Alter (N) Und Vergängliche Körper: Reiner Keller Michael Meuser HRSG
Alter (N) Und Vergängliche Körper: Reiner Keller Michael Meuser HRSG
Alter(n) und
vergängliche
Körper
Wissen, Kommunikation
und Gesellschaft
Schriften zur Wissenssoziologie
Herausgegeben von
H.-G. Soeffner, Essen, Deutschland
R. Hitzler, Dortmund, Deutschland
H. Knoblauch, Berlin, Deutschland
J. Reichertz, Essen, Deutschland
Wissenssoziologie hat sich schon immer mit der Beziehung zwischen
Gesellschaft(en), dem in diesen verwendeten Wissen, seiner Verteilung und der
Kommunikation (über) dieses Wissen(s) befasst. Damit ist auch die kommunika-
tive Konstruktion von wissenschaftlichem Wissen Gegenstand wissenssoziolo-
gischer Reflexion. Das Projekt der Wissenssoziologie besteht in der Abklärung
des Wissens durch exemplarische Re- und Dekonstruktionen gesellschaftlicher
Wirklichkeitskonstruktionen. Die daraus resultierende Programmatik fungiert als
Rahmen-Idee der Reihe. In dieser sollen die verschiedenen Strömungen wissens-
soziologischer Reflexion zu Wort kommen: Konzeptionelle Überlegungen stehen
neben exemplarischen Fallstudien und historische Rekonstruktionen neben zeitdia
gnostischen Analysen.
Reiner Keller · Michael Meuser
(Hrsg.)
Alter(n) und
vergängliche
Körper
Herausgeber
Prof. Dr. Reiner Keller Prof. Dr. Michael Meuser
Universität Augsburg Technische Universität Dortmund
Deutschland Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
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Im Auge des Betrachters. Blicke auf Alter, Körper und Schönheit . . . . . . . . . 109
Tina Denninger
V
VI Inhalt
„Man darf nicht immer vergleichen mit den Jahren, als man
zwanzig war.“ Zum Umgang älterer Männer mit gesundheitlichen
Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Monika Reichert und Randi Leibner
Vor einigen Jahren haben wir im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung der
DGS-Sektionen Soziologie des Körpers und des Sports und Wissenssoziologie be-
gonnen, die Reichweite des Konzeptes „Körperwissen“ auszuloten (Keller/Meuser
2011a). Wir hatten diesen Begriff zum damaligen Zeitpunkt wie folgt bestimmt:
„In gewissem Sinne lässt sich davon sprechen, dass Körper als eigenständige Träger
von Wissen fungieren, das nicht in kognitive Prozesse übersetzt ist, ja nicht über-
setzt werden kann. Ein grundlegendes Beispiel dafür sind neben den körperlichen
Basismechanismen des Gehens, Greifens, Fühlens usw. sicherlich reflexartige Körper-
1
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_1
2 Reiner Keller und Michael Meuser
reaktionen mit schützender Funktion: die Veränderung der Pupillen bei Helligkeit,
das Abstützen durch die Hände beim Fallen, ‚Intuition‘ und ‚Gespür‘, das ‚richtige
Händchen‘ und dergleichen mehr.“ (Keller/Meuser 2011b, S. 10)
Der hier vorliegende Folgeband, der im Grunde als „Körperwissen II“ angelegt
ist, greift die so begonnenen Überlegungen auf und führt sie in spezifischer Weise
fort. Fokussiert werden nun die Körperwissensverhältnisse im Zusammenhang
von menschlichem Altern und dem Erleben bzw. Erfahren körperlicher Vergäng-
lichkeit. In der sozialwissenschaftlichen Alter(n)sforschung ist der Körper bislang
kaum zum Gegenstand gemacht worden (Riedel 2017, S. 6). Dies erstaunt, da der
Prozess des Alterns den Individuen recht unmittelbar als eine körperliche Erfah-
rungsmodalität präsent ist und „das Alter auch über den Körper repräsentiert wird“
(Backes/Wolfinger 2008, S. 153). Mit der in diesem Band angelegten Perspektive auf
Körperwissen kommen die Verflechtungsverhältnisse in den Blick, die zwischen
der phänomenologisch rekonstruierbaren Ebene der erfahrenen Körperlichkeit
des alternden Körpers und den gesellschaftlichen Diskursen, Normalitäts- und
Habitusformationen bestehen, innerhalb derer solche Erfahrungen situiert sind.
Eine kleine Illustration, die dem Buch von Thomas Laqueur „Die einsame Lust“
entnommen ist (Laqueur 2008, S. 70), kann verdeutlichen, was wir damit meinen.
Sie zeigt eine spezifische Wissensformation des 19. Jahrhunderts, innerhalb derer
rapider und beschleunigter körperlicher Verfall mit der ausgeübten Praxis der
Masturbation in Verbindung gebracht wird (vgl. Abb. 1).1
Sicherlich führen das Erleben und die Erfahrung des alternden Körpers zur
Infragestellung und Modifikation einer der basalen Grundannahmen des all-
täglichen lebensweltlichen Vollzugs, die Alfred Schütz mit dem Modus des „Ich
kann immer wieder“ beschrieben hatte. Körper und auch Geist können eben nicht
‚immer wieder‘ bzw. sind mit der körperlichen Widerständigkeit des ‚nicht mehr so
wie bisher können‘ konfrontiert, die bspw. Bewegungsrhythmen und -kapazitäten
verändert, Aufmerksamkeitshorizonte modifiziert und anderes mehr – zumindest
ab einer bestimmten Altersschwelle, und dann eben auch ohne das Hereinbrechen
von normalen Sonderereignissen wie Krankheiten und Unfällen. Menschliches
Sein ist unweigerlich Sein zum Tode hin und mit entsprechender Sorge verkoppelt,
auch wenn dies existenziell überwiegend ausgeblendet wird und werden muss und
Abb. 1 Gesichter des Onanisten, aus Emery C. Abbey, The Sexual System and ist
Dearangements, Buffalo 1875.
Quelle: Laqueur (2008, S. 70)
die Anstrengungen der modernen Medizin (erfolgreich) darauf gerichtet sind, die
Zeit bis zum Eintritt des Todes so weit wie möglich zu verlängern.2
2 Alfred Schütz zufolge bestimmt das „Wissen um die Endlichkeit“ alle „Entwürfe im
Rahmen des Lebensplans“ (Schütz/Luckmann 1979, S. 75). Die Furcht vor dem Tod
bestimme „alle Relevanzsysteme, die uns innerhalb der natürlichen Einstellung leiten
[…]: Ich weiß, daß ich sterben werde und fürchte mich davor.“ (Schütz 1971, S. 262). Ob
4 Reiner Keller und Michael Meuser
Der vorliegende Band fokussiert das Erleben, das Erfahren und den Umgang mit
Alter(n) und der Vergänglichkeit des Körpers in der Gegenwart. Diese Fragestel-
lung ist nicht nur aus dem gewonnen, was als ‚demographischer Wandel‘ vielfach
öffentlich diskutiert und bislang etwa in einigen wenigen Spiel- und Dokumentar-
filmen oder sonstigen Medienfeatures exponiert wird. Vielmehr spielen auch die
unübersehbaren, bspw. über Medizin und Lebensstile induzierten Veränderungen
von alternder und vergänglicher Körperlichkeit eine zentrale Rolle. Im Fokus steht
dabei gerade die Verbindung von Altern und vergänglicher Körperlichkeit bzw.
deren ‚Vermeidung‘ oder ‚Verbannung‘.
Der Prozess des Alterns wird in vielfältiger Weise leiblich gespürt: als Schwinden
körperlicher Kräfte, als Einschränkungen des Bewegungsapparats, als Nachlassen
der Arbeitsfähigkeit, als Zunahme von Krankheiten, als Ausdehnung der nach
Erkrankungen wie nach Ausschweifungen erforderlichen Regenerationszeit, als
Nachlassen sexueller Potenz, als partieller Verlust der Körperkontrolle und der
kognitiven Fähigkeiten. Im Zuge des fortschreitenden Alterns werden die Indi-
viduen der Vergänglichkeit ihrer Körper in wachsendem Maße gewahr. In einer
„Inszenierungsgesellschaft“ (Willems/Jurga 1998), in der dem – fitten und funk-
tionstüchtigen – Körper eine hohe Bedeutung für soziale Anerkennung zukommt,
sind die Individuen umgekehrt in wachsendem Maße aufgerufen, aktiv gegen
drohende körperliche Beeinträchtigungen anzugehen (Katz 2000). Sie werden
für den Zustand ihrer Körper verantwortlich gemacht. In den Anrufungen des
Anti-Aging oder den Verheißungen und Verpflichtungen eines „successful aging“
kommt in verdichteter Weise zum Ausdruck, dass die Auseinandersetzung mit
dem (eigenen) Körper ein zentrales Element spätmoderner Identitätsarbeit ist: der
Körper als lebenslanges Projekt, an dem ständig gearbeitet werden muss, damit er
gemäß den Intentionen der Individuen und den Erwartungen Anderer ‚eingesetzt‘
werden kann. Dies erfolgt vor dem Hintergrund von an der mittleren Lebensphase
orientierten kulturellen „Funktions-, Aktivitäts- und Gesundheitsnormen“ (Backes
2008, S. 192), was den alternden Körper schnell als „pathologische Abweichung von
einem quasi alterslosen Funktions- und Leistungsideal“ (ebd., S. 193) erscheinen
lässt. Umso wichtiger wird es, dem gegenzusteuern. Den Anrufungen zur Kör-
perarbeit kann man nicht entrinnen. Zygmunt Baumann (1995, S. 16) spricht von
einer „lebenslänglichen Belagerung“ des Körpers, der Körper wird zum Objekt
diese Furcht die Wahrnehmung und die Lebensplanung aller Menschen in allen Le-
bensphasen gleichermaßen bestimmt, sei dahingestellt. Zumindest im Alter bestimmt
das Wissen um die eigene Endlichkeit in wachsendem Maße die Lebensplanung.
Alter(n) und vergängliche Körper 5
einer Dauerbeobachtung.3 Die Arbeit am eigenen Körper ist Teil der Selbstsorge
des Individuums (Meuser 2014).
Die Vorstellung eines erfolgreichen Alterns ist allerdings auch von dem für die
okzidentale Moderne charakteristischen Körper-Geist-Dualismus geprägt, welcher
den Körper als dem rationalen Selbst untergeordnet und verfügbar begreift. Umso
einschneidender werden die mit zunehmendem Alter häufiger werdenden, durch
die Materialität des Körpers bedingten Erfahrungen der Grenzen der Verfüg-
barkeit und Gestaltbarkeit erlebt. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen der
Medizin und in Einklang mit den Gestaltbarkeitserwartungen und -ansprüchen
einer individualisierten Gesellschaft werden altersbedingte Beeinträchtigungen
körperlicher Funktionen jedoch immer weniger als Ausdruck einer natürlichen
Ordnung gesehen. In der Medizin, in der die Annahme eines technologisch ma-
nipulierbaren Körpers an Bedeutung gewinnt, sind aktivitätsbezogene „Funkti-
onsnormen“ an die Stelle von – an den natürlichen Alterungsprozess des Körpers
geknüpften – „Normalitätsnormen“ getreten (Amrhein/Backes 2007, S. 106). So
wird z. B. die nachlassende Erektionsfähigkeit des Penis als (therapierbare und zu
behandelnde) erektile Dysfunktion definiert und pathologisiert oder die weibliche
Gebärfähigkeit künstlich verlängert. Mit der Durchsetzung der Funktionsnormen
scheint die Differenzierung der Lebensphase des Alters in sog. „junge Alte“ und
Hochbetagte einherzugehen. Zumindest in den medialen Repräsentationen des
Alters werden die „jungen Alten“ (auch „golden ager“ genannt) als körperlich ak-
tive und körper-kompetente Menschen dargestellt (‚80 ist das neue 40‘). Die Bilder
körperlichen Verfalls bleiben den Hochbetagten vorbehalten. Für diese scheinen
die Normalitätsnormen weiterhin akzeptabel zu sein.
Die im Zuge des Alterns sich häufenden „leiblich-körperliche[n] Grenzerfah-
rung[en]“ (Gugutzer 2008, S. 185) verweisen auf eine nicht hintergehbare Materialität
des Körpers, die gleichwohl nicht (nur) als vorsoziale Gegebenheit zu konzipieren,
sondern in kulturelle Diskurse und soziale Praktiken eingelassen ist. Zum Beispiel
deuten gerontologische Befunde zum Einfluss des Körperbildes der Individuen auf
Ausmaß und Erleben von Körperbeschwerden auf das wechselseitige Konstitu
tionsverhältnis hin. Die Erfahrungen des alternden Körpers werden nicht minder
als andere Körpererfahrungen innerhalb einer bestimmten symbolischen Ordnung
gemacht. Wir hatten in unserem ersten Band auf die große Herausforderung hin-
gewiesen, welche die Analyse des Körperwissens für die Verständigung zwischen
handlungsorientierten und praxistheoretischen Theorieansätzen darstellt, wenn
3 Im Zuge dessen entwickeln die Individuen einen erhöhten Bedarf an reflexivem Körper-
wissen, das ihnen die Kategorien bereit stellt, mit denen sie die erfahrenen körperlichen
Entwicklungen und Veränderungen einordnen können.
6 Reiner Keller und Michael Meuser
man nicht erneut pauschal die einen als kognitivistisch-sinnorientiert gegen die
anderen, die praktische Vollzüge betonen, ausspielen will. Tatsächlich bietet die
Beschäftigung mit dem Thema „Altern und vergängliche Körper“ für eine solche
Verständigung eine wunderbare Gelegenheit. Wie andere Erfahrungen werden
auch Körpererfahrungen „innerhalb einer spezifischen symbolischen Ordnung
gemacht“ (Maihofer 2002, S. 76). Der Körper ist eine „subjektive fühlbare Realität“
(Villa 2000, S. 182), und diese Realität ist eine symbolische und materiale Realität.
Dies wird besonders deutlich angesichts von Veränderungen, die der Körper im
Lebenslauf erfährt, z. B. während der Pubertät oder eben im Prozess des Alterns.
Das Spannungsfeld von materialer und symbolischer Realität impliziert, dass der
Körper bei aller kultureller Formung aufgrund seiner physischen Materialität ein
Stück weit ‚asozial‘ ist und das Potential der Widerständigkeit in sich trägt, es gibt
eine „spürbare Widerständigkeit“ des Leibes gegen den Willen (Gugutzer 2008,
S. 185). Wenn man nach einer Referenz bei den Klassikern der Soziologie hierfür
sucht, dann kann man mit George Herbert Mead darauf hinweisen, dass „physical
things resist our action“ (Mead 1938, S. 144). Der menschliche Körper ist neben
anderem eben auch ein physischer Gegenstand (physical thing). Herbert Willems
und York Kautt (1999, S. 299) unterscheiden einen „Sinnkörper“ von „korporaler
Materialität“: „Die Materialität des Körpers prozessiert und entwickelt sich sozusagen
autopoetisch und in gewisser Weise asozial. Sie unterläuft und fundiert zugleich
sozialen Sinn“. Auch Hans Joas (1992, S. 246) verweist auf die Widerständigkeit
des Körpers, die sich in Phänomenen wie „Passivität, Sensibilität, Rezeptivität,
Gelassenheit“ äußert.
Die Gegebenheit des Körpers als symbolische und materiale Realität erschließt
sich insbesondere in Lebensphasen, in denen der Körper sich ‚entselbstverständ-
licht‘, als einschneidend erlebte Veränderungen erfährt und reflexive Zuwendungen
erzwingt. Dies ist neben der Pubertät vor allem in der Phase des (hohen) Alters
der Fall. Die Vergänglichkeit des Körpers ist gleichwohl nicht nur eine Frage sei-
nes Alterns, sondern ‚von Geburt an‘ (und in gewissem Sinne schon zuvor) in die
Körperlichkeit menschlicher Existenz eingeschrieben. Vor diesem Hintergrund
stellt sich einer (Wissens)Soziologie des alternden Körpers eine Reihe von Fragen:
• Ein wichtiger Gegenstand sind die Körperbiographien des Alter(n)s: Wie erfahren
alte Menschen ihren Körper und dessen Veränderungen? (Wie) Sind die Ver-
änderungen des Körpers in den biographischen Selbstdeutungen repräsentiert?
In welchem Verhältnis stehen die Selbstdeutungen zu kulturellen Körper- und
Altersbildern?
• Welche Rolle spielt das Körperwissen um Altern und körperliche Vergänglichkeit
in sozialen Interaktionen und Situationen unmittelbarer, zugewandter Körper-
Alter(n) und vergängliche Körper 7
lichkeit (etwa bei der Pflege, beim ‚gemeinsamen Altern‘), beim geselligen Zu-
sammensein, bei Darstellungen im öffentlichen Raum, bei intimen Begegnungen?
• Welche Formen eines ‚Wissens des Körpers‘ liegen dem Erleben und Erfahren
zugrunde? Und wie verhält sich das zum Wissen vom Körper, das von Profes-
sionen im Umgang mit körperlicher Vergänglichkeit produziert, gesammelt,
eingesetzt wird?
• Wodurch wird die symbolische Ordnung des alternden Körpers bestimmt?
Welche Typiken (z. B. bezogen auf Milieuzugehörigkeit, Geschlecht, sexuelle
Orientierung) prägen die verfügbaren Wissenskategorien (z. B. hinsichtlich
Attraktivität, Leistungsfähigkeit, Gesundheit) des alternden Körpers?
• In diskursanalaytischer Perspektive ist zu fragen, inwieweit der gerontologische
Altersdiskurs gegenwärtig von einer eigentümlichen ‚Positivierung‘ des Alters
bestimmt ist (in Gestalt der Anrufung des successful aging wie in Gestalt von
Bemühungen, spezifische Entwicklungschancen und -aufgaben des Alters zu
identifizieren). Inwieweit bestimmt diese Positivierung des Alters die gegenwärtige
– sowohl populäre als auch wissenschaftliche (medizinische, gerontologische,
psychologische) – Wissensproduktion zum Verhältnis von Alter und Körper?
Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind überwiegend, wenn auch nicht aus-
schließlich, den Fragen der Vergänglichkeit des alternden Körpers im Spannungsfeld
von symbolisch-normativen Regimen und (scheinbar) individueller Erfahrung
gewidmet. Wir möchten sie im Folgenden in aller Kürze vorstellen.
Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag des Schweizer Soziologen Thomas
S. Eberle zum Thema Altern als subjektive Erfahrung. Der Autor reflektiert darin in
Auseinandersetzung mit und im Rekurs auf die Sozialphänomenologie von Alfred
Schütz den Zusammenhang zwischen dem Erleben und der (reflexiven) Erfahrung
körperlicher Vergänglichkeit im Alter am Beispiel einer eigenen ‚Krankengeschichte‘.
Parallel zu den öffentlichen Diskursen über ‚gutes Altern‘ oder gar dessen ‚Ende‘
wird hier sichtbar, dass im Vollzug alltagsweltlicher Körperpraxis zwischen Leib
sein und Körper haben die Erfahrung der Vergänglichkeit in Gestalt wellenförmiger
Konjunkturen in Erscheinung tritt und sich in der subjektiven Erfahrung in einem
spezifischen Profil leiblich bedingter Einschränkungen von Handlungsoptionen
manifestiert. Vor dem Hintergrund dieser Selbst-Analyse ergeben sich einige
weiterführende Fragen an die Konzepte unterschiedlicher phänomenologischer
Traditionen.
8 Reiner Keller und Michael Meuser
Ein erster Block von Beiträgen wendet sich dem Thema des Bandes vor allem
mit Blick auf gesellschaftliche Normierungen und Diskurse sowie Praxisregime
zu. So widmet sich Matthias Meitzler unter dem Titel Der alte Körper als Problem-
generator. Zur Normativität von Altersbildern einer resümierenden Diskussion der
aktuellen gesellschaftlichen Thematisierungen von Altern und Vergänglichkeit. Er
argumentiert, dass die feststellbare Normativität von Alters- und Körperbildern
vor dem Hintergrund eines intersubjektiv geteilten „Alterungswissens“ erfahren
wird. Das kontinuierliche Älter-Werden und das eigene zukünftige Alt-Sein kom-
men als soziale Tatsachen in den Blick, deren Ausdeutung durch eine Vielzahl von
Deutungsmustern erfolgt. Darin werden abnehmende Partizipationsmöglichkeiten
ebenso sehr zum Thema wie die Verheißungen medizinisch-technischer Erhaltung.
Mone Spindler diskutiert unter dem Titel Vom Jungbrunnen zum individuellen
Management gesundheitlicher Alterungsrisiken. Neues Wissen über Altern im Um-
feld der deutschen Anti-Aging-Medizin in diesem Zusammenhang spezifischer die
Ergebnisse ihrer diskursanalytischen Untersuchung der Neu-Konstruktion der
Anti-Aging-Medizin als einem ‚seriösen professionellen Arbeitsfeld‘ in Deutsch-
land und fokussiert dabei das dort produzierte Wissen über den Umgang mit der
körperlichen Vergänglichkeit. Dies wird insbesondere anhand der seit 1999 existie-
renden medizinischen Fachgesellschaft ‚Deutsche Gesellschaft für Prävention und
Anti-Aging-Medizin e. V.‘ in den Blick genommen. Spindler rekonstruiert hier die
weitreichenden Umdeutungen der Vorstellungen von Alter, die im medizinischen
Diskurs vorgenommen werden. In einem zweiten Schritt wird das Wissensregime
der Anti-Aging-Medizin einer kritischen Bewertung aus sozialgerontologischer
Perspektive unterzogen.
Larissa Pfaller und Frank Adloff wenden sich in ihrem Beitrag „Mein Leben
ist ein Fortfahren von Eigenreparatur“ – der Körper im Zeichen des Anti-Aging
dem Zusammenhang von medizinischer Bearbeitung des Alterns in Gestalt von
Anti-Aging-Angeboten und der Wahrnehmung der scheinbar oder tatsächlich
verfügbaren Möglichkeiten zur Verlangsamung oder gar Aufhaltung des Alterungs-
prozesses durch ‚Betroffene‘ zu. Zunächst analysieren sie, wie die Anti-Aging-Me-
dizin den menschlichen Körper als bedroht und bedrohlich konzipiert. Ausgehend
vom „Altern als Risikofaktor“ wird dort eine normativ gewendete Dialektik von
Disziplin und Selbstsorge in Bezug auf den je eigenen Körper entfaltet. Auf der
Grundlage von Interviews und Diskussionen mit 96 Personen richtet sich schließlich
der hauptsächliche Fokus des Beitrages auf die Bedeutung des leiblichen Spürens
in der tagtäglichen Anwendung von Anti-Aging.
Mit dem vorangehenden Beitrag erfolgte bereits ein Übergang zur Frage der
Wahrnehmung körperlichen Alterns und körperlicher Vergänglichkeit auf der Ebene
der vergesellschafteten Individuen. Hier widmen sich zwei Beiträge zunächst dem
Alter(n) und vergängliche Körper 9
Agentiellen Realismus von Karen Barad an. Sie lotet damit einerseits aus, wie sich
qualitativ-interpretative Sozialforschung verändert, wenn sie den Prämissens dieser
Theorie folgt. Andererseits stellt sie die Ergebnisse ihrer entsprechenden Studie
vor, der 20 problemzentrierte Interviews mit Frauen und Männern aus Wien im
Alter zwischen 60 und 92 Jahren zugrunde liegen. Im Zentrum ihres Interesses
stehen non-verbale Praktiken der Verkörperung der aktiven Wirkmächtigkeit von
Menschen und Dingen in Gestalt bestimmter Erinnerungen der Interviewten.
Unterschieden werden hier ‚Unterbrechungen‘ des Alterns, ‚Abgrenzungen‘ vom
Altern, Bestätigungen des Alterns, Ausgleiche des Alterns und Aktualisierungen
des Alterns.
Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp wenden sich unter dem Titel Lebensschmerz
– Verkörperungen des Historischen. Biographische Leidens- und Lebenserfahrungen
Hochaltriger dem erinnernden Rückblick auf als einschneidend erfahrene Momente
bzw. Situationen körperlicher Vergänglichkeit zu. Solche Erinnerungen werden als
„eingekörperte Ablagerungen“ begriffen: „Schmerzen bilden im Körper ein Gegen-
über, mit dem Zwiesprache gehalten wird und Erfahrungen aktualisiert werden.“ Hier
richtet sich der Analysefokus auf den „Lebensschmerz“, der die Körpergeschichte
des bzw. der Einzelnen mit dem sozialen Körper und kollektiven Einbettungen in
seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Empirische Grundlage
der Analyse sind teilnehmende Beobachtungen in zwei geriatrischen Abteilungen
und einer Tagesklinik sowie verstehende Interviews mit 47 Frauen und 23 Männern.
Unterschieden wird dann zwischen Leistungsschmerzen, Verlustschmerzen und
Alltagsschmerzen, denen je unterschiedliche Bedeutung im Lebenslauf zukommt.
Anja Schünzel und Boris Traue beschäftigen sich in ihrem Beitrag Kollektiver
Eigensinn oder Selbstbehinderung? Das umstrittene Körperwissen der Anorexie mit
einer ganz anderen Seite körperlicher Vergänglichkeit. Während die vorangehenden
Beiträge insbesondere Fragen des Zusammenhangs von Altern und vergängliche
Körperlichkeit bzw. unfallbedingtes Erleben und Erfahren dieser Vergänglichkeit
thematisierten, nehmen sie eine aktuelle Auseinandersetzung zwischen medizi-
nischen ExpertInnen und sich selbst organisierenden Laien (hier: junge Frauen)
in den Blick, die in einen Streit über die Definitionsmacht zum Thema Anorexie
eingetreten sind. Analysiert werden die Selbstthematisierungen der ‚Pro-Anas‘, die
für sich einen extrem kalorienarmen Lebensstil reklamieren, im Spannungsfeld
zur medizinischen Diagnostik einer gefährlichen und unbedingt behandlungsbe-
dürftigten Störung der Körperwahrnehmung. Als spezifisch neu erscheint dabei
weniger dieser Gegensatz an sich als vielmehr die neuen Ausdrucks- und Reso-
nanzmöglichkeiten, die er in Zeiten von Web 2.0 erfährt.
Henny Annette Grewe und Ronald Hitzler analysieren in Die unerbittliche Ge-
genwärtigkeit der Vergänglichkeit des Körpers. Zur Entsinnung eines Menschen im
Alter(n) und vergängliche Körper 11
Schlussbemerkung
Wie schon beim ersten Band „Körperwissen“ liegt auch in diesem Fall den Bei-
trägen eine Tagung beider Sektionen zugrunde, die wir im Herbst 2013 an der
TU Dortmund organisiert hatten. Über die dort vorgestellten Beiträge hinaus
haben wir einige weitere Autorinnen und Autoren hinzugewinnen können. Wir
möchten an dieser Stelle allen am Band und seinem Zustandekommen beteiligten
herzlich danken. Das schließt die Beitragenden und den Verlag ebenso ein wie die
studentischen Hilfskräfte Tobias Lehmann, Jessica Hubatsch und Julia Schlagge,
die mit großer Umsicht an der Manuskriptgestaltung beteiligt waren. Ankündigen
möchten wir zugleich, dass weitere gemeinsame Erkundungen des Körperwissens
in Vorbereitung sind.
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Altern als subjektive Erfahrung
Thomas S. Eberle
Ob man will oder nicht, findet man sich im Alltag immer wieder mit Diskursen
über den alternden Körper konfrontiert. Das Labeling fällt zwar unterschiedlich
aus und wirkt manchmal beschönigend, manchmal auch dramatisierend. Der
vorherrschende Diskurs in den Massenmedien ist eher euphemistisch geprägt, seit
die Pharma- und Kosmetikunternehmen den Markt für Leute 50+ entdeckt haben.
„Anti-Aging“ ist zum ubiquitären Schlagwort geworden und wird in Kampag-
nen zu einem wesentlichen Ziel verklärt, und es werden Kosmetikprodukte und
Nahrungsmittelzusätze empfohlen, die uns diesem Ziel näher bringen sollen. Die
angepriesenen Produkte können zwar den Alterungsprozess nicht aufhalten, ihn
13
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_2
14 Thomas S. Eberle
und Medien durchlaufen, und jetzt werden wir auch das Alter neu erfinden. Wir
werden das Alter anders durchlaufen als unsere Eltern, Großeltern und weitere
Ahnen. Schawinski gibt dazu zahlreiche Anregungen: von richtiger Ernährung,
Nahrungsmittelzusätzen und sportlicher Betätigung (insbesondere Marathon lau-
fen) bis hin zu Spiritualität, Sexualität, Karrierewechseln und Geld, und schließlich
skizziert er auch Alternativen zu den herkömmlichen Altersheimen.
Als alterndes Individuum steht man dauernd im Kontext dieser Diskurse, die ei-
nem auch als Ressourcen dienen, um das eigene Altern zu interpretieren. Obwohl
es kollektive Diskurse sind, entwickelt selbstverständlich jedes Individuum ein
gewisses biografiespezifisches Profil, das je nach Herkunftsfamilie und weiteren
sozialisatorischen Prägungen durch das soziale Umfeld und die Medien anders
ausfällt. Zu einem gewissen Grad lässt sich steuern, welchen Diskursen man sich
selbst aussetzt, vor allem aber auch, mit welchen man sich auseinandersetzt, das
heißt wie viel eigene Reflexionsarbeit man in Bezug aufs Altern leisten will.
Wenn man sich einem Thema aus subjektiver Perspektive widmen und dabei
auf die eigene Erfahrung rekurrieren will, tut man immer gut daran, sich zunächst
auf die phänomenologischen Grundlagen zu besinnen. In Bezug auf unser Thema
betrifft dies insbesondere die phänomenologischen Reflexionen zu Altern und Leib.
sich dieses Erlebnis in der Sphäre meines somatischen Lebensgefühls ein, durch das
es in die gedächtnisbegabte Dauer eindringt. Während dieses Bewegungsablaufs
vom gestreckten zum gebeugten Finger bin ich gealtert, was sich – zumindest bei
einer seriellen Wiederholung – in einer Ermüdung der betreffenden Muskeln, also
einem rein somatischen Erlebnis niederschlagen kann (S. 130).
Schütz zählt das Altern zu jenen Phänomenen des täglichen Lebens, die als
Gegebenheit modo essendi hingenommen, aber nie erklärt werden, ohne dass das
Gefühl des ‚Fiktiven‘ auftritt (ASW I 2006, S. 217). Bereits im Rahmen seiner „Theorie
der Lebensformen“ erörtert Schütz, ob die „Sphäre des Unartikulierten“ – zu der
er neben dem Altern auch die Erlebnisreihen zu Eros, Kunst, Stimmungen, Leib,
Schmerz, Traum zählt – eine Lebensform eigenen Rechts darstellt. Im ‚Sinnhaften
Aufbau‘, in dem er unter Rückgriff auf Husserls Phänomenologie seine Theorie der
Sinnkonstitution und des Fremdverstehens neu konzipiert, führt er das Konzept
„wesentlich aktuelles Erlebnis“ ein für jene Erlebnisse, die nicht artikuliert, nicht
erinnerbar und damit der Reflexion entzogen sind. Dieses Konzept bleibt zunächst
eine Residualkategorie, wird von Schütz dann aber im ‚Personalitätsmanuskript‘
(ASW V.1 2003a, S. 33ff.) zu einer „Lehre von den wesentlich aktuellen Erlebnis-
sen“ ausgebaut, in der er „ein Hauptstück des neuen Systems“ erblickt, das die
Generalthesis des alter ego ermöglicht (S. 44). Diese Lehre verliert im Rahmen der
Weiterentwicklung der Lebensweltanalyse ihren prominenten Stellenwert; im Rah-
men der „Mannigfaltigen Wirklichkeiten“, wo die Traumwelt, die Fantasiewelten
oder theoretische Wirklichkeiten als „Sinnbereiche eigener Art“ charakterisiert
werden, verengt sich das Konzept des „wesentlich aktuellen Erlebnisses“ auf rein
physiologische Reflexe, wie Pupillenverengung, Zwinkern oder Erröten, auf die
Leibnizschen „petites perceptions“ und auf „meinen Gang, meinen Gesichtsaus-
druck, meine Stimmung“ – mit anderen Worten, auf „jene Formen unwillkürlicher
Spontaneität“, die zwar erfahren werden, während sie sich ereignen, die aber keine
Spuren in der Erinnerung hinterlassen. Sie werden, wie Leibniz sagte, perzipiert
aber nicht apperzipiert. Daher können sie weder erinnert noch beschrieben werden,
„d. h., sie bestehen lediglich in der Aktualität des Erfahrenwerdens und können
nicht in reflektiver Einstellung erfasst werden“ (ASW V.1 2003a, S. 184; vgl. zum
Argumentationsgang auch ASW I 2006, S. 229 E1, Anm. der Editoren).
Im ‚Sinnhaften Aufbau‘ (ASW II 2004) befasst sich Schütz mit der Analyse der
Sinnkonstitution in Selbst- und Fremddeutung und der Struktur der Sozialwelt
mit dem Ziel, die Methodologie der Sozialwissenschaften zu begründen. Im An-
schluss an Husserls Analyse des inneren Zeitbewusstseins (Husserliana X 1969:
3-130) temporalisiert er den Sinnbildungsprozess: Die „Urimpression“ ist das
Erlebnis im Hier und Jetzt und So; daran schließt sich die primäre Erinnerung
an, die „Retention“, also das Noch-Bewusstsein der Urimpression. Die sekundäre
Altern als subjektive Erfahrung 19
gieren miteinander im Hier und Jetzt, und die Zeit schreitet laufend voran. Die
face-to-face Interaktion bildet den Prototyp zwischenmenschlicher Beziehungen: Bei
ihr ist der Andere in unmittelbarer, vorprädikativer Erfahrung in seiner gesamten
leiblichen Symptomfülle als Ausdrucksfeld gegeben, die Verschränkung der Wirk-
handlungen, also Kommunikation und Kooperation, sind in dieser Konstellation
am unmittelbarsten, umfassendsten und unzweifelhaftesten erfahrbar. Die Gleich-
zeitigkeit des Miteinanders ist auch bei technisch vermittelten Kommunikationen
erlebbar, beim Skypen, bei Telefongesprächen oder beim Chatten; dies allerdings
in abnehmender Erlebnisfülle – beim Skypen sieht man Gestik und Körperhaltung
nur sehr eingeschränkt, beim Telefonieren sieht man nichts, und beim Chatten ist
zwar Gleichzeitigkeit in Form einer sukzessiven Sequenz erfahrbar, aber man ist
sich nicht wirklich sicher, wer das Gegenüber ist.
Während Schütz das gemeinsame Altern am Prototyp der face-to-face Inter-
aktion festmacht, kann diese Erfahrung auf die anderen Menschen meiner Zeit
– seien es mir persönlich bekannte oder unbekannte Zeitgenossen – generalisiert
werden. Ich verfüge über typisches Wissen über Typen meiner Um- und Mitwelt
und kann beispielsweise voraussetzen, dass meine Zeitgenossen jene Personen und
Ereignisse kennen, welche die Massenmedien weltweit als bedeutsam kolportiert
haben: Berühmte Musiker, Sportler, Politiker, Wirtschaftsführer, Filmregisseure,
Schauspieler usw. Die soziale Verbreitung solcher typischer Wissensbestände kann
jeweils spezifiziert werden, zum Beispiel nach Generation, Kulturkreis, sozialer
Schicht, Geschlecht, usw. Gleichzeitig wird die durée, das innere Zeiterleben, in die
soziale Zeit verlagert, nämlich in Uhr- und Kalenderzeit, in der Ereignisse wie auch
Zeiträume indexiert werden können. In Bezug auf alle Zeitgenossen gehen wir in
aller Selbstverständlichkeit davon aus, dass „wir gemeinsam altern“, und zwar jeder
in seiner durée, aber auch in der (kosmologischen) Weltzeit und der sozialen Zeit. Die
Gemeinsamkeit dieses Alterns ist allerdings keine unmittelbare, direkt erfahrbare,
sondern eine generalisierte, typisierte. Es war ein zentrales Werkmotiv von Schütz,
die Gegebenheitsweisen des „Anderen“ sorgfältig zu unterscheiden und vor allem
hervorzuheben, dass die lebendige Intentionalität konkreter Menschen im Hier
und Jetzt, das aktuelle Erleben der (intersubjektiven) Alltagswelt sich genuin von
den Homunculi, den wissenschaftlichen Konstruktionen der Sozialwissenschaftler
unterscheidet. Gemeinsames Altern in der face-to-face-Interaktion unterscheidet
sich daher grundlegend von der generalisierten Vorstellung gemeinsamen Alterns
anonymer, nur als Typen konstruierter Personen – und zwar der Mitwelt wie der
Vor- und Nachwelt; die entsprechenden Sinnmodifikationen sind jeweils sorgfältig
zu beachten.
Altern als subjektive Erfahrung 21
Schütz sieht nun das Altern aber nicht nur als irreversiblen, kontinuierlichen Ablauf
der inneren Dauer und als mit den anderen Menschen geteilte Erfahrung, sondern
thematisiert das Altern auch mit Bezug auf den Leib. Einen engen Zusammenhang
von Leib, Erleben und innerer Dauer (durée) hatte bereits Bergson postuliert und
findet sich bereits in Schütz‘ Frühschriften. Leiblichkeit ist auch bei Husserl ein
sinngeneratives Moment. Zunächst begreift Husserl den Leib als Konstitutionsphä-
nomen des Bewusstseins, und zwar in doppelter Hinsicht: Sowohl als materiellen
Körper, also als physischen Leibkörper, als auch als „Träger“ eines Ichs, also als eine
psychophysische Einheit. Entsprechend unterscheidet er die Außeneinstellung, in
der der Leib als naturhafter Körper aufgefasst wird, von der Inneneinstellung, in
der die seelische Seite des Leibs im Vordergrund steht (Husserliana IV 1952: 284).
In der Außeneinstellung bildet der Leib das Orientierungszentrum des Subjekts in
der Welt, er gibt dem Ich eine räumliche und zeitliche Positionierung. Vom Hier
und Jetzt, von Nullpunkt aller Orientierung aus, werden Dinge als rechts oder
links, hier oder dort, oben oder unten, früher oder später wahrgenommen. Als Teil
der Natur ist der Leib-Körper ein „reales Ding“ und unterliegt mechanischen und
physischen Gesetzen. Er kann berührt und gestoßen werden, aber auch selbst auf
die Welt einwirken und Dinge bewegen. Die Gesundheit des physischen Körpers
ist grundlegend für das Bewusstseinsleben (Husserliana XIV 1973, S. 456).
In der Inneneinstellung ist der Leib sowohl Wahrnehmungs- als auch Willens
organ. Als Wahrnehmungsorgan ist der Leib Träger sinnlicher Empfindungen.
Husserl erläutert die Empfindungen am Beispiel der Tastempfindung: Wir können
einerseits Eigenschaften von Dingen ertasten, andererseits auch im Leib selbst
Empfindungen haben, zum Beispiel die Schwereempfindung in Arm oder Hand.
Husserl nennt dies „Empfindnisse“, um sie streng von materiellen Dingbestimmun-
gen zu unterscheiden (Husserliana IV 1952, S. 146ff.). Im Unterschied zu visuellen
und akustischen Erfahrungen, die sich nicht unmittelbar im Sinnesorgan (dem
Auge, dem Ohr) lokalisieren lassen, erlaubt der Tastsinn die direkte Selbstbezüg-
lichkeit des Eigenleibs zu erleben: Berührt die linke Hand die rechte Hand, ist der
Eigenleib sowohl Wahrnehmungsorgan als auch Wahrnehmungsobjekt. Da der
Eigenleib aber bei allen Wahrnehmungsakten mit dabei ist, man ihn also nie im
„Dort“ betrachten oder um ihn herumgehen kann, bleibt die Selbstwahrnehmung
unvermeidlich unvollständig. Mit der Wende zur genetischen Phänomenologie
thematisiert Husserl den Leib auch als Willensorgan und Träger freier Bewegung.
Durch die Möglichkeit der freien Bewegung des Leibs kann das Subjekt neue Ho-
rizonte bilden und Gegenstände aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Ihre
Einbettung in einen bestimmten räumlichen Horizont impliziert daher eine zeitliche
22 Thomas S. Eberle
Bei der posthumen Herausgabe der ‚Strukturen der Lebenswelt‘ (Schütz und
Luckmann 1984, S. 139ff.) greift Luckmann diese Überlegungen wieder auf und
führt sie im Kapitel „Die Grenzen der Lebenswelt“ weiter aus. Dieses Kapitel war
in Schütz‘ Gliederungsentwurf nicht vorgesehen und trägt deutlich die Handschrift
Luckmanns. Luckmann unterscheidet hier die kleinen, mittleren und großen
Transzendenzen: Die kleinen transzendieren mein Hier und Jetzt und verweisen auf
24 Thomas S. Eberle
etwas, das jenseits meiner gegenwärtigen Erfahrung liegt; die mittleren verweisen
darauf, dass mir der Andere nur mittelbar zugänglich ist, also durch Deutung seiner
leiblichen Äußerungen, und ich ihn daher nur approximativ verstehen kann; die
großen schließlich verweisen auf andere Wirklichkeiten. In Bezug auf das Altern
sind die kleinen Transzendenzen besonders interessant. Man kann die Grenzen der
Erfahrung in der aktuellen Reichweite überschreiten, indem man sich an andere
Orte der erlangbaren Reichweite bewegt. Was in der Zukunft geschieht, an welchen
Orten auch immer, bleibt stets ungewiss, sogar die Protentionen bleiben leer. Wir
operieren dabei mit zwei Annahmen, die Schütz von Husserl übernimmt und zu
Grundelementen des subjektiven Wissensvorrats erklärt: Die Idealisierung des
„Und-so-weiter“ und die Idealisierung des „Ich-kann-immer wieder“. Die erste An-
nahme unterstellt, dass das Alltagsgeschehen in seiner typischen Form weiterlaufen
wird; die zweite Annahme, dass ich grundsätzlich weiterhin so handeln kann wie
bis anhin. Beide Annahmen können plötzlich erschüttert werden: Die erste durch
krisenhafte Ereignisse (Krieg, Naturkatastrophen), die zweite durch Unfall oder
Tod. Indem Schütz diese Annahmen mit dem subjektiven Wissensvorrat und der
biografischen Situation verknüpft, werden sie spezifiziert. In welcher Form die Welt
weiterlaufen wird, beurteilen wir aufgrund unseres Erfahrungswissens, und dieses
ist sowohl sozial abgeleitet als auch gesellschaftlich distribuiert. Aufgrund unseres
Erfahrungswissens beurteilen wir auch, ob wir weiterhin so handeln können wie
bis anhin und welche Gefahren allenfalls drohen (Krankheit, Unfall, Alter, Tod). Es
gehört zur Erfahrung des Älterwerdens, „dass man bemerkt, wie sich die Grenzen
der ‚Vermöglichkeit‘ verschieben. Zunächst erweitern sich die Grenzen sprunghaft;
dann halten sie sich auf einem gewissen Niveau ohne erhebliche Veränderung;
früher oder später beginnen sie zu schrumpfen. Mit zunehmendem Alter merkt
man erst, dass viele der Ceteris-paribus-Klauseln, die man in seinen Entwürfen
und in seinem Handeln gar nicht sehr zu beachten brauchte, plötzlich sorgfältig
überdacht werden müssen“ (S. 42).
Die mittleren Transzendenzen aufgrund der nur mittelbaren Zugänglichkeit
des Anderen betreffen das praktische Problem alltäglicher Hermeneutik und derer
Grenzen. Letztere beziehen sich nicht nur auf das erwähnte Ineffabile, sondern auch
auf den Vertrautheitsgrad und die Inhaltsfülle. So versuchen die Älteren beispiels-
weise oft, ihr Wissen und ihre Lebenserfahrung an die Jüngeren weiterzugeben.
Dies gelingt jedoch nur teilweise, denn was für die Älteren persönliche Erfahrun-
gen sind, bleibt für die Jüngeren relativ abstraktes Wissen in Form allgemeiner
Handlungsmaximen. So wichtig diese sind – in der konkreten eigenen Erfahrung
gewinnen sie eine ganz andere, wesentlich anschaulichere Qualität. So haben viele
Menschen den Eindruck, ihre betagten Eltern erst dann „wirklich“ zu verstehen,
wenn sie selbst das vergleichbare Alter erreicht und erlebt haben.
Altern als subjektive Erfahrung 25
An dieser Stelle bedarf es einer kurzen Begründung, warum ich hier ausschließlich
auf Husserl und Schütz, nicht aber auf andere leibphänomenologische Ansätze
eingehe.
Die Fokussierung auf Schütz ergibt sich daraus, dass er meines Wissens als
einziger Phänomenologe Leib und Altern thematisiert hat – oder genauer: leibli-
ches Altern. Zudem hat er wie kein Zweiter die Phänomenologie für die Soziologie
fruchtbar gemacht, weshalb er insbesondere in der Wissenssoziologie, aber auch
weit darüber hinaus bekannt ist. Allerdings blieben seine Studien zur Leiblichkeit
im Frühwerk weitgehend unbeachtet. Eine Ausnahme bildet Anke Abraham, die
sich eingehend mit Schütz‘ Leibkonzept beschäftigte und dessen „Leerstellen“
herausarbeitete (2002, S. 47-105; 2011, S. 35f.). Auch Reiner Keller und Michael
Meuser (2011b, S. 15ff.) setzen sich kenntnisreich mit der Frage auseinander, ob
Schütz‘ Konzeption im Vergleich zum praxeologischen Begriff des Körperwissens,
der von der Annahme einer leiblichen Erkenntnis ausgeht, nicht zu kurz greift. Im
vorliegenden Zusammenhang geht es mir allerdings weder um die Eruierung solcher
Leerstellen noch um deren Schließung durch weiterführende leibphänomenologi-
sche Untersuchungen, sondern allein um die Frage, ob und inwiefern mir Schütz‘
Analysen bei der Reflexion meiner subjektiven Erfahrung des Alterns behilflich
sind. Dem hinzugefügt sei, dass auch der gängige Rekurs auf Merleau-Ponty (1974)
und neuerdings auch auf die „Neue Phänomenologie“ von Hermann Schmitz
26 Thomas S. Eberle
„Eine der fundamentalsten Erfahrungen ist die des Älterwerdens, des Übergangs von
der Kindheit, der Adoleszenz, der Reife durch die sich neigenden Jahre zum Alter.
Diese Zeiterfahrung ist sicher mit den physiologischen Vorgängen in meinem Körper
verbunden, aber nicht auf sie beschränkt. Sie ist subjektiv gesehen ein Ereignis in
der inneren Zeit. Ich wurde geboren, ich werde älter, ich muss sterben… (…) Unser
Älterwerden ist von allergrößter Relevanz für uns, es beherrscht den unserem System
von Motivationsrelevanzen übergeordneten Zusammenhang, unsere Lebenspläne.“
28 Thomas S. Eberle
Es ist eine auferlegte Relevanz, dass wir unentrinnbar älter werden (ibid.). Nun könnte
man vermuten, dass „Altern“ eher den polythetischen Prozess der inneren Dauer
bezeichnet und Älterwerden den monothetischen Blick auf Lebensabschnitte. Dem
ist aber nicht so: Auch im Kontext des ‚Wählens zwischen Handlungsentwürfen‘
schreibt Schütz, dass „ich“ zwischen dem Zeitpunkt des Handlungsentwurfs und
dem Zeitpunkt seiner Verwirklichung „älter geworden“ bin (ASW 6.1, S. 257).
Der eigentliche Grund für den terminologischen Wandel liegt darin, dass diese
Publikationen aus dem Englischen übersetzt sind und Schütz in seinen englischen
Schriften nur selten von „aging“ gesprochen hat, sondern meist von „growing older“.
Der berühmte Leitsatz lautet auf Englisch denn auch: „We grow older together“
(CPI, S. 220).
Schütz betont, dass die Erfahrung des Älterwerdens mit den physiologischen
Vorgängen im Körper zu tun hat, aber nicht auf sie beschränkt ist. Altern bedeutet
auch immer einen „Zuwachs von Erfahrungen“ (ASW II 2004a, S. 188). Ob wir
dadurch tatsächlich immer klüger und weiser werden, ist im Common-sense um-
stritten. Aber sicherlich ist der klassische Topos auch heute noch vorstellbar, dass
der Körper immer mehr degeneriert, während der Geist sich immer mehr seiner
Vollendung nähert. Im vorliegenden Zusammenhang werde ich mich allerdings
vornehmlich auf das leibliche Altern konzentrieren.
Nach Schütz beherrscht die auferlegte Relevanz des Alterns die Lebenspläne. In
meiner Selbstbetrachtung stimmt dies nur beschränkt. Ich habe mein Älterwerden,
mein eigenes Altern lange Zeit einfach ignoriert und bin mit den Annahmen des
„Und-so-weiter“ und des „Ich-kann-immer-wieder“ davon ausgegangen, dass ich
alles was ich jetzt verpasse, auch später noch werde tun können. Wie oft habe ich
den Urlaub verkürzt oder während des Urlaubs gearbeitet, um noch irgendeinen
Artikel fertig zu schreiben und noch einigermaßen fristgerecht einzureichen!
Dieses konzentrierte Arbeiten, manchmal Tag und Nacht, hat mit dem Schreiben
der Dissertation eingesetzt und sich danach fortgesetzt, als ich eine feste Dozen-
tenstelle hatte, und immer mehr habe ich meine Hobbys, für die ich mir vordem
ausgiebig Zeit genommen hatte – glückliches Studentenleben! – hintan gestellt
und die Augen vor der Tatsache verschlossen, dass ich auch später keine Zeit dafür
finden werde, wenn ich meinen Arbeits- und Lebensstil nicht grundsätzlich ändere.
Die Ratgeberliteratur zum Zeitmanagement mit den Maximen „Mehr Zeit für das
Wesentliche“ und „keeping a work-life-balance“ half nicht weiter, denn sie unterstellt
zu sehr ein autonomes Subjekt und missachtet den zunehmenden gesellschaftlichen
Erwartungsdruck und die ubiquitären Beschleunigungstendenzen (vgl. Eberle 1993).
Alle meine Kolleginnen und Kollegen schienen im selben Boot zu sitzen, niemand
konnte sich mit einer 40-Stunden-Woche begnügen. Meistens sind es anderweitige
auferlegte Relevanzen, wie ein Unfall oder eine plötzliche Erkrankung, die zu einer
Altern als subjektive Erfahrung 29
Was „Altern“ bedeutet, hängt natürlich vom jeweiligen Relevanzbereich ab. Hoch-
leistungssportler haben ihren Höhepunkt meistens in jungen Jahren; dreißig Jahre
alt zu werden hat für sie daher eine andere Bedeutung als für junge Wissenschaftler.
Für mich war die wohl erste körperliche Zäsur, dass sich während meines Studiums
meine Sehkraft verminderte und ich leicht kurzsichtig wurde. Ich musste fortan
eine Brille tragen, wenn ich Bekannte auf der anderen Straßenseite erkennen und
das Gekritzel der Professoren auf der Tafel im Vorlesungssaal lesen wollte. Brille
tragen galt damals als eher unchic, weshalb ich sie nur bei Bedarf aufsetzte und
bald durch Kontaktlinsen ersetzte. Aber mir war klar: Die vollständige Sehkraft
kommt nie mehr zurück, mit Kurzsichtigkeit werde ich fortan leben müssen. Ich
erinnere mich deutlich, wie sehr mich das aufwühlte – was aus heutiger Sicht, nach
einem jahrzehntelangen Leben als Brillenträger, ziemlich unverständlich ist. Aber
ich weiß noch genau, dass ich mir dachte: Pilot kannst du jetzt definitiv nicht mehr
werden. Obwohl ich das nie im Sinn hatte, bedrückte mich die Tatsache, dass mir
nicht mehr „die ganze Welt“ offen stand, sondern meine Möglichkeiten ab jetzt
eingeschränkt sein würden.
Als deutliches Zeichen meines Alterns empfand ich den Zeitpunkt, als ich eine
Lesebrille kaufen musste – bzw. als ich eine Brille mit Varioglas benötigte. Ich
erinnere mich noch genau, wie sehr ich die Optikerin für ihren lakonischen Aus-
spruch hasste, „wenn Sie’s jetzt nicht machen, dann machen Sie’s eben in zwei bis
drei Jahren – Lesegläser werden unausweichlich sein“. Sie behielt recht. Dennoch
fand ich es unverzeihlich, mich derart knallhart mit dem Faktum meines Alterns
zu konfrontieren. Ich habe beobachtet, dass der Schritt zur Lesebrille vielen Men-
schen Probleme bereitet, weil sie ein sichtbares Signum des Alterns darstellt – eines
Tages sind die Arme einfach zu kurz um den Lesestoff auf die nötige Distanz zu
den Augen halten zu können. Diese Mühe mit dem eigenen Altern – ab einem ge-
wissen Alter – widerspiegelt natürlich die gesellschaftliche Bewertung desselben.
Wäre das fortschreitende Alter etwas Erstrebenswertes, könnte man die Lesebrille
ja mit Stolz tragen – sie wäre dann ein Signum dessen, dass man jetzt zu einer
ehrenwerten, respektablen Altersgruppe gehört. Unsere Gesellschaft scheint das
Jungsein indessen im allgemeinen höher zu bewerten als das Altsein, und gerade
Altern als subjektive Erfahrung 31
cherin zur Frau haben, um mit Maske noch als erotisch attraktiver Bettgenosse
wahrgenommen zu werden. Für normale Menschen indes sieht man unweigerlich
aus wie ein Zombie, was ein schrecklicher Anblick ist und absehbar zu getrennten
Schlafzimmern führt. Diese Diagnose war wohl die bisher demütigendste Zäsur in
meinem Leben: Ich fühlte mich schlagartig «ins Alter“ katapultiert, um mindestens
20 Jahre. Wie entwürdigend, von einer Maschine abhängig zu sein und ohne sie
nicht mehr überleben zu können! Noch heute ist es mir peinlich, außerhalb meines
Freundeskreises hierüber zu reden, ja, es kommt mir fast exhibitionistisch vor, es
hiermit zu veröffentlichen. Andererseits empfinde ich mit zunehmendem Alter
auch immer mehr Gelassenheit, die Dinge so anzunehmen, wie sie nun eben sind.
Das Altern ist umso demütigender, je weniger man die eigene Eitelkeit loslassen
kann, und je mehr man das Sein mit einem euphemistischen Schein kaschieren
will. Offene Kommunikation hat auch diesbezüglich etwas Kathartisches, für einen
selbst wie für andere.
Eine typische Alterskrankheit war schließlich meine Kniearthrose. Nach der zweiten
Operation meines inneren Meniskus am rechten Knie gingen die Schmerzen nie
mehr weg. Der Meniskus musste nach Ansicht des Orthopäden operiert werden,
weil er wieder angerissen war und das Knie blockierte. Die Deblockierung gelang,
doch die Schmerzen im Knie blieben. Dies sei wegen meiner Arthrose, sagte der
Orthopäde, und ich solle nicht zu lange warten mit dem Einsetzen eines künstlichen
Kniegelenks. Mir missfiel es, dass der Orthopäde gleich nach der ersten Operation
schon die nächste vorschlug und dass er in einer sehr kühlen, verdinglichten Art
über Gelenke sprach – Gelenke waren für ihn etwas, das man wie ein Maschinen-
oder Knochenschlosser auswechselte, rein mechanisch betrachtete und deren
Funktionsfähigkeit man mittels künstlicher Ersatzteile wiederherstellte. Hier wurde
mir am deutlichsten klar, was eine rein körperbezogene Einstellung – Körper, nicht
Leib – in der Praxis hieß. Mich affizierte es leiblich, d. h. ich spürte sofort inner-
lich, wie mir die Vorstellung eines künstlichen Kniegelenks widerstrebte: Einen
Fremdkörper in meinem Knie zu haben – wie schrecklich! Heute überhaupt keine
Sache mehr, meinte der Orthopäde, vorderhand könne ich aber noch mit entzün-
dungshemmenden Schmerztabletten weiterfahren. Bald empfahl der Hausarzt
Spritzen mit Schmerzmitteln und Cortison direkt ins Knie, dann hätte ich wieder
für einige Monate Ruhe. Das tat ich dann auch, doch schon die dritte Spritze hielt
keinen Monat mehr an, dann waren die starken Schmerzen zurück und ich konnte
manchmal schon nach wenigen hundert Metern nicht mehr weitergehen.
Altern als subjektive Erfahrung 33
So erkundigte ich mich nach Alternativen und fand eine in der Spiraldynamik1.
Ich investierte eine nicht unbeträchtliche Summe Geld, um einen Privatkurs und
anschließend regelmäßige physiotherapeutische und spiraldynamische Therapien
zu absolvieren, die vorbeugenden Charakter haben und daher durch die Kran-
kenversicherung nur teilweise gedeckt werden. Die Spiraldynamik beansprucht,
viele Operationen verhindern zu können. In der Tat wurde ich gewahr, wie ich
durch jahrzehntelanges falsches Gehen mein Knie einseitig belastet und damit die
schmerzhafte Arthrose befördert habe. Ich lernte richtig zu gehen, die Füße richtig
zu belasten und abzurollen, die Beine richtig zu bewegen, das Becken richtig zu
halten und mit der Wirbelsäule in die entsprechende Gegenbewegung zu gehen
– spiraldynamisch eben. Warum musste ich so alt werden, um richtig gehen zu
lernen? Warum hat mir dies niemand beigebracht, als die irreparablen Schäden
an meinem Bewegungsapparat noch hätten verhindert werden können? Nun, zum
einen existierte dieses körperbezogene Wissen zur Zeit meiner Jugend noch nicht.
Zum anderen wird es den Jungen aber auch heute kaum beigebracht, obwohl es
existiert. Und wenn, nehmen sie es nicht unbedingt auch an: Im Privatkurs erzählte
mir die spiraldynamische Therapeutin, sie habe ihrem jugendlichen Sohn alles
beigebracht, aber dieser finde die empfohlenen Weisen zu gehen und zu stehen
als absolut „uncool“ – Jugendliche müssten eben primär „cool“ wirken, also lässig
schlendern und eher schief herumhängen.
Für mich kam die Prävention zu spät. Es machte mir zwar Freude, mich mit
sechzig Jahren noch richtig bewegen zu lernen, aber es linderte die Schmerzen in
meinem Knie nicht mehr. So entschloss ich mich schließlich doch zu einer Knie-En-
doskopie, dem Einsetzen einer Vollprothese ins rechte Kniegelenk. Die Operation
gelang, bildete aber gleichzeitig den Beginn einer langen Leidenszeit, weil ich im
Unterschied zu vielen anderen Patienten monatelang heftigste Schmerzen hatte, so
dass ich über neun Monate Schmerzmittel einnehmen musste, über die ersten drei
gar einen Cocktail von vier verschiedenen Substanzen inkl. Morphium gleichzeitig,
die ich anschließend sukzessive ausschleifte. Als Nebenwirkung war mein Kopf
so konfus, dass ich weder denken noch schreiben, also überhaupt nicht arbeiten
konnte. Gleichzeitig investierte ich viel Zeit in die Mobilisierung des Knies und
den Wiederaufbau der durch einen Skalpel-Schnitt zerstörten Beinmuskulatur:
zweimal Physiotherapie pro Woche, tägliches Training, später dreimal Fitness-
studio pro Woche für je eineinhalb Stunden. Es gelang mir das Bein zu kräftigen,
nach neun Monaten verschwanden schließlich auch die Schmerzen, und dreizehn
Monate nach der Operation fuhr ich wieder alpin Ski. Das künstliche Knie blieb
jedoch spürbar ein Fremdkörper. Ich realisierte: Ich muss mir diesen Fremdkörper
einverleiben, ich muss das künstliche Kniegelenk zu meinem eigenen Knie machen.
Das erforderte einen Einstellungswechsel. Das war nicht einfach, weil es lange Zeit
knorrige Geräusche von sich gab wie das Gelenk einer alten, eisernen Ritterrüstung.
Und am schlimmsten war es, wenn ich mich hinkniete: Es fühlte sich ganz anders
an als das nichtoperierte Knie, ich spürte deutlich den Fremdkörper direkt hinter
der Kniescheibe, auf eine ganz seltsame und ziemlich unangenehme Art und Weise.
Dies spüre ich auch heute noch deutlich, allerdings weniger ausgeprägt als früher.
In Bezug auf die Leib-Körper-Dichotomie bildet meine Knie-Endoprothese
ein anschauliches Beispiel. Zum einen weiß ich auf der Basis meines objektivier-
ten, medizinischen und technischen Körperwissens, dass mein rechtes Knie nun
tatsächlich einen Fremdkörper enthält, der nicht aus Knochensubstanz, sondern
aus Tantalum (Nr. 73 des Periodensystems) besteht und mit der Trabecular Metal
Technology verarbeitet wurde. Die Vollprothese enthält drei Teile: Eine Kappe
aus Metalllegierung am Ende des Oberschenkelknochens, eine am Ende des Un-
terschenkelknochens, und dazwischen liegt eine Polyäthylenschicht, die je nach
Belastung des Knies längerfristig verschleißen wird und eines Tages ersetzt werden
muss. Ich habe also einen Körper mit einem künstlichen Kniegelenk, das mir für
immer gewisse Bewegungseinschränkungen auferlegt: Es lässt sich nicht mehr als
130° beugen, ich kann also nie mehr in die Hocke gehen, zudem sollte ich nie mehr
joggen oder rennen und auf keinen Fall damit verunfallen. Zum anderen bin ich
auch mein Leib und mache die leibliche Erfahrung, wie sich dieses Knie anfühlt
und welche Empfindungen ich mit ihm verbinde: mit oder ohne Schmerzen, als
Fremdkörper oder als mein eigenes Knie. Leib sein und Körper haben werden als
Doppelaspekt beschrieben, beide sind also grundsätzlich gleichzeitig gegeben. In
meiner subjektiven Erfahrung ist die Unterscheidung allerdings nicht leicht vor-
zunehmen. Erstens realisierte ich nach meinem Entschluss, das künstliche Gelenk
einverleiben zu wollen, dass ich mich dazu von der Einstellung „ein künstliches
Kniegelenk haben“ verabschieden musste, um das Knie ausschließlich leiblich
wahrzunehmen. Das künstliche Kniegelenk einzuverleiben hieß, es als „mein Knie“
zu akzeptieren und zu meinem eigenen zu machen, mich also nicht an meinem
objektivierten medizinisch-technischen Wissen, sondern an meinem leiblichen
Empfinden zu orientieren. Einverleiben erfordert einen Einstellungswechsel, den
man, obwohl in die eigene Lebenseinstellung eingebettet, bewusst vollziehen kann:
Ich habe die Wahl, ob ich mein rechtes Knie als „mein Knie“ betrachte oder ob es
für mich immer ein verdinglichter Fremdkörper bleibt. Zweitens bereitet mir die
Unterscheidung von Leib und Körper in der subjektiven Erfahrung auch deswe-
gen Probleme, weil sie ineinander überschwappen: Vermutlich können lediglich
geübte Chirurgen einen menschlichen Körper rein als Körper betrachten, den
man aufgrund von naturwissenschaftlich-medizinischem Wissen behandelt und
Altern als subjektive Erfahrung 35
operiert; wenn ich indessen auf YouTube ein Video über eine Operation anschaue
und mir beispielsweise ansehe, wie bei einer Knie-Operation die Knochen abgesägt
und zurechtgeschnitten werden und dann eine Prothese eingesetzt wird, schmerzt
mich dies unmittelbar leiblich – es will mir gar nicht gelingen, den fremden Körper
von meiner eigenen leiblichen Erfahrung wirklich abzugrenzen, selbst dann nicht,
wenn ich (im Unterschied zum vorliegenden Beispiel) von jenem Krankheitssyn-
drom gar nicht selbst betroffen bin. Im Einklang mit Husserl ziehe ich es daher
vor, lieber solche Einstellungswechsel zu erforschen als zum vorneherein von einer
Leib-Körper-Dichotomie auszugehen, die im konkreten Anwendungsfall schwer
aufrechtzuerhalten ist, mit tertium non datur.
Mitten in der Arbeit an diesem Artikel über das leibliche Altern – eine Kausalität
ist nicht erwiesen – hat mein alternder Körper brutal zugeschlagen und mich
mit einer plötzlichen Netzhautablösung kräftig aus der Bahn geworfen. Am späten
Abend vor dem Computer sitzend, schob sich plötzlich von unten her ein aufge-
hender Vollmond in mein linkes Auge und beeinträchtigte meine Sicht. Als er am
nächsten Morgen nicht verschwunden war, suchte ich sofort die Augenklinik auf
und wurde noch am selben Tag operiert. In den folgenden Wochen war ich nicht
nur ernsthaft sehbehindert, ich durfte auch keinen Sport machen, kein Flugzeug
besteigen und keine höher gelegenen Orte aufsuchen. Erneut war ich schlagartig
gealtert. Während mehrerer Wochen konnte ich kaum lesen und schreiben, also
erneut nicht arbeiten – alles war anstrengend und ermüdete mich rasch. Während
dieser Leidenszeit stellte ich viele Reflexionen an, die ich hier aus Platzgründen leider
nicht weiter ausbreiten kann. Einige Eckpunkte möchte ich jedoch stichwortartig
festhalten. – Erstens: Nach den Gründen für diese plötzliche Netzhautablösung
befragt, antwortete mir der operierende Arzt: „Alter!“ – Zweitens: Die subjektive
Erfahrung des Alterns ist geprägt von der Spezifik der jeweiligen Krankheits-
syndrome. Die Beschädigung eines für meine berufliche Arbeit derart zentralen
Wahrnehmungsorgans betraf mich auf eine ganz andere, nämlich wesentlich exis-
tentiellere Weise als das Problem mit meinem Knie: Mein Kontakt zur Umwelt, zur
sozialen wie zur natürlichen, war ganz grundlegend gestört, und bald spürte ich,
wie mich die Sehbehinderung zunehmend depressiv machte. – Drittens: Ich musste
eine geplante Tauchreise in fernab gelegene Gebiete Indonesiens annullieren – und
hatte Glück im Unglück: Hätte mich die Netzhautablösung nämlich während dieser
Reise heimgesucht, hätte ich mein Auge höchstwahrscheinlich verloren. – Viertens:
Lob der modernen westlichen Medizin! Dank der Fortschritte der Augenchirurgie
36 Thomas S. Eberle
konnte mein Auge gerettet werden, und so kann ich inzwischen wieder auf beiden
Augen vollumfänglich sehen. Wäre mir dieses Ungeschick vor 40 Jahren passiert,
wäre ich auf dem linken Auge erblindet. – Zusammengefasst: Die Krankheit ent-
stand altersbedingt, ließ mich die subjektive Erfahrung des partiellen Erblindens
erleben, konnte aber völlig geheilt werden. Was bleibt: Die Angst vor einer erneuten
Netzhautablösung oder anderem Ungemach – ich werde ja immer älter – sowie das
plötzliche Bewusstsein, dass meine beabsichtigten weiteren Reisen in entlegene
Gebiete mit zunehmendem Alter deutlich risikoreicher werden.
4 Schlussfolgerungen
Welches sind nun meine Kerneinsichten? Ich bin laufend älter geworden, gemessen
an der sozialen Zeit von Uhr und Kalender. Die gesellschaftlichen Zeitmessin
strumente helfen mir, mein Leben als kontinuierlichen Verlauf zu begreifen, indem
ich mein Dahinleben, mein inneres Zeiterleben immer wieder darauf beziehe.
Sie bestätigen mir auch, dass die Zeit nur in eine Richtung läuft, was mit meiner
Erfahrung der Irreversibilität von Ereignissen und Handlungen völlig in Einklang
steht: Man kann Erlebnisse, stattgefundene Ereignisse und vollzogene Handlungen
nicht wieder rückgängig machen; man kann nur versuchen, die künftigen anders zu
gestalten. Das innere Zeiterleben selbst, die durée, verläuft allerdings unterschiedlich
schnell, gemessen an der Uhrzeit manchmal rasch und manchmal langsam. Der
kontinuierliche Bewusstseinsstrom wird auch immer wieder unterbrochen, zum
einen durch Schlafphasen, zum anderen durch Enklaven wie Träume und Phan-
tasien. Wir leben in mannigfaltigen Wirklichkeiten (Schütz ASW V.1 2003a), die
sich in konstitutiven Merkmalen voneinander unterscheiden. So sind in Träumen
und Phantasiewelten beispielsweise auch Zeitsprünge möglich, und zwar vorwärts
wie rückwärts, während in der Alltagswelt die Zeit stets nur in eine Richtung läuft.
In der relativ-natürlichen Einstellung weiß ich, dass meine Lebenszeit begrenzt
ist, dass ich eines Tages sterben werde und dass es meinen Mitmenschen genauso
geht. Wir werden gemeinsam älter, durchschreiten das Leben von Generation
zu Generation, und ich weiß dass meine Gleichaltrigen in ihrer Jugend ebenfalls
The Beatles, The Rolling Stones, The Who, The Kinks und ähnliche Musik gehört
haben, und sie sich zur „68er Generation“ zählen, ob sie nun bei der Studentenre-
volution selbst mitgemacht haben oder nicht. „This is my generation“, sangen The
Who, und „Every generation has its way“ versicherte uns Joe Cocker – beides hat
sich vielen eingeprägt. Wir wurden gemeinsam älter. Und zunehmend starben
die Älteren weg – auch unsere Eltern – und ihr Tod erinnerte uns immer auch an
Altern als subjektive Erfahrung 37
unsere eigene Sterblichkeit. Bald gehören wir zur Generation, die von dieser Erde
abtreten wird. In Bezug auf unsere eigene Lebensdauer orientieren wir uns an der
durchschnittlichen Lebenserwartung, sind uns aber bewusst dass diese lediglich
eine statistische Größe ist, die nicht auf den Einzelfall angewendet werden kann –
der Tod kann uns prinzipiell jederzeit heimsuchen.
Wir werden gemeinsam älter. Schütz‘ deutschsprachige Formel „wir altern ge-
meinsam“ ist ebenso richtig, aber sie wirkt deplatziert, wenn man sie auf Kinder,
Jugendliche oder junge Erwachsene anwendet. Von „Altern“ zu sprechen scheint
mir erst in Bezug auf ältere Menschen angebracht, nämlich solche die den Zenit
überschritten haben und entsprechende Symptome aufweisen. Diese im gängigen
Sprachgebrauch fest institutionalisierte Unterscheidung von Älterwerden und Altern
beruht zweifellos auf dem dominierenden naturwissenschaftlich-medizinischen Dis-
kurs, genießt aber auch deswegen eine hohe Plausibilität, weil sie mit der subjektiven
Erfahrung im Einklang steht. Fest eingebürgert hat sich auch die cartesianische
Differenz von Körper und Geist in dem Sinne, dass im Common-sense zwischen
„körperlichem Altern“ und „geistigem Altern“ unterschieden wird: Viele Menschen
altern sichtbar körperlich, bleiben aber geistig fit – ja, viele werden mit zunehmender
Lebenserfahrung klüger und weiser. Während der biologische Zenit ungefähr Mitte
Dreißig überschritten wird und sich der körperliche Alterungsprozess zunehmend
manifestiert, erreichen viele Menschen erst in ihrer zweiten Lebenshälfte, ja oft erst
im hohen Alter ihren geistigen Zenit. Geistiges Altern wird meist erst Hochbetagten
zugeschrieben, wenn ihre Denk- und Wahrnehmungsfähigkeiten nachlassen, ihre
Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsspannweite schwinden, wenn sie
vergesslich werden, eine „lange Leitung haben“ und etwas zerstreut oder konfus
wirken – und schließlich, wenn sie nicht mehr selbstständig für sich sorgen können.
So plausibel und praktisch dieser cartesianische Dualismus in der alltäglichen
Kommunikationspraxis ist – theoretisch ist er selbstverständlich nicht haltbar, da
auch mentale Prozesse an biologisch-neuronale Prozesse gekoppelt und von ihnen
abhängig sind: Schrumpft das Hirn, wie bei Alzheimer-Patienten, zerfallen auch die
geistigen Prozesse – die Patienten werden dement. Die enge Kopplung von Körper
und Geist manifestiert sich auch bei Schlaganfällen, Unfällen, Hirnblutungen und
vielem anderen mehr. Aber es bleibt richtig: Körperliches und geistiges Altern sind
unterscheidbare Typen von Altern.
Bergsons Gleichsetzung von „vivre“ und „vieillir“, die Schütz übernommen hat,
sollte besser vermieden und semantisch differenziert werden. Ich stimme mit Schütz
aber absolut überein, dass Älterwerden und Altern stets nur in einem reflexiven
Zugriff erfahrbar werden. Während meines schlichten Dahinlebens und Wirkens
bleiben mein Älterwerden und mein Altern unbemerkt. Den Strom meines inneren
Zeitbewusstseins in der Alltagswelt erlebe ich indes tatsächlich als unidirektional
38 Thomas S. Eberle
und irreversibel, und meine punktuellen Blicke auf die Uhr oder den Kalender
zeigen mir, wie die Zeit vergeht. Allerdings denke ich bei meinen Blicken auf die
Zeitmessinstrumente nur in größeren Abständen an mein Älterwerden, also in
monothetischem Zugriff – so mahnen mich beispielsweise meine Geburtstage
oder auch die jährliche Wiederkehr von Feiertagen wie Weihnachten, Neujahr oder
Ostern, dass schon wieder ein Jahr vergangen ist, oder runde Geburtstage drängen
mir die Einsicht auf, dass schon wieder ein Jahrzehnt (meines Lebens) abgelaufen
ist. Mein Altern zeigte sich bisher vorwiegend in körperlichen Symptomen: Die
Haut wurde sichtlich älter, das Haar schütterer, die Haltung etwas gebückter, mein
Gesicht weist Falten auf und mein Haar wird grauer. Natürlich hängt es von mei-
nem subjektiven Relevanzsystem ab – ob selbst motiviert oder durch die Diskurse
meiner unmittelbaren sozialen Umwelt aufgezwungen –, ob ich jeden Tag mein
Spiegelbild auf eine weitere Falte oder ein zusätzliches graues Haar absuche. Ich
persönlich realisierte die kontinuierlichen kleinen Veränderungen bislang kaum,
sondern erlebte vielmehr ein Altern in Raten. Erst im Abstandsverfahren, im
kontrastiven Vergleich wird mir mein (körperliches) Altern bewusst, etwa beim
Anblick von Fotos aus früheren Zeiten.
Solange mein Körper funktionierte, solange ich alles tun und lassen konnte, was
mir beliebte, spürte ich mein Altern kaum. Am nachhaltigsten trafen mich daher
körperliche Behinderungen, die als auferlegte Relevanzen eigentliche Zäsuren
darstellten und entweder den Einsatz kompensatorischer Hilfsmittel oder operative
Eingriffe erforderten. Erlebnismäßig machte ich richtige Sprünge ins Alter, ich
erlebte eigentliche Alterungsschübe: Wegen meines immer stärker schmerzenden
Knies fühlte ich mich auf einen Schlag zwanzig Jahre älter, „wie ein alter Mann“;
und der plötzliche Verlust meiner Sehfähigkeit infolge einer Netzhautablösung – was
ich hier aus Platzgründen nicht weiter ausführen konnte – ließ mich sogar daran
zweifeln, ob ich unter diesen Bedingungen noch weiter leben möchte. Interessant
ist hierbei die Frage, wann, wo und wie oft man das Erfahrungskonzept des Alterns
anwendet. Das Leben ist ja von zahlreichen Krankheiten durchsetzt – welche bezieht
man denn nun aufs Altern? Gesundheitliche Beschwerden, die wieder völlig ver-
schwinden, zählen offenbar nicht dazu. Ebenso wenig körperliche Behinderungen,
die man – ob durch Krankheit oder durch Unfall – relativ früh im Leben erleidet
und mit denen man anschließend leben lernen muss. Als Altern erlebe ich in meiner
subjektiven Erfahrung am nachhaltigsten das, was mir eine definitive Beschränkung
meiner leiblichen Handlungsoptionen auferlegt – also alles, was die alltagsweltlichen
Idealisierungen des „Und-so-weiter“ und des „Ich-kann-immer-wieder“ endgültig
einschränkt. So konkretisiert sich mein Altern in all dem, was ich aufgrund meiner
leiblichen Konstellation nicht mehr tun kann – und zwar definitiv nicht mehr tun
kann. Die subjektive Erfahrung meines persönlichen Alterns impliziert daher ein
Altern als subjektive Erfahrung 39
Abschiednehmen von dem, was ich einmal – real oder auch nur optional – tun
konnte, künftig aber nicht mehr tun kann.
Mein Altern konkretisiert sich in meiner subjektiven Erfahrung also in einem
spezifischen Profil von leiblich bedingten Einschränkungen meiner Handlungsoptionen.
Nach einem Unfall oder Krankheitseinbruch und der anschließenden Operation
können diese gravierend sein – viele Symptome verheilen indessen, entscheidend
ist das, was bleibt. Und hier schließt sich wieder der Kreis zu den eingangs themati-
sierten Diskursen. Der dominierende naturwissenschaftlich-medizinische Diskurs
operiert mit empirischen Belegen, dass es „typische Alterskrankheiten“ gibt, die bei
zunehmendem Alter bei einer Vielzahl von Menschen auftreten. Fragt man als ältere
Person einen Arzt, worin die Ursache eines diagnostizierten Krankheitssyndroms
liegt, hört man immer wieder die Antwort: „Das Alter!“. Mit fortschreitendem
Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, dass körperliche Beschwerden zunehmen, an
Häufigkeit wie an Heftigkeit. Und in der Alltagskommunikation mit „Alten“ wird
dies laufend bestätigt. So stellt man sich denn, je älter man wird, tendenziell auf die
steigende Wahrscheinlichkeit ein, dass auch die eigenen Beschwerden zunehmen
und potentiell heftiger werden – und hat entsprechend, bewusst oder unbewusst,
manchmal Angst davor. Die eigene Erfahrung leiblicher Einschränkungen als auch
die Beobachtung, dass die Wartezimmer in Arztpraxen von auffallend vielen älteren
Leuten bevölkert werden, bestärken die entsprechende persönliche Erwartungshal-
tung. Dank dem medizinischen und technischen Fortschritt können inzwischen
zwar viele Beeinträchtigungen kompensiert und hinausgeschoben, einige sogar
verhindert werden – und daran knüpfen sich die Hoffnungen vieler; das Altern
hingegen ist letztlich ein unaufhaltsam fortschreitender Prozess, der mit absoluter
Gewissheit mit dem Tod endet.
Die subjektive Erfahrung meines Alterns ist in gesellschaftliche Diskurse ein-
gebettet, die mir als Interpretationsressourcen dienen. Obwohl in Bezug auf das
körperliche Altern der naturwissenschaftlich-medizinische Diskurs dominant
ist – in Bezug auf die Vorbeugungs- und Behandlungsmethoden zeigt auch er ein
differenziertes Bild. Zudem gibt es mannigfache weitere Diskurse, wie das Altern
zu bewerten und wie mit ihm umzugehen sei. Die Diskursvielfalt innerhalb von
pluralistischen Gesellschaften widerspiegelt und ermöglicht eben auch die Multi-
optionsgesellschaft, indem sie ganz unterschiedliche Sinnwelten eröffnet, mit denen
verschiedene Spektren von Handlungsoptionen verknüpft sind. Die neuen Medien
ermöglichen zudem, sich von den Diskursen, die einem das unmittelbare soziale
Umfeld auferlegt, abzusetzen und sich ganz andere Informationsquellen und da-
mit neue Perspektiven zu erschließen. So sind die Freiheitsgrade enorm gestiegen,
selbst zu entscheiden in welche Diskurse man sich einklinken möchte und welche
Gestaltungsmöglichkeiten man in Bezug auf die Gesprächsinhalte der eigenen
40 Thomas S. Eberle
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42 Thomas S. Eberle
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„Das Alter ist kein Kampf, das Alter ist ein Massaker.“
(Roth 2006, S. 147f.)
1 Alterungswissen
Die Ausgangslage in Der seltsame Fall des Benjamin Button, einem Film von David
Fincher (USA 2008),1 erinnert an ein sozialwissenschaft liches Krisenexperiment.
1 Inspiriert wurde der Film von der gleichnamigen Kurzgeschichte F. Scott Fitzgeralds
aus dem Jahr 1922. Das Sujet des rückwärtigen Alterns wurde auch in weiteren Werken
aufgegriffen – etwa im Roman Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli (Greer 2005).
45
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_3
46 Matthias Meitzler
Entgegen aller Erwartungen kommt der Protagonist Benjamin als Greis zur Welt.
Sein Körper wird im Laufe seines Lebens nicht etwa älter, sondern immer jünger
und vitaler – und gleicht im betagten Alter von über 70 Jahren dem eines Kindes.
Seinen Krisencharakter erhält der Film durch die Hinterfragung des Selbstver-
ständlichen, das Kenntlichmachen von stereotypen Körperbildern, durch das Spiel
mit Normalitätssetzungen und mit ihrer Fragilität. Offenkundig wirkt es verunsi-
chernd, wenn ein (kalendarisch) alter Körper ausdrücklich kein geschundener bzw.
,benachteiligter‘ Körper ist. Auf eigenwillige Weise buchstabiert der Film aus, was
in der modernen Alter(n)sforschung längst state of the art ist: Alter bedeutet weit
mehr als die Summe der seit Geburt verstrichenen Jahre, und Alterung ist nicht
bloß das Abspulen eines biologischen Programms, sondern immerzu in kulturelle
Deutungsmuster integriert.
Das ‚Rückwärts-Altern‘ des Benjamin Button demonstriert, welches Irritations-
potenzial dem Auseinanderklaffen physischer, psychischer und sozialer Aspekte des
Alter(n)s innewohnt. Während der Körper gemeinhin als ständiger Adressat von
Sinnzuschreibungen und als entscheidende Basis für die Konstruktion von Identität
gilt, provoziert der Film die Frage, was passiert, wenn solche Zuschreibungen auf
Widerstand stoßen, und welche Umgangsweisen ein Körper forciert, der als Alter-
sindikator unzuverlässig ist. Schließlich ist das Lebensalter ein im Alltag immer
wieder abgefragter persönlicher Auskunftgeber. Im Grunde führt somit schon eine
schlichte Zahl präinteraktiv zu spezifischen Erwartungen über die Lebenswelt eines
Akteurs. Soziologische Implikationen des Lebensalters speisen sich vor allem aus
dessen Bedeutung als Strukturkategorie (ähnlich wie etwa Klasse und Geschlecht);
das Alter ist Platzanweiser und Ausgangspunkt von Deutungen, Bewertungen und
Normierungen, kurz: es fungiert als Stabilisierungselement für soziale Ordnung.2
Nimmt man das Alter als Merkmal und die Alterung als Prozess in den Blick,
kommt man nicht umhin, den Körper mitzudenken. Er ist so zu sagen die materielle
Realität des Altern(s), denn in den Körper schreibt sich das Alter unübersehbar
ein. Der alternde Körper ist das handfeste Indiz für das Voranschreiten von Zeit,
für die Zunahme von Körpervergangenheit und das „Hinschmelzen von Zukunft“
(Gadamer 1993, S. 23). Als Diskursthema ist der Körper nach langer Abstinenz spä-
testens seit den 1990er Jahren verstärkt in den sozial- und kulturwissenschaftlichen
Fokus geraten (vgl. Gugutzer 2004; Schroer 2005) – eine Entwicklung, die u. a. als
body turn bekannt ist. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive schreibt Robert
Gugutzer (2004, S. 6) Körpern einen zweifachen Sinngehalt zu, da sie gleichermaßen
Produkte wie Produzenten von Gesellschaft sind. Gesellschaftliche Produkte sind
sie, weil sie an (Macht-)Strukturen, Normen und Werten ausgerichtet sind, durch
sie geprägt, geformt, reguliert und manipuliert werden. Ihre Rolle als Produzenten
von Gesellschaft kommt durch ihr inhärentes Handlungspotenzial zum Ausdruck
(vgl. Höppner 2011, S. 32). Körper können soziale Ordnung hervorbringen, sie
aufrechterhalten – und sie stören.
Als „Medium der Selbstdarstellung, als Projektionsfläche sozialer Inszenierun-
gen und Positionierungen“ (ebd., S. 33) stellt der Körper des Einzelnen kein starres,
fertiges Gebilde dar, sondern unterliegt einem permanenten Wandel, der sich auf
mehreren Dimensionen vollzieht. An dieser Stelle kommt die Alterung ins Spiel.
Weil niemand von sich behaupten kann, keinen Körper zu haben, kann sich auch
niemand alterungsbedingten Körperveränderungsprozessen entziehen: Alterung
ist ein essenzielles, universales und unvermeidbares Charakteristikum des Lebens.
Über dieses ‚Körperschicksal‘ herrscht ein intersubjektiv geteiltes Wissen.
Das Wissen vom Altern ist insofern ein spezifisches Körperwissen, was hier als
doppeldeutiger Begriff verstanden werden soll. Reiner Keller und Michael Meuser
(2011) interpretieren Körperwissen zum einen in dem Sinne, dass Menschen im
Zuge ihrer Sozialisation und aus ihrem unmittelbaren Erleben heraus ein Wissen
über ihren eigenen Körper generieren, über „seine inneren oder äußeren Zustände
und Prozesse, Veränderungen im Lebenslauf, Leistungsfähigkeiten und -grenzen,
seine Verletzungen und potenziellen Stigmata, seine Schmerz- und Lustempfin-
dungen […]“ (ebd., S. 9). Akteure haben also bald mehr, bald weniger dezidierte
Kenntnisse darüber, wie ihr eigener Körper – und der von anderen – aufgebaut
ist, wie er arbeitet, wie er im Hinblick auf normative Körperbilder aussehen soll,
was gut für ihn ist, was ihm schadet, und wie auf ihn eingewirkt werden kann, um
Veränderungen zu erzielen.
Das Generieren von Alterungswissen ist ein sozialisatorischer Effekt, der über
die bloße theoretische Faktenvermittlung durch significant others hinausgeht;
schließlich werden solche Transformationsprozesse ‚von Beginn an‘ am eigenen Leib
erfahren3 und als ‚Natur des Körpers‘ verinnerlicht. Wissensbestände bezüglich des
3 Es handelt sich aber nicht um permanentes Erfahren. Zwar altert der Körper, streng
genommen, zu jeder Zeit, die Auswirkungen werden allerdings meist nur temporär und
punktuell bemerkt – z. B. beim Betrachten eines älteren Fotos (vgl. Benkel/Meitzler 2014,
S. 47ff.), oder anlässlich der Begegnung mit einer Person, die man längere Zeit nicht
gesehen hat.
48 Matthias Meitzler
4 Was indes nicht heißt, dass nicht auch schon der junge, fitte und gesunde Körper, „den
es zu hegen und zu pflegen, zu trainieren, zu formen, zu ästhetisieren und zu dekorieren
gilt“ (Gugutzer 2004, S. 35), einer Reihe von Selbstoptimierungstechniken unterzogen
werden kann, wie etwa am Beispiel des Diskurses über Fitness zu beobachten ist (vgl.
Bauman 1995).
Der alte Körper als Problemgenerator 49
struktur als konstant hingenommen werden kann, solange meine Vorerfahrung gilt,
bleibt mein Vermögen, auf die Welt in dieser und jener Weise zu wirken, prinzipiell
erhalten“ (Schütz / Luckmann 2003, S. 34). Der letztlich dennoch unvermeidbare,
wenn auch meist nur sporadische Gedanke an das Alter basiert in der Jugend eher
auf einem vorausschauenden Körperwissen darüber, dass das „Ich-kann-immer-
wieder“ eines Tages verstärkt von gegenteiligen Erfahrungen konterkariert wird.5
Jegliche mentale Alterungsvorwegnahme stößt ohnehin rasch an ihre Grenzen,
denn sie ersetzt nicht die faktische Erfahrung. Sich selbst als alt zu denken, ist nur
auf einem theoretischen Niveau möglich, etwa als deduktive Ableitung aus der
Beobachtung alter Menschen oder auf der Grundlage biologischer/medizinischer
Wissensvermittlung. Die kognitive Zeitreise zu einem späteren Körper-Ich, so zu
sagen ein taking the role of the elderly, wird in diesem Moment aber aus der Pers-
pektive eines jungen Körpers vorgenommen. Wie es sich anfühlt, einen gealterten
Körper zu haben, darüber kann der ‚Inhaber‘ eines jungen Körpers ebenso wenig
wissen, wie über die subjektive Erlebnisqualität von irgendjemand anderem.6 Letz-
teres gibt einen Hinweis auf das so genannte phänomenale Bewusstsein, womit ein
zentrales Problem der Philosophie des Geistes tangiert wird (vgl. Nagel 2001). Und
dennoch: Man muss offenkundig nicht erst alt werden, um ‚zu wissen‘, wie es ist,
alt zu sein. Dazu später mehr.
Körperwissen, so Keller und Meuser (2011, S. 10), meint hingegen nicht nur Wissen
über den Körper, sondern beinhaltet darüber hinaus auch ein Wissen des Körpers:
„In gewissem Sinne lässt sich davon sprechen, dass Körper als eigenständige Träger
von Wissen fungieren, das nicht in kognitive Prozesse übersetzt ist, ja nicht über-
setzt werden kann“. Gemeint sind eingeschliffene Körpertechniken und -routinen,
Gewohnheiten und automatisierte, habitualisierte Bewegungsabläufe, die zumeist
auf einer präreflexiven Ebene verlaufen – etwa das aufrechte Gehen, das Fahren
eines PKWs oder das geübte Tippen auf einer Tastatur (vgl. ebd., S. 14). Auch diese
Facette des Körperwissens lässt sich auf das Alterungswissen übertragen. Im Sinne
5 Die andere, damit zusammenhängende Idealität ist die des „Und-so-weiter“: „Ich ver-
traue darauf, daß die Welt, so wie sie mir bisher bekannt ist, weiter so bleiben wird und
daß folglich der aus meinen eigenen Erfahrungen gebildete und der von Mitmenschen
übernommene Wissensvorrat weiterhin seine grundsätzliche Gültigkeit beibehalten
wird“ (Schütz / Luckmann 2003, S. 34).
6 Interessant ist vor diesem Hintergrund das umgekehrte Szenario des rückwärtsge-
wandten Körperwissens – etwa ein 80-jähriger Mensch, der sich gedanklich in jüngere
Körperzustände zurückversetzt. Auch wenn er Aussagen darüber treffen kann, wie es
war, jung gewesen zu sein, handelt es sich dabei nicht um ein exaktes Wiedererleben,
denn auch die Erinnerung unterliegt der Selektivität, Produktivität, Kontextsensitivität
etc.
50 Matthias Meitzler
eines Körpergedächtnisses (vgl. Frey Steffen 2008, S. 9) ist der Körper ein Träger
von Erinnerungsspuren und Alterszeichen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet,
bedeutet Alterung das Unvermögen des Körpers, seine Geschichte zu vergessen.
Wie schon angesprochen, ist Alterung nicht lediglich eine biologische, sondern
auch und vor allem eine soziale Tatsache. „Alter und Altern als bloße bio-physi-
sche Erscheinungen zu verstehen, wäre unterkomplex und deshalb ein reduziertes
Altersverständnis. Die biologische Rhythmik ist lediglich der Ausgangspunkt des
Alterns. Altern und Hochaltrigkeit sind Produkte von Kultur und Zivilisation“
(Schroeter 2008, S. 243). Der Körper verschwindet damit nicht als materielle Basis
von Altersdiskursen, sondern unterstreicht wiederum seine Bedeutung als Produkt
und Produzent von Gesellschaft. Folglich ist das Älter-Werden verstrickt in ein
multidimensionales Netz aus gesellschaftlichen Normen und Erwartungen, „ob-
jektiven Strukturen […] und subjektiven Handlungsentwürfen […] symbolischen
Alternsordnungen, korpal-sozialen Performanzen, somatischen Differenzen und
‚gespürten‘ Realitäten“ (ebd., S. 244).
Einen Beleg für die gesellschaftliche Regulierung und Bewältigung der Alte-
rung liefern kulturspezifische Entwürfe des Lebenslaufs, der sich als „Symbol für
strukturierte Lebenszeit“ (ebd., S. 247) in verschiedene Phasen (typischerweise:
Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Alter) unterteilen lässt (vgl. Kohli 1978; Abels et
al. 2008). Es handelt sich dabei um eine Kulturleistung, die dem biophysiologischen
Altern eine soziokulturelle Bedeutung aufpfropft. Der gesellschaftlich errichtete
‚Zeitplan‘ gibt Aufschluss darüber, welche Lebensereignisse in welchem Alter
stattzufinden haben. Alterung spielt sich immerzu in einem normativen Rahmen
ab, der nicht nur regelt, wie sich Akteure in einer bestimmten Lebensphase zu
verhalten haben, sondern auch, wie mit Menschen unterschiedlicher Altersgruppen
umzugehen ist.
„Beim Merkmal Lebensalter […] wird unterstellt, daß Individuen im Lebensalter
A über die Fähigkeiten W, die Erfahrungen X und Kenntnisse der Art Y bzw. des
Umfangs Z verfügen – und diese im Sinne der gesellschaftlichen Ziele und Werte
einsetzen können“ (Pieper 1981, S. 157). Insofern mag es kaum verwundern, dass
ein und dieselbe Handlung, ausgeführt von zwei Vertretern unterschiedlicher
Altersgruppen, zu unterschiedlichen Interpretationen und Bewertungen führen
kann. Was in einem Fall als alterskonform akzeptiert, ja erwartet wird, provoziert
im anderen Fall negative Sanktionen. Ein Erwachsener, der im vertieften Spiel
Der alte Körper als Problemgenerator 51
mit bunten Holzbauklötzen beobachtet wird, sorgt damit sehr wahrscheinlich für
Unverständnis, weshalb sein Verhalten als kindisch (heißt also: nicht altersgemäß)
deklariert wird und nach Plausibilisierung verlangt. Eine 13-jährige Schwangere
wiederum setzt sich der Stigmatisierungsgefahr genauso aus wie eine 50-jährige
Schwangere (wenn auch aus anderen Gründen), und ein großer Altersunterschied
bei einem Liebespaar (vgl. Brandstötter 2009) wird oft als problematisch verbucht,
weil er gegen die soziale Vorschrift der Altersendogamie verstößt.
Vor dem Hintergrund von lebensphasenspezifischen Kompetenzdefinitionen fällt
der soziale Erwartungsdruck in der Kindheit und im betagten Alter vergleichsweise
gering aus. Während die Kindheit für gewöhnlich durch ein ‚Noch-Nicht‘ gekenn-
zeichnet ist, ist das ‚Nicht-Mehr‘ ein Merkmal des Alters. „Genau wie der Mensch
erst lernen muß, sich allgemein auf dem Feld der Gesellschaft zu bewegen, so muß
er auch lernen, die für das höhere Alter angemessenen Lebensformen zu entwickeln“
(König 1965, S. 141). In der Zeit ‚dazwischen‘, also im mittleren Erwachsenenalter,
partizipieren Menschen dagegen am stärksten an den sozialen Systemen, womit sie
auf vielfältigen Wegen zur Beständigkeit der gesellschaftlichen Ordnung beitragen.
Altersnormen sind nicht per se informeller Natur, sondern teilweise auch im
Rechtssystem verankert. Von größter juristischer Bedeutsamkeit ist hierzulande die
Vollendung des achtzehnten Lebensjahres, womit das Konstrukt der Volljährigkeit
in Kraft tritt und eine Ausdehnung von Autonomie (Erweiterung gesellschaftlicher
Partizipationsoptionen, Wahlrecht, Fahrerlaubnis etc.) und Verantwortung (volle
Strafmündigkeit) erfolgt. Für den Körper interessiert sich eine solche Formalisie-
rung des Alters jedoch nicht.
Der unmittelbare Körperbezug lebensphasenspezifischer Erwartungen äußert
sich anhand unterschiedlicher Codierungen von Alterungsprozessen. Was ist damit
gemeint? Auf rein physiologischer Ebene altert ein Kinderkörper zwar ebenso wie
der eines Greises – dem Alltagsverständnis nach ist die kindliche Alterung aber ein
überaus positiv konnotiertes Geschehen, das gemeinhin als Entwicklung, also als
wünschenswerter Fortschritt hin zur Autonomie des Körpers und ,Vollständigkeit‘
der Person verstanden wird. Frühe Anzeichen der Körperbeherrschung, etwa die
selbstständige Nahrungsaufnahme unter Beibehaltung bestimmter Verhaltensregeln,
der unbeaufsichtigte Gang zur Toilette oder der Moment der ersten eigenständigen
Schritte, erhalten deshalb eine besondere kulturelle Relevanz. Vergleichbares gilt
für kindliche Körperveränderungen, die vermeintlich ‚von alleine‘ passieren, wie
z. B. das Ausfallen der Milchzähne.
Gerade im Jugendalter werden einige körperliche Ereignisse mit Bedeutung auf-
geladen und häufig von Initiationsmomenten begleitet, für die Arnold van Gennep
(2005) den Terminus „rites de passage“ geprägt hat. Die erste Menstruation, die erste
Ejakulation, der einsetzende Bartwuchs, die Ausbildung sekundärer Geschlechts-
52 Matthias Meitzler
merkmale, die Defloration usf. stehen als Zeichen des Erwachsenwerdens, derweil
es sich mehr um Zuschreibungen als um verlässliche Naturkorrelate handelt. Auf
Kindheit und Jugend folgt eine verhältnismäßig lange Mittelphase des Lebens, in der
es darum geht, die etablierten (bzw. normativ erwarteten) ,Standards‘ des nunmehr
ausgereiften Körpers zu halten oder bestimmte Ideale anzustreben. Dies geschieht
allerdings im sicheren Wissen, dass man weiter altern wird, dass der status quo des
eigenen Körpers früher oder später unaufhaltsam verloren gehen und dass man
– wenn nicht zuvor das Unglück des Sterbens erfolgt – eines Tages alt sein wird.
Obwohl (oder gerade weil) man nach einem verbindlichen Zeitpunkt für den Be-
ginn des Alt-Seins vergebens sucht, ist Alter weniger die Ursache als vielmehr das
Resultat kultureller Zuschreibungen. Sozialkonstruktivistisch formuliert: Men-
schen ‚sind‘ nicht alt, sondern sie werden im Sinne eines doing age (vgl. Schroeter
2008, S. 249) bzw. doing old (vgl. Gildemeister/Robert 2008, S. 322) alt gemacht
(und machen sich selbst alt!). Keineswegs geschieht dies ausschließlich über Alt-
ersdiskriminierung, sondern manifestiert sich, ganz im Gegenteil, durchaus auch
in der Norm des respektvollen und zuvorkommenden Umgangs gegenüber alten
Menschen. Der ‚alten Dame‘ Hilfe beim Überqueren der Straße oder einen Sitzplatz
im Bus anzubieten, sind einerseits sozial erwünschte Gesten, die andererseits einen
nicht unerheblichen Beitrag zum doing old leisten, weil sie die Erwartungshaltung
implizieren, dass die begünstigte Person derartige Offerten aufgrund ihres Alters
nötig hat (vgl. Meitzler 2011, S. 74). Solche Interpretationnen basieren auf sozial
vermittelten Vorstellungen über die Lebenswirklichkeit alter Menschen, deren
Gesamtheit sich mit Begriffen wie ‚Altersbilder‘, „Alterssemantiken“ (Saake 2008,
S. 263) oder „Alterserwartungscodes“ (Göckenjan 2000, S. 25) fassen lässt.
Obschon Altersbilder heterogene Inhalte bündeln können, der gewählte Plural
also seine Berechtigung hat, spricht vieles dafür, dass das Alter im Wettstreit mit
anderen Lebensphasen am schlechtesten davon kommt. Gewiss fiel die Reputati-
on des Alters nicht immer und überall so aus, wie sie gegenwärtig im westlichen
Kulturkreis ausfällt; seine negative Einfärbung ist gleichwohl als Kernelement
innerhalb der Kulturgeschichte des Alters etabliert (vgl. Thane 2005). In der so
genannten ,Lebenstreppe‘ findet sie eine ikonografische Repräsentanz: Während
die Stufen auf der linken Treppenseite, die stellvertretend für die Jugend steht, nach
oben führen und damit den sozialen Aufstieg symbolisieren, verlaufen sie auf der
rechten Seite nach unten und berichten so vom altersbedingten Abstieg. Das domi-
Der alte Körper als Problemgenerator 53
nierende Altersbild ist hier ein defizitäres – Alter steht für Verfall. Im Alltag macht
sich das auf unterschiedliche Weise bemerkbar: Dem Wort ‚alt‘ wohnt, allemal als
Personenmerkmal, häufig ein negativer Unterton inne. Das neugierige Abfragen
des Alters kann in einigen Kontexten sogar als Zudringlichkeit gehandelt werden.
Und auch über die typischen Altersindikatoren besteht ein sozial tradiertes
Wissen: Schwäche, Langsamkeit, Lustlosigkeit, Verwundbarkeit, Kontrollverlust
und dergleichen mehr werden zu Stigmasymbolen des gealterten Körpers (vgl.
Goffman 1967, S. 59). Die Zuschreibung solcher Effekte, mithin: die Deutung des
alten Körpers als Krisenindikator, erfolgt nicht etwa, weil sie vorliegen, sondern
bereits durch das Erreichen eines kalendarischen Alters. Allein die Information, eine
(ansonsten unbekannte) Person habe just ihr 83. Lebensjahr vollendet, transportiert
ein implizites Körperwissen. Ganz anders, und doch strukturell ähnlich liegt der
Fall bei Kleinkindern, was bekräftigt, wie sehr die Altersangabe ‚normalistische‘
Deutungen forciert.
Die Geringschätzung des (hohen) Alters korrespondiert mit Stereotypen in
einer jugendzentrierten Gesellschaft, in der viele positiv konnotierte Werte (wie
Dynamik, Vitalität, Aktivität, Kreativität, Spontaneität, Mobilität, Innovation und
Leistung) mit dem Alter unvereinbar scheinen. Auch wenn über Existenz, Ort und
Breite der Trennlinie zwischen Altsein und Nicht-Altsein Uneinigkeit herrscht, wird
die Lebensphase Alter wohl am einfachsten bestimm- und erklärbar, wenn sie als
Kontrastfolie zur Jugend fungiert – dialektisch gewendet also zu all dem, was dem
Alter fehlt (vgl. Saake 2006, S. 247). In der Tat, im Unterschied zur Jugendlichkeit
ist das Identifikationspotenzial mit dem hohen Alter stark begrenzt. Letzteres stellt
schließlich beinahe schon eine unerwünschte Abweichung dar, ein „spezieller Mo-
dus der körperlich-geistigen Andersheit“ (Beck 2005, S. 12). Angesichts der Topoi
von Jugendwahn und Altersfeindlichkeit erscheint es geradezu bemerkenswert,
dass es gegenwärtig so viele Alte gibt wie nie zuvor und dass das Alter mit etwa
einem Drittel inzwischen den längsten Abschnitt der Normalbiografie ausmacht.
Im Schatten der demografischen Alterung äußert sich das sozial geteilte Begehren
danach, jung zu sein, sich jung zu fühlen – oder zumindest jung zu wirken (vgl.
Derra 2012). Jugend aber ist ein knappes Gut, und das Wissen, sie sukzessive zu
verlieren, lässt sich bei vielen Menschen schwerlich von Unbehagen und Unwäg-
barkeiten (vgl. Pelizäus-Hoffmeister 2014) isolieren.
Problempotenziale des Alters gelten in erster Linie als Problempotenziale eines
scheinbar ‚unbestechlichen‘ Körpers. Die Liste prominenter Altersgebrechen ist lang
und reicht von Zahnbeschädigungen über Muskelrückbildungen, Gelenkverschleiß
und verlangsamten Bewegungsabläufen bis hin zur Verschlechterung sensorischer
Fähigkeiten. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass sich der alte Körper dem Ideal einer
bewussten Kontrolle zunehmend und schleichend, manchmal aber auch plötzlich
54 Matthias Meitzler
und brachial entzieht. Viele Körperfunktionen, auf die jahrzehntelang Verlass war,
lassen im Alter nach. Im Vergleich zum ‚Körper-Damals‘ wird der gealterte Körper
als widerständiger, unberechenbarer, ja als eigenwilliger erlebt. Vermehrt stellt er
sich als Hindernis heraus, wenn die Momente der „leiblich-körperlichen Grenzer-
fahrungen“ (Gugutzer 2002, S. 271) hinsichtlich Häufigkeit und Dauer zunehmen.
Während in jungen Jahren die Funktionalität wie eine zuverlässige Konstante des
eigenen Körpererlebens anmutete, sodass diesem Funktionieren selten Beachtung
geschenkt werden musste, lässt sich das Alter als Verlust von ,Körperselbstver-
ständlichkeiten‘ lesen. Vermehrt zieht der alte Körper die Aufmerksamkeit auf sich,
drängt sich auf, klinkt sich ein, schiebt sich störend zwischen Handlungsabsicht
und Handlungsvollzug. Die sukzessive zur Gewissheit werdende Zuverlässigkeit,
dass der alte Körper ein unzuverlässiger Körper ist, macht die Generierung eines
speziellen Körperwissens notwendig.
Vor allem die mit dem betagten Alter assoziierte Vulnerabilität, die zudem
mit zwar meist routinierten, aber nicht selten unangenehmen medizinischen Prä-
ventions- und Interventionsmaßnahmen einhergeht, bildet das negative Pendant
zur Wunschvorstellung autonomer Leistungsfähigkeit. Im Alter lernt man seinen
Hausarzt besser kennen – und auch den eigenen Körper, der nicht nur visuell, son-
dern auch sinnlich ‚ein anderer‘ ist. Das Unbehagen gegen das Alter speist sich also
auch aus der angenommenen Krankheitswahrscheinlichkeit und einer antizipierten
Verminderung von Lebensqualität. Durch das im hohen Alter anfälligere Immun-
system steigt das Risiko, an (oftmals chronischen) Erkrankungen zu leiden – bis
hin zur Multimorbidität. Generell ist der Körper im Alter nicht nur sensibler (etwa
bei Knochenbrüchen in Folge von Stürzen), sondern bedarf zudem mehr Zeit zur
Regeneration. Diese Voraussicht lässt den alten Körper wie einen ausbruchsicheren
Käfig aussehen, der seinem Häftling sämtliche Handlungsfreiheiten stiehlt. Alter,
so könnte man diese Lesart im Einklang mit der so genannten Disengagement-The-
orie (vgl. Cumming/Henry 1961) deuten, erzwingt einen Rückzug, der durch das
Nachlassen der eigenen Kraft bedingt ist.7
Die Neuordnung des Körpers im Alter erfordert häufig eine Neuordnung des
Alltags. Das äußert sich beispielsweise in einer veränderten Wohnsituation, der
wahrscheinlicher werdenden Nutzung von Körperprothesen (Brillen, Hörgeräte,
Gehstöcke, Rollatoren, Gebisse, Herzschrittmacher etc.) und der stärkeren Ab-
7 Dieser Theorie zufolge sei der Ausgliederungsprozess bei aller persönlichen Tragik
dennoch „funktional für die soziale Ordnung, weil hierdurch sozialer Wandel und Be-
setzung von Statuspositionen mit Jüngeren möglich wird“ (Kelle 2008, S. 26). Übertragen
auf die Sterblichkeit der Gesellschaft, taucht dieser Gedanke in ähnlicher Form auch
bei Niklas Luhmann (1984, S. 554) auf. Siehe dazu den Beitrag von Thorsten Benkel in
diesem Band.
Der alte Körper als Problemgenerator 55
8 Aus diesem Grund zählt Erving Goffman (1977, S. 16) das Altenheim, neben Gefängnis,
Kloster, Psychiatrie und Hospital, zu den totalen Institutionen.
56 Matthias Meitzler
1981), eine Errungenschaft der Moderne, erhalten vor diesem Hintergrund einen
bitteren Beigeschmack. Gleichzeitig wird damit das letztendliche Kernproblem
der leiblichen Existenz zur Sprache gebracht, das weniger in der Störanfälligkeit,
sondern vielmehr in der ‚Laufzeitbeschränkung‘ des Körpers zu suchen ist – das
zentrale Schicksal der Alten ist die Todesnähe. Die Brandmarkung des Lebens als
„Sein zum Tode“ (Heidegger 1993, S. 252) findet in der Alterung – und erst recht
im Alter – ihre materiellen Beweisstücke. Die Assoziationsnähe von Alter und
Tod bildet damit einen weiteren, wenn nicht sogar den mächtigsten Grundpfeiler
für die negative Reputation dieses letzten Lebensabschnitts, auf den ‚nichts mehr‘
folgt, der also in jedem Fall tödlich endet. Zwar ist der Tod als Körperveränderung
par excellence in jedem Lebensalter möglich und alltäglich, doch hat das memento
mori gerade im höheren Alter aus guten Gründen besondere Präsenz.
Wie ein flüchtiger Blick in die Geschichte offenbart, war der Tod nicht immer
so offenkundig für das hohe Alter reserviert wie heute. Obwohl in der zentraleu-
ropäischen Gegenwartsgesellschaft die Säuglingssterblichkeitsrate niedriger denn
je ist und selbst die Alten immer älter werden, ist es noch keine 150 Jahre her, als
nicht die Gruppe der Ältesten, sondern die der Jüngsten dem Tod am nächsten
stand. Unter den damaligen Verstorbenen hatte fast jeder zweite das fünfte Le-
bensjahr nicht vollendet (vgl. Imhof 1981, S. 23) und auch denjenigen, die man
heutzutage als Jugendliche oder junge Erwachsene bezeichnen würde, haftete stets
ein gewisses Mortalitätsrisiko an: auf männlicher Seite bedingt durch Krieg und
bewaffnete Konflikte, und auf weiblicher Seite durch Schwangerschaft und Geburt
(vgl. Gehring 2013, S. 191). Mittlerweile aber hat sich der Tod, zumindest durch
die Brille der Statistik betrachtet, ins Greisenalter zurückgezogen (vgl. Lafontaine
2010, S. 103), was wiederum nicht bedeutet, dass nicht auch schon weit davor (etwa
in Folge von Krankheiten, Unfällen und Selbstmorden) in aller Regelmäßigkeit
gestorben wird. Die Formulierung ‚Bedenke, dass du alt werden wirst‘ müsste
richtiger lauten: ,Bedenke, dass du alt werden kannst‘, denn so unerwünscht die-
se letzte Lebensphase auf den ersten Blick auch scheint, ihr Nicht-Erreichen ist
üblicherweise noch unerwünschter.10
Ebenso würde es zu kurz greifen, das Problempotenzial des Körpers ausschließlich
im Alter zu suchen. Schließlich kann der Körper als Resonanzfläche prinzipiell in
jedem Lebensalter sowohl zur Lust- als auch zur Unlustquelle werden (vgl. Meitzler
2010, S. 288). Im alltäglichen Vollzug von Körperpraxis entsteht ein selbstreflexives
Wissen davon, durch welche Vorgänge und Techniken der Körpermanipulation
gezielt Lust erfahren, und mittels welcher Strategien die Wahrscheinlichkeit einer
Vermeidung von Unlust erhöht werden kann. Auch wenn der junge Körper in der
modernen Gesellschaft üblicherweise als funktionierender, krisenferner Körper
gedacht wird, ist er grundsätzlich nicht vor Irritationen im Sinne punktueller oder
chronischer Schmerzerfahrungen gefeit. Zudem sollte die Tatsache angeborener
oder frühzeitig erworbener Erkrankungen und Behinderungen (vgl. Kastl 2010)
nicht übersehen werden, die gleichsam, und stärker, exkludierende Wirkungen
erzielen können.
Körper machen Leute – schließlich gilt der Körper als zentrales Medium sozialer
Klassifikation, sein äußeres Erscheinungsbild gibt Auskünfte über die Lebenswelt
seines ‚Eigentümers‘. Die doppelte Bedeutung des Körpers für das Alter besteht
folglich darin, dass die Alterung nicht nur eine subjektive Erfahrung darstellt, son-
dern dass „das Alter auch über den Körper repräsentiert wird“ (Backes / Wolfinger
2008, S. 153). Alt sein meint in diesem Zusammenhang: alt aussehen. Aber: „Die
Tatsache, daß es für den Beobachter notwendig ist, sich auf die Darstellung von
Dingen zu verlassen, schafft die Möglichkeit der falschen Darstellung“ (Goffman
2007, S. 229). Übertragen auf den alten Körper heißt das, dass sich Alterszeichen
auf unterschiedliche Weise kaschieren, maskieren und verfälschen lassen. Mit
Foucault gesprochen, handelt es sich um Techniken des Selbst, die es dem Einzelnen
ermöglichen, „aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen
an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner
Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen
gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit
oder der Unsterblichkeit erlangt“ (Foucault 2007, S. 289).
Solche Körpertechniken sind ebenfalls nicht nur auf die Lebensphase Alter
bezogen; es gehört beispielsweise zur Alltagsbewältigung vieler (minderjähriger)
Jugendlicher, sich durch bestimmte Kleidung, Schminke und Inszenierung älter
zu geben als sie sind. Auch Jugend wird evident an den Zeichen des Körpers. Aller
gesellschaftlichen Jugendzentriertheit zum Trotz geht es ausgerechnet in diesem
relativ frühen Lebensabschnitt häufig nicht um die Betonung des eigenen Jungseins.
Techniken des ‚Sich-älter-Machens‘ erfolgen auf der Grundlage eines Jugendbildes
der Unvollkommenheit und Unvollständigkeit. Von seinem Interaktionspartner
intuitiv als älter wahrgenommen zu werden, kann dabei helfen, die angenommene
Unvollständigkeit zu bewältigen und sichert soziales Kapital in Form von Aner-
Der alte Körper als Problemgenerator 59
kennung oder sonst verschlossenen Zugängen. Das Credo ‚Man ist so alt, wie man
auf andere wirkt‘ lässt an das Thomas-Theorem denken, demzufolge Dinge, die von
Menschen als real definiert werden, dies für sie auch in ihren Konsequenzen sind
(vgl. Thomas 1965, S. 114). Bei den Körpertechniken im Alter mögen Vorstellungen
von Unvollständigkeit ebenfalls eine Rolle spielen, hierbei handelt es sich aber um
eine rückwärtsgewandte Bewältigung, etwa wenn versucht wird, sich über (Lifestyle-)
Produkte zu ,verjüngen‘. Sie sind Teil eines, vor allem auf der medialen Bühne (re-)
produzierten, Körperwissens darüber, dass das Problem des Alters nicht einfach
hingenommen werden muss, sondern unter Anwendung effektiver Strategien bis
zu einem gewissen Grad beeinflussbar zu sein scheint.
Weil soziale Interaktionen in erster Linie am Gesicht des Gegenübers ansetzen,
verwundert es kaum, dass Alterszeichen an diesem Ort zuerst verarztet werden.
Haarfärbungen und Faltenbehandlungen – von einfachen Gesichtspflegemitteln
bis zu dauerhaften chirurgischen Eingriffen – stehen als Maßnahmen gegen das
‚Alt-Aussehen‘ hoch im Kurs. Dass sie so oft nachgefragt werden, ist ein Hinweis auf
die Gratifikation der ‚Unsichtbarmachung‘ des alt(ernd)en Körpers. Durch gezielte
Körpermodifikationen eine vorteilhafte Diskrepanz zwischen kalendarischem Alter
und optischer Erscheinung zu erzeugen, gilt als anerkannte Leistung, die nicht selten
mit sozialen Gewinnen belohnt wird: „Es geht […] also um die Aufrechterhaltung
des Körperkapitals, um die Chance, materielle oder symbolische Vorteile aus dem
Körper zu ziehen“ (Derra 2012, S. 129). Auch hieran zeigt sich, dass Menschen
nicht schlichtweg einen Körper haben, sondern dass die Arbeit am Körper im Sinne
einer Selbstmodellierung bzw. Selbstoptimierung von gesellschaftlichen Normen
und Idealen angeleitet wird. Die Arbeit am Körper stellt sich als „Arbeit gegen das
Alter“ (Degele 2008, S. 171) heraus, bei der weniger das Können als vielmehr das
Sollen im Vordergrund steht.
Nicht umsonst werden Urteile wie „Für dein Alter siehst du gut aus!“ als Kom-
pliment aufgefasst – trotz der Relativierung, dass somit das faktische Alter, verstan-
den als weiterhin platzanweisende Anzahl gelebter Lebensjahre, nicht geleugnet,
sondern sogar betont wird (vgl. Mehlmann / Ruby 2010, S. 9). Mit der Schönheit
tritt ein naher Verwandter der Jugend auf den Plan, während Alter häufig mit dem
negativ besetzten Pendant der Hässlichkeit (vgl. Eco 2010) assoziiert wird: „Alt und
hässlich sowie jung und schön werden somit als synonyme Gegensatzpaare ver-
wendet, wonach sich Alter und Attraktivität förmlich ,naturgemäß‘ ausschließen“
(Derra 2012, S. 117). Im Unterschied zu jungen, attraktiven und funktionstüchtigen
Körpern scheinen alte Körper solche zu sein, die ‚man nicht zeigt‘. Anders als der
junge tritt der alte Körper (im Vergleich zu anderen Kontexten) auch relativ selten
60 Matthias Meitzler
11 Dieser Umstand lässt sich insbesondere dadurch erklären, dass Sexualität gemeinhin
mit Jugendlichkeit, Attraktivität und Leistungsfähigkeit verbunden wird, Sex im Alter
dagegen oft mit nachlassender Potenz, Attraktivitätsverlust oder gar Ekel. Indessen hat
der soziale Wandel der jüngeren Vergangenheit auch diesen Bereich eingeholt. Alters-
sexualität ist längst kein Tabu mehr (vgl. Bamler 2008).
12 So vielversprechend die Kultur des Schönheitshandelns der Natur des Alter(n)s auch
entgegen tritt, so sehr weist das Ideal der ‚Jugend im Alter‘ doch die implizite Norm auf,
dass der Triumph der Kultur über die Natur nicht zu deutlich ausfallen darf, um nicht
zu künstlich zu erscheinen. Dem maskierten Alter wird also eine gewisse ‚Restnatürlich-
keit‘ zugestanden bzw. abverlangt, und erst dadurch erhält das Schönheitshandeln seine
Wertigkeit. Schönheitsideale im Alter bewegen sich demgemäß zwischen Körpertechnik
und Körperauthentizität. So betrachtet, leuchtet ein, weshalb es für gesellschaftliche
Deutungen, Zuschreibungen und Bewertungen einen Unterschied macht, ob dem Alter
mit alltäglichen (Faltencreme, Kleidung, Schminke) oder mit schönheitschirurgischen
Mitteln (vgl. Taschen 2008) begegnet wird. Die Frage, ob am Körper des anderen ‚alles
echt‘ sei, gilt überdies als Indiskretion und führt häufig zu entsprechenden Reaktionen.
Bei all dem ist nicht zu vergessen, dass Vorstellungen von Natürlichkeit immerzu kul-
turabhängige Ideen sind.
13 Obwohl Schönheitsideale zunehmend auch für Männerkörper relevant werden (vgl.
Meuser 2005, S. 286ff.), ist das Schönheitshandeln (im Alter) bislang offenbar haupt-
sächlich ein weibliches Phänomen (Derra 2012, S. 119f.).
Der alte Körper als Problemgenerator 61
einer schon seit dem Mittelalter bekannten ars morendi hat vielmehr eine dem
Tode abgewandte ars vivendi oberste Priorität. An sinnstiftenden Vorbildern, die
bisweilen mit über 90 Jahren noch regelmäßig mediale Aufmerksamkeit genießen,
mangelt es jedenfalls nicht. Das Alter wird damit zu einem selbst zu verantwortenden
„Kunstwerk“ (Grebe 2013, S. 136), welches gelingen, aber auch misslingen kann.
Abermals ertönt dabei die Melodie der Individualisierung, wonach, vereinfacht
gesagt, jeder seines Körpers Schmied ist. Um nicht ins Abseits zu geraten, müssen
Alterspotenziale nicht nur erkannt, sondern auch genutzt werden – sofern sie
überhaupt (noch) vorhanden sind, denn die Potenziale des Alters bzw. des Körpers
sind nicht unter allen Akteuren gleich verteilt, sondern dürften in erster Linie den
jungen Alten (vgl. Opaschowski 1998) vorbehalten sein. Derweil befinden sich
die meisten der ‚alten Alten‘ in einem Körperzustand, der sie an der Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben hindert, weshalb sie „im öffentlichen Raum so gut wie
unsichtbar“ sind (Dederich 2010, S. 109).
Es zeigt sich: Das Alter und seine Diskurse oszillieren in einem Kontinuum von
Vitalität und Wertschätzung auf der einen und Fragilität und Ausschluss auf der
anderen Seite. Faktoren, die darüber entscheiden, in welche Richtung das Pendel
letzten Endes schlägt, seien es körperliche Kräfte, finanzielle Ressourcen oder so-
ziale Integrität, lassen sich schwerlich isoliert betrachten, sondern sind immer im
wechselseitigen Verhältnis zu sehen. Und auch eine bedingungslose Positivierung
des Alters ist kritisch zu hinterfragen: „Das Bild eines äußerst flexibel ,copenden‘
Individuums, das seine Lebensmöglichkeiten beständig optimiert und auch im
hohen Alter Sinn und Erfüllung bspw. darin findet, durch Bewegung, Sport, Bil-
dung usw. ein möglichst langes, gesundes, ereignisreiches und ggf. gesellschaftlich
nützliches Leben zu erreichen, kann den Blick für soziale Probleme und existen-
zielle Grundfragen vieler alter Menschen eher verschließen als öffnen“ (Kelle 2008,
S. 25). Die Aufwertung des Alters im Sinne einer „schönen neuen Alterswelt“ (van
Dyk et al. 2010, S. 30) droht dabei, zur Farce zu verkommen. Fraglich ist, inwieweit
gesellschaftlich proklamierte und nicht selten verkrampft wirkende Bemühungen,
ob auf der sozialpolitischen Makroebene oder im intersubjektiven Nahraum, die
bestehenden Altersklischees nicht noch weiter festigen. Die sozialen Kräfte, die dabei
fließen, sind überaus prägend, und die sozialkonstruktivistische Facette ist nicht zu
unterschätzen. Jean-Paul Sartre (1993, S. 28) hat einmal geschrieben: Wenn einer,
der sich jung fühlt, von anderen als Greis behandelt wird – dann zählen nicht die
Lebensjahre, sondern es zählt lediglich die Zuschreibung, und dann sind letztlich
diese anderen ‚sein Alter‘.
Der alte Körper als Problemgenerator 63
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Vom Jungbrunnen zum individuellen
Management gesundheitlicher
Alterungsrisiken
Neues Wissen über Altern im Umfeld
der deutschen Anti-Aging-Medizin
Mone Spindler
Vom Jungbrunnen zum Management gesundheitlicher Alterungsrisiken
1 Der vorliegende Artikel basiert auf meiner soziologischen Promotion über Anti-Aging
(Spindler 2014).
67
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_4
68 Mone Spindler
Um das Jahr 2005 lässt sich in wichtigen Stellungnahmen der deutschen An-
ti-Aging-MedizinerInnen jedoch eine entpathologisierende Akzentverschiebung
ausmachen. Wie die Anthropologin Courtney Mykytyn für den ärztlichen Diskurs
im Umfeld der US-amerikanischen Anti-Aging-Medizin beschreibt (vgl. Myky-
tyn 2008, S. 315), verlieren auch im deutschsprachigen Raum pathologisierende
Definitionen der Alterung an Bedeutung. In den Vordergrund treten stattdessen
Beschreibungen, in denen die Alterung in einen stochastischen Zusammenhang
mit Erkrankungen gebracht wird. Viele dieser sprachlichen Wendungen sind um
den Begriff „Risiko“ zentriert. Die Alterung wird darin als ein mehr oder weniger
starkes Erkrankungsrisiko gedeutet. Häufig werden biologische Alterungsprozesse
als der „wichtigste“ (Kleine-Gunk 2007b, S. A2054), „wesentliche“4 „alles entschei-
dende“ (Kleine-Gunk 2008a, S. 4) „Risikofaktor schlechthin“ (Harder 2009) oder
„Hauptrisikofaktor“ (ebd.) für altersassoziierte Erkrankungen beschrieben.
Mit der Akzentverschiebung von Krankheit zu Risiko wird die Vorstellung von
der „krankhaften“ Natur des Alterns nicht gänzlich abgelegt, sondern in einen
Wahrscheinlichkeitsraum gestellt: Die Alterung ist nicht mehr per se krankhaft
und damit prinzipiell schlecht. Sie ist vielmehr von riskanter Natur, also lediglich
potentiell schlecht oder aber auch gut.
Für die insgesamt sehr komplizierte Verhältnisbestimmung von Alterung und
Krankheit werden sowohl in der Krankheits- als auch in der Risikokonzeption meist
nur wenige, alltagsweltliche Gründe angeführt. Dies ist insofern bemerkenswert, als
dass – stärker als in der US-amerikanischen Anti-Aging-Medizin – gleichzeitig der
Anspruch formuliert wird, die medizinische Praxis mit Rückgriff auf biologische
Erkenntnisse über das Altern „rationaler“ zu gestalten als bisher (vgl. z. B. Klei-
ne-Gunk 2003b). Zwar finden sich in den Anti-Aging-Lehrbüchern nachholende
Versuche, das Alternskonzept mit biologischen Alterungstheorien zu unterlegen (vgl.
insb. Römmler / Wolf 2002b; Kleine-Gunk 2003b). Diese bleiben jedoch trotz ihrer
äußerst optimistischen Deutung des biogerontologischen Forschungsstandes wenig
überzeugend. Entsprechend lassen diese anfänglichen Rationalisierungsversuche
in den Publikationen der Anti-Aging-MedizinerInnen über die Zeit auch nach.
In den meisten der untersuchten Argumentationen wird das Konzept von Altern als
Risiko als eine empirische Tatsache präsentiert. Es sind jedoch nicht nur Befunde
darüber, was das Altern ist, sondern vor allem auch wertende Vorstellungen davon,
wie was Altern (nicht) sein sollte, die das Risikokonzept leiten. Diese Vorstellungen
guten Alterns werden im Untersuchungsfeld kaum expliziert, begründet oder
diskutiert, obwohl sie von zentraler Bedeutung sind: Sie begründen das Ziel und
die Kriterien der Behandlung und letztlich auch die Art des Alterns, die durch das
medizinische Programm der deutschen Anti-Aging-Medizin „selektiert“ werden
soll. So fragt sich nicht nur, ob die Alterung auf mehr oder weniger wissenschaft-
liche Weise als Krankheit(srisiko) beschrieben wird, sondern auch, woran gutes
bzw. schlechtes Leben im Alter genau festgemacht wird.
unterscheidet, ist für die weitere Analyse von besonderer Bedeutung: Auf Darstel-
lungen der schlechten Wirklichkeit des Alterns folgt in der Regel die Kritik, dass der
Einzelne durch mangelndes Bewusstsein und schlechte Lebensführung Krankheit
im Alter maßgeblich mit verschulden würde. In vielen der untersuchten Argumen-
tationen klingt eine inverse Modernisierungstheorie des Alterns durch, der zufolge
die Menschen mit Einzug der Moderne selbst die einfachsten Grundregeln gesunder
Ernährung und Bewegung verlernt hätten. So ist beispielsweise von „viele Jahre
eingeschliffenen, riskanten Lebensstilen“ die Rede und von „schweren Fehlern im
Verständnis von Gesundheitspflege und Krankheitsprävention“. (Jacobi 2005, S. 2)
Zwei gerne angeführte Paradebeispiele schlechter Lebensführung entbehren inter-
essanterweise jeden Altersbezugs, sondern sind schicht- und geschlechtsspezifisch
konnotiert: Dies ist zum einen der wahlweise gestresste, kettenrauchende, überge-
wichtige, alkoholabhängige Bauarbeiter,6 Arbeitslose,7 Sozialhilfeempfänger8 oder
„ausländische Mitbürger“.9 Zum anderen wird auch der Manager, der „60 Stunden
am Tag [sic] am PC sitzt und sich nicht bewegt,“10 kritisiert. Diese in Abschnitt 2.3
genauer untersuchte Verantwortungszuschreibung ist insofern interessant, da in
anderen Anti-Aging-Kontexten nicht die individuelle Verschuldung, sondern die
passive Erduldung der Leiden des Alterns problematisiert wird. Ältere Menschen
würden das Altern demnach als natürlich ansehen und passiv erdulden, weil sie
nicht wüssten, dass ihnen medizinisch geholfen werden kann.
Die moralische Ladung der Darstellungen der individuellen Leiden und ge-
sellschaftlichen Kosten des Alter(n)s ist beträchtlich. Alle Menschen werden
argumentativ auf zweifache Weise zu Betroffenen gemacht: Als Einzelner ist jeder
potenziell von Leiden des Alter(n)s betroffen. Und als Mitglied der Gesellschaft
droht allen das Ende gesellschaftlicher Solidarität. Dieses nicht nur im Umfeld der
deutschen Anti-Aging-Medizin gängige Doppelargument für die Behandlungsbe-
dürftigkeit des Alter(n)s erscheint kaum hintergehbar. Denn wenn der Einzelne
sich entscheiden würde, individuelle Alterungsrisiken zu ignorieren oder bewusst
in Kauf zu nehmen, würde er damit nicht nur sein eigenes Wohl, sondern auch den
Bestand der Gesellschaft gefährden. Sowohl individual- also auch sozialethisch
besteht demnach dringender Handlungsbedarf, welchen die Anti-Aging-Medizin
zu erfüllen verspricht.
13 Vgl. Interview mit Roland Klatz, Feldnotizen Anti-Ageing Medicine World Congress
Paris 2006, P5:297.
14 Interview P17:835.
Vom Jungbrunnen zum Management gesundheitlicher Alterungsrisiken 77
„auch im Alter noch von Nutzen“ (Hennig 2005, S. 7) sind. Am Rande findet sich
zudem das Argument, dass gesundes Alter deshalb erstrebenswert sei, weil der
Einzelne damit der Gefahr entgehe, in der Gesellschaft als krank, pflegebedürftig
und nutzlos diskriminiert zu werden.
Im Vergleich zu anderen Anti-Aging-Kontexten weist die Vorstellung guten
Alterns im Umfeld der deutschen Anti-Aging-Medizin zwei Besonderheiten auf.
Erstens wird in Abgrenzung zu ästhetischen Anti-Aging-Kontexten jugendliches
Aussehen nur am Rande als Merkmal guten Alterns hervorgehoben. Die wortfüh-
renden GSAAM-MedizinerInnen und auch meine GesprächspartnerInnen aus dem
ästhetisch-dermatologischen Bereich sind bemüht, jugendliches Aussehen nicht
ins Zentrum ihres Konzepts von gutem Altern zu rücken, es aber gleichzeitig als
eine zusätzliche Option offen zu halten. Zweitens finden Sterben und Tod in den
Vorstellungen des guten Alterns keine nennenswerte Erwähnung. Es werden keine
radikalen Anti-Aging-Positionen geäußert, denen zufolge gutes Altern nur bei einer
weitgehenden Abschaffung des Todes möglich wäre. Gleichzeitig finden sich aber
auch keine konkreten Vorstellungen eines guten Todes. Zwar wird ein „vorzeitiger
Tod“ von einigen als Kennzeichen der leidvollen Wirklichkeit des Alterns genannt.
Woran sich ein „rechtzeitiger Tod“ bemisst, wird jedoch nicht thematisiert. Lediglich
an einer Stelle im untersuchten empirischen Material formuliert der GSAAM-Prä-
sident, dass gutes Altern für ihn auch bedeute, „gesünder“ zu sterben, am besten
„mit 100 gesund in die Kiste.“15 Eine der wenigen Anti-Aging-AnwenderInnen,
die ich auf einer Anti-Aging-Konferenz traf und interviewen konnte, formulierte
dagegen, dass ein guter Umgang mit Sterben und Tod für sie ein zentrales Kriterium
für gelungenes Altern sei. „Und ich hab – und das ist das Wichtigste – keine Angst
mehr vor dem Sterben,“16 betonte sie mehrfach.
15 Vgl. Feldnotizen „Longevity & Anti-Aging – Neue Märkte für die Gesundheit“, Frankfurt
Global Business Week, IHK Frankfurt, Mai 2011.
16 Interview P22: 679ff.
78 Mone Spindler
von der ewigen Jugend werden zunehmend ersetzt durch eine realistische Medizin
für ein gesundes Altern.“ (Kleine-Gunk 2007a, S. 3) „Altern ja – aber gesundes
Altern“ (Harder 2009, S. 24) ist entsprechend ein zentraler Slogan.
Abb. 1
Ziele der Anti-Aging-
Medizin nach Jacobi
Quelle: Jacobi 2005, S. 8.
Wenn dies also die gute Möglichkeit des Alterns ist – wie kann man dem Risiko
schlechten Alterns entrinnen und ein gesundes und funktionsfähiges Alter er-
reichen? Die Grenze zwischen gutem und schlechtem Altern wird im Umfeld der
Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin nicht z. B. zwischen
schlechtem körperlichen und gutem geistigen Altern gezogen oder zwischen guten
und schlechten Altersphasen. Vielmehr wird überwiegend zwischen guten und
schlechten individuellen Alterungsverläufen unterschieden. Ob Alterungsprozesse
positiv oder negativ verlaufen, wird dabei vor allem an zwei Dingen festgemacht: an
günstigen genetischen Dispositionen und einer gesunden Lebensführung. Genetische
Faktoren und Umweltfaktoren gelten auch in der biologischen Alterungsforschung
als zentrale Einflussgrößen für Alterungsverläufe. Im Konzept der deutschen
Anti-Aging-Medizin sind beide Faktoren jedoch auf spezifische Weise verkürzt:
Die äußerst vielfältigen und noch keinesfalls umfassend bekannten genetischen
Faktoren des Alterns sind auf einzelne genetische Polymorphismen reduziert. Und
aus den zahlreichen und oft nur schwer zu erfassenden Umweltfaktoren werden
lediglich individuelle Lebensstilentscheidungen im Hinblick auf Ernährung und
Bewegung herausgegriffen.
Es handelt sich also nicht um eine Biologisierung des Alterns, u. a. weil der
Lebensführung des Einzelnen maßgeblicher Einfluss auf den Alterungsverlauf
beigemessen wird. Dies war interessanterweise nicht immer so. Anfänglich wurde
Vom Jungbrunnen zum Management gesundheitlicher Alterungsrisiken 79
im Umfeld der deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging ein breites
Spektrum nicht-biologischer Alterungsfaktoren diskutiert: von Umweltgiften über
soziale Beziehungen, Beruf, Ausbildung, den Umgang mit Konflikten und Stress
bis hin zum individuellen Lebensstil (vgl. z. B. Römmler 2002; Kleine-Gunk 2003b;
Jacobi 2005, S. 4). Zudem herrschte in biogerontologischer Tradition durchaus Skepsis
in der Frage, inwiefern sich der Alterungsverlauf über eine gesunde Lebensführung
überhaupt beeinflussen lässt (vgl. z. B. Römmler 2002 S. 8; Römmler / Wolf 2002b,
S. VIII). Mit der Reduktion des Umweltbegriffs auf individuelle Lebensstilentschei-
dungen wurde die lebensstilbezogene Kontrollierbarkeit des Alterns jedoch stark
betont und in den Mittelpunkt des medizinischen Programms gerückt. Die beiden
Stellschrauben für gutes Altern – Gene und Lebensstil – sind mittlerweile also klar
im Körper und im Verhalten des Einzelnen verortet.
Wie wird das (neue) Risikowissen über Altern in der deutschen Anti-Aging-Medizin
nun medizinisch operationalisiert? Mit der Akzentverschiebung von Krankheit
zu Risiko geht ein neues Prinzip der Gestaltung des Alterns einher: Es geht nicht
mehr darum, die Krankheit Altern schulmedizinisch zu heilen. Das Altern soll
stattdessen durch die zuvorkommende Vermeidung gesundheitlicher Alterungs-
risiken verbessert werden. „Sackgasse Reparaturmedizin – Hoffnung Prävention“
([N.N.] 2008a), ist die Devise. Der präventive Ansatz soll dabei noch grundlegen-
der ansetzen als an der Früherkennung von Symptomen des Alterns, nämlich
am „frühzeitigen Erkennen von Risikofaktoren“ (Kleine-Gunk 2009, S. 14), die
Symptomen der Alterung ursächlich vorgelagert sind. Zu diesem Zweck bietet
die deutsche Anti-Aging-Medizin ein medizinisch optimiertes, „intensives Case
Management“ gesundheitlicher Alterungsrisiken an.
In Veröffentlichungen wortführender Anti-Aging-MedizinerInnen findet sich
entsprechend eine Akzentverschiebung in den Selbstbezeichnungen der eigenen
Disziplin. Der Begriff Prävention tritt gegenüber der Bezeichnung Anti-Aging
deutlich in den Vordergrund, wie sich z. B. in den schnellen Namenswechseln des
Journals der deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin zeigt
(siehe Tabelle 1).
Zur Lösung dieser Imagekrise des „verbrannten Begriffs“ Anti-Agings (vgl.
Kleine-Gunk 2005a) wird vermehrt auf den Begriff Prävention zurückgegriffen,
obwohl die Marketingidee ursprünglich umgekehrt war: Der Begriff Anti-Aging
sollte das Imageproblem der Prävention lösen, indem man versuchte, „mit diesem
Begriff Anti-Aging […] aber eigentlich sozusagen eine Präventionsbotschaft rü-
80 Mone Spindler
Abb. 2
Der diagnostische Raum
der Risikokalkulation
nach Wolf
Quelle: Wolf 2002, S. 30.
In einem Stadium, in dem die Testperson möglichst noch keine Symptome der
Alterung zeigt, werden in dem graduellen Übergangsbereich zwischen Krankheit
und Gesundheit körperliche, aber teilweise auch seelische und soziale Indikatoren
gemessen, die darauf hindeuten, dass die getestete Person im Alter Krankheiten
ausbilden wird. Es sind diese „Befunde im Zwischenraum von ‚Gesund‘ und
‚Pathologisch‘„ die „Anlass für eine konkrete medizinische Prävention oder Inter-
vention“ (Wolf et al. 2003, S. 29) geben. „Ich guck den Patienten nicht an: Was hat
er? Sondern: Was kriegt er […]. Um zu wissen, was er kriegen kann, mach ich viele
Dinge“, erläutert eine GSAAM-Medizinerin die „Pointe“ der neuen Diagnostik.20
Ermittelt werden also präsymptomatische Vorboten kranken Alter(n)s. Hierin
besteht ein zentraler Unterschied zu der in der Geriatrie einflussreichen „Frail-
ty-Testung“, bei der es sich um eine Früherkennung von Symptomen der Alterung
handelt. Bei der Risikodiagnostik werden anhand der präsymptomatischen Vorboten
schlechten Alter(n)s Prognosen der Güte des Alterungsverlaufs erstellt. Systemati-
scher als in bisherigen Alterskonstruktionen wird eine Kategorie präsymptomatisch
von krankem Alter(n) betroffener Menschen begründet. In dieser Konstruktion
sind alle noch nicht (gänzlich) alten Menschen testungsbedürftig und die Risi-
koträgerInnen unter ihnen behandlungsbedürftig. Die Gruppe der von Alterung
„Betroffenen“ wird dadurch ausgeweitet und damit auch eine neue Zielgruppe der
Anti-Aging-Medizin geschaffen. Die Gestaltung des Alter(n)s wird ein Stück weit
ihres Altersbezugs enthoben. Denn Altersrisiken sind nicht nur bereits vor dem
Auftreten erster Symptome ermittelbar, sondern schon in jungen Jahren.
Im Umfeld der deutschen Anti-Aging-Medizin wird die Erstellung der Risi-
koprofile als empirischer Vorgang dargestellt, bei dem es um die Erhebung einer
„Ist-Situation“ (Interview P17:241) geht. Zahlreiche Messprobleme werden dabei
auch kritisch diskutiert. Bei der Risikodiagnostik handelt es sich jedoch nicht nur
um einen empirischen Messvorgang, sondern auch um einen normativen Vorgang,
der bisher kaum als solcher thematisiert wird. Denn auch noch so präzise gemes-
sene Werte können nur dann als (un)riskant bewertet werden, wenn auch eine
‚Soll-Situation‘ angenommen wird. Ihr Informationswert ergibt sich erst durch die
Feststellung eventueller Abweichungen der Testergebnisse von dieser Norm. Bei
der Ermittlung von Risikoprofilen wird darum immer auch eine Neukonzeption
des Normalen vorgenommen.
Dabei handelt es sich nicht nur um ein theoretisches Problem. Diese normativen
Fragen sind gerade auch für die medizinische Praxis von zentraler Bedeutung.
Eines der drängendsten Praxisprobleme vieler BesucherInnen von GSAAM-Kon-
ferenzen ist es, Testergebnisse zu bewerten und in konkrete ärztliche Ratschläge
zu überführen. „Was machen mit all diesen Informationen?“21 beschreibt eine
meiner Gesprächspartnerinnen die Lage. Wichtiger Bestandteil der Lehrtätigkeit
wortführender GSAAM-ÄrztInnen ist vor diesem Hintergrund, ihre Neukonzep-
tion des Normalen zu vermitteln und die entsprechenden Bewertungspraktiken
einzuüben. Die in diesem Zusammenhang zahlreich auftretenden normativen
Fragen werden dabei meist nicht ergebnisoffen diskutiert oder wissenschaftlich
bearbeitet. In vielen Fällen werden sie autoritativ entschieden oder sind durch in
Messgeräte eingeschriebene Normwerte technisch vorweggenommen.
tisiert, dass die (älteren) Menschen durch eine schlechte Lebensführung Krankheit
im Alter mit verschulden würden. Als Ursachen ihrer schlechten Lebensführung
werden fehlendes Wissen und Bewusstsein genannt. Vor allem wird aber ein
wohlstandsbedingter Mangel an Eigenverantwortlichkeit für die Gesunderhaltung
im Alter kritisiert. Im Gegensatz zu anderen Anti-Aging-Kontexten wird also
nicht die passive Erduldung von Leiden des Alterns problematisiert, sondern eine
individuelle Verschuldung kranken Alterns ausgemacht. Zweitens wird jedoch
auch der Gesundheitspolitik mangelnde Verantwortlichkeit diagnostiziert. Die
Politik gäbe zum einen uneinlösbare Versprechen einer vollen, umlagefinanzierten
Gesundheitsversorgung im Alter. Zum anderen übernähme sie keine (finanzielle)
Verantwortung für die systematische Etablierung von Prävention als vierte Säule
des Gesundheitswesens, wie das Scheitern des Präventionsgesetzes der rot-grünen
Regierung im Jahr 2005 zeige.
Angesichts dieses doppelten Verantwortungsproblems schlägt die GSAAM eine
Neujustierung der Verantwortlichkeiten für gesundheitliche Alterungsrisiken vor:
„Mediziner fordern mehr Eigenverantwortung und ein neues Verständnis von
individueller Prävention,“ (N.N.] 2008: Gesunde zum Arzt!) ist die Schlagzeile
einer Presseerklärung der Fachgesellschaft. Prävention sei „grundsätzlich als Le-
bensform denn als [sic] eine ‚Verordnung‘ zu begreifen.“ ([N.N.] 2007, S. 2). Jeder
sollte „sozusagen als Gesundheitsmanager in eigener Sache“ (Bleichrodt 2005, S. 16)
Prävention betreiben. Der Eigenverantwortung für das Management gesundheitlicher
Alterungsrisiken wird die Schlüsselrolle bei der Vermeidung individueller Leiden
und gesellschaftlicher Kosten des Alterns zugesprochen. Die GSAAM bietet dem
Einzelnen medizinische Dienstleistungen an, welche die Übernahme der Eigen-
verantwortung für gesundheitliche Alterungsrisiken erleichtern und optimieren
sollen. „Anti-Aging verändert das Gesundheitswesen,“ war entsprechend der Titel
der ersten Ausgabe des Journals der deutschen Anti-Aging-Medizin (Anti Aging
for Professionals, 2005, Jg. 1, Bd. 1).
Nun ist Eigenverantwortung insgesamt im Zuge der neoliberalen Gesundheits-
und Sozialpolitiken zu einem Schlüsselbegriff geworden. In dreierlei Hinsicht ist das
Konzept von Eigenverantwortung im Umfeld der deutschen Anti-Aging-Medizin
jedoch auf spezifische Weise zugespitzt: Unter Eigenverantwortung wird erstens
nicht nur eine gesunde Lebensführung verstanden, sondern auch die finanzielle
Eigenverantwortung für die Inanspruchnahme der selbstzuzahlenden Präventi-
onsmaßnahmen der Anti-Aging-Medizin. Prävention gilt als eine „individuelle
Maßnahme, die jeder für sich im Sinne von Eigenverantwortung auf eigene Kosten
umsetzt.“ (Bleichrodt 2005, S. 16.) Zweitens wird die Stärkung gesundheitlicher
Eigenverantwortung nicht lediglich als ein Aspekt gesundheitlicher Reformen
verstanden, sondern häufig als der einzige Ausweg aus der Krise des Gesundheits-
Vom Jungbrunnen zum Management gesundheitlicher Alterungsrisiken 85
wesens präsentiert. „Wo wir nichts an den Zuständen ändern können, bleibt uns
die Freiheit, uns selbst zu verwandeln,“ (Druyen 2007, S. 285) heißt es beispielsweise
um Journal der Anti-Aging-Gesellschaft.
Das Gebot zur Eigenverantwortung für gesundheitliche Alterungsrisiken ist
jedoch nicht nur gesundheitsökonomischen Sachzwängen geschuldet. Sie wird
drittens auch als eine gerechtere Form intergenerationeller Solidarität vorgeschlagen.
Demnach ist es solidarischer, sich in gesunden Jahren auf eigene Kosten in eine An-
ti-Aging-Behandlung zu begeben, als im Alter umlagefinanzierte Krankheitskosten
zu verursachen. Prävention erfährt dadurch eine starke sozialethische Verpflichtung
und wird als eine „Dauer-Pflicht“ ([N.N.] 2008b) oder gar als „staatsbürgerliche
Pflicht“ (Hennig 2005, S. 9) verstanden, die zu erfüllen eine „Bringschuld des Pa-
tienten“ (Müller 2010, S. 3) sei.
Während der Einzelne also verstärkt in die Verantwortung für individuelle
Alterungsrisiken genommen wird, kommt dem Sozialstaat in dem Konzept der
Anti-Aging-MedizinerInnen lediglich die Verantwortung zu, seine BürgerInnen
zum Risikomanagement zu aktivieren und den Gesundheitsmarkt für Selbstzah-
lerleistungen zu deregulieren. So wird beispielsweise gefordert, dass „sich die Ge-
sundheitspolitiker endlich dazu durchringen [sollten], dem Bürger zu sagen, dass
er für seine Gesundheit selbst verantwortlich ist.“ (Bleichrodt 2007)
Wie ist das Wissen über Altern, das im Umfeld der deutschen Anti-Aging-Medizin
handlungsleitend ist, nun zu bewerten? Bei der Bewertung sind mehrere Dimen-
sionen zu betrachten, hinter denen jeweils sozialgerontologische Werte stehen:
Zunächst zur biomedizinischen Evidenz des Behandlungskonzepts. Auch für
die sozialwissenschaftliche Anti-Aging-Kritik ist die Frage zentral, ob Anti-Aging
nun eigentlich wirkt oder nicht. Der Anspruch der deutschen Anti-Aging-Medi-
zinerInnen ist es, gesundheitliche Alterungsrisiken besser als bisher kalkulieren
und managen zu können. Für die fokussierte genetische Risikodiagnostik ist dies
in mehrerlei Hinsicht fraglich (vgl. Spindler 2014, S. 385ff). Jedoch steht insgesamt
eine biomedizinische Kontroverse über die Evidenz der Risikodiagnostik sowohl
innerhalb als auch außerhalb der Anti-Aging-Medizin aus. Dabei erweist sich die
Evidenzprüfung aus verschiedenen Gründen schwieriger als häufig angenom-
men. Diese im besten Falle offene Evidenzlage findet in der Kommunikation des
Behandlungskonzepts gegenüber ÄrztInnen und potentiellen AnwenderInnen
kaum einen Widerhall.
86 Mone Spindler
Aber nicht nur auf biomedizinischer Ebene besteht ein Evidenzproblem. Das
Konzept von Alterung als Risiko nimmt seinen Ausgang in stereotypen, negativen,
auf den körperlichen Verfall und gesellschaftliche Kosten reduzierten Darstel-
lungen der Wirklichkeit des Alterns. Dies widerspricht jedoch nicht nur sozial-
wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Heterogenität der Lebenslagen älterer
Menschen und über Stärken und Schwächen des Alterns. Die Darstellungen der
Wirklichkeit des Alterns sind auch im Konflikt mit dem sozialgerontologischen
Menschenbild, demzufolge der Mensch in seiner Multidimensionalität gedacht und
behandelt werden sollte. Das negative Altersbild läuft zudem einem zentralen Wert
des sozialgerontologischen Projekts entgegen: der gleichberechtigten Diversität
von Lebensformen.
Die Vorstellung guten Alterns hingegen ähnelt auf den ersten Blick sozialgeron-
tologischen Zielen: Nicht die Abschaffung des Alterns, sondern gesundes, funk-
tionsfähiges Altern ist das Behandlungsziel. Allerdings ist der dahinterstehende
Begriff von Lebensqualität im Alter deutlich verkürzter als in der Sozialgerontologie.
Insbesondere psychische, soziale und politische Aspekte, die aus sozialgerontologi-
scher Perspektive und auch aus der Perspektive älterer Menschen selbst, ein gutes
Leben im Alter maßgeblich ausmachen, sind ausgeblendet. Zudem ist gesundes
Altern nur eines der sozialgerontologischen Ziele. Neben der Förderung und
Nutzung von gesundheitlichen Ressourcen im Alter geht es gleichermaßen auch
um die gesamtgesellschaftliche Sorge für Schwächen des Alterns, die in der An-
ti-Aging-Medizin mit dem Versprechen, gesundheitliche Alterungsrisiken managen
zu können, tendenziell delegitimiert wird. Mit einem auf Krankheitsfreiheit und
Funktionsfähigkeit reduzierten Altersideal wird den vielen Menschen, die derzeit
faktisch Schwächen des Alterns erfahren, zudem das Erreichen einer persönlich
erfüllten und gesellschaftlich wertgeschätzten Altersphase zusätzlich erschwert.
Die präsymptomatische Kalkulation individueller gesundheitlicher Alterungs-
risiken und ihr vorbeugendes Management sollen wirkliche Altersprävention er-
möglichen und dadurch neue Handlungsräume eröffnen. An anderer Stelle werden
Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten dadurch jedoch auch eingeschränkt. Durch
die Risikodiagnostik wird es schwerer, den Körper und die Lebensführung anders
als unter dem Blickwinkel gesundheitlicher Alterungsrisiken zu betrachten. Denn
das Risikomanagement sollte bereits in relativ jungen, gesunden Jahren beginnen
und ist prinzipiell nicht abschließbar. Abweichende Lebensstile und Körpermerk-
male lassen sich schwerer rechtfertigen. Auch dies läuft einer gleichberechtigten
Diversität von Lebensformen entgegen.
Das Behandlungskonzept der deutschen Anti-Aging-Medizin ist explizit auch
ökonomisch motiviert. Dass auch ökonomische Motive die medizinische Praxis leiten
ist weder neu noch per se problematisch. Im Falle der deutschen Anti-Aging-Medi-
Vom Jungbrunnen zum Management gesundheitlicher Alterungsrisiken 87
4 Resümee
Was ist angesichts dieser Bedenken zu tun? Die vorliegende Untersuchung zielt
nicht auf die Formulierung handlungsleitender Urteile. Dennoch wird an den
aufgezeigten Problemen deutlich, auf welcher Ebene der Handlungsbedarf aus
sozialgerontologischer Perspektive vor allem angesiedelt ist. Problemzugriffe auf
Anti-Aging als Wissensform sind in erster Linie Plädoyers dafür, dass Anti-Aging
nicht ohne seine gesellschaftlichen Bedingungen verstanden und entsprechend
auch „behandelt“ werden kann. Anti-Aging ist demnach nicht nur ein medizi-
nisches Partikularfeld, das bei Regelverstößen staatlich reguliert werden muss.
Anti-Aging-Methoden sind auch keine neutralen Medizintechniken, die erst in der
88 Mone Spindler
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„Mein Leben ist ein Fortfahren von
Eigenreparatur“
Der Körper im Zeichen des Anti-Aging
Larissa Pfaller und Frank Adloff
Anti-Aging tritt uns vordergründig zwar zunächst als werbewirksames Label für
eine ganze Palette an kosmetischen Produkten und Anwendungen entgegen, doch
hat es auch als Anti-Aging-Medizin nicht zu unterschätzende Relevanz (vgl. Stuckel-
berger 2008): Spätestens mit der Gründung der American Academy of Anti-Aging
Medicine (A4M) in den frühen 1990er Jahren2, in deren Umfeld das Kunstwort
1 Wir gehen davon aus, dass es keinen fundamentalen Widerspruch zwischen einem
praxistheoretischen und diskursanalytischen Vorgehen gibt. Diskurse sind auch als
Praktiken zu begreifen, und zwar als Praktiken der expliziten Repräsentation im
Gegensatz zu nicht-diskursiven Praktiken, die keine expliziten Aussagen über die Dinge
machen (vgl. dazu Reckwitz 2008). In der Forschungspraxis überlappen sich beide
Forschungsmethodologien ohnehin häufig.
2 Für die A4M kursieren unterschiedliche Gründungsdaten: unter http://www.worldhealth.
net/about-a4m/ wird 1991, auf http://www.a4m.com/about-a4m-overview.html 1992
„Mein Leben ist ein Fortfahren von Eigenreparatur“ 93
„Anti-Aging“ überhaupt erst geprägt wurde, hat sich die Anti‑Aging-Medizin als
eine eigenständige medizinische Disziplin etabliert und institutionalisiert (Spind-
ler 2014). Die A4M stellt hierbei Anti-Aging unter ein dezidiert biomedizinisches
Forschungsprogramm:
Hierbei streicht die A4M vor allem das Potential innovativer Technologien wie
der Stammzelltherapie, dem therapeutischen Klonen, der Gentechnologie und der
Nanotechnologie heraus, welche – mit dem Ziel sowohl einer Verbesserung als auch
einer Verlängerung des menschlichen Lebens – die Erforschung und Beeinflussung
der zellulären und molekularen Grundlagen des menschlichen Alterungsprozesses
bezwecken. Die A4M prägt mit ihrer Konzeption des Alter(n)s als behandelbarer
„Meta-Krankheit“ (ebd., S. 41) und dem damit verbundenen „war on aging“ (de
Grey 2004) seit ihrer Gründung die US-amerikanische Anti-Aging-Szene.
In den vergangenen Jahren hat sich die Anti-Aging-Medizin zunehmend auch in
Europa ausgebreitet (Trüeb 2006, S. 91 f.). Die Deutsche Gesellschaft für Prävention
und Anti-Aging Medizin (GSAAM) hat sich hierbei – nach dem offiziellen Bruch
mit der amerikanischen Muttergesellschaft (Spindler 2014, S. 19) – vor allem der
Prävention alterskorrelierter Krankheiten mit dem Ziel eines langen und gesunden
Lebens verschrieben und kann sich damit umso mehr auf die Geltungsansprüche
der rationalen Wissenschaften und die Autorität der institutionalisierten Medizin
berufen. Mit dem Paradigma der Prävention adressiert sie zudem nicht zuletzt auch
eine sehr junge Klientel – denn Vorbeugen kann man bekanntlich nie früh genug
(vgl. Bröckling 2008). In der Rationalität der Prävention ist Alter(n) damit nicht nur
ein mögliches Problem der späteren Lebensphasen – beispielsweise beim Übergang
in den Ruhestand –, sondern wird zum ultimativen (medizinischen) Risikofak-
tor und Anti-Aging damit zum Mittel der Kontrolle der nun allzeit drohenden
Gefahren des Alterns. Hierbei setzt die deutsche Anti-Aging-Medizin vor allem
auf konventionelle Verfahren – allerdings mit einer vorgeschalteten individuellen
Risikodiagnostik (Spindler 2014, S. 198 ff.).
Anti-Aging umfasst kosmetische Maßnahmen wie das Auftragen von Anti-Aging-
Cremes oder das (Unter-)Spritzen von Botox (Botulinumtoxin) und Fillern (z. B.
Hyaluronsäure, Kollagen oder Eigenfett) sowie Faceliftings, genauso wie Fragen
des Lebensstils (z. B. das Vermeiden von Rauchen, Alkohol, Übergewicht oder der
regelmäßige Besuch von Vorsorgeuntersuchungen), der Ernährung (z. B. radikale
Kalorienrestriktion) und Bewegung, das Einnehmen von Nahrungsergänzungs-
mitteln oder Hormonen (z. B. im Rahmen einer Hormonersatztherapie) bis hin zu
medizinischen Utopien der radikalen Lebensverlängerung (de Grey / Rae 2010).
Daneben existiert sowohl in der wissenschaftlichen – und zwar in der biogerontolo
gischen (Vincent 2006) genauso wie in der ethischen und sozialwissenschaftlichen
(Spindler 2014, S. 29 ff.) – Auseinandersetzung, als auch im alltäglichen Sprachge-
brauch keine allgemein- und letztgültige Definition, welche Praktiken als Anti-Aging
gelten können und welche nicht. Während im angloamerikanischen Sprachraum
Anti-Aging im Alltag eher auch mit Anti-Aging-Medizin und im Speziellen vor
allem mit Hormontherapie assoziiert wird, wird in der deutschen Alltagssprache
Anti‑Aging vor allem mit kosmetischen Maßnahmen oder Produkten und wenig
mit genuin medizinischen Interventionen verbunden3.
So unterschiedlich und mitunter kontrovers der Begriff Anti-Aging bzw. An-
ti-Aging-Medizin in verschiedenen nationalen, soziopolitischen, kulturellen oder
praktischen Kontexten und von unterschiedlichen Akteuren – teilweise strategisch
– auch verwendet wird (Mykytyn 2006; Spindler 2009), ist im Kern allen Zugangs-
weisen gemeinsam, dass sie Alter und Altern als Zielscheibe biomedizinischer Inter-
ventionen definieren und behandeln. Neben dieser gemeinsam geteilten Orientierung
lässt sich die Fülle an Anti-Aging-Praktiken und ‑Definitionen unseres Erachtens
nach idealerweise anhand ihrer Zielsetzungen systematisieren. Hier lassen sich (a)
ästhetische Interventionen mit dem Ziel des Verhinderns oder des Korrigierens
von sichtbaren Anzeichen des Alters und des Bewahrens bzw. der Herstellung
eines jugendlichen Erscheinungsbildes, (b) die Prävention oder Behandlung von
alterskorrelierten Funktionsstörungen, Beschwerden oder Krankheiten mit dem
Ziel des Erhaltens bzw. der Herstellung von Gesundheit und (c) die Verlängerung
des Lebens – als Verlängerung der individuellen Lebenserwartung, der Ausdehnung
der menschlichen Lebensspanne oder der Abschaffung des Alterungsprozesses per
se – unterscheiden (nach: Pfaller / Schweda, im Erscheinen):
3 Bei der Rekrutierung sowie in den Interviews und Gruppendiskussionen, die als
Datengrundlage für diesen Artikel dienen, wurde dieser Tatsache Rechnung getragen,
indem immer auch explizit von „präventivmedizinischen Maßnahmen“ gesprochen
wurde, um diesen Bedeutungsgehalt des Anti-Aging ebenso abzudecken.
„Mein Leben ist ein Fortfahren von Eigenreparatur“ 95
Rolle das leibliche Spüren im Hier und Jetzt in der tagtäglichen Anwendung von
Anti-Aging spielt.
[Ich] möchte natürlich die Alterserscheinungen, die wohl oder übel auftreten,
möglichst gut kontrollieren und auch hintanhalten. – Frau D (56) Interview
Ja und so gibt es dann eben auch Dinge, die man zwar durch Lifestyle und
richtige Ernährung und Sport beherrschen kann, aber es gibt eben auch
Veränderungen, wie eben Falten, die eben auftreten, wo man dann durch so
„Mein Leben ist ein Fortfahren von Eigenreparatur“ 99
Die „Alterserscheinungen“, treten „wohl oder übel“ auf, sie können also nur verzögert
und nie vollständig verhindert werden. Diese Bereiche, die als durch das eigene
Verhalten nicht beeinflussbar erscheinen („die eben auftreten“), erfordern daher
zusätzliche Maßnahmen. Neben dem Beherrschen der eigenen Physis tritt so der
Kampf gegen körperliche Veränderungen. Die Abwehrhaltung des Anti-Aging
richtet sich so auf der einen Seite gegen die Risiken der Zukunft und auf der anderen
Seite gegen den Verfall des eigenen Körpers.
In der Anti-Aging-Medizin wird Altern indes nicht nur als statistischer Ri-
sikofaktor verstanden, sondern gleichzeitig der individuelle Körper als der Ort
bestimmt, von dem diese Risiken ausgehen. So ist der alternde Mensch in der
Anti-Aging-Medizin selbst Träger individuell bestimmbarer Risikofaktoren, die
dem eigenen Körper als biologische Disposition zugeschrieben werden:
In diesem Zitat wird neben der Verortung des Risikos im individuellen Körper auch
die in der Präventionslogik typische Individualisierung und Responsibilisierung
deutlich: Die Anti-Aging-Medizin weist hier neben körperlichen Dispositionen die
individuelle Lebensführung als Grundvoraussetzung eines gesunden Lebens und
Alterns aus. So wird die Gestaltung (zukünftiger) Gesundheit individualisiert und der
Verantwortung der und des Einzelnen übereignet. Im Zuge dieser Verantwortungs
übertragung werden alle Individuen – also nicht nur die kranken, sondern auch die
gesunden – dazu aufgerufen, sich kritisch, eigeninitiativ und selbstverantwortlich
schon mit Krankheitsrisiken und darüber hinaus mit der generellen Verbesserung
der eigenen Gesundheit und der Perfektionierung ihrer Körper auseinanderzu-
setzen und sich beständig zu bemühen, selbst kompetent und informiert zu sein.
Dieser “will to health” (Rose 2001, S. 6) beinhaltet die Verpflichtung, die eigene
Gesundheit zu überwachen und zu managen: “Every citizen must now become an
active partner in the drive for health, accepting their responsibility for securing
their own well-being” (ebd.; siehe auch: Cardona 2008). Doch steht dieser Forde-
100 Larissa Pfaller und Frank Adloff
Also was ich wirklich gefühlsmäßig erhoffe, ist wirklich möglichst lange zu
leben, vielleicht auch ein bisschen mein genetisches Programm zu overwriten
– Herr I (32) Interview
Der eigene Körper erscheint hier beim Wunsch auf ein langes Leben als Variable,
die nicht nur berücksichtigt werden muss, sondern durch Anti-Aging auch aus-
geglichen werden kann.
Wenn Altern als Risikofaktor verstanden wird, erscheint der Körper des An-
ti-Aging als gleichzeitig bedroht und bedrohlich, da er immer auch biologischer
Träger der Risiken ist, denen er ausgesetzt erscheint. Der Kampf gegen das Altern
im Anti-Aging zielt so im Alltag der Anwender/innen zwar immer auf den Erhalt
oder die Optimierung des Körpers, richtet sich aber auch gegen den eigenen Körper
selbst bzw. gegen die Veränderungen des eigenen Körpers. Im Folgenden soll dieser
Doppelcharakter des Umgangs mit dem Körper im Anti-Aging als Dialektik von
Disziplin und Selbstsorge genauer betrachtet werden.
Wobei ich sagen muss, dass meine Disziplin, mich selbst betreffend, sehr stark
zugenommen hat, sowohl was Ernährung betrifft, wie auch was Sport betrifft.
„Mein Leben ist ein Fortfahren von Eigenreparatur“ 101
[…] Und für mich ist das schon Disziplin, jahraus jahrein um sechs Uhr früh
bei Regen, bei Dunkelheit, im Winter aufzustehen oder in der Kälte und raus
zu gehen. Dann kommt natürlich dazu, dass man ab einem gewissen Alter
auch mit Gewichtsproblem zu kämpfen hat, wo man noch so zurückhaltend
und gesund sich ernährt, man nimmt trotzdem zu und auch hier hilft halt der
Sport, dass das so halbwegs unter Kontrolle bleibt. – Frau D (56) Interview
Die Selbstdisziplin dokumentiert sich hier in der Metapher des Kampfes („kämp-
fen“) gegen Veränderungen des eigenen Körpers. Selbstdisziplin bedeutet neben
der bewussten Setzung von regelmäßigen Handlungen auch die „Kontrolle“ des
eigenen Körpers. Diese spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab:
Und dann sind wir also bei der nächsten Disziplin: Ernährung. Ich esse zum
Beispiel kein Weißbrot mehr oder überhaupt ganz wenig Brot. Ich versuche
also wirklich mich nach den Ernährungsrichtlinien, wie sie der Herr Professor
Pape5 propagiert, zu halten. Natürlich passieren manchmal kleine Sünden,
aber grundsätzlich bin ich da schon sehr bewusst. – Frau D (56) Interview
Der Körper unterliegt hier einer Disziplinierung entlang der Regeln des wissen-
schaftlich-rationalen Wissens der Medizin („Ernährungsrichtlinien“), welche den
Körper anhand von Kennwerten wie BMI oder Cholesterinspiegel objektiviert
und damit nicht nur vermessbar, sondern auch bewertbar macht. Gleichzeitig
beschreiben die Anwender/innen des Anti-Aging ein intensives Beschäftigen mit
sich selbst nicht nur als objektive „Vermessung“, sondern auch mit der Metapher
des In-Sich-Hineinhörens:
Und das ist so dieses In-Mich-Hineinhören. Das hab ich früher nicht gemacht,
da hab ich alles übergangen. Okay, vielleicht liegt es daran, dass ich jetzt mehr
Zeit habe, mich und meinen Körper halt auch wahrzunehmen. […] Klar, es
gibt ganz viele Menschen, die Raubbau mit ihrer Gesundheit treiben. Aber wie
gesagt, das obliegt ja jedem selber. Jeder ist für sich selber verantwortlich, der
Meinung bin ich schon. Und dass er dann auch entsprechend für sich sorgt
und was für sich macht, egal in welchem Rahmen. –Frau C (56) Interview
Dieser individualistische und bewusste Umgang mit sich selbst und dem eigenen
Körper („wahrnehmen“ im Gegensatz zu „übergangen“) entspricht nicht nur einer
5 Detlef Pape ist Herausgeber zahlreicher Diätbücher mit Titeln wie Schlank im Schlaf,
Satt-Schlank-Gesund oder Die Hormonformel.
102 Larissa Pfaller und Frank Adloff
Disziplinierung, sondern auch der Deutung des Kümmerns und der Selbstsorge („für
sich sorgt“ im Gegensatz zu „Raubbau“). So erscheint der Körper in der Umsetzung
der Praxis Anti-Aging also auch als kostbar und schützenswert. Diese intensive
Beschäftigung mit sich selbst, welche sich im In-Sich-Hineinhören dokumentiert,
macht deutlich, dass Anti-Aging nicht nur eine disziplinierende, sondern auch eine
selbstsorgende Haltung zum eigenen Körper mit sich bringt. Gleichzeitig werden
Disziplin und Selbstsorge auch ins Verhältnis zueinander gesetzt:
also ich bin aber auch so, dass ich sage, wenn’s mir jetzt nicht gut geht und ich
bin erkältet so wie heute und ich merke, das [Joggen] geht zu sehr aufs Kreis
laufsystem, also ich bin keine, die es um jeden Preis macht. Dann fahr ich eben
auch zurück und bin dann eben die Hälfte der Strecke spazieren gegangen,
flott. Und ich bin ja prinzipiell jemand, der so der Meinung ist, man muss
schon auf seinen Körper aufpassen auch ein bisschen reinhorchen und wenn
halt irgendwo was zwickt, dann sollte man nicht einfach weitermachen. – Frau
G (39) Interview
Im Zitat wird deutlich, dass die beiden Forderungen des Anti-Aging – Selbstsorge
und Selbstdisziplin – auch gegeneinander abgewogen werden müssen. So wird die
Selbstdisziplin auf der einen Seite aufrechterhalten, indem Frau G auch an Tagen,
an denen sie sich selbst nicht „fit“ fühlt, ihren Sportplan einhält. Doch geschieht
dies nicht „um jeden Preis“. Der von der Selbstdisziplin geforderte Körperbezug
wird durch den der Selbstsorge gleichsam abgefedert. So gilt es, neben der Selbst
überwindung auch eine achtsame Haltung sich selbst und dem eigenen Körper
gegenüber einzunehmen und daraus auch Konsequenzen zu ziehen („aufpassen“,
„reinhorchen“, „nicht einfach weitermachen“). Frau G bringt die beiden Handlungs-
muster sozusagen in einen Dialog, wägt sie gegeneinander ab und findet einen
Kompromiss („bin dann eben die Hälfte der Strecke spazieren gegangen, flott“).
Die Deutungs- und Handlungsmuster Selbstsorge und Selbstdisziplin sind also
in zweifacher Weise auf einander bezogen: Einmal als gegenseitige Bedingung –
so ist die Selbstdisziplin eine Voraussetzung für die Selbstsorge – und einmal als
widerstreitende Muster, die im Alltag abgewogen und abgestimmt werden müssen
– so darf weder laissez faire noch übertriebene Härte gegen sich und den eigenen
Körper die Überhand gewinnen.
Aber es lohnt sich und ich fühle mich einfach wohl und ich bemerke auch, dass
sich während des Joggens Probleme, die ich mit mir herumtrage, irgendwo in
Wohlgefallen auflösen oder mir Lösungen einfallen. Also es ist wirklich auch
eine geistige Reinigung und eine gewisse Befreiung. Insofern mach ich das auch
weiter. – Frau D (56) Interview
Ich denke, ganz wichtig ist einfach der Wohlfühlfaktor. Ich habe genügend
Bekannte, die fast schon sklavisch zum Laufen gehen und meinen, sie müssen
jetzt wahnsinnig gesund leben, was vielleicht sein mag. Aber ob sie damit ihrer
Lebenszufriedenheit etwas Gutes tun, das wage ich zu bezweifeln, wenn man
sich in diese engen Korsetts oder diese engen Schienen da reinpasst. Also mir
wird immer nachgesagt, dass ich sehr ruhig und ausgeglichen wäre. Ich glaube
nicht, dass ich das wäre, wenn ich ein dünner Hering wäre, zum Beispiel. Also
ich würde sagen: ein dickes Fell, an dem viel abprallt, was ich auch brauche
oder was mir gut tut. – Herr B (41) Fokusgruppe
Jetzt zu einer wichtigen Facette im Körper des Anti-Aging, welches den Zielen des
Anti-Agings (jugendliches Aussehen, Gesundheit und langes Leben) nicht völlig
untergeordnet werden darf.
Die zur Durchführung von vielen Anti-Aging-Praktiken nötige Selbstdiszi-
plinierung geschieht somit nicht nur als Zwang, sondern erfüllt gleichzeitig die
Funktion einer Selbst-Schöpfung. Auch in Bezug auf die in der Literatur bereits
beschriebene (vgl. Featherstone / Hepworth 2009; Adloff 2012; Graefe 2013) und
sich ebenso im vorliegenden Material dokumentierende Dissoziation des als alters-
los empfundenen Selbst vom eigenen Körper, dessen Entwicklung somit als nicht
stimmig erlebt wird, erscheint Anti-Aging als Mittel der Gestaltung, nämlich um
(wieder) mit sich selbst in Einklang zu gelangen – oder anders ausgedrückt, den
Körper an das leibliche Empfinden anzupassen und so ein stimmiges Selbst (wieder)
herzustellen. So wird gleichsam cartesianisch zwischen einem „wahren inneren
Selbst“ und der „äußeren Maske des Alterns“ unterschieden:
Das ist der Witz! Wenn ich manchmal in der Zeitung lese, ein Unfall, eine
73-jährige Frau ist mit dem Rad, und so weiter und so fort. Da stell ich mir
automatisch eine alte Oma vor. So Graukopf und alt. Und dann denke ich
mir so „Du bist ja im gleichen Alter!“ Alt werden nur die anderen. Man selber
wird nicht alt. Man bleibt ja auch innen eigentlich so wie man früher war als
man jung war. Aber man stellt sich eine alte Frau, einen älteren Mann vor, der
eben so langsam läuft mit Stock und so. Dass mein Mann aber auch schon ein
älterer Mann ist! Man ist innerlich nie alt. Und wenn man manchmal in den
Spiegel kuckt, da, „Hach das bin ich!“ Ja weil man sich ja mit sich selbst befasst.
Die Hülle ist da sekundär. Also das Primäre ist ja, dass man eigentlich so jung
geblieben ist wie man einmal war, ne? – Frau O (73) Interview
Bei der Analyse der durch Anti-Aging erzeugten Körperlichkeit muss also auch
die Rolle des Leibes (Gugutzer 2012) und des eigenleiblichen Spürens („innerlich“)
Beachtung finden, die im Spannungsverhältnis zur Wahrnehmung des eigenen
Körpers als sichtbares Objekt („Graukopf “, „Spiegel“, „Hülle“) stehen kann.
4 Fazit
tiken wie die der „Achtsamkeit“ schreiben sich nicht nur in unsere Alltagssprache,
sondern als Imagination ebenso in das leibliche Spüren ein und entfalten damit
eine ungleich größere kulturelle Wirkmacht – was sie für die Soziologie greifbar
macht. Hierzu wird diese in Zukunft nicht nur wie bisher die Leiblichkeit des Men-
schen neben seiner Körperlichkeit als Kategorie anerkennen, sondern besonders
dem Zusammenspiel von Körper, Leiblichkeit und kultureller Imagination eine
zentralere Rolle zukommen lassen müssen.
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Im Auge des Betrachters
Blicke auf Alter, Körper und Schönheit
Tina Denninger
1 Einleitung
„Aber jeden Morgen dieselbe Erscheinung, dieselbe Verlet-
zung. Vor meinen Augen zeichnet sich unausweichlich das
Bild ab, das der Spiegel mir aufzwingt: mageres Gesicht,
gebeugte Schultern, kurzsichtiger Blick, keine Haare mehr,
wirklich nicht schön. Und in dieser hässlichen Schale
meines Kopfes, in diesem Käfig, den ich nicht mag, muss
ich mich nun zeigen. Durch dieses Gitter muss ich reden,
blicken und mich ansehen lassen. In dieser Haut muss ich
dahinvegetieren. Mein Körper ist der Ort, von dem es kein
Entrinnen gibt, an dem ich verdammt bin.“
(Foucault 2005, S. 25/26)
Wie dieses Zitat von Foucault eindrücklich zeigt, spielt die Visualität des Körpers
eine zentrale Rolle für das Selbstverhältnis des Menschen und seinen Bezug zur
(Um-)Welt. Hinsichtlich der Frage nach Alter, Körper und Schönheit ist dies nicht
nur aufgrund der zentralen Relevanz der Sichtbarkeit des Körpers in der Gesellschaft
interessant, sondern auch aufgrund der Sichtbarkeit des Alter(n)s am Körper. Es
sind ebenjene Sichtbarkeiten, die konstitutiv sind für individuelle wie kollektive
Einschätzungen und Bewertungen des Alters sowie des alternden Körpers. Urteile
darüber, wer alt ist und die daraus resultierenden Zuschreibungen oder Diskrimi-
nierungen (im positiven wie im negativen Sinne) basieren vor allen Dingen darauf,
welche Merkmale am Körper des anderen erkannt und wie sie gedeutet werden.
Gleiches gilt für den Blick auf den eigenen Körper, der immer auch ein Blick durch
den „Spiegel der Gesellschaft“ (vgl. Jungwirth 2007, S. 90) ist. Das Sehen ist in diesem
Sinne keineswegs nur ein rein objektiver, biologischer, sondern selbst bereits ein
konstruierender Vorgang, der uns das sehen lässt, was wir sehen sollen bzw. wollen
109
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_6
110 Tina Denninger
(vgl. Villa 2006, S. 98ff.). Der Aspekt der Schönheit spielt dabei eine entscheidende
Rolle. So bezeichnet Cornelia Koppetsch (2000) Schönheit oder Attraktivität als
einen „Weg zur Akkumulation von Aufmerksamkeitskapital in Interaktionen.“
(Ebd.: 100) Dieses Aufmerksamkeitskapital kann dementsprechend auch gesteigert
werden, indem der Körper entsprechend gesellschaftlicher Vorstellungen bearbeitet
wird. Laura Bieger beschreibt die aktuell in unserer Kultur besonders hohe Inves-
tition an Zeit, Geld, Aufwand und Kreativität, die in den Körper gesteckt wird, als
„Symptom eines dringenden Bedürfnisses nach Sichtbarkeit und Anerkennung, das
dieser kulturellen Formation eingeschrieben ist und fortwährend von ihr perpetu-
iert wird.“ (Bieger 2008, S. 55) Dies bedeute auch, eine „affirmierbare Erscheinung
vorzuweisen; es reicht mit anderen Worten nicht aus, einen Platz einzunehmen,
man muss an diesem Platz auch gesehen und bejaht werden.“ (Bieger 2008, S. 55)
Sie zieht daraus den Schluss, dass aus diesem Grund Fragen nach dem „Was des
Sehens […], dem Wie des Sehens […], nach dem Austausch und der Verinnerlichung
von Blicken, dem Antizipieren des Betrachtetwerdens und dem Posieren für den
fremden oder den eigenen Blick“ gestellt werden müssen.
Im Anschluss daran soll hier also beleuchtet werden, wie diese spezifischen
Aspekte des Blickens für die Frage nach Alter und Schönheit relevant werden.
Welche Einschätzungen und Bewertungen nehmen ältere Menschen bezüglich
ihres eigenen, aber auch fremder Körper vor? Und welche Rolle spielt dabei das
Blicken? Dabei steht jedoch nicht ein reines Interesse an den Individuen selbst und
deren Umgangsweisen oder etwa Bewältigungsmechanismen im Vordergrund,
sondern vor allem die Frage, welche kollektiv-gesellschaftlichen Alters-, Körper-
und Schönheitsnormen- und ideale in welcher Weise in diesen Bewertungen und
Einschätzungen wirksam und zur Selbstdeutung genutzt werden. Der Fokus dieses
Artikels liegt daher besonders auf der Normierung durch Blicke (vgl. dazu auch
Kaufmann 2006) sowie den damit verbundenen Praxen, Umdeutungen und Zu-
rückweisungen der Befragten.1 Die Trias Alter-Körper-Schönheit wird nicht zuletzt
vor dem Hintergrund mehr oder weniger neuer gesellschaftlicher Anforderungen
bezüglich des alternden Körpers (vgl. Denninger/Höppner 2010) soziologisch sowie
gesellschaftspolitisch relevant.
Um den Einschätzungen und Bewertungen älterer Menschen bezüglich ihres
Körpers und der Körper anderer nachzugehen, wird im Folgenden zunächst der
Begriff des Körperbildes entwickelt, der als theoretisch-analytischer Bezugsrahmen
für die Beantwortung der Fragestellung dient. Im Anschluss daran wird – kurz – das
methodische Vorgehen beschrieben, um dann zum theoretisch-methodologischen
Kernstück der Arbeit zu kommen, welches im Analyseprozess entwickelt wurde:
dem Blicken. Gerade die Sichtbarkeit des Körpers im alltäglichen Leben sowie
die Sichtbarkeit des Alters am Körper macht die Perspektive des Blickens auf den
alternden Körper zu einem instruktiven Mittel der Untersuchung von Alters- und
Körperbildern. In diesem Sinne werden dann die empirischen Ergebnisse bezüglich
Alter, Körper und Schönheit entlang der Dimension des Blickens vorgestellt und
interpretiert. Am Ende stehen die zentralen Ergebnisse dieses Analyseprozesses.
Menschen und inwiefern sind diese mit gesellschaftlichen Normen verquickt und
an Diskurse des Alter(n)s und des Körpers angeschlossen?
Um die subjektiven Deutungsmuster der Befragten zu erfassen, ohne den eigenen
Vorannahmen zu erliegen, war der gesamte Forschungsprozess gekennzeichnet
durch das Prinzip der Offenheit als Grundprinzip qualitativer Forschung. Das heißt,
dass „der Erzählperson der ‚Raum‘ gegeben wird, ihr eigenes Relevanzsystem oder
ihr Deutungsmuster zu entfalten“ (Helfferich 2011, S. 114). Dies zieht sich von der
Konstruktion des Leitfadens über die Auswertung bis zur Darstellung der Ergebnisse.
In diesem Sinne wurden qualitative Leitfadeninterviews mit Männern und Frauen
zwischen 49 und 85 Jahren geführt. Die untere Altersgrenze von 50 Jahren resul-
tierte aus der Annahme, dass es eine Zeit gibt, in der die Beschäftigung mit dem
Älterwerden des Körpers intensiver ist als zu anderen Zeiten, sozusagen eine Zeit,
in der der ‚Übergang‘ von jung zu alt sicht- und spürbar stattfindet (vgl. Butler et
al. 2006, S. 32). Nach oben wurden dem Alter der Befragten in der vorliegenden
Studie keine Grenzen gesetzt, die älteste Befragte ist 86 Jahre alt.
Insgesamt gestaltete sich das Finden von Interviewpartnern schwierig und zäh.
Beim Sampling bestand erstens der Vorsatz, beide Geschlechter gleichermaßen
häufig heranzuziehen. Dies gelang jedoch nicht. Es erklärten sich sehr viel weni-
ger Männer zu einer Befragung bereit und einige der mit männlichen Personen
geführten Interviews erwiesen sich nur als insofern ergiebig, dass deutlich wurde,
dass die Befragten ganz andere Themen als ihren Körper hatten und deshalb
immer wieder vom eigentlichen Fokus abschweiften.2 Deshalb sind letztendlich
die Gespräche mit 13 Frauen und drei Männern zur Auswertung gelangt. Die
Interviews wurden mit der Methode der Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin
1996) ausgewertet. Das Kernstück der Grounded Theory ist der Kodierprozess.
Dabei hat vor allem Strauss in Fortführung der gemeinsamen Gedanken mit Gla-
ser ein mehrstufiges Kodierverfahren entwickelt, dessen Phasen allerdings weder
inhaltlich noch im Arbeitsverlauf klar voneinander abtrennbar sind (vgl. Flick
2007, S. 387 ff.). Flick bezeichnet das „offene“, „axiale“ und „selektive Kodieren“
treffend als „verschiedene Umgangsweisen mit textuellem Material“ (ebd.: 387)
und eben nicht als starre Verhaltensvorschrift (vgl. auch Strauss 200, S. 435ff.).
Dennoch beginnt der Kodierprozess sinnvollerweise mit dem offenen Kodieren,
dessen Ziel es ist, aus einer Menge von Daten theoretische Konzepte und Strukturen
extrahieren und destillieren zu können. Im nächsten Schritt des axialen Kodierens
sollen dann „qualifizierte Beziehungen“ (Strübing 2004, S. 20) zwischen den bisher
entwickelten Konzepten erarbeitet werden. Für die vorliegende Studie erwies sich
die Offenheit der Herangehensweise ans Material als sehr gewinnbringend. Bereits
im Prozess des offenen, stärker aber noch beim selektiven Kodieren kristallisierte
sich das „Blicken“ als zentrales Konzept für die Analyse heraus. Wie sich zeigte, ist
der Blick bzw. das Sehen entscheidend für die Bilder, die die Befragten von ihren
eigenen und den Körpern anderer haben. Dies offenbart sich nicht zuletzt durch
das Auftreten zahlreicher semantischer Verbindungen zum Blicken, zum Sehen
und Gesehenwerden oder auch zum Übersehenwerden in den Interviews. So sagt
beispielsweise Linda (67 Jahre): „Man sieht doch die alte Haut!“, und benutzt dies als
Begründung dafür, warum ältere Frauen keine kurze Kleidung mehr tragen sollten.
Günter (70 Jahre) verweist auf den Blick auf den eigenen Körper und sagt: „Also
wenn ich mich so im Spiegel besehe, ist das alles, ist das alles in Ordnung.“ Und Ilse
(85 Jahre) konstatiert: „Ich ich sag, ich sag, früher haben sie einem nachgeguckt,
jetzt gucken sie weg, wenn man ankommt.“ Auf der Basis der Schlüsselkategorie
des Blickens wurde eine erneute Kodierung des Materials vorgenommen. Die im
Zuge des Prozesses des selektiven Kodierens entwickelten drei Unterkategorien
waren dann leitend für die weiteren Interpretationen. Diese sind 1. die „Blicke
auf die anderen“, also das Sehen und Bewerten anderer Menschen, 2. das „Blicken
der anderen“, also die Tatsache und Interpretation des Gesehenwerdens und 3. die
„Blicke auf sich selbst“, also das sich selbst Einschätzen und Bewerten, sowohl im
Rückblick auf das bereits gelebte (Körper)Leben als auch in der Gegenwart und der
Antizipation eines zukünftigen Körpers und dessen Schönheit.
Für die Beantwortung der Frage danach, wie gesellschaftliche und individuelle
Körperbilder sich gegenseitig bedingen, ist die Perspektive des Blickens als Verbin-
dung zwischen beiden Ebenen interessant. Der Begriff des Blickens3 umfasst dabei
mehrere Aspekte: Wie bereits eingangs dargestellt wurde, ist Blicken ein „sozial
und kulturell konditionierter“ Prozess, der in „Zusammenhängen ökonomischer,
politischer und kultureller Machtverhältnisse verortet ist.“ (Kravagna 1997, S. 8)
Die hier analytisch in drei Dimensionen getrennten Blicke werden in diesem Sinne
als dezidiert sozio-kulturelle Praxis verstanden. Dabei ist das Blicken immer auch
leibliche Praxis, wie sich im Laufe der empirischen Analyse deutlich zeigen wird.4
Durch das Ernstnehmen des Blickens als soziale Praxis lässt sich der Konstrukti-
onsprozess von Körperbildern rekonstruieren. Diese Praxis basiert wiederum auf
der Verinnerlichung visueller Ordnungen, also gesellschaftlicher Strukturen. Diese
Ordnung lässt sich im Anschluss an Kaja Silverman (1996) als „gaze“, zu deutsch
„Blickregime“ beschreiben. Das Blickregime ist als Struktur zu verstehen, welche
das alltägliche Blicken anleitet: Es ist „ein ungeschriebenes, gewohnheitsmäßiges
Regelwerk, sind strukturelle und soziale Codes der Verstehbarkeit, ist quasi die
Institution des Sehens, die das Feld des Sichtbaren in bestimmter Weise gliedert und
organisiert.“ (Engel 2002, S. 150) Blicke sind also immer machtförmig organisiert.
Abhängig vom sozialen Status, von Geschlecht, Alter oder ethnischer Zugehö-
rigkeit befinden sich Personen in verschiedenen hierarchischen Blickpositionen.
Im Modus des Blickens materialisieren und reproduzieren sich gesellschaftliche
Machtstrukturen. Je nach den sozialen Beziehungen zwischen dem Blickenden
und dem Erblickten und daraus folgend je nach der sozialen Machtposition der
Beteiligten wirken Blicke unterschiedlich, haben unterschiedliche Funktionen und
werden verschieden interpretiert. Zusammengefasst lässt sich also in diesem Sinne
nach dem Zusammenhang bestehender Blickregime und den darin enthaltenen
Alters- Körper- und Schönheitsnormen mit den von den Befragten erzählten Kör-
perbildern fragen. Die Herausarbeitung einer gleichzeitig diskursiv geprägten wie
leiblich verankerten Dimension des Blickens kann hier als Mittler fungieren und
zu Ergebnissen führen, die ohne diese Perspektive nicht möglich wären.
Im Folgenden werden die Ergebnisse der Auswertung entlang der drei Unter-
kategorien dargestellt.
Gegenstand dieser Blickrichtung ist die Frage danach, wer und was wie und wann
von den Befragten gesehen und wie dieses Gesehene eingeschätzt und bewertet
wird. Die Blicke auf die anderen sind vor allem geprägt von starken Ambivalenzen
der Offenheit und Normierung, also einer Zurückweisung hegemonialer Schön-
heitsideale auf der einen Seite und doch einer starken Bewertung dessen, was schön
ist. Durch die im Interview erzählten Blicke auf die anderen werden bestimmte
Körper- und Schönheitsbilder gleichzeitig (re)produziert und auch um- und neu-
gedeutet. So sagt z. B. Brigitte:
„Ich lese nie solche Zeitschriften und ich gucke da meistens in ziemlich leere
Gesichter […], Claudia Schiffer oder Heidi, natürlich ist es schön, schöne
Menschen zu sehen, ist ästhetisch schön […], sie einfach als Genuss, einfach
Im Auge des Betrachters 115
wie man eine schöne Blume anguckt, aber nicht jetzt als Vorbild oder erstre-
benswert dahin zu kommen […]. Nur schön zu sein, finde ich ist sehr wenig.
Wenn da nicht noch ein, die Seele oder ein Wissen oder eine Intelligenz oder
mitschwingt, ja?“ (Brigitte, 60 Jahre)
Brigittes Definition von Schönheit bezieht sich an dieser Stelle auf rein äußere,
„ästhetische“ Schönheit, die sie durch die Top-Models verkörpert sieht. Sie repro-
duziert hier hegemoniale Ideale und erkennt diese als schön und ästhetisch an.
Auch wenn sie die Dimension der rein äußerlichen Schönheit rhetorisch abwertet,
hat sie in ihren Augen aber trotzdem ihre Berechtigung und verleitet zum Hingu-
cken. Brigitte stellt die körperliche Schönheit „inneren“ Eigenschaften gegenüber.
Die zunächst unsichtbaren Eigenschaften wie „Seele“, „Wissen“ oder „Intelligenz“
komplettieren die Person und machen aus den „leeren Gesichtern“ mehr als nur
schöne Hüllen. Zur wahren Schönheit gehört laut Brigitte also mehr als nur das
Äußere und Sichtbare, entscheidend ist auch das Innere und eigentlich Unsichtbare
und Undefinierbare. Die wahrlich anerkennenden Blicke richten sich also auf etwas
Diffuses, was ‚hinter‘ dem sichtbaren Körper steht. Solche Argumentationen finden
sich immer wieder, vor allem auch mit dem Verweis auf Ausstrahlung, die als das
wahrhaft Schöne gesetzt wird.
Dabei existieren Offenheit und Wertschätzung innerer Werte sowie die Ab-
wertung körperlicher Defizite oder eines scheinbar unangebrachten individuellen
Körperwissens bzw. einer unangebrachten Körperpraxis nebeneinander – nicht
zuletzt in den Erzählungen ein- und derselben Personen. Vereint zeigt sich dies
in dem Phänomen, welches als Phänomen der (in)toleranten Blicke bezeichnet
werden kann. Brigitte schildert, was sie bei einem Besuch am Strand empfindet:
„Es kann doch jeder irgendwo sein glücklich werden, das interessiert mich
überhaupt nicht, also da bin ich ja nun tolerant, aber ich möchte sozusagen
nicht in meinem Ein-Meter-Umkreis von irgendwelchen dickbäuchigen, oran-
genhautgestraften Menschen umgeben sein, ja? Die äh sich meinen äh ihre
Hässlichkeit auch noch der Öffentlichkeit präsentieren zu müssen und sich
ganz frei zu fühlen. Das ist äh, geht nicht, mache ich nicht, muss ich ja auch
nicht.“ (Brigitte, 60 Jahre)
Tatsächlich wird die Ablehnung der Nähe zur Hässlichkeit als eine körperliche (und
damit notwendige und natürliche) Reaktion erlebt, es „geht nicht“, so nahe an diesen
Menschen zu liegen. Dies lässt mehrere Deutungen zu: Einerseits ruft ihr Wunsch,
nicht im Ein-Meter-Radius liegen zu wollen, das Bild einer Ansteckungsgefahr auf,
die den Eindruck der Abscheulichkeit „falscher“ Körper noch verstärkt. Er könnte
116 Tina Denninger
aber – ganz im Sinne des Blickens – gelesen werden als das Bedürfnis, weit genug
weg zu sein, um den Anblick nicht aus nächster Nähe ertragen zu müssen. Auch
hier scheint der reine Anblick des aus ihrer Sicht hässlichen Körpers sie regelrecht
körperlich angreifen zu können. Ihre Selbstbeschreibung als tolerant wirkt geradezu
karikaturistisch im Zusammenhang mit ihren extrem diskriminierenden Aussagen,
die darauf folgen. Auch sie weiß, sie muss die unschöne Körperlichkeit akzeptieren
(oder zumindest weiß sie, dass sie das kommunizieren muss), ihr Körper sagt ihr
aber etwas anderes und hält Abstand.
Aus Blickperspektive ist an dieser Argumentation interessant, dass die Kritik
nicht nur und nicht in erster Linie den unzureichenden Körper trifft, sondern
auch dessen unzulässige oder nachlässige Inszenierung. Hässlich zu sein ist schon
schlimm genug, aber das dann auch noch zu zeigen führt zu den drastischen Äu-
ßerungen Brigittes. Diese extreme Abwertung der „falschen Inszenierung“ findet
sich immer wieder im Material: Ingrid (70 Jahre) spricht davon, wie „eklig“ es ist,
wenn ältere Frauen im Sommer ihre Arme nicht zumindest mit einem „lockeren
Teil“ bedecken. Gisela (66 Jahre) bezeichnet die Rolling Stones als „alte Säcke“, wo
doch junge Leute auf der Bühne viel schöner anzusehen sind (Gisela, 66 Jahre), und
Günter (70 Jahre) findet, Männer, die „mit 100 kg noch in der Dreiecksbadehose am
Swimmingpool oder am Strand rumzulaufen“, hätten, „perverse Tendenzen“, wobei
„pervers“ auf die eigentlich schlimmste bewusste, ganz häufig aber unbewusste,
zwanghafte Verletzung von (eigentlich sexuellen) gesellschaftlichen Normen verweist.
An Beispielen wie dem „Ekel“ Ingrids oder Günters Bezeichnung anderer Kör-
per als das eigene „ästhetische Empfinden verletzend“, wird deutlich, in welchem
Maße diese Bewertungen auch auf einer leiblich-affektiven Ebene stattfinden. Diese
Form der Ablehnung spricht für eine leibliche Betroffenheit (Schmitz 2005, S. 51ff.),
die durch eine Verinnerlichung gesellschaftlich vermittelter Schönheitsideale im
Körperleib5 der Befragten zustande kommt und zeigt, wie stark Schönheitsideale
verinnerlicht (embodied) sind.
Durch die Darstellung der Gleichzeitigkeit von Toleranz gegenüber angeblich
unzulänglichen Körpern auf einer abstrakten Ebene und der Intoleranz auf konkreter
Ebene zeigt sich, wie ambivalent sich die Konstruktion von Körperbildern vollzieht.
Diese Widersprüchlichkeit ist dadurch zu erklären, dass hier zwei verschiedene
Ebenen von Normen kollidieren (vgl. auch Kaufmann 2006, S. 239ff.). Auf der einen
5 Die in der Körpersoziologie übliche Trennung von Körper und Leib ist in erster Linie eine
analytische (vgl. Gugutzer 2004, S. 152; Villa 2007, S. 19f.) und hilft, die Spezifika beider
Dimensionen besser zu erkennen. Paula-Irene Villa führt in diesem Sinne den Begriff
des Körperleibes ein, um die Gleichursprünglichkeit und wechselseitige Verschränkung
beider Begrifflichkeiten deutlich zu machen (vgl. Villa 2007, S. 20).
Im Auge des Betrachters 117
Ebene findet sich rational ein tief verwurzeltes demokratisches Verständnis von
individueller Freiheit. Des Weiteren entspricht diese Kommunikation der Political
Correctness und dem Druck, sich im Interview als toleranter Mensch zu präsentieren.
Dem widerspricht aber die Vorstellung einer ganz konkreten Norm der ästhetischen
Maßstäbe und des Anspruchs an die Erblickten (und an sich selbst), den Körper
zu bearbeiten und in angemessener Weise zu präsentieren. Die leiblich-affektive
Dimension der Abneigung spricht für Kaufmanns These, der Wunsch zu kritisieren,
würde aus dem „Körperinnern“ aufsteigen und sei „stärker […] als man selbst.“
(Ebd.: 247ff.) Zwar besteht eine individuelle Freiheit, mit dem Körper zu tun und
vor allem zu lassen, was man will, für Menschen mit ungenügenden Körpern wäre
es aus Sicht der Befragten aber „ein Fehler, sie in Anspruch zu nehmen.“ (Ebd.: 251)
Die Befragten ziehen hier klare Grenzen der angemessenen Inszenierung, auch
bezüglich des Alters:
„Ich meine, das sieht, mit nem Minirock rumlaufen. Und wenn man auch
zehnmal die Figur hat dazu, aber das gibt dann, ab nem bestimmten Alter
hört das auf. Oder bauchfrei und solche Sachen, ne. Man sieht doch die alte
Haut! Und wenn sie auch schlank ist. Man sieht’s doch.“ (Linda, 67 Jahre)
Linda spricht deutlich aus, was für die meisten der Befragten implizit klar ist: Mögen
manche Sachen im jüngeren Alter angemessen oder sogar schön sein, sind sie das
im höheren Alter nicht mehr. Alter – eindeutig abzulesen an der Haut – wird in
jedem Fall als ein Ausschlusskriterium für zu jugendliche, zu freizügige Kleidung
angesehen, selbst wenn die Figur als passend eingeschätzt wird. Die mehrfache
Betonung darauf, dass man das Alter aufgrund der alten Haut doch sehen kann,
zeigt erneut die hohe Relevanz des Blickens sowie die Sichtbarkeit des Alters am
Körper, auf die bereits weiter oben eingegangen wurde. Einerseits sind die altern-
den Subjekte angerufen, sich jugendlich zu präsentieren. Gleichzeitig wird jedoch
eine Beschränkung dieser Inszenierung der Jugendlichkeit gefordert. Dies zeigt
sich zugespitzt (und auch hier wieder unter der Blickperspektive interessant), im
Phänomen des „hinten Lyzeum, vorne Museum“:
„Wobei ich eins nicht mag, wenn jemand der schon älter ist und faltig wird,
sich anzieht wie eine 17-Jährige. Wasserstoffblond mit Zopf hinten, weißt du,
so nach dem Motto ‚Von hinten Lyzeum, von vorne Museum‘. Also, sowas
mag ich nun wieder nicht. Oder so Glitzerzeug oder so enge Hosen. Ach nein.“
(Monika, 63 Jahre)
118 Tina Denninger
Sie benennt hier Inszenierungspraktiken, die sie für ältere Frauen unangemessen
findet. Zwar führt Schlankheit offenbar dazu, dass man von hinten als jung an-
gesehen wird, von vorne kann dieser Eindruck aber nicht mehr aufrechterhalten
werden, das Alter wird sichtbar. Diese plötzliche Sichtbarwerdung des tatsächlichen
Alters ist dann Grund der Abwertung.
Hier zeigt sich die Verhandlung der Frage der ‚richtigen‘ Darstellung des Alters.
Die Grenzen des Angemessenen sowie Grenzen von Alter und Jugend werden stark
über Körperlichkeiten verhandelt. Im Laufe des Älterwerdens verändern sich die
Ansprüche von außen (in diesem Fall verkörpert durch die Blicke der Befragten auf
die anderen) an die körperliche Inszenierung. Was mit 17 noch schön gewesen sein
mag, scheint mit 68 eine Zumutung für die Blicke anderer und sollte unterlassen
werden. Die eindeutig altersbasierten Zuschreibungen angemessener Kleidungs-
weisen sind Hinweise auf nach Lebensalter hierarchisierten Vorstellungen der
richtigen Inszenierung des Lebensalters. Der Grad der richtigen Inszenierung ist
schmal und stellt Menschen vor die Herausforderung, ‚den richtigen Ton‘ zu treffen.
Resultat falscher Inszenierung ist in den Augen der Befragten Peinlichkeit oder
Lächerlichkeit (vgl. Höppner 2011, S. 42). Diese erwächst unter anderem aus der
Vortäuschung jugendlichen Aussehens (symbolisiert durch den Blick von hinten
und das Lyzeum) und dem tatsächlichen alten Aussehen (symbolisiert durch den
Blick von vorne und das Museum). Durch die Analyse der Blicke auf die anderen
zeigten sich vor allem starke Normierungen bezüglich der richtigen Inszenierung
des Körpers, deren leibliche Komponente in gewisser Weise mit der rationalen
Komponente kollidiert.
In Rahmen der zweiten Kategorie, den Blicken der anderen, stellt sich die Frage,
inwiefern sich aus der Tatsache des Gesehenwerdens und den (wohlgemerkt anti-
zipierten und erzählten) Blicken der anderen spezifische Körper- Schönheits- und
Altersnormen herauslesen lassen und wie diese von den Interviewten angenommen,
reproduziert oder zurückgewiesen bzw. umgedeutet werden. Interpretiert werden
hier nicht tatsächlich getätigte Blicke, sondern die Erzählung dieser Blicke, die
natürlich bereits eine Interpretation der Befragten beinhaltet, die eben wiederum
Rückschlüsse auf individuelle und gesellschaftliche Körperbilder zulässt.
In der Kategorie der Blicke auf die anderen finden sich immer wieder Thema-
tisierungen von (Un-)Sichtbarkeit, Anerkennung sowie von Konsequenzen bei
Nicht-Erfüllung bestimmter Normen. Diese Aushandlungen finden sich im Alter
in spezifischer Art und Weise:
Im Auge des Betrachters 119
„Im Übrigen sagt Curt Goetz, ist es meiner Ansicht nach gewesen, je älter man
wird, umso mehr muss man besorgt sein, sich der Umwelt akzeptabel zu zeigen
und das bemühe ich mich zu beherzigen.
[…]
Ich habe dann aufgehört [mit dem Schwimmen, Anm. TD] und jetzt mag ich
mich also nicht mehr im Badeanzug zeigen, also das finde ich, ist ein, Curt
Goetz, muss man sich bemühen.“ (Ilse, 85 Jahre)
Ilse beschäftigt die Frage danach, wie man sich seinem Umfeld angemessen prä-
sentieren kann. Dass sie ausgerechnet das Wort „akzeptabel“ verwendet, drückt
den Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit in Form von Akzeptanz aus.
„Die Umwelt“ steht hierbei für die Gesellschaft im Allgemeinen. Für Ilse ist es vor
allen Dingen das Alter, das eine entscheidende Rolle dafür spielt, sich angemessen
zu zeigen.
In diesem Zusammenhang ist es für sie eine Selbstverständlichkeit, ihren nackten
Körper nicht den Blicken der anderen auszusetzen:
„Ich möchte das anderen nicht anbieten. Wenn ich so sehe so also auch so beim
Schwimmen und hier beim Turnen wenn die sich alle so ganz ausziehen, das
ist nicht so mein Ding.“ (Z. 382ff.)
Ilse bezieht sich mit dem „das“, was sie anderen nicht anbieten will, auf ihren Körper.
Schon die unpersönliche Bezeichnung ihres Körpers ist hier auffällig und zeugt
von einer gewissen Distanz. Sie verweist hier außerdem auf eine Gegenseitigkeit
des Blicks. Die anderen (Gleichaltrigen) im Turnen ziehen sich in der gemeinsamen
Umkleide um, wodurch sich ihre Einschätzung bestätigt, dass das nicht mehr sein
muss, dass es „nicht ihr Ding ist“. Die Körper der anderen spiegeln ihr den eigenen
Körper, den sie den anderen nicht zumuten will. Ilse betont in beiden Aussagen,
das Verstecken der Alterszeichen diene auch dem Schutz der anderen. Man trägt
sozusagen nicht nur Verantwortung für sich, sondern auch die Verantwortung für
die anderen. Die Zeichen des Alters werden hier als Beschränkung begriffen und
gelebt. Es sind nicht körperliche Beeinträchtigungen wie zum Beispiel ein mangeln-
der Gesundheitszustand, altersbedingte Krankheiten oder eine Einschränkung des
Bewegungsapparates, die hier zur Beschränkung spezifischer Praktiken führen. Es
ist das älteres Aussehen, die faltige Haut und die damit verbundenen Norm-Vorstel-
lungen von Schönheit und angemessenem Verhalten, die in der Konsequenz eine
Einschränkung des Bewegungs- und Möglichkeitenspielraums nach sich ziehen.
Dies führt auch Andrea (50 Jahre) aus: Sie schränkt sich ebenfalls ein und ver-
zichtet inzwischen auf FKK, das sie früher praktiziert hat:
120 Tina Denninger
„Also ich würde dann glaube ich auch immer lieber zum Beispiel wenn ich
alleine bin gehe ich sehr gerne ähm auch in Seen oder so mal nackt baden.
Aber wenn ich irgendwie an großen Stränden bin oder so, dann denke ich im
Badeanzug ist es dann okay. Also so. Weil man dann vielleicht dann die Blicke
dann au- dann doch auch nicht mehr so ert- so nicht ertragen kann oder so
auf sich ziehen möchte sondern irgendwie so.“ (Z. 439ff.)
„Warum weiß ich nicht. Also, aber ich selber mach das doch auch. Ich guck
doch auch, wie die anderen Leute aussehen. Und genauso will ich natürlich
auch, dass die mich ansehen und nicht sagen, oh, ist die fett, oder ist, sondern
ich, ich möchte schon als attraktiv gelten, auch jetzt noch […] Klar ist es mir
wichtig, weil w-, nee, nicht klar, aber mir ist es wichtig, dass, dass ich nicht r-,
so aus dem, aus dem Rahmen ist das falsche Wort, sondern so, dass ich nicht
als unangenehm körperlich empfunden werde, ja. Mhm. Das ist mir schon
wichtig.“ (Z. 179ff.)
Für sie besteht die Begründung der Wichtigkeit ihres Aussehens in der Reflexivität
der Blicke. Sie will für die anderen gut aussehen, weil sie von ihren eigenen Blicken
auf die anderen ausgeht und dementsprechend vermutet, dass auch sie angeguckt
und bewertet wird. In ihrer Idee des Blickes wird die Normativität des Blickens sehr
deutlich. Sie weiß um die Kritik, die in Blicken stecken kann und will sich „konform“
verhalten und aussehen. Sie versucht genau das zu vermeiden, was bei den Blicken
Im Auge des Betrachters 121
auf die anderen herausgearbeitet werden konnte: Sie möchte die anderen nicht mit
ihrem Körper belasten. An dieser Stelle setzt sie „fett“ „attraktiv“ gegenüber und
beschreibt „fett“ implizit als unangenehmen Zustand für die Blickenden. Der Grund,
warum sie nicht dick sein will ist nicht der, dass sie sich körperlich unangenehm
fühlt, sondern sie möchte nicht als unangenehm empfunden werden. Sie möchte
sozusagen eine leibliche Berührung durch Hässlichkeit vermeiden. Ihre Figur soll
„im Rahmen“ liegen, und damit auch gleichzeitig attraktiv sein. Sie möchte innerhalb
der Gesellschaft sein, entsprechend gesellschaftlicher Vorstellungen aussehen, der
Rahmen symbolisiert das „Normale“, innerhalb dessen Grenzen man sich bewegen
möchte. Normal wird verbunden mit „nicht unangenehm sein“. Vorstellungen von
Normalität dienen den Befragten als „weitgehend selbstverständliches Orientie-
rungs- und Handlungsraster“ (Sohn 1999, S. 9).
In der Kategorie der Blicke der anderen zeigt sich, wie antizipierte Blicke angeeig-
net und verinnerlicht werden. Die Befragten setzen sich in hohem Maße mit Fragen
der Angemessenheit und Normalität ihrer Körperinszenierungen auseinander, um
gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten sowie ein positives individuelles Kör-
perbild zu bewahren. Es finden permanente Aushandlungen statt, die zeigen, wie
ambivalent die Auseinandersetzungen mit geltenden Schönheitsnormen und damit
auch Anrufungen an die Subjekte sind. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit
und das Verdecken des Körpers können als Praktiken herausgestellt werden, die
nur aufgrund eines impliziten Wissens um das herrschende Schönheitsideal der
Jugend nachvollziehbar und erklärbar werden. An dieser Stelle legt die Perspektive
des Blicks die Erkenntnis frei, dass gerade die Antizipation der abwertenden Blicke
zu jenen Praktiken führt. Hinter dem Verdecken des Alters steht also zunächst die
Antizipation eines abwertenden Blickes auf das Alter.
allem um Vergleiche mit dem eigenen, früheren Körper handelt, die für aktuelle
Einschätzungen des eigenen Körpers prägend sind. In den Interviews finden sich
zahlreiche Körperbilder, basierend auf relationierenden Blicken zurück auf den
„gehabten“ Körper. Ergebnis dieser Rückschau sind dabei nicht nur positive oder
negative aktuelle Körperbilder, sondern die Bezugnahmen sind sehr vielschichtig
und facettenreich.
Zunächst finden sich einige Befragte, die beim Betrachten ihres alternden Körpers
negative Gefühle empfinden oder zu negativen Einschätzungen kommen. So sagt
Renate (69 Jahre) auf die Frage, ob sie zufrieden mit ihrem Körper sei:
„Hmm. Nein, nun nicht mehr so. Ich werde gleich siebzig und merke dann so,
wenn das hier so an den Oberarmen hier (zeigt auf die Unterseite ihrer Ober-
arme), ist das so, dass das hier schlaff ist, dass es innen an den Oberschenkeln
auch ein bisschen schlaff ist […].“
Renates Antwort, sie sei heute „nicht mehr“ zufrieden mit sich, verweist auf die
Relevanz des Alterungsprozesses für die Einschätzung ihres Körpers. Mit der
Angabe ihres chronologischen Alters wird die Beschreibung ihres Körpers unmit-
telbar altersbezogen gerahmt. Ihre Unzufriedenheit bezieht sich dabei explizit auf
äußerliche Merkmale, die nichts mit der Gesundheit oder der Funktionstüchtigkeit
des Körpers zu tun haben. Mit der negativen Beschreibung der Schlaffheit von Ober-
armen und Oberschenkeln bezieht sie sich auf hegemoniale Schönheitsideale der
Jugendlichkeit und Straffheit. Das Älterwerden des Körpers wird als Abweichung
vom jugendlichen Ideal gelesen und führt so zu einer niedrigeren Zufriedenheit
mit dem eigenen Körper. Auffällig ist die Verschränkung der Blickperspektive
(von außen) mit der des körperlichen Spürens (also der Wahrnehmung von innen).
In dem Ausdruck „merken“ kondensiert sich das Spannungsfeld, in dem sich die
„Blicke auf sich selbst“ immer auch bewegen: Einerseits verweist es auf ein ‚Spü-
ren‘ seitens Renate, also ein Fühlen des eigenen Körpers. Andererseits bezieht sie
sich auf den ästhetischen Anblick, den sie von außen antizipiert und der sie stört.
Sie sieht sich in diesem Sinne selbst im Blicke der anderen, vor dem Hintergrund
gesellschaftlicher Schönheitsnormen, der Blick auf sich selbst im Spiegel ist immer
der Blick auf sich selbst im Lichte gesellschaftlicher Normen und Ideale.
Während einige der Befragten mit ihrem alte(rnde)n Körper hadern, nehmen
andere zwar eine Veränderung war, rationalisieren diese aber als natürlich und
finden so zu einem positiven Körperbild. So sagt beispielsweise Günter (70 Jahre):
„Ähm, das ist natürlich sieht der Körper heute anders aus als vor zwanzig,
dreißig Jahren, ne? Und auch dass die Haut nun nicht mehr so straff ist
Im Auge des Betrachters 123
wie vor zwanzig, dreißig Jahren, das ist völlig normal, und dass die Al-
tersflecken kommen, das ist auch völlig normal, aber ich habe Glück, dass
meine Altersflecken nicht so vordergründig sind, dass ich mich jedes Mal
erschrecke und wenn da irgendwas passiert, dass das irgendwie zu groß
wird oder was Neues wächst, dann lasse ich es wegmachen, wenn es mich
stört. Aber meistens stört es mich nicht.“
Einerseits zeigt sich hier die für Günter selbst erfolgreiche Deutung von Alterungs-
prozessen als etwas „Normales“. Er sieht zwar die Alterung seines Körpers, nimmt
auch Bezug auf klassische „Problemzonen“ wie schrumpelige Haut oder Altersfle-
cken, interpretiert dies aber als „normal“ und damit akzeptabel. Er erkennt die
potenzielle ‚Schreckfunktion‘ der Altersflecken durchaus an, bezeichnet sich aber
selbst als glücklich, diesem Schreck nicht (allzu oft) ausgesetzt zu sein. Neben der
Normalisierung des Alterungsprozesses klingt noch eine zweite Strategie an: Wenn
ihn die Altersflecken stören (und das scheint doch manchmal der Fall zu sein), lässt
er sie schlicht wegmachen und weist damit darauf hin, dass seine Haltung gegen-
über einer Natürlichkeit des Alterungsprozesses doch zumindest ambivalent ist.
Diese auf den ersten Blick konträren Umgangsweisen mit dem Körper haben bei
all ihrer Unterschiedlichkeit vor allem eines gemeinsam: Einen deutlichen Bezug
zum früheren, vergangenen Körper. Damit zusammenhängend findet sich in den
Interviews immer wieder eine retrospektive Veränderung des Körperbildes, also
eine Bewertung des vergangenen Körper, die sich mit der damaligen Einschätzung
nicht deckt. So sagt Renate auf die Frage, wann in Ihrem Leben sie mit Ihrem
Körper am zufriedensten war:
„Ja, ich denke vielleicht so zwischen dreißig und vierzig. Oder vierzig und
fünfzig. Und als ich fünfzig wurde, habe ich ja dann auch so einen richtigen
Schreck bekommen. Und wenn ich jetzt vergleiche zu siebzig, dann müsste ich
eigentlich noch zehn Schreck Schrecke hinterher kriegen, weil es da sich doch
sehr verändert, finde ich, ne? Wenn ich so alte Fotos angucke, wo ich früher
gesagt habe, mein Gott, da siehst du ja fürchterlich aus. Heute würde ich sagen,
ach da siehst du eigentlich noch ganz gut aus.“ (Renate, 69 Jahre)
Renate beschreibt den Anblick ihres Spiegelbilds und das am Körper sichtbare Alter
ab einem bestimmten Alter als negativ. Die Beschreibung ihres eigenen Anblicks
als „Schreck“ zeigt zum einen eine Plötzlichkeit, mit der Renate die Erkenntnis
ihres alternden Körpers trifft. Zum anderen drückt es eine Negativbewertung aus,
sie ist nicht positiv überrascht, sondern erschreckt sich vor ihrem eigenen Anblick.
Der Blick zurück, vermittelt durch alte Fotos, zeigt ihr ihr früheres Körperselbst
124 Tina Denninger
als attraktiv an, auch wenn sie weiß, dass sie das früher anders empfunden hat. Ihr
Wissen um ihren heutigen „erschreckenden“ Körper lässt den damaligen Körper
gutaussehend erscheinen. Die retrospektive Konstruktion des eigenen, jüngeren
Körpers als schön kann – so die soziologische Deutung – erst aus dem Wissen
um das Aussehen und die Wirkung des heute älteren Körpers erwachsen. Darin
enthalten sind negative Alters- und Körperbilder.
Diese Umdeutung des eigenen Körpers als schön verdichtet sich im Material
zum Phänomen des „Früher war man sowieso schön“, was hier beispielhaft aus-
geführt werden soll:
„Früher, da war es nicht so wichtig, wenn man jung ist, da ist man irgendwie
per se immer schön oder was weiß ich, die Haut ist halt noch schön oder auch
straff und na ja dann ist es gar kein Thema die Figur. Weißt du, du hast ja
auch noch keine Einschränkungen so, sondern da ist alles so, weiß nicht, rund
und schön und aber dann später kommen halt wo man dann eben sagen
muss das sind Einschränkungen, es sieht halt älter aus oder schrumpeliger.“
(Andrea, 50 Jahre)
Andrea benennt hier Merkmale von Schönheit, die in jüngeren Jahren automatisch
noch vorhanden sind und die deshalb auch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit
standen. Die straffe Haut oder die gute Figur, die „Rundheit“ und Schönheit des
Körpers waren aufgrund des jungen Alters gewährleistet. Aus ihrer heutigen Sicht
begreift sie, dass diese damals als naturgegeben angesehenen Körpereigenschaften
bereits Teil von Schönheit waren. Das Altern begreift sie als Einschränkung dieser
Schönheit, das jugendlich codierte Runde und selbstverständlich Schöne schwindet
und weicht dem Schrumpeligeren des Alters. Sie klassifiziert hier die Zeichen des
Alters als minderwertiger als die Zeichen der Jugend und verweist damit auf das
hierarchische Verhältnis von Jugend und Alter (vgl. Mehlmann / Ruby 2010, S. 10).
Das wiederholte „halt“ drückt jedoch auch eine Umgangsstrategie mit diesem Prozess
aus, der Prozess der Alterung wird als natürlich und unvermeidbar normalisiert,
und führt deshalb nicht zwangsläufig zu einem negativen Körperbild.
Wie sich durch die Analyse der Blicke auf sich selbst zeigen lässt, nimmt das
Alter(n) einen zentralen Stellenwert in der Einschätzung und Beurteilung des ei-
genen Körpers ein. Alle Befragten nahmen explizit auf die Alterung ihres eigenen
Körpers Bezug, auch wenn die Deutungen vielschichtig sind. Dabei wird deutlich
– und auch dieser Befund lässt sich nicht lediglich auf eine Gegenüberstellung von
negativ und positiv herunterbrechen – dass Schönheit mit Jugend assoziiert ist und
ein prinzipiell negatives Altersbild vorherrscht. Zwar gelingt es vielen der Befrag-
ten, ein positives Köperbild zu konstruieren, dies aber meist unter der Deutung,
Im Auge des Betrachters 125
man sei eben nicht so negativ gealtert, wie es hätte passieren können. Es zeigt sich
außerdem, dass die relationale Entwicklung des eigenen Körperbildes vor allem
über den Vergleich mit der eigenen (Körper)biographie stattfindet. Viel mehr als
Vergleiche mit anderen oder gar mit Bildern aus den Medien dient der vergangene
eigene Körper als Bewertungsmaßstab; eine Einschätzung, die den Befund, dass
Alter als relevantes Kriterium für das Körperbild gelten kann, unterstützt.
3 Schlussfolgerungen
definiert als Struktur, welche das alltägliche Blicken nach bestimmten Normen,
Vorstellungen sowie Idealen organisiert. Dabei wurde festgestellt, dass Blickregimen
auch immer normierende und normalisierende Momente innewohnen. Wie Link
(2006) feststellt, situieren sich Subjekte stets in „normalistische[n] symbolischen[n]
Landschaften“(ebd., S. 352, Hervorh. im Original) und vergleichen ihre Position mit
der anderer Subjekte. So sagt Link – und dies zeigt sich in der vorliegenden Studie
deutlich – dass das eigentliche Thema aller Alltagsgespräche im Normalismus die
Frage ist, „ob das, was X und Y gemacht haben bzw. machen, noch normal ist, ggf.
gefolgt von impliziten oder expliziten Distanzierungen“ (ebd.; 351, Hervorh. im Ori-
ginal). Auch Jean-Claude Kaufmann (2006) weist in seiner erhellenden Studie zum
„Oben-Ohne“ am Strand darauf hin, dass das Subjekt – mithilfe von Blicken – die
Wirklichkeit aufgrund der beobachteten Normalität konstruiert, wozu dann auch
gehört, die eigenen Gewohnheiten ggfs. anzupassen (ebd., S. 155f.).6 Genau diese
Herausforderung stellt sich im Alter in besonderem Maße. Der sich verändernde
Körper, aber auch die sich momentan stark verändernden gesellschaftlichen An-
forderungen an das Alter in Form einer gesellschaftlichen Aktivierung des Alters
(vgl. Lessenich 2008) fordern zu einem ständigen Ausloten heraus.
In Bezug auf die Fragestellung nach der Konstitution von Körperbildern älterer
Menschen ist besonders die Frage von Interesse, ob Blickregime existieren, die das
Blicken auf das Alter oder den alternden Körper in bestimmter Weise organisieren
und strukturieren, und wie dieser Prozess ausgestaltet ist. Ähnlich zu Antke Engels
(2002) Argumentation bezüglich der Simultaneität der binären Geschlechterordnung
als normativer Rahmung sowie „Angebote individualisierter Integration“ (ebd.,
S. 78) und vielfältigen Möglichkeiten der Selbstgestaltung lässt sich dies auch für den
alternder Körper darstellen. In der Binarität alt/jung verhaftet bieten sich scheinbar
unbegrenzte Optionen der individualisierten Gestaltung des eigenen Körpers, des
eigenen Selbst, des eigenen Alter(n)s. Trotz aller Aushandlungen bestätigen die
hier gewonnenen Ergebnisse ein Blickregime, welches Alter und Jugend als sich
gegenüberstehende Kategorien von alt und jung begreift. Dieser Dichotomie wohnt
des Weiteren ein hierarchisches Verhältnis inne. Altern ist in dieser Hierarchie
das, was als weniger wert beurteilt wird. Die vorliegenden Ergebnisse knüpfen an
bestehende (jedoch bislang nur spärlich vorhandene) Forschungsliteratur an. So
entwickelt Julia Twigg (2003, S. 154), basierend auf ihren Studien zur Altenpflege
den „gaze of youth“, also das jugendliche Blickregime. Sie beschreibt damit Altern
als eine Form von „otherness“, auf das sich gesellschaftliche Ängste richten. Alt und
6 Für Kaufmann (2006) heißt „Konstruktion von Wirklichkeit“ unter anderem, „es wie
alle anderen zu machen, sein Leben mit Verhalten und Bedeutungen auszustatten, die
‚von allen‘ als wahr und wichtig anerkannt werden […]. (Ebd., S. 286)
Im Auge des Betrachters 127
jung sind dabei Gegensätze, die hierarchisch aufeinander bezogen sind. Alter wird
im impliziten Vergleich mit der Jugend bzw. dem mittleren Erwachsenenalter immer
als „less than“ bewertet. Für sie ist der “gaze of youth […] an exercise of power in
which the ‚other‘ – in this case older people – are constituted under its searching
eye.” (Ebd.: 154) Diese Abwertung lässt also auf hegemoniale Schönheitsideale der
Jugendlichkeit schließen, die sich in solchen Missachtungen des eigenen Körpers
niederschlagen können. Damit verknüpft ist auch das Phänomen des „Früher war
man sowieso schön“ bzw. die retrospektive Umdeutung des Körperbildes. Es kann
als Hinweis darauf gelten, dass ein negatives Altersbild der Selbsteinschätzung zu-
grunde liegt. Der Blick zurück offenbart etwas, was nur vor dem Hintergrund des
jetzigen, gealterten Körpers gesehen werden kann: die frühere, nun aber (scheinbar
tatsächlich) verminderte Schönheit. Diesen Schilderungen wohnt immer ein Moment
des Bedauerns inne: Darüber, dass man das, was man hatte, nicht geschätzt hatte,
und darüber, dass es nun vergangen ist. Es wird zwar deutlich, dass die Befragten
zu allen Zeitpunkten ihres Lebens unzufrieden mit sich waren, die heutige Situ-
ation gestaltet sich aber scheinbar dennoch anders als die frühere. Der Journalist
Reinhard Mohr drückt es folgendermaßen aus:
[…] natürlich hatte es in der gesamten Zeit der Adoleszenz immer wieder Anlass zur
Selbstkritik am äußeren Erscheinungsbild gegeben. Wer mag sich schon, wenn er
einundzwanzig ist? Doch stets war da die berechtigte Hoffnung auf Besserung […].
Jahrzehnte später […] war kein Raum mehr für das Prinzip Hoffnung […]. Nein, es
würde nur noch schlechter werden. (Mohr 2003. S. 23f.)
Dass sich die Rekurierung auf Jugendlichkeit aber keineswegs immer in negativen
Körperbildern niederschlagen muss, dürfte ebenfalls deutlich geworden sein. Um
erneut auf die Ausführungen Antke Engel (2002) zurückzugreifen, zeigt sich hier,
dass Normalisierung nicht nur als „flexibel und prozessual“ verstanden werden
muss, sondern dass diese gleichzeitig an verschiedenen Normen ausgerichtet ist.
So besteht nicht nur die hegemoniale Norm der Jugendlichkeit, welche in den
(Selbst)beschreibungen der Befragten bedeutsam wird, sondern diese koexistiert
beispielsweise mit Normen der Schlankheit, der Individualität oder Vorstellungen
eines klassischen Alters, welche je nach (Lebens)Situation virulent und zur (Selbst)
deutung genutzt werden.
128 Tina Denninger
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„Eigentlich sollte jeder so sterben,
wie ihn Gott geschaffen hat …“
Fallstudien zum Verhältnis von Vergänglichkeit,
Körpererleben und Schönheitshandeln
im Lebensverlauf
Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoff mann
1 Einleitung
2 Schönheitshandeln im (medien-)biografischen
Kontext
3 Methodisches Vorgehen
Die Untersuchung ist als zweistufige qualitative Befragung angelegt. Ziel ist, indivi-
duelle Lebens- und Mediengeschichten zu verfolgen, die Auskunft über Schönheits-
vorstellungen, Modi des Körper- und Schönheitshandelns sowie über Körpererleben
und mediale Aneignungen von Körperidealen geben (vgl. auch Reißmann et al. 2013).
2 In einem übergeordneten Sinn läuft die Unterscheidung von medialen und nicht-medialen
Einflüssen grundsätzlich ins Leere, da Kultur und Sozialität immer schon Medienkultur
und Mediensozialität sind und eher von einem Verflechtungszusammenhang als von
isolierbaren ‚sozialen‘ und ‚medialen‘ Anregungen auszugehen ist. Dennoch ist es sinnvoll,
auf Individualebene zu erkunden, ob bestimmte Anregungen lebensphasenspezifisch
z. B. aus der Beschäftigung mit medialen Präferenzen und Stilen (z. B. Jugendmedien-
szenen, Star-Fan-Relationen) hervorgegangenen sind, oder eher die soziale Umgebung
der Familie und Peers ‚stilbildend‘ war, wenngleich immer mitzudenken ist, das auch die
kommunikativen Konstruktionen von Familie, Peergroup usw. nicht unter Ausschluss
von Medien und Medienwissen erfolgen.
3 Bisweilen wird von Identitätsbrüchen gesprochen, z. B. ausgelöst durch Krankheiten
(von Kondratowitz 2000).
„Eigentlich sollte jeder so sterben, wie ihn Gott geschaffen hat …“ 135
Während das erste Gespräch dem Kennenlernen und der Sensibilisierung für
das Thema diente und mit dem Instrument des teil-narrativen bzw. episodischen
Interviews (medien-)biografische Basisnarrationen generierte, ermöglichte das zweite
Interview vertiefende Einblicke und Reflexionen. In beiden Gesprächen haben wir
uns für leitfadengestützte Gesprächsformen entschieden. Eine offene Erzählse-
quenz zu Beginn der ersten Gespräche lieferte lebensgeschichtliche Rahmendaten
zu Herkunft, Elternhaus und Familie, (Aus-)Bildungs- und Berufswegen, eigener
Beziehungs- und Familienbiografie, sozialräumlichen Kontinuitäten und Brüchen.
Im Anschluss wurde auf Schönheitsvorstellungen, das eigene Schönheitshandeln
und Körpererleben im Lebensverlauf fokussiert und prägenden Medienerfahrungen
und Medienpräferenzen in unterschiedlichen Lebensphasen nachgegangen. Mit
der Teilstrukturierung der Interviews tragen wir dem Umstand Rechnung, dass
Biografien für gewöhnlich nicht primär als Medienbiografien (vgl. Vollbrecht 2009,
S. 27) – und auch nicht als ‚Schönheitsbiografien‘ – erinnert und erzählt werden.
Eine Sensibilisierung für die in Frage stehenden Themen scheint daher angemessen.
Das zweite Gespräch stützt sich auf die Methode der „photo elicitation“ (vgl.
Harper 2002). Im Vorfeld wurden die Teilnehmenden gebeten, jeweils ca. zehn Fotos
auszuwählen, die sie anhand ihrer eigenen Biografie mit dem Thema Schönheit
verbinden.4 Zusätzlich recherchierte das Forschungsteam auf der Basis des ersten
Gesprächs Bildmaterial zu prägenden medialen Angeboten (vornehmlich reale
und fiktive Personen/Figuren aus Musik, Film und Fernsehen), die als Vorlagen
ebenfalls in das nachfolgende Gespräch eingebracht wurden. Die Konfrontation
mit dem präsentativen Material sollte Erinnerungen und Assoziationen wecken
und so die Verbalisierung erleichtern.
Auf der Basis des skizzierten Vorgehens wurden im Frühjahr 2012 und im Winter
2013 im häuslichen Kontext zwei Ehepaare aus einer Großstadt in Hessen befragt.
Der Paarbezug ermöglicht es, kommunikative Verhandlungen in den Beziehungen
und hier besprochene Themen/Diskurse nachzuzeichnen. Da uns dennoch primär
die individuellen Biografien und Perspektiven, auch neben und zeitlogisch vor den
jeweiligen Partner/innen interessieren, wurden die Eheleute getrennt voneinander
interviewt. Da einer der Teilnehmenden (= Herr C.) ein zweites Interview abgelehnt
hat, liegt Gesprächs- und Bildmaterial aus sieben Interviews vor5.
Wie die Erhebung erfolgte auch die Auswertung in zwei Schritten. Zwischen
den beiden Interviewterminen fand eine Grobanalyse der bereits geführten Ge-
spräche statt. Anhand der Interviewprotokolle und der Audioaufnahmen wurden
zentrale Themenstränge sowie die genannten medialen Präferenzen identifiziert.
Die Hauptauswertung fand im Anschluss anhand der vollständig transkribierten
Interviews und der (per Fotokamera) dokumentierten persönlichen Fotografien
und dem medialen Stimulusmaterial statt. Auf der Grundlage des ausgearbeiteten
Leitfadens sowie einer offenen Kodierung wurden Kategorien gebildet, entlang derer
das Material aufgebrochen, systematisiert und verdichtet wurde. Darauf aufbauend
wurden Sinnzusammenhänge auf der Ebene des Einzelfalls, der Ebene der Paar-
beziehung sowie der Ebene des Vergleichs der Einzelfälle und Paare rekonstruiert.
Da das Gesprächsmaterial inhalts- und nicht gesprächsanalytisch ausgewertet
wurde, fanden intonatorische Merkmale keine Berücksichtigung. Um jedoch eine
Vorstellung von den Interviewten und der Gesprächssituation zu ermöglichen,
wurden Akzente und Dialekt dokumentiert, wenngleich ohne Intention einer
kompletten lautlichen Authentizität (vgl. Dittmar 2004, S. 59 ff.). Zu den Bildern
wurden inhaltliche, formale und ästhetische Charakteristika festgehalten. Eine
tiefergehende Analyse des (eigenlogischen) Sinngehalts der persönlichen Bilder,
etwa im Anschluss an ikonografisch-ikonologische Verfahren der Bildinterpretation
fand jedoch nicht statt. Bilder und zugehörige Gesprächssequenzen wurden als
wechselseitige Explikationen aufgefasst, wobei uns die verbale Kontextualisierung
seitens der Interviewten als primärer Sinnrahmen galt.
Frau R. ist zum Gesprächszeitpunkt 71 Jahre (*1941), Herr R. ist 73 Jahre (*1939)
alt. Das Paar ist seit 53 Jahren verheiratet und lebt am Stadtrand einer hessischen
Großstadt im Eigenheim.
Herr R. ist mit 14 Jahren vom Gymnasium abgegangen, um eine Lehre zum
Autoschlosser aufzunehmen und seine Familie finanziell unterstützen zu kön-
nen. Ursprünglich hatte er Rechtsanwalt werden wollen. Später eröffnete er eine
Kfz-Werkstatt, in der seine Frau als Bürokauffrau tätig war. Zwischen seinem 14.
und 30. Lebensjahr begeisterte sich Herr R. für Ringen und Gewichtheben: „Das
war die Zeit, ja, das war eigentlich die schönste Zeit in der Jugend.“ Seine andere,
seit der Jugend bestehende und bis dato anhaltende Leidenschaft gilt dem Jazz. Seit
einigen Jahren obliegt ihm – die Erfüllung eines Lebenstraums – das Event-Ma-
nagement einer hessischen Jazz-Band.
Frau R. absolvierte nach dem Hauptschulabschluss eine Lehre zur Hauswirt-
schaftlerin. Groß geworden ist sie mit ihrer und drei weiteren Familien und ins-
gesamt 18 Kindern auf einem Hof im ländlichen Raum. Ihre Mutter beschreibt
sie als fürsorglich und fleißig, ihr Vater hingegen habe „gesoffen wie ein Loch und
hat es mit den Weibern gehabt.“ Ihre von Entbehrung gezeichnete Kindheit arti-
kuliert sie als lebensgeschichtlich starke Prägung: „Für mich war eigentlich das
Wichtigste im ganzen Leben und entscheidend, was ich als Kind gelernt habe. Bis
zu meinem siebten Lebensjahr. Diese Zeit, die hat mich geprägt fürs ganze Leben.“
Mit 15 Jahren lernt sie Herrn R. kennen. Drei Jahre später heiraten die beiden und
bekommen ihre erste Tochter. Für Freizeit war in ihrem Leben bis zur Rente nach
eigenen Aussagen kaum Platz. Die Wochenenden verbrachte sie am liebsten mit
ihren beiden Töchtern. Nach deren eigener Heirat und Familiengründung sorgt
sie sich intensiv um die Enkelkinder.
Sowohl die Gespräche mit Frau als auch mit Herrn R. durchzieht eine Grund-
narration, die sich als generationsspezifische Prägung deuten lässt. Stärker als heute
sei man früher, also in den 1950er und 1960er Jahren, auf sich gestellt gewesen:
Man musste sich „durchboxen“, um Erfolg und ein Leben in relativem Wohlstand
aufzubauen und zu sichern. Herr und Frau R. haben das nach eigenem Bekunden
geschafft und sind stolz darauf.
Frau C. ist zum Gesprächszeitpunkt 45 Jahre (*1968), Herr C. 59 Jahre (*1953)
alt. Das Paar hat sich vor 21 Jahren kennengelernt, seit 15 Jahren sind beide ver-
138 Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann
heiratet. Gemeinsam mit der 13-jährigen Tochter und dem Hund bewohnt die
Familie zur Miete ein Haus.
Frau C. ist Verwaltungsangestellte im öffentlichen Dienst. Aufgewachsen, gelernt
und gearbeitet hat sie zunächst in einer mittelgroßen hessischen Stadt. Nachdem
sie Herrn C. kennenlernte, sind beide in eine hessische Großstadt umgezogen.
Das Familienklima in der eigenen Kindheit beschreibt Frau C. als behütet und
„respektvoll“. Trotz relativem Wohlstand hat sie jedoch einen gewissen materiellen
Mangel erlebt. Die Familie habe „immer so auch bisschen hinterhergehunken“, z. B.
bei der Anschaffung eines „Buntfernsehers“. Außerdem missfiel es Frau C., dass
sie „immer die abgetragenen Sachen meiner Schwester“ anziehen musste. Eigenes
Geld verdienen, abgesichert sein, sich etwas leisten und reisen zu können, sind
Orientierungen, die vermutlich aus dieser Erfahrung hervorgegangen sind.
Herr C. hat nach der Schule eine Lehre absolviert und als „Maler und Lackierer“
gearbeitet. Seit 1996 ist er als „Hausmeister“ bzw. „Schulhausverwalter“ tätig. Seine
Eltern haben stets viel gearbeitet: Die Mutter als „Chefsekretärin“, der Vater verkaufte
zunächst Südfrüchte und war später als KfZ-Mechaniker angestellt. Im Elternhaus
wurde viel Wert auf eine gute materielle Ausstattung gelegt. „Markenklamotten“
waren wichtig und auch „in Rundfunk beziehungsweise in Elektrodingen“ waren
die Eltern „immer ganz weit vorne und wir hatten auch eine, wir hatten mit den
ersten Farbfernseher gehabt.“ An Geld habe es nie gefehlt, allerdings an „Liebe“. Vor
der Partnerschaft mit Frau C. war Herr C. bereits verheiratet. Seine erste Frau ist
tödlich verunglückt. Er möchte das nicht vertiefen. Die kurze Ehe blieb kinderlos.
Die vier befragten Frauen und Männer stehen hinsichtlich ihres chronologischen,
aber auch ihres gefühlten Alters an lebensgeschichtlich unterschiedlichen Punkten.
Gleichwohl ist ein erstes Ergebnis, dass sich bei allen vier Interviewpartner/innen
eine Auseinandersetzung mit dem Thema Vergänglichkeit feststellen lässt.
Mit 45 Jahren ist Frau C. die Jüngste im Sample. Mit ihrem körperlichen Erschei-
nungsbild im Grunde zufrieden, stört sie sich an den zunehmenden „Falten“ und
hofft, „dass der Alterungsprozess nicht noch schneller geht, ja, was das Äußerliche
anbelangt.“ Ihr Mann verneint vehement die Frage, ob er sich alt fühle. Selbstver-
ständlich aber habe man „Ängste (…) Man denkt ja zuerst mal an seine Gesundheit.
Hoffentlich trägt das einen so weiter.“
Frau R. ist es wichtig, dass sie obwohl „ich jetzt 71 bin (…) nicht so krumpelig
aussehe. Ich sage immer: ‚Wenn ich in den Spiegel gucke, soll es noch ein kleines
„Eigentlich sollte jeder so sterben, wie ihn Gott geschaffen hat …“ 139
bisschen ästhetisch aussehen.‘“ Herr R. hat lange Zeit aktiv Sport getrieben und in
jungen Jahren semiprofessionell gerungen. Ein ansprechendes körperlich-physisches
Erscheinungsbild und Leistungsfähigkeit sind Teil seiner Identität und Zeichen
von Vitalität und Stärke. Die Bedeutsamkeit dieser Identitätsaspekte wird von
zwei Fotos unterstrichen, die er ausgewählt hat und die ihn als Mittzwanziger beim
Training und mit der Mannschaft zeigen. Mit ca. 40 oder 50 Jahren beginne es, so
der 73-Jährige, dass man merke, dass man „net mehr so lange arbeiten [kann] wie
früher“ und auch schneller müde werde. Auch das sonst eher für Frauen diagnos-
tizierte Leiden an Attraktivitätsverlust und zunehmender ‚Unsichtbarkeit‘ berührt
ihn: „Aber im Alter hab ich das noch nie gemerkt, dass da so einer besonders drauf
achten tut, wenn ich komm‘ [lacht]“.
Während sich das jüngere Paar noch eher antizipativ und projektiv mit dem
‚wirklichen‘ Alter beschäftigt, müssen sich Frau und Herr R. mit nicht mehr zu
negierenden Alterungserscheinungen arrangieren. Thematisiert wird Vergäng-
lichkeit in den Gesprächen in zweierlei Hinsicht: mit Blick auf Gesundheit und
Leistungsfähigkeit als Verlust bzw. Nachlassen von Fähigkeiten; mit Blick auf die
ästhetische Anmutung des eigenen Körpers als ein Verlust an Attraktivität.
Verstärkt wird das Bewusstsein um Vergänglichkeit einerseits durch die kont-
rastierende Vergegenwärtigung früherer Lebensphasen sowie andererseits durch
die wahrgenommene Rolle der Massenmedien als Katalysatoren unrealistischer,
jugendlicher Idealbilder.
Die Jugend bzw. das jüngere Lebensalter werden in den Gesprächen beinahe
unwillkürlich als Phasen gleichsam natürlicher Schönheit und Vitalität gerahmt.
Bereits die Auswahl der persönlichen Fotografien weist ein Übergewicht an Bildern
aus der Jugend bzw. des jungen Erwachsenenalters auf. Aber auch die Kontextuali-
sierung und Kommentierungen machen deutlich, dass die frühe(re)n Lebensphasen
in körperlich-ästhetischer und leistungsbezogener Hinsicht symbolisch für den
überschrittenen, nicht wiederkehrenden Höhepunkt stehen. So zeigen sieben der
zwölf gewählten Fotos Frau R. im Alter zwischen 18 und 27 Jahren. Neun der
elf Bilder von Herrn R. stellen ihn in Lebenssituationen dar, in denen er nicht
älter als 40 Jahre ist. Eines zeigt ihn in jungen Jahren beim Gewichtheben, was
er augenzwinkernd mit dem Ausruf „Toller Typ!“ kommentiert. Anschließend
verweist Herr R. auf Zeitungsausschnitte, die von seinen damaligen sportlichen
Leistungen berichten. Die ersten drei Fotos von Frau C. zeigen sie als Kind. Auf
vier weiteren ist sie zwischen 14 und 25 Jahren alt. Die anderen Bilder sind im Alter
von 30 (Hochzeitsfoto), 40 (Geburtstag) und 45 Jahren (im Urlaub) aufgenommen.
Besonders wohl gefühlt hat sich Frau C. in der Zeit um Mitte 20. Denn in diesem
Alter habe man sich „schon gefunden“, „auch vom Körperlichen her“ und „man
hatte damals ne tolle Figur.“
140 Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann
vermittelt, dass es dem jeweiligen Alter entsprechend gut ginge. So hat Frau R. nach
eigenem Bekunden keine „Probleme mit der Figur“ und hält ihr Gewicht konstant.
Im Übrigen verweist sie auf ihr Alter: „Und was soll denn da groß passieren? Ich bin
72 Jahre, hör mal.“ Herr R. hadert zeitlebens damit, vergleichsweise klein zu sein,
was aber nichts mit dem Erleben von Vergänglichkeit zu tun hat. Früher, „mit 18“,
hätte er gut ausgesehen. Lakonisch kommentiert er, dass man sich im Alter halt
verändere und er sich daran gemessen immer noch ganz gut halte. Frau C. fühlt
sich ebenfalls wohl. Ein Thema ist das Gewicht, das sich im Lebensverlauf immer
wieder verändert hat. Nach der Geburt ihrer Tochter und momentan wieder habe sie
„ein paar Kilo zu viel“. Vor der Geburt und um den 40. Geburtstag, zu dem sie ein
Foto ausgewählt hat, war sie schlank. Auch hier besteht also kein direkter Zusam-
menhang zur Wahrnehmung von Vergänglichkeit. Diesbezüglich ist es primär die
Faltenbildung und die Vorstellung, dass diese immer schneller und nachdrücklicher
Spuren hinterlässt, die ihr Sorgen bereiten. Von den vier hier Befragten bedauert
sie am meisten den Prozess des allmählichen Alterns: „Also ich denk mir, früher
hat man sich weniger so Gedanken gemacht, wenn man, wenn man im Alter noch so
aussehen würde wie mit Mitte 30, fände ich das toll, ja.“ Auch Herr C. kämpft mit
dem Gewicht: „Ich könnte ein bisschen weniger an Kilos haben.“ Ironisch bemerkt
er zu seiner Halbglatze, dass der Friseur nicht mehr viel zu tun habe. Ansonsten
aber „bin ich eigentlich mit meinem Aussehen zufrieden“ und „hoffe, dass ich mich
so halte, wie ich jetzt bin. So, bis zum Tage nimmerlein.“.
Die Befragten sind sich gewisser Makel und Problemzonen bewusst und hadern
durchaus mit Alter(n)serscheinungen. Die Lebensqualität oder das Wohlbefinden
scheinen trotz der Wahrnehmung anderer Idealbilder und Leitvorstellungen da-
runter jedoch nicht wesentlich zu leiden. Freilich ist kritisch zu fragen, inwiefern
das Interview als Gesprächsformat seine Ergebnisse gerade hinsichtlich heikler
Themen mitproduziert, da andersartige Einschätzungen trotz Vertrauensbildung
einen potenziellen Gesichtsverlust bedeuten können. Die gegebenen Einschätzungen
fügen sich jedoch in das Bild auch anderer Ergebnisstränge.
So wird deutlich, dass sich die Befragten in Lebensphasen wähnen, in denen man
sich gefunden und seinen eigenen Stil entwickelt habe. Man weiß, was man mag
und nicht mag, hat gelernt mit seinem Körper umzugehen, vertraut auf bestimmte
Marken oder hat, wie Herr R., der stolz auf den Besitz eines goldgelben Sakkos ist,
das er bei Auftritten der Jazz-Band anzieht, seine Lieblingskleidungsstücke. Das
Zutrauen in den eigenen Stil gibt Halt. Berichtet werden zudem lebensgeschichtliche
Erfahrungen und Situationen, in denen man sich mit dem eigenen Schönheitshandeln
gegenüber seiner Umwelt durchgesetzt hat. Frau R. etwa hat lange Zeit Rücksicht
darauf genommen, dass sie größer als ihr Mann ist. Eine Art Befreiungsakt war
und ist für sie offenbar das Tragen von Pumps: „Irgendwann kam die Zeit, wo ich
142 Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann
gesagt hab, es reicht, ich bin auch noch da. Und dadurch, dass ich flache Schuhe trag,
wird er nicht größer. Weißt du? Und dann hab ich Pumps getragen.“ Wahrscheinlich
tragen solche Erfahrungen und die dadurch erkämpften Handlungsspielräume
langfristig dazu bei, auch in anderen Feldern Widerstandsfähigkeit zu entfalten.
Das zumindest auf kommunikativer Ebene prägnanteste Ergebnis, das das
relative Wohlbefinden der Befragten mitbegründet, findet sich jedoch wiederum
in der Kontrastierung der gegenwärtigen mit vorangegangenen Lebensphasen.
Obgleich Jugend bzw. frühere Lebensphasen als Kontrastfolien zu körperlichem
und ästhetischem Verlust thematisiert werden (s. 4.2), problematisieren sie die
Befragten auch. So ist Herr R. überzeugt, dass man in jungen Jahren immer an
sich selbst ‚herumkritisiere‘: „Da passt dir das nicht, passt dir das nicht. Da bist du
nie mit dir zufrieden mit dem Aussehen.“ Frau C. ist zudem der Ansicht, dass man
„früher in der Jugend mehr beeinflusst worden [ist] durch die Medien (…). Also, man
wollte immer diese Barbie-Figur haben, man wollte diese Barbie-Haut haben und
ich denk mir als Jugendlicher sieht man das mit anderen Augen. Da denkt man halt
auch, es ist wichtig, um bei anderen anzukommen.“ An anderer Stelle erinnert die
45-Jährige Spott und Hänselei der Mitschüler/innen im Kindes- und Jugendalter.
In der Schule wurde Frau C. „ganz schlimm“ „wegen meiner langen Nase“ und auch
„fürchterlich wegen dieser Mütze gehänselt“.
Jugendlichkeit mag ein Ideal sein. Jugend als Lebensphase steht jedoch symbo-
lisch auch für Unsicherheit, für fehlende Orientierung, Selbstzweifel, Peer-Druck,
Beeinflussbarkeit und Außenleitung. Im Intergenerationenvergleich kursieren zudem
Unterstellungen, dass es Jugendliche heute noch schwerer haben als man selbst,
weil der Konsumdruck und das Statusdenken (noch) größer geworden seien. Das
(höhere) Erwachsenenalter geht vor diesem Hintergrund nicht nur mit Vergäng-
lichkeit einher. Es wird in den Gesprächen als Phase gerahmt, in der Gelassenheit
und in gewissem Maße auch (Selbst-)Akzeptanz zunehmen. Frau C. fasst das so
zusammen: „Also ich glaube, keiner ist zufrieden mit seinem Äußeren, aber man
akzeptiert sein Äußeres irgendwann, ja.“ Das könne bis dahin reichen, dass einstige
Makel umgedeutet werden und man z. B. Stolz „auf eine schiefe Nase oder auf keine
Ahnung, so Kleinigkeiten, die halt nicht vollkommen sind“ entwickelt. Herr R. gibt
zu bedenken, dass sich der Stellenwert von Äußerlichkeiten ändere: „Das sind so
Sachen, weißt du im Alter, die du anders wahrnimmst.“
Die Gegenüberstellung von Jugend und (Erwachsenen-)Alter und ihre Bilan-
zierung in Form von Vor- und Nachteilen prägt das Nachdenken über das eigene
Alter(n). Zufriedenheit und körperliches Wohlbefinden sind maßgeblich von der
Konstruktion und Bewertung von Lebensphasenmerkmalen abhängig. Vergleich-
bares gilt aber auch für kleinere Zeitabschnitte. Frau C. liefert diesbezüglich eine
interessante Rahmung ihrer Schwangerschaftszeit, in der sie sich besonders wohl
„Eigentlich sollte jeder so sterben, wie ihn Gott geschaffen hat …“ 143
gefühlt habe. Dieses Erleben führt sie darauf zurück, in dieser Zeitspanne von gän-
gigen Schönheits- und Weiblichkeitsidealen freigestellt und entbunden gewesen zu
sein: „Man konnte essen, trinken, was man wollte und man hat zugenommen. Also
das war so die Zeit, wo man sich so vom Körper her sehr wohl gefühlt hat, weil man
wusste man ist schwanger, man wird von Anderen dann nicht irgendwie komisch
angeguckt (…).“ Schwangerschaftserleben variiert selbstverständlich. Diese Episo-
de illustriert jedoch, dass die kontextuelle Rahmung von kürzeren oder längeren
Phasen oder auch bestimmter Sozialräume, die als außeralltäglich wahrgenommen
werden, das Wohlbefinden entscheidend mitbestimmt.
Zusammengefasst weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die Wahrnehmung von
Vergänglichkeit auf der einen Seite sowie körperliches und ästhetisches Wohlbefinden
bzw. Unbehagen auf der anderen Seite zwar zusammenhängen, auf individueller
Ebene jedoch sehr unterschiedliche Momente in die Deutungen hineinspielen.
Nicht hinsetzt und wartet, bis man so einen Hintern gekriegt hat, ja?“ Sie halten
Spaziergänge, die Treppe als „Trimmpfad“ und die Enkelkinder auf Trapp.
Ebenfalls von Bedeutung ist bei beiden Paaren das Thema Ernährung. Frau R.
achtet sehr auf ihre Figur, isst selbst wenig Fleisch und keine Butter. Herr R. kehrt
heraus, Nichtraucher zu sein und wenig Alkohol zu sich zu nehmen. Des Weiteren
zwinge ihn seine Frau, „dass ich viel trinken muss, obwohl ich keinen Durst hab.
[lacht] Aber sonst ich sag, wir essen immer dieses Brot da mit Körnern drin. (…) Auf
jeden Fall essen wir kein Weißbrot, weils net gut ist.“ Frau und Herr C. schätzen
hingegen ihr Ernährungsverhalten als verbesserungsbedürftig ein. Herr C. reflek-
tiert, dass das Paar „relativ spät abends“ isst und die Mahlzeiten „manchmal sehr
kalorienreich“ sind.
Wie beim Themenstrang Ordnung, Gepflegtheit und Hygiene kann das Er-
nährungsverhalten auf Basis zumindest dieser Interviews nicht in einen direkten
Zusammenhang mit Vergänglichkeit und verändertem Körpererleben gesetzt
werden. Gesundheit und daraus resultierendes Ernährungshandeln sind per se
und lebensphasenübergreifend positiv besetzt. Allerdings steigt im Lebensverlauf
der Wert von Gesundheit. Frau C. rekapituliert: „Von den High Heels und Spitzen-
schuhen ist man jetzt eher auf die Birkenstocks getreten.“
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Bewusstsein um Vergänglichkeit
und Alterungsprozesse Einfluss auf das Schönheitshandeln hat. Hierbei zeigen sich
in unseren Gesprächen insbesondere alters- und lebensphasenspezifische Skripte
sowie die enge Liaison, die Gesundheits- und Schönheitshandeln mit zunehmen-
dem Alter eingehen.
Weiterhin bilden die Gespräche kontroverse Diskurse über Praktiken des Schön-
heitshandelns ab, die die Befragten weder in Gegenwart noch Vergangenheit selbst
vollzogen haben, die sie aber in ihrem sozialen Nahraum und/oder medial vermit-
telt wahrnehmen und die der Positionierung und Verhandlung von Grenzen des
Schönheitshandelns dienen. In der Diskussion stehen hierbei neben Tätowierungen
und Piercings vor allem Schönheitsoperationen.
Keine/r der Befragten berichtet, sich selbst bereits einer Behandlung der kos-
metischen Chirurgie unterzogen zu haben. Allerdings ist der Diskurs um Schön-
heits-OPs wichtig, insofern über diesen Selbstverortungen vorgenommen und
Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs mit Vergänglichkeit thematisiert werden.
Hierbei dominiert zunächst der Eindruck, dass prinzipiell immer mehr am Kör-
per ‚gemacht‘ werde und im subjektiven Zeitvergleich Medien, insbesondere die
146 Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann
stellung über die vielen Jahren bewahrt habe, mich nicht operieren lassen habe:
Keine Nasen-OP, keine Ohren-Verkleinerung, keine Ahnung was, ja.“ Andererseits
kennzeichnen ihre weiteren Ausführungen jedoch weder eine rigorose noch eine
moralisierende Ablehnung, sondern zeugen vielmehr von Gedankenspielen, in
denen offensichtlich schon des Öfteren Optionen durchgespielt wurden, sowie von
Offenheit und Verständnis denjenigen gegenüber, die sich für eine Schönheitsope-
ration entscheiden. Fast scheint es, als sei der Grund, sich nicht einer Behandlung
zu unterziehen, weniger eine Frage der inneren Überzeugung als der finanziellen
Ressourcen. Durchaus kann sich Frau C. vorstellen, sich die „Falten“ ‚machen‘ zu
lassen: „Das wären die Oberarme und ja, die kleineren Falten im Gesicht. Also jetzt
kein Lifting, aber ich denk mal so mit Botox, denk ich mal, wenn man das Geld hätte,
würde es man, ich glaub, würde ich mal ausprobieren.“ In ihre Überlegungen und
die Legitimierung ihrer Wünsche bezieht sie den wissenschaftlich-medizinischen
Fortschritt ein. Dieser fungiert als eine Art argumentative Brücke, die es erlaubt,
ältere und vermutlich sozialisationsbedingt noch prägende Glaubenssätze zu
relativieren: „Eigentlich sollte jeder so sterben, wie Gott ihn geschaffen hat, aber
die Medizin ist halt so weit, wenn man das nutzen kann und da eingreift und die
Leute das wirklich für ihr Wohlbefinden brauchen, ist das jedem selber überlassen.“
Ähnlich wie bei Herrn R. nehmen die Äußerungen zu diesem Themenkomplex bei
Herrn C. weniger Raum ein. Er lehnt es ab, wenn immer mehr und immer wieder
operiert werde, „bis es irgendwann nicht mehr schön aussieht. Also da sag‘ ich auch
ne, das muss nicht sein.“ Gleichwohl habe er „nix dagegen, wenn sich Frauen eine
Brust-OP machen lassen oder wenn sich Frauen die Nase… wenn es passt, dann ist es
für mich in Ordnung.“ In der Rolle des männlichen Beobachters begreift er Schön-
heitsoperationen als primär weibliche Angelegenheit, steht diesen grundsätzlich
und in den genannten Grenzen aber offen gegenüber.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Massenmedien und ihre Bildwelten überein-
stimmend als Katalysatoren von Normverschiebungen wahrgenommen werden, die
eingenommenen Haltungen und Bewertungen der neuen Machbarkeit des Körpers
durch Eingriffe der kosmetischen Chirurgie jedoch sehr unterschiedlich ausfallen.
148 Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann
Von Selbstauskünften und biografischen Erzählungen kann nur bedingt auf die
tatsächliche Praxis des Schönheitshandelns geschlossen werden. Sie bedienen sich
des lebensgeschichtlichen Wissens der Akteure. Im Sinne der Unterscheidung in
ein Wissen über den Körper und ein Wissen des Körpers (Keller/Meuser 2011, S. 11f.)
aktualisieren sie das kognitiv verfügbare Wissen und stellen somit einen indirekten
Zugang zur Körper- und Schönheitspraxis dar. Wenngleich Körperwissen und
Körperpraxis unhintergehbar aufeinander bezogen sind, bewegen sich Selbstaus-
kunft und Erzählung in relativer Distanz zur tatsächlichen und im Lebensverlauf
schwer beobachtbaren Handlungspraxis. In biografische Erinnerungen mischen
sich persönliche Erinnerungen, Empfindungen, kulturelle Wissensbestände sowie
diskursive wie nicht-diskursive Praktiken. Sie sind folglich Konstruktionen, nicht
selten ‚Verklärungen‘ und zudem abhängig von sozialen Relevanzstrukturen: „Sich
erinnern kann niemals heißen, eine Vergangenheit so zu vergegenwärtigen, wie
sie als Gegenwart war“ (Hahn 2010, S. 19). Gleichwohl sagt die Erinnerung etwas
darüber aus, was für Menschen in irgendeiner Weise in einer Phase ihres Lebens
oder in der Gegenwart bedeutsam war. In diesem Sinne lesen wir die Gespräche
als Zeugnisse, die uns Hinweise dazu liefern, in welcher Weise gesellschaftliche
Diskurse und Tendenzen verarbeitet werden und in Zusammenhang stehen mit
der eigenen Entwicklung sowie sozialräumlichen und medialen Anregungen und
Orientierungen.
Was lässt sich vor diesem Hintergrund aus unseren Explorationen folgern und
ableiten? Die Fallstudien bestätigen zunächst die Befunde anderer Studien, denen
zufolge die Zufriedenheit mit dem Leben und dem gesundheitlichen Befinden
wichtige Indikatoren für ein positives Körpererleben und auch die Bewertung
der eigenen Schönheit und Attraktivität darstellen.6 Qualitative Studien, die den
Komplex von Altern, Körpererleben und Schönheitshandeln auf Individualebene im
Lebensverlauf differenziert und in seiner Widersprüchlichkeit nachzeichnen, sind
allerdings rar. Ausnahmen, die sowohl ältere Menschen als auch eine Lebenslauf-
perspektive im Blick haben, beziehen sich wie die vorliegende Studie auf zumeist
geringe Fallzahlen (vgl. Höppner 2011; Liechty/Yarnal 2010). Über die zusätzliche
Bedeutung von Massen- und Individualmedien in diesem Geflecht bestehen bis
heute eher Vermutungen als gesicherte Kenntnisse. Auch unsere Fallstudien liefern
diesbezüglich nur punktuelle Ergebnisse und werfen Fragen auf, vor allem was die
Verallgemeinerbarkeit individueller Prägungen betrifft.
Auf der Basis der selektiven Ergebnisse zum Verhältnis von Vergänglichkeit,
Körpererleben und Schönheitshandeln möchten wir abschließend drei Zusam-
menhänge diskutieren, die es unserer Ansicht wert sind, weiter verfolgt zu werden:
die Bedeutung von Selbst- und Lebensphasenkonstruktionen, die Konvergenz von
Schönheits- und Gesundheitshandeln im Lebensverlauf, sowie die Konkurrenz
verschiedener Authentizitätsparadigmen, was den Umgang mit der Plastizität des
Körpers betrifft.
Wer sich dem Thema Vergänglichkeit und Schönheitshandeln primär aus der kriti-
schen Perspektive gesellschaftlicher und medialer Diskurse nähert, dem kann über
die globale Diagnose neoliberaler Regime der Selbstökonomisierung, der Selbst
unterwerfung unter Jugendlichkeitsnormen oder dem Leitbild des produktiven
Alterns entgehen, dass ihre (sozial-)räumlich und zeitlich lokalisierte Aneignung
sowie ihre biografisch-somatische Sedimentierung eigenständige Selbst- und Le-
bensphasenkonstruktionen produziert.
Sicherlich können wir unsere Fälle dahingehend interpretieren, dass Frau R.
und Frau C. im Kontext von Vergänglichkeit dem Diktat eines altersangemessenen
Auftretens folgen, welches ihnen wenig Spielraum für die offensive Darstellung
weiblicher Attraktivität gibt, die aus ihrer Sicht jüngeren Frauen vorbehalten ist.
Und hätten wir ein solches Handeln gefunden (das in anderen Fällen sicher zu
berichten wäre), hätten wir es wiederum als Nachweis für den neuen Typus der
„jungen Alten“ (Thiele et al. 2013) deuten können, der nicht weniger neoliberalen
Maximen folgt und beispielsweise Altern politökonomisch gegen das Zerrbild
lebenslanger Arbeitskraft und Vitalität ausspielt.
So wichtig und richtig gesellschaftskritische Reflexion und Begleitung ist, die
Ebene des Einzelfalls und der Lebensgeschichte erfordert den Einbezug zusätzlicher
Momente. Hierzu zählen nicht nur, aber auch die in den Gesprächen virulenten
Vergleiche von Lebensphasen. Sie sind einerseits Quelle des Leidens an der Ver-
gänglichkeit körperlicher Kräfte und dem vermeintlichen Verlust an Schönheit
und Attraktivität. Altern erscheint in dieser Perspektive als natürlicher Feind von
Produktivität und Attraktivität. Nach Möglichkeit sind die Folgen entsprechend
einzudämmen und zu bearbeiten. Andererseits ermöglichen sie es jedoch ebenso,
den Prozess des Alterns und das Alter als Lebensphase als positiv konnotierte
persönliche Entwicklungsgeschichte zu erfahren, an deren Ende ein Zugewinn an
Unabhängigkeit, Autonomie, Charakterstärke, Lebenserfahrung und Weisheit
150 Wolfgang Reißmann und Dagmar Hoffmann
erlebbar wird: ‚Früher musste man, heute kann man‘. In jungen Jahren laufe
man den Trends und Moden nach, in fortgeschrittenen Jahren lerne man, zu sich
und seinem Körper zu stehen, den eigenen Stil zu finden und selbstbewusst zu
vertreten. Unsere Befragten stimmen sich zuweilen versöhnlich mit körperlichen
Besonderheiten, die sie in früheren Lebensphasen noch als störend empfunden
haben. Lebensphasen sind Konstruktionen, die ihren Sinn erst in der Sukzession,
im Kontrast und im Vergleich erhalten.
Obgleich die Grundspannung des Leidens an Vergänglichkeit nicht aufzulösen
ist und weitere Fälle mehr Varianz erzeugen, kann das Alter und die affirmative
Selbstattribution als Alte/r bzw. alternder Mensch durchaus auch als Befreiung
erlebt werden. Mindestens ist festzuhalten, dass gesellschaftlich kursierende Alter-
stopoi wie das Alterslob, die Altersklage, der Altersspott, der Alterstrost und der
Altersoptimismus (vgl. Göckenjan 2000) nicht unabhängig voneinander bestehen,
sondern in individuellen Selbst- und Lebensphasenkonstruktionen eigenwillige
Verbindungen eingehen.
Hinzu kommt, dass verschiedene heteronormative Einflüsse im Subjekt als
Durchgangspunkt sozialer Praxis zusammenkommen und lebensgeschichtlich
in unterschiedlichen Phasen inkorporiert und verarbeitet werden. Frau R.s Le-
bensmotto, man könne arm, müsse aber sauber sein, ist ein Beispiel für die große
Bedeutung der eigenen familiären Sozialisation. Die biografische Erfahrung, sich
gegen widrige Umstände und ‚Startchancen‘ durchgesetzt zu haben, hat Frau R.
womöglich gelassener gemacht gegenüber Körper- und Schönheitsidealen, die ihr
später begegnet sind, und denen sich Menschen ohne solche Erfahrungen vielleicht
eher fügen. Vergleichbar sind auch andere, im Verlauf des Lebens erworbene Erfah-
rungen und Dispositionen mitzudenken, die sporadisch oder langfristig Einfluss auf
Körpererleben und Schönheitshandeln haben. Frau C.s Schwangerschaftsnarration
verweist etwa auf Lebensphasen kürzerer Dauer, die als außeralltäglich gerahmt
sind und somit eine Freisetzung von den sonst im sozialen Umfeld wahrgenomme-
nen Normen ermöglichen. Überträgt man solche Selbstnarrationen, ist plausibel
anzunehmen, dass neben dem Alter und speziellen Zeiten wie der Schwangerschaft
(sowie Reisen und Urlaube) auch bestimmte Krankheiten und/oder gleichsam ins-
titutionell und medizinisch belegte Beeinträchtigungen – zumindest mit Blick auf
die Verarbeitung von Attraktivitätszwängen und Körperidealen – ‚hilfreich‘ sein
können; was umgekehrt freilich ebenso deutlich macht, dass generell ein Druck
existiert, sich zu gesellschaftlich und medial konstruierten Idealvorstellungen und
Skripten verhalten zu müssen.
„Eigentlich sollte jeder so sterben, wie ihn Gott geschaffen hat …“ 151
Der individuelle Umgang mit und die Arbeit an der Vergänglichkeit der körper-
lichen Erscheinung sind stets auch Ausdruck zeitgebundener gesellschaftlicher
und kultureller Praktiken und Diskurse um die Gestaltbarkeit des Körpers. Bereits
jedes Schminken, jedes Eincremen und jedes Einkleiden ist ein Akt der (Über-)
Formung und die Grenzen zwischen dem, was als normal und grenzwertig gilt, sind
beständig im Fluss. Augenscheinlich probate Mittel, körperlicher Vergänglichkeit
zu begegnen, bieten heute mehr und mehr auch die Optionen der ästhetisch-plasti-
schen Chirurgie, angefangen von Permanent-Make-Up, über Lifting, Hautstraffung
und Botox-Behandlungen, bis hin zu Brustvergrößerungen und -verkleinerungen,
Implantaten usw. (vgl. Crossley 2005; Maasen 2005; Villa 2008). Nicht mehr nur
kurative Eingriffe zum Zwecke der ästhetischen Selbstoptimierung erfahren eine
zunehmende Normalisierung.
6 Schlusswort
Mit dem vorliegenden Beitrag wollen wir dafür werben, die Erforschung kultureller
Diskurse um Leitbilder des Alterns sowie der Schönheit und Attraktivität stärker
mit der alltagsnahen Untersuchung individueller Lebensgeschichten zu verzahnen.
Aufgabe solcher (medien-)biografischer Fallanalysen sollte es sein, zum beider-
seitigen Gewinn zwischen der Ebene der Diskurse und Globaldiagnosen und der
Ebene alltags- und lebensweltlich gerahmten Denkens, Handelns und Erlebens von
Individuen zu vermitteln. Körperwissen, Skripte, Erleben und Handlungspraxen
variieren nicht nur im Hinblick auf Alters- und Lebensphasen, sondern werden
maßgeblich auch von der aktuellen Lebenssituation, von biografischen Erfahrungen
„Eigentlich sollte jeder so sterben, wie ihn Gott geschaffen hat …“ 155
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Jahren, als man zwanzig war.“
Zum Umgang älterer Männer mit
gesundheitlichen Einschränkungen
Monika Reichert und Randi Leibner
1 Einführende Bemerkungen
Männer und Älterwerden – ist das überhaupt ein Thema? Betrachtet man die aktuelle
Belletristik, so scheint das allgemeine Interesse der Gesellschaft daran durchaus
vorhanden zu sein. Bücher, die die subjektive Sicht auf das Älterwerden wiedergeben,
haben hohe Absatzzahlen. Eine Recherche beim Onlinewarenhaus ‚Amazon‘1 mit
den Schlagworten ‚Mann‘ und ‚Altern‘ ergab 454 Treffer. Bei der Wahl der Titel
beweisen die AutorInnen Fantasie. Unter den ersten sieben Treffern finden sich
griffige Titel wie „Der Mann 2000: Die Hormon-Revolution“, „Die zweite Halbzeit
entscheidet: Strategien für Männer ab 40“ und „Altherrensommer: Männer in der
Drittlife-Krise“. Meuser spricht diesbezüglich von ‚Männerverständigungsliteratur‘,
d. h., wenn „Männer über sich und für sich sprechen, als Betroffene zu Betroffenen“
(Meuser 2010, S. 141). Die Entwicklungspsychologin Insa Fooken stellte bereits 1986
fest, dass sich Erfahrungsberichte von Männern über (ihr) Älterwerden vorzugs-
weise in literarischen Vorlagen finden lassen und seltener von Männern stammen,
„…die sich wissenschaft lich mit menschlichem Erleben und Verhalten beschäft igt
haben“ (Fooken 1986, S. 254). Auch neuere Veröffentlichungen konstatieren immer
noch ein Defizit in der gerontologischen Forschung, wenn es um das Altern von
Männern geht (Hammer 2012; vgl. auch Perrig-Chiello 2012). Zwar existieren
mittlerweile im anglo-amerikanischen Raum eine Reihe von themenrelevanten
Studien (z. B. Davidson et al. 2010; Smith et al. 2007) und in Deutschland sind
ebenfalls zunehmend sozialwissenschaft liche Untersuchungen zu finden, die den
Fokus explizit auf ältere Männer richten (Denninger et al. 2014; Hammer 2012).
Gleichwohl stellt sich die Frage, warum der alternde Mann, die vielfältigen Facet-
ten seiner Lebenslage sowie seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse erst
allmählich „entdeckt“ werden.
Ziel dieses Beitrages ist es, einen besonderen Aspekt der Thematik „Männer und
Älterwerden“ herauszugreifen und zwar ihren Umgang mit körperlichen Verände-
rungen bzw. gesundheitlichen Einschränkungen. Hierzu wird in einem ersten Schritt
auf diese Veränderungen bei alternden Männern eingegangen, wobei an dieser Stelle
auch auf das Altersfremdbild und Altersselbstbild Bezug genommen wird. In einem
zweiten Schritt werden sodann ganz allgemein Bewältigungsstrategien im Hinblick
auf die Verarbeitung von (gesundheitsbezogenen) Verlusten vorgestellt. Den Kern
dieses Beitrages bilden drittens die Ergebnisse von acht qualitativen Interviews mit
älteren Männern, die im Rahmen einer Masterarbeit u. a. danach gefragt wurden,
wie sie körperliche Einbußen und Krankheiten erleben bzw. bewältigen (Leibner
2015). Schließlich werden in einem vierten Schritt die dargestellten Ergebnisse
diskutiert und weiterer Forschungsbedarf formuliert.
Die Biologie ist, wie der Gerontologe Paul B. Baltes (2006, S. 30) es einmal treffend
ausdrückte, „keine Freundin des Alterns“. Sichtbare und unsichtbare körperliche
Veränderungen vollziehen sich zwar lebenslang, sie nehmen aber mit steigendem
Lebensalter quantitativ zu und führen in aller Regel zu mehr oder minder starken
Beeinträchtigungen der körperlichen Funktionsfähigkeit (RKI 2009). Diese Beein-
trächtigungen, vor allem, wenn sie schwere und chronische Krankheiten nach sich
ziehen, stellen für viele Menschen ein äußerst kritisches Lebensereignis2 dar (Filipp
& Aymanns 2010). Die weit überwiegende Zahl älterer Männer (und Frauen) dürfte
gesundheitliche Probleme als bedrohlich erleben, u. a. weil sie den Wunsch nach
körperlicher Unversehrtheit in Frage stellen und das Selbstwertgefühl bzw. Selbst-
bild bedrohen (Kruse et al. 2001). Aber auch andere Zeichen des Älterwerdens wie
die Abnahme der Hautelastizität, verlangsamtes Gehtempo und/oder graue Haare
können als einschneidendes Ereignis, als Wendepunkt von jung zu alt, angesehen
werden (Coles & Vassarotti 2012, S. 31).
In Bezug auf die Wahrnehmung körperlicher Veränderungen legt Teising bei
Männern eine Altersgrenze fest: „…spätestens mit etwa 45 Jahren werden kör-
perlich verursachte Veränderungen unübersehbar, man muss seine körperlichen
Grenzen anerkennen“ (Teising 2005, S. 76). Auf eine detaillierte Beschreibung
dieser Veränderungen und der zugrunde liegenden biologischen Abläufe kann
an dieser Stelle nicht eingegangen werden3; stattdessen erfolgt eine Schilderung
einiger gravierender Auswirkungen körperlicher Funktionseinbußen für den
Alltag im Alter. Veränderungen des Sehens und Hörens können beispielsweise zur
Folge haben, dass das Autofahren erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht
wird – gerade für Männer eine schwierige Situation, weil sie sich hierdurch in ihrer
Identität und Selbständigkeit bedroht fühlen (Marottoli et al. 1997). Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen wiederum sind weithin die häufigste Todesursache bei älteren
Männern (Hardt 2006). Gelingt es einen Schlaganfall und/oder einen Herzinfarkt
zu überleben, so kann dies mit starken physischen und psychischen Einschrän-
kungen einhergehen, die eine Pflegebedürftigkeit bzw. die Inanspruchnahme von
Hilfe durch andere Personen nach sich ziehen können (Kolominsky-Rabas 2006).
Gleiches gilt für massive Einschränkungen in der Mobilität, z. B. bedingt durch
rheumatische Erkrankungen (RKI 2009; 2014). Nicht zuletzt sei auf Störungen der
sexuellen Funktionen hingewiesen, insbesondere auf „erektile Dysfunktion“, denn
von den 60- bis 69-Jährigen sind ca. 34,4 Prozent und von den 70- bis 80-Jährigen
53,3 Prozent davon betroffen (vgl. Klotz 2002, S. 249). Männer müssen diese Störung
„…als normale Alterserscheinung verarbeiten und in ihr neues Selbstbild integrieren“
(ebd.), auch wenn sie nach Zeier (2002, S. 17) nichts so sehr befürchten „…wie den
Verlust ihrer sexuellen Potenz“. Dass vielen älterwerdenden und alten Männern
der ‚Horror vor der Impotenz‘ zu schaffen macht, ist aber nur vordergründig ein
sexuelles Problem. Vor allem Männer, die ein traditionelles männliches Selbstbild4
haben, erleben diesen Verlust als narzistische Kränkung (Peters 2011, S. 56).
Es ist somit nicht verwunderlich, dass in den Medien der Gesunderhaltung und
der Fitness des männlichen Körpers eine herausragende Bedeutung zukommt. So
wendet sich die Männerzeitschrift Men’s Health seit Mitte der 1990er Jahre monatlich
mit einer Auflage von knapp 200.000 Exemplaren an interessierte (ältere) Männer,
die ihren Körper gesund, in Form und ihre Attraktivität erhalten bzw. steigern
möchten. Und auch die Werbung für Gesundheit, Kosmetik und einen aktiven
Lebensstil hat – trotz oder aber gerade weil das Alter als aktive und von Freizeit
geprägte Lebensphase männlich konnotiert ist (Thimm 2009) – älter werdende
Männer als Konsumenten entdeckt. Ein ganzer Wirtschaftszweig bedient sich seit
einigen Jahrzehnten der Strategie „Forever young“ und versucht durch Werbever-
sprechen diesem Wunsch entgegen zu kommen, um unerwünschte körperliche
Veränderungen zu verhindern bzw. in ihrer Geschwindigkeit zu kontrollieren
(vgl. Pompe 2012, S. 30). In ihrer Studie analysierten Calasanti und King (2007)
den Inhalt von 96 Anti-Aging-Werbewebseiten in Bezug auf Männlichkeit und
Altern. Sie konnten feststellen, dass Altern als eine Krankheit („sickness“; ebd.,
S. 357f.) definiert wird, die aus einem Verlust an Testosteron, gleichgesetzt mit dem
Verlust von Männlichkeit, resultiert und die nur durch einen aggressiven Konsum
von Anti-Aging Produkten „geheilt“ werden kann (vgl. ebd.).
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage zur Wirkungskraft solcher, über
die Werbung vermittelter, gesellschaftlicher Altersfremdbilder auf das Altersselbst-
bild und auf das damit verbundene bewusste und unbewusste Verhalten. Eine
Vielzahl von Studien verweist diesbezüglich auf die besondere Rolle der Einstellung
zum eigenen Älterwerden. Levy, Slade, May und Caracciolo (2006) sowie Wurm,
Tomasik und Tesch-Römer (2008) konnten zeigen, dass „… die persönliche Sicht
auf das Älterwerden auch langfristige Folgen für die Gesundheit und Langlebig-
keit haben kann“ (Wurm & Huxhold 2012, S. 32). Personen mit einem positiven
Altersselbstbild fielen im Vergleich zu jenen, die ein eher negatives Altersselbstbild
hatten, durch ein ausgeprägtes, gesundheitsförderndes Verhalten auf. Sie waren vor
allem körperlich aktiver und passten zudem Art und Ausmaß ihrer körperlichen
Aktivität ihrem Gesundheitszustand an. Kruse und Schmitt (2010, S. 147) kommen
ebenfalls zu dem Schluss, dass die Betonung von negativen Aspekten des Alter(n)
s, z. B. in der Werbung, insbesondere „…dann Auswirkungen auf Selbstbild und
Leistungsfähigkeit älterer Menschen hat, wenn diese bei sich selbst Einbußen und
Defizite befürchten, erwarten oder bereits annehmen (im Sinne von „stereotype
threat“; Hess et al. 2003).
Trotz der herausragenden Bedeutung von physischer und psychischer Gesundheit
für das Selbstbild, für Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden rücken der (alternde)
männliche Körper und der Umgang mit seiner Verletzlichkeit interessanterweise
erst in jüngster Zeit verstärkt in das Blickfeld der sozialen Gerontologie (Backes
2012) und der Geschlechterforschung (vgl. Meuser 2013, S. 274). Dass der Lebens-
bereich „Gesundheit“ für ältere Menschen einen sehr hohen Stellenwert hat, zeigen
„Man darf nicht immer vergleichen mit den Jahren, als man zwanzig war.“ 163
auch die Ergebnisse der Generali Altersstudie von 2013: So nannten 77 Prozent
der befragten Männer und Frauen im Alter von 65 bis 85 Jahren spontan als größ-
ten Wunsch „gesund zu bleiben“, wobei Unterschiede nach Altersgruppen oder
Geschlecht kaum vorhanden waren. Zum Vergleich: Erst mit einem deutlichen
Abstand folgte mit 17 Prozent das Wohlergehen der Familie als größter Wunsch
(Generali Zukunftsfonds 2012).
Gleichwohl wird das Gesundheitsverhalten von (älteren) Männern immer wieder
bemängelt, was sich in so plakativen Aussagen wie „Männer wissen häufig mehr
über ihren Fußballverein als über ihren Körper“ (Reitz 2008, S. 17) niederschlägt.
Diese und ähnliche Aussagen sollen darauf verweisen, dass Männer mit ihrem
Körper leichtfertig und wenig gesundheitsbewusst umgehen. Betrachtet man die
diesbezüglichen Forschungsergebnisse, so lässt sich in der Tat beobachten, dass
Männer im Vergleich zu Frauen ein riskanteres Verhalten in Bezug auf Alkohol-,
Tabak- und Drogenkonsum, im Straßenverkehr und/oder in Bezug auf gefährliche
Sportarten zeigen (Perrig-Chiello 2012; RKI 2014), sie aber auch im weitaus höheren
Maße gesundheitsgefährdende Berufe ausüben (Dinges 2010). Hinzu kommt die
geringere Inanspruchnahme von ärztlicher Behandlung im Falle physischer und
psychischer Erkrankungen sowie von Angeboten der Gesundheitsvorsorge durch
Männer (RKI 2014). Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass hierfür auch
strukturelle Bedingungen ursächlich sind. Dinges (2010) kommt auf der Basis
seiner Untersuchung zu folgenden Erkenntnissen: Die Hauptadressantinnen von
Angeboten der Gesundheitsaufklärung und Prävention sind mit weitem Abstand
Frauen, d. h. Männer fühlen sich häufig davon nicht angesprochen bzw. vermissen
besondere männerspezifische Angebote (vgl. auch Eickenberg, 2003; RKI 2014).
Das männliche (Risiko-)Verhalten lässt sich zum einen auf ein spezifisches
Männlichkeitsmuster zurückführen (vgl. Kruse et al. 2001, S. 41). Demnach be-
deutet Gesundheit für viele Männer vor allem Leistungsfähigkeit, d. h. der Körper
soll – ähnlich einer Maschine – möglichst problemlos funktionieren (Radebold
2012; vgl. auch Slevin 2008). Noch immer gilt: „Der Mann wird als Souverän über
seinen Körper begriffen, der von seinem Körper Gebrauch macht, um die Ziele zu
erreichen, die sein freier Wille setzt“ (Meuser 2013, S. 279). Die Ursache hierfür
sieht die sozialwissenschaftlich orientierte Männerforschung im Wesentlichen in
der kindlichen Sozialisation, in der traditionell männliche Verhaltensweisen wie
Dominanz, Leistung, Konkurrenz und Gefühlsunterdrückung verstärkt werden
(Böhnisch 2013; Möller-Leimkühler 2005). Inwieweit diese Aspekte auch das Be-
wältigungsverhalten beeinflussen, wird in Gliederungspunkt 4 erörtert.
164 Monika Reichert und Randi Leibner
Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage, wie ältere
Männer mit den kritischen Lebensereignissen Krankheit und Behinderung zu-
rechtkommen, wenn diese erst einmal eingetreten sind. Auf der Basis vorliegender
Forschungsergebnisse aus der Psychologie und aus den Gesundheitswissenschaften
lassen sich eine Reihe von psychischen Faktoren bzw. Bewältigungsstrategien iden-
tifizieren. Im Rahmen dieses Beitrages ist es nicht möglich, alle Bewältigungsmodi
und die jeweils zugrundeliegenden theoretischen Ansätze eingehend vorzustellen.
Vielmehr soll hier ein Überblick über zentrale Bewältigungsformen mit dem Ziel
gegeben werden, die nachstehend dargelegten Ergebnisse der bereits erwähnten
Masterarbeit interpretieren zu können.
Gemäß Filipp und Aymanns (2010) kann zunächst generell zwischen „Bewälti-
gung als mentales Geschehen“ und „Bewältigung als sozial-interaktives Geschehen“
unterschieden werden. Zu der erstgenannten Kategorie gehören z. B. Bewältigungs-
stile wie das sogenannte komparative Denken, das sich u. a. auf soziale Vergleiche
der eigenen Lage mit der Lage anderer Personen und/oder auf temporale Vergleiche
bezieht, bei der die derzeitige Lage „…relativ zu einem früheren (oder antizipierten
künftigen) Referenzzeitpunkt betrachtet wird“ (ebd., S. 163). Darüber hinaus sind
assimilative und akkomodative Bewältigungsprozesse zu nennen (Brandtstädter
2007). Bei Assimilation steht eher die hartnäckige Zielverfolgung im Vordergrund,
d. h. es wird versucht, die wahrgenommene „Soll-Ist-Diskrepanz“ (z. B. Soll = selb-
ständige Lebensführung, Ist = gesundheitsbedingte Mobilitätseinschränkungen)
durch Veränderung der Situation und/oder des eigenen Verhaltens auszugleichen.
Unter Akkomodation ist hingegen der Prozess der flexiblen Zielanpassung durch
Neuordnung von Absichten und Plänen, Abwertung blockierter Ziele und/oder der
sinnstiftenden Interpretation von Verlusten zu verstehen. Statt weiterhin ein u. U.
unerreichbares Ziel (weiter) zu verfolgen, passt sich das Selbst an die eventuell nicht
(weiter) zu verändernde Situation an. Da mit zunehmendem Alter in aller Regel
die notwendigen Ressourcen – z. B. zum Erreichen des Ziels „gesund bleiben“ –
nachlassen, erstaunt es nicht, dass eine Anzahl von Untersuchungen belegen kann,
dass akkomodative Prozesse in späteren Phasen des Lebens immer häufiger werden
und somit protektiv zur Lebenszufriedenheit beitragen (Börner 2004; Kranz et
al. 2010). Darüber hinaus benennen Filipp und Aymanns unter den Stichworten
„Bewältigung als mentales Geschehen“ noch weitere personale Ressourcen, die
geeignet sind, den Problemdruck in schwierigen Lebenssituationen zu verringern.
Genannt werden z. B. Resilienz, verstanden als psychische Widerstandsfähigkeit,
Selbstwirksamkeitserwartungen bzw. internale Kontrollüberzeugungen (die Über-
„Man darf nicht immer vergleichen mit den Jahren, als man zwanzig war.“ 165
wie vermeintlich hilfreiche Hinweise, die das kritische Ereignis in seiner Schwere
herunterspielen („Das wird schon wieder“). Häufig resultieren die problematischen
Aspekte von Bewältigung als sozial-interaktives Geschehen aus zwei Quellen: Zum
einen aus der Hilflosigkeit und Verunsicherung des Helfers/der Helferin angesichts
des zu lösenden Problems und zum anderen aus einer unterschiedlichen Vorstellung
der Beteiligten, was unter „gute Bewältigung“ zu verstehen ist (zur Übersicht siehe
Filipp & Aymanns 2010).
Die „radikalste“ Bewältigungsform stellt angesichts von (gesundheitlichen) Le-
benskrisen zweifellos der Suizid dar. Vor allem für Männer nimmt das Suizidrisiko
mit dem Alter deutlich zu (vgl. Schmidtke et al. 2008, S. 10). Teising sieht den Grund
für die hohen Suizidziffern z. B. bei den 80-jährigen Männern in narzisstischen
Kränkungen und Versuchen, „…die autonome Selbstbestimmung mit der suizidalen
Handlung doch noch in der Hand zu behalten, ein letzter psychosomatischer Akt“
(Teising 2005, S. 77).
Generell sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Art der eingesetzten
Bewältigungsstrategien von vielen Bedingungen abhängig ist. Filipp hat in den
1980er Jahren ein umfassendes, mehrfach überarbeitetes heuristisches Modell ent-
wickelt, das im Folgenden kurz skizziert werden soll (Filipp, 1995; vgl. auch Filipp
& Aymanns 2010). So nennt sie zunächst die sogenannten distalen (z. B. Formen
der antizipatorischen Sozialisation, Bewältigungsbilanz) als auch die proximalen
Faktoren (z. B. Personenmerkmale, d. h. die aktuelle biophysische und psychische
Ausstattung einer Person) sowie Kontextmerkmale, d. h. die soziale und dingli-
che Umwelt. Die distalen Faktoren beeinflussen sowohl die Person- als auch die
Kontextmerkmale, die wiederum in Wechselwirkung zueinander stehen und ein
Passungsgefüge bilden. Die individuelle Einschätzung eines kritischen Lebenser-
eignisses als bedrohlich oder nicht wird dem Modell gemäß durch objektive (z. B.
Dauer) und durch subjektive Ereignismerkmale (z. B. Kontrollierbarkeit) bestimmt,
wobei für diese Einschätzung die vorhandenen Personen- und Kontextmerkmale
von entscheidender Bedeutung sind. Mit anderen Worten: Die letztgenannten
Merkmale können nicht nur dazu beitragen, ob ein bestimmtes Lebensereignis
eintritt oder nicht, sondern auch ob es als mehr oder weniger bedeutsam bzw.
bedrohlich interpretiert wird. Schließlich bedingen Person- und Kontextfaktoren
die Ressourcen für die Art der Auseinandersetzung mit dem kritischen Ereignis
bzw. für die Möglichkeiten, das Ungleichgewicht zwischen Person und Umwelt
wieder herzustellen.
Wohl wissend, dass Wechselbeziehungen und gegenseitige Beeinflussungen der
aufgeführten Faktoren existieren, diese aber hier nicht beschrieben werden können,
soll anhand des kritischen Lebensereignisses „chronische Erkrankung Rheuma“
das Modell von Filipp noch einmal an einem Beispiel veranschaulicht werden:
„Man darf nicht immer vergleichen mit den Jahren, als man zwanzig war.“ 167
Als distaler Faktor wäre hier z. B. ein Schulungskurs mit Informationen über das
Krankheitsbild „Rheuma“ zu nennen, der präventiv besucht worden ist (antizipa-
torische Sozialisation). Personenmerkmale, die den Eintritt, die Interpretation der
Krankheit als bedrohlich und die Ressourcen zu ihrer Bewältigung (mit) deter-
minieren, wären z. B. genetische Vorbelastung (sie erhöht die Wahrscheinlichkeit
zu erkranken), sonstiger Gesundheitszustand und/oder Ausmaß des Erlebens von
Selbstwirksamkeit. Die letztgenannten Faktoren beeinflussen sowohl die Bewertung
der Krankheit als kritisch oder nicht wie auch die verfügbaren Möglichkeiten für die
Wahl des Bewältigungsverhaltens: Ein guter gesundheitlicher Allgemeinzustand und
ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit erleichtern den Umgang mit der Erkrankung
und erlauben zudem andere Bewältigungsmodi (z. B. eher handlungsorientierte
Strategien wie regelmäßige Bewegung), als wenn das Gegenteil der Fall ist. Auch
Kontextmerkmale beeinflussen die Eintrittswahrscheinlichkeit des kritischen
Lebensereignisses, seine Interpretation als auch die Art des Umgangs. Das Kon-
textmerkmal „schlechte Wohnbedingungen“ kann eine rheumatische Erkrankung
fördern (Eintrittswahrscheinlichkeit), das Merkmal „günstige materielle Lage“ die
Finanzierung von Hilfs- und Heilmitteln und damit einen aktiven Umgang mit
den Krankheitsfolgen ermöglichen.
Die bisherigen Ausführungen resümierend bleibt festzuhalten, dass es sich
bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen (wie z. B. eine chronische
Erkrankung) um ein äußerst komplexes Geschehen handelt. Es müssen zunächst
einmal Handlungsressourcen verfügbar sein, die jedoch individuell wie auch in-
traindividuell (nach Lebensphase, nach Lebensbereich) unterschiedlich ausgeprägt
sind. Die Frage also, warum ältere Männer beispielsweise auf eine (scheinbar) gleiche
Krankheit oder auf gesundheitliche Einbußen so verschieden reagieren können,
wird auf der Grundlage des oben beschriebenen Modells leichter einsichtig.
Im Folgenden werden die Daten der eingangs erwähnten Masterarbeit von Randi
Leibner vorgestellt. Im Zentrum ihrer Arbeit stand die Frage, wie Männer mit Ver-
änderungen, die das Alter(n) mit sich bringt, umgehen und wie sie diese bewerten.
Als zentrale Methode wählte Leibner das qualitative leitfadengestützte Interview,
das durch weitere Erhebungsinstrumente (z. B. Skalen zur subjektiven Einschätzung
des Gesundheitszustandes und der allgemeinen Lebenszufriedenheit) ergänzt wur-
168 Monika Reichert und Randi Leibner
de (zu den diesbezüglichen Ergebnissen siehe Tabelle 1). Das von ihr untersuchte
Sample umfasste acht Personen, die aufgrund ihrer ehemaligen beruflichen Tätigkeit
(vom einfachen Arbeiter über den Facharbeiter bis hin zum Geschäftsführer) in
unterschiedlichen sozialen Milieus zu verorten sind. Die Interviewten gehören den
Jahrgängen 1933 bis 1954 an, d. h. sie waren zum Zeitpunkt des Interviews zwischen
59 und 81 Jahre alt (siehe Tabelle 1). Die Auswertung des Interviewmaterials basiert
auf der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010), wobei die diesbezüglich
erzielten Ergebnisse im Folgenden zunächst bezogen auf die einzelnen Befragten
und mit Rückbezug auf die Ausführungen in Gliederungspunkt 3 dargelegt werden.
In der Diskussion erfolgt sodann eine zusammenfassende Analyse.
Für diesen Beitrag sollen die Aussagen der Interviewten zu ihrem Gesundheits-
zustand und zum Umgang mit dem eigenen Körper in den Mittelpunkt gestellt
werden. Dass das Alter – wie weiter oben dargelegt – mit vielfältigen körperlichen
Beeinträchtigungen einhergehen kann, verdeutlicht das folgende Zitat einer der
interviewten Männer: „Du bist nicht mehr 20, du lässt in der Kondition nach, die
Körperkräfte lassen nach, ich schlaf mehr als früher, ich muss anders essen, ich
„Man darf nicht immer vergleichen mit den Jahren, als man zwanzig war.“ 169
werd schneller dick, also viele Faktoren, ich kann sie gar nicht alle aufzählen, die
das Alter dann auch nicht grade schöner machen“ (Herr D, 68 Jahre).
Welche große Bedeutung der Gesundheit beigemessen wird, lässt sich anhand
der Antworten nach den Zielen bzw. Wünschen, die die interviewten Männer haben,
veranschaulichen. Herr B (69 Jahre) antwortet „Dann ist eigentlich der Wunsch,
auch wenn der abgedroschen sich anhört. Lass uns gesund bleiben, dann ist eigent-
lich alles gut ne. Man kann alles noch machen, wenn man gesund ist, kann man
alles machen.“ Herr G (77 Jahre) hat den Wunsch: „Dass ich äh, wie soll ich sagen,
ohne große Krankheiten noch etwas älter werde.“ Herr A (64 Jahre) wünscht sich
„in relativer Gesundheit geistig und körperlich alt zu werden“.
Vor dem Hintergrund dieser Zitate und der bisherigen theoretischen Ausführun-
gen stellt sich nunmehr die Frage, wie die im Rahmen der Masterarbeit Befragten
körperliche Veränderungen und gesundheitliche Einschränkungen erleben und
welche Strategien sie jeweils anwenden, um diese zu bewältigen. In diesem Zu-
sammenhang sei angemerkt, dass die Faktoren, die das Bewältigungsgeschehen
maßgeblich (mit) bestimmen (z. B. Persönlichkeitsfaktoren, individuelle Sozialisa-
tionserfahrungen, genauere Lebensumstände) hier keine Berücksichtigung finden
können. Gleichwohl dürften dennoch bestimmte (typische) Verhaltensmuster und
psychische Anpassungsmechanismen beschreibbar sein, wenn die Aussagen der
Männer nach und nach genauer betrachtet werden. Es sei noch angemerkt, dass Herr
B (außer mit obigem Zitat) und Herr F sich kaum zum Themenbereich „Gesundheit“
geäußert haben. Auf beide Männer wird nachstehend nicht weiter eingegangen.
Herr A (64 Jahre): Herrn A sind seine körperliche Fitness, aber auch sein Aussehen
sehr wichtig. Mehrmals in der Woche treibt er Sport. Auf die Frage nach seinem
Gesundheitszustand antwortet er mit „gut“, schließt daran aber als Ergänzung an:
„Man darf ja nicht immer dann vergleichen mit den Jahren als man zwanzig war.“
Die Verwendung des weiter oben beschriebenen temporalen Vergleichs als Form der
Bewältigung erleichtert es Herrn A, die körperlichen Veränderungen anzuerkennen.
Die folgende Aussage verweist zudem darauf, dass Herr A seine Erkrankung unter
Kontrolle hat: „Ich leide unter Rheuma. Ja aber das ist ein ganz geringer Grad und
diesen Rheumazustand, den habe ich auch gut im Griff.“ „Gut im Griff“ passt zu
dem Bild, dass der männliche Körper durch eigenes Handeln beherrschbar ist. Der
Körper wird von Herrn A als ein verletzliches und zu schützendes Gut angesehen.
So erzählt er, wesentlich mehr Sport zu treiben, seitdem er nicht mehr arbeitet.
Da er unter Arthrose im rechten Sprunggelenk leidet, hat er die Waldläufe, die er
früher regelmäßig gemacht hat, eingestellt und sich „umgestellt aufs Radfahren und
Schwimmen und damit habe ich keine Probleme“, ein Vorgehen, das zumindest in
Teilen dem SOK-Modell entspricht. Beim Sport vergleicht Herr A seine Leistungsfä-
170 Monika Reichert und Randi Leibner
higkeit mit der von gleichaltrigen Männern. Unter diesem sozialen Vergleich leidet
er aber nicht: „Ich mache meine Ziele, die mache ich an meiner Leistungsfähigkeit,
an meiner eigenen Leistungsfähigkeit fest und bin damit zufrieden.“ Neben dem
gesundheitsfördernden Aspekt benennt Herr A noch zwei weitere Vorteile, die er
durch den Sport hat. Da er Sport in der Gruppe treibt, kommt er mit anderen in
Kontakt. Der Sport hilft ihm auch zudem, sein äußeres Erscheinungsbild aktiv
zu gestalten: „Ich achte schon darauf, dass ich nicht übergewichtig werde, dass
ich relativ elastisch bleibe. Ich mache auch entsprechende Übungen und versuche
mich auch zu pflegen oder pflege mich.“ Bei diesen Äußerungen von Herrn A
wird deutlich, dass er das Gefühl hat, im Sinne internaler Kontrolle Einfluss auf
den Prozess des Alterns nehmen zu können. Diese wiederum ermöglicht ihm eine
instrumentell orientierte Form der Bewältigung. Daneben lassen sich bei ihm aber
auch akkommodative Prozesse beobachten. Anstatt seine Ziele, auch auf Kosten
seiner Gesundheit hartnäckig zu verfolgen, passt sich Herr A flexibel den neuen
Gegebenheiten an. Er äußert: „Ich kann damit gut leben und bin damit zufrieden
mit dem, was ich machen kann.“
Herr E (59 Jahre): Als Kontrast zu Herrn As fürsorglichen Umgang mit dem eige-
nen Körper ist Herr E anzuführen, der lange Zeit seine Gesundheit wider besseres
Wissen vernachlässigt hat. Mit 58 Jahren erlitt er einen Herzinfarkt. „Ja wenn man
sich 58 Jahre schlecht ernährt und weiß, dass man einen Hang zur Arterienver-
kalkung hat, dann muss man sich nicht wundern, wenn man irgendwann umfällt.
Das kann ich jetzt im Nachhinein sagen. Vorher war mir das nicht KLAR. Ich hätte
da ganz anders mit umgehen können, aber das hab ich nicht irgendwie auf mein
Alter geschoben. Ne.“ Obwohl Herr E durch die Diagnose der Arterienverkalkung
über seine Disposition zu Herzinfarkt und Schlaganfall gewarnt war, hielt er sich
nicht an eine gesunde Lebensweise. „Ich hatte vor einiger Zeit so einen Fast-In-
farkt und da habe ich schon Stents bekommen und ich war gewarnt, aber ich hab
nicht gescheit reagiert. Ich hab das irgendwie, weiß ich gar nicht, ausgeblendet?
Ich hab zwar drüber geredet, aber nichts getan. Also weder anders gegessen, noch
abgespeckt, noch regelmäßig zum Arzt gegangen.“ Begründen kann Herr E sein
damaliges Verhalten nicht. Der Herzinfarkt vor einem Jahr stellte ein kritisches
Lebensereignis dar, das ihn dazu bewegt hat, seinen gesundheitlichen Problemen
mehr Aufmerksamkeit zu schenken und sich nunmehr verantwortlich für seine
Gesundheit zu fühlen. Folglich ändert Herr E seine Bewältigungsstrategie von de-
fensiven Reaktionsformen wie Verdrängung auf „Problem bearbeiten“. „Da habe ich
Schiss bekommen. Da habe ich also, da war ich HOCHmotiviert meine Ernährung
zu verändern. Da musste mir dann keiner mehr gut zureden. Das war ein einschnei-
dendes Erlebnis. Ich glaube nach nem Herzinfarkt, da ist die Welt nicht mehr so
„Man darf nicht immer vergleichen mit den Jahren, als man zwanzig war.“ 171
wie sie vorher war. Also diese Endlichkeit wurde da so deutlich.“ Hinzu kommt
bei Herrn E die kognitive Verarbeitung der gesundheitlichen Einschränkungen
durch den sozialen Abwärtsvergleich („downward comparison“). Er reflektiert dies
und bekennt sich schmunzelnd dazu. So enden die Vergleiche mit Gleichaltrigen
„immer zu meinen Gunsten. Mein bester Freund Wolfgang der ist zwar körperlich
noch etwas fitter, aber der ist dann etwas breiter geworden, dem sind sämtliche
Haare ausgefallen, der hat also auch gesundheitliche Schwierigkeiten. Bei wieder
anderen, da denke ich ‚mein Gott, die interessieren sich ja für überhaupt nichts‘.
Also ich bin eingebildet genug, immer zu meinem Vorteil entscheiden zu können.“
Auftretende Krankheiten oder akute Ereignisse wie ein Herzinfarkt können den
Betroffenen sehr deutlich die Endlichkeit des Lebens vor Augen führen. Sie können
Auslöser sein, das Leben zu überdenken und eine Neujustierung der eigenen Werte
und Ziele im Sinne assimilativer Prozesse vorzunehmen.
Herr D (68 Jahre): Herr D, seit einem Jahr Träger eines Herzschrittmachers, wurde
sich der Endlichkeit seines Lebens während eines Arztbesuches bewusst. „Ich hab
einen Schrittmacher, meine Batterie hält 16 Jahre. Nur mal als Beispiel. Da sagt der
Kardiologe, Ja, da haben wir noch Zeit‘. ‚Ja ja, ich sag, weiß ich, ob ich noch so alt
werde?‘ Da kommen so ganz komische Gedanken. Manchmal will ich gar nicht so alt
werden, mit der Angst ich werde dann so meschugge. Oder behindert oder oder lieg
im Bett was weiß ich.“ Gleichwohl lässt sich bei Herrn D als Bewältigungsstrategie
im Umgang mit seiner Herzerkrankung das SOK-Modell erkennen, denn er passt
seine sportlichen Aktivitäten seiner körperlichen Leistungsfähigkeit an. „Ich kann
kein Tischtennis spielen. Das ärgert mich am meisten. Ich spiele gerne Tischtennis,
aber das ist mit dem Stoppen immer so, Fahrrad fahren geht“ (Selektion). „Wenn
ich beim Sport bin, da sitzt einer neben mir, der ist so alt wie ich, der fährt dann
drei Meter weiter mit dem Fahrrad, und dann habe ich den Ehrgeiz jetzt fahre ich
auch nochmal fünf Meter. Also ich vergleiche schon“ (Optimierung). „Bewegung
ist das A und O. Wenn ich mich nicht bewegen kann, wie auch immer, dann geht
es mir gar nicht gut.“ „Es sind so kleine Wehwehchen im Alter, aber die kann ich
ganz gut mit umgehen, hab die auch im Griff“ (Kompensation).
Herr G (77 Jahre): Sehr aufschlussreich sind die Aussagen von Herrn G, denn
hier zeigen sich ebenso wie bei Herrn A intraindividuell unterschiedliche Bewälti-
gungsstile, die in Abhängigkeit vom jeweiligen gesundheitlichen Problem variieren.
Herr G hat zunächst einmal ein eher fatalistisches Verhältnis zu seinem Körper.
Sein Leben lang hat er keinen Sport getrieben und sieht auch keinen Sinn darin.
„Es gibt ja Verrückte, die laufen den ganzen Tag durch die Gegend und meinen
sie würden die Gesundheit da erhaschen.“ Diese Aussage lässt darauf schließen,
172 Monika Reichert und Randi Leibner
dass Herr G das Ziel im Sinne der Assimilation abwertet. Stattdessen richtet sich
seine Energie auf den Erhalt der Mobilität durch das Autofahren. Nach seiner
Oberschenkelhalsfraktur hatte für ihn höchste Priorität, „dass ich wieder Auto
fahren konnte.“ Er hat sich ein klares Ziel gesetzt, das er unbedingt erreichen wollte
und hat seine Ressourcen diesbezüglich eingesetzt – ein gutes Beispiel für Akko-
modation als Bewältigungsstil. Obwohl Herr G zum Zeitpunkt des Interviews an
Unterarmgehstützen läuft, bewertet er seinen Gesundheitszustand als gut. „Wenn
sie umfallen, wenn sie ne böse Krankheit kriegen, ist was anders, aber dies ist hier
jetzt ja was ((deutet auf seinen Oberschenkel)) was man wieder heilen kann. Ja. Ist
was mechanisches, was da kaputt gegangen ist. Aber sonst habe ich insofern von
Krankheit bin ich verschont geblieben. Hoffe ich. (…) Außer mechanische Dinge
habe ich nichts, krankheitsmäßig, und das hat mich fürchterlich geärgert, wenn
sowas gebrochen ist. Dann wandern sie durch alle Krankenhäuser und dann sehen
sie das ganze Elend der Welt. Da sehen sie das Elend also. Da habe ich gesagt, hier
muss ich weg. (…) Hauptsächlich ist ja diese böse Krankheit wie Krebs.“ Diese klare
Differenzierung zwischen einer Krankheit, die nicht mehr heilbar ist („Elend der
Welt“), und etwas Mechanisches, „was man wieder heilen kann“, ermöglicht es
Herrn G seine Gesundheit als gut zu bezeichnen. Diese Vorstellung von Krankheit
als etwas Mechanischem taucht noch einmal auf, als Herr G von seiner Operation
entlang der Wirbelsäule vor einigen Jahren erzählt. Er schob diese Operation auf,
weil er große Angst hatte: „Ich sag und wenn sie mir da hinten einen Nerv daneben
setzen, dann sitze ich im Rollstuhl.“ Die Operation verlief erfolgreich: „Dann haben
sie diese Spinalkanäle der Wirbelsäule so, acht Stück. Die Nerven eingeklemmt und
die haben sie alle frei gemacht. Wie so ein altes Stromkabel was platt ist.“ Durch
die technische Beschreibung der Operation und die anschauliche Schilderung wie
„altes Stromkabel, was platt ist“ nimmt Herr G der Situation offensichtlich ihre
Bedrohlichkeit. Neben der Sicht des eigenen Körpers als etwas „mechanisches“, als
etwas zu reparierendes, bedient sich Herr G einer weiteren Form der Bewältigung:
dem sozialen Abwärtsvergleich. Den nimmt Herr G während seines Krankhaus-
aufenthaltes auf einer geriatrischen Station mit Menschen mit Demenz vor. „Aber
wenn sie da sehen, wie die da rumlaufen die Geister. Also da möchte ich nicht in
diese Kategorie rein. Und das habe ich auch den Schwestern gesagt da.“ Vergleicht er
seinen Zustand mit dem von Menschen mit Demenz, führt dies zu einer Steigerung
der Selbstachtung bezüglich seines eigenen Gesundheitszustandes und fördert den
Bewältigungsprozess. Seine Abhängigkeit sieht er als temporär an, er ist im Kran-
kenhaus, um „wieder hergerichtet“ zu werden. „Ich hatte ja nur eben ein Beinbruch
und war dann in diese Kategorie [geriatrische Abteilung]5 reingerutscht.“ Insgesamt
vermittelt Herr G den Eindruck, in Bezug auf seine gesundheitliche Situation Herr
der Lage zu sein, d. h. er hat offensichtlich das Gefühl von Selbstwirksamkeit und
internaler Kontrolle.
Herr C (65 Jahre): Herr C geht keiner sportlichen Aktivität nach, „überhaupt
nichts, aber das wird demnächst kommen, momentan NICHTS, Null“. Seinen
Gesundheitszustand bewertet er als gut. Als einziger Interviewter benennt Herr
C keine gesundheitlichen Einschränkungen. „Nach 25 Jahren war ich zum ersten
Mal beim Arzt und hab Topblutwerte wie ein Baby.“ Vor dem Hintergrund dieser
guten Nachricht scheint bei Herrn C Optimismus als Bewältigungsstrategie gegen
mögliche gesundheitliche Probleme durchaus angebracht. Veränderungen stellt
Herr C bei sich fest: „Körperlich sicher, kann ich jetzt sagen man kommt schon
mal schwerer die Treppen rauf, liegt’s ja an meiner ganzen Faulheit. Das kann sich
ja alles ändern.“ Auch hier scheint ein Bewusstsein für die eigene Handlungsfähig-
keit gemäß der internalen Kontrolle bzw. für Selbstwirksamkeit vorzuliegen. Herr
C weiß, wo er ansetzen muss, um seine körperliche Fitness in positiver Weise zu
beeinflussen. Seinen Entschluss, Sport zu treiben, begründet er folgendermaßen:
„Ich kann mich ja nicht über alles hinwegsetzen, da bin ich eigentlich ganz gut in
Anführungsstrichen gewesen, ich kann mich nicht über die wissenschaftlichen
Erkenntnisse der Ärzte…. Bewegung ist einfach nur gut. Da kann ich nicht sagen
ich heiße Herr C. ICH zweifle das an. Verstehen Sie? Habe ich ja jahrelang gemacht
so ist es ja.“ Herr C vergleicht seine Kondition mit der einer Bekannten: „Die ist
siebzig, die rennt bis in den fünften Stock hoch.“ Dieser soziale Aufwärtsvergleich
dient Herrn C zum einen als Ansporn und zum anderen verdeutlicht das Bild, dass
es auch für ihn im höheren Alter möglich ist, fit zu sein. Zu seinen Schwächen, die
er sich selbst zuschreibt, zählt Herr C, „dass ich zu viel qualme (…) Ne Packung
am Tag. Wird aber weniger.“ Herr C hält seine Handlungsfähigkeit im Hinblick auf
etwaige gesundheitliche Einschränkungen aufrecht, indem er als Grund für seine
Probleme beim Treppensteigen „meine ganze Faulheit“ anführt, diese lässt sich in die
Rubrik ‚selber schuld‘ einordnen und stellt keine Gefährdung des Selbstbildes dar.
Herr H (68 Jahre): Herr H ist ein Beispiel dafür, welche Rolle die soziale Umwelt im
Bewältigungsgeschehen einnehmen kann. Von allen Interviewpartnern ist er der
einzige, der sowohl seinen Gesundheitszustand (schlecht) als auch seine Lebenszu-
friedenheit (mangelhaft) mit der jeweils negativsten Ausprägung bewertet. Herr H
wiegt bei einer Größe von 1,93 m um die 140 kg, d. h. es handelt sich um Adipositas
Grad II (vgl. Deutsche Adipositas Gesellschaft, 2015). Herr H ist sich bewusst, dass
sein Übergewicht ein Risiko für seine Gesundheit darstellt. Vor über zehn Jahren
wurde Herr H operiert, weil er Nierenkrebs hatte. „110 [kg] habe ich gehabt, 110
174 Monika Reichert und Randi Leibner
und dann sagt der Professor in B., wo er mich operiert hat … haben sie von vorne
aufgeschnitten hier und dann haben sie ein Netz reingemacht. ‚Pass auf‘, sagt er
‚Junge‘, sagt er. ‚Nicht mehr als 115‘, sagt er, ‚Dann reißt das Netz und dann hast du
den ganzen Bauch kaputt‘. Ich sag ‚Mach keinen Scheiß‘. ‚HÖR was ich dir sage!‘ So
und jetzt ((murmelt vor sich hin)) naja gut.“ Mittlerweile liegt Herrn H´s Gewicht
25 kg über der ärztlich festgelegten Obergrenze. Zum Zeitpunkt des Interviews
benennt Herr H keinen konkreten Plan zur Gewichtsreduktion. Die Verantwortung
für seine Ernährung sieht er bei seiner Bekannten Trude, die ihm im Haushalt hilft
und öfter für ihn kocht. „Das [starke Übergewicht] ist mit Trude erst gekommen.
Trude isst gerne Fleisch, sie ist ja auch so dick und heute Mittag gab es ein Kotelett,
ich sage Trude, es reicht doch Kartoffelsalat. Ja aber, sagt sie, du musst doch was auf
die Rippen.“ Herr H überträgt somit die Verantwortung für sein Übergewicht auf
seine Partnerin und fügt sich im Sinne externaler Kontrollüberzeugungen mehr oder
minder in sein Schicksal. Wichtig ist Herrn H hingegen der Erhalt seiner Sehfähigkeit.
Hierfür hat er seine sonst eher passive Rolle aufgegeben und stattdessen aktiv nach
Hilfe im sozialen Umfeld gesucht. Nachdem die Behandlung einer Augenerkrankung in
B. abgeschlossen war, vereinbarte er einen Termin in einer 200 Kilometer entfernten
Spezialklinik in M. Die Ärztin dort tätigte eine ausgiebige Untersuchung. „Habe ich
350 Euro selber bezahlt, war mir ja egal, war ja unwichtig.“ Zu einer weiteren Unter-
suchung fuhr Herr H in das 100 Kilometer entfernte K. Der Arzt zog eine Operation
in Betracht, machte Herrn H aber auf das damit verbundene Risiko aufmerksam:
„Nein, also er hat zehn Leute operiert, pass auf jetzt kommt es und von den zehn
Leuten sind fünf ganz blind geworden. ‚Was heißt das?‘ sage ich jetzt zu ihm. ‚Das
Risiko ist 50 Prozent‘. ‚Ne‘ sage ich, ‚dass ich, wenn sie jetzt bei mir schnippeln und
dann nächste Woche bin ich ganz blind. Dann sehe ich gar nichts mehr?‘ Und guck
mal, wenn ich jetzt die Augen zu mache ((Herr H macht die Augen zu)), ne ne ne
dann komm, ‚Tschüsskchen‘, sage ich.“ Herr H suchte verschiedene ÄrztInnen auf,
um die Chance, seine Sehfähigkeit zu verbessern, medizinisch einschätzen zu lassen.
Herr H nimmt somit durchaus Einfluss auf seine Situation und fühlt sich ihr nicht
hilflos ausgeliefert. Er wägt die Vor- und Nachteile der Augenoperation gegeneinander
ab und kommt zu dem Schluss, dass sie zu risikoreich ist. Herr H entscheidet sich,
seine Restsehfähigkeit nicht aufs Spiel zu setzen. Durch die Abwägung scheint ihm
bewusst zu werden, wieviel er doch zu verlieren hat, und dies fördert akkomodative
Prozesse und das internale Kontrollerleben.
der Austritt aus dem Berufsleben] getroffen hat war meine persönliche Krankheit
mit der Prostata. Da ging ein Stück Männlichkeit weg, du wirst impotent, du wirst,
die Potenz geht flöten und du wirst erstmal auch äh, musst Windeln tragen. Du
kommst wieder in so ne Phase, da hätte ich mich fast erschossen. Das hat vier, fünf
Jahre gedauert, mit Therapie und Hilfe meiner Frau wär ich nicht so weit gekom-
men (…) Und das war auch ein Stück meiner Identität, das sagen Männer ja auch
selten, äh ich hab mich identifiziert über Arbeit und Potenz. Und beides ist mit
einem Schlag weggefallen (…) das hat mich getroffen wie ein Hammerschlag.“ Die
Prostataoperation hob die Lebenswelt von Herrn D aus den Angeln, Hilflosigkeit
und Hoffnungslosigkeit waren die Folge. Dass Bewältigung sowohl negativ als auch
positiv ein sozial-interaktives Geschehen sein kann, zeigt sich hier in zweifacher
Hinsicht: Das soziale Umfeld reagiert einerseits mit wenig, andererseits aber auch
mit viel emotionalem Beistand. „Die haben zum Teil unverständlich reagiert mit
der Prostata mit dem das hat, wenn ich ehrlich bin, außer meiner Frau keiner ver-
standen. Und mein Therapeut.“ Die letztgenannten Personen tragen damit durch
collaborative coping zur Bearbeitung des Problems bei. Herr D hat des Weiteren
die Erfahrung gemacht, dass Männer kaum über sexuelle Probleme sprechen. Ein
guter Freund erzählte ihm: „Der sagt ‚weißt du was, ich habe meine Prostata, trotz-
dem schlafe ich mit meiner Frau seit drei Jahren nicht‘. Das war mir neu, da hab
ich erstmal einen Schock gekriegt, äh nicht einen Schock, aber das war für mich
völlig neu. Da hat DER sich geoutet.“ An ein weiteres Gespräch erinnert sich Herr
D: „ich hab mal ein Gespräch geführt mit jemand (…). So von wegen Prostata und
so und dann fing der an zu erzählen. Das hätte ich so nie gedacht. Aber das ist bei
mir wieder ausgelöst, guck mal. Die reden darüber nicht.“
Diese Ansicht teilt auch Herr E (59 Jahre): „Ja ich finde immer mehr, es gibt
Männer mit denen man darüber reden kann, ohne da kumpelhaft, schlüpfrige An-
deutungen zu machen, aber es sind wirklich wenige.“ Als Nachteil der Lebensphase
„Alter“ benennt Herr E generell „also schon die gesundheitlichen Einschränkungen,
die Leistungsfähigkeit, die eingeschränkte Potenz das ist etwas, womit ich sehr
zu kämpfen, ja habe ich damit sehr zu kämpfen? Weiß ich nicht. Doch das wirkt
schon. Ich will das nicht klein reden. Also zwischen dem was ich, was man dann
will und dem was man kann, gibt es große Unterschiede und wenn man dann so
eine Pille bekommt, und dann sagt der Arzt, aber wahrscheinlich wird Ihre Libido
dann noch mehr eingeschränkt, dann macht das keinen Spaß, weil dieses Thema
Sexualität, es heißt ja LEBEN und wenn das so SEHR heruntergefahren wird, das ist
schon, das ist einfach scheiße.“ Diese Erkenntnis scheint Herrn E stark zu belasten
und ihm kaum Handlungsmöglichkeiten zu bieten.
Auch Herr H (68 Jahre) versucht zunächst, seine Erektionsprobleme zu lindern,
indem er mit seinem Hausarzt darüber spricht. „Dann hat er mir dreimal Tabletten
176 Monika Reichert und Randi Leibner
aufgeschrieben, versuchen, ob das so geht, aber ne, ging nichts mehr. Ich habe ihn
[seinen Penis] jeden Abend angeschrien. Aber vielleicht durch den Druck. Hat er
sich zurückgezogen, weiß man das? Ja man weiß es nicht ((lacht)). Der Halunke.“
Bezüglich seiner sexuellen Funktionsstörungen unternahm Herr H keinen erneuten
Versuch, sich Hilfe – z. B. in Form einer Zweitmeinung oder Kontaktaufnahme zu
einer Beratungsstelle – zu holen. Auch in seinem persönlichen Umfeld gibt es nie-
manden, mit dem Herr H über seine Probleme sprechen kann, selbst das Gespräch
mit seiner Ehefrau darüber hat ihn große Überwindung gekostet. „Wie sollt‘ ich
ihr das sagen?“ „Wir haben einen Abend dann haben wir mal im Garten gesessen,
habe ich das Thema mal angeschnitten, müssen wir was machen jetzt. Möchtest
du bei mir bleiben, möchtest du gehen? Wie? Entscheide du auch, sage ich zu ihr.“
Für Herrn H stellt seine sexuelle Funktionsstörung einen potentiellen Grund dafür
dar, dass seine Frau sich von ihm trennen könnte. Er fragt seine Ehefrau, ob sie bei
ihm bleiben oder gehen möchte. Offensichtlich würde Herr H es seiner Ehefrau
angesichts der Sachlage nicht verdenken, wenn sie sich für das Gehen entschiede.
Eine ähnliche Einstellung zeigt sich bei Herrn D. Auf seine sexuelle Funk-
tionsstörung bezogen äußert er: „Wenn ich eine Frau gehabt hätte, die 20 Jahre
jünger gewesen wär, der hätte ICH gesagt, danke das wars, lass dich scheiden,
oder such dir nen Freund ((leiser)). Da bin ich ganz realistisch. Was will die mit
einem Mann der nicht- keine Erektion mehr hat. Und diese ganzen Sprüche ‚Ja
aber mit Knubbeln‘ ist ja alles in Ordnung. Aber für mich passte das nicht.“ Herr
D führt ein Gedankenspiel durch, in dem er sich in einer Beziehung mit einer 20
Jahre jüngeren Frau sieht. Seiner Meinung nach hätte ein Partner mit Erektions-
problemen ihren vermeintlichen Ansprüchen an eine Partnerschaft nicht genügt.
Vorauseilend hätte er sie aufgefordert, sich von ihm scheiden zu lassen oder sich
einen Freund zu suchen.
wie ein Maschinist wieder zu reparieren bzw. durch eigenes Handeln positiv zu
beeinflussen (beispielhaft Herr A, Herr G). Andererseits werden aber auch Strate-
gien erkennbar, die als Verdrängung angesehen werden können (beispielhaft Herr
C, Herr E, Herr G) und die dazu dienen, das männliche Selbstbild als mehr oder
minder „unverwundbar“ aufrechtzuerhalten. Ein Beleg hierfür ist auch, dass bei
einigen Männern (Herr D, Herr E, Herr H) erst eine ernsthafte gesundheitliche
Krise (z. B. Herzinfarkt) dazu geführt hat, gesundheitsbezogene Präventions- und
Interventionsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen (z. B. Umstellung der Ernäh-
rung). Dies entspricht einer Reihe von Forschungsbefunden, die ebenfalls darauf
verweisen, dass bei vielen Männern erst bedrohliche, die bisherige Identität und
das Selbst- und Idealbild in Frage stellende Erkrankungen zu einer Akzeptanz
der eigenen Vulnerabilität führen (Radebold 2012). Allerdings ist in diesem Zu-
sammenhang die bereichsspezifisch unterschiedliche Bearbeitung der erlebten
gesundheitlichen Einschränkungen von Relevanz: Während manche Gebrechen
oder Krankheiten hingenommen werden, wird bei anderen alles daran gesetzt, den
Status quo wieder herzustellen bzw. weitere Verschlechterungen zu vermeiden, d. h.
die verfügbaren Ressourcen werden gebündelt und konsequent zur Zielerreichung
eingesetzt (beispielhaft Herr G, Herr H). Es verwundert daher nicht, dass sechs
von acht Interviewten ihren Gesundheitszustand in der Zusammenschau als „gut“
einschätzen, wobei hier sicher auch die Strategie des sozialen und temporalen
Vergleichs eine wichtige Rolle spielt.
Im Hinblick auf körperliche Einschränkungen muss den sexuellen Funkti-
onsstörungen besondere Aufmerksamkeit gelten. Diese Störungen bedrohen die
Geschlechtsidentität bzw. das Selbstwertgefühl von Männern in hohem Maße
und dementsprechend werden sie als äußerst belastend geschildert (beispielhaft
Herr D, Herr E und Herr H). Begründet werden kann dies zum einen damit, dass
sexuelle Potenz ein wesentliches Merkmal von Männlichkeit ist (Connell 1999).
Zum anderen betreffen Einschränkungen der sexuellen Leistungsfähigkeit nicht
nur die Männer selbst, sondern auch die Beziehung zu ihren Partnerinnen. Wel-
che bedeutsame Rolle der Sexualität für die Partnerschaft zugeschrieben wird,
verdeutlichen eindrucksvoll die Aussagen der Herren D und H: Beide haben bzw.
hätten aufgrund ihrer Potenzprobleme ihre Ehefrauen zu einer Scheidung und zur
Suche nach einem andern (sexuell leistungsfähigen) Partner ausdrücklich ermutigt.
Auch die Hinweise der älteren Befragten, dass sexuelle Probleme im Alter
größtenteils immer noch tabuisiert werden, sollten an dieser Stelle hervorgehoben
werden, denn es deckt sich mit vielen diesbezüglichen Forschungsergebnissen
(zusammenfassend Bernhardt et al. 2013. Die Bewältigung des kritischen Lebenser-
eignisses „sexuelle Funktionsstörungen“ mit Hilfe der sozialen Umwelt wird somit
ggf. erschwert, da diese vielfach mit Unbeholfenheit bzw. mit Bagatellisierung des
178 Monika Reichert und Randi Leibner
Problems reagiert. Filipp und Aymanns (2010) schreiben hierzu ganz allgemein:
„…dass die Personen im sozialen Umfeld (womöglich sogar einzelne Interaktions-
partner) vielschichtig und vielgestaltig mit dem Leid der Betroffenen umgehen und
womöglich auch ein Höchstmaß an ambivalenten Gefühlen aufseiten der Betrof-
fenen erzeugen“ (S. 259). Neben vielen positiven Folgen, die soziale Unterstützung
bei der Verarbeitung und Überwindung von gesundheitlichen Krisen haben kann
(zusammenfassend Taylor 2007), zeigen sich gleichzeitig auch die Grenzen, z. B.
in dem sich die Betroffenen letztlich doch unverstanden oder abgewertet fühlen
(beispielhaft Herr D).
Die innerpsychischen Bewältigungsformen betreffend zeigen die befragten
Männer ein breites Spektrum, das von der Bewältigung durch komparatives Den-
ken über akkomodative und assimilative Bewertungsprozesse, interne und externe
Kontrollüberzeugungen, dem Einsatz von Humor, Optimismus und Sarkasmus
bis hin zur Anwendung des SOK-Modells reicht. So haben einige ältere Männer
erkannt, dass aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr alle Pläne und Absichten
realisierbar sind. Stattdessen erfolgt eine Konzentration auf individuell bedeutsame
bzw. machbare Lebensbereiche (z. B. Erhalt der Sehfähigkeit, Herr H), die entspre-
chend dem Modell mit unterschiedlichen Strategien optimiert und kompensato-
risch gestützt werden. Es wird insgesamt erkennbar, dass Bewältigungsversuche
intra- und interindividuell – je nach Bedeutung, Schwere und Verlauf der erlebten
gesundheitlichen Einschränkungen – höchst unterschiedlich ausfallen können und
es die erfolgversprechende Bewältigungsform nicht gibt.
Generell ist an dieser Stelle noch einmal hervorzuheben, dass die Bewältigung
von körperlichen Veränderungen und gesundheitlichen Einschränkungen durch
ältere Männer gemäß dem heuristischem Modell von Filipp von einer Vielzahl von
Faktoren abhängig ist, die Art und Ausmaß problemlösungsorientierter Handlungen
und psychischer Anpassungsleistungen (mit) determinieren. Zu diesen Faktoren
zählt die Körperbiografie, deren Entwicklung u. a. Radebold (2012) in Bezug auf
die heute über 60-Jährigen eindrucksvoll schildert. Einführend hierzu schreibt
er: „Parallel zu unser persönlichen und zeitgeschichtlichen Biografie besitzen wir
eine Körperbiografie. Sie wird in Kindheit und Jugendzeit geprägt durch unsere
familiäre und gesellschaftliche Erziehung, durch eigene Erfahrungen mit Ge-
sundheit und Krankheit sowie die männlichen einer Generation vorangehender
Vorbilder“ (ebd., S. 33). Nicht zuletzt sind auch die zur Bearbeitung von kritischen
Lebensereignissen notwendigen personen- und kontextbezogenen Ressourcen (z. B.
physisch, psychisch, intellektuell, sozial und materiell) ungleich verteilt (Lehmann
& Weyers 2007); auch ältere Männer sind keine homogene Gruppe! Gerade in der
Lebensphase Alter müssen in Bezug auf Krankheitsverarbeitung und Gesund-
heitsverhalten jene Männer Beachtung finden, die in „typisch männlicher“ Art
„Man darf nicht immer vergleichen mit den Jahren, als man zwanzig war.“ 179
und Weise mit körperlichen Veränderungen umgehen bzw. deren Verhalten durch
fehlende Rücksichtnahme auf den eigenen Körper gekennzeichnet ist. Darüber
hinaus gilt es auch jene zu erreichen, die in besonderer Weise unterschiedlichsten
(lebenslangen) Benachteiligungen ausgesetzt sind bzw. waren. Ziel sollte es sein,
„… ein neues, gesundheitsförderndes Selbstkonzept zu erarbeiten und langfristig
umzusetzen“ (Radebold, 2012 S. 34) sowie vorhandene, für die Gesundheit wichtige
Ressourcen zu stärken und diesbezügliche Defizite auszugleichen.
Schließlich ist die Forschung gefordert – gleich ob in der sozialen Gerontologie,
Gesundheits- und/oder in der Geschlechtersoziologie – das immer noch vorhan-
dene Informationsdefizit zum Themenkreis „Männer und die Bewältigung von
Krankheit und Behinderung im Alter“ zu verringern (vgl. Altgeld 2009). Die jeweils
gewonnenen Erkenntnisse bzw. die daraus abzuleitenden Maßnahmen können eine
evidenzbasierte Grundlage für eine nachhaltige Verbesserung der physischen und
psychischen Gesundheit und damit der Lebensqualität von älter werdenden und
älteren Männern bilden.
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Alter(n) non-verbal verkörpern
Eine posthumanistisch-performative Analyse des
Körperwissens von Rentner_innen in Interviews1
Grit Höppner
1 Einleitung
1 Ich verwende den Gender Gap, um auch auf die Geschlechter und Geschlechtsidentitäten
hinzuweisen, die sich nicht in das System der Zweigeschlechtlichkeit einpassen (wollen).
183
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
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Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_9
184 Grit Höppner
2013, S. 11) von Menschen und Dingen konstituiert, das heißt aufgrund von deren
Agency (siehe Kapitel 2).
Die Analyse des Alters und des Alterns – im Folgenden zusammengefasst im
Begriff Alter(n) – als solch ein dynamischer „Verkörperungsprozess“ (Schmitz/
Degele 2010, S. 19) in Studien der qualitativen Sozialforschung hat gezeigt, dass
die Erhebungsmethode (Lundgren 2013), die erhebende Person (Lee/Roth 2004)
und deren Kleidung (Zubair et al. 2012) Menschen während der Datenerhebung
beeinflussen. Unberücksichtigt bleibt in diesen Studien die Funktion von mate-
riellen Praktiken, die immer zusammen mit diskursiven Praktiken das Alter(n)
hervorbringen. Das Ausblenden von materiellen Praktiken birgt in einer Analyse
von Verkörperungsprozessen die Gefahr, aus dem Blick zu verlieren, was Anne
Fausto-Sterling (2002, S. 43) folgendermaßen formuliert hat: „Während wir auf-
wachsen und uns entwickeln, konstruieren wir unsere Körper nicht nur ‚in diskur-
siven Praktiken‘ (d. h. durch Sprache und kulturelle Praktiken), sondern gemachte
Erfahrung ‚geht in Fleisch und Blut über‘.“ Gerade in der soziologischen Alter(n)s-
forschung spielt es nicht nur eine Rolle, wie Bedeutungen und Wissensordnungen
ältere Körper konstituieren. In diesem Forschungsfeld ist es wichtig, zugleich
körperliche Prozesse und Veränderungen in den Blick zu nehmen, weil sie als
Merkmale von Alter(n) gelten. Eine Analyse, die nach Verkörperungsprozessen von
Alter(n) in Interviews fragt, kann deshalb nicht umhin, diskursive und materielle
Praktiken zu untersuchen. Um herauszustellen, dass diskursive und materielle
Praktiken stets miteinander verbunden sind, verwende ich den Begriff der „mate-
riell-diskursiven Praktiken“ (Barad 2003, S. 818, Übersetzung GH). Was in einer
Analyse unter materiell-diskursiven Praktiken zu verstehen ist, unterscheidet sich
in Abhängigkeit von der Disziplin, in der sie durchgeführt wird. In dieser Analyse
verstehe ich verbale Äußerungen als diskursive Praktiken, die ich immer zusammen
mit materiellen Praktiken betrachte, das heißt mit körperlichen Ausdrucksweisen
wie dem Lachen, dem Weinen, der Art zu sprechen und der Art sich zu bewegen
(siehe Kapitel 3). Um herauszustellen, dass verbale Praktiken immer nonverbale
Praktiken und nonverbale Praktiken immer verbale Praktiken sind, verwende
ich analog zum Begriff der materiell-diskursiven Praktiken die Bezeichnung der
non-verbalen Praktiken.
Diese Differenzierung schließt in meinem Verständnis an Reiner Keller und
Michael Meusers (2011) Definition von „Körperwissen“ an. In dieser Definition
ist das „Wissen über den Körper“ nur analytisch getrennt vom „Wissen des Kör-
pers“ (Keller/Meuser 2011, S. 12). Anders als Keller und Meuser argumentiere ich
jedoch, dass das verbal artikulierte Wissen über das Alter(n) und das nonverbal
artikulierte altersspezifische Wissen des Körpers keine auf die menschliche Agency
beschränkten Wissensformen sind. Weil sich in meiner Studie beide Wissensformen
Alter(n) non-verbal verkörpern 185
häufig in den Wechselwirkungen mit den bei der Datenerhebung anwesenden oder
erinnerten Dingen konstituierten, differenziere ich die Bezugnahme auf Dinge
als eine spezielle Form des Körperwissens. Ich zeige, dass sich in dieses spezielle
materiell-diskursive Mensch-Ding-Wissen Bedeutungen von Alter(n) einschreiben
und dass dieses Wissen zugleich Bedeutungen von Alter(n) hervorbringt (siehe
Kapitel 2 und 4).
Das Potential, anwesende und erinnerte Materialitäten (hier im weiten Sinne zu
verstehen als Menschen und Dinge) in der Interviewforschung zu berücksichtigen,
zeigen Studien, die auf Ansätzen der Material Feminisms basieren. Indem sie die
Agency von Menschen und Nicht-Menschen auf Prozesse der Elternschaft (Schadler
2013), der Kommunikation während Interviews (Müller/Kenney 2014) und der
Zuschreibung von Alter(n) im Rahmen der Erwerbsarbeit (Irni 2010) untersuchen,
fokussieren sie die Praktiken, in denen menschliche Körper zu Müttern und Vä-
tern, zu Interviewten und Interviewer_innen und zu alten Arbeitnehmer_innen
werden. Sie setzen also nicht biologisch determinierte, statische, passive Körper
voraus, sondern analysieren, wie in Verkörperungsprozessen Bedeutungen und
Materialitäten hervorgebracht und verknüpft werden (Schmitz/Degele 2010).
Das Ziel des Artikels ist es, jene Praktiken zu rekonstruieren, die in den von
mir durchgeführten Interviews Formen von Verkörperungen bedingt haben, die
die Interviewten mit dem Alter(n) verknüpften: In welchen Praktiken brachten sie
körperliche Merkmale zum Ausdruck, die sie dem Alter(n) zuordneten? Welche
non-verbal vermittelten Wissensformen artikulierten sie bei diesen Verkörperungs-
prozessen, d. h. auf welche Strategien des Umgangs mit körperlichen Veränderun-
gen, auf welche Körpernormen, Zuschreibungen, Begründungen, Menschen und
Dinge bezogen sie sich verbal und wie brachten sie diese Bezugnahme zugleich
nonverbal zum Ausdruck?
Den epistemologischen Rahmen meiner Analyse bildet das von Barad entwi-
ckelte Konzept posthumanistische Performativität (2003), das ich mit Keller und
Meusers Ansatz Körperwissen (2011) verbinde (siehe Kapitel 2). Diese Verbindung
ermöglicht es, non-verbale Artikulationen in ihrer jeweiligen Besonderheit und in
ihrer Gleichzeitigkeit zu analysieren, ohne deren Beziehung zu interviewanwesen-
den und erinnerten Menschen und Dingen aus dem Blick zu verlieren, in deren
Bezugnahme sich diese Artikulationen konstituieren. Im 3. Kapitel skizziere ich
das methodische Werkzeug für dieses Vorhaben. Indem ich es auf Daten meiner
qualitativen Studie anwende, rekonstruiere ich im 4. Kapitel fünf unterschiedliche
Formen, die in den von mir durchgeführten Interviews Verkörperungen von Alter(n)
bedingten: Alter(n) unterbrechen, sich vom Alter(n) abgrenzen, Alter(n) beweisen,
Alter(n) ausgleichen und Alter(n) aktualisieren. Ich zeige, dass durch den Vollzug
dieser Verkörperungen unterschiedliche Facetten von Alter(n) hervorgebracht
186 Grit Höppner
wurden, die jeweils spezifische Umgangsweisen mit dem Alter(n) kennzeichnen. Der
Artikel endet mit dem Aufruf, das Alter(n) in Interviews als einen fortlaufenden,
vielschichtigen und kontextspezifischen Verkörperungsprozess zu definieren, der
sich weniger in Abhängigkeit von Konstrukten wie dem „jungen Alter“ oder dem
„alten Alter“ denn auf der Grundlage von Praktiken und in Relation zu spezifischen
Materialitäten und Bedeutungen reproduziert.
In dieser Analyse greife ich aus Barads Ansatz Agential Realism das Konzept der
posthumanistischen Performativität (2003) heraus, um dessen Potential für die
Interviewforschung aufzuzeigen. Performativität in agentiell-realistischer Pers-
pektive geht meines Erachtens aus zwei Gründen über den eingangs eingeführten
Ansatz doing age (Schroeter 2012) hinaus. Erstens fasst Performativität in agenti-
ell-realistischer Perspektive das Alter(n) nicht ausschließlich als „soziale Praxis“
(Schroeter 2012, S. 159), sondern zugleich auch als materielle Praxis. Sie schließt in
die Konzeption von Materialität die Fragen ein, „how discourse comes to matter“
und „how matter comes to matter“ (Barad 2007, S. 210). Im Gegensatz zum doing
age fokussiert sie also den materiell-diskursiven Prozess, in dem bestimmte Bedeu-
tungen, Zuschreibungen, Erwartungen, Körperkonzepte und Körperbewegungen
mit dem Alter(n) verknüpft werden. Posthumanistische Performativität wendet sich
daher auch gegen poststrukturalistische Ansätze, die menschliche Körper zwar
ebenso als nicht vordiskursive Materialitäten verstehen. Barad (2003, S. 801-803)
kritisiert jedoch, dass poststrukturalistische Ansätze der Sprache und der symbo-
lischen Ordnung bei der Konstruktion von Wirklichkeit eine zu wichtige Funktion
einräumen, wenn sie etwa unterstellen, dass sich Körper und ihre Geschlechter in
performativen Sprechakten materialisieren (Butler 1993).
Ebenso wie der Ansatz doing age berücksichtigt Performativität in agentiell-re-
alistischer Perspektive durch menschliche Körper präsentierte Symboliken wie
die Kleidung. Allerdings – zweitens – erfolgt die Analyse im doing age aus einer
sozialkonstruktivistischen Perspektive, die untersucht, wie sich Menschen durch
diese signifikanten Symbole ihr Alter(n) gegenseitig anzeigen. Performativität in
agentiell-realistischer Perspektive untersucht hingegen die aktive Wirkmächtigkeit,
die solche Dinge in sich tragen und die bestimmte Praktiken ermöglicht, während
sie andere ausschließt. Performativität in agentiell-realistischer Perspektive schreibt
Dingen also eine aktive Rolle in der Konstituierung der materiell-diskursiven Welt zu.
Alter(n) non-verbal verkörpern 187
zu unterscheiden, das sich prä-reflexiv und nonverbal äußert und an den Körper
gebunden ist. Keller und Meuser (2011, S. 12) bezeichnen diese Wissensform als
das „Wissen des Körpers“. Da der Träger dieser Wissensform der Körper ist, lässt
sich dieses Wissen nur bedingt in Sprache übersetzen. Mittels einer speziellen
Transkriptionsweise der Interviews, die non-verbale Praktiken berücksichtigt, habe
ich beide Wissensformen für die Datenanalyse aufbereitet (siehe Kapitel 3). Diese
analytische Trennung des Körperwissens in ein Wissen über den Körper und ein
Wissen des Körpers zielt auf die Rekonstruktion der non-verbalen Artikulationen
des Körpers, die sich in soziokulturellen Ordnungen bilden. Wechselwirkungen
zwischen den beiden Wissensformen werden etwa dann deutlich, wenn sich al-
tersspezifische Bedeutungszuschreibungen in einer spezifischen Art zu sprechen
ausdrücken, die wiederum verbalisierbare Meinungen beeinflussen.
Die Fokussierung auf non-verbale Praktiken der Verkörperung von Alter(n) zielt
nicht darauf ab, menschliche Körper und ihr agentiell artikuliertes Wissen in das
Zentrum dieser Analyse zu stellen. Aus posthumanistisch-performativer Perspektive
soll als eine spezielle Form von Körperwissen vielmehr jenes materiell-diskursive
Mensch-Ding-Wissen rekonstruiert werden, in das sich während der Interviews
aufgrund von Intra-Aktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen
Materialitäten Bedeutungen von Alter(n) einschreiben und das zugleich Bedeutun-
gen von Alter(n) hervorbringt. In meiner Studie zeigte sich, dass viele Interviewte
den Bezug auf anwesende und erinnerte Menschen und Dinge benötigten, um das
Alter(n) verkörpern zu können. Ohne diesen Bezug mündeten ihre Artikulatio-
nen oft in Sprachlosigkeit wie das Beispiel von Frau Tomic zeigt. Auf die Frage,
wie eine schöne Frau in ihrem Alter aussehe, antwortet sie „Jo:: i mein, wie soll i
sogen. Jo: so so so so – (3 sec) Wie soll i sogen? Irgendwie::: – es ist schwierig zu
sagen <leiser>.“. Daraufhin nennt sie die „Bauerfrau“, um durch diesen Vergleich
das Attribut lebenslustig als ein solches Merkmal zu konstruieren. Aus posthuma-
nistisch-performativer Perspektive lässt sich anhand dieses Beispiels zeigen, dass
bei der Analyse von Verkörperungsprozessen alle an den artikulierten Praktiken
teilhabenden Materialitäten zu berücksichtigen sind, die aufgrund ihrer aktiven
Wirkmächtigkeit in einer speziellen Interviewsequenz Bedeutungen auslösen. Andere
Materialitäten bleiben hingegen außen vor, weil sie (vorübergehend) nicht in die
Intra-Aktionen eingeschlossen werden, wie ein Blatt Papier im Interview mit Frau
Tomic in einer anderen Interviewsequenz. In dieser Perspektive ist nicht zentral,
ob Erinnerungen an Menschen und Dinge verzerrt oder weitestgehend realistisch
artikuliert werden. Die Rekonstruktion der Bezugnahme auf (erinnerte) Menschen
und Dinge ist hingegen wichtig, weil sie darüber Aufschluss gibt, ob bestimmte
Materialitäten und Bedeutungen miteinander intra-agieren und wie sich in diesen
Intra-Aktionen Agency äußert.
Alter(n) non-verbal verkörpern 189
3 Verkörperungsprozesse analysieren:
methodische Hinweise
Zwischen August 2011 und März 2012 habe ich zwanzig in Wien lebende Ren-
ter_innen im Alter zwischen 60 und 92 Jahren in problemzentrierten Interviews
(Witzel 2000) befragt. Das interviewte Sample unterscheidet sich vor allem im
beruflichen Werdegang (u. a. pensionierte Arbeiter_innen, Abteilungsleiter), im
Familienstatus (zusammen oder getrennt lebend, geschieden, verwitwet) und in
der Wohnsituation (in einer Miet- oder Eigentumswohnung, im Alten- und Pfle-
geheim lebend). Mit der Auswahl dieses heterogenen Samples wollte ich einerseits
zeigen, dass das Alter(n) vielfältig ist. Andererseits – und die Ergebnisse der hier
vorgestellten Analyse zu unterschiedlichen Verkörperungen von Alter(n) sprechen
für dieses Argument – hatte ich die Annahme, dass es dennoch eine ganze Reihe
von gruppenspezifischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb der
Gruppe der interviewten Personen gibt.
Aufgrund meines Forschungsapparates kann ich die artikulierte Agency zwi-
schen Menschen und Dingen durch eine Analyse der non-verbal artikulierten
Praktiken der menschlichen Studienteilnehmer_innen rekonstruieren. In diesen
Praktiken „übersetzen“ sie nicht-menschliche Agency in analysierbare Daten.
Dies wird in meiner Studie dann deutlich, wenn die aktive Wirkmächtigkeit von
Menschen und Dingen bestimmte Erinnerungen in den Interviewten auslöst und
die Interviewten diese Erinnerungen in non-verbalen Praktiken verkörpern, die
analysierbar sind (siehe Kapitel 4).
Alle non-verbalen Praktiken habe ich analog eines einheitlichen Schemas tran-
skribiert (zu den Potentialen und Herausforderungen vgl. Höppner 2017). Diese
Transkriptionen umfassen auch von mir beobachtete Körperbewegungen, die ich
während der Datenerhebung in einem „Gesprächsprotokoll“ notiert hatte (Witzel
2000). Zusätzlich zu den meist im Wiener Dialekt artikulierten inhaltlichen Aussagen
habe ich in Anlehnung an das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (Selting et
al. 1998) die folgenden nonverbalen Praktiken in den Transkriptionen gekennzeichnet:
Die Interviewten brachten während der Datenerhebung fünf Formen der Verkör-
perung hervor, die sie mit dem Alter(n) verknüpften: Alter(n) unterbrechen, sich
vom Alter(n) abgrenzen, Alter(n) beweisen, Alter(n) ausgleichen und Alter(n)
Alter(n) non-verbal verkörpern 191
Diese Verkörperungsform bezieht sich nicht auf Aktivitäten, die das Reaktivieren
oder Bewahren von langfristiger körperlicher Fitness oder Attraktivität zum Ziel
haben. Sie summiert vielmehr Praktiken, die das Alter(n) während der Interviews
durch das Erinnern an frühere Lebenssituationen kurzzeitig unterbrechen. Sie zeich-
net sich dadurch aus, dass sich die Interviewten von sich aus auf Dinge beziehen,
die sie während der Datenerhebung erinnern, etwa ein Klavier, das eine Interviewte
früher regelmäßig spielte. Sieben Männer und eine Frau erinnern sich an Berge,
indem sie von Erlebnissen oder von entsprechenden Reiseplänen berichten. Der
Bezug auf erinnerte Dinge materialisiert sich in einem Vergleich des früheren mit
dem aktuellen Körper und im situativen Aufbrechen des bis dahin artikulierten
Körperwissens.
So erzählt der 71-jährige ehemalige Postmann Herr Weber, der wegen eines
Schlaganfalls in einem Alten- und Pflegeheim lebt, auf die Frage, welches Bild ihm
einfalle, wenn er an einen schönen Mann in seinem Alter denke:
„Mhm. (3 sec) JA, wo ich NOCH auf die PRÄRIE gegangen bin SCHON
JA – <lacht>. Äh, so SEH ich mich OFT noch. Also, heute würde ich mir
WÜNSCHEN so zu SEIN aber (.) <atmet tief ein> sind alles nur WUNSCH-
TRÄUME, das ist VORBEI. Ja, ja <leiser>.“
Wie auch andere Interviewte verbalisiert Herr Weber den Bezug auf erinnerte
Dinge durch eine Gegenüberstellung seines frühren Körperzustands und damit
verbundenen Eigenschaften (an der frischen Luft in der Natur wandern gehen
können, fit sein) mit dem Körper in seiner aktuellen Lebenssituation und den da-
raus resultierenden Konsequenzen (seine Zeit im beengten Zimmer seines neuen
Zuhauses verbringen müssen, eingeschränkt und von anderen Menschen abhängig
sein). In dieser auf die Zeit bezogenen Kontrastierung entwickelt er seine Konzepte
von Gesundheit und Krankheit. Mit seinem Konzept von Gesundheit verweist er
indirekt auf seine Vorstellungen von Männlichkeit und damit verbundene Eigen-
192 Grit Höppner
Diese Form der Verkörperung ist durch den Bezug auf etwa gleichaltrige Menschen
gekennzeichnet, an die sich die Interviewten während der Datenerhebung erinnern.
Während sich die Frauen von sich aus mehrheitlich auf ihnen tatsächlich bekannte
3 Andere Männer nennen die Attribute abenteuerlustig und mutig sein. Zum Forschungs-
feld Berge und Männlichkeit vgl. Gow/Rak (2008).
Alter(n) non-verbal verkörpern 193
„Aber die MEISTEN sind ja, hier die Leute sind ja die meisten DEMENT?
(…) Die können sich nicht mehr erinnern und reden WIRRES Zeug daher
(…) ich kann mit diesen Leuten auch nichts MACHEN.“
Herr Weber artikuliert hier sein Wissen über wünschenswerte soziale Fähigkeiten
von Menschen seines Alters, die er als Eigenschaften von Gesundheit fasst (sich mit
Gleichaltrigen unterhalten, über Erinnerungen austauschen und etwas gemeinsam
unternehmen können). Er bringt dieses Wissen zugleich entschlossen durch das
Akzentuieren von Wörtern hervor. Herr Webers Wissen ist im Kontext der Struktur
des Alten- und Pflegeheims einzubetten, in dem er lebt (er bezieht sich durch den
Verweis „hier“ auf diesen Ort). Ohne den Bezug auf das Alten- und Pflegeheim
und das auf diese Weise artikulierte Mensch-Ding-Wissen wäre sein Argument
nicht überzeugend, dass es in seinem Umfeld einen großen Anteil an Menschen
gibt, die mit Anfang siebzig nicht mehr über die von ihm bevorzugten sozialen
Fähigkeiten verfügen und daher ein wichtiges Merkmal seines Gesundheitskonzepts
nicht erfüllen. Um sich vom Alter(n) der erinnerten Gleichaltrigen abzugrenzen,
zieht Herr Weber, wie auch andere Interviewte, für eine Gegenüberstellung von
194 Grit Höppner
Fähigkeiten seinen Körper und seine Verhaltensweisen heran, ohne die Ursachen
für deren körperliche und verhaltensbezogene Veränderungen zu reflektieren.
Dieser Form der Abgrenzung vom Alter(n) ist ein wertendes Moment inhärent,
denn sie scheint darauf abzuzielen, den Umgang mit dem eigenen Körper in der
Vergangenheit positiver zu bewerten als den von Gleichaltrigen und, daraus folgend,
das Alter(n) des eigenen Körpers als weniger vorangeschritten darzustellen als das
von diesen erinnerten Menschen.
Durch Herrn Webers Erinnerung an Gleichaltrige entsteht eine analytische
Einheit, in der sich Agency bildet. Diese Agency beeinflusst zeitweise Herrn Webers
Wohlbefinden. Obwohl er grundsätzlich froh darüber ist, dass er über zahlreiche
soziale Fähigkeiten verfügt, verhindert der Kontext des Alten- und Pflegeheims
und dessen Bewohner_innen deren regelmäßige Anwendung. Diese Diskrepanz
kennzeichnet Herrn Webers Verkörperung in dieser Interviewsequenz, die einen
resignierten Umgang mit dem Alter(n) andeutet.
Das Merkmal, dass die durch die Intra-Aktionen mit erinnerten Gleichaltrigen
entstehende Agency das Wohlbefinden der Interviewten beeinflusst, kennzeichnet
auch die zweite Form der Abgrenzung vom Alter(n). Diese ist jedoch durch den
Bezug auf berühmte und fiktive Gleichaltrige charakterisiert. Hierbei ist nicht
der Vergleich zwischen den Körpern und Verhaltensweisen dieser Gleichaltrigen
mit denen der Interviewten zentral, sondern die Beurteilung der Veränderungen
der Gleichaltrigen im Verlauf der Zeit und vor dem Hintergrund von kulturellen
Schönheitsvorstellungen. So antwortet der 88-jährige ehemals leitende Angestellte
Herr Neiler auf die Frage, wie eine schöne Frau bzw. ein schöner Mann in seinem
Alter aussehe:
Wie beim „Alter(n) unterbrechen“ beziehen sich die Interviewten dieser Form der
Verkörperung auf einen Vergleich ihres früheren mit ihrem gegenwärtigen Körper.
Sie sind sich darin einig, dass sie in ihrer gegenwärtigen Lebensphase neue Formen
von körperlichen Veränderungen erleben, die sie deshalb als altersspezifisch cha-
rakterisieren. Um diese These zu verdeutlichen, beschreiben sie unterschiedliche
Körperbereiche, die sich verändert haben wie die Haare, die Haut, die Zähne und
die Figur. Allerdings unterscheidet sich die Art, wie sie ihr Wissen zum Ausdruck
bringen – das heißt, ob sie sich non-verbal auf andere Menschen und/oder Dinge
beziehen oder nicht – und welche Strategien des Umgangs mit diesen Verände-
rungen sie äußern. Daraus ergeben sich zwei Formen der Verkörperung, die das
Alter(n) bestätigen.
Merkmale der ersten Form werden im folgenden Interviewausschnitt deutlich.
Dort erzählt die 63-jährige gelernte Friseurin Frau Müller beim Ansehen von
Werbefotos von sich aus von ihrer Haut, die sich verändert hat:
„Jo, hob i a schon kriegt, do [hebt die Hand etwas, um der Interviewerin den
Fleck zu zeigen], so a sche:nes FLE:CK <lacht>. Hob i bemerkt. Hob i gesogt,
ma, des is ma wuarscht <schnell>. Wenn’s NUR ei:ner ist, ist guat <lacht>.“
Frau Müller beschreibt die Herausbildung einer andersfarbigen Hautstelle als eine
sich eigensinnig entwickelnde Praktik ihres Körpers. Die Hautstelle, die sich in
ihrer Darstellung als Konsequenz dieser Praktik ohne ihr Zutun herausgebildet hat,
bezeichnet sie als Fleck. Sie bewertet die Stelle nicht neutral, sondern schreibt ihr
die Bedeutung als Makel ein. Sie kann diesen Fleck akzeptieren, wenn sich dessen
Anzahl nicht erhöht, zumal ein einzelner Fleck nicht per se als ein Merkmal des
Alter(n)s gilt. Sie thematisiert keine Ursachen für ihre Hautveränderung, sondern
äußert die auf die Zukunft gerichtete Hoffnung, dass ihr Körper keine weiteren
Stellen dieser Art ausbilden möge.4
Um ihre verbale Aussage zu unterstreichen, die beschriebene Stelle jedoch nicht
als solche zu erkennen ist, zeigt Frau Müller sie der Interviewerin zusätzlich. Erst
durch die Praktik „Hand vorstrecken“ lokalisiert sie jene Stelle, an der sie ein sich
4 Mehr Frauen als Männer beschreiben körperliche Veränderungen als einen unbe-
einflussbaren Prozess. Zusätzlich zu dieser Strategie zum Umgang mit dem Alter(n)
formuliert Frau Otto eine gewisse Aussichtslosigkeit, die auf einer Gegenüberstellung
ihres früher makellos schönen und heute „nur mehr [alten]“ Aussehens basiert. Frau
Bäumer vermeidet die Auseinandersetzung mit dem Alter(n) und dessen Konsequenzen.
Alter(n) non-verbal verkörpern 197
konstituierendes Merkmal des Alter(n)s beobachtet und liefert parallel einen Beweis
für diese Beobachtung. Zugleich scheint sie die Bedeutung, die sie ihrer Hautver-
änderung zuschreibt, mit der ironischen Beschreibung „so a sche:nes FLE:CK
<lacht>“, der Dehnung dieser Wörter und dem parallelem Lachen aufzuweichen.
Die zweite Form der Bestätigung des Alter(n)s wird im folgenden Interviewaus-
schnitt deutlich. Herr Kessler, ein 82-jähriger Pastor, der bis heute in einer Pfarrei
tätig ist, nennt auf die Frage, ob ihm ein Bild oder ein Spruch einfalle, wenn er an
sich denke, Gründe, die die Entstehung von „Flecken“ begünstigten:
„(…) Man hat selber auch ein bisschen (.) MITGEHOLFEN – Ich hab mi zum
Beispiel zu viel der Sonne ausgesetzt, obwohl jetzt die Ärzte sagen, mein äh
das ist etwas in der Familie, dass wir so so Warzen und so so Flecken und so
was haben, ne. Also Leberflecken wie man’s nennt, net. Aber ich hab schon
AUCH a bissel Schindluder getrieben – Es waren, hab auch einige Sonnen-
brände hinter mir, weil ich das GERN gemacht hab, auf am am Meer und
irgend so – Da war ich a bissel u::nvorsichtiger. I hab nämlich nie nie recht
geglaubt, dass des mit dem Einschmieren an Sinn hat, ne und das war ein
Fe::hler, ein gro::ßer <leiser>.“
Auch er schreibt seinen Hautveränderungen die Bedeutung als Makel ein. Aber
anders als Frau Müller nennt er zwei Gründe für diese Veränderungen. Einerseits ist
seinem Körper eine familiäre Veranlagung zur vermehrten Bildung von Leberflecken
inhärent. Andererseits sieht er in seinem früheren Verhalten eine Ursache, denn er
hat sich zu häufig gesonnt und damit seine biologisch determinierte Veranlagung
zusätzlich begünstigt.5
Während des Sonnens lösten Sonnenstrahlen in Verbindung mit Herrn Kess-
lers Körper ein sprachlich geäußertes Vergnügen aus. Durch das Nichtanwenden
von präventiven Maßnahmen zur Hautkrebsvorsorge hat sein Körper Symptome
eines Sonnenbrands ausgebildet. Auf Grundlage seines heutigen Wissens über den
Körper konstruiert Herr Kessler durch die Praktik „Sonnen“ die Bedeutung eines
kurzsichtigen Unterfangens, das langfristige Hautschäden verursacht hat. Sonnen-
strahlung stoppt nicht auf der Hautoberfläche, sondern dringt in den Körper ein:
Haut und Sonnenstrahlung bewirkten in ihrer Verbindung eine Grenzauflösung,
die in Form von Verbrennungen Spuren in seinem Körper hinterlassen hat. Diese
Verbrennungen hat er zeitverzögert nach dem Sonnen bemerkt. Heute sind sie als
bräunliche Flecken sichtbar.
Das Wissen über seinen Körper intra-agiert mit dem Wissen seines Körpers,
indem es sich sowohl durch die Betonung der Wörter „MITGEHOLFEN“, „AUCH“
und „GERN“ äußert, mittels der die Teilverantwortung für die Hautveränderungen
zugleich hervorgehoben wird als auch durch das Dehnen der Wörter „u::nvor-
sichtiger“ und „Fe::hler, ein gro::ßer“. Trotz der Lautstärkenveränderung am Ende
des Satzes entsteht der Eindruck, als würden diese Wörter akustisch nachhallen
und deshalb besondere Präsenz in der Erzählung erhalten. Die Praktiken „Wörter
betonen“ und „Wörter dehnen“ bestätigen seine Aussage und stellen hinsichtlich
seiner Hautveränderungen die Wirkung der selbstbestimmt ausgeübten Praktik
„Sonnen“ im Vergleich zu seiner familiären Veranlagung zusätzlich heraus.
Die Analyse dieser zwei Formen zur Bestätigung des Alter(n)s zeigt, dass die
beiden Interviewten ihr Wissen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck brin-
gen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der anderen Interviews deutet sich
die Tendenz an, dass sie sich qua Geschlecht unterscheiden (Höppner 2015b). Wie
auch drei Frauen beschreibt Frau Müller ihren Körper als einen sich in eigensin-
nigen Praktiken entwickelnden, auf dessen Veränderungen sie keinen Einfluss
hat. Wie auch andere Männer begibt sich Herr Kessler auf Ursachensuche zum
besseren Verständnis dieser Veränderungen. Er identifiziert unter anderem die
vergangenen Wechselwirkungen seines Körpers mit Sonnenstrahlen und die in
diesen Intra-Aktionen entstandene Agency als einen Einflussfaktor; diese Agency
äußerte sich in Form von Sonnenbränden. Zusätzlich zu den auch von den Frauen
genannten biologisch determinierten Veränderungen thematisieren Herr Kessler
und zwei andere Männer den positiven Einfluss von selbstbestimmt ausgeübten
Praktiken auf ihren Körper („Liegestütze machen“ [Herr Rühling], „Fahrrad fahren“
[Herr Huber]). Diese Männer differenzieren ihren Körper in bewusst veränderbare
(Schultern Arme, Beine) und nicht veränderbare Bereiche (Haarfarbe, Haarvolu-
men). Während Frau Müller der Statik ihres Körpers mehr abgewinnen kann als
dessen Veränderungen, fokussiert Herr Kessler hierauf.6 Dieser Unterschied wird
durch entsprechende Zeitformenverwendungen deutlich.
Das Wissen des Körpers, das sich als Bewegung, Ausdrucksform und Sprechweise
äußert, dient in Frau Müllers Darstellung durch die Praktik „Handvorstrecken“
der Bestätigung ihrer Beobachtung. Zudem unterläuft sie in Form des Lachens
6 Auch Herr Huber beschreibt Phasen von körperlichen Veränderungen, wenn er sowohl
seinen mit Ende Zwanzig einsetzenden Haarausfall thematisiert, der einige Jahre später
stagnierte als auch das Grauwerden seiner Haare und seines Bartes in den letzten Jahren.
Alter(n) non-verbal verkörpern 199
die Bedeutung, die sie ihrer Hautveränderung einschreibt.7 Die von Herrn Kessler
artikulierten Praktiken „Wörter betonen“ und „Wörter dehnen“ dienen der Unter-
mauerung seiner Aussage. Da er wie andere Männer weder zusätzliche „Beweise“
in Form nonverbaler Praktiken für die Stärkung seiner Argumentation nutzt noch
sein Wissen über den Körper durch nonverbale Praktiken abschwächt, wirkt seine
Darstellung stringenter als die von Frau Müller.
Diese Form der Verkörperung ist durch den Bezug auf Dinge gekennzeichnet, die
während der Interviews anwesend waren, wie ein Fernseher und DVDs, ein künst-
liches Kniegelenk, Fotos von Familienmitgliedern und ein Bett. Nicht der Vergleich
des heutigen mit dem früheren Körper und die Beurteilung der damit verbundenen
Veränderungen ist hier relevant, sondern die Produktion von Praktiken, mittels derer
entweder Verluste von sozialen Kontakten aufgrund eines Wohnungswechsels und
des Tods von Angehörigen oder körperliche Einschränkungen wie die Abnahme
der Knochendichte und der Lebensenergie kurzzeitig kompensiert werden können.
Die 85-jährige ehemalige Feldenkrais-Lehrerin Frau Schneider, die seit einiger
Zeit in einem Pflegeheim lebt, sagt nach einer halben Stunde des Interviews:
Frau Schneider: „<3 sec> So, jetzt muss ich u::nbedingt was trinken, weil ich
Durst hab. Bitte, für Sie ist auch ein frisches Glas da.“
Interviewerin: „Danke, nehm‘ ich mir einen Schluck.“
[8 sec, Interviewte füllt Wasser in Gläser, Interviewte und Interviewerin
trinken]
Frau S: „Ja, ich TU scho:n so herumschauen, zum Beispiel ist das [zeigt auf
eine Flasche auf dem Tisch] ein energetisches <atmet etwas ein> DING,
das ist SEHR teu::er, da kostet so ein Ding da hier achtzig Euro – So ein
gro:ßes – ABER es ist, es HILFT sofo:rt, es ist irgendwie und sind KEINE
Aufputschmittel; sondern einfach da – ja, energy – KEINE Ahnung. Da nehm
ich ZWEI am TAG mindestens, und das ist eine erfreuliche Sache <leiser>.“
I: „Und damit fühlen Sie sich dann (.) wohl.“
Frau S: „Da fühl ich mich STARK <lauter>!“
I: „Ah ok.“
7 So lachen auch Frau Betke als sie von Schmerzen und einer Gewichtszunahme aufgrund
einer Knieoperation berichtet und Frau Tomic als sie erzählt, dass ihre Kinder keine
Zeit für sie haben.
200 Grit Höppner
zu bringen, symbolisiert und produziert eben jene Energie, über die sie nach dem
Trinken des Getränks normalerweise verfügt: Diese Strategie kennzeichnet Frau
Schneiders Verkörperung in dieser Interviewsequenz, die einen auf die kurzzeitige
Kompensation von sozialen und körperlichen Verlusten fokussierten Umgang mit
dem Alter(n) andeutet.
Diese Form der Verkörperung ist durch den Bezug auf mich gekennzeichnet, die
um mehrere Jahrzehnte jüngere Interviewerin. Diese Bezugnahme unterscheidet
sich im Hinblick auf die angesprochenen Themen, mit Ausnahme des Bezugs auf
Geschlecht jedoch nicht hinsichtlich der Art und Weise, wie die Interviewten diese
Themen zum Ausdruck bringen.
Durch Aussagen, die sich nicht auf körperbezogene Themen beziehen, wie
„wenn Sie’s hören wollen, das kann sich heute niemand mehr vorstellen“ oder
„A GRETA GARBO zum Beispiel, äh, die werden SIE wahrscheinlich net a mal
mehr kennen, ne?“ (Herr Plachke) grenzen die Interviewten ihre Erfahrungen zu
politischen Entwicklungen und in ihrer Jugend berühmten Personen von meinen
Kenntnissen dazu ab. Durch dieses Vorgehen verweisen sie sowohl auf unsere
unterschiedlichen Erfahrungen, die sie in der Gegenüberstellung jung vs. alt und
nicht erlebt vs. erlebt entwickeln, als auch auf unsere Funktionen, Angehörige von
Generationen zu sein, denen spezielle Aufgaben zugeschrieben werden (Erfragen
vs. Vermitteln von Wissen).
Alle Interviewten nehmen mein begrenztes Wissen zu ihren Erfahrungen zum
Anlass, mehr über diese zu berichten. Unsere Intra-Aktionen verlaufen dabei
mehrheitlich analog des folgenden Schemas, das in meiner Studie nicht nur für die
Aktualisierung des Alter(n)s typisch ist, sondern auch für die Methode des prob-
lemzentrierten Interviews (Witzel 2000): Durch die Intra-Aktionen zwischen den
Interviewten und mir, der Interviewerin, entsteht eine analytische Einheit, in der
sich Agency bildet. Während die Interviewten durch ihre non-verbal geäußerten
Erfahrungen Agency artikulieren, bringe ich durch die Praktiken „Bestätigen“,
„Nachfragen“ und „Infragestellen“ Agency zum Ausdruck. Die beiden letztgenann-
ten Praktiken sind produktiv hinsichtlich der Spezifizierung der Erzählungen. Die
Art, als Interviewte ihre Geschichte zu erzählen und dabei eine spezielle Form der
Verkörperung zu produzieren, ist vermutlich durch Wiederholung erlernt. Meine
Artikulationen bewirken eine Spezifizierung der Verkörperung ihrer Geschichte.
Dieser Prozess der wechselseitigen Bezugnahme zeigt, dass nicht nur die Interviewten
202 Grit Höppner
die empirischen Daten zum Alter(n) produzieren, sondern auch ich als Interviewerin
in meiner Funktion als Ko-Konstrukteurin eben dieser (Gemignani 2014, S. 127).
Dieses Schema variiert allerdings beim Bezug auf die Themen Geschlecht und
Alter(n). Während viele Frauen hierzu ein gemeinsames Körperwissen voraussetzen
und auf dieser Grundlage ihre früheren und heutigen körperbezogenen Erfahrun-
gen artikulieren, konstruieren einige Männer über meine Präsentation als Frau
ihre Konzepte von Weiblichkeit, die sie zuweilen mit dem Alter(n) in Verbindung
bringen. So erzählt Frau Otto von sich aus:
„Ich wa:r (.) so jung wie SIE <lauter> u:nd man hat mir gesagt, ich bin ein
fesches MÄDEL. (…) Na ja, ich WAR mal ANGEBLICH schön. JETZT bin
ich nur mehr ALT <lacht>.“
Frau Otto kontrastiert die Einschätzung von anderen Menschen, die sie in ihrer
Jugend als schön (d. h. weiblich) charakterisiert haben, mit ihrer aktuellen Ein-
schätzung, wonach sie sich nicht mehr als schön (d. h. als nicht mehr weiblich)
wahrnimmt. In diesem Vergleich artikulieren sich ihre früheren und heutigen
Erfahrungen zu Weiblichkeit. Die Praktik „Akzentuieren“ unterstreicht die Op-
positionen Interviewerin vs. Interviewte, jung vs. alt und schön vs. nicht schön, die
Frau Otto hier konstruiert. Den Bezug auf mich zeigt sie durch das Lautersprechen
zugleich nonverbal an. Mit diesem Bezug macht sie darauf aufmerksam, dass ihr
Körper – wenn auch heute aufgrund des Alter(n)s nicht mehr erkennbar – einst
jung (d. h. für Frau Otto faltenarm) war. Durch die Nennung der einst von anderen
Menschen zugeschriebenen Bedeutung als „fesches Mädel“ spricht sich Frau Otto
die Funktion ab, ihr Aussehen in der Vergangenheit selbstbestimmt bewertet zu
haben. Vielmehr war sie auf die Bewertung von anderen Menschen – d. h. Männern
– angewiesen, denn Schönheit liegt ihrer Ansicht nach „im Auge des Betrachters“.
Demgegenüber muss sie diese Aufgabe im Alter selbst ausüben. Auch ihr Lachen
während der Aussage, dass sie sich nur noch als alt bewertet, weist auf den Wi-
derspruch von Schönheit bzw. Weiblichkeit und Alter(n) hin, den Frau Otto hier
zum Ausdruck bringt.
Konkreter als die Frauen beziehen sich einige Männer auf meine Präsentation
als Frau, indem sie explizite Vorstellungen von Weiblichkeit artikulieren und
damit kein gemeinsames Körperwissen hierzu voraussetzen. Insbesondere meine
„blonde[n] Haare“ und, dass ich mich „gefällig kleid[e]“ (Herr Kessler), wird positiv
hervorgehoben. Neben solchen Komplimenten ist auffällig, dass mich diese Männer
in Bezug auf die Kleidung als eine Ausnahme des heute von der Jugend präsentierten
Mode-Mainstreams konstruieren. Dies zeigt der folgende Interviewausschnitt, in
dem der schon oben zitierte Herr Neiler sagt:
Alter(n) non-verbal verkörpern 203
„In der heutigen Jugend, wenn Sie schauen, Sie sind eine rühmliche Ausnah-
me <lacht etwas>. Wie WIR JUNG waren, da haben die Mädchen und die
jungen Frauen auf ihr Äußeres möglichst großen, guten Wert gelegt, dass
man GUT aussieht. Wenn Sie HEUTE schauen, (…) wie sich die kleiden, die
heutige Kleidung und des gleiche mit Jeans und des ist ausgefranst und die
hoben do die Löcher (…) DAS ist für UNSERE Generation (.) STÖREND.“
Auch wenn Herr Neiler die Bewertung meines Aussehens als „rühmliche Ausnahme“
durch sein Lachen abschwächt, dient ihm der Bezug auf mich der Veranschauli-
chung seiner Vorstellung von Weiblichkeit, die er mit Jugendlichkeit in Verbindung
bringt. Während Frau Otto die Bewertung als „fesches Mädel“ lediglich auf sich
bezieht, setzt mich Herr Neiler durch meine von ihm als ähnlich bewerteten Vor-
stellungen zum „richtigen“ Kleidungsstil von Frauen mit den Begriffen „Mädchen“
und „jungen Frauen“ gleich. Deren Aussehen zu bewerten, ist seiner Ansicht nach
die Aufgabe von Männern und die Artikulation dieses Mensch-Ding-Wissens
übt er – im Gegensatz zu Frau Otto – seit seiner Jugend aus. Zwar konstruiert
auch er die Oppositionen Interviewerin vs. Interviewter und jung vs. alt. Aber
anders als Frau Otto bringt er diese Gegenüberstellung mit seinen Erfahrungen
zum Modegeschmack der heutigen Jugend in Verbindung und bewertet diese als
Vertreter seiner Generation als störend, das heißt als nicht schön. Er aktualisiert
sein Alter(n) also durch das Anwenden eines Bewertungsmaßstabes zur Kleidung
von Frauen, den er in seiner Jugend entwickelt hat. Anders als bei Frau Otto ist
Herr Neilers Umgang mit dem Alter(n) in Bezug auf diese Form der Verkörperung
durch Kontinuität gekennzeichnet, denn seine Rolle, die Kleidung von Frauen zu
bewerten, ist im Alter unverändert geblieben.
5 Schlussfolgerungen
Literatur
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Lebensschmerz –
Verkörperungen des Historischen
Biographische Leidens- und Lebenserfahrungen
Hochaltriger
Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp
Körpergebrauchs erlernt (Mauss 1982); nicht zuletzt durch die Fähigkeit, Schmer-
zen zu vermeiden. Schmerz zu empfinden, ist eine physiologische Bedingung für
das Überleben des menschlichen Organismus. Genauso wie andere physiologische
Erscheinungen und Bedürfnisse, wie Hunger und Stoffwechsel, Bewegung und
Ruhe, ist Schmerz sozial überformt und in das symbolische Sinnsystem und in
die materiellen Austauschprozesse einer Gesellschaft bzw. ihrer sozialen Gruppen
eingebettet (Le Breton 2003; Morris 1994; Zborowski 1969). Schmerzen – und hier
ist immer an einen spezifisch interpretierten Modus der Körperwahrnehmung
und Körperaufmerksamkeit gedacht – unterliegen sozialen Normierungen und
Disziplinierungen des Körpers, die sozialisiert werden und kulturellen Deutungen
entsprechen. Sie sind als Grundformen des Wissens über unseren Körper in Hand-
lungs- und Deutungsfelder eingewoben. Auch in das einsame Schmerzaushalten
sind soziale Normen eingeschrieben. Schmerzen sind Bewertungen körperlicher
Sensationen entsprechend sozialer Normen ihres Ausdrucks.
In allererster Linie sind Schmerzen Alltag und drücken sich in alltäglichen In-
teraktionen und Zuweisungen mit signifikanten Anderen aus. Schmerzen gehen in
Interaktionen ein und werden in sozialen Situationen und durch die Reaktionen des
Gegenübers entsprechend den situativ gebotenen Gefühlsnormen kontextualisiert.
Sehr eindrucksvoll belegt etwa Zborowski (1969) das Soziale der Schmerzen, die
die Mitgliedschaft in Kollektiven und deren Weltsichten repräsentieren. Schmerz-
handeln heißt, dass sich in Interaktionen Körperdeutungen kristallisieren und
Körperaufmerksamkeit ausgehandelt wird. Das bedeutet auch immer verkörperte
Interaktion: strategische Darstellungen, die zum Ziel haben, dass Handlungsziele
erreicht und kollektive Ideale erfüllt oder Abweichungen markiert werden. So werden
Schmerzen normalisiert, das Unangenehme verschwindet im Alltäglichen. Unter
Umständen aber eskaliert Schmerzaufmerksamkeit. In diesen Fällen wird Schmerz
selbst zum Alltag – etwa unter den Rubriken von „Krankheit“ und „chronische
Schmerzen“ findet die Schmerzinteraktion in Hilfebeziehungen statt (Baszanger
1992; Göckenjan et al. 2013; Pfankuch 2014). Mit Schmerzhandeln sollen einerseits
die unterschiedlichen Reaktionen, Kontexte, Interessen und Symbolisierungen
als identitätsverleihende Körperpraxis erfasst (Hirschauer 2004; Meuser 2006) als
auch thematisiert werden, dass im Schmerz Anerkennung und Stigmatisierung,
Statusgewinne und Statusverluste enthalten sind (Peller 2003).
Lebensschmerz
Der konzeptionelle rote Faden der vorliegenden Untersuchung besteht in der körper-
soziologischen Annahme, dass lebensgeschichtlich und biographisch Erfahrenes als
Körpererfahrung inkorporiert wird und sich im Körper als explizites und implizites
Wissen ansammelt und tradiert (vgl. Abraham 2002; Bourdieu 1982; Hirschauer
Lebensschmerz – Verkörperungen des Historischen 211
2 Für unsere Zwecke sind nicht die Codierung von Täter- und Opferschaft und die sich
daraus ergebenden Spielarten der psychosozialen Pathologisierungen leitend (vgl.
Grundmann / Hoffmeister 2007), sondern das Durchstehen und Erleben krisenhafter
Zeiten in konkreten Situationen als gestaltende und erleidende Handelnde. Untersu-
chungen dieser Jahrgänge, die hier alltagsgebräuchlich als Kriegsgeneration bezeichnet
wird, wurden durch Schelsky (1962) und Bude (1987) durchgeführt. Diese Studien
verfolgen die Schwerpunktsetzungen einer Gesellschaftsanalyse der Bundesrepublik
Deutschland auf der Grundlage generativer Lagerungen sowie normativer und habi-
tueller Einstellungen auf der Basis des Generationenkonzepts von Mannheim (1928).
Eine solche Analyse kann hier nicht vorgenommen werden, da die Hochaltrigen bereits
aus den zentralen gesellschaftlichen Positionen ausgegliedert sind (Dreßke 2012). Der
vorliegende Beitrag thematisiert retrospektive und zeithistorische Deutungen und das
Aufzeigen von Sozialgeschichte als Körpergeschichte.
212 Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp
2 Leistungsschmerzen:
Sozialisation in Kindheit und Jugend
Berichtet wird von harter Arbeit in Kindheit und Jugend, insbesondere dann, wenn
unsere Interviewten auf dem Land groß geworden sind. Frau Gerth (geb. 1924)
erinnert sich zunächst nur an den Schmerz, den ihre Schwester bei der Feldarbeit
verspürt, die sie ab dem Alter von sechs Jahren in den 1930er Jahren verrichtet3:
Ja, wir mussten schon viel mitarbeiten. Da gab es keine Maschinen, die die
Kartoffeln rausmachten, da ist der Papa und der Opa, die sind früh mor-
gens schon um vier Uhr los aufs Feld mit Gabeln und haben die Kartoffeln
ausgegraben. Wir Kinder hatten Eimer und Körbe und dann haben wir die
Kartoffeln aufgelesen. Eine Schwester von mir sagte: „Papa, ich kann nicht
mehr. Ich habe so Rückenweh. Ich habe so Kreuzweh.“ Dann hat der Papa
gesagt: „Du bist noch so jung, du hast doch noch gar kein Kreuz.“
sie selbst Schmerzen empfindet: „Wir mussten arbeiten. […] Ja, einen ganzen Tag
so liegen und dann Kartoffeln lesen, da tat einem der Rücken weh.“
Es wird aber auch von Schmerzen berichtet, die nicht im Kontext von Arbeit
stehen: Kinderschmerzen aufgrund von Unfällen beim Spielen oder von typischen
Kinderkrankheiten. Frau Metzger (geb. 1924), die Tochter eines Gastwirts, beginnt
ihre Schmerzgeschichte mit Unfällen in der frühen Kindheit und berichtet davon,
wie ihr im Alter von vier Jahren beim Spielen ein schwerer Schleifstein auf den
Kopf fällt: „Das [Gesicht] ist aufgerissen. Hier die ganze Backe, die war gekläfft. Im
Zahnbett waren die Zähne schon geschädigt.“ Schmerzen kommen jedoch nicht vor,
und die Narben sieht Frau Metzger als eine Ehrenverletzung, die sie als „Schmisse“
in ihre „Kinderträume“ einwebt, in denen sie für sich ein Studium der Medizin
imaginiert. Die Bedeutung der Schmerzen verändert sich, wenn die Pflichten des
Erwachsenseins zunehmend in den Vordergrund rücken. Diese Zäsur erfolgt bei
Frau Metzger im Alter von zehn Jahren. Als die Mutter an Hirnhautentzündung
stirbt, ist auch die Kindheit vorbei: „Das war sehr schwer. Ich hatte ja so viele
Träume. Ich wollte ja so vieles anderes machen. Dadurch war ich auch an Zuhause
gefesselt, dass die Mutter nicht mehr da war.“
Nun bekommen auch die häufigen Unfälle eine andere Bedeutung. Ihre vierzehn
Knochenbrüche, von denen sie im Interviewverlauf berichtet, sieht Frau Metzger
nicht mehr im Kontext der Kindheit, sondern als Folge der harten körperlichen
Arbeit auf dem Bauernhof.
Schmerzlernen ist das Lernen des Schmerzertragens und geschieht auch durch
Nachahmung und Vorbild. Frau Wessling, eine Arbeiterin, (geb. 1930) berichtet
über das Vorbild ihrer Mutter:
Nun war sie ja auch eine Frau, die nie klagte. Wenn sie dann mal saß und
die Wärmflasche in dem Rücken hatte: „Oh, Mama hat Rückenschmerzen!“
Ja nun, wir sahen das. Aber sie hat nie geklagt. Sie sagte immer: „Mir kann
doch keiner helfen, ich muss alleine da durch.“
Man darf Schmerzen zeigen, jedoch nicht unmittelbar als diffuse, emotionalisierte
körperliche Reaktion, wie etwa Stöhnen oder Jammern. Schon im Ausdrücken des
Schmerzes ist seine Bekämpfung und seine Unterdrückung enthalten. Die „Wärm-
flasche“ hat hier eine zweifache Bedeutung: Mit ihr wird der Schmerz bekämpft,
gleichzeitig signalisiert sie die Notwendigkeit der Ruhe, des Rückzugs und der
Rücksichtnahme. Die Kinder wissen: „Mama hat Rückenschmerzen.“ Das folgende
„Ja nun…“ ist eine Geste, mit der diese Schmerzäußerungen entschuldigt werden.
Schmerzdarstellungen haben ihre Grenzen: Keine Klage darf erhoben werden
und mit den Schmerzen muss allein und selbstdiszipliniert umgegangen werden.
Lebensschmerz – Verkörperungen des Historischen 215
Die Schmerzdeutung der Leistungsschmerzen bezieht sich auf den Alltag, der
selbstverständlich bewältigt werden muss. Alltagsschmerzen sind nichts Besonderes.
Daneben gibt es aber auch die besonderen Schmerzen, die bei unseren Intervie-
wpartnern mit dem Überleben und den Verlusten unter den besonderen historischen
Umständen des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit zu tun haben. An den
Erzählungen über Krieg und Bombardierung, Flucht und Vertreibung, Kriegsge-
fangenschaft und Arbeitslager ist allerdings eines erstaunlich: Konkrete körperliche
Schmerzepisoden werden kaum thematisiert, obwohl die Eingangsfrage explizit
nach Schmerzen gestellt wird und im Weiteren von den Interviewern Schmerzen
immer wieder angesprochen werden. Dennoch gibt es ganz unmittelbar im Inter-
view Schmerzäußerungen. Nicht selten weinen die Frauen oder sind zornig, wenn
sie von den Verlusten des Krieges berichten. Trauer ist das vorherrschende Gefühl,
vor dem der eigene, körperliche Schmerz zurückgestellt wird. Es geht um das
Überleben und um zu überleben, muss der Körper mitmachen und funktionieren.
Dem Körper selbst wird keine eigene Aufmerksamkeit geschenkt – an körperliche
Schmerzen ist nicht zu denken oder erst im Nachhinein.
Wie ich 17 Jahre alt war und wir machten einen Angriff gegen die Russen,
unser Leutnant sagte immer: „Helm ab zum Gebet!“ und dann guckte er uns
Jungens an und sagte: „Merkt euch eins, da müssen wir durch. Da führt kein
Weg dran vorbei.“ Und dieses eine Wort: „Da müssen wir durch.“ Das habe
ich mir mein Leben lang gemerkt. Das war ein schönes Wort […] Das waren
so die Zeiten von früher, das sind so Sachen, die man sich noch gemerkt hat.
Körperdisziplin war kollektiv erfahrbar, damit zunächst auch die Erfahrung des
eigenen Schutzes. Der kollektive Schutz auf der Ebene des Gesellschaftlichen, des
staatlichen Großkollektivs wurde im Zuge der Kriegsentwicklung immer brüchiger
und prekärer. Die staatlich-gesellschaftlichen Institutionen brachen zusammen.
Die Mitgliedschaft in Großkollektiven bietet nun keinen Schutz mehr, sondern ist
im Gegenteil eine Gefährdung. Damit beginnen die Leidensgeschichten. Die Zivil-
bevölkerung ist besonders vulnerabel gegenüber Übergriffen der heranrückenden
Kampfeinheiten. Das zeigt in besonderer Weise Frau Ehrensperger (geb. 1925) aus
einer großbäuerlichen Familie, die das Interview folgendermaßen begann:
Interviewer: Mich interessiert ihr Leben [E: Ja.] in Bezug auf Krankheit und
Schmerz. [E: Ja.] Was können Sie denn über Schmerzen sagen?
Frau Ehrensperger: Oh, ganz viel. [I: mh] Erstmal will ich Ihnen erklären,
dass ich aus Jugoslawien Volksdeutsche bin. [I: Ja, aha, okay.] Und dann
haben sie mich verschleppt nach Russland.
Ganz viele sind gestorben. […] Ich bin jetzt im 87. Lebensjahr, ein Geschenk,
dass ich so alt geworden bin, hätte ich nicht gedacht, aber meine Knie sind
kaputt. Nur 90 Zentimeter war die Lava hoch, uns Arbeiter immer kniend,
immer kniend.
218 Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp
Vor dem Hintergrund dieser grauenhaften Erfahrungen – den Tod der mitgefangenen
jungen Frauen ansehen zu müssen, ihre eigene lebensbedrohende Krankheit, die
menschenunwürdige Arbeit – entfaltet sich ihre gesamte Biographie. Eine glückliche
Kindheit und Jugend auf dem Land enden abrupt mit dem Einmarsch von Partisanen
und der russischen Armee. Frau Ehrensperger berichtet von Vergewaltigung und
Mord einer Frau in ihrem Alter. „Da haben wir Angst gehabt, haben wir immer
versteckt nur gelebt.“ Die Deportation nach Russland kommt ihr nun fast wie ein
Glück vor: „Da waren wir froh, dass wir nach Russland gekommen sind. […] Die
han schwer draufgezahlt, die Mädchen [die daheim geblieben sind].“
Auch der kollektive Schutz des Heeres ist für die Soldaten nicht mehr gegeben.
Die Einheit löst sich auf, jeder sucht sein eigenes Glück, um zu überleben. In der
Regel folgt Gefangennahme und jahrelange Kriegsgefangenschaft. Manchmal sind es
recht abenteuerliche Geschichten, die erzählt werden: Herr Reder (geb. 1920, Vater
Offizier) kann mit seiner versprengten Einheit bis nach Österreich ausweichen. In
den letzten Kriegstagen verstecken sie sich und besorgen sich Zivilkleidung, um der
Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Herr Reder schlägt sich allein bis Wien durch,
wo er einem amerikanischen Offizier das Leben rettet, wofür er in der amerikani-
schen Armee angestellt wird.
Neben der Erzählung der kollektiven Solidarität steht das Motiv des Erfolgs der
individuellen Selbstbehauptung. Unsere Interviewpartner berichten über Umstän-
de, die ihnen das Leben erleichterten, über glückliche Zufälle und über Personen,
die zufällig da waren und geholfen haben. Dabei wird auch die eigene Leistung
herausgestellt; als Lebenstechniken der vorausschauenden Pfiffigkeit, eine Chance
zu nutzen und sie herbeizuführen, des praktischen Mutterwitzes und der virtuosen
Beweglichkeit in einer Welt des Chaos und des Zwangs. Es sind die Fähigkeiten,
zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und sich gegen andere durchzusetzen.
Eine solche Geschichte berichtet auch Frau Gerth: Sie möchte ihren in Russland
verletzten Ehemann im Lazarett besuchen. Als sie dort ankommt, ist er bereits
tot. Unter Tränen schildert sie, wie sie seinen Leichnam im siebten Monat der
Schwangerschaft mit dem Lazarettzug nach Hause überführt.
Das Auflösen gesicherter Strukturen trifft alle Gefährdungsbereiche – nirgend-
wo ist man mehr sicher: Bombardierung der Städte, Flucht und Vertreibung in
den Ostgebieten, Kampfhandlungen und die Besetzung durch die vorrückenden
alliierten Armeen, der Verlust von Hab und Gut, Übergriffe und Vergewaltigung,
Gefangenschaft und Zwangsarbeit, Kälte und Hunger. Mit dem Auflösen der so-
zialen Ordnung, insbesondere der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung, sind alle
Sicherheiten in Frage gestellt, insbesondere aber sind Leben und Überleben nicht
mehr gesichert. Allein auf sich gestellt, ohne die Unterstützung anderer und ohne
Hoffnung, lassen sich die Gefühle des Verratenseins und der Enttäuschungen, die
Lebensschmerz – Verkörperungen des Historischen 219
Wir hatten einen Schrecken gekriegt. Sie hatte einen Militärmantel an, der
bis auf die Erde reichte. Da kam sie dann bei Nacht und Nebel an. Sie waren
220 Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp
zu Fuß von Hannover, […] per Anhalter, wenn sie mal einen Militärkonvoi
erwischten.
In der Nachkriegszeit reichten die offiziellen Zuteilungen von Nahrungs- und Brenn-
mittel oftmals nicht zum Überleben aus, sodass die Familien zu illegalem Verhalten
und zu Kriminalität gezwungen waren, etwa wenn mindestens eine Person für den
Schwarzmarkthandel oder Kinder für den Kohlendiebstahl abgestellt wurden. Ge-
sellschaftliche Institutionen arbeiteten nur noch dürftig, soziale Ordnung vollzog
sich nur noch in einer „normalen Anomie“ (am Beispiel Kassel: Dreßke / Göckenjan
2007). Die Funktionen der zusammengebrochenen großen gesellschaftlichen Ins-
titutionen wurden in den Familien aufgefangen, die als kleinere Einheiten flexibel
genug waren, das Überleben zu sichern. In ihrer materialreichen Studie berichtet
Thurnwald (1948) von den desolaten Zuständen der zerrissenen Berliner Familien,
die durch Hunger und Kälte im strengen Winter 1946/47 zusätzlich auf die Probe
gestellt wurden. Insbesondere die Frauen folgten, trotz der enormen Erschöpfung
und des schlechten Gesundheitszustandes, ihrem Selbsterhaltungstrieb. Als Grund
gaben sie immer an, dass sie sich für ihre Kinder und ihre Ehemänner verantwort-
lich fühlten, obwohl einige von ihnen Selbstmordabsichten hegten. Das eigene Leid
wird hinter das Leid anderer zurückgestellt, denen es noch schlechter geht. Sogar
Krieg führt nicht zum kompletten Zerfallen der Gemeinschaften – sie sind Krisen
zweifelsohne ausgesetzt, aber sie bleiben zumindest teilintakt. Familien werden
zu Überlebensgemeinschaften, in denen Handlungsspielräume ausgenutzt und
organisiert werden. Es geht um Existenzsicherung und um das nackte Überleben,
um Anpassung an den Mangel und an äußere Zwänge. Auch diese Zeit hinterlässt
ihre Markierungen im Körper. Bei Frau Eder (geb. 1922, Vater Fabrikarbeiter)
hält der Ehemann eine Erklärung für die Schmerzen bereit: „Das war auch, weil
du Schwellen gesägt hat.“ Frau Eder wehrt im Interview bescheiden ab: „Na ja,
das war mal, Horst.“ Sie erklärt der Interviewerin: „Mein Mann sagt, ich bin so
verrückt gewesen, ich habe sogar Eisenbahnschwellen durchgesägt, damit wir
Brennholz hatten.“
Die persönliche Geschichte eines jeden von ihnen ist in besonderer Weise
durchdrungen von gesellschaftlicher Geschichte. Durch ihr Leben geht ein
historischer Riss: 1945, der „Zusammenbruch“, die „Stunde Null“. Sie waren
Lebensschmerz – Verkörperungen des Historischen 221
zwischen 15 und 19 Jahre alt. Die meisten von ihnen kamen in Kriegsge-
fangenschaft. […] Vorangegangen waren die Sozialisationserfahrungen im
faschistischen Staat, in der Schule, im Jungvolk, in der HJ, die gipfelten in
dem Aufruf, als die „letzten Helden des Führer“ das Vaterland gegen die
Übermacht der Feinde zu verteidigen. Schließlich brach das System zusammen,
in dem sie groß geworden waren. Sie mussten sich zurechtfinden zwischen
den Trümmern, in einem kulturellen Niemandsland.
Der biographische Riss, wenn man schon davon sprechen will, ist allerdings nicht
ausschließlich auf den 8. Mai 1945, dem Kriegsende, datiert. Das ist lediglich das
retrospektiv zugewiesene politisch-gesellschaftshistorische Symboldatum. Auch
– und besonders – nach dem Kriegsende wurden die Kämpfe ums Überleben wei-
tergeführt, wie etwa der eindrucksvolle Forschungsbericht von Thurnwald (1948)
zeigt. In den einzelnen Biographien wurden Risse schon vorher erfahren, als sich
für selbstverständlich gehaltene Sicherheiten aufgelöst haben, jeder auf sich allein
gestellt war und – wenn man Glück hatte – nur noch Schutz im Schoß der Familie
gefunden hat. Prägend für den biographischen Riss sind zum einen Enttäuschung,
Verluste, Desillusionierung, Erniedrigung und Demütigung, die das alte Leben
unmöglich machen. Zum anderen muss auch um das Überleben gekämpft werden
und man kann sich mit den demütigenden Erfahrungen nicht weiter beschäftigen.
Diejenigen, die dies getan haben, sind möglicherweise auch daran gestorben. Der
Lebenswille verlangt geradezu, die eingekörperten Erfahrungen der in der Kindheit
gelernten Tugenden und der harten, unmenschlichen Notzeiten zu aktualisieren
und daran Schmerzen zu relativieren. Man hat immer noch seinen eigenen Körper,
der sowohl den politischen und zeithistorischen Riss repräsentiert, aber in dem
man auch weiterlebt und der Erfahrung kontinuiert. Dies illustriert die Geschichte
von Herrn Peter (geb. 1924, Vater Bankangestellter):
Herr Peter wehrt sich erfolgreich im Lazarett gegen die Amputation seines Fußes
und setzt sich gegen den behandelnden Arzt durch. Die Schmerzen im Fuß sind
geblieben, aber im Nachhinein markieren sie den erfolgreichen Kampf um seine
körperliche Integrität. Er hat eben nichts „Künstliches“. Schmerz repräsentiert, was
im Leben passiert und wie es gemeistert wird: als Versuch, eine kohärente Biogra-
phie herzustellen und gleichzeitig ihren Bruch und die erfahrene Demütigung. „Da
nutzte mir auch das Silberne Verwundetenabzeichen und das EK 1 nichts.“ Herr
Peter schließt an seine Jugend an, um diesen Bruch gleichsam zu kitten, aber auch
sichtbar zu machen: „Ich war mal als junger Mensch, fünfzehn, sechszehn Jahre,
war ich im 1000-Meter-Lauf in Köln, war ich mal Gaumeister. Schnell war ich nie
so besonders, aber ausdauernd.“
222 Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp
Kontinuität in Belastungskollektiven
Schmerzen und Belastungen müssen irgendwie in den Alltag eingehen und dort
selbstverständlich gemacht werden. So erstaunt es vielleicht gar nicht, dass in
den Interviews Schmerzepisoden nach der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum
angesprochen wurden und die Befragten sich selbst auf Nachfrage der Interviewer
kaum daran erinnerten. Es gibt wenige Berichte von prägnanten Episoden, von
Wendepunkten oder von Konflikten. Selbst die Geburtsschmerzen hielten die Frauen
nicht für besonders erwähnenswert. Die Härten der Kindheit, die auch meist als
glücklich gesehen wurde, die Notzeiten und Verluste wurden dagegen gut erinnert
sowie dann wiederum die aktuellen Situationen als Patienten einer geriatrischen
Abteilung. Tradiert haben sich allerdings die allgemeinen Einstellungen, wie bei
Herrn Kleinke:
Wir waren abgehärtet. […] Wir haben das nicht so empfunden. Was willst
du denn machen? Da musst du durch, das ist so. Wenn man mal irgendwas
hat, eine Krankheit, und dann sagt man: „Na ja, du darfst drei, vier Tage
liegen und dann ist das wieder vorbei.“ Da musst du durch.
legte, da konnte ich nicht mehr. Aber ich wollte gerne voll machen bis 63.“ Arbeit,
wenngleich nicht die harte Arbeit, ist Mittel zur Schmerzbekämpfung. Stillstand
und Ruhe bedeuten nur noch mehr Schmerzen. Bewegung und Arbeit, auch Gar-
tenarbeit, sind ein Präventiv für Schmerzen. Ruhe, insbesondere Bettruhe, verstärkt
dagegen Schmerzen. Frau Kraft sagt: „In der Woche ging es flott, sonnabends und
sonntags hatte ich dann meine Weh-Wehchen. Immer, wenn ich zur Ruhe kam.“
Tätigsein lenkt die Aufmerksamkeit auf das Getane und nicht auf den eigenen
Körper. Diese Einstellung der Tätigkeit, Verantwortung und Aktivität bleiben bis ins
hohe Alter bestehen: Man trägt Sorge für Ehepartner und Enkel, hält den Haushalt
in Schuss und kümmert sich um den Hund. Insbesondere die Gartenarbeit bietet
eine typische Identifikation für das Gefühl, gebraucht zu werden, wie bei Frau
Heiderich (geb. 1938, Vater Maschinenbauschlosser):
Ja, man kann doch nicht wegen jedem bisschen nichts tun. Das läuft doch
nicht. Wenn sie einen Garten haben, dann müssen sie was tun. Da kann man
keine Schmerzen vorschieben und sagen, die Kartoffeln bleiben heute mal
länger drin, bis morgen. Das geht nicht.
Der eigene Garten ist keine reine Freizeitbeschäftigung, sondern knüpft an Notzeiten
an und symbolisiert noch die Reste der älteren Überlebensvorstellung. Gleichzeitig
erinnert der Garten auch an die Kindheit. Er ist ein Symbol für Geschaffenes, für
Autonomie, seine Ernte ist Ausdruck für Leistung und Anerkennung, in denen die
Anstrengungen und Schmerzen aufgehen.
Das Alter ist besonders anfällig für Schmerzen, man wird gebrechlich, Kran-
kenhausaufenthalte häufen sich und Verletzungen heilen nicht mehr so schnell wie
in jüngeren Lebensaltern. Gebrechlichkeit aber ist die Not der Inaktivität und eine
Krise des Bewegungsregimes des Alltags. Damit besteht die Gefahr, dass Schmerz
nicht mehr relativiert wird. Tatsächlich müssen sich Hochaltrige der Herausfor-
derung stellen, sich immer weniger bewegen zu können, ihren Handlungsradius
einzuschränken und körperliche Fähigkeiten einzubüßen. Unsere Informanten
sind klug genug, von den Gefährdungen der Körperschonung zu wissen, auch
darin zeigt sich ihre Lebenstechnik: Herr Diener (geb. 1924, Vater Arbeiter) wägt
zwischen Bequemlichkeit und Anstrengung ab:
Das eingekörperte Wissen der starken Erfahrungen wird reaktiviert und schützt
vor aufdringlicher Schmerzaufmerksamkeit. In der zunehmenden Gebrechlichkeit
wird die ältere Orientierung auf Not und Krise erinnert und so der Körper historisch
und biographisch kontextualisiert: Unsere Interviewpartner verweisen auf den
Krieg, wenn sie in der aktuellen Situation als Patienten einer geriatrischen Station
auf ihre Schmerzen und Krankheiten angesprochen werden. Damit relativieren
sie ihre aktuellen Schmerzen: Man hat schon Schlimmeres durchgestanden. Es
sind aber nicht nur diese Ereignisse, auf die verwiesen werden, es sind auch die
Hinweise auf die Kollektive, in denen Schmerzen ertragen worden sind, dass es
anderen genauso ging oder noch schlechter. Auch in der Rehabilitation wollen sie
nicht „wie ein rohes Ei“ behandelt werden, beschwert sich Herr Kleinke, der schon
Schmerzhafteres im Krieg erlebt hat.
In den Lebenserfahrungen lagern sich Körperschichtungen und Körpererinne-
rungen ab, die im Alter abgerufen werden. Insbesondere dann, wenn wieder eine
Notsituation besteht: Die ehemals kollektiv erlebten Krisen werden als biographische
Krisen aktualisiert und damit auch die Fähigkeit reaktiviert, sich an schwierige
Umstände anzupassen. Anstrengende Gangübungen und Treppensteigen werden
mit Ernst betrieben und man distanziert sich mit Humor. Das ist das Bewegungs-
regime der pfiffigen Techniken des wendigen Körpers, um weiterzumachen und
nicht aufzugeben. Das zentrale Motiv ist auch hier wieder der Leistungscode. Im
Umgang mit Krankheit und Gebrechlichkeit schließen unsere Informanten an
das an, was sie schon kennen und was schon einmal geholfen hat: Weitermachen
und Normalität so weit wie möglich aufrechterhalten. Die Motive sind Kontinuität
und Gebrauchtwerden. Verständigt wird sich über Schmerzen durch die Fähigkeit,
Bewegungen auszuüben, über Können und über Körpertechniken. Schmerz wird
dem Bewegungsregime des Alltags untergeordnet.
Diese robuste Einstellung gegenüber Schmerzen ist integriert in Vorstellungen
über den alternden Körper. Genauso, wie der junge Körper des Kindes und des
Jugendlichen wächst, sich aufbaut, widerstandsfähig und flexibel ist, ist der alte
Körper durch seinen zunehmenden Verbrauch gezeichnet. Der alternde Körper
ist endlich und wird immer weniger, seine Kräfte sind begrenzt, man spürt ihn
unangenehm und er wird zunehmend unbeweglich.
Frau Pfalz (geb. 1924, Vater Beamter) hat jahrelang als Kellnerin im Restaurant
ihres Ehemannes gearbeitet und musste schwer heben. Regelmäßig ließ sie sich
Schmerzspritzen geben und arbeitete weiter. Sie sieht: „Dass [der Schmerz] mit
dem Alter zu tun hat auch. Wenn man jünger ist, dass alles besser heilt […] man
ist widerstandsfähiger, ne?“ Das Leben hinterlässt seine Spuren, verlangt seinen
Tribut und Belastungen zeichnen sich ab. Das Gegenwärtige reproduziert sich durch
das Vergangene. Der Körperverbrauch ist die Quittung für die Lebensleistungen,
226 Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp
deren Bilanzierung derart zur Körperbilanzierung wird. Frau Gerth führt ihren
verstorbenen zweiten Ehemann an, als sie über ihre Schmerzen spricht: „Ja, ich
dachte: ‚Was hast du bloß?‘ Und dann hat mein Mann immer gesagt: […] ‚Du hast
zu viel gearbeitet, deshalb […] sind die Knochen ruiniert.‘„
auf Aktivität und Bewegung kein Handlungsmotiv mehr. Die Notwendigkeit zur
selbständigen Lebensführung besteht nicht weiter, vor allem, wenn man sich nicht
mehr um Angehörige, den Haushalt, den Hund oder einen eigenen Garten kümmern
muss. Damit fehlen aber auch die Motivationen, sich den Zumutungen und Härten
des gebrechlich werdenden Körpers zu stellen, die bedeuten, Schmerzen zu ertragen
und zu überwinden. Frau Weyer sieht sich in einer passiven Krankenrolle, es wird
der Schonkörper trainiert und die Schmerzaufmerksamkeit verstärkt.
Das Fallbeispiel zeigt sehr eindringlich, welche Gefährdungen im Nutzen von
Hilfsmitteln, im Leben in geschützten Räumen und vor allem in der Medikalisie-
rung der Schmerzen liegen. Es wird eine Bequemorientierung unterstützt und ein
Bequemkörper trainiert. Wenn Barrieren weggenommen werden, werden auch
Fähigkeiten verlernt, überhaupt Barrieren zu überwinden. Und man mag sich fra-
gen, woher überhaupt die Schmerzen kommen – gibt es doch keine Widerstände
für den Körper und kein materielles Gegenüber für diese Schmerzen. Die medi-
zinischen Behandlungen figurieren Schmerzen als eigene Entitäten, die zwar zum
Körper gehören (weil sie dort gefühlt werden), aber doch gegenüber dem Körper
ein Alleinstellungsmerkmal haben – Frau Weyers Bequemkörper wird auch zum
Schmerzkörper. Im weiteren Behandlungsverlauf lässt sich diese Fehlsteuerung
nicht rückgängig machen. Die Vulnerabilität für die schmerzmedizinischen Sich-
ten und damit für die Medikalisierung der Schmerzen hat ihren Ursprung in den
fehlenden lebensweltlichen, biographischen Erklärungen ihrer Schmerzen in ihrer
aktuellen Lebenssituation. Die Schmerzen, die immer schon da waren, können
sich nicht beweisen. Sie drängen sich auf und verlangen eine Aufmerksamkeit,
die nicht durch die Umgebung oder durch biographische Bestätigung relativiert
wird. Schmerz ohne Rechtfertigung wird zur reinen leeren Klage. In den Versor-
gungseinrichtungen werden diese Patienten als Schmerzpatienten geführt, denen
nicht geholfen werden kann. Die nicht verstandenen Schmerzen treiben in die
medizinische Versorgung, in der diese Schmerzen auch nicht verstanden werden.
Der Umgang mit Schmerzen wird problematisch, wenn unterstützende Kollek-
tive und Alltagsfähigkeiten nicht mehr greifen. Für viele unserer Interviewpartner
ist der biographische Resonanzraum der verstehenden signifikanten Anderen
verloren bzw. prekär geworden. Der Ehepartner ist gestorben, der Freundeskreis
aufgelöst, die Kinder besuchen selten und die Pflegerinnen des Pflegeheims in-
teressieren sich nicht für die Lebenserzählungen. So wie bei Frau Ehrensperger,
deren Knieschmerzen sich, nachdem ihr Ehemann verstorben war, verschlimmert
haben. Bei ihr repräsentieren Schmerzen jedoch bedeutungsvolle biographische
Phasen des Leidens und des Überstehens. Das schützt vor einer Schmerzkarriere.
Das biographisch Erfahrene wird durch Schmerzen markiert und materialisiert
sich in den Schmerzen. Schmerzen erhalten aber erst diese Bedeutung, wenn sie
228 Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp
ein Gegenüber finden, dass sie versteht, denn hier haben sie einen Sinn, sogar eine
Funktion, nämlich Biographisches als Leistung sichtbar zu machen und Vergan-
genes gegenwärtig zu halten. Der Körper ist ein Erinnerungsort, aber auch ein Ort
sozialer Praxis. Das kann er aber nur sein, wenn er erfahren wird, und das heißt,
wenn er aktiv ist.
Die Kriegsgeneration versteht Schmerzen nicht nur als körperlich und nicht nur als
zerstörerisch, sondern umfassender als Leid – Leid an den schwierigen Verhältnissen
und an Verlusten. Leid ist dabei nicht abstrakt-philosophisch verstanden, sondern
hat seine konkreten Markierungen am Körper hinterlassen, mit denen das Leben
gedeutet werden kann – deshalb auch die Konzeptionierung des Lebensschmerzes.
Schmerzmarkierungen werden in der Retrospektive durchaus positiv gedeutet, als
Mitgliedschaft, als Aushalten, als Auszeichnung und als Überleben. Denn vieles,
was es nicht mehr gibt, findet seinen Niederschlag in den Deutungen des Körpers:
das Haus der Kindheit in Schlesien, verlorene Familienangehörige, die Firma,
in der jahrzehntelang gearbeitet wurde oder der Ehepartner. Aber vieles konnte
auch neu aufgebaut werden, trotz der Verluste. Aushalten kann zu Anerkennung
und Gratifikation führen und bedeutet nicht zuletzt die Mitgliedschaft in einem
Kollektiv, dessen Werte und Normen geteilt werden. Lebensschmerzen sind die
Form der Verkörperung in den biographischen Selbstdarstellungen. Symboli-
sierungen verlangen auch immer nach materiellen Substraten – das ist in diesen
Fällen der eigene Körper, an dem Biographie und Lebenserfahrung gespürt und
erinnert werden. Dabei suchen die Hochaltrigen trotz ihrer robusten Haltung
keinen Schmerz, der unangenehm und zu vermeiden ist, und natürlich wird auch
gejammert. Aber Schmerz bietet eben auch den Stoff für die Auseinandersetzung
mit dem eigenen Leben.
Dieses ältere Schmerzverständnis wendet sich gegen zwei neuere Entwicklungen:
gegen den „Mythos der zwei Schmerzen“, den Morris (1994, S. 20) kritisiert, sowie
gegen die medizinische Vorstellung der Schmerzen als Krankheit. Die Hochaltrigen
machen keinen Unterschied zwischen „psychischen“ und „physischen“ Schmerzen.
Diese Dichotomie hierarchisiert Schmerzen nach ihren Bedeutungszuweisungen der
psychischen Schmerzen, die schlimmere Wunden als physische Schmerzen hinter-
lassen und nur schlecht oder gar nicht heilbar sind. Die Zerlegung in hierarchisch
geordnete Schmerzbereiche des Geistes und des Körpers fordert ihre „Behandlungs-
bedürftigkeit“ und den Verweis an Experten. Die Hochaltrigen sehen Schmerzen
Lebensschmerz – Verkörperungen des Historischen 229
dagegen tatsächlich „ganzheitlich“ und zwar als Inkorporieren und Erfahren des
Sozialen. Schmerzen sind nicht nur dem persönlichen Erfahrungsraum zugänglich,
vielmehr transzendieren sie Subjektivität und ermöglichen Gemeinschaft. Nur
wenn der Schmerz nicht mehr in den sozialen Anbindungen sein Gegenüber findet,
wird zur Dichotomie von physischen und psychischen Schmerzen übergegangen,
werden Schmerzorte und Schmerzintensitäten seziert und Schmerzaufmerksamkeit
trainiert. Für alle möglichen Belastungen werden schließlich Schmerzursachen
zugewiesen, die dann – mitunter als Krankheit diagnostiziert – zu behandeln sind.
Schmerz aber ist Alltag und dokumentiert Alltagsfähigkeit, womit die Deutung
als Leistungsschmerz angesprochen ist. Leistungsschmerz wird entsprechend der
Normen von Belastungskollektiven sozialisiert, ausgehalten, ausgedrückt und
sanktioniert. Der Körper und das zugehörige Gefühlskostüm werden so formiert,
dass milieutypischen Anforderungen nachgekommen und Tätigkeiten durchgeführt
werden können. In diesem Gleichklang der Körper und der Körpererfahrung erfährt
sich der Einzelne als bedeutendes Mitglied der Gruppe. Insofern repräsentieren
Schmerzen auch den symbolischen Kosmos von Gruppen (Zborowski 1969). Das
Korrelat der Leistungsschmerzen ist das Geschaffene und das Erfüllen des Erwar-
teten. Das Nichtertragen von Schmerzen drückt die Unfähigkeit aus, Leistungsan-
forderungen zu erfüllen – wie auch immer diese Unfähigkeit begründet sein mag.
Der Einzelne läuft Gefahr, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden – zumindest
sich in einer Randposition zu befinden – oder sucht sich andere Gruppen, mit denen
er sich identifizieren und deren Schmerz- und Leistungsnormen er teilen wird.
Von diesen Leistungsschmerzen grenzen sich Verlustschmerzen ab, die existenti-
eller Natur sind und die die Hochaltrigen als Kollektiv in den 1940er Jahren erfahren
und die im kollektiven Gedächtnis weitergelebt haben. Der Zweite Weltkrieg und
seine Folgen haben menschliche Verluste gefordert – den Tod naher Angehöriger
und von Leidensgenossen sowie den Anblick und das eigene Ertragen von Elend
und Leid. Desorganisation, Anomie und Zerstörung haben sich als Komplettverlust
sozialer Erwartbarkeiten, Vertrauen und Sicherheit ausgewirkt. Der Verlustschmerz
kennt keinen Ausweg in andere Kollektive, er ist alternativlos. Nur das Überleben
– das eigene und das der Allernächsten – bildet sein Korrelat, was als bedeutende
Leistung dargestellt wird. Während der Leistungsschmerz unmittelbar in der
Leistungssituation auftritt, später vergeht und im Alltäglichen aufgeht, tritt der
Verlustschmerz erst im Nachhinein auf, wenn die Lebensgefährdung vorüber und
das Überleben gesichert ist. Es ist ein Schmerz der Erinnerung und der Heilung
sozialer Wunden. Der kollektiv erlebte Verlustschmerz schweißt im Nachhinein
Individuen zusammen. Dazu braucht es wenige Gesten; es reicht das geteilte Wissen
um das Durchstandene, das im Schmerz eingekörpert wurde. Der Rückzug ins
Private der Kriegsgeneration (Schelsky 1962; Bude 1987) ergibt sich nicht zuletzt
230 Stefan Dreßke und Teslihan Ayalp
auch durch Intensität und Stärke der eingekörperten Verlusterfahrungen und ist
nicht einzig nur auf Resignation, Demütigung und Schuld zurückzuführen.
Vor dem Horizont der Verlust- und Leidenserfahrungen werden alle anderen
Schmerzen relativiert; dieses bezieht sich auch auf die eigenen Krankheiten oder
auf den Tod naher Angehöriger im späteren Leben. Insofern spielen die persönli-
chen Tragödien des normalen Kummers, der Trauer und der Härten des Lebens
in den Darstellungen des Erwachsenenlebens der Hochaltrigen eine untergeord-
nete Rolle. Das individuell Erlebte verblasst hinter der kollektiven Erfahrung. Die
Überlebenden der Kriegsgeneration haben sich und andere nicht geschont – das
ist oftmals kritisiert worden und Gegenstand von Generationskonflikten. In der
Lebensphase der Hochaltrigkeit spüren die Angehörigen der Kriegsgeneration nun
mit der zunehmenden Gebrechlichkeit und kurz vor dem Sterben vielleicht zum
zweiten Mal sehr konkret die Vergänglichkeit der eigenen Körper. Insofern ist es
kein Wunder, dass sie in ihrer Bilanzierung auf die Fähigkeiten des Überlebens
zurückgreifen und diese Erinnerungen aktualisieren. Viele von ihnen sind mit dem
Existentiellen des Lebens vertraut, kennen dessen Grenzen und haben schon über
seine Abgründe geschaut. Die sozial geteilte Erfahrung des Überlebens, also etwas
überstanden zu haben und dieses auch kollektiv zu teilen, bietet eine ontologische
Sicherheit, die jüngeren Generationen, die in Sicherheit aufgewachsen sind, nicht
mehr beschieden ist (vgl. Giddens 1993), weil die Übung in Unsicherheit fehlt.
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Kollektiver Eigensinn oder
Selbstbehinderung?
Das umstrittene Körperwissen der Anorexie1
Anja Schünzel und Boris Traue
1 Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Unterstützung der vor-
liegenden Arbeit im Rahmen des Forschungsprojekts „Audiovisuelle Kulturen der
Selbstthematisierung“.
233
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_11
234 Anja Schünzel und Boris Traue
his 1998 Globalization: The Human Consequences between ‚pilgrims‘ and ‚tourists‘.
In a real sense, fasters are pilgrims who believe that their world is bounded by God
(or the gods) and fasting will bind them to that world. Dieters are tourists in the
new economy of the body” (Gilman 2008, S. x). Die Anorexia nervosa, besonders
in ihren mediatisierten Varianten, wie wir zeigen werden, nimmt hier eine inst-
ruktive Sonderrolle ein:
Sie besteht in einer Art Übererfüllung von Schlankheitsnormen, die sich je nach
Grad und Dauer des Hungerns in ihr Gegenteil verkehren kann: Selbstschädigung,
Selbstbehinderung2, Tod. Diese Paradoxie verschärft sich durch die schillernde
Intentionalität der Anorexia nervosa: Im weltweit wichtigsten Katalog psychischer
Krankheiten, dem DSM-IV-TR gilt AN als Suchtverhalten, analog zu Mittelabhän-
gigkeit, Spielsucht, Sexsucht und Kaufsucht (vgl. Coombs 2004).
Zugleich wird den Anorektikerinnen (klinisch Behandelte sind zu 95 % weiblich)
ein besonderer Eigensinn zugeschrieben: „During the 1980s, it was „widely pub-
licized, glamorized, and to some extent romanticized“ (Gordon 2000, S. 3)“ (nach
Gilmann 2008). Die Pro-Anas, die Gruppierung, mit deren Selbstthematisierung
wir uns im Folgenden beschäftigen werden, beanspruchen sogar, langfristig einen
extrem limitierten, kalorienarmen Ernährungsstil zu wählen bzw. zumindest die
Anorexie als Bestandteil des eigenen Lebens zu akzeptieren und zu pflegen.3
In diesem bewussten ‚Umgang‘ mit Gefahren ist Pro-Ana mit (eher männlich
konnotierten) Extremsportarten vergleichbar, in denen gerade eine zum äußersten
entfaltete Leistungsfähigkeit – trotz aller Risikoberechnungen – mit der Inkauf-
nahme von schwersten Verletzungen, Invalidität und Tod einher geht. Mit den
Pro-Anas, die sich im Weichfeld des ‚Dieting‘, der ‚Fitness‘, der ‚thinspiration‘ und
der ‚healthy lifestyles‘ bewegen, dabei aber gewisse Radikalisierungen propagieren,
liegt also ein gesellschaftliches Phänomen vor, das komplexe ethische und politi-
sche Probleme aufwirft, insofern hier eine Art freiwillige oder zumindest in Kauf
genommene Beförderung der frühzeitigen Alterung4 und eine aktive Akzeptanz
der Vergänglichkeit des Körpers vorliegt. Pro-Ana erlaubt es, soziologisch relevante
Fragen der Handlungsfähigkeit (‚agency‘) und des Eigensinns im Zeitalter aufer-
Das Wissen über Körper – und damit die Körper selbst – unterliegen, wie die histo-
rische Forschung zeigt, einem stetigen Wandel, der sowohl lebenszeitlicher als auch
langfristiger Natur ist. Körper bilden den Nullpunkt der Erfahrung, d. h. jegliches
Erleben durchläuft den je eigenen Körper, und so bietet jedes Handeln und Erleben
die Möglichkeit der Bestätigung oder Modifikation von Körperwissen. Auch ohne
traumatische oder ekstatische Ereignisse verändert sich der Körper als Organis-
mus in der Zeit, er reift und altert – ein Prozess, der vom Akteur mal mehr, mal
weniger stark leiblich gespürt wird. Vor allem die Lebensphasen der Pubertät und
des Alterns, in denen der Körper starken Veränderungen unterworfen ist, werden
meist intensiv erlebt und erzwingen eine reflexive Zuwendung auf den Körper, der
nun oft ‚eigensinnig‘ oder gar ‚fremd‘ erscheint und Anlass zur Interpretation gibt.
Situierte Körper können sich also dem Körperwissen immer wieder entziehen.
Dies stellt Experten, z. B. in der Medizin, Schulpraxis, Sozialarbeit oder Polizei
regelmäßig vor Herausforderungen, etwa wenn Patienten trotz medizinischer In-
terventionen nicht gesunden ‚wollen‘. Während derartige ‚Eigensinnigkeiten‘ der
Körper für wissenschaftliche Experten oft Erschütterungen von Theoriegebäuden
bedeuten, können sie für den verkörperten Akteur zu Identitätsproblemen führen,
bspw. wenn Wissen über den Körper und Körpererleben nicht mehr übereinstimmen
(vgl. Gugutzer 2001). Sowohl Expertinnen als auch Nicht-Expertinnen werden in
diesen Fällen bemüht sein, die Lücke zwischen bestehendem Wissen und empiri-
scher Beobachtung zu schließen, entweder indem die empirischen Ausprägungen
der Momente dieses Entzugs ins bestehende Wissen aufgenommen werden (z. B.
als Beschreibung von Variationen, Korridoren von Normalität oder Pathologie)
oder durch Behandlungen des Körpers entfernt bzw. unsichtbar gemacht werden.
Das Konzept des Eigensinns gehört zu den immer wieder aufgerufenen, aber
unterbestimmten (vgl. aber Nickel 2008; Gräfe 2010) Figuren des sozialwissen-
schaftlichen Sprachgebrauchs. Eigensinn ist im Mythos eine kindliche Qualität,
die sich in Bezug auf mütterliche und göttliche Autorität zeigt:
„Es war einmal ein Kind eigensinnig und that nicht was seine Mutter haben wollte.
Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden,
und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Todtenbettchen. Als
es nun ins Grab versenkt und Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein
Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und
frische Erde darüber thaten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder
heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehn und mit der Ruthe aufs Ärmchen
schlagen, und wie sie das gethan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst
Ruhe unter der Erde“ (Von einem eigensinnigen Kinde, Brüder Grimm, KHM 117).
Wir sehen, Eigensinn zeigt sich im Verhältnis zu elterlichen und göttlichen Erwar-
tungen – als eine Art Trotz. Er muss nicht willentlich vollzogen oder gar sprachlich
begründet werden, um als solcher wirksam zu sein, sondern kommt spontan und
unbeabsichtigt zustande. Eigensinn bezeichnet damit eine Fähigkeit oder Kom-
petenz, die zwischen organismischen Drang, körperlicher (oder auch technischer)
Störung und menschlicher Willensbekundung angesiedelt ist. Einzelne Körperteile
können eigensinnig sein („das Ärmchen kam immer wieder heraus“), aber auch
‚ganze‘ Menschen. Eigensinn oszilliert – so können wir schließen – zwischen
Störung und Ressource. Der körperliche Anstoß des Eigensinns kann – auch vom
Kollektiver Eigensinn oder Selbstbehinderung? 237
7 Der ‚pubertierende‘ Körper kann durch Hungern daran gehindert werden, weiblichere
Formen anzunehmen.
238 Anja Schünzel und Boris Traue
3 Anorexia nervosa
Exzessives Hungern – spätestens seit Kaiserin Sissis Diät- und Fitnessregime ein
Topos europäischer Körperkultur – ist eine dieser vermessenen Eigensinnigkeiten
der Körper bzw. verkörperter Subjekte. Es tritt am häufigsten in der Lebensphase
der Pubertät8 auf, in der Subjekte in verstärktem Maße – ähnlich der Lebensphase
des Alters – der Eigensinnigkeit ihres Körpers (z. B. hormonelle Veränderungen
und Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes) sowie sozialen Statuspassagen
ausgesetzt sind und diese krisenhaft erlebten (vgl. Erikson 1973). Die Subjekte dieses
Eigensinns kommen seit der Institutionalisierung der „Anorexia nervosa“ im 19.
Jahrhundert mit humanwissenschaftlichem Expertenwissen in Berührung, das ihnen
als Erklärung, Diagnose und Hilfsangebot gegenübertritt. Für die Betroffenen stellt
sich das praktische Problem, mit den Interventionen und Wissensangeboten der
Experten umzugehen – in einer Situation, in der nicht immer vorentschieden ist,
ob das eigene Erleben als Ressource oder als schnell zu überwindendende Störung
erwünschter Normalität zu interpretieren ist.
An unserem Beispiel wollen wir zeigen, wie das Wissen über ein spezifisches
abweichendes Verhalten, das von Experten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert
als spezifische und abgrenzbare Pathologie gedeutet wird, sich unter der Beteiligung
der Patientinnen transformiert. Diese Selbstermächtigung der Praktikerinnen,
die über das Internet neue Konstruktions- und Verbreitungsweisen schaffen, wird
dabei von den institutionalisierten Experten für Körper- und Gesundheitsfragen
äußerst kritisch beobachtet (vgl. z. B. Warras 2009): Sie befürchten, dass sich junge
Menschen nicht mehr in fachärztliche Behandlung begeben, sondern auf die Hilfe
selbsternannter Expertinnen oder ‚Leidensgenossinnen‘ vertrauen, dass eine Krank-
heitseinsicht also durch Deutungsbündnisse zwischen Kranken verhindert wird.
Eine solche Gefahr sehen etwa Institutionen des Jugendschutzes für eine Ende des
20. Jahrhunderts entstandene Gruppierung v. a. junger Frauen, die unter dem Namen
„Pro-Ana“ über das Internet ein ‚alternatives‘ Körperwissen über die Magersucht
verbreitet. Der Jugendschutz befürchtet sowohl ein Risiko der Chronifizierung für
bereits an Anorexie erkrankte Kinder und Jugendliche, als auch der ‚Infizierung‘
Gesunder. Mit Maßnahmen wie Einschränkungen von Pro-Ana-Webseiten oder
dem Versuch, gesetzliche Verbote für eine Anstiftung zur Magersucht (bspw. in
Frankreich, Italien, Großbritannien, Israel) durchzusetzen liegen Interventionen
vor, mit denen die (diskursive) Gefahr gebannt werden soll.
Gemessen an der Häufigkeit des Auftretens kommt der Anorexia Nervosa als
Krankheit große öffentliche Aufmerksamkeit zu: nur etwa 0.5 % der Population,
die zur Hochrisikogruppe zählt (Mädchen und junge Frauen), ist betroffen. Das
Weichfeld der Anorexia – also alle Verhaltensweisen, die mit exzessivem Abneh-
men zu tun haben – ist dagegen sehr viel ausgedehnter. „The boundary between
anorexia and dieting is hazy. Dieting is comparable to anorexia in the strict sense
that it is, by nature, a controlling act. When one is dieting, food is being restricted
in a variety of different ways, and, if followed, the diet is controlling a facet of life.
While dieting does play a large part in life, there is a difference between dieting
and an irrational obsession with food” (Goldstein/Rissman 2008, S. 10).
1873 wurden in der Medizin von zwei prominenten Medizinern9 die Bezeich-
nungen „Anorexia nervosa“ (William Gull) bzw. „Anorexia hystérique“ (Charles
Lasègue) erfunden. In erster Linie wurden junge Frauen beschrieben, die in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Privatpraxen und seltener in den Kran-
kenhäusern Englands und Frankreichs vorstellig wurden.
Bereits im Jahr 1866 beobachtete Gull, wie er beschreibt, diese „peculiar form
of disease occuring mostly in young women, and characterised by extreme ema-
ciation“ (Gull 1873, S. 498).10 Die Krankheit betrifft, so präzisiert Gull, zumeist
9 Der Neurologe Gull war Vorsitzender der Clinical Society in London und außerordent-
licher Leibarzt der Queen Victoria. Lasègue war Chefarzt für klinische Medizin am
Pariser Krankenhaus La Pitié und Herausgeber der Zeitschrift Archives générales de
médecine, in der auch seine Studie zur Anoerxie hystérique erschien (vgl. Diezemann
2005, S. 72).
10 Die Verweigerung des Essens wurde auch in früheren Zeiten beobachtet und seit dem
frühen 19. Jahrhundert u. a. in den Kontext eines „nervösen Leidens“ gestellt. Auch weit
vor dieser Zeit wurde von fastenden Frauen berichtet, im Kontext religiöser Askese oder
als städtische Attraktion.
240 Anja Schünzel und Boris Traue
junge Frauen in einem Alter zwischen 16 und 23. Organische Ursachen für die
Abmagerung konnte er nicht finden, so dass er den beobachteten Appetitmangel
auf einen „morbid mental state“ (ebd., 500) zurückführte.
Neben einem Mangel an Appetit konnte in allen berichteten Fällen der Anorexia
nervosa auch eine „peculiar restlessness, difficult […] to control“ (Gull 1873, S. 499)
ausgemacht werden. Weiteres Erstaunen rief die von den Patientinnen selbst geäußerte
subjektive Befindlichkeit im Zustand der Unterernährung hervor, die regelmäßig als
„quite well“ (Gull 1888, S. 517) beschrieben wurde.11 Aus diesem Grund waren es, so
der Arzt J. Matthews Duncan, zumeist nicht die Patientinnen selbst, die nach Hilfe
suchten, sondern die Menschen in ihrer Umgebung: „The patient makes little or no
complaint; it is her friends that complain for her“ (Duncan 1889, S. 974).
Als Therapie der Anorexia nervosa, die sich Gull zufolge als sehr effektiv erwies,
empfahl er „external heat as well as food“ (1997[1873], S. 499).12 Nahrung sollte
in Intervallen ‚verabreicht‘ werden, „varying inversely with the exhaustion and
emaciation“ (ebd., S. 500). Bei der Nahrungsverabreichung sollte keineswegs auf
die Neigung der Patientin eingegangen werden Nahrung zu vermeiden (vgl. ebd.,
S. 500), weil ihre Eigensinnigkeit der Erfahrung nach (ebd., S. 500) zu einem Fort-
schreiten des Aushungerns und schließlich zum Tod führte. Andere Ärzte setzten
auch auf ein „forced feeding“ mittels „stomach-pump“ (bspw. Mackenzie 1888;
Edge 1888), wenn die Patientinnen sich weigerten die therapeutische Essensgabe
zu akzeptieren. Ebenfalls empfahl Gull Bettruhe und die Umgebung von Personen,
“who would have moral control over them; relations and friends beeing generally
the worst attendants” (Gull 1873, S. 501).
1932 wurden im medizinischen Journal “The Lancet”, in dem auch Gull ein halbes
Jahrhundert zuvor seine Fallbeschreibungen zur Anorexia nervosa veröffentlicht
hatte, sieben Merkmale der Anorexia nervosa formuliert, erhoben an 13 Fällen,
die den o. g. Bezug zur Hysterie deutlich machen: “Three positive symptoms are
anorexia, loss of weight (sometimes carried to the point of emaciation), and amen-
orrhœa, three other characteristics are that the patient is female, unmarried, and
of an age between puberty and about 24; and a constant negative symptom is that,
despite her „deathly appearance,“ she stoutly maintains that she is never tired” (Ross
1932, S. 1161). Als Behandlung wurde die „Weir-Mitchell method“ empfohlen, die
11 Diese Beobachtung machte auch Lasègue, der von seinen Patientinnen immer wieder
den Satz vernahm „I do not suffer, and must then be well“ (Lasègue 1997 [1873], 495).
12 Die Zufuhr von „external heat“ beschreibt Gull als notwendigen Therapiebaustein,
da Patienten im Zustand starker Aushungerung eine sehr niedrige Körpertemperatur
aufweisen. Gull bezieht sich hier sowohl auf eigene Beobachtungen, als auch auf „ob-
servations made by Chossat on the effect of starvation on animals, and their inability
to digest food in state of inanition, without the aid of external heat“ (Gull 1873, S. 499).
Kollektiver Eigensinn oder Selbstbehinderung? 241
aus Bettruhe, „increasing diet“, absoluter Isolation von der Familie und Freunden
sowie Massage bestand.
Die frühen medizinischen Schriften zur Anorexia nervosa eint, das in ihnen
vor allem ein somatisches Krankheitsmodell gezeichnet wurde und dementspre-
chend auch die Therapie am Körper der Frau ansetzte. Vor allem die ‚Mastkur‘
wurde von den Medizinern oft verordnet.13 Die Sicht auf die Mastkur wandelte
sich jedoch nach 1900 sukzessive. Sie wurde zunehmend problematisiert, auch
weil die psychischen Ursachen der Neurosen stärker in den Vordergrund gerückt
wurden, so dass die alleinige Behandlung des Körpers nicht mehr als erfolgsver-
sprechend galt. Interessanterweise, so arbeitete Nina Diezemann (2005) heraus,
rückte nun die geistige „Nahrung“ als auslösender Faktor der Anorexia nervosa
in den Fokus. „Lektüre, Theater, Medien [wurden] als Reize verstanden, die nicht
nur wegen ihres Inhalts pathogen wirken konnten, sondern von den Kranken und
Prädisponierten im Übermaß rezipiert wurden und damit die Krankheit oder die
Anfälligkeit verschlimmerten. Wie zuvor die Ernährung nach einem genauen
Plan erfolgen sollte, so bedürfen nun die psychischen Eindrücke und Reize der
Reglementierung“ (Diezemann 2005, S. 69-70). Parallelen zur heutigen Sorge um
Pro-Ana liegen hier auf der Hand.
Die kombinatorische Behandlung aus Ernährungs- und Psychotherapie, die heute
als Standardverfahren gilt, setzte sich sukzessive durch. Von einer solchen Kombi-
nation spricht Binswanger beispielsweise in seinem 1904 erschienen Handbuch „Die
Hysterie“. Darin hob er hervor, dass die „Mastcur“, um eine „zielbewußte Psycho-
therapie“ ergänzt, die „schönsten Erfolge“ hervorbringe (Binswanger 1904, S. 611).
Mitte des 20. Jahrhunderts kam es schließlich zu einer Fokusverschiebung „on the
nature of the central psychopathology of anorexia nervosa, with a greater stress on
the patient’s morbid preoccupation with her body weight and her dread of fatness“
13 Im späten 19. Jahrhundert vollzog sich ein sukzessiver Wandel der Schulmedizin von der
Humoralpathologie des Mittelalters zur naturwissenschaftlich-technischen, positivisti-
schen Medizin der Neuzeit. Grundlegend dabei war die Ablösung der bis in die Antike
zurückreichenden Säftelehre durch die Anatomie, auf der die naturwissenschaftliche
Medizin heute fußt. Mit den neuen Körperbildern veränderte sich auch die Wahrneh-
mung von Nahrungsmitteln. Nähr- und Brennwerte von Speisen wurden berechnet,
Nahrungsmittel in Fette, Eiweiße und Kohlenhydrate zerlegt.
242 Anja Schünzel und Boris Traue
(Russell 1985, S. 103), also auf die Selbstwahrnehmung. Hier stiftete in den 1960er
Jahren die Ärztin und Psychoanalytikerin Hilde Bruch mit dem Begriff der „Kör-
perschemastörung“ (Bruch 1962) eine weitere einflussreiche Perspektive auf die
Anorexia nervosa – und Adipositas. Sie legte damit die erste komplexe psychologische
Theorie von Essstörungen vor, die innere kindliche Entwicklungsdynamiken mit
der externen Welt der pathologischen Familie in Verbindung bringt. Kern dieser
Theorie ist ihre Sicht auf den Kampf des Kindes um Autonomie im familiären Umfeld.
Diese Störung, so Bruch, verursache, dass sich die anorektische Patientin selbst
als übermäßig breit und dick erlebe und diese Fehlwahrnehmung dann zu einer
weiteren Vermeidung des Essens und zur Gewichtsabnahme führe. Diese Störung
der Selbstwahrnehmung habe ihre Quelle in der “perception or cognitive interpre-
tation of stimuli arising in the body, with failure to recognize signs of nutritional
need as the most prominent deficiency of this type” (Bruch 1962, S. 189). Aber nicht
nur Hunger, auch andere Affekte und Emotionen können von den Patientinnen
nicht mehr adäquat wahrgenommen werden. Dieser Mangel weite sich zu einem
Alles durchdringenden Gefühl von Ineffektivität aus, “a feeling that one’s actions,
thoughts, and feelings do not actively originate within the self but rather are pas-
sive reflections of external expectations and demands” (Gordon 2000, S. 18-19).
Das Hungern stellt dann eine Möglichkeit dar, die elterliche Aufforderung zur
Nahrungsaufnahme abzulehnen – die eben nicht als eigener Hunger erlebt werden
könne – und zugleich ein Stück Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen.
Familientherapie ist denn auch inmer noch “a mainstay for the treatment of eating
disorders such as bulimia and anorexia nervosa” (Gilman/Vissa 2008).
Vor dem Hintergrund ansteigender Zahlen an Neuerkrankungen der Anorexia
nervosa in Verbindung mit der Beobachtung eines ‚neuen‘ sehr schlanken Schön-
heitsideals, das vor allem dem weiblichen Körper galt, wurde es für die Experten
sinnvoll, das anorektische Handeln ihrer Patientinnen nunmehr – neben möglichen
genetischen Dispositionen – verstärkt als Ausdruck des Leidens an sozio-kultu-
rellen Faktoren aufzufassen. Diese Faktoren, so deuteten die Experten die ‚zuneh-
mende‘ Klage ihrer Patientinnen ‚ich fühle mich zu dick‘ – bei diagnostiziertem
Untergewicht (objektiviert am BMI-Wert) – provozieren ‚Fehlwahrnehmungen‘
des eigenen Körpers.
Kollektiver Eigensinn oder Selbstbehinderung? 243
4 Pro-Ana
‚Pro-Ana‘ ist eine sich beinahe ausschließlich über das Internet formierende
Gruppierung, deren Mitglieder in der überwiegenden Mehrzahl Mädchen und
junge Frauen sind. Die Bezeichnung ‚Pro-Ana‘ soll ausdrücken, so ist zahlreichen
Selbst- und Fremdbeschreibungen der Gruppierung zu entnehmen, dass es sich
um eine Gemeinschaft handelt, die sich für ein Leben mit der Anorexia nervosa
ausspricht.14 Die Definition der Krankheit wird dabei übernommen. Die ‚Anas‘ –
so ihre Selbstbezeichnung – greifen die Diagnose als Bezugspunkt ihres Handelns
und Erlebens einerseits auf, andererseits bringen sie dem Konstrukt Misstrauen
entgegen, insofern es als vergegenständlichtes und äußerliches Wissen die ano-
rektische Wirklichkeit aus ihrer Perspektive nicht adäquat abbildet, insbesondere
nicht die spezielle Bindung an die Leibgefühle, die ein anorektischer Körper bietet,
und die auszuhalten er verlangt. Diese „fließende Skepsis“ (Fiske 1993, S. 45) findet,
so möchten wir argumentieren, derzeit ihren Ausdruck in den kommunikativen
Handlungen der Pro-Ana-Gruppierung. Sie sind als eigensinniger Widerstand
gegen das offizielle herrschaftliche Wissen zu begreifen, das andere Wissens- und
Kommunikationsformen ausschließt und entwertet, oder als Teil der Symptoma-
tik begreift. Nachfolgend werden wir das kommunikative Handeln und einige
Körpertechniken der Pro-Anorektikerinnen anhand typischer Pro-Ana-Websites
vorstellen. Sie bieten im Gegensatz zu den Niederlassungen der Gruppierung
in den sozialen Netzwerken, auf denen zumeist nur einige ihrer Facetten ihren
Ausdruck finden15, einen breiten Überblick über die pro-anorektischen Diskurse,
Medien und Techniken.
Eine typische Pro-Ana-Seite ist in Pastellfarben gehalten und mit Ornamenten
und märchenhaften Wesen wie Elfen und Engeln gestaltet. In scheinbarem Gegen-
satz zu diesem sanften, oft kindlich wirkenden Erscheinungsbild der Seiten steht
jedoch das dargestellte Körperprojekt der jungen Frauen, dessen Ziel erklärtermaßen
14 Manchmal ist der Bezug zum medizinischen Fachbegriff Anorexia nervosa bereits in den
Titeln der Pro-Ana-Webseiten zu erkennen, wie z.B: „**PRO ANA-MAGERSUCHT**
DIE SUCHT NACH PERFEKTION“ (Online abrufbar unter: http://die-sucht-nach-
perfektion.tumblr.com; Zugriff: 10.2.2014). Auf anderen Webseiten finden sich entweder
kurze Erläuterungen des Begriffs „Pro-Ana“ oder die Seitenbetreiberinnen stellen sich
selbst als essgestört bzw. magersüchtig dar, wie z. B. auf der Webseite http://fallen.ana.
engel.myblog.de.
15 Dies ist natürlich u. a. der Ausrichtung der Netzwerke geschuldet. So ist es dem Inhaber
eines YouTube-Profils v. a. möglich, sein Wissen über das Medium ‚Online-Video’ zu
verbreiten. Zwar gibt es auch hier die Option, eine Profilseite anzulegen, die Gestaltungs-
möglichkeiten sind aber im Vergleich zu einer privaten Homepage weitaus begrenzter.
244 Anja Schünzel und Boris Traue
Abb. 1
Pro-anorektisch inter-
pretierte BMI-Tabelle.
(Online abrufbar unter:
http://the-perfection.
chapso.de/bmi-s677469.
html; Zugegriffen:
11.2.2014).
An dieser Tabelle zeigt sich, wie die Gruppierung auf der einen Seite expliziten Bezug
auf die medizinischen Wissensbestände nimmt, diesen aber auf der anderen Seite
einen neuen (‚pro-anorektischen‘) Sinn verleiht. Darüber hinaus stellt die Reinter-
pretation des Expertenwissens das Expertenkonstrukt der „Körperschemastörung“
in Frage, da die Anas hier explizit formulieren, dass sie reflektiert (und nicht unbe-
wusst oder qua Selbsttäuschung) andere Maßstäbe an einen dünnen Körper anlegen.
Die Abweichung vom Körperschemakonstrukt der Experten wäre dann nicht etwa
Ausdruck einer Wahrnehmungsstörung, sondern einer abweichenden Vorstellung
darüber, was als Idealgewicht bzw. Idealkörper anzusehen ist. Dieser Vorstellung
verleihen die Anas explizit Ausdruck, indem sie einen detaillierten Bauplan des
weiblichen Idealkörpers auf ihren Homepages veröffentlichen. Die Schlüsselbeine
sollen sich hervorheben, die Hüftknochen deutlich zu sehen sein, auch von der Seite,
die Knie sollen die dickste Stelle an den Beinen bilden, etc.17 Verkörpert sehen die
Pro-Anas diesen körperlichen Bauplan in oft stark untergewichtigen Models und
Filmstars, deren Fotos Bestandteil so gut wie jeder Pro-Ana-Seite sind. Diese Fotos
gelten für die Anas als sogenannte ‚thinspirations‘, d. h. – Selbst- und Fremdbe-
schreibungen der Gruppierung zufolge – als Inspirationen und Motivation dünn
zu werden oder zu bleiben. Zum einen fungieren sie als Körperschablone, an der
das anorektische Körperprojekt auszurichten ist. Zum anderen können sie als eine
Art Körpertechnik eingesetzt werden, mit der das Körperprojekt realisiert werden
kann. Erstere Funktion bezieht sich auf das Bild als Vorbild. Letztere auf das Bild
als Affizierungsmittel.18 Ähnlich verhält es sich mit dem Ana-Twin, der – wie das
thinspiration-Bild – die Motivation der Ana erhöhen soll, ihr Körperprojekt, d. h.
die Gewichtsabnahme, weiter zu verfolgen. Bei der Suche nach dem ‚Twin‘ geht es
darum, eine Abnehmpartnerin zu finden. Wie der Name bereits vermuten lässt,
sollte sie ein ähnliches Alter, Körpergröße, Ausgangs- und Zielgewicht besitzen –,
mit der in konkurrierender Gemeinschaft das Körperprojekt anorektischer Kör-
per vollzogen werden kann. So werden regelmäßig Anzeigen auf Pro-Ana-Seiten
geschaltet – aber auch in den sozialen Netzwerken oder über das Smartphone – in
denen ein ‚Abnehm-Zwilling‘ gesucht wird.
17 Auf vielen Pro-Ana-Seiten finden sich neben bildlichen Darstellungen des in der Grup-
pierung präferierten Idealkörpers auch detaillierte schriftliche Beschreibungen. Siehe
hierzu z. B. die Pro-Ana-Seiten „anaisperfekt“ (Online abgerufen unter: http://anais-
perfekt.blog.de/2012/04/29/perfekte-koerper-13593910/; Zugriff: 27.12.2013), „Spread
my Wings“ (Online abgerufen unter: „http://spreadmywingsandlearntofly.blogspot.
de/2013/06/der-perfekte-korper.html; Zugriff: 27.12.2013).
18 Zum thinspiration-Bild als Affizierungsmittel siehe ausführlicher: Schünzel (2014).
246 Anja Schünzel und Boris Traue
Des Weiteren findet sich seit jüngerer Zeit auf den meisten Pro-Ana-Seiten – zumeist
auf der Startseite – eine Warnung vor den Inhalten, die den Besucher beim Eintritt
in die Pro-Ana-Heimat erwarten. Sie sind als eine Reaktion auf die Interventions-
maßnahmen des Jugendschutzes anzusehen, in dessen Zuge zahlreiche Pro-Ana-
Seiten geschlossen wurden. So begegnen dem Besucher einer Pro-Ana-Seite heute
nicht selten Kommentare wie der folgende:
„Dies ist eine Pro Ana Seite. Wer nicht weiß was Pro Ana ist oder sich in Therapie
befindet sollte diese Seite umgehend verlassen. Den anderen wünsche ich viel Spaß
auf meine Seite.“21
Auch die z. T. sehr detaillierten Selbstbeschreibungen – die vielfach wie Rechtferti-
gungen des eigenen kommunikativen Handelns klingen – können als Reaktion auf
die öffentlichen Vorwürfe, Pro-Ana „stecke“ unbeteiligte Dritte mit der Anorexia
nervosa an, gelesen werden. Auf die Expertenthese, Pro-Ana trage zu einer gesell-
schaftlichen Verbreitung von Essstörungen bei, nehmen die Betreiberinnen des
Pro-Ana-Forums „Schattensturm“ in ihrer sehr ausführlichen Selbstbeschreibung
explizit Bezug. So schreiben sie:
„Wir werden immer wieder beschuldigt uns gegenseitig erst in die ES [Essstörung;
A.S.] richtig hineinzuziehen und Pro Ana wird oftmals für die Verbreitung von
Essstörungen verantwortlich gemacht. Allerdings unterstützen sich die User in
diesem Forum gegenseitig und stecken alle schon sehr tief in ihrer ES drin, wir ach-
ten aufeinander und äußern Kritik, wenn jemand zu stark untergewicht wird. Eine
Kritik, die von jemanden kommt, der einen versteht, wird auch eher aufgenommen
und für ernst gehalten. Außerdem ist eine Essstörung in fast allen Fällen aber bloß;
ein Symptom für ein noch tiefer liegendes Problem. Der Körper drückt das aus, was
der Geist nicht anders zu artikulieren weiß. Daher denken wir nicht, dass eine ES
so ohne weiteres entstehen kann, schon gar nicht einfach so durch Pro Ana. Leider
ist Isolation eine häufige Folge der Magersucht. Man zieht sich aus der Welt zurück
hinein in die eigene aus Kalorien, Fressanfällen und Selbsthass. Pro Ana stellt für
viele von uns eine Verbindung zum Leben dar. Menschen, die einen verstehen, die
mitfühlen und das ohne den Zwang etwas loszulassen, wozu man (noch) nicht bereit
ist. Denn um eine ES zu „heilen“ muss man es wirklich wollen und selbst dann gibt
es keine Garantie.“22
Die Anas bringen hier zum Ausdruck, dass es Unterschiede im Wissen über die
Anorexia nervosa gibt, die in der Form der Auseinandersetzung mit ihr begründet
liegen. Die Anas teilen miteinander ein gelebtes und erfahrenes Wissen über die
Anorexia nervosa. Sie wissen nicht nur (kognitiv) um die Diagnosekriterien und
Symptome der Anorexia nervosa, sondern sie erleben diese am eigenen Leib. In
sehr vielen Kommentaren der Anas, die sich an Nicht-Mitglieder der Gruppierung
richten, ist zu ersehen, dass sie diesen ein wirkliches Verständnis der Anorexia
nervosa absprechen, weil ihnen das gelebt und erfahrene Körperwissen fehlt. Diese
Annahme einer Differenz in der Wissensform zeigt sich auch in einer Stellungnahme
zur Objektivation „thinspiration“:
„Denn wenn man Essstörungen, insbesondere die Magersucht wirklich versteht, dann
begreift man, dass es letztendlich keinen Unterschied macht ob man sich gegenseitig
Thinspiration vorführt oder heimlich alleine zu Hause eine Modezeitschrift aufschlägt.
Damit möchten wir sagen, dass jede Magersüchtige, die nicht gerade standhaft gegen
ihre ES ankämpft und am zunehmen ist, ein kleines Stückchen Pro Ana ist, selbst
wenn sie den Begriff nie zu vor gehört haben sollte. Dies ist nun einmal Bestandteil
der Krankheit. Uns das vorzuwerfen bedeutet Unverständnis für die Krankheit an
sich zu haben. Und genau das ist bei den meisten Menschen leider der Fall und daher
ist ja wohl auch nachzuvollziehen, dass wir Möglichkeiten und Orte suchen an denen
wir diesem Unverständnis nicht ausgesetzt sind. Denn letztendlich wollen wir nur
eins: In Ruhe und frei leben.“23
Nicht nur zeigen die Anas hier die Differenz zwischen den Wissensformen auf. Der
Kommentar lässt sich auch als eine Kritik an den Experten lesen, da diese doch
wissen müssten, dass Pro-Ana nur bereits existierende anorektische Körpertechni-
ken kommuniziert, und zwar nicht, um Propaganda für Essstörungen zu betreiben,
sondern weil sie Bestandteil anorektischer Wirklichkeit sind. Darüber hinaus
verweist der Kommentar darauf, dass ‚thinspirations‘ – egal in welcher Form sie
in Erscheinung treten – keine ursächlichen Produkte der Pro-Ana-Gruppierung
sind, sondern Kulturprodukte, die von unterschiedlichen Akteuren zur Betrachtung
angeboten werden. Die Pro-Ana-Gruppierung ist so gesehen nur eine Nutzergruppe
unter vielen, die allerdings für den vorgeschlagenen Verwendungszwecks für die
Betrachtung der Bilder gescholten wird.
Derartige Konflikte zwischen Praktikern und Experten sind keineswegs ein Cha-
rakteristikum der Gegenwart oder an bestimmte Kommunikationstechnologien
gebunden. Vielmehr ereignen sie sich zumeist dann, so konstatieren Berger und
Luckmann (1969), „[w]enn hauptamtliche Legitimatoren für die Erhaltung einer
Sinnwelt gebraucht werden […]. Die Praktiker können […] die Anmaßungen der
Experten übelnehmen […]. Besonders bitter ist es wahrscheinlich, dass die Experten
beanspruchen, die absolute Bedeutung der Arbeit der Praktiker besser beurteilen
zu können als diese selbst. Solche „Laien“-Rebellionen können zu rivalisierenden
Wirklichkeitsbestimmungen führen“ (Berger/Luckmann 2009, S. 126). Heute aber
sind solche Experten-Praktiker-Konflikte durch die veränderten Möglichkeiten
der Kommunikation, z. B. über das Internet, prinzipiell einem größeren Publikum
zugänglich, das sich an ihnen beteiligen kann. So sahen sich, bezogen auf unser
Beispiel des selbstinduzierten Hungerns, Experten auch in früheren Jahrhunderten
mit der Eigensinnigkeit hungernder junger Frauen konfrontiert, die sich ihren
therapeutischen Maßnahmen immer wieder entzogen (vgl. z. B. Lasègue 1997
[1873]; Gull 1997 [1873]). Die Kollektivität jedoch, mit der die Praktikerinnen des
Hungerns heute über netzvermittelte Kommunikationsformen auftreten, zieht
durch ihre Sichtbarkeit besondere Aufmerksamkeit auf ihre Eigensinnigkeit bzw.
ihre Perspektive auf die Anorexie und verleiht damit ihrem Körperwissen ein neues
Gewicht. Dass ihr Wissen tatsächlich als sozial gewichtig angesehen wird, ist nicht
zuletzt an den massiven Reaktionen aus den Reihen der Experten und einer von
ihrem Wissen informierten Öffentlichkeit zu erkennen. Damit ist der nachfolgend
beschriebene Konflikt zwischen den Akteursgruppen – medizinisch-psychologische
Experten und Pro-Ana – auch als ein Konflikt um Grenzen, Entgrenzung und
Autonomie von Wissen zu lesen. Doch ist es tatsächlich ein Gegenwissen, gemeint
als ein wesentlich anderes Wissen, das die Pro-Anas medial inszenieren?
Zunächst ist festzuhalten, dass beide Akteursgruppen – die Pro-Anas und die so-
zial legitimierten Körperexperten – den medizinischen Terminus ‚Anorexia nervosa‘
verwenden und diesen auch sehr ähnlich bestimmen: beide Gruppen orientieren
sich stark an den diagnostischen Kriterien, wie sie im ICD-1024 kodifiziert sind.
Unterschiede im Wissen über die Magersucht liegen eher in der ‚Beschaffenheit‘
des Wissens begründet: So ist das Wissen der Experten – des medizinisch-human-
wissenschaftlichen „Machtblocks“ (Fiske 1993) – eher ein „vergegenständlichte[s]
24 ICD steht für International Statistical Classificiation of Diseases and Related Health
Problems (ICD). Es ist das wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem
der Medizin. Die aktuelle Ausgabe ist ICD-10.
250 Anja Schünzel und Boris Traue
und äußerliche[s]“ Wissen, das mehr kognitiv gewusst als leiblich gespürt wird.
Demgegenüber ist das Wissen der Pro-Anas stärker „erfahrungsgebunden und
körperlich“ (Fiske 1993, S. 44), womit es eher dem entspricht – bzw. stärker das
betont –, was Keller und Meuser als den leiblichen Aspekt des Körperwissens
(Keller/Meuser 2011) bezeichnen. Dieser leibliche Aspekt, so argumentiert Barbara
Duden (1987), ist es, der eine Geschichte erst unter die Haut bringt, d. h. sie spürbar
wirklich werden lässt. Diese Unterschiede im Wissens über die Anorexia nervosa
zwischen den Akteursgruppen bewirken, so die hier verfolgte These, letztlich die
unterschiedlichen Weisen der – von beiden Gruppen medial inszenierten – kom-
munikativen Konstruktion von (Körper)Wirklichkeit.
Wir konnten zeigen, dass Personen, die als magersüchtig diagnostiziert werden –
oder sich selbst diagnostizieren – eigenständige Interpretationen ihrer körperlichen
Situation vornehmen, die auf das medizinische Expertenwissen zurückgreifen und
es umzudeuten suchen. Anders als in spiritualistischen Wissensgemeinschaften
werden keine völlig anderen Wissensformen kultiviert, etwa die Ernährung aus
Licht.25 Aus struktureller Sicht sind es vor allem diese Unterschiede in der Be-
schaffenheit des Wissens, die den Konflikt zwischen den beiden Akteursgruppen
entfachten und stetig befeuern. Wie gezeigt werden konnte, deuten die Experten das
kommunikative Handeln der Pro-Anas im Kontext ihres Expertenwissens (das auf
die medizinisch-psychologische Therapie ausgerichtet ist) als ‚essgestört‘, d. h. als
Ausdruck einer pathologisch verzerrten Weltsicht, während die pro-anorektischen
jungen Frauen die Interventionsmaßnahmen der Experten als Zeichen deren man-
gelnden Verständnisses der Anorexia nervosa interpretieren.26 In der Überzeugung
der Überlegenheit bzw. ‚wahrhaftigeren‘ Wirklichkeit des eigenen Wissens betreiben
beide Akteursgruppen Grenzschutz gegenüber dem Wissen der jeweils anderen
Gruppe und schließen einander aus dem Kreis zuständiger Akteure aus. Dabei ist
aber nicht der Konflikt an sich ein historisch neuer Umstand, sondern die Tatsache,
25 Anhänger dieser – zweifellos nicht ungefährlichen – Ernährungslehre gehen davon aus, dass
der Körper, neben der üblichen Nahrung auch – und unter besonderen Bedingungen
ausschließlich – durch eine Form der „kosmischen Energie“, dem „Prana“ (sog. Licht-
nahrung), ernährt werden kann.
26 Diese gegenseitigen Zuschreibungen lassen sich auch unter dem Stichwort der „Ihr-
Einstellung“ diskutieren, mit der, so erklären Schütz und Luckmann, „Zeitgenossen“
einander begegnen. „Während […] soziale Begegnungen in der wechselseitigen Spiege-
lung der unmittelbaren Erfahrung des Anderen verlaufen [hier sprechen die Autoren
die „Du-Einstellung“ an; A.S.], bestehen soziale Beziehungen zwischen Zeitgenossen
in der Erfassung des Anderen als eines (personalen oder Funktionärs-)Typus“ (Schütz/
Luckmann 2003, S. 129), der wiederum auf Grundlage subjektiver Wissensbestände
– reichhaltig bestückt durch Wissensbestände des gesellschaftlichen Wissensvorrats –
konstruiert wird.
Kollektiver Eigensinn oder Selbstbehinderung? 251
dass dieser nunmehr öffentlich geführt wird. Durch die veränderten Möglichkeiten
der Kommunikation, hier v. a. über das Internet, erhielten die Anorektikerinnen
im ausgehenden 20. Jahrhundert erstmals die Chance, ihrem Körperwissen – auch
gegen Widerstreben der Experten – öffentliche Sicht- und Hörbarkeit zu verschaf-
fen. Die Problematik des Fremdverstehens in der Wissenskonstitution zeigt sich
hier also als Dynamik des Verstehens und Missverstehens des Eigensinns von
Akteuren, die in ihrem Erleben zum Gegenstand von Expertenwissen gemacht
werden. Experten verstehen aus der Perspektive der Pro-Anas die Eigensinnigkeit
des Körpers – wie auch anders – nur eingeschränkt. Die Art und Weise den Körper
zu empfinden – als dick oder dünn – lässt sich nur schwer verändern und ist nicht
immer gewünscht, bspw., wenn das eigene Körpergefühl oder die „leiblich-kör-
perlichen Grenzerfahrungen“ (Gugutzer), die der anorektische ‚Kampf‘ mit der
spürbaren Widerständigkeit des Körpers bedeuten kann, eine Ressource darstellt,
die dem Leben einen spezifischen Stil bzw. Sinn verleiht. So kann die von Außen
an Individuen herangetragene Erwartung an eine bestimmte praktische Körper-
lichkeit – und dies gilt natürlich nicht nur für die Pro-Anorexie, sondern lässt sich
ebenso z. B. auf den Gegenstand des alternden Körpers übertragen – nicht immer
in einen inneren Wunsch oder auch nur eine als Vernunfthandlung aufrechterhal-
tene Modellierung des eigenen Körpers übersetzt werden. Zu verschieden sind die
Körperbiographien, die Akteure im Verlauf ihres Lebens produzieren und die ihr
Erfahren, Erleben und ihren Umgang mit dem Körper prägen. Nicht nur entziehen
sich verkörperte Akteure immer wieder eigensinnig dem medizinisch-psychologi-
schen Wissen und Handeln, auch der konkrete Körper des Patienten – der je eigene
Leib – ist eigensinnig. Dieser Eigensinn treibt dessen Träger aber nicht automatisch
in eine oppositionelle Haltung, sondern kann sich auch im Versuch dokumentie-
ren, sich Interventionen schlichtweg zu entziehen – der Wunsch, in Ruhe gelassen
zu werden. Sind die Krankheitswirkungen zu gravierend oder eine Verzögerung
der Behandlung zu kostspielig, können Experten versuchen, Verbote und Strafen
zu verhängen, um Selbstschädigungen mit potentieller Behinderungs- oder sogar
Todesfolge zu verhindern.
Bestimmte Leiblichkeiten zeichnen sich vor dem Hintergrund gesellschaftli-
cher Erwartungen als eigensinnig ab. Dieser relationale Eigensinn ist von einem
intentionalen Eigensinn, d. h. einem in Anspruch genommenen und verteidigten
Anders-sein nur analytisch zu unterscheiden, empirisch sind beide miteinander
verwoben. Jedenfalls bietet sich der Diskurs der Anorexie mit seinen Modellsub-
jekten, seinen Körpertechniken und Techniken zur Herstellung von Sichtbarkeit
als Sinnreservoir zur Selbstdeutung an. Dabei reicht die ‚Sehgemeinschaft‘ (Raab
2008), in der ein anorektischer Blick auf Körper gerichtet und medial inszeniert
252 Anja Schünzel und Boris Traue
wird, über die Grenzen der Pro-Ana-Gruppierung hinaus.27 Der inszenierte Eigen-
sinn der Pro-Anas ist ein kollektiver Eigensinn, bei dem Selbstschädigungen und
Selbstbehinderungen nicht blind in kauf genommen, sondern gemanagt werden
(sollen). Die inszenierte und kultivierte Vergänglichkeit auch jugendlicher Körper
hat sich damit als fester Bestand kommunikativer Körper- und Selbsttechniken im
netzmedial gestützten Wissensvorrat dauerhaft etabliert.
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27 Denn tagtäglich werden wir in Film, Fernsehen und Werbung mit Bildern magerer
junger Frauen – und zunehmend auch Männern – konfrontiert. Wie – d. h. mit wel-
chen Techniken – diese Körper aber in die präsentierte Form gebracht werden, bleibt
dem Betrachter zumeist verborgen, ist also Bestandteil der „Hinterbühne“ (Goffman
1969). In dieser Paradoxie leben die Mitglieder der Pro-Ana-Szene: Auf der einen Seite
erfreuen sich TV-Formate wie „Germany’s next Topmodel“ großer Beliebtheit, wo der
dünne Körper als Eintrittstor zu ‚Ruhm’ und ‚Erfolg’ sowie Zeugnis harter Arbeit und
Leistung dargestellt wird. Auf der anderen Seite werden regelmäßig Kampagnen gegen
Essstörungen geschaltet, die vor dem sich ausweitenden ‚Schlankheitswahn’ warnen.
Diese Paradoxie dürfte ein weiterer Grund dafür sein – neben der fließenden Skepsis
am Expertenwissen –, weshalb die Pro-Ana-Gruppierung die Kritik an ihrem kommu-
nikativen Handeln nicht in dem Sinne ernst nimmt, dass sie es nachhaltig verändert.
Tagtäglich wird ihnen medial präsentiert, wofür sie selbst kritisiert werden.
Kollektiver Eigensinn oder Selbstbehinderung? 253
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Die unerbittliche Gegenwärtigkeit
der Vergänglichkeit des Körpers
Zur Entsinnung eines Menschen
im sogenannten Wachkoma
Henny Annette Grewe und Ronald Hitzler
Die Vergänglichkeit unseres Körpers – sowohl des eigenen als auch des Körpers des
anderen – gerät beim ganz normalen Altern „von Tag zu Tag“ üblicherweise nicht
in den Blick: Dass die Kraft nachlässt, dass man nicht mehr so gut zu Fuß ist, dass
das Arbeiten schwerer fällt, dass einen die „Zipperlein“ plagen, dass einem immer
mehr aus der Hand gleitet, dass man manches und vieles vergisst, dass die sexuelle
Begierde seltener und schwächer wird und dass man auch länger büßen muss, wenn
man seinen (anderen) Lastern gefrönt hat – das alles registriert man üblicherweise
tatsächlich nicht von heute auf morgen. Gegenwärtig werden uns diese Manifesta-
tionen der Vergänglichkeit in aller Regel vielmehr entweder in der (retrospektiven)
Betrachtung oder in (prospektiven) Phantasien längerer Lebensabschnitte zum
einen und unter den Vorzeichen signifi kanter gesundheitlicher Beeinträchtigungen
zum anderen. Und punktuell (und mitunter schmerzhaft) gewärtig werden wir uns
dieser Manifestationen selbstverständlich in Situationen akuten – wodurch auch
immer (zum Beispiel durch wahrgenommene körperliche, geistige und emotio-
nale Defizite in Relation zu selbst- oder fremdgesetzten Fitness-Anforderungen)
verursachten – Missbehagens. Bei vielen chronifizierten Formen signifi kanter
gesundheitlicher Beeinträchtigungen normalisiert sich die Wahrnehmung des
Körpers aber sozusagen „sekundär“ auch wieder. D. h., dessen Vergänglichkeit rückt
qua Gewöhnung an zunächst normalitätsirritierende Wahrnehmungen – ceteris
255
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_12
256 Henny Annette Grewe und Ronald Hitzler
paribus – wieder aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit – insbesondere aus dem
derer, die (in welcher Funktion auch immer) den gesundheitlich beeinträchtigten
Menschen „Tag für Tag“ miterleben.
Einige chronifizierte gesundheitliche Beeinträchtigungen aber behindern oder
verhindern gar – aufgrund besonderer Appräsentationen, Begleiterscheinungen
und/oder Umstände –, dass die Vergänglichkeit, d. h. die Anfälligkeit und Hinfäl-
ligkeit des Körpers des Betroffenen, im tagtäglichen Miterleben aus dem Fokus der
Aufmerksamkeit gerät. Zeigen wollen wir diese „unerbittliche Gegenwärtigkeit“
hier am Beispiel des chronifizierten sogenannten Wachkomas, das Gegenstand
eines von 2012 bis 2015 durch die DFG geförderten Forschungsprojektes war,
das wir zusammen verantwortet haben (vgl. Grewe 2012; Hitzler 2015a). Auch zu
plausibilisieren versuchen wir dabei, dass das funktionierende vegetative System
lediglich die unzweifelhafte organische Basis bildet für eine genuin menschliche,
empfindungsfähige Lebensform. Denn augenscheinlich reagiert der im Wachkoma
lebende Mensch auch auf Veränderungen bzw. Ereignisse in seiner Umwelt. Er
verliert immer wieder seine „Fassung“ – die er, Helmuth Plessner (1982) zufolge,
naheliegender Weise ja erst einmal haben muss, um sie verlieren zu können. Er zeigt
gelegentlich in Ansätzen Aktivitäten im Sinne willkürlicher Eigeninitiativen. All
diese Phänomene, die gegenüber quasi-automatischen Appräsentationen Spuren
intendierter Bedeutungen erkennen lassen, etikettieren wir als „protokommunikativ“.
Wenige – aber nicht keine – dieser Aktivitäten lassen sich unseres Erachten sogar
so deuten, dass sie auf umweltliche Zustandsveränderungen beziehungsweise auf
Verhaltensänderungen des Gegenübers abzielen, dass sie also „kommunikativ
intendiert“ sein könnten, auch wenn das dabei erkennbare Repertoire an Kommu-
nikationsmitteln als ausgesprochen begrenzt erscheint: Es umfasst im wesentlichen
Atmungsveränderungen, Zähneknirschen, Kopf-Zu- und -Abwendungen sowie
erregtes Grimassieren versus entspanntes ‚Mümmeln‘. Dementsprechend sind
wir uns keineswegs sicher, ob es – auch Skeptikern gegenüber – plausibilisierbare
Gründe gibt für die Annahme, dass Menschen, die im sogenannten Wachkoma
leben, überhaupt (kommunikativ) handeln können, denn „zwar gibt es körperliche
Expressionen … bei schwerst bewusstseinsbeeinträchtigten Menschen, die als
gezielte, reflexive Bezugnahme auf die Umwelt gedeutet werden können. Es bleibt
jedoch häufig unklar, ob diese Entäußerungen als ein Ausdrucksverhalten im
Sinne exzentrischer Positionalität zu verstehen sind“ (Remmers/Hülsken-Giesler/
Zimansky 2012, S. 676; vgl. auch Hitzler 2012a).
Exemplarisch darstellen wollen wir die damit verbundene Deutungsproblematik
hier am Falle eines in diesem Zustand lebenden Menschen. Dieser eine Mensch,
eine Frau, die im Alter von knapp 58 Jahren aufgrund einer Hypoxie (d. h. einer
Sauerstoffunterversorgung) eine schwere Hirnschädigung erlitten hat und fast
Die unerbittliche Gegenwärtigkeit der Vergänglichkeit des Körpers 257
genau drei Jahre später überraschend gestorben ist, ist sozusagen der Urfall unseres
Projektes.1 Ausgehend von (mehr oder weniger) augenfälligen und/oder infolge
„entsprechender“ Appräsentationen angenommenen bzw. nicht auszuschließenden
physischen und organischen Beeinträchtigungen über (mehr oder weniger) augen-
fällige medizinische, therapeutische und pflegerische „Maßnahmen“ und daraus
resultierende, auch nicht-intendierte Aus-Wirkungen bis hin zu einigen eher phä-
nomenalen Hinweisen auf „Entsinnung“, d. h. auf teils erkennbare, teils vermutete
„primäre“ und „sekundäre“ Verluste von Sinnesfähigkeiten, soll im Weiteren nun
die Vergänglichkeit des Körpers dieses Menschen thematisiert werden, weil diese
auch im tatsächlich tagtäglichen Miterleben nachgerade unerbittlich gegenwärtig
ist und gegenwärtig bleibt: sei es der Verlust der organischen Autoregulation des
Drucks der Gehirnflüssigkeit, sei es der Verlust des Schluckreflexes, sei(en) es
Lähmung(en), sei es Muskelschwund, seien es Spastiken, sei es eingeschränkte
Lungenfunktion, sei es der Verlust der Kontrolle über den Speichelfluss, sei es der
Verlust der Kontrolle über Magen- und Darmfunktionen und über den Mund-
Rachen-Raum und vieles andere mehr.
All das erfordert erkennbar vielfältige kompensatorische Maßnahmen in der
medizinischen Versorgung, in der Pflege und in der Therapie des Menschen im
sogenannten Wachkoma: Ein Liquorshunt muss gelegt, eine Trachealkanüle muss
eingesetzt werden. Die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr erfolgt mittels einer
Perkutanen Endoskopischen Gastrostomie (PEG). Blasenkatheter und Urinbeu-
tel werden ebenso alltäglich wie Windeln. Physio-, Logo- und andere Therapien
müssen regelmäßig angewandt werden. Spezielle Lagerungstechniken sollen den
gelähmten Körper vor Folgeschäden schützen, spezielle Schuhe und ein Rollstuhl
werden maßangefertigt. Botox-Spritzen sollen den spastischen Verkrampfungen
entgegenwirken. Reduzierte Kalorienzufuhr dient der Gewichtsabnahme und
damit der Entlastung des Organismus. Ein immer wieder neu zusammengesetzter
‚Cocktail‘ aus Medikamenten erhält sein labiles Äquilibrium. Und so weiter.
1 Ganz wesentlich für unsere Gesamtwahrnehmung dieses Falles dürfte sein, dass uns –
die wir hier als Repräsentanten sozusagen des normalen, hellwachen Erwachsenseins
fungieren – der Körper dieser Patientin an diesen Menschen erinnert hat, der sie gewesen
war, ehe sie in den Zustand „Wachkoma“ gekommen war. Dadurch ist dieser Mensch uns
fortwährend als dieser konkrete Andere – auch über die ganzen existenziell katastropha-
len Widerfahrnisse hinweg – in diesem und möglicherweise als dieser Körper gegeben.
D. h., wir erfassen den Körper dieses Menschen, der im sogenannten Wachkoma lebt,
als kontinuierlich identisch mit dem (immer schon alternden) Körper dieses Menschen,
bevor dieser in diesen Zustand gekommen ist. (Das ist die „schwerfällige Anatomie“,
von der Helmuth Plessner 1982, S. 210, schreibt.)
258 Henny Annette Grewe und Ronald Hitzler
“The vegetative state is a clinical condition of complete unawareness of the self and
the environment, accompanied by sleep-wake cycles, with either complete or partial
preservation of hypothalamic and brain-stem autonomic functions. In addition, pa-
tients in a vegetative state show no evidence of sustained, reproducible, purposeful,
or voluntary behavioral responses to visual, auditory, tactile, or noxious stimuli;
show no evidence of language comprehension or expression; have bowel and bladder
incontinence; and have variably preserved cranial-nerve and spinal reflexes. We define
persistent vegetative state as a vegetative state present one month after acute trau-
matic or non traumatic brain injury or lasting for at least one month in patients with
degenerative or metabolic disorders or developmental malformations” (MSTF 1994).
Davon grenzt die MSTF den Zustand minimalen Bewusstseins (minimally conscious
state, MCS) ebenso ab wie das Locked-in-Syndrom (LIS). Der Zustand minimalen
Bewusstseins ist gekennzeichnet durch zumindest intermittierend auftretende
willentliche Interaktion mit der Umwelt:
holding objects in a manner that accommodates the size and shape of the object
– pursuit eye movement or sustained fixation that occurs in direct response to
moving or salient stimuli” (Giacino et al. 2002).
3 Der Urfall
2 In Deutschland werden z. B. pro Jahr ca. 80.000 Reanimationen durchgeführt, davon
etwa die Hälfte außerhalb von Krankenhäusern (Thömke 2013, Hansen/Haupt 2010).
Eher weniger als 60% der außerhalb von Krankenhäusern reanimierten Patientinnen
und Patienten erreichen überhaupt lebend ein Krankenhaus. Lediglich 10 bis 15% der
nach Reanimation aufgenommenen Patientinnen und Patienten können irgendwann
lebend aus dem Krankenhaus entlassen werden, die meisten mit schweren neurologi-
schen Ausfallerscheinungen als Folgezustand einer Unterversorgung des Gehirns mit
Sauerstoff.
260 Henny Annette Grewe und Ronald Hitzler
3 In den meisten Populationen Europas und Nordamerikas treten 5 bis 10 Fälle von
spontaner Subarachnoidalblutung pro 100.000 Personenjahre auf (Kolominski-Rabas
et al. 1998, Ingall et al. 2000, van Gijn et al. 2007, Spendel 2008). In etwa 85% sind An-
eurysmen der Hirnarterien ursächlich für die spontane Blutung in den Liquorraum. Ca.
10-15% der Betroffenen erreichen das Krankenhaus nicht lebend. Insgesamt beträgt die
Sterblichkeit an einer Subarachnoidalblutung trotz verbesserter Therapiemöglichkeiten
im Mittel immer noch 40 bis 50% (van Gijn et al. 2007). Bei knapp 10 bis zu 20% der
Überlebenden bleiben schwere neurologische Beeinträchtigungen bis hin zum Zustand
„Wachkoma“ (Cedzich/Roth 2005, Molyneux et al. 2005, Langham et al. 2009).
Die unerbittliche Gegenwärtigkeit der Vergänglichkeit des Körpers 261
Trachea, die zu Geschwüren und einer Instabilität der Röhre in diesem Abschnitt
führen kann.
Bereits die Tage zuvor stattgehabte Blutung aus dem Hirnarterienaneurysma hatte,
wie erwähnt, bei der Patientin zu einer Hirnschwellung geführt. Das Coiling selbst
(bzw. die Komplikation während des Eingriffs) löste (möglicherweise erneut) einen
Spasmus der hirnversorgenden Blutgefäße aus, der eine mangelnde Sauerstoffver-
sorgung großer Hirngebiete zur Folge hatte und das – mittels Computertomografie
und Messung des Hirndrucks nachweisbare – Ödem des Hirngewebes verstärkte.
Die Dramatik der gesamten Situation im Anschluss an dieses Coiling erschloss
sich zunächst, während der Beatmungs- und Sedierungsphase der Patientin, nicht
augenscheinlich an „gewohnten“ körperlichen Anzeichen, denn abgesehen von
vielen Apparaten, die Blutdruck, Herzfrequenz, Hirndruck, Sauerstoffversorgung
und anderes maßen, schien die Patientin einfach entspannt zu schlafen. Zunächst
waren es im Wesentlichen also die mittels apparativer Techniken erhobenen Be-
funde, die auf eine „Gratwanderung“ schließen ließen.
Erst etwa drei Wochen später, nach der Normalisierung des Hirndrucks, konn-
ten die sedierenden Medikamente reduziert und konnte die Patientin dadurch
allmählich zum „Aufwachen“ gebracht werden. Schon bei diesem „Wachwerden“
veränderte sich ihr Körper: Als sie die Augen aufschlug, fixierte sie nicht. Vielmehr
wanderten die Augen in Kreisbewegungen oder pendelten von einer zur anderen
Seite. Den linken Arm und beide Beine bewegte sie nicht; lediglich die Finger der
rechten Hand schienen in schneller Abfolge imaginäre Tasten zu betätigen. Auf
Anrufen erfolgte keine Kopfwendung, auf Berührung keine Reaktion. Sie atmete
und hustete, hatte die Augen im Wechsel über Stunden geöffnet und über Stunden
geschlossen. Solcherart (Re-) „Aktionen“ des Körpers sind „typisch“ für Menschen
mit schwerster Hirnschädigung, insbesondere für Menschen im Wachkoma. Einiges
ist bei dieser Zuschreibung verwirrend, anderes unter dem Aspekt „gesicherten
Wissens“ sogar problematisch. Verwirrend ist die Begriffsvielfalt für einen Le-
benszustand mit erhaltenem Schlaf-Wach-Rhythmus, erhaltener Atemfunktion,
erhaltener Thermoregulation, erhaltener Verdauung und Harnproduktion, jedoch
ohne – dem alltäglichen wie schulmedizinischen Verständnis entsprechendes –
Bewusstsein, augenscheinlich ohne willkürliche Bewegung und ohne für andere
erfahrbar willentliche Reaktion auf äußere Reize. Alle diese Definitionen basie-
ren darauf, dass eines oder mehrere Merkmale ohne (aufwändige) apparative
Hilfsmittel, also „einfach“ über Beobachtung und körperliche Untersuchung des
oder der Betroffenen wahrgenommen werden könn(t)en. So schwierig alle diese
Definitionen in sich und ihre Abgrenzung von einander sind, so schwierig ist ihre
Anwendung auf den „konkreten Fall“ eines Patienten oder einer Patientin mit
schwerster Hirnschädigung.
262 Henny Annette Grewe und Ronald Hitzler
Unbeschadet dessen ist, wenn ein Mensch nach einer Reanimation, oder eben
nach Ereignissen wie den oben geschilderten, „aufwacht“, d. h., wenn er die Augen
öffnet und atmet, der Schritt „zurück ins Leben“ sichtbar vollzogen. Bleibt sein Blick
über Tage hin „leer“, bewegt er sich offensichtlich nicht willkürlich bzw. nur auf
der Ebene rückenmarksgesteuerter Reflexe, ist er nach derzeitiger medizinischer
Zuschreibung im Zustand der reaktionslosen Wachheit bzw. im Wachkoma. Diese
Klassifizierung des phänomenal augenscheinlichen Zustandes als „Wachkoma“
beruht (stets) auf der Diagnosestellung, es sei nachweisbar, dass der bzw. die Be-
troffene eben kein Bewusstsein habe. Nun lässt sich Bewusstsein bislang allerdings
mit keinem diagnostischen Instrument sicher ausschließen. Allgemein anerkannte
Kriterien gibt es vielmehr lediglich für das „sichere“ (bzw. für das konsensuell
als „sicher“ geglaubte) Vorhandensein von Bewusstsein. Gemeint sind damit z. B.
reproduzierbare „Antworten“ des Körpers auf Reize aus der Umwelt, seien sie nun
visuell, auditiv, taktil oder olfaktorisch, welche nicht als Reflexe gedeutet werden.
Eine „einfache“ visuelle Antwort wäre z. B. das Verfolgen und Fixieren bewegter
Gegenstände mit den Augen. Der sozusagen bestmögliche „Beweis“ von Bewusst-
sein wäre die (adäquate) Antwort auf eine gestellte Frage oder die Möglichkeit des
Dialogs mit dem infrage stehenden anderen. Aber schon eine partielle Entsinnung,
d. h. der Ausfall eines oder mehrerer Sinne bzw. Sinnesorgane, z. B. der Verlust des
Augenlichtes und ggf. auch noch des Hörvermögens in Kombination mit einer Läh-
mung aller Extremitäten, kann für die betroffene Person eine „Fehlzuschreibung“
zur Folge haben, wenn sie ihr fehlendes Seh- und Hörvermögen z. B. aufgrund einer
Läsion des Sprachzentrums nicht zu artikulieren vermag.
Wie problematisch die Diagnose fehlenden Bewusstseins ist, zeigen auch (immer
neue) Erkenntnisse aus der jüngeren Hirnforschung, die elektrophysiologisch und
mittels funktioneller Bildgebung nicht nur bei Menschen im Zustand minimalen
Bewusstseins, sondern auch bei einigen Menschen mit der Zuschreibung „Wach-
koma“ oder PVS „Antworten“ im Gehirn nachgewiesen hat, die denen Gesunder
ähneln. Dabei können der „klinische Befund“, d. h. der durch Beobachtung und
körperliche Untersuchung erhobene Befund und die mittels EEG bzw. bildgeben-
den Verfahren erhobenen Befunde durchaus voneinander abweichen, und zwar in
„allen Dimensionen. So konnte in einer einschlägigen Untersuchung z. B. bei 4 von
23 Menschen, die klinisch als im Wachkoma bzw. PVS klassifiziert worden waren,
nachgewiesen werden, dass sie als Antwort auf verbale Stimuli in einer funktionellen
Magnetresonanztomografie (fMRT) ein gesunden Personen vergleichbares Vertei-
lungsmuster gesteigerter Hirndurchblutung hatten, während 30 von 31 untersuchten
Menschen im klinisch erhobenen Zustand minimalen Bewusstseins dieses nicht
hatten (Monti et al. 2010). Bei zweien der vier untersuchten „Wachkomapatien-
ten“ konnten im Folgenden auch klinisch Anzeichen minimalen Bewusstseins
Die unerbittliche Gegenwärtigkeit der Vergänglichkeit des Körpers 263
die Stimmbänder vibrieren können, die also mechanisch „stumm“ macht – dazu
weiter unten mehr). Die Muskulatur des Körpers eines Menschen mit schwersten
Hirnschädigungen weist, zumeist durch Spastiken verursachte, starke Kontrakturen
auf. Folglich kann dieser Mensch so gut wie keine Muskelpartie willentlich oder
gar gezielt bewegen. Manchmal scheint er zu schlafen, manchmal scheint er wach
zu sein. Manchmal scheint er auf manche Geräusche zu reagieren und manchmal
nicht. Seine Augen sind manchmal geschlossen und manchmal geöffnet. Manchmal
scheinen die geöffneten Augen etwas zu fixieren, manchmal nicht. Und so weiter. Ob
dieser Zustand ‚nur‘ ein Durchgangsstadium ist, oder ob der Betroffene in diesem
Zustand verbleiben wird, kann (bislang) nie sicher vorhergesagt werden. Sicher ist
(bislang) jedoch, dass dieser Mensch über eine lange, vielleicht über seine gesamte
verbleibende Lebenszeit auf die Hilfe anderer angewiesen sein wird. Diese „anderen“
sind „Professionelle“5 und „Laien“ (vgl. Sprondel 1979). Als „Profis“ gelten in diesem
Zusammenhang vor allem Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Logopädinnen und
Logopäden, Physio- Ergo-, Musiktherapeutinnen und -therapeuten usw. Fallrele-
vante Laien sind vor allem und zumeist Angehörige und Freunde.
Dass der Blick auf den Körper des Menschen im Wachkoma, dass das Ausmaß
der Aufmerksamkeit für Veränderungen dieses Körpers, dass die Interpretation
von Veränderungen usw. vor dem Hintergrund heterogen verteilten Fachwissens,
vielgestaltigen und unterschiedlich ‚tiefen‘ biographischen Wissens und – mitunter
extrem – divergenter emotionaler Beteiligung in hohem Maße verschieden sein
können, ja verschieden sein müssen, liegt auf der Hand (vgl. dazu Hitzler/Grewe
2013). Bemerkenswert erscheint uns allerdings, dass der Kompetenz Angehöriger
in der medizinischen Fachliteratur insbesondere bei der Wahrnehmung von Anzei-
chen oder gar Zeichen für Bewusstsein prinzipiell ein hoher Stellenwert eingeräumt
wird (Vgl. Gill-Thwaites 2006; Giacino et al. 2002; Wade 1996). Eine retrospektive
Untersuchung von 44 Patienten im Locked-in-Syndrom hat z. B. gezeigt, dass
bei mehr als der Hälfte dieser Personen Familienangehörige die ersten gewesen
waren, die Zeichen von Bewusstsein wahrgenommen hatten (Leon-Carrion et
al. 2002). Die Rate der von „Profis“ in der Routineuntersuchung am Krankenbett
nicht wahrgenommenen Zeichen für Bewusstsein lässt sich schwer ermitteln; bei
einem (allerdings nicht verblindeten) Vergleich zweier Untersuchungsverfahren
– der „Routineuntersuchung und -einschätzung“ durch das therapeutische Team
(Ärzte, Psychologen, Physio-, Sprach- und Ergotherapeuten, Pflegekräfte) und
der unmittelbar danach durchgeführten strukturierten Untersuchung mithilfe
der „Coma-Recovery-Scale-revised“ (CRS-R, Giacino et al. 2004) durch geschulte
5 Professionelle müssen ja bekanntlich nicht unbedingt auch Experten sein (vgl. dazu
Hitzler 1994 und 2016).
Die unerbittliche Gegenwärtigkeit der Vergänglichkeit des Körpers 265
Untersucher – ließen sich bei 41% der vom therapeutischen Team als „vegetative“
eingeschätzten Patientinnen und Patienten Anzeichen für Bewusstsein feststellen
(Schnakers et al. 2009).
Diese prinzipielle Kompetenz von Angehörigen hat naheliegender Weise damit
zu tun, dass sie mit der Lebensgeschichte, mit den Gewohnheiten, Vorlieben und
Abneigungen, mit den Eigenschaften und Eigenheiten der Patientin bzw. des Pa-
tienten, um die bzw. den es je geht, in aller Regel besser als ‚alle anderen‘ vertraut
sind. Und damit sind sie sozusagen ausgezeichnete ‚Fährtenleser‘ für alle möglichen
Spuren, die sich im Lauf eines Lebens in den Körper eines Menschen eingraben
und diesen Körper prägen. Nicht wenige dieser Spuren sind für nachgerade alle
anderen, denen dieser Mensch begegnet, ohne weiteres wahrnehmbar. Andere, für
das ‚Verstehen‘ und die Behandlung des individuellen ‚Falles‘ aber oft besonders
bedeutsame Spuren zu erkennen und vor allem das je Präsente (wie auch immer)
auf das dabei Appräsentierte hin deuten zu können, ist (nicht selten deutlich) vor-
aussetzungsvoller: dazu muss man diesen Menschen eben sozusagen ‚intim‘ kennen.
Zumindest dann, wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, appräsentieren sich für
im Modus des Mit-Erlebens am Geschehen teilhabende Personen am Körper des
Menschen, um den ihnen zu tun ist, keineswegs nur organische Prozesse, sondern
eben auch dessen Empfindungen.
Symptomatischer Weise sucht eine in einen solchen ‚Fall‘ involvierte Person,
und sucht ganz gewiss jede emotional beteiligte Person – insbesondere in den ers-
ten Wochen und Monaten nach einem akuten Ereignis – bei einem Menschen im
Wachkoma nach Anzeichen für Bewusstsein. Aber auch ungeachtet der drängen-
den und immer wieder zu beantwortenden Frage „Ist da noch jemand? – d. h., ist
da noch ein anderes Ich?“ (vgl. Hitzler 2010) erfordert ein Mensch im Wachkoma
ständige Aufmerksamkeit auf alle seine Lebensfunktionen, weil er, um nicht zu
sterben, vollständig auf andere angewiesen ist. Ein Mensch im Wachkoma kann
z. B. die Position seines Körpers nicht willentlich verändern, er kann aber auch
nicht mitteilen, ob und wo ihn ggf. eine Faltung des Betttuches drückt, ob ein
Arm „einschläft“, weil er zu sehr unter dem Körper liegt, oder ob ein Fuß unter der
Bettdecke „verdreht“ ist. Bereits in den ersten Wochen nach dem zum Wachkoma
führenden Ereignis werden die zunächst schlaff gelähmten Extremitäten spastisch,
d. h. sie „verkrampfen“ zunehmend, überwiegend in Beugestellung der Gelenke.
Als Ursache für spastische Kontraktionen gilt die Schädigung entsprechender
motorischer Nervenzellgebiete im Gehirn bzw. ihrer zum Rückenmark abstei-
genden Faserbahnen bei erhaltenen Regelkreisen auf Rückenmarksebene. Diese
Regelkreise des Rückenmarks ‚steuern‘ den Tonus, d. h. die Grundspannung der
Muskulatur. Von höheren Zentren unkontrolliert führt die Daueranspannung
der Muskulatur zu fixierten Stellungen, zu Kontrakturen der Finger, der Arme,
266 Henny Annette Grewe und Ronald Hitzler
Beine und des Rumpfes. Werden Gelenke nicht in allen ihnen nach ihrer Anato-
mie möglichen Richtungen bewegt, resultiert daraus ‚mit der Zeit‘ zusätzlich eine
Schrumpfung der Gelenkkapsel, die dann wiederum auch die passive Bewegung
(d. h. die Bewegung der Körperteile durch andere Personen – oder Maschinen) im
Gelenk unmöglich macht.
Kontrakte Gelenke erschweren die Hautpflege, insbesondere im Bereich der Beu-
geflächen, sowie die bei Bewegungsunfähigen ohnehin schon schwierige, regelmäßig
zu verändernde Positionierung des Körpers im Bett, im Sessel oder im Rollstuhl.
Ohne regelmäßigen Positionswechsel und ohne eine flächenhafte Verteilung des
Körpergewichts auf die Unterlage aber treten wiederum Durchblutungsstörungen
der aufliegenden Körperstellen auf, die zu bis auf den Knochen reichenden Druck-
geschwüren führen können. Um Hautschäden der Beugeflächen entgegenzuwirken
und die Positionierung des Körpers bzw. der Körperteile zu erleichtern, müssen
die Extremitäten daher immer wieder passiv bewegt, die Finger, Hände und Arme
entgegen ihrer spastischen Beugestellung gestreckt werden. Ggf. werden auch für
einige Stunden sogenannte Orthesen, also Schienen angelegt, die diese gesteckte
Position „halten“ sollen. In manchen Fällen wird auch immer wieder Botox gespritzt,
um den Muskelspasmus vorübergehend zu durchbrechen.
Alle diese Maßnahmen sind mit Risiken verbunden: Botox (genauer: Botulinum-
toxin) ist ein Nervengift, das zu einer Wochen andauernden Muskellähmung führt.
Botox wird in hoher Verdünnung in die Region derjenigen Nervenendigungen
gespritzt, deren Kommunikation mit der Muskulatur unterbrochen werden soll.
Wie alle in den Körper eingebrachten Substanzen kann es aber in die Umgebung
diffundieren, d. h. ggf. vom Blut aufgenommen und so in Körperregionen verbracht
werden, in denen eine Muskellähmung nicht erwünscht bzw. lebensgefährlich ist
(wie etwa und insbesondere in der Herz- und in der Atemmuskulatur). Schienen
bringen das Risiko der Druckgeschwürbildung mit sich. Das Knochengerüst ei-
nes Körpers, der keine Eigenbewegung hat, wird durch Abbauprozesse brüchig;
resultierend daraus steigt das Risiko von Frakturen, selbst infolge relativ geringer
Krafteinwirkung von außen. Auf diese Weise brach etwa die Bezugspflegerin der
hier in Frage stehenden Patientin dieser eines Tages beim Versuch, ihr eine Orthese
anzulegen, versehentlich einen Finger. Und wie wir auch in der Zeit danach haben
feststellen müssen, stellt eine Fraktur – und sei es eben „nur“ ein gebrochener Finger
– aufgrund der Kombination aus „porösem“ Knochen und spastischem Muskelzug
wiederum auch eine besondere Schwierigkeit für die Versorgung dar, zum einen
durch eine eingeschränkte Heilungsfähigkeit des Knochengewebes, zum anderen
durch die durch den Muskelzug bedingte Fehlstellung der Bruchstücke.
Zu bemerken war z. B., dass die Patientin durch ihre aus der Schulter heraus
ausgeführten, ruckartigen Armbewegungen (das ist die einzige Eigen-Bewegung,
Die unerbittliche Gegenwärtigkeit der Vergänglichkeit des Körpers 267
die ihr unterhalb der Halsmuskulatur noch möglich zu sein schien) trotz bzw.
gegen die Aluminiumschiene, auf der ihr gebrochener Finger im Krankenhaus mit
einer Bandage fixiert worden war, eine zunehmende Schiefstellung des gebroche-
nen Fingers verursacht hatte. Um diese Schiefstellung so gut wie möglich wieder
zu korrigieren und um Schmerzen so gut wie irgend möglich zu vermeiden oder
zumindest zu vermindern, bekam die Patientin dann für mehrere Wochen eine
Doppel-Schiene mit einem Klettverschluss. In diesen dann folgenden Wochen gab
es immer wieder vielfältige Gründe zur Aufregung und zur Sorge: U. a. drückte die
Patientin ihr Gesicht – augenscheinlich schmerzverzerrt – in die Kopfstütze ihres
Rollstuhls. Die Physiotherapeutin bestätigte diesen Eindruck. Einmal verstärkte
sich die Schmerzmimik der Patientin nochmals massiv. Der Eindruck, dass sie vor
Schmerzen brüllte, auch wenn (wegen ihrer Trachealkanüle) praktisch kaum etwas
zu hören war, war unabweisbar. Nach diesem Vorfall wurde – nach Rücksprache
mit dem behandelnden Arzt – die Schmerzmedikation eine Zeit lang intensiviert
und die Patientin von der Bolus-Gabe auf ein Schmerz-Pflaster umgestellt.
Wird eine solche gebrochene Extremität „gerichtet“ und von außen mit Gips
oder ähnlichem geschient, resultiert daraus, neben der Gefahr des „Abrutschens“
der Knochenstücke, wieder das Druckgeschwürrisiko. Wird eine Fraktur operativ
versorgt, ist nicht sicher vorhersagbar, ob Schrauben, Nägel, Drähte in dem porösen
Knochen Halt finden. Zudem resultiert hieraus eine bis in den Knochen reichende
Wunde, die sich entzünden kann. In Fehlstellung verheilte Körperteile erschweren
alle Maßnahmen der Pflege, ein Infekt des Knochens schwächt den Körper und
erhöht die Gefahr weiterer Infekte. Und so dreht sich die ‚Spirale‘ aus erwünschten
Effekten und unerwünschten Folgen etwelcher Maßnahmen und Unterlassungen
immer weiter.
Infekte drohen Menschen im Wachkoma ohnehin ständig, allein schon bedingt
durch die „Ver- und Entsorgungsschläuche“, die innerliche und äußerliche Wunden
setzen. Zur Nahrungsgabe wird meist eine PEG (eine perkutane endoskopische
Gastrostomie) durch die Bauchdecke in den Magen angelegt. Der Harn wird ebenfalls
auf kurzem Weg (mittels eines suprapubischen Katheters) durch die Bauchdecke
abgeleitet. Und nicht zuletzt sind nicht wenige Menschen im Wachkoma eben
tracheotomiert und mit dem erwähnten kurzen Atmungsschlauch, der Tracheal-
kanüle, versehen. Die Blockung, d. h. die Abdichtung der Trachealkanüle mittels
luftgefüllter Manschette, verringert die Gefahr der Aspiration von Mageninhalt,
der Menschen im Wachkoma aufgrund ihrer eingeschränkten oder aufgehobenen
Schluckfähigkeit ausgesetzt sind. Eine Trachealkanüle, insbesondere eine geblockte
Trachealkanüle, hat jedoch auch zahlreiche nicht intendierte Folgen: Der kurze
Atemweg schaltet den Nasen- und Rachenraum aus dem Atemluftstrom aus, die
268 Henny Annette Grewe und Ronald Hitzler
Atemluft wird daher nicht im normalen Ausmaß gefiltert, erwärmt und angefeuchtet,
und die Anfälligkeit für Bronchialinfekte steigt.
Im Falle der Patientin, über die wir hier berichten, war es darüber hinaus zu der
bereits oben erwähnten Instabilität des Knorpelgerüsts der Luftröhre gekommen, so
dass die Blockung der Trachealkanüle, also die Ursache dieser Mangelversorgung
des Knorpels, zur Offenhaltung der Trachea von den behandelnden Ärzten und
der Logopädin weiterhin als notwendig angesehen wurde. Zudem bestand bei der
Patientin kein zuverlässiger Schluckreflex, und sie erbrach phasenweise häufig und
nicht vorhersehbar. „Übungen“ zur Verbesserung der Schluckfähigkeit der Patientin
waren nur bei entblockter Kanüle möglich und somit durch die Kollapsneigung
der Luftröhre limitiert. Daraus resultierte nun ein circulus vitiosus, denn die
Verbesserung der Schluckfähigkeit wäre eben eine Voraussetzung dafür gewesen,
die Blockung der Trachealkanüle zu reduzieren mit dem Ziel, irgendwann die
Kanüle entfernen zu können. Eine Entscheidung für die größtmögliche Sicherheit
für die Patientin wäre hingegen eine Entscheidung für die „Dauerblockung“ der
Trachealkanüle gewesen, denn dadurch wird die Aspirationsgefahr so weit möglich
reduziert. Das wiederum würde die Inkaufnahme des oben beschriebenen Zirkel-
schlusses implizieren – ohne absehbare Chance, diesen je zu durchbrechen. Eine
Entscheidung für die stufenweise Entblockung der Trachealkanüle wäre mit einer
erhöhten Gefahr der Aspiration von Erbrochenem und in Folge mit dem Auftreten
schwerer Lungeninfekte verbunden, böte jedoch die Chance, den beschriebenen
„Teufelskreis“ zu durchbrechen. Und so weiter…
Die Wahrnehmung und das aus dem Mit-Erleben resultierende zunehmend und
zunehmend ‚tiefere‘ Verständnis der Verletzlichkeit des „Gleichgewichts“, in dem
sich der Körper eines Menschen im Wachkoma befindet, wird für betreuende
Personen über die gesamte Lebensspanne des Menschen im Wachkoma von sol-
cherlei Entscheidungszwängen begleitet. Jede Entscheidung für oder gegen etwas
ist auf irgendeine Weise „falsch“, da jede Maßnahme neben den intendierten
Wirkungen und Effekten auch unerwünschte Folgen zeitigen kann, die wiederum
durch weitere Maßnahmen kompensiert werden müssen. Jedes Unterlassen einer
Maßnahme zur Verhinderung, Beseitigung oder wenigstens Eindämmung weiterer
Beeinträchtigungen droht aber ebenfalls das labile Gleichgewicht des Körpers des
im Wachkoma lebenden Menschen zum Kippen zu bringen und ist daher in aller
Regel auch keine Alternative.
Die unerbittliche Gegenwärtigkeit der Vergänglichkeit des Körpers 269
Mit-Erlebens: Empathie, oder gar Sympathie, ist zwar keine notwendige Voraus-
setzung dafür, diese Vergänglichkeit zu registrieren. Sich diese Vergänglichkeit zu
vergegenwärtigen, meint aber mehr: es meint, das eigene Handeln subjektiv sinnhaft
am Gewärtigen der Vergänglichkeit des Körpers des Menschen, um den einem zu
tun ist, zu orientieren (vgl. Hitzler 2015b).
Diese Vergänglichkeit manifestiert sich vor allem in der Erfahrung, dass der
im Wachkoma lebende Mensch gesundheitlich eben nicht in einem ‚unter den
gegebenen Umständen‘ recht stabilen und ‚ganz akzeptablen‘ Zustand ist, sondern
dass er die, denen es um ihn zu tun ist, in aller Regel mit seinen – quasi permanent
an Atemproblemen, Husten und Würgen erkennbaren – Kämpfen ums schiere
Überleben konfrontiert, die eher gelegentlich von kurzen ‚ruhigen‘ Phasen durch-
brochen werden.
Vor dem ständigen Hintergrund solcherlei physischer Instabilität hatte die
Patientin selbstverständlich, wie wir alle, eben gute und schlechte Tage – wobei
schlechte Tage für sie solche waren, an denen sie etwa übermäßig von Husten- und
Würgeanfällen, von Verdauungsproblemen, von Erbrechen, von Augeninfektionen,
von Fieber, von Lärm und/oder Hitze und wohl auch von körperlichen Schmerzen
und vielleicht auch von seelischen Qualen wie Einsamkeit, Trauer, Verwirrung
geplagt wurde. Gute Tage für die Patientin waren – unseren Analogieschlüssen
entsprechend – solche, an denen wir zu erkennen meinten, dass sie „munter“,
„irgendwie interessiert“ und zugleich ausgesprochen „entspannt“ sei. Erst ganz
allmählich haben wir gelernt, diese neue Normalität der ‚Tagesformabhängigkeit‘
nicht nur auszuhalten, sondern anzunehmen, nicht nur mit zu erleben, sondern so
umfassend, wie es uns aufgrund unserer jeweils eigenen Lebensumstände möglich
war, mit ihr zu leben. Das Mit-Erleben des im Wachkoma lebenden Menschen
impliziert dergestalt, sorgend teilzuhaben an den unsteten Befindlichkeiten eines
empfindsamen Wesens (vgl. Grewe/Hitzler 2013).
Für die mit-erlebenden Personen impliziert das aber insbesondere die ständige
– und in der Tat bange – Frage, ob und ggf. wann der Mensch, um den ihnen zu
tun ist, in einem selbstbezüglichen Sinne Schmerzen empfindet, und ob und ggf.
wie sich welche Schmerzen appräsentieren: z. B. als Schwitzen, Zittern, Krampfen,
Veränderungen der Gesichtsfarbe usw., ebenso Gesichtsausdrücke und -bewegun-
gen und/oder Körperhaltungen und -bewegungen, und paraverbal z. B. im Stöh-
nen, Weinen und/oder in anderen Äußerungsformen. Denn weil wir Schmerzen
zwar spüren, nicht aber mit unseren Sinnesorganen erfassen (können), sondern
eben allenfalls solche epiphänomenalen Appräsentationen, stellt sich bei einer
sogenannten nicht-kommunikativen Patientin für den, der sie im vorgenannten
Sinne mit-erlebt, diese Frage im Grund wirklich permanent und ohne je verlässlich
beantwortet werden zu können (vgl. Hitzler 2012b).
Die unerbittliche Gegenwärtigkeit der Vergänglichkeit des Körpers 271
Vernichtung des Leib-Seins durch den Tod. „Partielle Entleibung“ bedeutet den
Verlust von Funktionen des Organismus (z. B. durch Amputationen). Und „Ent-
sinnung“ bedeutet nun eben, wie erwähnt, den wodurch auch immer bedingten
Verlust (der Funktionen) von Sinnesorganen (also von Augen, Ohren, Nase, Mund
und/oder Haut).
Ob infolge dieser Entsinnung vielleicht, wahrscheinlich oder zwangsläufig
auch die ‚Innenwelt‘ des von äußeren Reizen bzw. Anregungen immer stärker
abgeschnittenen Menschen immer mehr ‚verarmt‘, ob er infolge der schweren
Hirnschädigung, die er erlitten hat, also nicht nur am Anfang seines Lebens im
sogenannten Wachkoma, sondern auch in dessen Vollzug – infolge der zuneh-
menden Entsinnung – auch psychisch depraviert, ist eine Frage, mit der wir uns
anhaltend beschäftigen. Ungeachtet aber der Antwort auf diese Frage bzw. der
Frage, ob wir überhaupt eine Antwort darauf finden, erscheint uns der Zustand
Wachkoma zwar als extreme (und in Relationen zu anderen Krankheitsbildern auch
seltene), gleichwohl aber als nachgerade exemplarisch verdichtete Form multipler
Degenerationen und Deprivationen, die uns die Vergänglichkeit unserer Körper
tatsächlich unablässig und unerbittlich vor Augen führt.
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Strukturen der Sterbenswelt
Über Körperwissen und Todesnähe
Thorsten Benkel
Todesnähe soll nachfolgend als problematische Situation nicht allein des indivi-
duellen Körpers, sondern als Zukunftsszenario jeglicher sozialen Beziehung ver-
standen werden. Der Tod kann sowohl als Kulminationspunkt des – lebenslangen
– Alterungsprozesses interpretiert werden, wie auch als davon entkoppeltes, mithin
nicht bewusst ‚erlebbares‘ Körpergeschehen. Die häufig bemühte dichotome Ge-
genüberstellung von Leben und Tod übergeht für gewöhnlich, dass Alterung und
dass die ‚Vergänglichkeit‘ körperlicher Handlungsbefähigungen das Lebensende
von einem bestimmten Punkt an auf physiologische, d. h. durchaus spürbare Weise
antizipierbar machen. So schwer diese Lebensphase en detail auch einzugrenzen
ist: der Begriff des Sterbens fasst die in unmittelbare Todesnähe führenden Er-
fahrungen und (körperlichen) Erlebnisse terminologisch zusammen. Dies setzt
allerdings voraus, dass tatsächlich ein hohes Alter erreicht wird, dass der Körper
tatsächlich an die Grenzen seiner Vitalität gelangt. Unfalltod, schwere Krankheiten
in jungen Jahren, Suizid und dergleichen mehr evozieren Todesnähe unter anderen
Bedingungen; mitunter ist der Übergang vom Leben zum Nichtmehrleben hier nur
eine Sache von Sekunden.
Der Blick auf das Altern und den alternden Körper soll nachfolgend als Ausgangs-
punkt für soziologische Betrachtungen der Begleitumstände und Wissensgenerie-
rungen im diskursiven Umfeld von Sterben und Tod verwendet werden. Es wird zu
zeigen versucht, dass das Sterben – ebenso wenig wie das Leben – ein ‚eindeutiger‘
und klar konturierter Vorgang ist, dem Menschen sich passiv hinzugeben haben.
277
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7_13
278 Thorsten Benkel
Szene auf einem deutschen Friedhof, einem von etwa 32.000, an irgendeinem Tag
des Jahres. „Na ja“, sagt die ältere Dame, während sie, den Körper weit nach vorne
gebeugt, am Unkraut zupft, „Sterben gehört halt dazu, nich‘ wahr?“
Ihr Ehemann war „schon vor acht Jahren dran“; bis zuletzt hatte sie ihn ge-
pflegt, nun pflegt sie sein Grab. Diese Aufgabe, laut Friedhofsordnung ohnehin
die Pflicht der Hinterbliebenen, hat sich für sie im Laufe der Zeit in den Kanon
der Alltagsüblichkeiten eingeschrieben. Das Empfinden, dass in diesem geradezu
standardisierten, weil stets ähnlichen Abläufen gewidmeten Fürsorgehandeln ein
symbolischer ‚Dienst‘ am Toten vorliegt, ist für die ältere Dame an das Wissen
gekoppelt, dass dieser Dienst zunächst einmal diesseitig honoriert wird. Gewiss,
symbolisch führen das routinierte Säubern der Platte, das geschickte Jäten, dann
und wann das Entzünden der windgeschützten Kerze usw. das (Be-)Sorgen fort,
das zu Lebzeiten des Gatten als wechselseitige Pflicht zwischen den beiden Be-
stand hatte und von ihnen als wichtiger Bestandteil ihrer Beziehung interpretiert
worden sein dürfte. Zu sagen, sie tue es unmittelbar „für ihn“, ist der älteren Frau
aber zu abstrakt. Das typische Handeln von Friedhofsbesuchern mag zwar ähnlich
aussehen; doch was jeweils dahinter steckt, das sei heute nicht mehr verbindlich
und ohnehin kaum feststellbar. Wie sie persönlich die Dinge sieht, ist demnach
nur eine Position von vielen.
In wenigen Worten spricht die ältere Dame damit nicht nur Aspekte des sozialen
Wandels im Umgang mit dem Lebensende an, sondern umreißt darüber hinaus
das Phänomen der über prä- und deskriptive Muster hinausreichenden Aneig-
Strukturen der Sterbenswelt 279
1 Umso interessanter sind die Ausbruchversuche, wie sie sich seit einigen Jahren abzeichnen.
Als eine Art illegitimer Effekt der europäischen Grenzöffnung häufen sich Anfragen an
Bestatter von Menschen, die die Asche ihrer Verstorbenen nach dem Kremationsvorgang
nicht im Friedhofsreihengrab bestattet, sondern im eigenen Heim aufbewahrt oder an
einem persönlich wertvollen Platz verstreut sehen wollen. Durch ‚Körperverkehr‘ über
die Grenzen hinweg wird das Illegitime machbar. Die Rechtslage ist jedoch im Umbruch:
Das Bundesland Bremen hat diesen Wunsch der Angehörigen 2014 – beim Vorliegen
bestimmter Bedingungen – legalisiert, weitere Veränderungen sind zu erwarten (vgl.
Spranger/Pasic/Kriebel 2014). Qualitative Einblicke in diesen Kontext liefert das aktuelle
Forschungsprojekt ‚Autonomie der Trauer‘ unter Leitung des Verfassers.
2 Und überdies als Warnsignal. Plausible Hinweise deuten darauf hin, dass schon der
Transfer vom (beseelten) Leib zum (unbeseelten, toten) Körper kulturell als subtiles
memento mori codiert ist (vgl. Groß/Glahn/Tag 2010).
Strukturen der Sterbenswelt 281
Die Ächtung des Todes an sich – auch sie eine gesellschaftlich bedeutsame Funk-
tion jener Praktiken, die significant mourners an den offenen Gräbern ihrer Toten
aufführen – verkäme demnach zur Privatangelegenheit, der Tod würde sukzessive
immer schamhafter thematisiert werden. Erst eine langfristige kultursoziologische
Begleitung wird sicherstellen können, inwiefern ein solcher ‚Kontraktionseffekt‘
tatsächlich greift.
Abb. 1 Darstellung eines Ausspruchs bzw. einer Haltung zu Lebzeiten, die die
Hinterbliebenen geradezu im Modus einer Selbstadressierung am Grab des
Verstorbenen befestigt haben: „Trauert nicht so viel – macht weiter.“
Quelle: © Thorsten Benkel
Soviel steht fest: Die Rituale und Praxen, mit denen die Verabschiedung des toten
Körpers performativ verwirklicht wird, finden in der Nähe des Todes statt – ein
Sterbeprozess ist abgeschlossen worden. Der Tod, und damit auch die Leiche, ist
282 Thorsten Benkel
3 Vgl. Bourdieu (1976). Der Begriff „Sein zum Tode“ findet sich übrigens schon vor den
bekannten Ausführungen Heideggers in Sein und Zeit (1993) bei Wilhelm Dilthey und
bei Georg Simmel.
Strukturen der Sterbenswelt 283
2 Körperhoffnung
„Der Tod“, schreibt Norbert Elias (1990, S. 10), „ist ein Problem der Lebenden“.
Insofern ist die „Erfahrung des Todes“ (Landsberg 2009) nicht vordergründig ein
Nachteil des eigenen körperlichen, sondern vor allem ein Problem des sozialen
Erlebens. Einmal abgesehen vom Metapherngestöber der Alltagssprache, worin
überraschend häufig Referenzen zu Alterung, Sterben und Tod gefunden werden
können, lebt und stirbt man nach aktuellem Kenntnisstand nur einmal. Zwischen
der Zeit davor und der Zeit danach fungiert der Tod im individuellen Einzelfall als
„radikale Neuigkeit“ (Benjamin 1974, S. 668), bei der sich alle Aspekte der Lebenswelt
verändern, weil Lebenswelt selbst zur Sterbens- bzw. Todeswelt gerinnt (vgl. Benkel
2007, S. 197). Die eigene Körperzukunft ist ein undefiniertes post suam mortem.
Worüber man nicht sinnieren kann, das muss man auch nicht befürchten oder
pauschal zum Nachteil abstempeln, so die seit der Antike verwendete, beschwich-
tigende Rede von Philosophen.4 Soziologisch liegt das Problem anders: Sterben zu
‚müssen‘ ist Wissen, nicht spürbare Tatsache. Selbst ein sehr alter Mensch, der sich
womöglich dem Tod nahe fühlt, ist ein lebendiger Mensch, dem das ‚Totsein‘ fehlt.
Seine Antizipation, bald zu sterben, baut auf Erwartungswissen auf, nicht auf einem
Körperwissen, das klare Verbindungslinien zieht zwischen dem subjektivem Erleben
und einem faktischen Sterbensverlauf. Einen ‚Körperzustand‘ oder eine ‚Lebensphase‘
namens Sterben, der/die anhand eines medizinischen Kriterienkatalogs bestimmbar
ist, hält die Wissensgesellschaft nicht parat. Sie ist hierin, wie Hubert Knoblauch
zurecht betont, durchaus „Nichtwissensgesellschaft“ (Knoblauch 2005, S. 280). Denn
so unbestreitbar gestorben wird, so uneindeutig scheint das Sterben zu verlaufen.
Zu dem im Lebensverlauf erlernten Wissen über das Sterben gehört, dass es einen
selbst betrifft, weil es andere bereits betroffen hat. Die Beweisführung fußt, um mit
Alfred Schütz (1991, S. 313) zu argumentieren, auf einer Appräsentation, auf der
anerkannten ‚Mitgegenwärtigkeit‘ der anderen, denen man sich als Alltagsakteur
gleichsetzt. Während man selbst noch nicht gestorben ist, schafft das Wissen über
die personale Sterblichkeit als theoretisches Fundament eine Verstehensbasis für
den Tod der Mitmenschen, und vice versa verlangen diese Tode nach einer Wissens-
basis, die erklärt, was geschieht. Das Wissen über den Zusammenhang von Altern
und Tod (mitsamt Seitenblicken auf Faktoren wie Unfälle, Verletzungen, Risiken
4 Eine neuzeitliche Variante stammt von Thomas Nagel, der hervorhebt, dass man sich
die Welt ohne einen selbst zwar vorstellen kann, aber nicht, wie es ist, wenn man tot
ist (2001, S. 20). Von einem pauschalen Unglück lässt sich vor diesem Hintergrund
schwerlich sprechen. Die Transzendierung von verlässlichem Wissen gelingt in dem
einen Fall durch den Rückschluss auf selbst erlebte Vergleichssituationen, welcher in
dem anderen Fall unmöglich ist.
284 Thorsten Benkel
und Gefahren) betrifft überwiegend die Tode der anderen. Hypothetisch kann
man die Lebensenden aller, die einem wichtig sind, miterleben. Soziale Nähe führt
zu Todesnähe, zum passiven Ausgesetztsein gegenüber einem ‚anderen‘ Tod, der
eigene Dramaturgien und Dramatiken kennt. Die Rolle des selbst Sterbenden wird
für gewöhnlich nur eingeübt, wenn sie bis zum buchstäblichen Ende durchgespielt
wird; die Rolle eines/einer Hinterbliebenen kann dagegen mehrfach aufgeführt
werden. Wenn tatsächlich eine Person des sozialen Umfeldes stirbt, bewirkt dies
oft eine Erschütterung der Rahmenkonstellation, dank derer der Alltag ansonsten
stabil gehalten wird. Dieser Verlust schwebt dialektisch zwischen Fremdheit und
Nähe: fremd ist er, weil man selber überlebt und ein Mitmensch geht, während
dieser doch nah genug ist (war?), um dieses Überleben zumindest temporär ‚in
den Schatten‘ zu ziehen. Mit anderen Worten, es ist dies die prägende Erfahrung
der Todesnähe. Schütz (1971, S. 397) spricht in Anlehnung an Søren Kierkegaard
von einem „Augenblickssprung“, der in eine eigenwillige Sphäre zwingt – in die-
ser Konstellation also in einen Zustand des Über- oder Weiterlebens unter dem
Vorrang spezifischer Sinnbestimmungen, die den Routinen des Alltags fremd sind.
Auch wenn darin kein Funken Trost liegt, gehört es ebenfalls zum Wissen, dass
der Aufenthalt in dieser Subsinnwelt der Todesnähe und Trauer zeitlich begrenzt
ist und von der allmählichen Rückkehr in die Alltagssphäre abgelöst werden wird.5
Zwischenzeitlich stand die Welt nicht still, und die Hinterbliebenen müssen
die subjektive „Lebenszeit“ (im Sinne einer Erlebenszeit) wieder an die Abläufe der
davon unberührten „Weltzeit“ anpassen (vgl. Blumenberg 2001). Angereichert ist
das Fortleben der Hinterbliebenen dabei mit der Kulturnorm, den Verstorbenen
durch Erinnerungshaltungen und -handlungen weiterhin einen Platz in ihrem
Leben zuzuweisen. Entgegen pauschaler Bewertungen im Sinne von: „Zu Toten gibt
es kein soziales Verhältnis“ (Sofsky 2005, S. 88) ist die Verbindung der Lebenden
5 Mit der Zeit werden die Wunden geheilt, lautet eine vielsagende Metapher. Die Phase
legitimer Ausfallerscheinungen gegenüber alltäglichen Anforderungen wird demnach
irgendwann so vermeintlich subtil abbrechen, wie ein Wundheilungsprozess irgend-
wann jenseits eigenen Zutuns des Verwundeten vollendet ist. Wer danach nicht wieder
einsatzfähig für Beruf, Familie und Partnerschaft ist, wer also noch nicht genügend
‚Trauerarbeit‘ geleistet hat (ein interessanter Begriff, dem Pendants wie ‚Liebesarbeit‘
auffällig fehlen), verhält sich beinahe schon selbstsüchtig und verstößt gegen einen
unausgesprochenen Kodex, wie folgende Bemerkung von Roland Barthes zeigt. In
seinen Vorlesungen am Collège de France beschreibt Barthes eine Situation, mit der
er in der Zeit nach dem Tod seiner geliebten Mutter konfrontiert war: „Nach ein paar
Wochen tritt die Gesellschaft wieder in ihr Recht ein, erkennt die Trauer nicht mehr
als Ausnahmezustand an: Die sozialen Anforderungen gelten wieder, so als wäre es
unvorstellbar, sie abzuweisen; umso schlimmer für Sie, wenn die Trauer Sie länger aus
der Bahn wirft, als der Code es zuläßt.“ (2005, S. 50)
Strukturen der Sterbenswelt 285
zu ‚ihren‘ Toten nicht nur ein alltäglicher Anblick für jeden, der sich einmal auf
einen Friedhof verirrt. Es liegt überdies ein abstrakter Wert vor, der gesellschaftlich
überaus positiv eingestuft, zumindest kaum irgendwo kritisiert wird und durch
soziale Normen sogar eine Absicherung und Kontinuierung erfährt.6 „Nicht-
mehrdasein“ (Heidegger 1993, S. 238) ist in diesem Fall verstecktes Vorhandensein,
allemal das des toten Körpers, folglich kommt es auch noch zu Adressierungen und
Bezugnahmen. Wie die parasozialen Beziehungsbande zwischen Lebenden und
Toten verlaufen, ist nicht verbindlich geregelt, in der Essenz aber doch weit mehr
als eine bloße Angelegenheit subjektiver Sinnsetzungsinteressen.
In diesem Zusammenhang spielt Körperwissen eine wichtige Rolle. Es gehört in
Zeiten des „wilden Todes“, wie Philippe Ariès formuliert (2002, S. 42), zu den weit
verbreiteten Normalitätsvorstellungen, dass die Alten sterben und die Jungen leben.
Solche Bilder lassen sich auf vielschichtige Weise mit Ausprägungen der Bio-Macht
verknüpfen – als Stichwort soll hier aber genügen, dass Diskurse der ‚Lebensge-
währung‘ gegenüber Ungeborenen heute ebenso kontrovers besprochen werden wie
Diskurse der ‚Sterbensgewährung‘ für Totkranke oder Lebenssatte. „Wild“ ist der
Tod deshalb, weil in westlichen Gegenwartsgesellschaften die Voraussicht dominiert,
dass der Tod erst am Ende eines langen und im besten Fall erfüllten Lebens seinen
Auftritt hat. Schlägt er früher zu, negiert er vermeintlich ‚legitime‘ Lebensansprüche
und wirkt unbarmherzig, ungerecht, ja zügellos. Das Sterbeschicksal wäre demnach
ein Ordnungsverstoß, der auf der Zeitachse des Lebens mit zunehmendem Alter
weniger störend wirkt. Von Minima Temporalia ist, in einer Abwendung von der
pastoralen Formel des immerzu ‚rechtzeitigen‘ Todes, offenbar umso mehr die Rede,
je unerfüllter subjektive Lebensgestaltungschancen ausgeschöpft worden sind. Wie
Hartmut Rosa schreibt, kann die „Erhöhung des Lebenstempos zur modernen
Antwort auf den Tod“ stilisiert werden, denn wer „doppelt so schnell lebt, kann
doppelt so viele Weltmöglichkeiten realisieren“. Dennoch: „,alt und lebensgesättigt‘
6 Eine nähere Analyse, die an dieser Stelle nicht geboten werden kann, würde ohne
größeren Aufwand zeigen können, dass dabei alle drei klassischen Dimensionen der
Dahrendorf’schen Rollenerwartung – Kann-, Muss- und Soll-Erwartungen – involviert
sind (vgl. Dahrendorf 2006, S. 40ff.). Im Sepulkralkontext ist die ‚Figuration‘ dieser
Erwartungen in Gestalt von Erwartungen an einen selbst als Akteursmotiv besonders
deutlich zu erkennen (vgl. Benkel/Meitzler 2015, S. 245). – Am Rande sei angemerkt,
dass das durch Todesnähe-Erfahrung angestoßene Erwartungsbündel auch auf die
Positionierung der, wiewohl passiven, verstorbenen Akteure bezogen werden kann. So
schreibt schon Ralph Linton: „When a man dies, he does not leave society, he merely
surrenders one set of rights and duties and assumes another.“ (1936, S. 121) Im Lichte
neuerer soziologischer Ansätze (wie etwa der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno
Latour) lässt sich diese Überlegung auf die Akteursposition der Leiche beziehen (siehe
dazu Benkel 2013, S. 40ff.).
286 Thorsten Benkel
7 Eine solche ‚Vorsehungslegitimation‘ wird in Parolen wie ‚Live fast, die young‘ oder ‚Die
Besten sterben jung‘ evident. Esoterische Sinnzusammenhänge wie der ‚Club 27‘ (Abb.
2) gehören dazu: Demnach sind die grandiosesten Virtuosen des Popmusikgeschäftes
dazu verdammt, im Alter von 27 Jahren überaus vorzeitig zu sterben (wie zu sehen bei
Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Amy Winehouse, Jim Morrison, Janis Joplin u. a.). Zwischen
Verschwörungstheorie, posthumer Heilserwartung und der Konzession an einen tur-
Strukturen der Sterbenswelt 287
Abb. 2 Für den Verstorbenen wird die Mitgliedschaft im „Club 27“ reklamiert
– ein wohl nicht ganz ernst gemeinter, sondern eher ‚ikonologischer‘
Sinnzusammenhang ersetzt hier klassische religiöse Symbole.
Quelle: © Thorsten Benkel
Es ist der Tod der anderen, über den Urteile gefällt werden. Anders formuliert:
„Wir erfahren keinen Tod, wohl aber erfahren wir die Toten.“ (Macho 1987, S. 195)
In Gesprächen im Rahmen des erwähnten Forschungsprojektes geben nicht wenige
Menschen an, dass sie das – paradox klingende – ‚Erlebnis‘ des eigenen Todes dem
Zeugnis des Todes etwa ihrer Partner oder Kinder vorziehen. Nicht mehr zu leben
antizipieren sie als weniger drastische Erfahrung, als bezüglich ihrer geliebten Mit-
menschen in die Situation der Todesnähe zu geraten. Was sich wie Sterbe-Egoismus
anhört, ist tatsächlich wohl vor allem eine im Zustand der Todesferne gegebene,
soziale Ansprüche erfüllende Prognose. Weder wird aus dieser Sicht heraus der
Suizid als naheliegende Erfüllung des Anliegens akzeptiert, noch wird eingesehen,
dass die befürchtete Familienkonstellation de facto tagtäglich eintrifft – und tag-
täglich verwunden wird. Hinzu kommt die weit verbreitete Vorstellung, dass der
Tod des Körpers eine eindeutige Trennung der, nun vergangenen, Welt des Lebens
von der – je nach ideologischer Position – Jenseitswelt oder eben vom infiniten
8 Gerade dies, das endlose Ende, hat übrigens Arthur Schopenhauer (1988, S. 537) als Kern
der Furcht vor dem Sterben identifiziert – und mit dem Argument zurück gewiesen,
dass das Nicht-mehr-Leben der Toten aus ontologischer Sicht nichts anderes darstellt als
das Noch-nicht-Leben der Noch-nicht-Gezeugten. Während das eine rätselhafterweise
befürchtet wird, stellt das andere für so gut wie niemanden ein Problem dar.
9 Es kennzeichnet eine entscheidende soziale Facette im Umgang mit Sterben und Tod,
dass eben nicht jeder Tod vom „gesellschaftlichen Jedermann“ (Berger/Luckmann 1992,
S. 16) problematisiert oder gar betrauert wird – wie auch nicht jedes Leid bedauert wird
Strukturen der Sterbenswelt 289
Tod seinen Ruf als unumstößliche Gewissheit jeweils in starker Abhängigkeit von
soziokulturellen Rahmungen gewinnt. Zieht man wissenschaftliche Demystifikati-
onsarbeiten und insbesondere thanatosoziologische Forschungsergebnisse zu Rate,
tritt der Tod plötzlich als etwas in Erscheinung, das zwischen sozialer Erwartung,
Rollenkonformität und sozialer Konstruiertheit, aber auch zwischen normativer
Definierung, naturwissenschaftlich-medizinischer Messung, weltanschaulicher
Überzeugung, privatkonfessioneller Hoffnung, ordnungspolitischer Steuerung und
erkenntnistranszendierender Undurchsichtigkeit oszilliert. Ob und wie man stirbt,
ist zu einem kontextabhängigen doing dying geworden, beeinflusst von der „macht-
volle[n] Praxis des ‚Sterben Machens‘„ (Schneider 2014, S. 133) durch Praktiken und
Expertisen, und ebenso angestoßen von kursierenden Sinnangeboten außerhalb
institutioneller Wissensagenturen. Beflügelt von der um sich greifenden Einsicht,
dass transzendente Sinnsetzungen autonom adaptiert werden können, läuft die
Pluralisierungsmaschinerie immer weiter und differenziert das Image des Todes
stetig aus. Existenzbastelei beinhaltet längst Elemente für den Zustand nach der
Existenz. Je uneindeutiger der Rang des Todes in der Gesellschaft ist, desto pluraler
und umstrittener ist das (Körper-)Wissen über das Sterben, und desto vielschichtiger
fallen in der Folge (Körper-)Hoffnungen aus, die das Überwinden oder wenigstens
Hinauszögern des (eigenen wie fremden) Sterbens ausbuchstabieren. (Auch Aus-
einandersetzungen mit der Frage, wie gutes Sterben gelingen kann, und warum
darunter nicht ‚sanfte‘ Suizidalisierung fallen sollte – oder doch? –, gehören dazu.)
Ob nun mit oder ohne ausdrückliche Körperreferenz, mit oder ohne Kremation, ob
mit oder ohne Auferstehung, mit oder ohne metaphysischem Potenzial, mit oder
ohne Bildersprache, mit oder ohne alltagssemantisch greifbarer Beschreibung: Was
am Ende des Lebens geschieht, übersteigt die Sphäre des bloßen Registrierens bei
weitem und entzieht sich längst allgemeinverbindlichen Etikettierungen.
Wenn jemand stirbt, vollzieht sich nicht lediglich das Schauspiels eines Körpers,
der gegenüber einer medizinischen Befragung Zeugnis ablegt. Die Uneindeutigkeit,
die bei der Klärung der Frage: tot oder nicht? irritiert, ist mittlerweile gut doku-
mentiert (vgl. Schneider 2000; Lindemann 2002; Nassehi/Brüggen/Saake 2002;
Geimer 2014). Deutlich macht dies auch die hier und da vernehmbare Kritik am
Hirntod als Generalkriterium der Todesfeststellung (vgl. Birnbacher 2012). Als
unbestechlicher Indikator des Lebensendes bietet er sich, insbesondere im Lichte
medizinischer Grenzfälle, nicht ohne weiteres an – doch als durch Messverfahren
Strukturen der Sterbenswelt 291
10 Übrigens handelt es sich um eine Aussicht, die von Experten mit Blick für Details
diskutiert wird. Ein neuerer Ansatz erklärt die irdische Körperzerstörung qua Krema-
tion der Leiche zum eschatologischen Nebenschauplatz, weil die Wiederauferstehung
ohne Rückverweis auf das physische Vorleben ablaufen werde – sonst würden ja die
im hohen Alter Verstorbenen als Greise und die als Säugling Verstorbenen als Baby
das ewige Leben antreten. Der Kompromiss sei das 33. Lebensjahr als pauschales Alter
der Wiederauferstehung – in Anlehnung an die Pionierleistung des in diesem Alter
verstorbenen und wiederauferstandenen Jesus von Nazareth (vgl. Schärtl 2010, S. 63).
292 Thorsten Benkel
definiert, dass – und wodurch – der Sterbeprozess konkret begonnen hat? Gibt es
situationsübergreifend ‚adäquate‘ Rhetoriken zur Überbringung der schlechten
Nachricht? Ist die Organspende eine Instrumentalisierung des toten Körpers?
Verwirklicht das Sterben das „Sein zum Tode“, oder ist der exitus letalis im Hospital
eine Niederlage der medizinischen Vernunft? Eigene Einsichten in Krankenhäuser
und Hospize bestätigen, dass neben das (wiederum: Körper-)Wissen darüber, dass
und wie Tode eintreten, die wenigstens sporadische Notwendigkeit zum Improvi-
sieren bzw. zum Abklären aufkommender Fragen erforderlich ist. Wiederum reicht
das Wissen über die körperliche Facette des Lebensendes nicht aus, um die soziale
Bandbreite zu erfassen, die im Raum steht, wenn jemand stirbt.
Besonders bemerkenswert ist das Hospiz, da es als eine Domäne rational ein-
gestandener Todesnähe auftritt. Wer hier lebt, wird woanders nicht mehr leben –
und die Patienten sind sich der Sackgasse bewusst, in der sie, oft hochbetagt, ihre
letzten Lebenschancen aufbrauchen. Nirgends wird deutlicher als hier, dass es zum
Wissen über den Körper dazugehört, dieses Wissen auch ignorieren zu können.
Insbesondere extreme Umstände – seien sie nun subjektiver oder gesellschaftlicher
Natur – führen zu Situationen, in denen mehr oder minder verlässliches Wissen
unbewusst oder absichtsvoll aus dem Fokus gerät. Solches wird in der Soziologie für
gewöhnlich als Produktivkraft des Nichtwissens verhandelt. In Hospizen kommt es
vor, dass Patienten an einem Tag mit bewundernswerter Nüchternheit das eigene
Lebensende anvisieren, ja sogar ‚ihren Frieden‘ mit der Todesgewissheit gemacht
zu haben scheinen, wie alltagssprachlich gerne formuliert wird. Einen Tag später
kann alles wieder anders sein – und mit einem Mal bestimmen Lebensverlustängste
das Setting. Ist die eine Einstellung ‚richtiger‘ als die andere? Während der Tod der
Mitmenschen von einem Kanon sozialer Normen begleitet ist, bietet sich kaum eine
Strategie als ‚angemessener‘ Umgang mit dem eigenen Sterben an.
Festzustehen scheint, wie gesagt, dass die Sterbenden zumeist aus der Gruppe
der Alten rekrutiert werden. Selbst wenn nicht bekannt wäre, dass jährlich alleine
in Deutschland über 800.000 Menschen sterben (d. h., 1.5 Tote pro Minute – bei
einer jährlichen ‚Austauschquote‘ der Gesamtbevölkerung von über 1%), und selbst
wenn nicht klar wäre, dass die Alten nicht nur aufgrund gesundheitlicher Defizite
sterben, sondern auch eine der größten Gruppen unter den Selbstmördern darstellen
(siehe für Deutschland Schmidtke et al. 2004, S. 148), würde schon das körperliche
Erleben/Erleiden deutlicher Alterung sie als Todesnähekandidaten ausweisen. Dies
befindet mit Theodor W. Adorno jener Sozialphilosoph, der vielleicht am deut-
lichsten den Tod als Inbegriff anti-humanistischer Utopiezerstörung apostrophiert
hat: „Was der Tod gesellschaftlich Gerichteten antut, ist biologisch zu antezipieren
an geliebten Menschen hohen Alters; ihr Körper nicht nur sondern ihr Ich, alles,
Strukturen der Sterbenswelt 293
Abb. 3 Todesnähe und Todesferne in einem Bild: An die fast 70jährige Verstorbene
wird mit einem „unzeitgemäßen“ Foto gedacht, das nicht den letzten Stand des
Körpers, sondern eine junge Frau zeigt.
Quelle: © Thorsten Benkel
wodurch sie als Menschen sich bestimmten, zerbröckelt ohne Krankheit und gewalt-
tätigen Eingriff.“ (1970, S. 362) Diejenigen, deren Körper nicht mehr bloß alternd,
sondern alt ist, sind diejenigen, die Todesnähe so sehr erahnen können, dass sie
sie bisweilen zu spüren vermeinen. ‚Tödlicher‘ wird das Leben im Alter zwar nicht,
denn körperliches Leben impliziert in jedem Augenblick die Chance des Sterbens.
Die Gesellschaft bereitet gleichwohl darauf vor, dass die Sterbewahrscheinlichkeit
dann steigt, wenn die entscheidenden sozialen Positionen an andere weiter gegeben
sind. Der Topos vom Tod als Verlust wird von vorgelagerten Verlusterfahrungen
gewissermaßen eingeleitet: Zentrale Aufgaben auf dem Arbeitsmarkt, aber auch in
der familiären Kommunikation übernehmen Nachgeborene, Routinen müssen, nach
der jahrzehntelangen Möglichkeit, sich an Außenimpulsen zu orientieren, autonom
erarbeitet werden, Multimorbidität raubt Lebensenergien, die soziale Sichtbarkeit
sinkt sukzessive, und die angeprangerte Negativverwandlung des Ichs in ‚weniger
Ich‘ nimmt ihren Vollzug. In Wahrheit hören die Inanspruchnahmen des sozialen
294 Thorsten Benkel
symbolisch das Wissen um den Tod (vgl. Abb. 4). (Es überrascht nicht, dass diese
Momente des sichtbaren Abschieds häufig fotografiert werden – das Ablichten
des toten Körpers ist paradoxerweise die letzte Chance, einen lebendig wirkenden
Leib im Bild festzuhalten.) Zum anderen schlüsselt der Verweis auf das Schlafen
eine Assoziation zum Weiterleben nach dem Sterben auf, sodass der Tod nicht wie
das Ende, sondern wie ein zeitweiliger Stillstand wirkt, wie eine aufhebbare Zäsur
des „Und-so-weiter“ des Lebens (Schütz/Luckmann 2003, S. 627f.). Der Körper,
der den Zuständigkeitsbereich der Medizin als ‚tot definiert‘ (oder: ‚interpretiert‘)
verlässt, wird nicht mehr altern, nicht mehr krank sein, aber er wird eventuell noch
einmal lebendig sein – im Zugriff einer Präparationsarbeit, deren Details wenig
bekannt (und wenig appetitlich) sind. Die Tradition der Aufbahrung wird, wie auch
Rituale der Aussegnung und dergleichen, nicht in allen Regionen gleichermaßen
gepflegt. Wo es sie aber gibt, stellt sich die Beziehung zwischen Körperzustand
und Körperwissen allemal als Spannungsverhältnis heraus: Das Wissen über den
Tod dieses Körpers ist hier ein Wissenmüssen (vgl. Benkel/Meitzler 2015, S. 235),
insoweit die Hinterbliebenen eine Zeremonie durchführen, die dem materiellen
Körpertransformationsprozess der Leiche keinen Platz und keine Sichtbarkeit ein-
räumt und die Grundbedingung von Lebendigkeit, nämlich Veränderung, leugnet.
Der Zustand ‚tot‘ kann gewusst, aber nicht erfahren werden – alle zeremoniellen
Bestandteile sind so eingerichtet, als wäre die auf Anschein beruhende Deutung,
der Tod sei nicht, plausibler. So kann der aufgebahrte Körper ein letztes Mal als
Person verstanden und adressiert werden, und so darf der Tod auf das reduziert
werden, was erst noch folgt, wenn der Körpers keine Sichtbarkeit mehr hat.12 Der
Tod selbst wird dadurch unsichtbar.
Progressive Bestatter geben in Interviews oft zu Protokoll, den toten Körper nicht
mehr dem Zwiespalt von Wissen und Anschein aussetzen zu wollen. Während die
Branche (inklusive der Transzendentalexperten aus dem religiösen Sektor) generell
immer ausgefeiltere Taktiken entwickelt, die schwierigen Begleitumstände des
Lebensendes (wie Schmerz, Unfälle, Krankheit) zur Schonung der Angehörigen
außen vor zu lassen, wählen diese Bestatter die Variante, den toten Körper sichtbar
tot sein zu lassen. Die einfallenden Gesichtshöhlen werden nicht mehr aufgefüllt,
die Leichenflecken nicht mehr geschminkt, sodass klar wird: der Abschied ist
weil der Effekt unsichtbar ist, muss seine Herrichtung anhand von Videoaufnahmen
künstlich ersichtlich gemacht werden, um überhaupt glaubhaft zu sein.
12 Hinsichtlich der Sichtbarkeit des für gewöhnlich unsichtbar gemachten Todes bzw. toten
Körpers siehe zum einen die hervorragende Textsammlung von Macho/Marek (2007) und
zum anderen eigene Auseinandersetzungen mit der Renaissance des lebenden Körpers
im Angesicht des Todes anhand von Fotografien und weiteren Darstellungsverfahren
(Benkel/Meitzler 2013; dies. 2014).
296 Thorsten Benkel
nun kein endgültiger, sondern bereits vollzogen worden. Zu sehen ist nicht ein
Mensch, sondern das Gewesensein des Menschen. Dabei wird in den Vordergrund
gerückt, was hintergründig immer schon gewusst werden konnte: Dass nämlich die
Geschehnisse, die post mortem in sozialer Rahmung erfolgen, verdeutlichen, dass
selbst nach dem Altern und nach dem Leben noch eine, wenn auch nischenhaft
kleine und begrenzte, gemeinsame soziale Bühne zwischen den Lebenden und den
Toten besteht – und beide Seiten bringen dabei ihre Körper ein.
Abb. 4 Das Event der Aufbahrung – familiäre und fotografische Inszenierung zugleich.
Quelle: © Thorsten Benkel
Wie wenig das Ende gleichwohl ein Ende sein muss, wenn es um die soziale
Beziehung der Lebenden zu den Toten geht, sollen abschließend die zwei Körper
der Toten zeigen (vgl. Benkel 2013). In Anlehnung an Ernst Kantorowiczs (1994)
Beschäftigung mit der politischen Theologie des Mittelalters soll darunter die Auf-
spaltung in zwei Körperbilder im Moment des Todes verstanden werden – wobei
das hier zugrunde gelegte Todesverständnis solche Konzepte wie den (schon bei
Auguste Comte erwähnten) sozialen Tod, also die Isolation von intersubjektiven
Verbindungen jenseits instrumenteller Kontexte schon zu Lebzeiten, gegebenen-
falls mit einbeziehen könnte. Eine Leiche wird beerdigt, weil sie als ‚Überrest‘
Strukturen der Sterbenswelt 297
gelten kann. Sie ist nicht genügend weit weg vom Menschen, um einzig als Sache
betrachtet zu werden, aber auch nicht mehr nah genug, um noch physische Präsenz
zu erhalten. Sie findet ihre Stätte unter der Erde und löst sich, ohne dass dies von
irgendwem bezeugt wird, dank biochemischer Vorgänge allmählich auf (sofern
sie nicht ohnehin kremiert wurde). Diesem ersten Körper steht der zweite Körper
gegenüber. Dabei handelt es sich um den lebendigen Leib, der in der Erinnerung
der Hinterbliebenen visualisiert und erfahren wird. Sein aktives Handeln, seine
Bewegungen, die Berührungen, Geruch und Stimmfarbe, körpersprachliche Eigen-
heiten usw. sind ein Gegenentwurf. Kognitiv konstituiert oder auch durch Bilder,
Texte und andere Referenzen gegenwärtig gemacht, stellen die Erscheinungsformen
des zweiten Körpers eine mehr als nur physiologische Präsenz provisorisch wieder
her. Im Rückblick auf die Lebenswelten der Toten erscheinen diese nämlich nicht
als Tote, sondern als lebendige Akteure. Der zweite Körper ist somit mehr als nur
Körper: Er bündelt die (ohnehin hochgradig unzuverlässige, weil subjektiv-pro-
zesshafte) Erinnerung an eine Person (genauer: an intersubjektive Erfahrungen)
an ihre leibhaftige Gegenwart. Der zweite Körper ist, als Image der Lebendigkeit,
die Stellvertretung der Person selbst. Der Einsatz beispielsweise von Fotografien,
Zeichnungen, Gravuren, sogar Statuen der Verstorbenen an Grabsteinen (oder
als Grabsteine) illustriert schließlich nicht nur, dass hier ein Körper unsichtbar
gemacht wurde, der sichtbar just so ausgesehen hat, wie er nun angesehen werden
kann. Weil Körper gewissermaßen als soziale Adresse eines Menschen fungieren,
konterkariert das Abbild des zweiten Körpers die Unsichtbarkeit des ersten –
wodurch die vergangene Gegenwärtigkeit der verstorbenen Person sinnbildlich
evoziert wird.13 Empirisch lässt sich gut nachweisen, dass solche „Akt[e] der Bele-
bung“ (Assmann 1999, S. 33) sich in die zentraleuropäische Sepulkralkultur immer
nachhaltiger einschreiben. Die Zahl der bildhaften Verweise an Grabstätten, und
übrigens auch in Todesanzeigen, Online-Trauerportalen usf. nimmt ungebrochen
zu. Dies dürfte – im Zeichen des visual bzw. pictorial turn – zum einen mit der
sozialen Relevanz von Bildern insgesamt zusammen hängen. Zum anderen bietet
sich die ‚fabrizierte‘ Körperpräsenz qua Darstellungsverfahren offenbar immer
stärker als Mechanismus an, um Erinnerung, Gedenken, das Grab und auch die
13 Spannend ist vor diesem Hintergrund die soziale Funktion der so genannten Post-Mor-
tem-Fotografie, die hier nur erwähnt werden kann. Die Stationen dieser kulturhistori-
schen Entwicklungsgeschichte reichen von der Totenmaske und dem Steingemälde über
Ablichtungen von Aufbahrungen und Erinnerungsstücken für das Familienalbum bis
hin zu visuellen Abschiedsgrüßen in Trauerkarten und zu Bildern, die tote Menschen
wie tatsächlich lebendige Akteure inszenieren. Letzteres war vor rund einhundert Jahren
ein gebräuchliches Verfahren, damit Verwandte wenigstens ein Abbild einer geliebten
Person erlangen konnten. (Näheres bei Sykora 2009.)
298 Thorsten Benkel
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Frank Adloff, Dr. phil., Professor für Soziologie, insb. Dynamiken und Regulierung
von Wirtschaft und Gesellschaft an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwis-
senschaften der Universität Hamburg.
Thorsten Benkel, Dr. phil., Akademischer Rat für Soziologie an der Philosophi-
schen Fakultät der Universität Passau. Weitere Informationen unter: http://www.
phil.uni-passau.de/benkel
Thomas S. Eberle, Dr. oec., Professor emeritus für Soziologie an der School of
Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen. Weitere Informationen
unter: https://www.alexandria.unisg.ch/Personen/Thomas_Eberle
Henny Annette Grewe, Dr. med., Professorin für Medizinische Grundlagen der
Pflege am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda. Weitere In-
formationen unter: http://www.hs-fulda.de/fachbereiche/pflege-und-gesundheit/
ueber-uns/professuren
303
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2017
R. Keller und M. Meuser (Hrsg.), Alter(n) und vergängliche Körper,
Wissen, Kommunikation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-10420-7
304 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ronald Hitzler, Dr. rer. pol., Professor für Allgemeine Soziologie an der Fakultät
Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie der TU Dortmund. Weitere
Informationen unter: http://www.hitzler-soziologie.de
Monika Reichert, Dr. phil., Dipl. Psych., Professorin für Soziale Gerontologie mit
dem Schwerpunkt Lebenslaufforschung an der Fakultät Erziehungswissenschaft,
Psychologie und Soziologie der TU Dortmund. Weitere Informationen unter: https://
www.fk12.tu-dortmund.de/cms/ISO/de/home/personen/iso/Reichert_Monika.html
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 305
Wolfgang Reißmann, Dr. phil., Postdoc im DFG-SFB 1187 Medien der Kooperation,
Projekt Medienpraktiken und Urheberrecht. Weitere Informationen unter: http://
www.mediacoop.uni-siegen.de/member/reissmann-wolfgang-dr
Boris Traue, Dr. phil., Postdoc Research Associate am Digital Cultures Research
Lab der Universität Lüneburg. Weitere Informationen unter: http://www.leuphana.
de/universitaet/personen/boris-traue.html