Ökokritik Literatur
Ökokritik Literatur
Claudia Schmitt /
Christiane Solte-Gresser (Hgg.)
AISTHESIS VERLAG
Bielefeld 2017
Abbildung auf dem Umschlag:
Elvira Bartel, 2015.
ISBN 978-3-8498-1102-0
www.aisthesis.de
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ökokritische (Neu-)Ansätze
Hannes Bergthaller
On the Margins of Ecocriticism.
A European Perspective ................................................................................... 55
Elke Sturm-Trigonakis
Texturen von Umwelt und Globalisierung .................................................. 65
Gabriele Dürbeck
Agentielle Natur in Döblins Berge Meere und Giganten
aus Sicht des Material Ecocriticism ............................................................... 79
Urs Büttner
Naturbewältigung, ‚Natural Imaginaries‘
und die Möglichkeiten der Kunst.
Ein theoretischer Versuch zur Ökologie des Wissens ............................... 93
Claas Morgenroth
Ökologie und Praxis.
Kritik der (literaturwissenschaftlichen) Ökokritik ................................... 107
Walter Wagner
Die ökologische Insel.
Defoes Robinson Crusoe und Yourcenars Un homme obscur .................... 119
Hannah Steurer
„Berlin ist eine Sandwüste. Aber wo sonst findet man Oasen?“
Stadtdiskurs als Naturdiskurs in der deutschen und
französischen Berlinliteratur (1800 bis 1935) ............................................ 129
Monika Schmitz-Emans
Der Garten als Schwellenraum.
Literarische Reflexionen über Kultivierung und Kultur ........................... 143
Martin Sexl
Die Zone als heterotopischer Sehnsuchtsort .............................................. 157
Matthias Hurst
Diesseits und jenseits der Frontier.
Natur und Gesellschaft im amerikanischen Westernfilm ......................... 169
Christiane Dahms
Utopie als Ökokritik.
Natur- und Kulturräume in frühen literarischen Utopien ....................... 185
Susanne Scharnowski
English Countryside, German Heimat.
Sense of Place, Rural Traditions and Nostalgia
in a Comparatist Perspective .......................................................................... 199
Keyvan Sarkhosh
„The Land of Lost Content“.
Ökokritik im Zeichen von Utopie, Alterität und Nostalgie
in Nicolas Roegs Filmen Walkabout (1971)
und The Man Who Fell to Earth (1976) ....................................................... 213
Justine de Reyniès
Des harmonies de la nature dans la poésie descriptive.
Thomson, E. C. von Kleist, Saint-Lambert .................................................. 229
Sidonia Bauer
Das oikos im zeitgenössischen lyrisme critique.
Von Alberto Giacometti über André du Bouchet zu André Velter
und Jean-Pierre Siméon ................................................................................... 243
Linda Simonis
Kosmophanie und ‚modes d’existence‘.
Transformationen des Haiku bei Philippe Jaccottet
und Durs Grünbein .......................................................................................... 257
Ruth Neubauer-Petzoldt
Zwischen Idylle und Apokalypse.
Das neue Genre der Öko-Kriminalliteratur ................................................ 271
Anne-Rachel Hermetet
« [L]e crime se vend mieux que le réchauffement climatique ».
Thèmes, formes et enjeux des préoccupations environnementales
dans le roman policier et le thriller européens ............................................ 285
Alexandra Rassidakis
Zwischen Apokalypse und Paradies.
Konzepte ‚grüner‘ Religiosität in Margaret Atwoods
MaddAddam-Trilogie ...................................................................................... 295
Arlette Warken
Searching through Waste.
The Scavenger in (Post-)Apocalyptic Texts ................................................. 311
Anaïs Boulard
Polluer, regretter, déserter.
Approche comparative de la problématique de l’oikos
dans la littérature contemporaine .................................................................. 323
Fabian Lampart
Zur Ökonomisierung natürlicher Räume in Erzähltexten
des 19. Jahrhunderts .......................................................................................... 337
Jana Kittelmann
„Der Wald aber ist nicht ewig“.
Forstwissenschaftliche Themen in der Literatur des Realismus ............... 347
Solvejg Nitzke
Die Verausgabung der Natur.
Klima, Ökonomie und Zukunft
in Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten .............................................. 361
Eva Wiegmann
Ecocriticism im Kontext kapitalistischer und sozialistischer Systemkritik.
Meinrad Inglins Urwang und Valentin Rasputins Abschied von Matjora 377
Elke Mehnert
Vom Sieg der Ökonomie über die Ökologie –
(k)ein Thema in Literaturen sozialistischer Länder? ................................. 389
Dagmar Burkhart
Das Tier als das Andere des Menschen in der russischen Literatur ........ 403
Ulrike Kruse
Science Fiction aus der DDR in ökokritischer Perspektive.
Conviva Ludibundus (1978) von Johanna Braun und Günter Braun .... 417
Martina Kopf
Europamerikanische Landschaften.
Europäische Autoren und der lateinamerikanische Naturraum .............. 431
Christian A. Bachmann
Dunkles Afrika.
Oder der fremde Blick zwischen Persien, Europa und Afrika
in Kader Abdolahs Portretten en een oude droom ....................................... 443
Stephanie Heimgartner
Afropoliten als posthumane Nomadinnen
in Romanen von Marie NDiaye und Taiye Selasi ...................................... 457
Anne Cirella-Urrutia
La littérature de jeunesse comme nouveau champ littéraire pour une
lecture éco-critique.
Le cas des albums de Dominique Mwankumi ............................................. 469
10. Ökologie in inter- und multimedialen Inszenierungen
Beatrice Nickel
Transformationen der Naturlyrik bei Ian Hamilton Finlay und anderen 485
Jana Schuster
Unheimliche Objekte, Schönheit der Entropie.
Szenographien des Transhumanen in Adalbert Stifters
Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters und
Heiner Goebbels’ Installationsperformance Stifters Dinge ....................... 501
Sonja Klimek
Natur als Schöpfung denken.
Intermediale Rezeptionen des „Sonnengesangs“
von Franz von Assisi seit den 1970er Jahren ................................................ 513
Evi Zemanek
„Climate change is real.“ – „Kriegen wir die Kurve?“ – „Je n’y crois pas.“
Wissenspopularisierung und Appell im deutschen, englischen
und französischen Sachcomic zum Klimawandel ....................................... 547
Hans-Joachim Backe
Green Gaming.
Vorschläge für eine Ökokritik des Computerspiels .................................... 563
Sabine Nöllgen
Im „präsens der kelpwälder“.
Tempi und Modi der ökologischen Krise
in Kathrin Rögglas die alarmbereiten ...................................................... 577
1 Ein ausführlicher Überblick über die Entstehung und Entwicklung des Ecocriticism
im Allgemeinen und innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften im Besonde-
ren findet sich bereits in überzeugender Form in den jüngst erschienenen ersten beiden
deutschsprachigen Einführungsbänden: Benjamin Bühlers Ecocriticism. Grundlagen,
Theorien, Interpretationen. Stuttgart: Metzler, 2016 und der von Gabriele Dürbeck
und Urte Stobbe herausgegebene Sammelband Ecocriticism. Eine Einführung. Köln,
Weimar, Wien: Böhlau, 2015.
2 Überlegungen aus einer dezidiert komparatistischen Perspektive finden sich bisher
v. a. bei Ursula Heise: „Comparative Literature and the Environmental Humanities“
(4. März 2014), online aufrufbar unter https://stateofthediscipline.acla.org/entry/
comparative-literature-and-environmental-humanities und bei Alain Suberchicot:
Littérature et environnement. Pour une écocritique comparée. Paris: Champion, 2012,
der Texte aus Nordamerika, Frankreich und China vergleicht.
14 Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser
3 Vgl. u. a. Böhme, Gernot: „Welche Natur wollen wir? Aporien des Naturbegriffs“. In:
Busch, Bernd (Hg.): Jetzt ist die Landschaft ein Katalog voller Wörter. Beiträge zur
Sprache der Ökologie. Göttingen: Wallstein, 2007, S. 24-33.
4 Diesen Umstand hat Jens Soentgen sehr anschaulich in einer kurzen ökokritischen
Kulturgeschichte des Mineralwassers gezeigt: Mineralwasser, das als natürlich,
ursprünglich, unberührt, rein beworben wird, ist eigentlich ein natürlich-unnatürli-
ches Produkt: „In genau dieser natürlichen Künstlichkeit und künstlichen Natürlich-
keit ist der Sprudel beispielhaft für vieles, das uns als ‚Natur‘ angezeigt wird.“ Soent-
gen, Jens: „Der Geist im Brunnen“. In: Hahn, Daniela und Erika Fischer-Lichte (Hg.):
Ökologie und die Künste. Paderborn: Fink, 2015, S.199-219, hier: S. 217. Natur wird
hier somit für ökonomische Zwecke im Sinne eines Verkaufsarguments und als Kon-
sumgut instrumentalisiert.
5 Morton, Timothy: Realist Magic. Objects, Ontology, Causality. 2013. http://quod.lib.
umich.edu/o/ohp/13106496.0001.001/1:6.1/--realist-magic-objects-ontology-caus
ality?rgn=div2;view=fulltext (Zugriff: 27.12.16).
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 15
Widerspruch, dass sie es in besonderer Weise mit kulturellen, vor allem sprach-
lichen Mitteln ermöglicht, sich vorzustellen, wie eine nicht-anthropozentrische
Perspektive aussehen könnte, indem sie Annäherungen an nicht-menschliche
Welten inszeniert.
Der Begriff Ökologie wird hier im Wortsinn von oikos = Hausgemeinschaft
verwendet. Die Vorstellung einer Lebensgemeinschaft9 kann am besten von der
Erkenntnis zeugen, dass wir, notwendigerweise vom Menschen ausgehend, im
Rahmen der komparatistischen Ökokritik Wechselbeziehungen und konkrete
Interaktionen der uns umgebenden belebten und unbelebten Erscheinungen im
gemeinsamen Lebensraum betrachten und hier besonders die menschliche(n)
Rolle(n) innerhalb dieses Beziehungsgeflechts fokussieren.
Was können und sollen aber literarische Texte im Rahmen der Ökokritik leisten?
Literatur wird im Sinne eines weiten Gegenstandsbegriffes der Vergleichenden
Literaturwissenschaft natürlich nicht auf die von Goethe verwendete Einteilung
in Epik, Lyrik und Dramatik beschränkt, die, gerade was ästhetische Auseinan-
dersetzungen mit Ökologie betrifft, längst nicht mehr ausreicht, um die Vielfalt
der vorhandenen Artefakte zu klassifizieren. Andere mediale Erzeugnisse, die
sich narrativer Verfahren bedienen, fiktive Welten erschaffen oder Naturräume
sprachlich, visuell, akustisch bzw. durch (andere) performative Verfahren aus-
loten, sind in diesen weiten, zeitgemäßen Literaturbegriff mit eingeschlossen.
Literarische Texte setzen sich nicht nur mit historischem und gegenwärtigem
Wissen auseinander; sie generieren auch selbst eine spezifische Form von Wis-
sen. So schlägt sich in ihnen etwa nieder, was in sich verändernden historischen
und kulturellen Kontexten jeweils unter Natur verstanden wurde und wird.
Indem solche Konzepte fiktionalisiert, inszeniert und reflektiert werden und
damit Anlass zur kritischen Auseinandersetzung geben, erlangt Literatur ihre
gesellschaftliche Relevanz und ‚Wirksamkeit‘: Sie kann etablierte Denkmuster
in Zweifel ziehen oder utopische Neuentwürfe ins Spiel bringen.10 Fiktionale
Welten schaffen so mit ihren je eigenen ästhetischen Darstellungs- und Verfah-
rensweisen Möglichkeiten, anders und Anderes zu denken. Hubert Zapf hat die
9 Vgl. auch Ursula Heises „Blickwinkel, der den Menschen als Art unter anderen
Arten begreift“ und „ihn in seiner globalen Vernetztheit zu verstehen“ versucht.
Heise, Ursula: Nach der Natur. Das Artensterben und die moderne Kultur. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 2010, S. 13.
10 „Works of art can both serve as aesthetic models of human interaction with nature,
and imagine and represent utopian alternatives to contemporary patterns of beha-
viour.“ Goodbody, Axel: „German Ecocriticism. An Overview“. In: Garrard, Greg
(Hg.): Oxford Handbook of Ecocriticism. Oxford: Oxford University Press, 2014,
S. 547-559, hier: S. 553.
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 17
auf Produzenten und Rezipienten der Kunstwerke zu rechnen ist, wenn ökologi-
sche Themen zum Gegenstand künstlerischen Handels werden.14
(GB), Jost Hermand (USA) und Kate Rigby (Australien) gelten.18 Allerdings
stellt schon Goodbody fest: „Without conceiving of themselves as ecocritics,
German literary scholars have long explored the rich field of German lite-
rary, artistic and cultural representations of our relationship with the natural
environment.“19 Als bedeutsame Konzepte im Bereich „Literatur und Ökologie“
in Deutschland sieht Goodbody die Ansätze von Gernot und Hartmut Böhme20
und Hubert Zapf. In letzter Zeit lassen sich darüber hinaus vermehrt Bemühun-
gen ausmachen, Ökokritik für den Bereich der Literaturdidaktik fruchtbar zu
machen.21 Zu erwähnen ist an dieser Stelle auch Benjamin Bühlers 2016 erschie-
nener Einführungsband, der dafür wirbt, den Ecocriticism im Sinne „einer phi-
lologisch fundierten und für kulturwissenschaftliche Themen und Methoden
offenen (aber keineswegs beliebig arbeitenden) Germanistik“22 zu integrieren.
Verbandstagungen sind bezüglich einer voranschreitenden Integration eines
Forschungsgegenstandes bzw. eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes eben-
falls ein recht verlässlicher Gradmesser. So lässt sich feststellen, dass das Thema
Ökologie in der Germanistik während der letzten Jahre einen festen Platz gefun-
den hat.23
18 Beispielhaft sei jeweils eine frühe Publikation genannt: Goodbody, Axel: Naturspra-
che. Ein dichtungstheoretisches Konzept der Romantik und seine Wiederaufnahme in
der modernen Naturlyrik (Novalis – Eichendorff – Lehmann – Eich). Neumünster:
Wachholtz, 1984; Hermand, Jost: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des
ökologischen Bewusstseins. Frankfurt a. M.: Fischer, 1991; Rigby, Kate: Topographies
of the Sacred. The Poetics of Place in European Romanticism. Charlottesville, London:
University of Virginia Press, 2004.
19 Vgl. Goodbody, Axel: „German Ecocriticism. An Overview“, S. 549.
20 Mit Publikationen wie z. B.: Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989; Ders.: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter
ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. und Böhme,
Hartmut (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.
21 Vgl. z. B. die Forschungsstelle „Kulturökologie und Literaturdidaktik“ unter der Lei-
tung von Berbeli Wanning an der Universität Siegen und der von Wanning und Sieg-
linde Grimm herausgegebene Sammelband Kulturökologie und Literaturdidaktik.
Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht. Göttingen:
V&R unipress, 2016.
22 Bühler, Benjamin: Ecocriticism, S. 83.
23 Vgl. z. B. den 13. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik 2015,
Tongji Universität in Shanghai, Sektion „Ökologie und Umweltwandel in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ (organisiert von Gabriele Dürbeck, Katha-
rina Gerstenberger, Christine Kranz, Ralf Zschachlitz) oder auch den 25. Deutschen
Germanistentag 2016, Universität Bayreuth, Sektion „Thermografisches Erzählen:
Kälte- und Hitzeszenarien in Literatur und Film. Vorschläge zu einem ökokritischen
Paradigma in den Kulturwissenschaften“ (organisiert von Hans Richard Brittnacher,
Achim Küpper).
20 Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser
Im Rahmen der Romanistik lohnt ebenfalls ein Blick auf die Tätigkeiten der
internationalen Kolleginnen und Kollegen. Nicht nur, aber auch für die italie-
nische Literatur hat Serenella Iovino entscheidende Grundlagenforschung im
Bereich der Ökokritik geleistet.24 In Frankreich wurde, wie auch in Deutschland,
der Ecocriticism zuerst im Rahmen der Anglistik aufgegriffen.25 Inzwischen gibt
es vielfältigste Forschungsarbeiten zu verzeichnen; exemplarisch seien die Pub-
likationen der kanadischen Franco-Romanistin Stephanie Posthumus26 und das
Écolitt-Projekt27 der Université d’Angers erwähnt. In den französischsprachigen
Publikationen der letzten Jahre zeichnet sich eine merkliche Tendenz hin zu
komparatistischen Ansätzen ab.28 Auch in der deutschen Romanistik findet sich
im Rahmen von Sammelbänden, Einzelstudien und Sektionen auf Verbandsta-
gungen vermehrt die Behandlung ökokritischer Fragestellungen, z. B. auf the-
matischer Ebene die Untersuchung von Tier-, Katastrophen- und Klimanarrati-
ven oder die besondere Berücksichtigung des Naturraums Lateinamerika.29
Ein Großteil der nationalphilologischen Veranstaltungen und Publikationen
beschäftigt sich freilich weiterhin mit den genuinen Forschungsgegenständen
des eigenen Faches: Diese Arbeit ist ein wichtiger und grundlegender Schritt
hin zu einer umfassenden Erschließung des literarischen Feldes im Ganzen.
Angesichts der Sprachen, Nationalgrenzen und Kulturräume überschreitenden
Bedeutsamkeit ökokritischer Themen entfaltet aber gerade eine vergleichende
Perspektive, wie sie im Folgenden umrissen wird, ihr besonderes Potenzial.
24 Zuletzt: Iovino, Serenella: Ecocriticism and Italy. Ecology, Resistance, and Liberation.
London: Bloomsbury, 2016.
25 Vgl. z. B. Blanc, Nathalie, Denis Chartier und Thomas Pughe: „Littérature & écolo-
gie. Vers une écopoétique“. In: Écologie & politique, 36:2 (2008), S. 15-28.
26 U. a. Posthumus, Stephanie und Rachel Bouvet: „Eco- and Geo- Approaches in
French and Francophone Literary Studies“. In: Zapf, Hubert (Hg.): Handbook of
Ecocriticism and Cultural Ecology. Berlin: de Gruyter, 2016, S. 385-412.
27 Vgl. http://ecolitt.univ-angers.fr/fr/index.html
28 Hierzu gehört der schon genannte Band von Alain Suberchicot („écocritique com-
parée“) und Pierre Schoentjes: Ce qui a lieu. Essai écopoétique. Marseille: Wildpro-
ject, 2015.
29 Exemplarisch seien folgende Publikationen genannt: Klettke, Cornelia, und Georg
Maag (Hg.): Reflexe eines Umwelt- und Klimabewusstseins in fiktionalen Texten der
Romania. Eigentliches und uneigentliches Schreiben zu einem sich verdichtenden glo-
balen Problem. Berlin: Frank & Timme, 2010 und Baldauf, Elisabeth: Literatur
und Umwelt. Schreiben gegen die ökologische Krise in Mexiko. Münster: LIT, 2013.
Im Bereich der Verbandstagungen seien erwähnt der 20. Deutsche Hispanistentag
2015, Sektion zu „Umweltdiskurse in Lateinamerika. Historische und gegenwärtige
Perspektiven zwischen Lokalität und Globalität“ (organisiert von Elmar Schmidt,
Monika Wehrheim) und der 10. Frankoromanistentag 2016, Sektion zu „Mensch-
Tier-Beziehungen in den frankophonen Kulturen, Literaturen und Medien“ (orga-
nisiert von Christoph Vatter, Doris Eibl, Julia Pröll).
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 21
30 Tagungsthemen waren: „Ecocriticism in den USA und Europa: Status quo und Per-
spektiven“, „Ökologische Utopien und Dystopien in kulturkomparatistischer Pers-
pektive“, „Tod des Helden? Figurendarstellung in der Umwelt- und Klimawandel-
literatur“, „Ökologische Genres“, „MenschMaschineTier: Entwürfe posthumaner
Interaktionen“ und „Rhetorik der Nachhaltigkeit. Konzepte und Diskurse nach-
haltiger Zukunftsgestaltung in Medien, Politik und diversen Fachdisziplinen“. Die
dazugehörigen Publikationen sind teilweise bereits erschienen oder im Erscheinen
begriffen, z. B. „Helden, ambivalente Protagonisten, nicht-menschliche Agenzien.
Zur Figurendarstellung in umweltbezogener Literatur“ herausgegeben von Gabriele
Dürbeck und Urte Stobbe unter Mitarbeit von Jonas Nesselhauf in Komparatistik
online 2015 Heft 2, online abrufbar unter http://www.komparatistik-online.de/
jahrgaenge/2015/2015-heft-2 und „Mensch – Maschine – Materie – Tier. Ent-
würfe posthumaner Interaktionen“ herausgegeben von Christa Grewe-Volpp und
Evi Zemanek als PhiN Beiheft 10/2016.
31 Zur selben Zeit entstand auch das Jahrbuch Komparatistik 2013 mit dem von Han-
nes Bergthaller betreuten Schwerpunkt „Ecocriticism und Komparatistik“, das 2014
im Heidelberger Synchron-Verlag erschienen ist.
22 Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser
andernorts zu diesem Zeitpunkt noch kaum erfolgt. Die Beiträge leisten auch
eine grundlegende Erweiterung des Kanons und betrachten diese ökokritisch
ergiebigen Beispiele im Kontext zahlreicher anderer europäischer oder nord-
amerikanischer Texte. Literatur und Ökologie. Neue literatur- und kulturwissen-
schaftliche Perspektiven versteht sich als eine Fortschreibung einer europäischen
Dimension des Ecocriticism, wie sie bereits 2011 von Axel Goodbody und
Kate Rigby angeregt wurde,32 allerdings unter besonderer Berücksichtigung des
Aspektes des Vergleichs, nicht nur in innereuropäischer Dimension, sondern
auch im Sinne eines komparatistischen Weltliteraturkonzepts.
Dass eine komparatistische Perspektive immer noch eine Besonderheit inner-
halb des literaturwissenschaftlichen Ecocriticism darstellt, konstatiert auch
Ursula Heise: „Analyses that cross linguistic borders remain a small minority
to date, though this may change in the future. It obscures how much American
literature – in a comparatist context, more precisely: US-American literature –
remains dominant in the field, and how sophisticated and diverse this work itself
has grown.“33 Dreh- und Angelpunkt ihrer Thesen zur Zukunft der Komparatis-
tik sind angesichts des Ecocriticism drei Herausforderungen, denen sich das Fach
zu stellen hat: „the challenge of nonfiction, the challenge of the environmental
humanities as a transdisciplinary matrix, and the challenge of the Anthropocene
in its tension with posthumanism.“ Die folgenden Überlegungen zu der Frage,
wie die Komparatistik im Bereich ihrer genuinen Arbeitsfelder, Forschungsge-
genstände und Methoden die ökokritische Forschung vorantreiben kann, neh-
men die von Heise genannten Herausforderungen zum Ausgangspunkt.
Ursula Heise sieht das besondere Profil und die Stärke der Komparatistik darin,
dass traditionell im Fach ein Interesse an „linguistic, cultural, and other differen-
ces between humans“ bestehe. Durch die stets mitgedachte Vergleichsdimension
regt die Komparatistik in besonderer Weise dazu an, über Differenzen nachzu-
denken. Eine Hinwendung zur Ökokritik bedeute also letztlich nur eine Erwei-
terung des bereits vorhandenen Fokus’ um zusätzliche Differenzbeziehungen:
„on the relationships between humans, other species, and the inanimate world“.
Als beispielhafter Bereich, der eine solche Differenzbeziehung in den Vor-
dergrund rückt, kann der animal turn gelten, der – aus heutiger Perspektive
betrachtet – einer der am nachhaltigsten wirkenden Teilaspekte des Ecocriti-
cism werden könnte. Die damit verbundenen literary animal studies34 treten in
den letzten drei bis vier Jahren mit einer Vielzahl an Tagungen, bereits pub-
lizierten oder geplanten Bänden35 in Erscheinung. Auch die hier skizzierten
Überlegungen sind exemplarisch anhand dieses vielleicht spannendsten Themas
entwickelt, welches die Ökokritik derzeit zu bieten hat. Konkret wollen wir als
Denkanstoß für weiterführende komparatistische Forschungen durchspielen,
welche Fragestellungen sich für die traditionellen Arbeitsgebiete der Kompara-
tistik ergeben, wenn man diese mit den animal studies zusammendenkt.
In einer allgemeinen literaturwissenschaftlichen Perspektive beschäftigt sich
die Komparatistik mit theoretischen Konzepten von Literatur. Im Rahmen eines
ökokritischen Ansatzes sind hier Fragen denkbar wie: Welche Auswirkungen
hat Literatur auf unsere Vorstellungen von nicht-menschlichem Leben? Welche
Rolle spielen mimetische Konzepte bei der Darstellung von Tieren in literari-
schen Texten?36 Beim Rückgriff auf konkrete literaturtheoretische Methoden
finden sich im Bereich der Ökokritik in den letzten Jahren Arbeiten, die z. B.
34 Ein systematischer Aufriss der literary animal studies im Rahmen der Akteur-Netz-
werk-Theorie Bruno Latours und der Companion Species Donna Haraways findet
sich unter dem Titel „Tiere und Literatur“ im Beitrag von Roland Borgards in: Ders.
(Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler, 2016,
S. 225-244. Borgards unterscheidet hier drei sich teils überlappende Arbeitsfelder:
Literarische Darstellungen von Tieren als Akteuren, Tiere als Akteure im Produkti-
onsprozess von Literatur und Literatur als Akteur im Leben der Tiere.
35 Eine kleine Auswahl an Projekten sei hier genannt: an der Universität Würzburg
das Interfaculty Forum for Cultural Environmental and Animal Studies (IFCEAS),
z. B. die Tagung im November 2016 „Animal Encounters: Mensch-Tier-Kontakte
in Kunst, Literatur und Wissenschaft“ an der Universität Erlangen-Nürnberg oder
auch im März 2016 die Tagung „Animal Biographies – Recovering Animal Self-
hood through Interdisciplinary Narration?“ an der Universität Kassel; der Sonder-
band der Recherches Germaniques 10/2015 „Des Animaux et des Hommes/Von
Tieren und Menschen“ oder auch das Journal of Literary Theory 9/2015 zum Thema
„Cultural and Literary Animal Studies“ sowie der Sammelband Hayer, Björn und
Klarissa Schröder (Hg.): Didaktik des Animalen. Vorschläge für einen tierethisch
gestützten Literaturunterricht. Trier: WVT, 2016.
36 Z. B. Bergthaller, Hannes: „‚Trees Are What Everyone Needs‘. The Lorax, Anthro-
pocentrism, and the Problem of Mimesis“. In: Gersdorf, Catrin und Sylvia Mayer
(Hg.): Nature in Literary and Cultural Studies. Transatlantic Conversations on Eco-
criticism. Amsterdam: Rodopi, 2006, S. 155-175.
24 Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser
auf den Hund kommt. Zur Praxis der Motivforschung. Aachen: Shaker, 2007.
46 Vgl. z. B. Smith, Craig: „Across the Widest Gulf: Nonhuman Subjectivity in Vir-
ginia Woolf ’s Flush“. In: Twentieth Century Literature: A Scholarly and Critical
Journal, 48:3 (2002), S. 348-61. Wylie, Dan: „The Anthropomorphic Ethic: Fiction
and the Animal Mind in Virginia Woolf ’s Flush and Barbara Gowdy’s The White
Bone“. In: ISLE. Interdisciplinary Studies in Literature and Environment, 9:2 (2002),
S. 115-31.
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 27
Distanz zu halten. Das Potenzial der Kunst sei es, etwa durch utopische Imagi-
nationen unsere Natur-Kultur-Vorstellungen zu beeinflussen, also neue Natu-
ral Imagineries auszubilden. Solche imaginären Entwürfe hätten sich dann der
Herausforderung zu stellen, die faktischen Gegebenheiten der Natur anzuerken-
nen und diese entsprechend konsequent in die ästhetische Inszenierungspraxis
einzubeziehen.
In seinem Beitrag „Ökologie und Praxis. Eine Kritik der (literaturwissen-
schaftlichen) Ökokritik“ setzt sich Claas Morgenroth in anderer, eher
wissenschaftspolitischer Weise mit dem Ecocriticism auseinander. Er befragt die
Disziplin, die er in erster Linie durch die Ansätze von Glotfelty, Rueckert und
Wilke repräsentiert sieht, nach ihren inhärenten wissenschaftstheoretischen Prä-
missen und ihren wissenschaftspraktischen Konsequenzen – etwa mit Blick auf
den ökologischen Fußabdruck ihrer akademischen Vertreter. Auf der Grundlage
einer politischen Kritik der Literaturtheorie, die sich konsequent und selbstkri-
tisch die Frage nach dem Sinn der eigenen literaturwissenschaftlichen Tätigkeit
stellt, und im Anschluss an die von Foucault formulierten Diskursregeln, werden
die aktuellen ökokritischen Konzepte im Hinblick auf deren inhärente Wider-
sprüchlichkeit in den Blick genommen: Im Fokus stehen hier etwa die implizite
Fortschritts- und Innovationslogik, disziplinäre Ausschluss- und Verdrängungs-
mechanismen innerhalb des institutionalisierten Wissenschaftsbetriebs und das
auf akademischer Relevanz, Wertschöpfung und Produktivitätssteigerung grün-
dende Wachstumsstreben der Ökokritik als kulturwissenschaftliches Fach.
Insel kolonialisierenden Robinson verstehen lässt. Unter dem Aspekt des jeweils
inszenierten Natur-Kultur-Verhältnisses arbeitet Wagner die unterschiedlichen
Anpassungsleistungen der beiden Protagonisten an das neu bewohnte Ökosys-
tem heraus. Damit stehen sich zunächst eine äußere und eine innere Naturalisie-
rung der Figuren gegenüber. Darüber hinaus aber zeigt sich: Defoes Roman ist
von einem radikalen Natur-Kultur-Dualismus geprägt, der nicht nur Menschen
und Umwelt trennt, sondern auch den indigenen Inselbewohner umstandslos in
die objekthafte, zu unterwerfende Natur einreiht. Während das Handlungsprin-
zip des Defoe’schen Crusoe die kulturalisierende Gestaltung der Natur ist, lässt
Yourcenars Roman eine Allianz zwischen Natur und Kultur erkennen, indem
sich die Hauptfigur auf eine Stufe mit den anderen Lebewesen der Insel begibt.
Doch auch wenn hier die ontologische Differenz zwischen Protagonist und
äußerer Umgebung zugunsten einer Verbündung, ja gar einer Verbrüderung,
unterlaufen wird und damit eine entschieden umweltethische Grundhaltung
zum Ausdruck kommt, handelt Yourcenars Figur stets im deutlichen Bewusst-
sein, dem eigenen Anthropozentrismus nicht entkommen zu können.
Den gewissermaßen entgegengesetzten Blickwinkel nimmt Hannah Steu-
rer in ihrem Aufsatz über den „Stadtdiskurs als Naturdiskurs in der deutschen
und französischen Berlinliteratur“ ein. Nicht die Insel als Kulturraum, sondern
die Stadt als Naturraum wird hier untersucht. Anhand zahlreicher literarischer
Texte über Berlin, die aus deutscher oder französischer Feder stammen und
zwischen 1800 und 1930 entstanden sind, interpretiert die Verfasserin den in
Reise- und Stadtbeschreibungen zu Tage tretenden Naturdiskurs als Teil eines
allgemeinen Stadtdiskurses über Berlin. Anhand detaillierter Textanalysen kann
sie zeigen, wie sich im konkreten wie bildlichen Sprechen über die Natur ein
Wandel der Wahrnehmung Berlins abzeichnet. Die Natur dient hier im Bild
der Sand- oder Eiswüste als metaphorischer Ausdruck der zivilisatorischen und
geistigen Rückständigkeit. Sie kann aber auch als blühende Oase aufgefasst
und damit zur Metapher eines städtischen Zukunftspotenzials werden. Zudem
fungiert sie mitunter als fabelhafte Parallelwelt bzw. als Imaginationsraum für
subjektive Stadterfahrungen. In jedem Falle wird die Natur der (Stadt-)Kultur
nicht einfach gegenübergestellt; beide Bereiche sind vielmehr eng miteinan-
der verknüpft, wenn nicht gar ineinander verwoben. Denn die oftmals kühnen
Naturbilder, die zur Beschreibung der Metropole verwendet werden, eröffnen
nicht zuletzt auch ästhetische Möglichkeiten einer modernen Großstadtpoetik.
Im Beitrag „Der Garten als Schwellenraum. Literarische Reflexionen über
Kultivierung und Kultur“ zeigt Monika Schmitz-Emans, inwiefern ökologi-
sche Fragen, die sich mit Naturkonzepten, Kultivierungsprozessen und Funktio-
nen von Übergangsräumen zwischen beiden Bereichen beschäftigen, historisch
bis in die Antike zurückreichen. Anhand verschiedener Garten-Texte, vorran-
gig von Italo Calvino und W. G. Sebald, entwirft die Verfasserin eine Typologie
verschiedener Kultivierungs-Konzeptionen, die im Umgang mit Gärten und
der Tätigkeit des Gärtnerns zu Tage treten. Im Garten arbeitende Figuren bei
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 35
Calvino mögen sich zwar zwischen Humanisierung und Ausbeutung der Natur
bewegen – letztlich jedoch erscheinen sie vor allem als Beobachter, die versu-
chen, die Natur durch Sprache zu ordnen. Bei Sebald erweist sich die Natur
selbst als historisch, nämlich als Verfalls- und Zerstörungsgeschichte. Auch
wenn Gärten mitunter temporäre Zufluchtsorte bieten, so haben die Texte
Sebalds doch Anteil an einer Aufhebung der Opposition von Natur und Kultur,
indem sie letztlich vor allem Endlichkeit und Zerfall vor Augen führen. Beiden
Werken gemeinsam ist allerdings die Rolle des beobachtenden Schriftstellers,
der nach naturordnenden Modellen sucht und damit Garten-Texte im mehr
fachen Wortsinne erschafft.
In mancherlei Hinsicht erscheint die (radioaktiv verseuchte oder in anderer
Weise lebensfeindliche) Zone als paradoxes und phantasmatisches Gegenkon-
zept zum Garten, der vom Menschen sorgsam kultiviert wird. Solche Zonen
analysiert Martin Sexls Aufsatz „Die Zone als heterotopischer Sehnsuchts-
ort“ in der Auseinandersetzung mit literarischen, filmischen, philosophisch-
essayistischen und journalistischen Arbeiten. Am Beispiel der Todeszone des
Mount Everest und des radioaktiv verseuchten Sperrgebiets um Tschernobyl
vollzieht der Verfasser nach, wie die Zone gerade aufgrund ihrer lebensbedroh-
lichen ‚Natürlichkeit‘ zum besonderen Faszinosum wird: Ob Idyllisierung und
Schwärmerei auf der einen Seite, oder der Schrecken als Reaktion auf die ‚Rache‘,
die die Natur am Menschen für seine gewalttätige Zerstörungswut nimmt, auf
der anderen Seite; die Zone wird stets zum Bereich des Natürlichen erklärt. Die-
ser Prozess lässt sich mit Sexl als Barthes’sche Mythologisierung verstehen, bei
dem die kulturelle und gesellschaftliche Konstruktion die Funktion hat, das his-
torische ‚Gewordensein‘ der Naturzone zu kaschieren. Gerade als ambivalente
Sehnsuchtsprojektion und durch ihre offensichtlichen Prozeduren der Ein- und
Ausschließung wird die Zone in den Überlegungen Sexls zu einer klassischen
Heterotopie im Sinne Michel Foucaults.
Sind solche Zonen zumeist klar definierte und abgegrenzte Orte, so erweist
sich die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation im Western als sehr viel
uneindeutiger und variabler. In „Diesseits und jenseits der Frontier. Natur und
Gesellschaft im amerikanischen Westernfilm“ untersucht Matthias Hurst
das Genre des Westerns im Hinblick auf ökokritische Diskurse. Hierfür sind der
Verlauf, das Übertreten und die unterschiedlichen Bewertungen der an die Fron-
tier grenzenden Bereiche ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand.
Anhand zahlreicher Beispiele zeigt Hurst, dass die Grenzverläufe zwischen ‚zivi-
lisiertem‘ Osten und ‚wildem‘ Westen stets mit dualistischen Konstruktionen
hinsichtlich der jeweils ganz unterschiedlich konzipierten Kategorien von Kul-
tur und Natur einhergehen. Die Frontier selbst wird damit zu einer dialekti-
schen, ambivalenten und ausgesprochen flexibel einsetzbaren Projektionsfläche
für Auseinandersetzungen des Genres mit ökokritischen Fragen.
36 Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser
Dass geographische Räume stets imaginäre sind, wird besonders auch durch die
Wahrnehmungsstrukturen deutlich, mittels derer solche Räume individuell und
kollektiv erfahren werden. Dies zeigt sich im vierten Kapitel des Bandes. An
literarische und cineastische Natur-Konstruktionen, die als subjektive und/oder
politisch-ideologische Erfahrungsräume in Erscheinung treten, lassen sich etwa
Konzepte wie Heimat knüpfen – ein Erfahrungsmuster, das gerade im kultur-
spezifischen Vergleich sein besonderes Profil erhält (Scharnowski), Nostalgie als
idealisierte Naturerinnerung (Sarkhosh) und die Utopie, die politische Entwürfe
oftmals in vielsagende ökologische Bilder fasst (Dahms). Solche Imaginations-
Szenarien der Natur können sich also sowohl auf die (erinnerte) Vergangenheit
als auch auf eine erst noch zu realisierende Zukunft richten.
Der Beitrag von Christiane Dahms, „Utopie als Ökokritik: Natur- und
Kulturräume in frühen literarischen Utopien“, ist gattungstheoretisch fokus-
siert. Er untersucht das Genre der Utopie, bei dessen traditionellen Vertretern
wie Morus, Schnabel, Bacon oder Bellamy ökokritische Fragen ja ausdrücklich
nicht im Zentrum stehen, im Hinblick auf die dort reflektierten Naturkon-
zepte und ihre Bedeutung für das utopische Gattungskonzept. Ihre Analysen,
die Dahms mit Blick auf Callenbachs Ecotopia schärft, zeigen, wie Utopien das
jeweils entworfene Staatsmodell mittels naturhafter Topografien zur Anschau-
ung bringen können. Natur und Umwelt werden für das Genre – etwa durch
Ästhetisierung ökologischer Prozesse – poetologisch produktiv gemacht. So
lassen sich schließlich Naturräume als Kulturräume entwerfen und für ideologi-
sche Thesen funktionalisieren.
Susanne Scharnowski unternimmt in ihrem Aufsatz „English Country-
side, German Heimat: Sense of Place, Rural Traditions and Nostalgia in a Com-
paratist Perspective“ einen umfassenden Vergleich der deutschen und englischen
Literaturtraditionen, indem sie verschiedene Konzepte, Ausprägungsformen und
Beispiele ‚ländlicher‘ Literatur präsentiert. Zunächst stellt sie hierfür Subgattun-
gen wie Heimatliteratur, Dorfgeschichte oder Idylle im deutschsprachigen Raum
Genres aus der anglophonen Literatur gegenüber, etwa nature writing, regional
novels oder weitere Texte, die besonders rural traditions verhaftet sind. Darüber
hinaus aber setzt sich die Verfasserin mit der jeweiligen kritischen Einschätzung
solcher Texte und den grundsätzlichen Positionen durch verschiedene Strömun-
gen des Ecocriticism auseinander, die das Verhältnis von Globalität/Kosmo-
politismus und Lokalität bzw. Regionalität reflektieren. Hierbei wird deutlich,
wie sehr der Umgang mit Werken, die einen besonderen sense of place (Heise)
erkennen lassen, politisch-ideologisch gefärbt ist. Damit liefert der Beitrag letzt-
lich auch einen kritischen Impuls für aktuelle Entwicklungen der environmental
humanities, in denen sich ökologischer Modernismus und als ‚nostalgisch‘ qua-
lifizierte, fortschrittskritische Positionen oftmals unvereinbar gegenüberstehen.
Nostalgie und Utopie sind auch Schlüsselkonzepte zum Verständnis der
Filme von Nicolas Roeg. Sie stehen daher im Zentrum des Beitrags „The Land
of Lost Content – Ökokritik im Zeichen von Utopie, Alterität und Nostalgie
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 37
in Nicolas Roegs Filmen Walkabout (1971) und The Man Who Fell to Earth
(1976)“ von Keyvan Sarkhosh. Er analysiert in den ausgewählten Beispiel-
filmen einschlägige Naturszenen ganz besonders im Zusammenhang mit der
dazu eingespielten Musik und der Thematisierung von Fremdheitserfahrung als
komplexe Ausdrucksformen moderner Nostalgie. Die von den Protagonisten
wahrgenommenen Naturbilder versteht Sarkhosh als Erinnerungen einer ide-
alisierten und romantisierten Natur, die es so nie gegeben hat – und somit als
Projektionsflächen für eine unwiederbringliche Vergangenheit.
Den breitesten Raum an Werken, die sich mit ökologisch relevanten Problem-
stellungen beschäftigen, nehmen auf dem Feld des literaturwissenschaftlichen
Ecocriticism sicherlich narrative Texte ein. Neben Subgenres wie der Utopie
und der Dystopie, der Robinsonade, dem Reisebericht und den Romanen der
neuen Weltliteratur, die bereits in früheren Kapiteln dieses Bandes erörtert
werden, bilden besonders der Umweltkrimi, die Science Fiction und der Wis-
senschaftsroman ergiebige Gegenstände der ökokritischen Analyse. Dass sol-
che Romane fast immer einem Katastrophennarrativ folgen, lässt sich anhand
des sechsten Kapitels in diesem Band nachvollziehen. Sämtliche Beispielwerke
oszillieren zwischen apokalyptischem und postapokalyptischem Erzählen.
Dies tun sie, indem sie Umweltskandale, ökologische Katastrophen oder Akte
der Naturzerstörung in eine kriminalistische Handlung kleiden (Neubauer-
Petzoldt) bzw. in Thriller transformieren, in denen die Apokalypse zumeist
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 39
gerade noch verhindert werden kann (Hermetet). Sie tun dies darüber hinaus,
indem sie etwa den plot in einer postapokalyptischen Welt ansiedeln. Dies ist
beispielsweise in Margaret Atwoods dystopischer Trilogie der Fall (Rassidakis),
aber auch in zahlreichen weiteren Erzähltexten, in denen etwa Figuren wie
Lumpensammler und Plünderer zu entscheidenden Gestalten postapokalyp-
tischen Erzählens werden (Warken). Diese durchstreifen eine Welt aus Müll,
Schutt und Gift, welche im ganz konkreten und existenziellen Sinne unbe-
wohnbar geworden ist (Boulard).
Der Beitrag von Ruth Neubauer-Petzoldt mit dem Titel „Zwischen
Idylle und Apokalypse: Das neue Genre der Öko-Kriminalliteratur“ entwickelt
eine Typologie des Ökokrimis, den die Verfasserin als Subgattung des (Wissen-
schafts-)Krimis oder der Science Fiction begreift und zwischen den Topoi der
Idylle und der Apokalypse ansiedelt. Im Hinblick auf das dualistische Verhält-
nis des Menschen zur Natur erweisen sich unabhängig vom jeweiligen Entste-
hungsort und -zeitraum der Erzählung vor allem die gewählten Schauplätze und
die Figurenkonstellationen als entscheidende Kriterien dieser vergleichsweise
neuen Gattung. Zugleich zeigt sich, dass die meisten Genrekonventionen der
Kriminalliteratur nach wie vor auch für diese Textsorte gültig sind.
Zu einer vergleichbaren Feststellung gelangt auch der anschließende Beitrag;
allerdings auf der Grundlage eines ganz anderen Textkorpus. Anhand einer Viel-
zahl an Beispielen aus dem US-amerikanischen und europäischen Raum präsen-
tiert Anne-Rachel Hermetet in ihrem Aufsatz über „‚[L]e crime se vend
mieux que le réchauffement climatique‘ : thèmes, formes et enjeux des préoccu-
pations environnementales dans le roman policier et le thriller européens“ das
aktuelle Feld des Ökokrimis und des Ökothrillers. Wenn der Kriminalroman
als Indikator für die Probleme und Debatten einer Gesellschaft gelten kann,
so mag es kaum verwundern, dass seit der Jahrtausendwende dem Genre mit
Themen wie Öko- und Bioterror, Naturkatastrophen, menschlichen Umwelt-
verbrechen und ökologischen Apokalypse-Szenarien besondere Relevanz zuge-
sprochen wird. Damit findet innerhalb der Kriminalliteratur eine deutliche
Verschiebung vom Sozialen zum Ökologischen statt. Hermetet arbeitet nun das
schwierige Verhältnis dieser Texte zwischen Umweltwissenschaft auf der einen
und den Genre-Konventionen auf der anderen Seite heraus. Der oftmals didak-
tische Anspruch, wissenschaftlich komplexe Problemstellungen glaubwürdig zu
vermitteln, kollidiert mit den Forderungen nach Tempo, Spannung und einer
überschaubaren Intrige. Daher fällt ein großer Teil der untersuchten Texte in
vereinfachte dualistische Figurenkonstellationen, stereotype Charakterzeich-
nungen, die Inszenierung spektakulärer Schauplätze sowie klassisch vorherseh-
bare Handlungsstrukturen zurück. Gleichwohl existieren auch Autoren, die die
ökologische Tragweite ihres Gegenstandes mit der Suche nach neuen, erzähle-
risch und sprachlich anspruchsvollen Formen und Gestaltungsverfahren ver-
binden. Hierzu zählen etwa Jón Kalman Stefánsson, Peter Høeg oder Arnaldur
Indridason.
40 Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser
oikos – hin zur Idee, die Erde (real oder symbolisch) zu verlassen. Aus dem oikos
zu fliehen, sich also der Vorstellung hinzugeben, auch außerhalb der Erde exis-
tieren zu können, bedeutet allerdings nicht, die Verbindung mit der Welt gänz-
lich aufzugeben. Zumindest als Sehnsucht bleibt der Mensch bzw. bleiben die
literarischen Figuren immer noch an die Erde gebunden. Indem die Literatur
aber solche Prozesse als Möglichkeiten, Träume oder fiktionale Experimente vor
Augen führt, erweist sie sich als Öko-Logie im wörtlichen Sinne: Wissenschaft-
liche, philosophische und sozialpolitische Fragen der Umwelt werden damit
in Worte und fiktionale Geschichten transformiert und loten auf diese Weise
unterschiedliche Antwortmöglichkeiten auf die Frage aus, wo der Mensch nach
der Katastrophe eine Behausung finden könnte.
Kapitel sieben und acht beschäftigen sich mit einem weniger abstrakten und
zudem näherliegenden Problem, weil die Narration in einer bestimmten sozial-
politischen Situation verortetet ist. Es geht um die Frage, in welchem Verhältnis
ökologische Themen zu ihrem jeweiligen gesellschafts- und wirtschaftspoliti-
schen Kontext stehen. Die widersprüchlichen Beziehungen zwischen Ökolo-
gie und Ökonomie finden besonders im realistischen Erzählen eine markante
Ausprägung, etwa durch die Ökonomisierung natürlicher Räume (Lampart)
oder die Präsenz forstwissenschaftlicher und forstwirtschaftlicher Themen in
der Literatur (Kittelmann). Doch in der Gegenwartsliteratur lässt sich die Öko-
nomisierung als strukturbildendes Element des Erzählens ebenfalls nachweisen
(Nitzke). Darüber hinaus besteht gerade auch in Erzählungen und Romanen,
die in (ehemals) sozialistischen Ländern entstehen (Mehnert) und auffällig oft
den menschlichen Umgang mit Tieren ins Zentrum stellen (Burkhart), ein inte-
ressantes und zumeist ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zwischen ökologi-
schen Anliegen und ideologischem Kontext (Kruse). Und dies umso mehr, als
sich die sozialistische Politik oftmals in einem direkten Konkurrenzverhältnis zu
benachbarten kapitalistischen Systemen sieht (Wiegmann).
Fabian Lamparts Beitrag zur „Ökonomisierung natürlicher Räume in
Erzähltexten des 19. Jahrhunderts“ geht von Hubert Zapfs kulturökologischem
Ansatz aus. Dessen Verständnis von Literatur als kulturelle Ökologie macht der
Verfasser für die Analyse des Verhältnisses von Ökonomie und Literatur bzw.
von ökonomischem Wissen in literarischen Texten fruchtbar. Am Beispiel von
Stifters Zwei Schwestern und der Einleitung zu Kellers Die Leute von Seldwyla
führt Lampart vor, wie die in den Texten entworfenen Naturräume Teil eines
ökonomischen Funktionszusammenhangs werden. Ökonomisches Handeln
erscheint dabei entweder als Versuch einer kulturökologischen Beherrschung
der Natur, oder aber als zerstörerischer Missbrauch natürlicher Ressourcen.
Besonders letzterer wird, wie der Verfasser zeigt, in der Literatur einer kritischen
Reflexion unterzogen.
Wie sich der Wissenstransfer ökologischer Fragestellungen von den Berei-
chen der Forstwissenschaft und der Forstwirtschaft in die Literatur vollzieht,
42 Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser
In der direkten Konfrontation eines Romans aus der Schweiz und eines weite-
ren aus Russland wird der Zusammenhang von politischer (kapitalistischer wie
sozialistischer) Ideologie, Umweltzerstörung und Fortschrittslogik besonders
deutlich. Die Analyse von Eva Wiegmann, „Ecocriticism im Kontext kapita-
listischer und sozialistischer Systemkritik. Meinrad Inglins Urwang und Valen-
tin Rasputins Abschied von Matjora“, verschränkt Ökokritik und Systemtheorie.
Damit rücken auffällige Parallelen zwischen Meinrad Inglins Schweizer Roman
und Valentin Rasputins Abschied in den Blick, welcher der russischen Dorf-
prosa zugerechnet werden kann. Über zahlreiche thematische und motivische
Gemeinsamkeiten hinaus weist die Verfasserin nach, wie eng das in den beiden
Texten vertretene Naturkonzept, das für einen nachhaltigen und ausgewogenen
Umgang mit den heimischen Ressourcen plädiert, mit der jeweiligen gesell-
schaftspolitischen Systemkritik verknüpft ist. Wiegmann zeigt, dass ein solcher
Zusammenhang jeweils unabhängig davon besteht, ob sich diese ökologisch fun-
dierte Kritik auf die kapitalistische Fortschrittslogik des Westens bezieht, oder
aber auf einen Systemkommunismus, der mit technologischem Wettbewerb
gleichgesetzt wird.
Rasputins Roman bildet auch einen wichtigen Beispieltext in Elke Meh-
nerts Beitrag „Vom Sieg der Ökonomie über die Ökologie – (k)ein Thema in
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 43
zeigen die Romanlektüren, dass sich die Protagonistinnen – etwa in der Anpas-
sung an animalische oder pflanzliche Existenzformen – auf ihren fortgesetzten
Wanderungen immer wieder auch in einen Raum posthumaner Subjektivität
hineinbewegen.
Der ökologischen Dimension von Bilderbüchern aus dem afrikanischen
Raum widmet sich der Beitrag „La littérature de jeunesse comme nouveau
champ littéraire pour une lecture éco-critique: le cas des albums de Dominique
Mwankumi“ von Anne Cirella-Urrutia. Am Beispiel der Alben des kon-
golesischen Kinderbuchautors Dominique Mwankumi vollzieht sie die Ver-
schränkung von Naturdarstellung, (sozialem und geschlechtlichem) Status des
Kindes, Multikulturalität und Globalisierung nach; eine Verbindung, die sich
in seinem Werk geradezu als Schlüsselkonzept erweist. Der Natur können hier-
bei ganz unterschiedliche Funktionen zukommen. Während in natürlichen und
rural geprägten Habitaten, wie in den untersuchten Beispielen vor allem durch
die zentrale Rolle des Flusses deutlich wird, die Kinder in einer lebensfreund
lichen, geordneten Umwelt aufwachsen, erweist sich demgegenüber die Metro-
pole als Bereich der Wildnis, der Barbarei und der Verwahrlosung. Eine solche
Umkehrung des traditionellen Natur-Kultur-Verhältnisses geht auf der einen
Seite einher mit einer Infragestellung stereotyper Afrikabilder. Auf der anderen
Seite werden so auch genre-typische Darstellungsformen auf die Probe gestellt:
Anders als im ‚westlichen‘ Comic, steht der Held nicht mehr im Mittelpunkt,
sondern zum Protagonisten wird eine Natur, deren unterschiedliche Habitate,
deren Artenvielfalt und Bioregionalität, aber auch deren durch die Globalisie-
rung bedrohter Status zur Vermittlung eines spezifisch ökologischen Bewusst-
seins in Szene gesetzt werden.
Fernando Aguiars, Eugen Gomringers und anderen, die ihre Arbeiten direkt
innerhalb der Natur ansiedeln bzw. aus der Natur selbst generieren, zeigt sie,
wie die Differenz zwischen Natur und Kultur, zwischen Dichtung und natürli-
cher Materialität programmatisch aufgehoben wird. Auch wenn sich Intention
und Gestaltungsweise der einzelnen Werke sehr stark unterscheiden, so lässt sich
doch nicht übersehen, dass eine spezifisch ökologische Dimension sämtliche
Artefakte eint.
Eine außergewöhnliche Installationsperformance von Heiner Goebbels steht
im Zentrum der Studie von Jana Schuster mit dem Titel „Unheimliche
Objekte, Schönheit der Entropie. Szenographien des Posthumanen in Adal-
bert Stifters Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters und Heiner Goebbels’
Installationsperformance Stifters Dinge“. Insofern sich die Performance Stifters
Dinge direkt auf die ‚Eisgeschichte‘ des Biedermeier-Autors bezieht, stellt dieser
Aufsatz auch einen Beitrag zu Naturkonzepten des 19. Jahrhunderts dar, die im
siebten Kapitel präsentiert wurden. Die vielfältigen und komplexen Beziehun-
gen zwischen beiden Arbeiten werden vor allem im Hinblick auf die Wahrneh-
mungsformen von Natur und Materialität sichtbar. Schuster weist nach, dass die
multimediale Performance radikalisiert in Szene setzt, was in Stifters Schreiben
bereits konzeptuell angelegt ist: das Eigenleben materieller Phänomene, unbe-
lebte Dinge, die zu Agenten werden, sowie natürliche, vom Menschen weit-
gehend unabhängige Transformationsprozesse, welche die Umwelt gestalten.
Eine solche Inszenierung der Naturwahrnehmung, in der sich Organisches und
Anorganisches bis zur völligen Ununterscheidbarkeit verbinden, lässt den Rezi-
pienten jeweils teilhaben an einem posthumanen, (proto-)materiellen Raum:
Bei Goebbels entsteht dieser durch ‚chemisches und technologisches Theater‘;
bei Stifter hingegen durch die ästhetisch-phänomenologische Gestaltung des
Sprachmaterials.
Dem berühmten „Sonnengesang“ des Franz von Assisi widmet sich Sonja
Klimek in ihrer Studie „Natur als Schöpfung denken – Intermediale Rezep
tionen des „Sonnengesangs“ von Franz von Assisi seit den 1970er Jahren“. Ver-
schiedene mediale Adaptionen des mittelalterlichen italienischen Textes befragt
sie auf das darin akzentuierte Naturverständnis. Beispiele aus den Bereichen
Film, Musik, Dichtung und diversen (weiteren) Medienkombinationen zeigen,
dass der Cantico für unterschiedlichste ökologische, sozialpolitische und kul-
turelle Belange adaptiert wurde: Die neu entstandenen Werke spiegeln die seit
dem ausgehenden 20. Jahrhundert vorherrschenden Natur-Diskurse wider und
nutzen hierfür das jeweilige medienspezifische Potenzial.
Mit Umweltskandalen in Film und Fernsehserie setzen sich Jonas Nes-
selhauf und Markus Schleich in ihrem Aufsatz „Serielles Erzählen im
Anthropozän: Zerstörung der Ökologie und Ökonomien der Zerstörung in der
Fernsehserie Damages“ aus einer ökokritischen Perspektive auseinander. Diese
berücksichtigt zugleich die Besonderheiten seriellen Erzählens. Am Beispiel
von Damages arbeiten die Verfasser das subversive Potenzial dieser Fernsehserie
Zum Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus komparatistischer Perspektive 47
Das elfte und letzte Kapitel des Bandes nimmt diese von Schleich und Nessel-
hauf erörterte Rezeptions-Problematik nochmals auf. Es ist auf die grundsätz
liche Frage fokussiert, wie ökologische Probleme vermittelt werden können, ja
wie überhaupt eine Kommunikation über sie möglich ist. Im Zentrum steht
hier also die Funktionen des Lesers, Betrachters und Spielers, die ihm sowohl
innerhalb des Systems Kunst/Literatur als auch im Hinblick auf drängende
Umweltfragen zukommen. Wie lassen sich Rezipientinnen und Rezipienten
so erreichen, dass ihnen die Relevanz ökologischer Belange deutlich gemacht
werden kann? Und wie lassen sich komplexe ökologische Probleme so zur Dar-
stellung bringen, dass auch Nicht-Experten sie verstehen? Die Herausforderung
besteht zum einen darin, die wissenschaftlich komplizierten Sachverhalte nicht
allzu sehr zu simplifizieren. Zugleich aber darf der Anspruch an eine künstle-
risch-ästhetische Dimension der jeweiligen Werke nicht gänzlich in den Hinter-
grund geraten. Um diesem Dilemma zu entgehen, bieten die Beispiele aus den
Beiträgen des elften Kapitels ganz unterschiedliche Vorschläge. Gegenstände
sind etwa Comics über den Klimawandel (Zemanek), welche mitunter erkenn-
bar didaktisch ausgerichtet sind, das Computerspiel, das den Spieler ökologi-
sche Konfliktsituationen und damit verbundene moralisch-ethische Dilemmata
durch Immersion und Interaktion (nach-)erleben lässt (Backe), sowie die Insze-
nierung von gescheiterter Kommunikation – wiederum über den Klimawandel
– im und als Telefongespräch bei Kathrin Röggla (Nöllgen).
Einer detaillierten vergleichenden Analyse unterzieht Evi Zemanek in
ihrem Aufsatz zu „Wissenspopularisierung und Appell im deutschen, englischen
und französischen Sachcomic zum Klimawandel“ drei verschiedene Comics mit
ganz ähnlicher Thematik. Die ausgewählten „verbo-visuellen Artefakte“ situiert
die Verfasserin jeweils im Spannungsfeld zwischen den Polen Appell und Auf-
klärung. Zu den wichtigsten Kategorien ihrer Untersuchung zählen pädagogi-
sche Wirkung(sabsicht), ästhetisch-stilistische Gestaltungsverfahren und der
jeweilige Umfang bzw. das Niveau des vermittelten wissenschaftlichen Wissens.
Auch wenn alle drei Comics die Intention verfolgen, ihre Leserschaft von der
Notwendigkeit einer Veränderung des persönlichen Verhaltens zu überzeugen,
48 Claudia Schmitt und Christiane Solte-Gresser
so tun sie dies nicht nur mehr oder weniger erfolgreich, sondern vor allem mit
ausgesprochen unterschiedlichen Mitteln: Die Bandbreite der Informations-
vermittlung zum Klimawandel reicht – unabhängig von einer optimistischen
oder pessimistischen Grundhaltung des einzelnen Werkes gegenüber den Mög-
lichkeiten der Veränderung –, von Polemik und Satire über konsensuelle, sim-
plifizierende oder differenzierende Verfahren bis hin zur Reflexion der eigenen
Recherche- und Gestaltungsbedingungen des Sachcomics.
Hans-Joachim Backe widmet sich in seinen „Vorschlägen für eine Öko-
kritik des Computerspiels“ dem Green Gaming, das bislang in der ökokritischen
Forschung kaum berücksichtigt wurde. Auf der Grundlage der Sicart’schen
Computerspielethik entwirft er ein heuristisches Modell zur Analyse ökokri-
tischer Dimensionen im Computerspiel, welches die semiotische, die diskur-
sive und die ludische Ebene gleichermaßen berücksichtigt. Dieses Modell zielt
besonders darauf ab zu untersuchen, inwiefern das jeweilige Spiel zur Ausein-
andersetzung mit ökologischen Fragen herausfordert. Die Produktivität dieses
Ansatzes macht Backe abschließend an einer Beispielanalyse von Red Dead
Redemption nachvollziehbar. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass gerade das
komplexe Medium des Computerspiels es im Besonderen vermag, seine Spieler
– etwa indem Spielziel und ökologischer Anspruch miteinander in Widerstreit
geraten – in ökologische Konfliktsituationen zu versetzen und sie dadurch zu
einer ethisch-moralischen Entscheidung herauszufordern.
Alarmistische Diskurse über die Umweltkrise, insbesondere eben wiederum
über den Klimawandel, werden von Sabine Nöllgen in ihrem Aufsatz über
„Tempi und Modi der ökologischen Krise in Kathrin Rögglas die alarmbereiten“
am Beispiel der Episode „die anprechbare“ in den Blick genommen. Neben der
Frage nach der Verlässlichkeit und der Verständlichkeit von Expertenwissen im
Allgemeinen, geht es hier ganz konkret und sehr grundsätzlich um die ökologi-
sche Krise als ungelöstes Kommunikationsproblem: Alarmismus auf der einen
und Verleugnen des Problems auf der anderen Seite verhindern gleichermaßen
umweltpolitische Lösungsvorschläge wie den zwischenmenschlichen Dialog.
Nöllgen führt anhand des Textes vor, wie diese Problematik im Schreiben
Kathrin Rögglas auch auf der grammatikalischen Ebene zum Ausdruck gelangt:
Der Konjunktiv und das Zusammenfließen von Futur II und Plusquamperfekt
werden als Verfahren erkennbar, die Umweltproblematik immer wieder von
Neuem in die Zukunft zu verschieben. Die Katastrophe wird als stets abwe-
send imaginiert und verantwortungsvolles Handeln damit so lange an andere
delegiert, bis die tödliche Katastrophe eingetreten ist, in der Vergangenheit und
Zukunft implodieren.
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