu Gaius kommt (3 Joh 13 f). Nach dem ersten offenbar ge
scheiterten Versuch will damit der Presbyter ein zweites Mal Einfluß auf die Ge
meinde des Diotrephes nehmen.
1 PrÈskript
2 Salutatio Briefanfang
3f Danksagung
13 14 Apostolische Parusie
15 a Eschatokoll Briefschluß
15 b Grußausrichtung
15 c Grußauftrag
Wie der 2 Joh hat auch der 3 Joh die Form und die LÈnge eines gewÚhnlichen an
tiken Privatbriefes . Auf das PrÈskript folgen ein stereotyper Wohlergehenswunsch
und eine Danksagung. Innerhalb des Hauptteils stehen die Informationen Über
das VerhÈltnis zu Diotrephes im Mittelpunkt. Durch V. 12 weist sich der 3 Joh als
ein Empfehlungsbrief aus44. Den Briefschluß leitet die in antiken Briefen vielfach
belegte AnkÜndigung eines geplanten Besuches ein, es folgen SchlußgrÜße. Als
Gliederung unter rhetorischen Gesichtspunkten wird vorgeschlagen: exordium
V. 2 4 (V. 1); narratio V. 5 6; probatio V. 7 12; peroratio V. 13 14 (V. 15)45.
Gegner und die Beurteilung des Konfliktes zwischen dem Presbyter und Diotre
phes Über diese Frage (s. u. 8.3.9/8.3. 10).
Wie im 2 Joh stehen auch im 3 Joh die Begriffe ‚Wahrheit‘ (3 Joh 1. 3. 4. 8. 12)
und ‚Liebe‘ (3 Joh 1. 2. 5. 6. 11) im Mittelpunkt. Gaius wandelt in der Wahrheit
und in der Liebe, indem er die mit dem Presbyter verbundenen Wandermissiona
re aufnimmt. Auch Demetrius hat Zeugnis von der Wahrheit abgelegt, und der
Presbyter empfiehlt ihn deshalb Gaius (3 Joh 12). Inhaltlich lÈßt sich der Wahr
heitsbegriff im 3 Joh nur schwer bestimmen, er hÈngt offenbar wesentlich mit
dem Verhalten gegenÜber den Wandermissionaren des Presbyters zusammen.
Die Gemeinde des Presbyters betrieb eine umfangreiche (Heiden )Mission (3 Joh
7), wobei sie auf die UnterstÜtzung anderer Gemeinden der joh. Schule angewie
sen war. WÈhrend Gaius den Wandermissionaren des Presbyters die notwendige
UnterstÜtzung erteilte, nahm Diotrephes diese Missionare nicht auf und hinderte
auch andere daran, dies zu tun (3 Joh 10). Das Verhalten des Diotrephes bezeich
net der Presbyter als ein Nachfolgen des BÚsen (3 Joh 11). Aus der Perspektive
des Presbyters ist somit Diotrephes dem BÚsen verhaftet, er hat Gott nicht gese
hen (3 Joh 11). Nicht klar ersichtlich sind die BeweggrÜnde fÜr das Verhalten des
Diotrephes. Offenkundig ist nur, daß er die AutoritÈt des Presbyters nicht aner
kennt. Er will in seiner Gemeinde ‚der Erste‘ sein (3 Joh 9), und er verfÜgt Über
die AutoritÈt, Gemeindeglieder auszuschließen, die Wandermissionare des Pres
byters aufnehmen (3 Joh 10 b). Unterschiedliche verfassungsrechtliche Konzep
tionen, der Konflikt zwischen Orthodoxie und HÈresie oder der Gegensatz zwi
schen Geist und Amt als Ursachen des Konfliktes zwischen dem Presbyter und
Diotrephes lassen sich aus dem 3 Joh nicht belegen. Nach dem Zeugnis des 3 Joh
ist allein das Verhalten gegenÜber den Wandermissionaren des Presbyters Gegen
stand des Konfliktes. LÚsten die Wandermissionare des Presbyters den Konflikt
aus oder ist das Verhalten ihnen gegenÜber lediglich Folge einer Auseinanderset
zung auf einem anderen Gebiet? 3 Joh 7. 8 legt es nahe, in einem unterschiedlichen
MissionsverstÇndnis die Ursache fÜr den Konflikt zwischen dem Presbyter und Dio
trephes zu sehen. WÈhrend die Gemeinde des Presbyters eine umfangreiche Mis
sion betrieb und dafÜr auf die UnterstÜtzung der einzelnen joh. Gemeinden ange
wiesen war, lehnte Diotrephes ein solches Missionskonzept ab. Offenbar vertrat
er eine auf die Einzelgemeinde konzentrierte partikulare ekklesiologische Kon
zeption, wÈhrend der Presbyter wohl eine universale ekklesiologische Konzepti
on verfolgte. Dies ergibt sich aus 3 Joh 8: Wer die Wandermissionare aufnimmt,
bezeugt nicht nur die Wahrheit, sondern er wird zum Mitarbeiter der Wahrheit.
496 Der dritte Johannesbrief
Im Mittelpunkt der Forschung zum 3 Joh stehen der Anlaß, der Hintergrund und
das Wesen der Auseinandersetzung zwischen dem Presbyter und Diotrephes46.
Zwei ErklÈrungsmodelle sind bis heute von grundlegender Bedeutung: 1) Es
handelt sich bei dem Streit um eine kirchenrechtliche Kontroverse; 2) Die Aus
einandersetzung zwischen dem Presbyter und Diotrephes hat theologisch dog
matische Ursachen. Das kirchenrechtliche ErklÈrungsmodell wurde grundlegend
von A. (v.)Harnack erarbeitet. Danach ist der Presbyter der Leiter einer umfas
senden Missionsorganisation in der Provinz Asien, der Missionare aussendete
und Gemeinden vorstand. Gegen diese Organisationsform und den Herrschafts
anspruch des Presbyters begehrte die Gemeinde des Diotrephes auf. „Es ist der
Kampf der alten patriarchalischen und provinzialen Missionsorganisation gegen
die sich konsolidierende Einzelgemeinde, die zum Zweck ihrer Konsolidierung
und strengen Abschließung nach außen den monarchischen Episkopat aus ihrer
Mitte hervortreibt.“47 Diotrephes ist somit der erste bekannte monarchische Bi
schof. Das dogmatische ErklÈrungsmodell vertritt W. Bauer. Danach spiegelt sich
in der Auseinandersetzung zwischen dem Presbyter und Diotrephes der Konflikt
zwischen HÈresie und Orthodoxie wider. Bauer sieht im Presbyter den Vertreter
der RechtglÈubigkeit, der durch den Einfluß des Ketzerhauptes Diotrephes in die
Defensive gedrÈngt wurde. Es gelang Diotrephes, in seiner Gemeinde den Ein
fluß des Presbyters zurÜckzudrÈngen, der nun seinerseits durch den 3 Joh den
Versuch unternahm, das verlorengegangene Terrain wiederzuerlangen48. In
Umkehrung der These W. Bauers sieht E. KÈsemann in Diotrephes einen monar
chischen Bischof, im Autor des 2. 3 Joh hingegen einen aufgrund seiner gnosti
schen Irrlehre exkommunizierten Presbyter. KÈsemann hÈlt den Presbyter auch
fÜr den Verfasser des Johannesevangeliums, der als christlicher Gnostiker den
Mut hatte, im Umfeld der Gnosis ein Evangelium zu schreiben. Aus der Sicht der
Orthodoxie enthielt das Johannesevangelium eine ketzerische gnostische Irrleh
re, die zur Exkommunikation des Presbyters fÜhrte. „Nicht als Sektenhaupt, son
dern als monarchischer Bischof, der sich einem Irrlehrer gegenÜbersieht und
dementsprechend handelt, Übt Diotrephes am Presbyter und dessen AnhÈngern
bis in die eigene Gemeinde hinein die kirchliche Disziplinargewalt aus.“49 Die
Einzelelemente des kirchenrechtlichen und des dogmatischen ErklÈrungsmo
einer Exkommunikation des Presbyters durch Diotrephes noch von einem mon
archischen Bischofsamt ist in beiden Briefen die Rede. Der Presbyter als GrÜnder
der joh. Schule verstand sich offenbar als HÜter der wahren Tradition, der den
Neuerern und ihrem Haupt Diotrephes entgegentrat.
8.4.1 Literatur
Kommentare
KEK XIV: R. Bultmann, 21969; G. Strecker, 1989. HNT 15/III: H. Windisch ( H. Preisker),
3
1951; F. Vouga, 1990. HThK XIII/3: R. Schnackenburg, 61979. EKK XXIII/1:
H. J. Klauck, 1991. ThHK 17: W. Vogler, 1993. ³TK 16: K. Wengst, 1978. NTD 10:
H. Balz, 21980. RNT: J. Beutler, 2000. ZBK 17: G. Schunack, 1982. MNTC: C. H. Dodd,
4
1961. AncB 30: R. E. Brown, 1982. WBC 51: S. S. Smalley, 1984.
Monographien
A. Wurm, Die Irrlehrer im ersten Johannesbrief, Freiburg 1903. W. Nauck, Die Tradition
und der Charakter des ersten Johannesbriefes, WUNT 3, TÜbingen 1957. K. Wengst, HÈ
resie und Orthodoxie im Spiegel des 1. Johannesbriefes, Neukirchen 1976. J. Bogart, Or
thodox and Heretical Perfectionism in the Johannine Community as Evident in the First
Epistle of John, SBLDS 33, Missoula 1977. D. Rusam, Die Gemeinschaft der Kinder Got
tes, BWANT 133, Stuttgart 1993. W. Uebele, „Viele VerfÜhrer sind in die Welt ausgegan
gen“. Die Gegner in den Briefen des Ignatius von Antiochien und in den Johannesbriefen,
BWANT 151, Stuttgart 2001.
AufsÇtze
R. Bultmann, Analyse des ersten Johannesbriefes, in: ders., Exegetica, TÜbingen 1967,
105 123; Ders., Die kirchliche Redaktion des ersten Johannesbriefes, a. a. O., 381 393.
H. Conzelmann, „Was von Anfang war“, in: ders., Theologie als Schriftauslegung, BEvTh
65, MÜnchen 1974, 207 214. G. Klein, ‚Das wahre Licht scheint schon‘, ZThK 68 (1971),
261 326. H. J. Venetz, Durch Wasser und Blut gekommen (1 Joh 5, 6), in: Die Mitte des
Neuen Testaments (FS E. Schweizer), hg. v. U. Luz u. H. Weder, GÚttingen 1983, 345 361.
J. Blank, Die Irrlehrer des ersten Johannesbriefes, Kairos 26 (1984), 166 193. E. Stege
mann, ‚Kindlein hÜtet euch vor den GÚtzenbildern‘, ThZ 41 (1985), 284 294. U. Wil
ckens, Die Gegner im 1. Johannesbrief, in: Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS
K. Berger), hg. v. A. v. Dobbeler, K. Erlemann u. R. Heiligenthal, TÜbingen 2000, 477 500.
Verfasser 499
8.4.2 Verfasser
Im Gegensatz zum 2. 3 Joh gibt sich der Verfasser des 1 Joh nicht zu erkennen. Es
ist umstritten, ob er mit dem Autor der beiden kleinen Johannesbriefe bzw. dem
Verfasser des Evangeliums gleichzusetzen ist. Im Presbyter des 2. 3 Joh sehen
u. a. H. Windisch, C. H. Dodd, R. Schnackenburg, R. E. Brown, E. Ruckstuhl,
H. J. Klauck, W. Vogler und M. Hengel auch den Verfasser des 1 Joh56. Als Haupt
argument fÜhren sie den gemeinsamen Stil aller drei Johannesbriefe an. Die
Àbereinstimmungen im Stil kÚnnen aber auf den Soziolekt der joh. Schule zu
rÜckgefÜhrt werden, und zudem gibt es charakteristische Unterschiede in Spra
che und Stil zwischen dem 2. 3 Joh einerseits und dem 1 Joh andererseits.
Allein in 2 Joh 4/3 Joh 3 findet sich die Wendung ecárvn lı´an (vgl. Phil 4, 10), und
nur in 2 Joh 4/3 Joh 3. 4 ist peripateı˜n en alvXeı´a belegt. Ausschließlich im 2 Joh
erscheinen die AusdrÜcke eklvktU˜ kurı´a (2 Joh 1), tv̀n alv´Xeian tv̀n me´nousan en
vmı˜n (2 Joh 2), parà LIvsou˜ Cristou˜ tou˜ uıou˜ tou˜ patróß (2 Joh3), en alvXeı´a kai`
agápU (2 Joh 3) und ble´pete eautou´ß (2 Joh 8). Hapaxlegomena innerhalb der joh.
Schule sind in den beiden kleinen Johannesbriefen: me´lan (2 Joh 12/3 Joh 13, so
nur noch 2 Kor 3, 3); kálamoß (3 Joh 13); eµleoß (2 Joh 3); misXóß (2 Joh 8), agaXo
poieı˜n , kakopoieı˜n (3 Joh 11), euodou´sXai (3 Joh 2). Hapaxlegomena im NT sind fi
loprwteu´wn (3 Joh 9); cártvß (2 Joh 12).
Stammt auch der 1 Joh vom Presbyter, dann ist zudem nicht zu erklÈren, warum
in diesem Schreiben keine Absenderangabe erscheint. Offensichtlich setzt der
Verfasser des 2. 3 Joh die Ehrenbezeichnung o presbu´teroß im Sinn eines besonde
ren TraditionstrÈgers bewußt in seiner Auseinandersetzung mit Gegnern ein. Sie
dient ihm als Ausdruck von WÜrde und sichert seinen Aussagen AutoritÈt. War
um sollte der Presbyter auf die ihm zukommende Ehrenbezeichnung gerade im
1 Joh verzichten, wo die Auseinandersetzung mit Gegnern ihren HÚhepunkt er
reicht? Auch die Form des 1 Joh spricht gegen den Presbyter als Verfasser, denn
wÈhrend der 2. 3 Joh stilgerechte antike Privatbriefe an eine Einzelgemeinde bzw.
Einzelperson sind, fehlen dem 1 Joh wesentliche briefliche Merkmale. Schließlich
findet sich der joh. Dualismus im 2. 3 Joh nur in einer rudimentÈren Form, und es
sind sachliche Verschiebungen festzustellen: 1) In 2 Joh 4 6 ist das Gebot der Lie
be nicht ein neues Gebot, sondern das von ‚Anfang an‘ gegebene. DemgegenÜber
wird in 1 Joh 2, 7 11 dialektisch das Gebot der Liebe als Gebot von Anfang an und
gleichzeitig als neues Gebot bezeichnet. Zudem spricht nur 1 Joh 2, 10 f explizit
56 Vgl. H. Windisch, JohBr, 143; C. H. Dodd, Jo- 8.5.1), 45 f; H. J. Klauck, 2.3 Joh (s. o. 8.2.1),
hannine Epistles, LXVIIIf; R. Schnackenburg, 21. 23; W. Vogler, JohBr, 6; M. Hengel, Die johan-
JohBr, 298; R. E. Brown, JohBr, 19; E. Ruckstuhl neische Frage (s. u. 8.5.1), 151.
– P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage (s. u.
500 Der erste Johannesbrief
vom Gebot der Bruderliebe. 2) Erscheint in 2 Joh 7 der Begriff antı´cristoß im Sin
gular, so in 1 Joh 2, 18 historisierend neben dem Singular der Plural antı´cristoi.
Die sprachliche EigenstÈndigkeit des 2. 3 Joh, ihre Form eines antiken Privat
briefes, die Absenderangabe o presbu´teroß und die sachlichen Unterschiede zum
1 Joh deuten auf verschiedene Verfasser des 2. 3 Joh und 1 Joh hin57.
Von großer Bedeutung fÜr das VerstÈndnis der joh. Schule ist die Frage, ob
das Johannesevangelium und der 1 Joh vom gleichen Verfasser stammen. Gegen
diese Annahme sprechen zunÈchst sprachliche GrÜnde, denn wichtige Begriffe
des Evangeliums fehlen im Brief (grafv´, dóxa, doxázein, zvteı˜n, krı´nein, ku´rioß,
nómoß, pe´mpein, proskuneı˜n, sw´zein, cáriß). Andererseits finden sich zentrale theo
logische Termini des Briefes nicht im Evangelium (antı´cristoß, elpı´ß, ılasmóß,
koinwnı´a, spe´rma [Xeou˜ ], crı˜sma). Auch in Konstruktion und Stil lÈßt der Brief
seine sprachliche EigenstÈndigkeit erkennen58, so daß der Schluß erlaubt ist:
„Die Sprache des Briefes lÈßt trotz der vielen AnklÈnge an das Evangelium einen
anderen Verfasser vermuten.“59 Zudem sind spezifische theologische Vorstellun
gen ausschließlich im Brief belegt. Nur in 1 Joh 2, 1 wird Jesus Christus mit dem
Parakleten identifiziert. Obgleich im Evangelium die futurische Eschatologie
nicht zu eliminieren ist, herrschen eindeutig prÈsentisch eschatologische Aussa
gen vor. DemgegenÜber dominiert im 1 Joh die futurische Eschatologie (vgl. nur
1 Joh 2, 28; 3, 3). Als ılasmóß wird Jesus nur in 1 Joh 2, 2; 4, 10 bezeichnet (vgl.
ferner die SÜhntodaussagen in 1 Joh 1, 7. 9; 3, 5), und vom crı˜sma ist im gesam
ten Neuen Testament ausschließlich in 1 Joh 2, 20. 27 die Rede. Im Gegensatz
zum Johannesevangelium (19 AT Zitate) findet sich im 1 Joh kein atl. Zitat, und
nur in 1 Joh 3, 12 (Kain) wird auf das Alte Testament Bezug genommen. Auch
das zentrale ethische Problem der SÜndlosigkeit des Christen (vgl. 1 Joh 1,8 10;
3, 4 10; 5, 16 18) begegnet im Evangelium nicht. Schließlich setzt der 1 Joh eine
andere Situation als das Evangelium voraus. Er bekÈmpft vehement eine in der
eigenen Gemeinde (vgl. 1 Joh 2, 19) entstandene christologische Irrlehre, wÈh
rend das Evangelium keinen akuten Konflikt erkennen lÈßt.
Sprache, theologische Vorstellungswelt und die unterschiedliche Situation las
sen vermuten, daß der 1 Joh und das Evangelium verschiedene Verfasser haben60.
57 FÜr unterschiedliche Verfasser des 1 Joh und tet E. Haenchen, Neuere Literatur zu den Johan-
2. 3 Joh plÈdieren u. a. R. Bultmann, JohBr, 10; nesbriefen (s. o. 8.2), 238–242.
H. Balz, JohBr, 159; K. Wengst, JohBr, 230 f; 59 E. Haenchen, a. a. O., 242.
G. Strecker, JohBr, 49 ff. 60 FÜr verschiedene Autoren plÈdieren u. a.
58 Vgl. dazu die ausfÜhrlichen Nachweise bei H. J. Holtzmann, Das Problem des ersten johan-
H. J. Holtzmann, Das Problem des ersten johan- neischen Briefes II, 136 ff; R. Bultmann, JohBr, 9;
neischen Briefes in seinem VerhÈltnis zum Evan- R. Schnackenburg, JohBr, 335; E. Haenchen, Neu-
gelium II, JPTh 8 (1882), (128–143) 135 ff; ere Literatur zu den Johannesbriefen (s. o. 8.2),
C. H. Dodd, Johannine Epistles, XLVIIff. Einen kri- 282; H. Conzelmann, „Was von Anfang war“,
tischen forschungsgeschichtlichen Àberblick bie- 211; G. Klein, ‚Das wahre Licht scheint schon‘,
Ort und Zeit der Abfassung 501
In der Regel wird der 1 Joh vom Evangelium her gelesen. Der 1 Joh gilt dann als
ein ‚joh. Pastoralbrief ‘, der die Theologie des Evangeliums voraussetzt und in ei
ner verÈnderten historischen Situation interpretiert und anwendet61. Gerade die
Verschiebungen vom Evangelium zum Brief gelten als Beleg, daß der Brief nur
in Kenntnis des Evangeliums zu verstehen sei. Dieses Modell vermag allerdings
nicht zu erklÈren, warum sich im Brief kein einziges Zitat aus dem Evangelium
findet. Die vorhandenen Àbereinstimmungen zwischen dem Brief und dem
Evangelium kÚnnen der Reflex einer literarischen Kenntnis des Evangeliums
durch den Briefautor sein, sie kÚnnen aber ebenso auf gemeinsame Traditionen
der joh. Schule zurÜckgehen. FÜr diese zweite MÚglichkeit spricht, daß weder
eine literarische Benutzung noch eine Kenntnis des Evangeliums durch den
Briefautor wirklich nachzuweisen sind. Vielfach wird im Briefprolog 1 Joh 1, 1 4
ein deutlicher RÜckgriff auf den Prolog des Evangeliums gesehen. Der Gebrauch
von arcv´ im Prolog des Briefes und des Evangeliums unterscheidet sich jedoch
charakteristisch. Im gesamten joh. Schrifttum erscheint en arcU˜ nur in Joh
1, 1. 2, wo es das Sein des prÈexistenten Logos bei Gott im absoluten Anfang vor
der WeltschÚpfung benennt. DemgegenÜber bezeichnet apL arcv˜ß in 1 Joh 1, 1
das gesamte Heilsgeschehen in seiner Bedeutung fÜr die Gemeinde, wobei in
keiner Weise auf die SchÚpfung rekurriert wird. Hier zielt die auffÈllige Beto
nung der Anschaulichkeit und RealitÈt des Heilsgeschehens bereits auf die in
1 Joh 2, 22 f; 4, 1 3 bekÈmpften Gegner. Wie in 1 Joh 2, 24 bezieht sich apL arcv˜ß
auch am Anfang des Briefes auf die joh. Tradition als der kritischen Instanz ge
gen die Irrlehrer. Der Prolog des Briefes und des Evangeliums gehen auf gemein
same traditionsgeschichtliche Wurzeln in der joh. Schule zurÜck, aber Joh 1, 1
18 bildete nicht die literarische Vorlage fÜr 1 Joh 1, 1 462.
Auch die Parakletvorstellung vermag die Annahme einer zeitlichen PrioritÈt
des Evangeliums nicht zu begrÜnden. Sie spricht vielmehr fÜr eine frÜhere Ab
fassung des Briefes. Wird in 1 Joh 2, 1 ausschließlich Jesus Christus mit dem Pa
passim; K. Wengst, JohBr, 24 f; C. H. Dodd, JohBr, H. Conzelmann, „Was von Anfang war“, passim;
VI; H. Balz, JohBr, 160; R. E. Brown, JohBr, 30; F. Vouga, JohBr, 11 ff; H. J. Klauck, Johannesbrie-
G. Strecker, JohBr, 53; H. J. Klauck, 1 Joh, 45; fe (s. o. 8.2.1), 46 f.
W. Vogler, JohBr, 6–10. Die gleiche Verfasser- 62 Vgl. U. Schnelle, Antidoketische Christologie
schaft vertreten hingegen u. a. W. G. KÜmmel, (s. u. 8.5.1), 65 f; G. Strecker, JohBr, 56 ff; M. Hen-
Einleitung, 392; A. Wikenhauser – J. Schmid, Ein- gel, Die johanneische Frage (s. u. 8.5.1), 157. FÜr
leitung, 623; G. Schunack, JohBr, 108; M. Hengel, eine AbhÈngigkeit des Briefprologs von Joh 1, 1–
Die johanneische Frage (s. u. 8.5.1), 204; E. Ruck- 18 plÈdieren u. a. R. Bultmann, JohBr, 13;
stuhl – P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage R. Schnackenburg, JohBr, 51; H. Balz, JohBr, 167;
(s. u. 8.5.1), 46–54. R. E. Brown, JohBr, 176 ff; M. Theobald, Die
61 Vgl. in diesem Sinn aus der neueren Literatur Fleischwerdung des Logos (s. u. 8.5.1), 400–437.
502 Der erste Johannesbrief
63 Exemplarisch sei verwiesen auf G. Klein, ‚Das sten Johannesbriefes auf den zweiten, ZNW 21
wahre Licht scheint schon‘, 287 u. Ú. (1922), 140–146.
64 Vgl. H. H. Wendt, Die Beziehung unseres er-
Empfänger 503
gisch65. So bezieht sich Joh 6, 60 71 offensichtlich auf das Schisma in 1 Joh 2, 19,
in beiden Texten ist die soteriologische Bedeutsamkeit der Inkarnation Jesu An
laß zu der Spaltung unter den JÜngern66. In der breit angelegten und grundsÈtz
lichen Argumentation des Evangelisten gegen eine doketische Christologie zeigt
sich ein zeitlicher und sachlicher Abstand zum in der akuten Kontroverse ver
harrenden Johannesbrief. Der Brief benennt das Problem, eine theologische
Antwort findet sich aber erst im Evangelium.
Der 1 Joh dÜrfte deshalb vor dem Johannesevangelium67, aber nach dem
2. 3 Joh verfaßt sein. Als Abfassungszeit ergibt sich 95 n. Chr. 68, Abfassungsort
war wahrscheinlich wiederum Ephesus 69 als Sitz der joh. Schule. Papias kannte
den 1 Joh (vgl. Euseb, HE III 39, 17), erstmals bezeugt ihn Polykarp (vgl. 1 Joh
4, 2 mit Polyk, Phil 7, 2).
8.4.4 Empfänger
Richtet sich der 2 Joh an eine Einzelgemeinde und der 3 Joh an eine Einzelper
son, so fehlen dem 1 Joh hingegen die wesentlichen Èußeren Kennzeichen eines
wirklichen Briefes. Andererseits werden die Leser vom Verfasser mit teknı´a (vgl.
1 Joh 2, 1. 12. 28; 3, 7. 18; 4, 4; 5, 21) oder mit agapvtoı´ (vgl. 1 Joh 2, 7; 3, 2. 21;
4, 1. 7. 11) angeredet. Auch das hÈufige gráfein scheint auf eine Briefsituation
hinzuweisen (vgl. 1 Joh 1, 4; 2, 1. 7 f.12 14. 21. 26; 5, 13). Nach 1 Joh 5, 13 sind
diejenigen Leser des Schreibens, die ‚an den Namen des Sohnes Gottes glauben‘.
Somit richtet sich der 1 Joh nicht an eine bestimmte Ortsgemeinde der joh.
65 Insofern kann von einer Rezeptionsgeschichte lium „ist schon geraume Zeit im Werden, ja es
des 1 Joh im Evangelium gesprochen werden; ge- mag schon zu einem guten Teil fixiert gewesen
gen F. Vouga, JohBr, 11–13, der von einer Rezep- sein, als die Briefe geschrieben wurden, es wurde
tionsgeschichte des Evangeliums im 1 Joh ausgeht aber erst eine gewisse Zeit nach denselben – bald
und das Problem des fehlenden expliziten Bezu- nach dem Tod des Autors – von den SchÜlern
ges so lÚst: „Vorausgesetzt wird beim Adressaten herausgegeben und verarbeit, m. E. zusammen
des 1 Joh lediglich, daß er mit dem JohEv vertraut mit den Briefen.“
ist, nicht aber, daß er es als formale AutoritÈt an- 67 Vgl. K. Berger, Theologiegeschichte des Ur-
erkennt“(a. a. O., 12). christentums (s. o. 2), 270–275.
66 Vgl. L. Schenke, Das johanneische Schisma 68 Bei der Ansetzung des 1 Joh nach dem Evan-
und die ‚ZwÚlf‘ (Johannes 6, 60–71), NTS 38 gelium wird der Brief zumeist um 100/110 n. Chr.
(1992), 105–121, der allerdings in den Schismati- datiert, vgl. z. B. K. Wengst, JohBr, 30; H. J. Klauck,
kern keine Doketen sieht. Eine Variante der von 1 Joh, 49.
G. Strecker u. U. Schnelle in die neuere Diskussi- 69 Vgl. z. B. K. Wengst, JohBr, 30 (westliches
on wieder eingefÜhrten Datierung der Briefe vor Kleinasien); R. E. Brown, JohBr, 102 f; S. S. Smal-
dem Evangelium vertritt M. Hengel, Die johan- ley, JohBr, XXXII; H. J. Klauck, 1 Joh, 49.
neische Frage (s. u. 8.5.1), 156 A 18. Das Evange-
504 Der erste Johannesbrief
Die gleichfÚrmige Denk und Schreibweise des Autors erschwert eine Gliederung
des 1 Joh71. Àberzeugende Gliederungsmerkmale auf der Makroebene lassen
sich nur schwer ausmachen, kennzeichnend fÜr den Aufbau des 1 Joh ist der
Wechsel von dogmatischen und parÈnetischen Abschnitten. Glaubensinhalt und
Glaubensvollzug gehÚren fÜr den Verfasser untrennbar zusammen, sie bedingen
einander. Grundlegende Bedeutung kommt dem Prolog in 1 Joh 1, 1 4 zu, der
den Anspruch des Schreibens formuliert und bereits im Hinblick auf die Ausein
andersetzung mit den Irrlehrern konzipiert ist.
Im Unterschied zu 2. 3 Joh fehlen im 1 Joh wesentliche Èußere Merkmale ei
nes Briefes (BriefprÈskript und SchlußgrÜße). Andererseits lassen sich briefliche
Merkmale nachweisen, so das Auseinandertreten von Schreiber und Adressaten,
die bereits erwÈhnte wiederholte Anrede der Leser und das Eingehen auf Ge
meindeprobleme, das formelhafte ‚dies schreibe ich euch‘ und der Verweis auf
die Freude in 1 Joh 1, 4, die den Üblichen Segenswunsch abgelÚst haben kÚnnte.
Dieser spannungsreiche Befund fÜhrte in der Forschung zu sehr unterschiedli
chen Formbestimmungen. So wird der 1 Joh als ‚amtliches Sendschreiben‘72, als
‚autoritatives Mahnschreiben‘73, als ‚religiÚser Traktat‘74, als ‚briefartige Homi
lie‘75, als ‚Handreichung‘76 und als ‚parÈnetischer oder symbuleutischer Brief‘77
bezeichnet.
Das Fehlen wichtiger brieflicher Merkmale und die dogmatisch parÈnetische
Gesamtausrichtung des Schreibens lassen es sinnvoll erscheinen, den 1 Joh als
‚briefartige Homilie ‘ zu bezeichnen.
In der neueren Exegese konzentriert sich die Frage nach der literarischen Ein
heitlichkeit des 1 Joh auf den Briefschluß 1 Joh 5, 14 2178. Als Argumente fÜr
den sekundÈren Charakter von 1 Joh 5, 14 21 gelten: 1) In 1 Joh 5, 13 liegt ein
Briefschluß vor. 2) Die Unterscheidung zwischen einer ‚SÜnde zum Tode‘ und
einer ‚SÜnde nicht zum Tode‘ widerspricht den vorherigen Briefaussagen. 3) In
79 Vgl. G. Strecker, JohBr, 291 ff. Zwischen Joh 82 Vgl. R. Bultmann, Analyse des ersten Johan-
20, 31 und 1 Joh 5, 13 bestehen Àbereinstimmun- nesbriefes, in: ders., Exegetica, TÜbingen 1967 (=
gen in Vokabular und Aufbau, zugleich weisen 1927), 105–123; vgl. zuvor E. v. DobschÜtz, Jo-
aber die Unterschiede darauf hin, daß keine lite- hanneische Studien, ZNW 8 (1907), 1–8.
rarische AbhÈngigkeit vorliegt.
80 Vgl. G. Strecker, JohBr, 293 A 6.
81 Zur Forschungsgeschichte vgl. W. Vogler,
JohBr, 33–38.
Religionsgeschichtliche Stellung 507
aus seinem Nachlaß von seinen SchÜlern“83. Auf der Basis dieser Erweiterung
durch authentisches Material schloß sich dann noch eine Àberarbeitung der
‚Kirchlichen Redaktion‘ an. Durchsetzen konnten sich diese Thesen zur Entste
hungsgeschichte des 1 Joh nicht, denn es ist nicht mÚglich, im 1 Joh eine durch
gÈngige Quellenschrift zu eruieren, die jeweils aus gleichstrukturierten Paralle
lismen bestanden haben soll. Zudem erscheint das bei Bultmanns Rekonstrukti
on leitende methodische Prinzip der UrsprÜnglichkeit der reinen Form aus heu
tiger Sicht sehr zweifelhaft84. Auch der Abschluß eines ursprÜnglichen Schrei
bens in 1 Joh 2, 27 lÈßt sich nicht nachweisen, denn in dem mit Kap 2, 28 einset
zenden Abschnitt werden vom Verfasser neue Themen aufgegriffen (z. B. die fu
turische Eschatologie, die Sakramente und die SÜnde zum Tode). Mit der Zu
rÜckweisung von Quellentheorien ist aber nicht die MÚglichkeit ausgeschlossen,
daß der Verfasser des 1 Joh auf mÜndliche Traditionen und Texte zurÜckgriff, die
in der joh. Schule entstanden. So kÚnnte der Briefprolog (1 Joh 1, 1 4) ebenso
aus der geprÈgten Tradition der joh. Schule stammen wie die ethisch katecheti
schen Weisungen in 1 Joh 2, 12 14. Die differierenden Aussagen Über das Ver
hÈltnis des Christen zur SÜnde in 1 Joh 1,8 ff; 3, 4 ff; 5, 16 ff dÜrften auf Diskussio
nen innerhalb der joh. Schule Über dieses zentrale Problem zurÜckgehen.
stus heilsrelevant, nicht jedoch das Leben und Sterben des geschichtlichen Jesus
von Nazareth. FÜr den Verfasser des 1 Joh hat hingegen der den Vater nicht, der
das Wirken des Sohnes falsch lehrt.
Die Inkarnationsaussage in 1 Joh 4, 2 (vgl. 1 Joh 1, 2; 3,8 b) lÈßt zudem auf die Be
streitung der Fleischwerdung des prÈexistenten Christus durch die Gegner schlie
ßen86. Die Passion des geschichtlichen Jesus von Nazareth (vgl. 1 Joh 5, 6 b) hatte
ebenso wie sein SÜhnetod (vgl. 1 Joh 1,9; 2, 2; 3, 16; 4, 10) fÜr sie keine Heilsbe
deutung. Sie unterschieden strikt zwischen dem allein heilsrelevanten himmli
schen Christus und dem irdischen Jesus, wobei der himmlische Christus seiner ir
dischen Erscheinung nach nur einen Scheinleib hatte. FÜr diese Interpretation
spricht auch 1 Joh 4, 3, wo zu lesen ist kai` pãn pneu˜ma, o¾ lu´ei to`n LIvsou˜n ek tou˜
Xeou˜ ouk eµstin 87. Die Gegner „eliminierten Jesus aus ihrer Lehre, leugneten die
menschliche Seite des ErlÚsers“88.
Ignatius wendet sich in seinen Briefen ebenfalls gegen eine doketische Christo
logie89. Er wirft seinen Gegnern vor, die Leiblichkeit Jesu Christi zu bestreiten. Sie
bekennen nicht, daß der Herr einen Leib trÈgt (Sm 5, 2). DemgegenÜber betont Ig
natius, daß Jesus Christus von der Jungfrau Maria wirklich geboren, von Johan
nes getauft und unter Pontius Pilatus wirklich fÜr uns im Fleisch angenagelt wur
de (Sm 1, 1; vgl. Trall 9, 1). FÜr die Gegner hat Jesus Christus nur zum Schein ge
litten (vgl. Trall 10; vgl. Sm 2; Sm 4, 2). NachdrÜcklich verweist hingegen Ignatius
auf das Leiden und Sterben Christi (vgl. Eph 7, 2; 20, 1; Trall 9, 1; 11, 2; RÚm 6, 1;
Sm 1, 2; 6, 2). Ist Jesus Christus auf Erden nur ‚tò dokeı˜n ‘ erschienen, litt er nicht
wirklich, so mÜssen die Gegner auch seine Auferstehung leugnen. Nur so erklÈrt
sich die Vehemenz, mit der Ignatius im Blick auf die Gegner die Auferstehung Je
su Christi im Fleisch betont (vgl. Sm 1, 2; 3, 1; 7, 1; Trall 9, 2; Eph 20, 1; Magn 11).
Leugnen die Gegner die Auferstehung, dann ist auch die Eucharistie entleert und
die Gnade Christi geschmÈlert (Sm 6, 2), so daß es nur folgerichtig ist, wenn die
Gegner der Eucharistiefeier fernbleiben (vgl. Sm 7, 1, ferner Sm 6, 2). Da die Geg
ner die wahrhaftige sarkische Existenz Jesu Christi, sein Leiden und die Auferste
hung des Gekreuzigten bestreiten, daraus Konsequenzen fÜr die Eucharistie zie
hen und das Stichwort ‚to` dokeı˜n ‘ fÈllt, kann diese Lehre als Doketismus bezeich
86 Vgl. R. Bultmann, JohBr, 50 ff; G. Strecker, tum und in der theologischen Entwicklung des
JohBr, 211 f; C. H. Dodd, JohBr, XIX. Nach zweiten Jahrhunderts, Diss. theol., Heidelberg
R. Schnackenburg, JohBr, 221; P. S. Minear, The 1961, 104; K. Wengst, HÈresie und Orthodoxie,
Idea of Incarnation in First John, Interp 24 17 A 14; M. Hengel, Die johanneische Frage (s. u.
(1970), (291–302) 300 f; F. Vouga, JohBr, 47, liegt 8.5.1), 171 ff; anders z. B. H. J. Klauck, 1 Joh, 234–
in 1 Joh 4, 2 keine Inkarnationsaussage vor. 237.
87 FÜr die LA lu´ei plÈdieren u. a. R. Schnacken- 88 P. Weigandt, Doketismus, 105.
burg, JohBr, 222 (ausfÜhrliche BegrÜndung); 89 Zur ausfÜhrlichen Analyse der Ignatius-Texte
R. Bultmann, JohBr, 67; R. E. Brown, JohBr, 494– vgl. W. Uebele, „Viele VerfÜhrer sind in die Welt
96; P. Weigandt, Der Doketismus im Urchristen- ausgegangen“, 37–92.
Religionsgeschichtliche Stellung 509
net werden90. Offensichtlich wird die gesamte irdische Existenz Jesu Christi als
dókvsiß aufgefaßt91, Jesus Christus ist nur zum Schein erschienen, ungeboren.
Allein diese Form einer monophysitischen Christologie, in welcher der ErlÚser
selbst ausschließlich gÚttlicher Natur ist und somit nicht er selbst, sondern seine
dókvsiß auf Erden erscheint, kann Doketismus genannt werden92. Ein in dieser
Weise definierter Doketismus, dessen Konsequenz eine vÚllige Entleerung des ir
dischen Seins Jesu Christi ist, findet sich außer in den Ignatiusbriefen bei Satornil,
Kerdon, Markion und in den Johannesakten93.
Insbesondere die ParallelitÈt zu den bei Ignatius und Polykarp (vgl. Polyk, Phil
7, 1) bekÈmpften Gegnern bestÈtigt, daß auch die Widersacher des 1 Joh eine do
ketische Christologie lehrten94. Hier wie dort wird die Leiblichkeit des Gottessoh
90 Vgl. nur W. Bauer, Die Briefe des Ignatius von Theologie Kerinths verbunden oder identifiziert
Antiochien und der Polykarpbrief, HNT.EB II, TÜ- (vgl. bes. K. Wengst, Orthodoxie und HÈresie,
bingen 1920, 239 f; P. Weigandt, Doketismus, 57 f; 24 ff; R. E. Brown, JohBr, 65 ff). Àbereinstimmun-
W. Bauer – H. Paulsen, IgnTrall (s. o. 2.9.6), 64 f; gen zwischen der Lehre Kerinths (vgl. Iren, Haer I
W. R. Schoedel, Die Briefe des Ignatius von Antio- 26, 1) und der vermuteten Christologie der Geg-
chien, MÜnchen 1990, 250 ff; W. Uebele, „Viele ner im 1 Joh lassen sich nicht leugnen (Trennung
VerfÜhrer sind in die Welt ausgegangen“, 91 f. himmlischer Christus – irdischer Jesus, Hoch-
91 Vgl. W. Bauer, IgnTrall, 239. schÈtzung der Taufe Jesu). Ihnen stehen aller-
92 Vgl. P. Weigandt, Doketismus, 16. 18. Speziell dings erhebliche Differenzen gegenÜber: Konsti-
die platonische Wirklichkeitsauffassung mit ih- tutiv fÜr das System Kerinths war offenbar die
rem Gegensatz von dokeı˜n – eıÓnai (vgl. Pol 2 Kosmogonie, die fÜr die Gegner im 1 Joh nicht
361 b.362 a u. Ú.) dÜrfte den Doketismus beein- nachzuweisen ist. Auch die Unterscheidung zwi-
flußt haben. Das eigentliche Sein ist das geistig- schen einem pneumatischen, leidensunfÈhigen
ideelle Sein (ousı´a, oµntwß oµn, o¾ eµstin oµn), wÈhrend Christus und dem Menschen Jesus, der dem
die Welt der Wahrnehmungen (aus der Sicht der himmlischen Christus als zeitweiliges GefÈß diente,
Doketen das leibliche Sein Jesu) dem Schein (do- ist 1 Joh 2, 22; 5, 6 nicht zu entnehmen.
keı˜n, dókvsiß) unterworfen ist. Es gilt: „Wie das 94 Vgl. H. J. Holtzmann, Johanneische Briefe, HC
Sein zum Werden, so verhÈlt sich die Wahrheit IV, Freiburg 21893, 236 f; H. Windisch, JohBr, 127
zum Glauben“ (Platon, Tim 29 c). Wie ein von (Kerinth), R. Bultmann, JohBr, 67; H. Balz,
Platon beeinflußter hellenistischer Jude Gottes JohBr, 157 (verwandt mit Doketen); C. H. Dodd,
Sein dachte, zeigt sehr schÚn Philo, Sacr 101: „So JohBr, XIX; P. Weigandt, Doketismus, 193 ff;
entferne Seele alles Irdische, Sterbliche, VerÈn- R. E. Brown, JohBr, 65 ff (Kerinth); J. Bogart, Or-
derliche und Unheilige aus der Vorstellung von thodox and Heretical Perfectionism, 128 f;
Gott, dem Unirdischen, Unsterblichen, UnverÈn- U. B. MÜller, Die Geschichte der Christologie in
derlichen, Heiligen und nur GlÜcklichen.“ Doke- der johanneischen Gemeinde, SBS 77, Stuttgart
tismus und Gnosis sind keineswegs identisch: 1975, 59–63; C. Colpe, Art. Gnosis II, RAC 11
„Sondern der Doketismus ist eine der Vorausset- (1981), 611; G. Schunack, JohBr, 75 (Vorstufe
zungen gnostischer ErlÚserlehre, . . .“ (C. Colpe, ausgeprÈgter doketischer Vorstellungen);
Art. Gnosis II, RAC 11 [1981], 611); vgl. auch die G. Strecker, JohBr, 131–139; M. Hengel, Die jo-
Differenzierungen bei P. Weigandt, Doketismus, hanneische Frage (s. u. 8.5.1), 185. 192 u. Ú.;
4–19; ferner W. R. Schoedel, Briefe des Ignatius, W. Uebele, „Viele VerfÜhrer sind in die Welt aus-
255; N. Brox, „Doketismus“ – eine Problemanzei- gegangen“, 93–147. Einen ForschungsÜberblick
ge, ZKG 95 (1984), (301–314) 312 ff. bietet H. J. Klauck, 1 Joh, 34–42, der auf eine kon-
93 Vgl. P. Weigandt, Doketismus, 28. 82–86. Viel- krete historische Verortung der Gegner verzich-
fach wird die Christologie der Gegner mit der tet.
510 Der erste Johannesbrief
nes bestritten. Heilsrelevant ist allein der himmlische Christus, der Existenz des
irdischen Jesus kommt hingegen keine soteriologische Funktion zu. Der Verfas
ser des 1 Joh setzt den Gegnern die in seinen Augen legitime Lehrtradition der
joh. Schule (vgl. apL arcv˜ß in 1 Joh 1, 1 4; 2, 7 f; 3, 11), nicht aber das Johannes
evangelium entgegen! Lassen die Gegner faktisch die ErlÚsergestalt auseinander
treten, so betont der Briefschreiber die soteriologische Einheit des irdischen Je
sus mit dem himmlischen Christus (vgl. 1 Joh 2, 22; 4, 2. 9. 15; 5, 1. 5). Der Irrleh
re wird das Bekenntnis entgegengesetzt. Ist die leibliche Erscheinung des ErlÚ
sers fÜr die Gegner letztlich irrelevant, so hat sie fÜr den Autor des 1 Joh indikati
vische Bedeutung (vgl. 1 Joh 2, 6; 3, 3 f; 4, 17). Gegen das pneumatische Selbstbe
wußtsein der Dissidenten stellt der 1 Joh die Salbung der Gemeinde (vgl. 1 Joh
2, 20. 27), die ihre EmpfÈnger Über Wahres und Falsches belehrt.
Wie der Prolog des Evangeliums hat auch der Briefprolog 1 Joh 1, 1 4 die Funkti
on einer LektÜreanweisung. Durch den Gebrauch des bekennenden und bezeu
genden ‚wir‘ und der Vergangenheitsformen akvkóamen, ewra´kamen, eXeasámeXa
betont der Verfasser gleich zu Beginn seines Schreibens die reale Menschwer
dung Jesu Christi und damit die RealitÈt und HistorizitÈt des Heilsgeschehens.
Diese Inkarnations Christologie bestimmt den gesamten 1 Joh. Sie prÈgt die Aus
einandersetzung mit den Doketen in 1 Joh 2, 22 f; 4, 2 f; 5, 6 8; der Antichrist und
VerfÜhrer offenbart sich in der Leugnung der wirklichen Menschwerdung des
Gottessohnes Jesus Christus. Die Gemeinde leitet aus dem Auftreten der Anti
christen den Anbruch der Endzeit ab, es ist letzte Stunde (1 Joh 2, 18), die Paru
sie Jesu steht unmittelbar bevor (1 Joh 2, 28). In gespannter Endzeiterwartung
hofft die Gemeinde auf das Offenbarwerden Jesu Christi, denn dann wird der
eschatologische Vorbehalt aufgehoben. Die Glaubenden werden Jesus gleichge
staltet und werden ihn sehen, wie er ist (1 Joh 3, 1 3). Diese Dominanz futu
risch eschatologischer Aussagen zÈhlt zu den Besonderheiten des 1 Joh.
Der 1 Joh bezeugt ebenso wie das MatthÈusevangelium und der HebrÈerbrief
eine heftige Auseinandersetzung innerhalb des Urchristentums Über die Frage,
ob ein getaufter Christ weiterhin sÜndigen kann und wie sich die Gemeinde ge
genÜber SÜndern in ihrer Mitte verhalten soll95. In 1 Joh 1,8 10 konstatiert der
Verfasser des 1 Joh das Faktum der SÜnde in seiner Gemeinde, er polemisiert ge
gen Gemeindeglieder, die offenbar die Wirklichkeit der SÜnde leugnen. Sie ma
chen Jesus zum LÜgner, denn in ihm hat die Gemeinde einen FÜrsprecher bei
Gott, er ist als SÜhnopfer fÜr unsere SÜnden gestorben (1 Joh 2, 1 f). Eine vÚllig
andere Aussage findet sich in 1 Joh 3,9, nun wird die UnmÚglichkeit des SÜndi
gens fÜr den Christen behauptet. Weil Gott Ursprung und Grund christlicher
Existenz ist, erscheint die SÜnde als unmÚgliche MÚglichkeit. Auf eine LÚsung
dieses vermeintlichen Widerspruchs weist 1 Joh 5, 16 f hin, wo der Verfasser zwi
schen einer SÜnde ‚zum Tode‘ und einer SÜnde ‚nicht zum Tode‘ unterscheidet.
Mit der SÜnde zum Tode hÈlt der 1 Joh an der Unvereinbarkeit von Christsein
und SÜndigen fest. Wer sÜndigt, ist nicht im Bereich des Geistes und des Lebens,
er gehÚrt in den Bereich des Todes. Andererseits trÈgt der Verfasser des 1 Joh der
GemeinderealitÈt Rechnung, wenn er von SÜnden spricht, die nicht zum Tode
fÜhren. FÜr diese SÜnden darf der Mitbruder Gott um Vergebung bitten.
Die Ethik des 1 Joh ist durchgÈngig vom Gebot der Bruderliebe bestimmt. Je
sus Christus erscheint zugleich als Urbild und Vorbild, so wie er lebte, sollen
auch die Christen leben (vgl. 1 Joh 2, 6 b). In einer mit Paulus vergleichbaren re
flektierten Form werden Indikativ und Imperativ zugeordnet (vgl. 1 Joh 4, 19:
vmeı˜ß agapw̃men, oºti auto`ß prw̃toß vgápvsen vmãß; ferner 1 Joh 2, 7 11; 4, 10). Der
Liebesgedanke umfaßt im 1 Joh zuerst die Bruderliebe, schließt aber die NÈch
stenliebe nicht aus96. Dies belegen 1 Joh 2, 6; 3, 3. 7. 16, wo explizit aus dem vor
bildhaften Tun Jesu ein entsprechendes Verhalten der JÜnger gefordert wird.
Schließlich sperrt sich die Aufforderung zu einem konkreten Sozialverhalten ge
genÜber dem Bruder in 1 Joh 3, 17. 18 gegen eine Interpretation der joh. Ethik
im Sinn einer Konventikel oder Gesinnungsethik.
Zeigt bereits die Ethik, daß von einer Weltfeindlichkeit im 1 Joh nicht gespro
chen werden kann, so bestÈtigen dies die Aussagen Über den Kosmos. Der Welt
kommt im 1 Joh keine wesensmÈßige InferioritÈt zu, sondern allein der Glaube
entscheidet darÜber, ob ein Mensch zum Bereich des Kosmos oder zum Bereich
Gottes gehÚrt. Gott sandte seinen Sohn aus Liebe in die Welt (vgl. 1 Joh 4,9. 14),
Jesus ist der swtv`r tou˜ kósmou (vgl. 1 Joh 2, 2; 4, 14). Der Kosmos wird erst dort
zu einem widergÚttlichen Bereich, wo der Unglaube das Sein und das Handeln
eines Menschen bestimmt. Nicht Weltdistanz, sondern innerweltliche Àberwin
dung des Kosmos als Ort des Unglaubens fordert der Verfasser des 1 Joh (vgl.
1 Joh 5, 4 f).
97 H. Conzelmann, „Was von Anfang war“, 213. 99 Vgl. E. KÈsemann, Jesu letzter Wille (s. u.
98 Vgl. auch G. Strecker, Chiliasmus und Doke- 8.5.1), 118–152.
tismus in der Johanneischen Schule, KuD 38
(1992), 30–46.
Das Johannesevangelium 513
8.5.1 Literatur
Kommentare
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Johannes, 1990. HNT 6: W. Bauer, 31933. HThK IV.1 4: R. Schnackenburg, 61986.
5
1990. 51986. 21990. ThHK 4: U. Schnelle, 32004. ThKNT 4, 1 2: K. Wengst, 2000. 2001.
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Glaubende und die feindliche Welt, WMANT 37, Neukirchen 1970. R. T. Fortna, The Gos
100 Vgl. W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, 102 Vgl. G. Strecker, JohBr, 224–230.
GNT 4, GÚttingen 21989, 301–324. 103 So z. B. W. Rebell, Gemeinde als Gegenwelt
101 Vgl. W. Marxsen, „Christliche“ und christliche (s. u. 8.5.1), 112–123.
Ethik des Neuen Testaments, GÜtersloh 1989, 104 S. Schulz, Neutestamentliche Ethik (s. o.
263, der meint, es sei festzustellen, „daß die Bru- 2.4.9), 525.
derliebe der johanneischen Schule mit einer Lieb-
losigkeit erkauft wird, die innerhalb der neutesta-
mentlichen Schriften beispiellos ist.“
514 Das Johannesevangelium
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Verfasser 515
logie und Kirche im Spiegel von Joh 21 und der LieblingsjÜngertexte des Evangeliums, in:
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nerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, ZÜrich 1999 (wichtige Aufsatz
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Forschungsberichte/Bibliographien
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252. 289 330; ThR 42 (1977), 211 270; ThR 43 (1978), 328 359; ThR 44 (1979), 97 134.
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teratur zum Johannesevangelium, ThR 47 (1982), 279 301. 305 347; ThR 51 (1986), 1
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evangelium und Johannesbriefe, 1 214. K. Scholtissek, ThRv 97 (2001), 267 288.
8.5.2 Verfasser
In der Zeit um 180 n. Chr. Überliefert IrenÈus eine Tradition Über den Verfasser
des Johannesevangeliums, die zuvor in Kleinasien entstand105 und um 200
n. Chr. allgemeine Anerkennung genoß: „Danach gab Johannes, der JÜnger des
Herrn, der auch an seiner Brust gelegen hat, auch selbst das Evangelium heraus,
als er in Ephesus in Asien weilte“ (Iren, Haer III 1, 1 = Euseb, HE V 8, 4). An an
derer Stelle sagt IrenÈus Über das Alter des Johannes: „Und alle Presbyter, die in
Asien bei Johannes, dem JÜnger des Herrn, zusammengekommen waren, bezeu
gen, daß Johannes dies Überliefert hat. Denn er blieb bei ihnen bis in die Zeit
105 Zur Johannesrezeption im 2. Jh. vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums
W. v.Loewenich, Das Johannes-VerstÈndnis im im 2. Jahrhundert, 55 ff. Abgelehnt wurde das 4.
zweiten Jahrhundert, BZNW 13, Berlin 1932; Evangelium von den Alogern (Epiph, Haer 51).
516 Das Johannesevangelium
Trajans“ (Iren, Haer II 22, 5 = Euseb, HE III 23, 3)106. IrenÈus beruft sich fÜr seine
Tradition auf die Presbyter, die in Kleinasien mit dem HerrenjÜnger Johannes
zusammenkamen, vor allem aber auf Polykarp und Papias, die er fÜr SchÜler des
Johannes hÈlt107. Àber Papias sagt IrenÈus: „Dies bezeugt schriftlich Papias, ein
HÚrer des Johannes, ein Freund des Polykarp, ein Mann aus alter Zeit, in seinem
vierten Buch“ (Iren, Haer V 33, 4 = Euseb, HE III 39, 1). Papias als Èltester Zeuge
einer kleinasiatischen Johannestradition erwÈhnt wohl den Apostel Johannes
und einen Presbyter Johannes, weiß aber nichts davon, daß einer dieser beiden
das 4. Evangelium verfaßt hat (vgl. Euseb, HE III 39, 4). Er kann deshalb nicht
als ein ReprÈsentant der von IrenÈus Überlieferten Traditionen angesehen wer
den108. Àber Polykarp (gest. ca. 156 n. Chr.) berichtet IrenÈus: „Polykarp wurde
nicht nur von den Aposteln unterrichtet und verkehrte nicht nur mit vielen, die
noch den Herrn gesehen hatten, sondern wurde sogar von den Aposteln in Asien
als Bischof der Kirche in Smyrna aufgestellt. Wir selbst haben ihn in unserer er
sten Jugend gesehen. Er hatte nÈmlich ein sehr langes Leben und schied erst in
hohem Alter nach einem ruhmvollen, sehr glÈnzenden Martyrium aus dem Le
ben. . . . Es gibt Leute, die ihn erzÈhlen hÚrten, Johannes, der JÜnger des Herrn,
habe, als er in Ephesus ein Bad nehmen wollte, aber sah, daß Kerinth in demsel
ben war, die Badeanstalt, ohne sich gebadet zu haben, verlassen und ausgerufen:
‚Lasset uns fliehen! Denn es ist zu fÜrchten, daß die Badeanstalt einstÜrzt, da Ke
rinth, der Feind der Wahrheit, darin ist“ (Iren, Haer III 3, 4 = Euseb, HE IV 14, 3
4. 6). In seinem Brief an Florinus sagt IrenÈus Über seinen Kontakt mit Polykarp:
„Daher kann ich auch noch den Ort angeben, wo der selige Polykarp saß, wenn
er sprach, auch die PlÈtze, wo er aus und einging, auch seine Lebensweise, seine
kÚrperliche Gestalt, seine Reden vor dem Volke, seine ErzÈhlung Über den Ver
kehr mit Johannes und den anderen Personen, die den Herrn noch gesehen, sei
nen Bericht Über ihre Lehren, ferner das, was er von diesen Über den Herrn,
seine Wunder und seine Lehre gehÚrt hatte“ (Euseb, HE V 20, 6). Die von Ire
nÈus behauptete direkte Beziehung zu Johannes, vornehmlich Über Polykarp,
lÈßt sich an dem geringen von Polykarp Überlieferten Schrifttum nicht belegen.
Auffallend ist allerdings, daß Ignatius in seinem um 110 verfaßten Brief an die
Gemeinde in Ephesus einen Aufenthalt des Johannes in Ephesus nicht er
wÈhnt109. Somit lÈßt sich die Tradition, der Zebedaide Johannes, der Lieblings
106 Vgl. auch Iren, Haer III 3, 4 = Euseb, HE III nesevangelium und Johannesbriefe, 3–28;
23, 4: „Auch die von Paulus gegrÜndete Kirche in M. Hengel, Die johanneische Frage, 13–25.
Ephesus, in welcher Johannes bis zu den Zeiten 108 Ob Papias das 4. Evangelium kannte, muß of-
Trajans lebte, ist eine wahrheitsgemÈße Zeugin fenbleiben. Die spÈte armenische Papias-Àberlie-
der apostolischen Àberlieferung.“ ferung setzt dies voraus; vgl. F. Siegert, Unbeach-
107 Vgl. zur Interpretation dieser Texte auch tete Papiaszitate (s. o. 3.6.2), 607–609.
E. Haenchen, Joh, 2–22; W. Schmithals, Johan- 109 Vgl. C. K. Barrett, Joh, 117.
Verfasser 517
jÜnger, habe im hohen Alter z.Zt. Trajans (98 117 n. Chr.) in Ephesus das Johan
nesevangelium verÚffentlicht, vor IrenÈus nicht Überzeugend nachweisen. Ire
nÈus ist mit Sicherheit nicht der SchÚpfer dieser Tradition110, wohl aber ihr maß
geblicher Tradent. Die GlaubwÜrdigkeit dieser Tradition muß somit am inneren
Zeugnis des Johannesevangeliums ÜberprÜft werden.
LÈßt sich das 4. Evangelium als die Schrift eines Augenzeugen des Lebens Je
su verstehen? Die Darstellung des Lebens Jesu weicht erheblich vom synopti
schen Modell ab. Im Gegensatz zu den Synoptikern (vgl. Mk 11, 15 17par) steht
die Tempelreinigung (Joh 2, 14 22) am Anfang und nicht am Ende des Úffentli
chen Wirkens Jesu. Bei Johannes unternimmt Jesus mindestens drei Reisen
nach Jerusalem (Vgl. Joh 2, 13; 5, 1; 7, 10), was sich mit der markinischen Dar
stellung des einmaligen Zuges Jesu nach Jerusalem am Ende seiner Wirksamkeit
nicht vereinbaren lÈßt. Auch die VerkÜndigung Jesu im Johannesevangelium
spricht gegen die Annahme, ein Augenzeuge des Lebens Jesu habe das Evangeli
um verfaßt. Im Zentrum der VerkÜndigung Jesu steht nach den synoptischen
Evangelien das nahende und in der Person Jesu bereits gegenwÈrtige Reich Got
tes (vgl. z. B. Lk 11, 20; 17, 21). DemgegenÜber spielt das Reich Gottes in der Ver
kÜndigung Jesu nach der Darstellung des Johannes nur eine sehr untergeord
nete Rolle, die Wendung basileı´a tou˜ Xeou˜ erscheint nur in Joh 3, 3. 5. Im Johan
nesevangelium verkÜndigt Jesus sich selbst (vgl. z. B. die egẃ eimi Worte Joh
6, 35 a; 8, 12; 10, 7. 11; 11, 25; 14, 6; 15, 1), die joh. Offenbarungsreden haben bei
den Synoptikern keine wirkliche Parallele. Ebenso sind der joh. Dualismus und
die Gesandten Christologie ohne vergleichbare Entsprechungen in den synopti
schen Evangelien. Dominiert im Johannesevangelium die prÈsentische Eschato
logie (vgl. z. B. Joh 5, 25; 11, 25 f), so herrscht bei den Synoptikern die futurisch
eschatologische VerkÜndigung Jesu vor.
Die andere Art der Darstellung, die eigenstÈndige Theologie, die zahlreichen
SonderÜberlieferungen und die explizit an der nachÚsterlichen Perspektive
orientierte Denkwelt lassen darauf schließen, daß nicht ein Augenzeuge des Le
bens Jesu das 4. Evangelium verfaßte111. Es war ein Theologe der spÇteren Zeit , der
66
110 Wird P in die Mitte des 2. Jhs. datiert (so dessen geistiger Urheber. R. Schnackenburg, Joh
z. B. J. B. Bauer, Zur Datierung des Papyrus Bod- I, 86, unterscheidet zwischen dem Apostel Johan-
mer II [P 66], BZ 12 [1968], 121 f), dann belegt nes und dem Evangelisten, der „einerseits Tradent
zumindest die inscriptio die Zuweisung des Evan- der Àberlieferung und VerkÜndigung des Apostels
geliums zum (Apostel) Johannes. Johannes, andererseits doch auch selbst Theologe
111 FÜr die apostolische Verfasserschaft plÈdiert und VerkÜndiger fÜr die angesprochenen Leser“
innerhalb der neueren Kommentare bes. L. Mor- ist (Èhnlich R. E. Brown, Joh, XCVII–CII, zur spÈ-
ris, The Gospel according to John, NICNT, Grand teren Position Schnackenburgs vgl. H. Thyen, FB
Rapids 21995, 4–25. Vielfach gilt der Apostel (und [ThR 42], 239 ff). Nach C. K. Barrett, Joh, 148,
Zebedaide/LieblingsjÜnger) Johannes zwar nicht wanderte der Apostel Johannes aus PalÈstina aus
als Verfasser des 4. Evangeliums, wohl aber als und lebte in Ephesus, wo er SchÜler um sich sam-
518 Das Johannesevangelium
auf der Basis umfangreicher Traditionen das Leben Jesu in besonderer Weise be
dachte, interpretierte und darstellte112.
Die Bestimmung des Abfassungsortes hÈngt zumeist eng mit dem Gesamtver
stÈndnis des Johannesevangeliums zusammen. Wird das 4. Evangelium im Um
feld gnostischer StrÚmungen interpretiert, so gilt zumeist Syrien als Abfassungs
ort113. Als Sachargumente dienen BerÜhrungen mit der mandÈischen Literatur,
den Oden Salomos und die NÈhe zu den Briefen des Ignatius von Antiochien.
Auch die Auseinandersetzung mit dem Judentum und der TÈuferbewegung gilt
hÈufig als ein Indiz fÜr Syrien als Abfassungsort. Vielfach wird das Johannes
evangelium im palÈstinischen Raum angesiedelt, sei es in Transjordanien114 oder
in den sÜdlichen Teilen des KÚnigreiches von Agrippa II, speziell in den Land
schaften Gaulanitis und BatanÈa im nÚrdlichen Ostjordanland115. K. Wengst
melte. Einer dieser SchÜler, ‚ein kÜhner Denker‘, spricht E. Haenchen, Joh, 44 (1. Autor eines
gleichermaßen in Judentum und Hellenismus zu ‚Wunderevangeliums‘, 2. Der ‚Evangelist‘, 3. Ein
Haus, „brachte Joh 1–20 hervor“. M. Hengel, Die kirchlicher ‚ErgÈnzer‘). H. Thyen, Entwicklungen,
johanneische Frage, 306–325, sieht im bei Papias 267 u. Ú., sieht im Autor von Johannes 21 den ‚ei-
erwÈhnten Presbyter Johannes den Verfasser des gentlichen‘ Evangelisten.
Evangeliums und der drei Briefe. Das Evangelium 113 Vgl. z. B. W. Bauer, Joh, 244; R. Bultmann,
wurde nach dem Tod des aus der Jerusalemer Art. Johannesevangelium, RGG3 III (1959), 849
Oberschicht stammenden und spÈter in Ephesus (Abfassung in Syrien, Redaktion in Kleinasien);
lebenden Judenchristen von SchÜlern herausge- W. G. KÜmmel, Einleitung, 212; Ph. Vielhauer,
geben, die den Presbyter zugleich mit dem Lieb- Urchristliche Literatur, 460; H. KÚster, EinfÜh-
lingsjÜnger identifizierten. Hengel erblickt im rung, 616; J. Becker, Joh I, 64.
Presbyter zwar nicht den Zebedaiden Johannes, 114 Vgl. O. Cullmann, Der johanneische Kreis
meint aber, „daß er in irgendeiner Weise als jun- (s. o. 8.1.1), 102 ff.
ger Mensch mit Jesus in engere BerÜhrung kam 115 Vgl. K. Wengst, BedrÈngte Gemeinde, 183 f.
und von ihm tief beeindruckt wurde“ (a. a. O.), Im Anschluß an Wengst will G. Reim, Zur Lokali-
321; Èhnlich U. Wilckens, Joh, 16 f. sierung der johanneischen Gemeinde, BZ 32
112 FÜr einen unbekannten Verfasser mit Namen (1988), 72–86, die johanneische Gemeinde un-
Johannes plÈdieren auch B. Lindars, Joh, 33; weit von Betsaida und Kapernaum lokalisieren.
J. Becker, Joh I, 62–64. Von drei ‚Verfassern‘
Ort und Zeit der Abfassung 519
116 Vgl. z. B. J. L. Martyn, History and Theology, gypten entstanden ist, die Spuren weisen viel-
73 A 100; M. Frenschkowski, Tà baıÅa tw̃n foinı́kwn mehr in den kleinasiatischen und syrischen
(Joh 12, 13) und andere Indizien fÜr einen Ègypti- Raum.“
schen Ursprung des Johannesevangeliums, ZNW 118 R. Schnackenburg, Joh I, 134.
91 (2000), 212–229. 119 In die Lokalgeschichte Ephesus‘ versucht
117 Vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannes- S. van Tilborg, Reading John in Ephesus, NT.S 83,
evangeliums im 2. Jahrhundert, 475: „Die eruier- Leiden 1996, das Johannesevangelium einzu-
baren zeitlichen und rÈumlichen Koordinaten der zeichnen.
Rezeption des JohEv machen es unwahrschein- 120 Philo, Leg 245, erwÈhnt Kleinasien und Sy-
lich, daß das vierte Evangelium in Rom oder rien in einem Zug als die Gebiete, wo Juden in je-
520 Das Johannesevangelium
Die von K. Wengst und G. Reim vorgenommene Lokalisierung der joh. Gemein
de ist unwahrscheinlich, weil der Evangelist an diesen Gebieten nicht interessiert
ist und sich aposunágwgoß in Joh 9, 52; 12, 42; 16, 2 nicht auf die EinfÜgung des
Ketzersegens in das Achtzehngebet bezieht (s. u. 8.5.4)121. FÜr R. Schnacken
burgs These lassen sich weder im Evangelium selbst noch in der altkirchlichen
Tradition Hinweise finden, so daß sie als eine elegante, historisch aber eher un
wahrscheinliche MÚglichkeit auszuscheiden hat.
Der terminus a quo fÜr die Datierung des 4. Evangeliums ergibt sich aus Joh
11, 48, wo die ZerstÚrung Jerusalems 70 n. Chr. vorausgesetzt wird122. Eine
Kenntnis des Johannesevangeliums bei den christlichen Schriftstellern der 1.
HÈlfte des 2. Jhs. (Ignatius von Antiochien, Polykarp von Smyrna, Barnabas
Brief, Hirt des Hermas) lÈßt sich nicht nachweisen, mÚglicherweise kannte Ju
stin das 4. Evangelium (vgl. Apol 61, 4 f mit Joh 3, 3. 5). Als erster sicherer Beleg
fÜr die Rezeptionsgeschichte des Johannesevangeliums muß der Kommentar
des Valentin SchÜlers Herakleon gelten, der in die zweite HÈlfte des 2. Jhs. zu
datieren ist123. Ein mÚglicher terminus ad quem fÜr die Datierung des Johannes
evangeliums ergibt sich aus der TextÜberlieferung (vgl. P52, P90, P66)124, denn
P52 mit Joh 18, 31 33. 37 38 wird allgemein um 125 n. Chr. datiert125. Zwar ist
diese Datierung nicht mehr Über alle Zweifel erhaben126, aber sowohl die Rezep
der Stadt in großer Zahl lebten. Zu den Juden in aus Joh 1, 5 b); Apollinaris von Hierapolis, Frag-
Kleinasien vgl. E. SchÜrer, The History of the Je- ment aus Peri` tou˜ Pa´sca (um 170 n. Chr., Text: I.
wish People in the Age of Jesus Christ III/1, bearb. C. Th. Otto, CorpAg IX, Fragm. IV, S. 487; O. Per-
v. G. Vermes – F. Millar, Edinburgh 1986, 17–36 ler, SC 123, 244–246), wo deutlich aus Joh 3, 14
(22 f: Ephesus); P. R. Trebilco, Jewish Communi- und 19, 34–37 zitiert wird; aus derselben Zeit vgl.
ties in Asia Minor, MSSNTS 69, Cambridge 1991. ferner Ep. Ap. 18 (Zitat Joh 13, 34 a) und Ep. Ap.
Nach Jos, Ap II 39, lebten seit der frÜhen helleni- 29 (Zitat Joh 20, 17).
stischen Periode Juden in Ephesus. 124 Vgl. dazu K. Aland, Der Text des Johannes-
121 Vgl. zur Kritik an Wengst auch M. Hengel, Die evangeliums im 2. Jahrhundert, in: Studien zum
johanneische Frage, 290 f. Text und zur Ethik des Neuen Testaments (FS
122 K. Berger, Im Anfang war Johannes, 84–90, H. Greeven), hg. v. W. Schrage, BZNW 47, Berlin
bestreitet innerhalb seiner FrÜhdatierung (kurz 1986, 1–10.
vor 66 n. Chr.) jeden Bezug auf die TempelzerstÚ- 125 Vgl. K. u. B. Aland, Text des Neuen Testa-
rung; Joh 11, 48 zeigt aber deutlich, daß Johannes ments (s. o. 1.3), 94 f.
aus der Perspektive der erfolgten TempelzerstÚ- 126 C. H. Roberts, An unpublished Fragment of
rung die FÜhrer des jÜdischen Volkes ihre eigene the Fourth Gospel in the John Ryland's Library,
Zukunft prophezeien lÈßt. Joseph., Ant. XX 123, Manchester 1935, 14 f.16 ff.23, betont bei seiner
bietet zu diesem Verfahren eine formale und in- Datierung von P52 sehr stark die FamilienÈhnlich-
haltliche Parallele. keit mit P. Egerton 2, dessen Datierung um 150
3
123 K. Rudolph, Die Gnosis, GÚttingen 1990, 22, n. Chr. er Übernimmt. Nun wurde in KÚln ein
datiert ihn in die Mitte des 2. Jhs., wahrscheinli- Fragment als Bestandteil von P. Egerton 2 identifi-
cher ist der Zeitraum zwischen 160 und 170 ziert, das ins 3.Jh. weist (Alternativdatierung: um
n. Chr. Neben Herakleon sind als erste sichere 200), weil sich hier ein Apostroph zwischen Kon-
Zeugen fÜr eine Rezeption des 4. Evangeliums zu sonanten findet; vgl. M. Gronewald, Unbekanntes
nennen: Tatian, Diatessaron; Or. 13, 1–2 (Zitat Evangelium oder Evangelienharmonie (Fragment
Empfänger 521
8.5.4 Empfänger
aus dem „Evangelium Egerton“), in: KÚlner Papy- KÜmmel, Einleitung, 211; Ph. Vielhauer, Ur-
ri Bd. 6, RWA Sonderreihe Papyrologica Colo- christliche Literatur, 460. Eine frÜhe Datierung
niensia Vol VII, Opladen 1987, 136–145. vertritt K. Berger, Im Anfang war Johannes, 11,
A. Schmidt, Zwei Anmerkungen zu P. Ryl. III 457, ohne die spÈte Rezeption des Evangeliums auch
APF 35 (1989), 11 f, datiert P52 aufgrund eines zur zu erwÈhnen; eine SpÈtdatierung (um 140
Vergleiches mit P. Chester Beatty X in die Zeit um n. Chr.) postuliert jetzt wieder W. Schmithals, Jo-
170 n. Chr. (+/– 25) und schließt eine FrÜhdatie- hannesevangelium und Johannesbriefe, 422.
rung um 125 n. Chr. aus! FÜr die Datierung von 128 Vgl. M. Hengel, Die johanneische Frage, 300–
P52 ergibt sich daraus, daß die außergewÚhnlich 305.
sichere Festsetzung um 125 so nicht mehr haltbar 129 Zu den johanneischen TÈufertexten vgl. zu-
ist. Man wird zumindest einen Spielraum um 25 letzt K. Backhaus, Die „JÜngerkreise“ des TÈufers
Jahre nach oben zugestehen mÜssen, so daß sich Johannes, PaThSt 19, Paderborn 1991, 230–265.
eine Datierung um 150 nahelegt. 345–366; M. Stowasser, Johannes der TÈufer im
127 In der neueren Exegese wird das Johannes- Vierten Evangelium, ³BS 12, Klosterneuburg
evangelium zumeist in das letzte Jahrzehnt des 1. 1992.
Jhs. bzw. um 100 n. Chr. datiert, vgl. z. B. 130 Zur Analyse des Textes vgl. H. Lichtenberger,
C. K. Barrett, Joh, 143; R. E. Brown, Joh I, TÈufergemeinden und frÜhchristliche TÈuferpole-
LXXXIII; J. Becker, Joh I, 66; U. Schnelle, Joh, 8; mik im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts, ZThK
H. Thyen, Art. Johannesevangelium, 215; W. G. 84 (1987), (36–57) 47–51.
522 Das Johannesevangelium
der Wahrheit, nicht unter dem Gesetz (Joh 1, 17). Das Gesetz gehÚrt auf die Seite
der Juden (vgl. Joh 7, 19; 8, 17; 10, 34), die Christen hingegen haben das Sta
dium einer Gesetzesreligion lÈngst hinter sich gelassen (vgl. Joh 4, 20 ff). Das Ge
setz zeugt sogar fÜr Jesus (vgl. Joh 7, 19. 23; 8, 17; 10, 31 39; 15, 25). Ebenso be
zeugt Mose Jesu MessianitÈt (vgl. Joh 5, 45 47), noch Abraham hÈtte sich ge
freut, wenn er diesen Tag gesehen hÈtte (vgl. Joh 8, 56 ff). Indem die Juden Jesus
ablehnen, wenden sie sich letztlich gegen Gott und haben deshalb den Teufel
zum Vater (vgl. Joh 8, 37 45). Das Gesetz erschließt sich fÜr Johannes nur von
Jesus her, er ist gleichermaßen Inhalt, Ziel und auch Herr des Gesetzes und der
Schrift (vgl. Joh 2, 22; 5, 39; 7, 38. 42; 10, 35; 17, 12; 19, 24. 28. 36 f; 20,9). Ist die
Beobachtung des Gesetzes als hervorstechendes Merkmal einer jÜdischen Le
benshaltung neben dem Christusbekenntnis das Kennzeichen judenchristlicher
Theologie131, so kann das Johannesevangelium aufgrund seines Gesetzesver
stÈndnisses nicht als judenchristlich bezeichnet werden. Wie groß der Abstand
des Evangeliums vom Judentum ist, zeigt sich Über das GesetzesverstÈndnis hin
aus in der Àbersetzung hebrÈischer bzw. aramÈischer Fremdworte (vgl. Joh
1, 38. 41. 42: 4, 25; 5, 2; 9, 7; 11, 16; 19, 13. 17; 20, 16. 24)132, und der distanzier
ten Rede von den Festen (vgl. Joh 2, 13; 5, 1; 6, 4; 7, 2. 11; 11, 55) und GebrÈu
chen der Juden. Deutlich sichtbar wird die Distanz zum Judentum auch im joh.
Gebrauch von LIoudaı˜oß 133. Von einem einheitlichen (negativen) joh. Sprachge
brauch kann nicht ausgegangen werden, die Juden sind nicht einfach als solche
massa damnata. Jesus ist Jude (Joh 4,9), und das Heil kommt von den Juden
(Joh 4, 22). Nikodemus (Joh 3, 1 ff; 7, 50; 19, 39) und Joseph von Arimathia (Joh
19, 38) sind Sympathisanten Jesu, und viele Juden glauben an Jesus (vgl. Joh
8, 30 f; 11, 45; 12, 11). Dennoch ist es bezeichnend, daß fast die HÈlfte der Belege
auf den Konflikt Jesu mit seinen Gegnern entfÈllt. Die ‚Juden‘ murren Über Je
sus (Joh 6, 41; 7, 12), verfolgen ihn (Joh 5, 16), versuchen ihn zu tÚten (Joh
5, 18; 7, 1. 19; 8, 22 24), wollen ihn steinigen (Joh 8, 59; 10, 31. 33; 11,8) und tre
ten als die entscheidenden Gegner in seinem Prozeß auf (Joh 18, 36. 38;
19, 7. 12. 20). Ihr Hauptvorwurf gegen Jesus ist, sich Gott gleichzumachen (Joh
5, 18; 10, 33; 19, 7). Die JÜnger (Joh 20, 19), Nikodemus (Joh 3, 2), die Eltern des
Blindgeborenen (Joh 9, 22) und Joseph von Arimathia (Joh 19, 38) haben Furcht
vor den Juden, die schließlich nicht als Kinder Abrahams (vgl. Joh 8, 33 40)
oder Gottes (vgl. Joh 8, 41 43. 45 47), sondern als SÚhne des Teufels bezeichnet
werden (Joh 8, 44)134.
131 Vgl. die Definition von G. Strecker, Art. Ju- P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage, pas-
denchristentum, TRE 17 (1988), 311. sim.
132 Die Sprache des Johannesevangeliums ist der 133 Vgl. hier die Àbersicht bei H. Kuhli, EWNT II,
nichtliterarischen Koine zuzurechnen, vgl. 479 f.
E. Haenchen, Joh, 57–74; E. Ruckstuhl – 134 Vgl. dazu R. Schnackenburg, Joh II, 286–290.
Empfänger 523
Schon immer fielen die Àbereinstimmungen dieser Darstellung ‚der Juden‘ mit
den joh. Kosmosaussagen auf135. Die ‚Welt‘ lehnt Jesus ab (Joh 1, 10; 3, 19) und
haßt ihn (Joh 7, 7). Sie vermag Gott nicht zu erkennen (Joh 17, 25) und kann den
Geist der Wahrheit nicht empfangen (Joh 14, 17). Wie Jesus (Joh 8, 23) sind auch
die JÜnger nicht ek tou˜ kósmou (Joh 15, 19; 17, 14. 16) und mÜssen deshalb den
Haß der Welt ertragen (Joh 15, 18 f; 17, 14; vgl. ferner Joh 16, 20. 33). Schließlich
ist der Kosmos der Herrschaftsbereich des Widersachers (aµrcwn tou˜ kósmou Joh
12, 31; 14, 30; 16, 11), dessen Macht grundsÈtzlich zwar schon gebrochen, aber
noch nicht unwirksam ist. Die Korrespondenz zwischen oı LIoudaı˜oi und o kósmoß
zeigt sich deutlich in Joh 14 17, wo sich 38 der 78 Kosmos Belege finden, zu
gleich aber LIoudaı˜oß nicht erscheint. Die Funktion der LIoudaı˜oi auf der textinter
nen Ebene der vita Jesu Übernimmt nun im Rahmen der Abschiedsreden fÜr die
textexterne HÚrer und Lesergemeinde der Kosmos. Was Jesus von ‚den Juden‘
widerfuhr, erleidet in der Gegenwart die Gemeinde von ‚der Welt‘. Die ‚Juden‘
dienen Johannes somit auf textinterner Ebene vornehmlich als Paradigma fÜr die
Krisis der Welt angesichts der Offenbarung136.
135 Vgl. u. a. R. Bultmann, Joh, 222; J. Blank, Kri- Die Juden im Johannesevangelium, in: Gedenkt
sis, 231 ff; E. GrÈßer, Die antijÜdische Polemik im an das Wort (FS W. Vogler), hg. v.Chr. KÈhler
Johannesevangelium, in: ders., Der Alte Bund im u. a., Leipzig 1999, 217–230; R. Bieringer u. a.
Neuen, TÜbingen 1985, (135–153) 150 f; G. Baum- (Hg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel. Pa-
bach, Gemeinde und Welt im Johannesevangeli- pers of the Leuven Colloquium 2000, JCH 1, As-
um, Kairos 14 (1972), (121–136) 123 f. sen 2001.
136 Vgl. dazu vor allem R. Bultmann, Joh, 59; 137 Vgl. M. Hengel, Die johanneische Frage, 300:
ders., Theologie (s. o. 2), 380 ff; E. GrÈßer, Pole- „Die Auseinandersetzung mit den Juden ist lÈngst
mik, 152 f; W. Bauer, Joh, 28 f. Zum Problem des nicht mehr das Hauptthema des Werkes.“
angeblichen joh. ‚Antijudaismus‘ vgl. die abgewo- 138 M. Hengel, a. a. O., 298, betont z. R., daß sich
genen Àberlegungen bei F. Mußner, Traktat Über die joh. Schule schon lÈngst von der Synagoge ge-
die Juden, MÜnchen 1979, 281 ff; F. Hahn, ‚Die trennt habe. „Die ‚Ausstoßung‘ bzw. Trennung
Juden‘ im Johannesevangelium, in: KontinuitÈt liegt lange zurÜck, und sie hat sich vermutlich auf
und Einheit (FS F. Mußner), hg. v. P. G. MÜller u. unterschiedliche Weise und sukzessive vollzogen.“
W. Stenger, Freiburg 1981, 430–438; U. Schnelle,
524 Das Johannesevangelium
in ihnen fehlen der Begriff LIoudaı˜oß und jede Polemik gegen die unglÈubigen
Juden139.
139 Diese Beobachtung behÈlt ihr Gewicht, auch im Zeitalter Jesu, Berlin 1905, 223; M. Avi-Yonah,
wenn die Briefe nach dem Evangelium geschrie- Geschichte der Juden im Zeitalter des Talmud,
ben sein sollten. Wie soll man sich die Geschichte Berlin 1962, 141 f; J. Maier, JÜdische Auseinan-
der joh. Theologie vorstellen, wenn ca. 10 Jahre dersetzung mit dem Christentum in der Antike,
nach der Abfassung des Evangeliums die dort an- EdF 177, Darmstadt 1982, 137 ff; P. SchÈfer, Die
geblich alles dominierende Thematik vÚllig aus sogenannte Synode von Jabne, Jud 31 (1975),
dem Blickfeld geraten zu sein scheint? (54–64. 116–124) 60; ders., Geschichte der Juden
140 Vgl. nur J. Becker, Joh I, 56 f; S. S. Smalley, in der Antike, Stuttgart – Neukirchen 1983, 54.
John, 83; R. Schnackenburg, Joh II, 317; C. K. Bar- 142 Vgl. P. SchÈfer, Synode, 60; G. Stemberger,
rett, Joh, 108; J. L. Martyn, History and Theology, Die sogenannte „Synode von Jabne“ und das frÜ-
31 ff; K. Wengst, BedrÈngte Gemeinde, 75 ff. he Christentum, Kairos XIX (1977),(14–21) 18;
141 FÜr nicht ursprÜnglich halten die ErwÈhnung J. Maier, Auseinandersetzung, 140.
von ¥ajrṡ{wn z. B. G. Hoennicke, Das Judenchri- 143 Zur antidoketischen Tendenz des 4. Evange-
stentum, Berlin 1908, 388 f; M. FriedlÈnder, Die liums vgl. E. C. Hoskyns (- F. N. Davey), The
religiÚsen Bewegungen innerhalb des Judentums Fourth Gospel, London 21947, 48–57; B. Lindars,
Empfänger 525
Betonung der Fleischwerdung des prÈexistenten Logos in Joh 1, 14. Die Wunder
sind reale, unÜbersehbare Taten des Offenbarers in der Welt. Johannes betont
die HeilstatsÈchlichkeit von Taufe (Joh 3, 5) und Eucharistie (Joh 6, 51 c 58;
19, 34 b.35), die Jesu Inkarnation und wirkliches Leiden voraussetzen. Das Kreuz
ist fÜr Johannes der Ort des Heils (Joh 19, 28 30), Jesu Weg steht gerade bei Jo
hannes von Anfang an unter der Perspektive des Kreuzes (s. u. 8.5.5). Trennen
die Doketen zwischen dem irdischen Jesus und dem himmlischen Christus, so
insistiert der Evangelist auf der IdentitÈt des geschichtlichen Jesus mit dem himm
lischen Christus (Joh 20, 31). NachdrÜcklich betont Johannes die Einheit der Ge
meinde (vgl. z. B. Joh 17, 11. 21), die durch das Wirken der Irrlehrer gefÈhrdet ist
(vgl. 1 Joh 2, 19).
Die joh. Gemeindesituation lÈßt sich aus historischen Frontstellungen allein
nicht hinreichend erklÈren. Das SelbstverstÈndnis der joh. Christen ist primÈr
durch ihre Christuserkenntnis geprÈgt (s. u. 8.5.9). Das Johannesevangelium
entstand in der nachÙsterlichen Anamnese des Christusgeschehens (vgl. Joh
2, 17. 22; 12, 16; 13, 7) unter der FÜhrung des Parakleten (vgl. Joh 14, 26)144. So
wie der Paraklet die Gegenwart der Gemeinde bestimmt und ihre Zukunft er
schließt, verbindet der ‚LieblingsjÜnger‘ die Gemeinde in einzigartiger Weise mit
der Vergangenheit des Erdenwirkens Jesu145. Er bezeugt den wirklichen Tod Je
su am Kreuz (Joh 19, 34 b.35) und wird zum ersten Zeugen des Ostergeschehens
(Joh 20, 2 10). Er ist der Hermeneut Jesu und der Sprecher des JÜngerkreises
(Joh 13, 23 26 a). In der Stunde der Anfechtung bleibt er seinem Herrn treu
(Joh 18, 15 18) und wird so zum wahren Zeugen unter dem Kreuz und wahren
Nachfolger Jesu (Joh 19, 25 27). Hinter der literarischen Figur des LieblingsjÜn
gers verbirgt sich wahrscheinlich der GrÜnder der joh. Schule, der Presbyter des
2. 3 Joh, der wiederum mit dem bei Papias erwÈhnten Presbyter Johannes iden
tisch ist (s. o. 8.2.2). Indem der Evangelist den GrÜnder der joh. Schule nach
Ústerlich zum wahren Augenzeugen und Garanten der Tradition macht, schließt
sich der Kreis: Mit dem ‚LieblingsjÜnger‘ und dem Parakleten vollzieht Johannes
Joh, 61–63; E. Schweizer, Jesus der Zeuge Gottes. (s. o. 3.4.9), 323. Bestritten wird eine antidoketi-
Zum Problem des Doketismus im Johannesevan- sche Ausrichtung des Johannesevangeliums z. B.
gelium, in: Studies in John (FS J. N. Sevenster), von U. B. MÜller, Die Menschwerdung des Gottes-
NT.S 24, Leiden 1970, 161–168; C. Colpe, Art. sohnes, SBS 140, Stuttgart 1990, 62–83; J. Becker,
Gnosis II, RAC 11 (1981), 611; U. Schnelle, Anti- Joh II, 745–752.
doketische Christologie, passim; W. Schmithals, 144 Zur johanneischen Pneumatologie vgl.
Johannesevangelium und Johannesbriefe, 431 f; G. M. Burge, The Anointed Community, Grand
R. Deines, JÜdische SteingefÈße und pharisÈische Rapids 1987.
FrÚmmigkeit, WUNT 2. 52, TÜbingen 1993, 145 Vgl. zu den LieblingsjÜnger-Texten T. Loren-
249. 274 f; M. Hengel, Die johanneische Frage, zen, Der LieblingsjÜnger im Johannesevangeli-
183 A 91. 194. 265 u. Ú.; J. Roloff, EinfÜhrung, um, SBS 55, Stuttgart 1971; J. KÜgler, Der JÜnger,
235; R. Schnackenburg, Die Person Jesu Christi den Jesus liebte, SBB 16, Stuttgart 1988.
526 Das Johannesevangelium
eine doppelte VerschrÈnkung der Zeitebenen nach vorn und hinten, wobei
Ostern jeweils Mitte und Ausgangspunkt ist. So weiß sich die joh. Gemeinde in
besonderer Weise mit dem irdischen und erhÚhten Jesus Christus verbunden,
die joh. Christen sind didaktoi` Xeou˜ (Joh 6, 45). Aus diesem Selbstbewußtsein
und diesem SelbstverstÈndnis heraus betreiben die joh. Christen Mission (vgl.
Joh 4, 5 42; 7, 35 f; 12, 20 22; 17, 18. 20. 21; 20, 22)146, feiern die Sakramente
(Joh 3, 5; 6, 51 c 58; 19, 34 b 35) und praktizieren das Liebesgebot in ihrer Mitte
(vgl. Joh 13, 34 f).
13, 1 20, 29 Jesu Offenbarung vor den Seinen, Passion, ErhÚhung und Erscheinun
gen des Auferstandenen
NachtrÈge:
21, 1 23 Erscheinung des Auferstandenen am See Tiberias
21, 24 25 Zweiter Buchschluß
147 Als Drama will L. Schenke, Das Johannes- richtende Abschnitte, Kommentare, RÜckblicke,
evangelium, 202–223, das gesamte 4. Evangelium dramatische Steigerungen, verschiedene Zeitper-
verstehen. Gegen diese Klassifizierung ist einzu- spektiven), die er speziell durch das stÈndige In-
wenden, daß im Johannesevangelium fast durch- einanderfließen der textinternen und textexter-
gehend dramatische und epische Stilelemente zu nen Perspektive effektvoll einsetzt. Das Johannes-
einer spannungsvollen Einheit verbunden sind. evangelium ist nicht auf eine LÚsung am Ende
Der Evangelist verfÜgt Über ein reiches Repertoire der ErzÈhlung angelegt, sondern vom ersten Vers
an ErzÈhlmitteln (z. B. Dialoge, Monologe, be- an ist die LÚsung immer prÈsent!
528 Das Johannesevangelium
jÜdischen FÜhrer ihren HÚhepunkt erreicht (vgl. Joh 11, 1 44. 45 54). Parado
xerweise wird so das grÚßte Wunder im Neuen Testament zum Anlaß, Jesus zu
tÚten.
Der Fußwaschung (Joh 13, 1 20) als Prolog des 2. Hauptteils kommt eine
SchlÜsselstellung im Aufbau des 4. Evangeliums zu. Joh 13, 1 nimmt die voran
gegangenen Passionsverweise auf und richtet den Blick der Leser endgÜltig auf
das bevorstehende Leiden Jesu. Zugleich bÜndelt die Fußwaschung bereits die
prÈgenden Themen der Abschiedsreden: Jesu Liebe zu den Seinen und die dar
aus resultierende Liebe der JÜnger untereinander (vgl. Joh 13, 15). Schon in Lk
22, 14 38 lÈßt sich die Absicht erkennen, das kurze Beisammensein Jesu mit sei
nen JÜngern beim Abendmahl (vgl. Mk 14, 17 21) zu einer Abschiedsrede aus
zuweiten. Johannes nimmt diese Tendenz auf und baut die Abschiedssituation
zu einem zentralen Komplex des gesamten Evangeliums aus. Die Abschiedsre
den erscheinen in der Gesamtkomposition des Evangeliums nicht unvorbereitet,
denn das zentrale Stichwort upágein (vgl. Joh 7, 33 f; 8, 14. 21 f; 13, 3. 33. 36;
14, 4 f.28; 16, 5. 10. 17) greift die Thematik schon frÜhzeitig auf. Finden die Ab
schiedsreden im Hohepriesterlichen Gebet Jesu in Joh 17 ihren sachgemÈßen
Abschluß, so schließt sich daran die joh. Passionsgeschichte in Joh 18, 1 20, 29
an.
Wie Markus lÈßt auch Johannes seine Darstellung des Wirkens Jesu in die Li
teraturgattung Evangelium einfließen. Wie bei Markus erschließen sich auch bei
Johannes Wesen und Wirken Jesu von Kreuz und Auferstehung her. Beide
Evangelisten machen in unterschiedlicher Weise diesen zentralen theologischen
Gedanken zu einem tragenden Motiv ihrer Evangelienkomposition. Sowohl das
Wirken des Logos in der Welt als auch die RÜckkehr des Logos zum Vater stehen
bei Johannes bestÈndig unter der Perspektive des Kreuzes.
149 Vgl. R. Bultmann, Joh, 164 A 2. Bultmann 150 R. Bultmann, Joh, 154. Bultmann folgen mit
rechnet auch mit Textverlusten (vgl. a. a. O., 238) unterschiedlicher Einzelargumentation z. B.
und Blattvertauschungen; vgl. ders., „Hirschs R. Schnackenburg, Joh II, 6–11; J. Becker, Joh I,
Auslegung des Johannes-Evangeliums“, EvTh 4 35.
(1937), (115–142) 119. Zur Kritik an Blattvertau-
schungs-Hypothesen vgl. bes. E. Haenchen, Joh,
48–57.
530 Das Johannesevangelium
wÈhnt, um Jesus nach Jerusalem zu bringen, wo das Wunder und die folgende
Rede stattfinden. Joh 2, 12. 13 zeigt, daß sprunghafte ÀbergÈnge im Johannes
evangelium keine Ausnahme sind (vgl. ferner Joh 4, 3. 43; 7,9. 10; 10, 40;
11, 54 ff), es dem Evangelisten offensichtlich mÚglich ist, Jesus mit einem Vers
von GalilÈa nach Jerusalem zu versetzen. Die joh. Festreisen sind wie viele un
bestimmte Ortsangaben „literarische Mittel, ohne historischen und chronologi
schen Wert“151. Sie bedÜrfen deshalb auch nicht in jedem Fall einer kontextuel
len Vorbereitung. Dies zeigt der sehr abrupte Àbergang von Kap. 5 zu Kap. 6, der
aber dennoch nicht zu Kapitelumstellungen berechtigt, denn Joh 6, 2 setzt ein
deutig die Überlieferte Kapitelreihenfolge voraus152. Joh 6, 2 b nimmt Bezug auf
die beiden erzÈhlten Wunder in Joh 4, 46 54; 5, 1 9 ab und stammt vom Evan
gelisten (vgl. Joh 2, 23 b; 4, 45; 11, 45), auf den die Kapitelfolge zurÜckgeht. Zu
dem ergÈbe sich auch durch eine Umstellung von Kap. 6 hinter Kap. 4 keine
glatte Reihenfolge, denn Joh 6, 1 setzt voraus, daß Jesus sich am Westufer des
Sees Genezareth aufhÈlt speziell in Kapernaum, wohin er nach Joh 6, 17. 24
zurÜckkehrt , nach Joh 4, 46 ist er aber in Kana und laut Joh 4, 54 lediglich in
GalilÈa. Auch Joh 7, 1 14 ist dem Evangelisten zuzurechnen153, der mit dieser
galilÈischen Episode nicht nur die Kapitel 6 und 7 verbindet, sondern Jesus end
gÜltig nach Jerusalem bringt, wo er an einem sehr hohen Feiertag den Juden
wiederum seine Sendung erklÈrt und auf Ablehnung stÚßt.
Die Kapitelreihenfolge in Joh 4 7 ist somit nicht als der mißglÜckte Rekon
struktionsversuch eines in Unordnung geratenen Werkes oder als wenig Über
zeugende Neukomposition eines Redaktors anzusehen, sondern als die vom
Evangelisten Johannes gewollte Reihenfolge, deren Ziel darin besteht, Jesus im
mer wieder nach Jerusalem zu bringen, wo er die Auseinandersetzung mit dem
unglÈubigen Kosmos fÜhrt und sich sein Schicksal erfÜllen wird154.
2) Die Kapitelreihenfolge in Joh 13 17155: Die Korrespondenz zwischen Joh
151 E. Haenchen, Joh, 266; vgl. ferner W. Bauer, men und verschÈrft; vgl. L. Schenke, Joh 7–10:
Joh, 251. Eine dramatische Szene, ZNW 80 (1989), 172–
152 R. Bultmann, Joh, 156 A 3, sieht in V. 2 wohl 192.
einen Zusatz des Evangelisten, meint aber, dieser 155 Vgl. hierzu U. Schnelle, Die Abschiedsreden
beziehe sich nur auf Joh 4, 46–54 als ein Beispiel im Johannesevangelium, ZNW 80 (1989), 64–79;
fÜr Jesu Wunder. Die pluralischen Formulierun- M. Winter, Das VermÈchtnis Jesu und die Ab-
gen in Joh 6, 2 setzen m. E. zwingend Joh 4, 46–54 schiedsreden der VÈter, FRLANT 161, GÚttingen
und 5, 1–9 ab voraus. 1994; A. Dettwiler, Die Gegenwart des ErhÚhten,
153 Vgl. R. Schnackenburg, Joh II, 190 ff. Wohl FRLANT 169, GÚttingen 1995; Christina Hoegen-
verlÈßt Jesus im Zusammenhang mit der Aufer- Rohls, Der nachÚsterliche Johannes, WUNT 2.84,
weckung des Lazarus noch einmal Jerusalem TÜbingen 1996; J. Neugebauer, Die eschatologi-
(vgl. Joh 10, 40–42; 11, 54; 12, 12), was aber an schen Aussagen in den johanneischen Abschieds-
der Funktion der Reise zum LaubhÜttenfest reden, BWANT 140, Stuttgart 1995; Chr. Dietzfel-
nichts Èndert. binger, Der Abschied des Kommenden, WUNT
154 Diese Tendenz wird in Joh 7–10 aufgenom- 95, TÜbingen 1997; Konrad Haldimann, Rekon-
Literarische Integrität 531
14, 31 c und Joh 18, 1 sowie der damit verbundene harte Àbergang zwischen Joh
14, 31 c und 15, 1 ist ein weiterer Schwerpunkt joh. Literarkritik. In der For
schung sind vier Modelle zur ErklÈrung des Jetzttextes von Bedeutung: 1) LÚ
sung der Probleme durch Textumstellungen. So rechnet R. Bultmann mit der ur
sprÜnglichen Textfolge Joh 13, 1 30; 17, 1 26; 13, 31 35; 15, 1 16, 33; 13, 36
14, 31156. Neben methodologischen Bedenken ist gegen Bultmanns Vorgehen
vor allem einzuwenden, daß es ihm nicht gelingt, einen ‚besseren‘ Text zu rekon
struieren. Dies scheitert an Joh 17, das den HÚhepunkt und sinnvollen Abschluß
der Abschiedsreden bildet. Sprach Jesus zuvor mit den JÜngern, so wendet er
sich nun in der Stunde des Abschieds im Gebet dem Vater zu. 2) Der zweite LÚ
sungsvorschlag sieht in Kap. 15 17 den Nachtrag einer spÈteren Redaktion. Diese
u. a. von R. Schnackenburg157 und J. Becker158 vertretene These scheitert an der
vorausgesetzten Arbeitsweise des Redaktors. Er hÈtte durch seine ungeschickte
EinfÜgung von Joh 15 17 zwischen Joh 14, 31 und 18, 1 erst all die Probleme ge
schaffen, um deren LÚsung sich die Exegese in diesem Jahrhundert bemÜht. Al
lein durch die Plazierung der Kap. 15 17 vor Joh 14, 30 hÈtte der Redaktor alle
Schwierigkeiten umgehen kÚnnen und somit auch fÜr seine Leser und HÚrer
eine ‚befriedigende‘ Textfolge hergestellt. Schließlich lÈßt sich der postjohannei
sche Charakter der Kap. 15 17 nicht nachweisen. 3) Eine Variante der Nach
tragshypothese ist das Relecture Modell: „ein Relecture Prozess liegt dann vor,
wenn ein erster Text die Bildung eines zweiten Textes hervorruft und wenn die
ser Text seine volle VerstÈndlichkeit erst im Bezug zum ersten Text gewinnt.“159
Von den klassischen literarkritischen Optionen unterscheidet sich dieses Modell
in zwei Punkten: a) Die Frage nach einem individuellen Autor tritt zugunsten
der Hypothese einer joh. Schule in den Hintergrund. b) Joh. 15 17 gelten nicht
mehr als Konkurrenz oder Korrektur von Kap. 13, 31 14, 31. Grundlegend ist die
Annahme einer ‚Weiterschreibung‘, die durch eine verÈnderte historische Situa
tion oder die „Dynamik der theologischen Reflexion“160 bedingt sein kann. Drei
EinwÈnde sind allerdings auch gegen dieses Modell zu erheben: a) Der faktische
Verzicht auf einen individuellen Autor fÜhrt zu einer Anonymisierung des Àber
lieferungsprozesses. b) Wie die ‚Kirchliche Redaktion‘ muß auch das Relecture
Modell mit am Text nicht nachweisbaren verÈnderten historischen Situationen
oder theologischen Defiziten als Anlaß fÜr die Weiterschreibung rechnen. c)
Neue und weiterfÜhrende Aspekte kÚnnen auch vom gleichen Autor eingefÜhrt
werden und sind keineswegs ein Indiz fÜr eine spÈtere ‚Weiterschreibung‘. Das
struktion und Entfaltung. Exegetische Untersu- 158 Vgl. J. Becker, Joh II, 572 f.
chungen zu Joh 15 und 16, BZNW 104, Berlin 159 J. Zumstein, Relecture, 404; vgl. A. Dettwiler,
2000. Gegenwart des ErhÚhten, 44–52.
156 Vgl. R. Bultmann, Joh, 348–351. 160 A. Dettwiler, Gegenwart des ErhÚhten, 302.
157 Vgl. R. Schnackenburg, Joh III, 101–103.
532 Das Johannesevangelium
Modell der ‚Weiterschreibung‘ ist prinzipiell auf allen Ebenen der joh. Àberliefe
rung denkbar. Deshalb gilt auch hier die methodische Regel, daß ein Text dem
Evangelisten Johannes nur dann abgesprochen und einer spÈteren Bearbeitung
zugesprochen werden kann, wenn ein Verstehen des Textes auf der Ebene des
Evangelisten nicht mÚglich ist. Zu bedenken ist schließlich ein hermeneutisches
Argument: Auch fÜr das Relecture Modell gilt, daß seine Vertreter nicht das
4. Evangelium interpretieren, sondern das JohannesverstÈndnis jener Kreise, die
fÜr den Relecture Prozeß verantwortlich sind. 4) Bei der ‚symbolischen‘ Interpre
tation von Joh. 14, 31 c steht in der Regel nicht die wÚrtliche Befolgung der Auf
forderung Jesu, sondern ihr Verweischarakter im Mittelpunkt. C. H. Dodd kann
feststellen: „The movement is a movement of the spirit“.161 H. Thyen versteht
den Vers als Aufforderung an den Leser: „Der soll jetzt ‚aufstehen‘, nÈmlich die
Spannung erfahren, wohin er gehen wird.“162 Solche Interpretationen Überge
hen zu schnell das literarkritische Problem und sind noch subjektiver als andere
ErklÈrungsmodelle.
VerstÈndlich wird hingegen die Vorgehensweise des Evangelisten, wenn man die
von ihm aufgenommenen Traditionen beachtet. Johannes bezieht sich auf Mk
14, 42 f, wo in V. 43 davon die Rede ist, daß Jesus vor der Begegnung mit Judas
noch etwas sprach. FÜr den 4. Evangelisten war damit ein literarischer Ort vorge
geben, um weitere Traditionen seiner Schule sowie von ihm selbst verfaßte Texte
in den ErzÈhl und Darstellungsablauf seines Evangeliums zu integrieren. Psycho
logische Betrachtungen Über die LÈnge des Weges oder die Dauer der Rede sind
unangebracht, weil das hier zu betrachtende literarische Verfahren fÜr den Evan
gelisten keineswegs ungewÚhnlich ist. Abrupte ÀbergÈnge sind fÜr Johannes
keine Seltenheit, zudem kennt er das literarische Mittel der Wiederaufnahme des
ErzÈhlfadens (vgl. z. B. Joh 2, 1 11 mit 4, 46; 7, 14 mit 7, 25 30; Joh 9 mit Joh
10, 21; Joh 11, 1 45 mit 12,9; Joh 12, 15. 16 mit 18, 33 ff), das auch in Joh 18, 1
vorliegt. Als eine gewisse Parallele zum Vorgehen des Evangelisten in Joh 14, 31 c;
15, 1; 18, 1 kann man schließlich die Festreisen Jesu nach Jerusalem betrachten
(vgl. Joh 2, 13; 5, 1; 7, 10), die auch kontextuell unvorbereitet sind und allein dem
Zweck dienen, Jesus an den Ort seiner Feinde zu bringen. Die EinfÜgung von Joh
15 17 zwischen Joh 14, 31 und 18, 1 lÈßt sich somit als ein literarisches Verfahren
begreifen, dessen Ausgangspunkt die in der Tradition dem Evangelisten vorgege
bene Nachricht war, daß Jesus nach seinem Aufbruchbefehl und vor seiner Begeg
nung mit Judas zu den JÜngern noch etwas sprach. Zudem ist der vorliegende
Textzusammenhang sinnvoll: Der Aufruf in Joh 14, 31 c signalisiert Trennung, der
Johannes die Verbundenheit entgegensetzt. Obwohl Jesus zum Vater geht, bleibt
161 C. H. Dodd, Interpretation, 409. auch Chr. Hoegen-Rohls, Der nachÚsterliche Jo-
162 H. Thyen, Art. Johannesevangelium, 216; vgl. hannes, 122.
Literarische Integrität 533
die Gemeinde mit ihm verbunden, so wie Weinstock und Reben innig miteinan
der verbunden sind (Joh 15, 1 17).
Nicht nur auf der textinternen, sondern auch auf der textexternen Ebene des Le
sers und damit der joh. Gemeinde ist das Vorgehen des Evangelisten sinnvoll:
Die Aufforderung Jesu in Joh 14, 31 c hat Signalcharakter, denn fÜr die nach
Ústerliche Lesergemeinde sind die auf der ErzÈhlebene des Evangeliums erst fol
genden Ereignisse in dem Befehl Jesu natÜrlich schon prÈsent, so daß die starke
ethische und ekklesiologische Ausrichtung von Joh 15 17 sachgemÈß ist. Jesu
Aufbruch signalisiert bereits die durch den Tod und die ErhÚhung des Gottessoh
nes eingetretene Situation, in der sich die Leser bzw. HÚrer des Johannesevan
geliums befinden. Der durchgÈngig parÈnetische Charakter von Joh 15 17 stellt
somit eine sachgemÈße Fortsetzung von Joh 14 dar, indem nun unter der Vor
aussetzung des Offenbarungsgeschehens (vgl. den Indikativ in Joh 15, 3. 9) die
Gemeinde auf die Bewahrung des Heils angesprochen wird163.
3) SekundÈre HinzufÜgungen: Ein relativer Konsens besteht in der Forschung
Über den sekundÈren Charakter von Joh 21. Sprach und StileigentÜmlichkeiten
kÚnnen Joh 21 nicht als Anhang erweisen164, wohl aber zahlreiche inhaltliche
Argumente. In Kap. 21 werden offensichtlich die fehlenden Epiphanien in Gali
lÈa nachgetragen und dabei die Erscheinung Jesu vor seinen JÜngern in Joh
20, 19 29 ignoriert. Nach Geistbegabung und Sendung (Joh 20, 21 f) kehren die
JÜnger in ihren alten Fischerberuf zurÜck, der zuvor im Evangelium gar nicht
erwÈhnt wurde. Zudem verbietet Joh 20, 29 jede weitere Erscheinung, denn von
nun an gilt: Glauben ohne zu sehen. Auch durch die ZÈhlung in V. 14 erweist
sich Kap. 21 als Nachtrag, weil die beiden Erscheinungen in 20, 19 23. 24 29
vorausgesetzt und ergÈnzt werden. Nur in Joh 21, 2 erscheinen die Zebedaiden,
und es muß gefragt werden, warum sich erst hier die Nachricht findet, Natha
nael stamme aus Kana. Ferner geben sich in Joh 21, 24 f die Verfasser von Kap.
21 und mÚglicherweise auch die Herausgeber des gesamten Evangeliums zu er
kennen. Ihr Zeugnis Über den LieblingsjÜnger steht in zweifacher Weise im Ge
gensatz zu Joh 1 20: 1) Nur im Nachtrag wird der LieblingsjÜnger zum Verfasser
des gesamten Evangeliums; 2) Joh 21 korrigiert das VerhÈltnis zwischen Petrus
und dem LieblingsjÜnger. In Joh 1 20 kommt Petrus keine besondere Bedeu
tung zu, er ist nicht der Erstberufene (vgl. Joh 1, 40 ff: Andreas bringt ihn zu Je
163 Vgl. T. Onuki, Gemeinde und Welt, 125 ff. Ge- 164 Wichtige Hapaxlegomena sind paidı´a in 21, 5
gen R. Schnackenburg (Joh III, 102 ff) und als Anrede der JÜnger und adelfoı´ in 21, 23 als
J. Becker (Joh II, 572 ff), die in der verÈnderten Bezeichnung fÜr Christen.
Perspektive das Hauptargument fÜr ihre Annah-
me sehen, Joh 15–17 seien auf eine spÈtere Re-
daktion zurÜckzufÜhren.
534 Das Johannesevangelium
165 Joh 21 halten u. a. fÜr sekundÈr: R. Bultmann, (1983), 85–98; G. Reim, Johannes 21 – Ein An-
Joh, 542 ff; E. Haenchen, Joh 580 ff; J. Becker, Joh hang?, in: Studies in New Testament Language
II, 758 ff; U. Schnelle, Joh, 314 f; C. K. Barrett, Joh, and Text (FS Kilpatrick), NT.S XLIV, Leiden 1976,
551 ff; K. Wengst, BedrÈngte Gemeinde, 25 f; 330–337. H. Thyen, Art. Johannesevangelium,
M. Lattke, Joh 20, 30 f als Buchschluß, ZNW 78 210 u. Ú., erhebt den ‚Epilog‘ Joh 21 zum SchlÜs-
(1987), 288–292, der in Tertullian, Adversus Pra- sel fÜr das VerstÈndnis des 4. Evangeliums, hier
xean 25, 4, einen Beleg dafÜr sieht, „daß das laufen fÜr ihn alle ErzÈhlfÈden zusammen.
vierte Evangelium ziemlich lange ohne den ‚Epi- 166 Vgl. dazu U. Schnelle, Antidoketische Christo-
log‘ in Umlauf war“ (a. a. O., 289). FÜr ursprÜng- logie, 221.
lich halten Joh 21 u. a.: W. Bauer, Joh, 234 f; 167 Zum Nachweis der literarischen, kompositio-
R. E. Brown, Joh II, 1077 ff (Epilog); P. S. Minear, nellen und theologischen Einheit von Joh 6 vgl.
The Original Function of John 21, JBL 102 Th. Popp, Grammatik des Geistes, 256–456.
Traditionen, Quellen 535
58 ist kein Indiz fÜr den sekundÈren Charakter dieses StÜckes. Vielmehr setzt
der Evangelist selbstverstÈndlich voraus, daß die Teilnehmer an der Eucharistie
zugleich die an Jesus Christus Glaubenden sind. Zudem findet die Komposition
von Joh 6 im eucharistischen Abschnitt ihren HÚhepunkt. Die redaktionellen
Verse 26 29 bereiten die Thematik der vorjoh. Lebensbrotrede Joh 6, 30 51ab
und des vom Evangelisten gestalteten eucharistischen Abschnittes 6, 51 c 58 vor
und verbinden zugleich die beiden Hauptteile (6, 1 25. 30 58) des gesamten Ka
pitels miteinander168. Auch Joh 19, 34 b 35 kann nicht einer postjoh. Redaktion
zugerechnet werden169, denn sowohl sprachlich als auch thematisch weist dieser
Abschnitt auf die Hand des Evangelisten Johannes hin. Zum Abschluß der Pas
sionsgeschichte formuliert der Evangelist hier mit 19, 34 b 35 noch einmal sein
antidoketisches VerstÈndnis des Todes Jesu, nimmt das Zeugnis des LieblingsjÜn
gers als anerkannten Garanten der joh. Tradition in Anspruch und sichert somit
die sakramentale Praxis der Gemeinde.
Das Johannesevangelium kann bis auf Joh 21 und die textkritisch eindeutig
sekundÈren Passagen Joh 5, 3 b.4; 7, 53 8, 11170 und die Glosse Joh 4, 2 als litera
rische Einheit verstanden werden171. Der Evangelist gibt sich in Joh 20, 30 f als
ein kritisch auswÈhlender, nach theologischen Àberlegungen gestaltender Autor
zu erkennen, der auf der Grundlage zahlreicher ihm zur VerfÜgung stehender
Traditionen sein Evangelium schrieb.
zÈhlung in Joh 2, 11; 4, 54 mit einer ‚Zeichenquelle‘, einer Quelle von ‚Offenba
rungsreden‘ und einer Vorlage fÜr die Passionsgeschichte172.
Es ist heute allgemein anerkannt, daß Joh 18, 1 19, 30 den Grundstock des
joh. Passionsberichtes bildet. Er setzt sich vornehmlich aus Sondertraditionen der
joh. Schule zusammen, die dem Evangelisten wahrscheinlich schriftlich vorla
gen und von ihm Überarbeitet wurden173. Als redaktionelle ZusÈtze zu den vor
joh. Passionstraditionen lassen sich u. a. nennen: Joh 18, 4 9. 13 b. 14. 15 b. 16.
19 b 21. 23. 24. 28 b. 29. 32. 33 a. 34 38 a;. 19, 4. 5. 7 11. 20 22. 23 a. 26 28 a174.
Auch der joh. Darstellung der Kreuzigung und Bestattung Jesu (Joh 19, 30 42)
und den Auferstehungs und ErscheinungserzÈhlungen in Joh 20 liegen traditio
nelle ErzÈhlungen zugrunde. Als Redaktion des Evangelisten sind hier zu nen
nen: Joh 19, 31 c.34 b. 35. 39. 40 c.42 b; 20, 2. 3 b.4. 5 b. 6. 8. 10. 11 a. 12. 13. 14 a.
17 b. 21. 24 29. Von einem zusammenhÈngenden vorjoh. Passionsbericht kann
nicht gesprochen werden, Johannes verfÜgte Über z. T. sehr alte und historisch
zuverlÈssige Passionstraditionen, die er aber durchweg Überarbeitete, mit zentra
len Themen seiner Theologie verband und in Anlehnung an Markus (und Lu
kas)175 in den von ihm geschaffenen kompositionellen Gesamtzusammenhang
einfÜgte. Der literarische und theologische Gestaltungswille des Evangelisten ist
in Joh 18 20 ebenso durchgehend prÈsent wie in anderen Partien des Evange
liums!
R. Bultmanns These einer ‚Offenbarungsredenquelle‘ im Johannesevangeli
um setzte sich zu Recht in der Forschung nicht durch. Bultmann lokalisiert diese
Quelle in der NÈhe zur Gnosis und rekonstruiert sie aufgrund bestimmter Stil
merkmale. Demnach sind die Reden nicht im Prosa sondern im poetischen Stil
abgefaßt, ihr Hauptmerkmal ist der (antithetische) Parallelismus membrorum.
Durch die partielle Èußere BeschÈdigung des Evangeliums und die Arbeit der
‚Kirchlichen Redaktion‘ wurden nach Meinung Bultmanns die einzelnen Texte
der ‚Offenbarungsreden‘ teilweise weit auseinandergerissen. Sowohl die religi
onsgeschichtliche Verortung der ‚Offenbarungsredenquelle‘ als auch ihre Re
konstruktion mÜssen als problematisch angesehen werden. Die von Bultmann
angefÜhrten literarischen Parallelen (Oden Salomos, MandÈische Literatur
u. a.m.) sind durchweg sehr viel jÜnger als das Johannesevangelium und kom
172 Die Texte der von Bultmann postulierten F. Neirynck), hg. v. G. Van Segbroeck u. a., BETL
‚Quellen‘ sind griechisch abgedruckt bei 100, Leuven 1992, 1799–1814.
D. M. Smith, The Composition and Order of the 174 Vgl. dazu die (in Einzelheiten abweichende)
Fourth Gospel, New Haven – London 1965, 23–34 Rekonstruktion bei A. Dauer, Die Passionsge-
(‚Offenbarungsreden‘). 38–44 (‚Semeia-Quelle‘). schichte im Johannesevangelium, StANT 30,
48–51 (‚Passionsquelle‘). MÜnchen 1972, 334.
173 Vgl. zur BegrÜndung, U. Schnelle, Johannes 175 Vgl. hier M. Lang, Johannes und die Synopti-
und die Synoptiker, in: The Four Gospels (FS ker, passim.
Traditionen, Quellen 537
men deshalb fÜr einen aussagefÈhigen Vergleich nicht in Frage. Bei der Rekon
struktion der ‚Quelle‘ mit Hilfe der Stilkritik bewegt sich Bultmann in einem me
thodischen und hermeneutischen Zirkel. Es fehlen formale und inhaltliche Par
allelen außerhalb des Evangeliums, so daß es keine textexternen Kontrollinstan
zen gibt176. Die methodische Problematik des Verfahrens zeigt sich deutlich,
wenn sich der Text der ‚Quelle‘ und der Stil des Evangelisten nicht voneinander
trennen lassen, wie Bultmann an vielen Stellen zugeben muß.
Heftig umstritten ist in der neueren Exegese die Existenz einer ‚Semeia Quelle ‘.
Bultmann vermutete, die ‚Semeia Quelle‘ stamme aus der Propaganda ehemali
ger TÈuferjÜnger fÜr den christlichen Glauben177. Sie zeige „Jesus als den Xeı˜oß
aµnXrwpoß, dessen wunderbares Wissen die ihm Begegnenden ÜberwÈltigt.“178
Lange Zeit war die Annahme einer vorjoh. ‚Semeia Quelle‘ unumstrittene Basis
der Johannesinterpretation, R. T. Fortna erweiterte die ‚Quelle‘ sogar zu einem
‚Zeichen Evangelium‘. In der neuesten Exegese wird die Existenz einer ‚Semeia
Quelle‘ bzw. eines ‚Zeichen Evangeliums‘ aber zu Recht problematisiert179. Als
wesentliches Indiz fÜr die Existenz einer ‚Semeia Quelle‘ gilt die ZÈhlung in Joh
2, 11; 4, 54. Danach enthielt die ‚Quelle‘ eine ZÈhlung der Wunder, die allerdings
nur noch bei den ersten beiden Wundern erhalten ist. Warum aber bricht die
ZÈhlung nach den ersten zwei Wundern ab? Eine befriedigende Antwort auf
diese naheliegende Frage kÚnnen die BefÜrworter der Existenz einer ‚Semeia
176 Vgl. zur Kritik an Bultmann bes. E. Haenchen, evangelium, WUNT 2. 26; TÜbingen 1987; D. Mar-
Literatur zum Johannesevangelium, 305 f; guerat, La ‚source des signes‘ existe-t-elle? Récep-
R. Schnackenburg, Joh I, 39 f. tion des r¹cits de miracle dans l'¹vangile de Jean,
177 Vgl. R. Bultmann, Joh, 76 A 6. Zur BegrÜn- in: La communaute johannique et son histoire,
dung der These einer ‚Semeia-Quelle‘ vgl. neben hg. v. J. D. Kaestli, J. M. Poffet u. J. Zumstein, Genf
R. T. Fortna, The Gospel of Signs, bes. W. Nicol, 1990, 69–93; C. K. Barrett, Joh, 36 f; E. Ruckstuhl
The Semeia in the Fourth Gospel, NT.S 32, Leiden – P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im
1972; J. Becker, Joh I, 134–142. Eine Variante der Johannesevangelium, 238–241; F. Neirynck, The
herkÚmmlichen These bietet H. P. Heekerens, Die Signs Source in the Fourth Gospel. A Critique of
Zeichen-Quelle der johanneischen Redaktion, the Hypothesis, in: ders., Evangelica II, BETL
SBS 113, Stuttgart 1984. Er zÈhlt nur Joh 2, 1– XCIX, Leuven 1991, 651–678; H. Thyen, Art. Jo-
11. 12; 4, 46–54; 21, 1–14 zu einer gemeinsamen hannesevangelium, 207; G. Strecker, Literaturge-
Quelle, die vom Verfasser von Joh 21 ins Johan- schichte (s. o. 1.2), 208; J. Painter, Quest for the
nesevangelium eingetragen wurde. Messiah, 80–87; K. M. Bull, Gemeinde, 87;
178 R. Bultmann, Joh, 75. W. Schmithals, Johannesevangelium und Johan-
179 Eine umfassende Darstellung der Forschungs- nesbriefe, 124–126; M. Hengel, Die johanneische
geschichte bietet G. van Belle, The Signs Source Frage, 246 f; F. Vouga, Geschichte des frÜhen
in the Fourth Gospel, BETL 116, Leuven 1994. Er Christentums, TÜbingen 1993, 10; U. Wilckens,
zeigt, daß in der neuesten internationalen For- Joh, 9 f; F. J. Moloney, John, 86; M. Labahn, Jesus
schung die Kritik an dieser Hypothese deutlich als Lebensspender, 76; zurÜckhaltend jetzt auch
Überwiegt; vgl. u. a. U. Schnelle, Antidoketische R. Schnackenburg, Die Person Jesu Christi (s. o.
Christologie, 87–194 (ausfÜhrliche EinzelbegrÜn- 3.4.9), 268.
dung!); W. J. Bittner, Jesu Zeichen im Johannes-
538 Das Johannesevangelium
Quelle‘ nicht geben. Zudem ergibt die Sprachanalyse von Joh 2, 11; 4, 54 eindeu
tig, daß diese Verse und auch die ZÈhlung vom Evangelisten Johannes stammen.
Er zÈhlte die beiden Wunder Jesu in Kana , um sie als Anfang und Ende des er
sten Úffentlichen Wirkens Jesu hervorzuheben. Ein Widerspruch zu den Wun
dernotizen in Joh 2, 23; 4, 45 besteht nicht, denn sie berichten summarisch von
Wundern in Jerusalem. Damit entfÈllt das Hauptindiz fÜr die Existenz einer vor
joh. ‚Semeia Quelle‘. In enger Verbindung mit der WunderzÈhlung wird Joh
20, 30 f vielfach als Ende der ‚Semeia Quelle‘ angesehen. Auch hier zeigt die
Sprachanalyse, daß diese Verse mit Sicherheit auf den Evangelisten Johannes
zurÜckgehen. Er verwendet den svmeı˜on Begriff, um die zuvor im Evangelium
geschilderte, Glauben hervorrufende und bestÈrkende OffenbarungsqualitÈt des
Wirkens Jesu prÈgnant zum Ausdruck zu bringen und zugleich das Thomas ge
wÈhrte ‚Begreifen‘ des Auferstandenen als Wunder zu charakterisieren. Vielfach
gelten angebliche Spannungen, WidersprÜche und GegensÈtze zwischen der
Theologie des Evangelisten und der christologischen Konzeption der ‚Semeia
Quelle‘ als BegrÜndung fÜr deren Existenz, wofÜr als Beleg vornehmlich auf Joh
4, 48 verwiesen wird180. Dort artikuliert sich aber keine prinzipielle johanneische
Wunderkritik, sondern Jesus weist zunÈchst nur wie in Joh 2, 4 die bloße Forde
rung nach dem Wunder zurÜck, um es dann zu vollbringen (vgl. zur Ablehnung
der Zeichenforderung Mk 8, 11 12; Mt 12, 39 42; 16, 1 2. 4; Lk 11, 16. 29 32).
Gegen die Existenz einer ‚Semeia Quelle‘ spricht ferner der sehr unterschiedli
che traditions und religionsgeschichtliche Hintergrund der vorjoh. Wunderge
schichten, die sich keiner geschlossenen Àberlieferung zuordnen lassen. Auch
die Stilkritik ermÚglicht nicht eine Rekonstruktion der ‚Semeia Quelle‘, denn ei
nen vom Stil des Evangelisten einerseits abweichenden und andererseits in meh
reren Perikopen der ‚Semeia Quelle‘ nachzuweisenden Stil gibt es nicht181.
Schließlich fehlen formgeschichtliche Parallelen zu einer ‚Semeia Quelle‘, und
auch eine einheitliche Theologie bzw. Christologie der ‚Semeia Quelle‘ ist nicht
erkennbar. Vielmehr integrierte der Evangelist Johannes selbst sehr verschie
denartige Wundergeschichten in sein Evangelium. Dabei ist die Anzahl der von
Johannes aufgenommenen WundererzÈhlungen nicht zufÈllig, denn Sieben gilt
nach Gen 2, 2 als Zahl der FÜlle und Vollendung. Die Johannesoffenbarung zeigt
180 Vgl. exemplarisch L. Schottroff, Der Glauben- und Wunder seht, werdet ihr nicht glauben‘. Je-
de und die feindliche Welt, 263 ff. Eine neue In- sus erkennt und formuliert in dieser Stunde, daß
terpretation von Joh 4, 48 schlÈgt demgegenÜber der Weg zum Glauben der Menschen Über die Er-
W. J. Bittner, Jesu Zeichen, 128–134, vor. Er ver- fahrung von svmeı˜a fÜhrt“ (a. a. O., 134).
steht V. 48 als positive Regel, anhand der Bitte 181 Vgl. E. Ruckstuhl, Sprache und Stil im johan-
des Vaters „formuliert dieses Wort eine allge- neischen Schrifttum, in: ders., Die literarische
meine Einsicht, die als allgemeine Regel erkannt Einheit, 304–331.
und anerkannt wird: ‚Wenn ihr nicht Zeichen
Traditionen, Quellen 539
zudem, daß im Umkreis der joh. Schule die Zahl Sieben von Bedeutung war
(vgl. Offb 1, 4. 12; 5, 1; 8, 2; 10, 3 f; 12, 3). Offensichtlich ist die Siebenzahl ein
Mittel der joh. Komposition, um die FÜlle der Offenbarungen Jesu in den Wun
dern zu unterstreichen. Die einzelnen Wunder sind planmÈßig Über das Úffentli
che Wirken Jesu verteilt und eingebettet in die sich stÈndig steigernde Auseinan
dersetzung mit den Juden, die in Joh 11 ihren HÚhepunkt erreicht. Der Evange
list nahm sowohl ausgesprochene Sondertraditionen seiner Schule (vgl. Joh
2, 1 11; 5, 1 9 ab; 9; 11) als auch von den Synoptikern abhÈngige (Joh 4, 46 54;
6, 1 25) WundererzÈhlungen in sein Evangelium auf, die er in vielfÈltiger Weise
mit seiner spezifischen Theologie verband.
Dem Evangelisten lag eine Sammlung von ParakletsprÛchen und Ich bin Wor
ten vor. Die Sammlung von Ich bin Worten umfaßte wahrscheinlich die sieben
Bildmotive vom Brot des Lebens (Joh 6, 35 a), Licht der Welt (Joh 8, 12), der TÜr
(Joh 10, 7), des Hirten (Joh 10, 11), der Auferstehung und des Lebens (Joh
11, 25), des Weges, der Wahrheit und des Lebens (Joh 14, 6) und des Weinstocks
(Joh 15, 1). Die Sammlung von ParakletsprÜchen beinhaltete Joh 14, 16 f; 14, 26;
15, 26; 16, 7 11; 16, 13 15.
Neben den zahlreichen Einzeltraditionen der joh. Schule bildet das Alte Testa
ment ein Fundament der joh. Evangelienschreibung. Identifizier und abgrenz
bare Zitate aus dem Alten Testament finden sich in Joh 1, 23; 1, 51; 2, 17; 6, 31;
6, 45; 10, 34; 12, 13. 15. 27. 38. 40; 13, 18; 15, 25; 16, 22; 19, 24. 28. 36. 37; 20, 28;
vgl. ferner Joh 3, 13; 7, 18. 38. 42; 17, 12. Bei den zahlreichen weiteren BezÜgen
auf das Alte Testament kann hÈufig zwischen Zitat, Anspielung und Hinweis
nicht klar unterschieden werden182. Eine Analyse der Zitate zeigt, daß Johannes
in der Regel die LXX benutzte, aber gelegentlich auch den hebrÈischen Text her
anzog. AuffÈllig sind die unterschiedlichen Einleitungsformeln in den beiden
Hauptteilen des Evangeliums. WÈhrend sich im ersten Teil des Evangeliums
fÜnfmal das Partizip gegrame´non in Verbindung mit estı´n (vgl. Joh 2, 17; 6, 31;
6, 45; 10, 34; 12, 14) findet183, sprechen die neuen Einleitungsformeln im zwei
ten Hauptteil des Evangeliums (ab Joh 12, 38) ausdrÜcklich von der ErfÜllung
des Gotteswillens in der Passion Jesu Christi. Das Alte Testament bildet auch den
traditionsgeschichtlichen Hintergrund fÜr zahlreiche Reden im Johannesevange
lium (vgl. z. B. Joh 10; 15), was den selbstverstÈndlichen Gebrauch und die Au
toritÈt des Alten Testamentes innerhalb der joh. Schule und auch fÜr den Evan
gelisten Johannes zeigt.
182 Vgl. dazu G. Reim, Jochanan. Erweiterte Stu- Quotations in the Fourth Gospel, BET 15; Kam-
dien zum alttestamentlichen Hintergrund des Jo- pen 1996; A. Obermann, Die christologische Er-
hannesevangeliums, Erlangen 1995; B. C. Schu- fÜllung der Schrift im Johannesevangelium,
chard, Scripture within Scripture, SBL.DS 133, WUNT 2.83, TÜbingen 1996.
Atlanta 1992; M. J. J. Menken, Old Testament 183 Vgl. ferner kaXẁß eıÓpen in Joh 1, 23; 7, 38.
540 Das Johannesevangelium
a) Gemeinsame ErzÈhltexte
Joh 1, 29 34/Mk 1,9 11/Mt 3, 13 17/Lk 3, 21 f: Taufe Jesu
Joh 2, 14 22/Mk 11, 15 17/Mt 21, 12 13/Lk 19, 45 46: Tempelreinigung
Joh 4, 46 54/Mt 8, 5 13/Lk 7, 1 10: Hauptmann von Kapernaum
Joh 5,8. 9/Mk 2, 11. 12/ Mt 9, 6 b 8/Lk 5, 24 b.25: Befehlswort an den GelÈhmten
Joh 6, 1 15/Mk 6, 32 44/Mt 14, 19 21/Lk 9, 10 b 17: Speisung der 5000
Joh 6, 16 21/Mk 6, 45 52/Mt 14, 22 23: Seewandel
Joh 6, 22 25/Mk 6, 53 f; 8, 10/Mt 14, 34 f: Die Àberfahrt
Joh 6, 26/Mk 8, 11 13/Mt 16, 1 4; 12, 38 39/Lk 11, 16; 11, 29; 12, 54 56: Die Zei
chenforderung
Joh 6, 66 71/Mk 8, 27 30/Mt 17, 13 20/Lk 9, 18 21: Das Petrusbekenntnis
Joh 12, 1 8/Mk 14, 3 9/Mt 26, 6 13/Lk 7, 36 50; 10, 38 42: Die Salbung in Betha
nien
Joh 12, 12 19/Mk 11, 1 10/Mt 21, 1 9/Lk 19, 28 40: Der Einzug in Jerusalem
Joh 18, 3 12/Mk 14, 43 50/Mt 26, 47 56/Lk 22, 47 53: Gefangennahme Jesu
Joh 18, 25 27/Mk 14, 66 72/Mt 26, 69 75/Lk 22, 56 62: Die Verleugnung des Pe
trus
Joh 18, 39 f/Mk 15, 6 14/Mt 27, 15 23/Lk 23, 17 23: Passaamnestie
Joh 19, 1 3/Mk 15, 16 20 a/Mt 27, 27 31 a: Die Verspottung Jesu
Joh 19, 16 b 19/Mk 15, 20 b 26/Mt 27, 31 37/Lk 23, 33 f: Kreuzigung Jesu
Joh 19, 24 b 27/Mk 15, 40 41/Mt 27, 55 56/Lk 23, 49: Die Zeugen unter dem
Kreuz
Joh 19, 38 42/Mk 15, 42 46/Mt 27, 57 60/Lk 23, 50 54: Beerdigung Jesu
Joh 20, 19 29/Lk 24, 36 49: Jesus erscheint den JÜngern
(Joh 20, 2 10. 11 18/Lk 24, 12; 24, 4: Wettlauf zum Grab/Erscheinung der Engel)
(Joh 21, 1 19/Lk 5, 1 11: Der wundersame Fischzug)
Joh 12, 25/Mk 8, 35/Mt 16, 25/Lk 9, 24: Sein Leben lieben oder hassen
Joh 12, 27/Mk 14, 34 ff/Mt 26, 38 ff/Lk 22, 42: Die BetrÜbnis Jesu am ³lberg
Joh 13, 16;15, 20/Mt 10, 24/Lk 6, 40: Der Knecht ist nicht grÚßer als sein Herr
Joh 13, 20/Mk 9, 37 b/Lk 9, 48 b/Mt 10, 40/Lk 10, 16: „Wer den aufnimmt, den ich
sende“
Joh 15, 21/Mk 13, 13/Mt 10, 22 a; 24,9/Lk 21, 17: „Wegen meines Namens“
Joh 16, 32/Mk 14, 27/Mt 26, 31: Die JÜngerzerstreuung
Joh 20, 23/Mt 18, 18: Binden und LÚsen
c) Weitere BerÜhrungen
Joh 11, 1/Lk 10, 38 f: Maria und Martha
Joh 12, 2/Lk 10, 40: Die dienende Martha
Joh 9, 6/Mk 8, 23: ptu´w nur hier im Neuen Testament
Joh 11, 47. 53/Mt 26, 3 f: Die jÜdischen FÜhrer fÈllen den Todesbeschluß
Joh 14, 16/Lk 24, 49: Jesus sendet den Geist/die Kraft aus der HÚhe
d) Kompositionsanalogien
Joh 6, 1 15/Mk 6, 32 44: Speisung; Joh 6, 16 21/Mk 6, 45 52: Seewandel; Joh
6, 22 25/Mk 6, 53 f; 8, 10: Àberfahrt; Joh 6, 26/Mk 8, 11 13: Zeichenforderung;
Joh 6, 66 71/Mk 8, 27 33: Petrusbekenntnis. Joh 18, 3 12/Mk 14, 43 50: Gefan
gennahme; Joh 18, 13 f/Mk 14, 53: Àberstellung an die Hohenpriester; Joh 18, 15
18/Mk 14, 54: Verleugnung des Petrus 1. Teil; Joh 18, 19 22/Mk 14, 55 ff: VerhÚr
durch die Hohenpriester; Joh 18, 25 27/Mk 14, 66 72: Verleugnung des Petrus 2.
Teil; Joh 18, 28/Mk 15, 1: Àbergabe an Pilatus ‚in der FrÜhe‘; Joh 18, 33 38 a/Mk
15, 2 5: VerhÚr durch Pilatus; Joh 18, 38 b 40/Mk 15, 6 12. 15: Amnestieangebot;
Joh 19, 1 5/Mk 15, 15 20: Geißelung und Verspottung.
In der Forschung184 werden fÜnf Modelle fÜr das VerhÈltnis Johannes Synopti
ker diskutiert: 1) Weder der Evangelist Johannes noch die Quellen bzw. spÈteren
Bearbeitungsschichten seines Evangeliums kennen ein synoptisches Evangeli
um185. AffinitÈten bei EinzelÜberlieferungen werden bei dieser These durch die
Aufnahme mÜndlicher Traditionen „aus einem breiten Strom“186 von Jesustradi
tionen erklÈrt. 2) Der Evangelist Johannes setzt kein synoptisches Evangelium
voraus, hingegen zeigt sich bei den vorjohanneischen Traditionen eine Kenntnis
und Rezeption synoptischer Evangelien187. Nicht direkte literarische AbhÈngig
184 Grundlegend fÜr die neuere Forschung wurde and the Synoptics: 1975–1990, in: A. Denaux
P. Gardner-Smith, Saint John and the Synoptic (Hg.), John and the Synoptics, 3–62. D. M. Smith,
Gospels, Cambridge 1938, der fÜr die UnabhÈn- John among the Gospels, Columbia 22001.
gigkeit des Johannesevangeliums von den Synop- 185 Vgl. z. B. J. Becker, Joh I, 41 ff.
tikern plÈdierte; zur Forschungsgeschichte vgl. 186 A. a. O., 45.
J. Blinzler, Johannes und die Synoptiker, SBS 5, 187 Vgl. z. B. A. Dauer, Die Passionsgeschichte im
Stuttgart 1965; A. Dauer, Johannes und Lukas, Johannesevangelium, 121. 164 u. Ú.; ders., Johan-
fzb 50, WÜrzburg 1984, 15–37; F. Neirynck, John nes und Lukas, 297 u. Ú.
542 Das Johannesevangelium
188 M. Labahn, Jesus als Lebensspender, 195 ff 190 Vgl. z. B. C. K. Barrett, Joh, 59–71; M. Lang,
(Joh 4, 46 ff setzt Lk 7, 1–20 voraus); ders., Offen- Johannes und die Synoptiker, passim.
barung in Zeichen und Wort, 272–275 (Joh 6, 1– 191 J. Becker, Joh I, 47.
21 setzt Mk 6, 30–52 voraus). – Zum PhÈnomen 192 So bezeichnet z. B. R. T. Fortna, The Fourth
der secondary orality vgl. M. Labahn, Jesus als Le- Gospel and its Predecessor, Edinburgh 1989, 206,
bensspender, 195 (Lit.). sein ‚Gospel of Signs‘ als erstes christliches Evan-
189 Vgl. z. B. H. Thyen, Art. Johannesevangelium, gelium, „purer, simpler, and thus almost certainly
208. earlier than Mark.“
Traditionen, Quellen 543
sionsbericht bereits auf vorjoh. Ebene lÈßt sich aber nicht nachweisen193. Zudem
wird die Existenz einer ‚Zeichenquelle‘ zu Recht immer mehr problematisiert, so
daß ein ‚Zeichenevangelium‘ als Vorstufe zum Johannesevangelium entfÈllt.
Auch andere Vorformen wie eine ‚Grundschrift‘ lassen sich weder quellenmÈßig
exakt rekonstruieren noch formgeschichtlich Überzeugend klassifizieren. Der
RÜckgriff auf hypothetische Vorlagen vermag das Problem nicht zu lÚsen, son
dern verschiebt es in das nicht mehr aufhellbare Dunkel verlorener Literatur.
Vielmehr weist die Einzigartigkeit und Neuheit der Gattung Evangelium auf
Markus als der einzig existierenden Vorlage fÜr Johannes. Zudem Übernimmt
Johannes von Markus auch die beiden konstitutiven Elemente der Evangelien
gattung: 1) Jesus Christus als das redende und handelnde Subjekt des Evange
liums (vgl. Mk 1, 1; 1, 14; fÜr Johannes die ParakletsprÜche und die ego eimi
Worte); 2) Kreuz und Auferstehung als die Fluchtpunkte der Evangelienkompo
sition (s. o. 3.4.5/8.5.5).
Von großer Bedeutung sind ferner die Kompositionsanalogien zwischen dem
markinischen und johanneischen Passionsbericht194. Offenkundig gestaltete Jo
hannes zentrale Abschnitte seines Passionsberichtes in Anlehnung an markini
sche Textsequenzen. Die Unterschiede lassen sich durch die Aufnahme vorjoh.
Sondertraditionen, die redaktionellen Abschnitte und die besonderen theologi
schen Intentionen des Evangelisten erklÈren. Auch das Lukasevangelium dÜrfte
Johannes gekannt haben, denn die zahlreichen Àbereinstimmungen weisen auf
Verbindungslinien auf vorlk. und vorjoh. Ebene hin. War das Lukasevangelium
innerhalb der joh. Schule bekannt, dann lÈßt sich kein Überzeugendes Kriterium
nennen, warum der Evangelist es nicht gekannt haben soll. Johannes nahm al
lerdings weder das Markusevangelium noch das Lukasevangelium in der Weise
auf, wie es sich aus dem literarischen VerhÈltnis der synoptischen Evangelien
her nahelegen wÜrde. Nicht vollstÈndige Àbernahme des Stoffes, sondern ge
zielte Aufnahme einzelner Traditionen nach dem in Joh 20, 30 f angegebenen
Ziel der Evangelienschreibung kennzeichnen die Arbeitsweise des Evangelisten.
Johannes verfÜgte Über zahlreiche Sondertraditionen seiner Schule, so daß er
Markus und Lukas nicht in einem extensiven Sinne nutzen mußte195.
193 Vgl. dazu J. M. Robinson, Die johanneische auch: F. Neirynck, John and the Synoptics, in:
Entwicklungslinie, in: H. KÚster – J. M. Robinson, M. de Jonge (Hg.), L'vangile de Jean, BETL 44,
Entwicklungslinien durch die Welt des frÜhen Leuven 1977, 73–106; M. Sabbe, The Arrest of Je-
Christentums, TÜbingen 1971, 230 ff; U. Schnelle, sus in Jn 18, 1–11 and it's Relation to the Synoptic
Antidoketische Christologie, 171–177. Gospels, in: M. de Jonge (Hg.), L'vangile de
194 Vgl. U. Schnelle, Johannes und die Synopti- Jean, 203–234; W. Schenk, Der Passionsbericht
ker, 1805–1813. nach Markus, GÜtersloh 1974, 127 ff; K. Wengst,
195 FÜr eine Kenntnis (eines oder mehrerer) syn- BedrÈngte Gemeinde, 182; P. Stuhlmacher, Zum
optischer Evangelien durch Johannes plÈdieren Thema: Das Evangelium und die Evangelien, in:
mit unterschiedlicher BegrÜndung in neuerer Zeit Das Evangelium und die Evangelien, TÜbingen
544 Das Johannesevangelium
Eine literarische Benutzung der echten Paulusbriefe durch Johannes lÈßt sich
nicht belegen, die zahlreichen Àbereinstimmungen weisen aber darauf hin, daß
eine traditionsgeschichtliche Verbindung zwischen Paulus und Johannes, der
paulinischen und johanneischen Schule in Ephesus bestand196. Das Johannesevan
gelium lÈßt einen sehr komplexen traditionsgeschichtlichen Hintergrund erken
nen. Der Evangelist nahm bei seiner Evangelienschreibung zahlreiche Traditio
nen der johanneischen Schule auf, selbstverstÈndlich fand er im Alten Testa
ment Zeugnis und BestÈtigung fÜr das Christusgeschehen, er rezipierte in unter
schiedlicher IntensitÈt das Markus und Lukasevangelium und griff Gedanken
der paulinischen Theologie auf. Die Vielfalt des Materials veranlaßte ihn zu einer
Auswahl (vgl. Joh 20, 30), wobei er das Kriterium fÜr seine Vorgehensweise in
Joh 20, 31 nennt. Er integrierte jene Traditionen in sein Evangelium, die nach
seiner Meinung geeignet waren, ein Verstehen des Christusgeschehens und den
Glauben an Jesus Christus als den fleischgewordenen Gottessohn zu fÚrdern.
Dieser Rezeptionsvorgang lÈßt die theologische und schriftstellerische Kompe
tenz des 4. Evangelisten erkennen. Johannes gestaltet Tradition und Redaktion
zu einem erzÈhlerisch und theologisch neuen Ganzen aus.
1983, 15; Rosel Baum-Bodenbender, Hoheit in diesem Band ferner die BeitrÈge von F. Neirynck,
Niedrigkeit, fzb 49, WÜrzburg 1984, 199 f.350; C. K. Barrett, R. Kieffer, F. Vouga, U. Busse,
T. A. Mohr, Markus- und Johannespassion, M. Sabbe); M. Hengel, Die johanneische Frage,
AThANT 70, ZÜrich 1982, 250; E. Stegemann, Zur 208 f; U. Wilckens, Joh, 2–5; L. Schenke, Joh, 432.
Tempelreinigung im Johannesevangelium, in: 196 Vgl. dazu D. Zeller, Paulus und Johannes,
Die HebrÈische Bibel und ihre zweifache Nachge- BZ 27 (1983), 167–182; R. Schnackenburg, Pauli-
schichte (FS R. Rendtorff), hg. v. E. Blum u. a., nische und johanneische Christologie, in: ders.,
Neukirchen 1990, 507; W. Schmithals, Johannes- Joh IV, 102–118; U. Schnelle, Paulus und Johan-
evangelium und Johannesbriefe, 123; H. Thyen, nes (s. o. 8.1.4); R. Schnackenburg, Ephesus: Ent-
Johannes und die Synoptiker, in: A. Denaux wicklung einer Gemeinde von Paulus zu Johan-
(Hg.), John and the Synoptics, 81–107 (vgl. in nes (s. o. 8.1.4).
Religionsgeschichtliche Stellung 545
197 L. Schottroff, Der Glaubende und die feindli- 201 Vgl. zur Chronologie mandÈischer Texte
che Welt, 295. K. Rudolph, Die MandÈer I, FRLANT 74, GÚttin-
198 J. Becker, Joh I, 55; vgl. ferner H. M. Schenke gen 1964, 53–58.
– K. M. Fischer, Einleitung II, 188 ff; W. Schmit- 202 Als maßgebliche deutsche Àbersetzung vgl.
hals, Johannesevangelium und Johannesbriefe, jetzt H. M. Schenke – H.-G. Bethge – U. U. Kaiser
149, die das 4. Evangelium als Zeugnis christli- (Hg.), Nag Hammadi Deutsch I, GCS N. F. 8, Berlin
cher Gnosis verstehen. 2001.
199 Darauf weist mit Nachdruck M. Hengel, Der 203 Vgl. die Auflistung bei C. Colpe, Heidnische,
Sohn Gottes, TÜbingen 21977, 53 ff, hin. jÜdische und christliche Àberlieferung in den
200 A. BÚhlig, Neue Initiativen zur Erschließung Schriften von Nag Hammadi III, JAC 17 (1974),
der koptisch-manichÈischen Bibliothek von Me- (109–125) 123.
dinet Madi, ZNW 80 (1989), (240–260) 255.
546 Das Johannesevangelium
204 Vgl. K. Rudolph, Die Nag Hammadi-Texte und 207 Vgl. Chr. Markschies, Art. Gnosis/Gnostizis-
ihre Bedeutung fÜr die Gnosisforschung, ThR 50 mus, NBL I (1991), 869: „Es ist unwahrscheinlich,
(1985), (1–40) 20 f. daß es eine vorchristl. Gnosis gab; es sind keiner-
205 Von einer umfassenden Rezeption des JohEv lei Quellen dafÜr erhalten.“
in der Gnosis kann allerdings nicht die Rede sein; 208 Vgl. C. Colpe, Art. Gnosis II, RAC 11 (1981),
vgl. W. G. RÚhl, Die Rezeption des Johannesevan- 542.
geliums in christlich-gnostischen Schriften aus 209 Treffend H. Thyen, Art. Johannesevangelium,
Nag Hammadi, EHS 32. 428, Frankfurt 1991. 220: „Es kann wohl gesagt werden, daß der gno-
206 Die Gnosis war zunÈchst ein eigenstÈndiges stische ErlÚsermythos nicht als seine Tiefenstruk-
religiÚses PhÈnomen, vgl. dazu K. W. TrÚger, Das tur hinter, sondern noch vor dem Johannesevan-
Christentum im zweiten Jahrhundert, Berlin gelium liegt.“
1988, 116–128.
Religionsgeschichtliche Stellung 547
W. Bauer210 und R. Bultmann211 die beiden zentralen Reden in Joh 10, 1 18 und
Joh 15, 1 8. 9 17 auf gnostischem Hintergrund und werteten das atl. Vergleichs
material ab. DemgegenÜber lÈßt sich zeigen, daß beide Reden traditionsge
schichtlich von atl. Vorstellungen geprÈgt sind (vgl. fÜr Joh 10 z. B. Ez 34212, fÜr
Joh 15 z. B. Jer 2, 21; Jes 5, 1 7 a213), so daß die erheblich spÈteren gnostischen
Texte Überhaupt nicht herangezogen werden mÜssen, um die joh. Bilder und
Vorstellungswelt zu erklÈren. Kein Begriff und keine Vorstellung im Johannes
evangelium verweist zwangslÈufig auf einen gnostischen Ursprung, vielmehr
lassen sich durchweg Parallelen im Alten Testament, im antiken Judentum und
in Schriften des Urchristentums finden214.
Àber die NÈhe des Johannesevangeliums zur Gnosis entscheidet in einem er
heblichen Maß die Definition dessen, was Gnosis ist. Großen Einfluß hatte die
im Anschluß an H. Jonas durchgefÜhrte Definition der Gnosis als ein spezifisches
antikes DaseinsverstÈndnis215. Diese weite Fassung des Gnosisbegriffes fÜhrte
dazu, daß sehr unterschiedliche Bewegungen der SpÈtantike unter diesem Ober
begriff subsumiert wurden, was die konkrete religionsgeschichtliche Forschung
erschwerte. Auf dem Messina Kongreß 1966 wurde der Vorschlag gemacht, zwi
schen ‚Gnostizismus‘ und ‚Gnosis‘ zu unterscheiden. ‚Gnostizismus‘ benennt
demnach eine bestimmte „Gruppe von Systemen des 2. Jhs. n. Chr. . . . Im Ge
gensatz dazu wÜrde man unter ‚Gnosis‘ ein ‚Wissen um gÚttliche Geheimnisse,
das einer Elite vorbehalten ist‘, verstehen.“216 Auch diese Interpretation ist nicht
weiterfÜhrend, weil faktisch nur Begriffe ausgetauscht wurden: Was frÜher
‚Gnosis‘ genannt wurde, soll nun ‚Gnostizismus‘ heißen. Innovativ sind daher
nur Definitionen, die prÈzis benennen, welche Grundkonzeption vorhanden
sein muß, um von Gnosis zu sprechen. G. Sellin wÈhlt deshalb als Definition von
Gnostizismus: „Die Welt (und der Mensch als irdisches Wesen) ist die SchÚpfung
eines aus der Lichtwelt gefallenen Wesens (Demiurg) und damit Produkt wider
gÚttlicher Macht.“217 Wendet man diese prÈzise Definition von Gnostizismus
210 Vgl. W. Bauer, Joh, 143 f.189 f. gnostische Weltanschauung bzw. auf einen ent-
211 Vgl. R. Bultmann, Joh, 285. 288; 407 A 6. wickelten Mythos geschlossen werden. Vielmehr
212 Vgl. hier M. R. Ruiz, El Discurso del buen Pa- gibt es keine einheitliche gnostische Terminolo-
stor (Jn 10, 1–18), EstB XLVIII (1990), 5–45; gie.“
J. Beutler – R. T. Fortna, The Shepherd Discourse 215 Vgl. H. Jonas, Gnosis und spÈtantiker Geist I,
of John 10 and it's Context, MSSNTS 67, Cam- FRLANT 51, GÚttingen 31964, 12 ff.
bridge 1991, Beate Kowalski, Die Hirtenrede (Joh 216 Vgl. C. Colpe, VorschlÈge des Messina-Kon-
10, 1–18) im Kontext des Johannesevangeliums, gresses von 1966 zur Gnosis-Forschung, in: Chri-
SBB 31, Stuttgart 1996. stentum und Gnosis, hg. v. W. Eltester, BZNW 37,
213 Vgl. dazu R. Borig, Der wahre Weinstock, Berlin 1969, (129–132) 129 f.
StANT 16, MÜnchen 1967. 217 G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der
214 Vgl. als methodische Regel K. Berger, Art. Toten (s. o. 2.5.1), 200. Eine andere Definition
Gnosis/Gnostizismus I, TRE 13 (1984), 520: „Aus bietet C. Colpe, Art. Gnosis II, RAC 11 (1981),
einzelnen Begriffen darf nicht bereits auf eine 559: „Gnosis ist die Funktion eines Erkenntnisor-
548 Das Johannesevangelium
bzw. Gnosis auf das Johannesevangelium an, so zeigen sich deutlich die Unter
schiede des 4. Evangeliums zu gnostischem Denken. Schon im Prolog ist von ei
ner Vorzeitigkeit des Guten die Rede, die SchÚpfung verdankt sich dem Wirken
des prÈexistenten Logos, durch den alles Seiende geschaffen wurde (vgl. Joh
1, 1 4). Aus Liebe sandte Gott seinen Sohn in die Welt, um die an Jesus Christus
Glaubenden zu retten (Joh 3, 16; 1 Joh 4,9). Jesus erscheint als der swtv`r tou˜
kósmou (Joh 4, 42, vgl. 1 Joh 2, 2), er ist das ‚Brot des Lebens‘ (Joh 6, 30 50) und
das ‚Licht der Welt‘ (Joh 8, 12). Grundlegend unterscheidet sich das Johannes
evangelium ferner vom gnostischen Denken durch seine kreuzestheologische
Ausrichtung. Es verankert das Heil in einem einmaligen geschichtlichen Gesche
hen und hebt sich damit radikal von gnostischem Daseins und ErlÚsungsver
stÈndnis ab218. Die potentielle ‚Gnostisierbarkeit‘ joh. Begriffe und Vorstellungen
und ihr Vollzug in spÈteren gnostischen Schriften ist nicht identisch mit ‚Gnosis‘
im Johannesevangelium!
Die religionsgeschichtliche Stellung des Johannesevangeliums219 lÈßt sich
ebensowenig wie sein traditionsgeschichtlicher Hintergrund monokausal erklÈ
ren. Es wurzelt im Alten Testament und in der Weisheitsliteratur des hellenisti
schen Judentums (vgl. z. B. Joh 1, 1 18; 3, 16), zugleich weist das 4. Evangelium
eine gewisse NÈhe zu Qumran und Test XII auf (Dualismus)220, und einzelne
Vorstellungen haben Parallelen in der hellenistischen Philosophie221 und spÈte
ren gnostischen Texten, ohne daß daraus AbhÈngigkeiten hergestellt werden
kÚnnen.
gans, das Substanz ist, die dualistisch in zwei Hy- ker?, TheolVers VII, Berlin 1976, 61–80; H. Koh-
postasen zerspalten ist und durch die Gnosis wie- ler, Kreuz und Menschwerdung, 137–139.
der zusammengefÜhrt wird.“ Als motivische Cha- 219 Das relevante religionsgeschichtliche Ver-
rakteristika der Gnosis nennt Chr. Markschies, gleichsmaterial findet sich in: Neuer Wettstein I/
Art. Gnosis/Gnostizismus, 870: 1) Die Erfahrung 2. Texte zum Johannesevangelium, hg. v.
eines vÚllig jenseitigen obersten Gottes; 2) Die U. Schnelle u. Mitarb. v. M. Labahn u. M. Lang,
EinfÜhrung weiterer gÚttlicher Figuren; 3) Die Berlin 2001.
EinschÈtzung von Welt und Materie als bÚser 220 Vgl. dazu O. BÚcher, Der johanneische Dualis-
SchÚpfung; 4) Die EinfÜhrung eines niedrigen mus im Zusammenhang des nachbiblischen Ju-
SchÚpfergottes; 5) ErklÈrung des negativen Jetzt- dentums, GÜtersloh 1965; J. H. Charlesworth
zustandes durch ein mythologisches Drama; 6) (Hg.), John and Qumran, London 1972; R. Berg-
Die durch eine jenseitige ErlÚsergestalt gewÈhrte meier, Glaube als Gabe bei Johannes, BWANT
Erkenntnis Über diesen Zustand; 7) ErlÚsung 112, Stuttgart 1980.
durch Gnosis; 8) Vorherbestimmung der Men- 221 Vgl. zur antiken Logosphilosophie B. Jendorff,
schenklassen; 9) Ein ausgeprÈgter Dualismus auf Der Logosbegriff, EHS R. XX, Bd. 19, Frankfurt
allen Ebenen. Als EinfÜhrungen in die gnosti- 1976; zur Vorstellung der nicht ortsgebundenen
schen Systeme vgl. Chr. Markschies, Die Gnosis, und geisterfÜllten Verehrung Gottes vgl. Joh
MÜnchen 2001; K.-W. TrÚger, Die Gnosis, Frei- 4, 21–24 und Sen, Ep 41, 1–2; vgl. ferner D. Zeller,
burg 2001. Jesus und die Philosophen vor dem Richter (zu
218 Vgl. dazu K. W. TrÚger, Ja oder Nein zur Welt. Joh 19,8–11), BZ 37 (1993), 88–92.
War der Evangelist Johannes Christ oder Gnosti-
Theologische Grundgedanken 549
222 Vgl. F. Mußner, Sehweise, 45 ff; U. Schnelle, Inkarnationsgedanken liegt nach W. G. RÚhl, Re-
Perspektiven der Johannesexegese, SNTU 15 zeption des Johannesevangeliums (s. o. 8.5.8),
(1990), (59–72) 61 ff. der Grund fÜr die nur begrenzte Aufnahme des 4.
223 Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der Evangeliums in gnostischen Kreisen: „Diesen
Parakletvorstellung vgl. U. B. MÜller, Die Para- Christus nach dem Fleisch wollten die Gnostiker
kletvorstellung im Johannesevangelium, ZThK 71 nicht kennen, da ihnen das Fleisch – die Leiblich-
(1975), 31–77. keit des Menschseins – nur Ausdruck Èußerster
224 Vgl. H. Weder, Die Menschwerdung Gottes, Entfremdung vom Heil war, die es zu Überwinden
352; ferner M. M. Thompson, The Humanity of galt“ (a. a. O., 209 f).
Jesus in the Fourth Gospel, Philadelphia 1988. Im
550 Das Johannesevangelium
Sohn den Willen des Vaters (vgl. Joh 13, 1. 32; 14, 31; 17, 5; 19, 11 a u. Ú.), vollen
det sich die Schrift (Joh 19, 28) und spricht der fleischgewordene Christus tete´le
stai (19, 30). Johannes liegt alles an der IdentitÈt des PrÈexistenten und Inkar
nierten mit dem Gekreuzigten und ErhÚhten, wie die Thomasperikope Joh
20, 24 29 geradezu handgreiflich dokumentiert. Der so schmachvoll am Kreuz
Gestorbene wurde von Gott erhÚht und ist das lebendige Wort Gottes. Die ErhÚ
hung des Sohnes fÈllt bei Johannes mit dem Kreuz zusammen (vgl. Joh 12, 27
33), das Kreuz ist bleibender Ort des Heils.
Der fÜr das joh. Denken konstitutive Dualismus muß ebenfalls aus der nach
Ústerlichen Anamnese des Christusgeschehens verstanden werden. Johannes be
denkt die Entscheidung der Menschen gegenÜber dem fleischgewordenen Logos
in den Kategorien der Ablehnung und Annahme225. Die Glaubenden sind ek
Xeou˜ (vgl. Joh 1, 13; 8, 47), sie hÚren Gottes Wort (vgl. Joh 5, 24; 6, 45) und voll
bringen den Willen Gottes (vgl. Joh 3, 21; 13, 15; 15, 14). Sie sind Kinder des
Lichtes (Joh 12, 36 a) und aus der Wahrheit (Joh 18, 37). DemgegenÜber ist der
Unglaube der Welt verhaftet, die Unglaubenden sind aus der Welt und haben
den Teufel zum Vater. Damit vertritt Johannes keinen protologischen Dualis
mus, sondern fÜr ihn vollzieht sich der Àbergang von dem Verhaftetsein an die
Welt in den Bereich Gottes durch den Glauben und somit geschichtlich. Im
Glauben tritt der Mensch in den Heilsbereich Gottes ein, der Glaube ist an die
Person Jesu Christi gebunden. Der Glaube an Jesus ist im Johannesevangelium
Glaube an den sich in der Sendung des Sohnes offenbarenden Gott (vgl. Joh
5, 24; 6, 29; 11, 42; 12, 44; 17,8). Gerade als rettendes Geschehen ist der Glaube
bei Johannes nicht folgenlos, denn er erschließt das Heilsgut des ewigen Lebens
(vgl. Joh 3, 15 f; 5, 24; 6, 47; 11, 25 f). Das Gericht gehÚrt fÜr die Glaubenden
schon der Vergangenheit an, der Glaube rettet vor dem kommenden Zorn des
Richters (vgl. Joh 3, 18). Somit entscheidet der Glaube Über Leben und Tod, er
deckt die wahre Situation des Menschen auf. Gegen einen protologischen Dua
lismus bei Johannes spricht auch das Kosmos VerstÈndnis. Bereits in der SchÚp
fung zeigt sich eine Vorzeitigkeit des Guten (vgl. Joh 1, 1 4), erst nach der
SchÚpfung erscheint die dualistische Licht Finsternis Antithese (vgl. Joh 1, 5).
Aus Liebe sandte Gott seinen Sohn in die Welt (vgl. Joh 3, 16; 10, 36). Jesus
Christus gibt als das vom Himmel herabgekommene Brot dem Kosmos Leben
(Joh 6, 33), er ist das Licht der Welt (Joh 9, 5), Jesus kam, um den Kosmos zu ret
ten (vgl. Joh 3, 17; 4, 42; 12, 47).
Mit der nachÚsterlichen Anamnese und dem Dualismus ursÈchlich verbun
225 Vgl. hier neben T. Onuki, Gemeinde und Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v.
Welt; bes. F. Mußner, Die ‚semantische Achse‘ H. FrankemÚlle u. K. Kertelge, Freiburg 1989,
des Johannesevangeliums. Ein Versuch, in: Vom 246–255.
Theologische Grundgedanken 551
den sind die rÈumlichen Dimensionen des joh. Denkens226. Die im antiken Welt
bild getrennten RÈume des gÚttlichen ‚Oben‘ und des irdischen ‚Unten‘ sind in
Jesus Christus vereint. Der Offenbarer „ist von oben her“ (Joh 8, 23), er kommt
vom Himmel und ist Über allem (vgl. Joh 3, 31; 6, 38). Àber dem Inkarnierten ist
der Himmel offen, als auf und absteigender Menschensohn ist er mit der himm
lischen Welt verbunden, in ihm vereinen sich Himmel und Erde (vgl. Joh 1, 51;
3, 13). Der natÜrliche Mensch ist auf das ‚Untere‘ ausgerichtet (vgl. Joh 8, 23), er
muß deshalb ‚von neuem‘ und d. h. ‚von oben‘ geboren werden (Joh 3, 3. 5. 7).
Der VerschrÈnkung der RÈume entspricht bei Johannes eine VerschrÈnkung der
Zeitebenen, traditionell zukÜnftige VorgÈnge reichen bereits in die Gegenwart
hinein (vgl. Joh 5, 25). Die eschatologischen Ereignisse haben eine prÈsentische
RealitÈt, das ZukÜnftige bestimmt die Gegenwart (vgl. Joh 3, 18). In der gegen
wÈrtigen Begegnung mit dem Wort des Offenbarers vollzieht sich bereits das Ge
richt, in der Gegenwart fÈllt die Entscheidung Über die Zukunft (vgl. Joh 8, 51
u. Ú.). Weil im Glauben das Heilsgut des ewigen Lebens gegenwÈrtig ist, ereignet
sich der Schritt vom Leben zum Tod nicht in der Zukunft, sondern er liegt fÜr
den Glaubenden bereits in der Vergangenheit (vgl. Joh 5, 24). Die im Evangeli
um dominierenden prÈsentischen Aussagen decken aber das gesamte Spektrum
der joh. Eschatologie nicht ab, vielmehr erfordert gerade der spezifisch joh.
Denkansatz auch futurisch eschatologische Aussagen. Die nachÚsterliche Anam
nese vollzieht sich ja bereits in einem Zeitabstand, von der textinternen Ebene
des Evangeliums aus gesehen befinden sich die joh. Christen bereits in der Zu
kunft, so daß sie gerade futurisch eschatologische Aussagen auf ihre Gegenwart
beziehen dÜrfen. Der Glaube hebt die Zeit nicht auf, sondern gibt ihr eine neue
QualitÈt und Ausrichtung. Johannes entfaltet diese Thematik vor allem in den
Abschiedsreden, deren eigentlicher Adressat die textexterne Leser und HÚrerge
meinde ist. So blickt Joh 14, 2 f auf die Parusie Christi, und auch Joh 14, 18 21;
14, 28; 16, 13 e; 16, 16 thematisieren die erwartete Wiederkunft Christi. Auch die
AnkÜndigung einer endzeitlichen Totenauferweckung in Joh 5, 28. 29; 6, 39.
40. 44. 54 zielt auf die textexterne Lesergemeinde. In der Gegenwart fiel die Ent
scheidung Über die Zukunft, der Glaube bewirkt aber nicht die Auferweckung
von den Toten, der joh. Lebensbegriff schließt den physischen Tod nicht aus.
Vielmehr vollzieht sich die Auferstehung als Wiedererweckung bzw. Neuschaf
fung des Lebens in der Begegnung mit Jesus, dem der Vater die Macht gab, Men
schen vom Tod aufzuerwecken (vgl. Joh 5, 21). Auf der textinternen Ebene illu
striert dies die Lazarus Perikope, in der Jesus als Herr Über Leben und Tod er
scheint (vgl. Joh 11, 1 44). Die joh. Gemeinde hingegen befindet sich in einer
gÈnzlich anderen Situation. Jesus ist beim Vater, und erst bei der Parusie werden
die Glaubenden ihm begegnen. Dann wird er vollziehen, was in der Gegenwart
bereits entschieden, aber noch nicht eingetreten ist: Die Auferweckung von den
Toten. PrÈsentische und futurische Eschatologie sind bei Johannes keine Gegen
sÈtze, sondern sie ergÈnzen einander. Was in der Gegenwart festgeschrieben
wurde, hat auch in der Zukunft Bestand. Die prÈsentischen Heilsaussagen wer
den dadurch nicht relativiert, sondern unter der Perspektive der Gemeindereali
tÈt prÈzisiert227.
227 FÜr die sachliche Notwendigkeit futurischer manns Interpretation der joh. Eschatologie findet
Aussagen innerhalb der joh. Eschatologie votie- sich nun bei J. Frey, Die johanneische Eschatolo-
ren u. a. C. K. Barrett, Joh, 83–86; W. G. KÜmmel, gie I. II. III., passim.
Die Theologie des Neuen Testaments, GNT 3, GÚt- 228 An Bultmanns Kommentar orientierten sich
tingen 31976, 261 f; L. Goppelt, Theologie des nachhaltig S. Schulz, Das Evangelium nach Jo-
Neuen Testaments, hg. v. J. Roloff, GÚttingen hannes, NTD 4, GÚttingen 1972; J. Becker, Das
3
1978, 640–643; J. Gnilka, Neutestamentliche Evangelium nach Johannes I. II.
Theologie, NEB, WÜrzburg 1989, 140 f; U. Wil- 229 Zur Kritik an Bultmann vgl. zuletzt: J. Frey,
ckens, Joh, 119–121. Eine Gegenposition zu Bult- Die johanneische Eschatologie I, 119–150.
Tendenzen der neueren Forschung 553
Zudem: „Die Leser brauchen nicht hinter den Text zu blicken, um ihn zu verste
hen. Ich halte die Meinung fÜr falsch, das Verstehen des JohEv hÈnge von der
Einsicht in seine Vorgeschichte ab, ohne leugnen zu wollen, daß solches Wissen
interessant und hilfreich sein kÚnnte.“230 Das Johannesevangelium wird in der
neuesten Exegese als ein kohÈrenter und literarisch hÚchst anspruchsvoller Text
wahrgenommen. Alle Teiltexte bis auf die Satzebene hinunter mÜssen aus dem
Ganzen des Evangeliums als dessen Konstituenten begriffen werden. Die Arbei
ten von R. A. Culpepper und H. Thyen haben diese neue Sicht wesentlich gefÚr
dert, Th. Popp weist nun an den SchlÜsseltexten Joh 3 und 6 die hohe literarische
und theologische Kompetenz des 4. Evangelisten nach. Nicht eine mÚgliche Vor
oder Nachgeschichte entscheidet Über den Sinn johanneischer Texte, vielmehr
liegt der VerstehensschlÜssel der Einzeltexte immer in der intratextuellen Welt
des gesamten 4. Evangeliums231. Die LektÜre auf rein synchroner Ebene und die
Integration literaturwissenschaftlicher Fragestellungen lenken den Blick vom
Autor und seiner Aussageabsicht auf die Leser bzw. HÚrer des Evangeliums, ihre
Verstehensbedingungen und ihre Rezeption des Textes. An die Stelle der werk
oder autorenzentrierten Betrachtungsweise tritt nun ein funktionales VerstÈnd
nis des Johannesevangeliums als eines literarischen Werkes im Rahmen einer be
stimmten Kommunikationsstruktur.
Die neue Wahrnehmung des 4. Evangeliums als ein in sich stimmiges sprach
liches Gebilde, bei dem alles miteinander kommuniziert (IntratextualitÈt) und
das durchgehend auf andere Textgebilde bezogen ist (IntertextualitÈt), hatte
ebenso nachhaltige Auswirkungen auf die inhaltliche Bestimmung der johan
neischen Theologie wie die Erkenntnis, daß Johannes religionsgeschichtlich
nicht monokausal im Kontext der Gnosis verortet werden kann. Im Zentrum der
aktuellen Debatte stehen deshalb nicht zufÈllig die Inkarnations , Kreuzes und
Gesandtenchristologie, denn hier fallen die grundlegenden Entscheidungen fÜr
die Gesamtbeurteilung des 4. Evangeliums. Literarische, religionsgeschichtliche
und theologische Beurteilungen sind gerade bei dieser Zentralfrage der johan
neischen Christologie untrennbar miteinander verbunden. J. Becker sieht im
Anschluß an R. Bultmann allein in der Sendung und RÜckkehr des Sohnes im
230 L. Schenke, Joh, 7. wendet er sich dem Endtext des Evangeliums zu,
231 Vgl. F. J. Moloney, John, 13: „The following das er als literarisch geglÜcktes und theologisch
commentary works from the conviction that it is hochbedeutsames Werk ansieht. Er will die Leser
possible to identify a strong narrative unity across durch den Text des Buches fÜhren, sie auf Linien
the Fourth Gospel“. Auch L. Schenke untersucht und Knoten, Themen und Echos aufmerksam
in seinem leserorientierten Kommentar weder die machen und an dem im Text sich vollziehenden
Vorgeschichte des Johannesevangeliums, noch Kommunikationsgeschehen zwischen dem Autor
analysiert er seine ‚Schichten‘ oder unterscheidet und seinen ErsthÚrern bzw. Erstlesern beteili-
zwischen Tradition und Redaktion. Vielmehr gen.
554 Das Johannesevangelium
232 J. Becker, Joh II, 470. 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der urchrist-
233 A. a. O., 472. lichen Exegese, JBTh 4 (1989), 249–288.
234 U. B. MÜller, Zur EigentÜmlichkeit des Johan- 238 Vgl. H. Weder, Die Asymmetrie des Retten-
nesevangeliums, ZNW 88 (1997) 40. den, in: ders., Einblicke ins Evangelium, GÚttin-
235 Vgl. U. Schnelle, Antidoketische Christologie, gen (1992), 435–465.
189–192; ders., Die Tempelreinigung und die 239 Vgl. Th. KnÚppler, Die theologica crucis des
Christologie des Johannesevangeliums, NTS 42 Johannesevangeliums, WMANT 69, Neukirchen
(1996), 359–373. 1994.
236 Vgl. H. Kohler, Kreuz- und Menschwerdung 240 Vgl. zuletzt J. Zumstein, Johannes 19, 25–27,
im Johannesevangelium, passim. ZThK 94 (1997), 131–154.
237 Vgl. M. Hengel, Die Schriftauslegung des
Tendenzen der neueren Forschung 555
241 Anders H.-Chr. Kammler, Christologie und gelist durchgehend eine streng prÈsentische
Eschatologie, passim, der betont, daß der 4. Evan- Eschatologie vertritt.
9. Die Johannesoffenbarung
9.1 Literatur
Kommentare
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9.2 Verfasser
Ihrem Selbstanspruch nach geht die Offenbarung auf Jesus Christus und Über
ihn auf Gott zurÜck (Offb 1, 1 a; vgl. 22, 16). Als Àbermittler des Inhaltes fungiert
der dou˜loß LIwánnvß (Offb 1, 1 b). Er bezeugt die Wahrheit des Geschauten und
Verfasser 559
GehÚrten (Offb 1, 2; 22,8) und spricht in Offb 1, 4 die Gemeinden Kleinasiens als
AutoritÈtsperson an. Dennoch fÜhrt er keine besonderen Amts oder Funktions
bezeichnungen, sondern schließt sich durch die PrÈdikate adelfóß und sug
koinwnóß mit den angeschriebenen Gemeinden zusammen (Offb 1,9). Der Seher
Johannes charakterisiert seine Botschaft wiederholt als profvteı´a (Offb 1, 3;
19, 10; 22, 7. 10. 18. 19), nach Offb 10, 11 beauftragen die Engel Johannes aus
drÜcklich: „Du mußt wieder prophetisch reden Über VÚlker, Nationen, Sprachen
und viele KÚnige.“ Johannes versteht sich offenbar als Prophet, nach Offb 22,9
ist er fÜhrendes Mitglied eines urchristlichen Prophetenkreises (vgl. Offb 22, 6)1.
Diesen Propheten gewÈhrte Jesus die in der Offenbarung fixierten Einblicke in
das Geschichtshandeln Gottes (Offb 22, 16), um so die Gemeinden zu stÈrken.
Die Breite des angeschriebenen Adressatenkreises lÈßt vermuten, daß der Seher
Johannes zuvor als Wanderprophet in den namentlich genannten Gemeinden
wirkte und sich nun in der Verfolgungssituation an sie wendet2. Innerhalb der
urchristlichen Theologiegeschichte finden sich dafÜr Parallelen im syrischen Kir
chengebiet, sowohl MatthÈus (vgl. Mt 10, 41; 23, 34) als auch die Didache (vgl.
Did 11, 1 12; 13; 15, 1) setzen Wanderprophetentum voraus3. Die traditionsge
schichtlichen Verbindungen zum syrisch palÈstinischen Àberlieferungsstrom
und das semitisierende Griechisch (s. u. 9.7) weisen ebenfalls auf Syrien/PalÈsti
na als Heimat des Sehers. Es ist gut denkbar, daß Johannes nach dem JÜdischen
Krieg (66 73/74 n. Chr.) wie andere Judenchristen (vgl. Euseb, HE III 31, 3; 37;
39; V 24, 2) PalÈstina verließ und in Kleinasien wirkte4.
In der altkirchlichen Tradition wird der Seher Johannes erstmals bei Justin
(Dial 81, 4) mit dem Zebedaiden Johannes identifiziert5. IrenÈus fÜhrt sowohl
die Offb als auch das 4. Evangelium und die Johannesbriefe auf den HerrenjÜn
ger Johannes zurÜck (vgl. Haer II 22, 5; III 1, 2; 3, 4; 11, 7; V 30, 1. 3). Um 200
n. Chr. ist die Offb im Westen allgemein anerkannt, heftig abgelehnt wurde sie
von den Alogern und Dionysius von Alexandrien (Euseb, HE VII 25)6. Auch Eu
seb bleibt in seinem Urteil unsicher, zu den apostolischen Schriften kann, „wenn
man es fÜr gut hÈlt, die Offenbarung des Johannes gezÈhlt werden, Über die ver
schiedene Meinungen bestehen“ (HE III 25, 2). Das Selbstzeugnis der Offb stÜtzt
1 Vgl. J. Roloff, Offb, 17. der ‚Synagoge des Satans‘ zu (s. u. 9.8); vgl. dazu
2 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 50. die Àberlegungen von W. Bousset, Offb, 139 f.
3 Vgl. U. B. MÜller, Theologiegeschichte (s. o. 5 Papias kannte wahrscheinlich die Offb (vgl.
7.3.8), 36 f. Euseb, HE III 39, 12); wen er allerdings als Verfas-
4 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 51 f; J. Roloff, Offb, 17; ser des Werkes ansah, ist nicht Überliefert.
H. Giesen, Offb, 40; D. E. Aune, Revelation I, LVI. 6 Vgl. die Analyse der wichtigsten Zeugnisse bei
Der Seher vertrat allerdings kein starres Juden- W. Bousset, Offb, 19–34; A. Wikenhauser –
christentum, die Heidenmission wird vorausge- J. Schmid, Einleitung, 643–648.
setzt (vgl. Offb 7,9 f; 5,9), und er ordnet die Juden
560 Die Johannesoffenbarung
7 Gegen den Apostel Johannes als Autor der 10 Vgl. H. Kraft, Offb, 9; U. B. MÜller, Offb, 47;
Offb sprechen sich u. a. aus: W. Bousset, Offb, O. BÚcher, Johannesapokalypse, 35.
35 f; E. Lohmeyer, Offb, 203; H. Kraft, Offb, 9; 11 J. Frey, ErwÈgungen, 425 ff, weist die Na-
E. Lohse, Offb, 6; O. BÚcher, Johannesapokalypse, mensnennung einer redaktionellen Rahmung zu
35; H. M. Schenke – K. M. Fischer, Einleitung II, und stuft die Offb als Pseudepigraphon ein.
298 f; U. B. MÜller, Offb, 46; J. Roloff, Offb, 19. An 12 Vgl. ferner: oµyiß nur in Joh 7, 24; 11, 44; Offb
der apostolischen Verfasserschaft halten dagegen 1, 16; sfa´zein nur in 1 Joh 3, 12; Offb 5, 6. 9. 12;
fest: W. Hadorn, Offb, 225; E. Stauffer, Die Theo- 6, 4. 9; 13, 3. 8; 18, 24. Zur Analyse motiv- und tra-
logie des Neuen Testaments, GÜtersloh 41948, ditionsgeschichtlicher Verbindungslinien vgl.
24 f; W. Michaelis, Einleitung (s. o. 5.5.2), 314 f. auch J. Frey, ErwÈgungen, 385–415, der aller-
8 Sie wird vertreten von W. Bousset, Offb, dings das ‚GefÈlle‘ umkehren mÚchte: „die Indi-
43 f.49; E. Lohmeyer, Offb, 203. zien sprechen auf der ganzen Breite fÜr das hÚhe-
9 Presbu´teroß in Offb 4, 4. 10; 5, 5 f.8. 11. 14; re Alter der apokalyptischen Traditionen und den
7, 11. 13; 11, 16; 14, 3; 19, 4 bezieht sich aus- ‚entwickelteren‘ Charakter der Ausarbeitung der
schließlich auf die 24 himmlichen ltesten, die entsprechenden Motive im 4. Evangelium“
kein Abbild eines irdischen Presbyteriums sind, (a. a. O., 414).
vgl. A. Satake, Gemeindeordnung, 149.
Verfasser 561
13 Beim Siegesmotiv: Im 1 Joh benennt nika˜n logy of Koine Greek as Used in the Apokalypse of
den Sieg des Glaubens an Christus als (bereits St. John, NT.S 27, Leiden 1971; St. Thompson,
erfolgte ) Àberwindung der Welt. In der Offb The Apocalypse and Semitic Syntax, MSSNTS 52,
hingegen dominiert die Vorstellung des Kampfes Cambridge 1985, passim; D. E. Aune, Revelation
und des Sieges des Lammes (vgl. Offb 12, 11; I, CLX–CCVII. J. Frey, ErwÈgungen, 336–382, be-
17, 14) bzw. der BewÈhrung des Christen in der schließt seinen eingehenden sprachlichen Ver-
Welt als Ort des Kampfes (vgl. Offb 2, 7. 11. 17 gleich zwischen der Offb und dem 4. Evangelium
u. Ú.). Beim Zeugnis-Motiv: Im JohEv und den mit der Feststellung, daß „die Annahme der Kom-
JohBr bezieht sich das Zeugnis vornehmlich auf position beider Werke durch denselben Verfasser
die Person Jesu, in der Offb hingegen auf das als hÚchst unwahrscheinlich, ja nahezu ausge-
Geschaute. schlossen erscheinen“ (a. a. O., 381) muß.
14 Zum Lebenswasser-Motiv vgl. F. Hahn, Die 16 Die Frage nach der ursprÜnglichen Sprache
Worte vom lebendigen Wasser im Johannesevan- des Autors der Offenbarung lÈßt sich nicht mehr
gelium, in: God's Christ and His People (FS eindeutig beantworten, St. Thompson, Apocalypse
N. A. Dahl), hg. v. J. Jervell u. W. A. Meeks, Oslo – and Semitic Syntax, 106–108, hÈlt gleicherma-
Bergen – TromsÚ 1977, 51–70. ßen HebrÈisch und AramÈisch fÜr mÚglich.
15 Vgl. W. Bousset, Offb, 159–177; R. H. Charles, 17 Vgl. W. Bousset, Offb, 165 f.
Revelation I, CXVII–CLIX (A short Grammar of 18 Auflistung bei D. E. Aune, Revelation I,
the Apokalypse); ferner G. Mussies, The Morpho- CCVII–CCXI.
562 Die Johannesoffenbarung
in Offb 2, 18), sondern die Vorstellung der Einsetzung Christi zum Herrscher
Über Welt und Geschichte bestimmt die Christologie der Offb19.
3) Ekklesiologie: Schon die Sendschreiben signalisieren die Dominanz der Ek
klesiologie in der Offb (15mal ekklvsı´a in Offb 2 und 3)20. Der Seher Johannes
streitet gegen eine Anpassung der Kirche an die religiÚse Staatsideologie seiner
Zeit. Ihm geht es um das rechte VerhÈltnis zwischen Kirche und Gesellschaft, das
in der Vision vom neuen Jerusalem (Offb 21) seinen Ausdruck findet. Diese be
stimmende universale Komponente fehlt im Johannesevangelium und in den
Briefen. Staat und Gesellschaft kommen dort entweder gar nicht oder nur rudi
mentÈr in den Blick.
4) Eschatologie: Die Offb setzt starke indikativische Akzente (vgl. z. B. Offb
1, 5 6), die allerdings mit dem Vorherrschen prÈsentischer Eschatologie im 4.
Evangelium nicht vergleichbar sind. Vielmehr kommt der von der Gegenwart
bestimmten Zukunft in der Offb vorrangige Bedeutung zu. Sie richtet ihren Blick
in gespannter Naherwartung auf die machtvolle Erscheinung Jesu Christi (vgl.
Offb 1, 3 mit 22, 20; ferner 1, 7; 19, 11 ff; 22, 7. 17), der als Weltenrichter jedem
nach seinen Werken geben wird (Offb 22, 12). Chiliastische Anschauungen (vgl.
Offb 20, 1 10) sind dem Johannesevangelium ebenso fremd wie der Gedanke ei
ner endzeitlichen NeuschÚpfung (vgl. Offb 21, 5). Zudem fehlen in der Offb we
sentliche Elemente des joh. Dualismus (Licht Finsternis, Leben Tod, Wahr
heit LÜge).
Die Verfasser der Offenbarung und der anderen joh. Schriften sind nicht iden
tisch (s. o. 8. 1.3). Autor der Offb ist ein judenchristlicher Wanderprophet, der lan
ge Zeit in den ehemals paulinischen Gemeinden Kleinasiens wirkte und ihnen
nun angesichts vielfacher BedrÈngnisse eine Orientierung zu geben versucht21.
Er tritt als vom Geist (vgl. Offb 19, 10) begabter Sprecher des Christus prÈsens
auf und enthÜllt fÜr die Gemeinden Gegenwart und Zukunft22.
Der Seher Johannes befand sich nach Offb 1,9 bei dem Empfang seiner Visionen
auf der gÈis Insel Patmos , die an einem Tag von der kleinasiatischen WestkÜste
per Schiff zu erreichen war. Hier hielt er sich „um des Wortes und des Zeugnisses
Jesu willen“ auf. Wahrscheinlich wurde er als Kritiker des Kaiserkultes (s. u. 9.8)
19 Vgl. J. Roloff, Offb, 20. ral-Briefe II (s. o. 5.5), 513, die Sendschreiben als
20 Vgl. hierzu J. Roloff, Kirche (s. o. 3.5.4), 169– ‚johanneische Pastoralbriefe‘.
189. 22 Vgl. zur Herkunft des Propheten Johannes
21 Durchaus zutreffend bezeichnete P. Anton, bes. U. B. MÜller, Zur frÜhchristlichen Theologie-
Exegetische Abhandlung der Paulinischen Pasto- geschichte (s. o. 5.), 46–50.
Empfänger 563
auf diese Insel verbannt23. Ob Johannes z. Zt. der Abfassung der Offb noch auf
Patmos weilte, bleibt unsicher. Der Aorist egenómvn in Offb 1,9 weist seinen Auf
enthalt bereits der Vergangenheit zu24.
Die Abfassungszeit der Offb ergibt sich aus der vorausgesetzten Gemeindesi
tuation (s. u. 9.4/9.8). Die Intensivierung des Kaiserkultes und die damit verbun
denen Konflikte am Ende der Regierungszeit Domitians bilden den historischen
Kontext der Offb, sie dÜrfte zwischen 90 95 n. Chr. entstanden sein25. Das vom
Seher gezeichnete Bild der (paulinischen) Gemeinden Kleinasiens unterstÜtzt
diese zeitliche Ansetzung, die Krisensymptome der inneren Erschlaffung und
der Bedrohung durch Irrlehren werden von den Deuteropaulinen bestÈtigt.
9.4 Empfänger
23 Vgl. J. Roloff, Offb, 39; U. B. MÜller, Offb, 81. apokalypse, 41; A. Y. Collins, Dating the Apoca-
W. Bousset, Offb, 191 f. FÜr diese Annahme lypse of John, BR 26 (1981), (33–45) 41–43; J.
spricht die PrÈposition diá, die mit dem Akk. in Roloff, Offb, 19; U. B. MÜller, Offb, 41 f; C. J. He-
der Offb den Grund, nie den Zweck angibt; vgl. mer, Letters, 2–12; H. J. Klauck, Sendschreiben
bes. Offb 6,9; 20, 4. DemgegenÜber vermutet nach Pergamon, 161; L. L.Thompson, Book of Re-
H. Kraft, Offb, 40–42, der Patmosaufenthalt hÈnge velation, 15; H. Giesen, Offb, 42. D. E. Aune, Art.
mit dem prophetischen Bewußtsein des Sehers Johannes-Apokalypse, 541, rechnet mit einem
zusammen, er zog sich in die Einsamkeit zum Of- lÈngeren editorischen Prozeß, „der in den 60er
fenbarungsempfang zurÜck; zur Kritik dieser Jahren begann und erst in den spÈten 90er Jah-
These vgl. M. Karrer, Johannesoffenbarung als ren, vielleicht auch erst am Anfang der Herrschaft
Brief, 187 A 213. Trajans (98–117 n. Chr.) abgeschlossen war.“
24 Vgl. W. Bousset, Offb, 192; U. B. MÜller, Offb, FrÜhdatierungen vertreten u. a.: W. Hadorn, Offb,
81. 221 (vor 70 n. Chr.); A. A. Bell, The Date of John's
25 Vgl. schon IrenÈus (Haer V 30, 3; Euseb, HE V Apokalypse, NTS 25 (1979), 93–102 (68/69
8, 6 f); ferner W. Bousset, Offb, 133 f (93 n. Chr.); n. Chr.). FÜr eine SpÈtdatierung votieren u. a.:
R. H. Charles, Revelation I, XCI; R. SchÜtz, Offen- H. Kraft, Offb, 10. 222 (97/98 n. Chr.); J.W.Tae-
barung, passim; E. Stauffer, Christus und die Cae- ger, Johannesapokalypse, 22 (Trajan).
saren, MÜnchen 71966, 172; W. G. KÜmmel, Ein- 26 Vgl. M. Karrer, Johannesoffenbarung als Brief,
leitung, 414, Ph. Vielhauer, Urchristliche Litera- 151.
tur, 503; E. Lohse, Offb, 7; O. BÚcher, Johannes-
564 Die Johannesoffenbarung
arme Smyrna in Wahrheit reich (Offb 2,9). MÚglicherweise gehÚrten auch Chri
sten zu den in Offb 18, 11 ff attackierten Kaufleuten. Sie trieben Handel mit der
Hure Babylon und wurden reich. Zugleich mußten sie aber das PrÈgezeichen des
Tieres tragen, um kaufen und verkaufen zu kÚnnen (vgl. Offb 13, 16 f)27. Diese
Andeutungen bestÈtigen das Bild der sozialen Vielschichtigkeit des nachpaulini
schen Christentums in Kleinasien (s. o. 5.5.4).
Die Christen sehen sich vielfachen BedrÈngnissen ausgesetzt. Von innen be
drohen Irrlehrer (s. u. 9.8) die IdentitÈt der Gemeinden (vgl. Offb 2, 2; 2, 6. 15;
2, 14, 2, 20 ff). Aber auch von ‚Lauheit‘ im Glauben ist die Rede (Offb 2, 4 f;
3, 15 f), einige Gemeinden sind kraftlos (Offb 3,8) und ‚tot‘ (Offb 3, 1). Von au
ßen lasten nicht nur Kriegsgefahr (Offb 6, 2 4)28, Teuerung (Offb 6, 5 f)29 und
Pressionen von Seiten der Juden (Offb 2,9 f; 3,9) auf den Gemeinden, sondern in
Kleinasien herrscht das scheußliche Tier (Offb 12, 18 13, 10), der rÚmische Im
perator, und mit ihm das zweite Tier, die kaiserliche Priesterschaft (Offb 13, 11
17; 16, 13 f; 19, 20). Sie propagiert den Herrscherkult als eine fÜr alle BÜrger ver
pflichtende LoyalitÈtserklÈrung. In den sieben StÈdten der Sendschreiben exi
stieren zahlreiche Institutionen des Kaiserkultes30. In Ephesus wurde im Kaiser
tempel eine Statue Domitians in vierfacher LebensgrÚße aufgestellt31, in Perga
mon Überragte ein Zeustempel die Stadt32, und auch Smyrna war ein Zentrum
des Kaiserkultes.
Die Gemeinde sieht sich dem sakral ÜberhÚhten Machtanspruch des RÚmi
schen Reiches ausgesetzt und stellt ihn in einer ausgefÜhrten Bilder und Sym
bolsprache dar. In mythologischer Sprache beschreibt der Seher das WÜten des
Tieres (Offb 13; 17; 18), die Sendschreiben liefern den historischen Hinter
grund33: Christen werden bedrÈngt (Offb 2,9), ins GefÈngnis geworfen (Offb
27 Vgl. H. J. Klauck, Sendschreiben nach Perga- im rÚmischen Reich, Stuttgart – Leipzig, 1999.
mon, 178 f. 31 Vgl. dazu W. Elliger, Ephesos (s. o. 2.2.2), 96–
28 Offb 6, 2 kÚnnte sich auf die ParthereinfÈlle 99.
beziehen (vgl. Offb 9, 13 ff; 16, 12), Offb 6, 3 f auf 32 Auf diesen Tempel deuten A. Deissmann,
Auseinandersetzungen innerhalb des Reiches; Licht vom Osten (s. o. 2.3.1), 240 A 8; E. Lohmey-
vgl. U. B. MÜller, Offb, 167; J. Roloff, Offb, 81. er, Offb, 25, den ‚Thron des Satans‘ in Offb 2, 13;
29 Vgl. hier W. Bousset, Offb, 135 f. fÜr ein Heiligtum des Kaiserkultes plÈdieren z. B.
30 Vgl. hierzu S. R. F. Price, Rituals and Power. U. B. MÜller, Offb, 110; H. J. Klauck, Sendschrei-
The roman imperial cult in Asia Minor, Cambrid- ben nach Pergamon, 161; zur religiÚsen ‚Infra-
ge 1984; treffend W. Burkert, Art. Griechische Re- struktur‘ von Pergamon vgl. ebd. 157–159.
ligion, TRE 14 (1985), 248: „Die ganze politische 33 Die ErwÈhnung von Verfolgungen bzw. TÚ-
Organisation Kleinasiens kreist um den Kaiser- tungen in Offb 11, 7–9; 13, 15; 17, 6; 18, 24; 20, 4
kult.“ Eine umfassende Darstellung der religiÚsen lassen sich innerhalb ihres mythologischen Kon-
und politischen Dimensionen des Herrscherkultes textes nicht sicher auf historische Ereignisse be-
bietet M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult ziehen.
Empfänger 565
2, 10), und ein Zeuge wurde bereits getÚtet (Antipas in Offb 2, 13; vgl. Offb 6,9
11). Die Stunde der Versuchung kommt Über den Erdkreis (Offb 3, 10)34.
Domitian (geb. 51 n. Chr., Kaiser v. 81 96 n. Chr.)35, der sich seit 85 n. Chr. ‚domi
nus et deus noster‘ (Suet, Dom 13, 2) nennen ließ (vgl. Offb 4, 11!), verschÈrfte ge
gen Ende seiner Regierungszeit den Druck auf die Opposition (vgl. Suet, Dom
14, 4; 10, 5; 11, 1 3). Neben den schon jahrelang stattfindenden Hinrichtungen
von Gegnern (vgl. Dio Cass, 67 31, 1) ließ er 93 n. Chr. alle Philosophen aus Rom
und Italien vertreiben (Suet, Dom 10, 3; Dio Cass, 67 13, 1 ff) und veranlaßte 95
n. Chr. die Hinrichtung seines Vetters T. Flavius Clemens und die Verbannung des
sen Frau Flavia Domitilla36, die wahrscheinlich Christen waren37. Ob Domitian
eine grÚßere Christenverfolgung initiierte, muß allerdings fraglich bleiben38.
Seine Biographen waren in der Regel senatorisch gesinnt (Sueton, Tacitus) und
setzten das Bild des Kaisers bewußt herab39. Wahrscheinlich fÜhrte die Intensivie
rung des Kaiserkultes in den Gemeinden der Sendschreiben zu vereinzelten loka
len Repressionen40. Die Nichtbeteiligung am Kaiserkult konnte Maßnahmen zur
Folge haben, wie sie Plinius d. J. (s. o. 7.2.4) teilweise auch schon fÜr die Zeit Do
mitians voraussetzt41: Christen wurden anonym (z. B. durch Propagandisten des
34 Vgl. hierzu H. E. Lona, „Treu bis zum Tod“, in: gungen, TRE 8 (1981), 25; K. Aland, Das VerhÈlt-
Neues Testament und Ethik (FS R. Schnacken- nis von Kirche und Staat in der FrÜhzeit, ANRW
burg), hg. v. H. Merklein, Freiburg 1989, 442– II 23, 1, Berlin 1979, (60–246) 224; A. Y. Collins,
461. Crisis and Catharsis. The Power of the Apoca-
35 Ein PortrÈt Domitians bieten L. L. Thompson, lypse, Philadelphia 1984, 69 ff; J. Ulrich, Euseb,
Book of Revelation, 96–115; Christiana Urner, HistEccl III, 14–20 und die Frage nach der Chri-
Kaiser Domitian im Urteil antiker literarischer stenverfolgung unter Domitian, ZNW 87 (1996),
Quellen und moderner Forschung, Augsburg 269–289. Dezidiert gegen die Annahme von Chri-
1993. Beide Forscher bemÜhen sich um eine Neu- stenverfolgungen unter Domitian wendet sich Ul-
bewertung des (dÜsteren) Domitian-Bildes. rike Riemer, Das Tier auf dem Kaiserthron? Eine
36 Vgl. Dio Cass, 67 14, 1 f: „Im selben Jahr ließ Untersuchung zur Offenbarung des Johannes als
Domitian außer vielen anderen auch den Konsul historischer Quelle, BeitrÈge zur Altertumskunde
Flavius Clemens hinrichten, obwohl er sein Vet- 114, Stuttgart – Leipzig 1998. Die klassische Ge-
ter war und Flavia Domitilla zur Frau hatte, die genposition vertritt E. Stauffer, Christus und die
mit ihm verwandt war. Beiden wurde Gottlosig- Caesaren (s. o. 9.3), 172: „Wir lesen die Apoka-
keit (aXeótvß) vorgeworfen, weshalb auch viele lypse mit ganz neuen Augen, wenn wir sie so ver-
andere, die zu den Sitten der Juden (tà tw̃n LIou- stehen als die apostolische GegenerklÈrung gegen
daı´wn vµXv) neigten, verurteilt wurden. Die einen die KriegserklÈrung des Gottkaisers in Rom.“
wurden hingerichtet, andere verloren ihr VermÚ- 39 Vgl. R. Hanslik, Art. Domitian, KP II, 125.
gen. Domitilla wurde nur nach Pandateria ver- 40 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 260.
bannt.“ Zur Analyse des Textes vgl. P. Lampe, Die 41 Neben Ep X 96, 6 (20 Jahre zuvor widerriefen
stadtrÚmischen Christen (s. o. 2.8.1), 166–172. Er Denunzierte ihren Glauben) ist auf Ep X 96, 5 zu
sieht nur in Domitilla eine Christin, Flavius Cle- verweisen. Hier erwÈhnt Plinius seine Forderun-
mens sei hingegen als Vater mÚglicher Nachfolger gen an die Christen, „zu denen sich, wie es heißt,
Domitians (vgl. Suet, Dom 15, 1) hingerichtet Überzeugte Christen niemals zwingen lassen“.
worden. Dies setzt voraus, daß eine derartige Praxis schon
37 Vgl. R. Hanslik, Art. Domitian, KP II, 124. lÈngere Zeit in Kleinasien Üblich war!
38 Vgl. R. Freudenberger, Art. Christenverfol-
566 Die Johannesoffenbarung
Kaiserkultes) angezeigt (Ep X 96, 4 f), sie mußten daraufhin die GÚtter anrufen,
vor der Kaiserstatue Opfer darbringen und Christus lÈstern (Ep X 96, 5). Verwei
gerten sie sich und hielten am christlichen Glauben fest, war die Hinrichtung eine
mÚgliche Folge (Ep X 96, 3).
Die Distanzierung der Christen vom GÚtter und Herrscherkult dÜrfte nur ein
Grund fÜr die GefÈhrdung der Gemeinden gewesen sein. Ebenso problematisch
war in den Augen des Sehers die lautlose Assimilierung an Ausdrucksformen
heidnischer ReligiositÈt (s. u. 9.8). Sie stellte die Reinheit der Endzeitgemeinde
in Frage, Anpassung erschien somit als eine subtile Form des Abfalls42.
1, 1 3 Anfangsworte
1, 4 8 Brieflicher Eingang
1,9 20 Die Beauftragungsvision
2, 1 3, 22 Die sieben Sendschreiben
4, 1 5, 14 Die Thronsaalvision
6, 1 8, 1 Die Sieben Siegel Vision
8, 2 11, 19 Die Sieben Posaunen Vision
12, 1 13, 18 Der Widersacher Gottes
14 Das Lamm und die Geretteten
15, 1 16, 21 Die Sieben Schalen Vision
17, 1 19, 10 Die Hure Babylon
19, 11 22, 5 Abschlußvisionen
22 , 6 21 Buchschluß
In Offb 1, 19 gibt der Seher einen deutlichen Hinweis auf die Gliederung seines
Werkes43: „Schreibe nun, was du gesehen hast und was ist und was geschehen
wird danach.“ Die erste Angabe bezieht sich auf die Berufungsvision, die Gegen
wart wird in den Sendschreiben, die Zukunft in den folgenden Visionen themati
siert. Die bewußte Aufnahme von Offb 1, 19 in 4, 1 bestÈtigt diese Strukturie
rung, auf der Makroebene kann deshalb von einer Zweiteilung gesprochen wer
42 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 113 u. Ú.; H. J. Klauck, ler-Fiorenza, The Composition and Structure of
Sendschreiben nach Pergamon, 181 f. Revelation, in: dies., The Book of Revelation, 173,
43 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 29; dagegen E. SchÜss- die Offb 1, 19 nur auf die Sendschreiben bezieht.
Gliederung, Aufbau, Form 567
ber des Buches und lÈßt den eucharistischen Gottesdienst als den Raum erschei
nen, wo sich die Visionen der Offb und die Lebenswirklichkeit der Gemeinden
verschrÈnken49. Insgesamt wird der Aufbau der Offb von einer zielgerichteten
Bewegung bestimmt: Gottes Herrschaft setzt sich trotz der Plagen und des end
zeitlichen Widersachers durch.
Bei der Formbestimmung ist von der brieflichen Rahmung der Offb auszuge
hen. Auf das vortitulare Incipit Offb 1, 1 350 folgt in Offb 1, 4 6 ein an der pauli
nischen Briefkonvention orientiertes, zugleich aber eigenstÈndig akzentuiertes
PrÈskript51. Es umfaßt superscriptio und adscriptio (V. 4 a), eine erweiterte salu
tatio (V. 4 b.5 a) und eine Doxologie (V. 5 b 6), die an die Stelle der Danksagung
tritt. Auch der Schlußgruß in Offb 22, 21 ist in Anlehnung an das paulinische
Briefformular gestaltet (vgl. 1 Thess 5, 28; 1 Kor 16, 23; Phil 4, 23). Dem gottes
dienstlichen Duktus der Offb entsprechend, schließen die Bitte um das Kommen
des Herrn (22, 21) und der darauf antwortende Gnadenzuspruch das Werk ab
(vgl. 1 Kor 16, 22. 23)52. Die briefliche Gestaltung der Offb muß als unmittelbarer
Ausdruck der Adressatenbezogenheit des Gesamtwerkes verstanden werden.
Der Seher wendet sich an Gemeinden in paulinischer Tradition und erÚffnet die
Rezeption seiner Botschaft durch den bewußten RÜckgriff auf die paulinische
Briefkonvention. Die briefliche Ausrichtung der Offb zeigt sich auch deutlich in
den Sendschreiben. Der Seher stilisiert sie als briefliche Kommunikationsform53;
Adressatennennung, Absenderangabe, Schreibbefehl und das ‚Kennen‘ der Ge
meindesituation (vgl. 1 Thess 1, 3 ff) weisen in diese Richtung. Die Sendschreiben
sind nach einem festen Formschema54 gestaltet: 1) Schreibbefehl; 2) Botenfor
mel; 3) Situationsschilderung; 4) Weckruf; 5) Àberwinderspruch. Johannes
knÜpft mit den Sendschreiben offensichtlich an die Gattung des Prophetenbrie
fes an (vgl. Jer 29, 4. 31; 2 Chr 21, 12). Wie die apostolischen Briefe treten auch
die Prophetenbriefe an die Stelle des Abwesenden und ermÚglichen dessen Ein
flußnahme auf die aktuelle Gemeindesituation. DarÜber hinaus verweisen ein
zelne Motive in den Sendschreiben bereits auf den folgenden Visionenteil55. Hier
finden sich neben den Hymnen (s. u. 9.7) als weitere Formelemente bes. die pro
phetischen Visionen, die Plagenreihen und Zahlenspekulationen56.
Eine Formbestimmung der Offb auf der Makroebene kann nur gelingen,
wenn die fÜr Apokalypsen typischen (Bildersprache, Visionen, Zahlenspiele)
57 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 92. J. Roloff, Offb, 16, das Medium des Briefes mitteilt.“ Die narrativen
nimmt folgende Formbestimmung vor: „Die Of- Dimensionen der Offb betont z. R. M. E. Boring,
fenbarung ist ein prophetisches Schreiben, das Narrative Christology, 703, „,apocalypse‘ as a gen-
zahlreiche apokalyptische Motive und Stilele- re of revelatory literature has a narrative frame-
mente enthÈlt, dessen Form aber vorwiegend work“. D. E. Aune, Revelation I, LXXXIX f, spricht
durch den Zweck brieflicher Kommunikation ge- von der Offenbarung als ‚prophetischer Apoka-
prÈgt ist.“ E. SchÜssler-Fiorenza, The Composition lypse‘; O. BÚcher, Art. Johannes-Apokalypse,
and Structure of Revelation, 176, meint, „that the 604, betont: „Die J. ist also auch ihrer Gattung
author intended to write a work of prophecy in nach eine echte Apokalypse.“
the form of the apostolic letter.“ M. Karrer, Jo- 58 So M. Dibelius, Rom und die Christen im er-
hannesoffenbarung als Brief, 302 f. 305, betont sten Jahrhundert, in: ders., Botschaft und Ge-
die literarische SelbstÈndigkeit der Offb, bezeich- schichte II, TÜbingen 1956, (177–228) 223–225;
net sie als ‚Rundbrief ‘ und charakterisiert sie als H. Kraft, Offb, 14 f.
einen brieflichen Text der Offenbarungsliteratur, 59 So R. H. Charles, Revelation I, XCIV.
„der in seinem kommunikativen Duktus jÜdische 60 Zur Forschungsgeschichte vgl. W. Bousset,
wie griechisch-hellenistische und rÚmisch-kaiser- Offb, 108 ff.234 ff; O. BÚcher, Johannesapoka-
liche Offenbarungstraditionen integriert und Über lypse, 11 ff.
570 Die Johannesoffenbarung
Als Hauptquelle dient dem Seher das Alte Testament. Zahllose Anspielungen
prÈgen sein Werk66, umfangreichere ZitatanklÈnge/Zitatfragmente bzw. Zitate67
aus dem Alten Testament finden sich in Offb 1, 7; 2, 27; 4,8; 6, 16; 7, 16. 17;
11, 11; 14, 5; 15, 3. 4; 19, 15; 20,9; 21, 4. 7. Zitate und AnklÈnge sind teilweise von
der LXX oder anderen spÈteren Àbersetzungen beeinflußt, vielfach zeigt sich
aber eine eigene Kenntnis des hebrÈischen oder aramÈischen Textes68. BestÈndig
herangezogen werden Ezechiel, Jesaja, Jeremia, Daniel und die Psalmen.
Die zweite große Traditionsquelle der Offb ist der Gottesdienst. Die liturgische
Ausrichtung des Werkes tritt in Offb 1, 10 und 22, 20 offen zutage: Der Seher
empfÈngt seine Vision am Herrentag und verweist auf das Herrenmahl, um die
im Gottesdienst hÚrende Gemeinde unmittelbar in das Geschehen mit hineinzu
nehmen (vgl. Offb 4, 20). Die hymnischen StÜcke der Offb69 sind zumeist als An
tiphone komponiert (vgl. Offb 4,9/11; 5,9 b 10/12; 7, 10 b/12; 11, 15 b/17 f;
16, 5 b 6/7 b; 19, 1 b 8 a). An traditionellen Formen finden sich u. a.: a) Doxolo
gien (Offb 1, 6; 4,9; 5, 13; 7, 12); b) Trishagion (Offb 4,8 c); c) Axios Akklamatio
nen (Offb 4, 11; 5,9 b 10; 5, 12); d) Dankgebet (Offb 11, 17 f); e) Gerichtsdoxolo
gie (Offb 16, 5 7); f) GottesprÈdikationen im Nominalstil (Offb 4,8. 11; 15, 3;
16, 7; 19, 6) und Partizipialstil (Offb 4,9; 5, 13; 7, 10; 11, 17; 16, 5); g) Parallelis
mus membrorum (Offb 4, 11; 5,9 f; 11, 15. 17; 12, 11. 12; 13, 4; 15, 3 f; 16, 6); h)
Klageruf der MÈrtyrer (Offb 6, 10); i) Siegesrufe (Offb 7, 10; 12, 10; 19, 1); j) Lob
preisbegrÜndungen im oºti Satz (Offb 4, 11; 5,9; 11, 17; 12, 10; 15, 4; 16, 5; 18, 20;
19, 2. 6). Die hymnischen StÜcke stehen zumeist an exponierter Stelle (vgl. Offb
4,8 ff; 5,9 ff; 11, 15 ff; 15, 3 f; 16, 5 f; 19, 1 ff). Sie preisen Gott fÜr die vorangehen
den oder folgenden Ereignisse und lenken so den Blick von den irdischen Drang
salen hin zur Herrlichkeit Gottes70. Zumeist werden die hymnischen Texte als
Widerspiegelung gottesdienstlichen Geschehens angesehen. DafÜr kÚnnen ne
ben den genannten Formen die respondierenden Elemente in der Offb sprechen
(Strophen, Antiphonen, amv´n in Offb 5, 14; 7, 12 a; 19, 4, Halleluja als Lobpreis
aufruf in Offb 19, 1. 3. 4. 6). Allerdings will es nicht gelingen, daraus in irgendei
ner Form eine Gottesdienstordnung zu rekonstruieren71.
Unterschiedlich beantwortet die neuere Forschung die Frage, ob der Seher
vorgegebene (begrenzte) Quellen oder Traditionen in sein Werk aufnahm. Er
wogen wird ein traditioneller Charakter z. B. fÜr Offb 11; 1272 bzw. Offb 10, 1
11; 11, 1 14; 14, 6 20; 17,8 18 und 18, 1 2473.
In den Sendschreiben setzt sich der Seher intensiv mit der inneren Verfassung
der angeschriebenen Gemeinden auseinander und greift gegnerische StrÚmun
gen an74. Die Verwendung von didacv´ (Offb 2, 14. 15. 24) und didáskein (Offb
2, 14. 20) lÈßt darauf schließen, daß Lehrstreitigkeiten den Hintergrund der Kon
69 Vgl. dazu G. Delling, Zum gottesdienstlichen 71 Vgl. K. P. JÚrns, Das himmlische Evangelium,
Stil, passim; K. P. JÚrns, Das hymnische Evangeli- 180 ff.
um, passim; R. DeichgrÈber, Gotteshymnus und 72 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 39.
Christushymnus (s. o. 5.2.7), 44–59. 73 Vgl. J. Roloff, Offb, 22.
70 Nach G. Delling, Zum gottesdienstlichen Stil, 74 Die Gegner in Smyrna und Philadelphia gehÚ-
448, deuten die gottesdienstlichen StÜcke der ren nicht in diesen Zusammenhang, hier herr-
Offb das apokalyptische Geschehen; anders schen Spannungen zwischen der christlichen und
K. P. JÚrns, Das himmlische Evangelium, 175– jÜdischen Gemeinde (vgl. Offb 2,9 f; 3,9).
178, der auf den proleptischen Charakter der
Hymnen hinweist.
572 Die Johannesoffenbarung
troverse bilden. In der Gemeinde von Pergamon gibt es Christen, die sich an die
Lehre Bileams halten; der Seher nennt dies GÚtzenopferfleisch essen und Un
zucht treiben (Offb 2, 14). Bileam erscheint auch in Jud 11; 2 Petr 2, 15 f als Proto
typ des habgierigen Irrlehrers, hier wie dort wirkt das negative Bild Bileams in
der jÜdischen Traditionsgeschichte nach75. Die Lehre der Nikolaiten (vgl. Offb
2, 6) wird in Offb 2, 15 durch ouºtwß und omoı´wß mit den zuvor attackierten An
schauungen parallelisiert. In Thyatira tritt eine Prophetin (Isebel)76 auf, die eben
falls Gemeindeglieder zum Essen von GÚtzenopferfleisch und zur Unzucht ver
fÜhrt (Offb 2, 20). Johannes setzt sich wahrscheinlich mit einer relativ gleichfÚr
migen gegnerischen StrÚmung auseinander77. Von Propheten/Prophetinnen ge
tragen, gewann sie in den Gemeinden von Ephesus, Pergamon und Thyatira78 in
unterschiedlichster Weise Einfluß. Johannes disqualifiziert die andere Lehre
durch atl. Decknamen79 und erhebt die Frage nach dem Verzehr von GÚtzenop
ferfleisch zum zentralen Streitpunkt. Das verborgene himmlische Manna werden
nur jene essen, die sich von den irdischen sakralen Mahlzeiten fernhalten (vgl.
Offb 2, 17). Das Essen von GÚtzenopferfleisch war in der Antike bei normalen
Kontakten mit der heidnischen Umgebung kaum zu vermeiden und fÜhrte schon
bei Paulus zu Konflikten in den Gemeinden (vgl. 1 Kor 8 10). Die entscheidende
Differenz zwischen dem Seher und seinen Gegnern dÜrfte in Offb 2, 24 f sichtbar
werden, wo in auffallender NÈhe zum Aposteldekret (Apg 15, 28 f)80 der Gemein
de in Thyatira mitgeteilt wird: „Ich werfe keine andere Last auf euch außer:
Was ihr habt, haltet fest, bis ich komme.“ Wie in Apg 15, 28 bezeichnet bároß in
Offb 2, 24 gesetzliche Mindestauflagen, die auch fÜr Heidenchristen gelten.
Wahrscheinlich hoben die Gegner in ihrer Lehre dieses Mindestmaß an gesetzli
chen Verpflichtungen auf und beriefen sich dafÜr auf besondere Einsichten (vgl.
die ‚Tiefen des Satans‘ in Offb 2, 24 mit 1 Kor 2, 10). Die Erkenntnis des einen
wahren Gottes (vgl. 1 Kor 8, 4. 6) ermÚglichte ihnen den unbefangenen Kontakt
mit der heidnischen Gesellschaft, in den Augen des Sehers eine falsche Kompro
mißbereitschaft und gefÈhrliche Anpassungsstrategie. DemgegenÜber fordert er
ein Mindestmaß an Distanz gegenÜber dem heidnischen Staat und seinen vielfÈl
tigen Formen der ReligionsausÜbung, um dem GÚtzendienst zu entfliehen.
75 Das positive Bild in Num 22–24 verÈndert sich 79 Nach J. Roloff, Offb, 54, geht die Wendung
schon in Num 31, 16; vgl. ferner Philo, VitMos I ‚Lehre Bileams‘ auf die Gegner zurÜck.
296–299; Jos, Ant IV 129 f. 80 Vgl. U. B. MÜller, Zur frÜhchristlichen Theolo-
76 Vgl. 1 KÚn 16, 29–33; 18, 19; 19, 2. giegeschichte (s. o. 5), 17–21. Die von M. Karrer,
77 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 112. 118; H. J. Klauck, Johannesoffenbarung als Brief, 201 f, geÈußerte
Sendschreiben nach Pergamon, 166. Skepsis gegenÜber dieser Auslegungslinie vermag
78 Auch in Sardes (vgl. Offb 3, 4) wird mit dem ich nicht zu teilen.
Einfluß der Irrlehre zu rechnen sein.
Theologische Grundgedanken 573
Wie lÈßt sich die gegnerische Gruppierung in die Geschichte des Urchristen
tums einordnen? Einen Hinweis liefert die Namensgebung. Der Proselyt Niko
laos (Apg 6, 5) paßt gut in die Ahnengalerie eines radikalisierten nachpaulini
schen Christentums, das sich fÜr seine Haltung auf die AnfÈnge des Christen
tums in Jerusalem berief. Die Nikolaiten leugneten jegliche Verbindlichkeit atl.
Gesetze und begrÜndeten dies mit ihrer besonderen Gotteserkenntnis. Sie traten
auch als Wanderapostel bzw. Propheten auf (vgl. Offb 2, 2. 20)81 und propagier
ten mit Erfolg einen offenen Umgang mit der heidnischen Umwelt, ihren Institu
tionen und ihren nichtigen Ritualen. Diese Haltung ist keineswegs Ausdruck ei
nes gnostischen Selbstbewußtseins82, sondern erklÈrt sich aus einem enthusiasti
schen nachpaulinischen Christentum83, das sich auf dem Weg zur Gnosis des 2.
Jhs. befindet84.
Der Seher Johannes schreibt sein Werk im Horizont der bereits angebrochenen
und sich durchsetzenden Herrschaft Gottes. Die Herrscher und Richterfunktion
Gottes bestimmt sein Denken, die Weltgeschichte wird als Endgeschichte inter
pretiert. Gottes SchÚpferhandeln vor aller Zeit (vgl. Offb 4, 11, 10, 6; 14, 7) findet
nun in seinem endzeitlichen Handeln eine Entsprechung, es gilt: „Siehe, ich ma
che alles neu“ (Offb 21, 5). Der Teufel in seiner irdischen Gestalt des Drachens
(Offb 12, 12 f) vermag nur noch fÜr eine kurze Zeit die Gemeinde zu bedrÈngen,
denn Gott kommt (vgl. Offb 1, 4. 8; 4,8; 22, 6 f). Als pantokrátwr (Offb 1,8; 4,8;
11, 17; 15, 3; 16, 7. 14; 19, 6. 15; 21, 22) wird Gott durch seine ‚gerechten Ge
richte‘ (Offb 15, 3 f; 16, 5 7) die Satansgestalt des RÚmischen Reiches und alle
81 Vgl. U. B. MÜller, Offb, 101. ZNW 82 (1991), 133–137, weist darauf hin, daß
82 Gegen J. Roloff, Offb, 49. 54 u. Ú.; M. Karrer, die ‚Nikolaiten‘ in der antihÈretischen Literatur
Johannesoffenbarung als Brief, 99. 102, die von der KirchenvÈter keineswegs nur als Gnostiker
Gnosis oder gnostisierenden Tendenzen sprechen, verstanden wurden.
ohne zuvor ‚Gnosis‘ definiert zu haben. Auch 83 Vgl. zur exemplarischen BegrÜndung U. B.
E. SchÜssler-Fiorenza, Apocalyptic and Gnosis in MÜller, Offb, 96–99. R. Heiligenthal, Wer waren
Revelation and in Paul, in: dies., Book of Revelati- die ‚Nikolaiten'?, 136 f, sieht die Nikolaiten zwar
on, 115–117; H. Kraft, Offb, 87–94 (die Nikolaiten in paulinischer Traditionslinie, vermutet aber zu-
kÚnnen mit den Doketen der Ignatiusbriefe gleich als Hintergrund (wie bei den Gegnern des
gleichgesetzt werden); H. KÚster, EinfÜhrung, Jud) einen paganen aufgeklÈrten Skeptizismus,
689; A. Strobel, Art. Apokalypse, 187, ordnen die der einen kultischen Reinheitsbegriff ablehnt.
Gegner (zumindest tendenziell) der Gnosis zu. 84 Vgl. H. J. Klauck, Sendschreiben nach Perga-
R. Heiligenthal, Wer waren die ‚Nikolaiten'?, mon, 169.
574 Die Joahnnesoffenbarung
Gottlosen vernichten. Der theozentrische Grundzug85 der Offb ergibt sich folge
richtig aus dem Gottesbegriff, der durch den Macht , Herrschafts und Gerichts
aspekt geprÈgt ist.
Grundlage der Christologie ist die Heilstat Gottes in Christus. Sie stiftet escha
tologisches Heil und rettet aus dem Machtbereich der Welt (vgl. z. B. Offb
1, 5 b.6; 5,9 f; 7, 15; 12, 11). Die besondere WÜrde Jesu bringt der Titel arnı´on (28
titulare Belege in der Offb) zum Ausdruck86, der gleichermaßen Jesu Hingabe
fÜr die Seinen und seine Herrscherstellung umfaßt (Offb 5, 6)87. Die WÜrde des
Lammes beruht auf seiner Niedrigkeit (vgl. Offb 5,9. 12), der Erstgeborene von
den Toten (Offb 1, 5) ist das erwÜrgte Lamm. Jesus agiert als Beauftragter Gottes,
Offb 5 schildert ausdrÜcklich seine Einsetzung zur Durchsetzung des endzeitli
chen Geschichtsplanes Gottes88. Im Gegensatz zum Johannesevangelium (vgl.
Joh 10, 30) kennt die Offb keine Wesensgleichheit zwischen Gott und Christus,
wohl aber eine „Funktionseinheit“89. Christus vollzieht Gottes rettendes und
richtendes Handeln im Kampf mit den widergÚttlichen MÈchten. FÜr die Ge
meinde ist Christus der gegenwÈrtige Herr (vgl. Offb 2 3), er spricht sie direkt
an, mahnt und trÚstet sie. Bereits jetzt hat Christus die Glaubenden durch seinen
Opfertod zur Herrschaft und zu Priestern eingesetzt (Offb 1, 6; 5, 10), aber erst in
der Zukunft wird dies offenbar werden (vgl. Offb 20, 6; 22, 5). In Wahrheit ist die
Macht der Welt bereits gebrochen, aber erst bei seiner Parusie setzt der erhÚhte
Christus die Macht Gottes endgÜltig und sichtbar als Erneuerung von Himmel
und Erde durch (vgl. Offb 19, 11 ff). In der Zwischenzeit tragen die Christen das
Siegel des lebendigen Gottes (vgl. Offb 7, 1 8; 3, 12), die Gottlosen hingegen sind
ohne Siegel den Versuchungen des Satans schutzlos ausgeliefert (Offb 9, 4). Ein
Grundgedanke prÈgt somit die Christologie der Offb: Christus ist zugleich der in
der Gegenwart Herrschende und der in der Zukunft Kommende.
Dem Nachweis der gegenwÈrtigen Heilswirklichkeit gelten auch die eschato
logischen Aussagen der Offb. Basis der Eschatologie sind die heilsprÈsentischen
Aussagen in Offb 1, 5 b.6; 5,9 f; 14, 3 f, die Christen sind durch den Opfertod des
85 Vgl. dazu T. Holtz, Gott in der Apokalypse, in: Ohnmacht und Macht des himmlischen Messias
J. Lambrecht (Hg.), L'Apokalypse, 247–265. Tref- zum Ausdruck zu bringen. DemgegenÜber weist
fend K. Backhaus, Die Vision vom ganz Anderen, O. Hofius, LArnı´on – Widder oder Lamm? ZNW 89
in: ders. (Hg.), Theologie als Vision, 26: „Der Se- (1998), 272–281, darauf hin, daß philologisch al-
her plÈdiert fÜr einen theozentrischen IdentitÈts- les dafÜr spricht, arnı´on mit ‚Lamm‘ zu Überset-
entwurf des Christentums, der fÜr ihn eine Inte- zen.
grationsverweigerung gegenÜber der (reichsrÚ- 88 Vgl. zu Offb 5 bes. T. Holtz, Christologie, 27–
misch-kleinasiatischen) Welt einschließt.“ 54.
86 Vgl. dazu T. Holtz, Christologie, 78–80; 89 U. B. MÜller, Offb, 55. Subordinatianische ZÜ-
U. B. MÜller, Offb, 160–162. ge sind allerdings unverkennbar; vgl. nur Offb
87 Vgl. O. BÚcher, Johannesapokalypse, 47, der 1, 13; 14, 14; ferner die Wendung ‚sein Gesalbter‘
arnı´on mit ‚Widder‘ Übersetzen mÚchte, um so in Offb 11, 15; 12, 10; 20, 4. 6.
Theologische Grundgedanken 575
90 Vgl. T. Holtz, Christologie, 70: „Die ErlÚsung 93 Vgl. T. Holtz, Die „Werke“ in der Johannes-
der Gemeinde ist gegenwÈrtige Wirklichkeit; sie apokalypse, in: Neues Testament und Ethik (FS
hat das als Besitz, was einst der Gemeinde des al- R. Schnackenburg), hg. v. H. Merklein, Freiburg
ten Bundes als eschatologische Gabe verheißen 1989, 426–441.
war.“ 94 Nach M. Karrer, Johannesoffenbarung als
91 Vgl. M. Karrer, Johannesoffenbarung als Brief, Brief, 169–186, reduziert der Seher bewußt die
136. Stellung und Funktion der Engel, weil sie bei den
92 Zur Verbindung von Offb 1, 5 f und Offb 5 vgl. Adressaten eine von Christus unabhÈngige Ver-
T. Holtz, Christologie, 70 f. ehrung genossen.
576 Die Johannesoffenbarung
konzeption erklÈrt das auffÈllige Schweigen zu Amtsstrukturen, die fÜr das aus
gehende Jahrhundert in Kleinasien vorauszusetzen sind (Past, Ign)95. Johannes
erwÈhnt allein das Prophetenamt, ohne es aber als Institution zu kennzeichnen.
In Úkumenischer Perspektive nimmt er die Probleme der Einzelgemeinde ernst,
weil sie Über das Schicksal der Gesamtkirche entscheiden werden.
Insgesamt geht es der Offb „um den Erweis der GÜltigkeit und Sicherheit der
Herrschaft Gottes und Jesu als seines Gesalbten, des Lammes, die den ihnen Zu
gehÚrigen Heil gewÈhrt und gewÈhrleistet.“96 Diesem Anliegen dienen auch die
mythologische Sprache und die Bilderwelt, es gilt: „The Dass not the Was or
Wie, is the focus of John's concern.“97 Dieser Grundperspektive wird nicht eine
linear endgeschichtliche, sondern eine konzentrische Auslegung gerecht, die Je
su bereits erfolgten Herrschaftsantritt als Mitte des Denkens des Sehers begreift.
Ein großer Konsens besteht in der Forschung Über die Verfasserfrage; die Offb
wurde nach fast einhelliger Auffassung nicht vom Apostel und Zebedaiden Jo
hannes geschrieben. Weitaus kontroverser wird neuerdings das VerhÈltnis der
Offb zu den Schriften der joh. Schule beurteilt. WÈhrend J. Roloff, U. B. MÜller,
E. SchÜssler Fiorenza und E. Lohse die relative EigenstÈndigkeit der Offenbarung
betonen, sehen O. BÚcher, vor allem aber J. W. Taeger die Offenbarung in großer
NÈhe zu den anderen joh. Schriften (s. o. 8.1.3). „Die Frage einer ZugehÚrigkeit
der Apk zum johanneischen Schriftenkreis ist nicht nur vermutungsweise, son
dern durchaus begrÜndet offenzuhalten.“98 WÈhrend Taeger die Offb in der Wir
kungsgeschichte des 4. Evangeliums interpretiert, sieht G. Strecker die chiliasti
schen bzw. apokalyptischen Anschauungen als Traditionsgut aus den AnfÈngen
der joh. Schule an99.
Zumeist gelten nach wie vor die letzten Regierungsjahre Domitians als der
zeitgeschichtliche Hintergrund, auf dem die Offb gelesen werden muß. Die An
nahme einer allgemeinen Christenverfolgung unter Domitian wird jedoch in der
neueren Forschung zunehmend problematisiert, an ihre Stelle treten als ErklÈ
rungsmodell lokale Auseinandersetzungen zwischen den christlichen Gemein
den und ihrer heidnischen Umwelt (U. B. MÜller, J. Roloff, H. J. Klauck, H. Gie
sen). Nicht das (selten geforderte) Opfer vor dem Kaiserbild stellt fÜr Johannes
das Hauptproblem dar. „Als viel gefÈhrlicher betrachtet der Apokalyptiker den
‚weichen‘ Kaiserkult, wenn jemand z. B. in einer Festmenge lediglich mitlief
oder an einem geselligen Vereinsmahl mit religiÚsen ObertÚnen teilnahm, weil
er sich dem aus beruflichen RÜcksichten nicht gut verschließen zu kÚnnen
glaubte und die Bekenntnisfrage davon Überhaupt nicht tangiert sah.“100 Die Po
lemik des Sehers gegen innergemeindliche StrÚmungen zeugt zudem von einer
Kontroverse in den Gemeinden Über NÈhe und Distanz zur hellenistisch rÚmi
schen Gesellschaft. Hier kristallisieren sich deutlich zwei Interpretationsrichtun
gen heraus: Die gegnerische StrÚmung wird entweder im Kontext frÜhchristli
cher Gnosis (E. SchÜssler Fiorenza, J. Roloff, M. Karrer) oder der Wirkungsge
schichte paulinischer Theologie (U. B. MÜller) gesehen.
In das Zentrum der Apokalypseforschung rÜckte in den letzten Jahren die
Frage nach dem literarischen Genus des Gesamtwerkes. Nachdem bereits
E. SchÜssler Fiorenza, U. B. MÜller und J. Roloff die briefliche Struktur der Offb
herausgearbeitet hatten, betont M. Karrer: Das gesamte „Werk ist brieflich aktu
ell auf eine bestimmte Situation hin geschrieben.“101 Dieser rezeptionsÈstheti
sche Ansatz bewÈhrt sich zweifellos fÜr Offb 1 3, fÜr den Visionenteil steht der
Nachweis noch aus102. Die theologische Zielsetzung der Offb wird Übereinstim
mend in der StÈrkung der Heilsgewißheit der in der Gegenwart angefochtenen
Gemeinden gesehen. Ihr primÈres Anliegen liegt aber nicht in der TrÚstung der
Gemeinde103, sondern in dem entschiedenen Appell, Gegenwart und Zukunft
im Horizont des machtvollen Heilshandelns Gottes zu begreifen.
100 H. J. Klauck, Sendschreiben nach Pergamon, 101 M. Karrer, Johannesoffenbarung als Brief, 30.
181. Klauck sieht aus textpragmatischer Perspek- 102 Kaum zufÈllig behandelt M. Karrer, a. a. O.,
tive in der Aufforderung „Zieht fort aus ihr (sc. 220–281, den 2. Hauptteil der Offb nur summa-
die große Stadt Babylon), mein Volk“ (Offb 18, 4) risch.
das Hauptanliegen des Verfassers (vgl. a. a. O., 103 Anders z. B. W. G. KÜmmel, Einleitung, 407,
176–180). der die Offb als ‚Trostbuch‘ bezeichnet.
Autoren- und Personenregister
Fee, G. D. 73. 75. 86. 89. 152. 153. 154. Gaius 407. 408. 493. 495
157. 160 Galba 245
Feld, H. 412 Gallio 33. 34. 35. 42
Feldmeier, R. 445. 446. 448. 451. 453. 458. Gamaliel II 524
459. 460 Gamble, H. 395. 396
Felix 44 Ganser Kerperin, H. 283
Fendler, F. 179. 184. 241. 258 Gardner Smith, P. 541
Festus 44. 317 Garland, D. E. 159. 160
Fiedler, M. J. 262. 277 Gehring, R. W. 77
Fieger, M. 239 Genthe, H. J. 17
Finegan, J. 95 Georgi, D. 93. 107. 110. 558
Fischer, K. M. 17. 34. 82. 139. 167. 325. Gese, M. 362. 384
328. 348. 350. 351. 352. 353. 355. 357. Gieseler, J. C. L. 188
358. 361. 362. 383. 388. 396. 434. 448. Giesen, H. 276. 557. 558. 559. 563. 577
450. 459. 460. 466. 475. 514. 545. 558. Gill, D. W. J. 76
560. 570 Glonner, G. 557
Fitzmyer, J. A. 102. 128. 283. 286. 288. 305 Gnilka, J. 31. 102. 152. 153. 158. 162. 166.
Fleddermann, H. T. 220. 235 167. 168. 169. 172. 173. 177. 240. 244.
Flender, H. 283 245. 250. 251. 252. 254. 255. 256. 258.
Fornberg, T. 470. 471. 472. 473. 474. 476. 261. 263. 264. 266. 276. 280. 330. 331.
478 336. 337. 339. 342. 347. 348. 349. 350.
Fortna, R. T. 513. 537. 542. 547 351. 352. 354. 355. 356. 357. 362. 513.
Fowler, R. M. 260 515. 552
FrankemÚlle, H. 175. 261. 262. 269. 270. Goldhahn MÜller, I. 414. 510
271. 280. 281. 429. 430. 433. 434. 435. Goldstein, H. 445
436. 438. 439. 440. 443. 444 Goodspeed, E. J. 398. 400
Frend, W. H. C. 406 Goppelt, L. 36. 444. 445. 446. 447. 448.
Frenschkowski, M. 226. 233. 325. 329. 519 450. 451. 453. 454. 455. 456. 457. 459.
Freudenberger, R. 565 460. 552
Frey, J. 68. 482. 484. 514. 528. 552. 555. Goulder, M. D. 217. 218
558. 560. 561. 576 GrÈßer, E. 151. 283. 289. 330. 334. 411.
Frickenschmidt, T. 175. 184 412. 413. 414. 415. 417. 418. 419. 420.
FriedlÈnder, L. 155 422. 425. 426. 523
FriedlÈnder, M. 524 Grant, R. M. 402
Friedrich, G. 61. 74. 88. 94. 252. 278. 457 Green, J. B. 18
Friesen, S. J. 353 Greeven, H. 429
Fuchs, A. 185. 194. 195. 461 Gregor von Nazians 408
Fuchs, E. 469 Griesbach, J. J. 189
Funk, R. W. 59. 485 Grobel, K. 295
Furnish, V. P. 74. 93. 95. 104. 108. 109.
Gronewald, M. 520
110. 154
Grundmann, W. 231. 240. 243. 244. 461.
462. 463. 465. 466. 469. 471. 474. 476.
Gabler, J. Ph. 20. 514
584 Autoren und Personenregister
Guelich, R. A. 240. 244. 245 413. 414. 415. 417. 418. 419. 420. 421.
GÜlzow, H. 167 422. 423. 426
GÜnther, H. W. 557 Hegesipp 406. 462
GÜnther, M. 50 Heil, Chr. 219. 238
GÜttgemanns, E. 108. 183 Heiligenthal, R. 443. 461. 462. 463. 464.
Gundry, R. H. 240. 263. 266 465. 466. 467. 469. 573
Gunkel, H. 456 Heininger, B. 198
Gunther, J. J. 106. 162. 342. 388. 461. 463 Heinrichs, J. 170
Guthrie, G. H. 411 Heinrici, G. 106. 405
Heinze, A. 479. 482
Heise, J. 489
Haacker, K. 128. 129. 133 HeitmÜller, W. 487
Habermann, J. 161. 340 Held, G. 262
Hadorn, W. 557. 560. 563 Hemer, C. J. 305. 557. 563
HÈfner, G. 375 Hengel, M. 32. 39. 40. 46. 85. 114. 165.
Haenchen, E. 42. 284. 285. 290. 305. 312. 185. 186. 218. 241. 242. 243. 244. 245.
316. 318. 322. 485. 487. 496. 500. 507. 264. 286. 289. 312. 313. 322. 325. 430.
513. 516. 518. 522. 528. 529. 530. 534. 431. 433. 434. 435. 439. 441. 442. 443.
537 479. 482. 483. 484. 487. 490. 491. 492.
Hagner, D. A. 261. 266. 269 499. 501. 503. 508. 509. 514. 516. 518.
Hahn, F. 36. 112. 128. 129. 149. 151. 241. 520. 521. 523. 525. 535. 537. 544. 545.
251. 312. 318. 400. 430. 461. 463. 466. 554
467. 469. 523. 558. 561. 567. 568 Herakleon 405. 520. 545. 546
Hahnemann, G. M. 404 Herder, J. G. 188
Haldimann, K. 530 Herodes Agrippa I 36
Hall, S. G. 407 Herzer, J. 445. 456. 460
Halson, B. R. 439 Hieke, Th. 219. 238
Hanslik, R. 565 Hieronimus 409
Harder, G. 114 Hilgenfeld, A. 373. 484
Harnack, A. v. 36. 219. 285. 312. 380. 395. Hippokrates von Kos 326
399. 400. 405. 406. 448. 449. 480. 485. Hirsch, E. 295
496. 497 Hoegen Rohls, Chr. 530. 532
Harnisch, W. 61. 112 Hoennicke, G. 524
Harrington, D. J. 261 Hoffmann, P. 219. 221. 227. 237. 238. 240
Hasler, V. 374 Hofius, O. 94. 110. 111. 147. 152. 161. 411.
Haufe, G. 61. 62. 375. 388 422. 423. 426. 427. 515. 574
Hausrath, A. 98 Hoh, J. 402
Hawthorne, G. W. 31. 152 Holland, G. S. 363. 365
Hay, M. D. 31 Holtz, G. 374. 379
Heckel, Th. K. 348. 396. 401 Holtz, T. 34. 38. 61. 62. 66. 129. 289. 557.
Heckel, U. 46. 93 574. 575
Heekerens, H. P. 537 Holtzmann, H. J. 17. 22. 24. 46. 185. 190.
Hegermann, H. 340. 357. 375. 380. 411. 331. 373. 375. 377. 500. 509
Autoren und Personenregister 585
249. 252. 254. 290. 305. 485. 488. 489. Kremendahl, D. 111
492. 494. 498. 499. 501. 503. 505. 508. Kremer, J. 73. 306. 318
509. 512. 558. 563. 654. 566. 572. 573. Kretschmar, G. 375. 378. 389
577 KrÜger, G. 22. 23
Klein, G. 72. 112. 128. 132. 133. 146. 152. KÜgler, J. 525
162. 284. 293. 299. 334. 498. 500. 502. KÜmmel, W. G. 17. 24. 29. 36. 61. 62. 75.
512 103. 106. 112. 121. 128. 146. 147. 151.
Klein, H. 198. 288 153. 158. 159. 160. 167. 168. 243. 244.
Klein, M. 429. 437. 444 245. 284. 296. 298. 302. 331. 350. 351.
Kleinknecht, K. Th. 106 365. 366. 378. 383. 388. 395. 406. 415.
Klijn, A. F. J. 396 434. 443. 448. 462. 463. 466. 471. 475.
Klinghardt, M. 283. 289 487. 501. 518. 521. 552. 563. 570. 577
Kloppenborg, J. S. 219. 220. 221. 222. 226. KÜrzinger, J. 263
227. 228. 229. 232. 238. 239. 240 Kuhli, H. 522
Klostermann, E. 240. 261. 283 Kuhn, H. W. 68. 120. 124. 240. 246. 251.
Klumbies, P. G. 241. 260 252
Kmiecik, U. 241 Kuhn, K. G. 348. 357
Knauf, A. 37 Kurth, Chr. 283
Knoch, O. 444. 446. 448. 458. 461. 462. Kuss, O. 132
467. 469. 471. 472. 473. 476. 478 Kysar, R. 515
KnÚppler, Th. 554
Knopf, R. 17. 446. 447. 448. 456. 462. 463
Knox, J. 62 Laato, T. 151
Koch, D. A. 63. 78. 90. 112. 115. 116. 117. Labahn, M. 320. 484. 514. 537. 542. 555
240. 249. 251. 306. 316 Lachmann, K. 189
Koester, C. R. 411. 413. 414. 415 LÈger, K. 374. 395
KÚhler, W. D. 265 LÈhnemann, J. 330. 331. 342
KÚrtner, U. H. J. 242. 243. 489 Lake, K. 305
KÚster, H. 17. 62. 152. 154. 158. 175. 182. Lambrecht, J. 93. 94. 98. 101. 106. 235.
239. 244. 307. 310. 353. 265. 383. 401. 558
463. 518. 573 Lamouille, A. 217. 311
Kogler, F. 194 Lampe, P. 34. 79. 90. 129. 134. 135. 139.
Kohler, H. 514. 528. 548. 554 166. 167. 169. 173. 323. 353. 435. 558.
Kollmann, B. 254 565
Konradt, M. 430. 437. 439. 443. 444 Landmesser, Chr. 262
Korn, M. 283. 288. 293. 301. 318. 319 Lane, W. L. 411
Kosch, D. 220. 236 Lang, F. 73. 75. 86. 93. 95. 98. 102. 104.
Koskenniemi, H. 51. 52. 54 108. 109. 110. 243
Koster, S. 105 Lang, F. G. 110. 184. 249
Kowalski, B. 547 Lang, M. 514. 536. 542. 555
Kraft, H. 482. 557. 558. 560. 563. 569. 573 Lange, J. 262
Kraus, Th. J. 470. 471. 473. 474. 478 Langbrandtner, W. 514
Kraus, W. 142 Lattke, M. 534
Autoren und Personenregister 587
Laub, F. 61. 170. 373. 411. 412. 413. 414. Luckmann, Th. 410
417. 422. 425. 427 Ludwig, H. 45. 49. 330. 332. 340. 341
Laufen, R. 220. 236 Ludwig, M. 429
Lautenschlager, M. 430 LÜbking, H. M. 147
Laws, S. 429. 434 LÜdemann, G. 32. 33. 34. 35. 37. 38. 41.
Leipoldt, J. 395 44. 62. 66. 67. 85. 95. 106. 107. 120.
Lessing, G. E. 186 121. 123. 153. 162. 305. 316. 317. 431.
Lichtenberger, H. 134. 141. 521 434. 441. 487. 491
Lietzmann, H. 17. 75. 93. 95. 101. 103. LÜhrmann, D. 82. 83. 90. 111. 112. 113.
106. 128. 149. 395. 399. 443 116. 121. 122. 181. 219. 226. 228. 232.
Lieu, J. 485 237. 238. 240. 241. 244. 245. 250. 251.
Ligthfoot, J. B. 112. 166 252. 253. 255. 256. 261. 396. 405. 408.
Lincoln, A. D. 348 459
Lindars, B. 513. 518. 524 LÜtgert, W. 74. 106. 111. 121
Lindemann, A. 34. 73. 78. 83. 89. 154. 160. Luz, U. 49. 67. 128. 137. 147. 195. 241.
220. 226. 250. 325. 330. 336. 337. 339. 246. 261. 262. 263. 264. 266. 267. 268.
342. 345. 347. 348. 350. 351. 352. 355. 269. 270. 271. 272. 273. 275. 276. 278.
356. 358. 359. 361. 362. 363. 365. 366. 279. 280. 281. 282. 323. 330. 355. 362.
372. 373. 380. 387. 399. 400. 401. 402. 331. 339. 343. 346. 347. 348. 351. 352.
405. 406. 418. 421. 434. 441. 443. 447. 435
456. 460
Linnemann, E. 250
Lips, H. v. 231. 233. 237. 374. 391. 393. MacRae, G. W. 17
396. 439 Mack, B. L. 18. 238
Loader, W. R. G. 411. 514 Maddox, R. 305. 320
LÚhr, H. 411 MÈrz, C. P. 283. 284. 303. 412
LÚning, K. 112. 116. 283. 303. 305. 320 Magness, J. J. 250
LÚwe, H. 345 Maier, F. 461. 466
Loewenich, W. v. 515 Maier, J. 524
Lohfink, G. 281. 283. 298. 321. 375 Malatesta, E. 515
Lohmeyer, E. 60. 126. 152. 153. 160. 161. Malherbe, A. J. 51. 61. 62. 65. 67. 73. 363.
166. 167. 240. 261. 269. 331. 342. 557. 365
560. 564 Marcus, J. 240. 244
Lohse, E. 17. 31. 75. 91. 128. 129. 133. 149. Marguerat, D. 18. 278. 537
150. 166. 167. 168. 173. 245. 284. 330. Markion 285. 366. 380. 398. 400. 405. 406.
331. 332. 336. 337. 339. 341. 342. 343. 407. 410. 509
344. 365. 397. 437. 443. 445. 481. 557. Markschies, Chr. 546. 548
560. 563. 576 Marshall, I. H. 61. 283. 306. 363. 374. 378
Lona, H. E. 330. 333. 346. 348. 361. 362. 565 Marshall, P. 74. 86
Longenecker, R. N. 111. 114 Martin, R. P. 31. 93. 98. 102. 109. 152. 161.
Lorenzen, T. 525 243. 244. 253. 429
Luck, U. 72. 261. 266. 430. 439. 440. 442. Martyn, J. L. 111. 116. 514. 515. 519. 524
443. 444 Marxsen, W. 17. 25. 36. 61. 62. 139. 158.
588 Autoren und Personenregister
240. 244. 245. 350. 351. 355. 363. 365. Moule, C. F. D. 379
366. 368. 370. 445. 447. 454. 513 Mounce, W. D. 374. 378
Matera, F. J. 111 MÜller, C. D. G. 471
Mayerhoff, E. Th. 331 MÜller, Chr. G. 296
McCown, C. C. 289 MÜller, H. P. 63
Meade, D. G. 325. 326. 327 MÜller, M. 54. 60
Meier, J. P. 264. 266. 279 MÜller, P. 49. 241. 325. 334. 364. 365. 430.
Meinertz, M. 433 461
Melito von Sardes 403 MÜller, U. B. 141. 152. 153. 154. 155. 156.
Menenius Agrippa 362 160. 325. 389. 467. 482. 509. 525. 549.
Mengel, B. 152. 153. 158. 160 554. 557. 558. 559. 560. 562. 563. 564.
Menken, M. J. J. 367. 539 565. 566. 567. 568. 569. 570. 571. 572.
Merk, O. 17. 20. 31. 61. 70. 72. 112. 121. 573. 574. 576. 577
137. 148. 153. 159. 160. 161. 284. 300. Munck, J. 313
366. 373. 375. 396. 406 Murphy O’Connor, J. 31. 54. 76. 83. 93.
Merkel, H. 186. 216. 285. 348. 356. 374. 102
376. 378. 380. 382. 383. 388. 390. 391. Mussies, G. 561
394 Mußner, F. 111. 112. 113. 115. 117. 121.
Merklein, H. 67. 73. 74. 75. 77. 80. 82. 83. 151. 348. 350. 351. 352. 355. 357. 358.
84. 85. 89. 330. 334. 335. 347. 348. 349. 361. 362. 429. 430. 431. 433. 434. 437.
350. 362 442. 444. 480. 513. 523. 549. 550
Meshorer, Y. 44
Metzger, B. M. 28. 310. 396. 400. 404. 405.
406. 407. 409. 410 Nagel, T. 399. 514. 515. 519
Metzner, R. 445. 456 Nauck, W. 417. 498. 505
Meyer, A. 429. 438 Nebe, G. 283. 302
Meyer, M. W. 220 Neirynck, F. 185. 190. 193. 194. 219. 221.
Michaelis, J. D. 18 227. 235. 251. 537. 541. 543. 544
Michaelis, W. 378. 433. 434. 560 Nepper Christensen, P. 264. 278
Michaels, J. R. 444 Nero 44. 134. 245. 451
Michel, O. 128. 149. 274. 418. 422 Neugebauer, F. 339. 445. 447
Michl, J. 447 Neugebauer, J. 530
Millauer, H. 445 Neyrey, J. H. 461. 469. 470. 476
Minear, P. S. 508. 534 Nicol, W. 537
Mitchell, M. M. 74. 80. 83. 90 Niebuhr, K. W. 18. 31. 46. 165. 365. 438
Mittmann Richert, U. 283 Niederwimmer, K. 242. 401
Mitton, C. L. 355. 395. 398. 400 Niemand, Chr. 194
Moessner, D. P. 283 Nikephoros 408
Mohr, T. A. 251. 544 Noack, B. 434
Moloney, F. J. 513. 537. 553 Nolland, J. 283
Morgenthaler, R. 191. 193. 219. 221. 222. Norden, E. 252. 314
283. 377 Nordheim, E. v. 473
Morris, L. 517 NÜtzel, J. M. 283
Autoren und Personenregister 589
Selwyn, E. G. 446. 447 Strecker, G. 20. 23. 25. 31. 40. 51. 67. 71.
Semler, J. S. 19. 98 94. 98. 108. 112. 152. 153. 161. 175.
Sevenich Bax, E. 220 176. 177. 184. 185. 193. 195. 233. 241.
Shuler, P. L. 184 251. 262. 263. 264. 266. 273. 274. 277.
Siber, P. 67. 165 278. 279. 280. 281. 325. 437. 453. 455.
Siegert, F. 51. 63. 144. 147. 285. 516 479. 482. 484. 485. 487. 488. 490. 491.
Siker, J. S. 463 497. 498. 500. 501. 503. 505. 506. 507.
Smalley, S. S. 485. 498. 503. 514. 524 508. 509. 512. 513. 522. 537. 576
Smit, J. 119 Strelan, R. 50. 353
Smith, D. E. 76 Streeter, B. H. 185. 295
Smith, D. M. 513. 515. 536. 541 Strobel, A. 39. 73. 89. 411. 413. 414. 415.
Smith, M. 182 418. 423. 426. 475. 558. 573
Soden, Hans v. 74. 86 Strobel, K. 115. 116. 371
Soden, Hermann v. 181 Stuhlhofer, F. 396. 400. 409
SÚding, Th. 31. 32. 61. 68. 72. 74. 89. 91. Stuhlmacher, P. 31. 47. 72. 114. 128. 129.
112. 122. 241. 243. 244. 245. 259. 260. 130. 137. 138. 141. 149. 166. 167. 168.
336. 396. 398. 400. 412. 515 172. 173. 175. 176. 286. 365. 543
Sokrates 326 Stuhlmann, R. 477
Speyer, W. 325. 326. 327 Sueton 33. 34. 565
Spicq, C. 423 Suhl, A. 32. 35. 37. 38. 41. 44. 82. 112.
Spitta, F. 438. 457. 461. 470. 474 166. 168
SpÚrlein, B. 91 Sumney, J. L. 93. 106. 108
Standhartinger, A. 46. 330. 331. 336. 338. Sundberg, A. 404
344. 347 Sykutris, J. 326
Stanton, G. 262
Stauffer, E. 560. 563 Taatz, I. 53. 54. 55. 56
Stegemann, E. 330. 498. 544 Tacitus 565
Stegemann, H. 68. 262. 265. 275 Taeger, J. W. 283. 286. 479. 481. 482. 485.
Stegemann, W. 283. 290. 291. 292. 302. 497. 557. 558. 563. 576
303 Talbert, C. H. 175. 183. 310
Stemberger, G. 400 Tannehill, R. C. 303
Stendahl, K. 150. 262. 263. 273 Tatian 409. 410. 520
Stenger, W. 53. 56. 57. 58. 60. 64. 81. 97. Taylor, V. 295
141. 368. 375. 417. 452 Tertullian 404. 492
Stern, M. 44 Theißen, G. 74. 85. 90. 147. 151. 175. 226.
Stettler, H. 374. 395 233. 234. 241. 244. 245. 247. 251. 259.
Stoldt, H. H. 185 262. 266. 281. 282. 288. 290. 411. 422
Stolle, V. 305. 317 Theobald, M. 129. 132. 501. 514
Stowasser, M. 521 Thiede, C. P. 245. 448
Stowers, S. K. 51. 52. 137 Thiessen, W. 50
Strathmann, H. 484 Thiselton, A. C. 73
Strauss, D. F. 189 Thompson, L. L. 557. 563. 565
Strecker, Chr. 31. 150 Thompson, M. M. 18. 549
Autoren und Personenregister 593
Thompson, St. 561 351. 352. 365. 378. 380. 413. 414. 418.
Thornton, C. J. 167. 284. 285. 286. 305. 419. 434. 443. 447. 453. 462. 471. 473.
313. 316 475. 486. 518. 521. 563. 570
Thraede, K. 51. 58 VÚgtle, A. 461. 462. 463. 465. 468. 469.
Thrall, M. E. 93. 95. 98 470. 471. 473. 476. 477
ThÜsing, W. 71. 237 Vogel, M. 110
Thyen, H. 484. 485. 486. 487. 491. 492. Vogels, H. J. 457
507. 514. 515. 517. 518. 521. 532. 534. Vogler, W. 485. 487. 493. 498. 499. 501.
537. 542. 544. 546. 553 505. 506
Tilborg, S. van 519 Vollenweider, S. 88. 112
Tiberius 34. 134 Vorster, W. S. 179. 261
TÚdt, H. E. 219. 237 Votaw, C. W. 181
Toit, D. S. du 182 Vouga, F. 53. 111. 116. 429. 434. 465. 473.
Trajan 383. 451. 483. 516. 517 479. 485. 488. 491. 492. 494. 498. 501.
Trebilco, P. R. 520 503. 505. 508. 512. 537. 544
Trilling, W. 262. 264. 279. 280. 363. 365.
366. 370. 371
Trobisch, D. 395. 396. 398. 400. 409 Wagner, G. 143
TrÚger, K. W. 546. 548 Walker, R. 262. 264. 276. 279
Trummer, P. 374. 375. 379. 397 Walter, N. 122. 147. 152. 153. 158. 161.
Tsuji, M. 429. 437. 438. 443 333
Tuckett, C. M. 220. 227. 228. 229. 233. 238. Wanamaker, C. A. 61. 363
239. 240. 283 Wander, B. 144
Wanke, G. 400
Àbelacker, W. G. 418. 420 Wanke, J. 220
Uebele, W. 399. 498. 508. 509 Warnecke, H. 44
Uhland, H. 557 Wasserberg, G. 283. 303
Ulrich, J. 565 Watson, D. F. 157. 160. 461. 489. 494
Unnik, W. C. van 404 Watson, F. B. 98. 100. 123. 127
Urban, Chr. 514 Watt, J. G. van der 514
Urner, Chr. 565 Weber, R. 149. 178. 241. 255. 258. 259
Uro, R. 220 Wechsler, A. 36. 37
Wedderburn, A. J. M. 132. 142. 143. 149
Vaage, L. E. 238 Weder, H. 88. 177. 515. 549. 554
Valentin 405 Weeden, T. J. 253
Vanhoye, A. 411. 415. 416. 418 Wehnert, J. 44. 285. 305. 313. 314. 315.
Venetz, H. J. 498 316. 322
Verheyden, J. 284. 306 Weigandt, P. 508. 509
Vespasian 451 Weinel, H. 17
Vielhauer, Ph. 17. 24. 36. 41. 61. 74. 85. Weiser, A. 42. 43. 241. 262. 283. 301. 305.
100. 112. 115. 139. 158. 162. 168. 182. 306. 307. 309. 310. 313. 315. 316. 317.
193. 241. 242. 243. 244. 245. 249. 252. 318. 322
263. 286. 288. 302. 305. 312. 322. 346. Weiß, B. 235. 295. 484
594 Autoren und Personenregister
Weiß, H. F. 178. 342. 411. 412. 413. 414. Winter, B. W. 74. 76. 86. 90. 305.
415. 417. 419. 421. 426 Winter, M. 74. 90. 530.
Weiß, J. 73. 77. 80. 82. 85. 98. 167. 181. Winter, S. C. 166
190 Wischmeyer, O. 89
Weiß, K. 507 Wisemann, J. 76
Weiss, W. 251 Witherington III, B. 305
Weisse, Chr. H. 189 Witulski, Th. 111. 114
Wendt, H. H. 484. 485. 486. 487. 502 Wohlenberg, G. 446. 447
Wengst, K. 185. 340. 401. 402. 455. 485. Wolff, Chr. 73. 75. 82. 83. 84. 86. 89. 93.
487. 488. 490. 492. 497. 498. 500. 501. 95. 97. 101. 102. 103. 104. 106. 108.
503. 507. 508. 509. 513. 514. 518. 520. 109. 110. 445. 558
524. 534. 543 Wolter, M. 129. 166. 167. 168. 171. 173.
Werdermann, H. 461. 470 325. 328. 330. 331. 337. 343. 347. 374.
Wernle, P. 185. 190. 192 383. 388. 389. 391. 394
Wette, W. M. L. de 314 Wong, K. Ch. 262. 281
White, J. L. 51. 53 Wrede, W. 23. 31. 240. 256. 257. 363. 364.
Wibbing, S. 341 368
Wick, P. 152. 153. 157. 160 Wrege, H. Th. 198. 227
Wickert, U. 116. 166 Wuellner, W. H. 430. 436. 438
Wiedemann, Th. E. J. 170 WÜnsch, H. M. 93
Wider, D. 411 WÜrthwein, E. 366
Wiefel, W. 71. 110. 129. 134. 153. 261. Wurm, A. 498. 507
278. 283. 286. 288. 289
Wikenhauser, A. 17. 24. 155. 245. 350.
351. 383. 418. 419. 501. 559. 570
Zahn, Th. 37. 114. 188. 311. 312. 378. 395.
Wilckens, U. 71. 74. 77. 112. 113. 125. 126. 399. 400. 401. 408. 410. 433. 434. 471.
128. 129. 133. 141. 149. 305. 318. 498.
480
507. 513. 518. 537. 544. 552
Zeilinger, F. 93. 98. 102. 330. 340
Wilke, Chr. G. 189
Zeller, D. 112. 128. 129. 130. 138. 141. 143.
Wilkens, W. 513
149. 219. 220. 229. 237. 238. 544. 548
Williamson, R. 423
Zimmermann, H. 411. 420
Wilson, R. Mc. L. 90
Zmijewski, J. 375. 430
Windisch, H. 93. 95. 98. 106. 108. 411.
Zumstein, J. 266. 515. 531. 554
415. 418. 434. 437. 438. 443. 444. 446.
Zuntz, G. 245
447. 448. 453. 461. 469. 485. 498. 499.
Zwick, R. 184
505. 507. 509
Stellenregister
Diejenigen Stellen einer Schrift, die innerhalb des Kapitels Über diese Schrift be
handelt werden, sind hier nicht aufgefÜhrt.
1,18 46 Pausanias Ep 35 53
2,47 46 2. 1,7 5,5 76 Ep 41,1 2 548
10,121b 46 Ep 47 170
Philostrat Ep 75 52
Epiktet VA I 1,5 8 144 Ep 104,1 34
Diss III 22 234 VA I 28 176
Diss III 22,50 78 VA IV 25 76 Strabo
Diss IV 4,33 170 VIII 6,20 21,23 76
Platon XII 8,13 337
Gal Pol 2 361b 509 XII 8,16 337
De pulsum differentiis 2,4 Pol 2 362a 509
47 Tim 29c 509
Sueton
Cl 25,4 33. 565
Herodot Plinius
Dom 10,3 565
VII 30,1 337 Ep IX 21 167
Dom 10,5 565
Ep X 96 450
Dom 11,1 3 565
Horaz Ep X 96,2 451
Ep X 96,3 566 Dom 13,2 565
Sat I 9,68 72 144
Ep X 96,4 f 566 Dom 14,4 565
Juvenal Ep X 96,5 451. 565. 566 Dom 15,1 565
Sat XIV 96 106 144 Ep X 96,6 448. 451. 565 Nero 16,2 131
Ep X 96,7 448 Nero 33,1 33
Lucian Ep X 97,2 451 Nero 38,1 3 131
Alex 25 47 Tib 36 134
Alex 38 47 Plutarch
Indoct 19 76 Alex 1 184 Tacitus
Peregr Mort 11 47 Ann II 85 134
Peregr Mort 12 47 Seneca Ann XIV 27,1 337
Peregr Mort 13 47 Ep 20 53 Ann XV 44 131. 134. 450
Peregr Mort 16 47 Ep 34 53 Ann XV 44,2 5 451